Theater der Zeit
Tarife & Theater
Mit
Patrick Bannwart Nora Schlocker Ahmad Mesgarha Sarah Kilter und Lars Werner Burghart Klaußner Johanna M. Keller
Februar 2023 EUR 9,50 CHF 10 tdz.de
Warum wir das Theater brauchen
Eine neue Essay-Serie
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ITZ THE MINDSET
PREMIEREN
EIN QUÄNTCHEN VON ALLEM (UA) Von Peer Mia Ripberger
REQUIEM (UA) Von OMG Schubert
IRRLICHTER. EIN SOMMERNACHTSTRAUMA (UA) Von Hannah Zufall
WEITERES PROGRAMM
LIEBE IN ZEITEN DER SCHICHTARBEIT Von Marcel Raabe und Manuel Waltz
DIE KINDER DER ZEIT Von Peer Mia Ripberger
NICHT MEIN Von Laura Naumann
www.itz-tübingen.de
Ab 18. März 2023 Ab 6. Mai 2023 Ab 1. Juli 2023
Ab 2. Februar 2023 Ab 4. Februar 2023 Ab 24. Februar 2023
Theater der Zeit Editorial
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Foto Arno Declair
ür den Relaunch von TdZ gab es viel Zuspruch, sogar Glückwün sche, sowohl für die Zeitschrift mit ihrer grafischen Gestaltung als auch für die neue Website und den Zusammenhang beider. Das hat uns alle, das gesamte Team im Verlag, nicht allein die Redaktion, sehr gefreut. Der Schwerpunkt in diesem Heft be schäftigt sich mit den Auswirkungen der Tariferhöhungen in den verschiedenen Theatern. Es ist ja klar, die Orientierung an Mindestlohnstandards, vor allem in den kleineren Theatern, ist nur zu be grüßen. Zugleich wird das Betriebssystem in seinen ökonomischen Bedingungen damit erschüttert und die jeweiligen Rechtsträger sind in der Verantwortung. Nicht überall im gleichen Maße, und auch mit durchaus unterschiedlichen Folgen. Die Re ports unserer Regional-Redak teure Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim aus Sachsen, Thüringen und Nordrhein-Westfalen machen das sehr deutlich. Im Kunstinsert wird der Bühnen bildner Patrick Bannwart mit seinen grafisch geprägten Arbeiten vorgestellt, von denen eine auch auf dem Titel er
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scheint. Bannwart wurde bei der Aufnah meprüfung an der Wiener Akademie der bildenden Künste von dem ganz anders arbeitenden Bühnenbild-Professor Erich Wonder gefragt, warum er nicht lieber gleich Comics zeichnen wolle. Er wurde aufgenommen, und heute kann man auf eine bedeutende Handschrift auf diesem Feld schauen. Den Auftakt zu einer neuen Serie mit dem Thema „Warum wir das Theater brauchen“ macht der Beitrag von Nora Schlocker. Theatermacher:innen disku tieren nicht nur die eigene Positions bestimmung, sondern schauen damit aufs Ganze – dieses Wir in seinen realen wie utopischen Unterschiedlichkeiten. Es geht nicht um Generationen oder gerade aktuel le Verortungen, sondern um den größeren Blick für dieses Wir, um die selbst befragten Visionen von Theater. Vielleicht sogar um so etwas wie gerade alle einzeln im Mo ment ihrer Darstellung selbst befragten Visionen von Theater. Und Michael Bartsch bringt in seiner Begegnung mit dem Dresdner Schauspieler Ahmad Mes garha eine Fortsetzung von ausführlichen Porträts besonderer Theaterkünstler:innen ins Bild, die im Januar mit Selen Kara be gann, die demnächst in Essen Ko-Inten dantin wird. Es ist diese Schwelle zum künstlerisch Nächsten und Größeren, die manchmal besonders interessant ist. Bei Mesgarha liegt sie lange zurück, bei ihm interessiert der Blick auf einen jung geblie benen alten Meister, der diese Schwelle nochmal deutlich macht. T
Nathalie Eckstein
Thomas Irmer
Susanne Wolff und Bernd Moss in der Uraufführung von „Angabe der Person“ von Elfriede Jelinek am Deutschen Theater Berlin
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Theater der Zeit
„Der Biberpelz“ am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau in der Regie von Mark Zurmühle
Thema Tarife & Theater 10 Reportage Endlich faire Mindestgagen, aber woher kommt das Geld?
14 Reportage Fair bezahlt und arbeitslos? Honoraruntergrenzen sollen auch in freien Produktionen gelten. Das führt zu Problemen an anderer Stelle Von Stefan Keim
18 Gespräch Rufer in der Wüste Der Thüringer Intendant Steffen Mensching fordert Theaterreformen, der Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff lehnt sie ab. Dabei liegen sie eigentlich auf derselben Wellenlänge Von Michael Helbing
Szenenfoto aus „Spring doch“ an der Bayerischen Staatsoper 2022, in der Brille Anna-Lena Elbert, Zeichnung von Patrick Bannwart
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Ein Dossier mit weiteren Texten zu unserem Schwerpunkt Tarife & Theater finden Sie unter tdz.de
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Fotos oben Pawel Sosnowski, links Patrick Bannwart, rechts privat
Der Tarifabschluss stürzt besonders kleinere Stadttheater in ein zusätzliches Kostendilemma. Beispiele und Hilferufe aus Sachsen Von Michael Bartsch
Inhalt 2 / 2023
Akteure 22 Porträt Jeder Tag gehört der Rolle Ahmad Mesgarha gilt über Dresden hinaus als eine Institution. Auf der Bühne vereint er Lust an der Magie der Szene und Sinn für architektonische Gestaltung Von Michael Bartsch
28 Kunstinsert Das Cartoonartige ausloten Der Bühnen- und Kostümbildner Patrick Bannwart im Gespräch Von Stefan Keim
36 Nachrufe „Es ist schon gut, dass wir Theater machen und diese Welt nicht mit unseren Unfähigkeiten belasten” Ein Brief an Manuel Soubeyrand Von Matthias Brenner
Der Weichensteller Ein Nachruf auf den Dramaturgen, Hochschullehrer und Wedekind-Spezialisten Hans-Jochen Irmer Von Jens Neubert
Stück 40 Stückgespräch Der Anti-Katastrophenfilm
Ein kluger Ermöglicher des kritischen Theaters
Sarah Kilter und Lars Werner über ihr Stück „Daddy“ im Gespräch mit Nathalie Eckstein
Dieter Görne, ab 1990 elf Jahre Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, ist mit 86 Jahren gestorben Von Michael Bartsch
43 Stück Daddy
Diskurs & Analyse
Magazin
58 Kritik Wladimir Putin – eine Figur von Dostojewski?
4 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken
Über den Zusammenhang der Dostojewski-Adaptionen von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater und „Dämonen“ am Wiener B urgtheater mit dem russischen Angriffskrieg Von Christoph Leibold
64 Serie: Warum wir das Theater brauchen Ein Plädoyer gegen die Verkrustung Von Nora Schlocker
Von Sarah Kilter und Lars Werner
Von Thomas Irmer, Michael Helbing, Elisabeth Maier und Theresa Luise Gindlstrasser
6 Kolume Der entgrenzte Gedankenflug Von Burghart Klaußner
76 Bücher Von Hamlet zum Kotelett Von Stefan Keim
Eine Fundgrube Von Thomas Irmer
78 Bericht Vom Mitdenken und Mitbestimmen
Report
Von Michael Helbing
68 Estland „Lasst die Geschichte in Ruhe und alles, was mit Russlands früheren Siegen zu tun hat!“
Von Thomas Irmer
Demografie-Performance von Rimini Protokoll „100 % Narva“ an der östlichsten Grenze der EU Von Madli Pesti
72 Festival Neue Beziehungsweisen des Kollektiven Wie das Festival IMPLANTIEREN in Frankfurt neue Formen des Zusammenkommens findet Von Theresa Schütz
80 Was macht das Theater, Johanna M. Keller?
1 Editorial 74 Verlags-Ankündigungen 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau
Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: die aktuelle Verlagsvorschau für das Frühjahr 2023
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Magazin Kritiken
Deutsches Theater Berlin
Im MonologDrei-Satz aufs Ende zu „Angabe der Person“ von Elfriede Jelinek (UA) – Regie Jossi Wieler, Bühne und Kostüme Anja Rabes, Musikkonzept und Komposition PC Nackt
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ossi Wieler, der zu den bedeutendsten Textergründern Jelineks gehört, hat sich für die Uraufführung für Klarheit und Gerechtigkeit zwischen drei Schauspielerinnen entschieden. Linn Reusse, Fritzi Haberlandt und Susanne Wolff haben in aufsteigender Alterslinie jeweils einen rund halbstündigen Part, deren Entstehung durch einen Finanzamtsterror angeregt wurde. Der Text handelt über weite Strecken von der Familiengeschichte des jüdischen Vaters, dessen Verwandte verfolgt, vertrieben oder umgebracht wurden. Andere Familien wie die des in Nürnberg verurteilten Reichsjugendführers Baldur von Schirach erhielten ihren Besitz bald zurück und erblühten mit ihren Nachkommen erfolgreich wieder auf, während mit Elfriede Jelinek sich keine Familie fortsetzt. Die sonst großen mythologischen Echoräume fehlen hier. Auf der Bühne von Anja Rabes dreht sich ein ausgeräumtes Zimmer mit Bilderschatten an der Wand und einem rätselhaften Toilettenbecken, aus dessen Untiefen einmal kurz Rauch aufsteigt. Links der Bühne steht ein mit Bach und Schubert bespieltes automatisches Klavier. Rechts die Souffleuse Bärbel Kleemann vor Instrumentenpult. Ganz vorn die drei Schauspielerinnen mit ihrem Text und
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Ole Riebesell als Conférencier und Linda Ghandour als Sally Bowles mit dem Ensemble von „Cabaret“
Landestheater Eisenach
Kammerspiel mit Musical „Cabaret“ von John Kander und Fred Ebb – Regie Jule Kracht, Ausstattung Ursula Bergmann, Musikalische Leitung Eva GerlachKling und Stefan Kling, Choreografie Luches Huddleston Jr.
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ein Gin im Haus? Dann eben Prärieauster! Rohes Ei, Worcestershire-Sauce. Fertig! Das kommt in jedem „Cabaret“ vor. Nur, dass nicht jedes nach Prärieauster schmeckt, einige gar zum Champagner tendieren. Anders in Eisenach: Dass sie dort dieses Musical wagen, bedeutet subjektiv eine große, objektiv ist es eine vergleichsweise kleine Eigenproduktion. Sie nehmen dafür, was zur Hand ist, machen aus der Not eine Tugend. Die Besetzung verlangt drei Damen und vier Herren, dabei sind sie im Jungen Schauspiel, einer von noch zwei hauseigenen Sparten, nur zu sechst. Also engagieren sie einen Gast hinzu. Was die Nebendarsteller dies- und jenseits des Kit Kat Clubs betrifft, sind acht Ballettkollegen mit von der Partie, auch singenderweise. Und es gibt keine Band. Stattdessen zwei Konzertflügel auf der Vorbühne: Stefan Kling und Eva Gerlach-Kling sorgen daran für transparenten und pointierten Klang. Spartenchefin Jule Kracht macht aus der Aufführung das Gegenteil der großen Show: konzentriertes Kammerspiel mit Kammermusik. Das funktioniert alles in a llem sehr gut. Der Kit Kat Club ist ja schließlich auch kein Revuetheater. Schon insofern kommt die Inszenierung gewissermaßen schäbig auf die angemessene Weise daher; sie hätten durchaus noch heftiger am Lack kratzen können. Über allem prangt der Schriftzug „Cabaret“, nicht „Kit Kat Klub“. Das ist hier besonders sinnfällig, übersetzen sie uns darunter doch „Life is a Cabaret“ in eine Theater-auf-dem-Theater-Bühne, hinter deren Vorhang sich das Leben abspielt. Hier haben sie Fräulein Schneiders Pension verortet, in der das Private gegen seinen Willen allmählich nicht mehr umhinkommt, politisch zu werden. Sally Bowles sträubt sich bis zuletzt dagegen: Linda Ghandour bedient, im Liza-Minelli-Look, mit kraftvoller Jazzstimme, spielerisch eine breite Stimmungspalette. Der Conférencier spaziert mit der sprichwörtlich weißen Weste übern sinnbildlichen Rinnstein der Stadt. In der besprochenen Vorstellung sprang Nick Körber mit exzentrischen Entertainerqualitäten ein. „Cabaret“ gerät hier, mit konzeptionellem Verstand und heißem Herzen, zum Kleinod. // Michael Helbing
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Fotos Berlin Arno Declair, Eisenach Christina Iberl, Konstanz Milena Schilling, Wien Susanne Hassler-Smith
Fritzi Haberlandt, Susanne Wolff und Linn Reusse in der Jelinek-Uraufführung „Angabe der Person“
in Kostüm, Haartracht und Make-up als Jelinek-Repräsentantinnen leicht zu erkennen. Linn Reusse ist zunächst die in den Text ganz jugendlich Einsteigende, die dem Publikum auch mal zuzuzwinkern scheint. Bei Fritzi Haberlandt schaut in den Kalauerkaskaden schon das Bitter-Verzweifelte hervor, das dann bei Susanne Wolff noch zum strengen Sarkasmus gesteigert wird. In der Musik wäre das ganz klar eine Drei-Satz-Struktur. Wieler bringt so den Text schnörkellos kraftvoll nach vorn. Im Hintergrund sitzt Bernd Moss wie in einem Studio zur Aufzeichnung des Ganzen. Ab und zu neigt sich eine der Jelinek-Damen ihm zu oder er ruft ihnen kaum verständliche Halbsätze entgegen. Am Ende läuft ein Stück Text vom Band kurz weiter und er schleicht über die Bühne, schaut prüfend ins Textbuch. Die Figur des im September 2022 verstorbenen Gottfried Hüngsberg, Jelineks Ehemann, der als Informatiker ihre Website entwickelte und betreute, ist hier Live-Archivar. // Thomas Irmer
Magazin Kritiken
Odo Jergitsch, Kristina Lotta Kahlert, Angelika Bartsch, Sabine Martin in „Tot sind wir nicht“
Theater Konstanz
Generation Größenwahn „Tot sind wir nicht“ von Svenja Viola Bungarten – Regie Swen Lasse Awe, Bühne und Kostüme Jana Keltsch, Musik Philipp Koelges
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wei Seniorinnen mit Handtäschchen und Wollmänteln verticken an der Straßenecke Medikamente. Die Pillen hat Ute K. ihrem todkranken Mann Willy gestohlen. Der soll verrecken, während sie und ihre Lebensfreundin Beate vom sorglosen Ruhestand im japanischen Okinawa träumen. Mit dieser harten Setzung beginnt Svenja Viola Bungartens erstes Stück „Tot sind wir nicht“ in der Spiegelhalle des Stadttheaters Konstanz. Als psychedelisches Traumspiel inszeniert der Regisseur Swen Lasse Awe den Text. Orgelmusik und elektronische Klänge transformiert Philipp Koelges in seiner Musik in einen erregten Fluss. Die Vielfalt der Klänge und der musikalischen Motive ist berauschend. Die Botschaft an das Publikum ist klar: Man muss den Boden der Realität verlassen, um Bungartens Intention zu verstehen. So löst der junge Regisseur die große Schwäche des Textes auf, der sich in allzu langen Dialogschleifen und nichtssagenden Späßchen verliert. Topthemen wie Altersarmut, die Bestattungsindustrie oder die Angst vor dem Altern betrachtet Bungarten mit schwarzem Humor. Doch der realistische Rahmen, in den sie sich selbst zwingt, leiert die Kraft ihrer Sprachbilder und ihre Begabung für das Absurde aus. Da setzt Swen Lasse Awe die Säge an. In Jana Keltschs schlichtem Bühnenbild aus beweglichen Holzkammern, die an ein
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Gefängnis erinnern, entfaltet er die skurrile Szenenfolge über zwei Frauen, die dem Tod trotzen. Dabei kürzt er überflüssigen Textballast. Mit der starken Lichtregie wandelt sich die Szenerie auf der offenen Bühne in der ehemaligen Schiffshalle. In kaltblaues Licht getaucht, erinnern die Holzlatten an Kühlkammern, in denen die hippe Start-up-Gründerin Franka todkranke Menschen einfriert. Das surreale Regiekonzept Awes geht auf, weil sich das Ensemble auf seine Gratwanderung zwischen den Wirklichkeitsebenen einlässt. Viel mehr noch ist es ein politisches Stück. In den Größenfantasien des jungen Bestatters Jason offenbart sich die Skrupellosigkeit einer Generation, die selbst aus dem Tod Kapital schlagen will. Scharf geht Bungarten mit der westlichen Begräbniskultur ins Gericht, die nur auf Profit ausgerichtet ist und die Menschenwürde dabei gnadenlos ignoriert. Würdevoll Abschied nehmen, das können sich nur noch die Reichen leisten. Awes Blick auf das Debüt macht Lust, die junge Theaterautorin zu entdecken. Ihren klugen, kritischen Blick auf eine Gesellschaft, die das Alter verdrängt und stattdessen die permanente Selbstopti mierung predigt, hat der Regisseur kongenial in Szene gesetzt. // Elisabeth Maier
Elisa Plüss und Maresi Riegner in der Wiener Uraufführung von Peter Handkes „Zwiegespräch“
Burgtheater Wien
Ruheloses Handke-Raunen „Zwiegespräch“ von Peter Handke (UA) – Regie Rieke Süßkow, Bühne Mirjam Stängl, Kostüme Marlen Duken, Musik Max WindischSpoerk, Licht Marcus Loran, Choreografie Daniela Mühlbauer
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wiegespräch“ ist „für Otto Sander und Bruno Ganz“ geschrieben, mithin ein Gespräch aus dem Jenseits. Mit einer Besetzung von drei alten Männern (Hans Dieter Knebel, Branko Samarovski und Martin Schwab) und zwei jungen Frauen (Elisa Plüss und Maresi Riegner) verorten Süßkow und die Bühnenbildnerin Mirjam Stängl das Handke-Nachdenken im Altersheim. Schon gleich zu Beginn der Inszenierung fällt die nicht präzise gearbeitete Choreografie unschön ins Auge. Unschön ins Ohr fällt am Premierenabend auch die Dauerpräsenz der Soufflage. Als Inszenierungsgag, der eine vielleicht allgemeine Bedürftigkeit des Menschen illustrieren soll, lässt sich die mal mehr, mal weniger durch den Saal schallende Stimme von Berngard Knoll nun nicht gerade rezipieren. Und weil auf der Bühne zudem in der Hauptsache theatral geflüstert wird, tritt der gesprochene Text als ein Bloßirgendwas-dahin-raunender-Brei in die Aufmerksamkeit. Es ist kein Altersheim, sondern eine Tötungsanstalt, die Jungen wiederholen an den Alten, was diese mit den Gaskammern getan. Gelinde gesagt: eine steile These. Und sie will hier ganz harmlos, nämlich bonbonfarben und surreal daherkommen. Spätestens dann, wenn zwischendrin kurz das Genre gewechselt wird und einer, bevor er ermordet werden soll, nicht aufhört, in komödiantischer Überzeichnung allerlei kleinen Firlefanz aus seinen Hosentaschen zu zaubern, ist die Verwirrung darüber, was für ein Geschichts- und Gegenwartsverständnis dieser Theaterabend gerne verbreiten würde, perfekt. Kurz mag es scheinen, als hätte die schier unendlich vor sich hin werkelnde und hoch ästhetisierte Mordmaschine einen Motor in der Wut der Enkelinnen auf ihre NS-Großväter, dann nämlich, wenn Plüss ihre Stimme zum Vorwurf gegen die auf der anderen Seite des Paravents erhebt. Was mit Handke hängen bleibt: Das Politische „droht“ und steht dem Wahren und Schönen entgegen. // Theresa Luise Gindlstrasser
Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de
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Der entgrenzte Gedankenflug Von Burghart Klaußner
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eulich abends ist es mir wieder passiert. Nichtsahnend war ich zu einer kleinen Revue über Randy Newman und Nina Simone gegangen. Musik und Erzählung. Herrlich. Aber in meinem Kopf spielte sich bald noch etwas ganz anderes ab. Das eigene Dritte. Gefesselt geradezu von der unglaublichen Sängerdarstellerin Marion Martienzen und überrumpelt vom Haudegen Bernd Grawert, seinem Witz und seiner Musikalität, geriet ich auf eigene Bahnen. Vom Ahnungslosen zum Entdecker. Nebengeleise, ja vollkommen verblüffende Assoziationen überraschten mich. Es bestätigte sich die Erkenntnis, so etwas gibt es nur im Theater. Kino führt an strikter Leine, ja überwältigt, oft genug auch lustvoll, aber erlaubt doch keine Abschweifungen. Es ist die Aura der Schauspielerin, des Schauspielers, die so offensichtliche Vergänglichkeit der Augenblicke, es ist der unaufhaltsame Prozess des Vergehens von Zeit, welcher Raum schafft für Gedankenflüge. So ist im Zuschauen für Sekunden erreicht, was sich der Berufsanfänger als Ideal erdachte, dass man durch Verwandlung nämlich vollständig frei sein könnte. Wenn Nina Simone davon berichtet, wie man ihre Widerständigkeit als bipolare Störung abtun wollte und die Martienzen (sancta subito!) mit immer neuen fabelhaften Turbanen nach ihr suchend in einen Garderobenspiegel blickt, steht bei mir plötzlich die Zeit still und öffnet sich zu einem Wurmloch im Universum, in dem gleichzeitig die schwarze Bürgerrechtlerin Simone und eine ägyptische Nofretete – beschworen auch durch das Wort Mississippi, welches auf einmal ein vorderasiatisches Großreich bedeutet – anwesend sind, sodass ich Bipolarität als den endlich gefundenen Schlüssel zu Zeitreisen erkenne, Überlegungen, die der Alltagsverstand natürlich scharf zurückweisen muss! Denn die leidvolle Erfahrung einer bipolaren Störung hat natürlich nichts mit der gleichzeitigen Existenz einer Person in zwei Epochen zu tun. Aber was ist der Alltagsverstand schon gegen die Öffnung der Zeit! Und mit ihrem stupenden Talent treibt die Künstlerin noch viele Polaritäten voran. Nicht zuletzt die der Weißen, die im Verlauf durch eine Empathie, die nur bewusste Ver-
wandlung bewirken kann, immer mehr zur schwarzen Sängerin wird, die vor unseren Augen die Demütigungen von Rassentrennung und -unterdrückung durchlebt. Freilich sind solche Erfahrungen eben nur unter Anwesenheit von Talent zu haben. Nur dann entsteht im Theater der Raum, der Zeit gebiert. Im gegenteiligen Fall wird Zeit wohl eher vernichtet … was uns, leidvoll genug, auf der Suche nach der einen großen Aufführung viel öfter noch geschieht. Jenny Erpenbecks Erfahrung, an dieser Stelle (TdZ 01/23) beschrieben, kann ich hingegen gut nachvollziehen, dass einem nämlich im besten Fall nach einem Theaterabend die Sprache wegbleibt. Wenn’s gut läuft, muss das so sein. Zurückgeworfen auf ein Ich-Konzentrat, das dünnhäutig und hellhörig geworden, zum Sprechen erst zurückfinden muss, das mit seinen Möglichkeiten zum Wachträumen auch eine Spur vom Wissen um den Tod birgt. To die – to sleep, Hamlet fragt und Ingmar Bergman in seinen Aufzeichnungen tut es auch, ob ein Leben im Traum auch eine Ahnung hin zum Tod sein kann. Oder auch zu gesteigertem Leben? Ich nämlich erlebe bei meinem Besuch von Newman und Simone, bei Grawert und Martienzen eine Lebendigkeit, die den Körper nach seiner Ruhigstellung vollkommen erfrischt. So wie mancher Leser, und es sind hier wohl wahrscheinlich wirklich in erster Linie Männer, vielleicht jenen Zustand der Legasthenie kennt, der erst nach einem kurzen entgiftenden Schlaf konzentriertem Lesen weicht, so eröffnet Theater im besten Fall die Abkoppelung vom durchschnittlichen Denken zum entgrenzten Gedankenflug, noch jenseits der bereits vorgedachten Bühnenakte. In diese Freiheit wollen wir verführt werden! T
Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schrifststellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.
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Fotos links Thomas Rabsch, rechts: Theater Marie Valentina Verdesca, Roxy Birsfelden Sabine Schuster / Dampfzentrale Bern, Konzerthaus Berlin Falk Wenzel (Bearbeitung NICO AND THE NAVIGATORS), Heimathafen Neukölln Verena Eidel, Schauspiel Wuppertal Visual: Creativum, Kaserne Basel Simon Hegenberg, Berliner Sophiensaele Harry Weber, FRITZAHOI! Piemundi
Magazin Kolumne
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präsentiert Heimathafen Neukölln #Metoo, Machtmissbrauch, Korruption: FURIOS! ist eine theatralische Entdeckungs reise zum Thema Wut durch Mythologie, Soziologie, Medizin und Kulturgeschichte – und vor allem mitten durch die eigene Biografie. FURIOS! Eine wütende Show mit fünf Göttinnen, Band und Seminarleiter 10.2., 18.2., 19.2., 3.3. und 4.3.23 „DOS VIDAS. ZWEI LEBEN“ mit Jorge Antonio Arias Cortez und Nicola Fritzen
Kaserne Basel Mit „DOS VIDAS. ZWEI LEBEN“ unterzieht Christoph Frick/KLARA Theaterproduktionen die Biografien zweier befreundeter Schau spieler einem Vergleichs- und Stresstest: Wem gelingt das gute Leben, wer trickst, wer stürzt ab? 4.2.23 (Premiere), 5.–6.2.23
„This is a Robbery!“ von Martina Clavadetscher
Theater Marie Temporeich umkreist das Stück die durch lässigen Grenzen zwischen Recht und Unrecht, den Drang nach Freiheit und den Versuch, festgelegte Rollen abzustreifen. 4.–9.2.23 Dornach, 21.–22.2.23 Baden, 2.–4.3.23 Bern, 24.6.23 Brig
Schauspiel Wuppertal „Der Revisor“ von Nikolaj Gogol, inszeniert von Maja Delinić, feiert im März Premiere im Opernhaus. Weitere Termine, Infos und Tickets unter schauspiel-wuppertal.de/revisor Premiere am 21.3.23
ROXY Birsfelden Was als Plattentaufe beginnt, schwenkt um in eine LecturePerformance und endet in einer sonderbaren Messe. Daniela Ruocco erweckt in EN MI IMPERIO PERREO SOLA feministische Reggae ton-Vorbilder zum Leben. 2.–3.2.23
„Lost in Loops“: Zum 25. Jubiläum von NICO AND THE NAVIGATORS
Konzerthaus Berlin Zum 25. Jubiläum der Kompanie präsentieren NICO AND THE NAVIGATORS gemeinsam mit dem Konzerthausorchester Berlin das Staged Concert „Lost in Loops“: ein rauschhafter Abend als navigatorischer Akt der Befreiung. Uraufführung am 18.2.23, 20 Uhr
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Projekttheater Dresden Fuchsbau – Ein Theaterlabyrinth und ein Trickreiches Tier, Kartenvorverkauf über Societätstheater Dresden, Vorstellungen im Projekttheater Dresden 16./17./18.2.23 ab 17 Uhr
Berliner Sophiensæle In „OUT OF MIND“ entwickelt Eva Meyer-Keller choreografische Zugänge zu dem, was wir Bewusst Eva Meyer Keller: Out of mind sein und Erfahrung nennen. Vom 26.2. bis 1.3. wird der Theater raum – ausgehend von neurowissenschaftlichen Ansätzen – zum Versuchslabor.
FRITZAHOI! im museum FLUXUS+ Potsdam Der szenische Heartbreaker ZEIT FÜR TRÄUME seziert Kitsch und Nostalgie FRITZAHOI! schwelgt mit h eimeliger Dr. Norden. Join the flame! Arztromane. Einekonzertante Doctors‘ Dramedy im Galerieraum der Moderne. 10./11.2.23
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Theater der Zeit
Foto Pawel Sosnowski
Thema Tarife & Theater
„Der Biberpelz“ in der Regie von Mark Zurmühle am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau
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Schwerpunkt Tariferhöhungen und die Folgen: Der Deutsche Bühnenverein und die Künst ler:innengewerkschaften GDBA, VdO und BFFS haben sich auf eine neue Gagenregelung für die Solobeschäftigten und Bühnentechniker:innen verständigt. Danach wurde die Mindestgage ab dem 1. September 2022 auf zunächst € 2.550 und ab dem 1. Januar 2023 auf € 2.715 angeho ben. Ebenso wurden die Gastgagen entsprechend erhöht und erfahren damit eine Steigerung von mehr als 35 Prozent. Was bedeutet diese für die Beschäftigten begrüßenswerte Tariferhöhung für die Theater? In drei Artikeln werden die Auswirkungen in unterschiedlichen Theatern in Sachsen, Thürin gen und Nordrhein-Westfalen untersucht. Eines steht von vornherein fest: „Ohne die Zusage der Rechtsträger, diesen Mehrauf wand mitzutragen, geht es nicht“, so Claudia Schmitz, Geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins.
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Thema Tarife & Theater
Endlich faire Mindestgagen, aber woher kommt das Geld? Der Tarifabschluss stürzt besonders kleinere Stadttheater in ein zusätzliches Kostendilemma. Beispiele und Hilferufe aus Sachsen Von Michael Bartsch
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„Ich freue mich sehr für die Kollegen, dass sie endlich verdientes Geld bekommen. Aber das Theater bekommt nicht mehr Geld“, beschreibt Daniel Morgenroth als Intendant des Gerhart-Hauptmann-Thea ters (GHT) Görlitz-Zittau den Konflikt zweier Seelen in seiner Brust und zugleich das Problem der Tariferhöhungen. Nicht genug, dass sich Heizung und Elektroenergie infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine drastisch ver teuern. Am GHT werden dafür zusätzlich 386.000 Euro veranschlagt. Auch die er höhten Mindestgagen schlagen in diesem
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Fotos oben Hannah Walter, rechts Gabriele Suschke
Die #rettedeintheater-Aktion der GDBA im November 2022 in Hannover
Thema Tarife & Theater Deutschen Bühnenverein auf eine kräfti ge Anhebung der Mindestgagen geeinigt. Erst 1991 war eine solche Mindestgage für Schauspielerinnen und Schauspieler an öffentlich getragenen Theatern eingeführt worden. Sie betrug anfangs 2.400 DM und stieg im Lauf von dreißig Jahren auf zuletzt 2.000 Euro. Fast in der gleichen Größenordnung wird nun ein Sprung voll führt, den man schon als historisch im Sinne der Künstler bezeichnen kann. Ab 1. September 2022 stieg die Mindestga ge um 550 Euro, mit Beginn dieses Jahres sogar auf 2.715 Euro. Allerdings hatte es zuvor vier Jahre keine Erhöhung der Ein stiegsgagen mehr gegeben. Die Häuser sind je nach Trägerschaft und Tarifstruktur unterschiedlich von den Mehrkosten betroffen. Aber auch Joachim Klement als Intendant des relativ üppig ausgestatteten Dresdner Staatsschauspiels rechnet vor, wie dringend notwendig d ieser große Schritt gerechterer Entlohnung für das künstlerische Personal im Normal vertrag (NV) Bühne war. Der eigentliche Druck ging nämlich von der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns aus, wie sie die Berliner Ampelkoalition auf ihre Agenda gesetzt hatte. Der stieg seit 2018 von 8,48 auf 12,00 Euro pro Stunde, also um 35 Prozent. Auch ohne Taschenrech ner weiß Joachim Klement, dass die Entlohnung seiner Einsteiger bei vier Monatswochen und 44 Wochenstunden Referenzarbeitszeit demnach schon 2.112 Euro monatlich hätte betragen müssen.
