TdZ 1/2024 – Überschreibungen des Kanons

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Theater der Zeit Überschreibungen des Kanons Mit

Ed Atkins Lukas Bärfuss Sivan Ben Yishai Pınar Karabulut Burghart Klaußner Thomas Oberender

Januar 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Antike und Gegenwart „Ajax“ von Thomas Freyer


Showcase

Beat Le Mot

The Top Five Letters of Liaisons Dangereuses THEATER

11.–14.1. / HAU2 Premiere ➞ www.hebbel-am-ufer.de


Foto Thomas Aurin, 2023

Theater der Zeit Editorial

„Antigone“ von Roland Schimmelpfennig nach Sophokles in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Wir leben schon lange in einer Zeit mit Bestenlisten. Die wichtigsten Romane des ZwanzigstenJahrhunderts, die besten hundert Filme, was man in Europa unbedingt gesehen haben muss oder die sieben schönsten Fußballhymnen aller Zeiten. Solche Listen können über Rangwerte in dem jeweiligen Bereich informieren, sind immer Anregung, ihre Unvollständigkeit zu diskutieren, – oder dürfen in einem höheren Sinn von Kultur als schlichte Konsumentenberatung eingeschätzt werden. In der Welt des Theaters sind solche Bestenlisten weniger bekannt. Zwar veröffentlicht der Deutsche Bühnenverein jährlich eine Aufstellung der am meisten gespielten Stücke nach einem rein statistischen Modell, aber das interessiert nur Zahlenfüchse oder Leute, die darin aktuelle Trends ab­lesen wollen, die für die Arbeit der Theater nicht viel bedeuten. Interessanter ist da schon die Frage nach dem Kanon von Stücken im Theater. Gibt es ihn überhaupt? Und falls ja, wer oder was hat ihn wie festgelegt und wie verändert er sich? Das waren einige Überlegungen, als die Redaktion anlässlich des Symposions „Vergiftetes Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ an den Münchner Kammerspielen den Schwerpunkt dieses Heftes in längeren Diskussionen entwickelte.

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Klar ist, das Theater bezieht sich immer wieder in den verschiedensten Techniken auf kanonische Stücke, orientiert sich aber nicht an einem als solchen aufgefassten Kanon, egal welcher Art und Bildung. Daher haben wir die drei Hauptbeiträge über den unterschiedlichen Umgang mit kanonischen Stücken – Pınar Karabulut von Seiten der Regie, Angelika Andrzejewski über Vermittlung von Klassikern in der Theaterpädagogik und Sivan Bin Yishai im Gespräch mit Lukas Bärfuss – mit „Überschreibungen des Kanons“ überschrieben. Leider ist die fantastische Performance von Sivan Ben Yishai aus ihrer Ibsen-Überschreibung „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ beim Münchner Symposion in gedruckter Form nicht darstellbar. Sie möge als Video- oder Audio-Datei des Auftritts dieser Autorin, ja, kanonisch werden. Wer will, kann dem Thema der Überschreibungen und Neufassungen – das muss unscharf bleiben – in diesem Heft noch anderswo folgen. Peter Helling bilanziert Karin Beiers grandioses Hamburger Antiken-Projekt und mit Thomas Freyers „Ajax“ im Stückabdruck wird gleichfalls ein antiker Klassiker für die Gegenwart neu geschrieben. Aktuelle Kritiken und Berichte wie immer unter tdz.de. Wir wünschen allen Leser:innen von Theater der Zeit ein gutes Jahr 2024! T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Sivan Ben Yishai während ihrer „Nora“-Lecture Performance bei dem Symposion „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ an den Münchner Kammerspielen

12 Symposion Den Kanon überschreiben Ein Gespräch zwischen Sivan Ben Yishai und Lukas Bärfuss bei dem Symposion „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ an den Münchner Kammerspielen

16 Gespräch Die Kraft des Widerstands Pınar Karabulut im Gespräch über Klassiker, Originaltexte und Überschreibungen Mit Stefan Keim

19 Essay Ein Spielplan ist kein Lehrplan Im Deutschen Nationaltheater Weimar redet niemand von Kanon und auf Pflichtlektüren kann die Theaterpädagogin ohnehin kaum bauen Von Michael Helbing Oliver Simon als Ajax im gleichnamigen Stück von Thomas Freyer in der Regie von Jan Gehler am Staatsschauspiel Dresden

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Foto links oben Judtih Buss, unten Sebastian Hoppe, rechts Sebastian Hoppe

Thema Überschreibungen des Kanons


Inhalt 1/ 2024

Akteure 26 Kunstinsert Gegenzauber Der Videokünstler Ed Atkins und sein Stück „Sorcerer“ Von Thomas Oberender

Diskurs & Analyse 52 Serie Schlaglichter #01

Stück

54 Großinszenierung Triumph des Theaters

30 Stückgespräch Türöffner für die großen Themen

Von Basil Zecchinels

Eine Bilanz von Karin Beiers Antikenzyklus „Anthropolis I–V“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg Von Peter Helling

Thomas Freyer über sein Stück „Ajax“ im Gespräch mit Thomas Irmer

32 Stück „Ajax“ Von Thomas Freyer

Report 58 Heilbronn Die Anmut des Tanzroboters Das Science & Theatre Festival des Theaters Heilbronn und des Wissenschaftszentrum experimenta zeigt die Vielfalt des digitalen Theaters Von Elisabeth Maier

62 Bruchsal Wandertheater mit politischem Tiefgang Der neue Intendant Wolf E. Rahlfs spannt an der Badischen Landesbühne Bruchsal den Bogen von draller Komödienkunst bis zur Dramatik des Erinnerns Von Elisabeth Maier

64 Graz Dramaturgietheater der Frauen Erste Eindrücke vom Schauspielhaus Graz unter der neuen Direktion von Andrea Vilter Von Hermann Götz

Magazin 4 Bericht Neubeginn zur Blauen Stunde Von Michael Helbing

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Nathalie Eckstein, Elisabeth Maier, Jens Fischer und Matthias Schmidt

8 Kolumne Weltoffenheit oder Entgleisung

Von Burghart Klaußner

68 Vorabdruck Thomas Wieck: Wir waren die Müller-Spieler

66 Ungarn Magisch und anders

70 Bücher Crip-queere Kompliz:innenschaft in Theater und Wissenschaft

Das Budapester dunaPart-Festival der Freien Szene präsentiert eine neue Generation Ungarns Von Thomas Irmer

72 Was macht das Theater, Andrea Krauledat?

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: ixypsilonzett – Jahrbuch für Kinder- und Jugend­theater 2024

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Von Theresa Schütz

Im Gespräch mit Stefan Keim

1 Editorial 68 Verlags-Ankündigungen 71 Autor:innen & Impressum 71 Vorschau

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Neubeginn zur Blauen Stunde Würzburg hat seine Spielstätte für Schauspiel nach jahrelanger Sanierung wiedereröffnet Von Michael Helbing

Oben: Hausansicht neues Kleines Haus Unten: Treppe im Foyer

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„Was ist das hier?“, fragt eine Frau im ersten, dem etwas jüngeren von zwei Stücken Roland Schimmelpfennigs. „Ist das eine alte Fabrik? Könnte auch eine Art Theater sein. (…) Diese Wände, die hohe Decke, sind das Filmscheinwerfer?“ Im zweiten Stück reden die Figuren dann über ein, über das Haus: „Holz und Glas und Beton, riesige Fenster, die Sonne, die Terrasse … (…) Moderne, klare Architektur.“ Und so beschreibt dieser Doppelabend gleichsam auch das Spannungsfeld, mit dem man es am Würzburger Mainfranken Theater zu tun hat. Mit mehr als vier Jahren Verspätung eröffnete dieses jetzt seinen neuen Kopfbau aus Holz und Glas und Beton, mit riesigen Fenstern vor Foyers, einem Restaurant und nicht zuletzt dem Ballettsaal im zweiten Stock, während sich über den dritten und vierten fortan das Kleine Haus als weite offene Bühne vor dreihundertdreißig Plätzen erstreckt (im Keller bietet eine

Probebühne als Nebenspielstätte hundertfünfundzwanzig Zuschauern Platz). Dies ist in erster Linie die neue Heimstatt des Schauspiels, das hier zum ersten Advent in die Saison startete: Ankunft. Endlich. Seit August 2018 wurde gebaut, zwei Jahre später wollte man ein- und zugleich aus dem großen, 1966 eröffneten Haus dahinter ausziehen, damit dieses wiederum zwei Jahre lang saniert werden kann. Zumindest der Auszug verlief planmäßig. Derweil stiegen die Kosten: alles in allem von fünfundsechzig auf derzeit 103 Millionen Euro. Das Hamburger Büro PFP des Architekten Jörg Friedrich erlebte 2022 die Pleite. Eine Pandemie hatte zuvor zusätzlich auf die Bremse getreten. Großes Musiktheater und Sinfoniekonzerte werden sich nun mindestens noch bis 2027 in einer großen Fabrikhalle vor den Toren der Stadt ereignen. Nach diversen anderen Ausweichquartieren war dort zuletzt, obwohl dafür reichlich ungeeignet, auch das Schauspiel aufgetreten, als dessen Stimmung und Motivation schon so gut wie am Boden lagen, einige Abgänge inklusive. Schon deshalb präsentierten Intendant Markus Trabusch als Regisseur und Schauspieldirektorin Barbara Bily als Dramaturgin ihr Ensemble jetzt gleichmal in Gänze: insgesamt 16 Schauspieler in zwei Stücken, fünf Neuzugänge sowie zwei Gäste darunter. Zumindest dieser Plan ist jedenfalls vollständig aufgegangen. Sie überzeugen durchweg als Ensemble und machen große Lust auf sich. Insofern also: ein vielversprechender Neubeginn. Dabei setzte sich am festlichen Eröffnungsabend die Situation in den Foyers auf der Bühne fort. Menschen stehen in beiden Teilen mit Gläsern in Händen herum: nicht ganz so viele wie draußen, aber fast doppelt so viele, wie von Roland Schimmelpfennig empfohlen und von Nora Schlocker 2021 am Residenztheater München besetzt. Vier Damen und drei Herren schlägt der Autor für sein „Ensemblestück“ mit vierzig Figuren vor, das als Auftrag in der Coronapandemie entstand und dergleichen auch andeutet – eine Frau im roten Kleid niest häufig und verkühlt sich obendrein, eine andere aber, in Würzburg im Friesennerz, erliegt dem Virus. Derweil umschreibt der Titel die Korona: „Der Kreis um die Sonne“. Das spielt auf einer Party in einer großen Wohnung, ein Loft vielleicht, wo so gut wie niemand den anderen kennt. Hier feiert(e) ein Querschnitt

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Fotos links Tanja Schmischa/Maifranken Theater Würzburg, rechts Nik Schölzel/Maifranken Theater Würzburg

Magazin Bericht


Magazin Bericht der Gesellschaft. „Zu voll. Zu eng“, heißt es gleich zu Beginn. „Das Gedränge, man bekommt kaum Luft.“ Und dennoch überall Vereinzelung. Man ist gemeinsam einsam. Die Party findet statt und ist doch längst vorüber. Sie wechselt mit der Poesie rhythmischer Wiederholungen zwischen Präsens und Präteritum, Handlung und Erzählung. Direkte Rede doppelt sich mit Zitaten daraus. Es ist und es war zugleich. Da kommt etwas an sein Ende, nach welchem aber längst nicht alles vorbei ist. Diese Party bedeutet einer langen Nacht Reise in einen neuen Tag, im direkten wie übertragenen Sinne. Das spricht von Untergang und Auferstehung, Endzeitstimmung und Neubeginn, Sterben und Weiterleben. Es handelt mehr von Lebens- als Todesängsten, vor allem aber von Zeit: wie sie vergeht, obwohl sie wie stille steht. Schimmelpfennig vermerkt lauter kurze und auch längere Pausen darin. Trabusch inszeniert sie alle weg, so wie später das lange Schweigen, von dem in „Der Riss durch die Welt“ dann eben nur noch die Rede ist, während davon als Theatererfahrung keine Rede sein kann. Beide Stücke bleiben im Modus der reinen Textverarbeitung stecken. Mit Stille und Zwischenräumen, die Spielanlässe bedeuten könnten, kann Trabusch wohl nichts anfangen. Er führt ausschließlich mit dem Kopf Regie und verkennt dabei das Unterhaltungspotenzial gerade in „Der Kreis um die Sonne“. Schimmelpfennig imaginiert dazu im Programmheft-Gespräch eine denkbare Drei-Stunden-Fassung. Ganz so lange muss das vielleicht nicht gehen, länger als diese eine Stunde aber schon. Nur, weil Trabusch mehr auf Zeit spielt als mit ihr, bringt er bequem zwei Stücke in diesem einen Abend unter. Beide Male arbeitet er viel mit Rampe und lässt Erzählungen jedenfalls oft, zu oft direkt ans Publikum richten. Das sorgt insbesondere im ersten Teil für Eintönigkeit;

Ein Kopfbau aus Holz und Glas und Beton, mit riesigen Fenstern, im dritten und vierten Stock das Kleine Haus als weite offene Bühne vor dreihundertdreißig Plätzen. Theater der Zeit 1 / 2024

„Der Kreis um die Sonne/Der Riss durch die Welt“, die Eröffnungsproduktion am Kleinen Haus. Ein Roland Schimmelpfennig-Doppelabend in der Regie von Markus Trabusch

Stimmungswechsel finden ohnehin allenfalls in der Beleuchtung statt, deren Grundstimmung gleichwohl einer Blauen Stunde folgt. In beiden Stücken bricht Glas – hier versehentlich einmal mehrfach, dort mutwillig mehrfach eines –, und splittern Beziehungen. Außerdem: Statusspiele mit sozialen Scheren im Kopf. „Noch bist du unten“, sagt hier ein Imker vor dem Ruin zum Kellner, der das Tablett über die Köpfe stemmt, „aber irgendwann bist du vielleicht mal ganz oben!“ Und dort heißt es dann: „Der Blick von oben ist immer anders als der Blick von unten!“ Es ist jener aus, nun ja, Toms „Hütte“: eine Villa in den Bergen sowie im Funkloch, wohin eine komplex veranlagte Künstlerin mit ihrem einfach gestrickten Bettgenossen aus der Stadt hinaufpilgert. Sie sucht einen Mäzen, beide überheben sich moralisch als „Sklaven“ aus dem „Ghetto“ über die stinkreichen Gastgeber. Junges Pärchen besucht älteres: eine Konstellation wie in Albees „Virginia Woolf“Angst, erweitert um eine Hausangestellte als kommentierende Satellitenfigur (Isabella Szendzielorz). Der zynische Hausvater und die egozentrische Künstlerin liefern die Hauptrollen (Tom Klenk und Laura Storz), seine Gattin und ihr Freund den Sidekick (Karoline Marie Reinke und Cedric von Borries). Zumindest in Gedanken kommt’s zum Partnertausch. Man redet und redet und hat sich nichts zu sagen.

Das sind, laut Untertitel, „170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung“, die munter ihre Schleifen dreht, derweil Szenenbeschreibungen und Sprechtext verschwimmen und/oder sich doppeln. Ein beredtes Stück über Sprachlosigkeit zwischen Geschlechtern und Herkünften, in dem sich wiederum Präteritum und Präsens vereinen. Das funktioniert in Würzburg wie bei Albee – und in dieser Hinsicht prächtig auf Anschlüsse hin gebaut – derweil es sich im Kern zwischen den Zeilen ereignen müsste. Für diese Aufführung befinden sich dort aber lauter blinde Flecken. Kühn genug gleichwohl, ein neues Haus derart zu eröffnen: mit neuer Dramatik voller Absturz- und Untergangsszenarien, nicht aber ohne jede Hoffnung. Das setzte sich am Tag nach dieser in der nächsten Premiere gewissermaßen fort, als Michael Endes im Advent auf deutschen Spielplänen omnipräsentes Umwelt-Märchen „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ folgte, in Anna Stiepanis auch musikalisch munterer Inszenierung voll turbulentem Budenzauber auf einer Drehscheibe und um sie herum. Würzburg übt sich mit diesem Auftakt, die eigene Perspektive ebenso betreffend wie unser aller, trotz allem in Zuversicht. Mit der Wiedereröffnung des gesamten Hauses wird jedenfalls, wohl erst nach Regensburg 2025, der Aufstieg zum dann sechsten Staatstheater Bayerns verbunden sein. T

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Magazin Kritiken

Deutsches Theater Berlin:

Der subkutane Strom „Männerphantasien“ auf Grundlage von Klaus Theweleits gleichnamigem Buch mit neuen Texten von Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch – Regie Theresa Thomasberger, Bühne und Kostüme Mirjam Schaal, Musik Oskar Mayböck

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as Patriarchat ist wieder auf dem Vormarsch. Oder anders: Es hat nie aufgehört zu marschieren. Die Verbindung zwischen Männlichkeiten und Faschismus, die Klaus Theweleit in seinen zum Kultbuch avancierten „Männerphantasien“ darlegte, ist ein Text, den man aufgrund seiner Länge von tausendzweihundert Seiten und angesichts seiner Dichte kaum auf einer Bühne erwartet hätte. Noch weniger: in einer komödiantischen Anlage. Doch der Abend beginnt sofort mit der Wunschmaschine à la Deleuze und Guattari im unverkennbaren Theweleit-Sound, als Caner Sunar aus dem Publikum aufsteht und erklärt, dass der Faschismus nicht eine Frage des Systems ist, sondern der Faschismus sich als eine ständig präsente Form der Produktion des Realen darstelle. Mit der performativen Geste, den Abend aus dem Publikum heraus zu beginnen, steht man schon knietief in Theweleits psychoanalytischem Begriffsnetz. Und wichtiger, dass Sunar aus dem Publikum aufsteht, zeigt: Die Frage nach einer Aktualität, einem autoritären Backlash in Form einer politisierten Männlichkeit, ist eine, die mitten unter uns ist. Susanne Kaiser zeigt 2020 in ihrem Buch „Politische Männlichkeiten“, wie

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Die Bühnenräume in einer verstörenden Vielfalt der Bilder: „Nathan“ von Nuran David Calis in eigener Regie am Nationaltheater Mannheim

Nationaltheater Mannheim:

Die Wunden des Populismus „Nathan“ von Nuran David Calis – frei nach Motiven von Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ (UA) – Regie Nuran David Calis, Bühne Irina Schicketanz, Kostüme Anna Sünkel, Video Karnik Gregorian, Rap-Texte Toni L.

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eitgeist spiegeln die Worte des HiphopKünstlers Toni L. aus Heidelberg. Doch der Künstler geht viel tiefer. „Wer kennt die Wahrheit? Gewiss hat jeder seine eigene. Nur der Antisemit und der Rassist haben keine einzige.“ Der Mann mit der Schiebermütze hat in der Region eine riesige Fangemeinde. Auf großen Bildschirmen berührt der Rapper mit seinen Texten für Vielfalt und ein friedliches Miteinander das Publikum. In Zeiten des Kriegs im Nahen Osten ist Lessings großes Drama der Toleranz das Stück der Stunde. Denn auch in der deutschen Gesellschaft sind jetzt die Risse deutlicher zu spüren denn je. Rassismus frisst sich wie ein Krebsgeschwür in die Köpfe der Menschen. Gerade vor diesem Hintergrund der Krisen und Kriege verspricht Calis’ Ansatz spannendes Zeittheater. Seine „Nathan“-Überschreibung verortet der Regisseur nun in der Großstadt Berlin. Da lebt der erfolgreiche Anwalt Nathan Grossmann und fädelt seine Geschäfte ein. Boris Koneczny zeichnet ein differenziertes Bild seiner Figur. Bei ihm ist der großmütige Jude, der die Religionen zum Dialog verführt, kein Übermensch. Knallhart verfolgt der Jurist und Vorsitzende der jüdischen Gemeinde seine wirtschaftlichen Ziele. Dass er Geschäfte mit dem deutsch-türkischen Geschäftsmann Salatin Denktaş macht, der nach einem Brandanschlag auf Nathans Haus ins Visier des Staatsschutzes gerät, passt da ins Bild. Überzeugend feiern Ismail Deniz und Koneczny ihre Freundschaft. Die hat in Zeiten globaler wirtschaftlicher Verflechtungen nicht viel Romantisches. Dass zwischen dem Moslem und dem Juden der interreligiöse Dialog stimmt, zeigen die Schauspieler stark und klug. Calis’ Bühnenräume sind von einer verstörenden Vielfalt der Bilder geprägt. Auf den Bildschirmen, mit denen die Bühnenbildnerin Irina Schicketanz das Schlafzimmer der Familie Grossmann, die von unnekannten Attentätern verbrannte Hausfassade und die Schaltzentrale des Staatsschutzes umrahmt, flimmern dokumentarische Bilder der Glaubenskriege. Da setzt der Videokünstler Karnik Gregorian auf starke, emotionalisierende Effekte. Doch zu sehr verheddert sich Nuran David Calis in solcher Gier nach Aktualität. Dass gerade der Rapper Toni L. mit seinen Texten Lessings Botschaft von Toleranz am nächsten kommt, verweist auf eine Schwäche dieser Nathan-Überschreibung. „Der populistische Ton, die schärfste Munition“ – Worte schlagen Wunden. // Elisabeth Maier

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Fotos links oben Jasmin Schuller, unten Maximilian Borchardt, rechts oben Jörg Landsberg, unten Sebastian Hoppe

Steve Katona in „Männerphantasien“ auf Grundlage von Klaus Theweleits gleichnamigem Buch mit neuen Texten von Svenja Viola Bungarten, Ivana Sokola und Gerhild Steinbuch am Deutschen Theater Berlin

ein sich im Internet ein autoritärer Backlash einer neuen Männlichkeit formiert, wie ein Netz aus Incels, Identitären und Fundamentalisten mobilisiert, und welche Formen von Gewalt daraus folgen.. Mit Theweleit gesprochen, steht damit auch die Frage nach den Kontinuitätslinien, nach den Strömen, gegen die sich der „soldatische Mann“ bei Theweleit aufrichtet, aus Angst, „überflutet“ zu werden, im Raum. Er richtet sich auf auch gegen das Flüssige, gegen das – psychoanalytisch gesprochen – Weibliche. Um zumindest wenige Teile von Klaus Theweleits anspielungsreichen, komplexen Text auf die Bühne zu bringen, findet Regisseurin Theresa Thomasberger verschiedene Formen. Am überzeugendsten: Svenja Liesau grillt zum Ende des Abends als ihre Figur einer männlichen Stereotype Jens, feuert feinste Dad-Jokes ab und erklärt die Theorie der Schwarz-Weiß-Roten Fahne des Deutsches Reiches als eine Farbkonstellation, in der jede Farbe einem Trieb des soldatisches Mannes entspricht. Mit der Behauptung, es wären die eigenen Gedanken, die im derart performativen Widerspruch zur Figur des Jens stehen, hat Liesau alle Lacher des Abends auf ihrer Seite. // Nathalie Eckstein


Magazin Kritiken

Die Uraufführung von Patty Kim Hamiltons „Schmerz Camp“ am Theater Bremen in der Regie von Christiane Pohle in einem anspielungsreichen Bühnenbild von Anton von Bredow

Theater Bremen:

Die persönliche Schmerzfigur „Schmerz Camp“ von Patty Kim ­Hamilton (UA) – Regie Christiane Pohle, Bühne Anton von Bredow, Kostüme und Video Anna-Sofie ­Lugmeier und Laura Weissenberger

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n angespanntem Entspannungsbemühen sind sieben Frauen auf Liegestühle drapiert, haben Masken über die Augen gezogen und lauschen dahingeorgelten Beruhigungsklängen. Eine Wand aus Steinbrockenimitaten deutet auf Billigurlaub hin, ein Drahtgitter auf Gefängnis und das Parkidylle-Panorama auf ein Zauberberg-Sanatorium. Auch Assoziationen zu Horrorfilm­kliniken erwachen, denn ein lebenssaft- oder menstruationsrot aus dem Wasserhahn des rückwärtigen Bades gespeister Bach trennt das aufwändig anspielungsreiche Bühnenbild (Anton von Bredow) in ein Areal für Patientinnen und eines für Bedienstete. Patty Kim Hamilton, derzeit Hausautorin des ATT Ateliers am DT Berlin, lenkt mit der Uraufführung ihres Auftragswerks am Theater Bremen in ein „Schmerz Camp“ für Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden. Die Autorin selbst lebte an solchen Heil-, Linderungs- oder pseudomedizinischen Schabernack-Orten, um von der Migräne erlöst zu werden, die sie vier Jahre lang gepeinigt hat. Aus den dabei mitgehörten Gesprächen der Leidensgenossinnen kreierte sie pointierte Dialoge für ein fiktives Dokumentartheater und fasste das, was sie laut Verhaltensanweisungen zu befolgen und in schier endlosen Fragebögen zu antworten hatte, in Gesängen des Bürokratiestrebertums zusammen. Einerseits kämpft Hamilton mit

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ihrem Text um Aufmerksamkeit für die Ängste, Sehnsüchte, Beschwerden der Schmerzpatientinnen, will Sensibilität und Empathie für ihre zermürbenden Empfindungen gewinnen und gegen das Vorurteil des Simulantentums vorgehen – denn leider ist Schmerz ja objektiv nicht messbar. Andererseits kritisiert die Autorin erfahrungslose Ärzte, wissenschaftliches Unwissen und einen zynischen Tonfall im Gesundheitssystem. Die erste Zielrichtung des Stücks scheint Regisseurin Christian Pohle kaum, die zweite etwas mehr zu interessieren. Die in Hamiltons Stück auftauchenden Pflegekräfte, Therapeuten, Wohlfühlschwätzer und Ärzte holt Pohle nicht auf die Bühne, auch der chorische Gleichklang ihrer Statements ist großenteils gestrichen. Alle Nichtbetroffenen tönen meist nur körperlos anonym aus einem Lautsprecher. Als sanfte Einpeitscher oder manipulative Einflüsterer klingen ihre mit Floskeln gefütterten Sprechakte wie die einer KI. Ein gleichgeschaltetes, maximal murrendes, nie aufbegehrendes Verhalten scheint sie zu überwachen, damit die Krankenkassen weiterzahlen. Einen wirkungsmächtigen Zugang zu den kompetent einfühlsamen, aufklärerischen und medizinkritischen Anliegen der Vorlage hat Pohle leider nicht gefunden. Im Gegenteil. Die ausgestellte Ödnis des Klinikalltags kommt zumeist nur in entsprechend dahinplätschernden Szenen daher. // Jens Fischer

„Woyzeck“ von Georg Büchner in der Regie von Lily Sykes am Staatsschauspiel Dresden

Staatstheater Dresden:

Feuerwerk ohne vordergründige Idee „Woyzeck“ von Georg Büchner – Regie Lily Sykes, Bühne Jelena Nagorni, Kostüme Lene Schwind, Musik Jan Schöwer, Videodesign Alexander du Prel

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m Anfang ist ein Narr. „Es war einmal“, spricht er, und sein Märchen nimmt kein gutes Ende: „alle tot“. Dann turteln Woyzeck und die Marie, seine Geliebte, miteinander. Sie steht auf Umbringen, sagt sie. Er steht nicht so drauf. Der Dresdner „Woyzeck“ geht es spielerisch an, er setzt auf junges Publikum. Büchners Fragment ist Abiturstoff in Sachsen in den nächsten beiden Jahren, und das Kleine Haus voller Schüler, die sich sachdienliche Hinweise erwarten.Was sie bekommen in der Inszenierung von Hausregisseurin Lily Sykes, ist ein ganzes Arsenal an Ideen. Der Abend stellt aus, was Theater alles kann. Der muskulöse Tambourmajor, Maries Affäre, kann Kunststücke am Seil vorführen, Marie und Woyzeck bespucken einander mit Kunstblut. Die Doktorin liebt D ­ oktorspiele (aber nur die, die sie will). Große Tücher werden wehend über die Bühne getragen, auf dass unter ihnen gut munkeln sei. Nebel wabert, an den Seitenwänden hängende Schlagzeug-Becken donnern wie von Geisterhand. HinterbühnenKlappen öffnen und schließen sich hydraulisch. Das alles läuft wunderbar, die neunzig Minuten vergehen wie im Fluge. Sagt man das noch? Ja, Sprache ist wichtig in diesem „Woyzeck“, denn Lily Sykes übernimmt zwar Büchners Soziolekte, fügt dem Ganzen aber – sparsam dosiert – heutigen Slang hinzu. Jugendsprache Nihan Kirmanoğlu als Marie ist ebenso jugendlich angelegt, gut möglich, dass sie Dinge sagt und zeigt, die ihr nicht fremd sind. Schluss mit Opfer, das ist eine Marie 2.0, und sicher ist das eine Botschaft des Abends. Immer mal wieder fällt sie ins Türkische, um Woyzeck die Richtung vorzugeben. Das alles wirkt ein bisschen überdreht, nicht unwahrscheinlich, dass die Abiturienten es als credible verstanden haben, denn es wurde mehr gelacht als üblicherweise im „Woyzeck“. Die Inszenierung selbst aber spielt zu keiner Zeit, sie hat keinen Ort, zugespitzt könnte man sagen: Sie hat keine vordergründige Idee. Sie ist von allem etwas und wirkt ein bisschen sommertheatermäßig zusammengewürfelt. Man kann durchaus viel mitnehmen auf den Weg nach Hause. Nur eben keine Interpretation, die man im Abitur mit der eigenen abgleichen könnte. // Matthias Schmidt

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Weltoffenheit oder Entgleisung Von Burghart Klaußner

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ch dusche morgens kalt. Meine Mutter bestand darauf. Für die Haut solls gut sein und baden kann man so garantiert vier Wochen früher als andere. Aber es gibt ­ einen Nachteil. Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, ­erfuhr ich, dass in den Lagern Menschen von Ärzten so lange unter die kalte Dusche ­gestellt wurden, bis sie starben. Es waren Juden. Als ich das las, war ich fassungslos über so viel Grausamkeit und Sadismus. Ich konnte nicht anders, als mir das leiblich vorzustellen und duschte, wenn überhaupt, nur noch ganz kurz. Mit Mutter wagte ich nicht darüber zu sprechen, aus Angst vor Tatsachen, die dann ans Licht kommen könnten. Ich wusste ja, woher sie ihre Ansichten hatte. Ärzte waren wohl oft die schlimmsten und ihre Experimente mit Menschen so grausam wie die Gaskammern. Die Gräuel von SS-Männern Kindern und Säuglingen gegenüber erträgt man nicht. Und nun erfahren wir, wie all dieses Leid, all diese Untaten von einem Teil der Jüngeren beiseitegeschoben werden, verführt zu einer Umdichtung von Geschichte, hin zu bequemen Hassanlässen, ahistorisch verkürzt und wild in ein Konglomerat gegossen aus neuformuliertem Rassismus gegen Weiße und was der ideologischen Verblendungen mehr sind. Dienen soll das dem Kampf gegen den angeblich überall, und nicht nur in Israel, ­lauernden Kolonialismus. Die Vorgänge des 13. November an meiner alten Schauspielschule, der Universität der Künste in Berlin, wo eine Meute von schwarzgekleideten Maskierten, unter Anleitung einiger einschlägig bekannter Judenfeinde, eine Art Performance veranstaltete und nicht nur den Rektor, sondern etliche jüdische Studierende niederbrüllte, belästigte und teilweise verfolgte, zeigen, wie nah uns eine Vergangenheit rückt, deren mörderische Auswüchse meine Generation am selben Ort vor über fünfzig Jahren glaubte erstickt zu haben. Wer etwa den BDS unterstützt, und sei es unter dem Vorwand der „Weltoffenheit“, sollte sich diesen Verein, der zu Boykott und Hetze aufruft, noch einmal genau ansehen und dem Beispiel Barbara Mundels und der Münchner Kammerspiele folgend, die Unter-

schrift unter die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit zurückziehen. Allen voran der Deutsche Bühnenverein. Wie all das aktuell Antisemitismus hervorruft und befeuert, bestürzt mich zutiefst. In Ost und West gab es nach 1945 zumindest ein Axiom: Judenhass wird nie mehr geduldet. Und was sollte das überhaupt sein? Ein Jude? Völlig willkürlich wurden sie nach jeweils genehmen Gesetzen bestimmt. Ihnen wurde vor allem auferlegt, schuldig zu sein an allen Übeln dieser Welt. Um Verschwörungstheorien zu begründen. Antisemiten sind ja Verwirrte, die das Objekt ihres Hasses gar nicht kennen oder bezeichnen könnten. Sie zerrütten damit aber unser aller Zusammenleben, unser Gemeinwesen, und letztlich auch die Demokratie. Denn diese gründet auf Rationalismus und Aufklärung, nicht auf Verschwörung und Hass. Und jetzt ist, wir hören von Aktivisten überall, dieses Axiom gefallen und nun auch hier, wie auf so vielen den Populisten anheimgefallenen Gebieten, der Verstand verloren. Da hilft wohl nicht nur Aufklärung, Geschichtsunterricht oder Nachschulung. Wer kein Mitleid mit den Geiseln, mit den Opfern unter Israelis und Palästinensern hat, dem fehlt Empathie, Mitgefühl und Einfühlung. Etwas, das Theaterleute nur zu gut kennen. Allzu lang war sie als Technik vergessen. Wir sollten sie dringend wieder gebrauchen. Nicht nur im Theater. Und nicht nur als Technik. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schriftstellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

Theater der Zeit 1 / 2024

Foto links Thomas Rabsch, Fotos rechts Casino Zug Maurice Korbel, Theater Konstanz Ilja Mess, Ballhaus Naunynstraße Thabo Thindi, Kaserne Basel David Egger, Sophiensaele Berlin Amanda Tipton

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Marie, Aarau

Leo Kall (Ingo Biermann) testet das Wahrheits­serum Kallocain an seiner Frau Linda (Sarah Siri Lee König)

Theater Konstanz

Junge Marie mit Philippe Heule – Wir wollen dazugehören und Styles kopieren, doch weder Mitläufer:innen noch Outsider sein. Wir wollen influencen, ohne gehatet zu werden, und edgy sein, ohne aufzufallen. Mit Karaoke und Chor, Drag und Naturalismus, Performance und Kammerspiel bringen fünf junge Spieler:innen Kategorien ins Wanken. theatermarie.ch Ab 13.02.

