TdZ-Spezial Spanien

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Theater der Zeit spezial EUR 8 / www.theaterderzeit.de

Spanien Angélica Liddell: Ein Kampf, der es wert ist | Alberto Conejero: Ein Wald in Flammen | María Velasco: Das Lied der GuanoVögel | Álvaro Vicente: Das Gegenteil von Selbstherrlichkeit und Schwarzmalerei – Die Darstellenden Künste in Spanien


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paniens Teilnahme als Ehrengast bei der Frankfurter Buchmesse 2022 bietet einen wunderbaren Anlass, um die spanische Literatur und Kultur in ihren vielen Facetten noch bekannter zu machen – ganz besonders das Theater. Das Großprojekt unter der Federführung des spanischen Kultur- und Sportministeriums konnte von den umfangreichen Erfahrungen der Acción Cultural Española (AC/E) mit der Planung internationaler Großveranstaltungen profitieren, und so ist ein breitgefächertes Kulturprogramm entstanden, das dem deutschen Publikum einen Eindruck vom Talent und Kreativität unserer Kunstschaffenden vermitteln soll. Über das gesamte Jahr 2022 verteilt konnte (und kann) man in den bedeutendsten deutschen Kultureinrichtungen Ausstellungen, Vortragsreihen, Konzerte, Tanz- und Theatervorstellungen erleben, die auch einen wichtigen Beitrag zur besseren Vernetzung der Kulturschaffenden unserer beider Länder leisten und damit den Grundstein für künftige Projekte legen. Im Rahmen unserer Aufgabe, die Internationalisierung des Kulturbetriebs voranzubringen, kommt mit der Veranstaltung in Frankfurt (31 Jahre nach dem letzten Auftritt Spaniens als Ehrengast bei der Buchmesse) nun die überbordende Kreativität und das Talent spanischer Gegenwartskultur nach Deutschland, präsentiert eine neue Generation von Autoren, Künstlern, Theaterschaffenden, ohne jedoch die großen Persönlichkeiten unserer Vergangenheit zu vergessen. Acción Cultural Española (AC/E) hat verschiedene Kooperationen mit deutschen Festivals und Organisationen ins Leben gerufen, um die spanische Dramatik ins Rampenlicht zu rücken. Zu diesen Partnern gehören insbesondere der Heidelberger Stückemarkt, das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel und das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt. Und nun bringt die renommierte Zeitschrift Theater der Zeit in diesem Oktober ein Theater der Zeit Spezial zum zeitgenössischen spanischen Theater heraus (in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Dramática des Centro Dramático Nacional, einer Einrichtung des Kultur- und Sportministeriums). Diese Extrabeilage versammelt einige der bekanntesten Namen spanischer Theaterschaffender, wie etwa ­Alberto Conejero, Angélica Liddell, Pablo Remón und Xron. Álvaro Vicente ordnet die derzeit vorherrschenden theatralen Tendenzen in größere Kontexte ein, ein Glossar gibt Übersicht über Autorinnen und Autoren spanischer Gegenwartsdramatik. In der regulären Ausgabe der Zeitschrift, der das Spezial beiliegen wird, findet sich außerdem der Stückabdruck von María Velascos „Ich will die Menschen ­ausroden von der Erde“ (in der deutschen Übersetzung von Franziska Muche), begleitet von einem ­Gespräch mit der Autorin. Ein Spezial zur florierenden Theaterlandschaft Spaniens, das sich einreiht in eine lange Liste ­herausragender Publikationen, die 2022 auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt werden. // José Andrés Torres Mora Präsident der Acción Cultural Española (AC/E)

Impressum / Imprint Theater der Zeit Spezial Spanien Theater der Zeit Spezial Spanien Verlag: Theater der Zeit GmbH Winsstraße 72, 10405 Berlin Verlagsleitung: Harald Müller Geschäftsführung: Harald Müller, Paul Tischler Konzept / Redaktion: Martín Valdés-Stauber, Álvaro Vicente Redaktion TdZ: Nathalie Eckstein Korrektorat: Sybill Schulte Gestaltung: Gudrun Hommers Übersetzung: Johanna Carl, Miriam Denger, Carola Heinrich, Franziska Muche, Lea Saland, Charlotte Roos (SpanischDeutsch)

Abonnements: Telefon: +49 (0)30 4435285-12 Mail: abo-vertrieb@tdz.de Jahresabonnement / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch EUR 84 (digital), EUR 95,00 (Print), EUR 105,00 (Print + digital) © Theater der Zeit, Berlin 2022 Printed in Germany ISBN 978-3-95749-451-1 (Printausgabe) (8€) 978-3-95749-452-8 (E-PDF) (8€)

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Umschlagabbildungen Titel Mit Lorca am Flügel: „Comedia sin título“ von García Lorca, Fassung von José Manuel Mora und Marta Pazos, Regie Marta Pazos, Premiere 2021 am Teatro María Guerrero des Centro Dramático Nacional. Foto Luz Soria Umschlag hinten „Siglo Mío, bestia mía“ von Lola Blasco, die 2016 den Premio Nacional de Literatura Dramática gewann, Regie Marta Pazos, am Teatro Valle-Inclán des Centro Dramático Nacional 2020. Foto Luz Soria Mit freundlicher Unterstützung

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Inhalt bestandsaufnahme

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Editorial

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Álvaro Vicente Das Gegenteil von Selbstherrlichkeit und Schwarzmalerei Die Darstellenden Künste in Spanien

streitschrift

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Angélica Liddell Ein Kampf, der es wert ist

im gespräch

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Theater und Arbeiterklasse Marta García Miranda im Gespräch mit Pablo Remón und Pablo Gisbert

theater und poetologie

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María Velasco Das Lied der Guano-Vögel Passagen über Autofiktion

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Javier Hernando (Los Bárbaros) Wilde Dramaturgie. Nachdenken über Textarbeit

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Alberto Conejero Ein Wald in Flammen. Verstreute Notizen über Dichtung und Theater

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María San Miguel Zuhören. Eine radikal-politische Erfahrung. Dokumentartheater über die Gewalt im Baskenland

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Xron Unboxing Chévere. Die verdrängten Geschichten Galiciens – Eine Rekonstruktion

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Aina Tur Das Risiko des zeitgenössischen Dramas. Die Sala Beckett in Barcelona als internationales Textlabor

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Spanische Theaterautor:innen im Überblick

territoriale vielfalt

service

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editorial

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as vorliegende Heft versammelt Beiträge namhafter spanischer Theaterkünstler:innen, um einen Einblick in die vielsprachige und vielfältige Theaterlandschaft Spaniens zu eröffnen. Die Texte zeugen von einer intensiven, künstlerischen Arbeit an der Gegenwart: Kunst mischt sich ein in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und wird dabei selbst zum symbolischen Kampffeld sozialer und politischer Auseinandersetzungen, insbesondere in Hinblick auf Erinnerungskultur, territoriale ­Vielfalt und Feminismus. Anlass zu diesem Heft ist die Einladung Spaniens als Ehrengast zur Frankfurter Buchmesse. Zuletzt war das Land vor 31 Jahren Gast der Buchmesse. Damals, im Jahr 1991, bemühte sich Spanien darum, sich als demokratisches, europäisches Land zu präsentieren. Im Oktober 1991 verhalf der Auftritt als Ehrengast der Buchmesse Spanien dazu, sich als Ort künstlerischer Schaffenskraft zu präsentieren. Daran möchte das diesjährige Programm „Sprühende Kreativität“, das Spanien zur Buchmesse vorbereitet hat, anknüpfen. Heute ist Spanien weit mehr als ein Sehnsuchtsort. Als entfernte Nachbar:in in einem zusammenwachsenden Europa führen Tourismus, Sport und eng verflochtene wirtschaftliche Beziehungen zu einem regen Austausch mit dem deutschsprachigen Raum. Umso mehr verwundert, dass im künstlerischen Feld, jenseits spezifischer Komplizenschaften, keine vergleichbare Verwobenheit das Verhältnis der beiden Kulturräume bestimmt. Das vorliegende Heft versteht sich also auch als Beitrag zu einer engeren künstlerischen Verflechtung mit unserer entfernten Nachbar:in Spanien und als eine überfällige Überblickspublikation, als Handreichung und Orientierungskarte in der spanischen Theaterlandschaft.

RANDNOTIZ: Nach Jahrzehnten der Franco-Diktatur war es in den 1980er Jahren gelungen, das Land in die ­Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu führen. Anfang der 1990er Jahre ermöglichten die Olympischen Spiele in Barcelona (1992) sowie die EXPO in Sevilla (1992), der Welt ein modernes Spanien zu zeigen. RANDNOTIZ: Wenige Tage nach der Buchmesse 1991 wurde ich als europäisches Kind in Deutschland ge­ boren. So schließt sich der Kreis – In diesem Heft erlauben wir uns, mit dieser Zahl 31 zu spielen: Auf den letzten Seiten findet sich ein Glossar mit 31 Einträgen, das einen Überblick über die wichtigsten Gegenwarts­ dra­ ma­ tiker:innen Spaniens verschafft. Auf Deutsch vorliegende Übersetzungen ihrer Werke sind jeweils kenntlich gemacht.

Das Heft entstand in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Dramática des Centro Dramático National in Madrid und blickt auf Arbeitsweisen, ästhetische Setzungen und künstlerische Programmatik. Sechs Abschnitte gliedern das Heft: In einem Überblicksartikel (einschließlich einer Karte zur spanischen Theaterlandschaft) wagt der Kulturjournalist Álvaro Vicente eine Bestandsaufnahme des spanischen Theaterkosmos. Was beunruhigt Theaterschaffende, und welche Impulse werden gesetzt? Es folgt eine Streitschrift, der im deutschsprachigen Raum durch Gastspiele bekannten Angélica ­Liddell, die ihre Leser:innen herausfordert: Was vermag Kunst? Was darf Kunst? Im Gespräch mit den Theatermachern Pablo Remón und Pablo Gisbert befragt Marta García Miranda das Verhältnis von Realität und Bühne sowie die materiellen Bedingungen der Kulturproduktion. Daran schließen sich drei Beiträge an, die sich aus unterschiedlicher künstlerischer Perspektive mit dem Verhältnis von Theater und Poetologie befassen. Angesichts der territorialen und vor allem sprachlichen Vielfalt Spaniens kommen schließlich drei Stimmen aus dem Baskenland, Galicien und Katalonien zu Wort. Den Abschluss macht das bereits erwähnte Glossar impulsgebender, spanischer Gegenwartsdramatiker:innen. Wir hoffen, dass dieses Heft Neugier weckt und Verknüpfungen stiftet. Viel Spaß beim Lesen! Wir sehen uns auf der Buchmesse! //

Martín Valdés-Stauber

„INLOCA“ von Ana Vallés in ihrer Regie. Eine Kreation von Matarile, 2021 koproduziert mit dem Teatro María Guerrero des Centro Dramático Nacional Madrid mit Unterstützung von Agadic-Xunta de Galicia. Foto Bárbara Sánchez Palomero


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Das Gegenteil von Selbstherrlichkeit und Schwarzmalerei Die Darstellenden Künste in Spanien

Hintergrundartikel zum besseren Verständnis des spanischen Theatersystems, ausgehend von den kulturpolitischen und territorialen Strukturen des Landes. Mit einer Einordnung der Besucherstatistik und offiziellen Zahlen des Kultusministeriums und einer persönlichen Einschätzung zu den chronischen Problemen der Gegenwart und den begründeten Hoffnungen für die Zukunft.


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álvaro vicente_die darstellenden künste in spanien

von Álvaro Vicente. August 2022

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olgendes twitterte die junge Poetin und Theatermacherin Juana Dolores Romero (geboren 1992 in El Prat del Llobregat, Barcelona) am vergangenen 26. Juli: „Viele Interviews, viel Aufmerksamkeit, große mediale Reichweite, viel Lärm und wenig Geld; seit Monaten komme ich kaum noch über die Runden. Die prekären Verhältnisse und das Elend der Theaterschaffenden in Katalonien sind erschreckend. Wie soll man an einer Szene arbeiten, wenn man nicht weiß, ob man seine Miete zahlen kann; erst wenn das sicher ist, können wir denken und proben“. Wenige Tage zuvor, am 20. Juli, hatte sich – ebenfalls via Twitter (wir teilen gerne alles auf Twitter) – bereits der Dramatiker Antonio Rojano (geboren 1982 in Córdoba) zu Wort gemeldet (eine der bedeutendsten Stimmen des spanischen Gegenwartstheaters), anlässlich des alarmierenden Falls der Aufkündigung einer geplanten Inszenierung eines Werks von Paco Bezerra (geboren 1979 in Almería, ein weiterer herausragender Gegenwartsdramatiker) an den Teatros del Canal in Madrid. Rojano beklagte, dass die künstlerische Leitung bestimmter öffentlicher Theater offenbar keinerlei Konsequenzen für ihr Vorgehen befürchten müsse. Die Verwaltung der autonomen Region Madrid hatte sich dazu verpflichtet, die Inszenierung von Paco Bezerras „Muero porque no muero / La vida doble de Teresa“ (dt. „Ich sterbe, weil ich nicht sterbe / Das Doppelleben der Teresa“) finanziell zu unterstützen (gemeinsam mit dem europäischen Programm „Próspero“ sowie einer privaten katalanischen Produzentin). In Bezerras Text wird die bekannteste Mystikerin der spanischen Literatur, Teresa de Ávila, ins Gefängnis gesperrt (nur eine von vielen dramatischen Wendungen), weil sie etwas an eine Mauer des Congreso de los Diputados, dem spanischen Regierungssitz, geschmiert hat: „Schreiben in Spanien heißt nicht weinen, schreiben in Spanien heißt sterben“. Das Stück wurde aus der geplanten Spielzeit 2022/2023 gestrichen, da liegt der Verdacht der Zensur nah, zumal die zum Vorfall abgegebenen Erklärungen dürftig und widersprüchlich sind. Möglicherweise braucht man heute, anders als zu Zeiten der Franco-Diktatur, keine gestrengen Herren mehr, die, noch mit Speichelresten im Schnauzer, vor der Premiere zum Rotstift greifen und den Text kürzen, heute genügt es, die für die Inszenierung notwendigen Gelder zu kürzen. Letztlich geht es immer ums Geld. Ich habe diese beiden Beispiele (eins aus Katalonien, eins aus Madrid) für die Einleitung meines Artikels ausgesucht, doch so bezeichnend sie auch sein mögen, sie geben natürlich nur einen kleinen Ausschnitt wieder und sind nicht repräsentativ für die gesamte Theaterszene. Doch die Theaterschaffenden werden mir zustimmen, dass ­diese

prekären Bedingungen und die Kulturpolitik unsere Damoklesschwerter sind. Ich hätte genauso gut mit einer optimistischen Bemerkung über die steigende Zahl von Premieren auf den Bühnen Spaniens beginnen können, oder damit, dass unsere großen Festivals nach pandemiebedingter Pause nun endlich wieder stattfinden, oder mit dem außergewöhnlichen Dramatiker Juan Mayorga, Mitglied der Akademie der Sprache und frischgebackener Preisträger des Prinzessin-von-Asturien-Preises (der prestigeträchtigsten literarischen Auszeichnung, die in diesem Land vergeben wird, abgesehen vom Cervantes-Preis). Doch in Spanien ist Selbstherrlichkeit eben immer verdächtig, „alles gut“ ist nichts als Propaganda, so wie Schwarzmalerei und „alles schlecht“ zu kurz greifen, weil sie mit der Realität wenig zu tun haben. Mayorga ist ein Genie, auf das wir alle stolz sind, ein nahbarer und bescheidener Mensch, der sich wie kaum ein anderer für das Theater einsetzt und dessen Werke in zahlreichen Ländern gespielt und in mehrere Sprachen übersetzt wurden (und immer noch werden). Nicht wenige halten ihn gar für einen künftigen Nobelpreisträger. Mayorga ist die Speerspitze eines goldenen Zeitalters der spanischen Dramatik, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in vielen Teilen der Welt Gehör verschafft hat. Mayorga ist das ideale Aushängeschild, eine Standarte, die man an der Spitze der panegyrischen Parade hochhält, doch dahinter gibt es keinen festlichen Umzug, kein fröhliches Treiben, sondern nur Leidensprozession und Opferbereitschaft. Talent und Fleiß ist mehr als genug vorhanden, doch das reicht offenbar nicht aus; der spanische Theaterbetrieb behebt die strukturellen Schwachstellen nicht, die in den letzten 40 Jahren (oder mehr) entstanden sind. Betrachten wir die Zusammenhänge von Staat und Kulturfinanzierung etwas genauer: Spanien ist ein Land, das auf politischer, sozialer und ökonomischer Ebene das Prinzip der Einheit der Nation mit der Autonomie der Regionen verbindet. Das Land ist weitaus weniger zentralisiert als Frankreich, sodass man annehmen könnte, es gäbe in Spanien eine lebendigere und vielfältigere Theaterszene als in Frankreich, aber das Gegenteil ist der Fall. Doch Spanien ist auch kein rein föderalistischer Staat wie die USA – und trotzdem träumen wir von einem spanischen Broadway auf der Gran Vía von Madrid. Alles geht hier sternförmig von Madrid aus, so wie das Eisenbahnnetz, das die Stadt mit anderen Zentren verbindet, insbesondere mit Barcelona, und, etwas weniger ausgeprägt, Sevilla, Valencia oder Bilbao, die ihrerseits Mittelpunkt ihrer jeweiligen Einzugsgebiete sind. Dort wiederholt sich das Modell im Kleinen. Bei einigen Regio­ nen kommen zudem kulturelle Besonderheiten mit ins Spiel, die mit anderen Nationalgefühlen und eigenen Sprachen zusammenhängen, wie in Katalonien (gemeinsam mit der Autonomen Gemeinschaft Valencia und den Balearen), Galicien, Asturien, dem Baskenland

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„Demasiado diva para un movimiento asambleario“, Text und Regie von Juana Dolores Romeo, Antic Teatre de Barcelona 2020. Foto Alessia Bombaci


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bestandsaufnahme

und Navarra. Spanien, der „Staat der Autonomien“, ist territorial vierstufig gegliedert: Der Zentralstaat ist in 17 Autonome Gemeinschaften (und 2 Autonome Städte auf afrikanischem Gebiet, Ceuta und Melilla) unterteilt, diese wiederum setzen sich aus 50 Provinzen zusammen, die ihrerseits aus Kommunen bestehen. Dazu kommen noch einige Gebietskörperschaften wie die ­cabildos insulares (Inselverwaltungen) oder die concellos Galiciens, und die diputaciones, territoriale Überbleibsel, die auf die erste spanische Verfassung von 1812 zurückgehen und heute den Provinzen zugeordnet sind; sie spielen jedoch nach wie vor eine bedeutende Rolle im kulturellen Bereich, etwa wenn es um finanzielle Unterstützung von Initiativen geht, um Subventionen und­ andere Anreize. Dieses ganze verschachtelte System ­ (das nicht selten zu einer teuflischen Bürokratisierung des Lebens führt) spielt eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung der Darstellenden Künste Spaniens, ­ denn – gleich vorweg – ohne öffentliche Gelder könnte das ­spanische Theater nicht existieren, bei aller Kooperation mit dem privaten Sektor, derer man sich gerne rühmt – eine weitere alte, verdächtige Leier in einem Land, das derart zu Korruption neigt. Während der härtesten Monate der Covid-19-Pandemie 2020 forderten viele, man müsse die Gelegenheit ergreifen, um das marode Theater-Ökosystem wieder aufzubauen, das sich längst als ineffizient und veraltet erwiesen hat, und so die tiefverwurzelten, allseits bekannten Probleme endlich hinter sich zu lassen. Trotz der ungewöhnlichen und bisher beispiellosen Einigkeit, die der Sektor in diesen höchst schwierigen Momenten an den Tag gelegt hat (und die erst das Wunder möglich gemacht hat, dass der Theaterbetrieb dank umsichtigem Krisenmanagement unmittelbar nach dem ersten Lockdown wieder aufgenommen und weitergeführt werden konnte), hat sich zwei Jahre danach nichts Wesentliches geändert. Deswegen nehme ich die offiziellen Daten von 2019 (aus dem Statistischen Jahrbuch des Ministeriums für Kultur und Sport) als Grundlage. Sie belegen einen Aufwärtstrend bei den Gesamtzahlen seit 2013 (einem wahren „annus horribilis“ für das spanische Theater) als die Folgen der Krise von 2008 sichtbar wurden. In einem Land, in dem nur ein Drittel der Bevölkerung angibt, jährlich mindestens ein Mal ins Theater zu gehen, und ein weiteres Drittel gesteht, nie hinzugehen, gibt es rund 1700 feste Spielstätten (3,6 pro 100 000 Einwohner), mehr als die Hälfte (60 Prozent) mit einer Größe zwischen 100 und 500 Sitzplätzen (18 Prozent zwischen 500 und 1000 Sitzplätzen). 70,8 Prozent dieser Spielorte sind in öffentlicher Hand (1210) und 27,8 Prozent in privater (davon befinden sich 278, also mehr als die Hälfte, in Madrid und Katalonien). Katalonien ist die Region mit den meisten Spielorten, 392, das entspricht 5 Theatern pro 100.000 Einwohner, gefolgt von Madrid (288), Andalusien (217), Valencia (145), Galicien (94), Kastilien und Leon (83) und dem Baskenland (76). Es gibt im Bereich der Darstellenden Künste (hauptsächlich

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Theater und Tanz) etwa 5000 registrierte Kompagnien, die meisten davon in Madrid (24,6 Prozent) und in Katalonien (19,9 Prozent). Die Zahl der Theater- und Tanzfestivals beläuft sich auf insgesamt 1166, in diesem Fall mit einem etwas höheren Anteil in Andalusien (200). Auf der anderen Seite schreiben sich von den fast 400.000 Studierenden, die einen künstlerischen Stu­ diengang belegen (oder eine Ausbildung in dem Bereich absolvieren) 9 Prozent für Tanz, aber nur 0,7 Prozent für Theater ein. Insgesamt besuchten 2019 in Spanien rund 14 Millionen Zuschauende gut 51.000 Vorstellungen, die Einnahmen belaufen sich auf 239 Millionen Euro. Zu 61 Prozent fanden diese Vorstellungen in städtischen Ballungsgebieten (mit mehr als 200.000 Einwohnern) statt, an der Spitze dabei stets Madrid und Katalonien, sie verzeichnen sowohl den größten Anteil an den Vorstellungen (54 Prozent) als auch an den Einnahmen (71 Prozent). Die zentrale staatliche Verwaltungseinrichtung für die Darstellenden Künste in Spanien (die dem Ministerium für Kultur und Sport untersteht) ist das Nationale Institut der Darstellenden Künste und der Musik (INAEM). Diese Institution wurde zuletzt durch die ­ Branche selbst stark infrage gestellt, eine umfassende Reform ist längst überfällig (so wie auch eine zwischen den Ministerien abgestimmte Entwicklung des „Künstlerstatuts“ seit Jahren auf sich warten lässt). Dabei gibt es genügend Probleme in diesem Bereich, sei es im technischen Bereich oder auch bei den Schauspielern. Die müssen z. B. die Folgen einer völlig absurden Situation ausbaden: Seit 2014 mischt sich das Finanzministerium immer wieder in die Angelegenheiten des INAEM ein, was Monat für Monat zu verspäteten Gagenaus­ zahlungen führt. Das INAEM ist für 13 Bühnenorganisationen unmittelbar zuständig, darunter das Centro Dramático Nacional, die Compañía Nacional de Danza, die Compañía Nacional de Teatro Clásico und das Museo Nacional del Teatro. Elf von ihnen haben ihren Sitz in Madrid, wo diese Einrichtungen neben anderen zu finden sind, wie den Teatros del Canal, die der Regional­ regierung unterstehen, dem Teatro de La Abadía, für das mehrere Träger zuständig sind, und den Theatern und Kunstzentren Español, Fernán Gómez, Circo Price, ­Conde Duque und Matadero, die der Hauptstadtverwaltung zugordnet sind. Weitere sehr aktive, öffentlich geförderte Theater sind das Teatre Lliure und das Teatre Nacional de Catalunya in Barcelona, das Teatro Arriaga in Bilbao, das Teatro Central in Sevilla und La Mutant in Valencia. Die Liste der öffentlichen Theater ist lang, in beinahe jeder Stadt und jedem Dorf Spaniens gibt es ­wenigstens einen öffentlich geförderten Spielort, meist unter kommunaler Verwaltung. Die meisten dieser über ganz Spanien verteilten Veranstaltungsorte gehören regionalen Netzwerken mit unterschiedlichen Organisations- und Verwaltungsstruk­ turen an, manche sind etablierter und effizienter als ­andere. Gleichzeitig existiert ein nationales Netzwerk


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álvaro vicente_die darstellenden künste in spanien

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„SNMM (Show no mercy, Moses)“, Text und Regie von Álvaro Vicente am Réplika Teatro Madrid 2021. Foto Laura Meijueiro

aus Theatern, Veranstaltungsorten, Gastspielorganisa­ tionen und öffentlich geförderten Festivals (www.redescena.net). Dazu gehören auch die Messen, die für die landesweite Mobilität der Darstellenden Künste von enormer Bedeutung sind. Die Messen haben ihren eigenen Verband, COFAE (Coordinadora de Ferias de Artes Escénicas), die privaten Unternehmen sind bei FAETEDA (Federación Estatal de Asociaciones de Empresas de Teatro y Danza) organisiert, sie sind die hauptsächlichen Nutznießer des Platea-Programms, einer von INAEM und dem Spanischen Verband der Gemeinden und ­Provinzen (FEMP) geförderten Katalogübersicht, die die Arbeit der Programmgestaltung erleichtert und die ­Mobilität der Ensembles fördert, indem deren wirtschaft­ liches Risiko reduziert wird. Für die kleinen Spielstätten gibt es das Netzwerk „Red de Teatros Alternativos“ mit 55 Spielorten, über sämtliche Autonome Gemeinschaften verteilt. Dieses Netzwerk wählt jedes Jahr im Rahmen des Förderungsprogramms „Circuito de la Red“ Stücke aus, die auf Tournee durch Spanien gehen. Dreizehn Theaterhochschulen (übers ganze Land verteilt) vervollständigen das hier skizzierte Geflecht der Netzwerke – obwohl es viele Studierende aufgrund der mangelnden kulturellen Infrastrukturen in ihren Heimatregionen an die Hochschulen nach Madrid und Barcelona zieht. Weil außerhalb dieser Zentren kaum Eigenproduktionen entstehen, sind diese Theater in erster Linie Gastspielbetriebe, was zu einem sehr homogenen Angebot führt.