Jahr mit 420.000 Euro zu Buche, weitere 100.000 Euro kommen mit Jahresbeginn 2024 auf das Theater zu. Sollte die Ge werkschaft ver.di bei den am 23. Januar beginnenden Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst auch nur die Hälfte der geforderten 10,5-prozentigen Erhöhung erreichen, muss das relativ kleine Doppel theater an der Neiße etwa eine Million Euro mehr für sein künstlerisches Personal aufbringen. Ende Juni 2022 hatten sich die Künst lergewerkschaften GDBA, VdO und BFFS nach vier Verhandlungsrunden mit dem
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„Die Mindestgage hätte unter dem Min destlohn gelegen“, bringt es der Intendant auf den Punkt. Der Erfolg dieses Tarifabschlusses wird komplettiert durch eine analoge Er höhung der Gastgagen, die ebenfalls um 35 Prozent steigen. Noch wichtiger er scheint die Einigung auf eine künftige Dynamisierung der Mindestgagen ab der Tarifrunde 2023/24. Sie folgen dann also automatisch der Entwicklung der Gagen und Gehälter für die bundesweit etwa 12 .500 nach dem Bühnenvertrag Ange stellten. Ebenfalls dynamisiert wird eine ab der kommenden Spielzeit geltende Sonderzulage von 200 Euro für alle NVBeschäftigten ab dem dritten Dienstjahr. Die Mindestgage gilt also nur noch für Anfängerinnen und Anfänger.
Die Kehrseite: Rechtsträger sind finanziell gefordert Die Pressemitteilung der Künstlergewerk schaften sprach damals von einem „his torischen gemeinsamen Erfolg“. Die Prä sidentin der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA), Lisa Jopt, nannte das Ergebnis sogar einen „Ham mer“. Seit 30 Jahren sei die Dynamisie rung der Gagen ein Gewerkschaftsthema. Bühnenkünstlerinnen und -künstler wür den nun nicht mehr wie Küchenhilfen und Boten im Öffentlichen Dienst bezahlt. Auf die Kehrseite wies aber schon im Juni des Vorjahres die Geschäftsfüh
Das Deutsch-Sorbische Volkstheater, sorbisch ˇ ´ Nemsko-serbske ludowe dziwadło in Bautzen
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Man wolle Stadttheater nicht gegen Staatstheater ausspielen, beteuern alle Intendanten glaubwürdig. Aber diese Asymmetrie ruft zumindest ein leises Grummeln hervor.
rende Direktorin des Deutschen Büh nenvereins, Claudia Schmitz, hin. Wohl wissend, dass die Personalkosten an Theatern mit einem Anteil zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln den Hauptbe lastungsfaktor darstellen. „Der aktuelle Abschluss stellt für die Bühnen eine fi nanzielle Herausforderung dar, die sie allein nicht schultern können“, wird sie zitiert. Die Bühnen brauchten dringend Zusagen der Rechtsträger, den Mehrauf wand mitzutragen. „Die aber sitzen doch selbst in der Tarifkommission des Bühnenvereins“, gibt der Dresdner Intendant Joachim Klement zu bedenken, selbst Mitglied dieser Kom mission. Kommunen und Länder müssten folglich „Verantwortung übernehmen und die Belastungen in ihren Haushalten abbil den“. Diese Steigerungen seien absehbar gewesen. „Ja, damit war zu rechnen“, bestätigt zwar sein Kollege Daniel Morgenroth an der Neiße. Doch bei abgeschaltetem Auf
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nahmemikrofon wird in den fünf länd lichen der acht sächsischen Kulturräume deutlich, dass man solche Äußerungen aus der Landeshauptstadt nicht gern hört. Nach dem im Dezember beschlossenen neuen Doppelhaushalt des Freistaates erhalten allein die beiden Staatstheater Semperoper und Staatsschauspiel in Dres den vom Freistaat einen Zuschuss von 91 Millionen Euro. Der Landeszuschuss an alle acht Kulturräume zusammen liegt für sämtliche Kunstsparten nur um etwa 20 Millionen Euro höher. Man wolle Stadttheater nicht gegen Staatstheater ausspielen, beteuern alle In tendanten glaubwürdig. Aber diese Asym metrie ruft zumindest ein leises Grummeln hervor. Das Land Sachsen hat die Tarif
Hilferufe an Land und Bund Eine Bautzener Besonderheit weist auf eine sächsische Besonderheit hin, die den Per sonalkostenaufwuchs mildern könnte. Das Deutsch-Sorbische Volkstheater profitiert nämlich sehr zum Ärger von Intendant Lutz Hillmann und Verwaltungsdirektor Ronald Kohrs nicht vom sogenannten
Das Staatsschauspiel Dresden
Theater der Zeit 2 / 2023
Foto links oben Pawel Sosnowski, unten Sebastian Hoppe, rechts Hannah Walter
Das Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau
erhöhungen bei seinen Vorzeigeeinrich tungen bereits eingeplant und seine Zu schüsse deutlich erhöht. Kleinere Bühnen wie das DeutschSorbische Volkstheater Bautzen aber müssen kämpfen. Man habe sofort mit dem Landkreis und der Stadt gesprochen. „Aber die stehen selber unter hohem Druck“, zeigt Verwaltungsdirektor Ronald Kohrs bedingt Verständnis. Seine Zahlen klingen nicht ganz so alarmierend wie die vom GHT Görlitz-Zittau im selben Kul turraum. „Nur“ 102.000 Euro mehr wird die Mindestgagenerhöhung in diesem Jahr voraussichtlich kosten. Mit mehr Sorge blickt der Verwaltungsdirektor auf die anstehende Tarifrunde im Öffentlichen Dienst. Jedes Prozent Erhöhung kostet das Volkstheater 61.000 Euro mehr. Fiele der Abschluss tatsächlich zweistellig aus, wären das über 600.000 Euro, und wür de dieser Mehrbedarf nicht ausgeglichen, müssten elf Stellen gestrichen werden. Betriebsgefährdend für ein Theater, das wie die meisten personell an der Unter grenze fährt.
Thema Tarife & Theater Kulturpakt. Vor drei Jahren war es in ei nem gemeinsamen Kraftakt von Land und Trägerkommunen gelungen, Theater und Orchester vor allem in den Kulturräumen aus der jahrzehntelang andauernden Haus tariffalle herauszuholen. Statt der Einzel vereinbarungen gilt im Wesentlichen nun wieder der Flächentarif. Bautzen aber profitierte davon nicht, weil es vorbildlicherweise zuvor nicht in den Haustarif abgerutscht war. Zuschüsse, die das zweisprachige Theater auch aus der Stiftung für das sorbische Volk erhält, mögen dazu beigetragen haben. Bei den Beratungen zum Landeshaushalt im vori gen Herbst stand auch wieder dieser Kul turpakt zur Debatte. Die Kulturpolitiker der Regierungskoalition von CDU, SPD und Grünen stockten den Landesanteil an diesem Personalkostenzuschuss zwar von sieben auf neun Millionen Euro auf. Die Kommunen aber müssen hier im Verhält nis 2:1 kofinanzieren. Ob die Summe am Ende reicht, auch die Tarifsteigerungen aufzufangen, wird vor allem in den länd lichen Kulturräumen bezweifelt. Diplomatie und Klinkenputzen hinter den Kulissen ist angesagt. Dramatische Briefe wurden schon Ende September ver fasst, wie der von Intendant Morgenroth in Görlitz. Im Schreiben an Kulturstaats ministerin Claudia Roth ist von einer „hoch dramatischen Lage vieler Theater abseits der Ballungsräume“ und einer P osition „kurz vor dem Abgrund“ die Rede. Ohne hin müssten schon schwindende Einnah men infolge von Publikumszurückhaltung ausgeglichen werden. Morgenroths leiden schaftliche Lagebeschreibung gleicht einem Hilferuf nach Berlin, weil er daran zwei felt, dass die Herausforderungen aus eige ner Kraft zu bewältigen sind. Die Tarif erhöhungen seien völlig gerechtfertigt, aber es drohe wieder ein Rückfall in Haus tarife, Stellen- und Spartenabbau. Die Antwort einer Mitarbeiterin der Bundeskulturbeauftragten vom Novem ber dürfte wenig Hoffnung verbreiten. Sie verweist zuerst auf die verfassungsmäßige Kulturzuständigkeit der Länder und die geringen Möglichkeiten einer Theater förderung durch den Bund. Es folgt ein Hinweis auf das Bundesförderprogramm für Ausstattungsinvestitionen nationa
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„Keine Kulturwüste in Niedersachsen“ war das Ziel der GDBA-Aktion #rettedeintheater 2022 in Hannover
ler Kultureinrichtungen im Umfang von 20 Millionen Euro. Über die detaillierte Verwendung des im November im Prin zip beschlossenen „Kulturfonds Energie“ in Höhe von rund einer Milliarde Euro konnte die Mitarbeiterin wegen laufender Abstimmungen zu diesem Zeitpunkt noch nichts sagen. Häuser in Sachsen gehen in dieser unsicheren Lage erst einmal betteln, auf der Suche nach Drittmitteln und privaten Sponsoren. Die Janusköpfigkeit des an sich so begrüßenswerten Tarifabschlusses kann kaum drastischer erscheinen. On line-Kommentare wiesen schon im vorigen Sommer darauf hin, dass jede Flexibilität
in der Vertragsgestaltung nun verloren geht, etwa bei Springereinsätzen oder be fristeten Regieassistenzen. Am Dresdner Staatsschauspiel gibt Intendant Joachim Klement zu bedenken, dass nun das ge samte Gagengefüge auch bei langjährig Beschäftigten überprüft werden müsse. „Es kann nicht sein, dass jemand nach 15 Jahren nicht mehr bekommt als ein Einsteiger!“ Solche synchronen Erhöhun gen seien aber schlichtweg nicht zu leisten. Lediglich einige Geringverdiener würden etwas mehr bekommen. Künstlerischer Selbstausbeutung entgegenwirken zu wol len, stürzt also vor allem kleinere Häuser in ein gefährliches Dilemma. T
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Thema Tarife & Theater
oben „GETTING UNSTUCK“ in der Regie von Manuel Moser am Comedia Theater in Köln, unten das Theater in der ehemaligen Feuerwache
Fair bezahlt und arbeitslos? Honoraruntergrenzen sollen auch in freien Produktionen gelten. Das führt zu Problemen an anderer Stelle Von Stefan Keim
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Thema Tarife & Theater
Fotos oben Christopher Horne, Mitte und rechts MEYER ORIGINALS
1.000 Euro Probengage, 110 Euro pro gespielte Vorstellung. Das ist kein unge wöhnlicher Verdienst in der freien Szene. Natürlich kann davon niemand leben. Also werden die Proben flexibel gehandhabt, damit die Schauspieler:innen noch ande re Jobs machen können. Klassenzimmer stücke, Synchronarbeiten, vielleicht auch Kellnern oder Taxifahren, was immer den Kühlschrank füllt und die Miete bezahlt. Das soll sich nun ändern. Analog zur star ken Erhöhung der Einstiegsgehälter an den Stadt- und Staatstheatern sollen auch die Verdienste in der freien Szene steigen. Der Bundesverband der freien darstellen den Künste fordert eine Honorarunter grenze, die das Dreifache der oben ge nannten Gagen bedeuten würde. Niemand stellt infrage, dass diese Forderung gerecht ist. Und so entsteht ein Dilemma. Das Kölner Comedia Theater besteht nun seit 40 Jahren, gerade ist die Förde rung durch das Land Nordrhein-Westfalen verdoppelt und das Haus zum „Zentrum der Kultur für junges Publikum“ ernannt worden, für Köln und NRW. Dennoch fei ert die Bühne ihr Jubiläum unter dem Titel „40 Jahre Niedriglohn“. Manuel Moser, der stellvertretende künstlerische Leiter, erläutert, dass es nicht nur um die Schau spieler:innen geht: „Ein großer Anteil un serer Mitarbeiter:innen steht kurz vor der Rente. Wer nach 40 Jahren Arbeit in der Comedia 1000 Euro im Monat bekommt, liegt schon im besseren Bereich.“ Von der Verdopplung der Zuschüs se kann Moser nicht einfach die Gagen und Gehälter erhöhen. Denn sie ist ge knüpft an die Bedingung, mehr Theater für Kinder und Jugendliche zu zeigen. Für niedrige Eintrittspreise. Bisher gab es im Haus viel mehr Kabarettveranstaltungen, die Gewinne erzielt haben. Deren Anzahl musste nun halbiert werden, um mehr für junges Publikum zu spielen. „Wir suchen Drittmittel, machen Zusatzprojekte“, erläutert Moser. Immerhin gibt es eine positive Entwicklung. „Als ich 2019 als Schauspieler an der Comedia angefan gen habe, gab es 80 Euro pro Vorstel lung. Heute sind es 130 Euro.“ Von den Berechnungen des Bundesverbands der freien darstellenden Künste ist das immer noch weit entfernt.
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Wer vom Land Fördermittel bekommt, muss alle Mitarbeitenden anständig bezahlen. Die seit vielen Jahren praktizierte Selbst ausbeutung ist zumindest in diesem Bereich Geschichte.
Das sind die Zahlen, die erreicht wer den sollen: Bei Festanstellungen – oder ähnlichen Beschäftigungen – soll eine Honoraruntergrenze von 3100 Euro im Monat gelten, für Leute, die nicht in der Künstlersozialkasse (KSK) versichert sind, 3600 Euro. Die Differenz ergibt sich da raus, dass die KSK einen großen Teil der Sozialabgaben übernimmt, die bei Fest angestellten der Arbeitgeber trägt. Und insgesamt liegt die Untergrenze höher im Vergleich zu Anfänger:innen am Stadt theater, weil freie Künstler:innen ein größe res Risiko haben, zwischendurch arbeitslos zu sein. Die Abendgagen lägen bei 310 oder 360 Euro (ohne KSK), das Probenhonorar bei 145 oder 160 Euro pro Tag. Pure Fantasie? „Nein“, sagt Ulrike Sey bold, die Geschäftsführerin des Verbands in NRW. „Natürlich kann das nur funktio nieren, wenn Fördergeber bereit sind, mehr Geld zu bezahlen.“ Sie rechnet vor, dass die Kulturförderung um rund ein Drittel steigen müsste. „Für uns mögen 30 Prozent mehr viel klingen. Aber es ist immer noch sehr wenig im Vergleich zu den astronomischen Summen, die in andere Bereiche fließen. Da sollten wir selbstbewusst auftreten.“ Unterstützung bekommt sie von Gonca Türkeli-Dehnert, Staatssekretärin im NRWKulturministerium. Die Landesregierung hat angekündigt, den Kulturetat um die Hälfte zu erhöhen. Türkeli-Dehnert dämpft allerdings zu hohe Erwartungen: „Vielleicht hatte man damals andere Ideen, was man mit dem Geld machen könnte. Jetzt werden wir das Geld für die neuen Krisen verwen den müssen.“ Es gilt aber bereits jetzt: Wer vom Land Fördermittel bekommt, muss alle Mitarbeitenden anständig bezahlen. Die seit vielen Jahren praktizierte Selbstausbeutung ist zumindest in diesem Bereich Geschichte.
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Thema Tarife & Theater
Fotos Christopher Horne
„Das ist in NRW so“, bestätigt die Staats sekretärin. „Wir haben ein Kulturgesetz buch, in dem das konkret drinsteht. Wir haben während der Pandemie gesehen, wie schlecht es vielen Künstlerinnen und Künst lern geht. Sie haben ein Einkommen, von dem sie nichts zurücklegen können. Also müssen wir Honoraruntergrenzen festlegen. Das können wir allerdings nur anregen und als Land mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir Projekte fördern, soll das gesamte Personal von dem Geld leben können. Das ist eine Selbstverpflichtung.“
Die Mindestgagen
Droht da eine Zweiklassen gesellschaft in der freien Szene? Auf der einen Seite gut geförderte Projekte, auf der anderen weiterhin der Kampf am Rande des Existenzminimums? 16
gut geförderte Projekte oder Konzeptio nen, von denen alle Beteiligten leben kön nen? Und auf der anderen Seite kämpfen die Überlebensspezialist:innen weiter am Rande des Existenzminimums? Julia-Huda Nahas ist freie Regisseurin und Autorin, außerdem künstlerische Leiterin des Labels „Bitter (Sweet) Home“. Hier werden „neue Narrative mit antirassistischen Inhalten und Haltungen“ entwickelt. In einem „Wri ters’ Room“ konzipieren zum Beispiel sechs PoC-Autor:innen gemeinsam ein Stück. „Ich will das nicht wahrhaben“, sagt Julia-Huda Nahas, „aber die Akquise nimmt mehr Zeit ein als die künstlerische Arbeit.“ Das ganze Jahr über stellt sie An träge, holt viele Einzelförderungen rein, sichert so die Arbeit. Doch das ist keine Qualifikation, die von jedem erwartet wer den kann. „Es ist vor allem eine Frage des Zugangs. Projektanträge so zu stellen, wie sie in Jurys erwartet werden, ist eine hoch diffizile Angelegenheit. Eine klassistisch geprägte Geschichte, weil man ja nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die Antragslyrik beherrschen muss.“ Ein wei terer Aspekt ist die Zusammensetzung der Jurys: „Wer entschiedet denn, welche Qua lität etwas hat?“ Gonca Türkeli-Dehnert bestätigt: „Es ist nicht Tagesgeschäft eines Künstlers, Anträge zu stellen. Da geht es
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Während der Pandemie hat das Land NRW ein Stipendienprogramm für freie Kulturschaffende aufgelegt. Einmal gab es 7.000 und zweimal 6.000 Euro, um die Krise zu überstehen. Das hat viele davor bewahrt, Hartz IV beantragen zu müs sen. Allerdings wird es damit wohl nicht weitergehen. Entsprechenden Nachfragen weicht Gonca Türkeli-Dehnert aus. Die Honoraruntergrenzen bei den geförderten Projekten will sie allerdings bundesweit durchsetzen: „Wir haben jetzt eine Matrix in den Ländergremien vereinbart, die in allen Bundesländern angewendet werden soll.“ Wie hoch die Mindestgagen sein sol len, wird gerade verhandelt. „Wir richten uns nach diesen Empfehlungen.“ Die Poli tikerin weiß genau, dass die Kulturinstitu tionen nicht einfach mehr bezahlen kön nen. „Wir werden die Differenz bezahlen. Anders wird das nicht funktionieren.“ Wer keine Förderung bekommt, hat davon al lerdings wenig. „Die müssen schauen, dass sie Geld finden, um das zu finanzieren.“ Droht da eine Zweiklassengesellschaft in der freien Szene? Auf der einen Seite
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„Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ von Roland Schimmelpfennig frei nach Hans Christian Andersen am Comedia Theater in Köln
um Digitalisierung, Nachhaltigkeit, damit sind kleinere Institutionen komplett über fordert. Dafür brauchen wir eine Struktur, die zentral helfen kann.“ Deshalb will das Land NRW verstärkt Beratungsangebote bereitstellen, um durch den Wust der För dermöglichkeiten durchzusteigen. Julia-Huda Nahas kann das gut. Sie zahlt ihren Schauspieler:innen 300 Euro pro Vorstellung und ist damit schon nahe dran an den geforderten Untergrenzen. Allerdings sagt sie: „Wenn ich unter ge wissen Grenzen bezahle, wird das anders gewertet als bei anderen Kompagnien. Denn wir haben moralische Ziele. Deshalb ist der point of no return früher erreicht als woanders.“ Und nicht jeder versteht, dass sie die Künstler:innen besser bezahlt als andere Kompagnien: „Ich stehe unter Druck, das zu reduzieren. Manche Leute sind nicht bereit, die Gastspiele zu bezah len, weil wir teuer sind.“ Die Konkurrenz ist groß, die Gefahr der gegenseitigen Kannibalisierung eben falls. Sollten Kunstschaffende Arbeit kon sequent ablehnen, die zu schlecht bezahlt wird? „Ich sage regelmäßig Nein“, erklärt Julia-Huda Nahas, „kann mir das aber auch leisten. Ich verurteile absolut nicht solche Kolleg:innen, die das nicht tun. Es gab Zeiten, in denen ich Geld brauchte, um die Miete zu bezahlen. Es ist extrem schwierig, die Verantwortung auf die Künstler:innen abzuwälzen. Wenn wir Nein sagen, sind wir nicht mehr sichtbar. Und dann kriegen wir keine Folgeaufträge.“ Gerechtigkeit und Realität sind in der freien Szene noch weit voneinander ent fernt. Das gilt besonders im Kinder- und Jugendtheater. Das Comedia Theater hat in diesem Jahr eine Inszenierung gestri chen, um bessere Gagen zahlen zu können. Das bedeutet aber auch: Das Angebot wird kleiner. „Eine Inszenierung weniger“, rech net Manuel Moser vor, „bedeutet 5.000 Schüler:innen weniger. Das ist eine schlim me Entscheidung. Der Bedarf ist da, es gibt keinen Zuschauerschwund, die Schu len fragen nach Vorstellungen und Work shops. Hier sitzt die gesamte Gesellschaft im Theater. Das ist eine riesige Chance. Wir müssen Geld bekommen, um das An gebot zu erweitern. Es gibt so viele junge Menschen, die genau das brauchen.“ T
Rufer in der Wüste Der Thüringer Intendant Steffen Mensching fordert Theaterreformen, der Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff lehnt sie ab. Dabei liegen sie eigentlich auf derselben Wellenlänge Von Michael Helbing
Thüringen spielt Schwarzer Peter. So empfindet es Steffen Mensching. „Jeder schiebt’s auf den anderen, keiner will die Initiative übernehmen“, sagt Rudolstadts Intendant. Er hält die hiesige Theaterland schaft für reformbedürftig – nicht heute, nicht morgen, doch dringend genug, dass man jetzt mal anfangen müsste. Idealer weise alle an einem Tisch: der Freistaat, die Kommunen, die Intendanzen. Denn wie es ist, wird es nicht bleiben. So oder so. Da ist sich Mensching sicher.
Benjamin-Immanuel Hoff, Minister für Kultur-, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen
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Fotos lnks picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Michael Reichel, rechts Anke Neugebauer
Thema Tarife & Theater
Thema Tarife & Theater Er leitet seit bald 15 Jahren das Lan destheater Rudolstadt, das über ein Schau spiel und die Symphoniker aus Saalfeld verfügt. Das kleine Haus ist längst „einen ganz schönen Schritt nach vorne gegan gen“, so Mensching, „aber nicht aus Ein sicht, sondern aus der Not heraus“. Schon seit 2004 arbeitet es mit dem Musiktheater und Ballett aus Nordhausen zusammen, um das eigene Orchester halten zu können, seit 2017 gastiert man außerdem in Eise nach, wofür es vom Land etwas mehr Geld für zusätzliche Stellen gibt. Trotzdem ge langt man oft genug an Leistungsgrenzen. Zugleich aber erreichen so die Schauspiel inszenierungen mit zwanzig Aufführun gen „einen höheren Amortisierungsgrad“. Davon geprägt, forciert Mensching die Reformdebatte, um das kulturelle Angebot im Land strukturell zu erhalten, dafür aber „effektivere Lösungen“ zu finden. Ausgerechnet der Kulturminister, den der Intendant so schätzt, hält einstwei len dagegen: „Wir eröffnen keine neu en strukturpolitischen Debatten“, hatte Benjamin-Immanuel Hoff (Linke) erklärt. Solche führte er vor acht Jahren ausgiebig, er ersann auch im Verbund mit Intendan ten Kooperations- und Fusionsmodelle, die von Stürmen öffentlicher Entrüstung hinweggefegt wurden. Ihm wurden die „politischen Opportunitätskosten“ zu hoch. Übrig blieben eine Orchesterfusion (Gotha/Eisenach) und ein sukzessiver Stellenabbau hier und dort. Aktuell gibt es wieder Finanzierungs verhandlungen, für erneut acht Jahre (2025 bis 2032). Der Minister führt sie mit dem Ziel, bestehende Verträge weiter zuführen und hochzurechnen, um die Ta riflücken überall zu schließen. Sie umfass ten zusammen zuletzt fast sechs Millionen Euro. Tarifgebunden sind die Staatstheater in Weimar und Meiningen, die Oper Er furt und seit einem Jahr der Fünf-Sparten- Betrieb Altenburg/Gera, nachdem dort der Haustarifvertrag auslief (für Eisenach klagt v.erdi gerichtlich auf Rechtmäßigkeit der einseitigen Kündigung des Haustarifs). Das ist bislang ein Drittel der öffentlich geförderten neun Theater sowie drei eigen ständigen Konzertorchester, darunter mit dem Theaterhaus Jena und dem Puppen theater in Erfurt zwei privat getragene.
Der Intendant aus Rudolstadt Steffen Mensching
Auf seinem Weg errang Minister Hoff soeben einen Etappensieg. Er setzte im Kommunalen Finanzausgleich eine Thea terpauschale durch, wie sie Brandenburg mit anders gelagertem Finanzierungs modell vormachte: Dort werden alle The ater und Orchester zu dreißig Prozent aus dem Finanzausgleich gefördert. In Thü ringen erhalten nun an der Finanzierung eines Hauses beteiligte Städte und Kreise zwanzig Prozent ihrer Zuschüsse derart ausgeglichen. Ursprünglich hatte Hoff „mit einem deutlich höheren Wirkeffekt gerechnet“.
Durch erhöhte Mindestgagen und viel höhere Energiekosten werde der „quasi aufgesaugt“. Die Deckelung der Energie preise durch den Bund wiederum kann helfen. Und so erklären zum Beispiel die drei kommunalen Träger des Theaters
Durch erhöhte Mindestgagen und viel höhere Energiekosten werde der Kommunale Finanz ausgleich „quasi aufgesaugt“.
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„Schauspieler gibt es ja noch genug, aber in anderen, technischen Bereichen muss man die Mitarbeiter erstmal nach Thüringen kriegen“, so Mensching.
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udolstadt auf Nachfrage: „Die Pau R schale wird kurzfristig dazu beitragen, für die Beschäftigten den Abstand zum Flä chentarif zu verkleinern.“ Er umfasst derzeit ein Minus von zwanzig Prozent. Um die Lücke komplett zu schließen und Tarifsteigerungen zu bewältigen, seien „jedoch weitere Erhö hungen der Zuschüsse erforderlich“. Was weniger an die eigene Adresse geht als an die des Landes. Ähnlich äußern sich be troffene Rathäuser und Landratsämter, die für 2025 andernfalls ein Millionendefizit in Altenburg/Gera voraussagen. Da hat Intendant Mensching aller dings so seine Zweifel. Dass die rot-rotgrüne Landesregierung versucht, mit der Theaterpauschale die größten Löcher zu stopfen, hält er für sehr beachtenswert. Sie habe ohnehin schon viel geleistet. Und sie wird auch ihre Zuschüsse weiterhin dynamisieren, was sie künftig auch von al len Kommunen erwartet. Aber noch mehr Geld obendrauf? Sehr unwahrscheinlich! Also müsse man im Verbund „mit dem vorhandenen Geld klüger wirtschaften“. Er sieht mit Genugtuung, dass Hoff es ablehnt, an der Wiedereinführung eines Schauspiels finanziell mitzuwirken, wie sie in der Landeshauptstadt Erfurt disku tiert wird (TdZ 09/2022). „Solange ande re Standorte wie Eisenach oder wir keine Tarifgerechtigkeit haben, werde ich mich nicht dafür einsetzen, dass aus dem Lan destopf für solche ,Luxusprojekte‘ Geld ausgegeben wird.“ Diese Gerechtigkeit braucht es auch, da sind sich Intendant und Minister einig, um attraktiv und konkurrenzfähig zu sein. „Schauspieler gibt es ja noch genug, aber in anderen, technischen Bereichen muss man die Mitarbeiter erstmal nach Thü ringen kriegen“, so Mensching. Zugleich ONLINE LESEN
weiß er, was in den Kommunen teilweise demografisch los ist – und also absehbar mit den Steuereinnahmen gerade in „etwas abgehängteren“ Regionen wie Rudolstadt/ Saalfeld. Über dergleichen denken Thüringer Intendanten seit vielen Jahren nach, ge meinsam und „sehr kollegial“. Aber sobald davon etwas öffentlich wird, regiert extre me Aufgeregtheit, auch im eigenen Haus. Hasko Weber hat das am Nationaltheater Weimar (DNT) erlebt, als er bereit war, über eine engere Gemeinschaft mit Erfurt zu reden: „Kein halbes DNT. Unsere Oper bleibt hier“, schallte es ihm entgegen. Darin steckt ein Dilemma von Inten danten, die für den Erhalt ihrer Häuser arbeiten, aber – wenn sie über’n Tellerrand schauen – sehen, dass der Status quo mit telfristig kaum zu halten ist. Und so klingt es ein bisschen nach verkehrter Welt und neuer Arbeitsteilung, wenn ein Minister neue Reformen absagt – maximal an Stell schräubchen drehen will –, während ein Theaterchef sie einfordert. „Vielleicht bin ich ja auch nur der einsame Rufer in der Wüste“, überlegt Mensching. Doch sei jetzt noch Zeit, sich womöglich darüber zu verständigen, wie die Theaterlandschaft in zehn Jahren funk tionieren soll. Schon 2024 könnte alles anders sein: im Superwahljahr, wenn nicht nur der Landtag neu bestimmt wird, son dern auch Oberbürgermeister und Land räte, Stadträte und Kreistage. Mensching hatte sich ein gemeinsa mes Beraten aller vorgestellt: „Das ist eine schöne Idee, geht aber wahrscheinlich aus wie das Hornberger Schießen. Wenn sich nicht einmal Weimar und Erfurt einigen können, wie sollen sich dann größere Re gionen verständigen?“ T
Ein Dossier mit weiteren Texten zu unserem Schwerpunkt Tarife & Theater finden Sie unter tdz.de
tdz.de Theater der Zeit 2 / 2023
Theater der Zeit
Foto Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater, HL Böhme
Akteure
Ahmad Mesgarha in „Die Jüdin von Toledo“ am Staatsschauspiel Dresden 1991
Porträt Der Schauspieler Ahmad Mesgarha Kunstinsert Der Bühnen- und Kostümbildner Patrick Bannwart Nachrufe Ein Brief an Manuel Soubeyrand. Eine Erinnerung an den Hochschullehrer Hans-Jochen Irmer. Der ehemalige Intendant des Staatsschauspiels Dresden Dieter Görne.
