Theater der Zeit 04/2022 - Thema Ukraine

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Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“

EUR 9,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

April 2022 • Heft Nr. 4

Kunstinsert Richard Peduzzi / Porträt Maike Knirsch / Report Corona-Folgen in Schauspielschulen Luk Perceval über Gabriela Schmeide / Renate Klett über Manuela Infante / Neue Stücke in Weimar


GOOD 7.5. – 19.5.22

MÜNCH–N–R BI–NNAL– F–STIVAL FÜR N–U–S MUSIKTH–AT–R

FRIENDS

www.muenchener-biennale.de

Uraufführungen von Malin Bång, Ann Cleare, Bernhard Gander, Lucia Kilger & Nicolas Berge, Polina Korobkova, Yoav Pasovsky, Øyvind Torvund.


Serhij Zhadan

Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr Einleitung Passkontrollbereich am Grenzübergang eines osteuro­ päischen Landes. Eine regnerische Nacht. Grelles Scheinwerferlicht erhellt die Luft. Eine Schlange von Menschen, die – von Osten kommend – die Grenze überqueren wollen. Auf der anderen, westlichen Seite stehen Menschen unter Schirmen und beobachten das Geschehen.

Das ist der Wechsel von einem Krankenzimmer ins nächste, auf der Suche nach Nahrung und Medizin, auf der Suche nach Hoffnung und Verständnis. Das ist unsere Welt, eine Welt, die keinen Platz hat für Ungerechtigkeit und Schmerz. Eine Welt, die die Straßenseite wechselt, wenn sie uns gesehen hat.

Chor mit Schirmen: Sagen wir es doch jetzt gleich. Solange wir nach Regen und Straße duften. Solange uns keiner mit dem käuflichen Wort „Pub­ likum“ tituliert. Solange wir unsere Kleider nicht mit der Mittags­ soße Kultur befleckt haben. Sagen wir es doch so, als würden wir uns zum letzten Mal sehen, als müssten wir nicht morgen den Blick abwenden und unsere eigene Offenheit bereuen.

Ich bin in dieses Land gekommen, wie Erwachsene zum ersten Mal in eine Schule kommen. Ich habe in seinen ramponierten Klassenzimmern das Alphabet der Liebe gelernt. Ich habe mit den Listen seiner Gläubiger lesen ge­ lernt. Ich weiß, wie das Land zu Hause redet und wie es auf dem Markt spricht. Ich kenne seinen Atem, der nach Brot und Schnaps riecht. Ich habe mit dem Vokabular aus seinen Wörterbü­ chern sprechen gelernt.

Sagen wir doch, was wir von unserer Sicherheit halten. Von unserem Wunsch, im eigenen Treppenhaus nicht über Leichen steigen zu müssen. Von unseren Grenzen, die reißen wie Hemden im Straßenkampf. Von unserem Recht, die Welt mit Worten zu erklä­ ren, die wir in den Frühnachrichten gehört haben. Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen. Kultur ist der Versuch, sich mit denen zu verstän­ digen, die unter dir ein Feuer entfachen. Kultur ist unsere Fähigkeit, zwischen trauriger ­Erfahrung und unguter Vorahnung zu balancieren.

Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren, lebt in Charkiw. Mehrere Prosa- und Gedichtbände, deutsch bei Suhrkamp, zuletzt „Antenne. Gedichte“ (2020). „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ wird in der Vertonung Bernhard Ganders im Mai an der Deutschen Oper Berlin sowie bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater uraufgeführt. Foto Meridian Czernowitz/Suhrkamp Verlag

Sollen wir in den Theatern über Politik sprechen? Sollen wir aus Kriminalmeldungen Gedichte ma­ chen? Sollen wir so tun, als würden wir uns sicher fühlen in dieser Welt, die noch immer den Rauch ausge­ brannter Synagogen verströmt?

Eine beleuchtete Gefängniszelle. Zwei Personen, Flüchtlinge, die auf die Abschiebung in ihr Heimat­ land warten. Der erste ist jung, er trägt schwarze Klei­ dung und Armeestiefel. Der zweite ist älter, erfahren und trägt einen Businessanzug.

Nun denn, versuchen wir, auf Augenhöhe zu reden mit dieser weisen, abwägenden Welt. Versuchen wir, nicht wegzuschauen, wenn wir sehen, wie die Schlachter die rosigen Rindsleiber des Dämmerlichts zerteilen. Versuchen wir, mit denen zu diskutieren, die uns Flüche senden an diesem wundervollen, sanften, sonnigen Morgen. Versuchen wir, mit dem Tod zu sprechen.

Mann in Militärkleidung: In dieser Nacht hört man nicht nur, wie einer atmet, man hört, wie einer nach Luft ringt. Es fehlt an Luft in den engen Räumen, gefüllt mit jenen, die alles erklären wollen. Meistens riecht die Freiheit nach den städtischen Müllhalden. Das ist eine Reise von der einen Seite der Unge­ rechtigkeit auf die andere.

Chor mit Schirmen: Keiner hat dich hergerufen. In dieses Land, das mit sich selbst nicht zurecht­ kommt. Keiner hat hier auf dich gewartet. In dem Land, wo man sich nach jedem Schuss um­ schaut. Das Land kämpft für sein Recht, in den eigenen Grenzen zu bleiben. Und du, der du für das Land gekämpft hast, was hast du verteidigt? Die Grenzen, die niemals deine werden? Die Freiheit, über die du nichts weißt? Wer sitzt jetzt in den Zellen dieses Landes? Wer hütet die Wut wie Briefe von daheim? Mit wem sprichst du, wenn du hier rauskommst? Die Sprache der Wut, die Sprache dieses Landes, eine Sprache, die beim Überschreiten jeder Gren­ ze ihre Bedeutung verliert. Eine Sprache, die – getrennt vom Betreiber – ver­ schwindet. Eine Sprache für Unterredungen im Traum. Eine Sprache für Begegnungen in der Massenzelle. Männer, die sich in der Meute der Häftlinge hinter ihrer Sprache verschanzen. Sprache als Mal, Sprache als Tätowierung, gesto­ chen auf Narben, als hätte jemand ein Hemd geflickt, das im Stra­ ßenkampf gerissen ist. Mann in Militärkleidung: In dieser Sprache sprechen, wenn keiner hinhört.


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Sie sprechen, wenn keiner etwas versteht. Sprechen, um die Geister der Panik zu beschwören. Sprechen, um Dunkelheit und Schwüle abzuwehren. Ich spreche und atme, atme und spreche, spreche und atme, spreche und atme. Chor mit Schirmen: Nun denn, versuch, dich mit diesem Leben zu ver­ ständigen. Versuch, mutig zu sein, wenn du mit der Dunkel­ heit redest. Versuch zu reden, solange dir jemand zuhört. Atme die Luft aus, atme die Luft aus. 1. SZENE Die Gefängniszelle. Die beiden Protagonisten stehen an einer Wand, unter einem Fenster, sie lauschen auf die Stimmen von der Straße. Der erste, in Militärklei­ dung, ist angespannt, was er zu hören glaubt, gefällt ihm nicht. Der zweite, der Anzug trägt, ist locker und entspannt. Mann im Anzug: Wie bist du denn hierher gera­ ten? Mann in Militärkleidung: Wer? Ich? Mann im Anzug: Ja, du. Wie bist du denn hierher geraten? Wie seid ihr eigentlich alle hierher geraten? Was wollt ihr hier? Was zieht euch in dieses Land, das zwischen den Grenzen eingezwängt liegt? Wie ortet ihr es im trüben Dunkel der Geografie? Wie findet ihr seinen Herzschlag im Dämmer der Welt? Mann in Militärkleidung: Ich bin aus dem Osten gekommen. Mann im Anzug: Ich bin auch aus dem Osten gekommen. Mann in Militärkleidung: Ich bin gekommen, um für dieses Land zu kämpfen. Hier ist Krieg, schon gehört? Mann im Anzug: Klar. Als Söldner? Mann in Militärkleidung: Als Freiwilliger. Mann im Anzug: Komische Leute, die kämpfen. Komische Leute, die sich nicht einigen können. Die Welt, die uns zugefallen ist, gibt uns allen so viele Möglichkeiten. In erster Linie solchen wie mir: Hochstaplern und Spekulanten. Eine Welt, die dir tausend Überlebensmöglichkei­ ten bietet. Eine Welt, in der du außer einem guten Herzen Kiefer aus Stahl brauchst. Eine Welt der Bewährungsstrafe, eine Welt voll un­ glaublicher Möglichkeiten. Eine Welt, in der die Grenzen vor allem unsere Angst markieren. Tritt ins Licht, auf den Chor zu: Wer würde den Lichtstrahl dieser Welt leugnen? Chor: Nur die Blinden, nur jene, die nicht fähig sind, ihre Augen zu öffnen! Mann im Anzug: Wer ist nicht fähig, die Größe eines Gedankens zu erkennen? Chor: Nur jene, die weder Fantasie noch Ehrgeiz besitzen! Mann im Anzug: Wer hat Angst vor Recht und Gesetz? Chor: Nur jene, die nicht an Fügung glauben!

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Mann im Anzug: Wer glaubt denn an die Gerech­ tigkeit? Chor: Nur jene, die nicht an sich selbst glauben! Mann im Anzug: Ich bin in dieses Land gekom­ men, um jegliche Vorschriften zu übertreten. Ich habe das Land ausgehöhlt wie ein Virus. Ich habe es zerfressen wie Eisen ein Schiffswrack. Und eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor, von hier wegzugehen. Dass sie mich geschnappt haben, dass ich hier sitze. Dass ich mich dieses Mal nicht freikaufen kann. Dass sie mir jetzt meine ganzen Vergehen vorhalten, ist vielleicht das Komischste, was sich die Himmel für mich ausdenken konnten. Mann in Militärkleidung: Was wird denn nun aus uns? Hast du eine Ahnung? Mann im Anzug: Wir werden abgeschoben, mein Lieber. Mann in Militärkleidung: Abgeschoben? Mann im Anzug: Ja, zurückgeschickt, nach Hause. Wir werden abgeschoben und kommen vor Gericht. Ich wegen Schieberei, du wegen Kriegsverbrechen. Für mich ist es einfacher – Schieber mag keiner, aber dass es sie gibt, nimmt man hin. Für dich ist es schlimmer: Du hast hier gekämpft und damit auch gegen dein Land. Das verstehst du doch? Mann in Militärkleidung: Aber ich wollte das Land doch verteidigen. Wieso liefern sie mich an ihre Feinde aus? Mann im Anzug: Manchmal ist Politik stärker als Liebe. Offenbar haben dich jene verraten, für die du dein Leben lassen wolltest. Das Land braucht deine Verteidigung nicht. Wir sind hier Verbrecher, mein Lieber. Der Unterschied besteht nur darin, dass du für das Land deinen Kopf hingehalten hast, und ich habe es geschröpft. Das ist der ganze Unterschied. Mann in Militärkleidung: Das ist nicht fair. Mann im Anzug: Glaubst du vielleicht, sie kön­ nen dich nicht abschieben? Dich nicht von hier entfernen? Mann in Militärkleidung: Mich entfernen. Mich aus dem Land entfernen wie eine kranke Lunge. Eine Lunge, die nicht mehr atmen kann, eine Lunge, mit der man nur noch erstickt. Eine Lunge voll vergifteter Liebesluft, einer Luft, die Eidesworte gebiert. Mich aus dem Land entfernen wie einen materiel­ len Beweis. Einen Beweis dafür, dass die Welt nachlässig und ungerecht eingerichtet ist. All unsere Versuche, die einbrechende Mauer zu stützen, sind zum Scheitern verurteilt. Zum Scheitern verurteilt ist unsere Treue, zum Scheitern verurteilt ist unsere Unbezwingbarkeit. Mich aus diesem Land entfernen wie einen Fehler aus einem Text. Schreibt dann diese Geschichte um ohne mich, ohne meinen Namen. Korrigiert die Geschichte wie den Nachruf eines verstorbenen Verwandten, den keiner geliebt hat, auf den aber alle finanziell angewiesen waren.

