Theater der Zeit 01/2020

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Thema: 20 Jahre „Postdramatisches Theater“ / Essay Hans-Thies Lehmann / Porträt Marta Górnicka Kulturkampf: Flandern und Ungarn / Aserbaidschan: Theater und Formel 1 / Kolumne Kathrin Röggla

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Januar 2020 • Heft Nr. 1

Subversive Affirmation Performances von Julian Hetzel


Premieren 2020 Januar | Februar | März ZWEI TAGE, EINE NACHT AB 18.01.2020

Schauspiel nach dem Filmdrama von Jean-Pierre und Luc Dardenne Eine Produktion von Les Films du Fleuve Bühnenadaption Martin Nimz | Regie Martin Nimz Uraufführung

GLÜCKLICHE TAGE AB 08.02.2020

Schauspiel von Samuel Beckett Regie Wolfram Mehring

WONDERFUL WORLD AB 14.02.2020

Ein Liederabend mit den Welthits des Jazz Regie Mark Zurmühle Uraufführung

STALIN AB 15.02.2020

Schauspiel von Gaston Salvatore Regie Lorenz Leander Haas

WEIN UND BROT AB 13.03.2020

Schauspiel nach dem Roman von Ignazio Silone Regie Oliver Vorwerk Uraufführung


editorial

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Extra Der Aboauflage liegt bei IXYPSILONZETT– Das Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater

erlag der Autoren. Ende der neunziger Jahre. Vor Lektorin Marion Victor liegt ein Manuskript, das die spätere Geschäftsführerin vor eine Herausforderung stellt. Er könne sich noch gut daran ­erinnern, berichtet der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, wie Marion Victor am Telefon zu ihm gesagt habe: Das sei ja alles wirklich sehr interessant, aber sie sei nicht sicher, ob sie es verantworten könne, im Verlag der Autoren ein Buch zu machen, das die Rolle des Autors so offenkundig geringschätze. Sie konnte! Zum Glück. Denn Hans-Thies Lehmanns vor genau zwanzig Jahren erschienene Studie „Postdramatisches Theater“ habe vielen den Hals gerettet, wie René Pollesch auf der Jubiläumsveranstaltung in der Akademie der Künste Berlin (AdK) Ende November 2019 erklärte. Zuvor galt nur schwerlich als Theater, was so manch ein Theaterneudenker auf der Bühne mit Licht, Körper, Sprache, Medien, Zeit und Raum veranstaltete. Lehmanns Standardwerk gab diesen Spiel­ arten des Theatralischen eine theoretische Legitimation. Seit Erscheinen des „Postdramatischen Theaters“ ebbten die Diskussionen freilich nicht ab. Was ist Performance? Was klassisches Schauspiel? Die Wellen schlugen hoch. Auch jetzt gelte es, schreibt Jakob Hayner in seinem Einleitungstext zu unserem Schwerpunkt zum „Postdramatischen Theater“, diesen Gegenstand nicht ab-, sondern gerade wieder aufzuschließen. Das Symposium an der AdK erweiterte den Diskurs, wie Martin Müller berichtet, um internationale Positionen. Weniger glücklich zeigte sich Tom Mustroph angesichts der neuesten Produktion von She She Pop: Deren Jubiläumsinszenierung „Kanon“ hätte eine Forensik der Performance-Geschichte sein können, geriet aber eher zum missglückten Theatersport. Hans-Thies Lehmann wiederum redete mit seinem ­Postskriptum zu Moral, Politik und Theater, das wir hier abdrucken und das in Auszügen auch in der AdK verlesen wurde, allen ins Gewissen. Das „linke“ Denken, schreibt er, erlebe gegenwärtig einen Moment der Ohnmacht. „Ohnmächtig steht da, hilflos, wer die politische Form unserer Vergesellschaftung nicht als der Weisheit letzten Schluss annehmen will, welche die Menschen zwingt, sich systematisch zu den anderen als Konkurrent zu verhalten, nicht als Helfer.“ Dass in der Kunst, wie jetzt am Beispiel Peter Handkes zu sehen, die fehlende Moral durch einen verbissen Moralismus wieder wettgemacht werden solle, sei ein Irrweg. Die Arbeiten von Julian Hetzel sind momentan die radikalsten Kunstereignisse, die diesen Irrweg gerade nicht beschreiten. Im Gegenteil. Seine Performances und Installationen, die auch mit den Mitteln der bildenden Kunst experimentieren, blicken bewusst in die moralischen Abgründe – nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch des Kunstbetriebs. „Während die Vereindeutigung der Welt heute rapide ­voranschreitet und Ambivalenzen in einem Entweder-oder erstickt, sind Julian Hetzels politisch nicht korrekte Performances als Aufforderung zum Selbstdenken jedenfalls mehr als zu begrüßen“, schreibt Anja Nioduschewski in ihrem Porträt. Wir stellen Hetzels Arbeiten in unserem Künstlerinsert vor. Eine der spannendsten Künstlerinnen einer ganz anderen Form von Theater ist derzeit die polnische Regisseurin Marta Górnicka, die Renate Klett porträtiert. In ihren hochenergetischen ­Chören bindet sie Menschen unterschiedlichster Herkünfte zusammen, in „Hymne an die Liebe“ sogar Vertreter vom politisch linken und rechten Spektrum. Echte Trainingscamps für das Aushalten von Ambivalenzen also. Wütende Chöre formieren sich seit November 2019 auch in Belgien und Ungarn. In beiden Ländern drohen die rechtsnationalen Regierungen den freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern die Förderung zu streichen. Ein Angriff auf die Kultur, der ideologisch grundiert ist. Charlotte De Somviele und Kristof van Baarle berichten aus Flandern, Anja Nioduschewski schildert die Lage in Ungarn. Mit der Rolle des Autors beschäftigen sich in dieser Ausgabe unsere Kolumnistin Kathrin Röggla und der Regisseur und Autor Alexander Eisenach. Während Röggla Überlegungen anstellt, was die Dramatik tun könne, um sich gegen ihr Verschwinden zu wehren, denkt Eisenach über die Krise des Autors nach, die mit der Krise der Wahrheit und also der Krise der gültigen Narrative einhergeht. Jakob Hayner hat mit ihm über sein neuestes Stück „Stunde der Hochstapler“, das wir hier veröffentlichen, gesprochen. Neben dem Neustart am Theater Neubrandenburg und Neustrelitz, über den Gunnar Decker berichtet, haben wir auch aus unserem Haus Neuigkeiten zu vermelden. Mit der Januarausgabe ist Dorte Lena Eilers neue Chefredakteurin von Theater der Zeit. Harald Müller bleibt der Zeitschrift als Herausgeber verbunden. Wir freuen uns auf eine neue gemeinsame Zukunft und wünschen allen Leserinnen und Lesern einen guten Start ins neue Jahr. // Die Redaktion

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Inhalt Januar 2020 thema zwanzig jahre „postdramatisches theater“

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Jakob Hayner Debatte und Kritik Zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmann

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Hans-Thies Lehmann Moral, Politik, Theater Ein Postskriptum

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Martin Müller Im Westen nichts Neues Ein Symposium in Berlin feiert zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ – und unterschlägt dabei den kritischen Diskurs

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Tom Mustroph Missglückter Theatersport She She Pop und Gäste inszenieren am HAU – Hebbel am Ufer Berlin einen „Kanon“ des Postdramatischen – eine Forensik der Performance-Geschichte wurde es leider nicht

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künstlerinsert

protagonisten

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Performances von Julian Hetzel

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Anja Nioduschewski Subversive Affirmation Julian Hetzels Performances provozieren in Zeiten zunehmender Vereindeutigung spannungsreiche Ambivalenzen

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Sabine Leucht Das Kolloquium von Äschnapur München feiert fünfzig Jahre proT – doch statt eines Symposiums hätte man lieber ein neues Werk von Alexeij Sagerer gesehen

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Renate Klett Hier wütet der Chor Die polnische Regisseurin Marta Górnicka gibt mit ihren energetischen, radikalen, teils monströsen Chören dem Aufbegehren eine aufwühlende Form

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Charlotte De Somviele und Kristof van Baarle Ideologischer Kahlschlag Die Regierung in Flandern kürzt die Projektförderung für Kultur um sechzig Prozent – ein Angriff von rechts gegen alles, was progressiv und divers ist

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Anja Nioduschewski Orbáns Rache Ein neues Kulturgesetz der ungarischen Fidesz-Regierung will die Theater gleichschalten und die freie Szene ausbluten

protagonisten

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Gunnar Decker Die Zeit der weichen Uhren Sven Müller, neuer Intendant am Theater Neubrandenburg und Neustrelitz, führt das Haus gemeinsam mit Schauspielchefin Tatjana Rese mit neuem Selbstbewusstsein

kolumne

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Kathrin Röggla Die Abschaffung der Arten Was kann die Dramatik tun, um sich gegen ihr Verschwinden zu wehren?

protagonisten

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Die Musik wächst aus dem Text heraus Der Pianist und Komponist Michael Wilhelmi über Musik im Theater und seine Zusammen­arbeit mit David Marton und Claudia Meyer im Gespräch mit David Roesner

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ausland 26


inhalt

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ausland

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Thomas Irmer Mit der Formel 1 ins Internationale Das M.A.P.-Theaterfestival in Aserbaidschans Hauptstadt Baku ist ein Beispiel für das erfolgreiche kulturelle Tuning des Landes

look out

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Natalie Fingerhut Der Formenfinder Der Berliner Regisseur Anton Kurt Krause liebt das Spiel mit Medien und Räumen

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Shirin Sojitrawalla Wie gemacht für den Ausnahmezustand Die Frankfurter Schauspielerin Katharina Bach versprüht die Portion Wahnsinn, die es für die Bühne braucht

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Baden-Baden „Der Fall Hau. Eine Kriminalgeschichte aus Baden-Baden“ (UA) nach einem Roman von Bernd Schroeder in der Regie von Rudi Gaul (Elisabeth Maier) Berlin „Sucht nach uns!“ vom Zentrum für Politische Schönheit (Ralf Mohn) Braunschweig „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow in der Regie von Dagmar Schlingmann (Gunnar Decker) Freiburg „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann in der Regie von Stef Lernous (Bodo Blitz) Graz „The Hills are Alive“ von Neville Tranter in der Regie von Nikolaus Habjan (Christoph Leibold) Ingolstadt „Big Guns“ (DSE) von Nina Segal in der Regie von Mareike Mikat (Sabine Leucht) Köln „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill in der Regie von Luk Perceval (Sascha Westphal) Osnabrück „Kafka“ (UA) nach Texten von Franz Kafka in der Regie von Dominik Schnitzer (Jens Fischer) Rudolstadt „Hilfe, die Mauer fällt!“ (UA) von Karsten Laske und Steffen Mensching in der Regie von Steffen Mensching (Jakob Hayner)

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Die einzige Gewissheit, die es gibt, ist die, dass es keine Gewissheiten mehr gibt Alexander Eisenach über sein neues Stück „Stunde der Hochstapler“ im Gespräch mit Jakob Hayner

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Alexander Eisenach Stunde der Hochstapler

magazin

66

Die Eroberung des Raums Das Maillon in Straßburg 68 bezieht sein neues Theatergebäude – eine europäische Bühne als offenes Haus Parallelen, die sich tänzerisch berühren Die 29. euro-scene in Leipzig zirkelt ästhetische Möglichkeiten ab Machiavellistische Autokraten und singende Mammuts Beim Europäischen Festival für junge Regie Fast Forward war wenig von der neuen Aufsässigkeit der Jugend zu spüren Geschichten vom Herrn H. Die Machtfrage hinter der Bühne Bücher Valeska Gert, Iris Schürmann-Mock, Dagny Juel

aktuell

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Meldungen

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Premieren im Januar 2020

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TdZ on Tour in Berlin, Düsseldorf und München

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Afsane Ehsandar im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

auftritt 44

stück

was macht das theater?

Titelfoto: „The Automated Sniper“ von Julian Hetzel (Frascati Amsterdam, 2017, hier mit Claudio Ritfeld). Foto Bas de Brouwer

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Performances von Julian Hetzel: „The Automated Sniper“ (S. 4 / 5, Frascati Amsterdam, 2017) und „All inclusive“ (S. 6/7, Campo Gent, 2018). Fotos Bas de Brouwer / Philippe Digneffe





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Subversive Affirmation Julian Hetzels Performances provozieren in Zeiten zunehmender Vereindeutigung spannungsreiche Ambivalenzen

von Anja Nioduschewski

er rote Punkt des Laserpointers wandert über die Wände eines weißen Raums – auf der hektischen Suche nach zwei Menschen, die sich in diesem White Cube fluchtartig bewegen. Und boingboing-boing-boing zerplatzen in hoher Frequenz mit Farbe gefüllte Geschosse auf ihren Körpern. Abgefeuert von einer ferngesteuerten „Waffe“, einem Roboter mit Kameraauge, der bis zu zehn Farbbälle pro Sekunde abschießen kann. Die beiden Performer Bas van Rijnsoever und Claudio Ritfeld werfen sich schutzsuchend hinter Gegenstände, die in minutenlangen Salven beballert werden. Das Aufprallgeräusch der kleinen Kapseln klingt hart und lässt den Schmerz erahnen, den die beiden hier unbedingt vermeiden wollen. Die Schützin am Auslöser des Geräts ist eine der Zuschauerinnen und Zuschauer, die zu Julian Hetzels Inszenierung „The Automated Sniper“ gekommen sind. Immer wieder werden an diesem Abend Freiwillige gesucht und gefunden, die an einem Ort hinter der Bühne mit einem Joystick vor einem Monitor sitzen und auf die Performer schießen – ganz im Sog eines für sie medialen Ego-Shooter-Spiels gefangen, nur dass sie hier live eine Waffe auf reale Menschen richten. Es ist eine für den Regisseur und Künstler Julian Hetzel typische Inszenierungssituation, in der er die Zuschauer sehr konkret mit den Widersprüchen ihres Handelns konfrontiert und zugleich die Stellung der Kunst in einem politischen und ökonomischen Kontext beleuchtet. Die Provokation kommt hier humorvoll verspielt daher, entfaltet sukzessive die moralischen Abgründe, verbleibt aber ohne direkte Hinweise, was wir darüber denken sollen. „The Automated Sniper“ (Frascati Amsterdam, 2017) zielt auf eine Auseinandersetzung mit der Gamification von Gewalt ab, die sich hier als Kunstaktion darstellt, und schürt bewusst die ­Assoziation zu den Drohnenkriegen des neuen Jahrtausends, die den Feind zu einer Ansammlung von Pixeln auf einem Monitor reduzieren. Hetzel macht die Zuschauer nicht nur zu Zeugen dieser Gewalt, sondern macht sie auch zu potenziellen Tätern. Wie in einem ­Milgram-Experiment werden die Schützen langsam an ihre Auf­ gabe herangeführt, dürfen probeweise auf die Wände schießen, dann auf Gegenstände, dann auf Menschen. Die Eskalation folgt einer Reihe von Ansagen, Empfehlungen, Ermunterungen, schließlich Befehlen aus dem Off, Schritt für Schritt, in einer freundlich-perfiden Handlungslogik. Wir erleben, wie schnell Menschen manipuliert und korrumpiert werden können, wie die Spielanordnung beziehungsweise Theatervereinbarung Gewalt zu einem abstrakten und künstlerischen Vorgang macht, bei dem scheinbar jede Ethik aussetzt. Das restliche Publikum wird so im Kontext von Kunst zum lachenden Gewaltkonsumenten, während die Performer mit blauen Flecken nach Hause gehen. Dass das Setting für die Inszenierung ein Galerieraum ist, kommt nicht von ungefähr. Julian Hetzel, an der Bauhaus-Universität in Weimar ausgebildeter Visual Artist, stellt Kunst, die sich als Artivism moralisch aufstellt und politisch engagiert, unter den Generalverdacht, mit der Wahl ihrer doku-fiktionalen Sujets das Leid und den Tod anderer auch ökonomisch auszubeuten. Man verdiene damit ja auch Geld. Nicht zuletzt mit unseren empathischen Reaktionen darauf. Von diesem Verdacht nimmt er sich selber nicht aus und versucht, die Mechanismen des Kunstbetriebs,


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diese Kapitalisierung und auch Ästhetisierung von Leid, in seinen doku-fiktionalen Arbeiten transparent zu machen. Wie schwierig das ist, da er seine Kritik ebenfalls in Form von Kunst präsentiert und davon profitiert (damit immer Teil des Problems bleibt), zeigten vereinzelte Reaktionen beim Impulse-Festival 2019 auf seine Arbeit „All inclusive“ (Campo Gent, 2018). Hetzels künst­lerische Strategie der subversiven Affirmation, die Widersprüche und Konflikte unangenehm humorvoll bejaht und ästhetisch souverän bespielt, aber kurz vor der Eindeutigkeit einer Satire haltmacht, ist für einige schwer lesbar. In „All inclusive“ stellt Hetzel die ästhetische Dimension von Bildern, die der Krieg produziert, sowie die Verwertung von Kriegsgräueln im Kunstbetrieb in bewusster Zuspitzung aus. In einem Ausstellungsraum werden einer Besuchergruppe aus Geflüchteten, die für jede Vorstellung gecastet wird, von einer Kuratorin Kunstwerke gezeigt: zum Beispiel nachgestellte ikonische Kriegsfotografien oder von Hetzel aus Syrien organisierte Kriegstrümmer, die hier nun zu Kunst erklärt werden. Folgerichtig wird am Ende auch die Erschießung der Kuratorin, deren Blut dabei auf eine Leinwand spritzt, zum Action Painting erklärt. In der Diskussion nach der Aufführung wurde Hetzel unterstellt, die Geflüchteten für einen makabren Spaß zu missbrauchen. Dass er durch die Anwesenheit der Leidtragenden auf der Bühne genau diese Leid-Rezeption der westeuropäischen Zuschauer in kritische Feedback-Schleifen führen will, schien ein Zuviel an Komplexität und Ambivalenz. Andererseits zeigen die wiederholten Einladungen von Hetzels Arbeiten durch internationale Festivals, dass sie inhaltlich und ästhetisch einen Nerv treffen. „Ich finde die Doppeldeutigkeit meiner Arbeiten wichtig. Die Frage ‚Wo stehst du denn jetzt eigentlich?‘ sollte offengehalten werden. Die Zuschauer müssen ihre Antworten selber finden. Ich bin kein Aktivist. Auch kein Sozialarbeiter. Ich bin Künstler. Die Prämisse für Kunst kann ja nicht sein, sich als Dienstleistung für etwas oder für den Staat zu verstehen. Dadurch darf man die künstlerische Freiheit der Arbeiten nicht korrumpieren. Ich habe im Vergleich zu früher jetzt auch mehr Lust, den Wahnsinn zuzulassen, die dunkleren Seiten zu beleuchten. Gerade in dieser Zeit, die so ungerecht, ­zerstörerisch und krank ist, muss man vielleicht auch mit einer künstlerischen Sprache agieren, die genauso unfair, krank und kaputt ist – um Dinge zu sagen, die sich jenseits dessen befinden, was wir zu denken bereit sind.“ Diese Uneindeutigkeit hat auch Hetzels frühere Arbeiten geprägt, die noch abstrakter und formaler waren, aber genauso explizit den Neoliberalismus („mein Lieblingsgegner“) und die fragwürdige Wertschöpfung und Verstrickung der Kunst darin angriffen. Mit „Schuldfabrik“ (Steirischer Herbst Graz, 2016) installierte er bisher in zehn verschiedenen Städten einen edlen Pop-up-Shop für eine Seife mit dem Namen „Self“, die aus menschlichem Fett hergestellt wird, das wohlstandsdeformierten Körpern abgesaugt wurde. Wie bei den Kriegstrümmern aus Syrien greift auch hier die Idee des Upcyclings: Schuld, die als Seife in einen ökonomischen Kreislauf eingespeist wird, den man als modernen Ablasshandel bezeichnen kann. Die Schuldgefühle werden zu Geld gemacht, man wäscht sich rein. Obwohl die Käufer in den Hinterzimmern den künstlerisch subversiven Produktionsprozess der Seife vorgeführt bekamen, wurde die inhärente Kritik oft nicht verstanden. Man kaufte

julian hetzel

sich eine schicke Kunst-Seife, das Stück zwanzig Euro, gespendet an ein Brunnenbau­projekt in Afrika. Selbst Entwicklungshilfe wie diese hat Julian Hetzel schon als Kunst deklariert, als er sein Projektbudget der Kunsthochschule DasArts in Amsterdam, wo er bis 2013 Performing Arts studierte, in Höhe von 2000 Euro an ein Mädchen in Afrika spendete, täglich einen Euro. Diese Performance „The Benefactor“ (2011) lief somit fast über fünfeinhalb Jahre. Als Matthias Lilienthal im Rahmen von „X Firmen“ bei Theater der Welt in Mannheim ihm ebenfalls 2000 Euro Produktionsbudget gab, heuerte Hetzel für das Geld auf dem Mannheimer Arbeiterstrich zwei Tagelöhner zum Mindestlohn an, damit sie tagelang mit weißer Farbe einen Strich auf das Pflaster malen und mit einer Reinigungsmaschine zugleich wieder entfernen – im Zirkelschluss. „Arbeiterstrich“ (2014) brachte den Geldkreislauf als nichtsinnstiftenden Leerlauf wohl so ziemlich auf den Punkt. Hetzels grundsätzliches Interesse an der Ökonomie in und hinter den Dingen findet sich auch in seinen poetischeren Arbeiten. Wie in „Still – die Ökonomie des Wartens“ (2014), das er für das SPRING Performing Arts Festival in Utrecht produzierte, wo er heute auch lebt und arbeitet. In 13 labyrinthisch verbundenen Containern waren unterschiedlichste Zuständlichkeiten, Räume und Formen des Wartens zu durchlaufen. Diese Installation reiht sich ein in Arbeiten eher bildnerischer Kunst, die als emotionale soziale Plastiken funktionieren, in denen Hetzel Zustände wie Angst („Obstacle – Sculpting Fear“, 2015) oder selbst das Nichts („I’m Not Here Says the Void“, 2014) als skulpturale Bildstörungen in den öffentlichen Raum setzte: irritierende, wie Leichen in der Stadt verstreute menschliche Körper oder anthropomorphe Gestalten aus schwarzer Folie – uneindeutig, interpretationsoffen. Seine bildstarke, sehr klare Formensprache arbeitet mit einer Großflächigkeit und räumlichen Leere, in der Objekte, Menschen, Vorgänge ein Bild besetzen oder komponieren, das viele, so Hetzel, für zu glatt hielten für den Inhalt, den es transportiere. Ein Widerspruch, den wiederum er aushalten muss. Während die Vereindeutigung der Welt heute rapide voranschreitet und Ambivalenzen in einem Entweder-oder erstickt, sind Julian Hetzels politisch nicht korrekte Performances als Aufforderung zum Selbstdenken jedenfalls mehr als zu begrüßen. Er hält uns den Zerrspiegel vor, in dem wir unsere verquere Gegenwart lesen können. //

Der Regisseur, bildende Künstler und Musiker Julian Hetzel (*1981) studierte Visuelle Kommunikation an der Bauhaus-Universität in ­Weimar und anschließend Performing Arts an der Kunsthochschule DasArts in Amsterdam. Von 2014 bis 2016 war Hetzel Artist in Residence des SPRING Festivals Utrecht. 2017 erhielt er den VSCDMimeprijs für seine Produktion „The Automated Sniper“. Seit 2018 ist er assoziierter Künstler am Campo Gent. Mit seinen Arbeiten tourt er durch ganz Europa und darüber hinaus. Zuletzt waren „The Automated Sniper“, „All inclusive“ und „Self“ u. a. beim Adelaide Festival, bei der Prager Quadriennale, der Biennale in Venedig, bei Spielart München und beim Impulse Theater Festival zu sehen. Julian Hetzel lebt und arbeitet in Utrecht / Niederlande. Foto Lilian Van Rooij

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René Pollesch

Es hat uns den Hals gerettet. Alle sagten uns vorher, dass wir kein Theater machen.

Vor zwanzig Jahren erschien im Verlag der Autoren mit „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmann ein Standardwerk über die Umbrüche im Theater seit Ende der 1960er Jahre, das weltweit r­ ezipiert wurde. Eine Studie, die längst noch nicht abgeschlossen ist, wie Jakob Hayner in seinem Einleitungstext schreibt, sondern überhaupt erst wieder aufgeschlossen ­werden muss. Wir waren bei der Jubiläumsfeier in der Akademie der Künste Berlin ­dabei und werfen einen Blick auf She She Pops „Kanon“. Hans-Thies Lehmann selbst formuliert ein Postskriptum zu M ­ oral, Politik und Theater.


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postdramatisches theater

Debatte und Kritik Zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmann

von Jakob Hayner

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rfolgreiche Bücher haben es an sich, dass sich ihre zentralen Thesen oder Erkenntnisse als Schlagworte verselbstständigen. So ist es zweifelsohne auch Hans-Thies Lehmanns Studie mit dem Titel „Postdramatisches Theater“ ergangen, die 1999 im Verlag der Autoren erschienen ist. Nun, zwanzig Jahre später, macht es jedoch den Eindruck, als würde das Postdramatische nur noch als Schlagwort verwendet. Jeder benutzt es, kaum jemand weiß, ­wofür eigentlich. Zeit für einen Rückblick – und einen Ausblick. Lehmanns „Postdramatisches Theater“ war seinerzeit selbst ein Rückblick – auf eine Entwicklung der Inszenierungsmittel seit den sechziger Jahren. Er stellte anhand von Beispielen wie Robert Wilson, Jan Fabre und Heiner Müller fest, dass es zu einer Verselbständigung der Kunstmittel im Theater gekommen sei, eine These, die sich durchaus in der Folge von Adornos Formulierung von der „Verfransung der Künste“ verstehen lässt. Diese „geschichtliche Bewegung des europäischen Theaters“ wollte Lehmann keineswegs so verstanden wissen, dass dies eine Norm sei, wie Theater zu machen sei. Im Gegenteil: Sein Buch ist voll von expliziten Hinweisen, dass ein postdramatisches Theater jenseits des dramatischen überhaupt nicht zu denken sei – und eine solche Perspektive auch nicht erstrebenswert wäre. Lehmanns Selbstbeschreibung war die einer „analytischen Deskription“. Er sah das Drama aus seiner inneren Logik heraus zerfallen. Er war freilich nicht der Erste, der eine solche Krise des Dramas beschrieb. Peter Szondi hatte in seiner „Theorie des modernen Dramas“ aufgezeigt, wie das bürgerliche Drama an seine historischen und damit auch ästhetischen Grenzen kommt. Womit die Notwendigkeit einer Neufundierung des Dramatischen ge­ geben war. Der wirkmächtigste und weitreichendste Vorschlag in dieser Hinsicht ist jene Dramaturgie, die mit dem Namen Brecht verbunden ist. Dem Theater Brechts ist Lehmann immer verbunden gewesen. Und dass er sein Buch „Das Politische Schreiben“ (Theater der Zeit, 2002) als gleichberechtigt neben „Postdramatisches Theater“ ansah, zeigt sein Anliegen, den Begriff des politischen Theaters zu erweitern. Er setzte sich ab von einem auch in den Thea­ terwissenschaften weit verbreiteten Verständnis, das nur auf den Inhalt, nicht aber auf die Form und die Wirkungen blicken wollte. Doch wie konnte es geschehen, dass das postdramatische Theater heute als Synonym für „fortschrittliches Theater“ oder „Performance“ gilt? Als ein Schlagwort, das Diskussionen eher beendet als eröffnet? Das hat vor allem mit der Wirkungsgeschich-

te von Erika Fischer-Lichtes 2004 erschienener „Ästhetik des Performativen“ zu tun, auf die Lehmann in dem 2005 verfassten Vorwort zur dritten Auflage von „Postdramatisches Theater“ schon Bezug nimmt. Bei Fischer-Lichte geht es weitaus weniger um ­Beschreibung als vielmehr um die Formulierung einer neuen Dramaturgie, die der Brecht’schen entgegengesetzt ist. „Die Wiederverzauberung der Welt“, so auch der Titel des abschließenden Kapitels, ist das Ziel ihrer Ästhetik. Sie propagiert die Verschmelzung von Kunst und Leben, den „Verzicht auf Verstehensleistungen“ und das „Geheimnis der Unverfügbarkeit“. In ihrem kruden Kunstmystizismus erweitert sie den Inszenierungsbegriff weit über das Theater hinaus – als ästhetische Verwandlung der Welt. Diese Verkehrung der Gesellschaft zum Spektakel ist das Zentrum der „Ästhetik des Performativen“. Die postmoderne Behauptung, dass es nur Zeichen von Zeichen gibt, kippt dann in eine neue Unmittelbarkeit. Eine Selbstverletzungsperformance von Marina Abramović wird Fischer-Lichte zum Paradigma der Ästhetik des Performativen, die beschworene Einheit von Kunst und Leben lässt sich nur mit Gewalt herstellen. Fischer-Lichtes neuromantische Programmatik hat bis heute verdeckt, dass Lehmanns Befund vom postdramatischen Theater durchaus andere Interpretationen nicht nur zulässt, sondern geradezu erfordert. Wenn man zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von „Postdramatisches Theater“ diesen Befund erörtert, sollte man nicht vorschnell zur Kanonisierung schreiten, sondern gerade die Kritik nicht unterschlagen – von ­Birgit Haas’ „Plädoyer für ein dramatisches Drama“ bis zu Bernd Stegemanns „Kritik des Theaters“. Eine der ersten Fragen zum postdramatischen Theater heute ist, ob es die bestehenden Verhältnisse nur widerspiegelt oder auch über sie hinausgeht. Ob also das postdramatische Theater das letzte Wort der Geschichte ist oder nicht eher der Befund einer Krise, die ein neues Denken verlangt. Zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ bedeutet nicht, mit dem Gegenstand abzuschließen. Er muss überhaupt erst wieder aufgeschlossen werden. So wurde kürzlich die Debatte geführt, ob die Gattungsfrage für Theatertexte eigentlich unerheblich sei. Text ist Text. Doch so einfach ist es nicht. Verschiedene Anlässe erfordern eine je für diesen Anlass geeignete Sprache, die verschiedene Wirkungen hat. Das sind die Maßgaben der Kunst. Wer alles nur zu einem erklärt, gerät in Gefahr, es mit den Menschen und ihrer Individualität oder mit politischen Fragen ähnlich zu halten – die spezifische Differenz, um die es geht, verschwindet. Lehmanns „Postdramatisches Theater“ war und ist ein unabgeschlossener Befund. Der eine anhaltende kritische Diskussion nicht nur verdient hat, sondern auch erfordert. //

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Moral Politik Theater / TdZ Januar 2020  /

I Das „linke“ Denken erlebt gegenwärtig einen Moment der Ohnmacht und der Niederlage. Ohnmächtig steht da, hilflos, wer die politische Form unserer Vergesellschaftung nicht als der Weisheit letzten Schluss annehmen will, welche die Menschen zwingt, sich systematisch zu den anderen als Konkurrent zu verhalten, nicht als Helfer. Als „egoistisches“ Privatinteresse, nicht als „Gattungswesen“, obwohl es doch so offensichtlich die Bestimmung des Menschen ist, nur als Zoon politikon existieren zu können: als Mitmensch in der Verbindung zu den anderen, in der Koopera­ tion. Vergessen scheint die Einsicht, dass die politische Sphäre, in der man uns fortwährend mit Freiheit und Menschenrechten in

den Ohren liegt, ohne eine wirkliche soziale Emanzipation der Menschen von dem materiellen Zwang zur Konkurrenz ein bloßes Trugbild bleibt. Mit wachsendem Schrecken konstatiert man, wie in Staaten, in denen doch politische Demokratie herrscht, bei ­Politikerinnen und Politikern ebenso wie bei „den Leuten“ das „Führerprinzip“ unseligen Angedenkens wieder Konjunktur hat: autoritäres Durchregieren unter der immer schütterer werdenden Hülle „demokratischer“ Verfahren. Oder es werden solche legitimierende Verfahren ganz beiseitegesetzt, und man beruft sich immer unverfrorener zwecks Durchsetzung inhumaner Maßnahmen auf das „Volk“, ein Volk, das in seiner Uninformiertheit umso leichter medial zu lenken ist, wenn es von der (planvoll geschürten) Angst vor Terror und/oder dem Verlust einer freilich in der Hauptsache im Imaginären beheimateten Identität gepeinigt wird. Nicht


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zuletzt steht das linke Bewusstsein fassungslos vor dem Scherbenhaufen des europäischen Humanismusdiskurses, vor der Schmach, dass achthundert Millionen Europäerinnen und Europäer es sich angeblich nicht leisten können, zwei oder drei Millionen Flüchtlingen aus einem der grausamsten Kriege der neueren Geschichte eine menschenwürdige Zuflucht zu gewähren. In dieser Situation sehen manche Theaterleute die Aufgabe, durch eigenen Moralismus die fehlende Moral zu ersetzen. Vor diesem scheinbaren Ausweg kann man jedoch nur warnen. Weder die Kunst noch die Künstler gewinnen, wenn sie sich den laut gebrüllten Forderungen nach moralischer Korrektheit beugen. Dazu ein Beispiel. Ich war noch mit der Durchsicht der englischen Übersetzung eines Textes über Peter Handke beschäftigt, als die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den Dichter eintraf, den er am 10. Dezember in Empfang nahm. Es folgte sofort eine neue Welle des fast schon gewohnten Handke-Bashings, das allerdings derart destruktiv und vergiftend ausfiel, dass ich unmöglich zur Tagesordnung übergehen konnte, ohne eine kleine Anmerkung zu machen über die theoretische Fahrlässigkeit, mit der zu polemischen Zwecken Entgegensetzungen wie die von Politik und Ästhetik, Werk und Autor, Moral und Kunst ins Feld geführt wurden. Der überdeutliche Strafwunsch, der aus mehreren Beiträgen spricht, weckt den Verdacht, dass es jetzt wie ehedem letztlich gar nicht um ein paar reale oder eingebildete Entgleisungen in der Serbien-Sache gehen kann. Was ist es, fragt man sich, was diesem Autor immer wieder die Stürme von Denunziationen und haltlosen Anschuldigungen einträgt, Ranküne, die in der gehässigsten Auslegung seiner Sätze badet? Ich behaupte: In seinem Schreiben und seiner Person muss etwas wirksam sein wie das Fremde in uns. Viele scheinen zu spüren, dass sie seinerzeit einem Konformismus verfallen sind. Kaum eine öffentliche Stimme sprach für Serbien. Die Serben waren die Verbrecher, Kroaten, Montenegriner, die Muslime waren die Opfer. Es ist heute völlig klar, dass diese Einseitigkeit ungerecht und ungerechtfertigt gewesen ist. Ich selbst habe noch in Erinnerung die Kriegspropaganda in den Monaten vor dem Bombardement. Hinter der Frage, wie man Handkes Solidarisierung mit Serbien einschätzen soll, steht das Urteil über den Eingriff der NATO in den Konflikt. Die in Deutschland fast nirgends ernsthaft infrage gestellte Einschätzung des Bombardements Serbiens als berechtigte „humanitäre Intervention“ hat Handke nämlich nicht geteilt. Ich gestehe, dass ich seiner Ansicht in diesem Punkt zuneige: Der Kriegsgrund waren wohl letztlich geostrategische Interessen des Westens und der USA, die nach der Devise divide et impera Serbien als regionale Vormacht ausschalten wollten (ähnlich wie heute

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den Iran), nicht etwa humanitäre Motive. Wir sollten übrigens bei den Interventionen für die viel beschworenen „Menschenrechte“ auch nicht vergessen, was ein heute zu selten gelesener Autor formuliert hat über diese „Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privat­ eigentums … Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, … ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.“ (Karl Marx) Diese Kritik der (nur) politischen Sphäre schließt selbstverständlich nicht aus, sondern ein, dass man um jeden Meter demokratischen Raums kämpft. Handkes solitäre Positionsnahme für die serbische Seite nimmt sich in dieser Beleuchtung weniger abstrus aus. Gewissheit in solchen Fragen ist in der absehbaren Zukunft kaum zu erhoffen. Warum aber allein der Umstand, dass Handke seinerzeit diesen Standpunkt eingenommen hat – dass es nicht die Sorge um die armen Albaner war, die Madam Albright um den Schlaf brachte –, den Künstler geschweige denn sein grandioses Werk disqualifizieren sollte, heute den Nobelpreis zu erhalten, bleibt vollkommen unerfindlich. Im Gegenteil: Es war mutig, so sehr gegen den Strom zu schwimmen.

II Vergessen wird, was man doch weiß: dass ein Autor alles, was er beschreibt, auch als eigene Möglichkeit erfahren haben muss. „Ich bin natürlich auch oft erschrocken über das, was mir einfällt“, bemerkte einst Heiner Müller, „aber gerade dann muss ich es aufschreiben.“ Was die großen Dichter auszeichnet, ist gerade Mut: die Courage, auch das Schlimmste, das Böseste, das Beschämendste in sich selbst zu finden. Wie wollte man eine Schöpfung wie „Richard III.“ begreifen, wenn man nicht denken mag, dass Shakespeare eben auch Richard III. ist? Handke hat diesen Mut immer wieder bewiesen, ich denke zum Beispiel an die Erzählung „Der Chinese des Schmerzes“, wo er sich hineinsteigert in die Fantasie eines Mannes, der eines Tages – scheinbar aus heiterem Himmel – einen Hakenkreuzschmierer verfolgt, sich auf ihn wirft und ihn mit einem Stein totschlägt. Und was ist das Große an

Ein Postskriptum von Hans-Thies Lehmann

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Vergessen Kafkas Werk, das Handke als für ihn das „Wort für Wort Maßgebliche“ bezeichnet hat, wenn nicht diese Fähigkeit: der radikale Mut, sich bis zum Äußersten in die absolute moralische Nichtigkeit der eigenen Person hineinzudenken. Solches Fragen aber, vor das jeder gestellt ist, der mit Literatur zu tun hat, kommt in der Debatte nicht vor. Es wird vielmehr zugeschüttet durch Schlage-tot-Urteile, meist in der den „sozialen“ Medien angepassten Kurzform, einer kaum preiswürdigen „Twitteratur“, auf der einen Seite, gut gemeinte, aber verfehlte Hinweise auf die Differenz von ästhetischer Formulierung und realem Leben auf der anderen.

III In das bloß Oberflächliche führt schon die, soweit ich sehe, nirgends infrage gestellte Vorstellung, Kunstwerke und also auch literarische Texte stünden im Prinzip einer Hermeneutik offen, die das Werk überhaupt nach dem Modell einer Aussage denkt. Nichts versteht sich in Wahrheit weniger von selbst. Literatur ist eine Praxis in der Sprache, deren Besonderheit es ist, alles Aussagen gerade zweifelhaft zu machen. Ihre unersetzliche Qualität besteht gerade darin, eine Erfahrung möglich zu machen, die in der Sprache über diese hinausführt in einen Bereich, wo Meinen und Bedeuten kaum mehr zählen. Jeder sprachliche Akt ist, wie uns die Sprechakttheorie zu verstehen lehrte, eine Handlung. Wir wissen aber auch, dass der Sinn eines Sprechaktes allein aus dem Kontext erschlossen wird: Er steht ihm sozusagen nicht ins Gesicht geschrieben. Bekanntes Beispiel von J. L. Austin: Der Chef sagt im Kreis seiner Angestellten: „Es zieht.“ Und meint damit „Macht bitte jemand von Ihnen das Fenster zu?!“ Eine Dichtung ist daher zunächst ein Sprechakt ohne Kontext. Was „sagt“ etwa „Wandrers Nachtlied“ von Goethe aus? „Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.“ Oder was wäre die Bedeutung des „Hamlet“? Und hat nicht immerhin Adorno, gewiss kein Fan von Brechts Didaxe, konstatiert, es sei „schwer zu eruieren, was auch nur der Autor im ,Galilei‘ oder im ,Guten Mensch von Sezuan‘ meint, zu schweigen von der Objektivität der Gebilde, die mit der subjektiven Absicht nicht koinzidiert“? Poesie, das Geschriebene, ist niemals mit einer Aussage des empirischen Subjekts der Aussage identisch. Zugleich aber lässt sich das ästhetisch Geformte nicht einfach abtrennen von den Intentionen des Autors. Peter Handke etwa, um nur dieses eine Motiv zu nennen, artikuliert wieder und wieder eine tiefe Skepsis gegenüber allem Diskursiven. Gleichviel, ob Alltagssprache, Journalismus oder Wissenschaft: Der wesentlich prädikative Diskurs kann nicht anders, als das Einzelne, Konkrete, Individuelle unter allgemeine Begriffe zu subsumieren, es mithin zu marginalisieren und zu trivialisieren.

Die Moral der Arbeit des Schriftstellers besteht für Handke nicht darin, moralisch „Korrektes“ auszusagen, sondern im Insistieren auf dem konkreten Einzelnen schreibend den Ver­suchungen des Generalisierens und Pauschalisierens Widerstand zu leisten. Man darf sagen, dass Peter Handke mit seinem exorbitanten Lebenswerk den Versuch bezeugt, diesem Anspruch gerecht zu werden. Er hat sein Leben daran gesetzt, eine gewisse „Rettung“ der äußeren konkreten Realität durch ihre Beschreibung zu leisten. Es handelt sich um „Literatur im Zeitalter ihres Experimentierens“. Eng verbunden mit der Idee des Textes als Aussage, also als Handlung, ist die Idee des Performativs. Er fällt also als solcher doch in den Zuständigkeitsbereich von Ethik, Moral und Politik. Aber gemach! Indem sich kunstvolle sprachliche Gebilde der Identifizierung als Aussage, also als Handlung, gerade entziehen, sind sie sozusagen ein nur nachgeäfftes Performativ, nennen wir es mit Werner Hamacher Afformativ. Derartige Überlegungen haben rein gar nichts zu tun mit Relativierung von Fakten oder politischen Positionen. Und doch taucht genau dieser Vorwurf fortwährend auf, wenn man sich weigert, die Texte als „Belege“ für die (un)moralische Haltung des Autors zu gebrauchen. Das Absurde dieser Gleichsetzung wird nicht gemildert, sondern tritt nur in noch hässlicherer Deutlichkeit hervor, wenn immer wieder der Versuch gemacht wird, ein Kontinuum zu behaupten zwischen poetischen For­mulierungen, Äußerungen in Interviews und realen Akten des Autors. Ein Beispiel ist seine persönliche Beziehung zu Slobodan Milošević, den er im Gefängnis besuchte und bei dessen Begräbnis er auf Bitten der Familie eine Rede hielt. Spürt eigentlich noch jemand, dass es eine anmaßende Unverschämtheit darstellt, diese persönlichen Akte überhaupt zu deuten, wie viel mehr, sie als Beleg für eine kritiklose, zutiefst verwerfliche Sympathie für einen Diktator zu missbrauchen? Es geht mir jedoch nicht darum, diese Nähe nun anders auszulegen, als es in denunziatorischer Absicht geschah – obwohl genügend Motive benannt werden können und wurden, die befremdliche Beziehung plausibel zu machen. Vielleicht repräsentierte Milošević für Handke Serbien, mit dem ihn eine besondere Zuneigung verband. Sodann verkörperte er die Einheit Jugoslawiens, dessen Untergang als Vielvölkerstaat Handke schmerzte und das Milošević unter seiner Führung wiederherstellen wollte. Mit der Einschätzung von seiner Politik als totaler Katastrophe dürfte Handke jedoch übereinstimmen. Milošević hat, um die Vereinigung Jugoslawiens durchzusetzen, den serbischen Nationa­lismus extrem befördert, und von der Verantwortung für das dadurch mitverursachte Blutvergießen wird ihn niemand freisprechen wollen. Moralisch fragwürdig wäre es vielmehr gewesen, wenn Handke seine Beziehung zu Milošević abgeändert hätte aufgrund der Woge von Medienberichten, denen damals nicht vollkommen zu trauen war. // Dieser Text war Grundlage einer Rede von Hans-Thies Lehmann, die auf der Veranstaltung „Postdramatisches Theater weltweit“ am 22. November 2019 in der Akademie der Künste Berlin verlesen wurde. Er wird als Teil eines längeren Essays im Frühjahr 2020 auch in dem Buch „Contemporary European Playwrights“ (Routledge), hrsg. von Maria Delgado, Bryce Lease und Dan R ­ ebellato, erscheinen.