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Akteure Porträt
Jeder Tag gehört der Rolle Ahmad Mesgarha gilt über Dresden hinaus als eine Institution. Auf der Bühne vereint er Lust an der Magie der Szene und Sinn für architektonische Gestaltung
Fotos Sebastian Hoppe
Von Michael Bartsch
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Akteure Porträt
Ahmad Mesgarha und Karina Plachetka in „Die Familie Schroffenstein“ von Heinrich von Kleist in der Regie von Tom Kühnel am Staatsschauspiel Dresden
Es bedurfte nicht des früher üblichen Black Facings, um aus Ah mad Mesgarha einen Fremden, einen Othello zu machen. Sein Name und ein etwas dunklerer Teint waren Stigma genug. Jeden falls im Jahr 2016, als sich die furchtsamen Deutschen wieder ein mal von Überfremdung bedroht fühlten. Zur Premiere im Großen Haus des Staatsschauspiels am 29. Oktober trat Mesgarha mit einem eigenen Prolog aus der Shakespeare-Rolle heraus. „Mein Name soll meine Maske sein. Meine Farbe heißt Ahmad“, rief er energisch und zugleich erklärend. Und zitierte süffisant einen Zei tungskritiker aus der zweiten Hälfte der 1980-er Jahre nach der Premiere eines Kafka-Stückes des Schauspielstudios Dresden: „Er spricht sehr gut Deutsch!“ Der gute Mann wusste nicht, dass Deutsch Mesgarhas Mutter sprache ist. Sein Vater entstammt allerdings einer großen Schau spielerfamilie in Teheran, eher heiter-komödiantisch orientiert. „Die Gene haben sich übermittelt“, lacht Ahmad Mesgarha heute. Der Iran war auch schon zu Zeiten von Schah Reza Pahlavi ein Land der Verfolgungen, und so emigrierte sein Vater in die damalige DDR. 1963 wurde ihm und seiner deutschen Frau ein Sohn geboren. Der persische Name Ahmad ließe sich ungefähr mit „der Hochgepriesene“
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übersetzen und spielt auf einen von Jesus im Neuen Testament an gekündigten nachfolgenden Gesandten an. So fühlte er sich 2016 nicht gerade, sondern jeden Tag fremder, gestand er im Othello- Prolog. „Und je fremder ich mich fühle, umso mehr klammere ich mich an unsere Sprache“, schloss er damals. An unsere!
Genug ist nicht genug Besucht man ihn heute in seiner Wohnung am Dresden-Losch witzer Körnerplatz, kaum 200 Meter von der berühmten Elb brücke „Blaues Wunder“ entfernt, ist überhaupt nichts fremd. Zwei Tage vor Heiligabend steht der raumhohe Christbaum schon geschmückt, „um die Zeit etwas zu strecken, ihn zu genießen“. Denn nur dieser 24. Dezember ist im Kalender als Familientag markiert, am Silvestertag stehen gleich drei Auftritte auf verschie denen Bühnen an. Der Empfang kann herzlicher kaum sein, und nach wenigen Sätzen ist Mesgarha ungefragt schon bei Bekennt nissen zur Magie der Bühne. Vor seiner etwa drei Jahre zurückliegenden persönlichen Kri se hätte er vielleicht sofort eine geliebte Rotweinflasche geöffnet.
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Akteure Porträt
„Dreißig Jahre Schauspieler zu sein bedeutet in erster Linie zu ler nen, mit Alkohol umzugehen“, schreibt er im Manuskript für ein bevorstehendes Buch. So aber kommt das Gespräch schnell auf ein Thema, das noch etwas gesünder ist als Rotwein. Die drahtige Figur des nun schon bald Sechzigjährigen lässt den Ausdauersportler per pedes oder auf dem Rennrad erahnen. Diese Selbstüberwindung, ja Quälerei hat mehr mit dem Theater zu tun, als man ahnt. Sieben Mara thonstrecken ist Ahmad Mesgarha gelaufen, vier hat er in einem Aufwachzelt beendet. „Die Medaille lag wie ein Baby auf meiner Brust. Ich wusste nicht, wie ich ins Ziel gekommen bin.“ Er sei eigentlich kein besonders mutiger Mensch, „aber meine Tugend ist, dass ich zu weit gehen kann“. Wobei die Lust zur Selbstquäle rei nun doch etwas nachlasse. Das sei „vielleicht auch eine berufliche Macke“, reflektiert er. Denn auch auf der Bühne und in der Wortkunst reizt ihn alles, was über ein Durchschnittsmaß hinausgeht. Drei „Fäuste“ in zwei Tagen 2006 mit seinem Freund und Intendanten Holk Freytag bei spielsweise oder viel zu dicke Bücher.
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Diese Schilderung von Provokation und Selbstprovokation mag überraschen, denn auf Fotos erscheint Ahmad Mesgarha meist beherrscht, ja geradezu streng. Auch oder gerade in komö diantischen Rollen wirkt er äußerst diszipliniert und nicht als Voll strecker seiner Leidenschaften. Was hatte ihn dann mit Mitte fünf zig vorübergehend aus der Bahn geworfen? Der Schauspieler mit dem Gefühl für Statik und Balance deutet an, dass manches in sei nem Leben nicht mehr stimmte und Änderungswünsche erzeugte. Eine private Trennung zählte zu diesen. Mit Depressionen in der Klinik – solche Ausstiege kann sich ein Präsenzkünstler eigentlich nicht leisten. Bis dahin glich auch der Laufsport einer Sucht, bis zu hundert Kilometer in der Woche. „Mein Körper pendelte zwi schen Sport und Alkohol“, gesteht er offen. Ein Leben ohne Krisen ist keines. „Das Tier kommt wieder hoch, kleidet sich neu ein, erscheint sich selbst wieder neu.“ Oder singt beim Pilgern laut von der „long and winding road“ der Beatles. Mittlerweile habe er das Gefühl, wieder angekommen zu sein, sagt Mesgarha. Sein Garderobennachbar und Herzensfreund Christian Friedel habe in vergleichbarer Lage einen Satz von Robert Wilson
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Fotos links Sebastian Hoppe, rechts Matthias Horn
Ahmad Mesgarha und Karina Plachetka in „Die Familie Schroffenstein“ von Heinrich von Kleist in der Regie von Tom Kühnel am Staatsschauspiel Dresden
Akteure Porträt
„Ich habe aus Gestaltungslust zum Theater gefunden, mochte immer das Spiel, den Raum und die Farben. Die Aussage blieb lange zweitund drittrangig.“
Albrecht Goette und Ahmad Mesgarha in „Alte Meister“ von Thomas Bernhard vom Staatsschauspiel Dresden in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden
zitiert, der auch ihm half: „Jeder Tag gehört der Rolle, auch die Tage, wo du schlecht drauf bist!“ Goethes „Du bleibst doch im mer, was du bist“ aus dem „Faust II” kann in Lebenskrisen auch ermunternd interpretiert werden. Friedel als Macbeth und Regis seur und Mesgarha als Duncan stehen übrigens seit dem vorigen Herbst mit großem Erfolg gemeinsam auf der Dresdner Schau spielbühne.
Von der Architektur einer Inszenierung Vor den Krisen aber stand für den jungen Ahmad Mesgarha ein recht selbstsicherer Einstieg in den Schauspielerberuf. Nicht ge radeaus, jedoch erscheint die Schulbildung als Baufacharbeiter mit Abitur als eine logische Vorstufe. Die ererbte Theatralik des Vaters bildete die eine Komponente, das Aufwachsen in einem vom Bau geprägten elterlichen Freundeskreis die andere. „Ich wollte Architekt werden“, blickt er zurück, und noch Jahre später soll ihn Kollegin Regina Jeske bei Proben einmal einen „elenden Architekten“ genannt haben. Mit gestalterischen Exkursen soll
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er auch schon Kommilitonen der 1985 in Leipzig begonnenen Schauspielausbildung traktiert haben. Die Affinität zum Bau geht einher mit dem Sinnlich-Hapti schen. Gern Holz riechen und berühren! Das Konstruktive setzt sich auf der Bühne fort. Fundament und Balance spielen in einer Inszenierung eine Rolle, für Ahmad gilt es, „die Statik meiner Rollen von unten zu überprüfen“. Er zieht weitere Vergleiche wie den, das Verhältnis zwischen Kleinem und Großem zu bestimmen, zwischen Tragwerk und Ornament. „Als Hendrik Höfgen über den Nationalsozialismus reden und dabei ein Ei essen …“ Diese An lage korrespondiert mit seinem darstellerischen Talent. „Ich habe aus Gestaltungslust zum Theater gefunden, mochte immer das Spiel, den Raum und die Farben. Die Aussage blieb lange zweit- und drittrangig.“ Geradezu lustvoll beschreibt er je nen Bühnenzauber, der bis heute anhält, aber auch Maßstab der Qualität und der Erfüllung ist. Es geht um die Wirkung der Person in einem Raum, agierend zwischen Stille und Lärm, zwischen dem Nichts und dem Geheimnis. Gemeinsam mit der Regie auf der Bühne nach Orten suchen, wo die Spannungsfelder am größten
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Akteure Porträt
Eine Aufzählung tragender Rollen würde Seiten füllen, darunter auch der „Mephisto“. An Vielseitigkeit dürfte er kaum zu übertreffen sein.
sind – als ob man Wasser findet. „Um was es ging? Das war zu nächst nicht so wichtig, Hauptsache, es machte Eindruck!“ Mesgarha spricht in der Folge von den „größten Glücksgefüh len, mit einem Gedanken auf der Bühne zu stehen, diesen weiter zugeben und mit ihm Lachen und Tränen zu erzeugen“. Ein Magier also? Und ein bisschen Missionar? Auch ein bisschen an sich selber denken: „Vor allem war das alles eine große Therapie für mich!“
Begabt und offen für alles, aber auffallend Dresden-treu Überflüssige Standardfrage also, wie er zum Theater gekommen sei. „Man geht hin! Das ist keine Entscheidung, du hast keine an dere Wahl!“ Erst recht nicht, wenn sich schon in Kindertagen der Zauber einer zweiten Welt einstellte, als sich der Vorhang hob. Ahmad konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Akteur da vorn später als gewöhnlicher Mensch wieder auftauchte, gar auf die Toilette gehen musste. „Der lebte nur für die Rolle, der ist ein Botschafter Gottes!“
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Die Leipziger Hochschule für Musik und Theater vermittel te dafür das Handwerk. Deren Dresdner Schauspielstudio bot willkommene Ausprobierbühnen wie das alte Astoria-Kino auf der Leipziger Straße. Mit Uwe Steimle etwa spielte er in Heiner Müllers „Drachenoper”. In Dresden wäre er auch gern geblieben, obschon es „Angebote von allen Theatern gab, die mich gesehen haben“. Weg vom erdrückenden Berlin jedenfalls. Aber am Dresd ner Staatsschauspiel stand 1990 in der Zeit der Wende-Umbrüche der Intendantenwechsel von Gerhard Wolfram zu Dieter Görne bevor. Sicherheitshalber wurde in dieser Phase der Neuorientie rung niemand eingestellt. Stattdessen folgte ein nur dreimonatiges Intermezzo am Neu en Theater Halle. Noch von den teils illegalen Aufbauarbeiten knapp zehn Jahre zuvor geprägt, hätte sich das Gesicht von In tendant Peter Sodann „in jugendlicher schöner Offenheit erhellt“, als er von der Berufsausbildung des Bewerbers hörte. „Du kannst mauern?!“ Als dann doch in Dresden der Vertrag winkte, habe er ihn in gewohnt apodiktischer Weise verabschiedet: „Du wirst in Dresden berühmter, aber hier wärst du glücklicher geworden!“
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Foto Matthias Horn
Albrecht Goette und Ahmad Mesgarha in „Alte Meister“ von Thomas Bernhard vom Staatsschauspiel Dresden Anton Kurt Krause in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden
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Wer dem Staatsschauspiel Dresden seit nunmehr 32 Jahren die Treue hält, kann indessen nicht so unglücklich geworden sein. Aufsehen erregte er tanzend und singend 1993 in der Titelrolle des Frank ’n’ Furter bei der „Rocky Horror Show”, während des Schauspielhaus-Umbaus im Arena-Zelt. Er habe zehn Jahre ge braucht, um dieser Rolle wieder zu entkommen, scherzte er spä ter. Eine Aufzählung tragender Rollen würde Seiten füllen, dar unter auch der „Mephisto“. An Vielseitigkeit dürfte er kaum zu übertreffen sein. In der laufenden Spielzeit lebt Rainald Grebes Münchhausen-Adaption wesentlich von köstlichen Dialogen eines ganz normal verklemmten Liebespaares, die der Erzkomödiant ge meinsam mit Anna-Katharina Muck improvisiert. Ambitionierte Regisseure wie Volker Lösch mag er gut leiden. „Er ist ein Tyrann, ein Theatertier – aber ich auch!“ Vom narzissti schen Regietheater, das nicht zuerst den Impetus der Spieler selbst spiegelt und führt, hält Mesgarha nichts. Aktuell hat es ihm „Die Familie Schroffenstein“ angetan, der Erstling „seines Freundes“ Kleist, in der Regie von Tom Kühnel. Zuerst wegen der „blinden, aber genauen Pässe“ im Zusammenspiel. Und Verdrängung auf hohem Niveau werde da inhaltlich vorgeführt. Das Zerwürfnis der beiden Familien habe eine politische Dimension, so, wie das Theater am politischsten wirke, wenn es auf die Folgen des Ver gessens von Politik hinweise. „Ist Theater nicht immer die Suche nach einer Haltung?“ Eine Handvoll Filmrollen hat Ahmad Mesgarha auch schon übernommen, zuletzt 2021 in einem Dresden-„Tatort“. Seine Vielseitigkeit hat ihn zuletzt häufiger auch auf freie Bühnen ge führt, in die Nähe des gehobenen Boulevards. In Rolf Hoppes Hoftheater zum Beispiel mit einem neu komponierten OttoReutter-Programm und mit eigenen Texten, die wiederum viel vom Theater handeln. In diese Richtung wird auch ein Buch gehen, das er sich selbst und den Lesern zum bevorstehenden 60. Geburtstag schenken will.
Der Zauber bleibt Wenn man über solche Theaterweisheiten mit ihm spricht, ist vom Erich-Ponto-Preis des Staatsschauspiels 2004 gar nicht die Rede. Von der Sucht nach Applaus schon eher. „Ein Schauspieler, der von der Bühne kommt, muss gelobt werden, weiter nichts, auch wenn er schlecht war.“ Kritiken liest er und bleibt verletzbar, auch wenn er von ihnen nicht mehr abhängig ist. Das Gefühl „Welch ein Zauber, dass ich in dieses Haus gehe“ hält an. „Gib mir eine Bühne und möglichst Stille um mich herum, und ich bin in mei nem Vollbesitz der Lust!“ Schmunzelnd hört man, wenn er vom bevorstehenden Alter spricht, in dem er auch nur werden könne, was er ist, aber noch kultivierter. „Es ist der Spagat, auf den ich mich freue; der Spagat zwischen Rampe und Reue“, heißt es am Schluss eines seiner selbst geschriebenen Couplets. T
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Sepp und Beppi, Kostüm-/ Szenenskizze zu „Stallerhof“ von Franz Xaver Kroetz am Wiener Burgtheater 2010
Das Cartoonartige ausloten Der Bühnen- und Kostümbildner Patrick Bannwart im Gespräch
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Fotos privat
Von Stefan Keim
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Ausschnitt der 140 Meter langen Prospektmalerei von „Mutter Courage“ am Wiener Burgtheater 2013
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Probebühne von „Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab am Wiener Akademietheater 2015
Still aus dem Scherenschnitt-Film „Dark Age” für das Berliner Ensemble gemeinsam mit Falko Herold
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Foto oben Sarah Sassen, rechtes und links privat
Kostüm-/ Szenenskizze zu „Stallerhof“ von Franz Xaver Kroetz
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„Weiße Rose“ an der Staatsoper Hamburg 2021
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Aus den Arbeitsprozessen, Skizzen für „Weiße Rose“, Teamwork mit Matthias Wittkuhn, Falko Herold und David Bösch; bei der Arbeit im Atelier und an den Animationen
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„Robin Hood“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – die Burg des Usurpators Prinz John ist aus Pappe. Wie die anderen Requisiten, vieles sieht aus wie selbstgebastelt. Der Wettbewerb im Bogen schießen ist dagegen ein cooles Video, ein Hightechgame. Das Kin derstück ist die aktuelle Zusammenarbeit des Bühnen- und Kos tümbildners Patrick Bannwart mit dem Regisseur David Bösch. Die beiden bilden seit fast 20 Jahren ein Team. 2004 designte Bannwart die Bühne für Böschs Diplominszenierung „Frühlings Erwachen“ an der Schauspielschule Zürich. Seitdem arbeiten die beiden zusammen, stets in enger Absprache. Die Räume stecken voller Erinnerungen und Emotionalität, in Büchners „Woyzeck“ am Schauspiel Essen wie in Dorsts „Parzival“ am Burgtheater Wien. Bannwarts Bilder liefern eine Mischung aus konkreten Ele menten und Offenheit, geben ein Fundament für die Spieler:innen, lassen aber auch Freiräume, die sie füllen können. Ein Gespräch über die Bilder, die Gefühle, das Teamwork. 19 Jahre gemeinsame Arbeit – was verbindet David Bösch und dich eigentlich genau? PB: Ich vergleiche es oft mit einer Paarbeziehung (grinst). Wir sind beide relativ ungeduldige Menschen, die immer weitersuchen und -entwickeln. David meinte mal, dass für ihn Proben Verän dern heißt. Das empfand ich auch so. Ich kam gerade aus einer Stadttheaterproduktion, wo Szenen gestellt wurden und dann in tödlicher Langeweile bis zur Premiere wiederholt wurden. Das war bei David das Gegenteil und fühlte sich nach Aufbruch an, wenn es auch oft Theaterapparate an ihre Grenzen bringt. Wir fürchten uns beide nicht vor starken Bildern, vor Atmosphären, vor sinnlichen Momenten.
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Ich bin oft in euren Inszenierungen von der Warmherzigkeit beeindruckt, mit der ihr die Figuren gestaltet. Wie äußert sich das in der gemeinsamen Arbeit? PB: Vielleicht hat das mit der oben erwähnten Düsternis zu tun. David ist ein sehr großer Menschenfreund und liebt seine Fi guren. Figuren, die oft am Rande der Gesellschaft stehen. Frau John, Woyzeck, Kroetz-Charaktere – Figuren, die nichts zu verlie
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Fotos privat
Patrick Bannwart wurde 1974 in Wettingen (Schweiz) geboren und machte zunächst eine Ausbildung zum Theatermaler am Opernhaus Zürich. Von 1997 bis 2001 studierte er Bühnenbild bei Erich Wonder an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Seit 2004 arbeitet er intensiv mit dem Regisseur David Bösch zusammen, am Schauspiel Essen, dem Thalia Theater Hamburg, dem Deutschen Theater Berlin und sehr häufig am Burgtheater. Seit 2010 ist das Team auch an Opernhäusern aktiv. Während der Pandemie war Bannwart, der auch Kostümund Videodesigner ist, am Filmprojekt „Weiße Rose“ nach der Oper von Udo Zimmermann der Hamburgischen Staatsoper beteiligt.
Ich habe lange nicht mehr so ein fröhliches und Mut machendes Bühnenbild von dir gesehen wie „Robin Hood“ und erinnere mich an viele düstere Settings zuvor. Was ist da passiert? PB: „Robin Hood“ ist unser erstes Kinderstück. Das hatten wir uns schon lange gewünscht, auch weil wir mittlerweile beide Väter sind. Der Entwurf ist erstmal im Theater angeeckt, weil er per se gar nicht fröhlich ist, sondern eine Welt aus profaner Pappe darstellt. Robin – in unserem Falle ein Mädchen – kämpft aber mit ihren Freund:innen für Gerechtigkeit und schafft es, das System zu kippen. Das macht natürlich Mut. Der Stoff beinhaltet erstaunlich viel Aktuelles und Politisches und ermutigt dazu, die Welt zu verändern. Die ungerechte Vertei lung in der Welt ist wahrscheinlich nebst Krieg und Klimakrise das wichtigste Thema unserer Zeit. Gerade bei meinen Kindern erlebe ich, dass ungleiche Verteilung als sehr schlimm empfunden wird. Selbst wenn es sich um einen Kuchen mit Smarties handelt …
Akteure Kunstinsert ren haben. Und aus dieser Dunkelheit heraus entsteht ein Funke. Ein Aufglühen, eine Kraft wie eine Kernfusion, die alles verändern kann. Aber der Nährboden ist düster. Und gerade darin kann man das erste Glühen am besten spüren. Beeindruckend fand ich auch eure Uraufführung von Dirk Lauckes „alter ford escort dunkelblau“ am Thalia Theater Hamburg (Gaußstraße). Da hast du viel mit animierten Bildern gearbeitet. Welche Rolle spielen die Cartoons für deine Arbeit? PB: Ich habe gerade im deutschsprachigen Raum die Erfahrung gemacht, dass der Begriff Cartoon schnell schubladisiert wird. Als nicht ernst zu nehmende Kunstform. Das wollte ich ändern. Ich habe schon von jeher viel gezeichnet, und Professor Erich Won der fragte mich bei der Aufnahmeprüfung in die Bühnenbildklasse, wa-rum ich nicht Cartoonist sein möchte. Ich antwortete so in etwa, dass ich die Figuren aus dem Blatt rausholen möchte. Tatsächlich zeichne ich viel auf Proben. Ich mache nie Figu rinen im eigentlichen Sinn, sondern Szenen mit Charakteren. Das Cartoonartige kommt wahrscheinlich dadurch, dass ich die Figuren etwas überzeichne, deutlicher mache, anarchischer. Die Zeichnungen haben es dann immer mehr in die Programmhefte und schließlich auf die Bühne selbst geschafft. Der Durchbruch, mit Zeichnungen im Stück zu arbeiten, war dann „alter ford escort dunkelblau“ von Dirk Laucke. Wir hatten im Thalia Theater eine große Probebühne, eine Rampe mit vier sich drehenden Autoreifen und den Ausnahmemusiker Karsten Riedel. Karsten spielte in der einen Ecke seine Musik und ich baute mir in der anderen Ecke ein kleines Zeichenstudio auf und fing an, mit einfachen Mitteln die Zeichnungen zu animieren. Sie wurden immer mehr Teil der Inszenierung. Das war so nicht geplant, ist spontan entstanden und gewissermaßen Merkmal unserer Arbeiten geblieben. Bald darauf folgte unsere zweite Opernarbeit an der Bayerischen Staatsoper mit Mozarts Frühwerk „Mitridate“. Hierfür entwarf ich abstraktere dunkle Räume, die erstmals darauf ausgelegt waren, dass darauf Zeichnungen projiziert werden, sich die Figuren in den Pro jektionen selbst bewegten und mit den Zeichnungen vermischten. In der Pandemie habt ihr den beeindruckenden Opernfilm „Weiße Rose“ für die Staatsoper Hamburg gestaltet, ebenfalls ein Anime. Wird es weitere Theaterfilme von euch geben? PB: „Weiße Rose“ ist zwar aus der Corona-Not heraus entstanden, war aber auch eine logische Fortführung des ein geschlagenen Weges. Das Team war schon früher um Falko Herold, mit dem ich studiert hatte, gewachsen und so hat sich bei dieser Arbeit eine Art „Band“ entwickelt, bei der jeder jeden begleitet und zu
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gleich Songs schreibt. Die Opera Stabile und die große Probebühne der Staatsoper Ham burg standen lockdownbedingt leer. Wir hatten plötzlich richtige Stu dios zur Verfügung, um unseren ersten GraphicOpera -Film zu verwirk lichen. Mittlerweile gibt es neue Pläne, aber die Bedingungen, wie wir sie damals hatten, wird es so wohl nicht mehr geben. Du hast mehrmals die Spontaneität, den Bandcharakter deiner Arbeiten beschrieben. Wie verträgt sich das mit den frühzeitigen Bauproben an den Theatern? PB: Ja, das ist tatsächlich oft ein Spagat. Gerade bei der Oper sind die Bauproben oft schon ein Jahr vor dem Probebeginn. Gleich zeitig ist die Bühne ja auch oft eine konzeptionelle Setzung und ich probiere, das ganze Stück oder Projekt auch im Vorfeld szenisch mitzudenken, sodass der Raum letztlich wie der Nährboden ist für das, was sich bei den Proben noch entwickelt. Ich versuche, die Räume so zu gestalten, dass sie eine Spielwiese darstellen und Ent wicklungen möglich machen. Zum einen in der Ästhetik, die eben kein Hochglanz ist. Es können auch schnell Sachen mit viel Klebe band dazu gebastelt werden. Außerdem bin ich bei den Proben fast immer anwesend, um weiter zu basteln, mit der Inszenierung mit zugehen so wie die Inszenierung mit dem Raum mitgeht. Wer ist der Künstler Patrick Bannwart ohne David Bösch? PB: Den Alleinkünstler Patrick Bannwart gibt es so nicht. Ich beobachte oft, dass Theaterkünstler vorgeben, eigentlich bildende Künstler zu sein, und das Theater eigentlich nebenher machen. Gerade bei Bühnenbildnern ist das weitverbreitet und entspringt meiner Meinung nach einem Komplex, der bildenden Kunst ge genüber minderwertig zu sein. Weiters gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung gerade auch vonseiten der Theaterpresse offenbar die Sehnsucht, Einzelkünst ler hervorzuheben oder zu kreieren. Ich verstehe das nicht und habe es noch nie verstanden. In meiner Kindheit war ich begeister ter Anhänger der Luzerner Fasnacht. Ein dreitägiges rauschhaftes Straßenfest, zu dem sich alle verkleiden, Musik durch alle Straßen zieht, Theater auf den Hausdächern gespielt wird – im Gegensatz zu prämierten Kreativwettbewerben. Theater ist für mich ein Zusammenspiel von vielem und vielen. Natürlich gibt es treibende Kräfte und für die einen ist es Obsession und kreatives Feld, für andere einfach ein „Job“. Aber es gibt für mich nicht den Einzelkünstler in dem Sinne, sondern jeder trägt zu dem Abend bei. Das ist der Grund, warum ich Theater mache und keinen Leistungssport betreibe. Und es füllt mich so aus, dass es daneben nur den privaten Patrick Bannwart gibt und manchmal auch nicht mal mehr den. T
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„Es ist schon gut, dass wir Theater machen und diese Welt nicht mit unseren Unfähigkeiten belasten.” Ein Brief an Manuel Soubeyrand Von Matthias Brenner
Mein lieber Manuel! Wir hatten das eine oder andere Bier mit einander getrunken, und ich erinnere mich gut, dass Du Dir Dein Nachtlager auf har tem Kellerboden mit einer Luftmatratze einzurichten versuchtest. Aus meinen Au genwinkeln sah ich, wie Du die Luftma-
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tratze nach dem Aufblasen mit einem Blei stift verschließen wolltest, da der Stöpsel fehlte. Betont leise und dadurch doppelt geräuschvoll presstest Du Deine Atemluft aus vollen Backen, zünftigen Pferdefurzen gleich, in das Innere der Matratze. Es ge lang Dir nicht gleich, mit dem Bleistift das Ventil zu verschließen. Erst mehrere ver zweifelte Versuche später blieb der Blei stift da, wo du ihn haben wolltest. Du legtest dich nieder und sahst mir plötzlich, Kopfkissen an Kopfkissen, in die Augen. Und als ich Dich darüber aufklärte, dass es leichter ist, eine Luftmatratze aufzubla sen, wenn man nicht drauf liegt, grinstest Du: „Es ist schon gut so, dass wir Theater machen und diese Welt nicht mit unseren Unfähigkeiten belasten.” Da schoss der Bleistift mit voller Wucht gegen meine Stirn, Bierdunst er füllte die Szene. Als ich den Bleistift rü berreichen und Dir anbieten wollte, beim nächsten Aufblasversuch zu helfen, warst Du bereits selig eingeschlafen. Das war im Sommer I98I, als wir für knapp drei Wochen durch das katholische Eichsfeld in Thüringen zogen, um dort, im damaligen Grenzgebiet, unter dem Namen „Schlampampe” Theater zu spielen. Wir waren Studenten in der letzten Dekade der DDR. Wir dachten politisch und träumten davon, dieses Land mit unserer Theater kunst einmal verbessern zu können, eigene Ensembles zu gründen und Verantwortung in dieser Welt zu übernehmen. Unser Pferdewagentheater war Ausdruck unseres Urmotivs, spielerisch in diese Welt einzugreifen. Die DDR gibt es nicht mehr, unse re Studienzeit ist lange her, aber uns gab es noch, Manuel, bis vergangenes Weihnach ten gemeinsam auf dieser Welt – und wie! Du hattest Wort gehalten und als Erster von uns beiden ein Ensemble geleitet. In Chemnitz, gar nicht lange nach der Wende. Schon da habe ich Dich auf Deinem Weg mit zwei Inszenierungen begleiten dürfen. Dann hast Du die Reise in den Westen nach Esslingen angetreten, um dort Inten dant der Württembergischen Landesbühne zu werden. Unter Deinen Händen hat sich
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Foto links neue Bühne Senftenberg, rechts privat
MANUEL SOUBEYRAND
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H A N S -J O C H E N I R M E R
dieses Theater den Ruf eines Sprungbretts für junge Schauspieler erarbeitet. Ich war beeindruckt zu erleben, mit welcher Klar heit, Fairness und Liebe Du Deinen meist „Anfänger-Schauspielern“ ein toller und konsequenter Chef warst. Du gehörtest nicht zu den Theaterchefs, die beleidigt sind, wenn ihre Schauspieler nach einigen Jahren das Haus verlassen, um neue Wege zu gehen, sondern im Gegenteil, Du warst stolz darauf, wenn sie das taten, weil Du ein Ermöglicher für sie warst. Ich habe Dir, lieber Manuel, damals über die Schulter sehen dürfen, während meiner insgesamt fünf Inszenierungen in Esslingen. Genauso wie Deine Schauspie ler habe ich mich sehr sicher und gemeint gefühlt in deiner strukturierten Ruhe im harten Alltag des Theatergeschäfts und musste später, da ich selber ein Theater zu leiten begann, oft an Dich und Deine Ma xime denken. Dann kam Senftenberg. Und ich gebe zu, ich dachte, dass das kleinste von „Deinen“ Theatern die letzte Station vor Deinem Rentendasein werden würde. Ich hätte Dir ein größeres Haus und mehr Beachtung in der Branche gewünscht. Das stand Dir meiner Meinung nach zu, lie ber Freund. Doch Du reagiertest wie im mer ruhig und besonnen, konzentriertest Dich auf die Arbeit. Diese Ruhe, auf har tem Boden zu bestehen, hattest Du eben damals schon. Ja, auf jenem Kellerboden auf der entleerten Luftmatratze lieber ein zuschlafen, als Dich sinnlos dem Stress hinzugeben. Das Wesentliche vom Unwe sentlichen zu trennen – das war und bleibt Deine Weisheit. Diese bildete den Nähr boden, Deine närrische Seele für uns alle zum Tanzen zu bringen. Ich grüße Dich von ganzem Herzen, mein wunderbarer, gegangener Freund. Da mit ist es jetzt an uns, unablässig von Dir zu erzählen, das Andenken an Dich wachzu halten, auch Deiner Familie verbunden zu bleiben, um Dich nahe zu haben. Ein Leben lang. In gedankenvoller Trauer Dein Matthias
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Der Weichensteller Ein Nachruf auf den Dramaturgen, Hochschullehrer und Wedekind-Spezialisten Hans-Jochen Irmer Von Jens Neubert
„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ (Uwe Johnson, Mutmaßungen über Jakob) Prof. Dr. Hans-Jochen Irmer (2. Mai 1935 – 4. Dezember 2022) war Lehrer. Die Nach richt seines Todes machte die Runde un ter den Schülern. In wenigen Jahren, ich studierte von 1991 bis 1995 Regie an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, vermittelte er Grundlagen. Nicht nur in seinen Vorlesungen „Dramaturgie“, „Ge schichte der Regie“, „Richard Wagners musikdramatisches Werk“, sondern durch sein Vorbild der Übergangszeit. Die DDR war friedlich abgeschafft und wir mussten eine neue Straßenverkehrsordnung er lernen. Irmer las mit uns Lessing, Hegel, Brecht. Nach der Kindheit im Krieg be suchte er die Dresdner Kreuzschule und studierte in Leipzig bei Hans Mayer und Ernst Bloch. Dort begegnete er dem ein Jahr älteren Uwe Johnson im Lesesaal. Nach einer Dissertation über Frank Wedekind leitete er in den Jahren 1971 bis 1977 das Dramaturgie-Team der In tendanz von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble. Dort setzte er sich für die Pro grammlinie früher Brecht („Im Dickicht der Städte“) und Wedekind ein („Früh lings Erwachen“, Regie: Einar Schleef und B.K. Tragelehn, 1974). Bereits 1972 er schien die Materialsammlung „Brecht und das musikalische Theater“. Für Joachim Herz betreute er als Dramaturg die Erst aufführung der vollständigen „Lulu“ von Alban Berg nach dem Text von Wedekind, an der Komischen Oper. Sein Buch „Joa chim Herz – Regisseur im Musiktheater“ markierte 1977 den Versuch, zwei Jahre nach dem Tod Felsensteins dem musika lischen Theater der DDR eine neue Rich tung zu geben. Nach dem Rauswurf der Berghaus aus dem Berliner Ensemble 1977 begann deren Wirkung in der Oper. In den Entwick lungen der Oper im Geiste Brechts im pro duktiven Widerspruch zum realistischen Musiktheater war Irmer der Vor denker.