Das schwarze Blut der Vergangenheit bleibt in meinem Körper. Die feinen Risse im Gedächtnis brauchen einen Verband. Über dem goldenen Europa bricht der Morgen des letzten Tages an. Die Geister kommen zusammen, erinnern an Hin­ gabe und Unvermeidlichkeit. 2. SZENE Grenze. Menschen mit Koffern stehen in einer Schlange. Scheinwerferlicht blendet ihre Gesichter. Chor mit Koffern: Hörst du die Stimmen all jener, die es nicht über die Grenze geschafft haben? Die Stimmen der Zurückgesetzten und Entmutigten? Die wütenden Stimmen jener, die der Falle nicht entronnen sind, denen nur wenige Meter bis zur Rettung fehlten? Wie kannst du jetzt schlafen mit diesen Stimmen im Schädel? Wie kannst du jetzt den anbrechenden Morgen be­ obachten, wissend, dass jenseits des Horizonts jene zurückgeblieben sind, die dem Lauf der Sonne nicht folgen konnten? Die Politik füllt die Landschaft mit den Stimmen der Gescheiterten. Die Politik gibt der Wettervorhersage einen metal­ lischen Beigeschmack. Die Politik lehrt dich, in der Zivilisation eine leich­ te Beute zu sehen. Eine Beute, die zutraulich auf deinen Hof kommt. Erste Stimme im Chor: Osteuropa gleicht einem Fegefeuer. Ein hoher Pass, an dem ganze Herden erfrieren. Ein Bahnhof, von dem niemand abreist. Ein Markt, auf dem man Freude kaufen kann. Zweite Stimme im Chor: Anfang des 21. Jahrhunderts. Eine trockene, gut beleuchtete Gefängniszelle. Zwei Männer warten auf ihr Urteil. Sie halten den Atem an, wägen ihre Chancen ab. Überlegen, wie die Dämonen der Geschichte zu überlisten wären. Dritte Stimme im Chor: Unsere Erinnerung hängt an der Politik und der Religion. In unseren Familienalben finden sich zu viele Por­ träts von Mördern und Ermordeten. Sei gut zu uns, Geschichte, sei uns gnädig. Entlass uns aus deinen eisigen Fängen. Chor: Countdown der Zeit. Sonnenheller Himmel. Die Zeit rinnt uns durch die Finger. Die Zukunft wird geformt aus unseren heutigen Tragödien. Vor einem erleuchteten Schaufenster sitzt eine Frau und hält ein fest in eine Decke gewickeltes Baby im Arm. Sie trägt ein Kopftuch, eine dicke abgewetzte


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Winterjacke. In einer Hand hält sie einen Pappbecher aus einem Schnellrestaurant, in den die Leute Mün­ zen werfen. Polizisten treten auf sie zu. Erster Polizist: Hallo, Sie dürfen hier nicht betteln. Zweiter Polizist: Hallo, Sie stören hier die öffent­ liche Ordnung. Erster Polizist: Haben Sie einen Personalausweis? Zweiter Polizist: Welche Sprache sprechen Sie? Verstehen Sie uns überhaupt? Frau: Ja, ich verstehe Sie. Ich verstehe alles. Ich habe keinen Ausweis. Und ich habe auch keinen Namen. Ich habe Brandwunden, die ich bekam, als die Welt, in der ich gelebt habe, in Flammen stand. Ich habe Narben, die vom Überqueren der Gren­ zen geblieben sind. Erster Polizist: Sie können hier nicht bleiben. Zweiter Polizist: Sie können hier nicht bleiben. Erster Polizist: Es ist verboten, hier zu bleiben. Zweiter Polizist: Hören Sie uns? Frau: Ich höre Sie. Ich höre Sie reden. Ich höre euch lachen, wenn ihr Mittagspause macht. Höre euch summen, wenn ihr nach Hause geht. Höre euch lachen, wenn ihr mit euren Frauen sprecht. Ich höre euch im Schlaf atmen. Höre euch erschrocken aufschreien, wenn ihr er­ wacht und in die Dunkelheit schaut. Ich weiß, dass ihr die ganze Zeit von uns träumt: von denen, die ihr tagsüber in den Straßen eurer Stadt seht. Ich höre alles, was die Mütter zu ihren Kindern sa­ gen, wenn sie sie zur Schule bringen. Ich höre, was die Priester sagen, wenn sie der spär­ lichen Gemeinde Absolution erteilen. Ich höre eure Angst, ich höre eure Unsicherheit. Das Einzige, was ich nicht höre, ist die Stimme der Liebe. Ich vernehme keine Worte, mit denen ihr dem Tod widersteht. Ich vernehme keine Worte, mit denen ihr über die Zukunft sprecht. Ich vernehme keine Worte der Freude, keine Worte der Vehemenz, keine Worte, die Dämonen vertreiben und Wun­ den heilen. Eine Stimme, die in der Luft hängt. Eine kindliche Stimme, die um nichts bittet, eine Stimme, die nichts fürchtet und nichts ver­ birgt, eine Stimme, die nur staunt über die eigene Fähigkeit zu klingen. Die Polizisten richten die Frau auf. Sie wickelt die Decke aus, die sie im Arm gehalten hat, und faltet sie ordent­ lich zusammen. In der Decke war natürlich kein Kind. 3. SZENE Die Gefängniszelle. Unsere Protagonisten bekommen Frühstück, sie unterhalten sich. Mann im Anzug: Wer wartet denn zu Hause auf dich? Wen hast du zurückgelassen?

serhij zhadan_lieder von vertreibung und nimmerwiederkehr

Mann in Militärkleidung: Keiner. Alle haben sich von mir abgewandt, als sie hörten, dass ich kämpfe. Mann im Anzug: Richtig so. Mörder mag keiner. Mann in Militärkleidung: Die Mörder sind da, wo wir herkommen. Mann im Anzug: Dann hast du gegen die eige­ nen Leute gekämpft? Und jetzt schieben sie dich nach Hause ab? Weißt du, dass sie sich dort nicht auf dich freuen? Mann in Militärkleidung: Ich ahne es. Mann im Anzug: Schwer ist das Brot der Vertrei­ bung, nicht wahr, mein Freund? Mann in Militärkleidung: Schwer. Aber ehrlich. Mann im Anzug: Klar, dass du nun ausgerechnet über Ehrlichkeit sprichst. Was geben dir denn deine Freunde? Wo ist ihre Dankbarkeit, wo die Gerechtigkeit, mein Freund? Vielleicht meint es unsere Zeit mit Idealisten be­ sonders gut. Du kommst einfach nach Hause statt an den Galgen. Du wirst einfach an deinen Platz verwiesen. Ein System von Grenzen und internationalen Ver­ einbarungen. Ein auszulegender Kodex von Regeln und Kompro­ missen – die Welt schützt sich vor überzogenen Illusionen, die Welt stützt sich auf einen rettenden Zynismus. Das Brot der Vertreibung reicht einfach nicht für alle. Mann in Militärkleidung: Nur zu – sprich vom Brot der Vertreibung, von der unausweichlichen Rückkehr und Bezahlung. Sprich von der Nichtzeit im Gefängnis. Wie viele von uns prüft das Leben auf Stärke? Wie vielen von uns werden Rechnungen gestellt, die wir nicht begleichen können? Allzu grausame Gesetze, bestimmt, uns glücklich zu machen. Allzu kraftlose Gesetzeshüter, denen unsere Hoffnung obliegt. Verraten und verdammt zur Herabsetzung, beraubt der Fähigkeit, sich zu rechtfertigen – was erzähle ich dir vom Brot der Vertreibung, von der unaufhaltsamen Rückkehr ins Dunkel? Die Welt wird geschlossen wie ein nächtlicher Bahnhof. Gute Fahrt all jenen, die es geschafft haben, von hier fortzukommen. 4. SZENE Grenzübergang. Menschen passieren die Grenze. Flüchtlingschor: Der Wachmann öffnet für uns das Tor. Schaut nur – der Wachmann öffnet für uns das Tor! Ein redlicher Mann mit schweren Schlüsseln. So geduldig scheidet er uns von der Vergangenheit. Scheidet uns wie das Licht von der Finsternis. Und so öffnen sich die Grenzen wie Bücher. Was liegt wohl vor dir? Das schwarze Schulwissen der Vertriebenen. Eine Sprache, die in den Händen bricht wie Brot.

Erste Stimme: Du wirst nicht satt werden, du, du wirst dich nicht retten. Hunger und Einsamkeit erwarten dich in den Schulfluren der Zukunft. Hunger, Schweigen und Einsamkeit! Zweite Stimme: Hinter uns bleibt Ödnis zurück. Was ist wohl in deiner Vergangenheit gewesen? Tote Städte wie geschlossene Bibliotheken. Eine Sprache, aus der Liebe gewonnen wird wie Öl aus der Erde. Erste Stimme: Da stehen wir nun zwischen Ver­ gangenheit und Zukunft. Da bläst uns der Wind der Kindheit in den Rü­ cken. Und der redliche Wachmann öffnet uns das Tor. Der ach so redliche Wachmann weist jedem seine Zukunft zu. Zweite Stimme: Eine merkwürdige neue Spra­ che, eine wundersame neue Kirche. Die Marktplätze von Wien und München, Univer­ sitäten und Häfen. Mit welchen Wörtern benennen wir nun die Schat­ ten in der Zukunft? Auf welche Wörter verzichten wir nun, wenn wir die Vergangenheit beweinen? Chor: Der gelbe Himmel der Vertreibung, unter dem die Bäume aufwachsen, die wir gepflanzt haben. Der bestirnte Himmel der Nostalgie, aus dem ein Metallmond stürzt. Die Straße der Möglichkeiten ist eine Einbahnstraße. Es werden Säuglinge über sie getragen. Es werden Tote über sie getragen. Es laufen Männer über sie auf der Suche nach Dunkel. Es rennen Frauen über sie und verfolgen die Dä­ monen der Zärtlichkeit. Redlicher Wachmann, sprich als Erster. Sprich mit mir, du redlicher Mensch. Sprich über die Unmöglichkeit zurückzukehren, sprich über die Unvermeidlichkeit der Trauer. Sprich mit mir über die Trauer, über ihre Spannung und Sanftheit. Das Licht kommt nach uns, das Licht kommt nach einem langen Weg. Die Bahnhöfe füllen sich mit unseren Stimmen. Von unserer Schwermut erkalten die Brücken. Die kindlichen Lippen schneiden sich an der frem­ den Sprache. Schneiden sich und schwären. Schneiden sich und schwären. 5. SZENE Eine europäische Stadt. Der Bahnhofsvorplatz. Eine Schar Männer in Businessanzügen. Chor in Anzügen: Wer sind die Leute, die vor den Stadtmauern stehen? Was haben sie in ihren Säcken? Wie redest du mit denen, die in dein Haus kommen? Wie verstehst du jene, die nichts zu dir sagen? Erste Stimme: Der Fremde in deiner Stadt ist im­ mer ein potenzielles Problem.

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Der Fremde am Nachbartisch ist immer eine po­ tenzielle Bedrohung. Das Problem ist nicht, dass sie fremd sind. Das Problem ist, dass sie anders sind. Zweite Stimme: Was haben Menschen im Auge, die ihre Häuser verlassen? Warum kommen sie vor unsere Fenster? Unsere Liebe genügt vielleicht nicht für alle Sehn­ süchtigen. Unsere Geduld reicht vielleicht nicht für alle Kla­ gen dieser Welt.

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Chor in Anzügen: Wer sind die Leute, die die Gangway herabkommen? Was verbergen sie in ihren Seelen? Wie besprichst du dich mit denen, die dich nicht verstehen? Wie verstehst du jene, die nichts von dir wollen? Erste Stimme: Der Fremde vor deinem Fenster nimmt dir die Morgensonne. Der Fremde auf der Straße ist eine allzu willkom­ mene Zielscheibe. Das Problem ist nicht, dass sie gekommen sind. Das Problem ist, dass zu Hause keiner auf sie w ­ artet.

Eine Frau tritt aus der Schar. Frau: Die Bewohner der alten Handelszentren. Die Bürger der Häfen, von denen aus der Fort­ schritt um die Welt ging wie ein Virus. Männer und Frauen, die über Jahrhunderte im Hafen die gute Nachricht von Sieg und Gewinn empfan­ gen haben. Wessen Schiffe kehren jetzt in unsere Städte zu­ rück? Welche Fracht führen die Privatflotten in ihren ­Laderäumen? Wo ist der Geist des guten alten Protestantismus geblieben, in dem jeder selbst verantwortlich ist für die Rettung seiner Seele und seiner Ware? Eure Truhen sind gefüllt, eure Konten sind gefüllt, eure Lager und Läden füllen sich mit Tuch und Gold. Ihr habt etwas zu verlieren, ihr Anlieger der golde­ nen Ankerplätze, ihr Bewohner der Städte, die ihr das Rückgrat der neuen Geschichte seid. Allein die Namen eurer Häfen haben Schrift und Wissenschaft vorangebracht. In euren Vierteln sind häretische Lehren entstan­ den, und der christliche Glaube hat sich verankert. Eure Kirchen haben die ganze Ungerechtigkeit der Welt erklärt. Eure Universitäten haben die Welt Demut und Ge­ horsam gelehrt. Und plötzlich hat sich die Welt verändert, ist in ­ihrer einfachen Mechanik etwas zerbrochen. Sie ist verstummt wie ein Musikinstrument bei Frost. Ausgekühlt wie der Ofen in einem Haus, in dem keiner mehr wohnt. Wo ist denn euer Vertrauen in den Fortschritt? Wo euer Glaube an die stabilen Festungsmauern? Schlechte Nachrichten treffen ein wie ein Fluss im März. Schlechte Nachrichten für alle, die ausharren und durchhalten wollten. Schlechte Nachrichten über die gebrochenen Dämme der Geschichte, über eine Zeit, die im Wahn ist und ihre Hirten zertrampelt. Wer kann sich diese Nachrichten anhören? Wer kann aus dem Fenster schauen, wo die Lager am Hafen schon brennen?

