Scène 22 – Neue französischsprachige Theaterstücke

Page 1

Scène

Neue französischsprachige Theaterstücke Mit Texten von

22

Olivier Choinière, Claudine Galea, Julie Gilbert, Annick Lefebvre, Alex Lorette, Sarah Jane Moloney, Myriam Saduis, Gwendoline Soublin



Scène 22



Neue französischsprachige Theaterstücke

Scène 22

Herausgegeben von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand


Impressum

Scène 22. Neue französischsprachige Theaterstücke Herausgegeben von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Copyrights der einzelnen Stücke am Ende des Bandes Scène 22 © 2020 Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hermann Lugan, Leyla-Claire Rabih, Frank Weigand Gestaltung: mischen, Henning Reinke, www.mischen-berlin.de Satz: Anne Lapanouse Vertrieb: Verlag Theater der Zeit, Berlin www.theaterderzeit.de

Printed in Germany

ISBN Taschenbuch 978-3-95749-300-2 ISBN ePUB 978-3-95749-318-7 ISBN ePDF 978-3-95749-319-4

Scène ist ein Projekt des Institut français Deutschland / Bureau du Théâtre et de la Danse


Inhalt Vorwort von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Dystopien aus der »Welt davor« → S. 7 Claudine Galea

Dunkeltunke → S. 13 Annick Lefebvre

Stacheldraht → S. 51 Myriam Saduis

Final Cut → S. 77 Olivier Choinière

Manifest der Jungen Frau → S. 111 Alex Lorette

Dream Job(s) → S. 167 Julie Gilbert

Wutströme → S. 223 Sarah Jane Moloney

Sapphox → S. 243 Gwendoline Soublin

Und alles → S. 285 Biographien und Bibliographien

→ S. 319 Rechtenachweise

→ S. 327



Vorwort

Dystopien aus der »Welt davor«

Zur Textauswahl und Produktion von SCÈNE 22

Seit 1999 erscheinen in der Reihe SCÈNE französische und frankophone Theatertexte in deutscher Übersetzung. Bei der künstlerischen Auswahl der Stücke war es stets unser Anliegen, einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen, wie Autorinnen und Autoren andernorts auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse reagieren. Dies machte unsere Auswahl oft politisch und spiegelte Debatten wider, die zum Zeitpunkt des Erscheinens unserer Anthologie virulent waren. SCÈNE 22 ist ein Sonderfall. Nach Abschluss der Textauswahl wurden wir alle, Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer und auch wir als Herausgeber, von der globalen COVID19-Pandemie überrollt, und das krisenhafte Weltgeschehen nahm stellenweise dystopischere Züge an als die pessimistischsten unserer Stücke.

7

Ironischerweise hatten wir für diese 22. Ausgabe von SCÈNE acht Texte ausgewählt, die sich mit unterschiedlichen Formen von Krisen und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung beschäftigten. Gemeinsam ist allen Arbeiten, dass sie das aktuelle Weltgeschehen – die drohende Klimakatastrophe, die Migrationskrise und die unbewältigten Nachwirkungen des Kolonialismus – als eine gefährliche Sackgasse erleben. Während einige von ihnen messerscharf aber letztendlich fatalistisch die Missstände und die Unmenschlichkeit des Spätkapitalismus analysieren und abbilden, suchen andere nach Auswegen oder neuen Organisationsformen, die letztendlich ein anderes Leben ermöglichen sollen. Angeregt von Bewegungen wie Fridays for Future scheint es besonders die junge Generation zu sein, die erfolgreich nach Alternativen zu dem scheiternden System sucht, das ihnen die Älteren hinterlassen. So eröffnet der erste Text unserer Auswahl, »Dunkeltunke« von der französischen Autorin Claudine Galea trotz des düsteren Titels die Anthologie mit einem federleichten Hoffnungsschimmer. In einem französischen Badeort am Ärmelkanal verbringen die 10jährigen Freundinnen June und Winter einen Sommer, umschwärmt von zwei nur unwesentlich älteren Verehrern, dem »Kleinen« und dem syrischen Geflüchteten Haytam El Marwan, der von Australien träumt und den sie der Einfachheit kurzerhand »Mayo« taufen. Vollkommen alleingelassen von der Erwachsenenwelt inszenieren die beiden Mädchen Rollenspiele, erkunden ihre Gefühle füreinander und die beiden Jungs und finden in Kunst und Sprache


Ganz anders ist der Tonfall, den die quebecer Dramatikerin Annick Lefebvre in ihrem Monolog »Stacheldraht« anschlägt. Eine Figur, deren Geschlecht nicht genau bestimmt ist – »vielleicht ein Mann, vielleicht eine Frau und vielleicht jemand, für den Geschlecht etwas Fließendes ist« – und die vor Kurzem Vater oder Mutter geworden ist, hat soeben erkannt, dass im Inneren eines jeden Menschen in der westlichen Welt ein Stacheldraht schlummert, der ständig länger wird, sich nach und nach durch alle Organe bohrt und schließlich zum Tod seines Wirts führt. Atemlos gegen das Verrinnen der Zeit anredend vollzieht die Figur eine Generalabrechnung mit sich selbst und ihrem schizophrenen Dasein zwischen Selbstoptimierung, Alltagsrassismus, Geschlechterungleichheit, Familiendramen und social-media-erfahrenem Gutmenschentum. Trotz seines Tempos und poetry-slam-artigen Sprachwitzes ist »Stacheldraht« die bitterböse Bestandsaufnahme einer Gesellschaft ohne wirkliche Bedrohung von außen, die diese Bedrohung nach innen verlagert hat und so den Keim ihrer eigenen Zerstörung bereits in sich trägt. Auch »Final Cut« der in Belgien lebenden Französin Myriam Saduis ist ein Monolog, der jedoch immer wieder collagenartig durch Stimmen aus der Weltgeschichte und dem persönlichen Umfeld unterbrochen wird. In einer Art lecture-performance rollt die Schauspielerin und Regisseurin anhand ihres persönlichen Lebenstraumas das historische Trauma der französischen Kolonialisierung Tunesiens und seiner Folgen bis in die Gegenwart auf. Wie in einer Psychoanalysesitzung zeichnet sie die gescheiterte Liebe ihrer Eltern (Mutter: Tunesierin italienischer Abstammung, später französische Staatsbürgerin – Vater: arabischer Tunesier, der aus Frankreich ausgewiesen wird) und den anschließenden administrativen Kleinkrieg nach. Trotz aller historischen, politischen und künstlerischen Exkurse (es wimmelt in dem Stück von Verweisen auf Filme und Chansons, die die kulturelle Atmosphäre im Frankreich der 1960er-Jahre wiedergeben) bleibt der Text ein zutiefst persönliches Dokument einer pathologischen Mutter-Tochter-Beziehung. Am Beispiel der eigenen Biografie zeigt Saduis, wie eine Generation, die zwischen den Folgeschäden des Kolonialismus aufwächst, buchstäblich von der Geschichte erdrückt wird.

8

Gegenentwürfe zu der tristen Arbeitsrealität ihrer überforderten Eltern. Humorvoll und politisch unkorrekt zeichnet die Autorin hier das hoffnungsvolle Portrait einer Generation, die die Welt bewusst erlebt, ohne defätistisch an ihr zu verzweifeln. Anstatt sich von den »dunkeltunkenden Gedanken« lähmen zu lassen, die sie immer wieder überfallen, beschließt Winter trotzig, alles, was sie stört, ebenfalls »dunkel zu tunken« und arbeitet gemeinsam mit ihren Freunden an der positiven Veränderung der Welt, in der sie leben.


Bewusst künstlich und anti-psychologisch kommt dagegen »Manifest der Jungen Frau« von dem quebecer Theatermacher Olivier Choinière daher. Das Bild der »Jungen Frau«, wie es Lifestyle-Magazine und einschlägige Mode- und Beziehunghilfeblogs zeichnen, wird hier zur schrillen Chiffre für die Funktionsweisen des Kapitalismus. Eine Gruppe von Performer*innen unterschiedlichen Alters verkörpert mit Perücken die ideale Konsumentin, die alles tut, um ein vollwertiger Teil der Gesellschaft zu sein. Sprechblasenartig werden Werbeslogans deklamiert, bis sich die Thematik nach und nach in den Bereich des Politischen verschiebt. In seinem Hochgeschwindigkeitsoratorium, das in seinen besten Momenten an den frühen René Pollesch und seine Verzahnung von persönlicher Hysterie und gesellschaftlicher Zwangssituation erinnert, vollzieht Choinière einen nur scheinbar zynischen Rundumschlag durch das Zeitgeschehen vom Jugendwahn bis hin zum Terrorismus und endet beinahe sentimental mit einer durchaus ernstgemeinten Hymne an die transformatorische Kraft des Theaters. Sein Metatheater, das in Québec, wo nach wie vor das psychologisierende Schauspiel dominiert, eine Ausnahmestellung einnimmt, ist somit kein Selbstzweck sondern von einem beinahe brechtschen politischen Impetus getragen.

9

Auch der Belgier Alex Lorette beschäftigt sich mit der kapitalistischen Verheißung der Wunscherfüllung. In seinem formal komplexen, in mehreren Erzählsträngen angelegten, mit immerhin sechs Schauspielern besetzten Text, erzählt er die Geschichte von Chloé, die sich nach einem Archäologiestudium prekär von Job zu Job hangelt und schließlich im gewaltigen Lager eines multinationalen online-Versandhandels landet, hinter dem sich unschwer zu erkennen Amazon verbirgt. Als sie schließlich wegen der unmenschlichen Zeittaktung eine Fehlgeburt erleidet, legt sie ein Feuer in der Firma und flieht nach Südamerika, um das Werk des Künstlers Carlos Cruz-Diez zu erforschen, über den sie vor langer Zeit ihre Abschlussarbeit geschrieben hatte. Parallel dazu laufen die Geschichten ihres Freundes Fred ab, der vom DJ zum Kurierfahrer absteigt und die von Paul, der für sich unterschiedliche Firmen um die Entlassungen und Neuvermittlung überflüssigen Personals kümmert. Gegenfigur zu Chloé ist ihre Freundin Mélina, die nach einer schweren Krankheit in ihrer Jugend nun alles tut, um sich die glänzenden Träume der Konsumwelt zu erfüllen. Hinter der kunstvollen Verwebung der Handlungsstränge verbirgt sich ein kaum verhehlter Aufruf zur Revolte. In diesem System, in dem jeder, auch die Chefs selbst, instrumentalisiert und ausgebeutet werden, ist Zerstörung womöglich die einzige Überlebenschance. Während »Dream Job(s)« eine komplexe Realität in eine trotz allem geschlossene Theaterform übersetzt, ist in »Wutströme« der Genfer Dra-


Auch der Text der zweiten Schweizer Autorin, »SapphoX« von Sarah Jane Moloney, widersetzt sich einer zusammenhängenden Narration, die versuchen würde, »Sinn zu schaffen«. Die junge Dramatikerin, die ursprünglich aus dem Bereich der Performance stammt, stellt in ihrem ersten »richtigen« Theatertext eine Beziehung zwischen der aktuellen Migrationskrise und der griechischen Antike, der Wiege der abendländischen Kultur her. Protagonistin ist die legendäre Lyrikerin Sappho, von deren Werk nur mehr 650 Verse erhalten sind und die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gewaltsam neu gedeutet wurde – von der romantisch Liebenden bis hin zur Ur-Mutter des Queerfeminismus. Diese Sappho wird nun in einer Science Fiction-Handlung von zwei Wissenschaftlern zum Leben erweckt, die von ihr die »fehlenden Wörter« fordern, um endlich die »wahre«, stichhaltig nachweisbare Lesart des Sapphoschen Werkes zu finden. Parallel dazu wird die Geschichte zwei junger Freiwilliger erzählt, die sich aus der Schweiz nach Lesbos aufgemacht haben, um in dem alptraumartigen Auffanglager Moria als Helfer zu arbeiten. Während das Mädchen nach dem ersten Schock wieder abreist, findet der arabisch-stämmige junge Mann in der Tätigkeit einen Teil seiner Identität wieder. Ebenso wie ihre Protagonistin bleibt die Autorin jedoch klare Antworten schuldig. »SapphoX« spielt auf drei Zeitebenen: in der Science-Fiction-Handlung (2070), der Gegenwart (2020) und in den 1970er-Jahren, als Sapphos Insel Lesbos zu einem Hotspot des beginnenden lesbischen Sextourismus wurde. Anstatt uns klare Aussagen und Ergebnisse zu präsentieren, nimmt Sarah Jane Moloney Sprache und Zeit als Phänomene ernst und bricht eine Lanze für Komplexität und Uneindeutigkeit.

10

matikerin Julie Gilbert das Widersprüchliche und Fragmentarische Programm. Einerseits werden in dem vielstimmigen Text über Exil, Migration und Identität Fragmente von Fluchtgeschichten und persönlichen Schicksalen miteinander verquickt, bis das Bild einer universellen Welle des Leidens entsteht, die aus dem globalen Süden in den Norden schwappt. Gleichzeitig stellt die Autorin diesen lyrisch überhöhten Klagegesängen immer wieder Szenen gegenüber, die die Perspektive des westlichen Dramatikers hinterfragen, der anstelle der eigentlichen Protagonisten spricht und ihre Biografien nur benutzt. Gilberts Stück, das bereits 2011 entstand, nahm bereits zahlreiche Fragestellungen vorweg, die heute spätestens seit der Europäischen Migrationskrise von 2015 Allgemeingut sind. Wie lassen sich globale Katastrophen abbilden? Wer besitzt die Legitimität, darüber zu sprechen? Die Autorin löst die Spannung zwischen Dominanz und Schuldgefühl nicht auf, die die Beziehungen zwischen den reichen Industrienationen und dem Süden prägen. Ihr Text »Wutströme« ist eine Art Aufschrei, der nicht heilen will, sondern Paradoxa benennt und sie bewusst stehenlässt.


11

Mit einem weiteren hoffnungsvollen Kinder- und Jugendstück aus Frankreich endet dieser Band. Auf Anregung ihres Kollegen Fabrice Melquiot hatte die junge Autorin Gwendoline Soublin Kinder und Jugendliche nach ihren Ängsten und Wünschen für die Zukunft befragt. Daraus entstand »Und alles«, eine rührende humorvolle Hymne an eine Generation, die sich nicht mehr mit verquälten Grübeleien aufhält, sondern pragmatisch zur Rettung des Planeten schreitet. Eine Gruppe Kinder sucht nach dem verschwundenen 12jährigen Ehsan, doch befindet sich dieser – wie sich zuletzt herausstellt – nicht in dem vom Vater eingerichteten Atomschutzbunker, sondern an der bretonischen Küste, um dort einen gestrandeten Wal zu retten. Die Suche der anderen nach dem Verschwundenen läuft so hemdsärmelig-pragmatisch ab, dass man als Zuschauer großes Vertrauen in die Zukunft bekommt. Neue Probleme erfordern ein neues Bewusstsein und eine kollektive Strategie. Gwendoline Soublins Protagonisten tragen »migrantische« Namen wie Chalipa, Ehsan oder Salvador, leiden aber keineswegs unter ihren multiplen Identitäten. Wie in »Dunkeltunke« sind die Eltern abwesend, jedoch ohne, dass dies irgendein Trauma hinterließe. In der neuen Solidargemeinschaft, die diese Kinder bilden, werden alle ernstgenommen – unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Im Geiste von Fridays for Future scheint hier eine neue Gesellschaft möglich. Vielleicht könnten Texte wie dieser Werkzeuge für sie sein? Wir hatten die Textauswahl für diesen Band im Februar 2020 festgelegt. Die Arbeit an den Übersetzungen geschah zur Zeit des Lockdowns über Landesgrenzen hinweg, die nun plötzlich wieder unüberwindbar trennend geworden waren. Während überall Gewissheiten zerbrachen und eine hygienisch-verträgliche Zukunft der Kunstform Theater in den Sternen stand. Erfreulicherweise stellten wir fest, dass alle acht Texte auch in der »Nach-Corona-Welt« immer noch Gültigkeit besitzen. Diese Stücke aus der »Welt davor« haben uns auch heute noch eine Menge zu sagen. Manche Stelle hat durch den neuen Kontext sogar an Schärfe und Aktualität gewonnen. Wenn in »Und alles« Chalipa davon phantasiert, dass bald alle Menschen »OP-Masken« tragen müssen und die Hauptfigur in »Stacheldraht“ Desinfektionslösung gegen ihre Probleme trinken möchte, wirken die Texte geradezu prophetisch. Und wenn Olivier Choinière im Finale von »Manifest des Jungen Mädchens« von der zwischenmenschlichen Komponente des Theaters schwärmt – »Das Theater findet seine Daseinsberechtigung bei euch, den Zuschauern, die an die Kraft der direkten Verbindung glauben« - , so kann man nur wünschen, dass all diese Texte bald (wieder) in weitgeöffneten, gut besuchten Theaterräumen gespielt werden. Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand im August 2020



Claudine Galea

Dunkeltunke [Originaltitel: Noircisse] aus dem Französischen von Yasmine Salimi

Dieser Text wurde 2019 mit dem von ARTCENA ausgerichteten Grand Prix de Littérature dramatique Jeunesse ausgezeichnet. Deutsche Übersetzung mit der freundlichen Unterstützung der Autorengesellschaft SACD.


PERSONEN: Winter, 10 Jahre June, 10 Jahre Der Kleine, 11 Jahre Mayo, 14 Jahre

Das Ganze spielt sich in einem Sommer an der Meeresküste ab. Winter ist blond, Haare kurz, trägt immer dieselben Shorts, ein ärmelloses T-Shirt und Sneaker. June ist braunhaarig, stets elegant, Kleider, Flip-Flops, Ballerinas in bunten, auf die Kleider abgestimmten Farben, Armbänder. Mayo ist braunhaarig, trägt immer dieselbe Jeans mit Löchern an den Knien und ein verwaschenes T-Shirt. Abgelatschte Sneaker an den Füßen. Der Kleine ist blond, Jeans und T-Shirt sind in kaum besserem Zustand als bei Mayo. Er hat immer sein Telefon in der Hand. Winter läuft überall mit einem Fernglas, einem Heft und vierfach gefalteten Fotokopien von Kunstdrucken herum. Wenn sie eine davon projiziert. Es sind alle möglichen Gemälde und Maler denkbar. Welche Gemälde projiziert werden, richtet sich nach den dramaturgischen Entscheidungen der Inszenierung. Die Vorschläge im Textbuch stammen von der Autorin. Die Länder tragen reale Namen, sie sind austauschbar durch andere, die erfunden sein mögen oder nicht. Es können auch andere Lieder gewählt werden.

14

auseinanderfaltet, sieht man das Gemälde im Großformat auf die Bühne


Am Bühnenrand Der Kleine liegt Winter zu Füßen. Das Bild dauert eine Minute an. Black. Licht. Der Kleine ist verschwunden. Winter ist alleine. Manchmal liest sie in einem Heft.

Hättet ihr mich mal nicht so provoziert. Hättet ihr mal nicht so getan, als ob. Ich tue nicht so. Ich heiße Winter. Ich habe dunkeltunkende Gedanken. Wenn ich dunkeltunkende Gedanken habe, komme ich hierher. Ich mag es hier. Hier gibt es den Wind, den Himmel, den Felsen und mich. Wenn ich nachts herkomme, ist es noch besser. Dunkeltunkende Gedanken mögen das besonders. Dunkler Felsen, dunkler Himmel, dunkle Gedanken. Und ich tunke komplett dunkel. Dann sind wir gar nicht dunkelgetunkt, sondern wir sind einfach wir. Ich bin einfach ich. Ich bin wütend. Ich heiße Winter, ich bin zehn Jahre alt. Komplett zehn Jahre alt. In echt heiße ich Marion. Nicht so toll. Ein Name, den schon total viele andere Mädchen haben. Ich bin im November geboren. Ein Monat, der nichts Halbes und nichts Ganzes ist: nicht mehr Herbst, noch nicht komplett Winter. Blätter fallen tot herab, es schüttet, verkühlte Hände in den Taschen, aber ich werd doch im November keine Handschuhe und keine Mütze tragen. Der November ist als Monat völlig unnötig, fuck November, wie June sagt, ich will richtig Winter haben. Ich will Frost und meine Lippen in den eisigen Wind halten, damit sie aufspringen und es ein wenig blutet. Ich will eislaufen gehen und gefrorene Tränen weinen. Ich will das Eis von der Windschutzscheibe kratzen und tote Vögel im Garten aufsammeln. Ein Pistazieneis essen und den Neid in den Augen der Leute aufflammen sehen, die ihre Tüte mit ekligen verkohlten Maronen in den Händen halten. Junes Stimme Ich will auch ein Eis. Winter

15

June spricht einen Teil des Spieltexts von Winter, der kursiv angezeigt ist. Winter und June können auch gleichzeitig sprechen.

June. Sie nennt mich Winter. June ist meine Freundin. Meine Schwester. Meine Prinzessin. June heißt wirklich June. Das ist ein echter Vorname, June. June ist zur Hälfte Engländerin. June ist der englische Name für den Monat Juni. June ist mein anderes Ich, ein Sommer-Ich, mein sonniger Monat mit Tagen, die immer länger werden, immer länger. Winter


Ich könnte nicht June heißen, Spitzenkleider, weiße, gelbe oder grüne FlipFlops tragen und große Strohhüte. June hab ich lieb. Ich hab June lieb, weil sie nicht ist wie ich.

Eins Landzunge. Festung. Ebbe. Die Mädchen sitzen vor der halb eingestürzten Mauer der Festung. Winter spielt ihre eigene Mutter, June spielt Winter. Sie machen die Erwachsenen nach (Stimme, Gestik, usw.). Von Zeit zu Zeit unterbricht Winter June oder unterbricht sich selbst in ihrer Rolle als Mutter und wird wieder zu Winter. June unterbricht Winter und spielt ihren eigenen Vater oder wird wieder zu June. Winter als Mutter

Was hast du denn, mein Schatz? Du wirkst

abwesend.

Ich hab meine dunkeltunkenden Gedanken. Winter als Mutter Was ist denn das schon wieder für eine Geschichte? In deinem Alter hat man keine dunkeltunkenden Gedanken, man hat blumige Gedanken, Ranunkel- oder Narzissen-Gedanken. June als Winter Dann hab ich halt Gedanken wie giftiger Schierling, Schierlingstrank-Gedanken. Winter als Mutter Wieso das denn? Mit zehn Jahren hat man einfach Spaß. Und du spielst doch den ganzen Tag mit June. June als Winter Ja und? Dunkeltunkende Gedanken halten ja nicht vom Spielen ab. Im Gegenteil. Je dunkler meine Gedanken tunken, desto besser kann ich spielen. Winter als Mutter Pfhh pfhh… Das ist doch erstunken und erlogen. Na los, dann erzähl mir mal deine Gedanken, ich werd dir schon sagen, ob die wirklich so dunkel sind. Von hier an flüstert Winter June einige Worte zu, doch June kommt auch sehr gut alleine zurecht.

Dunkeltunkende Gedanken kann man nicht erzählen. Über die kann man nur grübeln. Die wickeln sich zu einem Knäuel zusammen, werden zum Baum. Winter als Mutter Zum Baum? June als Winter Ja, die wachsen, rollen sich ein, die winden sich, umschlingen sich, dehnen sich unten drunter weit aus. Du kannst sie nicht sehen. Sie sind die Wurzeln des Baums. Winter als Mutter Ja okay, aber was ist das zum Beispiel? June als Winter Die wachsen in meinem Bauch und meine Hände jucken. Meine Hände wollen dann auch dunkeltunken. Den Hals umdrehen von / June als Winter

16

June als Winter


Marion, hör auf mit dem Blödsinn. Du willst mir Angst machen. Das sind keine dunkeltunkenden Gedanken. Dunkeltunkende Gedanken, das ist, wenn man schlimme Sorgen hat. Wenn man die Miete nicht zahlen kann. Wenn die Liebe weg ist. Dunkeltunkende Gedanken, das ist, wenn es einem nicht gut geht / Sie wird wieder zu Winter. Meine Mutter hat immer auf alles eine Antwort. Sie weiß immer alles besser, vor allem, wenn es um mich geht / June als Winter Dann geht es mir also komplett nicht gut. Winter als Mutter Was stimmt denn nicht? Du bist im Urlaub. June ist da. Du bist fünf Zentimeter gewachsen. Du isst wie ein Vielfraß. Ich sehe dich jeden Tag. Dir geht es sehr gut. Winter als Mutter

Winter macht den Handy-Klingelton ihrer Mutter nach.

17

Ja bitte? Guten Tag. Das ist die Akte Nummer 34. In der unteren Schublade Schrank Nummer 3. Nein. Nein. Jetzt gerade nicht. Nein. Wie, von meiner Prämie ab? Dann also heute Abend. Heute Abend, ja. Ja, in Ordnung. Ja, die Auswertung der Unterlagen kriegen Sie heute Abend. Winter macht eine Bewegung, als ob sie das Telefon wegwerfen würde.

Scheiße! Mist! So ein Arsch! Entschuldige, mein Schatz. Das war mein Chef. June als Winter Das ist dein Dunkeltunke-Gedanke. Winter als Mutter Ja siehst du, das ist mal ein dunkler Gedanke. Ein komplett dunkler Gedanke. Wie gerne wäre ich den los. Aber ich kann nicht / June als Winter Ein dunkler Gedanke, der dich verfolgt der dich jagt der dir nachstellt. Am Wochenende im Urlaub tagsüber nachts. Den werden wir los. Dem drehen wir den / Sie werden wieder zu June und Winter.

Spiel ich dich gut? Komplett. Du spielst mich komplett. Die werden wir los, diese ganzen Ausbeuter, Ferienvermieser, Freudenzerstörer. Und als Erstes ist der Boss von meiner Mutter dran. Hast du ihre Stimme gehört, wenn sie ihm antwortet? Ich kann das nicht leiden, aber echt sowas von überhaupt nicht. Sie ist dann ganz schwach, als würde sie gleich weinen. Erst sagt sie »nein« und am Ende dann immer »ja«. Das ist mal ein dreckiger Dunkeltunke-Gedanke. June

Winter


Du hast ja Glück, dein Vater ist sein eigener Boss. Er ist sein eigener Dunkeltunke-Gedanke. Er kommt halt irgendwie damit klar. Er stellt sich Fragen und beantwortet sie selbst. June Mein Vater sagt immer, es gibt keine Antworten, nur Fragen als Antwort auf andere Fragen. Ist nicht immer so nice, mit den eigenen Fragen alleine dazustehen. Manchmal wär es mir lieber, wenn er Antworten hätte. Winter Hör auf. Antworten können uns doch scheißegal sein, vor allem, wenn sie von Eltern kommen. June Von Bossen. Sie lachen sich kaputt. Winter

Als erstes dunkeltunk ich den Boss von meiner Mutter.

Sie macht eine Bewegung, als würde sie jemanden abmurksen.

Wenn sie schon unbedingt einen Boss haben will, kann sie ja meinen Vater nehmen. Das wäre doch toll, oder? Dann würden wir immer zusammenbleiben. Winter Wir würden alles gemeinsam machen. June Die ganze Zeit. June

Kurze Stille

Wir würden uns nicht mehr vermissen.

Kurze Stille

Wir würden uns nicht mehr neu entdecken. Wir würden uns gar nicht mehr füreinander entscheiden. June Wir würden uns gar nicht mehr neu erfinden. Winter Wir hätten uns weniger lieb. June Das würde schlecht enden. Winter Das würde in Dunkeltunke enden. June Das ist keine gute Idee. Bye! Winter Tschüss! June

Winter

Sie gehen lachend auseinander.

Am Bühnenrand Wir kommen in den Ferien hierher. So habe ich June kennengelernt. Sie kommt mit ihrem Vater, ich komme mit meiner Mutter. Den Rest der Zeit wohnt June in England. June und ich, wir verbringen unsere ganzen Ferien zusammen. Ohne sie würde ich den Sommer nicht überstehen. Ich hasse den Sommer, er ist zu lang. Zu golden, zu hell. Außer wenn es stürmt. Wenn der Himmel sich dunkel färbt und das Meer auch. Wie ein Gemälde von Turner. Turner ist schön. Und Constable auch, Constable ist auch schön. Das sind Winter

18

Winter


Engländer, so wie June. Sie holt aus ihrem Rucksack die Fotokopie eines Kunstdrucks heraus und faltet sie auseinander: TURNER ODER CONSTABLE – Düstere Gemälde, nicht bedrohlich

Ich würde gerne hier wohnen. Komplett. Die nächste Szene spielt sich hinter Winter ab, die sich nicht bewegt. Beide Zeitebenen überschneiden sich.

Zwei Strand. Ebbe. Mayo läuft herum, June rennt ihm hinterher, holt ihn ein. June

Hey!

Hello! Hallo!

Er geht weiter. Sie sagt es noch einmal.

Hallo! Mayo

19

June

Lo! (zu sich selbst) Fuck, dieser Typ ist ja scharf.

(zu Mayo) Hey, wer bist du? Wie heißt du? What’s your name? Er rennt etwas schneller. June rennt ihm hinterher.

I am June, I am June! Er rennt immer schneller und verschwindet.

Shit, fuck you, I will have you, ich krieg dich, ich heiße June.

Am Bühnenrand Winter holt weitere Fotokopien heraus, die sie vor sich auf den Boden legt.

Ich hab total viele davon. Ich sammle die. Gemälde sind gut gegen dunkeltunkende Gedanken. Selbst wenn sie sehr dunkel sind, sind Gemälde immer schön. Zu Hause hab ich auch welche in groß. Die klebe ich in meinem Zimmer an die Wand. In Büchern gibt’s auch welche. In der Bibliothek. Da mache ich die Fotokopien. Echte Gemälde geht man besuchen. Die sind in echt viel schöner. Wie June in echt und June auf Skype, wenn sie in England ist. Winter


Das ist gar kein Vergleich. Da braucht man sich nichts vorzumalen. Echte Gemälde gibt’s überall auf der Welt. Die kann sich jeder anschauen. Sie dreht eine Fotokopie um. Das Bild wird projiziert: MONET (DIE FELSEN VON BELLE-ÎLE)

Drei Strand. Flut. Winter alleine mit ihrem Fernglas hinter einem Felsen. Man sieht, dass die Landzunge bis an den Fuß der Festung unter Wasser steht. Der Kleine folgt ihr heimlich. Sie hat ihn natürlich gesehen.

Der da geht mir ganz schön auf den Keks. Seit drei Tagen läuft der mir nach. Ein Kleiner. Ich mag es nicht, wenn man mir nachläuft. Ich mag es nicht, wenn man mich nachmacht. Und ich hasse es, wenn man sich versteckt. Winter

Der Kleine hat sie eingeholt, sie stürzt sich auf ihn, sie kämpfen,

Was willst du? Warum läufst du mir nach? Der Kleine Ich will dein Freund sein. Winter Ich hab keine Freunde. Der Kleine Und was ist mit dem anderen Mädchen? Winter Das andere Mädchen, das ist June, das ist was anderes. Du bist ein Kleiner. Wenn du mir noch einmal nachläufst, reiß ich dir die Augen aus. Und alles andere auch. Der Kleine Ich bin elf. Und du? Winter Zehn. Der Kleine Ich bin größer als du. Du bist hübsch. Winter Wie unverfroren. Der Kleine Was? Winter Wie unverfroren, hab ich gesagt. Der Kleine Was heißt das? Winter Siehst du, du bist ein Kleiner. Ein elender Kleiner, der keine Ahnung hat. Du kleiner Unverfrorener gehst mir / Der Kleine Auf den Sack. Er kann es auch flüstern. Solange man weiß, dass er Bescheid weiß! Ebenso beim Ende des folgenden Satzes. Winter

Du Wicht. Mädchen haben keinen Sack.

20

sie wirft ihn zu Boden.


Wir brauchen keinen. Und dich können wir auch nicht gebrauchen. Nen Kleinen am Rockzipfel, nein danke. Der Kleine Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst. Kannst du nicht so reden wie alle anderen? Sie wirft eine Hand voll Sand nach ihm.

Wie arrogant. Ich bin nicht alle anderen. Sonst würdest du mir ja nicht nachlaufen. Ich spreche die wahre Sprache. Der Kleine Du machst einen auf groß. Winter Stimmt gar nicht. Du bist so ein Ignorant. Selbst die Großen wissen nicht mehr, wie man spricht. Die sprechen klein, wie du. Die sprechen nützlich. Haste ein Telefon? Der Kleine Ja klar, für wen hältst du mich denn? Winter Für das, was du bist. Du sprichst nützlich und du schreibst SMS. Du bist banal. Der Kleine Sei mal korrekt zu mir. Winter Du spielst nicht in meiner Liga. Interessiert mich nicht. Mach, dass du wegkommst. Der Kleine Ich hab ein Schiff. Winter Das ist kein Schiff, das ist ein Kahn. Der gehört nicht dir, er gehört deinem Vater. Der Kleine Ich kann dich mitnehmen auf meinem Schiff. Ich will zu dir auf die Festung kommen. Winter

21

Sie packt ihn beim Kragen seines T-Shirts.

Niemals. Schau mich mal an. Schau mich mal komplett an. Die Festung, das ist mein Gebiet. Das von mir und June. Ich lad dich nicht ein. Wenn du dich da blicken lässt, dann wehe dir. Ich mach dich kürzer. Dann ist von dir nicht mehr viel übrig. Winter

Sie lässt ihn los, stößt ihn weg. Er geht ein wenig zur Seite.

Wo ist denn dein Vater? Deinen Vater sieht man nie. Hat deine Mutter dich in vino gekriegt? Winter Du ahnungsloser Schwachkopf! Wenn du in meiner Nähe noch einmal deine Fresse blicken lässt, reiße ich sie dir aus. Wenn du noch ein Wort über meine Mutter sagst, gibt’s was auf die Eier. Ich schließ dir die Hirnzellen kurz und den Rest auch. Ich mach dich von oben bis unten fertig. Komplett. Du Embryo! Der Kleine

Sie jagt ihn mit Sandklumpen davon. Von jetzt an schlägt der Kleine die ganze Zeit auf seinem Telefon im Wörterbuch nach und liest die Definitionen von Winters Ausdrücken vor.


Vier Landzunge, Festung. Ebbe. June kommt angerannt. Winter sitzt an die Mauer der Festung gelehnt. Der Kleine, etwas weiter weg, beobachtet sie aus seinem Versteck. June

Ich hab einen Jungen kennengelernt.

Wow.

Ich auch.

Winter

Bäh.

Groß, braune Haare, braune Haut, grüne Augen, einfach irre. Klein, blond, weiß, fuck. June Er ist weggelaufen. Winter Du Glückliche. June Ich will ihn wiedersehen. Mega schick. Winter Für Jungs bist du ein bisschen jung. June Du hörst dich an wie deine Mutter. Winter So bald sagt die sowas nicht zu mir. June

Winter

June Winter June

Du fällst um, wenn du ihn siehst. Komplett? Komplett.

Sie lachen.

Weißt du, das geht weiter mit den Dunkeltunke-Gedanken. Wie denn? Winter Mit einem Weg, einer Öffnung. Dem Beginn eines Plans. Einem Pitch. Winter June

Der Kleine

PITCH: EINE GESCHICHTE IN EINEM SATZ ZUSAMMEN-

FASSEN.

Als Erstes knöpf ich mir diesen Kleinen da vor, der mir überall nachläuft. Weißt du, was der zu mir gesagt hat? June Da ist er! Er kommt! Da, guck mal, er kommt hierher! Winter

Mayo, unterhalb der Festung, beginnt hinaufzuklettern. Winter

Verbergen wir uns!

Sie gehen in die Hocke.

Er ist mega schön! Der hat zu mir gesagt. Er hat mir gesagt, dass ich hübsch bin! June

Winter

22

Sie lachen.


Am Bühnenrand Ich mag es nicht, wenn man mir nachläuft. Mädchen mögen das nicht, Jungs tun aber so. Die Jungs tun so, als würden sie die Mädchen sehen. Sie sehen nur sich selbst. Sie sehen nicht weiter als ihre Nasenspitze. Mein Vater ist meiner Mutter nachgelaufen. Meine Mutter hat sich umgedreht. Sie sind ineinander geknallt. Komplett. Als sie jung war, war meine Mutter unerschrocken. Sie ging mit großen Schritten durchs Leben. Mein Vater konnte nicht mit ihr Schritt halten. Er war ein Nachzügler. Sein Zug war abgefahren. Dann zwei, dann drei Züge. Meine Mutter hat das Weite gesucht. Ich bin hier geboren. Wie meine Mutter und die Mutter meiner Mutter. Das hier ist das Haus der Mädchen, die das Weite gesucht haben. Das Weite ist jetzt mein Ding. Ich hätte gern das ganze Jahr lang Aussicht auf diese Weite. Komplett. Ich werde nicht den Weg meiner Mutter einschlagen. Den Weg der Enge. Der Stadtwohnung. Ich mag es nicht, wenn man mir in die Quere kommt. Mich verfolgt. Mir nachspürt. Ich mag es nicht, wenn man mich anpasst mich reguliert. Mir wird niemand den Horizont verengen. Winter

23

Vier (Fortsetzung) BILDNISSE VON JUNGEN UND MÄDCHEN (RAFFAEL / LEONARDO DA VINCI / HELENE SCHJERFBECK) Zurück zur Festung. Winter und June geben sich Handzeichen und stellen sich beide auf der Seite der Festungsmauer auf. Mayo kommt an June vorbei, Winter lugt hervor, Mayo will in die andere Richtung zurück, June lugt hervor. Winter stürzt sich auf ihn, June auch. Winter setzt sich auf ihn, hält ihm Kopf und Schultern fest, June hält seine Beine. Er entkommt fast, als schließlich Der Kleine auftaucht. Alle drei sind über ihm.


Ich bin Winter. Und du? June Ich bin June. Mayo Haytham El Marwan. Der Kleine Krasser Name. Winter Sei still, Wurm. (zu June) Kannst du das vielleicht aussprechen? June Your name is? Winter

Mayo flucht. Der Kleine

Papiere! Deine Papiere!

Mayo deutet mit dem Kopf auf seine Hosentasche, June lässt ihn los. Mayo zieht aus seiner Jeanstasche einen völlig zerknitterten Pass heraus und hält ihn ihr hin. (liest mit falscher Aussprache vor) Marwan El Haytham. Geboren am 18. Mai 2004 in Lattakia. Der Kleine Da unten gibt‘s ganz viele von denen. Winter Ganz viele was? Der Kleine So welche wie den. June

Winter steht auf und schubst ihn. Winter

Geh weg! So welche wie dich wollen wir nicht.

Tamtam hier ist rausgefischt worden. Die anderen sind krepiert. Ertrunken. Ich war da, als sie im Frühling angekommen sind, mit dem Sturm. Winter Wenn ich dich hier noch einmal sehe, wird dich niemand rausfischen. Der Kleine Ich kann besser schwimmen als du. Wetten? Ich bin von hier. Komplett von hier. Winter Komplett, das sag ich. Nicht du. Hast du verstanden? Komplett verstanden? Der Kleine Du bist in Teilzeit hier. Der jedenfalls kann nicht schwimmen. Du kannst ihn ja mal ins Wasser schmeißen, wirst schon sehen. Der Kleine

June lächelt Mayo zu, Mayo lächelt June zu. Winter schaut die beiden an.

Du heißt jetzt Mayo. Der weiß doch noch nicht mal, wie Mayo schmeckt / Winter Sei still, du Loser. Mayo heißt auf Spanisch Mai. Er ist im Mai geboren, June ist im Juni geboren. Das passt. Der Kleine Der ist nicht spanisch, der ist Araber. Araber essen keine Eier, außer die sind koscher. Winter Koscher ist für Juden, bei Arabern ist das halal. Winter

Der Kleine

24

Mayo setzt sich hin und schaut June an.


Außerdem ist er kein Araber, er ist Syrer. Und außerdem sind Eier was Globales. Die Hennen, weißte, die setzen ihren Arsch drauf und brüten die komplett genauso aus, egal wo. In Amerika, Indien, Spanien, Syrien, Polynesien oder hier. Hau ab, du Barbar. Der Kleine geht etwas zur Seite und schaut auf seinem Telefon im Wörterbuch nach. Der Kleine

BARBAR: ANGEHÖRIGER EINES FREMDEN VOLKES.

Er zeigt auf Mayo. Der ist hier der Fremde.

Oh Mann, die Definitionen gehen über Seiten. SCHWER VON BEGRIFF, ROHER MENSCH OHNE KULTUR.

Ey, sie hat mich gedisst! Sie hat mich beleidigt. Er denkt nach.

Das beweist, dass sie mich mag, sie hat mich komplett lieb. June legt ihre Hände auf Mayos Augen. Mayo legt seine Hände auf Junes Hände.

Dunkeltunken: number one. Den Kleinen. Number zwei. Den Boss meiner Mutter. Number drei. Alle Chefs im Allgemeinen. Alles, was hässlich ist, alles, was einem das Leben versaut. June You are so beautiful. Winter

25

Sie spielen mit ihren Händen, ihren Augen, sie streicheln einander übers Haar.

So so beautiful. So so / Winter Schon gut, er versteht, was du sagst. Und außerdem weiß er das eh schon. Bestimmt kriegt er das von allen Girls zu hören. (zu Mayo) Wie findest du June? Mayo Schön. Winter Und mich? Mayo Schön. Winter Wenn du zu allen Mädchen das Gleiche sagst, wird das nix. June ist die Schöne. Ich bin bloß hübsch. Mayo (zu June) Du nett. Winter Und ich? Mayo Du? Vielleicht. Winter Nicht nett. Komplett nicht nett. Mayo In Syrien nicht nett. In Türkei nicht nett. In Italien nicht nett. In Frankreich nicht nett. Winter Ja genau, niemand ist nett. Nirgendwo.


Ich hab Hunger. Mayo Auch Hunger. Sehr. June Fuck. Wir haben nix. Warte! June holt die Hälfte eines altbackenen Schokocroissants aus ihrer Rocktasche und reicht es Mayo. Winter

Wir teilen.

Mayo beißt in das Croissant, ohne abzuwarten. Winter nimmt das Croissant und teilt es in drei Teile. June gibt ihren Teil Mayo. Der Kleine kommt näher.

Er hat mehr Hunger als du und ich. Das stimmt, aber teilen lernen ist die Grundlage. June Die Grundlage von was? Winter Vom Leben in Gesellschaft. June

Winter

GESELLSCHAFT: ZUSTAND GEMEINSCHAFTLICHEN LEBENS. SYSTEM, IN DEM SICH KULTUR UND ZIVILISATION ENTWICKELN. ZIVILISATION: DER FORTSCHRITT EINES VOLKES IM BEREICH DER SITTEN, DES WISSENS, DES GEISTES. June

Wo wohnst du?

Mayo zuckt mit den Schultern.

Er wohnt da drüben mit den anderen. Da drüben? Im Zelt?

Der Kleine June

Mayo zuckt mit den Schultern. Winter

Wir begleiten dich zurück.

June und Winter haken sich beide bei ihm ein und sie gehen zu dritt weg. Der Kleine folgt ihnen in einiger Entfernung.

Fünf Strand. Flut. Es regnet. June und Winter stehen unter einem großen Regenschirm. Der Kleine, etwas weiter weg, beobachtet sie aus seinem Versteck. GÉRICAULT (DAS FLOß DER MEDUSA) ODER DELACROIX (DIE DANTEBARKE)

Mein Vater sagt, das sind mehr als dreißig Leute. Hundertzweiundsiebzig Personen waren auf dem Schiff. Sie waren auf der Flucht wegen der Massaker. Alle vierzigjährigen Alten sind gestorben. Und die Kinder sind gestorben. Der Bürgermeister versucht, sie wegzuschicken. Aber England will sie June

26

Der Kleine


nicht. Belgien will sie nicht. Italien will sie nicht. Spanien will sie nicht. Winter Frankreich will sie nicht. June Mein Vater sagt, wir könnten Mayo adoptieren. Das fände ich gut. Dann wäre er mein Bruder. Winter Und dein Geliebter. June Und mein Geliebter, oh yes! Winter Und ich? June lacht.

Du du du! Du bleibst du. Ich bleibe ich. Nur Mayo kommt dazu. Winter Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. June Das ändert nichts. Winter Das ändert alles. Wir reden sowieso schon über nichts anderes mehr als ihn. June Das ist normal. Alle reden über sie. Winter Wir sind nicht alle. June Sie sind auf allen Titelseiten. Oberste Priorität / Winter Im Moment. Im Moment Priorität. Zeitungen sehen immer nur eine Sache auf einmal. Die sind monochrom, monothematisch. June Was heißt das? Der Kleine Mist, bei dem Regen hab ich keinen Empfang. Winter Das heißt: Sie setzen die Sache, die Nachricht in die Zeitung. Und dann nochmal. Jeden Tag. Nach einiger Zeit achtet niemand mehr darauf. Also setzen sie eine andere Sache rein, eine neue Sache, und die alte verschwindet. Ich mag es, wenn alles offenliegt, schön sichtbar. Alle dunkeltunkenden Gedanken. June Mein Vater sagt / Winter Ja ich weiß, meine Mutter sagt das auch / June

27

Winter macht den Vater von June nach, June die Mutter von Winter.

Hör auf, so ein Gesicht zu ziehen, du hast doch alles, das Leben verwöhnt dich, denk an die, die alles verloren haben, sogar ihr Leben verlieren sie. Ich will nichts mehr von dunklen Gedanken hören. Nicht bei dem, was gerade passiert / Winter Also hab ich mal eine Liste gemacht. June Findest du, Mayo ist ein Dunkeltunke-Gedanke? Weil ich finde das nicht. Winter Liste der Dunkeltunke-Gedanken. Angst. Die Ausbreitung von Quallen. Winter als Vater und June als Mutter


Massaker Massakrierer. Lohnungleichheit. June Mayo ist ein Stern. Winter Der Unterschied zwischen Mädchen und Jungs. Der Chef von meiner Mutter, der eine Tortur eine Tonsur eine harte Tour für sie ist. Die zukünftige neue Siedlung. Der Architekt der zukünftigen neuen Siedlung. Das zukünftige neue Einkaufszentrum. June Das Ende der Ferien. Das Ende der Liebe. Winter Wachsende Brüste. June Ah nein, das ist doch gut. Das dauert! Ich kann es kaum abwarten! Und du, lass mal sehen! Winter Nein. Das ist doof beim Rennen beim Schwimmen bei allem. Und BHs drücken zu sehr. June Glaubst du, er liebt mich ein bisschen? Winter Er liebt dich nicht, er schaut dich nicht an. June Du bist gemein. Winter Ja. Du Sommer. Liebe. Träume. Weiße Nächte durchmachen. Ich Winter. Schwarze Nächte durchmachen. Alpträume. June Ich hab bei Sonnenuntergang eine Verabredung mit ihm. Glaubst du, er wird mich küssen? Winter Heute gibt’s keine Sonne. Du wirst doch jetzt nicht verblöden. Im Mondschein rummachen ist auch nicht drin. Du wirst doch jetzt nicht so eine werden? June Was ist denn so eine? Winter Die nur über das Eine redet. Knutschen schöne Augen machen den Verstand verlieren überall Herzchen draufkleben Emoticons verschicken. So ein Mädchen mit rosa Gedanken. Bäh. June Ich liebe ihn. Winter Dann bist du bald so eine, die genauso drauf ist wie die Zeitungen, ein Mädchen, das nur ein Thema kennt. Eine, die nur noch in einzelnen Silben spricht, MA YO . June Das sind zwei Silben. Winter Doppelt einsilbig doppelt monothematisch.

28

Sie schaut durch den Ausschnitt von ihrem Kleid.


29

Monomonothematisch. Ein monotones Mädchen. Und dann machst du es genauso wie die Zeitungen, du vergisst ihn. June Niemals. Winter Dann wird er dich eben vergessen. June Never. Winter Du denkst, du schwirrst ihm im Kopf herum, aber du schwirrst nicht in seinem Kopf herum. In seinem Kopf schwirren Dunkeltunke-Gedanken herum: hier abhauen, Money, Money, Money machen, reich und berühmt werden, endlich Schluss mit den Alpträumen. Das würde ich an seiner Stelle machen. June Du bist nicht er. Winter Schade. Schade, weil sonst hättest du mich lieb. June Aber ich hab dich doch lieb. You’re an idiot, du bist eifersüchtig. Fuck you! Winter Fuck dich doch selbst. Fuck him Mayo Haytham. June und Winter Fuck fuck fuck fuck! Fuck! Es regnet doppelt so stark. Sie gehen beide in unterschiedliche Richtungen ab, June geht langsam mit ihrem Regenschirm weg, Winter rennt mit bloßem Haupt davon.

Am Bühnenrand Rosa Gedanken durchlöchern dir die Hirnzellen. Du kommst nicht mehr weiter. Du wirst banal. Du kannst das Schöne nicht mehr vom Hässlichen unterscheiden, das Interessante nicht mehr vom Idiotischen. Du siehst alles durch die rosa Brille. Rosa Gedanken ziehen dir den Boden unter den Füßen weg. Rosa Gedanken verschlagen dir die Sprache. Da kannst du weder laufen noch reden. Da hältst du die Klappe und spielst idiotische Spiele auf dem Tablet. Und du denkst, da draußen wird sich schon alles einrenken. Die Welt wird Blüten tragen. Du glaubst, die Welt wäre wie Blumen. Aber die Gletscher schmelzen. Die Meere weichen. Das Wasser versiegt. Die Wälder brennen. Winter


30

Die Blumen verwesen. Die Stürme wüten. Geh raus und sieh die entwurzelten Bäume, die Häuser ohne Dach, die das Hochwasser fortgeschwemmt hat. Schade, dass das nicht die Siedlung war, und da drin die Architekten, Bürgermeister und alle Bosse, die beschlossen haben, überall Hässlichkeit hinzupflanzen. Geh raus und sieh Turner und Raffael und Leonardo und De Staël in tausend Stücke zerfetzt, aufgeschlitzt. Sieh das in die Luft gesprengte Café, die Körper, die auf den Gehwegen bluten, sieh, wie alles in Schutt und Asche liegt, sieh die Angst, die Tränen. Siehst du das Leben immer noch durch die rosa Brille? Was tust du? Ziehst du wirklich deine Knarre und drehst komplett durch? Oder gehst du nach Hause, bestellst was bei Mäckes und versinkst wieder in deinen Patiencespielen oder einer Partie Combat Warrior. Wenn du alle Feinde abgeknallt hast, fängst du dann wieder von vorne an? Findest du das witzig? Gibt dir das den Kick? Glaubst du, du bist jetzt Boss? Glaubst du, so ist die Welt? Aber so ist die Welt nicht. Sie ist kein kleines rosa Herz und auch kein großes, das schön blutet. Glaubst du, SO ist die Welt? Ich hab die dunkeltunkenden Gedanken von Anfang an gehabt. Sobald ich die Augen aufgemacht hab. Ich hab das schöne Zeug gesehen und die widerlichen Sachen. Ich hab die hässlichen Siedlungen gesehen. Ich hab die Leute auf der Kartonpappe unter den Brücken gesehen. Ich hab die Leute in der U-Bahn betteln sehen. Ich hab gesehen, dass sie stanken und keine Zähne mehr hatten. Ich hab die Fresse vom Boss meiner Mutter auf dem Telefon aufpoppen sehen. Anscheinend hab ich nichts Besonderes gesehen. Nicht das Hauptsächliche, nichts, was von kapitaler Bedeutung wäre. Anscheinend ist das Leben hier rosa. Ich mag kein Rosa. Und das ist ja eine Frage der Logik. Wenn du rosa Gedanken hast, kannst du nicht klar sehen. Wenn du dunkeltunkende Gedanken hast, kann es nur klarer werden. Du kannst sie nicht noch dunkler tunken. Das ist logisch. Komplett logisch.


Sechs Landzunge. Festung. Ebbe. Der Kleine, etwas weiter weg, beobachtet sie aus seinem Versteck.

Ich werde doch den Boss meiner Mutter als Erstes dunkeltunken. Du spielst den Boss, ich spiele meine Mutter. Winter

Winter macht den Handy-Klingelton ihrer Mutter nach.

Guten Tag Lea, geht es Ihnen gut? Nein. June als Boss Nein? Winter als Mutter Es ist Sonntag. June als Boss Sie sind bei Ihrer Familie, I presume. Winter als Mutter Richtig präsumiert. Kommen Sie zur Sache. June als Boss Bitte? Winter als Mutter Sie haben mich ja nicht angerufen, um mir einen schönen Sonntag zu wünschen. Zur Sache! June als Boss Sie sind seltsam, Lea, so aggressiv. Wo Sie doch sonst so sanft sind. Winter als Mutter Sie kennen mich nicht komplett. June als Boss Auch Ihre Stimme, irgendwie anders als sonst. Wegen der Akte 34 / June als Boss

Winter als Mutter

31

Wird wieder zu Winter.

34 ist das Alter meiner Mutter / Winter als Mutter Das ist alles erledigt, oder? June als Boss Ja. Danke. Die 56 allerdings/ Winter Mit 56 wird sie hoffentlich davon / Wird wieder zu ihrer Mutter.

Segeln June als Boss

Entschuldigung? Sind Sie auf einem Boot, Lea? Ja und das Meer steigt, es steigt ganz gefährlich

Winter als Mutter

an, Kapitän. Eine Windböe zieht auf, eine ganz gewaltige Windböe, der Himmel tunkt dunkel, wenn Sie den Himmel so dunkeltunken sehen würden, würden Sie sich in Sicherheit bringen, der Sturm ist nicht mehr weit. Winter macht Windgeräusche.

Ich verstehe heute kein Wort von dem, was Sie sagen, Lea. Soll ich Sie heute Abend zurückrufen? Die Verbindung ist schlecht. Das liegt sicher am Wetter. Auf dem Meer ist es ja oft schwierig. Heute Abend verstehen wir uns bestimmt besser. Winter als Mutter Nein. Weder heute Abend noch Morgen. Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn ich wieder zur Arbeit komme, in zwei Wochen, wie geplant, wie unterschrieben. Vertraglich vereinbart. June als Boss


VERTRAGLICH: DURCH EINEN VERTRAG FESTGELEGT. KEINE DISKUSSIONEN. Der Kleine

Ich höre Sie gar nicht mehr, Lea. Passen Sie auf sich auf. Das Meer ist gefährlich. Ich rufe Sie morgen nochmal an. June als Boss

Winter macht eine Bewegung, als würde sie das Telefon von der Festung aus in den Ozean werfen. Winter

Nächstes Mal proben wir ihre Kündigung.

Der Kleine

KÜNDIGEN: SEINEN JOB AUFGEBEN. Er denkt nach.

Normalerweise ist es der Angestellte, der seinen Job aufgibt, nicht der Boss. Meinen Vater haben sie gezwungen zu kündigen, er hat seinen Mund zu weit aufgemacht. Das hat dem Boss nicht gefallen. Aber mit Winter ist alles möglich. Dieses Chick, Dunkeltunke-Winter, ist der Hammer! Ich liebe die voll!

DE STAËL (FORT D´ANTIBES) Am Strand, auf dem Weg zur Festung. Ebbe. Der Kleine

Ey du! Hey!

Mayo läuft schnell. Der Kleine rennt ihm hinterher.

Was willst du, Wurm? Hat Winter dir dieses Wort beigebracht, Tamtam? Winter gehört mir. Komplett mir. Du hast die Schicke, das Girl. Die ist fremd wie du. Mayo (geht in Stellung, um sich zu prügeln) Fremd auch du für mich. Der Kleine (zeigt auf den Ozean) Du willst dich schlagen. Ok. Im Wasser. Mayo

Der Kleine

Mayo zuckt mit den Schultern.

Du nimmst ein Schiff und kannst nicht mal schwimmen. Mayo Schwimmen kann ich. Der Kleine Wie ein Krebs, ein kleiner Hund. Mayo zuckt mit den Schultern.

Ich hab nen Deal. Mayo Deal? Der Kleine Ich bring dir schwimmen bei, du hilfst mir aus. Er zeigt zu den Villen, die über dem Strand thronen.

Da drinnen gibt’s Zeug, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Gemälde, so

32

Sieben


hoch wie Wände. Da gibt’s eins: Da ist das Meer grün und blau und schwarz. Da wird dir schwindelig, wenn du es zu lange anschaust. Ganz so, wie Winter es mag. Bestimmt ein Turner. Oder ein Monet. Er sagt »Turner« statt »Törner«, »Money« statt »Monäh«.

33

Es gibt auch was für dein Chick, nen Spiegel, da kann man sich komplett ganz drin sehen. Sieht aus wie ganz in Silber gerahmt. Sie wird drauf stehen. Mayo Ich klaue nicht. Der Kleine Wir geben die nach dem Sommer zurück. Wenn die Mädels wieder weg sind. Mayo Wir klauen, wir geben nichts zurück. Der Kleine Die Leute da drüben, die sind verri verri reich. Die werden sich schon neue kaufen. Turner oder Monet ist denen egal. Die mögen es bloß nicht, wenn ihre Wände leer bleiben. Die Mädels werden uns voll lieben mit unseren Geschenken. Mayo Ich glaube nicht und ich klaue nicht. Der Kleine Du hast Schiss. Alleine kann ich das nicht. Turner und der Spiegel sind zu groß für mich allein. Da muss man stark sein. Du bist stark. Mayo geht weiter.

Wenn du nicht mitkommst, petze ich. Du und die Engländerin. Für dich geht’s sofort zurück nach Hause. Mayo

(dreht sich um und schnappt sich den Kleinen) Niemals zurück.

Niemals, verstehst du. Nach Australien. Der Kleine Es gibt echt fiese Spinnen in Australien. Mayo lässt ihn los und geht weiter.

Die Spinnenweibchen. Die beißen dich, geben dir den Todeskuss. So. Er beißt Mayo. Sie schlagen sich. Mayo setzt sich durch. Er geht weiter. Der Kleine spuckt auf den Boden und läuft neben ihm her.

Und wenn ich es zerschneide? Wenn ich den Turner zerschneide, kann ich ihn alleine mitnehmen. Dann brauch ich dich nicht. Die hat recht, die Dunkeltunke, ein Gemälde ist komplett besser als ein Spiegel. Der Spiegel geht kaputt, wenn du ihn zerschneidest, das Gemälde kannst du immer noch zusammenkleben.


Acht Beginn der Landzunge. Ebbe. Der Kleine lauert im Hinterhalt, in sein Telefon versunken. Etwas weiter weg beobachtet Winter mit ihrem Fernglas den Kleinen.Sie kommt langsam näher, und als sie hinter ihm angekommen ist, schreit sie. Winter

Hallo!

Der Kleine schreckt auf, stolpert, lässt sein Telefon fallen. Winter hebt es schnell auf.

Gib her! Winter lacht. Das ist meins. Winter Das wollen wir doch mal sehen. Das hast du irgendwo mitgehen lassen. Das neue Smartphone! Solar aufladbar, wasserdicht, flexibles Display, 3D-Videos, verschlüsselte Telefonie. Hast du die Japaner aus dem Reisebus abgezogen? Der Kleine Ich hab es auf dem Boden gefunden. Gib es mir zurück! Winter Und was gibst du mir dafür? Einen Kuss? Der Kleine

Sie brüllt vor Lachen.

Dich krieg ich eh noch. Kleiner Däumling, du wirst jetzt tun, was ich dir sage. Dann gebe ich es dir vielleicht zurück. Der Kleine Und du gibst mir einen Kuss. Winter Ich geb dir zwei. Oder drei. Der Kleine Auf den Mund. Winter Mit Zunge. Der Kleine Alles klar. Winter

Sie machen einen Hand Check, wie sich Teenies begrüßen: Man gibt sich einen Handschlag mit der offenen Hand, dann stößt man die geschlossenen Fäuste an den Fingerknöcheln leicht aneinander.

Du wirst als Zeuge aussagen. Ich weiß, dass du sie gesehen hast. Die Ertrunkenen. Die Eltern von Mayo waren dabei. Der Kleine Davon weiß ich nichts. Winter Und ob du das weißt. Der Kleine Nein. Man weiß nicht, wer die Leichen waren. Sie wurden nicht identifiziert. Winter

IDENTIFIZIEREN: DIE IDENTITÄT EINER PERSON ODER EINER LEICHE FESTSTELLEN. Winter DEN NAMEN, DAS VERWANDTSCHAFTSVERHÄLTNIS, USW.

Mayo hat geweint, als er seine Familie in den Armen hielt. Der Kleine Was schiebst du denn für einen Film?

34

Der Kleine


Du warst doch live dabei und hast alles gesehen. Du wirst das sagen. Dann kann Mayo von Junes Vater adoptiert werden. Der Kleine Er ist dann also ihr Bruder. Winter Ja, wenn du so willst. Der Kleine Würde mich wundern, wenn ihm das recht wäre. Winter Warum nicht? Der Kleine Wenn er dann ihr Bruder ist, kann er nicht mehr ihr Geliebter sein. Winter Er ist dann nicht komplett in echt ihr Bruder. Der Kleine Wenn er nicht mehr ihr Geliebter ist, kann ich nicht petzen. Winter Was petzen? Der Kleine In meiner Logik macht es Sinn. Winter

LOGIK: VERNÜNFTIGE ART UND WEISE, VERNUNFTSCHLÜSSE ZU ZIEHEN. Winter

Also du machst eine Zeugenaussage.

Sie gibt ihm sein Telefon zurück.

Zum Beweis meiner Anerkennung, wenn du Einsatz beweist. Und jetzt beweis mal, wie schnell du dich vom Acker machen kannst. Er geht.

35

Und da ich ihm das Telefon zurückgegeben habe, kriegt er von mir keine Küsse.

Am Bühnenrand Vertrauen geht nicht. Das setzt mir so zu. Kein Wort wird mehr gehalten. Kein Händedruck hält mehr. Es gilt kein Vertrag mehr. Es gibt keine Freunde mehr. Überall nur noch Verräter. Alle überwachen alle. Alle nehmen sich in Acht. Alle haben alle im Verdacht. Man kann nicht mehr vertrauen. Sich anvertrauen. Winter

Kurze Stille

Abgesehen von June und mir. Kurze Stille

Auch wenn da Mayo ist. Auch wenn sie den halben Tag mit Mayo verbringt. Wir haben eine Abmachung. Nur den halben Tag. Zum Glück arbeitet er auf der Baustelle für die neue Siedlung.


Der neue Schandfleck im Ort. Mit Meerblick. Kurze Stille

Nach dem Boss oder davor kümmere ich mich um den Architekten. Oder den Bürgermeister. Oder beide. Komplett. Stecken alle unter einer Decke. Um Bürgermeister zu werden, hatte er überall groß ausgehängt: »Küstenschutz betreiben, keine weitere Verunstaltung der Strände«. Zu verstehen war darunter das Gegenteil: eine weitere Verunstaltung der Strände. Komplett das Gegenteil. Sie gibt die Definitionen selbst an.

VERUNSTALTUNG: WENN DU DEINE GESTALT VERLIERST.

Wenn du keine Gestalt mehr hast, bist du tot, oder? Selbst die Worte lügen. Es wird keine vier Jahre dauern, bis die neue Siedlung fertig ist. Zu Weihnachten ist die fertig. Zu Ostern vermietet. Mit Parkplätzen überall. Ich hasse die. Eine Adoption, hat June gesagt, kann über vier Jahre dauern. Das kann lange dauern. Zu lange. Da lohnt sich das mit der Zeugenaussage nicht. Wenn Siedlung fertig, auch Mayo fertig. Es sei denn, sie bauen eine neue Siedlung. Ich weiß nicht, was besser ist. Mayo oder eine neue Siedlung. Siedlungen sind wirklich voll hässlich. Es gibt schon zu viele davon. Und jedes Mal gibt es dazu auch ein neues Einkaufszentrum. Das noch hässlicher ist. Sie zögert. Ich glaube, mir ist lieber, dass Mayo weggeht. June wird traurig sein. Ein wenig. Aber ich werde ja da sein. Komplett. Kurze Stille

Mayo hat geschummelt. Er hat ein falsches Alter angegeben, um arbeiten zu können. Der Bauleiter hat geschummelt. Der Architekt hat geschummelt. Der Bürgermeister hat geschummelt. Niemand hat ihn nach seinen Papieren gefragt. Der Bürgermeister und der Architekt und der Bauleiter sind wie Mayo. Ihr Verhalten ist ordnungswidrig.

36

Kurze Stille


ORDNUNGSWIDRIG: ILLEGAL, EIN VERSTOSS GEGEN DIE GEBRÄUCHE UND GESETZE EINER GESELLSCHAFT.

Erklären ist nervtödlich. Der Kleine macht das voll gut, oder? Alle arrangieren sich mit allen. Das ist widerspruchsvoller. WIDERSPRUCHSVOLL: ZWEI SACHEN, DIE UNMÖGLICH ZUSAMMENGEHEN, DIE GEGENSÄTZLICH SIND.

Als ob ich dem Embryo die Hand reichen würde. Als ob June dem Architekten die Hand reichen würde. Als ob Siedlung oder Festung egal. Als ob Syrien oder Frankreich Jacke wie Hose. Als ob meine Mutter ihrem Boss die Hand reichen würde. Fuck. FUCK FUCK FUCK FUCK.

Neun Landzunge. Festung. Ebbe. June und Mayo sitzen Hand in Hand vor der Mauer der Festung.Der Kleine beobachtet sie aus seinem Versteck.

37

Bald weg. Nein. Mayo Hier nichts. Nach Australien. June Australien ist weit weg. Super super super super weit weg. Mayo Arbeit. Große Städte. Große Natur. Große Tiere. Alles neu. Ich auch neu. Ich werde nicht angeschaut, beschimpft, angemacht. Wie heißt du? Ich heiße Mayo. June Wie willst du denn da hinkommen, nach Australien? Mayo Segelboot. June Segelboot? Du träumst wohl, Mayo. Mayo Hier lernen. Für very very reichen Besitzer arbeiten. Segelboot putzen. Segelboot nach England begleiten kommen und gehen. Seemann werden. Kapitän. Das Meer kriegt mich nicht mehr. Nie mehr. June Mein Vater hat ein Segelboot. Ein kleines. Er kann es dir beibringen. Mein Vater will dich adoptieren. Mayo Nein. Nicht adoptieren. Keine Lust. Familie Vergangenheit. Vergangenheit vorbei. Mayo June


Ich komplett frei. June Ich will bei dir bleiben. Mayo Du kommst Australien. Land ausgesucht. Name ausgesucht. Dich ausgesucht. Sie küssen sich? June

Sag mal, in Australien, gibt es da Löwen?

HENRI ROUSSEAU (DER TRAUM, AUSSCHNITT)

June Mayo June

(zögert) Ja. Warum? Ich mag Löwen. Es gibt Kängurus und Spinnen, die beißen. Toxische?

Der Kleine

TOXISCH: MIT GIFT IM MUND WIE SCHLANGEN.

Nur die Spinnenmädchen. Die Jungs sind nett. Junge harmlos, Mädchen toxisch. June Spinnen mag ich sowas von gar nicht. Ich mag keine Krokodile. Mayo Krokodile? Gibt‘s da nicht. June Und Löwen? Mayo (zögert leicht) Löwen ja, total viele. June Ich frag mal Winter, weil du scheinst es nicht komplett zu wissen. Woher weißt du das mit den Spinnen? Mayo zuckt mit den Schultern.

Und Winter? Mayo Winter? June Die kommt auch mit nach Australien. Mayo Nein. Warum kommt sie mit nach Australien? June Wir trennen uns nicht, Winter und ich. Mayo Aber ich, ich liebe dich. June Ich auch. Mayo Man geht mit dem, den man liebt. June Winter liebe ich auch. Mayo Nicht genauso. June Doch genauso. Mayo Du bist nicht verliebt mit Winter. June Winter und ich, wir werden uns nicht trennen. Niemals. Mayo Du verstehst das nicht. Du bist zu klein. June springt beleidigt auf. June

What the fuck did you say? Was hast du da gesagt?

Mayo zuckt mit den Schultern. June geht.

38

Mayo


Zehn Landzunge. Festung. Ebbe. Das Meer ist noch weit weg. Es wird langsam wieder ansteigen. Mayo sitzt an die Mauer der Festung gelehnt. Winter kommt angerannt. Der Kleine, etwas weiter weg, beobachtet die beiden aus seinem Versteck.

Wo ist June? Mayo Weg. Winter Nicht möglich. Wir haben eine Verabredung, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Winter

Mayo zuckt mit den Schultern.

39

Weißt du, was dunkeltunkende Gedanken sind? Mayo (denkt nach) Schlepper. Winter Schlepper? Mayo Mann, der alles Geld nimmt, um übers Meer zu kommen. Zu viele Leute. Alle eng eng. Boot mies. Boot untergegangen. Winter Schlepper Bürgermeister Boss Regierung. Dunkeltunke-Gedanken. Mayo Ja. Winter Siedlung Parkplatz Einkaufszentrum. Mayo Einkaufszentrum? Winter Überall Geschäfte überall Mäckes überall Lärm Parkplätze überall Hässlichkeiten überall bäh. Mayo zuckt mit den Schultern.

Das keine Dunkeltunke-Gedanken. Bomben Gas Kalaschnikow Dunkeltunke-Gedanken. Winter Syrien? Mayo Ja. Syrien Afghanistan Irak Sudan Somalia Türkei. Usw. Weg. Winter Bringt nix. Überall alles gleich. Italien England Deutschland Belgien. Amerika. Frankreich. Mayo Australien? Winter Wenn alle nach Australien gehen, sind da dann die schlechten Architekten die Bürgermeister Bosse Parkplätze Einkaufszentren Siedlungen. Das ganze Hässlichkeitskapital. Mayo


Dann wird es für uns alle eng. Das ist keine Lösung. Das muss man alles dunkeltunken. Mayo Uns auch. Wir auch Hässlichkeit. Wir auch Kapital. Uns auch dunkeltunken. Winter Ich dunkeltunke den Bürgermeister und den Architekten. Wenn du mit der Baustelle fertig bist. Sie macht eine Bewegung, als würde sie den Architekten und den Bürgermeister abmurksen. Mayo lacht.

Glaubst du mir nicht? Glaubst du, du bist wie die anderen? Da liegst du falsch. Du wirst unterbezahlt. Ausgebeutet. Gedemütigt. Weiter so und du ertrinkst. Deine einzige Chance ist es, mit mir gegen die Ungleichheit zu kämpfen. Mayo Nicht so schnell reden, und ich verstehe Worte nicht. AUSGEBEUTET: WENN JEMAND DICH AUSNUTZT UND MIT DEN FÜSSEN TRITT. UNGLEICHHEIT: JUNGS STÄRKER ALS MÄDCHEN. BESSER BEZAHLT. Der Kleine

Das nennt man Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeitskapital. KAPITAL: KOMMT VON KOPF. DAS IST, WENN DU GANZ OBEN BIST. JE HÖHER DU KLETTERST, DESTO MEHR BIST DU CHEF. Der Kleine

Chef kommt auch von Kopf, Oberhaupt, Chef auf der Baustelle, Chef im Unternehmen. Boss halt! Je mehr du Boss bist, desto größer ist dein Kapital, desto mehr bist du wert, weil du wirklich viel Money in der Pocket hast. Was kein Kapital hat, ist ‘nen Appel und ‘n Ei wert. So wie ich, wie Mayo. Besser man ist kapitalkräftig. Besser man ist dickköpfig. Wie die Dunkeltunke. Wie ich. Winter June wird es dir erklären. Warum kommt June nicht? Mayo Gestritten. Weg. Winter Warum? Mayo Liebessachen. Jetzt auch June Dunkeltunke-Gedanke. Er steht auf. Meer bald oben. Winter Ist mir egal. Ich warte auf June. Er geht.

40

Winter


Elf Landzunge. Festung. Die Flut steigt. Der Kleine geht zu Winter, er spricht jetzt, ohne sein Telefon zu Hilfe zu nehmen.

Da herrscht dicke Luft. Da braut sich was zusammen. Bei den Verliebten hängt der Haussegen schief. Die Liebe lässt die Flügel hängen. Australien – ein Schlag ins Wasser. Winter Du bist ja weise geworden, Däumling! Der Kleine Das macht die Liebe! Der Kleine

Winter zuckt mit den Schultern.

41

Er will dich nicht dabeihaben. Winter Was laberst du da? Der Kleine Mayo. Er will dich in Australien nicht dabeihaben. Nur June und sich. Winter June wird nicht nach Australien gehen. Der Kleine Wird sie doch. Er ist ihr Macker. Winter Du bist eifersüchtig. Der Kleine Nee, das bist du selber. Du bleibst mit mir in der Heimat. Winter Australien wird überbewertet. Der Kleine Ja, das ist was für Snobs. Winter Ich gehe nach Polynesien. Mit June. Der Kleine Da bist du ja wohl auf dem falschen Dampfer. Wo liegt denn Polynesien? Winter Da ungefähr. In Polynesien gibt es alles. Das Meer ist schon mal überall. Komplett. Der Kleine Hier ist das Meer auch bald überall, wenn wir nicht losmachen. Und du wirst Polynesien nie zu sehen bekommen. Winter Ich hab keine Angst. Der Kleine Ich auch nicht. Winter Warum bist du immer da, wo ich bin? Hier ist das Gebiet von June und mir. Der Kleine Das hier gehört allen. Er macht Winter nach. »Ich bin nicht alle« Winter Ich mach dich kalt, Wurm. Der Kleine (singt) »Oh mon amour regarde-moi


Oh mon amour ma vie s’en va.« 1 Winter Es wird Nacht und du frierst dir die Knochen ab. Ich hab einen Pulli dabei. Der Kleine »Oh mon amour ne t’en vas pas Oh mon amour tu danses en moi Ne me laisse pas non regarde-moi.« 2 Du bist jetzt meine Freundin. Winter Niemals. Der Kleine Meine Geliebte. Sie stürzt sich auf ihn, sie prügeln sich. Das Meer steigt. Sie sagen nichts mehr. Die Sonne steht immer tiefer. Der Kleine faltet eine Fotokopie auseinander, die er Winter abgeluchst hat. HOKUSAI (DIE WELLE)

Winter war zum Abendessen nicht nach Hause gekommen. Ihre Mutter suchte nach ihr. Ich wusste, dass sie auf der Festung war. Aber mit wem, das konnte ich mir nicht denken. Ich wusste auch, dass sie das mit Absicht getan hatte. Winter und ich, wir lassen uns nie von der Flut kriegen. Ich hab nichts gesagt. Ich wusste, dass sie dortbleiben wollte. Was sie da wollte, konnte ich mir nicht denken. Ich musste sie suchen gehen. Ich wusste nicht wie. Mayo musste mir helfen. Er hatte mich voll aufgeregt. Aber ich bin zum Lager gegangen. Im Lager war es nicht wie hier. Ein großes Zelt. Alle aßen Spaghetti, als ich angekommen bin. June

Auszug aus dem Lied »Oh mon amour« von Cœur de pirate, Arthur H., Marc Lavoine: »Oh meine Liebe schau mich an.« 2 Auszug aus dem Lied »Oh mon amour« von Cœur de pirate, Arthur H., Marc Lavoine: »Oh meine Liebe, geh nicht fort Oh meine Liebe, du tanzt in mir Verlass mich nicht, nein, schau mich an.« 1

42

Am Bühnenrand


Das würde Winter nicht gefallen, habe ich gedacht. Sie hocken aufeinander wie Sardinen in der Dose. Mayo tritt auf.

Willst du was ab? Hab keinen Hunger. In echt, I was starving, ich hatte großen Hunger, aber ich mag keine Tomatensoße aus der Dose. Und es gab weder Wurst noch Parmesan. Wir sind aus dem Zelt raus. Wir müssen sie suchen gehen. Mayo hat wie immer mit den Schultern gezuckt. Mayo June

Mayo zuckt mit den Schultern.

Ich hatte Herzklopfen. Ob wegen Mayo oder wegen Winter, wusste ich nicht. Mayo Winter will alleine sein, lassen sie. June Nein, irgendwas stimmt da nicht, ich spüre das. Und ich hab Mayos Hand auf mein Herz gelegt. Sie nimmt Mayos Hand und legt sie auf ihr Herz.

43

Mein Herz schlug ganz ganz stark. Alles, was Winter spürte, spürte ich auch. Das ist Liebe. Aber das hab ich Mayo nicht gesagt. Wir brauchen ein Boot. Mayo Das Meer geht zu stark. June Rudern ist nicht so kompliziert. Ich kann das. Und du bist stark. Du bist stärker als das Meer. Wir müssen Winter suchen gehen. Sofort. Wir haben den Kahn vom Kleinen genommen und sind los.

Zwölf Landzunge. Festung. Es ist schon Flut. Die Sonne geht langsam unter. Es ist von bezaubernder Schönheit. Das Meer steigt, es grollt.

Dich werde ich noch los. Du wirst mich nicht los, niemals. Ich bin bei dir, ich bleibe bei dir. Ich werde immer da sein. Ich werde aber nicht in einer Bruchbude leben. Und ich werde nicht Fischer. Es gibt eh keine Fische mehr. Winter Ich weiß. Winter

Der Kleine


Es gibt Plastiktüten Flaschen Coladosen Styropor Müllsäcke Öl und Quallen. Der Kleine Ich werde in der Siedlung wohnen. Oben. Wegen der Aussicht. Da gibt’s Elektroheizung, W-LAN und Platz, um das Bild aufzuhängen. Winter Welches Bild? Der Kleine Turner oder Constable Er sagt Constable statt Constebbel. Aber nicht Gericault, Gericault tunkt zu sehr im Dunkeln. Bei uns wird nie was dunkeltunken. Das Meer grölt.

Nicht mal im Traum werde ich mit dir zusammenleben! Nicht mal bildlich gesprochen! Der Kleine Musst du aber, wenn du hierbleiben willst. Der Bürgermeister hat gesagt, es wird hier keine Fremden geben. Winter Ich bin keine Fremde. Der Kleine Doch. Du wohnst hier nicht das ganze Jahr über. Du lebst in der Hauptstadt. Du bist auch so eine mit hoch erhobenem Haupt. Winter Meine Mutter. Ich nicht. Ich werde hier leben. Der Kleine Mit mir. Winter Alleine. Der Kleine Das wird nicht gehen. Du wirst mich heiraten müssen. Ich lebe schon immer hier. Ich bin autochthon. Winter Du bist vor allem naiv. Was glaubst du, für wen die Siedlungen sind? Der Kleine Für uns. Der Bürgermeister besorgt uns neue Wohnungen. Das hat er im Wahlkampf gesagt. Winter Du schluckst alles, was man dir erzählt. Was Politiker sagen, ist doch erstunken und erlogen. Was der Bürgermeister sagt, ist erstunken und erlogen. Je mehr du Boss bist, desto mehr sagst du fett Erstunkenes und Erlogenes. Die Siedlung ist für Touristen. Um Geld zu machen. Und du bleibst in deiner Bruchbude. Der Kleine Erstinken gibt es gar nicht. Winter Wenn ich dir das sage, dann gibt es das auch. Sie singt: »Tout le monde ment tout le monde ment Le gouvernement ment énormément.« 3 Der Kleine Du lügst auch. Winter

Das Meer grollt. Der Kleine zeigt auf das Meer. Auszug aus dem Lied »Tout le monde ment« von Massilia Sound System, sinngemäß etwa: »Alle Leute lügen, alle Leute lügen / die Regierung lügt, dass sich die Balken biegen.« 3


Das lügt aber nicht. Los, wir gehen. Winter (singt) »Le terrible ment et le gentil ment, Le brutal ment et le doux se ment, Le tranquille ment, le féroce ment, L’héroïque ment, l’ordinaire ment. Ordinairement, bien sûr l’arme ment« 4 Der Kleine Hey, wir gehen. Gleich kommen wir nicht mehr weg. Winter Wir kommen nicht mehr weg. Das Meer ist jetzt zu hoch. Du steckst mit mir hier fest. Haste Angst? Komplett? Der Kleine lacht.

Steh auf. Lauf mir nach. Winter Geht’s noch. Ich mag es nicht, wenn man mir nachläuft, und ich laufe niemandem nach, schon gar nicht dir. Der Kleine Deine Mutter wird dich überall suchen. Winter Und June auch. Der Kleine June denkt nicht an dich. Die ist bei ihrem Geliebten. Der Kleine

45

Er geht ein Stück weit weg.

Wohin gehst du? Der Kleine Ich gehe nach Hause. Winter Du Wichtigtuer. Der Kleine Was hast du da gesagt? Winter Ich hab Wichtigtuer gesagt. Der Kleine Diss mich nicht. Ich diss dich nicht. Ich respektiere dich. Und außerdem führ ich dich sogar von der Festung weg, wenn du willst. Winter Das möchte ich sehen, Däumling. Der Kleine Ich sollte dich hier zurücklassen. Alle werden denken, du bist tot. Und du bist auch tot, wenn du hierbleibst. Das Meer wird dich fortreißen. Die Amplitude der Flut ist heute Nacht bei 100. Winter

Auszug aus dem Lied »Tout le monde ment« von Massilia Sound System, bei dem es vor allem um den Klang und das Wortspiel mit »ment« (»lügt«) und der gleichlautenden Adverbendung »-ment« geht, wörtlich etwa: »Der Schreckliche lügt und der Nette lügt / Der Brutale lügt und der Sanfte belügt sich / Der Ruhige lügt, der Grausame lügt / Der Heldenhafte lügt, der Gewöhnliche lügt. Für gewöhnlich lügen natürlich auch die Waffen.« 4


Und weißt du, was der Höchstwert ist? Winter schweigt.

Der ist 120. Also mach, was du willst. Ich gehe nach Hause. Winter steht auf und beginnt, ihm zu folgen. Die Sonne geht unter. Es dämmert langsam. Das Meer heult. Sie laufen von Felsen zu Felsen.

Siehst du den spitzen schwarzen Felsen? Der ist mindestens zweieinhalb Meter hoch. Vielleicht drei. Oder vier. Oder höher. Hörst du das Wasser, das ihm langsam die Füße leckt? Bald steht er ganz unter Wasser. Das Meer brüllt.

Pass auf, es ist rutschig. Du kannst bis ganz nach unten runterstürzen. Er reicht ihr die Hand. Sie zögert, nimmt sie nicht an. Der Kleine klettert auf den Felsen. Man sieht die beiden nicht mehr. Dann ist ein Schrei zu hören, ein Sturz.

Am Bühnenrand Winter steht. Zu ihren Füßen liegt Der Kleine. Mayo und June liegen auch. Lange Stille, bevor Winter das Wort ergreift.

Das Meer war ganz dunkel. Wie ich. Die Nacht ganz dunkel. Wie ich. Ich mag es, wenn alles dunkel ist. Ich habe an alle gedacht, die mich genervt haben. Der Boss von meiner Mutter. Der Architekt. Der Bürgermeister. Der Kleine. Und sogar June. Und das Meer grollte wirklich sehr laut. Ich hatte vielleicht ein kleines bisschen Angst. Winter

46

Sie folgt ihm.


Ein ganz kleines bisschen. Und ich dachte an June. June, sag mal, du wirst doch nicht weggehen? BILDSERIE VON CONSTABLE, DER REIHE NACH (STÜRME)

Ich hab an sehr dunkle Dinge gedacht, Dinge, die ich noch nie gedacht hatte, ich hab gedacht, dass Mayo bald abgeschoben wird, dass er dann wieder ein Schiff nimmt und das Schiff untergeht. Ich hab gedacht, dass ich solche Dinge nicht denken darf, solche Dinge wie sie von Bürgermeistern Bossen und Regierungen kommen, Dinge, die nicht wirklich dunkel sind, sondern hässlich, wirklich komplett hässliche Gedanken, und dann hab ich trotzdem gedacht, dass es schon besser wäre wenn Mayo nicht da wäre, und ich hab auch gedacht, wenn der Kleine mich hier rausholt, dann stehe ich in seiner Schuld. (ohne sich zu bewegen) IN JEMANDES SCHULD STEHEN: WENN MAN JEMANDEM ETWAS SCHULDIG IST. WINTER SCHULDET MIR JETZT WAS. Der Kleine

Ich wäre ihm mindestens zwei Küsse schuldig. Zwei echte. Das Meer machte einen furchtbaren Lärm, komplett furchtbar und wir liefen über Felsen und sahen kaum noch was. Und dann ist er / Der Kleine Abgestürzt. Winter Er hing schräg über einem schwarzen Felsen. Er streckte seinen Arm nach mir aus. Ich hab ihn gepackt und daran gezogen. Aber er konnte seinen Der Kleine Linken Fuß nicht mehr auf dem Boden aufsetzen. Winter Und bald würde das Meer unsere Füße verschlucken, wenn wir uns nicht vom Fleck bewegen würden. Ich hab meinen Pulli ausgezogen und ihm einen Verband daraus gemacht. Der Kleine Schön fest. Und du hast zu mir gesagt Winter Stütz dich auf mich. Winter

47

Der Kleine steht auf. June

(ohne sich zu bewegen) Zur gleichen Zeit auf dem Meer.

June steht auf.

Ruder Mayo ruder. Schnell heftiger heftiger. Schneller. Ich hab Angst. Mayo

(ohne sich zu bewegen) Das Meer schrie.

Mayo steht auf. Winter

Das Meer fauchte.


Klang wie ein Löwe eine Meute von Löwen. Winter Wie hundert Meuten von Löwen Tigern und Panthern. June Bist du sicher, dass es in Australien Löwen gibt? Mayo Ruder! June Es ist zu heftig. Winter Es ist zu dunkel. June Mein Ruder ist gebrochen. Winter Das Meer stieg an. Die Felsen waren rutschig. Mein Fernglas! Der Kleine Lass gut sein, das ist ins Wasser gefallen. Wir müssen hier weg. Geh weiter! Winter Ich hatte Angst, aber ich biss die Zähne zusammen. June I was scared to death. Überall gab es Felsen wie Spieße. Ich bin gestorben vor Angst. Mayo Ich hatte auch Angst, aber ich biss die Zähne zusammen. Wir legen gleich an einem Felsen an. June Wir brechen uns gleich die Knochen. Der Kleine Vorsicht vor den Felsen. Du kannst dir die Knochen brechen. Winter Er hat mir gezeigt, wo es langging und sich auf mich gestützt. Der Kleine Wir liefen nach unten und drängten uns dabei eng aneinander. Winter Ganz eng. June Wir drängten uns aneinander. Mayo Ganz eng. Winter Wir sind ganz unten auf der anderen Seite der Festung angekommen. June Wir haben ein Motorengeräusch gehört und Fackeln gesehen, die uns geleuchtet haben. Der Kleine Am Ortseingang kurz hinter dem ersten Einkaufszentrum. June Das war das Schlauchboot der Küstenwache. Der Kleine Diese ganzen heruntergelassenen Rollläden sind hässlich, habe ich gedacht. Ich konnte überhaupt nicht mehr laufen. Winter Ich hab gesagt: Ich hole meine Mutter und wir kommen mit dem Auto wieder. Und genau in dem Moment war das Auto von Junes Vater da. Der Kleine Mit June und Mayo drin, klitschnass. Winter June! June Winter!

