B. K. Tragelehn – Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter.

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üt t h c S r e t e Hans-Di

N H E L E G A R T . K . B . z r u Im St . a J g a S . r e t i e w h Ge


Kurz nach dem Mauerbau 1961 kommt es zum Skandal, der DDR-Theatergeschichte schreibt: B. K. Tragelehn hatte Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ mit Studenten der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst inszeniert: das Dorf als Welt – die mehr ist als das, was eine zensierende Partei darunter verstehen will. Die Aufführung gilt sofort als „konterrevolutionär, antihumanistisch“, sie wird verboten. Tragelehns Strafe: Tagebau. Neuerliche Inszenierungen, neuerliche Verbote. Ausweg Westen: Theaterarbeit in Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg, Westberlin. Er übersetzt elisabethanisches Theater, avanciert zum Regisseur mit den meisten MüllerInszenierungen im deutschsprachigen Raum, schreibt Gedichte. Über dreißig Jahre Regie und Poesie: Spurensuche in den Rissen der ostwestlichen Gesellschaft – bis das Eis der Globalisierung über die wundpolierten Weltbilder schrammte und einmal mehr und unwiderruflich den Kern aller Zeit offenlegte: Kampf. Als Brechts letzter Meisterschüler hat Tragelehn das gelernt, was ihn wohl auch sein bester Freund Heiner Müller lehrte: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein trainiert. Mit unverhohlener sächsischer Breitguschigkeit. Die Gespräche mit Hans-Dieter Schütt offenbaren das wunderbare simplizistische Talent: "Zwei Stühle kaufen/ Und sich dazwischen setzen."


Hans-Dieter Schütt

B. K. TRAGELEHN Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. Mit einem Essay von Friedrich Dieckmann Nachwort von Josef Bierbichler



Nieder mit den Unterdrückern und ihren Engsten Erfüllungsgehilfen Den Unterdrückten!

Kurt Bartsch

Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Carl Schmitt

Ich frage die große Erde Das unendliche Blau: Wer beherrscht Werden und Vergehen?

Mao Tsetung

(übertragen von B. K. Tragelehn)

Ich habe es mir zur Regel gemacht, nie mehr als eine Zigarre gleichzeitig zu rauchen.

Mark Twain

Überall, wo man stehen kann, kann man auch sitzen.

Walter Benjamin


Herr Tragelehn, was finden Sie liebenswert am 20. Jahrhundert? Die

viele vergebliche Hoffnung. Sie stehen einer Weltregierung vor: Was

würden Sie sofort abschaffen? Die Regierung. Sollen sich die Leute

doch selber regieren. Mit welchen drei Begriffen charakterisieren Sie

Deutschland? Schwarz Rot Senf. (Aber ich hab es auch ohne gefressen).

Was ist für Sie Heimat? Die Sprache. Das Ziel Ihrer Traumreise? Ein an-

derer Stern. Wovor haben Sie Angst? Vor mir. Mit welcher Persönlich-

keit der Geschichte würden Sie gern in Briefwechsel treten? Sehr ver-

führerisch der Vorschlag – aber lieber nicht. Was ist ein wunder Punkt bei Ihnen? Früher der Jähzorn, jetzt die Müdigkeit. Langeweile? Ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Welche Kunst würden Sie gern beherrschen? Klavierspielen. Welcher Kinoheld steht Ihnen am nächsten? Der Mann, der die Frauen liebte. Vom Tropf zum Licht, ein schöner Tod. Welchen Zeitgenossen würden Sie für Verdienste um die Menschheit auszeichnen? Die unbekannte Oma. Aus einem Fragebogen

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Hans-Dieter Schütt

ZUVOR

Immer wieder ist es nicht zu umgehen, um irgendwo, wo immer, anzukommen, einen Umbogen zu machen. So heißt der Umweg im Sächsischen, in dem ich aufgewachsen bin. B. K. Tragelehn

Dieses Buch gibt es schon. Wie es alles schon gibt. Tragelehn grinst. Nein, nicht. Aber eines ist wahr: Er ist im Dauererzähldienst, seit eh und je. Er schaufelt Material, um und um. Das Sofa lädt ein, der Schaukelstuhl, der Kaffee, das Tablett mit den Keksen, an der Wand ein Holzstück aus Estland. Schwung, Wind, Bleiche. Mitbringsel von der Insel Saaremaa vor der Rigaer Bucht, wo Tragelehns jahrelang ein schlichtes Häuschen bewohnten. „Die sommerliche Auszeit von Berlin wurde von Jahr zu Jahr länger. Der Sachse in der Verwandlung: zum Fischkopp. Im Sommer 1992 war Estland autonom geworden, russische Juden kamen nach Berlin, sogenannte Kontingentflüchtlinge. Meine Frau half. Die betreffende Familie aus Moskau machte uns, gewissermaßen als Dank, auf das Häuschen aufmerksam, dort hätten sie immer Urlaub gemacht. Mit dem Schiff fuhren wir nach Helsinki, rüber nach Tallinn, dann auf die Insel. Die russischen Atomraketen standen noch, man konnte die Standorte sehen.“

Man sieht in solchen mitgebrachten Dingen, was man nicht mehr ist. Den längsten Atem beim Erzählen, was einem Leben so blüht, haben hier die verschiedenen Trockenblumensträuße, wie Botschafter aus Landschaften, wo das Gras der Schilfzähen wächst. Wo man sieht, dass Biegsamkeit schön aussehen kann. An den Wänden auch Tragelehn selbst, von Malern und Grafikern porträtiert, auch eine Bronze steht da von Karlheinz Schamal, der frühe B. K. Tragelehn und seine Frau, schöne junge Köpfe auf jeweils schmalem meterhohem Holzsockel.

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Christa Tragelehn: „Ich war gerade schwanger, der bildende, modellierende Künstler hat es sofort gesehen.“

Überhaupt: Christa Tragelehn. Ständige erste Beobachterin des Dichters. Sie sitzt dem Regisseur gleichsam im Pelz. Sie sieht heute schon, was er morgen endlich tun sollte. Oder nicht. Oder endlich mal wieder. Es gibt Tätigkeitsfelder, für die in der gesamten Gesellschaft weit mehr Leute benötigt werden, als Talente vorhanden sind. Ärzte gehören dazu, Lehrer, die Sozialarbeiterschaft. Mangel an Einfühlungsvermögen aber produziert vielerorts Sacharbeiter, wo es doch um Menschen geht. Christa Tragelehn, dieser praktische Büchermensch, jahrelang Gefährtin ohne Reisepass, also Ehefrau und Mutter allein im Osten Berlins, besitzt dieses Vermögen, ohne es je mit falscher Romantik zu besetzen. Oder mit wirkungsbewusster Fühligkeit. Sie muss nicht gesehen werden, sie muss nicht auffallen. Sie wird gesehen und fällt sofort auf. Sie hat eine sehr spezielle Auffassungsgabe für Strukturen. Ob die nun geschaffen, bewahrt oder verändert werden müssen. Es hat auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Theater zu tun. Diese Reibungslosigkeit, sich sowohl einzuordnen als auch auszuscheren; dieser Blick für die absolut günstigste Route mitten im Gewühl, so, als schaue jemand von sehr weit oben auf einen Schnittmusterbogen. Auf diese Weise ordnet sie Räume. Eine wahre Dramaturgin. Sie gibt – und fragt nicht zu früh nach dem, was man zurückbekommen könnte, sollte. Das ist die wahre Rücklagenbildung. Alle anderen zaubern mit ihrem Gewerbe. Sie zaubert mit sich selbst und für andere. Also: eine Wohnung, in der man sich wie zu Hause fühlt und zudem noch ermuntert wird, sich so zu benehmen. Gelegen in einer dieser großen Berliner Alleen in Prenzlauer Berg, die sich beispielhaft ruhig vom Zentrum entfernen. In dieser Wohnung der Bücher und Zeitschriften, der Berge und Stapel geht vom Halbdunkel ein seltsames Licht aus, es wärmt, ohne einem etwas aufdringlich über die Schultern zu legen. Hier kommen alle sofort überein: Was wir auch tun, wir stören den Kater nicht.

links: Christa und B. K. Tragelehn bei einer Veranstaltung der FDJ-Lyrikwelle im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität Berlin, 1963

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Zum Gespräch gehören Zigarre, der griffbereite Gehstock, Pantoffeln, baltischer Wodka vom Feinsten, eine feine dünne Tasse mit sehr altem Sprung, der inzwischen offenbar das Kleinod an der Tasse ist – mit den Jahren werden Verluste unser kostbarster Besitz: der Sprung in Schüssel, Tasse und Erinnerung. Das Witzige also, der Fehler im System. Dazu Küchengeräusche, Christa Tragelehn lacht. Ich frage mich, worüber sie draußen lacht, während ihr Mann hier im andern Zimmer erzählt, raunt, brubbelt, feixt. Oft fahre ich zu Gesprächen hierher, meist nachmittags. Die Wolken ziehen am Fensterausschnitt vorüber, wir schauen und wissen, sie hätten ganz anderes zu erzählen als das, was wir wieder und konservieren.

Die Gesprächspartner der Zeiten sitzen gleichsam mit am Tisch. Thomas Irmer, Falk Strehlow, Nikolaus Merck, Irene Bazinger, Holger Teschke, Jakob Hayner, Harald Müller, Janine Ludwig, Stephan Brockmann, auch Jens-Fietje Dwars, Tragelehn besonders zugetan, dieser Jenaer Verleger all der Entlegenen, all der vom Großwirkungskreis Abirrenden. Tragelehn hat sein Werk parat. Er ruft auf, fügt Uraltes zu Altem, mischt neu. Er ist ständig beim Wiedersortieren, Neuredigieren – Gedichtbände jüngster Drucklegung etwa enthalten laufende Korrekturen, das ist ein nicht endendes Verändern, Verwerfen, es wird gefeilt und geputzt; und so sind beim Fragen und Antworten eben stets auch frühere Gespräche und Interviews mit einbezogen. Tragelehn ist fortwährend mit Collagierung seiner selbst beschäftigt, das hält die Werkstatt am Laufen, das hat eine spielerische Ehrlichkeit: Material bleibt Material. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte (auch so ein wichtiges Wort für ihn), und jede Vorgeschichte folgte einer Vorgeschichte, so dreht und wendet sich alles und endigt in weiteren Vorgeschichten, und wer alles von Tragelehn weiß, wird doch nicht genug bekommen. Wenn er nach Worten sucht, sucht er nach Tagen und Jahren. Er mag Wörter. Zum Beispiel: „zusammenschrauben“. Mit geschickten Kniffen etwas fugen, das hält. Aber dass etwas halten wird, heißt auch nur: Den Verfall halten wir nicht auf. 8


Wo ein respektabler Geist deutscher Theatergeschichte nicht mehr zum Kanon einer von Effekt und Erneuerung bestimmten Gegenwart gehört, nenn’s Generationenwechsel, nenn’s Innovationsschub, nenn’s kaltes Abgleiten in die Theaterhistorie – dort jedenfalls möge auf Inseln der Besinnung nach den alten Erzählungen und Erfahrungen gefragt werden. So kommt es zu diesem Buch. Rundender Draufblick. Es liegt Erlebtes vor, was wer damit anfängt, bleibt Vermutung.

Kurz vor dem Mauerbau hatte der 1936 in Dresden geborene B. K. Tragelehn Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ mit Studenten der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst inszeniert. Kollektivierung und Klassenkampf; das Dorf als Welt die mehr ist als das, was eine diktatorische Partei darunter verstehen will. Die Aufführung gilt sofort als „konterrevolutionär, antihumanistisch“, sie wird verboten. Das ist Tragelehns erste Erfahrung mit Leuten, die auseinanderschrauben müssen, um sich als Aufklärer zu fühlen. Die in kategorisierbare Einzelteile zerlegen müssen, was sich für eine Idee zusammentut. Regal statt Welt. Tragelehn passt nicht in die Schubladen der sozialistischen Horch-und Guckkastenbühne.

Im Westen dann (Theaterarbeit in Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg, Westberlin) übersetzt er maßstabsetzend elisabethanisches Theater, avanciert zum Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, und seine Übertragungen etwa von Auden, Shakespeare-Liedern und chinesischen Gedichten folgen der einzig wünschenswerten Freiheit: Es geht um die schöne Bodenlosigkeit der Vorstellungskräfte. Über dreißig Jahre Regie. Er hat in den Rissen der ostwestlichen Gesellschaft jene Zeit blendender Illusion überdauert, die sich bei Linken eine Weile lang, in großer Langeweile, Hoffnung nannten - bis das Eis der Globalisierung über die wundpolierten Weltbilder schrammte und einmal mehr und unwiderruflich den Kern aller Zeit offenlegte: Kampf. Der Mensch treibt, was ihn treibt: Die Lust ist der Nachbar des Todes. Und „Sozialismus“? Von dem wird bleiben, was B. K. Tragelehn früh an die Nieren ging. Sein Theater gehörte dazu, gehörte zu ihm, seinem Schmerz aus besagter

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Lust an der Welt. Vor allem ihrer Veränderung. Weshalb dieses Theater eben lange nur im Westen stattfinden durfte. Wo die Verhältnisse freier, nicht besser waren. Und nach 1989? Erneut nur Westen, die Welt hatte sich einmal gedreht. Entfesselung war angesagt, weniger freilich Entfaltung. Erde: bleibender Ort des gierigen, aber entleerten Menschen.

Er ist ein Regisseur, der immer auch schrieb. Bei Theaterproben entstehen Gedichte, gewidmet etwa Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz, Josef Bierbichler, Peter Brombacher. Tragelehn, der Poet: die Bosheit so freundlich; die Skepsis so kreuzfidel; der Ausbruch so sanft. Was rauschhaft werden will, durchknetet er mit Nüchternheit. Alle Texte, will man sie denn auf einen Nenner zwingen, hinterlassen seltsamverwirrende Benommenheit. Poesie hat unterm Lärm ihre Höhlen. Das Dunkel dort: ein Gegenlicht.

Der Regisseur und Dichter, auf einem frühen Foto neben Lehrer Brecht sitzend: ein Wesen zwischen aufsaugender Strebsamkeit und listigem Versteck hinter Ingredienzen der Ordentlichkeit - biedere Frisur und Hornbrille. Am Ende, also ziemlich rasch, ist dann doch der wahre Tragelehn draus geworden: eine mit fülligem Witz gepanzerte, sehr originäre Brecht-Kopie, Zigarre und Schwejk in den Mundwinkeln, der Bart unordentlich, das Denken in kurze, geradezu kristalline verdichtete Verse getrieben. „Der Sohn beschreibt wie der Vater/ Stalins Bild aufhängt und abhängt/ Anschreit im Spiegel den Fremden/ Ich will allein sein Die Enkel/ Jeder für sich was sehen wer sieht sie/ Zerbrechen Bilder und Spiegel/ Die Scherben krönen die Mauern/ Oder öffnen Adern“. Was der Regisseur in den Jahren arbeitete, ist zu verschiedenen bildlichen, akustischen, textlichen Dokumenten erstarrt. Das Schicksal allen Theaters. Werden und Vergehen als Gleichzeitigkeit, „dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Nachwelt, das ist schon die Sekunde, die der jetzigen folgt. Die Gedichte aber, die er schrieb, sie fragen weiter. Den Dichter Tragelehn lesen heißt: Verse erfahren über unsere 10


Stimme, wenn wir sprachlos sind. Variationen der Distanz zu Zeit und Geschehen. Nachsicht und Unnachgiebigkeit im richtigen Verhältnis. Verteidigungsreden für jede Narrheit, die das Leben ist - wenn es denn gehörig ungeschützt gelebt wird. Poesie als weitgeöffnete Tür zu einem Zimmer, das keinen Boden hat. Reiseführer zu den Zwischenräumen von Gegensatz zu Gegensatz. Jeder blühende, windwogende Baum ist bekanntlich die wahre Feier der Dichter. Aber dann kommt dieses Dichters Frage: Was wissen wir von der Unterseite der Blätter? Es gibt, von dieser Frage ausgehend, eine große Treue zu Bäumen, die nicht in den Himmel wachsen.

Elegien sind ihm ein bevorzugtes Genre. Elegien und Oden. Das Euphorische begegnet den Gefühlen von Abgesang und Nachklang; alle Wehmut hat ein Zwinkern. Als Brechts letzter Meisterschüler hat er das gelernt, was ihn wohl auch Freund Heiner Müller lehrte: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein trainiert, das kichernd daherkommt. Als unverhohlene, dann wieder dezente sächsische Breitguschigkeit. Eine Wortspielernatur ist er. Er macht gern kräftige Sätze - direkt auf den Widerspruch zu, der ihm willkommen im Wege steht. „Jäte ich das Unkraut, verletze ich die Blumen./ Gieße ich die Blumen, pflege ich das Unkraut.“

Er weiß: Mit jedem Wort erschweren wir den Zugang zur Wahrheit. Tragelehn arbeitet dagegen an, alles in Floskeln zu pressen, alles Große rasant kleinzureden, nur um Sprachlosigkeit zu überbrücken und darüber hinwegzutäuschen, dass das Meiste tief in uns zeugenlos bleibt, alle Zeit. Er ging stets, Theater und Dichtung betreibend, beharrlich auf das zu, was sterblich hält. Er musste sich weltwärts erfahren, also in Verwitterung - der aber doch Schönheit abgewonnen werden kann. An Tragelehn perlt somit jene Selbstübertreibungstechnik ab, die das Individuum zu einer so glänzenden, so elenden europäischen Kopistennatur gemacht hat. Am Eis der Zeit erhitzt er seine Poesie. Die ist spiritueller Glanz überm Grau. Ist geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke. Er schreibt über Kämpfe. Im Bett und auf 11


Bühnen. Gegen Weiber und Welten. Für Weiber und eine bessere Welt. Ein Komödiant also. Fähigkeit ist ihm nicht alles, denn: Unfähigkeit kann die größere Gabe sein. Etwa das Unvermögen, einer Lage oder einer Sache just dann beizuwohnen, wenn die Mehrheit dafür stimmt. Oder Minderheiten ihre ganz eigene Empörungstyrannei versuchen. Es ist das simplizische Talent. „Zwei Stühle kaufen/ Und sich dazwischen setzen.“

Ein Transit-Empfinden stellt sich beim Lesen ein. Denken als Durchgangsstadium. Ein Transit, das du selber bist; wir haben alles hinter uns, nur uns selbst nicht. Und die Übersetzungen, die er schuf, geben nichts auf von der Kraft der Quellen. Tragelehns verdichtungspräzise Feinfühlung, vor allem hinein ins elisabethanische Zeitalter, lässt an Karl Kraus denken, Tragelehn zitiert ihn wohlbedacht: dass nämlich „kein Wort anders aussieht, als sein Inhalt klingt und dass jedes so schmeckt, wie es riecht“. Er sagt: „Das Besondere ist das Lebendige, das Allgemeine ist das Tödliche.“ So redet er über das einzelne Wort, das einzelne Gedicht, den einzelnen Menschen, das einzelne Leben, alles Einzelne, was die Welt trägt. Wenn wir in einer Epoche der Faktensucht leben, des Katechismus der Information, des Vertrauens in eine Wahrheit, deren Verbreitung mediale Wucht voraussetzt – dann ist dieser Tragelehn ein Vertrackter, dem es nicht um diese Art Wahrheit geht, sondern um die listigste poetischste Weise, beschriebener Auffassung vom Wahren nicht gerecht werden zu müssen. Die Editionen von Tragelehns poetischem wie theaterdenkendem Werk über die Jahre hin sind insbesondere auch das Einfühlungsprodukt von Herausgeber Gerhard Ahrens. Ein Dramaturg der belesenen Zuneigung. Ein präziser Anmerker und Aufbereiter. Bei Geleitworten, Kommentierungen, Textdramaturgien, in seiner berührend sachlichen Empfindungsart ist er dem Dichter sehr nah, rege und sorgfältige Notizen zu den Anlässen seiner Gedichte dokumentieren eine große Lust, sich zu Welt- und Literaturgeschichte jeweils das Eigene zu denken, aber das Werden der eigenen Verse nicht unabhängig von Tag und Zeitgeschehen zu betrachten. Tragelehns gesamtes Lyrikwerk erschien

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2021 in einer dreibändigen Edition im Berliner Verlag Vorwerk 8. Früher publizierte er im Verlag Stroemfeld/Roter Stern, der 2019 in Konkurs ging. Ein Ende, paradoxerweise oder gar zynisch begleitet vom Lebenswerk-Preis an den Verleger K. D. Wolff im gleichen Jahr! „Eine Konstellation, die auf den Grund deutscher Kulturpolitik sehen lässt“ (Ahrens).

Heiner Müller, der wiederkehrende Name: Tragelehn empfand ihn wie einen großen Bruder, der des jungen Regisseurs Leichtsinn und Jähzorn zügelte. Gerade bei der Arbeit an der „Umsiedlerin“. Ein Grundlagenstudium fürs Leben als Außenseiter. Wegen einer Hoffnung, die im Gesinnungschor gesungen werden kann, hat Müller nie das einsame Einverständnis mit der Verzweiflung verraten. Seine Poesie zog - schwer und genau gelotet - stets hinunter zu jenen wahren Gründen, die das Nichts erhellen, erzählen, erwärmen. Und doch waren da Farben einer Utopie konserviert. Die „wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht, das Gesicht der Freiheit“. Mit diesem MüllerGedanken im Gefühl hat Tragelehn stets Theater betrieben. Kunst wie eine „wütende Liebe“ zur Alternative, die überkommt dich „wild wie die Umarmung einer totgeglaubten/ Herzkönigin am Jüngsten Tag“ (Müller).

Im Herbst 1989 kehrt der in den Westen gedrängte Tragelehn in die DDR zurück, nun selber ein Umsiedler, der am Umbau teilnehmen möchte. Als sich die Einheit auf uns stürzt, überstürzt, entdeckt der Dramatiker zufällig ein Stückmanuskript, das er vor Jahrzehnten für die Schublade geschrieben hatte. Nun, zur endlichen Drucklegung, setzt Tragelehn ein Motto davor, aus einem Geschichtsbuch von 1874: „Wussten sie am Ende noch, dass sie einmal begonnen hatten mit einer Aufgabe? Die Spur im Gedächtnis war zugeschüttet. Sie hatten sich eingemauert. Sie wurden belagert. So lebten sie hin, die Belagerung dauerte, es schien das Normale zu sein. Schließlich gaben sie auf. Am Ende standen sie zusammen mit den Siegern im Freien. Vor der Aufgabe.“

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Aufgabe? Der Doppelsinn. Eine Aufgabe angehen, aber das Aufgeben mittrainieren. Das ist der Adel des Waffenlosen.

Heiner Müller. 1995. Vorletzter Tag des Jahres. Da geht einer, geht für immer. „Über den mit Schnee bedeckten Berg / Ich sehe ihn um den Felsen verschwinden / Ich sehe seine Spur / Verschwinden im fallenden Schnee // Die Spur seiner schreibenden Hand / Vor meinem Auge / Schwarz auf weiß Krieg ohne Schlacht / Dauernd“. Ein Gedicht Tragelehns zum Tod Müllers, „Der Abschied“. Wahrer Abschied geschieht nur in jenem Verlust, der dem Überlebenden an den eigenen Leib geht. An Leib und Seele. An den Körper, diesen Seelensitz - der zwangsläufig ein verletzlicher, unsicherer Ort bleibt, wenn die Seele es denn durchhält, ein Wachorgan zu sein. Kalt gegen Verheißungen, heiß auf Verhängnisse. Im Elend der Realität verbrennen dich die Verheißungen, die Verhängnisse lassen dich gefrieren - also muss befreiendes Spiel her, wo der Unmut über die unterdrückende Welt und die Anmut, sie zu überschreiten, ein Paar bilden. Theaterspiel. Und so erzählt Tragelehn, und die Galerie ist von guten Leuten belebt, und ich empfinde Glück, Freunde des Regisseurs ins Boot zu locken. Freundschaft ist auch Kopfarbeit, die sich mitteilen möchte. Wo und mit wem man auf Tragelehn zu sprechen kommt, ich habe es ausprobiert, hellen sich die Mienen auf. Es ist plötzlich Gelegenheit da, auf gute Weise miteinander zu reden. Erlösung wird ein naheliegendes Wort. Und zwar Erlösung vom Gram, dass man fällig werden könnte für die Grobheit. Überrascht hält man vieles wieder für möglich. Unzeitgemäßes, so lange nicht mehr empfunden. Reden über Kleines, Großes, die gelogenen Unterschiede gibt es nicht mehr. Gespräche, in denen kein Platz ist für die Frage: Und womit verdienst du dein Geld?

Zwei auch hier im Boot. Friedrich Dieckmann und Josef Bierbichler.

Friedrich Dieckmanns ausschwingender Aufsatz für dieses Buch, über den Freund B. K. T.: wie alle Essays dieses Autors – sie ziehen hinaus, unterm Diktum eines Themas; dieses Thema steht fest, aber dann wird rasch ein Auszug ins Freie daraus, nicht ins Ungebundene, jedoch 14


ins Höhere oder Tiefere, ins Raumzeitliche, das solche banalen Unterscheidungen nicht mehr anstellt. Ihn zu lesen, ist eine schöne Arbeit, es ist wahre Vergnügung, die etwas kostet, um sich auszuzahlen.

Dieckmann: selber ein Teil von Theaters Geschichte. Bezeugender Geist erster Strahlung. Bewundert habe ich früh seine Kritiken, lange Texte, selbstredend, eingeteilt in Kapitel mit römischen Ziffern, wie es Kerr tat; sie erschienen in der DDR-Tageszeitung „Neue Zeit“, und eine dieser Kritiken doch tatsächlich in Fortsetzungen!, was für Zeiten, als man in Chefetagen noch nicht infiziert war von jener Modekrankheit, die über Wohl oder Wehe einer Auflage entscheidet: nämlich, dem Leser möglichst wenig Mühe zu bereiten, ihn nicht stolpern zu lassen über unebene, hakenreiche Stellen eines Textes. Wie hielt er seinen freien Geist durch, der auch im Tragelehn-Essay schwingt, und der auch jetzt noch Widerstandsarbeit genug hat, weit nach dem Ende der DDR, oder, wie Dieckmann schrieb, nach dem Ende „jenes plebejischsozialabsolutistischen Biedermeiers, in das sich die Erwartungen des historischen Morgenrots verwandelt hatte“.

Der Sohn des einstigen (beliebten!) Volkskammer-Präsidenten Johannes Dieckmann, der 1937 in Dresden geboren wurde, dort und in Birkenwerder aufwuchs, Germanistik und Physik studierte, einige Jahre Dramaturg am BE war, zu Zeiten von Ruth Berghaus - er hat klug Differenzierendes über den Sicherheitstrakt Sozialismus geschrieben, er ist der wohl bedeutendste Essayist, der aus diesem staatlichen Zustand hervorging, aus diesem östlichen Deutschland, das sich dem westlichen „einbeschrieb“. Ja, auf solche Worte stößt man. In einem anderen Text las ich: „gemachsam“. Abenteuer Sprache. Allein im Freigeist findet's wirklich statt. Er lebt sein Schreiben, es lebt ihn. So empfangen beide Stütze. Dieckmann sprach mal von jenem typisch Deutschen: der „Erstarrung des Ganzen in einer haltlosen Balance, einem eingefrorenen Widerspruch“. Der Osten gab seine Geheimnisse auf, der Westen brauchte keine. In diesem Frost betrieb Tragelehn sein Theater, seine Poesie. Aus der besorgten Ostfrage, wieviel Freiheit die Kunst brauche, wurde

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die besorgte Westfrage, wieviel Freiheit die Kunst vertrage. „Erweiterte Freiheitsräume bedeuten auch Motivationsschwund, das ist das, was dich in der Freiheit der Entfremdung ereilt. Du musst aufpassen, dass du nicht diffuser wirst.“ Sagt Tragelehn. „So weit sind wir doch: Von Moderne darf überall dort gesprochen werden, wo einer sagt: Versteh ich nicht!“

Ich denke an den Moment, da Dieckmann, vor vielen Jahren, bei der Präsentation eines Buches von Adolf Dresen den Regisseur bat, eine bestimmte Erzählung zu lesen. Es war die Erzählung vom Zirkus des Altmärkers Heilig, der sich von der sozialistischen Kulturpolitik weder qualifizieren noch liquidieren lässt, dessen missliebig beäugte Privatbühne „unausrottbar“ bleibt in ihrer volkskünstlerischen Bodenständigkeit. „Heiligs Liquidierung“ entstand um 1960 herum, und wenn Dresen später von der entscheidenden, letzten künstlerischen Hoffnung seines Lebens sprach („dass ein Stück echter Dichtung sich auf keine Philosophie der Welt reduzieren lässt, dass da immer etwas überschießt, was durch keine Interpretation zu zähmen ist“), so schließt sich ein Kreis, der mit Tragelehn zu tun hat, gerade mit diesem, Anfang der Sechziger, da dieser Regisseur auf die folgenreiche „Umsiedlerin“ zusteuerte und seine ersten Gedichte schrieb. Wie sich Dresens Zirkusund Jahrmarktsmensch Heilig als eine Existenz gegen die grobe Verstaatlichung kräftig-unbekümmerten Volks-Theaters behauptet, so hat sich auch Tragelehn stets gegen einen ideologischen Zerstörungsdruck gewehrt, der seine Arbeit von Beginn an begleitet hat. Die wunderbar unkrautige Lebenskraft dieses Provinz- Barden Heilig, von Dresen notiert, von Dieckmann an einem öffentlichen Abend aufgerufen - in Sachen Tragelehn ist das eine so gar nicht abwegige Assoziation: Poesie, die ganz aus dem Irdischen kommt; Identität, deren Kraft von Tradition gespeist wird. Man fiel irgendwann aus dem offiziellen Kanon, weil die Ensembles an Gewicht verloren, aus Ensemblebildnern wurden Machthaber an den blitzenden, nun rostenden Hebeln des Apparats.

Das Nachwort zu diesem Buch hat Josef Bierbichler geschrieben. Ein Tragelehn-Spieler. Einer der irdischsten. Bierbichler kann nicht ab-

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heben, um die Welt von oben zu sehen, von wo alles viel schöner aussieht, manchmal sogar verführerisch schön. Es zieht ihn immer wieder, wenn es ihn auf eine Bühne zieht, hinunter. Dorthin, wo es eng wird mit den Ausflüchten. Also dorthin, wo „das Unbetreute in der Welt“ seinen Platz hat. Sagt Bierbichler.

Just im Wissen ums Enge ist der Mann aus Bayern, Jahrgang 1948, das Urbild eines Menschen, der prunkend in sich ruht. Ein Gastwirtskönigsohn. Ein Waldbesitzer. Ein Holzfäller. Ein Schauspielhüne, der als Tschechows Lopachin (bei Zadek) die Liebe suchte, als Horváths Kasimir (bei Marthaler) die Liebe opferte. Wo andere seiner Statur grobschlächtig sind, ist er grobschmächtig. In schönster Wucht ein Zarter. Bei Tragelehn war er Totengräber, Galilei, Krapp.

Schauspieler wurde er, „weil ich mir zu wenig war“. Aber auch, weil er keine Arbeit haben wollte, der man die Mühe ansah, sie zu tun. Listigfreches Lob der Faulheit. Er ist am Theater – besonders in München und dort sehr eingeladen von Tragelehn – ein proletarischer Provokateur gewesen gegen alles, was nach CSU aussah. Er ist kein Kunstweltgenüssling, kein Verwandlungsgieriger. Für Aura reicht ihm eine Bewegung seiner Schaufelhände. Ein Anarch aus den schwarzen Wäldern, mit einer erschütternden Lakonik und einer hochprozentigen Kunstlosigkeit. Ein einsamer Gegenentwurf zur Gruppendynamik eines Verstellungs-Betriebes, in dem sich Fertigkeitsvirtuosen für fremde Texte feiern lassen. Bierbichler zog sich stets aus diesem Betrieb zurück, man sah dem Spiel diesen Rückzug an.

Einmal, in einem Film über ihn, singt er mit hoher, zitternder, hauchdünner, schwebender Stimme Heiner Goebbels’ „Eislermaterial“, singt das Lied, das zum Holzhacken und zum ganz großen Frieden passt: „Anmut sparet nicht noch Mühe“. So begründet Bierbichler seine Entscheidung gegen den Wirbel des Geschäftigen, das uns aufzehrt, indem es uns an lauter eingebildete Wichtigkeiten wie an einen Gifttropf anschließt: Er möchte sich an die Einsamkeit des Sarges erinnern, solange er noch am Leben sei. Lächelt zum Weißbier. „Der nahe Tod ist sehr erhellend.“ 17


Tragelehn über ihn: „Nachdenken ist der Grundgestus dieses Schauspielers, dem er alle Gesten, das Material, aussetzt. So sind sie einer Versuchsanordnung unterworfen. Er korrigiert sich, auch mitten in der Aufführung, nicht immer zur Freude der anderen.“

B. K. Tragelehn besitzt das triebige Phlegma desjenigen, dem sich alle Tragik - auch der eigenen Erfahrungen - stets lebensrettend in die Komik drehte. Der zeitweilige künstlerische BE-Partner Einar Schleef hat das in seinem „Tagebuch 1964-1976“ drastischer ausgedrückt. Tragelehn habe eine „schwierig lahme Art ... auch zwischen uns arbeitet der Konflikt“.

Schwierig lahme Art? Es ist eine mit den Jahren gewachsene Geduld: das Arbeiten gleichsam als fortwährende Demutserklärung ans Wasser, das dem Fels so geschmeidig weicht, dass der nicht mitbekommt, dass es ihn weicht. Er ist frohgemut und frohgemütlich ein Beobachter von „Staaten auf Sand gebaut, also wozu Erdbeben“. Sagt's, grinst und stößt den Rauch seiner Zigarre sternenstubenwärts.

In unseren Gesprächen oft ein Innehalten und dann Tragelehns Satz: „Wie bin ich jetzt dahin geraten?“ Erinnerungen und Assoziationen im freien Auslauf, Vorlauf, Rücklauf, Fortlauf. Ja, manches lief fort, und wie war das eigentlich genau? „Ach, wie auch immer …“ Die Hand, die abwinkt, hält die Zigarre, sie ist das Zepter, und das regiert eine schöne Fahrigkeit des Erzählens. Fahrig: wie etwas, das in Fahrt kommt, fährt, sich frei bewegt. So wie nicht Gesundheit beglückt, sondern Gesundung, nicht Freiheit, sondern Befreiung, so beglückt nicht Sinn, sondern Sinnieren, nicht das Gedachte, sondern das Denken. Der Theaterregisseur zieht an seiner Zigarre und lächelt. Wieder ist Grinsen nicht weit.

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Friedrich Dieckmann

FREUND TRAGELEHN

Eine Langzeitbeobachtung

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Auf B. K. Tragelehn, den ich einfach Klaus nenne, blicke ich aus zwei Perspektiven. Die eine ist griffbereit: die Bücherperspektive. Ich steige auf die Leiter oder kniee mich auf den Boden, da sind sie, die Tragelehn-Bände, Gedichte, Übertragungen, Theaterschriften, auch ein Theaterstück ist dabei; es heißt „Die Aufgabe“ und nicht nur, weil darin von einer solchen die Rede ist, sondern auch, weil es sich um ein als Fragment aufgegebenes Werk handelt, das den Autor aus dem Innern des Stoffes so nah an immanente Aporien des sozialistischen Wirtschaftens heranführte, dass er es aufgab und das Ganze vergaß. Erst, als die Wirklichkeit dreißig Jahre später das Ende des Stücks geliefert hatte, fiel ihm das vergessene wieder ein; er fand das Skript in einem Winkel seines als umfangreich vorzustellenden Schreibtischs. Die im AufbauVerlag überlebende Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ druckte das Fragment 1994 mit einem Präludium von mir, in dem ich der Realgeschichte des Landes die Strukturen eines fünfaktigen Dramas nach dem von Aristoteles und Gustav Freytag formulierten Schema aus Exposition, Höhenpunkt und Peripetie unterlegte.1 Das funktionierte vollkommen und machte deutlicher denn je, dass es sich bei der untergegangenen sozialistischen Republik um ein Staatskunstwerk gehandelt hatte.

Im Innern dieses wohnlich-unwohnlichen Gebäudes war Tragelehn frühzeitig in das Theaterzimmer eingedrungen. Sich aus seiner Dresdner Oberschule (ich hätte, wäre ich in Dresden geblieben, dieselbe besucht) herauskatapultierend, hatte er in Berlin bei Brecht vorgesprochen und ihm das Ansinnen vorgetragen, bei ihm das Theater zu lernen, speziell das Brechtsche Theater, von dem der Achtzehnjährige durch ein Dresdner „Courage“-Gastspiel entscheidende Anregungen empfangen hatte. Brecht prüfte ihn, indem er ihn aus einer großen Serie von Szenenaufnahmen der von Ruth Berlau durchfotographierten „Mutter“-Inszenierung

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eine Auswahl treffen ließ. Tragelehn bestand die Probe, bekam den Rat, sein Sächsisch zu mildern und sich durch Shakespeare-Lektüre das Englische anzueignen, und wurde Meisterschüler der Akademie der Künste.

Davon und von allem weiteren wird in Hans-Dieter Schütts Buch noch hinlänglich die Rede sein, auch davon, wie B. K. Brechts guten Rat in einer Weise beherzigte, die sich auf meinem Schreibtisch in der imponierenden Gestalt von fünf großen, schöngedruckten Bänden mit Shakespeare-Übersetzungen aus dem Frankfurt-Baseler Verlag Stroemfeld/Roter Stern stapelt: drei Komödien („Maß für Maß“, „Was ihr wollt“, „Troilus und Cressida“), einem Trauerspiel („Romeo und Julia“) und einem Endspiel („Der Sturm“), sie alle im Anhang reich versehen mit Materialien und Kommentaren.

Ich schlage den „Sturm“ auf, er enthält auf 80 Seiten die Tragelehnsche Übersetzung, gefolgt von 200 Seiten mit Anmerkungen und einem Gespräch; darin findet sich auf zwei Seiten eine Beschreibung der Nachkriegssituation, die nicht bündiger vorzustellen ist: „Die Kommunisten, die nicht Hitler und nicht Stalin hatte umbringen können, waren nach Deutschland zurückgekommen, aus dem Exil oder aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern. In der SBZ, dann in der DDR, wurden sie die Lehrer, ja die Väter einer vaterlosen Generation. Hoffnung und Enttäuschung, Enttäuschung und Hoffnung in immer wiederkehrendem Wechsel, die schon ihr Leben begleitet hatten: das war es, was sie den Kindern vererbten. In einer Phase der Hoffnung, die auf den XX. Parteitag der russischen Partei, den Parteitag der Entstalinisierung, folgte, wurden in Deutschland neue Theaterstücke geschrieben und aufgeführt. ... Diese Stücke sind, eins nach dem andern, verboten worden. Aber einen Augenblick lang, ehe die Reformation der Arbeitermonarchie endgültig scheiterte, hat es so ausgesehn, als ob es eine neue deutsche Dramatik und, ihr folgend, ein neues Theater hätte geben können. Die Wirkung in der DDR war vulkanischer Art, zunächst unterirdisch. Die Zahl der Ausbrüche, kleinere und größere, nahm mit den Jahren zu. Nicht immer gelang es, die Löcher zu stopfen. Es schien dann oft so, 20


als ob nach und nach mehr möglich würde. Es wurde mehr möglich. Aber das lag nicht daran, dass die Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten etwa Einsicht erworben hätte. Sie wurde nur müde. Typisch der erschrockene Ausruf des Ideologie-Sekretärs Hager auf die Nachricht von einer Beckett-Aufführung in der DDR: Lassen wir denn jetzt schon alles zu! Da war es fast schon vorbei.“2

Außer den fünf Shakespeare-Bänden finden sich noch drei andere Elisabethaner bzw. Jakobäer an, Stücke von Christopher Marlowe, John Ford und dem Duo Thomas Middleton und William Rowley. Nach ihrem Abschied von RBI (Radio Berlin International), dem Auslandssender der DDR, dessen Mitarbeiterin sie jahrzehntelang gewesen war, aber auch schon vorher hatte Christa Tragelehn, B. K.s Frau, an allen diesen Bänden wesentlichen Anteil. In dem 70-Seiten-Gespräch, das Holger Teschke 2012 mit ihm führte, hat Tragelehn sich ein Wort von Peter Brook zu eigen gemacht, mit dem dieser Shakespeares anhaltende Modellhaftigkeit erklärt hat: „Was wir heute immer unter Autorschaft verstehn, sagt er, ist personal expression – und eben das bekommt man von Shakespeare nicht. Da redet das Leben selber...“3 Als B. K. in den siebziger Jahren mit dieser Übersetzungsarbeit begann, konnte ich ihm mit einem Erbstück, dem Großen Muret-Sanders, beispringen. Seine Gegengabe war kostbar: die beiden Auswahlbände, die Theodor W. Adorno im Suhrkamp Verlag 1955 mit Texten von Walter Benjamin herausgegeben hatte; Tragelehn hatte sie als Meisterschüler der Akademie für 52 DDR-Mark in der Berliner Karl-Marx-Buchhandlung erstehen können. Ich hatte damals von dieser aufsehenerregenden Edition gehört und Ernst Bloch, bei dem ich studierte, auf den Autor angesprochen: „Ein bedeutender Mikrologe“, war zwischen Tür und Angel die Antwort. Ich erfuhr es später: das Verhältnis dieser beiden hatte beträchtliche Ambivalenzen durchmessen, und finde bei Peter Zudeick die Präzisierung jener Bemerkung: „Benjamin hatte einen einzigartigen Blick fürs bedeutsame Detail“.4

Die Ausgabe, 1200 Seiten in zwei braunen Leinenbänden, war bahnbrechend für die Wirkungsgeschichte des bis dahin weithin unbekannten 21


Autors; sie ist bis heute grundlegend. Tragelehn hielt Benjamin mit Recht für den wichtigsten aller Brecht-Interpreten. Der Tiedemannsche Sammelband von 1970 enthielt dann weitere grundlegende BrechtKommentare, einschließlich der Svendborger Gesprächsnotizen von 1934 und ’38 mit Brechts auf Stalin gemünztem Wort von der „Arbeitermonarchie“, bei dem Benjamin es nicht bewenden ließ: „Ich verglich diesen Organismus mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fisches oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee zutage befördert werden.“5 Illusionen hatten hier keinen Raum mehr. „Das Denken von Benjamin“, sagte Tragelehn später im Rückblick“, „wurde für mich sehr schnell zu so etwas wie einem Richtpunkt, mit der Zeit sogar immer mehr.“6

II

Wann habe ich Tragelehn, den verhinderten Schulfreund (ich war mit meinen Eltern 1951 aus Dresden in die Umgebung Berlins verzogen), in den späteren sechziger Jahren kennengelernt? Ich hatte 1965 eine gewisse Wirkung erzielt mit einer eingehenden Kritik der allseits mit Lob überschütteten „Coriolan“-Inszenierung des Berliner Ensembles, in der ich Indizien beginnenden Niedergangs wahrgenommen hatte; das mochte Tragelehn, der letzte Brecht-Schüler, so einleuchtend gefunden haben wie viele andere, die der museale Umgang der Bühne mit ihrem Hauptautor verstimmte. Ich glaube, Friedrich Goldmann, aufgehender Stern am Komponistenhimmel des Landes, machte uns damals miteinander bekannt; er wohnte in der Ebertystraße 51 (warum habe ich mir die Adresse gemerkt?) als Untermieter von Tragelehns Schwiegermutter, an die ich von einer späteren Begegnung eine nachdrückliche Erinnerung habe. Tragelehn, seit der BE-Zeit freischaffend, hatte in Heiner Müller den Wahrer und Mehrer des Brechtschen Erbes erkannt und dessen Stück „Die Umsiedlerin“ an einer Berliner Studentenbühne zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt zur Uraufführung gebracht: wenige

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Wochen nach der Berliner Grenzschließung vom August 1961, die bald in einen Mauerbau überging. Die ideologischen Strafgerichte, die über beide, Autor und Regisseur, niedergingen, schrammten hart an der Verhaftung vorbei. „Für uns war das Ergebnis eine Befreiung, ja. Aber der Rückstoß stopfte uns das Lachen in den Hals zurück. Erstmal.“7 Müller überstand den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, Tragelehn die Braunkohle, in die er strafeshalber versetzt wurde; die Werktätigen, meinte die Partei, würden ihm das richtige Klassenbewusstsein beibringen. Peter Hacks verlegte die Vorgänge später in ein sagenhaftes Babylon, in das er einen aus Urartu stammenden Theaterfreund namens Ekbal eine Erkundungsreise unternehmen ließ. Dort angekommen und sich zu dem Höchstoberen Theatereunuchen verfügend, notiert der Reisende dessen Aussprüche, etwa: „Der schöpferische Prozess besteht in Folgendem: der Künstler studiert die Beschlüsse des Palasts und sucht Beispiele dazu.“8

Unversehens entdeckt Ekbal an der Backsteinmauer der Zitadelle einen Anschlag, dem er entnimmt, dass hier „ein neues Stück des (von ihm totgeglaubten) Mullah aufgeführt werde“, dessen Titel man als „Die Landfremde“ oder „Die Gastrecht Heischende“ übersetzen könne. In einem Kellerraum erlebt er Erstaunliches: „Verse von solcher Wucht waren auf dem babylonischen Theater bisher nicht vernommen und Szenen von solch tragischer oder burlesker Kühnheit nicht gesehen worden.“ Doch eine Rotte von Lanzenreiter beendet die Aufführung: das Unumstößliche Orakel hatte sich, „zum zweiundzwanzigsten Mal seit seinem Bestehen“, vernehmen lassen. Zu seinen Ehren versammelt der Verein „Eintracht“ seine Angehörigen und beschließt, „den Anlass durch Verstoßung des Mullah aus dem Verein zu feiern“. Der Mullah wird in die Nefud-Wüste verbannt, wo der von einem Dromedar vierteljährlich besorgte Postverkehr in die Hauptstadt minimal ist, da die dort stationierten Lanzenreiter weder schreiben noch lesen können. Da aber der Verbannte ständig Briefe an den Palast schreibt, tritt für das Postdromedar eine lebensgefährliche Überlastung ein, so daß der Postmeister den König demütig um die Freilassung des Schreibwütigen bittet. N (das ist Nebukadnezar) befindet: „Der Kerl wird laufen gelassen.“9 23


Man erkennt in dem Mullah unschwer Heiner Müller, im Verein Eintracht den Schriftstellerverband und im Unumstößlichen Orakel die Beschlüsse des Politbüros. Allerdings hatte Müller Berlin niemals verlassen.

Ging Tragelehn geläutert aus der Begegnung mit einem Brennstoff hervor, den Volker Braun später als eine Art Blumenerde bezeichnete? Dessen schwefliger Duft lag von jeher über den Städten des Landes, das über keine anderen Energiequellen verfügte; er nahm zu, als die Sowjetunion seit 1975 ihre Erdöllieferungen an die DDR wesentlich verteuerte. Tragelehn arbeitete im Klettwitzer Tagebau als Kipper und Bahnwärter; in den „Klettwitzer Elegien“, die in dieser Zeit entstanden, findet sich ein grimmiger Rückblick auf erlittene Anschuldigungen: „Stinkendefrechheitabgrundtiefdaseigne / Nestbeschmutztsichnichtentblödetscham- / loswiderlichesgiftverspritzt ... ... / Aus diesem Regen in welche Traufe? / Ich bitte um einen anderen Stern! / Such, Seele, das Land der Griechen!“10

1964 erwirkte Paul Dessau die Aufhebung des über Tragelehn verhängten Berufsverbots; dieser inszenierte an Theatern außerhalb Berlins und wurde 1967 Schauspieldozent an der Babelsberger Filmhochschule. Nach zwei Jahren endete diese Tätigkeit mit einem Eklat um Shakespeares Komödie „Wie es Euch gefällt“, die er mit seinen Studenten inszeniert hatte. Ist Tragelehn ein Spezialist für Theaterskandale? Am Berliner Ensemble, das sich unter Ruth Berghaus als Nachfolgerin der 1971 verstorbenen Helene Weigel neu formierte, kamen wir 1972 arbeitend zusammen; Karl Mickel, der gemeinsame Freund, der in die Leitung des Theaters eingerückt war, hatte Anteil an der Berufung. Ein umfangreicher Band über die Arbeit des Bühnenbildners Karl von Appen am Berliner Ensembles hatte mir den Weg zu einer Dramaturgenanstellung geebnet. Tragelehn für sein Teil wurde für die Inszenierung eines Stückes von Erwin Strittmatter engagiert, das 1952 einen klassenbewussten Blick auf das Dorfleben der Nachkriegszeit geworfen hatte. Es hieß „Katzgraben“ und hatte in all seiner Schablonenhaftigkeit das Interesse Brechts erregt, der dem Text im Frühjahr 1953 eine Inszenierung von phrasenlosem Realismus abgewann. Ihn von neuem 24


auf die Bühne zu bringen sollte Müllers verfemter „Umsiedlerin“ den Weg auf die Bühne bahnen.

An der Seite der Intendantin arbeitete die junge, kürzlich Mutter gewordene Ilona Freyer als Bühnen- und Kostümbildnerin an der Vorbereitung der Proben und war eines Tages Anfang September 1972 verschwunden, um sich mit Achim Freyer, ihrem Mann, wiederzuvereinigen, der es nach wenigen Tagen eines Volksbühnen-Gastspiels in Italien, an dem er als Bühnenbildner beteiligt war, nicht über sich gebracht hatte, das Land der Sehnsucht ohne Aussicht auf Wiederkehr zu verlassen. Guter Rat war teuer, ich fand ihn in Gestalt eines jungen Mannes aus Sangerhausen, dessen exzellente Bühnenbilddiplomarbeit – Arrangementskizzen zu Goldonis „Diener zweier Herren“ – ich ein Jahr vorher in Prag am Rande der dortigen Quadriennale, einer Weltausstellung des Bühnenbilds und der Theaterarchitektur, hatte zeigen können. Er hieß Einar Schleef, und ich brachte die beiden in meiner Wohnung am Friedrichshain zusammen; sie fanden Gefallen aneinander.