Zweite Stimme: Was träumen jene, die in einem fremden Bett erwachen? Was wollen sie denen sagen, die sie übers Meer ge­ trieben haben? Unsere Liebe reicht vielleicht nicht einmal für uns selbst. Unsere Sprache reicht nicht, um auf alle Zurück­ gesetzten einzugehen. Frau: Schlaft süß alle, die ihr ein Dach über dem Kopf habt. Mögen euch die Gedanken an einen hungrigen Morgen verschonen. Mögen euch die Gedanken an leere Häuser, verlas­ sen im Morgendunst, nicht den Atem nehmen. Das große Wasser strömt zu den Stadttoren. Das große Wasser reißt die Brücken fort, auf denen die Händler sonntags zu den Marktplätzen laufen. Wasser, rohölfarben. Wasser der Gram. Wasser der Gerechtigkeit. 6. SZENE Abteilung für die Angelegenheiten der illegalen Ein­ wanderer. Der Sachbearbeiter ruft die Besucher einzeln auf und füllt Formulare aus. Sachbearbeiter: Der Nächste! Erster Mann: Ich. Sachbearbeiter: Name! Erster Mann: Fehlt. Sachbearbeiter: Geburtsort! Erster Mann: Fehlt. Sachbearbeiter: Beruf! Erster Mann: Vogelfänger. Sachbearbeiter: Der Nächste! Zweiter Mann: Ich. Sachbearbeiter: Name! Zweiter Mann: Fehlt. Sachbearbeiter: Geburtsort! Zweiter Mann: Fehlt. Sachbearbeiter: Beruf! Zweiter Mann: Brunnenbauer. Sachbearbeiter: Der Nächste! Dritter Mann: Ich. Sachbearbeiter: Name! Zweiter Mann: Fehlt. Sachbearbeiter: Geburtsort! Dritter Mann: Fehlt. Sachbearbeiter: Beruf! Dritter Mann: Traumdeuter. Der Sachbearbeiter nimmt die Formulare und liest sie noch einmal durch.

Sachbearbeiter: Du lebst in deiner Stadt, in dem Haus, in dem du geboren bist. Lernst in der Schule, die dein Vater besucht hat. Hältst auf den Klub, auf den dein großer Bruder gehalten hat. Kennst alle, die in deinem Viertel wohnen, und entdeckst Fremde. Weißt, dass die Politik sich selbst genügt. Weißt, dass die Fremden der Grund allen Übels sind. Weißt, dass das Recht auf seiner Seite hat, wer die Stadt nicht verlässt. Weißt, dass die Geschichte längst stillsteht wie eine Grube, deren Kohle gefördert ist. Die Zeit geht nach wie eine alte mechanische Uhr. Die Zeit lässt uns keine Chance auf ein unbeküm­ mertes Leben. Mit unseren Ängsten, unseren Mutmaßungen bleiben wir allein. Bewahre, Herr, all jene, die Tickets für diese ver­ gebliche Tour haben. Unbekannte Stimmen, die vor dem Fenster tönen. Unvertraute Gesichter, denen du auf der Straße be­ gegnest. In der Luft konturiert sich eine neue Sprache. Alle wollen reden. Keiner will zuhören 7. SZENE Eine Gefängniszelle. Ein Doppelstockbett. Auf der obe­ ren Pritsche sitzt der junge Mann in Militärkleidung und Armeestiefeln und lässt die Beine herabbaumeln. Auf der unteren Pritsche liegt der Zweite, im Business­ anzug. Vor ihnen auf dem Boden steht ein kleiner ­tragbarer Fernseher. Es laufen Kurznachrichten. Zum Beispiel CNN. Mann im Anzug: Und wie haben sie dich ge­ nannt? Mann in Militärkleidung: Wer? Mann im Anzug: Die Menschen in dem Land, mit denen du gegen die eigenen Leute gekämpft hast. Mann in Militärkleidung: Sie haben mir einen Namen gegeben, den viele Männer in diesem Land tragen. Mann im Anzug: Und wie gings dir so mit dem fremden Namen? Hattest du keine Angst, in den Kampf zu ziehen und zu wissen, dass sich später auf dem Friedhof keiner mehr erinnern wird, wie du geheißen hast? Mann in Militärkleidung: Ich fand meinen neuen Namen gut. Ich fand es gut, dass sie mich für einen der ihren gehalten haben. Ich habe die Wahrheit darin entdeckt, wie diese Leute über den Tod sprechen. Wie froh sie über traurige Zeiten sprechen. Ich hatte mich an meinen neuen Namen gewöhnt. An meine Waffe, an die neue Landschaft. Mann im Anzug: Ein Mensch kann seinen Atem nicht ändern. Unser Auge hängt an dem, was es von Anfang an gesehen hat. Für sie hättest du nie richtig dazugehört. Sie hätten in dir immer den Fremden gesehen. Mann in Militärkleidung: Ich wollte ihnen ja gar nicht gefallen.


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Ich wollte nur mit ihnen zusammen sein. Mann im Anzug: Wir alle wollen gefallen. Uns allen ist es wichtig, unter unseresgleichen zu sein. Aber all das hat gar keine Bedeutung. Dieses Land wendet sich einfach von dir ab. Die Landschaft, auf die dein Blick gerichtet war, bleibt höchstens in deiner Erinnerung, in deiner traurigen Erinnerung. Mach dich auf das Schlimmste gefasst, Soldat. Auf Verrat, auf Ablehnung, auf Schande. Auf traurige Tage voller Misstrauen und Hilflosigkeit. Auf das Ausbleiben guter Nachrichten, auf traurige Neuigkeiten. Mann in Militärkleidung: Kanonenfutter der Ge­ schichte, Verbände, die die Dunkelheit stürmen. Männer, die mit ihrer Armut Kontinente verbinden. Es ist nichts mehr zu machen, die Wasser sind nicht aufzuhalten, die in die Armutsviertel strömen, Lager und Kir­ chen überfluten. Für die Möglichkeit zu danken, diese Luft zu at­ men, war alles, was ich konnte. Bei denen zu bleiben, an die ich geglaubt habe, war alles, was ich wollte. Merk dir meinen Namen, du Land von Widerstand und Kampf. Ruf mich wie einen Hund, der sich im Dunkeln verloren hat. Ruf mich und vergiss mich nicht. Flicht mich in deine Sprache wie einen blutigen Faden. Das Wasser rückt näher und kappt den Fluchtweg. Die Sterne stürzen ins Wasser wie Selbstmörder. 8. SZENE Die Polizisten führen die Frau aus einem Supermarkt. Sie wehrt sich. Frau: Tilgt mich, tilgt mich aus diesem Land! Schließt eure Haustüren hinter mir. So, dass ich nie wieder hierher zurückkommen kann. So, dass mir keine Chance bleibt, wieder durchzu­ schlüpfen.

serhij zhadan_lieder von vertreibung und nimmerwiederkehr

Erster Polizist: Wir setzen uns mit Ihrer Bot­ schaft in Verbindung. Zweiter Polizist: Wir organisieren Ihren Rück­ transport ins Heimatland. Frau: Ich weiß, dass ich diesen Platz zum letzten Mal sehe. Ich weiß, dass ich zum letzten Mal über dieses Pflaster gehe. Das sind die gebrochenen Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr. Das sind unsere Lieder, die wir in die kalte Luft hi­ nausschreien. Singt mit mir, ihr Frauen, die ihr hier kein Haus gefunden habt. Singt mit, ihr Männer, die ihr hier keine Arbeit ge­ funden habt. Singt mit, ihr Kinder der Last der Straße. Ihr Halbwüchsigen, die ihr das Freudenelixier in der hohlen Hand bergt. Der Weg des Zweifels, der Weg der Niederlage liegt vor uns. Wie einen Stein schleppen wir die Vergangenheit mit uns herum. Hört ihr mich, Brüder in Vertreibung und Verges­ sen? Hört ihr mich in euren Gefängniszellen und Frachträumen? Im Hintergrund tauchen die Silhouetten unserer Häft­ linge auf – der Mann in Militärkleidung und der Mann im Anzug. Sie antworten der Frau. Mann in Militärkleidung: Ja, Schwester, wir hö­ ren deine Stimme. Wir singen mit dir, Schwester. Mann im Anzug: Wir setzen uns neben dich, Schwesterlein. Wir alle sind Diebe, Betrüger, Spekulanten, hohle Stängel, unbekannte Pflanzen, leider sind wir hier nicht heimisch geworden, dann suchen wir uns eben einen anderen Platz. Mann in Militärkleidung: Aber sing, sing, nimm uns auf mit deiner Stimme. Markiere uns an den fremden Orten. Lang sind die Wege der Vertreibung, süß die Träu­ me der Obdachlosen. Still ist der Lauf der Geschichte. Grausam ihr Lä­ cheln.

Tilgt mit mir auch die Erinnerung an mich. Tilgt aus der Erinnerung den Klang meiner Stimme. Tilgt die Augenfarbe, tilgt die Fingerabdrücke. Ich will verschwinden aus dieser Stadt, aus eurem Gedächtnis.

9. SZENE Ein Platz in einer europäischen Stadt. Heiligabend. Drei Flüchtlinge stehen dort. Sie halten Papiertüten aus dem Supermarkt in der Hand.

Wir alle sind hier überflüssig – Zugelaufene, die den Hafenfeuern gefolgt sind, gefolgt der Wärme in den Tankstellen an der Stra­ ße, den Lichtern in den Kantinen. Gefolgt den Gerüchen auf den Basaren, den Far­ ben in den Supermärkten. Gelaufen in der Hoffnung, der Vergangenheit zu entkommen, die uns auf den Fersen war. Erster Polizist: Sie müssen mitkommen. Zweiter Polizist: Sie können die Aussage verwei­ gern. Erster Polizist: Sie bekommen einen kostenlosen Anwalt. Zweiter Polizist: Sie bekommen einen Dolmet­ scher, damit Sie alles verstehen.

Der Erste: So leer ist es jetzt auf den Straßen und so dunkel. Als hätten die Bewohner ihre Viertel verlassen, um vor der Pest zu fliehen. Der Zweite: Genau, Unrast und Stille liegen in der Luft, Unrast füllt die warmen Lungen wie Tauwetter, kühlt sie ab wie Teeblätter im heißen Wasser. Der Erste: Nacht, getränkt von Schlaflosigkeit, Nacht, wenn die Parkplätze weitläufig wirken, Nacht unserer Einsamkeit, Nacht der Stimmlosigkeit. Der Zweite: Wo sind sie – die Leute aus den Vor­ stadtsiedlungen, die Bewohner der stillen Stadtteile, der traurigen Viertel?