48

Der Kleine


Er hat mich aus der Festung rausgeholt. Der Kleine Sie hat mir beim Gehen geholfen. June Er hat ganz heftig gerudert. Mayo Sie hat keine Angst gehabt. Winter Er kennt geheime Wege. Der Kleine Sie hat vor nichts Angst, die Dunkeltunke. June Winter, stimmt es, dass es in Australien Löwen gibt? Winter Weiß nicht. Der Kleine Nein, gibt es nicht. Aber in Polynesien gibt es Gauguin und Matisse. Mayo Wer ist das? Winter Freunde. Der Kleine Neue. Die sind gut, um Dunkeltunke-Gedanken auszumerzen. Winter Um der Hässlichkeit ein Ende zu setzen. Und da ist das Meer, wie hier, überall. Der Kleine Und es ist immer warm. June Was spricht man in Polynesien? Der Kleine Man spricht alles. Poly heißt alles. Winter Man spricht polyglott. June Fremde gibt es dann nicht? Der Kleine Bestimmt nicht. June Wir müssen Matisse anrufen und ihn fragen. Mayo Ich würde ja gerne gleich dahin. Der Kleine Ich auch. Winter Okay. June Ich zieh mir ein anderes Kleid an. Alle vier Und dann nichts wie los! Winter

49

MATISSE (POLYNESIEN) ODER GAUGUIN



Annick Lefebvre

Stacheldraht [Originaltitel: Les Barbelés] aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck

Das Centre des auteurs dramatiques (CEAD) und die Vertretung der Regierung von Québec förderten die deutsche Übersetzung. Bei Publikationen, Lesungen und Aufführungen des Textes ist dies unbedingt anzugeben.


Für Alexia, Marie-Ève und Sara. Dies ist mein Text. Dies ist euer Text.

DIE FIGUR: Der Stacheldrahtmensch ist vielleicht ein Mann, vielleicht eine Frau und vielleicht jemand, für den Geschlecht etwas Fließendes ist. Die Figur kann von einem Mann gespielt werden, von einer Frau oder von jemandem, der keine große Affinität zu derartigen Kategorien hat. Die Figur hat einen Lebensgefährten oder eine Lebensgefährtin, der oder die demselben oder einem anderen Geschlecht angehört. Außerdem ist die Figur vor kurzem Mutter oder Vater oder Elternteil geworden. Alles andere ist nicht von Bedeutung. Sucht nicht nach der Szene, die enthüllt, welches Geschlecht oder welche sexuelle Orientierung die Figur wirklich hat: Es gibt sie nicht.

DER ORT: realistischen Ort statt, der allerdings eine Verzerrung der Wirklichkeit erlaubt. Die Zeit ist die des Denkens, das beschleunigt und mit voller Wucht gegen eine Wand prallt.

52

Die Handlung (so es überhaupt eine gibt) findet an einem potenziell


1. Wie es anfängt So was wie das, meint man, gibt’s gar nicht, nicht in echt, nicht in Wirklichkeit. So was kann nicht sein, denkt man, nein, nein und nochmals nein, fucking nein, holy shit nein, doppelt und dreifach nein, das kann um Gottes Willen nicht sein, bei Jesus, Maria, Joseph, allen Heiligen, allen Seligen und allen Märtyrern nicht, bei allem nicht, woran wir glauben, woran wir nicht glauben und woran wir schon lang nicht mehr glauben, wir können es nur für unmöglich, unrealistisch, ungeheuerlich halten, es kann einfach nicht sein, dass uns so was gegen unseren Willen überkommt, dass es uns überkommt wie ein starkes Schmerzmittel, dass es uns ohne Vorwarnung überfällt und uns zu einem viel zu frühen Tod verurteilt. So was spezifisch Ungehöriges kann doch nur fake sein, ein Gerücht, eine Übertreibung, eine Großstadtlegende, die auch in Kleinstädten grassiert, auf dem platten Land, am Arsch der Welt. Ein solcher Glaube, ein in seiner Dummheit schlauer Glaube, ein im Übermaß verbreiteter Glaube, muss doch, so denkt man, in die Welt gesetzt worden sein, weil irgendein armes Würstchen, ob männlich oder weiblich oder sonst was, irgendein armes Würstchen ohne eigenes Leben, irgendein Loser oder eine Loserin, dem oder der es im Nahumfeld, im Rückspiegel der Gefühle und im Blickfeld der Möglichkeiten an Liebe fehlt, weil irgendein armer Mensch, dem es an Anerkennung, Zuwendung und Unterstützung fehlt, seine dreckigen Troll-Griffel ausgestreckt und den Computer hochgefahren hat. Ein Durchgeknallter, ob männlich oder weiblich oder sonst was, der oder die akribisch mehrere obskure experimentell-medizinische Informationsseiten wikipediert und die bösartigen Gedanken rausgelassen hat, die zwischen seinen oder ihren Trommelfellen Marathon laufen, muss sich diese krasse, splattermäßige Horrorstory ausgedacht haben, etwas so ausgeklügelt Abgefahrenes, so »beängstigend Beängstigendes« wie die unvermeidliche Anwesenheit von Stacheldraht in jedem von uns. Aufgrund der Komplexität seines Körpers trägt jeder Mensch ein Stück Stacheldraht im Unterbauch, das bei der Geburt maximal zwei bis drei Zentimeter misst. Während der Mensch heranwächst und die Höhen und Tiefen seines Lebens durchläuft, bahnt sich der Stacheldraht zwischen Bauchdecke und Eingeweiden einen Weg durch den Körper und setzt sich an genau dem Punkt fest, der den Menschen aufrecht hält. An jenem symbolischen Ort, der den Saft des Lebens produziert, jenem konkreten Ort, an dem sich ein Großteil der lebenswichtigen Organe befindet. Der Stacheldraht, der zunächst im unteren Teil des Abdomen angesiedelt ist, kann im Laufe der Zeit durch den Körper hindurchwachsen wie ein Pflänzlein, das durch Sonnenschein und regelmäßiges Gießen aus einem Samenkorn sprießt, in einigen Fällen dringt er sogar bis zur Luft- und Speiseröhre vor. Eine kürzlich durchgeDer Stacheldrahtmensch

53


54

führte Studie über das Phänomen kam zu dem Schluss, dass sich der Stacheldraht in diesem Wachstumsstadium in der Kehle des Menschen einzurollen beginnt und sich dann in Rekordzeit um sein Gesicht windet und ihm die Lippen zunäht. Wegen dieses intra-epigastrischen Stacheldrahts, wie es im Fachjargon heißt, verschlug es in den letzten Jahren in Nordamerika mehr als vierhundertsechzig Menschen Sprache, Rede und Stimme. Bullshit! Nichts als Bullshit! Sensationsgeiler Bullshit! So was wie das, denkt man, gibt’s gar nicht, nicht in unserer Stadt, nicht in unserem Bauch. Man denkt, so was passiert nur Bibliothekar*innen, die ihren Körper endgültig auf den Index gesetzt haben und nicht wollen, dass ihnen jemand im Hinterzimmer an die Archive geht. So was passiert nur Linguist*innen, die Laute studieren, ohne sie jemals im Rausch der Lust selbst ausprobiert zu haben, die ihre Zunge nur spielen lassen, um die phonetische Schrift im Wörterbuch zu entziffern. So was passiert nur Versicherungsmathematiker*innen, Sekretär*innen und Buchhalter*innen, die nie etwas anderes »runtergescrollt« haben als Zahlenkolonnen in Excel-Tabellen. So was passiert nur Biolog*innen, Geograph*innen und Psycholog*innen, die den ganzen Tag rohe Daten, handfeste Fakten und kuriose Phänomene analysieren, alles Dinge außerhalb ihres eigenen Innenlebens. Vor allem aber denkt man, so was passiert nur irgendwelchen blöden Trullas, die gar nichts checken, die neun Monate lang keinen blassen Schimmer haben und die dann urplötzlich, oh, was’n das, schlimme Bauchschmerzen bekommen. Vielleicht liegt es ja an den nicht mehr ganz so frischen Meeresfrüchten, die man sich beim Lunch in einem angesagten Bistro einverleibt hat, oder vielleicht kommt es auch vom stundenlangen krummen Sitzen, das dummerweise die Chakren durcheinandergebracht hat, shit, shit, shit, aber shit ist das nicht, was da unten aus dem Körper fließt, das ist kein Durchfall, der hart fightet, um rauszukommen, das ist ein Baby, ein fucking Baby, ein Überraschungsbaby, das mit Sicherheit auf anderem Wege gezeugt wurde als durch Zutun des Heiligen Geistes! So was, glaubt man, passiert nur dummen Schlampen, die sowas von abgekoppelt von ihrer körperlichen Hülle und deren Inhalt sind, so was passiert nur minderbemittelten Blondinen, die absurderweise nicht mitgeschnitten haben, dass ein Teil ihres Körpers immer dicker geworden ist, dass ein Teil ihres Körpers immer härter geworden ist, aber immerhin haben sie es so ins Privatfernsehen geschafft, wo sie jetzt ein Interview zum Thema »Unbemerkt schwanger« geben dürfen. Bei solchen Leuten kann ich ja noch verstehen, dass sich der Stacheldraht ausbreitet, ohne dass sie es mitkriegen, aber in allen anderen Fällen denkt man doch, nein, das kann nicht sein, das kann echt nicht sein, das ist doch hirnverbrannt hirnrissig, das ist doch irrsinnig irrwitzig, so was kann einem nicht passieren, das hätte man doch spüren müssen. Weil wir so was in der Art schon oft gespürt haben, ein unangenehmes Gefühl oder sogar einen


55

echten Schmerz, woraufhin wir uns »hypochondrisch« eingebildet haben, wir hätten irgendwo Krebs. Schmerzen in der Brust, Schmerzen im Verdauungstrakt und Schmerzen in der Bauchhöhle, haben wir alles schon gehabt. Endlose Untersuchungen, um herauszufinden, ob wir unter einer Entzündung der Speiseröhre, unter einem Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür oder unter exokriner Pankreasinsuffizienz leiden, haben wir alle schon gemacht. Aber den Ärzten fällt nichts Besseres, nichts Ermutigenderes, ein, als gebetsmühlenartig zu wiederholen, wir sollen »auf uns aufpassen«, »auf uns achtgeben«, »uns schonen«. Denn saure Nahrungsmittel, die konsumieren wir. Zucker, Kaffee, Milchprodukte, Zucker im Milchkaffee, Soßen, Wein, bergeweise rotes Fleisch, Weinsoße zu bergeweise rotem Fleisch, das ist lecker, das ist wahnsinnig lecker, darauf können wir nicht verzichten. Also haben wir irgendwann aufgehört, uns Sorgen zu machen. Denn Stress auf der Arbeit, den haben wir. Und Stress zu Hause, den haben wir. Und Stress im Straßenverkehr zwischen Arbeitsplatz und Zuhause, den haben wir. Und dieser Fulltime-Stress in Kombi mit unserer Angststörung und dem ganzen Fett und Zucker, die wir zu uns nehmen, um zu entspannen und um von allem, was uns einspannt, auszuspannen, der ist ja auch eine gute Erklärung für die Krämpfe in unserem Bauch, für die Krämpfe in unserem Unterleib, für die Höllenqualen, die wir leiden. Also haben wir uns irgendwann keine Sorgen mehr gemacht. Denn wir wissen ja, dass unser Körper viel abkann. Wir wissen, was er wert ist, und wir wissen, was er will. Weil wir an unserem Lustorgan rumgespielt haben, in der Hoffnung, dass es sich aufrichtet, feucht wird, Säfte und Körperflüssigkeiten produziert, sinnliches Stöhnen und Verspannungen in der Schulter, weil wir regelmäßig die Augen verdreht haben, wenn wir unsere Klitoris oder unseren Schwanz angefasst haben, wenn wir unsere Hemmungen ab- und einen Egostrip hingelegt haben, einen Egotrip, weil wir uns geliebt haben, splitterfasernackt mit jeder Faser unseres Körpers, weil wir uns sinnlicher Sinnlichkeit und sexueller Stimulation schuldig gemacht haben, der Ausschüttung von Glückshormonen, hochkochender Gefühle und der Auslebung phantasmagorischer Phantasien, weil wir einander befummelt und bestiegen und sämtliche Körperöffnungen penetriert haben, im Sommer, im Wellnessbad, im Pool, im See, wobei wir uns einen Dreck um die Seelenruhe unserer Nachbarn geschert haben, um die Wassertemperatur und darum, ob wir die Fische traumatisieren, weil wir einander befummelt und bestiegen und sämtliche Körperöffnungen penetriert haben, im Winter, wenn wir Mütze, Skianzug und Thermounterwäsche haben fallen lassen, weil wir uns rangenommen haben, in allen möglichen Positionen, ohne Sinn und Verstand, auf sämtlichen Bärenfellen vor sämtlichen Kaminen, sämtlichen Kaminfeuern und sämtlichen Kaminöfen sämtlicher Wochenendhäuser sämtlicher Provinzen Kanadas, weil wir uns »spontan selbstentzündet« haben, im


56

Winter, wenn wir unser unersättliches Bedürfnis nach menschlicher Wärme mit unserem unstillbaren Begehren nach dem Anderen kombiniert haben, weil wir uns wegen der Anziehungskraft unserer Glieder, dem Verschmelzen unseres Fleisches und des dabei entstehenden zärtlichen Magmas, und wegen unserer Kenntnis des Weges, der in unbeschreibliche, schwindelerregende Sphären der Euphorie führt, nicht vorstellen können, dass sich so was in uns ausbreiten kann, ohne dass wir es mitbekommen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. So was wie das, denkt man, gibt’s gar nicht, nicht in unserer Stadt, nicht in unserem Bauch. Etwas Derartiges kann nicht in einem Haus entstehen, in dem es nach selbst gemachter Suppe, Brathähnchen und Kartoffelpüree duftet. An einem Ort, wo man Yogi-Tee trinkt, Mangosaft in Bioqualität und überteuerten Kombucha. So was kann nicht in einem Heim heranwachsen, in dem man Rucola isst, Wildkräutersalat und Wokgemüse mit Tofu und Erdnusssoße. So was kann sich nicht in einem Wohnzimmer entwickeln, wo im Fernsehen Tierdokus laufen, Nachrichtensendungen und Reportagen über den aktuellen Zustand der Menschheit. An einem Ort, wo man auf die Straße geht und demonstriert, wo man sich sozialen Bewegungen anschließt, die ihre Unzufriedenheit mit den Zuständen zum Ausdruck bringen, an einem Ort, wo man den Nachrichten zuhört, und zwar nicht nur mit halbem Ohr zur Beruhigung des eigenen Gewissens, nein, sondern mit einem Gehör, das exakt auf die Frequenz eingestellt ist, die immer noch eine Lösung der großen globalen Konflikte verspricht. So was kann nicht in einem Heim oder in einem Badezimmer entstehen, das mit einer großen Badewanne, modisch bunten Kacheln und Lautsprechern ausgestattet ist, die Weltmusik, Klassik zum Entspannen oder Jazzstandards spielen. So was kann nicht in einer Wohnung aufpoppen, wo die Sektkorken ploppen, wo die Liebe lebt, wo man zusammen auf Popmusik tanzt, wo man sich an Kleinigkeiten erfreut. In einer Wohnung, wo man um den kürzlich verstorbenen dicken Kater trauert, der gehaart hat wie blöd und sich immer geweigert hat, seine Pfoten auf was anderes zu setzen als auf den weichen Teppich unseres gemütlichen Zuhauses in einem grünen Viertel unserer geliebten Stadt. Ein Zuhause ohne Streit, mit viel Gelächter und Wackelpudding-Herzen. Ein Zuhause, das seit fast ebenso vielen Tagen wie schlaflosen Nächten von einem Baby bewohnt wird, dem sein Kummer über die Wangen kullert, das sich die Lunge aus dem Hals schreit und das ständig wegen seines neugeborenen Weltschmerzes getröstet werden will, dabei fehlt es ihm nun wirklich an gar nichts. Etwas so komplett Verrücktes wie das, denkt man, kann nicht sein, nicht in echt, nicht in unserer Stadt, nicht in unserem Bauch. Es kann nicht sein, denkt man, dass das in uns heranwächst, unsere Organe beiseiteschiebt und unseren Organismus desorganisiert. Es kann nicht sein, dass es das letzte Stadium erreicht, die kritische Phase, den point of no return,


57

während man gerade auf dem Fahrrad sitzt, und ohne dass man vorher irgendwelche eindeutigen, expliziten Symptome gespürt hätte. Denn wir gehen doch ins Fitnessstudio, zum Joggen und zum Klettern, und wir haben uns schon oft zusammen mit Freund*innen zum Marathon angemeldet, haben schon oft dem Drang widerstanden, unsere Startnummer auf Ebay-Kleinanzeigen zu verkaufen, haben schon oft gespürt, wie der Stolz unsere Muskeln erfüllt, denen wir es zu verdanken haben, dass wir in befreiendes Gelächter ausbrechen und uns abklatschen können, sobald die Ziellinie in Sicht kommt. Etwas so ungeheuer Überraschendes, das kann uns doch nicht passieren, während wir mit Lenker, Pedalen und zwei Rädern herumhantieren, im April des Jahres unserer ersten Elternzeit, während unser Lebensgefährte oder unsere Lebensgefährtin zu Hause geblieben ist und herauszufinden versucht, was zum Henker gegen die Dreimonatskoliken unseres Neugeborenen hilft. Das kann doch nicht mir passieren, nachdem ich gerade der sich öffnenden Tür eines anthrazitfarbenen Toyota Yaris ausgewichen bin, der den halben Radweg zuparkt. Ich kann nicht glauben, dass es in dem Moment aktiv wurde, als ich meine Stimmbänder deaktiviert habe, um das Elternteil des Kindes, das in dem Kindersitz des Toyotas mit dem Kennzeichen 763 AJK sitzt, nicht anzubrüllen: »Wie wär’s mit nem Schulterblick, bevor du aus deiner Scheißkarre steigst! Hast du Tomaten auf den Augen? Glaubst du vielleicht, du wärst der einzige Mensch im Universum? Glaubst du vielleicht, nur weil du es eilig hast, wärst du wichtiger als ich auf meinem Fahrrad?« Es ist ja nicht so, als wollte ich mit meiner neuen Fahrradhose, meinem Kilometerzähler und meinem Flaschenhalter angeben! Nein, ich bin im Zombiemodus von zu Hause losgeradelt. In Schlabberklamotten. Mein Helm und die anderen Accessoires liegen zu Hause auf der Küchentheke. Ich bin krass dehydriert. Ich habe nämlich kein Wasser mitgenommen. Und es geht mir am Arsch vorbei, wie schnell ich fahre. Ich kriege kaum die Augen auf. Die Sonne blendet mich. Ich habe große Lust, wieder nach Hause zu fahren, mich im Bett zu verkriechen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Ich habe große Lust abzuhauen, möglichst weit weg, und mich bei niemandem zu melden. Ganz genau, ich habe nämlich auch ein Kind! Ein Kind, das weint, das ständig weint, das gar nichts anderes tut, als zu weinen. Deshalb bin ich ja auch so fertig! Fix und fertig! Vor allem mit der Welt. Mag sein, dass ich kurz abgelenkt war, mag sein, dass ich gegen die Fahrtrichtung unterwegs war, mag sein, dass ich nicht auf meine Umgebung geachtet hab, aber trotzdem! Die Straße ist für alle da! Und du hättest dich umsehen müssen, bevor du aus deiner Scheißkarre steigst! Ich kann nicht glauben, dass es in genau dem Moment angefangen hat, als ich mich gnädigerweise abgeregt, tief durchgeatmet und die Worte, die mir auf der Zunge lagen, runtergeschluckt habe. Weil ich kapiert habe, dass der wahre Schuldige an dem Vorfall das Kind in dem Toyota Yaris war


und sein Elternteil es deswegen bereits anpampte. Ich kann nicht glauben, dass das Schicksal sich gesagt hat: »Ey, heute knöpfe ich mir mal jemanden vor, der sich eh schon krass abstrampelt, jemanden, der gerade fast einen schweren Unfall gehabt hätte! Und dafür verschone ich die Person, die ihr Kind zusammenstaucht, statt ihm in ruhigem Ton zu erklären, wie gefährlich es ist, ohne zu gucken die Autotür aufzumachen!« Als wäre das ein anständiges, ethisch korrektes und zivilisiertes Verhalten. Ausgerechnet mir passiert das, ausgerechnet heute. Ich kann es nicht länger ignorieren. Ich spüre es. Ich kann es sehen. Der Stacheldraht ist bereits bis in meine Mundhöhle vorgedrungen. Ich habe die Gewissheit, dass ich bald nicht mehr sprechen kann.

2. Woran es liegt Ich desinfiziere die Abschürfungen an meinen Ellbogen. Die an den Knien. Ich weiß, was man tun muss, damit sie schneller verheilen. Es tut weh, wenn man Jod auf die Wunde gießt. Den Schmerz kenne ich. Ich gehe ins Badezimmer, um Mercurochrom und Pflaster zu holen. Oberflächliche Wunden heilen am besten an der Luft. Der Vertrieb von Mercurochrom wurde im Juni 2003 eingestellt. Es tut weh. Ich gehe ins Badezimmer, um Mercurochrom und Pflaster zu holen. Wenn ich auf die Risiken und Nebenwirkungen scheiße, verschwindet er bestimmt. Der Stacheldraht. Wenn ich die Flasche Jod komplett leertrinke, kann ich ihn stoppen. Den Stacheldraht. Ich gehe ins Badezimmer, um Mercurochrom und Pflaster zu holen. Etwas Blut ist auf den weichen Teppich unseres gemütlichen Zuhauses in einem grünen Viertel unserer geliebten Stadt getropft. Ich besprühe den Teppich mit einem chemischen Fleckenmittel. Das ist null umweltfreundlich. Das kriegt man bei Walmart. Das kann Atembeschwerden verursachen. Ich habe keine Wahl, ich muss es benutzen. Sonst geht das Blut nie wieder raus. Ich schrubbe den Teppich mit Vanish-Powerschaum. Ich schrubbe den Teppich mit Hoffnung. Ich schrubbe den Teppich mit Verzweiflung. Ich schrubbe den Teppich. Ich schrubbe den Teppich. Plötzlich ist da ein Stacheldrahtzaun. In mir. Zwischen mir und dem Rest der Welt. Seit meiner Geburt. Es ist Weihnachten. Es ist Ostern. Es ist Muttertag. Es ist Vatertag. Es ist der Geburtstag von jemandem, den wir mögen. Jedes Jahr dasselbe. Wir kommen da nicht raus. Das erregt unseren Stacheldraht. Er wächst und gedeiht und rollt sich in uns zusammen. Gegen unseren Willen. Er wird immer länger. Jedes Mal. Wir feiern Silvester, wir treffen uns zum Abendessen, wir »genehmigen uns einen Aperitif«, wir gehen zum Lunch, wir gehen zum Brunch. Zusammen. Gemeinsam. Als Familie. Ihr kümmert euch um alles, aber ich bringe trotzdem noch was mit. Einen Blumen-

58

Der Stacheldrahtmensch


59

strauß, einen guten Wein, einen Salat, eine Beilage, einen Nachtisch. Ihr umarmt uns zur Begrüßung und raunt uns zu: » Wir sollten uns viel öfter sehen.« Ihr habt uns vermisst. Unsere nostalgisch-sentimentalen Zuckerwatte-Antworten sagen, dass wir euch auch vermisst haben. Dabei ist es doch absurd, dass man es vermisst, freiwillig ein verdammtes Minenfeld zu betreten. Absurd, dass man sich, umgeben von den Menschen, mit denen man aufgewachsen ist, in einem safe space fühlt. Es gab so viele nette Familientreffen, bei denen ich die Klappe gehalten habe, um nicht allen die Stimmung zu verderben. Es gab so viele schöne Zusammentreffen, bei denen ich besser nichts gesagt hätte, damit der messerscharfe Draht mir nicht die Bauchhöhle zerfetzt. Wir reden nicht über Politik, wir reden nicht über Sexualität, wir reden nicht über Religion. Schön und gut, aber worüber reden wir dann? Über unser Leben? Über die Liebe? Aber wie sollen wir über Liebe und unser Leben reden, ohne über Politik, Sexualität und Religion zu reden? Wie sollen wir über Liebe reden, ohne über eure Liebe zu reden? Ich bin vierzehn, und die Stimmung wird immer schlechter, Mama. Du streitest dich mit Papa. Ihr schreit euch an. Fast die ganze Zeit. Es ist fast schon zum Lachen, wie sich das ständig wiederholt! Wie es immer dasselbe bleibt! Wie beschissen unoriginell es ist! Und der Hauptgrund, warum Papa dich anbrüllt, bin ich. Ich kauere auf der Treppe zum Hobbykeller, belausche euch und versuche zu hören, was im Erdgeschoss gesagt wird. Es werden viele Dinge gesagt, hauptsächlich aber, ich wäre »eine verdammte Versagerin«. Das wird knallhart gesagt, das wird wütend gesagt, und das ist ein Vorwurf an dich, Mama, weil du mich zur Welt gebracht hast. Das wird hasserfüllt gesagt und verbissen gesagt, und vor allem werde ich am laufenden Band mit meinem Bruder verglichen. Er ist ja ach so offen. Er ist ja ach so locker drauf. Er ist »ganz der Papa«, sein ganzer Stolz. Ich hingegen hasse es, wenn ich fremden Leuten Küsschen auf die Wangen geben soll. Ich würde am liebsten davonfliegen, megaweit weg, und im Weltall leben. Ich komme besser mit Büchern klar als mit Menschen. Und ich kriege das nicht mehr aus dem Kopf, Mama. Dass ich ein Mädchen bin und »eine verdammte Versagerin«. Dass ich »ganz die Mama bin« und »eine verdammte Versagerin.« Und wenn du dieser Scheiße widersprichst. Wenn du mich verteidigst und dich selbst verteidigst, weil du »eine verdammte Versagerin« zur Welt gebracht hast. Wenn du Papa die Stirn bietest und die Stimme erhebst. Dann packt er deine Handgelenke. Dann schlägt er dich ins Gesicht. Und ich, in dem Moment das Gegenteil einer »verdammten Versagerin«, verlasse mein Versteck. Renne die Treppe hoch. Greife zum Telefon. Drohe damit, die Polizei zu rufen. Da lässt er dich los. Du sagst, ich soll nicht den Notruf wählen. Als würde es unser Leben kaputt machen, wenn wir uns Hilfe holen wollen. Aber das Ganze wird sich früher oder später wiederholen, Mama. Und an dem Abend, als ich darauf bestehe, den Kreislauf der


60

Gewalt, in dem du gefangen bist, zu durchbrechen, wird er auch mich schlagen. Mein Vater. Unter dem erschrockenen Blick des Laufs der Dinge. Er wird auch mich schlagen. Mein Vater. Das wird wehtun, an der Stelle in mir drin, die mich spüren lässt, dass ich existiere. Und als die »verdammte Versagerin«, die ich bin, werde ich mir dein Schweigen zum Vorbild nehmen, Mama. Das wird uns verbinden, die Frauen decken den Tisch, während die Männer den Grill anwerfen. Und mein kleiner Schatz wird seine oder ihre Stimmbänder strapazieren, um uns mit kräftiger Stimme auf seine oder ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen. Die älteren Kinder der Cousins/Cousinen toben lautstark draußen herum und suchen Ostereier. Ein Kind stellt seinem Bruder/seiner Schwester ein Beinchen. Er oder sie schrammt sich die Ellbogen und die Knie am Asphalt der Einfahrt auf. Ich gieße Jod auf die Wunde. Ich gehe ins Badezimmer, um Mercurochrom und Pflaster zu holen. Ich puste auf die Abschürfungen, damit sie schneller verheilen. Die Frauen sagen, dass sie keine Lust haben, stundenlang in der Küche zu stehen. Also biete ich an, Steak und Würstchen zu kaufen und mich um den Grill zu kümmern. Ich kann das gut und fühle mich ganz in meinem Element, wenn ich das Grillgut mit der Grillzange wende. Es wirkt sich positiv auf meine Männlichkeit aus, wenn ich beweise, dass ich Paprika, Auberginen und Zucchini aus lokalem Anbau grillen kann, während ich mich spöttisch danach erkundige, ob du endlich mit deinem Chef geredet und die längst überfällige Gehaltserhöhung bekommen hast. Bei unserer letzten Begegnung haben wir eine Herzgirlande im Flur unserer Eltern aufgehängt, und ich habe zu dir gesagt: »Come on, Bruderherz, du arbeitest jetzt schon seit fünf Jahren in dieser Firma und verdienst immer noch dasselbe wie am Anfang. Deine Freundin ist schwanger. Sie hat schon zweimal abgetrieben, und zwar reichlich spät, weil ihr Schiss gekriegt habt, dass das Geld nicht reicht. Weil ihr Angst gekriegt habt, dass die Knete nicht reicht, um euch was Besseres zu leisten als eine dunkle Zweizimmerwohnung. Es ist höchste Zeit, dass du die Dinge in die Hand nimmst und was für deine Familie tust!« Als wir das letzte Mal darüber geredet haben, Bruderherz, haben wir am Valentinstag im Kinderzimmer einen Amor an der Wand befestigt, damit die Kinder ihm später mit verbundenen Augen einen Eselsschwanz ankleben konnten, direkt auf den nackten Arsch. Das war echt peinlich, voll daneben, total unangenehm, aber keiner traute sich, was zu sagen, aus Angst, jemand anderem vor den Kopf zu stoßen. Und ich habe dir weiter gut zugeredet, Bruderherz: »Wenn du nicht den Mumm hast, allein hinzugehen, dann nimm halt Julia mit. Deine witzige, schlaue, schlagfertige Kollegin. Ihr wurdet beide gleichzeitig eingestellt. Ihr arbeitet an denselben Projekten. Ich bin sicher, dass sie auch gern etwas mehr vom Kuchen abbekommen würde. Vor allem, weil es in letzter Zeit finanziell etwas eng bei ihr war.« Ich klopfe mit der Grillzange auf das Gemüse, während du es mit Olivenöl


61

bestreichst. In der Küche streiten sich die Frauen darüber, auf welche Seite des Tellers die Dessertgabel gehört. Weil es nämlich Fachwissen braucht, um einen Tisch hübsch zu decken. Weil viel zu wenige Frauen heutzutage von sich behaupten können, über dieses Wissen zu verfügen. Aber in unserer Familie hat es sich bewahrt. Du erzählst mir, dass es geklappt hat, Bruderherz. Dass es beides war, ein Erfolg und ein Reinfall. Und damit meinst du nicht die Osterhasen-Tischdeko, an der im Esszimmer gearbeitet wird, sondern euer Gespräch mit dem Big Boss. »Als wir ihm gegenübersaßen, hat er gesagt, er könne nichts für uns tun. Aber auf meiner nächsten Lohnabrechnung war mein Gehalt um zwanzig Prozent erhöht. Da habe ich zu Julia gesagt: ›Das muss begossen werden! Lass uns heute Abend so richtig einen draufmachen! Lassen wir es so richtig krachen!‹ Aber sie hatte gar keine Gehaltserhöhung bekommen. Also ist Julia noch mal hin zum Chef und hat gesagt, dass wir finden, wir sollten für gleiche Arbeit den gleichen Lohn kriegen. Am selben Tag bin ich dem Chef im Flur über den Weg gelaufen und er hat zu mir gesagt: ›Das mit der Gleichheit, siehst du das auch so? Weil, wenn du unbedingt willst, dass ich euch gleich behandle, kann ich deine Gehaltserhöhung um zwanzig Prozent gern zurücknehmen und dein Gehalt um zehn Prozent kürzen!‹ Darauf habe ich geantwortet, ich verstehe, dass er uns nicht beiden gleichzeitig eine Gehaltserhöhung geben kann. Dann bin ich gegangen. Ich fand, dass ich die Dinge in die Hand genommen und was für meine Familie getan hatte. Ich dachte daran, dass mein Kind nicht in einer dunklen Zweizimmerwohnung aufwachsen würde. Aber ich wollte nicht, dass Julia sich ärgert. Also habe ich ihr gesagt, mit meiner Gehaltsabrechnung hätte was nicht gestimmt. Wir würden beide weiter denselben mickrigen Lohn verdienen.« Ich beiße mir auf die Zunge, damit der Schmerz mich daran hindert, dir zu sagen, dass du ein Feigling bist, Bruderherz. Dass du mich anwiderst und dass du nichts gecheckt hast. Damit der Schmerz mich daran hindert, dir zu sagen, dass du ein »verdammter Versager« bist. Dass du »ganz der Papa« bist und ein »verdammter Versager«. Ich beiße mir auf die Zunge, damit mir ein Schmerz wie an meinen Ellbogen und meinen Knien durch den Körper zuckt. Das wird ihn am Wachsen hindern. Den Stacheldraht. Das wird ihn aufhalten. Damit ich weitersprechen kann. Mit ihnen. Damit ich meinen Liebsten weiter Zärtlichkeiten ins Ohr flüstern kann. Ich beiße mir auf die Zunge, damit mir ein Schmerz wie an meinen Ellbogen und meinen Knien durch den Körper zuckt. Ich schmecke Blut im Mund. Ich spucke es nicht aus. Ich schlucke es nicht runter. Ich schmecke Blut im Mund. Ich weiß nicht, wie ich es loswerden soll. Ich schmecke Blut im Mund. Mir dreht sich der Magen um. Ich beiße mir auf die Zunge, damit mir ein Schmerz wie an meinen Ellbogen und meinen Knien durch den Körper zuckt. Mir dreht sich das Herz um. Die Erinnerungen. Warum muss ich heute die ganze Zeit an deprimierendes, trauriges, belastendes Zeug


62

denken? Ich hätte viel lieber Flashbacks von Skiurlauben, von Strandurlauben und von der Liebe, die alle Grenzen sprengt. Und zwar jetzt gleich. Ich beiße mir auf die Zunge, lächle gezwungen und sage, dass du das mit Julia gut gemacht hast, Bruderherz. Das hast du echt gut gemacht. Ich lege das Grillgut auf die Servierplatte und wir gehen zum Essen rein. Wir könnten draußen essen, aber die Mücken nerven. Drinnen nerven andere Viecher. Ich bin dreiundzwanzig und verbringe viel Zeit mit Nadine. Nadine steht ganz oben auf meiner Freundschaftsliste. Sie ist die Freundin, mit der ich schon am frühen Nachmittag von der Uni abhaue, ohne auf den Rest unserer Clique zu warten. Weil das Leben ihr Löcher ins Herz bohrt, und weil ihr löchriges Herz unermüdlich Löcher in mein Herz bohrt. Wenn Nadine nach meinem Arm greift, habe ich jedes Mal das Gefühl, sie müsse sich festhalten, um nicht hinzufallen. Nadine schiebt mir den zweiten Kopfhörerstöpsel ins Ohr und erfüllt mich mit: Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei / Du warst hier, und wir wärn frei, wir laufen durch die Fußgängerzone, Schneeflocken fallen vom Himmel. Nadine ist diejenige, mit der du dich kurz am Telefon unterhältst, wenn sie bei uns anruft, Papa. Allerdings habe ich dir wohlweislich verschwiegen, dass sie aus Haiti ist. Sie wurde als Kleinkind adoptiert, und ihre Adoptivmutter arbeitete als Krankenschwester auf dem Dorf. Nadine hat mir erzählt, dass du als schwarzes junges Mädchen in den Achtzigerjahren auf dem Dorf nicht nur gemobbt wurdest. Man füllte dich mit Alkohol ab. Man gab dir Drogen. Man missbrauchte dich. Du wurdest zum Schatten deiner Selbst und zur Schlampe der anderen. Meist in dieser Reihenfolge, manchmal auch andersrum. Dabei ist unklar, ob es hier um Vergewaltigung, Anzeige und Prozess geht oder um einen Fall von aus dem Ruder gelaufenen Rassismus, an einem Ort, wo sich die Jugend zu Tode langweilt. Und die Frage nach der Einvernehmlichkeit dreht sich so schnell in deinem Kopf und tut so weh in deinem Bauch, dass du nicht sicher bist, ob du »ja« oder »nein« sagen sollst. Im Grunde wärst du gern weiß. Damit du nicht immer Antworten finden musst. Du wärst gern weiß. Damit sich die Frage gar nicht erst stellt. Was ich dir über Nadine verschwiegen habe, Papa, ist ihre Hautfarbe. Für dich sind alle Schwarzen verdammte Schmarotzer, Feiglinge und faule Säue. Aber heute Abend kommt Nadine zu Besuch. Und ich bringe es dir bei, indem ich sage: »Ich habe Nadine eingeladen, wir wollen zusammen für die Uni lernen.« Weil das die Wahrheit ist. Und weil ich unbedingt sehen will, wie du kreidebleich wirst, wenn dir klar wird, dass meine beste Freundin eine »Farbige« ist. Nadine ist schwarz und an dem Abend schlafe ich mit ihr, Papa. Nicht weil wir geil sind oder verliebt. Sondern weil wir uns wirklich mögen. Und weil ich ihr Herz, falls sie meinen Händen erlaubt, sich dorthin vorzutasten, wo das Leben es durchlöchert, vielleicht mit etwas anderem füllen kann als mit dem Hass der anderen und mit Selbsthass. Keine Ahnung, ob ich dir damit in deinem


63

eigenen Haus den Stinkefinger zeigen will, Papa, aber an dem Abend will ich, dass Nadine mich küsst, mich auszieht und mich zum Orgasmus bringt. Und obwohl ich mehr noch als ihren Körper die Abgründe ihres abgründigen Herzens erkunden will, küsse auch ich sie, ziehe sie aus und bringe sie zum Orgasmus. Am liebsten würde ich allen Idiot*innen die Tür vor der Nase zuschlagen, wegen denen sie jemals draußen im Regen stand. Ich will dir vor die Füße kotzen, Papa, und in Nadines Herz einziehen. Ich weiß genau, selbst wenn Nadine und ich ununterbrochen miteinander schlafen würden, bis ans Ende unserer Tage, würde das die klaffenden Wunden, die ihr Fundament bilden, nicht heilen. Ich puste auf meine Wunden, damit sie schneller verheilen. Mir läuft es kalt über den Rücken. In mir zieht sich alles zusammen. Ich habe einen badtrip. Ich mache einen Trip ins Bad. Ich puste auf meine Wunden, damit sie schneller verheilen. Warum muss ich ausgerechnet heute an Nadine denken? Warum denke ich immer noch an unsere Liebesgeschichte? Ich puste auf meine Wunden, damit sie schneller verheilen. Das alles sollte vorbei sein. Begraben. Verdrängt. Ihr habt euch von dem großen Wischmopp der selektiven Amnesie das Gehirn einseifen lassen. Ich sollte dasselbe tun. Ich puste auf meine Wunden, damit sie schneller verheilen. Ich kann höchstens noch eine Stunde lang sprechen. Ich kann nicht glauben, dass es daran liegt. An diesem einen Mal. Und diesem anderen Mal. Oder jenem einen Mal? Oder jenem anderen Mal? An all den Malen. Und an all den Malen, die ich längst vergessen habe. Ich puste auf meine Wunden, damit sie schneller verheilen. Greift uns der Stacheldraht an, wenn wir uns selbst zensieren? Wächst er, wenn wir unser Gegenüber schonen wollen? Deshalb verurteilt er uns zum Tode! Wirklich? Ich puste auf meine Wunden, damit sie schneller verheilen. Aus Liebe zu euch übe ich vorauseilenden Gehorsam, habe ich eine Schere im Kopf, nehme ich mich zurück. Wenn ich die Fallstricke unserer Liebe entschlüsseln will, während wir uns den Bauch mit Kuchen vollschlagen, kann ich von meinem kleinen Schatz sprechen, der euch vor kurzem zu Großeltern gemacht hat. Denn seit der Geburt meines Kindes entkommt man ihm nicht, Mama, entkommt man ihm nicht, Papa, diesem verdammten dreckigen überbordenden Glück, das uns erfüllt, wenn wir Zeit miteinander verbringen, wenn wir uns an Weihnachten in den Armen liegen und zu langsamer Musik engumschlungen tanzen, wenn wir uns über Gänsebraten mit Preiselbeeren hermachen und bergeweise Geschenke auspacken. Ich kann über Liebe sprechen, wenn ich von meinem kleinen Schatz spreche, den ihr so sehr vergöttert, dass ihr schon vor seiner Geburt eine kategorische Meinung dazu hattet, welchen Namen wir ihm geben sollten. Dass ihr ihm schon vor seiner Geburt einen dieser grottenhässlichen Weihnachtselfen-Schlafanzüge gekauft habe, mit einem echten Glöckchen an der Mütze! Aber als ich euch an Halloween an einem Tisch mit Hexen-Deko beim Löffeln der


64

Kürbissuppe erzählt habe, für welchen Namen wir uns letztlich entschieden haben, ist euch alles aus dem Gesicht gefallen und ihr habt nicht mal versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wir unterhalten uns in Gegenwart des Babys über das Baby, das seit seiner Geburt ständig schreit. Und natürlich hast du eine Theorie dazu, wie man es beruhigen kann, Mama. Aber mir ist viel wichtiger, Mama, dir zu erzählen, dass ich neulich einen Artikel darüber gelesen habe, dass ein Kind, das in seinen ersten neun Lebensmonaten keine nicht-weißen Personen zu Gesicht bekommt, später unbewusste Vorurteile und eine regelrechte Fremdenangst entwickelt, die es im späteren Leben nur schwer wieder loswird. Du antwortest, in deiner Heimatstadt gab es so was früher nicht, »andere Ethnien«. Und du hast trotzdem nichts gegen Indianer, solange sie in ihren Reservaten bleiben, und auch nichts gegen Afrikaner, Juden, »Taliban-Araber« und »Sushi-Vietnamesen«! Ich spüre es, Mama, und ich weiß es, Mama, du findest, ich hänge mich an Kleinigkeiten auf, dabei kriege ich es nicht mal auf die Reihe, mein weinendes Kind zu beruhigen. Es steht dir in dein pikiertes Gesicht geschrieben, Mama, dass du kurz davor bist, mir ein laminiertes Exemplar der Maslow’schen Bedürfnispyramide in die Hand zu drücken! Ich reiße dir mein Kind geradezu aus den Armen. Ich will nicht zugeben, dass ich Angst habe. Ich gieße Jod auf die Wunde. Ich habe Angst. Ich gehe ins Badezimmer, um Mercurochrom und Pflaster zu holen. Ich habe Angst. Ich puste auf die Abschürfungen, damit sie schneller verheilen. Ich habe Angst. Vor meinem inneren Auge rattern Bilder vorbei. Der Schlenker, mit dem ich der Autotür ausgewichen bin. Der Sturz, bei dem ich mir Knie und Ellbogen aufgeschürft habe. Das Wortgefecht mit dem Fahrer oder der Fahrerin des Toyota, auf das ich verzichtet habe. Ich habe Angst. Ich gieße Jod auf die Wunde. Ich habe Angst. Ich puste auf die Abschürfungen, damit sie schneller verheilen. Ich habe Angst. Ich will mein Kind auf den Arm nehmen. Jetzt. Gleich. Sofort. Für immer und ewig. Philipp Neumann hat Geburtstag. Enrico Wolff hat Geburtstag. Aurélie und Stéphanie Dubois haben Geburtstag. Ich kann ihnen keine Nachricht senden: »Hoch sollst du leben, ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, lass dich schön feiern!« Ich kann ihnen nicht schreiben: »Viel Sonnenschein für dich an diesem besonderen Tag! « Ich kann ihnen nicht » Happy Birthday und tausend Küsse!« schicken. Ich kann ihnen nicht schreiben. Es geht nicht. Mein Kopf, meine Arme und meine Hände funktionieren einwandfrei. Mein iPhone hat fünfundneunzig Prozent Batterie. Ich könnte bei Gerichtsverhandlungen Protokoll schreiben, so schnell kann ich tippen. Aber ich kann nicht mit ihnen sprechen. Ich kann ihnen nicht schreiben. Es geht nicht. Dies wäre der richtige Moment, um vier Menschen zu feiern, deren Lebensphilosophie, spitze Feder und kritischen Blick auf die Gesellschaft ich bewundere. Aber ich werde meinen kleinen Schatz nicht anziehen, um mit ihm vor die Tür zu gehen. Ich werde ihn


65

nicht vorsichtig in den Kinderwagen setzen und darauf achten, ihn richtig anzuschnallen. Ich werde ihn nicht mit Sonnenmilch einschmieren, um mit Mario und seinen Freund*innen im Park abzuhängen. Ich werde seine Nachbarinnen, seine Freundinnen und seine Kumpels aus der Fußballmannschaft nicht kennenlernen. Ich werde mich nicht bei dem Versuch blamieren, mit seinem behinderten Kind zu interagieren. Ich werde meine Schlabberklamotten nicht ausziehen, meine soziale Lethargie nicht abschütteln und die unbequeme Bequemlichkeit meiner ersten Elternzeit nicht aufgeben, um auf Enrico-das-Geburtstagskind anzustoßen. Ich werde nicht seinen besten Kumpel, seine Schwägerin und den Barkeeper kennen lernen, in den er heimlich verknallt ist. Ich werde nichts Neues über seine Verhaftung bei der Großdemo vor ein paar Jahren erfahren. Nichts von seiner Verletzung, über die er sich nur zu sprechen traut, wenn er seinem Gegenüber in die Augen sehen kann. Ich werde Enrico nicht in die Augen sehen. Ich sehe euch in die Augen. Ich kann nicht anders. Vielleicht funktionieren meine Stimmbänder schon jetzt nicht mehr, noch bevor mir der Stacheldraht endgültig den Mund zunäht. Vielleicht ist mir seit dem Fahrradunfall kein Ton mehr über die Lippen gekommen. Ich werde Enrico nicht in die Augen sehen. Und ich werde ihn auch nicht anrufen! Weil er mich nicht verstehen würde. Weil er nicht verstehen würde, warum ich ihm das antue. Weil er meine Stimme nicht wiedererkennen würde. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich seine Handynummer habe. Ich werde Enrico nicht anrufen. Und ich werde meine Mutter nicht anrufen. Ich werde nicht ihre Handynummer wählen, um sie zu fragen, ob sie auf mein Baby aufpassen kann, während ich und mein Lebenspartner/ meine Lebenspartnerin mit unseren virtuellen Freund*innen feiern. Ich werde nicht die Handynummer der Frau wählen, der es ein fast schon krankhaftes Vergnügen bereiten würde, hier zu sein. Bei mir. In diesem Moment. Mein Kopf, meine Arme und meine Hände funktionieren einwandfrei. Mein iPhone hat fünfundneunzig Prozent Batterie. Ich könnte bei Gerichtsverhandlungen Protokoll schreiben, so schnell kann ich tippen. Aber ich kann nicht mit ihnen sprechen. Ich kann ihnen nicht schreiben. Es geht nicht. Keine Ahnung, was die Dubois-Zwillingsschwestern an diesem besonderen Tag vorhaben. In Nantes und Bordeaux – denn da wohnen sie jetzt, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht! Aber es könnten auch Paris und Toulouse sein. Lyon und Straßburg. Grenoble und Marseille. Ich werde nicht ihre Uni-Freund*innen kennenlernen, die Leute, mit denen sie Swing tanzen, und ihre WG. Ich werde keine Blumen mitbringen. Keine gute Flasche Wein. Kein selbst gekochtes Essen, um etwas zum Büffet beizusteuern. Sie werden uns nicht zur Begrüßung umarmen und uns zuraunen: »Wir sollten uns viel öfter sehen.« Denn sie sind keine Freund*innen. Keine echten. Und deswegen habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil meine Gedanken auch


66

an diese Freund*innen denken. Weil meine Gedanken sich nicht ausschließlich mit meinem engsten Umfeld beschäftigen. Mit denjenigen, die mich tröstend in den Arm nehmen, wenn mein Herz untröstlich ist, meine Seele in der Schwebe hängt, mein Mut entmutigt ist und ich mich fühle, als wäre ich zu nichts zu gebrauchen. Mit denjenigen, die mir als Stützen aus Fleisch, Wärme und Blut dienen, wenn das Schicksal mir übel mitspielt und mir meine Schwäche vor Augen führt. Ich höre euch sagen, wie arm ist das denn. Wie arm ist das denn, sich Menschen verbunden zu fühlen, die man nur aus den sozialen Netzwerken kennt. Das ist doch lächerlich. Lächerlich, dass ihre virtuelle Anwesenheit mein Sozialleben positiv beeinflusst. Dass sie mein Leben »befeuerwerken«, statt meinen Alltag wie mit einem Schlagring zu zertrümmern. Ihr sagt nichts. Ihr schweigt. Ich höre euch trotzdem. Ich höre, wie ihr euch ins Fäustchen lacht, während ihr euch über mich lustig macht, weil ich so naiv bin zu glauben, man könnte mit seinen Facebook-Freund*innen wahre Intimität leben. Aber meine beste Freundin/meinen besten Freund, den Menschen, mit dem ich seit über zwanzig Jahren alles teile, den Menschen, dem ich wirklich alles anvertraue, habe ich nur dreimal weinen gesehen, und das waren die drei Male, als er von seiner Lebenspartnerin/seinem Lebenspartner, als sie von ihrem Lebenspartner/ihrer Lebenspartnerin verlassen worden ist. Und bei den drei Malen, als ich mich mit Philipp getroffen habe, als ich Enrico über den Weg gelaufen bin oder als ich mit Aurélie und Stéphanie geskypt habe, haben Tränen ihre Hornhaut gereizt. Weil die Themen, für die wir uns interessieren, und die Beziehungen, die dadurch entstehen, nicht banal sind. Nicht banal. Nicht banal. Ja, es kommt vor, dass ich die Klappe halte. Dass ich die Lippen zusammenpresse und warte, bis der Moment vorbeigeht. Aber zu gesellschaftlichen Themen, die mich vor Wut erröten lassen, schweige ich nie. Ich schreibe Statusupdates in Romanlänge. Ich initiiere, unterschreibe und teile Petitionen. Und zwar nicht nur auf Facebook! Auch auf Twitter und LinkedIn. Wenn ich mich einer Menschenkette anschließe, die sich bildet, um gegen eine Pipeline irgendwo auf der Welt zu protestieren. Wenn ich mich für eine bessere Bezahlung von Erzieher*innen einsetze. Wenn ich bei einer Mahnwache für die Opfer eines rechtsextremen Anschlags eine Kerze anzünde. Dann kommt mir der Gedanke, dass ein Selfie, so unpassend es auch sein mag, trotzdem eine gute Sache wäre, die ich auf Instagramm in Szene setzen könnte. Denn daran glaube ich. An die Symbolkraft positiver Bilder, die andere aufrütteln. Dafür nehme ich gern in Kauf, dass sie manchmal missverstanden werden. Doch selbst auf den zahlreichen virtuellen Plattformen, auf denen ich meine Überzeugungen zur Schau stelle, redet man anscheinend nicht gern über Politik, Sexualität und Religion. Schön und gut, aber worüber reden wir dann? Über unser Leben? Über die Liebe? Aber wie sollen wir über Liebe und unser Leben


67

reden, ohne über Politik, Sexualität und Religion zu reden? Wie sollen wir über die subtile Kraft reden, die uns Hoffnung auf das Morgen macht, wenn wir gezwungen werden, so zu tun, als könnte man Liebe, das Politische und Politik voneinander trennen? Ich gehe in einen Klamottenladen und kaufe mir ein T-Shirt mit der Aufschrift »I speak feminist«. Klar, oft heißt es, die Kleiderkette würde sie nur vertreiben, weil das Thema total-trendy-voll-hip-mega-cool ist, aber damit komme ich klar. Weil so sind die T-Shirts wenigstens für alle zugänglich. Umso besser, wenn Feminismus angesagt ist, finde ich. Umso besser, wenn die T-Shirts in allen Läden, Geschäften, Fußgängerzonen, Einkaufsstraßen, Einkaufszentren und Shoppingmalls »Feminismus sprechen«, finde ich. Inmitten einer überwältigenden Menge von Oberteilen mit farbenfrohen Motiven, Matrosensweatshirts, bauchfreien Glitzertops, gepunkteten Blusen und potthässlichen Pullis entdecke ich die T-Shirts, die meine Sprache sprechen. Aber es gibt sie nur in »Frauengrößen«. Kann ich etwa, nur weil ich ein Mann bin, kein Feminist sein? Ist mein Statement und das meiner Geschlechtsgenossen-die-sich-lobenswerterweise-vom-Neandertaler-weiterentwickelt-haben, etwa nicht wichtig genug? Lohnt es sich für die Klamottenläden nicht, ihre sexistischen Vertriebsstrategien von Kleidungsstücken, die zu Geschlechtergerechtigkeit aufrufen, zu ändern? Und der Verkäufer/die Verkäuferin, sichtlich irritiert von dem Protest eines privilegierten weißen jungen Mannes aus der Mittelschicht, sagt, dass wäre doch nicht weiter schlimm. Ich soll doch nicht so ein Theater machen. Ich kann ja einfach eins in XL kaufen. Ich lasse mich drauf ein. Mit meinem Frauen-T-Shirt in XL renne ich zur S-Bahn und steige auf dem Weg zu meiner Verabredung zweimal um. Zwischendurch hält die Bahn zweimal im Tunnel. Ich esse ein pappiges Sandwich in einem Café, wo der Cappuccino wie Spülwasser schmeckt – weil ich aufgrund meiner Überzeugungen niemals eine Starbucks-Filiale betreten würde, den Inbegriff des Bösen, wo ich Kaffee mit einem Mindestmaß an Qualität bekäme. Ich erreiche die Demo für Lohngerechtigkeit in letzter Sekunde. Ich entdecke Milena Nowak, eine superschlaue Feministin, mit der ich oft chatte. Sie begrüßt mich mit einer Umarmung, stellt mich den Leuten vor, mit denen sie unterwegs ist, und dankt mir für mein Kommen. Als wir gerade loslaufen wollen, erklärt sie mir, dass das hier heute eine reine Frauendemo ist. Dass es manchmal für marginalisierte Gruppen wichtig ist, einen »intimeren Rahmen« zu schaffen, bei dem es nicht unbedingt darum geht, »das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu wecken« und »die Leute aufzurütteln«, sondern darum, »Rechte zu verteidigen«, die »historisch, systemisch und systematisch mit Füßen getreten wurden«. Dass solche Initiativen dazu dienen, zivilgesellschaftliche Bewegungen zu stärken und für ein Gemeinschaftsgefühl sorgen. Milena sagt, ich könne trotzdem in der Demo mitlaufen, um meine Unterstützung zum Ausdruck zu bringen,


68

nur eben ganz am Ende. Ich finde ihre Argumente ziemlich krass, dackle aber brav zum Ende des Demozugs. Ich ziehe mein Bürohemd aus und mein neues T-Shirt an. Als ich gerade ein Selfie inmitten der »starken weiblichen Vorbilder« um mich herum mache, fragen mich zwei, drei Demonstrantinnen, was ich da tue. Ich erkläre ihnen, dass ich sie bewundere, hinter ihnen stehe und mich solidarisch mit ihnen zeige. Ich poste mein Foto auf Facebook, ein »moderner Mann« mit selbstzufriedenem Grinsen, und die Frauen fordern mich aggressiv dazu auf, nach hinten zu gehen. Aber ich bin doch hinten, antworte ich. Noch weiter hinten geht nicht, erkläre ich. »Am Arsch!«, rufen sie mir zu. Ein Nachrichtensender nutzt die Gelegenheit und hält mir sein Mainstreammedien-Mikro vor die Nase, um einen »Mann von der Straße« zu befragen. Ich verkünde: »Wenn diese Frauen die wenigen Männer, die bei ihrer Demo auftauchen, abweisen, werden sie nie genug gesellschaftliche Unterstützung bekommen!« Mit dem grauen T-Shirt, auf dem ich meinen Feminismus in nicht gerade subtilen schwarzen Lettern zur Schau trage, gehe ich durch mein Viertel. Es ist Samstag, die Sonne scheint, ich betrete einen Drogeriemarkt. Die Bauchkrämpfe, die meine ständigen Begleiter sind, rufen mir in Erinnerung, dass ich Tampons kaufen muss. Oder mir endlich mal eine Menstruationstasse zulegen sollte. Damit ich aufhöre, die Umwelt mit nicht biologisch abbaubaren Kunststoffen zu verseuchen, jedes Mal, wenn der Zyklus der Dinge mich dran erinnert, dass ich diesen Monat wieder nicht schwanger geworden bin. Dass diesen Monat kein zweites Baby in mir heranwachsen wird. Dass ich nicht kurz hintereinander zwei Kinder in die Welt setzen werde, um die Sache ein für alle Mal hinter mich zu bringen. Ein älterer Herr spricht mich an und fragt mich, was da auf meinem T-Shirt steht. Ich spreche Föderalismus? Ich spreche Folklorismus? Ich spreche Fetischismus? Er ist sich da nicht sicher. Seine Augen sind nicht mehr so gut und sein Englisch ist auch nicht das Beste. Er ist siebenundachtzig. Er ist geistig nicht mehr ganz auf der Höhe. Sagt er selbst. Auf meinem T-Shirt steht: »I speak feminist«, das bedeutet: »Ich spreche Feminismus«, erkläre ich. Es folgt ein berührendes Plädoyer, gespickt mit Anekdoten und Ereignissen, die ihn »als Mann, der Frauen immer mit Respekt begegnet ist«, geprägt haben. Trotzdem wünschte ich, er würde endlich in der Kassenschlange vorrücken, bezahlen und gehen. Trotzdem wünschte ich, ein Bekannter/eine Bekannte von mir würde auftauchen und unser Gespräch abwürgen. Klar, der ältere Herr ist charmant und hat in allem, was er sagt, recht. Aber es ist Samstag, Wochenende. Ich habe eine Packung Tampons in der Hand. Und mein Kopf braucht dringend mal eine Pause. Natürlich muss man einen Dresscode einhalten, wenn man einfach nur seine Gehirnzellen lüften und mit niemandem sprechen will. Solche Gespräche entstehen nie, wenn ich in einem ausgeleierten Nirvana-T-Shirt vor die Tür gehe. Ich höre euch murmeln, mein Engagement wäre rein


69

theoretisch. Auch wenn ihr nichts sagt. Ich höre es trotzdem. Ich höre euch murren, mein Engagement wäre rein rhetorisch. Sporadisch. Ich würde mich immer nur dann engagieren, wenn es mir gerade in den Kram passt, ich würde keine konkreten Verbesserungen bewirken. Aber vor anderthalb Jahren haben mein Lebenspartner/meine Lebenspartnerin und ich uns gesagt: Wir wollen ein Kind. Wir hoffen, bald Eltern zu werden. Wir möchten einen weiteren Menschen in die Welt setzen, großziehen, uns um all seine Bedürfnisse kümmern. Doch konfrontierte uns das mit jeder Menge Fragen. Warum wollen wir unbedingt ein »eigenes« Kind, wo es einen Haufen Syrer*innen gibt, die gern hier bei uns leben würden. Mit ihren Kindern. Also haben wir uns mit unseren Freund*innen zusammengetan – den echten, von denen wir sogar die Handynummern besitzen – und haben die Patenschaft für eine syrische Familie übernommen. Wir fühlten uns schon dermaßen erleichtert, als der Termin feststand, an dem die Dandachis ankommen und uns um unser Geld erleichtern würden, aber wir starteten trotzdem eine Crowdfunding-Kampagne und riefen zu Spenden auf. Und um eine emotionale Verbindung zwischen Amena, Nizar, Ahmed, Zeinah und ihren potenziellen Spender*innen aufzubauen, erstellten wir eine Facebookseite für sie. Und als wir das Profilfoto hochladen wollten, baten wir die fünfjährige Tochter, ein Bild von der Familie zu malen. Wir sind ja nicht blöd! Wir wissen, dass man die Leute bei ihren Gefühlen packen muss, dass sie es »total süß« finden müssen, »mega herzerwärmend«, »voll niedlich«. Hat gut funktioniert. Wir haben nicht nur unser Geld wieder zurückgekriegt, wir haben dreimal mehr Spenden zusammenbekommen als geplant! Das war der Hammer! Und am selben Tag, als die Nachricht kam, dass unsere Geflüchteten bald eintreffen würden, habe ich erfahren, dass ich Mutter werde/dass ich Vater werde. An dem Tag, als die vierköpfige syrische Familie am Flughafen angekommen ist, wimmelte es da von Journalist*innen. Sogar das Fernsehen war da. Wir fühlten uns unterstützt. Wir fühlten uns als Teil einer Bewegung. Wir fühlten uns verstanden. Doch in dem Moment, als die Medienleute auf die vierköpfige Familie zugegangen sind, um sie zu interviewen, schirmte ich sie diskret ab und erklärte den Journalist*innen, die Dandachis wären sicher müde. Sie hätten eine lange Reise hinter sich. Außerdem sei die Frage nach einem Interview fehl am Platz, unangebracht, taktlos. Ich trat vor die Kameras und erklärte: »Danke, dass Sie alle gekommen sind. Es berührt uns sehr, dass sie die Dandachis mit uns zusammen willkommen heißen. Die Familie hat Schreckliches durchgemacht. Doch dank unserer unermüdlichen Arbeit und der großen finanziellen Verantwortung, die zu übernehmen wir bereit waren, konnten wir sie herholen. Endlich kann die Familie ihr tristes Leben hinter sich lassen. Der Weg dorthin war nicht leicht. Es war für uns alle sehr belastend. Körperlich wie psychisch. Ich möchte Ihnen nicht verschweigen, dass so ein


70

Antrag sehr komplex ist. Man kämpft mit der Bürokratie. Und mitten im Winter eine Wohnung zu finden, groß genug für eine derart große Familie und dann auch noch bezahlbar, das allein war schon fast unmöglich. Und nicht nur das, wir mussten auch noch Möbel auftreiben, Lebensmittel einkaufen und Winterkleidung für sie besorgen. Aber wir haben nicht aufgegeben, wir haben alles daran gesetzt, die Dandachis aus der Hölle herauszuholen, in der sie lebten. Jetzt können unsere Syrer endlich zur Ruhe kommen. Weit weg von Bomben und Bürgerkrieg, ohne Todesangst. Und ich muss zugeben, dass ich ein kleines bisschen stolz darauf bin. Stolz darauf, dass ich als einfacher Bürger/als einfache Bürgerin ein solches Wunder vollbringen konnte. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass andere sich mein Verhalten zum Vorbild nehmen.« Dann drehte ich mich zu den Syrern um, die neben ihren kleinen Reisetaschen standen. Zu den Menschen, die ihre Habseligkeiten, Kleider und Erinnerungsstücke durchgegangen waren und auswählen mussten, was davon sie ins Flugzeug mitnehmen konnten. Mir fielen unsere Kennenlern-Gespräche auf Skype ein. Die Eltern hatten gesagt, sie wären sehr traurig darüber, ihre Heimat verlassen und in unser Land ziehen zu müssen. »Palmyra ist eine so schöne Stadt, Damaskus ist eine so schöne Stadt, Bosra ist eine so schöne Stadt, Tartus ist eine so schöne Stadt, Aleppo ist eine so schöne Stadt. Es scheint fast immer die Sonne, die historischen Bauten und das Mittelmeer sind wunderbar. Wir hoffen sehr, dass unsere Kultur, unsere Landschaften, unsere Zukunft bewahrt werden können. Wir hoffen sehr, dass unsere Städte schnell wiederaufgebaut werden können. Darum beten wir jeden Tag.« In den Nachrichten unseres öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders konnte man an dem Abend eine Nahaufnahme meines Gesichts mit Tränen in den Augen sehen, meinen Stolz auf meine gute Tat, und meine Erschütterung angesichts der Erschütterung der Dandachis. Nichts von der Verzweiflung einer syrischen Familie über die Zerstörung ihres Landes, das vor ihren Augen zerfällt. Da kann man nichts machen. Wir werden damit geboren. Wir werden es nicht wieder los. Wikipedia sollte aufhören, uns auf pseudowissenschaftlich-esoterische Abwege zu führen und uns die Wahrheit einfach vor den Latz knallen: Ey Leute, wir haben das alle. In uns drin. Von Geburt an. Einen Stacheldraht. Wie unser Gesicht, unsere Lungen, das Blut, das durch unsere Adern fließt. Er gehört zu unserer Grundausrüstung. Und im Laufe der Zeit wächst der Stacheldraht und wird immer länger. Er bewegt sich in Richtung Mund. Ohne dass wir es mitkriegen. Unser Stacheldraht. Selbst wenn wir voller guter Absichten sind, bis Oberkante Unterlippe! Er wächst und wird immer länger. Ins uns drin. Unser Stacheldraht. Egal, ob wir ängstlich den Mund halten, uns einen Maulkorb verpassen, uns selbst sabotieren oder ob wir die Klappe aufreißen und das Wort, das Mikro, das Megaphon ergreifen, er wird immer länger. In uns drin. Unser Stacheldraht. Man könnte meinen,


er regt sich nur, wenn wir unsere Gewissheiten, unsere Leidenschaften und unsere Hoffnungen beschneiden. Aber er wächst auch, wenn wir glauben, Gutes zu tun. Sensibel zu sein. Anderen Menschen zu helfen.

3. Wie es endet Das wäre so leicht. Leicht, sich ungerecht behandelt zu fühlen und in Selbstmitleid zu versinken. Die Wahrheit zu verdrängen. Zeter und Mordio zu schreien, zu jammern und zu maulen wie ein Kind, das schmollt, weil man sich weigert, ihm die gezuckerten Frühstücksflocken kaufen, die DVD mit dem neuen Zeichentrickfilm oder die Mega-geile-Wasserpistole-die-super-weit-schießt-und-alle-Bösen-vertreibt-und-die-Guten-auch-weil-sonst-wäre-das-ja-ungerecht. Zu schmollen und mit meinem Schicksal zu hadern. Wie ein Kind, das sich anhören muss: »Hör auf zu jammern, so viele Kinder auf der Welt haben es schlechter als du!« Es wäre so leicht, die beleidigte Leberwurst zu spielen, passiv-aggressiv gegen die Möbel zu treten, genervt zu schnaufen und Krokodilstränen zu vergießen. Wie ein Fünfjähriger oder eine Fünfjährige, dem oder der man soeben das ganze Ausmaß seiner oder ihrer Privilegien unter die Nase gerieben hat. Das wäre so leicht. Mir die Stimmbänder aus dem Leib zu schreien und durch die Gegend zu brüllen: »Warum ich?« Mein Schrei würde alles zerfetzen. Angefangen mit meinem Gesicht. Warum passiert mir das und nicht dem, der erklärt: »Der Klimawandel ist eine Erfindung der Chinesen, um der amerikanischen Wirtschaft zu schaden.« Warum passiert mir das und nicht der, die erklärt: »Wir sollten alle Migranten, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, in internationale Gewässer zurückschicken.« Warum passiert mir das und nicht dem, der erklärt: »Ich glaube nicht, dass ein Widerspruch besteht zwischen der Sicherheit unserer Städte und dem privaten Waffenbesitz, dieser wichtigen Facette der kanadischen Identität.« Warum passiert mir das und nicht Donald Trump, Marine Le Pen, Justin Trudeau? Warum passiert mir das und nicht dem, der erklärt: »Alle Schwarzen sind verdammte Schmarotzer, Feiglinge und faule Säue.« Warum passiert mir das und nicht der, die erklärt: »In meiner Heimatstadt gab es so was früher auch nicht, ›andere Ethnien‹. Und ich habe trotzdem nichts gegen Indianer, solange sie in ihren Reservaten bleiben, und auch nichts gegen Afrikaner, Juden, ›Taliban-Araber‹ und ›Sushi-Vietnamesen‹.« Es wäre so leicht. Leicht, sich ungerecht behandelt zu fühlen und in Selbstmitleid zu versinken. Die Wahrheit zu verdrängen. Mein Gehirn, das einen Uniabschluss hat, dazu zu gebrauchen, Gegenargumente vorzutragen wie eine Staranwältin aus einem Hollywoodfilm der 90er Jahre. Leicht, anderen die Schuld zu geben. Einzufordern, dass die ganze Menschheit Verantwortung Der Stacheldrahtmensch

71


72

für mein Schicksal übernimmt. Ich blute. Heftig. Wie lange habe ich noch? Knapp fünf Minuten, bis der Stacheldraht sich um mein Gesicht windet und mir die Lippen zunäht! Ich muss es hinnehmen. Hinnehmen, was mit mir passiert. Der Wikipedia-Artikel über Stacheldraht ist Müll. Totaler Müll. Wikipedia käme niemals auf den Algorithmus, zu schreiben, dass der tödlich spitze Draht bei manchen Neugeborenen bereits die Niere befallen hat. Man kann sogar mit Stacheldraht in der Leber oder im Herzen zur Welt kommen! Die universelle Online-Enzyklopädie käme niemals auf die Software, zu schreiben, dass das genetisch ist. Dass unsere Erzeuger/unsere Erzeugerinnen uns zum Tode verurteilen, indem sie uns eine Geschichte vererben. Eine Familiengeschichte. Eine Ahnenreihe. Eine Sippschaft. Wikipedia sollte unsere Bildschirme blutrot färben, wenn wir den Artikel über Stacheldraht aufrufen. Wenn wir hektisch auf alle Links klicken, bis es Klick macht, wir in Panik geraten und es bitter bereuen, ein Kind in die Welt gesetzt zu haben. Am Tag der Geburt war ich in der Autowerkstatt. Ein Problem mit den Bremsen. Ein Problem mit der Lichtmaschine. Ein Problem mit etwas zu früh einsetzenden Wehen. Der Automechaniker/die Automechanikerin mit seinem/ihrem ölverschmierten Blaumann fuhr uns ins Krankenhaus. Ich erinnere mich an absolut alles und fast gar nichts. Die Hände meines Lebenspartners/meiner Lebenspartnerin auf meinen. Die total zerknitterten Hände unseres gemeinsamen Babys, das uns an dem Tag gemeinsam glücklich gemacht hat. Wir hielten uns die ganze Zeit an den Händen. Ließen uns keine Sekunde los. Wir werden uns nie mehr loslassen. Am Tag der Geburt betrug die Rechnung der Autowerkstatt zweitausendneunhundertdreiundvierzig Komma siebenundsechzig. Und mein Liebesbarometer schnellte in die Höhe und sprengte jede Skala. Am Tag der Geburt traten dreitausendzweihundertneunundachtzig Gramm Hoffnung in die Welt, um sie kleines bisschen besser zu machen. Das wäre so leicht. Leicht, sich ungerecht behandelt zu fühlen und in Selbstmitleid zu versinken. Die Wahrheit zu verdrängen. Hier der Beweis: Genau das tue ich. Seit ich ihn spüre. Seit ich ihn sehe. Meinen Stacheldraht. Genau das tue ich. Ich wehre mich. Begehre dagegen auf. Suche nach einem oder einer Schuldigen. Und zwar außerhalb unseres gemütlichen Zuhauses in einem grünen Viertel unserer geliebten Stadt. Ich blute. Heftig. Wie lange habe ich noch? Knapp drei Minuten, bis der Stacheldraht sich um mein Gesicht windet und mir die Lippen zunäht! Und ihr werdet Zeug*innen sein. Ob ihr wollt oder nicht. Ob ihr Angst habt oder nicht. Ob ihr geschockt seid oder nicht. Ich sehe euch in die Augen, direkt und instinktiv. Ich habe keine Wahl. Mein Blick fleht euch hilfesuchend an. Spürt ihr das? Meine Pupillen haben sich abrupt in eure verguckt. Merkt ihr das? Versucht, nicht wegzusehen und auf eure Schuhe zu starren. Ich rede nicht mit euren Schuhen. Ich rede mit euch und eurer Iris. Ich sehe euch in die Augen, direkt und instinktiv.


73

Ich habe keine Wahl. Mein Blick fleht euch hilfesuchend an. Spürt ihr das? Meine Pupillen haben sich in eure verguckt. Merkt ihr das? Kramt nicht nach eurem Telefon, starrt nicht auf den Bildschirm. Ich rede mit euch und nicht mit euren Telefonen. Ich rede mit euch und eurer Iris. Ich bitte euch nicht, vorzutreten und meine Hand zu halten. Dafür habe ich meine Lebenspartnerin/meinen Lebenspartner, dafür habe ich mein Baby, das ich für immer und ewig festhalten werde. Vielleicht bestehe ich künftig nur noch aus Armen. Aus Armen, die genau wissen, wo sie hingreifen müssen, um Trost zu spenden. Die in den Schlaf wiegen. Suppe umrühren. Hähnchenfleisch schneiden. Ein Trommelfeuer von Worten in eine gesellschaftskritische Tastatur hacken. Eine geballte Faust in die Luft recken. Vielleicht bestehe ich künftig nur noch aus Beinen. Beinen, die die meiner Liebsten ersetzen, wenn sie zu straucheln drohen. Wenn sie sich die Ellbogen aufzuschürfen drohen. Und die Knie. Wenn sie sich wehzutun drohen, so wie ich mir wehgetan habe. Ich könnte ein Körper sein, der sich ganz seinen Bewegungen und Gesten hingibt. Ein Körper, der am eigenen Leib erfährt, dass er zum Schweigen verurteilt ist. Aber vielleicht könnte ich meinen Körper auch lustvoll in Luft auflösen und so das Versprechen einer neuen Stille sein, in jedem und in jeder von euch, einer wiedergefundenen Stille. Es heißt doch immer, wir sollen Papier und Glas und Plastik recyceln, aber noch besser wäre es, weniger davon zu verbrauchen. Vielleicht gilt das auch für sinnfreies Gelaber, forsch vorgetragene Meinungen, permanente öffentliche Aufschreie. Wenn wir endlich Abstand davon nehmen würden, einen Tsunami an verbalem Dünnschiss in die Welt zu setzen, wären wir vielleicht imstande, anderen Stimmen Raum zu geben. Den Stimmen anderer. Den Stimmen derjenigen, die sich im Moment nur ganz schüchtern zu Wort melden. Leise. Überhaupt nicht. Ich halte den Mund. Ich halte den Mund. Ich halte den Mund. Wer weiß, vielleicht wird sich mein geliebter Schatz dann aus der erstickenden Umklammerung der Familie befreien können. Wer weiß, vielleicht gelingt es ihm oder ihr dann, sich von seinen oder ihren Eltern abzunabeln! Wer weiß, vielleicht ist das eines der Grundbedürfnisse, die Maslow in seiner Pyramide vergessen hat. Ihr werdet einen Menschen sterben sehen. Nicht im Fernsehen. Nicht in einem bewaffneten Konflikt, bei dem ihr eh nie ganz durchsteigen werdet. Ihr werdet einen Menschen sterben sehen. Nicht in der Zeitung. Nicht in den Medien, die so gern Armut mit Dummheit mit Gewalt mit Kriegsverbrechen gleichsetzen. Das Foto des kleinen Alan Kurdi am Strand. Wo war der Strand noch mal? Welcher Krieg war das noch mal? Welche gesellschaftspolitische Abwärtsspirale war das noch mal? Die Einzelheiten sind uns egal, nicht wahr? Für uns zählt nur, dass uns der Atem gestockt ist, als wir das Foto gesehen haben. Dass sich uns der Magen zusammengezogen hat. Dass unser Herz einen Schlag lang ausgesetzt hat. Dass mein Herz, als es mit dem Foto in Berührung


Der Stacheldraht windet sich um das Gesicht des Stacheldrahtmenschen und näht ihm oder ihr die Lippen zu. Schweigen, langes Schweigen,

74

gekommen ist, einen Schock erlitten hat. Wir waren New York, Paris, Brüssel, Berlin, Nizza, London und Barcelona. Aber nicht Bamako, Ouagadougou, Bagdad, Homs, Beirut, Istanbul und Sanaa, oder nur sehr wenig. In welchem Land liegen diese Städte noch mal gleich? Wie spricht man diese Städte noch mal aus? Welchem maroden Schulsystem kann ich noch mal die Schuld daran geben, dass ich so ignorant bin? Welchen verlogenen Medien kann ich noch mal die Schuld daran geben, dass ich so schlecht informiert bin? Das Tolle an New York, Paris, Brüssel, Berlin, Nizza, London und Barcelona war, dass wir schnell zum Telefon gegriffen und unsere Freund*innen angerufen haben, die in diesen Städten leben, nicht wahr? Dass wir uns krass Sorgen um sie gemacht haben. Das Schöne an New York, Paris, Brüssel, Berlin, Nizza, London und Barcelona war das Gemeinschaftsgefühl. Wir erlebten alle dasselbe. Wir erlebten gemeinsam etwas krass Trauriges. Ich blute. Heftig. Vielleicht würde mein Schmerz euch lächerlich vorkommen, wenn wir uns auf Netflix fünf, sechs Dokus nacheinander reinziehen würden. Vielleicht käme es euch banal vor, dass das Leben aus mir herausfließt. Bald werdet ihr nach Hause gehen. Ich auch. Ihr werdet zu den Menschen nach Hause gehen, die euch so nah sind, dass ihr vor Liebe sterben könntet. Ihr werdet zu den Menschen nach Hause gehen, die euch so nah sind, dass ihr vor Hass vergehen könntet. Bald werdet ihr nach Hause gehen. Ich auch. Zurück zu den Themen und den Menschen, die euch freier atmen lassen. Ihr werdet überfordert sein von all den schlimmen Dingen, die euch die Luft zum Atmen nehmen. Bald werdet ihr nach Hause gehen. Ich auch. Eure Gedanken werden vielleicht eine andere Richtung einschlagen. Neuland betreten. Sich zu fernen Horizonten aufmachen. Vielleicht werdet ihr in euer Leben zurückkehren und euch fühlen wie damals, als ihr das erste Mal einen Orgasmus hattet. Vielleicht werdet ihr das Leben aber auch weiter verfluchen und daran verzweifeln. Ihr werdet einen Menschen sterben sehen. Und solltet ihr darauf beharren, eure Beziehungen weiter danach zu beurteilen, welchen Nutzen sie euch bringen, möchte ich euch eins sagen: Ich will keine Wut hinterlassen. Keine Traurigkeit. Keinen Schmerz. Ich möchte nicht, dass auf meiner Beerdigung Tränen fließen. Es läuft eh nie so, wie wir uns das vorstellen. Das Einzige, was ich den Menschen, für die ich sterbe, hinterlassen will, ist eine Atempause. Um Luft zu holen. Um nachzudenken, bevor wir etwas sagen oder tun. Bevor wir reagieren oder handeln. Es läuft eh nie so, wie wir uns das vorstellen. Das Einzige, was ich den Menschen, für die ich sterbe, hinterlassen möchte, ist eine Atempause. Um nicht ständig alles beurteilen zu müssen. Es läuft eh nie so, wie wir uns das vorstellen. Wir brauchen eine Pause. Eine Auszeit. Ein Innehalten.


sehr langes Schweigen, viel zu langes Schweigen. Der Stacheldrahtmensch reiĂ&#x;t den Mund auf. Der Stacheldraht zerfetzt ihm oder ihr die Lippen und das Gesicht. Blut spritzt. Viel Blut. Langsam flieĂ&#x;t das Leben aus ihm oder ihr heraus und der Tod tritt ein.

75



Myriam Saduis

Final Cut [Originaltitel: Final Cut] aus dem Französischen von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Deutsche Übersetzung mit der freundlichen Unterstützung der Autorengesellschaft SACD Belgique.


»›Komik‹ ist für mich nicht unvereinbar mit ›Schmerz‹ und ganz bestimmt nicht mit ›Leiden‹. Es gibt eine Komik des Schmerzes, eine Komik des Leidens, eine Komik des Todes. Komisch im Sinne von etwas Seltsamem, Intensivem, Ungreifbaren. Man sagt ›Das ist komisch‹, so wie man ›Das ist beunruhigend‹ sagt.«

78

Michel Foucault


OUVERTÜRE

79

Als meine Mutter starb, fand ich bei ihr zu Hause Briefe, die an mich adressiert waren. Sie hatte sie mir nie übergeben, hatte mir nie davon erzählt, doch sie waren in einem Umschlag aufbewahrt, auf den sie geschrieben hatte: Myriams Vater Myriam, das bin ich. Das heißt, das ist mein Vorname. Als ich den Umschlag und die Aufschrift entdeckte, war ich wie vom Donner gerührt. Ich habe meinen Vater nicht gekannt. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei Jahre alt war, danach habe ich ihn nie wiedergesehen. Ich komme später noch darauf zurück. Wenige Wochen vor der Entdeckung dieser Briefe rief mich der Arzt meiner Mutter an. Er teilte mir mit, dass meine Mutter — die seit mehreren Tagen vermisst wurde — soeben vollkommen verwirrt an einem Bahnhof aufgegriffen worden war — in Paris — 300 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Weiterhin erfuhr ich von ihm, dass meine Mutter ihm — vor ihrer Flucht — erzählt hatte, dass sie dringend in ihr »verlorenes Königreich« zurückkehren müsste, und dass es nun in ihrer persönlichen Verantwortung liegen würde, »Grund und Boden neu zu organisieren« und »den Grundstein zu einer neuen Politik zu legen«.

Ein dumpfes Brummen Meine Mutter wurde 1938 geboren, in Tunesien. Damals war Tunesien seit 1881 ein »französisches Protektorat«. Meine Ur-Ur-Großeltern stammten aus Italien und waren in den ersten Jahren des Protektorats nach Tunesien ausgewandert. Meine Mutter war Italienerin. Mein Vater war Tunesier. Meine Mutter war Europäerin. Mein Vater war Araber. Da hört man sofort etwas, nicht wahr? Da hört man eine Art dumpfes Brummen, und dieses Brummen deutet darauf hin, dass es anscheinend ein Problem gibt. Meine Mutter bezeichnete sich als Tochter »italienischer Kolonialherren« … Mein Großvater und seine Brüder waren Landwirte, sie hatten einen kleinen Bauernhof — aber eigentlich waren die Italiener in Tunesien strenggenommen keine Kolonialherren. Es gab damals in Tunesien in der Tat eine sehr große italienische Gemeinschaft, und auch Malteser, Juden, Griechen und Russen. Doch Kolonialherren waren nur die Franzosen.


Wenn ich hier das Wort »Kolonialherr« übernehme, dann nur, weil aus den Äußerungen meiner Mutter, die ich in meiner Kindheit hörte, klar hervorging, dass sie sich mit den französischen Kolonialherren identifizieren wollte.

Gehen wir zurück zum 28. Juli 1885. Tunesien steht seit vier Jahren unter Protektorat. Betreten wir die französische Nationalversammlung, lauschen wir Jules Ferry — der soeben den Protektoratsvertrag von Tunesien unterschrieben hat, den sogenannten »Vertrag von Bardo«. Die Rede von Jules Ferry wird vorgelesen: »Ich sage, dass die Kolonialpolitik Frankreichs, diese Politik der kolonialen Expansion, die uns unter dem Kaiserreich nach Saigon, nach Cochinchina, nach Tunesien, nach Madagaskar geführt hat, dass diese koloniale Expansionspolitik von einer Wahrheit beseelt ist: Schauen Sie auf die Weltkarte und sagen Sie mir: Sind diese Etappen von Indochina, von Madagaskar, von Tunesien nicht notwendige Etappen für die Sicherheit unseres Schiffsverkehrs? Einen zweiten Punkt, einen zweiten Zusammenhang, muss ich ebenfalls ansprechen, und zwar den humanitären und zivilisatorischen Aspekt dieser Frage. Meine Herren, wir müssen es lauter und ehrlicher sagen! Wir müssen offen sagen, dass die höherentwickelten Rassen in der Tat ein Recht gegenüber den niederen Rassen haben … Ich sage, dass die höherentwickelten Rassen ein Recht gegenüber den niederen Rassen haben … weil es für sie eine Pflicht gibt. Sie haben die Pflicht, die niederen Rassen zu zivilisieren …«

Die Regenschirme von Cherbourg 1 Ein halbes Jahrhundert später lernen sich meine Eltern kennen, 1955, ein Jahr vor der Unabhängigkeit Tunesiens. Meine Mutter ist 18 Jahre alt, als sie meinem Vater begegnet. Sie arbeitet seit einigen Monaten in der Autowerkstatt eines Onkels in Béjà, 115 Kilometer von Tunis entfernt. Ihre Eltern haben ihr verboten, zu studieren. Denn: »Sie ist ein Mädchen.« »Les parapluies de Cherbourg« von Jacques Demy aus dem Jahr 1964 ist ein äußerst populärer Musicalfilm, der vom Scheitern einer Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Algerienkrieges erzählt. In der Schlussszene arbeitet der verlassene Liebhaber in einer Autowerkstatt und begegnet dort seiner ehemaligen Geliebten wieder und seiner Tochter, die er noch nie gesehen hat. Kein Wunder, dass sich die Protagonistin von »Final Cut« mit seiner Handlung identifiziert. (Anm. d. Übers.) 1

80

Jules Ferry


Mein Vater ist älter als meine Mutter — er ist 30 — und Geschäftsmann. Und an diesem Tag hat er einen Termin in der kleinen Stadt, in der meine Mutter lebt, 68 Kilometer von seinem Wohnort entfernt, als sein Auto verdächtige Geräusche von sich gibt … und dann fährt der große schwarze Wagen in die einzige Werkstatt dieser Kleinstadt ein. Das klingt wie aus einem Roman von Marguerite Duras. Sie sehen sich zum ersten Mal — sie gefallen einander, sie unterhalten sich, und es ist, als wären sie vom Blitz getroffen worden. Meine Mutter wird von ihrer gesamten Familie überwacht. Diese Liebe zu einem Mann, den man in der Kolonialsprache als »Eingeborenen«, als »Kanake«, als »Kameltreiber« bezeichnet, ist für sie vollkommen inakzeptabel. Sie verabreden sich heimlich. Meine Mutter wird beschimpft, geschmäht und sie wollen heiraten. (Lied) »J’ai parlé à maman de notre mariage, elle m’a évidemment traité

de folle.«2

81

Das stammt aus »Die Regenschirme von Cherbourg«, einem meiner Lieblingsfilme. Ganz Tunesien ist in Aufruhr, die Unabhängigkeit rüttelt an den Türen des Landes. Mein Vater ist ein glühender Anhänger. An der Grenze zu Tunesien liegt Algerien, französische Kolonie seit 1830, ein französisches Département. Die algerische Revolution beginnt 1954. Nach einem blutigen Krieg mit Frankreich, der acht Jahre dauert … wird Algerien 1962 schließlich unabhängig. Tunesien dagegen wird 1956 unabhängig. Fast unabhängig. Fast. Die Franzosen bestehen darauf, dass sie eine Militärbasis behalten wollen. Sie kontrollieren weiterhin den Hafen von Bizerte. Bizerte. Merken Sie sich diesen Namen. Ich komme später noch darauf zurück. Zwei Jahre nach der Unabhängigkeit verlässt meine gesamte Familie mütterlicherseits Tunesien. Es handelt sich nicht um eine Rückkehr nach Italien. Sondern um einen Aufbruch nach Frankreich. In ein Land, in dem sie noch nie gewesen sind und wo sie niemanden kennen. Die Irrungen und Wirrungen des Rückführungsprogramms führen sie schließlich nach Dijon, im Département Côte d,Or. Meine Mutter ist bei ihnen. Sie ist noch minderjährig und fühlt sich, als hätte man sie mitten aus ihrem Leben herausgerissen. Zahlreiche Mitglieder meiner Familie mütterlicherseits werden in andere Alle Hinweise (Lied) werden a capella gesungen. Michel Legrand, »Les parapluies de Cherbourg«: »Ich habe mit Mama über unsere Hochzeit gesprochen, natürlich hat sie mich für verrückt erklärt.« 2


Städte in ganz Frankreich zurückgeführt. Der Clan wird zerschlagen. Was folgt, ist die Suche nach Arbeit, egal welcher, der Verlust der bescheidenen Privilegien. Armut. Sozialer Abstieg. Meine Mutter und mein Vater schreiben einander weiterhin Briefe. Er schreibt ihr »postlagernd«. Sie versteckt die Briefe in ihren Schuhen. Sie läuft durch diese fremde französische Provinz. Die Worte einer weit entfernten Liebe sind ihre einzige Kartografie. Stimme Z, der Psychoanalytiker 3 Ja, manchmal ist es nötig, sich eine neue Kartografie zu erfinden.