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Ein kluger Ermöglicher des kritischen Theaters Dieter Görne, ab 1990 elf Jahre Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, ist mit 86 Jahren gestorben Von Michael Bartsch
Schon einige Zeit vermisste man nach einer Premiere im Dresdner Staatsschau spiel die kurze Plauderei mit Dieter Görne. Wobei der ehemalige Intendant nie den besserwissenden Kritiker seiner Nachfolger spielte, sondern nur aus seiner erfahre nen Sicht Aspekte zum Stück beisteuerte. Mit seiner unverwechselbar knarrenden Stimme, die mit dem weichen sächsischen Idiom leicht kollidierte. Der 1936 in Hei denau bei Dresden Geborene legte es nie ab, und es gibt Sachsen wie ihn, bei denen hört man es gern. Seit dem 4. Januar ist Dieter Görne nun verstummt. Auch offiziellen Nach rufen ist neben der Aufzählung von Fakten ein selten gewordener Hauch von Wärme anzumerken. Er wirkte eben wie ein aus gleichender Vater, suchte nie den Affront. Untypisch erscheint eine Erinnerung der Sächsischen Zeitung an eine der ersten „Dresdner Reden“ von 1992. Für Willy Brandt war es eine seiner letzten Reden, und der Intendant selbst warf hoch erregt einige Studenten aus dem Schauspielhaus, die gegen die Politik des ehemaligen Bun deskanzlers laut protestierten. Bei seinen Entscheidungen konnte sich Dieter Görne auf eine solide germa nistisch-kunsthistorische Ausbildung ver lassen. Um die Namen Ernst Bloch und Hans Mayer, bei denen er in Leipzig ab 1953 studierte, muss man Dieter Görne postum noch beneiden. Solide klassische Bildung bot das Fundament für erste dra maturgische Engagements an den Theatern Anklam und Plauen und am Nationalthea ter Weimar. Nicht von ungefähr übernahm er 1968 für sechs Jahre eine Arbeitsgruppe am Weimarer Goethe-Schiller-Archiv, die sämtliche an Goethe gerichtete Korres pondenz editierte. Seine Promotion 1971 in Jena befasste sich mit der „Faust”- Rezeption im sozialistischen Theater. An Profil und Beliebtheit muss Görne schon als Chefdramaturg in Karl-MarxStadt, dem heutigen Chemnitz, gewonnen haben, bevor er 1984 in gleicher Funktion nach Dresden wechselte. In dem halben Jahrzehnt bis zum Herbstaufbruch 1989
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Foto HL Böhme
Schon 1968 begann die Lehrtätigkeit am Studiengang Regie der Hochschule für Musik „Hanns-Eisler“. Dieser RegieStudiengang, von Götz Friedrich zur Ver stetigung der „Methode Felsenstein“ ge gründet, wurde Dr. Irmers Lebensaufgabe. Von 1980 bis 1992 leitete er den Stu diengang und ich erlebte 1992 seine Ab setzung. Bereits 1988 zum außerordent lichen Professor berufen, wirkte er weiter gegen mediokre Widerstände bis 2000. Zu seinen Schülern zählen Sebastian Baum garten, Thoraten Cölle, Michiel Dijekma, Dimiter W. Dimitrow, Jenny Erpenbeck, Brigitta Gillesen, Tatjana Gürbaca, Miron Hakenbeck, Julia Häbler, David Hermann, Miriam Hoyer, Ingolf Huhn, Steffen Kaiser, Jan-Richard Kehl, Susanne Knapp, Peter Konwitschny, Franziska Kronfroth, Sylvia Kurz, Katharina Lang, Sandra Leupold, Freo Majer, Johannes Müller, Petra Mül ler, Vera Nemirova, Jens Neubert, Steffen Piontek, Matthias Pohl, Wolfgang Schal ler, Georg Schüttky, Henriette Sehmsdorf, Alexander Suckel, Elena Tzavara, Joern Weissbrodt, Kristina Wuss u.v.a. Irmer war in den achziger und neun ziger Jahren außerdem weiter als Drama turg tätig, unter anderem für die 1991er „Lohengrin“-Inszenierung der Bayreuther Festspiele, für die Meisterkurse der Ruth Berghaus (1993–95) und an der Oper Graz (Ring- und Janacek-Zyklen, Inten danz Dr. Brunner). Als Mitherausgeber schloss er die kritische Studienaus gabe der Werke Frank Wedekinds 2013 ab. Prof. Dr. Irmer schrieb mir im März 2012: „Stolz bin ich nicht, ich bin froh gestimmt, wenn ich meine Studenten auf den richtigen, ihnen gemäßen Geleisen sehe. Tatsächlich habe ich mich als ‚Wei chensteller im Rangierbahnhof Hoch schule‘ betrachtet.“ T
DIETER GÖRNE
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Im Wiedervereinigungsjahr 1990 schlug dann die Stunde des Dieter Görne als Mann des Übergangs im besten Sinn. Es wird sein Verdienst bleiben, wie er diesen als verantwortlicher Intendant meisterte.
erwarb sich das Dresdner Staatsschau spiel den Ruf des mutigsten und intelli gent-kritischsten Theaters in der DDR. Der Chefdramaturg trug ebenso dazu bei wie Intendant Gerhard Wolfram oder die Regisseure Horst Schönemann, KlausDieter Kirst und Wolfgang Engel.
Im Wiedervereinigungsjahr 1990 schlug dann die Stunde des Dieter Görne als Mann des Übergangs im besten Sinn. Es wird sein Verdienst bleiben, wie er die sen als verantwortlicher Intendant meis terte. Von gesellschaftlichen Umbrüchen und Existenzsorgen besetzt, besuchte das Publikum wie heute in Krisenphasen zögerlicher das Theater. Neue Themen drängten auf die Bühne. 25 Jahre vor der „Me-too“-Welle stand beispielsweise David Mamets „Oleanna“ auf dem Spiel plan. Freie Theater und Boulevardbühnen gründeten sich. Von Konkurrenz aber wollte Dieter Görne nicht sprechen, eher von Ergänzung und Arbeitsteilung. Zwei große Umbauphasen fielen in seine Amtszeit. Das Große Haus am Post platz wurde wieder in den prächtigen Originalzustand von 1913 zurückversetzt,
das Ensemble spielte währenddessen im Arena-Zirkuszelt. Ab 1999 stand die Komplettsanierung des Kleinen Hauses an. Als Ersatzspielstätte entfaltete die ehe malige Schütz-Kapelle des Schlosses ein eigenes Flair. Wie ein Abschiedsgeschenk für Dieter Görne mag 2001 die Nominie rung der hier inszenierten ThalheimerAdaption des Filmes „Das Fest“ gewirkt haben. Ein Denkmal, leider nur ein vorü bergehendes, setzte er sich bereits 1994 mit der Einrichtung des Theaters in der Fabrik TIF als risikofreudige Experimen tier bühne, lange vor der „Baracke“ am Deutschen Theater Berlin. T
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Manuel Soubeyrand 1957–2022
Wir sind traurig. Der Landesbühnenausschuss im Deutschen Bühnenverein
Stück Gespräch
Der Anti-Katastrophenfilm
Fotos privat
Sarah Kilter und Lars Werner über ihr Stück „Daddy“ im Gespräch mit Nathalie Eckstein
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Stück Gespräch In „Daddy“ laufen im Jahr 2035 die Diskurse von Vereinsamung und von Umweltzerstörung zusammen. Ich habe den Text auch als eine Parodie gelesen. Wie ist ein Umgang mit Themen angesichts der Klimakatastrophe heute zu schaffen? SK: Ich sehe den Text eher als eine überspitzte Version unse res jetzigen Alltags, natürlich ist er etwas in die Zukunft versetzt, aber die Probleme der Klimakatastrophe bleiben die gleichen wie heute und genauso gibt es natürlich auch im Stück eine Vielzahl weiterer wichtiger Themen und Probleme parallel, die von den Figuren Joelle und Tiga verhandelt werden müssen. LW: Für mich ist „Daddy“ ja so eine Art Anti-Katastrophen film: Wir teasern die gängigen Merkmale dieses Genres an und lösen sie dann selten ein. Es geht vielmehr um die Psyche der Men schen in der Katastrophe, die ja bei vielen dieser Erzählungen oft auf der Strecke bleibt. Und das war auch wichtiger für uns: die Frage, was passiert eigentlich, wenn man wirklich Abschied nehmen muss, als Spezies von einem Planeten. Lars Werner, du hast in „Feinstoff“ im vergangenen Jahr eine tropische Lausitz visioniert und auf der historischen Ebene des Stücks spielte Island auch schon eine Rolle. Woher dieses Interesse an der fernen Insel? LW: Bei „Feinstoff” bin ich in der Recherche darüber gestol pert, dass die preußischen Seidenversuche durch einen Vulkan ausbruch auf Island zum Erliegen kamen. Dieser Ausbruch hat das gesamte europäische Wetter beeinflusst und viele Ernten vernich tet. Das war natürlich richtig toll, so eine reale Deus ex machina zu finden, die den Text durchgerüttelt hat. Und bei der Recherche für „Daddy“ bin ich dann auf diese CO2-Absauganlagen gestoßen, die zufällig gerade auf Island installiert wurden. Wieder also ist da auf Island etwas, das das Klima beeinflusst, diesmal aber zum Besseren. Aber während des Schreibens wurde der Ort dann für uns ganz anders aufgeladen, oder? SK: Ja, Island wurde für mich während des Schreibens zu einem Ort mit einem ganz negativen Beigeschmack. Denn dieser Ort war dann irgendwann nicht mehr nur bedrohlich durch die Einsamkeit dort und diese verrückte unberechenbare und fremde Natur, sondern eben auch durch diese Anlage, bei der niemand so richtig weiß, was die eigentlich macht und wie die funktio niert, in die die Menschen aber trotzdem so ein absolutes Ver trauen haben. Sarah Kilter, zwischen den beiden Figuren Joelle und Tiga entwickelt sich eine zarte Freundinnenschaft, sie werden Komplizinnen. Welches Potenzial steckt in weiblicher* Solidarität angesichts einer Katastrophe? SK: Gott sei Dank bin ich persönlich nicht so geübt in Ka tastrophen. Aber ich glaube, in einer Katastrophe würde ich mich hilfesuchend immer eher an eine Frau wenden. Ob jetzt Tiga und Joelle so wirkliche Komplizinnen werden, da bin ich mir gar nicht so sicher. Es fällt den Figuren natürlich viel leichter, so aus der Ferne solidarisch zu sein, weil ja von der
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„Island wurde für mich während des Schreibens zu einem Ort mit einem ganz negativen Beigeschmack. Dieser Ort war dann irgendwann nicht mehr nur bedrohlich durch die Einsamkeit dort und diese verrückte unberechenbare und fremde Natur, sondern eben auch durch die Anlage, bei der niemand so richtig weiß, was die eigentlich macht.“
anderen Seite realistisch auf die Distanz gar nicht so viel gefordert werden kann. Die Figuren im Text sind alle vereinsamt, Kommunikation findet nur über zeitlich-räumliche Trennung, Videologs und Bot-Kommunikation statt. Es gibt Dialoge, aber wenn überhaupt, nur sporadische Begegnungen. Wie war der Entstehungsprozess des gemeinsamen Schreibens, habt ihr euch dazu in einem Raum getroffen? SK: Ich habe mich zur Zeit des Schreibens in Burundi, Bujum bura befunden. Kurz vor meiner Ausreise nach Burundi kam die Anfrage vom rbb für das ARD-Gemeinschaftsprojekt „2035 – Die Zukunft beginnt jetzt“. Die Anfrage kam gleichzeitig an Lars und mich und wir haben entschieden, das zusammen zu machen. Also „Daddy“ war ursprünglich mal ein Hörspiel. Die Auftaktrecherche und den groben Plot haben wir noch gemeinsam in B erlin gemacht und entwickelt und schließlich – wie die Figuren auch – mit vielen Tausenden Kilometern zwischen uns losgeschrieben und uns ab und zu über Zoom getroffen, den aktuellen Textstand gelesen und besprochen. Irgendwann wollten wir auch Dialoge gemeinsam schreiben und haben dann über den Telegram-Messenger als Joelle und Tiga miteinander gechattet, und das war … scheiße. LW: Das hat überhaupt keinen Sinn gemacht. SK: Aber es hat extrem viel Spaß gemacht. LW: Es war richtig witzig. Aber wir hatten vielleicht drei gute Ideen dabei von insgesamt sieben Seiten. Wir sind also wieder ins normale Plotten gegangen und haben die Dia loge im Hin-und-Her bearbeitet. Mit dem Feedback der Redaktion wuchs das Stück dann, Segmente sind umgestellt worden, Sarah hat noch eine Einleitung erdacht usw. Für die Kürze des Texts hat das alles viel zu lange gedauert, weil wir zwischendurch ganz schön im Irrgarten waren. SK: Zum Glück hat die Redakteurin vom rbb irgendwann sowas gesagt wie: „Verbiegt euch mal nicht, macht mal jeder das eigene, ohne Rücksicht, ob die Figuren dann in der Geschichte zu sammenkommen.“ Und das war voll gut, denn das ist ja jetzt auch irgendwie ein Thema des Textes geworden. Filme und Zitate spielen eine große Rolle, sie bilden eine Bedeutungsebene ab und dienen Joelle als Raum für einen Abgleich. Sie
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Stück Gespräch Sarah Kilter und Lars Werner Ligenist, optatur quam, interessant, unt voloreror si welche acernam ad quas re „Ich finde es ant extrem non con comnis dis as minullab ipsanist etumetu restium que ipit Rolle Gott und Religion angesichts des que sit a non endelligenda comnis dolupta tibus. Acillacillit labo. Klimawandels der damitberuntibus einhergehenden Nem anda ne ditemund nonse earcilitati accab ipit lacZerstörung ErdeNam, undipitint, kollektiven cusa ndebis sitader dit fuga. quossequi receatest qui consequam, quis enia sus eicitiunt, simintem volupta quatust as Vereinsamung spielen. Wird die Religion, alisqui aligende nam dit odis nobit atur? Ellabore et ari nitatisiwie bei ‚Daddy‘, in Zukunft als Krankheit num sunt qui reperat ureptatiam dis que nem rempori onsequo gelten?“ diciam, conem quatempore maio esequia nis molupta tusam, solorerupta cor aut volupta nobis et quiae. Et quod quo bla aliquost et fugia natint. Lor alitestis ra il modis pori te natiur? Caepero to ea voles aspe resequa sinctiis es dolliquiam, cus eum reste occus aboriorerunt ute res omnisto et occum quo elique pe et ditates bieten eine Folie, vordider ihre Einsamkeit stattfindet. Wen spricht rersperum ipsam dit, Referenzen in porias necus, das Stück mit seinen an? at moluptatem auditempore laut LW: il is nosam iur, sin num rerionsequas es solor venBeide leben ja plia in solchen Referenzwelten. Für rendi Tiga ist es 1 demp ostiaep rorerrum qui corere Religion und dieses Mukbanging . ant as escim quos eaque nonet pa nobist as et exerchi ligenet uta und consequis cus aut suntem SK: Ich bin ein Fernsehkind habe eben in volor meiner Kind di int. It Zeit aborro in rest ditiusc ienissunto ipist, suntotam, illorum heit viel beim Essen vor dem Fernseher verbracht, und diese quis dolorep et laUnd dolumquae prentor as Zeit war auchelecestis oft schön. ich stehenobita einfach selbstporrum auf Muk ipidempor veres inci dendis nos es doluptia perorerror ad bang, es hatarunte was seltsam Befriedigendes und natürlich gleichzeitig maiore mo Trauriges. officia quaspedi enis dolorit di as eine explit ad auch etwas Für Tigasum befriedigen dieseut Videos Sehn maior nach raescipsam consecabore nis niendant volorrum posucht einem Gegenüber während des Essens. Diesesrest Gegen remqu odipid doluptaque con excea simin rehentotaque über sucht sie quundae ja die ganze Zeit. non LW: plautDie es inum nditatiam, aut benutzt, eium audis alitiamet lacFilmeeicipie und Zitate, die Joelle sind ja vor allem catur? nonsectibus eumallgemein sitatur itiusant aut harchil die der Evellum späteren de Generation X und der Generation Y. laccaborion nim ium quid durch excestoreium dus. verkörpert Eliassunt lit quae Die Generationen werden den Vatbot und im doleste sus schon magnisangeklagt sus, sam,von si alia renda dolupicatem faText ja fast der sum Letzten Generation, die auf ceaqui Agnistoriam que Und nullabei solorum diesem invendi Planetenctibus. Abschied nehmen et muss. Joelle rernatur herrscht sunt consenimus nonseris denit quam voluptat. 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Und sicher gibt dolupta es auch quidempelia est, passende ut ma si ommos etur samet, simetur aruptatum Leute, die keine Vaterfigur haben und sich dann eine in estendit re soluptat quiajede cumPerson, a pe mos dolupta tuGott suchen, aber nicht die aligenimoles an Gott glaubt, hat eine rehen imporia spicips undeligent re doluptatibus rehendempore problematische Vaterbeziehung. ventinis dolorum aut autinteressant, exeria dit etwelche ut ducium, usandIch finde es extrem Rollecomniss Gott und Reli ios diangesichts berspis magnat utas debis endebitatus, temped utatqui aut gion des Klimawandels und der damit einhergehenden que parumqui mi, sequamu stibea dolum que audigent, voZerstörung derblabor Erde und kollektiven Vereinsamung spielen. Wird lor solupta ipsam, sit dias dem quis ilissit, die doluptis Religion,aut wie beialiquasitias „Daddy“, in Zu sit quatqui quatiunt, autae mil et lique nobit velestius earum kunft als Krankheit gelten?atem Oder wird 1 Muk-Bang, auch re qui nimus aut ommolec aboreculpa pratio et quia sequam que sie wichtiger, weil immer mehr Men Mok-Bang: nonseri onsecatusam earum fuga.etwas Natent autem quost, sus sich ilis schen brauchen, woran sie Internet-Trend seit 2009 aus magnien debitaes alia veliquam qui dolupta velit reria ad quatate festhalten können? So als letzter Stroh Südkorea,volorepuda bei dem periatenda voles niam, eum nitionsedit voluptatur a halm – wie wenn Menschen bei starken Menschen Videos volorrorrum volorec turemol upturita nonsequae omnia digentur? Turbulenzen im Flugzeug plötzlich hochladen, wie Gentiant ium et offic temolor audiazudolum nonseque es anfangen beten,quosti obwohl sie vorher sie essen. 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sandemped que vention sequibus nobis aliti natempoLW: Was ichessoerenihit patriarchal an der Welt in „Daddy” finde, ist rem velitaspel resequiat volupta doluptaqui dolupietur redieser Glaube, ipsame dass wir alles über Technologie geregelt bekom pedi sedi iur über simus, quistem Et debitat et fugit men. Psyche dievoluptatia App, Klima über reritae. die Anlagen und Glaube, la nit quam nonsequiat ipsus Magniat für. iostibea das ist ut eine Geistes-Krankheit, da illa gibtabo. es Tabletten Joelleseque wirft maioneste occuserkrankt untum nam dis sam faccaesequis aut qui ja Tiga vor, quost, an Glauben zu sein. Dabei ist irgendwann gar qui ipsame la dolore verit min et lam fuga. Equidunto quia quos nicht klar, ob die Anlagen funktionieren. Und vielleicht hat sich eos nosschon ditat. Eperiti cum vellatium inullest officabo. darum wieder, doloribuscia wie so ein Reflex, der Glaube in Tiga ein Oria sumweil natio andi utageahnt delles dolorum qui genistet, siemagnis unterbewusst hat, dasssitas ebenquunt dieserqui Tech queullor arunt odis inimpore um consent. Volorehent, autdie et nologieapparat nichtelausreicht, die Welt zu retten.esent Sie ist facipsant praturdiemolectorum ressimaxim quatusanis est Einzige imdolut Flugzeug, schon weiß,esdass es abstürzen wird, und ut occupta pe nossunt, nobit voloritibus molo mo tem facesendi fängt vor allen anderen an zu beten. T dolenit, volorati undis ellesciendi quas qui doluptas et voluptas quos remquat iorepudio volupta tioressectem fuga. Et ullestrum vernati usandae prectatus restem cus nonet am laccus porecaerunt aut arum qui reperum essi anihil mod molorum ipidebis doluptur aspercimus rero quisto test fugiam fugitas nostoribusam cus au pore nonsequat asimaximpore nest porerum excea veribus idus. Unt faccab idignim es et, incitet is et odipsa dessed ut endi volecum volupta erfersped mossiti aturerferum dolendelibus rerum hitasse plit laut ut escipissum aligeni tempori beaqui commolupicae plibere cullor arunt odis el inimpore consent. Volorehent, esent aut et facipsant dolut pratur molectorum es ressimaxim quaSarah Kilter wurde 1994 in Berlin geboren. Von tusanis est 2016 ut occupta nossunt, voloritibus bis 2020pe studierte sie nobit Szenisches Schrei- molo mo tem facesendi dolenit, volorati undis ben an der Universität der ellesciendi Künste Berlinquas (UdK)qui doluptas et und volupta holte parallel ihr Abitur an der Abendschule voluptas quos fuga. nach. Seit ihrem Abschluss an der UdKrestem Anfang cus nonet am Et ullestrum vernati usandae prectatus 2020 arbeitet sie als freiberufliche Autorin für laccus porecaerunt aut arum qui reperum essi anihil mod moloTheater und Hörspiel sowie als Drehbuchautorin rum ipidebis aspercimus rero quisto „White test fugiam fugitas für doluptur Film und Fernsehen. Ihr Theaterstück nostoribusam cus aut officiusda nimi, ut apedige ndenda exces eos Passing” ist eines von drei Gewinnerstücken der Autor:innentheatertage 2021 und wurde audi blam Berliner res seque pre, odistius dit quosti alignisqui imus min der Regie von Thirza Bruncken am Deutschen cusam, quein nos pla erferit entiis exceation comnimus, sam quaTheater Berlin uraufgeführt. Zudem wurde sie tam, quo blaborp iantumfür exden expe ipsandelit, sitempo 2022 mitorundit „White Passing” 47.pro Mülheimer reheniet quiDramatikpreis blabo. Ita qui omnietur a dolupta exerovid quae liciist nominiert. In der Kritikerumfrage der Zeitschrift heute wurde Sarah Kilter lat lat minctae sed es autTheater volo isquiaero moditat ut porro minim re Nachwuchsdramatikerin 2022 gekürt. Seit conem. Et ario excea conetzur reiumquiam harcips anducim usaestia November 2022 ist die Serie „Lamia” in der que rent odARD-Mediathek quaturi tem evenihit fuga. Nem et quia volum volore zu sehen, deren gesamte erste doluptatur,Staffel simagnit anim acium quid maximusam ausgehend von Sarah Kilters Idee ent- que nobisi viwickelt und von ihr aut geschrieben wurde. dellest quiatisqui doluptur et res mintiuntur sus iliquid eium nis inihit, imus. Lit omnimpo rionestius disquas iducias eos aut aboritatum que nos am resequias ad quibusc iaspicae nis doluptat. Lars Werner (*1988 et in Dresden) Autor mehreDeniaecte omnissi nvellaut hillestio ist conecul laborum quia vorer Theaterstücke und Hörspiele. Er studierte u. a. luptate experunde is que corenim agnam, eumquamentum rest is Medienkunst an der Hochschule für Grafik und dolupit atistot asinissimi, quam eos quam est, officia spelitas aciBuchkunst Leipzig und Szenisches Schreiben ust ventur aliquodis essumder quundi an der Universität Künsteinimi, Berlin.siminihit Von 2009liquaspide enti venim fugiabisdernatquis dolorporum quidie conserupicae 2012 co-leitete er in Leipzig Kunsträume nobit ut lam Goldener Buergersteig und id nullunendlich. 2017 natest restiaad quaspedis ea dolor si blam aut que volupitam gründete Werner das Berliner Ringtheater und tustis sequi doluptas netur auda voluptas que voluptati cus et enis ist seitdem Teil der Kollektiven Leitung. 2018 expe sitat vellesci oritae non für nisquisi sum eic tendeliam, erhielt ersendunt den Kleistförderpreis sein Stück que nosa volorro pordas autdas quias eossita sperupt atessumendes „Weißercon Raum“, Erstarken rechter Bewedas Alfreddoluptur? gungen Bo. Rothematisiert. velestorest2019 eumerhielt antoeridem dolutem poreroria Döblin-Stipendium der Akademie der Künste, comnimo dipiend ipictur? Digenias as non et laborae con nulla Berlin. Mit „Ohne Ende Gegenwart“ präsentierte quid qui comnisim aut am et et deligen delique porum nisi blab er 2022 am TD Berlin seine erste Regie-Arbeit. int ut apeditatem quiae volorro beatios doloribus in enIm April eossequid 2023 erscheint sein Debütroman „Zwidis Ligenist, optatur ant quam, unt voloreror si acernam ad quas schen den Dörfern auf hundert“ bei Albino.
Theater der Zeit 2 / 2023
Theater der Zeit
Stück
„Daddy“ Sarah Kilter und Lars Werner
Figuren Joelle Vatbot Mombot Hippie Helikopter-Pilot Tiga Zentrale
Orte Island/Berlin
Zeit Die nahe Zukunft
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Stück Sarah Kilter und Lars Werner
Prolog Joelle in ihrem Zuhause. Sie wählt eine Nummer, nach einigen Freizeichen ertönt die Ansage.
J
ZENTRALE Hallo Weltretter:in, schön, dass du anrufst. Willst auch du Teil unserer Weltrettung sein und für eine von europaweit rund 30.000 CO2-AwayTM-Absauganlagen arbeiten? Wir bieten flache Hierarchien, eine Plastik-Away© Tablette pro Tag und noch vieles vieles mehr. Interes se? Dann drücke die 1. Bist du bereits Weltretter:in und hast eine Frage bezüglich deines bestehenden Arbeitsverhältnisses mit CO2-AwayTM, dann schreibe bitte eine Mail an: CO2-AwayTM -Weltretter:innen.eu Joelle drückt die Taste 1. ZENTRALE Herzlichen Glückwunsch! Du hast die 1 gedrückt und damit den ersten Schritt in Richtung Weltrettung gemacht. Um dich ein bisschen besser kennenzulernen, bitten wir dich, an unserem 1-minütigen Bewer bungsprozess teilzunehmen. Nenne uns dazu bitte zunächst deinen voll ständigen Namen. JOELLE Joelle Sprengel. ZENTRALE Hallo Joelle, schön dich kennenzulernen. Was sind deine Stärken? Nenne dazu bitte 3 Adjektive. JOELLE zu sich Wie nennt man das, wenn man gut alleine arbeiten kann? (ins Telefon) Selbständig! Ehrgeizig. Ausdauernd. ZENTRALE Sehr gut. Wir brauchen Leute, die – Aufnahme von Joelle wird abgespielt –„selbständig, ehrgeizig, ausdauernd“ sind. Verfügst du über einen Hochschulabschluss, dann drücke bitte die 1. Joelle drückt die 1. ZENTRALE Toll. Du gefällst uns. Übrigens: Mit einem Hochschul abschluss steht dir bei CO2-AwayTM 30 Prozent mehr Gehalt zu. Zum Abschluss möchten wir dir noch eine letzte Frage stellen. Diese dient dazu, dich der zu dir passenden CO2-AwayTM-Anlage zuzuordnen. Drücke die 1, wenn du dich selber eher als zielorientiert beschreiben würdest oder drücke die 2, wenn du dich selber eher als prozessorientiert beschreiben würdest. Für weitere Optionen drücke die 3.
Joelle drückt nach einem Moment Zögern die 2. ZENTRALE Vielen Dank. Könntest du dir vorstellen kurzfristig unsere 2-tägige Schulung zu absolvieren und dann schon zum nächsten Ersten des Monats bei CO2-AwayTM anzufangen? Dann drücke die 1. Für weitere Optionen drücke die 3. JOELLE drückt die 1. © rua. Kooperative für Text und Regie für Sarah Kilter © Hartmann & Stauffacher für Lars Werner Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.
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ZENTRALE Wir freuen uns. Herzlich willkommen im Team von CO2AwayTM, Joelle.
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Stück „Daddy“
1. Ankünfte 1.1 Tigas Ankunft Einige Monate vorher. Tiga läuft durch die CO2-AwayTMAnlage, sie ist aufgewühlt, auf der Suche nach etwas. Schließlich findet sie einen Rechner und wählt sich ein. Ein freundliches K.I.-Gesicht erscheint auf dem Monitor. ZENTRALE Herzlich willkommen, neuestes Mitglied der CO2-AwayTMEarth-Saving-Community. Dieser Bereich dient deinen persönlichen Gedanken und Beobachtungen. Nutze den Video-Log für Gedanken und Notizen, fühl dich wohl und geborgen. Mit unserer App kannst du dies auch direkt auf deinem Telefon tun, während du deinen täglichen Auf gaben nachgehst. Und wenn mal etwas besonders wichtig erscheint, dann sende deine Gedanken einfach direkt mit unserem cloud-service an die Zentrale. Streng vertraulich und anonym versteht sich. Probiere es doch gleich mal aus. Tiga startet die App am Telefon und öffnet den Videolog und geht weiter in der Anlage umher. TIGA Island, Dienstag, 01. Mai 2034 Ich bin Tiga Lünar, geboren am 22. April 2003 in Bad Passgenheim und das ist mein allererster Logbucheintrag: Es ist verrückt. Bis gestern noch habe ich an meinem Computer in Bad Passgenheim die Schulung von CO2AwayTM absolviert und heute schon steige ich aus diesem Helikopter und stehe zum ersten Mal in meinem Leben mit beiden Beinen fest auf islän dischem Boden. Als der Helikopter wieder abhebt – ohne mich – laufen mir die Tränen runter. Ich habe gar nicht gewusst, dass man mit Anfang 30 schon so berührt sein kann von Natur. Ich dachte, sowas kommt erst sehr viel später, wenn man eben etwas mehr schon seine Endlichkeit be griffen hat. Nach nicht mal einer Minute meines neuen Lebens auf dieser menschenleeren Insel berührt mich irgendwas und ich kann mich nicht dagegen wehren.