Wo sind sie alle? Wovor fliehen sie? Der Dritte: Bei ihnen ist heute Feiertag. Sie feiern. Der Zweite: Wo sind sie denn? Wo feiern sie? Der Dritte: Sie sitzen zu Hause. In diesem merk­ würdigen Land, lassen sie die Straßen leer. In dieser Nacht gehört die Stadt den Fremden. Denen, die keinen Glauben haben, und denen, die kein Haus haben. Der Erste: Was sollen wir, die wir geblieben sind, in dem fremden Land, auf den Plätzen und Bahn­ höfen, machen? Was sollen wir mit unserer Sprache anstellen? Mit unserer Vergangenheit, mit unseren Schat­ ten? Was kann uns denn hier verbinden? Der Zweite: Verbindet uns vielleicht der Geist ei­ nes Festes im Freien? Der Dritte: Es gibt nichts, was uns allen gemein­ sam ist. Es gibt nichts, was jeder von uns annehmen würde. Aber bringen doch auch wir Ruhe in unsere Ge­ spräche. Erfreuen wir uns an diesem Abend, den keine Feu­ erflammen sprengen. Erfreuen wir uns an der Welt, die so eingerichtet ist, dass sie immer Platz bietet für Singen und Sinnie­ ren. Singen wir von unseren Leiden und Freuden. Denken wir an unsere Verluste und Gewinne. Bleiben wir in dieser Nacht. Bleiben wir die, als die wir geboren wurden – die glücklichsten, unglücklichsten, sorgenvollsten, sorgenfreisten. Wie viele von uns werden die Armut noch kosten müssen. Wie viele von uns werden noch vom Wind der Ver­ dammung getrieben. Und dennoch – singen wir und erfreuen wir uns an dem Moment. Erfreuen wir uns an diesem unglaublichen Leben. Die Männer betreten den Aufgang ihres alten Hauses. Nach und nach gehen in dem Haus die abendlichen Lichter an. 10. SZENE Auf dem Flughafen. Die Polizisten begleiten die Män­ ner, die abgeschoben werden sollen. Sie halten offizielle Schreiben und Dokumente in der Hand. Die Männer haben große Reisetaschen mit ihren persönlichen Hab­ seligkeiten bei sich. Darunter unsere Protagonisten: der eine in Militärkleidung, der andere im Anzug. Polizist: Zum Ausgang, bitte zum Ausgang. Nehmt eure Sachen, eure Schätze von unterwegs, das einfache Erbe der Flüchtlinge, die schmale Habe der Wandernden. Nehmt eure Hemden mit, eure Bücher, verfasst von uns unbekannten Dich­ tern, gedruckt in uns unbekannten Sprachen, Bücher, die in eurem Heimatland verboten sind. Männer, das ist nicht eure Geschichte, nicht euer Land. Kehrt dahin zurück, wo ihr eure Namen zurück­ bekommt.

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Kehrt dahin zurück, wo ihr aufgewachsen seid, wo ihr euch selbst gefunden habt. Alles geht zu Ende, alles ist so, wie es sein soll. Der Mann im Anzug geht auf den Mann in Militär­ kleidung zu. Mann im Anzug: Na, Freund, geht’s zurück? Heute werden wir schon zu Hause übernachten. Im Gefängnis schläft man besser im eigenen Land. Zu Hause sind zwar die Gesetze strenger, aber die Wärter vertrauter. Mann in Militärkleidung: Willst du wirklich zu­ rückgehen? Hast du denn keine Angst? Mann im Anzug: Wovor soll ich denn Angst ha­ ben? Ich bin und bleibe ein Verbrecher. Egal, wo ich bin, schweben die guten Engel der Unterwelt über mir. Ich habe einfach die Vorschriften und Gesetze der Länder übertreten, in denen ich war. Aber ich habe niemanden umgebracht, nieman­ dem das Leben genommen. Was war in meiner Vergangenheit? Flotte Finanz­ geschäfte. Was habe ich vor mir? Eine Zeit der Sühne und Stille. Es ist besser, nach Hause zurückzukehren. Die Anstaltsmauern sind überall hoch. Aber das Anstaltsbrot schmeckt zu Hause süßer. Was hast du denn? Was nagt an deinem Inneren? Mann in Militärkleidung: Ich kann nirgendshin zurück. Hier lasse ich alles, was mir im Leben Halt gege­ ben hat. Hier habe ich Antworten auf meine Fragen gefun­ den. Hier habe ich für das gleißende Licht gekämpft. Mann im Anzug: Ja, du bist nicht zu beneiden. Zu Hause erwartet dich nichts als Strafe. Dunkel und Plage des Anstaltsflurs.

/ TdZ April 2022 /

Das ehrlose Schicksal eines Soldaten, der die fal­ sche Armee gewählt hat. Kehren wir zurück, mein Lieber, kehren wir zurück. Die Geschichte geht zu Ende, alles ist klar: Das System zertrümmert alle, Verbrecher wie Helden. Die Politik ist eine Frau ohne Herz, genug gegen sie gegrollt. Mann in Militärkleidung: Du hast nichts begrif­ fen, nichts hast du begriffen. Ich habe nichts zu bedauern. In der Luft liegt zu viel Angst, um ruhig und sicher zu atmen. Wer weiß, von wem unsere Geschichte geschrie­ ben wird, in welchen Lettern unsere Namen auf den Grabtafeln stehen. Wir wissen nicht, wer einst die Kapitulation unter­ zeichnet. Wer kann schon sicher sagen, dass der Kampf zu Ende ist? Die Männer nehmen ihre Taschen und Koffer, werfen sich die Säcke auf den Rücken und gehen auf den vor­ deren Teil der Bühne. Chor mit Säcken: Wir kehren heim, wir kehren heim, Männer! Dieser Versuch, die Mauern einzureißen, ist ge­ scheitert. Niemand kann uns den Wunsch nach Leben neh­ men. Niemand kann uns das Recht nehmen, Ungerech­ tigkeit beim Namen zu nennen. Mann in Militärkleidung: Was hat uns über die Grenzen getrieben? Chor mit Säcken:

Unsere Liebe!

Mann in Militärkleidung: heimzukehren? Chor mit Säcken:

Was gibt uns die Kraft

Unsere Liebe!

Mann in Militärkleidung:

Seid ihr bereit, dahin

aufzubrechen, wo euch niemand erwartet? Seid ihr bereit, dem Leben ins kranke Auge zu schauen? Chor mit Säcken: Kehren wir heim, lassen wir die Verzweiflung zu­ rück. Menschen, geboren in den letzten großen Zeiten. Bürger der Vorstädte, Bürger der fernen Viertel. Arbeiter, die das große Gebäude Geschichte errich­ ten. Sei unser Zeuge, du dornige Sprache. Sei unsere Fortführung, sei unser Banner. Alles wird so besprochen werden, wie wir es wol­ len. Alles wird besungen werden mit einer Stimme, heiser von der Straße. Bist du bereit, den Tod zu bezeugen? Mann in Militärkleidung:

Ja, ich bin bereit.

Chor mit Säcken: Bist du bereit, auf der Treppe deiner Schule zu schwören, die vom feindlichen Geschwader getroffen wurde? Mann in Militärkleidung:

Ja, ich bin bereit.

Chor mit Säcken: Rede, Mann, bezeuge jedes dieser Gesichter. Bezeuge den Wind, der die Städte ausgekühlt hat. Bezeuge die Stimmen, die die Bewohner der abge­ brannten Städte aus dem Schlaf gerissen haben. Bezeuge den kindlichen Herzschlag an der Grenz­ stelle. Schon wird das Feuer entzündet, und die Zögern­ den fallen auf. Die Zeit der großen Auslese zwischen Lebenden und Toten beginnt. Aus der Dunkelheit melden sich jene, die früher fortgegangen sind. Sie lassen nicht zu, dass wir Angst haben. Sie las­ sen nicht zu, dass wir stehen bleiben. © Suhrkamp Verlag


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„Kunst interessiert hier grade wirklich niemanden“ Stimmen ukrainischer Theatermacher:innen Wenn dieses Heft erscheint, ist es fünf Wochen her, dass Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine angefangen hat. Seitdem sind Millionen Ukrainer:innen auf der Flucht. Andere bleiben und versuchen, vor Ort das zu bewahren, was noch zu bewahren ist, und diejenigen zu schützen, die ebenfalls bleiben (müssen). Darunter auch Künstler:innen und Theaterschaffende. Wir haben mit fünf von ihnen darüber gesprochen, wie sie den russischen Krieg in der Ukraine erleben. Protokolle von Lina Wölfel

ALEXANDR KRYWOSHEJEW

Schauspieler am Puschkin Theater in Charkiw. Zum Zeitpunkt des Gesprächs versteckt er sich in der Ukraine. Seine Frau Olha und seine Tochter sind über die rumänische Grenze nach Deutschland geflohen. Am 24. Februar bin ich um 5.30 Uhr in meiner Wohnung in Charkiw von Explosionen aufgewacht. Ich habe sofort meine Frau und meine fünf Monate alte Tochter geweckt. Wir woll­ten in Richtung meiner Eltern flüchten. Zum Glück habe ich ein Auto. Das hat unser Leben gerettet. Als wir die Stadt um 7 Uhr verlassen wollten, war überall schon Panik. Wir haben Kropywnyzkyj, wo meine Eltern wohnen, erst um 18 Uhr erreicht, weil die Straßen komplett verstopft waren. Alle, die die Stadt verlassen konnten und wollten, haben versucht rauszukommen. Und Tausende sind in Charkiw geblieben – einer wunderschönen, multinationalen Stadt, die jetzt Tag um Tag mehr zerbombt wird. Nach zwei Tagen bei meinen Eltern haben wir in der Nähe des Flughafens Explosionen gehört – die Bomben sind uns gefolgt. In dem Moment habe ich festgestellt, dass ich mich von meiner Frau und meiner Tochter trennen muss. Sie müssen rauskommen, aber ich kann nicht mit ihnen mit. An den Grenzen haben sie zu dem Zeitpunkt schon Ausweisdokumente überprüft, und Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Ich habe meine Frau, meine Tochter und meine Schwiegermutter in Richtung Chmelnyzkyi gefahren, wo sie am nächsten Tag mit einem Bus zur rumänischen Grenze gebracht wurden. Jetzt bin ich allein in einer un­bekannten Stadt, weil ich mich verstecken muss. Ich kann nicht zu meiner Familie. Friedliche, demokratische Menschen werden angegriffen. Menschen, die einfach nur in einem demokratischen Land leben wollten. Ukrainische, aber auch russische Soldat:innen müssen als Raketenfutter dienen. Ich habe Angst, dass die USA und Europa einfach nur zusehen, wie die Ukraine zerstört wird, und den Luftraum nicht schließen. Anders werden Tag um Tag mehr und mehr Zivilist:innen sterben. Ich fühle mich hilflos. Ich bin kein Soldat. Ich wünschte, ich könnte als Schauspieler gerade helfen, aber das geht nicht. Meine Hauptaufgabe ist zu überleben, damit ich meine Familie wiedersehen kann. An Kunst kann ich gerade nicht denken, obwohl ich sie liebe. Aber ich liebe meine Familie mehr, und nichts anderes zählt aktuell. Überleben. Foto Alexandr Krywoshejew


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protagonisten

/ TdZ April 2022 /

SOLOMIA KUSHNIR Schauspielerin am Thalia Theater Hamburg und im AllDas Ensemble. Sie wuchs in der ukrainischen Stadt Lwiw auf. Als um 19.25 Uhr eine Alarmsirene ertönt, bin ich hier in Deutschland auf der Bühne und meine Kollegen dort in der Ukraine unter der Bühne. Wo ist die Gerechtigkeit? Unbewusst war mir klar, dass eine solche Entwicklung möglich ist. 2014, nach den Ereignissen auf dem Maidan, wo die Ukrainer:innen selbstbewusst den Wunsch äußerten, in einem demokratischen Land zu leben, hatte ich einen Albtraum. Ich sah einen brennenden Olivenbaum im Zentrum von Lwiw und eine tote Taube. Als ich aufgewacht bin, habe ich geweint und dann gebetet. Meine Gebete waren nicht genug. Heute brennt mein Land. Meine Erinnerungen brennen. Meine Seele brennt. Krieg, was für ein schreckliches Wort. Keine Naivität, keine Romantik, nur Angst um die Zukunft, um die Vergangenheit, um unsere Seelen, die immer schwerer gegen den Hass des Feindes zu kämpfen haben. Putins Ziel ist es, die ukrainische Integrität zu verletzen. Er will keinen freien, demokratischen Staat, der sich gegen eine imperialistische Übernahme wehren kann. Jetzt greifen unsere Jungs und Mädels zu den Waffen, sie zahlen den höchsten Preis, um ihre Städte, ihre Familien und die Zukunft mit Würde zu verteidigen. Du und ich sind hier in Sicherheit, unter einem friedlichen Himmel. Wir sehen kein Blutvergießen, unsere Städte werden nicht zerstört, wir haben das Recht, zu sprechen und unsere Gedanken frei auszudrücken. Vom ersten Kriegstag an habe ich versprochen, mich von ganzem Herzen für dieses Geschenk des Schicksals zu bedanken: rauszugehen, laut zu sein, mit Menschen zu sprechen, Spenden zu sammeln, als Freiwillige zu arbeiten, Geflüchtete aufzunehmen und Kunst zu schaffen. Kunst taucht oft nach und sogar während Ereignissen auf, die von Schmerzen und Leiden begleitet sind. Dies bestätigt uns die ukrainische Literatur von Schewtschenko bis Kostenko. Heute, zu einem hohen Preis, ermöglicht die Erfahrung meiner Verwandten und Freunde, eine einzigartige Kunst außerhalb meines Heimatlandes zu schaffen. Ich hoffe aufrichtig, bald in der Vergangenheitsform die Erfahrung des Blutvergießens, schmerzhaften Verlustes oder der erzwungenen Flucht meiner Landsleute zu teilen und meine postimmigrantischen Erlebnisse von Fernkampf, Angst und Schuld auszudrücken, was hauptsächlich darauf abzielt, den Betroffenen Unterstützung, Verständnis und Liebe zu zeigen. Und ich bitte auch euch, liebe Leserinnen und Leser, von ganzem Herzen, seid nicht gleichgültig! Seid dankbar für euer Schicksal und nehmt diese Erkenntnis als Anstoß zu handeln. Lasst uns handeln! Foto Max Magna

