Theater der Zeit – 02/2020

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Thema: Theater im Anthropozän / Das palästinensische El-Hakawati-Theater / Jürgen Flimm über Harry Kupfer Neustarts Schweiz: Schauspielhaus Zürich und Theater Neumarkt / Kunstinsert: Adriana Braga Peretzki

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Februar 2020 • Heft Nr. 2

Cordelia Wege Schöpferisches Risiko


Svalbard © Jakub Jelen

28. Mai – 01. Juni

2020

ZAK Zirkus- & Artistikzentrum Köln

circus-dance-festival.de

Die Oberbürgermeisterin Kulturamt


editorial

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M

eghalayum, liebe Leserinnen und Leser! Was wie eine indische Begrüßungsformel klingt, ist tatsächlich das geologische Zeitalter, in dem wir seit 4250 Jahren leben, eine Unterkategorie des ­Holozäns. Wurde vor zwei Jahren so festgelegt. Benannt nach einem Tropfstein im indischen Bundesstaat Meghalaya (also doch!). Woher kommt dann aber die Behauptung, wir lebten im Anthropozän? Dem Inbegriff eines Zeitalters, in dem der Mensch zu einer Naturgewalt mit so massivem geophysikalischem Einfluss geworden ist, dass er sich für immer in die Erde einschreibt? Weil die Auswirkungen in unserer Ökosphäre immer offensichtlicher werden: der Raubbau an Naturressourcen, die Veränderungen unseres Klimas, die Ausrottung von Spezies etc. Alles in planetarischem Ausmaß. Seit der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen den Begriff Anthropozän im Jahr 2000 in die Welt gesetzt hat, ist er vor allem zu einer negativen Metapher geworden, Ausdruck für die Zerstörung der Umwelt und die Bedrohung des Lebens auf der Erde. Weltweit setzen sich Wissenschaftler für die begriffliche Anerkennung des neuen Zeitalters ein. Das Theater im Anthropozän heißt unser Themenschwerpunkt – und entlehnt seinen Titel einem von der Naturwissenschaftlerin Antje Boetius und dem Dramaturgen Frank Raddatz neu gegründeten Theater, das unter der Schirmherrschaft der Humboldt-Universität zu Berlin ab dem Frühjahr 2020 mit Kulturlaboren, Inszenierungen, in transdisziplinären Initiativen und Diskursen zu einer global ver­ netzten Plattform entwickelt werden soll. In einem Gespräch mit Dorte Lena Eilers erklärt uns Antje Boetius den Impuls für diesen konzeptionellen Kurzschluss von Kunst und Wissenschaft: „Da ist die Erkenntnis, dass wir alle in einem planetaren Theater feststecken, in dem wir Menschen Akteure sind wie auch Zuschauer eines dramatischen Schauspiels von der menschlichen Hybris – des Anthropozäns.“ Frank Raddatz hat für dieses Projekt kein Manifest, aber 13 Thesen verfasst, die wir hier abdrucken. Auch wenn Ralph Hammerthaler in seiner Kolumne feststellt, dass der Diskurs-Pogo ums Klima in den Theatern schon heftig getanzt wird: in den letzten Jahren haben sich die Theater nur vereinzelt der Thematik angenommen. Die Potsdamer Dramaturgin Natalie Driemeyer hat den Klimawandel seit 2011 zu ihrem Thema gemacht und fordert, dass er nicht nur auf den Bühnen, sondern auch in Bezug auf die Arbeitsweisen und Strukturen der Theater verhandelt werden muss. Zwei andere viel diskutierte Strukturfragen an Theatern hat die Stadt Zürich schon mal sehr gekonnt für sich gelöst: die Beschränkung der Machtfülle stark hierarchischer Intendanzen und Geschlechtergerechtigkeit. Indem sie mit Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg ein IntendanzDuo am Schauspielhaus Zürich sowie am Theater Neumarkt mit Julia Reichert, Hayat Erdoğan und Tine Milz ein weibliches Leitungstrio berief. Christoph Leibold und Dominique Spirgi stellen die ersten Produktionen dieser Neustarts vor. Auch für Kostümbildnerinnen und Kostümbildner resultiert die mangelnde Anerkennung ­ihrer Kunst innerhalb der Theater(produktionen) letztendlich aus den Arbeitsstrukturen, die sie ­benachteiligen. Wie, das beschreibt die Kostümbildnerin Katharina Kromminga, die den Stellenwert ihres Berufsstands wissenschaftlich untersucht hat. Zudem beklagt sie nicht nur einen Gender Pay Gap, sondern auch die mangelnde Wahrnehmung durch die Fachöffentlichkeit. Also durch uns ­Theaterkritikerinnen und -kritiker. In dieser TdZ-Ausgabe wird das nicht so sein: In unserem Künstlerinsert stellen wir mit Adriana Braga Peretzki eine der herausragendsten Kostümbildnerinnen im deutschen Theater vor, deren Entwürfe auf glamouröse und poetische Weise das Leben und den Tod feiern. Ihre Kostüme prägen unverwechselbar die Inszenierungen Frank Castorfs und Sebastian Hartmanns. In dem von ihr ausgestatteten „Lear“ Hartmanns am Deutschen Theater in Berlin k ­ onnte man unter anderem Cordelia Wege in einem wahnwitzigen, vierzigminütigen Monolog erleben, der einen Kritikerkollegen zu der Behauptung hinriss, dass dieser Theatergeschichte schreiben werde. Gunnar Decker stellt sie hier in einem Porträt vor, als eine Schauspielerin, die sich gegen das Funk­ tionieren wehrt und im Spiel eher das Risiko nah am Scheitern sucht. Ein Wagnis stellt zweifelsohne auch die Gründung eines palästinensischen Nationaltheaters in einer so symbolisch umkämpften Stadt wie Jerusalem dar. François Abu Salem ging dieses vor 35 Jahren im Ostteil der Stadt ein. Und sein Theater steht und spielt noch heute, das El Hakawati. Unsere Autorin Renate Klett besuchte ein Festival zu Ehren des mittlerweile verstorbenen Gründers. Und auch hier galt es Ende 2019 Abschied von einem großen Theatermann zu nehmen: von Harry Kupfer, einem der wichtigsten und prägendsten Opernregisseure Deutschlands. Der ehemalige Intendant der Staatsoper Unter den Linden in Berlin Jürgen Flimm schaut zurück auf Begegnungen und Inszenierungen. // Die Redaktion

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Inhalt Februar 2020 thema theater im anthropozän 10

kolumne

künstlerinsert

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Frank Raddatz Statt eines Manifests! 13 Thesen für das THEATER DES ANTHROPOZÄN

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Planetares Theater Die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven Antje Boetius über das Theater des Anthropozän und einen neuen Vertrag zwischen Mensch und Natur im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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Natalie Driemeyer Schauen wir noch oder handeln wir schon? Wie die Theater sich zum anthropogenen Klimawandel ins Verhältnis setzen

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Ralph Hammerthaler Ist Grönland noch zu haben? Klimawandel: Aufforderung zum Diskurs-Pogo

4

Kostüme von Adriana Braga Peretzki

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Dorte Lena Eilers Vorsicht Vogel Glamourös, poetisch, dämonisch – Kostüme von Adriana Braga Peretzki

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Gunnar Decker Mysterien des Spiels Die Schauspielerin Cordelia Wege will lieber scheitern als funktionieren

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Katharina Kromminga Kunst und Kostüm Unterschätzt und unter Wert honoriert – Unser Blick auf das Kostümbild als Kunstform bedarf einer Revision

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Christoph Leibold Antikapitalistische Spiegelungen Das neue Intendantenduo des Schauspielhauses Zürich Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg verpacken Gesellschaftskritik geschickt zwischen Märchen und Musical

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Dominique Spirgi In und aus der Reihe tanzen Das neue Leiterinnenkollektiv Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert erklären das Theater Neumarkt in Zürich zur experimentellen Spielwiese – präsentieren unterm Strich aber Stadttheater im Kleinformat

ausland

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Renate Klett Schwere leichte Welt Das Palästinensische Nationaltheater El Hakawati in Ost-Jerusalem feiert mit einem Festival sein 35-jähriges Bestehen und gedenkt seines Gründers François Abu Salem

abschied

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Jürgen Flimm Für immer mit Harry In Gedenken an den großen Opernregisseur Harry Kupfer

look out

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Shirin Sojitrawalla Engelhaft und erdverbunden Die Mainzer Schauspielerin Gesa Geue trumpft mit natürlicher Präsenz und Geradeheraus-Spiel auf

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Margarete Affenzeller Spielen bis zur Meditation Die Grazer Schauspielerin Julia Gräfner sucht und findet die Ruhe in der Darstellung

protagonisten 36


inhalt

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auftritt

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Augsburg „Bovary, ein Fall von Schwärmerei“ (DSE) von Ivana Sajko in der Regie von Nicole Schneiderbauer (Sabine Leucht) Bern „Fifa – Glaube, Liebe, Korruption“ von Christoph Frick & Ensemble in der Regie von Christoph Frick (Simone von Büren) Düsseldorf „Henry VI & Margaretha di Napoli“ nach William Shakespeare von Tom Lanoye in der Regie von David Bösch (Martin Krumbholz) Göttingen „geteilt“ (UA) von Maria Milisavljevic in der Regie von Moritz Beichl (Lina Wölfel) München „The Vacuum Cleaner“ (UA) von Toshiki Okada in der Regie von Toshiki Okada (Christoph Leibold) Münster „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nach Édouard Louis in der Regie von Michael Letmathe (Sascha Westphal) Ulm „Sprachlos die Katastrophe im Bereich der Liebe“ (UA) von ­Henriette Dushe in der Regie von Jessica Sonia Cremer (Sabine Leucht) Weimar „Lanzelot“ von Paul Dessau, Heiner Müller und Ginka Tscholakowa in der Regie von Peter Konwitschny (Jakob Hayner) Zürich „Ich muss Deutschland“ (UA) von Catalin Dorian Florescu in der Regie von Ursina Greuel (Elisabeth Feller)

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Vergangenheit ist eine Erfahrung der Andersheit Thiemo Strutzenberger über sein Stück „Die Wiederauferstehung der Vögel“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

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Thiemo Strutzenberger Die Wiederauferstehung der Vögel

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We all! Julia Haenni über ihr Stück „frau verschwindet (versionen)“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

70

Julia Haenni frau verschwindet (versionen)

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Die schreckliche Angst vor dem Alter Sarah Jane Moloney über ihr Stück „Sapphox“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

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Sarah Jane Moloney Sapphox

98

Das Phantasma zeitloser Werke Der Film „Cunningham“ von Alla Kovgan über den US-amerikanischen Tänzer und Choreografen will Kunstfilm und Archiv zugleich sein – was nicht immer gelingt Dresdens erstes Off-Theater ist weiterhin in Das noch in der DDR-Agonie entstandene Projekttheater wird im Februar dreißig Jahre alt Die Kunst, ein Produktionshaus zu etablieren Warum Pirkko Husemann, Künstlerische Leiterin der Schwankhalle Bremen, nach nur fünf Jahren das Haus verlässt Geschichten vom Herrn H. Danke, Merkel! Die zwanziger Jahre Bücher Michael Caine, Sarah Kirsch / Christa Wolf, Andrej Platonow

46

stück labor – neue schweizer dramatik

magazin 98

aktuell

was macht das theater?

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Meldungen

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Premieren im Februar 2020

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Lisa Jopt im Gespräch mit Paula Perschke 112

Titelfoto: Cordelia Wege. Foto Ben Wolf

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Kostüme von Adriana Braga Peretzki zu „Aus einem Totenhaus“ (links, Regie Frank Castorf, Bayerische Staatsoper, München 2018), „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ (rechts, Regie Frank Castorf, Schauspiel Köln, 2020), „Hunger. Peer Gynt“ (Seite 6, Regie Sebastian Hartmann, Deutsches Theater, Berlin 2018) und „Rose Bernd“ (Seite 7, Regie Karin Henkel, Salzburger Festspiele / Schauspielhaus Hamburg 2017). Fotos Wilfried Hösl / Thomas Aurin / Arno Declair / Lalo Jodlbauer





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künstlerinsert

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Vorsicht Vogel Glamourös, poetisch, dämonisch – Kostüme von Adriana Braga Peretzki

von Dorte Lena Eilers

A

m Ende ist alles schwarz und weiß. Die aseptische Blässe von Krankenhausbetten und sterilen Nachthemden geht nahtlos über in die Uniformität schwarzer Anzüge und Kleider. Der Tod trägt die Farbe des Nichts. Zumindest hier in Europa. Umso seltsamer wirkt die Gruppe aus acht Personen, die sich zu Beginn von Sebastian Hartmanns „Lear / Die Politiker“ am Deutschen Theater in Berlin am rechten Bühnenrand versammelt hat. Mit ihren bunten Masken und eigenwillig geformten Kopfbedeckungen wirken sie in ihren bodenlangen, schillernden Gewändern wie just einem okkulten Karnevalsfest entsprungen. Doch was gibt es hier zu feiern? Tatsächlich den Tod. Die Sterblichkeit. Dies ruinierte Stück Natur. So deklamiert es, in Erwartung des Ablebens eines alten Mannes, in scharfem Ton der achtstimmige Chor. Armes, farbloses Europa. Seine Eintönigkeit, so sieht es die Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki, ist Ausdruck eines Verlustes, einer Trennung von Körper und Geist, Leben und Tod, Mensch und Natur. Wer meint, wenigstens einmal im Jahr im Karneval mit seiner Explosion aus Farben und Körpern alle Grenzen zu verwischen, begnügt sich lediglich mit den verkümmerten Resten dieses Phänomens. Für die gebürtige Brasilianerin hat der Karneval in seiner ursprünglichen Bedeutung eine spirituelle ­Dimension. Das lateinische „carne vale“ heißt übersetzt „Fleisch, lebe wohl“. Es ist eine Feier der Fleischeslust, aber auch ein Abschied vom Fleisch. „Der Karneval“, sagt Adriana Braga Peretzki, „wurzelt ebenso in der europäischen Kultur.“ Nach christlichem Glauben beginnt nach Aschermittwoch die vierzigtägige Fastenzeit – angelehnt an die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste verbrachte, während er den Verlockungen des Teufels widerstand. Insofern stellen ihre Kostüme zu Beginn des „Lear“ eine irisierende Assemblage aus afrikanischen, europäischen und lateinamerikanischen Einflüssen dar. Der mexikanische „Día de Muertos“ zeigt mit seinen knallbunten Masken das Nebeneinander von Leben und Tod ganz unmittelbar. In Konfrontation mit Shakespeares „Lear“, den steifen Halskrausen und puritanischen Rüschen der elisabethanischen Epoche, die im weiteren Verlauf des Stücks die Kostüme bestimmen, ergibt dies einen doppelten Schmerz. Hier geht nicht nur ein Menschenleben verloren, sondern auch eine Weltbetrachtung, die zwischen Seele und Körper, Diesseits und Jenseits eine Verbindung schafft.

Diese Dualität ist Adriana Braga Peretzki wichtig. Wer dafür blind ist, missversteht ihre Entwürfe kolossal. Seit 2009 arbeitet die 48-Jährige regelmäßig mit Frank Castorf zusammen. Legendär vor allem ihre Kostüme für Frauen: atemberaubende High Heels, eng anliegende Kleider, Dekolletés mit tiefem Ansatz, umspielt von Federn, Glitzer, Glamour. Was für ein Auftritt! Was für eine Kraft! „Viele indes“, sagt Adriana Braga Peretzki und zitiert damit ein gängiges Klischee, „halten meine Kostüme für sexistisch. Aber ich liebe meine Frauen. Über alles!“ Sie könne sieben Männer nackt auf die Bühne stellen, ohne dass irgendein Kritiker darüber schriebe. „Zeige ich eine Frau im kurzen Rock, heißt es wieder, ich habe eine Sünde begangen.“ Was für ein Irrtum. Wer nicht sieht, wie diese Frauen – Lilith Stangenberg, Jean Balibar, Thelma Buabeng, Valery Tscheplanowa, Stefanie Reins­ perger – stolz, schön, schnippisch, kerlig auf der Bühne stehen, bleibt an der Oberfläche kleben. „Frauen haben genauso tragende Rollen wie Männer in Castorfs Theater“, sagt Adriana Braga ­Peretzki. „Sie sprechen Texte, die einem nur so um die Ohren fliegen. Meine Kostüme sollen sie dabei unterstützen. Empodera-tu!“ In Brasilien zeige sich Frauenpower eben auch über Sexualität. „Pah! Da sind wir! Die wollen was vom Leben. Das ist mein Motto. Nicht Frauen zu sexualisieren.“ Dieses Denken, so paradox es für manche auch erscheinen mag, ist ein wütender Gegenentwurf zu männlich diktierten Frauenbildern aus der Mode-, Werbe- und Sexindustrie. Denn diese gieren nach Frauen nach Maß. Nach uniformer Schönheit. Nach Püppchen. Adriana Braga Peretzki spricht viel von Respekt, wenn sie davon berichtet, was es für sie heißt, einen Menschen einzukleiden. Sie will Würde verleihen, denn das sei es, was man auf der Bühne – und im Leben – brauche. Würde und Selbstvertrauen, um ganz lässig derjenige sein zu können, der man ist. Darin liegt die wahre Schönheit des Menschen. Der normative Druck jedoch ist stark. In Bayreuth, wo Peretzki für Castorfs „Ring“ die Kostüme entwarf – in halsbrecherischen vier Wochen, was hieß: eine Woche pro Oper – gab es fast einen handfesten Streit. Einige Sängerinnen, erzählt Peretzki, weigerten sich, ihre körperbetonten Kleider zu tragen. Nicht wegen der Kleider, nicht wegen ihrer Körper, sondern wegen des Geredes der anderen. „Ich hasse das!“, sagt Adriana Braga Peretzki. „Ich hasse es, wen jemand über eine Frau sagt, sie sei dick. Ich hasse es, wenn ein Mensch über den anderen so spricht. Das ist Körperbashing.“ Die großstädtische Subkultur sei da wie immer viel weiter. Seit einigen Jahren werden in Clubs ­sexpositive Partys angeboten. Der Begriff „sex­positiv“ wurde von


adriana braga peretzki

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Feministinnen in den achtziger Jahren etabliert, die zur Sexualität andere als rein männliche, hetero-normative Bilder beisteuern wollten. „Bei solchen Partys“, sagt Peretzki, „geht es darum, positiv zu sein mit seinem Körper. Da werden Körper wiederentdeckt. Das finde ich super! Endlich organisieren sich Menschen anders, als blind der Diktatur des Mannes über die Frau zu folgen. In der europäischen Gesellschaft ist das Dünnsein mitunter ein regelrechter Zwang. Es begleitet einen ein Leben lang. Ich aber will, wenn ein Mann am Tisch ein Steak bestellt, auch ein Steak. Ich will keinen Salat. Wir wollen sein, wie wir sind. Wenn wir im ­Theater und in der Oper nicht zeigen, was wir sind, nämlich Menschen, hat man sowieso verloren.“ Und tatsächlich, die Mission Bayreuth gelang. Selten sah man Sängerinnen und Sänger derart leger auf der Bühne stehen. „Der Ring“ setzte aber auch noch eine weitere künstlerische Bewegung in der Zusammenarbeit von Adriana Braga Peretzki und Frank Castorf in Gang. Wie so oft entstanden aus dem Zufall. Bei Frank, sagt Peretzki, gebe es keine Ansagen. Die Ansage sei: Mach mal. So entwarf sie auch ein grandioses Kostüm für die Figur des Waldvogels im „Siegfried“, bis ihre Assistentin sie darauf hinwies, dass dieser doch lediglich von der Seitenbühne singe. Aus Trotz habe sie gesagt: Nein, mein Waldvogel singt auf der Bühne. Und so geschah es: der erste Waldvogel auf Bayreuths Bühne. Schillernd. Mit riesigen Schwingen. Zwanzig Kilo Gewicht. Seitdem tauchten vogelartige Gestalten in Castorfs Inszenierungen immer wieder auf. Am Münchner Residenztheater ist es Valery Tscheplanowa, die als Schwarze Witwe in „Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg“ nach Jaroslav Hašek riesige Flügel trägt. Die dämonisch Variante findet sich in Castorfs „Faust“, wenn Mephisto (Marc Hosemann) mit den Schwingen eines Raben auftritt. Federico Garcia Lorca beschrieb in „Juego y teoría del duende“ den Ursprung künstlerischen Ausdrucks: Es bedürfe für diese dunkle, mysteriöse Kraft, die jeder fühlt, aber niemand erklären kann, des duende, nur unzureichend mit Elf oder Kobold übersetzt. Für diesen Zustand schafft Adriana Braga Peretzki die Kostüme. Leiser, dabei nicht weniger enigmatisch sind ihre Kostüme für die Inszenierungen von Sebastian Hartmann, mit dem sie ebenfalls seit Jahren kollaboriert. Bei ihm, sagt sie, komme eine Art Romantik hinzu. Sie arbeite daher abstrakter. Meist gebe es keine Rollen. Die Kostüme würden daher keinen Charakteren entsprechen, sondern Zuständen. In „Krieg und Frieden“ und „Erniedrigte und Beleidigte“, den beiden 2013 und 2019 zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen, zitieren Anzüge, Kleider und Kopfbedeckungen die jeweilige Mode der Zeit. Frauen und Männer wirken hier eher wie Prinzipien, ihre Kleidung – Frauen in wehendem Weiß, Männer in grobem Schwarz – wie geschlechtsnormierte Uniformen, die in späteren Hartmann-­ Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin ein verstörendes ­Eigenleben führen. Männerhüte erscheinen in serieller Masse auf der Bühne, Rüschen wachsen sich zu ganzen Kleidern aus, Blumenmuster umhüllen Personen von Kopf bis Fuß, Muster graben sich bis unter die Haut. In „Hunger. Peer Gynt“ nach Knut Hamsun und Henrik Ibsen (Deutsches Theater 2018) werden unter den feinen Stoffen nach und nach martialische Tätowierungen sichtbar. In „Rose Bernd“ in der Regie von Karin Henkel (Salzburger Fest-

Adriana Braga Peretzki, geboren 1971 in Rio de Janeiro, schloss 2003 ihr Studium in Kostümdesign an der Hochschule für Angewandte Kunst in Hamburg ab. Sie arbeitete u. a. an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, am Schauspielhaus Zürich, am Centraltheater in Leipzig, am Berliner Ensemble, am Staatsschauspiel Dresden und am Residenztheater in München sowie an verschiedenen Opernhäusern und bei den Bayreuther Festspielen. Seit 2009 entwirft sie regelmäßig die Kostüme für Inszenierungen von Frank Castorf (zuletzt u. a. bei „Faust“ an der Volksbühne, „Les Misérables“ und „Galileo Galilei“ am Berliner Ensemble oder „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ am Schauspiel Köln). Ebenso verbindet sie eine lange Zusammenarbeit mit Sebastian Hartmann (u. a. „Krieg und Frieden“ am Centraltheater Leipzig, „Erniedrigte und Beleidigte“ am Staatsschauspiel Dresden, „Lear / Die Politiker“ am Deutschen Theater). Ab dem 28. März sind ihre Arbeiten in „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ in der Regie von Frank ­Castorf am Berliner Ensemble zu sehen. Foto Wilfried Hösl

spiele / Schauspielhaus Hamburg 2017) wuchert Lina Beckmann ihr wild gemustertes Kleid zu einer grotesken Frauenmaske ins Gesicht, surreal, bedrohlich, als würde der innere Kampf gegen äußere Zwänge an die Oberfläche drängen. Die Durchlässigkeit von Zeiten und Zuständen bildet den inneren Kern von Adriana Braga Peretzkis Arbeiten. Statt als Teil der kapitalistischen Maschine zu funktionieren, geht es ihr darum, wieder ein Gespür für die Gesamtheit zu erlangen. „Wir haben nicht nur den Kontakt zur Seele verloren“, sagt sie, „wir sind auch kein Blatt mehr an einem Baum. Wir laufen immer nur geradeaus.“ „So“, heißt es im „Lear“, „wird die große Welt zunichte.“ // Siehe auch der Artikel „Kunst und Kostüm“ von Katharina Kromminga ab Seite 28 in diesem Heft.

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Theater im Anthropozän / 10 /


theater im anthropozän

Die spürbaren Folgen des Klimawandels sowie des Raubbaus an der Natur machen die Zukunft des Menschen vor allem zu einer geo-sozialen Frage. Gerade weil das Anthropozän offiziell noch nicht angebrochen ist, ergibt sich die Chance, dieses Zeitalter positiv zu gestalten, indem wir die Parameter menschlichen Handelns und Einwirkens auf die Natur neu, im Sinne einer Koexistenz definieren. Welche Rolle bei diesem Kulturwandel auch dem Theater zukommt, das formuliert Dramaturg Frank Raddatz in seinen hier abgedruckten Thesen für das von ihm und der Naturwissenschaft­ lerin Antje Boetius gegründete Theater des Anthropozän. In einem Gespräch mahnt Boetius, dass für den Sinneswandel vor allem Veränderungswillen und große Konzepte notwendig sind. Vielleicht auch künstlerische? Die Potsdamer Dramaturgin Natalie Driemeyer skizziert für uns ihre Erfahrungen und Visionen für ein auch nachhaltiges Theater. Und Ralph Hammerthaler schreibt in seiner Kolumne über den DiskursPogo zum Klimawandel.

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thema

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Statt eines Manifests! 13 Thesen für das THEATER DES ANTHROPOZÄN

II

von Frank Raddatz

D

as Theater des Anthropozän ist ein Konzept und interdisziplinäres Projekt des Dramaturgen und Theatertheoretikers Frank Raddatz und der Naturwissenschaftlerin Antje Boetius. Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Akteure der Zivilgesellschaft sollen in Projekten des Theater des Anthropozän zusammenkommen, um sich den Herausforderungen zu widmen, die der rasante Klimawandel, der Schwund von Arten und Lebensräumen, die Verschwendung von Ressourcen und die dadurch entstehenden Be­ drohungen für Mensch und Natur zeitigen. Schirmherrin ist die Humboldt-Universität zu Berlin mit ihrer vielfältigen Kompetenz in Kulturtechniken. Ab Frühjahr 2020 sollen die Projekte des Theaters in Form von Kulturlaboren, Inszenierungen, in transdisziplinären Initiativen, Lesungen und flankierenden Diskursen zu einer global vernetzten, ästhetischen und wissenschaftlichen Plattform entwickelt werden. Die Fragilität unserer Ökosphäre und die Konsequenzen unseres Handelns sollen hier nicht nur reflektiert, sondern anhand praktischer Projekte auf verschiedensten diskursiven wie ästhetischen Ebenen erfahrbar gemacht werden. Ausgangspunkt ist ein Humboldt’sches Verständnis einer naturverbundenen, systemischen und empathischen Wissenschaft. Frank Raddatz formuliert 13 Thesen zum Ursprung und Ziel des Prozesses, die wir hier abdrucken.

I Mit der Faustformel LOKALE AKTIVITÄTEN RUFEN GLOBALE WIRKUNGEN HERVOR! differenziert Michel Serres das an­ brechende Klimaregime von seinen Vorgängern. Die Kopulation von Geschichte und Geologie nimmt im oder mit dem Anthropozän planetarische Ausmaße an. Die Kreuzung von Menschenund Naturgeschichte bringt nicht nur die meteorologischen Parameter in Bewegung, sondern lässt uns zugleich wieder ­ ­AKTEURE DER GESCHICHTE (Michel Serres) werden. Hatte sich das Konzept HISTOIRE Ende des 20. Jahrhunderts verbraucht, entzündet das sich verändernde atmosphärische Gemisch THE CLIMATE OF HISTORY (Dipesh Chakrabarty) dessen abgesoffenen Motor erneut und kommt – so Bruno ­ Latour – GESCHICHTE WIEDER IN GANG. Anstelle eines ­ ­Telos ist dieses Menschheitsprojekt nur mit einem Zielhorizont und einer Handvoll Maximen ausgestattet.

Was als Dystopie verstört – DIE ERSTE GESTALT DES NEUEN IST DER SCHRECKEN (HEINER MÜLLER) –, eröffnet zugleich Fluchten unausgeloteter Möglichkeitsräume. Genauso real wie die Bedrohung sind die Chancen systemischer Veränderung, die sich aus der anthropozänen Zwangslage ergeben. Dem Faktum, dass es keinen Fortschritt ohne Schmerzen gibt, stehen Batterien von Absurditäten und Abstrusitäten gegenüber, die nur darauf warten, zu Komödien gebündelt zu werden.

III Das THEATER DES ANTHROPOZÄN ist paradoxal: Es verknotet Dystopisches und Utopisches, ist um die Wissenschaft zentriert wie um die Poesie, transformativ wie restaurativ; will einen auf Jahrhunderte angelegten Umbau auf allen Korridoren des Weltgebäudes beflügeln, um Bestände an jenen holozänen Bedingungen zu konservieren, welche das ehemals stabile Klima der letzten 11 000 Jahre bestimmten. Erfolgreich wird nur durch die Untiefen der ökologischen Umwälzungen navigieren, wer auf Forschung wie technologische Innovation setzt. Doch bleibt der Ausbau der Technosphäre in Permanenz wirkungslos, reißen nicht Mytho­ poeten und Artisten unterschiedlicher Herkunft und vielerlei Geschlechts bestehende Denk- und Wahrnehmungshorizonte ein und leiten eine Umwertung der Werte ein. Die anthropozäne Gewissheit, DASS DIE GESCHICHTE DER MENSCHEN VON DER GESCHICHTE DER TIERE (PFLANZEN, STEINE, MASCHINEN) NICHT GETRENNT WERDEN KANN AUSSER UM DEN PREIS DES UNTERGANGS (Heiner Müller), heißt, das Imaginäre und das Schicksal der Erde zu verschmelzen.

IV Der Bühne des 21. Jahrhunderts sind die antagonistischen Grammatiken Bertolt Brechts und Antonin Artauds eingeschrieben. Wissenschaft und Ritus, episches Theater und dionysische Praktiken der Entgrenzung – in einer von der Frage des Sozialen beherrschten Welt scharfe Gegensätze – erzeugen ihr Kraftfeld. Das Theater, in der Polis geboren, ist durch den Kult den jahreszeitlichen Rhythmen, der Natur beziehungsweise ihren animalischen wie pflanz­ lichen Bewohnern verbunden, der Landschaft und den in sie eingegangenen Toten, denen die Lebenden hinter den Masken während der festlichen Spiele ihren Atem spenden. Erzeugt das Theater traditionell durch Rekursion Zukunft, erweitert sich dessen Matrix im Anthropozän um die Verpflichtung gegenüber jenen Geistern, die


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aus der Zukunft rufen. Die Politik der Erde erfolgt im Namen der Ungeborenen, seine Auseinandersetzung mit dem Gewesenen, ­seine Retroaktivität mit Blick auf die Kommenden.

V Die Einheit von Wissenschaft und Kunst zu postulieren, die Hegel bejahte, um daraus den Tod der Kunst abzuleiten, verbietet sich dem THEATER DES ANTHOPOZÄN. Es beharrt auf der Differenz, den Rissen und gegenläufigen Intentionen der beiden Pro­tagonisten. Der – wie Platon schreibt – ZWIST ZWISCHEN ­PHILOSOPHIE UND DICHTKUNST, der das Schlachtfeld ­zwischen Logos und ­Mythos konstituiert, wurzelt in der episte­mischen Differenz zwischen Begriff und Metamorphose, der Unvereinbarkeit zwischen der ­ Kohärenz und Widerspruchsfreiheit der Theorie und dem Rätselcharakter der Metapher. Auch wenn es zutrifft, dass eine ­ Wahrheit nicht weniger wahr ist, wenn sie sich im Spiel ereignet, können doch artistische Pirouetten nicht extrapolieren, dass es sich sowohl bei der Atmosphäre wie den Ozeanen um generationsübergreifende Speichermedien für CO2 handelt. Das Gedächtnis der Kunst schlägt ­Bögen durch die Zeit und organisiert von keinem ­Radar quantifizierbare Echos, die von der Höhlenmalerei bis in unsere Gegenwart und weiter in das Kommende dringen. Über den Abgrund zwischen dem Wahren und dem Schönen, vor dem Nietzsche erbleichte, ist das Seil gespannt auf dem das THEATER DES ANTHROPOZÄN k ­ rabbelt, tentakelt, schwingt – was auch immer. Seine Abenteuer o ­ szillieren zwischen den P ­ olen Wissenschaft und Kunst, treiben die ästhetischen Experimente des Brecht’schen Lehrstücks zur ­VERBESSERUNG DES PLANETEN genauso voran wie Hölderlins Traum: die GEWALTIGEN ENTGEGENSETZUNGEN VON ­NATUR UND KUNST in ein Stadium zu überführen, wo die Kunst als BLÜTE DIE VOLLENDUNG DER NATUR darstellt.

Im Rekurs auf die Vergangenheit die Geister der Zukunft rufen – ­Illustrationen von Tanja Ebbecke (auch auf den Seiten 10/11 und 15). Foto Theater des Anthropozän/Antje Boetius

VI Anders als die Katastrophen in der Vergangenheit lässt sich das Anthropozän nicht räumlich, sondern nur planetarisch verorten. Ein Schiffbruch, der nicht nur auf dem Meer stattfindet. Wie die Waldund Buschbrände, die mit neuer Qualität sowohl in Afrika, Südamerika, Australien, Sibirien, Schweden, Kalifornien und K ­ anada lodern, ist auch das THEATER DES ANTHROPOZÄN an keinen festen Raum gebunden. Eine Wanderbühne, die im Museum, in einer ruralen oder urbanen Landschaft, einer Universität, einer Akademie, in herkömmlichen Spielbetrieben, einem Gerichtssaal, auf einem Schulhof oder anderen Schauplätzen stattfinden kann.

VII Das Anthropozän ist die Wiederkehr der verdrängten Natur als geschichtliche Gestalt. Kehrt mit dem ökologischen Desaster die ins Vergessen angedrängte Wahrheit der westlichen Zivilisation zurück, lässt sich das anbrechende Zeitalter nicht als der Dystopie, der Apokalypse und anderen Dämmerungen nahestehende Dunkel­ zone diskreditieren. Ein Mehr an Wahrheit mag verunsichern, ist aber zugleich auch immer ein kognitiver Gewinn. Das sich ausbreitende Dunkel entstammt vielmehr den zerbrechenden anthropozen­ trischen Gewissheiten und dem Zersplittern ihrer Perspektivierungen. Das Zukunftstheater ersetzt das protagoräische Credo DER MENSCH IST DAS MASS ALLER DINGE über dem Bühnenportal durch eine Maxime Paul Celans: ES SIND / NOCH LIEDER ZU SINGEN JENSEITS / DER MENSCHEN. Das Epigramm ist ein


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thema

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­ ribut an die Erinnerung, dass Dionysos, der amtierende Gott des T Theaters, in den Tagen der griechischen Antike den Zauber der Metamorphose betrieb. Eine schamanistische Praxis. In wechselnder Tiergestalt schlug er seine Zelte an der Grenze von Mensch und Nicht-Mensch auf. Mit dem planetarischen Störfall überlagern Echoräume aus dem Jenseits des Anthropos die Schauplätze. Der Mensch als geologische Kraft verweist die angebliche Autonomie des Protagonisten mitsamt der pseudo-aufgeklärten, wenn man so will zynischen Hybris der Moderne ins Puppen- oder Schattenspiel.

VIII Eine Epoche ohne Zentrum, die ihr Programm mit ANYTHING GOES! überschrieb, stellt nach der anthropozänen Zäsur kaum mehr als ein kulturhistorisch marginales Intermezzo dar, dessen Parolen sich gegen die Vorstellung von Geschichte als Sinnzusammenhang richten. Um dieses Zentralmotiv wuchern Illusionsräume und Ideologien, welchen gemein ist, dass sie die Vernichtungsfeldzüge gegen den Planeten und seine Spezies systematisch ausblenden. Anthropozän perspektiviert, handelt es sich bei der Verabsolutierung des Augenblicks und der Gegenwart um Formen des Eskapismus: um Strategien der Annihilierung jener langen Zeitachsen, die es heute in beide Richtungen der Vertikale in den Blick zu nehmen gilt. Kaum sind die mannigfaltigen Gestalten des Anderen als widerständige Gegeninstanz aus dem Diskurs verschwunden, taucht aus den anthropozänen Nebeln ein Zentrum auf, in dem sich Fernwirkungen für Jahrhunderte bündeln. Was Bruno Latour als anti-kopernikanische Wende deklariert, meint nichts anderes als den Advent der Erde als entscheidenden und allseits verbindlichen Referenten. „Willkommen in der KOM-POSTMODERNE!“, lautet der Kommentar Donna ­Haraways angesichts der Umbettung des Menschen von historischen in kosmologische Zusammenhänge. Im Zeichen des Erdplaneten, der seine Energie von der Sonne bezieht und sich durch Ozean, Atmosphäre und Leben von allen bekannten Himmelskörpern signifikant unterscheidet, ­vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst neu korreliert. Das gemeinsame Außen in Form eines Planeten, der die als selbstverständlich erachteten Rahmenverträge aufkündigt, verklammert die Wissenschaften der Natur, von der Meteorologie bis zur Erdsystemforschung, mit Geschichtsphilosophie und Ästhetik in zuvor nicht bekannter Weise.

tiquiert. Die Zeitenwende, die das Anthropozän einleitet, – in der Sprache des Theaters: die Peripetie – kennt nur die eine von Mark Fisher ausgesprochene Wahrheit: DIE ZUKUNFT ZURÜCK­ ZUEROBERN. Das heißt aber, wie Amitav Ghosh in DIE GROSSE VERBLENDUNG schreibt, sich von der Idee der Kunst als INDIVIDUELLES MORALISCHES ABENTEUER zu verabschieden: SO WIE MAN ROMANE MIT EINEM MAL ALS IDENTITÄTS­ ERZÄHLUNGEN ZU VERSTEHEN BEGANN, DIENTE AUCH DIE DOMÄNE DES POLITISCHEN VIELEN MIT EINEM MAL DER SUCHE NACH PERSÖNLICHER AUTHENTIZITÄT ODER ALS EINE MÖGLICHKEIT ZU SELBSTFINDUNGSREISEN. Die Potenzialität von Fiktion ist unentbehrlich, um die VORSTELLUNG VON MÖGLICHEN ANDEREN DASEINSFORMEN zu generieren. Möglichkeitsräume, die Zukünfte eröffnen, denen Brechts Credo von der Veränderbarkeit der Welt basal eingeschrieben ist, diskreditieren das selbstgefällige Tableau symbolischer Handlungen, denen fälschlich politische Wirksamkeit attestiert wird.

X Das Anthropozän besingt keine Menschheitsdämmerung. Vielmehr geht von ihm ein enormer Handlungsdruck aus, stark genug, Planungen und Strategien von Berufspolitikern, Lobbyisten und Ökonomen über den Haufen zu werfen. Einzelne Staaten und Konzerne werden bei der Androhung einer irreversiblen Schädigung mehr und mehr gezwungen, den neuen Akteur auf dem politischen Schachbrett ernst zu nehmen. Auch wenn niemand die Erde eingeladen hat, an den Turnieren der Macht teil­ zunehmen, sitzt sie doch am Spieltisch – national wie international. Staatenlenker, die den Kopf in den Sand stecken und ihre Anwesenheit ignorieren beziehungsweise dass jemand am Thermostat spielt, bekommen den Fluch Hegels zu spüren: UM SO SCHLIMMER FÜR DIE WIRKLICHKEIT! Das Anthropozän baut zusehends einen wachsenden Handlungsdruck auf. Das heißt, es handelt sich um ein Konzept der Intervention. Seine Schauplätze etablieren Konfliktzonen. Die Frage, wie der Begriff der Handlung re-etabliert werden kann, richtet das Zeitalter an Geschichtsphilosophie, Theater und Kunst. Die Entscheidung, wie diese Handlungen ausfallen, auf eine breite Basis zu stellen, ist Sache der Demokratie. Unter dem Zeitregime Karl Valentins: FRÜHER WAR DIE ZUKUNFT AUCH BESSER! formieren mitten durch die traditionellen Links-rechts-Kategorien Freunde und Feinde der Erde neue Koalitionen.

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ACHTUNG! SIE VERLASSEN DEN HOLOZÄNEN SEKTOR! Das THEATER DES ANTHROPOZÄN legt ein eindeutiges Bekenntnis zur Vertikale ab. Sowohl in Richtung des Gewesenen und den kosmologischen Ursprüngen wie in Bezug auf eine Zukunft, die der Kampf um den Erhalt der planetarischen Bedingungen, der ökologischen Sphäre und der Biodiversität prägt. Vor dem Horizont der Big History und angesichts dieser existenziellen Herausforderungen für die nächsten Generationen und Jahrhunderte ist der Zauber des Fetischs der Präsenz verwirkt. DER TAG WIRD KOMMEN, prophezeite Homer. Mit einem Schlag erweisen sich der Präsentismus, die auf sich selbst verweisenden Referenzsysteme, das Immersive wie andere Konzepte der breiten Gegenwart als an-

Das Zauberwort des Anthropozäns lautet TRANSFORMATION. Unter dessen Prämisse mutiert das Bonmot René Polleschs VOM PERFORMER ZUM TRANSFORMER! zum Kampfbegriff, der im Untergrund der Bühne eine Verwandtschaft zu fundamentalen Formeln des Theaters aufweist. DAS WAHRE THEATER IST MIR IMMER WIE DIE ÜBUNG EINER GEFÄHRLICHEN UND SCHRECKLICHEN HANDLUNG ERSCHIENEN, schreibt der Theateralchemist Antonin Artaud, von DEN SCHRECKEN / FREUDEN DER VERWANDLUNG der Dramatiker Heiner Müller. Schmerzen, Phasen der Verwirrung und tiefster Verunsicherung begleiten den Akt der Transformation ebenso wie das Glück des Unverhofften und Niegeschauten.


theater im anthropozän

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Die Transformation verschiebt den Blick auf die tradierten Erzählungen. Greta Thunberg entpuppt sich als anthropozäne Nach­ fahrin der von Schiller dramatisierten Johanna von Orléans, Mutter Courage trägt das Gesicht aller, die im Windschatten fossiler Brennstoffe glauben, auf ihre Kosten zu kommen. Nicht länger stehen die familiären Tabubrüche im Zentrum der Ödipus-Sage sondern der Sturz der Sphinx. Der Frevel an der Naturmacht wie Nietzsche übersetzt. Für das THEATER DES ANTHROPOZÄN verweist die Rückkehr der verdrängten Natur auf die Notwendigkeit neuer SPEKULATIVER FABELN (Donna Haraway). Auf ­Montagen und andere Kreuzungen von Mythopoetik und Wis­ senschaft, die versiegelte und bislang kaum lokalisierbare Möglichkeitsfelder aufbrechen lassen. Hatten Hegel, Hölderlin und Schelling 1797 von einer neuen Mythologie geträumt, imstande, die Risse zu kitten, welche die fragmentierte deutsche Nation davon abhielt, die bürgerlichen Freiheitsrechte zu etablieren, verknüpft die anthropozäne Prämisse die unterschiedlichen Gewebe von Wissenschaft und Poesie zu noch wenig erschlossenen Labyrinthen. Mit jedem Blitz, jedem ästhetischen Ereignis in diesen Höhlungen verändert sich ihre Gestalt. Anthropogen stimulierte Naturkatastrophen verdichten sich zur Symptomatologie einer neuen Sintflut, die bereits begonnen hat, den Planeten heimzusuchen.

XII Das THEATER DES ANTHROPOZÄN ist wie das Theater der Tragödie in vielfacher Weise dem Recht verbunden. Der Übergang vom Mutter- zum Vaterrecht, vom Clan- zum Staatsrecht bestimmen den Kosmos der „Orestie“ genauso wie den der „Antigone“. Die Saite, welche die tragischen Chöre vibrieren lassen, wird nach der Tonleiter gestimmt, die vom alten zum neuen Recht verläuft. Auch der Klimapest, so eine Formulierung Latours im Kontext der Ödipus-Tragödie, liegen Verbrechen zugrunde. Schon in den 1960er Jahren erreichte den amtierenden amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson ein Schreiben namhafter Wissenschaftler, die vor den katastrophalen Effekten des ungebremsten Verbrauchs fossiler Brennstoffe warnten. Mit diesem Datum ­setzte der Kampf gegen das Wissen ein. Mitte der 1970er Jahre lagen amerikanischen Ölkonzernen Berechnungen ihrer leiten-

den ­Wissenschaftler vor, die alle Zweifel an der sich anbahnenden Klimakatastrophe ausräumten. Seither investiert dieser Wirt­ schaftszweig zum Wohl von etwa weltweit hundert Konzernen Unsummen in die Vertuschung dieser Kausalitäten beziehungsweise in die Täuschung und Manipulation der Öffentlichkeit. Wird sich die Staatengemeinschaft von diesen wenigen Profiteuren die immensen Kosten des Umbaus ihrer ökologischen ­Infrastruktur zurückerstatten, den bereits eingetretenen Schaden ersetzen lassen? In der DNA des THEATER DES ANTHROPOZÄN ist die Frage nach der Gerechtigkeit sowohl vertikal wie ­horizontal angelegt. Es kreist sowohl um den Strudel Gene­ rationen­gerechtigkeit wie die seit der Industrialisierung eklatant ungleichen CO2 Emissionen. Die Ausformungen eines neuen Tier- und Naturrechts, jenem Paradigma, das Michel Serres mit DER N ­ ATURVERTRAG einführt, und ein permanenter Gerechtigkeitsdiskurs sind von der Genese der neuen Theaterform nicht zu trennen.

XIII Das Theater beschäftigt sich seit jeher mit den Fragen der Schuld. Schuld, so die Lehre des Mythos und der Tragödie um König Ödipus, verjährt nicht, sondern sucht die Protagonisten heim, selbst wenn ihre (Un-)Taten nicht mit bösem Willen begangen wurden. Unschuldig-Schuldig lautet die gängige Formel der Kommenta­toren. Bruno Latour zufolge bestimmt diese ÖdipusMatrix die anthropozäne Gefechtslage. Auf wen sich ein steigender Meeresspiegel, der Inseln und Küstenstreifen überflutet, nach dem geltenden Verursacherprinzip zurückführen lässt, bleibt im Ungefähren. Heute weigert sich ein Großteil der ehemaligen Kolonialstaaten, auf der Klimakonferenz den ehemaligen Kolonisatoren entgegenzukommen, weil das hieße, deren Reichtum, der auf jahrhundertelangen Beutezügen auf außereuropäischen Kontinenten beruht, zustimmend festzuschreiben. ALLE ODER KEINER lautet Brechts kommunistische Formel aus „Die Tage der Commune“. Das RAUMSCHIFF ERDE lässt sich nur durch die anthropozänen Untiefen steuern, wenn auf allen Ebenen die F ­ rage nach Gerechtigkeit und Schuld gestellt wird. Die damit verbundenen Implikationen sind nicht absehbar: KOMM! INS OFFENE, ... //

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Planetares Theater Die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Bremerhaven Antje Boetius über das Theater des Anthropozän und einen neuen Vertrag zwischen Mensch und Natur im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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ntje Boetius, als Meeresbiologin und Direktorin des AlfredWegener-Instituts Bremerhaven sind Sie eine der gefragtesten Klima-Expertinnen derzeit. Sie erlangen durch Ihre Forschung Einblicke in die Natur, die andere nicht oder nur medial vermittelt erhalten. Was hat Ihnen dabei in jüngster Zeit die größte Angst bereitet? Was Hoffnung? Mich erschrecken die täglichen Meldungen unserer Polar- und Meeresforscher von immer schnelleren Schmelzraten von Eis sowie die sichtbare Verwüstung der Erde – von den brennenden Wäldern Australiens bis zur globalen Ausbleichung der Korallenriffe. All das zeigt, dass der Wandel schon da ist, viel schneller und extremer als angenommen. Die Zukunft holt die Gegenwart ein. Bei mir entsteht dann aber nicht Angst, sondern eher produktiver Ärger und ein gesunder Ehrgeiz, vorhandenes Wissen zu teilen, um weiterzukommen, die Blockaden zu lösen und den richtigen Pfad zu finden. Hoffnung macht mir derzeit das Engagement so vieler Menschen um mich herum, der neue Green Deal der EU, wie auch Anzeichen, dass China sich erhebliche Klimaziele

­ esteckt hat, denn darauf kommt es an. Kraft gibt mir Vernetzung, g neue Partner im Denken und Wirken, Zusammenhalt, Gefühle, die ich derzeit vor allem bei Vorträgen und Lesungen erfahre. Angst und Hoffnung zu vermitteln, sagten Sie kürzlich in einem Interview auf nachtkritik.de, sei auch durchaus Ihr probates Mittel bei öffentlichen Auftritten. Diese beiden Gefühlszustände seien, was die biologische Funktionsweise unseres Gehirns angeht, ­unsere Leitsysteme. Nun zeichnet sich trotz Bildern von brennen­ den Wäldern, Überschwemmungen, Dürren eine Verhaltens­ änderung jedoch bislang nicht ab. „I want you to panic“, heißt es bei Greta Thunberg. Haben wir noch zu wenig Angst? Oder zu wenig Hoffnung? Angst scheint mir wichtig zum Aufrütteln, ist aber ansonsten ein schlechter Ratgeber. Hoffnung allein reicht auch nicht, es braucht Veränderungswille, Mut und Kraft durch Zusammenhalt. Es gibt ja auch doch schon Spuren von Verhaltensänderung, in der Selbsteinschätzung der Bürger in Bezug auf die großen Herausforderungen, im Wahlverhalten, in der Reichweite der Themen um Klima und Natur. Das Problem ist aber, dass wir nicht so viel Zeit haben für einen Sinnes- und Kulturwandel, weil schon jetzt die Schäden aus Extremwettern und Übernutzung so groß sind. Es


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braucht zum Bürgerwillen also unbedingt die großen Konzepte zum Umbau. Effektives Klima- und Naturschützen muss allen Menschen auch ermöglicht werden, dazu sind politische Entscheidungen und internationale Kooperation vonnöten. Sie gründen derzeit gemeinsam mit dem Dramaturgen Frank Raddatz in Berlin, angeschlossen an die Humboldt-Universität, ein Theater des Anthropozän. Was soll in diesem Theater passieren? Erst mal geht es um ein Konzept von Theatererfahrung, über das wir uns kennengelernt haben. Da ist die Erkenntnis, dass wir alle in einem planetaren Theater feststecken, in dem wir Menschen Akteure sind wie auch Zuschauer eines dramatischen Schauspiels von der menschlichen Hybris – des Anthropozäns. Es ist die Epoche, in der der Mensch – mehr als alle Naturkräfte – die Haut der Erde messbar verändert, und das nicht zum Guten, weder für die Menschheit noch die Natur. Wir haben das bei einer Veranstaltung der Helmholtz- Gemeinschaft im Berliner Ensemble diskutiert und gemerkt, dass wir uns einiges zu sagen haben, als Naturwissenschaftlerin und Theatermensch. Wir glauben beide, dass in der Verschränkung von Wissenschaft und Kunst das Thema Anthro­pozän völlig neu zu bearbeiten ist. Und lernen schnell ­voneinander, auch aus unseren völlig verschiedenen Kontexten, Denkschulen, der verschiedenen Sprache, die wir nutzen. Frank hat Thesen und Theaterreferenzen erarbeitet, mit denen ich sehr viel anfangen kann – auch wenn meine Wissenskontexte ­andere sind. Wir haben uns daher überlegt, ein Konzept zu schaffen, dass wir Theater des Anthropozän nennen. Dieses kann Ideen, Methoden, Sprache, Orte und Akteure aus Kunst und Wissenschaft verschmelzen, um die Zusammenhänge zwischen belebter und nicht belebter Welt, zwischen Handeln und Wirkungen des Menschen, Vernetzungen über Ort und Zeit zu erschließen, begreifbar und fühlbar zu machen, um daraus neue Fragen zu generieren wie auch Möglichkeiten für Perspektivwechsel zu erzeugen. Wir h ­ aben uns mit der Präsidentin der Humboldt-Universität, Sabine Kunst getroffen, die mit ihrem Hintergrund in Biologie, Politikwissenschaft und Ingenieurswesen wie auch mit ihrer weit-

Nicht Zukunft, sondern schon Gegenwart – Menschengemachte Naturzerstörung (v.l.n.r.) Waldbrand in der Region Manguale in Nordportugal im August 2009, Proteste am Tagebau Hambach zum Rodungsstopp am 6. Oktober 2018, ein gestrandetes Boot im thailändischen Dorf Ban Nam Khem, nachdem 2004 ein Tsunami Khao Lak überflutete. Fotos Lusa Ferreira / picture-alliance / dpa; Fritz Engel / Archiv Agentur Zenit; Richard Vogel / picture-alliance / dpa

verzweigten Universität eine perfekte Schirmherrin ist. So atmen die Humboldt-Universität und ihre Partner wie zum Beispiel das ­Naturkundemuseum Berlin den Geist Alexander von Humboldts, der schon vor über zweihundert Jahren um eine neue Beziehung von Mensch und Natur gekämpft hat. Wenn man sich da trifft, eine Performance organisiert, dann findet das unter Umständen in genau den Räumen statt, wo die Humboldt’sche Erschließung des Kosmos begonnen hat. Das ist ungemein inspirierend. Das eigentliche Problem sei, sagte vor acht Jahren der Regisseur Clemens Bechtel in Theater der Zeit, dass es zwar eine ökonomi­ sche und auch ästhetische Betrachtung von Natur gebe, Pflanzen aber nicht als eigenständige Lebewesen wahrgenommen werden. Fehlt uns Menschen die emotionale Bindung an die Natur, die auch Gefühle wie Schuld und damit einen Handlungsdruck er­ zeugen könnte? Lässt sich das überhaupt herstellen, wenn selbst zwischenmenschlich Solidarität bröckelt? Genau darum geht es. Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte müssen zusammen erzählt werden. Das Gedächtnis von Kunst und Wissenschaft funktioniert verschieden, erlaubt zusammengefasst aber essenzielle Erkenntnis in Bezug auf die Entwicklung von Mensch und Natur. Mit den Produktionen des Theaters des Anthropozän, die gerade entstehen, sollen die gemeinsamen Prinzipien in den Entwicklungspfaden von Erde, Natur und Mensch sichtbar werden. Dabei wollen wir Impulse einweben, die die Einzigartigkeit des „Raumschiffs Erde“ im Universum klären und sich mit den daraus abzuleitenden Werten und Kräften für seine Funktion beschäftigen. Es braucht doch für uns alle Räume,


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in denen wir Möglichkeiten von Transformation erproben können. Wo wir die zugrundeliegenden Werte für eine umfassendere Form von Gemeinwohl, einen neuen Vertrag zwischen Mensch und Natur erfahren. Das Theater hat eine ganz fundamentale Rolle in der Geschichte, spielerisch Veränderungskräfte zu ­ ­wecken. Wenn es um Zukünfte und Möglichkeitsräume geht, wollen wir Akteure – Autoren, Schauspieler, Bühnenkünstler aller Arten – wie auch die Zuschauer unterstützen, die Transformation vernetzt und zielgerichtet zu denken und Veränderungsmut zu gewinnen. Individueller Verzicht – aufs Fliegen, aufs Autofahren, auf Plas­ tik –, sagen Sie, sei jedoch nur ein Feigenblatt. Die große Lösung, so der Soziologe Armin Nassehi, wird aufgrund ihrer inneren ­Logik jedoch auch eine demokratisch konstituierte Politik nicht durchsetzen können. Weil diejenigen, deren Verhalten sich ­ändern soll, eben auch Wähler sind. Erst mal ist natürlich auch die eigene Haltung wichtig, das eigene Erproben von neuen Wegen im Alltag – das will ich gar nicht ­unterschätzt wissen. Aber nicht nur als Naturwissenschaftlerin

Wir haben nur ein Raumschiff – Mit Baumhäusern besetzen Klima­ schützer 2018 den Hambacher Forst, um dessen Rodung für den Kohletagebau zu verhindern. Foto Fritz Engel / Archiv Agentur Zenit

kann ich schnell ausrechnen, wie wenig weit es uns bringt, nicht mehr in den Urlaub zu fliegen oder anders zu essen. Diese Überbeschäftigung mit dem oft eher symbolischen Individualverzicht hat zum Teil bigotte Züge angenommen. So ist Fliegen keine Erfindung des Teufels und schon längst vom CO2-Footprint digitalen Handelns eingeholt. Auch der Toast mit Avocadopaste und die Lachshäppchen können in Bezug auf ökologische Footprints durchaus schlechter dastehen als die Frikadelle aus lokalem Hausschwein, das gut von Nahrungsresten leben kann. Man kann das alles nachschauen, lernen, ausrechnen und dann in die Handlung einbeziehen. Dennoch reicht es nicht, dem Klima und der Natur hier und da etwas zu opfern. Das ist die Tragödie des Anthropozäns, aber weiter gedacht genauso auch seine Hoffnung. Wir haben individuell doch viel weniger Gestaltungsraum als in Kooperativen, durch


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die Ausbildung von Netzwerken. Das beginnt schon auf der Ebene größerer sozialer Einheiten, sei es die Nachbarschaft, das Dorf, die Stadt, und wird besonders stark in der Region, dem Staat oder am besten der Staatengemeinschaft. Das liegt einfach daran, dass wir andere Formen von Energiequellen und Energieinfrastrukturen brauchen, auch da geht es um Vernetzung. Wie in Ihrem Theater. Genau. Wir freuen uns über jeden künstlerischen Kontakt und richten dafür eine Webpage ein, denn Kooperation ist das A und O. Im Theater des Anthropozän geht es ja schließlich auch um die politischen Wege in andere Zukünfte. Wir wissen, dass das Anthro­pozän als Epoche auf einer sich weiter beschleunigenden Ausbeutung der Natur, aber auch großer Teile der Menschheit beruht, sodass die Lebensgrundlagen künftiger Generationen verschwinden. Dadurch wird klar, dass das Ziel nicht mehr eine ­endlose, für alle verfügbar werdende Gegenwart sein kann, sondern nur die große Transformation. Deren Pfade brauchen vor ­allem demokratische Experimentierräume. Denn bei der Eroberung der Zukunft geht es um neue Werte und Ordnungen für den Mensch-Natur-Zusammenhang. Das Theater des Anthropozän wird da sicher auch ethische und moralische Komponenten der Transformation erspielen. Die Symbolik von Individualhaltungen taugt auf jeden Fall zur Komödie. Nassehi indes meint, ohne Anreize laufe hier eh nix. Man müsse, durchaus im Sinne einer Marktlogik, dem Menschen, dem man etwas wegnimmt, etwas anderes geben. Nicht Geld, aber eben ­Anreize. Kann Ihr Theater in diesem Sinne wirken? Oder wider­ sprechen Sie diesem Mechanismus vehement? Die Aufbruchstimmung ist schon enorm. Jedoch fehlt es an Räumen und Aktivitäten, die uns Mut und Kraft geben, die jenseits der anonymen digitalen Wuträume Lust auf Begegnung, Gemeinsamkeit und Aktion machen. Wir stellen uns das so vor, dass wir eine ganze Reihe verschiedener Elemente anbieten, bei denen aus Zuschauern Akteure werden. Für solche Interventionen bieten auch die Humboldt-Universität und ihre Partner viel Erfahrung. Es gilt – und sei es nur utopisch – die Dimension der Notwendigkeiten, die Handlung zurückzugewinnen, gerade angesichts der Bedrohungen von Klimawandel und Verlust an Lebensraum durch den Pfad, auf dem wir sind. Das Theater des Anthropozän soll da seinen Beteiligten – Förderern, Akteuren wie Zuschauern – durch gemeinsam Geschaffenes und Erlebtes Stoff zum Weiterdenken, Methoden zum Dialog, zur Intervention bieten und ­dadurch Mut, Kraft und Orientierung zur notwendigen Transformation erzeugen. Theater ist nach wie vor ein Ort des Bildungsbürgertums. Weni­ ger von der neoliberalen Krise betroffen, sind es auch gerade diese Schichten, die eher Maßnahmen zum Klimaschutz verkraften könnten. Wie bearbeiten Sie in Ihrem Theater die soziale Frage? Mich interessiert für die geplanten Aktionen, für das Denkmate­ rial, das wir gerade sammeln, die Frage nach sozialer Teilhabe, Schuld und Gerechtigkeit im Mensch-Natur Konflikt sehr. Jede Art von Lösung, von Zukunftspfad und internationaler Einigung kommt nicht umhin, soziale Fragen zu bearbeiten. Denn, wie ge-

Die Meeres- und Polarforscherin Antje Boetius, geboren 1967 in Frankfurt am Main, studierte Biologie in Hamburg und Ozeano­ grafie in La Jolla / Kalifornien. Eine Professur für Geomikrobiologie bekleidet sie seit 2009 an der Universität Bremen. Dort wurde sie 2010 Mitglied des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie. Sie ist seit 2017 Direktorin des Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Sie übernahm auf bislang 15 Forschungsreisen die wissenschaftliche Leitung – zuletzt in das Meer der Zentralarktis und der Azoren. 2019 verlieh ihr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz. Foto Kerstin Rolfes

sagt, wir haben nur ein Raumschiff, in dem wir alle reisen. Undenkbar: ein Raumschiff auf Mission, auf dem die Besatzung nur eines Decks reiche Nahrung hat und die anderen Decks hungern. Es ist ja wahr und ein wachsendes Problem, geradezu eine Blockade für die Transformation, dass historisch wie gegenwärtig nur ein kleiner Teil an Menschen, Firmen und Staaten das Leid anderer verursacht wie auch den fundamentalen Schaden an der Natur. Daher wird das Theater des Anthropozän auch mit Elementen der klassischen Tragödie arbeiten, mit Texten und Akteuren, die ­Fragen nach Schuld und Gerechtigkeit stellen. Dabei wollen wir ­helfen, eine wesentliche Lücke zu schließen, die durch das Fehlen des Menschenrechts auf eine gesunde Umwelt und natürliche ­dynamische Vielfalt, also Biodiversität gegeben ist, wie erst recht durch das Fehlen eines Rechts der Natur und der Arten auf ihre Existenz. Unser Theater will sich utopisch mit diesem Recht ­beschäftigen und der Natur zu einem Gerichtsstand sowie Anwälten verhelfen. // Weitere Informationen unter www.theaterdesanthropozaen.de TdZ ONLINE EXTRA Eine Langfassung dieses Interviews finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/02

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Schauen wir noch oder handeln wir schon? Wie die Theater sich zum anthropogenen Klimawandel ins Verhältnis setzen von Natalie Driemeyer


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or sechs Jahren schrieb ich für Theater der Zeit zwei Artikel über meine Welt-Klima-Theater-Recherche-Reise (TdZ 01/2014 und 03/2014), auf der ich untersuchte, wie Theaterschaffende in Südostasien und Südamerika sich mit dem Klimawandel und seinen Folgen in ihren Produktionen auseinandersetzen. Bevor ich losfuhr, hieß es vielerorts, dass dies weltweit kein Thema für das Thea­ter und zu untheatral sei, sowie einen rein eurozentristischen Blick be­inhalte. Ich selbst durfte zuvor das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Festival „ODYSSEE : KLIMA“ veranstalten, bei dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Theaterschaffenden während eines Klima-Parcours an verschiedenen ­Stationen der Stadt zusammenarbeiteten. Deutschlandweit war dieses Thema bis vor Kurzem fast ausschließlich im Kinder- und Jugendtheater verankert, einzelne Produktionen fanden sich auch im Abendspielplan an den Stadttheatern oder in der freien Szene. Während der Recherchereise zeigte sich hingegen, dass in jenen Ländern, in denen der Klimawandel existenzielle Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat, dies das Hauptthema der Theaterproduktionen war. Diese „Klima“-Stücke basieren oft auf realen Konflikten, die mit Fiktivem künstlerisch verdichtet und drama­ tisiert werden, Autorinnen und Autoren aktualisieren zudem ­mythologische Geschichten auf Basis der veränderten Lebens­ bedingungen, zum Teil berichten Betroffene von ihrem Leben. Auch hier zeigte sich: Das Theater ist weltweit Verhandlungsort akuter Probleme einer Gesellschaft, erreicht die Menschen auf ­einer emotionalen, direkten Rezeptionsebene und kann als Indikator für die lokale Bedeutung von Themen wirken.

Neue Formen des Produzierens Das Wissen um die Folgen des Klimawandels wird seit Jahrzehnten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vermittelt. Dank Initiativen wie Fridays for Future ist das Thema nun endlich auch hierzulande ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt. Zu der Veranstaltung „Klima trifft Theater – von der Erzählbarkeit der Klimakrise“ in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin Ende ­Oktober 2019 kamen 250 Theaterschaffende, weitere schalteten sich online zu. Es ist nun zu erwarten, dass das Thema einen großen Raum in den Spielplänen 2020/21 einnehmen wird. Jedoch unterscheidet es sich essenziell von vielen anderen Themen. Die naheliegendste Frage ist dabei jene nach der Erzähl- und Darstellbarkeit auf der Bühne: Was wollen wir erzählen? Mit welchen Mitteln und welcher Ästhetik? Wen wollen wir erreichen? Was können wir konkret tun? Wie können wir ins Handeln kommen? Ein Problem scheint zu sein, dass der Klimawandel schwer zu (be-)greifen und zu beschreiben ist. Das Prinzip Ursache-Wirkung ist aufgrund der Komplexität und zeitlichen Verschiebung kaum darstellbar. Der Wunsch nach Verbildlichung, nach Konkretisierung des eigentlich Unfassbaren, bleibt. So sagten die Theaterschaffenden der

Das Klima als Thema des Theaters – Bühnenprobe zu Rainald Grebes „Alle reden vom Wetter. Die Klimarevue“ 2008 am Central­ theater in Leipzig. Foto Rolf Arnold

theater im anthropozän

philippinischen Theatergruppe Dagway Sigmahanon nach dem Taifun Haiyan im Jahr 2014, dass der Klimawandel nun für sie ein Gesicht habe und dies kein freundliches sei. Der Taifun wurde personalisiert und somit greifbar. Es gibt Autorinnen und Autoren, die Weltgeschichte beispielsweise anhand von (Fami­lien-)Biografien erzählen und damit große Phänomene im Kleinen nahebringen. Dieses Großdenken fehlt zurzeit noch in den vorliegenden Theatertexten zum Thema. Ausnahmen wie Thomas Köck mit seiner „Klimatrilogie“ gibt es. Anja Hilling beschrieb bereits 2008 in ihrem Text „Nostalgie 2175“ eine (Um-)Welt, die für den Menschen unlebbar wurde. Wenn das Thema besprochen wird, sind es vielfach Dystopien. Auffällig oft werden Geschichten in fiktive, fast Science-Fiction-Realitäten verlegt und somit in eine weit entfernte Zukunft. Es bedarf, meiner Einschätzung nach, aber auch Utopien als positive Gegenentwürfe. Das Thema Klimawandel reicht aber noch viel weiter, auch in die Strukturen des Theaters hinein. Denn ein Theater, das mit viel Energie (menschlicher und nicht-menschlicher) eine Produktion erarbeitet, bei der es thematisch auch um einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen geht, macht sich unglaubwürdig und führt die Arbeit der Produktionsbeteiligten ad absurdum. Genau wie bei den Themen Diversität/Gender-Gerechtigkeit müssen die auf der Bühne verhandelten Themen auch im Theaterbetrieb selbst gelebt werden. Bedenken muss man, dass nachhaltiges ­Produzieren ein erhöhtes Arbeitspensum hervorruft. Dies muss die lokale Politik unterstützen. Wie viel ist den Städten, die den Klimanotstand ausgerufen haben, die Reduktion von CO2-Aus­ stößen und ein nachhaltiges Arbeiten wert? Entweder muss die Anzahl der Produktionen reduziert oder die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhöht werden. Damit nicht jedes Theater die Welt neu erfinden muss, bedarf es best practices, also guter Vor­bilder, die zum Beispiel in Form von Handbüchern verbreitet werden. Es bedarf einer Zusammenarbeit unter den Theaterschaffenden, jenseits des Konkurrenzgedankens. Die Recyclingkultur muss zudem an unseren Häusern gestärkt werden. Dies könnte auch einen Einfluss auf die Ästhetik haben. Diese Veränderungen wären gleichsam eine Abkehr von kapitalistischen Grundsätzen wie „mehr und schneller“, hin zu einem Theater als Ort, an dem sich in Ruhe mit Themen auseinander­ gesetzt werden kann. Die Menschen haben verstärkt das Bedürfnis nach Kontakt mit sich selbst und mit anderen. Das Theater besitzt das Potenzial, Ort der intensiven Beschäftigung mit gesellschaftlich relevanten Themen und des Rituellen zu sein. Beim Jahrestreffen des Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes in Halle an der ­Saale stand das Thema Nachhaltigkeit im Theater im Fokus. Eine Teilnehmerin brachte den Vorschlag ein, ähnlich wie beim 360°-Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft einen Fonds für Klima­mitarbeiterinnen und -mitarbeiter an Theatern aufzubauen. Die (internationale) Zusammenarbeit von Künstlerinnen und Künstlern sollte ebenfalls diskutiert werden. Es wäre grundsätzlich und besonders zurzeit fatal, den internationalen Austausch zu stoppen. Vor allem für Theaterschaffende in Ländern, die dort keine Möglichkeiten oder finanziellen Ressourcen für ­einen Austausch haben. Bietet dies doch die Grundlage für ein gegenseitiges Verständnis und neue Impulse. Nicht nur für die Theaterschaffenden, sondern auch für das Publikum. Überdacht

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thema

Weinen gegen den Klimawandel? – In Anna Mendelssohns Solo-­ Klima-Gipfelkonferenz „Cry Me A River“ von 2010 verweben sich die Stimmen von Politikern, Wissenschaftlern, Aktivisten, Dichtern und Tiefenökologen mit persönlichen Reflexionen. Foto Tim Tom

werden muss jedoch die Jetset-Kultur. Es geht darum, Privilegien aufzugeben und die Frage zu stellen: Wer darf wann reisen und warum? Und wer entscheidet?