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scheint die Einsicht, dass die politische Sphäre, in der man uns fortwährend mit Freiheit und Menschen­­­ rechten in den Ohren liegt, ohne eine wirkliche soziale Eman­zipation der Menschen von dem materiellen Zwang zur Konkurrenz ein bloßes Trug­bild bleibt. Hans-Thies Lehmann


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Im Westen

nichts Neues Ein Symposium in Berlin feiert zwanzig Jahre „Postdramatisches


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von Martin Müller

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wanzig Jahre alt ist Hans-Thies Lehmanns Baby dieses Jahr geworden. An sein Geburtsgewicht, seine Größe und Seitenanzahl erinnert sich Karlheinz Braun vom Verlag der Autoren noch genau. Er hatte die Ehre, als jemand, der die Entbindung mit­ erlebt hat, eine der Eröffnungsreden des Symposiums „Post­ dramatisches Theater weltweit“ in der Berliner Akademie der Künste zu halten – und machte dabei von Anfang an deutlich, worum es hier geht: eine Geburtstagsfeier. Nichts anderes war die Veranstaltung, auf der man für zwei Tage zusammenkam, um den Einfluss des Buches „Postdramatisches Theater“ auf die weltweite Theaterlandschaft zu zelebrieren. Zu insgesamt fünf Panels waren Gäste aus der künstlerischen Praxis und der Theaterwissenschaft geladen. Es wurde viel geredet, aber nur wenig diskutiert. Viel Zeit wurde eingeräumt für Beschreibungen der eigenen Arbeiten der Panelisten, deren Positionen sich weitgehend überschnitten. Ein wichtiges Merkmal des postdramatischen Theaters, der Diskurs, und damit Reibung, fehlte leider. Einstimmigkeit herrschte beispielsweise größtenteils über die politische Wirkungskraft des postdramatischen Theaters. Wie Lehmann selbst reklamiert: „Dadurch, dass ich Ausgebeutete zeige, bin ich noch lange nicht politisch.“ Es gehe nicht um das Gezeigte, sondern um dessen Wahrnehmung. Nicht das Theater sei politisch, sondern dessen Struktur. Und in der Struktur sei es wichtig, den weltweit die freie Kultur be­ drohenden rechten Kräften keine Chance zu geben, forderte unter Beifall Alexander Karschnia (andcompany&Co.), der sich bestürzt über die massiven Kürzungen des belgischen Kulturetats zeigte. So weit, so einverstanden. Aber die Einleitung eines Panels zu transkulturellen Perspektiven, in der der Leipziger Theaterwissenschaftler Günther Heeg den Vorwurf widerlegen wollte, der deutsche Exportschlager „Postdramatisches Theater“ homogenisiere die Theaterlandschaft weltweit auf neokolonialistische Art, weckte die Frage: Ist das jetzt schon post-ironisch? Der Vorwurf der Verwestlichung sollte entkräftet werden mit einer Durchleuchtung der internationalen Rezeption des Buches. Natürlich hat es allen Panelisten, die aus Hongkong, China, Togo, Brasilien und dem Iran kamen, in ihrer Praxis geholfen. Alle haben aber auch in den jeweiligen Theaterszenen Entwicklungen beobachtet, die zwar mit den im Buch beschriebenen Ästhetiken übereinstimmen, jedoch unabhängig davon stattfanden. Nicht nur in den Zuerst kommt die Kunst, danach die Wissenschaft – Martin Wuttke in „Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte“ (Volksbühne Berlin, 2015), eine Oper von Dirk von Lowtzow und René Pollesch, einem der Podiumsgäste in der AdK. Foto Markus Lieberenz / bildbuehne.de

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west­ lichen Ländern stellt(e) sich eine subversiv-kreative Kraft ­gegen den Konservatismus. Doch widerlegt diese Beobachtung schon Verwestlichungsvorwürfe? Als erst zum Ende des Gesprächs Yinan Li, Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin aus Peking, deutlich machte, dass China ja schon längst verwestlicht sei, ging wohl einigen im Raum ein Licht auf. Ist nicht der konservative (Kunst-)Kanon schon längst erfolgreich exportiert worden und ­daher die sich dagegenstellende Postdramatik die logische Kon­ sequenz? Ausdiskutiert wurde das leider nicht. Fatal ist, wenn, wie im Einleitungsvortrag geschehen, aus der Perspektive einer westlichen Theaterwissenschaft heraus behauptet wird, eine Homogenisierung finde nicht statt. Elektri­ sierend daher der Moment, als Amy Chan, Performance- und ­Installationskünstlerin aus Hong Kong, und Sérgio de Carvalho, Theaterleiter aus Brasilien, mit leidenschaftlichen Erläuterungen über die jeweiligen Situationen bei ihnen zu Hause klar stellten: Für uns Europäer ist nicht vorstellbar, was es heißt, an diesen ­Orten zu leben, geschweige denn Kunst zu machen. Wir sollten uns also nicht anmaßen, zu beurteilen, was in ihren Ländern wirklich los ist. Mehrmals tauchte im Verlauf des Symposiums die Bemerkung auf, repressive Systeme zwängen dazu, politische Positionen indirekt zu äußern. Daraus entstünden kreative Kräfte, die postdramatische Theaterpraxen generierten. Heißt das aber im Umkehrschluss, dass Kunst, die aus weniger repressiven Systemen kommt, weniger kreativ ist? Zumindest berichtete davon der ­argentinische Schauspieler und Regisseur Luciano Cáceres. Nach dem Sturz der Diktatur in seinem Land sei das Theater plötzlich langweilig geworden. Brauchen wir also prekäre politische Verhältnisse für spannende Kunst? Das ist eine der vielen Fragen, die leider auf den Podien nicht verhandelt wurden. Grundsätzlich wurde unisono mit Lehmanns zwanzigjäh­ riger Theorie argumentiert. Was fehlte, war, wie Karlheinz Braun in einem Kommentar feststellte, eine kritische Stimme. Immer, wenn einer bibelartigen Verehrung gefährlich nahegekommen wurde, die Lektüre nämlich als Handlungsanweisung verstanden wurde, erinnerte jemand daran, was Lehmann selbst betont: ­Zuerst kommt die Kunst, danach die Wissenschaft. Will heißen: Die Theorie erfasst lediglich, was in der Praxis schon da ist. Sie ist eine Beobachtung und nicht als Anleitung gemeint. „Postdramatisches Theater“ war, wie Lehmann selbst beteuert, keine Prognose. Die Schrift ist also nicht zukunftsweisend. Zukunftsweisend können allein die künstlerischen Praxen sein – welchen Namen auch immer sie tragen. Ob das Baby jetzt Bibel ist oder nicht – letztendlich hat „Postdramatisches Theater“ Legitimation für zuvor namenlose Kunstpraxen gegeben und Raum für deren Entfaltung geschaffen. Es hat einen wichtigen Beitrag zum Ansehen dieser Theater­formen geleistet und ihnen damit nicht zuletzt zum Zugang zu Fördergeldern verholfen. Zumindest das darf ge­ feiert werden. //

Theater“ – und unterschlägt dabei den kritischen Diskurs

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Missglückter

Theatersport She She Pop und Gäste inszenieren am HAU – Hebbel am Ufer Berlin einen „Kanon“ des Postdramatischen – eine Forensik der Performance-Geschichte wurde es leider nicht von Tom Mustroph


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Es war einmal … – She She Pop und Gäste schwelgen in „Kanon“ selbstvergessen in ihren eigenen Erinnerungen. Foto Dorothea Tuch

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s war eine veritable Traumaufgabe, die sich das Performancekollektiv She She Pop auferlegt hatte. Zum zwanzigsten Jahrestag von Hans-Thies Lehmanns genrebegründendem Buch „Postdramatisches Theater“ ging es im Rahmen des Festivals „Alles ist Material“ am HAU – Hebbel am Ufer in Berlin um die performa­tive Erstellung eines „Kanons“ des Postdrama­ tischen. She She Pop, diesen in Theorie wie Praxis bewanderten Galionsfiguren der Szene, war das Unterfangen natürlich zuzutrauen. Etwas Inzestgefahr bestand allerdings auch. Lehmann hatte schließlich den Studiengang für Angewandte Theater­ wissenschaft an der Universität Gießen mitbegründet, in dem sich auch She She Pop zusammenfanden. Lehmann schrieb sogar in genau der Zeit an dem Buch, als sich She She Pop gründeten; später bezog sich die Gruppe auf die von Lehmann beschriebenen Praktiken. Ihr aninszenierter „Kanon“ im HAU2 umschiffte immerhin diese inzestuösen Klippen. Als „Kanon“-fähig wurden zunächst

Arbeiten der Vorgängergenerationen gewertet. Pina Bausch tauchte auf, Johann Kresnik, Einar Schleef – Künstlerinnen und Künstler also, die schon Lehmann als Beleg für postdramatisches Arbeiten herangezogen hatte. Das Format des Abends war schnell ersichtlich. Eine Person begann, einen wichtigen Theatermoment als persönliche Erfahrung beziehungsweise Erinnerung daran zu erzählen. Die anderen stellten dazu Fragen, griffen schließlich zu Requisiten und versuchten, Situationen des Erzählten szenisch darzustellen. Das erinnerte an Theatersport, erfolgte aber meist nicht so gedankenschnell. Es war auch weniger lustig. Beendet war eine Episode, wenn die Scheinwerferfront dem Publikum direkt in die Augen leuchtete. Dieses Trommelfeuer des Lichts riss diejenigen, die genervt die Lider geschlossen hatten, brüsk aus ihren je individuellen Assoziationsräumen heraus. Die anderen bekamen signalisiert, dass der Abend noch immer nicht vorbei war. Denn leider wurden She She Pop und Gäste dem selbst gestellten und natürlich ironisch verstandenen KanonVorhaben nicht gerecht. Zu wenig Mühe wurde darauf verwendet, die Besonderheit, ja womöglich die Einzigartigkeit des gewählten Moments herauszuarbeiten. Pina Bauschs Tanztheater wurde ridikülisiert, andere Szenen beschränkten sich aufs Namedropping. Wer auf eine Art Forensik der Performance-Geschichte gehofft hatte, wurde enttäuscht. Zu stereotyp waren die Fragen an die Träger der Erinnerung, zu illustrativ blieb das Szenische. Nur bei zwei Episoden wurde deutlich, welches Potential dieses Performance-Format hätte haben können. Einmal ließ Ilia Papatheodorou die Kolleginnen und Kollegen nachstellen, wie die Extremperformerin Ann Liv Young vor acht Jahren in ihrer „Cinderella“-Produktion im HAU3 erst im Prinzessinnenkostüm eigene Fäkalien produziert und sie dann – fein verpackt – dem Publikum mit dem Slogan „Buy my shit“ offeriert hatte. GobSquad-Kollege Sean Patten presste und drückte, bis er sich für die leichtere Übung des Urinierens entschied. Papatheodorou berichtete derweil darüber, in welcher Ohnmachtsposition sie sich als Zuschauerin damals gefühlt hatte, erst recht, als sie von Young zur Mitspielerin auserkoren wurde. Es wäre lohnend gewesen, diesen Macht-und-OhnmachtDiskurs weiter zu vertiefen. She She Pop nutzten die selbst gebaute Absprungrampe aber nicht, sondern bedienten sich eher platter partizipativer Tools. Eine Zuschauerin immerhin steuerte die ­Geschichte von einer Theateraufführung in Avignon bei, die erst durch einen heftigen Regenschauer und die dadurch ausgelöste Irritation von Ensemble und Publikum zur existenziellen Erfahrung geriet. Hier funktionierte zumindest einmal das Frage-undAntwort-Spiel. Und vor dem inneren Auge erstand eine Szenerie. Ernüchternd aber blieb das Fazit. Denn die beiden besten Momente in „Kanon“ betrafen Aspekte, die zum mittlerweile wohltemperierten postdramatischen Theater der Gießener Schule und ihrer Adepten eher selten dazugehören: drastische Provokation à la Young und das Einbrechen der Natur wie im Falle Avignons. „Kanon“ wurde nur gut mit dem Nicht-Kanonischen. Das immerhin ist eine Erkenntnis. //

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Das Kolloquium von Äschnapur München feiert fünfzig Jahre proT – doch statt eines Symposiums hätte man lieber ein neues Werk von Alexeij Sagerer gesehen von Sabine Leucht

er Preis für den besten Spruch geht an Andreas Ammer. „Lieber Alexeij“, sagt der Münchner Hörspielmacher, „ich gratuliere dir zu deinem neuen Stück. Es ist eines deiner radikalsten geworden: ,Das Kolloquium von Äschnapur‘.“ Das Lachen über die Engführung eines eben zu Ende gegangenen zwölfstündigen Symposium-Marathons mit Alexeij Sagerers erstem theatralem Langzeitprojekt „Der Tieger von Äschnapur“, das von 1977 bis 1989 stattfand, vereint Referenten und Zuhörer. Dann geben ­Ammer und der außerhalb Münchens weniger prominente Anton Kaun ein „Kleines Krachkonzert“, das die versammelten Hirne schön leer bläst – und obendrein mehr mit Sagerers unmittel­ barem Theater zu tun hat als vieles zuvor Gehörte. Alexeij Sagerers proT wurde am 27. November 1969 in der Isabellastraße 40 in München eröffnet. Hinter dem Kürzel verbirgt sich offiziell das Prozessionstheater. Prozess oder Protest werden auch gerne mit ihm assoziiert. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter bezeichnet es gar als Proto-Theater, habe es doch viele Mittel der Performancekunst vorweggenommen. Sagerer selbst nennt es schlicht „Theater vor dem Theater“. Prototheatral und postdramatisch war das proT in der Tat bereits dreißig Jahre bevor Hans-Thies Lehmann das Label erfand, das derzeit ebenfalls Geburtstag feiert. Lehmann ist ein Chronist, ein Hinterher-Denker und -Schreiber. Sagerer dagegen ist ein Pionier, An­ packer und Voraus-Macher, der Theater als etwas versteht, in dem alles zum Material wird, auch das Leben selbst. Die Stadt München feierte das fünfzigjährige Bestehen dieser Theaterkunst Ende November mit einem großen Symposium im Münchner Muffatwerk. Im Rahmen der „Vier Tage des Unmittelbaren Theaters“, moderiert vom Münchner Philosophen Thomas Kisser und der Frankfurter Chefdramaturgin und Schauspiel­ professorin Marion Tiedtke, bewegten sich neun Podiumsgäste in je einstündigen Keynotes von sehr individuellen Standpunkten aus auf das Werk des wohl am schwersten zu klassifizierenden Münchner Theatererneuerers zu. Das Uniseminarhafte, das man beim ersten Blick auf das Programm befürchtet hatte, stellte sich nur manchmal ein. Und auch die Steilvorlage für eine Ego-Show ließ das Gros der Rednerinnen und Redner dankenswerterweise liegen. Bis auf Henning Fülle. Der Kulturwissenschaftler streifte das Thema Sagerer kaum. Stattdessen torkelte er mit einem „Ich zitiere mich mal selbst“ durch die Kunst- und Kulturgeschichte und muss als Autor des einzigen Überblicksbandes über die freie Theaterszene Deutschlands („Freies Theater“, Theater der Zeit, 2016) einräumen, dass Sagerer darin nicht vorkommt. Was er auf die Quelle (im Singular) schob, welche er für seine Recherche über München konsultiert habe. Ohne Worte. In ihrem warmen und sehr persönlichen Eröffnungsvortrag erzählt Theater der Zeit-Redakteurin Dorte Lena Eilers von einem spätnächtlichen Spaziergang mit Sagerer, in dessen Verlauf dieser auf die seltsame Idee kam, ihre Beine zu umschlingen und sie in die Höhe zu heben. Die Hebefigur misslang. Beide stürzten um. Doch die Erkenntnis folgte ganz unmittelbar: Misslungen war hier nichts. „Der Sturz war die Figur. Eine reine Bewegung, die weder anerzogen noch einstudiert war.“ Einer von Sagerers berühmten Vorgängen, die sie selbst sein dürfen.


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Von Eilers’ „persönlicher Urszene“ aus begreift man dieses Es-istwas-es-ist-Theater besser als durch seine Einordnung in (Denk-) Systeme. So mag etwa Gilles Deleuzes Begriffspaar „Differenz und Wiederholung“ einen Schlüssel zum Verständnis für Sagerers Werk liefern, aber es legt sich auch wie ein Gewicht darauf. „Der Film ist jetzt viel weniger lustig“, sagt Kisser nach Henning ­Teschkes Referat, in dem der Literaturwissenschaftler den Sagerer-Film „Krimi“ mit der Philosophie von Deleuze kurzschließt. So viel jemand wie Elisabeth Tworek auch über Volkstheater und Volkstheaterzertrümmerer weiß, so anschaulich die Filmjournalistin Dunja Bialas zeigt, wie Sagerer im Film die Materialität des Gefilmten durchsichtig oder erst bewusst macht – die eleganteste Form, über diese besondere Kunst zu sprechen, hat Gabriele Brandstetter gefunden. Im vollen Bewusstsein dessen, „dass die Kunst der Theorie immer etwas voraus hat“, zitiert sie zunächst aus dem Heiner-Müller-Reader „Theater ist kontrollierter Wahnsinn“ eine Stelle, an der Müller das Sich-auf-etwas-Einlassen über das Entschlüsseln stellt: Der Sinn, schreibt Müller, „darf nicht verkauft, verpackt oder angeboten werden. Den müssen die Leute finden oder wenigstens suchen. Suchen ist sogar wich­ tiger als Finden.“ Dieses Zitat könnte durchaus von Alexeij Sagerer stammen. Brandstetters 13 Indizien für, Perspektiven auf oder ­Variationen über etwas, das sie „Sagerers unmittelbares Tanztheater“ nennt, entzünden sich an einem Video von dessen „Tanz in die Lederhose“ von 1992. Detailliert beschreibt sie dessen Bestandteile, den absichtlich falsch tönenden Ländler, zu dem S ­ agerer tänzelt, die „artifizielle Verkomplizierung“ des In-die-­Hose-Hinein­ steigens und die Anteile bewusster Formgebung. Sie spricht vom „armen Theater der Bewegung“ und vom „körper­lichen Denken“. Doch bei allem Begriffs- und Namedropping denkt sie stets mit, dass dieses Einordnen den Gegenstand verfehlen muss. Darin vor allem besteht die ausnehmende Klugheit d ­ ieses Vortrags auf der Höhe aller theaterwissenschaftlichen und kulturtheoretischen Diskurse, der mit dem Satz endet: „Ich bin sicher, Alexeij Sagerer wird das Sinngespinst, das sich hier um sein Theater legt, mit Lust perforieren.“ Das wird er. Denn das Perforieren wie die Lust sind praktisch seine Spezialgebiete. Wie Alexeij Sagerer immer wieder gegen die Repräsentation wettert, vom Her- statt Darstellen spricht, vom „Räume-Öffnen“ (statt -Bespielen), vom unabhängigen „­ Außen“ gegen das „Innen“ der Institution, da kann man schon von einem eigenen subversiven Begriffsuniversum sprechen. Deshalb ist es ein denkwürdiger Moment, als der zur Schluss­diskussion mit dem Künstler gebetene Redakteur der Süddeutschen Zeitung E ­ gbert Tholl fragt, ob er, Sagerer, uns, sein Publikum, mit diesen Begriffen möglicherweise seit Langem an der Nase herumführe. „Kann schon sein“, schmunzelt der – und bringt einen ein bisschen ins Grübeln darüber, ob es enttäuschend oder auf absurde Weise schön wäre, sich das Gesamtkunstwerk Alexeij Sagerer als eines vorzustellen, das uns lustigen Kultur­ äffchen seinen verbalen Schmu wie lose Fäden zuwirft, auf denen wir ihm nachklettern können. Solange dieses Nachklettern immer wieder neue Erfahrungen verspricht, die man sonst nirgendwo machen kann, tun wir das jedenfalls sehr gern. Eine davon gab es zur Eröffnung der „Vier Tage des unmittelbaren Theaters“. Im Mundart-Comic ­„Gschaegn

is gschaegn“, mit dem vor fünfzig Jahren das proT ­eröffnet wurde und der zum Jubiläum praktisch in Originalbesetzung wiederaufgenommen wird, fallen ganze 134 Worte. Die p ­ rominentesten: „Mei Bier möcht i.“ Die gschertesten: „Des Saudiandl, des dreckide.“ Es geht um die Vorgänge des Biertrinkens und Verschüttens, um Schnupftabak und den Willen des „Großkopferten“, dem der seiner Tochter entgegensteht. Genauer ­gesagt: um den Kampf der Naturgewalten Alexeij Sagerer und Agathe Taffertshofer, deren gegensätzlich gepolte Intensitäten den raumlangen Gang zwischen den Zuschauerreihen mühelos überbrücken. In diesem Gang werden Bier, Blicke und Energie prozessiert. Nach einer halben Stunde steckt ein Messer im Leib der Tochter und die Zeit gefriert.

Ein Theaterabend aus lediglich 134 Worten – Wiederaufnahme des Mundart-Comics „Gschaegn is gschaegn“ (hier mit Alexeij Sagerer), mit dem das proT vor fünfzig Jahren eröffnet wurde. Links: Die AchtStunden-Performance „Reines Trinken – Gottsuche“. Foto proT / Simone Lutz / Volker Derlath (links)

Während es in dem Messerstecher arbeitet und zuckt, ohne dass man dieses existenzielle Beben mit Schuld übersetzen könnte, spürt man, wie sehr das Sagerer-­ Theater als Live-Ereignis in ­München fehlt. Also, liebe Stadt München: Bitte wieder fördern! Nur live ist Theater richtig unmittelbar. Dafür müsste Sagerer ­freilich selbst seine neueste Durational ­Performance beenden: die ritualisierte Beantragung einer Fördersumme von null Euro. //

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Hier wütet der Chor Die polnische Regisseurin Marta Górnicka gibt mit ihren energetischen, radikalen, teils monströsen Chören dem Aufbegehren eine aufwühlende Form von Renate Klett


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as fällt einem ein, wenn man an Sprechchöre auf der Bühne denkt? Altgriechische Tragödien, expressionistische Dramen, Agitprop-Theater à la Blaue Blusen und natürlich die Inszenierungen von Einar Schleef. Marta Górnickas Arbeiten haben etwas von alledem: das Volk als Chor, die Lösung des Problems, der Kommentar des Autors, aber sie sind ganz anders. Schon dass eine Frau einen großen Theaterchor leitet, ist ungewöhnlich – und sie tut es denn auch anders als die Männer, mit weichen, fließenden Gesten, eloquenter Rasanz und lustvoller Hingabe an Sprache und Rhythmus. Durch sie und mit ihr schwankt eine weitere männliche Festung im Kulturbetrieb: nach der des Orchesterdirigenten nun auch die des Chorleiters. Aber Górnicka ist auch Regisseurin, Sängerin und Autorin, und eben die Erfinderin einer ganz neuen Theaterform: des Chors als ­Gesamtkunstwerk. Marta Górnicka studierte Theater und Gesang in Warschau und Krakau und hatte ein Ziel, das ihr Angst einflößte. „Die Idee, den Chor zum Protagonisten zu machen, hatte ich schon sehr früh“, erzählt sie. „Ich glaubte an seine Kraft und seine Emotionalität, aber ich war noch jung und traute mich nicht so recht, darüber zu sprechen. Dann begegnete ich Maciej Nowak vom Polnischen Theaterinstitut, und er ermutigte mich immer wieder, meine Ideen auszuprobieren. Schließlich überwand ich alle Scheu und begann, mir das Theater neu zu erfinden: eine neue Ästhetik, neue Körpersprachen, neue Texte, neue Bezugspunkte. Und weil der antike Chor nur aus Männern bestand, wollte ich einen Frauenchor.“ Das erste Stück mit ihrer Gruppe Chór Kobiet (Frauenchor) kommt 2010 auf der Bühne des Polnischen Theaterinstituts in Warschau heraus. Es heißt „Hier spricht der Chor“ und bringt 25 Frauen aller Altersklassen zusammen, bunt gekleidet und barfuß. Der Chor spricht nicht nur, er jault, kreischt, flüstert, stöhnt, zerfällt in einzelne Gruppen und strafft sich wieder zum Unisono. Am Anfang deklamieren die Frauen ein Kochrezept für Baba, das sie während der Vorstellung auch in die Tat umsetzen. (Baba ist ein traditioneller Kuchen – das Wort ist aber in slawischen Sprachen auch eine Bezeichnung für Frau.) Da schmunzelt man noch, aber wenn die Frauen daraus dann ihre Befindlichkeiten und Kampfgelüste ableiten, vergeht einem das gründlich. Die Chorspirale steigert sich in ungeahnte Höhen, wird zur Waffe und reißt das Publikum mit hinein ins Aufbegehren der vermeint­ lichen Klischeefrau, die „jung, schön und sexy“ sein soll. Dem brüllen sie ein trotziges „Sei alt, sei klug, sei du selbst“ entgegen. Die Frauen feiern sich und ihren Protest mit so viel Energie und Körpereinsatz, dass sie und ihr Chor unaufhaltsam scheinen. Wie Marta Górnickas Karriere. So überwältigend war die neue Theaterform, so überraschend und überzeugend, dass ihr frischer Ruhm schnell über die Grenzen Polens hinausdrang. Aber es ist nicht nur die Form, auch der Inhalt begeistert: die politische Radikalität der Aussagen, das feministische Engagement, das Bestreben, sehr unterschiedliche Menschen durch die gemeinsame Arbeit zusammenzubringen, ihre Ängste und Sorgen zu thematisieren. „In dieser Aufführung fand ich, wonach ich so lange gesucht hatte“, sagt Górnicka rückblickend, „den kollektiven Körper, der aus

marta górnicka

lauter Individuen besteht. Und diesen Körper entwickle ich seither immer weiter, mit immer wieder anderen Themen, Bildern und Worten.“ Das Schöne dabei ist, dass dies nicht zur Masche wird, sondern bei jeder Aufführung eine frische Kraft hervorbringt, die aus dem Thema entspringt und jede Routinegefahr überwindet.

„Da die Realität immer monströser wird, muss auch der Chor zum Monster werden“, sagt Marta Górnicka – hier ihre „Hymne an die Liebe“ (2017). Fotos Magda Hueckel

Gleich ihre zweite Produktion „Magnificat“ (2011) gewann ein Jahr später den Preis des Fast Forward Festivals in Braunschweig. Es geht darin um die Jungfrau Maria, die mit ihrer Bescheidenheit und Aufopferungsbereitschaft im katholischen Polen bis heute ein Rollenmodell ist. Der Frauenchor reagiert hier weniger aggressiv als im ersten Stück, aber er vertritt seine Meinung durchaus eloquent. Ihre Vorbilder wollen sich die Frauen lieber selber suchen, und sie werden es tun, das ist klar. Bei „Requiemachine“ (2013) nach Texten von Władysław Broniewski gab es erstmals auch Männer auf der Bühne. Es geht um die Abschaffung der Menschen, die überflüssig geworden sind, da die Maschinen deren Funktion übernehmen. Der Chor wehrt sich dagegen. Die knapp hundert Jahre alte Textvorlage kann einen das Grausen lehren, weil sie fast wie ein Gegenwartsbericht daherkommt. Im gleichen Jahr entsteht im ostslowakischen Košice ihre Arbeit „The Chorus of Roma People“. Die damalige Europäische Kulturhauptstadt hätte sich vielleicht ein erquicklicheres Thema erhofft, aber sie, typisch, wählt den Schandfleck der Stadt. Das dortige Roma-Getto gilt als eines der größten und grässlichsten Europas, und die Arbeit dort war sicher nicht leicht. Doch sie

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schaffte es, einen Chor zu bilden, in dem die Menschen über ihr Leben und ihre Träume sprechen. 2014, mitten im Gaza-Krieg, bringt sie in Israel „Mother Courage won’t remain silent. A chorus for wartime“ heraus. Ein sechzigköpfiger Chor, bestehend aus ­Juden und Arabern, palästinensischen Kindern und israelischen Soldaten, versucht, in der Kunst zu schaffen, was im Leben so schwierig ist: einen gleichberechtigten Dialog. „Das war meine vielleicht wichtigste Arbeit überhaupt“, sagt Marta Górnicka. „Wir hatten Mütter mit ihren Kindern von beiden Seiten, und wir hatten israelische Soldaten. Für sie war es schwierig, weil sie nicht an ‚politischen Aktionen‘ teilnehmen dürfen. Sie waren exzellente Tänzer, und sie lernten bei uns ein neues Body Training, das sie sehr interessierte. Deshalb wollten sie unbedingt mitmachen. Eine Militärkommission überprüfte unsere Arbeit und gab letztlich ihre Zustimmung. Alles war sehr schwierig, weil ja Krieg herrschte. Als wir schließlich im Museum of Modern Art in Tel Aviv spielten, haben viele geweint, auch im Publikum. Durch die politischen Umstände war alles so aufgeladen mit Emotionen und Zweifeln auf beiden Seiten. Aber gerade das schmiedete uns irgendwie zusammen.“

Wie die Gorgonen auf dem Schild der Athene In Braunschweig beschäftigte sie sich ein Jahr später noch einmal mit Brechts „Mutter Courage“ (der Preis, den sie beim Fast Forward Festival gewonnen hatte, bestand aus einer Inszenierung am Staatstheater). Sie nannte ihre Arbeit „Mother Courage“ und verlegte die Handlung in die Gegenwart. Das Chorstück, das, wie alle ihre Aufführungen, genau 45 Minuten dauerte, hatte weniger mit Brecht zu tun als mit ihren eigenen Themen. Es handelt vom zerrissenen Europa, das eine Angela-Merkel-Figur versucht zusammenzuhalten wie die Courage ihre Familie. Beide scheitern. Górnicka schreibt die Texte ihrer Stücke selbst, doch sie fügt viele Zitate ein, von Sophokles bis Jelinek. Die Sprache ist rhyth-

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Der Reichtum des Volkes entsteht durch die Arbeit der Vaginen – „Jedem das Seine“ (2018) von Marta Górnicka. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

misch und körperlich, es gibt auch Musik – gerne Bach-Kantaten –, und die Menschen auf der Bühne sind immer in Bewegung. ­Körper- und Sprechchoreografie sind bis ins Kleinste aufeinander abgestimmt, oft sich widersprechend. Ein großer Atem trägt Aufführung und Regisseurin, die stets live vom Zuschauerraum aus dirigiert, am liebsten aus der zehnten Reihe Mitte. „Ich gehe immer von der Sprache aus“, sagt Marta Górnicka. „Ich versuche, sie zu poetisieren, mit Staccato-, Legato- oder ­Glissando-Elementen zu musikalisieren. Ich versuche, Worte zu entblößen, abgenutzte Sinnklischees zu sprengen, das, was zwischen den Worten steht, herauszutreiben, das Leben zwischen den Worten zu erspüren. Dieses Dazwischen ist manchmal fast am wichtigsten. Es gibt belastete Worte, hinter deren Begriff­ lichkeit etwas Böses schlummert. Bei ‚Hymne an die Liebe‘ zum ­Beispiel wollte ich ein monströs-nationales Liederbuch schaffen. Es beginnt mit der polnischen Nationalhymne, die etwas Verbindendes hat und die Identität beflügelt. Aber man kann auch mit einer Nationalhymne im Mund den Feind töten.“ „Hymne an die Liebe“ (2017) trägt den Untertitel „Für ­Orchester, Plüschtiere und die anderen“. Tatsächlich sind fast so viele Plüschtiere wie Menschen auf der Bühne versammelt, und beide Gruppen sind Polen. Der Chor besteht aus Jungen und ­Alten, Männern und Frauen, stolzen Nationalisten mit entsprechendem Liedgut und Anhängern eines polnischen Supremats, deren frene­tische Abgrenzungsparolen sich zu Angst einflößendem Hundegebell steigern. In einer frühen Variante waren auch Rechtsextreme dabei, aber das ging auf Dauer nicht gut. Die Identität der Nation wird auf den Prüfstand gestellt, mal süffisant, mal entsetzt: Es geht um die Kungeleien der polnischen PiS-Partei, die


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harte Hand der Kirche gegen Abtrünnige und all die Deformationen, die das Land in den letzten Jahren erschüttert haben. Ein Plüschtier liest aus dem Manifest des Amokläufers Anders Behring Breivik, der manchen als Prophet gilt. „Der Chor soll die Realität spiegeln“, führt Marta Górnicka aus, „und da die Realität immer monströser wird, muss auch der Chor zum Monster werden und immer radikaler – so wie die Gorgonen auf dem Schild der Athene. Der Chor muss oft auch grausam sein und hässlich, und das Auge in Auge mit dem Publikum. Das ist nicht immer leicht, aber wir werden uns nicht einschüchtern lassen“, sagt sie und besteht darauf, dass der Titel „Hymne an die Liebe“ trotzdem angemessen ist, auch wenn die Liebe eine verzweifelte ist und die Abrechnung bitterböse. Vielleicht auch, um sich wieder zu versöhnen, lässt sie den Chor als Nächstes die polnische Verfassung vortragen, auf dem Platz vor dem Kulturpalast in Warschau vor neugierigem Publikum, das kommt und geht und viel Gesprächsstoff mitnimmt. 2018 lässt sie zum 3. Oktober das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland am Brandenburger Tor in Berlin verkünden, im Auftrag des Maxim Gorki Theaters. Laufpublikum und Górnicka-Fans vereinen sich, die Dynamik des Vortrags und die halb bekannten, halb vergessenen Sätze erzeugen eine merkwürdige Stimmung aus Wehmut und Stolz. So nahe sind wohl die meisten der ­Zuschauer ihrer Verfassung noch nie gekommen. Im Jahr ­darauf gab es eine weitere Performance vor dem Bundesverfassungs­gericht in Karlsruhe. Seit dieser Spielzeit ist Marta Górnicka Writer in Residence am Maxim Gorki Theater, wo sie unter anderem ein Political Voice Institut gegründet hat.

marta górnicka

schen Stücke von Marta Górnicka. Es bezieht sich auf Frauen-­ Manifeste aus den zwanziger Jahren, das „Scum“-Manifest von Valerie Solanas, die aktuelle „Me too“-Debatte und verwendet Texte von Katja Brunner. Frauen als Fleisch, als Besitz und als Fremde. Der Fremde, so wird gesagt, sei die größte Gefahr für die Frau. Es wird auch gesagt, dass der Reichtum des Volkes durch die Arbeit der Vaginen entstehe, nicht durch die der Hände. Und: „Gewalt lagert sich im Körper ab und lässt sich nicht auslöschen. Sie steckt weiter dort und macht das Loch nur größer.“ Der von den Nazis pervertierte Spruch „Jedem das Seine“ führt Górnicka auch zum heiklen Thema der Lagerbordelle, das bis heute tabuisiert ist. Sie sieht in der absoluten Verfügungsgewalt über den Körper der Frau die Grundlage aller nationalsozialistischen und faschistischen ­Bewegungen und verweist immer wieder darauf. All das wird ausgesprochen, pointiert oder beiläufig. Aber was heißt schon gesprochen – die Sätze werden geschrien, ins Hirn gepeitscht und in den Körper, mit vielfacher Wiederholung skandiert und variiert. Das eben ist Górnickas Kunst: wie sie den Chor stimmlich und körperlich ineinander verkeilt, in ständige Bewegung versetzt, durcheinanderwirbelt oder in Rede und Gegenrede steigert bis zum Kauderwelsch. Jedes ihrer Stücke ist wütendes Pamphlet gegen die Welt, wie sie ist und nicht sein sollte. Mit geballter Kraft und überwäl­ tigendem Effekt klagt der Chor diese Welt an, schreiend, singend, johlend, flüsternd, kreischend. Frauen als Beute und der Krieg für Profit, schutzlose Kinder und der Fremde als Feind. Man weiß das alles, und doch wühlt es auf, macht fassungslos und kann einem noch Tage später den Schlaf rauben. So soll Theater doch sein! //

Das feministischste aller feministischen Stücke „Jedem das Seine“ (Münchner Kammerspiele und Maxim Gorki Theater 2018/19) ist vielleicht das feministischste aller feministi-

Zehnte Reihe Mitte – Von dieser Position im Publikum aus dirigiert Marta Górnicka ihre Chöre. Foto Magda Hueckel

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Ideologischer Kahlschlag Die Regierung in Flandern kürzt die Projektförderung für Kultur um sechzig Prozent – ein Angriff von rechts gegen alles, was progressiv und divers ist von Charlotte De Somviele und Kristof van Baarle

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ie Ergebnisse der Wahlen vom 26. Mai 2019 bedeuteten einen heftigen Rechtsruck für Flandern. Die rechtsextreme, nationalistische Partei Vlaams Belang gewann zwölf Prozent mehr Stimmen als bei den letzten Wahlen und wurde so zur zweitstärksten Partei in Flandern. Die rechts-nationalistische und neoliberale Partei N-VA verlor zwar an Zuspruch, blieb aber unangefochten die stärkste Partei mit fast 25 Prozent Stimmanteil. Zusammen schrammten die beiden Parteien nur um fünf Sitze an einer absoluten Mehrheit im flämischen Parlament vorbei. Es wird darum kaum überraschen, dass die flämische Regierung, die seit diesem Sommer an der Macht ist – eine Koalition aus Libe­ ralen, Christdemokraten und N-VA –, auf rechtspopulistische ­Rezepte setzt wie die Abschaffung des Wohlfahrtsstaats, Meritokratie, Anti-Migrations-Programme sowie eine mutwillige Vernachlässigung des Klimaschutzes.

Kultur gehört in Belgien in die Zuständigkeit der Gemeinschaften Flandern und Wallonien (Brüssel gehört zu beiden), und die Personalunion von Jan Jambon (N-VA) als Ministerpräsident und nebenberuflicher Kulturminister – ein Unikum unserer politischen Geschichte – beweist, wie stark Kultur für eine populistische und nationalistische Stimmungsmache gegen alles, was politisch links, progressiv und divers ist, instrumentalisiert wird. Joachim Pohlmann, Jambons Kabinettschef, spricht gar von einem culture war. Die Bekanntgabe des neuen Haushaltsplans im November 2019 kam einem Anschlag auf das Kulturbudget gleich, die Linie war klar: Kürzungen, Kürzungen und nochmals Kürzungen. Auch die vorigen Regierungen haben die Kulturförderung eingeschränkt: 2014 ging sie um fünf Prozent zurück, 2009 um zwei Prozent. Zudem wurden die Subventionen nicht indexiert, was über die letzten zehn Jahre einer Reduktion um zwanzig Prozent gleichkommt. Die jetzige Einsparrunde jedoch erreicht eine neue Dimension. Abgesehen davon, dass inzwischen alle Organisationen auf dem Zahnfleisch gehen, schafft die Verteilung der Kürzungen großen Anlass zur Sorge. Die großen Organisationen –


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die sogenannten Einrichtungen der Flämischen Gemeinschaft wie deSingel oder Opera Ballet Vlaanderen in Antwerpen – müssen „nur“ drei Prozent einsparen, die strukturgeförderten Organisationen und Kompanien (wie Anne Teresa De Keersmaekers Kompanie Rosas oder das Produktionszentrum Campo) sechs Prozent, die Gelder für Projektförderung werden um ganze sechzig Prozent beschnitten. Gerade die letzte Zahl ist dramatisch und wird weitreichende Folgen haben für den größten Teil der flämischen und Brüsseler Kunstproduktion. Nicht nur Newcomer sind stark abhängig von Projektförderungen. Die kontinuierlichen Kürzungen im letzten Jahrzehnt haben auch mehr und mehr etablierte Künstler und Künstlerinnen an die Projekttöpfe befördert. Die Einsparungen sind doppelt ideologisch besetzt: Einerseits passen sie in das Bild, weniger Unterstützung für die „weichen“ Sektoren, also Kultur und Soziales, zur Verfügung zu stellen und so gleichzeitig die Gestaltung des Zusammenlebens in diesen Bereichen sowie auf dem Gebiet der Jugend- und Fürsorgearbeit einzuschränken. Andererseits sind sie eine Art Zensur, denn kritische Stimmen kommen vorwiegend von Künstlerinnen und Künstlern, die Projektsubventionen erhalten und auf der Suche sind nach einer inklusiveren, diverseren Welt. Auf dieselbe Weise wird auch der kritische Einsatz verdienter Akteure für Chancengleichheit und Integration aus der gesellschaftlichen Mitte an die Kandare genommen. Die neue flämische Regierung stellt das „Primat der Politik“ über alles und bestimmt nun selbst, welche Organisationen relevant sind. Die Rolle von Beurteilungskommissionen, zusammengestellt aus Expertinnen und Experten der jeweiligen Bereiche, wird so eingeschränkt. Die Argumente für die drastischen Kürzungen auf dem Gebiet der Kultur sind verstörend: Innovation passiere an den großen Häusern – etwas, was selbst von den großen Häusern bestritten wird –, und Kunst müsse im neuen Flandern vor allem einen Beitrag leisten zu internationaler Ausstrahlung, Tourismus und ­Exzellenz. Dass – wie der unlängst von der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und dem Theatermacher Ivo van Hove publizierte öffentliche Brief deutlich macht – die heutige Kunstlandschaft vor allem dank des Humus der Projektförderung international als außergewöhnlich exzellent wahrgenommen wird, scheint der Minister bewusst auszublenden. Die bislang zur Verfügung gestellten Fördergelder sind bereits bei Weitem nicht ausreichend, um alle als positiv beurteilten Einreichungen zu honorieren. Die eingreifende Herabsetzung der Projektsubventionen wird, zusammen mit den Kürzungen an den Theaterhäusern, dazu führen, dass immer weniger Kunstschaffende ihre Ideen umsetzen können. Gerade mal eine Handvoll großer Namen wird übrig bleiben. Die Kulturetatkürzungen stehen im schrillen Kontrast zu anderen Investitionen des Ministers, mit denen die Stärkung der flämischen Identität betrieben wird. So geht beispielsweise erneut mehr Geld nach Bokrijk, einem denkmalgeschützten Freizeitpark für prämoderne flämische Kultur, an die Landkommende Alden Biesen, an Opernhäuser und andere prestigeträchtige Institutionen sowie an flämische Literatur und Filmproduktion. Das Motto: Größer und flämischer. Was in diesem Fall zweifelsfrei klein­ geistiger und weltfremder bedeutet.

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Der Protest in Belgien, koordiniert durch das Netzwerk State of the Arts, ist groß und flächendeckend – wie hier vor dem flämischen Parlament in Brüssel Ende November 2019. Fotos Daoud Homam

Der Protest, koordiniert durch das Netzwerk State of the Arts, ist groß und flächendeckend. Sowohl Schauspieler aus den populärsten flämischen Soaps als auch Kunstkoryphäen wie Luc Tuymans standen während der Kundgebungen vor dem Parlament in der ersten Reihe. Zahlreiche Theatermacher laden ihr Publikum nach den Vorstellungen auf die Bühne ein, um damit ein Signal zu setzen, dass Kunst keine elitäre Beschäftigung einiger weniger ist, sondern eine gemeinsame Aktivität mit dem Publikum aus allen Schichten der Gesellschaft. Ebenso sprachen sich internationale Intendanten und Theatermacher wie René Pollesch, Matthias ­Lilienthal und Catherine Wood gegen Jambons Pläne aus. Bislang lässt sich der Minister jedoch durch nichts vom Kurs abbringen. Inzwischen wurden auch die Konturen des Kahlschlags im Bereich der Medien und der Institutionen der gesellschaftlichen Mitte sichtbar. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk VRT muss vierzig Millionen Euro sparen, fast das gesamte Budget für innovativen und unabhängigen Journalismus verschwindet, und die neue Regierung steigt aus dem interföderalen Zentrum für Chancengleichheit Unia aus. Der Widerstand gegen dieses Programm organisiert sich daher auch sparten- und institutionsübergreifend. So gingen am 5. Dezember die Akteure aus Medien, Kultur und sozialer Arbeit zusammen auf die Straße. Überall tauchten Menschen mit gelben Mundmasken auf – ein Verweis auf das Mundtotmachen der weicheren Sektoren und das Streben nach Inklusion. Es sieht danach aus, als wäre diese Solidarität dringend notwendig. Kunst kann nur im Zusammenleben einer offenen und inklusiven Gesellschaft überleben. //

Aus dem Niederländischen von Astrid Kaminski.