ANNA WROBEL freie Choreografin und Tänzerin in Hamburg sowie Dozentin für Tanz an der Norddeutschen Musical Akademie. Sie wuchs in der ukrainischen Stadt Charkiw auf. Seit drei Wochen kämpfen wir für unsere Freiheit, für unsere Existenzberechtigung, für unsere Zukunft. Wir Künstler:innen der Ukraine können nicht über dem Konflikt stehen. Unser Leben ist bedroht, unsere Häuser sind zerstört, unser Land ist verwüstet. Wo ist das Ende? Werden wir vor den Augen der Welt einfach ausgelöscht? Für uns Ukrainer sind Freiheit und Demokratie Schlüsselelemente unserer Existenz. Wir glauben an Frieden. Wir verstehen die Bedeutung von Zusammenarbeit und Integration. 1991 haben wir unsere Flügel ausgebreitet, um mit dem Wind des Wandels zu reiten. Wir haben die Notwendigkeit erkannt, unsere Vergangenheit zu heilen und unsere Gegenwart zu nutzen, um eine bessere Zukunft aufzubauen. Alles, was einst verboten war, kam zu uns. Die ganze Nation nahm am Kurs zur Integration in Europa teil. Acht Jahre russischer Aggression gegen die Integrität unseres Landes haben uns klar gemacht, wie wichtig uns unsere Identität ist. Ein Weiterbestehen von Putins Regime kommt dem Verbot unserer Kultur und Kunst gleich. Einem Verbot unseres Seins. Der Horror, den wir gerade in unserem Land und in unseren Herzen erleben, lähmt uns. Unsere Chance, Trost in unserer Kunst zu finden, wird uns genommen. Jede Stadt befindet sich in moralischer und psychologischer Belagerung. Seit Anbeginn der Zeit war das Theater ein Ort, um eine Erzählung, die Geschichte eines Menschen zu erleben und mit den Helden mitzufühlen. Heute ist unser Theater unser Luftschutzbunker, ein Hauch der Wärme, unsere letzte Hoffnung auf Sicherheit. Kunst und Kultur ist für uns, jetzt auf ganz andere Art und Weise, Leben. Wir, die Künstler der Ukraine, wollen unsere Kinder aufwachsen sehen, wir wollen, dass unser Land sicher und heil ist, wir wollen in der Lage sein, Licht zu erschaffen und zu bringen. Bitte, steht zu uns. Verlasst uns nicht und unterstützt die Ukraine. Foto Sasha Ilushina


protagonisten

/ TdZ April 2022 /

OLHA KRYWOSHEJEWA

Schauspielerin am Puschkin Theater in Charkiw und Dozentin an der Natio­ nal University of Arts Kharkiv. Mit ihrer fünf Monate alten Tochter ist sie über Rumänien nach Deutschland geflohen. Ich habe es geschafft, nach Deutschland zu flüchten. Ich habe hier Freunde, die mich abgeholt haben. Sie haben mein Leben gerettet. Mein Mann und ich lieben Charkiw. Es war eine der schönsten, lebenswertesten und lebendigsten Städte in der Ukraine. Wir waren so froh, dass wir in dieser Stadt gelebt haben und dass unsere Tochter dort aufgewachsen wäre. Aber das wird sie nicht. Als die Stadt am 24. Februar bombardiert wurde, mussten wir fliehen. Wir haben keine bombensicheren Unterkünfte oder irgendwelche Bunker, in denen wir uns hätten verstecken können. Wir Frauen sind dann geflohen – meinen Mann musste ich zurücklassen. Freund:innen von Wheels of Berlin sind von Berlin bis nach Rumänien gefahren, um uns abzuholen. Alles, was Charkiw zu bieten hatte, ist kaputt. Es gibt die Stadt quasi nicht mehr. Den Theatern ging es auch in den letzten Jahren nicht besonders gut. Das Theater in der Ukraine ist wie eine große Familie. Aber Kunst interessiert hier grade wirklich niemanden. Das ist ein realer, brutaler Krieg. Und erst, wenn dieser Krieg vorbei ist, es dann noch ein Land ­Ukraine gibt und sich die Wirtschaft erholt hat, wird es wieder staatlich gefördertes Theater geben. Lokale Theatergruppen werden vielleicht auch früher wieder anfangen zu arbeiten und das, was wir gerade erleben, mit den Mitteln der Kunst verarbeiten. Ich lehre auch an der Universität in Charkiw und bin im Kontakt mit einigen meiner Schüler:innen. Sie haben mir erzählt, dass sie im Ausland weiterstudieren wollen. Der Krieg wird auch unsere Theater-Familie zersplittern. Künstler:innen, die fliehen konnten, werden weiter Theater in ukrainischer Tradition machen, aber nicht in der Ukraine. Foto Olha Krywoshejewa

SOFIA LESHYSHAK Schauspielerin am Teatr Lesi in Lwiw. Aktuell hilft sie Menschen in Lwiw, die aus anderen Städten der Ukraine geflüchtet sind. Krieg ist verdammt angsteinflößend und vernichtend. Vor zwei Wochen noch hatte ich Proben im Theater, und heute helfen wir unseren Truppen und Geflüchteten mit allem, was wir haben und leisten können. Ich bewundere dieses Land und wie alle gerade als Gemeinschaft zu­ sammenhalten. Ich bin extrem wütend darüber, was in Russland passiert, dass diejenigen, die sich zur Wehr setzen und gegen den Krieg auf die Straße gehen, stumm gemacht werden und der Rest einfach schweigt. Ich wünschte mir vor allem von meinen Kolleg:innen im Schauspiel­ bereich, russischen Schauspieler:innen, die in ukrainischen Filmen jahre­ lang mitgespielt haben und von unserer Filmindustrie profitiert haben, ihre Reichweite und Stimme zu nutzen, um gegen diesen Krieg zu protestieren. Es ist eine Schande, wie viele schweigen. Während unsere Häuser, Familien und Städte bombardiert werden, beklagen sie sich darüber, dass McDonald’s schließt. Es ekelt mich an, dass Menschen im 21. Jahrhundert sich dazu entscheiden, blind und taub gegenüber der Welt zu sein. Foto Sofia Leshyshak

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kommentar

/ TdZ April 2022 /

Falsches Bekennertum Ein Kommentar von Lena Gorelik

D

ostojewski und Putin haben sich nie kennengelernt, sich nie die Hand geschüttelt, sich nicht ausgetauscht über Politik, Kriege oder Literatur. Ein klarer Fakt, der gerade dennoch erwähnenswert erscheint. Nämlich, wenn eine Mailänder Universität überlegt, Dostojewski vom Lehrplan zu nehmen, aus dem einzigen Grund: Er ist ein Russe. Und was russisch ist, scheint dieser Tage, in ­denen Putin einen Krieg gegen die Ukraine führt, in denen ein Autokrat nicht nur ein anderes Land ­angreift, sondern auch mit aller Meinungs­ freiheit zerstörenden Gesetzen um sich wirft, per se verdächtig zu sein. Der Chef­ dirigent der Münchner Philhar­ moniker Valery Gergiev wurde in einem öffent­ ­ lichkeitswirksamen Prozess entlassen, der Opernsängerin Anna Netrebko wurden zahlreiche Auftritte abgesagt. Nun kann man Gergiev zu Recht vorwerfen, er habe sich schon häufig als Putin-Sympathisant gezeigt und die Krim-Annexion gutgehei­ ßen, aber was ist mit dem russischen Pia­ nisten A ­ lexander Malofeev, der im Gegen­ satz dazu öffentlich den Krieg gegen die Ukraine verdammte und dessen Auftritte beim Montreal Symphony Orchestra den­ noch abgesagt wurden? Beinahe scheint es einen Wettbewerb zu geben, wenn es um die Ausladung rus­ sischer Künstler:innen geht; hier, seht her, wir setzen ein Zeichen, dass wir auf der ­richtigen Seite sind. Als würde man mit diesen Ausladungen tatsächlich Ukrainer:innen helfen. Als real­politische Sanktion ist das nicht ernst zu nehmen: Putin hat in den vergan­ genen Wochen gezeigt, dass er sich nicht einmal von den schwer­ wiegenden wirtschaftlichen Sanktionen einschüchtern lässt, die den Menschen in seinem Land tatsächlich tagtäglich das Leben schwer machen. Und wie realitätsblind, wie arrogant ist es, von russischen Künstler:innen pauschal abzuverlangen, dass sie sich öffentlich von Putin und seiner Politik distanzieren, wo wir doch täglich Bilder sehen von Menschen, die verhaftet, die in ­Polizeiwagen gezerrt werden, weil sie ein Pappschild in der Hand halten, auf dem „Nein zum Krieg“ steht. Wo wir doch gelesen ­haben, dass die letzten unabhängigen Medien in Russland ver­ boten worden sind, dass bereits das Benennen des Kriegs als ­solchen zu fünfzehn Jahren Haft führen soll? Noch verlogener wirkt dieser Aufruf zum Bekennertum, wo doch so viele in den vergangenen Monaten aufbegehrt haben, wenn Künstler:innen

aus politischen Gründen ausgeladen worden sind, was der Grund dafür ist, dass der Begriff #cancelculture zum Modebegriff wurde, beinahe zu einem Synonym für „Zensur“. Putin zerstört in diesen Tagen mit allem, was das russische Militär noch hergibt, die Ukraine. Mit allen anderen Mitteln zer­ stört er parallel aber auch sein eigenes Land, die letzten unabhän­ gigen Medien, jedes frei geäußerte Wort, jeden demokratischen Gedanken, und damit nicht zuletzt die Kraft von Kunst und Kul­ tur. Journalist:innen, Künstler:innen, junge Menschen verlassen, wenn sie können, das Land. Ob Kunst und Kultur politisch sein dürfen/sollen/müssen, ist eine sehr privilegierte Frage, sie wird nur in Frieden und Wohlstand gestellt; in prekä­ ren oder eben ­ kriegerischen Umständen scheint sie abs­trus: Kunst und Kultur finden nicht jenseits des realen Lebens statt. Sie sind von den g ­esellschaftlichen und politischen Umständen geprägt wie um­geben. Wenn ein Konzert, eine Vernissage, eine Lesung, eine ­Theateraufführung nicht ohne den Krieg, den Putin gegen die ­Ukraine führt, gedacht wer­ den kann, kann die politische Entscheidung auch genau im Gegenteil der Verbannung be­ stehen. Vielleicht ist genau jetzt die Zeit, rus­ sische Künstler:innen einzuladen, gemein­ sam über Kunst, über Sprache, über das Menschsein, über Empathie, über Kommuni­ kationswege, über all das Schöne und das Of­ fenbarende, was Kunst ermöglicht, nachzu­ denken, vielleicht ist jetzt die Zeit dafür, dass Musik, Kunst und Literatur die viel gepriesenen Brücken baut, die der Krieg und Putin zerstört. Vielleicht schaffen es Töne, Worte, Bilder, Verbin­ dungen auf­zubauen, die keiner gemeinsamen Sprache bedürfen, und die ­gerade dadurch über bloße Statements und Bekenntnisse hinausgehen, vielleicht machen sie verstehen. Die Mailänder Universität hat den Plan, Dostojewski vom Lehrplan zu nehmen, wieder rückgängig gemacht. Aber der ­Gedanke, der dahintersteckt, der Nachgeschmack, der bleibt und wird mit jeder weiteren Ausladung bekräftigt: die Gleichsetzung von allem Russischen mit dem Autokraten Putin. Über diese Gleichsetzung wird gerade er sich außerordentlich freuen. // Lena Gorelik. Foto Charlotte Troll

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Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 nach Deutschland und lebt heute in München. Sie schreibt T ­ heaterstücke und Romane.


editorial

/ TdZ April 2022 /

W

ie kann eine Theaterzeitschrift auf diesen Kriegsbeginn reagieren? Wenn man ukrainische Theaterleute, die in Kellern sitzen oder fliehen müssen, persönlich kennt? Wenn man russische ­Theaterleute kennt, die ebenfalls fliehen müssen, die mutig auf Demonstrationen gehen und dafür verhaftet werden oder eben mit zusammengepressten Lippen fassungslos zuschauen, wie ihre in der ganzen Welt geschätzte Theaterkultur innerhalb weniger Wochen in diesem Krieg mit untergeht?