Was wäre, wenn selbst die Gedanken lesbar wären? Swen Lasse Awe adaptiert „Kallocain“ von Karin Boye für die Bühne. Ihr 1940 erschienener Roman wird in einem Atemzug mit Huxleys „Schöne neue Welt“ und Orwells „1984“ genannt. theaterkonstanz.de 19.01. (Deutschsprachige Erstaufführung) Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Berlin Das neue Buch „Wir waren die Müller-Spieler“ von Thomas Wieck untersucht, wie in den siebziger Jahren in Ost-Berlin das festgefügte und außengelenkte System „DDR-Theater“ von innen heraus, durch die Arbeit Heiner Müllers und einer kleinen Gruppe von Theaterleuten in seinen ideologischen und ästhetischen Grundfesten erschüttert wurde. 09.01. um 19 Uhr (Buchpremiere)

«A scheene Leich» mit Gerhart Polt

Theater Casino Zug Ein traurig-komischer, vor Musik berstender Abend mit dem Kabarettisten Gerhart Polt, über unseren unmöglichen Umgang mit dem Ende und das Geschäft mit dem Sterben. Mit Ruedi Häusermann inszeniert ein Meister der subtilen Komik, der Gegenstände zum Sprechen, Wände zum Tanzen bringt, und der selbst Zwischentönen den grossen Auftritt baut. Im Februar ist die Inszenierung der Münchner Kammerspiele im Theater Casino Zug zu sehen. theatercasino.ch 23.02. und 24.02.

„I want to belong (and sing a song)“

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Das Festival BLACK BERLIN BLACK feiert seine sechste Ausgabe unter dem Titel „United Polyphonic“. Theaterproduktionen, Panels, eine Ausstellung, Gastspiele, Konzerte bestimmen das Programm bis in den Februar.

Sophiensæle Berlin Vom 05.–20.01. kehren die Tanztage Berlin für ihre 33. Ausgabe zurück. In zehn Performances hinterfragt das Newcomer-Festival konventionelle Narrative über Tanz und erzählt Geschichten von Exil und Freiheit neu. Kaserne Basel

Die Volker Pfüller-Ausstellung läuft vom 26.01. bis 09.03

Eine Therapiegruppe à la ChatGPT, Alexa, Siri und Google hinterfragt ihre diskriminierenden Algorithmen: «Decoding Bias» von Theresa Reiwer. Infos und Tickets: kaserne-basel.ch 30.01. bis 02.02.

Galerie Teterow (Landkreis Rostock) Volker Pfüllers Arbeiten für das Theater als Bühnen- und Kostümbildner sind legendär. Die Galerie Teterow präsentiert jetzt mit der Ausstellung „BILDERLUST“ einen Meister der Plakatkunst und der Zeichnung, Figurinen, Plakate, Szenenskizzen, Plastiken und Malerei. 26.01. um 19.30 Uhr (Vernissage)

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Konzert: 3Women, 20. Januar 2024

„Decoding Bias“ von Theresa Reiwer

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Foto Krafft Angerer

Thema Überschreibungen des Kanons

„Der Prozess“ von Franz Kafka in der Regie von Pınar Karabulut am Schauspiel Köln

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„Die Meisterwerke der Vergangenheit sind für die Vergangenheit gut: Für uns sind sie es nicht“, schrieb der französische Theaterumstürzer Antonin Artaud 1933. Einen Kanon der Meisterwerke gibt es in der Praxis des deutschsprachigen Theaters schon lange nicht mehr. Dennoch kanonische Stücke, die im Zusammenspiel von Regie und Dramaturgie als Werk nicht nur neu interpretiert, sondern auch anders strukturiert und geformt werden. Dazu als jüngeres Phänomen „Überschreibungen“ von Stücken durch Autor:innen als Vorlage für Inszenierungen in einem nochmals erweiterten kritischen Diskurs über das Ursprungsstück in dessen Entstehungskontext und seinem mitreißenden Materialwert für die Gegenwart. Sivan Ben Yishai und Lukas Bärfuss diskutieren an den Münchner Kammerspielen über Ben Yishais „Nora“-Überschreibung in größeren Zusammenhängen, Pınar Karabulut spricht im Interview mit TdZ-Redakteur Stefan Keim über verschiedene Ansätze zu Klassiker-Inszenierungen und Michael Helbing mit der Weimarer Theaterpäda­ gogin Angelika Andrzejewski darüber, wie der Theaterkanon von Abiturprüfungen geprägt wird. Meisterwerke hin oder her, Gegenwart ist Pflicht.

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Thema Überschreibungen des Kanons

Den Kanon überschreiben Ein Gespräch zwischen Sivan Ben Yishai und Lukas Bärfuss bei dem Symposion „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ an den Münchner Kammerspielen

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Lukas Bärfuss: Im Theater kennen wir Überschreibungen, Weiterschreibungen, Adaptionen, Variationen bekannter Stoffe und Stücke. Das ist eine alte Theaterpraxis. Sophokles hat seine Stücke nicht aus dem Nichts geschöpft, sondern aus dem Mythos, den er weitergesponnen hat. Kleist hat es gemacht, als er „Amphitryon“ von Molière interpretierte, der sich wiederum auf den antiken Plautus und auf einen Zeitgenossen namens Jean Rotrou bezog. So ging es mit „Amphitryon“ weiter bis ins zwanzigste Jahrhundert, bis zu Jean Giraudoux und Peter Hacks.

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Foto Judith Buss

Sivan Ben Yishai und Lukas Bärfuss im Gespräch. Bühnenbild vom Stück „Im Menschen muss alles herrlich sein“


Thema Überschreibungen des Kanons Sivan Ben Yishai: Wie die meisten von uns, aber vielleicht ist das gar nicht mehr so, hatte ich in der Schule die erste Begegnung mit Ibsen. Jahre später und schon lange in Deutschland riefen mich die Regisseurin Felicitas Brucker und der Dramaturg ­Tobias Schuster von den Münchner Kammerspielen an und fragten, ob ich etwas zu „Nora“ schreiben würde. Am Anfang war ich nicht so sicher, dass ich etwas dazu beitragen könnte. Normalerweise schreibe ich sowieso keine Figuren und speziell zu Nora hatte ich nie eine gute Beziehung, ich mochte sie gar nicht. LB: Warum mochtest du Nora nicht? SBY: Schon mit 14 oder 15 hat mich das heterosexuelle Drama und die Emanzipationsgeschichte der bürgerlichen Frau kaum interessiert. Ich nicht von Noras Konflikt mit Torvald berührt.

Sivan Ben Yishai fügt sich ein in diese Praxis und schreibt ebenfalls ein Stück weiter, einen Klassiker des Bürgerlichen Realismus, „Nora oder Ein Puppenheim“ von Henrik Ibsen, uraufgeführt 1879. Bei Sivan ist es nun „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“. Die Uraufführung in der Über­ setzung von Gerhild Steinbuch erwarten wir im Januar am Staatstheater Hannover. Liebe Sivan, es ist erstaunlich, was du für dein Stück allein aus Ibsens Figurenverzeichnis und den Regieanweisungen machst. Aber warum Ibsen? Wie kamst du zu Ibsen, oder wie kam Ibsen zu dir?

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LB: Wollte Ibsen, dass du sie magst? Nora ist eine widersprüchliche Figur, unehrlich, opportunistisch. Sie verlässt Torvald, als er für sie nicht länger attraktiv ist. SBY: Interessant. Bereits damals merkte ich den Unterschied im Verhältnis zwischen dem happy couple, Nora und Torvald Helmer, und Noras älterer, alleinstehender, armer Freundin Christine, die zu ihnen zu Besuch kommt. Jetzt ist sie die Erzählerin in meiner Version von „Nora“, die Hauptperspektive, würde ich sagen, die sogenannte Autorin des ­Stückes. Ich sah das ganze Stück durch die Augen dieser Frau und tatsächlich sitzt in meinem neuen Stück Christine vor Noras Haus, vor diesem Herrinnenhaus, vor diesem Konstrukt. Sie ist nicht Teil dieses Hauses und möchte es auch gar nicht sein. Sie schaut auf die Kompostierung des Hauses. Wie das Haus sich darin zusammensetzt. LB: Was dem Stück entspricht. Christine bringt die Geschichte, das Drama in Gang. Das Stück gehört zu den kanonischen Werken des europäischen Theaters und zum festen deutschen Repertoire. Ibsens Beziehung zum deutschen Theater war eng. Und auch problematisch. In unseren Tagen hat sich diese enge Beziehung zwischen Ibsen und dem Publikum, dem

Thea­ter gelöst. Sein Monument bröckelt. Wir verlieren diesen Kanon. Brauchst du diese Referenz, damit man dein Stück versteht? Werden Zuschauer in hundert Jahren dein Stück noch verstehen, wenn sie von Ibsen kaum mehr etwas wissen? SBY: Er hatte Angst, dass seine Stücke nach hundert Jahren neu geschrieben werden müssen. LB: Du nicht? SBY: Da sind wir bei dem Punkt: Du bist klassisches „Kanon-Material“, ich nicht. Ich bin eine weibliche, englischschreibende Immigrantin im deutschen Theater. Mein Stück „Wounds Are Forever“ hat den Untertitel: „Selbstporträt als Nationaldichterin“. Die „Nationaldichterin“ war natürlich ein Witz. Denn die Autorin dieses Stücks kann keine Nationaldichterin sein. Nicht in dem Land, das sie verlassen hat, nicht in dem Land, in dem sie angekommen ist. Das macht die Frage zwischen Kunst und Nation auf, auch die zwischen Dichtung und Nationalismus, und auch die nach der Beziehung zwischen Autor:in und Leser:innenschaft oder Zuschauer:innen. Wir kennen die Verbindung zwischen „Autor“ und „Autorität“. Aber ein Text, wie mir mein guter Freund und Dramaturg Tobias Herzberg immer wieder sagt, existiert, indem er interpretiert wird, durch Meinungen, Kommentare, Versionen und Umschreibungen. Das ist die Grundlage für Dramatiker:innen: Wir werden kommentiert, inszeniert, in Strichfassungen gebracht, interpretiert – von dem Moment an, da unser Text veröffentlicht ist. Wir „existieren“ erst durch die Verdrehung und Interpretation unserer Stücke. Ich komme aus einer verwundeten Region, Israel/Palästina, ich wohne in einem Land, in dem die extreme Rechte mehr als fünfundzwanzig Prozent ausmacht. Angesichts dessen frage ich mich oft, was Autor:innen überhaupt sind. Was

Sivan Ben Yishai: Ich bin eine weibliche, englischschrei­bende Immigrantin im deutschen Theater. 13


Thema Überschreibungen des Kanons viele Interpretationen dieser Figur gehabt, von ihrem Kampf und ihrer Minderwertigkeit, ihren möglichen Vergangenheiten und Zukünfte, und ich sage: vielleicht lassen wir das mal beiseite und schauen uns die Realität an, die sie geschaffen hat. Wofür sie steht, wofür sie gekämpft hat, und wichtiger noch, wofür nicht. So habe ich das Kindermädchen, das Hausmädchen und den Paketboten entdeckt, die unsere, naja, Feministin bedienen. Durch diese Figuren, die während der Aufführung fast nur backstage bleiben und auf ihren Zwei-Zeilen-Auftritt für den Mindestlohn warten, habe ich die Fragen von Klasse, Feminismus und weißem Feminismus aufgegriffen. Auch durch deren Augen habe ich auf Nora geschaut. Ja, und da sieht’s natürlich nicht so toll aus.

ist die Rolle der Dichter, in Vorkriegszeiten, in Nachkriegszeiten? Im Krieg? Und in welcher Zeit sind wir jetzt gerade? Ich habe keine Antworten. Aber vielleicht die Vorstellung, dass man mit einem Stück die Welt im Geiste des Aktivismus verändern könnte, auch wenn man das dann immer wiederholt, was etwas von Konsumismus und Produktorientiertem hat. Wir wissen nie, was einen Wandel auslöst. In diesem Sinn sind die Autoren und Regisseure, die unsere Arbeiten neuschreiben, ein horizontales Network von Entwicklung und Wandel, in dem ich das Privileg habe, ein Teil davon zu sein. Vielleicht hätte ich Nora nicht als eine Karikatur einer weißen Karen zeigen sollen, vielleicht sollte ich ihr mehr Raum geben? Aber dann sage ich mir, sorry, sie hat schon genug Raum, eine andere Autorin würde andere Schichten und Geschichten hinzufügen. Mit einem solchen Gewebe können wir dann eine veränderte Landschaft schaffen. Die uns selbst verändert. Das sind die Sachen, die ich mich gerade in dieser Zeit frage. Autor:innenschaft ist Kommentieren. LB: Du labelst Nora als weiße privilegierte Frau. Privilegiert ist sie nur für eine kurze, geschichtliche Phase. Bereits 1977 schrieb Elfriede Jelinek ihre Adaption, eine Fortsetzung, – „Was geschah, nachdem Nora

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ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft“. Ein pessimistisches Stück, ihre Nora erlebt die gleichen Probleme wie hundert Jahre zuvor. Wiederum vierzig Jahre sagst du: Nora, deine Emanzipation ist vorbei, geh zurück! SBY: Ich sage: Deine Emanzipation, Nora, ist nur möglich, wenn du sie dir leisten kannst, das ist vielleicht der Punkt. Das korrespondiert natürlich mit den vielen Noras der Vergangenheit. Wir haben so

LB: An wen richtet sich dein Stück? Du brauchst ein gebildetes Publikum, eines, das Bezüge herstellt. Und von diesen Bezügen gibt es unzählige. Hier in München zum Beispiel, in den Kammerspielen, auf dieser Bühne, wurde Ibsens Stück zum ersten Mal mit dem ursprünglichen Schluss aufgeführt. In den Inszenierungen davor wurde von den Behörden zum „Schutz der Familie“ verlangt, dass Nora bei Torvald bleibt … SBY: … Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Fotos Judith Buss

Sivan Ben Yishai während ihrer „Nora“-Lecture Performance

Moderation von Lukas Bärfuss und Olivia Ebert, Dramaturgin an den Münchner Kammerspielen

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Lukas Bärfuss: Du labelst Nora als weiße privilegierte Frau. Privilegiert ist sie nur für eine kurze, geschichtliche Phase. Bereits 1977 schrieb Elfriede Jelinek ihre Adaption.

LB: Richtet sich dein Stück an ein Münchner, an ein deutsches Publikum oder sprichst du die universelle Menschheit an? SBY: Du verwendest das Wort „universell“ in einer post-Kanon-Diskussion? Es handelt sich um eine Fragmentierung der „universellen Idee“, die ja immer zu einer bestimmten Stimme, einer bestimmten Perspektive, einem bestimmten Körper gehört. Hier geht es um die Fragmentierung des Herren- und Herrinnenhauses. Wir sind im Theater, im politischen Hier und Jetzt. Im naiven Hier und Jetzt. In diesem Theatersaal erleben wir eine Spannung von Tradition und Erbe mit Innovation und Imagination. Wir sind im absoluten Hier und Jetzt, unser Geist dreht sich ins Rückwärts und schaut in die Vergangenheit, unser Körper bewegt sich indes in die Zukunft. In diesem Kontext beziehe ich mich auf die Vergangenheit und untersuche sie, als Pathologin einer Leiche, um herauszufinden, wer wir sind, und damit einen Schatten auf die Zukunft zu werfen. Wir sind das Medium des Hier und Jetzt, und rein körperlich geht es darum, in der Gegenwart, in diesem Moment genau den richtigen Satz zum Ausdruck zu bringen. Bis er dann wieder verblasst und in die Vergangenheit gerät, die wir mit Blick auf die Zukunft herumtragen. In diesem Kontext habe ich „Nora“ geschrieben. Nicht unbedingt nur für ein deutsches Publikum, obwohl ich im deutschsprachigen Raum arbeite und mich mit den Fragen dieses Landes und dieser Gesellschaft beschäftige. Im Fall von „Nora“ stehen sie nicht im Mittelpunkt. LB: Die Frage, an wen wir mit unseren Werken richten, bleibt offen, aber die Idee, dass ein Kunstwerk einen Menschen in seiner Menschlichkeit und nicht in seiner kulturellen Identität anspricht, würde ich niemals verwerfen.

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass die Werke sich nicht nur an das präsente Publikum, sondern auch an die Abwesenden richtet. Also an jene, die nicht kommen können, weil sie durch die kulturellen Dinge keinen Einlass erhalten, weil die Tickets zu teuer sind, weil die Institution sich nicht für die Subalternen interessiert. Zu den Abwesenden gehören auch die Toten und die noch nicht Geborenen, die Generationen, die kommen und unsere Texte lesen werden. LB: Aber was nimmst du persönlich mit aus deiner Arbeit an „Nora“ mit für die Zukunft? Wirst du dich noch einmal auf ein Stück aus dem bürgerlichen Zeitalter beziehen – oder vielleicht auf eins der alten Griechen? SBY: Nun, nach der Beendigung von „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ werde ich ein Sabbatical von ein oder zwei Jahren einlegen. Diese zwei „Noras“ zu schreiben, den Prolog für die Münchner Kammerspiele und diese längere, noch stärker ausgearbeitete Version, das war äußerst erfüllend. Jetzt ist mir danach, das Theater für eine Weile zu verlassen und was ganz anderes zu schreiben. Sabbatical!

Warum ist alles so verdammt ungerecht verteilt?

26. – 27.1.

LB: Aber lass uns bitte nicht zu lange auf das nächste Stück warten.

Das Gespräch fand im Rahmen von „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ an den Münchner Kammerspielen nach Sivan Ben Yishais Vortrag aus „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ auf Englisch statt und wurde nach einer Übersetzung von Thomas Irmer anschließend von den beiden Autor:innen bearbeitet. „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ wurde von den Münchner Kammerspielen in Kooperation mit Lukas Bärfuss und dem Literaturfest München veranstaltet. T

TEA TUPAJIĆ / MÜNCHNER KAMMERSPIELE

Die Geschichten jesidischer Frauen Forum Freies Theater Düsseldorf

PERFORMANCE

fft-duesseldorf.de

© Sima Dehgani

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Thema Überschreibungen des Kanons

Links oben: „Richard Drei. Mitteilungen der Ministerin der Hölle“ nach William Shakespeare in einer Überschreibung von Katja Brunner, Regie von Pınar Karabulut. Mitte und unten: „Der Prozess“ von Franz Kafka am Schauspiel Köln

Die Kraft des Widerstands

Foto

Pınar Karabulut über Klassiker, Originaltexte und Überschreibungen im Gespräch mit Stefan Keim

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Fotos Krafft Angerer

Thema Überschreibungen des Kanons „Romeo und Julia“ am Schauspiel Köln war ein Durchbruch. Pınar Karabulut – 1987 in Mönchengladbach geboren – inszeniert seitdem oft Klassiker. Aber auch Uraufführungen von Nuran David Calis, Sivan Ben Yishai und Katja Brunner. Manchmal auch Shakespeare und Brunner gleichzeitig, wie 2022 bei „Richard drei. Mitteilungen der Ministerin der Hölle“, einer Klassikerüberschreibung. Gerade hat Pınar Karabulut in Köln Kafkas „Prozess“ inszeniert – ohne Fremdtexte. Karabulut, die von 2020 bis 2023 zum Leitungsteam der Münchner Kammerspiele gehörte, wird ab 2025 zusammen mit Rafael Sanchez Intendantin des Schauspielhauses Zürich. Was genau reizt dich eigentlich an Klassikern? Pınar Karabulut: Die Klassiker sind ja oft der erste Zugang zum Theater. Vor allem, wenn man nicht im Theaterkosmos aufwächst. Ich habe mit 16 zum ersten Mal „Hamlet“ gelesen, später Theaterwissenschaft studiert, da hat sich der Kanon verfestigt. Ich möchte in meiner Kunst den Blick auf Dinge verändern, zum Beispiel, wie Frauen oder marginalisierte Gruppen auf der Bühne gezeigt werden. Natürlich wird das von zeitgenössischen Theaterautor:innen thematisiert. Da geht es direkt um das Thema. Was ich an Shakespeare, Marlowe oder Schiller so spannend finde, ist, dass vor Jahrhunderten definiert wurde, wie ihre Stoffe gelesen werden müssen. Das ist Quatsch. Niemand hat Shakespeare interviewt, wir wissen nicht, was er wollte. Ich glaube, Shakespeare war anarchisch und wild. Und es gibt so brave Bühnenadaptionen seiner Werke. Es ist für mich logisch, dass dann Katja Brunner den „Richard III.“ überschreibt. Um den Original-Shakespeare klarer heraus­ treten zu lassen? PK: Ja, ich behaupte, dass meine Insze­ nierungen ziemlich werktreu sind. Ich beschäftige mich immer mit der Entstehungszeit der Stücke und versuche herauszufinden, wie der Autor sich gefühlt haben muss. Deshalb finde ich den Kanon so spannend. Eine Uraufführung behandelt immer das Tagespolitische. Das ist wichtig und hat seine Gültigkeit. Aber wenn ich im

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Oft geht es in der Diskussion darum, ob mehr als zwanzig Prozent gestrichen wurden oder ob ein modernes englisches Wort verwendet wird.

nächsten Jahr wieder den „Prozess“ inszenieren würde, könnte die Inszenierung aus einer anderen Emotion heraus entstehen und wäre vielleicht weniger düster. Der Kanon hat eine Flexibilität der Lesbarkeit. Bleiben wir beim „Prozess“: Ist deine Inszenierung denn noch nah an Kafka? PK: Ich glaube sogar, dass Franz Kafka der Abend sehr gefallen würde. Weil das Gefühl, dass beim Lesen des Romans entsteht, vermittelt wird. Für mich bedeutet Werktreue, nachzuempfinden, welchen Inhalt der Autor oder die Autorin vermitteln wollte. Oft geht es in der Diskussion darum, ob mehr oder weniger als zwanzig Prozent gestrichen wurden oder ob ein modernes englisches Wort verwendet wird. Sprache verändert sich. Auch ich muss, wenn ich mit den Kindern einer Freundin spreche, nachfragen, was ein Wort bedeutet, das sie gerade verwenden. Weil sie englische und deutsche Wörter vermischen. Sprache ist ständig im Wandel. Werktreue sollte mit der Intention des Autors oder Autorin zu tun haben. Das würden, glaube ich, auch Regie-­ Altmeister wie Claus Peymann oder Peter Stein unterschreiben. Oder zumindest in den siebziger und achtziger Jahren unterschrieben haben, als sie ihre wichtigen Inszenierungen schufen. Stört dich diese Nähe? PK: Nee, gar nicht. Theater ist ja immer ein Blick von heute, das geht gar nicht anders. Ich schaue auf die heutige Gesellschaft, versuche sie zu verstehen und einen Impuls zu geben. Deswegen ist das Theater das politischste künstlerische Medium, das wir haben, weil es sofort reagiert. Ich schaue mir gerne Filme aus den sechziger Jahren an, aber damals ist der letzte Schnitt passiert. Manchmal schaue ich

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Thema Überschreibungen des Kanons dramatisch. Wir müssen einen Widerstand überwinden, das ist eigentlich uninszenierbar. Aber genau das ist eine Kraft. Wir dürfen die Sprache nicht anrühren, das würde sie zerstören. Bei Shakespeare war es mir klar, dass wir anders auf Macht und Patriarchat schauen müssen. Des­ wegen musste es Katja Brunner, die Urfeministin aus der Schweiz mit ihrer skurrilen Sprache, machen. Ich glaube nicht, dass man „Richard III.“ ins Heute holen kann, wenn man den Originaltext inszeniert. Es braucht einen Coup, eine Überschreibung mit einem starken Blick.

auch anders auf Inszenierungen, die in der letzten Spielzeit Premiere hatten. Du inszenierst als nächstes „Ulrike Maria Stuart“ von Elfriede Jelinek am Deutschen Theater Berlin. Sie schreibt ja ständig neue Texte. Würdest du – wie es Nicolas Stemann tut – das Stück jeden Abend mit Jelinek’schen Aktualisierungen versehen? Oder ist es auch schon Kanon? PK: Das Stück ist von 2007. Da gibt es schon mal zehn Seiten, auf die wir heute anders schauen. Die würde ich dann verändern oder rausnehmen. Aber dennoch ist das Werk immer noch politisch enorm wichtig. Es ist meine erste Begegnung mit Jelinek, ich hab’ natürlich einen Riesenrespekt. Aber da ich die Herausforderung liebe, habe ich mir dafür extra die JelinekHochburg Deutsches Theater ausgesucht. In dieser Spielzeit machst du zwei Inszenierungen im Schauspiel und zwei in der Oper. Im Musiktheater stellt sich die Kanonfrage ja anders, weil die Partitur und damit auch das Libretto meistens als unantastbar gelten. Hast du da genug Freiheit für einen heutigen Blick? PK: Es gibt eine Verabredung, an die ich mich halten muss. Die Musik ist heilig und darf nicht verändert werden. Der mittlere Teil von Puccinis „Il trittico“ ist

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ein gutes Beispiel. In „Suor Angelica“ geht es um eine Frau, die unehelich ein Kind bekommen hat, die Schande ihrer Familie ist und ins Kloster gehen muss. Viele lesen das Stück so, dass Frauen sich gegenseitig fertigmachen. Heute interessiert es mich nicht mehr zu erzählen, dass eine Frau wegen eines unehelichen Kindes nicht mehr zur Gesellschaft gehören soll und unterdrückt wird. Mir geht es um den Schmerz, wenn einer Frau ihr Kind weggenommen wird. Ich nehme diese ganze Kloster­ebene weg und schaue auf eine Gruppe von ­Frauen, die sich entschließt, ohne Männer zu leben, eigentlich ein Matriarchat. Alle haben ihre Geheimnisse und unterstützen sich gegenseitig. Es geht bei mir um Frauen, die eine Gesellschaft bilden und darin leben, nicht um den männlichen Blick auf sie. Man kann also anders auf Stoffe schauen und sie anders erzählen. In Kafkas „Prozess“ hast du – ähnlich wie in der Oper – nur mit Originaltexten gearbeitet, allerdings die Kapitel anders sortiert. Aber es gibt keine Fremdtexte, oder? PK: Ich habe mich wegen der Komplexität der Sprache gegen eine Überschreibung entschieden. Die Sprache ist so virtuos, dass sie kaum auf eine Bühne gehört. Sie ist genial, wenn ich sie lese, dann löst sie Beklemmungen aus. Sie ist aber nicht

Oft wird ja Regisseur:innen, die Klassiker in Überschreibungen inszenieren, vorgeworfen – auch von mir –, sie machen es sich zu leicht. Aber du suchst in den Klassikern die Widerstände, dass sie edgy sind? PK: Ich liebe Shakespeare, auch die kritischen Textstellen sind sehr spannend. Der Kanon interessiert mich, wenn er mich mit meinem heutigen Blick herausfordert. Die Zeitgenossen von Shakespeare werden so gut wie nie aufgeführt. Christopher Marlowe, Ben Jonson, Thomas Kyd – da gibt es tolle Autoren. Die sind viel spannender als Goethe. Aber es hat natürlich immer auch mit der Zeit zu tun, was wir in den Klassikern suchen. T

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Foto links picture alliance/KEYSTONE | GAETAN BALLY, rechts Thomas Müller

Pınar Karabulut

Du hast vorhin als Beispiele für Klassiker, Shakespeare, Marlowe und Schiller genannt. Kleist und Büchner werden ja auch weiterhin sehr viel gespielt. Was ist eigentlich mit Goethe? Außer „Faust“ und gelegentlich den „Wahlverwandtschaften“ ist der fast verschwunden. Warum eigentlich? Willst du nicht mal Goethe inszenieren? PK: Nee. Ich stehe ihm tatsächlich kritisch gegenüber. Ich traue Goethe irgendwie nicht. „Faust“ finde ich sehr spannend. Aber warum „Iphigenie“, wenn ich direkt eine antike Tragödie inszenieren kann? Goethe ist zu sauber. Während Lessing, der uns ja alle im Theater bestraft und die Dramaturgie eingeführt hat, mehr edgy ist als Goethe. Ich schau’ auf mein Bücher­ regal und denke, welches Stück käme infrage. Nee, keins. Außer „Faust“.


Thema Überschreibungen des Kanons

Ein Spielplan ist kein Lehrplan Im Deutschen Nationaltheater Weimar redet niemand von Kanon und auf Pflichtlektüren kann die Theaterpädagogin ohnehin kaum bauen Von Michael Helbing

Content Note: In diesem Text fällt das N-Wort explizit und weitere rassistische Sprache

Angelika Andrzejewski, Theaterpädagogin und Leiterin von der Abteilung Junges DNT

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Thema Überschreibungen des Kanons Es war für das Mädchen kaum oder jedenfalls nur schwer auszuhalten gewesen. Am liebsten wäre sie, kolportiert die Theaterpädagogin, der es selbst demnach nicht viel anders ging, aus dieser Aufführung sofort rausgerannt. Und die ganze Schülergruppe füllte in der Nachbereitung den Raum mit unterschiedlichsten Empfindungen aus, berichtet Angelika Andrzejewski. „Es war interessant, wohin sich unser Gespräch entwickelte“, erinnert sie sich. „Wir konnten dann doch zusammen nachvollziehen, weshalb das Regieteam für seine Lesart diese Entscheidung so getroffen hatte.“ Es ging um die Entscheidung fürs NWort. Es fällt in Shakespeares „Othello“. Und nicht nur einmal: Zunächst ist noch von diesem „N punkt punkt punkt“, dann wiederholt vom „Neger“ die Rede. Jago und Rodrigo: „Wir sind doch unter uns.“ Emilia steuert den „Südseekönig“ bei: in der Inszenierung des Schwarzen, aus Wien stammenden Regisseurs Adewale Teodros Adebisi, mit dem Schwarzen Schauspieler Calvin-Noel Auer aus Schwetzingen in der Titelrolle, die ihm im November 2022 zum eindrucksvollen Weimar-Debüt geriet. Adebisi strich den Text, auf Basis der alten Baudissin-Übertragung, für ein politisches Gegenwartstheater mit nur sechs Darstellern heftig zusammen: eine Modernisierung, aber keine Überschreibung im E-Werk (inzwischen in der Redoute zu sehen). Und das Deutsche Nationaltheater, das für diverse Produktionen diverse Trigger-Warnungen formuliert, erklärt in diesem Fall: „Sexismus, Rassismus und

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Queerfeindlichkeit sind zentrale Themen des Stücks, werden tiefgehend behandelt und sind für den Handlungsstrang essen­ ziell.“ Das werde auf der Bühne explizit szenisch umgesetzt. Die Frauenfeindlichkeit haben sie wohl vergessen, wogegen allerdings Nadja Robinés Desdemona kräftiger und Isabel Tetzners Emilia geheimnisvoller anzustinken wissen. Ohne Shakespeare kommt bis heute fast kein Theater aus. Doch in Weimar gehört er zudem zum Kanon ortsspezifischer Erinnerungskultur. Eine Uraufführung ist hier aus Gründen zwar nicht zu verzeichnen. Doch gründete sich hier – „Wo auch sonst?“, möchte man fast fragen – anno 1864 die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft, wo sie auch heutzutage wieder ­ihren Sitz hat; vierzig Jahre später bescherte sie hier dem europäischen Festland das erste Denkmal für diesen Dichter.