Als Ruth Berghaus mit dem ganzen Ensemble von einem MünchenGastspiel aus Anlass der Olympischen Spiele nach Berlin zurückkam, hatte Schleef, von dem Intendantenstellvertreter von Appen engagiert, schon eine Arbeit aufgenommen, die bald auch in die Regie eingriff. Die beiden verwandelten die Komödie über Verhältnisse, die als gelöste inzwischen historisch geworden waren (die Kollektivierung der Landwirtschaft hatte sich, anders als in andern sozialistischen Ländern, als eine Erfolgsgeschichte herausgestellt), in ein Volksstück, das einen westdeutschen Kritiker an Nestroy erinnerte. Tragelehn hatte Brechts Inszenierung als liebevolle Sittenschilderung in Erinnerung; für die neue Aufführung hatte er das Wort „Fibelbilder“ parat. „Daraus wurde bei uns so etwas wie ein Comicstrip ideologischer Bilder. Die Ideologie wurde nicht ausgespielt, sie wurde aufs Spiel gesetzt. Das war nicht mehr so liebevoll.“11

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III

„Katzgraben“ war ein Anfang, dem am Berliner Ensemble mit Wedekinds Pubertätstragödie „Frühlings Erwachen“ der Blick in eine bürgerliche Welt folgte, die Tragelehn und Schleef, inzwischen zum Regiedoppel geworden, fast ganz ihrer Requisiten entledigten: die Bühne war weiß ausgeschlagen und zum Zeichen, dass die hier verhandelten Dinge nicht auf eine zurückliegende Bürgerwelt zu begrenzen, seien von Möbeln weitgehend frei. „Wenn die eine Seite unserer Arbeit war, unsere Interessen gegen das durch Geschichte überlieferte Stück zu setzen“, beschrieb der Regisseur seine Intention, „so war die andere Seite, deutlich die Besonderheiten, Eigenheiten dieses ... Stücks herauszuarbeiten ... eine Einheit, die von dem Widerspruch lebt.“12 Mit einem Benjamin-Zitat wehrte er sich gegen die Verengung des Stücks auf die „Moritat von den ahnungslosen Flegeln und Backfischen, denen ein bisschen Aufklärung helfen könnte“; das Stück sei „das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der Kreatur“. „Die ist“, setzte der Regisseur hinzu, „eingesperrt in die Unnatur der gesellschaftlichen Verhältnisse.“

Den Ansatz, Probleme einer der dramatischen Beschreibung versperrten Gegenwart im Material kritischer Stücke aus zurückliegenden Zeiten durchscheinen zu lassen, verschärfte das Team vermittels eines Drei-Personen-Stücks aus dem Jahre 1889, in dem der Autor, August Strindberg, das von der bürgerlichen Gesellschaft tabuisierte Sexualproblem in den Keller eines Gutshauses verlegt hatte, wo die Mittsommernacht Diener und Herrentochter in eine ausweglose Liebesbeziehung treibt; beim Erwachen des sich durch ein Sprachrohr vernehmen lassenden Gutsherrn nimmt sie ein tödliches Ende. In „Frühlings Erwachen“ hatten die Regisseure die Schüler des Stücks von Berliner Oberschülern spielen lassen; in „Fräulein Julie“ wurde der Sommernachtstanz im Zentrum des Stückes wiederum an jugendliche Laiendarsteller gegeben. Dass die Zeit, in der alles das vonstatten ging, keine durchaus entlegene sei, deutete das Wernesgrüner Bier auf dem Küchentisch ebenso wie ein Schlager an, mit dem Nina Hagen gerade die DDR-Bevölkerung 26


einschließlich einer künftigen Bundeskanzlerin erfreut hatte: „Du hast den Farbfilm vergessen“.

Die Inszenierung, in deren Werden ich als stückbegleitender Dramaturg Einblick nahm, war nicht am Leitseil eines vorgefassten Konzepts entstanden, sondern in einem freien Proben-Miteinander, das die drei beteiligten Schauspieler – Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz und Annemone Haase – schöpferisch herausforderte. Auf dem sparsam bestückten Bretterboden hatte sich, fern allem psychologischen Naturalismus, ein gestisch expansives, expressiv geweitetes Spiel entwickelt, an dessen Ende die in ein weißes Ballkleid gewandete Julie auf einem Steg durch die Mitte des Zuschauerraums abging. „In dieser kleinen Gruppe war eine intime und intensive Zuammenarbeit möglich, ein Abweichen von, ein Ausweichen vor dem Theaterapparat“, beschrieb Tragelehn in dem Gespräch mit „Theater heute“ seine Regiearbeit. Die Beziehung zum Publikum nannte er einen „dauernden Wechsel von Anziehen und Abstoßen, eine Art Wechselbad. Die Wirkung basiert auf scharfen Kontrasten, auf Eintauchen und Herausreißen, auf Zerstreuen und Konzentrieren.“13

Konnte das gut gehen, nämlich in bezug auf die Zukunft einer Bühne, deren Intendantin auf dem Drahtseil zwischen Tradition und Erneuerung balancierte? Ihre eigene Regiearbeit stand im Zeichen der Emanzipation vom alten Modellbuch-Vorbild und war im Vorjahr bei Brecht-Gorkis „Mutter“ in Konflikt mit der Brecht-Erbin Barbara Schall geraten; Brechts Enkelin verstand Werktreue als Traditionsfixierung und setzte das von ihr verwaltete Urheberrecht als Druckmittel ein. In der so bezeichneten Gefahrenzone kam ich auf den Gedanken, das erwartbare Befremden eines einflussreichen Teils der Zuschauerschaft diskursiv zu entschärfen, indem ich für das Programmheft der Aufführung einen Dialog schrieb, in dem zwei Gesprächspartner – ich nannte sie A und B – sich in Für und Wider über die Inszenierung ergehen. Die Neuerer am Regiepult waren nichts weniger als entzückt; sie dachten sich das Programmheft nicht als Brückenschlag zum Publikum, sondern als Element der Konfrontation. Polarisierung der Zuschauer, wusste

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Tragelehn von Brecht, war das Kennzeichen echter Wirkung. Mit Schleef hatte er für das Programmheft eine nur von weitem bezügliche Geschichte aus dem Dekameron des Boccaccio ausfindig gemacht und verband sie mit einer surrealen Holzstich-Collage von Max Ernst; den Umschlag bildete die rot unterstrichene Strindberg-Seite eines vielbändigen DDRLexikons. Es gelang mir bei der Verhandlung über das Programmheft nicht, die Intendantin auf meine Seite zu ziehen, und es half auch nichts, das ich mich weigerte, das Heft der beiden Regisseure mit meinem Namen zu versehen; im Impressum stand: Dieckmann, Tragelehn, Schleef.

So nahm das Unheil ungepuffert seinen Lauf. Wie stark das Missfallen der SED gegenüber der Aufführung war, konnte man einige Tage später deren Zentralorgan „Neues Deutschland“ entnehmen; dort fragte sich der Rezensent, der von Beruf Dramatiker war: „Warum fangen bei uns ein paar junge Regisseure an, in hochmütiger Ignoranz vorhandener Theatermethoden und -leistungen neben ihrer eigenen Genialität expressionistisch-naturalistische Spektakel zu inszenieren?“ Ich schickte ihm auf privatem Bogen eine Erwiderung, die den Parteiapparat, dem er sie überlieferte, noch mehr erbitterte. Hatte sich dieser schon am Tag nach der Premiere bei der Intendantin gemeldet? „Spielplan bedroht“, war die Nachricht, die der Chefdramaturg aus der Leitungssitzung mitbrachte. Die Folge war, dass die Intendantin die überaus erfolgreiche Aufführung nach neun Aufführungen absetzte und den bereits fixierten und publizierten künftigen Spielplan des Hauses umstieß. „Die Schuster“, ein surreal-emphatisches Stück des polnischen Autors Stanislaw Witkiewcz, für dessen Inszenierung wir den bedeutenden Krakauer Regisseur Jerzy Jarocki verpflichtet hatten, wurden auf diplomatisch verschleierte Weise ebenso kassiert wie die „Macbeth“Inszenierung (Müller nach Shakespeare), die Tragelehn und Schleef als nächstes zugesagt waren; sie wollten den Hexenchor, den Müller als das „geschichtsoptimistische Element“ des Stückes ins Feld geführt hatte, mit der Balletttruppe des benachbarten Friedrichstadt-Palasts besetzen. Ruth Berghaus, mehr denn je auch von der Erben-Familie bedrängt, erlegte sich eine Buße auf, indem sie ein Stück von Helmut Baierl inszenierte, dessen „Frau Flinz“ 1960 durch die Weigel in der 28


Titelrolle zum Erfolg geführt worden war; es hieß „Der Sommerbürger“ und handelte von einem Altgenossen im Ringen mit der Sommerurlaubsbürokratie.

Es lag zutage: Das Theater war durch die mit „Fräulein Julie“ gezündete Bombe in die Luft geflogen. Ich schrieb eine Fortsetzung des für das Programmheft bestimmten Dialogs („Sinn und Form“ druckte ihn 1987) und nahm ein Jahr später nach der Mitarbeit an einer NestroyInszenierung Karl von Appens meinen Hut. Die Berghaus folgte im Frühjahr 1977 und zog sich ins minder gefährliche Opernleben zurück. Hätte sie die Explosion vorhersehen müssen? Den doppelten Widerstand von Erbin und Partei vor Augen (und mit Manfred Wekwerth als vor der Tür wartendem Belagerer) hatte sie vielleicht schon aufgegeben, als sie das konfrontative Programmheft genehmigte.

IV

Tragelehn war nach einem seelischen Grundmuster verfahren, das er mit einer Kindheitserinnerung als „das Wonnegefühl der Subversion“ beschrieben hat. Mit einem Schulkameraden hatte er als Knirps hinter einer Mauer einen Polizisten mit Dreck beworfen und war in panischer Angst davongestürzt, als zwei von diesem herbeigerufene SA-Männer seinen Freund mitnahmen. Seine Reaktion auf den Aufmarsch der Widersacher, in den er 1961 am Tag nach der „Katzgraben“-Premiere ahnungslos hineinlief, war demselben Muster gefolgt: „Ich hatte wieder den panischen Schrecken und bin weggestürzt. Dabei hatte ich eigentlich ein gutes Gewissen. Ich dachte, wenn man dafür ist, und natürlich, wenn man so gut ist, wie wir waren, dann muss man nichts verbergen. Das war mein Irrtum. ... Und natürlich ist das Wonnegefühl der Subversion immer wieder unwiderstehlich.“ 14

Die Unschuld des guten Glaubens panzerte diesen Ketzer gegen die Vorahnung drohenden Unheils; eine metaphysisch fundierte Hoffnung trug ihn damals wie in späteren Jahren über die Enttäuschungen der Wirklichkeit hinweg. „Kann Hoffnung enttäuscht werden?“ hatte sich

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Ernst Bloch nach dem schweren Entschluss gefragt, die DDR nach dem Mauerbau dauerhaft hinter sich zu lassen. In seiner ersten Tübinger Vorlesung war er zu dem Schluss gekommen, Hoffnung sei keine Zuversicht; als fundierte Hoffnung lasse sie sich von Enttäuschungen belehren, um als docta spes, ge- und belehrte Hoffnung, an der Invarianz des Ziels festzuhalten, das realer Humanismus sei. In einem Gespräch mit Eduard Goldstücker und anderen in der Berliner Akademie der Künste zog Tragelehn 1998 im Eingedenken an den dreißig Jahre zurückliegenden Prager Frühling ein Fazit, in dem Skepsis, Trotz und Begeisterung eine transzendente Dreieinigkeit bildeten. „Es ist nicht so, dass man nicht skeptisch gewesen wäre, im Gegenteil. Man war vielleicht sogar besonders skeptisch! aus dem ganz einfachen, leicht zu verstehenden Grund, dass man, wenn Hoffnung mehrmals enttäuscht worden ist, sich eben mit Skepsis wappnet gegen die Hoffnung. Und dennoch ist von diesem Prager Frühling eine ungeheure Hoffnung ausgegangen. Es war ein leuchtendes Bild vor Augen! Es war eine jubelnde Musik im Ohr! ... Ich denke, die Hoffnung war – und das ist das, was man heute unbedingt sehen sollte und nicht auf die Asche starren, sondern auf die Funken, die unter der Asche warten, immer noch – die Hoffnung war, dass das Andere, das, was versprochen war – denn das war ja immer wieder der Ansatzpunkt, dass man einklagte, was versprochen war! und es sind die Versuche, auf dem Versprochenen zu bestehn, die Versuche, es durchzusetzen, die niedergeschlagen wurden, die zerstört wurden, die vernichtet wurden, immer wieder – die Hoffnung war, das Versprochene eben doch noch durchsetzen zu können, es trotz alledem und alledem durchzusetzen. Wir wollten ja weiter! Und nicht zurück.“15 Die wunderbare Tirade legt den Glutkern der Utopie als seelischen Grundimpuls des Redners frei. Darauf, dass eine dergestalt „ans Versprochene“ gesetzte Hoffnung im Kern chiliastisch, also gewaltaffin ist, deutet B. K.’s ungebrochene Lenin-Verehrung. Sein Lesebuch von 2006 enthält ein Foto vom abgesägten Kopf der hochragenden Berliner LeninStatue auf einem Rasenstück; es zeigt sich, dass das Haupt des Mannes, dessen unbedingter Machtwille ein Land von eklatanter Rückständig-

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keit nach einem blutigen Krieg in eine blutige Revolution gestürzt hatte, auf einmal die Züge eines gescheiterten Erlösers annahm. Was sich Marxismus-Leninismus nannte, war eine Ketzerreligion wie die christliche, deren säkulares Erbe sie antrat, und teilte mit ihr das Schicksal, „höher als alle Vernunft“ und damit unwiderleglich zu sein. „Homo semper tiro16“, schrieb Ernst Bloch am Ende seiner Vorbemerkung zur „Tübinger Einleitung in die Philosophie“, „der Mensch ist immer ein Lernender, die Welt ist ein Versuch, und der Mensch hat ihm zu leuchten.“

V

Einar Schleef zog das Fazit der Strindberg-Unternehmung vermittels des Grimmschen Märchens von der unersättlichen Fischersfrau, die den wundertätigen Butt, den ihr Mann sich zu Dank verpflichtet hat, von einer Wunscherfüllung zur andern treibt, bis beide am Ende wieder „im Pißputt“ sitzen: „Von dem Fischer un syner Fru“. Er schrieb ein Stück nach dieser Vorlage und inszenierte es 1976 am Dresdner Puppentheater statt mit Puppen mit den Puppenspielern. Aber beide blieben nicht lange im Pißputt. Im Feuilleton des benachbarten Westens, für das die DDR seit dem Grundlagenvertrag ein zugängliches Land war, hatte die Strindberg-Inszenierung das positive Interesse erregt, das ihr im eigenen Land versagt worden war, und aus dem neutralen Österreich meldete sich das Wiener Burgtheater, um dem Berliner Regie-Doppel eine Inszenierung von Wedekinds „Schloss Wetterstein“ anzutragen. Indes war Ruth Berghaus auf Schleef zugegangen, um ihn als Bühnenbildner für eine Inszenierung von „Dantons Tod“ zu gewinnen; auch dafür hatte er zugesagt und war gleichzeitig für das Leipziger Opernhaus mit Vorarbeiten zu einer Inszenierung von Werner Egks Ballett „Abraxas“ beschäftigt.

Es war, als hätte der Butt sich noch einmal aus dem Meer erhoben, um dem Wünschen freien Lauf zu lassen: da machte die Politik einen Strich unter alle diese Vorhaben – genauer gesagt: Einar Schleef benutzte den dicken Strich, den die Politbürokraten Honecker und Mielke durch die Anwesenheit Wolf Biermanns in der DDR zogen, dazu, um seinerseits 31


einen Strich durch seine Anwesenheit in diesem Land zu ziehen. In Wien mit Tragelehn in den Proben für „Schloss Wetterstein“ und in Berlin von Ruth Berghaus für die Bauprobe zu „Danton“ erwartet, ließ er beide sitzen und stellte dem Berliner Kulturministerium von Wien aus Bedingungen für seine Rückkehr. Es war auf Absprung angelegt – floh er vor der Überanstrengung durch drei Projekte? Oder waltete das „Wonnegefühl der Subversion“ zu Lasten zweier ihm verbundener Regisseure? Was eine emphatische Solidarisierung mit Biermann schien, mochte zuletzt ein Akt der Emanzipation von einer übermächtigen Muttergestalt sein, der er, dergestalt unerreichbar geworden, in den folgenden Jahren in einem monumentalen Romanepos huldigte. Von Walter Benjamim gibt es eine Miszelle über den „destruktiven Charakter“, darin findet sich der Satz: „Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg.“17

Tragelehns habituelle Generosität zeigte sich daran, dass er Schleef den Verrat an der gemeinsamen Arbeit niemals nachtrug. War sein Urteil im Künstlerischen unerbittlich, so war es im Menschlichen stets von apriorischer Nachsicht. Der Gegenpol des destruktiven Charakters ist bei Benjamin der „Etui-Mensch“, der „seine Bequemlichkeit im Gehäuse sucht“. Bequemlichkeit war Tragelehns Sache nie, dazu war sein Freiheitsbedürfnis viel zu ausgeprägt, aber das Gehäuse aus Weib, Kindern und Wohnung dauerhaft aufzugeben ist ihm nie in den Sinn gekommen; von Urlaub nur konnte die Rede sein. Auch ist dieses Gehäuse kein Etui, es ist ein dynamisches Gebilde voller Tatkraft und Fürsorge und trägt einen Namen: Christa. Tragelehn, das sind eigentlich zwei, es ist der Name eines Lebensteamworks, das vor zwei Jahren diamantene Hochzeit beging. DAS TRAGELEHN überschrieb der Bühnenbildner Wilfried Minks 1980 eine Karikatur, die einen walzenförmigen Vierbeiner mit B. K.’s Zügen und zwei Hörnern über der Brille zeigte (er ist auf den letzten Seiten des Lesebuchs von 2006 zu finden), aber das Bild war einseitig: DAS TRAGELEHN hat einen Doppelkopf und ist nichts weniger als walzenförmig. 1976 waren die Tragelehns jedenfalls nicht gesonnen, ein Land hinter sich zu lassen, dessen Kulturpolitik wieder einmal jener inwendigen Gesetzmäßigkeit gefolgt war, die sicher-

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stellte, dass dem anhaltenden Zudrehen der Schraube eines Tages das Aufdrehen und dem Aufdrehen nach einiger Zeit das Wiederzudrehen folgte. Nicht vorhersehbar war, dass die Schraube eines Tages aus der Mutter herausfallen würde. Da war es zu spät, ein Land aufrechtzuerhalten, das seine Ressourcen längst aufgezehrt hatte.

Nach den kulturpolitischen Erleichterungen, die mit Honeckers Machtantritt im Jahre 1971 verbunden gewesen waren, konnte der Umgang der Partei mit „Fräulein Julie“ bereits als Indiz für eine Rückwende gelten, obschon die Verabschiedung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit ihrem Korb 3 im gleichen Jahr andere, auf Öffnung gerichtete Akzente gesetzt hatte. War gerade davon eine Verunsicherung der Staatspartei ausgegangen, die im Januar 1975 durch die Angleichung der sowjetischen Erdölimporte an den Weltmarktpreis in einschneidende Bedrängnis gekommen war? Auch 1976 fehlte es nicht an Krisenmomenten. Drei Wochen nach der Selbstverbrennung eines evangelischen Pfarrers vor der Michaeliskirche im sächsischen Zeitz hatte ein Auftritt Wolf Biermanns in der Prenzlauer Nikolaikirche als Indiz einer Verbündung der intellektuellen mit der kirchlichen Opposition die Alarmglocken des Sicherheitsapparats schrillen lassen, nicht anders als ein zu dieser Zeit im Westen erscheinendes Buch von Reiner Kunze über die Situation der Jugend im Land des real existierenden Sozialismus. Elf Jahre vorher hatte Walter Ulbrichts ernsthafter Versuch, die Jugendpolitik seiner Partei auf neue Füße zu stellen, die Hardliner auf den Plan gerufen, die später die ganze Macht ergriffen hatten; Kunzes Buch stieß sie auf die Folgen ihres angstbesetzten Treibens. Die Kombination von Dummheit und Angst war Tragelehn schon bei seiner Verstoßung im Herbst 1961 als Triebkraft der Verhängnisse erschienen: „Sie sind blind gewesen vor Angst und konnten nichts mehr voneinander unterscheiden. Auch nicht Freund und Feind.“18 Unter so ungünstigen Auspizien konnte man einem Plan, der darauf zielte, ihm und einer Gruppe befreundeter Schauspieler und Dramaturgen einen intimen Spielort am Rand des Berliner Theaterlebens zu ver-

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schaffen, wenig Erfolgsaussicht beimessen. Peter Pachnicke, ein initiativer junger Ästhetikprofessor mit Beziehungen ins Kulturministerium (er wurde später in Oberhausen ein erfolgreicher Kurator), hatte sich dafür stark gemacht und auch einen Ort vorgeschlagen, das Untergeschoß eines Kunsthandelspavillons in der Karl-Marx-Allee. Das Vorhaben zerschlug sich, als eine Konkurrentin mit weitaus besseren Beziehungen auf den Plan trat: Vera Oelschlegel, eine attraktive Diseuse, dem Chef der Berliner Parteiorganisation bald auch ehelich verbunden. Es gelang ihr, im Oberstock des beinahe fertigen Palastes der Republik ein „Theater im Palast“ etablieren, das den vielen brachliegenden Talenten des Landes eine Bühne bieten und überdies für Lesungen und Gastspiele zur Verfügung stehen sollte. An Tragelehn hatte sie dabei nicht gedacht.

In dieser Lage machte das Kulturministerium dem Einkommens-, obschon nicht Arbeitslosen Engagementsvorschläge, die darauf hinausliefen, ihn von Berlin fernzuhalten; er lehnte ab und wartete auf bessere Einladungen. Sie blieben nicht aus, Claus Peymann lud ihn 1979 für Shakespeares „Maß für Maß“ nach Stuttgart ein, und die DDR-Behörden genehmigten das Engagement. Nach der Biermann-Ausbürgerung und dem Künstlerprotest gegen sie war die Zeit des großen Exodus angebrochen; man wollte Störenfriede loswerden und war mit langfristigen Visa schnell bei der Hand. Die Stuttgarter Inszenierung war für Tragelehn die erste Station einer zehnjährigen Theaterreise, die ihn regieführend in vier weitere westdeutsche Städte führte: Frankfurt am Main, Bochum, München und Düsseldorf. Die Krise, in die das Mitbestimmungsmodell des Frankfurter Theaters (Mitbestimmung der Belegschaften war damals in Theatern und Verlagen des Westens die große Losung) durch obrigkeitlichen Eingriff schon bei seiner zweiten Inszenierung geriet („wegen fristloser Entlassung abgebrochen“ steht im Register seiner Regiearbeiten) , hat er selbst plastisch geschildert; besser ging es in Bochum, wo Claus Peymann, aus Stuttgart vertrieben, als alleinverantwortlicher Intendant waltete. Tragelehn inszenierte hier 1982 seine zweite Heiner-

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Müller-Uraufführung, „Quartett“ nach Choderlos de Laclos’ Roman „Gefährliche Liebschaften“. Wenn die DDR-Instanzen gehofft haben sollten, dass er wie andere in den Westen übersiedeln würde, so hatten sie sich getäuscht; auch die Besuchsvisaverweigerung für seine Frau, die RBI-Redakteurin, vermochte weder ihn noch sie dazu, ihre Berliner Wohnung aufzugeben und vier halbwüchsige Kinder in eine fremde Welt zu verpflanzen. Christa Tragelehn erwog, sich mit einem Plakat auf den Alexanderplatz zu stellen: „Lasst mich zu meinen Mann reisen!“, als die Blockade sich löste. Einer im „Schloss“ hatte den Riegel gehoben, den er selbst – oder ein anderer – vorgelegt hatte; Kafka war und blieb für die DDR ein realistischer Autor.

VI

Ich habe nur eine von Tragelehns westdeutschen Inszenierungen sehen können, Molières „Don Juan“ mit dem exzellenten Peter Brombacher in der Titelrolle 1988 im Düsseldorfer Schauspielhaus, das ihn ein Jahr zuvor als Direktor berufen hatte. Aber von seiner „Macbeth“Inszenierung hat er mir so intensiv erzählt, dass ich das Gefühl hatte, an Ort und Stelle gewesen zu sein. Für sie hatte er das Spielfeld als freistehendes Podium zwischen zwei steil ansteigende Zuschauerreihen gestellt und das Publikum nach Geschlechtern aufgeteilt. Männer und Frauen bildeten auf beiden Seiten je eine zusammenhängende Formation, deren Reaktionen, wie sich herausstellte, durchaus spezifisch waren.

1985, bald nach Gorbatschows Machtantritt, hatte Gerhard Wolfram, der lange das Deutsche Theater geleitet hatte und danach in Dresden, unter einem liberalen Kurfürsten (das war Hans Modrow als Bezirksparteichef), Intendant am Staatsschauspiel geworden war, Tragelehn angetragen, in Dresden „Die Umsiedlerin“ zu inszenieren. Gabriele Koerbl, die eminente Bühnenbildnerin (zugleich mit Schleef hatte ich sie 1971 in Prag präsentiert), übernahm das Bühnenbild, das wesentlich aus dem genarbten Bretterboden der großen Bühne bestand. „Das Holz 35


des weiten Bühnenbodens war in Dresden nicht, wie im Westen und heute überall, grau zugestrichen, sondern naturbelassen und durch langen Gebrauch gealtert“, hat Tragelehn im Gespräch mit Teschke diesen Boden beschrieben.“19 Auf dieser rissigen Fläche, bestückt mit Fund stücken aus dem Oderbruch, einer Schubkarre oder einer Abrisstür, erstand ein Spiel, das ein Ensemble hohen Ranges in der Sprache des Stücks agieren ließ, das die Sprache der Stadt und des Landes war, mit einer Vielfalt der Tonlagen, die dem Text eine sonderliche Beglaubigung gab. Mit Wonne, erinnert sich Tragelehn, hätten er und das Ensemble sich „in die Musik dieser Oper gestürzt“: „Wir haben im Sächsischen gebadet. ... Der sächsische Dialekt ist zu oft, fast immer, als Mittel benutzt worden. Ein fauler Irrtum – zu denken, wenn man was auf Sächsische sagt, ist es schon komisch. Wenn man nach drei Minuten noch hinhört, gähnt man schon. Komisch sein zu wollen ist immer ein Fehler, komisch ist immer nur Ernsthaftigkeit.“

Bei dieser Gelegenheit hat B. K. auch Auskunft über das gegeben, was ihm ein wetterfester Begriff von Kommunismus ist: „Poesie – als Vorschein einer vernünftigen Organisation des Stoffwechsels von Mensch und Natur; gemeinschaftliche Produktion von freien Individuen; Differenz steht nicht mehr unter Strafe; Poesie – als Essenz der Sprache, eine Essenz, aus ihrem Kern gewonnen, den Namen.“ Er hat, wiederum im Anschluss an Müllers „Umsiedlerin“, keine Scheu, die Utopie mit einem Novalis-Zitat zu bekräftigen: „Die Poesie ist das echt absolut Reelle“, und ein Gedicht aus Novalis’ Ofterdingen-Roman anzuschließen: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen Mehr als die Tiefgelehrten wissen Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt sich zurückbegeben Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden gatten

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Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten Dann fliegt von Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.“

Ist Tragelehn ein Romantiker? Novalis’ Gedicht hat einen Nachfolger, er heißt „Geheimschrift“ und steht in Goethes „Divan“: „Geheimer Chiffren Sendung / Beschäftige die Welt, / Bis endlich jede Wendung / Sich selbst ins Gleiche stellt.“

„Tragelehns Heimkehr“ überschrieb ich eine Besprechung der Aufführung, die Anfang 1987 in der Zeitschrift „Sinn und Form“ erschien; der Beschreibung der Einzelheiten folgte im fünften Kapitel eine Zusammenfassung dessen, was man auf der Bühne sah: „Dies ist, ihrer Dimension nach, eine kleine Welt, sie wird eine rührend-eindringliche, indem das Theater alle Ambition von ihr wendet. Nichts Behauptendes greift hier nach Menschen und Dingen; der Stil, den die Aufführung bildet, ist nicht Vorsatz, sondern Ergebnis der Arbeit; auf das Wahrhaftige zielt sie, das das Menschliche ist. Was vormals in Gegenwart eingriff durch die leidenschaftliche Genauigkeit des Erinnerns, wird nun zur Beschwörung der Geschichte, und sie wird bei keinem abstrakten Namen gerufen; alle können zeigen, wie genau sie in ihnen lebt. ... [Tragelehns] Aufführung fasst Figuren und Vorgänge aus der Treue zu sich selbst und gewinnt ihnen einen Ernst ab, eine Zartheit, die wie von innen leuchtet.“ Die kleine Welt verband sich mit großer Form: „Die Ausmaße der Bühne, die Unmittelbarkeit, mit der das Theater als solches, Boden und Hintergrund, sich zur Anschauung bringen, der lapidare Wirklichkeitssinn der Zeichen – dies alles setzt die wohlvertraute Struktur in eine Radikalität, die auch eine Gestalt der Verklärung ist; das betrifft nicht nur das Bühnenbild. Es betrifft die Szene im Ganzen so wie die Zeit, die sie schildert, jene Gründerzeit unserer Gesellschaft, die ins Geschichtliche abgesunken ist wie die Pferdefrage, die einst die Neubauern zur Verzweiflung trieb. Die Dresdner Aufführung hebt sie aus den Abgrün-

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den der Vergangenheit an ein Licht, das Menschen und Dinge, Kämpfe und Verhältnisse mit einer Deutlichkeit umfließt, die von Innigkeit weiß. War dies, als realistische, eine romantische Aufführung? Von dem milden Lichte Jakob Apfelböcks unterschieden ist das Abendlicht, das rein und scharf die Türme der ferngerückten Stadt bezeichnet; auf der Kimme des Brachfelds aber hebt eine tanzende Figur die Arme, als wären es Flügel. ‚Caspar David Friedrich’, hörte ich einen Zuschauer nach der Vorstellung sagen.“

Dieser Zuschauer war ich selbst und Tragelehn akzeptierte die Assoziation. „Das schien mir sofort einleuchtend“, sagte er 2004 in einem Gespräch. „Aber ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehn, was gemeint war.“20 Das Dresdner Ensemble trug die „Umsiedlerin“ auf einer Gastspielreise nach Düsseldorf, Hamburg und Köln, unsicher, wie die fremde und ferne Welt, die die Bühne einnahm, auf ein westdeutsches Publikum wirken würde. „Es war das reine Theaterglück“, schrieb der überraschte Regisseur. „Als ob man ‚Wie es Euch gefällt’ von Shakespeare spielt. Ein Arkadien.“21 Der Redaktion des „Neuen Deutschland“ hatte der Theaterreferent des seit 33 Jahren amtierenden ZK-Sekretärs für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur nach der Dresdner Premiere den Druck einer Rezension untersagt; er hieß Hentschel und war bei einem Empfang nach dem in Berlin fortgesetzten Gastspielerfolg der erste, der dem Regisseur gratulierte: „Er hat meinen Arm geschwenkt wie einen Pumpenschwengel.“22

VII

Ein Jahr später griff Müller für eine Aufführung am Deutschen Theater seinerseits zu einem Früh-Stück, dem „Lohndrücker“ von 1957, und verwandelte es regieführend mit Hilfe des Bühnenbildners Erich Wonder in ein Zeitbild, das, frei von aller Nostalgie, das Abgelebte zum Zeichen einer Gegenwart erhob, die auf das Ende dessen zutrieb, was einst eine Figur problembeladenen Aufbruchs gewesen war. Als dieses Ende sich 1989 ankündigte, ließ Tragelehn das reiche Düsseldorf fahren, 38


das ihm die Interview-Kennzeichnung seines Publikums als „Ortsbourgeoisie“ übelgenommen hatte, und hoffte, in Berlin an einem Aufbruch mitwirken zu können, der nach dem staatlichen Anschluss sein Gesicht eingreifend veränderte und sich auf vielen Feldern bald als umfassender Niederbruch zu erkennen gab. Heiner Müller konnte mit einer heterogenen Gruppe von Regisseuren 1992 ein neues Berliner Ensemble formieren, dessen Leitung außer ihm selbst der 64jährige Fritz Marquardt angehörte, der Anfang der achtziger Jahre an der Volksbühne Ost sowohl die „Umsiedlerin“ (unter dem Titel „Die Bauern“) wie den „Bau“ herausgebracht hatte; hinzu kamen die beiden ehemaligen BE-Regisseure Peter Palitzsch und Matthias Langhoff und der völlig brechtferne Peter Zadek. War Tragelehn als sechster nicht durchzusetzen gewesen? Aber auch fünf waren deutlich zuviel, zumal Schleef die Schar bald noch vermehrte. Als Müller 1995 die alleinige Leitung übernahm, war er gesundheitlich völlig zermürbt.

An zwei Berliner Theatern, dem Gorki im Osten und der Freien Volksbühne im Westen, hatte Tragelehn 1990 und 91 Stücke von ihm inszeniert, „Germania“ und „Leben Gundlings“. 1997 folgte in dem nach Müllers Tod eingetretenen Interregnum am Berliner Ensemble „Leben des Galilei“ mit dem großartigen Bierbichler. Im Jahr danach trat Tragelehn an die Spitze des Deutschen PEN-Zentrums (Ost), das 1990 der Nachfolger des DDR-PEN geworden war, und waltete als souveräner Chefregisseur eines vereinspolitischen Langzeittheaters, das nach achtjährigem und manchmal höchst streitbarem Palaver auf die gleichberechtigte Vereinigung der beiden deutschen Zentren hinauslief. Seit 2022 gibt es wieder zwei deutsche PEN-Vereinigungen, deren östliche im westlichen Berlin stationiert ist und der Legitimation durch die Londoner Zentrale bis auf weiteres enträt; man kann ihr nur einen Tragelehn an der Spitze wünschen. Claus Peymann, der zum Jahrhundertende das graue Haus am Schiffbauerdamm übernahm, verzichtete darauf, sich von Tragelehn dabei helfen zu lassen, in Berlin-Mitte Fuß zu fassen; es gelang ihm erst, als er sich nach Jahren des Misserfolgs mit Achim Freyer auf

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Shakespeare einließ. Unabgelenkt von dem, was ihm immer das Wichtigste gewesen war, der Bühne, konnte sich B. K. für den Verlag seines Freundes K. D. Wolff, der auf dem Höhepunkt der 68er Bewegung SDSVorsitzender gewesen war, wieder auf die Elisabethaner und Jakobäer konzentrieren. Literarisch-analytische und szenisch-eingreifende Interpretation waren ihm immer zwei Seiten einer Medaille gewesen; wenn er Shakespeare neu übertrug, hatte er es immer im Blick auf den redendagierenden Schauspieler getan. Interpretation, sei es szenische, sei es literarische und übersetzende, ist eine Form von Hermeneutik, und es war kein Zufall, dass sich in West und Ost nach dem In-sich-Zusammenfallen der Hoffnungen auf fundamentale gesellschaftliche Veränderung vielen die Hermeneutik als Asyl einer Produktivität anbot, die, an der Gegenwart verzweifelnd, die Vergangenheit als Fundgrube des Zukünftigen aufbot.

„Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist“, hat Odo Marquard 1979 einen tiefgreifenden Vortrag überschrieben, in deren drittem Kapitel der schöne Satz fällt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen; die änderndste Form des Verschonens aber ist das Interpretieren.“23 Nach der „Tödlichkeitserfahrung des hermeneutischen Bürgerkriegs um den absoluten Text“, nämlich den der Heiligen Schrift, habe sich die „singularisierende Hermeneutik“ zur „pluralisierenden, d.h. literarischen Hermeneutik“ gewandelt, die „das ‚Sein zum Totschlagen’ durch das Sein zum Text“ ersetzte; das habe „eine Tolerantmachung der Texte auch in Dingen des wirkungsgeschichtlichen Willens zur Macht“ bedeutet. Was Marquardt am Exempel von Kirche und Theologie statuiert, gilt auch für die sozialistische Bewegung und den tödlichen Streit ihrer Flügel und Fraktionen um die wahre Lehre und den richtig ausgelegten Text. Die Art und Weise, wie Tragelehn und sein Verleger alten und neuen Shakespeare-Übersetzungen nach gründlichem Studium seine eigene Lesart zu freiem Gebrauch und in schönem Gewand hinzufügten, ist ein fruchtbares Beispiel und eine sinnreiche Metapher für den Vorrang der „literarischen Hermeneutik als Replik auf den Bürgerkrieg um den absoluten Text“.24 40


Nach einem Jahrzehnt, in dem jeder Rückblick auf die heiligen Texte der unheiligen Dioskuren und ihrer machtbesessenen Nachbeter unter dem Verdacht mindestens der Nostalgie stand, hat sich die Marxsche Kapitalismusanalyse wie ein Phönix aus der Asche des LehmanBrothers-Desasters erhoben; inzwischen entstehen biographische Filme über das Theoriehaupt des wissenschaftlichen Sozialismus, als würden in der DDR noch Nationalpreise verliehen. Diese Wiedergewinnung hat Brecht und Heiner Müller auf der Bühne noch nicht erreicht; das Theater ist zu tief gesunken, um nach Rettungsringen greifen zu können. Bei alledem ist B. K. Tragelehn einer ratlosen Theaterwelt wie zum Statthalter Brechts geworden; mit starker Stimme gibt er auf Podien aller Art Auskunft über Lehren und Erfahrungen eines Lebens von weitreichender Produktivität. Seine Bibliothek übertrifft an Dimension und Vielseitigkeit alles mir Bekannte; als ich 2020 zur Vorbereitung einer Veranstaltung die Dostojewski-Defizite der meinen bemerkte – bei Tragelehns fand ich hoch oben auf der Leiter alles Erforderliche.

Aus dem schmalen Jüngling mit der Neugier und Konzentriertheit eines Klosterschülers ist eine leibliche Erscheinung geworden, die man sich gern in jenes China versetzt denkt, an dessen Grenze Laotse sich seine Weisheit abfragen ließ. Tragelehn muss, um sie herauszurücken, nicht eigens beherbergt werden; Schaukelstuhl, Zigarrenkiste und Whiskyglas sind in der Prenzlauer Allee 25 allzeit zur Hand. Über Theater sprechen wir nicht mehr viel, eher über die im vorigen Jahr erschienene dreibändige Gesamtausgabe seiner Gedichte, die Gerhard Ahrens bei Vorwerk 8 musterhaft ediert hat; in ihrem zweiten Band, „Doppelgänger“ überschrieben, sind erstmals auch alle seine Nachdichtungen gesammelt, besonders viele nach W. H. Auden und W. C. Williams. Aber auch die alte Frage nach Raum- oder Guckkastenbühne hat uns kürzlich wieder beschäftigt, anhand eines schmalen Bandes mit dem Beethoven-Titel „Chorfantasie“, das für das theoretische Vermächtnis des vielerfahrenen Theatermanns gelten kann. Ich habe ihm einen Brief dazu geschrieben, inzwischen hat er geantwortet; was fehlt, ist ein Ort der Publikation. Ich denke, wir werden es ins Internet stellen.

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1

B. K. Tragelehn: Die Aufgabe / Eine Tragikomödie mit Quellenanhang und einem Kommentar von Friedrich Dieckmann, Die Weiße Reihe, Bd. 9, hg. von Jens-Fietje Dwars, quartus-Verlag Bucha bei Jena 2016.

2

William Shakspeare: Der Sturm, deutsch von B. K. Tragelehn, Bd. 1 der Reihe alt englisches Theater neu / Stücke des elisabethanisch-jakobäischen Theaters, deutsch, heausgegeben von C. M. und B. K. Tragelehn, Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main und Basel 2006.

3

B. K. Tragelehn: Der Resozismus im Abendlicht oder Ein Veteran erzählt / Gespräch mit Holger Teschke mit einem Anhang von sechsundzwanzig Gedichten und drei Zeichnungen von Strawalde, Bucha bei Jena 2014, S. 59.

4

Peter Zudeick: Im Hintern des Teufels / Ernst Bloch – Leben und Werk, Elster Verlag Moos & Baden-Baden 1985, S. 105.

5

Walter Benjamin: Versuche über Brecht, hg. von Rolf Tiedemann, edition suhrkamp 172, Frankfurt am Main 1966, S. 135.

6

B. K. Tragelehn: Roter Stern in den Wolken / Aufsätze, Reden, Gedichte, Gepräche und ein Theaterstück / Ein Lesebuch, hg. von Gerhard Ahrens, Theater der Zeit, Recherchen 35, Berlin 2006, S. 18. Aus einem Gespräch, das Renatus Deckert mit B. K. Tragelehn führte (zuerst in „Sinn und Form“, Heft 3/2003).

7

Tragelehn/Teschke, s. Anm. 3, S. 56 f.

8

Peter Hacks: Ekbal, oder: Eine Theaterreise nach Babylon, in: Die Erzählungen, Hacks, Werke, Bd. 9, Eulenspiegel Verlag Berlin 2003, S. 62. Die Erzählung, 1961 geschrieben, wurde in der Endfassung von 1966 erstmals 1978 veröffentlicht.

9

Ib. S. 73

10 B. K. Tragelehn: NÖSPL / Gedichte 1956-1981, hg. von Gerhard Ahrens, Verlag Vorwerk 8 Berlin 2021, S. 21. 11 Roter Stern, S. 40. 12 Ib. S. 144. Aus einem Gespräch mit dem Tübinger Theaterkritiker Christoph Müller im Jahresheft 1976 der Zeitschrift Theater heute. 13 Ib. S. 149. 14 Ib. S. 22 (aus dem Gespräch mit Renatus Deckert). 15 Ib. S. 284. 16 Übersetzt: Der Mensch ist immer ein Anfänger. Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Büchergilde Gutenberg 1986 S. 12. 17 Walter Benjamin: Der destruktive Charakter (1931), in: W. B., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hg. von Tillmann Rexroth, Bd. 10 der Taschenbuchausgabe, Frankfurt am Main 1980, S. 396. 18 Roter Stern, S. 22. 19 Tragelehn/Teschke, s. Anm. 3, S. 47. Die folgenden Zitate dort auf S. 49 f., 52 und 44. 20 Friedrich Dieckmann: Tragelehns Heimkehr, in: F. D., Hilfsmittel wider die alternde Zeit / Essays, Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1991, S. 263-271 (siehe auch Website friedrichdieckmann.de)

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21 Roter Stern, S. 58 f. Aus einem Gespräch, das Thomas Irmer und Matthias Schmidt 2004 für die ZDF-Fernsehdokumentation „Die Bühnenrepublik“ mit Tragelehn führten. 22 Ib. S. 56. 23 Ib. S. 39. 24 Odo Marquardt: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: O. M., Abschied vom Prinzipiellen / Philosophische Studien, Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981, S. 120.

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„‘ch mächt ma sangn, s wirrd Diskussjohn’n gähm.“ Das war ein Satz fürs Leben. HANS-DIETER SCHÜTT: Gehen wir’s groß an: „Die Umsiedlerin“ entschied über Ihr Leben.

B. K. TRAGELEHN: Geht’s nicht noch größer? (Lacht.) Nee, bitte, kommen Sie runter, auf den Teppich, den’s in diesem Zimmer gar nicht gibt.

„Die Umsiedlerin“ erzählt in drei Etappen von den anderthalb Jahrzehnten seit Kriegsende. Und die DDR war damals, wie sie war, noch nicht oft auf der Bühne erschienen. Heiner Müllers Stück bedeutete Pionierarbeit. Ihre Inszenierung mit Studenten der Hochschule für Planwirtschaft in Berlin-Karlshorst, im Sommer 1961, war in jeder Hinsicht ein Auf- und Abräumer.

Um uns viel Propaganda-Mist, ja. Müller, Peter Hacks, Hartmut Lange machten die ersten Versuche, die Realität auf die Bühne zu bringen. Immer sehr befehdet. Erwin Strittmatters „Katzgraben“, mit Brecht, war, noch in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, ein einsamer Vorläufer. Und auch schnell mit Beulen versehen.

Wie ist das? Kommt der Punkt, da denkt man nicht mehr an die Folgen, da wird man zum kleinen Luther? Hier stehe ich und kann nicht anders!

Ach, mit der Courage in Kunstfragen ist das so ein Ding. Auch der andere Satz ist doch wahr: Hier stehe ich – aber ich könnte auch anders. In Deutschen steckt höchstens Michael Kohlhaas, nie ein Schwejk. Interessant, dass Heiner Müller nach dem Krieg in Mecklenburg im Landratsamt gearbeitet und dort recherchiert hat, wie die Bauern so reden. Er hat das notiert, wie für ein Handbuch für die Funktionäre: Die sollten wissen, wie sie mit den Bauern reden müssen, um mit ihnen in einen offenen und nützlichen Kontakt zu kommen. links: B. K. Tragelehn und Heiner Müller auf einer Probe zu „Die Umsiederin oder Das Leben auf dem Lande“, FDJ-Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie, Berlin – Karlshorst, 1961

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Grundkurs in ideologischer Arbeit. Um zu verhindern, was der Dichter Kurt Bartsch so beschrieb: „Als der Redner ankündigte, er werde zur Sache sprechen, fragten sich viele: Warum nicht zu uns?“

Der Blankvers hat was Feudales, der Bauer hatte sich aus dem Feudalismus nicht nur den Boden genommen, also nicht nur Agrikultur, sondern auch Kultur im höheren Sinne.

Oder gegen das poetische Individuum. Hartmut Langes Stück „Marski“ sollte am Deutschen Theater gespielt werden. Mit dem Chefdramaturgen wurde er zur Bezirksleitung bestellt, zu einem Kulturfunktionär, der vorher für Handel und Versorgung zuständig war. Er wusste um den Plan der Aufführung, das Theater hatte als Begründung angegeben, es sei besonders realistisch. Aha, sagte der Funktionär. Das Stück spielt auf dem Lande?, fragte er den Autor. Ja, antwortete Lange. Der Funktionär: Es ist in Versen geschrieben? Der Autor: Ja. Ob er, Lange, schon mal auf dem Lande gewesen sei, fragte die Partei weiter. Lange bejahte. Nächste Erkundigung: ob der Künstler mal gehört hätte, wie die Bauern sprechen. Ja? Aha. Redeten die Bauern in Versen? Der Autor verneinte. Des guten Mannes niederwerfende Schlussfolgerung: Na sehen Sie, Herr Lange, und da behaupten Sie, Ihr Stück sei realistisch. Ende der Realismusdebatte. „Marski“ fand natürlich nicht statt.

Wer die Vorgaben machte, der meinte, weil er ein bisschen Marxismus gelernt hat, automatisch, dass er wissenschaftlich denkt. Und wer scheinbar wissenschaftlich denkt, der lässt sich von seinem Denken einreden, man dürfe sich nicht täuschen lassen durch störende Wahrnehmungen.

Genau da beginnt der Wahnsinn der Ideologie.

Es gibt von nun an eigentlich nichts Unerklärbares mehr in der Geschichte.

Die Kraft des ungetrübten Bewusstseins verführt dazu, die Welt für erkennbar zu halten.

Sie verführt dazu, das Leben und die Geschichte logisch zu durchleuchten und sich damit sogar in die Richtungsbestimmung von Zu-

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kunft einmischen zu wollen. Das ist aber Illusion. Noch das vernünftigste Denken bleibt gefesselt. Jeder Realitätsbefund ist unauflösbar mit einer Unbekannten belastet. Der Denkhorizont verstellt die Sicht.

Kierkegaard sagte über Hegel, von dem könne man alles erfahren, nur nichts über das Individuum, das Leben und das Sterben. So ist es auch bei Marx?

Nur das spekulative Denken, etwa der Kunst, ist wirklich frei.

Es geht auch darum, die eigene Nichtigkeit einzugestehen?

Aber ihr dennoch, in Würde, zu widersprechen. Es geht darum, um die existenzielle Not zu wissen, sich aber durch dieses Wissen nicht demütigen zu lassen.

Volker Braun, Sie und andere: Geistige Teilnahme am Bau der Zukunft führte zu Arbeit - im Tagebau.

Das war die unfreiwillige Weisheit der Partei, sich selbst betreffend: Indem sie Leute an die sogenannte Basis schickte, ins Schlammige, ins Schmutzige, ins Rohe, offenbarte sie ihre große, bittere Lehre: Dem Dreck entgehst du nur im Dreck.

Müller schreibt in seiner Autobiographie zur „Umsiedlerin“: „Zwei Jahre liefen die Proben, Schreiben und Proben immer parallel … Wir waren ganz heiter, fanden das so richtig sozialistisch, was wir da machten, die Studenten auch, die hatten eine große Freude daran.“

Gemeinsam mit Heinar Kipphardt hatten wir die Unternehmung ausgemacht, beim Bier im Berolina-Keller am Alexanderplatz. Wolfgang Langhoff würde der Schirmherr der Studententheaterwoche sein, das Deutsche Theater hatte die Patenschaft. Wir waren naiv, als wir an die „Umsiedlerin“ herangingen. Mir fehlte wirklich die Phantasie, so absurde Missverständnisse vorauszusehen oder gar für möglich zu halten. Wir dachten doch: Wenn wir einst alt sind, leben wir im Kommunismus, nun tun wir was dafür. 47


Es gab im Osten am Anfang sehr lebendige Gedanken und Entwürfe.

Auch ich ahnte nicht, dass die Befreiung im Osten hieß: Man hatte den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Statt der Internationale als gesungener Verfassung gab es eine Nationalhymne, deren Text man schon bald nicht mehr singen durfte. Von Ulbricht ist, in breitestem Sächsisch, das Grundprinzip überliefert: Es muss demokratisch aussehen, aber mir dürfen die Macht nicht aus der Hand gähm! Also: Es war uns bei der Arbeit an der „Umsiedlerin“ nicht bewusst, was auf uns zukam. Wobei wir aber schon allmählich merkten: dass da nicht der „Dienstweg“ eingehalten wurde, also dass es erstmal noch kein fertiges Stück gab und das nicht ordentlich von Anfang bis Ende durchprobiert wurde - das stieß schon mehr und mehr auf Misstrauen. Das sah nach Anarchie aus, das war unkontrolliertes und unkontrollierbares Arbeiten. So ging’s ja wohl nicht. Andererseits war wegen des 13. August die Parole ausgegeben, dass keine der angesetzten Veranstaltungen der Festwochen ausfallen durfte. Die Studententheaterwoche war Bestandteil dieser Festtage. Das „normale“ Leben sollte weitergehen, als sei nichts geschehen nach August, dem Dreizehnten. So ist es passiert (lacht), die Kontrollen waren luschig. Was war für Sie schauspielerisch interessant an diesem Studententheater?

Es gab damals kaum Schauspieler, die einen einschlägigen Erfahrungshintergrund hatten. Ich stieß während der Arbeit an der „Umsiedlerin“ im „Eulenspiegel“ auf eine Zeichnung des „Eulenspiegel“-Karikaturisten Heinz Behling. Sie zeigte vier Bildchen: ein Schauspieler viermal in jeweils gleicher Haltung: Spielbein-Standbein, die Arme pathetisch ausgebreitet. Antike, elisabethanische Zeit, bis eben hin zum Proleten im Kostüm. Immer die gleiche Pose. Kein verändernder Einfluss durch den Wechsel der Verhältnisse. Der Gestus eingefroren.

Da waren die Studenten in Karlshorst eine andere Kategorie. Die wussten, was eine Fabrik ist und wie die von innen aussieht.

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Das unterschied die Spielerschaft der HOPLA, der Hochschule für Planökonomie, auch von anderen Studententheatern, etwa an Universitäten?

Viele hatten ihr Abitur an der ABF gemacht, an der Arbeiter-undBauern-Fakultät, sie waren von Betrieben delegiert worden. Sie besaßen ein DDR-geerdetes Beobachtungsreservoir, das Schauspieler zu der Zeit noch nicht hatten. Das brachte bei „Umsiedlerin“ eine sofortige Nähe zum Stoff, der seinen Anlass aus der Politischen Ökonomie nahm, ihrem Studienfach.

Bevor es zum Skandal kam, sind Sie mit den Studenten viel gastiert.

Ja. Mit der vorangegangenen Inszenierung der Studentenbühne, Müllers Stück „Die Korrektur“, sind wir durch die Republik gefahren, das war 1959. Wir waren auch im Berliner Ensemble und im Volkstheater Rostock, aber mehr in Betriebskulturhäusern und auf Großbaustellen, auch auf dem Dorf, in LPGs, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Nach den Vorstellungen gab es immer Diskussionen mit den Zuschauern. Da ging es politisch zur Sache und nicht bloß, wie mit Kulturfunktionären, um ästhetische Normierungen. Auch die Hörspiel-Fassung von „Korrektur“ ist im Kombinat Schwarze Pumpe, wo der Stoff ja herkam, den Arbeitern vorgespielt und mit ihnen diskutiert worden.

Man begreift etwas und begreift es auch nicht. War so Ihre Gemütslage am Premierenabend in Karlshorst?