Serhij Zhadans Text „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“, dessen Uraufführung noch im letzten Heft als „aktuell brisanteste Produktion“ der Münchner Biennale für neues Musiktheater angekündigt war, hat sich als prophetisch erwiesen. Als erschreckend prophetisch. Aber auch als Gabe der Literatur, die mehr sieht als alle Medien (und wohl auch Geheimdienste) zusammen. ­Zhadan, der in Charkiw lebt und dort momentan bei der Evakuierung hilft, dabei sein Leben riskiert, hat nicht nur in diesem Theatertext das Entsetzliche vorausgesehen, sondern auch schon in seinem letzten Gedichtband „Antenne“ von 2020. Nur eine Zeile als Bespiel: „Die Welten der Mietwohnun­ gen kippen.“

Der Aboauflage liegt bei

Marina Dawydowa, die wichtigste Theaterkritikerin Russlands, künstlerische Leiterin des internatio­ nalen Theaterfestivals NET in Moskau und Chefredakteurin der Zeitschrift Teatr, veröffentlichte auf deren Facebook-Seite einen Aufruf gegen den Krieg in der Ukraine. Sie musste fliehen, nachdem man an die Tür ihrer Moskauer Wohnung ein „Z“ geschmiert hat, jenes ominöse Zeichen in diesem Krieg. Dawydowa gelangte nach ihrem von einer geheimpolizeilichen Befragung eingeschüchterten Grenzübertritt nach Vilnius. In einer ersten E-Mail schrieb sie: „Wir brauchen Verträge, Arbeitsmög­ lichkeiten, Geld.“ Nicht nur die symbolische Solidarität, die freilich auch wichtig ist. Und erwartet wird das Erkennen derjenigen russischen Künstler und Intellektuellen, die sich nicht im Putin-­ System die Hände und den Geist schmutzig gemacht haben und dafür belohnt wurden. Die in St. Petersburg geborene Autorin Lena Gorelik kommentiert nebenstehend diese Frage von Boykott und Beziehungen. Junge ukrainische Theaterkünstler:innen sprechen über ihre Situation, nach der Flucht oder hier bereits in den Theatern angekommen, aber deshalb ja nicht weniger mit der Not dort verbunden, oder gar aus einem Versteck in der Ukraine. Es ist zu erwarten, dass sich ein Theater der ukrainischen Emigration bilden wird, nicht allein deshalb, weil es in diesem Krieg auch um die ­Bewahrung der ukrainischen Kultur und Sprache geht. Wie konkrete Hilfe dafür aussieht, da ist auch die Kultur­politik gefordert. // Thomas Irmer

DOUBLE – Das Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater

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/ TdZ April 2022 /

Inhalt April 2022 thema ukraine

1

Serhij Zhadan Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr

7

„Kunst interessiert hier grade wirklich niemanden“ Stimmen ukrainischer Theatermacher:innen. Protokolliert von Lina Wölfel

1

kommentar

10

Lena Gorelik Falsches Bekennertum

kunstinsert

15

Mark Lammert Laudatio für Richard Peduzzi

inszenierungen

22

Michael Helbing Weimarer Zeitgeschichten Neue Stücke von Thomas Freyer und Dirk Laucke legen am Deutschen Nationaltheater Weimar Gegenwart über die Vergangenheit

26

Stefan Keim Ödipus im Ruhrgebiet Die Theater in Bochum, Dortmund und Moers zeigen verschiedene Blicke auf den Klassiker

30

Elisabeth Maier Krankhafte Leidenschaft in der Apokalypse Brigitte Maria Mayer inszeniert Heiner Müllers „Quartett“ am Landestheater Tübingen

protagonisten

32

Hans-Dieter Schütt „Ausm Bauch – und ehrlich“ Die Schauspielerin Maike Knirsch im Porträt

ausbildung und corona

36

Friederike Felbeck Generation Corona? Schauspielausbildung als Achterbahnfahrt: Eindrücke aus Wien und Bochum

interview

40

Elisabeth Maier Kultur ist das neue Salz Nach ihrem Abschied als Chefin der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg verantwortet Elisabeth Schweeger nun die Kulturhauptstadt 2024 im Salzkammergut

look out

42

Friederike Felbeck Dunkle Materie Die Schauspielerin Sarah Moeschler forscht nach dem Unsichtbaren im Theater

22

42


inhalt

/ TdZ April 2022 /

exklusiver vorabdruck

43

Anne Fritsch Theater unser Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

ausland

46

Renate Klett Steine, Pflanzen, Sounds Das Theater der Chilenin Manuela Infante ist politisch im Geist des Zweifels

stück

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Thomas Freyer Treuhandkriegspanorama

auftritt

64

Düsseldorf „Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper)“ von Bonn Park und Ben Roessler in der Regie von Bonn Park (Stefan Keim) Erlangen „GRNDGSTZ“ Annalena und Konstantin Küspert in der Regie von Helge Schmidt (Michael Helbing) Hamburg „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili in der Regie von Jette Steckel (Peter Helling) Heidelberg „Der Kitschgarten“ nach Motiven von Anton Tschechow in der Regie von Milan Peschel (Elisabeth Maier) Leipzig „vendetta vendetta (a bunch of opfersongs“ von Thomas Köck in der Regie von Thomas Köck (Lara Wenzel) München „Gier unter Ulmen“ von Eugene O’Neill in der Regie von Evgeny Titov (Dora Dorsch) Schwedt „Nacht“ von Andrzej Stasiuk in der Regie von Jan Jochymski Tübingen „Im Thurm“ von Markus Höring in der Regie von Thorsten Weckherlin (Otto Paul Burkhardt)

74

Text und Schlagwerk Volker Brauns Langgedicht „Luf-Passion“ in der Berliner Akademie der Künste Die Königin Gabriela Maria Schmeide erhält den Tilla-Durieux-Schmuck und Luk Perceval laudatiert Cyberhexen gegen Antiziganismus Netzwerk für Roma-Theatergruppen wächst in Ungarn West-Balkan-Blues Der Kosovo Theatre Showcase in Pristina spiegelt die Probleme der Region Große Träume – kleines Theater? Der sardische Theatermacher Ignazio Chessa Der Schattenmagier Hansueli Trübs Schattentheater in Aarau Große Fragen, nicht nur für junges Publikum Das 3. jungspund Festival der Schweizerischen Kinder- und Jugendtheaterszene in St. Gallen Bücher Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron; Peter Michalzik: Horváth Hoppe Hitler

82

Meldungen

86

Premieren

87

Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau

88

Julie Paucker im Gespräch mit Thomas Irmer

64

magazin 74

aktuell

was macht das theater?

88

Titelfoto Unter dem Motto „Frieden für die Welt“ wird eine Friedenstaube auf das Leipziger Völkerschlachtdenkmal projiziert. Foto: Jan Woitas / dpa

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auftritt

/ TdZ März   Januar2018 2020//

ANNE FRITSCH

THEATER UNSER

ANNE FRITSCH

Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeisterung der Dorfbewohner bis heute ungebrochen ist. Es blickt hinter die Kulissen und begleitet die Entstehung der Passionsspiele im Jahr 2022 mit ihren über 2000 Mitwirkenden. Die Autorin Anne Fritsch hat mit vielen von ihnen gesprochen: über ihre Motivation, über besondere Rituale wie etwa den Haar- und Barterlass und über das Leben mit Theater auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Und darüber, warum Aufgeben keine Option ist.

THEATER UNSER

Buchverlag Neuerscheinungen

Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeisterung der Dorfbewohner bis heute ungebrochen ist. Es blickt hinter die Kulissen und begleitet die Entstehung der Passionsspiele im Jahr 2022 mit ihren über 2000 Mitwirkenden.

Thomas Oberender, Arne Vogelgesang Hybridtheater Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften – Drei Gespräche

Anne Fritsch Theater unser Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

Paperback mit 204 Seiten EUR 20,00 (print) / EUR 16.99 (digital) ISBN 978-3-95749-403-0

Paperback mit 200 Seiten EUR 15,00 (print) / 12,99 (digital) ISBN 978-3-95749-394-1

CHANGES

Berliner Festspiele 2012–2021

Herausgegeben von Thomas Oberender

Formate Digitalkultur Identitätspolitik Immersion Nachhaltigkeit

Hybrides Theater basiert auf digitalen Technologien, die physische und virtuelle Räume zeitgleich adressieren. Wie ein Ethnologe sammelt und studiert der Performer Arne Vogelgesang die unterschiedlichsten Netz-Communitys und -Phänomene und erschafft aus diesem thea­ tralischen und politischen Material hybride Theaterformate. In drei Gesprächen mit Thomas Oberender, dessen experimentelle Arbeit als Kurator und Vordenker neuer Formate sich stark mit neuen Raumkonzepten verbindet, diskutieren beide die Auswirkungen des Platt­ formkapitalismus auf die Kunstproduktion sowie alternative Konzepte von Authentizität, Skript, Figur und politischer Aktion.

Dieser Reader ist die Selbstanalyse einer Institution und ihres Pro­ gramms, und er ist gleichzeitig der Versuch, ästhetische und poli­tische Ereignisse, wie Botho Strauß es nannte, zusammenzudenken. Im Brennglas eines Jahrzehnts werden wesentliche Wandlungen in der Organisation von Festivals, Ausstellungen, Aufführungen und Diskursveranstaltungen entlang von fünf Leitbegriffen reflektiert: Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion und Nachhaltigkeit.

CHANGES Berliner Festspiele 2012 – 2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit Herausgegeben von Thomas Oberender Paperback mit 520 Seiten ISBN 978-3-95749-­398-­9 (deutschsprachige Ausgabe) ISBN 978-3-95749-411-5 (English edition) EUR 24,00 (print) / EUR 19,99 (digital)

Dieses Buch beleuchtet eine Produktionsstruktur für darstellende Künste in der Schweiz. Im Sommer 2022 kommt es im Theater Marie zu einem Leitungswechsel. Zehn Jahre haben Patric Bachmann und Olivier Keller das Kompetenzzentrum für Theaterproduktion im Kanton Aargau/Schweiz geleitet. Es sind rund 30 Produktionen entstanden, die an bis zu 90 unterschiedlichen Spielorten gezeigt wurden. Die Junge Marie wurde aus der Taufe gehoben und ist mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil des Theater Marie. Und das personelle und institutionelle Netzwerk ums Theater Marie ist um unzählige Fäden reicher und dichter geworden. Ohne festen Wohnsitz Theater Marie 2012–2022 Herausgegeben von Patric Bachmann, Olivier Keller und Sophie Witt Paperback mit 128 Seiten ISBN 978-3-95749-404-7 EUR 22,00 (print) / EUR 17,99 (digital)

Erhältlich in der Einar & Bert Theaterbuchhandlung oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


Für Richard Peduzzi


Mark Lammert Laudatio auf Richard Peduzzi 1. Die Theaterräume, Opernräume, Filmräume, Ausstellungsräume und architektonischen Räume, die Richard Peduzzi gebaut hat, leben von der Spannung, welche die architektonische Operation und das poetische Fühlen miteinander erzeugen und verbindet.

2. Dass diese Räume als Malerei und Richard Peduzzi als Maler bezeichnet werden, hat mit ihrer Wirkung und der Art ihrer Entstehung zu tun. Das Zeichnen und die Zeichnung ist, was die Tätigkeiten Richard Peduzzis trägt und sammelt. Als sich der vierundzwanzigjährige Maler Richard Peduzzi und der dreiundzwanzigjährige Sohn eines Malerpaares Patrice Chéreau 1967 begegnen, entstand bis zu Chéreaus Tod 2013 eine ununterbrochene Arbeitspartnerschaft, eine einmalig zweisame Kollektivität, in der jeder der beiden das Alter Ego des anderen darstellt. Der Ausgangspunkt war eine Art Komplizenschaft von Wunderkindern auf dem Weg zum Welttheater. „Ich habe aufgehört“, antwortet 2007 Chéreau auf die Frage, ob er noch zeichne. „Ich habe aufgehört, meine Bühnenbilder selber zu machen, einfach, weil ich einen Besseren gefunden habe. Richard war besser als ich, und ich finde es immer gut, mit dem Besseren zu arbeiten.“1 „Richard ist mein Kompass, der, dem der Instinkt oder der Blick nie fehlt … Die Frage des Blicks: Was sehen die Leute? Wir sind uns nie sicher, ob sie wirklich das Gleiche sehen wie wir. Unsere Arbeit und unsere Forschung basieren auf der Idee eines gleichen Blicks, seines und meines. Ein etwas schärferer Blick, der sich aus beiden zusammensetzt?“2 Peduzzi selbst sagt es in einem Satz: „Wir malen zu zweit an einem Bild.“3 Das ist weniger die Basis einer Legende als die Voraussetzung der Höhe dieser Zusammenarbeit.