17. Oktober 1961 … Der Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon hat eine Ausgangssperre für »die Muslime Frankreichs« verhängt. Frankreich befindet sich mitten im Algerienkrieg. An diesem Tag, dem 17. Oktober, ruft die FLN — die Nationale Befreiungsfront Algeriens — zu einer friedlichen Protestdemonstration gegen die Ausgangssperre auf. An diesem Tag werden Hunderte von Algeriern von der französischen Polizei verhaftet, zusammengetrieben und massakriert. Die Leichen werden in die Seine geworfen. Erst über 30 Jahre später wird öffentlich bekannt, welche Verbrechen in dieser Nacht tatsächlich stattgefunden haben. Es heißt, die Seine war am nächsten Tag rot. Dreizehn Tage später, am 30. Oktober 1961, kommen meine Eltern nach Frankreich. Meine Mutter steht bei ihren Eltern auf der Matte, mit ihrem — tunesischen — Ehemann, und obendrein im achten Monat schwanger. Und an einem Novembermorgen komme ich zur Welt, in Dijon, im Département Côte d’Or.

Die Erzählerin wird von »Stimmen« heimgesucht — die jeweils im Text angegeben und bei ihrem ersten Auftreten benannt werden. Hier Stimme Z: die Stimme des Psychoanalytikers. 3

82

19. Juli 1959. Meine Mutter wird 21 Jahre alt. Sie ist jetzt volljährig. Vier Monate später, am 8. November 1959, wird Habib Bourguiba zum Präsidenten der frischgebackenen tunesischen Republik gewählt. Die Franzosen kontrollieren immer noch Bizerte. Am 7. Dezember 1959, drei Wochen nach der Wahl, verlässt meine Mutter Frankreich. Sie hinterlässt einen Brief, in dem sie schreibt, dass sie nach Tunesien zurückkehrt, um wieder bei dem Mann zu sein, den sie liebt. Niemand erwähnt sie mehr, man betrachtet sie als tot. Vermisst gemeldet. Ausradiert.


Allein die Liebe ist weltlos. Später erfahre ich, dass mein Vater das Haus meiner Großeltern kaum betreten durfte. Von Zeit zu Zeit schlägt meine Mutter mit der Faust auf den Tisch: »Er ist mein Mann, der Vater meiner Tochter, ich verlange, dass ihr ihn empfangt.« Dann willigen sie ein, die Tür zu öffnen, tun aber sehr schnell so, als sei er gar nicht da und sprechen kaum mit ihm. Meine Eltern trennen sich, als ich drei Jahre alt bin. Warum? Ich weiß nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Es ist, als hätte es geografisch und politisch keinen Raum mehr für sie gegeben. »Liebe ist weltlos 4«, schreibt Hannah Arendt, doch wenn man eine Familie gründet, entstehen plötzlich Grenzen. Eines steht fest: Meine Mutter wollte, dass ich auf französischem Boden zur Welt komme. Sie will, dass ich in Frankreich aufwachse, sie will, dass ich eine französische Erziehung bekomme … und einen französischen Pass.

»Verlorenes Mädchen«

83

Und doch war meine Mutter nach Tunesien zurückgekehrt, zu dem Mann, den sie liebte. Sie wollte in der neuen unabhängigen Republik leben. Ich war schon 40 Jahre alt, als ich erfuhr, dass sie an einem Wintertag im Hafen von Tunis aus einem Schiff stieg, mein Vater wartete am Kai auf sie. Sie sagte zu ihm: »Ich habe alles für dich aufgegeben, wenn du mich nicht heiratest, bin ich ein verlorenes Mädchen.« Und zwei Tage später heirateten sie, alleine vor einem Standesbeamten. Und jetzt bin ich drei Jahre alt, jetzt lassen sie sich scheiden, und ich werde meinen Vater nie mehr wiedersehen. Meine Mutter verbannt ihn vom Grund und Boden der Familie … Keiner erzählt mir mehr von ihm. Keiner erwähnt ihn mehr. Er wird ausradiert.

4

Hannah Arendt, Vita activa.


»Ich habe das Negativ gefunden, pst! Meine Mutter wird wahnsinnig, wenn sie das erfährt«

HISTORIA — NACHFORSCHUNGEN Aber als ich fünf bin, lerne ich lesen, und von da an stelle ich Nachforschungen an … Ich spitze die Ohren, meine Großeltern sprechen untereinander ständig Italienisch. Ich verheimliche ihnen tunlichst, dass ich alles verstehe. Ab und zu entschlüpfen ihnen Wörter und Andeutungen, die mir die Existenz meines Vaters bestätigen. Meine Mutter hat alle Fotos zerrissen. Manche sind in der Mitte durchgeschnitten. Es ist nur noch sie zu sehen. Die fehlenden Teile bleiben unauffindbar. Eines Tages finde ich einen Umschlag mit einem Negativ. Das ist er. Ich halte es ins Licht und untersuche es genau. Ich zeichne ihn ab. Ich habe panische Angst bei dem Gedanken, man könnte meine Zeichnung finden, also radiere ich die Striche aus und schreibe Zahlen hin, damit ich das Gesicht später wieder nachzeichnen kann. Meine Mutter darf nicht erfahren, dass ich das Negativ gefunden habe, und dass ich das Gesicht meines Vaters sehen will. Sie würde wahnsinnig werden.

84

Unser Leben verändert sich auf einen Schlag, von nun an wohnen wir bei meinen Großeltern. Kein Fremder darf ins Haus. Kein Fremder. Es ist, als hätte ein Staatsstreich stattgefunden. In der Küche wird eine neue Verfassung verkündet. Der Grundsatzartikel lautet: »Du hast keinen Vater.« Fragen sind generell untersagt. Die Amtssprache ist Französisch. Meine Mutter war Katholikin, mein Vater Muslim. Meine Eltern hatten sich geeinigt, mich nach keiner Religion zu erziehen. Ich sollte später frei wählen können. Nach ihrer Trennung wird diese Vereinbarung einseitig aufgekündigt: Schnell wird die Operation »Taufe« durchgeführt und ich komme auf eine — katholische — Privatschule. Ich darf nur noch Französisch sprechen, niemals Italienisch, und schon gar nicht Arabisch. Stellen Sie sich vor: Meine Mutter wird mir ihr ganzes Leben lang verheimlichen, dass sie fließend Arabisch konnte.


Geschichte und Kartografie Als ich als Kind hörte, wie meine Familie mütterlicherseits von ihrer Vergangenheit erzählte, klang das, als sei Tunesien eine Art Insel, auf der nur Italiener lebten und ein einziger Araber: mein Vater. Damals widersprach nichts wirklich dieser Perspektive — die zugegebenermaßen den historischen Aspekt ignorierte –, aber in der Schule ist nur vom Kaiserreich die Rede, vom »bedeutenden Zivilisierungsauftrag«, der Frankreich, der »ältesten Tochter der Kirche«, obliegt. Der Orient, das sind Flaubert, Delacroix, Racine … Man spricht den Namen des Generals Bonaparte mit Ehrfurcht aus, man begrüßt den Ägyptenfeldzug. Wir singen das Loblied von Diderot — den ich wirklich liebe — Rousseau, Montaigne, Voltaire, Descartes … Die Aufklärung, Gleichheit, Freiheit, Victor Hugo. »Demain, dès l’aube, à l’heure où blanchit la campagne, Je partirai. Vois-tu, je sais que tu m’attends. J’irai par la forêt, j’irai par la montagne. Je ne puis demeurer loin de toi plus longtemps …« 5

85

Doch mein verehrter Victor Hugo hat auch Folgendes geschrieben: »Sehen Sie den Damm nicht? Da liegt er, vor Ihnen, dieser Block aus Sand und Asche, dieser träge, untätige Haufen (…) Afrika. Asien hat seine Geschichte, Amerika hat seine Geschichte, selbst Australien hat seine Geschichte. Afrika hat keine Geschichte.« »In den meisten Beziehungen, die nicht gleichberechtigt sind, beginnt die Vergewaltigung mit der Sprache.« 6

Zeichen Meine Mutter lebte in einem Zustand ständiger Unruhe. Es gab natürlich grundlegende Vorgaben, die den Frieden garantierten: keine Fragen nach dem Vater, perfekte schulische Leistungen, ein tadelloses Äußeres. Doch war es unmöglich, die tausend anderen Dinge vollständig aufzulisten — gefährliche Wörter, Blicke, Klänge, Betonungen, plötzliche Überraschungen …, die alle auf mysteriöse Art und Weise Krisen oder Anfälle bei ihr »Demain dès l’aube« von Victor Hugo : »Morgen in der Dämmerung, wenn das Land sich weiß verfärbt / Geh ich weg und siehst du, ich weiß, du wartest auf mich./ Durch Wälder werd ich gehn, durch Berge werd ich gehn. / Ich kann nicht länger fern von dir bleiben …« 6 Achille Mbembe, Antwort auf Nicolas Sarkozys Rede von Dakar. 5


Lieder Eine weitere wertvolle Informationsquelle meiner Nachforschungen waren Lieder. Meine Mutter sang viel und sehr gut — und wenn sie sang, schien sie bestimmte Dinge zu sagen, die sie sonst verschwieg. (Lied) »Ce soir, mon petit enfant, mon garçon, mon amour

Il pleut sur la maison mon enfant, mon amour Comme tu lui ressembles On est là tous les deux . Perdus parmi les choses. On est là tous les deux, seuls.« 7 Ich fand das ziemlich übertrieben. Erstens waren wir nicht allein. Und außerdem war ich nicht »verloren inmitten der Dinge«. Auch ich sang geheime Sachen. Serge Reggiani, »Ce soir mon petit garçon«: »Heute Abend, mein kleines Kind, mein Junge, mein Schatz / Regnet es auf das Haus, mein Kind, mein Schatz / Wie ähnlich du ihm siehst / Da sind wir beide. / Verloren inmitten der Dinge. /Da sind wir, alle beide, ganz allein.« 7

86

auslösen konnten. Ich hatte also gelernt, die Warnzeichen zu erkennen, einige deuteten unzweifelhaft auf Krisen maximalen Ausmaßes hin. — plötzliches zwanghaftes Umstellen von Gegenständen. — sprachliche Verschiebungen: Verschwinden der Personalpronomen ich, du, zu Gunsten der neutralen Passivkonstruktion »es wird gemacht«. Manchmal verschwanden bestimmte Phoneme, die syntaktische Struktur geriet durcheinander. Beispiele: Fallbeil und Fallschirm, das lass ich mich nicht gefallen. Es gab auch ganz bestimmte Gesten, die immer wieder auftraten, auf die ich in meinem eigenen Interesse achten musste. Die erste Die zweite Die dritte Das alles waren Warnungen, unbedingt so schnell wie möglich aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Es galt, ganz natürlich wegzugehen, und falls eine Frage gestellt wurde, ganz ruhig stehenzubleiben und überaus freundlich mit »Ja?« zu antworten. Und dabei — ohne es deutlich zu zeigen — eine Fluchtdistanz zu wahren.


»Au chemin qui monte la mer, couché dans le jardin de pierres, je veux que tranquille il repose, je l’ai couché dessous les roses, mon père.« 8 — Machst du das mit Absicht? — Was? — Dieses Lied. — Ich mag Barbara.

Anproben

87

Es gab noch etwas, das später einige Untersuchungen erfordern sollte und das meine Mutter »Anproben« nannte. Ihr ganzes Leben lang behielt meine Mutter einen Schrank, in dem sie meine gesamte Kinderkleidung aufbewahrt hatte — bis ich 16 Jahre alt war. Als ich 16 wurde, war alles für sie zu Ende. Aber darauf komme ich später zurück. Bis ich 16 war, zog mich meine Mutter an, frisierte mich, wusch mich … Sie drückte das so aus: »Myriam ist meine Puppe«. Furchtbar, oder? Das klingt wie aus einem Roman von Joyce Carol Oates oder Charlotte Brontë. Stimme Z Sie sagen selbst, dass Bücher Ihr Leben nicht vollständig erfassen können. — Glauben Sie das? Meine Mutter liebte es, Kleider für mich auszusuchen, mich welche nähen zu lassen, über Stoffe nachzudenken, wie sie fallen, wie sie sich um den Körper legen. Aber irgendetwas ließ immer zu wünschen übrig. Warum? Es gab unendlich viel nachzubessern, abzuschneiden, anzufügen, in Ordnung zu bringen. »Diese verdammten, widerspenstigen‚ ›ständigverknoteten‹ Haare« mussten gezähmt werden. In Vorbereitung irgendeines Familienessens: Ostermontag oder Maria 8 Barbara, »Nantes«: »Am Weg entlang der Meeresreede / soll er liegen im steinigen Beete. / Dort soll er seine Ruhe finden, / gebettet in Rosengebinden, /mein Vater.«


Himmelfahrt: Tage, an denen sich die ganze Familie versammelte, und wo ich, ihr zuliebe, vorzeigbar aussehen musste. — Vorwärts. — Rückwärts. — Arme hoch. — Dreh dich. — Stopp. — Warum hast du keine blauen Augen? Du hattest blaue Augen, als du klein warst, jetzt sind sie braun. Sie schaffte es nicht, immer entschlüpfte irgendetwas und tauchte wieder auf … Aber was? Bild: Projektion Zusammenschnitt von Aufnahmen des 17. Oktober 1961 9. Natürlich habe ich eine Psychoanalyse gemacht. 12 Jahre lang. 12 Jahre lang? Dreimal pro Woche. Dreimal pro …? Auweia …? Stimme Z Ja, in der Psychoanalyse geht es nicht um Zeit oder um Möbelstücke, darum sich hinzulegen, zu plaudern … Im Zentrum stehen eher poetische Fragen. Ach! Die Psychoanalyse, da hätte ich noch eine Menge … Nein … später.

Zwei Besuche Wie gesagt, sah ich meinen Vater niemals wieder, aber zweimal hat er sich gemeldet. Beim ersten Mal bin ich 11, es ist Sommer. An jenem Tag bin ich allein mit meiner Großmutter, es klingelt an der Tür, ich gehe aufmachen. Auf der Schwelle … eine unbekannte junge Frau. — Guten Tag, bist du Myriam? — Ja — Dein Papa schickt mich … er denkt viel an dich. Er würde dich sehr gerne 17. Oktober 1961: blutige Niederschlagung einer friedlichen Demonstration in Paris gegen die »Ausgangssperre«, die der damalige Polizeipräfekt Maurice Papon gegen die »Muslime Frankreichs« verhängt hatte. »Es handelt sich um ein außergewöhnlich schwerwiegendes Ereignis, dessen hohe Anzahl an Todesopfern zwei britische Historiker [Jim House und Neil MacMaster, Les Algériens, la République et la terreur d‘Etat, Tallandier, 2008] zu der Aussage veranlasste, es handele sich um die brutalste staatliche Unterdrückung eines Straßenprotests in der Geschichte Westeuropas.« Le Monde, 17.10.2011. 9

88

Ende Bildsequenz


wiedersehen, hättest du auch Lust, ihn wiederzusehen? — Und wie! Aber vielleicht sollten wir darüber mit Mama reden. — Natürlich. Meine Großmutter taucht auf, fragt, was vor sich geht, wer diese »Fremde« ist. Und wirft sie hinaus. Noch am selben Abend sagt sie meiner Mutter Bescheid und es herrscht Belagerungszustand. Meine Mutter ruft den Ausnahmezustand aus. Ich werde zu einer Tante ausgeschleust. Keiner redet mehr mit mir. Keiner sagt mir mehr Bescheid. Als sei ich ausradiert worden. Ein paar Tage später kommt mich meine Mutter abholen und sagt: »Es ist alles geregelt.« Sie teilt mir an diesem Tag außerdem mit, dass ich im Herbst, wenn ich auf die neue Schule komme, fortan ihren Nachnamen tragen werde. Und dass sie den Familiennamen meines Vaters ändern wird … Und dann, erster Schultag, neuer Nachname, erste Stunde, Matheunterricht: Gleichung mit einer Unbekannten: — Wenn x = 2 … — Wer entscheidet, dass x = 2 ist? — Niemand, das ist einfach so.

89

Hören Sie, das ist ganz einfach: Sobald ich »Gleichungen mit Unbekannten, logische Negationen, Asymmetrien, Brüche« höre, beginne ich von jetzt an automatisch, Racine zu rezitieren: »Je le vois, je lui parle, et mon cœur, je m’égare, comment souffrirons-nous« »Seigneur que tant de mers …« 10 Vielleicht schweife ich vollkommen ab? Stimme Z Vielleicht sind Sie mitten im Thema. Meine Mutter wird Jahre brauchen und mehrere Anwälte, bevor sie zugibt, dass sie nicht erreichen kann, was sie will: den Nachnamen meines Vaters zugunsten ihres eigenen verschwinden zu lassen. In diesem Punkt lässt der Gesetzgeber nicht mit sich reden. Schließlich wird sie dem Ratschlag des letzten Anwalts folgen: »Lassen Sie den Nachnamen Ihrer Tochter französisieren«. Die Namensänderung erfolgt also in Form einer »Französisierung« des Familiennamens meines Vaters und wird noch vor meiner »Ich sehe ihn, spreche mit ihm, mein Herz, was sage ich, wie sollen wir, Seigneur, ertragen, dass so viele Ozeane …« Die Autorin vermischt hier zwei Racine-Zitate : »Je le vois, je lui parle ; et mon cœur … je m’égare ; Seigneur, ma folle ardeur malgré moi se déclare …« (aus Phèdre, II, 5) und aus Bérénice (IV,5): »Dans un mois, dans un an, comment souffrirons-nous, Seigneur, que tant de mers me séparent de vous?« (Anm. d. Übers.) 10


Volljährigkeit durch das Gesetz vom 25. Oktober 1972 rechtskräftig. Verlesung des Gesetzes Nr. 72-964 vom 25. Oktober 1972 bezüglich der Französisierung von Nachnamen und Vornamen — 2019 nach wie vor gültig

Artikel I: Jede Person, die die französische Staatsbürgerschaft erwirbt oder wiedererlangt, kann die Französisierung ihres Nachnamens, ihres Nachnamens und ihrer Vornamen oder eines dieser Vornamen beantragen, wenn deren Aussehen, Klang oder Fremdheit ihre Integration in die französische Gemeinschaft behindern könnte. Regeln bezüglich der Französisierung von Nachnamen und Vornamen — zu finden in dem Hinweisdokument, das dem Antragsteller ausgehändigt wird.

Als Hinweise auf ein berechtigtes Interesse gelten: – Die Schwierigkeit, den Namen wegen seines lächerlichen oder abwertenden Klanges zu tragen (Beispiele: Assassin — Mörder, Bâtard — Bastard, Depetasse — Schlampe) oder wegen einer besonders schwerwiegenden strafrechtlichen Verurteilung. – Das Aussehen, der Ursprung oder der fremdländische Klang des Nachnamens. Das Gesetz sieht hierfür mehrere Möglichkeiten vor: 1. Die Übersetzung des ausländischen Nachnamens ins Französische, wenn der Nachname eine Bedeutung hat. In diesem Fall ist ein von einem vereidigten Übersetzer ausgestelltes Gutachten vorzulegen. Beispiele: Wisnienski wird zu Merisier (Wildkirschbaum), Addad zu Forgeron (Schmied), Cerrajero zu Serrurier (Schlosser). 2. Die Umwandlung des ausländischen Nachnamens in einen französischen Nachnamen. In diesem Fall sollte der beantragte Name nicht allzu weit vom Originalnamen entfernt sein und einen französischen Klang und eine französische Schreibweise aufweisen. Beispiele: Fayad wird zu Fayard; Ferreira zu Ferrat; El Mehri zu Emery.« 11 Saadaoui zu Saduis.

Zitiert und übersetzt nach dem Originalwortlaut des Hinweisdokuments, das dem Antragsteller ausgehändigt wird. 11

90

»Die Änderung des Nachnamens einer Person wird in Fällen gewährt, in denen ein berechtigtes Interesse an einer besseren Integration in die Nationalgemeinschaft dies rechtfertigt.


Lola Valérie Stein, Marguerite Duras Ich bin jetzt 16 Jahre alt, man hat mir alles genommen, sogar meinen Namen, dafür lebe ich mit Büchern, sie sind meine Lösungen für die Gleichungen mit allzu vielen Unbekannten. Mit 16 entdecke ich Marguerite Duras. Das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe, ist Die Verzückung der Lola V. Stein. Merken Sie sich den Titel. Marguerite Duras schreibt eine Sprache voller Löcher, Ellipsen, Zeitsprüngen, Wörtern der Abwesenheit, eine Sprache, die ich gut kenne und die mich verzaubert. Diesen Augenblick sucht sich mein Vater aus, um sich zum zweiten Mal zu melden …

Das zweite Kommen 12

91

Ein Spätnachmittag im Februar. Ich komme von der Schule nach Hause, ich weiß noch, dass ich am nächsten Tag eine wichtige Prüfung hatte und so schnell wie möglich heim wollte, um zu lernen — als ich nach Hause komme, liegt meine Mutter mit ausgestreckten Armen auf dem Tisch. — Was ist denn los? — Dein Vater war hier. — Wann? — Er ist gerade gegangen. Stille

— Könnte ich ihn vielleicht sehen, bloß eine Stunde lang? Eine halbe Stunde? Auf einen Kaffee vielleicht? Nicht lang. Mit dir zusammen. Eine Dreiviertelstunde? Eine Viertelstunde? Eine Minute? Ein paar Sekunden? Stille

— Aber … er ist doch mein Vater. Und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird. 13

»Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr/ (…) Die Besten haben keine Meinung mehr, die Schlimmsten/ Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.« Wiliam Butler Yeats, Das zweite Kommen (Übersetzung: Walter A. Aue). 13 Offenbarung des Johannes 6.14. 12


25 Jahre nach diesem Ereignis, als ich zum ersten Mal die Familie meines Vaters in Tunesien treffe, erfahre ich, dass meine Mutter nach diesem zweiten Besuch dafür gesorgt hatte, dass mein Vater aus Frankreich ausgewiesen wurde. Mein Vater lebte seit 16 Jahren in Frankreich. Er war geblieben. Er hatte die tunesische Staatsangehörigkeit und eine Aufenthaltsgenehmigung, die vollkommen in Ordnung war. Wie kann jemand von einem Staat ausgewiesen werden, in dem er seit so vielen Jahren ansässig ist? Anscheinend hat ihn meine Mutter wegen »Bedrohung und versuchter Entführung« angezeigt. Die Polizei lud meinen Vater vor, und er versuchte, sich zu rechtfertigen. Er sagte, die Polizisten hätten ihn mit rassistischen Beleidigungen provoziert. Er wehrte sich, und das ermöglichte es ihnen, ihn »ordnungsgemäß« auszuweisen. Meine Mutter hatte die Sprache verstanden, die Gesetze begriffen und die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Mein Vater wollte seine Nationalität nie aufgeben. Ich bin als Tunesier geboren, sagte er, ich werde als Tunesier sterben. (Lied) »Comme une pierre que l’on jette dans l’eau vive d’un

ruisseau …« 14 Ich stehe seit Tagen bei meiner Tante unter Hausarrest. Meine Mutter kommt mich abholen, sie sagt, ich kann zurück nach Hause, sie sagt, ich kann wieder in die Schule, sie sagt: »Es ist alles geregelt«. Ich komme mit, weigere mich aber, in die Schule zu gehen, ich esse nichts mehr, ich brülle, sobald meine Mutter sich mir nähert. Ich versuche, mich umzubringen — mit ihren Beruhigungsmitteln. Mir wird der Magen ausgepumpt, der Arzt fragt, ob irgendetwas Besonderes vorgefallen ist … Meine Mutter unterschreibt, dass sie für mich die Verantwortung übernimmt, holt mich aus dem Krankenhaus und bringt mich nach Hause zurück. Jetzt brülle ich nicht mehr. Ich ziehe mich in ein Buch von Marguerite Duras zurück und sage nur noch einen einzigen Satz: »Mein Name ist Lola Valéria Stein.« Mein Name ist Lola Valéria Stein. Mein Name ist Lola Valéria Stein. Michel Legrand, »Les moulins de mon cœur«: »Wie ein Stein, den man in das reißende Wasser eines Baches wirft …« 14

92

Ausweisung


L. V. S. S. S. S.

Meine Mutter ist gezwungen, sich Hilfe von außen zu holen, sie ruft den Hausarzt. — Herr Doktor, schauen Sie, Marguerite Duras hat sie in den Wahnsinn getrieben. Der Arzt befiehlt meiner Mutter, hinauszugehen, er will mit mir alleine reden. Meine Mutter gibt nach. — (Stimme des Arztes) Hör zu, ich denke du bist überhaupt nicht wahnsinnig, aber du kannst nicht so weitermachen. Du musst mit jemandem reden: Entweder gehst du zu einer Kollegin von mir, — einer Psychiaterin und Psychoanalytikerin — oder ich bin gezwungen, zu tun, worum mich deine Mutter bittet: dich einweisen zu lassen. Was ist dir lieber? Stille

93

— Ich bin nicht wahnsinnig, Marguerite Duras hat nichts damit zu tun, ich weiß genau, dass ich nicht Lola Valéria Stein heiße … und ich bin einverstanden, mit jemandem zu reden. Der Arzt befiehlt meiner Mutter, für den nächsten Tag einen Termin bei der Psychoanalytikerin zu vereinbaren. Erste Sitzung. Ich schweige. — Meine Mutter bittet Sie, das Formular für die Krankenkasse auszufüllen. — Das ist nicht mein Nachname … — (Stimme der Psychiaterin) Was soll das heißen, das ist nicht ihr Nachname? Das ist der Nachname, für den dieser Termin vereinbart wurde. — Ja, aber das ist nicht mein Nachname. Das heißt, es ist schon mein Nachname, aber nicht mein Nachname für die Krankenkasse. Das ist mein Nachname, aber es ist auch nicht mein Nachname. — (Stimme der Psychiaterin) Hören Sie, das ist äußerst wichtig, dass Sie nicht Ihren eigenen Nachnamen tragen, darüber müssen wir nächstes Mal reden. Meine Mutter wartet auf der Türschwelle auf mich. Und dann, zum ersten Mal seit Wochen, spreche ich mit meiner Mutter nicht mehr auf Durassisch. — Ich habe das Krankenkassenformular ausfüllen lassen, aber sie werden die Kosten nicht übernehmen, weil nicht mein richtiger Nachname darauf steht. Wenn du nicht zahlen willst, musst du ihnen höchstpersönlich erklären, warum ich nicht meinen richtigen Nachnamen tragen kann. Morgen gehe ich wieder in die Schule. Stille

— Und ich will nie wieder zu dieser Frau. Meine Mutter gerät in einen Zustand der Verzückung …


— Um so besser, ich mag diese Frau nicht, ich mag ihre Augen nicht, ich mag ihre Art nicht, sie ist nicht mal in der Lage, ein Formular richtig auszufüllen … Jetzt wird ein Kleid gekauft, damit du wieder in die Schule gehen kannst.

Madman-Theory

Kein Kleid mehr. Kein »es wird« mehr. Schluss mit den Passivkonstruktionen. Als erstes setze ich die Verfassung in der Küche außer Kraft, ich spreche meine Mutter nicht mehr auf Französisch an, ich rede nur noch Italienisch mit ihr. Sie sagt: — Parlami francese, io no capisco l’italiano. 15 Ich antworte: — Ma scerza? Tu fai finta di parlare italiano con l’accento francese? Sei mata. La tua madre e italiana, il tuo padre e italiano. Che cosa fai? 16 — Sprich Französisch, sonst glauben die Leute noch, wir sind Fremde. — Aber wir sind doch Fremde, das Leben ist fremd und seltsam! Das Leben ist anderswo, words, words, words … Eines Nachts komme ich nicht nach Hause, meine Mutter ruft die Polizei. — Ihre Tochter? Die ist auf der Hauptwache, Madame, sie und ihre Freunde wurden bei einer Demonstration gegen die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien verhaftet. Stille

— Ich weiß nicht, ob Ihre Tochter etwas gegen Fußball hat, aber sie hat Ordnungskräfte mit Gegenständen beworfen. Madame, Ihre Tochter ist außer Rand und Band. Als sie mich nach Hause zurückbringt, vermeidet meine Mutter tunlichst das Thema »Demonstration gegen die faschistische Junta in den argentinischen Fußballstadien« und singt stattdessen ein Loblied auf … Isabelle Mit starkem französischen Akzent: »Sprich Französisch mit mir, ich verstehe kein Italienisch.« »Das ist doch nicht dein Ernst? Du tust, als würdest du Italienisch mit französischem Akzent sprechen. Du spinnst wohl. Deine Mutter ist Italienerin, dein Vater ist Italiener. Was soll das?« 15 16

94

Während des Vietnamkriegs entwickelte Henry Kissinger die sogenannte Madman-Theory: »Machen Sie allen möglichen Unsinn, schlagen Sie jederzeit so schnell und brutal wie möglich zu, um den Gegner aus der Fassung zu bringen. Verhalten Sie sich extravagant. Verhalten Sie sich völlig irrational, tun Sie so, als seien Sie wahnsinnig geworden. Dann wird der Feind bereit sein, zu verhandeln, um die Apokalypse zu verhindern …«


Adjani. — Die ist unglaublich, diese Isabelle Adjani. Mit ihren glatten braunen Haaren. Und ihren blauen Augen … — Stimmt, Isabelle Adjani ist wunderschön. (Stille) Ihr Vater ist Algerier. — Aber ihre Mutter ist Deutsche, deshalb ist sie so schön.

Meine Mutter liebt Deutschland. Meine Mutter liebt Deutschland? Sehr gut. Also lade ich Ulrike Meinhof in die Küche meiner Mutter ein.

Ulrikes Gesang

95

»du musst vielleicht mal ticken — dass man mit worten nur was erreichen kann, wenn sie den begriff der wirklichen situation bringen, (…) dass es sinnlos ist, mit worten agitieren zu wollen, da nur aufklärung agitiert, wahrheit« — Ulrike sagt, »dass in dem milieu, in dem wir kämpfen — postfaschistischer staat, konsumentenkultur, metropolenchauvinismus, massenmanipulation durch die medien, psychologische kriegführung, sozial-demokratie — dass gegen die repression, mit der wir es hier zu tun haben, empörung keine waffe ist. sie ist stumpf und so hohl. wer wirklich empört, also betroffen und mobilisiert ist, schreit nicht, sondern überlegt sich, was man machen kann.« 17 Die Conquista ist vorbei. Wir kennen die Verbrechen des Imperialismus. Wir wissen, Ihr seid fähig, sogar Leichen industriell zu verwerten. Wir werden jedes Loch graben, um Eure Verbrechen ans Licht zu bringen. Die Toten werden sich erheben, und sie werden sprechen. Und wir werden uns erheben. Und wir werden uns erheben. Und wir werden uns erheben. Und wir werden uns erheben … 18

Lob der Flucht Ich kam um 6 Uhr 25 zur Welt, in der Morgendämmerung eines Wintertags. An meinem 18. Geburtstag habe ich um 6 Uhr 24 alle Wecker klingeln Ulrike Meinhof, Briefe an Hanna Krabbe, 1976. Hommage an Maya Angelou: »In einen Sonnenaufgang hinein, der wundersam klar ist,/ erhebe ich mich / Die Geschenke bringend, die meine Ahnen mir gaben,/ bin ich der Traum und die Hoffnung des Sklaven./ Ich erhebe mich./ Ich erhebe mich.« (Maya Angelou, »And I still rise«) 17 18


lassen. Eine Sekunde nach 6 Uhr 25 war ich weg. Ich muss anerkennen, dass meine Mutter nach all dem mutig das Herz der Finsternis betreten hat, sie hat den Fluss der Zeit bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt. Es war zu spät.

TEIL II Die Mausefalle 19 Eine Theatergarderobe. Ein Verband wird angelegt. Bemerkung Bild: Der Titel wird projiziert: Die Möwe, 3. Akt, Anton Tschechow 20. Der Schauspieler tritt auf — er wird die Mutter, Arkadina, spielen. Die Erzählerin spielt den Sohn Kostia. Es handelt sich um eine Probe der Szene. Die Zwischenkommentare — außerhalb des kursiv gesetzten Tschechow-Textes — werden durch die Initialen M und P bezeichnet. Bemerkung: Diese Sätze dienen nur zur Orientierung, und variieren von

Die Möwe, 3. Akt Kostia

Wechsle mir doch den Verband, Mama. Du verstehst das so gut. Der Arzt hat sich verspätet. Er hat versprochen, um zehn zu kommen, und jetzt ist‘s schon

Arkadina Kostia

Mittag.

Das sieht aus wie ein Turban. Gestern fragte hier ein Fremder in der Küche, was für ein Landsmann du wärst. Es ist beinahe schon geheilt. Nur eine Kleinigkeit sieht man noch. Sag — wirst du in meiner Abwesenheit nicht noch mal …? Kostia Nein, Mama. Es war ein Moment wahnsinniger Verzweiflung, ich konnte mich nicht beherrschen. Es wird sich nicht wiederholen. Du hast goldene Hände. Ich erinnere mich, es ist schon lange her, als du noch beim kaiserlichen Theater warst — ich war noch klein damals –, da gab‘s bei uns auf dem Hof eine Schlägerei, und eine Wäscherin wurde dabei verprügelt, weißt du noch? Man trug sie bewusstlos vom Platz … Du hast sie dann immer besucht, ihr Arznei gebracht, ihre Kinder in einem Waschtrog gewaschen. Kannst du dich gar nicht mehr erinnern? Arkadina

»Das Schauspiel sei die Schlinge / In die den König sein Gewissen bringe.« Shakespeare, Hamlet (Übersetzung: August Wilhelm von Schlegel). 20 Übersetzung: August Scholz. 19

96

Aufführung zu Aufführung, da die Szene improvisiert wird.


Nein. Kostia Zwei Ballerinen wohnten damals noch mit uns in demselben Hause … Sie kamen immer zu dir zum Kaffee … Arkadina Das weiß ich noch. Kostia Sie waren so gottesfürchtig … In der letzten Zeit, jetzt, in diesen Tagen, liebe ich dich ebenso zärtlich und maßlos wie in der Kinderzeit. Außer dir habe ich ja niemand mehr. M Gut, wir fangen nochmal an, da fehlt was am Anfang … P Ok … M Der Auftritt ist gut, aber geh ruhig weiter, sie kommt rein, sie nimmt den Raum in Besitz … Da kannst du richtig dick auftragen … P Verstehe, also mehr … M Bei »Es sieht aus wie ein Turban« fehlt etwas, es wäre gut, wenn man den Ekel merken würde. P Den Ekel? M Ja … Er hat gerade versucht, sich umzubringen, sie sorgt sich weniger um ihn als darum, was die Leute in der Küche sagen! Eigentlich ist sie ihm böse. Wie soll ich sagen: Zum Beispiel, siehst du, als ich klein war, fuhr mir meine Mutter mit ihrem Finger durchs Gesicht und sagte »du bist schmutzig«. Mit 16 hatte ich davon die Schnauze voll und habe gesagt »ich bin nicht schmutzig, mein Vater ist Araber, meine Gesichtsfarbe ist dunkel.« Schluss, fertig. Siehst du, wir bräuchten eine konkretere Geste zwischen ihnen, die diesen Ekel auszudrückt, ok? Und, wenn du sagst »nein, ich kann mich daran nicht erinnern«, denk daran, was wir gesagt haben, das ist eine Erinnerung, hinter der sich etwas anderes verbirgt. P Ach ja, das hab ich vergessen, erklär mir das nochmal … M Also, der Sohn erinnert sich an eine Schlägerei im Haus, »ich war ganz klein, es ist lange her« … Ich vermute, dass es sich eigentlich um eine Schlägerei zwischen seinen Eltern handelt, verborgen hinter der Erinnerung an eine andere Frau im Haus, um die sich die Mutter gekümmert hat … P Ok. Ja, jetzt weiß ich es wieder, fangen wir nochmal von vorne an … Kostia Wechsle mir doch den Verband, Mama. Du verstehst das so gut. Arkadina Der Arzt hat sich verspätet. Kostia Er hat versprochen, um zehn zu kommen, und jetzt ist‘s schon Mittag. Arkadina Setz dich. Das sieht aus wie ein Turban. Gestern fragte hier ein Fremder in der Küche, was für ein Landsmann du wärst. Es ist beinahe schon geheilt. Nur eine Kleinigkeit sieht man noch. Sag — wirst du in meiner Abwesenheit nicht noch mal …? Kostia Nein, Mama. Es war ein Moment wahnsinniger Verzweiflung, ich konnte mich nicht beherrschen. Es wird sich nicht wiederholen. Du hast goldene Hände. Ich erinnere mich, es ist schon lange her, als du noch beim Arkadina

97


98

kaiserlichen Theater warst — ich war noch klein damals –, da gab‘s bei uns auf dem Hof eine Schlägerei, und eine Wäscherin wurde dabei verprügelt, weißt du noch? Man trug sie bewusstlos vom Platz … Du hast sie dann immer besucht, ihr Arznei gebracht, ihre Kinder in einem Waschtrog gewaschen. Kannst du dich gar nicht mehr erinnern? Arkadina Nein. Kostia Zwei Ballerinen wohnten damals noch mit uns in demselben Hause … Sie kamen immer zu dir zum Kaffee … Arkadina Das weiß ich noch. Kostia Sie waren so gottesfürchtig … In der letzten Zeit, jetzt, in diesen Tagen, liebe ich dich ebenso zärtlich und maßlos wie in der Kinderzeit. Außer dir habe ich ja niemand mehr. Nur sag mir — warum, warum lässt du dich von diesem Menschen so beeinflussen? Arkadina Du verstehst ihn nicht, Konstantin. Er ist der edelste Mensch … Kostia Ein Feigling. Arkadina Unsinn! Kostia Der edelste Mensch! Wir zanken uns hier beinahe seinetwegen, und er sitzt irgendwo im Salon oder im Garten und lacht uns aus. Arkadina Es macht dir Vergnügen, mir Unangenehmes zu sagen. Ich verehre diesen Menschen und bitte dich, in meiner Gegenwart nicht schlecht von ihm zu reden … Kostia Ich verehre ihn eben nicht. Du möchtest, daß ich ihn gleichfalls für ein Genie halte, aber verzeih, ich kann nicht lügen, seine Sachen sind mir widerwärtig … Arkadina Das ist nur Neid. Leuten, die zwar anspruchsvoll, dabei aber talentlos sind, bleibt nur eins übrig: die echten Talente zu tadeln. Auch ein Trost! Kostia Ich erkenne euch nicht an! Weder dich noch ihn! Arkadina Lass mich. Kostia Geh doch hin in dein liebes Theater, und spiel da in diesen kläglichen, talentlosen Stücken! Arkadina Nie hab‘ ich in solchen Stücken gespielt. Laß mich! Du wärst nicht einmal imstande, eine klägliche Posse zu schreiben. Lumpenkerl, Jammermensch, du Kleinbürger aus Kiew! Parasit! P Warte mal, soll ich wirklich »du Kleinbürger aus Kiew« sagen? Das bedeutet heutzutage gar nichts mehr … Das klingt für mich falsch. M Aber Pierre, Pierre! Kiew, das ist der Vater, ist doch klar! P Klar, klar … M Na klar doch! Er sagt das im ersten Akt: »Mein Vater war ein Kleinbürger aus Kiew.« Das ist die einzige Szene, in der die Mutter über den Vater ihres Sohnes spricht, das einzige Mal im ganzen Stück! … Und zwar in Form von Beleidigungen: Lumpenkerl, Jammermensch, Parasit, Kleinbürger aus Kiew … — sie stammten eben nicht aus demselben Milieu … Und


außerdem war Kiew in der Ukraine!! Katharina II. hatte die Ukraine annektiert, wir wissen doch, wie das ganze Land russifiziert wurde … und da, so wie das geschrieben ist, ist es ganz klar, dass Tschech … P nimmt die Sequenz abrupt wieder auf.

Lumpenkerl! Jammermensch! Kleinbürger aus Kiew! Weine nicht. Du sollst nicht weinen … Du sollst nicht … M Pierre. P Was? (total genervt) M Bist Du sicher, dass du diese Schuhe anbehalten willst, um Arkadina zu spielen? P Was denn?! Hör mal, ich spiele Arkadina, eine Schauspielerin, eine Frau! Warum willst du jetzt über Schuhe diskutieren? Du willst keine Schminke, du willst kein Kleid, ich hab keine Brüste. Also ja, ich will diese Schuhe, und außerdem sind Absätze ein Symbol für Weiblichkeit. M Ein Sym … ? Na gut. Arkadina

Stille

Da ist er! Arkadina Keine Schlägerei, einverstanden? Kostia

Sie umarmen sich. Der Schauspieler geht ab.

99

Der Traum — Mein Vater liegt im Sterben Ich stehe kurz vor dem Abschluss meines Schauspielstudiums in Brüssel, als ich eines Nachts einen Traum habe: Ich sehe das Gesicht eines unbekannten Mannes, es ist gelblich verfärbt, er schaut mich an und scheint mich um Hilfe anzuflehen, aber jedes Mal, wenn ich versuche, näherzukommen, entfernt er sich. Plötzlich wird mir klar, dass es sich um das Gesicht meines Vaters handelt. Ich schrecke aus dem Schlaf hoch: Vielleicht ist mein Vater wirklich krank, ich muss ihn finden, wie soll ich das anstellen? Wo soll ich suchen? An wen soll ich mich wenden? Zwei Monate später ruft mich meine Mutter an, sie teilt mir mit, dass mein Vater tot ist. Ich kann mich ganz genau an die lange Stille danach erinnern — auf beiden Seiten. Ich frage sie, woher sie das weiß, sie sagt, das Bürgeramt hat sie angerufen. Sie sagt, die Familie meines Vaters wollte uns Bescheid sagen. Ich frage sie, ob sie eine Adresse hat, einen Brief, eine Telefonnummer. Sie sagt nein, sie hat nichts. Natürlich gab es Briefe. Sie hat sie gelesen — die Umschläge waren alle geöffnet …


Die Analyse So bin ich beim Psychoanalytiker gelandet. Bei der ersten Sitzung habe ich ihm den Traum erzählt und dann gesagt: »Und schließlich ist mein Vater zwei Monate nach diesem Traum gestorben, und da ist nur noch ein schwarzes Loch. Ich habe nichts zu sagen. Ich kann doch nicht über ein schwarzes Loch sprechen. Stille

Ich sollte eigentlich fertigstudieren … Ich habe immer gern Theater gespielt, und jetzt ist es mir vollkommen egal.« Stimme Z In dem schwarzen Loch ist der Traum, da ist Ihr Vater. Unbewusst.

Im September 2002 ruft mich meine Mutter ein letztes Mal an. Sie will, dass ich weiß, dass Straßen und Plätze plötzlich neue Namen tragen. Sie sagt, man hat ihr die Ankunft einer ganzen Armee angekündigt, die sie beschützen soll, und dass sie ihr Königreich zurückbekommen wird. Sie sagt, dass … Meine Mutter ist im Herz der Finsternis angekommen. Ich rufe ihren Arzt an. Es ist zu spät, noch am selben Abend ist meine Mutter verschwunden, niemand weiß, wo sie sich befindet. Einige Tage später erfahre ich, dass sie nach Paris geflohen ist, drei Tage lang ist sie durch die Stadt geirrt, zwischen Bahnhöfen und Flughäfen, und dann wurde sie schließlich in das Krankenhaus St. Anne überführt, durch ein sogenanntes Zwangseinweisungsverfahren. Ich rufe täglich im Krankenhaus an, meine Mutter ist in der geschlossenen Abteilung, ich kann sie im Moment weder sehen noch sprechen. Sieben Tage später sagt mir der Psychiater, dass es ihr besser geht und dass sie in ein Krankenhaus in Dijon verlegt wird, wo ich sie dann sehen kann. Am neunten Tag ist eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, das Krankenhaus bittet mich dringend um Rückruf. Ihr Herz hat versagt. Meine Mutter ist tot.

In dem Polizeiprotokoll, das mir das Krankenhaus St. Anne nach dem Tod meiner Mutter aushändigt, lese ich später: »Außerdem erklärte sie, dass sie seit mehreren Jahren das Opfer einer Verschwörung sei und dass sie sich auf der Suche nach der verlorenen Zeit befände.« 21

100

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 21


Sainte Anne, Allee Antonin Artaud 22 Es tut uns wirklich leid, das können Sie glauben. Wir hatten uns entschieden, ihre Verlegung durchzuführen. Es ging ihr viel besser. Wie verstehen nicht, was geschehen ist. Auch für uns bleibt das unverständlich. Wissen Sie, wir nehmen hier viele zwangseingewiesene Patienten auf. Wir kannten ihre Mutter nicht. Wir haben keine Ahnung, wie sie die Tage vor ihrer Ankunft hier erlebt hat. Abgesehen von dem Polizeiprotokoll, das die Entscheidung zur Einweisung begründet, das ist alles. Wir haben auf jeden Fall ihren Hausarzt kontaktiert. Sie hatte ihre Medikamente gegen ihr Herzleiden dabei. Anscheinend hatte Ihre Mutter keinerlei psychiatrische Vorerkrankungen. Hatte sie noch nie Neuroleptika eingenommen? Nie? Sind Sie sicher? Das ist unvorstellbar. Eine paranoide Psychose dieses Ausmaßes kann nicht so plötzlich auftreten … Das ist unmöglich. Es muss andere Vorfälle gegeben haben. Natürlich, das ist eindeutig: Sie sah Sie im Fernsehen, im Iran, zusammen mit dem Ayatollah Chomeini. Das ist ganz klar eine Wahnvorstellung. Ah ja … War es Ihnen bewusst, dass das Wahnvorstellungen waren … oder …? Und niemand griff ein? Und Ihr Vater? Der Arzt

101

Stille

Gab es eine Marguerite in Ihrer Familie … im Umfeld Ihrer Mutter? Sind Sie sicher? Ihre Mutter sprach ständig von einer gewissen Marguerite. Sie sprach von einer Marguerite, die Löcher grub, die sie bestahl, deswegen haben wir gedacht, es sei jemand aus ihrem näheren Umfeld. Warten Sie, warten Sie, vielleicht ist es Marguerite Duras, vielleicht ist es nicht Marguerite Duras. Für Sie ist das Krankenhaus Sainte Anne der Ort, wo Lacan seine Seminare abgehalten hat. Für Sie. Aber das sind Sie. Für Ihre Mutter bedeutete die Ankunft hier eine Ankunft im Nirgendwo.

Das Krankenhaus St. Anne hat die einzelnen Krankenstationen und Alleen nach Künstlern benannt, die dort untergebracht waren. 22


Café Parano M

Kann ich hier eine Tasse Kaffee bekommen?

Kurz bleibt die Zeit stehen.

Zucker? Nein danke. Schwarz. Der Arzt Ich habe das Polizeiprotokoll geprüft, das ist ganz eindeutig, weil Ihre Mutter sich an der Gare Montparnasse aufhielt, wurde sie nach Saint Anne eingewiesen, das ist nur eine Frage der Zuständigkeit, hätte man sie an der Gare de Lyon aufgegriffen, wäre sie nach Maison Blanche eingewiesen worden. Wir haben ihr selbstverständlich gesagt, dass Sie täglich angerufen haben, um sich nach ihr zu erkundigen, sie schien sich sehr darüber zu freuen. Die diensthabende Krankenschwester hat mir bestätigt, dass es sie beruhigte, dass ihre Tochter wusste, wo sie sich befand. Sie ist am frühen Nachmittag verstorben, gleich nach dem Mittagessen. Sie hatte ihr Essen kaum angerührt, also fragte die Krankenschwester, ob sie die Birne behalten wollte. Es gab eine Birne zum Nachtisch. Sie hat gesagt, sie würde sie später essen. Ihre Mutter war sehr ruhig an diesem Tag, außerordentlich höflich. Sie kam uns allen wesentlich friedlicher vor. Als die Krankenschwester ein paar Stunden später wiederkam, um das Tablett abzuräumen, hat sie sie entdeckt. Sie lag am Boden. Wir wurden sofort gerufen, wir waren gleich zur Stelle. Wir haben über eine halbe Stunde lang versucht, sie zu reanimieren. Wir haben alles versucht. Alles. Und sogar noch mehr. Der Arzt

Der Arzt übergibt ihr ein Dokument, das Polizeiprotokoll über den Beschluss der Zwangseinweisung. 23 »Es ist eine Anthologie von Existenzen. Es sind Leben von wenigen Zeilen oder etlichen Seiten; es sind Unglücke oder Abenteuer ohne Zahl, zusammengerafft in einer handvoll Wörter. Kurze Leben, angetroffen im Zufall der Bücher und der Dokumente. Es sind exempla, aber — im Unterschied zu denjenigen, die die Weisen im Laufe ihrer Lektüre sammeln — solche Exempel, die nicht so sehr Lektionen zum Meditieren enthalten als vielmehr kurze Effekte, deren Kraft alsbald fast erlischt. Der Ausdruck ›nouvelle‹ könnte mir ziemlich passen, um sie zu bezeichnen, weil er auf zweierlei anspielt: auf die Schnelligkeit des Berichtes und auf die Wirklichkeit der berichteten Ereignisse. Denn derart ist in diesen Texten die Zusammenziehung der gesagten Dinge, dass man nicht weiß, ob die Intensität, die sie durchquert, mehr am Aufblitzen der Wörter liegt oder an der Gewalt der in ihnen sich überstürzenden Tatsachen. Einzigartige Leben, die — ich weiß nicht, durch welchen Zufall — befremdende Gedichte geworden sind (…) Ich wäre in Verlegenheit, sagen zu müssen, was ich genau empfunden habe, als ich diese Fragmente und viele andere, die ihnen ähnlich sind, las. Zweifellos war es einer jener Eindrücke, von denen man sagt, dass sie ›physisch‹ sind — als ob es andere geben könnte. Und ich gestehe, dass diese ›Nachrichten-Novellen‹, die plötzlich aus einem Schweigen von zweieinhalb Jahrhunderten 23

102

M


Wissen und Erkenntnis — Warum haben Sie mir nie gesagt, dass meine Mutter paranoid war? Nach allem, was ich hier erzählt habe! Das war doch offensichtlich. Stimme Z Schizophren, paranoid, das sind strukturelle Begriffe, bloße Diagnosen, Sie haben selbst gesagt, Ihre Mutter sei wahnsinnig. — Ich habe das gesagt, wie man das eben so sagt. Stimme Z Haben Sie nie gedacht, Ihre Mutter könnte krank sein, »geisteskrank«? Stille

103

Ich mochte dieses Wort sehr, das war das Wort meiner Kindheit. Ich habe Jahre damit verbracht, Lacans Seminare und Freuds Texte zu lesen, ich habe Dutzende von Essays über Paranoia gelesen, ich habe für Konferenzen Fallstudien über »die Verbindungen zwischen Kunst und Wahnsinn« geschrieben, ich habe — jahrelang — Theater-Workshops mit sogenannten Psychotikern durchgeführt. Eines Tages hat mich eine meiner Teilnehmerinnen gefragt, was ich im Leben so mache — Ich mache Theater, und Sie? — Ich bin manisch-depressiv. — Ich meinte beruflich. — Manisch-depressiv, das ist ein Full-Time-Job, wissen Sie. Ich hatte nichts sehen wollen, nichts verstanden, nur Schlüsse gezogen. 24

Words, Words, Words 25 — Ich habe die Analyse abgeschlossen. Stimme Z Um Ihre Analyse wirklich abzuschließen, müssen Sie zum Grab Ihres Vaters fahren … — Oh nein! Oh ja … Ich weiß, ich muss dahin … Außerdem habe ich diesen Umschlag mit den Briefen der Familie meines Vaters, jetzt habe ich einen Kontakt. Stimme Z Einen Umschlag? — Ja, habe ich Ihnen das nicht erzählt? … Doch … ich habe es Ihnen erzählt, ein Umschlag, auf den meine Mutter »Myriams Vater« geschrieben hat. aufgestanden sind, mehr Fasern in mir aufgerüttelt haben als das, was man gewöhnlich die Literatur nennt — ohne dass ich heute noch sagen kann, ob mich mehr die Schönheit des klassischen, in wenigen Sätzen um elende Personen drapierten Stils bewegt hat, oder die Exzesse, die mit düsterer Hartnäckigkeit vermischte Ruchlosigkeit der Leben, deren Abwegigkeit und Erbitterung man unter den steinglatten Wörtern noch spürt.« Michel Foucault, La vie des hommes infâmes (übersetzt von Walter Seitter). 24 Ich hatte lediglich Wissen angehäuft. In diesem Augenblick wurde daraus Erkenntnis. 25 Shakespeare, Hamlet.


Stimme Z

Nein, das haben Sie nicht erzählt.

Stille

Und diese Briefe? — Das sind Briefe von der Familie meines Vaters. Ich habe versucht, sie zu lesen, alles ist auf Französisch aber ich verstehe kein Wort, hören Sie — das kann ich wirklich nur Ihnen erzählen — ich lese »chère cousine« »Liebe Cousine« - und … frage mich … frage mich, ob es sich nicht um das Verb »chercousiner« - »liebecousinen« handelt …: ich liebecousine, du liebecousinst, er liebecousint … und ich weiß genau, dass es nicht so ist, und ich weiß gar nichts mehr (geflüstert) ich glaube, ich werde wahnsinnig. Stimme Z Myriam, Sie müssen sich öffnen. Stimme Z

… Dieser Vater, um den du so herzlich dich grämest, und so viele Schmach von trotzigen Männern erduldest. 26 Februar 1990. Meine liebe Cousine, Ich habe dir eine äußerst traurige Nachricht mitzuteilen. Dein Vater ist gestorben. Alles hat mit einem Traum angefangen. Mein Vater und ich sind am 10. Dezember nach Nabeul gefahren, um meinen Onkel zu besuchen, weil mein Vater im Schlaf einen Alptraum hatte. Sein Bruder war auf einem Baum gefangen, ein Hund bewachte ihn und als er hinging, um seinen Bruder zu befreien, wurde der Hund böse. In diesem Augenblick ist er von seinem Traum aufgestanden und hat Angst bekommen. Als es Tag wurde, hat er uns gesagt, dass er nach Nabeul will, um seinen Bruder zu sehen, dass der Traum vielleicht bedeutet, dass sein Bruder krank ist. Er muss ihn sehen. Er bittet mich, mitzukommen. Wir fahren bis zu seinem Haus und finden niemanden. Mein Vater sagt, ich will vor dem Haus bleiben, bis er zurückkommt. Bei Einbruch der Nacht kommt ein Nachbar von seiner Arbeit zurück und sagt zu uns: »Wartet ihr auf jemanden?« Ich antworte, wir warten auf meinen Onkel, Béchir Saâdaoui. Er sagt: »Euer Onkel ist seit 23 Tagen im Krankenhaus, in Tunis.« Er weiß nicht, welches Krankenhaus. Am nächsten Tag gehen wir zuerst ins Militärkrankenhaus. Dort ist er nicht. Dann gehen wir zum Krankenhaus Charles Nicolle, am Eingang sagt Homer, Odyssee, 16. Gesang: »Deinen geliebten Vater, Telemachos, welcher nun heimkehrt / Musst du nicht allzusehr anstaunen oder bewundern! / Wahrlich in Ithaka kommt hinfort kein andrer Odysseus / Sondern ich bin der Mann, der nach vielem Jammer und Elend / Endlich im zwanzigsten Jahr in seine Heimat zurückkehrt.« (Übersetzung: Johann Heinrich Voß) 26

104

Vorlesen des Briefes


105

man mir, dass er da ist. Auf der Intensivstation. Ich frage einen Krankenpfleger nach dem Kranken Béchir Saâdaoui. Der Krankenpfleger sagt, es ist verboten ihn zu besuchen, dieser Kranke will niemanden sehen. Ich sage: »Ich bin der Sohn seines Bruders, ich will ihn sehen.« In diesem Augenblick kommt mein Onkel aus dem Zimmer und sagt zu dem Krankenpfleger, der mich daran hindert, näherzukommen: »Lass ihn.« Er sagt: »Bist du allein gekommen?« Ich sage, nein, mit meinem Vater. In diesem Augenblick sehen sich die zwei Brüder an, nehmen sich in die Arme und weinen. Mein Vater sagt zu ihm: »Warum bist du nicht nach Medjez gekommen?« Sein Bruder sagt: »Ich habe nicht mehr die Kraft, Auto zu fahren, ich habe keine Kraft mehr, wie hast du mich gefunden?« Mein Vater sagt: »Ich hatte einen Traum.« Von diesem Tag an hat ihn die ganze Familie täglich besucht. Am 26. Dezember 1989 wurde er entlassen. Danach haben wir uns um ihn gekümmert. Weißt du, liebe Cousine, in seinen letzten Minuten ist mein Vater bei ihm, sein Bruder, und als er im Sterben liegt, spricht er nur noch von seiner Tochter Myriam, er will von ihr erzählen, er will einen Brief schreiben, aber er hat keine Kraft mehr. Er sagt mehrmals zu seinem Bruder: »Meriem, Meriem, pass auf Meriem auf, man muss ihr sagen, dass ihr Vater stirbt.« Und um 5 Uhr morgens am 4. Januar 1990, hat seine Seele seinen Körper verlassen. So, liebe Cousine, das ist die Geschichte von vor seinem Tod, nach seinem Tod, und bis zum letzten Tag. Wir warten auf dich, meine liebe Cousine, hier in Tunesien. Wir freuen uns, dich kennenzulernen. Dein Cousin, Mohamed Ali.

Die Reise. Ithaka — Ich komme am Freitag nicht zur Sitzung, ich fahre nach Tunesien, zum Grab meines Vaters. Stimme Z Ah! Das ist eine Reise von struktureller Bedeutung. Dann guten Flug. Mein allererstes Mal in Tunis, ich war vierzig Jahre alt. Am Telefon hatte eine meiner Cousinen gesagt: »Mein Bruder kommt dich abholen, du kannst ihn nicht verfehlen, er ist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.« Stille

Es war mir sehr peinlich, wissen Sie, ich musste sagen, dass ich keine Erinnerung hatte, ich musste sagen, dass ich nicht mal ein Foto von meinem Vater besaß. Ich habe mich für meine Mutter geschämt, ich habe mich für mein Land


geschämt, ich habe mich für die Menschheitsgeschichte geschämt … Meine Cousine sagte, mach dir keine Sorgen, wir haben Bilder, und du wirst meinen Bruder erkennen. Und stimmt, ich habe ihn sofort erkannt und er mich auch. Es gab da ganz einfach eine »Familienähnlichkeit«. Er hatte mir zwei Fotos von meinem Vater mitgebracht, als er jung war. Dort, in einem Auto, nachts, zwischen Tunis und Medjez-el-Bab, sah ich zum ersten Mal eine Aufnahme vom Gesicht meines Vaters. Wissen Sie, ich hatte extra das offizielle Dokument meiner Namensänderung mitgenommen. Das Datum beweist, dass ich minderjährig war. Ich wollte, dass diese Leute wussten, dass es gegen meinen Willen geschehen war … Ich wollte, dass sie wussten, dass ich weder meinen Vater noch seinen Namen abgelehnt hatte.

Die Zeit war vergangen, unwiederbringlich. Mein Vater war tatsächlich tot. Meine Großeltern väterlicherseits waren tot, mein Vater hatte nur einen einzigen Bruder, meinen Onkel, auch er tot. Aber der gesamte Rest der Familie wartete auf der Schwelle auf mich, in Reih und Glied. In der Mitte die Frau des Bruders meines Vaters, Khadija, und vier ihrer Kinder, meine Cousinen und Cousins. Der älteste, der mir hartnäckig jahrelang Briefe geschrieben hatte, der das alles ermöglicht hatte, lebte jetzt in Europa. Ich stieg aus dem Auto, meine Tante umarmte mich, sie flüsterte mir ins Ohr Off-Stimme auf Arabisch 27

Mein Cousin sagte: Meine Mutter sagt, sie wartet seit vierzig Jahren auf dich. Ich sagte: Jetzt bin ich da, ich habe meinen Sohn mitgebracht. Alle stürzten sich auf ihn. Off-Stimme auf Arabisch

— Das ist dein Sohn? Du hast einen Sohn! Du bist deinem Großvater Béchir wie aus dem Gesicht geschnitten — Er hat das gleiche Gesicht wie dein Vater. Sie schoben uns ins Haus, ein Tisch war gedeckt, und dann sprach meine Tante und blickte mich dabei sehr sanft an. Off-Stimme auf Arabisch

— Meine Mutter will wissen, warum du den Namen deines Vaters nicht mehr trägst. 27

Aufgezeichnete Stimmen, die tunesisches Arabisch sprechen.

106

Unwiederbringlich


Ich erklärte es ihr. Ich wollte das Dokument vom Justizministerium aus der Tasche ziehen, denn dieses Ministerium ist für die Namensänderungen zuständig. Mein Cousin übersetzte mit Höchstgeschwindigkeit. Meine Tante machte eine gebieterische Geste. Off-Stimme auf Arabisch

— Wir brauchen kein Papier, Meriem, wir wissen alle, dass du die Wahrheit sagst. Auch dein Vater weiß es. Wir verbrachten fünf Tage miteinander und unterhielten uns rund um die Uhr. Und eines Nachts, als wir über die Geschichte der Unabhängigkeit sprachen, sagte mein Cousin: Das hat lange gedauert, sogar nach 1956, dem Jahr der Unabhängigkeit, war das nicht so einfach, die Franzosen wollten nicht weg aus Bizerte, der Hafen blieb unter französischer Kontrolle bis zur Schlacht vom 19. Juli 1961, und dann …

Bizerte

107

— Wann? Welches Datum? — Der 19. Juli 1961, die Schlacht um Bizerte, da gab es Demonstrationen im ganzen Land, Hunderte Tunesier, Zivilisten, sind gestorben. — Aber der 19. Juli ist der Geburtstag meiner Mutter! Sie hat bestimmt geglaubt, das sei ein Zeichen. Wann sind meine Eltern weggegangen? Danach? Meine Tante sieht mein Gesicht und fragt: Off-Stimme auf Arabisch

— Was sagt Meriem? Was hast du ihr erzählt? Warum wird sie unruhig? Ihr Gesicht hat sich verändert. Off-Stimme auf Arabisch

— Ich erzähle ihr von der Schlacht von Bizerte. Meriem denkt, ihre Mutter hat bestimmt geglaubt, die Schlacht wäre ein Zeichen, sie hatte am selben Tag Geburtstag, sie denkt, vielleicht haben ihre Eltern deswegen Tunesien verlassen. Meine Tante ist die einzige verbleibende Person, die meine Mutter ein wenig gekannt hat. Sie sah mich an, zeigte mit dem Finger auf mich und schüttelte entschieden den Kopf. Sie sprach, als würde ich sie verstehen. Und ich verstand sie. Off-Stimme auf Arabisch

— Als die Schlacht von Bizerte stattfand, hat deine Mutter ununterbrochen gesagt, sie sei in Gefahr. Sie sei nicht mehr sicher, wenn die Franzosen Bizerte verlassen würden.


Sie hat deinen Vater überzeugt, sie wollten zusammenbleiben. Sie liebten sich so sehr. Sie sind im Oktober 1961 weggegangen, sie war mit dir schwanger, in den ersten drei Jahren haben deine Mutter und dein Vater uns oft geschrieben, und dann nichts mehr; dein Vater auch nicht. Wir haben sie nicht mehr gesehen, bis dann dein Vater zurückgekommen ist, 1977, als er aus Frankreich ausgewiesen wurde. Ja, Bizerte war ihr Grund, wegzugehen.

Die Schlacht von Bizerte Am 19. Juli 1961 ist Tunesien schon seit fünf Jahren unabhängig. Aber Frankreich will die Militärbasis von Bizerte nicht aufgeben, mit dem Argument, sie sei »unverzichtbar für die Verteidigung der freien Welt und des Westens, zu dem Tunesien gehört.« 28 Aber die Mehrheit des tunesischen Volkes fordert seit Jahren lautstark die Evakuierung von Bizerte, dieser »Folgeerscheinung des Kolonialismus 29«, wie sie sagen. Im Juli spitzen sich die Spannungen zwischen Tunesien und der ehemaligen Kolonialmacht zu. Und da zeigt das tunesische Volk deutlich seine Entschlossenheit zur Freiheit. Hunderte von Menschen marschieren auf die Stadt Bizerte zu. Die Reaktion der französischen Armee ist unmittelbar und gnadenlos. Die Auseinandersetzungen zwischen den französischen Streitkräften und den Kämpfern für die Unabhängigkeit dauern mehr als drei Tage an. Der Aufstand der tunesischen Zivilbevölkerung wird mit Artillerie und Luftwaffe niedergeschlagen. Trotz der massiven Flucht von Familien richten die Bombenangriffe enormen Schaden an. Mehr als 300 Tunesier kommen darin um. Diese letzte Aggression Frankreichs wird dem tunesischen Volk schmerzlich in Erinnerung bleiben, doch bezeichnet sie auch den Tag der tatsächlichen Unabhängigkeit. Ich habe begonnen, mir vorzustellen, was diese Schlacht wohl bei meiner Mutter ausgelöst hat, die sich mit den französischen Kolonialherren identifizierte, und die genau in diesem Moment von einem Mann schwanger war, den sie liebte und der die Sache der Aufständischen unterstützte. Um diese Zerrissenheit zum Schweigen zu bringen, hat meine Mutter das Datum der Schlacht wahrscheinlich als ein deutliches Zeichen dafür interpretiert, dass sie weggehen musste, um uns zu beschützen. Vermutlich 28 29

Rede General de Gaulle, 1961. Rede Präsident Bourguiba, 1961.

108

Bild: Projektion Archivbilder von René Vauthier.


hat das etwas in ihr ausgelöst … Dann kam der letzte Tag, und meine Familie sagte: »Jetzt musst du deinen Vater besuchen — auf dem Friedhof.«

Der Friedhof In der Offenbarung St. Johannis schwört der Engel, dass es keine Zeit mehr geben wird. Kirilow Ich weiß. Das ist da sehr richtig gesagt, klar und genau. Sobald ein jeder Mensch das Glück erreicht hat, wird es keine Zeit mehr geben, weil sie dann nicht mehr nötig ist. Ein sehr richtiger Gedanke. Stawrogin Wohin wird denn die Zeit versteckt werden? Kirilow Nirgendswohin. Die Zeit ist kein Gegenstand, sondern eine Idee. Sie wird im Geiste erlöschen. Stawrogin

Dostojewski, Dämonen 30

Rückkehr in die Welt

109

Als ich zurückkam, empfing mich mein Analytiker ganz anders als sonst. Diesmal war es so (Geste) Stimme Z Und? Wie ist es gelaufen? — Besser als ich zu hoffen gewagt hätte … Ich weiß sogar, dass mein Vater gerne komplette Passagen aus dem Werk des Dichters Khalil Gibran 31 rezitierte. Und ich habe Bilder mitgebracht, ich habe sogar ein Familienalbum, na ja, fünf Fotos, aber jetzt habe ich ein richtiges Album. Wie jeder andere auch. Stimme Z Hm … Sie könnten dieses Album zur nächsten Sitzung mitbringen. Stille

Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich … — Ja … Gerne … Aber warum? Stimme Z Myriam, seit zwölf Jahren erzählen Sie mir von ihren Eltern, ich würde einfach gerne ihre Gesichter sehen … CUT

Übersetzung: Hermann Röhl. »Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch … Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebendige Pfeile hinausfliegen.« Khalil Gibran, Der Prophet (Übersetzung: Bertram Kottmann). 30 31



Olivier Choinière

Manifest der Jungen Frau [Originaltitel: Manifeste de la Jeune Fille] aus dem Französischen (Québec) von Hinrich Schmidt-Henkel

Das Centre des auteurs dramatiques (CEAD) und die Vertretung der Regierung von Québec förderten die deutsche Übersetzung. Bei Publikationen, Lesungen und Aufführungen des Textes ist dies unbedingt anzugeben.


»Die Auflehnung ist keine Bedrohung des Systems, sie ist das System.« Joseph Heath/Andrew Potter, The Rebell Sell: Why the Culture can’t be slammed

DEFINITION: Die Junge Frau hat weder Alter noch Geschlecht. Sie ist der Jugendwahn in jeder Erscheinungsform. Die Junge Frau schminkt sich nicht. Sie ist das Make-up. Die Junge Frau demonstriert nicht, sie demonstriert die herrschende Ordnung. Die Junge Frau spricht nicht, sie wird gesprochen: vom Kapitalismus. Die Junge Frau ist immer wahrhaftig, denn sie hört nie auf zu spielen. Die Junge Frau wird nicht geboren, sie zieht sich um. Die Junge Frau stirbt nicht, sie kommt aus der Mode.

PERSONEN: JF2, zwischen 20 und 30 Jahren JF3, zwischen 30 und 40 Jahren JF4, zwischen 40 und 50 Jahren JF5, zwischen 50 und 60 Jahren JF6, zwischen 60 und 70 Jahren JF7, über 70

HINWEISE FÜR DIE AUFFÜHRUNG: Die JUNGEN FRAUEN tragen die Vornamen der Schauspieler*innen. Ein Schrägstrich / zeigt den Einsatz der nächsten Replik an; zwei Figuren sprechen also kurz gleichzeitig. Passagen in Kapitälchen sind Werbesprüche. Fettgedrucktes zeigt ein Vergehen, einen Zerfall an. Die Überschriften der Szenen werden auf die Bühne projiziert. Im Zuschauerraum befinden sich sieben leere Sitze.

112

JF1, ca. 20 Jahre


1. Wie geht’s? Die JUNGEN FRAUEN werden geboren, indem sie gehen. JF3 JF4 JF3 JF4 JF5 JF4 JF5 JF1 JF5 JF1 JF2 JF1 JF2 JF7 JF2 JF7 JF6

113

JF7 JF6 Alle

WIE GEHT’S? SUPER! UND DIR? SUPER! UND SONST SO? GUT GEHT’S. (zu JF5) UND DIR? SUPER! UND DIR? SUPER! UND SONST SO? GUT GEHT’S. UND DIR? SUPER! UND DIR? SUPER! UND SONST SO? GUT GEHT’S. (zu JF2) UND DIR? SUPER! UND DIR? SUPER! UND SONST SO? GUT GEHT’S. (zu JF7) UND DIR? SUPER! UND DIR? SUPER! UND SONST SO? GUT GEHT’S. (zu JF6) UND DIR? SUPER! UND DIR? SUPER! UND SONST SO? GUT GEHT’S. GEHT’S EUCH GUT, MÄDELS? GUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUT!

Bis das »U« zu einer Welle wird, einem Ultraschall.

2. Was gibt’s Neues? UND SONST SO, WAS GIBT’S NEUES? (zeigt sich) WAS? JF7 FÄLLT DIR NICHTS AUF? JF1 OH WOW! WIR LIEBEN DAS! JF7 DAS IST GERADE IM TREND: AUSPROBIEREN UND ÜBERNEHMEN. JF5 ICH WILL DAS AUCH. WO HAST DU DAS HER? JF7 AUS EINEM SUPER SONDERANGEBOT. JF3 DIE STEHT DIR SUPER GUT. JF7 DAS WAR LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK. JF2 DIE IST TOTAL DEIN STYLE. JF7 DEN VERSPIELTEN STIL VON DIESER JUNGEN DESIGNERIN, DEN HAB ICH SCHON IMMER GEMOCHT. JF4 DIE LEUTE REISSEN SICH SCHON DARUM. JF7 UND BEI DIR, WAS GIBT’S NEUES? JF4 FÄLLT DIR NICHTS AUF? (zeigt sich) NAGELLACK Mother

JF6

JF7


Teresa’s Touch. 9 DOLLAR 99. ALS OB DEINE NÄGEL BRENNEN WÜRDEN. DANK DIESEM HINREISSENDEN NAGELLACK, DER VON DEN FARBEN INDIENS INSPIRIERT IST, WIRD MEINE ARBEIT AN DER TASTATUR ZU EINEM FEST. JF1 MAN MÖCHTE SOFORT GEDICHTE SCHREIBEN! JF4 UND BEI DIR, WAS GIBT’S NEUES? JF1 HEUTE FRÜH HABE ICH DIE AUGEN AUFGEMACHT, ALS DIE ERSTEN SONNENSTRAHLEN DIE WÄNDE MEINES SCHLAFZIMMERS ENTZÜNDETEN. IN DER LUFT HING DAS AROMA VON CHAI LATTE UND OFENFRISCHEN MUFFINS. MEIN WARMES BETT WAR WIE EINE UNWIDERSTEHLICHE VERLOCKUNG ZUR FAULHEIT, ABER AUF MICH WARTETE DER JUNGE TAG, ALSO STAND ICH AUF. ICH ZOG MEIN SEIDEN-NEGLIGEE AUS, SCHLÜPFTE IN LEGGINS UND EINEN BIOMETRISCHEN SPORT-BH, DANN MACHTE ICH EINE SERIE VON FÜNFZIG CRUNCHES UND VERSUCHTE, MIR DABEI DIE ZUKUNFT VORZUSTELLEN. JF5 DU BIST WIRKLICH SUPER IN FORM. JF1 STIMMT, ICH BIN WIRKLICH SUPER IN FORM. JF3

3. Und, Projekte? UND, PROJEKTE? ABER IMMER. UND DU? JF5 MOMENT, ICH SCHAU MAL AUF MEINER TO-DO-LISTE. URLAUBS PROJEKT. GESUNDHEITSPROJEKT. VERKAUFSPROJEKT. VERFÜHRUNGSPROJEKT. ENTSPANNUNGSPROJEKT. EFFIZIENZPROJEKT. FITNESSPROJEKT. ERFOLGSPROJEKT. LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK-PROJEKT. MUSKELSPANNUNGSPROJEKT. FAMILIENPROJEKT. PARTYPROJEKT. KÜCHENPROJEKT. ANLAGEPROJEKT. MASSAGEPROJEKT. MUSEUMSPROJEKT. MEDITATIONSPROJEKT. GLÜCKSPROJEKT. GESCHÄFTSFÜHRUNGSPROJEKT. SCHLANKHEITSPROJEKT. AUSDRUCKSPROJEKT. LEKTÜREPROJEKT. REDEPROJEKT. SCHWEIGEPROJEKT. EINATMUNGSPROJEKT. AUSATMUNGSPROJEKT. EINATMUNGSPROJEKT. AUSATMUNGSPROJEKT. EINATMUNGSPROJEKT. AUSATMUNGSPROJEKT. JF6 EIN LEBEN OHNE PROJEKTE IST KEIN LEBEN. JF7 DA HAST DU SOWAS VON RECHT! JF2 SIEBEN PROJEKTE FÜR DIESEN MONAT: JF3 WIR CHILLEN MAL SO RICHTIG. JF4 WIR MACHEN DIGITAL DETOX. JF5 WIR WIDMEN UNS DER SELBSTBEOBACHTUNG. JF1 WIR WERDEN ECHTE SUSHI-PROFIS. JF5 JF1

114

JF4


JF7 JF6 JF2

WIR LASSEN UNS MAL ÜBERRASCHEN. WIR DENKEN AN UNS SELBST. WIR LESEN DEN ROMAN EINER JUNGEN DEUTSCHEN AUTORIN

[je nach Land der Produktion].

4. Was machst du heute? WAS MACHST DU HEUTE? JF7 HEUTE FÜHLE ICH MICH IN MEINER HAUT WOHL. DEN GANZEN TAG LANG WILL ICH MICH IN MEINER HAUT WOHLFÜHLEN. GESTERN HABE ICH VISUALISIERT, DASS ICH MICH IN MEINER HAUT WOHL FÜHLE, UND GLEICH FÜHLTE ICH MICH IN MEINER HAUT WOHL. HEUTE WERDE ICH AN MEINEM WOHLBEFINDEN ARBEITEN, ICH WERDE ES ERREICHEN, DENN DAS WICHTIGSTE IST NICHT, DASS ICH GEWINNE, SONDERN DASS ICH MICH IN MEINER HAUT WOHLFÜHLE. JF4 DAS IST ECHT SUPER! JF1 DU SIEHST SO GLÜCKLICH AUS! WAS IST DEIN GEHEIMNIS? JF7 GIRLS, ICH PRÄSENTIERE EUCH MEIN NEUES EAU DE TOILETTE: LOVE STORY. JF2

115

5. Wisst ihr was? WISST IHR WAS? Alle WAS DENN? JF3 ICH BIN VERLIEBT! JF4 DAS IST ECHT SUPER! JF1 SIEHT ER GUT AUS? JF3 TOTAL GUT. SO EIN CHE GUEVARA-BEACHBOY-REVOLUTIONARY-STYLE. JF7 COOL! JF3 UND ER RIECHT WAHNSINNIG GUT. JF6 ALSO ICH FIND’S TOTAL ROMANTISCH, WENN EIN TYP NASSE HAARE HAT. JF4 IST ER NETT ZU DIR? JF3 TOTAL NETT, ABER ER KANN AUCH BAD SEIN, WENN ER MUSS. EIN TEIL NETTIGKEIT, EIN TEIL badness, EIN TEIL Abenteuer: DER COCKTAIL FÜR DEN IDEALEN FLIRT. JF5 VOLL COOL! JF3 GIRLS, WISST IHR WAS? Alle WAS DENN? JF3 ICH GLAUB, DAS IST DIE GROSSE LIEBE. JF3


WOW! JF3 WENN ICH DIE AUGEN ZUMACHE, SEHE ICH IMMER NUR IHN. WIE ER MICH ANSIEHT. ALS OB ICH MICH DURCH SEINE AUGEN SEHE. ICH BIN ER UND SEHE MICH AN. ICH SEHE MICH AN, BIS ICH SEHE, WIE ICH MICH GANZ KLEIN IN MEINEN AUGEN SPIEGELE. JF4 DAS IST EIN RAUSCH. JF3 WENN ICH AN MEINEN TYPEN DENKE, DANN IST ES, ALS OB ER GAR NICHT MEHR DA WÄRE. ICH TAUCHE IN MICH SELBST EIN, SEHR TIEF, ICH FALLE, OHNE DEN BODEN ZU BERÜHREN, UNENDLICH, BIS ICH VERGESSE, WARUM MEINE HAARE IM WIND WEHEN, UND DANN, DANN FÜHLE ICH MICH GUT, ICH FÜHLE MICH AUSGEFÜLLT, ICH FÜHLE MICH SCHÖN. JF1 SO IST DAS, WENN MAN VERLIEBT IST. JF2 LIEBE IST, WENN DU AN NICHTS ANDERES MEHR DENKST. JF6 DAS IST SCHÖN. Alle

6. Mir doch egal, ob ich frei bin! MIR DOCH EGAL, OB ICH FREI BIN! ICH WILL NUR EINS, VERLIEBT SEIN! JF4

(spricht JF6 mit dem Vornamen des Schauspielers oder der Schau-

spielerin an) X, ICH HÄTTE GERN EINEN FESTEN FREUND, ABER ICH

WEISS NICHT, WIE ICH EINEN TYPEN ANSPRECHEN SOLL. ALLEIN BEI DER VORSTELLUNG, DASS ICH MICH IHM NÄHERE, UM MIT IHM ÜBER MEINE GEFÜHLE ZU SPRECHEN, ZITTERE ICH VOR ANGST. WOHER SOLL ICH NUR DEN MUT NEHMEN? JF6

(spricht JF4 mit dem Vornamen des Schauspielers oder der

Schauspielerin an) LIEBE/R X, DENK EINFACH, WENN DU NICHT DEN

ERSTEN SCHRITT TUST, TUT IHN NIEMAND. DIE EINZIGE CHANCE, SEIN HERZ ZU EROBERN, IST, AUF IHN ZUZUGEHEN. FALLS ER SICH NICHT FÜR DICH INTERESSIERT, SAG DIR EINFACH, ER IST TROTZDEM GESCHMEICHELT, DASS DU IHN ANGESPROCHEN HAST. LOS, AUF GEHT’S. NUR ZU, HAB SELBSTVERTRAUEN. DAS IST DAS WICHTIGSTE. JF1 HOROSKOP! JF3 DEIN FREIHEITSGEFÜHL VERLEIHT DIR FLÜGEL. JF5 DU GLAUBST, DU HAST EINE TOXISCHE MUTTER? BEFREI DICH VON IHR. JF7 DU HAST DAS GELD GESPART, DAS DU ZU WEIHNACHTEN BEKOMMEN HAST: VERWÖHN DICH EIN BISSCHEN. JF4 AUFGEPASST: DU KÖNNTEST DICH AN EINEM ABEND IM FREUNDESKREIS VERLIEBEN. JF2 DEINE GLÜCKSZAHL: NEUNUNDSECHZIG.

116

JF1


JF7 JF3

DIE LIEBE BOOSTET DICH MIT ENERGIE. GELIEBT WERDEN, DAS IST, WIE BEZAHLTEN URLAUB ZU GEWINNEN.

7. Sex hilft beim Abnehmen UND SEX HILFT BEIM ABNEHMEN. NEIN! JF6 WANN ? JF5 HA! Alle ERZÄHL! JF5 ER HAT GEFRAGT: »GEHEN WIR ZU MIR ODER ZU DIR?« ICH HAB GESAGT: »NIRGENDWOHIN.« ER HAT GESAGT: »WILLST DU ES HIER TUN?« ICH HAB GESAGT: »NICHT AM ERSTEN ABEND, GRUNDSÄTZLICH NICHT.« ER HAT GESAGT: »WARUM?« ICH HAB GESAGT: »WEIL ICH DAFÜR ZU VIEL WERT BIN.« ER HAT GESAGT: »WAS SIND DAS FÜR ALTMODISCHE VORSTELLUNGEN?« ICH HAB GESAGT: »ES GEHT UM MEINE WÜRDE.« ER HAT GESAGT: »WAS HAT ES MIT WÜRDE ZU TUN, OB MAN AM ERSTEN ABEND VÖGELT?« ICH HAB GESAGT: »JE GRÖSSER DIE NACHFRAGE NACH MIR IST, DESTO MEHR STEIGT MEIN WERT. DAS IST DAS GESETZ DES MARKTES.« ER HAT GESAGT: »UND WANN DANN?« ICH HAB GESAGT: »WENN MEIN WERT IN DEINEN AUGEN AM HÖCHSTEN IST.« ER HAT GESAGT: »WIE KÖNNTE DEIN WERT FÜR MICH HÖHER SEIN ALS JETZT?« ICH HAB GESAGT: »MEIN WERT KANN IMMER NOCH STEIGEN.« ER HAT GESAGT: »UND WENN ER MORGEN SINKT?« ICH HAB GESAGT: »DAS RISIKO MUSS MAN EINGEHEN.« ER HAT GESAGT: »OKAY, GEKAUFT.« ICH HAB GESAGT: »ICH BIN NICHT ZU VERKAUFEN, ICH BIN EIN INVESTMENT.« ER HAT GESAGT: »OKAY, ABER DANN WILL ICH DIE WARE ERST PRÜFEN.« ER HAT MIR EINE HAND AUF DIE BRUST GELEGT UND ICH HAB LOSGEHEULT. Alle OH! JF3 DAS HEISST NICHT »LOSHEULEN«, DAS HEISST »SICH DIE WANGEN BEFEUCHTEN«. JF4 FEUCHTIGKEIT: DAS GEHEIMNIS EINER JUGENDLICH SCHIMMERNDEN HAUT. JF1 WEINEN SIE TÄGLICH, FÜR EINEN STRAHLENDEN TEINT. JF7 LIEBESKUMMER MACHT DIE HAUT AUF DAUER SANFTER UND SEIDIGER. JF2 HEY, GIRL! DAS LEBEN IST ZU KURZ, UM NUR EINE FEUCHTIGKEITSLOTION ZU BESITZEN. JF6 DAS STIMMT. JF2 WENN EIN TYP DICH ANGRABSCHT, DANN BEFEUCHTE DIR NICHT DIE WANGEN, MACH LIEBER SEINE ROT. OHRFEIGE IHN! JF5

Alle

117


ICH HAB MIR DOCH NICHT DIE WANGEN BEFEUCHTET, WEIL MICH EIN TYP ANGEGRABSCHT HAT! ICH HAB MIR DIE WANGEN BEFEUCHTET, WEIL ER ALT WAR! JF3 WAS? JF4 GEORGE CLOONEY-MÄSSIG ALT ODER RICHTIG URALT? JF5 RICHTIG ALT! JF1 ICH DACHTE, DAS WAR EIN GUTAUSSEHENDER TYP MIT SO EINEM CHE GUEVARA-BEACHBOY-REVOLUTIONARY-STYLE? JF5 NEIN, ER HATTE DIE HÄNDE VOLLER ALTERSFLECKEN UND HAARE AUF DER NASE. JF7 GRAUENHAFT. JF5 WENN ICH DARAN DENKE, DASS ICH BEINAH MIT EINEM UR ALTEN TYPEN GESCHLAFEN HÄTTE. JF6 ABER IST DIR AM ANFANG VON EUREM GESPRÄCH NICHT AUFGEFALLEN, DASS ER URALT WAR? JF5 NEIN, ER HAT IM GEGENLICHT GESESSEN! JF5

WIE ERKENNT MAN EINEN URALTEN TYPEN, WENN ER IM GEGENLICHT SITZT? JF2 DREI TRICKS, UM EINEN URALTEN TYPEN ZU ERKENNEN. JF4 TRICK NUMMER EINS: WENN EINER NIE AUFS KLO GEHT, DANN IST ES EIN URALTER TYP MIT WINDEL. JF1 BÄÄÄH! JF3 TRICK NUMMER ZWEI: EIN ALTER TYP RIECHT ALT, ALSO NACH EINER MISCHUNG VON BABYPUDER UND FRIEDHOF. JF1 VOLL EKLIG! JF6 TRICK NUMMER DREI: WENN EIN ALTER TYP NICHTS ZU SAGEN HAT, HÄLT ER DEN MUND, STATT DRAUFLOS ZU PLAPPERN, WIE EINE JUNGE FRAU IN SEINER JUGEND. JF1 DU MEINST, ER SAGT NICHTS, STATT DAS GESPRÄCH AM LAUFEN ZU HALTEN? ECHT UNMÖGLICH! JF7 ALSO MICH WIDERN ALTE LEUTE AN! WEISSE HAARE, WUND GELEGENE STELLEN, INKONTINENZ, SOWAS DÜRFTE ES NICHT GEBEN. JF2 ALSO MIR IST ES LIEBER, WENN DIE LEUTE GUT AUSSEHEN. JF3 ALT WERDEN IST VOLL EKLIG! JF1

118

8. Wie erkennt man einen uralten Typen?


9. Jung bleiben JF7 JF6 JF3 JF4 JF1 JF7 JF2 JF6

JUNGBLEIBEN IST DAS BESTE MITTEL GEGEN FALTEN.

Forever twenty one! ALSO ICH WERDE NICHT ALTERN. ICH AUCH NICHT. ICH AUCH NICHT. ICH AUCH NICHT. ICH AUCH NICHT. ICH AUCH NICHT.

JF5 sagt nichts.