In der Nacht nach der Premiere tranken wir uns erstmal den Stress weg. Wir verweigerten uns dem Boden der Tatsachen, also: dem tiefen Grund der Gläser, die mussten immer wieder schnell gefüllt werden!, kurzum: Wir tranken nicht wenig. Aber es lag was in der Luft, wir spürten das, Heiner und ich waren schon nicht zum Schlussapplaus auf die Bühne gegangen, der Ärger über die Zensur- und Zurechtweisungsversuche während der Proben war nicht so leicht abzuschütteln. Wie gesagt, unser Glück hatte darin bestanden, dass die Funktionäre voll mit den Folgen des 13. August zu tun hatten. Aber während der Premieren49


feier tuschelte es schon, halb besorgt, halb hämisch: Unsere Aufführung habe doch nicht die Studententheaterwoche eröffnet, sondern sei wohl eher der Auftakt der „Bautzner Jefängnisfestspiele“. Noch lachten wir. Einen Vorspruch zur Aufführung gab’s. Der sagte, was beabsichtigt war: Streit. pro und. Der verhandelte Konflikt sollte ins Publikum getragen und öffentlich debattiert werden. Widersprüche als Produktionsmittel. Sie selber lösen. Nicht von oben durch Administration. Auch das war ein Stein des Anstoßes. Das fehlte noch: Die Klassiker wörtlich nehmen! Der Vorspruch war als Vorsichtsmaßnahme gedacht, aber er half uns nicht. Er war eine Fallgrube mehr. „Der Lohndrücker“ war in der „Neuen Deutschen Literatur“ veröffentlicht worden. Ein Vorspiel, eigentlich eine Ermutigung.

Dass es zur Veröffentlichung kam, war ein Zufall. Heiner arbeitete als Angestellter des Schriftstellerverbandes in der Friedrichstraße, überm Gang war die Redaktion der ndl, die wollten ein Heft Arbeiterliteratur rausbringen, hatten aber nichts Rechtes auf ihren Schreibtischen. Es gab nur Mist. Da war „Lohndrücker“ für die Redaktion wie eine Rettung, die da reinschneite. Schneesturm ist das bessere Wort. Es wurde sofort kalt und unwirtlich. Die Veröffentlichung, im Frühjahr '57, war ein Donnerschlag. Es gab postwendend Einwände. Man wollte Realität – und prompt hatte man sie bekommen! Wieder zu „Umsiedlerin“. Die Zuschauer amüsierten sich.

Im Publikum stach die fette Lache von Manfred Krug heraus. Aber Inge Müllers Kommentar war gewesen: Na, dann packt mal schon eure Zahnbürsten ein. Nach der Premiere wurden Zuschauer von ihren Parteiorganisationen gemaßregelt, weil sie während der Aufführung nicht protestiert hatten. Legendär wurde eine Ausrede, die sich herumsprach: Eine sagte, sie hätte immer pfeifen wollen, aber immer lachen müssen. Der Spaß an der Sache hat ein Pfeifkonzert unmöglich gemacht. Bei allen Witzen - Sie waren verstört?

Nach diesem ersten Gegenschlag - unleugbar! Wie betäubt lief ich

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davon. Erschüttert. Ich fuhr nach Pankow, zu Müller. Die U-Bahn war damals in der Vinetastraße zuende. Als ich aus dem U-Bahnschacht raus war, fuhr ein Krankenwagen vorbei, mit Sirenengeheul. Am Kissingenplatz angekommen, sah ich den Krankenwagen wieder, Inge hatte den Gashahn aufgedreht, wieder mal. Der Vater von Heiner war zu Besuch, er fragte mich, ob sein Sohn verhaftet würde, und ich beruhigte ihn. Obwohl ich da noch nichts wusste. Später hat mir ein ehemaliger Parteisekretär der Humboldt-Uni, inzwischen auch ausgeschlossen wie ich, erzählt, dass zu jener Zeit Paul Verner, der Berliner Parteichef, in Moskau war, man habe ihn wegen der Verhaftung angerufen, und Verner habe mitgeteilt: Wegen Ideologie wird nicht mehr verhaftet. Er saß an der Quelle, der XXII. Parteitag stand bevor, der das noch einmal bestätigt hat. Sie sprechen von Ihrer Erschütterung, Müller sah's gelassener?

Jede Generation glaubt, sie sei die Erlöserin der Welt. Angst fanden wir komisch. Bis wir selber welche hatten. Heiner war anders trainiert durch seine Kindheitsgeschichte. Er, der Unscheinbare, Zarte, Schmächtige, war abgehärtet. Das Raue der Welt hatte ihn beizeiten gestreift. Der Vater linker Funktionär, im KZ, dann arbeitslos, die Familie zog aus Sachsen nach Mecklenburg. Dort lernte Heiner, wie man als Ausländer behandelt wird. Mich traf alles unvorbereitet. Ich muss gestehen, ich war eine ziemliche Weile geschockt, fühlte mich irgendwie aus der Halterung gerissen. Ich war am Theater in Senftenberg frisch engagiert. Dort hatte ich mein Parteiverfahren. Ich konnte nicht schlafen und lief nachts durch die Straßen. Und nachts durch so eine Idylle (lacht) wie Senftenberg zu stapfen, das bringt nicht viel Licht ins lädierte Gemüt (lacht). Eine merkwürdige Folge jeder Art von Glauben oder Überzeugung ist die Anfälligkeit für Selbstzweifel.

Das Teuflische ist tatsächlich, dass dir Skrupel kommen. Du ertappst dich beim Selbstverhör: Was habe ich falsch gemacht? Haben die anderen nicht doch recht? Rechnen sie nicht aus gutem Grund mit dir ab? 51


Man kann offener Feind einer Sache sein und hat seine Arbeit dann gut getan, wenn sie dich packen und bestrafen.

Wenn sie dich als Feind erkennen und durch Bestrafung anerkennen, ja. Du weißt um die Konsequenz. Es gibt das zynische Wort vom Aufrührer, der seine Arbeit nur dann gut gemacht hat, wenn er für sie erschossen werden muss. Aber ich war doch alles andere als ein Feind! Ich war dafür und galt plötzlich als einer dagegen? Wie das? Ich dachte und war in dieser Lage doch bei Leibe (und bei Sinnen!) nicht der einzige, der dachte, dass man bei grundsätzlichem Einverständnis mit der sogenannten „Sache“ alles ansprechen kann an Konflikten und Widersprüchen. Aber veröffentlicht wurden nur Beschlüsse, nicht Probleme, nur Antworten, nicht Fragen. Das war der Punkt.

Benjamin weist darauf hin, dass die Kunst darin besteht, alles Erzählen freizuhalten von Erklärung.

Das „sozialistische“ System ist (auch) daran gescheitert, dass die Erklärung immer dem Leben vorauseilte, es einkeilte, ihm den Atem flach drückte. Primitive Tabus, staubig proletarischer Dünkel, doktrinäre Einschüchterung.

Das Erzählen lässt Freiheit, was dazuzudenken.

Man darf die Erzählung einer Geschichte nicht erklären, das weiß jeder Witzeerzähler. Erklärung von der Bühne herab, das ist Kolonisierung des Publikums. Erklärung oder Urteil sind Sache der Zuschauer. Apropos Witze. Ich saß damals im Tagebau in Klettwitz mit meinen Kollegen auf Kippe in der Bude, wir warteten auf Abraum, und die Blödelei zum Zeitvertreib kam aufs Vaterunser, einer kommentierte es: „Solchen Quatsch merkt man sich, aber gute Witze vergisst man.“

Tagebau Klettwitz: Strafarbeit. Kipper, Bagger und Band.

Aber nach einem halben Jahr war das mit dem Tagebau wieder beendet – auch wegen meiner Frau und unserem kleinen Kind. Als ich in der Braunkohle aufhörte, das war die Zeit nach dem XXII. Parteitag in Moskau, die politische Situation entschärfte sich. Meine Frau stand

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vorm Staatsexamen. Dann hat sie lange Zeit bei Radio International Berlin gearbeitet. Aber Sie hatten zwei Jahre Berufsverbot.

Wie Müller auch. Mit ihm habe ich das Braunkohle-Deputat geteilt, Briketts. Und Essen, was wir gerade hatten, manchmal von meinen Eltern. In dieser Zeit schrieb und übersetzte ich. Teils unter anderem Namen. Peter Hacks mussten wir damals bitten, uns nicht zu sehr in Schutz zu nehmen. Das hätte nur geschadet. Solidarität, das hieß Fraktionsbildung. Dann, nach zwei Jahren, wollte Adolf Dresen, dass ich in Greifswald inszeniere. Die Intendanz hat‘s nicht erlaubt. Schließlich kam ich aus dem Bergbau. Paul Dessau musste beim Kulturminister für mich bitten.

Eigentlich hieß es doch: „Ich bin Bergmann - wer ist mehr?“

Und hinter dem Satz stand gewöhnlich ein Ausrufezeichen, kein Fragezeichen: Ich bin Arbeiterklasse - wer ist mehr! Das war keine Frage, das war eine Errungenschaft. Aber die Partei hat den eigenen Mythos ruiniert. Stichwort Dreck, wir haben’s eben gesagt. Ich kam aus dem Tagebau: Wer von dort kam, kam aus Sibirien. In die Arbeiterklasse hieß: ins Straflager. So traten diese Kommunisten die eigenen Heiligtümer in den Schmutz.

Ab in die Produktion! Das war nicht Adel, sondern Stempel.

Trotzdem: auch Adel! Volker Braun, als man ihm die Zulassung zum Studium verwehrte, war freiwillig in die Braunkohle gegangen, als Maschinist auf den Eisen-Kolossen des Tagebaus. Ich hatte Glück. Nach Paul Dessaus Einspruch durfte ich wieder inszenieren. In Greifswald, dann in Parchim, dann in Eisenach … Ha, Parchim! Gosch spielte dort den Scapin. Diesen Molière hatte ich schon in Senftenberg inszenieren wollen. Daraus wurde nichts, wegen dem Tagebau. Ich hätte dort eine fabelhafte Besetzung für die Titelrolle gehabt. Ein spillriger älterer Schauspieler mit wunderbarem Bart und langer Mähne, der seine dürre Extravaganz souverän durch Senftenberg trug. Er wandelte. Ab und zu 53


wurde er verhaftet, er war schwul, und um den Spielplan aufrechterhalten zu können, musste ihn der Intendant aus der Haft auslösen. Finster damals, muss man schon sagen! Aber auch saukomisch, wie alles, was aus der Zeit fällt … In Eisenach machte ich „Unterwegs“ von Viktor Rosow, die Übersetzung stammte von Inge Müller, am Deutschen Theater war das ein enormer Publikumserfolg, diese Lern-Odyssee eines jungen Mannes durch die sozialistische Gesellschaft. Eine Art Road Movie.

Den Wowa spielte Christian Ballhaus, der Sohn des Intendanten Carl Ballhaus, der auch DEFA-Filme gedreht hatte, wie „Geheimakten Solvay“ und „Der Teufelskreis“. Vater Ballhaus war übrigens Jahrzehnte zuvor einer der Gymnasiasten um Marlene Dietrich im „Blauen Engel“. Ich versuchte in Eisenach eine Gegenposition zur Berliner Inszenierung von „Unterwegs“. Also nicht diese durchgängige Heiterkeit und das feste Band zwischen den Generationen. Eher der traurige Blick darauf, dass die führende Gründergeneration im Osten meinte, dass schon alles gut sei und sie allein wisse es besser, und der Jungen, Nachstürmenden bedurfte es eigentlich gar nicht mehr. Die sollten nicken und Folge leisten. Es war schon ein Anhauch von dem, was Thomas Brasch später mit dem Buchtitel „Vor den Vätern sterben die Söhne“ ausdrückte.

Sie sind dann ans Deutsche Theater

Die Leute vom DT sahen, was ich in Eisenach so trieb, Goldonis „Zwillingsbrüder“ und Shakespeares „Maß für Maß“. Sie luden mich ein, und ich bekam einen sogenannten Nachwuchsvertrag.

An „Maß für Maß“, Ihrer letzten Eisenacher Produktion, lässt sich gut bereden, was Sie immer bewegt hat an Shakespeare.

Der ist ungeheuer auslegungsfähig. Zum ersten Mal wurde mir das tatsächlich bei „Maß für Maß“ klar, das Stück habe ich später nochmal in Stuttgart gemacht. Den Herzog kann man mit der Vorstellung sehen, da agiere ein idealer Herrscher, das ist humaner Absolutismus …

So argumentierte auch der Shakespeare-Forscher Robert Weimann.

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Es ist eine Idealvorstellung, dass der Monarch die Balance zwischen den Kräften im Staat hält. Das war die Vorstellung zur Entstehungszeit, „the Elisabethan Settlement“. In Eisenach habe ich das als junger Mensch so zu inszenieren versucht. Aber dann wuchs naturgemäß Misstrauen. In Stuttgart habe ich dann einen Gegenentwurf gemacht. Jetzt war der Herzog für mich ein Machthaber, der in einer Krise den Rivalen als Vertreter einsetzt und ihn, als Mönch verkleidet, unausgesetzt beobachtet, auf den Fehler des Konkurrenten wartend. Peter Brombacher als Herzog achtete penibel darauf, dass man die ganze Zeit sein Gesicht nicht sah, es blieb bis zur letzten Szene unter der Kapuze verborgen. Für einen Schauspieler eine Zumutung. Georg Hensel schrieb in der FAZ: „Die Aufführung bestreitet die Möglichkeit eines gerechten Machtgebrauchs und einer Korrektur der strengen Gerechtigkeit durch die Gnade.“ Alles wirke so verzweifelt wie höhnisch.

Vielleicht höhnisch aus Verzweiflung. Moral ist eine Form der Unmoral. Der Komödie wurde Ernst unterlegt: Sie nahm dem Angelo das Leiden an der Verantwortung, sie nahm Isabella das Leiden am moralischen Reinheitsgebot, sie nahm dem Herzog die Güte und die Weisheit. Und dadurch, dass sich die Spieler als Teil des Publikums im Saal und aus dem Saal heraus bewegten …

Ohne Orchestra!

… sind die Zuschauer mit einbezogen gewesen, und mit jener Welt durfte unsere Welt assoziiert werden.

Die FAZ schrieb von „Verarmung“.

Sie meinte mich, ich meinte die herrschenden Gegebenheiten. Mit solchen Missverständnissen lebt es sich gut.

Auch in der DDR hätten die Oberen an dieser Aufführung wenig Freude gehabt: dass allein der Machtmissbrauch die Welt beherrsche, wäre in Ostberlin wohl nicht akzeptiert worden. Ihr Gastspiel am Deutschen Theater dauerte nur kurz.

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Ich bin gescheitert mit „Wie es Euch gefällt.“ Das war wie Klettern an der Glaswand. Ich scheiterte an der Arroganz der Schauspieler. Vor allem mit Klaus Piontek bekam ich Krach. So, wie etwa er und Eberhard Esche sich später gegen Alexander Lang wehrten. Man lehnte eine bestimmte Art von Theater ab, bei dem der rote Samt in die Gefahr einer Verschmutzung zu geraten schien. Ich bin dann nach PotsdamBabelsberg. Als Lehrer in der Schauspielabteilung der dortigen Filmhochschule. Da wenigstens klappte es mit der Inszenierung von „Wie es Euch gefällt“, in der Übersetzung von Heiner Müller.

Es klappte? Für drei Aufführungen. Dann klappte die Tür wieder zu, und das Urteil stand fest: „Hippiewesen und Pornographie“. Die griffen auch in Babelsberg zu heftigem Vokabular. Zur dritten Aufführung durften nur noch geladene Gäste kommen. Adolf Dresen kam auch. Ich musste ihn reinschmuggeln. Unglücklicherweise fiel die Inszenierung in eine Umstellung des Lehrplans, es ging um eine künftig intensivere Ausbildung fürs Fernsehen, und Fernsehen, das hieß für die Direktion unbedingte Staatsnähe, also Vorsicht. Und Vorsicht hieß Feigheit. Die Wogen um den „Faust“ von Dresen und Heinz am Deutschen Theater, kurz zuvor, schwappten noch. Dazu kam, dass Paul Dessau zur Generalprobe gekommen war und ich danach zuerst mit ihm sprach und nicht mit dem Rektor. Ein Schritt in den protokollarischen Fettnapf. Ich trat rein und rutschte aus. Babelsberg war Grenzgebiet.

Die Schule, ja. Es war geografisch eine Nische, dieser Winkel mit den schönen verfallenden Villen zwischen Griebnitzsee und Havel. Staatsgrenze. Wenn man in das Haus reinwollte, wo die Kantine war, um einen Kaffee zu trinken, musste man seinen Ausweis vorzeigen.

Ein Gedicht fasst die Szenerie, die geografische und die politische, zusammen, zur Zeit von „Wie es Euch gefällt“.

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BABELSBERGER ELEGIE

Von der Terrasse den Hang hinab Der Blick zum See zur Grenze Moos auf dem Stein der Balustrade Das Glasdach zersprungen Scherben glitzern in Der Grasnarbe unten Die wuchert und wuchert Über den märkischen Sand Am Eisengestänge frisst Rost Und zwischen den Fliesen Schießt Unkraut ach schösse nur das Niemand würde getroffen. Im Garten fault totes Holz und Das Laub aller Jahre hier hier Streng abgegrenzt im Winkel hier Hier ist Arkadien zu spielen möglich Im Aug des Sturmes ohne einen Laut tönend Wie es Euch gefällt (1969)

Es heißt, Sie hätten sich in Babelsberg mit einem Gesellschaftswissenschafts-Dozenten gestritten.

Gestritten? Gewettet.

Und?

Gewonnen. Aber die Kiste Krimsekt hab ich bis heute nicht bekommen. Es ging um eine Textstelle im „Kommunistischen Manifest“, dort ist die Rede von einer „freien Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden Bedingung der freien Entwicklung aller ist.“

Der Dozent hatte das berühmte Brett vorm Kopf.

Nein. Der hatte das Brett schon im Kopf. Totes Holz wächst weiter. 57


Das mit dem Marx-Engels-Zitat ist sehr aufschlussreich! Im Buch „Abendlicht“ erinnert sich Stephan Hermlin genau jener Passage des „Kommunistischen Manifestes“, um die es damals auch Ihnen ging. Nur eben schon Jahre vorher. In der DDR war die Stelle stets anders interpretiert, ja zitiert worden: nämlich, dass an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaften mit ihren Klassen und Klassengegensätzen ... eine Assoziation treten werde, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden sei. Also: Erst die Befreiung des Ganzen sichert die Freiheit des einzelnen? Die große umfassende Sache ist wichtiger als der einzelne Mensch, der Staat bedeutender als dessen Bürger? Wie groß, so Hermlin, „war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: , … worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Mit seiner Entdeckung verweist Hermlin schockgetroffen auf den Täuschungsmechanismus des Ideologischen, Dieckmann sieht in Hermlin einen „Graf Isolan der Manifest-Lektüre“, Bezug nehmend auf die Erkenntnis dieser Gestalt im „Wallenstein“ Schillers: „Vor Tische las man's anders.“

Wir sehen, was wir sehen wollen. Nur immer das! Es ist fataler Menschenfleiß, sich mit Blindheit zu schlagen, sehenden Augs. Ich hätte den Krimsekt gern mit Hermlin geteilt. Der Dozent von Babelsberg ist mir damals immer aus dem Weg gegangen, wenn wir uns sahen ... Und kam jedenfalls nicht runter von der Schiene, auf die sie mich mit ihren Feindzuschreibungen geschoben hatten.

Womit haben Sie damals noch Ihr Geld verdient?

Verdient hätte ich alle Zeit mehr, bekommen habe ich immer wenig (lacht). Stücke übersetzt, Bearbeitungen gemacht, hauptsächlich für den Rundfunk in der Nalepastraße in Oberschöneweide. Es kam sogar zu Plänen, mit denen ich auch in mir selber die Illusion schürte: Es gibt verlässlich was zu tun! Anfang der siebziger Jahre inszenierte ich beim Rundfunk Marlowes „Massaker von Paris“. Da war ein großartiges Ensemble beisammen: Stars wie Martin Flörchinger, Norbert Christian, Käthe Reichel, Ekke Schall, Angelika Waller und junge Leute, die Sterne

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von morgen, wie Dieter Montag, Christian Grashof, Winfried Glatzeder. Die Produktion kam gar nicht erst raus. Das Massaker von Paris? Uns traf's: Das Massaker von Oberschweineöde. Erst nach fünf Jahren wurde das Hörspiel gesendet. „Guck in den Spiegel fetter Klohn/ Viel-zerteilter Nie-geheilter/ Gespeilter/ Geseilter Gelangweilter/ Unterm Speck sieht man deine Knochen schon/ Rückgrat krumm Schädelbein dumm/ Hinter den Rippen gehen Gespenster um/ Abgewetzter Verletzter Zersetzter/ Von niemand Geschätzter/ Ich schätze du bist bald stumm.“ Das schreibt B. K. Tragelehn sich selber zum 35. Geburtstag, 1971, und es klingt nicht, als ob Sie spätere Lebenszeiten überhaupt erreichen wollten. Zynismus?

Wie gesagt: Ich hatte da gerade Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ inszeniert, mit den Studenten in Babelsberg, untersagt nach drei Vorstellungen. Ich war wieder mal in ein Loch gefallen, und ich dichtete vor mich hin.

„Ich löse mich auf, wenn ich nicht bald sterb.“ Ihre Ankündigung in einer der „Klettwitzer Elegien“.

Solang du einen Schmerz poetisch fassen kannst, macht er dich nicht kaputt. Aber das Spiel mit der Todessehnsucht meinte nicht wirklich den Tagebau. Es reflektierte die allgemeine Situation: Du bist jung, du willst einen lohnenden Lebenspunkt finden, du willst dich fassen, dir selber Kontur geben, aber das wird dir verwehrt. Ich dachte, wenn das so weitergeht, wäre Sterben eine Alternative. Ein Spiel, wie alle Poesie, wie alles Theater. Was war Klettwitz?

Steht in den Elegien: „ein Splitter im wachsenden Fett“.

„Ein Tag wie alle vier Uhr früh aufstehn klares kaltes Wasser/bittrer heißer Kaffee auf dem Weg zum Bus die ersten Strahlen/ Sonne Tau im Gras Morgendunst über dem Bau mit dem/ Leerzug zum Bagger Geruch frischer Erde der Strom Erde/ rot braun schwarz der nicht

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abreißt Frühstück heißer Tee und Brote/ Mittags der Heimweg, müde/ Geknetet die Muskeln/ Arm Bein, Nacken, Kopf/ Jetzt und hier/ Tanz ich im Kreis, vom Ganzen/ Ein nützlicher Teil, Rad und Schraube“.

Das gehört zu Wahrheit: Arbeit.

Konnten Sie arbeiten, also zupacken?

Sie meinen, ob ich zwei linke Pfoten hatte? Nein, alles normal verteilt: linke Pfote, rechte Pfote. Und so kompliziert war es nun auch wieder nicht auf Kippe oder am Band. Es gab eine Zeit, da sah ich nur mitleidige Gesichter, wenn die Rede auf den Tagebau kam. Aber, mein Gott, ich war nicht im Gulag. Ich war auch nicht der arme Spinner, der sich bei ein bisschen Praxis verliert zwischen Staunen und Schrecken. Ich habe gearbeitet. Ich versuchte auch da, nach meinen Maßen und Möglichkeiten, nützlich zu sein. Punkt. Es war eine Zeit, die hatte ihren Anfang, und sie hatte ihr Ende. Kein Grund für Pathos, in welche Richtung auch immer.

Irgendwann nimmt man die Außenseiterrolle an?

Du lieber Himmel, welche sonst? Repräsentanten sind Arschlöcher. Und im Nachhinein - ich bin ja, wie gesagt, am Schlimmsten vorbeigeschrammt - ist vieles nur noch komisch. Bei den späteren Interviews zu der Uraufführungsaffäre der „Umsiedlerin“ haben Heiner Müller und ich fast so sehr gelacht wie zuvor bei der Arbeit. Aber damals war es natürlich manchmal überhaupt nicht komisch. Nach der Uraufführung waren Heiner und ich ins Kulturministerium bestellt worden. Das Gespräch war bedrohlich. Wir mussten hören, dass „einige Genossen gefordert hatten“, uns „zu verhaften“. Wären wir nicht so verstört gewesen, hätten wir uns bedanken müssen für die hohe Ehre: Der Satz könnte an jeden deutschen Klassiker und Aufklärer gerichtet worden sein. Anschließend gingen wir vom Molkenmarkt durchs Zentrum mit dem alten, damals noch kleineren Alexanderplatz und tranken in jeder Eckkneipe einen Schnaps. Heiners Lippen wurden immer schmaler, und er wiederholte fortwährend: „Es geht eben nicht mit Realismus.“ Ich habe verstanden, dass in Deutschland die Realität den Realismus erdrückt, seit

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zweihundert Jahren ... Dann gab es aber auch wieder Hoffnung. Und wieder Enttäuschung. Wechselbäder. Bei Brecht heißt es in den Liedern des Glücksgottes: „Sterne treten ungenau/ In ein neues Haus.“ Verse wie vom alten Goethe. Von dem Repräsentanten?

Der hat den Außenseiter sehr geschickt maskiert.

Goethe war so was wie das Konzentrat seiner Epoche. Man spricht von der Goethe-Zeit.

Er selbst sprach von seinem Werk als dem eines Kollektivwesens, das den Namen Goethe trägt.

Ließen Sie sich eigentlich nochmal sehen in Karlshorst, unmittelbar nach dem „Umsiedlerin“-Abend 1961?

Zwei Tage später wollte ich mir „Leonce und Lena“ von der Uni Leipzig ansehn, auch in der Studententheater-Woche, im Rahmen der Berliner Festtage. Eine Diskussionsrunde zur „Umsiedlerin“ am Sonntag war abgesagt worden. Noch verstand ich die Welt nicht, aber um die ging es ja auch nicht, es ging um die DDR. Als ich das Gelände betrat, sah ich den Darsteller von Otto Sieber Eierschieber, der stand da und sah über die Schulter: Achtung, er kommt! Er sollte mich offenbar melden. Am Eingang des Gebäudes, in dem das Audimax und die Mensa waren, stand ein Trupp meiner Darsteller, in der Mitte der karrieristische Bürgermeister der „Umsiedlerin“. Ich dachte noch: Sieh an, genau die Haltung, mit eingestemmten Armen, die er auf der Bühne hatte, nur jetzt nicht gespielt, sondern real. Der Trupp verweigerte mir den Zugang zum Saal. Ist ja makaber: Die lassen den Regisseur nicht rein, mit dem sie bis vorgestern gearbeitet hatten.

In der DDR herrschte Mangel. Aber nicht nur der Mangel, sondern auch die Mangel. Die herrschte wirklich. Die Studenten hatte man durch die Mangel gedreht, übers Wochenende. Die waren sozusagen platt61


gemacht worden. Einigen war die Situation peinlich. Der 2. Sekretär der SED-Grundorganisation, ein Lausitzer, hatte schon nach einer Diskussion, angesprochen von mir auf seine Zurückhaltung, den herrlichen Satz gesagt: „‘ch mächt ma sangn, s wirrd Diskussjohn’n gähm.“ Das war ein Satz fürs Leben. Rede frei von der Leber weg – das wird leichthin gesagt.

Wie denn? Die Leber hat keine Stimmbänder. Nun stand der Genosse am Rand dieser Szene und kontrollierte, wie ich „des Hauses verwiesen“ wurde. Ich stürzte raus, Geld für ein Taxi hatte ich nicht, an der Straßenbahnhaltestelle stand eine Studentin, sie hatte die Großbäuerin gespielt, und sie sagte: Na, da hast du ja jetzt was Schönes erlebt. Ich war durch den Wind und kam mir nicht sehr zurechnungsfähig vor. Die Straßenbahn wartete ich nicht ab, ich ging oder rannte zu Fuß. Auf halber Strecke zum S-Bahnhof quietschten neben mir Trabant-Reifen, der Leiter der Studentenbühne war mir nachgefahren und verlangte die Schlüssel fürs Internat. Während der intensiven Endproben hatte ich dort oft übernachtet. Von der Aufführung ist nichts dokumentiert?

Doch, einen Rundfunkmitschnitt gab es. Die Bänder lagen jahrelang im Archiv in der Nalepastraße. Dieter Kranz, der renommierte Theaterkritiker des Rundfunks, wollte 1990 den Schatz heben, aber die Bänder waren verschwunden. So blieben nur Fotos. Ein Gerücht sagt, ein HeinerMüller-Fan habe den Mitschnitt geklaut.

Oder jemand, dem Tragelehn was bedeutet.

Nein, meine Frau hat damit nichts zu tun (lacht laut) ... Ein Exemplar des Textes hatte Klaus Völker über die Grenze nach Westberlin gebracht, die anderen Textbücher wurden alle eingesammelt und vernichtet. Ich war inzwischen schon am Theater in Senftenberg, aber auch dort hatten sie eine Mangel, durch die sie einen drehten. Dort bekam ich mein Parteiverfahren. Karl Holán aus dem Kulturministerium schwang das große Wort, der spätere Intendant der Volksbühne.

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Der brüllte in der Tradition Freislers: „stinkende Frechheit abgrundtief“. So steht’s in der 5. der Klettwitzer Elegien.

„Aus diesem Regen in welche Traufe?/ Ich bitte um einen anderen Stern!/ Such, Seele, das Land der Griechen.“

Ein paar Zeilen weiter der Ruck durchs Gemüt: „Sag Ja/ Im Sturz/ Geh weiter.“ Können Sie hassen?

Weniger gut als --- verachten. Ja, ja, das kann ich durchaus. Aber lieber feixe ich, gerne auch mal schadenfroh.

Mit der „Umsiedlerin“ 1961 in Berlin hatte Ihr Konflikt mit der DDR begonnen, er führte letztlich zur Arbeit im Westen. Erst 1985 in Dresden und dann ausgerechnet mit der „Umsiedlerin“ kehrten Sie auf eine Bühne des Ostens zurück. Es war eine Rückkehr – und doch auch wieder ein Abschied. Denn danach gab es für Sie keine weitere Theaterarbeit im Osten.

Ja, eine doppelt symbolische Rückkehr. Es war Gerhard Wolfram, der „Die Umsiedlerin“ vorschlug. Am Deutschen Theater, wo er Intendant war, sollte ich Müllers „Quartett“ machen, aber plötzlich war er abgesetzt worden. Er ging nach Dresden und hat mich nach zwei Jahren dorthin eingeladen.

Über ihn lohnt sich ein zusätzliches Wort. Inge Keller sprach vom „Theatervater“, dem letzten. Nun, nach seinem Tod 1991, sei die Kälte kälter geworden. Wolfgang Engel nannte ihn einen „glaubwürdigen Menschen“. Ein Westkritiker hat geschrieben, Wolfram sei kein Dogmatiker, aber doch Funktionär.

Er war Funktionär, aber kein Dogmatiker. Wolfram war ein Ermöglicher, der viele Schauspieler und Regisseure entdeckt und wachgefördert hat: Funktionär funktioniert. Das gab’s auch.

Auf geschickten, listigen Wegen.

Es gab konfrontativen Widerstand. Aber es gab auch den Wider63


stand, der sich nicht gegen das System richtet, sondern, aus gelebtem Beteiligtsein heraus, auf eine Gesellschaftsveränderung innerhalb der Mauern zielt. Stabilisierung!

Die gewollt sein kann. Ich wollte sie ja auch, jedenfalls in meinen Anfangsjahren.

Das ist genau das Konfliktfeld, das einen Menschen aufrichtet - und aufreibt.

Ein Konfliktfeld, das dich in einen schönen Überschwang des Sinnvollen zieht, aber gleichermaßen Enge spüren lässt.

Man sprach damals leichthin aus, auch einem wie Wolfram sei der Sozialismus Herzenssache.

Wen interessierte denn das Herz. Außer dem Kardiologen.

Sicher war Wolfram auch Taktiker. Insgesamt aber waren seine zehn Jahre DT die Phase einer klug und schlau erkämpften Produktivität; Alexander Lang wurde Regisseur, das Duo Klaus Erforth/ Alexander Stillmark setzte seine starken Zeichen; die Depression des Ensembles nach der nahezu zerstörerischen Anselm-Perten-Regentschaft wurde überwunden. Zur Wolfram-Intendanz gehörte der Weggang Adolf Dresens in den Westen. Dresen selbst: „Er hat meine Ausreise legalisiert. Es war in seiner Ära, dass ich zu der Meinung kam, mit der DDR, das würde nicht mehr gut. Mit ihm selbst hatte das nichts zu tun, oder doch nur so viel, dass er diese Meinung, die ich in der Betriebsversammlung offen sagte, tolerierte.“

Wolfram wurde an einem schmerzlichen Punkt, vor Eröffnung des DT zum 100jährigen Bestehen, aus seinem Amt direkt vertrieben. Dieser Akt wurde natürlich von hauseigenen Kollaborateuren aus hoch edlen, also sehr niederen persönlichen Beweggründen befördert.

Mit der Dresdner „Umsiedlerin“ sind Sie dann sogar auf Westgastspiel gewesen: Köln, Düsseldorf, Hamburg.

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Das Kulturabkommen war gerade abgeschlossen worden. Es war trotzdem ein elendes Genehmigungsgezerre, bis das Gastspiel zustande kam. Hinterher witzelten wir: Wir hätten den Klassenauftrag nicht erfüllt, denn alle seien wieder zurückgekommen. Allerdings war es bezeichnend und bitter, dass Gäste, die ich für die Aufführung engagiert hatte, die also nicht im Dresdner Ensemble waren, keinen Reisepass kriegten. Eine ND-Rezension hatte übrigens auch nicht erscheinen dürfen. Und das war 1985! Aber dann stand dieses Gastspiel in der Bundesrepublik an, danach gastierten wir in Leipzig und in Berlin, im Deutschen Theater, und nun endlich durfte auch eine Kritik im Zentralorgan stehn. Als wär’s schon immer so reibungslos gewesen. Wo es doch zuletzt sogar nochden Hans-Otto-Preis für das Ensemble der Inszenierung gegeben hatte, aber mein Name nicht auftauchen durfte. Was fingen die Westdeutschen mit der „Umsiedlerin“ aus dem Osten an?

Das Stück erinnerte die Zuschauer – wie im Osten - an die Vorstellung, dass es vielleicht doch noch etwas anderes gibt als das Bestehende. Vielleicht steigen nach so einem Theatererlebnis Reste alter Träume auf. Es gibt diesen schönen Satz aus Brechts „Mahagonny“: „Aber etwas fehlt!“ In der Welt, in der man alles dürfen darf. Das können die Leute empfinden, unabhängig davon, welche politischen Ansichten sie haben … Die Arbeit in Dresden ist für mich übrigens mit einer seltsamen Anekdote verbunden. Zu einem Forum im Theater kam Klaus Gysi, damals Staatssekretär für Kirchenfragen. Er erzählte von einem Spaziergang im Park, es war vor Jahren, da saß Ulbricht, gerade von Honecker entmachtet, auf einer Bank. Er winkte Gysi herbei, ein einsamer Mann, aber noch immer mit der knappen Geste der Majestät: „Kommaher, erzähl mir mal was Gudes.“ Der abgesetzte König winkt seinen Narren. Er sieht bitterlich klar, er sieht, dass sein Reich mit dem Rücken an der Wand steht, aber er will, in alter Gewohnheit, mit aufbauenden Nachrichten betrogen, aufgemuntert werden. Wie ein erbarmenswürdiger König Lear, den’s in diesen Park verschlagen hat. Da sitzt er nun, eine arme Sau, und braucht seine Droge. Wie immer, denn die Wirklichkeit hat er nie ausgehalten, immer mussten ihm seine Narren „was Gudes“ 65


erzählen. Aber das „Kommaher“ erinnerte eben auch an das Herrische, das die Angst vor der Realität verdrängen soll. Für den Schauspieler, der in der „Umsiedlerin“ den Kreissekretär spielte, war mit dem „Kommaher“ die Grundhaltung gefunden. Die Funktionärshaltung in den Jahren nach dem Krieg stand nach dreißig Jahren nicht mehr gleich vor den Augen. Die Partei hatte 1961 in Bezug auf „Die Umsiedlerin“ von „verbrecherischer Regie“ gesprochen.

Das Wort „verbrecherisch“ wehte aus der Parteigruppe des Berliner Ensembles herüber. Heiner Müller las es Jahrzehnte später vor. Das BE hatte es schriftlich im Archiv. Ha! Schönste Treffsicherheit. Denn ohne „kriminelle Energie“ entsteht keine Kunst. Auftrag der Kunst ist es, schrieb Müller, „die Realität unmöglich zu machen“, sie zu blamieren.

Die offizielle Reaktion auf Ihre Arbeit offenbarte, was die gesamte SED-Herrschaft auch in so vielen anderen Bereichen durchzog: Angst.

Es war die Angst von Leuten, denen die russischen Besatzer die Macht geschenkt hatten. Eine Angst war es, die aus Kommunisten Gespenster machte.

Vom Volk gefoppt, gefürchtet.

Aber auch gefüttert.

Stillhalten, auch wenn das Gemüt längst träumend auf und davon war so sah sie aus, die sozialistische Gemütlichkeit.

Die Menschen erstarrten schneller als der Mauerbeton.

Herrschend das Prinzip Wandlitz. Leicht zu beschreiben: Im Wald eine Villa, vor der Villa ein Westauto, im Auto ein Mann, im Mann ein Herz, im Herzen die Liebe zum Sozialismus … Isolation beförderte die Phantasie. Überall lauerten Feinde.

Der Unterschied zwischen Politbüro und Dissidenten ist der: Ein Dissident ist ein Einzelner, und der Einzelne, der sich absonderte, ist er der Abtrünnige. Die Parteiführung aber war eine Gruppe, die sich absonderte, die nannte man Avantgarde.

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Worin, glauben Sie, lag die Tragik der Kommunisten in der DDR?

In der erwähnten Angst, mit der die Kommunisten immer leben mussten - nicht obwohl, sondern weil sie Macht bekommen hatten. Der Sohn von Hanns Eisler, später ein Wiener Maler, ging mit seinem Onkel Gerhart, einem alten Komintern-Mann, in Berlin spazieren. Von dem Bunkerberg in Friedrichshain sahen sie über die abendliche Stadt, und der Alte sagte: „Das ist nun unser Berlin, siehst du. Und überall, wo ein Licht angeht, sitzt einer und überlegt, wie er uns die Kehle durchschneidet.“ Es gab reale Angst, und es gab mythische Angst, und um die Angst loszuwerden, gab es die - Säuberungen. Die ziehen sich durch die Arbeiterbewegung. Das war die Therapie der Partei, mit der sich viele von der Angst befreit haben, von der realen und der mythischen, eine tödliche Befreiung.

Die beriefen sich bis zum Schluss auf Marx.

Da konnte man nur raten: Bitte nicht so laut, er könnte euch hören.

Die waren auch unbelehrbar vom Sieg des Sozialismus überzeugt.

Sie glaubten nicht mehr wirklich dran.

Unser System gab sich noch in seinen Fehlern perfekt.

Ha! Plötzlich war es Plusquamperfekt.

Die ewig zweifelsfreien Erklärer im Parteiauftrag. Einem bestimmten Typus und seinem Verhalten nach 1989 widmeten Sie eine Xenie.

„Mit all dem Zucker von Staat und Partei noch im Hintern was tut er/ Wichtig tut er und sich grundsätzlich immer nur leid.“

Der Marxismus überführte die Philosophie Hegels in die Soziallehre. Das immerhin war revolutionär.

Praktische Folge, etwa in der DDR: Sozial konnte man eigentlich nicht scheitern, aber politisch sehr wohl und sehr schnell. Die einfältige Logik war: Die Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität, und der Mensch, selber Materie, hat einzig danach zu streben, unter Anleitung 67


durch Ideologen und Parteisekretäre diesen Sachverhalt richtig widerzuspiegeln. Daher das höllische Misstrauen gegen das fragende, zweifelnde Individuum. Honecker hob die Faust, als er 1991 ins Auto stieg, das ihn aus Moabit zum Flugzeug nach Chile brachte.

1991, ja. Wieder Verse: „Den Sieg hat er geübt und geübt/ Vierzig Jahre. Die Niederlage/ Wurde ihm beigebracht vor sechzig./ Aber wer lernt aus der Geschichte.“

Welches war eigentlich Ihr erstes Gedicht?

Das erste gedruckte Gedicht heißt „An K.“ Es ist von 1956. Sechs Strophen. Zwei davon: Auf kleine gefaltete Zettel aus schlechtem Papier Kritzelst du sorgfältig hin und wieder Gute Gedanken. Ohne Hoffnung auf Klarheit. An den berühmten Ansichten zweifelnd, sagst du:

Das Sicherste ist nicht mehr sicher, warum Sich festlegen? Und streichst das Geschriebene aus. Die dein Brot backen, nehmen dich nicht zur Kenntnis. Du lachst darüber fast ohne Hochmut.

Die ersten Gedichte, die ich schrieb, reagierten auf den XX. Parteitag der KPdSU mit Chruschtschows Geheimrede. Was da gesagt wurde, sollte eigentlich bleiben, aber es blieb natürlich nicht geheim. Wenn Sie’s heute lesen?

Rührung. Ja, geb ich zu. Die Nüchternheit beim Blick auf die Lage stritt sich mit dem Eifer, weiter kommunistisch zu träumen. Die Frage war, wie kann man den Eifer als etwas Gutes bewahren, ohne das Misstrauen, die Nüchternheit aufzugeben. Oder: Wie kann man Eifer als etwas Gutes bewahren und zugleich Nüchternheit und Misstrauen schärfen. Da war doch die Gefahr, sich einzumauern.

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„Bald bist du ganz vernagelt in vier Wände/ Und fragst nicht mehr nach dem Ausgang.“

So der Schluss, ja.

Wer ist K.?

Die klare Antwort: ich. Aber das Kürzel allerlei literarischer Ballast. Die Namen der Dichter, die mit K beginnen.

Die Frage an den Gedichteschreiber: Warum?

Warum was? Das Schreiben? Manchmal frag ich mich selber, was das soll. Die Frage gab’s für mich in jeder Lebensphase. Zum Glück hatte sie nicht durchgreifende Kraft. Sie konnte sich immer wieder wegschreiben lassen. Wie man Flecken wegwischt. Schreiben ... Es ist eine Angewohnheit, eine, von der man weiß, dass sie einen entlastet. Man schickt Erfahrung auf einen Transport und versucht, den Transport abzusichern. Ein Konzentrat transportiert sich besser.

Wie müssen Gedichte sein?

Wie Musik von Webern. Zum Beispiel opus 7, kurze Stücke für Violine und Klavier, sehr konzentrierte, sozusagen kristalline Gebilde. Diamanten etwa bilden sich unter hohem Druck. Solche Gebilde herzustellen …. Manchmal gelingt es.

Gab es Vorbilder?

Als ich anfing, Gedichte zu schreiben, hat mich Georg Trakl sehr beschäftigt. Gedichte, in denen ein zerrissenes Herz schreit, in denen das Leben eine böse Schräge aus Krieg ist, auf der Menschen abrutschen, hochklimmen wie „blinde Zeiger gen Mitternacht“.

Wenn man Ihre Gedichte liest, stößt man immer wieder auf die Genauigkeit, mit der politisches Geschehen registriert wird. Der Hintergrund Ihrer Dichtung. Oder Vordergrund?

Am Tag, da Chruschtschow abgesetzt wurde, 1964, probierte ich in Parchim einen Molière. Die Nachricht traf mich früh am Morgen, am 69


Theatereingang, die Brille fiel mir runter und zerschellte. Ich war gewissermaßen hilflos, ich sah nicht viel auf der Probe. Ich wohnte am Stadtrand, der Assistent fuhr raus und holte mir die Ersatzbrille. So hab ich mir‘s gemerkt. Es gibt einen Porträtfilm über Martin Walser, der etwa Siebzigjährige wird gefragt, was ihm von der bundesdeutschen Studentenbewegung besonders in Erinnerung geblieben sei, er geht an einen Schrank und nimmt ein buntkariertes, sauber zusammengelegtes Hemd heraus. „Dies hier.“

Die kaputte Brille gehörte für mich zum abgesetzten Generalsekretär. So ist das mit der Erinnerung. Sie greift nach der kleinen Wirklichkeit, wo wir später große Schritte gesehen, empfunden, erkannt haben wollen. Aber etwas bedeutend Politisches, das zum Beispiel mit Chruschtschows Absetzung in Moskau in Scherben ging, lässt sich nicht automatisch höher ansetzen als die Scherben einer Brille in Parchim. Immer steht die Frage: Wen betrifft was? Ich stand ohne Brille da, und wenn einer eine Brille braucht, sagt er den Satz „Ich glaube nur, was ich sehe“ ganz anders als einer, der keine Brille braucht.

War Ihnen Stil wichtig?

Uninteressant, Form ergab sich. Schreiben war mir Abfuhr, Ausgleich, Aus-Druck, und der Druck, der sich mir bemerkbar machte, konnte private und politische Anlässe haben. Wir sind wieder bei der Brille in Greifswald, Scherben sind Scherben, ob vom eigenen Teller oder von der Welt. Jede Ansicht hat ihr Datum. Goethes Begriff vom Gelegenheitsgedicht leuchtete mir immer ein. Man delegiert die Gelegenheit in einen Zustand, drin sie neu und anders aufleuchtet. Morgen schon können sich die Koordinaten und Perspektiven verschoben haben.

Ihr erster Gedichtband, ein „Poesiealbum“ im Verlag Neues Leben, kam nicht zur Auslieferung.

Ich habe mich über den Verlag „Neues Leben“ beschwert. Herr Höpcke, der Bücherminister, lud mich zum Gespräch und ließ meine

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Gedichte nach Leipzig weiterreichen, zum Reclam Verlag. Der war unter der Ägide von Hans Marquardt immer wieder zuständig für Problemfälle. Und tatsächlich haben Marquardt und seine geschickt ausgewählten Mitarbeiter allerhand Unmögliches möglich gemacht. Allerdings wäre aus Planungsgründen eine Publikation erst im übernächsten Jahr möglich gewesen. Ich saß aber schon in Frankfurt am Main im Theater, weil die Theater der DDR mir keine Arbeit mehr geben wollten. Und ich hatte die Schnauze voll. In Frankfurt tat sich eine Chance auf für ein erstes Buch. Bei K. D. Wolff.

Er hatte den Verlag „Roter Stern“ gegründet, der mit Wahnsinnsunternehmungen wie der Herausgabe der faksimilierten Handschriften Hölderlins begann.

Dieses erste Buch von Ihnen hieß „NÖSPL“. Das war die Abkürzung für Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung in der DDR, eine Reformkonzeption noch unter Walter Ulbricht, in Angriff genommen von Erich Apel, der sich 1965 erschossen hat.

Der Titel war für Bundesbürger ausländisch, eine Art Hieroglyphe. Die Verwirrung wollte ich, und sie gelang. Das Wort NÖSPL erwies sich als geeignet für Gesellschaftsspiele. Ein kleines Mädchen in Frankfurt sagte, das sei eine Automarke, ein Wiener Philosoph vermutete den Namen eines Dorfes in Nordrhein-Westfalen, und eine Schauspielerin in Westfalen vermutete einen Wassergott.

Das Quiz mit NÖSPL bestätigt die Weltentrennung zwischen Ost und West. Als Christoph Hein, Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit, in einer TV-Literatursendung interviewt wurde, verwies der Moderator auf des Autors Novelle „Der fremde Freund“, die sei ja „erst in Deutschland, dann erst in der DDR“ veröffentlicht worden.

Östlich der Elbe war für den Westbürger Steppe, Sibirien. Unvergesslich die Frage junger Leute in Stuttgart, als ich nach meiner ersten Inszenierung im Westen nach Hause fuhr in die DDR: Und wann bist du wieder in Deutschland? Die Frage hatte nichts Polemisches, sie kam 71


nicht aus dem Hass, sie kam aus der Unschuld. Unschuld ist nie rein. Das eint sie mit der reinen Lehre. Tja, wo fängt Säuberung an? Weiß ich, aus eigener Erfahrung. Kann ich Ihnen also genau sagen. So fängt sie an: Gesagt hatte ich – rein gar nichts; von Kritik und Selbstkritik – nicht eine Spur; die Zweifel – unter den Teppich gekehrt. Folgerichtig wurde ich gelobt. Für meine – saubere Haltung.

Kann man bei der Krimi-Klassikerin Dorothy Sayers lesen: Muss reinen Tisch machen/ Sagte der Lappen zum Krümel.

War die Zusammenstellung der „NÖSPL“-Gedichte vorsichtig?

Nein. Heiner Müller erschrak und sagte, dass er wieder mal das Gefühl hätte, mich beschützen zu müssen.

Sie waren DDR-Bürger, und im Westen ein Buch veröffentlichen, ohne Erlaubnis …

Mut war’s nicht, ich hatte einfach nur, wie gesagt, die Schnauze voll. Wenn sie mich belangen wollten, konnten sie das immer, die einschlägigen Paragraphen waren aus Gummi. Ich habe Glück gehabt. Wahrscheinlich wollten sie kein Aufsehen. Von den Exemplaren jedenfalls, die ich an Freunde in der DDR verschickt habe - nicht etwa aus dem Westen, sondern von einem Ostberliner Postamt -, ist kein einziges beim Empfänger angekommen.

Was ist für Sie Übersetzen?

Gehen übers Wasser.

Also ein Wunder.

Übersetzungen, wie nenn ich sie? „Übergesetzt/ Vom Ufer der einen zum Ufer der anderen Sprache/ Rauscht in euch weiter der Strom/ Der sie verbindet und trennt.“ Von Jesus haben manche gesagt, als er übers Wasser ging: Kiek mal, schwimmen kann er ooch nicht … Weniger geblödelt, gilt dieses Motto: „Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muss, anstatt dem Sinn

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des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.“ Walter Benjamin 1923. Beim Übersetzen denke ich: Irgendwas in einem Text wartet auf Befreiung. Das suche ich. Ich höre, ob es Laut gibt, wenn ich mich nähere. Im dunklen Raum der fremden Sprache. Wem zeigten Sie Ihre ersten Gedichte?

Heiner Müller zum Beispiel. Er hatte durchaus eine pädagogische Ader (lacht).

Erzählen Sie über Heiner Müller.

Müller hatte die Erfahrungen Brechts schon ein wenig sortiert, als ich ihn kennenlernte. Er hat mich davor bewahrt, ein Sektierer zu werden. Er war sieben Jahre älter als ich, und ich, ein Einzelkind, hatte plötzlich einen großen Bruder. Und vielleicht hatte ich Schutz wirklich nötig. Ich bekam schnell die Wut, andererseits war ich sehr verschüchtert, zum Beispiel im DT. Und ohne Hang zum Leichtsinn hätte ich wahrscheinlich „Die Umsiedlerin“ gar nicht durchboxen können. Heiner sagte manchmal zu mir: Trink ein paar Schnäpse vor der Probe. Heiner war ein sehr liebenswürdiger Mensch, nie laut, wie auch seine Stücke nicht laut sind. Leicht und leise war er, wie die alten Volkslieder, die er liebte. Lärm war ihm fremd, Lärm ist die Angst des Theaters, es ist Pfeifen im Wald.

Müller wurde auch gehasst.

Und wird gehasst. Wen wundert das? Es gibt genügend Grund. An uns ist es nach wie vor, dass dieser Grund nicht schwindet. Sein Werk hilft uns: Es geht auf den Grund, es beschreibt den Horror. Das genau lud und lädt zum Hass ein, also hat man ihn auf der Seite der Bequemen und Beschränkten zum Zyniker, zum Lobsänger des Stalinismus, zum Liebhaber der Apokalypse gemacht. Grund … Sie haben das als „schönes Wort“ bezeichnet. Das Infernalische daran, ist das auch – schön?