Visualisierungen – aber keine Symbolpolitik Ich werde immer wieder Folgendes gefragt: Was will man mit dem Thema im Theater erreichen? Politisch aufrütteln? Durch ­Informationen und Vermittlung von Wissenschaft? Oder emotionalisieren? Mit Geschichten von Menschen, die betroffen sind? Oder beides? Und ich stelle die Gegenfrage: Was wollen wir denn generell mit unserer Theaterarbeit erreichen? Ich gehe davon aus, dass die meisten Theaterschaffenden von der Möglichkeit der ­positiven Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse überzeugt sind. Und genau dies wünsche ich mir auch für das Thema Klima. Weiterführende Fragen können dann sein: Was sollen die ­Zuschauerinnen und Zuschauer erleben und/oder sinnlich wahrnehmen? Wie baut man Atmosphären auf? Wie können wir das Thema ins Theater holen und konkret unseren eigenen ökolo­ gischen Fußabdruck verkleinern? Sie betreffen wie erwähnt die eigene Theaterarbeit. Es ist ein Prozess, in dem sowohl die Haustechnik, die Kantine, die Theaterleitung als auch die Politik invol-

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viert werden müssen. Die Gefahr besteht, dass viele nicht in die Tiefe des Themas eintauchen. Denn es ist keines, welches man in ein bis zwei Produktionen erarbeiten und dann abhaken kann. Ich beschäftige mich seit 2011 mit dem Thema, und die ­Dimensionen sind immens und werden immer größer. Während ich diesen Text schreibe, steht Jakarta unter Wasser, und in Australien breiten sich die Buschbrände immer weiter aus. Die Welt ist geschockt von Bildern wie dem Babykänguru, das, eingeklemmt in einen Zaun, verbrannt ist. Das Foto löst Empathie aus. Birgit Schneider vom Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam arbeitet zum Thema Visualisierung des Klimas und seiner Wandlungen. Wir arbeiten im Theater ebenfalls im Symbolhaften. Der Wunsch nach Austausch zwischen Wissenschaft und Theater ist gegeben, nicht ein-, sondern beidseitig. So bringen wir dieses Thema nicht „nur“ auf die Bühne und erreichen unser Publikum, sondern das Theater kann seine Möglichkeiten und seine Bedeutung auch in wissenschaftlichen und politischen Kontexten wirken lassen. Und: Diese Institutionen kommen auch auf uns zu. So wurde ich von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit beauftragt, für ein Treffen der Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen, Unternehmen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen der Staaten, die in Paris das Klimaabkommen unterschrieben haben, ein Theaterprogramm zu erarbeiten. Im Juni 2019 waren in Berlin 350 Personen mit komplett unterschied­ licher Theatersozialisation versammelt, um maßgebliche globale klimapolitische Entscheidungen zu treffen. Ich entschied mich für ein Team von sechs Künstlerinnen aus vier Ländern, die in Berlin beheimatet sind oder aufgrund anderer Projekte zufällig vor Ort waren. Wir arbeiteten mit Texten von internationalen Autorinnen zu den Themen Gender, Leadership, Youth and ­ ­Climate Change. Nachhaltigkeit war uns sehr wichtig, so liehen wir uns die Kostüme von einem in Berlin beheimateten, nach­ haltigen Label, das Bühnenbild bestand aus Live-Collagen, die auf die vorhandenen Leinwände projiziert wurden. Shanar Tabrizi, Knowledge Managerin und Spezialistin vom UNFCCC Climate Technology Centre and Network der UN City in Kopenhagen schrieb: „Ich erinnere mich sehr gern an das Klima-Pop-up-­ Theater. Nach einem Konferenztag, an dem alle damit beschäftigt waren, über technische Details zur Lösung der Klimakrise zu diskutieren, war es wie ein frischer Luftzug, an die Menschlichkeit erinnert zu werden, die dahinter steckt.“ Ende Januar dieses Jahres traf sich zum ersten Mal die neu ans Hans Otto Theater in Potsdam angegliederte offene Arbeitsgruppe „Klimawandel und Theater“. Zusammen möchten hier Theaterschaffende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Aktivistinnen und Aktivisten, Bürgerinnen und Bürger neue Formen der Vermittlung, der Ästhetik und der Solidarität ergründen und diese Suche im Sinne des Open-Knowledge-Gedankens öffnen. Es gibt keine How-to-do-Lösungen, die sich viele wünschen. Dies ist ein aktiver Prozess, bei dem sich alle beteiligen können und sollten. Es ist natürlich nicht möglich, die gesamten Struk­ turen von heute auf morgen zu verändern. Aber wir sind der Generation „Greta“ schuldig, ihre Wut, Angst und ihr Engagement ernst zu nehmen und ihnen gegenüber und allen noch nicht ­Geborenen Verantwortung zu übernehmen. //


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Ist Grönland noch zu haben? Klimawandel: Aufforderung zum Diskurs-Pogo

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as Stück der Stunde stammt aus dem Jahr 1978, eine Komödie in 33 Gesängen von Hans Magnus Enzensberger, „Der Untergang der Titanic“. Gerade läuft es, schwindelerregend inszeniert von Philipp Preuss, im Theater an der Ruhr in Mülheim. Dort sitzt das Publikum auf der Drehbühne und wird den unterschiedlichsten Perspektiven ausgesetzt. Was kommt als Nächstes und wer? Im Prinzip eine kreisende Fahrt mit der Geisterbahn. Es spuken Uto­ pien mit integriertem Verfallsdatum, Ungerechtigkeiten der Welt und Passagierklassen, Machbarkeitswahnwitz und kalte Ernüchterung, als am 14. April 1912 gegen 23.40 Uhr das unsinkbare Schiff einen Eisberg rammt und als Spielverderber der Moderne dann eben doch sinkt. Schon damals hat Enzensberger den Klimawandel, der früher weniger zutraulich Erderwärmung hieß, komödiantisch ernst ins Kalkül gezogen: „Die Glaziologen haben einen Mikro-Computer mitgebracht, / der, unter Plexiglas, während des großen Kolloquiums / über Klimaforschung, Eisberg-Simulationen ausdruckt / für die nächsten zweihundertfünfzig Jahre.“ Immerhin, das klingt optimistisch, wir dürfen noch 250 Jahre mit Eisbergen rechnen. Nicht ganz so optimistisch frage ich in meiner Reihe „Zeit für ­Zukunft“ den Klimaforscher Wilhelm Kuttler, mit dem ich in den Kulissen der Mülheimer „Titanic“ sitze, ob er davon gehört habe, dass Donald Trump Grönland kaufen wolle, jäh getwittert im ­vergangenen August. Hat er natürlich. Und ist für ihn auch nur logisch. Weil das Eis schmilzt und Bodenschätze freigibt wie ­Erdöl, Erdgas, Uran, Zink, Eisenerz und Diamanten. Und weil das US-Militär, wenn es nach Norden schaut, strategische Vorteile wittert. Wirtschaftliche Vorteile verspricht die aufknackende ­ ­transarktische Schifffahrtspassage, welche die Reisezeit zwischen Asien und dem Westen um zwanzig Stunden verkürzen würde. Die Pointe liegt darin, dass Trump die Folgen der Erderwärmung für sich und sein Amerika bereits zu nutzen sucht, während er offiziell den Klimawandel leugnet. So wie wir in Mülheim den Diskurs-Pogo im Theater tanzen, mit Gästen von Fridays for Future, mit Klimawissenschaftlern, Soziologinnen und Forschern für neue, nach Kohlendioxid schnappenden Technologien, so öffnen auch andere Häuser ihre Bühnen dafür, etwa das Berliner HAU mit dem Redereigen „Bur-

ning Futures“ – ziemlich dramatisch das Motto, weil Theater sich halt aufs Dramatische ziemlich viel einbildet. Im Berliner Radialsystem wurde ein Wochenende lang über „Climate Chance & ­Democracy“ debattiert, mit Josh Fox, einem Filmemacher und Umweltaktivisten aus den USA. Von ihm stammt die FrackingDoku „Gasland“. Im Interview mit der taz beklagt er eine millionenschwere Schmiergeldkampagne der Ölindustrie gegen seinen Film: „Die haben eine Fake-Dokumentation gedreht, in der sie meinem Film vorgeworfen haben, Fake zu sein. Die Trump-Nummer also: das Wahre als falsch zu bezeichnen und die eigenen Lügen als Wahrheit.“ Mit protestierenden Jugendlichen direkt Theater zu spielen, das wagte Verena Regensburger mit ihrem dramatisch sich empörenden Projekt „These Teens Will Save the Future“ an den Münchner Kammerspielen. Politische Texte und Parolen werden künstlerisch überhöht, durch streng rhythmisierte Solostimmen und chorische Eruptionen. Auf der Großkundgebung vor dem Brandenburger Tor, am Tag, als die Bundesregierung das Klimapaket beschließt, stehe ich neugierig herum, auch dann noch, als die Hunderttausend zu hüpfen anfangen, weil wer nicht hüpft, der ist für Kohle, dem Augenschein nach also ich. Aber nichts widerfährt mir, kein Stänkern, kein Rempeln, womit der wahre Pogo erst begönne, und diesen wahren Pogo werden wir brauchen. Fridays vor Future hat ein freundliches Gesicht und, wenn nicht alles täuscht, ein weibliches. Doch nehmt euch in Acht: Frauen sind zäh. In Mülheim entern junge Aktivistinnen die „Titanic“-Bühne. Jennifer, 18 Jahre und schwarz, verblüfft das Publikum mit Nachdenklichkeit, die alles andere als naiv und blindwütig eifernd wirkt. Bei allem, was jetzt zu tun sei, müssten soziale Notlagen berücksichtigt werden. Ihre Mutter sei Putzfrau, sie wisse, wovon sie rede. Für die FfF-Bewegung bemühe sie sich, migrantische ­Jugendliche einzubinden. Nachher sagt eine ältere Frau zu mir: Wie ich diese junge Generation bewundere … Aber es sind nur Teile dieser Generation, und sie müssen sich den Spott von Gleichaltrigen gefallen lassen. So weit, wie die Gesellschaft gerne wäre, ist sie noch lange nicht, und es könnte gut sein, dass sie nie so weit kommt. Klimaforscher Kuttler zum Beispiel musste erleben, dass, kaum war er emeritiert, sein Lehrstuhl für Angewandte Klimatologie abgewickelt wurde, von der Universität Duisburg-Essen. Das lässt nur einen Trugschluss zu: alle Probleme gelöst. //

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Foto Ben Wolf

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Mysterien des Spiels Die Schauspielerin Cordelia Wege will lieber scheitern als funktionieren von Gunnar Decker


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as Nachwende-Berlin ist fast schon so versunken wie das der 1920er Jahre. Aber es bildet mythische Kerne. Das Tacheles in Berlin-Mitte gehört dazu. Ganz früher einmal war es ein Kaufhaus, dann, nach 1989, ein alternatives Kulturzentrum mit magischer Anziehungskraft. Hier dachte und lebte man alternativ. 2012 wurde das Tacheles zur Spekulationsmasse, wie die ganze Stadt. Im Kunsthaus Tacheles inszenierte Sebastian Hartmann im April 1998 „Kalter Plüsch“. Aufgefallen sind mir dabei zwei Terrarien mit ausgewachsenen Leguanen – und Cordelia Wege, damals 21 Jahre alt. Eine szenische Versuchsanordnung nach Strindbergs „Totentanz“ und Dürrenmatts „Play Strindberg“. Die Urszene des Hartmann’schen Theaters, Kopfkino im Menschen-Zoo. Familienund Gesellschaftsidyllen, hehre Werke der Weltliteratur, histo­ rische Kontexte, all das tritt hinter den archaischen Impuls des Spiels zurück. Realität löst sich in Träume auf, auch böse. Jedem Versprechen wohnt der Verrat inne, jeder Erfüllung die Ernüchterung. Es wirkte wie ein Fellini-Film, den man auf einem SchwarzWeiß-Fernseher zu sehen gezwungen wird. Hartmanns vorsätz­ liche Anti-Didaktik hat sich über die Zeiten hinweg als erstaunlich stabil erwiesen. Mittendrin eine zart und verletzlich wirkende Cordelia Wege, die wie die leibhaftige Antithese zu Sebastian Hartmann, ihrem Ehemann und Lieblingsregisseur, wirkt. Der Mensch in dessen rabiatem Zirkus scheint immer krank und erlösungsbedürftig. Der Erlöser ist ausgeblieben – und so bleibt all das Chaos ungeordnet, tragen wir all den Seelenschutt, den die Zeit uns auflädt, mit uns herum. Und Cordelia Wege? Sie hat etwas nicht Stellbares, eine sinnliche Aura, die zugleich ins Geistige hinüberschwingt. In ihrem Spiel sind Denken und Fühlen nie getrennt, es geht auf immer unerwartete Weise ineinander über. Wir sind im Kaffe in der Immanuelkirchstraße in Prenzlauer Berg verabredet, einer Kneipe, in der wöchentlich Defa-Filme laufen. Aber dort wird renoviert, die Chefin schiebt mich kurz angebunden wieder vor die Tür. Authentische Orte sind rustikale Orte. Von Cordelia Wege ist nichts zu sehen, ich gehe nebenan ins Antiquariat Mutabor – und pralle auf sie, die gerade einen Stapel Bücher unterm Arm zur Kasse trägt. Bücher für ihre Kinder (Bei uns wird gelesen!), aber auch einen Band „Fellini“ für ihren Mann Sebastian Hartmann. Umgeben von Büchern fühlt sich Cordelia Wege wohl. Wir tragen den Stapel hinüber in das Lokal Weinberg, auch dort kann man Kaffee trinken. Diese einstige Szenegegend wirkt inzwischen familiär beruhigt. Die Partyindustrie ist längst weitergezogen. Cordelia Wege und Sebastian Hartmann wohnen inzwischen in Mecklenburg, in einem Dorf zwei Autostunden von Berlin. Um fünf Uhr morgens werden die Holzöfen geheizt, das klingt nach schwerer Zumutung. Nein, lacht sie, sie fühle sich frischer und stärker als je zuvor. Nach dem Ende der Leipziger Intendanz von Sebastian Hartmann 2013, wo sie Ensemblemitglied war und in wichtigen Inszenierungen ihres Mannes wie „Matthäuspassion“, „Fanny und Alexander“, „mein faust“ oder „Krieg und Frieden“ spielte, dauerte es, bis der Druck wich. Hier draußen atmet man anders. Das Motto lautet nun: „Ich lebe gern mit dem Himmel.“ Inzwi-

cordelia wege

schen ist sie Expertin für aufziehende Wetterfronten und Sonnenuntergänge. Der Winter auf dem Lande, sagt sie, ist nicht trist, sondern auf wunderbare Weise erdfarben. Aber es passt zu ihr, dass sie dazu ein Stück Literatur inspiriert hat, Knut Hamsuns „Segen der Erde“, das anhebt: „Der lange, lange Pfad über das Moor in den Wald hinein – wer hat ihn ausgetreten? Der Mann, der Mensch, der erste, der hier war.“ Alltag muss nicht immer leicht sein, hat sie erfahren, man muss die Arbeit nur gern und mit allen Sinnen machen. Anfangs habe sie das Zeitregime aus Leipzig noch mit sich getragen. Nach über einem Jahr erst hörte sie auf, immerzu auf die Uhr zu blicken. Da merkte sie plötzlich, dass sie eine Stunde lang den Hühnern zusehen konnte, wobei eine große innere Ruhe sie ergriff. Aber eine Aussteigerexistenz sei es nicht. Der Eros des Theaters ist ungebrochen, vielleicht sogar stärker denn je. Cordelia Wege entzieht sich den schnellen Verortungen. Bloß nicht das Lebendige in sich abtöten, äußere Befestigungen werden schnell zu Gefängnissen. 1976 in Halle an der Saale geboren, war sie nie bei den Jungen Pionieren. Die Mutter wollte es nicht. Die Mutter war Ärztin, der Vater leitete einen Fuhrpark. Die Familie, sagt Cordelia Wege, sei kirchlich-alternativ eingestellt gewesen. Sie nahm dann auch an der Christenlehre teil, aber als die Konfirmation kam, sagte sie: Nein! Die Begründung lautete in etwa so: Gott ist größer als die Kirche. Und wer kann überhaupt glauben, ohne zu zweifeln? Jugendweihe kam ohnehin nicht infrage – und so begann Cordelia Wege ihre schwebende Existenz jenseits der allzu profanen Eindeutigkeiten. Sie kann sich nicht erinnern, in ihrer Geburtsstadt jemals im Theater gewesen zu sein. Dafür hörte sie vom Jugendpfarrer eindrucksvolle Vorträge über Abaelard und Heloise oder auch über Joseph Beuys. Einmal im Jahr inszenierte er in der Kirche ein Stück. Sie spielte mit. Ein Freund der Mutter sah sie und sagte, vielleicht habe sie Talent zur Schauspielerin. Eine halbe Ermutigung ist besser als gar keine, und so bewarb sie sich gleichzeitig an den Schauspielschulen in Leipzig und Rostock. An beiden wurde sie zu ihrer eigenen Überraschung sofort genommen. Sie ging nach Leipzig, weil dies dichter an Halle lag – denn sie hatte starkes Heimweh und mochte gar nicht an Städte wie Berlin denken, wo man leicht verloren gehen kann. Aber dann fand sie sich nach der Schauspielschule genau dort wieder. Bereits in Leipzig hatte sie Sebastian Hartmann kennengelernt, der als Schauspieler in Weimar unzufrieden gewesen war und nun Regisseur werden wollte. Also begann er an der Schauspielschule in Leipzig mit Szenenstudien. „Zerbombt“ von Sarah Kane, noch in Leipzig, war ihre erste gemeinsame Arbeit, sie als Schauspielerin und er als Regisseur. In Berlin dann der erste spektakuläre Auftritt des von Hartmann gegründeten wehrtheaters hartmann mit „Kalter Plüsch“ im Tacheles. Cordelia Wege sagt, sie erinnere sich an gewaltsame Szenen, deren Bilder sich ihr eingeprägt haben. Wie Guido Lambrecht sie mit dem Kopf auf die Tasten des auf der Bühne stehenden Klaviers gestoßen habe oder sie und ihr Gegenüber jeweils den Kopf in Schlingen an beiden Seiten eines Seils steckten, um sich gegenseitig zu erdrosseln. Physisch manifest gewordene Bilder, nur intuitiv, nicht rational aufschließbar. Eine seltsame, fast somnambule Gegenwelt entstand so.

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protagonisten

Allabendliche Erfindung des Spiels – Cordelia Wege in Sebastian Hartmanns „Hunger. Peer Gynt“ nach Hamsun und Ibsen 2018 am Deutschen Theater in Berlin. Foto Arno Declair

Die Absolventin begann von Schwerin bis Cottbus vorzusprechen, aber ohne Erfolg. Frank Castorf nahm sie sofort. Sie spielte bei ihm an der Volksbühne in „Terrordrom“ und in „Der Idiot“, bei René Pollesch in „Frau unter Einfluss“ nach John Cassavetes – und verließ das Haus bald wieder. Warum? Sie mochte nicht kämpfen, war „nicht durchsetzungswillig“. Konkurrenzgebaren widersprach ihrer Idee von Theaterfamilie. Mit anderen Worten: Sebastian Hartmanns Theaterideen arbeiteten in ihr. Seine Methode einer Freiheit im Spiel, die die Autonomie des Schauspielers ermöglicht – aber sie auch von ihm fordert. Mit Hartmann zusammen wagte sie dann ab 2001 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg neue Spielweisen. Die Dramaturgie der Stücke wurde aufgelöst, es sollte keine feste Chronologie mehr geben. Eine Freundin habe zu ihr gesagt, sie seien so avantgardistisch, dass sie den Zuschauer dabei vergessen würden. Aber das Gegenteil war gewollt. Der Zuschauer, so Cordelia Wege, soll einbezogen werden mittels bewusster Leerstellen. Die muss der Zuschauer selbst mit seiner Vorstellungskraft füllen. Alles andere sei doch bloßer Konsum von fertigen Erzeugnissen.

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Die „Arbeit mit der Lücke“ sei der Schritt zu einem neuen Theater. In dieser Art Spiel müsse sie sich als Schauspielerin viel mehr offenbaren als in einem konventionellen Theater. Kritiker hielten das mitunter für privatim, aber es sei immer eng mit Themen verbunden, nie bloßer Selbstzweck. Schade, sagt sie, dass ich die letzte Vorstellung von Hartmanns Doppelinszenierung von Hamsuns „Hunger“ und Ibsens „Peer Gynt“ (intern nur „HungerPeer“ genannt) am Deutschen Theater in Berlin nicht habe sehen können, da gleich zwei Schauspielerinnen erkrankt waren. Einen Ausfall zu kompensieren war eingeplant, aber gleich zwei, das sei zu viel gewesen. Die Vorstellung wurde abgesagt. In dieser Inszenierung konnte sich jeder Schauspieler seine Textpassagen selber aussuchen, auch die Rollen waren aufgelöst und sogar die Szenenfolge völlig frei. Nur die Grundkonstellationen blieben vorgegeben, der Rest musste sich im allabendlichen Zusammenspiel ergeben. Cordelia Wege findet diese Art Theater heilsam gegen jede Art von bloß äußerem Funktionieren, wo man immer das Gleiche abliefert. Hier aber ist jede Vorstellung ein Unikat, nicht im Vorhinein ausrechenbar. Da sind wir dann beim Thema Scheitern. Scheitern sei doch etwas, das in einem schöpferischen Prozess fruchtbarer sei als jedes Gelingen, das nichts wagt, kein Risiko eingeht. In einer Vorstellung habe sie es sogar auf ihr Scheitern angelegt – und den ganzen Abend nicht ein Wort ihres Textes gesprochen, die Rolle nur stumm gespielt. Und siehe, das ging auch, das Zusammenspiel mit den anderen trug sie. Das sind glückliche Momente. Die Autonomie des Schauspielers ist für sie entscheidend. Er selbst muss auch entscheiden, in welchen Momenten er sie freiwillig aufgibt. Für Cordelia Wege war es eine interessante Erfahrung, jenseits des Hartmann-Universums auf einen Regisseur wie Michael Thalheimer zu treffen. Das ist jemand, der nichts dem Zufall überlässt, formal immer weiter zuspitzt. Im Idealfall brechen in seinem straffen Inszenierungskorsett wieder archaische Grundkonstellationen hervor, wie Angst und Hoffnung, Glaube und Verzweiflung. Sie in einer Thalheimer-Inszenierung, das hätte man nicht erwartet. Ein Zufall, sagt sie, die Proben zu Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ am Berliner Ensemble 2019 hatten schon begonnen, da wurde die Schauspielerin der Blanche krank. Man fragte sie, und so fand sich Cordelia Wege unerwartet in einer Inszenierung wieder, die alles andere als „offen“ ist. „Es dauerte zwei, drei Wochen, bis wir verstanden, was der andere meint“, sagt Cordelia Wege. Und natürlich fände sie es besser, wenn die Blanche nicht die Hauptrolle wäre, sondern eine Figur unter anderen, vielleicht auch von verschiedenen Schauspielern gespielt. Thalheimers „Endstation Sehnsucht“ kommt mit sublimer Wucht daher, auch dank Cordelia Weges Blanche, die gefährlich gedankenverloren wirkt, künstlich bis ins Unerträgliche hinein gesteigert. Eine Getriebene, die mit den sich selbst beschwörenden Worten auftritt: „Ich muss mich zusammennehmen.“ Wobei sie Olaf Altmanns eng gebaute, schräge Bühnenebene, einem Tunnel ähnlich, herabsteigt. Eine Figur zwischen Realität und Traum changierend, ein egozentrischer Engel, der aus seinem Himmel herabgestürzt ist. Die Finger ihrer wie zur Abwehr erhobenen Hände greifen immer weiter nervös ins Leere. Das erinnert


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an Max Schreck in Murnaus „Nosferatu“. Kein Weg führt für sie durch das Dunkel ihrer Existenz. Und am Ende, abgeschoben von ihrer Schwester in eine Anstalt, die Wirklichkeitsverdrängung auf den Schmerzpunkt treibend, klingt es wie eine Stimme aus dem Jenseits, sie habe sich immer auf die Freundlichkeit von Fremden verlassen. Das ist sie fürwahr: eine Verlassene. Von hier ist es nicht mehr weit zu Knut Hamsuns Porträt des intellektuellen Prekariats in „Hunger“. Da schreit es Cordelia Wege heraus: „Du Narr, du hast ja schon angefangen zu sterben!“ Ein Intellektuellendrama, das in einem Denken wurzelt, für das es keinen Markt gibt. Wohl aber ein starkes existenzielles Bedürfnis. Ibsen, der notorische Gespensterseher, hat dieses Versagen in den Augen einer brutalen Welt, den Fluchtweg in eine Fabelwelt, in „Peer Gynt“ thematisiert. Der Intellektuelle als romantischer Taugenichts endet als Internierter in seinem eigenen Wahn. Oder doch auch frei in ihm? Am wichtigsten finde sie, sagt Cordelia Wege, dass die Dinge offenbleiben, nicht auserzählt werden. In „Hunger“ wohnen schon Hamsuns „Mysterien“. Eine Apotheose des Hungerkünstlers. Darin stürzt der Fremde eine Kleinstadt ins Chaos: „Sie verwirren alle meine Begriffe, stellen mir die Dinge auf den Kopf,

Beschwörende Gesten eines egozentrischen Engels – Cordelia Wege (r.) mit Sina Martens und Andreas Döhler in „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams, inszeniert von Michael Thalheimer am Berliner Ensemble 2019. Foto Matthias Horn

cordelia wege

gleichgültig, worüber sie sprechen.“ Nicht schlecht, solch ein Resultat, an dem Hartmann wie Thalheimer – von verschiedenen Seiten kommend – arbeiten: die gewohnten Wahrnehmungsmuster zerstören und ein neues Sehen ermöglichen. Wir sprechen über die Wandlung der Dinge – und die Zeit, die diese dafür braucht. Ein und dasselbe steht plötzlich anders vor uns! Auch das gehört zu den Mysterien. Sie habe, sagt Cordelia Wege, die Worte immer hochgeschätzt. Aber jetzt noch mehr denn je. Sie sind eine eigene Welt. Und vielleicht ist alles Spiel auf der Bühne am Ende nur dafür da, dass wir die wenigen die Welt aufschließenden Worte wieder zu hören vermögen? Die magischen Zaubersprüche, die unser Leben ­verändern? In Wolfram Lotz’ „Die Politiker“, als vierzigminütiger Epilog zu Hartmanns „Lear“ 2019 am Deutschen Theater zu hören, ist sie weniger Dienerin der Worte als ihr Dompteur im Wort­ zirkus der Politikphrasen. Sie sitzt nur da, vorn an der Rampe auf dem Boden, und spricht den Monolog. Dabei, sagt sie, habe sie die Erfahrung gemacht, dass sie eine gewisse Distanz, fast schon Unbeteiligtheit brauche. Verbindlichkeit ruiniere den kalten Rausch dieses Wortflusses. Dieser Monolog hat einen Untergrund, den es hörbar zu machen gilt. Verdrängte Verzweiflung! Die sich so wichtig nehmenden politischen Macher sind doch im Grunde Gefangene ­ihrer eigenen leerlaufenden Bedeutsamkeitsrituale. Bloße Simulanten, die Leben vortäuschen. Wüssten sie dies, müssten sie zu Tode erschrecken – ausgeliefert unserem Erbarmen. //

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Kunst und Kostüm Unterschätzt und unter Wert honoriert – Unser Blick auf das Kostümbild als Kunstform bedarf einer Revision von Katharina Kromminga

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a!? Wart ihr mal wieder shoppen?“ Diesen Satz hören Kostümbildnerinnen und Kostümbildner wirklich oft. Er legt offen, wie gering die Arbeit der Kostümschaffenden angesehen wird. Dieser Beruf ist kein lustiges Shoppingvergnügen. Die Visualisierung ­einer Rolle, also zu großen Teilen das Kostüm, bildet den ersten Kontakt der Figur zum Publikum, ehe die Sprache übernimmt. Doch die Wirkmacht des Kostüms wird permanent unterschätzt. Und in der Folge der Berufsstand wenig wertgeschätzt. 2013 wurde das Steuergesetz für die Berufsgruppen der Bühnenregie und Choreografie geändert. Seitdem fallen Regie­ arbeiten unter die Steuerbefreiungsnorm. Zur gleichen Zeit zeigten sich Kulturverbände sowie Politikerinnen und Politiker erstaunt, dass das Erarbeiten von Bühnen- und Kostümbildern ebenfalls

eine künstlerische Tätigkeit sei. Man nahm an, es handele sich um eine Dienstleistung, da vordergründig Gegenstände produziert würden. Der Umsatzsteuersatz dieser Berufsgruppe sollte deshalb von sieben Prozent rückwirkend auf 19 Prozent erhöht werden, obwohl Bühnen- und Kostümbildnerinnen und -bildner ein Gedankenprodukt erarbeiten und die urheberrechtlich geschützten Ergebnisse für eine bestimmte, zeitlich begrenzte Nutzung, eben für eine Theaterinszenierung, zur Verfügung stellen. Aus dieser Diskussion entstand eine anhaltende Debatte um die Arbeitswirklichkeit freischaffender Bühnen- und Kostümbildner. Zudem konstatierte der Bund der Szenografen die schwindende

Mehrfach ausgezeichnet als Kostümbildnerin des Jahres: Victoria Behr – Hier ihre Kostüme für Herbert Fritschs Inszenierung „Die Philosophie im Boudoir“ von Marquis de Sade 2018 am Schauspielhaus Bochum. Foto Birgit Hupfeld


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kunst und kostüm

Wahrnehmung der Ausstattungsberufe in der Fachöffentlichkeit. Auch dort herrscht die Annahme vor, Bühne und Kostüm arbeiten ausschließlich der Regie und den Darstellenden zu. Die Gruppe der Ausstatterinnen und Ausstatter geriet aus dem Blick des Kunstgefüges, was sich in den Arbeits- und Vertragsbedingungen niederschlägt: Die Gagen für Ausstattungen sind zwischen 2008 und 2015 um sechs Prozent gesunken. Im berufsinternen Vergleich verdienen Kostümschaffende hier noch mal 26 Prozent ­weniger als Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner, so die Erkenntnis aus einer Umfrage des Bundes. Warum ist das so? Ein Kostüm erschaffen ist die bewusst angewandte Kunst, Kleidung zu wählen, sie aus ihrem zeitgebundenen soziokulturellen Kontext zu lösen und sie mit bestehenden oder historischen Kleidercodes in ein neues, künstlerisch-ästhetisches Verhältnis zu setzen. Martin Rupprecht, Leiter der 1967 erstmals vom Büh­nen­ bild geteilten Kostümklasse in der Meisterschule für das Kunsthandwerk Berlin, beschrieb das Kostümbild in einem Interview 2016 sehr zutreffend so: „Die Bühne geht auf, ich sehe eine Figurenerfindung und die halbe Geschichte ist erzählt.“ Das optische, kostümbildnerische Erscheinungsbild lenkt die Einschätzung der Betrachtenden. Das Kostüm charakterisiert die Figur. Es kann den Schauspielerinnen und Schauspielern einen enormen Schutz, Impuls oder Ausdruck verleihen. Die Figur wird durch ihr Kostüm in einen sozialen und psychologischen Kontext gesetzt und damit in einem Gesamtbild oder einem Milieu verortet. Wie sieht ein frisch entlassener Banker aus? Wie eine notorische Lügnerin? Als schaffende eigenständige Kunstform wird das Kostüm zum mitdenkenden Gestalter einer Inszenierung. Dennoch positionieren sich viele Kostümschaffende bis heute nicht eindeutig. Zur Bestandsaufnahme dieser Kunstform schrieb ich an der LMU München meine Abschlussarbeit „Stellenwert des Berufes Kostümbildner*in“. Darin untersuchte ich die Produktionsbedingungen und die Position von Kostümschaffenden innerhalb der Theater wie auch in Inszenierungsteams. Als Grundlage diente ein für diese Arbeit entwickelter Fragebogen zum beruflichen Selbstbild, zur Vergütung und Wertschätzung von Kostümschaffenden, der mithilfe der Soziologin Inka Stock von der Universität Bielefeld ausgewertet wurde. Auch die 2016 erschienene ­Studie „Arbeits- und Lebenssituation von freiberuflich tätigen Bühnenund Kostümbildner*innen“ des Bundes der Szenografen sowie das aus dieser Studie resultierende Reformpaket fanden in die Untersuchung Eingang. Es lässt sich anhand der historischen Entwicklung des Berufs, der Tätigkeitsprofile, der Organisations­ hierarchie, der Vertragsverhandlungen, der Missachtung in der Fachöffentlichkeit und der Genderfrage aufzeigen, warum Kostümschaffende trotz der bestehenden hohen Anforderungen nicht adäquat honoriert werden.

Durch diese uneindeutige Positionierung bleibt die soziale Identität des Berufs, permanent pendelnd zwischen Eigenständigkeit und Anhängsel, ungeklärt. Erst 1967 wurde dieser komplexe, stark intellektuelle, künstlerische Prozess als akademischer Beruf anerkannt. Weitere Gründe für die heutige Position der Kostümschaffenden sind die lang anhaltende Tradition der Selbstkostümierung der Darstellenden wie auch die historisch gewachsene effeminierte Position des Handwerks der Schneiderei. Die Kunstform Kostümbild wird immer noch als Schneiderei missverstanden.

Kunstanspruch und Dienstleistung

Am Beginn einer Weltenerfindung für einen Theaterabend steht ein Text oder eine konzeptionelle Idee. Dafür sprechen die Teams, bestehend aus Regie, Bühne, Kostüm, Musik, Video und Dramaturgie, meistens in der Vorbereitungszeit miteinander. An vielen Stadt- und Staatstheatern, aber auch in der freien Szene werden Bühnenbilder unabhängig und vor dem Entwurf des Kostümbilds geplant und besprochen. Dies liegt an den früheren Abgabe­ terminen für Bauproben, um rechtzeitig mit der Realisation der

Kostüme gibt es schon sehr lange, und trotzdem ist der Beruf ­Kostümbildner ein junger. Er kristallisiert sich Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Beruf des Ausstatters heraus, ohne sich je ganz von der Ausstattung zu trennen. Bis heute gehört das Kostüm mal in Personalunion zum Bühnenbild dazu, oder es wird zusätzlich von einer Kostümbildnerin oder einem Kostümbildner erarbeitet.

Spielerischer Widerstand für den Körper – Florence von Gerkan übersetzte die Behinderung Richards III. ins Kostüm. Hier Lars Eidinger in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shakespeares „Richard III.“ 2015 an der Schaubühne in Berlin. Foto Arno Declair

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protagonisten

Bühnenbilder beginnen zu können. Die Produktion von Büh­nen­ bildern erfordert einen größeren Raum, oftmals mehr Zeit und den Einsatz von größeren Maschinen. Auch ist der ganze Produktionsprozess weniger flexibel organisiert, es kommt seltener zu Veränderungen des Bühnenbildkonzeptes während der Probenphase. In den Werkstätten der Bühnenabteilung arbeiten zum größten Teil männliche Handwerker. Das Kostümbild dagegen entwickelt sich heute in der Regel nach der Setzung des Bühnenbildes. Die Abgabe der Kostüme wird in vielen Fällen so lange wie möglich herausgezögert, um den Entwurf so genau wie möglich an die Darstellerinnen und Darsteller und die sich entwickelnden Szenen anpassen zu können. Durch diese Arbeitsweise sind konzeptionell-gesamtbildlich gedachte Kostümentwürfe schwerer realisierbar. Im heutigen Regietheater stehen die durch die Regie geschaffenen Figuren oder Performer im Zentrum eines Theaterabends. Durch das Unterordnen und das Sicheinfügen des Kostümbilds während des Produktionsprozesses kommt es zu inadäquaten, unterkomplexen Reaktionen, die zulasten des künstlerischen Prozesses und zur Abwertung des Berufes Kostümbild führen. Das Kostüm ist sehr viel kleinteiliger, und Flexibilität spielt eine viel größere Rolle, kann doch noch im letzten Augenblick durch eine Veränderung im Kostüm ein neuer Spielimpuls gesetzt werden. Es können weit in die dramaturgische Entwicklung eines Abends hinein Veränderungen geschaffen werden. Das Kostüm muss zur Rollenidee des Textes beziehungsweise des Regiekonzepts passen, aber gleichzeitig auch Raum für die Spielerinnen und Spieler lassen. Wie bewegt man sich? Wie füllt man das Kostüm aus, wie schränkt die Vorgabe des Kostüms ein? Kaum jemand erahnt, wie viel Zeit, Kompetenz und Kunstformen in der Erarbeitung eines Kostümbildes stecken. Das Kostümschaffen wird zu einem dienenden Beruf, einem Fürsorgeberuf, also einem weiblichen ­degradiert. In den Kostümabteilungen arbeiten vorwiegend Frauen. Der Beruf befindet sich in einem Dilemma zwischen dem Anspruch auf Kunst und der von außen kommenden Erwartungshaltung einer Dienstleistung. Dienen und Fürsorge verstärken die geringere Wertschätzung wesentlich. Die hohe Flexibilität in der Ausarbeitung erfordert zu alledem eine erhöhte Präsenz in der Probenphase im Vergleich zu den Bühnenbild-Kolleginnen und -Kollegen (dies belegt die vorgelegte Studie des Bundes der Szenografen), was zu einer zweifach schlechteren Bezahlung führt. Es lässt sich schlechter parallel arbeiten, was aber oft für eine Grundsicherung der Fall sein müsste. Ein weiteres gravierendes Problem sind die gewachsenen Organisationsstrukturen, gerne auch ungeschriebene Gesetze genannt. Kostümbildnerinnen und -bildner werden in der Regel erst nach den Verhandlungen mit Regie und Bühne zu Vertrags­ gesprächen geladen. Selbst wenn diese Position akzeptiert werden würde, ist sie keine gute Grundlage für Vertragsverhandlungen in einem schleppend organisierten Betrieb. Kommt man zuletzt, bleibt nur noch der Rest. Zudem setzen viele Kostümschaffende die Wertschätzung ihrer Arbeit nicht in Bezug zur Gage. Das heißt, ein künstlerisches Werk entsteht um seiner selbst willen, aber nicht, um einen Profit zu erzielen. Auf die Frage aus meinem Fragebogen nach der gewünschten Wertschätzung antwortete kaum jemand, dass sie oder er eine Wertschätzung über die

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­ ezahlung wünscht. Die Antworten sind nicht fordernd, es werB den weiche Faktoren als Wertschätzung begriffen. Man kann und soll für die Rahmenbedingungen dankbar sein, für die Chance, sich zeigen zu können. Es geht ihnen um die Währung Dankbarkeit der Regisseurin oder des Regisseurs. Ebenso um die Sympathie in den Werkstätten, das gute Verhältnis zu den Darstellenden und um die Reaktion der Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Haltungen sind eher devot, bedingt durch den eigenen Anspruch des Sicheinfügens. Aber durch das Argumentieren mit weichen Faktoren lassen sich kaum monetäre Forderungen generieren. Die Kunst eines Kostümbildes wird auch hier als Dienstleistung verhandelt. Und dann ist da noch die Fachöffentlichkeit, die die Kunstform Kostümbild in ihren Medien zeigt, aber nicht bespricht. Auf die Frage nach den Nennungen im Feuilleton lässt sich aus meinem Fragebogen zusammenfassen, dass etwa eine von zehn Produktionen eine kostümbildliche Erwähnung im Feuilleton erhält. Eine Erwähnung – keinen Diskurs. Kostümschaffende und im Besonderen ihre Arbeit werden nicht im Feuilleton diskutiert, dadurch sind sie weniger bekannt. Es gibt kaum öffentliche Kunstdebatten über Kostümbilder. Dieses Nicht-genannt-Werden in Kritiken zieht neben künstlerischer Missachtung auch nach sich, weniger berühmt zu sein. Und dies bedeutet im Theater, einem Ort des leidenschaftlichen Namedroppings, geringere Honorare. Julia Burde von der Universität der Künste Berlin beendete ihren Artikel „Das Bühnenkostüm“ (im Band „Kostümbild“, Lektionen 6, Theater der Zeit 2016) mit dem Fazit: „Ganze Jahrbücher von Theaterzeitschriften kommen ohne die Erwähnungen auch nur des Wortes ‚Kostüm‘ aus und sind doch auf fast jeder Seite mit Hochglanzfotos von Kostümen bebildert. Warum? Das bleibt wohl weiterhin ein Geheimnis …“ Kostümschaffende befinden sich in einer kognitiven Dissonanz zwischen dem eigenen Anspruch, der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der arbeitsinternen Wertschätzung.

Der Gender Pay Gap Auf die Frage „Wie begründet sich Ihrer Meinung nach die unterschiedliche Bezahlung von Bühnen- und Kostümbildner*innen?“ antworten zehn von zwölf unumwunden, es sei ein weiblicher B­eruf, auch wenn Männer ihn ausführten. Nach wie vor ist es w­issen­ schaftlich nicht erforscht, weshalb Frauenberufe mit einer geringeren Entlohnung einhergehen. Erste Erkenntnisse sozio­logischer Forschungen legen nahe, dass geschlechtsspezifische Tätigkeitsprofile monetäre Unterschiede zwischen Männern und Frauen innerhalb von Berufsgruppen erklären können (so zu h ­ ören auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozio­logie in Göttingen 2018). Die Ergebnisse der Studie des Bundes der Szenografen zeigen: Wenn Frauen einen männlich konnotierten Beruf, den des Bühnenbildners, ausüben, liegt der Gender Pay Gap bei 12 Prozent. Wogegen Frauen bei Ausübung eines weib­lichen Berufs, hier der Kostümbildnerin, eine höhere Lohnlücke, nämlich von 26 Prozent, h ­ aben. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 21 Prozent. Es wird immer und immer wieder belegt, dass es eine Lohnlücke gibt, seit Jahrzehnten. Aber die Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Warum ist das so? Der Fortbestand von Machtstrukturen, die auf der Ungleichbehandlung von Geschlechtern basieren, hängt direkt davon ab, ob die ihnen zugrunde liegenden Normen


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Bestand haben werden. Die projektorientierte Arbeitsweise Kulturschaffender kann dabei durchaus modellhaft zur Analyse anderer Beschäftigungssysteme dienen. Sie kann zeigen, welche Auswirkungen der hohe Bedarf an Flexibilität, Mobilität, aber auch der Selbstverwirklichungsanspruch künstlerischer Arbeit auf ­Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben. Insofern können theaterspezifische Arbeitsweisen gesamtgesellschaftliche Phänomene beschreiben, die insbesondere Frauen benachteiligen. Die Inszenierungsteams sind oft langjährige Arbeitsgemeinschaften. Sie begreifen sich auch als Theaterfamilien, meist mit stark hierarchischen Strukturen. Betrachtet man die Identität und Legitimität eines Berufs und die Position innerhalb des Machtgefüges, lassen sich die gewachsenen Systeme besser verstehen. „Die Frage der Legitimität ist grundlegend für eine neue ­Debatte über die Aufwertung der Rolle der Kostümbildner*innen in den Theatern. Würden die wesentlichen Akteure im Inszenierungsprozess gleichbehandelt werden, würde es die Konkurrenz abbauen, die Inszenierungs-Teams als Team aufwerten und zu völlig neuen, konkurrenzlosen Modellen der Zusammenarbeit führen, je interdisziplinärer die Inszenierungsarbeiten werden, desto mehr wird dies zu einer Aufwertung aller Bereiche der künstlerischen Arbeit führen.“ So Thomas Schmidt, unter anderem Mitbegründer und Vorstandsmitglied des ensemble-netzwerks (siehe auch S. 120), in der Beurteilung meiner Abschlussarbeit. Die Lösung für die ungleiche Bezahlung innerhalb der ­Inszenierungsteams kann jedoch nicht darin bestehen, die Bühnenbildgage für die Erhöhung der Kostümgage anzugreifen, wie einige Budgetverantwortliche schlussfolgern. Die Differenz muss

kunst und kostüm

Ein Chor von Pyjamas – Diese Setzung macht Kostümbildnerin Tabea Braun in René Polleschs „Cry Baby“, das dieser 2018 am Deutschen Theater in Berlin uraufführte und in dem es auch ums Schlafen geht. Foto Arno Declair

aus anderen Geldern generiert werden. Gerechtigkeit kostet. Auf die Frage, ob es sich realisieren ließe, Kostüm und Bühne gleich zu honorieren, antwortete mir ein geschäftsführender Direktor: „Wenn man es wollte, es wäre möglich. Man muss es nur wollen!“ Das Reformpaket des Bundes der Szenografen ist ein erster Versuch, die Grundsicherung dieser beiden Berufsgruppen zu gewährleisten. Für die Freiheit und qualitative Entwicklung dieser Kunstformen und damit ihren Erhalt bedarf es einer existenz­ sichernden Bezahlung. Wenn man aber Reformen nicht dem guten Willen Einzelner überlassen möchte, braucht es die übergeordneten Institutionen. Diese Aufgabe liegt entweder bei den Intendanteninnen und Intendanten, beim Deutschen Bühnenverein oder bei den jeweiligen Kommunen. Die Lösungsfindung kann nicht zum Aufgabenbereich zweier Berufsgruppen gehören, die Seite an Seite zusammenarbeiten. Monetäre Wertschätzung kann nur durch die Budgetverantwortlichen bestimmt werden. Der Zeitpunkt für eine gerechte Bezahlung dieser beiden Berufsgruppen fällt mit einer allgemeingültigen existenziellen Bedrohung der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen zusammen, aber dies ist kein Grund, diesen Zustand weiterhin nicht zu thematisieren. // Siehe auch das Künstlerinsert über Adriana Braga Peretzki ab Seite 4.

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Antikapitalistische Spiegelungen Das neue Intendantenduo des Schauspielhauses Zürich Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg verpacken Gesellschaftskritik geschickt zwischen Märchen und Musical von Christoph Leibold

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er Pfau ist gerupft. Alles Plüschige ist verschwunden aus dem Foyer. Stattdessen: nackte, betongraue Wände, an denen Überbleibsel der alten Verkleidung sichtbar sind, als wäre sie gerade erst herausgerissen worden. Schmale Leuchtbahnen tauchen den Raum in grelles Licht, das den betont unfertigen Charakter unübersehbar macht. Wer schon einmal irgendwo eine Inszenierung von Regisseur Nicolas Stemann und Dramaturg Benjamin von Blomberg, der neuen Doppelspitze des Schauspielhauses Zürich, gesehen hat, muss das natürlich als programmatisch ­

­egreifen. Das Prozesshafte, Provisorische kennzeichnet ihre b ­Arbeiten, die im Idealfall Diskussionsangebote ohne Anspruch auf Deutungshoheit sind. Für von Blomberg geht es darum, dass im Theater „Menschen sichtbar werden, mit dem, was sie können und einstudiert haben, klar, aber auch mit der Schönheit ihrer Fehlbarkeiten, ihren Nöten, mit ihrem Vermögen, sich zu improvisieren.“ Dafür brauche es eben auch „formale und architek­­to­ nische Setzungen, die nicht das Essenzielle festzuschreiben

Satirischer Reflex im reichen Zürich – Nicolas Stemann bringt Ayn Rands prokapitalistischen Roman „Der Streik“ als Musical auf die Bühne des Schauspielauses Zürich. Foto Gina Folly


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v­ er­suchen – die starre Repräsentation, hinter der sich der Mensch versteckt –, sondern Raum lassen für das Spielerische.“ Klar habe es, vor allem was das Foyer betrifft, anfangs auch wüste Beschimpfungen gegeben, wobei von „DDR-Ästhetik“ und „Parkgarage“ die Rede gewesen sei. Ansonsten aber waren die Reaktionen überwiegend positiv, wie von Blomberg betont: „Ich denke, die Menschen spüren, da hat etwas Neues begonnen, das auch für Publikumsschichten attraktiv sein will, die bisher nicht in dieses Theater gekommen sind.“ Begonnen hat die neue Zürcher Mannschaft erst mal mit alten Arbeiten. Das Leitungsduo ist mit sieben Hausregisseurinnen und -regisseuren angetreten, dazu Stemann selbst als regieführender Intendant. Zum Auftakt im September gab’s ein Fes­ tival mit Inszenierungen der acht, die andernorts produziert wurden und erfolgreich gelaufen waren. Die Intendanten selbst zum Beispiel schickten ihren bei den Salzburger Festspielen gefeierten Doppel-„Faust“ von 2011 ins Rennen. Die litauisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross präsentierte sich mit „Wunschkonzert“ von Franz Xaver Kroetz, das sie bei den Wiener Festwochen inszeniert hatte. Leonie Böhm brachte ihre Horváth-Inszenierung „Kasimir und Karoline“ von der Theaterakademie Hamburg mit, Christopher Rüping Miranda Julys „Der erste fiese Typ“ von den Münchner Kammerspielen. Rüping bestritt Ende Oktober dann auch die erste „echte“ Premiere der neuen Ära – „Früchte des Zorns“ nach dem Romanklassiker von John Steinbeck –, die nun aber befreit war von der Bürde, den Big Bang zum Neustart zu liefern. Schließlich lief der Spielplanbetrieb da schon über einen Monat. Viel Zeit für die neue Theatertruppe und ihr künftiges ­Publikum, sich aneinander zu gewöhnen. Ein schlauer Schachzug. Zudem will von Blomberg die Eröffnung mit Übernahmen als Zeichen der Nachhaltigkeit verstanden wissen. Dass das Output vieler Theater zuletzt immer größer, dadurch aber nicht zwangsläufig besser geworden ist, lässt sich kaum von der Hand weisen. Da liegt es in der Tat nahe, alte Qualitätsware zu recyceln, um einen Spielplan zu füllen, statt hochtourig neu zu produzieren. Dem wohlhabenden Zürich mit Second-Hand-Ware zu kommen, hat gleichwohl etwas Provokantes. Andererseits sollte der damit einhergehende Verzicht auf Exklusives ja gerade in einer calvinistisch geprägten Stadt wie Zürich auf fruchtbaren Boden fallen. Sicher, Reichtum erwächst oft aus Entsagung. Aber nur wer besitzt, kann sich auch etwas verkneifen. Insofern ist Steinbecks Roman eine interessante Wahl für Zürich, ist doch Verzicht für die bettelarme Farmerfamilie Joad, deren Geschichte hier erzählt wird, nicht wirklich eine Frage der freien Entscheidung. Auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen die Joads Oklahoma Richtung Kalifornien. Sie sind nicht nur Arbeitsmigranten, sondern zudem ein frühes Beispiel für Klimaflüchtlinge. Die Gegend, die sie verlassen, heißt Dust Bowl. Profitgier und landwirtschaft­ liche Monokultur haben die Äcker ausgelaugt. Und weil die Gräser, die den Boden einst überzogen haben, untergepflügt wurden, pfeift ungebremst ein sandiger Wind durch diese Staubschüssel. Wie aber erzählt man nun von Flüchtlingselend für ein Publikum, das derlei Not nur aus den Medien kennen dürfte? Christopher Rüping hat das Stückensemble in zwei Gruppen geteilt. Maja Beckmann, Nils Kahnwald und Nedège Kanku bilden den Joad-Clan, gekleidet in taubenblaue Arbeitertracht.

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I­hnen gegenüber steht eine unter dem Namen „Gucci-Gang“ ­firmierende Fünferbande, der Lene Schwind Patchwork-Kostüme aus Markenklamotten geschneidert hat. Das Material dazu fand sie im Altkleidercontainer, aus dem sich in Zürich auch schon Mal ungetragene Armani-Anzüge ziehen lassen. Die Guccis verkörpern alle übrigen Figuren, denen die ­Joads begegnen, und fungieren zudem als Spielmacher, die den Armeleutedarstellern sagen, wo’s langgeht in der Handlung – wozu sie die Kollegen auch schon mal rüde herumkommandieren und perfiderweise zugleich anschnauzen, sich doch gefälligst zu wehren. Schließlich bedeutet der berühmte „American Dream“, dass es jeder von ganz unten nach ganz oben schaffen kann, in seiner Umkehrung auch: Wer es nicht schafft, ist selber schuld.

Nicolas Stemann (rechts, *1968) studierte Regie in Wien und Hamburg. Seit 1995 inszenierte er u. a. am Thalia Theater und am Schauspielhaus Hamburg. 2004 bis 2007 war er Hausregisseur am Burgtheater Wien, 2015 bis 2016 an den Münchner Kammerspielen. Seit 2002 realisiert er kontinuierlich Uraufführungen von Stücken Elfriede Jelineks, so u. a. „Das Werk“, „Babel“ und „Ulrike Maria Stuart“, häufig in Zusammenarbeit mit Benjamin von Blomberg (*1978). Gemeinsam erarbeiteten Stemann und von Blomberg z. B. auch „Faust I & II“ am Thalia Theater Hamburg und „Die Kontrakte des Kaufmanns“ am Schauspiel Köln, die beide zum Festival d’Avignon und zum Berliner Theatertreffen eingeladen waren. Von Blomberg war 2012 bis 2015 Chefdramaturg der Sparte Schauspiel am Theater Bremen. 2015 bis 2016 bekleidete er d ­iese ­Position an den Münchner Kammerspielen. Seit 2019 sind beide Co-Intendanten am Schauspielhaus Zürich. Foto Gina Folly

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So schieben die happy few bei Rüping den armen Schweinen die Verantwortung für ihre Not selbst zu. Das ist der interessante Blickwechsel, den die Inszenierung vollzieht: Sie stellt nicht das Elend der Bedürftigen aus, sondern konfrontiert das (tendenziell begüterte) Publikum mit der eigenen Perspektive. Die Bühne von Jonathan Mertz hat Werkstattcharakter. Da müssen ein einsamer Kaktus oder Orangenbaum schon mal reichen, um Wüstenödnis oder eine Plantage zu markieren. Beide sind aufblasbar. Es dauert auch ein wenig, bis den Abend Luft und Leben ausfüllen. Doch während die Träume der Joads rasch platzen, hält die Inszenierung die Spannung, sowie sie erst mal auf­ gebaut ist, bis zum Schluss. Dass sich über das Gefälle zwischen Reich und Arm auch im Kindertheater erzählen lässt, beweist Intendant Nicolas Stemann selbst in seiner „Schneewittchen“-Inszenierung. Darin tritt Lukas Vögler als grandios grimmiger Grimm-Interpret vors Publikum. Die Märchenstunde hat kaum begonnen, da knallt er das schwere Buch auf seinem Schoß schon wieder so vehement zu, dass es staubt. Einen „Scheißdreck“ werde er erzählen, denn wenn die Eltern der versammelten Kinder erführen, was er so verdiene als Märchenonkel, würden die sich „kaputtlachen“. Viel lieber will Vögler die Kinder mit der Wahrheit konfrontieren. Auch Nicolas Stemann will sein Publikum nicht in eine heile Märchenwelt entführen. Bei ihm heißt Schneewittchen (Giorgina Hämmerli) eigentlich Renate und ist eine Renitente, fast so taff wie Henni Jörissens Rotkäppchen, das sich in die falsche Geschichte verlaufen hat und eigentlich ein Trotzkäppchen ist, gegen das sich der böse Wolf von Songhay Toldon wie ein Schmusetier ausnimmt. Schneewittchen indes trifft auf fiese Zwerge, die sie nicht aus schierer Barmherzigkeit aufnehmen, sondern weil sich end-

Die Klassenfrage als Ausstattungsfrage? – Christopher Rüping teilt in seiner Inszenierung von John Steinbecks „Früchte des Zorns“ am Zürcher Schauspielhaus die Welt in Gucci und Blaumann auf. Foto Zoé Aubry

lich eine ausbeutbare Arbeitskraft hinter die sieben Berge verirrt hat, wie die Zwerge unverhohlen rappen: „Wir werden dich beschützen, und du, du wirst uns nützen!“ Die böse Stiefmutter ­(Tabita Johannes) indes röhrt wie Nina Hagen und ist eine überkandidelte Beautyqueen, die ausrastet, weil Schneewittchen besser in Form ist als sie, und das ganz ohne Selbstoptimierungswahn. Stemann hält dem Publikum in dieser anarchisch-amüsanten Märchensause das Spieglein an der Wand vor. Dass er als Intendant höchstselbst das Kinderstück zu Weihnachten inszeniert, ist durchaus als Statement zu begreifen. Aber bitteschön keinesfalls als Geste der Bescheidenheit, wie Benjamin von Blomberg mit Nachdruck klarstellt: „Ich ermahne alle, die Brille abzusetzen, dass Theater für Kinder und Jugendliche zu machen keine Theaterkunst sein könnte!“ Ums genretypisch kindgerechte Happy End kommt Stemann gleichwohl nicht herum. Dem Märchenwald droht dasselbe Schicksal wie Tschechows Kirschgarten, er soll abgeholzt werden, um Platz für ein profitorientiertes Bauvorhaben zu schaffen. Doch die entsprechenden Pläne von Schneewittchens Vater (Matthias Neukirch als Immobilienkönig) werden durchkreuzt. Auch in der Zürcher Neuinszenierung des Tschechow’schen Spielplanklassikers durch Yana Ross ist im finalen Akt weder das Hämmern von Äxten noch das Heulen von Motorsägen zu hören – was allerdings daran liegt, das der Bauer Lopachin, der hier Heinz


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heißt, den Kirschgarten nicht wie im Original erst im Laufe des Stücks ersteigert, sondern schon vor Jahren erworben hat. Überhaupt ist vieles hier anders. Die hochverschuldete Gutsbesitzerin Ranewskaja beispielsweise kehrt nicht auf ihr ländliches ­Anwesen zurück, sondern checkt samt Sippschaft in einer Psychoklinik ein, um sich dort einer Familientherapie zu unterziehen, Einzelsitzungen und Stuhlkreise inklusive. Ross’ „Kirschgarten“-Update ist zum Teil aus Improvisationen mit dem Ensemble e­ ntstanden und trotz Neufassung gutes altes Schauspielertheater aus dem Geiste des psychologischen Realismus. Auch das ist also unter dem neuen Indendantenduo nach wie vor möglich. Was so nicht zwingend zu erwarten gewesen war. Nicolas Stemann freilich scheint nicht nur als Intendant gerade dabei, sein formalästhetisches Spektrum zu erweitern, sondern auch als Regisseur. Auf sein erstes Märchen folgte das erste Musical. Dafür hat er sich den 1300-Seiten-Wälzer „Der Streik“ von Ayn Rand vorgenommen. Die Lehre dieser 1957 geschrieben Bibel der Kapitalismus-Gläubigen wirkt in den Vereinigten Staaten in der Anbetung durch die Jünger der Reaganomics bis zu den Apologeten des Neoliberalismus unserer Tage fort. In Rands Roman treten nicht Arbeiter in den Streik, sondern Großunternehmer, weil sie sich durch Sozial- und Steuerpolitik gegängelt fühlen. Zu den von der Autorin verherrlichten Protagonisten des Romans zählen Selfmade-Männer wie der Stahlmagnat Hank Rearden, ein Firmenpatriarch, der für jenes Amerika steht, das der gegenwär­ tige US-Präsident Donald Trump beschwört, wenn er das Land „great again“ zu machen verspricht. Kein Wunder, dass „Der Streik“ in der Alt-Right-Bewegung begeistert gelesen wird.

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Dass Stemann den Stoff ins Musical überführt, ist natürlich einem satirischen Reflex geschuldet, lassen sich doch Pathos und Kitsch der (literarisch übrigens eher zweifelhaften) Vorlage in diesem Genre derart auf die Spitze treiben, dass sich das Dargebo­ tene gar nicht anders begreifen lässt denn als ironisch. Statt auf einer Showtreppe wird auf, unter und vor einer Metallbrücke gespielt, die aus einer Fabrikhalle stammen könnte. Wie an indus­ triell gefertigten Bauteilen bedient sich auch die Musik (von ­Stemann weitgehend selbst komponiert und kompiliert) aus stilistischen Versatzstücken der Musicalgeschichte von Weill bis ­Webber. Da ist vieles klug kopiert, aber nur wenig wirklich witzig parodiert. Im besten Falle kommt dabei eine swingende Umdeutung des Solidaritätslieds von Brecht/Eisler heraus, das zum Lobgesang auf die „Individualität“ und das egoistische Profitstreben wird. In matteren Momenten zitiert Stemann schlicht ABBAs „The Winner Takes it All“. Wenn Hank Rearden dann an anderer Stelle beklagt, dass dem beileibe nicht so ist, weil die Steuer die Hälfte seines Gewinns auffrisst, bleibt das eine platte Pointe. Was fehlt, ist Mut zu echtem Trash und, ja, auch zu Zynismus. Klar, die Darsteller der Armen tragen fratzenhafte Knautschgummimasken, die ihnen die Puppenspieler von Das Helmi verpasst haben. Mit etwas gutem Willen könnte man auch die eher dürftigen Gesangsleistungen der Schauspieler als Selbstironie verbuchen. Zudem nimmt sich Stemann selbst auf die Schippe, wenn er einen Theatermann auftreten lässt, der in seinen Inszenierungen die Großkapitalisten angreift, an deren Sponsorentropf er hängt. Das alles reicht aber nicht, um dem ansonsten gelungenen Neustart noch ein böse funkelndes Glanzlicht aufzusetzen. //

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In und aus der Reihe tanzen

Das neue Leiterinnenkollektiv Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert erklären das Theater Neumarkt in Zürich zur experimentellen Spielwiese – präsentieren unterm Strich aber Stadttheater im Kleinformat von Dominique Spirgi


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ls Erstes wurde mal ganz gehörig getanzt. Nicht im Theater selber – das folgte später –, sondern einige Wochen vor dem eigentlichen Spielzeitbeginn während des Theaterspektakels auf der Zürcher Landiwiese. Dort lud das Theater Neumarkt das ­Publikum zur Castingshow ein: mit stundenlangem Tanzen; wer auch nur kurz innehielt, flog raus. Später folgte rund um eine Glasbox im Hauptbahnhof die zweite Tanzetappe, dort wo Hunderte von Bahnpendlern, Passanten und Touristen vorbeischlenderten, zuschauten, wie sich die in der Glasbox eingesperrten Menschen bewegten, und zum Teil mittanzten. Schließlich stieg auf der Arenabühne im Theater das szenische Finale mit Tanz bis zum Umfallen. Die Stadt ins Theater tragen oder gar gleich zum Theater zu erklären, dürfte ein Beweggrund für den dreiteiligen Einstieg in die neue Ära der kleinen, aber immer wieder struppig-feinen ­Bühne mitten in der Vorzeigeecke der Zürcher Altstadt gewesen sein. Das inhaltliche Gerüst bot der 1935 veröffentlichte und 1965 verfilmte Roman „They Shoot Horses, Don’t They?“, mit dem der US-Amerikaner Horace McCoy einen bitterbösen Abgesang auf die elenden Arbeiterschicksale während der großen Wirtschaftskrise geschaffen hatte. Julia Reichert, Hayat Erdoğan und Tine Milz, die Protagonistinnen des neuen Leitungstrios, wollen also die Grenzen ­zwischen Stadt und Theater verwischen. Sie positionieren ihr Haus zur p ­ rogrammatischen Trinität von „Playground“, „Theater“ und „Akademie“, zu einem „hybriden Ort zwischen Stadttheater und Experimentierbühne“, wie sie in der Spielplanvorschau erklären. Und sie erklären die drei Begriffe „Love – Play – Fight“ zum Claim oder „Schlachtruf“ für ein „unbedingtes Theater“. Das klingt schön peppig, aber in der Theorie auch etwas verschwommen und allgemein. Denn welches Stadttheater schreibt sich heute nicht etwas Ähnliches auf die Fahnen? Wenige hundert Meter vom Neumarkt entfernt schreitet das neue Kollektiv des ­Zürcher Schauspielhauses unter dem Leitungsduo Nicolas ­Stemann und Benjamin von Blomberg programmatisch in eine ähnliche Richtung. Warum also diese programmatische Selbst­ deklaration? Das neue Leiterinnentrio des Theaters Neumarkt stand oder steht von Beginn an ganz gehörig unter einem Rechtfertigungsdruck – ­einem existenziellen gar. Die Stadt Zürich hatte sich vor wenigen Jahren aufgemacht, die Förderung der Tanzund Theaterlandschaft grundsätzlich zu überdenken und ein ent­ sprechendes Arbeitspapier in Auftrag gegeben, das für das Theater Neumarkt nichts Gutes verhieß. Das als „vertraulich“ eingestufte Papier gelangte an die Öffentlichkeit. So konnte jeder lesen, dass das mit 4,5 Millionen Franken jährlich subventionierte Theater Neumarkt wegen der „prekären Selbstverortung zwischen Schauspielhaus und Gessner­ allee“ als Auslaufmodell eingeschätzt wurde. Vorgeschlagen wurÖffentlichkeitswirksamer Tanzmarathon im Hauptbahnhof – Mit „They Shoot Horses, Don’t They?“, inspiriert durch Horace McCoys Roman, tanzte sich das Theater Neumarkt mit The Yes Men Mike Bonanno zum Spielzeitbeginn in die Stadt und wieder zurück ins Theater. Foto Philip Frowein

theater neumarkt

de eine Fusion des kleinen Alternativ-Stadttheaters mit dem Produktionshaus Gessnerallee und allenfalls mit dem Theaterspektakel zu einer neuen Betriebsgesellschaft. Durch die Verschmelzung zu einer größeren Produktionsstätte für Theater und Tanz sollten die Neumarkt-Subventionen indirekt der freien Szene zugutekommen, so das im Arbeitspapier deklarierte Ziel.

Hayat Erdoğan (*1981) lehrt seit 2010 an der Zürcher Hochschule der Künste Theatertheorie, Dramaturgie und Performative Kunst. Sie arbeitete auch als Übersetzerin und war u. a. Mitarbeiterin des International Institute of Political Murder von Milo Rau. Tine Milz (*1989) war Teil des Kunst- und Performancekollektivs Kapitæl Zwei Kolektif und arbeitete auch als Produktionsdramaturgin am Schauspiel Frankfurt sowie den Münchner Kammerspielen. Julia Reichert (*1983) war von 2011 bis 2013 als Dramaturgin am Theater Neumarkt und ab 2016 am Luzerner Theater tätig. Von 2017 bis 2018 war sie dort Schauspielchefin. Seit der Spielzeit 2019/20 leiten die drei im Kollektiv das Theater Neumarkt in Zürich. (V.l.n.r.:) Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert. Foto Flavio Karrer

Doch so weit kam es nicht. Das schließlich offiziell abgesegnete neue Fördersystem Tanz und Theater führt das Theater Neumarkt weiterhin als eigenständige Institution auf. Aber gelesen hatten jenes von Fachleuten verfasste, zuvor geleakte Arbeitspapier alle. Weshalb das Theater nun beweisen muss, dass es die staatlich f­inanzierte Eigenständigkeit Wert ist. Und zwar so, dass es möglichst viele mitbekommen. Tatsächlich schaffte es das Neumarkt, sich Anfang September 2019 weit über das Feuilleton hinaus ins Gespräch zu bringen. Und zwar mit einer subversiven Politaktion: Ausgewählte Medien wurden zu einer kurzfristig angesetzten Medienkonferenz ein­ geladen, an der der nationale Schweizer Rüstungskonzern Ruag den Ausstieg aus dem Waffengeschäft und die Neuorientierung als Umwelttechnologiekonzern mit Namen Ruag Green erklärte. Waffen zu Windrädern, welch schöne Illusion. Die minutiös orchestrierte Fake-Aktion kam bei den verschaukelten Medien unterschiedlich an. Während die Wirtschaftsund Lokalredakteure der Neuen Zürcher Zeitung das Ganze mit zurückhaltender Objektivität Revue passieren ließen, lobte der Tages-Anzeiger die Aktion im Feuilleton in den höchsten Tönen. Andere Medien wiederum zeigten sich empört, drohten gar mit

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protagonisten

Zwischenwelten des Asyls – Ivna Žic inszenierte mit „Gebrochenes Licht“ der syrischen Dramatikerin Lubna Abou Kheir gekonnt lite­ rarisches Theater (hier mit Sascha Ö. Soydan). Foto Philip Frowein

strafrechtlichen Schritten. Der missbrauchte Rüstungskonzern übrigens hielt sich vollständig raus. Kopf dieser Aktion war der US-Polit- und Medienaktivist Mike Bonanno vom Kollektiv The Yes Men. Die Zusammenarbeit des Theaters mit Bonanno beschränkte sich nicht auf diese eine Aktion. Er agierte an der Seite von Co-Direktorin Hayat Erdoğan und dem Choreografen Jeremy Nedd auch als Co-Regisseur für die „They Shoot Horses, Don’t They?“-Trilogie, wo er im kanariengelben Anzug und mit riesigem Cowboyhut auf dem Kopf überdies als allgegenwärtiger Master of Ceremony auftrat. Zuletzt auch auf der Neumarkt-Bühne. Dort bewegt er sich mit eleganten Dauerschwüngen auf seinen Rollschuhen als

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gnaden­loser Einpeitscher, der seinen Zynismus hinter einem stets jovialen Lächeln verbirgt, durch den Raum. Das ganze Leben ist Showtime, skandiert er auf Amerikanisch: „Skate your life, always keep moving“, ruft er den zunehmend erschöpften Tänzern zu. Wer nicht mehr mitmag, gerät ins Abseits, ist verloren. Die Produktion löst sich vom Setting des Romans, der sich auf tatsächlich stattgefundene Marathon-Tanzveranstaltungen während der großen Depression beruft. Das Tanzen auf der Neumarkt-Bühne ist sinnentleert, hat keinen erklärten Hintergrund, das vornehmlich junge Publikum muss sich seinen eigenen Reim darauf machen. Dieses Publikum hat in erster Linie Spaß an der grellen achtzig-minütigen Show, lässt sich beim zwischenzeitlich ausgerufenen Solo-Contest der Tänzer vom Master of Ceremony ­bereitwillig zum Abstimmungsapplaus anregen. Der Abend lässt Assoziationen zur Leistungsgesellschaft im kapitalistischen ­System zu. So weit, so gut. Aber sehr tiefschürfend ist das nicht. Am Schluss hinterlassen zwei energiegeladen durchtanzende ­Nebenfiguren mit ihrer bewundernswerten Ausdauer den stärksten Eindruck. Ganz anders ist das bei der zweiten Repertoire-Produktion. Die 27-jährige, 2016 in Zürich gestrandete syrische Dramatikerin Lubna Abou Kheir wurde mit einem Stück beauftragt, das die aus Zagreb stammende Regisseurin und Autorin Ivna Žic inszenierte. Den beiden Frauen gelingt es zusammen mit dem Ensemble, ­einen beklemmenden, biografisch geprägten Bilderbogen auf die Bühne zu bringen, der viel aussagt über die seelische Zerrissenheit von Menschen, die wegen Krieg und Armut an fremde Orte geschwemmt werden oder eben nicht. „Gebrochenes Licht“ heißt diese Produktion, für die Kheir einen wunderbaren Text geschaffen hat, der realistische Dialogpassagen mit der bilderreichen Poesie der arabischen Sprache verbindet und damit die Zwischenwelten, in denen sich die Prota­ gonisten befinden, treffend illustriert. Da ist die zentrale Figur der jungen Syrierin Maya, die in Zürich Asyl beantragt – unschwer als Alter Ego der Autorin zu erkennen. Da ist die kettenrauchende Mutter, die in Istanbul hängen geblieben ist und sich letztlich von ihrer Tochter nicht mehr in die Schweiz holen lassen, sondern nach ­Syrien zurückreisen möchte. Dazu gesellen sich der zwangs­ rekrutierte syrische Soldat, Mayas ehemaliger Freund, der irgendwo im kriegsversehrten Land festsitzt und stirbt, ein geheimnisvoller Taxifahrer und Schlepper sowie ein Zürcher Junge, der in der Sekunde gezeugt wurde, als der syrische Soldat sein Leben verlor. Kheir bringt diese verstreute Schicksalsgemeinschaft in einem geschickt gewebten Geflecht in Interaktion – über WhatsApp, über Telefongespräche, zufällige Begegnungen, aber auch über metaphysische Kanäle. Regisseurin Žic verzichtet auf große Gesten, vertraut voll und ganz auf den vielsagenden Text und konzentriert sich auf die innere Zerrissenheit der Figuren. „Gebrochenes Licht“ ist kein Spektakel, sondern literarisches Theater der feinen und gerade dadurch überzeugenden und nachhaltigen Art. Halt letztlich doch ganz einfach Stadttheater, könnte man jetzt einwenden. Aber warum einwenden? So wie es sich in diesem Fall präsentiert, ist es der beste Beweis für die Daseinsberechtigung des kleinen Theaters, das so aus dem Schatten des großen Schauspielhauses heraustreten kann. //


auftritt

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Buchverlag Neuerscheinungen

Was ist Familie heute? Und was bedeutet überhaupt Verwandtschaft? Das IXYPSILONZETT­Jahrbuch befragt gängige Klischees, Vorurteile und Rollenbilder. Es diskutiert: Was bedeutet Diversität im Hinblick auf Familie, auf Eltern­und Kind­-Sein? Wie haben sich Bilder und Rollen verändert oder auch nicht? Welche wissenschaftlichen Diskurse sind interessant für die Darstellenden Künste für junges Publikum?

Das Düsseldorfer Schauspielhaus wird fünfzig! Der Bau des Architekten Bernhard Pfau gilt als einer der prägendsten und radikalsten Kultur­ bauten der sechziger und siebziger Jahre. Aus Anlass des Jubiläums und nach einer umfassenden Sanierung und Modernisierung blicken wir zurück: mit Beiträgen von Zeitzeugen und Weggefährten, Kritikern und Wissenschaftlern, mit umfangreichem Bildmaterial aus der Bau­ geschichte und den vergangenen fünfzig Jahren Bühnengeschichte.

Familien*bilder auf der Bühne Repräsentation oder an der Realität vorbei?

fünfzig Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 Herausgegeben von Wilfried Schulz und Felicitas Zürcher

Paperback mit 76 Seiten ISBN 978-3-95749-282-1 EUR 9,50 (print) / 8,00 (digital)

Paperback mit 400 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 30,00

„Meine Heimat ist die Probe“, pflegte Dimiter Gotscheff zu sagen. Für Thomas Ostermeier ist die Probe der Ort, an dem die Figuren seiner Inszenierung „zur Welt kommen“. Und Thomas Langhoff wurde auf der Probe selbst zum energiegeladenen Darsteller. Doch was genau findet während der Proben statt? Wie entwickelt der Schauspieler seine Figur?

Die Bildsprache Volker Pfüllers ist die Sprache des Theaters: in seiner Vielfalt und in seiner Expressivität. Er ist anerkannt als Grafiker, Plakatkünstler, Buchgestalter, Schriftsteller – und nicht zuletzt als Bühnen- und Kostümbildner. Seit über fünfzig Jahren entwirft er unverwechselbare Ausstattungen, meist sowohl Bühnenals auch Kostümbild. Legendär war seine Zusammenarbeit mit Alexander Lang am Deutschen Theater im Berlin der achtziger Jahre. „Bilderlust“ dokumentiert im großen Format die Vielseitigkeit seines Schaffens.