Streitfall „Faust“ Vermutlich keines ihrer aktuell rund zweitausend Mitglieder würde eine Kritik äußern, wie sie 2006 nach Tilmann Köhlers später nicht nur von ShakespeareÜber­ setzer Frank Günther hochgelobter „Othello“-Inszenierung mit enorm behaarter Maske begegnete. Ein Weimarer Zuschauer vermisste darin den seiner Meinung nach zentralen Satz des Dramas: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“ Nur, dass der nicht bei Shakespeare, sondern Schiller steht, im „Fiesco“. Was man halt so von Klassikern zu wissen glaubt ... Markus Bothes „Maria Stuart“-Inszenierung endete 2015 in Weimar mit einer Pointe, die niemand verstehen konnte, der Schillers Original nicht präsent hatte. Wenn Königin Elisabeth im Finale den Grafen Leicester anfordert, erklärt Kent ihr üblicherweise: „Der Lord lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.“ Nicht so hier, wo Leicester stattdessen blieb und pflichtschuldig erschien. „Na“, kommentierte Nadja ­Robinés Elisabeth schnippisch, „gar nicht zu Schiff nach Frankreich?!“ Ein recht exklusiver Lacher. Hinter einem literarischen und also auch dramatischen Kanon steht die Idee

eines inklusiven, eines kollektiven Erfahrungs- und Erinnerungsraumes. „Nur die Erzählung, die wir teilen, kritisieren, diskutieren“, erklärte jüngst Lukas Bärfuss vor seinem Kanon-Symposium in München (siehe S. 12), „kann uns beim Verstehen unserer Welt helfen.“ Es gehe nicht um eine Hierarchisierung der Werke, sondern um einen Gegenstand der gemeinsamen Auseinandersetzung. Man könnte insofern Kanon als eine Art Heimat beschreiben, die sich laut Herder, auch ein Weimarer Klassiker, ja dort befindet, wo man sich nicht erst erklären muss. Falls das Theater jemals ein solcher Ort gewesen sein sollte, so scheint er verloren zu gehen. Als bekannt voraussetzen lässt sich wenig. Aber war das jemals wirklich anders? Laut Thüringer Deutsch-Lehrplan haben Gymnasien ebenso wie Regelschulen ein „Orientierungs- und Handlungswissen in Sprache, Literatur und Medien“ zu vermitteln, eine „entsprechende Verstehensund Verständigungskompetenz“ ist demnach Ziel der Übung. Doch auf dem Weg dorthin haben Lehrer völlig freie Hand. Im Sommer 2022 protestierte Ulrike Lorenz als Präsidentin der Klassik-Stiftung Weimar im Brief an Ministerpräsident Markus Söder dagegen, dass Bayern Goethes „Faust“ als Pflichtlektüre an Gymnasien abschaffen will. Ihr war offenbar entgangen, dass das in Thüringen längst der Fall war. Hier gibt es gar keine Pflichtlektüren fürs Abitur. Solche findet man noch in zehn Ländern: Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Saarland, Schleswig-Holstein. Goethes „Faust“ kommt aktuell in vieren vor, Juli Zehs „Corpus Delicti“ in sieben, überall aber Büchners „Woyzeck“, der deshalb auf viele Bühnen gelangt: Lehrplan wird Spielplan. Weimar geht einen vergleichsweise umgekehrten Weg und generiert eher Bildungsangebote aus der Kunstform Theater selbst heraus. Bevor Angelika Andrzejewski 2017 hierhin wechselte, war sie Theaterpädagogin am Staatstheater Braunschweig, wo etwa Ibsens „Volksfeind“ auf dem Programm stand. „Das war damals Abistoff in Niedersachsen, da sind die Schulen

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Thema Überschreibungen des Kanons reingerannt!“ In Weimar inszenierte der Regisseur und Autor Hermann SchmidtRahmer soeben seine „Volksfeind“-Überschreibung, die dem Theater zufolge den Grundkonflikt „mitten hinein in die gesellschaftliche Realität unserer Gegenwart“ katapultiert. Thüringer Schulen haben Ibsen aber gar nicht auf dem Schirm. „In Niedersachsen konnte man schon zwei, drei Jahre im Voraus sehen, was Abistoff sein wird“, so Andrzejewski. „Das gibt es hier nicht.“ Zugleich kommen deutlich mehr Schulklassen aus ganz Deutschland ins Weimarer als ins Braunschweiger Theater: Deutsch- oder Geschichte-Leistungskurse auf Studienfahrt in der Klassikerstadt. Sie besuchen, neben der KZ-Gedenkstätte ­Buchenwald, die Häuser Goethes und Schillers, deren Doppelstandbild zuverlässiger vor dem Theater steht als Stücke vor allem des ersten in ihm. Andrzejewski

vernahm aber bislang weder Bedauern noch Beschwerden darüber. Man nimmt mehr oder weniger, was und wie es gerade kommt. „Die sind da alle sehr offen.“ Hasko Weber hatte zum Auftakt seiner Intendanz 2013 „Faust I“ inszeniert. Der ging binnen sechs Jahren 111 Mal über die Bühne, bevor ihn ein „Urfaust“ von Tobias Wellemeyer kurzzeitig ablöste; zwischendurch hatte Weber der Tragödie zweiten Teil nachgelegt. Aktuell gelangt Faust indirekt auf die Bühne: in Luise Voigts aufsehenerregender Bulgakow-Bearbeitung „Der Meister und Margarita“, die soeben für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert gewesen ist. Doch war das Haus zuletzt gleichsam goethefrei. Der letzte „Tasso“ ist siebzehn Jahre her, die letzte „Iphigenie“ sehr viel länger. Von „Götz“, „Egmont“, „Clavigo“ oder „Stella“ nicht zu reden. Das sind

Hinter einem dramatischen Kanon steht die Idee eines kollektiven Erfahrungs- und Erinnerungsraumes.

eben „sehr spezielle dramatische Gebilde“, erklärte Chefdramaturgin Beate Seidel dazu einmal auf Nachfrage. Es sei oft nicht einfach zu formulieren, warum man so etwas machen sollte. Schiller sei „der zugkräftigere Dramatiker“; fünf Inszenierungen seiner Stücke gab es seit 2013. Mit „Wallenstein“, „Maria Stuart“ und „Wilhelm Tell“ arbeitete sich das Nationaltheater dabei gleichsam auch am hauseigenen Kanon ab: dem der Uraufführungen am alten Weimarer Hoftheater, zu denen auch Kleists „Zerbrochener Krug“ und Hebbels

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Thema Überschreibungen des Kanons „Nibelungen“ gehören, die es unter Weber ebenfalls ins Programm schafften. „Wenn klassische Stoffe auf dem Spielplan stehen, werden sie aber gerne genommen“, weiß Angelika Andrzejewski von den Schulen vor Ort ebenso wie von denen außerhalb. Jetzt freuen sich diese demnach sehr auf Werther. Goethes längst zum gängigen Theatertext mutierter Briefroman, der die meisten seiner Stücke in den Aufführungszahlen überflügelt, kommt ab Februar auf die Bühne, zum zweihundertfünfzzigsten Jahrestag seines Erscheinens. Hausregisseurin Swaantje Lena Kleff inszeniert das und bestätigt vorab, es werde deutlich mehr als nur einen Werther geben, gespielt von Männern und Frauen: „Wir haben hier ja ein hochtalentiertes Ensemble. Insofern wäre es fast schon Verschwendung, wenn man diese doch sehr ambivalente Figur nur von einem Menschen nur eines Geschlechts interpretieren lassen würde.“ Kleff will innerhalb einer einzigen Inszenierung den Vergleich zulassen, wie unterschiedlich man diese beinahe ikonografisch gewordene Rolle spielen kann. Überschreibungen und Kommentierungen sind dabei jederzeit durchaus möglich, um etwa alte Rollen- und Gesellschaftsbilder zu befragen. Gleichwohl will Kleff die Integrität eines Textes nicht verletzen, wie sie sagt: „Wenn ich unterm Strich den Kern der Geschichte nicht mehr wiedererkenne, frage ich mich, warum sich ein Team überhaupt dafür entschieden hat, sie Geschichte erzählen zu wollen.“ Angelika Andrzejewski ist regelmäßig mit Lehrern im Gespräch. „Was lest ihr in der Schule gerade?“, lautet eine ihrer Standardfragen. Antworten gibt sie an die drei Kollegen der Schauspieldrama­ turgie weiter. „Werther“ ist darauf zwar wohl weniger zurückzuführen, Dürrenmatts

Überschreibungen und Kommentierungen sind jederzeit möglich, um alte Rollen- und Gesellschaftsbilder zu befragen. 22

„Besuch der alten Dame“ aber durchaus. „Das kann man ab der achten Klasse lesen, auch in der Regelschule.“ Und seit Herbst 2022 steht Hasko Webers Inszenierung in Western-Ästhetik auf dem Programm. Kanon ist laut Andrzejewski aber keine Kategorie ihrer Vermittlungsarbeit. „Der Begriff fällt hier sowieso nie“, sagt sie über das Haus. Vieles lande unter anderem deshalb auf dem Spielplan, glaubt sie, weil die Sprache interessant ist. Als bekannt vorausgesetzt werde nichts. „Es liegt aber etwas Verbindendes darin, wenn es über Generationen hinweg anschlussfähig und anregend wirkt.“

Vom Theater zum Lesen Ihre Workshops vor oder nach einer Aufführung funktionieren selten über einen Text. „Wir gehen schnell an die Inhalte und an die Form ran.“ Dass Schüler dazu schon etwas gelesen haben müssten, spricht sie nicht mehr an: „weil ich schon an den Gesichtsausdrücken erkenne, dass das nicht der Fall ist, auch wenn sie das einen Monat lang in der Schule durchgenommen haben.“ Spannend sei, beides im Workshop zu haben: diejenigen, die einen Text bereits kennen, und solche ohne Lektüreerfahrung. Erstere säßen gar nicht selten mit der Haltung „Das stimmt aber so nicht“ in einer Aufführung, weil sie im Kopf eine eigene Vorstellung davon entwickelten. „Eigentlich finde ich es ja auch ganz toll, wenn sich Jugendliche und Lehrkräfte im Theater etwas anschauen, was sie vorher noch nicht so sehr durchdrungen haben.“ Theater als Leseanreiz entspricht ohnehin Andrzejewskis eigener Lebenserfahrung. „Ich hab’s gehasst“, sagt sie zum Beispiel über „Iphigenie auf Tauris“ in ihrer Schulzeit. „Ich glaube aber, im Theater könnte ich nochmal dazu bekehrt werden.“ In ihrer idealen Welt würden sich Schulklassen drei, vier Stücke pro Spielzeit anschauen und erst danach entscheiden, was davon man gemeinsam liest. Melvilles „Moby Dick“ käme dann aktuell zum Beispiel in Betracht, den Sebastian Martin für April vorbereitet (Andrzejewski weiß von keiner Schule, an der das gelesen wird; mit einer aber hat sie dazu gleich

In ihrer idealen Welt würden sich Schulklassen drei, vier Stücke pro Spielzeit anschauen und entscheiden, was man gemeinsam liest.

eine ganze Projektwoche verabredet). Nur eine Woche darauf folgt Christian Weise mit Thomas Manns „Zauberberg“, zwei Jahre nach seinen „Buddenbrooks“, die nicht nur Schulklassen zur Offenbarung geworden sind. In Braunschweig erlebte Angelika Andrzejewski vor zehn Jahren hautnah mit, wie Eike Hannemann aus Goethes „Faust“ im U22-Keller ein Live-Hörspiel für jeweils achtzig Zuschauer machte. „Die experimentelle Form und die Nähe zum Ensemble hat was mit ihnen gemacht.“ Einige hat das demnach zur Lektüre regelrecht verführt. „Aber ein ‚Faust‘ für nur achtzig Leute in Weimar?“, überlegt sie und lacht. „Da würden wir vielleicht Ärger bekommen …“ T

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Theater der Zeit

Akteure

Foto Ed Atkins und Steven Zultanski

„Sorcerer“, in der Regie von Ed Atkins and Steven Zultanski, 2022, 1hr 23min, courtesy of the directors and Gladstone Gallery, New York; Isabella Bortolozzi Galerie, Berlin; Cabinet, London; dependance, Brussels

Kunstinsert Der Videokünstler Ed Atkins und sein Stück „Sorcerer“

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„Sorcerer“, in der Regie von Ed Atkins and Steven Zultanski, 2022, 1hr 23min, courtesy of the directors and Gladstone Gallery, New York; Isabella Bortolozzi Galerie, Berlin; Cabinet, London; dependance, Brussels

Von Thomas Oberender

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Zultanski

Der Videokünstler Ed Atkins und sein Stück „Sorcerer“

Foto Ed Atkins und Steven

Gegenzauber


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Nach dem Besuch einer Performance von Ed Atkins mit seinen Gedichten und der damit verbundenen Ausstellung „I like to spit now“ mit neuen Computer-Generated-Imagery-Videoarbeiten des Künstlers vor zwei Jahren in New York schrieb die Kritikerin Emily Watlington: „Wenn man die CGI aus Atkins’ Werken entfernt, bleibt immer noch die Poesie – die tatsächlich Atkins’ eigentliches Medium sein könnte.“ Das ist ein süßsaures Kompliment für einen bildenden Künstler, der besonders für seine CGI-Videoarbeiten in den bedeutendsten Museen der Welt gezeigt wird. Aber ein Hauch Wahrheit liegt in dieser Bemerkung dennoch, denn Atkins ist auch ein gefeierter Autor und mit vielen seiner Filmprojekte verbinden sich experimentelle Erzählwerke wie „Old Food“, „A Primer for Cadavers“, „A Seer Reader“ oder das Theaterstück „Sorcerer“, das gerade im Londoner Prototype Verlag in einer Buchausgabe erschien. Seit einigen Jahren lebt Atkins in Kopenhagen und „Sorcerer“ wurde dort im März letzten Jahres im Theater Revolver uraufgeführt. Das Dreipersonenstück entstand als eine Gemeinschafts­ arbeit von Atkins und dem amerikanischen Autor Steven Zultanski, mit dem er auch gemeinsam Regie führte und das Bühnenbild entwarf. Auf den ersten Blick wirkte das Set wie eine klassische Theaterdekoration für ein sozialrealistisches Stück. Auf einem flachen Podest steht in dem hallenartigen Saal des kleinen Theaters der Nachbau eines Appartements einer Neubauwohnung. Das Studio wirkt wie eine Ausstellungsfläche in einem Einrichtungshaus. Im Hintergrund ist eine Küchenzeile zu sehen, davor ein Küchentisch mit Stuhl und Laptop, im Vordergrund stehen ein Sofa und Sessel um einen Couchtisch, daneben zwei Stehlampen, ein Fernseher auf dem Boden und ein großer Screen an der Rückseite. Neben der Wohnungstür steht ein Kleiderständer, alles wirkt aseptisch und funktional und es ist schwer zu sagen, ob die Dinge alt oder neu sind. Auf der Tischplatte liegt ein Schlüsselbund, aber nichts verweist auf etwas Persönliches des Menschen, der hier wohnt. Ungewöhnlich wirken nur die an den Außenkanten des Podestes verlaufenden Rohre und Heizkörper, die eine freistehende Einfassung des Raumes bilden, zugleich aber auch daran erinnern, dass die Wände, vor denen sie normalerweise montiert sind, entfernt wurden und die abgeschlossene Welt dieses Appartements sich für die Blicke der Außenwelt öffnen.

Der Videokünstler Ed Atkins, geboren 1982 in Oxford, ist für seine hyperrealistischen Bildwelten bekannt. 2022 inszenierte er in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Autor Steven Zultanski am Revolver Theater in Kopenhagen „Sorcerer“, zu dem anschließend auch ein Buch erschien.

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Die gut einstündige Uraufführung von „Sorcerer“ gliederte sich in zwei Teile. Der erste schildert eine Begegnung von drei Freund:innen, der zweite eine Choreografie ohne Worte. Die Schauspieler:innen Lotte Andersen, Peter Christoffersen und Ida Cæcilie Rasmussen spielen Figuren, die, wie in Handkes „Ritt über den Bodensee“, die Namen von Schauspieler:innen tragen – im Fall von „Sorcerer“ sind es ihre eigenen. Dennoch ist das Stück nicht aus ihren Improvisationen oder der Probenarbeit entstanden, sondern liefert mit der Namensgebung lediglich einen Hinweis darauf, dass diese Figuren sich auf eine Realität beziehen, die mit dem Medium selbst verbunden ist und, wenn man ihre Quelle sucht, immer wieder auf Menschen verweist, die Menschen spielen.

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Foto Ed Atkins

Unheimlichkeit


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Der große Screen an der Rückwand verhält sich wie ein Rasierspiegel, der das Bild des an ihm Vorübergehenden verzerrt.

selbein zerschlägt. „Als ob man besessen sei“, bemerkt Peter und tatsächlich sind die Bilder und Zustände, die sie im Hinblick auf ihren Körper durchphantasieren, einerseits so anschaulich und affektiv, dass die Bilder einen beim Zuhören erschaudern lassen. Andererseits erinnern diese Momente an Atkins’ Filme und das, was seine CGI-Figuren erleben. Sie können ungebremst auf eine Wand prallen, ihr Leib kann sich segmentieren, ihr Kopf zu Boden fallen und der Boden unter ihren Füßen sich auflösen und sie in die Tiefe stürzen lassen. Auf der Bühne des Revolver Theater geraten reale Körper in diesen Strudel einer labilen Wirklichkeit. Wie sich anhört, etwas zu schlucken, welche Geräusche mit dem Absetzen eines Glases auf dem Tisch verbunden sind, all das, was die Kopenhagener Aufführung im kreatürlichen Verhalten der Figuren auf der Bühne ins Überlaute steigert, sind die artifiziellen Details, die am Rechner des CGI-Künstlers den dreidimensionalen Computerpuppen und ihrer digitalen Umgebung hinzugefügt werden, um sie körperlich realer wirken zu lassen. Seine Figuren animiert Ed Atkins durch das Motiontracking der Bewegungen seines

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Workshop »Sich zur Verfügung stellen«

Daniel Cremer. Foto: Melanie Bonajo

Atkins und Zultanski haben während der Lockdown-Zeit der Coronapandemie über viele Monate die Gespräche mit ihren Freunden bei privaten Treffen aufgezeichnet. „Sorcerer“ ist kein Stück über die Pandemie, doch eine Komposition recht intim wirkender Unterhaltungen von Menschen, die vielleicht etwas zu lang mit sich und ihren Selbstbeobachtungen eingeschlossen wurden. Themen ihrer Unterhaltung sind ihre Angewohnheiten beim Be- oder Entkleiden ihrer Körper, die Zubereitung eines Spiegeleis, das schwarz ist, oder der Versuch, sich die eigenen Augen aus dem Kopf zu nehmen. Sie sprechen leise und ihre Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf den Raum, sondern auf sich selbst und die anderen. Im klassischen Sinne ist das Stück handlungsarm, drei Menschen treffen sich, kein Konflikt, sondern ein Ketten-Wort-Spielchen, Lotte massiert Peters Nacken, eine zweite Runde Bier, abrupter Aufbruch. Und auch der zweite Teil des Stückes, in dem Peter allein in seinem Appartement zurückbleibt, aufräumt, den Fernseher einschaltet und verschiedene Selbstbeobachtungen anstellt, ist eher eine Halluzination von Normalität als eine Alltagsstudie. Die Choreografin Nønne Mai Svalholm hat in die Bewegungen des Schauspielers Momente kurze Absencen eingefügt, in denen der Schauspieler zum Beispiel plötzlich seinen Kopf, die Hände und den Oberkörper flach auf die Tischplatte legt und die angewinkelten Beine vom Boden hebt, schwer wie ein Kadaver, der über die Platte herabhängt. Die Unheimlichkeit, die die Dialoge und das Geschehen auf der Bühne von Beginn an durchzieht, wird verstärkt von einer ungewöhnlichen Klanginstallation. Über dreißig unsichtbare Kontaktmikrofone sind im Boden, unter den Tischen und am Körper der Schauspieler verteilt, wodurch Schritte, das Einlassen von Wasser in ein Glas oder das Zerkauen einer Weintraube ungewöhnlich laut vernehmbar sind. Die Heizkörper und Rohre des Bühnenappartements wurden an die Zentralheizung des Theaters angeschlossen, sind warm und wenn sich Peter später lauschend zu ihnen hinabbeugt, hört man sie rauschen. Der große Screen an der Rückwand verhält sich wie ein Rasierspiegel, der das Bild des an ihm Vorübergehenden verzerrt und Peters Bett, das außerhalb des Podests zwischen Bühne und der Besuchertribüne steht, ist im Grunde eine eigene Figur. Ein verborgener, sich unvorhersehbar bewegender Mechanismus lässt die Bettdecke sich selbst räkeln und anheben, als würde sie atmen. Irgendwann schwebt von dem kleinen Tisch eine Druckerkartusche in die Höhe, als sei der Raum, seine Bewohner und Objekte nur eine CGI-Animation, in der ein Programmierer die Position der Kartusche verändert, ohne dass dies vom Rest des Systems bemerkt oder für bemerkenswert gehalten wird. Sie schwebt fortan magisch mitten im Raum und erinnert daran, dass diese Aufführung „Sorcerer“ heißt, deutsch Zauberer oder Hexenmeister. Doch keine Figur zaubert in diesem Stück. Es wirkt in ihm ein anderer Zauber, ein diskreter Anflug von Besessenheit, der die Figuren in ihrem Nachdenken über sich heimsucht. Wenn sie überlegen, wie sich jemanden ein Kopfschmerz erklären ließe, der ihn noch nie erlebt hat, beschreiben sie die Kompression ihres Körpers zu einem kleinen Würfel oder mit dem Schmerz, wenn man sich mit einem Mauerstein das eigene Schlüs-

Wie das Theater zu einem Ort wirklicher Begegnung wird Daniel Cremer 08. -10.3.2024

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Akteure Kunstinsert eigenen Gesichts und Körpers und seine CGI-Figuren und Welten sind, technisch betrachtet, state of the art, was die hyperrealistische Brillanz betrifft, und dennoch das Gegenteil der CGI-Welten der Pixar-Studios oder des klassischen Kinofilms. Denn Atkins weigert sich, das, was man in ästhetischen Zusammenhängen „Immersion“ nennt, als die Mittel früherer Medien in das Feld der CGI-Figuren zu übertragen. In seinem Essay „Daten-Verfall/Data Rot“ thematisierte er die suspension of disbelief, also die Aussetzung des Unglaubens, die unsere Erfahrung mit Kino- oder Fernsehfilmen prägt. Im Kino oder auf der Bühne ist die Realität der Abbildung genauso glaubwürdig wie die Realität selbst. Im Kino und stärker noch in VR-Welten sind wir im Film und tauchen in dessen Welt ein wie ins Leben selbst, als gäbe es das Medium dazwischen nicht. Atkins geht hier einen anderen Weg. Er macht das Medium spürbar, und mehr noch, für ihn ist alles Medium, auch der leibliche Körper des realen Menschen, der nicht nur vom Menschen bespielt wird, sondern vom Schmerz, Absencen, Träumen, Alpträumen, Einsamkeit, Trunkenheit, Musik. Technisch vermag Atkins Körper, Stimmen, Räume und Bewegungen in der CGI-Welt brillant zu repräsentieren, und doch fügt er diesem Zauber der Virtuosität und der Fähigkeit, digitale Körper und Dinge über jeden Zusammenhang zu stellen und zu manipulieren, feine Brüche bei. Übersteigerungen, die nur durch das digitale Medium selbst möglich sind und von deren Charakteren als fraglos real erlebt werden. Was inhalieren diese Datenfiguren, wenn sie Rauch einatmen? Wohin rollt ihr Kopf, wenn er singend über den Boden kullert? Atkins zeigt auf seinen CGI-Aufnahmen Fusseln auf der Kameralinse, obgleich es beides in diesem Medium nicht gibt. Er wiederholt und variiert Szenen willkürlich, überkleckert Babyfiguren zwischen Toastscheiben mit Ketchup und Mayonnaise, öffnet Wände und lässt Hochhausetagen durch das Zimmer hindurchrauschen, als seien sie ins Innere einer Spielmaschine geraten, und so mischt er Unglaube und Staunen ins Betrachten, ein mulmiges Gefühl von zu viel Chaos und gleichzeitiger Einsamkeit stellt sich ein. Ständig stört Atkins die Konsistenz und Zuverlässigkeit der betrachteten Welt, und zugleich verführen seine Bilder zur Empathie, bezaubern durch ihre Schönheit. Er lässt seine betrunkenen Männerhelden rauchen und philosophieren, zeigt in „Ribbons“ ihr von Saufkumpanen bekritzeltes Gesicht und das Klimpern der Eiswürfel in ihrem Glas, der Schmutz unter ihren Fingernägeln und die Musik von Bryan Adams oder Jürg Frey zieht die Betrachter hinüber in ihre solipsistische Welt. Wo die Figur zerfällt, sich ins eigene Gesicht greift, die Haut vom Fleisch löst und in die Transportschale auf dem Rollband der Passagierkontrolle am Flughafen legt, genauso wie die eigene Uhr, die Schuhe, die Nase, den Rechner, die Ohren. Essen, Trinken, Rauchen, all das, was mit und in Körpern passiert, ist für die Nachfahren unserer Körper, die CGI-Figuren, nichts Natürliches, denn als Datenwesen sind sie völlig körperlos, genauso wie das digitale Medium selbst. Und aus dieser mulmigen Unwirklichkeitswelt schaut Atkins auf die echten Körper und Räume und interessiert sich für immersive Momente wie jene, wenn ein Fingernagel quietschend über eine Glasplatte fährt oder

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sich ein Stöhnen, Furz oder Wimmern aus dem Inneren der Körper löst, Momente, die Atkins mit dem Wort corpsing beschreibt, also jenem Bruch, der entsteht, wenn inmitten einer Preisverleihungsrede jemand unvermittelt rülpst. Es ist das, was auf der Bühne, im Theater, in der Regel um jeden Preis vermieden wird. Bitte keine Absencen im Stück, keine Zwischenfälle, Theater ist, was sich wiederholt und braucht ein kohärentes Realitätsverständnis. Doch genau das löst Atkins auf und lenkt den Blick auf die abgedrängten, beargwöhnten und gefürchteten Zustände des Körpers, wenn er der Kultur und Kontrolle entwischt. Dafür nutzt Atkins die grenzenlos manipulative Natur des digitalen Mediums. In ihm erscheint der menschliche Körper als hyperreal und in der nächsten Sekunde als etwas Fremdes, außerhalb der Normen und Regeln der Gesellschaft Stehendes, ein Abjekt, wie Atkins dieses Phänomen mit Bezug auf Julia Kristevas Kunsttheorie des Unheimlichen und Horrors nennt.

Die Software des Zauberers In Aktins CGI-Filmen geht es nicht um das Abfilmen des Schauderhaften, sondern den Schauder einer Realität, die vollendet realistisch erscheint und aus dem Ruder läuft. Etwas macht sich in ihr selbständig und wird als etwas Fremdes erkannt. Die willkürliche Existenz unseres fleischlichen Körpers inmitten einer glatten und sauberen Welt wird geflutet von Tränen, Pisse und Schleim. In der digitalen Realität erscheinen der Körper und Raum bei Atkins als das, was sie auch im realen Leben sind – eine Hülle, ein Host, die oft ungehorsam gegenüber dem Geist sind, der ihn bewohnt und mit all dem spielt, was wir für stabil und beständig halten. Das ist der Horror, von dem auch „Sorcerer“ handelt. In seiner Ausstellung „Old Food“ im Berliner Martin Gropius Bau platzierte Atkins neben seinen CGI-Videos und hölzernen Wandtafeln tausende Kostüme aus dem Fundus der Deutschen Oper. Es sind Gewänder, in die Sängerinnen und Sänger schlüpfen wie Atkins in die digitale Haut seiner Figuren. Die Poesie ist, wie Emily Watlington zu Recht bemerkt, in Atkins Oeuvre kein Nebenaspekt, sondern eine eigene Ausdrucksweise, die all seine Filme und Live Perfomances grundiert. Aber Schreiben und Texte besitzen in seinem Werk eine noch viel fundamentalere Rolle, denn auch seine digitalen Figuren wurden auf der Tastatur geschrieben, als Code, der zum Bild wird. Seine CGI-Filme sind daher in mehrfacher Hinsicht textbasiert und wenn in ihnen letztlich alles Text ist, stellt sich die Frage: Wer spricht? Alles ist animiert in Atkins künstlerischer Welt. Alles ist Display in der Welt der CGI – Dinge, Körper, Soundsysteme sind hier Witchboards, jene altertümlichen Geräte, die in spiritistischen Sitzungen die Nachricht der Geister anzeigen, „Recent Quijas“ in moderner Gestalt, wie Atkins eine Ausstellung in Amsterdam nannte. Und von dieser Hexerei ist auch „Sorcerer“ geprägt. In diesem Stück ist alles auf Empfang – die Heizungsrohre, die technischen Geräte, die Bettdecke, alle senden und die drei Freunde sprechen über Beobachtungen, von denen sie nicht genau wissen, was genau sie da empfangen. Wenn sie darüber sprechen, dass sie keinen Nagel in die Wand schlagen können, ohne ein großes

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Stellenausschreibung

Geschäftsführung (m/w/d) Deutsches Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst ab Juli 2025 Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst mit Sitz in Bochum ist eine deutschlandweit und international vernetzte Einrichtung zur Förderung des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters. Neben der Ausrichtung des Festivals FIDENA und des Fritz-Wortelmann-Preises der Stadt Bochum unterhält das Forum ein Forschungszentrum sowie das Portal fidena.de und engagiert sich für die Vernetzung des Genres. Wir suchen ab Juli 2025 eine neue Geschäftsführung, die das Forum mit einer starken Vision sowie Leidenschaft und Engagement in die Zukunft führt und weiter als Think Tank für das Figurentheater ausbaut. Ausführliche Ausschreibung unter: fidena.de

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Loch zu fabrizieren oder keine guten Gärtner sind, klingt das, als würden sie über eine fehlende Software sprechen oder ein Hardwareproblem. Die Dialoge wirken wie etwas zu nerdige Selbstbetrachtungen, andererseits wird im Laufe des Stücks klar, dass dieses Selbst für die Figuren eine konstante Aufgabe ist, etwas, das sie modellieren und das umgedreht auch Einflüsse auf sie hat. Wie das gefürchtete corpsing auf offener Bühne konfrontiert es sie mit einem Fremden, an dem noch viel zu tun und von dem noch viel zu entdecken sein wird. Wenn ein Männerkörper grundlos vom Küchentisch herabhängt oder eine Druckerpatrone vom Tisch in die Höhe schwebt, sind das Vorgänge, für die weder die Figuren noch die Betrachter eine Sprache oder das entsprechende Verständnis besitzen. Aber man schaut eben doch anders auf diese Bemühung, alles nett zu machen, aufzuräumen, die sauberen Tische abzu­ wischen und im Sozialen nicht die Form und Fassung zu verlieren. Das Ringen um ihre Form und das zugleich Kadaverhafte ihrer Körper prägt Atkins fragile Männergestalten in seinen CGIFilmen. Ihr psychisches und physisches Driften, das eine Dekomposition ihres klaren Verstands und Leibes herbeiführt, nutzt die unlimitierten Möglichkeiten eines körperlosen Mediums, um etwas Grundsätzliches über die Limits unseres Lebens in Körpern zu beschreiben. Für das Theater und Schauspieler ist dies ein essenzielles Thema. Ihr Körper kann auf der Bühne nicht in Teile zerfallen wie im digitalen Raum, und doch thematisiert „Sorcerer“ unser Verständnis von der Natürlichkeit dieses Mediums. Die hyperdetaillierte Auflösung ihrer Erscheinung im CGI-Film kann man im Doppelsinn von „Auflösung“ verstehen und auf der Bühne finden Atkins und Zultanski dafür andere Wege. Die Software des Zauberers, die in den physischen Raum der Kopenhagener Aufführung einfährt und Dinge wie Menschen zu Empfängern von Vorgängen machen, die einem unbekannten Skript folgen, lässt diese Figuren über sich und ihren Alltag staunen. Ihre Selbst-Beobachtungen kalibrieren ein Konstrukt, das normal wirken soll, aber leider kippt Peter aus unergründlichen Gründen sehr langsam Wasser aus seinem Glas auf den Küchenboden. Das Stück hat einen heiteren Ton. Es erwähnt den Lockdown an keiner Stelle, der viele Menschen ein bisschen zu lang mit sich selbst allein sein, und ein paar Details in ihrem Leben plötzlich wunderlich wirken ließ. „Sorcerer“ ist auf der Bühne ein Gegenzauber zum Ergriffenwerden durch Virtuosität und die Immersion des Geglaubten. Wer auf die Story wartet, fragt sich immer wahrscheinlich, wann das Stück endlich anfängt. Wer sich das nicht fragt, entdeckt eine Situation, die mit jeder Minute unheimlicher wird. Sie ist von einem anderen Blick auf den Körper und die Realität des Repräsentierten im digitalen Zeitalter geprägt und nutzt das alte Ritual des Theaters. Atkins und Zultanski erfüllen die Konvention des Mediums und unterlaufen sie zugleich, indem sie das Drama auf eine andere Ebene führen. Ihr Interesse gilt dem Realitätsstatus der Situation selbst und nicht dem Verlauf eines sozialen Konflikts. Alles ist gut für die Figuren und zugleich ein leiser Horror. Man muss ein bisschen geneigt sein, die Aufführung so verstehen zu wollen, doch dann neigt sich einem eine ganz andere Idee von Realität und Theater zu. T

DRAMA FORUM

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Stück Gespräch

Holger Hübner und Kriemhild Hamann in „Ajax“ von Thomas Freyer in der Regie von Jan Gehler am Staatsschauspiel Dresden

Foto Sebastian Hoppe

Türöffner für die großen Themen Thomas Freyer über sein Stück „Ajax“ im Gespräch mit Thomas Irmer

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Stück Gespräch Das Stück verschränkt die Geschichte einer deutschen Familie von heute mit der des Ajax im Trojanischen Krieg. Schon in der Prolog-artigen ersten Szene sind beide Ebenen miteinander verbunden. Wie sind Sie auf diesen Ansatz gekommen, die Antike mit unserer unmittelbaren Gegenwart kurzzuschließen? Thomas Freyer: Ich hatte schon länger damit geliebäugelt, mich mit einem antiken Stoff zu beschäftigen. Aus Dresden kam dann der Vorschlag, ein Stück zu Verschwörungserzählungen zu schreiben, was ich anfangs gar nicht wollte, obwohl ich das Thema spannend fand. Ich konnte all dieses Zeug nicht noch auf einer Bühne reproduzieren. Dann war da dieser Ajax-Stoff, auf den ich gestoßen bin. Und plötzlich konnte ich dort Schnittpunkte zu Verschwörungserzählungen entdecken. Außerdem brachte Ajax das Thema Krieg mit sich. Eine Art Multiplikator für Verschwörungsberichte. Ajax ist ein Krieger auf Seite der Griechen im Krieg vor Troja, das als „ein Netz, das sich über den ganzen Erdball spannt“ bezeichnet wird. Der Vater Michael bereitet sich auf einen Krieg vor, den er als Weltverschwörung heraufziehen sieht. Werden in dieser Spiegelung die Vorstellungen von Reichbürgerideoligien und anderen nicht noch vergrößert und in einer seriösen kulturellen Tradition auf die Bühne gebracht? TF: Spannend ist ja, dass die „Illias“ selbst voller Verschwörungserzählungen ist. Sie tauchen als Weissagungen der Seher oder der Götter und Göttinnen auf beiden Seiten des Schlachtfelds auf. Im Wahn hält Ajax zum Beispiel Schafe für griechische Krieger und einen Bock für Odysseus. Fast in mittelalterlicher Tradition muss der Heerführer Agamemnon die erbeutete Astynome zurückgeben, um den Ausbruch der Pest im Lager der Griechen zu beenden. Oder Hector, der sich einem Zweikampf mit Ajax nur zu stellen scheint, weil ihm ein Seher versichert, dass sein Tod noch nicht vorgesehen ist. Mit dem Abstand der Zeit ist es vielleicht leichter, die Struktur, die Verschwörungserzählungen zugrunde liegt, zu durchdringen. Heutige Beispiele wollte ich nicht weit ausbreiten. Es hätte mich und das Publikum gelangweilt. Der Trojanische Krieg wird in Ihrem Stück mit heutiger Kriegslogik beschrieben: Zivilist:innen werden als Waffe gesehen und Troja soll nicht erobert, sondern vernichtet werden. Also als typische Aktualisierung? TF: Mich hat beim Lesen der „Illias“ überrascht, auf wie viele Punkte ich gestoßen bin, an denen auch von einem heutigen Krieg die Rede sein könnte. Die Griechen haben einen ungebrochenen Vernichtungswillen. Aus Frust über ausbleibende militärische Erfolge werden wehrlose Hirten abgeschlachtet. Den schwangeren trojanischen Frauen soll der Bauch aufgeschlitzt werden. Meine Aktualisierung bestand eher daraus, diese Punkte herauszuarbeiten. „Ajax“ gehört ja zu den eher selten aufgeführten Tragödien von Sophokles, was wohl auch damit zu tun hat, dass ein idealisierter Krieger am Ende dem Wahnsinn erliegt und „über sein Schwert gebeugt verdorrt“, wie es in Ihrer Version heißt. Dem Wahnsinn von Ajax geben Sie nicht allzu viel Raum oder Bedeutung. Warum?