Paradoxerweise haben selbst zentrale staatliche Institu­ tionen wie das CDN große Schwierigkeiten, ihre Produk­ tionen außerhalb der Hauptstadt oder auch im Ausland zu zeigen, warum, bleibt unklar. Mysterien der Kulturpolitik … Das ist unser System, in der Theorie gut organisiert. Aber, wie gesagt, in der Praxis ist die Situation prekär, und die Kulturpolitik bewährt sich nicht immer, weil sie ausgesprochen kurzsichtig ist. Doch es gibt auch Erfolgsgeschichten. Wenn man es schafft, die Kräfte für einen bestimmten Bereich zu bündeln, wie es mit der zeitgenössischen Dramatik der Fall war, und dabei Weitblick beweist, die Lehre unterstützt, Räume zur Verfügung stellt, die auch für mehr Sichtbarkeit sorgen, finanzielle Impulse setzt, Preise und Netzwerke ins Leben ruft und Universitäten mit einbezieht, dann führt das auch zum Erfolg. Heute freuen wir uns über eine beneidenswert starke Generation von Theaterautorinnen und -autoren, mit der die Auseinandersetzung lohnt. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die wenigsten Autoren vom Theater leben können, sich beruflich breiter aufstellen und auf den Mannaregen der Tantiemen warten müssen, falls sich ein Theater oder eine Gruppe dann doch noch dazu entschließt, ihre Stücke zu inszenieren. Oder sie nehmen es selbst in die Hand (was ­häufig vorkommt) und investieren ihre Zeit, Geld und Arbeit, ohne die Gewissheit, dass es sich lohnen wird. Der springende Punkt ist letztlich: Das Angebot wird gefördert, aber nicht die Nachfrage. Darin besteht


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bestandsaufnahme

„EUROPA. LOS TUTELADOS“, basierend auf dem Stück „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek, Regie Mikolaj Bielski, Dramaturgie Mikolaj Bielski und Álvaro Vicente am Matadero Madrid 2020. Foto Estrella Melero

eines der größten Probleme unseres aktuellen Theatersystems, zusammen mit dem fehlenden Interesse des Auslands, unsere Theaterproduktionen einzuladen – mit Ausnahme von klassischem Tanz und Flamenco, die in sehr tradierter Form unter dem Label „Marke Spanien“ (gemeinsam mit iberischem Schinken, Olivenöl und Wein aus La Rioja) vermarktet werden, ist spanisches Theater nur selten auf internationalen Bühnen zu finden. Schaut man sich einige der bedeutendsten Theaterfestivals Europas und Lateinamerikas der letzten fünf Jahre an, war die spanische Szene dort nur durch eine Handvoll Künstlerinnen und Künstler vertreten (Rodrigo García, Angélica Liddell, Juan Mayorga, La Zaranda, La Tristura, El Conde de Torrefiel, Rocío Molina und Israel Galván). Doch innerhalb unserer Landesgrenzen führt die Überproduktion zu einem unüberwindbaren Stau, weil das System nicht in der Lage ist, einem so unverhältnismäßigen Arbeitseifer gerecht zu werden. Ein Beispiel aus der Praxis: Zur letzten Ausschreibung des Gastspielförderprogramms des Circuito de la Red de Teatros Alternativos gingen 900 Bewerbungen ein, von denen nur 50 oder 60 für eine Tournee ausgewählt wurden. Für den Rest heißt das: weitersuchen. Es gibt nicht genug Auftrittsmöglichkeiten. Woran liegt das? Gibt es nicht genug Publikum? Ist das Angebot nicht attraktiv genug? Oder liegt es daran, dass in so einer überschaubaren Cliquenwirtschaft immer nur dieselben Leute arbeiten? Dass da nur eine ganz bestimmte Form von Theater hineinpasst? Und, noch entscheidender: Interessiert sich die spanische Gesellschaft überhaupt für das Theater? Dem

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medialen Echo nach nur sehr wenig. Möglicherweise ist das Teil eines größeren Problems, das mit der körper­ lichen Ko-Präsenz von Zuschauenden und Schauspielenden zu tun hat; die Darstellenden Künste können nicht viral gehen, weil sie zu flüchtig sind, sie entziehen sich dem Algorithmus von vornherein. Es gibt immer weniger Theaterkritik, weil der Markt allgemein größer wird, und die sogenannten kommerziellen Theater, die Privattheater, müssen die Ränge füllen, um Kohle zu scheffeln, und gehen darum mit den üblichen Mitteln auf Nummer sicher: Komödie, großes Repertoire, Starschauspielerinnen und -schauspieler, Spektakel, Musical, TV-Ästhetik usw. Das Gewöhnliche spielt sich im Zentrum ab, im Zentrum Spaniens und im Zentrum der Städte. Das Außergewöhnliche, also das Andere, Fremde, bleibt randständig (im wörtlichen und übertragenen Sinn), findet auf Festivals statt und wird daher mit Tourismus assoziiert, als „total experience“, das absolute Erlebnis – noch so ein neoliberales Credo. Während manche Produktionen ewig auf dem Spielplan stehen, weil sie zur offiziellen (politisch wie poetisch völlig harmlosen) Kulturlandschaft einer Großstadt gehören, sind andere nur sehr temporär zu ­sehen, und die Ministranten und Mitglieder der großen intellektuellen Theatergemeinde, ich vorneweg, prügeln sich um Eintrittskarten oder Einladungen zu einer der wenigen Vorstellungen. Castellucci, Lepage, Liddell und Mouawad darf man schließlich auf keinen Fall verpassen, Gott bewahre! Die Auswahl ist vielfältig, ja, aber es entsteht der Eindruck, das spanische Theater teile sich in solche, die


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álvaro vicente_die darstellenden künste in spanien

sich die Zeit vertreiben, und solche, die in die (Theater-) Geschichte eingehen wollten. Der Großteil des Publikums ist auf Unterhaltung aus, gönnt sich ab und zu den Spaß, ein klein wenig schlauer als der Nachbar zu sein, und schaut sich einen well made Shakespeare oder Lope de Vega an, möglichst ohne allzu viele moderne Sperenzchen. Und das theaterinterne Publikum (Konsumenten des eigenen Produkts) sucht Inspiration in der sogenannten zeitgenössischen Kunst, wo die Figur des interdisziplinären Theaterkünstlers immer mehr an Bedeutung gewinnt, der die Grenzen zwischen Regie, Text, Spiel und Bühnenraum aufzulösen versucht. Am Ende jedenfalls ist der Name des Künstlers wichtiger als seine Arbeit, der Autor wichtiger als das Ensemble, ein weiteres Zeichen der Zeit. Grenzüberschreitungen, Risikofreude und Überraschungen sind selten, und es ist schwer, diese Diamanten überhaupt zu entdecken, die materiellen Bedingungen lassen kaum Raum für Neues – und das wenige Neue, das dann doch entsteht, orientiert sich an vorausgegangenen künstlerischen Entwicklungen aus dem Ausland. Der aktuelle Trend geht, sowohl formal als auch inhaltlich, Richtung Autofiktion und zum politischen, sozialen, dokumentarischen Theater. Identität ist die neue zeitgenössische Religion, und der neoliberale Unternehmergeist durchdringt nun auch die Kunst, das steht fest. Ist das Bekenntnis- und Geständnistheater Symptom für einen Mangel an Fantasie oder einen Mangel an Mitteln, um ambitionierte Produktionen auf die Beine zu stellen? Ist das Erinnerungstheater Symptom einer Krise der Fiktion oder Antwort auf das postfaktische Zeitalter? Auch das Theater entkommt dem Kulturstreit nicht, den Spanien gerade durchlebt. Aber lasst uns einfach weiter den Trends nachlaufen! Selbstreferenzialität und Nabelschau (Theater, das von Theater handelt und sich an Theaterleute richtet). Bruchstückhafte, löchrige und zusammengeschusterte Dramaturgien. Frankenstein-Effekt mit prätentiöser Collagen-Optik. Aufwendige Bühnenbilder sichern den Platz im Theaterolymp, Bildgewalt ist das Gebot der Stunde, bloß kein audiovisuelles Mittel auslassen. Herrschaft der Bilder. Der Umgang mit dem häufig verstaubten nationalen Kulturerbe riskiert nicht viel – Traditionen werden erhalten, gepflegt, aber nicht gesprengt (und im Stillen beneidet man die Briten um ihren „Shakespeare“). Darum leiden viele Theaterschaffende unter dem „Ich will endlich ein Klassiker sein“-Syndrom, was immer sich der Einzelne unter einem Klassiker vorstellt. Underground gibt’s auch, ja, einen Container voll mit halbfertigen Projekten (der Prozess zählt, nicht das Resultat) und lässiger Wohnzimmerästhetik, die manchmal tatsächlich in Wohnzimmern stattfinden. Viel projizierter Text, zwanghafte Verfremdungen, verstärkter Ton und Soundexperimente, Bewegung mit Brüchen (we love Pina Bausch), Gender- und, wie gesagt, Identitätsthemen. Glücklicherweise ist das Theater in Spanien aktuell wahrscheinlich eine der freiesten und engagier-

testen Ausdrucksformen, wenn es um die Auseinandersetzung mit Fragen von Feminismus, Männlichkeit, LGBTQI+ und Rassismus geht (auch wenn es nach wie vor viel gestriges Theater gibt). Gerade seine begrenzte Reichweite eröffnet dem Theater vielleicht eine größere inhaltliche Freiheit, die sich andere Medien wie das Kino oder das Fernsehen nicht erlauben können. Die (Seh-) Gewohnheiten haben begonnen, sich zu ändern. Eine ganze Bewegung hat sich aufgemacht, um die Theatersprache weiterzuentwickeln (die schon so alt ist und es doch immer wieder schafft, sich neu zu erfinden). Aber vielen gilt diese Bewegung als alternatives Experiment, mit dessen Tempo das Publikum meist nicht Schritt halten kann. Darum haben sich die Theater­ erneuerer an das Publikum anpassen müssen, indem sie sich ästhetischer Mittel bedienen, die früher en vogue waren, heute aber zum Klischee erstarrt sind. Falls die Distanzierung, Loslösung, ja, die Verdammung des Theaters innerhalb unserer Konsumgesellschaft neue Arbeitsmöglichkeiten, neuen Freiraum für Experimente, geschaffen hat, dann machen die Resultate jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre man damit besonders weit gekommen – es ist die Dramatik, die weiterhin den ­Kanon bestimmt. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen werfen die Frage auf: Machen wir das Theater, das wir wollen, oder das Theater, das wir können? Oder das Theater, das wir wollen, mit den Mitteln, die wir haben? Wozu all die Anstrengungen? Denn dieses schnelllebige und kurzsichtige System führt dazu, dass schon dagewesene Ansätze gedankenlos wieder aufgewärmt und Gemeinplätze als Novum präsentiert werden. In der jüngeren Generation allerdings scheint das Interesse am Theatermachen und Theaterschauen neu zu erwachen. Dieses lebendige Kinder- und Jugendtheater sorgt für Publikum – schon heute, aber vor allem mit Blick auf die Zukunft. Wird dasjenige Drittel der Bevölkerung, das jährlich mindestens ein Mal ins Theater geht, endlich wachsen, oder bleiben wir in dieser postmodernen Spirale stecken? In diesem absurden Kreislauf, der alle paar Jahre wieder von vorn beginnt, ohne Erinnerung, ohne Archiv, ohne Fortschritt, ohne wirklichen Respekt vor dem großen Talent, das auf spanischen Bühnen unbestreitbar zu finden ist? Was weiß ich. Eine Runde ficke* ich noch, dann gehe ich. // *In Spanien gibt es einen Witz: Ein paar Katzen laden einen Welpen ein, eine Nacht mit ihnen ficken zu gehen. Der Welpe weiß nicht, was Ficken ist, aber schließt sich an. Als sie auf einem Platz ankommen, folgt ihnen plötzlich ein Hund und beginnt, die Katzen im Kreis um den Springbrunnen in der Mitte des Platzes zu jagen. Nach ein paar Runden um den Brunnen sagt der Welpe: „Eine Runde ficke ich noch, dann gehe ich.“

Aus dem Spanischen von Miriam Denger und Johanna Carl

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Der Autor

Álvaro Vicente (geboren 1976 in Alicante) Auf darstellende Künste spezialisierter Journalist, Dozent, Dramatiker und Theatermacher. Ko-Direktor der Zeitschrift Revista Dramática des Centro Dramático Nacional. Gründer der Zeitschrift Revista Godot. PacoRabal-Preis für Kulturjournalismus 2019. Dramaturg bei „Europa. Los tutelados“ (dt. „Europa. Die Schutzbefohlenen“), basierend auf Texten von Elfriede Jelinek (Matadero, Madrid 2020). Verfasser der aus den folgenden Stücken bestehenden Trilogie: „No/Llores“ (dt. „Weine/ Nicht“) (2019); „Show no mercy, Moses/ Catálogo de viejas masculinidades“ (dt. „Show no mercy, Moses/Katalog alter Männlichkeiten“) (2021) und „La Vuelta a España“ (dt. „Rückkehr nach Spanien“) (noch nicht aufgeführt), eine szenische Recherche über die Männlichkeit. Foto privat


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karte

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ASTURIEN

CANTABRIEN BASKENLAND

GALICIEN

NAVARRA LA RIOJA KATALONIEN

KASTILIEN UND LEÓN ARAGONIEN

VA GE LEN ME CIA IN NI SC SC HA HE FT

MADRID

KASTILIEN – LA MANCHA

EXTREMADURA

MURCIA ANDALUSIEN

BALEAREN Menorca Ceuta

Mallorca

Melilla Ibiza Formenterra

KANARISCHE INSELN La Palma

Lanzarote

Teneriffa

Fuerteventura

Gomera Gran Canaria Ferro


theater und ausbildungsstätten

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THEATER (53) MADRID Staats- und Stadttheater: Centro dramático nacional (CDN) verfügt über die beiden Spielorte: Teatro María Guerrero & Teatro Valle-Inclán Compañía nacional de teatro clásico (CNTC) verfügt über den Spielort: Teatro de La Comedia Teatros del Canal Teatro de La Abadía Teatro Español Naves del Español en Matadero Madrid Teatro Fernán Gómez Teatro Circo Price (Zirkus) Centro de Cultura Contemporánea Conde Duque (spartenübergreifende Spielstätte) Espacio Abierto Quinta de los Molinos (spartenübergreifende Spielstätte für Kinderund Jugendtheater) Privattheater/Private Produktionsstätten: Sala Cuarta Pared (Spielstätte für Gegenwartsdramatik) Teatro del Barrio (explizit politisches Theater) La Casa Encendida (spartenübergreifende Spielstätte) Freie Szene: Réplika Teatro Teatro Pradillo Nave 73 CATALUNYA / CATALUÑA / KATALONIEN Staats- und Stadttheater: Teatre Nacional de Catalunya (Barcelona) Teatre Lliure (Barcelona) Mercat de les Flors (Barcelona) Sala Beckett (Barcelona) Fabra i Coats (spartenübergreifende Spiel­ stätte) (Barcelona) L’Estruch (Sabadell) L’Artesá (El Prat de Llobregat) Privattheater/Private Produktionsstätten: La Caldera (Barcelona) Teatre Romea (Barcelona) Antic Teatre (Barcelona) NAFFAROA / NAVARRA Staats- und Stadttheater: Teatro Gayarre (Pamplona) EUSKADI / PAÍS VASCO / BASKENLAND Staats- und Stadttheater: Azkuna Zentroa Alhóndiga (Bilbao) Teatro Arriaga (Bilbao) Privattheater/Private Produktionsstätten: Pabellón 6 (Bilbao) 31 La Fundición (Bilbao) ASTURIAS / ASTURIEN Staats- und Stadttheater: Teatro Palacio Valdés (Avilés) Centro Niemeyer (spartenübergreifende Spielstätte) (Avilés) 34 Teatro de La Laboral (Gijón) GALICIA / GALICIEN Staats- und Stadttheater: Auditorio de Galicia (Santiago de Compostela) Centro Dramatico Galego (Santiago de Compostela) Teatro Rosalía de Castro (A Coruña) Privattheater/Private Produktionsstätten: Teatro Ensalle (Vigo)

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CASTILLA Y LEÓN / KASTILIEN UND LEÓN Staats- und Stadttheater: LAVA – Laboratorio de Artes (Valladolid)

CASTILLA LA MANCHA Festival Internacional de Teatro Clásico de Almagro (Almagro)

CASTILLA – LA MANCHA / KASTILIEN – LA MANCHA Staats- und Stadttheater: Teatro Circo (Albacete)

PAIS VALENCÁ / COMUNIDAD VALENCIANA Sagunt a escena (Sagunto) Muestra de Autores Contemporáneos de Alicante (Alicante) Dansa Valencia (Tanzfestival) (Valencia) Russafa Escènica Festival de Tardor (Valencia)

PAIS VALENCIÁ / COMUNIDAD VALENCIANA Staats- und Stadttheater: La Mutant (Valencia) Teatro Principal (Valencia) Privattheater/Private Produktionsstätten: Carme Teatr (Valencia) Espacio Inestable MURCIA Staats- und Stadttheater: Teatro Circo (Murcia) Centro Párraga (Murcia) ANDALUCÍA / ANDALUSIEN Staats- und Stadttheater: Teatro Alhambra (Granada) Teatro Central (Sevilla) Teatro Lope de Vega (Sevilla) Teatro Cervantes (Málaga) Contenedor Cultural (Málaga) ILLES BALEARS / ISLAS BALEARES / BALEAREN Staats- und Stadttheater: Teatro Principal (Mallorca) ISLAS CANARIAS / KANAREN Staats- und Stadttheater: Teatro Cuyás (Gran Canaria)

EXTREMADURA Festival de Teatro Clásico (Cáceres) Festival de Mérida (Mérida) ANDALUCÍA / ANDALUSIEN FIT – Festival Internacional de Teatro Ibero­ americano (Cádiz) Circada (Zirkusfestival) (Sevilla) Festival del Castillo de Niebla (Niebla) ISLAS CANARIAS / KANAREN Masdanza (Las Palmas de Gran Canaria)

THEATERMUSEEN (2) CASTILLA – LA MANCHA / KASTILIEN-LA MANCHA Museo Nacional del Teatro (Almagro) EUSKADI / PAÍS VASCO / BASKENLAND TOPIC - Museo de Títeres de Tolosa (Guipuzkoa)

AUSBILDUNGSSTÄTTEN (14) 1

RESAD (Real Escuela Superior de Arte Dramático), Madrid

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INSTITUT DEL TEATRE, Barcelona

3

DANTZERTI Escuela Superior de Arte Dramático y Danza de Euskadi (Higher School of Dramatic Art and Dance of the Basque Country), Bilbao

4

Escuela Superior de Arte Dramático de Galicia, Vigo

5

School of Actors of the Canary Islands. Centro Superior de Arte Dramático, Santa Cruz de Tenerife / Las Palmas de Gran Canaria

6

Escuela Superior de Arte Dramático de Asturias, Gijón

7

Escuela Superior de Arte Dramático de Castilla y León, Valladolid

8

Escuela Superior de Arte Dramático de Córdoba

9

Escuela Superior de Arte Dramático de Cáceres

FESTIVALS (31) MADRID Festival de Otoño (Madrid) Madrid en Danza (Madrid) Teatralia (Madrid) SURGE (Madrid) IDEM (spartenübergreifendes Festival) (Madrid) Pendientes de un hilo (Puppen-, Straßenund Objekttheater) (Madrid) CATALUNYA / CATALUÑA / KATALONIEN TNT de Terrassa (Barcelona) Festival Grec (Barcelona) Festival Sâlmon Artes Vivas (Barcelona) Temporada Alta (Girona-Salt) Fira Tàrrega (Tàrrega) NAFARROA / NAVARRA Festival de Olite (Olite) BAD Bilbao. Festival de Teatro y Danza Contemporánea, in Bilbao ASTURIAS / ASTURIEN FETÉN (Kinder- und Jugendtheater) (Gijón) GALICIA / GALICIEN MIT Muestra Internacional de Teatro de Ribadavia (Ribadavia) Escenas do Cambio (Santiago de Compostela) CASTILLA Y LEÓN / KASTILIEN UND LEÓN Escena Abierta (Burgos) Titirimundi (Puppen-, Straßen- und Objekttheater) (Segovia) TAC Teatro y Artes de Calle (Valladolid) Meet You Valladolid (Valladolid) Festival Olmedo Clásico (Olmedo)

10 Escuela Superior de Arte Dramático de las Islas Baleares, Palma de Mallorca 11 Escuela Superior de Arte Dramático de Malaga 12 Escuela Superior de Arte Dramático de Murcia 13 Escuela Superior de Arte Dramático de Seville 14 Escuela Superior de Arte Dramático de Valencia


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Ein Kampf, der es wert ist „Wie wunderbar wäre unser Theater, hätte es die erschütternde Kraft des Stierkampfs. Wäre es ihm gelungen, diese ästhetische Gewalt zu vermitteln, es wäre ein heroisches Theater, wie die Illias. Doch weil dem nicht so ist, bleibt es unzugänglich, wie alle Regelwerke, von der Verfassung bis zur Grammatik.“ Ramón María del Valle-Inclán


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angélica liddell_ein kampf, der es wert ist

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In dieser Streitschrift verteidigt die Autorin das Theater als ästhetische und spirituelle Übung gegenüber einem Theater des Angepassten, das, von ethischem Pflichtgefühl und gesellschaftlicher Verantwortung gelenkt, ihrer Ansicht nach die Kunst aushöhlt. Der Text kann auch vor dem Hintergrund ihres Stücks „Liebestod“ (u. a. Aufführungen in Gent, Frankfurt, Berlin und Wiesbaden) gelesen werden, das sich ebenso normsprengend mit dem Möglichkeitsraum der Bühne befasst.

von Angélica Liddell

B

ei Manuel Chaves Nogales heißt es, Valle-Inclán habe zu Juan Belmonte (García) gesagt: „Was dir noch fehlt, ist dein Tod auf der Plaza“1. Belmonte, Inbegriff des spirituellen Stierkampfs, ist für mich das schönste Beispiel für das, was dem Theater Sinn verleiht, das, was gegenwärtig von demokratischen Zwängen erstickt und durch billige Politisierung aus­gehöhlt wird. „Im Stierkampf zeigt sich, wer man ist“ lehrt uns der Stierkämpfer. Das Einzige, was mich am Zeremoniell des ­Theaters bewegt, das Einzige, was mich daran wirklich interessiert, das Einzige, was den „Prosaismus“ (eine übermäßig nüchterne Ausdrucksweise oder allzu ­tri­viale Ideen) transzendiert, das Einzige, was das unmäßige Festhalten an der Durchschnittlichkeit einer berechenbaren bürgerlichen Existenz aufzubrechen vermag, ist für mich – wie auch für Belmonte – jener „erhabene ­Moment der Verwandlung und Verklärung, der grenzenlosen Begeisterung, des Brennens und der Erleuchtung, der lyrischen Ekstase, wie sie uns nur die Liebe gewährt“. So beschreibt Chaves Nogales den Moment, in dem der Stierkampf für Belmonte zur ­ Pflicht wird und wie er darüber schließlich in tiefe, unbesiegbare Trauer verfällt. Woraus folgt, dass man die Tragödie nicht durch Pflichtgefühl ersetzen kann. Es ist unmöglich. Ohne Gott, ohne Inspiration, ohne Ritus ist Theater nichts wert. Theater ist, so wie der Stierkampf, eine geistige Übung, die sogar verlangt, den eigenen Körper zu vergessen. „Der Wille ist machtlos, weder verlieben wir uns durch den Willen noch bringt er uns dazu,­ gegen Stiere zu kämpfen“. Doch tatsächlich hat man in der Kunst die Tragödie durch Pflichtgefühl ersetzt – durch demokratische Verantwortung, gesellschaftliche Verpflichtungen, Nützlichkeit, Possibilismus, durch Parität, das Genitale, das Allgemeinwohl, durch den ­ Pranger, an dem man ohne Richter landet oder sogar ohne Ver­brechen, durch Anreize, die zu einer Kultur des Ab­hakens von Themen (Transgender, Feminismus, soziale Integration, Diversität, Umwelt, Inklusion, Klimawandel, seltene Krankheiten etc.) verleiten, zu einer

­ ultur des Forderns, einer Kultur per Dekret. Doch K Schönheit lässt sich nicht per Dekret verordnen. Der Wert eines Kunstwerks bemisst sich nicht nach Häkchen auf einer Liste. Wo man staatliche Gesetze mit den Gesetzen der Poesie verwechselt, ist die Kunst am Ende. Künstlerische Arbeiten und Anstrengungen werden nach soziopolitischen Gesichtspunkten bewertet, für die das Supremat der Ästhetik meist ein Fremdwort ist, und damit auch jede Form der Qualität. Längst wurde inoffiziell, in einem idiotischen Streich, eine Art „sozialistischer Realismus“ eingeführt (die Stilrichtung, die der Sowjetunion offiziell von oben herab verordnet worden war und die längste Zeit ihrer Geschichte hindurch Gültigkeit besaß, darüber hinaus Motor der katastrophalen Kulturrevolu­tion Maos, die sich die Stärkung des Klassenbewusstseins und die Lösung der sozialen Frage auf die Fahnen geschrieben hatte. Eine Bewegung, die Andrei Arsen­jewitsch Tarkowski und Sergei Iossifowitsch Parad­schanow sowie den Nobelpreisträger Gao Xingjian zu Verdammten machte, ausgestoßen vom Staatskonservatismus aufgrund der geistigen Ausrichtung ihrer Werke und ihres Lebens), Hand in Hand mit einem lächer­lichen Bedürfnis nach Unterhaltung und leichtgemachtem Eskapismus, wie es oft in Zeiten aufkommt, denen es an immateriellen Werten fehlt, kurz gesagt, in Zeiten der Verdummung und geistiger Dürren, die den Kosmos des künstlerischen Ausdrucks entsetzlich ausgedörrt ­haben. Pascal Quignard schrieb sein Buch „Die Nacht der Sexualität“ als Reaktion auf ein 2005 in den Ver­ einigten Staaten erlassenes Gesetz2 zu den Anstands­ regeln in den Medien, Quignard nennt es „das amerikanische ­Gesetz gegen die unanständigen Bilder“. Es war erst der Anfang eines puritanischen Gestanks, der sich zur ­Zensur ausgeweitet hat (man könnte #MeToo als wei­teres Beispiel für die voranschreitende puritanische ­Kolonialisierung der USA nennen, eine kindische Bewegung, die eher einer moralischen Hetzjagd gleicht als einem wahren Kampf für Frauenrechte), ein puri­ tanischer Gestank (so nenne ich das), der heute nicht nur die Medien verpestet, sondern auch sämtliche Künste. Um eine für uns leider schon verlorene Welt festzuhalten, verblüfft uns Quignard mit einer präch­ tigen Sammlung erotischer, gewalttätiger und dunkler Triebe einer zweifellos schöneren Zivilisation, einer Welt fruchtbarer ­Entführungen und süßer Vergewalti-

1 Juan Belmonte García (1892–1962) gilt als einer der bedeutendsten Stierkämpfer aller Zeiten. Die (fiktive) Autobio­ grafie, die der Jour­ na­list Manuel Chaves Nogales für Belmonte schrieb, avancierte nach ihrem Erscheinen 1935 schnell zum Kultbuch. Unter dem Titel „Juan Belmonte. Stiertöter. Eine Biografie“ liegt das Buch in der Über­setzung von Frank Henseleit seit 2022 erstmals auch auf Deutsch vor. Wo Liddell aus der Biografie zitiert, wurden die deutschen Zitate weitgehend wörtlich aus dieser Übersetzung übernommen. 2 Gemeint ist der Broadcast Decency Enforcement Act, der 2006 in den USA in Kraft trat.

Pan und Ziege, Villa dei Papiri, Herculaneum. Foto Tarker / Bridgeman Images


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streitschrift

gungen, aus denen Völker, Wissen und Künste hervorgehen, einer Welt der Mythen, die unsere Identität ­formen, einer kathartischen Welt. Ein Universum, in dem Schönheit, Sexualität und Tod in ihrer gewalt­ samen und entpolitisierten Repräsentation (die möglicherweise durch ihre Entpolitisierung umso politischer ist, wenn wir uns auf Widersprüchlichkeiten einlassen, Guerrillakriege, die nichts als Blattgold sind, Ikonostasen, die Schönheit absichtsloser Politik), und auf den Konflikt des Menschen mit sich selbst verweisen. In seiner Nobelpreisrede von 1949 sagte William Faulkner: „Unsere Tragödie ist heute eine generelle, grundsätzliche körperliche Angst, die wir schon so lange ­unterdrücken, dass wir sie sogar ertragen können. Pro­ bleme des Geistes gibt es nicht mehr, es gibt nur noch die Frage: Wann werde ich in die Luft gejagt? Deshalb haben die jungen Männer und Frauen, die heute schreiben, die Konflikte des menschlichen Herzens ­ mit sich selbst vergessen; sie allein machen gutes ­Schreiben aus, weil sie das Einzige sind, worüber es sich zu schreiben lohnt, sie allein sind den Schweiß und die Qualen wert.“ Vor zehn Jahren, bei einer Reise nach Minsk, sagte man mir, das Wort „Suizid“ sei verboten, auch die Darstellung. Man brachte mich zur ebenso pharaonischen wie ultramodernen Nationalbibliothek von Belarus und sagte mir: „In keinem einzigen dieser Bücher taucht das Wort Suizid auf“. Man erklärte mir, Sarah Kanes Werke seien verboten, so wie viele andere auch, mit der Begründung, sie stellten einen „Angriff auf die Staatsmoral“ dar. Die Theatergruppe, die mich eingeladen hatte (dank einer Verkettung abenteuerlicher, Krimi-würdiger Umstände), probte gerade das Stück „4.48 Psychose“ von Sarah Kane sowie einen meiner Texte, im Geheimen. Das Publikum erfuhr über Mundpropaganda von den Vorstellungen. Man versicherte mir, dass sie jeden Moment denunziert und verhaftet werden und dann im Gefängnis landen konnten. Das schreckliche psychische Leid auf die Bühne zu bringen, das Kanes Werk ausmacht, war für diese kleine Kompagnie aus Minsk eine Revolte gegen den Staat. Das Sprechen über diese entsetzliche geistige Zerrüttung war eine Revolte gegen den Staat. Die Melancholie war eine Revolte gegen den Staat. Vor einigen Wochen hat mich eine Presse- und Öffentlichkeitsabteilung dazu gedrängt, das Wort „Vergewal­ tigung“ und den entsprechenden Absatz aus einem ­meiner Texte zu streichen, einem Interview für ein Programmheft (in dem es nur um Kunst ging), aus Gründen des „Anstands“, in Anbetracht des Themas (Ver­ gewaltigung) und der aktuellen Debatte. Die fragliche Zeile lautete: „Ich bin phallisch. Ich ficke das Publikum. Ich vergewaltige es. Doch wenn ich dem Stier gegenüberstehe, lasse ich mich penetrieren, bin ich ganz ­Vulva, biete ich mich seinem Schwanz an, seiner Macht, seinen köstlichen Vergewaltigungen, dann will ich von dem Stier vergewaltigt werden, befruchtet werden von dieser Urkraft“.

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Der Text musste korrigiert werden, das Wort „Vergewaltigung“ gestrichen. Wir verlieren die symbolische ­Dimension unseres Denkens, wir verlieren die Metaphern, wir verlieren unsere Träume. Uns bleibt nur die Dummheit des Zeitgeists. Wir werden die „Metamorphosen“ Ovids verbrennen, wir werden Bücher verbrennen! Ein neues „Fahrenheit“ steht uns bevor. Wir Künstler zählen nur dann, wenn es um Unterdrückung geht, in all ihren Spielarten, sanft oder hart und oft kaum wahrnehmbar. In den Eingeweiden dieser verkehrten Welt wird das, was einmal für freie Meinungsäußerung gestanden hat (die Medien der Kommunikation), nun Zensor und zensiert zugleich.