Die Theaterwissenschaftlerin Viktoria Volkova hat die häufig mystifi­ zierte Theaterprobe über mehrere Monate begleitet und die Probe­n­ arbeiten in Wort und Bild dokumentiert und analysiert. RECHERCHEN 152 Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit v. Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff u. Thomas Ostermeier

Volker Pfüller Bilderlust Herausgegeben von Stephan Dörschel

Taschenbuch mit 360 Seiten ISBN 978-3-95749-238-8 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

Paperback mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-234-0 EUR 25,00 (print) / 19,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Schwere leichte Welt Das Palästinensische Nationaltheater El Hakawati in Ost-Jerusalem feiert mit einem Festival sein 35-jähriges Bestehen und gedenkt seines Gründers François Abu Salem von Renate Klett

l Hakawati heißt „der Geschichtenerzähler“ und ist der Name eines sehr erfolgreichen Theaters in Ost-Jerusalem, das im November 2019 sein 35-jähriges Bestehen feierte. François Gaspar, Gründer und Motor des El Hakawati, von Haus aus Franzose, beschloss frühzeitig, Palästinenser zu werden, und nannte sich fortan François Abu Salem. Der Schauspieler, Regisseur und Autor spielte bei Ariane Mnouchkine in Paris, inszenierte später in ganz Europa (u. a. an der Berliner Schaubühne), kehrte aber immer wieder nach Palästina zurück, um mit seiner Jerusalemer Gruppe zu arbeiten. El-­ Hakawati-Produktionen tourten quer durch Europa und wurden begeistert aufgenommen. Sie waren auf verschmitzte Weise politisch, oft clownesk. Ich erinnere mich an „Im Namen des Vaters, der Mutter und des ­Sohnes“ 1979 beim Festival in Nancy: Es ging um die Landnahme, die mit grotesker Überdrehung und verzerrten Klischees ad absurdum geführt wurde. 1998 baute El Hakawati ein ausgebranntes Kino zu seiner Spielstätte um, nannte es Palästinensisches National­theater und machte es zu einem hoch angesehenen Kulturzentrum, in dem sie und andere Gruppen seither regelmäßig auftreten. François Abu Salem, der zunehmend an bipolaren Störungen litt, nahm sich 2011 das Leben, indem er vom Dach seines Hauses sprang. 2013 übernahm Amer Khalil die Intendanz des N ­ ationaltheaters. Das internationale Festival, das Ende 2019 dort stattfand, war dem Andenken Abu Salems gewidmet und wurde denn auch mit einem Stück über ihn eröffnet: „About François“. Die deutsch-palästinensische Koproduktion unter der Leitung von Lydia Ziemke begegnet dem Mythos François mit vielen Fragen, einer Mischung aus Erstaunen und Bestätigung und dem Wunsch, sich dem Menschen und dem Künstler anzunähern, um ihn besser verstehen zu können. Es ist eine schöne Aufführung, leichthändig inszeniert, mit Witz und Tiefsinn. Das junge Ensemble – deutsch, britisch, palästinensisch – versucht sich in den jungen François hineinzuversetzen und seine Energie und Kreativität auf die Gegenwart zu übertragen. Sie spielen Szenen aus seinen Stücken, erzählen Anekdoten über ihn, improvisieren Situationen und Texte. Sie beschäftigen und identifizieren sich mit seinen Depressionen, versetzen die Charaktere seiner Stücke aus den siebziger und achtziger Jahren ins Heute und erzählen damit auch die Geschichte Palästinas. Auf der Bühne befindet sich eine riesige Transportkiste, die sie zur François-Box erklären und als Fundus benutzen. Sie hüllen sich in die Stoffe, die sie darin finden, und eignen sich die jeweiligen Rollen an. Alle spielen alles, Männer und Frauen, König Ubu und westliche Journalisten, die vieles wissen, aber nichts verstehen, die große Hoffnung der vielen Friedensverhandlungen in Oslo und die bittere Enttäuschung über das Ergebnis. Die dramaturgische Struktur des Abends lässt an Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ denken und wirkt mitunter überfrachtet, aber sie ver-

Eine Kultische Handlung voller Kraft und Begierde – bietet Solo-Darstellerin Ashtar Muallem in „Enheduanna“ beim Festival des El Hakawati in Ost-Jerusalem, wofür sie andernorts Proteste erntete. Foto Fares Mansour


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das palästinensische nationaltheater el hakawati

leiht dem Ensemble eine Freiheit und Kraft, die inspirierend ist. Wie ein strenger Kontrapunkt wirkt danach das Solo „Taha“ des Schauspielers Amer Hlehel. Er versteht sich als Geschichtenerzähler, als Hakawati, und sein selbstverfasster Monolog beschreibt Leben und Werk des palästinensischen Dichters Taha Muhammad Ali, der die ­Katastrophe, Al-Nakba, nicht politisch erzählt, sondern persönlich. Er beschreibt den Verlust seines Landes, seines Dorfes, seiner Familie, seiner Freunde wie in konzentrischen Kreisen, die immer tiefer ins Blut schneiden. Aber es ist eine Geschichte des Überlebens. „Er gewinnt gegen die Katastrophe“, sagt Hlehel, „weil sie ihn letztlich zu Dem Mythos auf der Spur – Die deutsch-palästinensische Koproduktion „About François“, unter der Leitung von Lydia Ziemke, begegnet dem Gründer und Motor des El Hakawati François Gaspar mit dem Dichter macht, der er seit vielen Fragen. Foto Fares Mansour seiner Jugend sein wollte. Deshalb kann er die Katastrophe überwinden.“ Und genau das verkörpert Hlehel, ganz ohne Pathos, mit Poesie statt Politik. Er Die Solo-Darstellerin Ashtar Muallem beherrscht die Bühne zeigt Verzweiflung, Wut und Trauer so anrührend, dass man alles souverän. Sie klettert die weißen Stoffbahnen, die von der Decke versteht, auch ohne die Sprache zu kennen. Ein grandioser Abend, hängen, geschwind hinauf, hüllt sich in sie ein und lässt sich herunder den Schmerz in Hoffnung verwandelt und mit kleinen Gesten terfallen, tanzt zwischen Himmel und Erde und trägt ihre Lobpreisungen vor. Zweige und Sterne rieseln herab, Glaubens- und Lieund großem Herzen einen ungewöhnlichen Weg weist. Eine Mädchenschule aus Gaza benutzt das Theaterspielen besbotschaften strömen hinauf. Es ist eine kultische Handlung voller Kraft und Begierde und auch eine verblüffende Performance, als Mittel des Sprachunterrichts. Die Kinder, 11 bis 14 Jahre alt, erfinden kleine Theaterstücke auf Englisch, nicht länger als fünf unnahbar und verschwörerisch zugleich, gewagt im physischen wie Minuten, in denen sie über das sprechen, was sie bewegt. Fünf politischen Sinn. Ashtar Muallem als Schauspielerin-Tänzerin-­ dieser Miniaturen wurden beim Festival gezeigt. Sie handeln von Akrobatin ist überwältigend. Dies aber offenbar so sehr, dass es für Ängsten und Wünschen und immer wieder davon, dass jemand, manche engen Geister nicht zu ertragen ist. Während sie beim Festival in Jerusalem Standing Ovations bekam, wurde eine spätere der da war, plötzlich weg ist. Mal ist es der Vater, mal eine FreunVorstellung an der An-Najah National University in Nablus (überdin; der Verlust ist schmerzhaft und unversöhnlich. Die Lehrerinnen versichern auf Nachfrage, dass sie keinen setzt: Universität des Erfolgs) rüde abgebrochen. Die Universität präsentierte die Aufführung im Rahmen ihrer Aktionstage zum Einfluss nehmen auf den Inhalt der Geschichten, und man ahnt, wie viel Schreckliches diese Kinder schon erlebt haben. Wenn man dann Thema Gewalt gegen Frauen – und schreckte doch selbst nicht sieht, wie aufgeregt sie sind, das erste Mal in ihrem Leben in Jerusa­davor zurück. Nach 25 Minuten kam ein Mann mit Mikro auf die Bühne, erklärte die Vorstellung für beendet und drehte das Licht ab. lem zu sein, die Al-Aksa-Moschee zu sehen und einzukaufen, dann schließt man sie richtig ins Herz. In gewisser Weise war dies der Begründung: Das Gezeigte entspreche nicht der palästinensischen Kultur, und das Kostüm (hautfarbener Body plus Stoffbahnen) verberührendste Abend des Festivals, weil er eine Welt zeigte, die manchmal nur schwer und dann wieder ganz leicht zu verstehen ist. stoße gegen die Kleiderordnung der Universität. Dass der Mann ausgerechnet der Dekan der Kulturfakultät ist, lässt tief blicken. Eine große Überraschung ist der Abschlussabend „Enheduanna“, eine Mischung aus Theater und Zirkus, Gebet und GeheimIman Aoun, Mutter der Darstellerin und Regisseurin der Aufführung, beklagt die wachsende Tendenz zur Intoleranz in nis. Er berichtet von der akkadischen Prinzessin gleichen Namens, die in Ur (einer sumerischen Stadt im heutigen Irak) Hoheprieste­Teilen Palästinas, die jede Form der Freiheit und Abweichung von der verordneten Norm bestraft. „Je länger die Besatzung andauert“, rin des Mondgottes Nanna war, und das vor über viertausend ­Jahren. Sie sammelte vierzig Tempelhymnen für ihn und schrieb sagt sie, „desto schneller verwandeln sich Unterdrückung und ­Frustration in Angst, die dann zum Motor eines Verhaltens wird, Gedichte an seine Tochter, die ihre Lieblingsgöttin war. In diese ­Gedichte flocht sie auch ihren eigenen Namen ein und gilt deshalb das wie in einem Teufelskreis zu noch mehr Unterdrückung führt.“ Vive la différence! // als älteste identifizierbare Dichterin der Menschheitsgeschichte.

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Für immer mit Harry In Gedenken an den großen Opernregisseur Harry Kupfer von Jürgen Flimm

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r stand auf einem hohen Gerüst, diese zierliche, feine Person und dirigierte! Dirigierte mehrere Gruppen des Chors, die er mit Buchstaben belegte, von einem Teil der Bühne zu einem ­anderen, imaginäre Ziele absteckend. Die Kolleginnen und Kollegen schritten und rannten und trödelten und zögerten, von ­einem Punkt zum anderen, steckten die Köpfe zusammen und stoben wieder auseinander. Alles immer in einem absichtsvollen

Gewusel. Trippelten und wandten sich, selbst in plötz­lichem Stand standen sie nicht stille, die Köpfe drehten, die ­Finger zeigten, aufgerissene Augen und Münder, irgendetwas war geschehen! Staunen und Furcht. Geschehen war: Harry Kupfer arbeitete mit dem Chor der Kölner Oper. Er stand hoch oben und hatte so einen höchst praktischen Ausblick und Überblick. Ich – ­Anfang der 1980er Jahre Chef vom Schauspiel von nebenan – war höchst beeindruckt von diesem Probenbesuch und lernte ganz schön.


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harry kupfer

Wir kannten uns aus Frankfurt, er lobte unsere Nono-Aufführung, Er würde gerne den „Macbeth“ an der Staatsoper inszenieren, sagwar zugeneigt und fröhlich, dieser Ossi aus Berlin. Er hatte früh te er mir vor Kurzem am Telefon, mit der Netrebko und Domingo und Barenboim. Mit dem unermüdlichen Daniel Barenboim hatte mit diesem schwierigen Beruf angefangen, war eine ziemlich steile Treppe nach oben geklettert und saß bald auf dem Felsener sich schon seit Langem zusammengefunden: Das begann 1988 mit dem „Ring“ in Bayreuth, ein großer Erfolg, den sie dann in stein-Thron in der Komischen Oper in Ostberlin: Chef­regisseur. Und das blieb er lange. Aber er verließ oft genug die BehrenstraBerlin wiederholten. Überhaupt, Wagner! Hätte dieser noch einmal zehn Opern geße und wandelte durch die weite Opernwelt, allüberall. „Turnen bei Harry“ hatte ein Witzbold auf den Amster­damer Probenplan schrieben, hätte der fleißige Harry diese auch noch mit seinem Partner und Freund, dem ingeniösen Hans Schavernoch auf die Bühne gekritzelt. gebracht. Deren „Tristan und Isolde“ mit dem großen sterbenden Seine Blicke auf die vielleicht schönste Spezies a­ller Engel – gleichsam wie von Barlach – gehört sicherlich zu den schön­Bühnenereignisse waren weder naseweis, noch rümpfte er selbige. Er unternahm vielmehr sten Aufführungen. Und Daerfolgreiche sidesteps wie die niel Barenboim, wohl der beste „Tristan“-Dirigent unserer Musicals „Elisabeth“ und Zeit, immer an seiner Seite. „Mozart“, inszenierte Ur­ Bei allen Wagneropern waren aufführungen in großer Andie drei zusammen, begonzahl und zeitgenössische Komponisten sowieso, wie nen 1989 bis zum „Fliegenden Holländer“, der 2001 über die Aribert Reimann, Siegfried Matthus, Krzysztof Pende­ Bühne der Berliner Staatsoper recki, Udo Zimmermann schipperte. Drei glorreiche Opernritter! und Konsorten. Seine Aufführungen Dann kam er endlich waren stets unverschmockt, wieder zu uns ans Schillertheater, zu „Fidelio“. Die ohne Mätzchen, flotte Dreh­ Staatsoper Unter den Linden ungen, er pappte keine neuen Etiketten auf, hatte stets wurde 2016 für viel Geld Respekt für sein Gegensehr, sehr lange und ziemüber, nichts wurde glattgelich fehlerhaft restauriert. Aber wir fühlten uns wohl bügelt. Doch waren in vielen Stücken neue Perspektiven ­ Arbeit bis zuletzt – Harry Kupfer (1935–2019) am Regiepult. im Schillertheater. Diesen Seite 42: Comeback und Abschied zugleich – Harry Kupfer inszenierte „Fidelio“ wollte er noch einzu entdecken, neue Erkennt2019 mit Händels „Poros“ nach 15 Jahren erstmals wieder an der nisse, neue Angebote an das mal ganz anders denken, Komischen Oper in Berlin, deren Intendant er früher war. Es wurde Publikum, das ihm bei seivom oratorienhaften Ende seine letzte Inszenierung. Fotos Monika Rittershaus nen Entdeckungen gerne her, von der Gattenliebe und folgte. Sein „Rosenkavalier“ dem unbedingten Jubel über bei den Salzburger Festspiedas schönste Menschengut, die Freiheit! Es war berührend. Und endlich war die schwarze Gelen 2014 war ein Beispiel seiner Regiekunst. Alle kitschigen traditionellen Verzierungen waren abgefallen. Hans Schavernoch, sein schichte vom Schottenkönig Plácido und seiner rasanten Gattin ingeniöser Bühnenbildner seit Jahren, hatte die Orte leergeräumt, Anna an der Reihe. kein Schleiflack mehr und Pseudorokoko im Caféhausstil, alles in Er war also am Telefon. Er würde den „Macbeth“ gerne schwarz-weiße, fast abweisende Form gebracht, unsentimental, ­machen, aber um seine Gesundheit stehe es nicht so gut. Desohne die beliebte bourgeoise Gefühligkeit. Die Zeit sei ein merkhalb habe er die Bitte, ob ich, falls er nicht mehr zurechtkäme, ihm unter die Arme greifen könne und diese Arbeit zu Ende würdig Ding, seufzt die Marschallin gegen Ende dieses Kavalierstücks. Vor allem hat jede Zeit ihre eigenen Forderungen an Stoffe ­führen wolle? zu stellen, hätte Harry antworten können. Ich fühlte mich sehr geehrt und stand ihm zur Seite, von Sich diesen Forderungen immer wieder neu zu stellen, ist der Diskussion über das imposante Schavernoch’sche Bühnenbild die unablässige Regieposition. Harry Kupfers Umgang mit den bis zur bejubelten Premiere. Das war für mich eine bislang unbekannte Erfahrung, aber nun auch unvergessliche Zeit, für immer Autoren und Komponisten war stets von diesen Forderungen bemit Harry. stimmt, ein fruchtbarer Dialog begann – und neue Annäherungen und Vertrauen in Wirkungen. Nach ihm wird nichts NennenswerUnd alle waren wir bei ihm und halfen, auch die beiden Superprotagonistenstars Anna Netrebko und Plácido Domingo tes mehr kommen, das solches bewirken könnte! Harry Kupfer war der Letzte einer wichtigen Riege ost­deutscher mit dem fröhlichen Selbstverständnis, das ihm gebührte. Nach Weihnachten, kurz bevor das alte Jahr ausklang, starb Künstler wie Walter Felsenstein, Joachim Herz, Götz Friedrich und vor allem Ruth Berghaus. Sie alle haben die ästhe­tische Diskussion der große Regisseur Harry Kupfer in einem Berliner Krankenhaus. Er möge in Frieden ruhen. // viel weiter gebracht als naseweise Schlafmützen in der BRD.

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Look Out

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Von diesen Künstler*innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Engelhaft und erdverbunden Die Mainzer Schauspielerin Gesa Geue trumpft mit natürlicher Präsenz und Geradeheraus-Spiel auf

N

ach dem Abitur, als Gesa Geue noch nicht wusste, was sie werden wollte, absolvierte sie erst einmal ein Freiwilliges Soziales Jahr in Ungarn. Später studiert sie ein paar Semester Literaturwissenschaft, Anglistik und Kunstwissenschaft und kommt über den Jugendclub des Maxim Gorki Thea­ ters in Berlin, damals unter der Intendanz von Armin Petras, zur Schauspielerei, studiert schließlich an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. Ihr erstes Engagement führt sie ans Mainzer Staats­ theater. Seit der Spielzeit 2016/17 ist sie Ensemblemitglied, und seit Mitte November steht sie dort im Großen Haus im Weihnachtsstück als Ronja Räubertochter auf der Bühne. 45 Vorstellungen, nicht selten zweimal am Tag. Gesa Geue bereitet das viel Spaß, auch weil sie die neunzig Minuten quasi durchspielt. „Das ist mir viel lieber, als zwanzig Minuten auf der Seitenbühne zu sitzen.“ Dass sie nach „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im Jahr 2016 ­wieder die Hauptrolle im Weihnachtsstück spielt, liegt auch an ihrer kindlichen Erscheinung: klein, jugendlich, dezent sommer­sprossig, rote Locken. Die Peinlichkeit, die Erwachsene, die Kinder mimen, stets umweht, bleibt Gesa Geue so erspart. Ein kindliches Ungestüm versprüht sie oft auf der Bühne, so auch als kindsköpfige Lena in K. D. Schmidts Version von Büchners „Leonce und Lena“. Engelhaftigkeit und Erdverbundenheit paaren sich bei ihr aufs Tollste. Mit Lampenfieber kämpft sie nicht. Gesa Geue braucht weder besondere Rituale am Premierentag, noch macht sie sich vor ihren Auftritten vor Aufregung in die Hose. Was soll ihr schon groß passieren? Geboren und aufgewachsen ist sie in Hamm, beinahe ohne Theater, denn so was wie ein Stadttheater gibt es dort nicht. Eine Musikschule schon, Gesa Geue spielt Klavier und Gitarre, singt auch und hat schon als Kind viel gelesen. Bei unserem Treffen liegt „Malina“ von Ingeborg Bachmann vor ihr auf dem Tisch, darauf ein Fairphone. Von der kommenden Spielzeit

an möchte Gesa Geue als freie Schauspielerin arbeiten, auch, um endlich wieder Herrin über ihren Tagesablauf zu sein. Den Kopf frei und Zeit haben für andere Dinge: drehen, sprechen, unterrichten. Sie könne sich vieles vorstellen, auch Musikprojekte mit ­ihrer älteren Schwester, der Musikerin Lena Geue. Doch zuerst wird sie, die im November 29 Jahre alt geworden ist, in Mainz als Irina auf der Bühne stehen. Die Jüngste der „Drei Schwes­ tern“, die Geue am liebsten aus ihrer Dauerlethargie schütteln würde. Eine Rolle, von der sie träumt, fällt ihr auf Anhieb gar nicht ein. „Konzentration und Hingabe“ sind aber Dinge, die sie mag, am Theater und andernorts. Wer mit ihr ins Gespräch kommt, hat ­sofort das Gefühl, sie längst zu kennen, ungezwungen bietet sie von ihrer Nussecke an. Das wirkt nicht auf­ gesetzt, sondern unverstellt. Ungekünstelt, wie auch ihr Spiel auf der Bühne. In Jan-Christoph Gockels Fünf-Stunden-Marathon-Inszenierung „Ljod – das Eis“ triumphiert sie in wechselnden Rollen mit ihrer natürlichen Präsenz und mit ihrem klaren Geradeheraus-Spiel. Das Gespür für sich, den eigenen Körper und die anderen habe sie auf der Schauspielschule gelernt. Ihre Zeit dort behält sie trotz vieler Selbstzweifel und Erschöpfungen in guter Erinnerung. In Katie Mitchells Inszenierung „Alles weitere kennen sie aus dem Kino“ durfte sie damals erst im Chor, später als Ismene auftreten. Dort erlebte sie zum ersten Mal, wie das Theater einen aufsaugen kann: „Es bedeutet gerade alles, dabei ist es nur Theater!“ Das sei zwar total irrational, sagt sie, aber auch „voll schön“. // Gesa Geue. Foto Andreas Etter

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Shirin Sojitrawalla

Am Staatstheater Mainz ist Gesa Geue am 2., 4. und 10. Februar in „Ronja Räubertochter“ sowie am 29. Februar, am 7., 12., 19., 22. und 28. März in „Drei Schwestern“ zu sehen.


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Look Out

Spielen bis zur Meditation Die Grazer Schauspielerin Julia Gräfner sucht und findet die Ruhe in der Darstellung

uf der Bühne hab’ ich meine Ruh’“, sagt Julia Gräfner. Das ist ein bemerkenswerter Satz für eine dreißigjährige Schauspielerin. Soll man – zumal am Beginn der Laufbahn – nicht ständig Tatendrang und Produktivität signalisieren und die Bereitschaft zur Verausgabung? Ja, klar. All das ist ­Julia Gräfner nicht fremd. Sie ist voller Tatendrang und gehört am Schauspielhaus Graz seit 2015 zu den produktivsten Spielerinnen. Im Idealfall aber entsteht beim „Darstellen“ eben jene bestechende Ruhe, die nur möglich wird, wenn man über sich und das eigene Spiel große Klarheit erlangt hat. Sie erklärt es so: „Diese Ruhe bedeutet für mich, im Spiel einen Punkt von maximaler Freiheit zu erreichen, an dem das Spielen fast zu einer Meditation wird, weil es daneben im Moment nichts anderes gibt als die totale Konzentration.“ Das macht die Präsenz von Julia Gräfner aus. Egal ob sie extrovertierte Machofiguren – wie etwa den Debuisson in „Dantons Tod“ – spielt oder gebeutelte Subjekte wie Shakespeares Julia. Nach Abschluss ihres Schauspielstudiums 2015 in Bern ging Gräfner nach Graz. Sie folgte Intendantin Iris Laufenberg in die steirische Landeshauptstadt, wo sie am Schauspielhaus bisher ein breites Spektrum an Rollen übernahm. Sie spielte eine knallige Dorine in „Tartuffe“, die lesbische Edel-Detektivin Hyäne in „Vernon Subutex“ oder – aktuell – die puppenhafte Frau Professor in Thomas Bernhards „Heldenplatz“, die, vom anschwellenden Geschrei der Hitlerfans verfolgt, ihren letalen Zusammenbruch erleidet. Gleich am Beginn in Graz entfesselte Julia Gräfner die Naturgewalt Caliban aus Shakespeares „Sturm“, indem sie nackt und wild die aufgeschüttete Inselerde durchpflügte. Für diese kreatürliche Darstellung wurde ihr der Nestroy-Nachwuchs­ preis zugesprochen. Damit war das Kapitel Nachwuchs für ­Julia Gräfner aber auch schon wieder abgeschlossen. Heute ist

Julia Gräfner. Foto Lupi Spuma

A

sie bereits ein Markenzeichen des Hauses. Obwohl Julia Gräfner noch jung ist, ist sie schon lange dabei. Die Theaterjahre begannen für sie bereits vor dem Abitur am Goethe-Gymna­ sium in ihrer Geburtsstadt Schwerin. An dieser Schule war und ist Dar­ stellendes Spiel ein reguläres Unterrichtsfach. Mit Noten? Gräfner erhielt stets 15 von 15 Punkten. Dieser frühen Förderung­– konkret durch die Deutsch- und Theaterlehrerin AnneKathrin Holz – ist es zu verdanken, dass Gräfner heute mit solcher Hin­ gabe am Theater arbeitet. Das Interesse für Theater ging bei Julia Gräfner aber schon immer über die Rollengestaltung hinaus. Für den Wunsch, auch eigene Ideen zu verwirklichen, zumal in freien Arbeitszusammenhängen, war die Hoch­ schule der Künste in Bern die ideale Ausbildungsstätte. Dort wird „Expanded Theater“ unterrichtet, ein Studiengang, der unterschiedliche Disziplinen des Theaterschaffens vereint und ein erweitertes Verständnis von Theater pflegt. Regelmäßig initiiert und realisiert Julia Gräfner also Projekte (mit), die nicht zwingend stadttheaterkompatibel sein müssen. Manchmal führen sie aber doch an das institution­ alisierte Theater zurück, wie jüngst eine Zusammenarbeit mit der Gruppe Die Rabtaldirndln und Cora Frost, „Ich, Tatortkommissarinnen“. Zudem betreibt Gräfner eine Lesereihe im Fahrradgeschäft, die Literatur mit dem Thema Fahrrad verknüpft: „Zweiradsatz“. All diese Erfahrungen sind bereichernd. „Theater ist Sprechen im öffentlichen Raum. Das begreife ich als eine sehr politische Tat“, so Gräfner. Und diese Verantwortung sucht sie mit wachen Augen – und mit aller Ruhe. Margarete Affenzeller Julia Gräfner ist am Schauspiel Graz am 5. und 26. Februar in „Ich, Tatortkommissarinnen“, am 6. und 8. Februar in „Heldenplatz“ sowie am 27. und 31. März in „Macbeth“ zu sehen.

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Auftritt Augsburg

„Bovary, ein Fall von Schwärmerei“ (DSE) von Ivana Sajko

Bern „Fifa – Glaube, Liebe, Korruption“

Düsseldorf „Henry VI & Margaretha di Napoli“ nach William Shakespeare von Tom Lanoye  Göttingen „geteilt“ (UA) von Maria Milisavljevic  München „The Vacuum Cleaner“ (UA) von ­Toshiki Okada  Münster „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nach Édouard Louis  Ulm „Sprachlos die Katastrophe im Bereich der Liebe“ (UA) von Henriette Dushe  Weimar „Lanzelot“ von Paul Dessau, Heiner Müller und Ginka Tscholakowa  Zürich „Ich muss Deutschland“ (UA) von Catalin Dorian Florescu

von Christoph Frick & Ensemble


auftritt

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AUGSBURG Schwarmwesen unter Glyzinien STAATSTHEATER AUGSBURG: „Bovary, ein Fall von Schwärmerei“ (DSE) von Ivana Sajko Regie Nicole Schneiderbauer Ausstattung Miriam Busch

nicht gerade jetzt ist und nicht hier, denn die

aber teilweise auch sehr in sich selbst ver­

Welt ist ein hässlicher, grausamer und lang-

liebt. Er funktioniert für alle, die sich in einen

weiliger Ort, nicht wahr, Emma?“

seltsamen Tagtraum entführen lassen und

Es geht um Langeweile, Realitätsflucht

nicht allzu viel nachdenken wollen. Bis sie

und das Imaginationsvermögen in diesem

das laute Krachen der Dielen weckt, die beim

„Fall von Schwärmerei“, den die sprach­

Untergang von Emmas Welt aus dem Bühnen-

gewaltige Autorin auch den „Fall des Irratio-

boden herausgebrochen werden. // Sabine Leucht

nalen“ nennt, der Emma Bovary dazu treibt, sich mit teuren Kleidern und Möbeln zu verschulden und in die Arme von Männern zu werfen, die glamouröser zu sein scheinen als der gewöhnliche Landarzt, den sie geheiratet

BERN

hat. Bis kurz nach dem Rausch wieder die Ernüchterung kommt. Man kennt das ja.

Die Artistik des Betrugs

So ein ruhiger Anfang ist selten. Der Popsong,

Doch wo Emmas Sehnsucht nach dem

der nach den Wünschen Ivana Sajkos die

letztlich Unmöglichen durch die Lektüre sen-

Aufführung eröffnen soll, entfällt. Stattdes-

timentaler Romane Nahrung fand, sind heute

sen herrscht bewegungslose Stille auf der

Werbung, Film und Popmusik unsere Wunsch-

schmucken brechtbühne des Staatstheaters

fabriken. Nicole Schneiderbauer, die die

Augsburg. Sechs Schauspieler – drei männ-

deutschsprachige Erstaufführung des 2016

lich, drei weiblich – halten die Luft an. Über

in Zagreb uraufgeführten Stücks besorgt,

ihnen: eine eindrucksvolle Wolke aus Gly­zi­

lässt zwar noch von Emmas Versuch erzählen,

nienzweigen, in der ein Reifrock hängt. Unter

„das Leben als ein Lied zu leben“, das in ihr

ihnen spielen Schatten auf fransig verlegten

von großartigen Ereignissen singt. Sie interes­

Die Fifa kommt nicht gut weg an diesem

Dielen. Plötzlich lässt eine Schauspielerin

siert sich jedoch weniger für die Inhalte die-

Abend, den Christoph Frick gemeinsam mit

einen Arm pendeln, und ein kniender Kollege

ses Liedes als für Atmosphäre, der hier alles

zehn Mitgliedern des Schauspielensembles

antwortet mit einem Zucken. Die Fi­guren er-

dient: die Landhausfassaden und Was­­ser­fälle

am Konzert Theater Bern entwickelt hat. Kritik

wachen aus dem Bild, um sich den ersten

in den Schwarzweiß-Videos von Stefanie Sixt,

an der Fédération Internationale de Football

Monolog zu teilen.

die gerade so undeutlich sind, dass sie nicht

Association, diesem berühmt berüchtigten

In Sajkos „Bovary, ein Fall von Schwär-

kitschig wirken, die schweren Blüten des

gemeinnützigen Verein mit Sitz in der Schweiz,

merei“ ist er Justin zugeschrieben, den die

Blauregens und die tänzerisch-­artifizielle Be-

klingt schon im Titel an, wo „Korruption“ im

kroatische Autorin in ihrer Flaubert-„Cover-

wegungssprache. Bowies „Let’s Dance“ wird

berühmten Paulus-Zitat (1. Korinther 13,13)

Version“ als Haupterzähler installiert. Der im

gesungen, allerdings stark verlangsamt und

die „Hoffnung“ ersetzt. Die „Artistik des Be-

Roman unauffällig omnipräsente Gehilfe des

verzerrt – wie in Trance. Überhaupt ist Miriam

trugs“ war denn auch, was Frick im Vorfeld

Apothekers ist eine von sieben Personen,

Buschs Bühne weniger von Menschen als von

thematisch interessiert hatte und was für die

deren Stimmen sie in die Gegenwart herüber-

illustren Schwarmwesen in weißen Gewän-

anregendsten Momente des Abends sorgte.

hallen lässt, wenn auch auf unterschiedliche

dern mit futuristisch anmutendem Fal­tenwurf

Eine Serie von inhaltlich dichten Monologen,

Sprecher verteilt. Unter diesen Stimmen

bevölkert, die ohne feste Figuren­­ bindung

die Recherchen und Interviews mit Journalis-

natürlich auch die von Emma, ihrem Mann

Texte sprechen. Viele davon gender­ verkehrt

ten, Fußballtrainern und Ex-Fifa-Präsident

und ihren beiden Geliebten. Sie alle lässt

und/oder chorisch.

Sepp Blatter verarbeiten, entlarven die skru-

KONZERT THEATER BERN: „Fifa – Glaube, Liebe, Korruption“ von Christoph Frick & Ensemble Regie Christoph Frick Ausstattung Clarissa Herbst

Sajko das tun, was Flaubert tunlichst ver­

Jeanne Devos, Ute Fiedler, Klaus Mül-

pellosen Geschäfte der Herren Sportinvesto-

meidet: Sie philosophieren und stellen Meta-

ler, Roman Pertl, Thomas Prazak und Karo-

ren, die „Teflon-Kunst“ des selbsternannten

Betrachtungen über ihre Rollen an. Hie und

line Stegemann sind ein homogenes, bewe­

„Ehrenmanns“ Blatter sowie die symbio­tische

da wird etwas Romanhandlung aufgepickt,

gungsbe­gabtes Darstellerteam, das mit gewollt

Nähe von Adidas-Gründer Adolf Dassler alias

die jedoch mehr oder weniger nur als Vehikel

fehl­koor­dinierten Körpern und grotesken Um­

„Erfinder der Sportkorruption“ zu Fifa-Funk­

dient, um die Konsum- und Liebessucht der

schlin­gungen das Nicht-Zusammenpassen d ­ er

tionären.

Titelfigur als universal zu behaupten. Ob wir

Eheleute illustriert, die Tanzszene aus Min-

Mit Energie, Humor und szenischer

nun in der Provinz sind, in Paris oder Berlin,

nellis Bovary-Film von 1949 atmo­s­phä­risch

Fantasie werden auf Augenhöhe der um drei

ob wir das Jahr 1857 schreiben oder 2026,

nachbuchstabiert oder Emmas S ­elbst­ mord

Seiten des Kunstrasens sitzenden Zuschauer

ist bei Sajko egal: „Es ist wichtig, dass es

nachstellt. Während Flaubert von der ersten

(Ausstattung Clarissa Herbst) die schmutzi-

Mundtrockenheit bis zum finalen Blutspucken

gen Deals und Vertuschungsstrategien der

kaum auf ein Detail verzichtet, geht es hier

Fifa-Funktionäre und Sportsponsoren vorge-

ganz abstrakt zu. Jemand wird auf ein paar

führt, die sich chorisch zu Konten auf den

­Dielenbretter gelegt. Der Rest sind Worte.

Seychellen und Briefkästen im Appenzell be-

„Die Welt ist ein hässlicher, grausamer und langweiliger Ort, nicht wahr, Emma?“ – Ute Fiedler in „Bovary, ein Fall von Schwär­ me­­rei“ von Ivana Sajko. Foto Jan-Pieter Fuhr

Schneiderbauers choreografisch-perfor­

kennen. Papiergeld – „Kaffeekasse, Kaffee-

mativer Ansatz ist ästhetisch ansprechend,

kasse“ – quillt aus Unterhosen, wird verstohlen

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auftritt

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DÜSSELDORF Tigerherz in Weiberhaut DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS: „Henry VI & Margaretha di Napoli“ nach William Shakespeare von Tom Lanoye Regie David Bösch Bühne Patrick Bannwart Kostüme Falko Herold

Frauen stehen auf Shakespeares Personenzetteln ganz unten. Im ersten der drei Teile von „Heinrich VI.“ folgen auf zwei Dutzend Männerrollen drei weibliche Figuren, darunter Jeanne d’Arc (genannt „La Pucelle“, „das in Sportshorts gestopft oder zusammen mit haufenweise verfänglichen Akten kurzerhand unter den Rasen gekehrt. Die Aussprache von „Integrität“ stockt, der Zweck der Fifa geht

Und der Fußballgott sprach: Es werde Geld! – „Fifa – Glaube, Liebe, Korruption“ von Christoph Frick und Ensemble.

Flöhchen“) sowie Margaretha, Tochter des

Foto Janosch Abel

reichen Heinrich V., der in Frankreich viele

Herzogs von Anjou, zugleich Titularkönig von Neapel. Heinrich ist der Sohn des ruhm­ ­ Schlachten gewonnen hat; mit dessen Tod

im Respekt-Gefasel der krawattentragenden

beginnt Shakespeares Trilogie, ein Jugend-

Funktionäre unter, die bei jeder Erwähnung von „Schmiergeld“ in Krämpfen von ihren

kunft in Schräglage auf dem Stadiondach.

werk von 250 Seiten, die der Flame Tom

Stühlen stürzen. Während Nico D ­ elpy einen

Diese Kluft zwischen Funktionären und Spiel,

Lanoye auf einen kompakten dreistündigen ­

wunderbaren Beckett’schen Unsinn-Monolog

Verein und Sport prägt die Dramaturgie des

Theaterabend eingedampft hat. Heinrich VI.

zur Verteidigung der Fifa hält, scheffelt der

Abends, die in allzu großer Vereinfachung

ist ein schwacher Potentat, der mitten auf

Rest des Fifa-Clans – gefilmt von zwei Live-

den Machtspielen und Dreckgeschäften des

dem Schlachtfeld traurig darüber räsoniert,

Kameras, wie bei Sportveranstaltungen nah

Vereins eine ursprüngliche, freudvolle, aus

wie der Sand durchs Stundenglas rinnt; der

am Geschehen – unter der Bühne Geldnoten

individuellen, teils autobiografischen Erleb-

schon drauf und dran ist, freiwillig auf die

und Kokain.

nissen genährte Fußballbegeisterung gegen-

Krone zu verzichten – würde seine Frau Mar-

In diese Fifa-Episoden bricht regel­

überstellt: jugendliche Nachwuchsträume in

garetha (übrigens keine Italienerin, wie der

mäßig – Unterbruch, Dynamisierung, Ablen-

Bosnien, die Faszination für die unterkühlte

geschlechtergerechte Titel suggeriert) ihn

kung – das Spiel selbst ein: Das Team wirft

Selbstdarstellung

wie

nicht daran hindern. Sie ist ihm zwar nicht in-

Sakko und Hemd ab, enthüllt Shirts mit

Cristiano Ronaldo, von Milva Stark virtuos ­

tellektuell, aber mental überlegen – aus die-

Nummern und Nachnamen und stürzt in grell

wiedergegebene Kindheitserinnerungen an

sem Grund erhebt Lanoye in seiner vieles ver-

leuchtenden Schuhen der führenden Marken

Schalke-Spiele und die Schlussminuten des

einfachenden Überschreibung sie zur zweiten

aufs Spielfeld. Schnell, dynamisch und offen­

deutschen WM-Finalspiels 1990.

Titelfigur. Weiber sollten „sanft, mild, mitleids-

eines

Kultspielers

sichtlich lustvoll werden nun die Leidenschaft

Das so entstandene vergnügliche Pot-

voll und biegsam“ sein, findet Heinrichs

der Fans in der Kurve, die Fangesänge

pourri über Fußball schafft zwar gekonnt Be-

­Gegenspieler York (der ebenso gute Rechte auf

von Schalke und des Berner Fußballvereins

züge zu Bern und zur Schweiz, wo die Fifa

den Thron hat wie der aktuelle Amtsinhaber);

Young Boys, Schlüsselmomente der Fußball-

ihren Sitz hat und die Fifa-Präsidenten Blat-

keine Spur davon in Sonja Beißwengers bis­

geschichte, die Selbstverliebtheit der Spieler

ter und Gianni Infantino herkommen. Auch

siger Interpretation der Figur: Eher schon ist

– im Close-up aufs schräge Stadiondach über

zeugt der Abend von gründlicher Recherche,

diese Frau „ein Tigerherz, in Weiberhaut ge-

der Bühne projiziert – nachvollzogen. Spiel

doch bleibt die Umsetzung oft in isolierter

steckt“.

trifft auf Spiel: die Selbstdarstellung der

dokumentarischer Präsentation gefangen und

Die Crux ist ja nun die: Shakespeare-

Schauspieler auf diejenige der Sportler, das

entfaltet sich theatralisch nur begrenzt.

Texte kann man fast beliebig kürzen, doch

So-tun-als-ob der Funktionäre auf die Kunst

­Unbefriedigend ist vor allem die beständige

sprachlich verbessern kann man sie nicht.

der theatralen Behauptung, die Plastizität

Arien-Chor-Dramaturgie, in der sich lange

Man kann sie modernisieren, zeitlich anpas-

von Bühnenzeit auf die Slow-Motion großer

Monologe mit choreografierten Episoden ab-

sen, heutigen Hörgewohnheiten angleichen.

Entscheidungsmomente im Fußball.

wechseln und trotz offensichtlich großem

Wenn Gloster, der spätere Richard III., den

Energieaufwand des ganzen Ensembles das

König ersticht und dies mit den Worten kom-

Spiel nicht so recht in Gang kommen will. //

mentiert: „Stirb, Prophet, in deiner Rede“, ist

„We have to bring Fifa back to football and football back to Fifa“, verkündet Gina ­Lorenzen als blonde Fifa-Präsidentin der Zu-

Simone von Büren

so eine Wendung schlicht unübertrefflich.


auftritt

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Shakespeare eben. Der Grund für tausend

dorfer Bearbeitung „Richard, das Ungeheu-

neue Bearbeitungen im deutschen Sprach-

er“ – so famos und stupend in ihrer Verwand-

raum liegt darin, dass Schlegel/Tiecks Verblü-

lungsfähigkeit wiederum Lieke Hoppe dieses

mungen heutigen Ohren eben zu altmodisch

Ungeheuer als eine Art Hooligan der Rosen-

klingen. Und 250 Seiten sind für einen Thea-

kriege anlegt, ist die Lesart doch recht eng.

terabend einfach zu viel. Lanoye hat un­

Der historische Richard dürfte kaum macht-

bedingt recht, wenn er darauf hinweist, der

gieriger (und auch nicht buckliger) gewesen

Originaltext berge (neben manchem Unausge-

sein als seine Zeitgenossen und Rivalen.

reiften) eine Unmenge kostbarer Details. In

Shakespeare macht natürlich eine theater­

„Schlachten!“ (Hamburger Schauspielhaus

fähige Mittelpunktrolle daraus, auch schon in

1999, Regie Luk Perceval) hat der Theater­

„Heinrich VI.“, aber sie dürfte doch etwas

macher schon einmal die Königsdramen, dar-

mehr sein als ein plumper, tumber Schlächter.

GÖTTINGEN ER ist Täter! DEUTSCHES THEATER GÖTTINGEN: „geteilt“ (UA) von Maria Milisavljevic Regie Moritz Beichl Ausstattung Lukas Kötz

Die eiserne Krone schwebt auf der von

Rebecca Klingenberg steht an der vorderen

Patrick Bannwart gestalteten Bühne wie ein

Kante eines betonierten Laufstegs. Oder ist

Nicht immer besticht Lanoye mit sei-

Damoklesschwert an einem unsichtbaren

es ein Sprungbrett? Aber nein, um sie herum

nen Eingriffen. Wenn die Jungfrau von Or-

­Faden über der sonst leeren Szene. Genauso

ist der rote Teppich ausgelegt, bereit für ihren

léans, gespielt von Lieke Hoppe, zu einer

empfindet der arme Heinrich sie; seine ideel-

Auftritt. Das Scheinwerferlicht verschwindet

Traumprojektion des Königs Heinrich wird,

le Krone, so empfindsam, so rührend drückt

hinter ihr in einem langen, verzerrten Schat-

der persönlich natürlich nicht an der Schlacht

er es aus, hieße „Zufriedenheit“. André Kacz-

ten. SIE erzählt von einem Dinner mit ihrem

teilnimmt, ist dies ein theaterwirksamer Ein-

marczyk bleibt diesmal ein wenig unter sei-

Chef, einem m ­ odernen Unternehmer, der sei-

fall. Auf den Rebellen Jack Cade, einen Auf-

nen Möglichkeiten. Der naive, fast drollige

ne Angestellten duzt und buntgemusterte

rührer, Populisten und Maulhelden von bren-

Kindkönig lässt sich mit einigen wenigen

Happy Socks trägt. Ein hipper Typ. Die Vorstel-

nend aktuellem Zuschnitt, verzichtet Lanoye,

Kunstgriffen herstellen. Zu fragen wäre, ob

lung, ob ER sich fragt, wie es wäre, den Reiß-

was wundernimmt. Den vierten und jüngsten

dieser Heinrich aufgrund seines geistigen

verschluss am ­Rücken ihres roten Cocktailklei-

Sohn des Herzogs von York nennt die Düssel-

­Potenzials nicht doch noch eine andere, we-

des zu öffnen, gefällt ihr. SIE geht den Steg

niger harmlose Facette präsentieren könnte.

entlang, schwingt ihre Hüften, setzt bedächtig

Ihre Qualitäten hat David Böschs Inszenierung

einen Schritt vor den anderen. Als SIE sich

eher in der zügigen, fast schneidenden

umdreht, verhärtet sich ihre Miene. Wut kommt

Aufbereitung der Rededuelle, besonders im

auf, darüber, dass ER etwas in ihr auslöst. Wut

ersten Teil – man hört ihnen atemlos zu. //

darüber, dass ER Macht über sie besitzt.

unter auch bereits Heinrich VI., zu einem kompakteren Text- und Bilderbogen komprimiert.

Jeanne d’Arc, genannte das Flöhchen, hier als Horrorgestalt – Lieke Hoppe und André Kaczmarczyk in „Henry VI & Margaretha di Napoli“ nach Shakespeare von Tom Lanoye. Foto Sandra Then

Martin Krumbholz

Eine Firmenfeier, SIE ist betrunken, ER (Marius Ahrendt) ist betrunken. SIE verschüttet ihr Getränk auf seinem Hemd, ER zieht es aus, SIE entledigt sich aus Solidarität ihrer Bluse. Ein klares Signal für IHN. Ein Missverständnis für SIE. ER vergewaltigt SIE. Keiner von beiden bestreitet das. IHM fällt es, mit Ausnahme von gelegentlichen Schuldgefühlen, leicht, in sein altes Leben zurückzukehren; die Firma, seine Kinder, die ihn unwissend als Vater lieben, und seine Frau, die zwischen naiver Vergebung und noch ­naiverer Ignoranz juristische Maßnahmen zur Beseitigung dieser „Sache“ einleitet. SIE zerbricht, verliert ihre Arbeit und ihr soziales Umfeld. Als SIE die Tat öffentlich macht, findet SIE sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, die Opfer bestraft und den Tätern und Täterinnen glaubt. „Ich wollte doch nur“, versucht sich Rebecca Klingenberg als SIE zu erklären, um sie herum kreist der Chor in sich spiralförmig verjüngenden Bahnen: „Ja was? Hip sein? Anerkennung? Endlich aufsteigen?“ In Maria Milisavljevics lyrisch-abstraktem Text, einer Auftragsarbeit für das Deutsche Theater Göttingen, schafft Regisseur

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When boy beats girl – Rebecca Klingenberg in „geteilt“ von Maria Milisavljevic. Foto Isabel Winarsch

an normalisiert wird. Leider finden die einzelnen Stränge oft nicht richtig zusammen; der Text, das Bühnenbild, die Kostüme, die Videoprojektionen und die Wut zerlegen sich Stück für Stück in immer kleinere Teilchen, die das Schmerzzentrum nicht erreichen. // Lina Wölfel

MÜNCHEN Im Kabellängenradius eines Seelensaugers MÜNCHNER KAMMERSPIELE: „The Vacuum Cleaner“ (UA) von Toshiki Okada Regie Toshiki Okada Bühne Dominic Huber Kostüme Tutia Schaad

Moritz Beichl Raum für seltsam ironische,

Care“ von Judy Garland, projiziert werden, die

aber hochreflexive Figurenmomente. Gabriel

Sicht. Die Zuschauer nehmen damit Beob-

von Berlepsch, der als toter Vater der Ver­

achtungspositionen ein, die aufgrund des ein-

gewaltigten ihren einzigen Bezugspunkt verkör-

geschränkten Sichtfeldes nicht vollständig

Als Regisseur im deutschen Stadttheater ist

pert, tritt ebenso als Allegorie des Deutschen

sind. Und weil es unmöglich ist, alles zu sehen,

Toshiki Okada gewissermaßen eine Erfindung

Rechts, Paragraf 177 StGB, in Erscheinung,

ist es auch unmöglich, neutral zu ur­teilen. Es

von Matthias Lilienthal. Mit seiner eigenen

als Vater Staat also, der mit transparent-glit-

wird unmissverständlich klar: Die Gesetze, mit

Truppe, der chelfitsch company, war der heute

zernden Tränen und gestopften Wollsocken

denen unser Justizsystem operiert, funktionie-

46-jährige Japaner zwar schon früher zu Gast

geradezu en vogue, aber alles andere als be-

ren im gegebenen Fall nicht. Die Beweisfüh-

auf Festivals hierzulande. Aber erst Lilienthal

schützend wirkt. Oder Angelika Fornell, die

rung in Vergewaltigungsfällen ist oft schwierig,

gewann ihn für eine Inszenierung in Deutsch-

sich zunächst als Autorin des Stücks fragt,

häufig steht Aussage gegen Aussage. Was zu

land. Bei „Hot Pepper, Air Conditioner and

wie der Themenkomplex „neutral“ zu bebil-

zählen scheint, ist nicht das G ­ esetz, sondern

the Farewell Speech“ (2016, am Ende von

dern sei, später, in der Rolle der Ehefrau des

der bessere Anwalt. Aber: „Gesetzt ist: Diese

Lilienthals erster Spielzeit als Intendant der

Täters, hingegen absolut tendenziös daher-

Vergewaltigung ist geschehen.“

Münchner Kammerspiele) handelte es sich um

kommt. Das Ensemble springt währenddes-

SIE zerbricht am Ende daran. An der

das Remake einer chelfitsch-Produktion: ein

sen in enormer Geschwindigkeit durch die

Teilung und am Geteilten. Am Perfektionis-

Abend über die sich in der seelischen Defor-

Rollen und Spielmodi – Chor, Individuum, die

mus, der in sozialen Netzwerken gepredigt

mation von Angestellten abzeichnenden Aus-

Freundinnen, die Arbeitskolleginnen, es gibt

wird, und daran, sich nicht mal als Opfer füh-

wüchse der Arbeitswelt, die in Japan noch ab-

Lautstärken- und Tempowechsel – und legt

len zu dürfen. ER ist nur sich selbst und sei-

surdere Blüten zu treiben scheinen als

über die Wut des Textes seine eigene.

nem Gewissen Rechenschaft schuldig. Der

anderswo – mit dem Effekt, dass Okadas Stück

Das dem Titel immanente Sujet der

Abend nimmt mit, hat er doch den Mut, die

(er ist stets Autor und Regisseur in Personal-

Teilung zieht sich durch den Abend. Da sind

erschreckende Realität vor Augen zu führen:

union) wie die Überzeichnung hiesiger Verhält-

die Kostüme, die sich irgendwo zwischen

Eine Gesellschaft, die Vergewaltigungen auch

nisse hin zur Kenntlichkeit wirkte.

Jeansstoff und nackter Haut, zwischen Leder-

2019 tabuisiert, die Opfer bestraft und Täter

In Japans Leistungsgesellschaft, so

hose und Jackett bewegen. Und da ist die

und Täterinnen freispricht, die hinter 11,2

scheint es, nehmen Entwicklungen, die sich

Bühne von Lukas Kötz: Der Zuschauerraum

Fällen sexueller Nötigung, Vergewaltigung und

in den meisten Ländern der ersten Welt beob-

ist als Plenum um den Laufsteg herum ange-

sexueller Übergriffe mit Todesfolge auf

achten lassen, besonders extreme Formen an,

legt. Von Zeit zu Zeit versperrt ein Lamellen-

100 000 Personen in Deutschland eine enorme

weshalb die entsprechenden Erscheinungen

vorhang, auf welchen Liedsequenzen aus

Dunkelziffer versteckt, versagt ab dem Mo-

dort auch häufig Namen bekommen. Man-

­alten Schwarz-Weiß-Filmen, wie etwa „I Don’t

ment, da übergriffiges Verhalten von Geburt

chen mittlerweile auch bei uns geläufig ist


auftritt

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beispielsweise der Begriff „Karōshi“ zur Be-

scheinen sich ebenfalls im finalen Stadium

am Dasein. So wie sie das Elend der anderen

zeichnung des Todes durch Überarbeitung.

vor der Hikikomori-Werdung zu befinden.

in sich hineinfrisst, bräuchte sie dringend mal wieder einen Beutelwechsel.

Um ein anderes Phänomen nun dreht

Und dann wäre da noch der titelgeben-

sich „The Vacuum Cleaner“: um die soge-

de Staubsauger, großartig verkörpert von der

Trotz toller Ensembleleistung ist Oka-

nannten „Hikikomori“ – erwachsene Men-

jungen Julia Windischbauer, die Einblicke ins

das vierte Münchner Inszenierung nicht seine

schen jenseits der vierzig, die sich restlos ins

Innenleben eines Geräts gibt, das den Seelen-

stärkste. Die Aufführung schnurrt mit Gleich-

Private zurückgezogen haben, weil sie dem

müll der Hausbewohner schluckt, etwa indem

förmigkeit ab, dem diskreten Säuseln eines

Druck von Arbeitswelt und Gesellschaft nicht

es ihre Verzweiflungsausbrüche mit gnädigem

heruntergedimmten Staubsaugers nicht un-

mehr standhalten. Meist leben sie noch im-

Surren übertüncht. Zugleich scheint das ein-

ähnlich. Da vermisst man zwischendurch

mer in ihrem Elternhaus, das sie so gut wie

tönige Geräusch aber auch betäubende Wir-

schon Mal die Power, wie man sie von solchen

nie verlassen, denn einen Job haben sie auch

kung zu entfalten: Derart sediert schafft es

Geräten kennt, die Sounddesigner derart

nicht. Die (oft spärliche) Rente der Eltern

erst recht keiner, dem Kabellängenradius des

hochgetunt haben, dass sie absichtlich lär-

muss für alle reichen. Die Zahl dieser Hikiko-

Staubsaugers zu entkommen. Dass der Abend

men, um den Benutzern das Gefühl großer

mori in Japan wird auf über eine halbe Million

den englischen Titel „The Vacuum Cleaner“

Saugkraft zu suggerieren.

Menschen geschätzt.

trägt, dürfte nicht allein der Tatsache ge-

Zugleich beginnt man aber auch jetzt

An den Münchner Kammerspielen ist

schuldet sein, dass ihn ein internationaler

schon Toshiki Okada zu vermissen. Es hat ge-

das Schneckenhaus des Privaten ein zwei­

Regiegast inszeniert hat. Es geht schon auch

dauert, bis sich das Münchner Publikum an

stöckiges

holzumrahmten

um das Sinn-Vakuum, das im englischen

seine sehr spezielle Ästhetik gewöhnt hat.

Papierwänden (Bühne Dominic Huber), die ­

­Begriff anklingt und das entstanden ist, nach-

Nun scheint sie angekommen. Wie so man-

Annette Paulmann in der oberen Etage als

dem dieser Seelensauger auch noch die letz-

ches, was Lilienthal angestoßen hat. Wahr-

prototypische Hikikomori in Ermangelung

ten Regungen entsorgt hat.

scheinlich wird das alles mit seinem Abgang

Häuschen

mit

­einer sinnstiftenden Beschäftigung ausgiebig

Wie immer bei Toshiki Okada entladen

im kommenden Sommer wieder verschwin-

anstarrt. Einen Stock tiefer zieht derweil

sich die unterdrückten Emotionen in einer

den. Sehr traurig, dass die Münchner Kultur-

­Walter Hess als greiser Vater im Pyjama seine

hypermotorischen Gestik, die von der Ent­

politik diesem Projekt voreilig den Stecker

nicht minder desorientierten Kreise. Zudem

fremdung zwischen Körper und Geist er-

gezogen hat. //

treten auf: ein Bruder und dessen Freund

zählt. Die Münchner Kammerspielerinnen und

(Damian Rebgetz und Thomas Hauser). Beide

-spie­ler beherrschen diese charakteristische Okada-Technik souverän, vor allem Titel­ ­

Ein Hikikomori in seinem Bau – „The Vacuum Cleaner“ von Toshiki Okada (hier mit Annette Paulmann) erzählt von Menschen in Japan, die sich restlos ins Private zurückgezogen haben. Foto Julian Baumann

darstellerin Julia Windischbauer, die ein rüh-

Christoph Leibold

MÜNSTER

rend komisches Ballett aus Trippelschritten und verhuschten Armschlenker-Bewegungen auf die Bühne tänzelt. So eine Maschine ist halt auch nur ein Mensch und leidet genauso

Die revolutionäre Kraft der Ambivalenz THEATER MÜNSTER: „Wer hat meinen Vater umgebracht“ nach Édouard Louis Regie Michael Letmathe Musik Fabian Kuss Video Daniel Ortega Macke

Der junge Mann ist spät dran. Als er das Kellergewölbe des U2, der kleinsten Spielstätte des Theaters Münster, betritt, hat die Vorstellung zwar noch nicht begonnen, aber der größte Teil des Publikums hat schon Platz genommen. Der letzte Stuhl in der zweiten Reihe ist noch frei. Also zwängt er sich, die Reihen sind schmal, an den Sitzenden vorbei. Ein paar stehen für ihn auf, andere bleiben demonstrativ sitzen. Auf den ersten Blick unterscheidet den jungen Mann nichts von ­ den anderen Zuschauern. Seine Kleidung, schwarzes Samtcord-Jackett zu einem d ­ ün­nen weißen Rollkragenpullover und einer modern

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geschnittenen anthrazitfarbenen Wollhose, ist zeitlos elegant, vielleicht auch ein bisschen konservativ. Doch das fällt in einer durch und durch bürgerlichen Stadt wie Münster gar nicht weiter auf. Nur seine späte Ankunft hat die Blicke der anderen auf sich gezogen. Danach ist er wieder einer von ­ vielen, bis er plötzlich das Wort ergreift. Mit fester Stimme beginnt er, ohne dabei auf­ zustehen, Sätze aus Édouard Louis’ autofik­ tionalem Essay „Wer hat meinen Vater um­gebracht“ zu sprechen. Schließlich erhebt er sich und geht auf die fast leere Bühne. Ein symbolträchtiger Beginn. Der Mann, der in die Rolle von Édouard Louis’ Ich schlüpft, ist einer von uns. Er kommt aus der Mitte des Publikums und der Mitte der Gesellschaft, um von einem Mann zu erzählen, der immer nur am Rand gestanden hat, der ausgeschlossen worden ist und sich zum Teil auch selbst ausgeschlossen hat. Aber der ­junge Mann ist eben nur dem Anschein nach einer aus der Menge der Kultivierten und der leidlich Abgesicherten. Er trägt zwar seine Kleidung wie eine Maske, die ihn unsichtbar Roman und Autobiografie, Essay und Kampf­ schrift – Joachim Foerster in „Wer hat mei­ nen Vater umgebracht“ nach Édouard Louis.

macht, aber zugleich will er gesehen werden.

legen Foerster und Letmathe eine Zärtlichkeit

Und so wie er die schon Sitzenden zu Beginn

frei, über die man beim Lesen von Louis’

aufgescheucht oder zumindest aus ihrer Be-

­Büchern leicht hinweggeht. Natürlich hat der

quemlichkeit herausgerissen hat, so stört er

Sohn unter dem, wie er es nennt, „Männlich-

nun mit seinen Erzählungen von einer Jugend

keitswahn“ gelitten, natürlich hat der Vater

im nordfranzösischen Arbeitermilieu und sei-

mit seiner Haltung die Familie zerstört. Aber

nen Geschichten von seinem Vater. Dessen

so, wie Foerster ihn schildert, ist er eben kein

Worten des Vaters endet Louis’ Roman und

Leben und Gesundheit sind von einer Gesell-

proletarisches Monster, sondern einfach nur

Michael Letmathes Inszenierung. In Münster

schaft ruiniert worden, für die bestimmte

ein Mann, dem die Kraft fehlte, sich der ihm

hat diese Revolution begonnen, aber nicht

Menschen kaum mehr als eine jederzeit er-

von der Gesellschaft zugewiesenen Rolle zu

mit einem Akt der Gewalt, sondern mit einem

setzbare Ware sind.

entziehen. Ihm ist nicht gelungen, was sein

Bekenntnis zur Ambivalenz, die subversiver

Michael Letmathe setzt bei seiner

Sohn durch seine Intelligenz und auch durch

sein kann als jeder wütende Protest. //

­Adaption von Louis’ schmalem dritten Buch,

etwas Glück geschafft hat. Er konnte sein

das Roman und Autobiografie, Essay und

­Leben nie in die eigene Hand nehmen, und

Kampfschrift in einem ist, ganz auf die Spra-

das hat ihn innerlich wie äußerlich zerstört.

Foto Oliver Berg

Sascha Westphal

che und auf das Spiel von Joachim Foerster.

Als Joachim Foerster schließlich seine

Von dem Moment an, in dem Foerster die

Kleidung ablegt, kommt unter ihr ein enges

Bühne in Besitz nimmt, erfüllt eine faszinie-

schwarzes Kleid zum Vorschein. Michael

rende Doppeldeutigkeit und Widersprüchlich-

­Letmathe greift so eine Episode des Buchs

keit den Raum. Louis’ Sätze sind klar, direkt

auf, in der der damals achtjährige Ich-Erzäh-

und konfrontativ. Er beschreibt, was es heißt,

ler bei einer Familienfeier als Sängerin der

in der nordfranzösischen Provinz als Arbeiter-

Pop-Gruppe Acqua aufgetreten ist. Aber diese

sohn und Homosexueller aufzuwachsen, mit

Verwandlung ist zugleich auch eine Hom-

der gleichen Härte, mit der er später die letz-

mage an den Vater, der als junger Mann für

ten vier französischen Präsidenten für das

sein Leben gern getanzt hat und selbst auch

zerstörte Leben seines Vaters verantwortlich

schon mal in Frauenkleider geschlüpft ist. In

macht. Joachim Foerster nimmt Louis’ Spra-

Wirklichkeit ist eben nichts eindeutig. Nur

che etwas von ihrer Härte. Er lässt hinter den

die sozialen und politischen Verhältnisse

klaren Positionen einen jungen Mann auf-

zwingen die Menschen in simple, eindimen­

Aus einer Bodenluke dringt Rauch. Eine jun-

scheinen, der seine Worte zu Waffen macht,

sionale Rollen. „Ich glaube, was es bräuchte,

ge Frau steigt ihm hinterher, legt den Kopf

weil alles andere keine Alternative wäre. So

das ist eine ordentliche Revolution“, mit diesen

schief und fragt ins Leere: „Liebst du mich?

ULM Im Käfig der Worte THEATER ULM: „Sprachlos die Katastrophe im Bereich der Liebe“ (UA) von Henriette Dushe Regie Jessica Sonia Cremer Ausstattung Maike Häber


auftritt

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… Liebst du mich … Liebst / du / mich? …

arten des anderen aus dem Schatten der ers-

Du liebst mich doch / Du …“ Mittlerweile ist

ten Verliebtheit treten. Die Autorin hat den

sie in eine Art Käfig getreten, um den in der

Text, der sich verschiedentlich an Roland

Ulmer Spielstätte Podium die Zuschauer sit-

Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Lie-

zen. Zwei Seiten des sechseckigen Trumms

be“ anlehnt, in 52 „Sprachfolien“ gegliedert.

sind statt mit Metallgittern mit Gummistre-

Ihrer Vorstellung nach sollen die Akteure

ben verspannt. Die geben nach, wenn sie

­diese Folien zufällig ziehen und sich von ih-

(Marie Luisa Kerkhoff) oder er (Maurizio

nen zu szenischen Aktionen verleiten lassen.

Micksch) sich dagegenlehnen. Und das müs-

Jeden Abend neu. Das Uraufführungsteam ­

sen sie zuweilen, denn die Liebe, die sie hoch

hat anders entschieden und 34 Mono- und

hinaus und bis in alle Ewigkeit zu tragen ver-

Dialogsplitter in eine feste Reihenfolge

sprach, hat ihnen den Halt aufgekündigt.

­gebracht. Der Unmut, den das auslöste, ist

JOËL POMMERAT

MEIN KÜHLRAUM Regie: Gerhard Willert Theater Krefeld

Premiere: 15. Februar 2020

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.com

„Sprachlos die Katastrophe im Bereich

im Programmheft dokumentiert, wo die Auto-

der Liebe“ heißt der 2010 entstandene Büh-

rin, der Ulmer Chefdramaturg Christian

nentext von Henriette Dushe. Die in Berlin

­Katzschmann und Stephan Wetzel vom hen-

lebende Autorin, deren preisgekrönte Stücke

schel Schauspiel Theaterverlag über ihre

Teilweise hat das mit der fehlenden Span-

„In einem dichten Birkenwald, Nebel“ oder

­unterschiedlichen Auffas­sungen diskutieren.

nung zu tun. Dass der anfängliche Liebesruf

das ebenfalls in Ulm aufgeführte „Lupus in

Zuge­­ geben: Ein eher performativer Ansatz

der Frau keine Antwort finden wird, ist gleich

Fabula“ sich vornehmlich auf zwischen-

wäre reizvoll gewesen und nah dran am realen

klar, als der Mann kurz nach ihr aus der Luke

menschliche Momente stürzen, denen verbal

Beziehungs-Sparring. Die Bedenken, es könnte

klettert und mit eherner Mine Stretchübungen

schwer beizukommen ist, hat hier das Ver­

szenisch zu chaotisch werden und für den

macht. Überhaupt haben Jessica Sonia Cremer

sagen der Sprache vor dem Gefühl ins Visier

Zuschauer unverständlich, sind allerdings

(Regie) und ihre Ausstatterin Maike Häber

genommen. Sowie die Liebe als Seinsver­

ebenfalls nachvollziehbar.

ihre szenische Fantasie eng ans Sportliche ge-

sicherung, die bröckelt, sobald die Eigen­

Sobald die Eigenarten des Anderen aus dem Schatten der ersten Verliebtheit treten – „Sprachlos die Katastrophe im Bereich der Liebe“ von Henriette Dushe (hier mit Maurizio Micksch). Foto Marc Lontzek

Das Ergebnis ist ein Kompromiss, der

bunden. Beide Schauspieler tragen weiße

dem Stück seine Puzzlehaftigkeit belässt, die

Shirts über kurzen schwarzen Hosen. Der Bo-

dem Charakter von Erinnerungen entspricht.

den des Käfigs ist turnmattenblau, von seiner

Und doch haftet dem Abend etwas Demons­

Decke hängt ein Mikrofon wie ein Boxsack her-

tratives, fast Pädagogisches an. Nach den

ab. Fürs gelegentliche Lockermachen steht ein

rund achtzig Minuten, die er dauert, ließe

Minitrampolin, für den emotionalen Rückzug

sich trefflich ein paartherapeutisches Ge-

ein Tennis-Schiedsrichterstuhl bereit, während

spräch anschließen.

im Hintergrund ein Karussellpferd verstaubt, und eine Jukebox, die das gemeinsame Lied nicht mehr spielen will. Die Luft riecht vage nach Zuckerwatte. Das kann allerdings ebenso eine Illusion sein wie das Für-Immer, das beide gelegentlich aufrufen, auch wenn der Tag, an dem sie im Straßengraben saß und er weiterfuhr – und vor allem das Kind, das in ihrem Leib nicht mehr wachsen wollte, dieses FürImmer längst zerstört haben. Der Abend ist sehr genau gearbeitet, vom kleinsten Augenrollen bis zum Umgang mit räumlicher Nähe und den Requisiten. Fast wirkt alles ein wenig zu fertig und ausgeprobt; und manches davon wie ein Ablenkungsversuch von der Redundanz des sich ewig neu aufbäumenden Paar-Konflikts. Ist das Scheitern der Liebe also überhaupt erzählbar? Dies ist ja eine der Fragen, mit denen der Text nicht ganz genderneutral ringt. Denn während die Frau klagt, dass „niemand ein absolut unerzählbares Dasein überleben“ könne, ist der Mann davon überzeugt, dass man die Liebe auch „zerquatschen“ kann. Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. //

Sabine Leucht

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WEIMAR Der Rest ist Freude DEUTSCHES NATIONALTHEATER: „Lanzelot“ von Paul Dessau, Heiner Müller und Ginka Tscholakowa Regie Peter Konwitschny Ausstattung Helmut Brade Musikalische Leitung Dominik Beykirch

Ein eigenartiger Brauch herrscht in der Stadt. Seit der Steinzeit wird sie von einem Drachen beherrscht, dem jedes Jahr eine Jungfrau geopfert werden muss. Die offizielle Sprachregelung lautet freilich etwas anders: Die Stadt wird von dem Drachen beschützt, der jedes Jahr das hübscheste Mädchen zur Frau nehmen darf. Mit der bedauerlichen Folge, dass diese Verbin-

Deutschen Theater in Berlin inszenierte – ein

dung nach wenigen Tagen mit dem Tod der

großer Erfolg. 1969 wurde die Oper an der

Der Chor der Entrechteten – „Lanzelot“ von Paul Dessau, Heiner Müller und Ginka Tscholakowa. Foto Candy Welz

Zwangsverheirateten endet. Nun findet der neu

Staatsoper Berlin von Ruth Berghaus uraufge-

in die Stadt gekommene Lanzelot diesen

führt. Es folgten zwar weitere Aufführungen,

Brauch reichlich bescheuert, noch dazu er die

doch nach 1972 verschwand sie von den

Auserwählte auf den ersten Blick abgöttisch

Spielplänen. Zumindest bis heute, denn das

sche Reflexion des Kämpfers, gedenkend der

liebt. In der Oper ist es nicht ungewöhnlich,

Deutsche Nationaltheater Weimar und das

Entbehrungen und der Gefallenen. Auch wer

dass zwischen Kennenlernen und unsterblicher

Theater Erfurt (ab Mai ist die Inszenierung dort

die KZs und den Kampf gegen ihre Betreiber

Liebe nur wenige Takte vergehen. Das mag man

zu sehen) haben „Lanzelot“ nun wieder zu-

nicht mehr kennt, kann davon nicht unbe-

unrealistisch finden, aber andererseits wäre es

gänglich gemacht – bei durchaus schwieriger

rührt bleiben. Lanzelot wird im Gefecht mit

auch nicht besonders handlungsfördernd,

Materiallage. So existierte nicht einmal eine

dem Drachen schwer verwundet und ver-

wenn die beiden fünf Szenen lang zwischen

gedruckte Partitur. Regie führte Peter Kon­

schwindet, der opportunistische Bürgermeis-

erfolglosem Internetdating und missglückten

witschny, der selbst noch bei der mit Dessau

ter (Wolfgang Schwaninger) ruft sich als Dra-

Annäherungsversuchen herumwurschteln wür-

verheirateten Berghaus lernte. Die musika­

chentöter aus. Außerdem beansprucht er nun

den, wie das in heutigen Zeiten Sitte geworden

lische Leitung oblag dem 1990 geborenen

seinerseits Elsa und verunglimpft Lanzelot

ist. Also Reduktion aufs Wesentliche: Da gibt

Dominik Beykirch. Das Resultat ist beein­ ­

als einen weiteren Drachen. Doch einen Auf-

es zwei, die schauen sich an und wissen, dass

druckend. Dessaus anspruchsvolle Komposition

tritt hat der Titelheld noch: Mit einem Boot

sie ihr Denken und Handeln nun aufeinander

beinhaltet mehrere Chöre, zahlreiche Solo­

inklusive Schwimmwesten-Chor bricht er von

beziehen werden. Lanzelot will Elsa retten und

partien und zusätzliches Schlagwerk, das auf

hinten durch das Bühnenbild, das zuvor im

den Drachen töten. Womit auch die Stadt be-

der Bühne platziert ist, wie die beiden Flügel

Wechsel der Drehbühne biedermeierliche

freit wäre. Blöderweise will die überhaupt nicht

des von Oleksandr Pushniak gesungenen Dra-

Interieurs, eine grelle Ladenzeile („Müller ­

befreit werden – eine bis heute bekannte

chen. Lanzelot wird von Máté Sólyom-Nagy

Elektro seit 1969“) und eine abstrakte Groß-

­Eigenart, die in der Fachsprache der Seelen-

gegeben, Elsa von Emily Hindrichs. Das

stadtkulisse zeigte (Bühne Helmut Brade).

kunde als Identifikation mit dem Aggressor be-

­Libretto wartet mit einer interessanten Figu-

„Die Leiden zu heilen, die Freuden zu teilen“,

zeichnet wird. Schon Spinoza zerbrach sich

renzeichnung auf: Lanzelot ist ein Revolutio-

lautet Lanzelots Programm. Und während die

den Kopf, warum die Menschen für ihre

när, der helfen will, wo geholfen werden muss.

alten Kräfte der Stadt die Waffen zücken,

Knechtschaft kämpfen als ginge es um ihr Heil.

Der an der Seite der Unterdrückten kämpft,

schwingt sich der Chor der Entrechteten auf,

selbst wenn die ihre Unterdrückung leugnen.

der Tragödie ein Ende zu machen. Der Rest

Kritik der Anpassung an Herrschaft ist ein zentrales Motiv von Paul Dessaus Oper

Doch wie Lanzelot zu berichten weiß,

soll Freude sein, nicht Schweigen. Die Hoff-

„Lanzelot“, für die Heiner Müller und Ginka

gibt es in einer fernen Höhle ein Beschwerde-

nung, der Weltgeschichte trotz alledem noch

Tscholakowa das Libretto verfassten. Als Vor-

buch, in dem die leidende Natur penibel Pro-

das ungeteilte Glück abzuringen, schwingt in

lage diente das Märchenstück „Der Drache“

tokoll führt. Das ist eine der schönsten Passa-

jedem Ton mit. Die Revolution in der Oper, sie

von Jewgeni Schwarz, das Benno Besson 1965

gen der Oper – neben dem Lanzelot-Solo

klang nie schöner und spannungsreicher. //

mit Eberhard Esche als Cowboy-Lanzelot am

nach dem Drachenkampf, eine melancholi-

Jakob Hayner


auftritt

/ TdZ  Februar 2020  /

ZÜRICH Theater ist ein Gespräch mit der Gesellschaft

­allem um diese Themen kreist: Aufbruch aus

und musikalisch behutsam gestützte Erzäh-

der Heimat, Suche nach Glück und Freiheit,

lung. Weil Sprache dem literarischen sogar

Ankunft in einer unbekannten Welt und die

theater alles gilt, gestalten Jonas Gygax

erneute Sehnsucht – diesmal nach dem, was

(­ Serban),

man zurückgelassen hat.

Serbans Großmutter Buni) und Khalil Hamidi

Krishan

Krone

(Badea

sowie

Die im Band „Der Nabel der Welt“ ent-

(Flüchtling) den Text mit einer Sorgsamkeit,

haltene Kurzgeschichte „Ich muss Deutsch-

die Pausen nicht als lästig, sondern als denk-

land“ steht dafür exemplarisch. Darin trifft

anstoßend versteht. Ursina Greuel (Regie),

der junge rumänische Grenzsoldat Serban ei-

Cornelia Peter (Kostüme), Antje Brückner

nen syrischen Flüchtling, der auf der Balkan-

(Licht) und Sibylle Burkart (Outside Eye) ver-

Route ohne Schuhe, mit blutigen Füßen, ein

sehen die winzige, stimmig auf das Gesagte

Ziel erreichen will: „Ich muss Deutschland.“

ausgeleuchtete Bühne mit wenigen Versatz-

Der Rumäne, der selbst auswandern möchte,

stücken wie etwa einem metallenen Laufsteg

begreift erst langsam, wie absurd die Situa­

oder einem Podest. Für raumgreifende Gänge

tion ist. Mit dem Geflüchteten alleingelassen,

oder Gesten ist kein Platz, weshalb Existen-

Wer Zürichs kleinstes Theater besuchen will

beginnt sich der Soldat zu fragen, ob das rigo-

zielles auf knappstem Raum nur mit Blicken,

und dessen Domizil im Industriequartier

rose Aufgreifen aller Flüchtlinge wirklich die

scheuen Berührungen oder stimmlich nuan-

nicht kennt, muss länger suchen. Schon

Aufgabe ist, zu der er verpflichtet ist. Schließ-

cierten

möglich, dass er am sogar theater erst einmal

lich schenkt er dem Syrer seine Schuhe und

Krishan Krone ist ein feiner Verwandlungs­

vorübergeht, weil er den Eingang in den Hin-

lässt ihn gehen. „Wo sind deine Schuhe. Die

künstler, der als Serbans Großmutter Buni

terhof verpasst. Beim zweiten Mal klappt’s

mit EU-Geldern bezahlt worden sind, Grenz-

ebenso glaubhaft ist wie als wortkarger Grenz-

dann, und man betritt ein Haus, das kürzlich

polizist Serban?“, will später der Kollege

polizist Badea. Krone greift ab und zu auch

saniert und räumlich vergrößert worden ist:

­Badea von Serban wissen. Dieser antwortet:

zur Geige, um dramatischeren Szenen mehr

Damit stehen anstatt der bisherigen sechzig

„Sie sind … womöglich … unterwegs nach

Gewicht zu verleihen; freilich nie zu sehr, da

neu achtzig Sitzplätze zur Verfügung.