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TF: Der eigentliche Akt des Wahnsinns ist für mich nicht so spannend wie die Umstände, aus denen heraus das möglich geworden ist. Gleichzeitig wohnt diesem Wahnsinn immer ein Aspekt der Beliebigkeit inne. Alles ist möglich, weil alles imaginierbar ist. Sich darauf zu konzentrieren, hätte bedeutet, ein anderes Stück zu schreiben. Heiner Müller, der vor allem vom Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre mit seinen Stücken die Antikentradition in der deutschen Theatergeschichte erneuerte, sprach von einem „Modell für den Terror der Gattung“. Was ist denn die Antike für Sie? Gibt es noch mehr Möglichkeiten, mit ihr zu arbeiten? TF: Eine spannende Frage. Das Interessante an den antiken Stoffen ist für mich unter anderem das Verhältnis von Masse zu Individuum, vom Held zum Staat. Antike Stoffe bieten übertragbare Strukturen. Man muss sie nicht völlig ins Jetzt transferieren. Das wäre außerdem albern. Die Geschichten bilden zudem eine Art Grundbau, in den man sich einschreiben kann. Müller lässt bei „Philoktet“ die Schlange, die Philoktet diese faulige Wunde zufügt, sichtbar erscheinen, während sie bei Sophokles verborgen ist. Das ist nur ein Beispiel, aber diese kleine Änderung richtet das Stück anders aus. Da die Stoffe meist bekannt sind, schreibt man sich außerdem in eine Erfahrung ein, die man bedienen oder hintergehen kann. Ajax wiederum ist nicht nur Held, sondern wie sein Sohn Eurysakes Thronfolger. Sein Handeln steht immer auch in Verbindung mit dem königlichen Staat. Der antike Stoff ist hier auch eine Möglichkeit, einen größeren Bogen zu spannen. Hätte ich ausschließlich über die Kleinfamilie irgendwo am Rande einer deutschen Stadt geschrieben, wäre es eine privatere Erfahrung. Das, was Müller als „Modell für den Terror der Gattung“ beschreibt, verstehe ich als Möglichkeit, den staatlichen Terror zu verhandeln. Krieg gehört zu diesem Muster. Das Bild von aggressiver Männlichkeit ebenso. Der Antikenstoff ist da ein Türöffner, weil er mögliche Verhandlungshorizonte bereitstellt, die ich mir als Autor greifen kann. Es ist eigentlich alles vorhanden. Die sogenannten großen Themen. Wie würden Sie Ihr Verfahren bezeichnen? Adaption, Überschreibung, Neuschöpfung? Oder noch anders? TF: Vielleicht ist es sowohl eine Überschreibung als auch eine Neuschöpfung. Die Figuren der Kleinfamilie sind eine hinzugedachte Ebene. In den „Ajax“-Stoff selbst habe ich mich eher eingeschrieben und nach Übersetzungen für die Reihenhausfamilie gesucht. Das Trojanische Pferd zum Beispiel taucht in der antiken Ebene meines Stücks nur nebenbei auf. Eurysakes sitzt darin. Gleichzeitig ist das Zurückkommen des Familienvaters ins Haus, begleitet von Versprechungen, sich wirklich und von Grund auf geändert zu haben, ein ganz ähnlicher Moment. Die Mutter kann die Gefahr, die nach wie vor vom Vater ausgeht, nicht sehen und lässt ihn, anders wäre er nicht hineingekommen, ins Haus zurück, wo er erneut zu wüten beginnt. T Thomas Freyer, geboren 1981 in Gera, debütierte 2006 mit „Amoklauf mein Kinderspiel“. In TdZ erschien zuletzt das in Weimar uraufgeführte Stück „Treuhandkriegspanorama“ in 4/22.

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Theater der Zeit

Stück „Ajax“ Thomas Freyer

Personen Vater Mutter Sohn Ajax Tekmessa Eurysakes Teukros

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Stück „Ajax“ „Sei glücklicher, als dieser Vater war, sonst sei ihm gleich.“ Ajax (Sophokles)

P © Thomas Freyer, 2023 Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2023 Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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1 plötzlich aus dem Schlaf schrecken aus einem kindlichen Traum in der nächtlichen Stille des Einfamilienhauses hinter dem Garten das tote Feld auf das ein halber Mond nachlässig sein Licht wirft die Bettdecke aufgeschlagen wie ein Hausaufgabenheft nach einem langen Schultag neben dem Fenster das Weltraumplakat mein Vater erklärt mir jeden Samstag unseren Nachthimmel am Horizont unvermittelt in der fernen Dunkelheit ein schmales Gleißen in dessen Mitte unrhythmisch für Sekunden ein kaltes Glitzern zuckt als würde hinter dem Feld ein Stück Welt in Flammen stehen und alles alles was zuvor als die normale Welt galt in einer Art rückwärtiger Vibration verharren was folgt ist eine stumme Implosion Gänsehaut unter dem grün gepunkteten Schlafanzug ich weiß dass meine Mutter am Fenster steht wie ich im Zimmer nebenan ich weiß dass sie aufs Feld starrt wie ich aufs Gleißen ich weiß sie öffnet die Augen weit ein tiefes gleichmäßiges Atmen vom Bett hinter ihr immer kannst du schlafen immer flüstert sie schiebt die Worte zwischen die Zähne hindurch der Flüsterton verliert sich zwischen Wäscheschrank und Dachschräge der

rasende Menelaos König von Sparta zurückgeeilt von politischen Geschäften aus der Stadt Pylos wo ihn die Nachricht erreicht hatte vom plötzlichen vom unerklärlichen Verschwinden seiner Frau der schönen Helena waren nicht Trojaner hier in seiner Abwesenheit es war es muss weiß Menelaos schnell ein Raub gewesen sein sein Schlucken gegen den wiederkehrenden Würgereiz in seinem Kopf formt sich ein Wort formt sich ein Krieg er flüstert es dann sagt er es dem Spiegelbild sagt Krieg dann Schlucken immer wieder gegen die stetig aufwallende Kränkung tief die Nacht bereits als er schließlich Nachricht geben lässt an den großen Bruder an Agamemnon den obersten Heerführer der Griechen der Nachricht gibt an die Verbündeten also Krieg gegen Troja

2 VATER Sei doch nicht so naiv, Christiane. Wenn es stimmt, was man überall liest. Wenn es stimmt, dass die Trojaner dahinterstecken, muss Menelaos etwas tun. Natürlich. Wenn er sich auf dem Thron halten will. Das ist Verrat. MUTTER Musst du immer so mit deinem Handy wedeln? VATER Es würde jedenfalls passen, wenn du mich fragst. SOHN Ich hab Hunger. VATER Außerdem sollen die Trojaner Gold und Vieh gestohlen haben. Sie sind eine Gefahr. Nicht nur für die Griechen. Ich sag dir. Wenn Menelaos ernst macht. Dann greift der Bündnisfall. Die Griechen werden ihre Flotte aus allen Königreichen zusammenziehen und Troja vernichten. Eine Frage von drei Tagen. Vier vielleicht. MUTTER Also Krieg. VATER Selbstverständlich Krieg. MUTTER Wie du das sagst. VATER Wie sag ich es denn? MUTTER Aber was heißt das? Für uns, Michael?

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Stück Thomas Freyer VATER Hast du Angst? MUTTER Mach dich nicht lustig über mich. Hörst du? Stille. Ich hab ein Kind. Ich bin eine Mutter. VATER Wir haben ein Kind. Und Troja ist weit weg. MUTTER Immer musst du lachen. Über mich. VATER Was schaust du denn so erschrocken? MUTTER Ich hab es gesehen. Letzte Nacht. Das war. Am Horizont. Wie ein riesiges Feuer. Weit weg, ja. Aber ich bin wach geworden. Davon. Und hab aus dem Fenster geschaut. Und gleich gewusst. Das wird bleiben, das Feuer. Das sticht in die Augen. VATER Ich hab gut geschlafen. MUTTER Immer schläfst du gut. VATER Beruhig dich doch. Kurze Stille. Christiane. MUTTER Und dass du dich selbstständig machen musst. VATER Was hat das denn damit zu tun? MUTTER Gerade jetzt. VATER Natürlich jetzt. MUTTER In der größten Unsicherheit. VATER Kriege gibt es immer. MUTTER Unsichere Menschen kaufen nichts. VATER Photovoltaik ist die Zukunft. MUTTER Zukunft. VATER Ich muss, Christiane. Muss es doch versuchen. Jetzt. Ich will die mir nicht machen, später. Die Vorwürfe. Dass ich nicht den Mut hatte. MUTTER Mut. Als ginge es immer nur darum. VATER Besser als Angst. SOHN Ich hab Hunger. MUTTER Jonathan. VATER Stehst du schon lange da? MUTTER Mensch, ich dachte, du bist im Garten. VATER Hast du gelauscht? MUTTER Dass du dich nie selbst beschäftigen kannst. VATER Jonathan. MUTTER Mein Junge. VATER Hab ich einen Schreck gekriegt. MUTTER Steht einfach da. Mit seinen zehn Jahren. VATER Und immer nuscheln. MUTTER Hat er vom Vater. VATER Nur dastehen und gucken. Gucken, was passiert. Was? MUTTER Fast wie ein Vorwurf. VATER Findest du? MUTTER Eine Anklage. VATER Sag doch mal was. MUTTER Jetzt lass doch den Jungen mal. SOHN Ich hab Hunger. VATER Richtig. Du hast es gehört, Christiane. Es muss was in die Pfanne. Was in den Magen.

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MUTTER Ja, natürlich. Das ist es. Zehn Minuten. Ja? VATER Zehn Minuten. Werden wir wohl überleben. Was, Jonathan? MUTTER Was ist denn, Jonathan? VATER Hast du was? MUTTER Fieber ist es nicht. VATER Er muss mehr essen. Ganz einfach. MUTTER Trink einen Schluck. VATER Schau, Jonathan. Jetzt brät sie gleich. Und summt dabei. Wie ich das liebe an deiner Mutter. MUTTER Ich denk oft. Wir haben so viel Glück. VATER Das schöne Haus. MUTTER Der Garten. VATER Und so viel Ruhe. MUTTER Ja. VATER So viel Ruhe. MUTTER Hast du gut geschlafen, Jonathan? Bestimmt hast du gut geschlafen, ja? Bist nicht wach geworden. Hast nicht am Fenster gestanden. Hast nicht rausgeschaut. In der Nacht. Und keine Angst gekriegt. Nicht wahr? Dass ich dich das nicht gleich gefragt hab, heute Morgen. VATER Jetzt lass den Jungen doch mal. MUTTER Ich bin froh. Einfach nur froh. Dass er gut geschlafen hat. VATER Wie das jetzt zischt in der Pfanne. Hörst du das? MUTTER Wenn er bloß mehr reden würde. VATER Jetzt wird erst mal gegessen, ja? MUTTER Wir haben so viel Glück. VATER Ja.

3 TEKMESSA Dass du, Ajax, meinen Vater getötet und mich geraubt hast. Einst. Aber. Dass alle Welt davon spricht, wie sehr du mich liebst. Dass ich dein Besitz geworden bin. Ich. Tekmessa. Und. Dass ich einmal frei war, bevor du mit deiner Streitaxt in mein Land gekommen bist. Aber. Dass ich dir jetzt einen Sohn geboren hab. Dass du ihn im Arm hältst. Unseren Eurysakes. Seit er auf dieser Welt ist. Dass man denken muss, du lässt ihn nie mehr los. Aber. Dass du, obwohl dir sein Anblick neu sein muss, durch ihn hindurchschaust, seit du Nachricht hast. Von Agamemnon. Und. Dass du längst, noch während die Wöchnerin bei mir war, Befehl gegeben hast, die Schiffe zu verproviantieren. Und. Dass ich einmal frei war. Aber. Dass sie dir immer eine Qual war. Die Friedenszeit. Dass du deinen Körper strafen musstest. Im täglichen Training gegen den Verfall des Alterns. Und. Dass du ein Kind bist, wenn du kein Blut hast, an den Händen. Dass du ein Mann sein wolltest, seit du ein Kind warst. Und. Dass ich einmal frei war. Und alle davon reden, wie glücklich wir jetzt sind.

AJAX Ich kann nur Krieg, Tekmessa TEKMESSA Gib mir meinen Sohn, Ajax. Gib mir Eurysakes. Dass er ein anderer werden kann als sein Vater. AJAX Kein Wort versteh ich, wenn du so sprichst, Tekmessa. Wenn du so wisperst. Ihr werdet mir folgen. Nach Troja. Du und Eurysakes. Ihr seid ein Teil von mir. Hörst du? Mein Herz ist voll von euch. TEKMESSA Ja. AJAX Sobald du dich erholt hast. Stille. TEKMESSA Ja.

4 Spieleabend am Wohnzimmertisch Mensch ärgere dich nicht und Paprikachips mein Vater spricht vom neuen Geschäft von Photovoltaik die vielen Anfragen selbst der maulfaule Nachbar gegenüber zeigt bereits Interesse an PV mein Vater lacht breit während seine Frau die Schüssel mit den Chips auffüllt die Zähne müssen sauber sein dann kommen keine Löcher rein ich spucke ins Waschbecken spüle den Mund aus während ich im Flur stehe höre ich meinen Vater im Wohnzimmer von einem Krieg sprechen er flüstert aufgebracht sagt Krieg als hätte er sehr lang darauf gewartet sagt Vernichten sagt Blut und Blut bis meine Mutter ihn stoppt und erzählt von ihrer Schwester die zu Besuch kommen will mit Mann und Kind und Kind und Kind und dem Neuwagen den es zu bestaunen gilt am Strand von Troja geht mit seinen Männern Ajax vor der Zeit an Land zwölf Schiffe liegen einsam an der Küste man hat

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Stück „Ajax“ mit Widerstand gerechnet mit Gegenwehr und trifft nun auf ahnungslose Hirten die vom Krieg nichts wissen sie blicken freundlich irritiert man unterhält sich spricht mit Händen Füßen am Feuer sitzend wendet man das Fleisch am Abend der Himmel wolkenlos die Tage ziehen träge der Krieg beginnt im Schneidersitz

5 TEUKROS Du willst mit mir sprechen, Ajax? AJAX Setz dich, Teukros. TEUKROS Warum so wütend, Bruder? Was willst du? AJAX Gerechtigkeit. TEUKROS Gerechtigkeit. Das ist viel. Im Krieg. AJAX Du hast einen Hirten getötet. TEUKROS Einen Feind. AJAX Einen unbewaffneten. TEUKROS Einen Trojaner. Jeder Trojaner ist eine Waffe. Es ist Krieg. AJAX Und so sieht er aus? Dein Krieg? TEUKROS Der Hirte hat sich geweigert, Vieh zu verkaufen. AJAX Und du schießt ihm einen Pfeil in den Rücken? TEUKROS Wir sind hier, um Troja zu vernichten. Ich habe einen Auftrag, den ich begonnen habe. AJAX Du wirst für das Totenfest des Hirten sorgen. TEUKROS Ich bin hier, um zu kämpfen. AJAX Kämpf, wenn es so weit ist. TEUKROS Und wann, Ajax? Wann ist es so weit? Wo bleibt das große Griechenheer? Wo bleibt Menelaos mit seinen Schiffen? Wo Agamemnon? Wo Odysseus? AJAX Sie sammeln sich in Aulis. TEUKROS Du, Ajax, hast uns einen Krieg versprochen. Unsere Männer wollen nicht im Sand sitzen und aufs Meer starren. AJAX Du wirst deinen Ruhm auf dem Schlachtfeld finden. Und nicht zwischen Weidenkörben und Ziegenkot. TEUKROS Und du? Bist vorausgeeilt, statt nach Aulis zu segeln, wie die anderen. Wolltest der Erste sein, auf trojanischem Boden. Wolltest Ansehen. Ansehen und Ruhm für Ajax den Großen. Und jetzt hocken wir hier und schmeißen Seetang zurück in die Dünung. AJAX Du bist ein guter Bogenschütze, Teukros. TEUKROS Der beste aus Salamis. Es ist auch mein Krieg.

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AJAX Und du wirst ihn so führen, wie ich es sage. Und ich sage, besorg das Totenfest für den Hirten. Du kannst gehen.

6 SOHN Ich bin elf. Auf dem Heimweg schlagen mich ein paar ältere Jungs aus der Nachbarschaft zusammen, weil ich auf „ihrer“ Straße gelaufen bin. Zu Hause wartet mein Vater. Seit seine Firma bankrott ist, hat er viel Zeit. Ich versuch, die Schürfwunde an der linken Schläfe zu verstecken. Die zerrissene Jacke hab ich in den Rucksack gestopft. VATER Du musst dich zur Wehr setzen, Junge. SOHN Er sitzt am Wohnzimmertisch. Vorm Computer. Er knabbert an seinen Fingernägeln, schaut Nachrichten. VATER Du musst ihnen zeigen, dass sie mit dir nicht machen können, was sie wollen. SOHN Auf der thrakischen Halbinsel verwüsten die Griechen, was sie finden können. VATER Hörst du? SOHN Sie überfallen Verbündete der Trojaner. Die Nachrichtensprecherin redet von Foltervorwürfen und gezielten Angriffen auf Zivilisten. VATER Lügen. SOHN Ich stehe neben ihm und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich will in mein Zimmer. VATER Weißt du, was da wirklich abläuft? Da unten? Soll ich dir mal erklären, was da wirklich passiert? SOHN Eigentlich nicht. VATER Sie wollen, dass wir die Griechen für Monster halten. Und die wahren Gründe für den Krieg vergessen. Die Mutter dazu. MUTTER Du bist ja schon zu Hause. Hilfst du mir mit den Einkäufen? VATER Wie wars auf Arbeit? MUTTER Was hast du da, Jonathan? Was ist passiert? SOHN Nix. Nicht anfassen. MUTTER Mein Schatz. VATER Er muss sich durchsetzen. MUTTER Das muss verarztet werden. VATER Er ist zu weich. SOHN Ich hab nur Hunger. VATER Der Junge muss griffiger werden. MUTTER Jetzt lass ihn doch mal. VATER Du siehst doch, was passiert. In der Welt. Man kann nicht einfach weglaufen. MUTTER Wer war das? Wer hat das mit dir gemacht? VATER Willst du ihn ewig beschützen? MUTTER Ich bin seine Mutter. VATER Er ist kein kleines Kind mehr. SOHN Ich hab Hunger. VATER Ich auch, übrigens. MUTTER Ich koch uns was, ja?

VATER Gute Idee, nicht? SOHN Was? VATER Essen wir was. Was Ordentliches, ja? Komm mal her, mein Großer. Ich kenn das doch. Hab ich doch auch erlebt. In deinem Alter. SOHN Schon gut. VATER Ich lass dich mal in Ruhe, oder? SOHN Ja. VATER Wie du willst.

7 SOHN Ich bin zwölf. Meine Mutter macht Überstunden, Einkäufe und Haushalt. Mein Vater verschickt Links im Internet. Ich esse Müsli, während meine Mutter das Backblech schrubbt. Im Radio die Nachrichten. Nachrekrutierungen der Griechen. Es fehlt an Männern, Geld, Kriegs­ gerät und Verpflegung. Ich versteh nicht viel davon. Meine Mutter schaltet das Radio ab. MUTTER Ich hab für so was keine Zeit. SOHN Sie sieht müde aus. Ich will was sagen, weiß aber nicht, was. MUTTER Wir können ja mal Essen gehen? Wir zwei? Stille. Dass du immer so wenig sagst. Stille. Wie ein Vorwurf. Stille. Wir können ja mal Essen gehen. SOHN Ja. MUTTER Heute? SOHN Gut. MUTTER Ja?

8 SOHN Ich bin dreizehn. Mein Vater hockt die meiste Zeit im Keller. Er legt Vorräte an. Wasser. Konserven. Mehl. Hefe. Er kauft einen Stromgenerator aus zweiter Hand. VATER Ich kann auch rumsitzen. Und auf die Katastrophe warten, als könnte man nichts tun. MUTTER Was denn für eine Katastrophe? SOHN Ich komm aus der Schule. Er merkt nicht, dass ich zu Hause bin. Auf einer Seite, die ihm in irgendeinem Chat empfohlen wurde, bestellt er eine 30-Tage-Notfallnahrungsversorgung Premium für jeden von uns. Außerdem einen Fluchtrucksack und Aktivkohlegranulat. Aus einem Karton auf dem Dachboden zieht er einen alten Kompass. Die Griechen kommen nur langsam voran. VATER Wer, Christiane, kann dir heute verlässlich sagen, dass wir sicher sind? Hast du vergessen, dass Krieg ist? MUTTER Du schmeißt unser Geld zum Fenster raus. VATER Ich trage Verantwortung.

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Stück Thomas Freyer MUTTER Und ich trage dich. VATER Wirst du noch feststellen. Christiane. Irgendwann. Wenn es so weit ist. Dass ich das Richtige gemacht hab. MUTTER Jonathan vermisst seinen Vater. VATER Es ist Krieg. MUTTER Aber nicht hier, Michael. VATER Wer weiß, wie lange noch. MUTTER Wie du mich belächelt hast. Als alles losging. Wie es gebrannt hat, hinterm Feld, und du geschlafen hast. Obwohl alles, alles so hell erleuchtet war. Wie du immer wieder davon gesprochen hast, wie weit das weg ist. Das Schlachten. VATER Ich hab ein neues jetzt, Christiane. Ein neues Leben. Mit dir. Und Jonathan. Ich weiß jetzt endlich, was passiert. Wie es passiert. Und wem es was nützt. Wir sind nicht sicher. Verstehst du? Ein Hund, ein dummer, war ich. Dem man das Fressen vorsetzt. Jeden Tag. Aber die Welt. Die da draußen. Die funktioniert so nicht. MUTTER Ich muss jetzt kochen. VATER Ich muss mich um die Zukunft kümmern. MUTTER Ja. VATER Um unsere. MUTTER Hab ich gehört.

9 SOHN Ich bin vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Der Keller ist eine Bastion. An den Wänden hängen Atemschutzmasken, NBC-Filter und Notfallrucksäcke. Im alten Wäscheschrank liegen Einmalbettwäsche und Tactical Foodpacks. Würzige Nudelsuppe. Curry Chicken mit Reis. Dosenbrot. Es gibt ein Trocken-WC. Die Wände sind verstärkt, die Kellertür mit durchschusshemmenden Schichten überzogen. Mein Vater ist fast immer zu Hause. Ich bin viel bei Freunden. Wenn mein Vater spricht, sage ich nichts. Wenn er mich etwas fragt, sage ich das Nötigste. VATER Ich kann mich doch nicht um alles kümmern.

MUTTER Ich kann nicht mehr, Michael. VATER Glaubst du, dass ich hier faul rumliege, wenn du im Büro bist? MUTTER Du musst damit aufhören. VATER Siehst du nicht, was ich für uns mache? MUTTER Ich will, dass du mir hilfst. VATER Die Welt brennt. Verstehst du das? MUTTER Es ist nur Angst. VATER Angst? Schon mal was von kritischer Infrastruktur gehört? Warum lachst du? MUTTER Ich lache nicht. VATER Du musst hinsehen, Christiane. Begreifen. MUTTER Ich muss den Abwasch machen. SOHN Krieg. Seit fünf Jahren. Die Griechen versuchen einen Belagerungsring um die Festungsstadt Troja zu schließen. Ein Video, aufgenommen mit wackliger Kamera. König Menelaos, der vor seinen Kriegern spricht. „Waffenbrüder und Kampfgefährten.“ Es ist Nacht. Im Hintergrund ein Feuer. Ajax mit seinen Kriegern, die den Worten lauschen. „Wir machen keine Gefangenen.“ Jemand hustet. Im Hintergrund ist das Glucksen von Wasser zu hören: Der Skamandros, den die Trojaner geflutet haben, um den griechischen Vormarsch zu stoppen. „Wir schlitzen ihre schwangeren Frauen auf und löschen ganz Troja aus! Keiner soll sie begraben: Vertilgen wir sie vom Erdboden!“ MUTTER Jonathan? SOHN Zu meinem achten Geburtstag sind wir mal an einen See gefahren. Nur mein Vater und ich. Wir hatten Essen dabei. Und die grüne Luftmatratze. Wir hatten den ganzen Tag Zeit. Er hat mich eingecremt. Wir haben Federball gespielt. Waren im Wasser. Und wir haben eine Burg gebaut. Ich hab allen davon erzählt, am nächsten Tag. In der Schule. MUTTER Wird schon wieder. SOHN Was? MUTTER Das mit Papa. SOHN Was soll mit dem sein?

10 SOHN Ich bin siebzehn. Es ist Nacht. Mein Vater steht im Garten und blickt auf das tote Feld. Am Horizont ist nichts. Nur Dunkelheit. Mein Vater trägt eine Schutzweste. Eine Stirnlampe. Von unserer kleinen Terrasse aus geht er mehrere Schritte Richtung Feld. Dann zwei nach rechts. Plötzlich beginnt er mit einem Spaten zu graben. Kurz unter der Grasnarbe kommt er nicht weiter. Erneut starrt er aufs Feld. Dann lässt er den Spaten fallen und trottet zurück ins Haus. Ich sitze in meinem Zimmer. Warte, bis im Haus nichts mehr zu hören ist, und gehe zum Kühlschrank. VATER Es gibt geheime Eliten. SOHN Er sitzt im Dunklen. Am Küchentisch. VATER Es gibt kein Schicksal, hörst du? SOHN Ich glaube nichts. VATER Alles wird bestimmt. Alles. Die Trojaner. Die stecken dahinter. SOHN Und die Griechen? Die wollen nicht einfach die Meerenge Richtung Schwarzes Meer kontrollieren? Von Troja aus? Die haben sich nicht einfach irgendeinen Grund für diesen Krieg gesucht? Das ist auch alles Lüge, oder was? Alles Weltregierung. Alles Elite. Alles ganz einfach. VATER Dir fehlt Durchblick, mein Sohn. SOHN Weißt du, was da hilft, Papa? Gegen die Weltregierung? Curry Chicken Tactical Foodpack und ein Trockenklo. VATER Du machst mich nicht lächerlich. SOHN Und du wirst mich nicht schlagen.

11 SOHN Ich bin achtzehn. Mein Vater redet nicht mehr mit mir. Ich bin kaum zu Hause. Schlafe oft bei Freunden. Bin weg. MUTTER Kannst du mir mal sagen, was das soll? VATER Ich dachte, du bist im Büro.

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Stück „Ajax“ MUTTER Was zur Hölle macht der Bagger in unserem Garten? VATER Ich muss 90 Kubikmeter ausheben. MUTTER Was? VATER 90 Kubik. MUTTER Du machst es kaputt. Alles. Was wir uns aufgebaut hatten. Wir waren doch glücklich. VATER Ja? MUTTER Und hatten unsere Ruhe. VATER Ich werde dieses Gespräch mit dir nicht fortsetzen.

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SOHN Ich bin neunzehn. Mein Vater hat einen Bunker gebaut. Das Grundstück verkommt. Überall Abraum, Folien, leere Betonsäcke, Schmutz. Rasenreste. Vermüllte Gemüsebeete. Ich will verschwinden. Ich schlafe schlecht. Am späten Nachmittag macht mein Vater etwas, dass er Patrouillenlauf nennt. Ausgerüstet mit schusssicherer Weste, stichsicheren Handschuhen und einer im Rucksack verstauten kleinen Armbrust macht er sich auf den Weg. Nach einer Stunde kommt er zurück zum Bunker. Eine Platzwunde am Hinterkopf. Ein Loch in der Hose. Getrocknetes Blut unter der Nase. VATER Sie machen sich lustig über mich. Sie lachen, wenn sie mich sehen.

13 SOHN Ich bin zwanzig. Meine Mutter lebt allein im Haus. Mein Vater im Bunker. Sie arbeitet viel. Die Vorhänge zum Garten sind auch am Tag geschlossen. Troja ist uneinnehmbar. Einer der großen griechischen Helden, Achilleus, stiehlt, weil es kaum noch militärische Erfolge gibt, eine Viehherde im Gebirge Ida. Tötet Bauern und Hirten. Manchmal besuche ich meine Mutter. Sie hat Kuchen gebacken. Wir sitzen im Wohnzimmer. MUTTER Dass du nur noch selten vorbeikommst, seit du deine Wohnung hast. Dass du wegwolltest. Von hier. Weg von uns. Schon so

lang und ich es nicht gesehen hab. Dass du dich schämst. Für ihn. Dass du dich nicht blicken lassen willst. Dass ich immer dachte, es liegt an deinem Alter. An der Zeit. Dass ich immer alles schönreden musste, um nicht unterzugehen. Dass du still warst, weil es nie um etwas ging, wenn wir miteinander sprachen. Dass ich alles, alles auf mich beziehen musste und ihn in Schutz genommen hab. Deinen Vater. Der ein Kind ist. Im Leben. Und keinen Krieg findet. Dass ich aber. Statt all das zu sagen. Den Kuchen. Loben muss. Dass ich frage, ob du immer genug isst. Dass ich immer, immer wieder sage, dass ich für dich da bin. Stille. Und doch immer, immer weg bin, während du mit mir sprichst. Dass ich lächle. Lächle. Dass ich immer lächeln musste.

14 ein leiser Windzug schiebt sich durch den Seegang vor der Küste Trojas ein Krieg erlahmend im zehnten Jahr die belagerte Stadt unter einer maßlosen Sonne jeder Schritt drückt Staub in eine trockene dünne Luft durch die der Blutgeruch sich zieht hinter den Mauern der trojanischen Festung steht Hektor der trojanische Prinz im Zwiegespräch mit einem der Seher sie sind mehr geworden mit jedem Kriegstag im Rücken des großen Erklärers liegen die toten und verletzten Krieger man hört das Stöhnen der Versehrten wie

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Dedalus Ensemble spielt Éliane Radigue und Brian Eno 13.01. Highlights Dezember

Highlights Januar

lang noch fragt Hektor geht dieser Krieg wir verlieren unsere besten Männer der Seher weiß Antwort seit ihm letzte Nacht ein Gott in den Traum gefahren ist ein Zweikampf mit dem Griechen Ajax sagt er beendet alles Sterben nur Mut dein Tod ist noch nicht vorgesehen wenn es so einfach ist sagt Hektor die Toten und Verwundeten sie hören ihren Helden stockend kichern

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15 TEKMESSA Dass du im Zelt bleiben sollst, hab ich gesagt. Dass du dich nie hinter den Linien herumtreiben darfst, Eurysakes. Wenn sie sich abschlachten. Tausendmal hab ich dir das gesagt. Das hier. Dieser Krieg. Der ist nichts für dich. Stille. Kein Kind mehr? Du bist zehn, Eurysakes. Weiß dein Onkel, dass du hier bist? Stille. Ich werd dir sagen, was dein Onkel, was Teukros damit zu tun hat. Stille. Es ist immer Krieg. MUTTER Hast du etwa noch geschlafen? TEKMESSA Wir gehen zurück ins Zelt. Jetzt. MUTTER Du bist nicht rangegangen, ans Telefon. TEKMESSA Weil ich Angst um dich hab. MUTTER Ich hab x-mal angerufen. TEKMESSA Du kannst auch woanders ein Mann werden.

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Stück Thomas Freyer MUTTER Kann ich nicht reinkommen? TEKMESSA Schau sie dir an. Die Männer hier. Die einen brüllen und träumen von Ruhm und Ehre. Die anderen verrotten im Sand. MUTTER Weil ich mir Sorgen gemacht hab. TEKMESSA Ruhm ist ein kleines Stück Beute. Und ein paar Geschichten, die man erzählt, bevor man stirbt. MUTTER Kalt ist es bei dir. TEKMESSA Und deine Ehre. Die juckt auch nur die, die aufschauen müssen. Und ein Leben lang buckeln. MUTTER Ich mach dir doch keine Vorwürfe. TEKMESSA Ich will, dass du mit mir kommst. MUTTER Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht. TEKMESSA Hörst dich an wie dein Vater. MUTTER Weißt du. Ich kann ein bisschen aufräumen, während du dich duschst. Ich brauch nur. Einen Lappen, einen Eimer. TEKMESSA Kein Mann sagt mir, was ich tun soll. Kein Mann. Und ein kleiner Junge schon gar nicht. MUTTER Kurz den Boden wischen. Die Flaschen wegräumen. Jetzt rede doch mal, Jonathan. Red mit mir. TEKMESSA Das, was du hier siehst, Eurysakes. Das brennt sich ein. So tief. Das kannst du noch nicht wissen. Wenn du siehst, wie einer zuckt, der einen Speer durch den Hals kriegt. Wenn du siehst, wie einer zusammensackt, plötzlich. Dem ein Pfeil durch den Augapfel ins Hirn schießt. Wie sie sich die Arme abschlagen. Die Schädel zertrümmern. Willst du das alles behalten? Mit dir herumtragen? Und alles weitergeben? MUTTER Warum erzählst du mir das? TEKMESSA Ich habe ihn so satt. Diesen Krieg. MUTTER Hat sich hier einer übergeben? Auf den Küchentisch? TEKMESSA Schrei nicht so. Ich reiß ihn dir ja nicht ab, deinen Arm. SOHN Was willst du? Stille. Kannst du nicht anrufen, bevor du kommst? Stille. Ist nicht böse gemeint, Mutter. EURYSAKES Ich bin kein Kind mehr. SOHN Habs nicht gehört. EURYSAKES Was hat Teukros damit zu tun? SOHN Ich sitz nicht den ganzen Tag vorm Telefon. EURYSAKES Es ist Krieg, Mutter. SOHN Gut. Komm rein. Es. Es ist nicht aufgeräumt. EURYSAKES Ich bleibe hier. SOHN Warum schaust du mich so an? EURYSAKES Was schaust du so? SOHN Ich komm schon klar. Ich wollte. Wollte noch einkaufen. Heute. Und das wegräumen.