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Grund, das ist nicht nur Begründung, das ist auch der absolut tiefste Punkt einer Sache, eines Gedankens. Ja, das Infernalische. Das ist schön wie der Schrecken, der als Erleuchtung in die Welt fährt. Wie ein Blitz. Grund, das ist: Ausgangspunkt, das ist Anfang und kann aber auch Endpunkt sein, Fluchttür. Oder Tor ins Leere, in das man mit dem Schritt über die Schwelle stürzt. Müller hat „Die Umsiedlerin“ abwechselnd sein bestes und sein liebstes Stück genannt.

Ich hab mal geschrieben, es ist das Stück mit dem meisten Stoff, und je älter es wird, desto deutlicher wird: Der Stoff verbrennt, und eine Musik von strahlender Heiterkeit ist zu hören.

Woher die Heiterkeit?

„Die Umsiedlerin“ ist das einzige große Lustspiel der deutschen Literatur. Müller hat es vor den großen Tragödien geschrieben.

Müllers Erinnerungen, auch seine Gespräche wirken belebend locker, unangestrengt, es fehlten jene Art Recherchen oder Stichhaltigkeiten, die ja immer etwas Beflissenes haben.

Müller war detailgenau bei sich selber. Ansonsten hörte er wie ein Luchs in alle Richtungen, nahm alles auf, kombinierte und kolportierte. Er sprach leise. Denn: Wenn alle nicht alles verstanden, konnte er es morgen noch einmal erzählen, aber ganz anders. Ich weiß noch, eines Tages Telefon: Fritz Rödel habe eine Einstweilige Verfügung beantragt gegen die Autobiografie von Müller. Da stünde drin, was er, Rödel, nie gesagt hätte, und ich sollte Müllers Aussage bezeugen. Was ich gern tat. Rödel war zur Zeit der „Umsiedlerin“ im Kulturministerium. Er riet Heiner und mir, einen Brief an den Kulturminister zu schreiben, einen einsichtigen, reumütigen schriftlichen Kniefall. Er wollte die Dringlichkeit, den Ernst unterstreichen und sagte, damit wir nicht den Eindruck bekommen, es gehe hier um fachliche Fragen – obwohl man natürlich durchaus fachlich an all diesen Fragen interessiert sei -, wolle er uns nicht verschweigen, dass Genossen gefordert hätten, uns zu

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verhaften. Die Paranthese mit den fachlichen Fragen hatte sich mir eingeprägt. Die Einstweilige Verfügung wurde abgewehrt, Heiner versuchte später, mit Rödel zu reden, der blieb aber stur und ließ nicht ab von seinem Vorwurf der Lüge. Das Buch hat’s überstanden, es blieb auch stur. Sie waren mit Heiner Müller eng befreundet, ich behaupte: nicht ohne Sinn für Eigennutz.

Freundschaft ist Eigennutz, man will sich selber Gutes tun. Bei La Bruyère gibt es die sehr zutreffende Maxime: Ein Sklave hat nur einen Herrn, aber Ehrgeizige haben so viel Herren, wie es nur eben gibt - die ihnen bei ihrer Verbesserung von Nutzen sein können. Aber von der Uraufführung von „Umsiedlerin“ 1961 bis zur Uraufführung von „Quartett“ in Bochum 1982 hab ich nichts von ihm machen können. Es gab Argumente wie: Die beiden Namen sollen doch besser nicht wieder zusammen erscheinen. Als ich im Westen war, hatte sich schon ein Nachholbedarf angestaut, und da ich mir aussuchen konnte, was ich mache, hab ich mir Müller ausgesucht.

Welcher Geist einte?

Heiner kannte keine Kategorien wie Falsch oder Richtig, Links oder Rechts, Sieg oder Niederlage – solche fade, falsche Trennung taugte nicht für eine Zeit „zwischen Eiszeit und Kommunismus“. Was er in seinem Werk aufdeckt, ist der Skandal der bürgerlichen wie der kommunistischen Geschichte: die Vereinigung, die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Terror. Denn immer wieder gelang es, Menschen davon zu überzeugen, es gäbe, einer höheren Ethik zufolge, so etwas wie die Versittlichung des Mordens. Müllers Dramatik: als hingen Blutfahnen schwarz weltabwärts.

Na ja, Spiel des Windes, der sie zaust, die Fahnen.

Man sagt von Menschen, die gestorben sind, sie weilten nicht mehr unter uns. Das ist falsch. Jetzt erst weilen sie unter uns, denn sie wurden ins Grab gelegt. Müller ist lange tot. Droht auch ihm, wie Max Frisch über Brecht sagte, die Wirkungslosigkeit eines Klassikers?

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Wie alle großen Werke sind die Heiner Müllers geräumig, es kann sich in ihnen Vieles und Verschiedenes bewegen. Und mit dem Wechsel der Zeit wächst ihnen neues und anderes Leben zu. Aber natürlich gibt es auch die Wellen, die der Kulturbetrieb schlägt. Nach der großen Welle, die auf Müllers Tod folgte, ist nun Ebbe.

Wenn eine Welle ihren Höhepunkt hatte, folgt ein Wellental.

Das kann sehr tief sein.

Je höher der Kamm, desto tiefer das Tal, aber auf jedes Tal folgt wieder ein Kamm. Wellen sind so. Und die größte Tugend gestorbener Dichter ist ihre Geduld. Sie können warten. Was uns Lebenden so schwerfällt.

Was steht seinem Werk heute entgegen?

Der Versuch, Geschichte abzuschaffen. Man erschrickt, wenn einem bei irgendeiner Gelegenheit auffällt, dass durchschnittlich gebildete Leute weder von Friedrich von Preußen noch von Napoleon Bonaparte etwas wissen. Von Fernerem oder gar von Näherem ganz zu schweigen. Ohne ein paar Kenntnisse kann es keinen Sinn für Geschichte geben. Wahrscheinlich kann nur ein starkes materielles Interesse, ein Interesse von vielen das wiederbeleben. Denn wenn es keine Vergangenheit gibt, dann gibt es auch keine Zukunft. Und so ist das, was als Abschaffung der Utopie sich ausgibt, tatsächlich eine Abschaffung der Zukunft. Es bleibt nur leere endlose Gegenwart. Eine negative Utopie. Brennspiegel und abgekürzte Chronik des Zeitalters - was Hamlet von den Schauspielern sagt, ist Heiner Müller für das vergangene Jahrhundert?

Damit steht er gegen die Gegenwart. Aber schon als Kind hatte er den Horror gesehn und hat ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Der Blick, von dem Kleist vor einem Bild Friedrichs spricht, als ob einem die Augenlider weggeschnitten seien, so war sein Blick. Vergessen und vergessen und vergessen, ein achtmal schmerzhaft wiederkehrender Vers in seinem vorletzten Stück, sagt, wogegen er geschrieben 76


hat. Die Erfahrungsspur zu fixieren, ist wichtig in einer Zeit, da die neuesten Sieger der Geschichte das Urteil sprechen: Es soll nicht gewesen sein. Müllers Stücke sind unser Gedächtnis. Müller war Linkshänder. Ja, und?

Er hat sehr früh Lesen und Schreiben gelernt, vor der Schule, sein Vater war nach der Entlassung aus dem KZ arbeitslos und hatte Zeit, ihm das beizubringen. So ist er ohne den schulüblichen Druck Richtung „schönes Händchen“ beidhändig geworden. Das ist etwas, was Auswirkungen hat auf das Raumgefühl. Er konnte mit beiden Händen schreiben, und er hat zum Bespiel seitenverkehrt auf eine Glasplatte geschrieben, für Filmaufnahmen. Durch die Glasplatte. Die Schrift sah aus wie immer.

Was in seinen Stücken Ausdruck fand, ist ihm früh und unabänderlich angelegt gewesen?

Ja, das ewige Auf und Ab. Und erst in den achtziger Jahren kam der Ruhm. 1986 erhielt er sogar den Nationalpreis. Das war die Antwort auf den Büchner-Preis, den er ein Jahr zuvor bekommen hatte. In Anwesenheit des Bundespräsidenten! Darauf hat die DDR gesagt: Das ist aber mein Puppenlappen! Die DDR hat ihn gedrückt, so konnte er ein größeres Weltereignis werden als die, die auf der vermeintlichen Hauptstraße der Geschichte treu im Kreis liefen, den eine Mauer vorgezeichnet hat. Er war der beständige Kosmonaut, denn er betrachtete die Ameisenmenschheit von weit oben, aus dunklem Weltraum: Nichts bewegt sich. Aber alle meinen, die Zukunft zu stürmen.

Die Abstände schaffen den Wert?

Bis Fremdheit uns anschreit aus nächster Nähe.

Muss man dem Publikum nicht entgegenkommen?

Einem Publikum ein Werk nahe bringen zu wollen, ist tödlich. Jede Eigenart, jeder Eigensinn besteht auf Fremdheit, auf Unterscheidung - gutes Theater nähert sich nicht, es entfernt sich. 77


Politisches Theater heute. Gibt es noch Baupläne?

Worum es gehen müsste, wären Ideen gegen die geistige Obdachlosigkeit. Baupläne sind vorhanden, aber sie sind vergilbt, eingerissen, unleserlich geworden. Alle Gegend bietet ihren Grund an: den Sumpf.

Also, was tun?!

Den Mainstream meiden. Der ist für die weniger Begabten.

Fremdheit, sagen Sie. Geheimnis entsteht dort, wo etwas scheinbar Gewichtiges mit Wonne undeutlich wird. Der schönste Lichteinfall ist jener, der die dunklen Rückstände trifft – auf diese Weise ist das Leben schon ganz und gar erzählt.

Das hat Müller früh bestätigt bekommen. Mit der „Umsiedlerin“ hatte er erstmalig den Aufstand der Zensoren erlebt. Als er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, sagte ihm der Sekretär des Verbandes, nun werde, wenigstens zwei Jahre lang, kein Hund ein Stück Brot von ihm nehmen. So wird er ein DDR-Autor im Westen, dank Claus Peymann, Matthias Langhoff, Manfred Karge in Bochum.

Und dank B. K. Tragelehn. In der „Hamletmaschine“ ist die Regieanweisung zu finden: „Zerreißung der Fotografie des Autors“. Müller betreibt eine symbolische Zerstörung seiner selbst, und just diese Szene gehört zu den Unvergesslichkeiten seiner Inszenierung 1990 am Deutschen Theater.

Das kann man ganz komisch, ganz profan sehen: Der Autor ist immer auch ein Unterhalter, der der Gesellschaft, die er untersucht, immer auch Material für Amüsement liefert.

Der Markt verachtet seine Kritiker, indem er sie hofiert.

Der Markt ist ein Ekel.

Die Folge?

Man möchte im Mainstream Versteckspieler sein, und findet sich wieder in der Rolle des Aufspielers. So funktioniert das Theater!

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Es gibt Sätze über Müller, die gehen einem nicht mehr aus dem Herzen. Der britische Essayist John Berger: „Man hat dich oft angeklagt, die Dinge zu zerbrechen, aber niemand hat dich je selbst etwas zerbrechen sehen.“ Stephan Hermlin, erinnernd an die im BE täglich stattgefundenen Lesungen nach Müllers Tod 1996: „Die Menschen, die sich seinetwegen versammelten, verspüren einen Verlust, den sie nicht ersetzen können, vielleicht auch so was wie Reue, als hätten sie etwas versäumt.“.

Es braucht und kostet Kraft, so liebenswürdig, so heiter im Einverständnis mit einer Welt zu sein und zu bleiben, die sofort ihre Sinnlosigkeit bleckt wie eine grinsende Zahnreihe, wenn man es mit der Idee, Welt sei änderbar, übertreibt.

In einem seiner Gedichte, Tristan 1993, heißt es: „In den Augen meines Kindes las ich/ der zu viel gesehen hat die Frage/ Ob die Welt die Mühe des Lebens noch aufwiegt/ Einen Augenblick eine Schreckensnachricht/ Einen Werbespot lang war ich im Zweifel/ Soll ich ihm ein langes Leben wünschen/ Oder aus Liebe einen frühen Tod“. Wahrhaftiger kann ein Autor nicht sagen, dass er aus einem Jahrhundert kommt, das nie ein Ende haben wird. Er sagt es in jener harten Poesie, die kommende Zeiten mit den Gespenstern versorgt, denen jede Zukunft gehört.

Finster. So sehr man sich dagegen wehren mag, man kommt nicht umhin, Heiner Müller zu zitieren: „Die stalinistische Struktur war ein Trainingslager für die Überlebensbedingungen des Kapitalismus. Unter sehr unterentwickelten Bedingungen; deshalb hat es nicht geklappt. Wenn die Festung Europa nicht mehr zu halten ist und die Bürgerkriege militante Formen annehmen, wird es einen strukturellen Stalinismus geben.“ Um nochmal auf „Die Umsiedlerin“ zu kommen. 1976 wurde das Stück an der Volksbühne inszeniert. Von Fritz Marquardt. Es hieß nun „Die Bauern“.

Die getarnte „Umsiedlerin!“. Kein Wort war geändert, nur der Titel. Aber die Partei wollte sich nicht revidieren in ihrem Urteil über das 79


Stück, also bekam es einfach ein anderes Etikett. Man wollte unangegriffen bleiben. Die Wahrheit siegte, indem sie umformulierte (lacht). Fritz inszenierte bewusst historisch und versuchte, sich mit Monumentalismen der Arrangements zu retten. Ist schon irre, wie sich so ein undefinierbarer Fluch über dieses Stück legte. Alle, die sich damit beschäftigten, verkrampften irgendwie. Entweder Monumentalismus oder Naturalismus; man verschliff das kunstvolle Leichte. Ich kannte Fritz gut. Er war ein scheuer und knorriger Mann. Er war übrigens bei der Uraufführung im Publikum. Als ich in Greifswald arbeitete, war er in Parchim. Da gingen ja alle zwei Jahre Berliner Absolventen hin, um sich ein bisschen frei zu fühlen. Margit Bendokat, Jürgen Gosch. In Parchim wurde schon seine erste Regie zum Skandal, die Obrigkeit zählte die Anzahl des Wortes „Pissen“ im „Woyzeck“, man wollte Marquardt entlarven, aber zensierte Büchner. In den Argumenten von Marquardts Schweigen konnte man sich verlaufen wie in einem dunklen kalten Wald.

Fritz kam aus dem Warthebruch. Er wollte eigentlich Förster werden. Das Leben an der freien Luft kam für ihn zu DDR-Zeiten nur im geschlossenen Raum der Theater zustande. Atemschöpfen bei den Dichtern. Regisseur war er immer auf eine brummig unverzagte Weise, die bei den Wurzeln blieb und nicht fliegenden Fahnen nachrannte. Ein Komödiant. Aber keine lustige Person. Er war gehemmt. Viele konnten nicht mit ihm. Er hatte auch etwas müde Französisches im Habitus, als wolle er Benno Besson ins Preußische übersetzen. Das ging natürlich nicht. Aber es hatte trotzdem Charme.

Sie probierten 1973 Müllers „Die Korrektur“ und „Herakles 5“, mit Schauspielschülern in Ostberlin.

Gemeinsam mit Einar Schleef.

Genau, auf ihn will ich hinaus.

Manchmal probten wir bei ihm zu Hause.

Das Projekt wurde sofort verboten.

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Es genügte ein Anruf von Studenten aus Westberlin, sie hatten von unseren Proben gehört, wollten sich die Aufführung ansehn und fragten nun telefonisch schon mal nach Karten. Die Erkundigung am Telefonapparat sorgte für den Kurzschluss im politischen Apparat. Panik brach aus, wir mussten die Proben abbrechen. Das Gleiche dann bei Thomas Braschs „Lovely Rita“ am Berliner Ensemble. 1975 dann der nächste Schlag: Die Inszenierung „Fräulein Julie“, eine Arbeit von Ihnen und Schleef, nach August Strindberg, erlebte nur neun Aufführungen.

Aber zunächst erlebte sie die Premiere! Das immerhin muss doch festgehalten werden. Abenteuer und Erfolg genug! Als unter der Intendantin Ruth Berghaus das Berliner Ensemble erlöst wurde aus seinem Schattendasein als Museum, das zum x-ten Male und in der dritten und vierten und fünften Besetzung alte Inszenierungen zeigte, da konnten Einar Schleef und ich, abgeschirmt von Berghaus, diese StrindbergUnternehmung durchstehn. Danach freilich ging in der DDR für uns nichts mehr. Ruth Berghaus, eingeklemmt zwischen den Behörden und den Brecht-Erben, wurde bald abgelöst.

Sie zerrieb sich.

Und sie wurde zerrieben. Und am Hause debattierte man nur sehr vorsichtig, also ungern und knirschend, ob das noch dem Theater Brechts entpricht. Die Redaktion von „Theater der Zeit“ verbrauchte drei Rezensenten, ehe sie einen Text zu „Fräulein Julie“ durchließ.

Wir haben in den letzten Jahren oft darüber gesprochen: Leider gehörte auch ich, als Kulturredakteur in der Jungen Welt, zu den Ignoranten und Dummköpfen. Meine Kritik bellte mit im Chor der Pawlowschen Hunde. Ideologischer Wadenbeißerdienst. Mehr ist und bleibt da nicht zu sagen, außer der nachwachsenden Scham: Wie unmerklich man in eine Tradition des Irrtums gerät: ein Kommentar sei kein Gummiknüppel.

Niemand von den Offiziellen oder den zum Schweigen oder Schimpfen bestellten Rezensenten wagte es, an den Kern zu rühren, der in jeder Vorstellung – das wage ich zu behaupten - das DDR-

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Publikum ins Herz traf: die Dialektik von Herr und Knecht. Wo doch die Herren, wenn man die Programmatik für wahrnahm, abgeschafft waren. Vermeintlich. Das sage ich - einstiger Parteijournalist – heute. Erst heute.

Abgeschafft: die Herren ja. Aber wo nun Volk draufstand, blieb doch Herrschaft drin: Herrschaft der Kader. Die alte Erfahrung: Immer entsteht, wo Freiheit auf die Fahne genäht wird, erneut wieder mehr Herrschaft als Freiheit. Jutta Hoffmann sagte, sie habe bei „Julie“ zum ersten Mal das Gefühl gehabt, da säße kein homogenes Publikum im Saal, sondern man könne mit Händen das Einzelne greifen, die Aufspaltung, das Gewoge der unterschiedlichen Erfahrungen und Empfindungen bei diesem Thema, eine Befreiung, provozierend.

Herr und Knecht … Es gibt diese Anekdote über Brecht, Volker Braun hat sie aufgeschrieben: Brechts Assistenten sind entsetzt, denn sie sehen auf den Feldern verrostende Ackergeräte, das Unkraut wuchert – das soll das Neue sein? Brecht aber freut sich: Seht, die Bauern und Landarbeiter haben keine Angst mehr, ihnen ist ihr Wohlbefinden wichtiger als die Arbeit, die für sie stets nur Fronarbeit war. Sie denken an sich und nicht mehr an die Leistung. Die wird ihnen nicht mehr abgepresst. Das genau sei das Neue.

Ja, so muss die Wahrheit sein: gut erfunden.

Volker Braun hat’s geschrieben.

Würde mich aber nicht wundern, wenn der Urheber Wekwerth gewesen ist (lacht). Alles Lehrgedicht und Parabel!

Wie reagierten die Schauspieler im Haus auf Ihre „Julie“-Arbeit? Komödianten sind anders als jede Obrigkeit.

Komödianten sind praktische Leute in jede Richtung. Sie haben eine Vorsicht, die ich achte, und einen Wagemut, den ich liebe. Andererseits …

Ja?

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Der Gaukler ist immer unschuldig. Seine Abhängigkeit, um spielen zu dürfen, ist von seiner Freiheit, spielen zu können, nicht zu trennen. Es gibt wahrhaftige Sätze von Ulrich Wildgruber über die Komödianten: „Sie müssen täglich Fußtritten ausweichen. Sie sind neidisch, denn sie sind viele, und die guten Plätze sind rar. Sie sind empfindlich, denn die Scheinwerfer zerfetzen täglich ihre Haut, und niemand klebt ein Pflaster drüber. Sie finden keine Ruhe, denn sie müssen dem Erfolg nachreisen, immer, sie haben Angst, denn Erfolg ist schwer bestimmbar, doch müssen sie sich täglich mit seinen Schwingungen auseinandersetzen, die gar nicht zu definieren sind.“ Aber konkret: Wie war es bei „Fräulein Julie“?

Bei den Proben und Aufführungen der „Julie“ war’s so, dass die alten Kämpen an ihrem Stammtisch in der BE-Kantine saßen und sich über unser Vorgehen freuten. Endlich passierte mal wieder was. Sie ermunterten uns.

Der Entstehungsprozess verlief reibungslos?

Reibungslos. Elendes Wort. Nehmen Sie das zurück. Reibungslos gibt es nicht. Nirgends und nirgendwann ist etwas reibungslos. Aber klar …

Klar?! Klar stimmt dann doch auch nicht!

Jürgen Holtz, Jutta Hoffmann, Annemone Haase, Einar Schleef und ich, das war eine sehr kleine Truppe, die ganz unkonventionell probieren konnte, das muss ich schon sagen. Zunächst! Unsere Arbeit, mit vielen Improvisationen, war intim, intensiv und frei. Innenleben nach außen zu stülpen, Denken anschaubar zu machen und so weiter, das Ineinander von Schrecken und Lächerlichkeit in Liebes- und Herrschaftsverhältnissen zu fassen und so weiter – in diese Richtung hat sich die Arbeit bewegt. Ein Versuch, „im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum zu entdecken“: So heißt es in einer frühen deutschen Reaktion auf den französischen Surrealismus, in Überlegungen, die Walter Benjamin an eine Stelle bei Louis Aragon geknüpft hat. „Auch im Witz, in der Beschimpfung, im Missverständnis, überall, wo 83


ein Handeln das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frisst, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bildraum sich auf.“ Benjamin nennt ihn „die Welt allseitiger und integraler Aktualität, in der die ,gute Stube‘ ausfällt“; es ist ihm das der Raum, „in welchem der politische Materialismus und die physische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum oder was sonst wir ihnen vorwerfen wollen, nach dialektischer Gerechtigkeit, sodass kein Glied ihm unzerrissen bleibt, miteinander teilen“. Ja, so war das gedacht, als wir probierten. Ahnten Sie wirklich nicht die bevorstehende Zensur?

In den Leitungsgremien im Haus gab es wachsende Ablehnung. Die Stimmung kippte und stand irgendwann fest: gegen uns. Denn dies sei nicht, so hieß es, das Theater Brechts. So hatten die Erben und der KÖR …

Der künstlerisch-ökonomische Rat.

Herrliches Bürokratie-Unwort. Wie eine zweite Parteileitung. Der KÖR jedenfalls monierte und meckerte, wirklich, wie ein Echo der Parteileitung. Gewissermaßen eine Chorszene. Aber alles zunächst noch unterschwellig, durchaus giftig zwar, doch hinter freundlichen Masken. Also eigentlich waren alle dagegen, außer den erwähnten Alten, wie etwa Paul Dessau oder Gustav Hoffmann, der langjährige Werkstattleiter des Theaters. Er gehörte zu den längst ausgestorbenen Interessierten, die noch zu Generalproben kamen. Paul Dessau kam auch. Bei der Premiere war er ebenfalls. Am Tag zuvor sagte Ruth Berghaus, ob die Inszenierung rauskäme, darüber wolle sie noch eine Nacht schlafen. Wir gaben ihr gewissermaßen bang unseren Schlaf und unsere Nacht, fanden also keine Ruhe. Sie auch nicht. Am nächsten Vormittag standen wir müde und nervös im Hof, Ruth kam. Und sagte, das werd ich nie vergessen: Na, dann macht mal! Es gab einen Fernsehfilm über Karl von Appen, beim Szenarium war Friedrich Dieckmann federführend, und im Film gab es ein Gespräch zwischen Appen, Schleef und Ihnen. Es ging um des Bühnenbildners

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Verhältnis zu Schülern. Schleef war ja Meisterschüler bei ihm. Es war kurz nach der Premiere von „Fräulein Julie“. Manfred Wekwerth lehnte eine Mitarbeit am Film ab, er wollte „nicht in Gesellschaft von BrechtLiquidatoren“ sein. Post ging hin und her, zwischen Appen und der Fernsehleitung, am Ende waren Schleef und Sie raus aus dem Film, aber an fünf Stellen – so erzählt Dieckmann - sah man Wekwerth. Es gab ein hartes Ringen, das zu reduzieren. Aber Schleef und Sie fanden in dem Film nicht statt.

Ach. Ich kann mich gar nicht erinnern.

Friedrich Dieckmann hat es überliefert, es steht auf seiner Website. Nun verwittert nichts so sehr wie Theater. Was dazu verpflichtet, Urteile nicht aus ihrer Zeit zu reißen. Das Vergangene ist zerstäubt ...

Worauf soll’s jetzt hinaus?

Einige Aufführungen Wekwerths waren bedeutend.

Ekkehard Schall hat ihn geadelt. Das war Ekkes Doppelleben (lacht): Er hat am BE Welttheater betrieben und es zugleich domestiziert. Regisseur Wekwerth hat vom Spieler Schall profitiert, man muss nur an Arturo Ui und Coriolan denken. Bei letzterer Inszenierung hat sich Schall mit der Zeit regelrecht frei gespielt von der Pädagogik Wekwerths. Plötzlich war in aller Gleichniskraft ein Psychodrama zu sehen: der Feldherr halb Muttersöhnchen und halb Fleischhacker.

Auch Wekwerth, der als Theatermann mitunter ein hellsichtiger Analytiker war, wurde an exponierter Stelle Opfer eines Irrtums: Er glaubte, klüger und stärker zu sein als der Beton, der sich natürlich auch an ihm zu schaffen machte.

Er kratzte nicht mehr dran. Er putzte ihn.

Es war Wekwerth, „der sehr oft bei Hager gegen kulturpolitische Idiotien protestiert hat“ (Heiner Müller); er war es, der just bei Hager durchkämpfte, am BE Müller zu spielen. Er spielte Schatrow, Brauns äußerst unbequemen „Großen Frieden“. Im Übrigen: Erst war da die Leistung, dann kamen die Funktionen.

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Das war später, als er am Ziel war, also der Chef war. Aber Sie kennen sich besser aus als ich - in der Zerstörungskraft von Funktionen. Die Weigel hat ein Projekt Wekwerths und Joachim Tenscherts mit Büchner, Baierl und Braun abgelehnt und damit den Versuch zunichte gemacht, Brechts Methode auf andere deutsche Autoren anzuwenden.

Wir müssen uns nicht einigen. Heiner schrieb: „Bei Wekwerth wurde das BE ein geschlossener Raum, in dem Kirchengeschichte stattfand. Er hatte versucht, die Weigel zu stürzen, weil sie sich zu viel in künstlerische Belange einmischte, aber sie war ein Nationaldenkmal, also fiel Wekwerth. 1969. Er hatte dann Hausverbot.“

Scherzhaft haben Sie auch gesagt, Hanns Eisler sei an Wekwerth gestorben.

Das bezog sich auf Wekwerths Inszenierung „Die Tage der Commune“. Den Schluss fand ich skandalös. Brecht schrieb einen Tragödienschluss. Die Projektion des Brandes von Paris hätte im Zuschauerraum sein sollen, bei Wekwerth brannte Paris auf der Bühne, und das Publikum applaudierte der siegreichen Bourgeoisie. Die DDR applaudierte dazu, dass die Commune brennt! Was war das denn!? Natürlich war das nicht gemeint. Aber es fand doch so statt. Eisler war nach der Aufführung entgesetzt nach Hause gegangen, er hat sich noch eine Stunde in den Garten und war tot. Logischer Kurz-Schluss: Eisler ist an Wekwerth gestorben.

Marx sagte über die Commune, sie sei die endlich gefundene Form für die Organisation der neuen Gesellschaft.

Marx hat seine diesbezüglichen politischen Gedanken nicht weiterverfolgt. Er war mit seinem großen Buch beschäftigt. Wir wissen, wie im marxistisch überwölbten Staat alles endete, was mit der Commune als Hoffnung begonnen hatte. Eine Hoffnung freilich, aus der bald Blut tropfte. Die Bolschewiki haben das ganze hochfliegende Zukunftsdenken verschoben.

Milde gesagt. Zurück zu „Fräulein Julie“ - zur letzten Vorstellung schrieben Sie für Jutta Hoffmann und Jürgen Holtz ein kleines Gedicht.

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Eine Montage von Sätzen aus dem Duett von Julie und Jean im Stück und einem Satz von Hegel: Da sitze ich hoch Oben auf einer Säule Oben ist was nicht Unten ist Oben Kein Frieden ehe ich nach Unten komme Oben ist was nicht Unten ist Oben Rauf will ich rauf in den Gipfel in die Sonne Oben ist was nicht Unten ist Oben Mich weit umsehen in der hellen Landschaft Oben ist was nicht Unten ist Oben Mich fallen lassen ich klettre und klettre Oben ist was nicht Unten ist Oben Ist bestimmt nur dies nicht Unten zu sein Und ist nur sofern ein Unten ist Kennen Sie Soetwas Kennen Sie Soetwas

Dann folgte die Absetzung.

Ohne Paukenschlag, die Inszenierung wurde in der neuen Spielzeit einfach nicht mehr auf den Spielplan gesetzt. Ein Versuch, den Druck zu mindern.

Da kann man wieder nur sagen: Kennen Sie Soetwas.

Witzig war, dass das Parteiaktiv des Berliner Ensembles, zufällig genau im Vorfeld unserer „Fräulein Julie“ einen Huldigungsbrief an Erich Honecker geschrieben hatte. Er war gerade, wie wir witzelten, Generalsekret der Pachtei geworden.

Er hatte schon bald alle höchsten Funktionen.

Ja, er wurde auch Schatzratsvorzender und Vorzender des Nationalen Verteidijungsrades.

Vorsitzender des Staatsrates der DDR und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.

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Sag ich doch! Schatzratsvorzender und Vorzender des Nationalen Verteidijungsrades. Na jedenfalls, man sammelte Ergebenheitsadressen im Lande, und das BE machte ordnungsgemäß mit. Und natürlich, wie immer: Die da oben wissen nichts. Also: Ohne Kenntnis der Dinge, die mit unserer bedrohten Fräulein Julie zu tun hatten, dankte Honecker für den Brief des Berliner Ensembles. Dieser Dank, der natürlich den politischen, ideologischen Geist des BE würdigte, hing auf dem Hof im Schaukasten. Parallel dazu hing in der Luft das Verbot. Irre komisch. Im Brief der hehre rote Geist des BE! Auf der Bühne aber: unser Ungeist! Kabarett pur. Derart kommentierte und konterkarierte DDRKulturpolitik sich selber. Das Verbot im Hause machte den Dank des Hauses lächerlich und der Dank das Verbot. Hatten Sie Begegnungen mit höheren Funktionären?

Das ist lustig, ja (lacht). Als das Berliner Ensemble einen Vaterländischen Verdienstorden bekam, unverschämterweise nur in Silber, nicht in Gold, war hinterher eine Feier in der Kantine. Konrad Naumann, der Bezirksfürst, kam rein, in hellbraunem Zwirn, mit Schottenkrawatte. Tat so übertrieben bescheiden, dass der Protz nur deutlicher wurde. Irgendwann sah er auch mich, lange Haare, langer Bart, Naumann fragte abschätzig, im Ton, der einen zum Teeren und Federn freigab: Wer is’n der Jesus? Zu den Weltfestspielen dann war der BE-Hof ein offener Ort mit Ausschank und Musik, trotzdem gab es am Eingang Kontrollen. Ein Mitarbeiter ließ Naumann nicht rein, er kannte den Mann nicht. Ruth Berghaus musste ans Tor flitzen, um die Situation zu klären und Ärger zu vermeiden. Die Kantine wurde zur Kneipe, er soff wie ein Loch. Später lud er anwesende Damen in seinen großen Wagen, sie stiegen an der einen Seite freundlich ein und auf der anderen Seite kichernd wieder aus. Genosse Naumann blickte sehr traurig.

Sie arbeiten ab 1976 in der BRD und zitieren in einem Gedicht aus jenem Jahr zwei Zeilen von Brecht: „Ich bin nicht gern wo ich herkomme/ Ich bin nicht gern wo ich hinfahre.“ Sie schreiben: „Ich bin ungeduldig obwohl ich weiß/ Ich werde nicht ankommen/ Ich werde nicht umkehren/ Hoffnung und Zweifel wechseln/ Und wechseln.“

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Also: die Ost-West-Situation. Man könnte doch aber annehmen, nach Ihren wenig ermutigenden Erfahrungen mit DDR-Kulturpolitik sei unabweislich der Wunsch gewachsen, abzuhauen. Auf nach Westen! Und zwar ohne Rückfahrkarte.

Rübergehn? Ohne Familie? Nee. Außerdem gab es noch einen anderen Grund: Ich hatte da, wo ich herkam, zu viele Hoffnungen. Die Hoffnung hatte da ihren Ort zwischen Himmel und Erde. Hoffnungen kann man nicht einfach in den Koffer packen. Hoffnungen kleben dort fest, wo sie entstehn. Verlustfülle kann ein Besitz sein, den man nicht aufgeben will. Natürlich hat man sich und andere, sich mit anderen gefragt: Warum diese Hoffnung, warum nicht früher und entschiedener die Abkehr? Weil die Alternative Westen keine Alternative war. In den Gesprächen mit Benjamin im dänischen Exil hat auch Brecht darüber nachgedacht, dass es nötig sein könnte, den Boden loyaler Kritik am Moskauer System zu verlassen. Und loyale Kritik hieß ja keineswegs Apologetik. Nehmen Sie Marx und Engels und ihre Anmerkungen zur deutschen Sozialdemokratie. Das war loyale Kritik, aber da hat’s geknallt, das war nicht nett, was sie in das Stammbuch schrieben. Ja, es war vertrackt: Ich habe die DDR gegen jeden verteidigt, der sie angriff. Und jeden, der sie lobte, habe ich attackiert.

Sie stellten ihn also nicht, den Ausreiseantrag in den „goldenen Schlamm der Verheißungen“, wie Volker Braun schrieb. Sie arbeiteten fortan im Westen, blieben aber DDR-Bürger.

Die DDR stellte den Leuten nur einen einzigen Pass gern aus: den Laufpass. Den – trotzig freundlich - lehnte ich ab. Meinen ersten festen Vertrag drüben schloss ich für weniger Geld ab, als üblich und angeboten. Denn ich hatte den DDR-Pass behalten und hielt mir mehr Urlaub offen als gewöhnlich. Ich wollte immer sofort in die DDR können, falls da etwas möglich würde. Ich lebte auf Abruf. Wenn Theaterferien waren, bin ich in Ostberlin gewesen, Miete abwohnen. Es hat lange gedauert, bis meine Frau besuchsweise zu mir in den Westen kommen durfte.

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1981 werden Sie in Frankfurt am Main fristlos entlassen.

Die Direktorin Eos Schopohl, vom Ensemble gewählt, der Chefdisponent und ich, ja. Die Ära der Mitbestimmung am Haus, von Peter Palitzsch durchgesetzt, war damit beendet. Am Schauspiel Frankfurt wurde Goethes „Iphigenie“ gespielt. Aber es war nicht Goethe-Zeit, es war kurz vor der Frankfurter Kommunalwahl, 1981. CDU-Kandidat Wallmann sah auf den Plakaten rosig aus wie ein Säuglingsarsch unter der Penatencreme. Goethe, der große Sohn der Stadt als Wahlhelfer? Mit dem Hohelied der Humanität? Die bundesdeutsche Wirklichkeit war anders. Eine Gruppe junger Leute sah „Iphigenie“ im Theater als Gelegenheit, über den Hungerstreik der RAF zu informieren und eine Diskussion über deren Haftbedingungen anzufangen. Der Hungerstreik hatte schon sechs Wochen vorher angefangen, aber war erst jetzt in die Öffentlichkeit gesickert. Die jungen Leute lasen was vor und verteilten Zettel. Ich war während der Vorstellung im „Toni“, einem Lokal nicht weit vom Theater. Als ich ins Theater geholt wurde, bekam ich einen Schreck, ich dachte, ich hätte einen fälligen Abenddienst vergessen. Die jungen Leute blieben nach der Vorstellung in der Caféteria des Theaters sitzen, wir ließen das geschehen, in einer Diskussion sahen wir nichts Verwerfliches. Es gab keinerlei Gewalt und auch keine Drohungen in die Richtung. Kein Glas zerbrach, nicht eine einzige Tasse. Trotzdem ließ der Oberbürgermeister das Haus abriegeln und im Morgengrauen räumen. Das ging freilich nicht ohne Gewalt – der Polizei. Das Ensemble protestierte, wir beriefen uns aufs Mitbestimmungsmodell, aber flogen trotzdem auch raus. Was in der SED Fraktionsbildung hieß, das hieß hier Sympathisantentum. Das Ensemble verfasste eine Solidaritätserklärung, sie wurde in den kommenden Tagen vor jeder Vorstellung verlesen. Bis auch das verboten wurde. Die CDU hatte die Stadtgewalt.

Ja. Nur den SPD-Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann hatte man behalten, die Stelle war nicht per politischer Wahl besetzt, es war ein Verwaltungsposten. Natürlich hoffte die CDU auf ein anderes Theater,

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Peter Palitzsch war gegangen, naturgemäß wartete man auf Gelegenheiten, das linke Nest gänzlich vom Baum zu holen. Palitzsch, dessen Name für das Mitbestimmungsmodell stand, war ein Meister der Diplomatie und der Balance gewesen, er beförderte Streit und besänftigte ihn zugleich. Gruppenbildungen haben stets auch etwas Hermetisches, das brach Palitzsch mit Geschick immer wieder auf. Nun gab es eine kollektive Leitung. Der ging’s jetzt an den Kragen. Zurück zum Abend: Wir riefen: Bullen raus! Johannes Schaaf hatte einen grünen Staubmantel an und kam mit der Polizei, er sah aus wie ein Polizist. Das war auch komisch, Kleider machen Leute. Tage später. Wir probten in einer Turnhalle „Herakles 5“ von Müller, die Türen waren verschlossen, weil gelegentlich Neugierige reinschauten, und der Bote von der Stadt, der uns die Vorladung zur Obrigkeit brachte, musste wie ein Einbrecher durch ein Fenster steigen, um uns die Einladung zum Kündigungsgespräch persönlich übergeben zu können, wir mussten unterschreiben. Stichwort Mitbestimmung.

Eine Selbstverständlichkeit, eigentlich, denn Mitsprache ist eine Grundvoraussetzung für Theater. Ich kam von Brecht, da war das so. Die Weigel war raffiniert beim Durchsetzen wie beim Austarieren der Kräfte. Sie jonglierte grandios und mit Autorität.

Mitsprache ist nicht Mitbestimmung.

Als Modell hatte Letzteres auch Unerträglichkeiten. Diese Vollversammlungen bis in die Nacht hinein! Demokratie ist, wenn die Leute sagen, was sie denken. Das hat auch was Lästiges: Manche reden mehr, als sie zu denken in der Lage sind. Adolf Dresen war in Frankfurt am Main – er war später dort Intendant - ziemlich geschockt über die Intoleranz bei den West-Linken. Mir ging es Theater immer um die praktisch arbeitende PGH (lacht), die Produktionsgenossenschaft des Handwerks, von der ersten Probe bis zur Aufführung.

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PGH?

Ich bin auch zu jeder Anprobe in die Kostümwerkstatt. Mich interessierte das wirklich. Das Wort von der Produktionsgenossenschaft ist treffend. Das hieß für mich: Alle machen mit, alle sind eingeweiht, alle leben den Prozess. Arbeitsteilung ist keine Freistellung.

In der Zeit, als Sie im Westen arbeiteten, gab es da irgendwann wieder Inszenierungsangebote aus dem BE? Es war doch Zeit vergangen.

Ja, die „Dreigroschenoper“ sollte ich plötzlich inszenieren. Ein Schild, das man durchs Ausland tragen wollte. Ich hab abgelehnt. Irgendwie kam mir das schräg vor: Da arbeite ich aus ärgerlichen Gründen im Westen, werde aber zwischendurch zum Außenwerber für die DDR. Später dacht ich: Na ja. Vielleicht zu kleinlich gedacht? … Nee, Quatsch. Es war richtig, das nicht zu tun.

Mit welchem Gefühl gingen Sie viele Jahre später, als alles vorbei war mit DDR und BRD, wieder ins Berliner Ensemble?

Mit dem Gefühl, dass alles seine Zeit hat. Es war ja fast zehn Jahre später, nach Müllers Tod.

Klingt nicht sentimental. Bitter?

Bin ich nicht. War ich nie. Beides nicht, weder bitter noch sentimental. Zu welchem Anlass auch immer.

An alten Wohnhäusern studieren wir bisweilen jene abgeschabten Buchstaben, die an Kolonialwarenläden und Kohlehandlungen erinnern. Wir lassen uns von der falschen Vermutung überwältigen, diese Signale kündeten von „guter alter Zeit“. In der Tilgung solcher Inschriften erkennen wir eine Ahnung von der groben Art, mit der auch unser eigenes Dasein eines Tages betrachtet wird: als eine mehr und mehr verblassende Spur auf bröckelndem Untergrund. Mit Wehmut setzen wir uns gegen das verletzende Urteil zur Wehr, das jede Gegenwart über jedes Gestern spricht.

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Nee, ich gehör‘ nicht zu denen, die irgendwann beleidigt reagieren: Wir haben eine schönere Vergangenheit verdient! (Lacht.) Nur der Kantine des BE, der trauere ich nach, die war eines Tages leider zum Trauerspiel geworden. Der Wiener Caféhäusler Peymann hat, als er 1999 das Haus übernahm, meine Wohnstube eingerissen. Die hatte die Weigel eingerichtet. Die meisten Theaterkantinen sind inzwischen ein Elend.

Ausgelagerte Betriebe, nichts Heimeliges mehr. Kalte Küche, Outsoßing drübergegossen.

1996 inszenierten Sie doch noch einmal am BE, und doch noch einmal einen Brecht, den „Galilei“.

Brechts Selbstporträt.

Brecht als Galilei?

Das war das Bild, das ich aus seinen Proben Ende '55, Anfang '56 mitgenommen habe. Das Politische darin ist mir erst viel später aufgegangen, die Auseinandersetzung mit den Moskauer Prozessen. Oder die „Maßnahme“, wo gelernt wird, was auf den Leib geschrieben ist, bis zum Tod, wie in Kafkas Strafkolonie. Aus den Proben im Winter 1955/56 ist mir der Eindruck geblieben: Galilei ist Brecht. Ganz naiv habe ich das gedacht, die politischen oder geschichtlichen Implikationen sind mir erst mit der Zeit deutlich geworden. Inzwischen kann man gut entziffern, was sich alles in den Galilei eingeschrieben hat, in die verschiedenen Fassungen, aus den dreißiger, den vierziger und den fünfziger Jahren. Und jede der politischen oder geschichtlichen Fragen ist eine an den Autor gewesen, er ist sich selber zum Gegenstand geworden. Brecht bringt für den Galilei keine Identität zustande. Auch für sich selber nicht. Giordano Brunos Bild von der Zerreißung ist zuständig.

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DAS URBILD NACH BRUNO

Für Josef Bierbichler/Galilei

Die Meute los gelassen hetzt zur Jagd Auf ungewisse Fährte. Aktäon wagt Ihr folgend sich ins finstere Dickicht heute Dringt bis zum Ufer vor und sieht im Fluss Göttlich im Sonnenlicht den Wellen Kuss Die Schönheit. Und der Jäger wird zur Beute: In einen Hirsch verwandelt wird er jetzt Von seinen eigenen Hunden tot gehetzt. Er sieht die Schönheit. Und zahlt mit dem Leben. Diese Geschichte will ein Gleichnis geben. Ich wars der meine eigenen Gedanken Zur Jagd hetzt. Ihre Meute meuternd Schranken Durch brechend hat mit unbarmherzigen Bissen Sich auf mein Herz gestürzt. Und es zerrissen. Das Leben bleibt gewissermaßen zerrissen von den Zähnen der Zeit.

Ich hab das mal so zusammengefasst: Der Prozess G. endet; der Prozess B. endet; aber der Prozess der Gattung geht weiter im Parkett und so bleiben auch der Prozess G. und der Prozess B. offen. Die Lebenszeit des Einzelnen (seine Geschichte) und die Zeit der Geschichte (der Gattung) treten auseinander. Immer ist das so. Die Vergänglichkeit macht aus Geschichte Natur. Dagegen wehrt sich das Denken, die Debatte. Bei der Auslieferung des Manuskripts der „Discorsi“ an Andrea zerreißt es diesen Galilei. Es spricht so viel dagegen, es herauszugeben. Auch niedrige Beweggründe, Ruhmsucht und Eitelkeit. Nichts geht mehr auf. Bruno hatte noch keine Beweise, Galilei hat sie. Das macht ihn nicht sicherer und die Lage nicht besser. Die Beweise sind keine Lösung und keine Rettung. Sagt die Geschichte und kichert.

Wenn man es so macht, ist es falsch. Wenn man es anders macht, ist es auch falsch. 94


Am Schluss vom „Galilei“ heißt es: „Bewundernswert ist das Gute.“ Sagte Sepp Bierbichler den Satz eigentlich in Ihrer Inszenierung am Berliner Ensemble?

Das klingt nach Verantwortung und ist das Gegenteil von: Ich muss meine Sache durchbringen. Galilei kann diesen Satz nicht sagen. Der Grundpunkt in der Fassung aus den dreißiger Jahren war: Ich muss meine Sache durchbringen, das blieb in der DDR sehr gegenwärtig. Deshalb hatte Heiner Müller diese Fassung besonders gemocht.

Das Gute …

Ja, das Gute ... Heiner Müller konnte dazu nur eine Anekdote erzählen, Gottfried Benn ein Gedicht geschrieben, „Menschen getroffen“. Ein wundervolles trauriges Gedicht. Da steht: „Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,/ woher das Sanfte und das Gute kommt,/ weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.“ Die gleiche Frage hatte auch Heiner Müller und erzählte von einem kleinen dicken jüdischen Sportreporter, der mit einem Schiff nach Amerika unterwegs ist, glücklich den Nazis entkommen. Das Schiff wird von einem deutschen U-Boot torpediert. Er ergattert einen Platz in einem der Rettungsboote. Das Boot ist voll. Im Wasser eine Frau mit ihrem Kind. Der kleine dicke Mann hat sich stumm nach hinten fallenlassen ins Meer, und es war Platz für Mutter und Kind. „ … keine Antwort gefunden,/ woher das Sanfte und das Gute kommt,/ weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.“ … Kulturpolitik der DDR: Sie haben deren Unberechenbarkeit angedeutet. Zitat Tragelehn: „Es konnten Umstände eine Rolle spielen, die mit der Sache selbst kaum zu tun hatten, Fraktionskämpfe, persönliche Animositäten, alte Geschichten aus der Geschichte, auch Zufälle.“

Die DDR war nicht monolithisch. Marx war zurechtgebogen worden zu einer Legitimationsideologie, die war eine Rute, aber eine Rute ist auch biegsam. Die Ideologie war zuweilen offen für allerlei Pragmatismus.

Trotzdem nochmal der Rückblick: Dass Sie in den Westen gingen …

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Notwehr. Ich sag ja: In den Westen wollte ich nie, nicht mal dann, als ich dort war. Obwohl Sie Schwierigkeiten am BE hatten! Mit besagter Fräulein Julie.

Nicht nur. Was ich gern gemacht hätte: in einer freien Gruppe arbeiten, eine freie Theatergruppe gründen. Es gab zuguterletzt eine Zeit in der DDR, da schossen die regelrecht aus dem Boden. In den Siebzigern aber führte noch kein Weg rein, also raus aus dem Betrieb. Wir haben gekämpft. Die Schauspieler waren sofort dafür. Dabei gewesen wären Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz, Winfried Glatzeder, Dieter Montag und andere. Holtz, damals noch Parteimitglied, und ich waren in der SED-Bezirksleitung, beim Kulturverantwortlichen Roland Bauer. Ich seh noch, wie er hilflos hinter seinem Schreibtisch hockt. Er hatte im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung öffentlich den 17. Juni 1953 erwähnt, falscher Zungenschlag, er wurde daraufhin nach Prag abgeschoben, in die Redaktion der Zeitschrift „Probleme des Sozialismus und des Friedens.“ Die hatte er jetzt selber. Aber wie gesagt: Für uns war nichts mit Gründung einer freien Gruppe. Eines Tages blieb Einar Schleef im Westen. Es war nicht lange nach „Fräulein Julie“.

Der war da schon weg. Das war bescheuert gewesen, wie das lief. Er war unzufrieden, verständlich, aber er hätte diese Flucht aufschieben können, bis wir unsere geplante Inszenierung in Wien gemacht hatten. Warum hat er nicht abgewartet? Es stand doch Arbeit bevor. Wir sollten einen Wedekind machen, „Schloss Wetterstein“. Wir waren zur Vorbereitung nach Wien geflogen, ans Burgtheater. Zurück wollte ich mit dem Zug.

Warum?

Geld sparen. Ich ließ mir vom Burgtheater das Fluggeld für die Rückfahrt auszahlen, aber Zug war billiger, ich hab für den Differenzbetrag Bücher gekauft. Wir wohnten in Wien im gleichen Hotel. Es war Wochenende. Sonntag früh wollte ich zurück, Schleef am nächsten Tag mit dem 96


Flugzeug. Das Telefon klingelte: Wir müssen reden, komm mal rüber zu mir. Ich sage: Wir können doch in Berlin reden, mein Taxi kommt gleich. Und das Taxi kam, und wir redeten nicht. Am Montag fragten sie mich im BE, wo denn Herr Schleef sei. Er war in Wien geblieben. Mit Bühnenbildnern hatte ich wirklich Pech. Schon Ilona Freyer war mir abhandengekommen, und sie starb so früh. Ich kannte sie gut, sie war schon in Ostberlin eine Freundin unsrer Familie. In Stuttgart sah ich später Peymanns „Iphigenie“, Ilona hatte die Kostüme gemacht, nein: erfunden. Es war grandios. Ich wollte unbedingt mit ihr arbeiten. Sie war ihrem Mann Achim in den Westen gefolgt. Der ist nach einem Gastspiel des Deutschen Theaters in Italien nicht mehr in die DDR zurückgekehrt. Schauspieler Christian Grashof hat in seinen Erinnerungen erzählt, auf welche Weise Achim Freyer abhaute: „Wir waren mit dem DT auf Tournee in Italien, er bat kurz vor der Rückreise einen Kollegen, seinen Koffer mit nach Rom zu nehmen, er selber, als Kunstliebhaber, wolle schnell noch einen Abstecher nach Florenz machen und käme dann nach. Der Koffer war schwer, sehr schwer. Als wir losflogen, fehlte Freyer - im Koffer befanden sich mehrere italienische Telefonbücher. Als wir zurück in Berlin waren, meldete sich Achim aus Paris.“

Meine Frau und ich hatten Ilona hier in Berlin unseren Zwillingswagen gegeben für ihre Zwillinge - den hatte sie bunt angemalt. Sie war überhaupt eine wunderbare Malerin, das blieb ihre unbekannte späte Seite, leider. Eines Tages jedenfalls fand Polizei den bunten Kinderwagen an der Autobahn bei Helmstedt. Ilona hatte sich, mit den Kindern, rüberschleusen lassen, im Auto. Als sie drüben ankam, war sie so fertig mit den Nerven, sie fühlte sich hundeelend, die Belastung und das traumatische Ausmalen dessen, was hätte passieren können, ging nicht weg aus Kopf und Seele. Sie hat ein halbes Jahr nur gekotzt. Furchtbar.