Theater und Ideologie Das Politische wurde endgültig der Ideologie unterworfen, und Ideologie ist das Gegenteil allen Denkens. Die Vergemeinschaftung von Ideen, gegen die ich so allergisch bin, verneint das individuelle Denken. Während das Denken frei geboren wird und sich in ­Freiheit entwickelt, gedeiht die Ideologie auf dem Boden der Knechtschaft, ist also das Gegenteil des Reichs des Schönen und seines freien Ausdrucks – und, die Poesie fliegt sogar noch weiter als das Denken, bis in die Himmel des Unerklärlichen, der Verstörung, des Irrationalen, sie entsteht dort, wo das Denken nicht mehr möglich ist. Dementsprechend erweist sich jede ideologische Vereinnahmung der Kunst als reduktionistisch, dürftig und engstirnig. Unsere unvermeidliche demokratische Verantwortung auf das künstlerische Schaffen zu übertragen, ist dazu noch redundant, denn Kunst ist per se immer schon ethisch, und das schließt alles Unmoralische mit ein. Durch Kunst wird das Unmoralische ethisch, wie etwa bei de Sade, der in seinen blutigsten Werken gegen die Staatsgewalt rebelliert; Eugénies Verderben ist die Art und Weise, wie de Sade seine Utopie zum Ausdruck bringt. Wie soll man heute de Sade auf die Bühne bringen, ohne von tolldreisten Theaterkritikern gelyncht oder totgeschwiegen zu werden (wie erbärmlich ist doch die Bestrafung durch Totschweigen!)? Nach welcher Skala der Tabus und Skandale sollen wir ihn beurteilen? Unbestritten lähmt alles Moralische die Intelligenz. Und die „Hypermoral“, von der Georges ­Bataille spricht (ich verweise auf seinen großartigen Essay über die Literatur und das Böse, worin er de Sade ein ausgezeichnetes Kapitel widmet), erlaubt uns, Grenzen zu überschreiten, ermächtigt uns, zum Wesen des ­Bösen und der Tragödie vorzudringen, mithin zum W ­ esen der menschlichen Seele. Die Hypermoral der ­Poesie beweist: Wer in seinen Versen Jungfrauen schändet, wird es im wirklichen Leben niemals tun. Gerade weil er kein Verbrecher ist, gesteht die Poesie dem Dichter zu, sich im Jenseits der Moral zu bewegen, frei von der Last staatlicher Gesetze. Theateraufführungen haben heute die Beschränktheit von Talkrunden, in denen bornierte Meinungs­


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macher dümmliche Statements im Stil von Radiodurchsagen absondern. Und wir wissen doch, wie weit das Tal der Meinungen von den Gipfeln des Verstands entfernt sind! Informiert sein heißt nicht, etwas zu verstehen. Informationen und Massenmedien lassen die Bürger glauben, sie wüssten alles, während sie in Wahrheit absolut gar nichts wissen, diese gelehrten Narren! In seinem Essay „Warum Denken traurig macht“ spricht Maestro George Steiner von einem Ungleichgewicht zwischen der schöpferischen Kraft des Menschen und der sozialen Gerechtigkeit. „Genie ist nicht demokratisch“, erklärt er. Und so muss es sein. Schöpferische Kraft ist nicht demokratisch, es ist eine Kraft, die nicht aus dem Konsens kommt, sondern aus dem Feuer, eine Kraft, die sich in flammendem Aufbrausen entlädt, eine Kraft, die zur Gegenspielerin des Gesellschaftsvertrags werden kann, eine Kraft, geboren aus der Traurigkeit des Denkens, aus der Melancholie. Das Politische macht aus dem Schatz der menschlichen Seele die armselige Sparbüchse eines Messdieners und hält sie in dem Maß von allem Ewigen fern, wie das vergossene Blut uns der ­Unendlichkeit näherbringt. „Nicht für Könige wird Blut vergossen, sondern für die Götter“, wie José Bergamín bekräftigt. Nur eine gehobene, kultivierte, reife und ­ empfindsame Gesellschaft ist in der Lage, all das anzunehmen. Die derzeitige Politisierung der Kunst lehrt uns das G ­ egenteil, Mittelmäßigkeit, Niedertracht, Fühllosigkeit und Dummheit. Wir sind auf dem Weg zur hygienischen, sterilisierten, homogenen, pasteurisier­ ten, farblosen, faden und trägen Kunst und Gesellschaft, hin zum tolldreisten Infantilismus. Derzeit erleben wir die paradoxe Entwicklung, dass die Verteidigung von Rechten nicht zu mehr Freiheit(en) führt, sondern geradewegs in die Verbotsgesellschaft, in einen Neototalitarismus, soft, aber mit katastrophalen Folgen, durchdrungen von einer uneingeschränkten, verdeckten Zensur, die sich als Freiheit und Fortschritt tarnt, die unsichtbar beigemengt wird, wie bei einem Babybrei. Und das Schlimmste: Die Welt des künstlerischen, artifiziellen (längst arthritisch gewordenen) Ausdrucks läuft genauso in die Irre, dabei sollte ihre Saat auf dem entgegengesetzten Feld aufgehen, Richtung Rebellion sollte sie sich bewegen, ganz ohne äußeren Anstoß, grell lodernd bis hinein in die Pornografie der Seele und ihre tiefsten Abgründe. Ich betrachte Sergei Paradschanow als meinen ­bedeutendsten Einfluss, daher ist meine Perspektive die des Geheimnisvollen. Der spirituelle Pfad. „Darum wird Gott im Kunstwerk sichtbar, darum ist die Kunst Sehnsucht nach Gott“, wie es der Maler Alexej von Jawlensky ausdrückt. Nimmt man Pawel Alexandrowitsch Florenski (ein weiterer Verfolgter und Zugrundegerichteter) ernst, hätten strenggenommen nur die Heiligen die spirituelle Erlaubnis, etwas zu erschaffen, soll heißen, Gott sichtbar zu machen. In diesem Sinne, so glaube ich, ver-

angélica liddell_ein kampf, der es wert ist

körpert der Stierkampf diese Mystik. Sich im Todeskampf windend wie jeder tragische Ausdruck, erhebt er sich mitten im Brachland (ein Brachland, zu dem auch die schädlichen, ruinösen, irreführenden und lächerlichen identitätspolitischen Manipulationen im eigenen Herzen beitragen), die Kunst des Stierkampfs erhebt sich, sage ich, wie ein herrlich subversiver Gesang, frei! Kunst wird nur aus einem tiefen religiösen Gefühl heraus möglich, aus der Hingabe, der Selbstversenkung, der Selbstvergessenheit und der Empfänglichkeit der Seele für diesen Zustand spiritueller Anspannung, der uns ­erlaubt, Unsichtbares sichtbar zu machen, der uns hilft, uns selbst zu transzendieren. Kurz gesagt, aus einer ­Arbeit, die neidisch ist auf die Stierkämpfer. Aus dem Neid auf Belmonte und Daniil Trifonov. Wer noch im Sterben in der Lage ist, Bach zu spielen, ist ein Stierkämpfer. Das Theater wird niemals solche Höhen er­ reichen.

Keine Prozession der Beleidigten Und, zu guter Letzt: Kein Kampf, der es wert ist, kann durch Denunziation ersetzt werden. So wie der kürzlich verstorbene Bertrand Tavernier auf die schöpferische Energie Sam Fullers verwiesen hat, so sollten Kunstwerke aus dem Zorn geboren werden, aus Wutausbrüchen und Schimpftiraden (wenn die sprach­gelehrten Akademiker nicht schnellstmöglich Sitzungen zu ihrer Ehrenrettung einberufen, werden die Schimpfwörter – die doch zum Wertvollsten gehören, was unsere Wörterbücher zu bieten haben – aus unserer Sprache getilgt werden; um Beleidigungen zu vermeiden, wird man ihnen, wie bei Miguel de Cervantes, ein Don voranstellen: „Don Hurensohn“, Don Hundesohn, Don Dummkopf, Doña Einfaltspinsel, Don Dickwanst, Doña Schlampe, Don Schweinehund, finde dich ab damit, du Schwachkopf, finde dich ab, wir können dem Schwachkopf sogar sein Femininum gönnen, so sei es, Doña Schwachköpfin), aus Flüchen gegen Gott und die Menschheit, aus dem Schoß jener Wildheit, die sich nicht auf gutes Benehmen und Manieren reduzieren lässt, nicht auf die Scheinheiligkeit kriecherischer Höflichkeit und nicht auf die vielgepriesene Horizontalität der Yogamatten, die vor lauter Horizontalität wirken, als wären sie tot. Um Hybris zu bestrafen, haben wir bereits das Memento mori. Wir brauchen keine Prozession der Beleidigten und Gekränkten. Das Bild Federico Fellinis, des allmächtigen, Gipfelpunkt des Himalayas, der mit der Peitsche knallt und seine Schauspieler inszeniert wie ein Zirkusdompteur, versöhnt mich mit der Ur­gewalt der Kunst und dem reinen Leben. //

Aus dem Spanischen von Miriam Denger

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Die Autorin Angélica Liddell (1966 in Figueras geboren) ist Schrift­ stellerin, Performerin und Regisseurin. 2012 erhielt sie den Nationalpreis für (spanische) Dramatik, 2013 wurde ihr der Silberne Löwe der Biennale in Venedig verliehen, 2017 zeichnete sie das französische Kultusministerium mit dem Orden Chevalier des Arts et Lettres aus.


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Theater und Arbeiterklasse Marta García Miranda im Gespräch mit Pablo Remón und Pablo Gisbert

Die Journalistin Marta García Miranda spricht mit zwei Theaterkünstlern unterschiedlicher poetischer Ansätze, die uns ihren Blick auf die heutige Welt und deren Auswirkung auf das Theater entfalten. Dabei diskutieren sie über das Klassische und die Avantgarde, über Kulturpolitik und darüber, was auf der Bühne im Vergleich zum Leben möglich ist. Der Text befragt die materiellen Bedingungen der Kulturproduktion und betont die Notwendigkeit, soziale Fragen in den Mittelpunkt von Theaterarbeit zu stellen.

D

ie beiden kannten sich vorher nicht. Die Journalistin bittet sie, sich zu unterhalten, wie bei der ersten Verabredung nach einem Match. Sie stellen fest, dass in den Texten von beiden ein Decathlon auftaucht und eine Reise nach New York ihren Blick auf das Theater verändert hat. Dass einer von ihnen in jenem Sommer der Liebe, 2011, zu schreiben begann, als die „großen Kompanien gestorben waren“, der andere nach der Krise, die so viele Filmprojekte verhindert hatte. Einer von ihnen findet die Schwere der Zeit auf der Bühne erotisch angesichts der 2x Geschwindigkeit der digitalen Plattformen. Der andere

findet, dass das Wort auf der Bühne Gefahr in sich birgt und Religiosität verströmt. „Wir machen alle Theater wegen eines bestimmten Stücks. Meins ist ,Ronald, ­ der Clown von McDonald’s‘ von Rodrigo García. Und deins?“ „,Die Heimkehr‘ von Pinter.“ Einer von ihnen zitiert Sam Shepard, der davon sprach, „dass es eine ­Gemeinsamkeit geben muss zwischen dem angehäuften Wissen von dem, was man schon kann, und dem fernen Land, das einen neuen Ausdruck erfordert“. Das ist der Moment, wo das Gespräch sich öffnet für Fragen nach bekannten und fernen Ländern.


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MARTA GARCÍA (MG) Glaubt ihr, dass sich das ­Theater in diesen Zeiten der Unsicherheit und Ungewissheit neu erfindet? Seid ihr der Meinung, dass Theaterschaffende, Regisseure und Programmgestalter heutzutage eher auf Nummer sicher gehen oder Risiken auf sich nehmen? Und denkt ihr, dass wir uns mit der ewigen Debatte um klassisches und zeitgenössisches Theater im Kreis drehen? Was beobachtet ihr? PABLO REMÓN (PR) Ich denke da an die Beziehung zu den klassischen Werkzeugen der Fiktion, wie das Konzept der Figur, der Erzählung, des Konflikts und so weiter. Wie geht man heutzutage damit um? Wie schreibt man Sprechtheater nach Samuel Beckett, Peter Handke oder Sarah Kane? Ist es an der Zeit, ein eher klassisches Konzept von Geschichten und Figuren aufzugeben? Ist das etwas Konservatives? Ist es das nicht? Ich glaube nicht, dass wir uns die Freude am Erzählen nehmen sollten. Und diese Identifizierung der Fabel oder der Geschichte mit etwas Altem, Überholtem oder gar Reaktionärem, die ich häufig beobachte, woher kommt die? Ich sehe diesen Konflikt in mir selbst. Ich interessiere mich für das zeitgenössische Theater, für das Theater, das jetzt stattfindet, und in diesem Theater wird häufig auf das Geschichtenerzählen, auf das Erschaffen von Figuren verzichtet. Für mich stellt sich da die Frage, wie man an diesem Punkt weiter Geschichten erzählen kann, oder welchen Sinn es macht, dies weiter zu tun, und ob das Theater überhaupt der richtige Ort dafür ist. Darauf gibt es keine Antwort. Aber es regt einen sehr zum Nach­denken an – oder zumindest bringt es mich dazu zu erkennen, aus welcher Haltung heraus ich schreibe.

PABLO GISBERT (PG) Ich sehe es so, dass der Wille, Geschichten zu erzählen, nicht nur niemals enden wird, sondern dass wir im Moment auch noch die stories auf Instagram verfolgen können. Das ist die wichtigste Plattform auf dem Planeten, die Avantgarde, wenn man es aus Sicht der Kommunikation betrachtet, wo du deine fiktiven Figuren mit deinen eigenen Kostümen und deiner eigenen Musik kreieren kannst. Es ist offensichtlich, dass die Notwendigkeit von Geschichten nie verschwinden wird. Sogar in der Bibel steht, ,am Anfang war das Wort‘, vor den Tieren, vor dem Wasser, vor den Pflanzen, dem Sauerstoff, vor den Mösen und Schwänzen, war das Wort. Und mit den Worten geht, wie wir wissen, die ­Möglichkeit der Manipulation einher, weil es nicht das Gleiche ist, gernhaben zu sagen oder lieben oder schätzen. Das Erste ist die Manipulation, die Möglichkeit der Fik­tion, der Abstraktion. Ich weiß nicht, ob das Theater sterben wird, aber das, was bestimmt nicht aussterben wird, ist die Notwendigkeit der Abstraktion, die Not­wen­ digkeit von Geschichten und die Notwendigkeit, sich selbst zu entfliehen, wie Santiago Alba Rico sagt. Im politischen Kontext sehe ich schon, dass das Theater sich ein bisschen fürchten muss, weil Gott tot ist. Was nicht tot ist, ist das Geld, das jetzt unser Gott ist. Ich denke schon, dass es mehr Freiheit gab, als wir nicht ans Geld dachten, und wir sind weniger frei, wenn wir daran denken, dass wir mit einem Stück vielleicht unseren Lebensunterhalt bestreiten können. Aber ich glaube, im Widerspruch dazu, führt es, wenn wir von der Kulturindustrie sprechen, zu besseren Arbeiten, wenn wir nicht ans Geld denken, und dadurch verdienen wir dann wieder mehr Geld damit.

„El tratamiento“, Text und Regie von Pablo Remón am Teatro Pavón Kamikaze Madrid 2022. Foto Vanessa Rabade


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im gespräch

MG Das stimmt, aber sind die Produktions-, Aufführungs- und Verbreitungsmodelle, die wir haben, denn weiter sinnvoll? Ist eine so starke Abhängigkeit von der öffentlichen Hand überhaupt noch angebracht?

Pablo Gisbert ist die eine Hälfte des Theaterkollektivs El conde de Torrefiel (die andere Hälfte ist Tanya Beyeler), von dem Stücke wie „Kultur“, „La plaza“ („Der Platz“) oder „Guerrilla“ hervorzuheben sind. Foto Mario Zamora

Pablo Remón ist Dramatiker und Regisseur, Drehbuchautor und Filmemacher. Er ist Autor von Stücken wie „Doña Rosita anotada“ („Doña Rosita mit Anmerkungen“), „Los mariachis“ („Die Mariachis“) oder „El tratamiento“ („Die Behandlung“). Foto Vanessa Rabade

1 „Die Protagonisten“.

PG Auf diesem Planeten gibt es nur drei Möglichkeiten, Geld zu verdienen: durch Privateigentum, durch den Staat und durch Drogenhandel, Menschenhandel und Waffen. Ich erhalte Geld vom öffentlichen Theater, und wenn es nicht so wäre, würde mir niemand einen Cent geben. Das Privattheater wird mir niemals auch nur einen Cent geben, das, was ich mache, ist nicht von Interesse, denn es generiert keine Kohle, ganz im Gegenteil. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass meine Arbeit das Gleiche ist, wie die Arbeit eines Soldaten, einer Krankenschwester, eines Lehrers; wie sie arbeiten wir für den Staat, für die Öffentlichkeit, für das Wohlergehen des Landes. Und für mich ist der Wille, Leben zu retten, ­unsere ethische Verantwortung, genauso wie der Wille eines Arztes, das ist das Gleiche. Mich macht es wütend, dass es im Staatsdienst einige gibt, die Unmengen von Geld verdienen, Leute in Machtpositionen, die Theater leiten, Krankenhäuser und Universitäten, Leute, die Häuser haben, keine Ahnung, wie das geht, verdammt, aber es gibt Leute, die sich bereichern, die ökonomische Imperien aus öffentlicher Hand finanziert haben, und das ist eine Schande. Gleichzeitig macht es mich stolz, in Spanien zu leben, wo das Gemeinwesen funktioniert, das freut mich sehr. Die Eintrittskarten für unser Stück „Los protagonistas“1 im Conde Duque, kosteten 8 Euro, das ist so viel wie ein Gin Tonic kostet, und das ist eine sehr teure Produktion. Ich wäre ohne das Stipendium von 5000 Euro, was ich während des Studiums vom Staat bekommen habe, nicht hier. MG In den öffentlichen Theatern gibt es keine tiefgreifenden Veränderungen, wenn die künstlerische Leitung wechselt. Die Autoren werden ausgetauscht, die Spielpläne geändert sowie die Themen, für die die jeweilige Leitung sich besonders interessiert. Aber die Öffentlichkeit bekommt davon nicht allzu viel mit, und wir nehmen unsere begrenzten Möglichkeiten einfach so hin. Sollten wir sie stattdessen nicht infrage stellen? Sind wir sonst nicht selbst Teil einer Reihe sehr offensichtlicher Komplizenschaften und Klientelismus? Ihr positioniert euch beide politisch in eurem Schreiben, aber ihr hinterfragt nicht eure eigenen Abhängigkeiten, die Prekarität eurer Praxis. Hito Steyerl sagt, dass politische Kunst ­Situationen darstellt, die Ungerechtigkeit und Elend beinhalten, sich aber weigert, ihre eigenen Produktions­ bedingungen zu diskutieren. PG Als ich sehr jung war, im Jahr 2000, ging ich für einen Monat nach Kuba, angezogen von der Revolution, dem Kommunismus, und dem ganzen Quatsch, wes­ wegen man halt nach Kuba ging, als Fidel Castro noch lebte. Ich sah jede Menge Theater, alle Stücke wurden

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vom Regime kontrolliert und endeten gleich. Zum Schluss der Vorstellungen machten sie alle Lichter an, um klarzustellen, dass das Theater verloren war, es war ihre Art, es zu denunzieren, denn wenn sie es aussprachen, kamen sie ins Gefängnis. Es war, als sagten sie „schaut euch die Scheiße ruhig an, in der wir stecken“. Es war wie unser „Nicht in den Krieg“, wisst ihr noch? Ich erinnere mich daran als eine Art, diese Prekarität zu zeigen. In einem Interview hast du mir mal eine Frage gestellt, die mich sehr beschäftigt hat. Du wolltest wissen, was ich darüber denke, dass unser Publikum bürgerlich und kultiviert ist? MG Das geht auf ein Gespräch mit Tanya (Beyeler) zurück. Sie hat mir bei eurer Uraufführung von „Kultur“ auf dem Festival Temporada Alta erklärt, dass das Stück aus dem Versuch heraus entstanden ist, euer bürgerliches Publikum in Unbehagen zu versetzen, um ihm auf die Nerven zu gehen. Es stimmt, dass ihr beide eine bestimmte Art von Publikum habt und vielleicht immer dieselben Leute zu euch kommen, was Tanya als „eure Facebook-Pinnwand“ bezeichnet. PR Das finde ich interessant, das hat mit der Geste zu tun, die man dem Zuschauer entgegenbringt. Ich habe das Gefühl, dass bei einer bestimmten Art von Theater die Botschaft an die Zuschauer lautet: „Fickt euch“. Es ist ein Theater, das seinem Publikum ,auf den Sack gehen‘ will, vielleicht, weil es ihm gegenüber Misstrauen empfindet, oder einfach, weil es sich schuldig fühlt, ­ ­genau dieses Publikum zu haben, ich weiß es nicht. Mir kommt das alles ein bisschen kindisch vor, und die ­Botschaft, die ich dem Publikum vermitteln möchte, ist genau das Gegenteil. PG Die Idee ist ziemlich veraltet anzuerkennen, dass das Theaterpublikum bürgerlich und kultiviert ist, wo es doch offensichtlich ein bürgerliches, kultiviertes Publikum ist. Aber die Kultur, das Geld, die Situation des ­Bürgertums von vor 50 Jahren ist nicht die gleiche wie heute. Unsere Zuschauer, unsere Freunde, mein ganzes Umfeld, das sind alles kluge, gebildete Leute, sehr intelligent, aber sie sind arm. Und das muss man zugeben. Mein Publikum ist arm. Das ist hart und auch neu, das sind 40-Jährige ohne Kinder, die in Wohngemeinschaften leben, ohne Arbeit, in unsicheren Verhältnissen. Aber super kultiviert mit drei Sprachen, zwei Studiengängen, Kreditkarten und mit iPhone wie ich, aber arm. Das bürgerlich-gebildete Publikum der 80er und 90er Jahre ist nicht das von heute. Ich schreibe einen Text ­darüber, weil du mich damit angestachelt hast, und ich mag es, wenn ich auf etwas gestoßen werde. Als Euro­ päer sind sie privilegiert, haben aber den gleichen ­Lebensstandard wie Migranten, die nach Spanien kommen. Wir sehen alle super aus in dieser Art von liberalem Kommunismus, den wir leben, zitieren Balenciaga, die gleichen Bücher, die gleichen Philosophen, die gleichen


theater und arbeiterklasse

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Rosalías und tragen die gleichen Turnschuhe. Deine ­Frage hat das klar gemacht. Und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich von März bis September Schiss ­hatte, weil kein Geld reinkam. Wir gehen super gut aussehend ins Theater, aber das ist die Dekadenz, die wir leben, und dieses Thema wird langsam sichtbar, darüber werden die Theater reden müssen. MG Es gibt ja durchaus Literatur, die sich mit der Arbeiterklasse befasst hat und es auch weiterhin tut, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Theater daran interessiert ist, diese Geschichten zu erzählen. Wir können zwar über Euthanasie reden, aber nicht darüber, dass wir nicht über die Runden kommen. PR Ich bin da anderer Meinung. Ich finde, wenn man etwas ehrlich machen will, muss man sich auch selbst ein wenig zeigen. Ich komme über die Runden, ich gehöre nicht zur Arbeiterklasse. Über wen soll ich also schreiben? Muss ich mich über jemanden stellen und über jemanden sprechen, bei dem das nicht so ist? Ich wüsste nicht, wie ich das anstellen sollte, es käme mir sehr unehrlich vor. Es scheint mir, dass man über die Konflikte, Probleme und Spannungen, die man erlebt, reden muss, und wenn diese Spannungen mit Geld zu tun haben, gut. Aber vielleicht ist das nicht der Fall. Das bedeutet dann aber nicht, dass deine Arbeit weniger ehrlich ist. MG Kannst du beim Schreiben nur davon ausgehen, was du selbst kennst?

PR Nein, natürlich nicht. Es ist wunderbar, sich in andere hineinzuversetzen. Du sagst, das Theater hat die ­Arbeiterklasse aus den Augen verloren, und vielleicht ist das auch so, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Arbeiterklasse nicht ins Theater geht. MG Aber wir sind doch diejenigen, von denen Pablo vorhin geredet hat. Ich bin dieses Publikum. PR Und im Theater geht es nicht um dich? MG Nein. PG Man muss dazu sagen, es wurde wirklich ganze ­Arbeit geleistet, dass niemand sich selbst als Arbeiter ­bezeichnen würde, weil es gleichbedeutend damit ist, ein verdammter Loser zu sein. Uns ist auch nicht bewusst, wie viele Kids auf dem ganzen Planeten arbeiten, indem sie gratis Content auf YouTube oder Instagram stellen, das generiert Gewinne. Und ich glaube, dass sich das ändern und das Bewusstsein dafür zurückkommen wird. So, wie es niemandem bewusst war, dass du 14 Stunden in einer Fabrik gearbeitet hast, sieben Tage die Woche, bis jemand kam, der sagte „Leute, was ist das für ein Leben, ihr müsst lesen lernen“. Niemand will A ­ rbeiter sein, wir schämen uns dafür, weil du dann als Loser giltst, und Feminismus oder Umweltschutz dürfen nicht über der wirtschaftlichen Ungleichheit stehen. In dem Moment, wo du Ökologie und Feminismus an erste Stelle stellst, vergisst du das große Problem des Geldes. Sie können nicht an erster Stelle stehen, aber Nationalismus, Unabhängig-

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„Los Mariachis“, Text und Regie Pablo Remón am Teatro de La Abadía in Madrid 2021. Foto Vanessa Rabade


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im gespräch

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„Ultraficción nr. 1 – Fracciones de tiempo“ von El conde de Torrefiel beim Santarcangelo Festival 2021 Foto Claudia Borgia, Lisa Capasso

keitsbestrebungen und all der andere Unsinn genauso wenig. Wirklich Reichsein ist für mich nicht, eine Firma mit 50 Mitarbeitern zu haben, das ist ein Scheiß, das ist selbst Arbeiter sein. Wirklich, wirklich reich sein bedeutet, 33 Prozent der Bildrechte von Barça oder einen Fernsehsender zu be­sitzen. Dieses, ich habe eine Bar und fünf Mitarbeiter und denke, dass ich jetzt Unternehmer bin … Du bist ein Depp und ein Arbeiter wie ich. MG Ich bin schon lange der Meinung, dass Theater, das uns nur erzählt, was wir eh schon wissen, harmlos ist. Wo es uns vielleicht etwas erzählen könnte, von dem wir wenigstens noch nicht wissen, dass wir es schon wissen. PG Das ist etwas, worauf ich dir keine Antwort geben kann, denn es hängt von denjenigen ab, die das Programm machen, das ist ihre Arbeit. Meine Arbeit besteht darin, mich schreibend abzumühen, mich auszudrücken, indem ich poetisch ein paar Ideen erzähle. „Kultur“ haben wir wirklich an alle Programmgestalter der Welt weitergeleitet, die es sehen wollten, und sie haben es nicht gezeigt, weil das nicht geht. Albert Serra hat „Liberté“ gemacht und den Goldenen Leoparden beim Filmfest von Locarno gewonnen, obwohl in dem Film gefickt wird, aber das ist Leinwand, das ist harmlos, in „Kultur“ kann man das nicht einfach so machen. 2 Der Titel bedeutet übersetzt so viel wie „Szenen für ein Gespräch nach dem Anschauen eines Michael-HanekeFilms“.

MG Aber das, was man in „Kultur“ sieht, ist doch das Gleiche wie in jedem Pornovideo im Internet. PG Ja, aber es gibt keine Gastspieleinladung, keine einzige. Die Programmleiter, die es gesehen haben, ­

s­ agten „oh mein Gott“. Es ist keine gefällige Arbeit, der Text ­ist traurig, und am Ende, wenn du es gesehen hast, sagst du dir, meine Güte, wie schlicht wir aber auch sind. Und in dieser Kuratorenschicht steckt auch viel Feigheit. Warum sind wir nie in Andalusien aufgetreten? In unserem Stück „Escenas para una conversación después del visionado de una película de Michael Haneke“2 gibt es eine Semana-Santa-Szene, und es kamen Programm­ leiter auf uns zu, die uns sagten, dass sie es nicht auf den Spielplan setzen könnten, weil sie damit ihren Arbeitsplatz riskierten. Und ich bin ja nicht wie die ­ Künstler aus den 80ern, die wirklich mutig waren. MG Und wieso zeigt ihr es selbst nie? PG Das machen wir ja. Ich arbeite in anderen Kontexten umsonst. Wir machen alle zwei oder drei Jahre ein großes Stück, und zwischendurch machen wir viele ­ ­verschiedene Sachen, in Kontexten, wo wir nichts ver­ dienen. Ich habe Glück mit dem George Pompidou, den Wiener Festwochen oder dem Festival d‘Automne in Paris, dort verdienen wir und leben davon. PR Ich finde es interessant, dass du sagst, es kommt dir harmlos vor. Was müsste denn passieren, damit etwas nicht harmlos ist? Wenn ich schreibe, versuche ich, über das zu schreiben, was ich nicht kenne, über das, was mich überrascht, damit es auch diejenigen überrascht, die es sich ansehen. Nur ist das gar nicht so leicht. Ich glaube aber nicht, dass ich mich bewusst nicht traue, es zu tun. Ich denke, das hängt mit dem Schaffensprozess


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theater und arbeiterklasse

zusammen, damit, mit Dingen zu brechen, und mit dem Mut, Bewährtes zu riskieren. Aber das ist eine sehr persönliche Angelegenheit, die nicht einfach ist. Für mich hat sie nichts mit einer Konfrontation mit dem Zuschauer zu tun; die Geste, die ich dem Zuschauer gegenüber machen möchte, ist keine Geste der Konfrontation. Ich will ihn nicht vor den Kopf stoßen, ich glaube nicht, dass das nötig ist, ganz und gar nicht. Ich will ihm vielmehr wie einem Freund begegnen. In welcher Theaterform auch immer, ich will anders mit ihm sprechen, ihm menschlich gegenübertreten. Dann gibt es da aber noch ein anderes großes Problem im Theater, und das sind die Themen, beziehungsweise die Ideen zu Themen. Es ­passiert sehr häufig, dass etwas allein aufgrund seines Themas bewertet wird. Das ist eine Sache, die mir sehr stark auffällt, denn im Kino ist das anders. Im Kino kommt es nur äußerst selten vor, dass jemand einen Film macht, um seine Meinung über ein Thema auszudrücken.