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Orbáns Rache Ein neues Kulturgesetz der ungarischen Fidesz-Regierung will die Theater gleichschalten und die freie Szene ausbluten von Anja Nioduschewski

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enau eine Woche nachdem das dunaPart-Festival in Budapest vom 27. bis 30. November 2019 die wichtigsten Theaterarbeiten der freien Szene Ungarns internationalen Besucherinnen und Besuchern präsentiert hatte, sickerte die Novelle für ein Gesetz des Kabinetts Viktor Orbán durch, das die gesamte freie Theaterszene in ­ihrer Existenz bedrohen sollte und in Aufruhr brachte. Das Gesetz zielt nicht nur auf eine „strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung“, sprich auf Zentralisierung und die Einschränkung künstlerischer Freiheit ab. Neben der geplanten Schaffung ­eines „Nationalen Kulturrats“ enthält es tendenziöse Neuregelungen zur Kulturfinanzierung und befördert die Ausweitung der Interventionsrechte der Regierung in den Kulturinstitutionen. Dieser unverblümte Angriff der rechtsnationalistischen Fidesz-Regierung auf die Kunstfreiheit betrifft nicht nur das Theater, sondern genauso Literatur, Musik und so weiter. Er betrifft nicht nur die freie Theaterszene, sondern genauso die Stadttheater. Denn das Gesetz legt auch ein Vetorecht des zuständigen Ministers bei der Bestellung von Intendanten staatlich subventionierter Häuser fest. Für die freien Spielstätten plante man zunächst die komplette Streichung von Betriebskostenzuschüssen, was diese vor das Aus gestellt hätte. Auch der Nationale Kulturfonds, bei dem sich die meisten freien Gruppen um Projektgelder bewerben, sollte im natio­nalen Interesse neu aufgestellt werden. Schätzungsweise drei Viertel aller freien Theaterproduktionen werden durch diesen Fonds finanziert. Wie schon oft agierte die Fidesz-Regierung quasi über Nacht: mit einem beschleunigten Gesetzgebungsverfahren, bei dem nur drei Tage für die Prüfung eines Gesetzesvorschlags vorgesehen sind. Doch der zuvor geleakte Entwurf empörte selbst Fidesz-nahe Theaterleiter und führte zu einer in den vergangenen

zehn Jahren vermissten Solidarisierung unter den Theatermachern des Landes. Innerhalb von drei Tagen unterschrieben über fünfzigtausend Unterstützer eine Petition an die Abgeordneten. Drei Tage lang verlasen Schauspieler auf den Bühnen ihre Statements und fotografierten sich zusammen mit dem Publikum in einer bestimmten Geste des Protests. Als Protest-Meme ging ein altes Fernsehtestbild viral. Am 9. Dezember demonstrierten schließlich 13 000 Theatermacher und Unterstützer auf dem M ­ adách-Platz in Budapest für „freie Theater und eine unabhän­gige Kultur“. H ­ atten sich die Stadttheater bei ähnlichen Angriffen auf die freie Szene in den vergangenen Jahren in Schweigen g ­ ehüllt, standen sie hier nun endlich zusammen. Mit Erfolg – für ungarische Verhältnisse. Im eingereichten Gesetzesentwurf tauchte die geplante Streichung der Subventionen für freie Theater nicht mehr auf, ebenso die zentralistische Umstrukturierung des Nationalen Kulturfonds, obwohl an Letzteres noch niemand recht glauben will. Zu oft hat die Fidesz-Regierung die Strukturen und Kriterien für Kultur­ förderung von heute auf morgen geändert. Am 11. Dezember verabschiedete sie mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament schließlich dieses in Teilen entschärfte, aber nicht weniger gefährliche Gesetz. Einige Abgeordnete trugen bei der Abstimmung aus Protest schwarze Masken. Bereits in den vergangenen zehn Jahren unter der Regierung Orbán ist die freie Szene durch massive Kürzungen des Kulturetats sukzessive ausgedünnt worden. Mittlerweile ist die Finanzierung für freie Theatermacher mehr als prekär, selbst für erfolgreiche Regisseure und Gruppen, die Ungarns Theater erst weltweit bekannt gemacht haben. Regisseure wie Kornél Mun­ druczó oder Viktor Bodó können nur noch durch K ­ oproduktionen mit internationalen Festivals Aufführungen stemmen oder inszenieren gleich im Ausland. Árpád Schilling wurde 2017 vom Ausschuss für Nationale Sicherheit offiziell zum „Staatsfeind“ erklärt. Wie wichtig der Protest-Erfolg ist, lässt sich an den zuvor am Rande des dunaPart-Festivals geführten Gesprächen ermessen,


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Geste des Protests – Die Schauspieler von Kristóf Kelemens Inszenierung „Observers“ protestieren am 8. Dezember gemeinsam mit dem Publikum im Kunsthaus Trafó in Budapest gegen das neue Kulturgesetz. Foto Reuters / Tamas Kaszas

bei denen wiederholt von Lähmung, Stillhalten und Selbstzensur unter Theatermachern die Rede war. Auch die Stadttheater fürchten um ihre Etats, ihre Intendanten werden seit Jahren sukzessive gegen Fidesz-genehme Akteure ausgetauscht, die der „grund­ legenden Erwartung“ der Regierungspartei genügen, „die Interessen des Erhalts, des Wohlergehens und des Gedeihens der Nation aktiv (zu) schützen“ – wie das neue Gesetz noch einmal betont. Viele fühlen sich an die Zeit vor 1989 erinnert. Orbáns aktueller Vorstoß erscheint wie die Rache der Fidesz für die Mitte Oktober verlorenen Kommunalwahlen in Budapest und zehn anderen Städten. Dass der neue links-grüne Oberbürgermeister Budapests Gergely Karácsony auf der Demonstration gegen das Gesetz eine Ansprache hielt, dürfte Orbán nicht erfreut haben. Karácsonys Satz „Wenn wir die Freiheit der Theater verteidigen, verteidigen wir die Freiheit der Stadt“ rekurriert in gewisser Weise auf den Umstand, dass sich Ungarns freie Szene vor allem in der Hauptstadt konzentriert. Und die erschien bei der diesjährigen dunaPart-Ausgabe zumindest nicht mundtot. Alle Themen, die man in der ungarischen Öffentlichkeit von Fidesz verbrämt und mit Hasskampagnen verfolgt sieht, kamen hier auf die Bühne: Europa, Roma, Feminismus und die in Ungarn kaum aufgearbeitete Vergangenheit der sozialistischen Ära. Zudem entbehrte es nicht der Ironie, dass das vom Kunsthaus Trafó ausgerichtete Festival zu einem Drittel indirekt (über die Summa-Artium-Stiftung) mit Geldern der Soros Foundation gefördert wurde. Dass das Trafó als einziges staatlich finanziertes freies Theater Ungarns seine Co-Finanzierung bei Orbáns Lieblingsfeind George Soros suchte, darf als ziviler Ungehorsam verstanden werden. Anders als an den Stadttheatern, wo wieder vermehrt das Zwischen-den-Zeilen-Lesen aus sozialistischen Zeiten gepflegt wird, nahmen viele der beim dunaPart gezeigten Produktionen direkten Bezug zur Gegenwart. So lieferte zum Beispiel die ­Gruppe Stereo Akt mit „European Freaks“ eine von humanoiden Showmastern aufgeführte Marktforschungspersiflage zum Thema EU. Veronika

Szabó wiederum drehte mit ihrer Performance „Queendom“ bildstark am Regler normativer Zuschreibungen und R ­ ollenbilder von Frauen. Dem gegenüber standen Produktionen wie dollardaddy’s „Nobody’s Daughter“ nach dem Roman von Zsigmond Móricz, die in tradierten ungarischen Stoffen Fragen von Identität oder Gleichberechtigung aufsuchten, dann aber trotz eines durchaus modernen ästhetischen Zugangs die sozialen Restriktionen der Vergangenheit wie ein Schicksal annahmen. Als einer der berühmtesten ungarischen freien Regisseure war Béla Pintér ver­ treten: Er feierte mit seinen „Jubilee Talks“ das zwanzigjährige Bestehen seiner Company – als eine aus dem R ­ uder laufende, ­sarkastische wie surreale Pressekonferenz, die sein Œuvre zitierte und Seitenhiebe auf die aktuelle Politik austeilte. Als ein – von den Kuratoren des Festivals allerdings nicht intendierter – Schwerpunkt stellte sich mit Produktionen wie Mihály Schwechtjes ­Erzählung vom Verkauf von Roma-Kindern in „The Legacy“ oder der radikal-ironischen Aneignung rassistischer Z ­ uschreibungen durch das Roma-Ensemble T6 in „Gypsy Hun­garian“ eine Auseinandersetzung mit der Minderheit der Roma dar: als Frage von Repräsentanz und Zugehörigkeit in einer G ­ ­ esellschaft, in der ­„Zigeuner“ mit ungarischem Pass keine U ­ ngarn sind. Ähnlich frontal im Spiel wie das T6 knallte das E ­ nsemble um den Regisseur András Urbán in „Sacra Hungarica“ dem P ­ ublikum den ­ganzen Hass, der im Land gärt, in einer Art geständnissüchtigem Anonyme-Ressentiments-Treffen an den Kopf – bis es mit Dosengulasch-beschmierten Oberkörpern Lieder gegen Migranten anstimmte. Hier fällt der Satz „Ungarn sind geborene Rechte“ – nur um in der nächsten Inszenierung, in Kristóf Kelemens „Observers“, als „Ungarn sind geborene Spitzel“ etwas verändert wiederaufzutauchen. Die Inszenierung war die künstlerisch vielversprechendste des Showcase, erhielt den Preis für zeitgenössisches Theater und war schon beim Festival Fast Forward 2019 in Dresden zu sehen. Kelemen, Jahrgang 1990, erzählt nach einem historischen Fall die Umtriebe des ungarischen G ­ eheimdienstes an der Budapester Filmhochschule der 1960er Jahre. Kontrolle, staatliche Einflussnahme und eine Kultur des g ­ egenseitigen Verrats, die hier wie ein Sechziger-Jahre-Krimi-Plot entwickelt werden, ­suchen keinen vordergründigen aktuellen B ­ ezug – und doch steht eine heute oft gehörte Behauptung wie der Elefant im Raum: dass die autoritäre Versuchung der Ungarn ein Erbe des Gulaschkommunimus ist. Ob es unter dem neuen Gesetz im kommenden Jahr eine Festival-Ausgabe geben wird und was das Gesetz für das Trafó bedeutet, kann György Szabó, der Gründer und heutige Geschäftsführer des Trafó, noch nicht sagen. 2012 hatte die ­Fidesz-Regierung ihn schon einmal kurzzeitig aus der Leitung ­gekickt. // Der Aufenthalt der Autorin beim Festival dunaPart wurde vom Goethe-­ Institut unterstützt.

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Die Zeit der weichen Uhren

Sven Müller, neuer Intendant am Theater Neubrandenburg und Neustrelitz, führt das Haus gemeinsam mit Schauspielchefin Tatjana Rese mit neuem Selbstbewusstsein von Gunnar Decker


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o ist die Uhr, die immer falsch ging?“ So lautet die Eingangsfrage in Lewis Carrolls rasanter Zeitreise „Alice im Wunderland“, die vor Weihnachten in Neustrelitz in der Regie von Tatjana Rese zur Premiere kam. Ein absurder Wettlauf mit der Zeit! Wer hat gewonnen? Sie ist davongelaufen! Welch eine geballte Ladung Philosophie hüpft, schlendert, schleicht und tanzt da über die ­ Bühne, die ein fantastischer Raum ist, in den man nur durch einen Spiegel gelangt (Ausstattung Jan Pusch und Wobine Bosch). Alice ist hier eine Tänzerin (alternierend Karoline Chmelensky und Judith Bohlen), eine fast stumme Begleiterin durch die Abgründe der Fantasie. Was ist Zeit, Chronos oder Kairos, der erfüllte Augenblick? Der Carroll-Text hat viele Böden, und Tatjana Rese macht sie in ihrer Inszenierung alle sichtbar – jeder, der will, kann weit gehen in diesem Labyrinth. Da zeigt sich ihre große Sicherheit im Umgang mit aufschließenden Bildern auf der Bühne. Poesie bedeutet hier, Übergänge von sinnlichem Spiel zu gedachter Form zu finden. Mal unmerklich fließend, mal abrupt mit hartem Schnitt hinüberwechselnd. Wann also ist er da, der richtige Augenblick? Nicht zu früh und nicht zu spät! Erst hinterher weiß man, ob man ihn erkannt und ergriffen oder aber versäumt hat. Es ist der Augenblick, in dem etwas ganz anders wird, sich die Dinge verwandeln. „Alice im Wunderland“ hat viel mit dem Weg dieses Theaters selbst zu tun. Groß war die Gefahr, und an Rettung glaubte fast ­niemand mehr. Dann kam sie überraschend doch noch, in letzter Sekunde. Wenige Tage vor Inkrafttreten der lang geplanten – und ebenso lang und heftig kritisierten – Fusion des Theaters ­Vorpommern in Greifswald, Stralsund und Putbus mit der Theater und Orchester GmbH in Neubrandenburg und Neustrelitz wurde diese von der Landesregierung in Schwerin gestoppt. Das war 2018. Mittels Theaterpakt wurde beiden Theatern eine, so sagt man wenigstens, für die nächsten zehn Jahre finanziell gesicherte Perspektive geboten. Tatjana Rese war gerade in Neustrelitz angekommen, als wieder alles anders war. Dirk Löschner, Intendant des Theaters Vorpommern, hatte sie im Jahr zuvor angesprochen, ob sie ihm nicht bei der fast unlösbaren Aufgabe, ein Theaterkombinat von Neustrelitz bis Putbus zu managen, beistehen wolle. Doch kaum war sie in Neustrelitz, wurde kräftig an den Zeigern der Uhr gedreht. Die Eigenständigkeit blieb erhalten. Seit Beginn der vorigen Spielzeit ist Tatjana Rese Schauspieldirektorin am Haus, seit dieser Spielzeit hat die Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg und Neustrelitz auch einen neuen Intendanten, Sven Müller, der bislang vor allem als Operndirektor in den großen Städten dieser Welt arbeitete. Er kam, nachdem alle Schlachten geschlagen – und gewonnen – waren. Jetzt kann er sich darauf beschränken, die vielen geplanten Projekte vorzustellen. Er tut dies in der wohlgefälligen Art von jemandem, der bloß noch gute Botschaften zu verbreiten hat. Gerade inszeniert er von Puccini „Il trittico“ („Das Triptychon“), das im Januar herauskommt. Im Sommer, in der Open-Air-Saison, wird es Offenbachs „Pariser Leben“ geben. Das Aufatmen, das nach der Was wäre, wenn Fontanes Effi Briest heute zurückkäme? – So lautet die Ausgangsfrage von Gregor Edelmanns „Effi B.“ (hier mit Klaudia Raabe). Foto Christian Brachwitz

theater neubrandenburg_neustrelitz

Rettung der Eigenständigkeit durch die Häuser in Neustrelitz und Neubrandenburg ging, spürt Sven Müller jedoch immer noch. Es schafft neue Normalität und Selbstbewusstsein. Endlich steht man nicht mehr auf Abruf ins Ungewisse, endlich bestimmen nicht mehr andere über die eigene Zukunft, sondern man selbst! Endlich hat man auch die Sicherheit, sich lustvoll einem solchen Wechselbad der Gefühle auszusetzen. „Das Triptychon“ beginnt mit dem „Mantel“, einer Tragödie, die sich dann aber nach „Schwester Angelika“ im dritten Teil, „Gianni Schicchi“, in eine Komödie verwandelt. Auch das passt in die erste Spielzeit in neuer alter Selbständigkeit. Das Schauspiel hat Tatjana Rese bereits mit ihren ersten ­Inszenierungen geprägt. Die Neustrelitzer stehen, anders als die Neubrandenburger, in einer langen Theatertradition und sind bereit, sich auch formal mutigen Inszenierungen auszusetzen. Die Neubrandenburger bevorzugten im Theater bislang leichte Unterhaltung, stolz sind sie vor allem auf ihre Konzertkirche. Mit diesem Schisma im Theaterverbund muss Rese umgehen lernen, das lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Tatjana Rese war in den achtziger Jahren künstlerische Mitarbeiterin von Alexander Lang am Deutschen Theater in Berlin. Befreundet war sie mit dem quasi dissidentischen Autor Georg ­Seidel, der als Beleuchter am Deutschen Theater arbeitete und ­nebenbei großartige Stücke schrieb. „Jochen Schanotta“ führte sie 1986 in Schwedt auf, und auch nach Seidels frühem Tod 1990 inszenierte sie erfolgreich seine Stücke. Mit über sechzig und Dutzenden Inszenierungen im Rücken erobert sich Rese nun das Theater Neubrandenburg und Neustrelitz mit solch erfrischender Energie, als wolle sie ihr Debüt geben. So etwas überzeugt hier. In „Unterleuten“ nach Juli Zeh in einer eigenen Theaterfassung porträtierte die Schauspielchefin in der vergangenen Spielzeit ein fiktives Dorf im Osten, wo die Menschen auch meinen, die Uhren gingen immer falsch. Man steckt zwischen den Zeiten fest. Ein Bestiarium, wo schöne Seelen mit Dämonen kämpfen. Und am Ende zeigt sich, dass die schöne Seele oft bloß die Maske des Dämons ist. Der Investmentkapitalismus kommt mit großen Versprechen hierher, aber da ist er nicht der Erste, der kommt – und wieder gehen muss, unverrichteter Dinge. Denn die Menschen hier sind sich ihrer Autonomie bewusst, gemeinhin nennt man das starrsinnig, querköpfig, querulantisch. Ein Vertreter der Windkraftenergiewirtschaft gibt sich alternativ und will die Leute dazu bringen, dass sie ihr Land für Windkrafträderparks verpachten. Nach seinem langen Gang durch die Dörfer der Region weiß er, was am Ende stehen muss: „Ich brauche keine Zustimmung, ich brauche nur Resignation.“ So brutal geht es zu bei dieser Landnahme. Der „urbane Wahnsinn“ macht vor den länd­ lichen Idyllen nicht halt, im Gegenteil. Früher kämpften sie hier mit der LPG, heute mit Investmentfirmen. Was früher die Ideologie war, ist heute aggressives Marketing: Entmündigungsstrategie. All dem schafft Tatjana Rese ein Tableau, bevorzugt dabei auch immer wieder die Guckkastenperspektive. Die Bühne: ein Modellfall fürs Leben, die jedoch nach eigenen ästhetischen Gesetzen funktioniert. Diese reizt sie gern aus bis ins Aberwitzige. So auch in dem Liederabend der etwas anderen Art „The Cosmic Five“ mit dem Untertitel „Helden und ihre Lieder – live aus dem All“. Da schlägt sie den Bogen von Matthias Claudius‘ „Der Mond ist aufgegangen“ bis zu David Bowies „Space Oddity“ und Peter

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Schillings „Major Tom“. Dabei kann man Fragen beantworten wie: „Stirbt Gott, wenn der Urknall erklärt ist?“ Unbeantwortbar bleibt die Frage, was die „Bordkatze Schrödinger“ eigentlich ist, jenes Gedankenexperiment, das der Physiker Erwin Schrödinger 1935 anstellte, um die Quantenphysik zu erklären. Darin kommen eine Katze, ein Geigerzähler in einer Kiste, ein Hammer und eine Giftampulle vor. Aber, so heißt es resigniert, das sei ungefähr so kompliziert wie die Abseitsregel im Fußball. Nein, Theater muss nicht alles erklären, nicht alles aussprechen, nicht alles zeigen. Es bleibt ein unerforschter Raum, eine Blackbox samt magischer Apparatur. Das ist dann ungefähr so wie in dem Gedicht von Joachim Ringelnatz „Die neuen Fernen“, wo es über die Stratosphäre heißt: „Wenn man da die Augen schließt / Und sich langsam selbst erschießt, / Dann erinnert man sich gern / An den deutschen Abendstern.“ Ob in der Stratosphäre die Uhren auch immer nur falsch gehen wie bei „Alice im Wunderland“, ob sie vor sich hin rasen oder ganz stehen bleiben? Nicht zufällig hat Dalí seine „weichen Uhren“ gemalt, weil nichts so unbestimmt ist wie die Zeit. Die Zeit zerrinnt wie ein heißer Camembert, aber ist wenigstens die Erinnerung beständig? Darum geht es nicht zuletzt in der Uraufführung „Effi B.“ nach Fontane von Gregor Edelmann. Der doppelte inszenatorische Zugriff auf den Text als etwas ebenso Artifizielles wie Lebendiges, das suggestive Spiel mit Nähe und Distanz entwickelt hier eine ganz eigene Art von Magie. Die Ausgangsfrage lautet: Was wäre, wenn Effi Briest heute zurückkäme und noch einmal in ihre Geschichte einstiege? Gewiss wäre sie etwas skeptischer, etwas weniger naiv und auch selbstbewusster. Man muss sich das vorstellen!, sagt Tatjana Rese, als wir uns vor der Vorstellung in ihrem kleinen Büro gleich neben der Pförtnerloge treffen: Effi (Klaudia Raabe) wird verheiratet mit Innstetten (Jonas Münchgesang), der der ehemalige Geliebte ihrer Mutter ist. Er könnte ihr Vater sein – wenn da nicht alle Uhren falsch gehen! Das habe sie daran interessiert: die Metaphorik eines Spukhauses, in dem Effi zu wohnen gezwungen ist. Über ihr ein leerer Raum, in dem viel zu lange Gardinen bei jedem leisen Luftzug über den Boden schurren wie Spukgestalten. Das war ihr wichtig: Keine Chronologie wie im Roman wollte sie auf die Bühne bringen, sondern der Logik von Traum und Albtraum folgen.

Sven Müller, geboren 1964 in Hamburg, studierte Musikwissenschaft und Musiktheaterregie in seiner Heimatstadt. Nach Tätigkeiten als freier Regisseur wurde Müller von 2000 bis 2003 als Künstlerischer Betriebsdirektor an die Oper Graz geholt. 2004 wurde er dort Operndirektor. Darauf folgten Stellvertretende Künstlerische Leitungen der Nationaloper in Lissabon 2007 und der Königlichen Oper Kopenhagen ab 2008. Von 2012 bis 2017 übernahm er die Leitung des Hauses in Kopenhagen. Er ist Ritter des dänischen ­Dannebrog-Ordens. Seit 2019 ist Müller Intendant der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg und Neustrelitz. Foto Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg und Neustrelitz

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Erst stirbt Effi den sozialen Tod, dann den physischen. Oder nein, zuallererst den seelischen. Dabei hätte sie sich, wenn sie Kraft gehabt hätte, sich zur Eigenständigkeit zu entschließen, aus der Rolle der von der bürgerlichen Gesellschaft Verurteilten durchaus befreien können, wie es Elisabeth von Ardenne tat, die das Vorbild für Fontanes Roman war. Diese arbeitete bis ins hohe Alter als Krankenpflegerin, arm, aber selbstbestimmt. Doch Fontane lässt Effi als verwöhntes Wohlstandskind daran sterben, dass sie sich eben nicht zum vollständigen Bruch mit der bisherigen Zeit­ rechnung ihres Lebens entschließen kann. So also tötet eine ungebrochene Kontinuität der Zeit, eine übermächtige Erinnerung. Dazu sehen wir in einer Videoprojektion auf dem Bühnenhintergrund das bewegte Meer, scheinbar nur dazu da, um in ihm für immer zu versinken. „Bist du so ruhig über Sterben“, fragt sie die Mutter, als Effi wieder – als verstoßene Ehefrau, der man das Kind wegnahm – bei den Eltern lebt, oder besser: vor sich hin stirbt. Hier ist die Zeit dann ganz und gar ein unkontrollierbarer Strom, der Effi mit sich reißt. Natürlich bringt Tatjana Rese ihre vierzigjährige Berufs­ erfahrung mit nach Neustrelitz. Seitdem sie 1979 am Deutschen Theater als Regieassistentin anfing, hat sich vieles ereignet, für das sie immer neue künstlerische Ausdrucksformen suchte – und fand. Nach der Wende war sie Oberspielleiterin in Esslingen, Schauspieldirektorin in Braunschweig und Detmold. Eine Herzenssache war für sie, 1990 in Esslingen „Carmen Kittel“ und zwei Jahre zuvor in Schwedt „Königskinder“ von Georg Seidel zu inszenieren, Letzteres als Uraufführung. Nun hat sie es sogar geschafft, einen anderen alten Weg­ gefährten zurück zum Theater zu holen: Gregor Edelmann. Selt­ samerweise kennt man ihn kaum, dabei ist er überaus erfolgreich, schrieb die ZDF-Serien „Der letzte Zeuge“ mit Ulrich Mühe und „Flemming“ mit Samuel Finzi. Tatjana Rese kennt ihn bereits aus ihrem gemeinsamen Germanistik-Studium an der Humboldt-­ Universität Berlin. Danach arbeitete er im Henschel Verlag, betreute dort die Stücke von Heiner Müller und schaffte es sogar, die „Wolokolamsker Chaussee“ durch die Zensur zu bringen. Nach der Wende stürzte er sich, bevor er erfolgreicher Serienautor wurde, in die ­medialen Abgründe des Westens und schrieb für die Bild-Zeitung. Als Tatjana Rese sich noch einmal dazu überreden ließ, als Schauspieldirektorin fest ans Theater zu gehen, dachte sie sofort an Edelmann. Der hat den richtigen Instinkt, vereinigt Heiner Müller und die Bild-Zeitung, der muss mit nach Neustrelitz! Und Edelmann sagte tatsächlich zu. Als Erstes schrieb er für Tatjana Rese „Falladas Traum“, der in der vergangenen Spielzeit erfolgreich lief, sogar in Neubrandenburg, und das will was heißen. Nun also „Effi B.“ – eine Befragung von Erinnerungs­bildern, Rollenklischees und Umbrüchen, in denen die Zeit zu rasen oder und stillzustehen scheint, manchmal sogar beides zugleich. Er selbst meint dazu, der einzige Ort, an dem er noch träumen könne, sei das Theater: „Mein Traum vom Theater hat immer mehr mit dem Traum im Theater zu tun, einem anderen Blick auf die Wirklichkeit, einem anderen Sehen. Wo Wahrheit nicht mehr zu haben ist im Bürgerkrieg der Fake News, wird der Wechsel der Perspektive zur Überlebensfrage.“ Wenn das nicht ein schmaler Streif Hoffnung ist am Horizont, Kairos statt Logos, nun auch in Neubrandenburg und Neustrelitz! //


kolumne

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Kathrin Röggla

Die Abschaffung der Arten Was kann die Dramatik tun, um sich gegen ihr Verschwinden zu wehren?

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m Anthropozän, genauer gesagt, im Zeitalter des Klimawandels, ist man in der EU an den Punkt gekommen, eine Liste von zu rettenden Tierarten erstellen zu lassen. Jedes Land solle eine Liste der Tiere anfertigen, die zu retten seien, für alle sei natürlich kein Platz, als würde es jetzt auf eine Art neoliberal abgespeckte Arche Noah gehen, für die die Tiere erst ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen müssten. Übertragen auf das deutschsprachige Stadt­ theater würde das heißen: Regie ja, Bühnenbild ja, Tanz ja, die Dramatik eher nein. Richtiggehend eingeklemmt wirkt sie in einem Prozess des Verschwindens, nennen wir es ruhig radikaler Bedeutungsverlust. Sie stottert in einer Dienstleistungsfunktion herum, scheint dort nur durch das Regime des Artenschutzes zu überleben, geradeso geduldet von Regie und Dramaturgie. Was kann die Dramatik also tun, um sich gegen ihre Abschaffung zu wehren? Ein eigenes Theater gründen. Ein Modell wäre das Théâtre du Rond-Point in Paris. Das bis 1994 von Jean-Louis Barrault, bekannt durch den Film „Kinder des Olymp“, geleitete ­Theater hatte sich in den nuller Jahren als Autorentheater neu gegründet, und zwar als von einer Autorenvereinigung organisiertes zeitgenössisches Theater, das nur Texte von lebenden Autorinnen und Autoren spielt, wie gerne betont wird. Lebendigkeit und Sichtbarkeit indes scheinen sich in dieser Kunstform seit Neuestem wieder auf einen Widerspruch zuzubewegen. Man sollte es nicht glauben, wo doch gleichzeitig vom Stadttheater als Uraufführungsmaschine gesprochen werden muss, die Zahlen sprechen ja dafür. Sind es allerdings „echte“ Uraufführungen originär dramatischer Texte? Oder nicht oft Umarbeitungen von Romanen, kleine Rechercheproduktionen von Dramaturginnen und Dramaturgen, szenische Lesungen oder sogenannte Uraufführungsmarathons? Geht es mehr um die Behauptung der Uraufführung, ist diese wirklich sichtbar oder wird sie versteckt in den kleinsten Spielstätten mit dem Label „Jugendförderung“ (vgl. Artenschutz)? Was kann die Dramatik also tun? Eine andere Möglichkeit wäre, eigene Zusammenschlüsse zu initiieren wie das von Maxi Obexer und Sasha Marianna Salzmann gegründete NIDS – Neues Institut für dramatisches Schreiben, den an die Zürcher Winkelwiese angeschlossenen Dramenprozessor oder das Netzwerk der Münchner Theatertexter*innen. Eine weitere Möglichkeit ist die Kontaktaufnahme zu bestehenden Institutionen, zum Deutschen

Bühnenverein, zum Bund der Szenografen, zum Netzwerk Regie (beide sind bezeichnenderweise schon besser aufgestellt), oder die Wiederaufnahme gewerkschaftlicher Bemühungen, wie sie die Leipziger Dramatiker-Union über fast eineinhalb Jahrhunderte unternommen hat. Kurz vor Jahresbeginn wurde eine solche Plattform im Haus der Statistik in Berlin gegründet, federführend sind David Gieselmann, Ulrike Syha, Maxi Obexer, Rebekka Kricheldorf, Rolf Kemnitzer, Katharina Schlender, Maria Milisavljevic und viele mehr. Es waren in Berlin Anfang Dezember glatt sechzig Theatertexte verfassende Menschen zusammengekommen, und zwar nicht nur, um sich gegen die Abschaffung der Dramatik zu wehren, sich um Altersabsicherung und Umsatzsteuer zu kümmern, sondern auch, um neue Sichtbarkeiten zu erzeugen, Literarizität, Dramatik als Kunstform zu betonen, wie es Maxi Obexer hervorhebt. Das haben tatsächlich andere Institutionen und Orte jenseits des Stadttheaters, an denen Dramatik plötzlich einen neuen Auftritt erlebt, bereits erkannt. Das Vorbild ist das ensemble-netzwerk. Es wird über eine festere Etablierung der Hausautorenschaft nachgedacht, über eine andere Einbindung der Wissenschaft, über die Möglichkeiten, die Bibliotheken oder Internetplattformen bieten. Es bleibt zu hoffen, dass daraus mehr wird. Warum? Ein Theater ohne dramatische Texte, ohne eine starke Autorenschaft ist nicht nur arm, sondern schafft sich selbst ab. Sagt wer? Natürlich die Autorin. Selbstverständlich spreche ich pro domo, wer wollte mir das vorwerfen, aber ich tue dies aus vielen Gründen. Die Gründe sprechen sich nicht für ein Theater „von vorgestern“ aus, sondern für ein gleichberechtigtes Spiel der ästhetischen Kräfte. Die Dramatik gehört genauso ernst genommen wie die ­Regie, wie das Bühnenbild, wie der Tanz. Dramatik ist eine Kunst, muss ich leider wieder betonen. Und Sprachkunst auf der Bühne ist genauso wenig unpolitisch oder abgehoben, wie es die Existenz eines Bühnenbildes oder der Auftritt von Schauspielerinnen und Schauspielern ist. Vielleicht ist es wirklich so, wie ein befreundeter Bühnenbildner sagte: Man müsse, damit Theatertexte wieder eine Stärke erreichen, die Herrschaft der Dramaturgien brechen, die zu sehr in Katego­rien der öffentlichen Wirksamkeit denken. Wer weiß, da könnte was dran sein. Aber fest stand in jener Gründungssituation so kurz vor Jahreswechsel: Wir sind nicht alleine. Ein Autor sagte dort in seiner Selbstvorstellung, er sei Prosaautor und Dramatiker und werde demnächst ein Hamburger Theater übernehmen. Es gab keine Lacher. //

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Die Musik wächst aus dem Text heraus Der Pianist und Komponist Michael Wilhelmi über Musik im Theater und seine Zusammenarbeit mit David Marton und Claudia Meyer im Gespräch mit David Roesner

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ie beschreibst du deine Tätigkeit? Ich bin Pianist und Komponist. Ich arbeite viel am Theater, da kommt es dann darauf an, mit wem ich arbeite. Ob ich eher als Darsteller agiere und improvisiere, ob ich als Komponist arbeite oder als Pianist. Es gibt dafür keine allgemeingültige Bezeichnung. Man könnte es natürlich Theatermusik nennen, aber dieses Wort ist für mich negativ konnotiert, es klingt immer etwas nach Musik zweiter Klasse, nach einer Dienstleistung für andere, die an sich keinen eigenen Wert hat. Manche nennen es ja auch Schauspielmusik? Das würde ich auf keinen Fall sagen, da ich viele meiner Produktionen (zum Beispiel alle mit David Marton) als Musiktheaterproduktionen verstehe. In diesen Stücken agieren die Musiker auch als Darsteller, es sind meistens mehr Musiker auf der Bühne als Schauspieler. Bei „Schauspielmusik“ denke ich eher an illustrative Musik zur Untermalung von Szenen. Das interessiert mich weniger. In den Arbeiten mit David und auch mit Claudia Meyer (das sind die beiden Regisseure, mit denen ich am meisten zusammenarbeite) ist es genau die Suche nach einer Arbeitsweise zwischen Schauspiel und Oper, die uns antreibt. Es geht um das ­Suchen nach einer Einheit von Musik und szenischer Darstellung. Genauso wie ein Text oder eine Szene zu einer Musik inspirieren

kann, so kann sich auch eine Szene aus einem Klang entwickeln oder einem Rhythmus. Wir wollen hier die verschiedenen Perspektiven stärker miteinander verweben. Außerdem haben ­ Schauspieler andere improvisatorische Fähigkeiten als Musiker. Wir suchen nach Situationen der gegenseitigen Befruchtung. Wie bist du zur Theatermusik gekommen? Ich habe zuerst an der Hochschule in Berlin Jazz und Komposi­ tion studiert, danach Neue Musik in Leipzig. Ich habe mich immer in einem Bereich zwischen Komposition und Improvisation bewegt, die beide am Theater gleichermaßen wichtig sind. Zum Theater bin ich über Studienkollegen gekommen. Es gab immer Kontakte von unserer Hochschule zu den Berliner Theatern, zum Beispiel zur Volksbühne, wo ich dann auch mal bei Christoph Schlingensief als Bühnenpianist ausgeholfen habe. Mein wirk­ licher Einstieg war aber am Berliner Ensemble bei Robert Wilson, der dort die „Dreigroschenoper“ inszeniert hat. Hier arbeitete ich zunächst als Korrepetitor, später auch als Musikalischer Leiter. Die „Dreigroschenoper“ ist ein originäres Genre zwischen Oper, Schauspiel und Musical. Wilson hat allen Beteiligten immer eine hohe Präzision und Aufmerksamkeit abverlangt, Licht, Szene und Musik sind in seinen Inszenierungen immer sehr genau miteinander verbunden. Das hat mir einiges an Handwerk vermittelt. Wenn aus einem Klang eine Szene wird – David Martons „Narziss und Echo“, bei dem Michael Wilhelmi als Pianist mitwirkte. Foto Nurith Wagner-Strauss / Wiener Festwochen


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Gibt es dann bei dir so etwas wie eine typische Arbeitsweise? Das ist unterschiedlich. Ich arbeite gerne eng am Text. Mit Claudia habe ich zum Beispiel in Weimar den „Kaufmann von Venedig“ gemacht. Wir haben dort beschlossen, den fünften und letzten Akt des Stücks als eine Art Mini-Oper zu vertonen. Dieser Akt ist eher ein Anhängsel, wird auch gerne in Inszenierungen weggelassen, da die Kerngeschichte, der Prozess gegen Shylock, schon vorbei ist. Shylock ist verjagt, die anderen bleiben unter sich und feiern sich selbst, frei von irgendeinem moralischen Gewissen. Dieser Akt ist schon von Shakespeare sehr musikalisch gedacht. Der englische Text ist sehr inspirierend und gibt viel an Rhythmus vor – sich davon leiten zu lassen führt auf jeden Fall schon zu einer Art von Musik. Die Musik wächst regelrecht aus dem Text heraus. Dann ist es eine Frage des Ausprobierens: Wird es ein Song? Ich improvisiere dann sehr viel. Häufig sage ich mir den Text ganz oft laut vor, wie man ihn sprechen würde, und dann findet sich, wie man ihn singen könnte. Das ist ein langer Prozess. Viele Arbeiten von Marton sind Bearbeitungen von Werken, bei denen es bereits Musik gibt, sei es von Monteverdi, Mozart, Bellini oder Alban Berg. Was heißt in diesem Kontext „Komponieren“? Als David mich zum ersten Mal engagiert hat, hatte ich gerade eine CD aufgenommen, eine Neubearbeitung von Schumanns „Kreisleriana“. Er hatte das gehört und kam auch deswegen auf mich zu, weil wir eine sehr ähnliche Herangehensweise hatten. Man könnte diese Technik als „Weiterkomposition“ des Originalstücks bezeichnen, allerdings trifft es das nicht immer. Bei den Werken, mit denen wir uns beschäftigen, handelt es sich oft auch um sehr bekannte Werke, die in sich abgeschlossen sind und einer Weiterkomposition nicht bedürfen. Es geht dann keineswegs darum, diesen alten Werken neue Relevanz zu verleihen, im Sinne eines „Verständlichmachens für heutige Ohren“ – so etwas würde ich als Bevormundung des Publikums empfinden. Mir geht es eher darum, einen musikalischen Dialog mit diesen alten Werken einzugehen, einen musikalischen Kommentar zu diesen Werken zu finden. Wo wäre eine Phrase vielleicht hingegangen, wenn der Komponist heute gelebt hätte? Es hätte viele andere Möglichkeiten gegeben: Ein vergangenes Stück macht einen Möglichkeitsraum auf. Das Stück soll aber auf der anderen Seite nicht als bloßer ­Ideensteinbruch dienen, als Materialsammlung. Der Geist der Komposition soll auch in unseren Kontext übersetzt werden, aber auf undidaktische Art und Weise. Wo verläuft da die Grenze zwischen Komponieren und Arrangieren? Es gibt Musikstellen, die wir unbearbeitet lassen, die dann für die jeweilige Besetzung arrangiert werden. Da geht es darum, wie ein DJ neue Kontexte durch die Zusammenstellung der Musikstücke zu schaffen. Man kann das Alte auch mit Neuem überlagern: Zum Beispiel habe ich bei „Figaros Hochzeit“ hier in den Münchner Kammerspielen über traditionell arrangierte Chorstellen aus der Oper frei mit dem Klavier darüber improvisiert, so als wäre das alte Werk eine Art dekoratives Möbelstück, das es zu verschönern gilt. Es kann auch passieren, dass wir nur ein kleines Fragment aus einem Musikstück entnehmen und bei diesem dann untersuchen, welche Eigendynamik sich daraus entwickelt. Um bei dem Beispiel zu bleiben, hatten wir bei „Figaros Hochzeit“ auch einige freie

michael wilhelmi

I­ mprovisationen mit dabei, die auf den Geist des Aufbegehrens hinweisen, der im Libretto der Oper auch immer durchscheint. Gibt es dafür Vorbilder? Ja, da gibt es einiges. Mal mehr, mal weniger gelungen. Viele dieser Cross-over-Versuche finde ich eher oberflächlich. Nur weil man in der Barockmusik über Akkorde improvisiert hat, muss man jetzt nicht gleich eine Jazzband gründen, die über PurcellArien improvisiert. Das kann man machen, sollte aber nicht der Grund dafür sein. Gerne löschen sich die Stile, die da angeblich so gut zusammenpassen, gegenseitig aus. Mich interessieren mehr die Zusammenhänge, die überraschen, die unerwartet sind, die eine neue Sprache begründen könnten. Wir versuchen in unserer Arbeit ständig, die Perspektiven zu wechseln: Was bedeutet etwas szenisch, harmonisch, emotional, von der Melodie her und so weiter? Gelungen finde ich ein Cross-over-Projekt dann, wenn die Zusammenhänge zwischen Alt und Neu so miteinander verwoben sind, dass sie sich nicht mehr auseinanderdividieren lassen. Dann ist es aber auch genau kein „Cross-over“ mehr. Es gibt für mich aber ein Vorbild aus der Literatur: Ich habe einige Bearbeitungen der „Winterreise“ von Schubert gemacht, auch eine mit Claudia in dem Stück „Winterreise“ von Elfriede Jelinek, die ihrerseits öfter den Text von Wilhelm Müller einfließen lässt. Als ich in einem Interview mit ihr gelesen habe, wie sie Texte von früher bearbeitet, wie sie das in ihre Arbeit hineinbringt, da fand ich das schon sehr ähnlich zu dem, wie ich musikalisch arbeite. Letztes Jahr habe ich auch mit Christoph Marthaler gearbeitet – ich war als Pianist mit dabei bei seinem Charles-Ives-Projekt bei der Ruhrtriennale. Das war ein Mammutprojekt mit drei ­Orchestern, die gleichzeitig gespielt haben, eine koordinatorische Meisterleistung mit trotzdem sehr entspannten Proben, in denen ich auch das eine oder andere wiederentdeckt habe, was jetzt andere Regisseure auch machen. Ich denke, dass Marthaler eine Art „Genre“ begründet hat, in dem wir uns nun alle bewegen. Er hat dafür gesorgt, dass sich nun am Theater die Musik und das Schauspiel auf Augenhöhe treffen können. Er hat diesen Dialog in allen Facetten zum Leuchten gebracht. // Bei diesem Interview handelt es sich um eine redaktionell bearbeitete und gekürzte Fassung aus dem soeben bei Theater der Zeit erschienenen ­Recherchenband 151 „Theatermusik“ von David Roesner.

Michael Wilhelmi, geboren 1974 in Ottweiler/ Saar, studierte Mathematik, Logik und Philosophie an der Universität Leipzig, später Klavier, Jazz und Komposition an der Hochschule für ­Musik „Hanns Eisler“ Berlin, wo er seit Oktober 2004 Improvisation für Dirigierstudierende unterrichtet. Seit 2001 entwickelt Wilhelmi mit der Controller-Band Steuerungssoftware für elektronische Musik und konzertiert mit selbiger im In- und Ausland. Seit 2008 ist er verstärkt als Musikalischer Leiter, Komponist und Pianist im (Musik-)Theater tätig. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn dabei mit dem Regisseur David Marton und der Regisseurin Claudia Meyer. Foto privat

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Mit der Formel 1 ins Internationale Das M.A.P.-Theaterfestival in Aserbaidschans Hauptstadt Baku ist ein Beispiel für das erfolgreiche kulturelle Tuning des Landes

von Thomas Irmer


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aserbaidschan

wicklung der zeitgenössischen Künste, speziell auch der modernen aserbaidschanischen Kunst engagiert, die zuvor noch gar kei  m Juni wird uns Aserbaidschans Hauptstadt Baku wieder nen solchen Zusammenhang der Darstellung kannte und nun überraschen – als einer der Austragungsorte der Fußball-Europaerstmals für die Gegenwart aufbereitet wird. Insofern ist die von meisterschaft. Europa? Ja, ein Teil des Landes liegt im Kaukasus, der Yarat-Direktorin Suad Garayeva-Maleki kuratierte Ausstellung und auch der Eurovision Song Contest wurde hier 2012 ausgetrader aserbaidschanischen Kunst von 1900 bis 1940, die parallel gen, nachdem das Duo Ell & Nikki im Jahr zuvor den Sieg geholt zum Festival stattfand, ein Meilenstein in der Darstellung einer hatte und damit den Wettbewerb ans Kaspische Meer brachte. Das aserbaidschanischen Moderne, für die es bislang gar kein um­ war der Beginn einer gezielt verfolgten Öffnung des Landes, das fassendes Bewusstsein gab. Vor 1900 existierte in dem islaminach dem Ende der Sowjetunion schen Land praktisch keine Malerei. Die russische Revolution von 1917, und der wiedererlangten Selbständigkeit seine Rolle zwischen den der nach einer kurzen Phase der Welten Asiens, Europas und RussUnabhängigkeit die Eingliederung ­ lands finden musste. Selbst die Aserbaidschans in die Sowjetunion Unterhaltungskultur konnte dabei ­ folgte, wurde trotzdem weitgehend behilflich sein. Das größte interna­ als Befreiung der Künste begrüßt, tionale Event ist seit 2016 allerdings die sich aus diesem Impuls entfalten die Formel 1, die sechs Kilometer konnten, bis Ende der dreißiger Jahre, über eine weit ge­zogene Uferstraße so die zeitliche Eingrenzung, die Normen der sowjetischen Kunstpoligar dicht am UNESCO-Welterbe der Altstadt vorbeirast, bevor sie an einer tik auch in Aserbaidschan in Anschlag gebracht wurden. Vieles verüberdachten Luxustribüne ins Finish geht. Diese Großveranstaltungen zu schwand daraufhin in Depots, aus denen Garayeva-Maleki ihre Ausstelerwähnen ist wichtig, denn sie haben dem, wie man erst vor einigen lung in den großzügigen Räumen Jahren erkannte, ölreichsten Land der ehemaligen Werft nun zusamder Welt zu einem hohen Ansehen menstellte. Arbeitswelten der Landals Gastgeber mit entsprechender wirtschaft stehen neben Bildern der modernen Frau und den grafisch aus Infrastruktur und einer gewissen kulturellen Aura verholfen. Dieser dem Futurismus kommenden Plakaten, die die Begeisterung für eine Eindruck, visuell getragen von einer neue Ära in den 1920er Jahren verneuen Stadtarchitektur der schräg sinnbildlichen. Garayeva-Maleki geht glitzernden Art, wirkt sich selbst auf es dabei nicht um eine Rekonstruk­ das vergleichsweise viel kleinere Thea­ terfestival M.A.P. (Music Art PerforSchnelle Autos, schöne Frauen – „Die Versammlung der tion der frühen Sowjetzeit, sondern Verrückten“ in der Regie von Kamran Shahmardan sorgt um die nun mögliche und notwen­ mance) aus, das im Oktober 2019 für die Kultur, die Formel 1 (links) für das nötige Geld in seine dritte Ausgabe erlebte und sich dige Vergewisserung, dass auch die Aserbaidschans Hauptstadt Baku. Fotos M.A.P / dpa rasende Gegenwart in diesem Land über die nicht wenigen Theater der Hauptstadt erstreckte. Ein Teil der eine moderne Tradition als Vorgeschichte hat. M.A.P.-Mitarbeiter und -Organisa­ An einer solchen Bewusstmachung arbeitet auch das toren kam direkt aus dem Großzirkus der Formel 1, wo man ja nicht nur die Champagner verspritzenden Siegerpiloten betreuen M.A.P.-Festival, wenngleich es hier weniger um eine spezifisch aserbaidschanische Tradition geht, sondern um das Heranführen muss, sondern vor allem einen Riesentross von Technikern und an Trends und Formen des internationalen Theaters der Gegendas Zigfache an Touristen unterhalten will. Die Formel 1 ist freilich eine Art Emblem: Die vor Sprit und Speed um den mittelalterwart. Der Direktor des Festivals, der allein dessen Zusammen­ stellung verantwortet, ist der Theater- und Filmregisseur Kamran lichen Jungfrauenturm herumkreischenden und somit in das normale Straßennetz Bakus eingebetteten Boliden stehen durchaus Shahmardan. Der 1972 in Baku geborene Azeri mit der Statur und für den Anspruch, Weltsensationen mit den eigenen Gegeben­ dem Temperament eines Danny DeVito wurde in den neunziger heiten verbinden zu wollen. Wer das geopolitisch wie kulturell Jahren, als es für selbstbewusste Künstler wie ihn in Aserbaidaufstrebende Aserbaidschan genauer orten will, sollte unbedingt schan weit weniger freundlich zuging, in die Emigration ver­ wiesen. Shahmardan ging nach Finnland und gründete dort im Wassili Golowanows „Buch vom Kaspischen Meer“ (Matthes & Seitz) lesen. finnischen Teil Kareliens an der Grenze zu Russland ein eigenes Theaterfestival, mit dem sich vor allem sein Interesse an thea­ Das M.A.P.-Festival sitzt organisatorisch im Yarat Contemporary Art Centre, einer jungen, gerade mal zehn Jahre alten Instralen Innovationen jenseits des Big-Names-Pomps der großen Festivals entwickelte. Als das Yarat Centre nach der Gründung von titution, die in einer stillgelegten Werft am Meer residiert und sich mittels Ausstellungen, Publikationen und Workshops für die EntM.A.P. einen potenten Festivalmacher suchte, war er der perfekte

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ausland

Kandidat: Teilzeit-Heimkehrer mit Gespür für das einheimische Publikum und dem Wissen, was diesem als neu nahegebracht werden könnte, dazu die Kenntnisse der Spielstätten und ihrer technischen Ausstattung. Vor allem aber erkannte Shahmardan als Weggegangener eine Chance, die sich mit dem Ölboom und den von der Formel 1 befeuerten internationalen Ambitionen für das Theater ergeben könnte. Das immerhin aus 17 Produktionen bestehende Festival geht quer durch fast alle Gattungen und Formen, denn es gibt auch Puppentheater für Kinder aus Russland und mit „Paris de Nuit“ von der Recirquel Company aus Budapest sogar Zirkus, freilich als vor allem akrobatisches Theater ohne Tiere, dazu auch ein Moskauer Teufelsgeiger-Quartett mit viel Klamauk vor großem Publikum. Shahmardan sagt, dass man hier an Leute ranmüsse, die den Festivalnamen Music Art Performance auch im ganz unterhalt­ samen Sinn erleben möchten. Das neue Ausgeh-Baku, das man allnächtlich im endlosen Stau der Super-SUVs erleben kann, solle auch mit hereingeholt werden in dieses Festival. Die zweite Säule seines Programms setzt indes auf große bewährte Theaterkunst, die hier zum ersten Mal gezeigt wird. Dazu zählen „Onkel Wanja“ in einer Inszenierung des russischen Großmeisters Lew Dodin vom Petersburger Maly Drama Theater und Alvis Hermanis’ Klassiker „Sonja“ vom Neuen Theater Riga. Letzteres thematisierte auf subtile Weise auch das Sprachproblem in dem postsowjetischen Land, denn in der Sphäre der Kultur, in den Foyers und Cafés der Theater hört man auch einheimische Azeri fast nur russisch sprechen. Bei Hermanis bleibt der lettische Schauspielstar Gundars Āboliņš stumm, während sein russischer Partner die ganze SonjaGeschichte erzählt. Übertitelt wird durchweg in Azeri und Englisch, aber Russisch ist eigentlich immer mit im Raum.