Deutschland.“

Ursina Greuels subtil austarierter Inszenie-

SOGAR THEATER: „Ich muss Deutschland“ (UA) von Catalin Dorian Florescu Regie Ursina Greuel Kostüme Cornelia Peter

Rollenwechseln

verhandelt

wird.

1998 von Peter Brunner und Doris

Wie lässt sich Catalins vom fernen

rung stets Rechnung tragend. Und über

Aebi gegründet, spielte die besondere Lage

Krieg und vom schwierigen Alltag in Rumä­

­diese, sagt der Autor Catalin Dorian Florescu

in Zürichs Kreis 5 eine entscheidende Rolle.

nien berichtende, nie moralisierende, vor

in seinem „Nachwort“ bei der Premiere, sei

Dem damaligen Fixerstrich und Drogen­

­allem Fragen aufwerfende Erzählung auf der

er glücklich. Nicht nur er – auch das Publi-

umschlagplatz im nahgelegenen Platzspitz

Bühne umsetzen? Eins zu eins. Nicht als

kum. //

wollte das Team etwas entgegensetzen: sogar

­dramatisch aufgepeppte, sondern als bildlich

Theater! Seither hat sich dieses als litera­ rische Bühne einen exzellenten Ruf erworben. Diesen will das seit 2018 am Haus wirkende neue L ­ eitungsteam mit Ursina Greuel (Künstlerische Leiterin) und Tamaris Mayer (Geschäftsleitung und Programm Spoken ­ Word) erhalten und mit neuen Akzenten versehen: „Die Zusammenarbeit mit Autorinnen und Autoren und der lustvolle Umgang mit Sprache in all ihren Facetten, Klängen und Rhythmen bestimmen das sogar-Programm“, sagen sie, die Theater als „ein Gespräch mit der Gesellschaft“ begreifen. Das setze aber voraus, dass man nicht nur in die Gesellschaft hineinsende, sondern auch zuhöre und Impulse aufnehme. Wie solche des 1967 in ­Rumänien geborenen, 1982 in die Schweiz emigrierten Autors Catalin Dorian Florescu, dessen vielfach ausgezeichnete Prosa vor

Geschichte von Flucht und Freundschaft – „Ich muss Deutschland“ von Catalin Dorian Florescu (hier mit Khalil Hamidi und Jonas Gygax). Foto Ayse Yavas

Elisabeth Feller

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Julia Haenni

Thiemo Strutzenberger

Sarah Jane Moloney

Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik Eine Frau verschwindet, zwei Männer erobern die Welt, eine Dichterin hat Angst vor dem Alter. Das Förderprogramm für Neue Schweizer Dramatik Stück Labor hat in den vergangenen Monaten die Ergebnisse der elften Runde präsentiert. Die hier veröffentlichten Theatertexte von Thiemo Strutzenberger, Julia Haenni und Sarah Jane Moloney erzählen von der Vielfalt des szenischen Schreibens und der produktiven Interaktion mit der Regie. Denn als Hausautorinnen und -autoren am Theater Basel, dem Konzert Theater Bern und dem Poche/Gve in Genf treten die Schreibenden bereits früh in Kontakt mit ihren Regieteams. Ein Prozess, sagen sie, der sie beim Schreiben befreit.

Zeichnungen von Daniel Zeltner, basierend auf Fotos von Stefan Klüter, Mali Lazell und Mehdi Benkler

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thiemo strutzenberger_wiederauferstehung der vögel

Vergangenheit ist eine Erfahrung der Andersheit Thiemo Strutzenberger über sein Stück „Die Wiederauferstehung der Vögel“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

Thiemo Strutzenberger, Ihr Stück „Wiederaufer-

licheren Figuren. Ihr „politisch Unbewusstes“

stehung der Vögel“, entstanden im Stück Labor,

Der Schauspieler und Autor Thiemo Strut-

erzählt die Lebens- und auch Liebesgeschichte

zenberger studierte Schauspiel am Max

der Großcousins Fritz und Paul Sarasin, die

Reinhardt Seminar in Wien und absolvier-

Mission und Evolution sind die beiden Gegen­

­Anfang des 20. Jahrhunderts das Museum für

te an der Universität Wien den Masterstu-

pole, zwischen denen sich Ihre Figuren bewegen.

Völkerkunde in Basel gründeten. Als Natur­

diengang für Gender Studies. Sein Stück

In den Dialogen verhandeln Sie Diskurse, die auf

forscher arbeiteten sie in den britischen und in

„The Zofen Suicides“ feierte 2010 am

heutige Strukturen übertragbar sind. Globalisie-

den niederländischen Kolonien in Asien. Hat die

Wiener Schauspielhaus Premiere. Es folg-

rung als Fortsetzung der Kolonialgeschichte.

Liebe der beiden Männer in den Strukturen des

ten dort die Uraufführungen von „Queen

Wir hören von den Vögeln, dass Kolonialismus

Kolonialismus eine Chance?

Recluse“ (2013) und „Hunde Gottes“

als ethisch unumgängliche Zivilisierungsmis-

Fritz und Paul Sarasin verbringen Jahrzehnte

(2014). Nach seiner Zeit am Schauspiel-

sion legitimiert wird, aber auf ökonomischen

zusammen. Das Arbeitsleben der beiden speist

haus war er zwischen 2015 und 2019

Interessenspolitiken des Westens beruht. Bern-

sich nicht vorrangig aus ihrer Liebesgeschichte,

Ensemblemitglied am Theater Basel. In

hard Schär verhandelt Kolonialgeschichte in

sondern auch aus einer Geschichte der For-

der Saison 2018/19 arbeitete er dort als

seinem Buch nicht als allgemeine Größe. Er

schung, der Wissensformen, der ökonomi-

Hausautor und entwickelte sein neues

arbeitet die Partikularität eben dieser Ge-

schen Situierung, der religiösen Prägungen.

Stück „Die Wiederauferstehung der Vögel“.

schichte heraus. Es gibt wahrscheinlich Kon-

Es geht angesichts der „quasi-kolonialen“

Die Uraufführung fand am 24. Januar

tinuitäten, doch die Gespräche, Debatten im

Unterwerfungen auf ihren Expeditionen, der

2019 in der Regie von Katrin Hammerl

Stück lassen sich nicht friktionslos auf Heuti-

militärischen Eroberung eines Teils Indonesi-

statt. Aktuell spielt und schreibt Thiemo

ges übertragen. Es scheint mir aussichts­

ens durch die niederländische Armee, welche

Strutzenberger am Residenztheater in

reicher, die Komplexität historischer Diskurse

die Naturhistoriker mit vorbereiteten, und an-

München, wo im April sein Stück „Der

in sich selbst nachzuvollziehen. Vergangen-

gesichts der rassenwissenschaftlichen For-

Preis des Menschen“ uraufgeführt wird.

heit ist eine Erfahrung der Andersheit, keine

bedrängt sie in ihren Träumen.

schungsmethode, die sie stringent entwickel-

Kostümierung der Gegenwart, welche nur Ge-

ten, nicht vorrangig um die Schwierigkeiten

genwart spiegelt.

oder Schönheiten einer Liebe. Es sind weiße, europäische Männer, von

kann?“ Worin liegt für Sie der Reiz, ein hoch­

Nach der Uraufführung in Basel hat im April ein

äußerstem Wohlstand umgeben. Dabei geht

aktuelles Drama, Stichwort Geschichtsverges-

weiteres Stück von Ihnen am Münchner Resi-

nicht nur ihrer Beziehung wegen eine Art Riss

senheit, im historischen Kontext zu verorten?

denztheater Premiere, „Der Preis des Men-

durch sie: In ihre Forschung ist Erkenntnis­

Als Vögel Südostasiens sind sie hier nicht nur

schen“. Als Schauspieler stehen Sie an beiden

kritik verwickelt, Einspruch in entfesselte Ratio­

Ausgestopfte, Verspeiste, sondern auch Wie-

Häusern auf der Bühne. Im Theater sind Sie es

nalität. Es kommen im Stück dazu ganz ande-

derauferstandene, Zeugen der Ereignisge-

gewohnt, Rollenstudien zu entwickeln. Wie

re Fragen auf, als man es von martialischen

schichte, wie sie der Historiker Bernhard

wirkt sich diese Fähigkeit auf die Praxis des

Männlichkeiten, Kolonialherren erwartet.

Schär in seiner Publikation „Tropenliebe“

Schreibens aus?

Bezüglich der Liebe: Fritz hofft, dass

(2015) schildert. Die Wiederauferstehung der

Ich weiß nicht. Spielen ist körperlich-öffent-

sie als Gegengift zu Herrschaft überhaupt

Vögel steht in Verbindung zur Hoffnung auf

lich und mit Texten anderer. Schreiben ist das

eine Chance hat.

eine komplettierte Geschichte. Indem die

Gegenteil. Vielleicht ist es eher umgekehrt.

­Vögel die Frage nach der Geschichtsverges-

Vielleicht beeinflusst das Schreiben das Spie-

Den tropischen Vögeln haben Sie im Stück eine

senheit stellen, hier in Bezug auf kolonialhis-

len? Kann sein, dass ich beim Schreiben eine

Stimme gegeben. Dabei variieren die Zeit- und

torische Ausschlüsse, Löschungen und Ver-

Art poetische Aufrichtigkeit bei den Figuren

Wirklichkeitsebenen. Nachdem sie beim Ban-

nichtungen, reparieren die Vögel gleichzeitig

ausgraben möchte. Ich versuche, in den

kett verspeist wurden, erstehen sie wieder auf.

etwas von nie angemessen Erinnertem: Spat-

Stücken Figuren zu entwickeln, von denen ­

Der Phasianid fragt: „Ist die Geschichte jetzt

zen pfeifen es da von den Dächern, den Bäu-

ich hoffe, dass sie den Darstellenden reizvoll

befreit, dass man sich nicht an sie erinnern

men. Die Vogelperspektive fehlt den mensch-

erscheinen. //

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stück

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Thiemo Strutzenberger

Wiederauferstehung der Vögel basierend auf „Tropenliebe“ von Bernhard C. Schär

PERSONAL Paul (11) (21) (46) (73) Fritz (8) (18) (43) (70) Franz (62) Anna Cathrin (48) Adalie (16) Haushälterin (20)

Fritz: Dazu da sag‘ ich nichts. Paul: Wie meinst du das? Warum denn nicht? Fritz: Was hab‘ ich denn damit zu tun? Paul: Warum sagst du denn nichts dazu? Und tust denn nichts? Warum stehst du nicht gegen sie, ­warum stehst du nicht auf? Warum veröffentlichst du denn in ihrem Magazin? Bei den Hygienikern? Fritz sieht durch Paul ins Leere.

1877 Franz, Großonkel von Fritz, Vater von Paul und Adalie, kommt nach einer Weile und setzt sich an den Tisch. In sich gekehrt, sinniert. Er nimmt die beiden, die da Zosterops bereits sitzen, nicht wahr. Paul (46) und Fritz (43) Phasianid ziehen sich aus dem Wohnzimmer zurück. Ihr Weg Großfußhuhn hinaus wird von der Haushälterin gekreuzt, die sie ebenfalls nicht wahrzunehmen scheint. Sie sucht etwas, Schatten findet es nicht. Geht wieder. Fritz (18) sieht durch die Tür, geht fast hinein, stellt aber fest, dass das Wohnzimmer von Franz besetzt ist. Verschwindet wieder, von ihm unbemerkt. Anna Cathrin kommt, sucht etwas in der Lade, das die Haushälterin nicht finden konnte. Da ist es ja. Anna Cathrin steht da, an einer Anrichte, Kommode. Ihr Blick streift Franz. Der sitzt alleine da SPRÖSSLINGE und seufzt in sich hinein. Sie geht wieder hinaus. AdaEin Wohnzimmer, in dem alles an seinem Platz, lie steht plötzlich in der Tür. Geht etwas in das Zimmer. nichts zu viel ist. Drei tropische Vögel erscheinen. Ein Bleibt unverhältnismäßig lange an einer Stelle stehen, Phasianid, ein Großfußhuhn, ein Zosterops. Sie nehdie keinen rechten Sinn ergibt. Sie sieht bei einem men ihre Plätze als Wandschmuck ein, platzieren sich, Fenster raus ins Freie. Sie geht dann wieder. Franz die Wände zierend, ausgestopft. Fritz (43) und Paul ­alleine. Fritz, der kommt und sich bei seinem Groß­ (46) sitzen einander still, irgendwann, gegenüber. onkel anmeldet und vor ihm steht, zur Ansicht. Nicolaas Adriani (56) Brugmann d.J. (36)

Fritz: Ich dachte kurz, du wärst schon weg. Paul: Ich bin noch da. Fritz: Ich weiß nicht, was mich hat. Paul: Das ist nichts Schlimmes. Fritz: Sag es nochmal. Paul: Was? Dass es nichts Schlimmes ist? Das möchtest du gern‘ hören? Dass Schlimmes nichts so Schlimmes ist? Fritz: Wie, wie. Ich weiß nicht, Paul. Werden sie uns entzieh‘n die Liebe, Anerkennung? Wird man ein Urteil sprechen? Die Schwächsten haben sie sich vor den Apparat geholt. Die Kleinsten. Sie haben abgebildet die, die vor der Kamera gezittert haben. Beherrscht, die Blutenden. Die Trägerschar verbunden – damit sie weiterträgt, nicht weil sie helfen wollten. Sie herrschten, teilten aus, während sie sammelten. Paul: Das ist nicht ganz, nicht alles. Fritz: Nein. Paul: Vermessungsstandards grundgelegt, das Mess­­geschick. Die Forschung an den Menschenrassen allgemein bewältigbar durch sie. Auf großen ­Flächen, Reihen. Objektiv. Und überall. Basierend auf dem Standardwerk, methodisch, hand­werklich, von ihnen – in Meisterschaft zu Grund‘ gelegt, der Rassenwissenschaft. Die dann Hygiene wird.

Fritz: Ich melde an, dass ich anwesend bin. Franz: Dein Vater hat sich angekündigt. Der Bürgermeister. Später kommt er, nicht? Willkommen jedenfalls. Fritz: Mein Vater ist schon lang gestorben, Herr. Ich hab‘ ihn nie wirklich gesehen. Franz: Wie? Verzeih‘. Das stimmt. Vergaß es kurz, war abgelenkt. Ich weiß. Fritz verneigt sich und will gehen. Franz schüttelt über sich selbst den Kopf. Fritz kehrt sich im Gehen zu ihm um. Fritz: Warum meinten Sie denn, mein Vater komme her? Franz: Hab‘ ich gesagt, dein Vater kommt? Ich dachte. Vielleicht hab‘ ich mir nur gewünscht, dass er nicht schon gegangen ist. Da hab‘ ich ihn, in einem unachtsamen Zug, wieder zum Leben auferweckt. Fritz scheint sich mit der Erklärung nicht ganz zufrieden zu geben und will nun wirklich gehen. Er wird von Paul (21) aufgehalten, der ebenfalls hereinkommt. Paul: Wie geht es Ihnen, Vater? Franz: Ich ruh‘ mich aus. Und sollte doch zu der Fabrik. Die Aufstände begradigen. Reib‘ mich so auf, an allem, was hier ist. Ich hätte gerne Ruh‘ davon. Ein bisschen Ruhe, Paul. Geh nach Shanghai. Paul: Wie, nach Shanghai?

Franz: Gründe dort etwas. Paul: Was? Franz: Die Raupe von dem Maulbeerbaum erkrankte, fiel vom Baum. Es hat sie eine Seuche hingestreckt. Wir brauchen neue Fäden. Paul: Was soll ich gründen? Franz: Einen Standort, Stützpunkt – mit dem man Handel treiben kann. Dort zieh sie hin, die Rohseide und gib sie hier heraus, am andern Erdenende. Wir setzen dann die Seide ab. Und bringen sie der Welt. Paul: Das will ich nicht. Franz: Dann frag ich jemand anderen. Was ist mit dir? Fritz schweigt überfordert. Franz: Na dann. Dann frag‘ ich jemand anderen. Was ist denn noch? Paul: Ich wollt‘ nur – Franz: Was? Ich hab‘ doch schon gesagt, dass mich die Ruhe will. Paul: Verzeihen Sie. Fritz und Paul gehen. Die Haushälterin bringt Franz den Kaffee und stellt ihm das Service hin. Adalie kommt ins Wohnzimmer und nähert sich dem Fauteuil. Sie legt sich darauf, scheint sich dort aber nicht besonders wohl zu fühlen und geht wieder zur Tür. Fritz steht mit Studienbüchern in der Tür. Er verneigt sich leicht vor ihr. Sie lächelt höflich, geht hinaus. Paul kommt zu Fritz, ebenfalls mit einem Buch unterm Arm. Die beiden setzen sich zu Franz an den Tisch. Beugen sich über ihre Bücher. Fahren fort zu notieren und zu studieren. Die Haushälterin wartet kurz, ob Wünsche kommen, geht dann wieder hinaus. Fritz: Großonkel. Franz: Ja, Fritz? Fritz: Stört es Sie sehr, wenn wir bei Ihnen hier studieren? Franz zuckt ablehnend mit den Schultern, um sich dann zu korrigieren. Franz: Was? Nein, nein. Das stört mich nicht. Anna Cathrin, Pauls Mutter, tritt ein. Sie legt sich auf den Fauteuil. Paul, ihr Sohn, und Fritz, ihr Großneffe sehen ihr nach. Franz stöhnt erschöpft, wegen der vielen Menschen. Adalie steht plötzlich wieder in der Tür. Franz: Ah, Adalie. Was gibt’s? Adalie: Wie? Nichts. Sie geht wieder. Franz: Ach, du. Anna Cathrin: Frühmorgens gingst du schon zu der Fabrik. Wie steht es? Franz: Na, das beruhigt sich schon. Anna Cathrin: Du arbeitest zu viel. Franz: Es geht mir gut. Nur etwas Ruhe wär‘ mir recht. Anna Cathrin: Ja, sicherlich. Man hält Ruhe. Fritz: Großonkel. Franz: Fritz?


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thiemo strutzenberger_wiederauferstehung der vögel

Fritz: Sie sprachen uns vorhin vom Maulbeerbaum. Sind dann verstummt. Woll‘n Sie nicht weiter von ihm sprechen? Franz: Vom Maulbeerbaum? Anna Cathrin geht zu Paul, flüstert ihm etwas zu. Was sagst du, Frau? Anna Cathrin: Ich, ich hab‘ nichts gesagt. Man ist schweigsam. Ich hab‘ nur neulich was gehört, gelesen. Franz: Ja und was? Sagst du’s uns auch, oder behältst du es für dich? Anna Cathrin: Ich weiß nicht, ob ich recht verstand. Geschichte soll auf liberale Weise aufgefasst, verstanden werden können. Mir wurde es, als ich das las – mir schwindelte. Es ging mir nah. Franz: Wie war das? Anna Cathrin: Nichts. Ich hab’s ja schon gesagt. Es ist auch unwichtig. Sie legt sich wieder auf den Fauteuil. Paul: Na, Mutter. Sagen Sie‘s. Anna Cathrin: Ach, du. Na gut. Sie setzt sich wieder auf. Im Deutschen Reich, da meinte einer jüngst, er könne absolut erkennen, um wörtlich zu zitieren, wie alles denn gewesen ist, gesamtgeschichtlich aufgefasst. Und deshalb, darauf aufbauend, sei auch die Zukunft dann vorhersehbar, zu kalkulieren, bearbeitbar. Geschichte so auf liberale Weise aufgefasst. Franz: Ach so? Anna Cathrin: Meint ihr das auch? Ich dachte, nein, das geht ja nicht. Fritz: Ich weiß nicht. Paul: Nein. Ich teil‘ die Ansicht nicht. Fritz: Ich weiß nicht, Großonkel, was meinen Sie dazu? Was soll‘n wir davon halten? Franz: Wovon? Paul: An der Geschichte gibt es keinen Fortschritt zu erkennen. Adalie tritt durch eine der Türen herein und geht durch eine der Türen wieder hinaus. Franz sieht ihr nach. Franz: An wem? Anna Cathrin: An der Geschichte gibt es keinen Fortschritt zu erkennen, meint der Paul. Paul: An der Geschichte ist kein Fortschritt zu erkennen, meint man hier, im Gegensatz zur liberalen Auffassung. Kein Fortschritt. In den Jahr‘n, in den Jahrhunderten. Franz: Das denkt hier irgendwer? Paul: Nicht irgendwer, die Professoren denken das. Franz: Die Professor‘n? Paul: Sie führen die Entfremdungen des Menschen vor.

Franz: Naja, na, da. Na, Paul. Da sagst du auch mal was. Das ist ja schön. Sitzt immer grübelnd, gründlich da, als hätt‘ dir jemand was getan. Paul: Nicht wieder herstellbar, egal. Anna Cathrin ermutigt ihn. Anna Cathrin: Nicht wieder herstellbar? Wie meinst du das? Paul: Abwesenheit. Franz: Was war das denn von dort? Vom hinter‘n Eck? Hat jemand was gesagt? Anna Cathrin: Ich sag‘ schon nichts mehr, ach. Hab‘ mich nur interessiert, für das, was Paul, der Sohn, uns sagen wollt‘. Paul: Mir hat man nichts getan. Ich sitz nicht gründlich da. Spricht lauter, damit ihn der Vater versteht. Nur die nicht wieder herstellbare Abwesenheit. Von den Verlusten, die in der Geschichte sind, ­Geschichte sind ganz insgesamt, die nicht mehr reparabel ist. Davon erzählen sie. Franz: Ah ja? Es sind wohl Melancholiker, die Professoren. Geschichte, die verloren ist, abwesend ist, nicht mehr zu reparieren. Das klingt nicht sehr erbaulich. Paul: Würd‘ es Sie nicht traurig stimmen, Vater, müssten Sie es auch so seh‘n? Franz: Wie soll ich es denn seh‘n? Dass die Geschichte so verloren ist, dass man sie als Vergangenheit nicht reparieren kann? Na sicher, ja. Wie soll man etwas, das verloren ist, denn reparier‘n? Es macht ja mich auch melancholisch, nicht, ich seh’s ja auch so wie die Professoren. Nur, dass kein Fortschritt ist, das glaub‘ ich nicht. Welt schreitet fort! Geschichte auch. Anna Cathrin: Sie schreiten nicht zum Guten fort. Um uns geht eine Luft. Die Religion. Man will sie absetzen. Man hört es überall. Als wär‘ es kalt in der Natur. Sie selber kalt. Als wäre keine Seele d‘rin. So geht der Geist der Wissenschaft dahin, über uns weg. Man weiß nicht recht, was darauf antworten, schweigt also wieder. Franz: Was hat das denn, wovon die jungen Herrn und ich hier sprechen, Ann‘ Cathrin, was hat das denn jetzt mit der Religion zu tun? Sie schweigen. Paul zu seiner Mutter geneigt. Paul: Wir wollen suchend sein und Deutende. Deuten die Spur‘n des Schöpfenden in der Natur. Sie nicht entzaubern. Nicht entzaubern die Natur, den Schöpfer nicht. Anna Cathrin: Ich danke dir. Franz: Was flüstert ihr? Anna Cathrin: Ich achte nur, meint‘ ich, auf das, was Gott uns in uns selbst, was er uns in uns sagt.

So hab‘ ich’s mitgeteilt, nicht wahr? Sie soll‘n d‘rauf hör‘n, auf ihn, in ihr, in der Natur, wenn sie sie schon erforschen müssen. Die Religion in ihr nicht absetzen, d’rum bat ich sie. Franz: Womit woll‘n sie die Schöpfung denn entzaubern, Frau? Tragen sie ein Gerät bei sich, gegen den Herrn? Anna Cathrin: Gedanken reichen schon. Murmelt in sich hinein. Bin eben ich allein diejenige, die Glauben trotz der Wissenschaft bewahren will, damit dann eben in der Minderheit. Man schweigt. Ich geh‘. Franz: Nein, bleibe hier. Sie überlegt und geht. Anna Cathrin: Es ist genug zu tun. In einer darauffolgenden Pause passiert nichts Bemerkenswertes. Dann klappt Paul, der Sohn, das Buch zu. Fritz und Paul verlassen das Wohnzimmer, gehen hinter Anna Cathrin her. Franz bleibt allein zurück. Adalie tritt nach einer Weile ein. Bleibt verstohlen im hinteren Raumteil, die Wand im Rücken, nach Sicherheit suchend. Adalie: Herr Vater. Franz wie hochgeschreckt. Franz: Was? Er erkennt Adalie. Ach, Adalie. Wie geht’s? Hast du schon was gegessen? Soll man dir etwas bringen? Nicht, dass man dich vergisst und übersieht. Adalie: Ich esse nicht. Franz: Ist alles gut? Adalie: Ich, nein. Mir träumte nicht so gut. Franz: Ah nein? Ja, nun. Gottlob gibt es die Träume nur bei Nacht. Adalie: Da bin ich nicht so sicher. Franz: Vergiss sie einfach wieder. Adalie: Ich glaube nicht, dass ich das kann. Sprechen wir doch von Irdischem, wenn Sie‘s nicht stört. Wobei, vielleicht auch nicht. Franz: Warum denn nicht? Adalie: Es kommt mir ebenfalls so wie ein Albtraum vor. Franz: Was geht denn heute um? Willst du dich setzen, willst du steh‘n? Ich kenne mich bei dir nicht aus. Adalie: Wie bin ich denn geboren? Man hält schweigend inne. Franz: Wie du geboren bist? Adalie: Wie sehr gehör‘ ich denn dem Stamme an, aus dem ihr alle kommt und ich? Verkehrte ich vor ihm, dem Stamm, im Wasser, in der Luft, hab‘ ich in Feuern oder Erden mich bewegt, bevor ich zu ihm kam?

DIE HENNE IDA UND PILAT DAS EICHHÖLNCHEN Theater Bagat Chur 5+ DIE WÖRTERFABRIK equipe wiss Luzern & Corsin Gaudenz 5+ HEUTE KEINE ELEFANTEN Team Tartar Zürich 6+ SCHOGGILÄBE – TEILEN IST BITTER Theater Fallalpha Zürich 6+ AN DER ARCHE UM ACHT E0B0FF/FigurenTheater St.Gallen 6+ HEUREKA! WER HAT’S ERFUNDEN? Theater Kolypan Zürich 8+ FOREVER Tabea Martin Basel 8+ DIE WAHRE GESCHICHTE VON REGEN UND STURM La Grenouille Biel/Bienne 10+ AUERHAUS LAB Junges Theater Zürich 14+ POOL POSITION junges theater basel 14+ TRÄUME EINER SOMMERNACHT Theater St.Gallen 15+

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Franz: In Erden? Was meinst du? Adalie: Ja, war ich flüssig oder atmend oder glühend oder stumpf und unbeweglich irgendwie vor ihm? Wie haben sich die Elemente hin zu diesem Stamm verengt? War ich in Flammen oder floss ich? Wehte oder webte ich? Wie kam ich zu ihm hin? Wie er zu mir? Wo ist das, was den Körper und die Seele zwingt, zu werden dies und das? Gibt es das wirklich, oder nicht? Wo liegt es, das die Ausprägung der Falten, Formen und der Farben – am Menschen herrichtet, als wäre sie Gesetz, die Ausprägung, die Eigenart, wenn man so will. Liegt sie in uns? Bereits verborgen irgendwo? Bereit zu werden dies und das? Franz: Du meinst was Seelisches? Das Erbgut? Was meinst du? Adalie: Ich weiß nicht, lassen wir es so. Franz: Du zitterst, da. Adalie: Ich hab‘ nur nachgedacht. Franz: Ja, gut, ja, wie du meinst. Dann lassen wir es so. Weiß nicht, was dir das Denken bringt. Ich seh‘, du hast nicht gut geschlafen – vielleicht legst du dich wieder hin. Adalie geht. Franz alleine. Franz: Bei dir, da kennt man sich nicht aus. Und doch bist du mein Lieblingskind. Adalie kommt wieder, wagt sich etwas vor. Franz: Da bist du wieder. Adalie: Ja. Franz: Hast du dich ausgeruht? Adalie: Dafür war keine Zeit. Ich kam nicht weit. Ich stand nur vor der Tür. Da hab‘ ich Sie von dort aus mit sich reden hör‘n. Franz: Man weiß nicht, was man tut. Sie setzt damit an weiter zu sprechen, an vorhin anzuschließen. Aber ihr Bruder Paul kommt in den Raum. Adalie registriert ihn, lässt sich abhalten und geht. Paul: Herr Vater. Franz: Na. Sie haben sich nichts zu sagen. Franz bemerkt ihn kaum, geht auch. Paul versinkt in sich, in seinen eigenen Armen. Fritz kommt in den Raum. Sieht Paul eingeknickt. Geht zu ihm hin. Paul: Ich wollt‘ dich etwas fragen, Fritz, du Prinz. Fritz: Prinz nennst du mich? Ja, was? Paul: Ich möcht‘ zu dir in die studentische Verbindung. Kann ich das? Fritz: Wenn das Gemüt dann heller wird. Die Haushälterin kommt mit zwei Kaffeetassen für Paul und Fritz. Die beiden setzen sich nebeneinander. Haushälterin: Und darf ich Ihnen etwas Zucker Fritz: Danke, nein. Die Haushälterin bringt die Stühle auseinander, dass sich die Beine nicht berühren. Paul: Komm Fritz, wir gehen in mein Zimmer. Die beiden wollen gehen. Haushälterin: Bitte zu bleiben, junge Herren. Paul: Und warum? Haushälterin: Manchmal. Bin gerne da, bei Ihnen – wenn Sie so lernen und studieren. Paul: Wir gehen trotzdem. Wiederseh‘n. Paul und Fritz gehen. Anna Cathrin kommt. Sie legt wieder etwas in die Lade, die sie vorhin durchsucht hat. Die Haushälterin versucht ihr zu helfen. Es ist aber nicht so schwierig. Anna Cathrin kann es allein. Die beiden stehen da. Erwarten, dass wieder jemand herein kommt. Oder, dass eine von ihnen wieder geht. Es kommt aber niemand. Es geht auch niemand. Haushälterin: Kann ich noch etwas bringen? Nachdem Anna Cathrin auf dem Fauteuil zu ruhen gekommen ist, bleibt die Haushälterin im Zimmer stehen.

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Anna Cathrin: Die Arbeiter in der Fabrik fingen zu streiken an. Ich weiß nicht, ob es ihm gelingt, sie zu beruhigen. Und dann verkündet er: Man muss die Nichtbesitzenden der Welt in Eigentümer umwandeln. So endet ihre Gegnerschaft. So werden sie Verbündete von allen, die besitzend sind. Franz kommt herein. Setzt sich, sinniert. Franz: Man kommt nicht fort. Die Haushälterin will den Kaffee abräumen, er hält sie ab. Fritz kommt herein, um nach Paul zu sehen, den er nicht findet. Fritz: Entschuldigung. Er geht. Anna Cathrin und Franz mit der Haushälterin allein. Haushälterin: Unsere Freiheit beruht auf der Arbeit von anderen, die sich für die Freiheit nicht eignen. Man sagt, sie eignen sich nicht. Franz: Ein bisschen Ruhe wär‘ mir recht. Haushälterin: Die Bedingung unserer Freiheit ist die Arbeitskraft von Anderen, die wir nicht seh‘n. Anna Cathrin: Ich denk‘, wir brauchen Sie nicht mehr. Haushälterin: Der Wohlstand uns‘rer freien Welt wurde von And‘ren aufgebaut, von denen wir nichts sehen wollen. Anna Cathrin: Wir danken Ihnen sehr. Die Haushälterin geht. Anna Cathrin hat sich zu Franz an den Tisch gesetzt, sieht ihn an. Franz: Mir brummt das Haupt. Franz ignoriert sie weitgehend. Sie steht seufzend auf. Geht ebenfalls. Franz bleibt alleine im Wohnzimmer zurück. Adalie betritt den Raum. Jetzt bist du ausgeschlafen. Adalie: Nein. Hab‘ vorhin nicht so gut geträumt. Franz: Warum denn nicht? Du bist ja noch sehr jung. Da kann man doch von schönen Dingen träumen? Von einem Männchen, irgendwas? Adalie: Und das wozu? Franz: Na, Adalie, ich bitte dich. Davon, da träumst du einfach so. Damit das Feuer und die Erde, Luft und Wasser ineinander geh‘n und Schöpfung werden ganz, von ihm in dich Geschöpftes. Du hättest schon damit beginnen können, eigentlich. Adalie: Man sucht sich ja die Träume nicht selbst aus. Sie suchen einen auf, aus einem Land – Franz: Der Paul ist längst schon reif. Mit seiner Gründlichkeit. Und du, du bist es eigentlich schon auch. Adalie: Verwirrt mich nur. Franz: Also, erzähl. Adalie: Von einer Prüfung träumte ich, die Sie mir selbst gestellt. Franz: Und weiter, ja? Adalie: Sie haben mich gefragt, waren so zugewandt: Woher kommt der Kaffee, den du da trinkst, der Zucker, der Tabak, die Baumwolle, dein Kleid, woher kommen denn Kautschuk, Palmöl, Elfenbein, Kakao, woher die Erze? Ich hab‘ Sie angeschaut. Woher das kommt? Fragen Sie mich? Franz: Ah. Sowas träumst du? Und? Das war‘s? Adalie: Ich hab‘ geschaut. Ich weiß die Antwort nicht. Dann schlaf‘ ich weiter ein, aus Angst, vor Schreck. Bestrafen Sie mich jetzt, dass ich’s nicht weiß? Ich schlaf‘ im Traum dann nochmal ein, und träum‘ im Traum: Ich steh‘ vor Ihnen, schaue aber hinter Sie und dort steh‘ wieder ich. Das Ich von hinter Ihnen flüstert in Ihr Ohr: Was glaubst du, wer du bist? Franz: Was? Wer ich bin? Adalie: Das frag‘ ich Sie. Franz: Im Traum.

Adalie: Hab‘ ich im Traum geträumt. Wie als Verdoppelte. Denn da sagt dort das eine Ich, das hinter Ihnen steht, zu mir: Woher das alles kommt? Ich lag, als ich aus diesem Traum erwach‘, nun immer noch im Traum, auf einem weißen Tuch, am Tisch. Sie kommen mit Besteck zu mir und sagen laut: Jetzt ist es angerichtet. Dann geh‘n Sie auf mich zu, messen mir alles ab, mit Ihrer Gabel, Messer. Dann schau‘ ich Sie so an. Da tut mir alles weh. Dann lächeln Sie. Und alles war am Leuchten. Ich sag‘, jetzt wieder ich allein: Die schonungslose Qual – Franz: Was? Was? Versteh‘ ich nicht. Und dann? Adalie: Dann kamen Sie, wie vorhin ich, hinter sich selbst hervor und hinter Ihnen wieder Sie. Franz: Das hast du alles heute Nacht geträumt? Erzähl mir nichts! Adalie: Sie standen immer wieder hinter sich. Franz: Ja. Seltsam das. Adalie: Und alle Sies, die hinter Sie gekommen sind, haben Ihnen in‘s Ohr gesagt. Franz: Und was? Adalie: Ich weiß es nicht. Sie flüsterten. Hab’s nicht gehört. Und dann brach Feuer aus. Das war ganz sanft. Ein Sturm zog auf. Die Erde hat sich aufgebäumt. Es schüttete in Strömen. Ich sah, wie’s auf mich fällt. Lag dort am Tisch, mit dem Besteck bestückt. Und alle Sies. Dann sind wir eingetaucht. Dann ist Mama gekommen. Franz: Wirklich wahr? Adalie: Nein, nur im Traum. Sie bildete mit mir eine Armee. Sie führt sie an, ich zieh‘ mit ihr. Wir wandern über Berge, lange, weit, wir schlagen uns durch das Gestrüpp, durch ungeheure Pflanzen. Wir war‘n so viel. Und hinter uns Gesang: Siebzig Millionen. Siebzig Millionen. Franz: Was? Wieviel? Wieviel von was? Adalie: Ich weiß es nicht. Die Singenden sangen nur das. Und dann waren nur noch Mama und Sie an einem Strand, an einem Strand war ich in Wirklichkeit noch nie. Franz: Ah ja. Willst du an’s Meer? Adalie: Ihr saht wie Menschen aus, aus der Natur. Wie Inselmenschen. Ganz in der Natur. Sie haben Mama angeseh‘n. Und sie hat dann zurück auf Sie geschaut. Ihr seid zu einem Abstellraum aus Stöcken und aus Blättern. In eine Hütte eingetreten. Habt euch dort auf ein Brett gelegt. Und viele Tiere sind gekommen. Schmetterlinge. Schlangen. Löwen. Seepferdchen. Die haben sich zu euch gelegt. Da habt ihr mich gezeugt. Franz: Mir graut’s. Adalie: Wir haben nie. Wir haben unser Lebtag nicht. Franz: Adalie, ja, was? Anna Cathrin kommt. Ich war wie du. Noch nie an einem Strand. Adalie geht. Anna Cathrin: Entschuldige. Ich wollt‘ nicht stör‘n. Und brauchst du was? Franz: Ich ruh‘ mich aus. Anna Cathrin: Dann störe ich. Franz: Ach, warte nur. Anna Cathrin: Ist viel zu tun. Anna Cathrin will gehen. Weißt du noch, was der Paul da vorhin meinte? Franz: Wann, wie, womit? Anna Cathrin: Das mit den Professor‘n von hier. Er meinte, dass sie traurig sind, weil ihnen aufgefallen ist, ihr Forschungsgegenstand, dass er nicht wiederkehrt. Dass man Vergangenheit nicht reparieren kann.


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thiemo strutzenberger_wiederauferstehung der vögel

Franz: Ich weiß, weil sie verloren ist, das war vorhin. Anna Cathrin: Ich möcht‘ sie gerne reparieren. Franz: Wen? Anna Cathrin: Die Welt. Franz: Warum? Anna Cathrin: Sie ist gekränkt. Franz: Von wem? Anna Cathrin: Von der Vergangenheit. Franz: Ah, die, von der Geschichte selbst? Anna Cathrin: Genau. Franz: Geschichte hat die Welt gekränkt, das meinte er, meinst du? Anna Cathrin: Jetzt müsste man, jetzt müsste man sie reparier‘n. Franz: Welt und Vergangenheit. Anna Cathrin: Das meint‘ ich, ja. Franz: Das meintest du. Anna Cathrin: Das möchte ich. Anna Cathrin geht hinaus. Die Haushälterin kreuzt ihren Weg. Franz: Was gibt es noch? Sohn, Großneffe! Wenn Sie sie holen. Hab‘ etwas zu notier‘n für sie. Die Haushälterin geht die beiden suchen. Paul und Fritz kommen zurück. Sie setzen sich zu Franz an den Tisch. Sie notieren, was ihnen von Franz mitgeteilt wird. Geht hin. Anna Cathrin ist wieder aufgetreten, zur Kommode gegangen, um, wie nebenbei, etwas zu holen, das sie vergessen hat. Über die Grenzen der Nation. Das Erdenantlitz sendet uns nach Haus. Wenn ihr nicht Fäden von der Raupe nehmen wollt, beim Maulbeerbaum und sie nicht herzieh‘n wollt, sie dann nicht absetzt in die Welt. Wenn ihr schon forschen müsst, die Raupe nur betrachten wollt, erzählen wollt, woher sie kommt, schickt uns die Erdenkenntnisse nach Haus, hierher, zurück. Schickt uns die Tiere, die Objekte, was da ist, was ihr dort finden könnt. Grabt auch die ander‘n Menschen aus, bringt uns die Schädel her. Dann haben wir etwas von ihm, dem Erdenantlitz, hier, die Erde selbst, bei uns Zuhaus. Anna Cathrin: Wissen seid ihr. Hört ihr den Schöpfenden darin? Paul und Fritz haben seine und ihre Sätze langsam notiert. Anna Cathrin bleibt noch eine Weile mit Franz am Tisch sitzen. Die beiden sind verstummt, erstarren. Als würde er sich mit Fritz wieder jenseits der Zeit befinden, nimmt Paul den Tisch seiner Jugend und Kindheit wahr, das Wohnzimmer, seinen Vater, seine Mutter, die dort sitzen. Fritz: Paul? Paul: Ich bin noch da. Fritz: Ich rief die Liebe an, damit sie überall in je-

dem Gras und Baum, in jedem Wesen, jeder Seele, jeder Hand, damit sie hingehen kann, zu jedem, der sie fragt. Sie sagte nichts, ging aus. Etwas hat ihr wahrscheinlich mitgeteilt, sie soll nur für die Einen sein und für die Ander’n nicht. Sie so beschränkt, erschreckt. Aus kleinen Kannen tropft‘s. Nicht weit vom Stamm. Wer hat die Liebe rationiert? Den Rest von ihr? Ist sie was, das versiegen muss, wenn es da wettern will und strömen – wie Fluten fallen will auf Anderes, wenn es sich einfach so auf Unvertrautes stürzt? Warum fließt‘s nicht? Sie spart. Und sammelt sich. Und muss nun auf sich selber schau‘n. Hat auf zu großem Fuß gelebt. Strömt nicht, wohin sie will. Zur Andersheit von Anderen verläuft sie sich, warm plätschernd, nicht, sie hat nicht mehr genug von sich, von Anderen hat sie genug. Das ist die Liebe, stimmt’s? Gibt nicht mehr viel von ihr. Reicht sie nur noch, für die, die Stammestrümmer ähnlich sind, gibt sie sich nur noch dort? Das, was noch übrig ist von ihr an ihrer Eigenart: Den Eigenen. Sie soll sich nur ergießen hier auf die, die an dem Ähnlichen das Eigene und an dem Eigenen das Ähnliche erkennen woll’n. Tropft und versiegt. ­Warum die Liebe grenzhaft ist. Versuch‘ es zu verstehen. Und kann‘s doch nicht. Die Vögel lösen sich von den Wänden und fliegen davon. Alle verschwinden.

SCHWELLE (1) Die Sonne geht unter. Schatten kommen. Sie bauen das Wohnzimmer ab. Gezirpe. Vogelgekreische. Die drei Vögel erscheinen wieder. Zosterops: Wir fliegen frei. Stimmt’s nicht? Phasianid: Doch, doch, mein Spatz. Das stimmt. Zosterops: Meinst du das nicht? Phasianid: Ich mein‘ es auch. Zosterops: Wo fliegen wir? Zuhaus‘? Phasianid: Ja, Tropen sind‘s. Zosterops: Wir sind Zuhaus‘, Fasan. Phasianid: Die Menschen bringen sich die Freiheit – und wo sie noch nicht ist, dort bringen sie sie hin. Und durch die Polizei und durch das Militär kommt sie herein, die Schifffahrt bringt sie auch. Der Handel bringt sie. Und in traurigen Tropen liebt die Freiheit die Menschen, und die Menschen lieben die Freiheit zurück. Zosterops: Die einen Menschen nehmen sie, die anderen geben sie her? Phasianid: Es sind nun die Ereignisse, von denen wir berichten woll‘n, verscholl‘n. Man findet sie nicht vor. Und kein Archiv enthält sie hier.

01./02.02. + 05.–09.02.2020 LAPDANCE Dresden Frankfurt Dance Company (DE) 14./15.02.2020 Bandstand Indoorfestival der lokalen Bandszene

www.hellerau.org

20./22./23.02.2020 Land ohne Worte Premiere missingdots (DE)

Zosterops: Wenn sie verschollen sind, wenn das Archiv Ereignisse nicht trägt, die es ergänzen, ausmachen – ist es dann selbst noch da? Phasianid: Ist ausgemacht. Ein Teil ging weg, ging aus, kam nicht hinein. Zosterops: So kam die Freiheit auch in das Archiv und nahm, sie war so frei, heraus, was sie nicht brauchen konnte? Phasianid: Jetzt hat man, was sie nahm, vergessen müssen, ja. Und das, was gar nicht erst hineingekommen ist. Zosterops: Kann man’s deshalb nicht sagen? Phasianid: Nein. Man muss es fühlen. Zosterops: Ja? Das kann ich nicht. Großfußhuhn: Ich fühl‘ es auch nicht und ver­ mag’s zu sagen. Zosterops: Wie, was sagt uns das Großfußhuhn? Phasianid: Will‘s sagen von Ereignissen, die nirgends festgehalten sind, die kein Archiv enthält, wenn man sie sucht, die man nicht finden kann. Zosterops: Es hat das Großfußhuhn, das nur dort sitzt, nie fliegt, nicht im Gefühl, was es da sagen will? Phasianid: Es weiß zwar alles, sagt davon aber nur das, was es nicht fühlt. Grossfusshuhn: Eine Armee kam her. Kreischen anderer Vögel. Und ist ins Hochland rauf. Kreischen anderer Vögel. Bis dann das Hochland und das Tiefland fiel‘n. Zosterops: Sind sie gefall‘n? Phasianid: Man hat sie sich geholt. Großfußhuhn: Und aus der Mitte von Europa kamen die Naturforscher und wollten nach der Erde und nach Lebewesen seh’n. Sie schritten über Wege hin, die vorher unbekannt gewesen sind. Auf ihnen zog nun die Armee der Niederländer ein. Phasianid: Und schlachtet dann die Einwohner der Insel ab. Zosterops: So fällt das Land. Phasianid: Archivlicht nicht. Nur Sonnenschein. Der immer wieder kommt. Und jeden Tag vergisst, nur scheinbar macht, was wirklich war, was wirklich ist. Die Vögel fliegen kreischend davon.

STAMMESTRÜMMER Schatten kommen, ziehen vorüber. Schatten: Erster Schritt. Zuerst, zuvorderst in den Raum hinein. Angebrachte Ausdehnung. Verwandelt in ihr Eigentum, wo vorher noch das Eigentum von jemand and‘rem war. Zuerst und zuvor-

21./22.02.2020 Stations Louise Lecavalier (CA) 28./29.02.2020 The Listeners Deutschlandpremiere Cullberg/Alma Söderberg (SE)

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derst heraus an sie den Raum, und nebenbei, was nicht fest in ihm war. Die Beuten. Das Geld. Sie wollten zuvorderst den Raum. Das Geld fiel an sie. Nebenbei. Der Feind besteht. Sie verschwinden. Gezirpe. Vogelgekreische. 1902 In einem tropischen Wald, durch den Fritz (43) geht. An seiner Seite ein anderer Mann, der Missionar Nicolaas Adriani, der auch geht. Adriani: Sie schreiben alles falsch. Sie hören und dann schreiben Sie. Sie schreiben alle Namen nur nach Hörensagen. Ihr Buch wird dann ein Standardwerk, und man wird Ihrer Schreibart folgen. Nur stimmt sie nicht. Die Sprache der Toradjas – der Menschen auf den Bergen – die keine Adeligen sind und keine Adelssprache sprechen – versteh‘n Sie nicht. Toradjas feilen sich die Zähne ab, barbarisch, wie sie sind, wie woll‘n Sie sie versteh‘n? Und auch die Adeligensprache auf der Insel, die Sie nach Gehör verfassen: Falsch. Von den Toalas schweigen wir, den Waldmenschen. Sie schreiben über sie, als wüssten sie sie schon. Ich hab‘ sie auch studiert. Mit meinen Mitteln, anderen, als da Ihr Raster und Ihr Lineal für Schädel, Schatten. Sie messen Körper, Köpfe. Standardisiert fotografiert. Man kann es aber nur an Sprachführung erkennen – woher sie kommen, was sie sind. Man hört es. Dann legt man Schlüsse dar. Man misst es nicht. Es sind nicht nur die Namen falsch, die Schreibweisen, die Schlüsse, die Ergebnisse sind’s auch. Dann sagen Sie, die Waldmenschen glauben an nichts. Wir, die schon länger hier sind, wissen anderes. Sie deuten Gott. Wir deuten dieses Deuten. Bekehren dieses Deutende zum Evangelium. Wir kehren sie, von ihnen selbst ausgehend, um. Sie aber sprechen ihnen Glauben ab, als Ganzes. Sie setzen sich mit irgendwelchen Übersetzern irgendwie zu ihnen hin und glauben dann im Ernst, dass sie ihr Heiligstes verraten werden. Ihnen. Fremden. Wie denn? Seh‘n Sie nicht, wie scheu Sie sind? Dann stell‘n Sie fest, schließen daraus, ganz grundsätzlich und absolut, sind umstandslos gleich überzeugt, dass sie nichts Göttliches verehr‘n. Ich hab‘ es Ihnen schon erklärt, es gibt für sie, die Waldmenschen, die Seele, Seelenstoffe, sogar drei. Die Lebenskräfte, die leicht flieh‘n, in Haaren, Haut, in einem Fußabdruck, im Atem. Und in den Schatten auch. Toalas und Toradjas schminken sich, wenn Sie sie vor die Apparate zwingen. Sie halten sich dann außerdem die Hand vor ihren Mund, damit die Seelenstoffe nicht entflieh‘n. Sie können nicht bestreiten woll‘n, dass sie, die Menschen aus den Wäldern, schlicht Entlaufene der Dörfer, Städte sind, Verwilderte, dann irgendwie Vergessene, die deshalb leben, wie sie leben, deshalb ausseh‘n, wie sie ausseh’n – weil sie von allen anderen vergessen worden sind. Der Menschen Urschicht eine, sagen Sie, wie auch die Weddas angebliche Urschicht sind, ein and‘rer Menschenstamm, den Sie auf Ceylon ausgeschöpft. Dort wo Sie Gräber öffneten, Gebeine aussortiert, auf Tüchern aufgereiht, auf eine Art, die nur beweisen soll, wovon Sie ja schon vorher angenommen haben, dass es stimmt. Die Knochen hätten Sie dann ja auch liegen lassen können, wo sie ruhten. Sie gehen aneinander entlang. Fritz: Herr Missionar. Sie sind ja heute ganz schön frech. Heut‘ aufgekratzt. Und das trotz Regen und

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im Schlamm? Sie halten ganz schön fest, an heidnischer Dreieinigkeit. Drei urtümliche Seelen­ stoffe? Ernsthaft, drei? Wie stell‘n Sie sich das vor? Das ist ja schon für uns zu viel. Wir wollten, wie Sie wissen, an der Erde eigentlich und an den Tieren forschen, nicht nach Menschenstämmen ­ seh‘n. Nur hat man überseh‘n das Stammestrumm, das es hier gibt, mein lieber Adriani – in jeder Menschenforschung. Es fiel uns auf, verfolgen nur Entdeckungen von bisher Unbekanntem. Wir hatten keine and’re Wahl, erforschten es, weil es die Menschheit noch nicht wusste – dass hier ihr Urahn lebt. Die Menschen aus dem Wald sind Urvarie­tät, die zwischen den Schimpansen – und dann dem Menschen liegt. Sie sind verwilderte Vergessene, waren einst dörflich, walden jetzt? Das glauben Sie? Sie sind viel mehr. Mein lieber Missionar, sie sind viel mehr! Sind eine Schicht des Menschenbaums, verteilt auf der Region, dem Breitengrad. Geh‘n Sie mit mir, mein Lieber, weit zurück in Vorzeiten, die uns nicht denkbar sind. Erweitern Sie mit mir den Horizont und öffnen Sie sich Neuem hin, dem Alten, längst Vergangenen. Geh‘n Sie vom Selben aus wie wir. Und deuten es erst dann. Geh‘n Sie mit mir über die Zeit, die irgendwie noch vorstellbar, hinaus. Toalas leben heute noch, wie Urahnen der Menschlichkeit. Sie sind sich gleichgeblieben, blieben steh‘n, im Wald entwickelten sie nichts, die Gleichen in der Zeit, die Zeit ging durch sie hin, nahm sie nicht mit, hat sie nicht umgewandelt. Das ist das Wunder, sehen Sie: Menschheit begegnet sich, spricht mit sich selbst. Wir sprechen mit dem Ort, von dem wir einst gekommen sind. Wir seh‘n sie heut‘. Obwohl sie noch von früher sind. Und sehen Sie, zu ihrer hauptsächlichen Sorge: Gott. Sie sind es selbst! Sie leben göttliches Gesetz. Sie welten göttlich, ja? Sie haben keinen Gott und tu’n sein Werk, nur dadurch, dass sie sind. Es ist als sie in sie gelegt. Sind purer Schöpfungsakt, wie er gemeint gewesen ist. Sie leben monogam, naiv, sie freu‘n sich wie die Kinder. Sind Menschen ohne Sündenfall. Was sie vom Menschensein, in seiner fortgeschritt‘nen Form, enthebt. Adam und Eva sind sie selbst! Die Bibel liegt vor Ihnen. Breitet sich körperlich vor ­Ihren Augen aus. Und Sie erstaunen nicht, sind nicht begeistert, überzeugt? Seh‘n Sie uns an, wir tragen doch die Strafen der Kultur. Hier überall an unser‘m Leib, in uns‘rem Geist. Uns führt kein Weg zurück. Die Ausgebreitetheit von unserem Hirn hat unsere Kultur hervorgebracht. Schlicht, einfach, weil es größer ist. Seh‘n Sie mich an. Glauben Sie’s nicht? Fritz geht weiter. Er verschwindet. Adriani geht weiter. Zu ihm gesellt sich der Kolonialbeamte Brugmann der Jüngere. Er geht nun neben Adriani her. Brugmann d.J.: Ich habe nicht verstanden – was schlecht für einen ist wie mich, der mit den Missio­ naren geht, wie kommt es, dass er uns erlöst? Wie kommt‘s, dass wir erlöst sind – nur weil’s ihm übel ging? Adriani: Und wem? Brugmann d.J.: Dem Sohn. Adriani: Sie haben einen Sohn? Brugmann d.J.: Ich, nein, ich habe keinen Sohn. Nicht meiner, Adriani. Den Sohn des Herren, meinte ich. Nicht meinen. Nicht von mir. Wie kommt’s? Hängt, liegt, stirbt, wie? Das hat mich auch erlöst? Und Sie? Warum sind sie denn hergefallen über ihn? Adriani: Den Sohn?

Brugmann d.J.: Ja, den. Was schwieg er, als man ihn verurteilt hat? Was hat er nichts gesagt? Sich nicht verteidigt? Was? Warum denn nicht? Was hat er ihnen denn getan, dass sie ihn quälen wollten? Adriani: Was hab‘n Sie, Mensch? Brugmann d.J.: Warum wird er gequält? Und er hat uns wovon erlöst? Verstehe nicht, was schlecht für einen ist, wie mich, worin die Sünde denn besteht. Wo ist sie in uns angelegt, ist erblich, offenbar, in uns hinein, in uns‘ren Stamm? Hab‘ ich die Sünde auch? Sind wir bestraft? Adriani: Wir sind’s, wir haben sie. Brugmann d.J.: Ich glaub‘, ich hab‘ sie nicht. Können Sie mir eine geben? Ich will auch eine haben. Ich glaub, ich hab‘ sie nicht. Adriani: Was sind Sie denn so mehrgeteilt? Brugmann d.J.: Ich weiß nicht, weiß nicht. Sollte still sein. Und nur gehen. Wie kommt’s. Wes­ wegen haben sich die Wilden denn zu Schuldigen gemacht, Herr Missionar? Der Hexen wegen, die sie haben? Oder weil sie sie verbrennen? Adriani: Es ist nicht, dass wir gekränkt sind, Brugmann. Nicht, dass wir selber kränken. Die Welt ist selbst gekränkt. Brugmann d.J.: Was ist der Fortschritt, den wir bringen, denn genau? Adriani: Die Welt ist selbst gekränkt. Brugmann d.J.: Trinken wir noch. Dann hält sie’s aus. Adriani: Vielleicht, dass wir die Güte Brugmann d.J.: Wie machen Sie es denn? Adriani: Womit? Brugmann d.J.: Mit Ihrer Frömmigkeit? Adriani: Wie meinen Sie? Ach so. Nach innen geh‘n. Brugmann d.J.: Warum? Adriani: Ich bleib‘ mir dort nicht gleich. Brugmann d.J.: Im Inner‘n? Adriani: Ja. Herrgott verwandelt mich. Brugmann d.J.: In was verwandelt er Sie denn? Was lässt er Sie nicht einfach, wie Sie sind? Mag er Sie nicht? Wendet er sich Ihnen nur dann zu, wenn Sie verwandelt sind? Was geh‘n Sie denn nach innen? Nicht in das Äußere der Welt, ist dort nicht Göttlichkeit? Schämt er sich auch für Sie, wie er sich für mich schämt? Für diesen Teil von ihm. Adriani: Er schämt sich nicht. Auch nicht für Sie. Ich bin nur selten, wie ich bin. D’rum geh‘ ich in mich ein. Damit ich manchmal, immer wieder, eines Tags, ich selber werden kann. Brugmann d.J.: Und bin ich auch ein Teil von ihm? Adriani: Sie auch! Er schämt sich nicht für Sie. Er nimmt uns auf. Brugmann d.J.: Und bin ich von mir selbst ein Teil? Brugmann d.J. kämpft ums Weitergehen. Sie sind so stark, in Ihrer Frömmigkeit. Adriani: Was reden Sie. Sind wie ein Kind. Ich hör nicht hin, wenn Sie so sind. Sie verschwinden.

SCHWELLE (2) Schatten kommen, gehen auch. Schatten: Zweiter Schritt. Sie wollten zuerst und zuvorderst nicht mehr nur den Raum, sondern den Reichtum und die Beuten, die vorher nur nebenbei an sie gefallen sind, nur als Effekt der Ausdehnung. Sie wollten nicht mehr unbedingt den Raum, nunmehr. Und zogen, was er abgibt, her-


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gibt und hervorbringt, vor, was man entwenden kann. Wie nebenbei fiel dabei auch der Raum an sie. Sie wollten Beute, Gelder. Und was er hergibt haben. Mehr als ihn selbst, den Raum. Der Feind besteht. Das Zuhause – verloren. Sie verschwinden. Die Vögel nehmen Platz. Großfußhuhn: Das Leben ist nicht schön. Zosterops: Das Großfußhuhn, es sprach von etwas. Nicht? Phasianid: Ich glaube, Spatz, das war’s auch schon. Zosterops: Vielleicht wollt‘ es noch zusetzen? Phasianid: Das glaub‘ ich nicht. Zosterops: Sagt es uns nichts, womit wir weiter gehen können? Schweigt vor sich hin, enthält die Welt. Phasianid: Da. Zosterops: Ja? Phasianid: Es will. Großfußhuhn: Der Missionar hat sich zu mir herabgebeugt und hat gesagt: Das Leben ist nicht schön, wenn es der Heide treibt! Zosterops: Was meinte es? Phasianid: Dass es der Heide treibt! Großfußhuhn: Seht ihnen, die ihr nie geseh‘n, ins Auge. Denn Luwu ist ein schwaches Reich. Regiert von Degeneration. Dem Opium, dem Glücksspielen verfallenen Regierten. Sie machen nichts Vernünftiges. Zosterops: Es spricht das Huhn mit der Mission? Phasianid: Dass es das Glücksspiel unter ihnen gibt, den Eingeborenen, das Opium, Verbrennungen von Frau‘n, die man als Hexen denunziert. Dass es zudem hier Sklaven gibt, man stellt es fest. Wendet es ein, um endlich hier, Peripherie der ­Kolonie, am Rand vom Rand, von dem man weiß, ihn nur nicht kennt, einzumarschier’n. Weil es hier Sklaven gibt, marschiert sie die Armee zur Freiheit hin. Zosterops: War es nicht eine alte, indigene Form der Angebundenheit, Leibeigenschaft, die man gesehen hat? Phasianid: Das weiß man nicht. Zosterops: Man spricht den Eingeborenen in jedem Fall die Freiheit ab, nicht frei zu sein. Phasianid: Es soll nicht aufgeh’n, hier, die Menschenart, nicht fortschreiten, wie’s scheint. Zosterops: Die Menschenarten hier, sie stör‘n sogar das Schreitende, Aufgehende, verhindern, dass es steigt. Phasianid: Man kommt deshalb. Und rettet es, das Bergvolk, vor der Beute, die es wird, zu werden droht, von and‘ren Eingeborenen. Zosterops: Raubgut sich selbst, das Inselvolk? Phasianid: Ja, deshalb treten sie, die Niederländer, ethisch auf, so nennen sie es selbst, wenn sie den

Ländern droh‘n, sie dann befrei‘n. Ethische Gründlichkeit, Notwendigkeit trieb sie hier hin. So zogen ein, Gerüstete. Sie traten auf den Wegen ein, welche die Großvettern im Wald zum ersten Mal beschritten. Die Großvettern, die Forschenden kamen mit Geldern her, beträchtlichen, die ohne Sklaverei, der transatlantischen diesmal, gar nicht in ihren Kassen wär‘n. So sah’n die Forschenden das so genannte Sklaventum, vor ihren eig‘nen Augen hier, sie sahen drei, drei Angebundene. Zustände herrschten, die, in jedem Fall, barbarisch sie zu nennen – gezwungen worden sind: Von diesen Zuständen. Zosterops: Und hingemetzelt hat man dann die Sklaventreibenden, die es, man sah‘s, so schien‘s, hier gab. Phasianid: Und ethisch war der Grund dafür. Zosterops: Die ethische, betret’ne Schlacht. Und nun Fasan: Wenn Eingeborene nun wirklich hier gefangen worden sind, verkauft, verschifft, von Küsteneingeborenen? Phasianid: Ja, dann, hör zu, wenn es so ist: Sie gingen in den Weltmarkt ein, vor gar nicht allzu langer Zeit, und kamen nicht mehr aus: Ostindien. Und Südostasien. Und mit dem Weltenmarkt kam hin, die Praxis her, die Menschen auf Plantagen zu verkaufen. Dass Menschen etwas sind, womit man handeln und das man verkaufen kann, als Arbeitskraft, ganz grundsätzlich und radikal, hat man, ich nehm‘ es an, von dieser Welt gelernt, die hier zu sich die Tore eingetreten hat. Zosterops: Der Weltmarkt kam? Phasianid: Und zeigt es vor. Zosterops: Er war so frei? Phasianid: Von sich aus wäre man vielleicht nicht d‘rauf gekommen. Die Vögel brechen auf, verschwinden. Das Großfußhuhn bleibt etwas. Macht sich dann auch davon.

FORMENKETTEN 1902 Das Lagerzelt. Fritz (43) liegt kaum, wenn überhaupt, sichtbar auf einer Bahre im Anschlusszelt. Brugmann d.J. sitzt in einer Art Liegestuhl, möglichst aufgerichtet, liest in einem mitgeführten Buch. Paul (46) sitzt ihm musternd gegenüber.

Paul: Sie seh‘n nicht aus, als würden Sie es nicht verstehen. Brugmann d.J.: Hab’s gar nicht darauf angelegt, nach irgendetwas auszuseh‘n. Paul: Sie sehen aus. Ihr Anzug sitzt. Sie schauen neugierig und friedlich in ihr Buch. Ein schöner Anblick, irgendwo. In ihm erkennt man sich. Brugmann d.J.: Ich danke sehr. Paul: So hab‘ ich auch mal in ein Buch geschaut, hab’s währenddessen selbst geschrieben. Brugmann d.J.: Ja? Paul: Gedichte. Poesie. Brugmann d.J.: Sind sicher lesenswert. Betrachtenswert. Paul: Verboten. Betrachtenswert sind Sie. Brugmann d.J.: Was stand darin? Paul: Man wollt‘ sie nicht. Brugmann d.J.: Warum? Paul: Es stand Privates drin, wenn man so will. Sie handelten, das sag‘ ich unter uns, vom Fritz. Man wollt‘ sie auch privat nicht sehen. An sich wollt‘ man nicht seh‘n, was ich versucht gewesen bin, zu sagen, auszudrücken, wortwärts, wenn man will. Hat es nicht hören wollen. Legte es weg. Beiseit‘. Vermied‘s. Hat es verboten. Brugmann d.J.: Wie schade. Tut mir leid. Paul: Mich drängt’s auch heute hin zum Schreiben, muss ich sagen. Zur Aufsicht des Gefühls. Mit seinem ganzen Aufmarsch. Dorthin, wo meine Lieben sind, zu greifen in die Luft für sie, ihnen davon den Hauch, die Zuneigung, die Himmel abzugeben, wo mich ein Reim hinzieht. Dann bin ich ganz berauscht. Man zog zurück, wo es mich hingezogen hat. Sitzen Sie gut? Brugmann d.J.: Ich, sicher, ja. Paul: Haben Sie schon gemerkt, dass – erblich, das, was Sie g‘rade tun, erbleichen – das gleiche Wort wie erblich ist? Haben Sie Ihre Bleichheit auch geerbt? Brugmann d.J.: Wie meinen Sie? Paul: Gefällt es Ihnen, was Sie sehen, in Ihrem Buch, nach dem Sie griffen, nebenbei, obwohl ich Ihnen davon abgeraten hab‘? Brugmann d.J.: Ich weiß, Sie rieten ab, es gab sonst nichts. Sie waren nicht im Zelt. Da griff ich hin. Nur so zum Zeitvertreib.

Paul: Was hat der junge Diplomat und Übersetzer sich zur Lektüre auserkoren? Was liest er da? Burgmann d.J.: Ein Buch. Egal. Paul: Das Wallace Buch. Hab‘ ich Ihnen doch davon abgeraten, es sich genauer anzuseh‘n. Brugmann d.J.: Es fiel mir in die Hände. Blättere nur d‘rin herum. Nicht sicher, ob ich es versteh‘.

1902 In der Hauptstadt der Insel, nach erfolgreicher Expedition, bestandener Durchquerung, wenige Wochen später. Im Salon der Residenz des Generalgouverneurs. Ein Mahl zu Ehren des Erfolgs. Die Gastgeber gingen schon zu Bett. Paul (46) auch. Fritz (43) verweilt noch am Kopf der Tafel. In einiger Entfernung Adriani.

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mit Claire Cunningham, Ousmane Sy, Deborah Hay, Nora Chipaumire

RECLAIMING HISTORY

mit Lucy McCormick, Ariel Efraim Ashbel and Friends, Hajusom

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HAMB PNAGEL

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Im Hintergrund, am Fenster, Brugmann d.J. Die Bediensteten dürfen erst abtragen kommen, wenn die Tafel zur Gänze aufgehoben ist und also auch Fritz und der Missionar zu Bett gegangen sind. Fritz: Die Schönheit wird vergehen. Solang‘ sie noch besteht, schau‘ ich sie an. Jetzt ist sie schon vergangen. Das Essen liegt nur noch in Überresten so am Tisch herum, zerfetzt. Und überall sind Flecken auf dem Tuch, das liegt geschwungen und verbraucht. Vorhin war es noch ordentlich und aufgetischt und jetzt. Sind Sie noch da? Adriani: Ich bin. Ich denke nach. Fritz: Herr Adriani, wenn Sie denken – dann sieht es aus, als wär‘n Sie tot. Und alle sind bereits im Bett. Der Gastgeber, der Gouverneur. War‘n Sie schon einmal eingeladen im Salon? Ich bin‘s zum dritten Mal. Haben Sie was getrunken? Adriani: räuspert sich Ich hab‘ probiert vom Wasser. Fritz: Gut. Wir hatten ja noch nicht Gelegenheit bei all dem Trubel – uns nah zu kommen, etwas, nicht? Kennenzulernen. Wär’s nicht schön, wenn wir uns kennenlernen würden? Adriani: Wir kennen uns ja schon. Fritz: Naja, ich kenn Sie eher nur vom Diskutier‘n. Von Kopf bis Fuß kenn ich Sie nicht, wie Sie als Mensch sind, weiß ich nicht. Was denken Sie? Adriani: Nur, dass ich da, gleichzeitig müde bin. Fritz: Versteh‘. Darüber denken Sie so nach. Adriani: Und Sie? Ganz wach? Fritz: Will nur nicht schlafen geh‘n. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Ich rate ab. Ihr Buch ist nicht genau. Der Evolutionär auf Ihren Seiten – mit allen Ungeraden – von denen er nichts weiß, liegt unkorrekt auf Ihren Schenkeln. Es war durch ihn, dass wir hier hingekommen sind. In diese Erdengegend, auf die Insel. Wussten Sie’s? Den Fragen, die Herr Wallace stellt, geh‘n wir hier auf den Grund. Rahmen sie neu. Brugmann d.J.: Das wusst‘ ich nicht. Ich weiß nicht viel. Muss noch viel lernen, wie man sieht. Paul: Man sieht es nicht, Sie wissen viel. Haben Erfahrung, Kenntnisse, die wir nicht haben können. Sie wissen außerdem: Wir brauchen Sie. Wir sind zum Rand vom Rand gekommen. Weil Wallace sich gewundert hat, über die Artenwelten hier. Sie scheinen ihm sehr rätselhaft. Die vielen Arten, die’s hier gibt. Sie kommen ihm ganz unwahrscheinlich vor. Er kann sich’s nicht erklären. D‘rum sind wir hier. Damit wir es erklären können. Er sagt, die Insel hier sei rätselhaft. Celebes sei sehr rätselhaft. Sie sind auch rätselhaft. Sie zarter Mensch. Wie Sie so sitzen können. Warum sind Sie so zart? Hat Sie im Leben kein Ich-will-nicht angesehen, damit es Sie nicht sehen muss? Brugmann d.J.: Was wäre das? Paul: Er, Wallace, denkt, die Artengrenzen seien scharf zu zieh‘n. Hingegen wir. Wir sind dem Grad und nicht der Grenze zugetan. Es gibt nur graduelle Übergänge – zwischen den Arten überhaupt. Und keine scharfen Schnitte. Das trennt den Herren, den Sie sich da auf’s Knie gelegt, darüber, über’s Knie, von uns, wenn man so will. Ein scharfer Schnitt liegt zwischen uns. Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Da sind wir durchgezogen durch das Land, die Berge. Was sagen Sie dazu? Das hat noch nie jemand geschafft.

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Adriani: Wann fahren Sie zurück? Fritz: In ein paar Tagen. Je nachdem, wie sich der Paul erholt. Wie hat Ihnen mein Totengruß gefall‘n? Adriani: Ihr Totengruß? Fritz: Wie ich Lamatti würdigend verabschiedet, gelobt. Seiner gedacht. Er hat uns durch den Berg geführt. Adriani: Ich weiß. Das hab‘ ich nicht gehört. Fritz: Da haben Sie wohl nachgedacht, sind innerlich erstarrt vielleicht, gestorben kurz, in sich gegangen – um dort zu Stein zu werden. Adriani: Wer weiß. Kann sein. Vielleicht hab‘ ich an etwas Anderes gedacht, als Sie die Rede hielten. Fritz: Er war. So kurz vor Ende uns‘rer Reise, ganz am Ende – wenn alles schon erledigt ist, stirbt man dann noch. Das hat schon was Ironisches. Adriani: Ah ja? Fritz: Was reden wir. Ich will’s nicht dunkel haben. Das Licht ist hübsch hier arrangiert. Die Kerzen halten noch zwei Gastmähler. So dick sind sie. Jetzt ist Lamatti unser Führer tot. Odysseus, hab‘n wir ihm gesagt. Hat er nur nicht verstanden. Hätten wir sagen soll‘n: Teiresias? Hätt‘ ihm wohl nur genauso nichts gesagt. Adriani will aufstehen. Fritz: Bleiben Sie. Mein and‘rer Seher. Noch am Leben? Adriani: Ich werde warten, gut. Bis Sie zu Bett gegangen sind. Fritz: Das nennt man geistige Begleitung. Warum wir noch hier hängen sollen, wie ein beschmutztes Tuch, auf dem die Reste liegen – mit Vollgestopften, Satten rundherum, die alle weggegangen sind, vorausgegangen, wie man sagt. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Ist alles da? Brugmann d.J.: Ich denke schon. Paul: Wenn Sie mir sagen, was wir haben, kann ich mir auch sicher sein, dass alles da ist, nicht? Brugmann d.J.: Ich hab‘ es kontrolliert. Die Listen durchgegangen. Das meinen Sie? Alles ist mit­ gekommen. Paul: Zähl‘n Sie mir alles, was wir haben, auf. Brugmann d.J.: Ist das Ihr Ernst? Paul: Wenn Sie’s versuchen woll‘n. Brugmann d.J. reagiert nicht. Da sehen Sie. Nicht wollen, was man anschafft, schaffen will und schafft. Jemand will’s immer nicht. Der Fritz will alles, was ich will. Und ich will alles, was er will, wonach ihm ist. Brugmann d.J.: Es war ein schöner Tag. Ein bisschen hart. Ich denke, dass ich schlafen gehen werde. Ich bin, wie Sie, den ganzen Tag marschiert. Paul: Die drinks? Brugmann d.J.: Sind anwesend. Paul: Trinken wir eins. Brugmann d.J. sieht sich veranlasst zu bleiben. Ich liebe alles. Alles. Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Was war das Huhn, das wir da aßen? Adriani: Das Huhn? Es war ein Huhn, nehme ich an. Ein Großfußhuhn. Kann sein. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: War jemand da? Haben den Aufsehern befohlen, die Träger rechtzeitig vor‘s Zelt zu legen. In Anfangsstadien von Maladien. Brugmann d.J.: Nein, es lag niemand vor dem Zelt.