PG Die Frage ist, was für ein Land du aufbauen willst, welche Art von Polizei, Gesundheits- und Bildungs­ system du haben willst. Welche Art von Kultur für die Zukunft.

MG Und warum ist das im Theater der Fall?

PR Sich aktuell dem Theatermachen zu widmen, ist für mich eine politische Geste: seinen Blick auf den anderen zu richten, zu versuchen, ihn zu verstehen, sich in ihn hineinzufühlen. Das Einfache in etwas Komplexes zu verwandeln – ganz im Gegensatz zur Politik –, zu ver­ suchen, die Wahrheiten zu ergründen, anstatt sie bloß zu benennen. Nach Widersprüchen zu suchen, um den Diskurs komplexer zu gestalten: das ist politische Arbeit – eine Arbeit, die die Politik im Allgemeinen nicht ­leistet. //

PR Ich denke, das liegt an dieser religiösen Komponente. Wenn du nicht aufpasst, wird das Theater ganz schnell zu einer Kanzel. Es scheint, als müsste man sich, sobald man da oben steht, zu etwas äußern wollen, sagen, was man über ein bestimmtes Thema denkt. Und ich glaube, das ist die schlechteste Schreibhaltung, weil man dann genau das schreibt, von dem man meint, dass andere es wollen: Man schreibt, was man zu wissen glaubt, aber das ist eine Maske, eine Fassade, es ist falsch. Das Spannende am Schreiben ist doch, wenn Dinge zum Vorschein kommen, von denen du nicht wusstest, dass du sie wusstest, die dich vielleicht selbst überraschen und die etwas zum ­Ausdruck bringen, was du an dir selbst vielleicht gar nicht so sehr magst. Diese Konfrontation, von der du redest, die sollte man während des Schreibens mit sich selbst haben. Es geht nicht so sehr darum, den Zuschauer zu belei­ digen, was ohnehin ziemlich veraltet ist, sondern darum, dass man den Konflikt mit sich selber sucht MG Meint ihr nicht, dass jetzt ein guter Moment wäre, um Veränderungen, oder zumindest einen gewissen Bruch in der Art und Weise, wie Theater gemacht wird, zu provozieren? PG Es ist ein guter Moment, aber gleichzeitig auch nicht, denn es ist ein Moment großer Angst und Instabilität, und deshalb gibt es wenig Spontanität und Freiheit. Aber es ist genau der Kontext von Angst, dem du gehorchen und einfach weitermachen kannst, oder du stellst das Pissoir von Duchamp hin, das geht auch. MG In einer Zeit der Angst und der Tendenzen zum Konservativen, die auch der Ausgangspunkt unseres Gesprächs war, welche Verantwortung tragen die großen, vorwiegend öffentlichen Kultureinrichtungen, einen Wandel zu begünstigen und voranzutreiben?

MG Aber wenn diejenigen, die die Kultureinrichtung ­leiten, genauso viel Angst haben, wie du, geht es letztendlich doch nur darum, sie zu teilen …

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Die Autorin Marta García Miranda ist Kulturjournalistin. Sie leitet und moderiert die Radiosendung „La hora extra“ („Die Extrastunde“) bei Cadena SER.

PG Es gibt Menschen, die ein regelmäßiges Einkommen haben – ich nicht. Für sie kann ich also nicht sprechen. Ich habe einfach nicht deren feste Gehälter. Es gibt Leute, die das öffentliche Theater für ihre Strandbude halten. MG Meint ihr nicht, dass wir uns zu sehr damit auf­ halten, über Politik zu reden, wo wir doch eigentlich ­darüber nachdenken sollten, dass Theater und Kultur an sich schon politisch sind?

Aus dem Spanischen von Charlotte Roos und Lea Saland

„Los Farsantes“, Text und Regie von Pablo Remón, Centro Dramático Nacional de Madrid 2022. Foto Luz Soria


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Das Lied der Guano-Vögel Passagen über Autofiktion von María Velasco

Zunächst scheinbar zusammenhangslose Bilder fügen sich in diesem Artikel zur persönlichen Sicht der Autorin auf eine Erzählweise, die wir gemeinhin Autofiktion nennen. María Velasco zeichnet nach, wie sie sich der Autofiktion bedient, ohne sich diesem Genre zu verschreiben (s. auch Stückabdruck und­ Gespräch TdZ 10/22).


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maría velasco_das lied der guano-vögel

DAS TAGEBUCH MEINES NEFFEN

WANDERUNGEN DES ICHS

Irgendwer hat meinem achtjährigen Neffen ein Tagebuch geschenkt, das erste seines Lebens. Das Tagebuch ist vollgestempelt mit hyperrealistischen Dinosauriern. Öffnet man es, ertönt das Krächzen und Brüllen, das man diesen großen prähistorischen Tieren zuschreibt. Ich stelle mir vor, dass so sein jüngster Kummer klingt, in seinem Kopf … Das aufkeimende Murmeln der Gedanken, der Stream of consciousness. Wer sich in dieser Welt fehl am Platz fühlt, versucht, die eigene Biografie neu zu schreiben. Wird er ­einer von ihnen sein? Ist dieses Tagebuch der Beginn einer Geschichte? Dass viele Autoren und Autorinnen (wie Nonnen, die ihr Gelübde ablegen) beim Eintritt in die Literatur einen anderen Namen annehmen, ist kein Zufall. So verwandeln sie sich selbst in fiktive Geschöpfe. Nun sitze ich vor dem weißen Blatt und würde wieder einmal gern meinen Namen ändern. Denke mir Pseudonyme aus. Will mich mit jedem Absatz umbenennen. Oder, besser noch, häuten. Die Lust, mich mit jedem Stück neu zu erzählen und zu erfinden, bindet mich am stärksten an die Autofiktion. Wie werde ich mich morgen nennen? Auch für die Autofiktion können wir neue Namen finden.

Die Literatur hat mich gelehrt, mit Fremden zu sprechen – Ungeheuer und Minotauren eingeschlossen –, und sie hat mich gelehrt, dass ich eine von ihnen bin … „Was kann das Holz dafür, wenn es als Geige erwacht?“, schrieb Rimbaud. Ich entdeckte, dass ich selbst eine Unbekannte bin: das berühmte Erkenne-dich-selbst. Reden wir über Wanderungen (des Ichs). Es fällt mir schwer, im Namen anderer zu schreiben. Besser gesagt, ich kann über nichts anderes schreiben als mein Dorf. Es ist ein chronisches Leiden. Es ­widerfährt Autoren und Autorinnen, die wir nie mit biografischem Schreiben in Verbindung bringen würden. Ganz gleich, ob ihre Geschichte in einer vergangenen oder sagenumwobenen Zeit spielt (als Mythopoiesis) oder in futuristischem Ton geschrieben ist: Dort sind ihre Traumata, unsere Fluchtpunkte und Horizonte …, die oftmals eure sind. Der Maler Francis Bacon, dessen Atelier in meiner Erinnerung als ein Ort von Spiel und Entropie, Farb­ paletten und Maurerkellen fortlebt, hat gesagt: „Man ­arbeitet an sich selbst, um sich zu zwingen, die Dinge immer deutlicher freizulegen“3. Der Humanist José Luis Sampedro benutzte den Ausdruck: „Bergarbeiter des ­eigenen Selbst“. Kontroverser – und deshalb mir entsprechender – fand ich den Satz von Emmanuel Carrère in „Yoga“: „Was ich in meinem Leben zu tun versuche, ist, ein besserer Mensch zu werden: ein bisschen kenntnisreicher, ein bisschen freier, ein bisschen liebevoller, ein bisschen weniger ego-verhaftet […], weil das einen besseren Schriftsteller aus mir macht.“4

NIEMAND HAT GESAGT, ES WÄRE LEICHT Jede Art von Etikett ist irgendwann verhasst. So war es mit dem absurden Theater, dem Poststrukturalismus, Work in Progress … Auch dem Etikett „Autofiktion“ sollte es nicht anders ergehen. Es ist normal, dass ein Künstler einen gewissen Widerwillen gegen diese Hashtags entwickelt, sie taugen nur für Vorträge und Kataloge. Die Aufgabe des Künstlers liegt vielmehr darin, „ohne Regeln [zu arbeiten]; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird“1, wie Lyotard sagt. Aber außerhalb der Genres – welcher Art auch immer – ist es unbequem, um nicht zu sagen einsam. Und wenn das Unbequeme/die Einsamkeit fruchtbar wäre? Niemand hat gesagt, es wäre leicht: „Eine Frau, die schreibt, fühlt zu viel“, erklärte Anne Sexton2. Als Ketzerin der Autofiktion werde ich in den folgenden Zeilen weder eine Definition noch allgemeine Charakteristika liefern. Ich stütze mich auf meine Erfahrung und – wie in meinen Autofiktionen – versuche, sie so zu formulieren, dass sie für alle Fußgänger der Luft von Interesse ist, auch für jene, die sich nie für Autofiktion interessiert haben. Was ich zu bieten habe, ist der Bericht einer ­Reise, die vor 15 Jahren mit der ersten Veröffentlichung begann – im Grunde aber viel früher, mit höchstens acht Jahren. Die Erinnerung ist ein Labyrinth mit zahlreichen Ein- und Ausgängen, keiner davon offensichtlich. Man muss sich immer verlieren, um sich zu finden, ­vielleicht sogar auf den einen oder anderen Minotaurus ­stoßen … nur, um oftmals festzustellen, wie sehr uns die Ungeheuer ähneln.

MEHR HAST DU NICHT VORZUWEISEN? Seit ich an diesem Artikel schreibe, habe ich den Exhibitionisten vor Augen, der meinem Freund Kike Guaza eines Tages über den Weg lief, als seine Mutter ihn und seinen Bruder zur Schule brachte. Besagter Exhibitionist stellte sich ihnen in den Weg und zeigte ihnen sein Glied. Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte Kikes Mutter: „Mehr hast du nicht vorzuweisen?“ Ich mag den Gedanken, dass Kikes Mutter sich nicht nur auf die Größe des Glieds bezogen hat, auch nicht auf den ­ Trenchcoat – woher hatte er diesen Fummel? –, sondern auf die Inszenierung an sich. In einem Jahrhundert, das eine Schwemme an ­Simulationen erleben würde, soll Henry Miller – eben jener Erzähler, der dem Exhibitionismus in Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille zu literarischen Höhenflügen verhelfen würde – ausgerufen haben: „Die Literatur des 21. Jahrhunderts wird autobiographisch sein oder nicht existieren“. Daniel Jimenez zitiert ihn so in seinem ­Roman „Cocaína“ und fährt fort: „Für Geschichten über Prinzen und Drachen sind die Politiker, die Fernseh­ serien und die Presse zuständig.“5 Angesichts der Ver­irrun­ gen von US-amerikanischen Medien und Reality-TV und der allgemeinen Ironie im politischen Diskurs der

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1 Lyotard, JeanFrançois: Postmoderne für Kinder: Briefe aus den Jahren 1982 – 1985, hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Franz. von Dorothea Schmidt, unter Mitarb. von Christine Pries, Passagen-Verl., Wien 1996, S. 30. 2 Sexton, Anne: „Die Schwarze Kunst“, übersetzt von Barbara von Bechtolsheim. In: Luftfracht: Internationale Poesie 1940 bis 1990, Magnus, Hand und Hartung, Harald, Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, Frankfurt am Main 1991, S. 201. 3 Francis Bacon, in: Marguerite Duras: „Interview mit Francis Bacon“, in: Heicker, Dino (hrsg.): Francis Bacon. Ein Malerleben in Texten und Interviews, Parthas Verlag, Berlin 2009, S. 83. 4 Carrère, Emmanuel: Yoga. Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Matthes und Seitz, Berlin 2022, S. 126. 5 Zitiert bei Pardo, Carlos: „Ser escritor, ser cocainómano, ser algo“ (dt.: Schrift­ steller sein, Kokain­ abhängiger sein, irgendwas sein). In: Babelia (El País), 20/01/2016.

„La espuma de los días“, Text und Regie Boris Vian / María Velasco am Teatro Español de Madrid 2019. Foto Ilde Sandrine


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theater und poetologie

Marvel-Bösewichte mag man diesen Satz tatsächlich neu überdenken und es verlockend finden, die Literatur als einen Ort zu definieren, an dem man nicht lügt. Genauso, wie wir ins Museum gegangen sind, um ein Urinal, einen Schädel, einen Hai, ein Stillleben zu sehen, werden wir ins Theater gehen, um Menschen zu sehen, menschliche Tiere als Objets trouvés. Es wird kein Zoo sein. Im Gegenteil, diese Menschen werden freier wirken als unsere verbeamteten Nachbarn. Menschen sehen: Manchmal reicht das. Es reicht, die Betäubung der Routine auszukotzen, zu schauen und zu hören, (als wäre es) zum ersten Mal. Das Theater ist der Ort par excellence, wo wir einen Blick auf die Wahrheit und das Krude riskieren, auch wenn wir, wie Kikes Mutter, hinterher rufen: „Mehr hast du nicht vorzuweisen?“

LEG DEINE HAND IN DIE WUNDE AN MEINER SEITE! „La espuma de los días", Text und Regie Boris Vian / María Velasco am Teatro Español de Madrid 2019. Foto Ilde Sandrine

Am meisten schätze ich Autofiktion, die das Gegenteil der sozialen Netzwerke will. Die uns weder von unserer besten Seite zeigt noch unsere Erfolge zelebriert, die sich nicht ans aktuelle Zeitgeschehen klammert, sondern es unbesehen in den Fleischwolf wirft, die nicht vor Witz sprüht – weder Sätze wie Pfeile noch Ruhmes­

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blätter. Autofiktion, wie ich sie verstehe, zeigt das, wofür wir uns schämen und was wir niemandem gestehen. Was mich an diese schöne Passage im Neuen Testament erinnert, in der Jesus, als Wiedergänger, Thomas auffordert, die Finger in seine Wunden zu legen: „Leg deine Hand in die Wunde an meiner Seite!“ Diese Autofiktion hat mit Autolyse zu tun, mit „Selbstauflösung“, oder mit Autodestruktion, „Selbstzerstörung“, was in der Psychiatrie ein Begriff für selbstverletzendes Verhalten ist, Ritzen zum Beispiel. Es sind Wunden, die aus dem Bedürfnis entstehen, ein abstraktes Leiden zu verlagern und damit benennen zu können. Benennen ist Aufatmen. Die Seite zerschneiden oder tätowieren. Meine Traumata waren weniger schmerzhaft, wenn sie, auf dem Papier, einer mehr oder minder beabsichtigten Kalligrafie/­ Route folgten. Die spanische Schriftstellerin Sara Mesa spricht davon, mit vollen Händen nach den Nesseln der Wirklichkeit zu greifen: „Man riskiert, die eigene Haut zu verletzen und sich selbst zu schaden, und das alles, um – einem Dritten – die zähen Wurzeln, die giftigen Stiele, die ungehörigen Blüten zu zeigen. Die Wirklichkeit ist also zäh, vergiftet und ungehörig … Ist das eine pessimistische Sichtweise? Oder sollten wir eher von Scharfsinn sprechen, und von Mut, denn mit ihrem


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Handeln setzen Schriftsteller sich nicht nur der Zurückweisung durch ihre Leser aus, sondern durch die Gesellschaft ihrer Zeit.“6 In Anlehnung an das antike Sprichwort collige, virgo, rosas (pflücke, Mädchen, die Rosen) lasse ich in meinem letzten Stück das Mädchen, das ich einmal war, sagen, wer Rosen pflücken will, muss auch die Dornen nehmen: also, Erkältungen, Tripper, Papillome …

EINE ADERPRESSE ANLEGEN Ihrem Ruf zum Trotz ist die Brennnessel eine Heil­ pflanze, aber zunächst muss man sie verarbeiten. In einem wunderschönen Text, der sich an junge Literaten richtet, bezieht sich Carrères Kollege Michel Houellebecq auf dieses Verarbeiten des Leidens, damit daraus eine Geschichte wird: „Wenn es Ihnen nicht gelingt, Ihr Leben in einer genau definierten Struktur zu artikulieren, sind Sie erledigt. Das Leid wird Sie bei lebendigem Leibe auffressen, von innen heraus, bevor Sie Gelegenheit hatten, auch nur ein Wort zu schreiben. Die Struktur ist das einzige Mittel, dem Selbstmord zu entgehen“.7 Wo Houellebecq von Struktur spricht, kann man auch Dramaturgie sagen. Ich jedenfalls habe ihren Werkzeugkasten benutzt, sogar den der klassischen Dramaturgie. Letztendlich braucht man zum Leben eine Geschichte. Paul ­Ricoeur („Zeit und Erzählung“) hat einmal gesagt, erst durch die Erzählung werde die Zeit zur menschlichen Zeit. Leben ohne Literatur ist kein Leben, sondern

einfach etwas, das geschieht. In meiner Erfahrung war die Dramaturgie eine Art Aderpresse – Punkte, Zäsuren, Zwischenräume und Seitenumbrüche –, um den Blutstrom an Ahnen, Erinnerungen (auch erfundenen), Wünschen, Quellen, Zitaten usw. zu stoppen. Wir stellen uns wie selbstverständlich vor den gebrennnesselten, zerschundenen und verwundeten Körper, setzen – angesichts von Tachypsychie (Beschleunigung des Denkens mit oder ohne Wortschwall) oder Hyperia (übermäßiges Bewusstsein) – mit dem Skalpell Schnitte und passen verschiedene orthopädische Hilfsmittel und Fantasieprothesen an. Durchstreichen, umstellen, hinzufügen … Stücke, die in Arbeit sind, haben etwas von einem kranken Körper. Einen lebendigen Körper ob­duzieren: Man muss ihn langsam sezieren, um keine lebenswichtigen Bereiche zu zerstören.

DICHTERINNEN UNSERER SELBST Die Orthesen und Prothesen sind wichtig. Nicht umsonst spricht Sergio Blanco von der Autofiktion als „Technik des Ich“. Mit Paul B. Preciado können wir von „Technologien der Subjektivierung“ sprechen und mit Deleuze davon, „das Werden“ zutage zu fördern. Autofiktion dient nicht nur dazu „es war einmal“ zu sagen, sondern auch „es werde endlich“. Wir sprechen von ­Autoplastizität, von der Fähigkeit, uns herzustellen und zu verwandeln …, in Gesundheit und Krankheit, im Persönlichen und im Politischen.

„Damasco Mashup – action–“ von María Velasco am Teatro Pradillo in Madrid, 2016. Foto Raul Coves

6 Mesa, Sara: Ortigas a manos llenas. Plasencia–Salamanca–Segovia. La Puerta de Tannhäuser y La Moderna; Letras Corsarias y Delirio; Intempestivos y La Uña Rota, 2020, S. 10–11. 7 Houellebecq, Michel: Lebendig bleiben. Aus dem Französischen von Hinrich SchmidtHenkel und Hella Faust, Dumont, Köln 2006, S.14.


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theater und poetologie

8 Siehe dazu das Werk der Künstlerin Chiara Fumai („Chiara Fumai reads Valerie Solanas“). 9 Fuentes, Rafael: „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra, de María Velasco: esperanza en el viacrucis“ (dt.: Ich will die Menschen ausroden von der Erde von María Velasco: Hoffnung am Kreuzweg). In: El imparcial, 11/12/2020. 10 ebd. 11 Maillard, Chantal y Bonnett, Piedad: Daniel. Voces en el duelo. (dt.: Stimmen in der Trauer/im Duell). Vaso Roto, Madrid 2020. 12 Zitiert nach Anne Carson bei Lago, Eduardo: „La gran paradoja es escribir con placer sobre algo trágico“ (dt.: Das wirklich Paradoxe ist, lustvoll über etwas Tragisches zu schreiben). In: Babelia (El País), 04/05/2019. 13 Zitiert nach Tennessee Williams bei Conejero, Alberto: https://www.teatroespanol.es/sites/ default/files/import/ descargas/dossierushuaia.pdf, Zugriff am 7.9.2022. 14 Carrère, ­Emmanuel: op. cit., S. 173

Nach der alten aristotelischen Definition wären wir keine Geschichtsschreiber, sondern Dichterinnen unserer selbst. Als Beispiel möchte ich zwei Szenen aus meinen eigenen Autofiktionen anführen. Die eine ist der Epilog von „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra“ (2020; deutscher Titel: „Ich will die Menschen ausroden von der Erde“, 2022). Dort führe ich – nachdem ich lange als „Hure in der Kirche“ unterwegs war – ein lebhaftes Gespräch mit einem Baum und umarme ihn. Was entsteht, ist eine wunderschöne Verbindung zwischen den Spezies, eine Vermählung entgegen der Natur. Kiefern und Pappeln sprechen nicht unsere Sprache. Trotzdem ist diese Szene nicht weniger unwirklich als der Epilog von „Líbrate de las cosas hermosas que te deseo“ (2014, in etwa: „Befrei dich von meinen guten Wünschen“), in dem mein Vater mir Dinge sagt, die er nie gesagt hat, und ich ihm; in dem ich ihn sogar darum bitte, mir den Titel des Stücks laut vorzulesen: „Befrei dich …“, was einem spielerisch-atheistischen Geh hin in Frieden gleichkommt und mich endlich seiner Erwartungen enthebt. Von den ersten Proben an, als diese beiden apokryphen Szenen auf der Bühne – Insel (nicht Ort) der Utopie – zum Leben erwachten, nisteten sie sich in meiner Erinnerung ein, mit der Vehemenz mancher Träume oder halluzinogener Erfahrungen. Ich hoffe, einigen Darstellenden, Lesern und Leserinnen, Zu­ schauern und Zuschauerinnen ging es genauso … Paradoxerweise haben diese prospektiven Szenen bereits stattgefunden. Selbst wenn sie nicht echt sind, ihre ­Folgen sind es.

„DIE WUNDE STEHT AUCH FÜR MEIN GESCHLECHT“ (GINA PANE) In letzter Zeit spreche ich lieber von Bekenntnisliteratur – letzten Endes nur ein weiteres Etikett –, weil mich Dichterinnen (Sylvia Plath, Anne Sexton, Alejandra ­Pizarnik? Agnes Varda?) beeinflusst haben, die ohne Umschweife auf intime Details ihres Lebens ein­ gingen. Ihre Selbstporträts (wie in vergangenen Jahrhunderten jene von Artemisia Gentileschi oder Jeanne Hébuterne) waren nicht nur ein Bekenntnis, sie waren aufgrund des herrschenden Machismus auch kritisch. Ich habe sie erst spät entdeckt. Meine Teenagerjahre vergingen zwischen samenschwallartigen Wortfluten, die mich davon träumen ließen, autrice zu sein, Autorin, auch eines abenteuerlicheren Lebens. Natürlich ist das kein Vergleich, aber ich wuchs mit den sieben ­wilden Pontipee-Brüdern auf („Eine Braut für sieben Brüder“). Das war nicht schlecht. Es war sehr gut. Ich werfe mir nur vor, dass ich so lange gebraucht habe, eine andere Art Intimität zu entdecken. Die Themen, die diese Frauen ansprachen, waren wegen des eingefleischten Machismus doppelt „verflucht“. Dank ihrer Werke und Biografien konnte ich, fern von jedem Weiblichkeitskult, besser das Urteil Valerie Solanas’ verstehen („SCUM Manifesto“): „A male artist is a contradiction in terms“.8

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In einer der Kritiken zu meinem Stück „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra“, in dem ich ausgehend von meiner Erfahrung als Sexarbeiterin meine Herzens- und sexuelle Bildung Revue passieren lasse, heißt es: „Hier wird auf drastische Weise der Unterschied zwischen männlichen Stücken über die Welt der Bordelle und weiblichen Stücken zum selben Thema deutlich. So ehrlich und engagiert die männlichen Stimmen auch sein mögen, überrascht es doch, wie enorm weit sie von den Berichten weiblicher Kunstschaffender entfernt sind, deren emotionaler Gehalt vollkommen ­anderer Natur ist.“9 Der Journalist führt hochgelobte Stücke über Vergewaltigungen und Prostitution als Beispiele an, die aus der Feder von Männern stammen und von bekannten Gesichtern verkörpert wurden und kommt letztlich zu dem Schluss: „Man spürt, wie unversöhnlich die lebensnahe Perspektive ist, so sehr beide das gleiche Ziel verfolgen mögen“.10

LEIHST DU MIR DEINE LUNGEN? „Übertragenes Leid ist geringeres Leid, übertragener Schmerz geringerer Schmerz“, schrieb Chantal Maillard in einem Gedichtband11, in dem sie gemeinsam mit der Dichterin Piedad Bonnett eines der traumatischsten Ereignisse, das man sich vorstellen kann, autobiografisch verarbeitet: den Selbstmord eines Kindes. Als Schwestern im Leid verbinden sich ihre Stimmen zu einem wundersamen Klagelied. Über Anne Carson wurde gesagt: „Das wirklich Paradoxe ist, lustvoll über etwas Tragisches zu schreiben“.12 Manchmal verschwimmen die Stimmen von Maillard und Bonnett, werden austauschbar. Das Fremde wird seelisches Organ. Der spanische Dramatiker Alberto Conejero sagt, mit Tennessee Williams: „Niemand ist wirklich frei, solange er nicht die Wahrheit über sich selbst und das eigene Leben bekennt. Schreib sie auf, erzähl sie einem Freund in Not, oder einem Fremden zur Unterhaltung. Wir alle sind hier, um etwas zu bezeugen, um andere Menschen zu leiten und zu trösten.“13 Nichts ist persönlich: Am Anfang ist es privat; dann geht es über uns hinaus … Alles ist vertraut. „Mein trauriger Einzelfall kann etwas Universelles bekommen“14, schreibt Carrère. In Deleuzes „Die Literatur und das Leben“ stieß ich zum ersten Mal auf den Begriff „Desidentifizierung“ (der einem der abgegriffensten Wörter der Film- und Theaterhochschulen die Vorsilbe „Des-“ hinzufügt). Des­identifizierung oder Depersonalisierung lässt sich durch das erklären, was dem Darstellenden passiert, wenn er mit fremden Lungen atmet. Es muss nicht mal eine Figur sein (Roberto Zucco, Ophelia, Peter Pan, Blanche DuBois), es ist auch als Akt der Selbstdramatisierung/Selbstinszenierung denkbar. Er oder sie selbst, aber anders verortet, deterritorialisiert, das ist genug. Jenseits von Ego und Alter Ego entsteht dabei etwas ­Drittes. Wir spüren es in jenen Augenblicken kreativen Nirvanas, in denen manche Sätze glasklar wirken, wie der Aphorismus: „Ich bin ein Mensch, nichts Mensch­


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maría velasco_das lied der guano-vögel

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„Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra" von María Velasco in eigener Regie an der Sala Teatro Cuarta Pared in Madrid 2022. Foto Mara Alonso

Die Autorin

liches ist mir fremd“ (Terenz) oder die Zeilen „Ich ist ein anderer“ (Rimbaud) oder „Tote haben alle dieselbe Haut“ (Vian). Es ist nur mit Sex vergleichbar: „Warum sollten unsere Körper an unserer Haut enden?“ (Haraway). Es ist ein Urbedürfnis zu verschwinden, indem wir uns von anderen einverleiben lassen. „Je mehr du von dir erzählst, desto weniger wollen sie wissen“, sagte und riet uns immer eine Kunstlehrerin. Mit der reinen Autofiktion, die Egotismus und narzisstische Belang­ losigkeiten meidet, ist es in etwa so … Es findet eine Abspaltung statt, ein Loslassen: „Es ist ein alter, ein uralter Traum, unsichtbar zu sein“, wie Bernard-Marie KoltésRoberto Zucco sagt, oder ein Querschnitt aus beidem … Man erreicht einen Zustand, der ans nicht mehr Wahrnehmbare grenzt.

DAS LIED DER FLEDERMÄUSE ODER GUANO-VÖGEL Das Therapeutische war nie Selbstzweck. Sonst hätte ein Tagebuch den Dienst getan, und ich hätte etwas mehr Geld auf dem Konto, vielleicht ein Haus oder ein Schloss – wie andere wohlanständige Dramatiker:innen –, statt eines Haufens prospektiver Szenen und Universen, die mich als Nabelschnur mit den Menschen und der Welt verbinden. Linderung ist nur eine Nebenwirkung der Autofiktion …, genau wie die Opfer, nahestehende (und manchmal geliebte) Menschen, die sich unter anderem Namen wiedererkannt haben und getroffen fühlten.