Schleef blieb drüben, weil er im Osten keine Arbeit mehr bekam.

Seine Ausrede. Das stimmt aber nicht. Ruth Berghaus wollte mit ihm „Dantons Tod“ machen. Und wir hatten „Macbeth“ vor. Damit das klar ist: Ich machte ihm keinen Vorwurf, ich bin selber rüber, in die Arbeit. Aber der Zeitpunkt, die Art und Weise ... 97


Sie sagten, Schleef und Sie seien in Wien getrennte Wege gegangen. Mitunter mutet es an, als redeten Sie über einen Fremden.

Fremd … stimmt … Er war nie offen. Wir fuhren im Zug nach Rostock, er verließ das Abteil, kam wieder, verließ es wieder. Später erfuhr ich, weiter vorn saß Thomas Brasch, noch woanders im Zug saß Bernd Böhmel. Er unterhielt sich mit beiden, aber keiner wusste vom andern, ich wusste von beiden nichts, er ging zwischen uns hin und her. Er sagte nicht, wohin er ging. Er benahm sich gern wie ein Spion mit Geheimauftrag. Er machte irgendwo irgendwas, Theater, Galerie, was weiß ich, und war stinksauer, dass man nicht hingekommen war. Aber wie sollte man? Er hatte einem nichts gesagt.

Wie fing Schleef überhaupt an am BE?

Er kam zu meinen „Katzgraben“-Proben dazu, nach Ilona Freyers Abgang. Das war 1972. Er sagte nichts, aber zeichnete. Das war eine bewährte Methode am Haus, um Arrangements festzulegen. Und was Schleef zeichnete, war ausgezeichnet. Er hatte vorher, noch Anfänger, nur bei einer Inszenierung von Brigitte Soubeyran mitgearbeitet, an der Volksbühne, mehr war da noch nicht. Bei „Frühlings Erwachen“ redeten wir bei mir zuhause über den Text, meine Frau saß im Nebenzimmer, die Schiebetür machte die Wohnung hellhörig, so bekam meine Frau die apodiktische Art von Schleef mit. Wenn ich etwas vorschlug, ging er dazwischen wie ein Hammer: So geht das nicht! Meine Frau befürchtete furchtbaren Krach. Aber der blieb aus. Wir hämmerten und flüsterten uns zusammen.

Klingt nach seiner überwältigenden Art.

Er wollte überwältigen, ja. Ich bin lieber komisch. Deshalb hab ich Schwierigkeiten mit Wagner.

Wagner?

Wenn jemand an unserer Wohnung stürmisch geklingelt hat, haben meine Frau oder ich gerne Oscar Wildes „Importance of being Ernest“

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zitiert: „Ah! That must be aunt Augusta. Only relatives or creditors ever ring in that Wagnerian manner.“ Wagnerian manner?

Na ja, eben das Überwältigende, Besitzergreifende, Stürmische.

Mit „Katzgraben“ von Erwin Strittmatter hatte sich Brecht in den Fünfzigern als Regisseur an einen sozialistischen Gegenwartsstoff gewagt. Es war Experimentierfreude, aber es mutete auch wie guter Wille an: Ich bin mir für die unmittelbare Wirklichkeit nicht zu schade. Es war eben so kühn, wie es als Kompromiss gesehen werden konnte. Das BE war sich inzwischen seines Weltruhms bewusst – und nun dieses Neubauern-Opus …

Da gab es den Schauspieler Harry Gillmann. Bei den Wiederaufnahme-Proben ‘55 war’s. Auf der Szene, in der Großbauernstube, hing ein Schild: „Gott gibt die Kuh, doch nicht den Strick dazu.“ Gillmann hatte eine sehr quäkige Stimme. Er ging quer über die Bühne, es war noch vor der Probe, er hatte seinen Dackel dabei, und er quäkte: „Gott gibt die Kuh, doch nicht das Stück dazu.“ Alles bog sich vor Lachen.

Das berühmte Brecht-Ensemble und dann solche schnell verderbliche Ware.

Ja, das stieß auf. Brecht wusste um die Schwächen des Stücks, mit Strittmatter hat er in Buckow dran gearbeitet. Und war der Meinung, wenn es dem allgemeinen Beifall fürs BE nicht schade, möge man das Stück spielen. „Katzgraben“ war ein Versuch, der Gegenwart Kunstfähigkeit abzuringen: poetisch, metaphorisch. Brecht ging nicht gern in eigene Premieren, mitunter blieb er ihnen fern, bei „Katzgraben“ auch, seine Mitarbeiterin Käthe Rülicke-Weiler berichtete ihm von einem „fiesen Publikum“.

In einem Buch von BE-Dramaturg Werner Hecht stehen Ausschnitte aus Rülickes Bericht: „Während der ersten Bilder lauter blöde Fressen, keiner wagte zu lachen … Scheußliche Stimmung, jeder wartete erst die Reaktion des anderen ab. So was habe ich im Theater noch nie erlebt.“

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Strittmatters Stück, wie gesagt, war ein Versuch, Brecht nahm es zum Anlass, weiter praktisch an seiner Theater-Auffassung zu arbeiten. Die Wächter der Einfühlung, die Dogmatiker der Stanislawski-Schule fuhren allen Grimm und Geifer auf. Das weltberühmte Theater und dann sowas!

Was letztlich zeigte: Die Berliner Theater hatten ihren anfechtbaren Untergrund. Denn jeder Ruhm macht auch satt. Der Platz an der Sonne verführt, sich zu sonnen. Es gab Schauspieler, die holten sich jahrelang nur das Geld ab. Ihre einzige Berührung mit dem Theater. Der Staub, den man einerseits künstlerisch aufwirbelte, der hat auch Energie gedämpft und setzte sich. Das Berliner Ensemble war davon nicht ausgenommen. Es war auch eine Art sozialer Umwälzung. Aber verkehrt: Die Museumsdiener wurden Herrschaft. Und man genoss die Sondersituation in Berlin: soziale Privilegien, Film, Funk, Synchron und Fernsehen, im Grünen die Datsche. Warum inszenierten Sie „Katzgraben“?

Das Stück war mit den Jahren nicht besser geworden. Und dann noch ich, einer, den sein Name nicht schützte. Ein Werk hatte ich nicht vorzuweisen, hauptsächlich Unterbrechungen. Aber das Stück ist der Anfang der DDR-Dramatik.

Zu Ihrer Premiere schrieb Schleef: „Mutter kommentiert die Vorgänge auf der Bühne mit: Rübenverziehen durch den Operngucker.“

Das sagte nicht sie, das ließ er uns durch sie sagen.

Also: Warum „Katzgraben“?

Ich sah eine Gelegenheit, an „Die Umsiedlerin“ anzuknüpfen. Die ging noch nicht wieder, vor allem nicht mit mir. Strittmatters Stück ist eine Art Schnitt durch die Schichtung aus Großbauern, Mittelbauer, Kleinbauer. Bei Brecht war das noch liebevoll. Bei uns weniger.

Ihr „Katzgraben“ gehörte zu den Aufgeschlossenheiten der BerghausZeit. Wie „Zement“. Unmittelbar hatten Sie mit dieser Berghaus-Insze-

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nierung nach Gladkows Roman nichts zu tun, aber es war ein großer Erfolg, eine Rehabilitierung für Ihren Freund Heiner Müller. Seit langem wieder ein Stück von ihm auf eine DDR-Bühne.

Die Berghaus hat ihn ans Theater geholt, er war nun fest angestellt, das war eine soziale Novität für ihn.

Die Gladkow-Uraufführung war mutig. Ein Gleichnis aus der frühen Sowjetunion. Aber gemeint waren wir.

Stefan Lisewski, in der Hauptrolle als Gleb Tschumalow, ihn habe ich nie wieder so gut gesehen.

Männlich-soldatisches Selbstbewusstsein trifft auf die Emanzipationskraft der Ehefrau.

Dieser Gleb war von einer klobig-berührenden, fast tierischen Bewusstlosigkeit. Sehr leise. Sozialistischer Macho versteht die Welt nicht mehr, für die er doch eben noch, an den Kriegsfronten des frühen Sowjetstaates, sein Leben in die Waagschale geworfen hate.

Das Neue herbeizukämpfen - es ist einfacher, als dieses Neue zu leben, an der Seite einer sozial und politisch erwachten Frau.

Berghaus hatte das inszeniert, mit einem etwas störenden Pathos. Das Pathos als Schutzschicht um den Kern. Ich hab‘ Müller geärgert: „Zement“ sei sein „Wilhelm Tell“. Dazu muss man wissen, dass Hanns Eisler zu dem langjährigen Verbot der „Umsiedlerin“ gesagt hatte: „Ich hätte das Stück auch verboten, und zwar wegen Schönfärberei.“ Und: „Ein österreichischer Tyrann wird in der Schweiz ermordet – solche Stücke müssen Sie in Deutschland schreiben.“ Kryptisch.

Aber Pointe.

Herr Tragelehn, lesen Sie eigentlich Kritiken?

Nee, ich langweile mich auf andere Art. Ich habe immer schlüssig gefunden, was Dichter über Dichter und Dichtung gesagt haben. Weniger 101


das, was die Wissenschaftler sagen oder gar die Kritiker. Es ist ja so, dass über Shakespeare und Shakespeares Zeitgenossen am trefflichsten Dichter geschrieben haben. Etwa T. S. Eliot oder Ted Hughes. Günstigenfalls ergänzen die Befunde einander, der Historiker Robert Weimann und der Dichter Hughes kommen in der Sache überein. Wir Kritiker sind Sekundärtalente.

Klingt unglücklich.

Zu Teilen ist das durchaus richtig bemerkt.

Fühlen Sie sich getroffen von Müllers Bemerkung, Kritiker seien „Hunde ohne Baum“?

Er hat recht.

Ob Baum oder Laterne: Auch Kritiker müssen pinkeln. Ihr Revier markieren.

Nein. Ich fand mein Geschreibsel erst vertretbar, als ich damit Dankbarkeit ausdrückte. Lange nach meiner Verfehlung anlässlich „Fräulein Julie“. Friedrich Dieckmann und Sie zum Beispiel: der Künstler und jener, der ihn versteht. Das steht so weit über einem Tagesgeschreibsel, das flüchtig bleiben muss.

Wir hatten einen Schrebergarten in Schönholz, am Wald, wir waren oft da, monatelang im Sommer, in die Stadt fuhren wir zu Dieckmanns, sie wohnten damals noch am Märchenbrunnen, sozusagen am Eingang von Friedrichshain. Oft waren wir in größerer Gesellschaft, Schleef habe ich dort kennengelernt, Heiner kam mit seiner damaligen Frau Ginka.

Ginka Tscholakowa.

Die Gattin des Klassikers, sagten wir. Es war die Zeit, da hatte Dieckmann gerade das schöne große Buch über Karl von Appen gemacht. Schleef habe ich bei Dieckmann kennengelernt. Ruth Berghaus hatte ihn als Dramaturg ans Berliner Ensemble geholt. An ihm gefiel mir, dass er einer der Wenigen war, die immer an der richtigen Stelle lachten, wenn Heiner oder ich was sagten (lacht laut). Dieckmann kam 102


morgens mit dem Fahrrad ins BE gefahren – im Sommer mit einem Tropenhelm, den sein Vater, der Volkskammerpräsident, irgendwann mal als Gastgeschenk bekommen hatte. Das sah zum Schießen aus. Nach „Fräulein Julie“ und Schleefs Flucht wurde das MfS wach, oder?

Wir standen logischerweise schon vorher unter Beobachtung, lange, seit „Umsiedlerin“. Ganz entscheidende Dinge wurden in den Berichten festgehalten, etwa aus dem BE: Skat sei nicht gespielt worden, denn B. K. Tragelehn könne nicht Skat. Ich frag mich auch, wie ein Grundriss von Heiners Wohnung am Kissingenplatz in meine Akte kam. Und überhaupt, was dieser Unsinn soll. Das ging ja weiter, auch in Bezug auf Heiner. Es ist nach der sogenannten Wende geradezu erschütternd gewesen, welcher Schwachsinn aus Stasiberichten überschwappte, diese Unfähigkeit, anders als in Klischees zu denken. Eine Dame von einer Hamburger Zeitung stellte sich in der BE-Kantine mit der Bemerkung vor: „Ich bin die Frau, die den Müller am Haken hat.“

Hat man Sie wegen Schleef verhört?

Ich wurde in die Keibelstraße einbestellt, wo das Polizeipräsidium war. Das Gespräch war eine Vernehmung. Langer Gang, der Raum für das „Gespräch“ war eine Zelle. Vergitterte Fenster, Tisch, eine Schreibmaschine, blöde Fragen des Stasimanns. Ich antwortete möglichst reserviert, aber ich wusste ja wirklich nichts, Schleef und ich waren in Wien getrennte Wege gegangen. Auch zu uns nach Hause kamen zwei Herren, aber nicht aus Verona. Der eine hatte so ein Handgelenktäschchen, darin ein Reclamheft, Gedichte von Agostinho Neto. Wahrscheinlich nannten sie das: Gespräch auf Augenhöhe. Rührend, aber so ein billiger Wink mit dem Zaunpfahl würde auf keiner Bühne durchgehn. Sie sahen die Bücherreihen entlang, es war grotesk, bei Trotzki blieb der Blick einen Moment länger hängen, im Regal auch ein Mao-Jugendbildnis, ich selber saß unter einem Lenin-Foto, in einem großen Sessel, der schon seine Stahlfedern zeigte. Den hatte mir Friedrich Goldmann, der Komponist, durchdirigiert, wenn wir gemeinsam Mahler-Symphonien anhörten. Goldmann hab ich durch Mickel kennengelernt. Gold103


mann war Meisterschüler bei Wagner-Regeny, wohnte aber in Dresden. Wenn er nach Berlin musste, übernachtete er bei uns. Mickel war dann am BE Leitungsmitglied.

Ach ja, Karl … Es gab eine Zeit, in den fünfziger und sechziger Jahren, da waren Mickel und ich wie Castor und Pollux. Nun, in der Chefetage es BE, musste er manchmal herhalten, er musste ertragen, was ich als höflicher Mensch (lacht) der Berghaus nicht sagen wollte. Einer muss der Prellbock sein. Einmal hatte ich einen Riesenkrach mit ihm, ich habe ihn tödlich beleidigt. In der Kantine überfiel mich ein Wutanfall, ich zerdepperte alles Geschirr, das ich greifen konnte. Dann rief ich in der Intendanz an, Ruth solle runterkommen und die Scherben dieses Theaters zusammenkehren.

Und?

Eine Rechnung bekam ich, vom Verwaltungsdirektor Rolf Stiska, später Intendant in Chemnitz. Eine Rechnung über 19,25 Ostmark.

Zurück: Sind die Herren wiedergekommen?

Nein. Letztlich war es wohl ein Anwerbungsversuch gewesen. Im Gespräch fielen klassische Sätze, die ich aus Krimis kannte, wie: „Zufall? Für uns gibt es keine Zufälle.“ Und am Schluss die einladende Aushändigung einer Telefonnummer: „Falls Ihnen noch etwas einfällt, Sie können mich jederzeit anrufen.“ Ich musste dann noch eine Erklärung unterschreiben, die mich zum Stillschweigen über das Gespräch verpflichtet hat. Zwei Stunden später wusste meine Frau Bescheid, als sie aus dem Rundfunk kam. Erst sie, dann andre. Denn der Sachse erzählt gern. Mir kommen Ihre Gedichte in den Sinn, dieser bestimmte Typus von Vers, bei dem der Gedanke an Rückzug und Grab – wie im Barock - dem zupackenden, lebensfreudigen und materialistischen Charakter als sein Negativ beigegeben ist: „Irgendwann schläfst du ein“, heißt es in „Der Rest 2“, und in „Einrichtung einer Idylle“ steht: „Wenn Spitzel fragen / Mitteilen lassen Ich bin nicht da.“ Also dieser Bestand an Stoizismus …

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War der so stark, dass Sie sogar eine Erklärung unterschrieben?

Natürlich habe ich gezögert mit der Unterschrift. Aber ich hatte keine Arbeit, und ich dachte, an dieser doch so unwichtigen Stelle bockig zu sein und dadurch zusätzlich auffällig zu werden, lohne sich nicht. Wegen so eines blöden nichtssagenden Gesprächs. Den geschwätzigen Dresdner in mir (lacht) würde eh kein Schweige-Gelübde außer Kraft setzen können.

So ließ sich der Stasi-Kasus ja auch immer erzählen: Einer hat keinem von jemandem erzählt. Niemand hat niemandem davon erzählt, dass keiner keiner von jemandem erzählt hat. Einer hat keinem etwas von keinem erzählt. Jemand hat niemanden belauscht und keinem davon erzählt. Niemand hat gewusst, dass einer niemanden mit jemandem belauscht hat …

Ha!, aber alle reden davon! … Ja, ja! Meine Unterschrift war jedenfalls in den Wind geschrieben.

Angst blieb?

Ja. Aber ich will das nicht aufbauschen, schon gar nicht nach so vielen Jahren. Ich seh das wie eine Theaterszene, die könnte ich noch immer nachspielen. Angst – nach der „Umsiedlerin“-Uraufführung war die größer gewesen. Ich hatte bis zum 13. August 1961 den SPIEGEL gelesen, bin wöchentlich rüber zum Potsdamer Platz, mit der U-Bahn zurück, die Sammlung habe ich heute noch. Die Hefte lagen in der Wohnung rum. Im Kinderwagen hatte ich sie damals nachts weggeschafft, im Kinderwagen! Ich brachte sie auf den Dachboden bei meiner Schwiegermutter. Heiner Müller hat von seinen Begegnungen mit diesen Leuten auch wie von einem Theatervorgang erzählt.

Gegenüber unserer Wohnung war übrigens kein Haus, sondern eine Einfahrt zu mehreren Garagen, daneben gab es eine Tankstelle. Naturgemäß hörten wir ständig Autogeräusche. Die hielten uns wach, auch nachts: Kommen sie uns holen? Ich sah vor Jahren Heinrich Breloers Film über das Moskauer Horror-Hotel Lux. Ruth Meyenburg, spätere 105


Fischer, stand vor den Fahrstühlen, man hörte deren Geräusche, und man sah das erschrockene Gesicht der Meyenburg. Sie erinnerte sich an die Zeit, als nachts die Fahrstühle surrten, man holte Hotelbewohner. Ich dachte sofort an diese nächtlichen Autogeräusche damals. Meinten sie uns? Würde es gleich klingeln? Ich hatte im Ohr, dass man Heiners und meine Verhaftung gefordert hatte. Aber es stellte sich bald heraus: Die Stasi observierte zu jener Zeit nur am Tag. Nachts war offenbar dienstfrei. Der heilige deutsche Feierabend.

Wir sahen die Jungs von der Wohnung aus. Der Eingang des StasiGebäudes im Stadtbezirk Prenzlauer Berg lag gegenüber, wo meine Straße, die Hiddenseer Straße, in die Prenzlauer Allee ging. Die Berichte für die Akten hab ich später gelesen, sie fingen immer erst mit dem Morgen an: Künstler tritt auf den Balkon und schaut erst nach links und dann nach rechts. Oder auch mal umgekehrt. Und dann ging er zum Bäcker. Oder auch nicht … So ungefähr und, wie man inzwischen lesen kann, sehr, sehr wichtig (lacht).

Schon die Stückexemplare der „Umsiedlerin“, haben Sie erzählt, waren eingesammelt worden?

Die schickten Leute rum, zu uns kam Hans-Diether Meves, der spätere Regisseur und Intendant in Magdeburg, er arbeitete zu der Zeit im Kulturministerium, ich war nicht zu Hause, meine Frau wimmelte ihn ab. Inge Müller hatte eine Reinschrift vom Stück angefertigt, Klaus Völker hat sie mit rüber nach Westberlin genommen. Meves hat versucht, in Magdeburg Müllers „Mauser“ zu inszenieren. Anfang der siebziger Jahre.

Die Bezirksleitung verbot das, Meves gab seine Position auf. Er hatte mir übrigens ein Buch geklaut, bei seinem Ministeriumsbesuch bei uns. Eine Nebeneinnahme der Observierung.

Er war IM.

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Auf jeden Fall war er dann Dramaturg am BE. Ich betrat sein Zimmer in der Dramaturgie, er war nicht da, da lag es aufgeschlagen auf dem Tisch: „Hans Garbe erzählt.“ Käthe Rülicke hatte das geschrieben, ein Interviewbuch, eine Materialsammlung für Brecht, die erst Müller zum Stück machte, zum „Lohndrücker“. Es war eindeutig mein Exemplar, mit handschriftlichen Anmerkungen von mir. Ich hab’s eingesteckt und bin gegangen. Heiner Müller hat gesagt, die Literatur kommt aus der Provinz.

Das heißt eigentlich nur, dass sie aus der Kindheit kommt.

Beschreiben Sie Dresden.

Dresden ist Residenz. Man macht seinen Diener vor der Herrschaft, egal welcher. Ob König, Gauleiter, Bezirksfürst oder Ministerpräsident. Residenz ist das Gegenteil von Renitenz. Dresden ist mir wiederbegegnet in Wien. Das Anmutige, Weiche ist auch das Anbiederische. Biegsamkeit ist schön, und oft schleimig. Aber man muss sagen, das trifft Dresden wie Wien: wunderbare Kunststädte!

Das also ist der Grundsatz der redlichen Dresdner: Mach deinen Diener!

Die Mehrheiten wechseln, die Herrschaft wechselt, die Zeit wandelt sich, die Zeiten nie, jedenfalls nicht in diesem Punkt: Der Diener bleibt, er hält sich in jedem Regime! Du kommst nicht davon. Meine Frau ging mit dem Kinderwagen an den Elbwiesen spazieren, es war Sommer und sehr heiß. Auf dem Weg zurück zu uns nach Hause, zu meinen Eltern, zog sie die Schuhe aus, ging barfuß weiter. Die Nachricht davon war eher daheim als sie selber: Frau Tragelehn, Ihre Schwiegertochter, also nee! Barfuß! Das ist Dresden. Devise: Was sollen denn die Leute dazu sagen? Wozu auch immer. Der Sachse ist mit Vorliebe niedrig? Also unterwürfig.

Aber Vorsicht! Niedrig zu sein, ist auch was Gutes: sich unten umzutun, ein Gefühl fürs Unten zu haben, bei den Niedrigen zu sein, die 107


sich gegen diejenigen wehren, die sich überhoben haben. Die überheblich geworden sind. Die sich per Gesetz überheben und sich über alles stellen. Und man bleibt gebunden an das, von dem man sich befreit. Man wird nicht los, wo man herkommt. Dresden.

Ja, aber nicht nur.

Auch DDR?

Natürlich. So wie die Generation davor nie das Dritte Reich losgeworden ist. Da konnte sich Hitler noch und noch erschießen. Erbe klebt. Und wenn man sich Künstler anschaut, die rüber sind: Viele sind nicht als Euphoriker des Westens gegangen, sondern als Traurige, Enttäuschte, Unverstandene, die DDR an den Schuhen.

Sie auch?

Klar. Und auch bei Schleef zum Beispiel ist viel von der DDR hängen geblieben. Oder Johnson! Für mich gab es zwei große DDR-Schriftsteller …

Schriftsteller, die in der DDR schrieben.

Nein, DDR-Schriftsteller! Unverwechselbar DDR! Uwe Johnson und Heiner Müller. Allerdings gibt es einen Unterschied. Auch an der Themse-Mündung konnte man als Erzähler auf Mecklenburg blicken, oder überhaupt auf Deutschland. Beim Stückeschreiber wars schwieriger, der musste dableiben und mitspielen. Hat es der Dramatiker also schwerer?

Der Epiker kann von weither auf eine Situation schaun. Uwe Johnson konnte von New York oder von der Themse aus wunderbar auf Deutschland, auf die DDR, auf Mecklenburg schaun. Der Dramatiker braucht eine Nähe zu Stoff und Figuren. Im Drama findet der Krieg in der Gegenwart statt, und der Ausgang ist offen. Im Theater wird eine Realität aufs Spiel gesetzt, im Wortsinne. Wenn es gut geht, ist es ein experi108


menteller Vorgang, bei dem man nicht genau weiß, was rauskommt. Da bleibt immer was in der Schwebe, im Gegensatz zu dem, was zwischen zwei Buchdeckel kommt. Sie haben mal gesagt, Stückeschreiben sei „viel niedriger und lustiger“, als sich die Gelehrten das vorstellen.

Ich weiß doch, von Brecht, von Müller, wie sich das von Szene zu Szene hinbewegt, immer in der Praxis, die aus knarrender Bühne, störenden Requisiten und (lacht) nörgelnden Schauspielern besteht. Das ist kein Feld für Philologen, das ist ein Feld für Bühnenbohrer und Klebestreifen. Da ist nichts Hochgestochenes. Der Dramatiker kommt ja nie dazu, eine Idee zu verwirklichen, um ihn herum klappert der Theaterapparat. Theater ist täglich ein gespanntes Verhältnis aus Zeit und Raum. Und Menschen. Mir hat das immer gefallen.

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B. K. Tragelehn

VON A BIS Z

In Tragelehns Papieren, diesem Berg und Werk, herrscht eigentümliche Ordnung: Unordnungen, die er liebt. Wieder die alte Praxis: Es gibt Dinge, die hören nie auf. Jeder Text Fragment, der von anderen Texten bedrängt wird. Gedanken kommen einander in die Quere. Wenn man es nicht in Passformen zwingt, passt alles. Zueinander, gegeneinander. Jedes Beieinander behält Widerhaken. Ein kleines Alphabet seiner Reflexionen muss also ein bisschen prunken mit Vermeidung von Ordnung. In einem früheren Essayband sprach er vom „Vollgestopften“; das Geschriebene möge einem Baukasten gleichen, gut gefüllt bis zum Rand, den niemand aufräumt, und aus dem in Wahrheit nie jenes Gestänge, jenes Gerüst, jenes Gebäude entsteht, von dem abschließend gesagt werden darf: Fertig! So also muss ein ABC seiner Äußerungen sein: Übersichtsscheu, Mischung, Durcheinander.

Ein Text über Uwe Johnson aus dem Jahre 2003 enthält eine typische Anmerkung: „Die Zitate haben keine Anführungszeichen. Wissenschaftler, wenn sie reden, müssen immer sagen: Zitat, und: Zitatende. Ich muss nicht. So sind neben den Zitaten, die der Text als solche anführt, noch einige versteckt: zwei von Brecht, vier von Benjamin, eins von Goethe. Finden Sie sie.“ Antibürger

Brecht ein Antibürger? Ach, was heißt denn bürgerlich? Das ist so ein Schlagwort. Die Münchener Bürgerlichkeit ist eine wirkliche Tradition, die auch zum Beispiel bei Thomas Mann zu sehen ist, in die auch Feuchtwanger hineingehört. Es gab da eine Bürgerlichkeit im weiteren Sinne. Im Deutschen fehlt ja die Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen. Es gibt ein Stück darüber: „Der Marquis von Keith“ von Wedekind, der ja auch in München lebte und der ein großes Vorbild für Brecht war. Die sogenannte Brecht-Frisur, das war die Frisur des alten links: B. K. Tragelehn zu Hause

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Wedekind. Und die Singerei zur Klampfe hatte Brecht auch von Wedekind, der im Kabarett in München sang, wie Brecht später im Kabarett in Berlin gesungen hat, etwa die „Ballade vom toten Soldaten“. Berufsehre

Wo kommen wir denn hin, wenn wir nicht mehr gegen die Wände reden.

... bis zur Borsbergstraße

Wir waren auf der Straße, stadtauswärts, in Striesen, als der zweite Angriff auf Dresden kam, es hat einfach gerumst. Es war schwierig für uns, irgendwo reinzukommen, die Keller waren voll. Wir haben dann doch noch was gefunden. Als der zweite Angriff vorbei war, hatte der Feuersturm angefangen, und es war schwer, aus dem Haus wieder rauszukommen. Mehrere Männer mussten sich gegen die Türen stemmen, die der Wind zugedrückt hatte. Eine ungeheure Hitze quoll uns entgegen. Hinter dem Haus brannte eine Kohlenhandlung. Ein irrsinniger, glühender Sturm. Meine Großmutter wurde umgewedelt. Eine Frau mit einem Kinderwagen, auf dem Federbetten getürmt waren. Der riss es den Kinderwagen aus der Hand, und er raste davon, die Frau hinterher. Wir haben versucht, zur Borsbergstraße durchzukommen, wo die Geschwister meines Vaters wohnten. Aber da war alles weg. Mein Onkel und meine Tante sind verschollen in dieser Nacht. Wir sind an der Schule am Pohlandplatz gelandet. Die Schule brannte, aber die Turnhalle war intakt, und dort haben wir bis gegen Morgen gesessen. Dann sind wir aus der Stadt übers Blaue Wunder von Blasewitz nach Loschwitz und die Pillnitzer Landstraße raus nach Wachwitz zu meinem Patenonkel, der hatte da einen Kolonialwarenladen. Wir hatten diese Schutzbrillen auf, eigentümliche Dinger aus Leder-Ersatz mit metalleingefassten Gläsern. Wenn man die Brille abnahm, war man um die Augen weiß. Das Gesicht war schwarz.

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Chance heißt: Risiko

Der Künstler das Kind. Privileg des Künstlers ist, dass er Kind bleibt und den Schrecken der Arbeitsteilung nicht unterworfen. Der Künstler spielt weiter. Nicht für sich, sondern für alle. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Das steht im 15. der Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von Schiller … Spielen heißt etwas aufs Spiel setzen. Keine Chance ohne Risiko. Eine Revolution von oben, von Staats wegen, das ist die Erfahrung, die bleibt, wird zur lächerlichen und schrecklichen Karikatur. Das Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung führt zu Skepsis. Wenn das Kind dann strampelt, wird es mit dem Bad ausgeschüttet. Aber was als Skepsis, Zynismus usw. abgestempelt wurde, sind Lebensäußerungen. Dem Polizeiblick sind Lebensäußerungen nur lesbar als Täterspuren.

Dreizeit

Also: Der Stoff einer Erzählung, ihr Gegenstand, der ist Vergangenheit. Das Erzählen ist Gegenwart. Und der Begriff aktuell, ebenso wie der Begriff historisch – ach Gott … Das sind strapazierte, durch inflationären, vagen Gebrauch strapazierte Begriffe. Und außerdem sind in jeder Theateraufführung, egal welchen Stückes, ja immer drei Zeitebenen in Beziehung zu setzen.

Erfahrungskerne

Adolf Endler zum Beispiel, der aus der BRD in die DDR übersiedelte, schreibt hier und jetzt nicht mehr Gedichte wie dort und damals. Was an den Gedichten, deren Erfahrungskern unter den Stößen der alten Welt sich bildete, organisch erscheint, das Romantische, Idealistische, verletzbar Edle und das Bizarre, Groteske, verletzte Edle, kurz: das traditionell Lyrische im Sinn der aufsteigenden und im Sinn der absteigenden Bürgerklasse, das – präformiert und ein poetisches Subjekt, eben diesen Dichter Endler, konstituierend – erscheint an den Gedichten aus der neuen Welt, die er hier traf, als unorganisch: Bruch, Riss, Öffnung. 113


Erklärungssoße

Die Zeitung zum Beispiel, die erzählt nicht. Sie informiert und erklärt dann. Das verhindert die Erfahrung – oder zumindest behindert es sie. Das Erzählen verarbeitet die Vergangenheit. Sie wird Erfahrung. Und so kann sie weitergegeben werden. Allerdings ist es in den Theatern auch schon lange Tendenz, wie die Zeitung einen sogenannten interessanten und aktuellen Stoff dem Publikum nahezubringen, übergossen mit einer Soße von Erklärungen. Das ist das, was jetzt Meinungsbildung heißt, in der DDR hieß es Überzeugungsarbeit. Heute, digital, wuchert und wuchert das zum Dickicht, tödlich. Benjamins Formulierung trifft genau: Überzeugen ist unfruchtbar.

Freunde

„Wir müssen, müssen Freunde sein“, das lässt Lessing seinen Nathan sagen. Es ist das Pathos, das Lessing zur Verfügung stand; und es ist so anrührend, wie nur je ein Pathos war, oder ist, oder sein kann; die Emphase ist ohne jede feuchte Ansprache, trocken. Und um ein Missverständnis auszuschließen: die Freundschaft, die gemeint ist, ist nicht intim, sondern ganz und gar öffentlich; und sie meint nicht Friede Freude Eierkuchen, sondern im Gegenteil die Freude am Streit, eine Geselligkeit des Streits. Der Krieg ist der Vater aller Dinge? Der Streit ist es. Man streitet miteinander, und muss sich nicht totschlagen. Immerhin eine denkbare, eine zivile Utopie.

Gegenlosung

Nach Krise und Krieg und Shoa der alten Losung der kommunistischen Partei nachzugehn: „Keiner oder Alle“, bewusst – was ist dagegen zu sagen. Aber die Partei blieb Partei, als sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Dass die Partei die Menschheit zu sein habe, blieb außerhalb des Blickfelds, bewusstlos. Und damit die Überlebensaufgabe, den Stoffwechsel mit der Natur vernünftig zu regeln, ungelöst. Heute stellt die Menschheit sich ein, noch und wieder bewusstlos, auf die Gegenlosung: „Für Alle reicht es nicht!“ Längst vergessen, dass das die Ansicht Hitlers war! Das Problem ist immer noch dasselbe. Und die Unfähigkeit, es zu lösen eine 114


immer wieder andre, vorgestern, gestern und heute. Die Antwort Hitlers Für alle reicht es nicht – ist heute ein Gemeinplatz und schreit nach einer Widerlegung mit der schwachen Stimme der Hungernden aller Kontinente. Hermlin

„Abendlicht?“ Das sei eine geschönte gefälschte Autobiographie? Gelogener Antifaschismus? Der Enthüller Corino hechelt. Dass die Kunstfigur Stephan Hermlin nicht identisch ist mit der Person Rudolf Leders, hat doch aber jeder einsichtige Leser bemerkt. Wer ein Empfinden für Literatur hat und Textsorten zu unterscheiden vermag, wird das Buch „Abendlicht“ nicht mit einem obligatorischen Nachkriegs-Fragebogen zusammenspannen. Die politische Absicht ist durchsichtig und findet doch den Dummkopf, der die Frage nach der Vizepräsidentschaft des Internationalen PEN stellt. Corinos Spekulation auf die antikommunistischen und antisemitischen Reflexe seiner Leser aber ist widerlich. Honecker hat bei der Gestapo aus der Schule geplaudert? Jeder anständige Deutsche weiß, dass die Gestapo Tee und Plätzchen verabreicht hat in ihren Salons und nicht Prügel in ihren Kellern. In den Inflationsjahren war die Familie (Leder) auf dem wirtschaftlichen Zenit? Während die armen Deutschen in einen Abgrund taumelten, mästeten sich diese Juden? Ende der Durchsage.

Hitler und Stalin

Müller ist bei Stalin in „Gespenster am Toten Mann“ bei Versen geblieben. Hitler dagegen kommt bei Müller zu keinem Vers, in keinem Stück. Mir fällt keine Begründung ein, aber instinktiv finde ich es richtig.

Immer finsterer

Shakespeare hielt zuletzt an der Utopie fest. Sie bleibt sein Maßstab. Das Grandiose ist, dass er das einerseits ohne Blindheit, ohne Illusionen getan hat, und andererseits mit großer Beharrlichkeit. Ein paar Jahrzehnte darauf ist Revolution. Die immer weiter klaffenden Gegensätze in diesen Jahren werden immer noch gemessen an der Utopie. Aber der 115


Blick wird bei seinen Nachfolgern finster und finsterer. Satire und Elegie werden konstituierend. Komik

Komisch sein zu wollen, ist immer ein Fehler. Komisch ist nur Ernsthaftigkeit.

Konsequenz

Man muss die Dinge gleich behandeln, damit die Unterschiede erkennbar werden.

Lesung mit Standrecht

„Mauser“ war fertig geworden unmittelbar vor Müllers erster großer Amerikareise. Und ich habe, zu unserem Amüsement, gleich einen Vorschlag gemacht für eine ideale Aufführung: Jeden Dienstag, bei den wöchentlichen Sitzungen des Politbüros der SED, müssen alle den Text lesen, im Chor, und jedes Mal wird einer erschossen. Eine solche ideale Realisierung hätte den Geschichtsverlauf geändert. Müller hat das Stück dann in Texas uraufgeführt, und es ist in Amerika auch, deutsch und englisch übersetzt und gedruckt worden. Als ich kurz danach bei Reclam-Leipzig in der Universalbibliothek Brechts „Lehrstücke“ und seine Äußerungen zum Lehrstück herausgegeben habe – übrigens bis heute die einzige Separatausgabe –, konnte ich im Nachwort „Mauser“ erwähnen, das ging durch, sozusagen als ein bibliografischer Verweis. Ein Versagen der Zensur. Weil sie das Stück nicht kannten. Bloß der Verweis auf eine Parallele, den „eigentümlichen Apparat“ in Kafkas Strafkolonie, der ist gestrichen worden. Der Lektor, Heinz Czechowski, der Lyriker, riet zur Streichung. „Mauser“ blieb in der DDR bis zu deren Ende verboten.

Maistöckel

Das Fernsehen wollte von mir eine Auskunft über Heiner Müller … der Redakteur fragte, die Kamera lief: Sagen Sie doch mit einem Satz, was oder wie Heiner Müller war. Auf die Frage, die mir die Pistole auf

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die Brust setzte, habe ich geantwortet, wie aus der Pistole geschossen, nicht mit einem Satz, nur mit einem Wort: Ein Kind. Nicht, dass ich das hätte begründen können – wenn nachgefragt worden wäre. Im ächten Manne ist ein Kind versteckt, das will sterben. Das steht, ein Zitat, in Heiner Müllers Handschrift auf der Rückseite der Drucksache 20, dem letzten Heft der Reihe vom Berliner Ensemble, und nach seinem Tod erschienen. Die Schrift ist schon so leicht und so durchsichtig, dass sie an die Pusteblume der sächsischen Kindheit erinnert, Maistöckel. Wenn der Wind weht, fliegt der Samen. Nicht günstig

Bei allem Respekt vor Lenin: Es ist fürs Philosophieren nicht günstig, wenn es dazu dient, die Parteiopposition zu prügeln und zu züchtigen.

Not-Wehr

Die objektive Notwendigkeit, Gewalt zu vermeiden, ist sehr viel größer geworden, die subjektive Bereitschaft nicht. Und es gibt die Notwendigkeit der Gewalt gegen die Gewalt Was sollen die machen, die keine Chance haben zu sprechen? Oder gehört zu werden? Sie schlagen um sich. Jemanden am Sprechen zu hindern oder nur ihm nicht zuzuhören, das ist auch Gewalt.

Poesiealbum

Mein allererstes Buch (oder Büchlein, oder eher Heft) kam in der DDR nicht zustande: ein „Poesiealbum“, geplant noch unter der Herausgeber-Ägide von Bernd Jentzsch (vor seinem Wegbleiben nach der Biermann-Ausbürgerung), und weiterverfolgt unter der von Richard Pietraß. Das war eine sehr wünschbare Art von Publikation. Die Hefte sahen schön aus, kosteten nur 90 Pfg. und waren auch am Zeitungskiosk zu erwerben. Aber es wurde nichts draus. Kein Argument und kein Kompromissvorschlag konnten das Heft mit meinen Gedichten retten. Dabei war schon vorsichtig ausgewählt worden! Der Cheflektor hieß Leberwanz. D.h. er hieß Lewerenz, und ich nannte ihn Leberwanz. Der Verlagsleiter hieß Qualleck. D.h. er hieß Chowanetz, und ich nannte 117


ihn Qualleck. Nach dem Umbruch des Heftes (erst dann - oder: noch dann!) wurde von ihnen die Herstellung gestoppt. Im „Börsenblatt des Buchhandels“ (das auch in der DDR so hieß) ließ der Verlag Neues Leben eine Anzeige drucken, dass der Autor des Poesiealbums soundsoviel „nicht B. K. Tragelehn, sondern Ludwig Uhland heißt“. Regiewitz

Es gab früher keinen Regisseur. Man wusste noch, wo die Mitte ist. Da gibt es diesen Witz, den ich immer gern erzähle, über die Entstehung des Regisseurberufs. Ein Schauspieler schickt den andern nach unten mit dem Auftrag: Sieh mal nach, ob ich in der Mitte stehe. Der ist nicht wiedergekommen und Regisseur geworden.

Und die Aufführungen waren durch die Dichtung nicht normiert. Was uns die Buchform von den Elisabethanern überliefert hat, ist eine Redaktion von Varianten, und viel länger, als eine Theatervorstellung damals gedauert hat. Ob sie im offenen Raum des Globe Theatre gespielt haben, bei Tageslicht, oder im geschlossenen Raum des Blackfriars, bei künstlichem Licht, ob am Hof in Sälen oder auf Tournee in Wirtshöfen – sie haben den Text dem Raum angepasst. Das heißt, das Publikum, seine Stellung, seine Platzierung, sein Blickwinkel, hat die Art der Aufführung bestimmt. Still leben

Übermorgen die kannten Kraft und Zartheit/ Zerbrachen die Masken und zeigten Gesichter/ Wenn unsere Kinder/ Unschuldig gehen über das Meer Blut/ Das liegt zwischen uns und ihnen (aus dem Gedicht „Still leben“). Tödlich

Der Reiz der Verse ist die Spannung, die Reibung: zwischen den Betonungen, die das metrische Schema verlangt, und den Betonungen, die der Satz verlangt. Verse bewegen sich, wie das Leben, in Widersprüchen. Identität ist tödlich. 118


Totengräber und CSU

IMs hatte auch die CSU in unseren Vorstellungen in München sitzen – ob die Clowns nicht falschen Text sagen –, am nächsten Vormittag bekam der Intendant eine Abmahnung des Ministeriums auf den Tisch. Rückgrat musste ein Intendant haben in München wie in Dresden. Wir haben das Schreiben auf der Bühne verbuddelt. Die Totengräber im „Hamlet“ spielten Bierbichler und sein Gardrober Basti, Sebastian Eder aus Bad Tölz. Sie gaben dieses Clownspaar ab und haben das Schreiben beim Begräbnis Ophelias ausgegraben und vorgelesen. Und gefragt. „San das mir?“ Es gab sogar eine Landtagsdebatte deswegen, und die Parteien hatten, wie sich sofort gezeigt hat, von der Sache keine Ahnung. Die Reden waren todernst und hochkomisch.

Unverstandenes

Im Alter übernimmt die Erinnerung den Kopf, statt der Erwartung. Wenn ich alles zu ordnen versuche, kommt unterm Strich ein großes Staunen heraus. Ich habe das, was ich früh erlebt hatte, immer erst später – begriffen. Aber gehalten hat sich eines: Mich hat immer lange bewegt und beschäftigt, was ich nicht verstanden habe. Zuhause in Dresden hatten wir ein Radio der Marke „Mende“. Warum nur erwähnten die Leute im Dorf dauernd unser Radio? „S is mende so“, sagten sie. Viel, viel später habe ich mitgekriegt, sie sagten „am Ende“. Verdrängung

Heute hat das Theater eine Tendenz zur Feindschaft gegen Sprache. Rundfunk und Tonfilm, und dann besonders das Fernsehen, haben die Sprache nivelliert. Sie haben von der Schriftsprache Verdrängtes, im Dialekt Bewahrtes, getilgt; und umgekehrt Stereotypen, Klischees, die der Schriftsprache entstammen, in die gesprochene Sprache geschwemmt. Dort werden sie allerdings auch wieder zersetzt. Schlimmer als die Vereinheitlichung ist die Tendenz, das sprachliche Entscheidungsvermögen einzuschränken und Erfindung zu blockieren. Diese Dominanz der Bilder, die der Sprache eine Dienerrolle zuweist und sie zum devoten Anhängsel macht. Diese Auswirkung trifft sich mit der Wissenschafts119


sprache. Das Deutsche vertraut nicht mehr den Phänomenen. Wenn Bilder nachgemalt werden, oder erklärt, sind es die Adjektive, die betont werden; unter dem Blickwinkel der Wissenschaft rücken die wertenden und urteilenden Wörter unter die Betonung. Wahrheit?

Wer die Wahrheit herausfindet und sie sagt, hält sie meist für die eine und einzige, aber wer zuhört (und sie sich übersetzt, um sie zu verstehn) und wer sie weitersagt (und sie übersetzt, um sich verständlich zu machen), der ergänzt und lässt weg, bestreitet und formuliert um, usw. usw. Er übersetzt, und die Wahrheit wird eine unter anderen. Wenn einer das schon weiß, wenn er die Wahrheit sagt, kann man von Weisheit sprechen. (1979)

Zeit-Vergleich

Meine Zeit in Frankfurt. Es wäre unfair, Ost und West zu vergleichen. Wieviel Demokratie überwintert in einer Diktatur, wieviel Diktatur rettet sich in eine Demokratie? Ich sehe sie vor mir: Herr Oberbürgermeister Wallmann in Frankfurt, dessen Ponem als Penatencremereklame von allen Plakatwänden geglänzt hat zur Wahl, oder sein Mann fürs Grobe, der Stadtdirektor Brück, Vorsitzender der Deutsch-Südafrikanischen Gesellschaft, das edle Antlitz von Schmissen geschmückt – porträtiert hat diese Leute schon George Grosz – , das waren auch keine besseren Demokraten als die in der Demokratischen Republik. Beihilfe hat Genosse Hilmar Hoffmann geleistet, der für die SPD die Stellung als Kulturdezernent halten musste. Er ist, egal, was er dabei gedacht hat, dem Parteiauftrag gefolgt, wie es auch in der SED Brauch war.

Zu guter letzt 1

Man nimmt am besten Abschied, wenn man noch gar nicht weiß, dass es ein Abschied sein wird.

Zu guter letzt 2

Ich gestehe, ich bin ein Lachfreund, ein philolegos, wie schon Platon

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ihn liquidieren wollte. An dem Tag, als Heiner Müller begraben wurde, fand vor dem Begräbnis eine Matinee im Berliner Ensemble statt. Alle haben nochmal seine Texte gelesen, todtraurig. Ich war der Einzige, der die Leute mit Fondrak (aus der „Umsiedlerin“) zum Lachen gebracht hat. Da bin ich stolz drauf.

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„Mich in zwielichtigem Material frei zu bewegen, davor hatte ich nie Angst.“ HANS-DIETER SCHÜTT: Welche Bilder haben Sie vor Augen, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?

B. K. TRAGELEHN: Der ungeheure Jubel, als die siegreichen deutschen Truppen zurückkamen vom Frankreichfeldzug. Menschen und Menschen und Blumen und Blumen. Strahlende Gesichter und das Geräusch der genagelten Stiefel auf dem Straßenpflaster, eine sehr frühe Erinnerung. Über diesen Jubel 1940 habe ich oft nachgedacht. Dieses Geräusch, von dem etwas Verheerendes ausging, im wahren Sinn des Wortes, der Jubel war ver-heerend, dieses Geräusch war eine Welle, die dröhnte, nichts Vergleichbares in meinem Leben gab es fortan. Ich hatte dann später das Gefühl: Das ist der Kern der deutschen Geschichte. Jubel von Massen ist mir später zum Schreckensgeräusch und zum Schreckensbild geworden.

Sie betonen das „später“.

Ja, immer alles erst später. Meine Mutter sehe ich, stumm sitzend über dem Atlas mit dem riesigen Russland, als die Nachricht vom Überfall auf die Sowjetunion kam. Ich ging, eine Schokoladenbrezel essend, an der Hand meiner Großmutter über den Dürerplatz in Dresden, in der Nähe der Trinitatiskirche, in der Johannstadt. Da bauten russische Kriegsgefangene ein Wasserbassin für den Luftschutz, und ein junger Gefangener, geschoren, sah mich mit großen Augen an, er klopfte mit einem Hammer Steine. Der Posten wandte gerade den Rücken, und der Gefangene bettelte, stumm, die Hände aneinanderlegend, wie auf der Dürerzeichnung der betenden Hände. Er bettelte, ich aß eine Schokoladenbrezel. Meine Großmutter zog mich weg. Ein paar Tage später wurde die Mutter eines Schulkameraden abgeholt, weil sie Kartoffelschalen ins Gebüsch geworfen hatte. Das weinende Gesicht des Schulkameraden. Einmal, an der Ecke zur Blasewitzer Straße, habe ich Juden gesehen mit dem Stern, das war der unheimliche Eindruck von etwas Schrecklinks: B. K. Tragelehn und Bertolt Brecht im Berliner Ensemble, 1955

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lichem. Niemand sprach darüber. Aber ich, ohne Kenntnisse, behielt ein deutliches, fotografisch scharfes Bild. Im Bücherschrank zuhause entdeckte ich beim Stöbern eine Broschüre über Juden. Die musste ich sofort wieder hergeben. Als ich Jahrzehnte später in Stuttgart inszenierte, es war die Peymann-Zeit, frühstückte ich im Hotel – es gab Brezeln. Das glich einer Wiederentdeckung, und fortan gehörte zum Morgenkaffee die Brezel. Erst jetzt schien sich eine Bedeutung auf die Brezel gelegt zu haben, ich dachte an die bettelnden Augen und Hände des Russen, während ich damals die Süßigkeit aß. Ich habe zu dieser Szene damals meine Großmutter nicht befragt, ich wusste nichts über Kriegsgefangene, wie ich nichts über Juden wusste. Wieso hat es sich eingeschärft und wartete im Unterbewusstsein so lange auf die Ausgrabung? In einem Gespräch mit Renatus Deckert erzählen Sie, wie Sie als Erwachsener die „Marmorklippen“ von Ernst Jünger lesen und an die Kindheit erinnert werden.

Es ging um des Autors Gang auf die Rodung von Köppelbleek. „Hinter dem Busch mit den feuerroten Beeren der Schritt ins Unheimliche.“ Da dachte ich sofort an einen Obdachlosen bei uns im Viertel, vor dem hatte ich Angst. Im Dunkeln, abends, fühlte ich mich verfolgt und rannte wie um mein Leben nach Hause. Jünger habe ich erst sehr spät gelesen, ich fand das Buch ziemlich kunstgewerblich, aber das Zitierte hat mich getroffen. Es war der Blick auf den Schindanger, aus der Idylle heraus. Ein ganz nachdrückliches Gefühl.

Sie schlugen das Buch an der richtigen Stelle auf.

Diese Gabe besaß ich (lacht): die Dinge zu finden, die ich brauchen konnte. Müller beherrschte das noch weit besser.

Kannten Sie die „Nibelungen“?

Natürlich. Ich hatte als Kind ein Buch, „Deutsche Sagen“, mit farbigen Bildern, beeindruckende Recken. Eines der Bilder trug den Titel „Etzels Saal“, alle Mann knietief im Blut. Volker und Hagen treten hinaus in die Nacht, der Sternenhimmel leuchtet, und Volker schlägt die Laute. Unheimlich – und komisch. 124


Das Komische sahen Sie schon als Kind?

Wohl eher nicht. Es gibt Bilder, die nenne ich geräumig, weil sie mehrdeutig sind, und die Deutungsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Zeiten andere werden. Sie wechseln.

In einem Gespräch mit dem Theaterkritiker Henning Rischbieter bekamen Sie das alles zusammen: Shakespeares „Macbeth“, Heiner Müllers Fassung, den deutschen Bauernkrieg.

Und Ernst Jünger.

Und die Nibelungen.

So was Deutsches.

Wie sahen Sie das? Als was Fatales?