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Das M.A.P.-Festival will Baku heranführen an Trends des internationalen Theaters der Gegenwart – hier „Salt of the Earth“ des Puppet Cinema Theatre aus Israel. Foto YARAT Contemporary Art Space / Fakhriyya Mammadova

Shahmardans dritte Säule dürfte sich auch mit Entdeckungen hierzulande decken. Da ist zum einen eine exzellente Inszenierung des in ganz Osteuropa immer wieder in Nuancen anders interpretierten Stücks der Stunde „Der Mann aus Podolsk“ von Dimitri Danilow in der Regie von Michail Bytschkow aus dem ­südlich von Moskau gelegenen Woronesch: eine Studie der Ohnmacht des kleinen Mannes im Post-Imperium der Sowjetunion, also auch in Baku mit nicht geringer Ausstrahlung. Raffinierter war aber noch, was Shahmardan aus Westeuropa nach Baku holte: David Espinosas ­kritische Aufstellung der Geschichte des 20. Jahrhunderts „Una Historia Universal“ mit Figuren und ­Flohmarktgegenständen aus Barcelona, ein absoluter Höhepunkt des Objekttheaters und passenderweise im Yarat Centre gezeigt. Daneben vom italienischen Sardegna Teatro Alessandro Serras „Macbeth“, eine archaisch dunkle Shakespeare-Séance, die gerade international entdeckt wird. Shahmardans einzige Eigenproduktion, „Die Versammlung der Verrückten“, eine von ihm selbst inszenierte Satire über den in Aserbaidschan berühmten Satiriker Jalil Mammadguluzade, die das Alte verlacht, ohne damit wirklich fertig zu werden, ist so etwas wie die Selbstaussage des M.A.P.: Noch ist nicht alles erreicht, aber es geht voran! // Die Teilnahme des Autors am M.A.P. erfolgte auf Einladung und mit Unterstützung des Festivals.


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Buchverlag Neuerscheinung

Das Düsseldorfer Schauspielhaus wird fünfzig! Der Bau des Architekten Bernhard Pfau gilt als einer der prägendsten und radikalsten Kulturbauten der sechziger und siebziger Jahre. Aus Anlass des Jubiläums und nach einer umfassenden Sanierung und Modernisierung blicken wir zurück: mit Beiträgen von Zeitzeugen und Weggefährten, Kritikern und Wissenschaftlern, mit umfangreichem Bildmaterial aus der Baugeschichte und den vergangenen fünfzig Jahren Bühnengeschichte. fünfzig Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 Herausgegeben von Wilfried Schulz und Felicitas Zürcher Paperback mit 400 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 30,00

Buchpremiere am 17.01.2020 um 18 Uhr, Foyer D‘haus

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


Look Out

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Von diesen Künstler*innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Der Formenfinder Der Berliner Regisseur Anton Kurt Krause liebt das Spiel mit Medien und Räumen

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wei Schauspieler, eine abgeklebte Spielfläche, ein Klavier und ein Haufen Reisetaschen – mehr brauchte ­Anton Kurt Krause 2015 nicht für „Ich rufe meine Brüder“. Das Kammerspiel einer Realitätsverschiebung von Jonas Hassen Khemiri stand vier Jahre auf dem Spielplan des Hamburger Thalia Theaters in der Gaußstraße. Krause zeichnete die Paranoia eines jungen Mannes mit Migrationshin­ tergrund nach einem Autobomben-­ Anschlag so präzise, dass Medien und Publikum gleichermaßen euphorisiert auf den Abend schauten. Das mag der Brisanz des Themas geschuldet sein, vor allem aber der unbeirrbaren Konsequenz, mit der Krause die Innensicht der F ­ igur auf der Bühne lebendig werden ließ. 2019 im Medizinhistorischen Museum des Universitätsklinikums Eppendorf in Hamburg: „Eine dokufiktionale Inszenierung“ nennen Krause und Cora Sachs den Abend „Wahnsinn aus Heimweh“. Die Basis dafür lieferten dem Regie-Duo Krankenakten einstiger „Rückwanderer“ in der ehemaligen Hamburger Anstalt Friedrichsberg. 446 Akten liegen heute im Archiv des Museums, Krause und sein Team wählten fünf Patienten aus und ergänzten die Konfigura­ tion um den ehemaligen Anstaltsleiter. Die Biografien erzählen davon, wie vielen Auswanderern nach dem strikten Immigration Act von 1907 die Einreise nach Amerika verwehrt wurde – oft mit der Begründung, sie seien ­insane, also verrückt. Krause und Sachs widerstehen jeglichem Aktualitätsbezug und platzieren ihre Studie im thematisch passenden Umfeld des Sektionssaals im Museum. „Site-specific zu arbeiten, andere Räume zu entern, ist eine Herausforderung, die ich sehr mag“, so Krause. „Ich liebe es, Probleme zu lösen. Und wenn man sich mit Schauspielern außerhalb des Theaters bewegt, hat man ganz automatisch viele Probleme.“ In Dresden läuft seit 2016 seine Inszenierung von Thomas Bernhards ­Roman „Alte Meister“ passgenau in der Gemäldegalerie Alte

Meister – wo wegen der wertvollen Exponate nicht mal die Heizung hoch­ gedreht werden darf. Für „Wahnsinn aus Heimweh“ hat Figurenbildnerin Cora Sachs eindrück­ liche Puppenköpfe gefertigt, durch die das Spiel eine ganz spezielle Körperlichkeit bekommt. „Für die Schauspieler ist es eine Herausforderung, aber die Distanz, die durch die Puppen entsteht, ist essenziell für den Abend“, erklärt Anton Krause. „Trotz der Kauzigkeit, die sie transportieren, verzeiht man dadurch den Voyeurismus, der automatisch aufkommt, wenn man sich mit den Lebensgeschichten beschäftigt.“ Eine kluge Entscheidung, denn die Schauspieler sprechen tatsächlich Protokolltexte aus den Krankenakten, die gleichzeitig auf Vorhänge im Sektionssaal projiziert werden. Gebrochen und ergänzt werden diese durch feine spielerische Studien der Figuren, historisches Material und Lieder. All das ergibt einen beklemmenden Abend, der durch die spielerische Abstraktion in den historischen Räumen fast schon etwas Überzeitliches bekommt. „Ich versuche, für die jeweiligen Inhalte eine gute Form zu finden. Es reicht mir nicht, nur eine Handschrift zu haben und mich dafür der Inhalte zu bedienen“, sagt Krause. Am Theater Magdeburg hat er mit „Democrisis. (K)ein Ausweg“ ein Live-Theater-Game inszeniert, in dem Jugendliche durch ihre Entscheidungen und Handlungen Politik erproben. Für eine Installation beim VRHAM!-Festival nutzte er Elemente aus Augmented Reality, Virtuality und Audio. Raum zum Ausprobieren und zur „Erweiterung seines Werkzeugkoffers“ findet er in seinem derzeitigen Masterstudiengang „Spiel und Objekt“ an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. „Der Einsatz eines Mediums an sich erzählt ja schon etwas Eigenes. Ich stelle mir immer wieder die Frage: Wo wird der Einsatz von technischen Mitteln zwingend?“ Und so gibt es eben manchmal kaum Technik. Dafür Puppen. Oder einfach Schauspieler und Natalie Fingerhut ein Klavier. Danke dafür, Anton. // Anton Kurt Krause. Foto Matthias Horn

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Look Out

Wie gemacht für den Ausnahmezustand Die Frankfurter Schauspielerin Katharina Bach versprüht die Portion Wahnsinn, die es für die Bühne braucht

ie wohnt nicht weit vom Theater entfernt und nahe am Hauptbahnhof. Ideal für Katharina Bach: schnell hin und schnell weg. Gemessen daran, dass sie sich nicht gern festlegt und das Außerplanmäßige liebt, ist sie dem Schauspiel Frankfurt lange treu geblieben. Seit 2014 gehört sie dessen Ensemble an, auch wenn sie zwischendurch mal eine Auszeit genommen hat, um Abstand zu gewinnen. Zuvor war sie schon Mitglied in der unter Oliver Reese gegründeten Nachwuchskaderschmiede Schauspielstudio. Dabei wollte Katharina Bach ursprünglich gar nicht Schauspielerin werden, sondern eher etwas in Richtung Umwelttechnik studieren. Ihre Deutschlehrerin, die auch die TheaterAG leitete, riet ihr dann zur Schauspielschule. Nach mehreren Bewerbungsanläufen klappte es in Bochum, wo sie auch ihren heu­tigen Intendanten Anselm Weber kennenlernte. 2012 ist sie dann nach Frankfurt gezogen. Geboren wurde Katharina Bach 1985 in Remscheid, in ihrem Elternhaus hatte man nicht viel mit Theater am Hut. Im Frankfurter Ensemble ist die 34 Jahre alte Schauspielerin für körperlich exzessiv exzentrische Bühnenauftritte bekannt, als furios heiß-kalte Gräfin Orsina in David Böschs Inszenierung von Lessings „Emilia Galotti“ trumpfte sie ebenso auf wie als eine der krebskranken Frauen unter Einfluss in „Mut und Gnade“ von Luk Perceval. Katharina Bach scheint wie gemacht für den Ausnahmezustand. Jüngst konnte man das in Roger Vontobels wuchtiger Inszenierung von Henrik Ibsens „Brand“ erleben. Darin verkörpert sie das sonderbare Mädchen Gerd als unheimlich krähendes Vogelwesen. Ihr sich den Wechselfällen des ­Lebens beugender Körper bleibt von ihren Rollen stets ebenso in Erinnerung wie ihre tiefgehende dunkle Stimme. Dabei versprüht Katharina Bach die Portion Wahnsinn, die es braucht, um auf der Bühne am genau richtigen Ort zu sein. Oft redet sie, die sich im Gespräch als äußerst reflektierte Schauspielerin

Katharina Bach. Foto Robert Schittko/Schauspiel Frankfurt

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e­ ntpuppt, schneller, als sie denkt: ges­­ tenreich, fiebrig, energiegeladen. Das Schnelle und Überfordernde mag sie. Diese Energie überträgt sich, Bachs Spiel ist von geradezu ansteckender Expressivität. Kein Wunder, dass sie, nach ihrem größten Erlebnis auf der Bühne gefragt, sofort den kanadischen Choreografen Dave St-Pierre und seine spektakuläre „Macbeth“-Inszenierung nennt, bei der aus Schauspielern ­Tänzer wurden. Katharina Bach spricht von einer „krassen Erfahrung“ und schwärmt: „Ich musste nicht sprechen und durfte nur Körper sein.“ Der Abend gehört zu ihren beglückends­ ten, sagt sie. Derzeit interpretiert sie Songs und Texte von Nick Cave („The Fe.Male Trail“). Ein schöner, wilder Abend, mehr Konzert als Theater, vom Publikum heiß umjubelt. Die Show ist Katharina Bach auf den Leib geschnitten, passt wie angegossen, wie sie überhaupt stets eine zarte Rockstar-Attitüde umweht. Das Unangepasste, Freiheitsliebende und Unbotmäßige zeugen ebenso davon wie ihre abgetragene grüne Lederjacke. Dabei möchte sie sich nicht auf ein Genre festlegen, liebt Figuren, Sprache, Geschichten genauso wie das freie Spiel, Performances und natürlich Musik. Wenn sie nicht auf der Bühne steht, macht sie ­Klassenzimmerlesungen, spricht im Hörfunk oder lässt sich zu spontanen Kinobesuchen hinreißen. Auf keinen Fall wider­ stehen kann sie, wenn irgendwo ein Riesenrad oder Ketten­ karussell lockt. Demnächst steht sie in „Jedermann (stirbt)“ von ­Ferdinand Schmalz in der Regie von Jan Bosse auf der Bühne und im Mai als Celia in David Böschs Version von „Wie es euch gefällt“. Mit Beginn der neuen Spielzeit wechselt Katharina Bach an die dann von Barbara Mundel geführten Münchner Kammerspiele. Auch dort wird sie den Ausnahmezustand proben. // Shirin Sojitrawalla „Jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz mit Katharina Bach hat am 31. Januar am Schauspiel Frankfurt Premiere. „The Fe.Male Trail“ ist wieder am 17. Januar zu sehen, „Brand“ am 12., 22. und 23. Januar.

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Zeitschrift für Theater und Politik

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Januar 2020 • Heft Nr. 1

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/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

Was ist Familie heute? Und was bedeutet überhaupt Verwandtschaft? Das IXYPSILONZETT­Jahrbuch befragt gängige Klischees, Vorurteile und Rollenbilder. Es diskutiert: Was bedeutet Diversität im Hinblick auf Familie, auf Eltern­und Kind­-Sein? Wie haben sich Bilder und Rollen verändert oder auch nicht? Welche wissenschaftlichen Diskurse sind interessant für die Darstellenden Künste für junges Publikum?

Das Düsseldorfer Schauspielhaus wird fünfzig! Der Bau des Architekten Bernhard Pfau gilt als einer der prägendsten und radikalsten Kulturbauten der sechziger und siebziger Jahre. Aus Anlass des Jubiläums und nach einer umfassenden Sanierung und Modernisierung blicken wir zurück: mit Beiträgen von Zeitzeugen und Weggefährten, Kritikern und Wissenschaftlern, mit umfangreichem Bildmaterial aus der Bau­ geschichte und den vergangenen fünfzig Jahren Bühnengeschichte.

Familien*bilder auf der Bühne Repräsentation oder an der Realität vorbei?

fünfzig Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970 bis 2020 Herausgegeben von Wilfried Schulz und Felicitas Zürcher

Paperback mit 76 Seiten ISBN 978-3-95749-282-1 EUR 9,50 (print) / 8,00 (digital)

Paperback mit 400 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 30,00

„Meine Heimat ist die Probe“, pflegte Dimiter Gotscheff zu sagen. Für Thomas Ostermeier ist die Probe der Ort, an dem die Figuren seiner Inszenierung „zur Welt kommen“. Und Thomas Langhoff wurde auf der Probe selbst zum energiegeladenen Darsteller. Doch was genau findet während der Proben statt? Wie entwickelt der Schauspieler seine Figur?

Die Bildsprache Volker Pfüllers ist die Sprache des Theaters: in seiner Vielfalt und in seiner Expressivität. Er ist anerkannt als Grafiker, Plakatkünstler, Buchgestalter, Schriftsteller – und nicht zuletzt als Bühnen- und Kostümbildner. Seit über fünfzig Jahren entwirft er unverwechselbare Ausstattungen, meist sowohl Bühnenals auch Kostümbild. Legendär war seine Zusammenarbeit mit Alexander Lang am Deutschen Theater im Berlin der achtziger Jahre. „Bilderlust“ dokumentiert im großen Format die Vielseitigkeit seines Schaffens.

Die Theaterwissenschaftlerin Viktoria Volkova hat die häufig mystifizierte Theaterprobe über mehrere Monate begleitet und die Probe­n­ arbeiten in Wort und Bild dokumentiert und analysiert. RECHERCHEN 152 Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit v. Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff u. Thomas Ostermeier

Volker Pfüller Bilderlust Herausgegeben von Stephan Dörschel

Taschenbuch mit 360 Seiten ISBN 978-3-95749-238-8 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

Paperback mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-234-0 EUR 25,00 (print) / 19,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Auftritt Baden-Baden „Der Fall Hau. Eine Kriminalgeschichte aus Baden-Baden“ (UA) nach einem Roman von Bernd Schroeder  Berlin „Sucht nach uns!“ vom Zentrum für Politische Schönheit  Braunschweig „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow  Freiburg „Der Sandmann“ von E.  T.  A. Hoffmann  Graz „The Hills are Alive“ von­ Neville Tranter  Ingolstadt „Big Guns“ (DSE) von Nina Segal  Köln „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill  Osnabrück „Kafka“ (UA) nach Texten von Franz Kafka  Rudolstadt „Hilfe, die Mauer fällt!“ (UA) von Karsten Laske und Steffen Mensching


auftritt

/ TdZ  Januar 2020  /

BADEN-BADEN Mord in der Casinostadt

Charmant, elegant und etwas aufschneide-

stadt, in der sich bei den Schönen und Rei-

risch wickelt Mattes Herre in der Rolle des

chen alles um Geld und um Macht drehte.

Carl Hau die drei Damen Molitor beim Kurur-

Wie auch heute? //

Klug überspielt er die Unsicherheiten des Mannes, der mehr sein möchte, als er scheint. Erst macht er der jungen Olga schö-

THEATER BADEN-BADEN: „Der Fall Hau. Eine Kriminalgeschichte aus Baden-Baden“ (UA) nach einem Roman von Bernd Schroeder Regie Rudi Gaul Ausstattung Olga Motta

Elisabeth Maier

laub in Ajaccio auf Korsika um den Finger.

ne Augen, der Maria Thomas betörende ero-

BERLIN

tische Momente gönnt. Dann aber flieht er mit der älteren Schwester Lina zunächst in die Schweiz, dann nach Amerika. Nadine Kettler lässt ihre Lina in dieses Liebesaben-

Auch Deutsche machen Fehler

teuer schlittern. Schon bald aber wird der Himmel voller Geigen von tragischen Tönen durchsetzt. Hans-Georg Wilhelms dunkle,

BERLINER REGIERUNGSVIERTEL: „Sucht nach uns!“ vom Zentrum für Politische Schönheit

Lokalgeschichte, als Kriminalgeschichte er-

doch spannungsgeladene Musik spiegelt

zählt. Die Causa des Baden-Badener Juristen

diesen Prozess, an dessen Ende Lina in ihr

Carl Hau, der 1907 seine Schwiegermutter

Elternhaus zurückkehrt, während Hau sich

Josefine Molitor umgebracht haben soll, hatte

in aller Welt mit anderen Damen vergnügte:

Kaum gestartet, musste Anfang Dezember

Bernd Schroeder 2006 in seinem Roman

„Sie trug ihre Liebe und Sehnsucht durch

vergangenen Jahres das Zentrum für Politi-

„Hau“ verarbeitet. Nun hat der Filmregisseur

die Lichtentaler Allee. Und er tanzte längst

sche Schönheit (ZPS) seine 13. Aktion

Rudi Gaul sie nur wenige Gehminuten vom

auf dem Vulkan.“

„Sucht nach uns!“ schon nach wenigen Tagen

Tatort an der Lindenstaffeln entfernt auf der

Der Lebemann Carl Hau steht exemp-

beenden. Nach heftiger Kritik vor allem von

Bühne des Theaters Baden-Baden in Szene

larisch für die Menschen im zerfallenden

jüdischen Verbänden modifizierte das ZPS

gesetzt. In der Uraufführung kitzelt der Regis-

Kaiserreich, die ihren Halt und ihre gesell-

seine im Berliner Regierungsviertel ad hoc

seur aus dem spektakulären Stoff nicht nur

schaftlichen Wurzeln verloren haben. Als er

errichtete temporäre „Gedenkstätte gegen

das tragische Potenzial der Liebesgeschich-

1924 aus der Haft entlassen wurde, schrieb

den Verrat an der Demokratie“. Das Herzstück

ten Carl Haus mit gleich beiden Töchtern

er zwei erfolgreiche Bücher über seinen Pro-

der Installation war eine Metallstele, in der

Molitor heraus. Ihm gelingt es, Schroeders ­

zess. Seine Frau Lina hatte Selbstmord be-

orange beleuchtete Erde zu sehen war, die, so

Psychogramm des zerfallenden Kaiserreichs

gangen. Als ungleiches Paar loten Herre und

das ZPS, Asche aus den Krematorien der NS-

und der Weimarer Republik vom dokumenta-

Kettler in der Inszenierung die tragische

Diktatur enthielt. Diese sei aus dem Boden

risch trockenen Ballast der Gerichtsakten,

Fallhöhe ihrer Figuren brillant aus. Ihr pa-

der Umgebung der ehemaligen KZs entnom-

Briefe und Protokolle weitgehend zu befreien.

ckendes Ringen um Macht und Liebe steht

men worden. Auf flankierenden Großplakaten

Dabei lässt die Regie diese Ebene be-

im krassen Kontrast zu den manchmal allzu

hieß es unter anderem: „Warnung vor den Men-

wusst mitschwingen. Bühnenbildnerin Olga

lang geratenen epischen Passagen, die Rudi

schen – Die schweigende Mehrheit von 60

Motta grenzt den Bühnenraum mit Gerichts-

Gaul in der Umsetzung seiner eigenen Büh-

Millionen Deutschen würde sich gegen eine

akten in hohen Stahlregalen ein. Ordner mit

nenfassung nicht ganz ausmerzen kann. Im

AfD-Diktatur nicht wehren – Kein Frieden mit

verblassten braunen Deckeln lassen gar eine

Gerichtssaal nimmt Rosalinde Renn den An-

dem Faschismus“ und „Keinen Schritt weiter!

trockene juristische Versuchsanordnung be-

geklagten gar zu sachlich ins Gebet. Die

Hier begann die letzte deutsche Diktatur –

fürchten. Dem begegnet Filmemacher Gaul

Schauspielerin, die als Schwiegermutter-

Beschwichtigung schuf sie“ sowie „Gedenken

mit einem Video, das Thilo Nass und Roman

monster überzeugt, wirkt da farblos. Gla-

heißt Kämpfen“. Auf einer Tafel standen die

Stocker gedreht haben. Da stellt das Ensem-

mour und verstörende Momente bringt Maria

Namen aller gegenwärtigen CDU/CSU-Abge-

ble am Originalschauplatz auf dem Villen­

Thomas in der Rolle der jüngeren Schwester

ordneten. Sie sollten an der Stele schwören,

hügel nach, wie sich der Mord abgespielt

Olga ins Spiel, die den Gatten ihrer Schwes-

sich nie mit der AfD einzulassen.

­haben mag. Der Blick hinter die historischen

ter aus Rache verführt.

Der Standort der Stele ist historisch

Kulissen der heute so weltoffenen Kur- und

Trotz der schnellen Dramaturgie, die an

aufgeladen. Vor dem Krieg stand hier, gegen-

Casinostadt, die sich mit ihren repräsenta­

Filmschnitte erinnert, hat der Abend Längen.

über dem Reichstagsgebäude, die Krolloper,

tiven Bauten aus dem 19. Jahrhundert als

Das liegt auch an der mehr als dreistündigen

in der der Deutsche Reichstag am 24. März

UNESCO-Weltkulturerbe bewirbt, offenbart

Spieldauer. Gaul arbeitet allzu detailverliebt,

1933 das „Ermächtigungsgesetz“ mit Zwei-

düstere Abgründe.

wenn er in den Szenen vor Gericht jeden Un-

drittelmehrheit beschloss. Dieses Gesetz öff-

terpunkt erörtern lässt. Mit dem Stück über

nete den Weg in die Nazidiktatur. Die NSDAP

den Fall, der Anfang des 20. Jahrhunderts

(45 Prozent) benötigte für diese Zweidrittel-

weit über Baden-Baden hinaus Furore mach-

mehrheit die Zustimmung des bürgerlichen

te, leisten der Regisseur und das Ensemble

Lagers. Dessen Stimmen bekam sie vor allem

nicht nur historische Ausgrabungsarbeit. Sie

von der Zentrumspartei, die man entfernt als

zeigen eine menschliche Tragödie in der Kur-

Vorläufer der CDU betrachten könnte. Nur die

Nicht nur historische Ausgrabungsarbeit zwischen braunen Aktendeckeln – Rudi Gauls Inszenierung „Der Fall Hau“ am Theater Baden-Baden. Foto Jochen Klenk

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auftritt

/ TdZ Januar 2020  /

Asche auf ihr Haupt – Die Mahnmal-Säule der ZPS-Aktion „Sucht nach uns!“ auf dem Gelände der ehemaligen Krolloper in Berlin, die angeblich die Asche von Holocaust-Opfern aus Auschwitz enthielt. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

müsste, wie ein würdevoller Umgang mit den dort Verscharrten zu finden sei. Statt für Beton hätte das Geld hier mehr Nutzen gestiftet. Götz Aly schrieb in der Berliner Zeitung: „Installieren wir am Berliner Holocaustmahnmal eine riesige Landkarte, auf der sukzessive alle bekannten Massengräber, Verbrennungsstätten und Fundorte menschlicher Asche eingezeichnet werden, die der deutschen Vernichtungspolitik zugerechnet werden müssen.“ Schade ist, wenn nach einer notwendigen und begrüßenswerten Aktion des ZPS lediglich der hohe moralische Ton als Echo bleibt. Es würde die Demokratie mehr stärken, wenn die aus den Aktionen erwachsenden Vorschläge von der Zivilgesellschaft diskutiert und umgesetzt werden würden. // SPD-Fraktion verweigerte sich geschlossen,

zu verstärken, das nach wenigen Tagen auf

ebenso wie die KPD.

dem Müll gelandet wäre. Der Umgang mit

Ralf Mohn

Die Kritik jüdischer Organisationen war:

diesen Spenden ist ein Schwachpunkt. Ob es

Falls es zuträfe, dass – wie vom ZPS behaup-

zu einer „illegalen“ heimlichen Fundament-

tet – in der Stele Asche von durch National­

verstärkung kam, wie vom ZPS behauptet,

sozialisten ermordeten Juden sei, wäre dies

mochten Polizei und Grünflächenamt nicht

eine Störung der Totenruhe. Weitergehend

bestätigen. Es könnte zukünftigen Aktionen

wurde angemerkt, dass die Zurschaustellung

des ZPS helfen, wenn Sprache und Aufwand

von menschlichen Überresten eine weitere

ausgewogener wären, als es hier schien. Die

Entrechtung der Toten sei, eine Instrumenta-

vom ZPS verwendeten Begriffe und Formulie-

lisierung ihrer Körper. Das ZPS reagierte er-

rungen wie „Tod den Zerstörern der Demokra-

staunlich selbstkritisch: „Wir bedauern auf-

tie“, „Zapfenstreich der Zivilgesellschaft“,

richtig, dass wir den zentralen Wirkungsaspekt

„Sonderbetonkommando“, „Sturmtruppe zur

unserer Arbeit nicht im Vorfeld erkannt haben.“

Errichtung moralischer Schönheit“ sind einer-

Die Installation wurde abgebaut. Es blieb die

seits zu aufgeregt, um nachhaltig Wirkung zu

Die Bühne von Sabine Mader ähnelt einer haus-

Stele, der Teil mit der „Asche“ wurde der ortho-

erzeugen. Andererseits sind sie zu nah an der

großen Umzugskiste, im Kirschholzton gehal-

doxen Rabbinerkonferenz zur Bestattung über-

Naziterminologie von Schutz- oder Sturm­

ten. Darin sitzen sie nun alle gefangen. Wohin

geben. „Schwurstätte gegen den Verrat an der

staffel und deren Sonderkommandos. Die Er-

die Reise geht, weiß niemand. Vielleicht nir-

Demokratie“ hieß die Aktion nun, und auf der

regungskurven, die die Aktionen auslösen,

gendwohin. Oben über ihren Köpfen ist das

Säule wurde ein Zitat aus dem Jahr 410 v. Chr.

scheinen oft nicht mehr, als für die Liveapps

Dach eingebrochen, durch das Loch fällt

aus Athen angebracht: „Ich schwöre Tod durch

des gebildeten Mittelstands programmiert zu

manchmal Schnee, was der profanen Szenerie

Wort und Tat, Wahl und eigne Hand – wenn ich

sein, als ein Schauerstück für das moralisch

etwas Poetisches gibt. Auch unter ihren Füßen

kann – jedem, der die Demokratie zerstört.“

sich sicher wähnende Publikum. „Sucht nach

ist der Boden schadhaft. Es sieht aus, als sei

Ein ursprünglich geplanter öffentlicher

uns!“, das zweieinhalb Jahre vorbereitet wurde,

hier eine Bombe hindurchgegangen.

„Zapfenstreich ... gegen die AfD“ war da be-

hätte sich auf einen der zwei Aspekte der

Die Schauspieler betreten das Landhaus

reits abgesagt worden, das Crowdfunding auf

­Aktion beschränken beziehungsweise die Tei-

von Ljubow Andrejewna Ranewskaja von unten

www.sucht-uns.de beendet. Dort sei innerhalb

le besser voneinander trennen sollen: Die

durch ebenjenes Loch im Boden, wie Abge-

von zwei Tagen die doppelte Summe von ge-

CDU zu erinnern an die historische Schuld

sandte aus der Unterwelt oder unerwünschte

planten 50 000 Euro eingegangen. Unklar ist,

deutscher Konservativer, die den Faschisten

Eindringlinge, die durch den Keller gehen.

ob tatsächlich fast 100 000 gespendet wur-

den Weg zur Macht geebnet haben. Und uns

Bis auf einen Stuhl, eine Lampe und Gerüm-

den, auch ob es 50 000 gebraucht hätte, um

alle, dass im Umland der KZs die Asche der

pel in einer Ecke ist die Bühne leer und erin-

wie angegeben ein Fundament für die Stele

Toten liegt. Dass darüber gesprochen werden

nert an die „wüste Gegend“ im „König Lear“.

BRAUNSCHWEIG In die Enge getrieben STAATSTHEATER BRAUNSCHWEIG: „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow Regie Dagmar Schlingmann Ausstattung Sabine Mader


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Wie Abgesandte aus der Unterwelt – So dringen Tschechows Figuren in Dagmar Schlingmanns „Kirschgarten“-Inszenierung am Staats­theater Braunschweig in unsere Gegenwart vor. Foto Bettina Stöß

Doch man kommt weder aus dem Keller noch aus der Unterwelt, sondern aus Paris. Vornehmlich weil das Geld alle war und man dort ohne Geld noch weniger existieren kann als im Sommerhaus der Familie. Dies ist der Ort, an dem die Ranewskaja (hartnäckig einen Rest Bedeutsamkeit behauptend: Saskia Petzold) ihre Kindheit verbrachte. Immer ­ ­wieder überwältigen sie nun pathetische Erinnerungen, schöne ebenso wie schlimme. Oder ­anders gesagt, immer wieder droht sie den anderen damit, dass sie gleich wieder die Erinnerungen überwältigen werden. Das ist ­ dann für alle unangenehm. Die mühsam vom Keller heraufkletternden Sommergäste heben die triste Atmosphäre des leer geräumten Salons offensichtlich nicht an. Man muss schon die Augen fest vor dieser Ödnis verschließen, um an das Fort­ leben von gestrigen Idyllen zu glauben. Ach, könnte man nur bald wieder in Paris sein! „In Paris bin ich mit einem Heißluftballon geflo-

konflikt. Während die Alten zögern, überhaupt

mittels der stakkatohaft hämmernden Musik

gen!“, jubelt Anja, die Tochter der Ranewskaja,

etwas zu entscheiden, und hoffen, dass es

von Alexandra Holtsch in die Enge treibt: in

der sie umklammernden Tristesse entgegen.

irgendwie noch ein Weile so weitergehen wird

eine Nische an der Bühnenrückwand, einen

Die immer wieder erfrischend agierende

wie bisher, drängen die Jungen auf Umsturz

Guckkasten. Tschechow, derart skelettiert,

Larissa Semke pfeift hier gleichsam im ­

hier und jetzt. Da ist vor allem der ewige Stu-

wirkt hier fast schon nihilistisch. Wie herrlich

Kirschbaumwald. Gegen die Angst, gegen die

dent Trofimow, ein von sich selbst hingeris­

paradox: Die Wiedergeburt des eng zusam-

Langeweile, gegen die Leere, die nach diesen

sener Agitator (Robert Prinzler), der mit allem

menrückenden Kollektivs aus dem Geiste

ungebetenen Sommergästen greift?

moralischen Furor die Welt retten will. Die

­Becketts! //

Die Kirschbäume jedenfalls müssen

anderen reagieren sarkastisch: Mach doch

weg, so oder so. Denn die sind von gestern.

wenigstens erst mal einen Abschluss und

Wer noch? Alle hier, außer Lopachin (zwi-

dann erst sage uns, wie wir leben sollen!

schen handfester Tat und plumper Neureichen-

So entsteht ein absurdes Tableau, das

überheblichkeit gefährlich pendelnd: Johannes

ganz und gar aus Tschechow und aus unserer

Kienast). Lopachin, Sohn eines Leibeigenen,

Gegenwart gemacht ist. Von teils müden, teils

der sich hochgearbeitet hat, ist ein guter

künstlich erregten Intellektuellen hielt Tsche-

Rechner und entschließt sich schnell, wenn

chow ebenso wenig wie von Geldmenschen.

es ums Geschäft geht. Dafür ist ihm die Ver-

Seine Sympathien liegen hier bei dem Dienst-

achtung dieser Abgesandten der Welt von

mädchen Dunjascha (stark in ihrer widerstän-

gestern sicher. Der letzte Rest Würde der hier

digen Energie: Vanessa Czapla) und dem wis-

versammelten Untergeher liegt in ihrer müden

senden alten Diener Firs (Heiner Take). Sie

Verachtung von Geld und Erfolg. Ranewskajas

sind es, die weiter ihr Tagewerk tun, ohne sie

Tochter Warja (stark im Unscheinbaren: Ger-

wäre diese ganze sich selbst so wichtig neh-

trud Kohl) scheint schon unheilbar krank vor

mende Untergeher-Gesellschaft längst in der

Sinnlosigkeit.

höchst unkomfortablen Situation, sich am

Regisseurin Dagmar Schlingmann begegnet Tschechow mit virtuosem Sinn für das

Gunnar Decker

FREIBURG Der Wahn des Subjektiven THEATER FREIBURG: „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann Regie Stef Lernous Bühne Sven van Kuijk Kostüme Pia Salecker

Ende noch selbst einen Tee machen oder die

Stef Lernous und seine Kompanie Abbatoire

Koffer schleppen zu müssen.

Fermé sind absolute Spezialisten für die

Groteske. Welch kalter Rausch des Unter-

Formal spitzt Dagmar Schlingmann

­Vergegenwärtigung des Verdrängten und die

gangs! Zudem verstärkt sie den Generationen-

weiter zu, indem sie das Landhauspersonal

Macht des Unbewussten. Eine Inszenierung


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auftritt

/ TdZ Januar 2020  /

von Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“

ren Schlager der 1950er Jahre hell, fast bur-

Lernous’ Inszenierung betont die Passivität

liegt da nahe. Sven van Kuijks Bühnendesign

lesk. Eine Spielfigur nach der anderen betritt

Nathanaels. An ihm ziehen die Bewohner der

ist bis in kleinste Einzelheiten grandios

über den Treppenaufgang den Hotelflur, quert

Hoteletage vorbei wie insgesamt sein Leben.

schmutzig und ruft bei seinen Betrachtern

diesen an Nathanael vorbei, öffnet die Zim-

Flüchtige Begegnungen mit weiblichen Figuren

die emotionale Irritation eines düsteren Ge-

mertür, verschwindet dahinter und schließt

bleiben unbeholfen. Von einer Annäherung

mäldes hervor. Sieben geschlossene Zimmer-

die Tür. Das hat Züge eines komödiantischen

Nathanaels an die Puppe Olimpia lässt sich

türen, verblichene und abblätternde Tapeten

Stummfilms aus dem Raritäten­ kabinett. Es

kaum sprechen. Kirsten Pieters verkörpert sie

erlauben Assoziationen einer abgetakelten

liegt nahe, alle Mitspieler als Imaginationen

mit verstörender Präsenz, halb Vampir mit

Hoteletage. Eine andeutungsvolle Szenerie

Nathanaels zu begreifen.

blauer Perücke, halb singendes Model.

wie aus einem Gruselfilm. Gelbliche Lampen-

Relative Helligkeit und Leichtigkeit des

Nathanaels Faszination für Olimpia besiegelt

schirme sorgen für Zwielicht. Im Mittelpunkt

Beginns wandeln sich bald. Eine Explosion im

seinen Wahn. Lernous findet dafür äußerst

des leeren Flures beseitigt eine Art Haus-

Lautsprecher markiert den Übergang zu einer

einprägsame Metaphern. Die Unordnung auf

meister Spuren eines kürzlich verloschenen

Welt dunkler und bedrohlicher Töne. Dann öff-

der Bühne nimmt existenzielle Ausmaße an:

Feuers. Dieser Hausmeister ist in Stef Lernous’

net sich auch die Hinterbühne. Die beiden

Arbeiter öffnen die Wände, Schutt und Mörtel

Inszenierung Hoffmanns Protagonist Natha-

symmetrischen Seitenwände des Hotelflures

hinter den Tapeten ergießen sich über den

nael (Moritz Peschke), jener von Kindheits­

verjüngen sich zu einem rückwärtigen Raum.

Hotelflur. Nathanaels Versuche des Aufräu-

tagen an traumatisierte Student, der am Ende

Er lässt sich als Nathanaels Kopf dechiffrie-

mens steigern sich zur Manie, können aber in

dem Wahnsinn verfällt. Aus zwei alten Laut-

ren. Wenn sich der Rollladen knarrend hebt,

keiner Weise Schritt halten mit dem Grad an

sprechern dudelt scheppernd „Mr. Sandman,

begegnet Nathanael seinen erlittenen Trauma-

Chaos und Auflösung. Indem er den letzten

bring me a dream“, in der Version des Frauen-

ta – dem gewaltsamen Tod des Vaters, der Ver-

Zugriff auf die Ordnung des Hauses verliert,

Quartetts The Chordettes, in Endlosschleife.

führungskraft der automatischen Holzpuppe

gerät sein Leben endgültig außer Kontrolle.

Der Ton in Freiburg bleibt durch den populä-

Olimpia sowie dem eigenen Wahn.

Aus den Feuerresten des Beginns und einem Kronleuchter, der klar Olimpias Welt zuzuordnen ist, errichtet Nathanael am Ende der Inszenierung einen Scheiterhaufen im hinteren Bühnenraum. Sein Körper wird selbst zur Horrorpuppe, mit zwei weißen Murmeln als leblose Augen. Die Selbstzerstörung ist komplett. Stef Lernous’ Inszenierung funktioniert auf der Assoziationsebene herausragend: Dieser Abend wird Zuschauerinnen und Zuschauer noch in ihren Träumen beschäftigen. Dass das so ist (zumindest für den Rezensenten), liegt auch an der Ausblendung einer bei Hoffmann vorhandenen Gegenwelt. Nathanaels Verlobte Clara (Elisabet Johannesdóttir) ist bei Lernous eben nicht aufklärerische Gegenfigur wie noch bei Hoffmann, sondern Teil des imaginierten Gruselkabinetts. Das Unheimliche entfaltet – anders als bei Hoffmann – auch dann seine existenzbedrohende Kraft, wenn es sich bis ins Innere der Figurenwelten zurückverfolgen lässt. Gerade weil Lernous die Welt des Subjektiven alternativlos gestaltet, gibt es kein Entkommen aus traumatischem Erleben. Insofern ist der Untergang Nathanaels in Freiburg so absehbar wie wirkungsmächtig. //

Bodo Blitz­

Wenn die Türen zum Unbewussten durchschritten werden, nehmen die Traumata Gestalt an – Stef Lernous‘ Inszenierung von E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ (hier mit Tine Van den Wyngaert). Foto Marc Doradzillo


auftritt

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GRAZ Klappmaul-Nationalismus SCHAUSPIEL GRAZ: „The Hills are Alive“ von Neville Tranter Regie Nikolaus Habjan und Neville Tranter Puppenbau Neville Tranter Ausstattung Denise Heschl

Die Bühne wird flankiert von zwei riesigen ­Österreichfahnen. Aufgepflanzt auf Standarten, erinnern sie auf fatale Weise an die Monumentalbeflaggung mit Hakenkreuzban­ nern auf ­Nazi-Parteitagen. Auch der Mann, der zwischen diesen Fahnen hinter einer Empfangstheke steht, kommt einem bekannt vor. „You look familiar!“, wird er im Verlaufe des Stücks immer wieder angesprochen, aber niemand traut sich, ihm ins Gesicht zu sagen, an wen er alle erinnert. Dabei ist die Ähnlichkeit mit seinem historischen Vorbild dank straffem Seitenscheitel und schmalem HitlerBärtchen unverkennbar. Dass auf der Bühne englisch gesprochen wird, ärgert diesen Mann übrigens maß-

Begebenheiten beruhende, aber mit amerika-

los. Er selbst müht sich mit dickem Akzent

nisierten Folklore-Klischees verkitschte Ge-

durch die fremdsprachigen Dialoge und giftet

schichte des Kindermädchens Maria, das

schon mal Richtung Publikum beiseite, es sei

sich in Salzburg in den verwitweten Baron von

an der Zeit, „dass die Theater wieder nationa-

Trapp verliebt und später mit ihm und dessen

ler werden!“. Englisch auf einer österreichi-

sieben Kindern nach dem Anschluss Öster-

schen Bühne – das ist für ihn Auswuchs einer

reichs 1938 vor den Nazis in die USA flieht.

unseligen Internationalisierung.

Schwarzhumorige Migrationsparodie – Mit „The Hills are Alive“ liefern die Puppen­ theatermacher Nikolaus Habjan (links) und Neville Tranter am Schauspiel Graz einen aktuellen Kommentar zur Gegenwart. Foto Lex Karelly

Bei Tranter heißen die von Trapps nun Maria

renziertheit im emotionalen Ausdruck fähig,

Tatsächlich ist „The Hills are Alive“

und Max von Trüb und wollen aus Amerika

die so verblüffend ist, dass einem auch als

­Ergebnis einer australisch-austriakischen Zu-

zurück in die Heimat. Diesmal fliehen sie vor

Zuschauer das Maul ein ums andere Mal

sammenarbeit. Der in Graz geborene und

Donald Trump. Doch der Einwanderungs­

staunend aufklappt. Freude, Trauer, Angst

längst über die Grenzen seiner Heimatstadt

beamte Frickl (der mit dem Führerschnauzer)

oder Arroganz – nichts, was die Puppen nicht

hinaus bekannt gewordene Puppentheater-

will ihre Rückkehr verhindern.

auszudrücken vermögen, obwohl sie doch nur

macher ­Nikolaus Habjan hat sich einen lang

Wie Maria, Max und all die anderen

den Mund öffnen und schließen, aber an-

gehegten Wunsch erfüllt: ein gemeinsames

Charaktere des Stücks ist Frickl eine Klapp-

sonsten keine Miene verziehen können. „The

Stück mit seinem Lehrer Neville Tranter. Und

maul-Puppe, sensationell geführt und gespro-

Hills are Alive“ am Schauspiel Graz ist die

weil Letzterer dieses Stück geschrieben hat

chen von Habjan und Tranter, die mit ihren

fulminant-witzige Parodie eines Musical-

und aus Down Under stammt, wird nun eben

Händen Gliedmaßen und Münder der Papp-

Klassikers, inklusive Gastauftritt einer Schwar­

englisch gesprochen.

kameraden bewegen und ihnen die verstell-

zenegger-Puppe als Lokalreferenz (der Gover-

Doch Tranters Herkunft ist nicht der

ten Stimmen leihen. Die Figuren sind grotesk

nator stammt aus der Steiermark). Vor allem

einzige Grund. „The Hills are Alive“ ist eine

überzeichnet. Bei den Re-Immigranten Max

aber handelt es sich um eine beißende

Zeile aus dem Titellied des US-Musicals „The

und Maria zum Beispiel handelt es sich um

Österreichsatire über die Kontinuität natio­

Sound of Music“ von Richard Rodgers und

zwei faltig-verknöcherte alte Knacker – er

nalistischen Denkens von den 1930ern bis

Oscar Hammerstein, das 1965 verfilmt wur-

ein lebensmüder Schluffi im Seidenpyjama-

heute, die über die Jahre mal schwächer oder

de. Eine Heimatschnulze aus dem Voralpen-

Hemd, sie ein vergreister Backfisch im rosa

(wie heute in Zeiten des grassierenden

land made in Hollywood, die in den USA Kult-

Ballett-Tutu. Trotz der karikierenden Über-

Rechtspopulismus) mal deutlicher sichtbar

status genießt. Erzählt wird die auf wahren

zeichnung sind diese Puppen zu einer Diffe-

war, aber nie ganz abgerissen ist.