3. Richard Peduzzi und Patrice Chéreau haben sich fast ein halbes Jahrhundert gemeinsam auf den Bühnen als Partner der Wortsprache, bei Opern zusätzlich der Musiksprache, beim Film der von Bewegung gestellt. Aber alles, was sie taten, ordnete sich einer Bildsprache ein und unter, die sich aus Malerei, Zeichnung, Architektur und deren Geschichte herleitet. Heiner Müller: „Ein Stück hat zwei Zeiten: die Zeit des Materials und die Zeit des Autors […] wenn es auf die Bühne kommt, dann gibt es auch noch eine dritte Zeit: die Zeit der Aufführung […] Um diese drei Zeitebenen geht es […] Dadurch entsteht ein Zeitspiegel, der sehr changiert und verblüfft, dabei aber ganz einfach im Detail ist, ohne daß daraus wieder, im negativen Sinne, eine neue Ästhetik oder ein Design wird. Ich finde überhaupt wichtig bei Chéreau, daß die Anachronismen oder alles, was er an Schichten über das Material baut, nie zu einem Design gerinnt, daß es immer noch Brüche gibt, durch die man durchsehen kann.“4

4. Deutschland, zum Beispiel, verdankt Richard Peduzzi Rahmen und Raum von Patrice Chéreaus „Ring“-Inszenierung von 1976 in Bayreuth. Für Michel Foucault galt „für Peduzzis Bühnenbild: große unbewegliche Bauten, wie uralte Ruinen steil aufragende Felsen, riesige Räder, die sich durch nichts in Bewegung versetzen ließen. Aber die Räder befinden sich mitten im Wald, zwei Puttenköpfe sind in den Fels gehauen, und ein unerschütterlich dorisches Kapitell findet sich an den Wänden dieses Walhalla, über dem Feuerbett der Walküre oder im Schloss der Gibichungen, das er bald wie einen von Claude Lorrain gemalten Hafen in der Abenddämmerung, bald im Stil der neoklassizistischen Palais der wilhelminischen Bourgeoisie erscheinen lässt“. Foucault benennt die Brüche, von denen Müller spricht, als eine Tour de Force in der es Chéreau gelang, alle diese Bruchstücke, diese „Elemente vollständig in das Beziehungsgeflecht zwischen den Personen und in die gewaltigen Bildvisionen […] die Peduzzi ihm vorschlägt“, eingefügt zu haben.5

5. Die Tetralogie und die Inszenierung und Erstaufführung in Frankreich von Heiner Müllers „Quartett“ 1984/85 in Chéreaus/Peduzzis „Trilogie des 18. Jahrhunderts“ mit Marivaux’ „Die falsche Zofe“ und Mozarts „Lucio Silla“, einzig im und mit dem Bühnenraum ihrer Inszenierung von „Lucio Silla“, sind zwei der großen Momente an Berührung deutscher und französischer (Theater-)Kunst im letzten halben Jahrhundert. Es sind bei Weitem nicht die einzigen Arbeiten Chéreaus und Peduzzis, die eine Verbindung aufweisen: Gerade die Anfänge sind ohne die Theaterarbeit Bertolt Brechts und seiner Bühnenbildner und von Brechts favorisiertem Nachkriegsregisseur Giorgio Strehler und dessen Bühnenbildner Luciano Damiani schwer denkbar. „Bühnenbilder zu machen, ist für mich eine Möglichkeit“, sagt Peduzzi, „dem Eingesperrtsein zu entfliehen.“ „Es bedeutet, mit der Zeit zu jonglieren, im begrenzten Raum eines Bühnenkäfigs mit der Welt zu spielen, einen Kontinent in einen anderen gleiten zu lassen, Wände umzudrehen und auf noch leeren Blättern Papierarchitekturen mit marmorähnlichem Aussehen entstehen zu sehen, die sich über die Bühne bewegen. Ohne Schule und ohne Lehrer wusste ich immer nur das, was ich um mich herum gesehen und gehört habe, was mich geprägt und verletzt hat, was ich im Flug aufgefangen oder der Zeit entwendet habe. Mit diesem Beruf habe ich einen Weg gefunden, das Dasein zu verstehen und gegen die Unruhe anzukämpfen.“6

6. Motivisch hinterlassen diese Räume, beleuchtet in einer Art Clair-obscur, oft als niemals zur Ruhe kommende Hell-Dunkel-Malerei, den Eindruck, als ob sie zusätzlich auch mit den Möglichkeiten der Gewalt von Palästen, Gefängnissen, Labyrinthen und Fabriken arbeiten. Immer aber ist es die Kombination, das Kombinieren auch von sich Widersprechendem, die Differenz Bild werden lässt. Nur in dieser Differenz erscheint die Überhöhung des Konkreten, und nur deshalb wendet sich jede Deutung gegen eine symbolische Erhöhung, gleichermaßen sich davor schützend. Man kann sich der Suggestion dieser im doppelten Sinn hohen Räume Peduzzis nicht entziehen, auch deshalb, weil sie einem hohen Respekt vor dem Handwerk ihrer Herstellung geschuldet sind. Das erdet sie: Sie sind auch die Arbeit der besten Handwerker. „Imagination ist


nicht die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, es ist die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, die die Realität hinter sich lassen.“7 Der Definition von Flaubert im „Wörterbuch der Gemeinplätze“ „BÜHNENBILD: Ist keine Malerei. Man braucht bloß einen Eimer Farbe auf die Leinwand zu schütten; dann verteilt man sie mit einem Besen; und Entfernung und Beleuchtung erzeugen die Illusion“8 steht immer und immer wieder neu die schlichte Frage gegenüber, wer sich denn nun hier die Farbe ausdenkt? Und: Wer je eine der von Peduzzi gestalteten Malerei-Ausstellungen gesehen hat, weiß, wie weit der Begriff von Farbe und Inszenierung gehen kann.

Von den 1980er Jahren an öffnet sich der Wirkungsradius der Tätigkeiten Richard Peduzzis ungemein weit. Sie gehen von dem Bedürfnis zu lehren zur Leitung einer Kunsthochschule und reichen bis zur Übernahme 2002 der Leitung der Académie de France in Rom mit Sitz in der Villa Medici, Frankreichs Stipendiaten-Ort in Rom – gewissermaßen ein Direktorat in Nachfolge der Maler Ingres und Balthus.

habe und dass er das Stück seinerseits mit mir in Paris inszenieren wolle. Die beiden Vorstellungen, diejenige Patrice Chéreaus und diejenige Luc Bondys, waren einander völlig entgegengesetzt. Im Odéon, in der Inszenierung von Patrice, befanden wir uns in einem Theater im italienischen Stil, abgeschirmt vom Lärm der Außenwelt. Man spürte den Willen, eine universelle Geschichte zu erzählen, die sich in jeder beliebigen Stadt der Welt hätte zutragen können, Beziehungen zu beobachten, die auf dem Treibsand zwischen den Lebewesen basierten, zu versuchen, die Gefühle, die Indifferenz und das Vergessen zu durchdringen […] In West-Berlin, in dem veränderbaren schwarz-grauen Saal der Schaubühne glaubte man, durch die zugemauerten Fenster die Geschichte zu sehen, die sich in den Straßen abspielte. Das zeitgenössische, von einem deutschen Schriftsteller verfasste, von deutschen Schauspielern interpretierte Stück nahm eine andere Dimension an. Das ganze Bühnenbild sah aus, als habe man es an das Fenster gelehnt. Der direkt auf dem Boden abgestellte Kasten wirkte da, als habe ihn jemand auf dem Zement dieses Theaters vergessen, als sei er bereit, über der Stadt, ihren hohen, feuchten, von der Mauer überwachten Häusern davonzufliegen.“10

8.

9.

Berlin, zum Beispiel, verdankt Richard Peduzzi die Zusammenarbeit seit 1988 mit einem weiteren Regisseur: Luc Bondy. „Mit ihm, wie auch mit Chéreau, spreche ich mehr über Malerei als über seine Vorstellung von Theater.“9 Was Peduzzi über seine Arbeit an Bondys Inszenierung von Botho Strauß „Die Zeit und das Zimmer“ 1989 beschreibt, ergänzt sich mit einer späteren Äußerung: „Das Bühnenbild stellte ein Zimmer mit drei großen, auf die Straße gehenden Fenstern dar. Der Ort, den ich mir vorgestellt hatte, sollte den Eindruck vermitteln, die Zeiten durchquert zu haben, am Durchgang mehrerer Generationen von Männern und Frauen beteiligt gewesen zu sein. Es war ein von Türen und Fenstern durchbrochener Kasten. Auf dem Boden verteilt stand bunt zusammengewürfeltes, banales Mobiliar ohne bestimmten Stil. Das Ganze wurde von zwei Pfeilern und einer Säule gestützt, unbeweglichen Zeugen der Zeitspirale. Plötzlich geschieht das Unmögliche: Die seit Jahrhunderten versteinerte Säule tritt aus ihrem Schweigen, ihrer Isoliertheit heraus und beginnt zu sprechen. Die Alten sagten, dass die drei Teile einer Säule, das Kapitell, der Schaft und die Basis, den Proportionen des menschlichen Körpers entsprechen und dass die Säulen uns auf eine Kraft verweisen, die wir als die unsere erkennen. Die Objekte und die Dinge, die wir betrachten, erhalten ihre ganze Bedeutung, wenn wir uns mit ihnen identifizieren. Dann kehren sie zu uns zurück, wir kehren zu ihnen zurück, wir lassen sie das Leben wiedergewinnen, das unsere betrachten. Die Inszenierung rief diesen Moment in Erinnerung, als es den Bewohnern von Berlin, die vom Schwindel ergriffen waren, nicht mehr gelang, sich im Raum und in der Zeit zu verorten. Bei der Arbeit an diesem Text entdeckte ich die Stadt unmittelbar vor dem Mauerfall, mit ihren Selbstzweifeln, ihrem staunenswerten kalten Licht voller Sorgen und Hoffnungen. Nachdem er der ersten Aufführung beigewohnt hatte, sagte mir Patrice Chéreau mit einem etwas eifersüchtigen Unterton, der mich lächeln ließ, wie sehr ihm das Stück, die Schauspieler, die Inszenierung und das Bühnenbild gefallen hätten, dass er gründlich nachgedacht

Eine persönliche Bemerkung: Im neunten Bezirk von Paris befindet sich der Arbeitsraum Richard Peduzzis zu ebener Erde an der Ecke eines Hauses, das wie ein Ladenlokal vollständig einsehbar ist. Ich stelle es mir so vor: Der unweit entfernte, halbrunde Wohnraum ist so etwas wie der dazugehörige eckenhalbierte Denk-Raum Peduzzis, in dem sowohl die Erinnerungen als auch die Pläne kreisen. Das Atelier hingegen, immer auf der Suche nach einer neuen, einer anderen Farbe, einer noch nicht erfundenen Möglichkeit, gleicht fast einem öffentlichen Arbeiten. Einmal, zum Ende seines Lebens, hat Heiner Müller eine Formulierung, ein Bild benutzt, Zukünftiges, einen „Ausweg“ betreffend, nämlich der vom „Weg in Richtung eines karnevalistischen Klassizismus, wo mit Säulen jongliert wird.“11 Wer möchte gänzlich ausschließen, dass diese Formulierung nicht für einen Moment einen Raum Richard Peduzzis streifte? Merci. Danke.

7.

Laudatio auf Richard Peduzzi anlässlich der Auszeichnung mit dem Großen Kunstpreis Berlin am 18.3.2022 in der Berliner Akademie der Künste.

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Ivan Nagel, Michel Bataillon und Gerhard R. Koch im Gespräch mit Patrice Chéreau, Akademie der Künste, Pariser Platz, 11. März 2007, Transkription des Audiomitschnitts. Patrice Chéreau, Les visages et les corps, Musée du Louvre Editions, Paris 2010. Zit. nach Anna Mohal, Magischer Realist. Ein Portrait des französischen Bühnenbildners Richard Peduzzi, in: Theater heute, Jahrbuch 1989. Zit. nach Olivier Ortolani, Gespräch mit Heiner Müller, in: Theaterwege, De l’Allemagne à la France, Von Frankreich nach Deutschland, hrsg. von Colette Godard und Francesca Spinazzi, Berlin 1996. Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Berlin 2002. Richard Peduzzi, Là-bas, c’est dehors, Arles 2014. Gaston Bachelard, Das Wasser und die Träume, München 1994. Gustave Flaubert, Das Wörterbuch der Gemeinplätze, München 2000. Luc Bondy, Das Fest des Augenblicks. Gespräche mit Georges Banu, Wien 1997. In die Luft schreiben, Luc Bondy und sein Theater, hrsg. von Geoffrey Layton im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin 2017. Heiner Müller, Werke 12: Gespräche 3. 1991–1995, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008.