Mich in meinen Stücken zu outen, die schmutzige Wäsche auszulüften und in die Sonne zu hängen, hat mich ermächtigt. Mich zu schwächen, hat mich stark ­gemacht wie eine Brennnessel. Die Schüchternheit machte mich zur Schriftstellerin, und nun macht mich das Schreiben unverschämt, derb, zur Fledermaus. Ist das nicht poetische Gerechtigkeit? Das Trauma wird durch das Tabu retraumatisiert. Wird das Trauma zur Blasphemie, zeigt es den Grenzen des Anstands die Stinkefaust. Das Schweigen zu brechen, ist kein künstlerischer Verdienst, wenngleich das Unsagbare tief mit Literatur und Kunst verbunden ist. Die Kunst sollte die unendliche Fantasieblase heraus­fordern, in der wir im Westen in den letzten Jahrzehnten gelebt und uns zugleich gebrüstet haben, nie besser informiert gewesen zu sein. Sie sollte eine Alternative zu dem bieten, was man allein zur Unterhaltung verschlingt. Das Tabu verwandeln in ein Lied. Die Knebel zerreißen, zerkauen und ausspucken (wie die Zettel, die wir den Nonnen nicht geben wollten). Sie verdauen. ­Daraus Guano machen (vom Quechua-Wort wanu, Dünger, Exkremente von Fledermäusen und ­Vögeln, mit dem man die Erde fruchtbar macht). Die Ohren schmerzen lassen, und, wenn nötig, die (Toll-) Wut übertragen. Wie das spanische Wort für Fledermaus, murciélago, in unserem Namen alle Vokale be­ inhalten, im Wissen: Je mehr wir singen, desto näher kommen wir der Stille. // Aus dem Spanischen von Franziska Muche

María Velasco, (geboren 1984 in Burgos, Spanien) Dramatikerin, Regisseurin und Dozentin. Sie studierte an der Real Escuela de Arte Dramático Madrid, absolvierte einen Master in Szenischer Praxis und Visueller Kultur an der Universidad de Castilla-La Mancha und promovierte in Audiovisueller Kommunikation an der Universidad Complutense in Madrid. Sie wurde vielfach veröffentlicht, 2022 erschienen fünf ihrer Stücke im Verlag La Uña Rota. „La soledad del paseador de perros“ („Die Einsamkeit der Hundesitter“) wurde 2016 im Madrider Theater Sala Cuarta Pared in gemeinsamer Regie der Autorin und Guillermo Heras uraufgeführt. Ihre Texte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. So erhielt sie u. a. den renommierten Max-AubPreis für ihr Stück „Taxi Girl“ und zuletzt den Premio Max in der Kategorie beste Theater­ autorin für ihr Stück „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra“, das im Frühjahr in der Übersetzung von Franziska Muche beim Heidelberger Stückemarkt szenisch gelesen und mit dem internationalen Autor:innenpreis prämiert wurde. Foto Ilde Sandrine


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Wilde Dramaturgie – Nachdenken über Textarbeit Eine dichterische Annäherung an die Theaterarbeit von Los Bárbaros. Als Kollektiv haben sie eine eigene Poetik der losen Zeitzusammenhänge und unruhigen Präsenz entwickelt, weit weg von den Zwängen der Realität, aber ohne aufzuhören, sie als Inspiration zu betrachten.

von Javier Hernando (Los Bárbaros)

„Atlántida“, Text und Regie von Los Bárbaros am Matadero Madrid 2018. Foto Los Bárbaros

E

in Theaterstück hinterlässt ein Meer und einen Berg. Wenn wir das Meer sehen könnten, sähen wir den dazugehörenden Rhythmus, durchdringend, der weit über die Worte hinausgeht. Wenn wir den Berg sehen

und in der Mitte durchschneiden könnten, sähen wir die Schichten und Sedimente, die das Stück in sich selbst hinterlassen hat. Die Dramatik als Meer denken und als Berg. Beim Denken an das dramatische Schreiben nicht nur an die Worte denken. Das Gleichgewicht zwischen Eindeutigkeit, Verwunderung, Weite und Dichte, Stein, Stütze suchen. Das Stück denken als alles, was innerhalb und außerhalb desselben passiert, in dem Moment, in dem es beginnt.


javier hernando (los bárbaros)_wilde dramaturgie.

Vom Unbequemen her denken, dabei wissen, dass die Aktualität der Feind ist, dass es immer einen unvor­ hergesehenen Konflikt gibt. Wissen, dass alles voller Gespenster ist, mit ihnen sprechen. Dass man nie erzählt, was man schreibt. Ein einzelner Satz sei immer klarer, sagte Canetti, der folgende verunklare ihn schon wieder. Wissen, wie Erzählungen konstruiert sind, um sie wieder neu erzählen zu können. Die Einbildung ausweiten. Die Dinge zusammenbringen, dabei verschiedene Positionen respektieren und nicht den Konsens suchen. Zum Unmöglichen gehen. Das Licht ­suchen. Keine Angst vor dem Scheitern haben, weil das Scheitern dir Vater und Mutter ist. Der Blick sollte wie Lesen sein und das Bild wie ein Buch. Wissen, dass ein Wort verschiedene Synonyme hat, aber ein Gesicht

kein Äquivalent. Dass die Bühne eine Welt sein soll. Die Imagination eine Brücke zwischen der Realität und einem selbst. Dass die Zeit ein anderer Ort ist. Weder Worte klauen noch ihren Sinn verdrehen. Wissen, dass nichts andauert, dass man selbst die Ewigkeit ist und in dem überlebt, was man hinterlässt. Dass „unsere schärfste politische Waffe“, wie Edmond Jabès schrieb, „immer die Frage war, ist und sein wird.“ Lange ­Gespräche haben und Theaterstücke schreiben wie Gespräche, die nie enden. Dreck unter den Fingernägeln haben. Wissen, dass die Dramaturgie die Techniken ­organisiert, mit denen Sinn hergestellt wird, dass aber der Sinn nicht das Stück herstellt. Dass das Stück spricht, aber nicht bedeutet. Dass es im Ganzen bedeutsam ist. Dass der Sinn eine Bewegung ist, die den Zuschauer auffordert, am Stück teilzunehmen, es auf eigene Weise zu dechiffrieren. Wissen, dass dramatisches Schreiben Lesen lenkt, aber kein Akt des Lesens ist. Dass dieser Vorgang, der Vorgang, der Sinn pro­ duziert, dem Zuschauer gehört, und dass dieser beim Lesen dem Stück seinen lebendigen und intellektuellen Kontext verleiht. Dass die Dramatik öffnet und der Zuschauer durch diese Öffnung in das Stück eindringen kann, um seinen Raum zu bewohnen. Dass die Dramatik eine Begegnung anbietet, deren Resultat, wenn alles gut geht, der Sinn ist. Ein durchsichtiger Faden, der mindestens zwei Personen verbindet. Und dadurch die Macht des Erschaffers in Verantwortung verwandelt, die Tyrannei der Vorgabe in die Bewegung eines Vorschlags. Uns von den Dingen durchdrungen wissen. Dass wir die Dramatik nur in ihrer Auflösung erkennen. Wenn sich nichts mehr einzeln betrachten lässt, ohne dass dadurch ein irreparabler Schaden entstehen würde. Mit unsichtbaren Linien arbeiten, mit großen Gesten, die eine Architektur hervorbringen. Dass die ständig anwesenden Unsichtbarkeiten sich in den Momenten besonderer Intensität verdichten, in denen Raum und Zeit zusammenfließen. Dass unsere Aufgabe der von Totengräbern gleicht: Löcher öffnen und schließen, Sachen drinnen lassen. Und dass die Aufgabe des Zuschauenden die des Paläontologen sein sollte: den Knochen heben, seinen Niedergang ent­ rätseln. Beides auch Aufgaben des Hundes. Sich an den Prolog von „Der letzte Leser“ von Piglia erinnern, wo die Geschichte eines Bewohners von Buenos Aires erzählt wird, der in seinem Haus eine Nachbildung der Stadt baut, deren Maßstab so klein ist, dass es unmöglich wird, sie mit nur einem Blick zu erfassen. Als er fertig ist, zeigen sich in dem Nachbau die kleinen Abnutzungserscheinungen der Stadt, die er regelmäßig reparieren muss, und gleichzeitig werden die Veränderungen am Modell auch in den Straßen von Buenos Aires wahr. Die Bühne nicht als Spiegel denken, sondern als Realität, die mit einer anderen einen Pakt schließt.

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Der Autor

Los Bárbaros ist ein Projekt von Javier Hernando & Miguel Rojo, das aus ver­ schiedenen Perspek­ tiven zeitgenössische Identität, Macht und die Art, wie wir uns zueinander verhalten, befragt. Los Bárbaros arbeiten in einem erweiterten Sinn partizipatorisch. Sie mögen Humor, ­Fantasie und unsicht­­bare Dinge. Ihre Arbeiten wurden an Orten gezeigt wie La Casa Encendida, Azkuna Zentroa, CAVNaves de Matadero, Teatros del Canal, CCC-Conde Duque o Teatro de La Abadía. Sie versuchen, Räume der Begegnung und Reflexion zu schaffen, von denen aus sich Gegenwart neu be­­fragen lässt. Foto privat


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theater und poetologie

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„Las explicaciones“, Text und Regie von Los Bárbaros am Conde Duque Centro de Cultura Contemporánea 2021. Foto Los Bárbaros

Beim Nachdenken über Theaterstücke am Anfang immer über Gedichte sprechen. Weil die Dichtung eine Form von andersgedachtem Wissen ist, aufsässig, die nichts herleitet und Dinge in Zusammenhang bringt, die zuvor nicht zusammengebracht werden konnten. Eine Kette aus Augen, die nach innen und außen sehen, um unseren Kopf herumhaben. Oder wenigstens wissen, dass das, was wir sehen, auch gleichzeitig das ist, was wir nicht ­sehen, was uns entkommt und das, was draußen bleibt. Mit der nötigen Distanz arbeiten, um die Dinge gut zu beherrschen. Sich nicht bemühen zu zeigen, dass etwas Bedeutung hat, oder so viel Inhalt wie möglich zusammenzukriegen, sondern, wie Susan Sontag schrieb, lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen. Eine Haltung haben. Tim Etchells sagte in einem Interview, dass seine Arbeit deshalb politisch sei, weil sie Räume in anderen Menschen öffne. Versuchen, Zonen zu schaffen, in denen der Andere für sich selbst reagiert, imaginiert und denkt. Nicht so viel Interesse daran haben, „etwas zu sagen“, wie daran, Räume zu schaffen, damit andere ernsthaft nachdenken, indem eine Spannung geschaffen wird, ein Raum, in dem Ideen in all ­ihren Aspekten zirkulieren können. Einverstanden sein mit René Char, wenn er schreibt: „Im Gewebe eines Gedichts sollten in gleicher Anzahl geheime Gänge liegen, Räume der Harmonie und zugleich Teile der Zukunft,

Sonnenhäfen, verfängliche Bahnen und Wesen, die einander rufen. Der Dichter ist der Kurier für all diese Dinge, die eine Ordnung bilden. Eine aufständische Ordnung“. Wissen, dass das Problem der Kunst und folglich dessen, worum sie sich kümmern muss, folglich das Problem des Theaters, und worum das Theater sich kümmern muss, ein Problem der Distanzen ist. Weil eine Distanz die Dinge von den Worten trennt, die ­Erzählungen von den Wirklichkeiten, die Bilder von ihren Repräsentationen, ein Pronomen vom anderen, den Zuschauerraum von der Bühne. Eine Grenze erreichen und sie mit einer anderen in Dialog bringen. Mit José Luis Brea einig sein, wenn er sagt, dass die Arbeit der Kunst darin besteht, die Repräsentation zu enttarnen, und dass die Kunst nichts anderes ist als eine Praxis der Repräsentation ist. Diese Spannung verstehen. Und mit Joseph Beuys, der sagt, dass die ­demokratische Kreativität die Vernunft der Dinge entdecken muss. An Glenn Gould denken, als er aufhörte, Konzerte zu geben, weil die Säle ihm wegen der Anwesenheit von Bildern nicht mehr als der angemessene Ort erschienen, um Musik zu hören. Weil das Konzert, wie Gott, kein Bild von sich duldet. Die Distanz kennen, ihre Widersprüche annehmen. Wissen, dass die Bühne ein so dunkler Ort ist wie die Nacht von San Juan de la Cruz.


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javier hernando (los bárbaros)_wilde dramaturgie.

Mit mehr Unmittelbarkeit experimentieren. Keine Komplizen der Betäubung werden. Wissen, dass der Humor Distanz schafft, und dass jede Distanz ein Raum der kritischen Möglichkeiten ist. Bis zum Ende der Landschaft gehen, auf der anderen Seite ankommen. Überzeugt sein, dass die Imagination Möglichkeiten eröffnet. Dass „die Wahrheit aus der Imagination geboren wird“, wie eine Figur von Ursula K. Le Guin in „La mano izquierda de la oscuridad“ sagt. Um die Problematik der Erzählungen wissen und die Vorstellungskraft als Werkzeug benutzen, um das Unmögliche in Angriff zu nehmen. Die Kindergeschichte von Ionesco noch mal lesen, in der ein Vater und seine Tochter bis zur Sonne reisen, ohne auch nur aus dem Bett aufzustehen. Begreifen, dass, d ­ amit etwas präsent sein kann, um denken zu können, dass man etwas vor sich hat, vorher Leeren und Lücken existieren müssen. Klarheit ersehnen und verfolgen. Wie San Juan wissen, dass das Licht purer ist, je unsichtbarer es ist, ohne Partikel und Staubkörnchen. Eine widersprüch­ liche Beziehung haben zu dem, was man tut. Kafka schrieb in einem Brief an seinen Freund ­Oskar Pollak: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? (…) Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod ­eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in

­ älder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, W wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Einen unsichtbaren Berg hochsteigen. Ein Meer überqueren, das es nicht gibt. Sich der Welt mit Staunen nähern, mit Fragen und aus den Wundern des Alltags heraus. Theater machen wie jemand, der Brot backt. Ein Feld voll wildwachsender Blumen düngen. Ein wildes Denken behalten, das, wie Levi-Strauss es definierte, nicht das Denken von „Wilden" meint, sondern ein Denken, das sich vom kultivierten, nur auf Profit ausgerichteten Blick unterscheidet. Materie und frische Luft auf die Bühne! Sich zu Hause fühlen beim Lesen des Gedichts „Vermeer“ von Wisława Szymborska, in dem es heißt: „Solange diese Frau im Rijksmuseum / in gemalter Hingabe und Stille / Tag für Tag die Milch aus dem Krug in die Schüssel gießt / so lange hat unsere Welt / keinen Weltuntergang verdient.“ Und sich beim Nachdenken darüber, was eigentlich Dramatik ist, an das Gedicht von José Hierro erinnern: „Ich rufe Alles!, und das Echo sagt Nichts! / Ich rufe Nichts!, und das Echo sagt Alles! / Ich weiss jetzt, dass das Nichts alles gewesen ist / und alles war Asche aus dem Nichts.“ Und an diese „Verse vom Berg der Perfektion“: „Um zu erlangen, alles zu wissen, suche in nichts ­etwas zu wissen. Um zu erlangen, alles zu besitzen, suche in nichts Besitz.“ // Aus dem Spanischen von Charlotte Roos

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„MUTANTES", ein Projekt von Javier Hernando und Miguel Rojo, Los Bárbaros, 2019. Foto Los Bárbaros


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Ein Wald in Flammen Verstreute Notizen über Dichtung und Theater


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alberto conejero_ein wald in flammen

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Alberto Conejero stellt in seinem poetologischen Text die Dichtung in den Mittelpunkt, weil sie für ihn eine „Verschwörung der Sprache gegen die erdrückende Kraft der ­Gewohnheit“ ist. In einer gedanklichen Bewegung zwischen Samuel Beckett und Alejandra Pizarnik, Antonin Artaud und Federico García Lorca zeichnet er die Spuren seines ­Theaterverständnisses und -schaffens mit geschärftem Blick auf die spanische Erinnerungskultur nach.

von Alberto Conejero

U

m meine Theaterstücke zu untersuchen, müssen wir über Dichtung sprechen, die meine Art und Weise zu schreiben geprägt hat. Dichtung ist eine Form des Staunens. Sie unterbricht den alltäglichen Ablauf unseres Lebens und verwandelt ihn in Erleben. Sie verbindet uns, auch zu unserem Leidwesen, mit dem, was nicht mehr ist und dem, was noch nicht ist. Dichtung ist Brücke und Kluft, Rätsel und Vorstellung. Dichtung ­ ­bedeutet, noch nicht zu wissen oder noch nicht wissen zu wollen. Sie ist der Rand der Wunde, auch wenn es nie dieselbe Wunde ist. Sie erinnert uns daran, wie ver­ gänglich, zerbrechlich und ungeschickt wir uns durch diese Welt bewegen. Pasolini plädierte dafür, den Wert der Niederlage in Erziehung und Bildung einzubeziehen. Dichtung ist vor allem die Verschwörung der Sprache gegen die erdrückende Kraft der Gewohnheit, gegen Worte, die nichts als Worte sind. Indem sie in unserem Körper widerhallt, erinnert sie uns an die Immanenz des Heiligen. Nur durch die Sprache kann ich versuchen, der Sprache zu entkommen. Nur wenn wir Worte verbrennen, können Bilder entstehen. Dichtung ist auch eine Form des Begehrens und Begehren ist immer in Bewegung. Verletzlichkeit, Entblößung und Ungewissheit beflügeln die Dichtung. Dichtung – auch die grausamste, schmutzigste, schutzloseste, selbstmörderischste – ist eine Form von Humanismus. Als die Figur des Sklaven Lucky in „Warten auf Godot“ zu Wort kommt – vor und nach den Peitschenhieben, vor und nach der Demütigung, in seiner Lage als Pozzos Tier – sprudelt ein verbaler Blutsturz, Todeskampf der Sprache aus ihm hervor, Wort an Wort ein Archipel, eine zugrunde gehende Menschheit: „(...) daß auf dem Lande im Gebirge und am Rande der Meere der Ströme von Wasser und Feuer die Luft dieselbe ist und die Erde nämlich die Luft und die Erde bei der großen Kälte die Luft und die Erde gut für die Steine (...) in den großen Tiefen bei der großen Kälte zu Wasser zu Lande und in der Luft leider leider ich wiederhole man weiß nicht warum trotz Tennis die Dinge sind so man weiß nicht warum ich wiederhole weiter kurzum also ­leider leider weiter gut für die Steine wer kann daran zweifeln ich wiederhole aber greifen wir nicht vor ich

­ iederhole der Kopf zugleich parallel dazu man weiß w nicht warum trotz Tennis weiter der Bart die Flammen die Tränen die Steine so blau so ruhig leider leider der Kopf der Kopf der Kopf der Kopf in Oldenburg (...).“1 Alejandra Pizarnik formulierte es so: „Ich schreibe, damit nicht eintrifft, was ich befürchte, damit nicht das geschieht, was mich verletzt, ich schreibe, um das Böse fernzuhalten. Jemand hat mal gesagt, der Dichter sei ein großer Therapeut. In diesem Sinne liegt die Aufgabe der Dichtung darin, zu exorzieren, zu beschwören, und zudem, zu heilen. Ein Gedicht schreiben heißt, die grundlegende Wunde, die Zerrissenheit zu heilen. Denn wir alle sind verwundet.“2 Wenn ich, mal jenseits der Wissenschaft, in meinem Geiste definieren müsste, was Katharsis ist, dann würde ich die gleichen Verben wie Pizarnik für das Gedicht verwenden: „exorzieren, beschwören, und zudem, heilen“. Das Theater – in seinem ursprünglichen Wortsinn als Schauplatz – erlaubt uns, das Gedicht körperlich zu entfalten (im Körper der Schauspieler und Zuschauer) und in der Aufführung die Distanz zwischen Wort und Fleisch aufzuheben. Im Theater können wir eigensin­ nige, monströse, wunderschöne und furchtbare Worte an die Polis richten, die uns an das Unglaubliche, das Wunder(volle) der Sprache erinnern. Wie Artaud es in „Das Theater und sein Double“ fordert: „Die Metaphysik der artikulierten Sprache verwirklichen, heißt, daß man die Sprache dasjenige ausdrücken läßt, was sie für gewöhnlich nicht zum Ausdruck bringt: heißt, sich ihrer auf neue, ungewohnte, außerordentliche Weise bedienen, heißt, ihr die eigenen Möglichkeiten körperlicher Erregung zurückgeben (...), heißt, die Intonationen auf eine unbedingt konkrete Art und Weise aufzufassen und ihnen ihre Fähigkeit wiederzugeben, etwas wirklich zu zerreißen und kundzutun, heißt, sich gegen die Sprache und ihre gemeinen utilitaristischen, (...) der Ernährung dienenden Quellen wenden, gegen diese ihre Ursprünge eines gehetzten Tiers, heißt mit einem Wort, die Sprache als Beschwörung sehen.“3 Worte, die uns unendlich viele Möglichkeiten des Seins in uns aufzeigen; Worte, die wir wie einen Stab aufsetzen können, um uns zu anderen Ufern zu schwingen, oder um weiter in die Tiefe vorzudringen, oder um uns wieder mit dem Abwesenden zu verbinden; Worte, die unsere Menschlichkeit einfordern, die uns anschreien, dass jeder Körper zählt, dass jeder Körper singulär und heilig ist; Worte, die uns anschreien, dass das L ­ eben,

1 Beckett, Samuel/ Tophoven, Elmar (Übers.)/ Tophoven, Erika (Übers.): Drei Stücke. Warten auf Godot. Endspiel. Glückliche Tage, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2013, S. 51. 2 Übersetzung J. C. 3 Artaud, Antonin/ Henniger, Gerd (Übers.): Das Theater und sein Double, S. Fischer, Frankfurt a. M.1969, S. 49. 4 Übersetzung J. C. 5 García Lorca, Federico/ Beck, Enrique (Übers.): Über Dichtung und Theater, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1974, S. 119.

„La geometría del trigo“, geschrieben und inszeniert von Alberto Conejero am Centro Dramático Nacional. Produktion Teatro del Acantilado in Zusammenarbeit mit dem Centro Dramático Nacional, La Estampida, Producciones Teatrales Contemporáneas, Padam Producciones und mit Unterstützung des Ayuntamiento de Vilches und der Diputación de Jaén. Foto marcosGpunto


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theater und poetologie

„La pieda Oscura“ von Alberto Conejero am Dramático Nacional, Regie Pablo Messiez, 2015. Foto marcosGpunto

6 Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Klostermann Rote Reihe, Frankfurt a. M. 2012, S. 41. 7 Anm. d. Ü.: Im Original redondillas. Redondillas sind (meist) achtsilbige Vierzeiler und eine beliebte Strophenform in der spanischen Lyrik und Dramatik vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts.

das wir führen, dem wir uns gefügt haben, unglaub­ würdig ist. Im Jahr 1933 erzählte Lorca folgende Begebenheit: „Ein Bürgerlicher hat einmal beklagt, mein Werk sei fernab der Realität. Ich konnte ihm bloß sagen: ‚Sehen Sie, mein Herr, Sie werden sterben und mit gekreuzten Armen auf der Brust in einem Sarg hinausgetragen werden. Dann werden auch Sie fernab der Realität sein. So sieht die Realität aus.‘“4 Lorca hat uns auch diese treffende Definition für die Beziehung zwischen Dichtung und Theater hinterlassen: „Theater ist Poesie, die aus dem Buch steigt und menschlich wird, wobei sie spricht und schreit, weint und verzweifelt. Das Theater braucht ­Gestalten auf der Bühne, die ein poetisches Gewand ­tragen und zugleich ihre Knochen, ihr Blut erkennen lassen.“5 So oft wurde Lorcas Zitat zu unzähligen Anlässen wiedergegeben, doch es klingt nicht abgedroschen, weil es so wahr und schön ist. Und auf unergründliche Weise knüpft die Auffassung des Andalusiers an diesen Gedanken Heideggers an: „Dichtung ist Stiftung durch das Wort und im Wort.“6 Der Gegenstand des Theaters wie des Gedichts ist immer die Gegenwart. Ich schreibe für diese absolute Gegenwart des Theaters; ich schreibe Worte, ja, aber wie jemand, der Holz aufstapelt, das in Flammen aufgehen und niemals zu einem Möbelstück wird. Ich fühle mich anderen Theaterdichtern sehr nah, auch wenn unsere Poetiken und Ansätze sehr unterschiedlich sein

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mögen: Angélica Liddell, Wajdi Mouawad, BernardMarie Koltès, Sarah Kane, Euripides, Valle-Inclán, Tschechow... Ich denke, sie alle gehören zu jener ­Dichterzunft im Theater. In der aktuell kritischen Weltlage gibt es wenige Orte, die poetisches Gespür zulassen, respektieren, nach ihm verlangen. Die Sprache, auch die sogenannte künstlerische, überlebt gerade so unter dem Joch der Produktivität; von Zweckmäßigkeit geknebelt, von der schreck­ lichen Logikmaschinerie auseinandergenommen, mit der fürchterlichen Peitsche des glaubwürdigen Realismus oder des realistischen Glaubwürdigen im Zaum gehalten. Daher rührt auch der Abbau in den Lehrplänen der Geisteswissenschaften, eines Wissens, das sich eben ­ nicht unmittelbar in der Produktions- und Konsumkette niederschlägt. Das Theater ist an dieser Offensive keinesfalls unbeteiligt; daher kommt die Verbreitung von Theaterstücken, deren Sprache vorgibt, glaubwürdig und realistisch zu sein, sich nicht mit der Sprache des Zuschauers zu reiben, die er im Alltag verwendet, im Fernsehen hört, in den sozialen Netzwerken liest. Eine Sprache, die sich nicht um ihr Unvermögen schert, die nicht gerade Raum für Schweigen und Gehör lässt. Eine Sprache, die nur der Geschichte und der Handlung dient. Die Sprache ist Sklavin der Narrative, die Narrative sind Sklaven der Aufmerksamkeit und die Aufmerksamkeit ist Sklavin der Reize und die Reize das Opium aller. In einer Kritik stand einmal, der Protago-


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nist Sebastián von „La piedra oscura“ („Der dunkle Stein“) sei unglaubwürdig, da „kein Bauer so sprechen könne.“ Ich stelle mir vor, wie sich Calderóns Bauern ­ihrer Reime7 entledigen, um den Kritiker nicht zu ver­ ärgern, wie Mascha aus der „Möwe“ ihre Metaphern ins Feuer wirft, wie der Bote in „Medea“ seine flammenden Pentameter loszuwerden versucht. Was Zola nicht geschafft hat – den Realismus im Theater durchzusetzen –, schafft momentan die dominante Audiovisualität. Ihrer Logik folgen die Spielregeln eines gut gemachten Theaters. Der Realismus ist eine invasive Art, die Wasser­ hyazinthe der Wahrnehmung. Er versucht immer wieder aufs Neue, die Möglichkeiten des Menschlichen kleinzuhalten, das Staunen zu ersticken und Ausdrucksmöglichkeiten zu unterbinden. Der Realismus ist das herrschende System der Darstellung. Der Nullpunkt der Akzeptanz. Das geht so weit, dass man von der Fiktion die Ordnung und den Sinn einfordert, den die Realität nicht hat. Manche haben mein Theater lobend als „poetisch“ beschrieben, andere hingegen – nicht selten – haben es abschätzig gemeint. Wiederholt wurde ich gefragt, warum ich nicht von der Gegenwart spreche, warum ich nicht mit einer „alltäglicheren“ Sprache schreibe, über Themen des „Hier und Jetzt“. Ich greife nicht zu poetischer Sprache und Vergangenheit, um der Gegenwart zu entfliehen, sondern um gegen den normalisierten ­Gebrauch der Sprache Widerstand zu leisten, der die Schrecken eben dieser Gegenwart zulässt. Das ist der gleiche Ansatz wie bei Beckett und Ionesco: die Sprache angreifen, um sie zu retten. Ich meide die Themen der Gegenwart nicht, sondern ich benutze das Theater, um das Verschüttete, das von der Vergessensmaschinerie Begrabene, in diese Gegenwart zu holen. In den Irrenhäusern, Tempelruinen, Sterbezimmern erlangt die Sprache ihre ursprüngliche Kraft zurück. Es geht nicht ums Lyrische, sondern darum, der Sprache ihr Wesen als lebendiges Tier wiederzugeben. Vielleicht ist die Sprache in „Todas las noches de un día“ („Alle Nächte eines Tages“) politischer, als es bei einer ersten Lektüre erscheint. Vielleicht enthält „Cómo puedo no ser Montgomery Clift?“ („Wie kann ich nicht Montgomery Clift sein?“) mehr meiner Ängste und Wünsche als andere autobio­gra­ fische Werke. Ich schließe Handlungsmuster und Struktur nicht aus, aber sie stehen immer in einem Spannungsverhältnis zum außergewöhnlichen Sprach­ ge­ brauch. So ist es seit meinem ersten Werk, „Los Húngaros“ („Die Ungarn“). Seitdem waren Stücke von mir auf der Bühne zu sehen, die das Publikum eine ritualisierte, ausgesetzte Zeit durchlaufen lassen haben: „Ushuaia, Los días de la nieve“ („Die Schneetage“), „La piedra oscura“. Ich habe mich viel mit Erinnerung beschäftigt und werde es wieder tun, weil die Abwesenden anwesend sind, weil die Vergangenheit uns erneut widerfährt und weil es Körper gibt, die noch als Tote weiter Leid erfahren. Ein Absatz von Quignard bringt mein Anliegen auf den Punkt:

alberto conejero_ein wald in flammen

„Manche Menschen sind vergessen, ausgeschlossen vom Gedächtnis der Welt. Man muss ihnen ein bisschen klares Wasser, also ein paar geschriebene Worte überlassen, diesen alten Namen, die nicht mehr ausgesprochen werden. Man muss sich bücken und die Gräber freilegen, die unter dem Gestrüpp und den Jahrhunderten und den Steinen verlorengegangen sind. Man muss ­diesen Helden der Sagenwelt oder diesen Gespenstern der historischen Welt für einen Augenblick die Tür zu einem Buch öffnen, die im Stich gelassen wurden, weil sie der Gesellschaft kein vorbildhaftes Beispiel waren, weil ihre Heldentaten mit den gängigen ästhetischen Vorstellungen kollidierten oder weil ihre Entschlossenheit den religiösen Geboten zuwiderlief, die die Nationen im mächtigen Band des Krieges einen. Man muss denen, die zu Unrecht ausgegrenzt wurden, einen Stuhl frei lassen. Man muss ihnen ein bisschen Aufenthalt ­gewähren – einen fortbestehenden Aufenthalt – in den ‚Stunden‘, für all die ‚Jahrhunderte‘, die seit ihrem ­Leben bereits vorbeigezogen sind.“ Meine Stücke „La piedra oscura“, „La extraña ­muerte de una cupletista contada por su perro“ („Der seltsame Tod einer Couplet-Sängerin, erzählt von ­ihrem Hund“), „Paloma negra“ („Schwarze Taube“), „La geometría del trigo“ („Die Geometrie des Weizens“), „Los días de la nieve“, „Esta primavera fugitiva“ („Dieser flüchtige Frühling“) und „El mar: visión de unos niños que no lo han visto nunca“ („Das Meer: Vorstellung von Kindern, die es noch nie gesehen haben“) zeugen von diesem Ansatz. Das ist ein Theater der Gespenster, der Abwesenden, der Erlösungs- und auch Rettungsversuche. In diesem Sinne ist es ein religiöses Theater. Ich wünschte, dass an den Theaterhochschulen mehr von Simone Weil und María Zambrano gelesen würde als Grundregeln des szenischen Schreibens. In anderen Stücken habe ich auch versucht, Theater und Dichtung ganz offensichtlich, also intertextuell, miteinander zu verweben. Nicht nur in den Werken, in denen die Protagonisten Dichter sind – wie Lorca in „La piedra oscura“ oder Miguel Hernández in „Los días de la nieve“ – sondern auch z. B. in „Cómo puedo no ser Montgomery Clift?“, in dem Zitate von Hart Crane, Cole Porter und Cummings vorkommen, „Todas las noches de un día“ (mit Versen von Sylvia Plath und Idea Vilariño) und „Paloma negra“, das Gedichtzeilen von Pita Amor, María Zambrano und Concha Méndez enthält. Manche Sätze wiederholen sich in meinen Stücken wie eine glückliche Fügung, wie das Schicksal der Spuren geteilter Plazenta, der gemeinsamen Geburtsmale, wie eine Verwandtschaft in der Intertextualität. Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, gleicht für mich einem Wald in Flammen. Ich kann nicht dorthin zurückkehren, um irgendeine Poetik, irgendeine Gewissheit zu finden, mir bleibt nur der Versuch, der Versuch, weiterhin etwas von der schönen und grausamen Poesie unserer Welt auf die Bühne zu bringen. // Aus dem Spanischen von Johanna Carl