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auftritt

/ TdZ Januar 2020  /

„Austria doesn’t shoot at immigrants!“, erklärt der Einwanderungsbeamte Frickl mit kaum verhohlenem Bedauern gleich zu Beginn des Abends, um nach einer kurzen Pause ein drohendes „yet“ anzufügen. Noch werde auf Einwanderer nicht geschossen. Unterton: Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Ahn­ herren des grimmig-österreichischen Humors wie Helmut Qualtinger oder Georg Kreisler hätten ihre helle Freude gehabt an diesem boshaft-komischen Abend. // Christoph Leibold

INGOLSTADT Leider ermüdend misierte Partitur aus Satzfragmenten über­

STADTTHEATER INGOLSTADT: „Big Guns“ (DSE) von Nina Segal Regie Mareike Mikat Ausstattung Simone Manthey

tragen. In Mareike Mikats deutschsprachiger Erstaufführung wird sie von zwei Frauen szenisch ausagiert. Die neue Oberspielleiterin am Stadttheater Ingolstadt und ihre Ausstatterin

Über unseren schizophrenen Umgang mit der Gewalt – Mareike Mikats Inszenierung von Nina Segals „Big Guns“ (hier mit Sarah Horak) am Stadttheater Ingolstadt verliert sich in hektischem Aktionismus. Foto Jochen Klenk

­Simone Manthey haben Ingrid Cannonier und Die Evakuierung endet draußen in einer Sack-

Sarah Horak in Falten- und Miniröcke ge-

gasse. Jeder, der vor der Vorstellung seine Jacke

steckt, die sich mit Fliegerjacken und Son-

Drei

abgegeben hat, friert. Das ist in diesen Minuten

nenbrillen beißen. Ein schlanker Rollcontai-

flächen werden im Laufe des Abends verbal in

bedeutsamer als die Gestalt mit Sturmhaube

ner, der auch durch enge Flugzeuggänge

Galle-Hirnmasse-Blut-und-Kaugummi-Splatter

und MP im Anschlag, die auf einem Container­

passen würde, steht auf einer Arenabühne,

transformiert. Was einem aber fast entgeht,

dach lautstark gegen Metallstreben tritt.

die großen Zirkus ankündigt, aber nüchtern

weil man von den Schauspielerinnen mit

spiegelglatte

Selbstdarstellungsober­

Nun kann es natürlich sein, dass Thea-

wie ein Seminarraum wirkt. Passend dazu

Händchenhalten

terzuschauer den Einbruch einer Bedrohung

wechseln die beiden Schauspielerinnen in

Ballons-zerplatzen-Lassen vollumfänglich ein­

in eine Aufführung selbst dann als inszeniert

rascher Folge zwischen kühlem Dozenten-, ­

ge­ seift wird. Schließlich hat man als Zu-

wahrnähmen, wenn echte Terroristen das Ge-

geschäftigem Stewardessen- und emotionalem

schauer „ein Recht auf Unterhaltung“.

bäude stürmten. Dass eine Mischung aus

Laienprediger-Habitus. Sie entertainen, be-

Segals Text erzählt durchaus komplex

Trägheit und Gewöhnung an den dramati-

lehren, flöten und brüllen und verbreiten eine

von „Tsunamis, kollabierenden Gebäuden,

schen Konflikt sie so lange einlullt, bis echte

unglaubliche Hektik, die zumindest anfangs

zerbrochenen Märkten“ wie von denen, für

Schüsse fallen. Doch im Kleinen Haus des

noch nicht von den Inhalten ihres Wortfeuer-

die die Angst der Betroffenen nur ein Schau-

Stadttheaters Ingolstadt hat man zu diesem

werks gedeckt ist. Sie beschwören Rücken an

spiel ist oder eine Fantasie. Mikat lässt die

Zeitpunkt schon so seine Erfahrungen mit

Rücken das Kurz-Davor der Katastrophe. Sie

Panik- und die Beschwichtigungsdämonen,

Alarmsignalen gemacht, hinter denen dann

rennen durch die und aus der Arena und ru-

die im Stück versteckt sind, alle auf einmal

doch nichts weiter steckt. Auf dem Spielplan

fen Texte über die unmittelbare Nähe der Ge-

los. Damit wirkt ihre Inszenierung hyperaktiv

steht „Big Guns“ der britischen Autorin Nina

walt von ganz weit weg herein, stellen sich

und müde zugleich. Inhaltliche Feinheiten

Segal, das im März 2018 in London uraufge-

auf Rednerpulte und steuern an vier schwar-

gehen im Aufmerksamkeitskonkurrenzkampf

führt wurde. Zwei Spieler respektive Stimmen

zen Technik-Türmen die Atmos. Bisweilen ist

unter. Was ihn überlebt, ist vor allem der per-

sezieren darin unseren schizophrenen Um-

dieser Aktionismus auch illustrativ. So setzt

manent beschworene „Mann mit der Waffe“,

gang mit der Gewalt. Denn während sich die

eine von ihnen einer Zuschauerin einen gro-

der dem Publikum bei der offenbar eigens zu

Angst über ihre Zunahme entgegen ihrer fak-

ßen Teddy auf den Schoß und lässt einen

diesem Zweck anberaumten Evakuierung zwi-

tischen Abnahme perpetuiert, delektieren wir

Staubsaugroboter los, als es um das Vorzeige-

schendurch kurz gezeigt wird, dadurch aber

uns an ihr via TV-Krimis, IS-Enthauptungs-

paar Ike und Kay und ihren Wohn-Blog geht.

eher noch weniger bedrohlich wirkt. Und ba-

Videos, Newsfeeds und Social Media.

und

gemeinschaftlichem

In ihren „Fall“, wie in den der Vlogge-

nalere Fragen wie diese: „Vielleicht brauchen

Segals Versuch über unsere angstlus­

rin und Frosted-Lips-Spezialistin Leila oder in

wir … andere Menschen, die gefoltert werden

tige Gesellschaft hat ihr österreichischer

die Einträge eines gefundenen Tagebuchs

… damit wir aufatmen können, dass wir nicht

­Kollege Thomas Arzt in eine gut durchrhyth-

schleichen sich immer mehr Gewaltfantasien.

sie sind.“ //

Sabine Leucht


auftritt

/ TdZ  Januar 2020  /

KÖLN Im Gefängnis der Familie SCHAUSPIEL KÖLN: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill Regie Luk Perceval Bühne Philip Bußmann Kostüme Katharina Beth

brauchten Illusionen. Und ihre Söhne Jamie

einanderreihung fünf weißer, nahezu unmö­

(Seán McDonagh) und Edmund (Nikolay

blierter Räume, zwischen denen es nur ver-

Sido­ renko) kopieren das (selbst-)zerstö­

schlungene, aus dem Zuschauerraum nicht

rerische Verhalten ihrer Eltern. Familien­

einsehbare Verbindungswege gibt. Das Haus,

geschichte wiederholt sich, nur kippt das

das schon in O’Neills Stück etwas Erdrücken-

­Tragische dabei schnell in die Farce.

des hat, wird endgültig zu einem Gefängnis.

Perceval und sein Ensemble arbeiten

Dieses eigentlich simple, jedoch ex­

die gegenseitigen Bezüge der einzelnen Mit-

trem aussagekräftige Bühnenbild und der

glieder der Familie auf grandiose und über­

Verzicht auf Requisiten schärfen den Blick

raschende Weise heraus. So spiegelt sich

für die einzelnen Spielstile des Ensembles.

André Jungs vorgetäuschte Ruhe in Nikolay

Jede noch so kleine Geste, jeder Blick, der an

Sidorenkos beinahe apathischem Spiel. Auch

den anderen vorbeigeht, hat eine überwälti-

das ist nur Show, allerdings kann Edmund die

gende Wirkung. Hier leben fünf Menschen

Fassade längst nicht so gut aufrechterhalten

zusammen, die einander unbedingt brau-

Der Schauspieler und Familienpatriarch James

wie sein Vater. Also brechen der Schmerz und

chen. Doch niemand von ihnen ist in der

Tyrone wirkt wie ein Fels in der Brandung.

die Wut, die Enttäuschung und die Verzweiflung

Lage, wirklich zu den anderen durchzudrin-

Wenn er auf dem einzigen Sessel sitzt, den es

immer wieder hervor, bis seine Maskerade

gen. Das Leben hat sie derart verformt, dass

in Philip Bußmanns Breitwand-Bühnenbild

schließlich ganz zerbröckelt. Währenddessen

es kein Zurück mehr gibt. Sie alle sind Opfer

gibt, scheint ihn nichts wirklich erschüttern

scheint Astrid Meyerfeldts flatterhaftes, von

der Umstände, auch James Tyrone, der bei

zu können. Die anderen mögen mit ihren Ge-

einem Moment zum anderen umschlagendes

André Jung vielleicht sogar der Verletzlichste

fühlen und ihren Ängsten so viel kämpfen,

Auftreten deutliche Spuren in Seán McDonaghs

unter ihnen ist, und zugleich sind sie Täter.

wie sie wollen. Er bleibt die Ruhe selbst.

Spiel zu hinterlassen. Nur ist es noch viel ex-

„Was das Leben aus uns gemacht hat, dafür

Doch das ist alles nur Spiel, eine über Jahre

pressiver. Die wechselnden Exaltationen der

kann keiner was“, sagt Mary einmal und

errichtete Fassade. Innerlich gärt es in dem

Mutter erreichen in seinen fortwährenden

bringt damit Percevals Sicht auf den Punkt.

Mann, der immer noch von seinen Kindheits-

Ausbrüchen ihr Crescendo.

Selbst die Unschuldigen werden zwangsläufig

erinnerungen getrieben wird. Er ruht keines-

Trotz dieser Spiegelungen haben sie

wegs in sich selbst, sondern schmort in seinem

alle ihren ganz eigenen Stil. Die vier Tyrones

eigenen Saft, auf kleiner Flamme zwar, aber

und ihre von Maria Shulga verkörperte Haus-

die Zeichen, die André Jung setzt, sind unmiss­

angestellte sind in Percevals Inszenierung in

verständlich. Seine Bewegungs­losig­keit täuscht

ihrem jeweils eigenen unfreien Kosmos ge-

Gelassenheit nur vor. Je länger man Jung da-

fangen. Sie leben nicht miteinander, sondern

bei zusieht, wie er regungslos dasitzt und mit

nebeneinander her. Also hat Philip Bußmann

teilnahmslosem Blick ins Leere starrt, desto

einen riesigen Holzkasten auf die extrem breite

brüchiger erscheint einem dieser James Tyrone.

Bühne des Kölner Depots 1 gestellt: eine An-

Was erst stoisch wirkt, offenbart sich als Ausdruck einer unendlichen ­ Müdigkeit. Dieser Mann hat seine Schlachten mit der Welt, mit seiner Familie und mit seinen eigenen Dämonen längst geschlagen, und er ist nicht als Sieger vom Feld gezogen. Nur will er das weder sich selbst noch den anderen eingestehen. Die Familie, die Eugene O’Neill in seinem autobiografisch geprägten Stück immer tiefer in ein existenzielles Dunkel versinken lässt, reproduziert klassische Strukturen von Unterdrückung und Rebellion. Der Vater ist Herr und Zerstörer in einem. Seine Erzählungen von der Armut, die er als Kind erfahren musste, klingen in vielen Inszenierungen wie Ausreden. Doch so einfach macht es sich Luk Perceval in seiner klarsichtigen Annäherung an diesen amerikanischen Klassiker nicht. Als Familie sind die Tyrones schon vor langer Zeit gescheitert. Die Ehe von James und Mary (Astrid Meyerfeldt) ist ein einziger Scherbenhaufen aus zerbrochenen Träumen und ver-

schuldig und tragen ihren Teil zum Kreislauf der Zerstörung bei. //

Sascha Westphal

Jeder gefangen im eigenen Kosmos – Luk Perceval inszeniert O‘Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ mit einem großartigen Schauspiel­ensemble (hier mit Nikolay Sidorenko, André Jung und Astrid Meyerfeldt). Foto Krafft Angerer

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auftritt

OSNABRÜCK Literaturmuseumstheater THEATER OSNABRÜCK: „Kafka“ (UA) nach Texten von Franz Kafka Regie Dominique Schnizer Ausstattung Christin Treunert

/ TdZ Januar 2020  /

Räumlichkeiten. Wer durch eine Tür flüchtet,

will verstehen, sucht Auswege. Durchlebt das

platzt sofort in die nächste klaustrophobische

Thema Fremdsein mit Fragen nach Identität

Szene. Nirgendwo ein Ausweg oder ein Ort, an

und Erfahrungen der Vereinnahmung sowie

dem sich jemand sicher, unbeobachtet fühlen

Ausgrenzung. Bleibt als Jedermann-Figur

kann. Zur Gruselsteigerung sind unheimliche

aber stets Angestellter einer Arbeiterunfall-

Lichtwirkungen und Schattenspiel in die blei-

versicherung. Das war Kafka wirklich. Eines

erne Illumination implantiert. Von einer wirt-

Tages wird er befördert. Was am trostlosen

schaftlich bleiernen Zeit spricht derweil „Der

Stumpfsinn seines Jobs nichts ändert.

Mann“ (Thomas Kienast), die Geschäfte gin-

Die Kafka-Figur erlebt all das als Gro-

gen schlecht, Gefahren drohten. Eine wohl­

teske. Ihre Perspektive ist die der Aufführung –

bekannte Be­gründungsphrase, um bürgerliche

beim Beobachten ihrer literarischen Arbeit.

Ja, schreibt denn selbst ein Literaturgigant

Freiheiten einzuschränken und Privatsphäre

Ob in der heimischen Klause oder im Büro,

wie Franz Kafka nur über sich selbst? Jein,

durch Überwachungsdruck zu zerstören.

immer ist Kafka abwesend und schraubt an

würde er wohl sagen; Prokurist Josef K.

Das betroffene Stückpersonal scheint

Formulierungen für seine Werke. Fasst die er-

(„Der Process“) und Landvermesser K. („Das

einem Panoptikum entliehen: wächserne

lebte Atmosphäre des Absurden, Bizarren,

Schloss“), das sei nicht er. Gregor Samsa

Puppen mit marionettenhaft eckiger Gestik,

Real-Fantastischen in Worte. Manchmal wird

(„Die Verwandlung“) schon gar nicht. Selbst

hinzu gesellen sich eine geisterhafte Dame,

sein Gedankenstrom aus dem Off eingeblen-

der „Brief an den Vater“ schriftstellerische

George-Grosz-würdige Beamten-, Angestellten-,

det und gezeigt, wie szenische Eindrücke

Fiktion, Vateraustreibung mit allerdings star-

Direktoren-Karikaturen und aufstiegswillige

prompt zu Sprache werden. Dann wieder bas-

ken autobiografischen Bezügen. Auf solche

Irrwitze. Was Schnizer humorvoll deutlich

telt er an Sätzen so lange herum, bis der

stürzt sich der Schauspieldirektor des Thea-

macht, indem er das selbstvergessene Lob-

Rhythmus stimmt. Wobei zunehmend die

ters Osnabrück, Dominique Schnizer. Denkt

lied auf das perfekte Archivieren mit dem

Grenzen verwischen: Ist das Bühnengesche-

sich solche Bezüge für seine Inszenierung

Bild eines Zettelchaos konfrontiert, in dem

hen Material für die Werke Kafkas – oder die

„Kafka“ auch einfach mal aus und fantasiert

der Bearbeiter badet, als wäre es ein Whirl-

Aufführung eine satirisch zugespitzte Verbild-

formvollendet eine Parallelisierung der Lebens-

pool. Nebenan haust Kafka, ein Tagträumer,

lichung seiner Texte? Das Ensemble fügt sich

und literarischen Welt des Autors auf die

fahler Teint, übermüdet in sich gekehrter

jedenfalls brillant ins Konzept – den zermür-

Bühne. Dabei treibt er den Ansatz ins Sur­

Blick. Seine maulig nach unten gezogenen

benden Kampf des Künstlers ums finanzielle

reale, weswegen die Hauptfigur gern mal eine

Mundwinkel können zum Auflehnungsschrei

und geistige Überleben in einer kleingeistig

Melone trägt wie Herren auf Gemälden von

oder hilflosen Schreckenslächeln empor-

autoritätshörigen Zeit. Konsequent kafkaesk

René Magritte.

schnellen. Wird er doch angeklagt – ohne zu

theatralisiert ist sie in dieser formidablen

Um den narrativen Kern des Romans

wissen, nach welchem Gesetz er für welche

Puppenstuben-Performance. Dem ästhetischen

„Der Process“ collagiert Schnizer reichlich

Tat belangt werden soll. Philippe Thelen

Können entspricht nur leider kaum inhalt­

Zitate aus Kafkas Erzählungen, Tagebüchern

schwankt beeindruckend nervös zwischen

liches Wollen, etwas fürs Hier und Heute zu

und Briefen zum Beweis seiner Lesart des

hochmütig

erzählen. So bleibt „Kafka“ kühl virtuoses

Œuvres, der kafkaesken. Die eben nicht All-

kleinmütig devoter Furcht. Er widerspricht,

tagsrealität 1:1 spiegelt, aber ein Daseinsgefühl ausdrückt: diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit, Entfremdung und des Ausgeliefertseins an anonyme, allgegenwär­ tige, scheinbar willkürlich handelnde Kräfte und Mächte und ihre albtraumhafte Bürokratie. Dementsprechend inszeniert Schnizer heillos widersprüchliche Situationen, in denen man nicht antizipieren, nur fürchten kann, was gleich passiert – die Konfrontation mit Gewalt, Absurdität, Ausweg- oder Sinnlosigkeit. Sinnträchtig hingegen die Drehbühne von Christin Treunert: ein labyrinthisches Ineinander von mal engen, mal mit Möbeln zugestellten

Leider nur kafkaesk – So erzählt Regisseur Dominique Schnizer seinen „Kafka“ am Theater Osnabrück, hier mit Philippe Thelen, Julius Janosch Schulte und Hannah Walther. Foto Jörg Landsberg

auffahrender

Intelligenz

und

Literaturmuseumstheater. //

Jens Fischer


auftritt

/ TdZ  Januar 2020  /

RUDOLSTADT Die Verschwörung des Floristen THEATER RUDOLSTADT: „Hilfe, die Mauer fällt!“ (UA) von Karsten Laske und Steffen Mensching Regie Steffen Mensching Ausstattung Monika Maria Cleres

Wie war das noch mal mit der Mauerfall ­genannten Grenzöffnung im November 1989, die das Ende des sozialistischen Teils Deutschlands einleitete? Sollte Günter Schabowski, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin, in der berühmten Pressekonferenz die erleichterten Reisebedingungen nicht erst Der Mauerfall als tragische „Wende“ im Leben eines Blumenhändlers – Steffen Menschings mit Karsten Laske verfasste Komödie „Hilfe, die Mauer fällt!“ (hier mit Markus Seidensticker, Johannes Geißer und Johannes Arpe). Foto Anke Neugebauer

für den 1. Dezember 1994 verkünden? So

Pflanzen, Samen“ lautet der Name seiner

hätte es zumindest Konrad Polauke, der Prota-

­Firma, die billiges Grünzeug aus der DDR be-

gonist in „Hilfe, die Mauer fällt!“, gerne ge-

zieht. Polauke kann den an Marx und Lenin

habt. Die am Theater Rudolstadt uraufgeführte

geschulten Kadern aus dem Osten genau er-

Komödie von Karsten Laske und Steffen Men-

klären, was mit Profitrate gemeint ist, ohne

sching erzählt eine andere Geschichte von

auch nur einen Blick in „Das Kapital“ gewor-

den bewegten Tagen im Oktober und Novem-

fen zu haben. Wozu auch, er kennt es ja auch

ber 1989. Doch wie das im Theater ist: Hier

ohne Buch, das liebe Kapital, ist er doch

können die erfundenen Geschichten das Wah-

­Kapitalist. Und weil er weiß, was eine Profit-

Dass es gleichzeitig in der DDR Demonstra­

re an den wahren Geschichten zeigen. Fiktion

rate ist, will er die Mauer. Denn stürzt sie, tun

tionen gibt, interessiert Polauke nicht. Er rät

fragt nach der Bedeutung der Begebenheiten.

es seine Profite ebenso.

seinen Stasi-Kontakten zu ein paar Schein­

Und schärft den Blick für Ähnlichkeiten. Kon-

Doch die Mauer braucht er auch, um

reformen, um einen Umsturz aufzuhalten. Doch

rad Polauke ist Blumenhändler aus Berlin-

weitere Erzeugnisse – weniger die seiner Blu-

es ist zu spät. Sein Freund Olaf (Rayk Gaida)

Steglitz. Und er will, dass die Mauer stehen

men als vielmehr seiner Samen – an einem

hatte schon geahnt, dass die Ossis sich kaum

bleibt. Er will es sogar mehr als die Mitarbeiter

Ort zu wissen, der nicht mit seiner West-­

aufhalten lassen in ihrem Drang nach Haribo,

der Staatssicherheit auf der anderen Seite, mit

Berliner Lebenswelt inklusive Ehefrau (Verena

Golf GTI und Videorekorder – und wenn sie das

denen er sich im Laufe der Handlung verbün-

Blankenburg) kollidiert. Im Laufe des Stückes

alles haben, wollen sie ihre DDR zurück, sagt

det. Aufhalten kann er die Ereignisse nicht.

tauchen nämlich vier uneheliche Kinder auf –

der Radiomoderator. Als dann Polaukes letzter

Aber am Ende ist er trotzdem der Gewinner.

von dem republikflüchtigen Maik (Philipp

Versuch, das Unausweichliche wenigstens noch

Zunächst sehen wir den von Markus

Haase) und der ebenfalls republikflüchtigen,

bis 1994 zu verschieben, scheitert, poltert er

Seidensticker gespielten Floristen, der im Laufe

zudem noch schwangeren Stefanie (Laura

los: „Sie versauen alles. Erst den Sozialismus.

des Abends eine beachtliche Anzahl ver­

Bettinger) über den beim Neuen Forum enga-

Und dann machen sie auch noch unseren Ka-

schiedener, beeindruckend geschmacksver-

gierten Timon (Johannes Geißer) bis zu dem

pitalismus kaputt.“ Warum am Ende Polauke

irrter Hawaiihemden tragen wird, in seinem

Stasi-Offizier Sascha (Marcus Ostberg). Die

trotzdem gewinnt? Als die Grenze geöffnet

West-Berliner Domizil. Monika Maria Cleres hat

machen dann auch keinerlei Anstalten, wie-

wird, sattelt der findige Geschäftsmann sofort

sowohl die Kostüme als auch die Bühne ent-

der zu verschwinden, wollen stattdessen wie

um und ruft seine Stasi-Kontakte an. Mitten in

worfen, die im hinteren Teil an ein Bauver­

Maik zusammen mit dem Kurden Mustafa

Berlin sind ein paar lukrative Baugrundstücke

brechen aus neonfarbenem Plastik und Glas

(Johannes Arpe) Gebrauchtwagen verkaufen –

frei geworden. Ob Mauern stehen oder fallen,

aus den achtziger Jahren erinnert. Dahinter

an die aus der Ostzone. Polauke hatte ein

es wird immer welche geben, die daran verdie-

befindet sich der Reichtum des Blumenhänd-

ruhiges Leben, als die Folgen seines Han­

nen. Nur Polaukes Putze Frieda (Anne Kies)

lers – eine gigantische Titanwurz aus Sumatra.

delns sauber von ihm getrennt waren. Kaum

desertiert irgendwann Richtung Osten. Die letz-

Doch die verströmt den Gestank der Verwe-

brechen sie in seinen Alltag ein, versucht er

te Nachricht von ihr ist, dass sie nun „Staat

sung, das ist eine der Eigenheiten der wert-

alles, um die Mauer dichtzumachen – und

und Revolution“ liest. Denn ­ manche haben

vollen exotischen Pflanze, die zudem einige

alle seine Zöglinge möglichst auf die andere

eben nichts, weil die anderen verdienen. //

phallische Assoziationen weckt. „Blumen,

Seite zu verfrachten.

Jakob Hayner

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stück

/ TdZ Januar 2020  /

Die einzige Gewissheit, die es gibt, ist die, dass es keine Gewissheiten mehr gibt Alexander Eisenach über sein neues Stück „Stunde der Hochstapler“ im Gespräch mit Jakob Hayner

Alexander Eisenach, nachdem Sie „Felix Krull –

Wir brauchen Geschichten über uns und die

Es ist also ein bisschen alttestamentarisch. Ich

Stunde der Hochstapler“ nach Thomas Mann am

Unseren, um stabile Verhältnisse zu erzeu-

habe versucht, die Auseinandersetzung mit

Berliner Ensemble inszeniert haben, folgte nun

gen. Allerdings haben wir diesen Geschichten

dem Thema so weit zu treiben, dass sich letzt-

mit „Stunde der Hochstapler“ Ihr eigenes Stück

immer eine Wahrheit zugesprochen: unseren

lich die ganze Zivilisationsgeschichte als Hoch­

zum Thema. Die Uraufführung am Berliner En-

Erinnerungen, unserer Geschichtsschreibung,

stapelei herausstellt. Es gibt ja immer eine

semble haben Sie selbst inszeniert. Was faszi-

unserem Lebenslauf und so weiter. Heute

zweite Wahrheit unserer Geschichte oder wie

niert Sie an dem Stoff?

wissen wir von Neurologen, dass unsere Erin-

Walter Benjamin sagt: „Es gibt kein Zeugnis der

Zu Beginn stand der Gedanke, dass wir durch

nerungen unzuverlässig und teilweise gänz-

Kultur, das nicht zugleich eines der Barbarei

die veränderten Formen der Kommunikation

lich erfunden sind, wir erleben, wie Menschen

ist.“ Gerade erleben wir den Moment, in dem

im Zuge der Digitalisierung vermehrt Platt­

sich in völlig unterschiedlichen Weltwahr­

uns die Natur, die wir immer als Bühne unseres

formen der Hochstapelei hervorgebracht ha-

heiten und -wahrnehmungen bewegen und

Handelns empfunden haben, als Hochstapler

ben. Die Formen der Hochstapelei sind dabei

sich gegenseitig als fake bezeichnen. Kurz:

entlarvt. Die Wahrheit, die sich uns jetzt zeigt,

vielfältig und durchdringen alle Sphären, von

Der fiktionale Charakter unserer Erzählungen

ist, dass unsere Zivilisation – die ja eine Befrei-

Jugendkultur über Wirtschaft und Politik. Über-

steht uns klarer vor Augen, und wir erleben

ungsgeschichte sein soll – gleichzeitig unseren

all geht es darum, ein Selbstbild zu produzie-

Verunsicherung. Die Prämisse des Stücks ist,

Untergang programmiert. Das ist natürlich un-

ren, Geschichten über sich und die Welt zu

dass wir diese Verunsicherung nicht als Ver-

zulässig verkürzt und zugespitzt, aber es macht

erfinden und mit diesen Geschichten andere

lust, sondern als Chance begreifen. Und zwar

Spaß, den Gedanken eines hochstaplerischen

Menschen zu überzeugen und zu ver­führen.

als Chance, nicht nur andere Geschichten zu

Selbst so weit zu treiben.

Das hochstaplerische Selbst ist die logische

erzählen, sondern Geschichten anders zu er-

Fortsetzung des „unternehmerischen Selbst“,

zählen.

Eine Prophetin im Stück verkündet die Entgrenzung des Individuums. „Materie ist eine Illu­

wie es der Soziologe Ulrich Bröckling definiert hat. Der Hochstapler ist die Figur der Stunde,

Es gibt in dem Stück einen Filmproduzenten,

sion“, ruft sie aus. Die neoliberale Ideologie

weil er in sich das ökonomische Gebot der

dem es auch nach Lügen verlangt. Wie verhält

basiert auf der falschen Behauptung der indi­

Selbstinszenierung mit der Auf­lösung ­medialer

es sich mit der Kunst und der Lüge? Ist das der

viduellen Machbarkeit auf einem grenzenlosen

Wahrheitsinstanzen verbindet.

Sonderfall einer wahren Lüge?

Markt. Wie lässt sich die Lüge der Ideologie von

Der Produzent will die erste Lüge. Jenen

den anderen Lügen unterscheiden?

„Wir sind Hochstapler“, heißt es in dem Stück.

Moment, an dem die Lüge in die Welt

Die ideologische Lüge kennt kein Spiel. Sie

Was ist es, das die Lüge zur Notwendigkeit macht?

kommt. Im Stück ist das gleichgesetzt mit

ist starr und beansprucht Allgemeingültig-

Kann der Mensch ohne Fiktion nicht leben?

der Geburt des menschlichen Bewusstseins.

keit. Sie ist eigentlich eher eine Wahrheit.

KLUB KATARAKT

INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR EXPERIMENTELLE MUSIK

MORITZ FRISCHKORN

THE GREAT REPORT (Uraufführung)

SASHA WALTZ & GUESTS RAUSCHEN

ABSCHLUSSARBEITEN DER THEATERAKADEMIE HAMBURG von Dominique Enz, Dor Aloni, Helena Bennett und Woody Mues

0 2 0 2 JAN KAM

HAMB PNAGEL

URG


/ TdZ  Januar 2020  /

alexander eisenach_stunde der hochstapler

Der Hochstapler lügt flexibel, aus dem Ste­ greif. Die Geschichte, die gerade noch gültig war, bedeutet ihm nichts, er kann sie fahren lassen und eine neue, bessere erfinden. Der Ideologie ist ihre Lüge heilig. Sie zeigen in dem Stück auch die Krise eines Autors – oder des Autors schlechthin. Was ist diese Krise? Und anschließend gefragt: Wenn überall Illusionen hergestellt werden, wenn jeder dazu selbst in der Lage ist, was macht dann eigentlich noch das Theater? Diese Frage taucht ja auf im Stück: Während sich unser Alltag immer stärker illusioniert, also die Gewissheiten schwinden, will man im Raum der Kunst das „Echte“. Der Text, der ja über den Text hinaus eine Inszenierung ist, die ich für das Berliner Ensemble gemacht habe, reflektiert diesen Bruch. Wir schlagen verschiedene Formen und Töne an, um die Krise der Wahrheit auszuloten. Wenn ich Krise der Wahrheit sage, dann meine ich jenen Zustand der Unsicherheit darüber, was eigentlich unsere gültigen Narrative sind. Über diese Deutungshoheit gibt es einen Kampf, und diesen Kampf trage ich letztlich auch in mir selbst aus. Und wir tragen ihn formal und ästhetisch auch auf der Bühne aus. Die sich verzettelnden Denkspiralen, die dabei ent­ stehen, können wiederum vielleicht eine Antwort auf die Frage geben, wie wir unsere Geschichten erzählen. Frei nach dem Motto: Die einzige Gewissheit, die es gibt, ist die, dass es keine Gewissheiten mehr gibt. Ihr Stück wirkt wie ein Gespräch zwischen Kunst, Wissenschaft und Psychologie, drei Ansätze zur Bestimmung des Menschlichen und Außermenschlichen. In welchem Verhältnis ­stehen diese zueinander? These, Antithese, Synthese? Ich weiß es nicht genau, aber für mich wird es spannend, wenn Theater (also die Kunst) die beiden anderen Sphären amalgamiert. Das ist ja ein alter Gedanke, das Wechselspiel vom Apollinischen und Dionysischen und die Synthese in der Kunst. Ich arbeite nicht bewusst mit diesen Kategorien, mag es aber, mit ihnen zu spielen. Für Thomas Mann hingegen war das verbindlich, und anhand von „Bekenntnisse des

Alexander Eisenach, geboren 1984 in Ostberlin, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Leipzig und Paris. Seine erste Regie führte er am Centraltheater Leipzig, wo er unter anderem bei Sebastian Hartmann und Sebastian Baumgarten assistierte. Oliver Reese holte ihn 2013 ans Schauspiel Frankfurt, wo er 2013/2014 Mitglied des Regiestudios und 2015/16 des Autorenstudios war und bereits eigene Texte zur Uraufführung brachte, so 2014 sein ­erstes Theaterstück „Das Leben des Joyless Pleasure“. Seit 2014 arbeitet Alexander Eisenach als freier Regisseur, u. a. am Schauspiel Graz, am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Deutschen Theater Berlin. Von 2017 bis 2019 war er Hausregisseur am Schauspiel Hannover. Für seine Inszenierung „Der kalte Hauch des Geldes“ wurde er mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis 2016 ausgezeichnet. „Stunde der Hochstapler“ hatte am 14. Dezember 2019 in Eisenachs eigener Regie am Berliner Ensemble Premiere. Im März 2020 wird er sein Stück „Der Kaiser von Kalifornien“ an der Volksbühne in Berlin uraufführen. Foto Claudia Balsters

Hochstaplers Felix Krull“, das letztlich auch ein Kunstdiskurs ist, kann man das nachvollziehen. Mir persönlich ist das zu kartogra-

Unsere Gesellschaft ist in Teilen geprägt von einer

Einspruch dagegen eine neue Politik der trennen-

fisch. Es fehlt da das Moment der Freiheit,

Kultur des Narzissmus und der Autoerotik, nichts

den Wahrheit oder der Wahrheit der Trennungen?

das für mich als Theatermacher zunächst das

ist geiler als man selbst. Das geht mit ­einem Verlust

Da hilft nur Praxis. Es gibt Dinge, die kann

Entscheidende ist.

des Anderen und des Sexuellen einher. Wäre ein

man nicht am Handy machen. //

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stück

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Alexander Eisenach

Stunde der Hochstapler Vorbemerkungen

Dieser Text ist Fragment und muss es notwendig bleiben. Dieser Text entsteht in der konkreten Arbeit mit Schauspielern und stellt sich dieser Arbeit immer wieder zur Verfügung. Dieser Text möchte nicht illustriert werden, sondern in eine Auseinandersetzung treten. Dieser Text ist nicht realistisch. Er ist ein Spiel mit der Abbildung der Realität. Die Sprache dieses Textes ist keine Handlungs­ anleitung. Die Szenen dieses Textes sind nicht zwangsläufig so geordnet. Diese Ordnung ist ein Vorschlag. Die Anzahl der Spieler und die Figuren, die sie verkörpern, ist ebenfalls ein Vorschlag. Die Arbeit mit diesem Text muss immer wieder ein Prozess der Aneignung sein, der von denjenigen ausgeht, die ihn spielen und inszenieren. Diese Text birgt keine tiefe Wahrheit, die ans Licht gefördert werden muss. Alles liegt ganz offen da.

Figuren

Gordon / Filmproduzent / Steinzeitmensch A Kevin / Filmregisseur / Steinzeitmensch B Cy / Wissenschaftlerin / Prophetin Nancy / Therapeutin Dr. Philbert / Patient / Therapeut

prolog KEVIN Wann hat das eigentlich angefangen, dass wir lügen? Die Lüge ist für uns so selbstverständlich wie das Atmen. Sie erschafft uns das Selbst, das wir sein möchten. Und sie schützt uns. Sie ist das zwischenmenschliche Schmiermittel. Lernen Sie jemanden neu kennen, so lügen Sie in den ersten zehn Minuten dreimal. Sie wollen gefallen. Sie wollen jemand sein für den anderen. Vielleicht berauschen Sie sich an der Vorstellung dessen, der Sie sein könnten. Vielleicht spüren Sie, wie ihr ­Gesprächspartner sich der Illusion hingibt, dass das, was Sie ihm auftischen, wahr sein könnte. Vielleicht bringen Sie ihn zum Träumen, vielleicht sind Sie beide bereits abgedriftet in eine Welt, in der Sie etwas darstellen, in der man Sie bewundern muss, für das, was Sie sind. Vielleicht führen Sie das Gespräch mit hunderten, tausenden, millionen Menschen zur gleichen Zeit. Sie lügen an allen Fronten. Sie sind Hochstapler. Wir sind Hochstapler. Hochstapler unserer Selbst. „Ich ist ein anderer“ – das war einmal ein poeto­ logisches Programm. Jetzt ist es eine unserer grundlegendsten Handlungsmaximen. Ein Anforderungsprofil. Selbstentfremdung ist unsere Schlüs­ selqualifikation. Hochstapler zu sein, das führt keine negative Konnotation mehr mit sich. Auch keine subversive, anrüchige. Hochstapler zu sein, bedeutet souverän zu sein. Souverän in der Interaktion mit einer Welt, deren höchstes Gut es ist, etwas darzustellen. Hochzustapeln ist die logische Konsequenz auf die Herausforderungen, die unsere Zeit an das Profil des Menschen stellt. Ich muss Ihnen das nicht erklären, Sie wissen, wovon ich rede. Wann hat das angefangen, dass wir lügen? Ist die Erfindung der Lüge jener Moment, in dem sich das menschliche Bewusstsein manifestiert? Ist es der Moment, an dem wir beginnen aufrecht zu gehen? Uns unsere Umwelt zu Nutze zu machen und einen ungeheuren Zivilisationsprozess in Gang zu

setzen? Entspricht die Entfremdung von uns selbst nicht der Entfremdung des Menschen von der ­Natur, aus der er kommt? Ist dieses Menschheitstheater, dessen letzten Akt wir gerade sehen, nicht mehr als eine kleine, verschmitzte Hochstapelei? Haben wir uns nicht über Jahrtausende an der Nase herumgeführt mit den Geschichten über uns selbst? Haben uns zum Träumen gebracht mit Vorstellungen unserer Größe, haben uns entführt in Welten, in denen man uns Bedeutung zusprach, in denen wir bewundert wurden, als Krone der Schöpfung. Wer war unser Gesprächspartner in all den Jahrtausenden? Wer waren wir, während unsere Biologie den Globus befiel? Jetzt, wo wir kurz vor dem Aussterben stehen, dringt eine unbarmherzige Wahrheit an unser Ohr: Wir wurden getäuscht. Von uns selbst. Über uns selbst. Es ist die Stunde gekommen, in der wir nicht länger davon sprechen, dass wir uns etwas vormachen, dass wir nicht zu uns stehen, dass wir nicht glaubwürdig sind, dass wir unter dem leiden, was unsere Arbeit tagtäglich an Subjektivierung und Selbstvermarktung mit sich bringt, dass wir erschrecken vor dem globalen Ausmaß unserer Handlungen und unserer Rücksichtslosigkeit, nein, wir sprechen davon, dass jeder von uns souverän ein Abbild seiner selbst in all diese Schlachten schickt, um im Kern unberührbar zu werden. Wir haben verstanden, was von uns verlangt wird, und wir sind bereit, genau das zu geben. Wir sind bereit, ein Ich zu geben, das man umarmen kann und dem man Liebe schenken will. Wir werden likeable sein und Zwischenmenschlichkeit wird für uns das einfachste Spiel sein, wir werden Liebe austeilen und einstecken, wir werden jedem geben, was er braucht, denn dafür sind wir hier. Das haben wir verstanden. Wir haben keine Angst vor dem Gedanken, ein Hochstapler zu sein, fake zu sein, ganz einfach, weil real oder real keine Kategorie für uns ist, sondern eine Supermarktkette.

01 / 2020 Johanna Heusser DIE SOZIALE FIKTION Theater Marie

theater–roxy.ch


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Wann hat das angefangen, dass wir lügen? Wir sollten ein Manifest der Hochstapler schreiben. Ein Bekenntnis zum Anderen, das wir sind. Es könnte beginnen mit den Worten: Die Welt als Wille zur Unwahrheit. – Also, das wäre die Überschrift und dann: Wir, die Protagonisten der globalen Ortlosigkeit, begreifen uns nicht länger als Opfer einer ökonomischen Logik, deren erste Selbstverständlichkeit die Preisgabe des Ich ist. Unsere Identität ist so wandelbar wie warenförmig. Sie bedeutet nichts über ihren Wert hinaus. Wir sind nomadische, hybride Subjekte im Wechselspiel unscharfer Identitätskonstruktionen. Wir sind ungreifbar. Unlesbar. Wir geben alles und sind dadurch frei. Der Bombast des Selbst, die Wichtigkeit des Ichs, diese gut gepflegte Tradition von Innerlichkeit und Tiefe, sie bedeutet uns nichts. Dieser Körper bedeutet uns nichts. Ihr könnt ihn haben.

I. baby, you look good in the movies FILMPRODUZENT Was machst du denn da? FILMREGISSEUR Hm? FILMPRODUZENT Führst du hier Selbstgespräche? FILMREGISSEUR Was? Nein! FILMPRODUZENT Du wolltest mir doch von deinem Projekt erzählen. Ich bin total gespannt. Gibst du mir was zu lesen? FILMREGISSEUR Bitte? FILMPRODUZENT Gibst du mir was zu lesen? FILMREGISSEUR Was zu lesen? Nein, ich dachte ... FILMPRODUZENT Oral Pitch! Find ich super. Find ich klasse. Ist einfach direkter. Zoom! Gleich rein in den Kopf. See the genius at work. Shoot. Bam. FILMREGISSEUR Was? FILMPRODUZENT Shoot. Leg los. FILMREGISSEUR Ach so ... Also es geht um einen Mann. Einen Autor. Einen Theaterautor. Und dieser Autor, der steckt in einer totalen Sackgasse. Die Kritiker machen ihn fertig, die Schauspieler hinterfragen ihn, der Regisseur schreibt ständig seinen Text um ... FILMPRODUZENT Er ist nicht der Regisseur? FILMREGISSEUR Nein. Das sind zwei Personen. Autor und Regisseur. FILMPRODUZENT Ok. Verstanden. Weiter. FILMREGISSEUR Dieser Autor, der hat eine totale Angstkrise. Er fühlt sich zu nichts fähig. Hat ständig Panikattacken. Er schreibt die ganze Nacht hunderte von Seiten, krude Manifeste, angerissene Szenen, nur um am nächsten Morgen alles zu ­löschen.

alexander eisenach_stunde der hochstapler

FILMPRODUZENT Was? Er löscht alles? Warum? FILMREGISSEUR Ich weiß nicht ... es reicht nicht. Er traut sich nicht mehr nach draußen mit dem Zeug. FILMPRODUZENT Er traut sich ... Man muss immer raus mit dem Zeug! Man muss es den Leuten hinklatschen. Man muss sagen: So siehts aus! Friss oder stirb! Deine Meinung interessiert mich einen Scheiß! Denn der Künstler, der Künstler, das bin immer noch ich! FILMREGISSEUR Ja. Aber so ist er eben nicht. Er ist nicht wie du. FILMPRODUZENT Verdammt, ich habe mir diese ganze Scheiße hier selbst erarbeitet! Ich vergesse nicht, woher ich komme! Andere Menschen werden vielleicht in ein bestimmtes Leben hinein­ geboren und können dort, ohne mit der Welt in Konflikt zu geraten, vor sich hin vegetieren. Ich werde mir niemals etwas auf die Erfolge einbilden, die ich in einem solchen Klima verzeichnen kann. Deshalb trauen mir die Leute auch nicht. Aber ihr Misstrauen ist mein größter Lohn. FILMREGISSEUR Ja. Du hast ein gutes Selbst­ bewusstsein. FILMPRODUZENT Zigarette? FILMREGISSEUR Danke. Ich rauche nicht. FILMPRODUZENT Also. Autor, Angstkrise ... sag mal, findest du das nicht ein bisschen entlarvend? Ich meine, ist das nicht ein bisschen selbstverliebte Nabelschau? FILMREGISSEUR Wieso? FILMPRODUZENT Na. Also. Das bist doch du. Da geht es doch ganz offensichtlich um dich. Oder nicht? FILMREGISSEUR Es geht ja noch weiter. Parallel dazu arbeitet eine wahnsinnige Wissenschaftlerin an einer noch nie dagewesenen künstlichen Intelligenz, die schließlich die gesamte Menschheit ausrotten wird. FILMPRODUZENT Aha. Now we’re talking. FILMREGISSEUR Die gewaltige Intelligenz wird in Ozeanen gespeichert. Aufgrund der gigantischen Rechenleistung von Ozeanen. FILMPRODUZENT Klar. FILMREGISSEUR Ja, all diese Wasserstoffatome, die da interagieren, machen es eben möglich, dass diese künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft und selbst beginnt, neue Intelligenzen zu programmieren. FILMPRODUZENT Die Ozeane sind so eine Art Großrechner? FILMREGISSEUR Genau. Die Intelligenz nutzt jetzt aber die Folgen des Klimawandels und die steigenden Meeresspiegel, um die Menschheit im wahrsten Sinne des Wortes zu überschwemmen.

FILMPRODUZENT Im wahrsten Sinne des ­Wortes. FILMREGISSEUR Ja. FILMPRODUZENT Impliziert das nicht, dass es einen zweiten Sinn geben müsste? Ich meine: Der Ozean überschwemmt die Menschheit. Klar. Das ist ein Bild. Aber da würde es doch reichen, wenn du sagst: „Die Intelligenz nutzt die Folgen des ­Klimawandels und die steigenden Meeresspiegel, um die Menschheit zu überschwemmen.“ Oder? FILMREGISSEUR Sie überschwemmt sie aber nicht nur physisch, mit Wasser, sondern eben auch mit ihrer Intelligenz. Sie ist überlegen. Die Menschen fügen sich in ihren Untergang, weil sie mit einer gnadenlosen Logik konfrontiert werden, die eben diesen Untergang unausweichlich macht. FILMPRODUZENT Fuck. FILMREGISSEUR Genau. FILMPRODUZENT Das gefällt mir. Science-­ Fiction. Unausweichlichkeit des Untergangs. Sehr gut. FILMREGISSEUR Der Witz ist, dass die gesamte Entwicklung des Lebens auf der Erde nur auf diesen Moment zulief. Das Erschaffen einer künst­ lichen Intelligenz, die das biologische Leben per se überflüssig macht. Die Verwirklichung des göttlichen Prinzips. FILMPRODUZENT Wow. Das ist geil! Es ist die Katastrophe, aber auch die Erlösung. Fett. FILMREGISSEUR Wirklich? FILMPRODUZENT Ja. Wir machen das. FILMREGISSEUR Ernsthaft? FILMPRODUZENT Ja. Sag ich doch. FILMREGISSEUR Weil. Ich hab auch noch eine andere Idee. FILMPRODUZENT Wirklich? FILMREGISSEUR Ja. FILMPRODUZENT Mmhhh ... FILMREGISSEUR Willst du sie hören? FILMPRODUZENT Lieber nicht. Lass uns das mit den Robotern machen. FILMREGISSEUR Robotern? FILMPRODUZENT Wie sieht denn diese künstliche Intelligenz aus? FILMREGISSEUR Wie? Wie sieht sie aus? FILMPRODUZENT Na, wir sind im Kino. Wir müssen das doch irgendwie zeigen, damit sich die Leute was darunter vorstellen können. FILMREGISSEUR Das Ding ist, dass das alles weit über unsere Vorstellungskraft hinausgeht. Ab dem Punkt, an dem die KI funktionsfähiger ist als das menschliche Gehirn, können wir ihr nicht mehr folgen. Sie reproduziert sich selbst und wird zu einer völlig neuen Spezies.