JF3

BÄÄH! WAS DENN? SIE SAGT NICHTS! STIMMT! SIE SAGT ÜBERHAUPT NICHTS.

JF4

(spricht JF5 mit dem Vornamen des Schauspielers oder der Schau-

JF1 JF6 JF1

spielerin an) X, WAS IST? SAG WAS!

10. Wie alt bist du wirklich?

119

TEST! WIE ALT BIST DU WIRKLICH? GEHÖRST DU ETWA ZUR WELT DER ERWACHSENEN? WENN DU AUSGEHST, WAS MÖCHTEST DU DANN AM LIEBSTEN, A) DIE MÖGLICHKEIT, NEUE BEKANNTSCHAFTEN ZU MACHEN, B) INS KINO, INS THEATER, IN EIN KONZERT GEHEN, C) MIT DEINEN FREUNDINNEN PARTY MACHEN, D) EINEN VORTRAG ODER EINEN WORKSHOP BESUCHEN. JF5 C) MIT MEINEN FREUNDINNEN PARTY MACHEN. JF1 WENN DU AN DIE ZUKUNFT DENKST, WAS SIEHST DU VOR DIR? A) ENDLICH DIE FRÜCHTE MEINER ARBEIT ERNTEN, B) EINE GELEGENHEIT, ALLES MÖGLICHE AUSZUPROBIEREN, C) DARAN DENKE ICH NICHT BESONDERS, D) EIN FILM-SET, AN DEM JEDER SEINEN TEXT ÜBT. JF5 C) DARAN DENKE ICH NICHT BESONDERS. JF6 JUGEND BEDEUTET VOR ALLEM … A) MASSLOSIGKEIT, B) UNREIFE, C) SORGLOSIGKEIT, D) ENERGIE. JF5 A) MASSLOSIGKEIT. JF3 DU GEHST MIT DEINEN FREUNDINNEN AUS, UND EINE BESCHREIBT SEHR EXPLIZIT IHR LETZTES EROTISCHES ABENTEUER. DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF2

Schweigen JF4

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINI-


GERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. Schweigen

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF2

Schweigen

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF5 (im Todeskampf) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH! JF1

Kleine Fickschlampe mit nem Wackelarsch auf Stöckeln! Das gefällt dir wohl? Fette alte Schweine anmachen, die auf deinen mädchenhaften Körper sabbern! Du rennst heulend weg, mit rasierter Fotze, aber eigentlich willst du nichts anderes, als wie ein süßes Teilchen beim Konditor aus dem Regal genommen und verschluckt zu werden! Du ziehst einen Schmollmund und zeigst deine Möpse, dabei träumst du davon, dir wie bei einer nachgespielten Vergewaltigung in einer Zeitschrift das Designer-Kleid vom Leib reißen zu lassen! Du kleine Leiche, du willst doch nur, dass sie dich in Scheiben schneiden, verpacken und vakuumiert einfrieren, damit die ganze Welt sich an deinem tropfenden Frischfleisch mästen und deine beschissene Plastikjugend ausrülpsen kann!

11. Ich bin so alt, wie ich bin JF5 wird wiedergeboren.

Ich bin so alt, wie ich bin, ich bin, wie ich bin, mit meinen Falten, meinem Bauch, meinen grauen Haaren, meinen Fehlern und meinen guten Eigenschaften, meinen Siegen und Niederlagen, ja, meinen Niederlagen – ich scheue mich nicht, es zu sagen. Ich habe verloren, ich habe oft verloren, denn ich hatte keine Angst zu spielen, keine Angst vor dem Risiko, keine Angst, mich abzunutzen und zu altern – Altwerden ist super! Falten sind schön. So ist das Leben! So schön wie das Leben, und das Leben ist dann schön, wenn man es ganz und gar lebt und wirklich auskostet. Denn für mich lautet die Frage nicht: »Wie bleibe ich jung?«, sondern eher: »Wie lebe ich in Frieden mit mir selbst?« JF5

Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, werden dann wiedergeboren.

Was ist das schon im Grunde, jung sein? Zwanzig Jahre alt sein? Wenn ich die Zwanzigjährigen von heute ansehe, kommen sie mir gar nicht immer jung vor, wirklich nicht. Oft eher alt. Alte Leute in jungen KörJF6

120

JF5 stirbt und zersetzt sich.


121

pern, aber sie reden wie Alte, denken wie Alte, vögeln wie Alte. Jung sein, das spielt sich im Kopf ab, und jung bleiben heißt, jeden Augenblick des Lebens auszuschöpfen, mit diesem Körper, diesen Händen, diesem Bauch. Jung bleiben, das heißt für mich, absolut im Hier und Jetzt zu leben. JF4 Es ist wahnsinnig befriedigend, sich beruflich zu verwirklichen, aber die Geburt meiner beiden Kinder hat mir meine Grenzen gezeigt. Ich habe Geduld gelernt, Loslassen gelernt. Ohne gleich alles laufen zu lassen, versuche ich nicht mehr unbedingt, alles zu kontrollieren. Außerdem bleibe ich immer derselbe, mit meinen Ängsten und meinen Zweifeln. Ich suche nur nach einem besseren Gleichgewicht. Für mich heißt mit meinem Alter Frieden zu schließen, mit meinen Entscheidungen im Einklang zu leben. Es ist sicher nicht alles restlos perfekt, und das ist auch gut so. Das zu akzeptieren, das war für mich eine Offenbarung. Außerdem geben die Zwillinge mir so viel Kraft, Mut und Liebe. Ich muss mein Glück nicht mehr in tollen Leistungen suchen, und das tut wirklich gut. JF3 Wenn ich an meine Anfänge zurückdenke, wird mir klar, ich hatte wirklich Glück, dass ich nie einen Durchhänger hatte. Meine Karriere hat sich stetig entwickelt, immer war da ein neues Projekt, ich habe nie gedacht: »Oh Gott, was mache ich jetzt?« Wenn ich an die Zukunft denke, stelle ich mir nie vor, dass alles aufhören könnte. Ich denke nur einfach: »Sei stolz darauf, wie du bist und was du erreicht hast. Bleib selbstbewusst, bleib wie du bist, bewahr dir dein Lächeln und deine Leidenschaft. Nur darum geht es.« Mir schreiben viele junge Leute, dass sie von meinem Beruf träumen und mich als Vorbild sehen. Denen würde ich gern klarmachen, dass es vor allem um deine Persönlichkeit und deine Energie geht und nicht um dein Äußeres oder deinen Look. Ich habe keine Angst vor dem Älterwerden. Außerdem gibt es jede Menge Leute, deren Beruf es ist, uns schön zu machen. Weißt du was? Älter zu werden, lässt mich alle Stationen meines Lebens nur umso mehr genießen.

12. Für mich Für mich war am schwierigsten zu akzeptieren, dass ich bin, wer ich bin. Es hat seine Zeit gedauert, aber heute ist mir klar, das war das schönste Geschenk, das ich mir jemals gemacht habe. Vorher habe ich mich nicht gemocht, ich habe mich nicht akzeptiert, war immer im Unfrieden mit mir selbst. Eines Tages hat ein Freund gesagt: »Hast du es nicht satt, zu kämpfen?«, und ich habe gesagt: »Ja.« Er hat gesagt: »Schau dich mal im Spiegel an. Was siehst du?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er sagte: »Weißt du, was ich sehe?« Ich habe gesagt: »Nein.« Er hat gesagt: »Ich sehe die Person, die am besten dafür qualifiziert ist, du selbst zu sein.« Ich habe gesagt: »Was kann ich tun, um ich selbst zu sein?« Er JF2


13. Was ist für dich die größte Herausforderung? Was ist für dich im Moment die größte Herausforderung? In allen Lebensbereichen ein Gleichgewicht zu finden. Für mich ist die größte Herausforderung, in meinem Tagesablauf alles unterzubringen, was wirklich zählt, mein Liebster, meine Freunde, die Zwillinge. Ich muss mich unablässig daran erinnern, wie wichtig es ist, innezuhalten und sich Zeit zu nehmen für die Menschen, die im Leben wichtig sind. Die Arbeit gewinnt so leicht Oberhand, wenn man derart viel Leidenschaft dafür hat! JF5 Könntest du uns eine Frau nennen, die dich inspiriert? JF1 Ich liebe Charlize Theron. Penélope Cruz, die liebe ich auch. Und Doutzen Kroes, ein früheres Model von Victoria’s Secret. Manchmal lassen wir uns von ihr inspirieren, mein Liebster und ich. Dann sagen wir: »Wie wär’s mit einem kleinen Doutzen Kroes-Look?« Ansonsten mag ich auch noch sehr den Style von Kate Moss. JF4 A propos dein Liebster, wenn du den für einen Abend eintauschen müsstest, gegen wen? JF1 Ich würde immer sagen David Beckham – wenn er verfügbar ist. (Lachen) Sonst George Clooney. JF7 Hast du einen Lieblingsladen? JF6 JF1

122

hat gesagt: »Schau, da ist sie doch, direkt vor dir.« Geld zählt nicht. Erfolg und Karriere ebenso wenig. Sondern ich selbst sein. Schließlich bin ich die einzige, die das kann. JF7 Das ist so, so wahr, und darum, wenn ich mich im Spiegel ansehe, dann immer voller Mitgefühl und Liebe. Das ist nicht immer leicht. An manchen Tagen ist es sehr schwer, mich zu lieben, ich würde sogar sagen, es ist ein Kampf, aber ich halte es für meine Pflicht, zu glauben, dass es möglich ist, mich an jedem Tag meines Lebens zu lieben, sogar wenn ich völlig runter bin. Denn wenn ich aufgebe, was soll dann werden? Wenn ich bei all dem Glück, dass ich gehabt habe, bei all den schönen Dingen, die ich erlebt habe, aufhöre, mich zu lieben, was soll dann erst aus denen werden, die so ein Glück nicht hatten? JF1 Also ich hab mir mein Gesicht runderneuern lassen. Ich scheue mich nicht, das zu sagen. Das war meine Entscheidung, ich stehe dazu. Aber nicht, weil ich irgendwelchen aufdiktierten Schönheitsidealen entsprechen will, irgendwelchen Vorgaben, nein. Die Ärzte haben mir lediglich ermöglicht, wirklich ich selber zu werden, ich meine, die Person, die ich schon immer war, nicht schöner, nicht begehrenswerter, einfach nur ich selbst. Abgesehen davon hat sich von außen gesehen gar nicht so viel geändert. Vor allem in meinen eigenen Augen habe ich mich verändert. Und wisst ihr, was ich sehe? Ich sehe eine erfüllte Frau.


Im Moment liebe ich Aritzia. Meine Stylistin hat mich auf die Kette aufmerksam gemacht. JF3 Was isst du besonders gern? JF1 Im Moment bin ich total wild auf Gänseleber. Sowieso bin ich total das Leckermaul. Neulich habe ich mit mir selber gewettet, sieben Tage ohne Schokolade. Am Anfang war es hart, aber ich habe es geschafft. JF6 Welcher Song läuft bei dir die ganze Zeit im Auto? JF1 Perfect von One Direction. Ich hab einen Hang zum Kitsch und ich stehe dazu. JF4 Du bist [Alter des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF1] Jahre alt. Bist du da, wo du in diesem Alter sein wolltest? JF1 Ich bin wirklich voll zufrieden, denn jetzt, mit [sein oder ihr Alter] bin ich genau auf dem Weg, den ich mir gewünscht habe. JF7 Haben die Erfahrungen all dieser Jahre dich etwas wirklich Wichtiges gelehrt? JF1 Meine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren und ich selber zu bleiben. JF7 Welchen Roman liest du zurzeit? JF1 Ich kann es kaum abwarten, mir die nächste [Erfolgsautorin] vorzunehmen. Ich liebe sie wirklich sehr. JF3 Welchen Roman liest du zurzeit? JF1 [Erfolgsautor] muss für mich einfach sein. Ich habe all seine Bücher verschlungen. JF2 Welchen Roman liest du zurzeit? JF1 Ich liebe die Lebensgeschichten von Frauen mit besonderen Schicksalen. JF4 Welchen Roman liest du zurzeit? JF1 Bei dem Leben, das ich führe, dem Fernsehen, den Zwillingen, habe ich nicht immer Zeit für Fünfhundert-Seiten-Wälzer. JF7 Welchen Roman liest du zurzeit? JF1 (im Todeskampf) Ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese, ich lese! JF1

123

JF1 Stirbt und zersetzt sich.

Ich lese Einkaufslisten, ich lese Lehrbücher, ich lese, was unten auf Rechnungen steht, Vertragsklauseln, Notizen auf Post-its, ich versuche zu lesen, was auf Werbetafeln steht, aber hey! schau nach vorn, du sitzt am Steuer! Also lese ich Nummernschilder, Namen von Restaurants oder Friseursalons mit Wortspielen zum Totlachen, ich lese alles, worin es nicht um mich geht, alles, was keine persönliche Geschichte erzählt, ich lese alles, was mich aus dem beschissenen Roman meines Lebens rausholt und mich nicht über das Drama von jemandem heulen lässt, der mir


verdammt ähnlich ist, denn ich kann meine eigene und eure beschissene Nabelschau nicht mehr hören! Ich kann euer Geschwätz über euer jämmerliches kleines Leben nicht mehr hören, als ob das einzige Ziel unseres Daseins darin bestehen würde, bis zum Mittelpunkt der Erde in unserer hoffnungslos beschränkten Subjektivität zu versinken! JF1 wird wiedergeboren.

14. Na gut ja, ich lese Zeitschriften Na gut ja, ich lese Zeitschriften, viele Zeitschriften, alle möglichen, Kulturmagazine und wissenschaftliche Zeitschriften, Nachrichtenmagazine usw. Das hilft mir, dem Alltag zu entkommen und mir mal eine Pause von meinen eigenen Problemchen zu gönnen. Egal, worum es geht, Interviews mit einem Denker oder einem Philosophen oder eine Reportage über den Klimawandel, mir geht es vor allem darum, mal was anderes zu sehen als meinen eigenen Bauchnabel… JF1

Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, werden dann wiedergeboren.

Am wichtigsten ist es, seine Quellen zu diversifizieren. Exakt. JF6 Es wird immer schwieriger, Informationen über den Zustand der Welt zu bekommen, komplexe und gut recherchierte Informationen. Früher habe ich mich mit den großen Tageszeitungen begnügt, die im Supermarkt verkauft werden, dazu morgens Radio und abends die Fernsehnachrichten. Heute verfolge ich gut dreißig Fachzeitschriften, Webseiten, Blogs. Früher habe ich dem Internet misstraut, aber man muss schon zugeben, es ist ein Werkzeug, das uns den Zugang zu einer Menge Informationen ermöglicht, die anderswo nicht verfügbar sind, schon gar nicht in den Massenmedien. Ich habe gelernt, seriöse Webseiten zu erkennen, zum Beispiel, indem ich kontrolliere, ob dieselben Themen auch in den traditionellen Medien behandelt werden. Ich lese immer noch [auflagenstarke Tageszeitung) und schaue [öffentlich-rechtliches Fernsehen), aber vor allem, um zu analysieren, wie die Informationen aufbereitet werden, und um zu kontrollieren, in welchem Maß sie manipuliert oder geradezu zensiert werden könnten. JF4 Also ich halte mich auf dem Laufenden, indem ich reise. Denn was ist die vertrauenswürdigste Quelle? Derjenige, der die Informationen in seinem Alltag bei sich zu Hause lebt. JF6 Exakt. JF4 Man braucht nur über die Grenze zu fahren, schon wird einem klar, wie wenig man über die Welt da draußen weiß. Und wenn ich draußen sage, meine ich nicht, ein Land zu besuchen, mit dem wir dieselben weltweit verbreiteten Werte der Konsumgesellschaft teilen. Ich meine, den JF6

124

JF1


125

Alltag eines anderen, von uns ganz und gar verschiedenen Volkes zu teilen, mit seinen Gebräuchen, seinem Essen und seiner ganz eigenen Sicht auf das Leben. Auf einer kleinen Inselgruppe im Indischen Ozean lebt ein Stamm von gerade mal vierhundert Individuen, den Jarawa. Siebzigtausend Jahre lang haben sie wie unsere Vorfahren als Jäger und Sammler gelebt, völlig vom Rest der Welt isoliert. Aber jetzt wird ihre Lebensweise von großen Reiseunternehmen bedroht, die die Reichtümer der Inseln ausbeuten wollen, unter anderem die touristische Anziehungskraft der Jarawa selbst. Ich habe ein paar Tage bei ihnen verbringen dürfen und kann euch sagen, ich habe nie so glückliche Männer und Frauen gesehen. Sie träumen nicht von einem neuen Wagen, einem Mobiltelefon oder einem Flachbildschirm. Sie wollen nur ganz einfach in Ruhe gelassen werden. JF3 Der Dalai Lama hat gesagt: »Unsere Autobahnen werden immer breiter, aber unser Horizont wird immer schmaler.« JF4 Genau. JF3 Wir leben immer einsamer in immer höheren Wolkenkratzern. Wir haben Zugang zu einer Technologie, die uns den Eindruck vermittelt, einander näherzukommen, in Wirklichkeit entfernt sie uns von denjenigen, die uns physisch eigentlich am nächsten sind. Findet ihr das nicht paradox, wir können auf den Mond fliegen, aber mit einem Fremden an der Straßenecke können wir kein normales Gespräch mehr führen? Die Weltbevölkerung wächst unaufhörlich, aber siebenundvierzig Prozent der Menschen auf dem Planeten geben an, dass sie unter Einsamkeit leiden. Und von solchen Paradoxa leben die Medien, die Politik, sie treiben die Wirtschaft an, sie sind ein Teil des Hintergrundrauschens. Das macht unsere Gespräche so spannend, so unterhaltsam, aber zur selben Zeit isoliert es uns und hindert uns daran, im Augenblick zu leben. Wie soll man diese Paradoxa verstehen? Wie sie überhaupt begreifen? Indem man auf den Pausenknopf drückt. Indem man sich Zeit nimmt, das Gewicht der Worte zu bedenken, die Folgen eines negativen Kommentars oder eines überflüssigen Streits, oder einfach, indem man sich Zeit für seinen Nächsten nimmt, indem man anders mit ihm spricht, mit Empathie, wirklich Zeit, um wirklich mit ihm in Kontakt zu treten. Mutter Teresa hat gesagt: »Wer nicht geliebt, nicht erwünscht ist, wer von allen vergessen wird, der leidet an einem viel größeren Hunger, einer viel größeren Armut als derjenige, der nichts zu essen hat.«, und ich finde, sie hat da sehr recht. Im täglichen Kontakt mit den anderen können wir die Einsamkeit durchbrechen und wirklich zu Akteuren der Veränderung werden.


15. Also für mich passiert Veränderung Also für mich passiert Veränderung zunächst durch mich selbst. Exakt. JF7 Wie kann ich von den anderen verlangen, sich zu ändern, wenn ich selber nichts tue? Früher war ich immer in Eile, war gestresst und habe Stress verbreitet. Dank der Meditation habe ich alle Dimensionen meines Wesens miteinander versöhnen können, wie wenn man die Scherben eines zerbrochenen Spiegels zusammensetzt. Schon gleich bei den ersten Sitzungen habe ich entdeckt, dass ich niemals nein sagen konnte und dass mich genau das umbrachte. Ich habe eine tolle Karriere mit sehr guter Bezahlung aufgegeben, um mich ganz der Vipassana-Meditation zu widmen. Klingt verrückt, oder? Aus dem Abstand erkenne ich, das war die beste Entscheidung meines Lebens. Am schwierigsten war es, diesen Frieden in den Alltag zu integrieren. Heute schaue ich auf den Weg, den ich zurückgelegt habe, und ich denke: »Wow!« Ich habe viel weniger Angst vor dem Leben. Natürlich habe ich auch manchmal Schuldgefühle und empfinde Hoffnungslosigkeit, aber ich betrachte diese Emotionen dann, wie man einen Sturm vom Ufer aus betrachtet, und irgendwann verschwinden sie. Die Vergänglichkeit mit Gleichmut zu ertragen, das versuche ich meine Schüler zu lehren. JF5 »You are what you eat.« JF7 Exakt. JF5 Seit ich auf Gluten und Milchprodukte verzichte, bemerke ich große Veränderungen: Ich habe mehr Energie, bin um die Tagesmitte weniger erschöpft, und vor allem habe ich keine Krämpfe und Blähungen mehr. Die Lebensmittel-Lobby will uns alles mögliche einreden, unter anderem über Brot und industriell verarbeitete Milch. Alle, die ich kenne und die so was nicht mehr zu sich nehmen, haben eine ganz deutliche Verbesserung ihrer Verdauung festgestellt. In den meisten Industrieländern hat man erkannt, dass man weniger rotes Fleisch essen sollte, weil das nicht nur einer der Hauptverursacher von Krebs ist, sondern auch eng mit Wüstenbildung und Klimaerwärmung zusammenhängt. Warum sollte man dasselbe nicht auch mit Milch machen? Wisst ihr, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das die Muttermilch eines anderen Tieres trinkt? Kalzium kriegt man auch durch Pflanzen absolut genug. Und außerdem, ist es nicht ein bisschen seltsam, dass dasjenige Lebewesen, das sich selbst als das am höchsten entwickelte des Planeten sieht, im Erwachsenenalter immer noch Milch trinkt? Ich finde, darüber müsste man mal nachdenken. Das ist jetzt übrigens der erste Winter, in dem ich nicht im Krankenhaus herumsitze, weil einer von den Zwillingen krank ist. Reiner Zufall? Ich denke nicht. JF2 Dank kleiner Veränderungen in unserem Alltag haben wir irgendwann einen positiven Einfluss auf unsere Umwelt. JF7

126

JF3


Genau. JF2 Einmal habe ich zu einem Freund gesagt: »Genau das würde ich gern mal machen, eine konkrete Veränderung für unseren Planeten.« Er hat gesagt: »Und warum tust du es nicht?« Ich habe gesagt: »Weil es vielleicht nicht viel bewirkt.« Er hat gesagt: »Dann versuch‘s doch einfach, du wirst schon sehen.« Und da habe ich im letzten Sommer die Schlaglöcher in unserer Straße mit Erde aufgefüllt und Blumen gepflanzt, ich habe sie gegossen, geschützt, gepflegt. Manche davon buchstäblich mitten auf der Straße! Ich glaubte, irgendwann wären keine Blumen mehr übrig, die Autos würden sie alle kaputt fahren. Irrtum. Die Fahrer taten alles, was sie konnten, um den Blumen auszuweichen. Manche haben sogar Umwege auf sich genommen, um sie zu sehen! Und recht bedacht, wer würde schon mit seinem Fahrzeug absichtlich Blumen zerstören? Die anderen Bewohner des Viertels haben auch angefangen, sie zu pflegen. Die Kinder haben mit Kreide riesige Bilder auf die Fahrbahn gemalt, um die Fahrer zu warnen. Irgendwann war es ein großartiger Anblick, wie die Autos langsam zwischen den Blumenarrangements Slalom fuhren. Man kann nicht immer von der Gemeinde oder von der Regierung erwarten, dass die unsere sämtlichen Alltagsprobleme lösen. Jeder einzelne kann einen Unterschied machen, nicht nur im eigenen Stadtviertel. Morgens vor der Arbeit zum Beispiel, wenn ich den Zwillingen ihren Brei mache, schmiere ich auch immer ein paar Brote für die Obdachlosen, denen ich / im Zentrum über den Weg laufe. JF5 Und wie verpackst du die Brote? JF2 In Klarsichtfolie. JF5 Das wird aber auf die Dauer ein ganz schöner Verbrauch an Klarsichtfolie. JF2 Ich kaufe biologisch abbaubare. JF5 Abbaubar innerhalb welcher Zeit? JF2 Ich weiß nicht – zwölf Monate? JF5 Zwölf Monate – bei Luftkontakt, auf der Müllhalde werden die Abfälle komprimiert, um Platz zu sparen. JF2 Exakt. JF5 Das bedeutet, deine Klarsichtfolie wird möglicherweise von vielen Schichten aus Abfall bedeckt und hat so gut wie keinen Kontakt mit Sauerstoff mehr. Der biologische Abbauprozess ist dann sehr viel langsamer, mit Mikroorganismen, die ohne Sauerstoff arbeiten. Diese Mikroorganismen stoßen dabei Methan aus. Und Methan ist ein zwanzigmal stärkeres Treibhausgas als Kohlendioxid. JF2 Ich benutze auch ganz gewöhnliche Plastiktüten. JF5 Gewöhnliche Plastiktüten setzen wenig Treibhausgas frei. Dafür sind sie sehr schädlich für die Ozeane. JF6 Wisst ihr, dass sich im Nordpazifik etwas befindet, das die WissenJF5

127


JF2 stirbt und zersetzt sich.

Ich weiß, dass ich ohne mein Wissen an der Zerstörung des Planeten mitwirke! Ich weiß, dass ich wie bescheuert Sachen zu mir nehme, bei denen man mir die Hälfte der Zutaten verschweigt! Wir wissen alle, dass die Technologie nicht dazu eingesetzt wird, die Lebensdauer der Produkte zu verlängern, sondern um den Verschleiß zu beschleunigen. Dabei funktioniert die erste jemals produzierte Glühbirne bekanntlich noch immer. Leider wird diese Glühbirne nicht mehr verkauft, also, was macht man? Man kauft die billigste, nach einem Monat brennt sie durch, und bekanntlich wiegt die Summe unserer sämtlichen umweltbewusst getätigten Erwerbungen bei weitem nicht die Gesamtheit des jährlichen Abfallaufkommens auf! Wir wissen, dass unsere Wirtschaft auf bereits erschöpften Ressourcen beruht und uns immer abhängiger von Ressourcen macht, deren Existenz uns noch nicht mal bekannt ist und die unbedingt entdeckt werden müssen, bevor die Menschheit sich selbst verschlingt! Wir wissen, dass die Großkonzerne mächtiger als die Staaten sind und dass die repräsentative Demokratie eine Täuschung ist! Ja, man täuscht sich, wenn man jemanden für vier Jahre wählt und dann glaubt, er würde die Interessen seiner Wähler vertreten, denn Politiker sind dafür da, die Interessen der großen Konzerne zu vertreten, die sie an die Macht gebracht haben.

128

schaftler den »achten Kontinent« nennen? JF2 Ja, / das ist JF6 Das ist eine Insel aus im Wasser treibenden Abfällen, an manchen Stellen zehn Meter dick, vier Millionen Quadratkilometer groß, fast so groß wie [Oberfläche des Landes, in dem das Stück gespielt wird]. JF2 Ich weiß. JF7 Darunter befinden sich auch viele Plastiktüten, Getränkedosen, Wasserflaschen und tonnenweise Mikroplastik. JF4 Fische, Schildkröten und Seevögel verwechseln diese Partikel mit Plankton und verstopfen ihr Verdauungssystem damit. JF2 Ich weiß. Übrigens / es gibt auch … JF1 Es gibt auch eine Art von Meereswasserläufern, Halobates sericeus, die ihre Eier sehr gern in Plastiktüten legen, die wirken dann wie Brutkästen, ideal für die Fortpflanzung. JF5 Und jetzt ratet mal, wovon sich diese kleinen Wasserläufer ernähren? JF2 Von tierischem Plankton und … JF6 Und von Fischeiern. JF2 Ich weiß! JF3 Im Nordpazifik gibt es zurzeit dermaßen viele Meereswasserläufer, dass sie allein schon das gesamte Ökosystem bedrohen! JF2 (im Todeskampf) Ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß!


Genauso täuscht man sich, wenn man denkt, Zeitungen und Fernsehen, die Massenmedien, social media und spezialisierte Webseiten wären dazu geeignet, sich zu informieren, sich mitzuteilen, sich auszutauschen, frei zu sagen, was man denkt. Natürlich darf ich nicht sagen, was ich denke. Sagen darf ich es schon, aber hat es eine Wirkung? Von wegen! Und wenn das, was ich sage, keine beschissene Wirkung hat, rede ich da noch frei? Wenn die einzige Macht, die sie uns lassen, darin besteht, in unserem Wohnzimmer zu sitzen und uns der Tragweite des Problems bewusst zu sein, kann man da noch von Freiheit sprechen? JF2 wird wiedergeboren.

16. Solange wir noch imstande sind Solange wir noch imstande sind, uns zu empören, sind wir frei. Solange uns der Geist der Auflehnung beseelt, das Fundament unserer modernen Demokratie, bleibt uns Hoffnung! Die Zyniker, die behaupten, dass nichts etwas grundlegend verändern kann und wird, spielen das Spiel derer, die uns regieren. JF2

Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, werden wiedergeboren.

129

Sie werden euch sagen: »Ohne die Wirtschaft bricht die Welt zusammen.« Wir werden ihnen antworten: »Wegen eurer Wirtschaft bricht die Welt zusammen.« Sie werden euch sagen: »Vom Wachstum profitieren alle.« Wir werden ihnen antworten: »Die einzigen, die vom Wachstum profitieren, seid ihr und eure Freunde!« Sonst profitiert kein Mensch von eurem Wachstum, das für uns Austerität bedeutet. Alle haben darunter zu leiden, jeden Tag, im Arbeitsumfeld, im Klassenzimmer, in den Wartesälen der Krankenhäuser. Sie werden euch sagen: »Ihr seid nicht zufrieden? Wählt eine andere Regierung.« Und genau wie [Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF2] werden wir ihnen antworten: »Die repräsentative Demokratie ist eine Täuschung.« Sie werden euch sagen: »Die repräsentative Demokratie ist immer noch Demokratie.« Wir werden ihnen antworten: »Wenn wir Herrschende wählen, die über unser Schicksal entscheiden, ohne uns zu beteiligen, dann ist das keine Demokratie mehr!« Ganz egal, welchen Kandidaten wir an die Macht bringen, derselbe wird immer alles dafür tun, an der Macht zu bleiben und vor allem eine Politik zu betreiben, die seinen Freunden zugutekommt, den Großkonzernen! JF6 Wie kommt es nur, dass kein Mensch auf die Straße geht? Jetzt aber mal wirklich! Ich könnte heulen, wenn ich euch zuhöre. Jeden Tag liefern die Nachrichten uns mindestens einen guten Grund zum Aufstand. Und was machen wir? Nichts! Also wirklich, wie können wir weiterleben, wenn wir das hinnehmen? Wie können wir weiter am Autobus anstehen, JF7


130

morgens in die Metro steigen, abends mit dem Auto nach Hause fahren, auf Straßen wie in der Dritten Welt, für deren Unterhalt die Mittel fehlen, und dabei den Journalisten zuhören, die uns lächelnd erzählen, auf welche Weise und wie schnell wir vor die Wand fahren, ohne dass wir mitten im Verkehr anfangen zu schreien! Ich begreife nicht, wie wir jeden Tag dem Drang widerstehen können, uns der Länge nach auf die Straße zu legen und mit unseren Körpern den Verkehr anzuhalten. Unsere Regierungen halten defizitäre Unternehmen am Leben, deren Produkte sich nur die Reichsten leisten können, und daneben werden die öffentlichen Leistungen für die Armen immer weiter beschnitten! Noch nie war der Kapitalismus so entfesselt, noch nie waren die Beweise für seine schrecklichen Folgen so deutlich, die sich nicht nur auf das Leben Einzelner auswirken oder auf das einer ganzen Bevölkerung, sondern im globalen Maßstab. Und trotzdem machen wir weiter, als ob nichts wäre! Im Gegenteil, die Politiker vermehren ihr Vertrauenskapital noch mithilfe der ökologischen Katastrophen, die sie selber auslösen! Ich begreife nicht mehr, in was für einer Welt wir leben! Wir nehmen all das hin unter dem Vorwand, es wäre ein notwendiges Übel. Und wir nehmen es hin, weil diese Konzerne angeblich für das Allgemeinwohl arbeiten, dabei ist das Allgemeinwohl ihre allerletzte Sorge! Es sei denn, das Allgemeinwohl fördert Wachstum und Profit. Es sei denn, das Allgemeinwohl fördert den privaten Reichtum. Und das ist nur ein Beispiel. Es gibt tausend Gründe, sich zu empören. Jetzt werdet ihr sagen, uns geht es noch gut, woanders ist es schlimmer, aber wenn wir woanders in die Welt blicken, was sehen wir? Die Leute empören sich! Wenn ich mir den Zustand unseres Gesundheitssystems anschaue, unserer Schulen, unserer Infrastruktur, dann finde ich nicht, dass es uns noch gut geht. Ich kann nur finden, wir geben uns mit den Krümeln zufrieden, die man uns hinwirft. Aber lange geht das nicht gut, sich von Krümeln zu ernähren und sich um die der Nachbarn zu prügeln. Es geht nicht lange gut, wenn man glaubt, nichts zu tun wäre eine mögliche Alternative! JF3 Erstens, hören Sie auf zu behaupten, wir würden nichts tun. Zweitens ist es durchaus nicht so, dass die anderen nichts tun würden, nur weil Sie nichts tun. JF6 Entschuldigung, werter Herr / aber ich tue nicht nichts. JF3 Dann sollten Sie aufhören sich zu beklagen und die Initiative ergreifen, statt herumzujammern, dass keiner auf die Straße geht. / Oder Sie halten den Mund. JF6 Aber genau das mache ich doch! Und indem man den Mut der anderen verächtlich macht,/ wird sich nichts ändern. JF3 Handeln Sie, statt zu jammern. JF6 Deine Generation kann nicht gerade behaupten, sie hätte viel getan. JF3 Das mag schon sein, aber meine Generation macht sich keine Illusionen mehr, / anders als Ihre.


Also bitte … JF6 Genau! Ihr habt für/gegen [jüngste Demonstrationen, bei denen die Jugend auf die Straße gegangen ist] demonstriert, / und dann seid ihr wieder ins Bettchen gegangen. JF5 Ich glaube, es ist nicht sehr / konstruktiv, wenn man … JF3 Immer noch besser, als zehn Jahre in einer Kommune rumzuvögeln. JF6 Wie bitte? Meine Generation hat [dunkle Epoche der Geschichte des Landes, in dem das Stück gespielt wird] überwunden, / sie hat [Sprache oder anderes, was in diesem Land bedroht ist] verteidigt, sie hat für das Recht der [unterdrückte gesellschaftliche Gruppe oder anderes] gekämpft. Wir haben [grüne oder andere Energie] verstaatlicht, wir haben [die Bildung oder anderes] demokratisiert, wir haben [große JF5

Leistung im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs oder anderen]

131

gebaut, wir haben [Ereignis von internationaler Tragweite] auf die Beine gestellt, wir haben – wie, meine Eltern? JF5 Könnten wir bitte … JF3 Ja, genau, das waren deine Eltern! Du hast bei dem Ganzen doch nur zugesehen! Wenn du nicht dagewesen wärst, wäre es genauso gelaufen, also bitte, Opi, jetzt komm nicht an und rühme dich für eine Revolution, die erstens gar keine war und die zweitens deine Eltern angestoßen haben –, yes, man, deine Eltern! - und bei der du nur zugeschaut hast, sonst nichts! JF6 Sag das noch mal, / du kleines Miststück. JF5 Ich bitte euch! 17. Es nützt doch nichts, anderen die Schuld zu geben Es nützt doch nichts, anderen die Schuld zu geben, das spaltet uns, und genau das wollen sie doch. [Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF2] hatte vorhin ganz recht. Wir müssen die Hoffnung bewahren, und um die Hoffnung zu bewahren, müssen wir sie nähren. Um die Hoffnung zu nähren, müssen wir sie mit anderen teilen können, und dafür müssen wir uns zusammentun und miteinander reden können. Und sei es nur, um zu beweisen, dass wir nicht allein sind. Denn wir sind nicht allein. Wir können nicht allein sein! All die Bewegungen, die in der Welt entstehen, beweisen, dass wir nicht allein sind! Natürlich werden sie uns als Spinner hinstellen, werden behaupten, wir wüssten nicht, wovon wir reden, unsere Forderungen wären verschwommen, unsere Theorien unrealistisch, der Sozialismus sei gescheitert und der Kapitalismus der einzig gangbare Weg, ob wir das nun wollten oder nicht! Denn das wollen sie uns einreden: dass es keinen anderen Ausweg gibt. Und solange wir ihre SpraJF5


132

che sprechen, gibt es auch keinen Ausweg, so ist das eben. Aber natürlich gibt es einen, nur stellt der das ganze System in Frage, und darum hat unsere Elite solche Angst davor, dass wir ihn wählen! JF1 Einverstanden, aber wo sollen wir anfangen? Was sollen wir tun, ganz konkret? JF4 Nachdenken, zum Beispiel? JF1 Ja, aber wenn ich was tun will, wo fange ich an? Ganz konkret jetzt und hier, was kann ich tun? JF4 Schauen Sie bei Google nach, da finden Sie jede Menge Organisationen, bei denen Sie mitwirken können. JF1 Okay, zum Beispiel? JF4 Woher soll ich das wissen! Ich bin keine Vermittlung für Ehrenamtliche. JF1 Ich würde ja gern was machen, aber was denn? Mich einbringen! Ich weiß nur nicht, wo und wie. JF2 Es gibt Greenpeace, es gibt [lokale NGO], / man kann Blinden vorlesen, oder auch … JF4 Wir reden hier doch nicht über Ehrenamt. / Die Frage muss auf ganz breiter Front angegangen werden, Ehrenamt reicht da nicht. Das Ehrenamt setzt bei Symptomen an, wir müssen das Problem bei der Wurzel anpacken. Klar will ich auch [bedrohte Organisation] verteidigen, [Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF2], aber darum geht es uns doch gar nicht. JF2 Entschuldigung, aber was hier angegriffen wird, ist doch unsere Fähigkeit, uns gegenseitig zu helfen, also geht es natürlich ums Ehrenamt! / Es geht um lokale Gruppen, um Unterstützungsangebote für Bedürftige, um Altenheime, es geht um [bedrohte Organisation], um NGOs, denen jedes Jahr die Mittel weiter zusammengestrichen werden. JF1 Ja, ich möchte etwas machen! Ich will was tun! Aber wie soll ich kleiner einzelner Mensch etwas bewirken? Was kann ich ganz konkret jetzt tun? Wenn jemand eine Idee hat, ich will sie gern hören! JF6 Sucht nicht hektisch nach was zu tun, sondern fragt euch lieber warum! »Warum?« Das hat eure Generation nicht gelernt! Und wisst ihr, warum? Weil ihr keinen Kontakt zur Religion habt. / Was euch im Grunde wirklich fehlt, ist guter altmodischer Unterricht mit einem Lehrer, der an was anderes glaubt als an Geld. JF1 Okay, die Religion. Ich meine, einverstanden. Wir sollten in die Kirche gehen, meinst du das? JF3 Sie wollen doch aber nicht in die Zeiten der kirchlichen Internate zurückkehren? / Uns von irgendwelchen Kuttenträgern schlagen und missbrauchen lassen? JF6 / Du da, halt den Mund. JF7 / [Name der Schauspielerin oder des Schauspielers von JF4] hat


recht, wir sollten aufhören, die Symptome zu kurieren und das Problem an der Wurzel angehen! Wir sollten nicht zu bescheiden sein! JF4 Wisst ihr, was ich denke? Ich denke, wir sollten aufhören zu reden, sondern zu den Waffen greifen und kämpfen. JF2 Bravo. Super, / echt schlau. JF4 Das ist mir egal, genau das denke ich. JF5 / Hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal, hört mal!

18. Hört ihr? JF5 JF6 JF5

Hört ihr? Was? Das.

Schreie draußen vor dem Theater

Ja, ich höre was. Ich auch. JF3 Das ist draußen. Klingt wie Schreie. JF7 Das? Das ist eine Hupe. JF5 Nein, hört genau hin. Sie hören hin. Klingt, als hätte sich draußen eine Menge versammelt. JF7 Vielleicht ein Straßenfest? JF3 Heute? Sollte mich wundern. JF5 Nein, das klingt mehr wie – wie Sprechchöre – wie eine Demonstration. JF2 Ich habe nichts von einer Demonstration heute gehört. JF4 Wer sollte die organisiert haben? JF6 Vielleicht eine spontane Demo. JF2 Sollen wir nachsehen? JF4 Wie nachsehen? JF5 Was verlieren wir, wenn wir mal nachsehen? JF4 Wir wissen nicht mal, wofür da demonstriert wird. JF3 Wenn wir hierbleiben, erfahren wir das nie. JF4 Vielleicht sind wir nicht auf dem Laufenden, weil es uns gar nicht betrifft? JF6 Noch ein Grund nachzusehen. JF7 Schon mal von Solidarität gehört? JF2 Wenn da eine Demo läuft, dann gehen wir mit, fertig. JF5 Bitte, nach Ihnen. JF2 JF1

133

Die JUNGEN FRAUEN gehen hinaus, außer JF4 und JF1. JF1

Kommst du?


JF4 JF1 JF4 JF1 JF4 JF1

Wohin? Raus! Wozu? Na zu der Demo! Mit wem? Ich weiß nicht. Sie geht hinaus. Alle! Alle sind auf der Straße!

JF4 zögert, geht dann auch hinaus.

19. Geht’s gut?

JF2 JF6 JF2 JF6 JF1 JF6 JF1 JF4 JF1 JF4 JF7 JF4 JF7 JF3 JF7 JF3 JF5 JF3 JF5

GEHT’S GUT? TOTAL SCHLECHT. UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND SONST SO? GEHT NICHT GUT. (zu JF1) UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND SONST SO? GEHT NICHT GUT. (zu JF4) UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND DIR? GEHT NICHT GUT. UND SONST SO? GEHT NICHT GUT. (zu JF7) UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND SONST SO? GEHT NICHT GUT. (zu JF3) UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND SONST SO? GEHT NICHT GUT. (zu JF5) UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND DIR? TOTAL SCHLECHT. UND SONST SO? GEHT NICHT GUT.

20. Was gibt’s Neues? UND SONST SO, WAS GIBT’S NEUES? (zeigt sich) WAS? JF2 FÄLLT DIR NICHTS AUF? JF6 OH WOW! WIR LIEBEN DAS! JF2 DAS IST DIE MASKE DES WIDERSTANDS: DIE MÜSST IHR AUSPROBIEREN UND ÜBERNEHMEN. JF1 DIE WILL ICH AUCH. WO HAST DU DIE HER? JF2 EINE AUS DEM KOLLEKTIV HAT SIE MIR GESCHICKT. JF5 JF2

134

Die JUNGEN FRAUEN werden geboren, indem es ihnen total schlecht geht.


DIE STEHT DIR SUPER GUT. JF2 DAS WAR LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK. JF7 DIE IST TOTAL DEIN STYLE. JF2 IHRE VIDEOS UND IHRE GEZIELTEN CYBERATTACKEN, DIE HABE ICH SCHON IMMER GEMOCHT. JF3 DIE SCHICKEN WIR UNS STÄNDIG GEGENSEITIG WEITER. JF2 UND BEI DIR, WAS GIBT’S NEUES? JF3 FÄLLT DIR NICHTS AUF? (zeigt sich) DIESE MASKE IST ABSOLUT DICHT, IHR LOOK ERINNERT AN KONZENTRATIONSLAGER, DIE MACHT DEN POLIZISTEN IHRE ARBEIT SCHWERER, AUSSERDEM ZEIGT SIE IHNEN EIN NEGATIVES BILD IHRER SELBST. JF1 MAN KRIEGT GLEICH LUST, VERGAST ZU WERDEN! JF3 UND BEI DIR, WAS GIBT’S NEUES? JF5 HEUTE FRÜH HABE ICH DIE AUGEN AUFGEMACHT, ALS DAS BETÄUBENDE ECHO DER BLENDGRANATEN AN DEN WÄNDEN MEINES SCHLAFZIMMERS WIDERHALLTE. IN DER LUFT HING DAS AROMA VON PFEFFERSPRAY UND TRÄNENGAS. MEIN NOCH WARMES BETT WAR WIE EINE UNWIDERSTEHLICHE VERLOCKUNG DAZU, EIN ZITAT VON NOAM CHOMSKY ZU POSTEN, ABER AUF MICH WARTETE EINE DEMONSTRATION, ALSO STAND ICH AUF. ICH LIESS MEIN LÖCHRIGES T-SHIRT AN, SCHLÜPFTE IN EINE SCHWARZE HOSE UND EINE SCHWARZE JACKE, DANN MACHTE ICH FÜNFZIG PLAKATE MIT »SCHAU AUF DEINE ROLEX: ZEIT FÜR DEN AUFSTAND« UND VERSUCHTE DABEI, MIR EINE WELT OHNE UNGLEICHHEIT VORZUSTELLEN. JF4 DU BIST WIRKLICH VOLLER HOFFNUNG. JF5 STIMMT. ICH BIN WIRKLICH VOLLER HOFFNUNG. JF4

135

21. Und, Festnahmen? UND, FESTNAHMEN? JEDE MENGE. UND BEI DIR? JF6 MOMENT, ICH SCHAU MAL AUF MEINEM FACEBOOK-PROFIL NACH. GEWALTTÄTIGE FESTNAHME. GEZIELTE FESTNAHME. HEIMTÜCKISCHE FESTNAHME. ERZWUNGENE FESTNAHME. TÖDLICHE FESTNAHME. WIDERRECHTLICHE FESTNAHME. WILLKÜRLICHE FESTNAHME. SYSTEMATISCHE FESTNAHME. ALBTRAUMHAFTE FESTNAHME. VON DEN MEDIEN AUFGEGRIFFENE FESTNAHME. JF1 EINE DEMO OHNE FESTNAHME IST KEINE DEMO. JF7 SIEBEN DINGE, DIE IM FALLE EINER FESTNAHME ZU BEACHTEN SIND: JF3 VERLANGE, DASS DER BEAMTE SEINEN NAMEN NENNT. JF6 JF5


JF2 JF6 JF1 JF4 JF7 JF5

MERKE DIR SEINE DIENSTNUMMER. LEISTE FRIEDLICHEN WIDERSTAND. AKZEPTIERE, DASS DU ANGST HAST. SCHÜTZE DEINE INNEREN ORGANE. BEWAHRE DIE HOFFNUNG. ERINNERE DICH AN EIN GEDICHT VON [politisch engagierter

Dichter der sechziger bis siebziger Jahre].

22. Was machst du heute? WAS MACHST DU HEUTE? HEUTE GEHE ICH DEMONSTRIEREN. DEN GANZEN TAG LANG WERDE ICH DEMONSTRIEREN. GESTERN HABE ICH VOM DEMONSTRIEREN GETRÄUMT, UND SCHON DEMONSTRIERE ICH. HEUTE GEHE ICH FÜR EIN BESSERES ZUSAMMENLEBEN DEMONSTRIEREN, ICH WERDE ES ERREICHEN, DENN DAS WICHTIGSTE IST NICHT, DASS MAN GEWINNT, SONDERN DASS MAN DEMONSTRIERT. JF7 DAS IST ECHTES ENGAGEMENT. JF3 DU WIRKST SO ENTSCHLOSSEN. WAS IST DEIN GEHEIMNIS? JF6 HIER, ICH PRÄSENTIERE EUCH MEINE NEUE NARBE: GRANATWERFER. JF1

23. Ratet mal! RATET MAL! WAS DENN? JF2 AUF EINMAL HABE ICH DIREKT VOR EINEM BEREITSSCHAFTSPOLIZISTEN GESTANDEN. JF7 IST JA WIDERLICH. WAR ER MASKIERT? JF2 TOTAL MASKIERT. SO EIN ROBOCOP-DARTH VADER-KZ-AUFSEHER-STYLE. JF3 HAT ER DICH GESCHLAGEN? JF2 NEIN. ER HAT MICH MIT PFEFFERSPRAY ANGESPRÜHT. JF5 ALSO ICH FIND’S JA TOTAL WIDERLICH, WENN EIN POLIZIST DAS OHNE VORWARNUNG TUT. JF4 WAR ER BRUTAL? JF2 ER WAR TOTAL BRUTAL, ABER VOR DEN KAMERAS HAT ER FREUNDLICH GETAN. EIN TEIL GEWALT, EIN TEIL FREUNDLICHKEIT, EIN TEIL ALBTRAUM: DER COCKTAIL FÜR DEN PERFEKTEN TRAUMATISIERENDEN POLIZEILICHEN ZUGRIFF. JF6 DAS IST ECHT TOTAL WIDERLICH. JF2

Alle

136

JF6


WISST IHR WAS? Alle WAS? JF2 ICH GLAUBE, ICH BIN FÜRS LEBEN GEZEICHNET. JF1 GRAUENHAFT. JF2 WENN ICH DIE AUGEN ZUMACHE, SEHE ICH IMMER NUR IHN. WIE ER MICH ANSIEHT. ALS OB ICH MICH DURCH SEINE AUGEN SEHE. ICH BIN ER UND SEHE MICH AN. ICH SEHE MICH AN, BIS ICH SEHE, WIE ICH MICH GANZ KLEIN IN MEINEN AUGEN SPIEGELE. JF7 DAS IST DOCH TOTALITARISMUS. JF2 WENN ICH AN POLIZEIGEWALT DENKE, DANN IST ES, ALS OB ICH GAR NICHT MEHR DA WÄRE. ICH TAUCHE IN MICH SELBST EIN, SEHR TIEF, ICH FALLE, OHNE DEN BODEN ZU BERÜHREN, UNENDLICH, BIS ICH VERGESSE, WARUM MAN MIR DEN KOPF RASIERT HAT, UND DANN, DANN FÜHLE ICH MICH VERLOREN, ICH FÜHLE MICH ALLEIN, ICH FÜHLE MICH ISOLIERT. JF3 SO IST DAS, WENN MAN AUSEINANDERGENOMMEN WIRD. JF5 POLIZEIGEWALT IST, WENN DU AN NICHTS ANDERES MEHR DENKST. JF4 MIR DOCH EGAL, WENN SIE MICH SCHLAGEN. WAS ICH WILL, IST DIE UNGERECHTIGKEIT ANKLAGEN! JF7 DEMONSTRIEREN BOOSTET DICH MIT ENERGIE. JF3 INS GEFÄNGNIS GESTECKT WERDEN, DAS IST EINE DIREKTE BEGEGNUNG MIT DER REALITÄT. JF2

137

24. Verhört werden UND VERHÖRT WERDEN HILFT BEIM ABNEHMEN. WANN? JF4 HA! Alle ERZÄHL! JF4 ER HAT GEFRAGT: »HANDELST DU ALLEIN ODER MIT ANDEREN? « ICH HAB GESAGT: »WIR SIND VIELE. « ER HAT GEFRAGT: »WILLST DU DEN REST DEINES LEBENS HIER DRIN BLEIBEN? « ICH HAB GESAGT: »DAS WIRD DIE GESCHICHTE ZEIGEN. « ER HAT GESAGT: »EINER VON DEINEN FREUNDEN HAT DICH ANGESCHISSEN. « ICH HAB GESAGT: »WENN HIER EINER ANGESCHISSEN IST, DANN DU. « ER HAT MEINEN HALS GEPACKT UND ZUGEDRÜCKT. JF3 ICH HOFFE, DU HAST FOTOS VON DEN WÜRGEMALEN GEMACHT. DIE WÄREN NÜTZLICH FÜR EINEN EVENTUELLEN PROZESS. JF4 ICH HAB KEINE FOTOS GEMACHT. JF3 WAS? JF4 ER HATTE MEIN TELEFON BESCHLAGNAHMT. JF4

Alle


JF1

WER GARANTIERT UNS, DASS DU DAS ALLES NICHT ERFUNDEN

HAST? JF4 sagt nichts.

25. Auf welcher Seite stehst du? TEST! AUF WELCHER SEITE STEHST DU WIRKLICH? BIST DU EIN V-MANN UND VERSUCHST, DIE BEWEGUNG ZU RADIKALISIEREN? WENN DU AUSGEHST, WAS MÖCHTEST DU DANN AM LIEBSTEN, A) DIE MÖGLICHKEIT, NEUE BEKANNTSCHAFTEN ZU MACHEN, B) INS KINO, INS THEATER, IN EIN KONZERT GEHEN, C) MIT DEINEN FREUNDINNEN PARTY MACHEN, D) DEMOS GEGEN POLIZEIGEWALT. JF4 D) DEMOS GEGEN POLIZEIGEWALT. JF3 WENN DU AN DIE ZUKUNFT DENKST, WAS SIEHST DU VOR DIR? A) ENDLICH DIE FRÜCHTE MEINER ARBEIT ERNTEN, B) EINE GELEGENHEIT, ALLES MÖGLICHE AUSZUPROBIEREN, C) EINE WELT OHNE UNGLEICHHEITEN, D) EIN FILM-SET, AN DEM JEDER SEINEN TEXT ÜBT. JF4 C) EINE WELT OHNE UNGLEICHHEITEN. JF5 JUGEND BEDEUTET VOR ALLEM … A) VERÄNDERUNG, B) UNREIFE, C) SORGLOSIGKEIT, D) ENERGIE. JF4 A) VERÄNDERUNG. JF2 DU GEHST MIT DEINEN FREUNDINNEN AUS, UND EINE BESCHREIBT SEHR EXPLIZIT IHRE LETZTE VERHAFTUNG. DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. Schweigen

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF6

Schweigen

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF4 (im Todeskampf) EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! EINIGERMASSEN NAIV! JF1

JF4 stirbt und zersetzt sich.

Also wirklich, du kotzt mich an mit deiner Revolution 2.0 und deinem ganzen Gutmenschen-Gerede! Da sitzt du gemütlich auf einer Terrasse und twitterst Marx-Zitate, während andere im Büro Blut und Wasser schwitzen, um ihre Rechnungen zu bezahlen! Wenn du genug Geld hast, um dir [beliebter Sommerdrink] leisten zu können, hast du auch genug, um in deine Zukunft zu investieren! Ich komme aus einer sehr armen Familie, da war nichts mit Sangria trinken. Du denkst, du kämpfst gegen Ungleich-

138

JF1


heit, dabei schaffst du sie selbst! Du findest die Polizei gewalttätig, dabei wendest du selbst Gewalt an! Mitten während der Rushhour eine Brücke blockieren, während die Kleinkinder auf der Rückbank plärren, eins hat die Windel voll, das andere hat Zahnweh, das ist gewalttätig! Schon mal zugehört, wenn die Zwillinge um die Wette schreien, eine geschlagene Stunde lang? Warum frage ich das überhaupt? Du hast ja keine Kinder! Du hast nur dich und deinen Bauchnabel und kannst dich den ganzen beschissenen Tag lang auf dich selber konzentrieren, also packst du jetzt deine blödsinnige Halloween-Maske und deine muffigen Slogans ein, und dann such dir gefälligst einen Job in [Ort, der für die Öl-Verarbeitung bekannt ist], damit ich beschissenen Kraftstoff für meine Karre habe! JF4 kommt wieder zu sich.

26. Warum alles ablehnen? Warum alles auf einmal ablehnen? Wäre es nicht viel wichtiger, die Sachen genauer anzusehen, herauszufinden, was funktioniert und was nicht? Klar, das ist anstrengend. Da heißt es die Ärmel hochkrempeln, sich der Wirklichkeit stellen und schwierige Entscheidungen treffen. Manchmal habe ich den Verdacht, wir wollen Tabula rasa machen, weil es ganz einfach besser fürs Ego ist, mit allem wieder bei Null anzufangen und mir die Welt so zu machen, wie sie mir gefällt, statt die von den Eltern und Großeltern begonnene Arbeit weiterzuführen. Vor allem ist es einfacher, alles mit einer Handbewegung wegzuwischen, als dass du aus der Vergangenheit lernst und nicht dieselben Irrtümer wiederholst. JF4

139

Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, dann werden sie wiedergeboren.

Habt ihr gewusst, dass das älteste schriftliche Zeugnis kein Gedicht oder ein Heldenepos ist, sondern eine Rechnung? Wenn man richtig drüber nachdenkt, ist Geld eine der ersten großen Fiktionen, die jemals erfunden wurden. Je stärker die Leute kollektiv daran geglaubt haben, desto mehr hat das Geld Grenzen überwunden und den Austausch mit Kulturen ermöglicht, mit denen vorher keine Geschäfte gemacht wurden. Dann wird einem klar, dass die Menschheit sich schon immer zu einem globalen Dorf entwickelt hat. Globalisierung gibt es ja nicht erst seit gestern. Zugegeben, manchmal hatte sie schlimme Folgen. Wenn wir uns die letzten zwanzig oder dreißig Jahre anschauen, ist das allgemeine Glücksniveau vielleicht runtergegangen. Aber wenn wir die Entwicklung des Menschen über die Jahrtausende hinweg betrachten, dann ist das Wohlbefinden der einzelnen immer nur größer geworden. Wir halten uns viel damit auf, wie die Welt früher gewesen sein mag. Aber will hier wirklich jemand zurück zur Lebenserwartung eines Bauern im Mittelalter oder den Arbeitsbedingungen am Anfang der industriellen Revolution? JF6


Ich kann arbeiten, wo ich will und wann ich will. Ich kann in meinem Atelier bleiben oder in einem Café arbeiten. Ich kann meine Meetings im Büro ansetzen oder meine Kunden in einem Park treffen. Ich kann mir für den Nachmittag frei nehmen oder die ganze Nacht durcharbeiten. Ich bin nicht von 9 bis 5 in einer Zelle in einem Großraumbüro eingesperrt. Ich kann frei über meine Zeit verfügen, wie es mir gefällt. Ich brauche keine Gewerkschaft, um meine Rechte zu verteidigen, meine Arbeitsbedingungen usw. Ich bin mein eigener Chef. Also macht es mir nichts aus, meine ganze Zeit für meinen Job einzusetzen, schließlich investiere ich in mich selbst. Ich gehe zu meinem Partner, um über Urlaub zu reden, er sagt: »Was fragst du mich um Erlaubnis? Der Laden gehört dir. Wenn du als Miteigentümer meinst, du hast Zeit für Urlaub, dann nimm Urlaub.« Also, können wir behaupten, dass wir weit weg von Orwells 1984 sind? JF5 Für die meisten Leute ist drei Uhr morgens mitten in der Nacht, für mich ist es der Beginn meines Tages. Um 3 Uhr 15 bin ich draußen, und die Stadt gehört mir. Um 4 Uhr stehe ich nach zehn Kilometern Joggen unter der Dusche. Um 5 Uhr habe ich sämtliche E-Mails beantwortet und dazu ein Schüsselchen Obst gegessen. Um 5 Uhr 30 hatte ich äußerst befriedigenden Geschlechtsverkehr mit meinem derzeitigen Partner, einem totalen Frühaufsteher wie mir. Um 6 Uhr habe ich alle Staus vermieden und sitze in meinem Büro, konzentriert, entspannt. Um 6 Uhr 30 schaue ich mir den Sonnenaufgang an. Um 8 Uhr bin ich mit der Durchsicht meiner Akten fertig und habe meine Besprechungen visualisiert, mir ist klar, ein Drittel meines Arbeitstages habe ich schon hinter mir. Um 8 Uhr 30 habe ich mit meinen Kollegen Scherze gemacht und mich über das Privatleben meiner Angestellten informiert. Um 9 Uhr 22 habe ich zu wohlüberlegten Worten jeder Person in die Augen gesehen. Um 11 Uhr 30 habe ich mich massieren lassen, nicht, weil ich gestresst bin, sondern weil ich Zeit dafür habe. Um 12 Uhr 30 komme ich aus einem ziemlich anregenden und ergiebigen Geschäftsessen und habe den restlichen Nachmittag für mich. Manchmal treibe ich Sport, manchmal besuche ich eine Ausstellung, manchmal fahre ich aus der Stadt raus oder besuche dann und wann einen Freund an seinem Arbeitsplatz, einen völlig überlasteten Freund, der durch meine schiere Anwesenheit begreift, dass man, wenn man mehr Zeit braucht, sie sich einfach nehmen muss. Dank einer ausgeglichenen Diät und genügend körperlicher Betätigung ist der Schlaf sehr viel weniger zeitraubend. Natürlich stößt dieser Lebensstil auch auf Widerstand, vor allem bei Faulpelzen, die jede Nacht acht Stunden schlafen, dabei bin ich nicht besser als irgend wer sonst, ich stehe nur einfach früher auf. / Als ich klein war …

140

JF1


27. Als ich klein war Als ich klein war, habe ich kleine Sachen aus Tannenzapfen gebastelt und sie an der Straßenecke für einen oder zwei Dollar verkauft. Das war mein kleines Unternehmen! Dreißig Jahre später steckte ich auf einmal in einer Situation fest, in der ich viel Zeit in der virtuellen Welt verbrachte und sehr wenig Zeit in der wirklichen Welt. Mein Liebster hat gesehen, wie unglücklich ich war, mein Liebster hat gesagt: »Ich will, dass unsere Zwillinge eine glückliche Mutter haben.« Also hab ich meinen Job als Videospielentwicklerin aufgegeben und angefangen, Küchengeräte zu designen, Schneidebretter, Salatsschüsseln, Holzlöffel, alles handgemacht. Ich hatte das Bedürfnis, Material zu berühren, meine Umgebung wiederzuerobern, etwas ganz allein zu erschaffen. Ich hatte noch nie einen Bohrer oder einen Hobel in der Hand gehabt, ganz zu schweigen von einer Bandsäge! Anfangs kam ich mir vor wie eine Hochstaplerin, meine Prototypen gingen kaputt, am liebsten hätte ich es aufgegeben. Aber eines Tages sagte ein Freund zu mir: »Was du da machst, ist nützlich. Es wird ganz konkret jemandem dienen.« Ich mache alles selbst. Ich habe meine eigene Website aufgebaut. Neben dem Webshop vertreibe ich meine Sachen auf Etsy. Mittlerweile kriege ich Anfragen aus Australien, Europa und Asien, aber ich will gar nicht die Welt erobern. Ich will nur einfach mit der Arbeit meiner eigenen Hände meinen Lebensunterhalt verdienen. / Früher habe ich immer nur … JF7 Früher habe ich immer nur alles kritisiert, gegen alles aufbegehrt. War gegen alles, und das machte mich für die Welt um mich herum blind … Wahrscheinlich, weil diese Welt kein schöner Anblick war! Aber tat ich konkret etwas, um sie schöner zu machen? Klarer Fall von denkste! Ich dachte: »Wenn ich die Welt nicht verändern kann, dann wenigstens mein Stadtviertel.« Ich setzte eine Anzeige in die Lokalzeitung, machte einen Anschlag an den Telefonmasten. Bei der ersten Versammlung rechnete ich mit ungefähr drei Leuten. Wir waren fünfzig! Ich hatte nicht mal eine Tagesordnung vorbereitet. Alle schauten mich an: »Was machen wir als erstes?« Ich sagte: »Wir kaufen Samen!« Dann haben wir an allen möglichen Orten im Viertel Gemüse, Radieschen, Karotten gesät. Drei Monate später hat sich der Bürgermeister neben einer fast zwei Meter hohen Tomatenstaude fotografieren lassen! Das schönste am Ganzen war, dass wir niemals irgendwen um Erlaubnis gefragt haben. Heute arbeiten in unseren Gärten frühere Obdachlose, außerdem kommt der Ertrag dem Viertel zugute. Überall in der Stadt ist man unserem Beispiel gefolgt. Heute gibt es auf der Welt Tausende solche städtischen Pflanzungen, die nicht nur zur Ernährung ihrer Umgebung beitragen, sondern bei deutlich höheren Erträgen der Umwelt viel weniger schaden als die industrielle Landwirtschaft. / Früher … JF2

141


Früher hatte ich ein großes Haus, einen Jeep, einen Hund, aber irgendwann verspürte ich eine existenzielle Lehre und einen tiefen Abscheu gegen den Überfluss der Konsumgesellschaft. Ich beschloss, alles zu verkaufen und in ein halb so großes Haus zu ziehen. Ich ermittelte die wirklichen Bedürfnisse von mir und meiner Familie, um nur noch das Wesentliche zu behalten. Wir kauften unsere Nahrungsmittel jetzt lose, immer mit denselben Glasbehältern. Statt Klopapier benutzten wir waschbare Stofftücher. Das einzige Produkt, das wir im Handel kaufen, ist Sonnencreme. Ansonsten mixt sich meine Liebste ihre Körperpflegeprodukte selbst aus natürlichen Zutaten, zum Beispiel Kakaopulver für die Wangen und Bienenwachs mit getrockneten Himbeeren für die Lippen. Unsere Kleidung haben wir auf das strikte Minimum begrenzt und die Hälfte unserer Möbel kommt vom Sperrmüll. Unsere Devise ist »Verweigern, reduzieren, wiederverwerten, recyceln, kompostieren.« Die Leute denken, so leben wir teurer, dabei trifft das Gegenteil zu. Klar, anfangs verlangt das eine große Umstellung. Danach wird einem klar, wie viel Zeit man mit Konsum verschwendet. Je weniger du kaufst, desto mehr Zeit hast du, desto mehr kannst du dich den Dingen widmen, zu denen du / wirklich Lust hast.

28. Was macht dich am glücklichsten? Was macht dich am glücklichsten? Ich habe endlich in allen Lebensbereichen ein Gleichgewicht gefunden. Ich habe alles Materielle abgelegt, um für das Platz zu schaffen, was wirklich zählt, wie meine Liebste, die Zwillinge, / meine Freunde. JF6 Dein Buch »Zero Waste« hat sich mehr als fünfhunderttausendmal verkauft. Wie erklärst du dir diesen Erfolg? JF3 Die Leute suchen Alternativen zum / Konsumwahn. JF5 Könntest du uns eine Frau nennen, die dich inspiriert? JF3 Meine / Liebste. JF4 A propos deine Liebste, wenn du die für einen Abend eintauschen müsstest, gegen wen? JF3 Naomi Klein. (Lachen) Und wenn sie nicht verfügbar ist, [Name JF1 JF3

einer im Land der Produktion bekannten Umweltschützerin.]

Hast du einen Lieblingsladen? Den Unverpackt-Laden / an der Ecke. JF2 Was isst du besonders gern? JF3 Alles aus lokaler / Produktion. JF1 Welcher Song läuft bei dir die ganze Zeit im Auto? JF3 Ich hab kein / Auto. JF4 Du bist [Alter des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF3] Jahre alt. Bist du da, wo du in diesem Alter sein wolltest? JF7 JF3

142

JF3


Ich bin wirklich voll zufrieden, denn jetzt, mit [sein oder ihr Alter] Jahren bin ich genau auf dem Weg, den ich mir / gewünscht habe. JF7 Haben die Erfahrungen all dieser Jahre dich etwas wirklich Wichtiges gelehrt? JF3 Meine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren und ich selber / zu bleiben. JF5 Bald wird für das Fernsehen eine Reality-Show über deinen Lebensstil produziert. Angeblich spielst du dich da selbst. Wahr oder falsch? JF3 Ich bin nur einfach ein Familienvater, der von einer besseren Welt / für seine Kinder träumt. JF1 Bald wird für das Fernsehen eine Reality-Show über deinen Lebensstil produziert. Angeblich spielst du dich da selbst. Wahr oder falsch? JF3 Ich versuche, nicht an morgen zu denken und die Gegenwart ganz und gar / auszuschöpfen. JF6 Bald wird für das Fernsehen eine Reality-Show über deinen Lebensstil produziert. Angeblich spielst du dich da selbst. Wahr oder falsch? JF3 Mir ist es vor allem wichtig, dass mein Handeln ein Beitrag für ein besseres Miteinander ist. JF2 Wahr oder falsch? JF3

143

Schweigen JF1 JF3

Wahr oder falsch? (mit letzter Kraft) Wahr! Wahr! Wahr! Aber natürlich ist das

wahr! Wahr! Wahr! Wahr! Wahr! Wahr! Wahr, okay? Wahr! JF3 stirbt und zersetzt sich.

Aber in der Serie geht es nicht nur um mich, sie wird das Porträt einer ganzen Gemeinschaft: die Inhaberin des Unverpackt-Ladens, der Hof, wo ich mein Bio-Gemüse kaufe, die Männer vom Recyclinghof, die Glasbläser, die meine Gläser herstellen! Es geht um ein ganzes Ensemble von lokalen Unternehmen und Handwerkern, die ihre Produkte vorstellen, ja, aber auch ihre Weltsicht, das ist schon was Besonderes! Der Sender hat sich dazu verpflichtet, dass es während der Folgen keinerlei Werbung für Benzinfahrzeuge gibt, höchstens für E-Autos. Alle sonstige Werbung darf nur von Unternehmen geschaltet werden, die der ISO -Norm 14001 entsprechen. Die Merchandising-Produkte werden selbstverständlich aus Recyclingmaterial hergestellt und von geistig Behinderten zusammengebaut, die übrigens die Hauptfiguren der zweiten Staffel sein werden! Sämtliches Drehmaterial wird per Fahrrad transportiert, das Catering auf dem Set stammt aus den Abfallbehältern des Marktes, und außerdem liegt die Regie in Händen von fucking [im Land der Produktion bekannter politisch engagierter Regisseur] höchstpersönlich, also können wir


vielleicht mal den Verdacht vergessen, ich hätte meine Seele dem Teufel verkauft? Oder ich würde bis über beide Ohren in Widersprüchen stecken? Oder zu denken, wie ironisch es doch ist, dass ich jetzt selber Teil des Systems geworden bin? Ich stehe schließlich nicht an der Spitze eines Medien- und Finanzkonzerns, der die Umweltbewegung schamlos ausbeutet, verdammte Scheiße! Ich bin nur einfach ein Typ, der versucht, seine Brötchen zu verdienen und seine Kinder großzuziehen! JF3 wird wiedergeboren.

29. Das Problem mit den Alternativen Das Problem mit den Alternativen, die ich vorschlage, ist ja, dass sie von dem Prinzip ausgehen, der Kapitalismus wäre nicht zu überwinden, nur zu erneuern, das Problem besteht in diesem Hippie-Glauben, notwendige Veränderungen könnten von den kleinen Leuten kommen und sich dann wie durch Ansteckung über die gesamte Gesellschaft verbreiten. Aber wenn man diese Denkweise ins Extrem treibt, stellt sie sich zwangsläufig gegen sehr mächtige Interessen. Wenn alle Welt im Hinterhof Gemüse ziehen würde, glaubt ihr, Monsanto sagt dann einfach nur: »Okay, dann lassen wir das mit den genmanipulierten Produkten?« Wenn wir unsere Wohnungen nur noch mit Möbeln vom Sperrmüll einrichten würden, denkt ihr, Ikea macht dann einfach seine Filialen zu? Wenn wir morgen früh ein paar Journalistenkollektive auf die Beine stellen, damit Fernsehen und Presse nicht mehr nur als Bühne für zwei oder drei Milliardäre dienen, glaubt ihr im Ernst, [im Land der Produktion wohlbekannte Medienmogule] schauen sich das einfach nur so an? Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, werden dann wiedergeboren.

Ich habe mein Haus verkauft. Ich habe mein Bankkonto aufgelöst. Ich besitze keine Aktien mehr, mache keinen Profit, habe keine Schulden mehr. Ich existiere für keinerlei Finanzorgane mehr. Ich habe meine Stelle gekündigt. Ich beziehe kein Gehalt mehr. Ich habe berechnet, wie viel Geld ich zum Leben brauche, und den Rest / habe ich gespendet. JF2 Wie willst du aus den ökonomischen Regelkreisen rauskommen, wenn du noch Geld benutzt? JF6 Ich benutze keine Geldscheine mehr und auch kein Münzgeld. Ich betreibe Tauschhandel – für alles. Ich tausche Essen gegen Dienstleistungen. Zum Beispiel koche ich für die Lehrer der Zwillinge, um ihren Unterricht / zu bezahlen. JF1 Seinen Kindern Bildung zu verschaffen, bedeutet, sie zu Privilegierten zu machen. JF7 Und Kinder haben heißt, Ungleichheiten fortzuführen. JF6 Ich habe keine Kinder mehr. Die Zwillinge werden jetzt von – der JF6

144

JF3


Gemeinschaft erzogen. Jedes Mitglied lebt ganz und gar autonom. Jeder sät selbst den Weizen, den er ernten wird, knetet das Brot, dass er backen wird, fängt die Fische und jagt das Fleisch, / die er essen wird. JF5 [Name der Schauspielerin oder des Schauspielers von JF6], wann begreifst du endlich, dass der Mensch kein Fleischfresser ist? JF6 Ich esse, was tot ist. Ich sammele Obst ein, das vom / Baum gefallen ist. JF4 Obst, Obst! Das ist immer noch Konsum! JF6 Ich trinke ausschließlich Wasser – ein Glas pro Tag. Oder die entsprechende Menge – die ich / mit meinen Händen schöpfe. JF5 Wenn alle das tun würden, gäbe es keine Flüsse mehr! JF6 Ich trinke meinen Urin und esse / meine Exkremente! JF3 Und was machst du mit deinen Darmwinden? JF6 Das einzige, was in meinen Körper kommt, / ist Luft! JF2 Wer Atmung sagt, sagt Verschmutzung! JF6 (im Todeskampf) Warum? Warum? Warum? Warum? Warum nur? Warum? Warum? Warum? Warum? Warum? Warum denn bloß? Warum? JF6 stirbt und zersetzt sich.

145

Warum soll ausgerechnet ich sparen? Warum soll ausgerechnet ich aufpassen? Die Konzerne benutzen den Planeten als Open-Air-Deponie, und ausgerechnet ich soll wiederverwerten? Die Banken haben noch nie soviel Profit gemacht wie jetzt, und ausgerechnet ich soll den Gürtel enger schnallen? Milliarden von Dollars schlafen in Tresoren, Milliarden von Dollars, die die Mächtigen als Steuern hätten entrichten müssen, und ausgerechnet ich soll die Rechnung bezahlen? Wenn der Boss von Amazon nur einen Bruchteil seines persönlichen Vermögens hergeben würde, gäbe es keinen Hunger mehr in der Welt! Denkt ihr, der Boss von Amazon fühlt sich schuldig, weil die Armen verhungern? Doch keine beschissene Minute lang! Immer noch haben wir mit den Folgen eine der größten Krise in unserer Geschichte zu kämpfen, einer von Einzelnen geplanten und organisierten Krise, und was machen wir? Wir zahlen ihnen fette Bonusse! Diese Krise hat mehrere Länder ruiniert, ganze Völkerscharen sind auf der Straße gelandet, und wem haben wir geholfen? Den Banken! Unsere Gesellschaft produziert eine pharaonische Ungleichheit, die gesamte Macht konzentriert sich bei einer Handvoll von Leuten, und was machen wir unterdessen? Wir geben ihnen bei den Wahlen unsere Stimmen! Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr als der gesamte Rest des Planeten, und wie reagieren wir? Wir spielen sie beim [im Land der Produktion beliebter humoristischer Jahresrückblick]! Seh nur ich das, oder läuft in unseren Köpfen irgendwas falsch? Seh nur ich das, oder haben wir alle einen Hang zu Sklaverei und Unterwerfung? Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, werden dann wiedergeboren.


30. Gebt mir bloß keine Knarre Gebt mir bloß keine Knarre. Gebt mir keine Knarre, ich habe Angst, ich ballere sonst auf alle los, die andere belästigen, ohne jemals belästigt zu werden, die immer nur nehmen, ohne jemals was zu geben, die mit ihren Stiefeln ins Haus reinkommen und den Boden verdrecken, die alles kaputtmachen und uns alles aufsammeln lassen, die uns bestehlen und sich amüsieren, an jedem Arm eine blonde Tussi mit dicken Titten ! Auf all die Fettsäcke, die Profiteure, die Anführer, die Retter, die Gewerkschaftsbosse, die Generaldirektoren, die Länderchefs, alle, die vorn herum schöne Reden schwingen und sich hintenrum die Hände waschen, die sich in den Logen vollstopfen und uns unten im Parkett verhungern lassen! Gebt mir keine Knarre, sonst ballere ich einfach drauflos und kann nie wieder aufhören! Warren Buffet, Mark Zuckerberg, [im Land der Produktion bekannter Milliardär]! Emmanuel Macron, [Regierungschef des Produktionslandes], Donald Trump! Larry Page, Wladimir Putin, Kim Jong-un! JF7 Donald Trump? [Regierungschef des Produktionslandes]? Im Ernst? Wofür sollen die verantwortlich sein? Was für eine Macht sollen die haben, außer der lächerlichen Macht, sich Präsident der Vereinigten Staaten oder Regierungschef zu nennen? Ich bin Vorsitzende meines Lesekreises, da pfeifen doch alle drauf. Wozu soll der Tod von [im Produktionsland bekannter Großindustrieller] gut sein, außer dafür, dass seine Erben schneller reich werden als gedacht? Wenn wir unten im Parkett wenigstens noch verhungern würden, wie sie sagen. Aber nein, wir kriegen gerade so viel zugeteilt, dass wir uns nicht beklagen. Oder vielleicht noch ein bisschen extra, damit wir uns in der Illusion wiegen, wir könnten etwas an den Dingen verändern. Und in so einer Situation will die Linke uns glauben machen, eine andere Welt wäre möglich! Ich könnte mich totlachen über die Naivität der Linken, vor allem, wenn man sieht, wer das ist! Links ist nur noch, wer es sich leisten kann, links zu sein. Reiche Säcke, die nicht wissen, was Armut bedeutet, aber unablässig im Namen der Armen sprechen! Aber geben sie den Armen das Wort? Im Leben nicht! Nein wirklich, über die Linke kann ich nur lachen, aber über dich überhaupt nicht. Mit deinen Mordfantasien lässt du mich an der menschlichen Gattung verzweifeln, da verliere ich meinen letzten Optimismus. JF4 Ich bin ganz einverstanden, wir sollten uns nicht gegen die Herrschenden wenden, sonst machen wir sie nur zu Märtyrern. Dann rücken andere an ihre Stelle. Und sogar, wenn es uns gelingen sollte, die zweite Generation zu eliminieren, kommt die dritte an die Macht, dann eine vierte, eine fünfte. Denn in Wirklichkeit sind wir alle machtgeil. Das Problem ist diese Gier, und diese Gier wird von denen genährt, die darauf hoffen, eines Tages an der Spitze der Pyramide zu sitzen. Wir sollten uns nicht gegen die Herrschenden und die Konzernchefs wenden, die sind viel zu

146

JF2


147

mächtig. Wir sollten die Gier an der Wurzel packen, bei den Konsumenten. JF3 Der Kapitalismus ist unsichtbar. Man muss ihn auf unsichtbare Weise attackieren, indem man das Monster von innen her angreift. Aber das Monster von innen her anzugreifen, bedeutet nicht, ein System zu unterwandern, um es vielleicht zu verändern, so wie Leute, die in die Politik gehen und denken, sie könnten etwas anders machen, oder wie man an die Spitze einer Institution tritt, um sie zu transformieren, nein. Das Monster von innen her angreifen, bedeutet, es auf kleinem Feuer umzubringen, ohne jemals sichtbar zu werden, wie ein nicht nachweisbarer Krebs oder eine Krankheit, gegen die es noch kein Mittel gibt. Das Monster von innen her angreifen, bedeutet, es an mehreren Fronten zu attackieren, damit es durchdreht und sich am Ende selbst zerstört. JF1 Ich habe Angst! Ich höre euch reden und kriege Angst! Je mehr ich versuche zu verstehen, worauf ihr hinaus wollt, desto weniger habe ich Lust zu verstehen und desto mehr Angst kriege ich! Ich will mich beruhigen, ich möchte denken, dass ich am Ende verstehen würde, so schlimm kann es nicht sein, aber das schaffe ich nicht! Und am meisten Angst kriege ich, wenn mir klar wird, wie lange ich schon Angst habe! Dabei war ich früher niemand, der Angst hatte. Ja, gut, kleine Ängste, wie allein nachts auf der Straße zu sein, aber diese Ängste verfolgten mich nicht rund um die Uhr! Aber jetzt habe ich unablässig Angst! Ich habe derartig Angst, dass ich nicht mehr weiß wovor! Diese Angst lässt mich erstarren, sie hindert mich am Denken, am Atmen! Ich sage mir: »Du lieber Himmel, beruhige dich doch!« JF2 Ja, beruhige dich. JF1 »Du hast keinen Grund, Angst zu haben!« JF3 Doch, es gibt schon Gründe dafür, sogar viele Gründe, nur dass wir nicht hier sind, um unsere Ängste zu teilen. JF1 Warum sind wir dann hier? Wovon reden wir eigentlich seit vorhin? Wenn nicht über unsere Ängste, / dann verstehe ich nicht ganz, warum wir hier sind. JF7 Ganz sicher bist du hier nicht in einer Gruppe, in der es um Austausch / und miteinander Teilen geht. JF1 Früher war ich sehr viel leichter, sorgloser. Ich war gut drauf, ich machte Witze. Jetzt mache ich keine mehr. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Witz gemacht habe. Bittet mich nicht, einen Witz zu erzählen, ich könnte es nicht. Egal was für einen… JF6 Kein Mensch bittet dich, einen Witz zu erzählen. JF1 (bricht in Tränen aus) Früher war ich ein fröhlicher Mensch, der sehr gut Witze erzählen konnte! JF5 Ich habe geträumt, ich würde wieder zu meiner Mutter ziehen. Ihr Haus war völlig verfallen. In der Haustür war ein großes Loch. Ich sagte: »Wir sollten eine neue Tür einsetzen.« Meine Mutter schaute mich an, sie


sagte: »Komm, hilf mir, sie zu reparieren.« Wir füllten das Loch mit alten Lumpen auf und klebten mit einem Rest Gaffer-Tape Karton davor. Ich ging ins Obergeschoss. In der Treppe fehlten Stufen. In mein Kinderzimmer schneite es hinein. Die Tapeten waren abgerissen, der Boden war voller Exkremente. Meine Mutter sagte: »Die Zwillinge können in der Küche schlafen, das ist der einzige beheizte Raum«, und ich musste weinen. Ich sagte: »Mama, was passiert mit uns?« Sie sagte: »Wir sind am Ende des Wachstums angelangt, die Wirtschaft ist zusammengebrochen, hast du das nicht gewusst? (zu JF1) Das ist nicht bloß ein Traum. Gute Witze, die Zukunft, Reichtum, das ist alles vorbei.«

31. Habt ihr das gehört? JF4 JF3 JF2 JF6 JF3

Habt ihr das gehört? Was? Ich hab was gehört. Ich auch. Von da hinten – klang wie Böller.

JF7 JF5 JF2

Das? Das war eine Explosion! Hört mal – die Feuerwehr. Vielleicht brennt es?

Maschinengewehre JF3 JF4 JF1 JF6 JF2 JF1 JF3 JF2 JF1 JF5 JF1 JF3 JF7

Das waren eindeutig Schüsse! Als ob ein Krieg ausgebrochen wäre. Was für ein Krieg? - JF3 Kann schon sein, dass das ein Krieg ist. Es klingt jedenfalls wie ein Krieg. Aber was für ein Krieg? Irgendwann musste es ja knallen. Sollen wir nachsehen? Was sehen, Leute, die aufeinander schießen? Was verlieren wir schon, wenn wir nachsehen? Ich weiß nicht, vielleicht das Leben? Wenn wir hierbleiben, erfahren wir nie, was es ist. Wo endlich mal was passiert!

Die JUNGEN FRAUEN gehen raus, außer JF2 und JF1. JF2 JF1 JF2 JF1 JF2

Kommst du? Wohin? Raus! Warum? Willst du nicht sehen, ob es ein Krieg ist?

148

Explosionen außerhalb des Theaters


JF1 JF2

Nein, so was will ich nicht sehen! Ich auch nicht. (geht hinaus) Die Straßen sind voller Leichen! Über-

all!

JF1 zögert, geht hinaus.

32. Wie geht’s? Die JUNGEN FRAUEN werden geboren, indem sie gehen.

33. Was gibt’s Neues? JF7

UND SONST SO, WAS GIBT’S NEUES? Die JUNGE FRAU zeigt.

JF3

FÄLLT DIR NICHTS AUF?

WAS? Es fällt ihr auf. JF6

OH WOW! WIR LIEBEN DAS!

Es ist dieselbe Waffe, die sie alle tragen.

DAS IST DER NEUESTE TREND: AUSPROBIEREN UND ÜBERNEHMEN. ICH WILL DIE AUCH. WO HAST DU DIE HER? JF3 DIREKTIMPORT AUS [Stadt oder Waffenfabrik im Produktionsland.] MADE IN [Produktionsland] JF4 DIE STEHT DIR SUPER GUT. JF3 DAS WAR LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK. JF2 DIE IST TOTAL DEIN STYLE. JF3 DEN SCHRAPNELL-EFFEKT VON DIESER KLEINEN [Name der Waffe], DEN HAB ICH SCHON IMMER GEMOCHT. JF1 DIE LEUTE REISSEN SICH SCHON DARUM. JF3 UND BEI DIR, WAS GIBT’S NEUES? JF6 HAST DU ES NICHT GESEHEN? Sie zeigt das Video einer Exekution. DASS DIESE EXEKUTION MIT DER MACHETE VORGENOMMEN WURDE, LÄSST DAS VIDEO RICHTIG VIRAL GEHEN. JF5 MAN KRIEGT GLEICH LUST, KÖPFE ROLLEN ZU LASSEN! JF6 UND BEI DIR, WAS GIBT’S NEUES? JF4 HEUTE NACHT HABE ICH DAVON GETRÄUMT, DASS DIE DURCHLÖCHERTEN WÄNDE MEINES ZIMMERS UNTER BOMBEN ZITTERN. IN DER LUFT HING DER SCHWARZE QUALM DER VERBRANNTEN LEICHEN. MEINE BLUTBEFLECKTE MATRATZE WAR WIE EINE UNWIDERSTEHLICHE VERLOCKUNG ZUM KIDNAPPING, ABER DER NEUE TAG, DER AUF MICH WARTETE, BRACHTE MICH DAZU AUFZUSTEHEN. ICH SCHLOSS MEINEM TOTEN BRUDER DIE AUGEN UND SCHULTERTE EIN AK-47, DANN FEUERTE ICH EINE SERIE VON FÜNFZIG SCHÜSSEN IN EINE GRUPPE FLIEHENDER SCHÜLERINNEN UND VERSUCHTE DABEI, MIR JF3 JF5

149


IHR ENTSETZEN VORZUSTELLEN. JF2 DU SCHEINST WIRKLICH BEREIT ZU STERBEN. JF4 STIMMT. ICH BIN WIRKLICH BEREIT ZU STERBEN.

34. Und, was ist mit den Attentaten? UND, WAS IST MIT DEN ATTENTATEN? JEDE MENGE. UND BEI DIR? JF2 MOMENT, ICH SCHAU MAL BEI DER NACHRICHTENAGENTUR AMAQ NACH: [Name von zehn Städten, in denen kürzlich Attentate JF2 JF1

stattgefunden haben, jeder von der Zahl der Todesopfer gefolgt.]