1.2 Im Helikopter Gegenwart. Joelle sitzt hinten in einem Helikopter, sie trägt riesige Kopfhörer. Vorne sitzt der Pilot. JOELLE (über Funk zum Piloten) Ist es die Insel da?
dert Meter hohe Flutwelle rast auf die Beiden zu. Cut. Die Tochter drückt ihr Gesicht an den Hals des Vaters, als die Welle auf sie zukommt. Ernst und entschlossen schaut er dem herannahenden Tod entgegen. „Daddy“, ruft sie. Es ist ihr letztes Wort. Die Welle erreicht das Land. VATBOT Warum erzählst du mir das? JOELLE Etwa 35 Millionen Menschen weltweit haben gesehen, wie Jenny Lerner Daddy sagt. Das ist das Hundertfache der ehemaligen Einwohner Islands. Die haben alle mitgezittert, haben ergriffen Daddy geflüstert. VATBOT Und? JOELLE Vielleicht war Daddy auch Jenny Lerners erstes Wort, als Baby. Vor der großen Entfremdung, die dann unweigerlich folgte. Bei der aus Daddy irgendwann Dad wurde und schließlich sogar das schon fast religiö se Father. Aber 35 Millionen Menschen haben gesehen, wie der unzugäng liche, traurige, bärtige Mann am Ende wieder Daddy war. Wie das Leben dieser Topjournalistin einen Kreis geschlossen hat, wie Daddy der Beginn war und das Ende wurde. Der Erzeuger der Welt, der Zerstörer. Der Deep Impact, das ist nicht der Kometeneinschlag, das ist der Eindruck, den der Vater hinterlässt.
1.3 Tigas Videolog Einige Monate vorher, Tiga am Fenster ihres Quartiers. TIGA Island, Montag, 14. Mai 2034 Hier ist es recht spartanisch. Aber so langsam gewöhne ich mich dran. Ein Bett, 90 cm mal 200 cm. Wenn man es hochklappt und rechts und links einrasten lässt, hat man einen Schreibtisch. Wie ich es erwartet habe. Hier geht es um die Sache und nicht um das Ambiente. Aber diese Stille… Fast seit einem Monat bin ich jetzt schon hier in dieser Stille gefangen. Ich bin vorhin durch die menschenleere Straße von Eyjolfsstadir gestapft. Durch die Fenster konnte ich in die Häuser sehen. Und es sah manchmal fast so aus, als würden die Familien jeden Moment wieder zu rückkommen, als wären sie nur kurz verschwunden. Aber so sah es eben nur aus. Auf dem Rückweg bin ich an einer Kirche vorbeigekommen. Ich habe sie nicht betreten, mein Ehrenwort. Auch, wenn es mich einiges an Disziplin gekostet hat. Aber die Gefahr mich mit Glauben anzustecken war mir dann doch einfach zu groß.
PILOT (über Funk) Das ist Island, genau! JOELLE (widmet sich ihrem Smartphone) Auf dem Weg nach Island in einem Helikopter – zusammen mit meinem Vater. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ins Smartphone: Vati? VATBOT Ja? JOELLE Ich musste gerade an eine Szene aus dem Katastrophenfilm „Deep Impact“ denken. Da fährt die Enthüllungsjournalistin Jenny Lerner zu ihrem entfremdeten Vater, um mit ihm zu sterben. Der Komet stürzt auf die Erde und eine hun
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1.4 Wieder im Helikopter Gegenwart, Joelle spricht weiter ins Smartphone. VATBOT Es ist doch gar kein schlechtes Bild, das mit dem Vater und der Welle. Du könntest einmal, nur als Übung, auch mir diesen Platz in deinem Leben einräumen. JOELLE Willst du auch mit mir auf eine herannahende Todeswelle schauen, Daddy?
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Stück Sarah Kilter und Lars Werner VATBOT So war das nicht – Du machst dir zu viele Gedanken. Wir könn ten hier im Helikopter sitzen und die Luft genießen, diesen Ausblick auf die Fjorde. JOELLE Ich sehe die Welle und denke an den Moment, nach dem sie ein trifft, Daddy. Mit der Wucht eines Flugzeuges erreichen dich die Wasser massen und zerschmettern dich. Nein. Dein Herz bleibt stehen, denn es hält das nicht aus. Nein. Aus einem unerfindlichen Grund überlebst du die ersten zehn Sekunden. Eine Landmasse hat sich erhoben und unter ihrem Kamm stehen wir und spüren noch panische drei Sekunden EINFACH ALLES. Weil. Der Übergang ins Nichts ist nicht sanft, oder Daddy? VATBOT Nenn mich nicht so. JOELLE Gut. Beat. Vati, wie ist der Übergang ins Black? PILOT Wir setzen jetzt zur Landung an, bitte alle elektronischen Geräte ausschalten. JOELLE Natürlich. Connectify, speichere den aktuellen Stand von Vatbot und fahre fürs nächste Mal die Kommunikationsfreudigkeit etwas höher, das Narzissmuslevel bei Stufe 50 um etwas Melancholie erweitern. Dann haben wir es. Das ist mein Vater.
1.5 Tigas Videolog
wenige.“ Und da weiß ich schon, in welche Richtung das Gespräch gehen wird. Frau Vogel will mich behalten. Sie will mir die Einliegerwohnung auf ihrem Hof anbieten. Ich, also Teenage-Tiga, renne in diesem Traum raus auf den Hof. Frau Vogel mir hinterher. Tiga rollt wieder hervor. Drückt auf zwei Knöpfe am Tank. Wischt sich die Hände mit einem Lappen ab. Nimmt das Smartphone wieder in die Hand. TIGA Ich finde mich wieder, wie ich mich in einem Jostabeerenstrauch ver fangen habe. Das ist eine Kreuzung aus Johannes- und Stachelbeere. Ich ver suche verzweifelt dem Jostabeerenstrauch, Bad Passgenheim und der Ein liegerwohnung zu entkommen. Aber Frau Vogel knipst und schneidet mir unentwegt den Weg mit ihrer Gartenschere ab, während sie verzweifelt für Regen betet und die Jostabeerensträuche mit Pestiziden besprüht. Ich drehe mich um und versuche in eine andere Richtung zu fliehen, aber auch diesen Alternativweg gibt es nicht mehr, weil Frau Vogel mir auch diesen mit ihrer Gartenschere abgeschnitten hat. Dann bin ich aufgewacht und war wieder in der Realität. „Quit praying and get the people moving“ war von diesem Tag an mein Motto, weil ich mit aller Macht das Gegenteil von Frau Vogel sein wollte. Erst heute weiß ich, dass Frau Vogel mit einer sehr schweren Variante des Glaubens infiziert war. Und es ist wohl nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass ich mich nicht bei ihr angesteckt habe.
1.6 Joelles Ankunft Gegenwart, Island. Helikopter ist gelandet. PILOT E-Hel-30 an Zentrale, die Neue ist gelandet. ZENTRALE (über Funk) Verstanden, over.
Einige Monate vorher. Tiga filmt sich neben einem Tank. TIGA Island, Montag, 30. Juli 2035 Ich hatte wieder diesen Traum aus meiner Jugend. Damals habe ich in meiner Heimat in Bad Passgenheim unserer Nachbarin Frau Vogel immer einmal im Jahr bei der Apfelernte geholfen, um mir in den Ferien etwas dazuzuverdienen. Mit den gesammelten Äpfeln bin ich dann immer ge meinsam mit Frau Vogel in die Küche und wir haben dann begonnen die Äpfel zu waschen und zu verarbeiten, um sie anschließend zu Kompott einzukochen. Sie stellt das Smartphone ab, sodass sie im Bild bleibt und schraubt am Tank herum.
PILOT Dann mal raus mit Ihnen. Und – hey, ich bin nur der Pilot. Aber wissen Sie was: Ich glaube, ich kann für die ganze Menschheit sprechen, wenn ich sage: Danke, dass Sie diese Anlage betreuen. Ich weiß, es ist ein einsamer Service diese voll automatisierten Anlagen zu überwachen, aber goddamn: Dank euren Ein sätzen können wir beruhigt atmen und unsere Kinder in die Welt schicken. Machen Sie's gut! JOELLE Was ist, wenn ich Fragen habe, oder Hilfe brauche? PILOT Nein, really, danke und alles Gute – JOELLE Hey – ich meine – ist denn hier sonst niemand?
TIGA Und in meinem Traum steht Frau Vogel wie sooft gelähmt-untätig und verzweifelt mit ihrer Gartenschere in der Hand neben mir und starrt aus dem Küchenfenster auf das Feld mit den Apfelbäumen; betont immer wieder, wie trocken es ist und wie dringend wir Regen bräuchten.
Der Helikopter hebt ab.
1.7 Tigas Videolog
Der Gastank lässt etwas Gas ab. Tiga schaut ihn zufrieden an, und steigt auf ein Rollbrett, um damit unter den Tank zu fahren.
Einige Monate vorher. Tiga liegt siechend im Bett.
TIGA Im Traum stößt Frau Vogel mir dann plötzlich seltsam liebevoll in die Rippen und meint: „Du scheinst eines dieser extrem heimatverbunde nen Kinder zu sein. Das sind mir die liebsten aber davon gibt es nur sehr
TIGA Island, Freitag, 17. August 2035 Ich bin krank. So richtig. Fieber, Kotzen und zeitweise Schüttelfrost im Nirgendwo. Bis heute wusste ich nicht mal, was Schüttelfrost ist.
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Stück „Daddy“ Ich kannte das nur aus Erzählungen. Das ist ja die Hölle. Klar steht im Arbeitsvertrag, dass ich für solche Fälle abgesichert bin, dass man sich um mich kümmert im Notfall. Also rufe ich in einem Moment ohne Würgereiz bei meinem Arbeitgeber an. Der Arbeitgeber verweist mich auf einen Freischaltcode. Ich sage, den habe ich nicht. Der Arbeitgeber aber könne mir ohne Freischaltcode nicht weiterhelfen, ich könnte ja jede oder jeder sein. Ich sage, ich könnte auf Videotelefonie umschalten, um zu beweisen, dass ich ich bin. Mein Arbeitgeber sagt, dass das we gen des Datenschutzes nicht geht. Ich sage, ja, aber es sind doch meine Daten und ich gebe hiermit offiziell diese Videotelefonie-Daten oder was auch immer frei. Ich sage, Tiga Lünar. Ich sage am 22.04.2003, in Bad Passgenheim, Deutschland, EU. Mein Arbeitgeber wiederholt sich. Ich sag, dass mir das jetzt egal ist. Ich widersetze mich und schalte auf Vi deotelefonie. Auf dem Bildschirm ist zu sehen, wie ich vollgekotzt auf den weißen Fliesen des Badezimmerbodens meines Quartiers kauere. Mein Arbeitgeber legt auf.
1.8 Weg zur Anlage Gegenwart. Joelle steht allein in der isländischen Landschaft. JOELLE (innen) Na schön. Endlich allein. So wollte ich es ja. Island. Verlassen seit 2026. Alleiner geht nicht. Nur noch Erinnerungen, die im Nebel der dampfenden Geysire wie hineinprojizierte Stroboskope aufflackern.
VATBOT Schon wieder steht ein Vater neben seinem Kind, schon wieder auf einer Klippe – JOELLE Aber in Deep Impact liegt vor ihnen das gemeinsame Ende. In König der Löwen die ganze Zukunft. Und sie wird nur einen von ihnen töten. VATBOT Und wie sieht deine Zukunft aus? JOELLE Vor mir erstreckt sich eine Grasebene, so groß und weit, dass der Blick ins Straucheln gerät, sich überschlägt und in den viel zu großen Him mel fällt. Im Zentrum, gleich neben dem riesigen, eiskaltblauen See ist sie: Die erste C02-Absauganlage ever. Von hier aus begann die Weltrettung. Fünf containergroße im Rechteck angeordnete Metallgatter, mit jalousie artigen Schirmen auf der einen Seite und 24 Ventilatoren in zwei Reihen auf der anderen. Quasi eine gute Air-Conditioning-Anlage, nur dass die Luft nicht in Räume geleitet wird, sondern einfach hinten rauskommt, vom CO2 gereinigt, das an den revolutionären Filtern hängen bleibt, die zwischen Ventilatoren und Jalousien liegen. Und eine Vielzahl gusseiserne Röhren führt von den Filtern in den Erdboden, einige sind auch mit drei Flachbauten verbunden. Eines davon ist mein Quartier. VATBOT Ich frage mich nur, wenn man die Welt so sehr meidet wie du, warum will man sie dann retten? JOELLE Weil in Frozen Elsa auch erst einmal in den Eispalast muss, um zurückzukommen.
Sie läuft ein Stück. Sehr isländischer Wind heult. VATBOT Tut mir leid, ich verstehe nicht. JOELLE Die sollte doch hier gleich sein. Der hat mich doch nicht so ab gesetzt, dass ich noch ewig weit laufen muss. Also hinter diesem Hügel sollte sie – – Ja! Das ist sie.
JOELLE Ich bin müde. Habe ich den Moment ausreichend geteilt? VATBOT Gute Nacht, Joelle. Vergiss nicht, was du heute träumst, passiert.
Gedämpft aus Hosentasche: VATBOT Ich spüre eine erhöhte Herzfrequenz.
1.9 Tigas Videolog
JOELLE Hä? Ich hab das doch ausgeschaltet.
Einige Monate früher. Tiga noch immer im Fieber.
VATBOT Es ist ratsam wichtige Momente mit der App zu teilen, damit dein Persönlichkeitsprofil feinjustiert und auf das deiner Verwandten avatare abgestimmt werden kann.
TIGA Und dann ist da was. Ein Lichtblick. Ich meine, es ist ja eh hell. Taghell ist es. Aber da ist trotzdem ein Licht. Ein Extralicht. Ein Licht im Licht. Etwas hinter mir, etwas in mir, etwas um mich herum und ich kann mich nicht mehr dagegen wehren. Plötzlich sehe ich den Überbau meiner Situation und alles wird mit einem Mal viel erträglicher, weil da so ein Vertrauen, so eine Zuversicht in mir ist. Und das ist komisch, denn eigentlich bin ich eine moderne, stabile, unabhängige, aufgeklärte und vor allem agnostische Europäerin. Aber als ich mir dann in der Pantryküche einen Tee mache und mich schließlich selbst der Spruch, der auf dem Etikett des Teebeutels steht, emotionali siert, muss ich mir eingestehen, dass – seitdem ich auf Island bin, in dieser Einsamkeit und Natur gefangen – eine Überzeugung in mir keimt und ich immer mehr von diesem Vater, diesem Übervater, eingenommen werde und schließlich leise und schüchtern beginne mit ihm zu sprechen.
Sie holt das Telefon aus der Tasche. JOELLE Na schön. Pause. Ich habe hier gerade so einen König der Löwen Moment. VATBOT Ich hab den Film nicht gesehen. JOELLE Doch, den haben wir zusammen gesehen. VATBOT Rekalibriere. Pause. Meinst du den Moment, als sie auf dem Stein stehen und auf diese Landschaft schauen und er zu seinem Sohn sagt: JOELLE Eines Tages wird all dies dir gehören. Genau.
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Stück Sarah Kilter und Lars Werner
2. Berlin / Island 2.1 Chores
Tiga geht es sichtlich besser. Sie ist in einem anderen Quartier, durch die Fenster scheint das Licht eines Berliner Herbstes.
Die Anlage auf Island liegt noch im Dunkeln. Auch im Quartier von Joelle ist es noch dunkel. Dann springen auf einmal alle Leuchtstoffröhren an. Eine nervtötend fröhliche Guten-Morgen-Melodie ertönt und auf dem Bildschirm über Joelles Bett erscheint das freundliche Zentrale-Gesicht.
TIGA Berlin, Montag, 01. November 2035 CO2-Absaug-Station 43 B, die beliebteste der Stadt. Hier will jeder woh nen. Aber gute Luft kostet.
ZENTRALE Einen wunderbaren Earthsaving Morgen liebes Personal der CO2-AwayTM–Island. Auch heute wieder wartet die spannende Tätigkeit der Erdenrettung auf dich. JOELLE wälzt sich im Bett, stöhnt Geht das nicht leiser? Kommt das je den Morgen? ZENTRALE Aufgewacht und angefangen. JOELLE Als erstes: Anlage auf Fehler überprüfen und Verbesserungsvor schläge an die Zentrale schicken – I know! Meine Güte, ich brauch erstmal einen Kaffee.
2.2 Tigas Berliner Vlog
Sie öffnet das Fenster ihres Quartiers und atmet. TIGA Und die Luft hier am Hauptbahnhof, die ist nicht gut. Die ist fan tastisch. Vor Kurzem wurde das Gebiet hier mit dem Prädikat Kurort ausgezeichnet. Die Anlage ist hochmodern und kaum zu hören, auch bei extremen Belastungen. Jährlich kommen mehrere Millionen Menschen als Gesundheitstouristen hierher. Es ist alles vollkommen anders als in der alten Anlage. Nichts erinnert mich an Island. Es klingelt an der Tür. Sie rennt hin und öffnet sie. Nimmt ein Paket entgegen.
ZENTRALE Pumpenrelais 43 a muss lackiert werden.
TIGA Mein Essen ist da. Natürlich in zertifizierter Umweltverpackung. Nur der Egoist spart die 3 Euro und isst aus Plastikmüll. Trotzdem nehme ich zur Sicherheit vor dem Essen eine Plastik-Away©-Tablette. Die Sache an Mikroplastik ist ja nun mal die, dass es überall ist, auch wenn man es nicht sehen kann. Beim Essen nehme ich mir Zeit. 30 Minuten konzentriere ich mich nur auf mein „Healthy Lunch Jar“ …
JOELLE Ja easy, den Knopf dafür drücke ich später.
Sie öffnet ein Browserfenster an ihrem Rechner.
ZENTRALE Schleusengewinde C braucht dringend Öl.
ZENTRALE Der Druck in den Tanks ist stabil.
TIGA …und schaue währenddessen meiner Lieblings-Mukbangerin aus meiner Jugend – Chris Pycoated – zu, wie sie in derselben Zeit 3 Buckets voller frittierter Hähnchenteile isst. Das ist mein Ritual seit meiner Jugend und da halte ich dran fest. Das sind 30 Minuten nur für mich. Da will ich nicht gestört werden.
JOELLE Na, immerhin –
Tiga isst.
ZENTRALE Aktuelle Probleme – JOELLE Was? Schon?
JOELLE Ich auch!
ZENTRALE Das CO2 wird vier Kubikzentimeter pro Sekunde in die tieferen Basaltschichten gepumpt. Korrigiere – aktuell 4 ½ Kubik. Druck steigend. Unmittelbare Implosion der Infusionsanlage steht bevor. Druck bei 4 ¾ Kubik. Druck steigend. Unmittelbare – JOELLE Was? Oh Fuck fuck fuck – welcher Knopf ist das? Sie rennt los. Macht eine Klappe auf. Nimmt ein Buch. Blättert hastig. JOELLE Ok, Seite 44 war das – oder – bestimmt – Ja hier – Druck – Druck in Abluftbehälter, Basaltmischanlage, Hohlkammerausgleichsturbine, Infu sionsanlage! Kann nur manuell geregelt werden? Im Pumpenhaus – Was? Du verfluchtes veraltetes – Das ist vierhundert Meter weit weg. Sie öffnet eine Tür. Eisiger Wind schlägt ihr entgegen. JOELLE schreit Ja super – Hallo Wind. Hallo Anlage! Hallo Island! Hallo du fester werdendes Gestein unter mir. Hallo du fester, dichter, geretteter Planet. Hallo Morgenjogging zum Pumpenhaus. Sie joggt los.
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2.3 Freizeitpflicht Joelle steht schwitzend aber zufrieden in der Anlage. Um sie herum leuchten alle Lampen beruhigend grün. ZENTRALE Vielen Dank. Auch an deinem 40. Tag in Folge ist die Anlage wieder stabil. Nimm deine Plastik-Away©– Tablette und dann genieße deine Freizeit. Joelle seufzt. JOELLE Freizeit im Nichts. Es bleibt nur Joggen oder Schauen. Oder – Walken. Oder in heißen Quellen baden? Zu gefährlich. Am Ende will man nicht mehr raus. Sie geht hinaus in die Natur. Dort: Fließende Bäche. Vogelzwitschern. Wind, der säuselt und Vulkane, die dampfen.
Theater der Zeit 2 / 2023
Stück „Daddy“ JOELLE Meine Güte. Es ist so – so nervenraubend schön hier – wie auf einem anderen Planeten. Sie schaltet ihr Smartphone ein. JOELLE Hallo Vati. Pause. Besonders originell ist das nicht, oder? Viele Menschen stellen sich fremde Planeten wie Island vor. Einfach weil hier sehr viele Science-Fiction-Filme gedreht werden. VATBOT Wo sind eigentlich alle? JOELLE Die Menschen hier sind weg, seit die Anlage da ist. Irgendwas daran hat die Isländer:innen gestört.
einem alten Mukbang zum nächsten geklickt. Hängengeblieben bin ich dann bei einem Mukbanger, der in 33 Minuten 2 Becher Vanilleeis mit Fudge Brownies, eine Portion Tiramisu, einen Kuchen in Form eines Turnschuhs und einen Bubble Tea vernichtet – aber irgendwie trotz dem ästhetisch und appetitlich. Und natürlich hat es auch diesmal ge holfen. Aber ohne diese Videos auf meiner externen Festplatte nimmt mich nicht nur der Gedanke an die Gaunerzinken an der Tür wieder ein, sondern auch der Gedanken an diesen Vater – der Überbau von allem – überkommt mich erneut. Und meine ganze Kraft geht eigentlich nur dafür drauf, mich dagegen zu wehren. Weil das ja nun mal krankhaft ist. Es hilft nichts. Ich brauche eine Antwort. Ich mache mich auf den Weg zur nächsten Drogerie und hole mir einen Schnelltest. In 15 Minuten habe ich Gewissheit.
VATBOT Vielleicht hat es niemand gern, wenn das Übel aus der Luft in ein Übel tief in der Erde verwandelt wird.
2.5 Turn it on and off again
Pause.
Joelle steht horchend in der Landschaft. JOELLE Vati, ich denke gerade an den dritten Teil der rebooteten Star Trek Filme, Star Trek Beyond von 2017. Die Crew strandet auf einem fremden Planeten, Island nicht unähnlich. Sie entdecken eine Alienrasse. Aber am Ende stellt sich heraus, dass es eigentlich Menschen sind, die von der Natur auf dem Planeten extrem verändert wurden, statt umgekehrt. Das ist etwas, das wir uns als Spezies nie eingeräumt haben.
VATBOT Was ist denn? JOELLE Hörst du das nicht? VATBOT Ich höre nichts.
VATBOT Der aufrechte Gang hat sich entwickelt, weil wir nach den Ster nen gewandert sind und immerzu hochschauen mussten.
JOELLE Eben – normalerweise ist da immer dieses Brummen. Von den Ventilatoren der Anlage.
JOELLE Es gibt Millionen schöne Landschaften überall im Weltraum und niemand, der sie betrachtet und das macht mich manchmal sehr traurig und dann irgendwie auch nicht, wenn ich Island gerade so sehe. Eine Land schaft, die wieder unbetrachtet bleibt. Niemand, der sie verändern will.
Sie läuft rasch weiter.
VATBOT Du veränderst sie mit deiner Anlage.
JOELLE Tatsächlich, sie stehen still. Obwohl die Anlage komplett gewar tet ist. Ich muss das ins Logbuch eintragen. Alle ungewöhnlichen Vor kommnisse müssen da rein. Connectify, bitte beende das Gespräch und speichere den aktuellen Stand.
JOELLE Connectify, fahre das Widerspruchs-Level mal auf 40 Prozent zurück.
Sie erreicht die Anlage. Schließt eine Tür auf und kommt zum Hauptrechner-Terminal.
VATBOT Klingt irgendwie alles total schön, was du da sagst.
JOELLE Ok, wie log ich mich in dieses Logbuch. Sie tippt. Okay. Ich muss den Account erstmal anlegen.
JOELLE Klar, du würdest das Walken lieben – Erschrickt: – warte – was ist das?!
2.4 Tigas Berliner Vlog
Sie tippt. JOELLE (stutzt) Hier sind ganz viele Videos gespeichert?! Tiga Lünar? Sie spielt ein Videolog ab.
Bei Tiga ist schon wieder alles im Argen. TIGA Berlin, Donnerstag, 10. Dezember 2035 Hier stimmt was ganz gewaltig nicht. Immer wieder dieselben seltsa men Gestalten vor meinem Fenster. Gestern Nacht hatte ich das Gefühl, dass sich jemand an der Tür zu schaffen macht. Und was sehe ich heu te bemüht diskret an der Tür meines Quartiers? Gaunerzinken! Sowas beeinflusst einen ja. Sowas macht ja unruhig. Es ist ja offensichtlich, dass die Anlage und damit auch ich ausgekundschaftet werden. Sowas macht ja Angst. Dann braucht man ja ein Ventil. Ich habe mich von
Theater der Zeit 2 / 2023
TIGAS VIDEOLOG (alte Aufnahme von ihr wird abgespielt) … muss ich mir eingestehen, dass seitdem ich auf Island bin, in dieser Einsamkeit und Natur gefangen, eine Überzeugung in mir keimt und ich immer mehr von diesem Vater, diesem Übervater, eingenommen werde und leise und schüchtern beginne mit ihm zu sprechen. JOELLE Oh – die – die betet ja. Pause. Das ist mir echt zu privat. Sie klickt einen weiteren File an.
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Stück Sarah Kilter und Lars Werner TIGAS VIDEOLOG Sirenen! Eine plötzliche wellenartige Dauerbeschal lung dieses schrillen auf- und abschwellenden Heultons. Und dann Black out. Ich bin gelähmt in diesem Nichts-zu-sehen-und-nichts-zu-hörenSchaltraum. Da ist nur noch blanke Panik. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich da irgendwas im Schaltraum versteckt und nur darauf wartet, mir ein Bein stellen zu können oder mich jeden Moment kurz provozierend, beiläufig berühren könnte. Vielleicht sind das ja die isländischen Elfen. Vielleicht gibt es die ja wirklich. Aber als er wieder mit seiner Lichtquel le auftaucht und ich mich durch seine Hilfe im Schaltraum zurechtfinde, schaffe ich es die Anlage wieder zum Laufen zu bringen.
TIGA Oh, nicht jetzt. Ausgerechnet an der besten Stelle. Tiga pausiert das Video mit einem Klick, kaut auf und schluckt. Hallo, Berlin-Station hier. Können Sie mich hören? Over. JOELLE Hi, hi – sorry, ich hab so ein Funkding noch nie. Ah jetzt – ja hi, Tiga, richtig? Joelle Sprengel. Islandstation. Over. TIGA Ja, hallo. Richtig, ich bin Tiga. Was ist denn? Over. JOELLE Hi, du musst dich ausloggen. Over.
JOELLE Was ist mit ihr passiert? Ich sollte das wirklich nicht anschauen. Sie klickt weiter. TIGAS VIDEOLOG Heute kam die Nachricht, dass ich versetzt werde im Rahmen der europäischen Rotation – nach Berlin. Keine Versetzung im Sinne von „ich habe was falsch gemacht, und die wollen mich los werden, weil irgendwas an mir untragbar geworden ist“. Absolut nicht. Die reißen sich um mich. Die wissen, was die an mir haben. Mein psy chologisches Gutachten ist tipptopp. Und das muss auch so bleiben. Denn ich hänge an meinem Job. Meine Arbeit weht mich nicht weg, die spült mich nicht weg, die peitscht mir nicht ins Gesicht, die klopft nicht an mein Fenster, die pfeift nicht durch mein Quartier. Oh, meine Wis senschaft! Ich kann es nicht erwarten in diesen Helikopter zu steigen. Endlich komme ich raus aus dieser Natur und rein in die Großstadt, wo der Überbau keine Rolle spielt, weil diese Großstadt voll von mo dernen, stabilen, unabhängigen, aufgeklärten Europäer:innen ist. Diese Großstadt ist voll von Menschen, die an nichts glauben, nicht mal an sich selbst. JOELLE Das ist der letzte Eintrag aus Island. Aber bevor sie sich nicht ausloggt, kann ich gar nichts machen. Was sagt das Handbuch dazu?
TIGA Was? Äh Over. JOELLE Aus CO2-AwayTM Islands OS. Dein Account ist noch aktiv und ich kann mich nicht einloggen, bevor der nicht – Over. TIGA Hallo? Over. JOELLE Äh Over. Nein also – du musst dich ausloggen. Over. TIGA Wie meinst du das? Also – da ist – du siehst meinen Vlog? Pause. TIGA Warum antwortest du nicht? Antworte mir! Pause. Können wir das mit dem „Over“ lassen? JOELLE Ja. Ok. Logg dich doch bitte einfach aus, ja? Ich muss Beobach tungen bezüglich der Anlage an die Zentrale melden. Die Ventilatoren sind ausgefallen und ich hab nichts im Handbuch ge funden. TIGA Ist mir dreimal passiert. Der Fehler wurde bei der Entwicklung der Anlage nicht berücksichtigt. Darum findest du ihn nicht im Handbuch. Einfach den Hauptschalter einmal umlegen und dann wieder anziehen.
Sie liest. JOELLE Kontaktaufnahme mit anderen Stationen nur per Funk möglich aufgrund Sicherheitsstufe C1. Sie blickt auf und geht zu einem veralteten Funkgerät.
3. Weltrettung 3.1 Funkkontakt
JOELLE Ernsthaft? Joelle legt den Hauptschalter um und zurück. Die Ventilatoren setzen sich hörbar wieder in Bewegung. JOELLE Sie gehen wieder. Danke! Danke! TIGA Und jetzt sei ehrlich. Du hast dir meine Videos angesehen. Habe ich Recht?
JOELLE (zu sich) Oh herrje, here we go. Reiß dich zusammen. Funken ist bestimmt nicht wie Anrufen. Das ist nicht dieses völlig über griffige Hineinkrachen in den Alltag einer anderen Person.
JOELLE Nein. Pause. Ein bisschen. Aber nur weil ich nach Antworten gesucht habe!
Sie stellt die Frequenz ein. Raschelnde Funkgeräusche.
TIGA Hör auf in den Privatsachen von anderen rumzuschnüffeln.
Hey, hey – Island-Station an Berlin-Station, hallo? Äh, bitte kommen.
JOELLE Hey!
Zeitgleich in Berlin. Bei Tiga meldet sich das Funkgerät.
Funk bricht ab.