Paul: Wir haben dann die ernsthaft Kranken da. Weil sie sich zu spät angemeldet haben. Erst wenn Beschwerden ausgewachsen sind, kommen sie her. Und sind dann schwer zu pflegen. Wenn sie schon früher kommen würden, könnten wir sie gut kurier‘n. Sind auch die Druckverbände da? Brugmann d.J.: Ich hab‘ es schon gesagt, vertrauen Sie mir, hab‘ alles überprüft, alles ist mitgekommen. Nichts vergessen, nichts verloren. Nichts ist gestohlen worden. Paul: Von unseren vielen Dingen. Fiel nichts hin. Fritz auch nicht, nicht? Fiel nicht von seiner Bahre. Gott sei Dank. Es hat ihn sehr geschüttelt – wie sie ihn durch den Sumpf getragen haben. Alles ist mitgekommen. Brugmann d.J.: Wie gesagt. Paul: Ich habe Sie auch nicht gefragt. Da sind sie alle eingeschlafen. Oder sie tun nur so. Sie waren tagsüber heut‘ still. Und nachts sind sie es heute auch. Die Vielen. Klagenden. Die uns‘re Sachen tragen. Brugmann d.J.: Schlaf heilt. Und Stille heilt. Paul: Und warum kam Lamatti vorhin rein? Brugmann d.J.: War er denn da? Paul: Vorhin. Und schielt ansonsten gierig nach dem Zelt. Brugmann d.J.: Ist mir nicht aufgefall‘n. Paul: Er ging auch nicht verloren. Was schade irgendwie. Ich will nicht auf ihn angewiesen sein. Und wir sind’s doch. Brugmann d.J.: Alles ist still und da. Alles ist immer noch, am Ende dieser Reise – ist immer noch vorhanden. Nichts ist verlor‘n gegangen. Paul: Nein. Erstaunt mich schon. Ist doch so viel schon fort. Verschwand an einem Tag. Das Viele. Darüber lässt sich nachdenken. Es streitet nur nicht mehr. Weil es verschwunden ist. Die viele Zeit. Die vielen Lebewesen. Das viele Viele ging. Brugmann d.J.: Von Ihren Sachen fiel nichts hin. Paul: Es hat mich nicht sehr amüsiert, die Extrameilen, die wir gehen durften – nur weil der Führer einen Vogelruf vernommen hat, der uns in eine Richtung lenkt, irgendwohin, wo gar nichts war. Brugmann d.J.: Lamatti? Paul: Ja. Wie lang hat es gedauert? War‘n’s viele Stunden, wenige? Er folgt dem Vogelruf, der gar nichts bringt, der nirgends hinführt. Er bildet es sich ein, es liege Sinn darin, dem Vogelruf zu folgen. Wir folgen ihm. Und das wozu? Brugmann d.J.: So ist es mit den businessmen. Paul: Lamatti? Brugmann d.J.: Ja. Paul: Und inwiefern? Brugmann d.J.: Im Sklavenhandel unterwegs. Paul: Er auch? Dabei hat man’s schon abgeschafft. Von einem da in Halbzivil geführt. Der Bergmenschen verkauft. Von Vogelschrei‘n in Richtungen gelenkt, die uns nichts bringen. In viele Richtungen. Er hat das Richtungssagen. Und wir versteh‘n es nicht. Brugmann d.J.: Ich bin auch halb. Paul: Wie meinen Sie? Brugmann d.J.: Nur halb zivil. Nur halb ein Europäer, wie man sieht. Paul: Man sieht es nicht. Brugmann d.J.: Die meisten meiner Vorfahren sind von hier. Paul: Ich weiß. Brugmann d.J.: Und unsere Vorgesetzten wechseln – die Niederlande tauschen sie. Sind Hollän-


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der und geh‘n wieder zurück, nach ein paar Jahr‘n. Wir, unsereins, war immer hier. Wir bleiben immer hier. Und kennen uns am besten aus. Mein Bruder hat das Land im Griff, stößt alles an, in seinem ­Rücken die Armee der Holländer, nach der er ruft, wo Not am Mann, und ich sitz‘ hier in seinem Schatten. Darf Sie dafür begleiten. Paul: Ach, ohne Sie wär‘n wir schon nicht mehr hier. Und nicht so weit gekommen. Brugmann d.J.: Nur steigen wir nicht auf. Weil wir Vermischte sind. Paul: Bitte, ein Glas – Brugmann d.J.: Danke schön. Paul: Sie waren heute still. Brugmann d.J.: Das bin ich meist. Paul: Nicht Sie. Die Kulis, Trägerschaft. Sonst schrei‘n und weinen sie und heute war‘n sie still. Brugmann d.J.: Die Stille heilt. Paul: Sie schrei’n normalerweise auch im Schlaf. Hört man’s? Sie hören. Man hört nichts. Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Wir haben auf der Insel einen Spatz entdeckt, er ist nach uns benannt. Ein Zosterops. Ich würd‘ auch gern mal einen essen. Adriani: Einen Spatz? Fritz: Es hat sich noch nicht durchgesetzt bei uns, dass man es kann. Ich nehme an, man isst die Knochen mit. Wahrscheinlich sind die zart wie Knorpeln. Ich red‘ solang‘, bis Sie sich aufschwingen, auch selbst etwas zu sagen – mit Flügelchen, in die wir beißen woll‘n. In dem Moment bereu‘ ich alles, was ich sagen könnt‘. Adriani: Sie brauchen sich für nichts vor mir zu schämen. Fritz: Ich schäme mich auch nicht. Hab‘ mich noch nie geschämt. Weiß nicht wozu. Ich weiß nicht, was das ist. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Er trug es wacker, nicht? Nur bei Unebenheiten war er laut. Die Wunde eitert schon, hab‘ es vorhin gesehen. Hat Schutzstrümpfe und Schuh‘ getragen. Am Fuß ist wenig Platz. Und trotzdem stürzen sie sich d‘rauf, die Blutegel, saugen ihn aus. Das waren zwanzig, mindestens. Brugmann d.J.: Er wird schon wieder, muss nur ruhen.

Kaserne

Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Wir aßen hier einen Fasan, nicht wahr? Ich möchte gerne einmal sehen, wie ein Fasan am Tisch liegt und gebraten ist und wieder Form an-

legt und Federn, weiterlebt. Nachdem man ihn verspeist hat. Der Paul mag’s gar nicht, dass die Frau‘n bei uns, ganz modeinteressiert, auf ihren Hüten Federn tragen – von Vögeln, die’s bei uns nicht gibt. Die Vogelarten Afrikas werden so Aas, meint er. Ich frag‘ mich, was er sagen würd‘, wenn er erführe – wie viele Menschenarten schon zu Aas geworden sind, durch weiße Paradies-, Bankettverwüster. Oder warn’s keine Menschen? Eher Tiere? Ich glaub‘, er weiß es nicht. Und ich, weiß ich’s? Ich glaub‘, ich weiß es auch nicht. Oder doch? Was glauben Sie, Herr Missionar? Adriani: Sie haben’s g’rade selbst gesagt. Fritz: War’s ich? War’s nicht ich, Herr? Weiß man’s genau? Hat jemand es in mich gelegt, der ich nicht bin? Der Paul hat nicht so Hunger heut‘ gehabt. Er ist ein bisschen krank. D‘rum ist er schon ins Bett. Ich will noch nicht. „Lassen Sie mich noch bei Ihnen sitzen, Gouverneur! Würd‘ gern etwas ­ sinnier‘n. Ihnen indessen gute Nacht! Frau Gouverneur! Hat mich gefreut! Es war mir eine Ehre! Liebe Freunde. Man macht so viel man kann, dann ist man tot, fällt um. Wie der Lamatti eben. Auf Wiederseh‘n. Ich bleibe mit dem Schatz, dem wahren Schatz des Tisches – dem großen, herrlichen, unübertroffenen, dem Missionar an sich, dem Urbild, der idea eines Missionars bleib‘ ich noch hier, trink‘ noch ein Glas und stoße auf mich an. Auf mich und Paul, auf Sie, die Niederlande – und alle, alle, alle – die uns geholfen haben. Bin erleichtert und der Berg fällt mir vom Herzen in den Ozean hinein.“ Wir haben Material und Sammlungen, da brauchen wir jetzt Schiffe – damit wir sie Nachhause bringen können. Dann seh‘n wir uns nie wieder, Sie, Herr Missionar. Darüber werde ich untröstlich sein. Es tut mir leid, jetzt weine ich. Bin baff, wie Sie sich quälen können. So stoisch und diszipliniert. So bin ich auch. So will ich auch gern sein. Im Zelt. Wie zuvor. Brugmann d.J.: Sie meinten, dass die Arten nicht geschieden werden können. Dass zwischen ihnen eher Übergänge festzustellen sind. Und weniger die Grenzen. Sie wären mehr dem Grad der Übergänge – und weniger der Grenze zugeneigt? Vorhin. Erklären Sie’s mir? Paul: Ich dachte mir, Sie wollten Stille haben. Brugmann d.J.: Nein, nicht hier drin. Ihr lautes Sprechen. Vertreibt die Geister. Nur draußen ist‘s zu laut. Paul: Es schreit doch niemand. Brugmann d.J.: D‘rum. Es ist ein Grad, ein Übergang vom Schrei‘n zum Schweigen, nicht? Die Grenze ist dabei nicht scharf.

Paul: Versteh‘ ich nicht. Wenn’s still ist, schreit’s? Wieso? Brugmann d.J.: Ich hab‘. Es war im Denken kurz. Egal. Paul: Halb Europäer. Und halber Inselmann. Da springt’s im Kopf herum, so wie es will. Brugmann d.J.: Ich nehme an. Beim Bankett. Adriani will gehen. Fritz: Bleiben Sie noch. Geh‘n Sie nicht fort. Es fehlt noch uns‘re Szene. Die große, der Disput. Was meinen Sie? Ist es so weit? Dass Sie und ich, der Forschende, der Missionar, so aufeinandertreffen? Sie sind schon wieder tot. Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen? Träumen Sie von drüben? Erzähl‘n Sie mir, wie es dort ist. Ich hab‘ so Angst vorm Jenseits – wo Sie anscheinend g‘rade sind. Ich bin zu laut. Der Paul wacht mir noch auf. Dabei braucht er, wie niemand, den ich kenne, seinen Schlaf. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Es kommt die eine Schalenform der Schneckenart nicht von woanders her als and‘re Schneckenformen. Das meinen wir. Nur weil die Schalenformen beispielhaft verschieden sind, heißt das noch lange nicht, dass in der Art ein Unterschied besteht. Es ist der Unterschied in Wirklichkeit ein sanfter Übergang. Es übergeh‘n die Glieder. Geh’n über, ineinander. Die Einzelwesen sind vielleicht Verschiedene. Nur von der Kette her sind sie verwandt, dasselbe eigentlich. Brugmann d.J.: Ja, von der Formenkette her. Paul: Genau. Brugmann d.J.: Sie reden sicher. Paul: Ist‘s zu laut? Weck‘ ich ihn auf? Brugmann d.J.: Ich glaube nicht. Paul: Nicht, dass wir Fritz aus seinen Federn ­schrecken. Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Das Schlimmste, das ich heute seh‘, sind Sie. Da sind sie angerauscht gekommen. Mit ihrer Infant‘rie. Mit ihrem Panzerkreuzer. Der Marine. Ha! Da haben sie uns abgeholt, damit uns nichts passiert. Am Strand haben sie exerziert und in die Luft geschossen – damit sie alle – die uns hier an den Kragen wollten und sonst nichts Davongelaufen sind die Träger. Alle weg. Ich lag im Kranken­ lager. Und hab‘ davon nichts mitbekommen. Dann wach ich auf. Mit meinen Blutegeln im Fuß. Der Paul ist weg. Brugmann der Jüngere begleitet ihn und alle, die noch übrig sind, Lamatti auch. Und ich wach auf. Der Einzige, der da war, waren Sie.

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Do 20.2. bis So 23.2. Boris Nikitin / Kukuruz Quartett Premiere: 24 Bilder pro Sekunde

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Was hab‘ ich da gedacht, was glauben Sie? Lässt man mir nur den Missionar? Ist es schon aus? Ist auch der Paul nicht da, bei meinem letzten Atemzug? Wir wollten hier nicht sterben. Haben der Paul und ich gesagt. Und sieh: Wir leben noch. Wir standen wieder auf. Weil sie, die Niederländer – für uns so massiv aufgetreten sind. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Wir sind Theisten, wissen Sie. Befriedigend ist das ja nicht, was uns die Briten lehr‘n. Es gibt, den Inselmännern nach, den Europäischen diesmal, die Merkmale der Varianz, die es der Art ermöglichen, mit ihrer Umwelt umzugeh‘n, so überlebt sie. Sonst überlebt sie nicht. Wenn sie nicht variiert, die Art. So zuchtgewählt. Dem Nützlichsten entlang. Zuchtwahl und Auslese davon, wenn man‘s schon hört. Und jene Art, die Anpassung und Varianz nicht nachvollzieht, die sich nicht anpasst, nicht mutiert, das weiß der Engländer auf Ihrem Knie, stirbt aus. Gibt’s dann nicht mehr. Hat es verpasst, sich anzupassen. Es bleibt von ihr nichts übrig. Ist dann verloren, aus. Das Viele ging. Von einem Vogelflug in Richtungen gelenkt, dorthin, wo nichts mehr ist. Ist einfach weg. Variation und Selektion erklären alles britenwärts. Das ist die frohe Botschaft, die sie bringen. Bestäuben Welt damit. Betäuben sie. Die Darwinisten, Gentlemen. Man bricht in Tränen aus. Die Selektion, ­natürliche, will alles sagen und erklär‘n. Stell‘n Sie sich vor! Sie wollen alles, alles, alles – damit um­ armen und erklär‘n. Und sagen doch nur nichts. Denn woher kommt das Evolvierende? Und das Gesetz darin und wenn es göttlich ist? Für sie nur Zufall, Wuchern, Irgendwie. Gott eben, ja, erklär‘n sie nicht. Sie sagen nichts von Schöpfung, Zauber, nichts vom Totenreich. Setzen das alles ab. Brugmann d.J.: Ich weiß. Paul: Na, wenn Sie’s eh schon wissen. Dann hab‘ ich ja umsonst geredet, nicht? Brugmann d.J.: Ich mein‘, ich schließe mich nur an. Paul: Das Redende ist leicht in mir. Bei Ihnen. Brugmann d.J.: Das freut mich, danke sehr. Beim Bankett. Wie zuvor. Brugmann d.J., der die ganze Zeit anwesend war und bei den Fenstern stand, um in den Nachthimmel zu sehen, meldet sich plötzlich von hinten zu Wort. Brugmann d.J.: Ich spüre eine meiner Hälften, als wär‘ sie alles, ganz, besonders stark, das Europäische in mir, mein Ein und Alles. Ich wär‘ gern ganz die angesproch‘ne Hälfte. Die Hälfte, die wie Sie ist, nicht die andere, die niemand braucht. Und die nichts bringt. Und die ich übersehen will. Die ganze Zeit. Und die man doch nicht übersieht. Wenn ich bei Ihnen bin, vergess‘ ich mich halbiert. Sie seh‘n mich an, behandeln mich, als wäre ich von dort, wo Sie auch her sind. Als wäre ich von Ihnen einer. Bei Ihnen spür‘ ich mich, als wär‘ ich Sie. Als wäre nicht der and‘re Teil von mir, die Hälfte eines Anderen, in mir. Hab‘ nicht nach ihr gefragt. Man kann sie sehen, nicht wahr? Und ich kann sie nicht spür‘n. Fritz: Waren Sie da? Die ganze Zeit? Hab‘ ich nicht mitbekommen, Brugmann. Jetzt hab‘n Sie alles angehört. Und mein Geplapper, alles. Nein. Ich brauch‘ mich nicht zu schämen, hat sogar der Missionar gesagt. Habe nur so versucht, die Stille zu vertreiben. Bis er selbst mal etwas sagt. Brugmann d.J.: Ich weiß. Fritz: Na, wenn Sie’s eh schon wissen.

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Brugmann d.J.: Ja. Ich war da. Aber jetzt gehe ich. Der Gouverneur kommt gleich zurück, er ging spazieren, um besser zu verdau‘n. Muss ihn empfangen, wenn er kommt. Er geht. Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Wir sehen Übergänge, überall, stell‘n Sie sich vor. Brugmann d.J.: Ich stell’s mir vor. Paul: Und selbst ein Punkt, der nahe liegt, so nah, bei einem and‘ren liegt, viel näher als ich jetzt bei Ihnen, ja, die beieinander liegen, so, dass zwischen ihnen – kaum Zwischenraum erkennbar ist, selbst dort Selbst dort, wo man den Unterschied im Lebenden nicht sehen kann, wollen sie Grenzen zieh‘n. Der Mensch will scheiden, scheint‘s. Und wo er’s tut, wird er doch nicht gescheit. Gescheitert Scheidende, demnach, im ­Übrigen. Sobald sie keine Unterschiede zieh‘n, fühl‘n sie sich nicht mehr wohl, verlassen. Als hebe sie nichts auf. Und um das Auge und sich selber zu beruhigen, sagen sie: Da ist das Tier und da die Pflanze, nicht? Und zwischen ihnen scheidet sich’s. Und doch in Wirklichkeit? In Wirklichkeit Brugmann d.J.: Was ist in Wirklichkeit? Paul: Da weiß man’s nicht. Brugmann, Sie zarter Mensch, dem man nicht ansieht, was er ist, in Wirklichkeit weiß man es nicht. So wie man auch nicht weiß, warum Sie schön sind, mit dem Knie, das Bücher trägt, als hätte man sie selbst geschrieben, einst, gedichtet, abgelegt, verloren. So viele Worte festgestellt, so viele abgelegt. Die festgestellte Spezies ist nur ein Instrument. Für Forschungen, nicht mehr. Ist hypothetisch, Apparat. In Wirklichkeit wird es wahrscheinlich anders sein. Die Einsicht in die Welt, die stets gepflegt wird, reicht nicht aus. Hinter dem Denken ist die Welt. Das Weltenganze, nicht? Es offenbart sich da, wo wir’s nicht wirklich sehen. Schärfe verschwimmt im Tiefen. Die Scheidung löst sich auf, verbindet sich. Mit Andacht. Mit Künstleraugen muss man die Natur betrachten. Das Kunstvolle des Schöpfungsakts, gestaltet. Ins Werk gesetzt von etwas Göttlichem. Wir schau‘n sie an. Wir woll‘n sie schau‘n, aber wir spalten nicht. Durchschau’n sie nicht. Brugmann d.J.: aufrichtig Berührt mein Herz. Paul: Warum? Brugmann d.J.: Weil Sie Geschautes nicht durch­ schau‘n. Paul: Genau. Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Jetzt geht es los. Konfrontation. Der Glaube und die Wissenschaft. Sind Sie am Leben? Weiß man es? Vielleicht ist hier das Jenseits, Adriani? Vielleicht ist es dem Diesseits gleich und umgekehrt, dass es im Jenseits ganz genau so ist wie hier. Dass es das Gleiche ist? Was meinen Sie? Sie haben Sprecherlaubnis. Adriani: Die Stunde ist schon fortgeschritten. Ich schreite in sie ein. Ich führ‘ jetzt keine Diskussion. Fritz: Ganz wie Sie woll‘n. Seien wir friedlich, Missionar. Wie Bibel und Biologie auch miteinander friedlich sind. Würd‘ Ihnen gerne Fragen stell‘n. Jetzt ist es spät, die Nacht schon fast vorbei. Adriani: Ja, jetzt am besten nicht. Man beichtet nicht so gut, wenn man so viel wie Sie, sehr viel vom Wein getrunken hat.

Fritz: Ich seh‘, Sie sind heut‘ bei Verstand. Jetzt sitzen wir. Die interessenlose Forschung – die ethische Mission. Sitzen sich gegenüber. Kennen sich selbst nicht mehr. Bewegungslos. Und schau‘n sich an. Im Morgengrauen. Ist das schon grau? Ist das noch Sternenlicht? Wann kommt der Tag? Was meinen Sie? Adriani: Ist das die Frage, die Sie stellen wollen? Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Ich könnt’s nicht ohne ihn. Ist noch nie umgestürzt, der Fritz. Geht immer vor mir her. Fällt nicht. Und wird dann doch getragen. Es geht durch Bachbetten und Schluchten – durch Flüsse, steile Felshänge entlang. Es regnet jeden Tag. Man rutscht. Je schwerer sie beladen sind, die Kulis. Sie fallen hin, nicht wahr? Brugmann d.J.: Das weiß ich, nicht? Was ist? Paul: Sie haben „nicht“, wie ich gesagt, am Schluss vom Satz ein „nicht“, das fragt, und doch nichts wissen will, vom Anderen. Haben mich nachgemacht. Brugmann d.J.: Sie überschlagen sich mit Lasten, die sie tragen müssen, sinken in den Sümpfen ein, knietief. Ich weiß. Das meinte ich. Paul: Hab‘ einen Fuß gesehen, der war von Blut so überströmt, als hätt‘ man ihn mit Schrot durchschossen. Sind ohne Schutzstrümpfe und Schuhe unterwegs. Sie schlafen auf dem Boden, hatten neulich eine Nacht, die gar nicht war. Nachts schläft man, und sie schliefen nicht. Sie schrien. Blutegel überall. Dazu Moskitoplagen. Wieviel sind schon gestorben? Brugmann d.J.: Mitleid steckt einen an. Paul: Ja, weil es eine Krankheit ist. Wir wollen sie kurier‘n an uns. Die Mitleid-Krankheit, nicht? Ein Schluck? Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Ich will Sie fragen. Will’s versuchen. Schick‘ voraus, dass ich vergeben bin. Adriani: Ich weiß. Das bleibt ja unter uns. Fritz: Ich mein es allgemein. Ich mein‘ nicht Paul. An die Materie. Und jetzt versteh‘ ich nicht. Sie seh’n: Ich kann auch nicht versteh‘n. Bin bei Verstand wie Sie. Adriani steht auf. Warum ist er, der Geist, nicht für’s Vergehen gemacht? Seh‘n Sie mich an. Und sitzen Sie. Adriani: Was hab‘n Sie heute mit dem Geh‘n? Fritz: Wenn es nur heute wär‘. Adriani: Ich schaff’s nicht mehr. Adriani will gehen. Fritz: Ich bitte Sie. In ihrer geisttätigen Pflicht. Sagen Sie’s mir? Was hängt er sich an Sie, was an die Dinge, Erde, an die Erdenanderen, an Ihre Haut? Adriani: Der Geist? Fritz: Ja, der. Genau. Was muss er erst verstehen, weiß er‘s denn nicht, müsst‘ er‘s nicht wissen anfänglich, dass er an einem Tag davon geh‘n muss? Wann kommt der Tag? Jetzt schlafen Sie noch tiefer als zuvor. Adriani: Ich höre zu. Lasse mich ein. Was noch? Fritz: Nichts mehr. Das ist es schon. Hat man‘s ihm nicht gesagt, als er zu ihr gekommen ist, zur Welt, dem Geist, ihm nicht gesagt, dass er an einem Tag, am Ende geht. Ich brauche Ihren Beistand, sehen Sie. Naturforschung sucht sich Mission. Läuft wieder an mir ab. Zu später Stunde. Er hat die Erde mit sich selbst durchzogen. Und ist zur Hochzeit hin, mit ihr. Adriani: Sie quälen sich.


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thiemo strutzenberger_wiederauferstehung der vögel

Fritz: Nur metaphysisch, warten Sie. Zu Anfang und durch sich, zu ihr, der Erde, kam der Geist und sie hat dann in ihm, und er hat dann in ihr, ihr Geh‘n, das kommen wird, vergessen. Und wer bin ich von beiden, Adriani? Bin ich als Bräutigam der Geist oder die Erdenbraut? Na, Nicolaas? Jetzt schläft er wirklich. Da. Ich glaub, jetzt sind Sie tot. Adriani: Zieh‘n Sie mich bitte nicht mehr auf. Fritz: Begeistert sie, enterdet sie, der Geist die Welt, Materie und geht an einem Tag, am Ende wieder fort. Da geht der Geist, da schauen Sie. Das tut sehr weh, nicht wahr? Egal, wie groß die Liebe ist. Er geht von seiner Hochzeit weg. Wie alles geht. Dass alles geht, egal wie groß die Liebe ist. Das tut sehr weh, nicht, Missionar? Im Zelt. Wie zuvor. Paul: Wie geht es ihm, was glauben Sie? Glauben Sie, dass er Schmerzen hat, während er schläft? Ich schau‘ schnell nach. Er geht nachsehen. Kommt wieder. Er schläft. Und lebt! Brugmann d.J.: Woll‘n Sie nicht lieber selbst auch schlafen gehen? Man merkt die dünne Haut. Morgen wird lang. Paul: Da hab‘n Sie recht. Brugmann d.J.: Und vorhin sah‘n Sie mich so weltenwandelnd an, so schlafwandelnd, so rührend an den Schlaf in mir, als wollten Sie mein Innerstes. Sie dreh‘n mir alles um. Paul: Merkt man die dünne Haut? Ach, ja. Vielleicht ist’s wegen Fritz, dass sie mir dünn geworden ist. Sind wir im Wahnsinn unterwegs? Was denken Sie? Sollen‘s doch alle glauben. Dass wir im Fieber, Alkohol, Medikamentenrausch, im Tropenrausch ersoffen sind, verloren. Wir sind doch ganz bei Sinnen eigentlich. Bild ich’s mir ein? Wir sterben nicht. Brugmann d.J.: Ich stimme zu. Paul: Bei Sinnen, gut versorgt. Alles ist da. Alles ist mitgekommen. Geschepper von draußen. Was ist? Brugmann d.J.: Ich sehe nach. Paul: Ich seh‘ nach Fritz. Brugmann d.J. geht nachsehen, Paul geht nachsehen. Paul und Brugmann d.J. kommen zurück. Paul: Was war’s? Brugmann d.J.: Es wollten ein paar fliehen. Der Aufseher hat sie zur Ruh‘ gebracht. Paul: Das sagen Sie so zart? Gibt es denn etwas, wo Sie nicht so zart und zaghaft sind? Können Sie wild sein, eigentlich? Wenn’s doch in Ihnen ist?

Brugmann d.J.: Der Mandur hat sie schon zur Ruh‘ Paul: Wie meinen Sie zur Ruh‘ gebracht? Brugmann d.J.: Naja, er hat Paul: Ich weiß auch nicht. Vielleicht ist’s wegen Fritz, dass mir die Haut heut‘ dünn. Und angereizt. Und an die Schmerzen And‘rer angelehnt. Mir reicht’s, ich bin auch müd‘. Ich will gern schlafen geh‘n. Nur schlafen will ich nicht. Erzähl‘n Sie mir. Ich weiß nicht was. Geh‘n Sie noch nicht. Was hab‘ ich grad gefragt? Erzählen Sie von uns‘rer Trägerschaft. Was sie so tun und sind. Brugmann d.J.: Der Trägerschaft? Naja. Nach Abschaffung, Verbot der Sklaverei Paul: Das hör‘ ich gern. Brugmann d.J.: Hat man die Arbeitskräfte kategorisch neu bestimmt. Paul: Ich brauch einen Moment. Moment. Jetzt geht’s. Brugmann d.J.: Mit Abschaffung der Sklaverei hör‘n die Plantagen ja nicht automatisch auf. Sie selber sind nicht plötzlich frei. Mit der Befreiung von der Sklaverei fängt Freiheit, wenn man will, nicht automatisch an. Paul: Die Freiheit fängt nicht automatisch an. Plantagen, sagen Sie, sind – was? – sind unbefreit? Ich leg‘ mich hin. Reden Sie so. Und ich schlaf‘ ein. Hingelegt Ich wusste heute Nachmittag: Bin frei. Und dann – jetzt hier Wenn es den Anderen nicht gut ergeht, dann nimmt mich das gefangen, irgendwie. Vor allem, wenn die Anderen mein Nächster sind. Versteh‘n Sie das? Ja, Sie verstehen alles. Und wollen doch nichts wissen. Und sind doch unsichtbar. Mein Ideal. Erzählen Sie. Ich schlaf‘ heut‘ hier. Brugmann d.J.: Sie sind so traurig. Tief gedrückt. Paul: Ich muss nur schlafen gehen. Brugmann d.J.: Nicht Sie, die Trägerschaft. Ich dachte mir, sie sind so traurig irgendwie. Auch wenn sie schrei‘n und kreischen. Als wäre jeder Widerstand schon aus. Die mangelnde Ernährung und Gewalt, die überall – nicht lauert, sondern – Unterwerfungen erzwingt. Sie sind, die Unterwerfungen, man sagt’s, in sie gelegt. Sie können nichts dafür. Sie sind bereits von Anfang an in sie gelegt. Wie man auch immer etwas legt, in jemanden. Aus China werden Kulis in Millionenhöhe zu Plantagen – in alle Welt gebracht. Nach Abschaffung der Sklaverei hat man die Arbeitskräfte kategorisch neu bestimmt. Das ist‘s, was ich zum Einschlafen erzählen kann, Vertragsarbeit und freie Lohnarbeit. Sieht gar nicht wirklich anders aus, als vorm Verbot der Sklaverei. Sie wollten aber sicher so vorm Schlafenlegen, noch etwas hör‘n, zum Einschlafen. Nicht unbedingt erfahr‘n, wie er, der größte Teil der Menschen – wie sie Gequälte wurden, sind.

Paul: Sie waren viel zu unterhaltsam, stimmt. Brugmann d.J.: Ja. Tut mir leid. Beim Bankett. Wie zuvor. Fritz: Wir sollten schlafen gehen. Ich hin zum Paul. Und Sie. Wo schlafen Sie denn eigentlich? Im Jenseits schon? Erzählen Sie mir von dort. Es ist wohl nicht so schön, wenn man Sie da in Ihrer Winterstarre sieht. Adriani will gehen. Bleiben Sie. Versprachen‘s mir. Vergaß der Bräutigam, als er zur Welt gekommen ist, vergaß im Kommen, dass er geht. An einem Tag. Was gehen die Dinge fort? Dass einer geht, ein anderer noch da ist. An einem Tag, am Ende. Nicolaas, spiel‘n Sie doch mit. Ein bisschen nur, Herr Missionar. Adriani: Ich will nicht spiel‘n. Das ist kein Spiel. Ich gehe jetzt. Ist noch etwas? Fritz: Die Antwort schulden Sie mir noch, der Menschheit auch. Warum vergisst der Geist, fröhlich, betrunken von der Welt, dass er am Ende, eines Tages, geht? Adriani: Nachhaus. Fritz: Das ist das Wichtigste, was man hier wissen kann. Wenn man’s nur wissen könnte. Adriani: Man weiß es, ich. Fritz: Und woher wissen Sie es denn? Adriani: Vertrauen. Adriani bleibt sitzen. Fritz: Und dann, das sagen Sie, kommt eines Tags ein Tag, an dem das alles, was verloren ist, gegangen ist, sich neu verbinden wird, und wieder kommen wird. Wo alles wieder auferstehen wird. Wann kommt der Tag? Im Zelt. Fritz steht im Zelt. Sucht etwas zu trinken. Fritz: Gibt‘s Wasser? Paul: Fritz? Fritz, wart‘, Moment. Warte du dort. Ich bring’s dir hin. Weil, du musst liegen. Fritz: Ich hab‘ geträumt. Paul: Ah, ja? Fritz: Die Königin von Holland – hat sich zu mir gebeugt. Und ich stand starr, mit dir, dass wir den höchsten Orden von dem Land erhalten, Würdigung, allein für uns, mit Würdenträgern rundherum. Paul: Ein schöner Traum, nicht Fritz? Fritz: Schon ja. Nur auch nicht ganz. Nämlich allein. Ich bin nicht nur Empfänger eines Ordens. Bin gleichzeitig ihr Sohn. Der Prinz der Niederlande. Ich trag‘ ein Kleid, bin ganz geschmückt. Die Königin fährt auf. Und bricht dann wieder ein und schreit und stürzt und fällt. Was trägt ihr Sohn, der Thronfolger, ein Kleid, wie die Prinzessinnen? Und nicht Was hab‘ ich denn getan?

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stück

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SCHWELLE (3) Schatten kommen. Sie bauen das Lager und das Bankett ab.

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Daniël van Klaveren

MOZARTS SCHWESTER (1 D, 2–3 H / 1 D, 1 H; 7/8+)

DSE: 16.1.2020 Hans Otto Theater, Potsdam

Paul: Komm, leg‘ dich hin. Ich glaub‘, dass du noch Fieber hast. Du bist, wenn dann, ja immer noch mein Prinz. Du fieberst ja. Komm mit. Paul bringt Fritz auf die Bahre. Brugmann d.J. geht raus, sieht nach den Trägern. Beim Bankett. Brugmann d.J. kommt wieder zurück. Fritz: Da sind Sie ja schon wieder. Bei Ihnen denkt man immer, ein Wind, und Sie fall‘n um. Von diesem Draußen, dachte ich, kommen Sie nicht zurück. Brugmann d.J.: Der Gouverneur ist schon im Bett. Ich fiel nicht um. War dort im Garten, hab‘ ins Sternenlicht geschaut. Nach Sternenbildern ausgeschaut. Gesucht was ausseh‘n könnt wie Ihr Gesicht. Fritz: Wie meins? Brugmann d.J.: Wie Ihr’s. Wie meins. Fritz: Haben Sie eins gefunden? Brugmann d.J.: Ein bisschen ja. Hab‘ Ähnlichkeiten festgestellt. Die Ähnlichkeiten zwischen uns hab‘ ich im All gesucht. Nur sieht man’s All nicht mehr zu gut. Wegen der Dämmerung. Fritz: Dass Menschen unt‘reinander ähnlich sind, ist ja nichts Neues, Brugmann, oder doch? Gut. Gehen wir. Nur Adriani müssen wir, einen Moment noch, gönnen – dass er so tut, als träume er. Wovon er träumt, was glauben Sie? Wir Männer unt‘reinander. Wie wir noch träumen können. Den Traum der Zivilisation. Und doch, man sieht’s uns an, wie wir uns fürchten vor dem Land, in dem die Träume kommen mögen. Brugmann d.J. und Fritz (43) schauen auf Adriani. Sie verschwinden.

Schatten: Dritter Schritt. Sie wollen zuerst und zuvorderst nicht mehr nur den Raum und nicht mehr nur die Beuten, die er abwirft, hergibt. Sie wollen zuerst und zuvorderst – das Leben. Und gerne möchten sie entscheiden, ob das Leben leben – und ob es sterben soll. Im großen Stil. Sie wollen nun das Leben – und wollen es als Geld. Der Feind besteht. Das Zuhause – verloren. Das Spektakel – der Qual. Die Vögel kommen. Phasianid: Sind alle wieder da. Zosterops: Sind auferstanden insgesamt, von einem Mahl. Phasianid: Bei dem wir schon verspeist und ausgeschieden worden sind. Zosterops: Nur ich entkam. Ich Spatz. Und lebe so wie stets. Phasianid: Jetzt fliegt sich’s wieder. Großfußhuhn: Sitzen da. Phasianid: Von Neuem hier. Zosterops: Und staunen ob der Welt. Phasianid: Ist die Geschichte jetzt befreit, dass man sich nicht an sie erinnern kann? Zosterops: Hat die Geschichte sich befreit von ihrer Hergekommenheit und wie wir aus ihr hergekommen sind? Phasianid: Sind wir daher gekommen, dass wir uns nicht an sie erinnern? Zosterops: Sie selber eine Schlacht, die kein Archiv enthält? Phasianid: Geschichte siegreich über sich. Zosterops: In einer Schlacht, die die Geschichte von sich selbst befreit, sodass sie nur im Jenseits des Archivs, wie eine ungeschriebene Schlacht den Text aufhält, und stört, sich nochmal umdreht und dann flieht? Vögelkreischen. Die Vögel verschwinden.

SCHWELLE (4) Ein Junge, Fritz (8), steht da. In aller Ordnung. Im Nirgendwo. Neben ihm taucht ein älterer Mann auf, Fritz (70). Schräg hinter ihnen taucht ein anderer Junge auf, Paul (11). Paul (73) ist bei ihm, geht neben ihm. Fritz (70): Und möchtet alles vom Versteh‘n versteh‘n. Vom Wissen alles in euch legen – bis davon außerhalb von euch nichts übrig ist. Und wenn sie sagen: Da. Sie wollten alles wissen, sind damit am Puls der Zeit. Dann haben sie auf einer Seite recht.

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Paul (73): Und mustergültig, vorbildhaft, habt ihr es dargelegt im vielbändigen Werk. Geordnet das Gesammelte, die Daten, die erhoben worden sind, liegen darin. Sie lägen sonst nur da, und wären bodenwärts verschwunden in die Erde, erdhaft selbst, und dorther kamen sie und dorthin gehen sie zurück, verschwinden mit der Zeit, und welten nicht, weltwerdend Daten, sich ent-erdend, sammelt sie und hebt sie mustergültig auf und vorbildhaft, streng fasstet ihr sie auf. Fritz (70): Sie wären sonst schon nicht mehr da, in Tageswechseln und Jahrhunderten verschwunden – hinein verschwendet in die Welt. Paul (73): Der Erde würd‘ sie zu sich ziehen. Würd‘ in der Zeit vergehen. Fritz (71): Ihr nahmt sie auf, ihr legtet sie geordnet hin und zogt die Schlüsse d‘raus. Und gründlich grundgelegt liegen sie da und machen and‘re Schlüsse aus, die noch gezogen werden können. Die Schlüsse sind nicht aus. Paul (73): Sie wollten alles wissen, sagen sie. Es stimmt. Nur stimmt‘s nicht ganz. Ihr wusstet nämlich stets, von Anfang an, dass man von allem nichts, das Wichtigste, nicht wissen kann. Fritz (71): Als ihr in die Materie gefasst, wusstet ihr von den Grenzen dann, den Grenzen im Erkenntnisakt. Paul (73) verschwindet. Fritz (70) verschwindet. Zu den Jungen gesellt sich Anna Cathrin. Anna Cathrin: Und hat sich dann die eine Art so fortgeführt, dass man an ihr nicht mehr erkennt, woher sie kommt, der Mensch. Die Art, das Tier, die Erde. Der sie geschaffen hat, war ganz am Anfang da. Bedeutend groß, sodass man denkt, dass das der Grund wahrscheinlich war, warum er ging. Er war zu groß. Und hat an seinem Hiersein, unter uns, dann abgenommen. Hat sich hinauf gelöst, in etwas, das mit Augen keiner sieht und mit den Messgeräten keiner misst. Und euer Aug‘ war klein. Ihr blicktet zu ihm auf. Dann war er weg. Ihr habt die Listen ihm erstellt. Dass wir ihn finden können – in allem, was da ist und lebt, er spricht nicht für sich selbst. Geht. Hört. Und seht! Vielleicht hebt er euch auf. Geht eines Tages wieder hin. Über die Schöpfung hin. Vielleicht an einem Tag. Vielleicht seht ihr etwas von ihm. Wenn ihr ihn in dem Vielen seht, das weltwärts vor euch liegt, wer weiß, vielleicht zieht er an euch vorbei, sitzt schweigsam da, euch grübelnd gegenüber, lacht euch an. Wenn ihr ihn in dem Vielen seht, wer weiß, grüßt ihn von mir. Sie verschwindet. Fritz (8) und Paul (11) laufen durch das Nirgendwo. Verschwinden. Die Vögel nehmen wieder Platz. Sie kreischen noch etwas, werden dann still. Gezirpe. Wieder Gekreische. © S. Fischer Verlag 2019. Ein Auftragswerk für das Theater Basel in Zusammenarbeit mit Stück Labor.

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julia haenni_frau verschwindet (versionen)

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We all! Julia Haenni über ihr Stück „frau verschwindet (versionen)“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

Julia Haenni, als Performerin und Regisseurin

Ich denke sie immer mit. Weil es Themen

waren Sie oftmals selbst an der Inszenierung

Julia Haenni arbeitet als freie Autorin, Per-

sind, die alle betreffen, egal, wie man sich

Ihrer Stücke beteiligt. „frau verschwindet (versi-

formerin und Regisseurin in der Schweiz

definiert, als Mann oder Frau oder Stern. Es

onen)“ hat Marie Bues am Konzert Theater Bern

und in Deutschland. Sie studierte Regie

geht ja darum, dass diese Zuschreibungen

uraufgeführt. Wie haben Sie diese Zusammenar-

an der Zürcher Hochschule der Künste

uns alle einschränken und wir gerade auch im

beit erlebt?

und Theaterwissenschaft und Germanistik

Theater versuchen sollten, sie aufzubrechen

Als Autorin des Stück Labor-Förderprogramms

in Bern und Berlin. Sie arbeitet über Dis-

oder zumindest mit dem Finger auf sie zu

war mir von Anfang an klar, dass da eine

ziplin-, Format- und Arbeitsstrukturgren-

zeigen. In meinem aktuellen Stück „Don ­

­Regie hinzukommt. Dadurch habe ich beim

zen hinaus, mit Laien und Profis, in der

Juan. Erschöpfte Männer“, das im Frühjahr

Schreiben eine enorme Freiheit gespürt.

freien Szene und an Häusern. Ihr Stück

im Thea­ter Tuchlaube Premiere hat, geht es

Sonst überlege ich mir als Regisseurin meis-

„frau im wald“, uraufgeführt am Theater

um männliche Rollenbilder.

tens schon vorher, wie wohl die Schauspiele-

Marie in der Regie von Patric Bachmann

rinnen und Schauspieler von Szene A zu

und Olivier Keller, wurde 2019 zum Hei-

Im Zuge der #MeToo-Debatte ist die Frage der

­Szene B kommen. Und das war nun nicht so.

delberger Stückemarkt eingeladen. Das

Repräsentation von Frauen im Theater zum do-

Mit Marie Bues und dem Team traf ich mich

Jugendstück „Bodybild! (and now i am

minierenden Thema geworden. Das Berliner

bereits, als ich noch am Schreiben war. Da

gonna roll myself in glitter and roll down

Theatertreffen hat zum Beispiel eine Frauen­

haben sich Arbeitsprozesse verzahnt. Ideen

that hill wie eine nuss im herbst)“ läuft

quote eingeführt, damit mehr Regisseurinnen in

für das Bühnenbild zum Beispiel haben mich

seit Anfang 2019 an der Schauburg Mün-

der Zehner-Auswahl vertreten sind. Was halten

beim Schreiben weitergebracht. Diesen Aus-

chen. In der Spielzeit 2018/19 war sie

Sie von diesem Weg?

tausch mag ich als Autorin sehr, dieses

Hausautorin am Konzert Theater Bern, wo

Ich finde die Quote super. Es ist der richtige

gemeinsame Denken inspiriert mich. Man ­

sie ihr Stück „frau verschwindet (versio-

Weg, um schnell etwas zu ändern. Das hat vor

macht dann nicht alles mit sich selbst aus.

nen)“ schrieb. Die Uraufführung in der

allem mit der Frage der Repräsentation zu

Und das ist meistens besser so.

Regie von Marie Bues ist derzeit in Bern

tun. Daran glaube ich total. Wenn man als

zu sehen.

junge Frau im Theater etwas erreichen will,

Das Stück haben Sie im Jahr des Frauenstreiks

sollte nicht die Frage sein, ob man es darf

geschrieben. Mehr als 500 000 Frauen haben

oder ob man eine „spannende weibliche Per-

2019 in der Schweiz demonstriert und gestreikt,

spektive“ mitbringt. Es sollte längst eine

um für ihre Rechte zu kämpfen und auf struktu-

In „frau verschwindet (versionen)“ stehen

Selbstverständlichkeit sein, dass Regisseu-

relle Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen.

­Generationen von Frauen auf der Bühne. In

rinnen und Regisseure, Autorinnen und Auto-

Wie hat diese Bewegung Ihre Arbeit inspiriert?

Bern sind es drei Spielerinnen. Ich habe den

ren an den Theatern wie auch beim Berliner

In „frau verschwindet (versionen)“ geht es um

Text aber bewusst so geschrieben, dass wir

Theatertreffen in gleicher Anzahl vertreten

Zuschreibungen und um eindimensionale

viele Frauen in verschiedenen Rollen sehen

sind. In der Praxis herrscht da ein großes Un-

Rollenangebote. Am zweiten Tag der Proben

und dass es auch mehr sein können. Dazu

gleichgewicht. Aber je mehr junge Menschen

war der Frauenstreik. Endlich wurde und wird

gehört auch die mittelalte Frau, die auf den

aller Art Menschen in aller Art Positionen se-

in der Schweiz wieder groß über Frauenrechte

Bühnen viel zu wenig vorkommt. Das ist ein

hen, desto größer wird die Selbstverständlich-

diskutiert. Überall wird der Widerstand wieder

strukturelles Problem im Theater, da ver­

keit. Und das ist doch das Wichtigste. Auch

sichtbar. Die Schubladen, in die Frauen in

zahnen sich Wirklichkeit und Stückinhalt,

wenn die Quote vielleicht zunächst zu Unge-

der Gesellschaft gesteckt werden, sind auch

und danach suche ich in meinen Arbeiten als

rechtigkeiten führen mag. Wir müssen den

in den Publikumsgesprächen das dominieren-

Theaterschaffende.

Wechsel hinbekommen. Deshalb macht es Sinn, zumindest zwei oder drei Jahre mit ei-

de Thema. Da sehe ich, wie groß der Redebedarf ist – von Frauen wie auch von Männern.

In „frau verschwindet (versionen)“ stehen

ner Quote zu arbeiten. Bei zu vielen ist noch

Dass die Inszenierung in Bern so erfolgreich

­Frauen auf der Bühne. Ihr inoffizieller Untertitel

nicht angekommen, dass wir in Bezug auf die

läuft und verlängert wurde, zeigt ja auch, wie

lautet indes „ein feministisches stück für alle“.

Repräsentation von Frauen noch längst nicht

sehr über das Thema geredet werden muss.

Wie denken Sie die Sicht der Männer mit?

so weit sind, wie von vielen behauptet wird. //

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stück

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Julia Haenni

frau verschwindet (versionen) „The revolution is the extension of options“   Laurie Penny

Mehrere Frauen1, viele. In Wohnungen in Ländern. Es regnet. Den ganzen Tag. Es wird viel genüsslich geraucht, wie in alten Schwarzweissfilmen, wo die Gefahr noch voller erhabener Möglichkeiten war.

leuchten machen. Ansonsten keine auffälligen Auffälligkeiten. Vielleicht die vielen Pflanzen. Und vielleicht das Plakat an der Wand gegenüber vom Bett. Die Kopie eines Gemäldes, ganz in Blau. Eine grosse blaue Fläche. Wie ein Fenster. Wie ein Meer zum reinspringen. Die Frau kannte das Bild, es war ein berühmtes Bild von einem berühmten Maler, der das Blau nach sich selbst benannt hatte, weil er es erfunden hatte, dieses eine spezielle Blau-Blau. Und so war es jetzt sein Blau, sein eigenes Blau. Weiter. Dachte die Frau. Und beim Hinausgehen streifte sie den kleinen Spiegel, der neben der Schlafzimmertür hängt, er hatte einen kleinen Riss, sodass sie doppelt in ihr Gesicht sah. Das bist also du, dachte sie und ging ins Wohn­ zimmer und setzte sich ans Fenster. Sie musste nachdenken.

B In dieser Wohnung beginnt ein neuer Tag. Eine Frau. A Eine Frau mit einem grossen Joghurt-Becher in der Hand betritt eine Wohnung äh Bühne. Leise, vorsichtig, neugierig. Ob da jemand ist? Nach einer Weile stellt sie fest: Niemand da. Dann beginnt sie sich genauer umzuschauen. Sie wühlt, sie fühlt, sie riecht. Dann nimmt sie ein Blatt Papier aus der Tasche und beginnt zu notieren, zu skizzieren. Die Frau:  Okay, man kommt rein, Altbau, ziemlich typisch für diese Stadt. Es riecht etwas abgestanden, schon ne Weile nicht gelüftet worden. Zwischen den abgestandenen Luftpartikeln, die in der Morgensonne flimmern, hängt der Rest eines nach Baumstämmen riechenden Shampoos. Ich kenne diesen Duft, dachte die Frau. Supermarkt. 95 Rappen. Riecht aber wie das teure Shampoo vom hippen Kosmetikladen, in den neuerdings alle ihr Freizeitgeld investieren. Vom Flur direkt rechts das Schlafzimmer, einfaches Doppelbett aus Holz, blaue Bettwäsche aus Baumwolle, daneben eine Kommode aus den 70ern, nichts Spezielles, die übliche unordent­ liche Ordnung. Diverse Jeans liegen herum, ein grosses Fenster, es ist hell. An der Decke eine alte Lampe, die aussieht, als hätte sie schon immer da gehangen. Jahre, Jahrzehnte, noch länger vielleicht, Staubfäden, von der Sonne markiert. Und wie im Wohnzimmer auch hier überall Bücher, sehr viele Bücher, farbige Bücherrücken, die den Raum 1  Damit sind alle gemeint, die sich als Frauen verstehen und als Frauen leben wollen, unabhängig von ihrem sogenannten sozialen Geschlecht und damit unabhängig von vorgefertigten Daseinsformen.

Die Frau:  Eine Frau sitzt am Fenster und schaut auf die Vormittagsstrasse die vorbeifahrenden Autos in den Ohren das Vibrieren des Parketts unter den Füssen wenn der Bus vorbeirauscht die anonymen Fenster gegenüber mit dichten Vorhängen vermummt und der verhangene Himmel aus dem seit Tagen nur Regen und Regen und Regen der sich mit den Grossstadtdreckpartikeln mischt und eine graue Decke über alles legt und die kleinen Menschen die einheitlich durch die Decke rauschen wie Ameisen aktiv schnell mit klarem Ziel tun Lösungen ge ne rie ren aufstehen arbeiten einschlafen aufstehen arbeiten einschlafen einschlafen na los komm schon keine Zeit für keinen Schlaf Kinder abholen telefonieren telefonieren telefonieren Kinder abholen dazwischen müsste man noch Sport damit der Po wie auf dem Plakat

wie machen die das eigentlich wann machen die das eigentlich müssen die nicht arbeiten wann mach ich das eigentlich schnell was essen irgendwie irgendwann keine Zeit auf die Hand Los Los Los Weiter Weiter Weiter Come On RE ACT DECIDE NICHT NACHDENKEN! MACHEN! Ausnahme: Babys mit Babys spazieren gehen und kurz aus der Zeit fallen süssgelächelt werden von überall also zurück­ lächeln als hätte man diese Babys für alle zusammen geborengemachtgeneriert aus dem Körper hinaus aktiv aktiv aktiv in die Welt gestartupt aber nur um dann sobald der in Fetzen zerlegte Körper wieder generiergefechtsbereit ist weitermachen­ dich­indieweltwerfenzeigendassdukannst IMMER sonst wird das nichts aus dir du darfst doch jetzt machen du darfst doch jetzt alles machen! Die Frau am Fenster atmete tief aus sie hatte sich schön gemacht trug ihr bestes Kleid und Lieblingslippenstift und schaute Sie schaute hinaus auf die Strasse und je länger sie da am Fenster sass und schaute desto mehr Einzelteile schauten aus dem Generatorengrau hinaus eine Frau mit einem roten Rucksack eine knallige Bomberjacke weisse Turnschuhe und gegenüber am Fenster plötzlich das lächelnde Gesicht einer Frau die Frau schaute hinaus sie schaute die Frau an und ihre Blicke trafen sich für eine Millisekunde tauchten sie ihre Blicke ineinander ein und dann verschwand das Gesicht der Frau am Fenster wieder so plötzlich wie es dagewesen war als hätte sie sich aus dem Jetzt herausgeschnitten


julia haenni_frau verschwindet (versionen)

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Die Frau fühlte jetzt wieder dieses Kribbeln in den Füssen das ihr bis ins Gesicht zu einem Lächeln stieg sie zog den Vorhang zu und Lippenstift nach setzte sich hin und begann sie zu skizzieren die Frau die verschwindet.

C Eine Frau. Die Frau:  Eine Frau sitzt am Fenster und schaut auf die Strasse ihre Augen wandern über den Zwölfuhrbus der die Städte verbindet und die Menschen die ein und aussteigen und da sieht sie im Haus neben der Bushaltestelle ein paar weisse Turnschuhe im Hauseingang stehen mit einem grossen weissen Zettel gratis zum mitnehmen was? wirklich? Sie selbst hatte vor ein paar Monaten ihre alten weissen Schuhe genauso in eine Stadt hinaus­ gestellt rechts neben die Haustür weil der Strom der Passanten links vorbeiläuft das wusste sie und so die Schuhe eher gesehen würden im Strom sie verliess die Stadt um neue Kapitel zu schreiben und dazu hatten diese Schuhe nicht mehr gepasst und sie hatte dagesessen und gewartet und den ersten Bus verpasst und den zweiten auch Stunde um Stunde hatte sie dagesessen einfach nur dagesessen und gewartet dass etwas passiert etwas sich aus löst irgendwas aber die Schuhe rechts neben der Haustür wurden vom Strom der Passanten links vorbeigelaufen und liegengelassen Stunde um Stunde Und dann plötzlich als sie es schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatte sah sie mitten im Strom eine Frau vor den Schuhen stehenbleiben sie blitzschnell greifen und wieder verschwinden was? sie suchte die Menschenpunkte ab nach der Frau nach dem Weiss der Schuhe sie wollte den Moment festhalten das Gesicht der Frau sehen irgendwas erkennen vielleicht einen Blick tauschen irgendwas aber nichts zwei Sekunden und das Weiss die Frau der gemeinsame Moment verschwunden zwei Sekunden und weiter nichts

D Eine Frau in einer Wohnung. Sie schaut sich um, öffnet Schränke, Schubladen, schaut Bücherrücken an, als suchte sie detektivisch nach etwas. Sie fühlt sich ungestört. Plötzlich Schritte, jemand anderes scheint die Wohnung äh Bühne zu betreten. Die Frau, die schon da ist, erschrickt, erstarrt, schaut sich mit sekundenschnell ratternden Gedanken im Hirn um und greift nach … äh … was gibt es hier? Einem Kerzenständer? Was? Ja, zum Beispiel! Ein Kerzen­ ständer, der mit seinen vielen Armen ein bisschen aussieht wie diese jüdischen Kerzenstä… Das Parkett knarrt, jemand kommt näher. Scheisse! Die Frau klammert sich an den Kerzenständer wie an eine Waffe (zum Beispiel eine Axt!), eine andere Frau wird sichtbar, unbewaffnet. Beide sehen sich, erschrecken, schauen sich an. Hallo Was Was Machst du hier? Ich Wohnst du hier? Ich Nein Die Tür war offen Ja Und da dachte ich Ja Ich schau mal Ja Ob da alles in Ordnung Ja ob da vielleicht was nicht stimmt Ja Ich mein Einfach so die Türen offen Unten und oben Das ist ja Sperrangelweit offen Das ist ja nicht Wie eine Einladung Normal Nein Das ist Eine Einladung? Ja Ziemlich komisch Sie schweigen sich ein bisschen komisch an. Also du wohnst hier nicht? Nein Wer wohnt dann hier? -

Eine Frau Eine Frau? Ja Ja Gut Und sie scheint irgendwie Weg Ja Verschwunden Niemand hier Türen offen Verschwunden Ja Einfach so Puff! Wie meinst du das? Man schliesst doch normalerweise seine Haustür Ja? Das ist doch ein urmenschlicher Instinkt dass man seine Haustüre schliesst! Mhm. Echt? Ich weiss nicht ob man das so allgemein Ich denke wir sollten die Polizei rufen Ja Wirklich? Meinst du? Was wenn was Schlimmes passiert ist? Was Was wenn sie Sexuell missbraucht oder Was? Wer? Die Frau die hier wohnt? Ja! Kennst du sie? Was? Da denkt man ja als erstes dran Wer? Die Frau die hier wohnt Nein ich Was? Kennst du sie? Ich? Ja Nein

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stück

Was? Hu bisschen verheddert. Was ich sagen wollte Was wenn sie einer Sexualstraftat zum Opfer gefallen ist? Ich weiss nicht Naja statistisch gesehen wär das erstmal das Nahe­liegendste Aua. Ne glaub ich nicht Ich auch nicht Find ich nicht gut Ja Ist sowieso unlogisch Ja Ich mein wieso sollte der die Tür offen lassen? Das ist doch ein urmenschlicher Instinkt dass man die Tür zumacht Wer jetzt? Der äh Sexualstraftäter Oder die Sexualstraftäterin? Du meinst es war eine FRAU? Könnte sein Jaa aber Theoretisch könnte das sein Ja theoretisch könnte das sein aber statistisch gesehen ist das leider ziemlich unrealistisch dass das eine Frau Leider? Vielleicht ist sie entführt worden? Ich weiss nicht warum sollte sie entführt worden sein? Ja so kriegstaktikmässig ich habe eine Beute die dir gehört und du gibst mir jetzt deine und dann Das ist doch Blödsinn wem soll die denn gehören? Wer? Die „Beute“! Hä? Also die Frau wem soll die denn gehören? Ach die Frau die heisst doch nicht Beute die heisst Frau! Eben! Was? Organhandel? Ich bitte dich das ist ja furchtbar! Befruchtungen? Wie bitte? Naja wie bei dieser dystopischen Serie wo Frauen gefangen werden um befruchtet zu werden um all den unfruchtbaren Menschen Kinder zu gebären Also das ist doch Könnte sein!! Ja könnte leider sein aber also die Frau hier ist doch mehr als ihre Gebärmu Oder um jemanden zu erpressen der viel Geld Nein

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Oder die Ich finde das Ja oder die Sehr Aber eher der Eindimensional gedacht alles Statistisch gesehen Wahrscheinlich hat sie sich umgebracht Oh nö bitte nicht schon wieder Naja statistischbüchertheaterstückfilmmässig gesehen Realstatistisch gesehen bringen sich Männer viel öfter um als Frauen! Echt? Heute jedenfalls also im 21. Jahrhundert in dem wir uns ja schon eine ziemlich ganze lange Weile befinden Okay gut das ist gut Ist das ... gut? Ja das ist gut weil das heisst dass sie sich eher nicht umgebracht hat Nein sie hat sich eh nicht umgebracht Fänd ich auch wirklich doof Voll doof Ich mein welcher Grund wäre gross genug sich umzubringen? Naja gäbe schon einige Zum Beispiel? Zum Beispiel wurde sie angelogen von jemandem und irgendwann kommt die ganze Wahrheit raus und alles ist ganz anders als sie immer dachte und ihre ganze Wahrnehmung in Frage gestellt ihr ganzes Weltbild auf den Kopf und Das ist scheisse Ja das ist sehr scheisse wenn man ihr die Wahrheit nicht sagt Vor allem wenn man ihr nahesteht? MANN? MAN… Also ihr Typ zum Beispiel Ja zum Beispiel möglicherweise ihr Typ Er hat sie angelogen betrogen Mhm Mehrfach Mhm Weil er nicht die Eier hatte sich hinzustellen und zu sagen was ist Ja zum Beispiel dass er doch eigentlich arbeitslos ist seit geraumer Zeit und sich jeden Tag in die Bibliothek setzt und arbeiten gehen spielt aber eigentlich naja halt arbeitslos ist und kein Geld verdient keinen einzigen Rappen weil er es nicht schafft es ihr zu sagen oder dass er schon sehr lange eine viel jüngere Geliebte hat oder zu einer Prostituierten geht oder Jedenfalls legt er sich jeden Abend zu ihr ins Bett tut als wär alles wie immer gut Nacht Schatz wie war dein Tag jaja bei mir das Übliche auf der Arbeit und das Übliche war nicht mal gelogen Nein nicht gelogen nur ein paar Fakten unter den Teppich gekehrt das ist doch nur menschlich da ist eh schon soo viel Dreck unter diesem Teppich und der ist nicht von uns nein wirklich nicht was kommts da noch auf ein paar weitere Fussel drauf

an wir sterben ja dann eh bald Wir sterben bald? Nein ich meinte Ich hab überhaupt nicht vor bald zu sterben! Was ich sagen wollte das ist ja eben nicht so die Staube unter den Teppichen kommen doch immer irgendwann raus also das weiss man doch jetzt eigentlich bücherfilmtheatererfahrungsmässig Spätestens wenn das Betreibungsamt vor der Tür steht Oder die andere Frau „Wir müssen mal reden“ Ja Zum Beispiel Oh Mann das ist so abgelutscht Ja Ja aber erfahrungsumeinenrumschaumässig Das gefällt mir gar nicht Nein Ich nehme an wir sind uns also einig dass sie sich nicht umgebracht hat Nein sie hat sich auf keinen Fall umgebracht! Und sie wurde auch nicht umgebracht! Nein! Und sowieso nicht von einem Mann mit dem sie sagen wir romantisch verbandelt war Nein Auch wenn das statistisch Ist mir egal! Sehr gut Und sie hat auch nicht ihre Eltern oder ihre Kinder umgebracht weil sie sich ihr ganzes Leben nur um die gekümmert hat und Auf keinen Fall! Das sowieso nicht sie hat sowieso keine Kinder Nein? Nein! Woher weisst du das? Sieht doch hier nicht aus wie nach Kindern Aber Keine Kinder Weisst du vielleicht ist das hier was ganz anderes Ja das wäre gut


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Ja mal wirklich was ganz anderes Ja vielleicht ist sie durchgeknallt Wie bitte? Naja irgendwie sind die Sicherungen mit ihr durch weil sie das alles nicht mehr aushält oder sie hat ihre Medikamente nicht genommen und dann ist sie aus dem Haus gestürzt und hat vergessen die Tür zuzumachen und Ich hab gesagt was ganz anderes!! Ist das nicht Nein! Vielleicht ist das hier einfach mal nicht die durchgeknallte Frau?? Ich hab keinen Bock immer umgebracht zu werden mich selbst umzubringen oder mit so irren Augen über die Bühne zu laufen weil ich verlassen angelogen übergangen worden bin oder sonst wie über mich drüber gegangen wurde durch einen oder mehrere Männer Stimmt und ich deswegen den Hauptteil des Abends zitternd in der Ecke sitzen muss und dann knallts mit mir durch und ich muss mit irren Augen und in so zerfetzten weissen Nachthemden über die Bühne wanken Eben! Nein Eben Das hier war was ganz anderes Ja Das muss was ganz anderes Ja das muss Wie wärs damit: Sie war einfach nur total besoffen weil sie eine geile Party hatte und ist besoffen aus dem Haus getorkelt und hat einfach vergessen die Tür zuzumachen weil es ihr scheissegal war? Mhm Könnte sein! Ja könnte absolut sein aber Aber reicht wohl nicht für ein ganzes Stück Nein Okay ihr habt ja recht. Okay was gäb‘s sonst noch so? Sie konnte ihre lesbische Liebe hier nicht leben? Nein find ich nicht gut Hast du was gegen lesbische Liebe Nein ich hab was gegen Unterdrückung Okay … sie hat ihre Kinder verloren? Nein! Wir haben gesagt keine Kinder Sie war illegal hier und Sie war illegal hier? Also das sieht doch hier nicht aus wie in der Wohnung einer Einer was? Einer Illegalen Aha wie sieht die denn aus die Wohnung einer Frau die grade jetzt hier illegal ist zur Zeit Hab ich ja gesagt Nein das hast du nicht gesagt Die ist doch jetzt erstmal Mensch und dann vielleicht Frau und dann vielleicht auch ein bisschen illegal Aber ihre Hauptdaseinsberufsfigurenbezeichnung ist doch nicht die Illegale!? Hast ja recht ist eh keine gute Idee Nein? Wär doch aber schön wenn die hier auch mal vorkommen bitte Ja aber das kommt nicht gut raus das kommt mit

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Illegalität raus mit Abhängigkeit mit Gewalt mit Prostitution und Nicht automatisch! Jetzt denk doch mal bisschen offener! Nein nicht automatisch aber strukturell! und das ist mir zu unsicher das ist mir zu unsafe wir haben gesagt nichts was mit Gewalt an Frauen zu tun hat in diesem Stück wird keine Frau geschlagen entführt missbraucht oder werden sonst wie ihre Grenzen übergangen und eine Frau die leider ein bisschen illegal hier ist zur Zeit die ist ja nur illegal hier weil erstmal irgend­ jemand ihre Grenzen überschritten hat und dann mindestens ein weiteres Mal als irgendjemand entschieden hat dass sie nur illegal hier sein kann weil die Grenzen die von ihr überschritten wurden nicht als von ihr überschrittene Grenzen anerkannt werden Vielleicht sollten wir doch die Polizei rufen Was wieso? Das ist hier alles irgendwie ein bisschen … kompliziert Und da soll ausgerechnet die Polizei helfen? Es klingelt. Scheisse Wer ist das? Keine Ahnung! Was machen wir denn jetzt? Nicht hysterisch werden Nein aber Bloss nicht hysterisch werden! Ich bin nicht hysterisch aber was machen wir jetzt? Nichts Nichts? Wir sind einfach nicht da Okay Sie freezen und stehen eine Weile gefreezt rum. Es klingelt nochmal. Sie bewegen sich nicht. Warum klingeln die denn wenn die Tür offen ist??? Psst! Nach einer Weile entspannen sie sich. Das Klingeln hat aufgehört. Weisst du ich denke es ist vielleicht was ganz Einfaches was Alltägliches was Ja glaub ich auch Vielleicht ist die einfach einkaufen gegangen gaaaanz lange einkaufen gegangen und Einkaufen? Die FRAU ist EINKAUFEN gegangen? Mhm nein das ist schlecht einkaufen ist schlecht … ähm … Wie wärs mit ARBEITEN??? Also arbeiten sehr gut! Dann mach mal was mit arbeiten! Los! Okay also sagen wir sie hatte Stress auf der Arbeit Ja Sehr viel Stress auf der Arbeit

Ja Sie arbeitet sehr viel sehr sehr sehr viel weil sie hoch hinaus will Ja Und sie muss sich sehr oft beweisen gegenüber den Kollegen die die gleiche Arbeit machen aber mehr verdienen Immer noch? Ja und sie versucht WIRKLICH es allen recht zu machen inkl sich selbst sie arbeitet hart wie ein Tier sie stellt alles zurück was nicht unbedingt notwendig ist sie denkt das ist ein modernes Leben sie weiss sie braucht einen Panzer damit das geht und den macht sie sich weil sie denkt wie soll das denn sonst gehen verhärtet ihre Schale zu einer Rüstung die sie so von sich gar nicht kennt und die sie auch nicht schön an sich findet und irgendwann nach sehr langer Zeit und mit tiefen grossen Pandaaugenringen um ihre Augen denkt sie jetzt reichts jetzt reichts einfach ich muss was tun ich werde dafür kämpfen hier gleichbehandelt zu werden wie alle anderen Anwälte Anwälte? Zum Beispiel Aber das sieht doch hier nicht aus wie in der Wohnung einer Anwält Böser Blick. Weiter. Sie überlegt lange was zu tun ist sie hat natürlich Angst ihren Job zu verlieren und das wär sehr blöd weil Genau wegen den Kindern zum Beispiel Nein sie hat keine Kinder! Aber warum denn? Vielleicht findet die Anwältin Kinder ja gut! Nein! Sonst geht es wieder nur darum nur um ihr Dasein als Mutter Aber das ist sie doch vielleicht auch Ja eben AUCH aber es ist nicht das Zentrum ihres Daseins als Gesamtmensch Uh das gibt Schwierigkeiten WIESO? RABENMUTTERALARM! Jetzt komm mal bisschen runter nur weil sie viel arbeitet heisst das doch nicht automatisch dass sie Eben! EBEN! Hä? SIE WILL EINFACH KEINE MUTTER SEIN SIE HAT VIELE ANDERE PLÄNE UND SIE WILL DAS AUCH NICHT IMMER DISKUTIEREN Wer jetzt? DIE FRAU! WOHER WEISST DU DAS DENN? HÄ? Ich ICH WEISS ES EINFACH Ah wow super Argument! WOW! Ich weiss es einfach klar! Ich weiss es doch auch nicht! Wir versuchen doch hier bloss rauszufinden was dieser Frau passiert ist und da musst du doch nicht die ganze Zeit so rumzicken! OH OH! Sie schmollen, weil zickig, das ist ein Scheisswort, ja. Dieses Wort passt hier ganz und gar nicht hin. Was sonst? Ich schlage kurz nach, Moment bitte, Synonym für zicken, meckern? Mhm, irgendwas nicht Tierisches wär vielleicht ganz schön. Moment, ich schau nochmal nach. Matschkern? Beckmessern? Nie gehört. Naja, und dieses Internet ist halt auch nicht so DIE saubere Quelle, ah hier, abkotzen? Da ist auf jeden Fall mehr Energie drin, aber es passt hier nicht so richtig. Ich geb mal Zicke ein statt zicken.

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Voilà: Furie, zänkisches Weib, Besen (ACH DU SCHEISSE), boshaftes Weibsstück, Drachen, feuer­speiender Drachen (schon wieder Tiere), Gewitterziege, Giftnudel, Krähe, Kratzbürste, Meckertante. Ok, es wird nicht besser. Ich nehme ähm also zänkisch. Ja, sie haben sich beide etwas angezankt. Beide haben etwas Gift ausgeschüttet vor sich und um sich. Das ist nur natürlich, wenn ein Angreifer kommt äh eine angreifende Person. Sie sind also beide etwas anbeleidigt, könnte man sagen, etwas angesäuert, wie ein Joghurt vielleicht, in das man Zitrone spritzt. Ja, Joghurt ist gut. Joghurt ist geschlechtsunspezifisch. Sie schweigschmollen eine Weile, bis es wieder um die Sache gehen kann, um die es hier eigentlich geht. Tut mir leid Mir auch Also die Frau Die KEINE Mutter ist Oder NOCH NICHT Mutter ist Die jedenfalls hauptsächlich hauptberuflich und hauptinteressenstechnisch GERADE JETZT IN DIESEM MOMENT NICHT Mutter ist Ja diese Frau also überlegt lange was zu tun ist wie sie sich wehren kann ohne dass sie die abgestempelte Feministin ist was in ihrem Büro eher ein niedriges Wort also eine untere Schublade ist in die man nicht als Akte hineingelegt werden will und natürlich hat sie Angst um ihren Job für den sie mega lange studiert hat und gekämpft hat und sich das Geld vom Mund abgespart hat weil ihre Eltern ihr kein Geld geben wollten fürs Studieren weil ein Mädchen studiert nicht du kannst aber Kindergärtnerin werden Augenverdrehen! Für mehr darf es hier nicht mehr reichen. Sie hat Angst weil sie weiss EIGENTLICH muss sie die Spiele mitspielen sonst werden ihr mög­ licherweise die vielen Chancen die sie bekom­men hat und bekommt in der Kanzlei weil sie eine „richtig toughe Frau“ ist vielleicht wieder genommen und die Angst ist berechtigt einmal hat sie einem Kollegen gesagt ich will nicht mehr mit dir im Auto zu den Terminen fahren wenn du nochmal deine Hand auf meinen Oberschenkel legst Sehr gut! Aber danach war sie nicht mehr „die toughe Frau“ sondern „die Zicke“ ARGG, falsches WORT! Und er ignoriert sie seither bei allen Sitzungen und lässt sie nicht mehr mitfahren in seinem Dienstauto auch wenn sie alleine im Dunkeln zurückbleibt lässt sie einfach stehen und wenn sie fragt ob es ein Problem gebe ob sie einmal das Gespräch suchen sollten tut er als wäre gar nichts und als hätte sie das Problem weil sie verstehen sich doch alle super in diesem Büro ganz wunderbare Kollegen oder ETWA NICHT? Ist auch etwas abgelutscht Ja ist abgelutscht aber wahr! Was tut sie? Sie weiss es nicht! Sie kann es sich nicht leisten den Job an den Nagel zu hängen! Was ist denn mit ihrem Mann? Kann der nicht helfen? Hat sie einen Mann? Ich weiss nicht denke schon Ich weiss nicht das sieht hier nicht aus wie nach einem Mann Ich glaub sie steht sowieso auf Frauen

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Also hat sie keinen Partnermannfraustern? Kein partnerschaftliches Gegenüber? Doch Aber vielleicht eins was eigenständig in einer anderen Wohnung wohnt So wie sie hier eigenständig wohnt Gut und was ist jetzt mit diesem partnerschaftlichen Gegenüber, das eigenständigwohntsowiesieeigen­ ändigwohnt? Kann dieser Mensch nicht ihren Rücken stärken auch Geld in die gemeinsame Kasse einzahlen und mindestens gleich viel auf die Kinder aufpassen dann wär das ja alles ein bisschen weniger furchtba Auf die was? Was? Du hast schon wieder Kinder gesagt! Nein ich hab nicht Kinder gesagt Ich habs gehört! Ich hab nicht Kinder gesagt ich hab Rinder gesagt Rinder? Ja die Partnerfrausternmannsperson kann doch gleich viel heimbringen wenn es schon keine freien Scheisskrippenplätze nirgends gibt und gleich viel auf diese Rinder aufpassen und sie füttern und dann … ja wo ist sie denn diese Partnersternmannpersonfrau wo ist die denn?? flüstert. Nicht mehr da? Was? bisschen lauter. Nicht mehr da Was? Ich hör dich nicht! NICHT MEHR DA! NICHT SCHON WIEDER! DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN! Ja ich weiss … das war einfach zu viel Druck der Job die Rinder und dann wusste der Partnerfrau­ sternmann plötzlich nicht mehr ob er die über­ haupt gehabt haben wollte äh haben gewollt hatte nein wie sagt man? Ob er nicht lieber gehabt gewollt haben hätte will noch bisschen sich austoben und nicht in so jungen Jahren schon so viel Verantwortung und wo bleib ich denn da was ist mit mir fragte sich der Partnermannfraustern und also geht er und sie also die Frau sie dachte das ist nur eine Phase ja als liebendes grossmütiges Gegenüber gönne ich ihm diese Phase dachte sie die braucht er um zu wachsen ist ja keiner einfach fertig auf die Welt gekommen es ist gut wenn er tut was er braucht und sie war überzeugt ja sie wusste er kommt zurück und bis dahin okay ... alleinerziehend werd ich schaffen Er kommt zurück? Ja Okay cool das klingt cool Ja sie weiss dass er zurückkommen wird Ja!? Weil das wirklich Liebe ist Okay … Sie wartet auf ihn Tag und Nacht und Tag und Nacht wartet sie Tag und Nacht schaut sie aus dem Fenster und wartet dass Dass Dass was passiert! Ja! Irgendwas! Ein Zeichen des Himmels des Schicksals des … weil diese Liebe ist

Diese Liebe ist Wäre könnte Hätte Gross gewesen sein werden können äh? Und wenn er zurückkommen würde dann wird sie die Grösse gehabt haben … werden Nein Ich mein sie wird die Grösse gehabt haben … nein wie sagt man … sie wird die Grösse geworden haben … sie wird die Grösse Sein? Die Grösse SEIN sehr gut ja Sie wird die Grösse in Person sein das Leid angenommen haben und vergessen und verzeihen ja sie wird sagen ich verzeihe dir wenn er zurückkommt sagt sie ich verzeihe dir weil Weil? Weil ich dich liebe Nein ne? Nein Ich habs probiert Ja Ich hab‘s wirklich probiert Ja ich weiss war auch ein guter Ansatz Ja? Ja Aber sie wartet nicht und stützt und wartet und stützt und wartet und sonst nichts Nein hier wird nicht gewartet das hier hat gar nichts mit Warten zu tun Nein sonst wär sie ja noch hier Genau Festgewachsen auf dem Sofa auf dem Teppich kleben geblieben ja sich selbst als Teppich in die Wohnung gelegt Teil des Mobiliars eins geworden mit der Ausstattung zusammengewachsen in die Wände hineindiffundiert verschwunden im Dekor im Nein Nein Es muss doch hier was Ja Es muss wirklich was Ja es muss jetzt einfach WIRKLICH Es muss doch hier irgendwelche Spuren geben Ja Hinweise Überreste Anfänge Beweise! Ja! Für etwas anderes! Sie beginnen mit sehr viel Energie die Wohnung zu durchsuchen. Wie man sich Diebe äh DiebINNEN vorstellt, die dringend was suchen in einer fremden Wohnung. Sie schauen Bücher durch, auch Kochbücher, Fotoalben, alles. Unterm Sofa. Im Geschirrschrank. Im … da muss doch was sein! Je länger sie suchen, desto gröber, aggressiver, wütender werden sie. Sodass man sich irgendwann nicht mehr sicher sein kann, ob es noch ums Suchen geht, oder ob die Chaosmachwut überhand­ genommen hat.