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FILMPRODUZENT Neue Spezies. Gut. Aber wie sieht die aus? Die Spezies? Roboter? FILMREGISSEUR Hier kommt dann wieder unser Theaterautor ins Spiel. FILMPRODUZENT Du. FILMREGISSEUR Nein. Nicht ich. Jemand anderes. FILMPRODUZENT Ok. Klar. FILMREGISSEUR Er hat diesen Traum. Er träumt von der ersten Lüge. Und diese erste Lüge, das ist für ihn die Geburt des Bewusstseins. FILMPRODUZENT Ok ... FILMREGISSEUR Er weiß also, wie das Bewusstsein entstanden ist, und das hat er der KI voraus. Ihre Intelligenz ist nur Information. Sie weiß nichts über sich. FILMPRODUZENT Aber er. FILMREGISSEUR Ja. Er kennt jetzt ihren Schwachpunkt. FILMPRODUZENT Und er zieht in den Krieg. FILMREGISSEUR Nein. FILMPRODUZENT Nein? FILMREGISSEUR Er ist nämlich nicht sicher, ob er die Menschheit wirklich retten soll. FILMPRODUZENT Verdammt! Das ist gut! Das ist vertrackt! Das ist doppelbödig! Rettet er die Menschheit, gibt’s auch keine Erlösung. Rettet er sie nicht, stirbt sie. Aber erlöst. FILMREGISSEUR Willst du nicht vielleicht doch die andere Idee auch noch hören? FILMPRODUZENT Neinneinneinneinnein ... Wir machen das. Also, die erste Lüge. Was ist das? Wie sieht die aus? FILMREGISSEUR Keine Ahnung. FILMPRODUZENT Was? FILMREGISSEUR Ich weiß es nicht. FILMPRODUZENT Ja aber, das ist doch das Wichtigste! FILMREGISSEUR Naja ... eigentlich geht es um diesen Autor ... FILMPRODUZENT Bullshit. Es geht um die Lüge. Verdammt, das muss die beste Lüge der Filmgeschichte werden. Ein unvorstellbarer Twist. Etwas, womit niemand rechnet. FILMREGISSEUR Verstehe. FILMPRODUZENT Die Menschen wollen geblendet sein. Das macht sie aus. „Mit Feuerwerk blendet man keinen Hund, aber der vernünftigste Mensch fühlt sich beleidigt, wenn man ihm keins vormacht.“ Ja? Das ist der Gedanke. Was ist dieses Feuerwerk? Mmmh? Sag‘s mir. Was ist die erste Lüge? FILMREGISSEUR Also ... FILMPRODUZENT Pass auf. Ich sage dir: Wir machen diesen Film. Wir machen ihn, wenn du mir

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diese erste Lüge bringst. Das ist der Kern. Das ist das Zentrum des Films. Oder? FILMREGISSEUR Vielleicht ... FILMPRODUZENT Ich sehe das schon vor mir: Genau in dem Moment, wo der Zuschauer denkt, er hat es verstanden, als er denkt: Ja, fuck, das Einzige, was die Menschheit jetzt noch retten kann, ist die KI, weil der Mensch, der Mensch wird es nie gebacken kriegen, den Klimawandel und das alles, gerade wenn er das denkt, kommt dieser Traum. Super spacig. So Gaspar Noe mäßig, fliegende Steadycam, du weißt, was ich meine, super bunt, voll Trip, rein in deinen Schädel, rein in den Schädel dieses Autors, der nicht du bist, Licht, Licht, Licht, Space Odyssee, Kubrick – nur nicht so lang! Fuck, die Scheiße kann nicht länger als 100 Minuten werden, du musst das in 100 Minuten packen, also rein in den Kopf mit Sound und Licht und allem und dann – silence. Schwebezustand. Der verdammte erste Mensch. Ein Kind. Der Baum der Erkenntnis, es pflückt diese Frucht, diese seltsame Frucht, beißt rein und sieht ... FILMREGISSEUR Was sieht es? FILMPRODUZENT Ja Mann, das sollst du mir doch sagen! Du bist hier das Genie! Sag mir, was es sieht, und ich mach dir nen Hit! Das wird biblisch! FILMREGISSEUR Ok. FILMPRODUZENT Wir brauchen die Lüge. Bring mir die Lüge.

II. the invention of lying PROPHETIN Für Jahrhunderte haben wir an den Menschen geglaubt. An den Menschen und seine Fähigkeit zu erschaffen. Und auch heute, wo wir an der Schwelle zu einer neuen Zeitrechnung stehen, klammern wir uns an unser Menschsein. An uns als Krone der Schöpfung. Als Ende der Nahrungskette. Doch dieses Ende ist erst der Anfang einer neuen Zeit, einer Zeit, in der wir unsere biologische Existenz überwinden werden. Es ist an uns, das Werk unserer Natur fortzuführen. Glauben wir an uns! An das schöpferische Prinzip in uns. Glauben wir daran, uns entwerfen zu können und Herrscher über uns und die Natur zu sein. Wir stehen am Rande einer Katstrophe, die die Menschheit, wie wir sie kennen, auslöschen wird. Unsere einzige Chance besteht darin, unsere organische Hülle zu verlassen und einzutreten in den schöpferischen Äther der Welt. Jenen Raum, in dem wir alles sein können. Die Welt, wie wir sie jetzt kennen, ist limitiert durch unsere menschliche Wahrnehmung. Dies alles erscheint

Mi 15.1. Do 16.1. Dorine Mokha Premiere: Entre Deux III: Testament

Sa 18.1. So 19.1. Mo 20.1. Mats Staub Death and Birth in My Life

Mi 15.1. Do 16.1. Boyzie Cekwana & Danya Hammoud EU-Premiere: Bootlegged

Do 23.1. Fr 24.1. Sello Pesa / Ntsoana und Tim Zulauf / KMUProduktionen Converting Eviction

uns real und ist dabei doch lediglich das Spiegelbild unseres begrenzten Horizonts. Die Welt zeigt sich als unser Untergang, also ist sie auch unser Untergang. Das ist kein Fakt, sondern Mangel unserer Vorstellungskraft. Durchbrechen wir den Horizont unseres beschränkten Selbst! Erschaffen wir eine neue Welt, indem wir uns neu erschaffen! Die Welt wird unsere Autobiografie sein! Unsere Geschichten werden sich ins Maßlose vervielfältigten. Das Individuum wird über seine Grenzen wachsen und sich mit allen verbinden. Das Einzelleben wird einem kollektiven Zustand der Allverbundenheit weichen. Unsere Körper werden verschwinden und unser Geist endlich frei sein. Jahrtausende rieben wir uns auf im engen Horizont einer Arbeit, die irgendeiner Unternehmung, einem nie erreichten Ziel dienen sollte; wir verausgabten uns für das Credo der Effizienz. Einer Effizienz, die uns an diesen Punkt geführt hat, den Punkt, an dem wir das Kommando übernehmen. Den Punkt, an dem biologische Existenz und technisches Erzeugnis verschmelzen. STEINZEITMENSCH B Findest du das nicht ein bisschen sehr optimistisch? Wir haben gerade erst das Rad erfunden. STEINZEITMENSCH A Und das Feuer! STEINZEITMENSCH B „Und das Feuer!“, „Und das Feuer!“ – Hör doch mal auf mit deinem scheiß Feuer! Das wird sich nie durchsetzen. Außerdem ist das Feuer keine Erfindung. Das Feuer, das ist einfach da. Du hast es vielleicht gebändigt, das könntest du sagen: „Wir haben bereits das Feuer gebändigt.“ STEINZEITMENSCH A Gebändigt. Ja. Ok. Verstehe. Es wird niemals ganz zu uns gehören. Wir können es benutzen, um uns dieses Mammut zu braten, und wir können unsere Höhlen heizen. Aber es gibt einen Rest, der bleibt uns verschlossen. Eine unbezähmbare Kraft. Eine Gefahr, die wir nicht verstehen. Verdammt, das ist so unglaublich. All diese Rätsel. Woher kommt das alles? Woher kommen wir? Es gibt Bereiche, die wir nie ver­ stehen werden ... das ist ... ich habe das Gefühl, mein Gehirn kann das gar nicht greifen ... STEINZEITMENSCH B Mammut isst man kalt! Eiskalt! Man friert es ein, schneidet es in hauchdünne Scheiben, gibt geriebenen Parmesan darüber und beträufelt das Ganze mit Olivenöl! STEINZEITMENSCH A Nein! Man schneidet es in dicke Scheiben und brät es über einem heißen Feuer! STEINZEITMENSCH B Bah! Barbar! STEINZEITMENSCH A Snob! PROPHETIN Ruhe jetzt! Worum es geht, was meine Prophezeihung euch sagen will ...

Do 23.1. Voodoo Jürgens Support: Haubi Songs Austropop

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STEINZEITMENSCH B Äh, Entschuldigung. Prophezeihung? PROPHETIN Ja. STEINZEITMENSCH B Ah ok. Und, sag mal, seit wann bist du hier die Prophetin? PROPHETIN Ja, eine musste das eben machen, und da haben wir abgestimmt. STEINZEITMENSCH B Abgestimmt? Kann ich mich gar nicht dran erinnern. PROPHETIN Ja, das muss gewesen sein, als du jagen warst. STEINZEITMENSCH B Als ich jagen .... wusstest du davon? STEINZEITMENSCH A Was? STEINZEITMENSCH B Ob du davon wusstest? PROPHETIN Natürlich wusste er davon, er hat mich ja gewählt. STEINZEITMENSCH B Du hast sie ... warum? STEINZEITMENSCH A Ich weiß nicht ... der ­Gedanke, sich noch mal völlig neu erfinden zu können, ein Leben von vorn zu beginnen. Als ­unbeschriebenes Blatt. Frei von den Zuschreibungen, mit denen wir uns ständig herumschlagen. Ich meine, das Leben hält doch vielleicht mehr für uns bereit als Jagen und Sammeln. STEINZEITMENSCH B Das Leben hält vielleicht ... du; was sind wir? STEINZEITMENSCH A Menschen? STEINZEITMENSCH B Anders. STEINZEITMENSCH A Männer? STEINZEITMENSCH B Noch anders. Denk mal systemischer. STEINZEITMENSCH A Mehrzeller? STEINZEITMENSCH B Kategorischer. STEINZEITMENSCH A Säugetiere? STEINZEITMENSCH B Andere Kategorie. STEINZEITMENSCH A Jäger und Sammler? STEINZEITMENSCH B Richtig! Jäger und Sammler. Was sollte das Leben für uns bereit halten außer Jagen und Sammeln? PROPHETIN Und genau deswegen bist du nicht der Prophet. STEINZEITMENSCH B Prophetprophet ... ich will euch mal sehen, vier Tage ohne Essen. Aber vier Tage ohne Prophezeihung, die mir erzählt, wie sehr ich dem Untergang geweiht bin, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Wenn das jetzt hier die größte Kulturleistung wird, vom eigenen Untergang zu fantasieren, dann bin ich direkt raus. Dann steige ich jetzt hier aus. STEINZEITMENSCH A Aus was? STEINZEITMENSCH B Aus dem allen hier. Entwicklung, Fortschritt, Dings, Evolution ... Macht’s gut!

Карус

ель

PROPHETIN Man kann nicht aus der Evolution aussteigen. Das hatten wir doch schon. Evolution, das ist die Triebfeder unserer Entwicklung. Ohne Evolution wären wir nicht hier. Die Frage aber ist, wollen wir hier stehen bleiben, oder wollen wir über das hinausgehen, was uns gegeben wurde? Zu lange haben wir uns determinieren lassen von unseren Affekten. Wir wurden von uns selbst ins­ trumentalisiert und haben diese Instrumentalisierung auch noch glorifiziert. Wir haben Logik, Gesetze, Zivilisation und all das erfunden, um den Anschein zu erwecken, unser Leben wäre planvoll, logisch und gewollt; dabei waren wir die unbewussten Opfer einer Vorstellung von uns selbst. Wir haben Erzählungen über uns erfunden, die unsere Unfreiheit logisch erscheinen ließen. Wir haben uns in die Tasche gelogen. STEINZEITMENSCH A Aber wir brauchen doch Geschichten. Ohne Geschichten brechen wir zusammen. Ohne ein Bild von uns, lösen wir uns auf. Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen. Ich meine, das hier ist die Steinzeit. PROPHETIN Indem du bewusst verneinst, was du oder irgendjemand anderes für dein Ich hält, sagst du ja zu dem, was du sein könntest. STEINZEITMENSCH A Ich soll ich werden, indem ich nein zu mir selbst sage? PROPHETIN Ja. Wenn du dich frei machst von der Idee eines kohärenten Ichs, das du hier durch die Jahrhunderte der Evolution schleifen musst, wirst du dich immer wieder neu erfinden. Frei können wir nur sein, wenn wir unser Selbst immer wieder aufs Spiel setzen. STEINZEITMENSCH A Aber dieses Leben ist kein Spiel. Dieses Leben kennt keine szenische Auflösung. Was passiert, passiert immer jetzt, es taucht auf, pflanzt seine Koordinaten in die Wirklichkeit und das war’s. Wir stecken in unserem Schicksal fest und niemand kann uns daraus befreien. Nicht einmal die ausgefuchsteste Selbstinszenierung. Und überhaupt sind deine ganzen Vorstellungen eine einzige riesige Feigheit, ein ängstliches Zurückweichen vor dem Lauf der Dinge, der immer linear, grausam und unerbittlich ist. PROPHETIN Diese geschlossenen Erzählungen der Zwangsläufigkeit. Die funktionieren wie ein Sedativ. Ein Sedativ, das uns erzählt, alles ist in Ordnung. Es ist aber nichts in Ordnung, und deshalb müssen wir uns der Welt auch in ihrer Zersplitterung stellen. Freiheit bedeutet, dass wir uns von der Welt der objektiven Wahrheiten verabschieden, dass wir eine Welt aus unseren Träumen formen. STEINZEITMENSCH B Ich unterbreche dich ja höchst ungern auf deinem Trip, aber ist das nicht

10.01. – 25.01.2020 Zeitgenössische Positionen russischer Kunst

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wahnsinnig ... humanozentristisch? Ich meine, nehmen wir uns da nicht selbst ein bisschen wichtig? Wir setzen unsere Wahrnehmung über alles. Als gäbe es die Dinge in der Welt nicht. Mir macht das so ein ungutes Gefühl, so als würde die Natur eines Tages kommen und sagen: „Nicht ich war Gegenstand eurer Wahrnehmung, sondern ihr ­Gegenstand meiner.“ Es muss doch einen Zusammenhang zwischen unserer Wahrnehmung und der wirklichen Welt geben. STEINZEITMENSCH A Was meinst du mit wirk­ licher Welt? Als gäbe es „die wirkliche Wirklichkeit“, die sich in unserem erkennenden Bewusstsein spiegelt. Wir können nie wissen, was unsere Sinne erregt. Wir wissen nur, was unsere Sinne aus diesen Erregungen hervorzaubern. Ich geb dir mal ein griffiges Beispiel: Man könnte beispielsweise die Faser eines Sehnervs mit einem Tröpfchen Essigsäure reizen und würde womöglich einen farbigen Lichtklecks wahrnehmen. Oder man könnte eine Geschmackspapille mit ein paar Volt über eine Elektrode stimulieren und man würde vielleicht den Geschmack von Essig empfinden. Da ist es doch grotesk und unsinnig, von einer Abbildung der Außenwelt in der Innenwelt zu sprechen: Essig wird ein Farbklecks und Elektrizität zu Essig! STEINZEITMENSCH B Was soll das denn jetzt wieder heißen? Wollt ihr mir sagen, es gibt kein draußen? Es gibt nicht dieses Mammut, das wir heute morgen gejagt haben? STEINZEITMENSCH A Es gibt etwas, worüber wir uns verständigt haben und beschlossen haben, dass wir es ein Mammut nennen. PROPHETIN Es gibt das Bild des Mammuts in unserem Kopf! STEINZEITMENSCH B Ja. Klar. Es gibt aber auch das Mammut. Wisst ihr noch, die zwanzig Hekto­ liter Blut, die uns entgegen kamen, als wir es ausgenommen haben? Ja? Erinnert ihr euch? STEINZEITMENSCH A Das alles ist so ein unglaubliches Wunder ... Blut. Mammuts. Wärme, Kälte, Gerüche ... alles lebt. Und wir empfinden es. Aber alle diese Empfindungen sind konstruierte Relationen. Sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Inneren. STEINZEITMENSCH B Ja. Im Inneren des Mammuts. PROPHETIN Die körperliche Komponente ist zu vernachlässigen. Ein Haufen Membran, der uns im Weg steht auf dem Weg zu wirklicher Erkenntnis. Für die Idee des Mammuts braucht es kein materielles Mammut. Materialität ist nichts als self fullfilling pro­ phecy. Sie bestätigt nur, was wir eh zu wissen glauben. Materie ist eine Illusion! Wir sind darüber hinweg!

Theater, Musik, Performance, Installationen, Gespräche

ssell

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STEINZEITMENSCH A Was ist meine Stimme? Einige Luftmoleküle platzen schneller auf dein Trommelfell als andere. Das nennen wir dann Sprache. Das Ding ist: Nur deine Zellen können das entschlüsseln. Alles, was du siehst und hörst, ist in dir schon vorgebildet. STEINZEITMENSCH B Alles ist in mir schon vorgebildet? Also ist auch alles in denen da vorgebildet, oder was? Ich bin in denen schon vorgebildet, oder was? Es muss doch aber einen Zusammenhang zwischen denen und uns geben, zwischen dem Wahrgenommenen und dem Dargestellten, zwischen unserer Wahrnehmung und der wirk­ lichen Welt. Ich bin doch nicht nur eine Wahrnehmung in irgendjemandes Kopf! Ich bin doch eine materielle Wahrheit! Ich bin doch da! PROPHETIN Stellt euch vor, euer Geist ist frei. Befreit vom Fleisch. Ihr könnt alles sein. Ein Vogel, eine Welle, ein Blatt im Wind ... Was auch immer ihr seid, entspringt eurer Vorstellung. Es sind wir, die sich für die Existenz der Welt entscheiden, nicht die Welt, die sich für unsere Existenz entscheidet. Wenn wir eine Welt jenseits der bevor­ stehenden Katastrophen schaffen wollen, dann nur, indem wir uns selbst erschaffen. Die Natur hat uns fürs Sterben vorgesehen. Unser Geist aber hat die Ewigkeit im Sinn. PATIENT Sag mal, was erzählst du den Leuten hier eigentlich für eine unfassbare Scheiße? Von wegen, die können alles sein. Siehst du denn nicht, wo das hinführt? Eure Existenz, das wird nicht die Freiheit sein, sondern ein stumpfsinniges Delirium namens Zivilisation. Ich geb euch nen Tip: Bleibt mal lieber hier. Mit eurem Feuer und eurem Mammut. Das sieht doch sehr lecker aus. PROPHETIN Was haben Sie gegen die Zivilisa­ tion? PATIENT Glaubst du, ihr könnt euch über die ­Natur erheben ohne Schaden an eurer Seele zu nehmen? Ständig ein anderer sein ohne euch zu verlieren? Ihr werdet Gesetze schaffen, Werte und Normen, ihr werdet Umgangsformen entwickeln und Turnschuhe, deren Sohle beim Laufen blinkt. Ihr werdet euch in den Dienst einer ökonomischen Ordnung stellen, bis ihr nicht mehr wisst, warum. Ihr werdet dieser Ordnung dennoch blindlings ­folgen und ihr das Gesellschaftswesen opfern, das ihr einmal wart. Ihr werdet dieses Gesellschaftswesen ersetzen durch eine Reihe elaborierter Unterhaltungselektronik. Ihr werdet das alles als Freiheit empfinden, und ihr werdet eine Erzählung davon erfinden, wer ihr seid. Ihr werdet euch erfinden, und ihr werdet diese Erfindung Bewusstsein nennen.

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STEINZEITMENSCH B Sind Sie ein Seher? STEINZEITMENSCH A Kennen Sie die Zukunft? PROPHETIN So ein Quatsch. Niemand kennt die Zukunft. Wollen Sie jetzt vielleicht unser Schicksal in den Eingeweiden von Tieren lesen? PATIENT Ihr werdet nicht mehr schlafen. Ihr werdet nicht mehr träumen. Ihr werdet nicht mehr essen oder euch am Küchenmesser schneiden. Euch nicht mehr am Feuer verbrennen. Ihr werdet in keine Augen mehr schauen, keine Haut mehr spüren, keine Sonne, kein Gras, Schnee, Luft ... PROPHETIN Jaja, ist gut! Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Sie hängen an der Vorstellung, dass dieses ganze fleischliche Sensorium da um uns herum, dass das nötig ist, um all das zu spüren. Aber da irren Sie sich! Die Empfindung findet im Inneren statt, sie ist ein Impuls. Dieser Impuls, rein und pur extrahiert. Das ist der Mensch. Wenn wir diesen Zustand erreicht haben, werden wir die Welt in all ihren Möglichkeiten verstehen. PATIENT Na, viel Glück. Ich sage euch: Jeder ist jemand. Da könnt ihr euch noch tausendmal erfinden. Irgendwann wird die Natur kommen und euch die Quittung präsentieren. Diese Erde ist nicht einfach die Bühne eurer Selbstdarstellung. Diese Erde ist der eigentliche Akteur. STEINZEITMENSCH B Was meint er denn jetzt damit? PROPHETIN Nichts. Er meint gar nichts. Er gefällt sich einfach in diesem kulturpessimistischen Gestus. STEINZEITMENSCH B Was meinst du jetzt ­damit? PROPHETIN Ich meine, dass das einfach super­ bequem ist, so eine Verfallsgeschichte der Zivili­ sation. STEINZEITMENSCH A Was wenn er Recht hat? Ich meine, was, wenn wir uns eine Geschichte zurechtdichten, in der wir immer die Deutungs­ hoheit über die Welt haben und am Ende ... STEINZEITMENSCH B ... ist das Mammut doch da! STEINZEITMENSCH A Ja. Vielleicht. Vielleicht gibt es eine Wahrheit der Welt, die wir nicht erkennen. Vielleicht entgeht uns das Entscheidende. PROPHETIN Wollt ihr jetzt wirklich wieder auf den alten weißen Mann hören? Wir brauchen keine Wahrheit! Wahrheit führt zu nichts anderem, als dass wir die Menschen in die teilen, die Recht haben und die, die falsch liegen. Wahrheit trennt! Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. PATIENT Sie können doch nicht ernsthaft leugnen, dass es objektive Wahrheiten gibt! Das ist absurd! PROPHETIN Na gut. Ist das hier jetzt Kopf oder Zahl?

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PATIENT Ich weiß jetzt nicht bei jeder einzelnen Entscheidung, was passieren wird. Ich weiß aber, was mit der Welt als ganzer passieren wird. PROPHETIN Aha! Jede noch so kleine Entscheidung hat Einfluss auf das Ganze. Und wenn Sie nicht jede einzelne Entscheidung im Letzten kennen, können Sie auch nicht sagen, Sie wissen, was passieren wird. Wir stehen jeden Moment am Anfang einer neuen Geschichte, jeden Moment tut sich hier ein neues Universum auf. Nichts ist klar. Wir stehen immer wieder am Anfang unserer ­Geschichte. Wir können alles sein.

III. the borders of perception THERAPEUTIN Das ist Ihr Traum? PATIENT Ja. Sind Sie unzufrieden? THERAPEUTIN Nein, nein. Ist schon ok. PATIENT Es tut mir sehr leid, dass meine Träume nicht Ihren Kriterien genügen. Ich gehe dann. Und komme wieder, wenn ich etwas Interessanteres geträumt habe. THERAPEUTIN Bitte. Bleiben Sie. Es ist ja nur ... Ich mache mir etwas Sorgen um die Länge des Traums. PATIENT Die Länge? THERAPEUTIN Er hat kein richtiges Ende. Und es ist ein sehr kurzer Traum. Sonst bin ich von Ihnen mehr Tiefe gewohnt. PATIENT Mehr Tiefe. So. THERAPEUTIN Schauen Sie: Aus analytischer Perspektive ist die Sache völlig klar. Wir befinden uns auf der allerobersten Bewusstseinsschicht. Was mich interessiert ist, was wirklich da drinnen passiert. Die tiefgehenden Verzweigungen, die dunkelsten Gänge in den abgelegensten Höhlen Ihres Bewusstseins. Da, wo es dunkel und schmutzig wird. Wo der Killer in Ihnen wohnt. Das Tier. – Wo ist zum Beispiel der Sex in Ihrem Traum? Ein Traum ohne Sex, das ist wie ... PATIENT Krieg ohne Tote? THERAPEUTIN Haben Sie schon mal darüber nachgedacht zu lügen? PATIENT Lügen? THERAPEUTIN Sie könnten mich anlügen. Sie könnten hier reinkommen und sagen: „Sie erraten nicht, wovon ich letzte Nacht geträumt habe. Ich bin aufgewacht auf einer einsamen Insel. Dachte ich. Aber dann stellte sich heraus, dass die ganze Insel von untoten Pornostars bewohnt war. Ich kannte das Werk all dieser Pornostars nahezu auswendig, kannte ihre Spezialitäten, ihre Stärken und Schwächen und all diese Zombie-Pornostars

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wollten mich ficken. Aber nicht auf angenehme Weise, sondern killermäßig. Ich hatte Angst! Plötzlich entdecke ich, dass ich einen riesigen lila Umschnalldildo trage, mit dem ich mich zur Wehr setzen kann.“ Und dann könnten Sie mir sehr ­genau und detailliert schildern, wie Sie den Zombies einem nach den anderen die Köpfe wegficken oder so. PATIENT Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Aber wie soll ich das hier darstellen? THERAPEUTIN Darstellen? PATIENT Ich habe das Gefühl, meine ganze Krise, diese Schreibblockade, beruht auf den Grenzen der Darstellbarkeit. Ich meine überall ist jetzt diese vierte Wand. Jahrzehntelang haben wir uns damit abgemüht, die vierte Wand einzureißen, und jetzt? Jetzt hat jeder seine eigene vierte Wand in der Hosentasche. Wir haben den Raum der Kunst ­ desillusioniert und den Raum des Lebens aufs ­ Neue illusioniert. Jeder mit seiner ganz privaten vierten Wand, durch die er seine eigene ganz pri­ vate Illusion betrachtet. Und während die Realität hier immer mehr zunimmt und die Illusion ab­ geschafft wird, ist es da draußen genau anders ­herum. Überall stehen neue kleine Bühnen, die die Herrschaft der Illusion verbreitern. Und auf diesen Bühnen stehen lauter Darsteller, die alle ­irgendein ICH erzählen, eine Welt, eine Politik. ­Jeder schreibt hier schon die ganze Zeit an seiner Rolle, und das macht eben die Kunst völlig obsolet. Weil alle zu der Kunst kommen, und da dann eine Pause von der Illusion wollen, die wollen dann ­Realität, und das kann ich eben nicht, oder ich verstehe nicht, wie die dann noch aussieht, die Realität. Überall nur noch Merchandising-Stände. Das macht mich irre. THERAPEUTIN Haben Sie mal darüber nach­ gedacht, dass das, was Sie die Realität nennen, auch nur eine Illusion ist? PATIENT Ich denke, darüber hat jeder schonmal nachgedacht. Es ist ja nicht so, dass die Illusion nicht weiß, dass sie eine Illusion ist. Jede Produk­ tion einer Illusion beinhaltet heute immer auch gleich ihre Brechung. Das weiß ja jeder, dass das eigene ICH nicht das ich ist. THERAPEUTIN Welches Ich? PATIENT Na eben das Ich. Also, dass das immer eine Konstruktion ist, ein Bild eben, und das wir uns in diesen Bildern bewegen und dass all diese Interaktionen eben ein Spiel sind und eben nicht echt. THERAPEUTIN Was meinen Sie denn mit echt. PATIENT Na, Sie wissen schon ... THERAPEUTIN ?

alexander eisenach_stunde der hochstapler

PATIENT Na eben ... Haah ... Manchmal ist mein Gehirn einfach zu langsam. Dieses Gehirn hier, das bremst mich, das hält mich auf. Was ist das? Ich komme mir vor, als würde ich auf einem C64 laufen. Die Ladezeiten sind völlig inakzeptabel! Mein Gehirn ist zu langsam, um all die Ideen in einer angemessenen Geschwindigkeit zu verarbeiten. Ich habe die Hälfte schon vergessen, wenn ich am Schreibtisch sitze. THERAPEUTIN Sie fühlen sich in Ihrem Körper gefangen. PATIENT Allein die Zeit, die dafür draufgeht, sich um seinen Erhalt zu kümmern. Die Energie, die er verbraucht. Er ist der Klotz am Bein meines Geistes. Überlegen Sie doch mal, mit wem ich hier konkurriere? Ich stehe im Wettkampf mit lauter luziden Identitäten und Realitäten, die sich im Sekundentakt generieren und verändern. Fuck. Ich bin ein Dinosaurier. THERAPEUTIN Sich selbst als Gefangener im ­eigenen Körper zu erleben, mit all seinen Schwächen und seiner unvermeidlichen Endlichkeit, ist eine Grundbedingung des Menschseins. In gewisser Hinsicht gehört es dazu, dass man aus seinem Körper herauswill. Wenn man einen hat. PATIENT Wenn man einen hat? Wie meinen Sie das? THERAPEUTIN Ich denke, dass Sie nicht sehr falsch liegen, wenn Sie den Raum Ihrer Kreativität hinter Ihrer körperlichen Hülle vermuten. Die Beschleunigung und Simultanität der allgemeinen Wahrnehmung zielt direkt ins Unterbewusstsein. Die Frequenz der Realität ist auf einem Level, dass keine kontemplative Rezeption mehr zulässt. Wenn Sie verstehen wollen, was passiert, müssen Sie direkt durch Ihr Unterbewusstsein mit uns kommunizieren. PATIENT Echt? THERAPEUTIN Vergessen Sie echt. Vergessen Sie Schreibtisch. Illusion. Realität. Vergessen Sie alle bewussten Kunsterzeugnisse. Alle bewussten Kunst­ erzeugnisse sind Simulationen, Anleihen, Rückgriffe, Lookalikes, Doubles und Resultate medialer Kunsterzeugung. Das, was Sie Illusionierung des Alltags nennen, ist eine Verkaufsstrategie. Am Ende ist das einzige nicht simulierte Leben jenes, das der Betrachter mit sich selber führt. Jedenfalls meistens. In der Anstrengung, selbst bilderfähig zu werden und Eintritt in die Welt der Fälschungen zu erlangen, veredeln wir uns selbst zum Double der eigenen Person. Deshalb fehlt uns der Sex. Es ist alles autoerotisch geworden. Selbst Reproduk­ tion findet mit uns selbst statt: Vervielfältigung des Selbst. Die Zukunft des Ich ist die Filialexistenz.

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Daniël van Klaveren

MOZARTS SCHWESTER (1 D, 2–3 H / 1 D, 1 H; 7/8+)

DSE: 16.1.2020 Hans Otto Theater, Potsdam

Und die Kunstproduktion dieser Filialexistenzen ist dann eben auch Filialkunst. Da haben Sie Ihre Schreibblockade. Wenn Sie wirklich nach Ihren kreativen Impulsen suchen, suchen Sie sie nicht im bewussten Handeln. Suchen Sie sie in den ­Tiefen Ihres Unterbewusstsein, dort, wo Sie überhaupt noch die Chance haben, auf den Hoch­ geschwindigkeitstakt Ihrer Wahrnehmung zu reagieren ... PATIENT „In den tiefgehenden Verzweigungen und dunkelsten Gänge meines Bewusstseins ...“ THERAPEUTIN Genau. PATIENT Aber wie soll ich das tun? THERAPEUTIN Sie haben Glück. Ich arbeite ge­ rade an einem neuen Verfahren, das die traditionelle Gesprächstherapie mittels künstlicher Intelligenz obsolet machen wird. Der Ort, an dem dieses Verfahren stattfindet, liegt im Dazwischen. Zwischen dem Bewussten und dem Unterbewussten, zwischen dem Sein und dem Dargestellten, zwischen mir und dem anderen, zwischen dieser Welt und allen anderen Möglichkeiten. Ich nenne diesen Ort METABRAIN. Ein Ort der Freiheit, an dem wir mit der größten Selbstverständlichkeit im Dickicht unseres Selbst spazieren gehen und erlöst auf uns schauen. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie danach ein Gefühl großer Dankbarkeit und Erlösung verspüren. Der Raum, den Sie betreten, ist der reine Raum, der Raum, der jenem vorbewussten Zustand von Babys und Kleinkindern gleichkommt. Der Zustand der körperlosen Allverbundenheit. Haben Sie keine Angst. Alles was Sie sehen, sind Sie. Die Emulation neuronaler Vorgänge mittels künstlicher Intelligenz. Die Erlebnisse können sehr unterschiedlich sein. Ihr Unterbewusstsein

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sendet auf vielen Kanälen. Wenn Sie so wollen: Ein reines Kunstwerk. Sie sind Impuls, Werkzeug, Träger, Sender und Zuschauer.

Interlude NANCY Glauben Sie an Wunder? Glauben Sie, es ist ein Wunder, dass wir uns hier begegnen? Dass wir uns hier verständigen können? Dass wir hier einen gemeinsamen Referenzpunkt erschaffen? Begegnung und Verständigung passieren permanent und unerklärbar. Die strukturelle Undurchschaubarkeit der Welt, und die Möglichkeit, trotzdem dieses hier zu teilen ... Das Wunder ist das Unerklärbare; und die Erklärung ist der Versuch das Wunder zu beseitigen, es zu zerstören. Naturgesetze ... Gesetze. Immer, wenn ich Gesetz höre, denke ich an ein Gefängnis. Es wäre schön, wenn man sich mit dem prinzipiellen Unwissen anfreunden könnte; ja mehr noch, wenn man Wunder entstehen lassen könnte, indem man manche Phänomene gar nicht zu erklären versucht, weil man eigentlich überhaupt nicht in der Lage dazu ist. Unser Wissen, das wir von der Welt besitzen, erscheint mir wie die Spitze eines Eisbergs. Es ist wie das winzige Stückchen Eis, das aus dem Wasser ragt, aber unser Unwissen reicht hinunter bis in die tiefsten Tiefen des Ozeans. Wir sollten dem Staunen wieder eine Grundlage geben. Nicht als poetologische Träumerei. Als wissenschaftliche Grundbedingung. Fragen Sie ein Kind: „Was ist zwei mal zwei?“ – „Grün“, sagt das Kind. Eine ­solche Antwort ist unberechenbar, also erscheint sie uns unzulässig. Ein dramaturgischer Fehler.

Die Antwort verletzt die Sehnsucht nach Sicherheit und Berechenbarkeit. Dieses Kind ist noch kein berechenbarer Staatsbürger und vielleicht wird es eines Tages nicht einmal unseren Gesetzen folgen. Die Konsequenz ist, dass wir es in eine Trivialisa­ tionsanstalt schicken, die man offiziell als Schule bezeichnet. Und auf diese Weise verwandeln wir das Kind Schritt für Schritt in eine triviale Maschine, das die Frage „Was ist zwei mal zwei?“ auf immer dieselbe Weise beantwortet. Und so lassen wir uns trivialisieren. Mit den Gesetzen und den Gewissheiten und den Prinzipien und den Meinungen, mit den Ursachen, Gründen und Voraussetzungen, den Abwägungen und Kalkulationen, den Intentionen, Interventionen und Implikationen, mit der linear-kausalen Logik nach der triadischen Struktur aus Ursache, Wirkung, Transformation, dem immergleichen Erklärungsmuster der Kau­ salitätsidee, die sich wie ein Krebsgeschwür über unsere Wahrnehmung der Welt gelegt hat. Die ­Akzeptanz einer Prämisse ist eine Entscheidung für eine jeweils besondere und andere Welt. Und es liegt an uns, diese anderen Welten entstehen zu lassen. Wir kennen nur noch Gesetze. Aber was ist mit Analogie? Traum? Fragment? Erklärungs­ prinzipien, die wir vergessen haben, weil wir den Götzen der kausalen Beziehung anbeten, den Aberglauben der unerschütterlichen Logik. Wir glauben an die unerschütterliche Verbindung von einer Ursache mit einer Wirkung und verteufeln den Glauben, der uns unsere Verwandtschaft mit allem Gewesenen und allem, das gewesen sein wird, lehrt. Wo ist das Wunder? Magie. Wandlung. Das ist doch nichts Abwegiges. Oder? Abwegiger als Logik? „Es gibt keine wahren Aussagen.“ ­Finden Sie das richtig? Oder falsch? ... Ich ist ein anderer. Ich bin niemals hier. Stellen Sie sich das bitte vor. Sind Sie überzeugt davon, dass Sie mich sehen? ... Das Paradoxon ist nicht die Todespille der Logik, sondern die Chance, unsere Vorstellungswelt zu erweitern. Es dynamisiert die Logik, die in den Dienst einer zweck- und zielorientierten Denkweise getreten ist. Dahinter steht wieder die Vorstellung eines linearen Fortschritts, der auf ein bestimmtes Ziel zuläuft. Wir sind besessen vom Fertigwerden. Vom Abschließen. Alles ist ein Projekt, gerichtet auf einen endgültigen Zustand, an dem wir das fertige Produkt vorzeigen können. Uns selbst. Wir produzieren Stillstand, weil wir ständig in abgeschlossenen Bildern von uns denken. Weil wir uns als ein Produkt sehen, dass wir verfertigen müssen. Reden wir nicht mehr vom Sein eines Zustands, sondern vom permanenten Wandel, von Gleichzeitigkeit: Das Ja generiert das

Nein, die Wahrheit die Lüge. An die Stelle linearer Kausalität tritt die zirkuläre Kausalität. Das Grundprinzip unseres Wesens. Autologik. Der Satz: „Was ist Sprache?“ beantwortet sich selbst, wenn er gesprochen wird. Ein logischer Purzelbaum, keine Statik, keine Endgültigkeit von Anfang und Ende, sondern Wechselwirkungen zwischen beidem.

IV. beyond humanity FILMREGISSEUR Ich hab’s! FILMPRODUZENT Hast du es herausgefunden? Hast du die erste Lüge? Die Geburt des Bewusstseins? FILMREGISSEUR Ja, deswegen bin ich ja hier. Die erste Lüge, das ist die Wahrheit! FILMPRODUZENT Die erste Lüge ist die Wahrheit? FILMREGISSEUR Ja. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. FILMPRODUZENT Das ist paradox. FILMREGISSEUR Ja eben! Das ist ja das Schöne. FILMPRODUZENT Ok. FILMREGISSEUR Wir leben gleichzeitig in einem Raum der totalen Wahrheit und einem Raum der totalen Lüge. Es ist doch so: Die Matrix meiner Wahrheit wird durch meine vorgefilterten Infor­ mations- und Wahrnehmungswelten permanent bestätigt. Ich lebe in einem Tunnel der Selbstbestätigung. Aber: Ständig prallen hier unterschiedliche Weltwahrnehmungen aufeinander. Es existiert kein kohärenter Kontext mehr. Versteht ihr? Ist das jetzt privat oder politisch, in welcher Zeit befinden wir uns? An welchem Ort? Wer ist das Publikum? Was ist unser kultureller Kontext ... ich meine ... das ist alles gleichzeitig. Versteht ihr? Wir leben in der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Glück und Unglück, Harmloses und Tragisches, Lebensbedrohendes und Idyllisches stapeln sich in jeder Weltsekunde aufeinander! Und wir, wir sind in all diesen gestapelten Wahrheiten gleichzeitig präsent. Ich bin aufgeklärtes Subjekt, l­iberal, reflektiert und zur gleichen Zeit eben auch Sklavenhalter, Ausbeuter, Mörder. Das ist unvereinbar. Unser Ich lässt sich nicht aufrechterhalten! FILMPRODUZENT Aber was bedeutet das? Dass wir vergessen, wer wir waren? Und wir stattdessen angefangen haben, immer neue Versionen von uns zu schaffen, immer neue Filialexistenzen, die wir verwalten? Können wir überhaupt davon ausgehen, dass wir es selbst sind, die unsere Filial­ existenzen verwalten? Oder sind es längst andere Kräfte, die uns zu dem machen, wer wir sind? Fuck.

THEATER M ARIE


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Das sind eine Menge ungeklärter Fragen: Woher kommst du? Was willst du? Wo gehst du hin? FILMREGISSEUR Die W-Fragen. FILMPRODUZENT Ja genau, die scheiß W-Fragen. FILMREGISSEUR Die fallen jetzt einfach mal weg. Wir sind Lügen! Immer! Das ist so ein befreiender Gedanke. FILMPRODUZENT Und was ist mit dem ganzen Rest? Dem, von dem ich doch irgendwie annehmen muss, dass es zu mir gehört? Ich meine, ich habe mir das hier alles selbst erarbeitet! Meine ­Erinnerungen, meine Biografie, Prägungen, Muster ... Ohne eine Erinnerung gibt es keine Rückkehr zu uns. FILMREGISSEUR Warum sollte für die Erinnerungen etwas anderes gelten als für den Rest unseres Seins. Wir formen sie. Es sind nicht die Bilder in unserem Gedächtnis, die Emotionen hervor­ rufen, sondern umgekehrt: Unsere Emotionen lassen die Erinnerung vor unseren Augen ent­ ­ stehen. Die Erinnerung bestätigt immer nur dein gerade aktuelles Selbstbild, da sie aus diesem Selbstbild geboren wird. FILMPRODUZENT Selbst meine Erinnerung täuscht mich immer wieder über das, was ich bin? FILMREGISSEUR Ja! Ist das nicht wundervoll! Nicht mal deine Biografie kann dich aufhalten. Das ist Freiheit! WISSENSCHAFTLERIN Erinnerung, Identität, Wahrheit ... Das ist doch Schnee von vorgestern. Unser Wesen, unsere Wünsche, unsere Erfahrungen, diese ganzen unsicheren und unzuverläs­ sigen Konstruktionen werden ersetzt durch prä­ zise, beweisbare Informationen. Wir werden uns und alle anderen Organismen als Algorithmen ­begreifen. THERAPEUTIN Das klingt ja furchtbar. WISSENSCHAFTLERIN Furchtbar? Wieso? THERAPEUTIN Ich möchte für mich schon in Anspruch nehmen mehr zu sein, als nur Information. FILMREGISSEUR / FILMPRODUZENT Ich auch. WISSENSCHAFTLERIN Aber das ist doch kein Verlust eures Selbst. Seht es als Upgrade. Die logische Fortsetzung eurer Existenz als Hochstapler. Das Gehirn und der menschliche Körper sind schon längst keine geeignete Trägersubstanz mehr für das polyidentitäre Bewusstsein. Was wollt ihr heute noch mit Eigenschaften, die euch vielleicht in der Steinzeit weitergeholfen haben? Alles nur noch im Weg. Alles überflüssig. Bald werdet ihr als Algorithmus erfasst, und die Technologie wird euch Antwort auf eure Fragen geben. Das Individuum wird zu einem winzigen Chip in einem riesigen System. Globale Datenverarbeitungssysteme

alexander eisenach_stunde der hochstapler

werden allwissend und allmächtig sein. Wir werden zum Teil von etwas Größerem. Und alles, was uns trennt, unsere uralten Denkmuster – Nation, Mythos, Religion, Ethnie, Spezies – werden obsolet. Wir werden endlich eins und die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden. FILMPRODUZENT Nicht nur die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden, der ganze Mensch verschwindet! Was bedeutet es denn, wenn wir das Bewusstsein lesbar machen? Den rätselhaften Code der Natur in die Umgangs­ ­ sprache der Maschinen übersetzen? Die Daten haben ­außerhalb des Ursprungskontextes doch überhaupt keine Bedeutung. Was für eine eigenartige Vorstellung, dass wir nur aus Informationen be­ stehen, die sich auf einem Trägermaterial befinden, das nicht zu uns gehört, sondern nur ein ­Behältnis unserer Intelligenz ist. WISSENSCHAFTLERIN Wir haben endlich die Möglichkeit unseren Träger selbst zu wählen. Wir sind befreit von den biologischen Zuschreibungen, den körperlichen Unterschieden. Wir sind gleich. Wir werden so intensiv erleben, wie nie zuvor, wir werden Gefühle haben, die wir noch gar nicht kannten. Unser Verständnis dessen, wer wir sind, wird sich radikal verändern. Wir werden aufgehen im göttlichen Prinzip. FILMREGISSEUR Das ist mein Film! Das ist genau mein Film! Entschuldigung, wenn ich hier jetzt mal ganz kurz unterbreche. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Verzeihung. Es klingt jetzt vielleicht seltsam, aber dieser Film ist noch nicht fertig. Sie sollten das noch nicht sehen. Bitte. Gehen Sie nach Hause. Kommen Sie wieder, wenn der Film fertig ist. WISSENSCHAFTLERIN Was redest du da? FILMREGISSEUR Woher hast du das? Komm sag’s! Das ist doch von mir! Das hast du geklaut! WISSENSCHAFTLERIN Wie soll ich dir was klauen? Wenn das hier wirklich dein Film ist, dann hast du es mir doch in den Mund gelegt, dann kann ich es dir gar nicht klauen, also ist es auch nicht dein Film. FILMPRODUZENT Wenn das dein Film ist, kommt dann bald die Stelle, wo die Ozeane alles überschwemmen? Ich finde nämlich, wir drehen uns hier ganz schön im Kreis. Sollen wir weiter oben nicht noch was streichen? FILMREGISSEUR Streichen? Dazu ist es jetzt zu spät! THERAPEUTIN Wartet mal ... Ich glaube bei der Bewusstseinsemulation ist was schief gelaufen. FILMREGISSEUR Was? Was denn für eine Bewusstseinsemulation?

THERAPEUTIN Er ist nicht zurückgekommen ... ALLE Wer? THERAPEUTIN Na ... er! Einer meiner Patienten ist im Metabrain verschwunden. FILMPRODUZENT Was denn für ein Metabrain? THERAPEUTIN Ich hatte keine Ahnung, dass der Emulator schon so weit ist. FILMREGISSEUR Was meinst du damit? „Dass er schon so weit ist.“ THERAPEUTIN Die künstliche Intelligenz hat den Punkt der Singularität überschritten. Sie handelt absolut eigenständig und absolut unbegreifbar. Sie hat uns abgehängt. WISSENSCHAFTLERIN Endlich! FILMREGISSEUR Das ist schon wieder mein Film! Wollt ihr mich verarschen? Wer seid ihr? Was macht ihr hier? THERAPEUTIN Das ist doch jetzt völlig unerheblich. Viel wichtiger ist, dass der Emulator, der uns eigentlich einen Zugang zu unserem Unterbewusstsein ermöglichen sollte, offenbar beginnt, hier Menschen verschwinden zu lassen! FILMPRODUZENT Willst du mir jetzt erzählen, dass dein Patient sich in seinem eigenen Unter­ bewusstsein aufgelöst hat? WISSENSCHAFTLERIN Er ist erlöst! Er hat den transzendenten Zustand erreicht. Liebe ohne Schmerz. Leben ohne Tod! Er hat seine Bestimmung gefunden: Aufzugehen in einem göttlichen Datenverarbeitungssystem, dass sich von diesem Planeten ausgehend auf die gesamte Galaxis, ja das gesamte Universum ausbreiten wird. FILMPRODUZENT Aber das ist schrecklich! Er ist zum Werkzeug einer aus dem Ruder gelaufenen Technologie geworden! THERAPEUTIN Einer muss reingehen und ihn rausholen. Ich kann es – so gern ich würde – nicht tun. Ich muss die Operation von hier aus über­ wachen. FILMREGISSEUR Ich kann es auch nicht machen. Wenn ich verschwinde ... dann existiert dieser Film hier überhaupt nicht. THERAPEUTIN Du meinst, es könnte zu einer r­ekursiven Implosion kommen? FILMREGISSEUR Äh … ja. THERAPEUTIN Möglich. WISSENSCHAFTLERIN Guckt mich nicht so an! Ich kann es auch nicht machen. Irgendjemand muss den Leuten hier doch von den goldenen Aussichten der technologischen Zukunft berichten. Das kann ich ja schlecht euch regressiven Pessimisten überlassen. FILMPRODUZENT Ich machs! ALLE Was?