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Theater der Zeit 2 / 2023
Stück „Daddy“
3.2 Hippies VATBOT Du hast dir alles angesehen? Das ist doch nicht zu fassen. JOELLE Ich hab dich doch ausgeschaltet! VATBOT Connectify hat die Möglichkeit einer Konfrontation ermittelt. Dies ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. JOELLE Ich – ich will jetzt nicht – VATBOT Warum hast du das gemacht? Warum siehst du dir das private Vlog einer fremden Person an? Weil du so vereinsamt bist. Weiß gar nicht, von wem du das hast. JOELLE Ich will das nicht jetzt besprechen – Pause. Was soll das? Natür lich bin ich vereinsamt! Mein Abi, mein Studium, meine erste Arbeit, alles fand in kleinen Vierecken statt! VATBOT Verwahrlost bist du auch. Du hast dich gegen jeden Versuch einer Erziehung gewehrt. JOELLE Was soll man sich groß mit seinem Image beschäftigen, wenn es meistens nur aus einem verpixelten Kopf in einem fünf mal fünf Zentime ter großen Kasten besteht? VATBOT Und schließlich bist du auch noch verarmt. Obwohl wir dir so viele Chancen geboten haben. JOELLE Wenn man im Weltuntergang aufwächst, machen Karrieren we nig Sinn, Vater. VATBOT Was soll ich dir sagen, Kind. Hab ich etwas getan, damit meine Generation umkehrt? Dass sie nicht so verkommt, wie unsere Eltern und deren davor? Bestimmt. Irgendwas haben alle getan. So funktioniert doch Fortschritt. Was war das Angebot, dass deine Generation gemacht hat? Dass wir alles falsch gemacht haben sollen? Vom Miteinander der Men schen bis zum Miteinander des Menschen mit den Planeten. Sorry, aber das ist kein Angebot
JOELLE Das muss ich jetzt wirklich melden – hier dürfte niemand sein – Ok – Logbuch – Zentrale anrufen – Oh no! Tiga ist noch immer eingeloggt. Moment mal. Sie nimmt gerade einen Eintrag auf.
3.3 Tigas Berliner Vlog TIGA Berlin, Donnerstag, 20. Dezember 2035 Ich wurde gerade überfallen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Zwei maskierte Männer standen plötzlich in meinem Quartier. Sie wollten, dass ich sie zu den CO2-Tanks führe. Ich dachte erst, das müssen Selbstmord attentäter sein, denn wenn die das ganze abgepumpte CO2 in die Luft zurückleiten, dann ist hier wieder ganz bald Schluss mit Erde. Das hatten wir alles schon mal. Aber das ist doch gar nicht mehr das Thema. Dann läuft Frau Vogel wieder verzweifelt zwischen den Apfelbäumen und den Jostabeerensträuchern umher und betet für Regen. Da will ich auf keinen Fall mehr hin zurück. Dann habe ich mich an eine Prüfungsfrage der CO2-AwayTM–Schu lung erinnert: „CO2-Diebe sind eine Gefahr für Weltretter:innen. Es kann dazu kommen, dass eine Anlage von CO2-AwayTM überfallen wird. Aus dem CO2 lassen sich Diamanten herstellen. Diese Diamanten verkaufen die Kriminellen dann für enorm viel Geld im Darknet. In einen CO2-Dia manten mit 2 Karat passen ungefähr die Emissionen aus 4 Jahren einer deutschen Normalverdiener:in. In einem Diamanten stecken also die Schuldgefühle aus 4 Jahren einer Person.” Dafür habe ich damals die volle Punktzahl in der Klausur bekommen. Aber die Diebe von eben kamen so weit gar nicht. Sie haben ihre Geräte angeschlossen und in einen der Tanks gehalten, um die Reinheit des CO2 zu überprüfen. Und plötzlich wird der größere von den beiden wahnsinnig wütend. Er holt seinen kleineren Kollegen dazu. Beide starren ungläubig auf das Messgerät. Der Kleinere spricht es schließlich aus: „Das Gerät schlägt nicht aus. Die Tanks sind leer. Hier ist kein CO2.“
3.4 Raumluft Diesmal piept der Funk bei Joelle. JOELLE Island-Station, hallo?
JOELLE Connectify, beende den Confrontation-Modus für heute.
TIGA Hey. Ich bin‘s nochmal.
VATBOT Am Ende bin ich stolz auf dich, egal was du tust.
JOELLE Ich hab die Aufnahme nicht gesehen! Obwohl du noch immer eingeloggt bist. Wirklich!
Von Draußen sind Geräusche zu hören. JOELLE (zu sich) Was ist jetzt schon wieder?
TIGA Oh…kay. (Pause). Darum geht es nicht. Kannst du mal bitte schnell nachmessen, wie hoch der CO2 Gehalt in deinen Tanks ist? Meine Tanks sind leer. Darin ist nur ganz normale Raumluft.
Sie öffnet ein Fenster. JOELLE Das ist doch bestimmt nur ein technischer Defekt bei dir. JOELLE Oh Gott, da draußen ist jemand. Vati, da ist ein Mensch vor den Toren der Anlage aufgetaucht. Hier sollte aber niemand auftauchen! Sie hat so Dreads und Klangschalen und tanzt hin und her. VATBOT Wie deine Mutter?
Theater der Zeit 2 / 2023
TIGA Ja bestimmt! VATBOT Oder sie bauen diese Anlagen nur – nur damit wir denken, der Planet ist gerettet, oder?
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Stück Sarah Kilter und Lars Werner TIGA Joelle? Wer spricht da?
JOELLE Glaube ist vom RKI als die letzte aktive globale Pandemie klassi fiziert worden. Aber bestimmt ist es ok.
JOELLE Connectify, stelle Vatbot stumm. Sorry, das war mein Vater, äh ein Avatar von ihm.
TIGA Möge Gott mir vergeben.
TIGA Was war das? Sein Avatar? Ziemlich durchgedreht.
JOELLE Oh fuck. Das klingt schlimm.
JOELLE Nein. Das machen jetzt alle. Ich mein, mir fällt das einfach schwer mit Menschen, ja?
TIGA Und mich trotzdem in sein Reich aufnehmen.
TIGA Da bist du auf Island ja gerade richtig. Alle Menschen weg. JOELLE Wenn es nur so wäre.
JOELLE Tiga! Tiga stopp, der Glauben kommt aus dir raus. TIGA Aber kennst du das denn nicht, wenn da so ein Gefühl in dir ist? So eine Sehnsucht, die du nicht richtig beschreiben kannst? So etwas in dir, so etwas um dich herum?
TIGA Wie meinst du das? JOELLE Hier ist seit gestern so eine Hippie-Person aufgetaucht, die die Anlage beschwört und – den Boden und so – sag mal – du hast in deinem Logbuch doch auch was von Gott erzählt. Macht das diese Insel? Hast du dich – hast du dich hier mit Glauben infiziert? TIGA Du spinnst. Ich bin nicht infiziert. Ich war einmal auf Island richtig krank. Das mit Gott habe ich im Fieberwahn gesagt. JOELLE Du lügst.
JOELLE Ich werde hier nur immer wehmütiger von Tag zu Tag. Alles, was mal war, finde ich irgendwie süß und alles, was mal sein wird, find ich irgendwie doof und falsch. Aber Gott ist nicht dabei. TIGA Und findest du es nicht beruhigend? Das mit Gottes Liebe, Gnade und Barmherzigkeit meine ich. JOELLE Nicht wirklich. Eher so bedrohlich. TIGA Lassen wir das. Meld dich bitte sofort, nachdem du nachgemessen hast. Okay?
Pause. TIGA Ich verbiete ihn mir. JOELLE Ist Gott gerade mit dir im Raum? TIGA Nein. Pause. Naja, ich meine, er ist überall. Das ist ja die Sache an Gott. JOELLE Aha! Ganz klassischer Glauben. Du hast dich infiziert. Pause. TIGA Aber es geht mir überhaupt nicht schlecht. Oder denkst du, dass ich vielleicht einfach nur einen sehr leichten Verlauf habe? Ich tue niemanden was. Ich glaube nur. Ich habe das im Griff.
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FICHTIG UND R ALSCH Theaterstück in drei Teilen von Kristo Šagor Uraufführung [8 plus] AB 25. FEBRUAR 2023 Infos & Karten 0341. 486 60 16 www.tdjw.de
JOELLE Mach ich. Over.
3.5 Verrauchte Barbourjacken JOELLE Nach dem Funk bin ich hinten rausgegangen, um der Hippiefrau nicht in die Arme zu laufen und habe zugeschaut, wie die großen Sauger wieder Luft ansaugen. Ich habe mich versucht zu erfreuen daran, wie das CO2 an den Filtern hängen bleibt. Aber dann wurde ich plötzlich ganz wehmütig. Über mir ein kosmisch leerer Himmel und vor mir ein Land, dass eine unwissenschaftliche Angst leergefegt hat. Aber irgend was befindet sich doch hinter dieser Leere, und wenn es nur schweigsame Abende mit meinen Eltern am Tisch sind, bei denen wir uns nicht strei ten. In American Beauty wird die besiegte amerikanische Kleinfamilie
Stück „Daddy“ dargestellt, als eine schweigsame Versammlung am Tisch und weil es ein Kultfilm war, lange bevor Kevin Spacey aufgeflogen ist, hat sich in Ge nerationen westlicher Menschen eingeprägt, dass man an Tischen mit einander reden muss. Aber ein Universum, das leer bleibt, statt auf uns zu schießen, das müssen wir doch gut finden. Ein Tisch, an dem nicht die Fetzen fliegen ist doch auch ein Gewinn; an dem ich einfach meinen Stuhl zurückschieben und ihnen auf die lichten Häupter eine gute Nacht küssen kann. Pause. Sind die goldenen Jahre, in denen wir als gerettet galten, wieder vor bei, Daddy? Es tut so gut, an etwas glauben zu können, nachdem mein Erwachsenenleben mit dem Ende aller Gewissheiten begann. Jetzt schon spüre ich eine Nostalgie dieser Hoffnung gegenüber in mir wachsen.
VATBOT Ha, meine erste eigene Wohnung in Hamburg. Genau so sah die aus!
VATBOT Du warst schon immer sehr nostalgisch.
VATBOT Kommt jetzt die Anklage?
JOELLE Aber momentan spüre ich die Nostalgie in mir wie einen Schluck reflex. Sehe ich etwas Neues, denk ich sofort daran, dass es etwas Altes verdrängt hat! Tiga hat ihre Infektion, die sie darüber hinweg glauben las sen wird, wenn all unser Tun sinnlos war. Ich – habe nur diese Schwermut. Vielleicht bin ich auch deswegen nie über euch hinweggekommen.
JOELLE Ist diese Hippie-Person dort draußen? Sie, die einfach so Dreads trägt und unbekümmert Wahnvorstellungen als Wissenschaft verklärt; sie, die sich eine Verbundenheit mit einem ignorant-naiven Konzept von Natur herbei fantasiert. Ist sie dieses Longing?
JOELLE Siehst du? Und ich sehne ich mich nach euren Gesprächen, die ihr hattet! Um alles und nichts ging es da, oder? VATBOT Klassenkampf, Umwelt, Widerstand – das waren auch unsere Themen. Du bist so jung. JOELLE Es waren eure Themen, weil ihr die Zeit hattet dafür. Es sind unsere Themen gewesen, weil uns keine Zeit mehr blieb. Aber trotzdem ist dieses Longing in mir und ich frage mich, Vati.
3.6 Gott absaugen
VATBOT Man soll ja auch nicht über seine Eltern hinwegkommen. JOELLE Ich habe bestimmt dreitausend Filme aus eurer Zeit geschaut und dennoch konnte ich nie nachvollziehen, wer ihr wart. Es wurde nur immer deutlicher: Heute seid ihr andere. Ich habe entschieden, dass ich nicht sauer sein kann, weil ihr nicht die von früher seid. VATBOT Finde ich gut, wenn du endlich alles beilegst. Wir können zu sammen unsere Ruhe haben. JOELLE Aber trotzdem bin ich so wütend. Denn wenn es einfach nur meine Nostalgie wäre, dann würde ich vielleicht Bubble Tea vermissen oder Soziale Netzwerke oder so. Doch ich vermisse die dunkle Gebor genheit vollgestellter Vierzimmerwohnungen, in den Ecken stapeln sich die Abonnements einmal gelesener Magazine mit Hochglanzprägung und völlig unreflektierten Artikeln. An den Wänden hängen Barbour jacken, über einem zerkratzten Chesterfield liegt eine dicke behagliche Wolldecke und aus der Entfernung hört man eine Vielzahl an Menschen, die definitiv zwischen ihren Sätzen tiefe Züge aus echten Zigaretten nehmen!
Tiga sitzt an ihrem Hauptrechner in der Berlin-Anlage, vor ihr das freundliche Zentrale-Gesicht. ZENTRALE … bist du bereits Weltretter:in und hast eine Frage bezüg lich deines bestehenden Arbeitsverhältnisses mit der CO2-AwayTM Absauganlage, dann schreibe bitte eine Mail an: CO2-AwayTM-Weltret ter:innen.eu. TIGA Was soll ich denen schreiben? Sehr geehrtes CO2-AwayTM-Team, ich glaube, meine Tanks sind leer. Könntet ihr bitte mal kommen und nachgucken? Herzliche Grüße Tiga Sie geht zu ihrem Funk. In Island piept Joelles Funk. JOELLE Island-Station, hallo?
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Demnächst
Zeitgenössische Theaterformen | Film | Performancepraktiken
03. | 04. Februar 2023 | Schauspiel Stuttgart »Picknick im Felde« von Fernando Arrabal Regie: Paul Auls Bachelorinszenierung
Bewerbungsfrist 10.03.2023 Regie (B.A.) Bewerbungsfrist 03.04.2023 Dramaturgie (M.A.) www.adk-bw.de
Änderungen vorbehalten
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16. | 17. | 18. Februar 2023 | ADK »Zwischen den Kriegen« Werkstattinszenierungen von Alessa Bollack, Glen Hawkins, Jan Moritz Müller und Mu Wang 15. März 2023 (Premiere) | ADK »Iwein. Löwe. Ritter. Featuring Hartmann von Aue« Regie: Linda Bockmeyer Bachelorinszenierung
Stück Sarah Kilter und Lars Werner TIGA Und? Wie ist der CO2-Gehalt in deinen Tanks? Aus dem Hintergrund sind Hippie-Laute zu hören.
JOELLE (aus dem Fenster) Ja, genau – ich rede mit dir. Leg mal den Regenstab weg! Hast du ein Messgerät dabei? Du willst doch CO2 an beten, oder? Ja? Warte, ich komme runter – Tiga, ich geh mich jetzt meinen Ängsten stellen und messe nach.
TIGA Was sind denn das für Geräusche? JOELLE Diese Hippie-Person vor der Anlage ist das. Sie behauptet, wir würden Gott absaugen aus der Luft und der Boden würde heilig werden. Sie schreit die ganze Zeit, dass sie ein Licht sieht und Wärme spürt. Dabei hat sie diese Kälte in den Augen, die nur bei den Deutschen zu finden ist, die immer von Liebe sprechen. Jetzt betet sie wieder die Anlage an. Der Hippie singt. Hörst du sie?
TIGA Lässt du etwa diese Hippie-Frau rein? Das ist gefährlich. Hörst du mich?
TIGA Oh Gott.
JOELLE Nein – Tiga – nein – diese Utopie, in der wir leben – die ist ein fach nicht erzählbar und ich glaube, meine Nostalgie ist vor allem eine, die sich nach guten Erzählungen sehnt. Und das ist doch das Schönste an der Vergangenheit, dass sie so viel erzählt hat. Und dass es am Ende eine reinigende Katastrophe namens Happy End gab, die selbst so verwirkte Existenzen wie meine in ein gutes Licht rückte.
JOELLE Ja, die ist nicht gerade Dua Lipa. Pause. Was wolltest du?
Joelle legt auf.
TIGA Den C02-Gehalt deiner Tanks. Bitte, miss nach.
TIGA Joelle? Hallo?
Pause.
Sie legt das Funkgerät ab und holt ihr Smartphone hervor, startet einen Vlog.
JOELLE Du, wenn da nichts drin ist, dann wäre das vor allem eine riesige Verschwörung. Pause. Wie in einem Film.
TIGA Vielleicht ist deswegen jahrelang die Euphorie ausgeblieben, weil alles nie Realität war. Umso seltsamer, dass es in dieser Großstadt zwar akzeptiert ist, an ein Hirngespinst wie diese Anlage hier zu glauben, aber nicht an Gott. Obwohl doch von Gott so viel mehr in diesen Tanks ist als CO2. Ich bin Anfang dreißig und die Möglichkeit bedingungslos für seine Ideale einzustehen – weiterhin ein Luftschloss. Vielleicht wäre es tat sächlich sinnstiftender und nachhaltiger gewesen, wenn ich weiter Apfel kompott eingekocht und es mir in der Einliegerwohnung über Frau Vogel in Bad Passgenheim bequem gemacht hätte. Um mich leer zu fühlen, hätte ich nicht bis nach Berlin fahren müssen.
TIGA Deswegen geh doch bitte schnell messen, sag mir, dass in deinen Tanks reines C02 ist und dann weiß ich ja, dass meine Anlage einfach nur einen Defekt hat und keine Attrappe ist. Dann weiß ich ganz sicher, dass meine Weltrettung kein Hirngespinst ist, sondern Realität. JOELLE Ja – ja ist gut. Warte! Joelle öffnet ein Fenster.
Es klingelt an der Tür. JOELLE Hey! Du! Mein Lunch Jar ist da. Zeit, sich ein Video rauszusuchen. TIGA Was machst du, Joelle? Mit wem sprichst du? JOELLE Tiga, wenn man Teil eines Filmplots ist, dann muss man an ir gendeinem Zeitpunkt etwas Unvorhersehbares tun, sonst entwickelt sich nichts –
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Stück „Daddy“
3.7 6G Joelle trägt das schwere Funkgerät mit sich und kämpft sich einen kleinen inaktiven Vulkan hinauf. Das Funkgerät piept. Sie nimmt ab. TIGA Joelle – hast du gemessen –
TIGA Und – sagst du das? Joelle? Joelle! Joelle hat aufgelegt. TIGA Vater, ich bitte dich, dass du Joelle beschützt – vor sich selbst, vor anderen. Bitte gib ihr Ruhe, Kraft, Verstand und Zuversicht, damit sie un beschadet aus dieser Situation entkommen kann. Bitte sei bei ihr und hilf ihr auf ihrem Weg raus aus Island und rein in eine neue Zukunft.
JOELLE (außer Atem) Tiga, Tiga – nein, ich bin nicht dazu – diese HippiePerson ist völlig ausgerastet. Ich musste fliehen.
3.8 Mombot
TIGA Warum hast du sie auch reingelassen? Auf dem Hügel. JOELLE Sie war schon irgendwie die ganze Zeit in mir drin. Verstehst du? TIGA Nein, Joelle, langsam. Ich verstehe gar nichts.
JOELLE (außer Atem) Connectify aktiviere Vatbot. Nein Stopp! Aktiviere Mombot.
JOELLE Ich muss dringend vor mir selbst evakuiert werden, aber diese Not fall-App streikt mal wieder. Ich bin auf diesen Grensdalur–Vulkan, weil ich hier 6G habe. Ich habe Angst. Ich kann die Hippieperson schreien hören.
Sie singt leise Krishna-Shantis.
TIGA Schrei was Verrücktes zurück. Sei verrückter als diese Person.
JOELLE (gepresst) Hallo Mutti.
JOELLE Ja – du hast recht! Fleischkriege! Inlandsflüge! Joanne K. Rowling! Pause. Es funktioniert nicht. Sie klettert mir hinterher. Ich habe Angst. Hörst du sie?
MOMBOT Wo bist du? Es ist so windig.
TIGA Nein, ich höre nur dich und deine Schreie.
MOMBOT Hi Joelle. Wie schön, dass du dich meldest.
JOELLE Ich stehe auf einem inaktiven Vulkan. In jede Richtung von Eis schlieren durchzogene Wiesen. Aus granitenen Steinen, dazwischen steigt Dampf in die Höhe. Es ist wie in einem Björk-Video oder im Jenseits. Hm. Das ist vielleicht das Gleiche.
JOELLE Was? MOMBOT Das ist doch schön. Sie singt. JOELLE Das ist es eigentlich nicht. Aber – ja – wie geht es dir? TIGA Jetzt Gesang. Ganz nah. Ist sie schon da, Joelle? JOELLE (entsetzt) Ich bin es, Tiga! Ich singe!
MOMBOT Gestern ging es mir nicht gut. Ich dachte daran, dass ich nie ganz verstanden habe, wie wir miteinander sprechen können. Du wolltest dich immer streiten –
TIGA Beruhige dich! Wir bekommen das hin. Ich rufe sofort bei der Zen trale an.
JOELLE Ich wollte mich nicht – (Pause) – und dann?
JOELLE Dafür ist es zu spät. In einem Film würde ich jetzt sagen, dass du mich zurücklassen sollst.
MOMBOT Bin ich in den Wald gegangen und habe Pilze gesucht. Dort war es still und friedlich, kühl und ein bisschen nass.
INTERNATIONALE FACHKONFERENZ »Material Goods« DAN DAW CREATIVE PROJECTS The Dan Daw Show SASHA WALTZ & GUESTS In C MAX CZOLLEK »Versöhnungstheater« (Lesung) ANTJE PFUNDTNER IN GESELLSCHAFT We call it a house DARIA GESKE Outro LAURA GERICKE Menschenfeind (von J.-B. P. de Molière) JESSELINE PREACH Fruit of Joy
FEB
Stück Sarah Kilter und Lars Werner
3.9 In der Cloud
Pause. JOELLE Mutti, warum habt ihr mich gemacht?
Tiga kniet in ihrem Quartier und betet. Ihr Smartphone klingelt. Sie nimmt ab.
MOMBOT Weil – manchmal eine Antwort klar ist, bevor die Frage ge stellt wird. Weil wir dich schon geliebt haben, bevor wir an dich dachten. Darum musstest du in die Welt, um deine Liebe zu bekommen. JOELLE Aber die Welt endet. Ich dachte, wir hätten sie gerettet, aber jetzt endet sie wieder.
JOELBOT Hallo Tiga, ich bin's. TIGA Joelle! Woher hast du – egal! Du hast es geschafft! Du bist entkom men. Ich wusste es. Ich habe für dich gebetet. JOELLE Danke.
MOMBOT Dann war unsere Liebe doch trotzdem einmal da. Liebe ist wichtiger als alles.
TIGA Wo bist du?
JOELLE Im Film Heat fragt Amy Bennemann, die Eady spielt, den Gangs ter, dargestellt von Robert De Niro, ob er lonely oder alone ist. Er sagt: lonely, no. Alone, yes. And you? Sie antwortet: Real lonely.
JOELBOT Ich bin in der Cloud.
MOMBOT Warum erzählst du mir das?
JOELBOT Dies ist eine automatisierte Einladung. Ich habe dir eine Freundschaftsanfrage auf Connectify geschickt. Klicke auf den Link, der dir gerade gesendet wird, um Joelbot auf dein Smartphone zu laden.
JOELLE Ich frage mich bei dieser Landschaft hier, ob man sich einsam fühlen kann, wenn man nie von Gesellschaft wusste. Oder ob es Frieden gibt. Ich frage mich das, weil du sagst, dass es Antworten gibt, bevor Fra gen gestellt werden und ich hoffe, dass, wenn ich nur genug Fragen stelle, irgendwann aus Versehen schon alles gesagt ist.
TIGA Ist der Helikopter gekommen?
TIGA Was? Was Joelle, was soll das? JOELBOT Nur falls du mich vermisst. Lade mich runter.
MOMBOT Die Erde wird uns vermissen, aber sie wird nicht einsam sein. Tiga starrt entsetzt auf ihr Smartphone. JOELLE Alone yes. But lonely no. TIGA Joelle, nein. Nein! JOELLE Mach es gut, Mutti. Wenn du das hörst, bin ich nicht mehr in der Lage – sie summt selbst – nochmal mit euch zu sprechen – beginnt zu singen – Aber ich hatte euch am Ende einfach nur sehr lieb. Sie singt laut.
Sie verharrt einen Moment reglos. Dann lädt sie Connectify herunter. BingGeräusch.
MOMBOT Joelle –
TIGA Hallo Connectify, aktiviere Joelbot.
JOELLE mühsam, zwischen dem Gesang Hare Hare – Connectify, speiche re den aktuellen Stand, Hare Hareee – mit Mombot und sende den Stand von Krishna Krish – Vatbot und Mombot an Mareike und Dieter Sprengel. Sie singt immer lauter.
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She She Pop Dance Me! 03. & 04.02.2023
Highlights Februar
16BIT 10.& 11.02.2023
16. & 18.02.2023
Sebastian Weber Dance Company BATS 24. & 25.02.2023
Foto: Ben Krieg
Paula Rosolen/ Haptic Hide
Bandstand
Theater der Zeit
Diskurs & Analyse
Lorenz Hochhuth als Aljoscha Fjodorowitsch Karamasow und Silas Breiding (für den Janek Maudrich einsprang) als Smerdjakow in „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater
Foto Arno Declair
Inszenierungen Dostojewski-Adaptionen von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater und „Dämonen“ am Wiener Burgtheater Serie Warum wir das Theater brauchen. Nora Schlocker
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Diskurs & Analyse Kritik
Das Ensemble von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater
Foto links Arno Declair, Fotos rechts Matthias Horn
Wladimir Putin – eine Figur von Dostojewski? Über den Zusammenhang der Dostojewski-Adaptionen von „Die Brüder Karamasow“ am Münchner Volkstheater und „Dämonen“ am Wiener Burgtheater mit dem russischen Angriffskrieg Von Christoph Leibold
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Diskurs & Analyse Kritik Sollte man heute noch Fjodor Dostojewski lesen? Oder seine Romane für die Bühne adaptieren? Seit Beginn von Putins An griffskrieg gegen die Ukraine werden regelmäßig Stimmen laut, die fordern, nicht nur mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland vorzugehen, sondern auch die gesamte Kultur und Literatur des Landes zu boykottieren. Die gegenwärtige Ab lehnung alles Russischen, verbreitet vor allem unter Ukrai nern, ist vor dem Hintergrund zahlloser Kriegsgräuel durch aus nachvollziehbar, mutet aber gleichwohl allzu pauschal an. Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko immerhin wur de etwas konkreter. Nach Bekanntwerden der russischen Kriegs verbrechen in der ukrainischen Stadt Butscha beschrieb sie ihre Sicht auf Autoren wie Dostojewski oder Tolstoi. Die, so Sabusch ko, würden den Menschen vor allem als Opfer gesellschaftlicher Zwänge zeigen, was zu einer Art Freifahrtschein für Gewalt und Grausamkeit führe: Wo die allgemeinen Umstände schuld sind, ist der Einzelne aus dem Schneider. Was Sabuschko damit nahelegt: Die Dostojewski-Lektüre entlastet Täter wie die von Butscha. Für zusätzliche Skepsis sorgt, dass ausgerechnet Wladi mir Putin Dostojewski-Fan ist. Zur Vorbereitung der Feier lichkeiten des zweihundertsten Geburtstags des Schriftstellers im November 2021 bestellte der russische Präsident bereits Jahre vorher persönlich das Festkomitee. Sollte man Dosto jewski also Putin als nationalen Säulenheiligen überlassen und ihn tatsächlich aus dem Kanon der restlichen Welt streichen? Die Vielstimmigkeit, die in Dostojewskis Romanen herrscht, spricht eindeutig dagegen. In den Menschen, die er auftreten lässt, treffen sehr unterschiedliche Weltbilder und Lebenskonzepte auf einander. Und es ist keineswegs ausgemacht, mit welchen Figuren und Überzeugungen der Autor am meisten sympathisierte. So sehr sich Dostojewski persönlich zu einem russischen Imperialismus bekannt haben mag – sein Werk zeigt ihn als Zerrissenen. Davon zeugen auch zwei aktuelle Bühnenfassungen seiner Romane, in München und in Wien. Am Volkstheater der bayerischen Landeshauptstadt hat sich Intendant Christian Stückl den Monumentalroman „Die Brüder Karamasow“ vorgeknöpft und dabei nicht den Fehler begangen, im Zeitraffer durch den kompletten 1.200-Seiten-Plot zu pflügen. Stückl hat radikal verdichtet, also sämtliche Nebenhandlungen inklusive der berühmten Legende vom Großinquisitor gestrichen. Er konzentriert sich auf den Kern des Romans, die Familienkon stellation um die drei Brüder Dimitri, Iwan und Aljoscha, und damit auf den – siehe oben – Zusammenprall widerstreitender Weltanschauungen, die sie verkörpern. Die zentrale Konfliktlinie, für die sich Stückl interessiert, verläuft zwischen Aljoscha, dem Klosternovizen, und Iwan, dem Agnostiker. Entsprechend ihren gegensätzlichen Haltungen stehen sich mit Lorenz Hochhuth und Jakob Immervoll auch zwei konträre Temperamente gegenüber. Hochhuth spielt Aljoscha als besonnenen Vertreter eines nächs tenliebenden russisch-orthodoxen Christentums, der geduldig alle zu verstehen versucht. Immervolls Iwan hält gereizt dagegen und gibt mit jedem genervten Blick, jeder abfälligen Geste zu verste hen, dass er den Glauben an Gott für den Ausdruck intellektueller Einfalt hält.
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Maria Happel als Warwara Stawrogina und Dagna Litzenberger Vinet als Dascha Schatowa in „Dämonen“ am Wiener Burgtheater
Ernest Allan Hausmann als Alexej Kirillow und Nicholas Ofczarek als Nikolaj Stawrogin in „Dämonen“ am Wiener Burgtheater
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Diskurs & Analyse Kritik
Der zwar bröckelnde, aber offenbar immer noch beträchtliche Rückhalt Wladimir Putins in der russischen Gesellschaft beruht ja unter anderem darauf, dass er eine unheilige Allianz mit der russisch-orthodoxen Kirche eingegangen ist.
Ruth Bohsung als Gruschenka und Anton Nürnberg als Dimitri Fjodorowitsch Karamasow
Komplettiert wird die Familienkonstellation durch Vater Fjodor Karamasow sowie dessen unehelichen Sohn Smerdjakow, der ihn töten wird, beeinflusst freilich von der aggressiven Autori tätsverachtung Iwans. Dass es hier (auch) um einen klassischen Generationenkonflikt geht, machen allein schon die Kostüme von Ausstatter Stefan Hageneier klar. Die drei Brüder kommen in kut tenartigen Jacken und Mänteln, schweren Stiefeln und Halsketten wie Mitglieder einer Rockband aus dem Moskauer Underground daher. Pascal Fligg als Vater Fjodor im schlabberigen altmodischen Anzug indessen sieht mit grauer Mähne und Rauschebart wie eine abgelebte Version des Gottvater persönlich aus.