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E Eine Frau. Die Frau:  Eine Frau sitzt am Fenster und schaut auf die Strasse ihre Iris sucht nach Farben die sie reflektieren kann und sie sieht einen grossen grünen Rucksack links die Strasse runtergehen auf dem in sich gekehrten Rücken einer zierlichen Frau zielstrebig und energiegeladen die Strasse runtergehen um sie bleibt an der Busstation stehen und wenig später eine zweite Frau auch sie trägt einen grossen Rucksack stolz und entschieden und rot auf ihrem Rücken sie stellt sich neben die andere Rucksackfrau der Nachmittagsbus kommt die Rucksackschwestern steigen ein und verschwinden sie kennen sich nicht denkt die Frau am Fenster und sehen doch so aus als würden sie zur selben Geschichte gehören

F Die Frau mit den Schuhen:  Jetzt rennt die Frau die Treppe runter und lässt vor Aufregung die Wohnungstür offen macht ja nichts bin eh gleich zurück Ich renne über die Strasse zu den Schuhen ich nehme die Schuhe in die Hand meine Grösse das muss ein Zeichen sein ich schau mich um niemand beachtet mich alle im Strom ich schaue in die umliegenden Fenster niemand leere Fenstergesichter niemand niemand niemand alle auf Arbeit oder mit Kinderwägen auf Arbeit meine Augen wandern über das Klingelschild welcher Name passt zu einer Frau die ihre Schuhe weitergibt und Müller? Kalil? Göksu? Lopez? Czerwonatis? oder leer? ein Klingelschild ist leer kein Name mehr nur ein Viertelbuchstabe klebt noch seitlich unter dem Plexiglas was? ich klingle überall will fragen haben Sie die Schuhe sind das Ihre Schuhe warum haben Sie die Schuhe ich hab auch einmal Schuhe wir haben etwas gemeinsam und da könnte man doch ja auf jeden Fall irgendwie mehr als

niemand macht auf niemand von keinem der 7 Stockwerke ich klingle noch einmal ein letztes Mal ich warte und warte und warte und hoffe aber nichts nichts Möglicherweise übernimmt hier eine andere Frau, weil es kann sein, dass die Fäden sich hier anfangen zu verbinden, zu vermengen, eins zu werden. und so geht die Frau mit den Schuhen langsam über die Strasse zurück  auf dem Gehsteig bleibt sie ein letztes Mal stehen dreht sich um und wird beinahe von einer Frau mit einem grossen blauen Rucksack angerempelt die eilig Richtung Busstation Entschuldigung das tut mir leid! ruft sie und lächelt sie lächelt das ist gut sie dreht sich ein allerletztes Mal um und sucht die Fenster der umliegenden Häuser ab irgendein Gesicht irgendein Zeichen dass sie auf dem richtigen Weg und da sieht sie im Haus schräg gegenüber zwei Frauen am Fenster na also.

G Zwei Frauen sitzen in einer Wohnung. Sie essen Joghurt aus einem grossen Becher. Um sie herum ein grosses Chaos. Die ganze Wohnung ausgeräumt und durcheinandergebracht. Teller und Jeans und Shampoos und Bücher und ja von mir aus auch Schminksachen und so Krams, all das Zeug halt, was man so hat in so einem Leben. Eine dritte Frau kommt vorsichtig rein, sie trägt weisse Schuhe. Sie sieht sich um, erschrickt, als sie die zwei Frauen mit dem Joghurt sieht. Die erschrecken auch. Es kann auch sein, dass die dritte Frau schon die ganze Zeit da war, so in den Kulissen irgendwo versteckt. Verschwunden im Dekor, von einem anderen Stück übriggeblieben, so was. Kann sein, ist aber auf jeden Fall jetzt nicht mehr. Hallo Was Was Macht ihr hier? Wir Wohnt ihr hier? Wir Nein Und du? Nein Die die Tür war offen Ja

Und da dachte ich Ja Ich schaue mal Ja Ob da alles in Ordnung Ja ob da vielleicht was nicht stimmt Ja Ich mein Einfach so die Türen offen Unten und oben Das ist ja nicht Sperrangelweit offen Ja Wie eine Einladung Normal Nein Gut Was? Und wo ist sie? Wer? Die Frau die hier wohnt! Sie scheint irgendwie Weg Ja Verschwunden Einfach so Puff! Wie meinst du das? Was meint ihr hat sie ihren Mann umgebracht und musste abhauen? Du meinst sie hat jemanden umgebracht Ja zum Beispiel ihren Mann! Sie hat ihren Mann umgebracht? Hat sie einen Mann? Rache halt Das könnte sein! Meinst du? Ich weiss nicht Das könnte wirklich sein! Ja das wäre durchaus Sicher? Möglich Womit Wie WOMIT? Küchenmesser? Mhm Hammer? Ne find ich nicht so angenehm Oder mit einer Axt! Besser Ja das ist besser! Axt? Okay! Moment! Was Was WAS? Was wenn die Leiche noch in der Wohnung ist? Alle: Scheisse und Schiss. Flüstern plötzlich, als hätten die Wände Ohren und wären Leichen noch wach. Meinst du Die ist Noch in der Wohnung? Ach du Scheisse

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War schon jemand im Bad? Ach du Scheisse Jetzt nicht hysterisch werden Ich bin nicht hysterisch Sonst heisst es wieder die hysterischen Frauen zack Kleber drauf Gefahr gebannt weil pathologisiert ICH WEISS ABER WAS MACHEN WIR DENN JETZT? Siehst du jetzt bist du hysterisch Ich bin nicht hysterisch ich hab einfach Angst. Uh, das ist jetzt aber wirklich ein wichtiger Satz, auch wenn der hier so schnell dazwischen schiesst. Okay gut Psst Okay Und jetzt? Komm wir gehen nachschauen Ich weiss nicht Wieso nicht? Ich hab ehrlich gesagt nicht so Lust eine schleimige Männerleiche zu finden jetzt hier Sie reden wieder normal. Stimmt Ich auch nicht Ich glaub sowieso nicht dass sie ihn umgebracht hat Eh nicht Du hast recht Würde auch keinen Sinn machen Warum auch? Würde ja jetzt auch nicht wirklich was ändern oder? Nein Aber es könnte sein theoretisch könnte es sein das find ich schon noch wichtig Nein das macht keinen Sinn WIESO NICHT!? Das ist ein Stück für Frauen! Endlich mal ein brauchbares Argument! Danke Eben Ein MODERNES Stück für Frauen! Naja aber ein Mann als Leiche könnte ja schon noch vorkommen in einem modernen Stück für Frauen das dürfte er schon oder? Nein ich denke nicht Vielleicht sollten wir wirklich einfach die Polizei rufen das Nein! Keine! Polizei! WAS HAST DU DENN DIE GANZE ZEIT GEGEN DIE POLIZEI??? Das ist ein modernes Stück für Frauen und wenn irgendwas darin nicht vorkommt dann die Polizei! Aber was wenn was Schlimmes Wir sind mehr als die Hälfte der Menschheit wir werden uns ja wohl selbst zu helfen wissen OK, DER SITZT. GEIL.

H Eine Frau tritt auf. Am besten in einem Anti-PastellKostüm, was richtig mega viel Platz braucht; eben so BÄM macht nicht so ähm ich bin auch noch hier und

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sehe hübsch aus. Zum Beispiel so ein Fleischkostüm, wie es Lady Gaga hatte. Das wär geil. Kann auch was anderes sein. Es darf aber nicht lächerlich sein. Sie soll endlich ernstgenommen werden müssen. Weisst du in diesem Theaterstück2 da wurde mal gesagt das Leben ist keine Dauerekstase sondern vielleicht eine mittelmässige Grillparty man hat sich Mühe gegeben und so es gibt Würste und Salate (zum Beispiel in der Schweiz) und klar war das irgendwie ironisch und alle haben gekichert hihi weil das so ein hübsches Bild ist aber weisst du mich hat der Satz so unendlich traurig gemacht so unfassbar unendlich traurig und in meiner Kehle und in meinem Herzraum ist es so ganz eng geworden und in meinem Kopf hämmerte es nein nein nein wie mit einer Axt auf Metall nein nein nein das darf darf darf nicht sein so werden so bleiben nicht bei mir und weisst du dann schau ich auf die Bruchstücke die mein Leben ausmachen und die man erzählen würde wenn man ein Buch über mich schriebe die herausragenden Glitzerpunkte und die die ganz tief tauchen ins Dunkel hinab wo man auch mal in die Schwärze einer Seele reinschauen kann weil das braucht man ja auch in so einem guten Buch äh Stück äh Leben einer ganz normalen Person wie du und ich weil man dann sagen kann jaja es ist ein Auf und Ab und ohne tiefen Fall gibts kein grosses Glück sonst schätzt man das ja nicht das Glück wenn das dann mal endlich um die Ecke gebogen werden wird und alle sind erleichtert weil es irgendwie eine strukturelle Erklärung gibt die irgendwie Sinn macht warums nicht so läuft wie man eigentlich will dass es läuft (ja auch in der Schweiz) und dann denk ich könnte auch ganz anders sein könnte eigentlich auch ganz anders sein diese Bruchstücke die mein Leben heissen könnten ganz andere sein und immer wieder andere sein die wieder andere Geschichten erzählen jeden Tag jedes Jahr jede Zeit des Jahres jedesmal wenn der Tag zur Nacht wird und es blau wird und alles möglich wird in der ruhigen tiefen Tiefe dieses Blaus weil weisst du auch wenn der Grill nie so wirklich in weiblichen oder weiblich genannten Händen war und schon gar nicht die Grillzange oder zumindest nicht offiziell sondern ihre Hände und damit ihr Sein (ihre Hände waren ja sehr lange sehr viel von ihrem Sein) bisher eher den Salaten zugeordnet wurden also der Beilage später dann Fitnessteller genannt trotzdem ist das Leben als netter Abend am Grill 2  Das hat René Pollesch gesagt in „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“, aber ohne Schweiz und ohne Würste, an die ich dabei allerdings sofort denken musste und um die es hier hauptsächlich geht, also die veralteten Würste auf den veralteten Schweizer Grills.

das GEGENTEIL von allem was ich mir wünsche für mein Leben und wenn überhaupt hätten wir gesagt haben müssen das Leben ist keine Salatparty oder keine Salatküche wobei das wieder so nach vergangenen Zeiten klingt so nach äh 10er bis 80er und ja leider muss man da ganze Jahrzehnte zusammenfassen und in einen Topf werfen weil das alles so saulangsam vor sich ging all das ich sag nur FRAUENSTIMMRECHTS­ EINFÜHRUNGSEXTREMVERSPÄTUNG ich sag nur Rang 20 auf der internationalen Gleichstellungshitlist (ja die Schweiz) Nein mein Leben ist keine Salatbar und nein ich spiele heute keinen Salat nein bitte nicht ich bitte dich gib mir ein anderes Kostüm mach dir ein anderes Kostüm ich nehme das ANDERE KOSTÜM ALLE ANDEREN KOSTÜME weil ich hab jetzt vorerst mal nichts mehr mit Gemüse oder zuckersüssem Nachtisch ohne Zucker zu tun in so einem Stück äh Buch äh Leben (ausser es ist bei Sofia Coppola aber das ist ein anderes Thema das ist eine aussergewöhnliche Aussergewöhnlichkeitsausnahme) und zwar weder als Beilage oder Deko noch als Hauptgericht das so tut als stünde es im Mittelpunkt weil es jetzt grösser ist und ein bisschen mehr in die Mitte des Tellers darf aber immer noch dasselbe grüne zuckerfreie Kackzeug ist NEIN ich bin das Hauptfleischstück das Herzstück die Niere das Hirn der Bauch und das Geschlechtsteil davon ICH BIN ROTES FLEISCH VON MIR AUS SOGAR WURST (ICH HASSE WURST ABER ICH BIN ZU KOMPROMISSEN BEREIT).

I Vier Frauen sitzen auf dem Boden einer Wohnung, in der alles durcheinander ist. Eine macht Tee in der Küche, fast ein bisschen so, als wäre es ihre eigene. Sehr ein­ geübte Handgriffe. Sie trinken Tee. Tee? Moment. Klischee. Ähm, sie trinken … mhm … doch, natürlich trinken sie Tee. Wenn sie Bock auf Tee haben, dann sollen sie Tee trinken! Oder Prosecco? Nein, das ist schlecht. Immer dieser scheiss Prosecco in allen Szenen, in denen wir vorkommen. BIER FÜR FRAUEN!!?? Nein, sie trinken, worauf sie grad Lust haben, und wenn es grad Tee ist, dann Tee. Punkt. Kann auch aus der privaten Flasche von der Schauspielerin sein. Weil wir meinen hier alle Ebenen. Sie sitzen mit ihren Getränken bei den Möbeln und es sieht ein bisschen aus wie ein Literatur-Zirkel, so Club der toten Dichter mässig, aber diesmal mit den Ladies. Club der toten äh verschwundenen Ladies. Sie wirken versöhnt und gemütlich. Sie haben jetzt vielleicht auch Brillen. So Intellektuellen-Brillen. Aber nicht lächerlich. Eher so: Wir sind Professorinnen. Natürlich sind wir das. Wir sind uns also einig dass es hier viele Möglich­ keiten gibt warum die Frau verschwunden ist Korrekt Und dass hier die Möglichkeit in Betracht zu ziehen möglich ist dass sie nicht gegangen ist weil sie durch die Geschichte einer anderen Person


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Zbsp eines Mannes Ja meistens eines Mannes Bisher meistens eines Mannes Dass sie nicht durch die Handlungen einer anderen Person zbsp eines Mannes dazu gezwungen wurde diese Wohnung hier zu verlassen Nein Sondern Sondern dass sie Dass sie gegangen ist weil sie gehen wollte Ja Gut Sehr gut Sie ist gegangen weil Weil? Weil Braucht sie einen Grund? Eigentlich nicht Fürs Publikum wärs vielleicht ganz gut Okay sie ist gegangen weil sie Weil sie hier nicht alleine versauern wollte Versauern?? Wie meinst du das? Du meinst sie war alleine? Sieht schon nach einer Singlewohnung aus Und Single ist Naja Was Naja Naja also Was? Naja nicht gerade meine Idealvorstellung alt und einsam Gleichzeitig. Alt wieso alt? Einsam wieso einsam? Denkst du nicht sie ist alt? Sie ist alt? Wie „alt“? Natürlich ist sie alt Was heisst alt? Ich glaube nicht dass sie alt ist Ich glaube es ist egal Es ist egal? Also mir ist es egal Ja das spielt doch keine Rolle ob die alt oder jung ist das geht hier doch ums Prinzip! Ja aber um das Prinzip noch etwas deutlicher und unmissverständlicher zu machen wäre es denk ich besser wenn sie jung ist Wieso denn? Aber nicht zu jung WIESO? Naja jedenfalls nicht sodass hinterher alle sagen können die weiss halt noch nichts vom Leben die ist naiv die wird schon noch auf die Nase fallen und sehen wies wirklich ist das Leben wir waren früher auch idealistisch und so weiter Stimmt der Naivitätsvorwurf muss hier ganz und gar ausgeschlossen werden können das ist sehr wichtig Oder überhaupt mal abgeschafft Okay sie ist also alt Ja aber nicht ZU alt weil wenn sie zu alt ist dann sagen alle hinterher die ist halt alt und frustriert

und hat im falschen Moment die richtigen Abzweigungen verpasst und das werde ich nie und das hat ganz und gar nichts mit mir zu tun und dann identifizieren sie sich nicht mit ihr und Ausserdem ist eine alte Frau in vielen Fällen arm und das ist schlecht Ausser sie hätte einen megareichen Mann geheiratet! Aber das wollen wir nicht wir gehen hier von einer unabhängigen alten Frau aus und wenn die alt ist ist sie wahrscheinlich arm weil scheiss Rente Vor allem wenn sie mal irgendwann zwischendurch nicht gearbeitet haben sollte Warum sollte sie zwischendurch nicht gearbeitet haben? Weil sie Kinder aufgezogen hat zum Beispiel was ja auch arbeiten ist aber nicht auf dem Papier Rinder sie meint Rinder Böse Blicke. Also wie alt ist die denn diese Frau die niemand kennt mit der sich aber alle identifizieren können? Sagen wir Mitteltalt Mittelalt? So wie ich Mhm ich weiss nicht WIESO NICHT Die kommen nicht so oft vor in Stücken und Filmen und so da gibts immer keine guten Rollen und Eben Besser ganz alt oder ganz jung dazwischen ist schwierig Eben! Die Mittelalten die kommen nicht so richtig vor die verschwinden dann immer von den Bildflächen Die verschwinden dann ins ins ins Mittelalter Sagen wir also sie ist mittelalt Ja Unbedingt Sehr gut Wie ich Ja wie du Zum Beispiel Sonst käm ich ja hier gar nicht vor also ich wär schon weg und würde dann erst später wieder auftreten wenn ich so richtig alt bin so dermassen alt dass wieder alle Respekt vor meinem hohen Alter haben können und so toll finden dass ich immer noch auf der Bühne stehe und ich Geschichten von früher erzählen kann zum Beispiel wie ich mit Brecht gearbeitet hab und dann sag ich immer allen dass die Arbeit mit Brecht schon sehr toll war er aber als Mensch leider ein Macho war und sehr oft sehr gestunken hat. Sie kichern. Bonding. Okay also mittelalt aber nicht einsam Einsam? Wieso einsam? Woher kommt denn jetzt immer dieser Einsamkeitsgedanke?

Naja du hast gesagt Singlewohnung Eine Singlefrau ist doch nicht automatisch einsam? Alleine ist doch nicht dasselbe wie einsam!? Naja also ich fühl mich schon immer so versagerinuncooluninteressantmässig wenn ich nichts Interessantes aus meinem Liebesleben erzählen kann oder nicht zumindest von einem schäbigen Onenightstand Oder ich nicht zumindest noch in der akzeptierten NacheinemBeziehungsschlamasselErholungsZeitphase bin wo es gilt zu sagen ich brauch ein bisschen Zeit für mich Und dann nach aussen so ein Versageringesamteindruck von mir entsteht weil die Gefahr um mich herum schwebt dass ich die einzige wirkliche Aufgabe die ich im Leben habe nämlich einen Mann zu finden der mich gut genug findet um mit ihm auf dem Sofa zu sitzen vielleicht doch nicht erfüllen werden kann und das hat man bei mir ja wirklich nicht erwartet Ist bestimmt nur eine Phase das Alleinsein Ausser du bist sehr alt und dir ist jemand weggestorben dann ist ok Aber vorher Nur eine Phase Ja klar Nur eine Phase Wirklich Nur eine Phase Das darf Nur eine Phase! Das wissen alle Eine Phase Inklusive dir Wird dir zugestanden Falls die letzte Geschichte krass war Die war krass! Die war wirklich krass! Ja Das wird dir zugestanden von allen inklusive dir Dass du dich jetzt mal kurz erholen musst davon mal bisschen allein sein damit der Schmerz schneller vorbeigeht und du den Schwindel wegmeditieren kannst der dich jedes Mal anfällt wenn du vom Sofa aufstehst Ja ich muss erstmal in dieses Meditationsretreat und den Schwindel wegmeditieren und den Schmerz verarbeiten Damit ich dann möglichst schnell wieder frisch bin Und ich mich wieder dem widmen kann worum es eigentlich geht Nämlich mit jemandem ZUSAMMEN auf einem Sofa zu sitzen und ZUSAMMEN EIN INTERNET­ ABO ZU LÖSEN WEIL DAS BILLIGER IST WEIL ZU ZWEIT IST IMMER SCHÖNER ALS ALLEIN Ja das zählt Als Phase zählt das Als Vorbereitungsphase auf das nächste Sofasitzen zählt kurzzeitige Alleinsein Damit dir nicht jedes Mal vom letzten Sofasitzen schwindlig wird wenn du mal kurz vom neuen Sofasitzen aufstehen solltest um eine Pizza zu holen fürs Sofasitzen Aber dann schmeisst du dich gefälligst wieder drauf Auf den Barhocker Auf den Heiratsmarkt Auf den Rinderbasar

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Auf! Das! Sofa! Live Oder im Internet Weil eine Frau die ALLEINE LEBT Also nein Länger denn als Phase Nein Das ist nicht Nein Also das ist doch Nein Nein Also da stimmt doch was nicht Nein also die ist doch nicht ganz Normal Nicht ganz Ganz Nein Und falls das dann dauert Was? Das dauert? Ja unter Umständen dauert das Weil? Weil vielleicht einfach grad mal niemand Interessantes um die Ecke gebogen kommt den du aufs Sofa legen willst! Vor allem in diesen mittelgrossen Städten nicht die gern grösser wären als sie sind aber eben nicht gross genug sind um einen grösseren Horizont am Himmel zu sehen Und dann sagen die Stimmen in den mittelgrossen Städten die gern grösser wären als sie sind aber eben nicht gross genug um einen grösseren Horizont am Himmel zu sehen: kommt bestimmt bald jemand PAUSE Gutes und schauen dich mit so grossen mitleidigen Augen an Jemand PAUSE Gutes? Was heisst denn bitte jemand PAUSE Gutes? Als ob ich entdeckt werden müsste von „jemand PAUSE Gutem“, der aber auf jeden Fall hinter der nächsten Ecke lauert und sich dann meiner erbarmt und sagt doch die nehm ich auf mein Sofa auch wenn die schon ein bisschen ramponiert ist weil sie eine Zeitlang Also ein paar Monate Also ziemlich lange SCHLIMME PAUSE alleine ALARM war Längere unangenehme Pause. Du musst nur warten sagen sie dann die Stimmen in den mittelgrossen Städten die gern grösser wären als sie sind aber eben nicht gross genug und so weiter du musst einfach warten einfach allzeit bereit sein und wenn du noch nicht bereit bist vielleicht doch nochmal Meditieren gehen dich öffnen damit du allzeit bereit bist die Kurve zu kratzen und dein angemessenes Schicksal

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EMPFANGEN kannst Und alles dazwischen ist eine Dazwischenzeit eine Zeit die möglichst schnell vorbeigehen muss damit du nicht weiter zwischen Stühle und Bänke fällst und aus der Welt herausgeschnitten wirst in der du nicht vorkommen kannst ohne Sofasein länger denn als Phase Bei Hochzeiten zum Beispiel da kann man ja nicht alleine hingehen ohne wie ein Alien behandelt zu werden Und niemand will ein Alien auf seiner Hochzeit Nicht? Wieso nicht? Und also sagen sie wieder die Stimmen mit diesen grossen Hundeaugen vielleicht gibt es ja bis dahin jemanden Pause GUTES Den du mitbringen kannst ist ja nur eine Pause PHASE längere Pause GELL? Und wenn nicht PAUSE und laaaanger SEUFZER Ist natürlich Zu lange Pause! Auch nicht so schlimm GELL!? sehr eindringlicher Blick IST JA NUR EINE PHASE AUSRUFEZEICHEN AUSRUFEZEICHEN AUSRUFEZEICHEN Eine ziemlich lange Phase ist das jetzt schon meine Liebe Sagen jetzt auch schon deine Kollegen Und deine Mutter Und der Vater sagt du ich bin ja jetzt pensioniert hätte jetzt Zeit und auch wirklich Lust auf Enkelkinder und schaut dabei so traurig mit seinen Hundeaugen als wäre es deine Aufgabe ihm jetzt neue Freude in sein Leben hinein zu empfangen Was ist denn da los? Vielleicht musst du doch mal eine Therapie machen? Weisst du als ich die heimliche Geliebte von diesem verheirateten Mann war den alle kannten das war zwar scheisse aber Wieso aber? Naja also es war einfach Scheisse Kann man sich ja vorstellen dass das nicht gerade die SCHEISSE WAR DAS

Erfüllung all meiner Bedürfnisse war War scheisse und Punkt. Ja war scheisse aber weisst du ja klar es war hart und das war allen klar dass das nicht gut rauskommt aber immerhin WAR DA WAS LOS und man konnte die ganze Zeit über was reden also ich auch ich konnte die ganze Zeit über was reden was geheimnisvoll war weil ich ja die heimliche Geliebte war alle wollten immer alles wissen ja das machte mich interessant und geheimnisvoll und ich musste mich nicht erklär Es klingelt. Sie schrecken auf. Wer ist das? Keine Ahnung Scheisse! Wir müssen uns verstecken Was Wieso Was wenn das Die Polizei! Jetzt nicht hysteri Böser Blick. Ich mein keine Angst wir kriegen das problemlos hin Sehr gut Eine geht zum Fenster. Was machst du? Vielleicht sieht man wer da Aber pass auf! Sie linst raus. Und? Ich seh nichts Es klingelt wieder. Wer ist das denn!!? Psst! Kommt mal! Zweite geht schauen. Sieht was auf der anderen Strassenseite. Schau mal da drüben Was Die Frauen mit den Rucksäcken Dritte kommt schauen. Wo? Da diese drei Frauen mit ihren Rucksäcken wie die da so zielstrebig Vierte kommt hinzu. Es klingelt noch einmal. Warum klingelt das denn die ganze Zeit! Ist doch egal! Wir sind jedenfalls nicht mehr da! Stimmt. Sie warten kurz, entspannen sich dann. Alle zurück zum Tee. So ein Blödsinn Das ist doch totaler Blödsinn Absoluter Blödsinn. Das ist nicht geheimnisvoll das ist einfach nur Blödsinn.


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Wir befinden uns sowieso schon längst in den Möglichkeitssphären wo das vorbei ist das mit dem Geliebte vom und Beigemüse des und Grünzeug bei und Deko in der Midlifecrisis von Wo der allfällige Schmerz schon herausmeditiert worden ist auf Griechenland Wirklich Blödsinn Griechenland? Ja oder so irgendwo weit weg halt wo deine Trauer niemanden stört Ganz grosser Blödsinn Und Griechenland ist ja geübt im Trauern im Trauern mit Frauern äh Frauen Mit trauernden Frauen die wie Fliegen die Häuser einnehmen wo die Männer wegbleiben weil sie sich irgendwo die Köpfe einschlugen oder ihre Deckel auf Töpfe legen musst Oder weil sie von den Frauen mit Äxten geschlachtet wurden Wie die Rinder Was? Wer? Es reicht mit dem Blödsinn Was ich sagen will: Wenn deine Alleinseinwollenphase nach dem Schmerzverarbeitungsprogramm in Griechenland weiter andauert also mehr als ein paar Monate Zum Beispiel weil du‘s grad richtig geil findest Ja zum Beispiel weil ich es grad einfach richtig geil finde dass ich mal unabhängig von einer anderen Sofaperson meine Entscheidungen fällen kann auf meinem eigenen Sofa Zum Beispiel ja Dann hörst du in der mittelgrossen Stadt die gern grösser wär als sie ist aber nicht gross genug um Ja!? Also ich versteh das wirklich nicht du hast doch jetzt eine Therapie gemacht und siehst doch auch gut aus und bist auch sonst Pause Was? Interessant Aha? Du bist doch ein toller Pause WAS? Fang Ich schaue böse und Auch in deinem Alter noch! Weisst du und dann bin ich einfach weggegangen und hab mich danach aufgeregt dass ich einfach gegangen bin und mich nicht hingestellt hab und mutig war so wie ich es von mir eigentlich verlange und gesagt haben würde Wenn schon bin ich die Fischerin Genau WENN SCHON BIN ICH DIE FISCHERIN Ja die Fischerin die Wenn sie Lust hat! Die gesetzt den Fall sie hat Lust einem anderen Fischerstern sagen wir begegnet Sehr gut Als Ebenbürtige begegnet Sehr gut Und gemeinsam fischen wir dann im Leben und

julia haenni_frau verschwindet (versionen)

suchen raus was uns gefällt Und den Rest verkaufen wir für wenig Geld Von dem wir leben Wie und wo immer wir wollen Aber es kann genauso gut sein Dass der gesetzte Fall sich nicht setzt Und ich das vielleicht auch einfach mal nicht möchte dass der sich setzt Gerade mal für eine Phase oder auch eine längere als eine Phase-Zeit Weil ich mal eine Phase-Zeit in Ruhe alleine fischen mag Ja weil ich da am See sitzen und ins blaue Blau hinausschauen will vielleicht ganz lange solange bis ich mal in Ruhe überlegt hab wonach ich überhaupt fischen mag und mit welcher Methode und in welchen Abständen und bei welchen Tagesund Jahreszeiten und mit wie viel Körpereinsatz Ja bis ich erstmal für mich definiert hab bis wo meine Fischereizone überhaupt reicht Ja nur ich und mein Seebereich und ein paar Zigaretten So lange bis mein Ich nichts mehr hauptwesenstechnisch mit Netzen zu tun hat Und was frag ich Was wenn es mir da am blauen blauen Wasser mit mir selbst so gut gefällt Was wenn es mir von mir selbst und all dem was ich noch sein werden kann in meinem ganzen Körper anfängt zu kribbeln wie der Frühling wie beim Verliebtsein Was wenn es in mir blüht und blüht und blüht Und ich wachse und dufte und bin wie ein ewiger Frühlingsflieder? Was dann? Sie schweigen eine Weile, die Frauen, weil das so schön ist. Dann wird die Geschichte weitererzählt.

Die Frau am Fenster wacht auf sie wacht auf und denkt sich wenn ich heute sterben müsste das wäre schlecht Stell dir vor denkt sie stell dir vor du musst jetzt sterben du realisierst das ist jetzt dieser Moment das wars jetzt eine neue Phase beginnt und du musst alles was war hinter dir lassen loslassen und leicht werden und du weisst egal wer jetzt noch um dich rum ist und dir vielleicht die Hand hält oder eine Strähne aus dem Gesicht streicht wenn du Glück hast wie man sagt egal weil du weisst dass was als Nächstes kommt das musst du alleine machen ganz alleine nur du und also gehst du suchend in dich tauchst in dich hinab um deine Unterstützung zu suchen in dir drin eine Stimme die sagt ich trage dich wir machen das zusammen wir kriegen das hin und jetzt stell dir vor da ist niemand in dir nichts nur gähnende schwarze Lochleere nur überall verkümmerte Teile deines eigenen Ichs eine kaputte Freundin eine kranke Tochter eine längst verstorbene Mutter alle schwach und leergesaugt und zu keiner Hilfe mehr fähig weil du dich dein ganzes Leben lang nie um sie gekümmert hast weil du die ganze Zeit nur rundherum geholfen hast genährt gefüttert geschützt geschaukelt gestreichelt gestützt gegeben gegeben gegeben gegeben Und jetzt merkst du jetzt in dieser schweren Stunde du hast dich davon abhalten lassen dich erstmal und auch um deine eigenen Figuren zu kümmern in deiner Geschichte in deinem Theater da in dir drin dein eigenes Ensemble zu versorgen zu nähren dass sie sich in die Blüten ihres Seins hinaufstrahlen können auf der Bühne deines Ichs um die Wette leuchten jetzt am Ende deiner Geschichte auf dieser letzten angstvollen Seite deines Romans wo du deine Figuren so sehr bräuchtest merkst du nein die Bühne bleibt leer und du rufst nach den Spielerinnen rufst nach Hilfe in deinem Theater Bitte kann jemand die Bühne betreten! Irgend­ jemand! Ich brauch Hilfe von mir selbst! Hallo? Hallo? Kann ein gestärktes blühendes sich selbst liebendes weibliches Ich die Bühne betreten? Bitte! Ein Ich mit Kraft das uns alle jetzt an die Hand nimmt keine Angst und uns selbständig und heldinnenhaft aus dem Dunkel ans neue Licht führt Bitte!! Hallo?

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stück

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HALLO?

K

und du schreist und bettelst in dein Theater hinab aber da ist niemand mehr alle aufgegeben verkümmert vor die Hunde gegangen nur Stille eine leere stille Geisterkantine

Eine Frau:  Eines Morgens wachte die Frau Wie nach einem langen langen verworrenen Traum auf Und sie schaute sich um in dieser Wohnung die die ihre genannt wurde Und sie begann in aller Ruhe zu lesen Sie las alle Ritzen und Zeichnungen der Wände und Böden und Türen und Decken Sass einfach nur da und schaute sich die Veräusserung ihres Ichs an All ihre Dinge, ihre Möbel, ihre Bücher, ihr Geschirr, ihre Kleider Die Fasern, die Falten, die Härchen, den Staub Irgendwann wechselt sie zu den Fenstern Sie sitzt am Fenster und schaut in die Welt Sie schaut Morgen und Mittag und Abend an Wie die Menschen vorbeiziehen Wie sich der Himmel verändert über den Tag die Farben Wie alles sich stetig verändert Und dann wendet sie sich sich selbst zu und liest all ihre Fasern und Falten und Ritzen und Zeichnungen die Härchen den Staub ihrer Wände und Böden und Türen und Fenster Sie liest alle Fasern und Falten und Ritzen und Zeichnungen und Härchen und den Staub ihrer Wände und Böden und Türen und Fenster Und dann denkt sie klar und einfach Ich will alleine sein Ja Alleine den Kaffee am Morgen trinken lesen Musik hören und nackt in meiner Wohnung tanzen Ich will alleine das Weinen geniessen die Nudelsuppe das Masturbieren Theater Museum Kino Essen Baden Reisen Masturbieren alleine Situationen nochmal durchgehen Entscheidungen treffen Ideen kommen hören Worte sagen schreiben studieren nachforschen gründen gestalten bauen finden wandern wohnen meditieren schlafen masturbieren das hast du schon mehrmals gesagt ich weiss aber das ist sehr wichtig3

und sonst nichts nichts nichts nichts

J Einige Frauen schieben in einer Wohnung alle Möbel und sonstige Sachen auf einen Haufen. Wie in diesem Film Die fetten Jahre sind vorbei. So dass Platz entsteht. Sie sind wütend. Auch auf sich selbst. Dann zünden sie den Haufen an und jubeln und schreien und tanzen. Ja, erinnert an Hexen. Moment, was, stopp, Hexen? Nein, nein, nein, das ist schlecht. Das sind dann wieder die durchgeknallten Frauen, obwohl sie das ja nicht waren, die Hexen … ahhhh … kompliziert. Es soll schon bedrohlich wirken. Aber sobald Frauen bedrohlich wirken, werden sie krank … geschrieben. Und wir brauchen sie ja noch! Und wie! Vor allem jetzt, wo sie so klar sind wie nie und so viel sein können! Ja, sie stehen einfach da, schauen ins Feuer und wirken mit ihrer ganzen grossen natürlichen Kraft. Unnahbar, unlesbar, gefährlich. Das muss zu schaffen sein, ohne Irrungen und Wirrungen untergejubelt zu bekommen! Ja, sie schaffen es. Und dann gehen sie zusammen weg äh ab.

Ah, eine leere weisse Seite. Reines frisches Weiss. Ganz viel Platz. Für eine neue Skizze. So wie du willst. Du könntest sie zum Beispiel blau anmalen und hineinspringen. Oder Frühlingsblüten hinkleben zur Erinnerung. Oder oder oder.

3  Ich wollte jedes Mal ein anderes Wort verwenden, ein Synonym, also hab ich Synonym für Masturbation bei Google eingegeben. Es kamen SEHR viele Begriffe, die sich aber alle auf Penishabende beziehen: einen von der Palme wedeln, die Banane schwingen, Bananensaft pressen, das Weisse vom Ei trennen, den Dolch schärfen, den Speer wienern, den Tiger zähmen, die Kanone entladen, die Lanze verbiegen, den Lachs buttern, den Lurch würgen, Mütze Glatze Mütze Glatze Mütze Glatze, sich einen schleudern, pellen, kurbeln, schappen, scherbeln, schruppen. Dies ein kleines Best-of. Für die mit Vulva gefunden: 1. in sich gehen. Mhm naja. 2. den Finger in die Wunde halten/ fingern. Wie bitte??? Also verzweifelt weitergesucht. Nichts Brauchbares. Im Französischen sagt man, scheints, den kleinen Kobold zum Lächeln bringen. Das ist schön. Nur leider versteht dann wohl niemand, was gemeint ist. So als wär es besser, wenn niemand weiss, worüber man redet, weil darüber redet man nicht. Frauen tun es sowieso statistisch gesehen vieeel weniger als die Männer, resp sie

ich will mit meinem Körper überlegen wie viel Raum ich einnehmen will heute morgen übermorgen mich anziehen ausziehen anziehen ausziehen einfach für mich immer wieder den Sonnenuntergang anschauen von den Bergen herab und vom Land ins Blau des Meeres eintauchen und dort meine Bilder von mir skizzieren mit allen Fasern und Ritzen und Zeichnungen und Falten und Haaren aller ichs die ich bin sein und so zog sie ihre neuen Schuhe an die Frau packte ihren Rucksack öffnete die Tür ganz weit so weit wie nur irgend möglich und ging

L Eine Frau:  Die Frau war auf dem Nachhauseweg Sie hatte sich ihr Lieblingsjoghurt besorgt Und war dafür von Laden zu Laden gegangen Nirgends gab es das mehr Ihr Lieblingsvanillejoghurt Überall ausverkauft Wieso wusste niemand War grad wohl nur einfach grad irgendwie in Dieses eigentlich völlig normale Vanillejoghurt Irgendwie scheinen grad alle plötzlich auf dieses Vanillejoghurt abzufahren sagte der Student an der Kasse beim Supermarkt Auch in den arabischen und asiatischen Läden Grosses Kopfschütteln alles weg warum keine Ahnung sehr komisch gabs noch nie Also ging sie weiter und weiter an den Stadtrand und schliesslich durch den Wald weiter und weiter bis in das übernächste Dorf die ganze Nacht hindurch spazierte sie Und da fand sie es endlich Der Vanillejoghurtvirus schien noch nicht angekommen dort im Nachbarsnachbarsdorf Sie kaufte den grössten Becher und ging zu Fuss zurück in ihre Stadt ihre Strasse sehr zufrieden Sie dachte kurz absurd dass ich für ein Joghurt zwei Tage weg gewesen bin Aber es war ihr ihr persönlich ihr ganz allein nun mal sehr wichtig dieses Joghurt und sie mochte das Spazierengehen Ohnehin hatte sie überschüssige Energie gehabt vom vielen Rumsitzen Also war alles gut wie es war und sie schob den kritischen Gedanken beiseite und bog frischen Schrittes und noch mit Morgentau im Haar von Wald und Feld in ihre Strasse ein Und da sah sie plötzlich Im Haus gegenüber dem ihren Ganz viele Menschen Das Haus brannte Flammen tanzten fröhlich aus den Fenstern Sie blieb stehen betrachtete die Flammen so schön dachte sie die Kraft dieses Feuers und ihre Augen spiegelten das Rot sagen es nicht, weil darüber redet man nicht, sagt das Internetz. Hier redet man aber drüber. Lieber einmal zu viel als zu wenig. Müssen bisschen nachholen.


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Ich hab nicht mehr nachgedacht in dem Moment erzählte sie später und trotzdem alles ganz klar vor mir gesehen als hätte ich immer auf diesen Moment gewartet Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging davon ging einfach davon und wurde nie wieder gesehen

M Eine Frau betritt ihre Wohnung. Alles ist nieder­ gebrannt. Riesenchaos. Sie reagiert darauf aber nicht, so als wäre es vollkommen normal, dass Wohnungen ausgebrannt sind. Die Frau:  Der Text wurde nicht veröffentlicht, weil die Vorgesetzten ihn nicht für gut befanden sie sagten: das ist nicht professionell, zu emotional wobei sie nicht emotional sagten, sondern gefühlig Sie hatte aber gelernt zu filtern und neutralere Wörter einzusetzen immer wieder probierte sie neue Wörter aus zum Beispiel „Utopische Reportage“ aber es half nichts Das hat nichts mit der Realität zu tun sagte ihr Chef gar nichts und unsere Aufgabe ist die Realität das hier Eben dachte sie Aber es war als kämen sie aus zwei Welten oder hundert Welten und als sprächen sie von zwei unterschiedlichen hundert Welten er schickte sie nach Hause weil er „überlegen musste wies weitergeht für dich“ Sie sagte noch: das Magische aber er schüttelte nur den Kopf wie ein Vater enttäuscht von seiner Tochter weil sie unvernünftige Schuhe für einen falschen Anlass angezogen hatte Sie war sehr enttäuscht enttäuschter als sonst enttäuscht und in ihrem Magen stach es Sie betrat ihre Wohnung und dachte das ist meine Wohnung? Hier wohne ich? Das ist es? Und das Stechen im Magen verdoppelte sich

der das Grau verzaubert und erweitert wurde sie ruhig auch im Magen und ihre Gedanken klärten sich kläranlagenmässig wie beim Blick aufs Meer Und da liegt sie jetzt die Frau und lässt den Blick über die blauen Dinge in ihrem Zimmer schweifen alles Dinge, die sie zu derjenigen machen die sie ist Könnte auch ganz anders sein, dachte sie vom Schimmer verzaubert Morgens mittags abends heute morgen übermorgen immer wieder anders Denn wer sie war oder wonach es aussah was sie war all das war nur eine Folge von Entscheidungen die sie selbst getroffen hatte die für sie getroffen worden waren in Büchern vor ihrer Zeit Und da hörte sie wieder diese Stimme in sich drin die da sass wo der Magen stach Los Los Los Machen Machen Machen COME ON RE ACT DECIDE Und da stand sie auf und holte sich eine Schere und schnitt sich die Ohren ab wie dieser Maler der deswegen berühmt geworden war Aber sie schneidet sich beide Ohren ab ganz vorsichtig konsequent wohlbedacht fast liebevoll Und dann holt sie sich Leim und klebt sie sich auf den Rücken ihre Ohren Und so wurde ihr Körper ganz lebendig in dieser blauen Stunde der neuen Möglichkeiten und sie flog aus dem Zimmer hinaus in den Flur zur Haustür die offenstand sie dachte noch warum ist die Tür offen ich hatte die doch zugemacht hab ich die offengelassen wieso hab ich die offenge vergass vor Aufregung vor ruhiger klarer Aufregung den unwichtigen Gedanken aber sofort wieder und breitete ihre Flügel aus und flog flog lächelnd aus dem Haus hinaus in alle ihre Möglichkeiten die sie sein konnte

Alle wir alle sitzen am Fenster und lächeln die Welt rast an uns vorbei und tanzt neue Muster auf unsere Gesichter und die Kmh drücken uns in die Sessel wir rasen an der Welt vorbei und sehen die Menschen klein werden die Bäume die Städte alles nur noch Punkte Staubkörner in einem viel grösseren Bild Entschuldigung hören wir einige Punkte noch sagen Entschuldigung Hallo sie müssen HALLO? Murmel Murmel irgendwas all das aber wir hören sie hinter uns in unseren Rücken kaum mehr nur noch wie ein dumpfes Gewitter dem wir entkommen sind wir lächeln einander zu und schauen aus dem Fenster jede für sich alleine aber gemeinsam schauen wir aus unseren Fenstern und sehen aus dem Wolkenloch heraus diesen schimmernden Sonnenstrahl sich hinaushoch­ brechen diesen einzigen noch zarten goldenen Sonnenstrahl der hinter sich ein wenig Blau aufschimmern lässt zwischen den grauen Wolken endlich wir steigen auf und springen ins Blau hinein und verschwinden endlich.

Und in der Wohnung blieb die Zeit stehen still. So still, dass man die minikleinen Staubwölkchen durch die Luft huschen und sich langsam senken sah. Um mit der Zeit eine graue Fläche über alles zu legen. Bis alles aussah wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das man später einmal im Museum betrachten wird. Titel des Werks: Die fetten Jahre sind vorbei.

Alle Alle Alle

X Sie schob ihr Bett ans Fenster und legte sich hin die blaue Stunde nahte ihre Lieblingsstunde Wenn es blau ist, blau und ruhig und für einige Minuten am Tag ein Schimmer über allem liegt

Die Frauen vereint. Alle.

© Verlag der Autoren Frankfurt am Main, 2019

Die Frauen:  Und da draussen dann sieht sie die anderen

Ein Auftragswerk für das Konzert Theater Bern in Zusammenarbeit mit Stück Labor.

JULIA HAENNI & CO.

www.schlachthaus.ch

Rathausgasse 20/22 3011 Bern

Don Juan. Erschöpfte Männer DO 20.2. 20:00

FR 21.2. 20:00

SA 22.2. 20:00

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stück

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Die schreckliche Angst vor dem Alter Sarah Jane Moloney über ihr Stück „Sapphox“ im Gespräch mit Elisabeth Maier

lebte. Heute landen auf Lesbos Geflüchtete, die

Sarah Jane Moloney, im Zentrum des Stücks „Sapphox“ steht die berühmte Dichterin der Anti-

Sarah Jane Moloney ist Autorin, Regisseurin,

ihre Bootsfahrt über das Mittelmeer überlebt ha-

ke. Ihre Texte sind geprägt von erotischen Bil-

Dramaturgin und Übersetzerin. Nach einem

ben. Wie lassen sich diese so unterschiedlichen

dern. Sie hat die Liebe zwischen Frauen in ihrer

Literaturstudium in Lausanne machte sie

Epochen verbinden?

Literatur verarbeitet. Heute gerät sie immer

eine Ausbildung an der Royal Central School

Sappho hat mich als Dramenfigur fasziniert.

mehr in Vergessenheit. Wie kamen Sie dazu, ein

of Speech and Drama in London, die sie

Sie lebte im 6. Jahrhundert vor Christus auf

Stück über diese Literatin zu schreiben?

2013 mit dem Master in Advanced Theatre

Lesbos, schrieb dort ihre Texte. Ich hatte

Sapphos Werk habe ich an der Universität

Practice abschloss. Wieder zurück in der

2015 die Idee, ein Stück über sie zu schrei-

entdeckt. Da wurde ich auf Anne Carson

Schweiz, gründete sie die Company l’âge

ben. Da sah ich in den Medien immer wieder

aufmerksam, die viele altgriechische Texte ­

ingrat und schuf die Performances „Cun-

diese Bilder von Geflüchteten, die auf Lesbos

übersetzt hat. Sie hat Sapphos Poesie viel

tamination“ (Journées TacTacTac, 2015;

landeten. Dass ein Ort sich so vollkommen

dynamischer und packender ins Englische ­

Fête du Slip, 2016) und „alp­ traum/A“

verändern kann, ist wirklich interessant. Die

übertragen, als das in älteren Übersetzungen

­(Espace Emergency, Vevey, 2018), mit wel-

Insel Lesbos hat eine unglaubliche symboli-

der Fall ist. Mir war es sehr wichtig, im Stück in

cher sie 2016 das Halbfinale des Schwei-

sche Kraft. Jahrhundertelang war die Insel

vielen Passagen mit Originaltexten Sap­phos

zer Nachwuchspreises für Theater und

eine Geburtsstätte der Lyrik, ein Ort, eng mit

zu arbeiten. Auch die Pausen und das

Tanz Premio erreichte. Im vergangenen

der Mythologie verknüpft. In den siebziger

Schweigen, die sie mit Strichen markiert,

Jahr arbeitete Sarah Jane Moloney als

Jahren begaben sich Frauen auf Spurensu-

habe ich übernommen. Ihr Werk wurde von

Hausautorin und Dramaturgin am Theater

che nach Sapphos Erbe. Seit damals zog die

vielen instrumentalisiert, nicht allein von der

Poche/Gve in Genf und entwickelte dort

Insel lesbische Touristinnen an. Durch die

Frauenbewegung. Ihr wurden Dinge zuge-

ihr neues Stück „SapphoX“, welches am

Flüchtlingskrise wurde dieses Vermächtnis

schrieben, die sie nie gesagt hat. Mir ging es

27. Januar 2020 seine Uraufführung in

quasi ausradiert. Diesen krassen Wider-

darum, ihr Wesen zu erfassen. Im Stück brin-

der Regie von Anna Lemonaki feierte.

spruch wollte ich untersuchen. Faszinierend

ge ich Sapphos Lebensziele in einem Satz auf

ist, dass ich zwischen den beiden so unter-

den Punkt: Ich schreibe Gedichte und ich lie-

schiedlichen Ebenen Parallelen gefunden habe. Ein Beispiel dafür im Stück ist der

be Frauen. Ein radikaler Ansatz für ihre Zeit. sammen sein, weil ich die Ältere bin. Da

Bootsmann, eine Figur aus der griechischen

Viele Literatinnen wie Gertrude Stein oder Virgi-

steckt eine ganz tiefe, ja, existenzielle Furcht

Mythologie.

nia Woolf beziehen sich auf Sappho, sie ist eine

in ihr. Dieser psychologische Prozess hat

Ikone der Frauenbewegung. Im Stück hat die Fi-

mich beim Schreiben interessiert.

gur viele schwache Momente. Sie ist eine Frau,

Das Stück ist im Rahmen des Autorenförderprogramms Stück Labor entstanden. Sie haben im

die Angst vor dem Alter hat und davor, für ihre

Liegt dieses Hadern mit dem Alter auch daran,

Autorentheater Poche/Gve in Genf als Dramatur-

junge Geliebte nicht mehr attraktiv zu sein. Wie

dass sie eine Frau ist?

gin gearbeitet, sind aber auch Regisseurin. Nun

haben Sie die Dichterin als literarische Figur

Im Griechenland der Antike war es ganz

inszeniert Anna Lemonaki dort die Uraufführung.

konzipiert?

selbstverständlich, dass ältere Männer junge

War es schwer, den Text loszulassen?

Sie ist einfach ein Mensch, nicht etwa eine

Knaben liebten, an die sie ihr Wissen und

Beim Schreiben fiel es mir tatsächlich leich-

historische Figur oder ein Vorbild. Ich wollte

ihre Lebensweisheit weitergaben. Niemand

ter, loszulassen, denn ich wusste ja, dass ich

sie vom Sockel holen. Sie ist eine Frau mit

fand etwas Verwerfliches daran. Frauen dage-

das Stück nicht inszenieren werde. Da fühlte

Widersprüchen, mit widerstreitenden Gefüh-

gen hatten in der Gesellschaft schon damals

ich mich einfach freier. Mit Anna Lemonaki

len. Manchmal weiß sie einfach nicht, was sie

ein Verfallsdatum. Wenn das überschritten

hatte ich einen wunderbaren Austausch. Ihr

tun soll. Oft ist sie schwach. Ein wiederkeh-

ist, wird man als Frau nicht länger wahrge-

Regiestil ist so extravagant und emotional.

rendes Thema in ihren Gedichten ist tatsäch-

nommen, ja, unsichtbar.

Als Griechin, die in der Schweiz lebt, hat sie einen engen Bezug zu den historischen Quel-

lich die schreckliche Angst vor dem Alter. In einem der Gedichte sagt sie zu Atthis, der

Im Stück spielen Sie mit Zeitebenen. Da gibt es

len. Das bereichert meine eigene Sicht auf

jungen Geliebten: Ich kann nicht mit dir zu-

die Dichterin Sappho, die auf der Insel Lesbos

den Stoff. //


sarah jane moloney_sappho x

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Sarah Jane Moloney

Sapphox Aus dem Französischen von Frank Weigand

„Es ist das Wesen eines Kunstwerks, weder ein Teil, noch ein Abbild der wirklichen Welt zu sein (gemäss unseres allgemeinen Verständnisses dieses Satzes), sondern eine Welt in sich selbst, unabhängig, vollständig, eigenständig; und um es voll und ganz in sich aufzunehmen muss man diese Welt betreten, sich ihren Gesetzen anpassen, und eine Zeitlang die Überzeugungen, Ziele und besonderen Bedingungen ignorieren, die einem in der anderen Welt, der Wirklichkeit, eigen sind.“

Und doch ist dieses Wasser dein Land: Es reißt dich mit, es belebt dich. Und wenn du erst einmal festen Boden unter den Füßen hast, wenn du dich abgetrocknet und dein Haar in Form gefönt hast, wenn du wieder zu Atem gekommen bist, für Botticelli posiert hast, mit deinen Meeresfüßen in ein Paar Pantoffeln geschlüpft bist und ein kleines Gläschen Raki getrunken hast, um dich aufzuwärmen, wird dich sogleich das Bedürfnis verzehren, dorthin zurückzukehren. Weil du weißt, ein Orgasmus ist im Wasser immer besser. So viel besser, dass du beschlossen hast, das Wasser zu nehmen, es in ein hübsches Kästchen zu packen, eine Schleife darauf zu kleben und in Schnörkelschrift auf das Etikett zu schreiben: „VON: APHRODITE, FÜR: DIE FRAUEN“. Oh, wow, danke, danke, das war doch nicht nötig, aber natürlich freue ich mich trotzdem – Aphrodite, Mutter des Strömens, Mutter des Sprudelns und des Rieselns, besprenge mich mit deinem Zyprin! Lehre mich, in deinen heiligen Wassern zu navigieren! Aphrodite, Göttin, zeig mir, wie man deine Weisheit schlürft! //

(Professeur Bradley, Oxford, 1901)

Personen Sappho  Eine Frau, mindestens 45 Jahre alt. Atthis  Eine Frau, zwischen 30 und 35. Phaon  Ein Mann, zwischen 35 und 45.

Das wichtigste Element eines Textes sind die Stellen, wo geschwiegen wird / Pause //  Schweigen ///  langes Schweigen

Oh Aphrodite, Mutter Mittelmeer. Unsterbliche Göttin wechselvoller Ströme,   Zu dir fleh‘ ich, zerbrich nicht mein – Komm, Göttin, vernimmst du meine – Oh Aphrodite, da bist du, ein Lächeln auf den Lippen, Und fragst, warum ich weine. Warum flehst du zu mir, Sappho? Warum so sorgenvoll? Oh Aphrodite, Mutter Mittelmeer. Lehre mich, wie man die Ströme deines Landes befährt. Lehre mich, wie man dahintreibt. Zeig mir, Göttin, das rettende Boot. Ich flehe dich an.

Akt I Das unwichtigste Element eines Textes ist sein Plot

Oh Aphrodite, feuchte Göttin!

[2070]: Das Bad Sappho, Atthis, (Phaon) Ein Tisch, zwei Stühle und ein einfaches Bett. (Zahlreiche) Kartons unterschiedlicher Größe. Veraltete Video- und Audiogeräte: Tageslichtprojektor, Kassettenrekorder mit Aufnahmefunktion, usw. Atthis und Sappho sitzen am Tisch, einander gegenüber. Sappho ist in eine Rettungs­ decke gewickelt. Atthis blickt Sappho an. Sappho blickt zu Boden. Sie kratzt sich.  Phaon kommt mit einem Stapel weißer Wäsche herein. Er legt ihn auf den Tisch und geht wieder hinaus. Phaon kommt wieder herein, trägt eine Waschschüssel mit Seifenwasser und eine Karaffe. Er stellt sie auf den Boden neben einen Stuhl und geht wieder hinaus. Sappho kratzt sich.

Ejakulat der Gischt, perlender Geschlechtstropfen, lass mich zurück an deine Quelle steigen! Deine Empfängnis, Aphrodite, ist die Stimme des Blutes, singend gegen den Strom. Deine Geburt, Aphrodite, ist ein Kopf, der sich aus den Fluten erhebt wie eine große feuchte Klitoris. Ein ungeschickter Leib, der mit den Wogen ringt, Salz, das in Nasenlöcher und Augen dringt und auf der Zunge seinen schlammigen Geschmack entfaltet. Glieder, die sich hartnäckig abmühen, um sich in dieser flüchtigen und widerständigen Materie fortzubewegen, ein Mund, der nach Luft sucht wie ein Neugeborenes nach der Brust.

Atthis  Das ist das Salz. Sie zeigt auf die Waschschüssel, faltet den Haufen Wäsche auseinander. Reinigungstuch. Handtuch. Unterwäsche. Hose. Hemd. Sappho kommt näher, lässt die Rettungsdecke fallen: Ihre Haut ist von einer Salzschicht bedeckt. Sie stellt sich in die Schüssel und beginnt sich zu waschen. Ihre Gesten sind langsam und schwerfällig. Als sie mit dem Waschen fertig ist, nimmt sie die Wäsche, trocknet sich ab, zieht die Kleidung an. Fertig?

Drei zeitliche Dimensionen entfalten sich in diesem Stück. Die erste Ebene, die der „Handlung“, spielt im Jahr 2070. Die zweite Ebene im Jahr 2020. Die dritte im Jahr 1970.

Prolog: Mutter Mittelmeer (Ode an das Zyprin1) Sappho steht alleine auf der Bühne. Sie ist vollständig durchnässt.

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Sappho nickt. Die Haare? Atthis nimmt die Waschschüssel, geht hinaus, kommt mit der gefüllten Schüssel wieder, stellt sie hinter den Stuhl. Setzen Sie sich. Atthis wäscht Sappho sorgfältig die Haare. Als sie fertig ist, nimmt sie die Schüssel und die Karaffe, geht hinaus und lässt Sappho alleine.

[2070]: Schraubstock Sappho, Phaon, Atthis Ein Kassettenrekorder mit Aufnahmefunktion steht auf dem Tisch. Phaon drückt auf einen Knopf; der Rekorder beginnt zu summen. Atthis steht abseits. Phaon  Bitte bestätigen Sie, dass Ihr Name Sappho lautet. // Das ist keine Falle. // Wir kommen nie voran, wenn Sie nicht kooperieren. // Bitte bestätigen Sie, dass Ihr Name Sappho lautet. Sappho nickt. Phaon  Laut bitte. Er zeigt auf den Rekorder. Für das Protokoll. Sappho  Mein Name lautet Sappho. Phaon  Wunderbar, danke. Sehr gut. Also. Ich habe hier eine Liste von Aussagen. Diese Aussagen entsprechen biografischen Informationen Sie betreffend. Ich werde Ihnen die Aussagen vorlesen und möchte, dass Sie jedes Mal mit „ja“ oder mit „nein“ reagieren, je nachdem, ob Ihnen die Aussage zutreffend erscheint oder nicht. Zum Beispiel: Sie heißen Sappho. / Darauf antworten Sie mit „ja“. // Sie haben gerade gesagt, Ihr Name lautet Sappho. Sappho  Man spricht das SaPpho aus. Mit einem P. Phaon  Aber Sie … Ist es Ihnen lieber, dass ich Sie SaPpho nenne? Sappho zuckt mit den Schultern. Na gut. Ich fange an. Sie wurden in Eressos geboren, auf der Insel Lesbos, in der nordöstlichen Ägäis. Sappho Ja. Phaon  Sie wurden im Jahr 630 vor Christus geboren. / Sie wurden im … Sie wurden im zweiten Jahr der 37. Olympiade geboren. Sappho  Kann sein. Phaon  Antworten Sie bitte mit ja oder nein. Sappho  / Ja. Phaon  Sie hatten drei Brüder. Sappho Ja. Phaon  Sie hatten zwei Brüder. Sappho Ja. Phaon  Zwei oder drei? Sappho Ja. Phaon  Sie hatten eine Tochter. Sappho Ja. Phaon  Sie waren hässlich. Sappho Ja. Phaon  Sie waren ein Mann. Sappho  Wurde auch Zeit. Auf diese Frage hatte ich gewartet. Phaon  Mit ja oder mit nein bitte. Sappho  Bei mir baumelt es hier – zeigt auf ihre Brust – nicht hier zeigt zwischen ihre Beine. Phaon  Mit ja oder mit – Sappho  NEIN, ich bin kein Mann, nein. Phaon  Danke. Der Name Ihrer Eltern ist unbekannt. Sappho Ja. Phaon  Ist Ihnen der Name Ihrer Eltern unbekannt? Sappho  Ihnen ist der Name meiner Eltern unbekannt. Phaon  Und wie lautet der Name Ihrer Eltern? Sappho  Meine Mutter hieß Ja. Mein Vater hieß Nein. Phaon  Schon gut. Ich komme wieder, wenn Sie in der Stimmung sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Er räumt seine Sachen ein. Sappho  Ich habe Durst. Phaon geht hinaus, kommt mit einer großen abgenutzten Plastikflasche wieder, stellt sie auf den Tisch, geht wieder hinaus. Atthis  geht auf Sappho zu. Weder der Name Ihrer Eltern noch der Ihrer ­Brüder noch der Ihrer Tochter, falls es sie wirklich gegeben hat, ist bekannt.

/ TdZ Februar 2020  /

Wir kennen nur Ihren Namen. Sappho nimmt die Flasche, öffnet sie. Hier ist, was ich über Sie weiß. Sappho beginnt zu trinken, trinkt während der gesamten folgenden Replik gierig weiter. Sie haben Liebesgedichte und Hochzeitsgedichte verfasst. Wenn Sie auf Ihrer Wachstafel schrieben, quietschte der Griffel nicht: Er sang. Der Dichter Alkaios sagte, Ihr Lächeln sei wie Honig. An den Ufern der Ägäis sprach man nur von Ihren Brüsten. Sappho  Ach echt? / Im positiven Sinne? Atthis  Sie waren klein und dunkelhaarig, und Ihr linker kleiner Finger war gespalten. Sappho  Ein Unfall beim Lyraspielen. Atthis  Sie standen gerne vor der Sonne auf und streichelten den Tau. Eigentlich streichelten Sie gerne sehr viele Dinge. Abanthis, Anaktoria, Andromeda, Atthis, Chrysippe, Dika, Doricha, Erinna, Gongyla, Gorgo, Gyrinna, ­Megara, Mika, Mnasidika – welche von ihnen hatte die zartesten Schenkel? Die rosigsten Brustwarzen?2 Sie liebten sie in allen Stellungen und in alphabe­tischer Reihenfolge. Sex, Alkohol und Dichtkunst, ein Bohemeleben auf ­Kosten von Mama und Papa. Eine gute Investition, ganz nebenbei gesagt: Ihr Ertrag wird auf 10.000 Verse geschätzt. Davon sind uns noch 650 er­ halten … Upps. / Sie sind gealtert und die Scham hat Ihre Lippen welk ­gemacht. Sie sind bei Nacht und Nebel nach Sizilien geflohen, mit einem falschen Pass, den Sie für 200 Euro in einer Seitenstraße in Mytilene gekauft haben. Danach haben Sie sich wie eine Schwachsinnige von einem Felsen gestürzt. ///  Sappho  Ich habe Gedichte geschrieben. Auf einer Insel. / Ich liebte Frauen. //  Plötzlich packt Sappho den Rekorder und schickt sich an, ihn am Boden zu ­zerschmettern. Atthis  Tun Sie das nicht. Sappho  Warum nicht? Atthis  Einverstanden. Wenn Sie ihn wieder hinstellen – beantworte ich eine Ihrer Fragen. Eine einzige. Sappho  Wo … Wer … Sie stellt den Rekorder wieder hin. Warum? // Atthis  Wir wollen die fehlenden Wörter. Sappho  Die „fehlenden“ Wörter? Sie meinen die Wörter, die Sie verloren haben! Atthis  Ja, das heißt – ich persönlich habe sie nicht verloren. Man hört eine Klingel. Atthis räumt ihre Sachen ein, geht in Richtung Ausgang. Im Vorbeigehen reicht sie Sappho eine Ausgabe ihrer Gedichte. Hier. Das sind die Wörter, die uns noch erhalten sind. / Damit Sie sich keine doppelte Arbeit machen. Sehen Sie diesen Knopf da? Drücken Sie drauf, wenn Sie geschrieben haben. Ich komme dann das Produkt begutachten. Sappho  Produkt …? Ich hoffe, Sie haben es nicht eilig. Ich habe ein ganzes Leben lang gebraucht, um diese Wörter zu schreiben. Atthis  Wir haben kein ganzes Leben lang Zeit. Sie geht hinaus. // Sappho nimmt das Buch, blättert darin, liest einzelne Passagen. Sappho  10.000 Verse komponiert und gesungen. 650 haben überlebt. Ihr habt mich zerbrochen seziert zweigeteilt zerstückelt zersplittert seid in meine Räume eingedrungen habt meine Abgründe leergebaggert jetzt ist mir klar ihr – Zum Publikum Wisst ihr, was man sagt? Man sagt, jahrhundertelang haben sich Frauen in meinem Namen geliebt Haben in meinem Namen gefickt In meinem Namen geschrieben In meinem Namen Revolutionen angezettelt Sie sind klammheimlich in meine Räume geschlüpft haben sie bewohnt geliebt respektiert sie sorgsam geschmückt die Pflanzen gegossen Sie brauchten die fehlenden Wörter nicht


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/ TdZ  Februar 2020  /

[2070]: Barfuss Sappho, Phaon Sappho sitzt am Tisch. Sie betrachtet ein Blatt Papier, hält einen Bleistift in der Hand. Sie drückt auf den Knopf. Phaon kommt herein, sie sehen sich an. Sappho  Wo ist denn Ihre …? Phaon  Sie hat heute frei.

Phaon  So ein – Sappho  Was verwendet ihr als Ersatz? Flaschenhälse? Phaon steht auf, geht in Richtung Tür Haarbürsten? Gemüse? UM GOTTES WILLEN! WIE SCHLAFT IHR BLOSS OHNE PENIS MITEINANDER? Phaon geht hinaus und knallt die Tür zu. Sappho setzt sich hin, liest.

/ Sappho  Ich habe geschrieben. Phaon kommt näher, nimmt das Blatt, liest. Phaon  „Gedanken – barfuß.“ Und was haben Sie während dieser ganzen Zeit gemacht? Sappho  Das hier. Ich habe das hier geschrieben. Phaon  Das hier haben wir schon. „Gedanken – barfuß“. Das ist Fragment 12. Sappho  Mehr habe ich nicht zu sagen. Phaon  Langsam ermüdet mich Ihr Humor. Wir wollen die anderen Wörter. Die fehlenden Wörter. Sappho  Es gibt keine anderen Wörter. Phaon  Na schön. Und wie lautet also der Titel dieses … Gedichts? Sappho  Fragment 12. // Phaon  Sie haben mich immer noch nicht gefragt, warum. Sappho  Warum was? // Sagen Sie, was für eine Art von Verlangen verspürt jemand wie Sie angesichts von Papyrusfragmenten? Diesem kaputten, zerbrochenen, zerknüllten, verzerrten Zeug? Was ist das für eine gelehrte Libido, diese Obsession für das unversehrte Ganze? Phaon  Ich befolge nur Anweisungen. Sappho  Ein Rädchen im System.

[2070] Ohne Reiz Sappho, Atthis Sappho liest gerade. Plötzlich geht die Tür auf – Atthis. Sappho versteckt schnell das Buch. Sappho  Atthis  Sappho  Atthis

Hatten Sie einen schönen freien Tag? Waren Sie am Strand? / Ich war nicht am Strand. Ich bin mit einem anderen Projekt betraut. Dann bin ich nicht der Mittelpunkt Ihrer Welt? Erstaunlich, oder?

// Sappho  Es kommt mir vor, als hätte ich Sie schon einmal gesehen. Als würde ich Sie schon kennen. Von früher. Atthis  Das kann nicht sein. Sappho  Sie sind ein bisschen jung, um mit „Projekten“ „betraut“ zu sein, oder? Atthis  So jung bin ich gar nicht. Sappho  Sie sind jünger als ich. Sind es schon immer gewesen. Werden es immer sein. / Ein kleines Mädchen ohne Reiz3 … Das ist eines meiner Gedichte. Sie können es aufschreiben. Atthis  Ich weiß. Wir haben es schon. Fragment 49. // Sappho  Atthis  Sappho  Atthis

Aber Sie – Sie haben mich schon einmal gesehen, oder? Ja. Auf Vasen. Mosaiken. Und? Sehe ich mir ähnlich? Die Darstellungen sind sehr schmeichelhaft.

// // Phaon  Sagen wir, es handelt sich um eine Form intellektueller Neugier. Sappho muss laut lachen Phaon  Was? Sappho nimmt den Gedichtband, schlägt ihn auf Sappho  „Und mit LOCH einem kostbaren Öl hast du dich gesalbt LOCH und auf einer weichen Bettstatt LOCH zart LOCH hast du deine Begierde befreit LOCH“ / Phaon  Ja. Fragment 94. Sappho  Schauen Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, dass Sie aus „intellektueller“ Neugier handeln. Phaon  Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Sappho  Sie wollen wissen, wie Frauen miteinander schlafen, unter sich, ganz ohne Männer! Sie wollen die unanständigen Details!

Sappho  Sie sind also kein Fan der großen Sappho? Atthis  Wollen Sie eine ehrliche Antwort? Sappho Immer. Atthis  Gedichte über Obstgärten4, Bienen5 und Kichererbsen6 sind wirklich nicht mein Ding. Mein Kollege dagegen … Wenn Sie offene Türen einrennen wollen, sollten Sie sich an ihn wenden. Sappho  Was soll das heißen? Atthis  Er hat sein Leben lang Ihr Werk analysiert. Er weiß alles über Kichererbsen. Sappho lacht. Seien Sie nett zu ihm, mehr sage ich nicht dazu. Sappho  Und wenn ich nett zu ihm bin, werden Sie dann nett zu mir sein? Atthis Vielleicht. //

VERDECKT Uraufführung

von Ariane Koch

THEATER MARIE ab 29.2.2020 Theater Tuchlaube Aarau

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Sappho  Warum hat Ihnen Ihre Mutter kein Griechisch beigebracht? Atthis  Woher wissen Sie, dass meine Mutter Griechin war? Sappho  Ich weiß nicht. Wahrscheinlich haben Sie es mir erzählt. Atthis  Ich habe Ihnen nie von meiner Mutter erzählt. / Ich muss los. Sappho  Warten Sie … Atthis  Ich bin spät dran. Sappho  Spät dran wofür? Darf ich mitkommen? Atthis ignoriert sie. Das ist ernstgemeint. Atthis  Nein, Sappho, Sie dürfen nicht mitkommen. Phaon kommt herein. Phaon  zu Atthis Kommst du? Wir werden erwartet. Atthis  Ich komme gleich. Phaon geht hinaus. Schreiben Sie, Sappho. Das ist besser für Sie. Sie geht hinaus.

/ TdZ Februar 2020  /

Atthis  OK. Sie wollen nach Hause? Atthis geht einen Karton holen. Es ist ein großer Umzugskarton. Auf der Seite steht handgeschrieben, in Großbuchstaben, mit Edding: LESBOS. Sie stellt ihn auf den Tisch. Bittesehr. Fühlen Sie sich wie zuhause. Sie geht hinaus.