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Der Autor

Alberto Conejero (geboren 1978 in Vilches) ist Dichter, Dramatiker und Regisseur und außerdem aktuell für die künstlerische Leitung des Festival de Otoño de la Comunidad de Madrid verantwortlich. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2015 für „Todas las noches de un día“ mit dem III Certamen de Textos Teatrales de la Asociación de Autores de Teatro, 2016 für „La piedra oscura“ mit dem Premio Max als bester Theaterautor und 2019 für „La geometría del trigo“ mit dem Premio Nacional de Literatura Dramática. Zudem ist er der Verfasser der zwei Gedichtbände „Si descubres un incendio“ („Wenn du einen Brand entdeckst“) von 2016 und „En esta casa“ („In diesem Haus“) von 2020. Foto Sergio Parra


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territoriale vielfalt

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Zuhören. Eine radikal-politische Erfahrung Dokumentartheater über die Gewalt im Baskenland María San Miguel leitet seit 2012 das Ensemble Proyecto 43-2, mit dem sie die Trilogie „Rescoldos de paz y violencia“ ins Leben gerufen hat – eine theatrale Auseinandersetzung mit der baskischen Zeit­ geschichte und deren biografische Auswirkungen. In diesem Artikel beschreibt sie die Etappen und die künstlerischen und persönlichen Schlussfolgerungen dieser Reise.

von María San Miguel

1 Die baskische Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA, baskisch für „Baskenland und Freiheit“) war 1959 von linksnationalistischen baskischen Studenten als Widerstandsbewegung gegen die FrancoDiktatur gegründet worden. Bis zu ihrer Selbstauflösung im Mai 2018 kämpfte sie über Jahrzehnte für die Unabhängigkeit des Baskenlands und bediente sich dabei vorwiegend terroristischer Mittel. 2 Die Grupos Antiterroristas de Liberación (deutsch: antiterroristische Befreiungsgruppen) waren verdeckt agierende paramilitärische Gruppen, die in den 1980er Jahren sowohl im französischen als auch im spanischen Baskenland aktiv waren und die Bekämpfung der ETA und des baskischen Separatismus zum Ziel hatten.

D

iese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Dokumentartheater-Trilogie über die Gewalt im Baskenland, an der ich nun schon seit zehn Jahren arbeite. Von sämtlichen Fragen, die in dieser Zeit aufkamen und die sich jedes Mal aufs Neue stellen, wenn wir uns zu einer Probe treffen oder ein Stück zur Aufführung bringen (denn diese intensive Beziehung zum Theater und zum Leben beginnt immer wieder von vorn und endet nie), ist sie die einzige, auf die ich nach all den Jahren eine klare und konkrete Antwort habe: Ja, es gibt mehr Dinge, die uns mit anderen verbinden, als solche, die uns von ihnen unterscheiden. Ich bin geradezu besessen von der Vorstellung, das Alltägliche, das meist unbemerkt bleibt und uns dennoch grundlegend prägt, auf die Bühne zu bringen. So ist auch dieses akademische Forschungsprojekt entstanden, das sich schließlich zu einer Theatertrilogie entwickelt hat. Ich wollte herausfinden, wie der Alltag aussieht, nachdem in den Nachrichten über einen Mordfall berichtet wurde, wollte erfahren, was nach solch einem Anschlag geschieht. Wie eine betroffene Familie nach einem derartig traumatischen Ereignis weiterleben kann. Wie es sein kann, dass die Gewalt das soziale Leben bestimmt. Dass einige tradierte Vorstellungen wichtiger erscheinen als das Recht auf Leben. Und warum die nackte Angst schwerer wiegt als die Kraft der Worte. Vor allem aber wollte ich wissen, was mit all dem geschieht, was ungesagt bleibt. Denn es gibt immer etwas, was nicht erzählt wird, was nicht Bestandteil der offiziellen Berichterstattung ist, welche wir schließlich stillschweigend als die ganze, einzige Wahrheit akzeptieren, ohne uns dessen bewusst zu werden. Dabei steckt in genau diesen übersehenen

Details in der Regel das Leben selbst – oder es öffnet sich zumindest eine Tür, die den Raum für Widersprüche und andere mögliche Überlegungen zur vermeintlichen Realität freigibt, die jeweils vom Mainstream nicht thematisiert werden. Denn der Mainstream wird im Film nie Zweifel säen, was den Bösewicht betrifft; für ihn wird dieser immer böse sein. Er führt uns auch nicht den unermesslichen Schmerz vor Augen, der uns so ­fragil und verletzlich macht. Weil es einfacher ist, sein Leben zu leben, ohne um ihn zu wissen. Weil uns die Erinnerung an das, was wir sind, zermartert. Und weil diese manchmal zu schmerzhaft ist. Deshalb habe ich dieses Ensemble gegründet. Um das auf die Bühne zu bringen, was bislang niemanden interessiert hat. Um das zu erzählen, was nicht en vogue war, „denn dafür war es noch zu früh“. Mit einer Mischung aus Neugier, wilder Intuition und prägender Bildung (bereits lange vor meiner Geburt hat politisches Engagement in meiner Familie eine besondere Rolle gespielt; ich studierte Theaterwissenschaft an der Universidad Carlos III in Madrid, wo Domingo Ortega uns lehrte, die Darstellenden Künste, ganz im Sinne Federico García Lorcas und des von ihm geleiteten Wandertheaters La Barraca, buchstäblich unter das Volk und an die soziale Peripherie der Gesellschaft zu bringen) beschloss ich, genau das zu ergründen, was mein soziales und kulturelles Umfeld ausmachte. Ich gehöre zu jener Generation, die morgens zu der Radiomeldung über einen weiteren ETA1-Anschlag aufwachte und später herausfand, dass der Rechtsstaat (unser eigener, der uns ja eigentlich schützen sollte) Folterungen durch Sicherheitskräfte und Morde durch die GAL2 veranlasst hat. Deren Opfer im Übrigen bis heute nicht vom Staat als solche anerkannt worden sind. Die Interviews, die Beobachtungen und der direkte Umgang mit einer heterogenen Gruppe von Menschen, die im Rahmen des sogenannten baskischen Konflikts sehr unterschiedliche Gewalterfahrungen gemacht


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maría san miguel_dokumentartheater über die gewalt im baskenland

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„Viaje al fin de la noche“ von Proyecto 43-2, Text und Idee von María San Miguel in der Regie von Pablo Rodríguez am Teatro de La Abadía. Foto Alba Muñoz


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territoriale vielfalt

Die Autorin

María San Miguel ist Theaterschaffende, Produzentin und Schauspielerin der Trilogie „Rescoldos de paz y violencia“ („Proyecto 43-2“, „La mirada del otro“ und „Viaje al fin de la noche“). Sie leitet ihr Ensemble Proyecto 43-2. Foto Kike Para

„Proyecto 43-2“ der gleichnamigen Gruppe von María San Miguel. Fotos Alba Muñoz

haben oder dies weiterhin taten, bilden die Grundlage der gleichermaßen dokumentarischen wie politischen Arbeit, um die es in „Rescoldos de paz y violencia“ („Spuren von Frieden und Gewalt“) geht. Anfangs war mir eines nicht klar: Das, was wir machten, sprich aus dem gesamten, während der Treffen entstandenen Material, ein Stück und eine Inszenierung zu entwickeln, war Dokumentartheater. Ein sehr politisches noch dazu. Ich musste herausfinden, was abseits der Medienberichterstattung und der wenigen Bücher (vorwiegend Essaybände), die dort 2009 auf Spanisch (und nicht auf Baskisch) veröffentlicht worden waren, vor sich ging. Deshalb beschloss ich, ausgestattet mit freier Zeit und einem Tonbandgerät, ins Baskenland zu fahren. Dieses intuitive Bedürfnis hatte ich (das wurde mir erst später klar) meinem journalistischen Studienabschluss zu verdanken. Der Unterricht von José María Calleja und weiterer Dozierender in meinem geistes- und politikwissenschaftlichen Studium hatte mich nachhaltig geprägt. Die einzige Möglichkeit, alles, was ich wissen wollte, aus erster Hand zu erfahren, bestand also darin, vor Ort zu sein, gezielt Fragen zu stellen und intensiv zuzuhören. Es ging darum, all diese Erfahrungen mit nach Hause zu nehmen und dann auf das Material, die Bücher und Zeitungsausschnitte zurückgreifen zu können, um die Inszenierung mit künstlerischer Präzision auszuarbeiten (auch das eine meiner Obsessionen) und dabei niemals die Ästhetik aus den Augen zu verlieren. Dank Rafaela Romero durfte ich Menschen kennenlernen, die aufgrund ihres Werdegangs und ihrer Erfahrungen zwar durchaus zu jenen großen Gruppen zählen, die in der politischen und gesellschaftlichen Berichterstattung eine Rolle spielen, die aber im Vergleich zu denen, die in den Medien letztlich zu Wort kommen, eher unkonventionelle Standpunkte vertreten. Dadurch

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konnten wir etwas über Komplexität und Vielschichtigkeit erfahren. Das ist ebenfalls politisch. Denn das Leben ist komplex und so vielfältig wie die Dinge, die uns zu dem machen, was wir sind. Das haben wir durchs Zuhören gelernt. Und auch das ist politisch. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Neoliberalismus tief verwurzelt ist. Wir sind an den beschleunigten Konsum und an die kurzlebigen Nachrichten gewöhnt, die in Lichtgeschwindigkeit kursieren und fast genauso rasant wieder verschwunden sind. Die Schnelllebigkeit ist zu einem Lifestyle geworden. Sich hinzusetzen und stundenlang zuzuhören, was jemand über sein Leben zu erzählen hat, wurde somit unbewusst zu einem politischen Akt, der alles veränderte. Es hat uns als Menschen geprägt, weil wir andere Geschichten kennenlernen durften und weil einige unserer althergebrachten, vertrauten Vorstellungen ins Wanken gerieten. Und das wiederum hat eine Veränderung in uns als Künstler:innen bewirkt. Denn das Zuhören hat unsere Perspektive erweitert, uns zugleich aber auch mehr Verantwortung übertragen für den Prozess, diese Zeugnisse schließlich auf der Bühne zu präsentieren. Nach und nach haben wir verstanden, dass die Figuren (zusammengesetzt aus einem Mosaik unterschiedlicher Erfahrungen jener Personen mit ähnlichem Profil, die wir interviewt hatten) voller Schweigen und Widersprüche waren. Und dass dies wunderschön war. Und dass der Schritt, sie auf die Bühne zu bringen, ein spannendes Zusammentreffen all dieser divergierenden Narrative ermöglicht hat, die innerhalb der großen sozialen und politischen Gruppen existieren, und von denen wir nicht gewohnt sind, sie als Teil einer Erzählung wahrzunehmen. Dass es auf der Bühne, genau wie im Leben insgesamt, Raum für unterschiedliche Meinungen und verschiedene Lebensweisen


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im baskischen Konflikt gibt. Und dass das Theater auf der Grundlage dieser undefinierten Lücken im vorherrschenden Diskurs die Bildung neuer Narrative fördert, die etwas bewegen können, indem es ihnen eine starke Stimme verleiht und sie damit zum Leben erweckt. Dieses Bedürfnis, Neues zu entdecken und stets noch mehr zu erfahren, hat uns zum Wesentlichen geführt, zu diesem Konflikt, der unser eigener ist – auch dahin, einige der großen universellen Themen zu behandeln: Identität, Gewalt, Erbe, Schweigen und die Begegnung mit dem Anderen, dem Andersartigen. All dies steht im Zeichen der Vielfalt, das die zahlreichen Facetten aufzeigt, die eine Familie, eine soziale Gruppe, eine Nation ausmachen. Oder gleich die ganze Welt. Nach mehr als zwei Jahren des kontroversen Hin und Her, der Fragen, der langen Antworten, der poetischen Bilder und der intensiven Suche nach einem Weg, auf welche Weise wir diese Geschichte erzählen könnten, gelang es uns – vier Monate, nachdem die ETA den endgültigen Waffenstillstand erklärt hatte – „Proyecto 43-2“ („Projekt 43-2“) auf die Beine zu stellen: das Stück, das später den Anfang einer ganzen Trilogie bilden sollte. Es war kein leichtes Unterfangen. Das war es nie, weder die erste Inszenierung argumentativ zu untermauern noch die beiden darauffolgenden „La mirada del otro“ („Der Blick des Anderen“) und „Viaje al fin de la noche“ („Reise bis ans Ende der Nacht“). Auf den Dialog zu setzen und auf die Begegnung mit dem Andersartigen, was letztlich nichts anderes war als eine künstlerische Interpretation unserer Rechercheerfahrungen. Das scheint in diesem Land subversiv zu sein. Es scheint auf Unverständnis zu stoßen, oder auf mangelndes Interesse, oder beides. Aber das spielte letztlich keine Rolle, denn mit diesen ersten Begegnungen war der Grundstein bereits gelegt worden.

Nähe zu erleben, gemeinsam die Berge zu erkunden und aufs Meer zu blicken, um all den Schmerz zu verarbeiten, der sich beim stundenlangen Zuhören angestaut hatte, und in die Augen so vieler verschiedener Menschen zu blicken – all das hat einen intellektuellen und künstlerischen Impetus geweckt. Vor allem aber hat es für einen innigen Zusammenhalt gesorgt, der mir immer wieder die Kraft gegeben hat, mit diesem Projekt fortzufahren. Einen Zusammenhalt, der auch politisch ist. Und uns immer wieder aufs Neue überrascht. Denn noch 2009 hätte ich es nicht geglaubt, wenn mir jemand gesagt hätte, wer, dank uns, bei der Premiere von „La mirada del otro“ am 24. April 2015 im Baskenland im Parkett des Teatro Coliseo de Eíbar nebenein­ andersitzen würde: all die Opfer der ETA und einige der Dissidenten der Terrorgruppe (denen Ausgang aus der Haft gewährt worden war), die 2011 an den Versöhnungstreffen im Gefängnis von Nanclares de la Oca teilgenommen hatten. Oder wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich einmal ein sehr enges Vertrauensverhältnis zu einem ehemaligen ETA-Mitglied und Attentäter aufbauen würde, oder zu jenem Mann, der unermüdlich für den Frieden in unserem Land gekämpft hat, dann hätte ich auch das niemals für möglich gehalten. Aber genau das ist es, was Theater und künstlerische Prozesse leisten können: Dass Realität wird, was einst bloß in unserer Vorstellung Platz hatte: die Inszenierung alternativer Lebensweisen auf der Bühne. Und die Veränderung, die es mit sich bringt, wenn wir – so alltäglich und radikal politisch zugleich – einander zuhören und uns gegenseitig in die Augen blicken. // Aus dem Spanischen von Lea Saland

„Viaje al fin de la noche“ von Proyecto 43-2, Text und Idee von María San Miguel in der Regie von Pablo Rodríguez am Teatro de La Abadía. Foto Alba Muñoz


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Unboxing Chévere

Die verdrängten Geschichten Galiciens. Eine Rekonstruktion Mit dem ihm eigenen Sinn für Ironie öffnet Xesús Ron die Werkzeugkiste der Theaterkompagnie Chévere und gewährt Einblick in ihre dramaturgische Arbeit. Er zeigt, wie sie an ein Thema herangehen, immer politisch, immer persönlich, um dieses in ihrer einzigartigen und unnachahmlichen Theatersprache auf die Bühne zu bringen. 1 AdÜ: Ein vor allem in Lateinamerika verwendetes Adjektiv, das so viel wie ‚cool, toll, super‘ bedeutet. Es ist hier der Eigen­name der Theaterkompagnie, der der Autor angehört. 2 Wörtlich ‚aus­ packen‘. Bezieht sich auf einen Videotrend auf YouTube, bei dem jemand sich beim Auspacken eines neuen Produkts filmt.

von Xron

I

ch will (oder soll) über den besonderen Entstehungsprozess der Stücke der Gruppe Chévere1 schreiben, „wo das Fiktionale und das Dokumentarische sich ver­ mischen, wo das Politische mit dem Sarkastischen verschmilzt“. Wie bei einem Unboxing2 werde ich ­ zeigen, was es beim Öffnen der letzten beiden Produk­ tionsschachteln von Chévere, „Curva España“ und „N.E.V.E.R.M.O.R.E.“, zu entdecken gibt.

Beide spielen szenisch mit der Rekonstruktion vergangener Ereignisse und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart. Die erste der beiden Produktionen begibt sich auf die Spur eines Todesfalls, der sich vor fast hundert Jahren ereignet hat, und stützt sich dabei auf Zeugenaussagen von Menschen aus der Gegend von Verín in der galicischen Provinz Ourense. Die zweite befasst sich mit einer der größten Umweltkatastrophen der jüngsten Vergangenheit: Im November 2002 verliert der Öltanker „Prestige“ mehr als siebzigtausend Tonnen Schweröl und verursacht eine Ölpest an der Küste Galiciens, die mehr als zweitausend Kilometer Küstenstreifen von Nordportugal bis Südfrankreich verseucht.


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„Divinas Palabras" in der Regie von Xron am Teatro Español. Foto Miramemira

Der Autor

Im Beipackzettel heißt es, dass beide Schachteln Arbeiten zu Gedächtnis und Identität enthalten. Die Geschichten werden retrospektiv erzählt, steht im Kleingedruckten. Es wird empfohlen, hinter die Kulissen zu blicken, dem ­Geschehen zu lauschen und auf Details zu achten. Öffnet man den Deckel, findet man drei kleinere Schachteln. Eine erzählt, wie die Idee entsteht, eine andere, wie die Recherche abläuft, und eine weitere, wie die Dokumentation als Material für die Theaterarbeit ­genutzt wird. Und einen Warnhinweis: Es gibt keine Formel, man muss wissen, wie man nutzt oder verwirft, was an jedem Punkt des Prozesses auftaucht. Ich öffne „wie die Idee entsteht“ und nehme die Schachtel von „Curva España“ heraus. Darin findet sich eine große Karte mit dem Wort ZUFALL und dem Bild eines Taxis. Manchmal passieren Dinge plötzlich und ohne Erklärung, das kennt man ja. Das kann Zufall sein, und man muss ihn erkennen. Die Geschichte von „Curva España“ ist genau so aufgetaucht. An einem unerwarteten Ort. In einem Taxi, ohne Fluchtmöglichkeit. In der Schachtel liegt eine weitere Karte mit dem Wort LEGENDE und dem Bild einer Straße, die einen Knick macht, eine

scharfe Kurve. Der Ingenieur España stirbt im Mai 1927, als sein Auto von der Straße abkommt und eine Klippe hinunterstürzt. España prüfte zu jener Zeit den möglichen Verlauf einer Eisenbahnstrecke, die von Zamora nach Galicien führen sollte. Ein Taxifahrer erzählt die Legende, dass der Ingenieur Opfer einer Verschwörung lokaler Eliten wurde, die verhindern wollten, dass eine Zugstrecke durch diesen strategischen Ort gebaut wird. Jeder kann selbst entscheiden, wie es mit dem Unboxing an dieser Stelle weitergeht. Wir fanden spannend, dass es hier eine Geschichte gab, die sich die Leute seit fast hundert Jahren in dieser Version erzählen, die nie aufgeschrieben wurde und die außerhalb dieser Region gänzlich unbekannt war. Und wir sahen im Namen des Ingenieurs die Möglichkeit, seine Geschichte als ­Allegorie auf den Tod Spaniens zu erzählen. Wir wollten damit auf intelligente Art und Weise in die Debatte um die „Einheit Spaniens“ eingreifen, die von der extremen Rechten derzeit wiederbelebt wird, und sie mit der Realität des „leeren Spaniens“3 angleichen, dessen Ursachen auch auf den Aufbau des Spanischen Nationalstaats selbst zurückzuführen ist.

Xesús Ron (geboren 1965 in Vigo), bekannt als Xron, ist Schauspieler, Dramatiker, Regis­seur und Kulturaktivist. Gemeinsam mit Patricia de Lorenzo und Miguel de Lira ist er einer der drei Köpfe der Theaterkompagnie Chévere, in der er seit 1988 mitwirkt. Neben den beiden Stücken, die Gegenstände dieses Artikels sind, war er an Text und Regie anderer Werke beteiligt, wie beispielsweise „Divinas palabras Revolution“, „Eroski Paraíso“, „Goldi Libre“ oder „Eurozone“, alle von Chévere, die 2014 den spanischen Nationalpreis für Theater erhielten. Foto Leticia T. Blanco

3 AdÜ: „Leeres Spanien“ geht als Ausdruck auf das gleichnamige Buch des Journalisten Sergio Del Molino zurück (Wagenbach 2022) und ist ein häufig gebrauchtes Schlagwort, wenn es um entvölkerte Landstriche und demografisch wie finanziell schwache Gebiete im spanischen Hinterland geht.


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territoriale vielfalt

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„Curva España“, Text und Regie von Xesús Ron am Concello Vilagarcía de Arousa 2021. Foto Rosinha Rojo

4 AdÜ: Wörtlich ‚nie wieder‘ ist Name und Slogan einer Plattform in Galicien, die sich in Reaktion auf den Untergang des Öltankers „Prestige“ geformt und zahlreiche Demonstrationen organisiert hat. 5 AdÜ: Wörtlich ,ein großer schwarzer Spott‘ ist der Name eines gemeinnützigen Kulturvereins, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Vielzahl an künstlerischen Werken, Gedichten, Bildern, Musik, Texten und Interventionen, die im Zusammenhang mit der Bürger­ mobilisierung nach der „Prestige“Katastrophe erstellt wurden, in einem Kulturarchiv zu sammeln, öffentlich zugänglich zu machen und damit auch diese Bürgerund Kulturbewegung zu dokumentieren.

Jetzt nehme ich mir die Schachtel von „N.E.V.E.R.M.O.R.E.“ vor. Zwei weitere Karten. Auf einer steht WIR MUSSTEN ES TUN. Jeder kennt die Geschichte des Öltankers „Prestige“, und es scheint, als gäbe es nichts zu erzählen, was wir nicht schon wissen. Aber wir wussten, dass wir es früher oder später tun mussten. Weil wir dort waren. Weil sie Teil unseres kollektiven Gedächtnisses ist. Die andere Karte besagt WURMLOCH. Der Grund dafür, die Geschichte der „Prestige“ jetzt zu erzählen, liegt in der Natur der Gegenwart im Zeichen einer weltweiten Pandemie. Plötzlich öffnete sich eine Art Wurmloch, das die „Prestige“-Katastrophe und COVID-19 miteinander verbindet: Weil es dem öffentlichen Krankenhaus an der Costa da Morte an COVID-Schutzausrüstung fehlte, wurde dazu aufgerufen, noch vorhandene Bestände aus der Zeit der „Prestige“-Aufräumarbeiten zu spenden. Tausende Masken, Handschuhe, Schutzanzüge tauchten in den Lagern auf … Ich öffne nun die zweite Schachtel, die erzählt, wie die Recherche abläuft. Zuerst die von „Curva España“. Sie enthält eine Menge Zettel, von denen ich wahllos ein paar lese. • Die Geschichte vom Tod des Ingenieurs España ist nicht so sehr wegen der Ereignisse interessant, sondern weil sie aus einer ungeschriebenen kollektiven Erzählung hervorgeht, die versucht, viel mehr zu erklären als nur einen Unfalltod. • Sie gibt Antworten auf nie gestellte Fragen, erzählt als Legende getarnt von den Gründen, warum die Region vom sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt abgeschnitten blieb. • Der Autounfall legt nicht nur die Konzeption der Eisenbahntrasse, sondern auch des spanischen Nationalstaats offen.

Der Fortschrittsgedanke, der durch den Bau der Eisenbahn verkörpert wird, geht in vielen Ländern mit dem Aufbau des Nationalstaats und der Entwicklung neuer Formen sozialer und politischer Repräsentation einher. In Spanien hingegen wurde der Ausbau des Schienennetzes, das dem Land als Rückgrat und Fortschrittsmotor dienen konnte, nie abgeschlossen. Die Geschichte vom Zug, der den Ort Verín nie erreichte, ist die perfekte Metapher für das, was aus Spanien geworden ist.