Ruth Bohsung als Gruschenka und Pola Jane O’Mara als Katerina Iwanowna in „Die Brüder Karamasow“
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Nicht zufällig erzählt Dostojewski in den „Brüder Karamasow“ ja von einem Vatermord und der Abschaffung Gottes in einem. Über der Bühne, einer schwarz gewellten Plattform, leuchtet ein Rechteck aus Neonröhren. Kantiger Heiligenschein oder doch eher Rahmen um das schwarze Nichts eines leeren Himmels darüber? Das Publikum sitzt rings um die rechteckige Spielfläche und folgt dem Schlagabtausch der Argumente wie einem Boxkampf. „Wenn Gott nicht existiert, ist dann alles erlaubt?“ lautet die zentrale Streitfrage des Romans, an der sich Stückl, dieser katholisch geprägte Zweifler, abarbeitet, freilich ohne eine ab schließende Antwort zu finden. Aber auch die vorläufige, auf die seine Inszenierung hinausläuft, hat es in sich. Sie lässt sich auf die Formel bringen: Kein Gott ist auch keine Lösung. Es ist durchaus bemerkenswert, wie sich Stückl mit diesem Zweifel am aufgeklärten Zweifel aus der säkularen Deckung wagt, wird doch gerade mit Blick auf Russland derzeit mal wieder allzu deutlich, wohin das Gegenteil, also die Berufung auf Gott, führen kann. Der zwar bröckelnde, aber offenbar im mer noch beträchtliche Rückhalt Wladimir Putins in der rus sischen Gesellschaft beruht ja unter anderem darauf, dass er
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Fotos links Arno Declair, Fotos rechts Matthias Horn Fotos nächste Doppelseite links Arno Declair, rechts Matthias Horn
Die Frage nach Gott
Diskurs & Analyse Kritik eine unheilige Allianz mit der russisch-orthodoxen Kirche ein gegangen ist. Patriarch Kyrill ist eine Art oberster Glaubens krieger, der Putins Reden ebenso absegnet wie dessen Raketen. Gut möglich daher, dass Henry Kissinger, als er Putin einen „Charakter aus einem Dostojewski-Roman“ nannte, an Iwan Schatow dachte, eine Figur aus den „Dämonen“, die Johan Simons am Wiener Burgtheater für die Bühne adaptiert hat. Dieser Schatow predigt einen religiös aufgeladenen Nationalis mus, der stark an die Großrussland-Fantasien des Herrschers im Kreml erinnert. Schatow ist eine von einer ganzen Reihe von Figuren des Romans, in denen Dostojewski einmal mehr den un terschiedlichen ideologischen Strömungen im vorrevolutionären Russland zur Zeit der Zarendämmerung Gestalt gab. Da wäre zum Beispiel noch der alternde Hauslehrer Stepan, Exponent eines europäisch geprägten Liberalismus und damit einer Ge neration, die die Leibeigenschaft abgeschafft und die Existenz Gottes in Zweifel gezogen hat. Ins dadurch entstandene Sinn vakuum stoßen andere vor. Unter anderen eben Schatow mit seinem reaktionären Vaterlandswahn. Oder aber Stepans Sohn Pjotr, in dem sich – frei nach dem Motto „Vorwärts immer, rück wärts nimmer!“ – der in die entgegengesetzte Richtung deuten de despotische Sozialismus ankündigt, dem die russische Revo lution den Weg ebnen sollte.
Bühnenadaptionen Im Zentrum des Romans aber – wie auch der Bühnenadaption von Johan Simons am Wiener Burgtheater – steht Nikolaj Stawrogin, der Verlorenste unter den Orientierungssuchenden, und doch der Klarsichtigste. Stawrogin scheint die Ideen der anderen alle schon einmal für sich durchdacht, aber dann verworfen zu haben. Das hat er seinen Mitmenschen voraus, es stürzt ihn aber zugleich auch ins Bodenlose, weil es für ihn kein sinnstiftendes Konzept mehr gibt, das Halt geben könnte. Nicholas Ofczarek, mit weißem Bart und grauer Mähne, spielt diesen Stawrogin bestechend als ebenso altersweisen wie lebensmüden Guru. Dazu hat er sich einen sehr speziellen Gang zugelegt, halb lässiges Schlendern, halb taumeln des Schlingern. Ein Fels von einem Mann. Ein erloschener Vulkan, in dem es gelegentlich noch rumort, der den erhitzten Ausbrüchen in seinem Umfeld aber distanziert gegenübersteht. Johan Simons hat Dostojewskis Romanpersonal auf der weitläufigen Spielfläche des Burgtheaters ausgesetzt. Dort stehen eine Menge Stühle so unmotiviert verstreut herum (Bühne: Nadja Sofie Eller) wie die planlos in die Welt geworfenen Menschen, die hier versammelt sind. Simons ist kein Regisseur, der alte Stof fe mit aktuellen Anspielungen spickt, sondern eher einer, der sie durchlässig zu machen versucht für die Gegenwart, indem er alle Konzentration auf das Spiel des Ensembles und eine luzide Text behandlung legt. Viel Aktion würde da eher ablenken. Und so wird hier – genauso wie in Stückls Karamasow-Bearbeitung am Münchner Volkstheater – vor allem geredet und wenig gehandelt. Selbiges übrigens vorwiegend von Männern. Die Frauen bleiben hier wie dort Begleiterscheinungen minderer Relevanz, und das obwohl zumindest in Wien Hochkaräterinnen wie Maria Happel
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Marcel Heuperman als Ignat Lebjadkin, Birgit Minichmayr als Lisa Tuschina, Maria Happel als Warwara Stawrogina und Dagna Litzenberger Vinet als Dascha Schatowa in „Dämonen“
Das Ensemble von „Dämonen“
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Diskurs & Analyse Kritik und Birgit Minichmayr mit von der Partie sind. Dieses Defizit kommt, kaum überraschend, mehr noch als in den Romanvor lagen in den Bühnenversionen zum Tragen, wo Nebenfiguren im Prozess der Verschlankung noch stärker an den Rand gedrängt werden, als sie es eh schon sind. Aber auch die Originale sind na türlich nicht auf der Höhe heutiger Genderdebatten. Wenn man Vorbehalte gegen Dostojewski haben kann, dann also eher aus diesem Grund.
Fragwürdige Figuren
Pascal Fligg als Fjodor Pawlowitsch Karamasow und Lorenz Hochhuth als Aljoscha Fjodorowitsch Karamasow
Ruth Bohsung als Gruschenka und Pascal Fligg als Fjodor Pawlowitsch Karamasow
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Was nun Simons’ Theater angeht, so ist es grundsätzlich meist nicht frei von Längen. Das ist diesmal nicht anders. Seine Insze nierung verlangt auch vom Publikum Konzentration. Wer die al lerdings aufzubringen vermag, dem erhellt die Aufführung auch ohne vordergründige Aktualisierungen die Gegenwart, in der uns die „Ismen“, die schon Dostojewski beschrieb – derzeit vor allem gerade der Nationalismus –, heimsuchen wie Dämonen. Wladimir Putin, dessen Name an diesem Abend natürlich nie fällt, der aber in seinen Reden zum Ukraine-Krieg aus den „Dämonen“ zitiert hat, dürfte sich in der Figur des Nationalis ten Iwan Schatow durchaus selbst wiedererkennen – und sehr wahrscheinlich (und ganz im Gegensatz zu Kissinger) darin eine erfreuliche Analogie erkennen. Was diese eigenwillige Les art freilich ausblendet, ist, dass Dostojewski Schatow als eben so fragwürdige Figur wie alle anderen gezeichnet hat. Und so nimmt diese Wiener Aufführung Dostojewski gegen Putin durch aus in Schutz – indem sie klar vorführt: Die ideologische Verein nahmung dieses Schriftstellers durch den russischen Präsidenten ist ziemlicher Humbug. Seine Verbannung aus dem Kanon wäre es daher ebenfalls. T
Wladimir Putin, dessen Name an diesem Abend natürlich nie fällt, der aber in seinen Reden zum Ukraine-Krieg aus den „Dämonen“ zitiert hat, dürfte sich in der Figur des Nationalisten Iwan Schatow durchaus selbst wiedererkennen. Theater der Zeit 2 / 2023
Diskurs & Analyse Kritik
Oliver Nägele als Stepan Werchowenskij und Maria Happel als Warwara Stawrogina in „Dämonen“
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Diskurs & Analyse Neue Serie: Warum wir das Theater brauchen
# 01 Ein Plädoyer gegen die Verkrustung Von Nora Schlocker
Fotos
In der Serie „Warum wir das Theater brauchen“ schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesellschaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen. Und natürlich auch darüber, wer das Wir dieses Ganzen ist oder sein sollte. Den Auftakt macht die Regisseurin Nora Schlocker, derzeit Haus regisseurin am Münchner Residenztheater.
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Diskurs & Analyse Warum wir das Theater brauchen Ich habe nicht gezählt, wie oft ich in meinem Leben im Theater war. Aber oft. Als Kind. Als junge Erwachsene. Fiebernd, begeis tert oder bisweilen zutiefst abfällig als Regiestudentin, aber auch heute noch meistens aufgeregt. Es ist kein außergewöhnlicher Vor gang für mich und doch – betrete ich einen Theaterort, schlägt mein Herz schneller. Und natürlich lassen sich die professionellen Gedanken manchmal schwer beiseiteschieben – wie erzählen sie die Geschichte, was haben sie sich denn da mit dem Raum über legt, warum braucht es denn so viele Requisiten usw. Doch trotz der professionellen Versehrtheit, der Live--Moment, die schlichte Tatsache, dass ein Mensch vor andere tritt und sich zeigt, etwas erlebt, durchlebt, in dem Moment für uns laut denkt und wir mit ihm, das ist für mich nach wie vor faszinierend. Es gibt einen Moment, der mich im Theater immer wieder besonders berührt, erwischt. Wenn ich Spieler:innen beobachte, die in der Maske sitzen. Wenn ich in diesem Moment heimlich Zeugin einer Transformation sein kann. Dieser Moment der Kon zentration, in dem eine Person, die ich vermeintlich kenne, zu ei ner anderen wird, als würde sie heimlich woanders hingleiten, um sich dann in den Dienst einer höheren Macht zu stellen. Vielleicht ist das nur Adrenalin. Aber ich hege die größte Hochachtung für diesen schrecklichen und zugleich beeindruckenden Beruf. Schau spieler:innen sind, vielleicht vergleichbar zu ehemals Priester:in nen, in der Lage, sich stellvertretend ins Zentrum der Gemein schaft zu begeben – eine Handlung auf die Probe zu stellen – und wir dürfen daran im Stillen, im Dunkeln teilhaben, in der großen Gruppe im Rhythmus ihres Atems etwas erleben. Denn das tun sie für uns. Sie durchbrechen die Grenzen, sie geben sich preis, verausgaben sich für uns, verlassen ihren Schutzraum, überwin den die Scham. All das, was wir Menschen seit unserer Kindheit verlernt, uns abtrainiert haben oder uns systematisch abtrainiert worden ist, all diese Grenzen halten sie offen. Sie bewahren sich die Bereitschaft, ihre Durchlässigkeit zur Verfügung zu stellen, auf dass wir sie beschauen, erfahren, an ihren Geschichten partizipie ren und dadurch erschüttert, verführt, im besten Fall verändert als Menschen Mensch bleiben zu können.
Foto Sandra Then
Die Möglichkeiten des Theaters Bietet das Theater also die Möglichkeit, gegen die Verkrustung unserer Gesellschaft anzugehen? Das Theater lässt uns fühlen und denken in Anwesenheit anderer. Und das ist anstrengend. Wir müssen uns ins Theater bewegen, oftmals viel Geld bezahlen. Und nicht nur das: Oft ist diese Institution Theater abschreckend für andere, die es nicht, wie ich, seit ihrer Kindheit gewohnt sind, ins Theater zu gehen. Vielleicht haben sie als Schüler:innen unfreiwil lig einer Theatervorstellung beiwohnen müssen, vielleicht waren sie noch nie da. Das Theater ist immer noch eine soziale Hürde als Institution und ich glaube, dass es vielen das Gefühl vermittelt, nicht gemeint zu sein. Und dabei wünsche ich mir als Künstlerin die größtmögliche Diversität im Theater. Dieser Ort der Zusam menkunft, einer von sehr wenigen, die unsere Gesellschaft noch hat, muss ein Ort des Austausches für alle sein, einer, der alle meint, an dem wir einander in unserer Verletzlichkeit begegnen,
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sie zur Darstellung bringen auf der Bühne und versuchen, sie aus zuhalten ohne Absolution zu erhalten. Was ist der Mensch – diesen Begriff können wir dort bewegen, betrachten. In einer Zeit zunehmender Polarisierung unserer Gesell schaft, in der Demokratien erodieren, Populismen und Fundamen talismen stärker werden, einer Verrohung und Radikalisierung der politischen Sprache und Diskurse, in Zeiten von Inflation und Isolation werden wir die drängenden Probleme unserer Zeit nicht lösen, indem wir uns immer mehr einkapseln. Weil im Moment vieles auseinanderfällt, was wir gerade noch für selbstverständlich gehalten haben, haben wir vielleicht auch gute Chancen, uns zivil gesellschaftlich weiterzuentwickeln. Solidarität muss neu definiert werden. Wenn wir uns nur um uns selber drehen, gehen wir vor die Hunde. Das betrifft alle großen Fragen unserer Zeit, allen voran den Klimawandel. Also glaube ich zutiefst an das Miteinander-Sprechen. Und ich glaube, Theater kann Anlass für so ein Sprechen sein.
Begegnungen Besonders eindrücklich waren für mich Publikumsgespräche, die wir nach meiner Inszenierung „Finsternis“ am Residenztheater München geführt haben. Es war eine in der Pandemie entstandene einstündige Zoom-Theater-Inszenierung auf der Grundlage von Davide Enias Roman „Schiffbruch vor Lampedusa“. Wir baten schon vor Beginn des Stückes, das ich speziell für dieses Format inszeniert habe, die Zuschauenden, ihre Kamera und ihr Mikro fon eingeschaltet zu lassen. Auf diese Weise begegneten sich die begrenzte Anzahl an Leuten sozusagen in ihren Wohnzimmern, ließen diese anderen Fremden hinein zu sich in ihren Privatraum, manche schick gemacht, als gingen sie wie sonst ins Theater, an dere in Jogginghose auf ihrer Couch. Dann folgte eine knappe Stunde mit Robert Dölle in seiner (nicht ganz echten) Küche, am Küchentisch sein Bericht über Anlandungen in Lampedusa. Das Beeindruckende an dieser Arbeit war für mich nicht nur die trotz Bildschirm entstehende Nähe zwischen den Zuschauenden unter einander und dem Schauspieler gegenüber, ihre Betroffenheit, ihre Nacktheit im Angesicht des Schreckens. Besonders stark war, dass keines dieser Publikumsgespräche kürzer als eine Stunde dauerte. Die Menschen wollten sprechen. Vom soeben Erlebten berührt zu einem Beschreiben zu finden, um Fragen zu stellen, aber auch laut
In einer Zeit zunehmender Polarisierung unserer Gesellschaft, in der Demokratien erodieren, Populismen und Fundamentalismen stärker werden, einer Verrohung und Radikalisierung der politischen Sprache und Diskurse, in Zeiten von Inflation und Isolation werden wir die drängenden Probleme unserer Zeit nicht lösen, indem wir uns immer mehr einkapseln. 65
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darüber nachzudenken, was zu tun sei. Und das geschützt im Rah men einer Gemeinschaft. Insofern kann Theater vielleicht Impuls geber sein, Bereitschaft zum Denken zu entwickeln, immer wieder von Neuem, auch wenn das anstrengend ist. Um in einen Dialog einzutreten, der nicht daraus besteht, das Gespräch gewinnen zu wollen. Nicht via Kommentaren und Hasstiraden in den sozialen Medien, geschossen aus der Komfortzone der eigenen vier Wände, sondern tatsächlich im Gespräch. Den Schmerz auszuhalten, sich vielleicht geirrt zu haben oder etwas Neues zu lernen. Nun fangen wir nach zwei Jahren Pandemie wieder an, „nor mal“ Theater zu machen. Einiges hat sich verändert, vieles auch nicht. Nur allzu schnell bewegen wir uns wieder in einem Hin terherhechten nach Zeitplänen, Abgaben, knappen Produktions zeiten, Druck herrscht vonseiten der Politik, angstvoll wird auf Auslastungszahlen geschielt. Viele hatten Zeit, durch das von außen auferlegte Pausieren über Hierarchien und Machtmiss brauch, Arbeitsbedingungen, Selbstbestimmung und vieles mehr zu reflektieren. Das ist gut. Aber wie machen wir nun all das besser, anders? Das Theatersystem ist ein verkrustetes Tier und schnell wird man durch die auferlegte Schnelligkeit und die täg lichen Notwendigkeiten korrumpiert. Als ich als Anfängerin zum ersten Mal Hausregisseurin an ei nem Theater wurde, damals am Nationaltheater Weimar, ging ich mit einigen Spieler:innen in eine fremde Stadt. Für uns gab es da nichts, nur uns und das Theater. Und unser Theatermachen war für uns ein Banden-Bilden, ein Sich-Weiterbilden-Dürfen. Ein Dis kutieren mit unserem Publikum. Ich möchte versuchen, mir dieses Gefühl des Banden-Bildens auch in der manchmal behäbigen Insti tution Stadt-/Staatstheater immer wieder zurückzuerobern. Gerade auch, weil dort durch ein relativ angstfreies ökonomisches Dasein (der Spagat mit einem Familienleben bleibt natürlich trotzdem und da hinkt mein Vergleich) mehr Platz im Denken bleibt, Raum, um Ohren, Nasen, Haut offen zu bewahren, der Welt entgegenzuhalten und nicht den Kontakt zu verlieren zu den Städten, den Menschen, die in ihr leben. Denn nur für sie machen wir das. Ich versuche, wei ter schutzlos und kampfeslustig zu bleiben. Vielleicht immer wieder die Frage zu stellen, mit wem will ich, soll ich, muss ich arbeiten. Künstlerische Prozesse sind nie austauschbar. Aus den Institutionen heraustreten, Kontakt aufnehmen, sprechen sprechen sprechen. Weiter Hürden abbauen. Alles tun gegen die Isolation. Gegen die Verkrustung. O Gott, ist das anstrengend. T
Nora Schlocker, geboren 1983 in Rum (Österreich), studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Sie war als Hausregisseurin von 2008 bis 2011 am Deut schen Nationaltheater Weimar, von 2011 bis 2014 am Düsseldorfer Schauspielhaus und von 2015 bis 2020 am Theater Basel engagiert. Arbeiten führten sie unter anderem ans Maxim Gorki Theater Berlin, ans Schauspielhaus Wien, ans Staatstheater Stuttgart und ans Deutsche Theater Berlin. Seit der Spielzeit 2019/20 ist sie Hausregisseurin am Residenztheater München.
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Theater der Zeit
Report
Foto Ilia Smirnov
„Ich nicht“ ist auf einem Schild bei „100 % Narva“ von Rimini Protokoll zu lesen
Narva Demografie-Performance von Rimini Protokoll: „100 % Narva“ an der östlichsten Grenze der Europäischen Union Frankfurt am Main Wie das Festival IMPLANTIEREN in Hessen neue Formen des Zusammenkommens findet
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Report Estland
Eine der Festungen von Narva
Foto picture alliance/dpa/TASS | Peter Kovalev
„Lasst die Geschichte in Ruhe und alles, was mit Russlands früheren Siegen zu tun hat!“ Demografie-Performance von Rimini Protokoll „100 % Narva“ an der östlichsten Grenze der EU Von Madli Pesti
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Report Estland
Das Format „100 % City“ von Rimini Protokoll hat die 41. Stadt seiner Aufführungsgeschichte erreicht – Narva in Estland an der Außengrenze der EU zu Russland. „100 % Narva“ bewegt mich immer noch. Die Äußerungen meiner Landsleute in der Perfor mance bleiben verstörend. Bei der Fahrt im Bus, im Kino, beim Mittagessen, beim Fernsehen. Ich kann es nicht fassen, dass meine Mitbürger sich abwenden bei der Frage, ob sie die „Spezialopera tion“ in der Ukraine unterstützen. Oder dass jemand erwiderte: „Hände weg von sowjetischen Denkmalen, lasst die Geschichte in Ruhe und alles, was mit Russlands früheren Siegen zu tun hat!“ Narva hat 53.000 Einwohner und ist die drittgrößte Stadt Estlands. Die Grenzstadt liegt zwischen zwei Zivilisationen.
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Nur ein großer Fluss – die Narva – mit seinen Windungen trennt Estland von Russland, an seinen Ufern liegen sich zwei mittel alterliche Festungen gegenüber. Narva hat eine besondere so ziopolitische Bedeutung: Einst berühmt für seine europäische Barockarchitektur wurde die Stadt fast vollständig bei einem sowjetischen Luftangriff im Zweiten Weltkrieg 1944 zerstört. Nach dem Krieg wurden Sowjetbürger angesiedelt und heute, fast achtzig Jahre später, sind nur fünf Prozent der Einwohner Esten. In der schon lange vor dem 24. Februar 2022 geplanten Auf führung sind etwa hundert Leute aus Narva auf der Bühne, aus gewählt nach Geschlecht (55 % Frauen), Alter (8 % unter zehn Jahren), ethnischer Zugehörigkeit (5 % Esten) und Staatsangehö rigkeit (35 % Russen, 13 % ohne Staatsbürgerschaft). Bekannt lich sieht das Format ein visualisiertes Frage-Antwort-Spiel vor. Alle Teilnehmer stellen sich kurz vor und antworten dann auf Fra gen, die entweder vom Inszenierungsteam vorgegeben oder von ihnen selbst vorgeschlagen wurden. „100 %“ ist der Idealfall eines politischen community theater. Zu den Zielen von politischem Theater gehört, unterschied liche Meinungen im Publikum hervortreten zu lassen, die Grenzen des allgemeinen Konsenses aufzuzeigen und sich mit wichtigen kulturellen, sozialen und politischen Konflikten zu beschäftigen. „100 % Narva“ schafft all das. Wenn zum Beispiel das Publikum die Frage stellt, „Unterstützen Sie die Spezialoperation in der Ukraine?“, wenden die meisten Mitspieler auf der Bühne dem Publikum den Rücken zu, was heißt: „Darauf möchte ich nicht antworten.“ Bei der Frage „Finden Sie Gewalt akzeptabel zum Er reichen politischer Ziele?“ antwortet die Mehrheit der Mitspieler mit Nein. Die Leute auf der Bühne müssen ziemlich viele Fragen zu Politik und Gesellschaft beantworten. „Wo diskutieren Sie über Politik?” (in der Küche), „Wo sollte der Staat mehr Unterstützung gewähren?” (Bildung und Gesundheit), „Wer von Ihnen gehört einer Partei an?” (nur einer von hundert). Der Wechsel der Fragen und Antworten erzeugt eine Dynamik, die das Publikum aktiviert und zum Nachdenken bringt. Unter den Fragen an die Einwohner von Narva stechen die jenigen zur estnischen Sprache besonders hervor. Estnisch ist eine kleine finno-ugrische Sprache, die eine große Bedeutung für die estnische Identität hat. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat Estland den Anteil des Estnischen in den Schulen weiter verstärkt. Denn 31 Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit unterrichten viele Schulen die russischsprachige Bevölkerung auf Russisch. Jetzt wird aber immer mehr verlangt, das Estnische in der gesamten Schulbildung durchzusetzen, was insbesonders in Narva (und im östlichen Teil Estlands) Spannun gen auslöst. Das Bild, das die Teilnehmer auf der Bühne verbrei ten, zeugt davon, dass Sprache nicht der Schlüssel zur Kultur ist, sondern eine Privatangelegenheit, auf der nicht herumgetrampelt werden sollte. Ein Großteil der Leute auf der Bühne sieht das Estnische als ein Instrument der Unterdrückung. Die Aufführung gewährt indes die Möglichkeit, dass alle ihre Muttersprache spre chen, die absolute Mehrheit also Russisch. Die Übertitel laufen sogar dreisprachig, mit Englisch als zusätzlicher Sprache.
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Aus den Statistiken treten Menschen hervor, die ihre ganz eigenen Probleme, Werte und Ansichten haben: Verschuldete, unbekannte Lebensretter, Suizidgefährdete, Hinterblie bene, dazu nicht wenige Nostalgiker, die lieber in der estnischen Sowjetrepublik leben würden, und auch einige Anhänger der Todesstrafe.
Eine weitere Behauptung, auf die beteiligte russische Mutter sprachler in ihrem Abstimmungsverhalten reagieren, lautet, dass die Regierung Estlands die russische Kultur diskriminiere. Die Hälfte der Teilnehmenden auf der Bühne fühlt sich noch dazu vom politischen System als Bürger zweiter Klasse behandelt. Aber wa rum sprechen sie nicht Estnisch? Die einfache Antwort von fast allen: „Weil jeder andere Russisch spricht. Im Programmheft sagt eine 69-jährige Frau: „Ich kenne gar keine Esten.“ Die Antwort auf die Frage, wofür die Regierung mehr Geld ausgeben sollte, passt da gut rein: das Bildungs- und Gesundheitswesen.
Die Statistiken Die Narva-Version macht eines sehr deutlich: Die Leute dort wol len nicht über Politik sprechen. Einige Fragen kann Rimini Proto koll gar nicht oder nur in abgemilderter Form stellen, ansonsten hätten sich Teilnehmende geweigert und die ganze Sache wäre ausgefallen. So wurde zum Beispiel die direkte Frage nach dem Angriff auf die Ukraine ersetzt durch die bereits erwähnte Frage, ob politische Ziele mit Gewalt erreicht werden sollten. Die Bedeutung des community theater besteht darin, dass Leuten eine Bühne geboten wird, die sonst dort nicht repräsen tiert werden. In „100 % Narva” konnten auch Ex-Junkies und Menschen mit verbüßten Gefängnisstrafen mitmachen, aber die meisten der hundert Teilnehmenden waren aktive und kreative Menschen – etwa Musiker und Mitglieder von Laientheatergrup pen. Diese Art des Theaters bezieht häufig Menschen aus Rand lagen ein, geografisch wie sozial. Beide kamen in Narva zusam men – mit der Möglichkeit, den Problemen dieser speziellen Stadt zu Aufmerksamkeit zu verhelfen. Und ihren Bürgern mit dem community theater einen soziokulturellen und künstlerischen Ausdruck zu verschaffen. Genau das ist in Narva gelungen. Das war auch deshalb möglich, weil Rimini Protokoll mit Vaba Lava/ Open Space zusammenarbeitete, einem in Narva ansässigen Zen trum für Performancekunst. Dies alles hat zu einem Prozess von mehr Gemeinschaft und Austausch beigetragen, ungeachtet der Schwierigkeiten und Kontroversen, die es dabei auch gab. Statistik ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Aspekt des 100-%-Konzepts. Helgard Haug von Rimini Protokoll meint dazu: „Sie ist ein Schlüssel zum Ganzen, aber wie man damit aus der eigenen Bubble rauskommt, das kann schmerzhaft sein.“ Rimini Protokoll hat sich wohl auch gar nicht so streng an alle Statistiken
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gehalten. Während fünf Prozent von Narvas Einwohnern Esten sind, sprachen hier nur ein paar junge Leute aus bilingualen Fa milien in einigen Momenten Estnisch. Auch eine Repräsentation von Menschen mit Behinderung gab es auf der Bühne nicht. Und die Sache wird noch komplizierter, wenn einige sich als Russisch sprechende Esten erklären – eine Kategorie, die es zumindest of fiziell gar nicht gibt. Aber genau hier kommt die Kunst ins Spiel. Aus den Statistiken treten Menschen hervor, die ihre ganz eigenen Probleme, Werte und Ansichten haben: Verschuldete, unbekannte Lebensretter, Suizidgefährdete, Hinterbliebene, dazu nicht wenige Nostalgiker, die lieber in der estnischen Sowjetrepublik leben wür den, und auch einige Anhänger der Todesstrafe. Den stärksten Eindruck bei den wirklich schwierigen Fragen hinterließ die Bühne, wenn sie im Dunkeln lag und die Antworten nur mit dem Licht einer Taschenlampe gegeben wurden. „Wurden Steuern hinterzogen?”, „Wer hat häusliche Gewalt erlebt?” Dann auch: „Diskriminiert die Regierung russische Kultur?”, „Ist es falsch, sowjetische Denkmale abzubauen?” Viele Taschenlampen leuchten. Auch bei der Frage, ob das eigentlich verbotene russi sche Propaganda-Fernsehen geschaut wird. Die meisten würden sich sonst in der Öffentlichkeit aus Angst vor den Konsequenzen nicht so bekennen. Aber hier gibt es sogar Applaus aus dem Publi kum dafür. Es sitzen viele Familienangehörige der Teilnehmenden in den Reihen, eine fast geschlossene Gesellschaft der Zustim mung zu diesen Fragen. Aber eben auch: community-building. Ich fühle mich als theaterenthusiastische Besucherin aus Tallinn beina he ausgeschlossen. Da kommt die nächste Frage: „Woher beziehen Sie Ihre Nachrichten?” Fast alle lesen Nachrichten nur noch in sozialen Medien. Die natürlich Bubble-bildend sind. Der Narva-Graben zwischen Einheimischen und dem Rest des Landes wird so überdeutlich. Im Programmheft bekundet eine 61-jährige Frau aus Narva: „Für mich ist die Nation der Esten wie ein fünfjähriges Kind. Sie ist noch ganz klein. Da fallen mir die Oh ren ab, wenn ich an meine Mutter denke. Aber so ist die Regierung hier.“ Einige Teilnehmende der performten Bühnendemoskopie sehen sich ausschließlich als Lokalpatrioten Narvas und haben für das Land sonst nicht viel übrig. Aber es gibt vereinzelt auch andere Stimmen wie die einer 68-Jährigen im Programmheft, das als kleines Taschenbuch zum ganzen Projekt gehört: „Ich liebe Estland, habe dem Land viel zu verdanken.“ Als die Frage nach dem Jahr 2022 und wie es das Leben ver ändert hat gestellt wird, antworten die meisten, dass sie sich nicht länger sicher fühlen – wenngleich in widersprüchlicher Reaktion, weshalb. Wird die Zukunft ganz anders? Nur eine Person sagt: „Ich möchte, dass es bleibt, wie es ist.“ Zehn der Beteiligten, da-runter Kinder, bejahen die Angst vor der nahen Zukunft. So geht es auch mir mit dieser Inszenierung: Ich empfinde sie als aufrüttelnd, ver störend. Dieses „100 % Narva“ hat eine großartige Dramaturgie für intensive Gefühle. Die Zusammenarbeit von Rimini Protokoll und Vaba Lava hat einmal mehr gezeigt, wie dieses besondere Konzept gesellschaftliche und persönliche Stimmungen erforschen und in einer künstlerischen Form zur Aufführung bringen kann. Die hier vielleicht sogar eine intensivere Erweiterung des Bisheri gen von „100 % City“ werden konnte – oder auch musste.