[2070]: Mutter Mittelmeer II Sappho geht nach vorne zum Tisch. Sie öffnet den Karton, dreht ihn um und schüttet den Inhalt auf den Tisch: Sand, Kieselsteine, ein paar Möwenfedern und eine ­orangefarbene Schwimmweste. Sie untersucht den Inhalt, langsam und sorgfältig. Lesbos, αγάπη μου. / Aphrodite …? // APHRODITE! //

[2070] Sappho-Schnitzel Sappho „Schreiben Sie, Sappho.“ Sappho setzt sich an den Tisch, nimmt einen Bleistift, ein Blatt Papier. Schreib, Sappho. / Schreib! // „Es war einmal Orpheus, von den Mänaden zerstückelt, dessen abgetrennter Kopf immer weiter sang, sang, sang. Es war einmal Sappho – und so weiter, und so weiter, und so weiter.“ Was liegt zwischen deinen Löchern, Sappho? Warum füllst du sie nicht? Es genügt, einen Finger hineinzustecken und noch einen Finger und noch einen Finger. Hat die große Sappho etwa NICHT GENÜGEND FINGER? Doch wie … WIE HIELT SIE DANN IHREN BLEISTIFT? / Aber zurück zu den ernsthaften Dingen und damit meine ich: nach Griechenland. Will sagen, wenn man ein geopfertes Tier zerstückelt, dann nur, um es besser verzehren zu können. Auf dem Menu heute Abend, liebes Publikum: die zehnte Muse, medium gebraten. Schenkel oder Brust? Schmackhaft ohne jedes Gewürz. Ich bin sehr sehr salzig.

Was nützt es mir, dich anzurufen, Göttin, aus einem Land ohne Liebe? Sappho die Verbannte Eingesperrt zwischen vier unfruchtbaren Mauern. Bewahr dir einen kühlen Kopf und eine heiße Vulva, hast du immer zu mir gesagt Doch da unten ist es so kalt wie am Nordpol, Aphrodite! Da kommen nur noch Eiswürfel raus! Welcome to Hotel Sappho, can I interest you in some cyprine on the rocks? Sie schlüpft in die Schwimmweste. Wie überschreiten Dichterinnen Grenzen? Mit einer Handvoll Verse als Visum Und einer Ode an die aus dem Meer gestiegene Göttin. He Aphrodite, hörst du zu, wenn ich dich anrufe? Da, wo ich hingehe, werde ich dich brauchen. Man sagt, es ist da sehr sehr nass. Sie nimmt die Wasserflaschen, öffnet sie und beginnt in einem zügellosen Rhythmus zu trinken. Das Wasser spritzt quer durch die Gegend. Sie verschluckt sich, hustet, spuckt, trinkt weiter: Sie ist dabei, zu ertrinken. Sie macht weiter, bis sie das Bewusstsein verliert. Atthis kommt herein und erblickt Sappho am Boden liegend. Sie bleibt wie gelähmt im Türrahmen stehen. Phaon tritt hinter ihr ein. Als er entdeckt, was geschehen ist, rennt er zu Sappho.

[2070]: Go home, Sappho Sappho, Atthis Sappho drückt auf den Knopf. Atthis kommt herein.

Phaon  Hilf mir! Atthis rennt zu ihm. Zu zweit heben sie Sappho hoch. Zur Krankenstation. Sie tragen Sappho hinaus.

Atthis  Haben Sie mir etwas zu zeigen? Sappho  / Nein. Atthis will hinausgehen. Warten Sie. Atthis Ja? Sappho  Ich habe Durst. Atthis geht hinaus, kommt mit einer großen abgenutzten Plastikflasche zurück. ICH HABE DURST! Atthis geht hinaus, kommt mit drei großen Flaschen zurück. Atthis  Keine Verschwendung bitte. Unsere Bestände sind beschränkt. Sie will wieder hinausgehen. Sappho  Bitte. Atthis  WAS? Sappho  Ich will gehen. Atthis  Haben Sie fertiggeschrieben?

Song for Lesbos7

// Sappho  Lassen Sie mich gehen? Wenn ich schreibe, was Sie lesen wollen? Atthis  Es geht nicht darum, was wir „lesen wollen“. Es geht um die fehlenden Wörter. Sappho  Wenn ich DIE FEHLENDEN WÖRTER aufschreibe. Lassen Sie mich dann gehen? / He, Sie eingebildete Pute! Ich rede mit Ihnen! Atthis  Beruhigen Sie sich. Sappho  Ich will nach Hause. Lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich nach Hause, lassen Sie mich zurück nach Lesbos! Sie ergreift einen Stuhl, wirft ihn nach Atthis.

Erinnerst du dich, αγάπη μου, an den weißen Tempel oben auf dem höchsten ­Hügel? Erinnerst du dich an den heiligen Hain, wo Apfelbäume wachsen? Ich erinnere mich, νησί μου. Ich erinnere mich an den Geruch von dampfendem Weihrauch. Ich erinnere mich an das kühle Wasser, das zwischen apfelschweren Ästen rauscht. Ich erinnere mich an den Duft der Rosenbüsche und an die erbarmungslose Mittagssonne. Erinnerst du dich, αγάπη μου, an das Gras, auf dem die Pferde weiden? Erinnerst du dich an den Gesang des Windes? Ich erinnere mich, νησί μου. Ich erinnere mich an die Felder, die sich mit den ersten Frühlingsblumen schmücken. Ich erinnere mich an den sanften Hauch der Brise. Erinnerst du dich, νησί μου, An die goldenen Becher voll Wein? Erinnerst du dich an die Veilchensträuße? Ich erinnere mich, αγάπη μου. Ich erinnere mich an das schüchterne Lächeln der jungen Bräute,


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/ TdZ  Februar 2020  /

An den Nektar, der sich mit der Freude über die Feierlichkeiten mischt. Erinnerst du dich, Σαπφώ μου, an deine Stimme? Nein, νησί μου. Ich erinnere mich nicht.

Ein tiefer Atemhauch

Akt II [2020]: Welcome to Guantanamo Sappho, Fragment 162: „Mit was für Augen?“ Atthis, Phaon Atthis steht alleine auf der Bühne. Sie trägt einen Rucksack, starrt auf einen Punkt in der Ferne. Phaon tritt auf. Atthis fährt zusammen. Phaon  Atthis  Phaon  Atthis

Entschuldigung – ich wollte nicht – Schon gut – UNICEF? HCR? MSF? Ähm …

// Phaon  Wohnen Sie auf der Insel? Atthis  Nein, ich … Ich bin gekommen, weil ich helfen will. Ich bin gerade angekommen. Ich wusste nicht, wo ich hinsoll. Phaon  Also tauchen Sie einfach so auf? / Sind Sie mit dem Auto da? Atthis  Nein … ich bin zu Fuß hier. Phaon deutet ein Lächeln an. Was? Phaon  Haben Sie sich ein bisschen erkundigt? Über das Lager? Atthis  Ja. // Können Sie mir zeigen, wo der Eingang ist? Phaon  Gehen Sie diese Straße weiter. Der Eingang ist ca. 500 Meter entfernt, auf der linken Seite. Atthis Danke. Atthis beginnt zu laufen. Phaon sieht ihr beim Davongehen zu, dann Phaon  Warten Sie, warten Sie. Atthis dreht sich um. Phaon  Sie kommen nicht einfach so nach Moria rein. Sie brauchen eine Sondergenehmigung. / Haben Sie sich nicht bei einer Organisation angemeldet? Atthis  Ich habe es versucht. Man hat mir gesagt, ohne Führerschein bräuchte ich gar nicht erst zu fragen. Phaon  Haben Sie eine Unterkunft? Atthis  Ja, in Mytilene. Phaon  OK, kommen Sie. Ich bin mit dem Auto da, ich fahre Sie zurück. Atthis  Aber … Phaon  In einer halben Stunde bricht die Nacht an. Mytilene ist zwei Stunden Fußmarsch entfernt. Aber das wissen sie ja schon. Atthis rührt sich nicht vom Fleck. Phaon holt sein Telefon heraus, wählt eine Nummer. Hello my friend. – Yes, I’m OK, and you? – Good, good. Listen, can you take a new volunteer at Kara Tepe? – zu Atthis Sprechen Sie Arabisch? Sie schüttelt den Kopf. – No, no Arabic. – Yes, I know, I know. Maybe in the kitchen? – OK, great. Thank you. – 8 am, OK. Yes, I will tell her. – Take care my friend. Sprechen Sie wenigstens Englisch? Atthis  Ja. / Auch ein paar Worte Griechisch. Phaon  OK, also: Schreiben Sie diese Nummer auf. 0030 – Atthis  Äh, warten Sie. Ich habe mein Telefon in der Pension vergessen. Phaon seufzt. Er holt einen Notizblock aus der Tasche, notiert eine Telefonnummer. Er reißt die Seite heraus und reicht sie Atthis. Phaon  Da. Kommen Sie, ich fahre Sie zurück.

[2020]: Zweifach ist mein Sinn8 Atthis 8 Uhr morgens ich stehe da vor dem Lager vor dem Stacheldraht (Dort ist Stacheldraht) In der Hand ein Zettel mit einer Telefonnummer old school Ich bleibe lange stehen Sehr lange. // Vor dem Flug nach Lesbos habe ich viele Dokumente gelesen. Dokumente von Leuten vor Ort. Dokumente mit Titeln wie „REFUGEE CRISIS REALITY CHECK“. Dokumente mit Listen von Dingen die man in seinen Koffer packen sollte. Dinge für den eigenen Bedarf: Impfpass Sonnencreme Schweizer Messer Plastikhandschuhe Fernglas Seil Thermoskanne Regenumhang Gummistiefel. Dinge für die Geflüchteten: Herrenschuhe (Größe 39-46) Socken Hygiene­ artikel für Frauen Bücher auf Arabisch Persisch oder Englisch und vor allem Bücher mit Gedichten „POETRY IS VERY MUCH IN DEMAND”. // Vor dem Flug nach Lesbos habe ich viele Artikel gelesen. Artikel mit Titeln wie BERG DES ELENDS INSEL DER VERZWEIFLUNG EUROPAS SCHANDE GUANTANAMO IN GRIECHENLAND MYTILENE SEHEN UND STERBEN MORIA SEHEN UND NICHT DEN VERSTAND VERLIEREN DRITTER UNERKLÄRLICHER TODESFALL IN EINER WOCHE MIGRANTENFRIEDHOF WIR WISSEN NICHT MEHR, WOHIN MIT DEN LEICHEN. // Ich stehe da vor dem Lager vor dem Stacheldraht (Dort ist Stacheldraht) In der Hand der Zettel Ich traue mich nicht Ich drehe mich um Ich habe mich nicht getraut. // Vor dem Flug nach Lesbos habe ich viele Videos angeschaut. Reportagen von BBC The Guardian Al Jazeera ARD Euronews AFP. Ich habe die Kommentare unter den Videos gelesen. Die sollen nach Hause gehen Ich hab kein iPhone, aber dieser arme syrische Flüchtling hat eins? Null Mitleid für Wirtschaftsmigranten Wir wollen euch nicht in Europa Bringt sie um, bevor sie sich vermehren. // Vor dem Flug nach Lesbos habe ich Sapphos Gedichte gelesen. Ich fand das romantisch da hinzufahren und Leuten zu helfen am Geburtsort der antiken Dichtkunst. Aber letztendlich war ich nicht in der Lage, Parallelen zu ziehen zwischen jungen schüchternen Bräuten mit Veilchensträußen in der Hand und Kindern die im Meer ertrinken. Ich habe ein Exemplar auf Englisch gekauft für meinen Koffer. POETRY IS VERY MUCH IN DEMAND. // Dem Stacheldraht den Rücken gekehrt

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(Dort ist Stacheldraht) Laufe ich und die Scham steigt in meiner Kehle hoch Ein Schritt vor den anderen und die Scham überschwemmt meinen Mund Ich will die Scham ausspucken mit dem Ärmel abwischen doch ich halte sie zurück9 Ich muss sie bei mir behalten und mich jeden Tag daran erinnern dass Ich mich nicht getraut habe // Der Lärm der Wellen Ich höre nur noch den Lärm der Wellen Die ganze Nacht den Lärm der Wellen Ich werde verrückt vom Lärm der Wellen

[2020]: Keinerlei Hoffnung10 Phaon Ich sehe einen jungen Mann am Strand er sitzt auf einem Felsen ich komme näher ich frage ihn ob alles in Ordnung ist er antwortet mir ja bei Gottes Gnade und bei Ihnen auch? meine Haut hat dieselbe Farbe wie seine meine Haare haben dieselbe Farbe wie seine ich trage meine Weste nicht er glaubt dass auch ich flüchte dass auch ich gerade die Überfahrt mit dem Boot hinter mir habe ich bin ein Freiwilliger erkläre ich brauchen Sie etwas? er steht auf lächelt schüttelt mir die Hand ich habe einen Schweizer Pass füge ich hinzu um die Frage zu beantworten die er mir nicht gestellt hat ein Frösteln der Scham zieht meinen Nacken hinauf brauchen Sie etwas? er hält mir sein Telefon hin haben Sie Strom? ich zeige ihm die Zelte die Container die Planen Nein, keinen Strom ich hole mein Telefon aus der Tasche wollen Sie jemanden anrufen? sein Gesicht hellt sich auf ich drücke ihm mein Telefon in die Hand er öffnet Facebook Messenger aus Schamgefühl drehe ich mich um schaue in Richtung Meer es ist grau die Wolken ballen sich über uns zusammen heute Nacht wird es regnen und wenn es regnet sterben die Leute Von Lesbos aus kann man die Türkei sehen das Meer ist nicht breit das Meer ist nicht besonders unruhig aber die Boote sind zerbrechlich und randvoll mit Menschenopfern Für welchen Gott? An einem sonnigen Tag und wenn der Bootsmotor gut funktioniert dauert die Überfahrt über die Meerenge eine Stunde in einer regnerischen Nacht und wenn der Motor ausfällt füllt sich das Boot mit Wasser füllt sich schneller als ihr es mit euren Händen leerschöpfen könnt in einer regnerischen Nacht er­ heben sich die Wellen zehn Meter über euch überrollen euch wieder und wieder in einer Regennacht werft ihr alles über Bord in das kalte schwarze Meer um die paar Meter zurückzulegen die euch noch von Griechenland trennen in einer regnerischen Nacht sagt ihr zu den Schleusern nein nicht heute Nacht sagt ihr zu ihnen ihr werdet die Überfahrt morgen machen kehrt ihr dem Meer den Rücken zu die Schleuser holen ihre Gewehre heraus zwingen euch an Bord zu gehen

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Ich mache eine Pause drei Minuten setze mich unter einen Baum zünde mir eine Zigarette an ein Junge kommt näher kniet sich neben mich darf ich dich was fragen? seine Augen sind rot er ist um die elf Jahre alt aber sein Blick ist nicht der eines Kindes ich komme aus dem Irak. Soll ich lieber sagen dass ich Syrer bin? Auf Lesbos gibt es kein System keine Verantwortlichen keine zentrale Organi­ sation manche Gruppen verausgaben sich vollkommen für andere ist Lesbos nur ein Punkt auf einer Landkarte der Verzweiflung ein Zwischenstopp vor der nächsten Katastrophe man erkennt sie leicht diese abgehärteten Veteranen sie geben pro Person nur eine Decke aus auch wenn es kalt ist nur eine Essens­ marke pro Person sogar für die schwangeren Frauen ich habe ein Flugticket von Genf nach Lesbos gekauft ich komme abends um 9 in Molyvos an eine halbe Stunde später stehe ich bis zur Taille im Wasser und ein Mann hält mir ein Baby hin wir erreichen gemeinsam den Strand er legt seinen Kopf auf meine Schulter und wir sitzen da und weinen ich sage auf Arabisch zu ihm Sie sind angekommen Sie sind am Leben er versteht nicht wir haben keine gemeinsame Sprache ich begleite ihn zum Transitpunkt ich gebe ihm vier Essensmarken und werde auf Englisch von einer Veteranin gerügt wenn die anderen das mitkriegen gibt es einen Aufstand Willkommen auf Lesbos hier nehmen Sie eine Decke gibt es keinen Platz im Zelt? hier eine zweite Decke tut mir leid ein Taxi nehmen ist illegal tut mir leid in einem Hotel übernachten ist illegal tut mir leid ein Flugticket kaufen ist illegal tut mir leid Ich begleite eine Frau und ihre drei Kinder bis zum Bus setze sie rein gebe ihnen einen zehn-Euro-Schein das ist alles was ich in der Tasche habe ich steige aus dem Bus ich spüre eine Hand auf meiner Brust eine Stimme befiehlt bleiben Sie im Bus! Sie müssen im Bus bleiben! Ich nehme die Hand weg ich bin Freiwilliger ein verwirrter Blick antwortet mir ich hole meinen roten Pass heraus ach tut mir leid der Bus fährt los die Kinder winken zum Abschied ich winke zum Abschied bis sie außer Sicht sind ich gehe ein paar Schritte öffne Facebook Messenger und da ein Name den ich nicht erkenne eine Nachricht auf Arabisch die geschrieben zu haben ich mich nicht erinnere ein Augenblick Unverständnis dann fällt mir der junge Mann am Strand wieder ein Geliebte ich habe das Meer überquert ich bin in der Nähe von Athen mein Akku ist leer

[2020]: den Himmel berühren 12 Atthis, Phaon Phaon sitzt da. Er betrachtet sein Telefon. Atthis tritt auf, mit ihrem Rucksack. Sie hält sich im Hintergrund und betrachtet ihn. Phaon  Guten Tag. Atthis, überrascht, weicht zurück – Phaon bedeutet ihr, sich hinzusetzen. Ich dachte nicht, dass wir uns noch einmal über den Weg laufen würden. / Läuft alles gut in Kara Tepe?  //  Atthis  Ähm … ehrlich gesagt habe … Habe ich …

Wenn das Meer eine Erdscholle davonträgt schrumpft Europa11 wenn das Meer eine Frau einen Mann oder ein Kind davonträgt lebt Europa einfach weiter An einem sonnigen Tag kann man immer wieder orangefarbene Punkte am ­Horizont aufleuchten sehen fünfzig Schwimmwesten zusammengedrückt aufeinandergestapelt zusammengekauert sprungbereit an einem sonnigen Tag gibt es Warteschlangen ein zwei drei Boote hintereinander der Kauf einer Schwimmweste kostet 1000 Euro auf jedem Boot gibt es 50 Schwimmwesten und bei 50 Booten pro Tag rechnet ruhig nach ist Schleuser eine lukrative ­Berufswahl Willkommen auf Lesbos sage ich tausendmal am Tag das Lächeln nicht vergessen einen freundlichen Empfang bereiten Willkommen auf Lesbos Sie haben den Transitpunkt erreicht wir sind alle Freiwillige wir sind hier um Ihnen zu helfen zum Lager im Süden der Insel zu kommen hier bitte eine Busfahrkarte der Bus fährt morgen früh sobald Sie das Lager erreicht haben erhalten Sie Ihre Papiere von der Regierung hier eine Essensmarke trockene Kleidung gibt es in dem Zelt hinter uns Decken in dem großen Zelt da drüben Willkommen guten Tag guten Tag Willkommen auf Lesbos guten Tag hier eine Decke bitte hier ein Sandwich Sie haben den Transitpunkt erreicht

// Ich reise morgen ab. Phaon  Schade. Sie hatten keine Zeit, sich die Insel anzuschauen. Atthis  Oh nein, ich … Ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, Tourismus zu betreiben. Hier. Phaon  Die Boote landen nicht an der Westküste. Da drüben gibt es noch sehr schöne Strände, in der Gegend um Eressos. Atthis  / Sie machen sich über mich lustig. Phaon  Ich mache mich nicht lustig. / Es gibt andere Möglichkeiten, dieser Insel zu helfen als Freiwilligendienst in den Lagern. Atthis  Und trotzdem sitzen Sie jetzt nicht an einem FKK-Strand und kippen schnapsglasweise Tequila in sich rein. Phaon  Das liegt daran, dass ich lieber Wodka mag. Atthis  Wie lange sind Sie schon hier? Phaon  / Noch nicht so lange. Atthis  Es kommt einem vor, als seien Sie schon immer hiergewesen.


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/ TdZ  Februar 2020  /

Phaon  Sehe ich so müde aus? Atthis  Nein, Sie haben … eine Aura als … könnte Ihnen nichts etwas an­ haben. / Das klingt blöd.

Lesbos, Zierde meiner Nächte, lass uns furchtlos den Sprung in den Abgrund der Jahre wagen14! Während sich Männer mit leeren Augen, verhext von der verführerischen „Es war einmal“,

//

Im Bordell der Geschichte verausgaben und ruinieren15,

Phaon  Kennen Sie Botticelli? Atthis nickt. Dieser Strand erinnert mich an den Strand auf diesem Gemälde. Er zeigt mit seiner rechten Hand nach vorne – Atthis  – Mit den Bäumen, ja! Das stimmt. Phaon  Willkommen auf Lesbos, Aphrodite. Hier eine Decke, hier ein Sandwich. Sie haben den Transitpunkt erreicht.

Gleiten wir durch endlose Stunden menschlicher Lust!

//

Du schmeichelst auf hässliche Weise meinem Ohr16

Wissen Sie, was man sagt? Dass die Tränen von Lesbos dem Mittelmeer seine Würze verleihen.

Deine Stimme eine goldene Locke, mit der ich mein Ohrläppchen schmücke

Lesbos, Kurtisane dieses bodenlosen Beckens

Lass die Totenglocke läuten, Lesbos! / Auf dass ich endlich meinen kleinen Tod in deinen Armen erlebe! Atthis  Jeden Tag der Lärm der Wellen. Das hört niemals auf. Mich würde das wahnsinnig machen. Phaon  Zum Glück reisen Sie morgen ab. Atthis  Ja. Sie steht auf. Gut, ich … ich muss packen. Phaon  Er steht auf, reicht ihr die Hand. Gute Reise. Atthis  Vielleicht laufen wir uns ja irgendwann wieder über den Weg. Phaon  Vielleicht, ja. Atthis schickt sich an, zu gehen, dann fällt ihr etwas ein. Sie holt ein Buch aus ihrer Tasche: Sapphos Gedichte. Sie reicht es Phaon. Atthis  Hier. Ich wollte es dem Lager schenken, aber ich … Egal … Es ist für Sie. Ein Geschenk. Phaon  betrachtet das Buch, lächelt. Danke. Atthis geht hinaus. Phaon sieht ihr nach und setzt sich dann wieder hin. Er schlägt das Buch irgendwo auf, beginnt zu lesen.

Song for Lesbos II: Wem die Stunde schlägt 13 Es war einmal eine Fläche Land, vollständig von Wasser umgeben, die sich aus einem Ozean, einem Meer, einem See oder einem Bach erhob Es war einmal ein süßer Nachtisch, bestehend aus Baiser oder Biscuitmasse, der auf einem Bett aus englischer Creme schwamm Es war einmal ein abstrakter Ort, wo der Einfluss eines Denkens, eines Gefühls ausgeübt wurde Es war einmal ein imaginärer, paradiesischer Ort Es war einmal ein begrenzter Raum, der Abgeschiedenheit erlaubte und als Zuflucht dienen konnte Es war einmal ein Ort aus einem Märchen, wo Wünsche in Erfüllung gingen und vollkommenes Glück herrschte /

Dansöz

Lass sie läuten, für mich allein Sie werden sie nicht hören

Akt III [2070]: Meine Hübschen Sappho sitzt am Tisch, mit Handschellen gefesselt. Beinahe. // Es gibt nichts Besseres als einen Flirt mit Thanatos, um seinen Eros wieder­ zufinden. zu den Frauen im Publikum, mit einem Augenzwinkern Ihr, meine Hübschen, habt euch nicht verändert17. Sagt mir – wer von euch hat schon mal den Tod flachgelegt? Das ist ein Kampf um Leben und Liebe Mano a mano, Mund zu Mund. Ich, Kriegerin zu allen Zeiten. Mein Leib, die epische Erzählung meines Widerstands. Wollt ihr ein Gedicht? Lest die Zeilen, die in mein Fleisch geschrieben stehen. Eine Terza rima in meinem Augenwinkel (mal zwei) Ein Vierzeiler unter meinem Doppelkinn Und ein Sonett in den Falten meines Bauchs. 10.000 Verse komponiert und gesungen. 650 haben überlebt.

Tümay Kılınçel

27. –29. Februar fft-duesseldorf.de

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/ TdZ Februar 2020  /

Ein gesamtes Leben zwischen den Zeilen verschwunden Wie ein Geldstück in einer Sofaritze.

Phaons Ballade 19 Phaon

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Mein Leben war das Boot und das Boot war das Meer und das Meer an dieser Stelle war eine Meerenge. Man nannte mich den „bescheidenen Mann“. Sobald jemand hinüberwollte Nahm ich ihn mit auf mein Boot. Mein Leben, das waren Hin- und Rückfahrten Hin und zurück auf dem Meer Die Sonne manchmal vor und manchmal hinter mir.

Für amputierte Gedichte gibt es keine Prothesen. Ich heiße Sappho. Warum nicht Venus von Milo?

[2070]: Wer gut ist, ist immer auch schön 18 Sappho, Phaon Phaon kommt herein und stellt ein Glas Wasser vor Sappho hin. Phaon  Hier. Sappho leert es wie ein Schnapsglas. Sappho  Mehr. Phaon  Das nächste steht Ihnen in … schaut auf seine Uhr 4 Stunden zu. Sappho  Aber – ich habe Durst! Phaon  Von jetzt an bekommen Sie dieselben Rationen wie jeder andere. Wasser wächst nicht auf den Bäumen. // Sappho  Das wird schwierig, mit sowas an den Handgelenken zu schreiben. Phaon  Sie wollen jetzt also schreiben? Sappho Ja. Phaon  Verzeihen Sie, wenn ich da skeptisch bin. Sappho  Meine Tändelei mit dem Tod hat mir den Kopf zurechtgerückt. // Geben Sie mir etwas zu schreiben, Sie werden schon sehen. Die fehlenden Wörter. Ehrenwort. / Phaon reicht ihr einen Bleistift. Sie beginnt zu schreiben. Hören Sie auf, auf das Blatt zu schielen. Phaon  Sappho am Werk, leibhaftig. Die zehnte Muse. Wenn Sie wüssten, wieviel Tinte bereits wegen Ihnen verspritzt wurde. Sie legt den Stift zur Seite. Sappho  Wollen Sie lesen? // Kommen Sie. Ein unveröffentlichter Text von Sappho. Zum Publikum Deshalb sind Sie doch hier, oder? Phaon nähert sich Sappho, liest über ihre Schulter hinweg. Phaon  „Hin und zurück, hin und zurück, kein Weg führt daran vorbei. Der Forscher ist nichts als ein Schleuser mit Brille.“ Phaon, überrascht, weicht zurück; Sappho erhebt sich, dreht sich um und packt ihn am Kragen Sappho  Ich weiß, wer du bist. Der nette Schleuser, der gute Mensch. Ich habe von dir gehört, in einem anderen Leben … Phaon. Sie sieht ihn lange forschend an Du bist also der Mann, der mir den Kopf verdreht hat? Der Mann, der meinen unteren Kompass durcheinanderbrachte? / Hattest du damals auch schon Haarausfall? Sie küsst ihn, er weicht zurück. Hey baby, baby. Das Publikum soll doch auf seine Kosten kommen. Er gibt nach. Sie küssen sich.

CÉCILE BALLY THE END OF THE ROAD

EVA MEYERKELLER LIVING MATTERS

PERFORMANCE FEBRUAR 13 14 15 20. 30 UHR FEBRUAR 16 18.00 UHR

PERFORMANCE FEBRUAR 20 21 22 20.00 UHR FEBRUAR 23 18.00 UHR

Ich war alt und gebeugt. Mein Bart kitzelte mir die Füße. Zwischen meinen Beinen war es ganz knitterig. Nichts zu verzollen. Ich war glücklich. Wie soll man nein zu Aphrodite sagen, wenn man sie um nichts gebeten hat? Wie in das Weiß ihrer himmlischen Augen starren Und ihr sagen, dass man ihr Mitleid nicht will? Ich war höflich, zu wohlerzogen. Auf diese wahnwitzige Geschichte hatte man mich nicht vorbereitet. Oh wow, danke, Aphrodite, danke, das war wirklich nicht nötig – Dank dir, Aphrodite, werde ich jung und schön sein Bis ans Ende der Zeiten. Geschmeidige Knie, Eine solide Blase, und nicht zuletzt Eine krasse Erektion. Von Insel zu Bett, von Bett zu Insel Habe ich alle Frauen der Ägäis kartografiert. Die gelenkigen, die faltigen, alle warfen sich mir zu Füßen. Nicht meine Schuld, dass ich die einzige wollte Die mich nie beachtet hat. Schach matt, Aphrodite. Phaon kann seinen Rückzug antreten. Das war doch nicht nötig, Aphrodite, Danke, danke War wirklich nicht nötig.

[2070]: Fragment 137 Sappho, Phaon, Atthis Phaon  Du sagst gar nichts mehr. Sappho  Ich denke nach. //

TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR.18 10178 BERLIN


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Phaon  Hast du früher schon mal mit einem Mann geschlafen? Sappho  Ja. Nein. Weiß nicht mehr. Was macht das für einen Unterschied? Phaon  Hast du – Sappho  Ich habe keine Lust auf dieses Spiel. Such deine Antworten woanders, Phaon.

EROS der Bitter-Süße löst die Mitglieder im Staatenbund voneinander23 EROS überquert die Grenzen ohne Pass und spricht die universelle Sprache der Flüssigkeiten – OK, jetzt aber zurück zu den ernsthaften Dingen und damit meine ich: nach Griechenland.

// Phaon zieht sich wieder an.   Sappho  Was ist passiert? Phaon  Wir haben zusammen geschlafen. Sappho  Ich meine dort … auf der Welt … auf Lesbos. Phaon  Willst du das wirklich wissen? Sappho  Ja. Nein. / Ich weiss es schon. Ich will bloß, dass du es mir sagst. Laut. // Phaon „… Es gibt ein weibliches Geschöpf, das in seinem Leib ungeborene Kinder verbirgt zusammen Und obwohl die Kinder keine Stimme haben Sappho  Schreien sie über die Wellen und über die ganze Erde hinweg Und sogar taube Menschen hören sie.“20 Lass mich. Bitte. Phaon geht hinaus. Atthis kommt herein, Sappho sieht sie nicht. Sappho zieht sich wieder an, setzt sich an den Tisch, nimmt einen Bleistift. Atthis  Sie haben mich wirklich beim Wort genommen. Sappho  Wie lange stehen Sie schon da? Atthis  Als ich gesagt habe „seien Sie nett zu ihm“, hatte ich das eigentlich nicht so gemeint. Sappho  Sind Sie eifersüchtig? Atthis  Auf Sie? Oder auf ihn? // Lieben Sie jetzt Männer? Sappho  So ist das nicht. Atthis  Erklären Sie es mir. Sappho  Denken Sie nicht so manichäisch. Atthis  Drücken Sie sich nicht so anachronistisch aus. Sappho  Ich liebe, was sich anbietet. Irgendwo muss die Libido ja hin. Atthis Irgendwo? Sappho  Zu meiner Zeit gab es keine Männer. Sie fuhren mit den Schiffen davon, um jenseits des Meeres Handel zu treiben. Wir sahen sie nur alle drei Monate. Frauen waren überall. Ich habe mich entschieden. Zu ficken, wann und wo ich wollte. Atthis  Na bravo. Sie haben die lesbische Sache gerade um drei Jahrtausende zurückgeworfen. Sappho  Ich habe mit einem Mann geschlafen, also kann ich nicht lesbisch sein? Sie haben keine Ahnung von Erotik. Wer die Schenkel öffnet, öffnet nicht zwangsläufig auch noch irgendwas anderes. Atthis  Die Schenkel weit geöffnet … und das Herz doppelt abgesperrt. Schweigen.

[2070]: Unser Dreieck 21 Sappho

Auf dem Film meines Geistes, ein Paradox aus der Mythologie: „Eros ist das Bastardkind von Reichtum und Armut.“ Begreift ihr die krasse Schizophrenie? Gemeinsam ist da nur der Neid, auf das, was du nie Nie haben kannst, nicht hast – der Neid und auch die Wut. // Das ist keine Geschichte über mich, sie und ihn. Es ist die Geschichte der geometrischen Form, die wir bilden. Unser Dreieck das Bermudadreieck das Dreieck des Nordens der Dreieckshandel LASS DICH NIE AUF NE DREIECKSGESCHICHTE EIN VERDAMMT UND DOCH – Ich schaue ihn an wie er dich anschaut du schaust mich an wie ich ihn anschaue ich schaue dich an wie du ihn anschaust du schaust sie an wie sie mich – UND AUS DER MITTE ENTSPRINGT EIN EROS

[2070]: Mit was für Augen? Sappho drückt auf den Knopf. Atthis kommt herein. Sappho  Sag nichts.   / Ich weiss, deine Mutter war Griechin und an deiner Schule war dein Name unaussprechlich für die Massen Ich weiss, du magst Kichererbsen im Humus, obwohl sie dir weder als Salat noch in Gedichten passen Ich weiss, du bist von außen spröd, doch innen süß, als würde man in goldenen Honig fassen Ich weiss, mit 24 flohst du in die Ägäis, um dich mit der Frage „Wer bin ich?“ zu befassen Du warst die Liebe meines Lebens, doch du musstest mich verlassen / Ich weiss, du bist es, μάτια μου24 – Atthis. //

Atthis  Ich – Das Bild friert ein. Sozusagen.

Eine Ameise, zwei Ameisen, drei Ameisen. Wieviele Ameisen braucht man für ein Kribbeln? Da, eine kleine Ameise, die auf meiner Brustwarze herumspaziert. Und da eine andere, die an meinem Bein hochklettert. Und da eine dritte, die mir die Lenden kitzelt. Anders als ihr in der Schule gelernt habt, ist EROS weder ein Eigenname noch ein Schimpfname. EROS ist ein Verb.22 EROS kommt und geht versteckt sich in den Falten trägt manchmal Kapuze mit Augenschlitzen und kugelsichere Weste und entblößt sich Sekunden ­später im Negligé mit lässig von der Schulter rutschendem Träger EROS lässt manchmal wochenlang monatelang nichts von sich hören in eine Schub­lade geräumt wie eine Steuererklärung die man nicht sehen will und dann plötzlich HUPT ER DIR INS OHR UNTERBRICHT DEN GEREGELTEN VERKEHR keine Panik Jungs das ist bloß meine Klitoris die bei rot über die Ampel wollte

[1970]: Hotel Sappho Sappho, Atthis Eine Gasse in Eressos. Atthis trägt einen Rucksack. Atthis  Sappho  Atthis  Sappho  Atthis  Sappho  Atthis  Sappho  Atthis  Sappho

Excuse me – παρακαλώ – excuse me? Yes? Oh … Hi. Kαλή μέρα. Γεια σας. I’m, uh, I’m looking for Hotel Sappho – do you know it? Yes. That way – then turn left. Not far. Thank you. Ähm – danke, ähm – ευχαριστώ. Τίποτα. Deutsch? Ja … Ich spreche Deutsch.

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Atthis  Ach wirklich? Tut mir leid, mein Griechisch ist nicht … streckt die Hand aus, um sich vorzustellen Atthis. Sappho  schüttelt ihr die Hand Sappho. Atthis  Sappho? Wie …? Sappho  Wie das Hotel, ja. Und Sie? Sie sprechen kein Griechisch, aber Sie heißen Atthis? War Ihre Mutter lesbisch? Atthis  Meine Mutter war Griechin1. Sie lachen. Ich … ich sollte zu meinem Hotel gehen … Wohnen Sie im Dorf? Sappho  Ja. Mir gehört eine Kneipe, nicht weit vom Strand. Atthis  „Bar Sappho“? Beide lachen. Sappho  Wenn Sie wollen, kann ich Sie begleiten …? Das liegt auf meinem Weg. Atthis  Ja. Gerne.

[1970]: Einmal, vor langer Zeit Sappho Du kamst von Bord und sprachst die Sprache nicht Schon fast jugendlich, zu groß für deine Haut25 Noch nicht im Vollbesitz deiner selbst    Atthis Hör auf, mich so anzusehen     Als gäbe es nichts außer hier Als gäbe es nichts außer jetzt Das stört mich Sappho Dein Mund wie eine unreife Traube Die Lese ist noch fern Aber ich bin geduldig. Ich spreche ein kurzes Gebet: Kein Schnee, kein Hagel, kein Mehltau OK Dionysos? LET’S GO Atthis Du hast dich umgedreht und ich sah dir beim Weggehen zu Als du die Straße wieder hochgingst, war dein Schritt schwer nein – dein Schritt war nicht schwer, er war selbstsicher das hier war deine Straße deine Stadt dein Himmel dein Meer deine Insel Ich war bei dir zu Gast Sappho Am nächsten Morgen ging ich dort spazieren wo ich sonst niemals hinging Öko-Cafés mit griechischem Frühstück Auf der Suche nach deiner unreifen Traube Der Rundung deiner Schulter Deinem hochmütigen Hintern Deinem Lächeln, links etwas höher als rechts  Atthis Hey – hallo! Das ist also deine Kneipe … Sappho Du lächeltest zu übertrieben warst zu grün Ich wusste du würdest mein Verderben sein  Doch muss man alles wagen, denn – 26

[1970]: Atthis für Dich Sappho, Atthis Sappho liest gerade. Atthis kommt herein. Atthis  Hey! Sappho  Da bist du ja! Der Mond hat sich schlafen gelegt, die Plejaden auch, die Stunden vergingen, und ich war ganz alleine27. Komm her, μάτια μου. Sappho zieht Atthis an sich, sie küssen sich. War es schön am Strand? *1

Die unterstrichenen Sätze überschneiden sich.

Atthis  Super. Du hättest mitkommen sollen. Wir haben die ganze Nacht lang getanzt. Sappho  Meine Knie sind mir dankbar28. Wer war da? Atthis  Oh, ähm … Eirana, Mnasidika. Gongyla. Alle deine Eroberungen. Sappho  Ha! Ein Grund mehr, zu Hause zu bleiben. Atthis  zieht ihre Schuhe aus. Andromeda auch. Sappho Andromeda? Atthis  Ja, du weißt schon, sie arbeitet im Hotel. Sappho  Die Brünette mit den endlos langen Beinen? Atthis  Fang bloß nicht damit an. // Sappho  Wie schön du bist. Atthis  Hör auf. Sappho  Eine echte Helena29. Atthis  Du nervst … Sappho  „War das der Blick, der tausend Schiffe trieb / Ins Meer, der Trojas hohe Zinnen stürzte?“ 30 Atthis  Ist das von dir? Sappho  / Ja. Gefällt es dir? Atthis Ja. Sappho  Atthis – für dich31. Sie reicht ihr ein Geschenkpaket. Atthis öffnet es; es ist ein Band mit Sapphos ­Gedichten. Atthis  Ach. Danke. Sappho  Hast du sie schon? Atthis  Ja, das heißt, nein, ich hab sie nicht, aber ich hab schon welche gelesen. Sappho  Gefallen sie dir nicht? Atthis  Nein, nicht direkt … Naja, sagen wir, ich verstehe, dass es wichtig ist, aber … Ich weiß nicht, persönlich hauen mich Gedichte über Obstgärten und Bienen und Kichererbsen echt nicht so um. / Aber danke trotzdem, ich weiß das wirklich … Sie macht eine Bewegung auf Sappho zu, die sie zurückstößt. Sappho  Was hast du dann hier zu suchen? Atthis  / Wie bitte? Sappho  Antworte mir. Atthis  Ich … ich bin gekommen, um mich selbst zu finden. Sappho Und? Atthis  Und was? Sappho  Hast du dich gefunden? Atthis  Du weißt genau, was ich meine. Sappho  Ich meine das ernst. Ich bin zu alt für diesen Quatsch. Also sag mir. Hast du gefunden, wonach du gesucht hast? Atthis  verwirrt, versucht, das Thema zu wechseln. Ja schon, siehst du, ich habe dich gefunden. Sappho geht auf Atthis zu, nimmt ihr Gesicht in ihre Hände. Sie sehen sich an. Es herrscht eine seltsame Spannung. Sappho küsst Atthis aggressiv. Es folgt eine Sexszene, zu choreografieren nach den Wünschen der Regisseurin und der Schauspielerinnen. Es ist keineswegs notwendig, sich auszuziehen, im Gegenteil. Es handelt sich nicht um eine leidenschaftliche Liebesszene: Das Ganze soll ein bisschen verwirrt, ein bisschen brutal, ein bisschen traurig sein. Während der Szene soll folgender Text in der angegebenen Reihenfolge ertönen, aufgeteilt zwischen den Schauspielerinnen (es handelt sich um das Fragment 88a): Vor – In Richtung – Löse – Soll ich dich tragen? Jemand – Ich – Vorsichtig – Du weißt – Vergessen – Du – Als ob – Ja, ich – Liebe dich – Solange in mir – Ich werde mich kümmern – Sag mir, dass ich stark bin – Du tust mir weh –


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Sappho Ich bin vielleicht alt, doch wenigstens war ich es schon immer. Alt, als ich sie erstmals küsste in jener Gasse in Eressos Alt, als der Fisch ihrer Zunge über meine Zunge glitt Alt, als das Salz auf meinen Händen ihren Sonnenbrand erbeben ließ Alt, als sie vor meinem Leib niederkniete Um dem Pfeffer und dem Salz meines Dreigestirns zu huldigen    Atthis Ich schmecke gerne deinen Pfeffer und dein Salz doch mag ich‘s nicht, wenn du dich schämst Das hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge Ich mag deinen Haarknoten, der ins Weiße spielt das verleiht dir einen Anschein, als könnte dir nichts etwas anhaben Der gute Geist des Ortes Die alte Lesbe von Lesbos Du bist so schön Bitte Hör auf, deine weißen Haare im Spiegel auszureißen, wenn du glaubst, ich sehe es nicht Bitte Leg deine welken Lippen auf meine Lass mich das Gewicht deiner schlaffen Brüste tragen Und das Glück in den Falten deines Leibes finden     Sappho Wenn du mich liebst, such dir eine jüngere Bettstatt Denn als Ältere von uns beiden kann ich nicht mit dir leben32    Atthis Bitte     Sei bei mir, ohne an dich zu denken

[1970]: Totsein will ich 33 Sappho, Atthis Atthis  Ich habe einen Job gefunden. / Auf dem Festland. // Ich fahre morgen. // Sag etwas. / Bitte. // Du könntest mitkommen. Sappho lacht. Das ist ernstgemeint. Komm mit. Sappho  Was genau soll ich da? Atthis  Ich weiß nicht. Wir finden schon was. Sappho  Ich kann mein Leben nicht anderswo neu beginnen. Nicht jetzt. Atthis  Warum? Du musst nicht hier sein, um dich um eine Bar zu kümmern. Sappho  Darf ich dich daran erinnern, dass ich nicht bloß Inhaberin einer Bar bin? Atthis  Du must nicht hier sein, um zu schreiben. Sappho Falsch. Atthis  Sappho … Sappho  Verlange nicht von mir, mich zwischen dir und meiner Insel zu entscheiden. Ohne dich kann ich leben. Ohne sie nicht. // Atthis  OK. / Bye, Sappho. Atthis dreht sich um, geht in Richtung Ausgang. Sie sieht den Band mit Sapphos Gedichten auf dem Tisch, zögert – und steckt ihn dann ein.

Projektideen gesucht! Ausschreibung für die Spielzeit 2021/22: 1. Februar bis 15. März 2020 Was ist NOperas?

Im Rahmen der 2019 vom Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) gestarteten Förderinitiative NOperas! schließen sich für drei Spielzeiten mehrere Theater zu einem Verbund zusammen. Gemeinsam realisieren sie in jeder Saison ein Projekt, das an den betreffenden Häusern gezeigt wird. Dabei stellen die beteiligten Theater abwechselnd die Erstproduktionsstätten. Jenseits der von den Häusern selbst eingebrachten Ressourcen stellt der feXm für jede Produktion Fördermittel von bis 170.000 Euro zur Verfügung.

Ausschreibung 2020

Mit der laufenden Ausschreibung für die Spielzeit 2021/22 geht die Zusammenarbeit in die dritte Runde. Dieses Mal realisieren zwei Häuser ein Musiktheater-Projekt. Erstproduzierendes Haus ist in der Spielzeit 2021/22 das Theater Bremen. Anschließend wird das Projekt mit der Oper Wuppertal weiterentwickelt und dort aufgeführt.

Wer kann sich bewerben?

Als Förderinitiative orientiert sich der feXm an einem erweiterten, nicht auf Formen der zeitgenössischen Oper fixierten Musiktheaterverständnis. Im Fokus steht ein prozessuales Arbeiten in mehreren Probenphasen. Bewerben können sich europaweit Teams, die gemeinsam das Zusammenspiel der Theaterebenen (Komposition, Text, Regie, Bühne) verantworten. Eine Jury ausgewiesener Fachleute im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters entscheidet gemeinsam mit den beteiligten Theatern über die Auswahl des zu realisierenden Projekts. Die Ausschreibungsfrist endet am 15. März 2020. Ausführliche Informationen zu Ausschreibung und Bewerbung finden Sie auf www.noperas.de »NOperas!« – eine Initiative des Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm). In gemeinsamer Trägerschaft von NRW KULTURsekretariat und Kunststiftung NRW, in Kooperation mit der Oper Wuppertal und dem Theater Bremen.

G E F Ö R D E RT D U R C H

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[2070]: Mit was für Augen? (reprise) Sappho, Atthis Déjà vu.

Sie fängt wieder an zu schreiben, fieberhaft. Phaon setzt sich ihr gegenüber.

Sappho  Sag nichts. Ich weiss, mit 24 flohst du in die Ägäis, um dich mit der Frage „Wer bin ich?“ zu befassen Du warst die Liebe meines Lebens, doch du musstest mich verlassen / Ich weiß, du bist es, μάτια μου – Atthis.

Phaon  Sappho – warum …?

// Atthis  Ich – Ich hab genug von deinen bescheuerten Reimen. Angespanntes Schweigen, dann muss Sappho laut lachen. Sappho  Ich wusste es. Atthis  Ja. Das heißt nein. Es ist kompliziert. Sappho  Pssst – Ich habe keine Zeit. Lass mich dich anschauen. Sie streicht mit der Hand über Atthis’ Gesicht. Der folgende Dialog ist langsam, bedächtig. Die Frauen denken lange nach, bevor sie sprechen, versuchen sich präzise auszudrücken. Atthis  In einem anderen Leben – liebte ich deine Art, mich zu berühren. Der Sommer ist uns entglitten und – deine Finger aus mir heraus … Sappho  Nein, Atthis. Ich habe dich alle Tage und Nächte lang geliebt, bis zur allerletzten. Und du hast vor meiner Liebe Angst bekommen. Atthis  Ich hatte Angst vor deinem Neid. Sappho  Meinem Neid? Atthis  Deiner Eifersucht. Sappho  Eifersüchtig? Ich? Auf wen? Atthis  Auf mich. // Sappho  Du warst so jung. Bist es noch. Wirst es immer sein. Atthis  Genau das meine ich. Sappho  Ich höre damit auf. Ehrenwort. Atthis  Und dann? Sappho  Wir gehen weg. Du und ich. Atthis  Wohin? Lesbos gibt’s nicht mehr. Sappho  Wir werden etwas finden. Wir werden eine Bar aufmachen, an einem Strand. Atthis  Wir werden Gedichte rezitieren und dabei schnapsglasweise Tequila trinken? Sappho  Bis ans Ende der Zeit. Atthis  Na, dann beeilen wir uns besser.

//

// Sappho  Weil es geschrieben stand. Sie schreibt weiter, unterbricht sich, um in Richtung der Tür zu schauen. Phaon  Sie wird nicht kommen. Sappho versteht nicht die Tragweite dessen, was er gerade gesagt hat. Sie ist weggegangen, Sappho. Sie kommt nicht wieder. / Sappho  Ich – was? Phaon  Sie ist weggegangen. Sappho  Das kann nicht sein. Phaon  Tut mir leid. Sappho  Du …? Verschwinde. / Lass mich in Ruhe! Phaon geht in Richtung Tür. Er zögert, dreht sich um und geht dann hinaus. Sappho beginnt wieder zu schreiben.

Ich begehre und ich brenne 34 Sappho Alles wagen weil Sonst hätte ich mich niemals Verlassen aufgeben plattmachen verletzen Kaputtmachen zerbrechen durchschütteln verdrehen lassen Man muss doch leben So scheint es     Ihr habt mich zerbrochen seziert zweigeteilt zerstückelt zersplittert ihr seid in meine Räume eingedrungen habt meine Abgründe leergebaggert Jetzt ist mir klar ihr So wie die Farbe des Meeres von der Sonne abhängt Hängt die Farbe meiner Seele von der Qualität eures Blickes ab Egal warum, wichtig ist nur – Egal wie, wichtig ist nur – Einvernehmlich oder nicht – wichtig ist nur, dass du mich liebst35 Wisst ihr, was man sagt?

[2070]: Die einzige, die mich verlassen hat Sappho, Phaon Sappho schreibt gerade. Die Tür geht auf, Sappho steht auf. Phaon kommt herein. Sappho setzt sich wieder hin.

ABANTHIS ANAKTORIA ANDROMEDA ATTHIS – OOOOH ATTHIS – DIKA DORICHA ERINNA GONGYLA GORGO GYRINNA HELENA MEGARA MIKA MNASIDIKA TELESIPPA

Phaon  Hast du jemand anderes erwartet? Sappho  Ich verstehe nicht, was du meinst.

Und all die One-night-stands, deren Namen mir nicht mehr einfallen

02 / 2020 Sol Bilbao Lucuix Ernestyna Orlowska Samuel Déniz Falcon

theater–roxy.ch


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ICH HABE SIE BEGEHRT ICH HABE SIE GEFICKT VEREHRT VERACHTET ANGEFLEHT BESCHIMPFT VERSTOSSEN Hört zu, was kann ich dafür, wenn sie sich mir vor die Füße werfen Nicht meine Schuld, wenn ich die einzige will, die mich verlassen hat

Und alle One-night-stands, deren Namen mir nicht mehr einfallen

OOOOH ATTHIS Du kamst, ich war verrückt nach dir Und du hast meinen alten Leib erfrischt, der vor Begierde brannte36

Hier sind meine Gedichte.

– OOOOH ATTHIS – die einzige, die mich verlassen hat

Sie zieht die Schwimmweste an.

EPILOG: Mögest du (endlich) schlafen Sappho Sappho legt einen riesigen Blätterstapel auf den Tisch. Zum Publikum

Macht damit, was ihr wollt. Sie gehören mir nicht mehr.

Ich muss jetzt gehen. KOMM BABY, DREH NE RUNDE AUF MEINER INSEL ICH FÜHR DICH ZUM ESSEN AUS, WIR BESTELLEN APHRODISIASALAT GEHEN VOLLSTÄNDIG BEKLEIDET AN EINEM FKK-STRAND SPAZIEREN TAUSCHEN KÜSSE FRESH WIE WASSERMELONEN37 EROS! EROS! EROS! Meine Seele löst sich von sich selbst Ich halte Eis in meinen Händen es schmilzt Der Honig verbrennt mich Wisst ihr, was man sagt? Man sagt, jahrhundertelang haben sich Frauen geliebt In meinem Namen Haben gefickt In meinem Namen Haben geschrieben In meinem Namen Haben Revolutionen angezettelt In meinem Namen MONIQUE WITTIG – IN MEINEM NAMEN! RENEE VIVIEN – IN MEINEM NAMEN! VIRGINIA WOOLF – IN MEINEM NAMEN! JEANETTE WINTERSON – IN MEINEM NAMEN! SIMONE DE BEAUVOIR – IN MEINEM NAMEN! JUDITH BUTLER – IN MEINEM NAMEN! EMILY DICKINSON – IN MEINEM NAMEN! VIRGINIE DESPENTES – IN MEINEM NAMEN! ANGELA DAVIS – IN MEINEM NAMEN! COLETTE – IN MEINEM NAMEN! AUDRE LORDE – IN MEINEM NAMEN! GERTRUDE STEIN – IN MEINEM NAMEN! OLYMPE DE GOUGES – IN MEINEM NAMEN! ROSA LUXEMBURG – IN MEINEM NAMEN! GRISÉLIDIS RÉAL – IN MEINEM NAMEN!

Sie geht in Richtung Ausgang, zögert. Na gut. Eins zum Abschied? Sie nimmt ein Blatt vom Stapel, liest. „Mögest du an den Brüsten deiner Geliebten schlafen38 Wie auf festem Grund Mögest du ihre feuchten Zonen erforschen Ohne Furcht, darin zu ertrinken Mögest du den Schmetterling ihrer Lippen streicheln Ohne Hintergedanken Mögest du immer und immer wieder dorthin zurückkehren Aus Gewissheit, sie wiederzufinden.“ Ich habe Gedichte geschrieben. Auf einer Insel. Ich liebte Frauen. Sie geht hinaus.

CODA Phaon kommt herein, bemerkt Sapphos Abwesenheit, ohne jegliche Überraschung. Er sieht den Blätterstapel auf dem Tisch, geht hin und setzt sich. Er nimmt ein Blatt vom Stapel und beginnt, zu lesen. Atthis kommt herein. Phaon und Atthis sehen sich an. Viele Dinge liegen in diesem Blick. Phaon nimmt seine Lektüre wieder auf. Atthis bleibt einen Augenblick stehen, sieht ihm zu und setzt sich dann hin. Sie nimmt ein Blatt vom Stapel und beginnt zu lesen. ENDE.

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ANHANG Liste der Verweise und Zitate

In Frohsinn hineingemischten Nektar spendend Schenke den Wein aus!

Wenn nicht anders angegeben, wurden Sapphos Gedichte anhand der französischen Über­setzung durch Sarah Jane Moloney vom Übersetzer ins Deutsche übertragen.

8  Sappho, Fragment 51: „Was soll ich tun ? Weiß nicht. / Zweifach ist mein Sinn.“ (Übers. Albert von Schirnding)

1  Kypris ist ein Beiname der Göttin Aphrodite mit der Bedeutung „aus Zypern stammend“. (Daher kommt auch der Begriff „Zyprin“, der das Sekret bezeichnet, das die Vagina im Zustand der Erregung absondert.) Das Gedicht am Ende des Monologs baut auf dem Vorbild des Fragments 1 auf, das gemeinhin als „Ode an Aphrodite“ bezeichnet wird (Übers. Georg Thudichum): Buntbethronte himmlische Aphrodite, Tochter Zeus‘, Trugspinnerin, zu dir fleh‘ ich, Lass dem Unmut, lasse dem Gram mein Herz nicht, Göttin, erliegen! Sondern komm hierher, wenn du sonst auch jemals, Meines Anrufs Stimme vernehmend, fernher Hörtest, und, den goldnen Palast des Vaters Lassend, herabkamst. Im geschirrten Wagen; dich fuhr der schöne Schnelle Sperlingszug um die weite Erde, Dich die Flügel schwingend, vom Himmel mitten Hin in dem Aether. Und sie kamen eilig, und du, o Sel‘ge, Lächelnd mit unsterblichem Angesichte, Fragtest, was ich wieder erlitten, was ich Wieder dich rufe; Was ich im wahnsinnigen Mut vornehmlich Will gewährt sehn. „Wessen begehrst du wieder, Den dir Peitho führe zur Lieben? Wer, o Sappho, wer kränkt dich? Siehe, wenn sie flieht, wird sie bald verfolgen, Wenn sie sonst Geschenke nicht nahm, sie geben, Wenn sie nicht geküsst, wird sie bald dich küssen, Wolltest du selbst nicht.“ Komm auch jetzo zu mir und lös‘ aus schweren Sorgen mich, nach wessen Erfüllung aber Sich das Herz mir sehnt, das erfüll‘, und selber Hilf mir im Kampfe! 2  Sappho, Fragment 82a: „Mnasidika, wohlgeformter noch als Gyrinno“ 3  Sappho, Fragment 49: „Ich habe dich geliebt, Atthis, vor langer Zeit / ein Kind noch schienst du mir und ohne Reiz .“

9  Sappho, Fragment 137: „Etwas sagen will ich, doch mich hemmt / die Scham.“ 10  Sappho, Fragment 52: „ Keinerlei Hoffnung, den Himmel mit meinen Händen zu berühren.“ 11  John Donne, Niemand ist eine Insel (1624): „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ 12  Sappho, Fragment 52: „Keinerlei Hoffnung, den Himmel mit meinen Händen zu berühren“ 13  John Donne, Niemand ist eine Insel 14  Charles Baudelaire, Lesbos (1857): „Lesbos, wo Küsse sind wie die stürzenden Fluten / die ohne Zagen sich werfen in grundlose Schlucht“ (Übers. Terese Robinson) 15  Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte: These XVI (1940): „Der Historismus stellt das ‚ewige‘ Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überlässt es anderen, bei der Hure ‚Es war einmal‘ im Bordell des Historismus sich auszugeben.“ 16  Gregor von Korinth, Über Hermogenes (ca. 1120): „Auf hässliche Weise umschmeichelt das Gehör zunächst alles, was erotisch ist, wie wir es etwa von Anakreon oder Sappho kennen (…)“ 17  Sappho, Fragment 41: „Euch, den Schönen gilt mein Sinnen / unveränderlich.“ (Übers. Albert von Schirnding) 18  Sappho, Fragment 50: „Wer schön ist, wird dies sein, so lange seine Schönheit dauert; wer gut ist, wird sogleich auch schön sein.“ 19 Palaiphatos, Unglaubliche Geschichten (ca. 360 v. Chr.): „Phaon lebte von seinem Boot und vom Meer; das Meer, an dem er lebte, war eine Meerenge. Niemand beklagte sich über ihn, denn er war ein bescheidener Mann, der nur von denen Geld nahm, die auch welches hatten. Die Lesbier bewunderten sein Verhalten. Eine Göttin wollte den Mann ehren, und man sagt, es sei Aphrodite gewesen. In Gestalt eines Menschen, einer älteren Frau, bittet sie Phaon, sie über die Meerenge zu bringen. Er bringt sie schnell hinüber und verlangt dafür keine Bezahlung. Was also tut die Göttin? Man sagt, sie verwandelte den Mann, verwandelte sein Alter in Jugend und Schönheit. Sappho liebte diesen Phaon und hat ihn oft besungen.“ Siehe auch Brief XV (Sappho an Phaon) in Ovids Heroïdes (ca. 15 v. Chr).

4  Fragment 2: „Besuche mich (…) im heiligen Hain, wo Apfelbäume wachsen (…)“

20  Es handelt sich um den ersten Teil eines Rätsels, das die Figur Sappho in der gleichnamigen Komödie von Antiphanes aufgibt (4. Jh. v. Chr).

5  Fragment 146: „Für mich weder Honig noch Biene“

21  Sappho, Fragment 31 (Übers. Franz Wilhelm Richter):

6  Sappho, Fragment 143: „Goldene Kichererbsen wuchsen an den Ufern.“

Göttern gleich scheint jener beglückte Mann mir, Welcher dir entgegen vor Augen dasitzt Und in deiner Nähe der Lippe süsses Tönen dir ablauscht,

7  Sappho, Fragment 2 (Übers. Wolfgang Schadewaldt): Kypris, Komm eilends von des Himmels Häuptern Herabgegangen Hierher mir, wo einst Kreter den Tempel bauten, Den heiligen, da lieblich dir ein Hain ist Von Apfelbäumen, und Altäre sind drin, die Dampfen von Weihrauch Und drin rauscht kühles Wasser durch Apfelzweige, Von Rosen ist der ganze Platz Beschattet, und von den bebenden Blättern Fließt Schlummer nieder. Drin steht die roßnährende Wiese In Blüte mit Flammenkraut, und die Anise atmen Und Honiglotos. Dort nimm nun du die Kanne, Kypris, Und in die goldenen Becher wonnig

Und das Lächeln schauet der Liebesanmuth. Mir bewegt dies wogend das Herz im Busen; Denn erscheinst vor Augen mir du, so stockt gleich Jeglicher Laut mir. Ja gelähmt erstarret die Zung‘, und leises Feuer rinnt dann über die Haut mir plötzlich; Nacht umhüllt fortan das Gesicht, und gellend Klingen die Ohren; Kalter Schweiss entträufelt der Stirn, und Zittern Fasst mich ganz, und falber, denn Gras, erblass‘ ich, Und der Nacht des Todes nur wenig fern noch Schein‘ ich 22  Anne Carson, Eros the Bittersweet (1986): „Verlangen ist Bewegung. Eros ist ein Verb.“


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23  Sappho, Fragment 130: „Bittersüße, unsichtbare Schlange, Eros / quält mich aufs Neue, löst meine Glieder.“ 24  Sappho, Fragment 162: „Mit was für Augen?“ 25  Sappho, Fragment 49: „Ich habe dich geliebt, Atthis, vor langer Zeit / ein Kind noch schienst du mir und ohne Reiz“ 26  Sappho, Ende Fragment 31: „Doch muss man alles wagen, denn –“ 27  Sappho, Fragment 168b: „Der Mond und die Plejaden sind untergegangen, die Nacht schreitet voran, Mitternacht, die Stunde kommt und geht, und ich schlafe allein.“ 28  Sappho, Fragment 38: „Meine Knie tragen mich nicht mehr.“ 29  Sappho, Fragment 23: „Wenn ich dich ansehe (…) vergleiche ich dich mit der blonden Helena.“ 30  Christopher Marlowe, Faust (1592): Akt V, 1. Szene

sarah jane moloney_sappho x

FORUM Text Das DRAMA FORUM von uniT in Graz startet im Sommer 2020 erneut den viersemestrigen Lehrgang für szenisches Schreiben.

2. April

2020

EndE dER bEwERbUngsFRisTD www.dramaforum.at/forum-text uniT, Jakominiplatz 15, 8010 Graz

RA FO MA RU M info@uni-t.org +43-316-380-7482

31  Sappho, Fragment 8: „Atthis für dich“ 32  Sappho, Fragment 121: „Wenn du mich liebst, suche dir eine jüngere Bettstatt / Denn als Ältere von uns beiden kann ich nicht mit dir leben.“ 33  Sappho, Fragment 94 (Übers. Wolfgang Schadewaldt) (vgl. auch Albert v. Schirndings Übersetzung „Totsein will ich.“): ... ganz ehrlich, ich wollte, ich wäre tot! Als sie schied, hat sie viel geschluchzt und dies zu mir gesagt: „Ach, wie schrecklich ergeht es uns, Sappho! Gar so ungern scheide ich von dir!“ Da hab ich ihr dies erwidert: „Glück auf den Weg und gedenke mein! Du weißt ja, wie wir dich gehegt haben.

34  Sappho, Fragment 36: „Ich begehre und ich brenne.“ 35  Sappho, Fragment 1: „Wer, o Sappho, wer kränkt dich? /Siehe, wenn sie flieht, wird sie bald verfolgen / Wenn sie sonst Geschenke nicht nahm, sie geben / Wenn sie nicht geküsst, wird sie bald dich küssen / Wolltest du selbst nicht.“ (Übers. Georg Thudichum) 36  Sappho, Fragment 48: „Du kamst, ich war verrückt nach dir / und du hast meinen Geist erfrischt, der vor Verlangen brannte.“ 37  Charles Baudelaire, Lesbos (1857): „Lesbos, wo Küsse (…) frisch wie Wassermelonen“ (Übers. Dietrich Feldhausen) 38  Sappho, Fragment 126: „Mögest du schlafen am Busen deiner sanften Freundin.“

Und wo nicht, nun, so will ich dich dran erinnern, …: [fein] und schön ist es uns ergangen. Viel Kränze aus Veilchen und Rosen und … und… hast du dir bei mir angelegt, und viele Duftgewinde um den zarten Hals, aus lieblichen Blumen gemacht; und mit viel Salbe, Brenthos und Königssalbe, hast du dich gesalbt, und, auf ein weiches Polster die zarte [Wange gebettet?], hast du das Sehnen … gestillt; und da war kein [Reigen] und kein Heiligtum und kein … wo wir nicht dabei waren, kein Götterhain... [wo nicht] der Schall [der Kastagnetten]…“

Ein Auftragswerk für das Poche/Gve in Zusammenarbeit mit Stück Labor. Impressum: Redaktion: Dorte Lena Eilers, Anja Nioduschewski, Heike Dürscheid. Mit­arbeit: Lara Wenzel. Leiterin Stück Labor: Heike Dürscheid. Die hier abgedruckten Stücke wurden im Rahmen einer Medien­partnerschaft von Stück Labor und Theater der Zeit veröffentlicht.

VERDRÄNGEN VERDRÄNGEN VERDRÄNGEN IN KOPRODUKTION MIT THEATER RAMPE, ECLAT FESTIVAL NEUE MUSIK U.A.

MUSIKTHEATER VON OBLIVIA PREMIERE: 07.02.2020

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Magazin Das Phantasma zeitloser Werke Der Film „Cunningham“ von Alla Kovgan über den US-amerikanischen Tänzer und Choreografen will Kunstfilm und Archiv zugleich sein – was nicht immer gelingt  Dresdens erstes Off-Theater ist weiterhin in Das noch in der DDR-Agonie entstandene Projekttheater wird im Februar dreißig Jahre alt  Die Kunst, ein Produktionshaus zu etablieren Warum Pirkko Husemann, Künstlerische Leiterin der Schwankhalle Bremen, nach nur fünf Jahren das Haus verlässt  Geschichten vom Herrn H. Danke, Merkel! Die zwanziger Jahre  Bücher Michael Caine, Sarah Kirsch / Christa Wolf, Andrej Platonowr

Cunninghams „Second Hand“ rekonstruiert – in Alla Kovgans Film „Cunningham“. Foto Martin Miseré

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magazin

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Das Phantasma zeitloser Werke Der Film „Cunningham“ von Alla Kovgan über den US-amerikanischen Tänzer und Choreografen will Kunstfilm und Archiv zugleich sein – was nicht immer gelingt Wahrscheinlich wäre es schwer, einen Film

Erwähnenswert gewesen wäre dagegen, dass

über Merce Cunninghams Tanz zu machen,

Cage und Rauschenberg bei geflohenen Exil-

der ästhetisch nicht ansprechend wäre. Der

künstlern aus Europa, beispielsweise am

US-amerikanische Tänzer und Choreograf

Black Mountain College, studierten, die ihre

lebte seit den vierziger Jahren in New York

Ideen zur künstlerischen Zusammenarbeit

und formulierte mit seiner tänzerischen Be-

beeinflussten.

gabung wie seinen Choreografien einen eige-

Um Cunninghams Arbeiten genauer zu

nen Stil zwischen Ballett und Modern Dance.

konturieren, wäre eine Formulierung der sti-

Bedeutung gewann er darüber hinaus durch

listischen Widersprüche, aus denen er eine

die langjährige Zusammenarbeit mit John

eigene Ästhetik entwickelte, spannend gewe-

Cage, der auch sein Lebenspartner war, und

sen. Die Dokumente der Proben und kurzen

Robert Rauschenberg sowie durch die Grün-

Reflexionen geben darüber Auskunft, wie

dung einer eigenen Kompanie im Jahr 1953.

Cunningham einerseits an der Präzision und

Der Film von Alla Kovgan, der derzeit

Virtuosität aus Ballett und Modern Dance

in den Kinos zu sehen ist und Ende 2020 als

festhielt, gleichzeitig aber die Individualität des Ausdrucks und der Ausführung jeder Be-

DVD erscheinen soll, konzentriert sich vor al-

wegung der einzelnen Tänzer förderte.

Integriert werden – und dies ist ein großer

„The only way to do it is to do it“ – Merce Cunningham in Alla Kovgans Film.

Gewinn – einige neue Dokumente aus europä-

Foto Robert Rutledge

ist, dass dieser individuelle Ausdruck, der aus

lem auf die Jahre dieser Zusammenarbeit.

Ein erklärungsbedürftiger Widerspruch der Intensität der Bewegung entsteht, den

ischen und US-amerikanischen Fernseharchi-

meisten der aktuellen Tänzer des Films in ihren

ven: Probendokumente, Interviewpassagen, Bilder der gemeinsamen Tourneen sowie Aus-

Insofern hinterlässt der Film viel Ratlosigkeit.

einfarbigen Ganzkörperanzügen fehlt. Obwohl

schnitte originaler Choreografien. An einigen

Trotz seines Vorhabens, Cunninghams Choreo­

Cunningham selbst den Tanz über das Erfahren

Stellen gelingt es dem Film, selbst mit der

grafien dem kulturellen Erbe zuzuführen, ge-

von Bewegung nach den Gegebenheiten des je

visuellen Ebene zu experimentieren.

lingt es nicht wirklich, Aufschluss über des-

eigenen Körpers praktizierte und lehrte, geht

Eine zweite, entgegenlaufende Inten­

sen Bedeutung zu geben. Eine konkretere

dieser Aspekt leider in den Rekonstruktionen

tion nimmt jedoch bedauerlicherweise über-

historische Einordnung sowohl der Dokumente

verloren und wäre heute neu zu entdecken.

hand: Dies ist das Vorhaben, mittels des Me-

als auch der Arbeiten Cunninghams und ihrer

diums Films und der 3-D-Technologie die

Entwicklung wären von Interesse gewesen.

Zweifellos ist es von großer Bedeutung, die flüchtige Kunst des Tanzes zu bewahren,

Choreografien Cunninghams zu „bewahren“.

Durchaus werden einige künstlerische

zumal dies noch viel zu wenig als Selbstver-

Die historischen Dokumente der Stücke wer-

Ausgangspunkte dargestellt, doch wie sich

ständlichkeit angesehen wird. Der Film von

den ergänzt durch Rekonstruktionen einiger

diese weiterentwickelten, welche künstleri-

Alla Kovgan zeigt jedoch die (wohlbekannten)

seiner Choreografien durch heutige Tänzerin-

schen Probleme in den einzelnen Stücken

Fallstricke eines solchen Unternehmens: We-

nen und Tänzer (einige davon noch von Cun-

bearbeitet werden, bleibt offen.

der Film noch 3-D-Technologien sind neutrale

ningham selbst ausgebildet). Dabei verlässt

Da der Film auf eine Selbstreflexion

Medien, noch sind unkommentierte Doku-

der Film sich zu sehr auf den visuellen Reiz

über das Erzählen von Geschichte verzichtet,

mente neutral, die stets nur den Horizont der

des Tanzes und reiht vor allem in der zweiten

stehen Cunninghams Choreografien wie auch

jeweils sprechenden Personen zeigen. Die

Hälfte ohne erkennbaren erzählerischen Bo-

er selbst wie in einem Vakuum. Damit gerät der

Idee von „zeitlosen“ Werken oder Choreogra­

gen eine Choreografie an die andere. Störend

Film in die Falle einer altbackenen Genie-­

fien folgt zwar einem ästhetischen Wert aus

ist zusätzlich die Konzentration auf die allzu

Erzählung, nach der Cunningham, Cage und

der Moderne der 1950er Jahre, wurde aber

verlässlichen Namen der amerikanischen

Rauschenberg ex nihilo die amerikanische

längst als Phantasma erkannt. Aus den „Erbe“-

Avantgarde, die für Bedeutung einstehen

T­anzavantgarde gegründet hätten. Die Künstler

beziehungsweise

müssen. Da Andy Warhol zu einem von Cun-

selbst zu Wort kommen zu lassen ist keines-

aus West und Ost der vergangenen siebzig

ninghams Stücken ein Bühnenbild aus heli-

wegs hilfreich. Denn auch noch die Verweige-

­Jahre wissen wir, dass mehr vonnöten ist als

umgefüllten silbernen Kissen lieferte, wird

rung des Avantgarde-Labels durch Cunning-

Wiederholung und Bewunderung, um künstle-

sein Name als zweitgrößter auf Filmplakat

ham fügt sich problemlos in diese Erzählung:

risch Bedeutendes lebendig zu erhalten. //

und Flyer gedruckt.

„The only way to do it is to do it“, you know.

„Traditions“-Diskussionen

Irene Lehmann

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/ TdZ Februar 2020  /

Zeitschrift für Theater und Politik

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/ TdZ  Februar 2020  /

Es ist noch etwas geblieben vom morbiden Charme der Gründerzeit des Dresdner Projekttheaters. Die Tordurchfahrt auf der Louisenstraße führt in den Innenhof der typischen Blockrandbebauung mit der heute noch als solche erkennbaren ehemaligen Werkhalle des VEB Metallwaren. Die war im Juli 1989 schon

Dresdens erstes Off-Theater ist weiterhin in

verlassen, als sich eine Gruppe spielfreudiger Typen unter dem Namen theaterbrigade der Halbruine bemächtigen wollte. Hundert Jahre nach der Gründerzeit, als die Äußere Neustadt entstand. Die DDR und die

allerdings der Kragen geplatzt, „weil so viel Scheiße produziert wurde“. Professionalisierung war Skowroneks Ziel. Das ABM-Ensemble mit 25 Stellen musste gehen. Es krachte im Verein, im Richtungsstreit ging Skowronek 1993 zunächst, wurde aber nach einem Intermezzo in Italien zwei Jahre später wieder zurück­geholt. Weitsichtig setzte er den Kauf des Hauses

Das noch in der DDR-Agonie entstandene Projekttheater wird im Februar dreißig Jahre alt

durch, den künftigen ­Immobilienhype in der Landeshauptstadt ahnend. Bis auf Städtebau­fördermittel machte er das Projekttheater von städtischer För­ derung unabhängig und sicherte ihm

Stadtverwaltung ­hatten hier vor der

stattdessen eine Grundfinanzierung

Sanierungsaufgabe kapituliert, das

von 200 000 Euro jährlich direkt durch

Viertel war für den Abriss vorgesehen.

das Kunstministerium. Was am Etat

In diesem Biotop für Künst-

von einer halben Million fehlt, akqui-

ler, Lebenskünstler und Subkultu-

riert oder erwirtschaftet das Theater

relle wurde noch in der Agonie der

selbst.