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Die Flaschen überall. Was willst du denn jetzt mit meiner Bettdecke? Bist du deswegen gekommen? Willst du sehen, wie schlimm es geworden ist? EURYSAKES Bald schon. Bald steh ich dort. Werd kämpfen. Den Bogen, weißt du, beherrsch ich so gut wie Teukros. Was ist? Jetzt schaust du schon wieder so. Wie soll ich ein Mann werden, wenn du mir nicht von der Seite weichst? SOHN Die Heizung. Ja. Seit einer Woche geht die nicht mehr. Glaub ich. Weiß nicht, warum. EURYSAKES Ich will werden, was die anderen sind. Hörst du? Ich will kämpfen. Und ich will, dass alles hier zugrunde geht. Dass Troja ausradiert wird. SOHN Und warum bist du dann hier? EURYSAKES Was weißt du schon von Ruhm? SOHN Es geht mir gut. Siehst du doch. EURYSAKES Ach ja? SOHN Lass, bitte. EURYSAKES Hör auf. SOHN Hör auf damit. EURYSAKES Was verstehst du davon? Von allem hier? Als Frau. SOHN Du wirst hier nichts putzen. Nichts aufräumen, Mutter. Nichts abwaschen. Ich lebe so. Hörst du? In meinem Müll. In meinem Gestank. Da ist eine Schicht. Schau mal. Auf meiner Haut. Der Talg bindet den Dreck darauf. Und dahinter bin ich. Riechst du das? Kannst du das riechen? EURYSAKES Ich werd dir sagen, was du tun wirst. Du drehst dich jetzt um und lässt mich tun, was ich will. SOHN Gut. EURYSAKES Siehst du das, Mutter? Dort drüben. Das will ich. Wie der dem den Speer von der Seite in den Schädel gerammt hat. Hast du das gesehen? Wie schnell der zusammensackt? Und wie die zucken? Die Beine? So lange. Und so oft. Ob der weiß, dass er jetzt stirbt? SOHN Ja. Ich hab auf den Tisch gekotzt. Ich dachte, das passt. Passt ganz gut zum ganzen Rest. Ist gut. Keine Panik. Irgendwann mach ich das schon weg, verstehst du? EURYSAKES Ich hab alles gesehen. Alles. SOHN Jetzt hast du alles gesehen. EURYSAKES Lass mich. SOHN Du kannst gehen. EURYSAKES Du sollst mich loslassen. Stille. Du weißt es. Und. Ich kann das sehen. Längst. In deinen Augen. Dass es das letzte Mal ist. Dass du mich wegzerren kannst, Mutter. Mich wegbringst. Einfach. Ins Zelt. Wie es dir passt. Das letzte Mal. Weil der kleine Junge. Beim nächsten Mal schon. Stärker ist. Als du.

16 Vater wird Stadtgespräch während ich am Nachmittag die Vorhänge zurückziehe um doch nur wieder in mein Bett zurückzufallen ein Irrer in Tactical Shorts hebt Geld ab in der örtlichen Sparkasse überall Feinde und Schläfer warmes Bier verläuft sich auf den klebrigen Fliesen im Bad morgen morgen schon in aller Frühe stehe ich auf und ziehe mich aus dem Sumpf in dem ich mich landen sah beim Pissen als die Bierflasche mir aus der Hand geglitten ist mein Schlaf auf den Scherben mit einem Schwert so lang wie ein Männerbein schreitet inmitten der Stille der trojanische Held Hektor auf das Schlachtfeld eines Krieges der seinen Atem anhält für einen Augenblick

17 TEUKROS Hektor. Er ist da. Er steht bereit für dich, Ajax. Schau ihn an. Er glaubt, dass er den Krieg beenden kann. Und zittert doch. Vor dir. Glaubt, dass er dich besiegen kann und wir abziehen müssen. Und schüttelt doch unmerklich den Kopf. Wirst ihm den abschlagen, ja? Wirst uns Troja holen. AJAX Und den Krieg beenden. Ja. TEUKROS Das wollten wir doch. Troja. AJAX Ja. TEUKROS Deswegen sind wir hier. AJAX Ich bin für den Krieg hier, Teukros. Für den Krieg. TEUKROS Für Menelaos. Für seine Ehre. AJAX Ehre. Ja. TEUKROS Für Helena. AJAX Du hast recht, Teukros. TEUKROS Was ist? AJAX Wir kämpfen schon so lang. TEUKROS Zehn Jahre. AJAX Wie viele Schädel haben wir einge-

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01 /24 schlagen? Wie viele Trojaner verbluten sehen? Wie viele von denen haben wir zerstückelt? Massakriert? TEUKROS Wir haben unsere Arbeit gemacht. AJAX Als wärs der erste Tag an diesem Strand. So bin ich jetzt. Ganz unverändert. Hörst du? TEUKROS Wie du klingst. Willst du nicht kämpfen? AJAX Ich will immer kämpfen. TEUKROS Und sitzt rum. Und dein Schild liegt auf dem Boden. Die Streitaxt daneben. AJAX Ich werde Hektor töten. TEUKROS Das wirst du. AJAX Und dann? TEUKROS Ich versteh dich nicht, Ajax. AJAX Gehört uns Troja, lieber Bruder. Nehmen wir, was uns zusteht. Ziehen wir zurück, nach Hause. Und warten. Bis irgendwann. Irgendwann ein anderer Krieg beginnt. Ist es so? EURYSAKES Willst du nicht endlich kämpfen, Vater? AJAX Eurysakes. Was hast du hier zu suchen? EURYSAKES Warum sitzt du hier und redest? Hektor ist schon auf dem Feld. AJAX Wo ist deine Mutter? EURYSAKES Wo ist deine Ehre? TEUKROS Du sprichst mit deinem Vater, Eurysakes. AJAX Bring ihn nach draußen, Teukros. Und dann hilf mir in die Rüstung. Du wirst Worte finden. Für meinen Sohn. EURYSAKES Du musst Hektor töten, Vater. AJAX Raus mit ihm.

18 da ist nur ein Keuchen und abgebrochenes Husten ein Ausspucken und der bittere Schweißgeruch der aufgebrachten Krieger die im Kreis um den Kampf stehen da ist ein erster Speer der Ajax streift der Staub der in die Lungen zieht das mögliche Ende eines Krieges das getrocknete Blut aus zehn Jahren Schlacht das unter den Tritten in der Luft zerstäubt rot ausflockt unter einer flachen Sonne da ist der zurückweichende Hektor der Heerführer Trojas schnaubend im Krebsgang und der weit

ausladende Schatten des Ajax der die Axt schwingt als würde er sie in die Welt mischen wollen da ist Gebrüll das Jauchzen der Griechen und das nicht enden wollende Wüten der Trojaner da ist ein Stein den Hektor zu fassen kriegt ein Zufallsfund während er dem Schatten des Feindes auszuweichen sucht ein Wurf der am Schild des Ajax abprallt und wie ein verfaulter Apfel auf den Boden fällt da ist nur noch Schnauben Schnaufen und Speichel der Hektor mit jedem Ausatmen aus dem Mund schießt und da ist Ajax der sich den Hals hält plötzlich dem das Blut darunter hervorquillt der sich abwendet vom Kampf den Kopf schüttelnd jeder Ruf der Griechen ein Peitschenhieb für den Frieden Ajax aber der Große Ajax sieht sich im zaghaft sinkenden Staub hockend sieht sich den Kampf abbrechend lächelnd wissend dieser Krieg wird dauern sieht unter den Umstehenden aber den Sohn sieht Eurysakes der weinend in blanker Bitternis die schmalen Schultern immer wieder unrhythmisch zuckend nach oben ziehen muss sieht diesen seinen Sohn weinend zwischen den Kriegern um diesen Patt im Duell der beiden Helden sieht Hektor sich aufraffend ein Gesicht tragend das vom unverhofften Glück gezeichnet ist

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Stück Thomas Freyer mein Tod denkt Hektor stumm Schmutz auf der mit Schweiß bedeckten Stirn mein Tod ist noch nicht vorgesehen so gesehen hatte er der Seher recht da ist die kurze Stille die noch bleibt ein Moment geteilter Ungläubigkeit bis sich der Krieg erneut erheben wird

19 TEUKROS Weiß deine Mutter, dass du hier bist? EURYSAKES Die. TEUKROS Sie hat es nicht gern, wenn du dich hier rumtreibst. Und die Schlacht siehst. EURYSAKES Ich hasse Hektor. TEUKROS Der Kampf war gerecht. EURYSAKES Mein Vater. Er hätte Hektor töten können. Töten müssen. TEUKROS Hektor war stark. EURYSAKES Siehst du ihn? Dort drüben? Deinen starken Hektor? Wie er einen Griechen nach dem anderen abschlachtet? TEUKROS Das ist Patroklos. EURYSAKES Dem Hektor das Schwert in den Kopf schiebt? TEUKROS Achills Freund. EURYSAKES Der muss sterben, weil mein Vater nicht mehr kämpfen wollte. TEUKROS Das ist nicht gut. Dass du nur das kennst. Vom Leben. Bist ja ein Kind. Eigentlich. Noch. EURYSAKES Achill muss ihn rächen. Seinen Freund. TEUKROS Das wird er.

20 VATER Du kannst mich nicht ewig aussperren. Hörst du, Christiane? Ich weiß, dass du im Haus bist. Das Auto. Das steht ja in der Einfahrt. TEKMESSA Er hat ihn getötet. Achill hat Hektor getötet. VATER Weißt du noch? Als das Gleißen begonnen hat? Hinterm toten Feld? AJAX Ich weiß. VATER Was für eine Angst du damals hattest. TEKMESSA Und er hat den Leichnam. Er hat Hektors Fersen durchbohrt. Schleift ihn wie

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ein Stück Fleisch an einen Strick gebunden hinter sich her. Durch den Staub. Drei Mal um Troja. Das. Ist dein Krieg, Ajax. MUTTER Verschwinde, Michael. AJAX Achill entscheidet, was er tut. Nicht ich. TEKMESSA Und Eurysakes klatscht und glotzt und jubelt. AJAX Mit mir spricht er nicht mehr. VATER Seit dieser Krieg begonnen hat, bist du aus der Welt gefallen. Ja. Jetzt lachst du wieder. AJAX Er hält mich für einen Feigling. TEKMESSA Wir müssen weg von hier. VATER Troja, Christiane. Troja ist hier. Überall. Es greift nach uns. Will uns auslöschen. Die Griechen haben das erkannt. Alles ist Krieg. Alles ist da, um uns zu vernichten. Und du. Sperrst mich aus. Obwohl ich es bin, der uns schützt. Ich. Ich werde Troja vernichten. MUTTER Ich wünschte, du wärst nicht mehr hier, Michael. TEKMESSA Eurysakes hat geweint, als du den Kampf gegen Hektor abgebrochen hast. Und jetzt. Kann er die Augen nicht ablassen. Von dem, was Achill hinter sich herzieht. Ich hab ihn gesehen. Unseren Sohn. Hab gesehen, wie er lernt. VATER Glaubst du etwa, es war Zufall, dass Ajax das Duell gegen Hektor abgebrochen hat? Dass er plötzlich eine Verwundung größer gemacht hat, als sie war? Statt diesen Kriegstreiber auszuradieren? Und damit diesen Krieg zu beenden? Frag dich doch mal, Christiane. Frag dich, wem es nutzt, dass der Krieg weitergeht. Es gibt eine Macht, die du nicht siehst. Und diese Macht. Die hat Zugriff. Auf den Kampf. Selbst auf Ajax. Sie müssen ihm gedroht haben. Troja. Das ist viel größer. Als diese Festung. Troja ist ein Netz, das sich über den ganzen Erdball spannt. Es ist kompliziert. Ich weiß. Aber du musst mir zuhören. MUTTER Was, Michael? Was willst du von mir? AJAX Er ist grausam. Achill. TEKMESSA Er führt Krieg wie alle Griechen. Hast du gehört, was Odysseus verbreiten lässt? Wir dürfen unsere Grausamkeit nicht zügeln, wenn wir ihn gewinnen wollen. Den Krieg. MUTTER Ich hab mein Leben. Und du deinen Bunker. AJAX Sie sind verloren. Die Trojaner. Ohne Hektor. Achill wird sie brechen. TEKMESSA Und Eurysakes. Er hat auch von dir gelernt. Viel zu viel. VATER Ist schon seltsam, oder? TEKMESSA Ich will weg. Hörst du, Ajax? VATER Die alte Tür. Die hätte ich einfach einschlagen können. TEKMESSA Lass mich gehen. Mich und Eurysakes. VATER Dabei wolltest du gar keine. Keine Si-

cherheitstür. Vielleicht hätte ich auf dich hören sollen. AJAX Du bleibst. TEKMESSA Weil ich dir gehöre. AJAX Weil ich dich liebe. VATER Aber. Keine Angst. Ich warte einfach. Bis du mich wieder verstehst. Hörst du? Bis du endlich verstehst, wie diese Welt jetzt funktioniert. Ich hab ein Bett. Im Bunker. Für dich.

21 auf dem Nachttisch verschimmelt das Frikassee in der Assiette dem toten Hektor fehlen die Schneidezähne Achill der vor dem Zelt noch ein wenig mit dem Toten spielt selbstvergessen seine Haut versengt die Augen eindrückt spricht nicht mehr ich sehe wie er dem was von Hektor übrig ist mit Mühe die Zunge aus dem Kopf reißt Eurysakes plötzlich vor meinem Bett stehend in dem ich unruhig einen Rausch voller Übelkeit und Ekel ausschlafe was machst du da fragt das Kind mit dem Bogen in der Hand willst du nicht einfach sterben ich richte mich unbeholfen auf erbreche mich neben das Bett fühl dich wie zu Hause sage ich ihm schließlich während ich mir den Mund abwische vom Schnaps ist noch etwas da ich müsste das aufwischen weiß ich die Luft ist schwer riecht säuerlich ich ziehe die Gardinen zurück verschwinde im Bad bestaune die Abwesenheit der Klobrille das Kind Eurysakes steht vor mir während ich meinen Darm entleere es plätschert so dahin sage ich mein Leben verstehst du das Kind spricht Unverständliches ich höre Kampf und Ehre und suche vergeblich nach Klopapier lass mich ich

Theater der Zeit 1 / 2024


Stück „Ajax“ hab meinen Frieden gemacht meinen untätigen mit einem Handtuch wische ich mir den Arsch das Wasser ist längst abgestellt ein Hund bin ich ein Hund Achill ich kriege Lust statt ihn statt Hektor zum Fraß den Hunden vorzuwerfen das Fleisch das rohe selbst zu speisen ich bin ein Hund was glotzt du so empfindlich du bist doch Kriegskind und ich lege mich zurück ins Bett der Tag nimmt seinen Lauf auch ohne mich das Kind im Panzer nimmt als ich es anseh meine Hand nicht ablassen vom toten Hektor kann Achill noch einmal zieht den Leichnam er am Strand von Troja durch den Staub sieht auf die Festung auf die Mauern nimm diesen Klumpen Fleisch es war mir eine Ehre schon wieder Dämmerung aus dem Fenster schauen das Radio in der Küche an der Front überschlagen sich die Ereignisse Tod eines Unbesiegbaren Achill getroffen vom Pfeil des Paris ein unwahrscheinlicher Tod die Angaben können noch nicht bestätigt werden am Arm kratzen die Stimme aus dem Radio nicht mehr ertragen das Brummen des Kühlschranks nicht mehr ertragen das Geräusch wenn die abgestandene Luft in meine Lungen strömt nicht mehr ertragen der Wunsch nach der völligen Abwesenheit

Theater der Zeit 1 / 2024

eines Klangs eines Tons Wunsch nach der Stille eines stehenden Gewässers in einem schallisolierten Bunker in der Tiefe irgendeines Berges mein Herz schlägt aus

22 TEKMESSA Hast du gesehen, wie er gelächelt hat? TEUKROS Hab ich. TEKMESSA Wie er allen zeigen musste, dass er, dass der Große Ajax, den toten Achill geborgen hat. Und wie er Umwege gelaufen ist. Extra. Im Schiffslager. Um auch ja an allen vorbeizukommen. Wie er sich auf die Schultern klopfen ließ. Das ganze Griechenheer trauert um Achill. Und Ajax. Senkt den Kopf und lächelt voller Stolz. TEUKROS Es ist Krieg, Tekmessa. Es muss auch Siege geben. TEKMESSA Als wäre das die Erklärung für alles. Krieg. AJAX Du, Odysseus? TEUKROS Ich versteh dich ja. TEKMESSA Nichts tust du. AJAX Aus welchem Grund? Das musst du mir erklären, Odysseus. Aus welchem Grund erhebst du Anspruch auf Achills Rüstung? Warst du es nicht, der sich drücken wollte? Vor diesem Krieg? Warst du es nicht, der sich flehend, hilfesuchend umblickte, als sich die Trojaner über die Leiche Achills hermachen wollten? TEUKROS Ich hab ihn satt. Wie du. Diesen Krieg. Sie sind so schmal geworden, die Tage hier. Was ist schon übrig? Von meinem Leben. Wie es gewesen ist. Davor. AJAX Ich gebe nichts. TEUKROS Wenn ich an Salamis denke. An unser Zuhause. TEKMESSA Euer Zuhause. AJAX Ich gebe nichts auf deine klugen Worte, Odysseus. Was soll uns dein Verstand gebracht haben? Du hast rumgestanden und ängstlich geglotzt. Jetzt nennst du es Nachdenken? TEUKROS Alles ist so weit weg, Tekmessa. Alles, was vor dem Krieg war. Ist nur noch. Ein blasser Traum. Alte Erinnerung. Mein Haus. Und der Blick auf die Berge. Ein ferner Traum. Und dieser Krieg ist ein nie enden wollender, tiefer Schlaf, in dem das Blut im ewig flachen, trockenen Boden versickert. Immer ist Nacht. Und immer kann ich das Brennen der Sonne spüren. AJAX Ich habe ihn aus der Schlacht gezogen. Ich habe Achills Leiche, habe seine Waffen geborgen. Von welcher List du sprichst, weiß ich nicht. War es deine List, die dich so unbeweglich machte?

TEUKROS Es tut mir leid. TEKMESSA Was? TEUKROS Ich darf nicht so reden. AJAX Ohne mich, Odysseus, hätten dich die trojanischen Hunde zerfetzt. Und jetzt stehst du hier? Und verlangst, was dir nicht zustehen kann? TEKMESSA Sie werden sie Odysseus zusprechen. Die Rüstung. Er weiß, wie man sich nimmt, was man will. Er hat einen klugen Kopf. AJAX Dass du nicht selbst lachen musst, während du so vor dich hin redest. Ich habe kein Kommando gehört. TEKMESSA Ajax hält diesen Krieg für einen Kampf. Odysseus weiß, dass alles Politik ist. Kühles Abwegen. Das Blut ist nur das Fortschreiten der Zeit. AJAX Wenn es stimmt, was du sagst. Dann sehen wir, hier, wohin uns deine Weisheit geführt hat. Nach zehn Jahren Krieg steht Troja unverwüstlich vor uns. TEUKROS Ich würde dich gehen lassen, Tekmessa. Wenn du. Also. An seiner Stelle. Als Ajax. AJAX Sag das, Odysseus, den Kindern. Und den Frauen der toten Krieger. TEUKROS Es tut mir leid. TEKMESSA Deine Großzügigkeit? AJAX Zu meiner Sicherheit? Du hast keinen einzigen Trojaner getötet, Odysseus. Keinen einzigen. Deine Augen waren ganz kalt vor Angst. TEKMESSA Du bist auch nur einer von vielen, Teukros. Du bist auch nur ein griechischer Krieger. AJAX Dass wir ohne dich diesen Krieg nicht gewinnen werden? Was hat das mit Achill zu tun? TEKMESSA Du verstehst Ajax besser, als du mir glauben machen willst. Was bist du noch, Teukros, ohne diesen Krieg? Ein alter Mann, der aus dem Haus schaut? Auf seine Berge? VATER Ich wollte dich besuchen. SOHN Du? Jetzt? VATER Ich kann nicht einfach raus, Jonathan. Auf die Straße. Wenn ich Lust hab. Verstehst du? Es ist gefährlich. Die Welt ist gefährlich. TEKMESSA Wie du mich anschaust. AJAX Das sind Lügen, Odysseus. Du hast keine Anweisungen gegeben. Ich war nicht desorientiert, und du hast mich auch nicht aus der Schlacht in Sicherheit geführt. VATER Ich hab dir was mitgebracht. SOHN Ich will nichts. AJAX Du hast nichts beschützt. Du warst nur Angst. SOHN Lass mich in Ruhe mit deinem Untergang. Ich hab an mir selbst genug. VATER Jonathan. SOHN Ich muss schlafen. TEUKROS Du bist schön. SOHN Was soll ich mit einem Messer?

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Stück Thomas Freyer TEUKROS Tut mir leid. VATER Ist mit Hunter-Klinge. TEKMESSA Du musst gehen. TEUKROS Ja. VATER Ich dachte nur. Weil wir nicht mehr so viel miteinander zu tun haben. Und dann bin ich mal vorbeigekommen. AJAX Es ist alles Lüge. Ihr wisst, dass Odysseus lügt. Aber es ist euch egal. Er verspricht euch, alles zu sein. Mut und Klugheit. Tapferkeit. Und Stärke. Und er tut nichts. Er verspricht euch den Sieg. Und es genügt euch, dass er davon redet. TEKMESSA Ich brauche keinen Mann. AJAX Kein Wort aus seinem Mund tötet einen Feind. SOHN Nimm dein verdammtes Messer wieder mit. AJAX Mir steht die Rüstung zu. VATER Wir haben mal an einem Tisch gesessen. In unserem Haus. Zusammen. Wir haben gelacht. Und erzählt. Wir sind in den Urlaub gefahren. Im Sommer. Weißt du noch? Zu deinem achten Geburtstag. Wie wir an den See gefahren sind. Wir zwei. AJAX Wie kann man mich so verraten? SOHN Ich muss schlafen. TEUKROS Was ist? Ajax? AJAX Sie haben ihm die Rüstung gegeben. TEUKROS Beruhig dich. MUTTER Was hast du hier zu suchen, Michael? AJAX Er muss sterben. TEUKROS Ruhe und Besonnenheit, Ajax. Nur das zählt. VATER Wir werden wieder eine Familie sein. AJAX Lass mich, Teukros. Verschwinde. Wo ist Tekmessa? MUTTER Du zerstörst alles. TEUKROS Im Zelt. VATER Du musst nur verstehen, Christiane. Um was es wirklich geht. Du wirst sehen. Wie recht ich hatte.

AJAX Lass mich jetzt allein. MUTTER Lass ihn in Ruhe. Bitte. Lass Jonathan in Frieden. VATER Hast du denn nicht gehört, was in Troja vor sich geht? Hast du nicht gehört, dass man ihn betrogen hat? Ajax. Dass man Odysseus die Rüstung zugesprochen hat statt ihm? Weißt du, was das bedeutet, Christiane, wenn man diesem Mann nicht die Ehre erweist, die ihm zusteht? AJAX Ich hasse so stark. VATER Alles wird jetzt schneller gehen. Alles steht auf der Kippe. TEKMESSA Ich weiß, dass du mich nicht gehen lässt, Ajax. VATER Jeder Tag, den wir noch haben, bevor es losgeht, ist ein Geschenk. TEKMESSA Aber meinen Mund. Den werde ich nicht halten. VATER Wir müssen uns vorbereiten. Besser vorbereiten. Ich wollte ihm ein Messer schenken. Jonathan. AJAX Wie er gelächelt hat. Odysseus. MUTTER Ich trage so viel. So viel Ekel in mir, Michael. Wenn ich dich reden hör. Am Anfang, weißt du? Da hab ich gedacht, es ist gut. Gut, wenn man ein paar Dinge hinterfragt. Wenn man nicht alles glaubt. Da war. Eine Angst in mir. So ein leerer Raum. Als es gebrannt hat. Hinterm toten Feld. Da war so viel Platz. Für dein Misstrauen. Für jede deiner vielen Fragen. Auf die du immer eine Antwort hattest. Immer. Später. Kam die Langeweile. Wenn du vor dem Rechner saßt. Mir vorgelesen hast. Obwohl ich dir schon so lang keine Fragen mehr gestellt hatte. Ich hab da gestanden. In der Tür. Du hast mich nicht angesehen. Ich hab nie was gesagt. Hab vor mich hingestarrt, während du deine Vorträge gehalten hast. Ich. Hab sie so sattgehabt. TEKMESSA Hast du sie einmal gesehen? AJAX Von wem sprichst du? MUTTER Diese Langeweile.

TEKMESSA Helena. MUTTER Aber die blieb nicht lang. TEKMESSA Wegen ihr habt ihr diesen Krieg begonnen. Wem steht sie zu? Die Beute? MUTTER Und dann hab ich angefangen, mich zu ekeln. TEKMESSA Aber was, wenn Helena gar keine Beute ist, Ajax? Was, wenn sie freiwillig nach Troja gegangen ist? AJAX Was soll das? MUTTER Ich hab deine Worte nicht mehr ertragen. Dich nicht mehr ertragen. Ich wollte nur noch, dass du endlich deinen Mund hältst. TEKMESSA Oder was, wenn die Trojaner die Wahrheit sagen? Dass sie nie hier war? Nie trojanischen Boden betreten hat? MUTTER Aber du. Du hast einfach nicht mehr aufgehört. Mit deiner kleinen, dummen, dummen Klugheit. Was bist du für ein Häufchen geworden, Michael? Was bist du für ein Mann? TEKMESSA Oder ist alles längst egal, Ajax? Der Krieg läuft. Und läuft. Man schlachtet vor sich hin. Das gewohnte Heldenhandwerk. MUTTER Es ist egal. Was ich sage. Das weiß ich längst. VATER Hast du was gesagt, Christiane? TEKMESSA Oder geht es die ganze Zeit bloß um ein Stück Blech? Um deine Ehre, Ajax? Und um die von Menelaos? Zehn Jahre Krieg? Deswegen? Weil irgendein Mann nicht hat, was ihm seiner Meinung nach zusteht? Führt ihr Krieg, weil ihr den Hals nicht voll genug kriegt? Ist das, Ajax, diese Gerechtigkeit, von der du so oft gesprochen hast? Ist das euer Ruhm? AJAX Hast du was gesagt, Tekmessa? TEKMESSA Ich? AJAX Du hast nichts gesagt? TEKMESSA Nein. Nur. Dass das dein Untergang ist. AJAX Ja?

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Stück „Ajax“

23 in der Unverrückbarkeit der Fronten einer stehenden Zeit schreit schlaflos träumend Ajax Verrat die Nacht gräbt unnachgiebig sich durch seine Haut die Schafe liegen stumm unter dem kalten Licht des Alls unendlich und in Gedanken die in Träumen sich so ungelenk verzahnen zu einem Alb der durch die Poren treibt sieht er sich sieht Ajax sich umherlaufen unter den Blicken der griechischen Krieger seht her ihr Brüder das ist Ajax den man betrogen um seinen Lohn seht ihn wie er den aufrechten Gang nachahmend unter uns weilt die Mutter legt dem Ehemann an einem regnerischen Abend Papiere vor die Bunkertür will Scheidung will ein neues Leben ohne ihn der daraufhin das Haus mit Dreck und Schlamm bewirft und schreit und greint gegen die Ungerechtigkeit der Welt und im Speziellen gegen seine Frau die Schutz gesucht hat hinter der Familiencouch dort hockt sie in der Dunkelheit dass der der schmeißt und greint sie nicht entdecken kann sieht dann verängstigt aus dem Fenster wie

der Vater ihres Sohnes nass und schnaubend durch den Garten stapft so nicht so darf mit mir nicht umgegangen werden Christiane brüllt er lass mich rein und Ajax knöpft und schnallt sich in die Panzerung greift gleich beim Morgengrauen nach Axt und einer Peitsche alles treibt jetzt alles hetzt in ihm und schiebt sich auf zu einem Berg von dem aus alles Weitere nur freier Fall durch dünne kalte Luft und nichts mehr kontrollierbar ist der Vater schreit und schreit die Nachbarn schieben schon die Vorhänge zurück der wird sich gleich beruhigen der grüßt doch immer freundlich vor dem Zaun und auch im Supermarkt man hat gehört dass seine Frau ihn nicht ins Haus mehr lässt was bleibt ihm denn der Sohn soll Drogen nehmen das nur nebenbei erwähnt und Ajax steht am Strand der Speichel tropft ihm aus dem Maul gefräßig ist die Zeit und voll von Hass und trüb das Licht des Tages die kühle Luft die Männer stöhnen klagen wer wagt es jetzt sich gegen mich zu stellen ich führ das Schwert den Dreck die Axt ich bin es der

Bewerben und Studieren!

sich holt was zusteht ihm ich fahre aus der Haut die mir zu eng geworden ist mit jeder Ungerechtigkeit ich will der alte sein in einer alten Haut denn ich bin Ajax schreit der Vater jetzt ich bin gerecht und Ajax schlägt dem ersten Griechen dem er begegnet sanft den Schädel ein denn ich bin Ajax präg dir meinen Namen ein zwei Bogenschützen aus dem Heer des Odysseus trifft seine Axt in einem Schwung ich suche euren Herrn ich suche Odysseus der mir die Ehre nahm durch seinen Anspruch auf dieselbe sagt Ajax und reißt in Fetzen ihre Körper stumm O Finsternis mein strahlend Land ich will ins Haus ich will dass man nicht lacht dass man mir gibt was ich begehr drei Griechen sitzen schweigend um das Feuer vor dem Zelt das Blut zischt in den Flammen ist Odysseus nicht hier habt ihr den Mann gesehen ich teile Fleisch von Fleisch die Polizei rückt an macht sich ein Bild vor Ort da sitzt der Vater rauchend vor der Bunkertür und klärt das Missverständnis auf mit Furor drängt es Ajax treibt ihn durch das Lager

Zeitgenössische Theaterformen | Film | Performancepraktiken

www.adk-bw.de B. A.

Bewerbungsfrist

31.01.2024

Änderungen vorbehalten

Bewerbungsfrist

M. A.

01.03.2024

B. A.

Bewerbungsfrist

15.04.2024

↓ Mehr Infos


Stück Thomas Freyer die Polizei rückt ab ein Fehlalarm so was kommt häufig vor da ist er da ist Odysseus ein Dutzend Krieger stehen um den Feind herum und mit der blutdurchtränkten Axt bahnt Ajax sich den Weg zur Gurgel des Verhassten ein alter Traum heißt einer siegreich gegen viele und aus den Bäuchen der Gefallenen quillt Inneres mit festem Griff zieht Ajax es ans Licht ein leises Quieken spitz aus seltsam aufgerissnem Mund des Listigen des großen Odysseus den Ajax nun als Beute mit sich zerrt den Weg den blutigen den er gegangen ist zurück vorbei an Köpfen Beinen Haut und Haar an Milz und Hirn das nass im Sand liegt wo die Fliegen landen der Wind fährt kalt durch eine freigelegte Lunge sieh Odysseus schau auf die Deinen jetzt dein Warten auf den Tod vertreibt uns bald die Zeit am Zeltmast binde ich dich fest und zeichne dir den Rücken denn ich bin Ajax ich bin Ajax ich Christiane ich die Peitsche führend brüllt der Große Ajax bis das was vor ihm angebunden ist nichts anderes mehr ist als abgehangenes als totes feuchtes Fleisch erschöpft lässt er die Peitsche sinken und endlich ist getan die Arbeit endlich ist gesühnt die Schmach die Odysseus getan an ihm an Ajax endlich schweigt der Schmerz und es wird still

24 TEUKROS Was ist passiert? Tekmessa? Wo ist Ajax? EURYSAKES Da drin.

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TEUKROS Blut. Hier ist. Der Boden. Alles. EURYSAKES Kommt aus dem Zelt. TEKMESSA Er ist aus der Nacht gefallen. Einfach so. Ajax. Ist aufgesprungen. In aller Frühe. Und hat sich die Tiere geholt. Teukros. Die Schafe. EURYSAKES Wie ein Rasender. TEKMESSA Du kannst da nicht rein, Teukros. Er ist ein anderer. EURYSAKES Er hat den Schafbock ausgepeitscht. Über eine Stunde lang. Hielt ihn für Odysseus. Ich habs gesehen. Hab ins Zelt geschaut, heimlich. Es ist alles voll. Alles ist rot. Und braun. Und das graue Hirn verteilt. An den Zeltwänden. Mein Vater. Arbeitet. TEUKROS Sprich nicht so. TEKMESSA Es ist alles ohne Sinn. AJAX Was ist hier los? Was steht ihr hier herum? TEKMESSA Ajax. AJAX Ich bin so müde. TEUKROS Komm. Ajax. Zu deinem Bruder. Zu mir. Wir gehen ein paar Schritte, ja? AJAX Ich muss schlafen. TEUKROS Natürlich. AJAX Macht bekannt, was ich getan hab. TEUKROS Ein paar Schritte nur, Ajax. AJAX Warum? TEKMESSA Hör auf deinen Bruder, Ajax. EURYSAKES Nur ein paar Schritte, ja? Ein paar Worte, Teukros? Und dann grasen die Schafe wieder friedlich vor dem Zelt? AJAX Was hast du, Eurysakes? EURYSAKES Es ist alles. Alles lächerlich. AJAX Warum spricht er so mit mir? TEUKROS Es ist. Kompliziert, Ajax. AJAX Warum stehen alle herum? Will jemand von euch sehen, was ich aus ihm gemacht hab? Aus Odysseus? Ich. Ajax. Aus ihm und seinen Ansprüchen? Gequiekt hat er. Gejault und gegreint. Kein kluges Gerede mehr. Keine List. Nur meine harte Hand. EURYSAKES Hat er geblökt? Dein Odysseus? Hat er mit dem Huf gescharrt, bevor du ihn angebunden hast? AJAX Mit dem Huf? EURYSAKES Geh, Vater. Geh zurück ins Zelt und sieh dir an, welchen Auftrag du erfüllt hast. TEKMESSA Schweig, Eurysakes. TEUKROS Nicht. Ajax. Nicht ins Zelt. EURYSAKES Sieh ihn dir an. Deinen Mann. MUTTER Dass du. Nur noch lachen kannst. Über alles. EURYSAKES Wie plötzlich seine Arme an ihm herunterhängen. Die starken. Wie er tapst, mit seinen riesigen Füßen. Im Sand. Und wie er lächelt. Immer wieder. Weil er immer noch nicht weiß, was hier vor sich geht. SOHN Wie er die Schafe zerrissen hat. So tollwütig. Nackt. Und rein. Eine berauschende Klarheit. In der Stille eines beliebigen Morgens. Wo doch immer nur Unordnung und Chaos

herrschten. Und die unmündige Unübersichtlichkeit der Welt. Kennst du das Video, Mutter? Willst du es sehen? MUTTER Nein. SOHN Schau. Wie das Blut der Tiere langsam im Sand versickert. Und da. Wie Ajax vor dem Zelt steht. Der griechische Koloss. Wie er vor sich hin brabbelt. Zerzaust. Das ist aus ihm geworden. Es ist. Wunderbar. MUTTER Ich hab dir Essen mitgebracht. SOHN Ich bin nicht da. AJAX Was bedeutet das alles? MUTTER Ich habs dir vor die Tür gestellt. SOHN Ich weiß. MUTTER Ich würd dir gern was sagen. SOHN Aber du kannst nicht. Hab ich recht? EURYSAKES Er begreift es nicht. AJAX Was? EURYSAKES Was er getan hat. Er steht hier. Umringt. Alle wollen es sehen. Und tuscheln und nicken sich zu. AJAX Was? Was tuscheln sie? EURYSAKES Niemand spricht es aus. Niemand wagt es. Das ist doch Ajax. Der Große Ajax. TEUKROS Was tust du, Tekmessa? TEKMESSA Sauber. Ich. Jemand muss. Muss sauber machen. Im Zelt. Im Sand. Jemand muss es ihm sagen. AJAX Was, Teukros? Was ist passiert? EURYSAKES Der traut sich nicht, Vater. Der eigene Bruder. Keiner traut sich. Aus Angst, der nächste Bock zu sein. TEUKROS Lass ihn, Ajax. Lass Eurysakes los. EURYSAKES Sag es ihm, Teukros. Sag ihm, welche Gerechtigkeit jetzt am Strand von Troja herrscht. AJAX Du wirst es mir sagen. Du, Eurysakes. EURYSAKES Halt mich in die Luft, wie es dir gefällt. Davon stehen die Schafe nicht wieder auf. AJAX Sag mir endlich, was ich getan hab. EURYSAKES Mach dir keine Sorgen, Vater. Es ändert nichts. Alles ist längst vorbei. Nichts lässt sich mehr aufhalten. Du wolltest schlafen, nicht wahr? Schlaf, Vater. Ich werde ihn beschützen. Deinen gerechten Schlaf. SOHN Du stehst immer noch da? MUTTER Ja. AJAX Niemand spricht so mit mir. EURYSAKES Lass mich zappeln. Ja, drück mir den Hals ein, Vater. TEKMESSA Du hast sie umgebracht, Ajax. Du. AJAX Die Krieger. Verräter. Die Griechen. Ja. TEKMESSA Schafe, Ajax. Es waren Schafe. Und dein Odysseus. Dein Odysseus war ein Bock. Ein Schafbock. Verstehst du, was ich dir sage? AJAX Odysseus. Das war. Er hat mich verlacht. Hat mich immer schon verlacht. MUTTER Ich hab sie eingereicht. Die Scheidung, Jonathan.