EIN ATTENTAT OHNE TOTE IST KEIN ATTENTAT. DA HAST DU SOWAS VON RECHT! JF6 SIEBEN TRICKS FÜR EIN GELUNGENES ATTENTAT: JF5 DIE GESICHTSZÜGE DES FEINDES BENUTZEN. JF4 WEITE KLEIDUNG ANZIEHEN, UM DEN SPRENGSTOFF ZU VERBERGEN. JF2 AN MEHREREN ÖFFENTLICHEN ORTEN GLEICHZEITIG ZUSCHLAGEN. JF1 MÖGLICHST VIELE ZIVILISTEN TÖTEN. JF7 DAS ATTENTAT FÜR SICH REKLAMIEREN. JF3 BIS ZUM TOD KÄMPFEN. JF6 IM STERBEN RUFEN, GOTT IST DER GRÖSSTE. JF7

35. Was machst du heute? WAS MACHST DU HEUTE? HEUTE BEGEHE ICH EIN ATTENTAT. DEN GANZEN TAG LANG WERDE ICH ATTENTATE BEGEHEN. GESTERN HABE ICH DAVON GETRÄUMT, ATTENTATE ZU BEGEHEN, UND SCHON BEGEHE ICH EIN ATTENTAT. HEUTE VERBREITE ICH UNTER DER ZIVILBEVÖLKERUNG ANGST UND SCHRECKEN, DENN DAS WICHTIGSTE IST NICHT, DASS WIR DEN KRIEG GEWINNEN, SONDERN DASS DIE STAATEN VOR UNS ERZITTERN. JF2 SO SIEHT TERRORISMUS AUS. JF5 JF4

36. Du wirkst so ruhig JF1 JF4

DU WIRKST SO RUHIG! WAS IST DEIN GEHEIMNIS? ICH TUE SO, ALS OB ICH SCHON TOT WÄRE. WENN ICH DIE

150

JF3


151

AUGEN ZUMACHE, SEHE ICH DIE GANZE ZEIT MEINE LEICHE. ICH BIN SIE, DIE MICH ANSCHAUT. ALS KÖNNTE ICH MICH DURCH IHRE AUSGESTOCHENEN AUGEN SEHEN. ICH SEHE MICH LEBEN, BIS ICH SEHE, WIE ICH MICH GANZ KLEIN IN DEN TROCKENEN AUGEN DER LEICHE SPIEGELE. JF3 DAS IST ECHTE KALTBLÜTIGKEIT. JF4 WENN ICH AN MICH DENKE, DANN IST ES, ALS OB ICH NICHT MEHR DA WÄRE. ICH NEHME DEN AUTOBUS, ICH BETRETE DEN SUPERMARKT, ICH SPRENGE MICH IN DIE LUFT, UNENDLICH, IMMER WIEDER, UM ZU VERGESSEN, DASS ICH, BEVOR ICH EIN SELBSTMORDATTENTÄTER WAR, IN EINEM KELLER IN DER VORSTADT VIDEOSPIELE GESPIELT HABE. JF6 SO SIEHT DAS AUS, WENN MAN ALS MÄRTYRER STIRBT. JF5 MÄRTYRER SEIN, HEISST AN NICHTS ANDERES MEHR DENKEN. JF2 ICH SCHEISS DRAUF, OB ICH STERBE. ICH WILL DIE WELT IN SCHUTT UND ASCHE LEGEN! JF1 DICH UM DER SACHE WILLEN IN DIE LUFT ZU SPRENGEN, BOOSTET DICH MIT ENERGIE. JF3 NACH SYRIEN FLIEGEN, HEISST URLAUB IM JENSEITS GEWINNEN. JF7 UND VERHAFTET WERDEN, WEIL MAN VERSUCHT HAT, SICH IM AUSLAND EINER TERRORISTISCHEN VEREINIGUNG ANZUSCHLIESSEN, DAS HILFT BEIM ABNEHMEN. Alle WANN? JF7 HA! JF1 WER GARANTIERT UNS, DASS DU KEINEN BLÖDSINN ERZÄHLST?

37. Wer bist du wirklich? TEST! WER BIST DU WIRKLICH? EINE ECHTE GLÄUBIGE ODER EINE, DIE GERN MIT MASCHINENGEWEHREN RUMMACHT UND IN DER WÜSTE CAMPING SPIELT? JF3 WENN DU AUSGEHST, WAS MÖCHTEST DU DANN AM LIEBSTEN, A) DIE MÖGLICHKEIT, NEUE BEKANNTSCHAFTEN ZU MACHEN, B) INS KINO, INS THEATER, IN EIN KONZERT GEHEN, C) MIT DEINEN FREUNDINNEN PARTY MACHEN, D) ZU HAUSE BLEIBEN UND STUNDENLANG IM INTERNET SURFEN. JF7 D) ZU HAUSE BLEIBEN UND STUNDENLANG IM INTERNET SURFEN. JF6 WENN DU AN DIE ZUKUNFT DENKST, WAS SIEHST DU VOR DIR? A) ENDLICH DIE FRÜCHTE MEINER ARBEIT ERNTEN, B) EINE GELEGENHEIT, ALLES MÖGLICHE AUSZUPROBIEREN, C) EINEN BRENNENDEN WOLKENKRATZER, D) EIN FILM-SET, AN DEM JEDER SEINEN TEXT ÜBT. JF7 C) EINEN BRENNENDEN WOLKENKRATZER. JF1


JUGEND BEDEUTET VOR ALLEM … A) TOD, B) UNREIFE, C) SORGLOSIGKEIT, D) ENERGIE. JF7 A) TOD. JF4 DU GEHST MIT DEINEN FREUNDINNEN AUS, UND EINE BESCHREIBT SEHR EXPLIZIT EIN TERRORISTISCHES ATTENTAT. DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF5

Stille

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF1

Stille

DU FINDEST DAS … A) SOWAS VON EXHIBITIONISTISCH, B) EINIGERMASSEN NAIV, C) ZIEMLICH PEINLICH, D) SEHR ERREGEND. JF7 (im Todeskampf) SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! SEHR ERREGEND! JF1

Das willst du, oder? Dich selber überall auf der Welt in die Luft sprengen wie ein Terrorist? Na los, mach schon, dann kann Donald seine Bomben auf die Familien derer werfen, die an der Grenze jammernd ihre Lumpen in die Kameras der Abendnachrichten halten. Dann kann er sagen, die Migranten sind alle Diebe! Die Ausländer sind alle Vergewaltiger! Die Terroristen sind alle Araber! Aber dann komm nicht an, du Mikrofonwichser, und erzähl mir, die wären hier geboren und wären gar keine Einwanderer, denn weißt du was? Ich fick dich in den Arsch, bis dir meine Eier bei den Nasenlöchern rauskommen! Ich spieß dich auf bis zu den Augen, deinen Artikel auf meiner Eichel! Ich scheiß auf die Wahrheit! Mit euren Berichten wische ich mir den Arsch! Ich sehe doch mit eigenen Augen, dass meine Mutter Angst hat, dass meine Tochter Angst hat, dass mein Hund Angst hat, dass der Briefträger Angst hat, dass alle Angst haben! Und steht irgendwer dagegen auf? Hat irgendwer die Eier dafür? Gibt es irgendwo einen Kerl, der dagegen antritt?

38. Ich bleibe nicht zu Hause (wird wiedergeboren) Ich bleibe nicht bei mir zu Hause sitzen, das ist nicht wahr. Ich werde der Erpressung und der Angst nicht nachgeben. Ich werde aufstehen und meinen Weg gehen. Ich werde durch die Stadt gehen, als ob es ein normaler Tag wäre. Ich werde einen Park durchqueren, ich werde die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, ich werde einen Einkaufsbummel machen und mir ein gewagtes Kleidungsstück kaufen, JF7

152

JF7 stirbt und zersetzt sich.


irgendwas mit »Wow«-Faktor, irgendwas Grelles. Ich werde laut reden und vor allem werde ich weiterhin lachen, werde weiter Spaß haben und sehr, sehr gute Laune haben! Die anderen JUNGEN FRAUEN sterben, werden dann wiedergeboren.

39. Wie geht’s? Wie geht’s? JF7 Mir geht’s sehr, sehr gut. Und dir? JF2 Könnte besser sein. Und sonst so? JF7 Seit ich meine Dosis neu hab einstellen lassen, tiptop. (zu JF1) Und dir? JF1 Ich schlag mich so durch. Und dir? JF7 Ich schlag mich auch so durch. Und sonst so? JF1 Sonst nichts. (zu JF4) Und dir? JF4 Wie, mir? JF1 Na, wie geht’s? JF4 Was geht’s dich an? JF1 All right … Und sonst so? JF4 Meine Sache. (zu JF6) Und dir? JF6 Ich hab zu rauchen aufgehört. Und du? JF4 Ich will einfach nur noch trinken. Und sonst so? JF6 Ich hab keine Selbstmordgedanken mehr. (zu JF3) Und dir? JF3 Ich schon noch, ein bisschen. Ich hab mir ein Haus gekauft. Dann habe ich es wieder verkauft. (zu JF5) Und dir? JF2

153

JF5 schweigt.

40. Was gibt’s Neues? Was gibt’s Neues? JF5 zeigt sich. Was? Fällt dir nichts auf? JF3 Nee. JF5 Na, ich habe mein Kind bekommen! JF2 Warst du schwanger? JF5 Ob ich schwanger war? Na klar war ich schwanger – mit Zwillingen! JF7 Wow! Wie alt bist du? JF5 Und bei dir, [Schauspieler oder Schauspielerin von JF6], was gibt’s Neues? JF6 Ich komme gerade aus dem Urlaub. JF5 Super. Wie war’s? JF6 Wie ein KZ mit Meerblick. JF3 JF5


Und bei dir, was gibt’s Neues? JF2 Heute früh habe ich die Augen aufgemacht und gedacht »Was habe ich nur mit meinem Leben angestellt?« Mein Bett war wie eine unwiderstehliche Lust, eine Schachtel Schlaftabletten zu schlucken. Ich ging in die Dusche rein, hätte mich am liebsten dort aufgelöst und habe mir eine Serie von zehn Schnitten auf der Innenseite des Oberschenkels verpasst. Beim elften spürte ich immer noch nichts. JF1 Liegt das an mir, oder ist die Welt noch deprimierter als vorher? JF6 An dir liegt’s nicht, das kann ich dir bestätigen. JF5

41. Und, Projekte? JF6 JF4 JF6

Und, Projekte? Was für Projekte? Keine Ahnung. Projekte eben.

JF7

Was machst du heute?

(im Todeskampf, zersetzt sich) Heute hab ich wahnsinnig viel zu tun. Den ganzen Tag lang wahnsinnig viel zu tun. Gestern hab ich geträumt, ich hätte wahnsinnig viel zu tun, und schon hab ich wahnsinnig viel zu tun. Heute hab ich wahnsinnig viel zu tun, denn das Wichtigste ist nicht, ein sinnvolles Leben zu führen, sondern dass ich wahnsinnig viel zu tun habe, damit ich deine bescheuerten Fragen nicht zu beantworten brauche! JF4

JF4 stirbt nicht.

43. Wisst ihr was? Wisst ihr was? Was. JF7 Heute Abend gehe ich ins Theater. JF6 Super! JF5 Ins Theater gehen, klasse! JF2 Du siehst richtig glücklich aus. JF7 So sehr auch wieder nicht. Aber immerhin gibt es mir ein Ziel, um den Tag zu überstehen. JF6 Ah, ich verstehe dich. Was für ein Glück, dass wir in rauen Mengen Künstler haben, Sänger und Schauspieler! Zum Glück haben wir TänJF7

Alle

154

42. Was machst du heute?


zer, Musiker und Dichter, wir wissen gar nicht, wohin damit! Zum Glück gibt es in [Name des Produktionslandes] so viele Inszenierungen, dass sie uns schon zu den Ohren rauskommen, denn eins kann ich dir sagen, andernfalls würden noch viel mehr Leute an [Ort, wo im Produktionsland Selbstmorde begangen werden] anstehen, um sich runterzustürzen. JF3 Auch wenn es der totale Flop ist, sind Leute im Saal. Das zeigt, wie sehr die Leute das Theater brauchen, Lieder und Humor. JF4 Ich habe mich immer gefragt, warum es nicht das ganze Jahr über ein Festival mit [beliebte Kulturveranstaltung] gibt. Wir brauchen so dringend Ablenkung! JF2 Pantomime, Marionettentheater und Zirkus müssten zur Grundversorgung gehören, genauso wie fließendes Wasser, Gesundheits- und Erziehungswesen. JF5 Es müsste möglich sein, jeden Tag Museen, Künstlerzentren und Veranstaltungssäle zu besuchen, vor allem aber Theater.

44. Im Theater sind die Leute noch frei IM THEATER SIND DIE LEUTE NOCH FREI ZU SAGEN, WAS SIE DENKEN. JF2 DAS THEATER WIMMELT VON FREILAUFENDEN KÜNSTLERN. JF6 ÜBRIGENS BEWAHREN WIR GERADE IM THEATER DIE LEBENDIGE KRAFT DER VERÄNDERUNG AUF INDIVIDUELLER EBENE. JF3 WIE SOLL MAN LEBEN, WENN DIE POLITIK KEINE HOFFNUNG MEHR HAT? WIE SOLL MAN LEBEN, WENN DIE IDEALE KEINEN WERT MEHR HABEN? WENN DIE REVOLUTION UNMÖGLICH IST, BLEIBT IMMER NOCH DAS THEATER. JF2 IN DIESER WELT VOLLER MASSLOSIGKEIT, BRUTALITÄT UND VERBRECHEN STELLT SICH DAS THEATER EINER NEUEN SORGLOSIGKEIT IM UMGANG MIT POLITIK UND RASSISMEN ENTGEGEN. JF5 DAS THEATER IST DER LETZTE ORT AUF ERDEN, WO DER KÜNSTLER NOCH SEINE REALITÄT REFLEKTIERT UND SIE DANN FEIERT UND IDEALISIERT, BIS AUS IHR EIN BEGEISTERNDES WERK ENTSPRINGT, DAS ER MIT UNS TEILT, UNS, EINER MEUTE VON UNBEKANNTEN, DIE IN TAUSEND WIDERSPRÜCHLICHEN REALITÄTEN LEBEN, UND DIES TUT ER, UM DIE WELT NEU ZU BETRACHTEN UND SIE, JA, ZU VERÄNDERN. JF4 DENN DAS THEATER SETZT AUF HOFFNUNG UND SOLIDARITÄT UND BEREITET DURCH SEINE GLÜHENDE SEHNSUCHT NACH DIALOG DIE WELT VON MORGEN VOR. JF1 JEDE AUFFÜHRUNG ERFORSCHT NEUE MÖGLICHKEITEN, NEUE BEREICHE, IN DENEN GEOGRAPHISCHE UND MENTALE GRENZEN ÜBERWUNDEN WERDEN. AUS DIESEN ZUSAMMENSTÖSSEN DER JF7

155


45. Welches Stück schaust du dir an? Welches Stück schaust du dir an? Ha! Alle Erzähl! JF7 Es heißt Manifest der Jungen Frau. JF6 Aha. Hab ich noch nichts von gehört. JF7 Scheint sehr gut zu sein. [Vorname des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF7] spielt da mit. JF6 JF7

JF2 JF7

[Vorname des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF7]?

Na klar, [Vorname des Schauspielers oder der Schauspielerin von

156

KULTUREN NÄHRT SICH DAS THEATER, ES IST DEREN PRIVILEGIERTER ZEUGE UND VERSETZT UNS ZUGLEICH IN EIN ANDERSWO. JF7 THEATERKÜNSTLER ERFORSCHEN DIE TERRITORIEN DER INTIMITÄT, DES POLITISCHEN ODER DES SOZIALEN, UND DIESE ENTWERFEN DIE LANDKARTE DES NEUEN ZUSAMMENLEBENS. JF2 JEDES STÜCK LÄDT UNS EIN, VERSCHIEDENE FACETTEN DER MENSCHLICHEN SEELE NEU ZU ENTDECKEN. DURCH DAS FENSTER DER VERGANGENHEIT LÄSST ES UNS EINEN BLICK AUF UNSERE ZUKUNFT WERFEN, DENN IN UNSEREM BLICK LEBT DIE GEGENWART. JF6 DAS THEATER ENTWICKELT SICH MIT SEINER ZEIT UND DENEN, DIE ES GESTALTEN, UND DARUM IST DIE SPIELZEIT [Jahreszahlen der laufenden Spielzeit] DEZIDIERT MODERN. JF3 DIESE SPIELZEIT WIRD IN JEDER HINSICHT EINSCHLAGEN. DIESE SPIELZEIT IST FÜR UNS. ALLE. DIESE SPIELZEIT IST FÜR EUCH ALLE. JF5 DENN WENN WIR WOLLEN, DASS DIE BÜRGER MIT DER KULTUR SOLIDARISCH SIND, MUSS DIE KULTUR MIT DEN BÜRGERN SOLIDARISCH SEIN. JF4 DAS THEATER FINDET SEINE DASEINSBERECHTIGUNG BEI EUCH, DEN ZUSCHAUERN, DIE AN DIE KRAFT DER DIREKTEN VERBINDUNG GLAUBEN. JF2 UNSER NOCH JUNGES JAHRHUNDERT IST BEREITS VON GEWALT, INTOLERANZ UND VEREINZELUNG GEPRÄGT, UNSER GESAMTES ENSEMBLE DANKT IHNEN FÜR IHRE TREUE UND IHRE VERBUNDENHEIT MIT DER FREIEN MEINUNGSÄUSSERUNG, DER SCHÖNHEIT UND DER SUCHE NACH SINN. JF1 DANKE, DASS SIE SO ZAHLREICH MIT MIR, MIT UNS DIE SACHE DES WAGEMUTS VERTEIDIGEN. JF7 DENN MEHR ALS JE ZUVOR, BESSER ALS IRGENDWO SONST, SIND WIR ZUSAMMEN.


JF7]! [Vorname des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF7], die

kennt ja wohl jeder! JF3 Sie spielt [Name einer Figur zum Beispiel in einer Fernsehserie o.ä.] in [der entsprechenden beliebten Serie o.ä.]. JF2 Ja natürlich, hat sie nicht in [bekannter Film o.ä., in dem der Schauspieler oder die Schauspielerin von JF7 nicht mitgespielt hat]

mitgespielt? JF7 Nein das war [Name des Schauspielers oder der Schauspielerin, der oder die in dem bekannten Film o.ä. mitgewirkt hat, an dem JF7 nicht mitgewirkt hat]. JF5

[Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von

JF7] hat in [Titel von drei Stücken, in denen der Schauspieler oder die Schauspielerin von JF7 mitgewirkt hat] mitgespielt.

Und auch sonst noch in vielen. Sie hat ganz einfach alles gemacht. Eine großartige Schauspielerin. JF6 Ach so! Jetzt weiß ich. [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF6] spielt da auch mit, oder? JF3 Haben wir [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF6] nicht zum letzten Mal in einer Inszenierung von [bekannte Theatergruppe oder Regisseur] gesehen? JF6 Ach i wo! [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF6], was für eine Bühnenpräsenz! Diesen Schauspieler sieht man wirklich nicht oft genug. JF4 Spielt da nicht auch [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF4] mit? Den sieht man wirklich nicht oft genug. JF5 Nein, ich glaube nicht. Seit [beliebte Fernsehserie o.ä., an der der Schauspieler oder die Schauspielerin von JF4 mitgewirkt hat] tritt er nicht mehr so oft im Theater auf. Aber dafür [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF5], die ja. Was für eine Schauspielerin! Die kann alles spielen! JF3 Dann ist da noch [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF3]. JF5 Ja, stimmt, [Vorname und Name des Schauspielers oder der SchauJF7

157

spielerin von JF3].

Der ist wirklich lustig. Was willst du damit sagen? JF1 Der ist so was von klein, winzig! Den möchtest du am liebsten am Bauch kitzeln und dann in die Luft werfen! JF2 Und dann ist da noch [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF2]. JF3 Wie, [Vorname und Name des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF2]? JF2 Da ist auch noch [Vorname und Name des Schauspielers oder der JF1 JF3


Schauspielerin von JF2]. JF7 JF4

Aha. Sagt mir jetzt nichts. Mir auch nicht.

DAS IST EINE AUTHENTISCHE, WAHRHAFTIGE SCHAUSPIELERIN, WENN EINE ROLLE MIT DER BESETZT WIRD, DAS LÄSST NIEMANDEN KALT. JF2

Wer sagt das? Jeder! JF7 Sagt mir nichts. JF4 Mir auch nicht. JF1 Und dann die kleine [physisches Merkmal des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF1]? JF5 Welche kleine [physisches Merkmal des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF1]? JF1 Na, eben die kleine [physisches Merkmal des Schauspielers oder der Schauspielerin von JF1]! Wie heißt die noch gleich? JF6 Wo hat die mitgespielt? JF1 In [drei Titel von Fernsehserien o.Ä., in denen die Schauspielerin von JF1 mitgewirkt hat]. JF6 Nein, das sagt mir nichts. JF1 Nein? JF2 Nicht die Bohne. JF1 Anyway. Wenn ihr sie noch nicht kennt, ihr werdet bald viel von ihr hören. JF6 Wenigstens gibt es ein paar bekannte Gesichter, das ist beruhigend. JF5 Ich kann die Produktionen nicht mehr ab, bei denen man niemanden erkennt. JF5 Hey! Ich hab mehr als fünfzig Dollar gezahlt für mein Ticket! Setzt mir nicht eine Bande no names vor die Nase! JF3 Woher willst du wissen, ob ein Schauspieler gut ist, wenn du ihn noch nie gesehen hast? JF4 Ich verlange ja gar nicht [TV- oder anderen Star] oder [TV- oder anderen Star], ich will nur wen sehen, der schon in einer Serie oder Sendung für Kinder mitgespielt hat! JF1 Es kann doch nicht so schwierig sein, noch ein oder zwei Rollen in [beliebte Fernsehserie] zu ergattern? JF2 Das ist doch scheißegal! Wenn ich einen Star sehen will, schaue ich mir [im Produktionsland geborenen internationalen Star] oder Rihanna an, nicht Schauspieler, die nur eine Hand voll von [Einwohner des Produktionslandes] kennen, die voll auf [beliebte Fernsehserie] oder auf [beliebte Fernsehserie] stehen. JF7

158

JF2


46. Ich hab eine Kritik gelesen Ich hab eine Kritik über Manifest der Jungen Frau gelesen. Sie sagen, die Erwartungen waren groß, leider erfüllt das Stück nicht, was man sich davon versprochen hat. JF4 Ich lese nie Kritiken, bevor ich ein Stück sehe. Ich will wirklich möglichst wenig davon wissen – ganz unbeleckt sein, offen für Überraschungen. JF7 Ich lese auch keine. Manchmal weiß ich nicht mal, was ich sehen werde. JF1 Manchmal weiß ich nicht mal, dass ich ins Theater gehe. JF5 Manchmal weiß ich nicht mal, ob ich im Theater bin. JF2 Manchmal weiß ich nicht mal, ob ich träume, im Theater zu sein. JF6 Manchmal wache ich mitten in Zuschauerraum auf und weiß nicht mal, welches Stück ich gerade sehe. Dann versuche ich, die Schauspieler wiederzuerkennen. Ich sehe mir die Kostüme an, das Bühnenbild, die Beleuchtung und versuche zu erraten, wer hinter dem Konzept steht, wer Regie geführt hat. Ich höre dem Stück zu, versuche, über Stil und Sprache auf den Namen des Autors zu kommen. Nach dem Trial-and-Error-Verfahren suche ich nach dem Titel, das ist ein ganz großartiges Spiel, denn es gibt ja so viele Möglichkeiten, und ich meine: Ich bin sehr gut in diesem Spiel. Ich sehe viel Theater. Aber in Wahrheit kommt es gar nicht so sehr darauf an, in welchem Stück ich aufwache, es ist sowieso mehr oder weniger immer dasselbe. Die Theaterstücke in [Ort der Produktion] sind alle ziemlich ähnlich. Und was mache ich dann? Na, ich schlafe wieder ein. JF3

159

Stille JF6

(lacht laut auf) Natürlich nicht, das war ein Witz. Bloß ein Witz.

47. Ich geh echt so gern ins Theater Also, ich geh so gern ins Theater, echt wahr. Das ist was anderes als Kino. Es riecht nicht nach Popcorn, da sind keine Teenies mit ihren iphones und fettleibige Familien, die sich mit überbackenen Nachos vollstopfen. Und im Theater kannst du per Kreditkarte reservieren. JF1 Im Kino auch, wenn du willst. JF6 Ja, aber keinen festen Platz. Ich finde es gut zu wissen, dass im Theater an einem bestimmten Abend ein bestimmter Platz auf mich wartet. JF4 Ja, aber wenn du ins Theater gehen willst, musst du rausgehen, mit dem Auto fahren, einen Parkplatz finden, das mag ich nicht so. JF7 Was ich im Theater besonders mag, das ist die Bar. Du kannst vorher ein Glas trinken, nachher ein Glas trinken, mit den Schauspielern an JF6


Die JUNGEN FRAUEN sterben und zersetzen sich.

Die machen sich die Mühe mit Theaterplakaten, die anders sind als die meisten anderen, also weder marktschreierisch noch peinlich, noch ästhetisch verkackt! JF5 Theaterplakate, die über die Welt lachen! JF2 Theaterplakate, die fucking peinlich anzusehen sind! JF6 Theaterplakate, die in den Augen wehtun! JF1 Theaterplakate wie den Passanten ins Gesicht geschleuderte Säure! JF4 Theaterplakate, die den Passanten masturbierend Beleidigungen entgegenschreien! JF7 Theaterplakate, die den Passanten durch die Straßen verfolgen und auf dem Heimweg bedrängen! JF3 Theaterplakate, die nachts beim Zuschauer einbrechen und ihn im Schlaf vergewaltigen! JF5

Die JUNGEN FRAUEN sterben nicht. Sie begeben sich in den Zuschauerraum.

48. Wenn ich das Theater betrete Wenn ich das [Name des Theaters] betrete, dann weiß ich, ich werde als aufgeschlossene und intelligente Zuschauerin angesehen. JF2 Als gebildete Zuschauerin. JF5 Das auch. JF5

160

der Bar diskutieren oder allein an der Bar stehen, oder mit dem Barkeeper trinken. JF5 Ich geh wirklich gern ins Theater, aber wenn ich mich entscheiden kann, dann am liebsten ins [Name des Theaters, in dem die Produktion läuft]. JF3 Am [Name des Theaters] mag ich besonders, dass da Restaurants in der Nähe sind, Bars, Cafés, ein Park, eine Bank. JF2 Außerdem ist das [Name des Theaters] schön. Schlichte, nüchterne, zeitgenössische Architektur. JF6 Also ich gehe gern ins [Name des Theaters], denn im [Name des Theaters] wird wirklich zeitgenössisches zeitgenössisches Theater gezeigt. JF2 Also ich mag im [Name des Theaters] besonders die Plakate für die Stücke. JF5 Das stimmt. Die sind schlicht, nüchtern, ästhetisch raffiniert. JF2 Und sie funktionieren wirklich. Du schaust dir das Plakat an, du schaust das Stück an: passt. JF6 Wenn ich irgendwo in der Stadt an einer Wand ein Plakat vom [Name des Theaters] sehe, dann schäme ich mich nicht, meinen Arbeitskollegen zu sagen, heute Abend sehe ich diese Inszenierung, denn das Plakat ist nicht cheap.


Als bourgeoise Zuschauerin. JF5 Nein, das nicht. JF2 O doch, als bourgeoise Zuschauerin. JF5 Ich habe viele Fehler, aber ich bin nicht bourgeois. JF2 Es ist doch kein Fehler, bourgeois zu sein. JF7 Was bedeutet das eigentlich, »bourgeois«? JF1 Im Jahre [laufendes Jahr]? Nichts Besonderes. JF2 Aber etwas bedeutet es immer noch. JF5 Und was? JF2 Dass du dir einen Theaterbesuch leisten kannst. JF5 Okay. Ich bin bourgeois. Und? JF2 Nichts. JF5 Zugegeben, nicht jeder kann sich einen Theaterbesuch leisten. JF2 / Meine Rede. JF5 Es stimmt schon, ich kann es mir leisten. Stimmt schon. Aber nur weil ich vierhundertundachtzigtausend pro Jahr verdiene, bin ich noch lange nicht blöd. JF2 / Das habe ich niemals gesagt. JF2

Die JUNGEN FRAUEN sterben und zersetzen sich.

Nur weil ich Geld habe, habe ich noch lange nicht die Fähigkeit zur Kritik verloren, verdammt noch mal! Es stört mich überhaupt nicht, zu einer begüterten Elite zu gehören! Hört endlich auf, mich mit euren Bewertungen zu nerven, und mit euren Analysekriterien, die auch schon zweihundert Jahre alt sind! JF6 Allein mit Obdachlosen werdet ihr eure Theater nicht füllen! JF4 Also ich hab meine Karte geschenkt bekommen, ich hab keinen Cent bezahlt, fuck you. JF3 Ohne die aufgeklärte Bourgeoisie gäbe es überhaupt kein zeitgenössisches Theater! JF5

161

Die JUNGEN FRAUEN sterben nicht.

49. Im Theater mag ich besonders Im Theater mag ich besonders den Moment, wenn ich meinen reservierten Platz einnehme. JF6

Die JUNGEN FRAUEN nehmen die leeren Plätze im Saal ein, im Todeskampf und sich zersetzend.

Ein Platz erwartet mich, und ich lasse mich darauf nieder. Von diesem Augenblick an bin ich frei zu denken, was ich will. Und niemand kann erraten, was ich denke, während ich warte, bis das Stück anfängt. JF5 Ich lese das Programmheft. JF1 JF7


Also ich lese nie das Programmheft. Ich will mich doch nicht von den Meinungen des Autors oder des Regisseurs oder des künstlerischen Leiters beeinflussen lassen. JF5 Um mich zu beeinflussen, braucht es schon mehr als so ein kleines Programmheft. Ich habe meine Karte bezahlt, und von da an denke ich, was ich will und wann ich will. JF2 Ich schaue mir das Bühnenbild an und denke: »Kann losgehen. Bitte sehr. Ich bin bereit.« JF7 Im Theater mag ich besonders, wenn es im Zuschauerraum dunkel wird, total dunkel. JF3

Totales Dunkel

Im Theater mag ich ganz besonders diese erste Dunkelheit, bevor das Stück beginnt, wenn alles möglich ist, alles passieren kann. JF1 Da sitze ich, genau in diesem Dunkel, dem Dunkel vor der möglichen Revolution. JF6 Und wenn es endlich dunkel wird, dann mag ich besonders die Stille, die im Saal einkehrt. JF5 Ich liebe die Dunkelheit und die Stille vor dem ersten Satz. JF1 Wenn die Dunkelheit dauert, bis man fast glaubt, das Stück würde nie anfangen, dann sitze ich vor lauter Spannung ganz vorn auf meinem Stuhl. JF7 Manchmal ertappe ich mich bei der Fantasie, die Dunkelheit würde dauern, dauern, und wir würden unser ganzes Leben lang in dieser Dunkelheit sitzen bleiben und darauf warten, dass das Stück anfängt. JF2 Wir würden zusammen im Dunkeln alt werden. Manche würden sterben, irgendwann wären alle tot. JF6 Wir würden uns in unseren reservierten Sitzen zersetzen. JF4 Oder vielleicht auch nicht. Das Bühnenlicht würde angehen, die Schauspieler würden hereinkommen und die Welt könnte sich vollkommen verändern. JF3 Im Theater mag ich besonders meine Position als im Dunkeln verborgener Voyeur, der die strahlende Transformation der Welt verfolgt.

50. Im Theater kann ich nicht leiden Volle Saalbeleuchtung.

Im Theater kann ich es nicht leiden, wenn nicht die Bühne beleuchtet wird, sondern Spots aufs Publikum gerichtet werden. JF5 Im Theater kann ich es nicht leiden, wenn die Saalbeleuchtung angeht, damit das Publikum begreift, wie schutzlos es ist. JF3

Die JUNGEN FRAUEN sterben und zersetzen sich. JF4

Im Theater hasse ich es, wenn der Regisseur sich vorstellt, er

162

JF6


könnte mich provozieren, zum Nachdenken bringen, mich verwirren, indem er das Scheißlicht an- und ausmacht! JF1 Im Theater verabscheue ich es, wenn der Regisseur denkt, er könnte mich provozieren, zum Nachdenken bringen, verwirren – mit einem Lichtwechsel! JF7 Im Theater widert es mich an, wenn der Regisseur denkt, er könnte mich provozieren, zum Nachdenken bringen, verwirren – mit einem Theaterstück! JF6 Im Theater scheißt es mich an, wenn der Regisseur mir Lektionen in Sachen Freiheit erteilen will. JF2 Im Theater könnte ich voll abkotzen, wenn der Autor mir mit irgendeiner Moral kommt! Die JUNGEN FRAUEN sterben nicht.

Ich habe einen Universitätsabschluss, ich lese pro Woche zwei Bücher und reise durch die ganze Welt, also geh scheißen. JF5 Ja, geh scheißen. JF4 Geh scheißen. JF6 Ich habe in meinem Leben mindestens zwei Revolutionen mitgemacht, also fick dich ins Knie. JF1 Im Theater finde ich es absolut unausstehlich, wenn jemand sich einbildet, er könnte mir was über mich selber beibringen. JF7 Du denkst wohl, du könntest mir was über mich selber beibringen, mir meine Fehler vor Augen führen, meine Mängel, meine Widersprüche? JF2 Denkst du, ich sehe sie nicht, oder mir fehlt der Mut zur Veränderung? JF3 Wenigstens habe ich den Mut, mit meinen Widersprüchen zu leben! JF3

163

Die JUNGEN FRAUEN sterben und zersetzen sich.

Ich habe den Theaterleuten nur eins zu sagen: Hört auf damit, uns zu belehren! JF7 Gewöhnt euch ab, uns unbedingt erwachsen machen zu wollen! JF6 Uns erheben zu wollen! JF3 Euer Stück wird mein Leben nicht verändern! JF1 Wenn ich mich ändern will, ja, dann ändere ich mich! JF4 Ich brauch kein Theater, um mich zu ändern! JF5 Und außerdem, warum sollte ausgerechnet ich mich ändern? JF7 Es gibt jede Menge Sachen, die man ändern müsste, bevor ich mich ändere. JF6 Soll ich euch sagen, was man ändern müsste? JF2 Soll ich euch wirklich sagen, was man alles ändern müsste? JF3 Ich weiß haargenau, was man ändern müsste! JF2 Ihr fragt euch nicht als erste, was das Problem ist! JF3 Und vor allem, kommt bloß nicht an und behauptet, wir müssen die Lösung finden! JF2


Denn antworten müsst ihr selbst! JF4 Ja, Lösungen finden müsst nämlich ihr! JF1 Und auch wenn es eine Illusion ist, ihr müsst uns glauben machen, dass es möglich ist! JF2 Und wenn es unmöglich ist, müsst ihr uns glauben machen, es würde doch gehen, das ist euer Job! JF7 Wir zahlen einen Haufen Steuern, um euer Gehalt zu finanzieren, also macht gefälligst eure Arbeit! JF6 Uns glauben machen, man könnte noch an irgendwas glauben, das ist euer Job! JF4 Und glauben machen, man könnte noch an irgendwas anderes glauben, das ist euer Job! JF3 Und es ist sogar euer Job, dass wir an irgendwas Schönes glauben! JF5

Die JUNGEN FRAUEN sterben nicht.

51. Wie geht’s? »Wie geht’s?« erscheint auf der Leinwand.

JF4 JF5 JF1 JF2 JF7 JF6

(zögernd, zu JF4) Wie geht’s?

Super. Und dir? Super. Und dir? Super. Und dir? Super. Und dir? Super. Und dir? Super. Und sonst so?

Ein zunächst unhörbarer Ton wird laut, immer lauter und höher, bis zum Ultraschall. Die JUNGEN FRAUEN lächeln, voller Hoffnung. DUNKEL

164

JF3




Alex Lorette

Dream Job(s) [Originaltitel: Dream Job(s)] aus dem Französischen (Belgien) von Christa Müller und Silvia Berutti-Ronelt

Deutsche Übersetzung mit der freundlichen Unterstützung der Autorengesellschaft SACD Belgique.


»Ich bin zu hochgeboren, Um irgendjemands Eigentum zu sein, Noch um an zweiter Stelle zu regieren, Auch steh ich keiner Staatsmacht dieser Welt Als Diener oder Werkzeug zur Verfügung.« Shakespeare, König Johann, V/2

PERSONEN: Tony Fred Mélina Chloé Sonia Paul Eine Kollegin Der Journalist Nachbarn/Nachbarinnen Die medizinische Assistentin

Der Text ist für eine Besetzung mit drei Schauspielern und drei Schauspielerinnen konzipiert. Er kann auch mit einer größeren Besetzung gespielt werden, falls der Regisseur oder die Regisseurin das möchten.

Anmerkung: Im französischen Originaltext wechseln gebrochene Zeilen und Passagen in Blocksatz sich ab. Am Ende eines Zeilenumbruchs verzichtet der Autor prinzipiell auf Punkt oder Komma, setzt aber gelegentlich Frage- oder Ausrufezeichen. Sein Prinzip des Zeilenumbruchs und der Zeichensetzung wurde von den Übersetzerinnen übernommen.

168

Der Bereichsleiter


1. Postskriptum Ein Bildschirm. Halbdunkel. Ein enger Keller, wie man ihn im Tiefgeschoss eines großen Gebäudes finden kann. Wände und Boden aus Beton. Auf dem Boden eine Matratze. Ein zerknüllter Schlafsack. Ein Rucksack. Neben dem Rucksack liegt ein Venezuela-Reiseführer. Chloé sitzt auf der Matratze, mit dem Rücken zur Wand. Unbeweglich. Dunkel.

2. Das Set Musik. Hallo! Du! Kannst du bitte mal stehenbleiben Tony Das ist Fred. Er ist ein bisschen durchgeknallt. Aber er ist DJ Mélina Nicht schlecht, der Typ Chloé Findest du? Mélina Bewegt sich gut. Tony Er macht seinen Job hinterm Plattenteller. Sorgt für den Sound. Und die Mädchen schauen zu, wie er den Kopf bewegt, vor und zurück, vor und zurück, im Rhythmus. Ohne zu übertreiben. Mehr kann er nicht. Ehrlich, tanzen kann er nicht. Deshalb ist er DJ Fred Hey du! Entschuldige! Mélina Der sieht gut aus, oder? Chloé Mir tun die Füße weh Mélina Bewegt sich gut. Hat Stil Tony Auf einem Ohr den Kopfhörer. Sonnenbrille auf der Nase. Eine Sonnenbrille mitten in der Nacht. Blöd, oder? Echt blöd. Aber es funktioniert. Wirkt geheimnisvoll Fred Ist das nicht anstrengend, so zu rennen, bleib doch mal stehen, bitte, wie heißt du? Chloé Ich bin müde. Was machen wir hier eigentlich? Fred Bitte. Ich muss dir was wahnsinnig Wichtiges sagen Mélina Wir machen Party Fred Es geht um uns beide. Um dich und mich. Jetzt lächelst du? Gut. Immerhin. Aber bitte bleib stehen. Okay, kapiert, du kannst nicht stehen bleiben, deine Beine bewegen sich ganz von alleine, liegt bestimmt an den Absätzen, wenn du stehen bleibst, verlierst du das Gleichgewicht, also musst du immer weiterlaufen, damit du nicht hinfällst. Tja, dann laufe ich einfach mit, ich begleite dich, stört dich das? Tony Die Brille, das Licht, die Musik, der Beat und die Bässe. Ein guter Cocktail. Das funktioniert. Das mögen die Mädchen. Finden sie großartig Mélina Tanzen wir? Chloé Mit tun die Füße weh Tony Fred

169


Klar. Mit den Absätzen. So kann man nicht tanzen. Chloé Ohne die bin ich einfach zu klein, zu winzig. Ohne Absätze bemerkt mich kein Mensch Mélina Hohe Absätze, das könnte ich nie, ist leider so. Echt schade, weil ich die eigentlich toll finde. Betonen die Fesseln, verlängern die Beine. Aber was soll’s Tony Sie drängen sich zur Bühne vor. Von da aus sieht er noch größer aus. Riesig. Ein Halbgott. Umgeben von einer leuchtenden Aura. Im Licht, in diesem Gegenlicht, sieht er irgendwie geheimnisvoll aus, interessant Fred Warum rennst du so? Das ist gefährlich, nein, ehrlich, wenn du dir den Knöchel verknackst, das ist scheißgefährlich, mach langsam Ich mag dein Parfum. Was ist das für ein Parfum? Chloé Ich kenne den Typ doch gar nicht Mélina Ist doch egal. Er hat dich eingeladen, einfach so. Er ist DJ Fred Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt Chloé Chloé Fred Chloé? Schöner Name. Klingt ein bisschen retro. Chloé. Du gefällst mir, Chloé, ich sag das jetzt einfach, sonst tut es mir später leid Ich lege morgen auf. Ich bin DJ. Bitte komm. Hier ist meine Karte. Du kommst auf die Gästeliste. Du sagst gar nichts? Sag doch was Sehen wir uns morgen? Chloé Mal sehen Fred Das heißt, du bist einverstanden, du hast nicht nein gesagt, du hast gesagt, mal sehen

3. Job Interview Präzise rangehen, mit Fingerspitzengefühl, das ist mein Ding. Behutsam, als würde man es gar nicht ansprechen Glauben Sie, dass Sie das können? Paul Schwer zu sagen, bevor man es ausprobiert hat Aber ich hätte Lust dazu Sonia Ich habe Ihren Lebenslauf gelesen. Interessantes Profil. Ein erfahrener Verkäufer, das ist genau das, was ich suche Paul Genau das hat mein Chef gesagt, Verkaufen, das liegt dir im Blut. Wie machst du das, hat er gesagt, wie machst du das, so viel zu verkaufen? Ich tu einfach so, als würde ich mich für die Leute interessieren Das ist alles Beim Verkaufen geht es nur darum Den Leuten weiszumachen, dass sie wichtig sind Sonia

170

Mélina


171

Wenn man es schafft, dass die Leute sich geliebt fühlen, dann geraten sie in eine Art Hochstimmung und kaufen schon deshalb, damit dieses Gefühl anhält Wenn man das hinkriegt, gibt’s kein Halten mehr, die Leute kaufen einem alles ab Sonia Warum dann wechseln? Paul Es ist nur noch Routine Ich spüre den Kick nicht mehr, den Thrill Ich habe den Spaß an der Sache verloren Nur weil man was gut kann, muss man nicht unbedingt weitermachen Arbeit muss einen begeistern Ich brauche eine Challenge, keinen stumpfsinnigen Trott, es muss was abgehen Deshalb interessiert mich das, was Sie mir vorschlagen Technisch gesehen ist es vielleicht so ähnlich wie Verkaufen Aber eigentlich ist es trotzdem … was ganz anderes, also ja, das reizt mich Sonia Ich engagiere auf freier Basis Sie erhalten Provision Die Auftraggeber zahlen je nach Resultat, so funktioniert das Paul Finde ich gut Sonia Soll ich Ihnen erklären, wie das so abläuft? Paul Ok Sonia Grob gesagt haben wir ein Raster, da sind fünf Stufen zu beachten, aber innerhalb des Rahmens kann man improvisieren An einem praktischen Beispiel lässt sich das besser erklären Paul Ok Sonia Stufe eins: Ice breaking. Wie beim Verkaufen, das kennen Sie. Man lässt den, der gefeuert wird, reinkommen, bietet ihm was zu trinken an, Kaffee, Tee? Paul Nein danke Sonia Wissen Sie, warum Sie hierher bestellt worden sind? Paul Nein Sonia Sie sind hierher bestellt worden, weil Ihr Arbeitgeber beschlossen hat, Sie zu entlassen Paul Wie bitte? Sonia Ich bin hier, um Ihnen das mitzuteilen Paul So? So direkt? Sonia Genau so, ja. Da wird es dann oft still. Oder der Gefeuerte bittet darum, das zu wiederholen Paul Können Sie das wiederholen? Sonia Man wiederholt es und schaut ihm dabei direkt in die Augen. Das ist wichtig. Man hält dem Blick stand, das weckt Vertrauen. Das wirkt emotionaler. Indem man dem Blick standhält, wirkt die Kündigung persönlich


Spüren Sie das? Paul Ja, stimmt. Echt stark. Sonia Genau dafür sind wir da. Für diesen Moment. Wenn es diesen Moment nicht gäbe, könnte man das Ganze per E-Mail oder Telefon erledigen, egal wie. Durch diesen Moment bekommt die Kündigung ein menschliches Gesicht Paul Wie beim Arzt, wenn er einem eine schlechte Nachricht verkündet Sonia Genau Kommen wir zu Stufe 2? Paul Ok Sonia Fire Fighting. An diesem Punkt fängt der Gefeuerte an zu protestieren Paul Sie lügen Sonia Mehr! Paul Wer sind Sie überhaupt? Sonia Ja! Paul Ich kenne Sie nicht Sonia Gut! Paul Sie arbeiten nicht mal in der Firma Sonia Genau! Paul Ich möchte mit der Geschäftsleitung sprechen Sonia Perfekt! Und so weiter, und so weiter. Sie haben’s begriffen. Man muss hart bleiben, nicht lockerlassen Paul Kapiert Sonia Danach kommt Stufe 3: Fact building Man legt die Papiere auf den Tisch, erläutert die Höhe der Abfindung, die Formalitäten Paul In aller Ruhe Sonia Achtung, das kann aus dem Ruder laufen. Mir ist das passiert: ein Kerl, null Reaktion, ich ziehe es durch, Stufe 1, Stufe 2, Stufe 3, mache weiter, lege ihm die Papiere vor, und plötzlich, ohne ein Wort, steht er auf, nimmt seinen Stuhl, schmeißt ihn an die Wand, danach greift er sich den Tisch und schleudert ihn mit voller Wucht quer durchs Zimmers. Okay. Ich konnte gerade noch in Deckung gehen. Er hat mich angeschaut, ich habe mir gesagt, das war‘s, aber weit gefehlt, er hat angefangen zu heulen. Wäre ich ein Mann gewesen, hätte er mich bestimmt verprügelt. Als Frau hat man es da sicher leichter. Normalerweise lächle ich und sage: Ich verstehe Paul (leichtes Lächeln, mitfühlender Ton) Das ist hart, ich weiß Sonia Ich verstehe Sie Paul Ich verstehe Sie. Es wird schon wieder Sonia Genau. Der Gefeuerte gibt auf, meistens heult er. Es ist gut, wenn

172

Stille. Sonia schaut Paul in die Augen.


173

er heult, das heißt, er ist bereit zu akzeptieren, man hat gewonnen und geht über zu Stufe 4: dem Closing. Unterschreiben Sie hier Paul Wo? Sonia Hier, genau hier Paul Warum muss ich unterschreiben? Sonia Das sind die Verfahrensregeln, damit bestätigen Sie nur, dass ich Sie korrekt informiert habe. Das ist alles. Sie tun mir einen Gefallen. Für Sie ändert sich dadurch nichts, keine Sorge Paul Gut Sonia Danach wird man etwas zugänglicher Paul Gehen Sie jetzt nachhause, melden Sie sich wieder bei mir, wenn Sie soweit sind. So etwa? Sonia Perfekt. Das dauert so ein, zwei Wochen Wenn sie sich nicht zurückmelden, muss man nachhaken. Damit man Stufe 5 erreicht. Sonst gibt’s nur zwanzig Prozent Provision. Man arbeitet mit Verlust. Stufe 5 ist das eigentliche Outplacement. Man gibt dem Ganzen einen Sinn. Man eröffnet Perspektiven, verkauft Hoffnung. Dazu braucht es Fingerspitzengefühl und Fantasie. Das kann Spaß machen. Das ist Challenge. Adrenalin pur Paul Damit kann ich was anfangen Sonia Hier haben Sie eine Liste: Reinigungskraft, Security Manager, Wartungsfachmann, Paketzusteller, Fensterputzer, Fachkraft für Telemarketing, Gärtner. Wofür entscheiden Sie sich? Paul Ich sag jetzt einfach mal … für das Letzte Sonia Gärtner Paul Ja, Gärtner, genau Sonia Einverstanden. Also los, ich bin eine mittlere Führungskraft, zwanzig Jahre Berufserfahrung, eher ein Stadtmensch, eher zurückhaltend, nicht besonders kräftig gebaut. Ich wurde gerade gefeuert. Sie müssen mich unterbringen, dummerweise ist Sommer, absolute Flaute, weit und breit nichts in Sicht. Ich habe schon ein erstes Gespräch hinter mir, Sie haben mich befragt, ich habe erwähnt, dass ich gerne ins Grüne ziehen würde und so weiter. Ich bin ziemlich angeschlagen, die Geschichte hat mich mitgenommen, in so einem Fall geht es schnell bergab, also müssen Sie eine Lösung finden. Weil in der Datenbank null Angebote sind, haben Sie sich die Stellenanzeigen im Internet und in den Gratiszeitungen angeschaut, und da sind Sie auf die Anzeige eines Gärtners gestoßen, der einen Arbeiter sucht. Sie haben angerufen, Sie haben sich für mich ausgegeben und erklärt, dass Sie gerne gärtnern, aber dass Sie keine Berufsausbildung als Gärtner haben. Schlussendlich war der Gärtner bereit, Sie probeweise einzustellen. Sie haben mich angerufen und gesagt, Sie würden mich gerne sprechen. Ich bin gekommen, jetzt müssen Sie mich überzeugen, den Job anzunehmen. Sonst war’s das mit der Provision. Und los geht’s!


Guten Tag. Wie geht es denn inzwischen? Sonia Nun, wissen Sie, es ist immer das Gleiche, naja. Ich schaffe es einfach nicht, das zu schlucken. Zwanzig Jahre meines Lebens, können Sie sich das vorstellen? Einfach so, ohne Erklärung, rausgeschmissen mit einem Fingerschnipps Paul Ich verstehe Sie, das ist hart Sonia Meine Frau sagt, hör auf zu rotieren, mach was, komm in die Gänge. Würde ich ja gerne, aber ich schaffe es nicht. Ich bin erledigt. Sogar ans Telefon gehen, fällt mir schwer, oder hierherkommen, verstehen Sie? Paul Verstehe ich, aber wissen Sie, sich zu fühlen, wie Sie sich jetzt gerade fühlen, das ist normal. Es ist okay, wenn das zur Sprache kommt Wissen Sie, weshalb ich Sie heute Morgen angerufen habe, Herr … ? Sonia Pascal Paul Ich habe Sie heute morgen angerufen, Herr Pascal, weil ich schlecht geschlafen habe … Wegen Ihnen … Ich habe heute Nacht über Sie nachgedacht, und da ist es mir gekommen … ein Geistesblitz Ich habe mir gesagt, diese Entlassung, diese schreckliche Geschichte, die Herr Pascal gerade erlebt, das ist effektiv ein Unwetter, ein Sturm, aber es ist auch ein Geschenk, ein Geschenk, das das Leben Ihnen macht, das können Sie nicht ausschlagen Das Leben hat entschieden, Ihre Karten neu zu mischen, damit Sie sich neu erfinden können Wissen Sie, wenige Menschen haben so eine Chance Hat Ihr bisheriges Leben Sie glücklich gemacht? Ehrlich, Herr Pascal, ganz ehrlich? Erinnern Sie sich, wie es Ihnen an dem Tag ging, an dem wir uns getroffen haben? Sonia Ob ich mich erinnere? Natürlich erinnere ich mich an den Tag, an dem wir uns getroffen haben Paul Nein, nein, Herr Pascal, Sie erinnern sich an den Tag, Sie erinnern sich an das, was passiert ist, aber nicht, wie Sie sich da gefühlt haben Ich sage Ihnen, wie Sie sich gefühlt haben, Herr Pascal grau in grau richtig flau auch Ihr Anzug grau So haben Sie sich gefühlt Ihr bisheriges Leben, Herr Pascal, egal was Sie davon halten, es hat Sie nicht glücklich gemacht, Wenn Sie ehrlich mit sich sind, wissen Sie das

174

Paul


175

… Habe ich nicht recht? … Sagen Sie nichts, im Grunde wissen Sie, dass ich recht habe … Schließen Sie die Augen Nur für einen Moment Vertrauen Sie mir Stellen Sie sich vor Eine Arbeit ohne Schreibtisch Ohne Computer Ohne Anzug und Krawatte An der frischen Luft In Kontakt mit der Natur Eine Arbeit, auf die Sie am Ende des Tages zufrieden zurückblicken können, weil sie ein handfestes Ergebnis gebracht hat Eine Arbeit, die den Menschen Schönheit Und Freude schenkt Diese Arbeit gibt es, Herr Pascal, und die bekommen Sie Wenn Sie mir vertrauen Wollen Sie mir vertrauen? Sonia Nicht schlecht Gut gemacht Viel Empathie Ein bisschen zu viel Pathos, aber das hat sicher mit dem Stress zu tun Hat’s Ihnen Spaß gemacht? Paul Ja, sehr Sonia Ich stelle Sie probeweise ein Paul Super Sonia Erst einmal begleiten Sie mich und schauen, wie‘s läuft Ein paar Tage Beobachtung Dann stehen Sie auf eigenen Beinen

4. Mosaik Sie sind Freundinnen Du machst dich verrückt Tony Schon immer. Seit dem Gymnasium Mélina Wart’s ab. Du wirst schon sehen Das eröffnet dir neue Perspektiven Chloé Ich glaube nicht, dass es funktionieren wird Tony Das hat ganz zufällig angefangen Tony

Mélina


Was treibst du da? Chloé Der Platz war frei, also hab ich mich hingesetzt Mélina Das ist meine Bank Chloé Die ist schon seit Wochen frei Mélina Du bist neu, oder? Chloé Was hast du da unter deinem T-Shirt? Mélina Ein Korsett Chloé Eine Korsage? Mélina Ein Korsett Stört dich das? Chloé Also … nein Mélina Hast du noch nie ein Korsett gesehen? Chloé Wozu braucht man das? Mélina Als Stütze für die Wirbelsäule Nur vorübergehend Solange sie sich streckt, damit sie sich wieder einrenkt Chloé Tut das weh? Mélina Es geht Tony Wenn was so zufällig anfängt und dann so viele Jahre hält, das ist schön Mélina Kommst du mit zu mir? Meine Mutter ist nicht da Chloé Ich muss Hausaufgaben machen Mélina Sei nicht so eine Streberin Hausaufgaben sind doch scheißegal Chloé Mir sind sie nicht scheißegal Tony In den gemeinsam verbrachten Stunden stellen sie sich ihr Leben vor und sagen sich, dass es großartig wird und anders und überhaupt nicht so wie das von Mama Chloé Ich will, dass das Leben schön wird, ich will, dass es gut läuft Ich will abhauen, weit weit weg, eine Weltreise machen Ich will Leute treffen, ganz verschiedene, überall auf der Welt Will allen Religionen, allen Sprachen, allen Kulturen begegnen In die Vergangenheit reisen und in die Zukunft Ich will Farben und Gerüche Tropenwälder, Meere, Berge, Wüsten, Vulkane Ich will alles kennenlernen, auf der ganzen Welt Ist doch verrückt, was man im Bauch alles spürt Diese ganzen Knoten, alles, was da vom Bauch ins Hirn steigt, ist doch echt verrückt Ist denn alles, was passiert, Zufall, passiert alles nur aus Zufall, ist es nur Zufall, dass man da ist und zu dem wird, was man ist? Mélina Du machst dich verrückt Chloé Darum geht es nicht

176

Mélina


177

Ich hab – ich hab nur Angst, enttäuscht zu werden Und mir hinterher zu sagen, das war‘s Das war schon alles Tony Mit siebzehn fährt Chloé nach Griechenland Mélina wäre gerne mitgekommen Sie kann nicht Sie muss unters Messer Zum neunten Mal Chloé Was ist es diesmal? Mélina Das Becken Es wird an mehreren Stellen gebrochen Danach wieder zusammengesetzt Dann wird eine Gipsschale drum herum gegossen Und da lieg ich dann zwei Monate lang drin Chloé Ich komme dich besuchen Sobald ich zurück bin, besuche ich dich Mélina Ich bleib solange liegen, bis alles zusammengewachsen ist Danach geht’s wieder Sie kommen in ein erstklassiges Reha-Zentrum Da werden hauptsächlich Verkehrsopfer behandelt, das wird Ihnen ein bisschen merkwürdig vorkommen, hat der Arzt gesagt Aber Sie werden sehen, die Leute sind Spitze, und was die Ausstattung angeht, da gibt es nichts Besseres Wenn Sie rauskommen, sind Sie kerzengerade Und marschieren wie ein Topmodel Chloé Und wie geht es dir? Mélina Beschissen, aber ich reiß mich zusammen Ich denke an später, wie toll dann alles ist Wie ich dann ohne Stock laufen und auf der Straße mit dem Arsch wackeln kann Und wie die Jungs sich nach mir umdrehen und die Mädels genauso, weil sie neidisch sind Weil ich einen traumhaften Arsch habe Davon träume ich Von einem traumhaften Arsch Wie die griechischen Statuen Die griechischen Statuen haben unglaubliche Ärsche Ärsche, die man am liebsten anfassen möchte Im Gegensatz dazu ist bei den Mosaiken alles kaputt, alles in Stücken Ich verstehe nicht, wie du so viel Zeit mit Sachen vertun kannst, die so kaputt und schäbig sind Chloé Es gefällt mir eben Das ist alles


Archäologie? Du willst Archäologie studieren? Was willst du denn damit machen? Tony Sagt Mélina zu Chloé Chloé bleibt dabei Mélina Ich finde, Arbeit wird überbewertet, deshalb nur so viel Arbeit wie nötig, das heißt, so viel Geld, wie ich für meine Unabhängigkeit brauche Eines Tages, wenn du alt bist und abserviert wirst Wenn du Falten auf der Stirn hast, einen verkniffenen Mund und du dir vor lauter Arbeit die Augen und die Haut ruiniert hast Wirst du dir sagen, ich war ganz schön blöd Echt absolut blöd, mich so abzurackern Tony Sagt Mélina Aber Chloé bleibt dabei Bis zum Schluss Griechische Archäologie, Spezialgebiet Mosaikforschung Mit Auszeichnung bestanden Vorstellungsgespräche Am laufenden Band Haufenweise Absagen Chloé Tadadaaa Mélina Champagner? Gibt’s was zu feiern? Chloé Meinen ersten Arbeitstag Mélina Los, erzähl Chloé Ich mache Routing Mélina Was? Chloé Routing Mélina Klingt nicht lustig Chloé Ist nicht schlecht Mélina Wie nennt sich das? Chloé Routing Mélina Sagt mir nichts Chloé Okay, soll ich’s dir erklären? Das ist eine Software Die kriegt jede Menge Inputs Kurz gesagt, wie ich das verstanden habe, sind diese Inputs die Outputs eines anderen Systems, das berechnet, wieviel von jedem Produkt der ganzen Produktpalette in den nächsten zwei Wochen pro Bereich gebraucht wird Mélina Was sind das für Produkte? Chloé Medikamente

178

Mélina


Außerdem gibt es unterschiedliche Produktionseinheiten. Jede Einheit hat einen Code. Davon gibt es jede Menge. Zum Beispiel Mexiko, Tschechien, USA, Slowenien, Belgien, Südafrika, Thailand, was weiß ich … Für jede Einheit steht eine bestimmte Produktionskapazität zur Verfügung. Und ich mache das Routing Mélina … Chloé Das ist wie Tetris. Ich ordne die Chargen, die produziert werden müssen, den Produktionseinheiten zu, und dann spiele ich alle möglichen Kombinationen durch, damit es so preisgünstig wird wie möglich Mélina Kann das nicht ein Computer machen? Chloé Sie sagen nein Es braucht jemanden, der den Überblick hat Der kreativ ist, falls es ein Problem gibt Mélina Na, wenn’s um Kreativität geht, ist das ja das Richtige für dich Darauf stoßen wir an Aufs Routing Und auf die Mosaiken! Chloé Mach dich nur lustig Musik

Ja, sie denkt an die Mosaiken Auf ihrem Computerbildschirm sieht jede Medikamentencharge aus wie ein Mosaiksteinchen, das über die Weltkarte reist Chloé Man sagt Tessera Tony Wie bitte? Chloé So ein Mosaiksteinchen, wie du es nennst, heißt Tessera Tony Ach so Auf der Weltkarte sieht jede Medikamentencharge aus wie eine Tessera Mélina Wie schreibt man das? Tony

179

Chloé Tony

TESSERA

Wie eine Tessera, die je nach Ursprung und Ziel eine andere Farbe

hat

Stimmt, das ist hübsch Ich schaue drauf, und das beruhigt mich Tony Amphipolis Chloé Ich stelle mir die verschiedenen Medikamentenchargen im Laderaum der Flugzeuge vor Tony Amphipolis Chloé In den LKWs Tony Amphipolis Chloé Wie sie sich in alle Richtungen bewegen Das ist schön Tony Amphipolis Mélina WAS ? Mélina Chloé


… In einem Grab in Mazedonien hat man eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht Mélina Wo denn? Chloé In Amphipolis Tony Ein gigantisches Mosaik Mehr als fünf Meter breit Mit zwei weißen Pferden, die einen Wagen ziehen Und vorne auf dem Wagen Hermes, der die Pferde lenkt Chloé Die Tesserae sind weiß, schwarz, grau, rot, gelb und blau. Die Farben sind einfach unglaublich. Man könnte meinen, die Steine wären eben erst zusammengefügt worden. Du siehst sie und diese Farben zerreißen dir das Herz, so schön ist das Tony Die Archäologen vermuten, dass es sich um das Grab von Roxane handelt Mélina Roxane, der Vorname gefällt mir Tony Die Farben der Tesserae von Amphipolis sind halt doch was anderes als die Farben der Medikamentenchargen der Routing-Software Mélina Fehlt dir die Archäologie eigentlich nicht? Chloé Nein, es geht 5. Jetzt kannst du was erleben Ich habe ihr meine Nummer gegeben Hab ihr gesagt, ruf mich an Hab nicht dran gedacht, sie nach ihrer Nummer zu fragen Tony Schön blöd Chloé Mach du doch Er gefällt dir Du brauchst ihn nur anzurufen Mélina Nein. Nein, nein. Dich findet er toll. Nicht mich Ich verstehe übrigens nicht, warum Ehrlich Ich bin zehnmal besser angezogen als du Ich achte auf mein Aussehen Ich habe einen frischen Teint, eine gute Frisur Aber was soll’s, er fährt auf dich ab Chloé Hör auf Mélina Das wird dir guttun Wenn du ihn nicht anrufst, mach ich das für dich Fred So läuft das nicht, im Nachhinein hab ich mir gesagt, warum hast du ihr denn deine Nummer geben … hättest sie nach ihrer fragen sollen Fred

180

Chloé


Stimmt. Echt blöd Fred Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe Chloé Er spielt sich ein bisschen auf Fred Bis mir das klar wurde, war sie schon weg, es war zu spät Mélina Rufst du ihn an? Chloé Ich lass ihn noch ein bisschen schmoren Mélina Aber du rufst ihn an? Tony Schließlich und endlich ruft sie ihn an Fred? Sagt sie Ja? Sie gehen was trinken Es geht sehr schnell Mélina Du kannst dich bei mir bedanken, wenn du magst Chloé Er ist nett Mélina Warte nicht zu lange damit Chloé Mich bei dir zu bedanken? Wofür? Mélina Dafür, dass ich dich aus deinem Loch rausgeholt Und dich in diesen Club geschleift habe Tony Er bringt sie zum Lachen Sie lacht Fred Sehen wir uns wieder? Chloé Von mir aus Fred Wann? Chloé Mal sehen Tony Sie beginnt, an ihn zu denken Mélina Bist du verliebt? Chloé Ich weiß nicht Mélina Und er? Chloé Ich glaube, ja Tony Früher hat er einen auf Rockstar gemacht Abenteuer, Freiheit Routine ist zum Kotzen. Hat er gesagt Jetzt füllt sie seine Welt, sein Universum aus Und es gefällt ihm Mélina Du siehst gut aus Chloé Danke Mélina Ich verzieh mich Tony Mélina fühlt sich einsam Chloé Nein, warum denn? Tony Bah, einfach so Fred Alles Gute zum Geburtstag! … Das ist ein Notizkalender Tony

181


Sehe ich Fred Vorne ist Platz für Fotos, hier Tony Sie lächelt ihn an Wenn sie lächelt, hat er Schmetterlinge im Bauch Fred Und hier ist extra Platz, da kannst du alles reinschreiben, was dir durch den Kopf geht, alles Wichtige, siehst du? Chloé Danke, das ist lieb Fred Ich habe gedacht, der würde dir gefallen. Das ist ein echter Notizkalender, so einer wie früher, der Einband ist aus Leder. Der schmiegt sich in deine Hand, verformt sich ein bisschen, und dann gehört er wirklich dir, niemand anderem als dir Tony Tatsache ist, dass er eigentlich nicht gewusst hat, was er ihr schenken soll Sie beeindruckt ihn An Mädchen wie sie ist er nicht gewöhnt Sie ist anders als diese Tussis, die zum Tanzen in die Clubs kommen Sie ist was anderes Sie ist intelligent Das ist ihm klar Dieses Mädchen ist zu gut für dich Fred Halt die Schnauze Tony Er strengt sich an Tut so, als sei das alles normal Spielt den coolen Macker, ganz entspannt Fred Stoßen wir an? Chloé Auf was? Fred Auf uns. Sollen wir sagen‚ auf uns? Chloé Auf uns ist gut Fred Das ist auch noch für dich Tony Ein Bildband Fred Über Venezuela Tony Wo genau das liegt, hat er nicht gewusst Chloé Das ist lieb Tony Er hat im Internet nachgeschaut Fred Eigentlich habe ich ein Buch über den Typ aus Venezuela gesucht, von dem du die ganze Zeit sprichst Tony Carlos Cruz-Diez Fred Dieser Künstler, ich hab seinen Namen vergessen Tony Carlos Cruz-Diez Chloé Carlos Cruz-Diez? Fred Genau Kann ich mir einfach nicht merken Chloé Macht doch nichts, das ist lieb

182

Chloé


Ich habe auch ein Geschenk für dich Aber nur ein kleines Fred Ein Schlüsselanhänger Chloé Ja Fred Ist das der Schlüssel von hier? Tony pfeift durch die Zähne. Chloé Fred Tony

Was sagst du dazu? (zu Tony) Was? (lacht) Nichts

Was?? Nein, nichts Fred Du nervst Tony Ich kaufe dir Pantoffeln Fred Du spinnst Tony Damit du den Teppich nicht dreckig machst Damit deine Füße schön warm bleiben abends auf dem Sofa Schöne Pantoffeln. Mit Kunstfell gefüttert. Mit ganz weichem synthetischem Kuhfell Magst du Karos? Sag schon, wär blöd, wenn die sich mit dem Muster des Teppichbodens beißen DJ Pantoffel Fred Ja ja Tony DJ Pantoffel! DJ Pantoffel! Fred Ich hau dir in die Fresse Tony Oh! Schon gut Reg dich nicht auf Ist ja schon gut Fred

Tony

183

6. Eine Wolke in den Augen Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als es passiert ist Da tauchte diese Dame auf, im Kostüm, sie sah gut aus, gut angezogen Ein Besprechungszimmer war für sie reserviert Sie ist hereingeschwirrt mit ihrem kleinen Rollkoffer Ein Herr im Anzug hat sie begleitet Der hat nichts gesagt, hat sich mehr im Hintergrund gehalten Sie hat ihre Sachen ausgepackt Und dann hat sie einfach gerufen Sonia Chloé? Eine Kollegin Hat sie gefragt Sonia Chloé, sind Sie das? Eine Kollegin


Chloé ist reingegangen, die Dame hat die Tür hinter ihr

geschlossen Sonia Kaffee? Chloé Danke, nein Sonia Sie wissen, warum Sie hier sind? Paul Scheint ja ganz einfach zu sein Sonia Sie sind hier, weil Ihr Arbeitgeber beschlossen hat, Sie zu entlassen. Man hat mich beauftragt, Ihnen das mitzuteilen Paul Das wird einfach so gesagt Mit viel Feingefühl Chloé Ich bin für meine Arbeit immer gelobt worden Sonia Darum geht es nicht Paul Während sie das sagt, schüttelt sie leise den Kopf. Reckt den Nacken ein wenig Chloé Können Sie mir das erklären? Sonia Ihre Stelle wird abgebaut Chloé Wieso? Sonia Ich bin nicht befugt, derartige Fragen zu beantworten Paul Ihre Stimme klingt wie Samt So sanft, dass man Gänsehaut kriegt Chloé Wozu sind Sie genau befugt? Sonia Ich arbeite für Move for people Paul Wenn sie Englisch spricht, das wirkt absolut elektrisierend, noch mal! Sonia Ich arbeite für Move for people Paul Oh jaaaaah! Chloé Ich würde gerne wissen, was man mir vorwirft Sonia Nichts Besonderes Paul Ihr Haarknoten löst sich, eine Strähne fällt ihr in den Nacken Sie hat den Nacken einer Primaballerina Zart, graziös Sonia Ihre Stelle wird automatisiert Tony Keiner sagt mehr was Die weißen Wände, das Neonlicht, der kühle Luftzug der Klimaanlage Als wäre man im Inneren eines Eisbergs Man kann hören, wie das Eis knackt Wie eine unglaubliche Gewalt den Raum zusammenquetscht Sonia Unterschreiben Sie hier. Unten auf dem Blatt. Nur auf diesem Auf dem anderen ist es nicht nötig. Das andere ist für Sie Wenn Sie soweit sind, rufen Sie mich an Wir werden was Gutes für Sie finden Veränderung ist eine Chance Wir sehen uns bald wieder

184

Eine Kollegin


Sie gibt ihr nicht die Hand Sie steht auf Das hat zehn Minuten gedauert, allerhöchstens Paul Große Kunst Tony Es ist vorbei Eine Kollegin Als sie rauskam, war sie ganz blass Ich habe sie gefragt, alles in Ordnung, Chloé? Sie hat nichts gesagt Hat die Schubladen von ihrem Schreibtisch aufgemacht Alles in ihre Tasche gepackt Ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen Ich habe sie gefragt: Chloé, wo gehst du hin? Sie hat nicht geantwortet Tony Sie wartet nicht auf den Aufzug Sie nimmt die Treppe, ihre Absätze knallen auf dem Beton wie Gewehrschüsse Eine Kollegin Ich bin ans Fenster gegangen, ich wollte sehen, wie sie rauskommt Sie ist auf dem Gehweg stehengeblieben, einfach so, sie hat hochgeschaut, ich weiß nicht, ob sie zu mir raufgeschaut hat Tony In ihren Augen, wie eine Wolke, hundert Farben auf einmal, alle Schattierungen von Weiß und Grau Eine Kollegin Und dann hat die Dame auch mich gerufen Ich bin rein in das Besprechungszimmer und habe begriffen Sonia (zu Paul) Und? Eine Kollegin Wir haben das ja zu zweit gemacht, das Routing Paul So was aus nächster Nähe zu sehen, ist echt beeindruckend Sie sind wirklich … unglaublich Eine Kollegin Ja, wir haben miteinander geredet … aber eigentlich ziemlich wenig, manchmal über die Arbeit, aber sehr wenig über Privates, sie war ziemlich zurückhaltend, und auch ich breite mein Privatleben nicht allzu gern aus, also ich nehme an, da waren wir uns ziemlich einig, ich habe nicht viel von ihr gewusst, und ich nehme an, sie auch nicht viel von mir Danach haben wir uns noch ein oder zwei Nachrichten geschickt, ich weiß, dass sie eine andere Arbeit gefunden hat, sie hat gesagt, die wäre schlechter bezahlt, aber es wäre okay Ich habe eine Ausbildung zur zahntechnischen Assistentin angefangen, na ja, mal sehen … Tony

185


7. Farbinduktionen (liest laut) »Das Mosaik hat die Arbeiten von Carlos Cruz-Diez wesentlich inspiriert, insbesondere seine Serien von Farbinduktionen, deren nebeneinander gereihte Lamellen auf ganz eigene Weise an die Technik der Juxtaposition erinnern, wie sie in der Mosaikkunst der Antike üblich war. Indem er mit der Nachbildwirkung der Netzhaut spielt, die durch aneinandergrenzende Farben hervorgerufen wird, lässt CruzDiez uns Farben sehen, die nur für unser Auge existieren. Deshalb kann man die Farben, die da erscheinen, auch als virtuell bezeichnen, denn sie existieren nur für den einen Moment, der durch Juxtaposition einer Initialfarbe und einer induzierten Farbe entsteht. Auf diese Weise kann gelb hervorgerufen werden durch Juxtaposition von schwarz, blau und weiß; orange durch Juxtaposition von blau, gelb und schwarz; rot durch Juxtaposition von grün, weiß und schwarz.« Hast du das geschrieben? Chloé Ja Fred Das ist schön Tony Stimmt, das ist schön Chloé Ist lange her Fred Wenn ich auflege, ist das ganz ähnlich Die Leute glauben, sie hören einen Ton Aber in Wirklichkeit sind es viele verschiedene Man muss dosieren können Chloé Du bist mein Cruz-Diez Fred Hat dieser Typ ein Museum? Tony Chloé antwortet nicht sofort Sie war schon lange nicht mehr im Museum Ist lange nicht mehr in gedämpftem Licht herumspaziert Hat dabei die Zeit vergessen, die ganze Welt um sich herum Die Beine schwer vom vielen Hin- und Herlaufen Wir schließen, junge Frau Noch fünf Minuten! Chloé Cruz-Diez hat ein Museum in Caracas Fred Das ist weit weg Tony Ein anderes in Paris Fred Hättest du Lust, mit mir hinzufahren? Die Farben anschauen, die nicht existieren? Chloé Sie existieren, diese Farben Ohne dass man sie mischen muss Fred Das ist beängstigend Chloé Findest du? Fred Das heißt doch, was weiß ich, dass man glaubt, Sachen zu sehen,

186

Fred


187

aber die existieren gar nicht Man bildet sich was ein, man täuscht sich Und merkt es nicht mal Chloé Das ist nun mal so … Fred Eins weiß ich jedenfalls: Wenn ich dir nahekomme, wirst du ganz rosa. Ist das Farbinduktion, was meinst du? Chloé Quatsch Fred Stimmt aber, ein klein bisschen rosa, da, auf deinen Wangen Ich bin deine Farbinduktion Tony Sie schließt die Augen Und vor ihr tanzen die Farben Eine ganze Palette von roten, rosa, grünen, gelben, blauen Farben, in denen sie versinkt Sanft, zärtlich und süß fühlt sich das an Sie lässt sich davontragen … Mélina Bist du sicher, dass er der Richtige ist? Chloé Nein Aber … ich wünsche es mir. Ich möchte einfach eins Und dann sehen wir weiter Wenigstens hab ich dann eins Mélina Du spinnst Chloé Für mich. Nur für mich. Ich will eins Mélina Wenn du dir hinterher sagst, das hätte ich besser nicht gemacht, dann ist es zu spät, dann kannst du nicht mehr zurück Chloé Das wird nicht passieren Mélina Macht dir das keine Angst? Dich da reinzustürzen und zu wissen, dass das lebenslänglich heißt? Chloé Ich wünsche es mir so sehr. Schon lange Mélina Du spinnst Wie willst du das machen? Ein Kind großziehen mit einem Kerl, der nicht arbeitet Der davon träumt, nach Ibiza abzuhauen Was sagt er denn dazu? Chloé Er weiß noch nicht Bescheid Mélina Willst du es ihm nicht sagen? Chloé Ich weiß nicht Mal sehen


8. Callcenter Also im Großen und Ganzen würde ich sagen, du hast das ziemlich gut hingekriegt. Gar nicht schlecht. Auch wenn man noch ein bisschen was verbessern könnte. Lassen wir das Video laufen? Paul Ok Sonia

Video läuft.

Ein Callcenter? Ja. Warum nicht? Ist doch cool, da ist Stimmung, da sind jede Menge junge Leute, da ist Energie Chloé Den ganzen Tag Kopfhörer auf den Ohren, ohne zu wissen, mit wem ich spreche. Nein, danke, nein Paul Ich bin darauf gekommen, weil Sie eine schöne Stimme haben Chloé Das ist nett, aber nein Chloé Paul

Videostop

Siehst du, da willst du sie unbedingt überreden. Du bedrängst sie, und sie schreckt zurück. Du musst genau das Gegenteil machen. Musst bremsen. Wenn du bremst, kriegt sie Lust vorzupreschen. Logisch. Verstehst du? Aber die Nummer mit der schönen Stimme, die ist tierisch gut, das ist deine Rettung, da fängst du sie wieder ein Video läuft.

Erzählen Sie, was haben Sie genau gemacht? Routing Paul Routing, genau! Natürlich ist es ideal, wenn man auf früheren Erfahrungen aufbauen kann. Aber Sie haben eine sehr spezielle Arbeit mit einem sehr speziellen Tool gemacht. Und dieses Tool ist überholt. Es ist illusorisch zu glauben, es ließe sich etwas Gleichwertiges finden. Daraus folgt, dass man die typischen Eigenschaften der vorherigen Stelle analysiert und versucht, etwas Vergleichbares zu finden. Das ist das logischste und am wenigsten riskante Verfahren. In Ihrem Fall: einen Bürojob ohne Dienstreisen, ohne direkten Kundenkontakt, mit regulären Arbeitszeiten, der die Fähigkeit voraussetzt, unterschiedlich geartete Probleme zu analysieren und sich mit Tools und Informationssystemen im unteren Level auszukennen … Paul

Chloé

Videostop

Das ist echt gut. Rückgriff auf das Vorleben. Neuausrichtung. Von Verfahren, von Logik reden. Entpersonalisieren. Und schon ist sie beruhigt, hast du gesehen, wie sie sich beruhigt, als du ihr das sagst? Paul Ja Sonia Hast du es gespürt? Paul Ja, ich hab’s gespürt, ja Sonia Schade, dass wir dich nicht im Bild haben, ich bin mir sicher, deine Body Language wäre in dem Moment auch sehr aussagekräftig, du Sonia

188

Sonia


sitzt bestimmt bequem zurückgelehnt auf deinem Stuhl, energiegeladen, aufgeschlossen, ohne zu drängen Paul Ja, genau Video wird zurückgespult.

… die Fähigkeit voraussetzt, unterschiedlich geartete Probleme zu analysieren und sich mit Tools und Informationssystemen im unteren Level auszukennen … Chloé Im unteren Level? Paul Sie haben ein Diplom in Archäologie. Nicht in Mathematik, Statistik oder Informatik. Deshalb ordnet unser System Sie ein in die Kategorie »Kennt sich aus mit Tools und Informationssystemen im unteren Level« Chloé Das ist idiotisch Paul Wir haben das Ziel, Ihnen schnellstmöglich wieder Arbeit zu verschaffen, ohne ein übermäßiges Risiko einzugehen, weder für Sie noch für diejenigen, die Sie einstellen Videostop

Baaammm, Bodenkontakt. Zack, voll in die Fresse. Am Anfang ist das gut. Später … finde ich es ein bisschen zu direkt Paul Ah ja? Sonia Ja schon. Es geht, weil du ein Kerl bist. Das Mädchen ist introvertiert, sie schluckt es, ohne was zu sagen. Aber trotzdem gehst du da ein Risiko ein, du kannst sie verlieren. Das ist blöd, du musst nur etwas behutsamer vorgehen, dir ein bisschen mehr Zeit zu nehmen, und kommst ohne Stress zum gleichen Ergebnis Sonia

189

Video läuft. Chloé Paul

Haben Sie keinen anderen Vorschlag? Nein, keinen

Videostop

Siehst du? Genau das ist es. Haben Sie keinen anderen Vorschlag? Das heißt, du hast sie nicht überzeugt. Nur weil sie begreift, dass du keinen anderen Vorschlag hast, akzeptiert sie. Das ist nicht gut. In einem von zwei Fällen verlierst du solche Leute Paul Ah ja? Sonia Ja, ja Danach ist es gut Im Großen und Ganzen funktioniert‘s, sie kauft es Aber sie fühlt sich bedrängt Verstehst du, was ich meine? Paul Ja, ja, ich verstehe Sonia

Video läuft.

Haben Sie keinen anderen Vorschlag? Paul Nein, keinen Das ist vielleicht nicht der Job, von dem Sie träumen Chloé


Aber es ist ein guter Job. Glauben Sie mir Chloé Kann ich ablehnen? Paul Das können Sie. Aber ich würde es Ihnen nicht raten Chloé Vielleicht haben Sie ja in nächster Zeit was Interessanteres? Paul Unser Auftrag ist es, so schnell wie möglich eine Beschäftigung für Sie zu finden. Wenn Sie ablehnen, gibt es nichts anderes. Verstehen Sie? Chloé Im Klartext, ich bin gezwungen zu akzeptieren Videostop

Das meine ich: »Ich bin gezwungen zu akzeptieren«, da schlägt sie einen ziemlich scharfen Ton an Sie hat das Gefühl, dass du sie unter Druck setzt Also, daran musst du noch arbeiten Wenn du es schaffst, da besser zu werden, funktioniert‘s, glaub mir Paul Ok, ok Sonia

Video läuft.

Das entscheiden Sie Einverstanden Ich bin einverstanden Paul Eine weise Entscheidung Glückwunsch Paul

Videostop, das Bild von Chloé bleibt stehen.