Auch. Aber nicht nur. Heiner baute an seiner „Macbeth“-Fassung, und wir dachten an Frankenhausen, wo die Bauern in Massen geschlachtet wurden. Da ist sie, die Geräumigkeit der Bilder. Durch die die „Wolokolamsker Chaussee“ führt bis zum Führerbunker in „Germania Tod in Berlin“.

Ewig unsere Gegend.

Weswegen sich Müller ja auch für Ernst Jünger interessiert hat. Für das Abstoßende, in dem auch das Verführerische lauert.

Womit Linke ihre Schwierigkeiten haben oder plötzlich auf den Modewellen eines angestrengten Verständnisses mitreiten.

Aus Unsicherheit oder Unsouveränität.

Moral!

Oh! Das ist Feigheit vor einem Optikwechsel. Feigheit vor dem Gang auf die andere Seite, vor dem politisch Unkorrekten, vor dem Schwindelgefühl beim nicht abgesicherten Standpunkt. Wer nicht in Widersprüchen denken kann, denkt nicht. Wer nicht in Widersprüchen leben kann, lebt nicht. 125


Sie sagen, es sei im Theater folgenlos, wenn sich alles in allgemeinem Humanismus trifft.

Bei den Proben zu Müllers „Schlacht“ hab ich den Schauspielern gesagt: Ihr müsst das spielen wie Werbung für den Nationalsozialismus. Die Geschichten gehen aber alle in die Scheißgasse. Nur wenn die Faszination, die das hatte, zu merken ist, wird man unsicher. Sonst sitzen im Parkett lauter gute Menschen und meinen, dass ihnen das nie passiert wäre. Die Irritation, wenn der Zuschauer von heute nicht mehr sicher sein kann, wie er sich verhalten hätte damals, ist der erste Schritt zu der Überlegung, wie man es vermeiden kann, in so eine Lage zu kommen. Wieder und wieder.

Als Widmung in ein Buch für einen Mitschüler schrieb Heiner Müller 1947: „Sage mir Dein Verhältnis zum Schmerz, und ich sage Dir, wer Du bist. Ernst Jünger.“

Ich hatte immer was gegen Leute, die mich vor dem Falschen warnen wollten. Mich in zwielichtigem Material frei zu bewegen, davor hatte ich nie Angst. Oder es war gerade die Angst, die mich interessiert hat.

Zitat Tragelehn: „Ich komm schon an der richtigen Stelle raus.“

Wie sagt man dazu? Klasseninstinkt. (Lacht.) Müller hat Jünger schon früh gelesen. Es war noch vor der Zeit der „Umsiedlerin“. Ich hatte geheiratet, Inge und Heiner Müller hatten den Heinrich-MannPreis bekommen, wir saßen zu dritt und stellten heiter fest, dass wir zugenommen hatten. Weil wir wieder was zu essen hatten. Ich sagte zu Heiner, bei mir mache das nichts aus, aber er als Jünger-Jünger müsse unbedingt auf seine Herrenreiter-Figur achten. Inge kam aus dem Lachen nicht heraus, und bei Heiner erlebte ich, was ich nie wieder erlebt habe: Er blieb sprachlos, ihm fiel keine Antwort ein. Waren Sie ein Junge, der den Angriff liebte? Rauflustig?

Nee, nee. Ich war bei körperlichen Auseinandersetzungen ängstlich. Ich wich dann aus. Und ich hatte wiederkehrend Angst vor Schlägen.

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Gesellig?

Ich weiß nicht. Das ist doch immer mit Gelegenheiten und Situationen verknüpft. Du bist erstmal fremdgestimmt, weil du in etwas hineinkommst, in einen Moment, in eine Konstellation, und dann reagierst du.

Es muss doch aber was zusammengekommen sein, dass Sie Ihr Leben ausgerechnet im Geselligkeitsgewerbe Theater verbrachten.

Ja, ja , seltsam. Jetzt sitze ich hier zwischen unseren heimischen Wänden und vermisse wenig.

1945 ist Frieden. Woran erinnern Sie sich?

Dicke süße Büchsenmilch. Orangenlikör hab ich genippt, in Ottendorf-Okrilla. Warum fällt mir ausgerechnet das ein? Etwa anderthalb Tage war die SS im Dorf, dann kamen die Russen, auf Fahrrädern, einer hatte in der Hand, die den Lenker hielt, eine Handgranate. Auf die Russen war ich neugierig. Ich kannte die Uniformen nicht. Der Winter war sehr kalt gewesen. Dann kam ein wunderbarer warmer, heller Sommer. Das war ein strahlendes Jahr, 1945. Lange noch ohne Schule, nur im Wald und im Wasser. Dann ging die Schule wieder los, alles war ganz anders. Es wurde nicht mehr geschlagen. Die Volksschule hieß jetzt Grundschule. Der Winter wieder eisig, die Wiesen an der Röder meilenweit überschwemmt, alles Eis, nur der schmale Fluss nicht fest zu. Ich bin natürlich eingebrochen. Wir wohnten ein paar Jahre auf dem Dorf, nachdem wir ausgebombt waren. Ich war gern da, in Ottendorf-Okrilla, zwanzig Kilometer östlich von Dresden. Wir sind noch in den Vierzigern wieder in die Stadt gezogen, als mein Vater aus der Gefangenschaft wiederkam. Die Residenzstadt Dresden hab ich gehasst. Aber die Kunststadt Dresden, mit Malerei und Musik und Theater, hat mir den Ausweg gezeigt.

Wie waren die Lehrer?

Im letzten Jahr der Grundschule hatte ich einen sehr guten Lehrer, ein äußerst kulturvoller Mann war das, Dr. Rhode. Er war sehr bürgerlich und politisch ganz bestimmt anderer Meinungen als der staatlich 127


angeordneten. Aber er war schlau, und nicht nur das, er war auch klug, und das zählte für mich: Er war sehr kunstinteressiert. Auf der Oberschule dann: die Lehrer ein Panoptikum. Ich beobachtete sie wie in einem Figurenkabinett. Einer, unser Direktor, der Geschichtslehrer, konnte herrlich die Kommandos im österreichischen Heer nachmachen, in dieser absurden Phonetik, mit der das Kaffeehaus reibungslos zur Kaserne wechselte. Ich mochte die meisten Dresdner Lehrer nicht. Die Nazis waren weg, nun kamen die wiederbelebten Gymnasialprofessoren. Einen nannten wir den „Kleinen Muck“, ein anderer hatte immer einen Tropfen an der Nase. Der Zeichenlehrer war im Ersten Weltkrieg von einem Propeller schwer im Gesicht getroffen wurden, er konnte nicht mehr richtig sprechen und nannte das eine Verletzung, die er sich „bei der Verteidigung des Vaterlandes erworben"“ hatte. Sagten Sie als Kind „Heil Hitler“?

Zu Hause haben wir Guten Tag gesagt, ein Hitlerbild gab es nicht bei uns, überm Schreibtisch meines Vaters hing Hindenburg. Aber zu Dr. Keller, der war Direktor der Dreikönigsschule, auf die ich mal gehen sollte, musste ich „Heil Hitler“ sagen. Er wohnte im ersten Stock unseres Hauses. Auch in der Schule mussten wir „Heil Hitler“ sagen, drei leere Silben im Chor. Einmal in der Woche gab es Fahnenappell auf dem Hof. Es war äußerst lästig, den Arm so lange hochzuhalten, über die Dauer des Deutschlandliedes und des Horst-Wessel-Liedes hinweg. Am Ende war der Arm auf halber Höhe. Wir hatten eine Klassenlehrerin, die uns in ihrer ersten Stunde verzückt vom Besuch beim Führer auf dem Obersalzberg erzählte.

Erinnern Sie sich an den 17. Juni 1953?

Woran ich mich erinnere: Ich hing am Radio und ging alle Sender nach Informationen durch. Das ist so ein Bild, das viel mit meinem Leben zu tun hat: Ich will alles wissen, aber nicht dabei sein. Ich höre möglichst genau in was rein, bleib aber draußen. Mich geht was an, aber ich geh nicht hin. Die Haltung zieht sich durch.

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Was war bei Stalins Tod?

Auf der Titelseite der Zeitschrift „Urania“ war Stalin abgebildet. Ein Schüler hatte Bemerkungen hingekritzelt. Er wurde relegiert. Als Stalin starb, mussten alle in die Turnhalle, dort wurde es verkündet. Erfahrung hatte ich schon, wie so geredet wird oder geredet werden musste. Das war meine erste Wahrnehmung von dem, was mir später als Stalinismus bewusst wurde. Der Grundton der politischen Agitation reichte von Wischinski bis Freisler. Die Namen hatte ich natürlich erst sehr viele später parat. Aber ich merkte, es gab diesen bestimmten offiziellen, öffentlichen Denkton, eher ein Denkabtötungston. Du wurdest in diesem Ton zum Objekt, du warst tatsächlich nicht persönlich gemeint.

Haben Sie Sport getrieben?

Getrieben, ja, vor mir hergetrieben hab‘ ich den Sport ein Leben lang, man kann auch sagen: weggejagt. Natürlich nicht immer schon, als Junge habe ich Fußball gespielt. Vor allem die Jahre auf dem Dorf, in Ottendorf-Okrilla. Sehr intensiv.

Dieser seltsame Sport Fußball ist nicht zu trennen vom schönen Unsinn, darüber nachzudenken. Messi hat mal bei einer WM gesagt, er wolle Weltmeister werden, „aber wie das klappen kann, darüber haben wir, ehrlich gesagt, noch nicht so richtig nachgedacht“, und er schaute auf seinen Trainer Maradona, und der schaute auf dieser Pressekonferenz staunend zurück: wie genial ihm Messi doch genau jenen Gedanken aus dem ballrunden Kopf spitzelte, den er auch grad hatte. Den er eigentlich immer hat. Argentiniens Mannschaft spielte vielleicht deshalb so gut: Sie hatte einen Trainer, brauchte ihn aber nicht wirklich. Am wenigsten seine Gedanken. Maradona sagte: „Ich bin ja nur Aura, kein Lehrer.“ Was für ein starker Satz. Er erklärt das Geheimnis jeder Regie: Sie ist am besten, wenn sie den Eindruck erzeugt, sie sei gar nicht nötig. Und Klaus Theweleit sieht im Fußball ein „Realitätsmodell“, das reizt zum Denken.

Denken ist eine Daseinsweise, es ist an keinen speziellen Gegenstand gebunden.

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Verflogene politische Utopien, so Theweleit, hätten bei Linken zur „Intellektualisierung der Fußball-Liebe“ geführt.

Zumindest fielen im Fußball bislang weit weniger Eigentore als in den linken Bewegungen aller Zeiten. Außerdem: Der Schießbefehl hat eine tolle Konsequenz – die Schützen mit der Kugel stehen vor jeder Mauer, um mit gezielten Schüssen deren Überwindung zu betreiben. Aber jetzt sind wir weit abgekommen von Ochsendorf-Gorilla. Hinter dem Garten führte die Bahnlinie nach Königsbrück entlang, parallel zur Straße gab es eine große leere Fläche. Da spielten wir Fußball, mit Ballersatz aus Flicken. Meine Mutter machte sauber auf dem Arbeitsamt. Das war früher das Gewerkschaftshaus, dann das Braune Haus, dann saß die SPD drin. Die KPD residierte im Rathaus. Einmal fragte ich die Mutter meines Freundes Horst, ob er mit zum Fußball kommen darf. Da brauste der Vater auf, dass ich erschrak: Da sei typisch! Die Nazis mit ihrem Versagen seien schuld, dass danach alles durcheinandergebracht worden sei, auch die Ordnung in der Familie. Er schrie mich an: „Mich hättest du fragen müssen, ob Horst Fußball spielen darf, mich, nicht seine Mutter!“ Das hat sich mir eingeprägt: das Patriarchat in Panik, Hierarchie hypernervös beim geringsten Anlass. Ein Arbeiter. Der Mensch als das Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse – das schlägt durch ins Verhalten zum eigenen Kind, in allen Klassen. Natürlich begriff ich Horsts Vater überhaupt nicht, ich war verwirrt, eine Irritation, die sich festgehakt hat. Aber das dauerte, und jetzt erinnerte ich mich. Unsere Einsicht ist meistens dem Empfinden, der Erfahrung nachgereicht. Waren Sie ein guter Fußballer?

Mittelstürmer!

Obwohl Sie ansonsten der eher ausweichende Typ waren?

Is‘ eben so. Ich war sogar Torschützenkönig im Turnier der Schulklassen. Da kommt Günter ins Spiel, er war der Sohn vom Papierhändler in der Johannisstadt, ein guter Fußballer, aber von ihm bekam ich was mit von bildender Kunst, er hatte Bücher über Maler, Rafael zum

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Beispiel, den ich später nicht mehr so mochte. In der Dresdner Kunstakademie gab es eine Arbeitsgruppe, die betrieb Studien zum Schulunterricht, sie kamen in unsere Grundschule. So wurde ich weggelockt vom Fußball, hin zum Zeichnen, übers Ausmalen hinaus. Ich begriff gewissermaßen über die Farben, dass es das Reine nicht gibt, nur Mischung. Leben ist Mischung, ist Verunreinigung. Ich begann zu malen, und der Fußball hatte das Spiel bald verloren. Interessierte Sie Schule?

Ich habe früh lesen wollen, habe buchstabiert, wo es nur ging. Die Schule sonst? Mäßig. Ich habe viel gelesen – in der Schule heimlich. Bei den Büchern, bei der Literatur, die ich im Unterricht las, entwickelte ich eine Technik des Verbergens. Auf dem Tisch der Schulbank lag viel Papier, darunter aber war das Buch, das ich wirklich las. Ich habe auch viel gemalt, wollte Maler werden, Schauspieler dann auch. Aber bei der Stanislawski-Schule in Leipzig wurde ich abgelehnt, denn ich hatte Brecht vorgesprochen. Die Künste rangen früh in mir (lacht). Schon ins Köfferchen, das ich beim Bombenangriff im Februar 1945 fest umklammert hielt, hatte ich Coopers „Wildtöter“ gepackt. Es war eine Ausgabe mit Schwarzweiß-Illustrationen, die ich farbig ausgemalt hatte. Und später unvergesslich: der schöne Weg übers Blaue Wunder nach Loschwitz, in die Zweigstelle der städtischen Bibliothek, Bücher ausleihen. Fußball gespielt, aber keine Freude an der Leichtathletik?

Doch, auch, 800-Meter-Lauf mit guter Zeit. Aber dann schlug mein Herz irgendwie Alarm.

Gingen Sie in Dresden auch ins Fußballstadion?

Ja, Helmut Schön sah ich spielen, den späteren Bundestrainer, und vor allem Richard Hofmann, beide vom alten DFC, die jetzt bei der SG Dresden-Friedrichstadt spielten. Von Schön hab ich ein wunderbares, unvergessliches Tor gesehen, in der Friedrichstadt, im Ostragehege. Der Ball kam hoch herein, von rechts, Schön ließ den Ball tatsächlich 131


am Rücken herabgleiten und lenkte ihn mit der rechten Hacke ins Tor. Unbeschreiblich. Richard Hofmann wurde „König Richard“ genannt, er hatte Anfang der dreißiger Jahre als Kapitän der Nationalmannschaft vorm Länderspiel den König von Dänemark begrüßt, der fragte nach seinem Befinden, und Hofmann antwortete: „Danke gut, Herr König.“ Als sich die Mannschaftskameraden amüsierten, konterte Hofmann: „Ihr wisst eben nicht, wie man mit seines gleichen spricht.“ Können Sie Schach spielen?

Hab ich von meinem Vater gelernt.

Ihre Eltern hatten sich kennengelernt in einer Silberwarenfabrik, wo beide arbeiteten.

Ich war mal im Büro meines Vaters, in der chemischen Firma, die Harzleim für Papierfabriken destillierte. Wo er gearbeitet hat, vorm Krieg und nach dem Krieg. Er wurde dort Prokurist, schließlich Direktor, mit holzgetäfeltem Büro. Der Betrieb wurde in der DDR halbstaatlich und hielt diesen Status lange. Nach dem Tod meiner Mutter, 1972, er war inzwischen Rentner, zog er in den Westen. Er hatte dort eine Freundin für den Lebensabend. Wenn er uns besuchte, kam sie mit ihm. Als ich im Westen arbeitete, habe ich ihn natürlich auch mal besucht. Ein Haus in einem Vorort von Köln, mit Garten. Der Garten war schrecklich, ein Paradies für Gartenzwerge und Grashalmzählen. In den achtziger Jahren ist er gestorben.

Was war er im Krieg?

Fahrer bei den Sanitätern. Prag, kurz Russland, dann Westfront. Die Zeit in englischer Gefangenschaft war relativ kurz, er kehrte in seine alte Firma zurück.

Ging er später aus politischen Gründen in den Westen?

Nicht ausdrücklich. Aber unterschwellig sicherlich. Der Westen, das war seine alte Welt.

Kann man sagen: Die Eltern waren bürgerlich?

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Ja. Da war auch Nationalbewusstsein. Ein Bild von Hindenburg hing hinterm Schreibtisch. Und im Schreibtisch selbst lagen alte Orden aus der Vergangenheit der Familie. Bei den Wahlen nach dem Krieg sagte er mir auf Nachfrage: Wir sind bürgerlich, wir wählen liberal! Meine Eltern gaben ihre Stimme der National-Demokratischen Partei, die war 1948 gegründet worden. Wurden Sie religiös erzogen?

Großmutter, die Mutter meiner Mutter, die immer bei uns gewohnt hat, sie war fromm und streng und züchtig und furchtsam. Von Corinth gibt es dieses Bild des Ritters in eiserner Rüstung, an seine Brust gelehnt: eine nackte Frau. Großmutter empörte sich, als ich mir dieses Gemälde ansah. Sie ging zu meiner Mutter, das Teufelszeug anzuzeigen: Oh Gott, was hat der Junge da! Vater blieb ruhig, aber auch er hat meine Lektüren missbilligt.

Sie wurden konfirmiert?

Genau das hat mich von der Kirche geheilt. Unser Pfarrer war ein zu knochiger Protestant.

Es gibt einen Vers von Ihnen: „Ja, es ist wahr, es spricht gegen die Kirche, die alte die neue/ Dass sie die Ketzer verbrennt. Ketzer, sie sprechen für Gott.“

Jede Kirche erzeugt Ketzer. Das sind die wertvollsten Mitglieder. Sie zahlen mehr Beitrag.

Wie wohnten Sie in Dresden?

Als Kind? Vierter Stock. Schöner Blick über den Platz, den Dürerplatz in der Johannstraße. Mit dichtem Gebüsch, in dem ich gern gekauert bin. Habe mir in die Hose gepisst, als mich ein Schutzmann rangewinkt hat. Ich war übers Eck des städtischen Rasens gelatscht. Die Großmutter hat gelacht. Wir haben mit dieser Großmutter, wie gesagt, zusammengewohnt, der Großvater war früh gestorben, die Großmutter väterlicherseits auch. Sie war aus Österreich, Vorarlberg. Die Familie Tragelehn war aus Riesa. 133


Kinder spielen gern Krieg.

Im Zirkus Sarrasani, in dessen Winterquartier, habe ich Heidi gesehen, nach den Kinderbüchern der Johanna Spiry. Das Kind buchstabiert ein Ladenschild falsch: Kind- und Schweineschlächter statt Rind- und Schweineschlächter. Ich hab‘ das schon öfter erzählt. Aber es ist so einsichtig. Kindermund spricht falsch, die Erwachsenen lachen, aber Kindermund hat unwissentlich richtig buchstabiert. Ich hatte unwissentlich auf den Punkt gebracht, was Krieg ist. Im Radio kam, wie viele Bruttoregistertonnen versenkt worden waren. Versenkt worden waren Menschen. Kein Gedanke daran. Bruttoregistertonnen, ich wiederholte das Wort und verhedderte mich, wieder lachten die Erwachsenen. Ich war als Kind kriegsbegeistert, ich sah im Krieg eine Art höhere Fortsetzung des Indianer-und-Cowboy-Spielens. Ich sehe mich in der schmalen Küche sitzen, auf dem Tisch, die Füße auf dem Stuhl. So wurde ich von der Großmutter jeden Morgen gewaschen. Daneben der Küchenherd mit dem Kohleneimer. Guck mal, Oma, so machen die Stukas. Ich kopfüber in den Kohleneimer. Das war einer dieser Marmeladen-Eimer mit dünnem eisernen Bügel, ich riss mir die Kopfhaut dran auf und seh noch, wie das Blut im Waschwasser Kreise zieht. Als ich das dem Dramaturgen Bernd Böhmel erzählt hab, hatte er sofort einen Titel für meine ungeschriebenen Memoiren: „Ich war der blutende Stuka.“ Am Tag der Wehrmacht ging's in eine Kaserne. Gulaschkanone, Erbsensuppe, Handgranatenwerfen. Bei der Tombola gewannen wir ein Kaffeeservice. In den Panzer kletterte ich natürlich ohne Gedanken an die Hitze, dann, wenn man in dem Eisen verbrennt. Interessant, wie alles immer zuerst ein Spektakel ist, ein Spiel.

Im Sommer 1944 fiel eine Bombe in Dresden, wir waren auf dem Dorf, in den Ferien. Nach der Rückkehr sind wir hin, ein Haus war völlig zerstört, ein einziges Haus! Das war eine Attraktion. Sowas hatte es bis dahin nicht gegeben in Dresden. Ein halbes Jahr später war die ganze Stadt zerstört. Sirenengeheul hat mich noch als Erwachsenen in Schrecken versetzt. 134


Natürlich muss ich Sie nach diesem Bombenangriff fragen, Februar 1945.

Ja. Der Feuersturm ...

In einem Ihrer Gedichte heißt es: „Der Brand leuchtete wie ein Sonntag/ Im Februar.“

Der Angriff kam zur Faschingszeit, ich hatte zu Weihnachten neues Indianerzeug geschenkt bekommen, aber mit dem Spiel war es nun vorbei. Schon eine Weile hatte es kein Weißgebäck mehr gegeben. Und frühmorgens keinen Topf Kakao mehr. Im Keller war es schlimm. Die Geräusche der Flugzeuge, dann die ersten Einschläge. Zwei Luftminen trafen unser Häusergeviert. Auch das Geschäft, wo ich immer Milch geholt hab. Minen schlugen durch bis in den Keller. Hinter unserem Haus ist eine in die Apfelsaftkelterei eingeschlagen. Das war knapp am Leben vorbei. Zu verstehn war das erst später. Meine Mutter ist nach dem ersten Angriff noch mal hoch in die Wohnung, vierter Stock, aber der Dachstuhl stand schon in Flammen. Sie hat noch ein paar Sachen in den Keller geholt. Davon ist die silberne Kaffeekanne übrig, die dort drüben steht. Der Sahnegießer und die Zuckerdose waren ausgelagert, in Rippien bei einer Freundin meiner Mutter, die Kanne nicht. Meine Mutter ging Tage später nochmal zu unserm Haus. Da hat sie die Kanne im ausgebrannten Keller wiedergefunden. Die war ein bisschen verzogen, und der Ebenholzgriff war verbrannt. Sie lag oben auf der kalt gewordenen Asche. Wie war der Weg ins Freie?

Rauszuklettern aus dem Keller, das war wie ein Geburtsvorgang: Ich kam zur Welt. Das ist ja ein lebenslanger Vorgang: zur Welt kommen; zu sich kommen; zur Welt kommen oder zu sich; zur Welt kommen, indem man zu sich kommt; zur Welt kommen: zu kurz kommen. Es gibt die Varianten, die nie in Reinform existieren. Es ist merkwürdig, dass sich die Angst erst viel später über die Bilder legt. Dann, wenn sie schon lange keine Realität mehr sind. Als wir raus sind aus dem Haus, mussten wir uns in der Durchfahrt an der Wand entlangdrücken. Der Phosphor tropfte brennend den Lichtschacht runter. Wir haben eine Weile 135


im Sandkasten auf dem Platz vorm Haus gesessen. Ringsum brannte alles. Wie gesagt: Mir gefiel das. Ich denke da auch an die Ferien auf dem Dorf. Dort hatte ich mitgeholfen, die Kühe zu hüten. Der Junge, mit dem ich da zusammen war, konnte sich Kriegsabenteuer ausdenken, er konnte sehr gut erzählen. Ich hörte gebannt zu, Krieg musste was Tolles sein. Wie nahmen Sie das wahr? Plötzlich wird einem klar, alles Gewohnte ist wirklich Asche?

Es gibt das unschöne Wort Gefühlshaushalt. Es stimmt, insofern, als Haushalt was sehr Praktisches ist und praktisches Verhalten fordert. Gefühle sind's auch. Im Keller, in der Brandnacht, wollte ich nur raus, das war das bestimmende Gefühl. An die Verluste dachte ich in dem Moment gar nicht, nicht an mein neues Spielzeug, nicht an meine Indianerkleidung. Oder die Bücher und mein neues Kaleidoskop. Keine Verlustgefühle, nur das Gefühl von Befreiung, als wir draußen waren.

In einem Dresden-Gedicht von Ihnen heißt es: „Damit etwas kommt muss etwas gehen“.

Das ist ein Heiner-Müller-Zitat. Sich befreien heißt, etwas zerstören.

Die Flucht aus Dresden: die bisherige Welt – zerstört.

Aber es gab eine neue: Ottendorf-Okrilla. Das Dorf, zwei möblierte Zimmer. In den Wäldern die herumirrenden deutsche Truppen. Dann die Russen, auf Fahrrädern. Deutsche Gefangene zogen vorbei. Geflohene bettelten um Zivilkleidung. Ich sag ja: Der Frühling war wunderbar, der Sommer auch, der Winter ebenfalls, aus den überschwemmten Wiesen wurden herrliche Eisflächen.

Und die Schule … Sie sagten, es wurde anders.

Eines vor allem: Wir wurden von Lehrern nicht mehr geschlagen.

Die „Parteigenossen“ hatte man zum Teufel gejagt?

Wo sie herkamen, ja. Aus deutscher Mitte. Deutschland verlassen haben sie freilich nicht. Die Neulehrer selber Lernende. Sie waren jung,

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und sie mussten tatsächlich erst lernen, was sie uns am anderen Morgen beibringen würden. Sie wussten was vom Leben. Sie sind dann doch irgendwann nach Dresden zurück?

Ja, als mein Vater aus der britischen Gefangenschaft zurückgekommen war und wieder bei seiner vorherigen Fima arbeitete, dieser chemischen Fabrik.

Es ist schon angeklungen: Ursprünglich wollten Sie Maler werden.

Kunst! Die Geschichte meiner Rettung! Ein Schulfreund hatte mir ein Buch über Raffael geliehen. Das fing mich ein, nachdem ich schon einen ganzen Abenteuerroman in ein paar Schulhefte gekritzelt hatte. Jetzt verdrängte die Malerei die Schriftstellerei. Ich ging in die Gemäldegalerie im Pillnitzer Schloss, sah die Romantiker und den Realismus des 19. Jahrhunderts, sah die Ägypten-Bilder von Slevogt, stand staunend vor dem großen Corinth, vor Liebermann, vor den Romantikern. Die Impressionisten. (Lacht). Sah mich als deren Kombattant. Das wäre doch eine lohnende Zukunft.

Und die Literatur?

Kafka las ich. Anouilh und Sartre. Von dessen „Fliegen“-Aufführung erfuhr man, Jürgen Fehling hatte das Stück in Westberlin inszeniert. Das las ich alles in der „Quelle“. Das war eine Zeitschrift aus der französischen Zone, ich weiß nicht mehr, wie ich zu der gekommen war. Und Heidegger las ich.

Haben Sie den verstanden?

Natürlich. (Lacht.) Wie sich im Nichten des Nichts das Sein des Seienden offenbart, klar,ich konnte das damals erklären. Heute nicht mehr ... Immer wichtiger aber wurde Brecht für mich. 1949 gab es ein „Sinn und Form“-Sonderheft, es gab bald die „Versuche“ und das BEBuch „Theaterarbeit“, in Dresden verlegt. Das Stück „Mann ist Mann“ mochte ich besonders, das hab ich über die Fernleihe der Landesbibliothek bestellt. In der zentralen Schulbibliothek gab es auch den 137


„Dreigroschenroman“. Aber da kam ich nicht ran, denn es hieß, das sei keine Jugendlektüre. Irgendwann wollten Sie unbedingt zu diesem Brecht?

Ja. Ich kannte von ihm ziemlich schnell so ziemlich alles, was erreichbar war. Auch die frühen Stücke.

Alles gekauft? Das kostete doch Geld.

Landesbibliothek! Kafka lieh ich mir aus, Brechts frühe Stücke per Fernleihe. Im Herbst 1954 war ich auf einem Lehrgang des Kulturbundes in Bad Saarow bei Berlin. Da bin ich abends ins BE gefahren. „Mutter Courage“ hatte ich schon bei einem Gastspiel in Dresden gesehen. Eine ganze Nacht am Wochenende stand ich nach einer Karte an.

Eine ganze Nacht!

Für eine Karte im 2. Rang. Die Aufführung war für mich ein großer Kontrast zu allem, was es sonst gab, vor allem in Dresden. Dort herrschte die Opernseligkeit, gegen die man automatisch ein Gegengewicht suchte. Ich bin ins Schauspiel gegangen, sehr oft. Beim Jugendtheaterring, im Haus der FDJ-Kreisleitung, bekam man als Schüler Theaterkarten für eine Mark, oft für die besten Plätze, die ziemlich teuer und deshalb oft nicht ausverkauft waren. Die meisten wollten Oper, ich ging ins Schauspiel und auch in die weniger begehrten neuen Stücke.

Hatten Sie als Kind Theatererlebnisse?

Einmal. Ich sah während des Krieges „Das tapfere Schneiderlein“, ein Kinderweihnachtsmärchen. Mit den Dresdner Schauspielstars Mühlhofer und Kottenkamp als Schneider und König.

Mit neunzehn an der Berliner Akademie der Künste Meisterschüler von Brecht. Ohne Abitur, ohne Berufsausbildung?

Das war großzügig. Und das ging wohl nur bei Brecht. Denn eigentlich wäre für Meisterschüler eine abgeschlossene Hochschulausbildung erforderlich gewesen. Ich hatte nicht mal Abitur. Ich war wegen eines

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Täuschungsversuches bei der Chemie-Prüfung ausgeschlossen worden und hätte ein Jahr wiederholen müssen. Dazu hatte ich keine Lust. Ohne Abitur in Dresden. Fanden Sie Arbeit?

Jobs hatte ich als Verladearbeiter, Nachtwächter, Briefträger bei der Deutschen Post. Der Kulturbund in Dresden hatte eine Arbeitsgemeinschaft Theater gegründet, bei der Post gab es eine Laienspielgruppe. Wir probierten Szenen aus Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“.

Trotzdem die Frage: Wie wurde man das – Meisterschüler bei Brecht?

Er wollte junge, sozusagen unschuldige Leute um sich haben, keine Leute, die versaut waren, also nicht stanislawskisiert. Sein Grundsatz war: Talent ist Interesse. Interesse hatte ich genug.

Und Sie haben sich einfach angemeldet?

Ja.

Die Proben am Berliner Ensemble waren ja offen.

Ja. 1954 habe ich im Urlaub bei der Post zwei Wochen lang Proben besucht: „Pauken und Trompeten“ nach Farquhar. Regisseur war Benno Besson. Aber auch Brecht war oft auf der Probe. Ich habe mit Hans Bunge gesprochen, dem Dramaturgen, er vermittelte ein Gespräch mit Brecht. Das ging über einen ganzen Abend, und es war ein bisschen wie eine Prüfung. Brecht gab mir einen Stapel Fotos von der Aufführung der „Mutter“, er sagte, ich solle die guten heraussuchen und ging aus dem Zimmer. Als er wieder reinkam, hatte ich die Fotos sortiert und setzte zur Erklärung an. Er winkte ab: Sie müssen nichts begründen, zeigen Sie mir das nur. Dann gab er mir Ratschläge: „Gehen Sie zu einem Schauspieler, lernen Sie Hochdeutsch – ,Coriolan‘ können Sie nicht auf sächsisch inszenieren. Ein Anflug kann bleiben.“

Sie haben auch seinen Hund ausgeführt.

Später. Rolf hieß der. Brecht fuhr mit seinem Auto vorbei, vom Theater zur Probebühne in der Albrechtstraße, und er winkte, als er sah, dass ich mit Rolf unterwegs war. 139


Es heißt, Brecht sei sehr praktisch gewesen.

Das war erstaunlich. Wie ein Facharbeiter, nicht wie ein Intellektueller. Und er war unglaublich freundlich.

Konkret?

Er sagte: „Lernen Sie Englisch. Sie gehen in eine Bibliothek, holen sich ein Buch über das Elisabethanische Theater und ein Wörterbuch. Wenn Sie das Buch durch haben, können Sie Englisch. Und wenn Sie etwas geschrieben haben, schicken Sie es mir.“ 1954 gab es die offizielle, von Dogmatikern betriebene Auseinandersetzung über seine „Kreidekreis“-Inszenierung. Ich habe dazu einen Aufsatz geschrieben und ihm den Text geschickt. Brecht hat ihn auf dem Flug nach Moskau gelesen, im Frühjahr 1955. Kurz drauf lud er mich nach Buckow ein. Da hatte er bereits beantragt, dass ich ab Herbst des Jahres als Akademie-Schüler in der Sektion Darstellende Kunst nach Berlin kommen sollte. Das bedeutete, ich würde ein Stipendium von der Akademie erhalten und im Berliner Ensemble arbeiten. Ich war glücklich.

Und dann war‘s anstrengend.

Am Theater? Auch, aber vor allem sehr amüsant.

Ohne Konflikte?

Wer sagt denn sowas! Ich habe Brecht zitternd vor Erregung gesehn, bebend vor Wut. Und zwar echt. Aber spielen konnte er das auch. Nachtragend war er aber nicht. Seltsam – er hatte immer auch etwas Schüchternes.

Er wusste aber, dass er der Lehrende war.

Sicherlich. Aber nie demonstrativ. Er wurde von einer seiner Frauen, die über ihn schreiben wollte, gefragt, wie er dargestellt werden will. Als Lehrer, hat er geantwortet. Sie stellte ihn dar, und er war empört: Ich bin doch kein Pestalozzi! Selten, dass er, kontrollehalber, abgefragt hat wie ein Schullehrer.

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Wirkte er nie wie der Klassentheoretiker?

Vor Brechts Interesse am Denken von Marx lag sein Interesse an der Unterklasse bis hin zum Lumpenproletariat. Das hatte erstmal nichts mit politischen Theorien zu tun. Das war auch Boheme, die Boheme des Nachkriegs, ich meine des Ersten Weltkriegs, und das war der durchgängige Reiz, der vom Schmutz, von den Rändern, vom Unheimlichen, vom landläufig Geschmacklosen ausging.

So wie Heiner Müller später, der angesichts der sauberen GeranienBalkone in Bayern gesagt hat, er empfinde „die Umweltverschmutzung als letztes Refugium des Humanen“.

Der Reiz des Sinnlichen hat alle möglichen Quellen.

Erzählen Sie ein bisschen von Buckow.

Rausgefahren bin ich mit Hans Bunge, hab dann auch dort übernachtet. Hanns Eisler war gerade da. Eisler seh ich noch vor mir. Er hatte kurze Beine und trug spitzschnablige Schuhe, hoch geschnürt. Später hab ich solche Schuhe auch bei Heiner gesehen, nachdem er aus Kalifornien zurück war. Wenn Eisler schnell ging, sah er aus wie eine Kugel auf Rollen. Gerne aß er Pfirsiche, er biss hinein, der Saft spritzte und lief ihm übers Kinn. Zur Begrüßung sagte er gerne: Küss die Hand, wie geht’s? Er war ein sehr feinfühliger Mensch. Es war berührend, wenn er Ernst Busch begleitete, am Flügel, als Busch wieder aufs Konzertpodium ging. Busch hatte ja eine Verletzung im Gesicht, von einer Bombe auf das Zuchthaus, in dem er einsaß. Busch fürchtete sich, er brauchte Zuspruch. Inge Keller spielte am Deutschen Theater die Emilia in „Othello“, Ernst Busch den Jago. In der Garderobe bearbeitete er mit einer harten Haarbürste aus Gummi seine Wange. Die Keller erzählte: „Er schnitt Grimassen, wahnwitzige Grimassen, und er bürstete, bürstete, bürstete. Er war etwas schief im Gesicht, verursacht durch einen Sturz in den Keller, nach einem Bombenangriff auf das Gefängnis Moabit, wohin die Nazis ihn gesperrt hatten. Nun tobte er vor der Vorstellung: ,Mit dieser Fresse kann man doch nicht rausgehn! Guck dir das doch an!‘ Er hatte große Pein, damit fertigzuwerden.“

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Eisler gab ihm auf dem Podium Sicherheit. Er sang ja auch selber.

Einmal hab ich von weit oben, aus dem 2. Rang im BE, hinunter auf die leere Bühne gesehn. Da war ein Viereck und dahinter ein Kreis, das war, hinter einem ausgeliehenen Leierkasten, der dicke Eisler. Es handelte sich um die Tonaufnahmen von Eislers Liedern zu Synges „Held der westlichen Welt“ / The Playboy oft the Western World“, von Peter Hacks fabelhaft übersetzt. Ich kann die Lieder heute noch auswendig. Eisler war hinreißend, wenn er selber sang.

Zurück nach Buckow.

In Buckow war's so, dass Eisler fand meinen erwähnten Text zu „Kreidekreis“ gut fand, er ließ seiner Art freien Lauf, er neigte zu Begeisterungsausbrüchen. Das war Brecht nicht recht, er warf dazwischen, ja, ja, ein paar gute Formulierungen gäbe es, aber … Er versuchte, meine Arbeit zu relativieren, was wiederum Eisler amüsierte. Brecht wollte den jungen Spund nicht gleich zu sehr loben. Am nächsten Tag gab er mir das Geld für die Rückfahrt. Es war so viel, dass ich mir in Berlin, in der Bahnhofsbuchhandlung, sogar ein paar Bücher gekauft habe. Irgendwann kam dann der Brief der Akademie, mit der Bestätigung, dass ich bei Brecht anfangen könne, als Meisterschüler. Ein Zufallsanruf beim BE ergab, dass man mir ein falsches Datum mitgeteilt hatte. Da stand 1. Oktober statt 1. September. Das wäre ein verhängnisvoller Start gewesen – Tragelehn tanzt mit einem Monat Verspätung an!

Hemmungen?

Hemmungen nicht. Großer Respekt, Brecht war sehr aufmerksam. Einmal lernte ich einen Wesenszug Brechts ziemlich gut kennen. Gemeinsam mit dem Dramaturgen Heinz Kahlau, dem Schauspieler Fred Grasnick, der später Intendant in Meiningen wurde, und mit anderen jungen Schauspielern wollte ich in den Sommerferien 1956 Brechts „Mann ist Mann“ probieren, das Stück, das ich besonders mochte. Brecht sagte nur, ich soll nicht zu früh inszenieren, sondern solle noch

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warten. Er wollte mir nicht einfach ein Verbot aussprechen. Er kleidete das in einen Ratschlag. Es war ihm unangenehm, den Arbeitswillen eines anderen Menschen zu unterdrücken, er war verlegen und trat von einem Bein aufs andere, er war nicht imstande zu Grobheit. Letztlich hat er es doch verboten.

Na ja …

Verklärung?

Hm ... Wir gingen in Buckow baden, saßen auf der Bank am Seeufer, Eisler und Brecht. Sie waren neugierig und wollten hören, was die Leute in Dresden so denken und reden. Ich erzählte ein bisschen und sagte schließlich, der Kapitalismus habe bei den Menschen den Sinn für persönliche Vorteile – ich sagte nicht: Gier, meinte aber im Grunde Gier – so sehr entwickelt, dass sie bald einsehen würden, der Sozialismus sei die bessere Ordnung für sie. Beide wandten sich gelangweilt ab.

Sie haben agitiert. Sie wurden beizeiten Genosse?

Ich war in der Parteigruppe, im Berliner Ensemble und auch in der Akademie. Schon in der letzten Zeit der Oberschule war ich das, was man viel später eine Rote Socke nannte. Im Herbst 1954 war ich noch in Dresden bei der Post als Kandidat aufgenommen worden. In Berlin bestand mein erster Kandidatenauftrag darin, jeden Sonnabend im Elektroapparate-Werk Treptow, dem Patenbetrieb der Akademie, zu arbeiten. Sozialistische Hilfe nannte sich das. Ich schmächtiger Herkules griff der führenden Klasse unter die Arme.

Akrobatisches Bild: unter die Arme greifen …

Es war wie nach einem schlechten Witz: Kitzel mich mal, ich kann nicht lachen. Stellten Sie sich auch mal gegen Brecht? Wahre Verehrung greift bekanntlich am härtesten an, man will ja als Kämpfer kenntlich werden, nicht als Liebender.

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Was verlangen Sie denn von mir! Ich kleiner Dresdner. Auf einer Probe stellte sich Brecht ein Besucher vor, mit dem Satz: „Ich bin ein Verehrer von Ihnen.“ Brecht antwortete: „Ich nicht.“ Hat Brecht auf der Bühne vorgespielt?

Wenig. Aber er war verblüffend gut. Viele große Dramatiker waren selber Schauspieler, die Griechen, Shakespeare, Molière.

Und Heiner Müller?

Seine Scheu war wie ein Mantel. Aber er konnte auch. Zum Schluss, als er Regie geführt hat, gab es Momente, da hat er den Mantel aufgeknöpft.

Gregor Gysi erzählte, Müller sei zu ihm ins Anwaltsbüro gekommen und habe ihm etwa eine Viertelstunde lang sein Mietproblem erklärt. Gysi hörte seinem neuen Mandanten zu und verstand nichts. Dann habe er an „Die Umsiedlerin“ gedacht, irgendwann und irgendwie hatte sich ihm jene Stelle eingeprägt, in der die Widernatürlichkeit von Grenzen offenbar wird. Fondrak steht an der deutsch-deutschen Grenze. Und sagt: „Ja, das Gras wächst von hüben und drüben, aber der Mensch braucht Papiere.“ Lakonisch und treffend. Gysi zitierte den Satz und fragte Heiner Müller, wieso er das Mietproblem nicht ebenso einleuchtend formuliere. „Müller kopfschüttelnd: ‚Wenn ich reden könnte, würde ich doch nicht schreiben.‘„

Im Schreiben spielt der Stückeschreiber ja auch! Es ist immer seine Stimme, wenn die Figur spricht. Er zitiert die jeweilige Figur so gut, dass wir sagen können: Sie hat eine eigene Sprache.

Auch der Regisseur ist Autor geworden, er kuratiert die Ausstellungen seiner Bilderwelt.

Das Theater schleicht sich in Romane und Filme, um wenigstens als Parasit zu überwintern. Mit Ibsen und Strindberg und Tschechow erschöpfte und zerrieb sich das Bürgertum am eigenen Anspruch auf Freiheit und gesellschaftlichen Sinn. In der gegenwärtigen Dramatik ist der Bürger nur noch eine Verlustanzeige. Die lautet: Ein Ich ging 144


verloren – es wird dringlichst gebeten, auf Rückgabe zu verzichten. Traurig. Wieder Heiner Müller, der feststellt: „Mein Drama findet nicht mehr statt“.

Wir wollten ihn nicht zu viel zitieren.

Jede Zigarre, die Sie rauchen, ist ein Zitat.

Was soll ich da drauf antworten. Ich werde Ihnen was husten! Bei Heiner Müller sah man es ganz deutlich, nach dem Ende der DDR: die wachsende Schwierigkeit des Dialogs. Er suchte sich das episch grundierte Gedicht. Rede und Gegenrede brauchten ein Exil. Die Schwierigkeit hatten auch andere Stückeschreiber, Lothar Trolle, Volker Braun, die Jelinek.

In einem Interview mit Irene Bazinger haben Sie das Berliner Ensemble als „eine Art belagerte Festung“ bezeichnet. Zitat: „Die schlimmste Zeit war sicher 1952/53. Ich hatte in der Städtischen Bücherei in Dresden einen Band mit Zeichnungen von Teo Otto, mehrmals ausgeliehen. Titel: ,Nie wieder‘. Plötzlich hieß es, als ich das Buch nochmal ausleihen wollte, das haben wir nicht. Das Buch war wegen Pazifismus entfernt worden. Die Texte waren von Brecht.“

Das Irrwitzige daran ist, dass er den größten Teil dieser Texte im Mai 1955 in seiner Dankrede für den Stalin-Preis benutzt hat

Nochmal: Verklären Sie Brecht?

In dem Verein, das ist klar, war er der liebe Gott.

Am Berliner Ensemble.

Ja. Aber man kapituliert gern vor einer wirklichen Autorität. Und Brecht war, bis zum Schluss, ein Mann, von dem eine ungeheure Energie ausging. Ein bisschen wie Gulliver unter den Zwergen, der sich vorsichtig bewegen muss, damit er nicht versehentlich jemanden tottritt. Andererseits wuchsen in ihm Erschöpfung und Müdigkeit. Bei einem Forum in der Akademie, am Robert-Koch-Platz, ging es um Brecht und 145


Stanislawski. Es war die Zeit, da galt eigentlich nur Stanislawski. Natürlich gab es sofort Fragen dazu, als bemerkt wurde, dass Brecht da war. Brecht wollte nichts sagen, aber Eisler sagte ein paar Sätze, sehr vorsichtig und diplomatisch. Irgendwann wurde es Brecht zu viel, und er sagte, knapp und apodiktisch. „Die Kunst, wie alles, entwickelt sich in Widersprüchen, die miteinander kämpfen und einander ablösen.“ Ende der Diskussion. Dialektik.

Wirkliche Dialektik! Nicht die der Partei, kennen Sie doch! Parteipolitisch war’s doch ganz einfach: Es gibt von allem zwei Ansichten, unsere und die falsche. Alles nur eine Sache der Lippe, die damit nichts riskiert. Brecht ging’s aber um den ausgetragenen Widerspruch.

Das führt zur Geburtsstunde … Oktoberrevolution – und dann? Disziplinierungsnot führte zur Konterrevolution durch die Bolschewiki. Von oben. Aus Lenins Denken wurde Leninismus, wie aus Marx‘ Denken Marxismus.

Das erinnert mich an meine Lieblingsstelle in Brechts Galilei. Der Papst liegt im Sterben, Galilei und seine Schüler stoßen darauf an, Frau Sarti sagt entsetzt. „Und seine Heiligkeit ist noch nicht einmal tot!“, und die Runde ruft „Nahezu! Nahezu!“ Das heißt aber im prognostischen Klartext: Immer das Gleiche, von jeder Zeit in die nächste Zeit – der Papst ist tot, es lebe der Papst! Dieses „Nahezu! Nahezu!“ haben wir zu DDR-Zeiten bei jedem neuen greisen Moskauer Generalsekretär zitiert. Lenin hatte noch erwartungsvoll nach Deutschland geschaut.

Die Aufstände im Ruhrgebiet, in Hamburg, in Mitteldeutschland erschienen den Russen als Hoffnung. Auch diese Hoffnung, wie andere, war eine Illusion. Geschichtliche Prognosen greifen regelmäßig zu kurz, weil wir das nie wirklich in den Griff bekommen, diese unlösbare Spannung zwischen Geschichtszeit und Lebenszeit. Die Wünsche eilen dem Wissen voraus. Wir verraten das bessere Wissen. Denn wir wollen erleben, was wir hoffen. Das ist ein Fehler.

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Eine Utopie für lebbar zu halten, ist deren Tod. Der langjährige militärische Adjutant der Luftwaffe bei Hitler, von Below, gab erst 1980 preis, dass Hitler ihm nach dem Scheitern der Ardennen-Offensive sagte: „Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen.“ Das hat der Philosoph Hans Blumenberg überliefert,

Unter diesem Aspekt, der in der langen Menschheitsgeschichte wechselnder Herrschaft immer wieder prägend war, ist das Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ eine edle Tat gewesen. Ein Untergang ohne Waffengang, sang- und klanglos, ohne Amok, ohne die Anmaßung eines Selbstmordes, der alles mitreißt.

Das Problem, das auch Brecht klar war, ist der bittere Verlauf der klassischen europäischen Umbrüche, der Revolutionen zu einer neuen Despotie.

Napoleon wurde Kaiser, Stalin Zar, und vom Kreml wehte das Freundschaftsband zur Reichskanzlei. Aber schon Goethe konnte sich – Benjamin hat es in einem Aufsatz beschrieben – eine Emanzipation der Bourgeoisie unter dem Dach der napoleonischen Diktatur vorstellen. Dieser Gedanke ist ein Grundelement der Goethe-Verehrung von Peter Hacks und seiner Stalin-Lobpreisung. Dort liegen auch Quellen seiner Feindschaft gegen Müller, für Hacks einer dieser zerweichten Romantiker. Was Blödsinn ist. Zu diesem Goethe-Gedanken habe ich notiert: „Zuhause in SachsenWeimar hatte Goethe mit Schüler und Freund Karl August zweifellos Glück. Aber ebenso zweifellos war dieses Verhältnis durchzuhalten nur möglich in einem lebenslänglichen Balanceakt. Goethes Haltung war zweihundert Jahre später noch der Grund unter dem Klassizismus von Peter Hacks, während der Romantiker Heiner Müller der Devise Benjamins folgte: ,Immer radikal, niemals konsequent!'“ Es gibt diesen starken Satz von Marx: Revolutionen seien die Lokomotiven der Weltgeschichte.

Es gibt den weitaus stärkeren Satz von Walter Benjamin: Revolutionen seien der Griff der Reisenden, also des Menschengeschlechts, nach der Notbremse.

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Sie waren früh fasziniert von Walter Benjamin.

In der DDR wurde Benjamin eher gedruckt als im Westen. In einem der ersten „Sinn und Form“-Hefte 1949 erschienn sein Baudelaire-Essay, und auch andere Aufsätze in anderen Zeitschriften wie „Aufbau“ und „ndl“.

Und Bücher aus dem Westen?

Aber ja! Taschenbuchausgaben, wegen des Preises und dem Wechselkurs. Aber in der Akademie unterschrieb mir Herbert Ihering, er war der Sekretär der Sektion Darstellende Kunst, die Erlaubnis, mir zwei Benjamin-Bände zu bestellen. Ich wohnte damals am Petersburger Platz und holte mir die Bücher in der Karl-Marx-Buchhandlung in der Stalinallee ab. Sie kosteten 49 Westmark, die Akademie machte es möglich, dass ich sie für 52 Ostmark bekam, über den innerdeutschen Handel.

Trotzdem: vermutlich viel Geld für Sie.

Ich bekam Stipendium, etwas weniger als andere mit regulärer Ausbildung. Dann doch etwas mehr. Die Weigel hat das gehändelt. Neben meiner Meisterschüler-Anbindung war ich dann am Gorki-Theater Regieassistent bei „Lohndrücker“. So kam ich zu zwei Geldern. Reichtum für mich.

War Brecht, der so früh gestorben ist, auch an der DDR erkrankt?

Da bin ich mir fast sicher.

Was für Ihre Antwort spricht: 1949 in Ostberlin notiert er, nach einem Gespräch beim Oberbürgermeister Friedrich Ebert: „Zum ersten Mal fühle ich den stinkenden Atem der Provinz.“

Was ich jetzt sage, klingt zynisch, es ist aber nicht zynisch: Brecht ist gerade rechtzeitig gestorben, ehe er in alle möglichen scheußlichen Sachen hineingezogen werden konnte. Wenn ich nur an die Ereignisse in Ungarn denke, wenige Wochen nach seinem Tod, der Janka-Prozess, im Gerichtssaal das Schweigen der Weigel und der Seghers. Das ist ihm erspart geblieben.