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Stück „Ajax“ SOHN Und das wolltest du mir sagen? Deswegen hast du dich auf den Weg gemacht? Den weiten? MUTTER Ich versuche nur, es richtig zu machen. TEUKROS Du musst dich beruhigen, Ajax. AJAX Aber ich bin. Ganz ruhig. EURYSAKES Es ist alles längst vorbei. TEKMESSA Du musst den Jungen loslassen. AJAX Alles wird bleiben. Jetzt verstehe ich es. Diese letzte Geschichte, die man sich über Ajax erzählen wird. Wird strahlen. Über alles andere hinweg. Über alles, was er je getan hat. Tekmessa, meine liebe Frau. Komm zu mir. Hab keine Angst. Heute soll alles fröhlich sein. Fröhlich und leicht. Ist es nicht komisch? So ein Leben? TEKMESSA Wenn es durch die Finger gleitet. AJAX Jetzt musst du auch lachen. Und tust gut daran. TEKMESSA Ich bin nur deine Beute. Und ohne dich die aller anderen. MUTTER Willst du mich nicht reinlassen? SOHN Wozu? MUTTER Ich bin deine Mutter. SOHN Das kannst du auch bleiben. MUTTER Ja? Und dir das Essen hinstellen? Vor der Tür warten? Auf dich einreden? Im Treppenhaus winseln wie ein ausgesetztes Tier? Vor dir auf dem Boden kriechen? Und ja kein Wort sagen, dass deinen Zorn weckt? SOHN Ich hab dich nicht gebeten zu kommen. MUTTER Aber du weißt, dass ich da bin. Dass ich immer wieder zu dir komm. Nicht aufgeben werde. Egal, was du sagst und tust. Weil diese Liebe. Die Liebe einer Mutter unzerstörbar ist. Und alles aushalten muss. Fein hast du dich eingerichtet, Jonathan. In deinem Selbstmitleid. Und wie schön du dich zugrunde richtest. Unter meinen Augen. Wie du verkommst. Und wie du dich in allem suhlst. Wie du dich mit allem Elend eindeckst, wenn ich da bin. Wie du nur noch lachen kannst. Über alles. Über mich. Und längst nichts mehr zu sagen hast. Die hält das aus. Diese Mutterliebe. Die muss. AJAX Nach Hause. Zurück. Wir gehen nach Salamis. MUTTER Die muss. Die Liebe. Muss. AJAX Ich tilge mich aus diesem Krieg. MUTTER Aber die wird nicht mehr, Jonathan. Lieg du hier. Ich geh nach Hause. Ich muss. EURYSAKES Du willst gehen, Vater? Einfach verschwinden? MUTTER Komm zu mir, wenn du etwas brauchst. SOHN Ich brauche nichts. Und ich bin auch nicht hier. So was. Hättest du nie gesagt, wenn ich dir zugehört hätte. So was kannst du nicht sagen. EURYSAKES Du willst dich verkriechen? Und das zurücklassen? Ein paar krepierte Schafe? Willst du, dass ich das bin?

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AJAX Was? EURYSAKES Der Sohn eines Feiglings? Ist das der Mann, zu dem du mich immer machen wolltest? Ein Mann, der gelernt hat, die Konsequenzen seines Handelns anderen zu überlassen? AJAX Sollen sie über mich lachen. Die Griechen. Die Trojaner. EURYSAKES Wie stolz ich auf dich sein könnte, Vater. AJAX Stolz und Schafblut. Du siehst, wie gut das zusammenpasst. EURYSAKES Siehst du nicht, wie sich deine Krieger ducken unter den Blicken der anderen Griechen? Du denkst, dass du ganz unten bist. Doch wenn du jetzt nach Hause segelst, Vater, wird dir Odysseus mit dem, was er über dich zu berichten weiß, einen neuen, noch viel dunkleren Abgrund öffnen. AJAX Wie sehr ich ihn hasse. EURYSAKES Ist das alles, was dir geblieben ist? AJAX Man sieht, wohin es mich damit getrieben hat. EURYSAKES Es bleibt eine Möglichkeit. AJAX Es bleibt nichts. EURYSAKES Das ist es, was ich meine. AJAX Wie klug du geworden bist. EURYSAKES Das sagst du, weil du nicht verstehst, was ich dir sagen will. AJAX Und wie ängstlich du noch immer bist. Mir nicht geradeaus zu sagen, was du denkst. Mein kleiner Junge. EURYSAKES Mach ein Ende, Vater. AJAX Ein Ende? EURYSAKES Wenn du willst, dass etwas bleibt von dir, musst du das eigene Ende beherrschen. AJAX Ich will nach Hause. EURYSAKES Du bist Ajax. AJAX Wie grausam dich alles gemacht hat. EURYSAKES Es ist erlernt. AJAX Ja. EURYSAKES Jetzt hast du es verstanden. AJAX Ja. Stille. Deine Mutter, Eurysakes. EURYSAKES Sie wird nichts davon erfahren. Bis es soweit ist. Teukros wird sich um alles kümmern. Er wird verstehen, warum du so handeln musstest. Alle werden es verstehen und dir hoch anrechnen. Es wird etwas bleiben. Stille. AJAX Ja. EURYSAKES Ich lass dich allein. AJAX Ja. Stille. Ich dachte. Stille. Dass ich dich. Ich dich umarmen müsste. Jetzt. Aber. Du hast dich weggedreht. Längst. Und bleibst nur kurz stehen, weil ich noch etwas sage.

Du hörst, wie ich rede, und wartest noch ein wenig, dass ich damit aufhöre. Endlich. Mit diesem Geräusch. Stille. EURYSAKES Jetzt bist du fertig. AJAX Ja.

25 ich steh ja hier schreit der Vater hockend im abendnassen Gras in der Dämmerung unter einem neuen Himmel mit dem ewig gleichen ewig verzerrten Gesicht vor der Bunkertür im schwarzen Tarnanzug das Messer mit der Hunter-Klinge in der Hand das Handy in der anderen ich steh ja hier ich habe mich nicht in ein Schwert gestürzt habe meinem Leben kein Ende gesetzt vor der Zeit dieser Krieg findet ohne mich nicht statt noch stehen Trojas Mauern noch muss Blut fließen reichlich das feindliche noch bin ich Ajax unter einem anderen Himmel an einem anderen Strand ich trage die Rüstung des Achill ich stecke in einer neuen Haut die sich über die alte gelegt hat wie ein Panzer ich stehe hier mit der Streitaxt in der Hand oder einem Messer vor dem Haus oder am Strand von Troja ich will die Freiheit für Helena oder für eine andere mein Sohn sieht auf zu mir oder berauscht sich neben dem Klo liegend an einer Dose Raumspray ich weiß dass man mir nicht zuhören wird dass man den Kopf schüttelt in der Nachbarschaft oder

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Stück Thomas Freyer ich sehe wie die griechischen Krieger mir zunicken oder ich sitze allein im Bunker während über mir die Wolken verschwimmen zu einer faserlosen Masse oder ich sitze in der stillen Kühle eines Schiffsladeraums betend zu Athene der Göttin des Krieges oder ich kontrolliere die Vorräte vakuumiere Reis auf dem Schlachtfeld ist es still man hört das fühllose Ziehen des Skamandros der sich träge durch die Landschaft schleppt auf meinen Befehl hin ziehen die Griechen sich zurück eine List auf die Odysseus nicht kam als würde ein Krieg so enden können oder die Trojaner verbreiten eine Lüge zeigen meinen toten Körper der über ein Schwert gebeugt ausblutet wie ein geschlachtetes Tier oder mein Sohn verliert das Bewusstsein schlägt mit dem Kopf gegen die kalte Fliesenwand atmet gurgelnd aus oder Helena die schöne Helena die nie einen Fuß auf trojanischen Boden setzte oder das Bett teilt seit zehn Jahren mit Paris dem mittelmäßigen Bruder des Hektor ich stehe hier ich Ajax Sohn des Telamon ich befehle und nicht Odysseus ein hölzernes Pferd zu bauen in dem sich die tapfersten Griechen verstecken ich befehle und nicht Odysseus das Pferd den Trojanern zu schenken als Zeichen des Friedens unseres guten Willens während sich

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das Heer der Griechen auf die Schiffe begibt oder wir gestehen unsere Niederlage ein Trojas Mauern halten wir fahren zurück zu unseren Frauen Kindern Häusern Berufen in die alte Haut wie sich ein ganzer Himmel herabsenkt in der Dunkelheit vor dem Haus wie ein leichter Regen nun alles bestreicht wie sich der Wind unter die Wolken schiebt und wie ich alles ablege den Rucksack das Messer wie es plötzlich riecht im Garten wie nach einem langen Eiswinter plötzlich das Grün treibt an den Ästen wie ich mich schäme plötzlich für meinen Aufzug das Messer und den ganzen idiotischen Rest wie alles weich wird in mir und wie ich nur noch ein Mann bin der zurück will der sich sehnt mit allem was er ist nach einem Heim und einer Frau den täglichen Verrichtungen Staub wischen während das Radio läuft an einem gewöhnlichen Tag

26 TEKMESSA Der Junge kommt mit mir. TEUKROS Willst du nicht wenigstens das Totenritual abwarten? TEKMESSA Ich bin eine Sklavin. Ohne ihn. Ohne Ajax. Was bleibt mir hier noch? TEUKROS Du stehst unter meinem Schutz. TEKMESSA Du starrst. Immer starrst du, wenn wir allein sind. TEUKROS Eurysakes will Krieg. Und keine Flucht. TEKMESSA Er ist ein Kind, Teukros. Ein Kind. TEUKROS Er hat mit Odysseus gesprochen. Dein Sohn will kämpfen. Er lässt sich ins Pferd schließen. Es ist entschieden.

TEKMESSA Nichts ist entschieden. TEUKROS Er ist der Sohn des Ajax. TEKMESSA Wie kalt du geworden bist. Seit er tot ist. TEUKROS Odysseus sagt, dass er ihn dabeihaben will. Er braucht gute Bogenschützen. TEKMESSA Er braucht Nachschub für seine Toten. TEUKROS Wir müssen diesen Krieg gewinnen. TEKMESSA Sagt Odysseus. TEUKROS Sage ich. TEKMESSA Hast du deinen Herren so schnell gewechselt? TEUKROS Ich habe nicht den Stand, mich Odysseus‘ Worten zu widersetzen. TEKMESSA Ich hasse ihn so sehr, wie Ajax ihn gehasst hat. TEUKROS Eurysakes wird gebraucht. TEKMESSA Ich hasse dich. TEUKROS Ja.

27 VATER Ich hasse mich. Hörst du, Christiane? Für das, was ich euch angetan hab. Und. Ich weiß ja. Dass du hinter der Gardine stehst. Und du mich hören kannst. Ich habs kaputt gemacht. Alles. Ich schreie nicht. Nein. Du musst die Polizei nicht rufen. Ich. Schäme mich nur. Hörst du? Und. Ich trau mich nicht. Eigentlich. Unter deine Augen. Du. Darfst mich nicht anschauen. Ja?

28 EURYSAKES Erbärmlich. SOHN So viel Rausch. EURYSAKES Alles stinkt. Hier. So? Lebst du? SOHN Ich hole das Maximum aus mir heraus. EURYSAKES Kotzt man davon? SOHN Du musst es in die Plastiktüte sprühen. EURYSAKES Sie nehmen mich mit. SOHN Du bist Eurysakes, oder? EURYSAKES Wir werden Troja vernichten. SOHN Ganz der Vater. EURYSAKES Der hat seinen Preis bezahlt. Und hat den Platz frei gemacht. SOHN Für dich. EURYSAKES Wie kann man nur so leben? SOHN Man muss nur loslassen. Die Ansprüche etwas herunterschrauben. Das Unvermeidliche hinnehmen. Man braucht natürlich etwas Humor. Es ist eine Vernichtung. Verstehst du das? EURYSAKES Mein Vater hat sich in ein Schwert gestürzt. SOHN So viel Ehre. So viel Stolz.

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Stück „Ajax“ Stille. EURYSAKES Ich hab Angst. SOHN Ja. EURYSAKES Ich hab noch nie gekämpft. Hab das nur gesehen. Immer wieder. Einen abgeschlagenen Arm. Einen eingetretenen Schädel. SOHN Aufgeregt? EURYSAKES Ein wenig. SOHN Du musst den anhalten. Länger. Den Atem. EURYSAKES Bis ich nicht mehr kann. SOHN Ein Stückchen noch. EURYSAKES Es ist ekelhaft. SOHN Du musst wiederkommen, kleiner Mann. Und mir berichten. Wie es ist. Einen zu töten. EURYSAKES Warum? SOHN Ich krieg das nur mit mir hin. EURYSAKES Erbärmlich. SOHN Ja.

29 MUTTER Und jetzt willst du zurück? VATER Es tut gut, Christiane. Deine Stimme. Dass ich die hören kann. Stille. Es. Wird alles anders. Ich. Bin ein anderer. Jetzt. Ich weiß. Dass es nicht einfach weitergehen kann. Dass du Zeit brauchst. Bestimmt. Ich wollte nur sagen. Dass ich hier bin. Und warte. MUTTER Ich lass dich nicht rein, Michael. VATER Ich weiß.

30 TEKMESSA Dass mich dein Blick verfolgt, seit Ajax tot ist. Dass du Wachen aufstellen lässt, vor dem Zelt. Während alle damit beginnen, die Schiffe zu beladen. Aber. Dass ich gehen muss. Dass du, Teukros, Eurysakes von mir fernhältst. Dass du ihn unter unsere Krieger mischst. Ihn die gleiche Luft atmen lässt. Obwohl er ein Kind ist. Aber. Ich gehen muss. Auch ohne ihn. Dass er mich meidet. Mein Eurysakes. Mir auf dein Geheiß hin wortkarg antwortet. Aber. Dass ich gehen muss. Wenn ich es nicht mehr sein will. Der Besitz eines Mannes. Unter dem Schutz eines Mannes. Abhängig vom Willen irgendeines Mannes. Der sich ändernden Ansichten über einen Krieg. Einen Verbündeten. Oder einen Feind. Oder einen sogenannten Gott. Einer Göttin. Ich weiß. Dass du mich aufs Schiff zwingen wirst. Zusammen mit den anderen. Sklavinnen. Dass du mir etwas erzählen wirst. Von Umständen, die dich dazu zwingen. Und. Dass es keine Ewigkeit gäbe. Für nichts.

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31 VATER Ich werd der alte sein. Der ganz alte. Der vor dem Krieg. Wie gut es mir tut. Deine Luft zu atmen. Dich zu sehen. Wenn ich meine Hand ausstrecken würde. Ich. Könnte dich berühren. Wie schön du alles umgestaltet hast. Im Haus. Du musst gar nicht zittern.

32 der Wind Südwest ostdrehend nach Stunden die die griechischen Schiffe unter einem diesigen Himmel verbringen die Luftströmung abnehmend bis zum Abend am Strand das riesige hölzerne Pferd Eurysakes darin alles bereuend in der Dunkelheit zwischen den anderen Griechen der Vater sitzt mit einem Glas Wein auf der Familiencouch nagt an den Fingernägeln während die Trojaner eine Bresche ins Skäische Tor für das letzte Geschenk dieses Krieges schlagen das Pferd sei der Göttin Athene zugedacht die Mutter verschwunden im Bad warum kommt sie nicht zurück was dauert so lang der Vater läuft im Wohnzimmer umher steckt die Hände in die Hosentaschen um sie gleich darauf wieder hinauszuziehen im Frachtraum eines telamonischen Schiffes sitzt Teukros der schon bald aus dem Schatten des toten Bruders heraustreten wird für ein paar Stunden das Warten auf diesen Sieg werden sie uns büßen wo steckt Tekmessa nur wie ist sie uns entkommen wo warst du so lang fragt der Vater traust du mir nicht willst du alles verraten was wir uns vorgenommen haben zu zweit was

nützt es denkt Teukros den Wachen den Kopf abzuschlagen sie sollen sich in vorderster Linie bewähren ich will dass du gehst Michael will die Mutter sagen doch das Gesicht des Vaters der den Neubeginn so intensiv beschworen hat ist in alter Verzerrung erstarrt kein Wort kommt aus ihrem Mund während er ihren Arm packt sie auf die Couch drückt du hörst mir zu endlich du wirst krepieren denkt Eurysakes die Angst drückt kalt gegen das Schädeldach neben ihm die schwitzenden Krieger jetzt bin ich einer von ihnen ein Fest in Troja man schleppt das Pferd durchs Tor man singt man lacht und umarmt wen man zu greifen kriegt brät Ziegen Schafe überm offnen Feuer der Krieg ist aus die Griechen fahren heim mehr Wein lasst uns doch tanzen bis ein neuer Krieg beginnt denkt an die Toten die ihr Leben gaben dafür dass wir tanzen können heute Nacht so wenig Luft so heiß ist es im Pferdebauch der Schlaf holt sich ein Stück des Kindes das vom Töten träumt bezieh das Bett sag ich denn du bist meine Frau die Mutter geht mit Beinen die sich in den Boden bohren still die Treppe hoch er ist zurück denkt sie er trinkt noch Wein verschwindet kurz im Bad sie hört wie er im Stehen pisst in Troja tanzt man noch noch hält das Glück noch lacht der greise König Priamos noch feiert man den Sieg den unverhofften huldigt noch den Toten Nacht wird es die Stadt ist trunken polternd stapft der Vater aus dem

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Stück Thomas Freyer Bad ich hasse die die diesen Mann einmal geliebt hat die die seine Hand nahm die eine andre war in seiner Gegenwart die mehr war plötzlich mehr als ohne ihn ich hasse sie sie muss verschwinden muss heraus aus mir das Haus in dem die die ich hasse lebt muss vor die Hunde gehen muss sich zersetzen warm und süßlich spürt sie noch den Atem spürt wie sich die Zeit durch ihre Zellen schiebt schon still fast totenstill ist Troja nach dem Fest ein paar Betrunkene noch torkeln durch die Gassen der Rausch des Sieges über

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eine Übermacht jetzt Schlaf nichts anderes der Müdigkeit den Gar ausmachen und träumen träumen im Bauch des Pferdes regt es sich

33 TEKMESSA Und dass mir die Luft knapp wird. Die gut beschützte. Dass Eurysakes meinem Blick ausweicht. Dass er verschwindet in einer Traube schwitzender, haariger Körper. Und dass es vielleicht das war, was er immer gewollt hatte. Das Kriegskind. Verschwinden. MUTTER Dass ich ein Niemand bin. TEKMESSA Ein Niemand. Seit Ajax über ein Schwert gebeugt verdorrt. Am Strand von Troja. Dass ich mir die Gedanken verbiete. Das Erinnern. An die Mutter. Den Vater. Dass ich mich aber ertappe. Wie ich mich frei herumlaufen sehe. In einem alten alten Leben. In einer anderen Haut. Vor einer Ewigkeit. Bevor Ajax mir diesen Schutz gab, um den ich nie gebeten hatte. Dass sich die Wachen aber leicht

ablenken ließen. Ich ihnen Wein gab. Die Härte ihrer Arbeit anerkennend. Dass ich mich nur zu fürchten brauchte. Vor einem trojanischen Überfall. Vor einem plötzlichen Geräusch. Hinter dem Zelt. Da war etwas. Ein Feind. Vielleicht. Sie zögerten. Als ich mich fragte, was wohl Teukros dazu sagen würde, fiele ich in die Hände der Trojaner, gingen sie. Um nachzusehen. Ich hörte ihre Schritte hinter dem Zelt. Hörte mich atmen. Und mein Herz schlagen. Gegen mich. Sah mir dabei zu, wie ich mich wegschlich. Aus dem Zelt. Dem Schiffslager. Dass ich ein Niemand bin. Hier. Und überall sonst. Und. Dass ich zurückblicken muss. So oft es geht. Wenn ich von hier flüchte. Dass ich es nicht vergesse. Woher ich gerade komme. MUTTER Dass er es jetzt ist. Er. Der weinend auf dem kleinen Teppich neben dem Bett liegt. Greinend seine müde Faust auf die eigene Brust platschen lässt. Dass er mir zusehen muss. Wie ich die, die ich hasse, vernichte. Wie ich die, die er beherrschen will, auslösche. In einem Getöse. Einem Gebrüll. Dass ich mich selbst erschrecke. Sogar. Vor der eigenen Stimme. Die brach gelegen hatte. In dieser Frau, die ich hasse. Dass ich alles umstoßen muss. Dass ich die Bil-


Stück „Ajax“ der von der Wand reiße. Wie eine Haut. Dass ich die Fenster einwerfe. Im Schlafzimmer. Dass die Scherben rieseln. Überall. Wie ein trockener Regen. Dass ich an den Türen reiße. Dass sie nicht mehr zu schließen sind. TEKMESSA Dass ich ein Niemand bin. MUTTER Ein Niemand endlich. Und dass ich alles zerstören kann. Und. Dass er es jetzt ist. Dass er den Rotz hochzieht. Zitternd. Flennend. Wie ein abgehetztes Vieh. Dass er es ist. Er. Dem die Beine weich geworden sind. Dem die Angst in den Nacken greift. Dass all sein Brüllen. Drohen. Seine Beschimpfungen. Sein Packen. Stoßen. Schlagen. Am Ende. Nur noch ein nasses Schluchzen ist, das kreisrund vibriert. Wie von einem Stein, der in schweres dunkles Wasser fällt. Dass ich die Stehlampe in die Schrankwand schmeiße. Dass ich den Glastisch, den viel zu kleinen Glastisch die Treppe nach oben stürze. Dass alles wieder hinabrieselt. Wie sanfter Hagel. Dass ich wüte. Keuche. Lache. Auf dem Weg aus dem Haus. TEKMESSA Verstehen Sie mich? Verstehen Sie meine Sprache? Stille. Sie sehen so freundlich aus.

Stille. Weil ich wegmuss. Weit weg. Stille. Ihre Haare. Sie sind ganz durcheinander. Stille. Weil ich muss. MUTTER Warum lachen Sie denn? TEKMESSA Sehen Sie? Das Leuchten? Der grelle Schein dort hinten? MUTTER Verstehen Sie meine Sprache? Sie sind ja ganz verhetzt. TEKMESSA Das ist Troja. MUTTER Sie sind schön. TEKMESSA Sie vernichten alles. MUTTER Mein Mann. Mein Ex-Mann. Liegt dort drin. TEKMESSA Mein Sohn. Eurysakes. Kennen Sie den? Haben Sie von ihm gehört? MUTTER Sie verstehen mich nicht. Hab ich recht? TEKMESSA Er wollte nicht weg. Er wollte Krieg machen. Sehen Sie? Wie das Leuchten immer stärker wird? Immer greller? MUTTER Vielleicht ist er tot. TEKMESSA Der ist nicht tot. MUTTER Nein?

TEKMESSA Ich werde nach Ägypten gehen. Sie suchen mich. Die Griechen. Verstehen Sie? Verstehen Sie meine Sprache? MUTTER Ich denke auch nicht, dass er tot ist. Er hat geweint. TEKMESSA Sie töten alle. MUTTER Ich werde mir eine Wohnung suchen. Nur für mich. TEKMESSA Ich will allein sein. MUTTER Er hat gezuckt. Und sein Kopf. Der war ganz schräg. Aus seinem Mund kam ein Blubbern. Vielleicht ist er gar nicht tot. TEKMESSA Nehmen Sie nichts mit? MUTTER Sie verstehen mich gar nicht. Kein Wort. Oder? TEKMESSA In ein paar Tagen wird nur noch dünner Rauch aufsteigen. Grau und hell und gelb. MUTTER Ich hab eine Tasche im Auto. Das Nötigste. TEKMESSA Nach Ägypten geht es dort entlang. MUTTER Seit er in den Bunker gegangen ist, hab ich die Tasche im Auto. TEKMESSA Sie sind schön. Wissen Sie das? MUTTER Es ist gut, dass Sie gehen. TEKMESSA Ja.

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Schauspiel Leipzıg

EIN DIGITALES 13. 1. 24 REQUIEM ———————————————————————

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EMRE AKAL A U F T R AG S W E R K DE S S CH AU S PIE L L E IPZ IG

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Stück Thomas Freyer MUTTER Ich werde allein sein. Ganz allein. Es wird schön werden. TEKMESSA Haben Sie das gehört? MUTTER Ein Knacken hinter der Hecke. TEKMESSA Griechen. MUTTER Ein Vogel. Wahrscheinlich. TEKMESSA Ja? MUTTER Dass er es jetzt ist. Der stumm ist. Gab es das schon einmal? Stille. Was haben Sie gesagt? Stille. Was macht man denn da? In Ägypten? Stille. Ich glaube, dass Sie mich gar nicht verstehen. Stille. Aber das. Macht nichts. Macht gar nichts.

34 EURYSAKES Teukros. Geliebter Onkel. Vormund. Komm näher. Ein Stück noch. TEUKROS Du bist verwundet. EURYSAKES Nicht mein Blut. TEUKROS Ich werde mich um dich kümmern. EURYSAKES Wie rein du bist, Teukros. Deine Haut. So zart. Und hell. Nein. Nicht. Nicht anfassen. Nicht atmen. Es ist alles in der Luft. Das Blut macht sie eisern. Aber man sieht es nicht. Und der Rauch legt sich darüber. Es ist gut. Alles. Ich muss mich nur ein wenig ausruhen. Ein kleines Stück nur. Du bist spät. TEUKROS Ich habe dich gesucht. EURYSAKES Ich war im Blut. TEUKROS Es ist vorbei. EURYSAKES Wie sauber du bist. Wo warst du? TEUKROS Die Schiffe sind beladen. EURYSAKES Mit der Beute. TEUKROS Es ist vorbei. EURYSAKES Und wir fahren nach Hause. Hab ich recht? Nach Salamis. Und wir werden feiern. Den Untergang Trojas. Mit dem guten alten König Telamon. TEUKROS Was ist das? EURYSAKES Du musst es in die Tüte sprühen. Und tief atmen. Musst es anhalten. Alles. Länger, als es geht. Bis etwas anstößt. Kratzend. Am Gaumen. Nicht fragen. Es ist gut. Es war Arbeit. Nichts weiter. Das Blut. Kriecht schwermütig ins Meer. Das eigene. Du hättest deinen Bruder. Du hättest Ajax rächen sollen. Wo warst du, Teukros? TEUKROS Komm. EURYSAKES Du bist ein feiges Stück. Stille. Nicht traurig sein, Teukros. TEUKROS Ich konnte nicht. EURYSAKES Du wirst mir nichts beibringen.

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35 AJAX / VATER Helena. Du. Dass du mich besuchst. Stille. Mein Bunker. Der ist vollgestopft. Mit dem Fleisch der Toten. Wie mich das rührt. Hörst du? Wie es mich satt macht. Der Anblick. Ich frag mich. Frag mich gerade, was du hier machst? Vor dem Haus. Am Strand. Was du willst und warum du nichts sagst. Stille. Troja liegt da. Dort oben. Wie ein schmutziges Tier. Abgebrannt. Das war dein Leben, nicht wahr? Das schöne Haus. Wir hatten es mal gut hier, Helena. Da waren die Blumenbeete. Dort, wo der Eingang zum Bunker ist. Und da. Da stand mal eine Bank. Auf der konnte man sitzen. Wenn wieder Sonntag war. Bist du es? Stille. Die Griechen fahren heim. Für jedes Kilo Tod ein Kilo Beute. Für die, die daheim geblieben sind. Warum schaust du denn so? Stille. Du bist es gar nicht. Du bist nicht Helena. Du. Stille. Aber. Doch. Doch, das ist ja dein Gesicht. Oder nicht? Stille. Du bist es. Vielleicht. Und wenn. Dann weißt du ja alles. Weißt, dass Krieg war. Um dich. Wegen dir. Wie du willst. Der Bunker jedenfalls. Der bleibt. Der bleibt. Bleibt. Ich muss. Nur das Fleisch herausholen. In den Garten. Man muss es verbrennen. Stille. Ich hab dich gleich erkannt. Hörst du? Ja. Ich hab Fehler gemacht. Und deswegen bist du hier. Natürlich. Ich dachte. Dachte, dass ich es durchschaue. Aber. Es ist alles viel schlimmer. Tiefer. Bestimmt. Wach. Man muss auf der Hut sein. Kein Schlaf. Wenn du hier bist. Jetzt hier vor mir stehst. Ich muss. Nachdenken. Ich brauch was, um wach zu bleiben. Ich muss. In den Bunker. Muss das Fleisch verbrennen. Die Nachbarn werden es riechen. Die Polizei verständigen. Es ist alles viel größer. Ich steck mittendrin. Längst. Du. Stille. Du bist nicht Helena. Du willst, dass ich es glaube. Wer hat dich zu mir geschickt? Wer bezahlt dich für deine Arbeit? Man will mich unschädlich machen. Helena. Stille. Das Fleisch muss im Bunker bleiben. Ich muss. Mit dem Fleisch wohnen. Ich muss Zeit gewinnen. Ich. War einmal ein Mann, der seinen Platz kannte. Wo bist du denn? Helena? Stille. Sie wollen meinen Wahnsinn. Ich stehe nicht

zur Verfügung. Mit meinem Sohn. Mit dem war ich mal am See. Zu seinem achten Geburtstag. Das war schön.

36 MUTTER Du? Hier? Nach zehn Jahren? Stehst du einfach vor der Tür? Hast nicht geschrieben. Nicht angerufen. Warst wie tot und stehst jetzt hier? Wie alt du geworden bist. Jonathan. Wie dünn. SOHN Kann ich nicht reinkommen? TEUKROS Telamon. Er ist tot. EURYSAKES Ich wurde bereits davon unterrichtet. SOHN Ich brauche dich. MUTTER Jetzt? EURYSAKES Du wirst Salamis verlassen, Teukros. TEUKROS Ich werde König. EURYSAKES Du wirst gehen oder sterben. Es stehen Wachen vor der Tür, mit denen alles besprochen ist. Willst du dich nicht setzen, alter Mann? SOHN Ich hab ein Kind. MUTTER Was willst du? SOHN Willst du uns nicht reinlassen? MUTTER Euch? EURYSAKES Feigheit vor dem Feind. Hast du geglaubt, ich hätte vergessen, was in Troja geschehen ist? MUTTER Wie heißt es? Das Kind. EURYSAKES Wir haben getan, was getan werden musste. TEUKROS Ihr habt sie abgeschlachtet. Sie waren wehrlos. EURYSAKES Es musste getan werden. TEUKROS Das war kein Krieg mehr. SOHN Du musst aufpassen. Auf das Kind, Mama. MUTTER Das ist deine Aufgabe. SOHN Ich will, dass du auf mein Kind aufpasst. TEUKROS Jetzt bist du am Ziel. EURYSAKES Hast du gesehen, wie es aussieht? In Troja? Wie alles grün ist. Auf den Ruinen. Über der toten Stadt. MUTTER Ich will, dass du gehst, Jonathan. Hier, iss ein Stück Kuchen. Wickel dein Kind. Und dann geh. SOHN Dummes Stück. MUTTER Kommt mich gern besuchen, wenn ihr wollt. Ich hab es schön hier. Weißt du? Es gehört mir. TEUKROS Eigentlich, Eurysakes. Bist du wie dein Vater. Nur kälter. Und glücklicher. MUTTER Machs gut.

– ENDE – Theater der Zeit 1 / 2024


Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Foto Monika Rittershaus, 2023

Lina Beckmann in „Laios“ von Roland Schimmelpfennig in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Serie Schlaglichter #01 Großinszenierung Eine Bilanz von Karin Beiers Antikenzyklus „Anthropolis I–V“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #01

Schlaglichter # 01 Rechnung an Theater der Zeit Von Basil Zecchinel

Mit unserer neuen Open-CallReihe „Schlaglichter“ laden wir Studierende und Berufseinsteiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskursiven Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbstbestimmten Raum bieten.

Der Regiestudent Basil Zecchinel wurde in Kreuzlingen (CH) geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Zürich, sowie Theaterregie an der HfS „Ernst Busch“ in Berlin und der SP escola de teatro in São Paulo. Arbeit als Gartenbauer, Künstlerischer Leiter eines Musikfestivals und Älpler. Zusammenarbeit mit dem Autor:innen Duo Kläy/Wertheimer, Maksim Didenko, Thomas Ostermeier und Anna Bergmann. Mitbegründer der Gruppe drama im cc.