Gut, nicht schlecht Jetzt noch ein Tipp, den du dir merken solltest: Lehn dich auf deinem Stuhl lässig zurück Mach einen Vorschlag und warte ab Sei nicht an ihrer Stelle auf was aus Das ist kinderleicht Aber die Grundvoraussetzung, wenn du keinen Reinfall erleben willst Übrigens würde ich nächstes Mal gerne dich filmen lassen und schauen, was wir an deiner Body Language noch verbessern können Aber das ist ein guter Anfang, nicht schlecht Paul Okay, kapiert Sonia

9. Ibiza Avicii? Nie gehört Fred Major Lazer? Tony Auch nicht Fred Martin Garrix? Paul Kalkbrenner? Tiësto? Fred

Tony

190

Chloé


191

Calvin Harris? Tony Vielleicht Fred David Guetta? Tony Den ja Fred Das beruhigt mich, wir leben auf dem gleichen Planeten Tony Electro ist nicht mein Ding, ist doch nur Rhythmus mit ein paar Sounds drüber Fred Das glauben alle Dass man bloß ein bisschen Equipment braucht, um was rauszubringen Aber wenn du das mega Ding landen willst, das Ding, das abgeht, das dir im Hirn bleibt, musst du ein verdammt guter Musiker sein Am schönsten ist es, je klarer und einfacher es ist Du brauchst ausgereifte Ideen Klare Vorstellungen Dafür gibt es keine Schule Du musst dich reinschmeißen, musst ausprobieren Und während du probierst, wird dir klar, dass achtzig Prozent von dem, was du machst, Scheiße ist, dass da nichts rüberkommt Du testest die Nummer im Club, siehst, ob du die Leute kriegst, ob du ihnen einheizen kannst, ob du sie zum Schwitzen bringst Wenn‘s total floppt, wenn alle von der Tanzfläche flüchten, machst du eine schnelle Überleitung, als ob nichts gewesen wäre Ich hoffe, irgendwann bring ich mal was ganz Großes raus Irgendwas, das bleibt Und wenn’s nur ein One Shot ist, egal Dann kann ich mir sagen, du hast es gebracht Du hast überall aufgelegt, bist nach Ibiza eingeladen worden Aber für so was brauchst du ein Wahnsinnsglück Genau, du brauchst ein Wahnsinnsglück Oder aber du brauchst Geld, du brauchst ein Studio, gute Leute um dich rum, einen Typen, der dir was beibringen kann, der Sachen hört, die du dir nicht mal vorstellen kannst Ein Typ, der dir nur nach Gehör, wenn du eher zufällig was hinkriegst, sagen kann, das ist es, mach weiter Entweder du verlässt dich auf dein Glück oder du investierst Wenn du nicht investierst, kommst du nicht rein ins System Deshalb brauch ich‘n Job Tony Wenn ich dir unter die Arme greife, dann mach bloß keinen Mist Fred Keine Sorge Tony Ich sage, ich kenne dich und bürge für dich Paketzusteller werden immer gebraucht. Jede Woche gehen ein paar. Vor allem im Winter. Der Winter ist hart, du fängst um halb sechs an, mitten in der Nacht, und wenn du aufhörst, ist schon wieder Nacht, als wärst du in


einem Tunnel, auch wenn es zwischendurch hell ist. Im Winter haben die Typen fast immer rote Augen, fragt sich nur, ob von der Müdigkeit oder von den Scheinwerfern, die sie nonstop in die Fresse kriegen, oder weil sie geheult haben Fred Red’ keinen Scheiß Tony Fahr du erst mal ein paar Wochen lang jeden Tag gegen die Uhr, dann werden wir sehen, ob du einer von den Knallharten bist oder ob auch du zu heulen anfängst, weil du im Stau steckst, dein Zeitplan geplatzt ist und Strafzeiten anfallen Fred Wegen Strafzeiten fang ich nicht an zu heulen Tony Weil du nicht weißt, was das ist. Strafzeiten, das heißt, man zieht dir Kohle von deinem Lohn ab, Strafzeiten, das heißt, du ackerst umsonst. Also die Typen, die Raten abzahlen, die Frau und Kinder ernähren müssen, die drehen durch, das ist normal Fred Es wird schon gehen Tony Das kannst du nicht wissen Ob man es aushält, weiß man erst, wenn man drinsteckt

Die Tasche auch, bitte Hat er zu mir gesagt Tony Machen Sie Ihre Tasche auf Mélina Schon meine Manteltaschen leer zu machen, war peinlich genug! Aber als er gesagt hat, die Handtasche auch, bin ich sauer geworden Dieser Vollidiot von einem Wachmann in seinem Supersparpreis-Anzug Warum soll ich denn für dich meine Tasche aufmachen? Tony Duzen Sie mich nicht, ich duze Sie nicht, Sie duzen mich nicht, entweder Sie kooperieren, machen die Tasche auf und wir gucken rein, oder Sie weigern sich, dann rufen wir die Polizei Mélina Also hab ich sie aufgemacht und die Flakons ausgepackt, was hätt ich sonst machen sollen, ich hab alles ausgepackt Tony Das haben Sie nicht gekauft Wir haben Sie beobachtet, mit der Kamera Sie können das bar bezahlen und die Sache ist erledigt, oder wir rufen die Polizei Mélina Ich hab in meine Tasche geschaut Ich habe gesagt, ich habe das Geld nicht Zweihundertachtunddreißig Euro Die hatte ich nicht Chloé Du hättest mich anrufen sollen Tony

Mélina

192

10. Die kleine Diebin


Hätte ich machen sollen, ja Hab nicht dran gedacht Es war wie im Traum Die Bullen sind aufgekreuzt Tony Sie bekommen diesmal nur eine gebührenpflichtige Verwarnung. Die bezahlen Sie, und dann war’s das, wir gehen davon aus, dass das nicht noch mal passiert Mélina Du blödes Arschloch, wie soll das denn gehen Ich habe mein schönstes Lächeln aufgesetzt und hab gesagt, ist ja kein Weltuntergang, ist mir zum ersten Mal passiert, tut mir schrecklich leid, ich weiß wirklich nicht, was da über mich gekommen ist, können wir uns nicht irgendwie arrangieren? Aber es hat nichts genützt Na klar, sind halt Bullen, klar Fünfzehn Jahre ging’s wie geschmiert, und dann wird man auf die Art erwischt Tony Dabei haben Sie noch Glück Chloé Aber jetzt musst du dich langsam mal beherrschen Mélina Ich hab nicht vor, mich zu beherrschen Wie soll ich das denn anstellen Geht einfach nicht Was aus sich machen, up to date sein, sich das ganze Zeug leisten, das geht einfach nicht, und das wissen diese Macker, die dir das alles anbieten, auch genau, die Boutiquen, die neuen Kollektionen, die 50 %-Rabatt-auf-den-zweiten-Artikel-Aktionen, die wissen, dass das nicht geht, ohne wie verrückt zu schuften, schuften, um kaufen zu können, ohne was davon zu haben Da muss man notgedrungen Mittel und Wege finden, wie soll das sonst gehen? Chloé Mach’s doch wie ich Mach da nicht mit Mélina Ach, bei mir ist das was anderes, ich mag das einfach, was Schönes zum Anziehen, das tut mir gut, das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, da strahle ich Sagst du nicht immer, das Leben ist zu kleinkariert, man muss von was Großem träumen? Ich bin ganz deiner Meinung, ich verliere keine Zeit, ich will was davon haben Und du solltest es am besten auch so machen Chloé Das stresst mich, ich kann das nicht Mélina Das ist Adrenalin pur! Da fühlt man sich gleich viel lebendiger Du und ich, wir wären ein gutes Duo Mélina

193


Nein, hör bloß auf Mélina Im Grund sind wir uns ähnlich, wir betrachten die Dinge auf unsere Weise Chloé Ich bin nicht wie du Mélina Du glaubst, man sieht es dir nicht an, weil du nie was sagst, aber ich kenne dich, ich weiß, dass es in dir brodelt Du gibst dir Mühe, aber eigentlich interessiert dich das alles nicht Tony Stimmt, wenn sie sich mit ihren Mosaiken beschäftigen und all die zerbrochenen Scherben zusammenkleben dürfte, ginge es ihr viel besser Es ist nicht leicht, anders zu sein Mélina Auf Dauer hältst du das nicht durch Das ist glattweg unmöglich Tony Absolut nicht, weil die Gesellschaft dich kaputt macht und dieser ganze Quatsch Das liegt einfach in der Natur der Sache Mélina Ganz allein kannst du nicht überleben, das hältst du nicht aus Ich bin für dich da Viel mehr als dieser Typ In den du nicht mal verliebt bist Du machst das doch nur, um wie alle anderen zu sein Chloé Du bist ja nur eifersüchtig Mélina Dieser Typ, der kann dir nicht das Wasser reichen Häng dich bloß nicht an so einen Kerl Der ist nichts für dich

11. Night shift Keine Alarmanlage Der Typ ist verreist Ich habe ihn gestern beliefert War ihm sogar ein bisschen behilflich Er fand das toll Ohne dass er gefragt hätte, habe ich ihm angeboten Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen Paul Gern Wir stellen ihn ins Wohnzimmer, das kommt mir sehr gelegen Ich habe keine Zeit zum Auspacken, ich fahre weg Trifft sich echt gut, dass Sie mir helfen können Ist besser, wenn er nicht da rumsteht Fred Sie verreisen? Paul Kein Urlaub, nur eine Dienstreise, die Arbeit ruft Fred Gute Wahl, der Fernseher Fred

194

Chloé


Kennen Sie sich aus? Fred Überhaupt nicht, aber in seiner Kategorie ist er der teuerste, also ganz klar der beste Paul Man bekommt ja immer was für sein Geld Fred Ich muss jetzt leider weg, auf mich warten noch andere Kunden Ich habe ihn freundlich angelächelt und bin gegangen Der Typ hat Expresslieferung verlangt, nur weil er Bock drauf hatte, schnellstmöglich beliefert zu werden, wie ein verwöhntes Kind Auf der Straße ein Wahnsinnsverkehr, ich hab mich durch die Rushhour kämpfen dürfen, um zu seinem schweineteuren Loft zu kommen Und das alles, damit er mir sagt Paul … keine Zeit zum Auspacken, ich fahre weg Fred Und warum verlangst du dann Expresslieferung, du Arschloch? Schau dir das an Hier stinkt’s doch nach Geld Hey, oh, guck dir die Stereoanlage an! Und die Lautsprecher! Bowers & Wilkins Kostet ein Schweinegeld Tony Wir sollten besser gehen. Wir kriegen nur Scherereien Fred Das ist Profimaterial! Tony Was machst du da? Mach keinen Mist Fred Warum sollen wir uns das entgehen lassen? Wieso kann der Typ sich das alles leisten? Arbeitet er vielleicht mehr als wir? Glaub ich nicht, ganz im Gegenteil Tony Los, komm Fred Der Typ meldet das seiner Versicherung Der Versicherungsagent sagt ihm, er hätte sein hübsches kleines Loft besser nicht in so einem Scheißviertel einrichten sollen Und damit ist es geregelt Tony Wenn du erwischt wirst, fällt das auf mich zurück Ich hab dir nicht unter die Arme gegriffen, damit du Scheiße baust Fred Warum sollten wir denn erwischt werden? Mach keinen Stress, es passiert nur was, wenn man Stress macht, das bringt Unglück. Ich nehme mir nur, was ich brauche. Anders geht’s nicht, glaub mir. Die ganzen Typen, die bei den Demos rumbrüllen, haben doch noch nie was geändert. Es gibt nur eins. Man muss was machen. Nicht nur reden. Das ist wie bei einem Hund. Du kannst ewig versuchen, nett zu ihm zu sein. Der frisst dich auf. Du hast keine Wahl, du musst ihm irgendwann richtig auf die Schnauze hauen. Wenn er das erst mal kapiert hat, respektiert er dich und gibt Ruhe Los, hilf mir den Fernseher raustragen Paul

195


12. Der Brand Wie ist das passiert? Das war am späten Nachmittag, gegen 17 Uhr Zuerst hat man nur was gerochen. Ein ganz komischer Geruch. Sehr speziell, kein Geruch nach Verbranntem, sowas haben wir vorher noch nie gerochen Der Journalist Ein paar Leute haben gesagt, zuerst hätte es eine Explosion gegeben Die Nachbar*innen Eine Explosion? Was für eine Explosion? Ich hab nichts gehört Ich schon Der Journalist Haben Sie eine Explosion gehört? Die Nachbar*innen Eine? Jede Menge. Jede Menge Explosionen. Ja, da bin ich ganz sicher Der Journalist Gab es die Explosionen vor oder nach dem Ausbruch des Feuers? Die Nachbar*innen Die Flammen, wissen Sie, die hat man erst viel später gesehen. Zuerst war da nur Qualm. Zuerst hat es Qualm gegeben und den Geruch Der Journalist Haben Sie um Ihre Sicherheit gefürchtet? Die Nachbar*innen Nicht während es gebrannt hat. Aber hinterher, ja Wenn man mitten drin ist, macht man sich das nicht klar Das stimmt Angst kriegt man hinterher, ja. Wenn es rum ist Ich kann nur sagen, Gott sei Dank hat die Feuerwehr alles abgestellt. Das Gas. Den Strom. Wenn nicht, hätten wir alle draufgehen können Der Journalist Es soll sich um einen Unfall handeln, glauben Sie das? Die Nachbar*innen Glauben Sie das? Ich nicht Ganz und gar nicht Der Journalist Wieso? Die Nachbar*innen Also so ein großes Unternehmen. Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass – Da kann ich nur sagen, also echt jetzt, Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass das nicht gesichert war Das stimmt Klar, so ein Unternehmen, die denken an alles, klar war das gesichert, ganz klar Außer gegen das hier, das haben sie nicht vorausgesehen Der Journalist Was wollen Sie damit sagen? Die Nachbar*innen Warten wir erstmal die Ermittlungen ab. Aber trotzdem, jeder sagt sich doch – Ein derartiger Brand? Das gesamte Lager in Rauch aufgegangen? Haben Sie gesehen, wie groß das ist? Das ist doch Der Journalist

196

Die Nachbar*innen


197

unvorstellbar, das war bestimmt kein Unfall Man weiß wirklich nicht mehr, auf was für Ideen die Leute kommen Der Journalist Glauben Sie, es war ein Terroranschlag? Die Nachbar*innen Das glauben doch alle. Ja, alle. Die Hitze, die hat man bis hierher gespürt. Können Sie sich das vorstellen? Da sind Plastikteile rumgeflogen Keine Tüten, kein Verpackungsmaterial, sondern Plastik, harte Plastikteile. Wie kann denn sowas passieren? Und eine Hitze Eine schwarze Wolke, aber sowas von schwarz! Die Flammen, die konnte man über unseren Dächern sehen, der Himmel war ganz rot, ich habe Fotos gemacht, schauen Sie. Das da, in der Nacht, das ist das schönste. Sehen Sie? Trotzdem, wir hätten nie gedacht, dass das so schnell brennen könnte Mich wundert das nicht. Bei all dem Zeug, was da drin war 18 Stunden haben sie gebraucht, um den Brand ganz zu ersticken Der Journalist Sind Sie wach geblieben? Die Nachbar*innen Natürlich! Man konnte nicht zur Ruhe kommen. Mit diesen ganzen LKWs, da gab’s keine Chance, auch nur ein Auge zu schließen Die Feuerwehr, die Polizei, die Krankenwagen Und auch noch die vom Katastrophenschutz LKWs aus sämtlichen Richtungen An die fünfzig mindestens Fünfzig? Das waren viel mehr. Ich würde sagen, an die hundert Wirklich? Ich hab sie nicht gezählt Hätte ich machen sollen Der Journalist Und haben Sie inzwischen in den Alltag zurückgefunden? Die Nachbar*innen In den Alltag? Wie soll das gehen? Man denkt dauernd daran. An die Opfer Auch an die Feuerwehrleute. Es ist zwar ihr Beruf, aber trotzdem Dass es am Ende so wenige Opfer gegeben hat, ist ein Wunder. Also ich meine, es hätte viel schlimmer kommen können, denken Sie nur an den Schaden, den die anrichten, wenn sie mit einem LKW in eine Menschenmenge rasen Der Journalist Abschließend gefragt, was halten Sie von der ganzen Sache? Die Nachbar*innen Was wir davon halten? Wir würden gerne wissen, was passiert ist Uns fehlen die Worte Es ist schrecklich


Natürlich wär’s uns lieber, wenn’s ein Unfall gewesen wäre. Aber das glauben wir nicht Menschen, die sowas machen, da weiß man schon, was das für welche sind Man muss diese Dreckschweine schnellstmöglich fassen Ja, das sind wirklich Dreckschweine, die sowas machen Meine Großcousine ist tot, völlig verkohlt. Sie sagen, sie ist vorher erstickt, am Qualm. Ist doch aber egal. Können Sie sich das vorstellen? Ob die das hier wohl wiederaufbauen? Wenn die abhauen, dann gibt’s noch weniger Arbeit. Das hätte die Gegend hier nicht gebraucht, es ist schon jetzt schwer genug

13. Fernsehnachrichten Er hat den Fernseher nachhause gebracht Hauptsächlich für Chloé Tony Das ist ziemlich nett Seit der Kündigung geht sie nicht mehr oft aus dem Haus Fred Es ist nicht ihre Schuld, das Callcenter hat dicht gemacht, die haben alles verlagert Tony Massenentlassungsverfahren Plan für begleitende Maßnahmen und Outplacement Zu dem Gespräch ist sie noch nicht gegangen Sie braucht ein bisschen Zeit, um das alles zu schlucken Fred Diese Arbeit ist einfach Scheiße, hat sie gesagt Den ganzen Tag telefonieren, da verblödet man Trotzdem, als die gesagt haben, dass Schluss ist, war sie wirklich nicht darauf gefasst, es ist ihr schwer gefallen, das zu schlucken Tony Je öfter du hinfällst, desto schwerer kommst du wieder hoch Fred Ich hoffe, sie freut sich über den Fernseher Schalten wir ihn ein? Tony

Der Fernseher geht an, eine Nachrichtensendung.

Oh nein, bitte keine Nachrichten Tony Lass, nur kurz Fred Spinnst du? Die reden doch nur Quatsch Tony Das entspannt Dazu ein Bierchen, wirst sehen, ist doch lustig Fred Roboter, so ein Blödsinn

Die Automatisierung der Arbeit schreitet voran. In Folge der technischen Entwicklung könnte in zwanzig Jahren einer von zwei Arbeitsplätzen automatisiert sein. Roboter und Computerprogramme würden die Aufgaben übernehmen.

198

Fred


Sollen die vielleicht die Pakete ausliefern? Fred Ich hab’s ja gesagt, nichts als Quatsch Tony

Mit dieser Entwicklung befassen sich Wissenschaftler der renommierten Universität von Oxford. Doch dieser Fortschritt hätte einen unmittelbaren negativen Einfluss auf die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze. Nach Aussage der Wissenschaftler wären die verlorengegangenen Stellen schwer zu ersetzen. Neu sei, dass nicht nur Industriearbeiter, sondern auch das Dienstleistungsgewerbe betroffen wären. Bei uns sind derzeit acht von zehn Arbeitnehmern in der Dienstleistungsbranche beschäftigt. *

199 Noch mehr Polizisten, Scheiße Tony Sind ja keine echten Fred Na dann. Die sind vielleicht nicht ganz so bescheuert wie die echten Ich scheiß auf die Bullen Was wir machen, das könnten die nie Tony Klar, wenn wir uns beim Fahren an ihre ganzen bescheuerten Regeln halten würden, könnten wir nicht mal die Hälfte der Pakete ausliefern Fred Aber das ist denen scheißegal Die werden nach Stunden bezahlt Fred

Entlang unserer Straßen dürfte es demnächst zunehmend falsche Polizisten geben. Worum handelt es sich da? Um Aufsteller mit aufgeklebten Fotos von Polizisten und Polizeifahrzeugen in Originalgröße. Das kostet viel weniger, tut aber seine Wirkung. Nach einer mehrmonatigen Testphase ist die Bilanz eindeutig positiv. Wir haben den Leiter des Verkehrssicherheitszentrums dazu befragt: Da, wo die falschen Polizisten aufgestellt sind, geht die Geschwindigkeit der Fahrer tendenziell nach unten, nicht viel, aber immerhin um ein paar Stundenkilometer, was durchaus entscheidend sein kann. Da wir nicht über ausreichend menschliche Kapazitäten verfügen, um die Einhaltung der


Geschwindigkeitsbeschränkungen generell durchzusetzen, tut der Einsatz von Attrappen möglicherweise seine Wirkung und kann Leben retten. Und das sollte ein Ansporn sein, auf unseren Straßen noch vorsichtiger zu fahren.

Wie findest du das Bild? Naja. Normal. Also schon ganz gut. Normal Tony Finde ich auch. Diese Typen hauen für so einen Fernseher saumäßig viel Kohle raus, und das Bild ist kein bisschen besser als bei jedem anderen Tony Fred

Und jetzt noch der Wetterbericht. Morgen ist mit wechselhaftem Wetter zu rechnen, das Hoch wandert ab, ihm folgt eine Störungsfront, die für instabiles Wetter sorgt. Im Süden und in der Mitte Bewölkungszunahme, am Nachmittag Aufheiterungen mit für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen

14. Picking and Packing Wir haben uns schon mal gesehen? Ja Sonia Um was ging es da? Chloé Ich habe Routing gemacht, für eine Pharmafirma Sonia Richtig Chloé Ihr Kollege hat mir Arbeit in einem Callcenter vermittelt, und dann haben die den Betrieb verlagert Sonia Richtig. Da kann man nur sagen: Pech gehabt Zwei Outplacements in weniger als einem Jahr Das kommt selten vor. Glauben Sie mir Auch wenn, wie in diesem Fall, Ihr Arbeitgeber wegen der Massenentlassungen in der Pflicht war Eine Massenentlassung hat ja auch was für sich. Sie kassieren die Prämie, profitieren von der Wiedereingliederungshilfe, und die Situation ist klar. Sie trifft keine Schuld. Das macht Ihre Wiedereingliederung einfacher. Im Übrigen kann ich Ihnen auch schon was vorschlagen. Ich sage nur »Picking and Packing«, fällt Ihnen dazu was ein? Sonia

Chloé

200

*


Nein, gar nichts Sonia Es handelt sich um ein schönes Angebot in einer Zukunftsbranche, einer Wachstumsbranche. Ein Großunternehmen im Internethandel. Sagt Ihnen das zu? Chloé Um was geht es? Sonia Um »Picking and Packing«. Kurz gesagt, es geht darum, die Bestellungen in den Einkaufskörben der Kunden in Realität umzusetzen. Wenn Sie was Konkretes wollen, ist das der perfekte Job. Sie sind die Schnittstelle zwischen Virtualität und Realität. Sie verwirklichen den Einkaufstraum des Kunden. Sie sorgen dafür, dass sich das, was er sich auf seinem Bildschirm erträumt hat, in ein ganz reales Paket verwandelt und ihm auf schnellstem Weg zugestellt wird. Mit unterschiedlichstem Inhalt, jedes Paket ist eine neue Geschichte, ein Versprechen, das dem Kunden erfüllt wird Chloé … Sonia Zunächst fangen Sie damit an, später können Sie aufsteigen, Sie sind eine kompetente junge Frau. Man wird schnell auf Sie aufmerksam werden. Die Firma befindet sich in steilem Wachstum. Sie braucht Leute wie Sie. Sie fangen mit Picking an, aber Sie haben zahlreiche Perspektiven. Abteilungsleiterin. Wer weiß, vielleicht sogar Bereichsleiterin. Alle fangen erstmal am unteren Ende der Leiter an. Das ist ihre Firmenphilosophie. Sie sagen, nur wer mit kleinen Aufgaben anfängt, begreift, wie es wirklich läuft. Das ist modern und innovativ. Reizt Sie das? Chloé Um welche Firma handelt es sich? Sonia Wir sind normalerweise nicht befugt, Ihnen das zu sagen, bevor Sie unterschrieben haben. Aber egal. Ich finde Sie sympathisch. Ich vertraue Ihnen Chloé

201

Sie schiebt Chloé über den Schreibtisch ein Blatt Papier zu. Chloé lächelt.

Warum lächeln Sie? Chloé Ach nichts. Mein Partner arbeitet bei denen als Fahrer Sonia Na prima. Das ist doch ein gutes Zeichen, großartig! Chloé Wann soll ich anfangen ? Sonia Sobald Sie können. Morgen, wenn Sie wollen 15. Briefing (zu Chloé) Du unterschreibst hier. Genau. Willkommen. Ich bin dein Bereichsleiter. Ich erklär dir gleich mal, wie es funktioniert. Ist ziemlich einfach. Vor dir hast du das Magazin. Du kannst auch Lager dazu sagen, aber hier sagen alle Magazin. Alles, was wir verkaufen, ist da einsortiert. Wir haben ungefähr 84 000 Artikel. Ich geb’ dir Der Bereichsleiter


202

einen Scanner. Das ist dein neuer Freund. Unsere Dispatching Software schickt dir die Bestellbons, für die du zuständig bist, direkt da drauf. Dann öffnest du den ersten Bon, wir machen das mal zusammen, das ist einfacher. Siehst du, auf dem Bon sind drei Artikel. Der Scanner zeigt dir den ersten Code. Der hat eine Nummer und einen Buchstaben. Die Nummer zeigt dir die Nummer von dem Gang, wo der Artikel gelagert ist. Und der Buchstabe, an welcher Stelle im Gang er steht, okay? Du siehst, super simpel. Frag dich nicht lang, ob hinter der Sortierung eine Logik steckt, es gibt keine. Damit soll nur vermieden werden, dass das Magazin an bestimmten Stellen aus den Nähten platzt. Vor allem vor den Feiertagen, du wirst schon sehen. Kurz, du scannst das Produkt und legst es direkt in eine von den Plastikkisten auf deinem Wagen. Dann zeigt der Scanner dir die nächste Nummer an. Wenn der Scanner dir keine Nummer mehr anzeigt, heißt das, die Bestellung ist erledigt, du scannst den QR-Code auf der Kiste, so, jetzt ist die Bestellung mit der Kiste verknüpft. Wenn dein Scanner es dir anzeigt, gehst du mit deinem Wagen zur Auslieferung und lädst deine ganzen Kisten ab. Und dann geht’s wieder los. Das war’s schon. Ach ja, dein Scanner ist per WLAN mit der Auslieferung verbunden, dadurch wissen wir immer, wo du gerade bist, wegen dem Arbeitstakt. Du wirst sehen, es macht Spaß, im Magazin läuft gute Musik, wir organisieren auch super nette kleine Wettbewerbe, und für die tüchtigsten Picker des Monats gibt es Prämien. Was noch … Du hast Anrecht auf zwei Pausen pro Tag, um aufs Klo zu gehen, jeweils fünf Minuten, wenn du mehr als zweimal musst, drückst du auf deinem Scanner die Taste »hold«, das wird dir dann als nicht geleistete Arbeitszeit abgezogen, die musst du nachholen. Du hast Anrecht auf 45 Minuten Essenspause, dein Scanner gibt dir Bescheid, wann es soweit ist, das machen wir, damit’s kein Gedränge gibt in der Kantine, die ist nämlich nicht besonders groß, auf die Art lassen sich die Leute gut verteilen. Noch eine Kleinigkeit, am Ende der Schicht gehst du durch die Sicherheitsschleuse und wirst kontrolliert, das darfst du nicht persönlich nehmen, das ist nicht, weil du neu bist, das muss einfach sein, um Diebstahl zu verhindern, da müssen alle durch, man hat keine Wahl. Na dann, du hast Glück, im Moment ist es ziemlich ruhig, du hast Zeit, dich einzugewöhnen. Noch Fragen? Chloé Nein Der Bereichsleiter Na dann los! Mélina Wie isses? Chloé Abartig Mélina Du siehst total geschafft aus Chloé Acht Stunden am Tag rennen und schleppen Mélina Da kriegst du Wahnsinnswaden und einen süßen knackigen Arsch Dafür muss ich Bauch-Beine-Po-Übungen machen


203

Aber wie ist es abgesehen davon Chloé Also, das ist ein riesiger Stahlbau Größer als eine Kathedrale Unermesslich Neonlicht Hitze Keine Klimaanlage Unendlich lange Gänge Überall Unmengen von Sachen Unmöglich, sich zurechtzufinden Unglaubliche Sachen Sachen, die du dir nicht vorstellen kannst Plüschüberzüge für Klobrillen Sonnenbrillen für Hunde Phosphoreszierende Cocktailgläser Katzenstreichelmaschinen Leuchtende Hausschuhe mit LED -Lämpchen, damit kannst du nachts rumlaufen, ohne Licht anmachen zu müssen Ohrenföhne Mélina Ohrenföhne? Chloé Ja, wie ein Haarföhn, aber für die Ohren Mélina Stimmt, Wasser in den Ohren nach dem Duschen oder Schwimmen ist echt unangenehm Chloé Du gehst schwimmen? Mélina Ich? Nie Chloé Innerhalb von 24 Stunden wird geliefert Trotzdem ist es irgendwie beeindruckend, wenn man sieht, wie dieses ganze Zeug eins neben dem anderen aufgestapelt ist Und du musst nur eines tun Machen, was der Scanner dir sagt Das Ding denkt für dich Mélina (an ihrem Smartphone) Dieser Ohrenföhn ist Spitze! Ist schon bestellt Wenn du den morgen in eine Kiste legst, pass bloß auf, der ist für mich

16. Der Staatsanwalt Er hatte sich einen ruhigen Abend erhofft Ein bisschen lesen Einen Film anschauen Gegen 17 Uhr hat das Telefon geklingelt Herr Staatsanwalt? Tony


204

Ja Er hat geseufzt Er ist in einen Anzug geschlüpft und zurück ins Büro gegangen Erster Untersuchungsbericht Fahrt zum Ort des Geschehens Ihm ist kalt Er hat seinen Mantel vergessen, er bibbert in seinem Anzug Schon komisch, derart zu frieren, während gleich daneben alles in Flammen steht Rettungsdienst Krisenzentrum Sicherheitsabsperrung, um Schaulustige fernzuhalten Improvisierte Pressekonferenz Er rückt seine Krawatte zurecht Fährt sich noch schnell mit dem Kamm durch die Haare Hat keine Lust, hier zu sein, wer hätte schon Lust, an einem Samstagabend hier zu sein, statt es sich zuhause mit ein paar leckeren Häppchen vorm Fernseher gemütlich zu machen Scheinwerfer, Mikrofone Meine Damen und Herren, am heutigen Samstagabend ist im Lager der Firma Dream Shop ein gewaltiges Feuer ausgebrochen. Die meisten Angestellten konnten das Lager zügig verlassen, aber derzeit werden immer noch einige vermisst Er zittert ein wenig, die Kälte steckt ihm in den Knochen Er sehnt sich nach einem heißen Bad Die Feuerwehr war äußerst schnell vor Ort, aber sie hat den Brand, der das gesamte Gebäude erfasst und mehrere Explosionen unbekannten Ursprungs ausgelöst hat, noch nicht unter Kontrolle. Ein Großaufgebot von Kräften ist im Einsatz, das betroffene Gebiet wurde weiträumig abgesperrt Magenbeschwerden Sein Magengeschwür meldet sich Er hat nichts gegessen, nur schlechten Kaffee getrunken Die Brandursache ist noch ungeklärt, die Staatsanwaltschaft hat bereits Ermittlungen eingeleitet und schließt keine Möglichkeit aus Das war’s Keine weiteren Fragen Es gibt nichts weiter zu sagen Nichts zu erklären Was den Rest angeht, weiß er, was ihn erwartet Gutachten Sitzungen Schlechter Kaffee


Ermittlungsarbeit Bis zum Morgengrauen

17. Ultraschall Was Sie hier sehen, diese zarte weiße Linie, das ist die Wirbelsäule. Und hier die Konturen des Schädels. Ich schau mir mal den Durchmesser an. Sehr gut. Die Nase und die Oberlippe. Die Hände. Man kann schon die Finger zählen, sehen Sie? Die Beine. Ich messe gleich mal die Knochenlänge. Perfekt. Das Herz. Die vier Herzkammern und die Herzklappen. Wenn Sie wollen, schalte ich den Ton ein. Dann können Sie sein Herz schlagen hören. Wollen Sie? Fred Es schlägt schnell Die Medizinische Assistentin Ganz normal Fred Wie laut das ist! Die Medizinische Assistentin Und hier sein Gesicht. In 3D. Sehen Sie, man kann seine Gesichtszüge schon sehr gut erkennen. Es lutscht am Daumen Fred Sieht aus wie ein Außerirdischer Chloé Was für eine süße winzige Nase Fred Kann man schon sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird? Die Medizinische Assistentin Wenn Sie wollen Chloé Nein, lieber nicht. Findest du nicht auch? Die Medizinische Assistentin Das entscheiden Sie Chloé Ich lass mich lieber überraschen Die Medizinische Assistentin Wie Sie wollen. Wenn Sie Ihre Meinung ändern, können wir Ihnen das beim nächsten Ultraschall sagen. So, das war’s für heute. Alles läuft gut. Denken Sie nur daran, sich Ruhe zu gönnen, dann geht alles gut Die Medizinische Assistentin

205

18. Held der Arbeit Hier das Blatt mit deiner Monatsstatistik. Gut, du hast deinen Weg gefunden. Wirklich nicht schlecht. Insgesamt eine gute Tagesleistung. Du gehörst zu den Top Zehn. Da werden ein paar Kollegen neidisch sein. Wie geht’s dir so? Chloé Es geht. Mir tut alles ein bisschen weh. Der Rücken. Die Beine. Der Bauch Der Bereichsleiter Das ist nur im ersten Monat so, das ist normal. Du wirst sehen, das gibt sich. Man gewöhnt sich daran. Die Arbeit hier, das ist wie Sport machen Der Bereichsleiter


206

Durchhalten, das ist jetzt die eigentliche Herausforderung. Wenn du an der Spitze bleiben willst, musst du weiter vollen Einsatz leisten. Auf einen gesunden Lebensstil achten und so weiter. Ich sage immer, diejenigen, die das Tempo nicht halten können, haben einfach zu spät hier angefangen. Entweder sie haben keine Kondition, ihr Fahrgestell ist schon eingerostet, Herzverfettung, die strengen sich umsonst an, die schaffen es nicht. Oder es ist mental, sie kapieren nicht, was wir machen, passen nicht rein in unsere Arbeitsphilosophie. Wenn es funktionieren soll, musst du das mental und körperlich klarkriegen. Und bei dir stimmt beides, du hast den richtigen Job gefunden Also, als Anerkennung erhältst du einen Einkaufsgutschein unserer Firma im Wert von fünfzig Euro. Aber bitte, such dir die Sachen zuhause aus und nimm sie selbst aus dem Regal. Belästige deine Kollegen nicht damit. Er lacht. Für den kommenden Monat teile ich dich im Dienstplan abwechselnd für die Nacht- und die Nachmittagsschicht ein. Ist das in Ordnung? Chloé Also … ich bin ein bisschen geschafft, deshalb würde ich im Moment lieber die Frühschicht machen Der Bereichsleiter Du bist vielleicht komisch Und das in der Probezeit, das passiert mir zum ersten Mal Brauchst du etwa keine Kohle? Hast du keine Lust zu arbeiten? Chloé Doch, doch, es ist nur, im Moment fällt mir das zu schwer, das Tempo und das alles. Mir tut alles weh Der Bereichsleiter Ich hab’s dir gesagt, an den Job muss man sich erst gewöhnen Chloé Trotzdem, ich würde gerne wissen, ob … Der Bereichsleiter Hör zu, jetzt halt mal die Luft an, so geht das nicht. Das entspricht nicht unserer Firmenphilosophie. Wir brauchen engagierte Leute, die bereit sind, alles zu geben. Und außerdem, wenn wir so anfangen, kriegen wir organisatorisch den absoluten Saustall. Du siehst doch, wie es läuft, stell dir mal vor, wenn ich es dir genehmige, muss ich es anderen Kollegen auch genehmigen. Das wird der totale Planungssaustall. Wie soll ich da eine Planung machen? Du bist in der Probezeit, also überleg dir, was du willst. Du machst einen guten Job. Ich würde dich gern behalten. Aber schlussendlich entscheidest du. Chloé Also gut Es wird schon gehen Der Bereichsleiter Na klar wird das gehen!


19. Entgleisung Setz dich, Paul Tee? Kaffee? Also, ich wollte, dass wir uns sehen und etwas besprechen Es läuft echt nicht so, wie es sollte Paul In welcher Hinsicht? Sonia Deine Hit rate Die ist nicht top Paul Stimmt, in den letzten Tagen war es für mich nicht ganz leicht Bei mir ist eingebrochen worden, das hat mich durcheinandergebracht Aber jetzt geht’s wieder, ich habe mich gefangen, ich schaffe es, ziemlich viele unterzubringen Ich setze ihnen ganz schön zu Sonia Das ist genau das Problem Wir haben schon darüber gesprochen Du bist zu pushy Paul Ah ja? Sonia Ja, mehrere Kunden haben sich bei mir beschwert Sie sagten, die Vorschläge, die du gemacht hast, hätten absolut nichts mit dem Profil ihrer Ex-Arbeitnehmer zu tun Paul Ja, aber du hast mir gesagt, solange man die irgendwie unterbringt … Sonia Ein Problem gibt es vor allem mit einem der Kunden, die du übernommen hast. Ein Typ, den sie gefeuert haben, hat versucht, sich umzubringen, das hat sich in den sozialen Medien rumgesprochen, die ehemaligen Kollegen, die noch in der Firma sind, haben das aufgegriffen, das Ganze hat sich ausgeweitet und der Kunde ist alles andere als erfreut, weil das seinem Image schadet Es sind sehr gute Kunden Sie waren ziemlich sauer Mit sowas haben sie nicht gerechnet Also das ist echt Scheiße Paul Um welchen Kunden handelt es sich? Sonia Das ist nicht die Frage Im Augenblick möchte ich nur, dass wir versuchen, die Sache zu regeln Und dass du mir einen Gefallen tust Paul Was soll ich machen? Sonia Nur dieses Papier unterschreiben, hier Den Brief habe ich vorbereitet In deinem Namen Darin erklärst du, dass du dich ein bisschen verfahren hast Dass dir ein Irrtum unterlaufen ist Sonia

207


20. Notfall Fred weiß nicht, was er machen soll Er rotiert, er wartet darauf, dass sie zurückkommt So ist das Leben, so ist das eben Da kann er nichts machen Aber er ist traurig Fred Ich bin nicht traurig Ich bin genervt Dass sie einfach so gegangen ist, ohne was zu sagen Als sie mir gesagt hat, ich bin schwanger, ich erwarte ein Kind, okay, hab ich mir gesagt, jetzt ist es passiert, es musste halt passieren Nicht alle Männer hätten das so einfach geschluckt Ein Mädchen, das dir ein Kind anhängt und dir das einfach so sagt … Klar war das für mich ein Schock Aber ich hab gelacht, ich hab gesagt, na prima, das ist toll Sie schien sich zu freuen Das hat mir genügt Aber jetzt krieg ich‘s in die Fresse Ist doch nicht meine Schuld, was passiert ist Tony

208

Dass du gerne eine Auszeit nehmen würdest Paul Eine Auszeit nehmen? Sonia Ja, ich weiß, unter uns hat das nichts zu sagen, aber nun ja, es wirkt glaubwürdiger, wenn ich dem Kunden das schicke und mich auch noch selbst entschuldige und versichere, dass es nicht wieder vorkommt Paul Ich sehe nicht ein, warum ich das unterschreiben sollte Sonia So kommen wir nicht weiter, Paul Wie gesagt Du warst zu pushy Du hast mich echt in die Scheiße geritten Unsere Zusammenarbeit ist beendet Aber wenn du mir jetzt hilfst, dann helfe ich dir auch Du hast die Kontrolle verloren, aber wenn du deinen Fehler einsiehst und zugibst, würde das für deine Professionalität sprechen Ein Pluspunkt für deine Karriere Ich kenne genug Leute und kann dir ein wenig Hilfestellung leisten Mich bei dir revanchieren Dich in einer anderen Branche unterbringen Was sagst du dazu? … Unterschreibe hier


209

Der Arzt hat ihr gesagt, sie soll sich Ruhe gönnen Sie hat nicht auf ihn gehört Tony Schwanger sein heißt nicht, dass man krank ist Da passieren Sachen in dir drin, Sachen, die kein Mensch sieht Sie hat bestimmt gedacht, ich habe keine Wahl, wie soll ich es schaffen, ohne zu arbeiten Ich bin nur ein bisschen müde An dem Tag hat sie als Vertretung gearbeitet, in der Abteilung für schwere, sperrige Artikel Wir haben zu viele Krankschreibungen, du musst kurz aushelfen, nur eine Stunde, ist doch kein Problem für dich, oder? Würde uns aus der Klemme helfen, das geht doch sicher Eine Bohrmaschine mit Zubehör Elektrische Kabelrollen Ein scheißschwerer Kompressor, an die 27 Kilo, dazu das Verpackungsmaterial Alles in allem 31 Kilo Und dann … Also dann … Ist dir nicht gut? Ich muss nachhause, mir ist schlecht Spinnst du? Wenn du dich jetzt verdrückst, ziehe ich dir einen Tag ab Sie geht nachhause Sie ist ganz blass Fred Sie sagt, es geht mir nicht gut, ich lege mich hin Mitten in der Nacht weckt sie mich, sie hat Schmerzen Wenn du willst, nehmen wir das Motorrad und fahren in die Notaufnahme, sag ich Sie krümmt sich vor Schmerzen Ich rufe die Feuerwehr. Sie sind sofort da, ich fahr ihnen hinterher Sie sind sehr nett, aber es ist nichts mehr zu machen So ist das eben, sagen sie in der Notaufnahme. Es ist vorbei Was willst du machen, wenn die Ärzte sowas sagen. Die sind sowas gewohnt. Die kennen sich aus, notgedrungen Sie sagt nichts. Ich hab mir noch gedacht, das wird jetzt schrecklich, aber sie sagt nichts. Sie fragt nur: »Wieso kann es vorbei sein, wie ist das möglich, bevor es begonnen hat, soll es schon wieder vorbei sein?« Der Arzt sagt, so ist das eben, da kann man nichts machen. Er schreibt sie für zwei Wochen krank. Und gibt ihr Medikamente Ich dachte, sie würden sie dabehalten. Aber nein. Sie können nachhause, ruhen Sie sich aus, sagen sie. Willst du ein Taxi nehmen, sage ich, sie sagt, nein, jetzt nützt ein Taxi auch nichts mehr, das Motorrad ist okay. Wir


21. Staatsanwalt 2 Staatsanwalt, alle denken das wäre ein interessanter Job Aber in Wirklichkeit ist er echt ätzend Papierkram Vertane Zeit Tony

210

machen uns auf den Weg, ich fahre nicht allzu schnell, in einer Kurve krache ich fast mit einem Auto zusammen. Ich habe kein Licht an. Ich bin total daneben. Scheiße, sag ich! Aber sie reagiert kein bisschen. Man könnte meinen, es ist ihr wurscht Am nächsten Morgen geh ich kurz raus, als ich nachhause komme, ist sie weg Tony Sie kommt zurück, keine Sorge Fred Woher willst du das wissen? Tony Das ist ihre Wohnung Glaubst du, sie würde dir ihre Wohnung überlassen, wenn sie nicht vorhätte zurückzukommen? Sie würde dich bitten, deine Sachen zu packen und würde das Schloss auswechseln, sowas würde sie machen, wenn sie wollte, dass du abhaust Fred Wenn sie nicht zurückkommt, hau ich alles kurz und klein Tony Es wird schon wieder Fred Warum ist sie gegangen, ich versteh das nicht Tony Sie muss erstmal durchatmen, das ist alles Fred Warum sagt sie nichts? Warum erklärt sie mir nichts? Ich bin zu blöd, daran liegt’s wahrscheinlich Tony Du bist vielleicht blöd, aber das ist nicht der Grund, warum sie nicht zurückkommt Fred Jetzt reicht‘s. Hau ab Tony Im Ernst? Fred Ich will deine Fresse nicht mehr sehen Tony Das war ein Witz, Mann Fred Hau ab, sag ich, oder ich hau dir eine rein Ich hab’ so einen Hass, Scheiße Am liebsten würd ich irgendwem die Fresse polieren, damit das aufhört Tony Lass uns was trinken gehen Fred Wir gehen gar nichts trinken Und du haust jetzt ab Tony Jetzt hol erst mal Luft, Mann Fred Halt’s Maul Lass mich in Frieden Hau ab!


211

Haufenweise Verfahren Ergebnisdruck Und schlechte Buchführung Dream Shop: fünfzehn Tote, dreizehn Angestellte und zwei Feuerwehrleute. Neunundzwanzig Verletzte. Sechs Vermisste Die Vermissten, das ist die größte Scheiße Sie sind tot, aber man findet sie nicht Das kostet unendlich viel Zeit Nur ihretwegen kann man die Bulldozer nicht auf das Gelände lassen, wenn ein Bagger einen von denen aufschaufelt, die Medien würden glatt durchdrehen Das Areal ist ein paar Hektar groß Es muss manuell abgeräumt werden, das dauert Wochen Und das geht dem Staatsanwalt echt auf den Sack Genau wie die Aufzeichnungen der Videoüberwachung Absolut nichts Keine einzige ernstzunehmende Spur Zu viele Leute auf den Bildern Das Lager ein wahrer Ameisenhaufen Man sieht nur die simultanen Explosionen, noch dazu ist das Video von schlechter Qualität Neue Pressekonferenz: »In Anbetracht der abscheulichen Gräueltaten, die mutmaßlich einen terroristischen Hintergrund haben, habe ich einen Krisenstab einberufen, der die gesamten Ermittlungen koordiniert. Ich habe gleichfalls eine Untersuchung der Mordkommission eingeleitet, die organisiertes Verbrechen in Verbindung mit terroristischen Anschlägen sowie kriminelle terroristische Vereinigungen, deren Anschläge sich gegen Menschen richten, ins Visier nimmt.« Diese Äußerungen erlauben ihm, Zeit zu gewinnen und nicht zugeben zu müssen, dass er keine Ahnung hat und auf dem Schlauch steht

22. Ein helles Pünktchen Ich muss gleich kotzen Das sind die Medikamente. Du musst was essen. Wenn du was im Magen hast, geht das vorbei. Mit dem Essen beginnt das Gesundwerden. Chloé Ich bin nicht krank Ich krieg nur nichts runter Mein Magen ist wie zugeschnürt Das ist alles Mélina Das ist normal in deinem Zustand Chloé

Mélina


Es war keine gute Idee Du hattest recht Mélina Mach dir nichts draus Du probierst es einfach noch mal Chloé Ich dachte, ich würde es mir wünschen Ich habe mich getäuscht Mélina Das sagst du jetzt nur, weil du fertig bist Chloé Du bist lieb Es ist nicht so, wie du denkst Es hat nichts mit dem Baby zu tun Es ist der ganze Rest All das, was man schlucken soll All das, was man plötzlich zu machen anfängt Weil man denkt, man wäre dazu verpflichtet All das, was man kauft, ohne nachzudenken Und die Kohle, die du brauchst, um all das zu bezahlen Was dazu führt, dass du noch mehr arbeiten musst Und das führt dazu, dass du dich veränderst Dass du verblödest und nur noch an eines denkst Was du kaufen musst Was du vorbereiten musst Weil, wenn du es nicht kaufst, heißt das ganz klar, dass du keine gute Mutter bist, dass es dir scheißegal ist Also kaufst du, gibst Geld aus Und schuftest, damit du das, was du kaufst, auch bezahlen kannst Und bildest dir ein, das wäre super wichtig Weil du glaubst, es müsste sein Aber in Wirklichkeit bist du nur dabei, einen neuen kleinen Konsumenten zu produzieren, der das System am Laufen hält Und noch bevor er da ist, konsumierst du schon für ihn Weißt du, eigentlich bin ich froh Dass es schlussendlich nicht geklappt hat Ich bin froh Sonst hätte ich nicht kapiert Dass das alles nicht auf meinem Mist gewachsen ist Ich habe mir eingebildet, ich würde das brauchen, um mir normal vorzukommen Es war keine gute Idee Das alles interessiert mich nicht besonders Das ist nicht mein Traum Ist es nie gewesen Also eindeutig nein, ich probiere es nicht noch mal Mélina Und Fred?

212

Chloé


Wieso Fred? Mit Fred hab ich Klartext gesprochen Ich habe ihn angerufen Habe ihn gebeten, die Wohnung zu räumen Den Schlüssel dazulassen Und mir Bescheid zu geben, wenn er weg ist Mélina Du bist durcheinander Das ist vielleicht nicht der richtige Moment Chloé Doch, ist ganz okay Männer kapieren einfach nichts Hab ich ihm gesagt Da hat er angefangen zu brüllen Hat gedroht, mir mein Leben zu versauen, wenn ich ihn rausschmeißen würde Mein Leben hast du mir bereits versaut, hab ich gesagt Ich will dich nicht mehr sehen … Du hattest recht. Ich hätte Spaß haben sollen, mehr nicht. Ich habe nicht aufgepasst, bin in die Falle gegangen Mélina Du kannst hierbleiben, solange du willst Chloé Du bist lieb Es wäre besser, wenn ich noch ein paar Tage hier schlafen könnte Nur ein paar Tage, bis er weg ist Bis ich wieder anfange zu arbeiten Mélina Du solltest da nicht mehr hingehen Chloé Ein flackerndes helles Pünktchen. Als ich es zum ersten Mal sah, das war … da hab ich mir gedacht, so ist das Leben, mehr nicht, ein flackerndes Pünktchen. Ein Irgendwas. Und dann nichts mehr. Kaum angezündet und schon erloschen, schon vorbei. So ist das Leben, hab ich mir gedacht, ein Leuchtturm, der in der Nacht aufflammt und dann erlischt Chloé

213

23. Dark Net Auf mehreren Monitoren laufen simultan verschiedene Texte Monitor 1: eine Seite aus dem Darknet Auf dem Monitor erscheinen Webseiten aus dem Darknet, auf denen jemand, der nicht zu identifizieren ist, surft und Transaktionen vornimmt. Der Surfer startet auf einer Seite mit gehackten Kreditkartennummern und kauft eine Serie von Nummern. Der Surfer wechselt dann auf Seiten, auf denen erklärt wird, wie man Sprengstoff aus Reinigungs- und Pflanzenschutzmitteln herstellt. Gleichzeitig öffnet er im normalen Web Fenster


mit Seiten von Baumärkten und Gartencentern, er schaut nach, ob die Produkte, die er braucht, verfügbar sind. Monitor 2: eine Seite aus dem normalen Web Der Monitor läuft simultan zu Monitor 1. Es bleibt der Regie überlassen, ob sie diesen Monitor zum Einsatz bringt. Klick auf den Link, der den Artikel aufruft. Der Artikel wird nach unten gescrollt. Das könnte zum Beispiel folgender Artikel sein:

Es musste nur noch ein automatisiertes Verkaufsprogramm generiert werden, das in der Lage ist, je nach Kundenverhalten das Argument zu finden, das seine zögerliche Haltung in eine positive Kaufentscheidung verwandelt. Daran arbeitet Amazon, wie ein neues Patent beweist, das im vergangenen Oktober angemeldet wurde und das ein automatisiertes Verhandlungsprogramm beschreibt, das der Zögerlichkeit eines Kunden entgegenwirken soll. Das von Amazon beschriebene System besteht aus zwei Programmen. Ein »Trackingprogramm« speichert zunächst alle Klicks des Kunden, um sein Kaufverhalten beim Online-Shopping analysieren zu können. So registriert das Programm z.B., wenn ein Kunde ein Qualitätsprodukt mit einem Billigprodukt vergleicht, wenn er sich im Verlauf von einigen Tagen oder Wochen ein und dasselbe Produkt immer wieder ansieht, wenn er dazu neigt, sich vornehmlich die billigsten Produkte anzuschauen, wenn er das Foto oder die technischen Daten eines Produkts längere Zeit betrachtet, wenn er seinen Warenkorb füllt, ohne zu bestellen usw. Jede Aktion wird analysiert, um ein eventuelles »Zögern« aufzuspüren und herauszufinden, wodurch es ausgelöst wurde. Danach leitet das »Trackingprogramm« jedes aufgespürte Zögern an das Programm für »Deals« weiter, das dazu dient, dem Kunden Vorschläge bzw. »Deals« zu unterbreiten. Dem einen Kunden wird ein Preisnachlass angeboten, dem anderen kostenloses Zubehör zu dem Gerät, zu dessen Kauf er sich gerade nicht entschließen kann, oder ein Gutschein, eine Eilzustellung, ein speziell auf ihn zugeschnittenes Angebot usw. usw. Das Patent lässt den Schluss zu, dass Amazon dieses Programm nicht nur für das eigene Geschäft zum Einsatz bringen möchte, sondern auch, bzw. vor allem, um unter den Anbietern, die diese Plattform nutzen, eine neue Konkurrenzsituation zu schaffen. Jeder Händler kann dann festlegen, welche »Deals« er bereit ist anzubieten, seien es solche, die zögerlichen Kunden automatisch offeriert werden, oder solche, die speziell auf sie abgestimmt werden müssen. Auf diese Weise werden Händler gewarnt,

214

WIE SICH HÄNDLER GEGENSEITIG KUNDEN ABJAGEN KÖNNEN


wenn ein Kunde zögert, ein Produkt zu kaufen, und aufgefordert, ihm unmittelbar ein Angebot zu machen. Ein echter digitaler Basar.

24. Hexenjagd Bei den Ermittlungen in Zusammenhang mit dem Anschlag auf die Firma Dream Shop ist mit der Verhaftung eines ersten Verdächtigen ein spektakulärer Fortschritt zu verzeichnen. Frédéric N., der bei der Firma als Fahrer arbeitet, ist von den Ermittlern vorläufig festgenommen worden. Der Mann hat bei seiner Verhaftung keinen Widerstand geleistet. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen haben die Ermittler verschiedene Wertgegenstände sichergestellt, die der Verdächtige bei von ihm getätigten Auslieferungen unterschlagen und der Firma gestohlen hat. Die Lebensgefährtin des Verdächtigen Frédéric N. steht auf der Liste der in Folge des Lagerbrands aktuell vermissten Personen. Derzeit weiß man mit Sicherheit nur eines: Als der Brand ausbrach, hielt Chloé M. sich am Ort des Geschehens auf, das geht aus den Datenaufzeichnungen ihrer elektronischen Ausweiskarte hervor. Man weiß allerdings noch nicht, ob Chloé M. bei dem Lagerbrand tatsächlich umgekommen ist oder ob sie eine mögliche Komplizin von Frédéric N. sein könnte. Die Ermittler lehnen Fernsehjournal

215

Kommentare aus den sozialen Netzwerken So ein Drecksack. Hat seine Tussi abgefackelt Miche Quatsch. Der Typ ist ein Held. Der hat Eier. Hat einfach alles abgefackelt Jo Du spinnst, Michi Miche Hast du Angst, dass Stan


du die Päckchen, die du im Internet bestellst, nicht mehr bekommst? Jo Es hat Tote gegeben, hast du das nicht mitgekriegt?? Miche Und wenn schon. Kollateralschaden Elo He, Jungs, das ist Betrug. Dream Shop, die haben finanzielle Probleme. Die haben das Feuer im Lager gelegt, um die Versicherung zu kassieren Stan Das ist eine mega Gratiswerbung für die. So bleiben die im Gespräch Elo Klar, das ist gut fürs Geschäft. Hinterher verlagern sie dann alles Stan Genau Miche Da unten in Osteuropa, da kosten die Leute nichts. Da werden unsere Pakete billiger Jo Blödmann Miche War nicht ernst gemeint.

25. Alles, was wir nicht gemacht haben Leise Musik. Chloé und Mélina liegen auf dem Sofa und kiffen.

Man beklagt sich die ganze Zeit, dass man keine Zeit hat. Aber wenn man welche hat, weiß man nicht, was man damit anfangen soll Chloé Ist doch schön Mélina Hast du keine Lust, was zu machen? Rausgehen, was trinken gehen Chloé Ist doch schön hier. Wir können reden Mélina Wir können immer noch reden, wenn wir alt sind Wenn uns die Arschbacken runterhängen und wir enge fleischfarbene Leggings tragen, um sie in Form zu halten Chloé Dann haben wir es hinter uns Mélina Was? Chloé Alles, was wir nicht gemacht haben Mélina

216

jeden weiteren Kommentar ab, sicherlich um die Ermittlungen nicht zu gefährden, die jetzt zügig voranzukommen scheinen


Wir haben schon haufenweise Sachen gemacht Chloé So viele waren das gar nicht Mélina Trotzdem Ich habe Sachen gemacht, die sich die meisten nicht mal vorstellen können Siebzehn Operationen zum Beispiel Und 324 Tage im Krankenhaus Das Einzige, was dir passiert ist, war ein gebrochener Arm Du kannst nicht mithalten Chloé Gib nicht so an Mélina Ich gebe nicht an Ich pfeif drauf Das hab ich hinter mir, ich denk nicht mehr dran Wenn ich auf was stolz bin, dann darauf, dass ich es geschafft habe, so viel zu klauen Sachen, die mir schon gar nicht mehr einfallen Lippenstifte Lidschatten Make-ups Gänseleberpastete String-Tangas Halterlose Strümpfe Frikadellen Chloé Frikadellen? Mélina Litschis Chloé Du bist allergisch auf Litschis Mélina Na und? Ein Hammer und eine Säge Eine elektrische Bohrmaschine Unkrautvernichtungsmittel Katzenfutter Chloé Du hast nie eine Katze gehabt Mélina Habe es der Nachbarin geschenkt, die hat sich gefreut Kochbücher Ein Nudelholz Handtaschen Sonnenbrillen Boulekugeln und ein Sonnenschirm Das war vielleicht witzig Parfum Schuhe Dieses ganze Zeug, unmöglich, das alles aufzuheben Ich hab viel weggeschmissen Und du? Mélina

217


Ich … ich habe Sport gemacht Mélina Sport, echt, sehr verdienstvoll Chloé Ich bin nie bei Rot über die Kreuzung gegangen Ich habe oft mit Blödmännern gesprochen Mélina Respekt Chloé Ich habe mich brav hinten angestellt Habe ja gesagt und nein gedacht Habe auf die U-Bahn gewartet Habe die Wohnung geputzt Habe aufgeräumt Mélina Aufräumen ist doch Schwachsinn … Chloé Schon deprimierend, wenn man sich das überlegt All die Zeit für nichts und wieder nichts Das deprimiert mich Mélina Mich nicht Nervigen Sachen geh ich aus dem Weg Ansonsten mache ich, was mir passt … Das Einzige, was mich stresst, ist die Tatsache, dass es eines Tages vorbei ist Dass wir nicht mehr da sind und dass das total egal ist Da krieg ich Schiss. Bei der Vorstellung, dass es ohne mich weitergeht Deshalb muss man die Gelegenheit nutzen, bevor es vorbei ist Chloé Es gibt zwei drei Sachen, die ich noch gerne machen würde, bevor ich alt bin Mélina Was denn? Chloé Nach Caracas fliegen Mélina Nach Nicaragua? Chloé Nach Venezuela. Da ist das Museum Carlos Cruz-Diez, das ist ein Typ, der macht Op-Art Mélina Carrrrlos Crrrruz-Diez, was für ein Zungenroller Chloé Das war’s schon Dann habe ich gesehen, was ich sehen wollte Ich bleib da unten Schnapp mir einen Einbaum Fahr den Orinoko runter Und schau bei den Indios vorbei Mélina (kichert) Du spinnst Chloé Ernsthaft Ich halte an und schlage mein Zelt auf Mache nachts Feuer, um die wilden Tiere zu vertreiben Und komme nach ein paar Tagen bei den Indios an

218

Chloé


Ich werde den Häuptling grüßen Ich werde seine Hütte betreten Ich werde Cocablätter kauen Ich werde ihn Großer Bruder nennen Warum bist du hier, wird er mich fragen Ich werde sagen, ich bin gekommen, um die Harmonie zurückzubringen Mélina Liegt es am Gras, wirkt das so bei dir? Chloé Die Indios sagen, wenn was schiefläuft, dann deshalb, weil der Mensch die Harmonie zerstört hat Also bringen sie der Erde ein Opfer Und danach finden sie zur Harmonie zurück Mélina Das ist schön 26. Vernichtung Chloé ist echt keine Tussi wie die anderen Fred Sie hat meinen Lieferwagen geklaut Ich habe nicht gemerkt, dass sie den Zweitschlüssel behalten hatte Tony Sie fährt sehr vorsichtig Noch vorsichtiger als sonst Sie hält sich strikt an die Vorfahrtsregeln Hält an einer Tankstelle Füllt einen großen Plastikkanister mit Benzin Fährt weiter Und erreicht das Lager Fred Das Magazin Tony Das Magazin Sie stellt den Wagen auf dem Parkplatz ab Geht über die Schleuse rein Zeigt dem Wachmann ihren Ausweis Er ist ein Bekannter Fred Geht’s dir gut? Machst du heute die Nachtschicht? Chloé Nein, ich hab mein Handy vergessen, kann ich es holen? Fred Na klar, komm rein Tony Sie geht rein Chloé Erste Station Tony Gang 22, Abschnitt G Chloé Zweite Station Tony Gang 54, Abschnitt M Chloé Dritte Station Tony Gang 139, Abschnitt P Chloé Vierte Station Tony

219


Gang 182, Abschnitt J Chloé Fünfte Station Tony Gang 222, Abschnitt L In jeden Abschnitt eine Ladung Sie verlässt das Lager Noch zwei Minuten Kein Wachmann mehr in der Kabine Fred Der ist pinkeln gegangen Tony Sie geht zurück zum Lieferwagen Nimmt ihren Rucksack Schüttet das Benzin über die Sitzbank Feuerzeug Sie geht zu Fuß weg Morgen ist sie über alle Berge Tony

27. Sich raushalten Nett, dass du mich besuchst Ist doch normal Mélina Tee? Tony Danke, nein Man sieht dich gar nicht mehr. Du vergräbst dich in deinen vier Wänden Mélina Ich gehe zur Arbeit Mache, was gemacht werden muss Ansonsten vermeide ich es rauszugehen Tony Weil du traurig bist? Mélina Nein Vor zehn Tagen, da bin ich rausgegangen, und da hat mich eine Frau am Arm gepackt Warst du nicht ihre Freundin, die Freundin von der Mörderin? Klar, das bist du. Wir kennen dich. Wir haben dich im Fernsehen gesehen. Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, deine Fresse zu zeigen? Du Terroristin. Hau ab. Oder wir machen dich kalt Ich wollte weglaufen, aber sie hat mich hinten am Mantelkragen gepackt Ich habe mich losgerissen Habe den Mantel zurückgelassen Bin gerannt Bin nachhause gekommen und habe mich eingeschlossen Mir kommt es vor, als würden mich alle schief anschauen Als wenn ich etwas damit zu tun hätte Tony So sind die Leute eben Mélina Wenn ich mich früher einsam gefühlt habe, hat mich das gequält Mélina

220

Tony


Aber im Moment sag ich mir, allein sein ist gut Es ist besser, sich aus dem Ganzen rauszuhalten Weil wenn die Leute denken, dass du anders bist als sie, dann lassen sie dich nicht in Ruhe, sie fressen dich auf Wenn du dich raushältst, bist du in Sicherheit Tony Das ist für dich Mélina Eine Postkarte? Tony Die war in deinem Briefkasten. Ich habe mir erlaubt, sie dir zu bringen Mélina Es steht nichts drauf. Nur die Adresse. Was ist das für ein Foto? Tony Das ist der Orinoko. Ein Fluss. In Venezuela 28. Pfützen Die sind schön, diese kleinen Pfützen, findest du nicht? Als ich klein war, hab ich immer in den Pfützen gespielt, ich fand das herrlich, meine Mutter hat geschimpft, ich bin mit nassen Schuhen nachhause gekommen, einmal hat sie mir deswegen eine Ohrfeige verpasst, nur wegen der nassen Schuhe, eine saftige Ohrfeige, meine Wange war ganz heiß, es hat den ganzen Nachmittag gedauert, bis mein Ohr aufgehört hat zu pfeifen, das wird dir eine Lehre sein, hat meine Mutter gesagt, das wird dir eine Lehre sein. Sie sagte, so prägt Erziehung sich ein, Regeln muss man am eigenen Leib spüren, die müssen sich tief einprägen, die müssen dir in den Kopf gemeißelt werden, damit sie dir im Hirn kleben bleiben, wenn das, was ich dir sage, an der Oberfläche bleibt, dann vergisst du es, im Leben ist es wichtig, zu wissen, dass es Regeln gibt und dass man sie respektiert, wenn du das nicht machst, wirst du unglücklich, das kannst du mir glauben, Leute, die glauben, dass sie die Regeln ändern können, die sind sehr, sehr unglücklich, und ich will nicht, dass du unglücklich wirst, ich will, dass du glücklich wirst, Regeln gibt’s nicht aus Zufall, man darf sie nicht missachten, wenn du sie beachtest, wenn du spurst, wirst du ein schönes Leben haben, glaub mir. Hat meine Mutter gesagt. Du gehst da nicht mehr hin, du spielst nicht noch mal in den Pfützen? Versprichst du das? Ich verspreche es, hab ich gesagt. Und am nächsten Morgen bin ich wieder hingegangen. Ich habe meine Schuhe ausgezogen, damit meine Mutter nichts merkt. Barfuß rumzulaufen war zehn Mal aufregender. Spüren, wie einem der Matsch durch die Zehen quillt und die kleinen Kieselsteine auf der nackten Haut Komm Es wäre schade, sich sowas entgehen zu lassen Mélina (kichert) Du spinnst Chloé Nein, ich schwör dir, es ist herrlich Chloé

221


Das ruiniert mir die Schuhe Und ich liebe meine Schuhe Barfuß in eine Pfütze, das geht gar nicht, das ist nichts für mich Chloé Ich müsste mich bei meiner Mutter bedanken Für all den Blödsinn, den ich schlucken sollte Dank ihr hab ich kapiert, dass Wenn du dich wehrst, bringst du eine Menge Kleinkram durcheinander, unwichtige Kleinigkeiten, die an sich keine große Bedeutung haben, aber all diese Kleinigkeiten zusammen sind wie Sand im Getriebe und verhindern, dass das System einfach weiterläuft Mélina Riechst du das nicht? Es riecht verbrannt. Nach Rauch oder irgendwie nach Ruß Chloé Da braut sich ein Gewitter zusammen. Vor einem Gewitter ist das so Mélina Gehen wir nachhause? Chloé Geh du ruhig Ich nicht Ich habe noch was vor

222

Mélina


Julie Gilbert

Wutströme [Originaltitel: Outrages ordinaires] aus dem Französischen (Schweiz) von Mira Lina Simon

Deutsche Übersetzung mit der freundlichen Unterstützung der Autorengesellschaft Société Suisse des Auteurs und des Mentorenprogramms Theater Transfer-Transfer Théâtral.



1.

225

Ich bin in Mexiko, ich bin Filipino, ich bin in Mauretanien, ich bin im Zimmer von Madame, ich bin im Bett, ich bin in der Küche, ich bin im Garten, ich bin Mexikaner, ich bin Zapoteke, ich bin an die Küche gebunden, ich bin dein Chauffeur, ich bin in der Wüste, in der Wüste, ich bin in der Wüste, in der Wüste, 19 Tage in der Wüste, ich sterbe vor Hunger, gib mir zu essen, ich warte auf den Schleuser, ich bin in der Wüste, in der mir fremden Wüste, ich habe gezahlt, Stapel von Pesos Dollars Euros, das Dorf hat gezahlt, gib mir zu essen, ich bin in der Wüste, entvölkertes Volk, ich zittere vor Erschöpfung, ich bin in der Wüste, ich bin stark, ich kann noch laufen kann noch leben ohne zu trinken ohne zu essen, ich hetze die Staubteufel des ausgebrannten Horizonts, 72 Männer und Frauen in der Wüste, wir warten, ich schlucke die Kapseln nicht herunter, sie heben ihre Maschinengewehre, die Schmuggler entsichern ihre Gewehre und schießen, die mexikanisch-guatemaltekischen-amerikanischen Schmuggler, die Drogenschmuggler die Körperschmuggler die Lebensschmuggler, ich verrecke, ich will keine Drogen tragen für deinen Wahnsinn in der Stadt, damit dein geklautes Gehirn explodiert, damit die Trance endlich deine Befreiung füttert, ich verrecke, ich verrecke auf dem Boden der Wüste, meiner Wüste, der Wüste des Volkes der Geister und wenn ich Geist bin, erhebe ich mich, die Hüfte verklebt vom Blut der 71 anderen, ich sehe, die Versandungen, die Stacheldrahtzäune, die Ströme von Ertrunkenen, die gefangenen Gefängnisse, die Köchinnen und die Dienerinnen, die Verkäufer von Sex und schwarzen Händen und ich brülle in dein Ohr, ja, in dein Ohr brülle ich, keinen Schritt mehr, ohne dass das Volk der Geister in dein Ohr brüllt, ohne dass auch du den Körper meines Bruders meiner Mutter meines Vaters meines Fötus trägst, ohne dass auch du von all unseren Geschichten brennst, ohne dass auch du für all unsere Toten heulst. Ich bin ein Elefant und ich zertrample dich in deiner Villa, ich bin ein Adler und ich trage dich auf die Klippen, ich bin ein Esel und mir ziehst du das Fell über die Ohren, du zerlegst mich, du leckst mich, du lutscht mich, entmanntes Volk, das weder zu kommen weiß noch zu ficken, wir kommen mit unseren Füßen unseren Händen, wir kommen mit heiligem Herzen, wir kommen singend, gebrochene Hirne, wir kommen grüßend und zerschellen an euren Mauern, wir kommen, wir hören nicht auf zu kommen, wir berühren kaum den Boden, eingesperrt in Frachträume Kisten Container, in denen unsere Säfte verwesen, neuer Schlamm für euer ausgetrocknetes Land, Asche unserer Lichter, die eure Bürgersteige eure Sumpfgebiete eure Theater bedecken, ich bin Mexikaner, ich bin Nigerianer, wir fallen, kleine Armee ohne General, wir fallen vor den Toren eurer Städte, in Scherben, in Haufen, zerbombte Schildkrötenpanzer, isolierte Raubvögel, die Trommel schlagen wir nicht für euch, Sargschmuggler, Unrechtsrich-


226

ter, ignoranter Bettler des Lebens, stirb, wenn du nicht zu leben weißt, töte, wenn du nicht zu leben weißt, ihr trinkt den Wein, ihr zerkaut die Erde, ohne ihre Substanz zu schlucken, habt ihr Angst? Unsichtbare Ströme, strömend vor Blut und Saft, schlafen in Müllsäcken Höhlen unter Zweigen, verlassene Zelte, Waldmenschenvolk, brenne Waldpack brenne vor Liebe vor Körpern brenne, in die Füße rammt sich die Erde pustet, brüllend ist die Nacht, meine Stimme ist belegt von Flechten Geröchel Fausthieben und ihr wollt, dass sie deutlich ist, ich brauche nichts, ich habe Europa mit meinen Füßen erstiegen und überall die verwüstete Erde gespürt, eine Prüfung, für dich vom Stamm der Soninke, für dich, Sohn der toltekischen Könige, mit Kinderschuhen stapfte ich über den schneebedeckten Berg, schaukelte ich auf dem Wasser, zusammengepfercht mit meinem prallen Bauch, im achten Monat schwanger, nachts mein Kopf in Plastik, die letzte Prüfung, sagte ich mir, das ist die letzte, die Geschichte spinnen, damit sie in eure Grenzen dringt, die Hände beerdigt, von toter Erde, genommen, ohne Atem, vegetierend, ich machte mir vor Angst in die Hose, ich der Held, der Held aller Prüfungen, der Wüste Fluss Meer Menschen durchzog, entdeckte am frühen Morgen die Autobahnkreuze, die U-Bahnen und die Ströme, die verdorbenen Salate, die Brücken und die Keller, die Trommel schlagen, um eure alten Seelen zu retten, die sich an eure Busse an eure Häuser klammern, um eure Köpfe von all ihren ehemaligen Leben zu entvölkern, ich schlage sie nicht, ich trinke das Wasser der Flüsse, ich bin ich, ich, ich, nichts, ich treibe über euch, weiß mehr über dich als du von dir, zwei Stück Zucker in deinen Kaffee, der Knick in deiner Hose, ich, die aus Honduras kam, ich, die aus Mali kam, ich, die freundlich war, ich, die artig war, ich, die respektvoll war, ich bin die an die Wut gekettete Schlacht, bereit von morgens bis abends, von Ost nach West, von Jesus bis Mohammed das zerstörte Feuer meiner Gedärme zu säen, und von nun an befeuert in deiner vollgekoksten Nase kein explosiver Farbfilm mehr dein Hirn, sondern der Schweiß, die Pisse und die Scheiße, das Blut, die Knöchelchen der verlorenen Kinder, die löchrigen Stürme, die verlassenen Sonnen, und du, Unwissender, Verschanzter, hör den Mann, der spricht, hör den letzten Mann im Wald des Amazonas, hör, was er dir zu sagen hat, hör, was er dir über deinen Todeskampf zu sagen hat, ohne Feuer ohne Baum ohne Schlamm, du willst deine Jugend noch einmal leben, noch mehr Eisenspitzen in die Brust deiner Heimat stoßen, aber die Felder brennen, und ich fache sie an, Wärter, ewiglich, jetzt, wo du mich in den Himmel weggeschmissen hast, jetzt, jetzt wache ich, gurre ich, beseitige ich deinen Schatten, wach auf, wenn du kannst, das Gift striegelt deine Oberschenkel, verhindert den Orgasmus, vernichtet deine Notdurft in den Supermarktgängen, verrecke wird das Wildschein, auf das du zielst, sagen, verschwinde wird der Hai, den du frisst, sagen, aber nein, du klammerst dich fest, du kriechst, du fährst mit deiner Zunge über die


227

Klinge des Messers und nicht zufrieden den Mund voller Blut zu haben, lächelst du, Leichenlachen, du lächelst in deinem Kriegskostüm, hebst deine Lanze gegen den, der sich an die Mauern deiner Festung klammert, zersägst seine Milchfinger, ziehst in seine Speiseröhre, kampierst auf seinen Geschichten, du glaubst du bist der Meister, du bist der Meister, denn deine Ohren schlackern wie Halsketten, unfähig, das zerstückelte Volk der Geister zu hören, die Milliarden, die Millionen, die Hundert und die Einen, die von hier bis dort drüben, von Mexiko bis Lagos, von Gao bis Kidal, von Agadez bis Tijuana, von Nouadhibou bis Monterrey ihres Körpers beraubt wurden, exekutiert durch Untätigkeit, die auf ihrem letzten Unglückspfad die Namen ihrer Dörfer ausspuckten, die sie fest umschlossen in den Maschen ihrer Adern ihrer Achsen trugen, die Ströme der Hoffnung dein Bidet dein Krug deine Vagina dein Uterus deine Tür zu werden, die nicht abgeschickten Nicht-Scheine aus dem neuen Nicht-Leben, und selbst wenn sich irgendwo Gebete erheben, haben sie nicht die Kraft die Toten zu erwecken, und du und ich finden uns ab mit der neuen Gegend, von ihrem Verschwinden geformt, am großen Verhandlungstisch rauchen wir ihre Eingeweide und Vorspeisen, ihre Hirse und ihre Seen, und immer bleiben genügend Erzählungen, die die Geschichte belohnen, also schlaf, Freund der Siebenschläfer, schlaf, auf Moos auf Federn an Ufern, schlaf, solange die Fische noch an deinen Tanz glauben, schlaf, ich, ich bin tot.

2. Nein, du bist nicht tot, es ist zu einfach während der ersten Etappe zu sterben, nein, sie haben nicht in der Wüste geschossen, sind nicht mit ihren Kokainkapseln gekommen, um sie an deinen Magen zu verticken, nein, du gehörst weder zu den 72 Toten der Farm von San Pedro, noch zu den 58 in dem Lastwagen aus den Niederlanden erstickten Chinesen in Dover, noch zu den 38 Ghanaern, die 100 km vor Arlit verdursteten, noch zu den 80 Passagieren deren Schlauchboot von Agenten der Königlichen Marokkanischen Marine aufgestochen wurde, nein, du bist da, du läufst, du hast Fake Nike Schuhe aus Nylon und schwitzt darin, du hast Blasen, die bei jedem Schritt nässen, deine Kehle ist von Trockenheit stranguliert, deine Hände und dein Nacken, dein Kopf und deine Lippen sind verbrannt, aber du weißt, du wurdest unter den jungen Leuten deines Dorfes auserwählt, du weißt, sie haben auf deine Jugend deinen Mut deine Ausdauer gesetzt und wie Samba Guéladiégui, El Hadj Omar, und die Anführer der Tolteken, bist du ein Abenteurer und auch du wirst durch die Prüfungen ein Held werden, du wurdest von den hohen Vertretern gesegnet, mit Kopal bestrichen, mit Symbolen tätowiert, und da bist du, mit baumelndem Kopf läufst du in der Wüste von Arizona, läufst 500 km zwischen


228

Nouakchott und Nouadhibou, läufst Tag und Nacht, du läufst und die rissige Erde verbrennt deine Fersen, du läufst und dein ganzes Geld ist fast verbraucht, du läufst und spürst nichts, weder Füße noch Beine noch Leber noch Milz, du läufst und das Bild deines Dorfes schwebt über der Wüste, du läufst und du verreckst am Laufen, du läufst und willst am liebsten aufgeben drauf scheißen dort sterben, aber du hast gezahlt mit einem Geld, das nicht dir gehört, dem Geld deiner Cousine deines Bruders deiner Mutter deiner Schwester, also läufst du, du läufst, entbeinte Leiche, du läufst und saugst die stacheligen Blätter der Kakteen im Morgengrauen, du läufst und schaust nicht auf die, die fallen, schaust nicht auf ihre starr gewordenen Körper, niemand schaut hin. Und wenn du denken könntest, würdest du an der Realität deiner Reise zweifeln, und wenn du dich nicht schämen würdest, würdest du rennend nach Hause zurückkehren, wo das Feuer in der Mitte des Hofes brennt, wo die Felder ein paar Maiskolben abwerfen, aber du läufst, du achtest auf nichts mehr, bemerkst nicht mal den Lastwagen, der sich nähert, siehst nicht, wie die Typen, die Straßenräuber, aussteigen, siehst nicht, wie sie ihre Waffen auf dich und die anderen richten, siehst nicht, wie sie euch dein Geld deine Uhr dein Radio deine Schuhe entreißen, siehst nicht, wie sie zehn Mädchen verschleppen, fünf Ghanaerinnen und fünf Nigerianerinnen, nein, du siehst es nicht, es passiert 150 km von Dirkou entfernt, in einer anderen Wüste, du spürst auch nicht, dass die Erde unter deinen Füßen erst Steinen, dann Beton, dann Teer, dann Kartonhütten Platz gemacht hat, kaputte Autos, umgestoßene Pfeiler und Müll, der Mann zeigt dir die Stelle, dort ist sie, dort fängt alles an, also läufst du mit denen, die überlebt haben, läufst bis zu der Stelle, du bist nicht der Einzige, Hunderte, die Tausend und die Einen, du setzt dich, endlich setzt du dich, diesmal fühlst du, der Fluss das Meer das Mittelmeer ist nicht mehr weit, der Fluss das Meer, du setzt dich und Sauerei, schon fallen Dutzende kleine Scheißer über dich her, du willst nichts, doch, du willst Wasser, aber du willst dein in dein Unterhemd genähtes Geld nicht entblößen, du stößt sie weg und erinnerst dich, du hättest das Kleingeld in deiner Tasche behalten sollen, das hast du nach so vielen Tagen in der Wüste vergessen, du versteckst dich, aber es gibt kein Versteck und ein Teenie versucht dir dein Geld zu klauen, du bist gezwungen, dich zu prügeln, du schlägst ihn und andere schlagen dich, weil du ihn geschlagen hast, und als du dich wieder aufsetzt, hast du kaum noch Geld, du kannst nicht mehr, du denkst, du kannst kannst kannst überhaupt nicht mehr, aber du kannst nicht schwächeln, du richtest dich wieder auf, du verstehst, dass du warten musst, bis du dran bist, du verstehst, dass du draußen schlafen musst, du verstehst, dass du verrecken wirst, wenn du schläfst, du weißt nicht, was du machen sollst, willst nur schlafen dich ausruhen dich gehen lassen, nein, du richtest dich wieder auf, läufst, schlafwandelst in den Straßen


229

dieser Nicht-Stadt, im Dunkeln, in der Ruine. Vorposten des sogenannten Abflugs. Zertrümmerter Traum. Und mitten im Gesicht dieser Geister dieser Wracks dieser Ersatzmenschen, siehst du ihre in Richtung Grenze aufgerissenen Augen, tränenfeucht vom ständigen Starren auf das andere Ufer. Du atmest es, Schlafwandler. Das Geräusch der Schritte im trockenen Gras. Das Keuchen. McDonald‘s. Ikea. Nike. Toyota. Die Sorbonne. Real Madrid. Adidas. Transzendierende Körper, transpirierende Körper. Adrenalin. Aufregung. Die Grenze ist ein tanzender Funke, der vor deinem ekstatischen Gehirn flattert, du bist high, vom Kontakt mit dieser Luft bist du plötzlich drauf, du bist stoned wie die anderen an der Grenze und trotz der Müdigkeit spürst du sie, sie, die sich vor dir bewegt, spürst ihre ausgemergelte Form, riechst ihren strengen Geruch, du riechst sie, du willst sie, du willst sie dir holen diese Schlampe von Grenze und endest wie die anderen, steckst dein Geld in diese Fickschuppen, in dieses Bordell und es ist die Grenze, die du hinter alten Plastikbehältern voller Düngemittel besteigst, für sechzig Pesos, für fünf Euro, es ist die Grenze, in die du dein Glied rammst, auf die du pisst, auf die du deine tierische Kraft brüllst, du siehst nicht die Frau, siehst nur noch die Grenze und in ihren Armen schläfst du ein, und wütend von Sperma springst du dem ins Gesicht, der deine Brust begrapscht, um dein Geld an sich zu raffen, und du läufst erneut, aber dein Schritt ist langsam, du gehörst von nun an zu dem Volk der Grenze, und auch du wendest unaufhörlich deine geröteten Augen zu ihr hin, zu dieser üppigen, aufreizenden Gringa-Schlampe, die dich nicht loslässt, und jede Nacht glaubst du sie ein bisschen mehr zu ficken, bis du an der Reihe bist, ja, ja, du bist dran, du gibst alles, was du noch hast, und den Ring deiner Großmutter, und das Gliederarmband deiner Taufe, und deine Jacke, und deine Arme zum Zementtragen, alles gibst du einem mexikanisch-guatemaltekisch-amerikanischen Schleuser, einem Malier, einem Italo-Araber, einem Libyer, der dir verspricht, dich am selben Abend rüberzuschleusen, und seitdem hältst du dich bereit, reißt du dich zusammen, fühlst dich vor dieser Grenze plötzlich demütiger, und du denkst an dein Dorf an dein Viertel an die junge Frau, der du die Disney-Kissen den Elektroherd den Schminktisch aus weißem Holz versprochen hast und du richtest dich auf, es ist Nacht, da stehst du vor dem Fluss mit so vielen anderen, Männer Frauen Kinder, sie ähneln dir, sie ähneln dir nicht, du hast Angst, du siehst, das Ufer ist nicht mehr weit, aber du hast Angst, das schwarze Wasser und die Strudel, der Schleuser fängt an zu brüllen, du gehst rein, das kalte Wasser überschwemmt dich, du fuchtelst mit den Armen, gehst unter, schluckst den Fluss, weinst, das Wasser dringt in deine Lunge, zieht dich runter, und du siehst die Millionen verlassener Gesichter am Grund des Flusses und du schreist, das Wasser dringt tiefer in deine Lunge, du weißt nicht, dass sich menschliche Leichen manchmal in den Netzen der Fischer verfangen, und dass die griechi-


Dort liegt sie im Tageslicht, das rosafarbene Licht beleuchtet die von kleinen Häusern und Geschäften gesäumte Hauptstraße, und du ziehst als Held in die Stadt ein, hast die Prüfungen überlebt, hast alle Prüfungen überlebt, die Einwohner der Stadt jubeln dir zu, sie kommen aus ihren Häusern und jubeln dir zu, sie bewundern deine Wunden, wollen dich anfassen, die Frauen bringen Mullbinden und Wasser, um deine Wunden zu reinigen, die Männer schenken dir ihren besten Schnaps, und man setzt füttert massiert dich, willkommen, willkommen, du bist ein Held.

3. Doch dieser funkelnde Held, dieser strahlende Held, dessen Haare in Zeitlupe im Wind wehen, hat er niemals sein können. Nein. Sein Körper fiel vom Stacheldrahtzaun, auf die Seite der Unberührbaren, auf die Seite der Verlierer, auf die Seite der Pechvögel. Sein Körper stapelte sich auf andere Körper. Er verrottete unter der Sonne der Grenze, und kleine Fleischfetzen flogen in den Schnäbeln der Aasfresser davon. Von diesen Körpern gibt es Aufnahmen im Internet, die von den Abenteurern selbst mit ihren Handys gefilmt wurden, ein Video, ein Gebet für die ausgetrockneten Körper, mitten in der Wüste im Stich gelassen, Gesichter ohne

230

schen-italienischen-maltesischen Fischer den Befehl haben, sie zurück ins Meer zu schmeißen, deine Hände schlagen das Wasser, du spuckst, wütest, und berührst das Ufer, und kaum bist du dort, keuchend, stürzt sich ein Kerl auf dich, schüttelt dich, stößt dich auf den Weg, schlägt dir auf den Kopf, damit du kriechst, und du kriechst, das Gesicht in der Erde und die Erde im Mund, und die neue Erde mischt sich mit dem Wasser des Flusses, und du kriechst im Dunkeln und riechst den faulen Gestank der Angst, den die um dich verstreuten Körper ausspeien, und plötzlich der Schrei der Eule, eine überwältigende Stille, Lichter, die die Erde von allen Seiten durchforsten, hunderte Lichter, und im Aufleuchten der Taschenlampen siehst du das Gesicht einer gehetzten Frau und hörst ihr Brüllen, und du verstehst, der Zeitpunkt ist gekommen, und du beginnst im Dunkeln zu rennen, und du rennst, du rennst wie nie zuvor, du rennst und krachst gegen die berühmten Stacheldrahtzäune und hörst die Schüsse, die Schreie hinter dir, die tierische Panik, Frontex, die Guardia Civil, das Sistema Integrado de Vigilancia Exterior, sie wachen über dich, und du kletterst den Zaun hoch und fühlst nichts, weder deine zerrissenen Hände noch das Blut noch die Schüsse, und du kletterst und springst und rennst geradeaus, rennst noch die ganze Nacht, rennst alleine und weißt nichts mehr, rennst bis in den frühen Morgen und dort im Licht entdeckst du zum ersten Mal deine neue Welt.


231

Augen, ohne Nasen, mumifizierte Gesichter. Vor dem Video eine Werbung für ein amerikanisches Auto, die alles ad absurdum führt: Einem kleinen Bruder kann man nichts abschlagen. Also, nein, dieser Held hat er nicht sein können, und diejenige, die überlebt hat, entgegen aller Erwartungen, war die von den Taschenlampen geblendete Frau, und am nächsten Tag war diese Frau auf der richtigen Seite. Auf der Seite der Autobahnkreuze und der Autos und der Wohnblöcke. Diejenige, die mit ihrem ins Unterhemd genähten Geldumschlag das Meer überquert hat, diejenige, die auch diese letzte Grenze noch überquert hat. Und auf der anderen Seite ist sie untergetaucht. Es war nicht so, dass sie es wollte, sie ist untergetaucht ohne aufzupassen, sie ist untergetaucht an den Rändern der Stadt, die Stadt ist zu ihrem Wald geworden und inmitten all dieser Stämme ist es besser, dem Wolf nicht zu begegnen. Gekrümmt läuft sie an den Rändern entlang, eine Art, nicht mehr im Zentrum zu stehen, ein Verschwinden ihrer eigenen Erscheinung. Es ist also fast immer Tag. Wie die anderen kommt sie dort zufällig an und reiht sich in die Schlangen ein. Denn auf dieser Seite gibt es zugelassene Wege und andere, die es nicht mehr gibt. Ja, hier ist fast immer Tag, denn sobald die Nacht hereinbricht, werden die Wesen zu Hauswänden Gebäudetüren Bettrahmen, zur Nacht der Keller, ja, so ist es, man muss sich dran gewöhnen, die Nacht nicht mehr zu sehen, sie nur noch von drinnen aus zu sehen. Der Tag beginnt früh, um vier, fünf Uhr. In dieser morgendlichen Stunde kann man die Baustellen und die Unterkünfte erreichen. Kurz bevor die anderen ihre Häuser verlassen, um in die Büros die Kindergärten die Firmen die Werkstätten zu gehen. Dort kommt sie also an, in der Nacht der Unsichtbaren. Von der Nacht bleibt sie erst lange geblendet. Sie kann nicht unbedingt sofort nach draußen. Die Gemeinschaft muss zunächst über die Aufgabe, die ihr zugewiesen wird, entscheiden. Alles ist hier strengstens geregelt. Denn die Hispanics machen nicht das Gleiche wie die Asiaten, die nicht das Gleiche machen wie die aus dem Osten, die nicht das Gleiche machen wie die Schwarzen. Die Schwarzen bleiben für sich. Es gibt hier Anführer, exilierte Könige, Denker und Drecksäcke. Muss man auseinanderhalten. Weil sie schwarz ist, kann sie nicht auf Kinder aufpassen, weil sie eine Frau ist, kann sie nicht auf die Baustelle, also zwei Möglichkeiten: Köchin oder Prostituierte. Als Prostituierte gibt’s schneller Geld, als Köchin Arbeit in den Villenvierteln, vielleicht fürs ganze Leben. Entscheide dich. Die anderen Frauen sagten Dinge. Sie hatten es bestimmt schon tausendmal wiederholt und es war bereits ein altes Sprichwort, das ihre Vorgängerinnen sicherlich auch schon wiederholt hatten. Nicht der Körper nutzt sich ab, sondern das Denken. Wenn feststeht, dass eine Rückkehr unmöglich ist, wenn man für immer vergisst, wie sich die Erinnerung anfühlt. Sie hatten alle gesagt, ich doch nicht, ich bleibe nicht so lange, nur lange


genug, um ein bisschen zu sparen. Auch sie wollte das sagen. Aber die anderen Frauen fingen an zu schreien, fingen an, der Neuangekommenen ins Gesicht zu schreien und ihr zu sagen, dass sie wegen ihren Müttern, die drüben auf ihre Überweisung warteten, bleiben mussten, die zwar gerne hören wollten, dass es schwierig ist, aber ganz ehrlich, schwierig ist es überall, und dort drüben, sie weiß es nur zu gut, können von diesem Paket aus Europa aus den USA aus Australien nicht nur eine, sondern fünfzig Personen leben. Entscheide dich, aber entscheide dich schnell, du bist nicht die einzige hier und wenn du entschieden hast, gibt es Krieg.

4.

Ich bin Trader. Ich habe gerade 100 Millionen Franken verloren, die der UBS gehören. Seit mehreren Generationen legt eure Familie dort euer Geld an. Wie fühlt ihr euch? Ich bin eure Tochter. Ihr habt mich adoptiert, als ich ein Baby war. Ich hatte eine Hirnhautentzündung, aber ihr habt euch Tag und Nacht um mich gekümmert und ich habe es überstanden. Ich bin Sekretärin bei Nestlé. Jeden Sonntag bringe ich euch Nespresso-Kapseln mit. Wie fühlt ihr euch? Ich bin Soninké, ich spreche vier Sprachen, kann Häuser bauen, kann Hirse pflanzen und ernten. 2001 habe ich die Schweizer Grenze illegal überquert. Ich habe keine Papiere, teile mir mit fünf anderen Männern ein Zimmer, arbeite auf der Straße. Wie fühlt ihr euch? Ich meine, wie fühlt ihr euch? Was ist eurer Meinung nach besser? Ist es besser, zu wissen, wie man Hirse erntet, um in Genf auf den Strich zu gehen?

232

So, ich stehe vor euch, seht mich genau an, ich habe ganz viel Zeit. Seht mich an, ihr könnt auch näherkommen. Riecht an mir, wenn ihr wollt. Fasst mich an. Ihr könnt mich auch hochheben, ich wiege 48 Kilo, ihr riskiert nichts, wenn ihr mich hochhebt.


Ist es besser, Trader bei der UBS zu sein, um 100 Millionen Dollar zu verlieren? Ist es besser, ein Hochschulstudium absolviert zu haben, um Menschen bei Nestlé zu feuern? Was, was ist heute besser? Ist es besser, Beamter zu sein, Grundschullehrer zu sein, sich per Online-Dating kennenzulernen, Kinder per SMS zu retten, in den Supermarkt zu gehen, die Kinder zu ihren Hobbys zu fahren, Kreditvorteile auszunutzen, vom Rabattangebot für die Flüge in diesem Sommer zu profitieren, für einen sauberen Planeten Müll zu trennen, ist das besser? Ist es besser, in der Stadt zu leben als auf dem Land? Ist es besser, große Tampons zu benutzen als kleine? Ist es besser, nach Costa Rica in ein All inclusive Hotel zu fahren oder bei Einheimischen auf dem Boden zu schlafen?

233

Ist es besser, Krätze zu bekommen oder Bettwanzen zu haben? Ist es besser, zu Hause zu bleiben? Ist es besser, sich komplett die Schamhaare zu epilieren? Ist es besser, ein großes Baby zu haben als ein kleines? Ist es besser, zu verreisen? Ist das besser? Sag mir, ist es besser? Ist es besser, dich zu lieben, dich bis zum Umfallen zu lieben, unter der Liebe zu leiden, dich immer zu lieben, dich mehr zu lieben als ich jemals dachte jemanden lieben zu können, dich so sehr zu lieben, dass ich mich selbst nicht mehr liebe? Ist das besser? Ist es besser, dich nicht zu lieben? Ist das besser? Ist es besser, nie so zu denken wie andere?