Außerdem gibt es ein größeres Fach, das ELOY LUIS ANDRÉ gewidmet ist. Er ist eine Figur, die als Gegenspieler aller an der Geschichte beteiligten Akteure fungiert. Der Professor und Philosoph wurde in einem Dorf bei Verín geboren und studierte in verschiedenen Städten Europas. Er erforschte die kollektive Mentalität und stellte das Fundament der traditionellen spanischen Identität infrage. Mit einer Studie setzte er sich für den Bau einer Zugstrecke durch den Süden der Provinz ­Ourense bis zum Hafen von Vigo ein, mit Verín als strategischem Knotenpunkt, der Portugal, Galicien und den Rest Spaniens verbinden sollte. Er starb 1935, und sein Werk ist eine der vielen Leichen, die in den Massen­ gräbern der Franco-Bibliotheken begraben liegt. Die andere Schachtel quillt über an Dokumentationsmaterial zur „Prestige“. Als hätte man zwanzig Jahre lang nicht aufgehört, darüber zu schreiben. Es gibt eine riesige Sammlung an Bildern, die ich alle wiedererkenne. Das sagt heute viel mehr über uns aus, als darüber, was geschehen ist. Es sagt, wer wir sind, wie und wohin wir blicken. Es gibt zwei getrennte Fächer. Das eine enthält die Chronologie der Ereignisse zwischen dem 13. und 19. November 2002, vom ersten Notruf der „Prestige“, bis sie auf dreitausend Meter Tiefe sank. Hier befindet sich ein besonderes Dokument, das zunächst von der Regierung geheim gehalten, dann der Presse zugespielt und schließlich im Prozess verwendet wurde: die Aufnahmen aus dem Hafenkontrollturm in Fisterra. Sie klingen wie ein episches Klang­ gedicht, das nicht nur offenbart, was geschehen ist, sondern auch den Ton, den Rhythmus, die Textur und die Atmosphäre dieser Gespräche getreu aufzeichnet. Einen beschleicht das Gefühl, einen Podcast aus dem Untergrund oder eine Radiosendung zu hören, die nie gesendet wurde. Im anderen Fach befinden sich die Aufzeichnungen eines Interviews aus dem Jahr 2019 mit einer gemischten Gruppe an Leuten, die sich daran erinnern, was die „Prestige“ für sie bedeutet hat. Sie sind Teil eines lebendigen Archivs zur Erinnerung der Bewegung Nunca Máis4 einem Projekt der Unha Gran Burla Negra5. Ich glaube, wir waren die Ersten, die dieses Archiv genutzt haben. Das Interessante daran ist, dass die Interviews von einer Person gemacht wurden, die diese Zeit selbst nicht miterlebt hat, und vorher weder eine Verbin-


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xron_die verdrängten geschichten galiciens

dung zu Galicien hatte noch die befragten Personen kannte. Wir machten uns die Einstellungen, Fragen und Interessen dieser uns fremden, jüngeren Person zu eigen, um uns von den Ereignissen zu distanzieren, von denen wir selbst zu sehr betroffen waren. Mit der letzten kleinen Schachtel beende ich das Auspacken. Darin befinden sich die verschiedenen Elemente, die wir für die Inszenierung benötigen. Ich schaue mir nur ein paar näher an und greife in „Curva España“ zwei heraus. Die Entscheidung, aus dem Stück eine Art Live-Filmvorführung zu machen, fällt, nachdem wir mehrere Tage in der Stadtbibliothek von Verín verbracht und Nachbarn und Nachbarinnen gefilmt haben, die ihre Version der Geschichte über den Tod des Ingenieurs mit uns teilen wollten. Um der Legende Körper und Stimme zu verleihen, mussten sie auf der Bühne präsent sein, daher wurden einige der Aufnahmen an die Rückwand projiziert. Ausgehend von diesem Material entwickelte sich die Erzählung des Stücks, als wäre es ein Film. Das zweite ist die Gattung des Kriminal­ romans. Die Geschichte erzählt verschiedene Versionen eines Todes und lässt gewisse Fragen offen, sodass man Lust bekommt, True-Crime-Serien wie „The Jinx“, „The Staircase“, „The Keepers“ oder „Casting JonBenet“ zu sehen; oder die Kriminalromane von Conan Doyle, ­ Chesterton und besonders Borges oder Akutagawa zu

lesen, der sich zufällig 1927, nur wenige Wochen vor dem Tod des Ingenieurs, umgebracht hat. „Curva España“ kann beinahe als eine sehr freie Version seiner ­Novelle „Im Dickicht“ gelesen werden, insofern es mehr um das Problem als um die Lösung geht. Bei „N.E.V.E.R.M.O.R.E.“ haben die Dinge in der Schachtel hingegen nichts mit Medien oder dem Gebrauch dokumentarischer Mittel auf der Bühne zu tun. Es werden keine Bilder des Öltankers „Prestige“ verwendet oder projiziert, auch keine der darauf folgenden Proteste und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Es werden keine realen Aufnahmen abgespielt, stattdessen wird das dokumentarische Material live und für alle sichtbar rekonstruiert, als Teil einer szenischen Spielanordnung. Ein Spiel, das auch das Hören umfasst. Das Stück beginnt mit Meeresrauschen. Was man hört, ist aber nicht das Meer, sondern der Klang des Meeres, der von den Schauspielern vor aller Augen auf der Bühne mit verschiedenen Gegenständen erzeugt wird. Hier beginnt das Spiel. Dieser Umgang mit dem Klang wird der Rahmen des Stücks. Denn Theater ist nichts anderes, als durch Worte zu verzaubern, alltägliche Gegenstände anders zu deuten oder Geräuschen eine politische Bedeutung zu verleihen. // Aus dem Spanischen von Carola Heinrich

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„N.E.V.E.R.M.O.R.E.“, Text und Regie von Xesús Ron am Teatro María Guerrero des Centro Dramático National. Foto Luz Soria


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Das Risiko des zeitgenössischen Dramas Die Sala Beckett in Barcelona als internationales Textlabor Die Sala Beckett in Barcelona ist seit ihrer Gründung 1989 als lebendiger, einzigartiger Theaterort der Gegenwartsdramatik bekannt. Dieser Artikel lässt einige der jüngeren Arbeiten Revue passieren, die aus dieser, für das Verständnis des katalanischen und spanischen Gegenwartstheaters so bedeutenden, Theaterwerkstatt hervorgegangen sind.


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aina tur_das risiko des zeitgenössischen dramas

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von Aina Tur

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m Januar 2016 habe ich mit Toni Casares, dem Leiter der Sala Beckett, Kaffee auf dem Platz vor Can Felipa im Stadtteil Poblenou1 getrunken. Nachdem wir uns über Wünsche, Zweifel, Träume und Hoffnungen ausgetauscht hatten, wurden wir uns einig, und seitdem ge­ höre ich zum Team dieses außergewöhnlichen und ­beispielhaften Theaterprojekts, das sich der Gegenwartsdramatik widmet. Ich bin so mutig, diese beiden Adjektive zu verwenden, „außergewöhnlich und beispielhaft“, denn solche Räume sind rar, um nicht zu sagen, so gut wie nicht existent: Theaterräume, in denen Theaterausbildung, Theaterschaffen, Theaterexperimente, Forschung, Produktion und Ausbildung unter einem Dach vereint sind. Daran hat sich seit 1989 nur wenig geändert, als der ehemalige Hauptsitz der Sala Beckett im Stadtteil Gracia seine Tore öffnete, dank der Kompagnie Teatro Fronte­ rizo und ihres Leiters José Sanchis Sinisterra. Es blieben noch sechs Monate, bis die Sala Beckett ihre Wiedereröffnung feiern sollte, und alles war noch Baustelle. Doch selbst mit dem Baustaub war er wunderschön, der Ort, an dem das Projekt Beckett florieren und wachsen sollte. Wachsen, – daran erinnerte mich Casares – jedoch ohne zu verlieren, was die Spielstätte in ­Gracia ausgemacht hatte, die aufgrund des steigenden Drucks am Immobilienmarkt hatte schließen müssen. Ein Konflikt, der auch eine Chance bot und uns dazu brachte, das Projekt Beckett größer zu denken, weit­ räumiger und mit neuen Ideen für Außergewöhnliches. Mit dieser Herausforderung im Blick widmete ich mich, da ich ja nun zur künstlerischen Abteilung des Theaters gehörte, gemeinsam mit Víctor Muñoz der Spielplan­ gestaltung – den Kopf voller Ideen und einer Frage, die sowohl Casares als auch mich umtrieb: Wie lässt sich der Dialog zwischen Theater und Gegenwartsgesellschaft anstoßen und ausbauen? Man kann sich leicht vorstellen, wie mit dieser Verantwortung im Nacken, zumal unter den an der Zukunft der Sala Beckett interessierten Blicken der Stadt­ bevölkerung, aus meiner – unserer! – Besorgnis endlose Arbeitsstunden wurden: Texte bewerten, Inszenierungen sichten, Gespräche mit Künstlern führen, Spiel­ pläne verschlingen; all das im ständigen Kontakt mit dem Leiter der Sala Beckett, um nach und nach die Puzzleteile unseres Programms zusammenzufügen, neben all den anderen Dingen. Ich trainierte mir analytische Muskeln an und begann, langsam eine Vorstellung ­davon zu entwickeln, was es heißt, Autoren, Texte und Gruppen für einen so vielfältigen Spielplan zusammenzubringen, bei dem die Gegenwartsdramatik im Mittelpunkt steht und sich aus ganz unterschiedlichen Aktivitäten in den Bereichen Theaterausbildung, Theaterschaffen und Thea-

terexperimenten zusammensetzt, die zwar alle gemeinsam unter einem Dach arbeiten, aber eben auch in der Stadt, im Land, in Europa und der Welt. Der Ausgangspunkt war klar: Wir wollten all das tun, uns aber zusätzlich aktiver an den Debatten der Gegenwartsgesellschaft beteiligen, uns mit unserem ­ Theater einmischen. Wir wollten unseren Spielplan um Denk- und Debattenformate erweitern. Und das war dann auf einmal doch nicht mehr so leicht – oder zumindest kam es mir so vor. Uns blieb also nichts anderes übrig, als aufmerksam zu bleiben. Und dann ging alles ganz schnell. Die Migrationskrise im Mittelmeer stand plötzlich (leider) auf der Tagesordnung. Die Toten im Meer und die Bilder der Menschen, Opfern von Gewalt, die unter fürchterlichen Bedingungen loszogen, ohne zu wissen, wohin, fluteten unsere Bildschirme – und das machte auch etwas mit den Theaterschaffenden. Wir stellten fest, dass uns immer mehr Vorschläge zu diesem Thema erreichten und entschieden uns für eine Themenreihe: „Mar de miralls. Fluxos de migració a la Mediterrània“ (dt. „Ein Meer aus Spiegeln. Migrationsströme im Mittelmeer“), die im Herbst 2016 lief. Es ist uns gelungen, die Thematik unter künstlerischen, historischen, sozialen und politischen Gesichtspunkten zu beleuchten. Unser Plan ging auf. Wir beschlossen, das Format fortzuführen. Ich kann an dieser Stelle nicht auf sämtliche ­Arbeiten eingehen, die aus unserem Vorhaben entstanden sind, Gesprächsräume zu öffnen, die den Spielplan in Themenreihen unterteilen, einige interessante Beispiele möchte ich aber trotzdem nennen. Es scheint mir bemerkenswert, wie manche Themen zur gleichen Zeit sowohl in unser Leben als auch unsere dramatische ­Literatur eingebrochen sind. Nach dem Attentat auf den Ramblas2 erreichten uns viele Texte, in denen die Figuren von Angst und Terror verfolgt wurden, also stellten wir eine weitere Themenreihe auf die Beine: „Terrors de

Die Sala Beckett in Barcelona. Foto Adrià Goula

Linke Seite „Karaoke Elusia“ von Oriol Puig in eigener Regie in der Sala Beckett 2020. Foto Kiku Piñol

1 Poblenou ist ein Stadtteil Barcelonas, Can Felipa ein soziokulturelles Stadtteilzentrum. 2 Gemeint sind die Terroranschläge in Barcelona vom 17. August 2017. Ein Attentäter fuhr mit einem Lieferwagen durch die Menschen­menge auf Las Ramblas, dem Prachtboulevard Barcelonas. Es starben 15 Menschen, über Hundert wurden verletzt. Für den Anschlag soll eine islamistische Terrorzelle verantwortlich sein.


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territoriale vielfalt

Die Autorin

Aina Tur (geboren 1976 in Menorca) ist derzeit verantwortlich für die Programm­gestaltung der Sala Beckett in Barcelona und Mitglied des Consejo Asesor del Centro Dramático Nacional. Sie ist die Autorin mehrerer Stücke, u.a.: „Addiccions“ („Süchte“), „Evolució / Evolución“ („Evolution“), „Miércoles“ („Mittwoch“), „Es lloga habitación“ („Zimmer zu ver­mieten“), „Fotofòbia“ („Photophobia“) und „Una galaxia de luciérnagas“ („Die Galaxie der Glühwürmchen“), die u. a. in der Sala Beckett, im Maldà, La Cuarta Pared, Teatro del Barrio, Palau de la Música, Teatre Principal de Maó, Teatre Principal de Palma, bei den Festivals Grec und Temporada Alta gezeigt wurden. Darüber hinaus hat sie Essays und Erzählungen veröffentlicht. Foto privat

3 Das Institut del Teatre, Barcelonas Theaterinstitut, widmet sich der Ausbildung und Erforschung der Darstellenden Künste, klassischer Tanz, zeitgenössische Dramatik, Film, Choreografie etc. Das Institut wurde 1913 gegründet.

la ciutat. Escenaris de conflicto i de por“ (dt. „Terror der Stadt. Szenarien des Konflikts und der Angst“). Weitere folgten. Als der 30. Jahrestag der Öffnung der Sala Beckett näher rückte, der mit dem 30. Todestag des ­ ­irischen Autors zusammenfiel, stellten wir überrascht fest, dass wir gleich mehrere Konzepte auf dem Tisch liegen hatten, die um das Thema Tod kreisten. Und wir entschlossen uns, dem illustren Dramatiker eine komplette Spielzeit unter dem Motto „Memento Mori. Recordem-nos de morir“ (dt. „Memento Mori. Erinnerung ans Sterben“) zu widmen. Doch dann brachen Seuche und globale Gesundheitskrise auch über uns und das Theater herein, und wir konnten sie nicht zu Ende bringen. Ein weiteres Beispiel für den Dialog, den wir mit der Gegenwartsgesellschaft führen wollen, entstand mit der Entscheidung für die Reihe „#jotambé. Violències de gènere i estructures de poder“ (dt. „#Ichauch. Geschlechtsspezifische Gewalt und Strukturen der Macht“). Wir hatten unzählige Texte zu dem Thema erhalten und dann, nur wenige Wochen bevor das Format starten sollte, haben Missbrauchsopfer am Institut del Teatre3 ihr Schweigen gebrochen. Offensichtlich hatte das eine nichts mit dem anderen zu tun, und doch konnten wir so auf unsere Weise zur gesellschaftlichen Debatte beitragen. All das bestärkte unsere Dramatiker umso mehr darin, ihre Realität, ihre Zeitgenossenschaft, ihre Konflikte und Interessen zu reflektieren, ihre Zweifel und Nöte. Wir haben sie lediglich willkommen geheißen und versucht, einen Dialog in Gang zu setzen, zwischen ­ihnen und der Gesellschaft, die sie unterstützt, fördert, zu ihnen kommt, um ihnen zuzuhören. Viele unserer Reihen befassen sich mit kontroversen und unbequemen Themen, oder sogar mit Tabus. Das Publikum unterstützt unser Programm trotzdem, und das gibt uns Rückhalt. Die Gesellschaft braucht und sucht nach Räumen der Reflexion, um zu verstehen – und um einander zu verstehen. Das Beckett hat in den letzten fünf Spielzeiten 166 Inszenierungen gezeigt, immer um ein Gleichgewicht zwischen etablierteren Autoren und jüngeren Stimmen bemüht, zwischen den unterschiedlichen Ästhetiken, die wir unter dem Begriff Gegenwartsdramatik subsumieren. Und auch wenn wir auf zeitgenössische katalanische Dramatik spezialisiert sind, sind wir doch davon überzeugt, dass unsere Theaterlandschaft von den vielen Kontakten des Beckett mit anderen Theaterprojekten in Spanien, Europa und der Welt profitiert. Bei Entscheidungen müssen wir viele verschiedene Faktoren berücksichtigen, doch das hilft dabei, unseren persönlichen Geschmack hintanzustellen und nicht zu bequem zu werden. Unser Weg führt uns unweigerlich mitten ­hinein ins Risiko. Ich glaube, ich liege nicht falsch, wenn ich behaupte, dass mehr als 90 Prozent der Texte auf unserem Spielplan neue Texte sind. Texte, die sich vor ihrer Inszenierung an unserem Haus noch nie einem Publikum

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stellen mussten und die oft erst während der Proben zu Ende geschrieben werden. Texte, für die wir uns entscheiden, weil sie uns etwas erzählen, das uns beun­ ruhigt, weil sie uns bewegen, wütend machen, oder uns scheinbar grundlos anziehen und umtreiben. Texte junger Autoren, mit denen wir arbeiten wollen, damit sie wachsen, sich entwickeln und vor dem Publikum be­ stehen können. Texte, die es noch nicht gibt, die erst noch ­geschrieben werden müssen, und die wir deshalb blind unterstützen, weil es beim Spielplanmachen auch ­darum geht, Verbindlichkeiten einzugehen und Vertrauen zu schaffen, damit ein Autor in dem Wissen schreiben kann, dass sein Stück auch inszeniert und aufgeführt wird. Wir lesen Texte über Texte und bewerten sie – immer mit gebührendem Respekt für die Arbeit der Autoren. Es sind Autoren, die ihre Texte zum ersten Mal vor Publikum präsentieren und weder wissen, ob sie funktionieren noch, wie sie beim Publikum ankommen werden … Das Beckett ist ein Versuchslabor, und wir möchten, dass man es auch als solches wahrnimmt. Auch dann, wenn die Premiere und die anschließenden Begegnungen vorbei sind, ist unsere Arbeit noch nicht zu Ende. Von unserem Theatersaal im Poblenou aus arbeiten wir an der Förderung katalanischer Gegen­ wartsdramatik, auch dank verschiedener Kooperationsprojekte mit spanischen und europäischen Partnertheatern, ebenso mit Catalandrama, einer digitalen Plattform, von der man übersetzte Stücktexte online und kostenfrei herunterladen kann. Zum Schluss möchte ich noch betonen, dass die spanische Dramatik, mit all ihren Formen und Ästhe­ tiken, im Laufe des 21. Jahrhunderts zunehmend ihren Platz sowohl auf den nationalen Spielplänen als auch in der internationalen Theaterszene gefunden hat. Die Zahl der Dramatiker ist in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn diejenigen Theater, die Gegenwartsdramatik spielen, keine Räume der Risikobereitschaft geschaffen hätten. Solche Versuchslabore erleichtern es den Dramatikern, ihr erstes Publikum zu finden. Und durch diese neue Vielstimmigkeit des zeitgenössischen Theaters hat sich sehr viel in Bewegung gesetzt. Den zeitgenössischen Dramatikern ist es gelungen, ein unfruchtbares Erbe hinter sich zu lassen, das entstanden war durch die Kastration und Unterdrückung zu Zeiten der Diktatur, deren Ende erst 40 Jahre zurückliegt. Die zum Schweigen gebrachten Stimmen. Unser Erbe. Mit dem wir zu kämpfen hatten und mit dem wir dank der Bemühungen Einiger und der Entschlossenheit Anderer heute die Befreiung von diesem Joch feiern können. Der Vulkan ist ausgebrochen, und wir können nicht anders, als weiterzumachen und von der Gegenwart aus die Gegenwart aufs Spiel zu setzen. //

Aus dem Spanischen von Miriam Denger


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spanische theaterautor:innen im überblick

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Spanische Theaterautor:innen im Überblick QY BAZO (Puerto de la Cruz, Tenerife, 1978 und 1980) Die kanarischen Brüder Quique und Yeray Bazo decken mit ihrer künstlerischen ­Arbeit ein breites Spektrum an Themen und theatralen Ansätzen ab – von Science-­ Fiction, Wissenschaft, Zeitgeschehen bis hin zu Poesie und dem Theater der Erinnerung. Derzeit schreiben und arbeiten sie in Kooperation mit dem Theater Sala Cuarta Pared (Premio Nacional de Teatro 2020). Ihre „Texte La rebelión de los hijos que nunca tuvimos“, „Nada que perder“ sowie „Última transmisión“ wurden in bedeutenden Theatern und Festivals in Spanien und Portugal gezeigt. Am Theater an der Ruhr, Mülheim war der Abend „Tres días sin Charlie“ (Übersetzung von Miriam Denger) zu sehen, der sich als vielstimmige Collage aus social-media und anderen Medienkommentaren mit den Ereignissen rund um die Anschläge auf die Redaktion der französischen SatireZeitschrift Charlie Hebdo auseinandersetzt. In ihrem Theatertext „Fuego“, den sie gemeinsam mit der Theaterkompanie La Joven entwickelt haben, befassen sie sich mit zwei Ereignissen der Nazi­ geschichte: Den Abend nach Hitlers Ansprache an die Jugend auf dem Reichsparteitag 1934 und den Vorabend der Reichspogromnacht 1939 – das Drama einer manipulierten Jugend.

ROCÍO BELLO (Lugo, 1978) Von ihrem Geburtsort Lugo, wo sie in Kontakt mit dem Universitätstheater kam, zog sie nach Madrid und studiert Schauspiel, Szenisches Schreiben und Fotografie. 2014 bearbeitet sie „Fuente Ovejuna“ von Lope de Vega für die Asociación José Estruch und war damit bei Festivals in ­Almagro und Olite zu Gast. Ihre Arbeit ist vielfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie 2016 zusam-

men mit Javier Hernando den ASSITEJ Preis für Kinder- und Jugendtheater für das Stück „Estrellas y agujeros negros“. Sie arbeitet in Projekten wie „La Riña“ (2016 am Teatro Español), „KRAK“ (Centro Arte Atlántico Moderno de Las Palmas, 2017), „Atlántida“ und „Las Explicaciones“ mit dem Theaterkollektiv Los Bárbaros zusammen. Seit 2014 leitet sie die städtische Schule für Darstellende Künste in Madrid. 2019 wurde ihr Stück „Mi película italiana“ (dt. „Mein Italienfilm“, übersetzt von Charlotte Roos, Drei Masken Verlag) am Teatro Español uraufgeführt. Mit „Mein Italienfilm“ nahm sie 2022 am Wettbewerb um den Internationalen Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts teil.

ROGER BERNAT (Barcelona, 1968) Als Dramatiker ist Roger Bernat auf partizipatives und immersives Theater ­ spezialisiert. 2017 wurde er mit dem ­ ­S ebastià-Gasch-d’Arts-Parateatrals-Preis ausgezeichnet. 20 Jahre zuvor, 1997, gründete er gemeinsam mit Tomás Aragay das General Elèctrica, ein Zentrum für Tanz und Theater in Barcelona, das bis 2001 aktiv war. Bernat hat zahlreiche Theaterprojekte konzipiert und inszeniert, wie z. B.: „10.000 kg“ (Premio Especial de la Crítica de Barcelona 96/97); „Confort Domèstic“ (Premio de la Crítica al Mejor Texto Dramático 97/98), „Àlbum, Trilogia 70“, „Bones Intencions“ und die Serie „Bona Gent, LA LA LA LA LA, Amnèsia de Fuga o Tot és perfecte“. 2008 begann Bernat mit Stückentwicklungen, ausgehend von Dokumenten, Protokollen und historischen Inszenierungen, bei denen die Gemeinschaft zum Haupt­ ­ darsteller wird. Statt individueller Schau­ spieler:innen, die Figuren verkörpern, steht nun das Publikum selbst im Zen­ trum, welches zum Kollektiv wird – nicht

selten in ironischer Art und Weise. Zu diesen Arbeiten gehören: „Domini públic“ (2008), „La consagració de la primavera“ (2010), „Please, continue: Hamlet“ (2011), „Pendiente de voto“ (2012) und „We need to talk“ (2015). 2017 nahm er mit „The place of the thing“ an der documenta 14 in Kassel teil. Seine Arbeiten waren in mehr als 25 Ländern zu sehen.

PACO BEZERRA (El Alquián, Almería, 1978) Sein Stück „Dentro de la tierra“ (dt. „Unter der Erde“) wurde 2007 mit dem Premio Calderón de la Barca und zwei Jahre später mit dem Nationalpreis für dramatische ­Literatur ausgezeichnet. Das Stück wurde in der Übersetzung von Franziska Muche in Göttingen uraufgeführt, wo auch andere Stücke des vom Gustav ­ Kiepenheuer Bühnenvertrieb vertretenen Autors gespielt wurden. In deutscher Sprache liegen vor: „Grooming“, „El pequeño poni“ („Das kleine Pony“) und „LU“ („Lu – Die vergessene Frau“). Da­rüber hinaus hat er gemeinsam mit dem Regisseur Luis Luque Klassiker adaptiert, darunter „Ödipus“, „Phädra“ und „Die Zofen“. Zuletzt wurde er für sein neuestes Stück „Muero porque no muero (la vida doble de Santa Teresa)“ vom spanischen Autoren- und Verlegerverband SGAE mit dem Premio Jardiel Poncela ausgezeichnet.

LOLA BLASCO (Alicante, 1983) Schriftstellerin, Opernlibrettistin, Theater­ regisseurin, Schauspielerin und Dozentin. Sie studierte Szenisches Schreiben an der Real Escuela Superior de Arte Dramático, absolvierte als Jahrgangsbeste einen ­Master in Kulturwissenschaften der Universidad Carlos III in Madrid und promovierte anschließend mit Auszeichnung. Mehr als ein Dutzend ihrer Stücke wurden


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service

in den wichtigsten öffentlichen und privaten Theatern Spaniens inszeniert. Zu ihren bedeutendsten Auszeichnungen als Dramatikerin gehört der spanische Nationalpreis für Dramatik für ihr Stück „Siglo mío, bestia mía“ („Meine Zeit, mein Tier“, Übersetzung von Franziska Muche, Neofelis Verlag), das 2017 am Teatr przy Stole in Polen szenisch gelesen und 2020 am Centro Dramático Nacional in Madrid in der Regie von Marta Pazos uraufgeführt wurde. Lola Blasco trat darin auch als Schauspielerin auf. Ihre Texte wurden in fünf Sprachen übersetzt und waren an internationalen Theatern zu sehen, u. a. dem Deutschen Theater in Berlin.

LUCÍA CARBALLAL (Madrid, 1984) Autorin von mehr als 10 Theaterstücken. Darunter „La actriz y la incertidumbre“, „Las bárbaras“, „Los temporales“ (alle drei uraufgeführt am Centro Dramático Nacional) und „La resistencia“ (Teatros del Canal). Mit „Una vida americana“, das am Teatro Galileo uraufgeführt wurde, war sie unter den Finalist:innen um den Autor:innenpreis beim Premio Max. Von ihren früheren Arbeiten sind zu nennen „A España no la va a conocer ni la madre que la parió“, das den Premio Eurodram gewann und in Ko-Autorschaft mit Víctor Sánchez Rodríguez entstand. Außerdem „Mejor historia que la nuestra“, das beim Premio Marqués de Bradomín ausgezeichnet wurde. 2019 war sie eine der sieben europäischen Dramatiker:innen, die von Simon Stephens eingeladen wurden, am internationalen Dramatiker:innen-Treffen in der Sala Beckett in Barcelona teil­ zunehmen. Ein längerer Aufenthalt als Gaststudentin führte sie an die UdK Berlin.

JORDI CASANOVAS (Vilafranca del Penedès, Barcelona, 1978) Sein Werk als Dramatiker und Regisseur (u. a. der Gruppe Flyhard) zeichnet sich durch eine große Vielfalt an Themen und Genres aus. Er verfasste über 30, vielfach mit Preisen bedachte Theatertexte. 2018 gewann er mit dem Stück „Jauría“ den Premio Max. Das Stück basiert auf Gerichtsprotokollen und Medienberichten zu den Prozessen gegen eine in Spanien als

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„La Manada“ (Das Rudel) bekannte Gruppe von Vergewaltigern. Ein als zu milde angesehenes Gerichtsurteil für ihre Taten hatte 2016 im Land für große Empörung gesorgt. Zuletzt entstanden die Schwarze Komödie „Sopar amb batalla“ (2021), „Alguns dies d’ahir“ (2020), „Mala broma“ (2018), die Dokufiktion „Kitchen“, (2021), das von Sergi Belbel inszenierte (Hör-)Stück „Mala sort“ („Pech gehabt“), und, zusammen mit Cristina Clemente, das Kinderstück „Luna en Marte“ sowie das Hörstück „Los principios/Las parejas“. In deutscher Sprache liegt Casanovas, mit dem Premio Butaca ausgezeichnetes, Stück „La Revolución“ („Die Revolution“, übersetzt von Ursula Bachhausen, Anthologie „Neue Theaterstücke aus Katalonien“ von Theater der Zeit) vor.

GUILLEM CLUA (Barcelona, 1973) Dramatiker, Drehbuchautor und Theaterregisseur. 2001 begann seine Zusammenarbeit mit der Sala Beckett, für die er von da an Stücke schrieb. Dank seiner jour­ nalistischen Ausbildung zögert er als Dramatiker nicht, aktuelle und schlag­ ­ zeilenträchtige Themen aufzugreifen: bewaffnete Konflikte, die Klimakrise und Nationalismus. Zu seinen Arbeiten zählen die politischen Stücken „La piel en llamas“, „El sabor de las cenizas“, „La golondrina“, die epischen Dramen („Marburg“, „Invasión“, „Justícia“ ), aber auch Musicals („Killer, 73 raons per deixar-te“) und Tanztheatershows („Muerte en Venecia“, „En el desierto“) sowie Klassikeradaptionen („Ilíada“, „La revoltosa“) und Komödien („Smiley“, „Al damunt dels nostres cants“). Cluas Stücke wurden mehrfach preisgekrönt (u. a. premio de teatro Ciutat d’Alcoi und premio Serra d’Or für den ­besten Text des Jahres) und in mehrere Sprachen übersetzt. 2020 erhielt er den Nationalen Preis für Dramatik, für sein Stück „Justicía“. In deutscher Übersetzung (von Stefanie Gerhold, Hartmann & Stauffacher) erhältlich ist das 2-Personenstück und queere Love Story „Smiley“ (2012), das in Spanien 2022 als NetflixSerie adaptiert wurde, sowie das Monumentalwerk, das den Autor bekannt machte: „Marburg“ (Übersetzung von Stefanie Gerhold), das in vier Paral­ lel­

episoden von einer weltumspannenden Epidemie erzählt.

CARLOS CONTRERAS (Burgos, 1980) Gilt als einer der interessantesten zeit­ genössischen spanischen Lyriker und Dramatiker. Ausgezeichnet mit wichtigen Preisen, darunter der internationale Poesiepreis Leonor, der Theaterpreis Marqués de Bradomín, den er 2010 für sein Stück „Verbatim Drama“ (Übersetzung von Franziska Muche) erhielt, der Preis für junge Lyriker des spanischen Radio­ senders Radio Nacional de España, der Theaterpreis des spanischen Autoren-­ und Verlegerverbands SGAE, den er 2012 für sein Stück „Amargura 275“ über den spanischen Schriftsteller Miguel Mihura ­ erhielt oder der Premio Calderón de la Barca, mit dem 2013 sein Text „Rukeli“ über den gleichnamigen, im Dritten Reich ermordeten Profiboxer ausgezeichnet ­wurde.