Basil Zecchinels Vordiplominszenierung „28 Milliarden“ von Paula Kläy und Guido Wertheimer an der HfS „Ernst Busch“ Berlin

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #01 Basil Zecchinel

Theater der Zeit GmbH Winsstraße 72 D-10405 Berlin, Germany www.tdz.de Steuernr.: Rechnungsnummer: 02 Datum: 14.11.23 Rechnung für die folgende Textarbeit

Foto links oben Canva, mitte Lea Röwer

Liebe Redaktion von Theater der Zeit, hiermit schicke ich Ihnen eine Rechnung für die Auseinandersetzung mit unbezahlter Arbeit am Theater. Dies ist eine Reaktion auf Ihren mit 100 Euro dotierten Open Call für Texte über Theater und Geld. Da wir in keinem vertraglichen Verhältnis stehen, möchte ich im Folgenden meine Arbeit begründen, die bis zum Zeitpunkt Ihres Entscheides unbezahlt bleibt. Damit Theater stattfindet, braucht es mindestens eine Person, die einer anderen Person dabei zu schaut, wie sie etwas tut. Hinzu kommt ein Ort, ein Text, eine Regie, ein Bühnenbild, Kostüme, die Technik, die Abendkasse. Während sich privatwirtschaftliches Theater mit den Einnahmen der Abendkasse zufriedengibt, muss sich das staatlich subventionierte Theater dem politischen Diskurs, insbesondere den kulturpolitischen Kommissionen, die über die Budgetierung des Theaters bestimmen, zuwenden. Wer über die finanziellen Mittel verfügt, bestimmt wer für seine Arbeit Geld bekommt und wer nicht – in einer Welt mit laufenden Ausgaben für Mieten, Krankenkassen und Lebensunterhaltungskosten also auch darüber, wer im Theater stattfindet und wer nicht; wer als Kunstschaffende:r gilt, und wer nicht. Das sind grundlegend Kulturpolitiker:innen, im Besonderen die Intendant:innen und ihre Dramaturg:innen. Die Menschen also, die von der Kulturpolitik Geld dafür bekommen haben, Theater zu machen. Sie entscheiden darüber, wer stattfindet und auch für wieviel. Zu Beginn diesen Jahres wurden die staatlichen Schauspielschulen in Griechenland und in Finnland besetzt. Ausschlaggebend war jeweils eine Politik, die sich von ihren Künstler:innen abwandte und staatliche Unterstützungen radikal strich. Eine Politik, die die Künste privatisieren will. Die Kulturministerin Antwerpens äußerte sich zur gleichen Zeit, dass sich Künstler:innen Jobs wie alle anderen suchen sollen. Stemann und Blomberg wurden in Zürich nach ihren Forderungen, die Mindestgagen der Künstler:innen an die der Techniker:innen anzugleichen, nicht verlängert. Als Nachwuchsregisseur:in arbeite ich momentan für drei Häuser. Alle drei argumentieren gut gemeint mit Nachwuchsförderung und Nachhaltigkeit für geringe Produktionsetats und Gagen. Als Berufseinsteiger:in bin ich auf Sichtbarkeit angewiesen.

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Meine Inszenierungen müssen stattfinden, um gesehen zu werden. Und ich muss gesehen werden, um weitere Inszenierungsaufträge zu bekommen. Im freien Konkurrenzkampf entscheidet jede Inszenierung über die individuelle Existenz: Nur wer inszeniert, ist Regisseur:in. Die Arbeit als selbstständige:r Theaterschaffende:r also: survival of the fittest. Wer mich bezahlt, bestimmt darüber, ob ich als Regisseur:in sein kann, oder nicht. Meine Arbeit als Regisseur:in ist unternehmerisches Kalkül. Ich kalkuliere, wie ich mich als Kunst- und Kulturschaffende:r attraktiv machen kann, um inszenieren zu können. Mein Name ist mein Kapital und unbezahlte Arbeit muss ich als Investition in meinen Namen verbuchen. Die Bestandteile des Theaters sind einfach: Kommen die anfangs erwähnten Elemente zusammen, entsteht Theater und der Diskurs darüber. Hinter der Aura von politischen, ethischen und ästhetischen Argumenten für und um das Theater, folgt die Arbeit am Theater und das Vermarkten der eigenen Arbeit jedoch einer neoliberalen Logik. Dem kann auf einer staatlichen Ebene durch ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie eine europaweite Künstler:innen-Sozialversicherung entgegengewirkt werden. Auf Ebene der Theater-Institutionen über langfristige Verträge, Hausregisseur:innen und Ko-Produktionen. Schließt euch zusammen und ermöglicht es künstlerischen Teams, langfristig Konzepte zu entwickeln, die dann an unterschiedlichen Häusern mit dem Ensemble und der Technik vor Ort umgesetzt werden können! Bis dahin muss ich, um meine Lebensunterhaltungskosten zu decken, unbezahlt vorarbeiten und Ihnen diese Rechnung schreiben. 10h

Textarbeit Autor:in 10 EUR pro Stunde

100 EUR 100 EUR

In der Hoffnung, mich von „unbezahlt“ zu „unterbezahlt“ hochzuarbeiten, bitte ich Sie, das Geld auf folgendes Konto zu überweisen: Inhaber:in Basil Zecchinel Bank IBAN BIC Als Kleinunternehmer:in gemäß § 19 UStG weise ich auf meinen Rechnungen keine Umsatzsteuer aus. Mit freundlichen Grüßen Basil Zecchinel

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Triumph des Theaters Eine Bilanz von Karin Beiers Antikenzyklus „Anthropolis I–V“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg Von Peter Helling

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Zwei Gesichter bleiben vor allem in Erinnerung: Michael Wittenborn als Erzähler. Und Lina Beckmann als Kraftzentrum und Verwandlungsvirtuosin. Sie demonstrieren, wozu Antike heute noch taugt. Weshalb sie relevant ist. Indem sie die Texte im Gestus der grantig-liebevollen Spaßmacherin servieren (Beckmann), indem sie im sanften, singenden Ton des Rhapsoden erzählen (Wittenborn). Es ist die uralte Kraft dieser Texte, die letztlich ohne Bühnenillusion auskommen. Es ist Haltung, es ist Gestus. Und es sind unvermischte Gefühle, die Lina Beckmann – nicht nur sie, aber vor allem sie – uns empfinden lehrt, indem sie sie selbst empfindet, stellvertretend. Die Panik, den Schock, die Gier, das Grauen, nur in Sekundenbruchteilen gewechselt in augenzwinkernde, brachiale

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Thomas Aurin, 2023

„Ödipus“ von Roland Schimmelpfennig nach Sophokles in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Foto links, rechts oben und rechts unten Monika Rittershaus, 2023, mitte

Diskurs & Analyse Großinszenierung


Diskurs & Analyse Großinszenierung Komik. Eine Mutter, die ihren Sohn hin meuchelt, ohne es zu realisieren. Als sie es tut, weint sie, minutenlang. Antike braucht das, eine Art verächtliche, anti-elitäre Grundstimmung, der das „Wir“ des Publikums, der Gesellschaft, der Zivilisation letztlich herzlich egal ist, die Lust am Geschmacklosen, Unmoralischen. Hochmut in der Empfindung, Virtuosität in der Darbietung, stilles Erschrecken darüber, dass die Menschheit immer noch existiert. Trotz der ihr innewohnenden Neigung, sich selbst zu zerstören. So werden aus Archetypen Individuen.

Greller Humor und erschütternde Tragik Regisseurin Karin Beier hat großes Blockbuster-Theater versprochen, das man sich sogar im Stile von Binge-watching, an manchen Wochenenden hintereinander ansehen kann. Sie hat ihr Versprechen gehalten. Und sie hat, entgegen ihrer Befürchtung (siehe TdZ 10/23), nur selten zu tief in die Trickkiste des Theaters gegriffen. Mal macht ein vielköpfiger Sprechchor im Rang dem König Ödipus – Devid Striesow als aalglatter Machtstratege, der zum zerbrochenen Kind mutiert – mit Stöcken ordentlich Dampf (Musik, Sounds Jörg Gollasch). Im ersten Teil „Prolog/ Dionysos“ tritt eine Taiko-Trommelgruppe auf, sogar ein echtes Pferd, auf dem der vernunftarrogante Pentheus herein­reitet, messerscharf gespielt von Kristof Van Boven. Im vierten Teil „Iokaste“ übergießen sich zwei sich hassende Brüder mit Eimerweise Theaterblut. Iokaste, mit Glatze und Tätowierungen am ganzen Körper, wird zur schuldlos-schuldigen Mutter, die auf ganzer Linie versagt, bewegend-zart, Julia Wieninger. Fünf Teile, fünf Mal: Hybris und Fall, greller Humor und erschütternde Tragik. Auch platte Sätze – garniert mit Hochpoetischem. Erstaunlich, wie die Teile hintereinander gesehen in sich greifen und sich verzahnen. „Anthropolis“ bedeutet „Stadt des Menschen“. Und der Ausdruck „Anthropozän“ liegt natürlich nicht fern, der Untergang ist dem Titel eingeschrieben. Wir sehen die Entstehung Thebens als Entstehung unserer westlichen Zivilisation und Ideenwelt. Schon die Antike machte sich keine Illusionen: Diese Welt ist auf Gewalt gebaut. Die Königstochter Europa wird von Zeus auf dessen Stierrücken entführt. Michael Wittenborns erste Sätze beschreiben diesen Vorgang rein erzählend, als eine griechische Strandidylle und als Vergewaltigung. Dann der vergebliche Versuch, die junge Frau zu befreien, fast im Vorübergehen die Gründung einer Stadt, auf der Grundlage ausgerissener Drachenzähne. Erst langsam erblühen Freude, Genuss, Kultur. Das Räderwerk setzt sich in Gang, ein Familienepos. So spannt die Regie mit ihrem Bühnenbildner Johannes Schütz in einem denkbar kargen Raum, grafisch überspannt mit einem Gitter, Erde, Kalk auf dem Boden –, in schlich-

„Anthropolis“ bedeutet „Stadt des Menschen“. Und der Ausdruck „Anthropozän“ liegt nicht fern, der Untergang ist dem Titel eingeschrieben. Theater der Zeit 1 / 2024

oben: „Laios“ von Roland Schimmelpfennig, mitte: „Iokaste“ von Roland Schimmelpfennig nach Aischylos und Euripides, unten: „Prolog/Dionysos“ von Roland Schimmelpfennig nach Euripides

ten Kostümen, die mehr Gebrauchskleidung und Sportlook sind (Wicke Naujoks) statt antiker Toga, einen Erzählbogen aus der mythologischen Urzeit in ein Heute. Hin zu Krieg, Verzweiflung, scheiternder Diplomatie und dem Urdilemma des Menschen, der vernünftig sein will, dessen Instinkte ihn aber zum Killer machen. War es etwa doch keine so gute Idee, das Göttliche zu verbannen?

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Diskurs & Analyse Großinszenierung König Kreon – Ernst Stötzner als traurig-schwerblütiger Machtmensch – geistert durch die Folgen wie ein Politprofi, der das Chaos bändigen will und dieses doch nur evoziert. Weil er Fehler macht, starr wird. Roland Schimmelpfennig ist mit seiner Antikenüberschreibung ein Meisterwerk geglückt. Subtil hat er die antiken Tragödien wie etwa „Ödipus“, „Antigone“ oder „Die Bakchen“ in eine neue Sprache überführt. In eine Welt, in der auch Tankstellen auftauchen, in der Könige auf der Vespa fahren oder Soldaten Maschinenpistolen tragen. Man spürt sofort, wenn sich der Autor besonders nah am Original – von Euripides, Sophokles, Aischylos, die ja ihrerseits schon Übertragungen geschrieben haben – entlang bewegt, wie die alten Geschichten atmen, wenn man sie lässt. Schwieriger sind Szenenwiederholungen wie in „Iokaste“, wo die zwei Streithähne Eteokles und Polyneikes (Maximilian Scheidt, Paul Behren) immer wieder in eine Situation am Verhandlungstisch zurückkehren, um für alle erkennbar die Aussichtslosigkeit klarzumachen. Da verhaspelt sich „Anthropolis“ im Einerlei postdramatischen Formwillens.

Das Zeitlos-Aktuelle des Fünfteilers Am stärksten sind die Momente, in denen die Regie sich auf die Spieler und Spielerinnen verlässt. Sie erzeugen ein Kraftfeld

weniger aus der Lautstärke, sondern aus der leisen, flüsternden Suggestion der Texte. Als würde uns alles von einer „geflügelten Katze“ erzählt, wie die Sphinx bei Schimmelpfenning beschrieben wird, deren hoher Schrei an die bösen Ringgeister in ­Peter Jacksons „Herr der Ringe“–Verfilmung erinnert. Und dieser Schrei klingt nach einem Trauma, dem Trauma unversöhnlicher Gewalt. Dem Trauma von Missbrauch und Kindesmord, von Schlachtung und Krieg. Von Generation zu Generation vererbt. Ein Motiv zieht sich durch, das der Kinder. In „Ödipus“ lässt die Regie Kinderkörper auf die Bühne tragen wie zerbrochene Buchstaben. Die Protagonisten schrumpfen immer wieder in eine Embryostellung. Das Kind als das allererste Opfer jedes Krieges. Und so bleibt die Frage nach der Aktualität der Serie angesichts unserer Gegenwart. Zwar braucht die Unwucht unserer Zeit die Wucht dieser alten Texte wie Gebrauchsanweisungen, Taschenlampen in der Nacht. Trostlos ist hier so gut wie alles – eine Ausnahme ist die wirklich todkomische Weinprobe von Lina Beckmann als Pausenfüller im ersten Teil „Prolog/Dionysos“, unvergesslich. Das Zeitlos-Aktuelle dieses Fünfteilers liegt eher im Gestus des Theaters selbst. Indem wir uns selbst beim Scheitern zusehen, entsteht Distanz. Und in dieser Distanz, diesem Hauch Abstand vom eigenen So-Sein schlummert Hoffnung. „Anthropolis“ ist die Niederlage des Menschen, aber ein Triumph des Theaters. T

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Theater der Zeit

Report

Foto Heiko Potthoff

„Human Design“ von DieTanzKompanie, Choreografie von Grégory Darcy

Heilbronn Das Science & Theatre Festival des Theaters Heilbronn und des Wissenschaftszentrum experimenta zeigt die Vielfalt des digitalen Theaters Bruchsal Der neue Intendant Wolf E. Rahlfs spannt an der Badischen Landesbühne Bruchsal den Bogen von draller Komödienkunst bis zur Dramatik des Erinnerns Graz Erste Eindrücke vom Schauspielhaus Graz unter der neuen Direktion von Andrea Vilter Ungarn Das Budapester dunaPart-Festival der Freien Szene präsentiert eine neue Generation Ungarns Theater der Zeit 1 / 2024

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Report Heilbronn

Das Science & Theatre Festival des Theaters Heilbronn und des Wissenschaftszentrum experimenta zeigt die Vielfalt des digitalen Theaters Von Elisabeth Maier

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Foto Chris Nash

Die Anmut des Tanzroboters


Report Heilbronn Der Raum kombiniert Planetarium und Wissenschaftstheater. Inzwischen bringt das Theater Heilbronn dort auch eigene Produktionen auf die Bühne.

hinderung zusammen. Mit dem Videokünstler Daniel Fock hat der Franzose ein Ambiente geschaffen, das im Science Dome des Wissenschaftszentrums experimenta in Heilbronn großartig zur Geltung kommt. Filmbilder von Farnblättern, die sich im Wind wiegen, bestimmen den Takt. Doch die schönsten Momente sind die, wenn sich die Körper befreien. Als die Tänzerin Laura Brückmann, die mit Trisomie 21 geboren wurde, mit Johannes Blattner im Duo tanzt, öffnen sich Horizonte. Da verschmelzen Welten. Gemeinsam drehen, strecken und wirbeln sich die beiden in einen Wirbel der Leidenschaft hinein. Blattners choreografische Disziplin mündet in eine spielerische Leichtigkeit. Freude und Lust zeigt Brückmann dagegen ganz spontan und unvermittelt. Das mag für manche befremdlich wirken. In solchen Gegensätzen liegt die wunderschöne Botschaft des Choreografien Darcy: Im Tanz fallen alle Barrieren – auch die zwischen Maschine, Mensch und Natur.

Inklusives Körpertheater

„Anti-Body“ by Alexander Whitley Dance Company, Choreografie von Alexander Whitley

Harmonisch bewegt sich der Arm des Roboters im Raum. Die Maschine scheint auf die Bewegung der Tänzer:innen zu reagieren. Der Plastikarm ist aus Einzelteilen montiert. Er leuchtet in der Dunkelheit. Seine anmutige Langsamkeit scheint die Zeit anzuhalten. Im inklusiven Tanztheater „Human Design“ lotet der Choreograf Grégory Darcy Schnittstellen zwischen Tanz und Technik aus. Der studierte Luft- und Raumfahrttechniker bringt in seiner Esslinger Tanzkompanie Tänzer:innen mit und ohne Be-

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Mit dem inklusiven Körpertheater begann das fünftägige Science & Theatre Festival, das vom Theater Heilbronn und dem Science Center experimenta gemeinsam veranstaltet wird. Darcys faszinierender Dialog zwischen Körpertheater und Technik kam im Science Dome stark zum Tragen. „Er hat die technischen Möglichkeiten optimal genutzt“, findet Bärbel Renner, die Geschäftsführerin der experimenta. Der Raum kombiniert Planetarium und Wissenschaftstheater. Inzwischen bringt das Theater Heilbronn dort auch eigene Produktionen auf die Bühne. „Die Stücke, die den Dramenwettbewerb gewinnen, werden im Science Dome inszeniert“, sagt Renner. Die Professorin und Kommunikationsexpertin erlebt es für die Institution als eine große Chance, „dass wir durch das Festival neue Publikumsschichten erreichen“. Mit mehr als dreihunderttausend Besucher:innen im Jahr 2022 ist die experimenta, die durch die Dieter Schwarz Stiftung gefördert wird, sehr erfolgreich. Das Team vermittelt Kindern und Erwachsenen weit über die Region hinaus komplexe wissenschaftliche Inhalte – und das mit modernsten technischen Möglichkeiten. Ein Herzstück des gemeinsamen Theaterfestivals ist für die Germanistin Renner der Wettbewerb. Sie gehört der fünfköpfigen Jury an, die aus den 22 Stücken unter dem Motto „Utopie MenschMaschine“ die Sieger kürte. Die Chefin der experimenta will die Zusammenarbeit der Theaterschaffenden mit ihrem Haus weiter ausbauen: „Wir möchten diese besonders emotionalisierende Form nutzen, um zum Beispiel auch das Thema KI in neuer Weise zu vermitteln“.

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Die Frage, ob der Mensch sich und damit auch seine Kunst durch die digitalen Technologien überflüssig macht, beschäftigt den Choreografen Alexander Whitley.

Neue Dramatik zu fördern, ist dem Heilbronner Intendanten Axel Vornam und seinem Team seit langem ein großes Anliegen. Bereits zum dritten Mal fand nun seit 2018 das Festival mit dem Dramenwettbewerb statt. Damit fördert die Bühne Autor:innen, die sich mit künstlicher Intelligenz und mit dem digitalen Fortschritt beschäftigen. Die besten Stücke stellte das Heilbronner Ensemble in Szenischen Lesungen vor. „Es ist wichtig, dass unsere ScienceFiction-Dramen aus der Schmuddelecke herausgeholt werden“, brachte Roman Eich das Dilemma der Theaterautor:innen auf

den Punkt, die sich mit Zukunftsthemen beschäftigen. Er gewann mit seinem Stück „Häufig gestellte Fragen zum Fort­bestand der Menschheit“ den mit fünftausend Euro dotierten zweiten Preis sowie den Publikumspreis. Den ersten Platz belegte der französische Autor Laurent ­Gaudé mit „Die letzte Nacht der Welt“. Das Siegerstück wird mit tausend Euro ausgezeichnet und kommt im spektakulären Science Dome zur Deutschsprachigen Erstaufführung. Chefdramaturgin Miriam Meuser war angetan von der Vielfalt der Themen und Formen, die sie in den eingereichten Stücken fand: „So reagieren die Autor:innen nicht nur auf gesellschaftliche Prozesse, sondern auch auf die gewandelten Sehweisen“. Dieser innovativen Dramatik eine Bühne zu geben, ist der Kuratorin des Science & Theatre Festivals ein Anliegen. Für sie ist es ein wichtiger Baustein des Festivals, „dass wir das Siegerstück in den Spielplan übernehmen“. In der Zusammenarbeit mit der experimenta sieht die Theaterfrau eine riesige Chance: „Nicht nur der Austausch mit den Wissenschaftler:innen, auch die technischen Möglichkeiten des Science Centers erweitern unseren Horizont“.

„Human Design“ von DieTanzKompanie, Choreografie von Grégory Darcy

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Foto Heiko Potthoff

Report Heilbronn


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Mit der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Theater möchte Intendant Axel Vornam auf die Entwicklungen in Heilbronn reagieren. Denn die Großstadt im Nordwesten Baden-Württembergs ist im Aufbruch. Einen ICE-Anschluss hat die „KäthchenStadt“ zwar nicht. Bislang haftet der von Weinbaugebieten umgebenen Industriestadt ein eher beschauliches Image an. Doch sie mausert sich zum Top-Standort für neue Technologien. Im Innovation Park Artifical Intelligence (Ipai) entsteht derzeit nach Angaben der Stadtverwaltung „das größte Ökosystem für Künstliche Intelligenz (KI) in Europa“. Kleine, mittlere und große Unternehmen, Start-ups sowie Talente und Akteure des öffentlichen Sektors arbeiten dort an KI-basierten Softwareprodukten und -lösungen. „Diese Wege gehen wir als Theater gerne mit“, macht Vornam aus seiner Faszination für das Neue keinen Hehl. Mit englischen Untertiteln will das Theater künftig die vielen internationalen Arbeitskräfte ansprechen, die in den nächsten Jahren nach Heilbronn ziehen. „Das Publikum behutsam an die innovativen Formate heranführen“ war Miriam Meusers Anliegen bei der Auswahl der Produktionen. Das beginnt für sie schon bei den Kleinsten. Mit dem Kinderstück „Alexander und die Aufziehmaus“ nach dem Buch von Leo Lionni vermittelt die Kinder- und Jugendsparte der Heilbronner Bühne spielerisch die Faszination der Mechanik. Ebenso will Meuser aber auch die ältere Generation beim digitalen Wandel im Theater mitnehmen. Da hat die Kuratorin ein feines Gespür bewiesen. Diskussionen und Publikumsgespräche mit den Theaterschaffenden bauten da Schwellenängste ab. „Wer dient hier wem?“, lautete die Frage eines Podiums, auf dem unter anderem der englische Choreograf Alexander Whitley über seine Arbeitsweise berichtet. Der technische Feinschliff seiner Produktion „Anti-Body“, die im Oktober 2022 in London uraufgeführt wurde, verblüffte das Publikum. Die Körper der Tänzer:innen sind mit Sensoren ausgestattet. Digitale Technik zeichnet Bewegungsmuster nach. Daten werden auf große, durchsichtige Bildschirme übertragen. Die virtuelle Welt der Bits und Bytes überhöht und verfremdet die Sprache der Körper, wächst über sie hinaus. Dann zerfallen die Zahlen, Zeichen und Punkte. Sie lösen sich im wirren Geflimmer auf. Die Frage, ob der Mensch sich und damit auch seine Kunst durch die digitalen Technologien überflüssig macht, beschäftigt den Choreografen Whitley. Er bindet in seine Tanzprojekte wissenschaftliche Expertise ein: „Die Technik hilft uns, den Tanz zu erforschen und die Funktionsweise des Körpers besser zu verstehen“. Dennoch steht für ihn außer Frage, „dass wir als Menschen die Kraft haben, die technischen Möglichkeiten für uns zu nutzen“. Dass er sein Tanztheater ganz in die virtuelle Welt verlagern könnte, steht für ihn nicht zur Debatte: „Das Erlebnis des Augenblicks ist unverzichtbar“. Im Mittelpunkt seiner Kunst bleibt für ihn der Mensch. T

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Staatstheater Braunschweig Fühlst du mein Herz schlagen? State of the Union nach dem Roman von Nick Hornby Regie: Matthias Rippert ab 20.01.2024, Großes Haus

Mädchenmörder :: Brunke VR-Inszenierung mit Thomas Brasch von RAUM+ZEIT Regie: Bernhard Mikeska Uraufführung ab 27.01.2024, Kleines Haus

Dorian G. Ein Bildnis nach Oscar Wilde

von Christoph Diem, Holger Schröder Regie: Christoph Diem ab 16.03.2024, Aquarium

Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone JUNGES! Schauspiel Mark Haddon / Simon Stephens Regie: Mirjam Loibl ab 23.03.2024, Kleines Haus

Die Dreigroschenoper Bertolt Brecht / Kurt Weill / Elisabeth Hauptmann Regie: Katharina Schmidt ab 24.03.2024, Großes Haus

Foto: Volker Conradus

Digitaler Wandel im Theater

Valentin Fruntke, Ensemble Schauspiel


Report Bruchsal

Wandertheater mit politischem Tiefgang Der neue Intendant Wolf E. Rahlfs spannt an der Badischen Landesbühne Bruchsal den Bogen von draller Komödienkunst bis zur Dramatik des Erinnerns Von Elisabeth Maier

Der geschundene Soldat Woyzeck hat keine Chance, seinen Platz im Leben zu finden. Traurig schaut die Schauspielerin Nadine Pape in der Rolle des armen Mannes in die Welt. Mit ihrer warmen Mezzosopran-Stimme bringt sie nicht nur die Songs schön zum Klingen. Klar und schnörkellos legt sie die Unterdrückung offen, der die Figur in der Gesellschaft ausgesetzt ist. Der Regisseur Wolf E. Rahlfs hat die Titelrolle in der Musikproduktion von Robert Wilson mit Songs von Tom Waits, Kathleen Brennan weiblich besetzt. In der Männerwelt muss sie ihren Platz behaupten. Doch daran scheitert sie. An der Badischen Landesbühne Bruchsal rockt der neue Intendant die Abitur-Pflichtlektüre. Zur Eröffnung seiner ersten Spielzeit in der badischen Stadt mit rund 47000 Einwohner:innen spricht der fünfzigjährige Regisseur und Schauspieler mit seinem Ensemble bewusst ein junges Publikum an. Mit eineinhalb Stunden Spielzeit ist Rahlfs’ Inszenierung dicht, intensiv und unglaublich kraftvoll. Seine Ästhetik ist klar und schnörkellos. Klug legt der Regisseur den Fokus auf die psychologischen Tiefenschichten der Hauptfiguren Marie und Woyzeck. So kommt er den Tiefenschichten in Büchners fragmentarischer Sprache nah. Dass das Stück parallel in der rund sechzig Kilometer entfernten Kurstadt Baden-Baden ebenfalls auf dem Spielplan steht, ist für den Theaterchef kein Hindernis: „Unser Publikum überschneidet sich nicht.“ Mit seiner ersten Inszenierung hat er ein Zeichen gesetzt für ein Theater, das auf breite Publikumsschichten setzt. Den angehenden Abiturient:innen die Deutsch-Lektüre künstlerisch nahe zu bringen, das ist für den Theatermann wichtig: „Wir brauchen das junge Publikum. Gerade in unseren Abstecherorten im Umland ist diese Bildungsarbeit unverzichtbar.“ Für den kommunikativen Theaterchef ist die Intendanz in Bruchsal eine Heimkehr. Dort lebt er seit Jahren mit seiner Frau. Von 2018 bis 2023 leitete er das Theater der Altmark in Stendal. Das kräftezehrende Pendeln nach Sachsen-Anhalt in vollen Zügen hat nun ein Ende. Rahlfs war im Osten nicht nur Künstlerischer Leiter des Landestheaters, sondern auch dessen Geschäftsführer. Nicht allein mit dem engen Finanzkorsett, auch mit ständigen Bau- und Sanierungsarbeiten hatte der Theatermann da zu kämpfen. Die Theater im reichen Baden-Württemberg sind zwar finanziell besser ausgestattet, der finanzielle Spielraum der Landesbühne in Bruchsal aber ist ebenfalls eng.

Die Spielstätte des Theaters in Bruchsal residiert mit dem Jazzclub Bürgerkeller, einem mexikanischen Restaurant und anderen städtischen Einrichtungen im Bürgerzentrum nahe dem Schloss. Wer abends ins Theater geht, kommt im Foyer an kommunalen Kunstausstellungen vorbei oder trifft Menschen, die gerade einen Kurs der Volkshochschule besucht haben. „Das schafft Synergien“, findet Rahlfs, der „das Theater für die Stadtgesellschaft neu denken möchte“.

„Woyzeck“, ein Musical nach dem Stück von Georg Büchner. Songs und Lied­ texte von Tom Waits & Kathleen Brennan, Konzept von Robert Wilson in der Regie von Wolf E. Rahlfs

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Fotos Manuel Wagner

Knochenjob für Schauspier:innen


Report Bruchsal Dafür finde er in Bruchsal auch räumlich gute Voraussetzungen vor. Das Haus im Herzen der badischen Stadt ist für die Landesbühne zwar der zentrale Spielort. Doch mit mehreren Trägergemeinden hat das Theater einen umfassenden Gastspielauftrag. „Wir sind das mobile Stadttheater für 16 Trägergemeinden und Städte in Nordbaden von Bruchsal bis Wertheim“, erläutert der Intendant die Finanzierungsstruktur seines Theaters. „Im Einzugsgebiet unserer Trägergemeinden leben etwa dreihunderttausend Menschen.“ Mit Gastspielen weit über Baden hinaus spielt das Ensemble in jeder Spielzeit insgesamt vierhundert Vorstellungen. Was reizt Rahlfs an diesem Wandertheater? „Die Chance, Theater für ein breites Publikum nicht nur im städtischen Raum zu machen“, findet der studierte Regisseur und Schauspieler besonders spannend. Für die Schauspieler:innen bedeutet das einen Knochenjob. Immer wieder im Bus zu sitzen und zu Gastspielen nicht nur in den Trägergemeinden zu fahren, das schlaucht. Mit dem Familienstück „Gespensterjäger auf eisiger Spur“ nach dem Kinderbuch von Cornelia Funke war die junge Sparte der Badischen Landesbühne, kurz BLB, in Neckartenzlingen in Württemberg für eine Schulvorstellung zu Gast. In der voll besetzen Melchior-Halle folgten die Schüler:innen aus der Region dem fantasievollen Geistertheater nicht durchweg gebannt. Trotz starker Schauspielkunst, die der Regisseur und Schauspieldozent Ulrich Cyran auf der in gruseliges Grün getauchten Bühne in Szene gesetzt hat, taten sich manche der Kinder schwer, dem komplexen Text der Bühnenfassung aus der Feder von John Y. Hammer zu folgen. Wenn das Ensemble aber jenseits der Sprache mit starkem Körpertheater die Geisterwelt zum Leben erweckte, die Matthias Burger mit seinem magischen Sounddesign bereicherte, folgten die Grundschüler gebannt. Der Leiterin Gina Jasmina Wannenwetsch ist es wichtig, „Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten Zugang zum Theater zu bieten.“ „Wir haben mit der Badischen Landesbühne gute Erfahrungen gemacht“, schwärmt Rose Schäfer vom Kulturring Neckartenzlingen von der reibungslosen Zusammenarbeit mit Techniker:innen und Schauspieler:innen. Um in das Dorf in Württemberg zu kommen, legen die Lastwagen der BLB pro Strecke rund hundert Kilometer zurück. „Für unsere Schulkinder ist es ein Erlebnis, das Theater hier am Ort zu haben“, sagt Schäfer. Da die Neckartenzlingen mit seinen rund sechstausend Einwohner:innen mit dem öffentlichen Nahverkehr relativ schlecht zu erreichen ist, organisiert der Kulturring auch für die junge Generation ein vielseitiges Programm vor Ort.