Ist es besser, kein Deodorant zu benutzen? Ist es besser, eine Putzfrau zu haben? Ist das Leben jetzt besser? Ist es besser, sich für seine Ideen die Fresse polieren zu lassen? Ist es besser, blond zu sein? Ist es besser, kein Fleisch mehr zu essen? Ist es besser, nur noch Fleisch zu essen? Ist es besser, nie bei McDonald‘s zu essen? Ist es besser, mit der Zeit zu gehen?

Ist es besser, lange zu leben? Ist es besser, ehrgeizig zu sein? Ist es besser, zu hoffen, dass man etwas verändern kann? Ist es besser, sein Bestes zu geben? Ist es besser, dass es ein Bestes gibt? Alles ist seltsam ruhig, alles ist sehr ruhig, alles scheint ruhig zu sein, ich weiß nicht, was besser ist, ich habe den Eindruck, dass all das eigentlich kaum noch von Bedeutung ist, auch wenn die Landschaft manchmal für einen Moment verschwimmt, auch wenn die Erde manchmal aufreißt, aber im Großen und Ganzen ist alles ruhig, es steht immer noch zu viel Milch in den Supermarktregalen und es gibt immer noch genügend Bäume, um unsere Lüftungsschächte zu kaschieren, aber manchmal denke ich daran, ich denke, dass wenn hier, wenn hier auf dieser Seite der Welt, hier in den Straßen meiner Stadt, hier in diesem Theater, Krieg wäre, ich zu denen gehören würde, die zuerst auf der Strecke blieben, unfähig, Kälte oder Hunger zu trotzen und dann denke ich manchmal auch, dass ich, wenn Krieg wäre, in den Untergrund gehen und kämpfen würde.

234

Ist es besser, elegant zu sein?


Warum nicht jetzt? 5.

235

Sie brauchen Ruhe, Erholung, Sie sind überarbeitet, Sie können nicht mehr, Sie arbeiten zu viel, Sie rauchen zu viel, Ihre Cholesterinwerte sind hoch, Sie sind müde, Sie brauchen frische Luft, Sie haben keine Zeit mehr, Ihre Freunde zu sehen, Sie arbeiten zu viel, Sie lassen sich von Ihrem Arzt durchchecken, Sie schreiben nicht mehr, Sie haben keine Zeit mehr zu schreiben, Sie genießen die Wochenenden bei Ihren Schwiegereltern in Genf nicht mehr, Sie hätten gerne, dass das Leben anders wäre, Sie lesen die Kritiken im New Yorker, Ihre Freundin nimmt Gesangsunterricht, Sie treiben keinen Sport, Sie schauen jungen Mädchen auf die Beine, Sie sind nicht unterzukriegen, Sie trinken gerne Weißwein im Café um die Ecke, Sie folgen Barack Obama auf Twitter, Sie arbeiten zu viel, Sie haben keine Zeit mehr zu schreiben, Sie fühlen sich erschöpft, Sie scheißen auf Virginie Despentes, Sie haben sich ein Segelboot gekauft, aber selbst das Segelboot bereitet Ihnen keine Freude mehr, Sie träumen davon, alles hinzuschmeißen, Sie lieben Ihren Komfort, Sie lieben Ihre Ingo Maurer-Lampe, Sie zeigen Ihre Lampe Ihren Freunden, Sie rauchen Zigarillos und Sie besaufen sich, wenn Sie zu müde sind, Sie haben eine Bahncard 100: Paris, Berlin, Frankfurt, Genf, Wien, Zürich, Berlin, Prag, München, Amsterdam, Sie sind in der Blüte Ihrer Jahre, kaum 40, Sie mögen es oldschool, auch beim Essen, Sie könnten mit Houellebecq befreundet sein, wenn Sie wirklich wollten, könnten Sie, Sie kaufen Ihre Anzüge in London, Sie sind müde, Sie können nicht mehr, haben keine Zeit mehr, auch nur eine einzige Zeile zu schreiben, und dann sehen Sie die Werbung: Raus aus dem Alltag ab in die Freiheit, Malta für 35 Euro, Sie wissen nicht warum, aber in diesem Augenblick entscheiden Sie sich, in der U-Bahn auf dem Weg zur Universität zücken Sie Ihr iPhone und buchen, ja, ohne Ihre Freundin zu fragen ohne Ihr Institut zu fragen ohne Ihren Arzt zu fragen, Sie wissen nicht wie, aber auf einen Schlag schaufeln Sie eine ganze Woche frei, eine Woche, und buchen den Billigflieger, immer noch in der überfüllten 8-Uhr-morgens-U-Bahn, und mieten ein Haus im Internet, ein schönes Steinhaus mit einem großen Feigenbaum, das sehen Sie auf dem Foto, ein hübsches Haus abseits des Dorfes mit Blick aufs Meer, Sie sind ganz aufgeregt, und schwupp, sitzen Sie in diesem Flugzeug in diesem Dorf in diesem Haus, Sie begegnen den Eigentümern nicht, der Schlüssel ist bei der Vermietungsagentur hinterlegt, und schwupp, betreten Sie das Haus, es ist wie auf dem Foto, nur in klein, Sie sind glücklich, Sie würden gerne Ihre Freundin anrufen, um Ihr Glück mit ihr zu teilen, aber Sie tun es nicht, also machen Sie es sich gemütlich, Sie holen den kleinen Eisentisch hervor, richten den Stuhl zum Meer aus, fahren den Laptop hoch, es


6. Du tauchst hier mittendrin auf, aus dem Nichts, trittst mit deinen schwarzen Haaren hinter dem Feigenbaum hervor und erzählst mir, du bist geschwommen. Aber deine Geschichte, diese Geschichte vom Schwimmen mitten in der Nacht ist wertloses Gerede, verdorbenes Brot, was du da erzählst, das geht nicht. Verstehst du? Das ist nicht glaubwürdig, ich glaube dir nicht. Also wenn du Papiere willst, musst du an deiner Geschichte arbeiten, wirklich gut an ihr arbeiten, weil weißt du, du bist er

236

ist früher Vormittag, der beste Moment, der erste Kaffee, wenn das Licht noch kalt, wenn die Kanne noch voll ist, der beste Moment, und Sie öffnen den Ordner auf Ihrem Laptop, den Ordner, den Sie nie öffnen, keine Zeit, der immer mit den anderen, mit den tadellos angeordneten, ernstzunehmenden, erfolgversprechenden Ordnern konkurriert, die, kaum hat der kleine Pfeil der Maus den Ordner gestreichelt, die Maus normalerweise in den Momenten des Zögerns auffressen, aber dieses Mal gibt es nur ihn, den Ordner Die Schlachten, Sie öffnen ihn und der Text erscheint, in seiner ganzen Schönheit, die Zeilen in Schriftart Akkurat leuchten im Licht des Südens, Sie trinken einen Schluck Kaffee, Sie atmen, Sie murmeln einige gute Sätze zur Einstimmung, und Sie stürzen sich auf Ihren Text über das Epos, ein modernes Epos, eine Geschichte, die die Zuschauer von DieZEITmonopolSkyTheNewYorkerLeMondeDasWetter berühren wird, eine Geschichte, in der Sie in Ihrem lässig getragenen Londoner Anzug zu sehen sind, Sie sind ganz begeistert davon, Sie stellen sich die Gesichter Ihrer Studenten vor, die Gesichter Ihrer Kollegen das Gesicht Ihrer Freundin das Gesicht Ihrer Schwiegermutter, Sie schreiben immer schneller, die Wörter sprudeln aus Ihrem Kopf in Ihre Finger, die Figur wird lebendig, eine Frauenfigur, eine Frau wie Sie keine kennen, eine schrecklich schöne Frau, intelligent, heiß in der Sonne, erfinderisch, eine Bogenschützin auf Pfennigabsätzen, die schlagfertige Antworten liefert, die keine Angst hat weder vor Spinnen noch vor Soldaten noch vor Bomben, und auch nicht davor, ein brennendes Flugzeug zu steuern, die Tag und Nacht Sex will, die nie ihre Tage hat, ja, Sie können es kaum fassen, wie gut das mit dem Schreiben läuft, wie gut Sie diese Frau verstehen, ihre Probleme, ihre Wünsche, Sie spüren sie in Ihrem Körper, so stark, dass Sie einen Ständer kriegen, und dieser Ständer fühlt sich so gut an vor diesem blauen Meer, dass Sie weiterschreiben ohne den Hunger den Durst die immer heißer werdende Sonne auf Ihrem Körper zu spüren, es gibt nur Sie und diese Frau, die so lebendig ist, dass sie schließlich hinter dem Feigenbaum erscheint, nicht genauso wie Sie sie gerade schreiben, aber als Sie sie sehen, erkennen Sie sie, Sie erkennen sie ohne jeden Zweifel.


237

nicht die Einzige, die schwimmend kam, du bist nicht die Einzige, die von Soldaten vergewaltigt wurde, du bist nicht die Einzige, die gesehen hat, wie man ihre Eltern mit einer Machete zerstückelte. Also musst du dran arbeiten, bevor dir hier jemand glaubt. sie Ich weiß, das reicht nicht. er Wenn du tot wärst, wäre es einfacher, ich meine in punkto Glaubwürdigkeit. sie Ja … Glaubst du, ich sollte sterben? er Nein, dafür ist es jetzt zu spät. Du hättest vorher sterben müssen, während des Schiffbruchs, ein paar Meter vor der Küste, und am Besten wäre es übrigens gewesen, du hättest ein Kind gehabt. Verstehst du, dann wärst du da, hättest gekämpft, um vorwärts zu kommen, hättest dein Kind gehalten, ein Baby natürlich, vielleicht drei Monate, hättest die ganze Nacht für das Überleben deines Kindes gekämpft, aber am frühen Morgen wäre das Baby tot und du, wahnsinnig vor Schmerz, hättest aufgegeben, ohne zu sehen, wie dicht du am Ufer warst, und ohne es zu wollen, wärest du gerettet. sie Wenn ich sage, dass ich ein Baby hatte, dann werden sie mich testen, meine Vagina untersuchen, oder? er Ich weiß nicht … Aber verstehst du ein bisschen, in welche Richtung du gehen musst? Ja, das wollt ich dir sagen, arbeite an deiner Geschichte. Müsste ich nicht dieses Buch fertigkriegen, könnte ich dich begleiten, könnte ich dir vielleicht helfen, aber tut mir leid, ich muss das Buch fertigkriegen, ich brauche jetzt Ruhe zum Schreiben, ich brauche jetzt wirklich Ruhe.

7. Wir sind tragisch außer Atem, von Hitze abgewetzt, wir laufen auf Grund, weil unsere Jahre in Hülle und Fülle kommen, keine Nachrichten mehr, was machst du aus uns, wir warten in den Fesseln unseres Landes, wo selbst für andere waschen, für andere kochen die Taschen nicht mehr ausbeult als die Taschen selbst, wir hoffen, du bist am Leben, trotz der Bruchstücke, die dein Schweigen uns schickt, wir hoffen, du bist wohlgenährt und strahlend, faltenlos und elegant auf Hochglanzpapier, hör uns zu, wir sind immer noch auf der Straße hinter dem Hafen, sind immer noch im Dorf, sind immer noch dort, wir warten auf die Nachricht von deinen Nachrichten, werden bis zum letzten Wall des Atems warten, denk dran, wir wollen dein Exil-Gesicht kennenlernen, wollen selbst sehen, wie die Berglandschaft deine Wangenknochen geformt, wie die List der Städte deine Zähne gefärbt hat.


8. Hast du Angst? Angst? sie Ja, Angst. er Ja, manchmal habe ich Angst. Zum Beispiel habe ich jetzt gerade Angst, meinen Roman nicht fertigzubekommen. Aber häufig habe ich Angst, keinen mehr hochzukriegen. Ich habe Angst, meine Haare zu verlieren, Angst, nicht berühmt zu sein, Angst, nicht mehr verreisen zu können. Ja, siehst du, ich habe Angst. sie Aber Angst zu sterben, Angst zu hungern, Angst vergewaltigt zu werden, Angst enthauptet zu werden, Angst, man verstümmelt deine Eltern mit einer Machete, Angst, die Ernte wird verbrannt, Angst, dein Haus wird zerstört, Angst verrückt zu werden … Das nicht? er Siehst du hier Leute mit Macheten? sie er

So, da bin ich, vor euch. Ich bin da, habe ganz viel Zeit. Ich war schon immer da. Ich sehe euch an, ich höre euch zu. Ich höre, was ihr in euren Häusern sagt, ich schaue euch beim Essen zu, schaue euch beim Sex zu. Ja, da bin ich. Ihr könnt ruhig näherkommen. Ihr habt nichts zu befürchten, ich bin schon lange da. Ihr habt Ausreden, ihr wusstet es nicht, ihr habt Ausreden, ihr konntet nicht anders, ihr wusstet es, aber was hättet ihr tun können? Ihr wisst es, aber ihr habt gute Gründe, die Kinder, die aus der Schule kommen, die Freunde, die warten, der Chef, der euch im Nacken sitzt, und der Vater liegt im Krankenhaus, die Nachbarin ist bipolar, dem Onkel haben sie das Arbeitslosengeld gestrichen und die Schwester hat euch das Erbe geklaut, ihr wisst es, aber könnt nichts tun, ihr denkt dran, aber könnt nicht anders.

10. Wir sind da. In unserer Vorstellung bist du weiß, meine Kleine, Milchhaut, gezuckert, gebuttert, ganz weich, am Fenster eines Betongebäudes, auf der Terrasse, mit Sonnenschirm, deinen Blick, den Blick, wir können ihn nicht erkennen, wie sollen wir wissen, ob darin das Meer ist, oder nur Mauer, nur Zaun. Keine Nachricht, keine Nachricht, nichts zu Beißen, keine Krümel von Geschichten, keine Brandungen, keine plötzlichen Offenbarungen, meine Kleine, behalten sie dort drüben die Körper der Ausländer, ist dein Körper so tief gesunken, dass er nicht mal mehr den Laut eines

238

9.


Geistes von sich gibt, unser Herz ist noch groß genug, um es mit jedem deiner Leben zu bevölkern, wir sind voller Verwirrung, wir bitten dich, schick deinen alten Müttern ein Zeichen, den alten Zitzen von Tanger, Caracas, Nouadhibou.

11. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Vögel, die über eine weite Ebene fliegen, ich sehe Bäume, die sich im Wind wiegen, Indigene, die um ein Feuer stehen, Häuser mit Strohdächern, ich sehe Canyons, und den Grund der Meere, ich sehe zerfurchte Gesichter, Steine, einen Mann, der einen Berg erklimmt und mich auffordert, ihm zu folgen, ich sehe eine Herde grasender Yaks, einen mürrischen Baum, der spricht, eine Schlange und Bücher, die fallen, ich sehe den Regen, erleuchtete Fenster, dahintreibende Körper, glückselige Gesichter, ich sehe dich, verirrt im Wald, sehe grasende Esel und Spuren in den Maisfeldern, ich sehe lilafarbene Täler, strudelndes Wasser und Federn auf den Bürgersteigen, Federn, die ich aufhebe, um mir einen Kopfschmuck zu machen. er Wenn ich die Augen öffne, sehe ich alte, schwarz gekleidete Frauen, die auf den Knien um Geld betteln, ich sehe Roma, die man ins Gefängnis wirft, Leute, die mit Cremes, Uhren und Luxuskleidern Kaufhäuser verlassen, Ausländer, die man als Vergewaltiger beschimpft, Rentner, die aus Supermarktregalen klauen, Männer und Frauen, die in Ledersesseln sitzen und die Ersparnisse der Bevölkerung stehlen, und noch nie, noch nie erschien mir der Herbst so trübselig. Und wenn ich die Augen schließe, sehe ich nichts, sehe ich wirklich nichts. sie

239

12. Das Licht ist nicht dasselbe. Das Licht ist nicht dasselbe, nein, es hat sich verändert, ja, es verändert sich. Es ist Abend. Das Licht ist taub geworden. Sie sitzen am Strand. Sie beugen sich zum Wasser, beugen sich zum Körper einer schwarzen Frau. Sie bewegt sich nicht, Sie halten sie an sich. Sie bewegt sich nicht mehr. Ihr Kopf ist nach hinten geneigt, als lache sie, aber sie lacht nicht, ihre Kleidung umweht leicht ihren Körper, wegen der Abendbrise, und ihre leicht verkrampfte Hand liegt auf ihrem Herzen, oder genauer gesagt auf dem Plastikbeutel, der vor ihr Herz in ihre Kleidung genäht ist. Da ist sie, regungslos, mit ihren langen am Gesicht klebenden schwarzen Haaren liegt sie da, angespannte Züge, Müdigkeit in ihrem emotionslosen Gesicht, obwohl ihre Füße, die Beine und der Oberkörper locker sind. Sie haben sich zu ihr gebeugt, haben diese Frau gehalten, als


sie kaum aus dem Wasser kam, haben sie an sich gehalten. Sie sind ins Wasser gestiegen, um der schiffbrüchigen Frau entgegenzugehen, haben sie an sich gehalten, haben sie getragen, und nur wenige Minuten später hat sie aufgehört zu atmen.

13. Das Meer ist versunken, mit dem letzten Schein. 1 er Ich bin da, ich bin in, nicht weit, ich laufe, ich bin da, ich laufe, ich laufe durch die Straßen, ich will, nein, ich wollte, ich bin ganz nah bei dir, ich, ich habe in den gelesen, ja, ich, es ist vielleicht zu spät, ich möchte, ich, ich bin da, spürst du, ich bin … sie Sie sind da, sie sind in, nicht weit weg, sie laufen, sie sind da, sie laufen, sie laufen durch die Straßen, sie wollen, nein, sie wollten, sie sind ganz nah bei dir, sie haben in den gelesen, ja, sie, es ist vielleicht zu spät, sie möchten, sie sind da, spürst du, sie sind … sie

Ich kenne Eure Geschichten nicht, aber wenn in meinen Geschichten Männer und Frauen Schiffbruch, Vergewaltigung und Zerstückelung entkamen, hießen wir sie willkommen. Mit einer Schüssel Wasser, um ihre Füße zu waschen, mit Obst, um sie zu erfrischen, mit süßen Worten, um sie zu beruhigen. Vielleicht waren es nur Geschichten, aber sie wiegten uns in den Schlaf.

Arthur Rimbaud: Gedicht »Die Ewigkeit« in Die späten Verse, Urs Engler Editor, 1998, Übersetzung: Michael Donhauser. 1

240

14.




Sarah Jane Moloney

Sapphox [Originaltitel: Sapphox] aus dem Französischen (Schweiz) von Frank Weigand

Der Text entstand 2019/2020 im Auftrag von POCHE / GVE – Théâtre en vieille-ville, Genf. Im Rahmen von Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik. Deutsche Übersetzung mit der freundlichen Unterstützung von Stück Labor Basel.


»Es ist das Wesen eines Kunstwerks, weder ein Teil, noch ein Abbild der wirklichen Welt zu sein (gemäß unseres allgemeinen Verständnisses dieses Satzes), sondern eine Welt in sich selbst, unabhängig, vollständig, eigenständig; und um es voll und ganz in sich aufzunehmen muss man diese Welt betreten, sich ihren Gesetzen anpassen, und eine Zeit lang die Überzeugungen, Ziele und besonderen Bedingungen ignorieren, die einem in der anderen Welt, der Wirklichkeit, eigen sind.« Professeur Bradley, Oxford, 1901

PERSONEN: Sappho, eine Frau, mindestens 45 Jahre alt Atthis, eine Frau, zwischen 30 und 35 Jahre alt Phaon, ein Mann, zwischen 35 und 45 Jahre alt

Das wichtigste Element eines Textes sind die Stellen, wo geschwiegen /

Pause

//

Schweigen

///

Langes Schweigen

Das unwichtigste Element eines Textes ist sein Plot. Drei zeitliche Dimensionen entfalten sich in diesem Stück. Die erste Ebene, die der »Handlung«, spielt im Jahr 2070. Die zweite Ebene im Jahr 2020. Die dritte im Jahr 1970.

244

wird:


PROLOG: MUTTER MITTELMEER (ODE AN DAS ZYPRIN1) Sappho steht alleine auf der Bühne. Sie ist völlig durchnässt.

Oh Aphrodite, feuchte Göttin! Ejakulat der Gischt, perlender Geschlechtstropfen, lass mich zurück an deine Quelle steigen! Deine Empfängnis, Aphrodite, ist die Stimme des Blutes, singend gegen den Strom. Deine Geburt, Aphrodite, ist ein Kopf, der sich aus den Fluten erhebt wie eine große feuchte Klitoris. Ein ungeschickter Leib, der mit den Wogen ringt, Salz, das in Nasenlöcher und Augen dringt und auf der Zunge seinen schlammigen Geschmack ausbreitet. Glieder, die sich hartnäckig abmühen, um sich in dieser flüchtigen und widerständigen Materie fortzubewegen, ein Mund, der nach Luft sucht wie ein Neugeborenes nach der Brust. Sappho

245

Und doch ist dieses Wasser dein Land: Es reißt dich mit, es belebt dich. Und wenn du erst einmal festen Boden unter den Füßen hast, wenn du dich abgetrocknet und dein Haar in Form gefönt hast, wenn du wieder zu Atem gekommen bist, für Botticelli posiert hast, mit deinen Meeresfüßen in ein Paar Pantoffeln geschlüpft bist und ein kleines Gläschen Raki getrunken hast, um dich aufzuwärmen, wird dich auf der Stelle das Bedürfnis verzehren, dorthin zurückzukehren. Weil du weißt, ein Orgasmus ist im Wasser immer besser. So viel besser, dass du beschlossen hast, das Wasser zu nehmen, es in ein hübsches Kästchen zu packen, eine Schleife darauf zu kleben und in Schnörkelschrift auf das Etikett zu schreiben: »VON: APHRODITE, FÜR: DIE FRAUEN«. Oh, wow, danke, danke, das war doch nicht nötig, aber natürlich freue ich mich trotzdem – Aphrodite, Mutter des Strömens, Mutter des Sprudelns und des Rieselns, besprenge mich mit deinem Zyprin! Lehre mich, in deinen heiligen Wassern zu navigieren! Aphrodite, Göttin, zeig mir, wie man deine Weisheit schlürft! //

Oh Aphrodite, Mutter Mittelmeer. Unsterbliche Göttin wechselvoller Ströme, Zu dir fleh‘ ich, zerbrich nicht mein – Komm, Göttin, vernimmst du meine – Oh Aphrodite, da bist du, ein Lächeln auf den Lippen, Und fragst, warum ich weine. Warum flehst du zu mir, Sappho? Warum so sorgenvoll? Oh Aphrodite, Mutter Mittelmeer.


Lehre mich, wie man die Ströme deines Landes befährt. Lehre mich, wie man dahintreibt. Zeig mir, Göttin, das rettende Boot. Ich flehe dich an.

AKT I [2070]: Das Bad Sappho, Atthis, (Phaon) Ein Tisch, zwei Stühle und ein einfaches Bett. (Zahlreiche) Kartons unterschiedlicher Größe. Veraltete Video- und Audiogeräte: Tageslichtprojektor, Kassettenrekorder mit Aufnahmefunktion, usw. Atthis und Sappho sitzen am Tisch, einander gegenüber. Sappho ist in eine Rettungsdecke gewickelt. Atthis blickt Sappho an. Sappho blickt zu Boden. Sie kratzt sich. Phaon kommt mit einem Stapel weißer Wäsche herein. Er legt ihn auf den Tisch und geht wieder hinaus. Phaon kommt wieder herein, trägt eine Waschschüssel mit Seifenwasser wieder hinaus. Sappho kratzt sich. Atthis

Das ist das Salz.

Sie zeigt auf die Waschschüssel, faltet den Wäschehaufen auseinander.

Reinigungstuch. Handtuch. Unterwäsche. Hose. Hemd. Sappho kommt näher, lässt die Rettungsdecke fallen: Ihre Haut ist von einer Salzschicht bedeckt. Sie stellt sich in die Schüssel und beginnt sich zu waschen. Ihre Gesten sind langsam und schwerfällig. Als sie mit dem Waschen fertig ist, nimmt sie die Wäsche, trocknet sich ab, zieht die Kleidung an.

Fertig? Sappho nickt.

Die Haare? Atthis nimmt die Waschschüssel, geht hinaus, kommt mit der gefüllten Schüssel wieder, stellt sie hinter den Stuhl.

Setzen Sie sich. Atthis wäscht Sappho sorgfältig die Haare. Als sie fertig ist, nimmt sie die Schüssel und die Karaffe, geht hinaus und lässt Sappho alleine.

246

und eine Karaffe. Er stellt sie auf den Boden neben einen Stuhl und geht


[2070]: SCHRAUBSTOCK Sappho, Phaon, Atthis Ein Kassettenrekorder mit Aufnahmefunktion steht auf dem Tisch. Phaon drückt auf einen Knopf; der Rekorder beginnt zu summen. Atthis steht abseits. Phaon

Bitte bestätigen Sie, dass Ihr Name Sappho lautet.

//

Das ist keine Falle. //

Wir kommen nie voran, wenn Sie nicht kooperieren. //

247

Bitte bestätigen Sie, dass Ihr Name Sappho lautet. Sappho nickt. Laut bitte. Er zeigt auf den Rekorder. Für das Protokoll. Sappho Mein Name lautet Sappho. Phaon Wunderbar, danke. Sehr gut. Also. Ich habe hier eine Liste von Aussagen. Diese Aussagen entsprechen biografischen Informationen Sie betreffend. Ich werde Ihnen die Aussagen vorlesen und möchte, dass Sie jedes Mal mit »ja« oder mit »nein« reagieren, je nachdem, ob Ihnen die Aussage zutreffend erscheint oder nicht. Zum Beispiel: Sie heißen Sappho. / Darauf antworten Sie mit »ja«. // Sie haben gerade gesagt, Ihr Name lautet Sappho. Sappho Man spricht das SaPpho aus. Mit einem P. Phaon Aber Sie … Ist es Ihnen lieber, dass ich Sie Sappho nenne? Sappho zuckt mit den Schultern. Na gut. Ich fange an. Sie wurden in Eressos geboren, auf der Insel Lesbos, in der nordöstlichen Ägäis. Sappho Ja. Phaon Sie wurden im Jahr 630 vor Christus geboren. / Sie wurden im … Sie wurden im zweiten Jahr der 37. Olympiade geboren. Sappho Kann sein. Phaon Antworten Sie bitte mit ja oder nein. Sappho / Ja. Phaon Sie hatten drei Brüder. Sappho Ja. Phaon Sie hatten zwei Brüder. Sappho Ja. Phaon Zwei oder drei? Sappho Ja. Phaon Sie hatten eine Tochter. Sappho Ja. Phaon Sie waren hässlich. Sappho Ja. Phaon Sie waren ein Mann.


Wurde auch Zeit. Auf diese Frage hatte ich gewartet. Phaon Mit ja oder mit nein bitte. Sappho Bei mir baumelt es hier (zeigt auf ihre Brust) nicht hier (zeigt zwischen ihre Beine). Phaon Mit ja oder mit – Sappho NEIN, ich bin kein Mann, nein. Phaon Danke. Der Name ihrer Eltern ist unbekannt. Sappho Ja. Phaon Ist Ihnen der Name Ihrer Eltern unbekannt? Sappho Ihnen ist der Name meiner Eltern unbekannt. Phaon Und wie lautet der Name Ihrer Eltern? Sappho Meine Mutter hieß Ja. Mein Vater hieß Nein. Phaon Schon gut. Ich komme wieder, wenn Sie in der Stimmung sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Sappho

Er räumt seine Sachen ein. Sappho

Ich habe Durst.

Phaon geht hinaus, kommt mit einer großen abgenutzten Plastikflasche wieder, stellt sie auf den Tisch, geht wieder hinaus. (geht auf Sappho zu) Weder der Name Ihrer Eltern noch der Ihrer Brüder noch der Ihrer Tochter, falls es sie wirklich gegeben hat, ist bekannt. Wir kennen nur Ihren Namen. Sappho nimmt die Flasche, öffnet sie. Hier ist, was ich über Sie weiß. Sappho beginnt zu trinken, trinkt während der gesamten folgenden Replik gierig weiter.

Sie haben Liebesgedichte und Hochzeitsgedichte verfasst. Wenn Sie auf Ihrer Wachstafel schrieben, quietschte der Griffel nicht: Er sang. Der Dichter Alkaios sagte, Ihr Lächeln sei wie Honig. An den Ufern der Ägäis sprach man nur von Ihren Brüsten. Sappho Ach echt? / Im positiven Sinne? Atthis Sie waren eine kleine, dunkelhaarige Frau, und Ihr linker kleiner Finger war gespalten. Sappho Ein Unfall beim Lyraspielen. Atthis Sie standen gerne vor der Sonne auf und streichelten den Tau. Eigentlich streichelten Sie gerne sehr viele Dinge. Abanthis, Anaktoria, Andromeda, Atthis, Chrysippe, Dika, Doricha, Erinna, Gongyla, Gorgo, Gyrinna, Megara, Mika, Mnasidika – welche von ihnen hatte die zartesten Schenkel? Die rosigsten Brustwarzen2? Sie liebten sie in allen Stellungen und in alphabetischer Reihenfolge. Sex, Alkohol und Dichtkunst, ein Bohemeleben auf Kosten von Mama und Papa. Eine gute Investition, ganz nebenbei gesagt: Ihr Ertrag wird auf 10.000 Verse geschätzt. Davon sind uns noch 650 erhalten … Upps. / Sie sind gealtert und die Scham hat Ihre Lippen welk gemacht. Sie sind bei Nacht und Nebel nach Sizilien geflohen, mit einem falschen Pass, den Sie für 200 Euro in einer Seitenstraße in Mytilene gekauft haben. Danach haben Sie sich wie eine Schwachsinnige

248

Atthis


von einem Felsen gestürzt. /// Sappho

Ich habe Gedichte geschrieben. Auf einer Insel. / Ich liebte

Frauen. // Plötzlich packt Sappho den Rekorder und schickt sich an, ihn am Boden zu zerschmettern.

Tun Sie das nicht. Warum nicht? Atthis Einverstanden. Wenn Sie ihn wieder hinstellen – beantworte ich eine Ihrer Fragen. Eine einzige. Sappho Wo … Wer … Sie stellt den Rekorder wieder hin. Warum? Atthis

Sappho

//

Wir wollen die fehlenden Wörter. Die »fehlenden« Wörter? Sie meinen die Wörter, die Sie verloren haben! Atthis Ja, das heißt – ich persönlich habe sie nicht verloren. Atthis

Sappho

Man hört eine Klingel. Atthis räumt ihre Sachen ein, geht in Richtung Ausgang. Im Vorbeigehen reicht sie Sappho eine Ausgabe ihrer Gedichte.

249

Hier. Das sind die Wörter, die uns noch erhalten sind. / Damit Sie sich keine doppelte Arbeit machen. Sehen Sie diesen Knopf da? Drücken Sie drauf, wenn Sie geschrieben haben. Ich komme dann das Produkt begutachten. Sappho Produkt …? Ich hoffe, Sie haben es nicht eilig. Ich habe ein ganzes Leben lang gebraucht, um diese Wörter zu schreiben. Atthis Wir haben kein ganzes Leben lang Zeit. Sie geht hinaus. // Sappho nimmt das Buch, blättert darin, liest einzelne Passagen.

10 000 Verse komponiert und gesungen. 650 haben überlebt. Ihr habt mich zerbrochen seziert zweigeteilt zerstückelt zersplittert seid in meine Räume eingedrungen habt meine Abgründe leergebaggert jetzt ist mir klar ihr – (zum Publikum) Wisst ihr, was man sagt? Man sagt, jahrhundertelang haben sich Frauen in meinem Namen geliebt Haben in meinem Namen gefickt In meinem Namen geschrieben In meinem Namen Revolutionen angezettelt Sie sind klammheimlich in meine Räume geschlüpft haben sie bewohnt geliebt respektiert sie sorgsam geschmückt die Pflanzen gegossen Sie brauchten die fehlenden Wörter nicht Sappho


[2070]: Barfuß Sappho, Phaon Sappho sitzt am Tisch. Sie betrachtet ein Blatt Papier, hält einen Bleistift in der Hand. Sie drückt auf den Knopf. Phaon kommt herein, sie sehen sich an. Sappho Phaon

Wo ist denn Ihre …? Sie hat heute frei.

/ Sappho

Ich habe geschrieben.

Phaon kommt näher, nimmt das Blatt, liest.

»Gedanken – barfuß«. Und was haben Sie während dieser ganzen Zeit gemacht? Sappho Das hier. Ich habe das hier geschrieben. Phaon Das hier haben wir schon. »Gedanken – barfuß«. Das ist Fragment 12. Sappho Mehr habe ich nicht zu sagen. Phaon Langsam ermüdet mich Ihr Humor. Wir wollen die anderen Wörter. Die fehlenden Wörter. Sappho Es gibt keine anderen Wörter. Phaon Na schön. Und wie lautet also der Titel dieses … Gedichts? Sappho Fragment 12. // Phaon Sappho

Sie haben mich immer noch nicht gefragt, warum. Warum was?

//

Sagen Sie, was für eine Art von Verlangen verspürt jemand wie Sie angesichts von Papyrusfragmenten? Diesem kaputten, zerbrochenen, zerknüllten, verzerrten Zeug? Was ist das für eine gelehrte Libido, diese Obsession für das unversehrte Ganze? Phaon Ich befolge nur Anweisungen. Sappho Ein Rädchen im System. // Phaon

Sagen wir, es handelt sich um eine Form intellektueller Neugier.

Sappho muss laut lachen. Was? Sappho nimmt den Gedichtband, schlägt ihn auf.

»Und mit LOCH einem kostbaren Öl hast du dich gesalbt LOCH und auf einer weichen Bettstatt LOCH zart LOCH hast du deine Begierde befreit LOCH « Sappho

/

Ja. Fragment 94. Sappho Schauen Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, dass Sie aus »intellektueller« Neugier handeln. Phaon

250

Phaon


Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Sappho Sie wollen wissen, wie Frauen miteinander schlafen, unter sich, ganz ohne Männer! Sie wollen die unanständigen Details! Phaon So ein – Sappho Was verwendet ihr als Ersatz? Flaschenhälse? Phaon

Phaon steht auf, geht in Richtung Tür.

Haarbürsten? Gemüse? UM GOTTES WILLEN! WIE SCHLAFT IHR BLOSS OHNE PENIS MITEINANDER? Phaon geht hinaus und knallt die Tür zu. Sappho setzt sich hin, liest.

[2070] OHNE REIZ Sappho, Atthis Sappho liest gerade. Plötzlich geht die Tür auf – Atthis. Sappho versteckt schnell das Buch. Sappho

Hatten Sie einen schönen freien Tag? Waren Sie am Strand?

Atthis

/ Ich war nicht am Strand. Ich bin mit einem anderen Projekt

Sappho

Dann bin ich nicht der Mittelpunkt Ihrer Welt? Erstaunlich, oder?

betraut.

251

Atthis

//

Es kommt mir vor, als hätte ich Sie schon einmal gesehen. Als würde ich Sie schon kennen. Von früher. Atthis Das kann nicht sein. Sappho Sie sind ein bisschen jung, um mit »Projekten« »betraut« zu sein, oder? Atthis So jung bin ich gar nicht. Sappho Sie sind jünger als ich. Sind es schon immer gewesen. Werden es immer sein. / Ein kleines Mädchen ohne Reiz3 … Das ist eines meiner Gedichte. Sie können es aufschreiben. Atthis Ich weiß. Wir haben es schon. Fragment 49. Sappho

// Sappho Atthis Sappho Atthis

Aber Sie – Sie haben mich schon einmal gesehen, oder? Ja. Auf Vasen. Mosaiken. Und? Sehe ich mir ähnlich? Die Darstellungen sind sehr schmeichelhaft.

// Sappho Atthis Sappho Atthis

Sie sind also kein Fan der großen Sappho? Wollen Sie eine ehrliche Antwort? Immer. Gedichte über Obstgärten4, Bienen5 und Kichererbsen6 sind


wirklich nicht mein Ding. Mein Kollege dagegen … Wenn Sie offene Türen einrennen wollen, sollten Sie sich an ihn wenden. Sappho Was soll das heißen? Atthis Er hat sein Leben lang Ihr Werk analysiert. Er weiß alles über Kichererbsen. Sappho lacht. Seien Sie nett zu ihm, mehr sage ich nicht dazu. Sappho Und wenn ich nett zu ihm bin, werden Sie dann nett zu mir sein? Atthis Vielleicht. // Sappho Atthis Sappho Atthis

Warum hat Ihnen Ihre Mutter kein Griechisch beigebracht? Woher wissen Sie, dass meine Mutter Griechin war? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich haben Sie es mir erzählt. Ich habe Ihnen nie von meiner Mutter erzählt.

Ich muss los. Sappho Warten Sie … Atthis Ich bin spät dran. Sappho Spät dran wofür? Darf ich mitkommen? Atthis ignoriert sie. Das ist ernstgemeint. Atthis Nein, Sappho, Sie dürfen nicht mitkommen. Phaon kommt herein. Phaon (zu Atthis) Kommst du? Wir werden erwartet. Atthis Ich komme gleich. Phaon geht hinaus. Schreiben Sie, Sappho. Das ist besser für Sie. Sie geht hinaus.

[2070] Sappho-Schnitzel Sappho Sappho

Schreiben Sie, Sappho. Sappho setzt sich an den Tisch,

nimmt einen Bleistift, ein Blatt Papier. Schreib, Sappho. / Schreib! //

»Es war einmal Orpheus, von den Mänaden zerstückelt, dessen abgetrennter Kopf immer weiter sang, sang, sang. Es war einmal Sappho – und so weiter, und so weiter, und so weiter.« Was liegt zwischen deinen Löchern, Sappho? Warum füllst du sie nicht? Es genügt, einen Finger hineinzustecken und noch einen Finger und noch einen Finger. Hat die große Sappho etwa NICHT GENÜGEND FINGER? Doch wie … WIE HIELT SIE DANN IHREN BLEISTIFT? /

Aber zurück zu den ernsthaften Dingen und damit meine ich: nach Grie-

252

/


chenland. Will sagen, wenn man ein geopfertes Tier zerstückelt, dann nur, um es besser verzehren zu können. Auf dem Menu heute Abend, liebes Publikum: die zehnte Muse, medium gebraten. Schenkel oder Brust? Schmackhaft ohne jedes Gewürz. Ich bin sehr sehr salzig.

[2070]: Go home, Sappho Sappho, Atthis Sappho drückt auf den Knopf. Atthis kommt herein. Atthis Sappho Atthis Sappho

Haben Sie mir etwas zu zeigen? / Nein. Atthis will hinausgehen. Warten Sie. Ja? Ich habe Durst. Atthis geht hinaus, kommt mit einer großen

abgenutzten Plastikflasche zurück. ICH HABE DURST! Atthis geht hinaus, kommt mit drei großen Flaschen zurück. Atthis

Keine Verschwendung bitte. Unsere Bestände sind beschränkt.

Sie will wieder hinausgehen.

253

Sappho Atthis Sappho Atthis

Bitte. WAS?

Ich will gehen. Haben Sie fertiggeschrieben?

//

Lassen Sie mich gehen? Wenn ich schreibe, was Sie lesen wollen? Es geht nicht darum, was wir »lesen wollen«. Es geht um die fehlenden Wörter. Sappho Wenn ich DIE FEHLENDEN WÖRTER aufschreibe. Lassen Sie mich dann gehen? / He, Sie eingebildete Pute! Ich rede mit Ihnen! Atthis Beruhigen Sie sich. Sappho Ich will nach Hause. Lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich nach Hause, lassen Sie mich zurück nach Lesbos! Sappho Atthis

Sie ergreift einen Stuhl, wirft ihn nach Atthis. Atthis

OK. Sie wollen nach Hause?

Atthis geht einen Karton holen. Es ist ein großer Umzugskarton. Auf der Seite steht handgeschrieben, in Großbuchstaben, mit Edding: LESBOS. Sie stellt ihn auf den Tisch.

Bittesehr. Fühlen Sie sich wie zuhause. Sie geht hinaus.


[2070]: Mutter Mittelmeer II Sappho geht nach vorne zum Tisch. Sie öffnet den Karton, dreht ihn um und schüttet den Inhalt auf den Tisch: Sand, Kieselsteine, ein paar Möwenfedern und eine orangefarbene Schwimmweste. Sie untersucht den Inhalt, langsam und sorgfältig.

Lesbos, αγάπη μου / Aphrodite …? // APHRODITE! // Was nützt es mir, dich anzurufen, Göttin, aus einem Land ohne Liebe? Sappho die Verbannte Eingesperrt zwischen vier unfruchtbaren Mauern. Bewahr dir einen kühlen Kopf und eine heiße Vulva, hast du immer zu mir gesagt Doch da unten ist es so kalt wie am Nordpol, Aphrodite! Da kommen nur noch Eiswürfel raus! Welcome to Hotel Sappho, can I interest you in some cyprine on the rocks? Sappho

Sie schlüpft in die Schwimmweste.

He Aphrodite, hörst du zu, wenn ich dich anrufe? Da, wo ich hingehe, werde ich dich brauchen. Man sagt, es ist da sehr sehr nass. Sie nimmt die Wasserflaschen, öffnet sie und beginnt in einem zügellosen Rhythmus zu trinken. Das Wasser spritzt quer durch die Gegend. Sie verschluckt sich, hustet, spuckt, trinkt weiter: Sie ist dabei, zu ertrinken. Sie macht weiter, bis sie das Bewusstsein verliert. Atthis kommt herein und erblickt Sappho am Boden liegend. Sie bleibt wie gelähmt im Türrahmen stehen. Phaon tritt hinter ihr ein. Als er entdeckt, was geschehen ist, rennt er zu Sappho.

Hilf mir! Atthis rennt zu ihm. Zu zweit heben sie Sappho hoch. Zur Krankenstation. Phaon

Sie tragen Sappho hinaus.

Song for Lesbos7 Erinnerst du dich, αγάπη μου, an den weißen Tempel oben auf dem höchsten Hügel? Erinnerst du dich an den heiligen Hain, wo Apfelbäume wachsen? Ich erinnere mich, νησί μου. Ich erinnere mich an den Geruch von dampfendem Weihrauch.

254

Wie überschreiten Dichterinnen Grenzen? Mit einer Handvoll Verse als Visum Und einer Ode an die aus dem Meer gestiegene Göttin.


Ich erinnere mich an das kühle Wasser, das zwischen apfelschweren Ästen rauscht. Ich erinnere mich an den Duft der Rosenbüsche und an die erbarmungslose Mittagssonne. Erinnerst du dich, αγάπη μου, an das Gras, auf dem die Pferde weiden? Erinnerst du dich an den Gesang des Windes? Ich erinnere mich, νησί μου. Ich erinnere mich an die Felder, die sich mit den ersten Frühlingsblumen schmücken. Ich erinnere mich an den sanften Hauch der Brise. Erinnerst du dich, νησί μου, An die goldenen Becher voll Wein? Erinnerst du dich an die Veilchensträuße? Ich erinnere mich, αγάπη μου. Ich erinnere mich an das schüchterne Lächeln der jungen Bräute, An den Nektar, der sich mit der Freude über die Feierlichkeiten mischt.

255

Erinnerst du dich, Σαπφώ μου, an deine Stimme? Nein, νησί μου. Ich erinnere mich nicht.

EIN TIEFER ATEMHAUCH


AKT II [2020]: Welcome to Guantanamo Atthis, Phaon Atthis steht alleine auf der Bühne. Sie trägt einen Rucksack, starrt auf einen Punkt in der Ferne. Phaon tritt auf. Atthis fährt zusammen. Phaon Atthis Phaon Atthis

Entschuldigung – ich wollte nicht – Schon gut – UNICEF? HCR? MSF?

Ähm …

//

Wohnen Sie auf der Insel? Nein, ich … Ich bin gekommen, weil ich helfen will. Ich bin gerade angekommen. Ich wusste nicht, wo ich hinsoll. Phaon Also tauchen Sie einfach so auf? / Sind Sie mit dem Auto da? Atthis Nein … ich bin zu Fuß hier. Phaon deutet ein Lächeln an. Was? Phaon Haben Sie sich ein bisschen erkundigt? Über das Lager? Atthis Ja. // Können Sie mir zeigen, wo der Eingang ist? Phaon Gehen Sie diese Straße weiter. Der Eingang ist ca. 500 Meter entfernt, auf der linken Seite. Atthis Danke. Phaon

Atthis beginnt zu laufen. Phaon sieht ihr beim Davongehen zu, dann …

Warten Sie, warten Sie. Atthis dreht sich um. Sie kommen nicht einfach so nach Moria rein. Sie brauchen eine Sondergenehmigung. / Haben Sie sich nicht bei einer Organisation angemeldet? Atthis Ich habe es versucht. Man hat mir gesagt, ohne Führerschein bräuchte ich gar nicht erst zu fragen. Phaon Haben Sie eine Unterkunft? Atthis Ja, in Mytilene. Phaon OK , kommen Sie. Ich bin mit dem Auto da, ich fahre Sie zurück. Atthis Aber … Phaon In einer halben Stunde bricht die Nacht an. Mytilene ist zwei Stunden Fußmarsch entfernt. Aber das wissen sie ja schon. Phaon

Atthis rührt sich nicht vom Fleck. Phaon holt sein Telefon heraus, wählt eine Nummer.

Hello my friend. – Yes, I’m OK , and you? – Good, good. Listen, can you take a new volunteer at Kara Tepe? – (zu Atthis) Sprechen Sie Arabisch? Sie schüttelt den Kopf. – No, no Arabic. – Yes, I know, I know. Maybe in the kitchen? – OK , great. Thank you. – 8 am, OK . Yes, I will tell her. – Take care my friend. Sprechen Sie wenigstens Englisch? Atthis Ja. / Auch ein paar Worte Griechisch. Phaon

256

Atthis


Phaon Atthis

OK, also: Schreiben Sie diese Nummer auf. 0030 – Äh, warten Sie. Ich habe mein Telefon in der Pension vergessen.

Phaon seufzt. Er holt einen Notizblock aus der Tasche, notiert eine Telefonnummer. Er reißt die Seite heraus und reicht sie Atthis. Phaon

Da. Kommen Sie, ich fahre Sie zurück.

[2020]: Zweifach ist mein Sinn8 Atthis

8 Uhr morgens ich stehe da vor dem Lager vor dem Stacheldraht (Dort ist Stacheldraht) In der Hand ein Zettel mit einer Telefonnummer old school Ich bleibe lange stehen Sehr lange. Atthis

//

257

Vor dem Flug nach Lesbos habe ich viele Dokumente gelesen. Dokumente von Leuten vor Ort. Dokumente mit Titeln wie »REFUGEE CRISIS REALITY CHECK «. Dokumente mit Listen von Dingen die man in seinen Koffer packen sollte. Dinge für den eigenen Bedarf: Impfpass Sonnencreme Schweizer Messer Plastikhandschuhe Fernglas Seil Thermoskanne Regenumhang Gummistiefel. Dinge für die Geflüchteten: Herrenschuhe (Größe 39-46) Socken Hygieneartikel für Frauen Bücher auf Arabisch Persisch oder Englisch und vor allem Bücher mit Gedichten »POETRY IS VERY MUCH IN DEMAND.« //

Vor dem Flug nach Lesbos habe ich viele Artikel gelesen. Artikel mit Titeln wie BERG DES ELENDS INSEL DER VERZWEIFLUNG EUROPAS SCHANDE GUANTANAMO IN GRIECHENLAND MYTILENE SEHEN UND STERBEN MORIA SEHEN UND NICHT DEN VERSTAND VERLIEREN DRITTER UNERKLÄRLICHER TODESFALL IN EINER WOCHE MIGRANTENFRIEDHOF WIR WISSEN NICHT MEHR, WOHIN MIT DEN LEICHEN. //

Ich stehe da vor dem Lager vor dem Stacheldraht


(Dort ist Stacheldraht) In der Hand der Zettel Ich traue mich nicht Ich drehe mich um Ich habe mich nicht getraut. //

Vor dem Flug nach Lesbos habe ich viele Videos angeschaut. Reportagen von BBC The Guardian Al Jazeera ARD Euronews AFP . Ich habe die Kommentare unter den Videos gelesen. Die sollen nach Hause gehen Ich hab kein iPhone, aber dieser arme syrische Flüchtling hat eins? Null Mitleid für Wirtschaftsmigranten Wir wollen euch nicht in Europa Bringt sie um, bevor sie sich vermehren. Vor dem Flug nach Lesbos habe ich Sapphos Gedichte gelesen. Ich fand das romantisch, da hin zu fahren und Leuten zu helfen am Geburtsort der antiken Dichtkunst. Aber letztendlich war ich nicht in der Lage, Parallelen zu ziehen zwischen jungen schüchternen Bräuten mit Veilchensträußen in der Hand und Kindern, die im Meer ertrinken. Ich habe ein Exemplar auf Englisch gekauft, für meinen Koffer. POETRY IS VERY MUCH IN DEMAND. //

Dem Stacheldraht den Rücken gekehrt (Dort ist Stacheldraht) Laufe ich und die Scham steigt in meiner Kehle hoch Ein Schritt vor den anderen und die Scham überschwemmt meinen Mund Ich will die Scham ausspucken mit dem Ärmel abwischen doch ich halte sie zurück Ich muss sie bei mir behalten und mich jeden Tag daran erinnern dass Ich mich nicht getraut habe //

Der Lärm der Wellen Ich höre nur noch den Lärm der Wellen Die ganze Nacht den Lärm der Wellen Ich werde verrückt vom Lärm der Wellen

258

//


[2020]: Keinerlei Hoffnung9 Phaon

Ich sehe einen jungen Mann am Strand er sitzt auf einem Felsen ich komme näher ich frage ihn ob alles in Ordnung ist er antwortet mir ja bei Gottes Gnade und bei Ihnen auch? meine Haut hat dieselbe Farbe wie seine meine Haare haben dieselbe Farbe wie seine ich trage meine Weste nicht er glaubt dass auch ich flüchte dass auch ich gerade die Überfahrt mit dem Boot hinter mir habe ich bin ein Freiwilliger erkläre ich brauchen Sie etwas? er steht auf lächelt schüttelt mir die Hand ich habe einen Schweizer Pass füge ich hinzu um die Frage zu beantworten die er mir nicht gestellt hat ein Frösteln der Scham zieht meinen Nacken hinauf brauchen Sie etwas? er hält mir sein Telefon hin haben Sie Strom? ich zeige ihm die Zelte die Container die Planen Nein, keinen Strom ich hole mein Telefon aus der Tasche wollen Sie jemanden anrufen? sein Gesicht hellt sich auf ich drücke ihm mein Telefon in die Hand er öffnet Facebook Messenger aus Schamgefühl drehe ich mich um schaue in Richtung Meer es ist grau die Wolken ballen sich über uns zusammen heute Nacht wird es regnen und wenn es regnet sterben die Leute Phaon

259

Von Lesbos aus kann man die Türkei sehen das Meer ist nicht breit das Meer ist nicht besonders unruhig aber die Boote sind zerbrechlich und randvoll mit Menschenopfern Für welchen Gott? An einem sonnigen Tag und wenn der Bootsmotor gut funktioniert dauert die Überfahrt über die Meerenge eine Stunde in einer regnerischen Nacht und wenn der Motor ausfällt füllt sich das Boot mit Wasser füllt sich schneller als ihr es mit euren Händen leerschöpfen könnt in einer regnerischen Nacht erheben sich die Wellen zehn Meter über euch überrollen euch wieder und wieder in einer Regennacht werft ihr alles über Bord in das kalte schwarze Meer um die paar Meter zurückzulegen die euch noch von Griechenland trennen in einer regnerischen Nacht sagt ihr zu den Schleusern nein nicht heute Nacht sagt ihr zu ihnen ihr werdet die Überfahrt morgen machen kehrt ihr dem Meer den Rücken zu die Schleuser holen ihre Gewehre heraus zwingen euch an Bord zu gehen Wenn das Meer eine Erdscholle davonträgt schrumpft Europa10 wenn das Meer eine Frau einen Mann oder ein Kind davonträgt lebt Europa einfach weiter An einem sonnigen Tag kann man immer wieder orangefarbene Punkte


Willkommen auf Lesbos sage ich tausendmal am Tag das Lächeln nicht vergessen einen freundlichen Empfang bereiten Willkommen auf Lesbos Sie haben den Transitpunkt erreicht wir sind alle Freiwillige wir sind hier um Ihnen zu helfen zum Lager im Süden der Insel zu kommen hier bitte eine Busfahrkarte der Bus fährt morgen früh sobald Sie das Lager erreicht haben erhalten Sie Ihre Papiere von der Regierung hier eine Essensmarke trockene Kleidung gibt es in dem Zelt hinter uns Decken in dem großen Zelt da drüben Willkommen guten Tag guten Tag Willkommen auf Lesbos guten Tag hier eine Decke bitte hier ein Sandwich Sie haben den Transitpunkt erreicht Ich mache eine Pause drei Minuten setze mich unter einen Baum zünde mir eine Zigarette an ein Junge kommt näher kniet sich neben mich darf ich dich was fragen? seine Augen sind rot er ist um die elf Jahre alt aber sein Blick ist nicht der eines Kindes ich komme aus dem Irak. Soll ich lieber sagen dass ich Syrer bin? Auf Lesbos gibt es kein System keine Verantwortlichen keine zentrale Organisation manche Gruppen verausgaben sich vollkommen für andere ist Lesbos nur ein Punkt auf einer Landkarte der Verzweiflung ein Zwischenstopp vor der nächsten Katastrophe man erkennt sie leicht diese abgehärteten Veteranen sie geben pro Person nur eine Decke aus auch wenn es kalt ist nur eine Essensmarke pro Person sogar für die schwangeren Frauen ich habe ein Flugticket von Genf nach Lesbos gekauft ich komme abends um 9 in Molyvos an eine halbe Stunde später stehe ich bis zur Taille im Wasser und ein Mann hält mir ein Baby hin wir erreichen gemeinsam den Strand er legt seinen Kopf auf meine Schulter und wir sitzen da und weinen ich sage auf Arabisch zu ihm Sie sind angekommen Sie sind am Leben er versteht nicht wir haben keine gemeinsame Sprache ich begleite ihn zum Transitpunkt ich gebe ihm vier Essensmarken und werde auf Englisch von einer Veteranin gerügt wenn die anderen das mitkriegen gibt es einen Aufstand Willkommen auf Lesbos hier nehmen Sie eine Decke gibt es keinen Platz im Zelt? hier eine zweite Decke tut mir leid ein Taxi nehmen ist illegal tut mir leid in einem Hotel übernachten ist illegal tut mir leid ein Flugticket kaufen ist illegal tut mir leid

260

am Horizont aufleuchten sehen fünfzig Schwimmwesten zusammengedrückt aufeinandergestapelt zusammengekauert sprungbereit an einem sonnigen Tag gibt es Warteschlangen ein zwei drei Boote hintereinander der Kauf einer Schwimmweste kostet 1000 Euro auf jedem Boot gibt es 50 Schwimmwesten und bei 50 Booten pro Tag rechnet ruhig nach ist Schleuser eine lukrative Berufswahl


Ich begleite eine Frau und ihre drei Kinder bis zum Bus setze sie rein gebe ihnen einen zehn-Euro-Schein das ist alles was ich in der Tasche habe ich steige aus dem Bus ich spüre eine Hand auf meiner Brust eine Stimme befiehlt bleiben Sie im Bus! Sie müssen im Bus bleiben! Ich nehme die Hand weg ich bin Freiwilliger ein verwirrter Blick antwortet mir ich hole meinen roten Pass heraus ach tut mir leid der Bus fährt los die Kinder winken zum Abschied ich winke zum Abschied bis sie außer Sicht sind ich gehe ein paar Schritte öffne Facebook Messenger und da ein Name den ich nicht erkenne eine Nachricht auf Arabisch die geschrieben zu haben ich mich nicht erinnere ein Augenblick Unverständnis dann fällt mir der junge Mann am Strand wieder ein Geliebte ich habe das Meer überquert ich bin in der Nähe von Athen mein Akku ist leer

[2020]: Den Himmel berühren11 Atthis, Phaon Phaon sitzt da. Er betrachtet sein Telefon. Atthis tritt auf, mit ihrem Rucksack. Sie hält sich im Hintergrund und betrachtet ihn. Phaon

Guten Tag. Atthis, überrascht, weicht zurück – Phaon bedeu-

261

tet ihr, sich hinzusetzen. Ich dachte nicht, dass wir uns noch einmal

über den Weg laufen würden. / Läuft alles gut in Kara Tepe? // Atthis

Ähm … ehrlich gesagt habe … Habe ich …

//

Ich reise morgen ab. Phaon Schade. Sie hatten keine Zeit, sich die Insel anzuschauen. Atthis Oh nein, ich … Ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, Tourismus zu betreiben. Hier. Phaon Die Boote landen nicht an der Westküste. Da drüben gibt es noch sehr schöne Strände, in der Gegend um Eressos. Atthis / Sie machen sich über mich lustig. Phaon Ich mache mich nicht lustig. / Es gibt andere Möglichkeiten, dieser Insel zu helfen, als Freiwilligendienst in den Lagern. Atthis Und trotzdem sitzen Sie jetzt nicht an einem FKK-Strand und kippen schnapsglasweise Tequila in sich rein. Phaon Das liegt daran, dass ich lieber Wodka mag. Atthis Wie lange sind Sie schon hier? Phaon / Noch nicht so lange. Atthis Es kommt einem vor, als seien Sie schon immer hiergewesen. Phaon Sehe ich so müde aus? Atthis Nein, Sie haben … eine Aura als … könnte Ihnen nichts etwas


anhaben. / Das klingt blöd. //

Kennen Sie Botticelli? Atthis nickt. Dieser Strand erinnert mich an den Strand auf diesem Gemälde. Er zeigt mit seiner rechten Hand nach vorne. – Atthis – Mit den Bäumen, ja! Das stimmt. Phaon Willkommen auf Lesbos, Aphrodite. Hier eine Decke, hier ein Sandwich. Sie haben den Transitpunkt erreicht. // Wissen Sie, was man sagt? Dass die Tränen von Lesbos dem Mittelmeer seine Würze verleihen. Phaon

/

Jeden Tag der Lärm der Wellen. Das hört niemals auf. Mich würde das wahnsinnig machen. Phaon Zum Glück reisen Sie morgen ab. Atthis Ja. Sie steht auf. Gut, ich … ich muss packen. Phaon (steht auf, reicht ihr die Hand) Gute Reise. Atthis Vielleicht laufen wir uns ja irgendwann wieder über den Weg. Phaon Vielleicht, ja. Atthis

Atthis schickt sich an, zu gehen, dann fällt ihr etwas ein. Sie holt

Hier. Ich wollte es dem Lager schenken, aber ich … Egal … Es ist für Sie. Ein Geschenk. Phaon (betrachtet das Buch, lächelt) Danke. Atthis

Atthis geht hinaus. Phaon sieht ihr nach und setzt sich dann wieder hin. Er schlägt das Buch irgendwo auf, beginnt zu lesen.

Song for Lesbos II: Wem die Stunde schlägt12 Es war einmal eine Fläche Land, vollständig von Wasser umgeben, die sich aus einem Ozean, einem Meer einem See oder einem Bach erhob Es war einmal ein süßer Nachtisch, bestehend aus Baiser oder Biscuitmasse, der auf einem Bett aus englischer Creme schwamm Es war einmal ein abstrakter Ort, wo der Einfluss eines Denkens, eines Gefühls ausgeübt wurde Es war einmal ein imaginärer, paradiesischer Ort Es war einmal ein begrenzter Raum, der Abgeschiedenheit erlaubte und als Zuflucht dienen konnte Es war einmal ein Ort aus einem Märchen, wo Wünsche in Erfüllung gin-

262

ein Buch aus ihrer Tasche: Sapphos Gedichte. Sie reicht es Phaon.


gen und vollkommenes Glück herrschte / Lesbos, Zierde meiner Nächte, lass uns furchtlos den Sprung in den Abgrund der Jahre wagen13! Während sich Männer mit leeren Augen, verhext von der verführerischen »Es war einmal«, Im Bordell der Geschichte verausgaben und ruinieren14, Gleiten wir durch endlose Stunden menschlicher Lust! Lesbos, Kurtisane dieses bodenlosen Beckens Du schmeichelst auf hässliche Weise meinem Ohr15 Deine Stimme eine goldene Locke mit der ich mein Ohrläppchen schmücke Lass die Totenglocke läuten, Lesbos!

263

Auf dass ich endlich meinen kleinen Tod in deinen Armen erlebe! Lass sie läuten, für mich allein Sie werden sie nicht hören

AKT III [2070]: Meine Hübschen Sappho Sappho sitzt am Tisch, mit Handschellen gefesselt. Sappho

Beinahe.

// Es gibt nichts Besseres als einen Flirt mit Thanatos, um seinen Eros

wiederzufinden. (zu den Frauen im Publikum, mit einem Augenzwinkern) Ihr, meine Hüb-

schen, habt euch nicht verändert16. Sagt mir – wer von euch hat schon mal den Tod flachgelegt? Das ist ein Kampf um Leben und Liebe Mano a mano, Mund zu Mund. Ich, überzeitliche Kriegerin. Mein Leib,


die epische Erzählung meines Widerstands. Wollt ihr ein Gedicht? Lest die Zeilen, die in mein Fleisch geschrieben stehen. Eine Terza rima in meinem Augenwinkel (mal zwei) Ein Vierzeiler unter meinem Doppelkinn Und ein Sonett in den Falten meines Bauchs. 10 000 Verse komponiert und gesungen. 650 haben überlebt. Ein gesamtes Leben zwischen den Zeilen verschwunden Wie eine Geldmünze in einer Sofaritze. //

Für amputierte Gedichte gibt es keine Prothesen. Ich heiße Sappho. Warum nicht Venus von Milo?

Sappho, Phaon Phaon kommt herein und stellt ein Glas Wasser vor Sappho hin. Phaon Sappho Phaon

Hier. Sappho leert es wie ein Schnapsglas. Mehr. Das nächste steht Ihnen in … Er schaut auf seine Uhr. 4 Stunden

zu.

Aber – ich habe Durst! Von jetzt an bekommen Sie dieselben Rationen wie jeder andere. Wasser wächst nicht auf den Bäumen. Sappho Phaon

//

Das wird schwierig, mit sowas an den Handgelenken zu schreiben. Phaon Sie wollen jetzt also schreiben? Sappho Ja. Phaon Verzeihen Sie, wenn ich da skeptisch bin. Sappho Meine Tändelei mit dem Tod hat mir den Kopf zurechtgerückt. // Geben Sie mir etwas zu schreiben, Sie werden schon sehen. Die fehlenden Wörter. Ehrenwort. / Phaon reicht ihr einen Bleistift. Sie beginnt Sappho

zu schreiben.

Hören Sie auf, auf das Blatt zu schielen. Phaon Sappho am Werk, leibhaftig. Die zehnte Muse. Wenn Sie wüssten, wieviel Tinte bereits wegen Ihnen verspritzt wurde.

264

[2070]: Wer gut ist, ist immer auch schön17


Sie legt den Stift zur Seite. Sappho

Wollen Sie lesen?

//

Kommen Sie. Ein unveröffentlichter Text von Sappho. (zum Publikum) Deshalb sind Sie doch hier, oder? Phaon nähert sich Sappho, liest über ihre Schulter hinweg.

»Hin und zurück, hin und zurück, kein Weg führt daran vorbei. Der Forscher ist nichts als ein Schleuser mit Brille.« Phaon

Phaon, überrascht, weicht zurück; Sappho erhebt sich, dreht sich um und packt ihn am Kragen

Ich weiß, wer du bist. Der nette Fährmann, der gute Mensch. Ich habe von dir gehört, in einem anderen Leben … Phaon. Sie sieht ihn lange forschend an. Du bist also der Mann, der mir den Kopf verdreht hat? Der Mann, der meinen unteren Kompass durcheinanderbrachte? / Hattest du damals auch schon Haarausfall? Sie küsst ihn, er weicht zurück. Hey baby, baby. Das Publikum soll doch auf seine Kosten kommen. Sappho

Er gibt nach. Sie küssen sich.

Phaons Ballade18

265

Phaon

Mein Leben war das Boot und das Boot war das Meer und das Meer an dieser Stelle war eine Meerenge. Man nannte mich den »bescheidenen Mann«. Sobald jemand hinüberwollte Nahm ich ihn mit auf mein Boot. Mein Leben, das waren Hin- und Rückfahrten Hin und zurück auf dem Meer Die Sonne manchmal vor und manchmal hinter mir. Phaon

Ich war alt und gebeugt. Mein Bart kitzelte mir die Füße. Zwischen meinen Beinen war es ganz knitterig. Nichts zu verzollen. Ich war glücklich. Wie soll man nein zu Aphrodite sagen, wenn man sie um nichts gebeten hat? Wie in das Weiß ihrer himmlischen Augen starren Und ihr sagen, dass man ihr Mitleid nicht will? Ich war höflich, zu wohlerzogen. Auf diese wahnwitzige Geschichte hatte man mich nicht vorbereitet.


Oh wow, danke, Aphrodite, danke, das war wirklich nicht nötig – Dank dir, Aphrodite, werde ich jung und schön sein Bis ans Ende der Zeiten. Geschmeidige Knie, Eine solide Blase, und nicht zuletzt Eine Wahnsinns-Erektion. Von Insel zu Bett, von Bett zu Insel Habe ich alle Frauen der Ägäis kartografiert. Die gelenkigen, die faltigen, alle warfen sich mir zu Füßen. Nicht meine Schuld, dass ich die einzige wollte, Die mich nie beachtet hat.

[2070]: Fragment 137 Sappho, Phaon, Atthis Phaon Sappho

Du sagst gar nichts mehr. Ich denke nach.

// Phaon Sappho

Hast du früher schon mal mit einem Mann geschlafen? Ja. Nein. Weiß nicht mehr. Was macht das für einen Unter-

schied?

Hast du – Ich habe keine Lust auf dieses Spiel. Such deine Antworten woanders, Phaon. // Phaon zieht sich wieder an. Was ist passiert? Phaon Wir haben zusammen geschlafen. Sappho Ich meine dort … auf der Welt … auf Lesbos. Phaon Willst du das wirklich wissen? Sappho Ja. Nein. / Ich weiß es schon. Ich will bloß, dass du es mir sagst. Laut. Phaon

Sappho

//

»… Es gibt ein weibliches Geschöpf, das in seinem Leib ungeborene Kinder verbirgt (zusammen) Und obwohl die Kinder keine Stimme haben Sappho Schreien sie über die Wellen und über die ganze Erde hinweg Phaon

266

Schach matt, Aphrodite. Phaon kann seinen Rückzug antreten. Das war doch nicht nötig, Aphrodite, Danke, danke War wirklich nicht nötig.


Und sogar taube Menschen hören sie.«19 Lass mich. Bitte. Phaon geht hinaus. Atthis kommt herein, Sappho sieht sie nicht. Sappho zieht sich wieder an, setzt sich an den Tisch, nimmt einen Bleistift.

Sie haben mich wirklich beim Wort genommen. Wie lange stehen Sie schon da? Atthis Als ich gesagt habe »seien Sie nett zu ihm«, hatte ich das eigentlich nicht so gemeint. Sappho Sind Sie eifersüchtig? Atthis Auf Sie? Oder auf ihn? // Lieben Sie jetzt Männer? Sappho So ist das nicht. Atthis Erklären Sie es mir. Sappho Denken Sie nicht so manichäisch. Atthis Drücken Sie sich nicht so anachronistisch aus. Sappho Ich liebe, was sich anbietet. Irgendwo muss die Libido ja hin. Atthis Irgendwo? Sappho Zu meiner Zeit gab es keine Männer. Sie fuhren mit den Schiffen davon, um jenseits des Meeres Handel zu treiben. Wir sahen sie nur alle drei Monate. Frauen waren überall. Ich habe mich entschieden. Zu ficken, wann und wo ich wollte. Atthis Na bravo. Sie haben die lesbische Sache gerade um drei Jahrtausende zurückgeworfen. Sappho Ich habe mit einem Mann geschlafen, also kann ich nicht lesbisch sein? Sie haben keine Ahnung von Erotik. Wer die Schenkel öffnet, öffnet nicht zwangsläufig auch noch irgendwas anderes. Atthis Die Schenkel weit geöffnet … und das Herz doppelt abgesperrt. Atthis

Sappho

267

Schweigen

[2070]: Unser Dreieck20 Sappho

Eine Ameise, zwei Ameisen, drei Ameisen. Wieviele Ameisen braucht man für ein Kribbeln? Da, eine kleine Ameise, die auf meiner Brustwarze herumspaziert. Und da eine andere, die an meinem Bein hochklettert. Und da eine dritte, die mir die Lenden kitzelt. Sappho

Anders als ihr in der Schule gelernt habt, ist EROS weder ein Eigenname noch ein Schimpfname. EROS ist ein Verb21. EROS kommt und geht versteckt sich in den Falten trägt manchmal


Sturmhaube und kugelsichere Weste und entblößt sich Sekunden später im Negligé mit lässig von der Schulter rutschendem Träger EROS lässt manchmal wochenlang monatelang nichts von sich hören in

eine Schublade geräumt wie eine Steuererklärung die man nicht sehen will und dann plötzlich HUPT ER DIR INS OHR UNTERBRICHT DEN GEREGELTEN VERKEHR keine Panik Jungs das ist bloß meine Klitoris die bei rot über die Ampel wollte EROS der Bitter-Süße löst die Mitglieder im Staatenbund voneinander22 EROS überquert die Grenzen ohne Pass und spricht die universelle Sprache der Flüssigkeiten – OK , jetzt aber zurück zu den ernsthaften Dingen und damit meine ich:

nach Griechenland.

Begreift ihr die krasse Schizophrenie? Gemeinsam ist da nur der Neid, auf das was du nie Nie haben kannst, nicht hast – der Neid und auch die Wut. // Das ist keine Geschichte über mich, sie und ihn. Es ist die Geschichte der geometrischen Form, die wir bilden. Unser Dreieck das Bermudadreieck das Dreieck des Nordens der Dreieckshandel LASS DICH NIE AUF NE DREIECKSGESCHICHTE EIN VERDAMMT UND DOCH – Ich schaue ihn an wie er dich anschaut du schaust mich an wie ich ihn anschaue ich schaue dich an wie du ihn anschaust du schaust sie an wie sie mich – UND AUS DER MITTE ENTSPRINGT EIN EROS

[2070]: Mit was für Augen? Sappho, Atthis Sappho drückt auf den Knopf. Atthis kommt herein.

Sag nichts. / Ich weiß, deine Mutter war Griechin und an deiner Schule war dein Name unaussprechlich für die Massen Ich weiß, du magst Kichererbsen im Humus, obwohl sie dir weder als Salat Sappho

268

Auf dem Film meines Geistes, ein Paradox aus der Mythologie: »Eros ist das Bastardkind von Reichtum und Armut.«


noch in Gedichten passen Ich weiß, du bist von außen spröd, doch innen süß, als würde man in goldenen Honig fassen Ich weiß, mit 24 flohst du in die Ägäis, um dich mit der Frage »Wer bin ich?« zu befassen Du warst die Liebe meines Lebens, doch du musstest mich verlassen / Ich weiß, du bist es, μάτια μου23 – Atthis. // Atthis

Ich –

Das Bild friert ein. Sozusagen.

[1970]: Hotel Sappho Sappho, Atthis Eine Gasse in Eressos. Atthis trägt einen Rucksack.

Excuse me – παρακαλώ – excuse me? Sappho Yes? Atthis Oh … Hi. Kαλή μέρα. Sappho Γεια σας. Atthis I’m, uh, I’m looking for Hotel Sappho – do you know it? Sappho Yes. That way – then turn left. Not far. Atthis Thank you. Ähm – danke, ähm – ευχαριστώ. Sappho Τίποτα. Deutsch? Atthis Ja … Sappho Ich spreche Deutsch. Atthis Ach wirklich? Tut mir leid, mein Griechisch ist nicht … Er streckt die Hand aus, um sich vorzustellen. Atthis. Sappho (schüttelt ihr die Hand) Sappho. Atthis Sappho? Wie …? Sappho Wie das Hotel, ja. Und Sie? Sie sprechen kein Griechisch, aber Sie heißen Atthis? War Ihre Mutter lesbisch? Atthis Meine Mutter war Griechin. 1 Sie lachen. Ich … ich sollte zu meinem Hotel gehen … Wohnen Sie im Dorf? Sappho Ja. Mir gehört eine Kneipe, nicht weit vom Strand. Atthis »Bar Sappho«? Atthis

269

a

Beide lachen.

Wenn Sie wollen, kann ich Sie begleiten …? Das liegt auf meinem Weg. Atthis Ja. Gerne. Sappho

1a

Die unterstrichenen Sätze überschneiden sich.


[1970]: Einmal, vor langer Zeit Sappho, Atthis Sappho

Du kamst von Bord und sprachst die Sprache nicht Schon fast jugendlich, zu groß für deine Haut24 Noch nicht im Vollbesitz deiner selbst Atthis

Hör auf, mich so anzusehen Als gäbe es nichts außer hier Als gäbe es nichts außer jetzt Das stört mich Sappho

270

Dein Mund wie eine unreife Traube Die Lese ist noch fern Aber ich bin geduldig. Ich spreche ein kurzes Gebet: Kein Schnee, kein Hagel, kein Mehltau OK Dionysos? LET’S GO Atthis

Du hast dich umgedreht und ich sah dir beim Weggehen zu Als du die Straße wieder hochgingst, war dein Schritt schwer nein – dein Schritt war nicht schwer, er war selbstsicher das hier war deine Straße deine Stadt dein Himmel dein Meer deine Insel Ich war bei dir zu Gast Sappho

Am nächsten Morgen ging ich dort spazieren wo ich sonst niemals hinging Öko-Cafés mit griechischem Frühstück Auf der Suche nach deiner unreifen Traube Der Rundung deiner Schulter


Deinem hochmütigen Hintern Deinem Lächeln, links etwas höher als rechts Atthis

Hey – hallo! Das ist also deine Kneipe … Sappho

Du lächeltest zu übertrieben warst zu grün Ich wusste du würdest mein Verderben sein Doch muss man alles wagen, denn25–

[1970]: Atthis für dich Sappho, Atthis Sappho liest gerade. Atthis kommt herein.

271

Hey! Da bist du ja! Der Mond hat sich schlafen gelegt, die Plejaden auch, die Stunden vergingen, und ich war ganz alleine26. Komm her, μάτια μου. Sappho zieht Atthis an sich, sie küssen sich. War es schön am Strand? Atthis Super. Du hättest mitkommen sollen. Wir haben die ganze Nacht lang getanzt. Sappho Meine Knie sind mir dankbar27. Wer war da? Atthis Oh, ähm … Eirana, Mnasidika. Gongyla. Alle deine Eroberungen. Sappho Ha! Ein Grund mehr, zu Hause zu bleiben. Atthis (zieht ihre Schuhe aus) Andromeda auch. Sappho Andromeda? Atthis Ja, du weißt schon, sie arbeitet im Hotel. Sappho Die Brünette mit den endlos langen Beinen? Atthis Fang bloß nicht damit an. Atthis

Sappho

//

Wie schön du bist. Hör auf. Sappho Eine echte Helena28. Atthis Du nervst … Sappho »War das der Blick, der tausend Schiffe trieb / Ins Meer, der Trojas hohe Zinnen stürzte?«29 Atthis Ist das von dir? Sappho Atthis


Sappho Atthis Sappho

/ Ja. Gefällt es dir?

Ja. Atthis – für dich30.

Sie reicht ihr ein Geschenkpaket. Atthis öffnet es; es ist ein Band mit Sapphos Gedichten.

Ach. Danke. Hast du sie schon? Atthis Ja, das heißt, nein, ich hab sie nicht, aber ich hab schon welche gelesen. Sappho Gefallen sie dir nicht? Atthis Nein, nicht direkt … Naja, sagen wir, ich verstehe, dass es wichtig ist, aber … Ich weiß nicht, persönlich hauen mich Gedichte über Obstgärten und Bienen und Kichererbsen echt nicht so um. / Aber danke trotzdem, ich weiß das wirklich … Atthis

Sappho

Sie macht eine Bewegung auf Sappho zu, die sie zurückstößt. Sappho Atthis

Was hast du dann hier zu suchen? / Wie bitte?

Antworte mir. Ich … ich bin gekommen, um mich selbst zu finden. Sappho Und? Atthis Und was? Sappho Hast du dich gefunden? Atthis Du weißt genau, was ich meine. Sappho Ich meine das ernst. Ich bin zu alt für diesen Quatsch. Also sag mir. Hast du gefunden, wonach du gesucht hast? Atthis (verwirrt, versucht, das Thema zu wechseln) Ja schon, siehst du, ich habe dich gefunden. Sappho

Sappho geht auf Atthis zu, nimmt ihr Gesicht in ihre Hände. Sie sehen sich an. Es herrscht eine seltsame Spannung. Sappho küsst Atthis aggressiv. Es folgt eine Sexszene, zu choreografieren nach den Wünschen der Regisseurin und der Schauspielerinnen. Es ist keineswegs notwendig, sich auszuziehen, im Gegenteil. Es handelt sich nicht um eine leidenschaftliche Liebesszene: Das Ganze soll ein bisschen verwirrt, ein bisschen brutal, ein bisschen traurig sein. Während der Szene soll folgender Text in der angegebenen Reihenfolge ertönen, aufgeteilt zwischen den Schauspielerinnen es handelt sich um das Fragment 88a:

Vor – In Richtung – Löse –

272

Atthis


Soll ich dich tragen? Jemand – Ich – Vorsichtig – Du weißt – Vergessen – Du – Als ob – Ja, ich – Liebe dich –

273

Solange in mir – Ich werde mich kümmern – Sag mir, dass ich stark bin – Du tust mir weh – Sappho

Ich bin vielleicht alt, doch wenigstens war ich es schon immer. Alt, als ich sie erstmals küsste in jener Gasse in Eressos Alt, als der Fisch ihrer Zunge über meine Zunge glitt Alt, als das Salz auf meinen Händen ihren Sonnenbrand erbeben ließ Alt, als sie vor meinem Leib niederkniete Um dem Pfeffer und dem Salz meines Dreigestirns zu huldigen


Atthis

Ich schmecke gerne deinen Pfeffer und dein Salz doch mag ich‘s nicht, wenn du dich schämst Das hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge

Bitte Hör auf, deine weißen Haare im Spiegel auszureißen, wenn du glaubst, ich sehe es nicht Bitte Leg deine welken Lippen auf meine Lass mich das Gewicht deiner schlaffen Brüste tragen Und das Glück in den Falten deines Leibes finden Sappho

Wenn du mich liebst, such dir eine jüngere Bettstatt Denn als Ältere von uns beiden kann ich nicht mit dir leben31 Atthis

Bitte Sei bei mir, ohne an dich zu denken

274

Ich mag deinen Haarknoten, der ins Weiße spielt das verleiht dir einen Anschein, als könnte dir nichts etwas anhaben Der gute Geist des Ortes Die alte Lesbe von Lesbos Du bist so schön


[1970]: Totsein will ich32 Sappho, Atthis Atthis

Ich habe einen Job gefunden.

/

Auf dem Festland. //

Ich fahre morgen. //

Sag etwas. / Bitte. //

Du könntest mitkommen. Sappho lacht.

275

Das ist ernstgemeint. Komm mit. Sappho Was genau soll ich da? Atthis Ich weiß nicht. Wir finden schon was. Sappho Ich kann mein Leben nicht anderswo neu beginnen. Nicht jetzt. Atthis Warum? Du musst nicht hier sein, um dich um eine Bar zu kümmern. Sappho Darf ich dich daran erinnern, dass ich nicht bloß Inhaberin einer Bar bin? Atthis Du musst nicht hier sein, um zu schreiben. Sappho Falsch. Atthis Sappho … Sappho Verlange nicht von mir, mich zwischen dir und meiner Insel zu entscheiden. Ohne dich kann ich leben. Ohne sie nicht. // Atthis

OK. / Bye, Sappho.

Atthis dreht sich um, geht in Richtung Ausgang. Sie sieht den Band mit Sapphos Gedichten auf dem Tisch, zögert – und steckt ihn dann ein.

[2070]: Mit was für Augen? (Reprise) Sappho, Atthis Déjà vu.

Sag nichts. Ich weiß, mit 24 flohst du in die Ägäis, um dich mit der Frage »Wer bin ich?« zu befassen Du warst die Liebe meines Lebens, doch du musstest mich verlassen Sappho

/

Ich weiß, du bist es, μάτια μου – Atthis.


// Atthis

Ich – Ich hab genug von deinen bescheuerten Reimen.

Angespanntes Schweigen, dann muss Sappho laut lachen. Sappho Atthis Sappho

Ich wusste es. Ja. Das heißt nein. Es ist kompliziert. Pssst – Ich habe keine Zeit. Lass mich dich anschauen.

Sie streicht mit der Hand über Atthis’ Gesicht. Der folgende Dialog ist langsam, bedächtig. Die Frauen denken lange nach, bevor sie sprechen, versuchen sich präzise auszudrücken.

In einem anderen Leben – liebte ich deine Art, mich zu berühren. Der Sommer ist uns entglitten und – deine Finger aus mir heraus … Sappho Nein, Atthis. Ich habe dich alle Tage und Nächte lang geliebt, bis zur allerletzten. Und du hast vor meiner Liebe Angst bekommen. Atthis Ich hatte Angst vor deinem Neid. Sappho Meinem Neid? Atthis Deiner Eifersucht. Sappho Eifersüchtig? Ich? Auf wen? Atthis Auf mich. Atthis

//

Du warst so jung. Bist es noch. Wirst es immer sein. Genau das meine ich. Sappho Ich höre damit auf. Ehrenwort. Atthis Und dann? Sappho Wir gehen weg. Du und ich. Atthis Wohin? Lesbos gibt’s nicht mehr. Sappho Wir werden etwas finden. Wir werden eine Bar aufmachen, an einem Strand. Atthis Wir werden Gedichte rezitieren und dabei schnapsglasweise Tequila trinken? Sappho Bis ans Ende der Zeit. Atthis Na, dann beeilen wir uns besser. Atthis

[2070]: Die einzige, die mich verlassen hat Sappho, Phaon Sappho schreibt gerade. Die Tür geht auf, Sappho steht auf. Phaon kommt herein. Sappho setzt sich wieder hin. Phaon Sappho

Hast du jemand anderes erwartet? Ich verstehe nicht, was du meinst.

Sie fängt wieder an zu schreiben, fieberhaft. Phaon setzt sich ihr gegenüber. //

276

Sappho


Phaon

Sappho – warum …?

// Sappho

Weil es geschrieben stand.

Sie schreibt weiter, unterbricht sich, um in Richtung der Tür zu schauen. Phaon

Sie wird nicht kommen. Sappho versteht nicht die Tragweite

dessen, was er gerade gesagt hat. Sie ist weggegangen, Sappho. Sie

kommt nicht wieder. / Sappho Phaon Sappho Phaon Sappho

Ich – was? Sie ist weggegangen. Das kann nicht sein. Tut mir leid. Du …? Verschwinde. / Lass mich in Ruhe!

Phaon geht in Richtung Tür. Er zögert, dreht sich um und geht dann hinaus. Sappho beginnt wieder zu schreiben.

Ich begehre und ich brenne33 Sappho

277

Alles wagen weil Sonst hätte ich mich niemals Verlassen aufgeben plattmachen verletzen Kaputtmachen zerbrechen durchschütteln verdrehen lassen Man muss doch leben So scheint es Ihr habt mich zerbrochen seziert zweigeteilt zerstückelt zersplittert ihr seid in meine Räume eingedrungen habt meine Abgründe leergebaggert Jetzt ist mir klar ihr – So wie die Farbe des Meeres von der Sonne abhängt Hängt die Farbe meiner Seele von der Qualität eures Blickes ab Sappho

Egal warum, wichtig ist nur – Egal wie, wichtig ist nur – Einvernehmlich oder nicht – wichtig ist nur, dass du mich liebst34 Wisst ihr, was man sagt? ABANTHIS ANAKTORIA ANDROMEDA ATTHIS – OOOOH ATTHIS – DIKA DORICHA ERINNA GONGYLA GORGO GYRINNA HELENA


MEGARA MIKA MNASIDIKA TELESIPPA

Und all die One-night-stands, deren Namen mir nicht mehr einfallen ICH HABE SIE BEGEHRT ICH HABE SIE GEFICKT VEREHRT VERACHTET ANGEFLEHT BESCHIMPFT VERSTOSSEN

Hört zu, was kann ich dafür, wenn sie sich mir vor die Füße werfen Nicht meine Schuld, wenn ich die einzige will, die mich verlassen hat OOOOH ATTHIS

Du kamst, ich war verrückt nach dir Und du hast meinen alten Leib erfrischt, der vor Begierde brannte35 – OOOOH ATTHIS –

KOMM BABY, DREH NE RUNDE AUF MEINER INSEL ICH FÜHR DICH ZUM ESSEN AUS, WIR BESTELLEN APHRODISIA-SALAT GEHEN VOLLSTÄNDIG BEKLEIDET AN EINEM FKK-STRAND SPAZIEREN TAUSCHEN KÜSSE FRESH WIE WASSERMELONEN 36 EROS! EROS! EROS!

Meine Seele löst sich von sich selbst Ich halte Eis in meinen Händen es schmilzt Der Honig verbrennt mich Wisst ihr, was man sagt? Man sagt, jahrhundertelang haben sich Frauen geliebt In meinem Namen Haben gefickt In meinem Namen Haben geschrieben In meinem Namen Haben Revolutionen angezettelt In meinem Namen MONIQUE WITTIG – IN MEINEM NAMEN! RENEE VIVIEN – IN MEINEM NAMEN! VIRGINIA WOOLF – IN MEINEM NAMEN! JEANETTE WINTERSON – IN MEINEM NAMEN!

278

die einzige, die mich verlassen hat


SIMONE DE BEAUVOIR – IN MEINEM NAMEN! JUDITH BUTLER – IN MEINEM NAMEN! EMILY DICKINSON – IN MEINEM NAMEN! VIRGINIE DESPENTES – IN MEINEM NAMEN! ANGELA DAVIS – IN MEINEM NAMEN! COLETTE – IN MEINEM NAMEN! AUDRE LORDE – IN MEINEM NAMEN! GERTRUDE STEIN – IN MEINEM NAMEN! OLYMPE DE GOUGES – IN MEINEM NAMEN! ROSA LUXEMBURG – IN MEINEM NAMEN! GRISÉLIDIS RÉAL – IN MEINEM NAMEN!

Und alle One-night-stands, deren Namen mir nicht mehr einfallen

EPILOG: MÖGEST DU (ENDLICH) SCHLAFEN Sappho Sappho legt einen riesigen Blätterstapel auf den Tisch. (zum Publikum) Hier sind meine Gedichte. Macht damit, was ihr wollt. Sie gehören mir nicht mehr. Sappho

279

Sie zieht die Schwimmweste an.

Ich muss jetzt gehen. Sie geht in Richtung Ausgang, zögert.