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Sein Leben in der DDR: „Bleiben werd ich, ohne Zukunft/ arbeiten im alten Sinn“, schreibt sein Schwiegersohn, der Schauspieler Ekkehard Schall über Brechts Ankünfte in der neuen Zeit. Man lasse sich jedes Wort auf der Zunge zergehen: aller Widerspruch auf kleinsten WortRaum gepackt. Ein starker Vers!

Das ist doch immer schon die ganze Kunst: das Neue aushalten, auch wenn es die Hoffnungen enttäuscht. Es geht darum, sich in Arbeit treu zu bleiben, trotz allem.

Also: den Ursprüngen treu bleiben.

Ursprünge, Sprünge … Bewegung, nicht auf Endstände zu, sondern auf Vollendung. Die ja auch ein Traum bleibt.

Schall schreibt von Brechts Leben als einer Existenz „zwischen Denkerzucht und Hirschbrunft“:

Das Wilde und die Disziplin, der Zwang der Einsichten und der Drang der Leidenschaften – man sollte nicht so leichthin sagen, das sei bei Brecht stets wundervoll leicht zusammengegangen. Was er geschickt zu verbinden wusste, das ist wohl öfter öffentlich geworden als das, was ihn zerriss, zerrieb.

Friedrich Dieckmann sprach mal vom „blinden Fleck auf der Netzhaut der Hoffnung“, die sehr besondere Situation der DDR, eine folternde Zwickmühle: „vom Osten her besetzt und vom Westen her belagert“.

Der Westen sprach sich frei von seiner gesamtdeutschen Verantwortung, das schürte jene Arroganz in Richtung DDR, die man beim Urteil über die damalige Lage unbedingt berücksichtigen muss.

Wie haben Sie Brecht am Schluss erlebt ...

Auf den letzten Proben für das London-Gastspiel mit dem „Kreidekreis“, früh und abends, habe ich ihn zuletzt gesehn. Er wirkte sehr müde. Und dann … Ich wohnte damals in einem kleinen Holzhaus in Köpenick, ich stand am Morgen auf, die Wirtin kam herein, sie hatte im Radio die Nachricht gehört: Brecht ist gestorben. Ich fuhr ins Theater. 149


Niemand hatte mit diesem Unglück gerechnet, schon gar nicht, dass es so schnell geht. Ich hatte in den letzten Monaten schon mitbekommen, dass die Weigel auf seine Ruhepausen achtete. In Buckow steckte sie den Kopf zur Tür herein und sagte nur: Bert, du musst dich hinlegen. Er folgte sofort und unterbrach das Gespräch. Aber da war auch seine sorgsame Höflichkeit: Was anfangen mit dem Gast, mit mir? Er sagte, ich solle in den Garten gehen. Darauf bedacht, dass ich mich nicht langweile, gab er mir das Feuerbach-Buch von Engels über den „Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, das lag gerade da rum. Ich sah in seinem Buch, dass er nicht die Quintessenzen angestrichen hatte, also das, was man schwarz auf weiß getrost nach Hause trägt, sondern die Beispiele, die Analysen, sozusagen die Gedanken im Fluss. Ihn interessierten nicht die Ergebnisse, sondern der Weg dahin. Das hat sich mir eingeprägt. 1957 inszenierten Sie in Wittenberg „Die Ausnahme und die Regel“.

Wittenberg war das Patentheater des Berliner Ensembles, so wie Senftenberg das Patentheater des Deutschen Theaters war. Zu der Zeit waren viele Schauspieler an den Ostberliner Bühnen aus Westberlin, und auch in Wittenberg, wo ich inszenierte, gab es Sänger und Schauspieler aus Westberlin. Meine Freundin, eine Schauspielerin, war auch Westberlinerin. Zu der Zeit erschien übrigens in der „neuen deutschen literatur“ Müllers erstes Stück „Der Lohndrücker“, das interessierte mich sofort. Ich wollte den Autor unbedingt kennenlernen. Dann hab ich gleich, weil ich noch nicht wieder ein Zimmer in Berlin hatte, ein paar Wochen bei Inge und Heiner gewohnt, in Lehnitz, in der ThälmannSiedlung.

„Der Lohndrücker“ wurde nicht am BE uraufgeführt, aber wär das nicht der beste Ort gewesen?

Nee. Wekwerth wollte eine Parabel draus machen, ich und Charly Weber gingen daraufhin zum Gorki-Theater, aber die Weigel verbot uns das. Gorki-Theater! Das war für sie unmoralisch, das wäre Verrat gewesen. Ich war dann dort Assistenz bei Hanns Dieter Mäde.

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Wittenberg erwähnte ich, weil Sie in Ihrem Leben nur wenige BrechtStücke inszeniert haben.

Eine Folge der Zeit und meiner Eindrücke. Ich wollte ihn partout nicht nur kopieren. Die Verlockung war groß damals, sie schwappte als Welle einer beflissenen Verwässerung durchs BE und andere Theater. Aus der Methode wurde ein Stil: Rupfen, halbhoher Vorhang, helles Licht. Drauf der Stempel: Verfremdung! Episches Theater! Das Berliner Ensemble mottete sich ein, sehr perfekt, theoretisch sehr durchdacht, aber eben unbewegt, immer lebloser. Ein Museum. Inszenierungen wurden krampfhaft gehalten bis in die fünfte, sechste Besetzung. 1948, nach Brechts Rückkehr, hatte ein Gespräch mit Studenten stattgefunden, in Leipzig. Da sagte er, was Deutschland jetzt brauche, seien vierzig Jahre Ideologie-Zertrümmerung. Heute wissen wir: Es folgten vierzig Jahre Ideologie. Er aber wollte ein Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen. Ihnen und Heiner Müller ist mit der „Umsiedlerin“ so ein Skandal gelungen.

Brecht hatte in der Entwicklung des Berliner Ensembles Einschränkungen hinnehmen müssen. In den Notaten steht der schöne Satz: Das Theater ist wie ein Schwimmer, der nur so schnell schwimmen kann, wie die Strömung und seine Kräfte ihm erlauben.

Eine Rechtfertigung?

Er spricht aus, dass seine Möglichkeiten an eine Grenze kamen.

Noch heute arbeiten sich Antipoden an Brecht ab: das Jugendwerk schön böse, der weitere Schaffensweg böse schönfärberisch. Es heißt sogar, er habe von Volker Braun bis Thomas Brasch, von Heiner Müller bis B. K. Tragelehn Dichter „erzogen“, deren kritische Kultur das stalinistische System doch nur befestigten. Als „gebeugte Helden auf Bewährung“. wie Wolf Biermann schrieb. Uwe Kolbe spricht in einer lodernd eisigen essayistischen Brecht-Abrechnung von „aufbegehrender Unterwerfung“.

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Langweilig. Brecht ist nicht der erste Klassiker, dem das passiert. Wie handelt man? Das ist die Gesamtwerk-Frage bei Brecht. „Ohne Praxisanspruch tut er es nicht“, urteilt Martin Walser, „und Praxis hat wahrscheinlich damals niemand angeboten außerhalb des Marxismus. Das Christentum aller Kirchenversionen war längst auf der Gegenseite: eine Lippengebetsreligion zur Ertötung aller praktischen Bedürfnisse. Der Marxismus schien es ernst zu nehmen mit der Praxis. Die Tausendäugige Partei war die Gewähr. Es ist lächerlich, wenn irgendeiner, der auf dem Bizeps hiesiger Herrschaft sein hübsches Nest hat, jenem Brecht einen Parteidienst vorwirft. Jeder kann nachlesen, was für eine radikaldemokratische Vorstellung er von der Partei hatte. Hundertfach sind seine Dialektik-Verherrlichungen, und sie heißen einfach: Sprechen darf nur, wer hört. Lehren darf nur, wer lernt.“.

Brecht musste zu einer Reizfigur werden. Er lädt zum Angriff ein, auch zum Angriff auf sich selber. Aber es fällt mir nach wie vor schwer zu begreifen, dass Leute, die Brecht nicht gekannt haben oder nie auf Proben waren, ihn aufgrund seiner Schriften oder Inszenierungen als trocken oder doktrinär bezeichnen können. Ich hatte einen völlig anderen Eindruck und lese ihn ganz anders, nach wie vor. Große Dichter hinterlassen nicht nur ein Werk, sie hinterlassen auch Schüler.

Und manche Schüler lassen nichts auf den Meister kommen, aus Schülern werden dann leider Schulmeister.

Nichts mehr auf einen Dichter kommen zu lassen, das hält ihn rein?

Reinheit ist kein guter Zustand, auch nicht für Dichter. Reinheit lügt. So stirbt man nach dem Tod noch einmal, und zwar gründlicher – durch die Marter einer organisierten Unangreifbarkeit. Die Bücher mancher Großen werden zum Grundbuch. In das trägt man sich ein wie ein Herr. Und schon ist die Interpretation besetzt wie Grund und Boden? Entsetzlich. Es beginnt dann die Jagdzeit. Überall lauern WerktreueWächter, Gewehr im Anschlag. 152


Wie andere Schulen hat auch die Brecht-Schule diszipliniert und verjagt.

Schüler war ich bei Brecht, nicht in einer Brecht-Schule. Jede Dichter-Schule, versäumt man den kritischen, auch den ironischen Blick, tendiert zum Petersdom. Wer nicht nur heiligspricht, liegt schief und man bringt ihn zum Fall.

Auch Sie hat man zu Fall gebracht.

Zu Fall? Wollen Sie mich lächerlich machen? (Lacht.) Ich bin von allem ein Nutznießer. Mein Nachruf auf Brecht geht so: „Sie, der belehrbare Lehrer/ Lehrten Lernen./ Das bleibt uns.“

So wird das immer sein mit Brecht: Den einen, wie Ihnen oder Volker Braun, ist er ein überzeugender Kapitalismus-Verachter (nicht Verächter!), bleibt ein Impulsgeber für die Veränderung der Welt – anderen aber ist gerade in diesem Punkt gar zu sehr ein Modell-Lieferant und Marxist. Den einen ein weiser parteilicher Dichter, den anderen nur dort ein Gigant, wo er geheimnisvoll, anarchistisch, dunkel, böse war.

Das Verblüffende an Brecht bleibt, dass man für das Weise oder das Geheimnisvolle und für das Anarchistische oder das Parteiliche meist die gleichen Texte heranziehen kann.

Brecht und Zigarren. Müller und Zigarren. Deshalb auch: Tragelehn und Zigarren?

Mein Vater hat Zigarre geraucht, ich mochte den Geruch. Mit Brecht hatte das nichts zu tun. Aber irgendwann nach seinem Tod fing ich an. Ich war von zuhause und aus dem BE an den Rauch gewöhnt.

Und Heiner Müller?

Der hatte das von mir. Als wir uns 1957 kennenlernten, rauchte er noch Zigaretten.

Was rauchen Sie bevorzugt?

Sumatra.

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Wie Müller?

Der rauchte zum Schluss nur noch Havannas.

Rauchten Sie im Theater während der Proben?

Sondergenehmigung!

Sowas weiß ich nur von Dimiter Gotscheff, in München, in Berlin.

Ha (lacht hämisch), wir sind mehr, als man denkt und wissen darf.

Stimmt, Michael Thalheimer auch.

Zigarre?

Zigaretten! Sie winken ab? Ach, auch noch überheblich.

Klar.

DDR und gute Zigarren, ging das zusammen?

Nee. Ich sage nur: Handelsgold-Niveau. Mit Chemie abgespritzt. Einzig erträglich waren die Brasil aus Lobenstein.

Was war mit Ihnen, nachdem Brecht gestorben war?

Erich Engel übernahm mich sozusagen. Meine Akademiezeit wurde verlängert. Das hatte ich auch Helene Weigel zu verdanken. Sie war mir gewogen. Aber ihre Autorität hatte auch eine Kehrseite: Gerade war ich meiner Mutter und der Stadt Dresden entronnen, nun setzte eine neue Mütterlichkeit ein – die Fürsorge war auch Kontrolle und ich allergisch dagegen. Meine Mutter war immerzu besorgt gewesen, wollte mich mit einer Schutzhülle umgeben. Nun die Weigel. Sie hat gern kontrolliert, was ich gerade machte. Sie rief mich während einer Probe an, ich musste zum Pförtner im Probenhaus, sie fragte, was ich da mache. „Ich probiere.“ – „Oh, Entschuldigung.“ Einmal wurde ich zu ihr bestellt, weil der Intendant des Theaters von Wittenberg einen denunziatorischen Brief gegen mich geschrieben hatte. Am Theater in Wittenberg, wo ich inszenierte, hatte ich eine Freundin und nun schwärzte er mich wegen Disziplinverstößen an.. Ich hatte ihm schlichtweg seine Geliebte wegge-

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nommen. Das brachte mich auf die Palme, ich brüllte was von „Ausnutzung gesellschaftlich verliehener Macht“. Die Weigel hielt die Hand über mich. Als Brecht starb, waren im Haus weitere Rivalitäten ausgebrochen.

Ganz normal sowas. Brecht hatte sehr auf Benno Besson gesetzt, er bestand darauf, dass wir uns dessen „Sezuan“ am Volkstheater in Rostock ansehn, sozusagen als Beispiel, wie am BE fortan Theater aussehen möge.

Die Brechtschule hat sich nach Brechts Tod geteilt. Das war wie nach dem Tod Hegels.

Als Hegel gestorben war, kam es zur Spaltung der Hegelschule, ja: die staatstragenden Preußen und die Linkshegelianer.

So war das mit Brecht auch?

Auf der einen Seite die Parabel bei Wekwerth, auf der anderen Seite im DT Bessons Boulevard. Und der dritte Trieb, Heiner Müller, der trieb sich durch die Berliner Theater und wurde, wo es nur ging, abgeknickt, abgesägt. Ich sagte ja: Das BE war immer wie eine Festung in feindlicher Umgebung gewesen. Blieb es, aber jetzt apologetisch. Der Staub senkte sich auf die Langeweile. Benno Besson war am Deutschen Theater der Gegenpol: erfolgreich und heiter. Und Müller?

Stand für Werkstatt, für Produktion.

Es gab den Bruch mit Wekwerth.

Seltsam. Wir waren fast befreundet, wir gingen sogar gemeinsam zum Friseur, in der Reinhardtstraße, fast neben dem Probenhaus. Es schien einen Boden zu geben für Gemeinsamkeit. Er wird schon gedacht haben, für Gefolgschaft. Der Konflikt kam wegen „Lohndrücker“, ich wollte das mit Charlie Weber machen, aber wie gesagt: Wekwerth wollte eine Parabel aus dem Stück machen. Die Weigel ließ Wekwerth Raum, und „Coriolan“ war ja dann auch der große Erfolg. Wekwerth drängte 155


Besson und Weber raus, Palitzsch nicht. Der war eben ein Diplomat. Wekwerth hielt sich für den eigentlichen Erben. Ein wirklicher Konflikt entstand nach der „Umsiedlerin“. Das BE, die Gewerke, der Kostümfundus, so viele hatten uns unterstützt, und wir hatten das im Programmheft auch erwähnt. Und dann dieser Skandal! Also musste das Theater sich säubern. Die Parteigruppe schickte den Brief mit diesem schönen Satz: „Die Regie ist verbrecherisch“, bei den Unterschriften auch Manfred Wekwerth und Hilmar Thate. Wekwerths und meine Biografie erzählen die Unterschiede, die sehr verschiedenen Wege. Wekwerth war ehrgeizig, er nutzte die politischen Möglichkeiten , die Politiknähe verdarb ihn auch. Er wurde dann von der Weigel vertrieben, als er sie pensionieren wollte. Was wäre das Berliner Ensemble noch unter Brecht geworden?

Drei Tage vor seinem Tod hat er einem Franzosen ein Interview gegeben, und auf die Frage, was er exemplarisch fände für das Theater der Zukunft, hat er wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Die Maßnahme“. Sechs Jahre waren es, dass er diese eigene Truppe hatte. Da taucht die Überlegung auf, den Begriff „Episches Theater“ zu ersetzen, er kam Brecht „zu formal“ vor. Er fand den Begriff „Dialektisches Theater“.

Herr Tragelehn, das Majestätische hat seinen Augenblick, wenn eine Schauspielerin oder ein Schauspieler den Raum betritt.

Gut. Reden wir über Schauspieler.

Ich sehe sie – und dann erst den Dichter. Den Text hab ich zu Hause. Meine Vorstellung vom Stück auch – dort bleibt sie. Sonst schürt sie Erwartung. Erwartung ist nur scheinbar lobenswert. Wer sagen kann, was er im Theater erwartet, will etwas sehen, was er schon kennt – wie sonst könnte er dieser Erwartung Worte geben. Wir haben die Fassungslosigkeit, haben die Empfindung für die Leere verlernt, die uns nicht nur bei einer Katastrophe heimsuchen sollte, sondern auch, wenn wir uns der Kunst nähern. Reden wir über Schauspieler.

Wenn ich den Fernseher einschalte, seh ich viele gute Schauspieler, mit denen ich früher am Theater zusammengearbeitet habe. 156


Adel im Untergang?

Sie nehmen ja ihr kostbares Handwerk mit. Und es gibt eine Qualität, die ist von Belanglosigkeiten eines Stoffes nicht beschädigt.

Schauspiel ist Zauber, oder?

Das Schöne an Phänomenen ist, dass es welche sind. Schön ist also, dass Erklärungen abprallen. Ich habe das bei Peter Brombacher erlebt, mit dem ich in Stuttgart, Bochum, Düsseldorf, Frankfurt, München gearbeitet habe. Zum ersten Mal hatte ich ihn Stuttgart gesehen, in Peymanns Inszenierung von „Drei Schwestern“. Brombacher spielte den Soljony. Die Rolle hat wenig Text. Aber es war unvergesslich. Er machte kaum was, aber man sah hin zu ihm, immer wieder. Ab und zu rieb er ein paar Spritzer Kölnisch Wasser zwischen seinen Händen. Warum? Was sollte das? Wenn Tschechow eine eigne Figur erklären sollte, sagte er immer sowas wie: Was soll ich Ihnen sagen – der Mann trägt gelbe Hosen! So kam mir das vor bei Brombacher und seinem Solonyi: Kölnisch Wasser!

Wenn ich Schauspieler sehe, sitze ich im Theater und vergesse mein Wissen. Schauspieler sind keine konzeptionellen Vollstrecker, deren Namen man in Rezensionen unanständig karg hinter der jeweiligen Rolle zwischen zwei Klammern zwängt, und das war’s dann. Sie erst gründen das Stück – im Moment ihrer Verausgabungen. Sie sind Fleischwerdung. Sie sind Auferstehungskraft. Tragelehn-Schauspielerschaft! Wenige nur ausgewählt, jeder Name ein Kosmos. Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz, Annemone Haase, Sepp Bierbichler, Marie Gruber, Fritz Schediwy, Peter Brombacher, Peter Kremer, Heinz Werner Krähkamp, Michael Altmann, Bernhard Minetti, Peter Hölzel, Horst Krause, Joachim Zschokke, Libgart Schwarz, Michael König, Rolf Dietrich, Hans Jörn Weber, Daniel Minetti, Renate Reinecke, Dieter Wien, Almuth Zilcher. Winfried Glatzeder, Berndt Stübner, Regine Albrecht, Ulrich Wiggers, Gerd Anthoff, Albrecht Goette, Jochen Kretschmer, Rudolf Donath, Friedrich-Wilhelm Junge, Hannelore Koch, Katja Kuhl, Gert Voss, Therese Affolter, Heinrich Giskes, Barbara Nüsse, Peter Lohmeyer, Erwin Faber.

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Auch an Bernhard Minetti denke ich. Wir mochten uns. Er erinnerte mich an Ernst Busch, der kam ja auch aus Kiel. Knarrige, spröde, wettergegerbte Typen. Über Minetti gab’s die Anekdote anlässlich der berüchtigten Goebbels-Rede im Berliner Sportpalast, die Rede mit dem Satz „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Minetti war dabei. Auf Vorwürfe, auch er habe den Arm hochgerissen und „Heil!“ geschrien, erwiderte er: Er habe gerufen: „Moment mal!“ Minetti konnte mit seinem kehligen Singsang eine Hölle sein für junge Schauspieler: Sie müssen mich ansehen, wenn ich spreche!, herrschte er eine junge Schauspielerin an. In der Pause wollte sie wiedergutmachen und fragte ihn bewundernd: Herr Minetti, wo lernt man das denn? Die Antwort war niederschmetternd. „Auf der Schauspielschule! Auf der Schauspielschule!“ Sie haben ja auch die Weigel auf der Probe erlebt.

Oh ja. Ein großes Theatererlebniss hatte ich als ganz junger Mensch auf einer Umbesetzungsprobe der „Courage“. Die Rolle des alten Bauern wurde umbesetzt, entweder für das Londoner Gastspiel oder weil jemand krank geworden war, ich weiß es nicht mehr. Zu der Szene des Bauern, in der die Courage Katrins Begräbnis bezahlt und das Beileid der Bauernfamilie entgegennimmt, kam die Weigel auf die Probe, mit energischem Schritt, mit scharfer Stimme jemandem eine Anweisung zurufend, kurz: jeder Zoll Intendantin. Und dann stieg sie zur über fünfzig Zentimeter Rampe hinauf, schob die Brille auf die Stirn, und vor unseren Augen schrumpfte sie zusammen zu der kleinen Greisin, die nicht hört, nichts sieht, vor unseren Ohren schrumpfte die Stimme, und kleinen, unsicheren Schrittes ging sie den weiten Gang, eine Plane zu holen zum Zudecken der Tochter. Die wie ein Stein gewesen war, der doch zu reden begonnen hatte, sofort zum Schweigen gebracht und doch gehört worden war. Bei keiner Vorstellung ist mein Eindruck so groß gewesen wie bei dieser Probe. Ich sah eine offene Verwandlung. Kürzer kann ich es nicht sagen. Das ist ein Vorgang, den kann nur das Theater, der Film nicht.

Der Film suggeriert! Man hat, in den Augenblicken nach einem Kinofilm, der uns in Bann zog, ein ganz anderes Verhältnis zum Regen, zum

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Hochschlagen eines Mantelkragens, zum Anzünden einer Zigarette, zu einem Schluck an einer Bar – man wähnt sich selber kurzzeitig in einem Film, „der atlantik passt jetzt in ein glas rotwein“, dichtet Albert Ostermaier.

Beim Film holt und gibt die Kamera Esden Blick. Sie schluckt das Faszinosum der offenen Verwandlung, die wir im Theater nie wirklich vergessen und die bei Brecht „zeigen“ heißt. Es bleibt die Frage: Wie machen die das? Du träumst dich weg, um doch immer wiederzukommen. Im Kino, wenn du in den Film eintauchst, willst du nicht wiederkommen.

Was ist ein Schauspieler?

Max Frisch hat verstört, was Brecht auf diese Frage geantwortet hat: Das ist ein Mensch, der etwas mit besonderem Nachdruck tut. Etwa ein Glas Wasser trinken oder so.

Oder Suppe essen. Im Film „Code: unbekannt“ von Michael Haneke hat Josef Bierbichler als ein Mensch vom Dorf einfach nur Suppe gelöffelt, mehr nicht – man sah einen Mann das Leben auslöffeln, das er sich eingebrockt hatte. Suppe essen. So, dass Zuschauen ein Ereignis wird. Und kein Anhauch von Nachahmung.

Glaubwürdigkeit auf der Bühne wird gern mit Natürlichkeit, Privatheit verwechselt. Ist aber bei einem wie Sepp höchste Gestaltung. Ist Hochzeit von Sein und Zeigen. Ist Arbeit und Geschenk: Ich muss karg werden.

Ist solche Kunst – Wahrheit?

Wahrhaftigkeit. Statt nur Wirklichkeit.

Der Ehrgeiz, zu interpretieren, ist nicht gut für den Text, wenn der Text gut ist?

Ein Schauspieler, der das Metier der Rezitation beherrschte, war Horst Hiemer vom Deutschen Theater. Der konnte das. Er praktizierte, dass in dem Wort „rezitieren“ das „zitieren“ steckt. Schlimm waren die 159


landläufigen Protagonisten. Bei einer Geburtstagsfeier für den Philosophen Klaus Heinrich, in der Fasanenstraße in Westberlin, trugen die Stars der Schaubühne Poesie vor. Sie interpretierten, und das war grausam. Was daran war grausam?

Grausam ist, wenn der Text nur Rohstoff für die Interpretation bleibt. Aber lieber sag ich, was gut ist. Wenn der Gestaltungswille sich nicht vordrängt. Zum Beispiel bei Texten von Heiner, da wollte jeder Schauspieler beim Sprechen deutlich machen, dass er sie verstanden hat. Warum diese Lüge? Die stärksten Müller-Lesungen veranstaltete Heiner selbst. Er sprach seine Verse mit tonlosem Desinteresse. Er wollte seinen Text nicht interpretieren, er ließ ihn, wie beim Schreiben, über sich ergehen.

Weil er sie selber nicht verstanden hat?

Jeder gute poetische Text ist klüger als sein Autor. Aber es geht nicht um Klugheit. Heiner sagte, Kunst sei Erfahrung, nicht Erkenntnis. Das Problem beim Schauspieler: Er lebt von fremden Texten. Er will aber vorkommen in diesen Texten, und er will gefallen, er will das Publikum gewinnen. Er produziert, und er wird produziert. Und dann sagt man schnell: Er oder sie schenkt sich dem Publikum. Aber er oder sie verkauft sich.

Das ist eine Wertung?

Eine Berufstendenz. Jeder Beruf hat auch etwas, das unangenehm ist. Bierbichler ist Forstarbeiter und Bauer, man sieht ihm an, dass er nicht nur in Kunsträumen lebt. Als Benno Besson „Ödipus“ inszenierte, am Deutschen Theater, Anfang der Siebziger, war ich in den Proben – und dann sah ich die Aufführung. Alles kam mir sehr verabredet und sehr gleichmäßig vor. Ich hatte Mühe, dranzubleiben. Und dann sah ich eines Tages durch Zufall eine Wiederaufnahmeprobe. Ich schlich mich in eine Loge und hörte Fred Düren, den Ödipus. Der Monolog kam mir vor wie ein Gipfelsturm, rasend schnell, dann schlug er plötzlich ein Wort wie 160


eine Glocke an. Adorno sprach mal von der „Kraft der Schwäche“, das war hier zu beobachten: Der Text war stärker als der Schauspieler. Aber der ging nicht dagegen an. Er hörte den Text, eh er ihn sprach, er gehorchte dem Text, und wie er das tat, war von großer Art. Verstehen war plötzlich eine Erfahrung, anders als das Abnicken einer Erkenntnis. Was machen gute Schauspieler? Sie unterwerfen den Text der fortwährenden Prüfung. Die gute Übermittlung eines Textes besteht aus einer Anzahl von Tests, denen der Text unterworfen wird. Am Berliner Ensemble arbeiteten Sie nie mit Ekkehard Schall zusammen.

Nur im Hörspiel, Marlowes „Massaker von Paris“. Da hatte er große Arien, und über Sprache fanden wir schnell eine Verständigung. Das hat es möglich gemacht, dass Ruth Berghaus mich ans BE holen konnte. Die Brecht-Erben hatten auch in solchen Fragen Mitspracherecht. Mit wenigen Rollen schaffte es Ekke in den Weltruhm, Hörder, Ui, Coriolan. Das war faszinierend. Das habe ich bewundert. Als ich wieder am BE war, haben wir über Müllers „Macbeth“-Bearbeitung gesprochen, Angelika Waller als Lady, Ekke in der Titelrolle. Plötzlich hatte er keine Lust mehr. Warum? Kein Hinweis, kein Gespräch. Er probierte da gerade „Puntila“ in der Inszenierung von Peter Kupke. Ich sah, das wurde Kunstgewerbe. Schall empfand das wahrscheinlich auch. Aber am Ende jubelte das Publikum. Im Jubel knickt man ein, ein typischer DDR-Erfolg, hoch alle Tassen! Wir auch! Kupke war vorher in Potsdam.

Er hatte dort starke Inszenierungen gemacht. Zum Beispiel den „Kreidekreis“ mit Siegfried Höchst und Carmen-Maja Antoni als Azdak und Grusche. Potsdam war damals ein Theater, von dem die Schauspieler sagten, dort werde nicht vorgesprochen, sondern vorgetrunken. In der Kantine gab es den „Blitzer“. Das war Cola mit Schnaps. Ein Schauspieler wurde von der Probe ans Telefon in der Kantine gerufen, das war ein Vorwand, er trank dort seinen Schnaps, mit Cola verdünnt. Als die Wirkung nachließ, wieder das Telefon, diesmal ein Blitzgespräch. Wieder 161


ging er von der Probe in die Kantine. So bekam das Getränk seinen Namen, „Blitzer“. Zurück zu Schall. Er stand nicht schlechthin auf einer Bühne, er dachte körperlich. Er ging auf Montage (von Haltungen) – und geriet dann auf faszinierende Weise in ein kontrolliertes Rasen oder in ein wildes Innehalten. In ein durchdachtes Vibrieren. Er bekannte sich zur Schauspielkunst programmatisch, er sah sie durchgehend als eine Kunst des von Erkenntnis-Sehnsucht befeuerten Veräußerns – von Gedanken und Gefühlen. Schalls Spiel kam nicht aus dem Bauch, er versank nicht im Intuitiven, er stieg uns Zuschauern willentlich zu Kopf. Stieg zu Hirn. Schauspiel als Denk-Sport. Er konnte den Gestus einer Gestalt, wie einen Steinblock, zirkelnd über die Bühne schieben. Oder aber mit den Steinblöcken bällchenweich jonglieren.

Sie schwärmen ja!

Ja!

Aber er hat am BE viel gespielt, was er nicht hätte spielen müssen. Und vieles, was er hätte spielen sollen, hat er nichts gespielt. Es gehört zur Tragik Schalls, dass sein intelligenter Expressionismus, geschult an Brecht, über Jahre hin spielplanbestimmend war fürs Berliner Ensemble.

Der Unentbehrliche!

So blieben dem frühen Weltmeister des epischen Theaters leider andere (Bühnen-)Welten verschlossen.

Zum Beispiel interessierte sich Fritz Kortner für ihn, auch Hans Henny Jahnn, er hatte Schall in der „Frau Carrar“ gesehen und wollte ihn unbedingt für eine Aufführung seines Stücks „Spur des dunklen Engels“ in Westberlin haben. Brecht lehnte das ab – Schall selbst erfuhr erst Jahre später von diesem Vorgang aus den fünfziger Jahren.

Es war gewissermaßen sein Pech, so zeitig ein so großes künstlerisches Glück erfahren zu haben, das ihn im besten Sinne des Wortes fesseln würde.

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Brecht.

Brecht. Aber dieses Glück war andererseits elementar. Er arbeitete mit einem Theatergenie zusammen.

Und erlebte dessen schwierige Inszenierungspraxis gegen den Widerstand der SED-Kulturbürokratie.

Ja, erst die Paris-Tournee des Berliner Ensembles mit der „Mutter Courage“ 1954 hatte ja den internationalen Rückenwind gebracht. Der Philosoph Roland Barthes schrieb damals, 2400 Jahre aristotelisches Theater seien nun vorbei, man habe die Zukunft gesehen. Der Kritiker der „l’Humanité“ nannte Schall in der Rolle des Eilif, Sohn der Mutter Courage, einen „blonden Engel des Krieges“. Man sah natürlich auch, dass sein politischer Ehrgeiz, seine Bestimmerrolle, die Vieles behindert und abgeblockt hat. Er bekam mit den Jahren am BE etwas ungut Dominantes.

Friedrich Dieckmann hat im Juli 1975, wegen „Fräulein Julie“, einen persönlichen Brief an Ekkehard Schall geschrieben.

„Brechtfern“ hatte der unsere Inszenierung genannt; es müsse am BE endlich, ich sag das jetzt im Klartext eigener Worte, Ordnung geschaffen werden. Ich darf Dieckmanns Brief an Schall zitieren: „Wenn ich mir eine Aufführung wie 'Turandot' vor Augen stelle (man kann auch andere nennen): Wie expressiv, pointierend, dynamisch – wie tragelehnnah – stellen Sie dort die Figur in das Gefüge der Inszenierung! Es ist merkwürdig, wie Sie als Akteur, als Schauspieler soviel ,moderner‘, offener sind denn als Theoretiker des Brecht-Theaters, wo Sie tatsächlich eine Neigung haben, den Buchstaben vor den Geist zu setzen. Man kann der „Julie“ einiges vorwerfen, nur brechtfern kann man die Aufführung nicht nennen; es ist eher eine extreme Brecht-Orthodoxie in ihr am Werk … Die Kunst muss ihrer Zeit, muss dem Bewusstsein ihrer Zeit vorausgehen; das tat Brechts Theater in den fünfziger Jahren, aber das muss man heute auf andere Weise, mit anderen Mitteln tun. Die Zeit holt ein, die ihr vorangehen, so hat sie auch Brecht in gewisser Weise ,eingeholt‘; vieles, was – in den Inhalten wie in den Mitteln, geistig wie 163


ästhetisch – 1955 neu und kühn war, ist heute Allgemeingut geworden – das heißt: man darf es nicht reproduzieren, sondern man muss davon ausgehen.“ Aber Schall bleibt für mich ein ganz Großer. Seine chaplineske Weltleistung am Berliner Ensemble bleibt der Arturo Ui. Aber auch die anderen Rollen – der tanzende Eilif, der José Carrar, das genialisch anmaßende Schlachtfeld-Muttersöhnchen Coriolan, dann der Azdak, Woyzeck, Flieger Sun, später dann der enorm stille Galilei, des weiteren Baal, Shlink, Slift, Rigault, Charles Fairchild, Fatzer – zeigten Schall als einen leidenschaftlich kühlen Spezialisten des Uneinheitlichen; er war ein Arbeiter auf einem Bau, und zwar ein Arbeiter der rumorenden, der so kräftigen wie sensiblen Verfugung von Widersprüchen; seine Rollen baute er so, wie Fachleute verlässlich haltbare Schweißnähte zwischen Metallplatten setzen.

Kritiker sprachen gern und berechtigt vom Manierismus.

Aber ich habe ihn bewundert – diesen geradezu manischen Drang, mit artistischen Mitteln scheinbar die Gesetze der Schwerkraft zu überlisten und so landläufige Wahrnehmungsformen im Theater aufzubrechen.

Mein letzter Besuch bei Brecht in Buckow fiel in die Zeit, als Schall den Hörder in Bechers „Winterschlacht“ spielte. Wunderbar kalt und klar …

Suchen Sie nicht nach Worten, nehmen Sie Ihr Lieblingswort.

Ja, fremd. Wunderbar fremd. Brecht hatte ihm nach der Premiere einen lobenden Zettel geschrieben. Dann sah er sich irgendwann noch mal die Vorstellung an und war einigermaßen entsetzt. Inzwischen waren Kritiken erschienen und bemängelten, dass in der Darstellung der tragische Held fehle. Und Schall hatte, gewissermaßen in Eigenregie, ein kleines Bröcklein Pathos draufgelegt.

Brecht lag sehr viel an diesem wahrlich merk-würdigen SchauspielerTyp Schall.

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Ja, aber als Brecht starb, hatte Ekke es schwer. Erich Engel konnte ihn nicht leiden. Er hatte die „Galilei“-Proben übernommen, Schall probierte den Andrea Sarti und wurde sofort umbesetzt. Noch lange in seinem Leben sprach Schall übrigens von jenem Hörder in „Winterschlacht“. Er sagte, das sei verbunden gewesen mit seiner größten künstlerischen Krise, in der Frühzeit des BE. Das war, von Brecht erzwungen, der Abschied eines Schauspielers vom Übereifer des traditionell-hitzigen Helden. Über ein BE-Gastspiel 1956 schrieb der Kritiker Kenneth Tynan: „Brechts Schauspieler bewegen sich nicht wie westliche Schauspieler. Sie erdrücken uns weder durch ihre Persönlichkeit noch bezaubern sie uns durch Charme. In ihrer Beleuchtung, einem schneeweißen Glanz, und in ihrer Gruppierung, die wie ein Panorama von Bruegel ist, wird das Leben vor dir ausgebreitet. Es springt dir nicht an den Hals und schreit dir nicht Geheimnisse ins Ohr.“

Das ist das, was dieses Theater so groß und mich so glücklich gemacht hat. Weil wir über Fremdheit sprachen: Ich glaube, Ekke hat mir übelgenommen, dass ich ihn kritisiert habe. Ich war bei Endproben der „Mutter“, Ruth Berghaus inszenierte. Sie hatte keinen Chor. Die Chortexte sang ganz allein Schall. Er stand in der Seitenloge und lieferte ein Musterbild inbrünstiger Überzeugung. Ich fand es schrecklich. Dann wurde er krank, er merkte wohl, das irgendwas nicht stimmte. Der Regieassistent sprang ein, das war der spätere Opernregisseur Peter Konwitschny. Der Sohn eines Dirigenten, musikalisch geschult, sang vom Blatt. Er stand da, zivil sozusagen, mit dem Westover überm Hemd. Auf Andreas Reinhardts Wellblechbühne ein Fremdkörper. Er wirkte wie ein Bote aus dem Publikum. Das genau war’s! Er sang mit einer Distanz, so, wie man eine alte Schrift vom Blatt liest, mit tastendem Blick. Später habe ich das als ein Beispiel im Interview mit „Theater heute“ zitiert. Ekke war gekränkt, dass ich Konwitschny besser gefunden hatte als ihn. Ich hatte aber doch nicht seine Virtuosität in Zweifel gezogen, sondern die Haltung der Regie.

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Dreimal haben Sie sich mit Müllers „Herakles 5“ beschäftigt,1973 im bat Prenzlauer Berg 1973, Sie haben es schon erwähnt, später im Schauspiel Frankfurt 1981, dann am Bayerischen Staatsschauspiel 1985.

Die Arbeit in Berlin wurde verboten, und in Frankfurt kam meine fristlose Entlassung dazwischen. Also darf man getrost mit dem antworten, was den Kern des Stücks ausmacht: Scheiße! (Lacht).

Ich komme drauf, weil für Sie mit dem Herakles auch wieder ein schauspielerisches Ereignis verbunden war. Heinrich Giskes war in Frankfurt der Herakles. Sie haben das mehrmals beschrieben.

Das war auf einer Probe, auf der die bisher einzeln probierten Elemente ein Ganzes werden sollten, und ich musste im Grunde nichts tun. Ich durfte nur staunen. Heini Giskes hatte den Rhythmus des Stücks im Körper, er dirigierte die Mitspieler, instinktiv und sicher, organisch und geschmeidig. So, wie ein Solist im Konzert das Orchester dirigiert. Ich habe sowas nie wieder gesehn. Der Begriff des Bauchschauspielers hat für mich seitdem eine andere Bedeutung. Heini Giskes las mit seinem Körper eine Partitur. Leider konnten wir nicht weitermachen.

Der Scheißhaufen in „Herakles 5“ ist die Welt.

König Augias ist Herr dieser Welt, aber auch ihr Insasse. Er vergisst und wird vergessen.

Steht auch das für die Welt?

Das Vergessen? Steht für Geschichte, für die deutsche besonders. In Ostberlin war der Stallgeruch ganz nah und intensiv. In München roch es immer auch nach dem Parfüm, das im Westen über alles gestäubt wird. Wenn Sie das Vergessen ansprechen, darf man gewiss an Ihren „Hamlet“, 1985 am Residenztheater München, erinnern. Dass die Inszenierung Ärger erregte, lag auch an einem Text von Klaus Theweleit, der in die Arbeit einbezogen worden war. Das war klare Kante gegen das

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restaurative Westdeutschland. „… sie hatten das größte Schlachtopferfest hinter sich gebracht; die Juden weg, die Kommunisten weg, Arbeiterbewegung kaputt, sexueller Umbruch der zwanziger Jahre gestoppt, mit Kraft durch Freude voll in die Adenauerzeit … Eine Unfähigkeit der Deutschen in ihrem Verhalten nach dem Krieg ausfindig zu machen (die U. zu trauern) ist wohl weniger angebracht als ihre Fähigkeiten hervorzuheben, ihre sagenhafte Fähigkeit, die Feste zu feiern, wie sie fallen.“

Die Feste zu feiern auf den Gräbern.

Da genau sind wir beim Vergessen.

Das Vergessen als Basis des sozialen Friedens.

Sie haben den Stoff „Hamlet“ als „politische Innenwelt“ dieser deutschen Entwicklung bezeichnet.

Was Theweleit da schrieb, ist das Innenfutter der Tragödie. Das hat sich nicht erledigt. Margit Carstensen spielte die Königin, und sie wollte immer von mir wissen, ob ich denke, dass diese Gertraud mitbeteiligt war am Königsmord. Ich habe die Antwort verweigert. Das ist die Verzweiflung dieser Frau: War ich dabei oder nicht? Sie weiß es nicht mehr. Genauso, wie die Deutschen nicht mehr wussten, wissen wollten, wie das mit den Juden war. Massenmörder? Wir? Wir Deutsche? Erinnerung ist gefährlich. Das ganze mühsam aufgebaute Glück kann einstürzen. Also bleibt das unklar. Das muss man klar erzählen. Ich denk an Kafka. Hamlet ist der leidende Jünger der Gerechtigkeit.

Sagt man so.

Zerrissen zwischen Gedanke und Tat.

Sagt man so. Die übliche Lesart. Hamlet? „Hammelfett der Stenz von Dänemark.“ Und schon kommen Sie mit eignen Versen. Im alten Tragelehn der alte gute junge Hohn.

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Das Selbstzitat schneiden Sie mir jetzt nicht ab: „Es bumsen die Kanonen Leichen hoch/ Und Fortschrittsbrass marschiert.“ Hamlet ist der knochenharte Extremist, der seinen Vater rächen will und eine Welt vernichtet. Ein Mensch am evolutionären Höllentor zur Maschine.

Er hat schon immer in unserer neurotisch gewordenen Kampfgesellschaft gelebt. Wo die Wut wächst. Das ist verständlich. Und abstoßend zugleich – wie alles Avantgardistische, das den Raum des Spiels verlässt.

Um das Vergessen nicht zu vergessen, also „Herakles 5“: Sie beriefen sich gern auf Heine, Der hat gesagt, man kann die Welt, diesen großen Viehstall, nicht wirklich sauber halten, die Ochsen scheißen ja immer wieder und immer weiter.

Nicht nur Kühe scheißen. Der Kackpunkt ist, dass der Mensch mehr und mehr gefährlichere Scheiße produziert. Die Gattung Mensch bescheißt die Erde.

Sie haben zu Ihrer Inszenierung in München geschrieben, der Held hätte das Publikum eindeutig anreden müssen.

Ja, wir hätten deutlicher gegen das Parfüm anreden müssen, Herakles hätte sagen müssen: Ihr Scheißer. Ihre Haltung war 1984 bei Müllers „Philoktet“ keine andere.

Hans Lietzau hatte das Stück am Münchner Residenztheater uraufgeführt. Eine Inszenierung in der DDR, wo sie hingehört hätte, war zu jener Zeit nicht durchzusetzen. Immerhin ist „Philoktet“ 1965 in „Sinn und Form“ gedruckt worden. Ich hab‘ Heiner, als er noch dran schrieb, gefragt, um was es in dem Stück geht. Er antwortete: Ulbricht und Honecker fahren nach Luckenwalde und holen Paul Merker aus seiner Bockwurstbude zurück. Rehabilitierung eines Stalinismus-Opfers, um es aufzumöbeln für die nächste Welle.

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Sie haben „Philoktet“ ebenfalls in München inszeniert, im Cuvillièstheater. Das Spätbarocke des Hauses und die griechische Insel.

Ja, Philoktets Insel war die leere Bühne. Eine leere Fläche von rotweißen Absperrbändern begrenzt. Ein Stuhl stand da, so wirkte die Fläche noch leerer. Straßenleuchten erhellten die Leere. Nur der Vorspann passte zum edlen Haus: Der Vorhang ein schwarzer, edler Seidenstoff, er wallte bis über die Rampe. Peter Brombacher, der Philoktet, trat mit Clownsmaske vor den Vorhang, forderte die Leute im Saal auf zu gehn, wenn sie das wollten. Alle Türen wurden aufgerissen, kurze Bedenkzeit. Natürlich ging niemand, man hatte ja bezahlt. Dann klappten die Türen alle wieder zu, ein unvergessliches Klapp-Klapp. Brombacher nimmt die Clownsmaske ab, drunter ist ein Totenschädel: „Sie haben nichts zu lachen/ Bei dem was wir jetzt miteinander machen“.

Müller hat immer prophezeit, es gebe im Westen keinen Blick für die tragische Dimension des Stückes.

Das trifft aber im Grunde alle seine Stücke.

Er hatte es schwer in München. Der Abonnent war ein ernstzunehmender Gegner. Man war auch bei „Philoktet“ nicht gewillt, das Antikapitalistische dieses Theaters zu sehen.

Im Westen, wir haben darüber gesprochen, gibt es keine Vergangenheit und Zukunft. Alles nur Gegenwart. Aber wer die Stacheln der Vergangenheit nicht spürt, der ahnt nicht mal was von der Tragödie. Jede der drei Figuren hat recht, wenn sie spricht. Was sie sagt, erscheint ihr als die Wahrheit. Das ist der Beton, der die Welt zementiert. Es geht darum, dass man nichts richtig machen kann, wenn man die Spielregeln einhält und sich im Beton eingerichtet hat. Das Stück als Aufforderung an das Publikum, die Spielregeln zu ändern.

Spielregeln sind die Ordnung. Und sie sind der Grund, gegen die Ordnung anzugehen.

Der Generalintendant der Bayerischen Staatstheater München, August Everding, sah unsere Inszenierung und sagte, er habe nichts

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verstanden, aber es sei gutgegangen. Das war die Haltung dort, höflich, respektvoll, mehr nicht. Alle hatten ein bisschen Angst, alles so fremd, alles so kompliziert. Es gab keinen Nerv für die Tragödie der Geschichte. Hinterher rettete man sich in dieses Urteil: „Einfallsreich“. Das war’s dann. Sommer 1989 – wie bekamen Sie die Lähmung mit, die über dem Osten lag?

Ich wurde eingeladen zu einer Beratergruppe bei den Theatertagen der Jugend in Gera. Die gesamte Szenerie, drinnen wie draußen, war höchst merkwürdig. Es war drückend schwül. Noch im Westen, fuhr ich mit einem sogenannten Interzonenzug, einer dieser Rentnerschleudern, in den Osten, der Zug war proppenvoll, die Schwüle wuchs. Kein Bordservice. Am Grenzbahnhof West reichte man uns übers Fenster Getränke. Dann Blitz und Donner, der Himmel fiel aus allen Wolken. Dem Wolkenbruch der Natur entsprach ein allgemeines Vorgewittergefühl in Gera. Es hatte sich was zusammengebraut. Es war weiter sehr schwül. Aber wohin würde sich alles entladen? Eine Aufgescheuchtheit und Aufgeregtheit griff um sich, die lag in Streit mit Warten und mit Lähmung. Es gab eine absurde Gleichzeitigkeit von Zeitraffer und Zeitlupe. Gewitterkrach ohne Abkühlung. Martin Linzer von Theater der Zeit war auch eingeladen worden. Die FDJ, starr, seit jeher parteihörig, versuchte sich in aufgenötigter Offenheit, aber im Bemühen der FDJodler steckte doch auch das Unglück, keinen wirklich neuen Gedanken fassen zu können. Kein Ansatz von Konstruktivität – bei diesen Theatertagen führte die Realität sich sozusagen spiegelbildlich selber auf. Mich hatten sie wohl eingeladen, weil ein eingeklemmter Gewissensnerv drückte (lacht). In den Aufführungen des Festivals zeigte das DDR-Theater noch einmal seine Spezialeffekte. Es genügte ja bei Klassikern ein Andeutungsmoment, um in der sozistischen Gegenwart zu landen. Beim FDJ-Festival wurde Ibsens „Frau vom Meer“ gezeigt. Schon der Titel weckt ja Misstrauen, wenn du im Aquarium lebst. Ich fuhr dann nach Berlin, ging zu Heiner Müller, und wir standen auf seinem betongrauen Balkon in Friedrichsfelde Ost, und er sagte: „Wenn der Westen jetzt happ macht, ist die DDR weg.“ So kam's. Und zwar ganz schnell. 170


Heiner Müller sprach von der heilsamen Trennung der Kommunisten von der Macht. Die Kommunisten selber sagten, sie seien nun wieder am Ursprung angelangt: Sie hätten nichts mehr zu verlieren.

Der wahre Vorgang war ein anderer: Sie hatten nichts mehr zu verlangen.

Was den Kampf einst antrieb, war ja, dass man nichts zu verlieren hatte außer die Ketten.

Was bald antrieb, das waren Ketten, die man sich gern anlegte: Kaufhausketten. Die Leute hatten recht, wenn sie sagten: Der Sozialismus gibt uns den Rest. Was sie nicht wussten und auch nicht wissen wollten, das war, wenn ihnen einer prophezeite: Der Kapitalismus nimmt ihn euch.

Erstmal brodelte es im Osten so, dass man nicht wusste, wohin es gehen würde.

Mit meiner Frau machte ich dann Ferien bei einer jüdischen Freundin in Lieberose in einem Haus im Wald. Der schöne Wald hatte es schwer gegen den Fernseher: Wir hingen vor den Bildern der Nachrichtenwelt. Dann fuhr ich, zu Spielzeitbeginn, noch einmal zurück nach Düsseldorf …

… wo Sie noch Schauspieldirektor waren.

Ja, aber ich dachte: Umbau ohne mich – nein. Ich hatte Werner Schroeter engagiert, der Betrieb lief. Ich hatte nicht viel zu tun, ein paar Proben für ein Gastspiel, also habe ich meinen Vertrag in Düsseldorf gelöst, bin ausgezogen aus meiner Wohnung und stand am 15. Oktober, einem Sonntag, mit einem gemieteten Lastauto voller Möbel auf dem Grenzkontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße in Berlin. Einer zieht in den Osten um! Dem Major fiel die Kinnlade runter – ich hab sie höflich aufgehoben und zurückgereicht. Er war so verblüfft, dass der Fahrer des Wagens, ein Freund aus Westberlin, kein Eintrittsgeld bezahlen musste. Der Major, der Klassenwart, hat seine Pflicht als Kassenwart einfach vergessen über dem Schock. Wir waren guter Dinge, durch die 171


Nachrichten geisterte das neueste Abenteuer, joint ventures. Ich hatte dazu unterwegs meine Witze gemacht: ein Joint für Genscher! … Nur den Fernsehapparat durfte ich nicht mitnehmen, Unterhaltungselektronik war verboten, ich bekam ihn erst ein paar Wochen später, da war die Mauer schon weg. Sehr bedeutungsvoll, dass Ihre Inszenierung von Müllers „Germania Tod in Berlin“, Ihre erste Arbeit wieder in Berlin, drei Tage vor dem 3. Oktober 1990 Premiere hatte. Es war die Uraufführung.

Wie es sich gehört hat, in Westberlin, in der Freien Volksbühne. Wiedervereinigung. Das Wort war Marketing. Was geschah wirklich? Die Beendigung eines Aufruhrs durch die benachbarte Ordnungsmacht. Müller warnt in seinem Stück vor dem Scheitern der DDR, logisch, dass es dort nicht aufgeführt werden durfte, noch logischer, dass die Aufführung in Westberlin verlässlich verrissen wurde. Mit letzter Luft: Friedrich Luft. Ein paar Wochen drauf starb er. Zitat von Ihnen – Tragelehn über die DDR: „Das Land war im Abendlicht ein paar Augenblicke schön.“

Aber letztlich unrettbar. Ein Sumpf.

Sumpf?

Ja. Die DDR ist leider nicht durch eine Revolution abgeschafft worden. Wenn es wirklich eine Revolution gegeben hätte, hätten sich einstige Funktionsträger nicht noch immer gebärden können, als wären sie Staatsmänner mit einem Recht auf Immunität. Wie Schabowski eine Weile.