LLUÏSA CUNILLÉ (Badalona, 1961) Dramatikerin mit einer beinahe 50 Stücke umfassenden Publikationsliste, darunter sowohl eigene und in Kooperationen entstandene als auch Adaptionen und Fassungen fremder Texte. Cunillé erhielt 2010 für ihr Stück „Aquel aire infinito“ als erste Frau den (spanischen) Nationalen Preis für dramatische Literatur. Ihr Stück „Barcelona, Mapa de sombras“ von 2004 wurde 2007 mit dem Premio Max für das beste Stück ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde ihr auch der Katalanische Nationalpreis für Dramatik zugesprochen. Als Schülerin und erklärte Anhängerin José Sanchis Sinisterras (bei dem sie drei Jahre Szenisches Schreiben am Theater Sala Beckett studierte) gründete sie 2005 mit dem Regisseur Paco Zarzoso und der Schauspielerin Lola López die Theatergruppe Hongaresa de Teatre und 2008 mit dem Autor und Regisseur Xavier Alberti und Lola Davó die Gruppe Reina de la Nit. Cunillé war langjährige Haus­ autorin am Teatre Lliure. In deutscher Übersetzung (von Thomas Sauerteig) liegen die beiden Kammerspiele „Occisió“ („Tötung“), ein Thriller, und „Après moi, le déluge“ („Nach mir die Sintflut“), ein


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afrikanisch-europäischer Dialog, vor. „Nach mir die Sintflut“ feierte 2012 am Theater Aalen in der Regie von Jürgen Bosse seine deutschsprachige Premiere. Beide Stücke sind bei Hartmann & Stauffacher erschienen, „Nach mir die Sintflut“ ist außerdem in der bei TdZ erschienenen Anthologie „Neue Theaterstücke aus Katalonien“ zu finden.

RAÚL DANS (A Coruña, 1964) Ist einer der bedeutendsten und produktivsten Dramatiker in galicischer Sprache. Er begann seine Laufbahn als Schauspieler bei der geschichtsträchtigen galici­ schen Truppe Luís Seoane in La Coruña. 1993 trat er mit „Matalobos“ (Premio Rafael Dieste für Theatertexte) unter die galicischen Theaterautor:innen; im Folgejahr erhielt er den Theaterpreis Álvaro Cunqueiro für das Stück „Lugar“, das 2000 im Centro Dramático Galego in Santiago de Compostela Premiere feierte. 2010 wurde er nochmals mit dem Theaterpreis Álvaro Cunqueiro geehrt, diesmal für sein Stück „Chegamos despois a unha terra gris“, das im darauffolgenden Jahr zudem den Theaterpreis des galicischen Schriftstellerverbands AELG gewann. Für „Unha corrente salvaxe“ erhielt er 2012 zum zweiten Mal den katalanischen Premi Born de Teatre, der ihm 1997 bereits für das Stück „Derrota“ verliehen worden war. Letzteres wurde 2011 in der Regie von Edith Obregón von der Kompanie Argos Teatro in Havanna uraufgeführt. 2015 erhielt er den XXIV Theaterpreis Jardiel Poncela des Schriftstellerund Verlegerverbands SGAE für sein Stück „As cancións que lles cantaban aos cativos“, einem Text, der das Ende der ­ Terrorgruppe ETA behandelt und die ­Themen Schuld, Vergebung und Erlösung.

DENISE DESPEYROUX (Montevideo, 1974) In Uruguay geborene Dramatikerin, Regisseurin, Schauspielerin, Dozentin und Drehbuchautorin, ist im Alter von drei Jahren mit ihren Eltern nach Spanien emigriert und lebt in Madrid. Sie hat mehr als zwanzig Stücke in Städten wie Madrid, Barcelona, Bilbao, Montevideo, MexikoStadt, Buenos Aires und London zur

spanische theaterautor:innen im überblick

­ ufführung gebracht, darunter viele von A privaten, andere wiederum von öffentlichen Theatern produziert, wie dem Centro Dramático Nacional, dem Teatro Español und dem Teatro Arraiga. Dank Titeln wie „La Realidad“, „Carne Viva“, „Los dramáticos orígenes de las galaxias espirales“ und „Ternura Negra“ („Dunkle Zärtlichkeit“, übersetzt von Jamie Román Briones und Hartmut H. Forche, Litag Theaterverlag) sowie „Un tercer lugar“ („Die Stunde bevor wir ein Traumpaar wurden“, übersetzt von Franziska Muche, Neofelis Verlag) gilt sie als eine der einzigartigsten und interessantesten Stimmen der zeitgenössischen spanischen Dramatik. Ihre Stücke wurden ins Katalanische, Baskische, Englische, Französische, Deutsche, Italienische, Griechische, Rumänische und Japanische übersetzt.

FERRÁN DORDAL (Barcelona, 1979) Dramatiker und Regisseur. Seit 2004 verschiedene Arbeiten, darunter „To the Happy Few“ (2006), „Memòries dels temps de la immaduresa“ (2007), „La gran mentira“ (2016) und „Telepatisches Café con Alexander Manuiloff“ (2016). Arbeitet seit 2012 mit der Agrupación ­Señor Serrano (2015 Silberner Löwe bei der Biennale in Venedig) zusammen und ist weltweit auf Tour. Er ist Ko-Autor u. a. der Inszenierungen „A House in Asia“ (2014), die 2017 beim Festival Adelante zu sehen war, sowie der Arbeit „Birdie“ (2016), die beim Gastlandauftritt Spaniens beim Heidelberger Stückemarkt 2022 zu sehen war. Zuletzt entstanden die Arbeiten „Kingdom“ (2018) und „Garden Center Europa“ (2019). Als Dramatiker und Dramaturg hat er außerdem u. a. mit Àlex Rigola, Carlota Subirós, Alicia Gorina oder Silvia Delagneau zusammengearbeitet. Seit 2015 gehört er zum Redaktionsteam der von der Sala Beckett herausgegebenen Zeitschrift (Pausa.), die er seit 2017 leitet.

MARÍA FOLGUERA (Madrid, 1984) Schriftstellerin, Theaterautorin, Regisseurin und aktuell künstlerische Leiterin des Teatro Circo Price in Madrid. Zu ihren ­Stücken zählen „La blanca“ (2016), „La

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guerra según Santa Teresa“ (2013) und „La fuerza de la sangre“ (2018). Für „Hilo debajo del agua“ erhielt sie 2009 den Premio Valle-Inclán für Theatertexte. Sie hat das zweiteilige Projekt „Sendero Fortún“ zum Gedenken an die Kinderund Jugendbuchautorin Elena Fortún am Centro Dramático Nacional geleitet und beide Arbeiten inszeniert: „Celia en la Revolución“ von Elena Fortún in einer ­ Fassung von Alba Quintas (2019) und ihr eigenes, von Fortúns Werken inspiriertes Stück „Elena Fortún“ (2020). Ihre Inszenierung von Carla Guimaraes’ Stück „La historia increíble de la chica que llegó la última“ („Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde“, deutsche Übersetzung von Franziska Muche) war 2014/15 auch in Deutschland (Wiesbaden, Mühlheim) zu sehen. Im Jahr 2016 erschien ihr Roman „Los primeros días de Pompeya“ im Verlag Caballo de Troya. Sie gab gemeinsam mit Carmen G. de la Cueva 2019 die ­Anthologie „Tranquilas. Historias para ir solas por la noche“ (Verlag Lumen) heraus, die 14 ­ ­autofiktionale Erzählungen aktueller Schrift­ stellerinnen Spaniens und auch eine ihrer Erzählungen enthält. Zuletzt wurde ihr Roman „Hermana. ­(Placer)“ 2021 im Verlag Alianza veröffentlicht.

PACO GÁMEZ (Úbeda, 1982) Dramatiker, Schauspieler, Regisseur und Dozent. Er wurde mit zahlreichen renommierten Preisen bedacht, u. a. mit dem Premio Lope de Vega, dem Premio Calderón de la Barca und dem Premio Jesús Campos de la Asociación de Autoras/es de Teatro. Darüber hinaus gewann er den ­Komödienwettbewerb des Teatro Español, schaffte es unter die Finalisten für den Premio Max als Bester Nachwuchsautor und belegte im Mai 2022 beim Dra­ma­ tiker:innenwettbewerb des Teatro Español den ersten Platz. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Inquilino (Numancia 9, 2º A)“ („Mieter“, übersetzt von Franziska Muche und Lea Saland, Neofelis Verlag), „Katana“ oder „El suelo que sostiene a Hande“ („Der Boden, der Hande trägt“, übersetzt von Franziska Muche) sowie „Eneida: playlist para un continente a la deriva“ und „Las Calatravas“. Seine Stücke wurden u. a. am Centro Dramático Na-


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cional, dem Teatro Real, dem Teatro del Canal, dem Teatro Circo Price, dem Teatro Pavón Kamikaze, dem Gala Theater in Washington D.C. und dem Teatro de la Zarzuela gezeigt und ins Englische, Französische, Deutsche, Italienische, Por­ tugiesische, Baskische, Katalanische, ­Rumänische und Polnische übersetzt.

RODRIGO GARCÍA (Buenos Aires, 1964) Schriftsteller, Dramatiker, Theaterregisseur und Bühnenbildner, lebt seit 1986 in Spanien. Kurz nach seiner Ankunft dort gründete er die Kompagnie La Carnicercía Teatro, in Madrid, die damals großen Einfluss auf das Off-Theater ausübte. Charakteristisch für Garcías Werk sind seine wütenden Texte, die mit der westlichen Zivilisation abrechnen, sowie sein radikal körperbetontes und konsumkritisches Theater. Garcías Stücke wurden im Centro Dramático Nacional und den Teatros del Canal in Madrid gezeigt, ebenso auf dem Festival d‘Avignon und der Biennale in Venedig. Er erhielt 2009 den Premio ­ ­Europa de Nuevas Realidades Teatrales, von 2014 bis 2017 leitete er das Centre Dramatique Nationale de Montpellier in Frankreich. Auch in Deutschland ist seine Arbeit bekannt, seit 2001 gastierte er regelmäßig beim F.I.N.D.-Festival der Ber­ liner Schaubühne. In deutscher Über­ setzung liegen vor: „Notas de Cocina“, (1994) („Küchennotizen“, übersetzt von Dorothea Köhler), „After Sun“ (1994, über­setzt von Susanne Hartwig), „Prefiero que me quite el sueño Goya a que lo haga cualquier hijo de puta“ („Soll mir lieber ­ Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch“, übersetzt von Philipp Löhle, 2004) und „Gólgota Picnic“ („Picknick auf Golgatha“, übersetzt von Klaus Laabs, 2011). Aufführungsrechte der vier genannten Stücke liegen bei henschel Schauspiel.

MAR GÓMEZ GLEZ (Madrid, 1977) Soziologin, Schriftstellerin und Hochschullehrerin (promoviert an der New York University). Sie veröffentlichte die Romane „Una pareja feliz“ (Finalistin beim ­Premio Nadal 2021), „La edad ganada“ (2015) und „Cambio de sentido“ (2010) sowie das Kinderbuch „Acebedario“

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(2005). Ihre Stücke wurden international gespielt, so etwa in Deutschland und ­Österreich („Numbers“, 2017), in Spanien („Petra y Carina“, 2017, „Fuga mundi“, 2016, „39 Defaults“, 2014), Indien („Numbers“, 2016) und den USA („Wearing Lorca’s Bowtie“, 2011, „39 Defaults“, 2012-2016, „Coldwater“, 2014 oder „Numbers“, 2015). Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 2020 gemeinsam mit Nieves Rodríguez Rodríguez mit dem Carlota-Soldevila-Stipendium des Teatre Lliure, dem Leonardo-Stipendium der Fundación BBVA 2017, der Hot-Desk-International-Residency der Center Stage Baltimore 2014, dem Premio C ­ alderón de la Barca 2011 für Numbers und dem ­Premio Beckett 2007 für „Fuga mundi“.

EVA HIBERNIA (Logroño, 1973) Dramatikerin, Theaterregisseurin, Lyrikerin und Autorin, war von 2006 bis 2009 im Rahmen eines Stipendiums Hausautorin am Teatro Nacional de Catalunya. ­Neben diesem Theater wurden ihre Stücke u. a. im Teatro Español, in der Sala Cuarta Pared oder der Sala Beckett sowie auf nationalen und internationalen Festivals ­ gezeigt. Sie ist Mitbegründerin des Ensembles Delirio, für das sie zehn Jahre lang in verschiedenen Formaten Regie führte, u. a. bei „Trece Rosas“ (neben ­Júlia Bel, der Autorin und Ko-Regisseurin des Stücks, wurde sie hierfür mit dem III Premio Nacional de directoras Torrejón de Ardoz ausgezeichnet). Auf Deutsch liegt ihr Stück „La Sal“ („Salz“, übersetzt von Hans Richter, Zuckerhut Theaterverlag) vor. Zu ihren neuesten Werken gehören „Verde rabia“ (2019), „Aura“ (2020), „El sabor de la granada“ (2020) und „El sueño de un hombre clave“ (2021). Das Musiktanztheater „Mexico Aura: The Myth of Possession“, für das Eva Hibernia mit John von Düffel das Libretto schrieb, wurde im Juli 2022 im Berliner Humboldt Forum in Koproduktion mit der Neuköllner Oper uraufgeführt.

JUAN MAYORGA (Madrid, 1965) Dramatiker, Regisseur, Dozent, Philosoph und Mathematiker. Er ist Mitglied der Real Academia Española und seit 2022

künstlerischer Leiter des Teatro de la Abadía in Madrid. In diesem Jahr gewann er die höchste spanische Auszeichnung, den weltweit renommierten Prinzessinvon-Asturien-Preis in der Sparte Literatur. Mayorga gehört zu den bedeutendsten Dramatikern Spaniens. Unter seinen zahlreichen Theaterstücken sind „El chico de la última fila“ („Der Junge in der Tür“, übersetzt von Stefanie Gerhold, Verlag Hartmann & Stauffacher) – von François Ozon fürs Kino adaptiert; der Film mit dem Titel „Dans la maison“ wurde auf dem Filmfestival von San Sebastián mit der Goldenen Muschel geehrt –, sind besonders „Animales nocturnos“, „Hamelin“, „Cartas de amor a Stalin“, „Camino del cielo“ („Himmelweg“, übersetzt von Stefanie Gerhold, Neofelis Verlag), „La paz perpetua“, „El cartógrafo“ („Der Kartograph“, übersetzt von Stefanie Gerhold, Verlag Hartmann & Stauffacher) und „El Golem“ hervorzuheben, sein jüngstes Werk, das 2022 am Centro Dramático Nacional uraufgeführt wurde. Mayorga wurde bereits drei Mal mit dem Premio Max als Bester Dramatiker bedacht, 2007 erhielt er den Premio Nacional de Teatro, 2009 den Premio Valle-Inclán und 2013 den Premio Nacional de Literatura Dramática (s. „Was macht das Theater, Juan Mayorga?“ in TdZ 10/22).

DANIEL J. MEYER (Buenos Aires, 1982) Schauspieler, Regisseur und Dramatiker. Er lebt seit zwei Jahrzehnten in Barcelona und ist nach eigenen Aussagen „das sesshafteste Mitglied“ einer „jüdischen (nicht sonderlich gläubigen) Familie mit deutschen, polnischen, russischen, moldawischen und vielen anderen Wurzeln“, in der selten zwei Generationen in einem Land geblieben sind. Er ist Mitbegründer der Kompanie Descartable Teatre, für die er die Stücke schreibt und Regie führt, darunter „Fusells“ (eine freie Version des Stücks von B. Brecht) und „Abans“. Daniel J. Meyer ist Autor des Stücks „A.K.A“. („Also Known As“) (übersetzt von Carola Heinrich und Hedda Kage, Neofelis Verlag), das bereits in neun Sprachen übersetzt worden ist. Die Uraufführung in der Regie von Montse Rodríguez fand in der Sala Flyhart in Barcelona statt und erhielt eine Reihe von Preisen u. a. bei den


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Premios Teatre Barcelona 2018, den Premios Butaca 2018 und den Premios Max 2018, jeweils in gleich mehreren Kategorien.

JOSEP MARIA MIRÓ (Prat de Lluçanès, Barcelona, 1977) Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur. Studium des Journalismus an der Universidad Autónoma de Barcelona. Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und in noch mal so vielen Ländern inszeniert. Er wurden mit zahl­reichen Preisen ausgezeichnet, darunter 2006 der Nebenpreis des Premio Marqués de Bradomin, zweimal der Premi Born de ­Teatre – 2009 für „La mujer que perdía todos los aviones“ und 2011 für „El principio de Arquímedes“ („Das Archimedische Prinzip“, deutsch von Nicola Tuschwitz, henschel), seinem berühmtesten Stück, das 2015 unter dem Titel „El virus de la por“ von Ventura Pons verfilmt wurde. Mit „Tiempo salvaje“ gewann er 2019 den Premio Max als wichtigster Theaterautor sowie 2020 ein drittes Mal den Premi Born de Teatre mit „El cuerpo más bonito que se habrá encontrado nunca en este lugar“. Auf Deutsch liegen außerdem vor: „La traverssia“ (dt. „Cecila“) und „Fum“ (dt. „Rauch“), beide henschel.

JOSÉ MANUEL MORA (Sevilla, 1978) Dramatiker, Dramaturg und Dozent mit einer umfangreichen und beachtlichen ­ nationalen wie internationalen Laufbahn. Seine Stücke wurden u. a. am Centro Dramático Nacional, dem Teatro de la Abadía, dem Matadero Madrid und dem Teatro Español gespielt. Seine Texte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und international gezeigt, u. a. beim Interna­ tionalen Theaterfestival in Budapest, dem Royal Court Theatre in London, dem ­Panorama Sur in Buenos Aires sowie dem TR Warszawa in Warschau. Sein Stück „Mi alma en otra parte“ („Meine Seele anderswo“, übersetzt von Franziska Muche, Theaterverlag Korn-Wimmer) wurde 2008 beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens szenisch gelesen; 2012 nahm José Manuel Mora an dem Internationalen Forum der Berliner Festspiele teil. Er hat eine Reihe von Preisen erhalten, u. a. den Theaterpreis der Fundación SGAE für

spanische theaterautor:innen im überblick

„Los cuerpos perdidos“ („Die verlorenen Körper“, übersetzt von Franziska Muche, Theaterverlag Korn-Wimmer), den Nebenpreis des Premio Marqués de Bradomín für sein Stück „Cancro“ (übersetzt von Franziska Muche, Theaterverlag Korn-Wimmer) sowie schließlich den Premio Max für „Los nadadores nocturnos“ („Schattenschwimmer“, übersetzt von Franziska Muche, Neofelis Verlag), das 2014 beim Festival Fringe14 in ­Madrid in Regie von Carlota Ferrer uraufgeführt wurde. Derzeit leitet er die ­Escuela Superior de Arte Dramático de Castilla y León in Valladolid und ent­ wickelt dort den Masterstudiengang Pensamiento y Creación Escénica Contemporánea (Denk- und Schaf­ fensprozesse im Gegenwartstheater).

BORJA ORTIZ DE GONDRA (Bilbao, 1965) Einer der namhaftesten baskischen Autoren. Der Dramatiker und Romanautor hielt 1995 mit dem Gewinnerstück des Premio Marqués de Bradomín „Dedos (vodevil negro)“ einen fulminanten Einzug in die Welt der Theaterautor:innen. Vier Jahre später wurde das Stück im Centro Dramático Nacional uraufgeführt. Ebenfalls mit dem Premio Calderón de la Barca bedacht wurde „Mane, Thecel, Phares“ (1997). Zuletzt wurde er 2017 von der Stadt Getxo mit dem Premio Aixe Getxo für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. Dessen Krönung ist die autofiktionale Trilogie, die auf seiner Familiengeschichte beruht, mit „Los Gondra (una historia vasca)“, Premio Max als bester Theaterautor 2018, „Los otros Gondra (relato vasco)“, Premio Lope de Vega 2017 und „Los últimos Gondra (memorias vascas)“, uraufgeführt 2021 im Centro Dramático Nacional. Aus demselben Material entstand der Roman „Nunca serás un verdadero Gondra“, der 2021 erschien.

ITZIAR PASCUAL (Madrid, 1967) Dramatikerin, Pädagogin, Wissenschaftlerin und Journalistin. Sie ist Autorin von mehr als 60 Theaterstücken (viele davon in mehrere Sprachen übersetzt). Auf Deutsch liegt ihr Stück „Moje holka, moje holka“ (übersetzt von Stefanie Gerhold,

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Theaterverlag Korn-Wimmer) vor. 2019 erhielt sie den Nationalpreis für Kinderund Jugendtheater, ein Bereich, in dem sie sich sowohl als Autorin als auch Wissenschaftlerin profiliert hat. Sie wurde in Informationswissenschaften an der Universität Complutense in Madrid promoviert und erhielt einen Abschluss in Szenischem Schreiben von der RESAD (Real Escuela Superior de Arte Dramático), wo sie seit 1999 als Dozentin tätig ist. Als Wissenschaftlerin veröffentlichte sie die Monografie „Suzanne Lebeau. Las huellas de la esperanza“ und wurde mit dem ­Premio Victoria Kent der Universität von Málaga ausgezeichnet.

ALMUDENA RAMÍREZ-PANTANELLA (Madrid, 1988) Die Dramatikerin, Drehbuchautorin, Regisseurin ist derzeit Stipendiatin der Real Academia de España in Rom. Sie pro­ moviert in Literaturwissenschaften an der Universidad Complutense und ist als Dozentin für Dramaturgie und Regie an ­ Hochschulen und Kultureinrichtungen tätig. 2015 erhielt sie den Premio Nacional de Teatro Calderón de la Barca für „Los amos del mundo“. Während einer Residenz am französischen CNES Chartreuse de Villeneuve Lez Avignon entstand das Stück „Quirófano“, das die Autorin am Centro Dramático Nacional selbst inszenierte, am Royal Court Theatre in London, bei einer weiteren Residenz, schrieb sie das Stück „Golpe de gracia“. Mit einer Unterstützung durch ein Stipendium des Instituo Nacional de las Artes Escénicas y de la Música konnte sie ihr Stück „Regurgitar“ („Auskotzen“, übersetzt von Miriam Denger, Neofelis Verlag) fertigstellen. Ramírez ist Teil des Autor:innenteams der weltweit erfolgreichen spanischen NetflixSerie „La casa de papel“ („Haus des Geldes“).

RUTH RUBIO (Huelva, 1989) Die Dramatikerin, Regisseurin und Preisträgerin des 4. Andalusischen Wettbewerbs für Nachwuchsautor:innen studierte Audiovisuelle Kommunikation an der Universität in Sevilla. 2019 bringt sie „Ponedle pantalones a la Luna“ beim Festival „El futuro es


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service

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ahora“ auf die Bühne, das vom Teatro Central in Sevilla organisiert wird. 2021 wird das Stück zum Festival „Weibliche Dramaturgien” in Athen ausgewählt. Eine Künstler:innen-Residenz führt die Autorin 2020 ans Teatro de la Abadía, Madrid. Ruth Rubio ist derzeit Teil des Projekts „European Centre Stage“, das sich an weibliche, professionelle Theaterschaffende richtet. Das Projekt wird vom Programm „Kreatives Europa“ der EU finanziert und von Kultur i Väst (Schweden) geleitet. Für ihre abgründige Familienfarce „Los Ignífugos (Universo 29“) („Die Feuer­ festen / Universum 29“, übersetzt von Miriam Denger) erhält sie 2019 den ­ Romero Esteo-Preis des Nuevo Centro ­ Andaluz de Teatro und gehörte zu den ­ Finalist:innen des internationalen Wett­ bewerbs des Heidelberger Stückemarkts 2022, bei dem Spanien als Gastland eingeladen war.

ALFREDO SANZOL (Pamplona, 1972) Ist künstlerischer Leiter des Centro Dramático Nacional, Autor und Regisseur, und übernimmt die Inszenierung seiner Stücke selbst. Darunter „Sí, pero no lo soy“ (2008), „Días estupendos“ (2010), „En la luna“ (2011), „La calma mágica“ (2014) und „El bar que se tragó a todos los españoles“ (2021). Er führt auch regelmäßig Regie bei Klassikern wie „Luces de Bohemia“ von Valle-Inclán, „Warten auf Godot“ von Beckett, oder „La dama boba“ von Lope de Vega. 2016 bekam er den Premio Nacional de Literatura Dramática für „La respiración“, 2017 den Premio Valle-Inclán für sein Stück „La ternura“ („Die Sanftmut“ (AT), übersetzt von Charlotte Roos). Außerdem wurde er acht Mal mit dem Premio Max aus­ gezeichnet – als bester Autor und bester Regisseur.

Theaterautor wurden und werden seine Stücke in Barcelona und Madrid, in Mexiko, Ecuador, der Türkei, Griechenland, Deutschland, Marokko, Frankreich und Kolumbien veröffentlicht und inszeniert, darunter „Salento“, „El último secreto de James Dean“, „Niño fósil“, „Las malas noches de Amir Shrinyan“ („Die schlechten Nächte des Amir Shrinyan“, deutsch von Roland Schimmelpfennig), „Una mala noche“, „Los niños oscuros de Morelia“, „Vino lunar“, „Sarab“, „Hostal Sol de Medianoche“, „El palmeral“ (Teil des Projekts „Cicatrizar“ von Nuevo Teatro Fronterizo), „Últimas notas de Santiago Rojas“ und „El Caballete Rojo“. Seine Stücke wurden ins Englische, Französische, Deutsche, Griechische, Arabische und Türkische übersetzt. Albert Tola übersetzt selbst aus dem Deutschen ins Katalanische, u. a. Manfred Karge, Roland Schimmelpfennig und Sibylle Berg.

JOSÉ SANCHIS SINISTERRA (Valencia, 1940) Gleichsam als Vaterfigur für die spanische Gegenwartsdramatik hat er mit seiner pädagogischen Arbeit als Dozent wichtige Impulse gesetzt und das spanische Theater geprägt. Im Jahr 1977 gründete er das Teatro Fronterizo in Barcelona, ein künstlerisches Experimentier- und Forschungslabor, aus dem später die Sala Beckett hervorgehen sollte. Auch die Neugründung Nuevo Teatro Fronterizo 2011 in Madrid kann als Schule der bedeutendsten Stimmen der Gegenwartsdramatik aus Spanien und Lateinamerika gelten. Er ist Autor von über 50 Werken und mehrfach preisgekrönt, z. B. mit dem Nationalen Theaterpreis, dem Premio Max als bester Theaterautor, dem Premio Max de Honor und dem Nationalpreis für dramatische Literatur. Zu seinen berühmtesten ­Stücken gehören „La máquina de abrazar“ (2002), „Marsal, Marsa!“ (1995) (übersetzt von Maite Prieto Alonso und Gotthardt Schön, henschel Schauspiel), „El cerco de Leningrado“ (1993) („Vor dem Abriß“, von ­Maite Prieto Alonso und Gotthardt Schön, henschel Schauspiel) und „¡Ay, Carmela!“ (1986) (übersetzt von Jörg Mihan und Alejandro Quintana, henschel Schauspiel), das 1990 von Carlos Saura verfilmt und 1991 in Deutschland erstaufgeführt wurde.

VICTORIA SZPUNBERG (Buenos Aires, 1973) Theaterautorin und Dozentin für Szenisches Schreiben am Institut del Teatre, an der Escuela Superior de Coreografía und der Sala Beckett in Barcelona. Im Jahr 2000 war sie mit ihrem ersten Stück „Entre aquí y allá -Lo que dura un paseo-“ zur internationalen Residenz des Royal Court Theatre in London eingeladen. Seither hat sie über 30 Stücke und Theaterfassungen geschrieben und wurde 2013 für das Stück „L’any que ve serà millor“, das sie kollektiv mit Marta Buchaca, Carol López und Merce Sarrias verfasst hat, mit dem Premio Max als Beste Theaterautorin in katalanischer Sprache ausgezeichnet. Weitere Stücke sind „Amor mundi“ (2019), „Boys don’t cry“ (2012) und „La màquina de parlar“ (2007) („Die Sprachmaschine“, Übersetzung von Julia Thurnau), das bereits in sechs Sprachen übersetzt worden ist.

XAVIER URIZ (Palma de Mallorca, 1976) Dramatiker und Philosophielehrer an einer Schule in Palma. Bekannt wurde er mit dem Stück „Noir“, für das er 2017 mit dem Theaterpreis Llorenç Moya ausgezeichnet wurde. Denselben Preis erhielt er 2019 für „Tanatología“ („Thanatologie“, übersetzt aus dem Katalanischen von Thomas Sauerteig), einer düsteren Zukunftsvision und Reflexion über den Selbstmord, mit dem er weiterhin von sich reden machte. Das Stück wurde 2022 am Teatre Principal de Palma in der Regie von Carlota Ferrer uraufgeführt und zum internationalen Autor:innenwettbewerb des Heidelberger Stückemarkts 2022 einge­ laden, zu dem Spanien als Gastland ge­ laden war.

ALBERT TOLA (Girona, 1980) Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Übersetzer und Dozent für Szenisches Schreiben. Studium des Szenischen Schreibens am Institut del Teatre de Barcelona, an der UdK Berlin und an der Sala Beckett in Barcelona bei José Sanchis Sinisterra. Als

Oben: „INLOCA“ von Ana Vallés in ihrer Regie. Eine Kreation von Matarile, 2021 koproduziert mit dem Teatro María Guerrero des Centro Dramático Nacional Madrid mit Unterstützung von AgadicXunta de Galicia. Foto Bárbara Sánchez Palomero Unten: „Comedia sin título“ von García Lorca, Fassung von José Manuel Mora und Marta Pazos, Regie Marta Pazos, Premiere 2021 am Teatro María Guerrero des Centro Dramático Nacional. Foto Luz Soria


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ISBN 978-3-95749-451-1

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