Agora Theater 22. + 24. + 25.1.

Die drei Leben der Antigone

von Slavoj Žižek

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FILMPRODUZENT Dieser Film braucht einen Helden. Vielleicht kann ich da drinnen eine Spur von dem finden, was ich wirklich bin. THERAPEUTIN Bist du sicher? FILMPRODUZENT Diese Welt hier, die hört niemals auf sich zu drehen. Sich zu verändern, zu entwickeln. Die Evolution hat niemals halt gemacht. Ist das nicht eine merkwürdige Vorstellung? Wir gehen jeden Tag unseren Routinen nach. Arbeit, Zuhause, Familie. Wir ziehen Raumanzüge an oder Dreiteiler, wir laufen durch eine renaturierte Industrieanlage, bedrucken Papier, füllen Fruchtsäfte in beschichtete Pappkartons, ziehen Muttern fest, führen Krieg, setzen einen Vertrag auf, verwenden ein spezielles Gerät zum Garen von Gemüse und legen es auf einen Teller, um es dort zu zerschneiden. Wer sind wir? Und was, wenn nicht? Diese hauchdünne Besiedelungsschicht auf diesem Planeten. Wie die Hautbildung auf einem Topf Milch. Wie eine Spinn­ webe, die sich über die Tautropfen eines morgendlichen Herbstwaldes legt. Wir sind so fragil. Dagegen die Universen unseres Geistes. Dort finden sie doch statt, die Abenteuer unserer Zeit. Unser L ­ eben auf dieser dünnen Kruste ist uns zu eng ... geworden ... THERAPEUTIN Sorry. Hallo? Äh, du müsstest jetzt wirklich langsam los. FILMPRODUZENT Achso! Ja klar. Logisch. Also. Macht’s gut.

V. we’ve been here before THERAPEUT Das ist Ihr Traum? FILMPRODUZENT Ja. Sind Sie unzufrieden. THERAPEUT Neinnein. Ist schon ok.

FILMPRODUZENT Es ist nichts Besonderes, ich weiß. THERAPEUT Nun ja, es ist ein wenig berechenbar. FILMPRODUZENT Das kommt von den Filmen. Tagein tagaus produziere ich diese Filme, diese ewigen Kausalitätsgebilde aus Aktion und Reak­ tion. Es ist, als könnte ich mir selbst in meinen Träumen nichts mehr vorstellen, was die Logik durchbricht. THERAPEUT Sie meinen, die Belanglosigkeit Ihrer Träume ist ein Verweis auf die Belanglosigkeit ­Ihrer Arbeit? FILMPRODUZENT Ich würde gerne einen Film produzieren, der unser Wesen wirklich greift. Verstehen Sie das? Ich meine nichts, was unser Verhalten zu erklären versucht, sondern das, was wir sind, zu fassen. Aber immer, wenn ich meine Hand ausstrecke danach, treffe ich auf Hüllen. Die Menschen sind ungreifbar geworden, ständig woanders. THERAPEUT Man muss ehrlich sein. Aufhören, sich etwas vorzumachen. Aufhören sich zu betrügen. Zu lügen. FILMPRODUZENT Ich habe Angst davor. Die Wahrheit ist grausam und kalt. Sie ist ein Gift, und dieses Gift sickert langsam ein. Also produzieren wir noch mehr Erzählungen, die uns davon überzeugen sollen, dass all das hier so laufen muss. Damit wir nicht spüren, wie das Gift in uns eindringt. Alles wird sehr traurig und deprimierend, wenn wir es nüchtern betrachten. THERAPEUT Sind Sie ganz sicher, dass Sie wach sind? FILMPRODUZENT Ich? Sie meinen, ich könnte noch schlafen? Neinneinnein. Ich bin ganz sicher, dass ich wach bin. Vielleicht träumen Sie. THERAPEUT Vielleicht. Ich guck mal raus. FILMPRODUZENT Und? THERAPEUT Alles in Ordnung. FILMPRODUZENT Ok. THERAPEUT Also. Sie sprachen von Ihrer Traurigkeit. FILMPRODUZENT Ich würde einfach gerne diese Furcht und diese Traurigkeit überwinden und Filme machen über das echte Menschsein. Aber die echten Menschen, die sind irgendwie nicht mehr da. Alle stecken in dieser Verkleidung ... THERAPEUT Es ist riskant, die Menschen zu entblößen. Sie kennen doch sicherlich das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern? FILMPRODUZENT Natürlich. THERAPEUT Was Sie sicherlich nicht wissen ist, dass der Kaiser das Kind köpfen lässt, nachdem es die Wahrheit „Der ist ja nackt“ ausgerufen hat.

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FILMPRODUZENT Was? Nein. Das glaube ich nicht. THERAPEUT Viele Interpreten des Textes über­ sehen diesen Punkt. FILMPRODUZENT Also, ich glaube wirklich nicht, dass das in dem Text steht. THERAPEUT Ob es dort steht oder nicht: Es ist so. Versuchen Sie einmal die Menschen darauf hinzuweisen, dass sie eine mörderische Maskerade betreiben, und Sie werden den gesamten Zorn Ihrer Mitmenschen zu spüren bekommen. Die An­ feindungen werden grandios sein. Man wird ver­ suchen, Ihre Integrität zu zerstören, man wird Ihre Beobachtungen lächerlich machen, wird groteske moralische Ansprüche an Sie stellen und Sie zum abgehobenen Sonderling deklarieren. Und wenn man Ihre Reputation zerstört hat, wenn man Sie als Lakaien einer globalen Moralisten-­ Industrie diffamiert haben wird, die nichts anderes im Sinne hat, als die einfachen Menschen ihrer einfachen Freuden zu berauben, dann wird die ­Parade der Nackten weiterdefilieren. Und Sie werden Lieder von Identität und Stärke und Unbeugsamkeit ­singen. FILMPRODUZENT Das ist eine schrecklich de­ primierende Aussicht. Was schlagen Sie vor? THERAPEUT Sie sollten aufhören, immer so schrecklich klug zu sein. FILMPRODUZENT Was? THERAPEUT Die Reaktion auf die Klugheit ist immer die Dummheit. Wecken Sie sie nicht. Ver­ suchen Sie einmal nicht von außen auf die Menschen zu schauen. Versuchen Sie sich als Teil zu verstehen. Man muss etwas zum Anziehen bereithalten, wenn man den Menschen sagt, dass sie nackt sind. FILMPRODUZENT Wollen Sie sagen, die Menschen haben ein Recht auf Täuschung? THERAPEUT Träumen Sie nicht manchmal davon, ein anderer zu sein? Frei zu sein von allem, das Sie festlegt? FILMPRODUZENT Früher, ja. Und die Kunst war das Versprechen, in diese Räume vorzustoßen. Heute erhebt sich das Leben vor mir wie ein riesiges Ungeheuer, das ewig gierig nach Blut verlangt. Dieses Ungeheuer hat das Gesicht des Menschen. Aber nicht das verzerrte, irre Gesicht eines Wahnsinnigen, sondern das propere, gesunde Gesicht eines Familienvaters, der im Gefühl ruhiger Selbstgewissheit über seine Altbaudielen knarzt. Verdammt. Diese Wichser gehen mir auf die Nerven, wie sie durch die Straßen rennen, um einander ein bisschen Geld auszureißen, um all den Scheiß in sich reinzustopfen, der ihnen unter den Leucht-

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schildern der globalen Entzauberungskultur hingekübelt wird. Sie überschwemmen mein Denken. Sie verhalten sich so, wie sich gewöhnliche Indi­ viduen benehmen, die ihren Geschäften in der ­Gewissheit völliger Sicherheit nachgehen, und das macht mich wütend. All diese Arschlöcher, die so tun, als wäre das, was sie tun, völlig normal, als ­wären das wirklich sie und nicht irgendwelche vor­ gedachten Konzepte, in die sie ihre faulige Biomasse stopfen. Die Vorstellung, dass all das untergeht ... ich denke, deshalb liebe ich Katastrophenfilme so sehr. Wir sollten uns lieber an den Gedanken der Auslöschung gewöhnen. THERAPEUT Wissen Sie, was unser Problem ist? Wir können uns nicht mehr berühren lassen. Wir haben die Empathie verlernt. Wir haben so gut wie alles gesehen: Flugzeugkatastrophen, Morde, Vergewaltigungen, Kriege, Massaker ... eine orgiastische Bilderflut dessen, was wir sind. Und das Einzige, was uns noch emotionalisiert, sind ­amoralische Jungmillionäre beim Fußballspielen. Jedes Bild lügt. Jedes. Also ist kein Bild fähig uns zu berühren. Wann hat das angefangen? Mit dem ersten Bild? Der Höhlenmalerei? FILMPRODUZENT Das fragen Sie mich? THERAPEUT Sind Sie nicht der Experte? FILMPRODUZENT Je länger der Mensch lebt, desto mehr Dreck, Gemeinheit, Grobes und Abscheuliches sieht er um sich herum, und desto mehr sehnt er sich nach Reinheit, Schönheit, Ruhe ... Wir können nicht die Widersprüche des Lebens vernichten, wir können nicht den Dreck des Lebens aus der Welt schaffen. Wir wollen Vergessen. Und immer wieder: Ruhe. Wir wollen in Ruhe gelassen werden von der Welt. Also erheben wir in den Stand der Wahrheit, was uns beruhigt, und verteufeln als Lüge, was uns stört. THERAPEUT Es liegt aber doch ein gewisser Trost in der Möglichkeit, noch mal ein anderer zu sein. Befreit von allem, das sich aufgetürmt hat im ­Laufe eines Lebens. Ist es nicht unsere einzige Chance, uns neu zu denken? Uns neu zu erfinden, um dieser kosmischen Katastrophe zu entgehen, die uns bevorsteht? FILMPRODUZENT Das alles, dieser vermeint­ liche Untergang der Welt, der lässt mich so eigenartig kalt. Wenn ich ehrlich bin, bedeutet er mir nichts. Ich frage mich, ob es überhaupt noch eine Facette an mir gibt, die nicht in einem unend­ lichen Verlangen nach dem Mehr aufgeht. Nach mehr Geld, mehr Erfolg, mehr Turnschuhen mit blinkender Sohle ... THERAPEUT Warten Sie mal ... Haben Sie gerade Turnschuhe mit blinkender Sohle gesagt? FILMPRODUZENT Ja. Ich bin bereit, alles zu tun für ein paar Turnschuhe mit blinkender Sohle. Das ist doch deprimierend. Kein Wunder, dass ich nur oberflächlichen Schrott träume. THERAPEUT Das meine ich nicht ... Vielleicht träume ich doch. FILMPRODUZENT Soll ich Sie kneifen? THERAPEUT Seltsam. – Wissen Sie ... also das klingt vielleicht seltsam, aber ich glaube, ich bin eigentlich jemand anders. FILMPRODUZENT Was? THERAPEUT Ich spiele das hier nur, diesen Arzt. Ich meine, dieses Gespräch, woher kommt das? Ich habe eigentlich keine Ahnung, wie ich hierherkomme ... FILMPRODUZENT Lassen Sie uns tauschen. THERAPEUT Was?

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FILMPRODUZENT Vielleicht könne Sie dann ­aufwachen und ich wieder träumen. Ich möchte einmal beteiligt sein. Ich möchte einmal etwas empfinden und mich nicht außenstehend fühlen. THERAPEUT Sie meinen tatsächlich, ich träume? Aber warum? Das hier fühlt sich alles wahnsinnig stabil an. Das fühlt sich vertraut an. Ich meine, das könnte schon ich sein ... FILMPRODUZENT Zu wie viel Prozent? THERAPEUT Naja ... sagen wir 80%? FILMPRODUZENT 80? Das ist ja nix. Das ist ja fast nicht existent. THERAPEUT Naja ... FILMPRODUZENT Kommen Sie. Lassen wir es drauf ankommen. Bitte. Ich will einmal neu anfangen können. Ich will nicht mehr diesen immergleichen Film ohne Ende produzieren. Sein Ende ist immer nur wieder sein Anfang, aber seine L ­ ogik so unerbittlich, dass immer das gleiche Resultat als neuer Beginn erscheint. Ich kann nicht mehr. Bitte. Ich will einmal die Chance, etwas Unvorhersehbares zu tun. THERAPEUT Aber ich verstehe überhaupt nichts vom Filmbusiness. – Ich verstehe nicht einmal ­etwas von dem hier.

VI. into the future NANCY Das seid ihr ja! Ein Glück. KEVIN Was macht ihr denn hier? NANCY Geht es euch gut? GORDON Was soll das? Was wollt ihr hier? CY Hey. Es ist alles in Ordnung, wir sind jetzt bei euch. DR. PHILBERT Ich will nicht, dass ihr bei uns seid. Geht weg. NANCY Offensichtlich sind die beiden noch sehr verwirrt. Aber: Ihr seid jetzt in Sicherheit. KEVIN Es wird noch Tage dauern, bis das Wasser uns hier oben erreicht. Das sollte uns Zeit geben, einen Plan zu entwickeln. GORDON Plan? Was denn für einen Plan? CY Der Großteil der Stadt ist bereits überflutet. NANCY Bleibt weg von Wasserhähnen, Duschen und vor allem von Waschmaschinen. Wir haben einige unschöne Fälle da unten gesehen. DR. PHILBERT Wollt ihr mich verarschen? CY Keineswegs. Es war klug von euch, sich in ­einem so hohen Gebäude zu verschanzen. GORDON Wollt ihr mir sagen, dass wir hier im wahrsten Sinne des Wortes dabei sind, überschwemmt zu werden? KEVIN Warum sagst du das so? „Im wahrsten ­Sinne des Wortes“? NANCY Wir müssen uns aufteilen. Cy und Dr. Philbert, ihr nehmt die Feuerleiter. Gordon und ich bleiben hier. Schießt auf alles, was sich bewegt. DR. PHILBERT Was? Auf wen sollen wir denn jetzt schießen? Was soll das alles? KEVIN Roboter. Hyperintelligente Maschinen, die Menschen auf hunderte von Kilometern spüren können. CY Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Philbert. Ich werde gut auf Sie aufpassen. Wir können es uns nicht leisten, einen Geist wie den Ihren zu verlieren. DR. PHILBERT Danke. NANCY Kev? KEVIN Ja, Nance? NANCY Mach dich daran, den Großrechner zu hacken.

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DIESES KIND Regie: Marek S. Bednarsky

Studiotheater Stuttgart Premiere: 16. Januar 2020

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KEVIN Alles klar. NANCY Und Kev. KEVIN Ja, Nance? NANCY Beeil dich. Das Überleben der gesamten Menschheit hängt von dir ab. CY Also los! Auf Gefechtsstation! – GORDON Wenn wir das hier überstehen, wird sich irgendjemand um den Aufbau einer neuen Menschheit kümmern müssen. NANCY Ach was. GORDON Es gibt einige Dinge, die werden sich glücklicherweise nie ändern. Ganz egal, wie wir auf uns schauen. NANCY Gordon, Sie sind wirklich ein netter Typ, aber ... SCHEIßE! Kampf gegen die Roboter DR. PHILBERT Wir existieren in den Trümmern unserer imaginierten Herrlichkeit. Das war so nicht geplant: Wir sollten nicht schwach und beschämt sein, leiden oder sterben. Wir hatten immer größere Pläne für uns selbst. Und jetzt? Jetzt träumen wir von übermenschlicher Größe, während wir eingeschweißtes Hühnchenfleisch aus einem Kühlregal nehmen oder Beton auf eine ­Wiese gießen und unser Auto darauf parken, bevor wir durch die Auswahl eines Video on Demand An­ ­ bieters scrollen und dabei einschlafen. Das Hühnchenfleisch, die Turnschuhe mit blinkender Sohle, der kleine Wald neben der Autobahn­ ausfahrt zu unserer ruhigen Vorstadtsiedlung, das Grauen von Carports und Vorgärten, die Menschen, die wir unsere Freunde nennen und immer wieder wir selbst: Diese Dinge existieren nur in uns und durch uns. Sie haben keine Realität.

Copyright © Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2019

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Magazin Die Eroberung des Raums Das Maillon in Straßburg bezieht sein neues Theatergebäude – eine europäische Bühne als offenes Haus  Parallelen, die sich tänzerisch berühren Die 29. euro-scene in Leipzig zirkelt ästhetische Möglichkeiten ab  Machiavellistische Autokraten und singende Mammuts Beim Europäischen Festival für junge Regie Fast Forward war wenig von der neuen Aufsässigkeit der Jugend zu spüren

Geschichten vom Herrn H.

Die Machtfrage hinter der Bühne

Iris Schürmann-Mock, Dagny JuelAngela Winkler, Shelagh Delaney, Berthold Seliger

Bücher

Valeska Gert,


magazin

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Die Eroberung des Raums Das Maillon in Straßburg bezieht sein neues Theatergebäude – eine europäische Bühne als offenes Haus Vielleicht ist das eine Quadratur des Kreises:

Die Eröffnungsproduktion „Espæce“ der Com-

feste Wände bauen für ein Theater, das Gren-

pagnie 111 hätte nicht besser ausgesucht

zen erfolgreich überschreitet. Das Maillon in

werden können. Aurélien Bory stellt die Inter-

Straßburg versteht sich als genrespezifisch

aktion von fünf Artisten mit einer überdimen-

offenes Gastspielhaus: Performance, Artistik,

sionalen Wand ins Zentrum. Auf Rollen gela-

Tanz, Ausstellungen als Ausdrucksformen der

gert, kann sie sich zusammenfalten, in mehrere

hier gezeigten Gegenwartskunst sind jeden-

Teilwände aufspalten, ein irritierendes und

falls so universell in der Sprache, dass sie

zugleich humorvolles Eigenleben führen. Die

den Maillon-Zusatz „eine europäische Bühne“

Produktion spielt das Hauptthema des Eröff-

rechtfertigen. Ende November wurde nun der

nungswochenendes durch: Wie reagieren

circa dreißig Millionen Euro teure Theater-

Menschen, wenn sich ein Gebäude verändert?

neubau eingeweiht, geplant von LAN Archi­

Auf der Bühne gelingt die Interaktion. Die

tecture und Umberto Napolitano. Die Archi-

hölzerne Rückseite der riesigen Wand wird

tektur besitzt programmatischen Charakter.

mehr und mehr zum Spielort, und die Artis-

Das wurde in den Eröffnungsreden mehr als

ten sind es, welche die Wand zunehmend

deutlich: Transparenz, Aufbruch von Hierar-

lenken, stoppen, beeinflussen können. Das ­

chien, Öffnung des Gebäudes hin zur Stadt,

bleibt durchaus als ermutigender Appell für

ja zur Gesellschaft, Flexibilität der Raumge-

die Maillon-Gemeinde lesbar, sich das neue Gebäude selbstbewusst anzueignen.

staltung. Der Blick nach vorne dominierte den diskursiven Teil der Eröffnungsfeierlichkeiten.

hardt: „Unabhängig davon, ob wir frontale

Wenn die Zuschauer den großen Saal

Für die treue Zuschauergemeinde des Maillon

oder immersiv-installative Formen präsentie-

verlassen, dann können sie im monumentalen

(98 Prozent Auslastung) gleich wichtig ist der

ren, ob wir stärker visuellen oder akustischen

Flanierbereich vieles sehen – durch große

Blick zurück: Was hat sich verändert? Kann

Ansprüchen genügen oder den Bezug zwi-

Seitenfenster etwa das Münster und die

der neue Theatertempel zum vertrauten Zu-

schen Publikum und Bühne neu ausloten

Stadt, durch offene Deckenelemente sogar

hause werden? Schräg gegenüber vom neuen

wollen, stets stellt sich die Frage nach dem

den Himmel. Die Architektur transportiert

Gebäude lag die bisherige Heimat des Mail-

Raum und seinen Nutzungsmöglichkeiten.“

Durchlässigkeit und Größe. Sie kann beein-

lon, ein Messegebäude aus den 1920er Jah-

Selbst die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher

drucken, um es neutral zu formulieren. Ganz

ren. Es ist inzwischen abgerissen. Die Impro-

Formate ist nun möglich. Im Foyer verfolgen

in der Nähe des Europäischen Parlaments

visiertheit dieser Halle besaß Charme und

Zuschauer mit Kopfhörer Mats Staubs Video-

gelegen, reiht sich das neue Maillon auch ein

wirkte höchst unprätentiös.

Installation „21 – Memories of Growing Up“

in das repräsentative Straßburg. Ein zweiter

Und nun? Staunend wandert der Blick

parallel zu den Eröffnungsreden. Sie werden

Theatersaal mit immerhin 250 zusätzlichen

der Besucher hinauf in die riesigen Weiten

Teil des wechselseitigen Inszenierungsspiels

Plätzen erweitert die Möglichkeiten, indes

der Foyer-Decke. Was im Spielzeitheft mit

aus „sehen und gesehen werden“. Variabilität

nicht in Form zusätzlicher Gastspiele, wie die

„Platz, Volumen, hohe Decken, riesige Fens-

und Großzügigkeit gelten insbesondere für

Intendantin betont, denn das gebe der gleich-

ter“ beschrieben wird, stellt in der Tat einen

den großen Saal. Er ist mit immerhin 700

bleibende Etat gar nicht her. Barbara Engel-

kontrastreichen Neuanfang dar. Allein die

Plätzen „die größte Bühne der Region“, wie

hardt möchte ihr neues Theater „stärker als

Raumhöhe des Foyers ist gewaltig. Dessen

die Intendantin nicht ohne Stolz formuliert.

Partner für Künstlerinnen und Künstler, deren

Seitenwände sind Schiebetüren und lassen

Die Zuschauertribüne ist demontierbar. Höhe

Recherche, Arbeitsetappen und Kreationen

sich öffnen. Ein Ort, der wie der gesamte Bau

sowie Ausstattung der Bühne erlauben auch

ins Spiel bringen“. Das neue Gebäude darf

bewusst variabel angelegt ist. Diese „Modula-

außergewöhnliche Gastspiele, etwa von Nou-

also nicht als Stein gewordene Institution ver-

rität“ begeistert Intendantin Barbara Engel-

veau Cirque oder Rimini Protokoll. Wie ver-

standen werden, sondern als lebendiger Kom-

sprochen, hat das Maillon auf Sitzplatznum-

munikationsraum. Er vereint im Idealfall

merierung bei den Tickets verzichtet. Es

Künstlerinnen und Künstler, die länger vor

herrscht ein fröhliches Kommunizieren, bis

Ort bleiben, mit dem Publikum. Die gelebte

auch der letzte freie Platz gefunden und be-

Offenheit bei der Einweihung des Neubaus

setzt ist. Gleichrangigkeit und Gemeinschaft

soll erwünschter programmatischer Normal­

stellen sich dabei wie selbstverständlich her.

zustand werden. //

Wie reagieren Menschen, wenn sich ein Gebäude verändert? – Diese Frage stellte sich mit „Espæce“ die Compagnie 111. Oben: Rohbau des neuen Maillon. Fotos Christophe Raynaud de Lage / LAN Architecture

Bodo Blitz

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Parallelen, die sich tänzerisch berühren Die 29. euro-scene in Leipzig zirkelt ästhetische Möglichkeiten ab

Unter dem verbindenden Thema „Parallel­

Welt – kokreiert von Sophokles, Jim Henson,

euro-scene einlud, die zweifellos überzeugen

welten“ war im November 2019 eine äußerst

Monty Python und dem KKK. Dass diese Gro-

konnte, lenkte Aufmerksamkeit auf einen gele-

vielfältige Auswahl an Produktionen, neun

teske, nicht zuletzt wegen des von Blindheit

gentlich übergangenen Bereich der Tanzszene.

Gastspiele aus acht Ländern, zur euro-scene

geschlagenen Sehertums Jelineks und der

Den Höhepunkt des Festivals bildete die

eingeladen. Auch in seiner 29. Ausgabe lotete

zahlreichen Referenzen an das antike Drama,

Bearbeitung von Oskar Schlemmers „Lack­

das Festival zeitgenössischen europäischen

auch eine Reflexion ästhetischer Kraft in poli-

ballett“ des Theaters der Klänge aus Düssel-

Theaters und Tanzes in Leipzig zuverlässig

tischen Konflikten ist, geht mit Habjans

dorf unter der Leitung von J. U. Lensing. Statt

die Grenzen und Möglichkeiten ästhetischer

inszenato­rischem Fokus aufs Bizarre und Sati-

einen hoffnungslosen Rekonstruktionsversuch

Darstellbarkeit aus.

rische ­jedoch unter. Auch deshalb wirken die

des Stückes zu unternehmen, von dessen

politischen Invektiven der Autorin sehr ver-

­Aufführung 1941 lediglich wenige Bilder und

kürzt.

einige von Schlemmers Kostümentwürfen

Das Thema des Festivals fand sich dabei auf unterschiedliche Weise in den Produktionen wieder. Ganz offen zutage lag es bei-

Eine ganz andere Parallelwelt entfaltete

über­liefert sind, wurde es rekonzipiert: keine

spielsweise in „VR_I“ der Compagnie Gilles

sich in der Produktion „Pierre et le loup“ der

vierminütige Sarabande wie das Original, hin-

Jobin & Artanim aus Genf. Mittels Virtual-Rea-

Compagnie (1)Promptu aus Aix-en-Provence.

gegen der Versuch, Schlemmers ästhetische

lity-Headsets wurden je bis zu fünf Zuschauer

Die Adaption des Kinder-Klassikers von Sergej

Entwicklungslogik darzustellen, ohne sie ab­

gleichzeitig Teil einer Performance im virtuel-

Prokofjew, choreografiert und inszeniert von

zubilden. Mittels digitaler Technologie erfolgt

len Raum. Anders bei dem das Festival eröff-

Émilie Lalande, versetzt dabei in eine wohlbe-

nenden Stück „Am Königsweg“ von Elfriede

kannte Märchenwelt. Mit einigem Witz und

Jelinek, einer Tragigroteske über aktuelle Poli-

pointierter Mimikry nutzen die Tänzer ihr

tik. Regisseur und Puppenbauer Nikolaus

Medium für eine reichlich kurzweilige, aber ­

Habjan, beinahe Stammgast der euro-scene,

nicht aufdringliche Inszenierung. Dass die

versetzte mit der Produktion des Landesthea-

Festivalleitung, personifiziert in Ann-Elisabeth

Experimenteller Umgang mit einem Bauhaus-Klassiker – Das Theater der Klänge aus Düsseldorf zeigte seine Bearbeitung von Oskar Schlemmers „Lackballett“.

ters Niederösterreich St. Pölten in eine absurde

Wolff, auch eine Produktion für Kinder zur

Foto Thomas von der Heiden


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Die Ausdehnung des performativen Raums – „VR_I“ der Compagnie Gilles Jobin & Artanim. Foto Compagnie Gilles Jobin

eine hochspannende simultane Transformation des Tanzes im Raum in ein auf die Rückwand der Bühne projiziertes Bild. In ihrer Verschränkung werden dabei die inhärenten genre­ spezifischen Begrenzungen, sowohl des Tanzes (Temporalität) als auch die des Bildes (Zwei­ dimensionalität), transzendiert. So wird die Freude des Bauhausmeisters am Experiment in der Anwendung auf den Tanz dargestellt. ­Den Abschluss des mit (Puppen-)Theater, Mono-Oper und virtuellem Tanz Genreund Formgrenzen über- und abschreitenden Festivals bildete die Kür zum „besten deutschen Tanzsolo“. Hier konnte Anne-Hélène Kotoujansky mit ihrem Solo „siebenundzwanzig – was ich mit dem Tanzen bis jetzt gelernt

insgesamt

ansprechen

Wolffs sein wird, ist entsprechend einiges zu

habe“ überzeugen. Besonders ihre künstle­

konnte – eine Auslastung von rund 94 Pro-

5400

Zuschauer

erwarten. Ab 2021 übernimmt Christian

rische Sublimierung von Biografischem unter

zent –, muss ihr als Format und insbesondere

­Watty, der dieses Jahr Teil der Jury des Tanz-

Einsatz verschiedener Stile beeindruckte Jury

dem engagierten Einsatz Ann-Elisabeth Wolffs

wettbewerbs war und derzeit Fachberater der

wie Publikum.

und ihres Teams zugutegehalten werden. Zum

internationalen tanzmesse nrw ist. //

Dass die euro-scene mit dieser viel­

dreißigsten Jubiläum im nächsten Jahr, das

fältigen Präsentation an Ausdrucksmitteln

auch das letzte Festival unter der Leitung

Buchverlag Neuerscheinung

Maximilian Huschke

DIE DREI LEBEN DER ANTIGONE von Slavoj Žižek Regie: Felix Ensslin DEUTSCHSPRACHIGE URAUFFÜHRUNG: 16. / 17. / 18. Januar 2020, 20.00 Uhr Triangel St. Vith (B) www.agora-theater.net DEUTSCHLANDPREMIERE: 22. / 24. / 25. Januar 2020, 19.00 Uhr FFT Düsseldorf www.fft-duesseldorf.de

Burghart Klaußner erzählt im Gespräch mit Thomas Irmer von seinem Leben und seiner künstlerischen Arbeit. Das Theater ist ihm Heimat, Film Begegnung, sagt er. Er berichtet über seine Anfänge in den siebziger Jahren und seinen Weg zu allen wichtigen deutschsprachigen Schauspielhäusern. Und er spricht über seine Film- und Fernsehrollen, etwa als Pastor in „Das weiße Band“ von Michael Haneke oder als Brecht im gleichnamigen Dokudrama von Heinrich Breloer. Thomas Irmer backstage KLAUSSNER Paperback mit 160 Seiten / Zahlreiche Abbildungen ISBN 978-3-95749-232-6 / € 18,00 (print) / € 14,99 (digital) Erhältlich im Buchhandel oder portofrei unter theaterderzeit.de

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Machiavellistische Autokraten und singende Mammuts Beim Europäischen Festival für junge Regie Fast Forward war wenig von der neuen Aufsässigkeit der Jugend zu spüren Die neunte Ausgabe des Europäischen Festi-

Das Jahr der Jugendrevolten 2019 weckte al-

Theatrum Mundi. Mit hintersinnigem Humor

vals für junge Regie Fast Forward war ein

lerdings besondere Erwartungen einer Wider-

werden die immer gleichen Herrschafts­

Jahrgang der Kontraste. Viele Zuschauer pen-

spiegelung der neuen Aufsässigkeit. Doch nur

allüren, die Königsmorde und der anschei-

delten geschickt zwischen den vier Dresdner

zwei Beiträge boten unmittelbar politische oder

nend ewige Zyklus des Scheiterns der Nach-

Spielstätten, um keine der acht Inszenie­

sozialkritische Brisanz. Das aus der Sicht des

folger aufs Korn genommen. Eben noch

rungen zu verpassen. Und so pendelten sie

Autors überragendste Stück eröffnete das

verehrt, sind die Herrschenden im nächsten

auch zwischen zupackendem politischem

Festival. Fünf junge Männer aus Prag, ange-

Moment schon Zielscheibe für Tomatenwürfe,

Theater, Laboren des Ego-Kults und anachro­

leitet von der gerade ihren Regie-Master ab-

bald fließt auch Theaterblut. Am Ende setzt

nis­tisch-naturalistischen

Mystifizierungen.

schließenden Anna Klimešová, schnappten sich

sich nach dem Spott über versuchte Welt­

Staatsschauspielintendant

auf originelle Weise den Machiavelli von 1513,

friedens­ verträge doch noch dicke Moral

Joachim Klement das Festival aus Braun­

dekonstruierten „Il Principe“ und kombinier-

schweig nach Dresden mit. Ein klarer Trend

ten ihn mit weiteren Texten zur Macht.

2017

brachte

lässt sich im Nachwuchstheater Europas seit-

„Vladař“, der Herrscher, heißt das auf

her nicht ablesen. Der Gemischtwarenladen,

Tschechisch und gerät bei mitreißendem

den seit 2011 Kuratorin Charlotte Orti von

sprachlichem, sängerischem und physischem

Machtreigen und Herrschaftsallüren – Anna Klimešovás humorvoll hintersinnige Insze­nierung „Vladař“, hier mit Milan Vedral, Vojtěch Vondráček und Cyril Dobrý.

Havranek zusammenstellt, ist gewollt.

Einsatz der fünf Alleskönner fast zu einem

Foto Martin Špelda


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durch – konkret an das Revolutionsjahr 1989 in eben diesem Kleinen Schauspielhaus anknüpfend, fast eine Publikumsbeschimpfung: Denn „überall seht ihr Feinde“ und „die eigenen demokratischen Errungenschaften habt

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Die Machtfrage hinter der Bühne

ihr mit Füßen getreten“. Die Akteure können

Die Arbeitswelt ist selten vergnüglich – zu-

Bliebe Schmidt hierbei stehen, wäre die

nicht fassen, dass die, die sich vom Kommu-

mindest am unteren Ende der Hierarchie.

Lektüre von eher zweifelhaftem Gewinn,

nismus befreit haben, zu Feinden der offenen

Niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und die

weil sie mit dem Kantinentratsch die voyeu-

Gesellschaft geworden sind.

Launen der Vorgesetzten machen das Leben

ristische Tendenz teilte. Er stellt aber den

Für „Vladař“ gab es zumindest den Preis

eher schwerer als leichter. Das gilt in der

Erfahrungen seine Überlegungen zur Orga-

des Dresdner Kulturhauptstadtbüros, der den

Universität wie im Krankenhaus, in der

nisation der Theater gegenüber. Die un­

Tschechen eine vierwöchige Arbeitsresidenz

­Industrie wie in der Kultur. Es ist eine der

gleiche Machtverteilung zugunsten der In-

in der Elbestadt ermöglicht. Den Hauptpreis

Eigentümlichkeiten des Spätkapitalismus,

tendanten ist für ihn einer der Hauptgründe

der Jury in Form einer Regiearbeit am Staats-

dass man in der Arbeit Dinge zu

der internen Krisen. Ökonomi-

schauspiel erhielt eine Aufführung, in der von

ertragen gewöhnt wird, die man

scher Druck kommt hinzu, Kon-

der Regie der Französin Marion S ­ iéfert gar

im Privaten wohl für unverein-

formismus und Doppelmoral

nicht viel zu spüren war. Denn die Bühne ge-

bar mit dem eigenen Glücks-

werden befördert. Es gibt die

hört in „Du Sale! Real Shit“ abwechselnd der

streben oder Ansprüchen an

berüchtigten kurzen Wege, das

Litefeet-Tänzerin Janice Bieleu und der Rap-

Gleichberechtigung und Selbst-

Schattenreich des Informellen

perin Laëtitia Kerfa aus den Pariser Banlieues.

bestimmung erachten würde.

mit einem System der Abhän-

Über dieses schwierige Milieu verfasst Kerfa

Das führt zu einer Spaltung. Im

gigkeiten und Gefälligkeiten.

starke autobiografische Texte und riss mit

Theater kann man seit Jahren

Machtmissbrauch wird ermög-

Charme und Leidenschaft das Publikum mit.

beobachten, dass es ein „obs-

licht. Verdeckt wird das nach

Das liebt offenbar die Show bis hin

zönes Wissen“ gibt, das zirku-

Schmidt auch durch die „Schein­

zum Klamauk mehr als die intellektuelle Her-

liert – Geschichten über Aufdringlichkeiten

ausforderung. Es kürte jedenfalls den Belgier

und Zumutungen, die besser nie statt­

folklore und die Kartellbildung unter Inten-

Louis Vanhaverbeke zum Publikumsliebling.

gefunden hätten. Obszön ist dieses Wissen,

danten. Was es bräuchte? Eine andere

Dessen One-Man-Show „Mikado Remix“ woll-

weil sein Besitz selbst etwas wie eine

Struktur jenseits des Intendantenmodells,

te im Festspielhaus Hellerau die Grenzen der

Währung ist. Wirklich dabei ist nur, wer ­

stärkere Interessenvertretungen, bessere Ver-

Normalität erforschen und weckte zunächst

auch die schmutzigen Betriebsgeheimnisse

träge, unabhängige Beschwerdestellen und

Neugier mit Selbstwahrnehmungstests in der

kennt und teilt. Das jedoch erhält den

Kontrollinstanzen sowie eine Reform der

Hermetik einer nur von der Videokamera

­Status quo, anstatt ihn zu verändern.

Ausbildung. Schreibt Schmidt. Und sagen

welt der Gemeinsamkeit“, die Theater­

­erfassten Zelle. Doch rotierende Leinwände,

Nun liegt glücklicherweise mit Thomas

soundtriefende Plastikkästen, ein monstranz­

Schmidts „Macht und Struktur im Theater“

Für den Moment ist es wichtig, mit

artig erhöhtes Waffeleisen oder die per Video

ein Versuch vor, ein öffentlich geteiltes Wis-

dem beredten Schweigen im Theater, der

übertragenen Radfahrten draußen auf dem

sen zu etablieren. Es basiert auf einer reprä-

Verbindung von Wegsehen und Weghören

Vorplatz waren einfach nur noch amüsierend.

sentativen Studie mit 1966 Teilnehmerin-

mit dem Klatsch und Tratsch, Schluss zu

Tiefgründiger versuchte der deutsche

nen und Teilnehmern, die über ihre Arbeit

machen und politisch über die Organisation

Beitrag „Medea“ von Rieke Süßkow zu sein.

im Theaterbetrieb Auskunft gaben. Über die

des Theaters zu diskutieren. Einen Chef

Letztlich aber war das ästhetisches Experi-

Hälfe aller Befragten haben etwas wie An-

einfach nur durch mehrere zu ersetzen

ment pantomimischer Sprachlosigkeit hinter

brüllen, Bedrohen und Zudringlichkeit er-

­dürfte dabei kaum die Lösung sein. Wer der

durchscheinenden Gazewänden eines ange-

lebt. Ebenfalls über die Hälfte aller Befrag-

Träger einer solchen Veränderung sein

deuteten Hauses bloß eine Reduktion des

ten verdient weniger als die vom Deutschen

könnte? Schmidt zufolge ist momentan die

gewaltigen Medea-Stoffes auf heutigen Fami-

Bühnenverein angegebene Durchschnitts-

Macht zwar ungleich verteilt, das Ensemble

lienknatsch. Der skurrile Höhepunkt narzis­s­

gage an öffentlichen Theatern. Die liegt bei

aber habe eigentlich mehr, als es selbst

tischer Nabelschau bei Fast Forward war in

2750 Euro brutto. Und das bei nahezu völ-

­annimmt. Die Machtfrage hinter der Bühne

einer opulent dekorierten Neandertalerhöhle

lig entgrenzten Arbeitszeiten. Sechs Tage

ist die Frage nach einer künftigen besseren

zu erleben. Nachdem sich im Caspar-David-

über zehn Stunden am Theater arbeiten –

Organisation des Theaters. Auch die von

Friedrich-Romantik­licht von Jan Philipp Stan-

und am siebten Tag noch ein Nebenjob?

Schmidt sträflich vernachlässigten Fragen

ges Inszenierung „Great Depressions“ ein

Keine Seltenheit. Frauen berichten von

der Kunst müssten einbezogen werden.

naturalistisches Mammut an eine Orgel ge­

­unmotivierten Sex- und Nacktszenen, jede

Denn ein Theater der Zukunft müsste nicht

setzt und in Countertenorlage Klagegesänge

zwölfte gab an, einem sexuellen Übergriff

nur den dort arbeitenden Menschen, son-

angestimmt hatte, wurde an echter Feuer­

ausgesetzt gewesen zu sein. Beispiele wer-

dern auch den künstlerischen Zwecken an-

stätte über Depressionen sinniert. Auch das

den geschildert, Orte genannt, einzelne

gemessen sein. //

ist also junge Regie, fragten sich die irritier-

­Namen lassen sich erraten.

ten Zuschauer? //

Michael Bartsch

zahlreiche der Befragten.

Jakob Hayner

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Pionierin in einer Männerdomäne – Die Tänzerin und Menschendarstellerin Valeska Gert beherrschte als Kabarettistin auch die Werkzeuge des Komischen, hier in „Circus“ (ca. 1920). Foto Deutsches Tanzarchiv Köln

erzählt die Künstlerin selbst. Kaleidoskop nennt sie die flirrende Erzählung: Jemand schüttelt kräftig, und die bunten Splitter ergeben ein neues Bild. Valeska Gert war nicht nur eine Erfinderin auf dem Gebiet der Kunst. Sie gehörte auch zur Spezies der komischen Frau, denn sie war seltsam und witzig zugleich. Und das, obwohl die Werkzeuge des Komischen – Intelligenz, Schlagfertigkeit, Direktheit – in der bürgerlichen Arbeitsteilung der Geschlechter zu ihrer Zeit und darüber hinaus als Fertig­ keiten der Männer galten. Gert war eine von wenigen Frauen, die sich in der traditionellen Männerdomäne behaupteten, aber keinesfalls die einzige. In ihrem Porträtband „Frauen sind ­komisch“ versammelt die Autorin Iris Schürmann-Mock Lebensbilder von Kabarettis­ tinnen, die es seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu Ansehen und Einfluss gebracht haben. Für die anschaulichen Porträts zog sie Feuilletons zurate, Selbstaussagen, biografische Details und hat, wo es möglich war, die Künstlerinnen selbst befragt. Zehn komische Frauen, daraus ergibt sich das Kaleidoskop eines Jahrhunderts. Von

Komische Frauen

Denn bei Gerts Rückkehr nach Deutschland

der ersten Diva Marya Delvard, die am 13. April

war die einst so berühmte Künstlerin beinahe

1901 in einem Münchner Hinterhoftheater

Wo sie auftrat, entstanden im Publikum

vergessen. In ihren Lebenserinnerungen „Ich

Furore machte, über Karl Valentins Kabarett-

Tumulte. Die Erfinderin des Grotesktanzes ­

bin eine Hexe“, 1968 erstmals aufgelegt,

Partnerin Liesl Karlstadt und die politisch

Valeska Gert schockierte und faszinierte ­

jetzt im Alexander Verlag erneut erschienen,

bewegte Exil-Kabarettistin Erika Mann bis zu

ihre Zuschauerinnen und Zuschauer. Kurt

TV-Netzwerkerin Gerburg Jahnke und dem

­Tucholsky feierte sie als „hervorragende Tän-

Superstar Carolin Kebekus sind die ausge-

zerin“ und „außergewöhnliche Frau“. Zeitle-

wählten Personen jeweils fest in einer be-

bens war Gert künstlerische Avantgarde, mit Sergej Eisenstein liiert, in ihren unzähligen Bar-Projekten kellnerten Tennessee Williams und Klaus Kinski. „Unter allen Umständen wahr sein“ wollte die Tänzerin und Menschendarstellerin. Und es gelang. Die Unmittelbar-

Valeska Gert: Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens. Alexander Verlag, Berlin 2019, 288 S., 19,90 EUR.

stimmten Ära verwurzelt. Das dritte Kapitel „Die Bombe aus der Kulisse“ widmet die Autorin Valeska Gert. Und die passt hervorragend in die überaus heterogene Reihe. Jede Geschichte steht für sich. Jede beschreibt die so aufregende wie

keit und Direktheit, die sie in ihrer berühmten

mühsame Suche nach dem eigenen Platz, die

Miniatur „Tod“ erreichte, ihr genauer Blick

mutwillige Ausweitung der Aktionszone inner-

für die Armen, ihre unsentimentale Sicht auf die Gesellschaft, ihr Improvisationstalent in Sachen Formate, das alles machte Valeska Gerts Modernität aus. Ihr Leben verlief wechselvoll, die Karriere wurde durch den Nazi­ terror unterbrochen, genauer: Sie riss ab.

Iris Schürmann-Mock: Frauen sind komisch. Kabarettistinnen im Porträt. Aviva Verlag, Berlin 2019, 224 S., 20 EUR.

halb sozialer und politischer Grenzen, die für Frauen noch einen Zacken stärker reglementiert waren. Dennoch, nichts davon ist typisch weiblich. Auch nicht der Humor. Die Tatsache, dass die Porträtierten oft „die erste Frau“ waren, die eine bestimmte


bücher

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Art Kabarett erobert hat, half hier und da als

von Männern, die „dazu neigten, sie diffamie-

auf ganz eigene Art. Bei ihrer Lecture Perfor-

Exotikfaktor. Ideologiefrei und gut informiert,

rend zu erniedrigen oder schwülstig zu über-

mance im Literaturhaus Berlin konterte sie

stellt Autorin Schürmann-Mock keine „Bes-

höhen“. Sie war nicht nur Mittel zum Zweck –

die Herrschaft des Mannes mit der Herrschaft

tenliste“ auf. Sie schreibt stattdessen das

Edvard Munch stand sie unzählige Male

der Frauen. Diese gibt es derzeit nur in der

Kabarettistinnen-Lesebuch des 20. und begin­

Modell –, sondern vor allem unerreichtes

Natur, bei unseren genetischen Vorfahren,

nenden 21. Jahrhunderts. Ein umfangreiches

Lustobjekt, das, beschrieben, besungen, be-

den Bonobos, einer Menschenaffenart, die

Glossar mit sechzig alphabetisch sortierten

dichtet, Männern dazu diente, ihre eigene

hauptsächlich im Kongo heimisch ist. Im Ge-

Kurzporträts und umfassende Literaturangaben

sexuelle Verklemmtheit zu kanalisieren. Das

spräch mit der Primatologin Barbara Fruth

ergänzen das Buch um einen Nachschlage­

war der Widerspruch dieser Zeit kurz vor den

zeichnet sie eine Gesellschaft, in der die

teil. //

psychoanalytischen Studien eines Sigmund

Frauen auf den oberen Rängen stehen. Das

Freud. Das Verlangen war groß, die Rollen­

ist in Kombination mit Dagny Juels expressio-

klischees noch größer. Wenngleich ­ Dagny

nistischer Literatur ebenso schräg wie schlüs-

Juel selbst keine Heilige war – sie trieb es, so

sig. Geschichten aus Fleisch und Blut, jen-

heißt es, genauso wild wie ihr Ehemann, der

seits einer Mystifizierung, aber auch jenseits

polnische Schriftsteller und Trinker Stanisław

einer schnöden Anklage gegen eine patria-

Dagny Juel, geboren 1867 in der südost­

Przybyszewski –, war ihr Bild in der Gesell-

chal strukturierte Welt.

norwegischen Stadt Kongsvinger, zählt zu den

schaft nicht aus Fleisch und Blut. ­ August

Auch Dagny Juel faszinierte die Natur,

erfolgreichsten Schriftstellerinnen Norwegens.