Genau genommen fehlte all das, was Benjamin an der Französischen Revolution sah. „Der panische Schrecken ist die Kehrseite aller wirklichen Massenfeste. Der leise Schauer, der die ungezählten Schultern überrieselt, bangt nach ihm. Für das tiefste, unbewusste Dasein der Masse sind Freudenfeste und Feuersbrünste nur Spiel, an dem sie auf den Augenblick des Mündigwerdens sich vorbereitet, auf die Stunde, da Panik und Fest, nach langer Brudertrennung sich erkennend, im revolutionären Aufstand einander umarmen.“

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Ich dachte zunächst, im Osten geht ein neuer Geist um, und zwar haltbar. Mir war in dieser Hinsicht (noch!) anders zumute als Heiner, der die Gewohnheit hatte, lächelnd die schlimmste Variante anzunehmen. Er sagte, wenn jeder DDR-Bürger seinen Mercedes besitze, dann würden alle ihren Honecker wiederhaben wollen. Sie sind gar nicht mehr rüber in den Westen gefahren?

Nur für die paar Umbesetzungsproben, die noch anstanden. Nun wirklich gastweise. Genau am 9. November kam ich wieder, noch ganz normal über die Grenze. Abends saß ich müde im Sessel und sah fern. Nachts um drei klingelte es, und es kamen Westberliner Freunde vorbei. Ich dachte an Juni ‘53 und an Prag ’68.

Fazit: ein Rückkehrentschluss letztlich doch mit Hoffnung.

Drei Wochen. Am 9. November ist die Hoffnung über die Bornholmer Brücke entschwunden.

Waren Sie verbittert?

Die Hoffnung kommt aus den Wünschen, deshalb macht sie sich schnell Illusionen. Aber deshalb ist sie auch nicht umzubringen. Nein, verbittert bin ich nicht. Bin ich nicht und bin ich nicht gewesen. Traurig – ja. Am 1. Mai 1990 habe ich das erste Mal neben die rote Fahne eine DDR-Fahne gehängt.

Die heimliche Reliquie zuhause.

Nein. Ich musste erst eine kaufen.

Hoffnung, das Wort kommt in Ihren Gedichten oft vor.

Mit Trauerrand.

Aber es kommt vor.

Hoffnung ist nicht einfach was Rosiges, es ist auch Arbeit. Ich fürchte allerdings, dass wir in anderer Weise rosigen Zeiten entgegengehen. 173


Von der DDR lernen heißt untergehen lernen. Ein Zitat von Ihnen.

Ich werde nie Christoph Marthalers „Murks den Europäer“ vergessen, die Volksbühne gastierte damit in Hamburg, als ich dort probierte. Da kam dieser Schweizer mit dem Blick des Fremden, Anna Viebrock hat ihm diesen komischen Wartesaal gebaut, und ich erkannte meine DDR wieder. Als ein Hamburger Zuschauer während der Vorstellung das Theater verließ, habe ich gesagt: Der erste DDR-Flüchtling. Der Wartesaal war aus der DDR, aber ein sehr gegenwärtiges Bild. Europa. Unser aller Gegenwart. Jeder Aufschwung ruft seinen eigenen Tod herbei. „Aufgemacht wurde das Tor für die Zukunft, Spalier stand die Menge/ Närrischer Weise jedoch trat die Vergangenheit ein.“ Schrieb der Dichter Tragelehn.

So ist das immer: Man bestellt die immer neuen Gärten, dabei kann man doch aber das Neue nicht bestellen wie ein Sonderangebot aus dem Katalog. Bestellt eure Gärten, lasst mir die Steine.

Herr Tragelehn, hatten Sie nach dem Ende der DDR Ambitionen, nun ein Osttheater zu übernehmen.

Nein.

Frank Castorf erzählte mir von einer Reise nach Paris, „um 1990 herum, wir waren dort mit Heiner Müller, zu einem Brecht-Symposium, Tragelehn, Schleef und ich. Müller hatte die Idee, wir sollten zu dritt die Volksbühne übernehmen. Wir liefen durch einen Park, Schleef weit vornweg, militärisch stampfend, in seinem Trainingsanzug und DDRAnorak und mit Stullenbeutel. Tragelehn wiederum schlurfte weit hinten, im Outfit ein sanfter, gebrochener Brecht.”

Wie bitte?

Ein Castorf-Zitat. „So liefen wird durch den Louxemburg-Park. Die beiden erwarteten von mir in der Mitte, gewissermaßen hin- und herzurennen und die Kommunikation herzustellen. Das war mir zu anstrengend, die beiden hatten einen zu unterschiedlichen Rhythmus, das konnte nichts werden.“

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Da fällt mir der Satz von Schleef ein, den ich schon oft und gern zitiert habe. Das Stottern von Freund Schleef muss ich imitieren, damit der Satz seine Wirkung entfalten kann. „D dazu – k-kann ich garnichts sagen.“ Mit andern Worten: Castorf hat das sehr genau beschrieben.

CHRISTA TRAGELEHN: In Paris saßen wir abends in einem Café, unter einem warmen Himmel, wir tranken Rotwein, es war eine gelöste Stimmung, unvermittelt trat Schleef an B. K. heran, berührte ihn ganz leicht an der Schulter und sagte leise. „Du, ich glaube, wir waren damals ganz nah dran.“ Und setzte sich wieder auf seinen Platz. Es war, als sei die ganze komplizierte Beziehung, all das unausgesprochen Gebliebene, die Störungen und Entfremdungen der Jahre in dieser einen Geste für Sekunden aufgehoben. Das war schön und traurig und unwirklich. Herr Tragelehn, gab es für Sie als Regisseur etwas, das Sie auf Proben ausdauernd irritierte oder vor dem Sie sich fürchteten?

Wenn ich das erste Mal in eine Dekoration kam … Dekoration stört. Das war stets ein Instinkt bei mir: der Beziehung zwischen Körper und Raum nachzugehen. Diese Beziehung herzustellen, zu halten, zu erweitern. Es geht um Theater als Gesamtkörper, es geht um Spieler und Publikum gleichermaßen. Es geht um alle, die gemeinsam oder widerstreitend den Raum teilen.

Brecht stellte dem Bühnenbild den Bühnenbau gegenüber.

Sein Freund Caspar Neher – beide haben die gleiche Schulklasse in Augsburg besucht – war „der BühnenbauerW. Das Thema interessierte Brecht früh, lange eher er das politisierte und es theoretisch ausformuliert hat.

Sie sprechen von Instinkt. Das ist etwas, das dem Gedanken vorausgeht.

Instinkt ist flink. Aber ein Prinzip zu durchdenken und es dann auch zu formulieren, das geht immer erst später. Erst hat man die Nase im Wind. Der Instinkt zeigt einem die Richtung. Das ist die Eigenart der künstlerischen Produktion. Nicht eine Idee wird verwirklicht. Man begegnet der Realität. Wenn man die bearbeitet, geht man zuerst der Nase

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nach. Deshalb hat der Brecht mir Achtzehnjährigem gesagt: „Über Kunst können Sie überhaupt nicht anders als künstlerisch schreiben!“ In Ihrer „Fräulein Julie“ am Berliner Ensemble verlässt Jutta Hoffmann als Dienstmädchen Julie das Theater, indem sie über die besetzten Zuschauerreihen klettert. Leute aus dem Publikum helfen ihr, wenn sie über die Rückenlehnen balanciert.

Das Stück endet mit dem Tod der Heldin, sie bringt sich um. Bei dieser Arbeit mit Schleef ...

Sie hatten gemeinsam gezeichnet mit der Angabe „Inszenierung“, anstatt wie üblich getrennt „Regie“ und „Ausstattung“.

Bei „Frühlings Erwachen“ fing das an, dass wir diese Trennung Regie und Bühne wegließen. Aber ich habe bei allen Theaterarbeiten Bühne und Kostüm mitbestimmt, bin immer auch in die Kostümabteilung, zu Anproben, zur Requisite und in alle anderen Werkstätten mitgegangen. Der offene Schluss bei „Julie“ war eine Art Schock. Vorher blieb das Stück im Guckkasten.

Der war allerdings leer.

Das mit Juttas Kletterpartie, von der das Publikum überrascht wurde, war auch keine Idee. Es war Zufall. In einer frühen Probenphase haben wir Übungen gemacht, Improvisationen. Wir spielten zum Beispiel Blinde Kuh. Jutta Hoffmann hatte die Augen verbunden und suchte uns, Schleef und Holtz und mich. Auf der Probebühne lag eine lebensgroße Gliederpuppe herum aus irgendeiner anderen Produktion. Die hielten wir Jutta hin. Sie schreckte zurück, wir ließen die Puppe fallen, und es klapperte. Jutta bekam einen Schreck und stürzte in Panik davon, über die Stuhlreihen weg. Die Probebühne hatte, wie die Bühne, ein paar ansteigende Reihen Gestühl, mit einem Gang in der Mitte für die Bewegungsfreiheit bei der Probe. Sie rannte nicht in den Gang, sondern blind auf das Gestühl zu und stieg über die Reihen und riss sich jetzt erst die Binde von den Augen. Beim Probieren des Schlusses, viel später, haben wir uns daran erinnert. Und fanden, dass das die Lösung wäre.

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Fräulein Julie verlässt das Theater über die Stuhlreihen. Eine Republikflucht der besonderen Art.

Schleef hat es im Nachhinein so interpretiert, als eine Vorwegnahme seines eigenen Abgangs. Bei der Arbeit haben wir daran nicht gedacht. Also ich jedenfalls nicht.

Der Chor, der für Schleef später so wichtig wurde, spielte eine entscheidende Rolle auch bei der „Korrektur“ von Inge und Heiner Müller, Sie haben das Stück – nach 1959 – noch einmal, zusammen mit Schleef, im bat-Studiotheater in Prenzlauer Berg probiert, mit Studenten der Schauspielschule, der jetzigen Ernst-Busch-Hochschule.

Die Studenten waren zur Zeit des Stoffes noch Kinder gewesen. Alle sprachen im Chor den Text der zentralen Figur, den Text von Bremer, dem als Brigadier in die Produktion strafversetzten Funktionär. Alle Spieler saßen rundum in der ersten Reihe. Im Kreis der Zuschauer. Es gab kein Kostüm und keine Requisiten. Handschlag oder Telefonabheben wurden mit Gesten angezeigt. Mit dem gemeinsamen Nachsprechen versuchten die Nachgeborenen, den alten Kommunisten zu verstehen. Der Chor der Studenten hatte somit einen realen Grund: Es ist schwer, Erfahrung weiterzugeben, der Raum ist wichtig für den Transport, er macht Verständigung möglich.

Nochmal: welche Verständigungsmöglichkeiten?

Die zwischen den Vorbereiteten auf der Bühne und den Unvorbereiteten im Publikum. Einar Schleef hatte ein starkes, sicheres Gefühl für diese, wie soll ich sagen, Architektur von Theater. Das ist keine Sache von Bauteilen, das ist eine Frage, wie die Spieler und die Zuschauer, also die Vorbereiteten und die Unvorbereiteten einander räumlich zugeordnet sind, damit Spannung, Bewegung, Irritation, Bezüglichkeit zueinander entsteht. Deshalb hat mich immer Theater in anderen, in betriebsfremden Räumen interessiert. Im Grunde gibt es das gar nicht beim Theaterspiel: betriebsfremde Räume.

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Raumkunst bedarf nicht der Kunsträume.

Shakespeare sagt, die ganze Welt ist eine Bühne.

Thomas Langhoff liebte als Regisseur Stühle auf der Bühne.

Gosch Schränke.

Und Sie?

Ich? Leere – für die Spieler.

Die Bühnen waren im Grunde immer von Ihnen?

Wie auch die Kostüme. Mit den Kostümen gingen wir in der Regel um, als würden Kinder sich verkleiden. Die haben hundert Arme und greifen in alle Richtungen, und damit nach allem, was sie greifen können. Feste der Reste. Alles entstand aus allem, mit allen. Wir betrieben Altkleidersammlung. Der Raum neben der Probebühne wurde – wo möglich – zur Nähwerkstatt, die Kostüme entstanden parallel zu dem, was wir probierten. Ilona Freyer zum Beispiel sammelte alle möglichen Gegenstände, irgendwann fand sich dann die Szene, in denen die Funde Verwendung fand.

Benjamin schreibt seinen Aufsatz über das epische Theater und behauptet, das Wichtigste sei die Verschüttung von Orchestra. Sie haben ein Buch darüber geschrieben.

Das Büchlein heißt „Chorfantasie“. Bei Brecht erscheint das ausdrücklich im ersten der Lehrstücke, dem „Badener Lehrstück“, da gibt es – schon im Textbuch! – neben dem „gelernten Chor“ auch „die Menge“, eben das, was gewöhnlich Publikum genannt wird.

Das Theater ist entstanden, als aus dem Chor Protagonisten heraustraten.

Der Chor, das war der volle runde Kreis, wo jeder jeden sieht und jeder jeden hört. Also die Form in der Urgesellschaft, im Clan, ehe, der Arbeitsteilung folgend, eine Spaltung in Klassen eintritt. In der attischen Tragödie ist ja der Ring schon halbiert durch die Orchestra. Ihre „Ver178


schüttung“ definiert Benjamin mit Brecht als das gegenwärtige Ziel. Eigentlich hat das Theater immer die Sehnsucht behalten nach der Wiederherstellung des vollen Kreises. Auch die elisabethanischen Theaterbauten behaupten eine Gemeinschaft mit dem Publikum. Gemeinschaft heißt …

Die Zuschauer haben im Spiel sozusagen eine Rolle. Das Publikum schaut nicht bloß zu. Brecht hat das sehr interessiert, er hat dieses Thema immer wieder aufgegriffen, mal vorsichtiger und mal energischer, je nach konkreten Umständen und wechselnden Bedingungen seiner Theaterarbeit.

Etwa im „Kleinen Organon für das Theater“.

Das ist ein Programm für das deutsche Theater nach Hitler geween, eine Anleitung für das Berliner Ensemble. Aber da formuliert er das noch vorsichtig. Erst nach ein paar Jahren praktischer Erfahrung mit dem eigenen Theater fing er an mit Korrekturen. Es gibt ein paar Seiten mit Entwürfen, von der Wissenschaft sind die nicht beachtet worden, und sie sind in den Werkausgaben ungenau datiert. Ich weiß, dass sie vom Frühsommer '55 sind.

So genau?

Ja, weil ich sie bei meinem ersten Besuch in Buckow gelesen habe. Die Schreibmaschinen-Durchschläge lagen herum. Ein Exemplar hab ich mir eingesteckt. Zwei Jahre drauf, als ich Heiner Müller kennengelernt hatte, bekam der sie auch zu lesen, Jahre, bevor sie gedruckt worden sind. Am radikalsten angegangen bin ich das Organisieren von Beziehung in einem Raum ohne Orchestra beim Chor „Herakles 2 oder die Hydra“, in einer Werkstatt zu Müllers „Zement“ mit jungen polnischen Regisseuren. Wir haben mit Schauspielstudenten von der HdK in Berlin und mit Theaterwissenschaftsstudenten von der Uni Leipzig gearbeitet. Im Krieg der Interessen die Fragen: Wer kämpft wo, wie, gegen was? Im Nahkampf: Was sehen, was hören, was fühlen wir? Was tut, was denkt Herakles? Was tut, was denkt die Hydra? Tatsache ist: 179


Wir – wir sind beides. Wir sind Bestandteil der Hydra, und wir kämpfen gegen die Hydra, wie Herakles. Das Jahrhundert der zwei Weltkriege, das nicht vorbei ist. Wie es bei Müller heißt: „Als Hitler der Treibstoff ausging/ Begann der Golfkrieg.“ Beschreiben Sie die Veranstaltung.

Ich les mal eine alte Notierung vor, das geht am schnellsten: „In einem großen leeren Zimmer sind die Fenster zugehangen. Das Zimmer fasst achtzig oder hundert Leute, acht oder zehn davon haben den Text eingeübt. Das Licht, eine einsame Birne an der Decke, ist an, die Tür ist auf, bis das Zimmer gedrängt voll ist. Man hört ein Metronom schlagen. Das Licht wird ausgeknipst, der Titel wird angesagt, und die Tür wird zugeschlagen. Alle stehen im Dunkel. Nur die acht oder zehn Leute des gelernten Chors in dieser Menge haben Taschenlampen um den Hals gehängt, Stablampen, die nach unten leuchten und minimal und diffus Licht geben. Der gelernte Chor bewegt sich in der Menge langsam im Gänsemarsch an der Wand entlang von Ecke zu Ecke des Raums. Alle Bewegungen, erst langsam und ruhig, dann rascher und heftiger, setzen sich fort in der gedrängt stehenden Menge. Dann drängeln sich die Mitglieder der Gruppe einzeln durch die Menge hindurch und treffen sich in der Mitte. Gehen wieder auseinander, wieder durch die Menge, treffen sich wieder in einer Ecke, vereinzeln sich noch einmal. Den Text sprechen zuerst Einzelne. Einer nimmt vom anderen den Ton ab und setzt fort, was der andere gesagt hat, oder er setzt seins gegen das vorher Gesagte und widerspricht. Dann sagen sie das erste Mal etwas gemeinsam. Dann wieder. Und dann mehr. Sie teilen sich und schließen sich zusammen und teilen sich und schließen sich zusammen – und so weiter und so weiter – eine Choreographie der Bewegungen und eine Choreographie der Sätze, die, ausgehend von dem gelernten Chor, die ganze Menge direkt oder indirekt erfasst und sie durchknetet.“ Die Orchestra zuschütten, das heißt: die räumliche Trennung von Spielern und Zuschauern, von Aktiv und Passiv aufzuheben. Heute gibt es dafür, variiert, den Begriff Immersion. Immersiv wirkt etwas, wenn ich die Distanz dazu verliere. Immersiv wird es, wenn ich das Medium ver-

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gesse. Im Englischen ist „immersiv“ ein Wort für eindringlich. Es geht um Kunst, die wir ohne Portal erleben. Man steht ihr nicht mehr gegenüber wie gewöhnlich im Theater, sondern man geht selbst in den Raum hinein. Man schaut nicht mehr auf einen Wald, sondern ist im Wald.

Wir werden vom distanzierten Betrachter zum Mitmacher? Nein, anders: vom sich einfühlenden Mitmacher zum selbstbewussten Partner.

Ein größeres Bild von Immersion ist denkbar: das weitere Verschwinden der Grenze zwischen Systemen, das Ineinanderfließen von unterschiedlichen Systemen.

Ich bin ein Veteran. Gegen Moden bin ich skeptisch. Man muss die Welt irgendwann an sich vorbeiziehen lassen. Wo Grenzen fallen, wachsen andere. Die aber auch wieder fallen. Und so weiter. Jede Steighöhe ist eine Fallhöhe. Wirklich, von vielen modischen Dingen habe ich keine Ahnung mehr. Aber alte gute Ahnungen bleiben: Es geht darum, Unsicherheit zu genießen und etwas zu tun, vor dem ich auch Furcht empfinde.

Furcht warum?

Damit Sachen, die man tut, nicht harmlos bleiben.

Furcht, weil man das abgesteckte Gelände der politischen Korrektheit verlässt.

Der politischen und der ästhetischen. Was im Theater Orchestergraben genannt wird, um wieder auf den Raum zu kommen – im Schauspiel ist es ja meist reduziert auf die Rampe, die ist ja nach wie vor Standard in unseren Theaterbauten. Der Standard stammt aus der Zeit des französischen Absolutismus, der hat ganz Europa kulturell dominiert. Aus den Hoftheatern wurden die Staatstheater, und dann wollte die Bourgeoisie eigene Häuser, die Stadttheater. Und architektonisch folgten sie dem Vorbild. Mit Varianten, die sich aus dem technischen Fortschritt ergaben. Erst das Gaslicht, dann das elektrische Licht, das brachte eine 181


noch strengere Trennung von Spielern und Zuschauern. Der Guckkasten entstand. Er ermöglichte illusionistische bewegte Bilder, gerahmt vom Bühnenportal. Das Kino kam, und heute steht ein Guckkasten in jedem Wohnzimmer. Television. Berühmt war am Anfang des Jahrhunderts der „Sommernachtstraum“ des Zauberers Max Reinhardt, mit echtem Rasen und mit Tannenduft. Brecht hat daraus den Schluss gezogen, dass „kein Beleuchter noch die Heide selber Shakespeares Verse erreichen“. Die Theater waren nicht zufällig halbrund gebaut.

Das Runde oder Halbrunde war eine Erinnerung, fast eine Sehnsucht nach dem ursprünglichen Rund des Chors – aus dem das Theater entstanden ist. Aber es kamen, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, die Kammerbühnen, mit ihren Sitzreihen, die wie die Grenadiere ausgerichtet waren. Auch sie führten hin zum Bild, also hin zum Kino des zwanzigsten Jahrhunderts. Die nach dem Zweiten Weltkrieg gebauten Betonhäuser sind dann folgerichtig schon Kinobauten.

Interessant finde ich, was von Ihrer Inszenierung „Verkommenes Ufer Medea Material Landschaft mit Argonauten“ 1989 in Düsseldorf überliefert wurde, wieder eine Auseinandersetzung mit der Orchestra.

Es gab eine räumliche Trennung. Ein Gegenüber von Männern und Frauen auf zwei Tribünen. Mann und Weib schon getrennt beim Kauf der Eintrittskarten. Gegenstand von Müllers Triptychon ist ja das, was Marx das natürliche Gattungsverhältnis nennt, und dabei den Gedanken von Fourier aufnimmt, dass der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist. Weil nun Frauen und Männer getrennt saßen, auf zwei Tribünen einander gegenüber, begann das Theater schon vor dem Stücktext. Auf der Männertribüne sitzend, habʼ ich gehört, was da so geredet wurde: „Is doch prima so, muss man sich nicht so verrenken, um sich eine auszusuchen“ – sowas in der Art. Was auf der anderen Seite, bei den Frauen, geredet wurde, das hat der Inspizient gehört und mir erzählt. Das Saalmikrophon hat nicht viel Andres übermittelt. Die beiden Schauspieler, die dann Medea und Jason vorspielen, Barbara Nüsse und Peter Lohmeyer, saßen unter

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den Zuschauern und fingen stockend an mit diesen ersten Wortfetzen und Halbsätzen des Müller-Textes. Sie forderten die Leute neben und hinter sich auf, mitzumachen. Bis die Frauen alle im Chor schrien „Keksschachteln, Keksschachteln“. Und die Männer schrien alle „Kothaufen, Kothaufen“. Dann schließt der Text sich zusammen zu Hexametern, und die Schauspieler haben die Menge aufgefordert, das mitzulesen – der Text war im Programmbuch abgedruckt. Da haben nun alle zusammen ihr Leben beschrieben: „Sie sitzen in den Zügen, Gesichter aus Tagblatt und Speichel …“ Und so weiter. Die beiden Schauspieler waren die Chorführer. So „Verkommenes Ufer“, der erste Teil des Triptychons, Der zweite Teil, „Medea Material“, vorgespielt auf erhöhtem Podium zwischen den Tribünen, erzählt die alte Medea-Geschichte. Auch in diesem Teil wird das Publikum, der im ersten Teil konstituierte Chor, einbezogen. Zum Beispiel bei der Vernichtung der Rivalin Kreusa durch Medea. Mit einer Polaroid-Kamera fotografiert Medea eine Anzahl der Frauen, legt die Bilder jeweils auf den Rand des Podiums zum Trocknen – um sie dann einzusammeln und ein Kartenhaus damit aufzubauen in der Mitte. Und es anzuzünden. Ein Autodafé für die Augen der beiden Kinder. Und vor den Augen der Fotografierten. Im dritten Teil dann, „Landschaft mit Argonauten“, ist das Podium versenkt und der in der Grube eingeschlossene Jason reflektiert Leben und Sterben des Mannes. Medea steht daneben und sieht sich das Landschaftsgemälde an, zusammen mit dem Publikum, den beiden Chören. Sehr später Nachmittag. Schon dunkel draußen. Endigen wir's.

Der exzellente estnische Wodka ist auch alle. Es ist ja so: Vieles ist vorbei. Man spricht über sein Leben und weiß, wohin es geführt hat. Aber die Frage bleibt: Spürt man noch das Seil unter den Füßen, auf dem man mal getanzt hat? Hat man früher überhaupt gefühlt, dass man einen Seiltanz vollführt hat? In einem ausführlichen Gespräch mit Holger Teschke zitieren Sie eine Notiz von Franz Kafka: „Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden.“

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Was erzählt uns alle getane Arbeit? Man war auf die Zukunft ausgerichtet, man hat Zielvorstellungen gehabt, aber es ist Illusion gewesen. Oder viel davon. Was wir uns als Zukunft vorstellen, ist noch nicht Wirklichkeit. Uns erwartet nicht die Zukunft, sondern nur der nächste Augenblick.

Und wer über diesen Augenblick hinausschaut, und das tun wir ja alle – der ist immer auch nah am Selbstbetrug. „Eines Tages, spät, in der Zukunft.“ Das ist der erste Satz in Becketts „Das letzte Band“.

Sie haben das vor Jahren in Neuhardenberg inszeniert, mit Sepp Bierbichler.

„Eines Tages, spät, in der Zukunft.“ Der Zeitpfeil zeigt nach vorn. Es ist die Gegenwart, die gespenstisch wird im Auge der Zukunft. Was war wichtig? Was war unwichtig? Und weiter spult er sein Band. Was war richtig? Was war falsch? Aber er entscheidet nichts. Vielleicht hatte er recht, damals, in allem in wenigem, wer weiß. Entscheidungen sind Sache der Zuschauer.

In unseren Gesprächen fiel manchmal der Begriff Kommunismus.

Den es nie gab, den es nie geben wird.

Um genau den geht es. Was wird das sein?

Es geht um einen Begriff von Kommunismus, der wetterfest und zugleich wandelbar ist, also: unter dem energischen Willen, das Unmögliche miteinander zu vereinen, geht da gar nichts.

Was ist das Unmögliche?

Über den Schauder hinweg an fremden Ufern landen.

Und gut landen …

Gut, was heißt gut … Der Mensch möchte lieber gut leben, als gut sein. Beides wäre in eine bekömmliche Balance zu bringen. Und wie ginge je dies: ein friedlicher geschichtlicher Abschluss …

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… also Stillstand.

Nee, eben nicht, sondern: das Ganze ohne Stillstand.

Unmöglich.

Also erstrebenswert.

Welches Verhältnis haben Sie zur Langsamkeit?

Ich wohne im 3. Stock, fragen Sie meine Kniegelenke.

Nennen Sie eine schöne Farbe.

Das Frühlingsgrün im Ilmtal in Weimar.

Was denken Sie über den Tod?

Kunst ist ein Verschönerungsverein. Er macht größte Schmerzen lebbar. Am Schluss des Theaters steht Applaus, die Tragöden verbeugen sich und gehen in die Kantine.

In der Kunst ist jeder Gedanke, aller Geist hinlenkbar auf den Tod.

Man kann das doch umkehren. Wer über den Tod nachdenkt, denkt über Leben nach. Ringt einer mit dem Tod oder mit dem Leben? Wem gehört welche Energie, welche Kraft, welche Geduld? Immer sind irgendwelche Würfel schon gefallen. Welche Augenzahl meint dich? Die Frage hält wach, hält also lebendig. Sind Sie abergläubisch?

Ja, ans „aber“ glaub ich.

Keinen Stein in der Tasche?

Doch, einen aus Schottland, ein sogenanntes Hexenauge.

Wie sieht der aus?

Jeheimnis.

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Spielen wir noch ein wenig.

Was?

Fragebogen Max Frisch.

Mäßige Lust.

Hätten Sie lieber einer andern Nation (Kultur) angehört und welcher?

Der englischen vielleicht.

Wann haben Sie aufgehört zu meinen, dass Sie klüger werden, oder meinen Sie’s noch?

Ich hör nicht auf.

Wenn Sie an Verstorbene denken: wünschten Sie, dass der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?

Beides.

Was fehlt Ihnen zum Glück?

Eine Menge.

Beneiden Sie manchmal Tiere, die ja ohne Hoffnung auszukommen scheinen, z. B. Fische in einem Aquarium?

Könnte sein.

Können Sie ohne Hoffnung denken?

Nein.

Muss eine Hoffnung, damit Sie in deren Sinn denken und handeln können, nach Ihrem menschlichen Ermessen erfüllbar sein?

Nicht unbedingt.

Warum scheuen Revolutionäre allem Anschein nach den Humor?

Tun sie das?

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Was ertragen Sie nur mit Humor?

Einiges.

Verändert sich im Alter der Humor? Wenn ja, wie?

Wird er wohl. Aber wie?

Gesetzt den Fall, Sie lassen sich auf Gott ein: Kennen Sie ein Anzeichen dafür, dass er Humor hat?

Gesetzt den Fall, muss er wohl Humor haben. Sonst ging's nicht mit uns.

Halten Sie die Natur für einen Freund? Warum, warum nicht?

Warum nicht?

Was fürchteten Sie im Leben mehr: das Urteil von einem Freund oder das Urteil von Feinden?

Freund.

Auf welche Weise sind Sie sich selbst ein Freund?

Zigarrenraucher.

Wieviel Heimat brauchen Sie?

Gerüttelt Maß.

Möchten Sie unsterblich sein?

Nein.

Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?

Is mir wurscht. Schluss jetzt mit Frisch.

Schlusskurve. Glaubten Sie je an ein Theater der Aufklärung?

Nie. Warum sollen Besserwissen Ahnungslose aufklären?

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Aufklärung wurde zur Katastrophe?

Mehr noch: zur ununterbrochenen Katastrophe.

Stichwort gerechte Güterverteilung?

Ein Welten-Streit, der auf immer mehr Elend hinausläuft.

Idealismus?

Der Körper watet durchs Blut, das Bewusstsein aber predigt unbeirrbar die Freiheit. Tragische Wortverbindung: deutscher Idealismus.

In einem Ihrer Gedichte, geschrieben 2007, blicken Sie aus Ihrem Fenster, hier in der Wohnung, in der wir sitzen. Sie sehen „Links auch mit Fahne klein/ Den Rathausturm“, und da stehen die Zeilen „Im Rathaus war ich nie./ Mit böser Absicht eingeladen, bin ich nicht/ Hineingegangen. Hätte ich gehen sollen/ Und protestieren?“ Bezieht sich das auf den Schandtermin 1979, als im Roten Rathaus neun Autoren aus dem Berliner Schriftstellerverband ausgeschlossen wurden?

Ja. Da steht auch: „Unwiederbringlich ist/ Das was versäumt wird. Wie es war so wars.“

Sie haben nicht protestiert.

Ich fühlte mich ein Leben lang als Beobachter, ich war sozusagen immer der Mensch am Radio. Weiß nicht, wieso mir da wieder der 17. Juni 1953 einfällt, als ich nur am Radio hing. Das Ohr nah dran. Trotzdem weit weg. Das Ohr ranhalten, das ist manchmal besser, als die Nase reinstecken. Hören und Sehen, ohne dass es einem vergeht. Es geht darum, den Blick auf eine Sache zu werfen, ohne dass die Augen hinterherfliegen.

Dieses Gedicht: in wenigen Zeilen gewissermaßen der Altersroman.

Die Mitte von Berlin. Zum Schluss der Verse (lacht) kommt das Beste: „Schließe deine Augen.“

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Josef Bierbichler

IM HERBSTHEU Ein Spätsommertag. Vermutlich September. Es könnte das Jahr 1984 gewesen sein.

Am Nachmittag fuhr ich heim zu meinem Wohnort aufs Land – wie jeden Tag. Jeden Tag wurde um diese Zeit im Münchner Cuvilliestheater das Stück „Philoktet“ geprobt! Tag für Tag! Heiner Müller hieß der Autor. Ein Alter Grieche durch und durch. Diesmal fuhren der Regisseur Tragelehn, Busenfreund des Dichters, und der Spieler des Philoktet, Peter Brombacher, in dessen Auto hinterher. Beide wollten den Rest des schönen Tages mit einem Spaziergang am See bei einem vermutlich spitzfindigen Gespräch über den Stand der Proben herumbringen.

Angekommen, bat ich meine Gäste, sich für die nächsten paar Stunden unabhängig von mir zu machen. Ich müsse nach Tagen des Müßiggangs nun auch wieder mal körperliche Arbeit verrichten, dem Nichtstun hätte ich jetzt lang genug im Theater gefrönt, hier aber gäbe es richtig was zu tun etc. Am Abend, zum Essen im Gasthaus, stünde ich wieder zur Verfügung.

So versuchte ich, meinen selbstverschuldeten Zwiespalt zu skizzieren. Sie waren einschichtig Beschäftigte und schauten mich an: Verständnislos.

Tragelehn kam zum ersten Mal zu mir auf Besuch. Brombacher war schon öfter da und kannte sich ein wenig aus. An ihn richtete ich meine Erklärung: Hinter dem Haus beginnt ein Fußweg, der auf der see-abgewandten Seite zu einem Höhenzug führt. Von dem aus gibt es einen durchaus als opulent zu bezeichnenden Blick über den halben See und hinein in die Alpen. Diesen Weg zu nehmen, schlage ich für Euren Spaziergang vor. Denn da seid Ihr allein und entgeht der Alternative. Die wäre nämlich die Straße entlang des Seeufers. Ein Auslauf für Hunde, Hundebesitzer und Radfahrer. Auf immer gleichem Niveau

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bleibend, ohne Steigung und Gefälle, erzwingt diese Straße den Dauerblick auf den nichtssagenden See, der flach und unbewegt da liegt, wie ein ausgebleichter Leichnam. Sobald nur ein Sonnenstrahl durch das Gewölk die Erde erreicht, drängen sich auf dieser Straße in unerhörter Zahl Menschen, die mit ausdruckslosen Augen auf das graugefärbte Leichentuch starren und dabei im gebremsten Laufschritt vorwärts gezogen werden von schnüffelnden Hunden an langen Leinen, immer wieder zur Seite gedrängt von dauerklingelnden, laut und aggressiv „Aus dem Weg“ schreienden Radfahrern, in eng anliegender Kleidung aus Kunststoff, gerippte Kunststoffhelme auch auf dem Kopf. Ihr könnt es euch ja überlegen.

Tragelehn schloss sich meiner Empfehlung sofort an. Auch Peter zögerte kaum. Schließlich hatten beide schon länger geplant, zusammen ein Stück von Moliére mit dem Titel „Der Misanthrop“ in München auf die Bühne zu bringen. Dann hinauf den Berg! Von oben kann man fokussieren.

Sie machten sich also auf den steil ansteigenden Weg hinter meinem Haus, und ich machte mich an die Arbeit ins Herbstheu – an diesem Nachmittag zufällig neben diesem Spazierweg. Wir befanden uns den vergehenden Nachmittag über im Blickfeld zueinander und gleichgestimmt in unserer inneren Haltung zur Welt – trotz extrem unterschiedlicher Betätigungen. Am Abend trafen wir uns wie verabredet im Biergarten des Gasthauses.

Als Tragelehn nach dem gemeinsamen Essen auf die Toilette ging, erzählte mir Peter, dass der beim Spaziergang am Nachmittag auf halbem Weg eine Pause einlegen musste, und sich dabei, schwer schnaufend, umdrehte und seinen Blick schweifen ließ. Als er sich wieder zum Gehen wandte, habe er gesagt: Nett haben Sie’s hier, die kleinen Idioten. Peter erzählte das nicht denunziatorisch, eher aufklärerisch, als berichte er über ein interessantes Phänomen, das er mir nicht vorenthalten wolle.

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Dementsprechend wertete ich Tragelehns landmenschenfeindliche Äußerung als gelungenes Bonmot aus der geistigen Rappelkiste eines städtischen Intellektuellen, denn Peter war in gewissem Sinn mein Vorbild, was Bildung und Belesenheit anbelangte.

Heute, beim Aufschreiben merke ich auf einmal, dass dieser urbane Spötter Tragelehn bei seinem um Luft ringenden Rundblick ja mich! – und zwar nur mich, den auf dem Feld arbeitenden Odysseus aus seiner Inszenierung – im Blickfeld haben konnte, und sonst niemand, da sonst weit und breit niemand zu sehen war. Die überfüllte Seeuferstraße lag außerhalb unseres Blickfeldes. Aus mir allein sog er seine verächtlichen Gedanken über die Bewohner dieser schönen Landschaft.

Ich probte damals das dritte Stück unter seiner Regie, und interpretiere das heute so, dass ich unbewusst unter den Einfluss seiner gängigen Phonetik geraten sein musste, als ich meine Warnung, die Straße entlang des Sees betreffend, mit eher misanthropischer Wortwahl formulierte.

Gleiches ist mir mal untergekommen, als ich in Wien zusammen mit einem Schauspieler auftrat, der den Tag über mit Zadek probte, und am Abend, in unserer Vorstellung, exakt in dessen arrogant gedehntem, äußerst gelangweilt klingendem Singsang seine Dialoge mit mir sprach.

Diese reflexhafte Angleichung an Tragelehn machte ich mir später bewusst zunutze, als ich in einem Film den armen B. B. mimen sollte, seinen Meister von einst, der ihm einfach weggestorben war, und er sich von ihm nicht mehr rechtzeitig abnabeln konnte. Was dazu geführt haben muss, dass ein paar unwesentliche Äußerlichkeiten von B. B. sich dauerhaft in B. K. verfestigten. Ich machte also nicht spekulativ den Brecht nach, nein, ich dachte einfach an B. K. – und die Figur des B. B. kam mit mir und ich mit ihr einigermaßen erträglich davon. Die letzte Figur, zu der ich mich von Tragelehn überreden ließ, war die Figur des Krapp in „Das letzte Band“. Auch da kam bei ihm sein Hang zum großen Spötter mit Nachhaltigkeit zum Zug, als er mir vormachte, wie der alte Krapp sich hinkniet, um sich das Letzte Band an-

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zuschauen, das in unsere Fassung ein Videoband war und über den Bildschirm eines sehr kleinen Fernsehers, der auf einem Tisch stand, gesendet wurde. Tragelehn war damals um die siebzig, also im fiktiven Alter von Krapp, und musste gar nichts können, als er mir das Hinknien eines alten Mannes zeigte. Ich aber war unfähig, es auch nur ansatzweise so nachzumachen, wie er es mir vormachte. Ich war Mitte fünfzig, und bewältigte technisch nicht die körperliche Mechanik, der Tragelehn bereits via Natur unterworfen war. Deshalb geriet meine Nachahmung mehr peinlich als komisch.

Komisch wurde es erst zehn Jahre später – deshalb spreche ich von Nachhaltigkeit. Denn jetzt, im Alter von Mitte siebzig kriege ich es tatsächlich problemlos hin, womit ich zehn Jahre davor nur peinlich dilettierte: Das schmerzhafte Hinknien – wann und vor was auch immer. Nur ist daran überhaupt nichts mehr komisch.

Das nur so als Beispiel für die Haltbarkeit Tragelehnscher Regieführung.

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Biographie 1936

Geburt in Dresden

1954/55

Gelegenheitsarbeiten

1957

Erste Inszenierung „Die Ausnahme und die Regel“ von Bertolt Brecht in Wittenberg Beginn der Arbeit mit Heiner Müller

1942–1954 Grundschule, Oberschule 1955–1958 Meisterschüler der Deutschen Akademie der Künste Berlin

1958–1961 Regie an der Studentenbühne der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst

1960

1961

1961/62 1964

Modell-Aufführung „Die Korrektur“ von Heiner Müller Uraufführung „Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller Verbot und Entlassung am Theater der Bergarbeiter Senftenberg

Ehe mit Christa Grundmann

Geburt der Tochter

Kipper und Bandwärter im Braunkohletagebau Klettwitz/Niederlausitz

Regie an mehreren Theatern, Übersetzungen

1965 Geburt des Sohnes 1967–1969 Lehrer für Schauspiel an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg 1969

Verbot der Studenten-Aufführung „Wie es Euch gefällt“ Übersetzungen für den Rundfunk Geburt von Zwillingen

1973–1976 3 Inszenierungen am Berliner Ensemble Zusammenarbeit mit Einar Schleef 193


1977 1979

„Poesiealbum“ im Verlag Neues Leben: konzipiert – und verboten

Beginn der Theaterarbeit in der BRD, Stuttgart, Bochum

1981

Fristlose Entlassung am Schauspiel Frankfurt/Main

bis 1989

Inszenierungen am Bayerischen Staatsschauspiel München, in Hamburg, Köln, Leipzig, Ostberlin (Volksbühne)

1982

1985 1987

1989

1990

Uraufführung „Quartett“ von Heiner Müller am Schauspiel Bochum

Auf Initiative des Intendanten Gerhard Wolf noch einmal eine Inszenierung in der DDR: „Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller Schauspieldirektor in Düsseldorf Rückkehr nach Ostberlin

Regie „Germania Tod in Berlin“ von Heiner Müller an der Freien Volksbühne Berlin, Premiere am 3. Oktober Fritz-Kortner-Preis gemeinsam mit Einar Schleef

1991

Mitglied des P.E.N.-Clubs

1997

Regie „Leben des Galilei“ am Berliner Ensemble, zum 100. Geburtstag Brechts, Titelrolle Sepp Bierbichler

ab 1992 1997/98

1998

2007

194

Inszenierungen in Berlin, Basel und Hamburg

Amtierender Präsident des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost

Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste Dresden

Regie „Das letzte Band“ von Samuel Beckett, Schinkelkirche Neuhardenberg, mit Sepp Bierbichler


Literaturverzeichnis

Werke von B. K. Tragelehn

NÖSPL, Gedichte 1956-1986, Frankfurt/Main 1982 Die Geschichte der Reise (mit Hartwig Ebersbach), Berlin 1999 Neue Xenien, Epigramme 1959-1999, Frankfurt/Main Das andere Ende der Geschichte, Gedichte, Aschersleben 2001 Alt-englisches Theater (Hrsg.), Frankfurt/Main 2002 Roter Stern in den Wolken, Schriften, Berlin 2006 Der fröhliche Sisyphos, Schriften zur Übersetzung, Berlin 2011 Der Resozismus im Abendlicht, Gespräch mit Holger Teschke, Jena 2014 Chorfantasie, Berlin 2015 13 x Heiner Müller, Berlin 2016 Die Aufgabe, Theaterstück, Jena 2016 Poesiealbum 333, Wilhelmshorst 2017 Roter Stern in den Wolken, Schriften 2, Berlin 2019 NÖSPL, Doppelgänger, Das andere Ende, Neue Xenien (Das lyrische Werk in 3 Bänden), Berlin 2021

195


196


B. K. Tragelehn

ZUGABE Was erlebt wurde, ist Stoff, und wird von der Sprache verbrannt. Im Licht des Feuers, und in der Hitze des Feuers erreicht uns die Erfahrung.

links: B.K. Tragelehn mit Bronze-Büste, die ihn als jungen Mann zeigt.

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DIE GESCHICHTE DER REISE für Klaus Heinrich

Der rote Stern in den Wolken, der wandert Und zeigt, wo die Reise hingeht, ein langer Marsch Nur zu wirklich, Sand, Schnee, Sumpf, Sonne, Sturm. Die Kontrollen. Die Müdigkeiten. Unfreiwillige Aufenthalte, Umwege Der Hunger und der Regen. Und ohne Ermüdung läuft die Zeit mit und zählt Die ersten, die letzten Am Rande. Das ist alles so gewesen. Und auch eine Ankunft hat es gegeben. Der Stern genau über uns. Eine Minute taghell. Grüner Das Gras und der Himmel blauer. Nie mehr Nacht.

Ich war dabei.Und ich.Und ich. Der Augenzeuge Mit den verwackelten Bildern im wackelnden Kopf. Im Gedächtnis die Narbe beginnt zu bluten, wenn Die zittrige Hand das Kalenderblatt wendet: Fotos Junge Vögel im Nest, die Hälse Lang, die Schnäbel Auf Oder der kahle Boden, den Schneeglocken sprengen und Blühn Oder ein Stern Genau über uns. Eine Minute taghell. Grüner Das Gras und der Himmel blauer.

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Ich war nicht gut zu Fuß, immer hinter Den andern, der letzte an jeder Station. Aufgeben wollte ich zweimal und beidemal Hab ich es nicht getan. Die nassen Schuhe Blasen auf den Fersen, Sand in den Strümpfen Das zählt nicht. Ob ich noch einmal losginge? Wenn ich jünger wär. Der Stern genau über uns. Eine Minute taghell. Grüner Das Gras und der Himmel blauer.

Ich war gut zu Fuß als ich jung war Ein Langstreckenläufer, prädestiniert. Allerdings diese Distanz Wurde länger beim Laufen, irgendwann ging Es nicht mehr darum zu siegen, nur noch darum Wer übrigbleibt. Zum Geburtstag, sieh her Bekam ich einen Stern geschenkt aus Papier Darauf steht: Wer hats länger gemacht? Das freut einen dann.

Stand der Stern über uns? Sind das nicht Spottnamen Könige? Weise? Der Stern Zinnober Bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer? Der Mensch bald in der Gestalt bald in jener? Das Land bald mit Früchten bedeckt am längsten Tag Und bald mit Schnee und mit Eis? Oder ein Wort Bald dem beigelegt bald jenem? Bald so bald anders benannt Dasselbe, dasselbe, dasselbe Was heißt schon Erfahrung? Wir hatten zuviel. Opfer Opfer Opfer Eine Minute taghell? Grüner Das Gras und der Himmel blauer? Wieder wieder wieder 199


Erstickt der Sturm das Feuer das er doch entfacht hat Eh es verzehrt Was tot ist und vergiftet Was lebt.

Das ist alles lange her. Ich erinnere mich gut. Und ich würde alles wieder tun. Aber schreib Das schreib Das: Hat uns der ganze lange Weg geführt Zu Geburt oder Tod? Da war eine Geburt, ja, sicher Wir hatten Gewißheit und keinen Zweifel. Ich hatte Geburten gesehen und Tode, aber gedacht Sie wären verschieden. Diese Geburt War eine schwere und bittere Quälerei für uns Wie ein Tod, unser Tod. Wir sind zurückgekehrt an unseren Platz Aber nicht mehr zufrieden da, in der alten Ordnung Mit Fremden um uns, die den Schein anbeten Opfer Opfer Opfer Ich hätte gerne einen andern Tod.

Eine Minute taghell. Grüner Das Gras und der Himmel blauer. Der Stern.

Kommentar zur Geschichte der Reise Es sprach der Hosenknopf des Trampeltieres: Marx Ist tot und Jesus lebt. Das Leben aber sprach: Ich bin ein Traum. Und Marx ist Jesus Jesus Marx. Der Tod hingegen sprach: Ich bin der Antichrist. Der Antichrist wird uns regieren wie schon immer In Christi Namen. Aber nicht in Ewigkeit. Amen. (1997)

200


DAS ANDERE ENDE DER GESCHICHTE Alles hat ein Ende Nur die Wurst hat zwei

Die eine Straße, schnurgerade endlos Von Nirgendwo nach Nirgendwo. Die andre Die eine kreuzend, schnurgerade endlos Von Nirgendwo nach Nirgendwo. Die Kreuzung Fraglos der Ort, die Zeit die Frage. Warten Was tritt wann wem entgegen In Blitz und Donner und Regen.

Blitz Donner brennt rollt Regen wäscht Ab von der Erde unser täglich Blut Und regnet jeden Tag geduldig auf Die ungeduldig warten jeden Tag. Der Engel ist ein Flugzeug und speit Gift Bis der Wirrwarr schweigt Kein Sieger mehr sich zeigt.

Immer muß etwas gehen, damit etwas kommt Doch einmal geht etwas und es kommt nichts Im Nichts ich, Fisch, der zappelt stirbt und stinkt. Und keine Nase mehr für den Geruch Was bleibt für keinen Leser ist dies Buch. (1997)

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JÜNGSTE ERSCHEINUNG DES ENGELS DER GESCHICHTE In memoriam Ulrike Meinhof

Frei schwebend Flügellos atemlos An einem Strick In einer Zelle In Deutschland In einer Zelle An einem Strick Atemlos flügellos Schwebend Frei (1976)

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BEIM ABSCHIED ZU SINGEN Wenn ich tot bin, seid so gut Singt mir nicht Lieder nach Pflanzt mir nicht Blumen auf den Kopf Ich brauch auch kein Baumschattendach: Es deckt mich zu das grüne Gras Und Erde, es bleibt kein Rest Und wenn ihr wollt, dann denkt an mich Und wenn ihr nicht wollt, vergesst.

Ich sehe nicht Licht und nicht Schatten Ich fühle nicht den Regenfall Ich schmecke nicht das frische Brot Ich hör nicht eurer Stimmen Schall: Träumend in dem Zwielicht Das ich nie ermess Vielleicht, dass ich an euch denke Vielleicht, dass ich euch vergess. (1991)

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Ich danke H.-D. Schütt für die gründliche Vorbereitung, die hartnäckigen Fragen, die sorgfältige Dramaturgie und die Geduld bei Ergänzungen und Korrekturen. Wie viel Interesse an einer Lebensgeschichte!

B. K. Tragelehn

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Hans-Dieter Schütt B. K. Tragelehn Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. © 2023 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de

Layout, Satz + Bildbearbeitung: mahlke.one

Abbildungen: Titel: © Dietmar Gust S. 6: © Privatarchiv B. K. Tragelehn S. 44: © Akademie der Künste, B. K. Tragelehn-Archiv, Foto-Archiv 0220_005, Christian Kraushaar S. 110: © David Baltzer S. 122: © Akademie der Künste, Bertolt-Brecht-Archiv, Foto-Archiv 11/163, Gerda Goedhart © Suhrkamp Verlag S. 196: © Günter Ludwig

Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-469-6 (Paperback) ISBN 978-3-95749-479-5 (ePDF) ISBN 978-3-95749-480-1 (EPUB)


Hans-Dieter Schütt, Jahrgang 1948, Journalist und Publizist, ist Autor von Gesprächsbüchern u. a. mit Dieter Mann, Frank Castorf, Ekkehard Schall, Gert Voss, Ursula Karusseit, Andreas Dresen, Robert Menasse, Claus Peymann, Alfred Hrdlicka. Er schrieb Biografien über Regine Hildebrandt, Kurt Böwe und Günter Gaus. Herausgeber von Heiner Müller – Bilder eines Lebens und aufBruch – Porträt des Berliner Gefängnistheaters. Dokumentarfilme (mit Ulrich H. Kasten): Die Langhoffs und Der eiserne Vorhang – Theater in Berlin. Im Verlag Theater der Zeit erschienen Michael Thalheimer – Porträt eines Regisseurs, Christian Grashof – Kam, sah und stolperte sowie PETRAS backstage und HÜBNER backstage.


Dieser urbane Spötter … Reflexhafte Angleichung an Tragelehn machte ich mir bewusst zunutze, als ich in einem Film den armen B. B. mimen sollte, seinen Meister von einst, der ihm einfach weggestorben war, und er sich von ihm nicht mehr rechtzeitig abnabeln konnte. Ich machte nicht spekulativ den Brecht nach, nein, ich dachte einfach an B. K. – und die Figur des B. B. kam mit mir und ich mit ihr einigermaßen erträglich davon. Josef Bierbichler

Mit starker Stimme gibt er auf Podien aller Art Auskunft über Lehren und Erfahrungen eines Lebens von weitreichender Produktivität … Aus dem schmalen Jüngling mit der Neugier und Konzentriertheit eines Klosterschülers ist eine leibliche Erscheinung geworden, die man sich gern in jenes China versetzt denkt, an dessen Grenze Laotse sich seine Weisheit abfragen ließ. Friedrich Dieckmann


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