DDR die „Bunte Republik Neu-

Und es kann sogar Pläne ma-

stadt“ geboren und eben auch ein

chen. Neben der „Fabrikhalle“ mit 99

Projekt wie das Projekttheater. Bis

Plätzen, der Probebühne und dem Café

heute zehrt der Stadtteil von die-

soll der Hof als Außenspielstätte er-

sem Szene-Image, obschon die

schlossen werden. Künstlerisch sieht

Gentrifizierung achtzig Prozent sei-

sich Detlef Skowronek zwar im Wettbe-

ner „Ureinwohner“ vertrieben hat.

werb, aber nicht in Konkurrenz mit ver-

Immerhin wählt die Neustadt nach

gleichbaren freien Dresdner Bühnen

wie vor überwiegend links und grün.

wie dem Societaetstheater oder dem

In diesem inzwischen durch-

Rudi. Er holte das eigenwillige Sankt

kommerzialisierten Viertel ist das

Petersburger Tanztheater Derevo nach

Projekttheater tatsächlich so etwas wie ein „Kulturschutzgebiet“, als das es sich augenzwinkernd inzwischen selbst apostrophiert. Der ent-

So etwas wie ein „Kulturschutzgebiet“ im gentrifizierten Bezirk – Das Projekttheater Dresden, hier „Intermission – Erkundung der Melancholie“ des ConTrust Collective.

Dresden, das später in Hellerau ein

Foto Georg Skowronek

­Rolle. Manche Namen wie Utz Pannike

Domizil fand. Überhaupt spielt die ­ Tanzbühne

Dresden

eine

wichtige

oder Arne Retzlaff sind dem Projektthe-

scheidende Schritt dahin jährt sich nun zum dreißigsten Mal. Das

ater seit Jahrzehnten verbunden.

Stadtbezirkskabinett für Kulturarbeit lehnte

einen zinslosen Kredit von 100 000 Mark,

Solche Dauergäste und Angereiste wie das

in der Noch-DDR den Antrag der theater­

eine Spendenaktion Dresdner Künstler im No-

Theater La Vie aus München bestimmen das

brigade ab, die ehemaligen Betriebsräume für

vember 1990 erbrachte 21 139,68 D-Mark.

Profil. Skowronek liegt nichts ferner als eine

Theaterzwecke anzumieten. Doch die Enthu-

Schließlich holten die beiden Vor-

Art Intendantenrolle. „Solange wir Ideen haben,

siasten nutzten am 16. Februar 1990 das

standsmitglieder Michael von Oppen und

schreiben wir keine Konzepte“, bemerkt er

nach dem Mauerfall entstandene Macht- und

Steffen Rinka einen jungen Mann, der bis

­trocken. Besonders bei Eigenproduktionen fällt

Strukturvakuum und besetzten das Haus mit

heute die Geschicke des ersten und vielleicht

aber der politische Anspruch auf. „Die Spra-

dem Kleinbetrieb. Zweihundert Freunde zogen

erfolgreichsten Off-Theaters Dresdens be-

che der Neuen Rechten“ analysiert den Wort-

nach ersten Aufräumarbeiten am 18. Februar

stimmt. Detlef Skowronek, oft mit seinem

gebrauch der AfD und rechter Publizistik. Zum

ein. Der entsprechende Verein wurde einen

dritten Vornamen Julius gerufen, hatte an der

dreißigsten Geburtstag Mitte Februar kommt

Monat später gegründet.

TU Dresden Physik studiert, verstand sich

„Zehn kleine Mörderlein“ heraus, eine Farce

Die Spielstätte blieb zunächst ein Pro-

aber ebenso als Projektentwickler. Und er

über Lebensstile und Anpassungsdruck. Das

visorium, den Zustand der Räume wie auch

brachte eine Leidenschaft für die Bühne mit,

Kölner Nö-Theater gastiert mit „Inside AfD“

die Aufführungen gutwilliger Theaterfreunde

mischte sich aber zunächst nicht in künstle­

nach dem Buch der AfD-Aussteigerin Fran­

betreffend. Dabei fehlte es nicht an Unter-

rische Belange ein. Seine Aufgabe sah er viel-

ziska Schreiber. Publikum und solide Finan­

stützung. Der Rat des Stadtbezirks Dresden-

mehr darin, „aus dem Schweinestall ein Thea­

zierung sichern dem Off-Theater auch über

Nord übernahm für ein halbes Jahr die Miete.

ter zu entwickeln“, wie er heute drastisch

die dreißig hinaus einen Platz in Dresden. //

Der Pfarrer im Ruhestand Wolfgang Caffier gab

formuliert. Nach eineinhalb Jahren sei ihm

Michael Bartsch

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magazin

Die Kunst, ein Produk­tionshaus zu etablieren Warum Pirkko Husemann, Künstlerische Leiterin der Schwankhalle Bremen, nach nur fünf Jahren das Haus verlässt

Wohin mit den performativen Künsten? Diese

Einerseits aus privaten Gründen, ihre Familie

Frage müssen sich Städte, in denen es

wohnt in Brandenburg, andererseits auch auf-

Idyllischer Standort, doch schwieriges Terrain – die Schwankhalle Bremen.

­Ausbildungs- und Spielstätten, eine Auffüh-

gerieben durch die finanzschwache Bremer

Foto Talea Schuré

rungstradition sowie ein Fach- und Fan-Publi-

Kulturpolitik. Sie sei nicht initiativ und ge-

kum gibt, nicht stellen. In Bremen indes, wo

stalterisch tätig, es gehe immer nur darum,

das Stadttheater der unangefochtene Platz-

das Bestehende zu bewahren, beklagt Huse-

kann frei wählen, ob er sieben, zehn oder

hirsch bühnenkünstlerischer Angebote ist,

mann. Wer Visionen in die Zukunft bauen

14 Euro investieren möchte, durchschnitt-

gibt es all dies nicht. Zwar biete auch das

will, den lässt solch ein Denken in Stagnation

lich werden zehn Euro bezahlt.

Theater Bremen unter Michael Börgerding

wohl resignieren.

Die Schwankhalle sollte vor allem

Abstecher in die performing arts, aber eben

Ob Performances in Bremen über-

Gastspiel- und Produktionsort für bundesweit

„nur“ Abstecher. Aus diesem Grund sollte die

haupt einen Ort brauchen, ist für Husemann

und international agierende Performer wer-

2003 eröffnete Schwankhalle zu einer Art

keine Frage. Kaum mit Bildungsgepäck be­

den, weniger Labor der regionalen Künstler.

Klein-Kampnagel mit überregionaler Strahl-

laden, seien sie niedrigschwellige Angebote,

Da aber gerade deren Produktionen sofort

kraft ausgebaut werden. Mit diesem Ziel

die theaterfernen Menschen den Zugang

bestens besucht waren, auch weil sie ihr eige-

­wurde Pirkko Husemann, von 2008 bis 2012

zum Theater ermöglichen. Viele Arbeiten

nes P ­ ublikum mitbrachten, sind diese Spiel-

Tanzkuratorin am Berliner HAU, im Jahr 2015

würden allein schon durch die Atmosphäre,

planangebote ausgeweitet worden – damit

zur neuen Leiterin gekürt. Sie holte Promis

die Präsenz der Körper und authentische

wurde auch etwas gegen die existenzielle Not

der Performance-Szene nach Bremen – und

­Ansprache funktionieren. Nicht selbsterklä-

vieler Bremer Theatermacher getan. „Wir

fast kein Schwein guckte zu. Durchschnitt-

rende, abstrakt formalistische Darbietungen

wussten vorher einfach nicht, wie prekär die

lich blieben annähernd zwei Drittel aller

lädt die Kulturmanagerin seit ihrem zweiten

Arbeitsbedingungen hier sind und dass im-

­Plätze leer. Alarmstimmung auch in der Kul-

Amtsjahr nur noch ein, wenn sie konkret

mer weniger Projekte gefördert werden“, be-

turbehörde und Aufregung in der freien Szene

­etwas zu sagen haben. Denn zu verkaufen,

tont Husemann. Ein Viertel des Abend­

vor Ort, die sich ihrer Spielstätte beraubt sah.

das hat Husemann von den Hanseaten ge-

programms sei inzwischen Bremer Ursprungs,

Husemann stand zwölf Monate nach Dienst-

lernt, seien Performances nicht über die

zehn Prozent würde von internationalen

beginn bereits auf wackligem Boden – und

möglicherweise innovative Ästhetik, sondern

Künstlern gestaltet. Zudem wurde das erst

justierte nach. In der zweiten Saison 2016/17

über ihre gesellschaftlich-politischen Inhal-

nur geduldete Bremer steptext dance project

waren mehr als zwei Drittel aller Plätze be-

te. Werde deutlich gemacht, es gehe um

aufgrund seines Zuspruchs nicht aus dem

setzt. 9358 Zuschauer seien zu 154 Veran-

queere oder feministische Themen, Inklu­

Haus gedrängt, s­ondern mit einem festen

staltungen gekommen, diese Zahlen seien

sion oder Identitätspolitik, kämen auch

Nutzungsvertrag ausgestattet. Auch Residen-

seither stabil, so Husemann. Dennoch ver-

Besucher. Gut angenommen sei auch das ­

zen – kostenlose Nutzung dreier Proberäume,

lässt die Chefin in diesem Sommer das Haus.

solidarische Preissystem. Jeder Besucher

Infrastruktur, Expertisen der Techniker und


magazin

/ TdZ  Februar 2020  /

Dramaturgen des Hauses – werden zu 75 Prozent lokal vergeben. Mit Erfolg, freut sich Husemann: „Künstlerische Quantensprünge haben das Tanz Kollektiv Bremen und das MusikAktions­ Ensemble Klank gemacht, wir

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Danke, Merkel! Die zwanziger Jahre

sind arm an Geld, aber reich an Räumen und

Sie haben es vielleicht mitbekommen.

meine Neujahrsansprache nur auf ein kur-

guten Mit­arbeitern.“ 15, davon zwölf in Teil-

­Unsere Bundeskanzlerin hat in ihrer Neu-

zes Zitat beschränken, das ich kürzlich in

zeit, arbeiten festangestellt in der Schwank-

jahrsansprache gar unglaubliche Dinge ge-

Ronald M. Schernikaus monumentalem

halle. Mit 768 465 Euro jährlich fördert die

sagt. Wir brauchen, so teilte sie in gewohnt

Werk „legende“ gelesen habe. Das ist in

Stadt die Institution, Drittmittel fließen un-

einschläferndem Duktus mit, „mehr denn je

mühsamer Arbeit vom Verbrecher Verlag

planbar, in einem Jahr waren es 15 000 in

den Mut zu neuem Denken, die Kraft, be-

nach Jahrzehnten endlich wieder aufgelegt

einem anderen 140 000 Euro.

kannte Wege zu verlassen, die Bereitschaft,

worden. Und Stefan Pucher hat an der Ber-

Neues zu wagen, und die Entschlossenheit,

liner Volksbühne daraus prompt eine char-

Das Künstlerhaus liegt idyllisch in einem boomenden Szeneviertel am linken ­

schneller zu handeln, in der

mante Inszenierung gemacht.

Weserufer – und findet kaum ins Bewusstsein

Überzeugung, dass Ungewohn-

In „legende“ steht ein kluger

des schauspielgeprägten Bremer Bildungs-

tes gelingen kann“. Mut zu

Satz darüber, was man in blö-

bürgertums, das verstärkt auf der anderen

­neuem Denken?! Ich war ratlos,

den Zeiten tun oder besser las-

Seite des Flusses wohnt. Umso bitterer, dass

sprachlos, betroffen. Diese Wor-

sen sollte: „wir müssen ver­

die Kulturredaktion der Bremer Tageszeitun-

te von der Politikerin, deren ge-

suchen, auf eine dummheit

gen AG einen „Theater-GAU“ nach dem ers-

samtes Handeln gegen diese

nicht mit einer dummheit zu

ten Husemann-Jahr diagnostizierte und die

Worte spricht. Die in Tateinheit

antworten. das ist das aller-

Berichterstattung über das Haus einstellte.

mit Dr. Strangelove Griechen-

schwerste“, so Schernikau. Ich

„Die gefühlte Präsenz in der Stadt brach weg,

land und somit die EU zerstört

denke, dieser Satz ist so klug,

und wir hatten keine Marketingmittel, das

hat. Die so viel deutsches

dass seine praktische Anwen-

aufzufangen“, so Husemann.

Kriegsgerät wie nie zuvor zum fröhlichen

dung sofortige Linderung mancher Idiotien

Was weiterhin fehlt, ist ein eigenstän-

Morden in der Welt verteilt. Die den Krieg

unserer Zeit bewirken könnte. Bei öffent­

diges Profil. So überzeugend vielfach die

der Reichen gegen die Armen im Land,

lichen Debatten beispielsweise. Statt sich

Gäste sind, so verwirrend wird das Spiel­

wenn nicht unterstützt, so doch zumindest

über Umweltsauen und Nazischweine zu

planarrangement durch die Vielfalt der For-

gebilligt hat. Die entgegen eigener Beteue-

erregen, könnte man über deren systemi-

mate. Das Leitungsteam hat sich in die örtli-

rungen staatlich betreute Nazimorde nicht

sche Ursachen diskutieren. Oder im Thea-

che Kulturszene vernetzt und ist Ausrichter

aufklären ließ. Die an der willentlichen Zer-

ter: Die daran Interessierten erwiesen sich

vieler ihrer Veranstaltungen, programmiert

störung des öffentlichen Gemeinwesens

in den vergangenen Jahren als eher debat-

auch Konzerte, Lesungen, Vorträge, Filme

festhielt, auch als Hunderttausende mittel-

tenscheu. Oder -faul. Außer die notorischen

und Diskussionen. Was aber eben nicht als

lose Menschen aus Kriegsgebieten hierher

Berufsprovokateure des Zentrums für Politi-

Marke funktioniert. Das Arthouse unter den

flüchteten. Die wie kein anderer Herrscher

sche Schönheit (ZPS) haben sich wieder

Blockbuster-Theatern zu sein, wie Husemann

in der Welt es nie für nötig hielt, ihr Han-

eine

sich das hätte vorstellen können, bleibt kom-

deln den lieben Untertanen zu erklären; die

schwachsinniger als die vorherige ist (gilt

pliziert. Von ihrer Ära aber ist zu lernen: In

das Schweigen zur höchsten Form ihrer

ebenfalls für mediale Verlautbarungen des

mittelgroßen Städten wartet kaum jemand

­Politik erhoben hat. Sie sehen, liebe Lese-

ZPS-Gurus Philipp Ruch). Dann erheben

auf ein Haus für die performativen Künste;

rinnen und Leser, ich habe einige Zweifel,

die Kulturjournalisten ihre müden Häupter

sie trotzdem sichtbar zu machen, funktioniert

dass es mit dem von der Staatsspitze einge-

vom Schreibtisch und hacken routiniert

nicht über ästhetische Verrücktheiten, son-

forderten Mut zum neuen Denken ernst ge-

­ihren Verriss in die Tasten, um nachzuwei-

dern mit Themen und in Kooperation mit der

meint sein könnte. Oder sollte es ernst ge-

sen, wie schwachsinnig diese neueste

regionalen Szene.

meint sein, so dürfte dieses neue Denken

Aktion oder Verlautbarung wieder einmal ­

Ab kommenden Sommer soll nun der

mit Fortschritt so viel zu tun haben wie die

war. Solche Auseinandersetzungen haben

bisherige Co-Kurator Florian Ackermann das

Schröder’schen Reformen mit sozialer De-

noch nie auch nur irgendeine Erkenntnis

Haus zwei Jahre im Husemann-Geist interims-

mokratie. Dass die zwanziger Jahre gute

befördert.

mäßig leiten, eine Fokusänderung hat er

Jahre werden können, wie die Kanzlerin

Schernikau hat mich auf meinen per-

schon angekündigt: Nach all den feministi-

­verkündet hat, finde ich unwahrscheinlich.

sönlichen Neujahrsvorsatz gebracht: Ich

schen Ansätzen werde nun ein Schwerpunkt

­Außer etwas ändert sich ganz grundsätzlich.

schreibe nicht mehr über das ZPS. Ich hof-

zum Selbstverständnis des Mann-Seins initi-

Nun interessiert meine Meinung als

fe, ich halte durch. Und Sie auch. Alles

iert. Die Chefstelle ist vom Trägerverein der

Kolumnist nicht die großen Massen. Ich bin

Gute für die zwanziger Jahre. Und machen

Schwankhalle für 2022 ausgeschrieben, ver-

aber auch kein Politiker, sondern Schreiber-

Sie keine Dummheiten. //

sehen mit dem ausdrücklichen Wunsch des

ling. Zu verantworten habe ich mich in ers-

Kultursenators,

ter Linie für mein Denken. So würde sich

beizubehalten. //

den

Bremen-Schwerpunkt Jens Fischer

neue

Aktion

erdacht,

die

noch

Jakob Hayner

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magazin

/ TdZ Februar 2020  /

Mit britischem Understatement und Sexappeal – Michael Caine bei einem Pressetermin für seinen Film „Alfie“ in Cannes 1966. Foto dpa­ mehr als 160 Filme gedreht hat? Michael ­Caine preist altmodisch und überzeugend die Tugenden des Handwerks: gute Vorbereitung und intensives Rollenstudium, Konzentration und Zuverlässigkeit, die Kunst der Beobachtung und des Zuhörens sowie den professionellen Umgang mit unberechenbaren Partnern und schlechten Regisseuren. All das demonstriert er an ebenso humorvoll wie ­lakonisch erzählten Anekdoten, die in Erinnerung bleiben und aus seinen Lektionen eine faszinierende Lebens- und Filmgeschichte machen: von Kino-Klassikern wie „Der stille Amerikaner“ bis zu Blockbustern wie „Batman Begins“ und „The Dark Knight“. Und was sagt er am Ende zu den vielen schlechten Filmen, in denen er auch mitgespielt hat? „Von denen haben Sie nie gehört? Gut so.“ Man bekommt beim Lesen dieser Erinnerungen große Lust, sich die vielen guten Filme Michael Caines wieder anzusehen. //

Handwerk für Hollywood

Provinztheater geht. Nach der Ochsentour ­

Michael Caine beginnt seine als „Lebens­

1956 das Glück in Form einer Filmrolle in „A

lektionen“ angelegten Erinnerungen mit einer

Hill in Korea“, die wenig später zu den Rollen

beeindruckenden Szene: John Wayne landet

führt, mit denen er bekannt wird: von Leut-

mit einem Helikopter auf dem Rasen des

nant Bromhead in „Zulu“ (1964) bis zu

­Beverly Hills Hotels, kommt aus einer Staub-

„Alfie“ (1966). Danach öffnen sich dem ­

wolke auf ihn zu, erkennt ihn als den engli-

Arbeiterjungen mit dem verträumten Blick ­

schen Schauspieler aus „Alfie“ und gibt ihm

und dem Cockney-Akzent die Studios auf bei-

Den ersten Brief schicken Sarah und Rainer

den Rat: „Wenn du ein Star bleiben willst:

den Seiten des Atlantiks. Er dreht mit Vittorio

Kirsch 1962 an Christa und Gerhard Wolf.

sprich leise, sprich langsam und sag nicht zu

De Sica, Otto Preminger, John Huston und

Beide Ehepaare hatten bis eben in Halle an

durch mehrere Repertoire-Theater winkt ihm

Holger Teschke

An der Einheit zerbrochen

viel.“ Aber dem jungen Caine nützt diese

der Saale gewohnt, nun waren die Wolfs nach

­Lebensweisheit des alten Stars wenig – weil

Klein­machnow gezogen. Sarah Kirsch wech-

er nie einen Cowboy spielen wird. Deshalb fragt er mit britischem Understatement gleich zu Anfang, ob es den Lesern mit seinen Ratschlägen nicht ähnlich gehen wird. Doch diese Gefahr besteht nicht, denn Michael Caines Ratschläge sind Lektionen aus einem Schau-

Michael Caine: Die verdammten Türen sprengen und andere Lebenslektionen. Alexander Verlag, Berlin 2019, 312 S., 24 EUR.

selt in den folgenden Jahren noch häufig ihre Lebenspartner, die Wolfs häufig ihre Wohn­ orte. Man fühlt sich dennoch eng verbunden. ­Sarah Kirsch vertraut Christa Wolf auch ihre intimen Geheimnisse an, wie jenes von der kurzen Liebesaffäre mit Wolfgang Kohlhaase, der „so schöne glitzernde Augen“ hat und

spielerleben, in dem es fast so viele Höhen

„einfach so gerne, so überaus gerne mit net-

wie Tiefen gegeben hat, und er verschweigt Brian De Palma und an der Seite von Liz Tay-

ten Frauenzimmern schläft“. Wie sie dann

Geboren im März 1933 als Sohn einer

lor, Sean Connery, Roger Moore und Jane

diese eher triviale Tatsache beschreibt, hat

Putzfrau und eines Marktarbeiters in Camber-

Fonda. Er wird berühmt und umworben, feiert

etwas von der wissenden Unschuld einer Dich-

well, einem der ärmsten Arbeiterviertel Lon-

Partys mit Bette Davis, Jack Nicholson und

terin, deren Lebenshunger unstillbar scheint.

dons, überlebt er den deutschen „Blitz“,

den Rolling Stones, wird danach aber von sei-

Nach dem – vergeblichen – Protest ge-

Hunger und Rachitis, eine brutale Pflege­

ner Mutter und seiner Frau Shakira immer

gen die Biermann-Ausbürgerung 1976 (beide

familie in Norfolk und den Militärdienst im

wieder auf den Boden der Realität und vor die

gehören zu den Erstunterzeichnern der Reso-

Korea-Krieg. Anschließend schlägt er sich

Kamera zurückgeholt.

lution) stellt Sarah Kirsch einen Ausreise­

weder die Höhenflüge noch die Abstürze.

als Türsteher und Transportarbeiter durch, be-

Worin bestehen nun die Lektionen des

antrag und verlässt 1977 die DDR. Als Franz

vor er zu seinem ersten Vorsprechen an ein

zweifachen Oscar-Preisträgers, der inzwischen

Fühmann das erfährt, schickt er jenes be-


bücher

/ TdZ  Februar 2020  /

rühmt gewordene Telegramm: „Sarah liebe

Die Kampagne gegen die „treue Parteigän­

Schwester der Pirol hat die ganze Nacht ge-

gerin der SED“ und „Vermeidungsvirtuosin“

weint. Sollen denn hier nur mehr die Krähen

Christa Wolf startet am 3. Mai 1990 in der

krächzen?“

Welt – und Sarah Kirsch schweigt dazu.

Aber auch die räumliche Trennung kann

Christa Wolf spricht vom „Leichengift“, das

die Freundinnen nicht auseinanderbringen.

die Zersetzung der Gesellschaft produziere.

Sie schreiben sich regelmäßig lange Briefe,

Sarah Kirsch schickt „gespaltene Grüße“.

oft mehrmals im Monat. Dieser von Sabine

Gut wäre, so Christa Wolf an Sarah Kirsch,

Wolf edierte Briefwechsel, der mit zahlreichen

wenn diese nicht alles glauben würde, was

Sarah Kirsch / Christa Wolf: Der Briefwechsel. Hg. von Sabine Wolf unter Mitarbeit von Heiner Wolf, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 456 S., 32 EUR.

Andrej Platonow: Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie. Prosa – Essays – Briefe. Hg. u. übers. von Michael Leetz. Quintus Verlag, Berlin 2019, 376 S., 25 EUR.

über sie gesagt und geschrieben werde. Als

schaft unter der grausamen Natur und nicht

Sarah Kirsch am 4. August 1992 eingestehen

minder grausamen Herrschern haben sie das

muss, dass auch sie Stasi-Gerüchte gegen

Leben verlernt, das Interesse an sich selbst

Christa Wolf weiterverbreitet habe, schließt

verloren. Um jenes wiederzugewinnen, ist der

sie ihren Brief – den letzten des Briefwech-

junge Ökonom Nasar Tschagatajew in die

sels – mit einem erschrockenen „Auweia!“.

Wüste gekommen, wo er sich mit der Hoff-

Damit endet eine dreißigjährige Freundschaft. //

nungsfigur des Kindes Aidym verbündet. Die

Gunnar Decker

beiden führen das Volk durch die Wüste, Tschagatajew ist eine Art moderner Prome­ theus, der jedoch nicht das Feuer, sondern

erhellenden Anmerkungen versehen wurde

das Wasser bringt.

(die fast eine DDR-Kulturgeschichte in Fuß-

Die Wüste war für Platonow eine der

noten geworden sind!), umfasst 271 Briefe.

Der Denker des Anthropozäns

großen Herausforderungen des Sozialismus.

Kochen, Garten und Reisen, auch über die

Andrej Platonow ist der literarische Chronist

sie als menschengemachte Folge des Raub-

politische Misere in Ost und West, aber selten

der frühen Jahre der Sowjetunion. Er wurde

baus an der Natur. Er selbst war nicht nur

über Buchprojekte. Über das magische Wort,

1899 geboren, mit 13 Jahren verließ er die

Ingenieur für Elektrifizierung, sondern vor al-

das die Dichter-Existenz ausmacht, schweigt

Schule, begann zu arbeiten und Gedichte zu

lem Bewässerung. Die Hölle auf Erden in eine

man sich einträchtig aus.

verfassen – ein schreibender Vertreter der

Oase des Sozialismus zu verwandeln war sein

Kann diese lange und tiefe Freund-

­Arbeiterklasse, der sich alsbald den Bolsche-

Anliegen. Beeinflusst von dem Monismus

schaft etwas auseinanderbringen? Ja, die

wiki anschloss. Zu deren Politik nahm er eine

Ernst Machs und Alexander Bogdanows all­

deutsche Einheit und ihre hässlichen Begleit-

eigene Haltung ein: Die Neue Ökonomische

gemeiner Organisationslehre, stellte er das

umstände. Da zeigt sich, dass Sarah Kirsch

Politik betrachtete er ebenso skeptisch wie

Energieproblem ins Zentrum seiner Überle-

keine innere Anteilnahme für die DDR – für

die brutale Vollkollektivierung und den for-

gung. Die wirtschaftliche Stärke des Kapita-

deren Reform sich Christa Wolf einsetzt –

cierten Aufbau der Schwerindustrie. Das war

lismus beruhe auf Kohle und Eisen, die des

mehr aufzubringen vermag. Da ist nur noch

jedoch Manöverkritik, keine Ablehnung des

Sozialismus müsse aus der Gewinnung von

Bitterkeit, fast schon Hass gegen den Osten.

Aufbaus des Sozialismus. Wie sehr Platonows

elektrischer Energie aus Sonnenlicht basie-

Leseland DDR? „Als ich weg war, lasen sie

sozialistisches Denken ein ökologisches war,

ren, formulierte er schon 1921 in „Licht und

Eva Strittmatter.“ Sie solle nicht so depressiv

kann man in dem kürzlich im Quintus Verlag

Sozialismus“. In der imperialistischen Über-

sein, ermutigt sie die im Zuge der Einheit fern

erschienenen Band „Dshan oder Die erste so-

produktionskrise sah er ein Grundübel seiner

gerückte Freundin – und hat doch auch ihren

zialistische Tragödie“ nachlesen. Er versam-

Zeit. Auf ihre Zerstörung werde die Natur mit

Anteil an deren wachsender Enttäuschung.

melt Prosa, Essays und Briefe, herausgege-

der Zerstörung des Menschen antworten, sag-

ben wurde er von Michael Leetz. Der hat den

te Platonow in „Über die erste sozialistische

Roman „Dshan“ ins Deutsche übertragen, in

Tragödie“ mit Berufung auf die Grundgesetze

unzensierter Fassung. Der Text wurde nach

der Dialektik voraus. Die Situation zwischen

Platonows Tod nur in entstalinisierter Form

Technik und Natur sei tragisch. In „Molekula-

veröffentlicht – obwohl der Autor selbst bei

res Rot: Theorie für das Anthropozän“ hatte

Stalin in Ungnade gefallen war. Verfasst wur-

McKenzie Wark vor ein paar Jahren die Be-

de der Roman 1935 unter dem Eindruck

deutung Platonows für das 21. Jahrhundert

zweier Reisen in die Sowjetrepublik Turkme-

hervorgehoben. Mit „Dshan“ ist ein ausge-

nistan. Die wüsten Landschaften, der große

zeichnetes Platonow-Lesebuch gelungen, das

Mangel und die teils archaischen Sitten lös-

sich in die Reihe zahlreicher Neuausgaben

ten bei Platonow Befremden aus. Es geht um

der letzten Zeit fügt. Die Verbindung von radi-

das Nomadenvolk der Dshan. Das Leben ist

kalem rotem und grünem Denken ist wahrlich

hart, der Tod gewöhnlich. Dshan ist eigentlich

zukunftsweisend gewesen – und heute drin-

ein Spottwort für all jene, die außer ihrer See-

gender denn je. //

Frantic Assembly Workshop Devised Theatre 05 - 06 April 2020

www.bundesakademie.de

Man spricht über Familie, Kinder und Enkel,

le rein gar nichts besitzen. In ihrer Knecht-

In „Der Mensch und die Wüste“ beschreibt er

Jakob Hayner

/ 105 /


aktuell

/ TdZ Februar 2020  /

Meldungen

zeitgleich vergebene Kurt-Hübner-Regiepreis

■ Die Stadt Augsburg vergibt den Bertolt-

geht an Florian Fischer. Der Preis ist mit

Brecht-Preis 2020 an Sibylle Berg. Die mit

5000 Euro dotiert und ­würdigt in dieser Sai-

10 000 Euro dotierte Auszeichnung, die ge­sell­

son Florian Fischers Inszenierung „Operation

schaftskritische Gegenwartsautor*innen ehrt,

■ Bis 2023 wird Shermin Langhoff Intendan-

Kamen“ am Staatsschauspiel Dresden in Ko-

wird ihr im Rahmen des Brecht-Festivals im

tin am Berliner Maxim Gorki Theater bleiben.

operation mit dem Archa Theater Prag.

Februar in Augsburg verliehen. Sie sei „eine Virtuosin der literarischen Kälte und der Klar­

Das wurde, wie das Theater selbst in einer Pressemeldung mitteilte, in Absprache mit

■ Die Dramatikerin und Schriftstellerin Sasha

heit, eine Meisterin des nüchternen Blickes

Berlins Kultursenator Klaus Lederer entschie-

Marianna Salzmann wird mit dem Kunstpreis

und der illusionslosen Analyse“, ­begründet

den. Seit 2013 leitet Langhoff das Maxim

Berlin 2020 in der Rubrik darstellende Kunst

die Jury ihre Entscheidung. Erst wenige

Gorki Theater. 2016 wurde ihr Vertrag vorzei-

ausgezeichnet. Die sechs Kunstpreise sowie

Tage zuvor erhielt die vielfach aus­gezeich­

tig verlängert, zunächst bis 2021. Jetzt einig-

der große Kunstpreis Berlin werden durch die

nete

ten sich Langhoff und Lederer darauf, zusätz-

Akademie der Künste am 18. März verliehen.

den Schweizer Grand Prix Literatur, der

lich von der im Vertrag festgehaltenen Option

Der Kunstpreis ist mit 5000 Euro dotiert. Den

mit umgerechnet 37 000 Euro dotiert ist.

auf eine weitere zweijährige Verlängerung

großen Kunstpreis erhält die südkoreanische

Ihr ­aktuellstes Drama „In den Gärten“ wur-

Gebrauch zu machen. Seit dieser Spielzeit

Komponistin Younghi Pagh-Paan. Die weite-

de ­vergangenes J dahr am Theater Basel in

wird sie durch ein Artistic Advisory Board

ren Kunstpreise werden an David Schutter

einer Inszenierung von Miloš Lolić urauf­

(künstlerischer Beirat) unterstützt, dem ihr

(bildende Kunst), das Architekturmagazin

geführt.

vorheriger Co-Intendant Jens Hillje als Drama-

ARCH+ (Baukunst), Christian Winther Chris-

turg weiterhin angehört.

tensen (Musik), Norbert Zähringer (Literatur)

■ Der Verwaltungsrat des Deutschen Bühnen-

und die Kamerafrau Christine A. Maier (Film-

vereins und die Mitgliederversammlung des

und Medienkunst) vergeben.

Verbandes Deutscher Bühnen- und Medienverlage

■ Ralf Ebeling bleibt bis 2026 Intendant des Westfälischen Landestheaters (WLT). Der Verwaltungsrat des WLT e. V. beschloss einstimmig, den seit 2012 bestehenden Vertrag noch einmal um fünf Jahre zu verlängern. Der Erfolg des WLT ließe sich auch auf die gute Zusammenarbeit von Ralf Ebeling und dem geschäftsführenden Direktor Günter Wohlfarth zurückführen. Dies betonte der Bürgermeister der Stadt Castrop-Rauxel, in der sich das Produktionszentrum des reisenden Theaters befindet, laut der Pressemitteilung des Westfälischen Landestheaters.

■ Die Schauspielerin Sandra Hüller wird von der Stiftung Preußische Seehandlung mit dem Theaterpreis Berlin 2020 geehrt. Die Auszeichnung wird ihr während des 57. Theatertreffens für „ihre besonderen Verdienste um das

Christian Stückl. Foto Passionsspiele Oberammergau 2020 / Gabriela Neeb

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Schriftstellerin

und

Dramatikerin

beschloss nach drei Jahren Verhandlungszeit ein neues Vergütungssystem zwischen Theatern und Verlagen, die zu höheren Auszahlungen an Autor*innen und Komponist*innen dramatischer Werke führt. Die Urheberver­ gütung beläuft sich nun auf 14 Prozent der Roheinnahmen. Es sei „ein guter Kompromiss zwischen den Erwartungen der Verlage einerseits und der Theater andererseits an faire Regelungen für die Einräumung von ­Aufführungsrechten“, heißt es in der Pressemitteilung des Verbandes Deutscher Bühnenund Medienverlage.

■ Mindestens 150 Theaterschaffenden, die an türkischen Staatstheatern beschäftigt ­waren, wurde zum Jahreswechsel kurzfristig gekündigt. Vermutet wird, dass die Ent­

■ Der Spielleiter der Passionsspiele in Ober-

lassungen politisch motiviert sind und

ammergau und Leiter des Münchner Volks-

Künstler*innen für die Teilnahme an oder

spiele. Die Preisjury begründete ihre Entschei-

theaters Christian Stückl erhält den Abraham-

die Sympathie mit den Gezi-Protesten vor

dung mit der Vielseitigkeit der für Theater

Geiger-Preis 2020. Die Auszeichnung wird

sechseinhalb Jahren abstrafen sollen, wie

und Film vielfach ausgezeichneten Schauspie-

vom Abraham Geiger Kolleg an der Universi-

die Stuttgarter Zeitung berichtete. In einer

lerin: „einerseits ein wenig Old School –

tät Potsdam verliehen. Geehrt wird Stückls

staatlichen „Sicherheitsüberprüfung“ wur-

Figurenverkörperung, Literaturtheater, En­

Erneuerung der Passionsspiele in Oberammer-

den vermutlich auch die sozialen Medien der

sembletheater –, auf der anderen Seite

gau und deren Befreiung vom christlichen

Angestellten durchsucht, um sie dann poli-

Selbstbestimmtheit, Autorenschaft, Grenz-

Antijudaismus, heißt es in der Pressemittei-

tisch auszusortieren. Entlassungen fanden

überschreitung, Neugierde.“ Wie die Stadt

lung der Gemeinde Oberammergau. Nach der

in allen Bereichen des Theaterbetriebs statt.

Bensheim zudem Mitte Dezember bekannt-

Schoah war das Abraham Geiger Kolleg das

Die Weiter­beschäftigung freiberuflich Tätiger

gab, geht der renommierte Gertrud-Eysoldt-

erste Rabbinerseminar in Deutschland. Der

ist nun an „bestimmte Kriterien“ geknüpft.

Ring 2020 ebenfalls an Sandra Hüller. Sie soll

Preis ist mit 10  000 Euro dotiert. Stückl

Mitarbeiter sind besorgt, dass dies nur der

mit dem mit 10 000 Euro dotierten Preis ins-

möchte das Geld dem Ernst Ludwig Ehrlich

Beginn einer radikalen politisch motivierten

besondere für ihre Rolle als Hamlet am Schau-

Studienwerk in Oberammergau für die Förde-

Säuberung im türkischen Staatstheater sein

spielhaus Bochum gewürdigt werden. Der

rung interreligiösen Austauschs übergeben.

könnte.

deutschsprachige Theater“ überreicht, heißt es in der Pressemeldung der Berliner Fest-


aktuell

/ TdZ  Februar 2020  /

■ Ausländerfeindliche Zwischenrufe führten

gereicht werden können Inszenierungen, die

am 11. Januar zur Unter­brechung einer Vor-

zwischen dem 1. Februar 2018 und dem

stellung im Dresdner Kabarett Herkuleskeule.

1. Februar 2020 Premiere hatten. Folgende

Zwei Darsteller*innen hatten sich den Stö-

Kategorien werden ausgeschrieben: Schau-

rungen entgegengestellt, die von einer Grup-

spiel, Kinder- und/oder Jugendtheater, Senio-

pe von 15 Personen ausgegangen waren. Ein

rentheater, Inszenierung im ländlichen Raum

Schauspieler erlitt durch ein geworfenes Bier-

und Theater ist Leben!. Neben der Teilnahme

glas eine leichte Kopfverletzung. Ein Teil der

am Festival werden Preisgelder von insge-

Gruppe war, laut Süddeutscher Zeitung, der

samt 10 000 Euro vergeben. Weitere Infor-

Polizei durch ähnliche Auf­ fälligkeiten be-

mationen unter: www.bdat.info

reits bekannt. Bevor diese eintraf, hatten die Störer den Veranstaltungsraum bereits ver-

■ Für seine 11. Ausgabe sucht das Festival

lassen.

Politik im Freien Theater, das alle drei Jahre in einer anderen deutschen Stadt stattfindet,

Nach der Kunstaktion „Sucht nach uns!“ des ZPS. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

nach einem Austragungsort. Bewerben können sich für die Ausrichtung des Festivals im

über den Bodensee“ 1974 zum Durchbruch

Herbst 2021 Theater in Landeshauptstädten

auf der Bühne verholfen haben. Mit seinen

und Städten mit mindestens 200 000 Ein-

minimalistischen, konzentrierten Inszenie-

wohnern. Initiator ist die Bundeszentrale für

rungen zählte Régy zu den einflussreichsten

politische Bildung. Bis zum 15. Februar 2020

Regisseuren des europäischen Theaters.

können die Bewerbungen von den jeweiligen Theaterhäusern eingereicht werden. Weitere

■ Der Dramaturg und Theaterhistoriker

Informationen unter: www.bpb.de/ausschrei-

­Alexander Weigel ist wenige Tage nach seinem

bung-theaterfestival

84. Geburtstag am 13. Januar in Berlin verstorben. Dies vermeldete der Theaterwissen-

■ Das NRW Landesbüro Freie Darstellende

schaftler und Kurator Detlev Schneider. Wei-

Künste e. V. bietet 2020 eine Sonderprojekt-

gel, geboren 1935 in Zwickau, studierte in

förderung „Interkulturelle Impulse“ an, für die

den fünfziger Jahren Geschichte in Leipzig.

sich Projekte aus Nordrhein-Westfalen mit

Bei Ernst Bloch und Hans Mayer hörte er

Fokus auf interkulturellen Austausch bis zum

Philosophie- und Literaturgeschichte. Dort ­

17. Februar bewerben können. Mit bis zu

traf er am Studententheater der Universität

■ Anfang Januar versuchten Aktivisten der

8000 Euro werden neben darstellenden und

auf die Kommilitonen Adolf Dresen und Maik

jüdischen Gruppe Aktionskünstler-Komitee die

performativen Aufführungsformaten auch La-

Hamburger. Mit beiden verband ihn bald eine

Säule der umstrittenen Kunstaktion „Sucht

bore, Workshops und Stadtbegehungen geför-

intensive Arbeitsfreundschaft am Deutschen

nach uns!“ des Zentrums für Politische Schön-

dert. Bei der Auswahl der Projekte liegt ein

Theater in Berlin. Von 1964 bis 2001 war er

heit (ZPS) im Berliner Regierungsviertel abzu-

besonderes Augenmerk auf geeigneten Prä-

dort Dramaturg, betreute u. a. alle Inszenie-

bauen. Frühes polizeiliches Eingreifen ver-

sentationsstätten, die interkulturellen Aus-

rungen Dresens, war später engster drama­

hinderte die Tat. Zudem folgte eine Anzeige

tausch zwischen den Generationen begünsti-

turgischer Partner von Heiner Müller und

wegen Sachbeschädigung von unbekannter

gen. Personelle Voraussetzung der Förderung

­zwischen 1988 und 1991 beteiligt an dessen

Seite. Wie die taz berichtete, bestreitet das

ist ein interkultureller Guide, zu dessen Auf-

Inszenierungen „Lohndrücker“, „Hamlet / Ham­

ZPS Urheber der Anzeige zu sein. Die Abriss-

gaben Übersetzung und Vernetzung gehören.

letmaschine“ und „Mauser“. Darauf folgte

aktion wendete sich gegen die Instrumentali-

Weitere Informationen unter: www.nrw-lfdk.de

die Zusammenarbeit mit Jürgen Gosch. Er gab die von Max Reinhardt begründeten

sierung von Opfern der Schoah für die Kunst und wies die zuvor vom ZPS abgegebene Ent-

■ Am 26. Dezember ist in Paris der französi-

­Blätter des Deutschen Theaters neu heraus

schuldigung zurück. Am 16. Januar ließ das

sche Regisseur Claude Régy verstorben. Nach

und veröffentlichte literatur- und theater­

ZPS die Säule schließlich entfernen.

einem abgebrochenen Jura- und Politikstudi-

theore­tische Studien zu Kleist. In der Hein-

um spät zum Theater gekommen, wurde der

rich-von-Kleist-Gesellschaft und der Interna-

■ Noch bis zum 13. Februar können sich

1923 in Nîmes geborene Theatermacher mit

tionalen Heiner Müller Gesellschaft war er

nicht-professionelle Theatergruppen für den

seiner experimentellen Truppe Les Ateliers

hochgeachtet und aktiv in ihren Programm-

deutschen Amateurtheaterpreis amarena, der

contemporains

und Leitungsgremien.

alle zwei Jahre vom Bund Deutscher Amateur-

­Entdecker neuer Autoren, Schauspieler und

theater (BDAT) vergeben wird, bewerben. Aus-

­Themen, inszenierte Harold Pinter, Marguerite

gezeichnete Produktionen werden auf dem

Duras, Peter Handke, Botho Strauß, Jon Fosse

Preisträgerfestival gezeigt, das voraussicht-

und Sarah Kane. Gérard Depardieu solle er,

lich vom 10. bis 13. September 2020 in

so berichtet es die Süddeutsche Zeitung, erst

Baden-Württemberg ausgetragen wird. Ein­ ­

dank seiner Handke-Inszenierung „Der Ritt

zu

einem

unermüdlichen

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/ TdZ Februar 2020  /

Premieren

Aalen Theater F. Schiller/D. Hintze: Joim Ratssaal (T. Kleinknecht/ T. Brüggemann, 01.02.); K. Fuchs: Das Heimatkleid (W. Tobias, 15.02.) Altenburg Theater G. Hauptmann: Die Ratten (M. Kressin, 16.02.) Annaberg-Buchholz Eduard-von-Winterstein-Theater R. O‘Brien: The Rocky Horror Show (T. Korber, 09.02.) Augsburg Staatstheater B. Brecht/J. Hašek/P. Hůlová: Švejk / Schwejk (A. Petras, 21.02.); Futur II Konjunktiv: Auf dem Paseo del Prado mittags Don Klaus (M. Naumann/J. Wenzel, 29.02.) Baden-Baden Theater B. Renner: Der große böse Fuchs (A. Deborde, 01.02.); B. Martin/D. McKellar: Hochzeit mit Hindernissen (The Drowsy Chapone) (N. Felden, 07.02.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater M. Cooney: Dołhož fenki běža (Und ewig rauschen die Gelder) (M. Nagatis, 08.02.) Berlin Berliner Ensemble S. Lernous/n. A. Jarry: Ubu Rex (S. Lernous, 13.02.); R. W. Fassbinder: Katzelmacher (M. Thalheimer, 21.02.) Deutsches Theater J. Tannahill: Das Gewächshaus (S. Dastmalchi, 09.02.); n. F. Schiller: Die Räuber (J. Praml, 11.02.) RambaZamba Theater J. Schwarz: Der Drache (M. Mosbach, 21.02.) Schaubühne am Lehniner Platz H. Ibsen: Peer Gynt (L. Eidinger/J. Bock, 12.02.) Sophiensaele E. Meyer-Keller: Living Matters (E. Meyer-Keller, 20.02.); Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele: Hyper­ objekte? Wagner und Feigl arbeiten dran … Blech und Gewebe I-IV (Wagner-FeiglForschung/Festspiele, 26.02., UA); Markus& Markus: Die Berufung (Markus& Markus, 27.02., UA) Theater an der Parkaue J. W. hanna

Februar 2020

v. Goethe: Iphigenie auf Tauris (N. Busse-

fangen im Netz (J. Mertl, 11.02.); R.

nius, 19.02.); F. Schiller: Maria Stuart (A.

Fister/H. Janisch: Die Prinzessin auf dem

Hirche, 25.02.) theaterforum Kreuzberg

Kürbis (I. Lanzino, 20.02.)

Aristophanes: Die Vögel (A. Poland, 28.02.)

Cottbus Staatstheater J. Fabian: Antifaust (J. Fabian, 29.02., UA) Dessau Anhaltisches Theater n. M. Niel­ sen/J. Weigand: Fridolin und Friederike (J. Weigand, 02.02.) Detmold Landestheater W. Lotz: Die lächerliche Finsternis (S. Girschweiler, 29.02.) Döbeln Mittelsächsisches Theater P. Hacks: Der Frieden (R. Schulze, 08.02.) Dortmund Theater S. Beckett: Warten auf Godot (M. Lobbes, 01.02.); F.-O. Heinrich / D. Zipfel: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt (A. Gruhn, 14.02.); J. Meese: Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst! (J. Meese, 15.02.); B. Gedrath/n. A. Tennyson: Enoch Arden (B. Gedrath, 23.02.); R. Koall/n. B. Bjerg: Auerhaus (L. Sombetzki/M. Kowalski, 29.02.) Dresden Staatsschauspiel E. Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur (M. Hamelmann, 06.02.); n. I. Schulze: Peter Holtz (F. Heller, 07.02.); M. Gorki: Kinder der Sonne (L. Linnenbaum, 08.02.); T. Rausch: Lehr_Kraft_Probe (T. Rausch, 29.02., UA) Eggenfelden Theater an der Rott E. Jelinek: Wut (J. Ullmann, 01.02.); M. Steinweder: Traudl und Sophie (P. Schönwald, 04.02., UA) Essen Schauspiel H. Fallada: Kleiner Mann – was nun? (T. Ladwig, 28.02.); s./n. D. Alighieris: INF²erno (N. Voges, 29.02.) Esslingen Württembergische Landesbühne T. Lindgren: Das Licht (C. Vandeputte, 08.02.); S. v. d. Geest: Krasshüpfer (J. Echeverri Ramírez, 15.02.)

Volksbühne Dorky Park/C. Macras: The West (C. Macras, 26.02., UA); T. Lanoye: Mamma Medea (P. Karabulut, 27.02.)

Bonn Kleines Theater Bad Godesberg D. Glattauer: Vier Stern Stunden (S. Laube, 01.02.) Theater W. Shakespeare: König Lear (L. Voigt, 28.02.); E. Placey: Mädchen wie die (C. Eberle, 29.02.) Bremen Theater Unusual Symptoms/ S. Akika: Young dogs do cry sometimes (S. Akika/Unusual Symptoms, 14.02.); La Fleur: Nana kriegt keine Pocken (M. Gintersdorfer/F. E. Yao, 20.02.); B. Brecht/ K. Weill: Die Dreigroschenoper (K. Schumacher, 22.02.) Bremerhaven Stadttheater I. Putz: Rio Reiser – Wer, wenn nicht wir? (I. Putz, 15.02., UA); S. Berg: Mein ziemlich seltsamer Freund Walter (T. Spinger, 16.02.); J. Crouch/The Tiger Lillies/P. McDermott: Struwwelpeter (Shockheaded Peter) (F. A. Engel, 29.02.) Celle Schlosstheater I. Lausund: Bin nebenan (M. Milling, 07.02.); P. Shaffer: Amadeus (A. Döring, 14.02.); L. Vekemans: Judas (M. Jeffré, 27.02.) Chemnitz Theater M. Frisch: Biografie: Ein Spiel (K. Brune, 01.02.); Als wir entdeckten, dass die Erde flach ist (D. v. Schön-Angerer/L. v. d. Merwe, 14.02., UA); T. Williams: Die Glasmenagerie (N. Mattenklotz, 28.02.) Coburg Landestheater G. Frid: Das Tagebuch der Anne Frank (K. Bogucka, 01.02.); W. Shakespeare: Othello (K. Lauterbach, 08.02.); K. Winkmann: Out! Ge-

14.2. bis 23.2. 2020

]

brechtfestival.de

Frankfurt am Main Schauspiel E. v. Keyserling: Am Südhang (B. Bürk, 21.02., UA); . Aischylos: Orestie (J. Gockel, 22.02.) Freiburg Theater n. B. Stoker: Dracula (G. Bering, 15.02.) Göttingen Deutsches Theater D. Loher: Das Leben auf der Praça Roosevelt (A. Smigiel, 01.02.); F. Schmalz: Dosenfleisch (E. Sidler, 07.02.); . Molière: Der eingebildete Kranke (M. Reichwald, 22.02.) Graz Schauspielhaus Bist du GAK oder STURM? Eine Fußball-Bürger*innen­bühne über Liebe, Stolz und Fan-Sein (E. Hauswirth, 28.02., UA) Halle Neues Theater H. Ibsen: Peer Gynt (P. Dehler, 14.02.); W. Mouawad: Vögel (M. Brenner, 28.02.) Hamburg Schauspielhaus M. Ende: Die unendliche Geschichte (M. Spaan, 21.02.); F. Kafka: Das Schloss (V. Bodó, 22.02.) Thalia Theater B. Wilpert: Nichts, was uns passiert (S. Geyer, 16.02.); n. Y. N. Harari/Y. Ronen: (R)Evolution (Y. Ronen, 29.02.) Hannover Schauspiel Performing:group: Trashedy (Performing:group, 13.02.); K. Rittberger/N. Khuon/D. Sommer: The Männy. Eine Menschtierverknotung (K. Rittberger, 21.02., UA); n. H. Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (S. Pucher, 28.02.) Hildesheim Theater für Niedersach­ sen M. Brooks: The Producers (C. Simmons, 01.02.); S. Unel: Pera Palas (B. Rehm, 15.02.) Ingolstadt Stadttheater R. W. Fass­ binder/F. Müller-Scherz: Welt am Draht (D. Berkenhoff, 01.02.); W. Lotz: Einige Nachrichten an das All (M. v. Langen, 06.02.); H. Schäfer/T. Fischer: Lenya Story

„ Er ist vernünftig, jeder versteht ihn.“

]


aktuell

/ TdZ  Februar 2020  /

(T. Hofmann, 19.02.); n. E. Humperdinck:

#1 (A. Eynaudi, 01.02.); P. Rinnert/J.

Hunger und Gier (K. Weber, 21.02., UA);

Müller/G. v. Lilienstern: Aids Follies (J.

K. Lehmann: So groß – so klein (K. Leh-

Müller, 13.02.); J. Machacek/G. Blaschke:

mann, 29.02.)

Ani_male (G. Blaschke, 20.02., UA); H.

Innsbruck Tiroler Landestheater E. Rottmann: Die Eisbärin (P. Jescheck, 20.02.) Kaiserslautern Pfalztheater F. Wittenbrink: Männer (H. Demmer, 08.02.) Karlsruhe Badisches Staatstheater H. v. Kleist: Penthesilea (A. Bader, 08.02.); W. Hauff: Das kalte Herz (S. Kaufmann/S. Rode, 23.02.) Kiel Theater M. Kienecker: Klangküche (K. Wunderlich, 02.02.); Rette sich wer kann! (S. Kreuzer / K. Trosits,14.02.); W. Hauff: Zwerg Nase (C. Himmelbauer, 22.02.); W. Shakespeare: Was ihr wollt (D. Karasek, 28.02.) Köln Comedia Theater C. Kettering: Time out (R. Pape, 29.02., UA) Schauspiel M. A. Yasur: Bomb (L. Sykes, 08.02., UA); D. Akhanli: Verhaftung in Granada (N. D. Calis, 28.02., UA) Konstanz Theater S. Beckett: Glückliche Tage (W. Mehring, 08.02.); G. Salvatore: Stalin (L. L. Haas, 15.02.) Krefeld Theater J. Pommerat: Mein Kühlraum (H. M. Cirpici, 15.02.); R. Schneider: Dreck (S. Karier, 20.02.); J. Offenbach: Orpheus in der Unterwelt (H. Horstkotte, 22.02.) Landshut kleines theater – Kammerspiele W. Russell: Educating Rita (L. Tetzlaff, 08.02.) Landestheater Niederbayern n. S. Verhoeven/J. v. Düffel: Willkommen bei den Hartmanns (M. Bartl, 28.02.) Leipzig Schauspiel L. Desamory/A. Baehr: Die besondere Perücke (A. Baehr/ L. Desamory, 01.02.); S. Stephens: Morning (Y. Hinrichs, 21.02.) Theater der Jungen Welt T. Tellegen/M. Boutavant: Man wird doch wohl mal wütend werden dürfen (J. Sontag, 23.02.) Linz Landestheater G. E. Lessing: Nathan der Weise (K. Plötner, 08.02.); Gebrüder Grimm: Es war einmal … (S. Schwab, 15.02., UA); E. Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (C. Sprenger, 22.02.) Magdeburg Puppentheater A. Limbos: Gummienten ahoi (A. Limbos, 22.02.) Mainz Staatstheater J. W. v. Goethe: Werther (B. Bartkowiak, 09.02.); Popcorn (A. Denk, 11.02., UA); V. Doddema: Was denn da fehlt oder Wie ich im Datingportal Foucault kennen lernte (V. Doddema, 13.02.); A. Tschechow: Drei Schwestern (M. E. Bjørseth, 29.02.) Memmingen Landestheater Schwaben B. Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder (P. Richter, 14.02.); J. H. Khemiri: Ich rufe meine Brüder (O. D. Endreß, 21.02.) Mönchengladbach Theater P. Næss/A. Hellstenius: Elling (M. Gehrt, 09.02.); B. Brecht: Die Dreigroschenoper (H. Malkowsky, 21.02.) Mülheim an der Ruhr Theater an der Ruhr M. Houellebecq / J. Huysman: Unterwerfung / Gegen den Strich (P. Preuss, 27.02.) München Kammerspiele R. Pollesch: Passing – It‘s so easy, was schwer zu ma-

Iglesias: Fressen (H. Iglesias, 26.02.) Kosmos Theater M. Michalek: Schwieriges Thema (M. Michalek, 12.02.) TAG – Thea­ter an der Gumpendorfer Straße T. Richter/n. A. Schnitzler: Reigen (D. Schneider, 11.02.)

Wiesbaden Hessisches Staatstheater n. H. v. Kleist: Michael Kohlhaas (K. Joel, 02.02.); L. Schumacher: Die kleine Raupe (L. Schumacher, 09.02.); F. Dürrenmatt: Romulus der Große (S. Sommer, 14.02.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersach­ sen Nord K. Brunner: Geister sind auch nur Menschen (C. May, 29.02.) Würzburg Mainfranken Theater A. Strindberg: Fräulein Julie (H. Müller, 13.02.); J. Roth: Hiob (S. Herzog, 15.02.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater G. Stosz: Mothers (G. Stosz, 15.02.); O. Garofalo: Es ist, was nicht war (R. Ries, 29.02.) Zürich Schauspielhaus Zürich M. Houellebecq: Unterwerfung (J. Simons, 21.02.)

FESTIVALS

Nürnberg Theater Mummpitz Panop­ tikum. Kindertheater aus Europa und ­Bayern (04.02.–09.02.)

chen ist (R. Pollesch, 29.02.) Residenztheater n. Euripides: Medea (K. Henkel, 21.02.)

Münster Theater M. Heckmanns: Die Schatten meines Vaters (F. Behnke, 21.02., UA)

Neuss Rheinisches Landestheater S. Gößner: Mongos (M. A. Schäfer, 29.02.) Osnabrück Theater W. Shakespeare: Romeo und Julia (W. Meierjohann, 01.02.); A. Küspert: Andersons Müllfahrt (B. Ipsen, 23.02., UA) Pforzheim Theater J. W. v. Goethe: Faust II (T. Münstermann, 23.02.); n. E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf (J. Müller, 29.02.) Potsdam Hans Otto Theater E. Ionesco: Die Nashörner (E. Hattenbach, 21.02.) Regensburg Theater M. Becker: Jenseits von St. Emmeram (M. Becker, 08.02., UA); M. Milisavljević: Das schaffen wir! Oder: Einer hat die Absicht eine Mauer zu bauen (M. Hackbarth, 29.02., UA) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­ destheater und Sinfonieorchester J. Molière: Der Menschenfeind (F. Adler, 08.02.) Rostock Volkstheater F. Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker (M. Geisler, 29.02.) Rudolstadt Theater N. Simon: Sonny Boys (M. Fennert, 01.02.); F. Schiller: Kabale und Liebe (C. Hofer, 19.02.) Saarbrücken Saarländisches Staatstheater P. Shaffer: Amadeus (M. Schachermaier, 07.02.)

Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater H. Müller: Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (M. Peschel, 08.02.) Stendal Theater der Altmark P. Marber: Der rote Löwe (J. Kortmann, 28.02.) Stuttgart Forum der Kulturen Stuttgart N. Gorbunov: Sellfie – Ein Markt der digitalen Unmöglichkeiten (B. Pap, 20.02.) Theater Wasserburg A. Tschechow: Die drei Schwestern (U. Bertram, 14.02.) Schauspiel n. R. Kricheldorf: Gotham City (M. Schönfeld, 15.02.); N. Haidle: Weltwärts (B. C. Kosminski, 29.02., UA) Tübingen Landestheater A. Guglielmetti: Geisterstunde im Chelsea Hotel (J. Jochymski, 14.02., UA); N. Haidle: Für immer Schön (D. Günther, 15.02.) Zimmertheater Neue Dringlichkeit: Der Widerspruch – Ein Volkslied (Neue Dringlichkeit, 01.02., UA); P. Ripberger: Im Antlitz der Maschinen oder das Recht auf Makellosigkeit (P. Ripberger, 29.02.) Ulm Theater M. Frisch: Biedermann und die Brandstifter (E. Cordes, 27.02.); B. Bjerg: Auerhaus (V. Stroh, 28.02.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle W. Shakespeare: Romeo und Julia (J. Neumann, 01.02.) Wien Burgtheater E. Jelinek: Schwarzwasser (R. Borgmann, 06.02., UA); n. W. Shakespeare/E. Bronfen/M. Gerstner: This is Venice (S. Nübling, 22.02.); K. Wéber/n. V. Sardou: Tosca (K. Mundroczó, 23.02., UA) brut A. Eynaudi: Noa & Snow – Poem

TdZ ONLINE EXTRA

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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Der KUNSTFORUM International Band 265:

Digital. Virtuell. Posthuman? NEUE KÖRPER IN DER KUNST

! ken e c e d t t en tforum.d z t e J s kun . w ww

Digital. Virtuell. Posthuman?

neue Aktualität: Wie sieht die Schnittstelle von Mensch und MaWir verbringen immer mehr Zeit mit schine künftig aus? Was wird es unseren digitalen Geräten, immer heißen, menschlich zu sein? Wie mehr Bereiche unseres Lebens wird sich der Horizont menschlicher werden gegenwärtig digital. Im Zuge Erfahrung verändern? Die Antworten dessen erfährt der Körper als zentrale auf diese Fragen hängen davon ab, Mehr erfahren: Oberfläche kultureller Einschreibung wen man fragt ... www.kunstforum.de/265


impressum/vorschau

Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Natalie Driemeyer, Dramaturgin, Berlin Elisabeth Feller, Kulturredakteurin, Wettingen Jens Fischer, Journalist, Bremen Jürgen Flimm, Regisseur und ehemaliger Intendant, Berlin Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Renate Klett, freie Autorin, Berlin Katharina Kromminga, Kostümbildnerin, Mannheim Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Irene Lehmann, Theaterwissenschaftlerin, Hamburg Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Frank Raddatz, Publizist und Dramaturg, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Dominique Spirgi, Kulturjournalist, Basel Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin Simone von Büren, freie Autorin, Bern Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Lina Wölfel, Theaterwissenschaftlerin, Hildesheim

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/02

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Vorschau

Thema Dem regierungskritischen russischen Regisseur Kirill ­Serebrennikow wird nach aufgehobenem Hausarrest in Moskau ein neuer Prozess gemacht. Er inszeniert trotzdem weiter. Gerade erarbeitet er das „Decamerone“ nach Motiven von ­ Giovanni ­Boccaccio am Deutschen Theater Berlin in Koproduk­tion mit seinem Gogol Center in Moskau. Die Premiere findet am 8. März am Deutschen Theater statt. Am Gogol Center wird die Produktion am 25. Juni gezeigt. Unterdessen ist in Moskau Wla­dimir Putin damit beschäftigt, seine Macht auch nach Ablauf s­einer letzten Amtszeit als Präsident über das Jahr 2024 hinaus zu sichern. Wir sprechen mit Kirill Serebrennikov über seine A ­ rbeit und werfen einen Blick auf Kunst und Politik in Russland.

Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens, Eva Merkel (Korrektur), Lara Wenzel (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.1.2019 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Neustart Anfang des Jahres wurde die neue österreichische Regierung aus konservativer ÖVP und den Grünen vereidigt. ­ Doch bekanntlich wird auch in Österreich nichts so leicht unter den Teppich gekehrt. Elfriede Jelinek verhandelt in ihrem aktuellen Stück „Schwarzwasser“ die Ursachen für die Zerwürfnisse im ­österreichischen Parlament, die mit Veröffentlichung des IbizaVideos im Mai 2019 zum Bruch zwischen der bisherigen Regierungskoalition aus ÖVP und Heinz-Christian Straches FPÖ führten. Robert Borgmann inszeniert die Uraufführung am Burgtheater Wien, Premiere ist am 6. Februar. Intendant Martin Kušej positioniert sich unterdessen mit seiner ersten Produktion „Die Hermannsschlacht“ klar gegen die rechte Partei. Dieser Hermann, sagte er im September 2019 in einem Interview mit Theater der Zeit, sei doch eigentlich „ein populistisches Arschloch“. Was seitdem am Burgtheater passierte, berichten wir im nächsten Heft. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2020.

Kirill Serebrennikov und Ensemble beim Probenstart zum „Decameron“. Foto Ira Polyarnaya

AUTOREN Februar 2020

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„Die Hermannschlacht“ in der Regie von Martin Kušej. Foto Matthias Horn

/ TdZ  Februar 2020  /


Was macht das Theater, Lisa Jopt? Lisa Jopt, das von Ihnen ins Leben ge-

Mittlerweile haben wir mehr Ver-

rufene ensemble-netzwerk gibt es

bündete beziehungsweise Befür-

jetzt seit fünf Jahren. Wie fühlt sich

worter einer Theaterreform. Das

das an?

Deutsche Theater in Berlin hat die

Wir haben eigentlich zwei Geburts-

Samstagsproben minimiert und ja,

tage: Das ensemble-netzwerk hat

das waren wir! Das waren Künstle-

sich 2015 gegründet, als die Regis-

rinnen

seurin Johanna Lücke und ich an

Dann sind da die Gehaltserhöhun-

einem schönen Sonntag in Olden-

gen. Einige Theater haben ihre Min-

burg eine E-Mail an alle Künstleri-

destgagen von 2000 auf 2300 Euro

schen Betriebsbüros in Deutsch-

erhöht. Das haben wir ohne die Ge-

land geschrieben haben. In dem

werkschaft geschafft.

an

einem

Küchentisch.

Schreiben forderten wir eine stär­kere Vernetzung innerhalb der deutsch-

Was hat bisher noch nicht funktioniert?

sprachigen Theaterlandschaft. Das

Wir bekommen keine Förderungen,

ist die emotionale Gründung. Das

dabei bräuchten wir mehr Geld, um

durchschlagkräftige, politisch aktive

Leute einzustellen. Es darf nicht

Team hat sich dann im Juni 2016

vergessen werden, dass wir dieses

als Verein in Berlin zusammen­

Ehrenamt nebenbei in unserer Frei-

geschlossen.

zeit ausüben. Es gibt trotzdem

Nicht nur die Arbeit des ensemble-netzwerks macht mich als „Mitdurchhalterin“ ziemlich stolz. Auch die Kooperationen mit dem regie- und dem dramaturgie-netzwerk sind unglaublich wertvoll. Gerade in einer Branche, in der es einen Genieglauben gibt und noch dazu ein großes Traditionsbewusstsein. Was wir alles erreicht haben, hätte wohl niemand für möglich

Eine Urszene: Als vor genau fünf Jahren, am 15. Februar 2015, zwei Theatermacherinnen aus Frust über die Arbeitsbedingungen am Theater in einer kleinen Wohnung in Oldenburg eine E-Mail an alle Künstlerischen Betriebsbüros im deutschsprachigen Raum verschickten, ahnte niemand, dass diese Aktion zur Gründung einer der größten und erfolgreichsten Vereinigungen im Theater führen würde: dem ensemble-netzwerk. Wir sprechen mit Netzwerk-Gründerin Lisa Jopt über ihre Arbeit, ihre weiteren Ziele und das schöne Gefühl, seine Arbeitsbedingungen grundlegend mitgestalten zu können. Foto Simon Hegenberg

gehalten.

schon ein paar Ideen für die Zukunft. Wir werden einen YouTubeKanal eröffnen, in dem oft gestellte Fragen gerade um den Normalvertrag Bühne ausführlich beantwortet werden können. Die Videos sollen uns etwas entlasten und helfen. Unser Wissen soll unbedingt geteilt werden. Außerdem werde ich zusammen mit meinem Kollegen Johannes Lange einen Podcast veröffentlichen, der heißt: „Wofür es sich zu loosen lohnt“.

Es gab viel Gegenwind.

Wir freuen uns schon jetzt auf die

Ja, vonseiten verschieder Gremien, dem

Menschen, die diese Haltung haben, kennen

dritte Konferenz der Theatermacherinnen

Deutschen Bühnenverein (damals unter Rolf

sich in der Feingliedrigkeit politischer Prozes-

„Burning Issues“, die in diesem Jahr auf

Bolwin), vielen älteren Kollegen oder der Ge-

se dieser Art überhaupt nicht aus. Gerade als

Kampnagel in Hamburg stattfinden wird. Wir

sellschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger.

Schauspielerin ist es nicht so einfach, weil du

möchten weiterhin Räume kreieren, in denen

Man hat uns am Anfang nicht ernst genom-

nicht weißt, ob dich noch mal jemand enga-

die Vita nicht zählt. Es ist völlig egal, ob du

men, fand unser Vorgehen und unsere Forde-

giert, wenn du dich politisch einsetzt. Mit

am Stadttheater inszenierst, aus dem Ju-

rungen hysterisch und zu ambitioniert. Es

Zugeständnissen wollte sich damals niemand

gendtheater kommst oder aus Schnuddeln an

hieß: Wenn ihr mehr Geld wollt, geht das

die Hände schmutzig machen.

der Futz. Zum Netzwerk-Empowerment zählt:

­Theater kaputt. Wenn ihr an Samstagen nicht

Wer dabei ist, ist richtig!

probt, kann die Vorstellung nicht stattfinden.

Sie haben sich die Hände schmutzig gemacht.

Wenn Leute unter Nichtverlängerungsschutz

Unser Anliegen wurde trotzdem gehört. Es

Das klingt groß!

stehen, leidet die Freiheit der Kunst, denn

wurde viel darüber geschrieben und berich-

2021 werden wir die größte bundesweite En-

dann wird ja alles unflexibel. Oder: Wollt ihr

tet. Als wir 2019 die Aktion „40  000

semble-Versammlung organisieren, bei der

etwa so werden wie das Orchester?

Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abge-

wir die Schwerpunkte erstmalig auf Tanz und

ordneten“ initiiert haben, ist den Politikern

Oper erweitern. Man fängt an, an die Gestalt-

Dadurch wurden Sie als Schauspielerin unter

die Kinnlade heruntergefallen, als sie erfah-

barkeit des eigenen Umfeldes zu glauben.

Druck gesetzt und in die volle Verantwortung

ren haben, wie wenig wir verdienen. Sie ha-

Das ist ein schönes Gefühl der Mündigkeit. //

gezogen. Was ist Ihnen am besten gelungen?

ben sich richtig geschämt.

Die Fragen stellte Paula Perschke.


Rendering: Ingenhoven Architects

fünfzig Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 Wilfried Schulz und Felicitas Zürcher (Hg.) Paperback mit 400 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 30,00 (print) / EUR 24,99 (digital) Erhältlich in Ihrer Buchhandlung, im Theater oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

Das Düsseldorfer Schauspielhaus wird fünfzig! Der Bau des Architekten Bernhard Pfau gilt als einer der prägendsten und radikalsten Kulturbauten der sechziger und siebziger Jahre. Aus Anlass des Jubiläums und nach einer umfassenden Sanierung und Modernisierung blicken wir zurück: mit Beiträgen von Zeitzeugen und Weggefährten, Kritikern und Wissenschaftlern, mit umfangreichem Bildmaterial aus der Baugeschichte und den vergangenen fünfzig Jahren Bühnengeschichte.


Brecht-Tage 2020 Brecht und das Theater der Intervention Der Begriff „Intervention“ wurde von Brecht nie gebraucht. Gleichwohl lassen sich viele Aspekte seiner Ästhetik darunter bündeln. Ausgehend vom „eingreifenden Denken“, Brechts Postulat eines auf Handeln ausgerichteten Denkens, lässt sich das Konzept der Intervention immer wieder in Brechts Theatertheorien wiederfinden. Da ist etwa das Insistieren auf eine epische Schauspielweise, die die Wirklichkeit als veränderbar und als ein Geschehen zeigt, in das man real eingreifen kann – wozu das Publikum zugleich ermächtigt werden soll. Auch die „Lehrstücke“ Brechts sind als Form einer direkten, inkludierenden Form der Intervention zu verstehen, insofern es nur noch Mitwirkende gibt, die Teil eines theatralen Lern- und Erfahrungsprozesses sind. Die Nähe zu partizipatorischen Konzepten des Applied Theater, das explizit als Theater der Intervention diskutiert wird, ist im Falle der Lehrstücke evident. Weiter ist an Brechts Vision „kleiner, wendiger Truppen“ zu denken, die als eingebundene Interventionsgruppen Problemlösungsprozesse auf lokalpolitischer Ebene begleiten sollten. Dieses Konzept „kleiner, wendiger Trup-

pen“ ist in großer Nähe zu künstlerischen Ansätzen urbaner Interventionen zu diskutieren, wie sie etwa von Akteur*innen der Freien Theaterszene oder der Theaterpädagogik verfolgt werden. In diesen Kontexten ist der Begriff der Intervention, in Verwandtschaft zur Bildenden Kunst, ein längst etablierter Terminus. Die Brecht-Tage 2020 zielen darauf, „Intervention“ als einen Kernbegriff der Ästhetik Brechts zu prüfen und kenntlich zu machen. Ferner soll nach den Vorläufern und nach der Tradition eines interventionistischen Theaters im Sinne Brechts gefragt werden. Welche Impulse gingen von Brecht für entsprechende künstlerische Praktiken der Gegenwart aus? Wo weisen zeitgenössische Ansätze über Brecht hinaus? Konzept und Projektleitung: Cornelius Puschke, Marianne Streisand, Christian Hippe und Volker Ißbrücker. Präsentiert von

10.2.2020 20 Uhr (5 €/ 3 €)

Mo

11.2.2020 20 Uhr (5 €/ 3 €)

Di

Lesen, kommentieren, Gespräch Brechts Texte zur Intervention Mit Margarita Tsomou und Matthias Warstat Moderation Christian Rakow

Statements und Diskussion Wie kann Theater heute intervenieren? Christine Wahl im Gespräch mit Bernd Stegemann und Florian Malzacher

12.2.2020 Mi 18 Uhr (Eintritt frei) Projektvorstellung Die WochenKlausur Mit Martina Reuter und Wolfgang Zinggl

12.2.2020 20 Uhr (5 €/ 3 €)

Mi

13.2.2020 20 Uhr (5 €/ 3 €)

Do

Präsentation und Diskussion Mit Kunst Missstände beheben? Mit Martina Reuter, Bernd Ruping und Julius Heinicke Moderation Marianne Streisand

Installation und Gespräch Die kleine Intervention: Weniger Spektakel, mehr Wirkung? Mit Aram Bartholl und Helgard Haug (Rimini Protokoll) Moderation Cornelius Puschke

14.2.2020 Fr ab 10 Uhr (Eintritt frei)

Tagung Brechts interventionistische Ästhetik und ihr Weiterwirken Leitung Florian Vaßen und Marianne Streisand Mit Vorträgen von Eva Renvert, Anja Quickert, Michael Wehren, Matthias Rothe, Carolin Sibilak, Anja Klöck, Katharina Kolar und Claudia Hummel

Chausseestr. 125, 10115 Berlin

www.lfbrecht.de


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