Wenn das Ensemble aber jenseits der Sprache mit starkem Körpertheater die Geisterwelt zum Leben erweckte, die Matthias Burger mit seinem magischen Sounddesign bereicherte, folgten die Grundschüler gebannt. Theater der Zeit 1 / 2024

Szenen aus „Woyzeck“

In Baden-Württemberg hat Rahlfs seine Wahlheimat gefunden. Wie seinen Vorgänger Carsten Ramm, der die Badische Landesbühne fünfundzwanzig Jahre lang geleitet hat, reizt den Künstler das Erinnern auch an die dunklen Kapitel der Lokalgeschichte. Deshalb hat er das politische Dokumentartheater „Der Mann des Rechts. Ludwig Marum“ von Hajo Kurzenberger in den Spielplan genommen. Der kämpferische Jurist und Politiker aus Baden, der sich früh dem aufkommenden Faschismus entgegengestellt hatte, war als Jude und Sozialdemokrat von Anfang an Zielscheibe der NSDAP. Seine Geschichte erzählt der Dramaturg und Theater­ wissenschaftler Hajo Kurzenberger, der aus Bruchsal stammt. Was politisches Theater angeht, will Rahlfs sein ­Publikum mit zeitkritischen Texten fordern. So steht in der ersten Spielzeit auch der „Reichsbürger“-Monolog von Konstantin und Annalena ­Küspert auf dem Plan. In der deutschen Theaterszene ist Rahlfs bestens vernetzt. Am ersten Mai-Wochenende ist sein Haus einer der fünf Austragungsorte der bundesweiten Landesbühnentage. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Bühnenverein „über das Theater der Zukunft nachzudenken“, das findet der Theaterchef spannend. Zum Diskurs über eine Ästhetik des digitalen Zeitalters gehört für ihn aber auch, den Blick in Richtung Europa zu weiten. Das passt zu seiner Biografie: Er hat seinen Master of Fine Arts in Regie an der Middlesex University in London gemacht. Die Schauspielausbildung hat er am Liverpool Institute for Performing Arts absolviert. Brücken zur internationalen Theaterkunst baut er auch mit seinem Spielplan. 2003 hat er die Welturaufführung von Frank Zappas einzigem Musical „Thing-Fish“ am Londoner Battersea Arts Centre (BAC) inszeniert. Auf seinem ersten Spielplan ist deshalb „Schöne Bescherungen“ des Briten Alan Ayckbourn zu finden, dessen große Komödienkunst nach Rahlfs Worten „bei den Spieler:innen wie beim Publikum gleichermaßen ankommen“. T

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Report Graz

Dramaturgietheater der Frauen Erste Eindrücke vom Schauspielhaus Graz unter der neuen Direktion von Andrea Vilter Von Hermann Götz

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Mit den romantischen Gebrüdern selben Namens ist Christiane ­Karoline Schlegel weder verwandt noch verschwägert. Aber sie war wie diese Schriftstellerin. Dass sie nicht ganz unbekannt blieb, verdankt die 1739 in Dresden geborene Pastorentochter einem anderen Mann: Christian Fürchtegott Gellert, Freund Klopstocks und Leopold Mozarts, mit dem sie eine Brieffreundschaft verband. Andrea Vilter, seit Herbst 2023 Intendantin am Schauspielhaus Graz, hat die Uraufführung von Schlegels Drama „Von einem Frauenzimmer“ zur Eröffnung ihrer Intendanz programmiert. Ein Statement. Vilter ist Dramaturgin und Universitätsprofessorin, keine Regisseurin oder Schauspielerin. Und sie ist nach Iris Laufenberg und Anna Badora die dritte Frau in Folge an der Spitze des Grazer Hauses. Drei von vier Mitgliedern in Vilters Leitungsteam sind Dramaturginnen. Drei von vier ihrer großen Premieren wurden bislang von Frauen inszeniert. Dazu passend montiert Regisseurin Anne Lenk in ihre Schlegel-Uraufführung zwei Fußnoten zu Geschlechterverhältnissen in Gesellschaft und Literaturgeschichte. Der Abend hätte auch gut für sich gestanden. Auf der monochrom roten Bühne von Judith Oswald, die sich den Fluchtlinien folgend nach hinten verengt, entfaltet der „klassisch“ gebaute Text eine überraschende Sogwirkung. Viel spannender als die Frage, ob sich Schlegels Drama in Sprache und Dramaturgie mit Werken männlicher Zeitgenossen messen kann, sind die Frauen- und Männerbilder, die sie zeichnet. Schlegels Heldinnen Mariane (Sarah Sophia Meyer) und Amalie (Marielle Layher) sind Gattin und Geliebte des Baron Düval (Simon Kirsch) – und Freundinnen. Das bleiben sie, denn der Baron ist

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Fotos Lex Karelly

Anke Stedingk in der Österreichischen Erstaufführung von„Sonne/Luft“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Emre Akal


Report MülheimReport an der Ruhr Graz ein Troublemaker, dem man nur vereint begegnen kann. So entwirft die Autorin eine Dreiecksgeschichte, in deren Zentrum ein wollüstiger Patriarch steht, dessen Stürmen und Drängen gegen die höfische Moral sich keineswegs heroisch präsentiert, sondern schlicht als toxische Männlichkeit: Blindwütig rennt der Baron gegen „das System“ an, macht Frauen von sich abhängig, weil er sie besitzen will – um jeden Preis. Es ist die Geschichte eines Femizids, eines erweiterten Selbstmordes, die Schlegel erzählt: ungeschminkt und ohne romantisierendes Pathos. Von Anne Lenk adäquat schnörkellos inszeniert, ist ein zeitloses Stück Aufklärung zu erleben. Noch deutlicher tritt das Anliegen, politische Potenziale eines Stoffes herauszuarbeiten, in „Leonce und Lena – nowhere to run“ zutage, einer Überschreibung von Georg Büchners rotzigem Lustspiel über die Unlust an der Welt. Rebekka David hat den Text mit ihrem Ensemble nicht nur aktualisiert, sondern ausreichend schamlos fortgesponnen: lustvoll, radikal und flapsig wie das Original. Büchners subversiver Blick auf die höfische Gesellschaft transformiert sie in ein ironisches Lehrstück mit geradezu Brecht’schen Momenten: Die dekadente Lebensmüdigkeit der Titelfiguren wird mit Quiet Quitting verknüpft, ihre Verweigerungshaltung mit einem System-Change. Zwischen Schlegel und Büchner setzt Vilter zwei österreichische Akzente. Der in Graz verstorbenen Johann Nepomuk Nestroy verhandelt Büchners Vormärz aus Sicht des Wiener Biedermeiers. Von ihm wird „Der Zerrissene“ gegeben. In der Inszenierung von Ulrike Arnold und den Couplets der Kabarettistin Ulrike Hai­ dacher wird der Biedersinn des Textes ironisiert. Das ist stimmig, denn Nestroys von Zensur geprägte Versteckspiel-Stücke verlangen nach subversiver Rezeption. „Die Kathi ist lieb“, singt also Kathi, „weil Johann Nestroy sie so schrieb“. Begleitet wird sie von einem genialisch musikalischen Duo (Clemens Rynkowski und Jan Krizanic), das den Abend atmosphärisch zusammenhält. Dem Publikum kommt dieser „Zerrissene“ selbstironisch aber doch entgegen. Das kann von Emre Akals österreichischer Erstaufführung des Jelinek-Textes „Sonne/Luft“, einer Kooperation mit dem Festival steirischer herbst, nicht behauptet werden. Elfriede Jelinek legt ihre Betrachtungen über die Menschenwelt als Monolog aus dem Mund der Sonne an, die mitansehen muss, wie ihr zerstörerisches Potenzial durch den kaum bekämpften Klimawandel buchstäblich freigelegt wird. Diese maximale Distanz zum Erdenvolk kann als Chiffre für eine sich selbst isolierende Autorin gelesen werden, die resigniert, mal wütend und mal heiter, eine Welt zu Ende schreibt: „Keine Sorge, der Autor-Pilot weiß schon, wo es hingeht.“ Akal greift diese Erzählhaltung auf und unterstreicht sie konsequent mit einer bildstarken Inszenierung, in der der Text zu größten Teilen eingespielt wird, während auf der beständig kreisenden Drehbühne, Jelinek-Themen nachgestellt werden, die oft gar nicht angesprochen sind. Das Publikum verharrt wie ausgeklammert hinter der vierten Wand, während sich das Theater demonstrativ um sich selbst dreht. Dass formal Forderndes wie die Akal-Arbeit (Bühne und Videos von Mehmet & Kazim, Kostüme von Lara Roßwag) auf der Hauptbühne ein großes Publikum finden müssen, ist mutig, hat aber auch mit Vilters Neupositionierung der kleineren Spiel-

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stätten zu tun. Über Jahre wurden diese für Programme genutzt, die sich vom zentralen wenig unterschieden (was sich positiv auf die Gesamtauslastung auswirkte). Die neue Leitung gibt dem Schauspielhaus zwei Orte für explizit experimentelle Formate. Im „Schauraum“ nähern sich Ensemblemitglieder in einem PopAbend Ovids „Metamorphosen“ und/oder sich selbst. Mervan Malwin Ürkmez geht noch weiter und präsentiert einen GenderEssay über und mit rhythmische(r) Sportgymnastik. Und das Institut für Medien, Politik und Theater gestaltet innenpolitische Abende (Regie Felix Hafner). Die kleinste Bühne, nun „Konsole“, wird dem Künstler:innen-Kollektiv F. Wiesel (Hanke Wilsmann und Jost von Harleßem) überantwortet, das mit einer Mixed-Reality-Installation startet, die aus Corona-Lockdown-Zeiten nach Graz mitgebracht wurde. Von Einzelpersonen sind Raum und Geschichte erst mittels original-historischer Medien wie in einem Videospiel aus den 1970ern zu entdecken, dann durch die VR-Brille. Die Produktion des Ganzen lag in Händen von Heidrun Schlegel. Leider ergab sich keine Gelegenheit, nach ihrem Stammbaum zu fragen. T

Oben: „Von einem Frauenzimmer“ von Christiane Karoline Schlegel in der Regie von Anne Lenk Unten: „Der Zerrissene“ von Johann Nestroy in der Regie von Ulrike Arnold

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Report Ungarn

Magisch und anders Das Budapester dunaPart-Festival der Freien Szene präsentiert eine neue Generation Ungarns Von Thomas Irmer

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„Du wirst überrascht sein“, sagte der Kritiker und Kurator Tamás Jászay, als ich mich Wochen vor dem Festival nach dem Programm erkundigte, „und wahrscheinlich wirst du keinen einzigen Namen kennen“. Jászay, der in Szeged an der Universität Theatergeschichte lehrt und das Internetportal Revizor für aktuelle Kritiken leitet, gehört zu den Pionieren dieses 2008 ins Leben gerufenen Festivals der Freien Szene Ungarns. Damals ging es vor allem darum, einen Showcase kleinerer Produktionen aus dieser Szene für internationale Gäste und Scouts zu organisieren, damit diese das ungarische Theater in seiner ganzen Breite wahrnehmen können. Denn mehr noch als anderswo entwickelten sich die Talente mit ihren zum Teil autonomen Gruppen in Ungarns Hauptstadt abseits der Staats- und Stadttheater. Allein aus dem Umfeld von Árpád Schillings Krétakör-Theater trat später der heute auch für seine Filme weltberühmte Kornél Mundruczó mit ersten Theaterarbeiten hervor. Mit dem Trafó House of Contemporary Arts wurde ein dem Berliner HAU vergleichbares Produktionshaus in einem damals eher randständigen Bezirk südlich des Pester Prachtrings gegründet, das bis heute unter der Direktion von Beáta Barda und György Szabó als Plattform der dunaPart-Festivals fungiert. Die Festivalausgaben der 2010er Jahre hatten auch eine politische Bedeutung, denn der seit 2010 regierenden Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán war das internationale Interesse an diesen unabhängigen Gruppen suspekt in einem Verständnis von Nationalkultur als staatlicher Repräsentation. Dennoch gab es Förderung, vor allem von der Stadt und auch vom Kulturministerium, und bis 2019 alle zwei Jahre den dunaPart-Showcase, von dem aus auch immer wieder ungarische Künstler:innen für die internationale Welt von Theater, Tanz und Performance entdeckt wurden. Corona riss ein gleich vierjähriges Loch, doch Ende November wurde ein umso umfangreicheres Programm an der Donau präsentiert, für das vor allem Jüngere von den

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Foto links Zsuzsi Simon/ Nimród Nyúl, mitte oben Judith Horvath, mitte unten Ofner Gergö, rechts Simon Iringó

Szenen aus dunaPart-Festival: links „Necromancy“ von Kristóf Kelemen, Mitte oben „Solness“ nach dem Stück von Henrik Ibsen, in der Regie von Ildikó Gáspár, Mitte unten „Living the dream with Grandma“ von László Göndör, rechts „Fatigue“ von Viktor Szeri


Report Ungarn

für die Auswahl verantwortlichen sechs Kurator:innen berücksichtigt wurden. Den so deutlich demonstrierten Generationswechsel verkörperte letztlich auch das Auswahlgremium selbst, in dem Jászay mit Mitte vierzig bereits der Senior war. Charakteristisch für die junge Generation sind Erfahrungen im Ausland, als Studium, Ausbildung oder erste Assistenzen. Für Tanz geht man nach Belgien und in die Niederlande, für Dramaturgie und Postdramatik bevorzugt nach Deutschland. Für Performance Arts vielleicht sogar in die USA wie László Göndör, der in Portland, Oregon ein erstes Studium als Performer absolvierte. Sein Solo „Living the Dream with Grandma“ erzählt vom gemeinsamen Wohnen mit seiner 97-jährigen Großmutter während des Lockdowns in Budapest. Grandma Éva Katona hat als junge Frau den Holocaust überlebt und in der Pandemie den 35-jährigen Enkel bei sich aufgenommen, der in einer Krise steckt und immer wieder Gespräche mit ihr aufnimmt. Manche sind wie Quiz­fragen, die die Dame schlagfertig pariert, bis sie nach Champagner und guten Keksen verlangt. Es geht um die großen ungarischen Autoren Kertész, Konrád und Esztherházy und die großen Fragen des Lebens in diesem Audio-Material, das der Enkel nun wie ein sich immer wieder verwandelnder Showmaster vorführt. Mal hat er eine glitzernde Teufelsmaske vor dem Gesicht und täuscht eine One-Man-Show in Las Vegas an, dann tritt er wieder für einen Moment als seriöser Rechercheur der Familiengeschichte in Sachen transgenerationelle Traumata auf, das Publikum stets im Blick – Grandmas O-Töne werden englisch übertitelt und Göndör selbst performt für die internationale Version fast alles englisch, was der ganzen Sache Schwung und Tiefe lässt. Natürlich ist hier die Tradition des amerikanischen Performance-Solos à la Spalding Gray und des Stand-ups zu erkennen, zusammen mit dem raffinierten Selbstbewusstsein für autofiktionale Literatur heute.

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Göndörs Gabe ist, die Darstellungsform so oft und so schnell zu wechseln, dass man hinterher zwar verunsichert ist, aber ihn doch am liebsten zu einem Bier einlüde, um zu erfahren, ob das alles so stimmt. Denn die Sache wirkt, für einen kleinen Kreis von vielleicht sechzig Zuschauern, betörend und verstörend zugleich. Auf ganz andere Weise knüpft Kristóf Kelemen an Performance-Geschichte an. „Necromancy“ gehörte zwar nicht zum offiziellen dunaPart-Programm, war aber als Parallel-Besuchsmöglichkeit direkt angelegt. Zumal Kelemen zu den gepriesenen Akteuren vorheriger Ausgaben gehörte, insbesondere mit seiner Mockumentary der „Ungarischen Akazie“. Mit „Necromancy“ möchte er an die Geschichte eines Underground-Theaters erinnern, das in den frühen 1970er Jahren in einem stillgelegten Kloster am Balaton wirkte, aber auch in einer Budapester Wohnung. Später wurden sie ins Ausland vertrieben und gehörten als Squat Theater zur New Yorker Avantgarde. Jeweils nur zwei Leute bekommen vor einer Fotowand von Kelemen eine kurze Einführung zur Geschichte dieser Gruppe um Péter Halász, bevor dann mit VR-Brillen deren Welt erlebt wird. Am Ufer des Balaton werden Lavendelgeruch und Windhauch zugefächelt, Immersion mit einfachsten Mitteln – und Humor, denn jeder hier weiß, für Hightech-Brimborium ist in dieser Szene null Geld da. Es gilt die Komplizenschaft des Publikums für solch einfache Mittel und für Kelemen darüber hinaus, dass man sich in der heutigen Situation auch an Vorgänger des bedrängten und dabei erfindungsreichen Theaters erinnern soll. Keine Frage. Die Eröffnungsproduktion im Trafó, Viktor Szeris Solotanz „fatigue“, ließ schon die Tugenden der Intensität mit wenigen Mitteln erkennen und war damit gleichsam die Signatur für vieles in diesem Showcase. Der Tänzer bewegt sich in extrem verlangsamten minimalistischen Bewegungen zu einer geradezu hypnotischen elektronischen Trancemusik vor einer spärlich video-­bebilderten Rückwand. Reine Atmosphäre, aber magisch und ohne vordergründige Botschaft, sofern man nicht „Müdigkeit“ gleich als Zustandsbeschreibung der Gesellschaft an sich deutet. Ob die junge Generation im heutigen Ungarn große Chancen hat, wird mit dem dafür interpretationsträchtigen Ibsen-Stück „Baumeister Solness“ ausgedeutet von der Regisseurin Ildikó Gáspár, die einst in Gießen studierte und schon lange am Örkény Theater arbeitet, dem einzigen in den Showcase einbezogenen Stadttheater. In Gáspárs Studioinszenierung sitzt das Publikum auf Armeslänge an den Schauspielern, die in ihrer Alltagskleidung mit subtiler ­Abstimmung zu entschlüsseln sind. Generation Solness, die Älteren, aber nun auch nicht mehr am großen Ruder, sieht wie aus der Wendezeit aus, Hilde dagegen wie eine ganz von heute – knautschend verschwitzte Lederjacke gegen Fledderkleid unterm Kapuzenpulli. Generation Solness, egal für wen oder dagegen, hat es versaut. Hilde bleibt hilflos, aber – weil es auch die anderen utopischen Entwürfe von Häusern nach Solness gibt – unverzagt. Diese Inszenierung kann man als Signatur lesen: als Aufbruch im Mangel und stille Abrechnung mit der jüngeren Vergangenheit Ungarns. Und auch der Frage: Muss die junge Generation immer Kleineres immer größer machen, wenn sie so wenig hat? Göndörs Großmutter würde sagen: Junge, jetzt den Champagner. Für Euch! T

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

„Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemanden den Bart zu versengen.“1 Hermann Beyer, Michael Gwisdek und Dieter Montag im Gespräch mit Thomas Wieck 68

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Skizze: Annegret Wieck

Schlussszene aus „Die Lohndrücker“ am DT 1988 mit Dieter Montag, Michael Gwisdek und Hermann Beyer


Magazin Vorabdruck Thomas Wieck: Wann hast Du etwas von dem Autor Heiner Müller gehört und wie kamst Du an die Volksbühne? Hermann Beyer: Wir hatten einen Lehrer an der Oberschule, der uns immer ins Berliner Ensemble geschickt hat: „Das müsst ihr euch angucken!“ Dann gab es eine Aufführung im Kulturhaus Ludwigsfelde: Hagen Müller-Stahl hatte mit Studenten der Bezirksparteischule der SED in Kleinmachnow Zehn Tage, die die Welt erschütterten aufgeführt. Anschließend war ein Gespräch mit Heiner Müller. Da habe ich ihn das erste Mal gesehen und dachte: Mann, ist der hässlich! – Ob ich schon was gehört hatte von ihm, weiß ich nicht. Aber ich weiß noch, wenn irgendeine Kritik in dem Gespräch kam, erklärte Müller immer, warum er gerade das gut findet. Und in der 10. Oder 11. Klasse habe ich die Inszenierung von Lohndrücker gesehen. Im Maxim Gorki Theater. Und fand das erstaunlich. Da gab es ja diese vielen „Produktionsstücke“ und ich habe mich gewundert, wieso die mich nie interessiert haben, ich aber über die Jahre immer wieder in dieses Lohndrücker-Heft geschaut habe, das ich mir besorgt hatte. Mich hat das sehr interessiert, ohne mitzukriegen, was das Stück bedeutete. Das kam erst, als Müller das selbst inszenierte, 1988. Schon die erste Arbeit noch als Schauspielstudent am Theater, am Deutschen Theater, war mit Problemen beladen. Eine Bearbeitung des Rosow-Stückes Unterwegs, übersetzt von Günter Jäniche, bearbeitet von Inge Müller. Wieck: Da wart ihr Studenten als Kleindarsteller dabei? Beyer: Naja, wir hatten Texte. Ich kenne ja heute noch Texte! „Das ist ja reines Nietzscheanertum!“ Und Dieter Mann musste sagen: „Hast du Nietzsche gelesen?“ und ich musste sagen: „Ich bin doch nicht blöd!“ (Lachen) … Wir waren fünf Studenten, die in der Inszenierung drin

1 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher G, G 13, in: https://www.projektgutenberg.org/lichtenb/aphorism/ chap006.html, Stand 7.11.2021.

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waren. War ein großer Erfolg. Da sind wir ja sogar in den Westen mit gefahren! Das war eines der ersten Gastspiele nach dem Mauerbau. Das war Herbst 1965, das Gastspiel war in Frankfurt/Main. Ich bin nicht mitgefahren. Wieck: Aus Protest gegen den Westen? Beyer: Nee, weil sie Christiane Krätschell, eine Pfarrerstochter in meinem Studienjahr, nicht mitgenommen haben. Wieck: Da bist du natürlich auch nicht mitgefahren …

Dabei wusste ich, ich kann mit Krempel nicht. Aus Karrieregeilheit, ich hätte ja nein sagen können, blieb ich in Berlin und ging ans Gorki. Wieck: Deine erste Rolle war in Frischs Don Juan oder die Liebe zur Geometrie? Beyer: Das war meine erste Rolle, zum Leidwesen von mir. Alex Lang die Hauptrolle, ich der kleine Freund, über den sich nur lustig gemacht wurde. Das war der Renner. Wieck: Das Gorki-Theater war voll!

Beyer: Da haben mich alle für verrückt erklärt. Das hat über Brigitte Soubeyran Wolf Biermann erfahren und hat mir als Ersatz für die Westreise Die Drahtharfe geschenkt. Die schwarze Ausgabe. … „Ich habe mit Freude von Ihnen gehört … als Ersatz für Ihre Westreise …“ Wieck: Na, das war ja schon Konterbande. Beyer: Du, im Nachhinein … An die Schule habe ich geschrieben: Ich habe ja keinen Vertrag am Deutschen Theater und ich finde das nicht in Ordnung, dass eine junge Kollegin nicht mitfahren darf … Sie hätten mir, wenn sie gewollt hätten, ’nen Strick draus drehen können und mich rausschmeißen können. Das ist mir allerdings erst später klar geworden. Ich war so sicher, dass ich das mir leisten kann. Und es ist auch dann kein Thema mehr gewesen. Sie haben mich nur alle für verrückt erklärt. Ich hätte gut und gerne nach dem Studienende im Sommer 1966 mit einer Gruppe meines Studienjahres und der Berliner Schauspieldozentin Carla Hoffmann mit nach Parchim gehen können … Wie Rudolstadt für die Filmhochschule Babelsberg, war Parchim das Provinz-Theater, das von der Schauspielschule immer wieder neu bestückt werden musste. Da gingen mit: Klaus-Jürgen Steilmann, Renate Krößner, Christiane Krätschell, Peer Jäger, Bettina Mahr und Günther Kurze. Alex Lang, Jenny Gröllmann, Ekke Müller und ich zu Wolfram Krempel, der war da Oberspielleiter. Krempel hatte ein paar Sachen mit uns gemacht, u. a. Marquis von Keith.

RECHERCHEN 169 Wir waren die Müller-Spieler Hermann Beyer, Michael Gwisdek, Dieter Montag über die Kunst des Schauspielens in der DDR Verlag Theater der Zeit, 426 S., ISBN: 978-3-95749-497-9, € 28 Lieferbar ab 05.01.2024

Buchpremiere am 09.01. um 19 Uhr in der Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Berlin

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Magazin Bücher

Crip-queere Kompliz:innenschaft in Theater und Wissenschaft Re-Visionen in der Theatertheorie Von Theresa Schütz

Mirjam Kreuser: Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters. transcript Verlag, Bielefeld 2023, 152 S. € 29

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Von welchen Körpern wird im- oder explizit ausgegangen, wenn Kunstphilosoph:innen oder Theaterwissenschaftler:innen über ästhetische Wahrnehmungsprozesse und/oder Erfahrungen schreiben? Auf welchen Prämissen basieren Aufführungsanalysen? Und worauf gründet die Wertschätzung transformativer Kunsterfahrungen, die aus Krisenund Instabilitätserfahrungen erwachsen? Es sind theoretische Schwergewichtsfragen wie diese, denen sich die Mainzer Theaterwissenschaftlerin Mirjam Kreuser im Rahmen ihrer jüngst vom transcript-Verlag publizierten Masterarbeit angenommen hat. Unter dem Titel „Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters“ entfaltet die Autorin mittels Queer Studies und Crip Theory eine kritische Revision zentraler Begrifflichkeiten theaterwissenschaftlicher Theo­ rie- und Methodenbildung der letzten Dekaden. Ziele der Studie sind die Sensibilisierung für Positionalität beim eigenen Schreiben über Theater sowie ein Plädoyer für crip-queere Kompliz:innenschaft. Neben intensiver Theoriearbeit dient Kreuser als Beispiel eine mehrteilige Veranstaltungsreihe, die in Zürich unter dem Label „Criptonite“ der beiden sich als queer und crip identifizierenden Künstler:innen Nina Mühlemann und Edwin Ramirez mitzuerleben war. Innerhalb der deutschsprachigen Theaterwissenschaft leistet Kreuser die wichtige Pionierinnenarbeit, die anglophone Crip Theory einzuführen, welche sich aus akademischer, künstlerischer und aktivistischer Perspektive gegen ableistische Strukturen sowie die Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen einsetzt, deren Körper von der medizinisch als „gesund“ geltenden Norm als „abweichend“ kategorisiert werden. Crip markiert dabei eine widerständige Neuaneignung des engl. Wortes „cripple“; insbesondere im Rahmen eines relationalen Verständnisses von Behinderung, das darauf abhebt, disabillity nicht als Merkmal von Körpern, sondern als Ergebnis sozialer Praktiken (z.B. des Ausschlusses durch räumliche Barrieren) zu begreifen, durch die bestimmte Körper an gleichberechtigter Teilhabe be-hindert werden. Während Sara Ahmed mit „Queer Phenomenology“ bereits 2006 den Auftakt gab, ergänzt Kreuser nun crip-Perspektiven für das Projekt einer intersektionalen, kritischen Phänomenologie. Dabei geht es vor allem darum, das (unsichtbar) Normierte in Grundannahmen zu Körper und Orientierungsprozessen bei Husserl oder Merleau-Ponty sichtbar zu machen. So

weist Kreuser nach, dass das Subjekt der klassischen Phänomenologie ein spezifisch orientierter Körper ist: nämlich ein heteronormatives und abled-bodied Subjekt, das in einem verhältnismäßig reibungslosen Passungsverhältnis zur Welt „einwohnt“. Die klassische Phänomenologie baue demnach auf einer spezifischen normierten Position zur Welt auf, die verallgemeinert werde. Theaterwissenschaftler:innen wie Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt hätten nun Anfang der Nullerjahre auf dieser Denkschule aufgebaut, um u.a. „krisenhafte Subjekterfahrungen“ oder „markante Momente“ als Kennzeichen ästhetischer Erfahrungen zu theoretisieren. Kreuser zeigt, dass auch bei ihnen ein normierter Zuschauer:innenkörper zugrunde gelegt wurde, der als stabil orientierte Entität in ein Aufführungsereignis eintrete, temporär destabilisiert und desorientiert werde, um anschließend „transformiert“ herauszutreten. Nach der Verabschiedung der Idee eines „idealen Zuschauers“ gelte es nun in Theorie wie Praxis „die Heterogenität des Publikums in seiner Phänomenalität nicht nur anzuerkennen, sondern bewusst zu thematisieren und als differenzierenden Faktor in die Analyse mit aufzunehmen“ (S. 71f.). Wenn Instabilitäten (hinsichtlich der „passenden“ Orientierung in Raum und Zeit) für queere und behinderte Körper zum Alltag gehören, so Kreuser, erleben diese Körper die vermeintlichen instabilen Momente im Aufführungskontext ggf. kategorial verschieden. Mit dem Konzept der „theatrical spacetime“ akzentuiert sie, sich für die Aufführungsanalyse nicht nur der eigenen partialen Perspektive bewusst zu werden, sondern methodologische Konsequenzen daraus zu ziehen, dass verschiedene „bodyminds radikal unterschiedliche Erfahrungen machen“ (S. 95). Eine Möglichkeit sieht sie in Kompliz:innenschaft, die die (eigene) affektive Neuorientierung des Körpers zu anderen hin meint. Wenngleich die Lektüre voraussetzungs­ reich ist, bekommen theorieaffine Leser:in­ nen einen konzisen, verständlichen Einblick in ein virulentes, interdisziplinäres Forschungsfeld machtkritischer Positionen, welche ne­ben Kanonkritik vor allem an einer Dezentrierung bisheriger akademischer Wissensproduktion mitwirken. Und Vorschläge in diese Richtung überzeugen vor allem dann, wenn sie wie bei Kreuser weder radikal noch nicht in erster Linie moralisch, sondern analytisch präzise und gesellschaftspolitisch engagiert vorgetragen werden. T

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Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 1/ 2024 Jens Fischer, Kulturjournalist, Bremen Hermann Götz, Kritiker, Graz Peter Helling, Hörfunkredakteur und Kritiker, Hamburg Burghart Klaußner, Schauspieler und Regisseur, Hamburg Thomas Oberender, Autor, Kurator und kultureller Berater, Berlin Matthias Schmidt, Filmautor und Kritiker, Leuna Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Basil Zecchinel, Regiestudent, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 1, Januar 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.12.2023 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit

Vorschau Arbeitsbuch Vorschau 2/ 2024

tdz.de

Foto Teatro La Plaza

„Hamlet“, Gastspiel aus Peru beim Iberoamerikanischen Theaterfestival ¡Adelante!

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Februar 2024 Iberoamerikanisches Theater: Anlässlich des Heidelberger ¡Adelante!-Festivals im Februar ein Schwerpunkt mit Gesprächen und Analysen rund um die insgesamt zwölf Produktionen im Programm.

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Außerdem neue Texte u.a. von Ariane Koch aus dem Stück Labor, dem Förderprogramm für neue Schweizer Dramatik am Theater Basel, im Stückabdruck samt Begleitmaterial.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Seit 2010 ist Andrea Krauledat Intendantin des Stadttheaters Minden. Es ist ein Bespieltheater, das aber nicht nur Gastspiele zeigt. Viel Aufmerksamkeit erregen die Eigenproduktionen von Opern Richard Wagners. Das aufwendig sanierte, neobarocke Theater hat 535 Sitzplätze und bis zu achtzigtausend Besucher:innen pro Saison.

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Größere Bespieltheater schärfen ihr Profil durch Eigenproduktionen. Sie tun das auch. Mit welchem Ziel? AK: Die große Gefahr für Bespieltheater ist sicherlich eine gewisse Beliebigkeit oder Austauschbarkeit durch den Einkauf bei den gleichen Tourneeanbietern. Dies versucht jedes einzelne Bespieltheater auf seine Weise mal mehr, mal weniger zu variieren und Schwerpunkte zu setzen (s. auch tdz.de: „SPIELRAUM NRW. Bespieltheater in NRW stärken“). Für mich sind die Eigenproduktionen die absoluten „Herzschrittmacher“ für die Individualität des Theaters in Minden. Hierbei ist die Identifikation der Zuschauer:innen besonders hoch und auch die Stadt sieht diese Produktionen als absolutes Aushängeschild. Wir haben beispielsweise durch die Wagneropern internationale Gäste, und haben uns damit einen hervorragenden Ruf in der Szene erarbeitet. Das „Mindener Modell“ wird inzwischen an Universitäten vorgestellt. Theater muss für mich nahbar sein, muss persönlich sein, muss Geschichten in und für die Stadt erzählen. Dies gelingt uns besonders mit unseren eigenen Produktionen wie jetzt mit „Der Widerspenstigen Zähmung“, und man hat das Gefühl, die ganze Stadt ist auf den Beinen und schwingt mit, wenn wir auf eine Premiere zusteuern. Verändert sich das Theatersystem? Wird es bald neben Gastspielhäusern und Ensembletheatern mehr Mischformen geben?

AK: Ich habe mit 19 Jahren als Regieassistentin am Staatstheater Nürnberg angefangen, seitdem selbst viel inszeniert und lange an „normalen“ Theaterbetrieben in verschiedenen Funktionen gearbeitet. Ich kann mich noch gut erinnern, wie überheblich wir über den sogenannten Grünen Wagen mit den Fernsehstars gesprochen haben. All das hat mich in der täglichen Theaterarbeit nun überholt. Die Theater in der Fläche gut zu nutzen und Kultur auch in Gebiete zu bringen, in denen sie eben nicht so leicht wie in Großstädten zu haben ist, das halte ich für absolut wichtig. Dazu gehört der Gastspielbetrieb, dessen Anbieter ja auch immer vielfältiger werden. Es wird zukünftig eine Frage der Finanzen sein, inwieweit sich so viele Staats- und Stadttheater noch mit allen Sparten halten können. Die Vorteile am Bespieltheater ist die absolute Variabilität im Programm. Wir können Konzerte, Tanz, Schauspiel, Kabarett, Musical, Operette, Kinder- und Jugendtheater anbieten und das oft mit so einem hochkarätigen internationalen Ensemble, wie das eben ein „normales“ Stadttheater gar nicht könnte. Vielleicht ist eine Mischform gar nicht so schlecht, wobei ich das Ensembletheater sehr hoch schätze, mit all seinen Chancen der künstlerischen Entwicklung. Träumen Sie davon, ein Ensembletheater zu leiten? AK: Ja. Aber im Moment lebe ich ganz konkret einen anderen Traum. Im schönen Stadttheater Minden. Und das mit dem besten Team der Welt. Jürgen Prochnow hat es einst hochsensibel und sehr treffend formuliert. Er kam auf unsere Bühne und sagte: „Was für ne geile Hütte!“ Was sind die Stärken und Perspektiven des Stadttheaters Minden? AK: Die größte Stärke des Theaters wird wohl das Überleben in der nächsten Zeit sein müssen, ohne den Weg des anspruchsvollen und so breit aufgestellten Spielplans zu verlassen. Wir sind von massiven Sparmaßnahmen für den nächsten Haushalt betroffen. Unsere Stärke ist sicherlich, dass wir ein so großes Stammpublikum haben, seit Jahren ein so großes Vertrauen genießen und immer im Dialog stehen. Denn in Minden sagt man: Das Theater ist das Herz der Stadt. T

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Foto Christian Schwier

Was macht das Theater, Andrea Krauledat?

Jetzt leiten Sie ein frisch saniertes Haus. Die Bauarbeiten sind ohne große Skandale passiert. Ist das Stadttheater Minden nun auf dem Stand, den Sie sich wünschen? AK: Wünsche hat man immer und ­natürlich mussten wir auch im Verlauf der Planungen auf einiges verzichten. Aber was wirklich unabdingbar wichtig war, ist gemacht worden. Wir haben eine komplett neue Heizungs- und Belüftungsanlage, die bisherige war knapp dreißig Jahre alt. Außerdem ist bei unserer Technik viel modernisiert worden, was wirklich sehr nötig war, um auch modernste internationale Gastspiele einladen zu können. Außerdem haben wir viel in die Verbesserung der Barrierefreiheit in unserem Haus investiert.


17.– 20.januar 2024

united in grief

Foto Roger Mokbel

ein festival in togetherness and/in mourning

Basel Abbas, Ruanne Abou-Rahme, Marcel Babazadeh, Elona Beqiraj, Carolina Bianchi, Yara Bou Nassar, Louise Brown, Ali Chahrour, Max Czollek, Challenge Gumbodete, Daniel Blanga Gubbay, DJ Bey alias Emrah Göktaş, Astrit Ismaili, Raphael Khouri, Fatbardh Kqiku, Elise Lammer, Fallon Mayanja, Carolina Mendonça, Nkisi, Lulu Obermayer, Belle Santos, Nour Sokhon, Slow Reading Club, Lena Maria Thüring, Michiel Vandevelde, Senthuran Varatharajah, Sinthujan Varatharajah u. v. m. Artistic Direction & Kuration Hayat Erdoğan, Tine Milz und Ibrahim Nehme


All Abled

Festival inklusiver Theaterformen 11. – 14. Januar 2024 Münchner Kammerspiele

muenchner-kammerspiele.de


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