Na gut. Eins zum Abschied? Sie nimmt ein Blatt vom Stapel, liest.

»Mögest du an den Brüsten deiner Geliebten schlafen37 Wie auf festem Grund Mögest du ihre feuchten Zonen erforschen Ohne Furcht, darin zu ertrinken Mögest du den Schmetterling ihrer Lippen streicheln Ohne Hintergedanken Mögest du immer und immer wieder dorthin zurückkehren Aus Gewissheit, sie wiederzufinden.« Ich habe Gedichte geschrieben. Auf einer Insel. Ich liebte Frauen. Sie geht hinaus.


CODA Phaon kommt herein, bemerkt Sapphos Abwesenheit, ohne jegliche Überraschung. Er sieht den Blätterstapel auf dem Tisch, geht hin und setzt sich. Er nimmt ein Blatt vom Stapel und beginnt, zu lesen. Atthis kommt herein. Phaon und Atthis sehen sich an. Viele Dinge liegen in diesem Blick. Phaon nimmt seine Lektüre wieder auf. Atthis bleibt einen Augenblick stehen, sieht ihm zu und setzt sich dann hin. Sie nimmt ein Blatt vom Stapel und beginnt zu lesen.

ANHANG Liste der Verweise und Zitate Wenn nicht anders angegeben, wurden Sapphos Gedichte anhand der französischen Übersetzung durch Sarah Jane Moloney vom Übersetzer ins Deutsche übertragen. Kypris ist ein Beiname der Göttin Aphrodite mit der Bedeutung »aus Zypern stammend«. (Daher kommt auch der Begriff »Zyprin«, der das Sekret bezeichnet, das die Vagina im Zustand der Erregung absondert.) Das Gedicht am Ende des Monologs baut auf dem Vorbild des Fragments 1 auf, das gemeinhin als »Ode an Aphrodite« bezeichnet wird (Übers. Georg Thudichum): Buntbethronte himmlische Aphrodite, Tochter Zeus', Trugspinnerin, zu dir fleh' ich, Lass dem Unmut, lasse dem Gram mein Herz nicht, Göttin, erliegen! Sondern komm hierher, wenn du sonst auch jemals, Meines Anrufs Stimme vernehmend, fernher Hörtest, und, den goldnen Palast des Vaters Lassend, herabkamst. Im geschirrten Wagen; dich fuhr der schöne Schnelle Sperlingszug um die weite Erde, Dich die Flügel schwingend, vom Himmel mitten / Hin in dem Aether. Und sie kamen eilig, und du, o Sel'ge, Lächelnd mit unsterblichem Angesichte, Fragtest, was ich wieder erlitten, was ich 1

280

ENDE


281

Wieder dich rufe; Was ich im wahnsinnigen Mut vornehmlich Will gewährt sehn. »Wessen begehrst du wieder, Den dir Peitho führe zur Lieben? Wer, o Sappho, wer kränkt dich? Siehe, wenn sie flieht, wird sie bald verfolgen, Wenn sie sonst Geschenke nicht nahm, sie geben, Wenn sie nicht geküsst, wird sie bald dich küssen, Wolltest du selbst nicht.« Komm auch jetzo zu mir und lös' aus schweren Sorgen mich, nach wessen Erfüllung aber Sich das Herz mir sehnt, das erfüll', und selber Hilf mir im Kampfe! 2 Sappho, Fragment 82a: »Mnasidika, wohlgeformter noch als Gyrinno« 3 Sappho, Fragment 49: »Ich habe dich geliebt, Atthis, vor langer Zeit / ein Kind noch schienst du mir und ohne Reiz .« 4 Fragment 2: »Besuche mich (…) im heiligen Hain, wo Apfelbäume wachsen (…)« 5 Fragment 146: »Für mich weder Honig noch Biene« 6 Sappho, Fragment 143: »Goldene Kichererbsen wuchsen an den Ufern.« 7 Sappho, Fragment 2 (Übers. Wolfgang Schadewaldt): Kypris, Komm eilends von des Himmels Häuptern Herabgegangen Hierher mir, wo einst Kreter den Tempel bauten, Den heiligen, da lieblich dir ein Hain ist Von Apfelbäumen, und Altäre sind drin, die Dampfen von Weihrauch Und drin rauscht kühles Wasser durch Apfelzweige, Von Rosen ist der ganze Platz Beschattet, und von den bebenden Blättern Fließt Schlummer nieder. Drin steht die roßnährende Wiese In Blüte mit Flammenkraut, und die Anise atmen Und Honiglotos. Dort nimm nun du die Kanne, Kypris, Und in die goldenen Becher wonnig In Frohsinn hineingemischten Nektar spendend Schenke den Wein aus! 8 Sappho, Fragment 51: »Was soll ich tun ? Weiß nicht. / Zweifach ist mein Sinn.« (Übers. Albert von Schirnding) 9 Sappho, Fragment 52: » Keinerlei Hoffnung, den Himmel mit meinen Händen zu berühren.« 10 John Donne, Niemand ist eine Insel (1624): »Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst. « 11 Sappho, Fragment 52: »Keinerlei Hoffnung, den Himmel mit meinen Händen zu berühren.« 12 John Donne, Niemand ist eine Insel 13 Charles Baudelaire, Lesbos (1857): »Lesbos, wo Küsse sind wie die stürzenden Fluten / die ohne Zagen sich werfen in grundlose Schlucht« (Übers. Terese Robinson) 14 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte: These XVI (1940): »Der Historismus stellt das ›ewige‹ Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überlässt es anderen, bei der Hure ›Es war einmal‹ im Bordell des Historismus sich auszugeben.«


Gregor von Korinth, Über Hermogenes (ca. 1120): »Auf hässliche Weise umschmeichelt das Gehör zunächst alles, was erotisch ist, wie wir es etwa von Anakreon oder Sappho kennen (…)« 16 Sappho, Fragment 41: »Euch, den Schönen gilt mein Sinnen / unveränderlich.« (Übers. Albert von Schirnding) 17 Sappho, Fragment 50: »Wer schön ist, wird dies sein, so lange seine Schönheit dauert; wer gut ist, wird sogleich auch schön sein« 18 Palaiphatos, Unglaubliche Geschichten (ca. 360 v. Chr.): »Phaon lebte von seinem Boot und vom Meer; das Meer, an dem er lebte, war eine Meerenge. Niemand beklagte sich über ihn, denn er war ein bescheidener Mann, der nur von denen Geld nahm, die auch welches hatten. Die Lesbier bewunderten sein Verhalten. Eine Göttin wollte den Mann ehren, und man sagt, es sei Aphrodite gewesen. In Gestalt eines Menschen, einer älteren Frau, bittet sie Phaon, sie über die Meerenge zu bringen. Er bringt sie schnell hinüber und verlangt dafür keine Bezahlung. Was also tut die Göttin? Man sagt, sie verwandelte den Mann, verwandelte sein Alter in Jugend und Schönheit. Sappho liebte diesen Phaon und hat ihn oft besungen.« Siehe auch Brief XV (Sappho an Phaon) in Ovids Heroïdes (ca. 15 v. Chr). 19 Es handelt sich um den ersten Teil eines Rätsels, das die Figur Sappho in der gleichnamigen Komödie von Antiphanes aufgibt (4. Jh. v. Chr). 20 Sappho, Fragment 31 (Übers. Franz Wilhelm Richter): Göttern gleich scheint jener beglückte Mann mir, Welcher dir entgegen vor Augen dasitzt Und in deiner Nähe der Lippe süsses Tönen dir ablauscht, Und das Lächeln schauet der Liebesanmuth. Mir bewegt dies wogend das Herz im Busen; Denn erscheinst vor Augen mir du, so stockt gleich Jeglicher Laut mir. Ja gelähmt erstarret die Zung', und leises Feuer rinnt dann über die Haut mir plötzlich; Nacht umhüllt fortan das Gesicht, und gellend Klingen die Ohren; Kalter Schweiss entträufelt der Stirn, und Zittern Fasst mich ganz, und falber, denn Gras, erblass' ich, Und der Nacht des Todes nur wenig fern noch Schein' ich Doch müssen wir alles wagen 21 Anne Carson, Eros the Bittersweet (1986): »Verlangen ist Bewegung. Eros ist ein Verb.« 22 Sappho, Fragment 130: »Bittersüße, unsichtbare Schlange, Eros / quält mich aufs Neue, löst meine Glieder.« 23 Sappho, Fragment 162: »Mit was für Augen?« 24 Sappho, Fragment 49: »Ich habe dich geliebt, Atthis, vor langer Zeit / ein Kind noch schienst du mir und ohne Reiz« 25 Sappho, Ende Fragment 31: »Doch muss man alles wagen, denn –« 26 Sappho, Fragment 168b: »Der Mond und die Plejaden sind untergegangen, die Nacht schreitet voran, Mitternacht, die Stunde kommt und geht, und ich schlafe allein.« 27 Sappho, Fragment 38: »Meine Knie tragen mich nicht mehr.« 28 Sappho, Fragment 23: »Wenn ich dich ansehe […] vergleiche ich dich mit der blonden Helena.« 29 Christopher Marlowe, Faust (1592): Akt V, 1. Szene 30 Sappho, Fragment 8: »Atthis für dich« 31 Sappho, Fragment 121: »Wenn du mich liebst, suche dir eine jüngere Bettstatt / Denn als Ältere von uns beiden kann ich nicht mit dir leben.« 32 Sappho, Fragment 94 (Übers. Wolfgang Schadewaldt) (vgl. auch Albert v. Schirndings Übersetzung »Totsein will ich.«): … ganz ehrlich, ich wollte, ich wäre tot!

282

15


283

Als sie schied, hat sie viel geschluchzt und dies zu mir gesagt: »Ach, wie schrecklich ergeht es uns, Sappho! Gar so ungern scheide ich von dir!« Da hab ich ihr dies erwidert: »Glück auf den Weg und gedenke mein! Du weißt ja, wie wir dich gehegt haben. Und wo nicht, nun, so will ich dich dran erinnern, … [fein] und schön ist es uns ergangen. Viel Kränze aus Veilchen und Rosen und … und … hast du dir bei mir angelegt, und viele Duftgewinde um den zarten Hals, aus lieblichen Blumen gemacht; und mit viel Salbe, Brenthos und Königssalbe, hast du dich gesalbt, und, auf ein weiches Polster die zarte [Wange gebettet?], hast du das Sehnen … gestillt; und da war kein [Reigen] und kein Heiligtum und kein …, wo wir nicht dabei waren, kein Götterhain … [wo nicht] der Schall [der Kastagnetten] …« 33 Sappho, Fragment 36: »Ich begehre und ich brenne.« 34 Sappho, Fragment 1: »Wer, o Sappho, wer kränkt dich? /Siehe, wenn sie flieht, wird sie bald verfolgen / Wenn sie sonst Geschenke nicht nahm, sie geben / Wenn sie nicht geküsst, wird sie bald dich küssen / Wolltest du selbst nicht.« (Übers. Georg Thudichum) 35 Sappho, Fragment 48: »Du kamst, ich war verrückt nach dir / und du hast meinen Geist erfrischt, der vor Verlangen brannte.« 36 Charles Baudelaire, Lesbos (1857): »Lesbos, wo Küsse (…) frisch wie Wassermelonen« (Übers. Dietrich Feldhausen) 37 Sappho, Fragment 126: »Mögest du schlafen am Busen deiner sanften Freundin.«



Gwendoline Soublin

Und alles [Originaltitel: Tout ça Tout ça] aus dem Französischen von Corinna Popp

Deutsche Übersetzung mit der freundlichen Unterstützung der Autorengesellschaft SACD. Teile der Übersetzung entstanden in der Zusammenarbeit mit Jugendlichen während eines deutsch-französischen Übersetzungsworkshops am Saarländischen Staatstheater 2019 im Rahmen des Förderprogramms »echt absolut«.


Ab 9 Jahren

Chalipa, 8 Jahre alt Sam, 13 Jahre alt

Nelson, 4 Jahre alt

Salvador, 14 Jahre alt

(und Ehsan, 12 Jahre alt – nicht zu sehen, aber durchaus präsent)

Die Handlung spielt im Garten eines Hauses, im Speckgürtel einer Großstadt. Im Zimmer eines Jugendlichen. Vielleicht am Meer, wer

286

weiß? Wir werden sehen …


1. Ein kleines Mädchen, Chalipa. Man hört sich überlappende Stimmen aus dem Fernsehen / Radio. Sie lauscht.

287

MAN KANN SICH FRAGEN, OB SICH DER PREMIERMINISTER WIRKLICH DARÜBER IM KLAREN IST, DASS/ DIE GEWALTIGEN UNWETTER EINE VOLLSTÄNDIGE AUFFORSTUNG DER INSELGRUPPE NOTWENDIG GEMACHT/ ABGESEHEN VON DEN 7 MENSCHENLEBEN DIE DER VORFALL IN DEM HOTEL IN BAMAKO GEKOSTET HAT IST EINE DEBATTE/ VOLLKOMMEN UNNÖTIG UND ICH VERSTEHE NICHT WESHALB WIR UNS AN DONALD TRUMP FESTBEISSEN DER SICH/ DIE VOGELGRIPPE/ WÄHREND DER REVOLUTION WAR FÜR DIE WISSENSCHAFT/ NEIN NEIN ICH GLAUBE NICHT DASS WIR HIER VON WAHLKOMPROMISSEN SPRECHEN SOLLTEN WENN MAN/ DIESEN AUSSERGEWÖHNLICHEN INTERNATIONALEN WETTBEWERB/ DIE BENZINPREISE SIND WEITER GESTIEGEN WÄHREND IMMER NOCH BOMBEN ABGEWORFEN WERDEN AUF/ STIER MACHEN SIE SICH DARAUF GEFASST DASS DER TAG HEUTE NICHT ROSIG WIRD/ TROTZ DER 500 STIMMEN DIE NOTWENDIG WÄREN UM SEINE KANDIDATUR BEI DEN NÄCHSTEN/ JAHRZEHNTEN WIRD ES IN AFRIKA NUR NOCH 97500 GIRAFFEN GEBEN/ SO DIE EINSCHÄTZUNG DES FÜR DEN EINSATZ ZUSTÄNDIGEN POLIZEICHEFS/ DIE FRONTEN ZWISCHEN DEN REBELLEN UND DER SYRISCHEN ARMEE VERHÄRTEN SICH TROTZ DER ENTSCHLOSSENHEIT / DER SPANISCHEN DEMONSTRANTEN GEGEN DIE KORRUPTION DER/ KINDER DIE VOR UNSEREN AUGEN ERTRUNKEN SIND OHNE DASS UNSERE REGIERUNGEN SICH DAZU HERABGELASSEN HÄTTEN IHNEN/ FÜR DIE ARBEITER DES PEUGEOT-WERKS/ UND AUF DEM LETZTEN PLATZ DER GESAMTWERTUNG BEFINDET SICH/ DAS UNVORHERSEHBARE STURMTIEF KOLOSS DAS GEGENWÄRTIG SCHÄDEN VON SCHÄTZUNGSWEISE/ TERRORWARNUNG DER ALARMSTUFE ROT/ LIVE VOM EIFFELTURM/ DAS FEUER TÖTETE MINDESTENS – Chalipa brüllt.

2. Chalipa brüllt immer noch mitten in einem Garten. Dort stehen eine Schaukel und ein Gartenhäuschen. Die Sonne scheint. Es ist Sommer. Auftritt Sam.

Hey, hey, hey! Wieso schreist du denn so? Ich suche Gesellschaft. Sam Spiel was mit deinem Bruder. Chalipa Ich finde ihn nicht, meinen Bruder. Und überhaupt, mein BruSam

Chalipa


der ist mir egal. Ich will Gesellschaft, die nicht zur Familie gehört, kapiert? Sam Für pubertäre Anfälle bist du früh dran, Schaluppe. Chalipa Cha-li-pa. Ich heiße nicht Schaluppe! Wieso spielst du nicht mit mir? Mein Vater hat zu dir gesagt, du sollst auf uns aufpassen. Fazit: Kümmere dich um mich. Jetzt! Und mach mir Nudeln, sofort! Sam Ein Auge haben. Er hat gesagt: »Hab ein Auge auf sie, Samantha.« Ich werd nicht nach Stunden bezahlt. Das ist nicht mein Job, der Abendessen-Pokemon-Barbie-Service. Ich hab nur ein Auge auf dich, okay? Ich hab nämlich Ferien. Ich muss mich erholen. Worauf es ankommt, ist, dass weder du noch dein Bruder auf die blöde Idee kommt, eure Finger in die Steckdose zu stecken und dabei Sekundenkleber zu schnüffeln. Chalipa Du hast da oben echt ein ernstes Problem. Sam Ich habe was Besseres zu tun. Chalipa Was? Sam Du bist noch nicht alt genug, um das zu verstehen. Chalipa brüllt wieder. Chalipa

Ich will Gesellschaft!

Auf dem Rasen steht eine offene Klappe ein Stück vor. Sam stolpert darüber.

Wer hat das denn dahin? Finger weg! Das ist der Bunker! Sam Der Bunk … Was? Chalipa Babi 1 will nicht, dass wir da reingehn. Das ist nur, wenns ums Überleben geht. Sam Ihr habt einen Atomschutzbunker im Garten? Chalipa Das ist nur für den Fall, hat Babi gesagt. Für die Katastrophe und alles. Falls es echt mal knallt in der Welt, brauchen wirs uns nur im Bunker gemütlich zu machen und bleiben den ganzen Vormittag im Bett, weit weg von den Bomben, kein Wecker, keine Schule, kein gar nichts. Sam Ich hätte mir den Fuß verstauchen können. Das ist gefährlich. Chalipa

Sie stellt sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Klappe. Man hört ein lautes »Klick«. Die Klappe ist zu.

Hat dein Vater angerufen? Chalipa Nein. Sam Wo ist dein Bruder? Chalipa Machst du dir manchmal die Ohren sauber? Sam Wahrscheinlich in seinem Zimmer. Ok. Chalipa Was, »ok«? Sam Wecken wir ihn. Die Sonne scheint. Du spielst mit ihm. Ich bin in zehn Minuten an der Bushaltestelle verabredet. Und nein, Schaluppe, du bist nicht eingeladen, und ich verbiete dir, mir auf der Straße hinterherzulaufen. Sam

1

Persisch für »Papa«.

288

Sam


3. Ein Zimmer von innen. Die Wände sind mit Zeitungsausschnitten und WWF-Plakaten übersäht. Auf einem eingeschalteten Computer läuft ein Fernsehsender, der fortlaufend Nachrichten bringt, ähnlich N24. Chalipa und Sam sind nicht zu sehen, sie klopfen von außen an die Tür. Chalipa Sam

(off) Ehsan?

(off) Ehsan, hier ist Samantha, machst du uns auf? Es ist schön

draußen. Komm raus und spiel was mit deiner Schwester. Chalipa (off) Komm, Sam schwört, sie macht uns Nudeln mit Butter zum Frühstück! Sam (off) Was redest du da? Chalipa (off) Ehsan! Sam (off) Die Tür ist abgeschlossen. Hol den Schlüssel. Man hört das Geräusch sich hastig entfernender und wiederkommender Schritte. Ein Schlüssel wird im Schloss umgedreht. Chalipa und Sam betreten Ehsans Zimmer.

Oah, hier riechts wie im Löwenkäfig. Hier muss man mal lüften. Eshan, Fratello, wo bist du? Sam Was ist das für ein Saustall? Iih, der Teller hat geschimmelt. Chalipa Mein Bruder liebt Fernsehen! Vor allem die Kurznachrichten! Sam Das Foto da kenn ich. Ich habs im Internet gesehen. Ich kann mir das nicht anschauen. Chalipa Eshan, bist du unterm Bett? Los, spielen wir was, Bruderherz! Das Leben ohne dich langweilt mich, Fratello mio amore! Sam Du siehst doch, dass er nicht da ist. Was ist das? Liest einen Brief, der auf Ehsans Bett liegt. Was ist … Hä? Aber … Was?! Sam

Chalipa

289

4. (liest den Brief) »Ich hab‘s satt. Alles. Ich hab‘s satt, in einer hoffnungslosen Welt zu leben. Wenn ich morgens aufstehe, höre ich von allen Nachrichten nur: Leg dich wieder hin, nichts Gutes heute. Es passiert nie etwas Besseres. Ich möchte lieber nicht in einer solchen Welt leben. Ich will keinen Krieg. Ich will nicht, dass die Polarkappen schmelzen. Ich will nicht 24 Stunden am Tag arbeiten. Ich will keinen bescheuerten Präsidenten, der den ganzen Tag auf seiner Jacht sitzt und nur Kaviar isst und Champagner trinkt. Ich gehe weg. Ich mach ne Pause. Chalipa, Finger weg von meinen Sachen. Sag Babi, es tut mir leid. Es ist eben so. Es wäre mir lieber gewesen, das Leben wäre mehr wie ein Traum oder wie ein MTVClip, aber alles ist entweder Trash oder Tragödie. Da will ich nicht leben. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Es ist, als wären wir schon tot, noch Chalipa


bevor die ganzen Bomben der ganzen Attentate uns in der U-Bahn vor der Nase explodieren. Es gibt Leute, die sagen, dass die Nachrichten lügen. Dass das eine Verschwörung der Regierung ist, um uns Angst einzujagen. Ich hab keine Ahnung. Aber an diese Welt von morgen glaube ich nicht. Also ciao. Und viel Glück für euch, da ich nicht denke, dass uns Glück in diesem Leben von heute vor irgendetwas retten kann, in dem die Hoffnung echt Migräne hat. Und ich bin kein Arzt. Ich gehe. Es muss sein. Hier darf man keine Minute mehr verlieren. Ciao. Ehsan«

5. Wieder im Garten.

Ich komme in den Knast. So weit kann er nicht sein. Im Ernst, er hat kein Geld, er hat kein Busticket. Und überhaupt, Babi hat den Koffer mitgenommen. Wir haben keinen zweiten. Oder keinen so großen. Außerdem ist Ehsan in Geographie eine Flasche. Er isst quasi nur Nudeln mit Butter. Und das Einzige, was er auf Englisch sagen kann ist hello. Sam Ja und? Chalipa Er ist nicht in England, soviel ist sicher. Sam Ich muss die Polizei benachrichtigen. Aber wenn ich dort anrufe, sagen die deinem Vater Bescheid. Und ich … Wir müssen ihn finden. Wo geht er normalerweise hin? Ich meine: Wo verbringt er seine Zeit, was macht er so, von wo nach wo geht er, Ehsan? Chalipa Er geht in sein Zimmer. Sam Und sonst? Chalipa Er kommt die Treppe runter und geht direkt in die Küche. Er holt sich was aus dem Kühlschrank, das er sich in den Mund stopft. Er ist ein Vielfraß. Dann geht er wieder hoch. So geht das den ganzen Tag, kannst du sehen, ich krieg Kopfweh davon: Zimmer-Küche, Küche-Zimmer, Zimmer-Küche, Küche-Zimmer, Zimmer-Küche, KüSam Aber zwischen Küche und Zimmer, wo geht er da hin? Chalipa Auf die Treppe. Sam

Im Garten erscheint ein ganz kleiner Junge. Das ist Nelson.

Ich weiß es. Wer ist das denn? Nelson Ich weiß es. Chalipa Ach, hallo Nelson! (zu Sam) Er wohnt nebenan. Er weiß schon, wie man bis zehn zählt. (zu Nelson) Mach mit, Nelson: 1, 2, 3, 4 … Nelson Ich mag nicht. Nein! Sam Du weißt was? Was weiß er? Nelson … Nelson Sam

290

Chalipa


Du kannst es ihr sagen, Nelson. Das ist Sam. Sa-man-tha. Sprich mir nach! Nelson … Chalipa Ehsan ist verschwunden. Hast du ihn gesehen? Nelson … Sam Er hat »ich weiß es« gesagt. Nelson Ich hab schon mal eine Ameise gesehen. Chalipa Eine Ameise? Ah ja, Ameisen sind schön! Und sehr intelligent. Die haben einen IQ wie ein Sumoringer! Nelson Ich hab auch eine Biene gesehen. Chalipa Echt? Genial, Nelson! Aber die kann stechen. Da musst du aufpassen, ja? Sonst schwillst du an wie so ein Luftballon und peng!, fliegst du direkt zum Mond und dann tschau goodbye, liebe Familie, bist du tot! Nelson Ich habe auch mal ein ganz ganz ganz kleines Tier gesehen. Mit Punkten. Ganz ganz klein. Ein Baby. So klein. Chalipa Einen Marienkäfer? Sam (zu Chalipa) Frag ihn, ob er Ehsan gesehen hat! Chalipa Hast du Ehsan gesehen, Nelson? Nelson Einen Schmetterling hab ich auch mal gesehen! Sam Antworte mal! Nelson … Chalipa

291

Pause

Verstehst du, was ich zu dir sage, du Mücke? Ich mag keine Mücken. Das hat gejuckt, als sie mich einmal in den Arm gestochen haben. Zeigt auf eine Stelle vor sich. Da. Chalipa Was, Nelson? Nelson Da. Sam Was, da? Nelson Er. Chalipa Im Bunker? Ehsan ist da drin? Bist du sicher, Nelsi? Sam Im Bunker? Nelson Ehsan mag keine Ameisen. Oder mag er die? Sam Die Klappe ist zu. Ich hab sie vorhin zugemacht. Wo ist der Schlüssel? Chalipa Da drin. Sam Wie, da drin? Chalipa Es gibt nur einen Schlüssel. Wenn Ehsan da drin ist, heißt das, er hat den Schlüssel genommen und wenn er den Schlüssel genommen hat, dann ist der Schlüssel da drin. Das ist Mathematik! Sam Kann man das Ding nicht von außen aufmachen? Chalipa Nee. Der ist super sicher, dieser Bunker. Da kommt niemand rein! Der ist nigelnageldicht, wenn man angegriffen wird. Hundertprozentig stabil. Da kommt nicht mal eine minikleine Tsetsefliege rein! Du bist eingeschlossen. Wenn du drin bist, brauchst du dir keine Sorgen mehr zu Sam

Nelson


machen. Babi sagt: Wir haben da drin ein Maximum an Komfort und obendrein unsere Ruhe. Wie in einem Grab. Die Bakterien bleiben draußen. Dadurch sparst du dir, zum Arzt zu gehen. Sam Man kann sich doch nicht selbst begraben wollen? Das will man doch nicht! Vielleicht versucht er ja gerade, rauszukommen? Chalipa in Richtung Klappe Ehsan, Fratello, bist du eingeschlossen? Sam Ehsan, mach uns auf! Ehsan? Nelson Aufmachen, aufmachen, aufmachen! 6. Nelson springt auf der Klappe zum Bunker herum und stößt kleine Schreie aus. Chalipa ist in die Lektüre eines Heftes vertieft. Sam

Scht, Nelson!

(entziffernd) »Sonntag, 23. Februar: Bei einem Attentat in Syrien hat es zwei Tote gegeben. Zwei Tote, das ist, als wären Babi und Chalipa tot.« Na danke, ich bin also tot, vielen Dank! Sam Er stellt es sich vor. Chalipa Es bringt Unglück, zu sagen, dass die Leute sterben werden. Danach sterben sie wirklich. Sam Lies weiter, Schaluppe. Chalipa »Mittwoch, 5. April: In China ist so viel Luftverschmutzung, dass die Leute OP-Masken tragen. Irgendwann werden wir auch welche tragen. Die Luft wird eine Art schwarzer Film um uns sein. Wie küsst man seine Frau, wenn man eine Maske vorm Mund hat? Samstag, 4. Mai: In einem Supermarkt ist ein Eisbär gestorben. Er lebte seit zwanzig Jahren in der Heimwerkerabteilung. Das Meer hat er nie gesehen. Er hat wahrscheinlich sein Leben lang geglaubt, er wäre das Kind eines Schraubenziehers. Man sollte die Menschen im ewigen Eis aussetzen. Einfach nur, um es genauso zu machen. Dann würden sie schon sehen, ob das lustig ist, mitten in Grönland zur Unterhaltung der Pinguine auf ihrem Weg zum Fischen das Kind eines Eisbergs zu sein.« Sam Das ist nicht blöd. Chalipa Der ist auch nicht blöd, mein Bruder. Wann ist dein Geburtstag? Sam 12. August. Warum? Chalipa »Donnerstag, 12. August: Die künstliche Intelligenz wird uns über Facebook angreifen und das gibt eine Wirtschaftskrise.« Von dir sagt er nichts. Und von mir? (…) Nichts. Wann ist dein Geburtstag, Nelsi? Nelson Eins, zwei, drei, fünf, neun, sieben! Chalipa »7. September: Es scheint so, dass bald der dritte Weltkrieg ausbrechen wird, anscheinend nach den Sommerferien, wenn alle aus dem Urlaub zurück sind. Ich –«

292

Chalipa


Salvador kommt dazu. Er trägt eine schwere Sporttasche.

Hi Leute! Wer ist das? Wer bist du? Sam Das ist ein Freund. Er wird uns helfen. Hi Salvador! Danke fürs Kommen. Es ist dringend. Salvador Wo ist der Bengel? Sam Da drin. Salvador Ok. Chalipa liest weiter »Ein Tsunami ist im An- An- An- …« Ehsan hat echt ne Sauklaue. Ich versteh gar nichts. Warum erzählt er das? Er schreibt nicht mal was über mich. Ich guck mal bei Weihnachten. Dieses Jahr hab ich ein Spiderman-Kostüm geschenkt bekommen. Wir haben beim Aperitif so viele Pistazien gefuttert, dass Babi die Eistorte zum Nachtisch in Tupperdosen einpacken musste! Ah, da. »Montag, 25. Dezember: Wir schlagen uns hier an Weihnachten die Mägen voll und die Kinder in Somalia haben Knochen dünn wie Zahnstocher, machen sie einen Schritt, zerspringt ihr Körper in tausend Stücke und niemand …« Salvador Chalipa

Salvador holt eine Axt aus seiner Sporttasche. Nelson schreit.

Was ist das denn?! Scht, Nelson! (zu Chalipa) Warum hast du seiner Mutter gesagt, dass er herkommen kann? Das steht uns hier im Weg rum, das Kalb. NELSON Ich mag keine Kälber! Chalipa Er ist der einzige Augenzeuge vom Moment des Verschwindens! (zu Nelson) Sei still, Nelson! Chalipa Sam

293

Salvador hebt die Axt hoch über den Kopf. Er haut mit aller Kraft auf die Klappe zum Bunker. Einmal. Zweimal. Es gibt einen wahnsinnig lauten, dumpfen Schlag.

Keine Angst, Fratello! Wir sinds nur! Wir kommen, um dich aus deinem Grab zu retten! Chalipa

Salvador lässt die Axt ein drittes Mal auf die Klappe niedersausen. Plötzlich hält er inne. Er stößt ein schreckliches Wimmern aus. Er legt sich ins Gras. Die Axt ist in der Klappe steckengeblieben – welche keinen Millimeter nachgegeben hat.

Gehts, Salvador? Was ist das denn für ne Klappe? Sam Ein Bunker. Salvador Ein was? Sam Ich dachte, das könnte funktionieren. Von außen sieht das gar nicht so stabil aus! Salvador Ihr müsst die Polizei rufen! Sam Können wir nicht. Salvador Natürlich könnt ihr, du kannst! Sam Er wird ja irgendwann rauskommen! Sam

Salvador


klopft auf die Klappe Ehsan, hier ist Salvador. Du kennst mich. Wir gehen auf die gleiche Schule. Du hast Madame Garnier in Französisch. Ich auch. Komm raus und wir reden, ok? Wenn Du ein bisschen deprimiert bist, kann ich dich einer Freundin vorstellen, die letztes Jahr bei einem Therapeuten war, die sich auch immer einen Kopf macht, die kann dir ein paar Tipps für lau geben. Salvador

Pause

Er kann nicht ewig da drinbleiben. Wenn du nicht rauskommst, Ehsan, sind wir gezwungen, die Polizei zu rufen, hörst du? Dann kommt die Feuerwehr und bohrt deine Panzerwand auf, und dann stehst du blöd da – wie eine Maus, die in ihrem eigenen Loch in der Falle hockt! Sam Hör auf! Du machst ihm ja Angst. (in Richtung Klappe) Mach dir keine Sorgen, Ehsan! (zu Salvador, flüsternd) Er muss rauskommen. Er wird rauskommen. Er kann das nicht durchziehen, unmöglich! Sam

Salvador

Chalipa fängt an zu weinen. Erst nur leise und dann immer stärker.

Schaluppe Schaluppe, was ist denn mit dir los? Chalipa Da drin sind mindestens fünfzehn Kilo Nudeln! Sam Wein doch nicht … Chalipa Eine Herdplatte und ein Schnellkochtopf. Ein paar Hundert Dosen Thunfisch. Es gibt ein Klo. Es gibt ein Bett. Und auch einen Wasservorrat. Und haufenweise, haufenweise Schokoladentafeln mit Haselnuss. Es gibt sogar Bücher, um sich die Zeit zu vertreiben. Und einen Sitzsack, um es sich gemütlich zu machen. Sam (zu Salvador) Probiers nochmal mit der Axt! Chalipa Mein Bruder wird da drinbleiben … Er wird sich ein schönes Leben machen. Er will bestimmt nie mehr rauskommen! Weil draußen, sagt er, ist das unmögliche Leben. Er wird im Bunker bleiben. Er wird da drin sterben. Und niemand wird je meine Einsamkeit als Schwester ohne Bruder heilen können! Salvador

(versucht, die Axt wieder aus dem Bunker rauszuziehen)

Die steckt fest. Chalipa haut auf die Klappe Ehsan, mach mir auf! Ich will mit dir kommen. Ehsan, mach mir auf! Babi kommt bald heim. Sag mal, stimmt es, dass es Krieg geben wird? Ich will nicht ohne dich von Feinden erschossen werden und auch nicht mit einer Pistole schießen müssen – das tut in den Ohren weh und ich will niemanden töten. In deinem Zimmer habe ich ein blutüberströmtes Kind gesehen, es ist tot, oder, auf dem Foto, warum? Und werden alle Eisbären im Baumarkt eingeschlossen sterben? Ehsan, hörst du, mein Fratello, hörst du mich, Ehsan, mach mir auf! Sam Chalipa, hör auf. Chalipa Ich kann dich da drin beschützen. Ich spiele Fußball. Ich habe Muskeln. Ich schwörs, ich hab welche, in meinem Spidermankostüm. Und

294

Sam


zusammen im Bunker wird’s uns gut gehen. Wir werden unser ganzes Leben lang »Der Pate« 1, 2, 3, 4, 5 und 6 gucken – deinen Lieblingsfilm! – und Paprikachips futtern – die magst du am liebsten, oder, das weiß ich doch! Ehsan? Machst du mir auf, sag mal? Warum machst du mir nicht auf? Magst du mich nicht mehr? Ehsan, magst du mich nicht? Willst du, dass ich draußen sterbe? Nelson weint.

Es gibt doch bestimmt einen Notausgang, oder nicht? Ich mag keine Eisbären … Salvador Es gibt auf alle Fälle einen! Salvador Nelson

Sam weint auch.

7. Sam und Salvador sind in Eshans Zimmer. Sam sitzt auf dem Bett und liest in Eshans Notizheft, während Salvador das Zimmer von oben bis unten durchwühlt.

Ich verstehs nicht. Er muss irgendwo einen Hinweis hinterlassen haben. Ich hab im Netz gelesen, dass alle Ausreißer einen Hinweis hinterlassen, wohin sie gehen. Im Grunde wollen sie vor allem, dass man sie findet. Sam Er ist im Bunker, Sal. Salvador Und wenn nicht? Sam Nelson hat ihn gesehen. Salvador Nelson ist vier. Sam

Salvador

295

Pause

Hör dir das an »5. August: In der Nähe von Le Havre in der Normandie ist ein 14 Tonnen schwerer Bartenwal gestrandet. Er hat zwei Schiffe gerammt, die ihm tödliche Verletzungen zugefügt haben. Die Stadtverwaltung und die Region streiten über die Kosten zur Beseitigung und Verbrennung des Tierkadavers. Die Elfenbeinzähne des Wals wurden von Wilderern geklaut. Die Anwohner sagen, er stinkt. Seit fünf Tagen liegt der Wal am Strand. Fest steht: Das ist nicht mehr mein Zuhause hier. Die Zukunft ist woanders.« Was heißt das? Was will er damit sagen? Salvador Ruf seinen Vater an, Sam. Sam Das ist der letzte Absatz des Heftes. Salvador Und was, wenn er nicht im Bunker ist, überleg mal?! Wenn er überall ist, nur da nicht? Wenn ihn jemand entführt hat? Sam Er sperrt sich wegen einem toten Wal in einem Atomschutzbunker ein? (Pause) Versetzen wir uns mal in ihn rein. Nur für zwei Minuten. Salvador Okay. Sam Was, okay? Sam


Ich heiße Eshan. Sam Du heißt … Salvador Ich heiße Eshan und bin zwölf Jahre alt. Sam Du bist zwölf Jahre alt. Du heißt Eshan. Und … Salvador Und ich schreibe Tagebuch. Sam Du schreibst Tagebuch. Salvador Ich schaue N24. Die ganze Zeit. Ich lese Artikel. Sam Du hast der Welt etwas zu sagen. Salvador Ich will ein erfolgreicher Youtuber werden. Ich mach mir Notizen in mein Heft, damit ich nichts vergesse. Ich habe tonnenweise Ideen. Ich bin wie besessen davon. Ich kann nicht mehr schlafen. Sam Bist du gestresst? Salvador Ich denke nach. Sam Du weißt, dass dein Vater bestimmt etwas gegen deine Karriere als erfolgreicher Youtuber hat. Er wird sagen, das ist nur ein Zeitvertreib, kein Beruf. Salvador Damit das mit meiner Karriere klappt, muss ich meinen Vater vergessen. Sam Deine Vergangenheit hinter dir lassen. Salvador Ich habe eine Lösung. Sam Der Bunker. Salvador Der Bunker. Sam Los, beeil dich, versteck dich im Bunker, Eshan! Solange dein Vater noch im Ausland ist! Salvador Ciao! Sam (schreit) Alles gut da drin? Salvador Joa, gechillt! Sam Hey, ist dein erstes YouTube-Video fertig, Eshan? Salvador Noch nicht, verehrtes zukünftiges Publikum. Ich arbeite dran. Es wird »Eshan der Maulwurf« heißen. Es wird meine Sicht auf die Welt zeigen, aus dem tiefsten Inneren der Erde heraus. Sam Stell dir vor, in zehn Jahren werden die Leute um deinen heiligen Bunker herum Kerzen und Miniatur-Buddhas aufstellen. Du wirst wie ihr Gott sein. Du wirst ihnen sagen, was sie denken und wen sie wählen sollen, welche Rockband ok ist und welche nicht, ob es sich lohnt, glutenfrei zu essen oder nicht, ob es besser ist, auf Venus oder auf Jupiter zu leben. Salvador Ich werde Millionen verdienen! Glaubst du, am Ende ist mein Vater stolz auf mich? Sam Dein Vater wird sich alle deine Videos anschauen. Salvador Dann wird alles cool sein. Dann hab ich es im Leben geschafft. Pause Sam blättert wieder im Notizheft. Sam

Klingt so mittel glaubwürdig.

296

Salvador


Ich finds überzeugend. Sam Und was ist mit dem Brief? Er sagt, er geht weg. Dass es so nicht geht. Er sagt nichts von YouTube. Salvador

Lange Pause

Stellst du dir nie Fragen? Über was? Salvador Das hier. Da. Die Welt. Die Zukunft. Morgen. Und alles. Sam Nicht wirklich. Manchmal frage ich mich, wo ich später mal wohne. Aber auch eher selten. Salvador Ich stell mir oft vor, wie die Welt in hundert Jahren aussieht. Sam Und was siehst du, Nostradamus? Salvador Verschwommen. Ich erklärs dir, so ungefähr: Es gibt Bereiche, die sind einigermaßen scharf. Da und da. Siehst du? Aber insgesamt ist es ziemlich verschwommen. Es ist, als ob meine Zukunftsvision von dem abhinge, was ich erlebe, wenn ich es erlebe. Kapierst du das? Guck mal, jetzt reden wir und alles ist gut, deshalb stelle ich mir eine Welt in der Zukunft vor, wo alles gut ist, wo wir reden, wo es Sommer ist, wo alle Melonen essen, weil das lecker und erfrischend ist. Aber wenn du mich das Gleiche heute morgen gefragt hättest, als mein Vater die ganzen Därme und Innereien aus dem Hühnchen fürs Mittagessen rausgenommen hat, hätte ich dir gesagt: die Zukunft, da gibts noch einiges zu tun, echt, die ist voll abartig, die Zukunft! Sam So düster ist es auch alles nicht. Salvador Naja. Zeigt auf die Zeitungsartikel an der Wand. Da, ein Präsident mit einer gelben Perücke. Hm. Da, was ist das da? Der Krieg. Da, ein Artikel über »Die Vereinsamung älterer Leute –«. Sam Ok, es reicht. Salvador Oh und sieh dir das mal an. Sam Ok, Sal. Salvador Sam

297

Pause

Ich bin traurig, dass Krieg ist. Wirklich. Ich will auch nicht, dass die Welt eine Riesenkatastrophe wird, aber mal ehrlich, Sal, ist es nicht ein bisschen viel, sich für alles interessieren zu wollen? Ich habe nicht für jede einzelne Sache Traurigkeit übrig. Zum Glück nicht. Ich könnte gar nicht leben. Ich würde ersticken. Und außerdem ist mir die Welt manchmal egal! Ja, total egal! Weil ich auch für mich das Recht habe, auf ihr zu leben, ganz allein für mich. Und ich werde mich nicht davon abhalten lassen, ein Hühnchen zu essen, das mein Vater zum Mittagessen macht, bloß weil das meine »Zukunftsvision« verdirbt! Salvador Du findest also, die Zukunft ist nicht dein Problem? Sam Doch! Aber nicht jedes Mal, wenn ich was sage, nicht jedes Mal, wenn ich Atem hole, nicht jedes Mal, wenn ich … Das lähmt mich total. Ich kann nichts dagegen tun! Sieh mich an. Ich bin scheiße in Mathe! Ich Sam


mache keine Politik. Ok, ich trenne meinen Müll, und weiter? Soll ich an der Schule eine Demo organisieren? Salvador Wenn er kein Youtuber sein will, Eshan, was will er dann? Sam Wir müssen eine Lösung finden. Und zwar schnell. Salvador Hast du Lust, mit zu mir zu kommen? 8. Chalipa und Nelson kommen in den Garten. Nelson hat einen Teller Nudeln mit Butter in der Hand. Chalipa

(zu Nelson) Los, Nelsi. Stell ihn ab, da hin! (in Richtung

Riech mal! Lecker Nudeln mit Butter! Die sind hier draußen! Komm! Nelson hat das Salz ins Wasser und ich hab mindestens die Hälfte von der gesalzenen Butter draufgetan, weil ich weiß, dass du das magst! Ehsan? (Pause) Alles gut, Nelson? Nelson Yessssssssss. (Pause) Chalipa? Chalipa Ja? Nelson Was ist die Zukunft? Chalipa In sehr sehr sehr langer Zeit. (Pause) Weißt du, was du in der Zukunft machen wirst, Nelsi? Nelson Na … ich werd tot sein. Chalipa Nein, also dann, wenn du noch am Leben bist. Denkst du manchmal darüber nach, wie die Welt in Zukunft sein wird und alles, die Roboter, die iphones? Nelson … Chalipa Stell dir vor, du bist alt. Sagen wir, du bist dreißig! Nelson … Chalipa Also. Was siehst du? Nelson Ich esse mein Frühstück. Pause

Ich will später mal Heldin sein. Nelson Hm. Chalipa Ich hätte einen bissigen Hund. Mit Reißzähnen und allem. Die dir die Arme zerfleischen. Ich würde die Kinder mit meinem Hund beschützen. Ich würde ihm beibringen, Pädophile aufzuspüren – das sind Erwachsene, die falsche Superheldenkostüme anziehen, um den Kindern weißzumachen, sie wären nett, und dann plötzlich mit einem Schlag, paff! entdeckst du unter ihrem Kostüm einen Riesenschniedel mit Augen, dem die Spucke runterläuft wie vor einem Schweinebraten – das hat mir Babi gesagt, also seitdem bin ich misstrauisch, weißt du. Überhaupt frage ich mich, ob die alte Oma von nebenan, die im Krieg im Widerstand war – Chalipa

298

Klappe) Ehsan, mein Fratello, wir haben dir Nudeln mit Butter gemacht!


299

Widerstand, das ist so eine Art Superheldenarbeit, weißt du, du machst den Bösen die Hölle heiß und schreibst den anderen Superhelden Sms, um geheime Treffen auszumachen – kurz und gut: Ich frage mich, ob die alte Oma von nebenan das nicht ein bisschen ist? Weil, eine echte Superheldin sein, aber nie aus dem Haus gehen? Sehr verdächtig. Ich sollte mir den Hund vielleicht gleich zulegen, damit er mal an ihr schnüffelt? Was meinst du dazu? Nelson Joa. Chalipa Das wird eine schöne Zukunft, stimmts? Jeden Abend lade ich dich zu mir in den Garten ein und wir trinken zusammen mit meinem Hund einen Aperitif. Magst du? Nelson Was trinkt der Hund? Chalipa Wir geben ihm Cola. Nelson Light. Chalipa Ok. (Pause) Ich hab Hunger. (in Richtung Klappe) Ehsan, wir essen deine Nudeln! Hörst du? Beeil dich mit dem Rauskommen, bevor wir alles aufgegessen haben! Mmh, ist das lecker! Mmmmmh, diese Butter ist köstlich! Stimmts, Nelson? Nelson Mmmmmh! Chalipa Mach noch lauter »Mmmmmh«, Nelson! Nelson Mmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmh! Chalipa Hörst du, Fratello, ich esse jetzt eine Nudel! Nelson Ich auch! Chalipa Noch eine! Zähl die Nudeln, Nelsi! Hörst du, Ehsan? Nelson Acht! Drei! Zwei! Eins! Zwei! Vier! Chalipa und Nelson Mmmmmmmmmmmh! Nelson Meine Nudeln mögen Reibekäse, und du? Chalipa Du verpasst was, Bruderherz! Sie verschlingen den Teller Nudeln.

9. Chalipa und Nelson liegen mit vollen Bäuchen im Gras. Chalipa haut mit der Faust leicht, aber regelmäßig auf den Bunker. Polternder Auftritt von Sam und Salvador. Sie tragen Kartons, Stoffe, Holzstöcke …

Alle Mann aufstehen! Bewegung! Was macht ihr? Salvador Jeder nimmt sich einen Stift. Ein Pappschild. Und schreibt da was Positives drauf. An die Arbeit! Sam Aber wieso willst du – Salvador Ruhe! Alle hören auf mich. Und keine Kommentare! Salvador Chalipa


Was heißt das, »positiv«? Salvador Das Gegenteil von »Ich mag nicht«, Nelson. Das ist eine gute Übung für dich. Nelson Ich mag keine – Sam Salvador, ich versteh nicht ganz – Salvador Hopp hopp hopp, an die Arbeit! Nelson

10. Mit den Pappschildern in der Hand machen sie eine Demo. Klettern auf die Schaukel, auf das Dach des Gartenhäuschens. Es wird langsam immer dunkler. Die Stimmung ist euphorisch. Salvador

IM FRÜHJAHR KOMMT DAS NEUE ALBUM VON SHAKIRA

RAUS!

Funktioniert das als gute Nachricht, ja? Klaro!

Salvador Chalipa Salvador Nelson

MORGEN WERDEN ES 22 GRAD!

Super! Schön laut rufen! Ehsan muss uns hören!

ICH MAG KATZEN ICH MAG KATZEN!

Salvador

Perfekt, Nelson!

ICH MAG KATZEN! Salvador EIN BLINDER AMERIKANER IST MIT DEM SKATEBOARD UM DIE GANZE WELT GEFAHREN! Sam MEINE TANTE HAT GERADE EIN BABY BEKOMMEN! Chalipa AM MITTWOCH WERDEN ES 25 GRAD! Sam EINES TAGES STEHEN ÜBERALL MACDONALDS, WO JETZT SLUMS SIND! Salvador BADEPARADIESE, WO JETZT KRANKENHÄUSER STEHEN! Sam KREBS HABEN WIRD SEIN, WIE WENN MAN JETZT SAGT: ICH HAB SCHNUPFEN! Nelson

Salvador

Schön laut!

ES HAT HEUTE KEIN GEWITTER GEGEBEN! Salvador GESTERN IST MEIN VATER FRÜHER VON DER ARBEIT HEIMGEKOMMEN! Chalipa

(zu Sam) Babi fehlt mir, Sam … Weiter, Chalipa, komm! Wir machen das für deinen Bruder.

Chalipa Sam

Chalipa Sam

ICH MAG MEINEN BABI!

Super!

ICH MAG MEINEN FRATELLO EHSAN! WENN WIR AUF DEM MARS WOHNEN, SEHEN WIR ALLES IN ROT, ALSO WIRD ES KEIN BLUT MEHR GEBEN UND AUCH KEINEN KRIEG! Chalipa

Salvador

300

Sam


Chalipa

ICH MAG MEINEN VATER EHSAN SAM SALVADOR UND NEL-

SON!

Nelson Salvador

ICH MAG KATZEN ICH MAG KATZEN!

Nicht schlapp machen!

IM JAHR 2078 WERDEN WIR WEGEN DER KLIMASONNE IMMER IN BADEKLAMOTTEN RUMLAUFEN! HURRA! KEINE KRATZENDEN PULLIS MEHR! Sam DEM WHANGANUI RIVER IN NEUSEELAND IST DER PERSONENSTATUS ZUGESPROCHEN WORDEN! ICH BESCHLIESSE, DASS DIE BÄUME PERSONEN SIND! ICH BESCHLIESSE, DASS REGENPFÜTZEN PERSONEN SIND! ICH BESCHLIESSE, DASS DER RASEN HIER EINE PERSON IST! Salvador DIE TULPEN SIND PERSONEN! Chalipa SAM HAT MIR BEIGEBRACHT, WIE MAN EINEN NUDELAUFLAUF MACHT! JUHU! Chalipa

Salvador

Mit mehr Überzeugung, wir sind glücklich!

ICH MAG KATZEN ICH MAG KATZEN! Sam EINE BOMBE, DIE EXPLODIERT, IST IMMERHIN EINE BOMBE WENIGER! Salvador IRGENDWANN LASSEN WIR UNS FLÜGEL ANNÄHEN, UM AUS DER KRISE RAUSZUKOMMEN UND DANN MACHEN WIR EINE REISE AUF DIE BAHAMAS! Chalipa ICH LEBE! ICH ATME! Nelson ICH MAG KATZEN ICH MAG KATZEN! Chalipa WENN ICH GROSS BIN, WERDE ICH AM LEBEN SEIN! Nelson

301

Sam

Pass auf, Schaluppe! Du fällst gleich runter!

Chalipa

WIR SIND DAS LEBEN DAS LEBEN DAS LEBEN!

Aus der Ferne hört man einen Erwachsenen brüllen: Stimme Salvador Stimme Chalipa Sam

ES LEBE DER KRACH!

Ich ruf gleich die Polizei! ES LEBE DIE POLIZEI!

(bestimmt) Ruhe jetzt, alle.

Nelson Sam

Ist jetzt bald Schluss mit dem Krach?!

ICH MAG KATZEN ICH –

Es reicht.

Chalipa

ES REICHT!

Klappe, Schaluppe! Salvador Aber, Sam? Sam Stopp hab ich gesagt. Sam


11. Sam sitzt allein auf der Schaukel und schaukelt. Die anderen beobachten sie vom anderen Ende des Gartens. Chalipa und Nelson kuscheln sich an Salvador, der sie im Arm hält.

Was hat sie denn? Sie braucht ein bisschen Ruhe. Chalipa Ist sie sauer? Salvador Weiß nicht. Nelson Ist sie traurig? Chalipa

Salvador

Pause Chalipa Salvador Chalipa Salvador

Was machen wir jetzt, Salvador? Weiß nicht. Sollen wir neue Pappschilder basteln? Weiß nicht.

Pause Nelson

Ist Ehsan tot?

Pause Chalipa

Ich bin überhaupt nicht müde.

Salvador

Ich auch nicht.

Pause Nelson Salvador

Ist Ehsan tot? Aber nein, Nelson. Ehsan geht es gut.

(Pause)

Es geht ihm gut … Die Nacht ist dunkel.

12. Die Nacht ist noch dunkler.

Hört mir gut zu. Da unter unseren Füßen ist ein Kind. Kinder sollten nicht unter den Füßen der Leute sein. Das ist schlimm. Das kann heißen, dass sie tot sind. Salvador Ehsan – Sam Lass mich ausreden, Salvador. (Pause) Morgen früh rufe ich die Polizei. Ich erkläre ihnen alles. Aber nicht heute Abend. (Pause) Hört mir gut zu. Vor morgen früh können wir noch eine Sache versuchen. Aber diesmal müssen wir es besser anstellen. Denkt nach. Was könnten wir wirklich für Ehsan tun? Was könnte ihn dazu bewegen, da unten rauszukommen? Weil wieso sollte es Ehsan besser gehen, wenn ein Polizist zu ihm sagt, dass er mitkommen muss? Dass es ein Befehl ist, den Bunker Sam

302

Pause


zu verlassen? Es muss von uns kommen. Versteht ihr? Uns allen. Dir. Dir. Dir. Seid ihr dabei? Also, ich habe überhaupt keinen Plan. Es ist bloß ein Vorschlag. Jeder Einzelne von uns verbringt einen Moment mit Ehsan in der Nähe des Bunkers und macht, was er für das Beste hält, hier und jetzt, für ihn und für uns. Und wenn morgen früh um neun die Klappe nicht offen und Ehsan nicht draußen ist, dann schwöre ich, rufe ich die Polizei. Weil es ist echt ernst. Ich rufe deinen Vater an, Chalipa. Wir tun dann, was man in solchen Fällen auch tun muss, nämlich Verantwortung übernehmen. Das bringt niemanden um, nicht mal Ehsan. Versprochen.

13. Die Nacht ist gespickt mit funkelnden Sternen. Die vier Momente mit Ehsan werden so dargestellt, als fänden sie in ein und demselben Augenblick statt. Nelson trägt mehrere Packungen Tiefkühlfisch im Arm. Er geht bis zum Bunker. Kniet sich hin. Salvador kommt in den Garten. In der Hand eine Trompete. Er sieht zum Himmel.

Chalipa

Also.

Sam hat gesagt, wir können machen, was wir wollen. Ich weiß aber nicht, was ich machen soll, Fratello. Auf dem Rasen reißt er eine nach der anderen die Verpackungen aus Karton auf.

Ich weiß nicht. Ich hätte nur gern, dass du rauskommst. Und dass Babi zurückkommt. Babi weiß

Sam

Also.


bei sowas eigentlich immer, was man machen muss, oder? Ich werd dir eine Geschichte erzählen.

Salvador

Das

ist meine Trompete. Hat mir mein Onkel geschenkt. Der wohnt in Chile. Ok.

Ok.

Er legt alle Tiefkühlfische auf einen Haufen.

Neulich hab ich nachts geträumt, dass ein Tornado unser Haus zerstört hat, wegen der Klimaerwärmung, und dass Babi hoch in den Himmel geflogen ist. Weit weg. Ich hab mich nicht getraut, es Babi zu erzählen, weil ich nicht will, dass er denkt, ich mach mir Sorgen um ihn und alles … Erinnerst du dich, wie du dir mal den Arm gebrochen hast, Fratello? Nicht mal die Krankenschwester konnte Babi trösten. Das ist weit weg. Er gräbt mit den

Als ich vier war, hab

Händen ein Loch im

ich drei Monate und

Boden.

acht Tage lang fast pausenlos geweint. An einem ganz normalen Tag wachte ich morgens auf und die Tränen liefen mir von


ganz allein über die Wangen – wie Blätter im Winter. Eine Träne, dann noch eine, dann noch eine, dann noch eine … Es hörte nicht mehr auf. Kann ich was für dich spielen? Ich ging zum Strand und ich weinte. Ich ging ins Bett und ich weinte. Meine Mutter nahm mich in den Arm und ich weinte. Ich versteh das nicht. Er vergräbt die Fische nacheinander in dem Loch.

Nelson

Tut mir

leid. Selbst der Schulgong brachte mich zum Weinen. Selbst schöne Sachen. Heiße Schokolade. Selbst die Küsse meiner Sandkastenliebe auf der Rutsche brachten mich zum Weinen. Ich weinte die ganze Zeit. Aber du musst ja nicht tot sein. Du bist nicht wie Mama, Bruderherz. Ich war traurig. Du, du bist lebendig! Tut mir leid. Traurig, dass der Sand in meinen Schuhen rieb, dann traurig, keinen mehr darin zu finden. Traurig, dass


die Nacht dunkel war, dann traurig, nicht mehr darin träumen zu können. Traurig, dass meine Mutter für einen Kuchen Eier aufschlug, dann traurig, dass davon am nächsten Tag kein Krümel mehr übrig war. Ich war traurig über jeden Morgen, der anbrach. Dann jeden Abend traurig, dass es noch nicht wieder Morgen war. Meine Mutter sagte mir: Tut mir leid.

»Es tut mir leid …« Ich weiß nicht warum. Es war nicht ihre Schuld. Das ist ein Stück, das mich tröstet, wenn ich schlecht drauf bin. Einmal sind sie mit mir in einen lustigen Film gegangen, so viel hab ich in meinem ganzen Leben nicht geweint!

Tut mir leid, mein kleiner Kleiner. Meine große Schwester kann Trompete nicht leiden. Sie sagt, sie hört lieber Beyoncé. Aber die gute Nachricht ist, dass der menschliche Körper gut gemacht ist: Irgendwann hatte ich keine einzige Träne zum Weinen mehr. Der Vorrat war alle. Nicht


mal ein Tropfen war mehr da. Wenn sie drauf steht, schön für sie. Jeder braucht im Leben was, worauf er abfährt. Du bist schon seltsam. Langsam fing ich wieder an zu denken, dass Löwenzahn gut riecht. Meine Raviolis mit Mayo zu essen. Ich war froh, im Meer eine Welle ins Gesicht zu bekommen. In den Armen meiner Mutter getröstet zu werden. Ich hab eine Pause vom Kummer gemacht. Ich versteh nicht, warum du denkst, dass alles hier futsch ist. Tut mir leid. Niemand hat je verstanden, was mit mir los war. Ich war vier Jahre alt. Es sagen immer noch alle: Du warst vier. Ja und? Ist man denn blöd mit vier? Du kämpfst hier nicht allein gegen das Leben, Bruderherz. Du hast mich, du hast Babi, du hast deine Freunde. Vertraust du uns nicht? Aber ich vertrau dir auch nicht mehr, weißt du. Entschuldigung, ich hab dich lieb.


Ich hab schon lang nicht mehr gespielt. Nimms mir nicht übel, wenn es ein bisschen schief klingt. Du könntest im Krieg geboren worden sein. Ich versteh, wie du dich fühlst. Glaub ich. Du könntest blind sein. Die Lust zu verschwinden. Aber die im Krieg, und die, die nichts sehen, sind mutiger als du, Bruderherz. Die verkriechen sich nämlich nicht in einem Loch. Ich leg mal los. Sie haben kein Recht auf Muffensausen. Das Bedürfnis hast, Stopp zu rufen. Salvador konzentriert sich.

Das Gefühl, dass alles zu »wahr« ist. So als wäre ein Baum mehr als ein Baum, das Gewitter mehr als das Gewitter, deine Beine mehr als deine Beine. Dass nichts wirklich ist oder zu wirklich. Das Leben unter dem Mikroskop mit dem stärksten Zoom. Salvador spielt ein paar schiefe Töne.

Tut mir leid, mein Fisch.

Die, die uns lieben, haben super viel Angst


davor, dass wir die Wahrheit herausfinden. Sie tun alles, um zu verhindern, dass wir sie herausfinden: dass diese Welt nicht aus Plastik ist. Und bei uns Gefühle auslöst. Sie erlauben es sich nicht, Angst zu haben, verstehst du? Wenn ich traurig aussehe, kriegt meine Mutter Panik. Weißt du, manchmal, bevor ich schlafen gehe, stell ich mir Sachen vor: ein Terrorist kommt in unsere Schule und ratatatata bringt uns alle um! Sie sagt dann: »Komm, gehen wir einkaufen!« Ich gehe mit, um ihre eine Freude zu machen. Dann wenn ich mir zu viel vorstelle, drehe ich es um. Ich denke mir, dass ich schieße. Ich Autos anzünde. Ich zünde Städte an. Straßenlaternen! Die blöden Geräte auf dem Spielplatz. Und ich sage ganz laut, was meine Angst ganz leise über alles Mögliche denkt! Ich kämpfe gegen den Albtraum, indem ich viel viel viel Schlimmeres tue! Nicht weinen,


nicht weinen, schscht, hast du aua? Du hast ein Recht, traurig zu sein. Also, machen wirs so: Verbrennen wir, was wir hassen, Bruderherz! Verbrennen wir zusammen die Fleischereien. Die kaputten roten Ampeln und dieses eklige Restaurant, wo das Eis – man denkt, das ist Schlamm! Nelson hat seine Fische alle eingegraben. Salvador spielt sein Stück zu Ende. Er murmelt ein Lied. Er murmelt lautlos ein Gebet, von dem man nur Flüstern hört.

Es tut mir leid. Ich fänds gut, wenn du was dazu sagst. Was sind deine Gedanken dazu? Warum bist du da drin? Warum sperrst du dich da unten ein? Verbrennen wir Babis Chef, der hinter seinem Rücken immer schlecht über ihn redet! Verbrennen wir den Präsidenten Dingsibums, der sagt, dass es Menschen gibt, die sind wie Hunde und die sind


hässlich und dass man die nicht lieben darf. Aber ich liebe Hunde, ich liebe sie, ich liebe sie! Und wenn ich hässliche Sachen liebe, dann liebe ich sie, fertig, aus! Der Dingsibums, der ist hässlich, weil er so hässliche Sachen sagt. Verbrennen wir ihn! Ich weiß nicht was ich sagen soll. Verbrennen wir alle Präsidenten zusammen! Hab keine Angst. Töten wir die Frauen der Präsidenten! Musik ist für mich das Allerschönste. Schöner als alles. Hab keine Angst.

Hab keine Angst. Ich bin eine Heldin. Sogar Beyoncé tut einem gut! Du bist auch ein Held. Hab keine Angst.

Hab keine Angst. Mein Fratello, du und ich, wir werden den blöden Idioten Angst einjagen. Bis sie sich in die Hosen pinkeln, die Idioten, die wollen, dass ihnen alle gehorchen!

Du drehst die Musik voll auf. Und tanzt wie verrückt! All the single ladies all the single ladies!

Keine Sorge, ich werde Babi den Plan


erklären. Er wird ok damit sein. Wir jagen die Erde in die Luft, wir, die ganze Familie! Hab keine Angst.

Hab keine Angst. Sag meiner Schwester nichts wegen Beyoncé. Wir drehen die Welt um wie einen Pfannkuchen! Du wirst sehen! Es ist Krieg! Du findest das bestimmt dumm, was ich jetzt sage… Aber ich verstehe dich. Wir sagen nein. NEIN! Sprich mir nach! Ich hoffe, das Stück hat dir gefallen. Komm raus, wenn du magst. Dann spiel ich noch was für dich. NEIN! Willst du, dass ich noch spiele? Ja. NEIN! Nochmal! Wenn ich dir auf den Keks gehe, kannst du ja im Bunker bleiben! Wir sagen das, bis uns die Königin von England hört, die alte Omi! War nur ein Witz. Vielleicht bist du jetzt gerade auch vier Jahre alt!

Ich bin da. Hörst Du, Königin? Wir verbrennen deinen


Palast! Gib deine Juwelen den Obdachlosen! Ich bin da.

Salvador spielt ein anderes Lied auf der Trompete.

Hab keine Angst, mein kleiner Kleiner. Es wird sich was ändern, du wirst schon sehen. Wir brennen alles nieder! Die Stimme eines Erwachsenen brüllt:

Schluss mit der Musik! Ich ruf wirklich die Bullen, wenn das nicht aufhört!!! Salvador hört auf zu spielen.

Naja, ok. Ich warte in der Küche auf dich. Das war’s, was ich dir sagen wollte. Jetzt geht’s mir besser. Bis gleich, Fratello. Danke, dass du mir zugehört hast.

Chalipa geht zurück ins Haus. Salvador lässt seine Trompete neben dem Bunker liegen und geht nach drinnen. Sam beobachtet Nelson, wie er Blumen in sein Fischegrab steckt.

Was machst du da, Nelson? Ich mag nicht. Sam Komm, Schlafenszeit. Nelson Ich mag nicht. Sam Du erkältest dich noch. Komm … Sam

Nelson


14. In Ehsans Zimmer. Es ist Morgen. Sie schlafen alle vier kreuz und quer übereinander, ineinander verschlungen. Der kleine Nelson wacht gähnend auf. Er schiebt die Beine des einen und die Arme des anderen weg, um sich einen Weg zu Ehsans Computer zu bahnen. Er schaltet ihn ein. Klickt auf irgendwelche Tasten. Der Computer gibt Töne von sich. Nelson stößt einen kleinen Schrei aus. Er stürzt zu den anderen drei und schüttelt sie. Salvador Sam

(im Halbschlaf) Hm Hm …

(schreckt hoch) Was ist? Was ist?

Gibt’s ein Problem, Nelsi? Wieviel Uhr ist es? Nelson, es ist früh. Wir müssen schlafen. Komm her!

Chalipa

Salvador Sam

Chalipa steht vom Bett auf und sieht den Computerbildschirm.

Aber … Da ist Ehsan! Ehsan ist da! Chalipa Er … Sam Was? Was sagst du? Chalipa Da ist Ehsan. Da ist mein Bruder auf dem Bildschirm! Chalipa

Sam und Salvador springen aus dem Bett. Alle vier stehen mit aufgerissenen Augen und offenem Mund vor dem Computer. Salvador

Mach den Ton lauter, Schaluppe!

Sie macht lauter. Im Fernsehen: Das Bild macht die Runde in den sozia-

len Netzwerken. Das Bild des Jungen, der an einem Strand bei Le Havre ein riesiges Loch schaufelt. Sehen Sie ihn sich an, Sabine, wie alt schätzen Sie ihn? Zwölf? Dreizehn? Chalipa Zwölf Jahre und sieben Monate!!! Salvador Scht! Im Fernsehen: In großen Buchstaben hat er eine Nachricht in den Sand geschrieben, rings um den Kadaver des Wales, der vor nun bereits – Sam Der Wal … Im Fernsehen: Vor nun bereits sechs Tagen hier gestrandet ist. Dieser Wal, Gegenstand grotesker finanzieller Streitigkeiten und von dem viele von Ihnen bestimmt schon gehört haben. Seine Nachricht steht da und könnte nicht klarer sein: WER KÜMMERT SICH DARUM, DASS SIE LEBEN? Salvador Er gräbt ihm ein Grab. Chalipa Mein Bruder ist ein Star! Sam Scht! Im Fernsehen: Die mediale Resonanz dieses Bildes ist unglaublich. In nur einer Nacht hat es auf Facebook 38 Millionen Likes bekommen. Mehr über diese Geschichte nach dem Börsenjournal. Unsere Korrespondenten sind auf jeden Fall bereits auf dem Weg in die Normandie. Ich verspreche Ihnen

314

Nelson


ein Exklusivinterview mit dem jungen Helden, dessen Tat uns – Nelson Ich mag den Wal! Sam (rekapituliert) Er ist gar nicht im Bunker. Er ist da. Im Fernsehen. Ein Telefon klingelt. Klingelt nochmal. Und nochmal. Salvador

Sam, dein Telefon!

Wie betäubt geht Sam ans Telefon. Sam

(ins Telefon) Hallo? Ah, Herr Faradi … Ja.

Babi! Babi, Ehsan ist ein Star! Er ist ein Held! Das haben die im Fernsehen gesagt! Salvador Ruhig, Chalipa, ganz ruhig! Sam (ins Telefon) Ich habe es gerade … Ja … Ja … Ich habe noch nicht … Nelson Ich mag den Wal! Hurra! Hurra! Jaaa! Chalipa

15. Salvador ist allein im Garten. Er versucht (noch einmal) die Axt aus dem Bunker zu ziehen. Sam kommt dazu.

Alles ok? Das wars mit Babysitten, das kann ich vergessen. Im Viertel steh ich jetzt auf der schwarzen Liste. Salvador Sam

315

Pause Salvador

(unterbricht seine Bemühungen) Ich gebs auf.

Lange Pause

Nelson wusste es. Salvador Nelson ist vier. Sam Nelson hat gestern Abend Fischstäbchen im Garten beerdigt. Salvador Reiner Zufall. Sam Er hat gelogen. Ich bin sicher, er war eingeweiht. Er hat uns reingelegt mit seinem »Ehsan, da!«, »Ehsan!«. Er wollte uns – Salvador Sam. Ehsan ist in den Bunker gegangen, um eine Schaufel zu holen. Und zum letzten Mal: Nelson ist vier. (Pause) Wenn ich so drüber nachdenke … Sam Ich verstehs nicht. Sein Zettel. Das stand da nicht drauf. Nicht wirklich. Salvador Vielleicht haben wir … ihn falsch verstanden. Oder so verstanden, wie wirs verstehen wollten. Sam

Pause Sam

Ich bin stolz auf ihn. Ich auch.

Salvador

Pause

Ich weiß nicht, ob ich so stark gewesen wäre wie er. An seiner Stelle, ich weiß nicht, ob ich … Sam


Pause

Ich kann Auto fahren. Du bist noch zu jung, um Auto zu fahren. Salvador Wenn man nur Sachen machen würde, für die man alt genug ist, würde man sich zu Tode langweilen. Also ich sags nochmal: Ich kann Auto fahren. Sam Und? Salvador Wenn ihm niemand hilft, schafft er das nicht. Salvador Sam

Pause

Wenn wir schon dabei sind, kann ich auch gleich auf die schwarze Liste der ganzen Welt … Sam

Sie lächeln sich an.

16. Im Garten flattert ein langes Spruchband im Wind, das zwischen der Schaukel und einem Baum gespannt ist. Darauf steht: WIR SIND AM STRAND WIR HABEN HIER KEINE MINUTE MEHR ZU VERLIEREN CIAO. Darunter vier Unterschriften: Sam, ein Fisch (unter dem »Nelson« steht), Salvador aufs Gartenhäuschen geweht.Und eines fliegt hoch am Himmel, weit weg.

17. (allein) DER FRIEDENSVERTRAG ZWISCHEN / DAS NEUE BUCH VON MICHEL HOUELLEBECQ UND / DIE USA SIND EIN GEFÄHRLICHES SAMMELBECKEN/ DER STAMM DER GATUU WEHRT SICH GEGEN DIE JAGD AUF / DEN WAL / SEIT BALD SIEBEN TAGEN KOMMT EINE BEACHTLICHE MENGE AN LEUTEN AM STRAND VON LE HAVRE ZUSAMMEN AN DEM / WIR FINDEN JEDES JAHR DUTZENDE TIERLEICHEN, DIE AN DIE STRÄNDE NEUSEELANDS GESPÜLT WERDEN / HEISST DAS, DASS DER BUCKELWAL VOM AUSSTERBEN BEDROHT IST / ABER DIESES GEFÜHL TEILT EHSAN NICHT ER IST 13 JAHRE ALT WOHNT IN CLICHY UND IST DEN GANZEN WEG BIS IN DIE NORMANDIE MIT DEM ZUG GEKOMMEN UM UNS ZU SAGEN: / »DAS IST MEIN BRUDER! ER IST EIN HELD!« / IN DER TAT / ER WOLLTE EIN SYMBOLISCHES GRAB FÜR DIESES PRÄCHTIGE 14 TONNEN SCHWERE TIER AUSHEBEN UM DIE WELTÖFFENTLICHKEIT ZU ALARMIEREN / »DAS IST MEIN BRUDER! OKAY?« / »WIR KÖNNEN DIESEM STARKEN ZEICHEN NUR MIT ZUSTIMMUNG BEGEGNEN UND« / UM DAS ÖKOSYSTEM DER ANTARKTIS ZU ERFORSCHEN, WURDEN IN JAPAN 333 WALE GETÖTET ES IST AN DER ZEIT, DASS WIR / »ICH BIN SEINE BABYSITTERIN!«/ JA Chalipa

316

und Chalipa.Die Reste der Pappschilder liegen am Boden. Ein paar wurden


317

JA, JEAN-PIERRE, DAS FOTO GEHT UM DIE GANZE WELT ÜBERALL KLEBEN ES DIE AKTIVISTEN, DIE JETZT FÜR DIE RECHTE DER SCHWERTWALE DEMONSTRIEREN VOR DEN SEAWORLDS AN DIE WÄNDE / VOR DEM RATHAUS WIRD EINE PRESSEMITTEILUNG VON / PAUL WATSON / INFORMIERT UNS, DASS DIE NORMANDIE DIE NOTWENDIGEN VORKEHRUNGEN GETROFFEN HAT/ UM WALLY DEN WIDERSPENSTIGEN WAL AUS KALIFORNIEN MITHILFE EINES KRANS / »WENN IHR KEINE SCHAUFEL HABT, KÖNNT MIT DEN HÄNDEN GRABEN« / LIEBER SPÄT ALS NIE WERDEN SIE MIR SAGEN / »ICH HAB EINFACH GEDACHT ICH MUSS DAS TUN, ALSO BIN ICH IN DEN ZUG GESTIEGEN UND DA BIN ICH NUN ICH KONNTE NICHT LÄNGER ZUHAUSE SITZEN UND NICHTS MACHEN ICH KONNTE DAS NICHT MEHR« / IN DER TAT JA / GEFANGENSCHAFT IST EIN GEFÄNGNIS / »JA ICH KENNE IHN GUT WIR HABEN DIE GLEICHE FRANZÖSISCHLEHRERIN!« / AM 11. FEBRUAR SIND IN NEUSEELAND WIEDER 200 GRINDWALE GESTRANDET / »ICH MAG DAS MEER NICHT« / NATÜRLICH HAT BRIGITTE BARDOT PROMPT AUF DIE 82 MILLIONEN LIKES REAGIERT DAHER DIE FRAGE / »SEHEN SIE WIE GROSS DIESER WAL IST? UND SEHEN SIE WIE GROSS DER JUNGE MANN HIER IST? DAS BEWEIST DOCH EINFACH DASS KEIN KAMPF ZU KLEIN IST UND DASS –« / DIESE ERKLÄRUNG DER GRÜNEN REAGIERT AUF DEN KAMPF DES WWF GEGEN / DAS PLASTIK / BEHERRSCHT IMMER NOCH / »ICH PASSE AB UND ZU AUF DIE NACHBARSKINDER AUF UM MIR EIN BISSCHEN TASCHENGELD ZU VERDIENEN«/ »DAS IST MEIN FRATELLO OKAY? ALLE SCHAUEN AUF MEINEN FRATELLO OKAY ER IST EIN HELD!« / »ICH PASSE SCHON SEIT ACH SEIT EWIGKEITEN AUF IHN AUF!« / UNSERE EXPERTEN SIND SICH EINIG: WENN WIR WEITER DEN MEERESBODEN ZERSTÖREN, GIBT ES BALD KEINE MÖGLICHKEIT MEHR / DAS FLÜSTERN DER JUNGEN WALE LIVE ZU HÖREN / IN ZUSAMMENARBEIT MIT DEM INSTITUT FÜR MEERESFORSCHUNG / »ICH MAG DAS MEER NICHT« / SEHEN SIE DEN PAZIFIK IN SEINER GANZEN SCHÖNHEIT UND ENDLOSEN WEITE GÖNNEN SIE SICH EINE PAUSE / DANKE FÜR IHREN BEITRAG IN UNSERER SENDUNG / UND LASSEN SIE SICH VON DIESEN AUSSERGEWÖHNLICHEN AUFNAHMEN BEGEISTERN SCHALTEN SIE AB DAS GANZE IST / 20 MEILEN UNTER DEM MEER / BEI LE HAVRE / »UND ICH SAGE WIR GEBEN NICHT AUF ALS NÄCHSTES KÄMPFEN WIR FÜR --«/ 20 MEILEN WEITER UNTEN / EINE EINZIGARTIGE AUFZEICHNUNG DIE UNS ERNEUT DIE UNGLAUBLICHE SENSIBILITÄT DIESER WUNDERBAREN SÄUGETIERE BEWUSST MACHT / SPITZEN SIE DIE OHREN / HÖREN SIE IHNEN ZU/ JA / HÖREN SIE WIE SIE SINGEN –/ Ein Walgesang erklingt, leise und beruhigend, hält an, hält immer noch an … Chalipa lauscht.



Olivier Choinière Olivier Choinière, geboren 1973 in Granby (Québec) ist Regisseur, Dramatiker und Übersetzer. Nach dem Abschluss des Studiengangs Szenisches Schreiben an der École nationale de théâtre du Canada im Jahr 1996 wird bereits sein erster Theatertext »Le bain des raines« für den renommierten Prix du Gouverneur Général nominiert. Als Leiter der Compagnie L’ACTIVITÉ , mit der er ausschließlich seine eigenen Texte inszeniert, gilt er seit über 20 Jahren als einer der innovativsten und einflussreichsten Theatermacher in Québec. Für seine Stücke und sein künstlerisches Gesamtwerk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Texte (Auswahl) MANIFESTE DE LA JEUNE FILLE ENNEMI PUBLIC POLYGLOTTE NOM DE DOMAINE MOMMY CHANTE AVEC MOI

319

JEAN DIT BIENVENUE À (UNE VILLE DONT VOUS ÊTES LE TOURISTE) FÉLICITÉ LE BAIN DES RAINES


Claudine Galea Claudine Galea (1960 in Marseille geboren) ist Dramatikerin, Journalistin und Autorin von Hörspielen, Romanen und Kinderbüchern. Sie ist Mitglied des Redaktionskomitees der Theaterzeitschrit UBU, schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Tageszeitung La Marseillaise und arbeitet für das Lyrikzentrum Cipm (Centre international de poésie Marseille). Ihre Texte wurden in über 15 Sprachen übersetzt und mit Preisen wie dem Grand Prix de littérature dramatique, dem Prix des Lycéens Île-de-France und dem Prix radio SACD ausgezeichnet. In der Spielzeit 2019/20 ist sie Hausautorin am Théâtre National de Strasbourg. Claudine Galeas Jugendstück »Les Idiots« wurde 1999 in der zweiten Ausgabe von SCÈNE veröffentlicht (»Die Idioten«, Übersetzung: Ina Schott).

Texte (Auswahl) NOIRCISSE AU BOIS LES INVISIBLES AU BORD LES CHANTS DU SILENCE ROUGE LES IDIOTS LES CHOSES COMME ELLES SONT LE CORPS PLEIN D’UN RÊVE L’AMOUR D’UNE FEMME

320

LA NUIT MÊME PAS PEUR


Julie Gilbert Julie Gilbert, geboren 1974 in Grenoble, ist Dramatikerin und Drehbuchautorin. Nach einer Kindheit in Mexiko und Frankreich und Zwischenstationen in Havanna, Montreal, New York und Los Angeles, lebt sie heute mit Schweizer und französischer Doppelstaatsbürgerschaft in Genf. Während der Spielzeit 2019/20 ist sie dort als Dramaturgin am Théâtre Poche/ GVE tätig. Neben Film- und Theaterprojekten entwickelt Julie Gilbert auch performative Formate wie »La bibliothèque sonore des femmes«, die sich mit dem Platz der Frauen in der Gesellschaft beschäftigen.

Texte (Auswahl) JE NE SUIS PAS LA FILLE DE NINA SIMONE FRIDA/DIEGO PARADIZE NOW! OUTRAGES ORDINAIRES SEXY GIRL L’ANGE MY SWISS TOUR

321

NOS ROSES, CES PUTAINS L’OTAGE DES DIEUX


Annick Lefebvre Annick Lefebvre (geboren 1980) ist Dramatikerin, Dramaturgin und Regisseurin. Nach dem Abschluss eines Kritik- und Dramaturgiestudiums an der UQAM (Université de Québec à Montréal) hospitiert sie 2003 bei den Proben zur Weltpremiere von Wajdi Mouawads Incendies. 2012 gründet sie ihre eigene Compagnie Le Crachoir. Neben ihrer Tätigkeit als Dramatikerin arbeitet sie regelmäßig als Dramaturgie-Coach für junge Autor*innen. Ihre oft explizit feministischen Texte werden erfolgreich in Québec, Frankreich und Belgien aufgeführt.

Texte (Auswahl) COLONISE(É)S LES BARBELÉS PÉRIPHERIES J’ACCUSE LA MACHINE À RÉVOLTE

322

CE SAMEDI IL PLEUVAIT


Alex Lorette Alex Lorette wurde 1973 geboren und lebt und arbeitet als Dramatiker und Regisseur in Brüssel. Zunächst studiert er Wirtschaft und Soziologie, um sich später einer Schauspielausbildung und einem Studium der Theaterwissenschaft zu widmen. 2006 gründet er die Compagnie Kinesis. Seine Texte werden in Frankreich und Belgien gespielt. »Pika Don (Hiroshima)« wurde 2018 beim Heidelberger Stückemarkt präsentiert. Für »Dream Job(s)« erhielt Alex Lorette den belgischen Regiepreis 2018-19.

Texte (Auswahl) LA LIGNE DE PARTAGE DES EAUX PIKA DON (HIROSHIMA) WHITE PIG CANOPÉE MOUTON NOIR GÉOGRAPHIE DE L’ENFER DREAM JOB(S)

323


Sarah Jane Moloney

324

Sarah Jane Moloney wurde 1986 in Zürich geboren. Sie ist Dramatikerin, Dramaturgin, Regisseurin und Übersetzerin. Nach einem Studium der Altphilologie in Lausanne absolviert sie an der Londoner Royal Central School of Speech and Drama einen MA in Advanced Theatre Practice. 2015 gründet sie die Compagnie L’âge ingrat, deren Performances mit mehreren Preisen ausgezeichnet werden. Im Rahmen des Schweizer Autor*innenförderprogramms Stück Labor arbeitet sie während der Spielzeit 2019/20 als Hausautorin und Hausdramaturgin am Genfer Théâtre Poche/GVE . Das dabei entstandene Stück »SapphoX« ist ihr erster Theatertext.


Myriam Saduis Myriam Saduis, geboren 1961 in Dijon, ist in erster Linie Schauspielerin und Regisseurin. Nach einem Schauspielstudium am Institut Supérieur des Arts (INSAS ) in Brüssel arbeitet sie zunächst jahrelang als Interpretin, bis sie sich mit ihrer eigenen Compagnie Défilé auf die Regiearbeit konzentriert. Parallel zu ihrer künstlerischen Tätigkeit gibt sie 15 Jahre lang Theaterworkshops in psychiatrischen Einrichtungen. In ihren vielfach ausgezeichneten Regiearbeiten adaptiert sie häufig Prosatexte (z.B. von Ingmar Bergmann, Hannah Arendt oder Nicole Malinconi) für die Bühne. Für »Final Cut«, ihren ersten eigenen Theatertext, erhält sie 2019 den belgischen Kritikerpreis Prix Maeterlinck.

325


Gwendoline Soublin Gwendoline Soublin (geboren 1987) ist Dramatikerin und Schauspielerin. Nach einer Ausbildung zur Drehbuchautorin in Nantes und einem Schauspielstudium in Paris arbeitet sie zunächst als Interpretin und Kunsttherapeutin. Von 2015 bis 2017 studiert sie Szenisches Schreiben an der ENSATT in Lyon. In der Spielzeit 2017/18 ist sie Hausautorin am von dem Dramatiker Fabrice Melquiot geleiteten Genfer Kinder- und Jugendtheater AmStramGram. Ihre Texte, die sich sowohl an Kinder und Jugendliche wie auch an ein erwachsenes Publikum richten, wurden vielfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Texte (Auswahl) SWANY SONG PIG BOY 1986-2358 ON DIT QUE JOSEPHA QU’ON VA OÙ ? COCA LIFE MARTIN 33 CL VARICELLE VERT TERRITOIRE BLEU TOUT ÇA TOUT ÇA SEULS DANS LA NUIT BLEU ÉLECTRIQUE

326

UNE POULE SUR UN MUR


Rechtenachweise

327

Olivier Choinière Manifest der Jungen Frau Originaltitel: Manifeste de la Jeune Fille © Atelier 10, 2017 Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel beim Übersetzer.

Alex Lorette Dream job(s) Originaltitel: Dream Job(s) © Lansman Éditeur, 2019 Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Christa Müller und Silvia Berutti-Ronelt bei den Übersetzerinnen.

Claudine Galea Dunkeltunke Originaltitel: Noircisse © Éditions Espace 34, 2018 Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Yasmine Salimi bei der Übersetzerin.

Sarah Jane Moloney Sapphox Originaltitel: Sapphox © Sarah Jane Moloney Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Frank Weigand beim Übersetzer.

Julie Gilbert Wutströme Originaltitel: Outrages ordinaires © Passages, Libres courts au Tarmac, 2019 Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Mira Lina Simon bei der Übersetzerin.

Myriam Saduis Final Cut Originaltitel: Final Cut © Myriam Saduis Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand bei den Übersetzern.

Annick Lefebvre Stacheldraht Originaltitel: Les Barbelés © Dramaturges Éditeur, 2017 Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Sonja Finck bei der Übersetzerin.

Gwendoline Soublin Und alles Originaltitel: Tout ça Tout ça © Éditions Espace 34, 2019 Aufführungsrechte der deutschen Übersetzung von Corinna Popp bei der Übersetzerin.


SCÈNE 22 ist ein Kooperationsprojekt des Bureau du Théâtre et de la Danse/Institut français Deutschland mit der Vertretung der Regierung von Québec, Pro Helvetia – Schweizer Kulturstiftung und Wallonie-Bruxelles International (WBI). Mit freundlicher Unterstützung des Institut français, des französischen Ministeriums für Kultur/DGCA, der SACD (Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques), der Französischen Botschaft in der Schweiz, des CEAD (Centre des auteurs dramatiques), der Société Suisse des Auteurs (SSA) und von ARTCENA (Centre national des arts du cirque, de la rue et du théâtre). Institut français Deutschland Bureau du Théâtre et de la Danse Wilhelmstr. 69 10117 Berlin Tel. +49 (0)30 – 590 03 92 47/48 btd@institutfrancais.de www.institutfrancais.de/btd www.facebook.com/btdif


»Mir wird niemand den Horizont verengen.« Claudine Galea: Dunkeltunke

»Wie lange habe ich noch?« Annick Lefebvre: Stacheldraht

»Als sei ich ausradiert worden.« Myriam Saduis: Final Cut

»Ich habe in meinem Leben mindestens zwei Revolutionen mitgemacht, also fick dich ins Knie.«

Olivier Choinière: Manifest der Jungen Frau

»Sie sind hier, weil Ihr Arbeitgeber beschlossen hat, Sie zu entlassen.« Alex Lorette: Dream Job(s)

»Ist es besser, zu hoffen, dass man etwas verändern kann?« Julie Gilbert: Wutströme

»Es geht um die fehlenden Wörter.« Sarah Jane Moloney: Sapphox

»Widerstand, das ist so eine Art Superheldenarbeit ...« Gwendoline Soublin: Und alles


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.