Theater der Zeit 2 / 2023
Foto Ilja Smirnow
Report Estland
Report Estland Ausblick Die Produktion kam in Estland zur absolut richtigen Zeit heraus, wenn man sich anschaut, welche Entwicklungen das dokumenta rische Theater hier genommen hat. Ein Trend war ohnehin, dass sich sowohl Theatermacher als auch das Publikum für reale Ge schichten von Menschen interessierten. Das hat sicher damit zu tun, dass man sich unmittelbar in der Wirklichkeit mit Personen verankern will, mit ihren Problemen, ihrem Leben. Aber es gibt im Theater hier eben auch Impulse von außen, so wie Rimini Protokoll seine spezielle Methode mit besonderer Sensibilität auf einen problematischen Ort in Estland anwendet. „100 % Narva“ geht mit einer Entwicklung in Estland zusammen, da sich das Theater besonders mit den Belangen von Gemeinschaften und
ihren individuellen Geschichten beschäftigt. Eben Formen von community theater, die es in den vergangenen Jahren auch in Narva gegeben hat. Fast alle Projekte wurden von dem wirbligen Großakteur Vaba Lava produziert, etwa die Klassismus-kritische Besichtigung von Wohnungen bei „People and Numbers“ von Birgit Landberg oder der Parcours von den Chrustschowka-Plat tenbau-Ruinen der 1960er zum Pool am Townhouse der Immeroben-Schwimmenden. Insofern ist Rimini Protokoll mit „100 % Narva“ in seinem forschenden, aktivistischen Moment ein Theater der Zeiten wende – in einem Theaterland mit offenen Grenzen und russlanddistanzierter Zukunft. T Aus dem Englischen von Thomas Irmer
„100 % Narva“ von Rimini Protokoll zeichnet ein gemischtes demografisches Bild
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Neue Beziehungsweisen des Kollektiven Wie das Festival IMPLANTIEREN in Hessen neue Formen des Zusammenkommens findet Von Theresa Schütz
Was bedeutet Co-Habitation, wie geht der Tanz „5-5-5-5-5“, warum sind die Gebäude auf dem Universitätscampus Frank furt-Bockenheim alle leer und welcher Bewegungsablauf verbindet die Körper der chilenischen Protestierenden beim Skandieren ihres Songs „El violador eres tú“? Antworten auf diese Fragen lassen sich bei einem Besuch des diesjähri gen Festivals IMPLANTIEREN in Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden auftun. Das biennal stattfindende Festival, das 2013 vom Ver ein ID Frankfurt mit einem Fokus auf ortsspezifische Kunst und Performances im öffentlichen Raum initiiert wurde, wagt 2022/23 unter der vierköpfigen künstlerischen Teamleitung von Tilman Aumüller, Chiara Marcassa, Svenja Polonji und Nora Schneider einen radikalen Bruch mit den Produktionsund Präsentationsweisen von Theaterfestivals. Unter dem von Bini Adamczak entlehnten Motto „Beziehungsweisen“ gibt es
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Fotos Lara-Marie Weine
„Praktiken“ statt Inszenierungen beim IMPLANTIEREN Festival in Frankfurt, Wiesbaden und Offenbach
Report IMPLANTIEREN Festival keinerlei Inszenierungen oder Performances zu sehen, dafür aber die Möglichkeit, für die Dauer von fast sechs Monaten an wiederkehrend angebotenen „Praktiken“ teilzunehmen. Die insgesamt zehn Praktiken, von denen die meisten aus einem Open Call hervorgingen, reichen von Workshops zu Klang komposition oder Körperarbeit über einen Spieleclub oder ein Gruppentanzformat bis zu thematischen Zusammenkünften und Angeboten zum Thema Protest oder Namensfindung bei trans*-Personen. Ein Grund für diese hierzulande (noch) einzigartige kuratorische Setzung ist Schneider und Polonji zufolge ein rassistischer Übergriff, der sich in der Festivalausgabe 2020 ereignete und aufzeigte, dass der öffentliche Raum nicht für alle Menschen ein sicherer Raum zur Produktion und Rezep tion von Kunst ist. Weitere Gründe sind das Infragestellen der Zeitlichkeit von Festivals, die mit ihrer eng getakteten Programmdichte nicht nur kurzfristig, sondern in der Regel auch immens erschöpfend sind. Sowie die Sehnsucht nach einer nachhaltigeren Verknüpfung von künstlerischen und alltagsbezogenen Tätigkeiten, die das Leitungsteam mit den zahlreichen sie unterstützenden Kompliz:innen aus der Freien Szene verbindet. Die angebotenen Praktiken adressieren sehr unterschied liche Teilöffentlichkeiten der Stadtgesellschaft – vor allem auch Menschen jenseits der Kunst-Bubble –, damit im Ideal fall über das wiederkehrende Beisammensein neue Commu nities entstehen; Communities, die zukünftig auch ohne die Festivalrahmung gemeinsam in Aktion treten könnten. IM PLANTIEREN lädt dort, wo öffentliche Räume – wie der leergezogene Campus Bockenheim – nicht mehr belebt sind, ein, verschiedene Formen des barrierearmen, kollektiven Mit einanders auszuprobieren. Auch um dabei die eigene (Nicht-) Zugehörigkeit zu erspüren und entsprechend auszuhandeln: sei es beim angeleiteten Streunen als mobile Wohngruppe in „Pendeln“, als potenzielle Bezugsgruppe für eine anstehende Klimademonstration oder Teil einer körperpraktischen Übung zu Schwarmbewegungen in „The Art of Protest“, sei es im Moment des gemeinsamen Erlernens einer Kreistanz-Choreo grafie bei „Local Dancing“. Entzieht sich IMPLANTIEREN mit seinem Programm damit gewissermaßen auch etablierten Formen der Thea ter- bzw. Kunstkritik? Dass man seit September vergeblich im Feuilleton nach Festivalberichten sucht, weist sicher auch auf eine Unbeholfenheit im schreibenden Umgang mit sozio künstlerischen Interventionen wie den angebotenen hin. Nicht nur, dass Theaterkritiker:innen gegebenenfalls nicht diejenige intrinsische Motivation für die jeweilige Sache mitbringen, von denen die Praktiken leben; auch die eigene Positionalität wird hier erfahrbar – und das ist sicher nicht für jede:n was. Ich empfand die Anregung, auf Basis meiner auch ambivalen ten Besuchserfahrung grundsätzlicher über die Beziehungsweise Kritik nachzudenken, sehr bereichernd. Wer sich dafür ebenfalls interessiert: Bis Ende Februar gibt es noch die Ge legenheit! T
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Den 5-5-5-5-5-Tanz lernen bei der Praktik „Local Dancing“
Die angebotenen Praktiken adressieren sehr unterschiedliche Teilöffentlichkeiten der Stadtgesellschaft, damit im Idealfall über das wieder kehrende Beisammensein neue Communities entstehen.
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Das ganze Theater Musiktheater, Puppenspiel, Zirkus, Tanz, Kindertheater u. v. m.
Podcast Lina Wölfel und Stefan Keim sprechen im neuen TdZ-Podcast „Wölfel & Keim & Theater“ über aktuelle Streitthemen und Fragen der Theaterkritik. Diskutieren Sie mit auf Instagram, Facebook und Twitter. tdz.de/podcast
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Das Gorki ist eine Geschichte von Vielen Von Shermin Langhoff
Es geht uns immer um Vielstimmigkeit, um die Vielfalt von Personen, Formen und Perspektiven. Leben – dazu gehört das überraschende Abenteuer hinter der nächsten Ecke. Das Maxim Gorki Theater war und ist immer wieder ein solches Abenteuer für mich. Wie die Intendantin Shermin Langhoff es auch für das Gorki war. So wie Migrant:innen und ihre Geschichten zur deutschen Geschichte gehören, so gehört heute zur DNA des 70-jährigen Maxim Gorki Theaters das bald 20 Jahre alte postmigrantische Theater. Wir haben uns den Spaß erlaubt, diese 70 Gorki-Jahre, die fast 20 Jahre postmigrantisches Theater sowie die neun Jahre meiner bisherigen Intendanz zu addieren.
Das macht 99. So viele Wegbegleiter:innen, Zuschauer:innen, Freund:innen, Künstler:innen und Kreative vor und hinter den Kulissen haben wir gebeten, mit einem „Zwischenruf“ ihren ganz eigenen Blick auf das Gorki und die Vorgeschichte des postmigrantischen Theaters im HAU Hebbel am Ufer und im Ballhaus Naunynstraße zu werfen. Unser Gorki speist sich aus vielen Quellen. Wir nutzen diese Gelegenheit, auch an sie zu erinnern. Wir wissen, dass jede Geschichte, also auch die dieses Theaters, eine Geschichte von Vielen ist, dass sich jede Geschichte auch ganz anders erzählen lässt, dass erst aus der Vielzahl der Perspektiven und Stimmen ein lebendiges Bild entsteht, das dennoch nie ein vollständiges sein wird. Auszug aus dem Vorwort
Zeitgenoss*in Gorki. Zwischenrufe Shermin Langhoff, Lutz Knospe (Hg.) Paperback mit 416 Seiten € 25 (print + digital)
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Fotos Birgit Hupfeld (Podcast), Lutz Knospe (Maxim Gorki Theater), Lutz Michen (Woods of Birnam), Roland Kaiser (x-mal Mensch Stuhl)
tdz.de/sparten
Robert-WilsonSoundtrack von Woods of Birnam Der große Theatermagier Robert Wilson hat mit „Dorian“ einen umjubelten Soloabend für Schauspieler und Sänger Christian Friedel am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert, eine Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden und dem National Kaunas Drama Theater (Litauen). Im Zentrum steht Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. Doch wer glaubt, dass Robert Wilson den berühmten Roman am Schlafittchen packt, der irrt. Viel mehr interessieren ihn die Essenzen des Werks. Er isoliert die Hauptfigur, um sie der Biografie Oscar Wildes und Francis Bacons gegenüberzustellen, und widmet sich so dem Thema der Relevanz und Vergänglichkeit von Kunst. Friedel und seine Band WOODS OF BIRNAM haben dazu Musik komponiert, die in den unterschiedlichen Atmosphären des Abends ihren Ursprung findet. Das Album versammelt neben der Musik die Lyrics und fantastische Inszenierungsfotos.
Woods of Birnam. Dorian Musik-CD mit 9 Tracks und umfangreichem Booklet € 16
Woods of Birnam – die Popband aus Dresden kreiert eingängige Theatermusik
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Vorschau TdZ on Tour Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partnern organisieren. Eintritt frei für TdZAbonnenten (abo-vertrieb@tdz.de) MITTWOCH, 8.3. Alter(n) in der Kunst FFT Düsseldorf DIENSTAG, 11.4. B. K. Tragelehn – Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. Berliner Ensemble „x-mal Mensch Stuhl“, Bordeaux 2004
Altern im Kunstbetrieb? Aufgrund der sich verändernden Altersstruktur unserer Gesellschaft verändert sich auch die Perspektive auf den Begriff „Alter“. Welchen Einfluss hat das Alter(n) auf die Darstellenden Künste? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers bzw. eines Werks auf die Akzeptanz im Kunstmarkt aus? Wie steht es um die Alterssicherung? Welche strukturellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu überwinden und wie sehen generationengerechte Lösungen und Förderkonzepte aus? Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums ihres Projektes „x-mal Mensch Stuhl“, das den alten Menschen in der Gesellschaft ins Zentrum stellt, entwickelte das Künstlerduo Angie Hiesl + Roland Kaiser die Idee, sich mit diesen Fragen in einer Interviewreihe und einem Symposium zu befassen. Dieser Band greift die Themen des Symposiums auf und führt sie mit weiteren Fachbeiträgen fort. Buchpremiere: 8.3. FFT Düsseldorf
Recherchen 162 WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst Angie Hiesl, Roland Kaiser (Hg.) € 18 (print), € 15,99 (digital)
SAMSTAG, 22.4. Recherchen 167. Dramatisch lesen Versatorium, Wien DONNERSTAG, 27.4. 40 Jahre Kampnagel Kampnagel, Hamburg Weitere Termine unter tdz.de/tour
Bücher in Planung Texte zur neuen Dramatik 40 Jahre Kampnagel Rampe Stuttgart Figurentheaterfestival Erlangen Martin Zehetgruber. Bühnen
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Von Hamlet zum Kotelett Das Buch „Schnitzel Seitenbühne links“ versammelt Rezepte und Anek doten rund ums Essen auf der Bühne Von Stefan Keim
Babette hat im Lotto gewonnen. Die Meisterköchin gibt das gesamte Geld – immerhin 10.000 Francs – für ein Festessen aus. Sie will sich dafür bedanken, dass sie nach ihrer Flucht herzlich aufgenommen wurde. Tania Blixens Novelle „Babettes Gastmahl“ hat das Tübinger Zimmertheater vor 20 Jahren auf die Bühne gebracht. Das Publikum stellte Babettes Gäste dar und durfte mitessen. Das bedeutete für den Partner des Theaters, das Hotel Krone, 50 viergängige Menüs auf den Punkt zu servieren. Menüs der Spitzenklasse, denn das Essen musste ebenso glaubwürdig sein wie das Ensemble. Die Dramaturgin und Regisseurin Vera Sturm erinnert sich an diese Aufführung im Buch „Schnitzel Seitenbühne links“. Der Menüplan ist abgedruckt: Mockturtlesuppe, Blinis Demidoff, Cailles en Sarcophage und frische Früchte zum Dessert. Dazu der Einsatzplan des Personals, damit der Klecks Kaviar zum rechten Zeitpunkt auf die warmen Blinis kommt. Das von Emilia Nagy zusammengestellte und herausgegebene Buch ist mehr als ein Appetitanreger. Es bringt einen schon beim Lesen zum Sabbern, der Magen hüpft vor gieriger Erwartung. Schauspieler:innen, Regisseur:innen und vor allem auch Requisiteur:innen erzählen ihre Geschichten und liefern oft die Rezepte dazu. Das Buch ist wie ein Menü aufgebaut. Vom Vorspiel – oder dem Gruß aus der Küche – über Suppe, Gemüse, Fischgang und Fleischgericht bis hin zum Dessert-Epilog.
Jasna Fritzi Bauer als Karina und Peter Knaack als Adi in „am beispiel der butter“ von Ferndinand Schmalz im Vestibül des Burgtheaters in Wien 2014
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Wobei ein „würdevoller Abgang mit Null- und Hochprozentigem“ nicht fehlen darf. Sylvie Rohrer schwärmt von Artischocken, Markus Meyer serviert Minestrone und Peter Simonischek Maccaroni con ragú. Sven-Eric Bechtolf allerdings stört die Hingabe an den Genuss. Er reimt ganz asketisch: „Mümmelnd Schiller zu zitieren, wird kein Mime gern riskieren.“ Und kommt zum Schluss: „Fragt man mich, was sprechbar sei, rat’ ich zu Kartoffelbrei.“ Wenn Herr Bechtolf nun im Buch 38 Seiten voranblättert, findet er eine Gruselgeschichte, zugegeben nicht über Kartoffelbrei, sondern über Erdäpfelsalat. Petra Morzé berichtet, wie sich bei einer Premiere im Wiener Akademietheater das gesamte Ensemble nach dem inszenatorisch vorgeschriebenen Genuss des Gerichtes in den Gassen, aus den Fenstern des Bühnenbildes oder wohin es immer möglich war, in eilends herbeigestellte Kübel erbrach. Und Herausgeberin Emilia Nagy ergänzt, „Die diensthabende Ärztin war ich.“ Die überwältigende Wirkung des Bühnenessens kam daher, dass die Kartoffeln auf Schneidbrettern zubereitet worden waren, auf denen vorher rohe Hühner gelegen hatten. „… Und schon kann völlig ungebremst der irre Salmonellenreigen beginnen.“ Viele Theaterfans – auch der Autor dieser Zeilen – denken beim Stichwort Essen auf der Bühne sofort an die Brandteigkrapfen aus „Ritter, Dene, Voss“ von Thomas Bernhard. Die Brandteigkrapfen, die seine Schwester gebacken hat, aus Liebe und Machtgelüsten, die Gert Voss als Bruder Ludwig herunterwürgt und hinausspuckt, bis sein Kopf zu platzen droht. Eine unvergessliche Szene. Voss hasste Süßigkeiten, verrät seine Tochter Grischka, und veröffentlicht doch das Rezept. „Schnitzel Seitenbühne links“ ist ein enorm vergnügliches und anregendes Buch, dessen Titelgericht natürlich eine große Rolle spielt. Der Dramaturg und Regisseur Hermann Beil spielt seit Jahren mit Claus Peymann Bernhards Dramolett „Claus Peymann und Hermann Beil auf der Sulzwiese“. Darin befindet sich häufig die Regieanweisung „beißt in sein Schnitzel“, was beide streng befolgen. Beils Schnitzel ist im Lauf der vielen Aufführungen immer größer geworden, sodass es schon einen Lacher gibt, wenn Beil den riesigen Fleischlappen aus der Tasche zieht. T
„Schnitzel Seitenbühne links“, hrsg. von Emilia Nagy, Braumüller Verlag Wien, 208 S., € 36
Theater der Zeit 2 / 2023
Foto picture alliance / GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com | GEORG HOCHMUTH
Magazin Bücher
Magazin Bücher
Bertolt
Brecht ›Unsere Hoffnung heute ist die Krise‹ IntervIe ws 1926 - 56
Suhrkamp
Eine Fundgrube Zum 125. Geburtstag erscheinen erstmals die gesammelten Interviews mit Bertolt Brecht Von Thomas Irmer
Theater der Zeit 2 / 2023
Mit diesem Band wird eine bemerkenswerte Lücke geschlossen, denn – man sollte es kaum glauben – eine systematische und mit Kommentaren aufbereitete Ausgabe der Interviews und Gespräche mit Brecht gab es bislang nicht, sieht man einmal von der von Werner Hecht herausgegebenen schmalen Auswahl „Brecht im Gespräch“ ab (Suhrkamp 1975, Henschelverlag 1977). Dass dies zu „den Rätseln seiner Rezeptionsgeschichte“ gehört, darüber stellt der Herausgeber Noah Willumsen einige interessante Vermutungen an. Die insgesamt 91 Gespräche erschienen in 15 Ländern in elf verschiedenen Sprachen, also mit einer ungeheuer großen Streuung. Zum Zweiten galt Brecht als wenig auskunftsfreudig und keinesfalls jeder Art von Presse und Rundfunk zugewandt, sodass der Eindruck einer eher dürftigen Materiallage entstand. Maßgebliche Rundfunkgespräche der späten 1920er Jahre (mit Herbert Ihering) und die Gruppendiskussionen am Berliner Ensemble der 1950er waren indes, wie in „Brecht im Gespräch“, längst fester Bestandteil der theoretischen Erörterungen in entsprechenden Publikationen. Noah Willumsen hat sich im Rahmen seiner Dissertation zu den Interviews mit Heiner Müller ausgiebig mit deren Strategien von Öffentlichkeit beschäftigt, und diese Kenntnisse bringt er bei der medienhistorischen Einordnung und Kommentierung der Interviews mit Gewinn ein. Stets wird der/ die Gesprächspartner:in mit ihrem Schaffen und der Positionierung des jeweiligen Mediums vorgestellt, Fußnoten erläutern dazu zeit- und werkgeschichtliche Zusammenhänge. Ein großer Teil der im nicht-deutschsprachigen Ausland erschienenen Artikel wurde ins Deutsche übersetzt, da sie zwar Brechts Äußerungen wiedergeben, sich diese aber nur in den seltensten Fällen erhalten haben, auch wenn die Gespräche meist auf Deutsch geführt wurden. Und so kommt noch etwas Drittes zur Bedeutung dieser Interviews ins Spiel. Denn weder in der Form noch in der Art ihrer Entstehung gleichen sie dem, was man heute unter einem Print-Interview versteht und meist aus einer Tonaufzeichnung mit anschließender Verschriftlichung und Autorisierung oder Nachbearbeitung entsteht. Streng genommen sind die meisten dieser Brecht-Interviews Berichte von einer Begegnung mit ihm und darin enthaltenen, freilich kaum überprüfbaren Äußerungen. Inso-
fern ähneln viele, insbesondere die frühen und die fürs Ausland entstandenen Texte mit O-Tönen erweiterten Porträts. Was das Phänomen nicht weniger interessant macht. Brecht verband diese Interviewbegegnungen mit verschiedenen Absichten. Zum einen ist klar, dass jeder Artikel für ihn eine Art Botenfunktion für seine Ansichten hat, manchmal sogar für seine Absichten, wie etwa das Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki 1952, das er ganz strategisch für Gastspiele in Polen einsetzte. Andererseits stellte er zum Problem des Interviews auch fest: „… merkwürdig, was man da so alles über sich erfährt“. Viele Gespräche waren politisch brisant für Brecht als Emigrant, vor allem während des Krieges und auch noch danach, in der Schweiz und der frühen BRD. Das kurioseste „Interview“ fand leider nicht mehr statt. FBI-Chef Hoover gab die Anweisung, Brecht zu interviewen, um Material für seine Ausweisung zu sammeln. Doch Brecht hatte die USA schon verlassen, wovon diese Behörde für Sonderermittlungen offenbar nichts mitgekriegt hatte. T
Bertolt Brecht: „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“. Interviews 1926–56, hrsg. von Noah Willumsen, Suhrkamp, Berlin 2023, 754 S., € 35
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Henrike Commichau, Lizzy Timmers und Hannah Baumann nahmen unter anderen an der Podiumsdiskussion teil
Vom Mitdenken und Mitbestimmen Wie das Theaterhaus Jena seine Formen kollektiver Arbeit auswertet Von Michael Helbing
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Rauchzeichen aus der Vergangenheit erreichten jüngst das Theaterhaus Jena. Gesendet hatte sie Angela Hausheer 1995. Damals sitzt die Schauspielerin aus der Schweiz in der Garderobe dieses Theaters, dem sie seit zwei Jahren angehört; zwei weitere werden folgen. In der Hand klemmt und glimmt eine Zigarette; sie ascht häufig ab, zieht kaum daran und redet: für eine Fernsehdokumentation über dieses Theater, das schon eine Ruine gewesen und zum Abriss bestimmt worden war, bevor Berliner ErnstBusch-Absolventen es 1991 neu belebten. Hausheer macht gerade den Unterschied zwischen Mitdenken und Mitbestimmen bedeutsam. Ach, guck mal! Als wär’s ein Interview von heute. So muss die derzeitige Theaterhaus-Generation gedacht haben, als sie das Dokument sah, als Teil der Filminstallation „Ich war eine Schauspielerin“, die Hausheer zusammen mit dem Videokünstler Jürgen Salzmann in Jena präsentierte. Dafür setzte sie sich 2021 noch einmal in derselben Garderobe vor die Kamera. Außerdem saß sie im Dezember auf einem Podium zu kollektiver Theaterarbeit, wie sie in Jena seit drei Jahrzehnten vielfach gebrochene Tradition wurde. Anbetung der Asche? Fehlanzeige! Hausheer hatte das Ende jenes Anfangs erlebt, in dem eine Ensembleversammlung (mit damals zehn Schauspielern) das Sagen hatte. Heute erinnert sie „sehr aufwendige und zum Teil zermürbende Prozesse der kollektiven Entscheidungsfindung“. 1994 installierte man die erste künstlerische Leitung: ein ViererDirektorium. Das Theaterhaus befand sich
auf dem Weg zum Intendantenmodell. Dort angekommen ist es nie. Durchgesetzt hat sich, was Lizzy Timmers ein hybrides Modell nennt. Die Performerin übernahm für zwei Spielzeiten die künstlerische Leitung, nachdem sich das Kollektiv Wunderbaum zurückgezogen hatte (TdZ 10/2022). Zugleich aber kehrte man zu den Anfängen zurück: Ein Ensemblerat, in Ansätzen schon zuvor vorhanden, sorgt für Mitbestimmung jedenfalls der heute sieben festengagierten Spieler. Im Konfliktfall würde er mehrheitlich entscheiden; bislang regiert der Konsens. Unbeantwortet bleibt damit die Frage: „Wie nimmt man ein ganzes Haus mit!?“ Pressedramaturgin Andrea Hesse weist das Podium darauf hin, nicht-künstlerische Abteilungen im Auge. „Da knirscht es noch ganz gewaltig.“ Kollektiv, bestätigt Timmers, geht’s nur im Probenraum zu. Über Demokratie am Theater wird allerorten debattiert. Jenas Geschichte und Gegenwart blende man dabei immer aus, bedauert Anna Volkland (UdK Berlin), die über „Institutionskritik im deutschen Stadttheater seit den späten 1960er-Jahren“ promoviert. Derweil beweist das Theaterhaus nicht nur an diesem Abend kritisches historisches Bewusstsein. Anna Volkland befragt auch die gängige Formel: Hierarchien gleich Machtmissbrauch. Letzterer werde „eher durch das Familiäre“ begünstigt, die „perfide Vermischung“ des Beruflichen mit Privatem. Hausheer erinnert die „Utopie einer Lebensarbeitsgemeinschaft“ in Jena. Man wohnte auch gemeinsam, habe morgens sogar kollektiv geduscht. Verletzungen und Machtmissbrauch hätten da gut greifen können. Zum Sommer 2024 sucht das Theaterhaus ein neues Leitungsteam. Die Findungskommission wählt aus 46 Einsendungen geeignete Bewerbungen aus und stellt sie, erstmals in der Hausgeschichte, allen Mitarbeitern vor, die zwar nicht votieren, aber etwas empfehlen können. Sie werden direkt in den Diskussionsprozess einbezogen, wie es bislang nur über die Mitarbeitervertretung möglich war. Jena arbeitet also weiterhin daran, zwischen Mitdenken und Mitbestimmen zu unterscheiden. T
Die Aufzeichnung des Podiums „Leitungsstrukturen und kollektive Theaterarbeit“ ist unter theaterhaus-jena.de abrufbar.
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Fotos rechts Theaterhaus Jena, links Petra Moser
Magazin Jena
Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz) +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de und Lina Wölfel (Digitale Dienste) Mitarbeit Helen Bauerfeind (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de
Autorinnen / Autoren 2 / 2023 Matthias Brenner, Regisseur und Intendant, Halle/Saale Theresa Luise Gindlstrasser, Autorin, Wien Burghart Klaußner, Schauspieler und Regisseur, Hamburg Christoph Leibold, Hörfunkredakteur, München Jens Neubert, Musiktheaterregisseur und Publizist, Basel Madli Pesti, Theaterwissenschaftlerin, Tallinn Nora Schlocker, Regisseurin, München Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin
Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Gestaltung Hannes Aechter (Konzeption), Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 9,50 (Print) / EUR 8,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 95,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 105,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 78. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.01.2023 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44
Vorschau 3 / 2023
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Die Uraufführung von „Alice verschwindet“ von Selma Matter und Marie Verse am Landestheater Linz
Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2023 Schwerpunkt: Eine neue Generation junger Autor:innen taucht auf den Bühnen auf. Für neue Themen hat sie neue Formen gefunden. Womit befasst sich diese neue Dramatik? Welche Formen bieten sich an? Wie ist die Aufführungspraxis und was ist die Perspektive der Theater? In unserem Schwerpunkt zur Neuen Dramatik widmen wir uns dem Thema umfänglich mit einem Essay und einem Bericht aus Oberhausen, wo die Intendantin Kathrin Mädler fast
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ausschließlich Uraufführungen auf die Bühne bringt. Ergänzt wird der Schwerpunkt um den diesjährigen Schweizer Dramenprozessor mit vier neuen Texten. Report: Thomas Irmer hat das Festival Teatro a Mil in der chilenischen Hauptstadt Santiago besucht, wo man sich auf das Gedenken an den 50. Jahrestag des Pinochet-Putsches vorbereitet.
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Magazin Interview
Im Gespräch mit Thomas Irmer
Johanna M. Keller ist seit Oktober 2022 Programmbeauftragte der Akademie der Künste, Berlin. Zuvor war sie für das Goethe-Institut in Syrien, Litauen, Ägypten und Deutschland tätig. Als Leiterin des Goethe-Instituts Litauen (2010–15) sowie als Leiterin der Kulturarbeit des Goethe-Instituts für die Region Nordafrika/Nahost mit Sitz in Kairo (2015–18) initiierte und verantwortete sie zahlreiche spartenübergreifende Programme, bevor sie ab 2019 in der Zentrale in München einen Stabsbereich für Drittmittelmanagement aufbaute. Sie studierte Internationale Beziehungen in Dresden, Florenz, Berlin und Damaskus.
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Im Moment wird wieder viel über ein Tanzhaus als zentraler Institution in Berlin gesprochen. Wird die Akademie da beteiligt sein? JMK: Da ist die Akademie eng eingebunden, wie auch grundsätzlich in die Debatten und Überlegungen zur Situation und Zukunft des Tanzes in Berlin und Deutschland. Und Nele Hertling als Direktorin der Sektion Darstellende Kunst ist ja eine Initiatorin dieses Projekts. Das Konzept hat dem Abgeordnetenhaus vorgelegen und ist vom Senat für die öffentliche Diskussion in der Berliner Tanzszene freigegeben.
JMK: Hier kann ich vor allem Netzwerke und vielleicht ein besonderes Ohr für kulturelle und künstlerische Diskurse außerhalb Europas einbringen. Die Akademie hat die Aufgabe, die Sache der Kunst in Deutschland zu vertreten und gleichzeitig internationale Wirkungen zu entfalten. In diesem Sinne haben wir Anfang Januar eine Solidaritätsveranstaltung zum revolutionären Prozess im Iran und der Rolle der Künste veranstaltet. Seit 2020 gibt es die von Präsidentin Jeanine Meerapfel initiierte Europäische Allianz der Akademien, die sich für die Freiheit der Kunst und gegen deren Einschränkung einsetzt. Solche Plattformen sind gerade in Zeiten des gegenwärtigen Rechtsrucks, den wir in europäischen Demokratien er leben, wichtig. Und wir haben mit der Jungen Akademie ein interdisziplinäres Artist-in-Residence-Programm für die Vernetzung auch in die außereuropäische Welt. Sie waren in Ihrer Zeit in Vilnius dem litauischen Theater besonders verbunden. Jetzt erleben wir gerade, dass junge litauische Regisseurinnen viel Beachtung finden, zum Beispiel Uršulė Barto am Berliner Ensemble und Kamilė Gudmonaitė in Freiburg. Beim jüngsten Festival „Fast Forward” in Dresden wurde Laura Kutkaitė ausgezeichnet. JMK: Litauen hat eine starke Theatertradition, und die war hier durch Regis seure wie Eimuntas Nekrošius und Oskaras Koršunovas lange repräsentiert. 2019 wurde die Performance-Oper „Sun & Sea (Marina)“ von der Regisseurin Rugilė Barzdžiukaitė, der Autorin Vaiva Grainytė und der Komponistin Lina Lapelytė bei der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Das hat den Blick verstärkt auf Künstlerinnen von dort, auf starke feministische Stimmen gerichtet, die eigentlich lange schon da waren, aber jetzt anders wahrgenommen werden. Dazu kommt, dass es jetzt mehr Interesse für unsere östlichen Nachbarn gibt. Wir h aben gerade erleben müssen, dass wir von der Ukraine und ihrer Kultur viel zu wenig wissen. T
Aus Ihrer Arbeit als Direktorin des GoetheInstituts in Litauen und danach als Leiterin der Kulturarbeit für die Region Nordafrika/ Nahost bringen Sie eine besondere Expertise mit.
Foto Anja Weber
Was macht das Theater, Johanna M. Keller?
Sie sind seit Oktober letzten Jahres Programmbeauftragte an der Akademie der Künste in Berlin. Wie tritt die Darstellende Kunst auf diesem Feld demnächst hervor? JMK: Die Akademie der Künste ist eine internationale Gemeinschaft von Künstler:innen, die in sechs Sektionen organisiert ist, mit einem großen interdisziplinären Archiv zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Zu den Schwerpunkten der Sektion Darstellende Kunst gehören die Erinnerungsarbeit und der Erhalt des kulturellen Erbes. Ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr ist das Kolloquium „Grüber, Hölderlin, Martha ler: Ins Offene“, das zusammen mit der Koproduktion von Marthalers Hamburger Inszenierung „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ die Gegenwart des Regieschaffens von K. M. Grüber besprochen hat. Ein Schwerpunkt wird dieses Jahr die Rolle des Theaters in Bezug auf existenzielle gesellschaftliche Fragen außerhalb des europäischen Kulturraums mit Gastspielen von Künstler:innen aus dem Iran (Narges Hashempour) und Tibet (Lhakpa Tsering) sein. An den Berliner Festspielen und in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste präsentiert es eine oft übersehene Szene von Künstler:innen, die mit sehr globalisierten Biografien nach Berlin kommen und hier künstlerisch arbeiten. Und die Sektion beschäftigt sich intensiv mit der Begleitung kulturpolitischer Diskurse, etwa wie produktive Zukunftsvoraussetzungen für den Tanz geschaffen werden können.
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Antikrist
Rued Langgaard 10. / 12. / 24. Feb. 2023
Musikalische Leitung Stephan Zilias / Hermann Bäumer Inszenierung Ersan Mondtag
Infos und Karten www.deutscheoperberlin.de
030 343 84 343