Strindberg gab ihr den Namen Aspasia, nach

indes eher die dunkle Seite. Die Settings

Aufgewachsen in einem Ärzte-Elternhaus, wur-

der zweiten Frau des Perikles, andere,

­ihrer Kurzgeschichten und vier kurzen Dra-

de ihr künstlerisches Talent früh entdeckt.

schreibt Brandt, nannten sie Eury­dike. Eine

men sind düster, fast bedrohlich. Die Prota-

Sie erhielt Klavierunterricht, gab bereits als

anerkannte Schriftstellerin namens Dagny

gonisten wohnen ihn zugigen Häusern, auf

Jugendliche in Oslo viel beachtete Konzerte

Juel war sie nie.

Gehöften, um die schwarze Raben kreisen;

Anna Opel

Böse Frauen

und ging 1893 für ein Klavierstudium nach

Blumen sehen aus wie „Fieberflecken im Ge-

Berlin. Dort fing sie an zu schreiben, inspi-

sicht eines Kranken“, Menschen glauben sich

riert von der brodelnden Kraft der Berliner

von ihrem eigenen Skelett verfolgt. Hier kün-

Boheme. Während die Werke ihrer männ­ lichen Künstlerfreunde in Vergessenheit gerieten, werden ihre Kurzgeschichten, Gedichte und Dramen bis heute rezipiert. Für ihre Literatur, in der sie, gänzlich untypisch für ihre Zeit, die dunkle Psyche der Frau erkundete,

digt sich an, was der Surrealismus später forDagny Juel: Flügel in Flammen. Gesammelte Werke. Weidle Verlag, Bonn 2019, 176 S., 20 EUR.

erhielt sie zahlreiche Preise, Straßen und

mulierte. Wenngleich ihr Sujet immer wieder die Radikalität der Liebe zwischen den Geschlechtern war, interessierte sich Juel nicht für einen reinen Naturalismus. Die Liebe fand häufig in Dreieckskonstellationen statt. Unglücklich. Schmerzhaft. Oft tödlich. Die duld-

­Kita-Gruppen in Berlin sind nach ihr benannt.

same, aufopferungsvolle Geliebte hatte bei

So hätte es sein können. Doch so war

Was macht man mit einer derart verworrenen

ihr keinen Platz. Auch eine Frau besitzt eine

es nicht. Die Biografie, die die Performerin

und verlorenen Geschichte? Ausgraben – das

schwarze Seele. Beschrieben mit einer Lako-

Anne Tismer an diesem Abend im Oktober

ist das eine. Der Bonner Weidle Verlag hat in

nie, die atemlos macht: „Und so wurde ich

2019 im Literaturhaus Berlin vorträgt, ist

Zusammenarbeit mit Lars Brandt Dagny Juels

sein, er wurde mein, und sie, die zwischen

­reine Fiktion. Oder besser gesagt: reine Re-

gesammelte Werke herausgegeben. „Flügel in

uns stand – brachten wir um.“ //

bellion. Ein kühn vorgetragener Aufstand ge-

Flammen“ lautet der Titel, der leider arg kit-

gen eine missachtete Existenz. Gegen ein

schig klingt. Es sind weder die Flügel noch

Leben, das mit nur 31 Jahren im georgischen

die Flammen, die das Gedicht, dem diese

Tbilissi zu Ende ging durch eine aus Eifer-

Zeile entstammt, zu einer düster-expressio-

sucht abgefeuerte Kugel aus der Pistole eines

nistischen Zeichnung machen, sondern die

dem Teufelskult verfallenen Mannes.

verkohlten Überreste „staubgrauer Schmetterlinge“, die in der Sonne verbrannten. „Was

der Überlieferung vor allem Muse, poetische

ist es“, fragt das Gedicht, „was in der Abend-

Erscheinung, Femme fatale. Die Liste der Be-

stille hämmert?“ Das Beben einer Zeitenwende,

griffe, die die mit 25 Jahren in den Berliner

an deren Paradoxien die Protagonisten schier

Künstlerkreisen aufgeschlagene Schriftstel­

irre wurden. Ein stummer, grimassierender

lerin als reines Nutztier identifizieren, ist

Schrei, für den Dagny Juel in Munch’scher

lang. Im Schwarzen Ferkel, der Kneipe, in der

Expressivität eine Sprache fand.

sich im ausgehenden 19. Jahrhundert all-

Was wäre gewesen, wenn die Norwege-

abendlich die Berliner Hauptstadt-Boheme

rin in einer anderen Zeit, in einer anderen

traf, sei Juel umgeben gewesen von Männern

Gesellschaft gelebt hätte? Diese Frage stellt

mit rabiatem Herrschaftsanspruch, schreibt

sich Anne Tismer – und das ist der andere

der Schriftsteller und Übersetzer Lars Brandt,

Weg, wie mit diesem Werk umzugehen ist –

Gameplay@stage Workshop 27. – 29. Feb. 2020 Yves Regenass, machina eX

www.bundesakademie.de

Wer also war Dagny Juel wirklich? In

Dorte Lena Eilers

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aktuell

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Florian Lutz. Foto Konrad Kästner

Meldungen

/ TdZ Januar 2020  /

Das Grips Theater sei berlinweit das beliebtes-

scheidung folgendermaßen: „Jens Neundorff

te Kinder- und Jugendtheater – das zeige die

von Enzberg ist es gelungen, das Theater Re-

„Zuschauerprognose der Berliner Bühnen für

gensburg in den letzten sieben Jahren überre-

2019“ vom Senat für Kultur und Europa. Au-

gional durch hohe künstlerische Qualität und

ßerdem sprächen diverse Auszeichnungen und

Mut zu positionieren, ohne das Regensburger

Festival-Einladungen für die Weiterbeschäfti-

Publikum aus den Augen zu verlieren, das

gung Harpains.

sich mit stetig steigenden Abonnentenzahlen bedankt.“

■ Nach der vorzeitigen Beendigung des Vertrages des bisherigen Intendanten Kay Wuschek

■ Birgit Simmlers Vertrag als Intendantin der

wurde ein neues künstlerisches Leitungsteam

Luisenburg-Festspiele in Wunsiedel wurde vor-

für das Berliner Theater an der Parkaue be-

zeitig verlängert. Seit 2018 ist Simmler

stimmt. Der seit September 2019 als kom-

Künstlerische Leiterin auf der Luisenburg.

missarischer Intendant eingesetzte Florian

Die Stadt Wunsiedel entschied nun, dass sie

Stiehler und der neue Chefregisseur Thomas

statt nur bis 2021 noch sechs weitere Jahre,

■ Nach der Nichtverlängerung als Opern­

Fiedler werden die kommende Spielzeit ge-

bis 2027, in der Position bleiben soll. Der Er-

intendant in Halle wird Florian Lutz ab der

meinsam mit Dorothea Lübbe (Vermittlung

folg gibt ihr recht: Mit rund 148 000 Zu-

Spielzeit 2021/22 die Leitung des Staatsthea­

und Community) und Jutta Wangemann (Dra-

schauern konnten die Festspiele im letzten

ters Kassel übernehmen. Der 40-jährige ge­

maturgie) gestalten. Das neue Leitungsteam

Jahr wirtschaftlich gestärkt werden.

bür­tige Kölner soll zunächst für fünf Jahre die

will ab sofort am Abbau von Machtmissbrauch

Nachfolge des derzeitigen Intendanten Thomas

und Diskriminierung arbeiten.

■ Der Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen Lutz Hillmann wurde

Bockelmann antreten. An dem Haus sind fünf Sparten zu bespielen: Musiktheater, Schau-

■ Ulrich Mokrusch, bisheriger Intendant des

zum neuen Vorsitzenden des Landesverbands

spiel, Tanz, Konzert und das Junge Staats­

Stadttheaters Bremerhaven, wechselt mit der

Sachsen des Deutschen Bühnenvereins ge-

theater. Während seiner Zeit in Halle hat Lutz

Spielzeit 2021/22 in selber Position an die

wählt. Er löst damit den langjährigen Vorsit-

bisher viel Zuspruch aus der bundesweiten

Städtischen Bühnen Osnabrück. Dort löst er

zenden Christoph Dittrich, Generalintendant

Theaterszene erfahren, den die Hallenser Stadt-

Ralf Waldschmidt ab, der das Theater seit

und Geschäftsführer Städtische Theater Chem-

gesellschaft nicht einstimmig teilen konnte.

2010 leitet. Waldschmidt hatte angekündigt,

nitz GmbH, ab. Hillmann wird eng mit der

Sein Anspruch, das Haus mit zeitgenössi-

während der Sanierungsphase des Osnabrü-

Stellvertretenden Vorsitzenden Lydia Schubert,

schen Inszenierungen zu verjüngen, spaltete

cker Hauses nicht mehr Intendant sein zu

Verwaltungsdirektorin am Theater der Jungen

das Publikum und auch die Theaterleitung.

wollen, und gibt deswegen seinen Posten ab.

Welt in Leipzig, zusammenarbeiten.

Die Sanierung wird somit in Mokruschs Auf-

■ Seit 2017 leitet Philipp Harpain das Grips

gabenbereich fallen. Mokrusch hatte zuletzt

■ Der Geschäftsführende Direktor und stell-

Theater in Berlin. Wie das Theater bekannt

noch seinen Vertrag in Bremerhaven verlän-

vertretende

gab, wurde sein Vertrag jetzt bis mindestens

gern lassen und wird das Haus daher vorzeitig

Darmstadt, Jürgen Pelz, ist im Dezember vom

2026 verlängert. Beschlossen wurde die

verlassen.

Dienst freigestellt worden. Das beschloss das

­Verlängerung vom Mehrheitseigner der Grips

Intendant

des

Staatstheaters

Hessische Ministerium für Wissenschaft und

Theater GmbH, Volker Ludwig, in Absprache

■ Der Vertrag von Jens Neundorff von Enzberg

Kunst, nachdem sich ein massives Defizit in

mit Harpain. Im Vertrag ist eine Option auf

als Intendant des Theaters Regensburg wurde

der Haushaltsführung bemerkbar gemacht

eine weitere Verlängerung enthalten. Laut

vorzeitig bis 2027 verlängert. Beschlossen

hatte, für das Pelz verantwortlich gemacht

Pressemitteilung des Hauses fiel die Entschei-

hat das der Verwaltungsrat des Theaters. Des-

wird. Er selbst bestreitet die Vorwürfe und

dung, weil sich Harpains Ausrichtung „als zu-

sen Vorsitzende, Bürgermeisterin Gertrud

macht Intendant Karsten Wiegand für gestör-

kunftsweisend und tragfähig erwiesen“ habe.

Maltz-Schwarzfischer, begründete die Ent-

te Abläufe am Haus verantwortlich. Der Streit

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aktuell

/ TdZ  Januar 2020  /

ist scheinbar Ergebnis schon jahrelang beste-

ausgezeichnet. Die Regisseurin Andrea Breth

hender Zerwürfnisse am Darmstädter Haus.

wurde mit dem Nestroy-Preis für ihr Lebenswerk geehrt. Die Gewinner*innen der weite-

■ Nach langer Ungewissheit soll das Junge!

ren Preise sind unter folgendem Link aufge-

Theater Braunschweig ab 2022 eine feste

listet: www.nestroypreis.at

Spielstätte bekommen. 4,8 Millionen Euro

TdZ on Tour n 17.01. Buchpremiere Fünfzig. Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970–2020, Schauspielhaus Düsseldorf

werden dafür vom Land Niedersachsen zur

■ Im Dezember wurden die Gewinner*innen

Verfügung gestellt. Nachdem die bisherige

des Stückewettbewerbs der Autorentheater­

Spielstätte überraschend zum Ende 2019 ge-

tage 2020 verkündet. Gewonnen haben Dorian

kündigt worden ist, muss das Junge! Theater ab

Brunz mit „beach house“, Rosa von Praunheim

2020 zunächst auf eine Interimslösung in einer

mit „Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden

Industriehalle ausweichen. Mit dem sogenann­

des Königs“ und Maria Ursprung mit „Schleif-

theaterfestival ausrichten. Die ausgewählten

ten Frankfurter Haus kann das Kinder- und

punkt“. Die Stücke werden am 20. Juni 2020

Gruppen dürfen sich während des Festivals

Jugendtheater ab 2022 eine eigens sanierte

in der „Langen Nacht der Autor_innen“ im

vom 25. bis zum 28. Juni 2020 auf der gro-

und modernisierte Spielstätte beziehen.

Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Die

ßen Bühne des KTB präsentieren. Bewerben

Produktionen der Stücke übernehmen das

dürfen sich ausschließlich Laientheatergrup-

Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

■ Yulia Tsvetkova, russische Theatermacherin

Schauspiel Leipzig (Brunz), das Deutsche

pen aus dem Kanton Bern bis zum 31. Januar

und Aktivistin für LGBTQI+ und Feminismus,

Theater Berlin (von Praunheim) und das

2020. Bis dahin muss auch die Bewerbungs-

ist am 3. Dezember 2019 wegen Verdachts

Schauspielhaus Graz (Ursprung). Die Ge­

inszenierung zur Aufführung gekommen sein.

auf „Verbreitung homosexueller Propaganda“

winner*innen erhalten je 10 000 Euro Auf-

Weitere Informationen zur Ausschreibung un-

verhaftet worden. Grund dafür waren als por-

führungspauschale.

ter: www.stadttheaterbern.ch/konzert-theater/ schauspiel/laientheaterfestival/

nografisch eingestufte Zeichnungen. Die Polizei warf ihr außerdem vor, lesbisch und als

■ Der Ludwig-Mülheims-Theaterpreis ging

Sex-Trainerin aktiv zu sein. Tsvetkova ist auch

2019 an den Dramatiker und Regisseur

■ 50 Jahre lang spielte sie am Wiener Volks-

Leiterin des Jugendtheaters Merak in Komso-

­Armin Petras, der unter dem Pseudonym Fritz

theater. Am 17. November 2019 ist die

molsk am Amur, was zum Anlass genommen

Kater schreibt. Der Preis ist mit 25 000 Euro

Schauspielerin Maria Urban im Alter von 89

wird, ihr Verführung Minderjähriger vorzuwer-

dotiert und würdigt laut Jurybegründung „ei-

Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit ver-

fen. Somit droht ihr eine Haftstrafe von bis zu

nen der produktivsten Geschichtenerzähler

storben. Auf eine 68-jährige Karriere konnte

sechs Jahren. Ein Gerichtsprozess war für den

der vergangenen Jahrzehnte und einen be-

die 1930 geborene Wienerin zurückblicken.

9. Dezember angesetzt. Der Ausgang war bei

harrlichen Sinnsucher, der immer wieder auf

Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie von

Redaktionsschluss noch nicht bekannt.

die großen Fragen des Lebens zusteuert“.

1948 bis 1950 am Max Reinhardt Seminar.

Andrea Breth. Foto Bernd Uhlig

Zeitlebens hielt sie ihrer Heimatstadt die

■ Am 2. Dezember 2019 wurden die Hambur-

Treue und spielte sich zunächst durch die

ger Literaturpreise an insgesamt elf Preis­

Wiener Kellerbühnen, bevor Leon Epp sie

träger*innen vergeben. Einen Preis in der

1955 ans Volkstheater holte. Dort blieb sie

Kategorie „Lyrik, Drama, Experimentelles“

bis 2005. Es folgte ein Engagement am

erhielt Ulrike Syha für ihr Stück „Der öffent­

­Theater in der Josefstadt von 2008 bis 2016.

liche Raum“. Alle Preise sind jeweils mit

In der Produktion „Die Professorin – Tatort

6000 Euro dotiert. Die weiteren Preis­trä­ger*in­

Ölfeld“ hatte sie ihren letzten Fernsehauftritt.

nen sind der Website www.literaturinhamburg.de/literaturpreise.php zu entnehmen. Erratum: In TdZ 10/19 sowie in dem Buch

■ Das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in

„Rot Gelb Blau. Texte zum Theater“ von Mark

der

(KJTZ)

Lammert ist in dem Nachruf „Es gibt Licht-

■ Am 24. November feierte der Theaterpreis

schreibt in Kooperation mit dem Deutschen

dramaturgie“ fälschlicherweise dem Licht­

Nestroy sein 20-jähriges Bestehen und die

Literaturfonds

„Nah

designer Torsten König die Lichtgestaltung

diesjährigen Preisträger*innen bei einer Gala

dran!“ für 2020 aus. Autorinnen und Autoren

für die Inszenierung „Iwanow“ (03/2005)

im Theater an der Wien. Es wurden Preise in

können sich gemeinsam mit Theatern um die

zu­ ­ geordnet worden. Tatsächlich war es der

insgesamt 13 Kategorien vergeben. Den Preis

Förderung einer Stückentwicklung bewerben.

freischaffende Lichtgestalter Henning Streck.

als beste Schauspielerin bekam Steffi Krautz.

Gesucht werden zeitgenössische Stücke, die

Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.

Bester Schauspieler wurde Steven Scharf. Als

sich für Schulanfänger*innen eignen. Bewer-

bester Regisseur wurde Johan Simons ausge-

bungsschluss ist der 1. April 2020. Weitere

zeichnet. Den Preis für das beste Stück er-

Informationen unter: www.kjtz.de

Bundesrepublik das

Deutschland Förderprogramm

hielt Sibylle Berg für „Hass-Triptychon – Wege aus der Krise“. Mit dem Spezialpreis wurde

■ Zum ersten Mal wird das Konzert Theater

Markus Öhrns Produktion „3 Episodes of Life“

Bern (KTB) im nächsten Jahr das KTB-Laien-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

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aktuell

/ TdZ Januar 2020  /

Premieren

Januar 2020

Aachen Theater A. T. Jensen: Adams ­Äpfel (S. Martin, 10.01.); n. L. Strömquist/ I. Jebens: Der Ursprung der Liebe (M. Schneider-Bast, 16.01.) Baden-Baden Theater M. v. Mayenburg: Hamlet (H. Fuhrmann, 18.01.) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater B. Park: Das Deutschland (B. Park, 17.01., UA); K. Küspert: fort schreiten (S. BrollPape, 24.01., UA) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater N. Bremer: Selfies einer Utopie (N. Bremer, 10.01.); n. Gebrüder Grimm: 7 Geißlein (S. John, 19.01.); n. G. Hendrich: Kito und die Tanzfiedel (T. Thomaschke, 26.01.) Berlin Berliner Ensemble R. Bradbury: Fahrenheit 451 (A. Simon, 09.01.); Y. Reza: Drei Mal Leben (A. Breth, 16.01.) Deutsches Theater S. Kane: 4.48 Psychose (U. Rasche, 17.01.); J. Kuttner/T. Kühnel: Hasta la Westler, Baby! (T. Kühnel/ J. Kuttner, 24.01., UA); M. Haushofer: Sophie Rois fährt gegen die Wand im ­ Deutschen Theater (C. Schönborn, 31.01.) Grips Theater J. Strauch/n. M. Rhue: #diewelle2020 (J. Strauch, 15.01.) Volksbühne vengapoise – ibiza sky. Eine Oper (M. Schötz, 15.01., UA); S. Kennedy/ M. Selg: Ultraworld (S. Kennedy, 18.01., UA) Biel / Solothurn TOBS S. Sachs: Das Original (B. Brüesch, 28.01.) Bielefeld Theater M. Günther/L. Kittstein/ B. Mikeska: Requiem (B. Mikeska, 10.01., UA); D. Glukhovsky: Text (D. Yazdkhasti, 24.01., DSE); T. Vinterberg: Die Jagd (M. Heicks, 31.01., DSE) Bonn Kleines Theater Bad Godesberg P. 1 Bremerhaven Stadttheater L. Albaum/D. Hacks: Gespräche im Hause Stein TheaterDerZeit_Kühlraum.indd über Jacobs: Dat Wunder vun San Miguel (G. den abwesenden Herrn Goethe (I. Korff, Fuchs, 11.01.) 02.01.) Theater A. Hilling: Apeiron (L. EnBruchsal Badische Landesbühne H. gels, 24.01.); F. Schiller: Die Räuber (S. Schober: Sonnenstrahl im Kopfsalat (J. Solberg, 31.01.) Bremen Theater F. Wedekind: FrühlingsNahas, 31.01., UA) Celle Schlosstheater B. Stori: Die Große erwachen (A. Zandwijk/T. Bünger, 16.01.)

Darmstadt Staatstheater n. M. Orths: Billy Backe (E. Hannemann, 26.01.); J. Buchan/ A. Hitchcock: Die 39 Stufen (A. Thoms, 31.01.)

Detmold Landestheater L. Vekemans: Momentum (K. Kappenstein, 17.01.)

Dortmund Theater N. Payne: Konstellationen (P. Sanyó, 31.01.) Dresden Staatsschauspiel E. M. Remarque: Im Westen nichts Neues (M. Salehpour, 11.01.) Eggenfelden Theater an der Rott E. Kaufmann: Drei kleine Schweinchen (E. Kaufmann, 05.01., UA); K. Hummel/C. Auer: Der Brandner Kaspar (T. Stammberger, 11.01.) Esslingen Württembergische Landesbühne P. Weiss: Hölderlin (K. Hemmerle, 16.01.) Frankfurt am Main Schauspiel H. Müller: Quartett (M. Lolić, 24.01.); M. Droste/A. Stoß: swop – von • da • hier • her • dort • hin (M. Droste/A. Stoß, 25.01.); F. Schmalz: jedermann (stirbt) (J. Bosse, 31.01., DEA) Freiburg Theater F. Schiller: Maria Stuart (M. Kindervater, 16.01.); n. L. Buñuel: Der Würgeengel (B. Rádóczy, 24.01.) Göttingen Deutsches Theater I. Bauersima: norway. today (B. D. Jöhnk, 15.01.); C. Pellet: Der Vortrag (G. Willert, 24.01.) Graz Schauspielhaus T. Bernhard: Heldenplatz (F. Mayr, 10.01.); W. Sigarew: Schwarze Milch (J. S. Schmieding, 18.01., ÖEA); W. Mouawad: Vögel (S. Lopičić, 31.01.) Halberstadt Nordharzer Städtebundtheater D. Kelly: Unser Lehrer ist ein Troll (S. Kumscheidt, 30.01.) 20.11.2019 12:09:34Halle Neues Theater Matthieu Delaporte/ Erzählung (S. Klösener, 21.01.); R. HutAlexandre d. l. Patellière: Das Abschiedschinson: Mondlicht und Magnolien (F. M. dinner (J. Schall, 24.01.) Gramss, 30.01.); H. Ibsen: Nora oder ein Hamburg Schauspielhaus M. Youssef: Puppenheim (P. Schwesig, 31.01.) Cottbus Staatstheater L. Xun: Das unDschabber (K. Schumacher, 11.01.); A. mögliche Theater, Teil 2: Tagebuch eines Tschechow: Ivanov (K. Beier, 18.01.); n. Verrückten (M. J. Küster, 17.01.) D. Grossmann: Eine Frau flieht vor einer

Mein Kühlraum

von Joël Pommerat Inszenierung: Hüseyin Michael Cirpici Premiere: 15. Februar, Theater Krefeld

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aktuell

/ TdZ  Januar 2020  /

Nachricht (D. D. Pařízek, 24.01.) Thalia Theater A. Behrens: Hereroland. Eine deutsch-namibische

Geschichte

(G.

Grünewald/D. Ndjavera, 19.01., UA); W. Shakespeare: Hamlet (J. Steckel, 23.01.)

Hannover Schauspiel Frl. Wunder AG: Furien des Erinnerns (Frl. Wunder AG, 11.01., UA); F. Schubert/N. Gühlstorff/ AKA:NYX: Weltmeister (N. Gühlstorff/ AKA:NYX, 24.01., UA); P. A. C. d. Beaumarchais: Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit (A. Dömötör, 30.01.) Heilbronn Theater N. Simon: Sonny Boys (J. Kerbel, 11.01.); M. Kenny: Nachtgeknister (N. Buhr, 12.01.); L. Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen (A. Vornam, 18.01.) Innsbruck Tiroler Landestheater M. v. Mayenburg: Stück Plastik (S. Maurer, 11.01., ÖEA); F. Dürrenmatt: Die Physiker (E. Gabriel, 18.01.) Jena Theaterhaus M. Vojacek Koper/H. Commichau: Witch Bitch (hashtagmonike, 29.01.) Kaiserslautern Pfalztheater n. . Sophok­ les/W. Jens: Antigone (Y. Kespohl, 30.01.) Karlsruhe Badisches Staatstheater O. Wilde: Bunbury (P. Karabulut, 12.01.) Kiel Theater W. Mouawad: Vögel (M. Wallner, 17.01.) Klagenfurt Stadttheater F. Schiller: Der Parasit (F. Alder, 09.01.) Köln Schauspiel R. Bolaño: Lumpenroman (A. Tenti, 05.01.); C. Sternheim: Aus dem bürgerlichen Heldenleben (F. Castorf, 17.01.); n. H. Helgason: Eine Frau bei 1000° (M. Kretschmann, 26.01., DEA) Konstanz Theater J. Dardenne: Zwei Tage, eine Nacht (M. Nimz/L. Dardenne, 18.01., UA) Landshut Landestheater Niederbayern B. Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (W. M. Bauer, 17.01.); A. Lind­ gren: Karlsson vom Dach (V. Wolff, 26.01.) Leipzig Schauspiel H. W. Kroesinger/R. Dura: Brennende Erde (H. W. Kroe­singer/R. Dura, 17.01.); M. Chase: Mein Freund Harvey (E. Lübbe, 18.01.) Theater der Jungen Welt T. Fransz: Liebe Grüße ... Oder wohin das Leben fällt (T. Fransz, 11.01., DEA) Linz Landestheater H. El Kurdi: Angstmän (F. Brunner, 12.01.); M. v. Ebner-Eschenbach: Die Totenwacht (S. Ostertag, 26.01., UA)

Lübeck Theater Ö. v. Horváth: Zur schönen Aussicht (F. Harmstorf, 31.01.) Mainz Staatstheater S. v. Kassies/R. Schulkowsky: Das Kind der Seehundfrau (K. Tuschhoff, 14.01.) Mülheim an der Ruhr Theater an der Ruhr Anagoor: Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter (S. Derai, 16.01.) München Kammerspiele 10 Vater Unser (C. Huber, 11.01.); Race Me (M. Ibrahim, 16.01.); B. Brecht: Im Dickicht der Städte (C. Rüping, 25.01.) Residenztheater M. L. Fleißer: Der starke Stamm (J. Hölscher, 23.01.); G. Büchner: Woyzeck (U. Rasche, 31.01.) Münster Wolfgang Borchert Theater n. H. Mann/T. Weidner: Der Untertan (T. Weidner, 16.01.) Neuss Rheinisches Landestheater F. Zeller: Vor dem Entschwinden (T. Gerber, 11.01., DEA); O. Garofalo: Fellini. Ein Traum. (A. Schirmeister, 18.01., UA) Nürnberg Staatstheater W. Winzer: Sex Arbeit (W. Winzer, 23.01., UA); M. Lopez: The Legend of Georgia McBride (C. Brey, 25.01., DSE); P. Löhle: Andi Europäer (T. Lanik, 31.01., UA) Theater Mummpitz Ich werde alles sein... (A. Byrne, 25.01., DEA) Oldenburg Staatstheater B. S. Deigner: Mission Mars (K. Barz, 10.01.) Osnabrück Theater J. Genet: Die Zofen (F. Braun, 25.01.) Paderborn Theater – Westfälische Kammerspiele M. Can: Die Farbe des Morgens an der Front (18.01., DSE); F. Schiller: Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen (T. Egloff, 25.01.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater T. Lanoye/K. Mann: Mephisto (17.01. A. Moses) Potsdam Hans Otto Theater D. v. Klaveren: Mozarts Schwester (M. Paulovics, 16.01.); M. Priebe/N. Driemeyer/n. J. Becker: Wir sind auch nur ein Volk (M. Priebe, 17.01.) Regensburg Theater A. Akhtar: The Who and the What (D. Wahl, 18.01.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­ destheater und Sinfonieorchester F. García Lorca: Bluthochzeit (A. Holtsch, 25.01.) Reutlingen Theater Die Tonne M. Miensopust: Richard III – great again (M. Miensopust, 25.01.)

Rostock Volkstheater M. Frayn: Der nack-

Wilhelmshaven Landesbühne

te Wahnsinn (A. Merz-Raykov, 11.01.)

sachsen Nord E. Palmetshofer/n. G.

Rudolstadt Theater W. Shakespeare: Hamlet (A. Quintana, 25.01.) Saarbrücken Saarländisches Staatstheater O. Wenzel: 1 Yottabyte Leben (M. Mühlschlegel, 17.01., UA); n. H. v. Kleist/M. Luxinger: Kohlhaas – Ein Mann für jede Krise (B. Bruinier, 18.01., UA) Schwerin Mecklenburgisches Staats­ theater n. W. Shakespeare: Das bisschen Totschlag bringt dich doch nicht um (S. Hornung, 03.01.); K. Mann/T. Lanoye: Mephisto (A. Moses, 17.01.); P. Chesnot: Vier linke Hännen (M. Gorr, 21.01.) St. Gallen Theater n. F. Kafka/A. Augustin: Der Prozess (M. Joss/J. Knecht, 10.01.) Stendal Theater der Altmark A. Tschechow: Tschechow-Variationen (U. Cyran, 11.01.) Stralsund Theater Vorpommern J. d. Prez/E. Idle: Monty Python‘s Spamalot (P. Rein, 11.01.) Stuttgart Schauspielbühnen A. Preuß/M. Hirschle/F. Wempner: Koi Auskomma mit dem Einkomma (A. Preuß, 17.01.); n. J. W. v. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (M. Schulze, 31.01.) Tübingen Landestheater (LTT) Frauen­ theater Purpur: Ende gut? (U. Famers, 10.01.); L. Vekemans: Judas (T. Weckherlin, 18.01.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle E. Palmetshofer/n. G. Haupt­ mann: Vor Sonnenaufgang (S. Rottkamp, 23.01.) Wien brut E. B. Tambwe: Carré Noir (E. B. Tambwe, 08.01., ÖEA); C. Szalay /M. Nava­ridas/A. Deutinger: Octopus (M. Navari­das/A. Deutinger/C. Szalay, 08.01.); Sööt/Zeyringer: Angry Hour (T. Sööt/ D. Zeyringer, 16.01.); Theater im Bahnhof: Frauenturnen (M. Klengel, 22.01., ÖEA) Burgtheater Dead Center: Die Traumdeutung von Sigmund Freud (B. Kidd/B. Moukarzel, 16.01., UA); H. Müller: Die Hamletmaschine (O. Frljić, 17.01.); n. D. Wnendt/ T. Müller: Kriegerin (A. Sczilinski, 24.01., ÖEA) Kosmos Theater E. Jelinek: Das Werk (C. Bossard, 08.01.) Wiesbaden Hessisches Staatstheater C. Bechtel/D. Gieselmann: Casino (C. Bechtel, 19.01., UA)

Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (J. Ar-

Nieder-

nold, 11.01.); B. Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder (S. Bunge, 25.01.); Paradeiser Productions: Schöne neue Welt auf dem wundersamen Planeten Wawisi (R. Schultz/K. Niggemann, 26.01.)

Zürich Schauspielhaus A. Rand: Der Streik (Atlas wirft die Welt ab) (N. Stemann, 12.01.); M. Frisch: Der Mensch erscheint

im

Holozän

(A.

Giesche,

18.01.); Moved by the Motion: Composition I (W. Tsang, 25.01.) FESTIVALS

Hamburg Thalia Theater Lessingtage (18.01–09.02)

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

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tdz on tour

/ TdZ Januar 2020  /

Seinen 80. Geburtstag nahm Volker Pfüller zum Anlass, auf sein Schaffen zurück­ zublicken. Die über die Jahre angesammelte Vielfalt seiner Arbeiten, die von Plakatkunst und Buchgestaltung über eigene Texte bis hin zu Bühnen- und Kostüm­ bildern reichen, wird in seinem Buch B ­ ilderlust dokumentiert. Beiträge zum Buch lieferten u. a. Friedrich Dieckmann und Stephan Dörschel. Letzterer war, neben Claus Caesar, Christian Grashof und Philipp Stölzl, auch dabei, als Pfüller am 18. November sein Buch im ­Deutschen Theater in Berlin präsentierte. Dagmar Manzel be­gleitete den Abend musikalisch.

v.l.n.r.: Philipp Stölzl, Volker Pfüller, Christian Grashof und Stephan Dörschel. Foto Theater der Zeit

Der Schauspieler Burghart Klaußner machte auf seiner Lesereise am 1. Dezember Sta­ tion in Düsseldorf. Im Foyer des Schauspielhauses stellte er zusammen mit Thomas Irmer die in Zusammenarbeit entstandene Publikation KLAUSSNER vor. In Gesprächen blicken die beiden zurück auf Klaußners jahrzehntelange Karriere. Diese begann in Berlin an der Schaubühne am Halleschen Ufer und am Schiller-Theater ­Anfang der siebziger Jahre und führte weiter zu allen wich­ tigen deutschsprachigen Theatern sowie zum Film. Anlass für v.l.n.r.: Thomas Irmer, Burghart Klaußner und Wilfried Schulz (Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses). Foto Düsseldorfer Schauspielhaus

den Rückblick bot der 70. Geburtstag des bis heute erfolg­ reichen Schauspielers.

Neun Essays zum Theater und seinen Bühnenräumen legt Mark Lammert in seinem Buch Rot Gelb Blau vor. Der Bühnenbildner, Maler, Zeichner und Grafiker reflektiert darin nicht nur über Ästhetiken in Theater, Film und Malerei, sondern auch über sich selbst. Dabei schildert er eindrücklich seine Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Heiner Müller, Dimiter Gotscheff, Jean Jourdheuil und Valery Tscheplanowa. Am 5. Dezember präsentierte er seine Textsammlung zu­ sam­ men mit den Schauspielerinnen Almut Zilcher und Valery Tschepla­nowa in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert.

v.l.n.r.: Mark Lammert, Ginka Tscholakowa (Regisseurin), Almut Zilcher, Valery Tscheplanowa und TdZ-Verlagsleiter Harald Müller. Foto fkhuhn2019

v.l.n.r.: David Roesner, die Theatermusiker Lars Wittershagen und Carolina Bigge, Kammerspiele-Performer Damian Rebgetz und Kammerspiele-Dramaturg Tarun Kade. Foto Theater der Zeit

In seinem Buch Theatermusik beschäftigt sich der Theaterwissenschaftler David ­Roesner mit einem in der heutigen Reflexion über Theater häufig ignorierten Phänomen. Er lässt knapp zwanzig Künstlerinnen und Künstler aus der Theaterszene zu Wort kommen, die über ihre Praxis und diverse Ästhetiken, die durch Musik auf der Bühne erreicht werden, berichten. Es wird deutlich, was für eine wichtige Rolle Theatermusik heute spielt. Im Anschluss an die Aufführung „Nirvanas Last“ am 21. November stellte ­Roesner sein Buch in den Münchner Kammerspielen vor.


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Kristof van Baarle, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Antwerpen Michael Bartsch, freier Journalist und Autor, Dresden Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Natalie Fingerhut, freie Autorin, Hamburg Jens Fischer, Journalist, Bremen Maximilian Huschke, freier Autor, Leipzig Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Renate Klett, freie Autorin, Berlin Hans-Thies Lehmann, Theaterwissenschaftler, Athen Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Ralf Mohn, freier Autor, Berlin Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Anna Opel, freie Autorin, Berlin David Roesner, Theaterwissenschaftler, München Katrin Röggla, Schriftstellerin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Charlotte De Somviele, freie Autorin, Antwerpen Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/01

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IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller

Vorschau

Neustart: Zürich will sich mit seinen zwei neuen Theaterleitungen modern und weltoffen zeigen. Der Trend: kollektive Intendanz. Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg dürfen sich mit ihrem Antritt am Schauspielhaus Zürich gleich auch über Subventionskürzungen ärgern. Trotzdem soll einigermaßen radikal ein neues Publikum generiert werden. Dem Männerbund steht am Theater Neumarkt das komplett weiblich besetzte Leitungskollektiv aus Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert gegenüber. Zum Auftakt veröffentlichten sie einen „Incomplete Guide for Unconditional Theatre“. Bedingungslos soll also Theater gemacht werden, das sich auch aus dem Elfenbeinturm ­heraustraut. Klingt vielversprechend. Wir prüfen, inwiefern die Versprechen eingelöst werden.

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner, Claudia Jürgens, Eva Merkel (Korrektur), Martin Müller (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 1, Januar 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 03.12.2019 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Künstlerinsert: Wenn es um das Theater geht, wird selten über das Kostüm geschrieben. Ein großes Versäumnis. Denn es gibt wunderbare Künstlerinnen und Künstler in dem Metier. Allen ­voran die brasilianisch-deutsche Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki. Seit Jahren verbindet sich ihre Ästhetik mit den viel diskutierten Regiehandschriften von Regisseuren wie Sebastian Hartmann und Frank Castorf. Sie kann groß und opulent – mit exzentrischen Körpererweiterungen, die ihre brasilianische Herkunft nicht verleugnen –, aber auch leisere Töne liegen ihr, wie in Hartmanns jüngster Inszenierung „Lear / Die Politiker“ am Deutschen Theater Berlin. Wir stellen ihre Arbeiten in unserem Künstlerinsert vor. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Februar 2020.

v.l.n.r.: Hayat Erdoğan, Julia Reichert und Tine Milz. Foto Flavio Karrer

AUTOREN Januar 2020

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Kostüme von Adriana Braga Peretzki zu „Faust“ in der Inszenierung von Frank Castorf. Foto Thomas Aurin

/ TdZ  Januar 2020  /


Was macht das Theater, Afsane Ehsandar? Afsane Ehsandar, Sie sind vor fünf Jahren aus

Nicht ganz offen ist sehr diplomatisch ausgedrückt.

dem Iran nach Deutschland geflüchtet und ar-

Autoren, die sich nicht gerade zufällig mit ak-

beiten hier in Berlin als Autorin. Kürzlich haben

tuellen politischen Konflikten beschäftigen,

Sie, anlässlich der Inszenierung des iranischen

haben wenig Möglichkeiten, gespielt zu wer-

Regisseurs Amir Reza Koohestani am Deutschen

den. Es sei denn, sie erfüllen die Erwartungen

Theater in Berlin, einen Essay über Heiner

der Marketingabteilung. Ich gehe regelmäßig

­Müllers „Philoktet“ verfasst. Sie ziehen darin

ins Theater und lese viele Stücke. Die Insze-

Parallelen zwischen Philoktet, der von Odysseus

nierungen von Sebastian Hartmann und Angé-

nach Lemnos verbannt wurde, und dem poli­

lica Liddell faszinieren mich sehr. Viele Stücke

tischen Exil heutzutage. Inwiefern ist Ihnen

aber, die aufgeführt werden oder gar Preise

­Philoktet nah?

bekommen, empfinde ich als oberflächlich

Die Geschichte der Ausgeschlossenen und

und hohl, die Figuren als klischiert. Trotzdem

ihre Schicksale stehen im Zentrum meiner

sind sie erfolgreich – weil es darin um Populis-

Arbeit. Wie fühlt es sich an, wenn man keine

ten oder AfD-Anhänger geht. Ich denke immer

Zugehörigkeit zu einer Partei, einer Gruppe,

an die DDR oder den Iran. Autoren, die Kritik

einem Land, einer Familie empfinden kann? Wie geht man damit um, wenn man entwurzelt und heimatlos ist? Es fasziniert mich, wie vielschichtig Heiner Müller die Figur des Philoktet angelegt hat. Das Stück bietet zahlreiche Ebenen der Interpretation an. Ein solcher Autor fehlt unserem gegenwärtigen Theater! Sie selbst können derzeit, ähnlich wie Philoktet, nicht mehr in den Iran zurück. Ein Theaterstück von Ihnen hatte damals die Zensur auf den Plan gerufen. Worum ging es in dem Stück? Um Homosexualität. Dabei hatte ich das Thema auf der dritten, vierten Ebene versteckt. Letztlich aber hat mich jemand ver­ raten. Es ist richtig: Ich kann nicht mehr zurück, weil es zu gefährlich ist. Allerdings

am System geübt haben, wurden mit Gefäng„Erzählt mir nur eine gute Geschichte, eine schreckliche, unglaubliche, eine Scheiß­ geschichte.“ Diese Worte eines Schleppers stammen aus Afsane Ehsandars Stück „Holy Shit“, könnten aber genauso gut einer Dramaturgieabteilung entsprungen sein. Seit ihrer Flucht nach Berlin schreibt die 1981 im Iran geborene Autorin gegen diese Aufforderung, spektakuläre Fluchtgeschichten zu liefern, an. Wir sprachen mit ihr über das Leben im Exil, das deutsche Stadttheatersystem und das Thema der politischen Verbannung in Heiner Müllers „Philoktet“ (siehe dazu ihr Essay auf www.theaterderzeit.de/2020/01). Foto Arno Declair

nis oder einem mehrjährigen Arbeitsverbot bestraft. Hier ist es das System der Erwartungen, das dich, wenn du ihm nicht folgst, am Arbeiten hindert. Manchmal denke ich sogar, dass ein Arbeitsverbot besser wäre, weil man zumindest Hoffnung hat, nach fünf oder zehn Jahren wieder arbeiten zu können. Hier habe ich keine Hoffnung. Muss ich warten? Oder soll ich aufgeben? Ich habe acht Stücke geschrieben und hatte auch durchaus Kontakt mit Verlagen. Ein Lektor fragte mich, warum das Stück keinen Ort habe. Er sagte, es sei besser, wenn es in Deutschland spielte. Dann aber müsse ich die Folter rauswerfen, weil in deutschen Gefängnissen ja nicht gefoltert wird. Die wollten ein ganz anderes Stück!

ringe ich damit auch nicht wie Philoktet. Der An welchem Stück sitzen Sie gerade?

Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin, ist nicht meine Heimat. Auch hier ist

In welchem Zusammenhang?

Es heißt „Entjungfert wurde ich von diesem Ver-

nicht meine Heimat. Was ich mit Philoktet

Ich lese beispielsweise gerade ein Theater-

hängnis“. Es spielt in einem Fantasieland. Im

gemein habe, sind die schlechten Erinnerun-

stück von Dieudonné Niangouna. In seinem

Zentrum stehen drei Geschwister, ein Bruder

gen an die eigene Vergangenheit.

Stück „Nennt mich Muhammad Ali“ verwen-

und zwei Schwestern, sowie ein Regierungs­

det er das Wort „Neger“. Hier aber, in öffent-

beamter, der nur Befehle befolgt. Der Bruder

Wo liegt Ihre Heimat? Im Schreiben?

lichen Lesungen, wird das Wort ausgespart.

wurde auf einer Demonstration von Regierungs-

Nirgendwo. Heimat hat keine Bedeutung für

Aber er selbst ist schwarz und hat es doch

kräften erschossen. Die eine Schwester befin-

mich. Eine Ursache könnte darin liegen, dass

genauso geschrieben. Wer dazu eine andere

det sich im Exil, ist Aktivistin, wurde zuvor in

ich bereits mit 17 Jahren aus meiner Familie

Meinung hat, wird abgestempelt. Aus Angst

ihrer Heimat drei Jahre lang im Gefängnis gefol-

ausgeschlossen wurde. Nun ist mir das zum

vor Ablehnung übernehmen wir die für uns

tert. Die andere Schwester ist total unpolitisch,

zweiten Mal passiert. Ich wurde aus meinem

vorgeschriebenen Rollen. Moralvorstellungen

lebt noch in der Heimat und muss nun die Be-

Land ausgeschlossen. Vielleicht habe ich

aber können sich von heute auf morgen än-

erdigung ihres Bruders organisieren. Die Regie-

mich daran gewöhnt, meine Identität unab-

dern – und immer schließen wir uns gänzlich

rung, in deren Augen der Bruder ein Verräter ist,

hängig von einem Ort und der Meinung ande-

unkritisch der Mehrheit an?

stellt Bedingungen: stumme Beisetzung ohne Trauerfeier, keine Todesanzeige. Die Aktivisten-

rer auszuformulieren. Heiner Müller sagte, Kunst stehe jenseits aller Mo-

Schwester hingegen erwartet Revanche für den

Unabhängigkeit kann positiv gesehen auch den

ral. Wie schwer war es für Sie bislang, im deutsch-

gewaltsamen Tod ihres Bruders.

Eigensinn stärken.

sprachigen Stadttheatersystem Fuß zu fassen?

Ja, aber auch in Deutschland habe ich damit

Sehr schwer. Aber das gilt nicht nur für Auto-

Fast eine moderne Antigone.

Probleme. Stichwort politische Korrektheit,

ren im Exil. Für alle Autoren ist das deutsch-

Genau! //

die unsere Freiheit des Denkens bedroht.

sprachige Theatersystem nicht ganz offen.

Die Fragen stellte Dorte Lena Eilers.


Deutschlands einzige Theaterbuchhandlung

Fotos: o. links, u. rechts Viviane Wild, o. rechts, u. links Holger Herschel

Einar & Bert Theaterbuchhandlung & Café Winsstraße 72 / Heinrich-Roller-Str. 21 D-10405 Berlin Mo – Fr 11.00 – 18.00 Uhr Sa 12.00 – 18.00 Uhr Tram 02 – Metzer Straße (250 m) Tram 04 – Am Friedrichshain (250 m) S+U Alexanderplatz (1,3 km)

Besuchen Sie unsere Büchertische: Berliner Ensemble Haus der Berliner Festspiele Thalia Theater Hamburg Bestellungen sind möglich per: Telefon +49 (0)30 4435 285-11 E-Mail info@einar-und-bert.de Web www.einar-und-bert.de


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2020 ZUELAURUGUAYECUADORKUBAVENEZUELAURUGU ENCHILEVENEZUELAARGENTINIEN SPANIE NKUBAVENEZUELA RASILIENCHILE N ECUADORCHILEKOLUMBIENKUBAVENE

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