Seite 1:

Penelope Chauvelot, Richard Peduzzi, East River, New York 1986

Seite 4: Studie für „Tristan et Isolde“, 2007 Seite 5: oben: Maquette du décor de Lucio Silla de Wolfgang Amadeus Mozart, 1984 unten: Mur du Temple de Mars Ultour sur le forum d’ Auguste a Rome, Fotografie, abgebildet in: Richard Peduzzi LA-BAS, C EST DEHORS Seite 6: oben:Studie für „la maison des morts“, 2007 unten: Studie für „Massacre a Paris“, Christopher Marlowe, 1972


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Weimarer Zeitgeschichten Neue Stücke von Thomas Freyer und Dirk Laucke legen am Deutschen Nationaltheater Weimar Gegenwart über die Vergangenheit

von Michael Helbing


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Bei Laucke meint „Hannibal“ die Gruppe, die Kameradschaft, das Netzwerk: Bastian Heidenreich, Martin Esser, Marcus Horn, Fabian Hagen, Anna Windmüller in der Inszenierung von „Hannibal“ von Dirk Laucke am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz

V

on keinem Standpunkt aus zu überblicken, sowieso kaum zu durchschauen, immer nur Teile und Details vor Augen: Derart wird ein Rundbild zur Geschichte zum Sinnbild der Geschichts­ betrachtung. Und derart eignet sich eine 1722 Quadratmeter ­große Leinwand als Knitterfolie für die Gegenwart. „Feindliche Übernahme der Zeit“ nennt das Thomas Freyer im „Treuhandkriegspanorama“, das er über Werner Tübkes ­Bauernkriegspanorama legt, ohne beide deckungsgleich werden lassen zu wollen. Was nicht passt, wird auch nicht passend ge­ macht. Freyers zweiter Versuch im poetisch verdichteten Doku­ mentartheater, nach „Stummes Land“ in Dresden (siehe TdZ 10/2020), interessiert sich für die Inkongruenz.

Tübkes 1987 vollendetes monumentales Tafelbild, mit eigenem Museumsbau in Bad Frankenhausen am Kyffhäuser, war ein Auf­ tragswerk der DDR-Regierung: „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ geheißen, entsprechend der linearen marxistischen Geschichtsschreibung, die auch Thomas Müntzer zum gesetz­ mäßigen Vorkämpfer des Sozialismus erklärte. Freyers Stück ist auch ein Auftragswerk: fürs Deutsche ­Nationaltheater in der Klassikerstadt Weimar, dessen Schauspiel seit Beginn der Intendanz Hasko Webers 2013 alles in allem über vierzig Uraufführungen besorgte und dabei mit wachem Blick ­einigermaßen konsequent eine gegenwartsdramatische Linie zur Zeitgeschichte verfolgt. Freyers Text konterkariert dabei bemerkenswert zufällig und gewiss unabsichtlich auch Kathrin Rögglas „Bauernkriegs­ panorama“: einen Essay der Prosa-, Theater- und Hörspielautorin von 2020, aus dem fürs Radio ein „monumentales Gesellschaft­ sporträt“ wurde. Diese ihre Bildbeschreibung beginnt so: „Es bräuchte ein neues ,Bauernkriegspanorama‘, heißt es jetzt immer wieder angesichts der Wahldebakel im Osten, eine für die Rettung frühbürgerlicher Revolutionen geeignete Bildkomposition (…) Für so ein monumentales Panorama kann es heute allerdings keinen öffentlichen Auftrag mehr geben, allenfalls einen, der immer schon aus einer falschen Vergangenheit kommt …“ Falsche Vergangenheiten nimmt Thomas Freyer nicht nur in Kauf, er beschwört sie nahezu listig herauf und legt sie frei: als den „Einfall der Wendejahre in Müntzers Jahrhundert“. Er hebt ab auf die abseitige Figur Müntzers in Tübkes Gemälde, der die Bundschuhfahne in der Hand bereits sinken lässt, und trägt diese so vom Schlachtberg bei Bad Frankenhausen, auf dem der Bau­ ernkrieg 1525 final scheiterte, siebzig Kilometer weiter westwärts: nach Bischofferode im Eichsfeld sowie ins dort Ende 1993 ge­ schlossene Kaliwerk, dem die DDR den Namen „Thomas Münt­ zer“ verpasste. Hier ereignete sich vergeblich ein bundesweit verfolgter, aber in lokalen Schächten steckengebliebener Arbeitskampf nebst Hungerstreik. Es ging um Marktbereinigung zugunsten des ­Westens, hier der hessischen Kali und Salz AG; der von der Treu­ handanstalt verwaltete Ostbetrieb arbeitete keineswegs rentabel, wäre aber eventuell doch zu sanieren gewesen. Die Lage damals, aus der ein Trauma wurde, war und blieb so unübersichtlich wie ein Bauernkriegspanorama. Jedoch: „Was in den Köpfen bleibt, sind die heldenhaften Kalikumpel. Ihr ward nur ein Beispiel. Und kein gutes, wenn du mich fragst.“ So spricht, bald dreißig Jahre später, ein Sohn zu seinem Vater. Der liegt im Koma und ist mithin jetzt erst recht, was er längst schon war: nicht ansprechbar für seine Familie. Erst vergrub er sich mit den Kumpeln mit Tunnelblick im Arbeitskampf, danach bis zum jüngsten Tag ins Bergwerk der Akten und Dokumente darüber. Dorthin steigt ihm der Sohn jetzt gleichsam nach, um zu verstehen, dort imaginiert er sich den immer schon Abwesenden

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neu herbei: „Ich baue mir einen Vater im Berg, der spricht und lacht, der redet, fragt, antwortet.“ Geisterhaft greifen historisch gewordene Figuren ins (Selbst-)Gespräch ein: Gerhard Schürer von der DDR-Planungskommission, der für Bergbau zuständige Treuhandvorstand Klaus Schucht oder Kanzler Helmut Kohl. Sie malen alle ein bisschen mit am großen Panorama gleichberechtig­ ter Wahrheiten, das Freyer formal in eine Collage der Textformen übersetzt: ein durch die Zeit mäandernder innerer Monolog, bei­ nahe klassisch zu nennende Dialoge, Dokumententheater mit Originalzitaten, auch eine Szene wie eine Heiner-Müller-Parodie. Ein kunstvoll angeordnetes Chaos der Stimmen. Dabei ist dieses Stück gar nicht so leicht zu ertragen. Es ver­ weigert die ostdeutsche Opfererzählung. Dem Nachwendejam­ mer „So haben wir uns das aber nicht vorgestellt“ stellt er die eige­ ne Verantwortung für die Marktbereinigung entgegen: „Ein Land wird zum Beitrittsgebiet und die meisten in diesem Land wollen genau das (…) alles muss im Überfluss vorhanden sein, alles muss so werden wie es noch nie war und nie gewesen ist, auch nicht auf der anderen Seite der Werra.“ Das muss auf offener Bühne wohl einmal gesagt sein. Dem Stück lässt sich allerdings kaum voraussetzungslos be­ gegnen. Es verlangt ein gewisses Insider-Interesse und scheint sich weniger an Nachgeborene zu richten. Doch genau mit ­solchen hat Regisseur Jan Gehler die Uraufführung im Weimarer E-Werk besetzt: Fünf Schauspieler, die 1990 und danach zur Welt kamen, sind chorisch sowie im Wechsel der Sohn, aber auch alles andere; den dicken Kohl spielen sie zu dritt. Hier greift, mit zu­ nehmender Wucht, bereits die nächste Generation tief in alte, schlecht verheilte Wunden, die zwar nicht die ihrigen sind, deren

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Narben sie aber zu spüren bekommt wie einen Phantomschmerz. Die Distanz ist zunächst spürbar. Sie müssen sich ganz schön auf­ plustern, um diese Geschichte zu behaupten. Man beginnt sich schon nach deutlich älteren Gesichtern zu sehnen, einmal abge­ sehen von Rosa Falkenhagen, der einzigen Frau im Ensemble, die eine brüchige Biografie ein- und ausatmet, wenn sie in die Mutter­ rolle schlüpft. Marcus Horn hingegen ergeht es als Vater wie dem Sohn im Stück: Er kriegt ihn nicht zu fassen. Die Rolle gerät ihm ganz äußerlich. Bald aber eignet sich das Quintett – auch Martin Esser, Fabi­ an Hagen und Janus Torp – den Abend zusehends mit großer Spielwut im Bauch an, erobert sich das Panorama im fliegenden Wechsel der Szenen, Figuren und Spielweisen. Die Falkenhagen bleibt dabei prima inter pares, was gewiss nicht so angelegt war; es geschieht einfach. Jan Gehlers bildmächtige, ideenreiche und übrigens sehr un­ terhaltsame Inszenierung kann auf dreißig große Spielelemente bauen – und mit ihnen auch: Bühnenbildnerin Sabrina Rox hat Papierschnipselpakete geschnürt und eingeschweißt, als kämen ­ alle Treuhandakten soeben aus dem Reißwolf. Aus ihnen wird eine Mauer, auf die sich das Tübke-Panorama projizieren lässt und in deren Aussparungen und Hohlräumen die Figuren Unterschlupf finden. Ein riesiges Sofa oder ein Tetris-Spiel werden auch daraus,

Verweigerung der ostdeutschen Opfererzählung: Janus Torp, Fabian Hagen und Marcus Horn in der Uraufführung von „Treuhandkriegs­ panorama“ von Thomas Freyer am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz


weimar

ein Kali-Schacht oder eine Abraumhalde. Das wandelt sich leicht, ist aber so schwer zu händeln wie die unbewältigte Vergangenheit. Nach sechzehn Jahren (und inzwischen vierzehn Stücken) ist Thomas Freyer damit nach Weimar zurückgekehrt. Tilmann Köhler brachte hier damals dessen Erstling „Amoklauf mein Kinderspiel“ zur Uraufführung, ein Stück zur Nachwendegene­ ration, sowie andernorts weitere seiner Texte. Für Jan Gehler ist das, nach Dresden und Düsseldorf, jetzt auch schon die dritte Freyer-Inszenierung. Alle kennen sich aus der TheaterFABRIK, einem außergewöhnlichen Jugendclub in Gera; der Weimarer Dramaturg Carsten Weber gehörte ebenfalls dazu. Gehler wiederum inszenierte mehrfach auch Dirk-LauckeStücke, allerdings noch nie in Weimar, wo sie nun bereits zum fünften Mal einen Text des Dramatikers spielen. „Hannibal“ ist, als Auftragsstück, ein Beitrag zum Theaterprojekt Kein Schluss­ strich!, das sich zum zehnten Jahrestag der NSU-Enttarnung auf fünfzehn Städte erstreckte. „Hannibal“ wurde parallel auch von Bojana Lazic in Freiburg uraufgeführt. In Weimar läuft es ebenfalls im E-Werk. Auch unter diesem Stück liegt eine Folie: Horváths Soldatenroman „Ein Kind unserer Zeit“ (1938). Laucke übermalt ihn vor dem Hintergrund eines rechtsextremen Untergrunds: Bundeswehr-Soldat André S., wie Laucke aus Halle/Saale stammend, gehörte zum Kommando ­Spezialkräfte (KSK). Als „Hannibal“ administrierte er die Chat­ gruppe aktiver und ehemaliger Angehöriger von Bundeswehr, ­Polizei und Verfassungsschutz, die Anschläge plante. Sein Name bezog sich auf den Anführer in der US-Serie „Das A-Team“. Bei Laucke meint „Hannibal“ die Gruppe, die Kamerad­ schaft, das Netzwerk: „Jeder Einzelne von uns ist nur einer von vielen.“ Der Einzelne, Soldat Rico, geht darin auf – und unter. Sein Schauspieler (Marcus Horn) wird zum Rekruten der Inszenie­ rung von Sebastian Martin, wie auch die anderen Soldaten (Fabian Hagen, Bastian Heidenreich, Martin Esser). Laucke hält sich an die Vorlage, überträgt sie aber unter ­umgekehrten Vorzeichen in seinen Rahmen: Aus der Geschichte subkutaner Deradikalisierung in der Diktatur wird die einer Radi­ kalisierung in der Demokratie, aus der Emanzipation vom Vater­ landsbegriff die Unterwerfung darunter, aus einer Menschwer­ dung die Entmenschlichung. Dabei ist der Scheitelpunkt der gleiche: „Ich mag keine Seele leiden – auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle.“ Hier sollen sich, anders als bei Freyer, zwei Geschichten passgenau decken. Beide gehen lieber: in Deckung. Das hat eine gewisse Logik, aber wenig Reiz. Das Wie wird interessanter als das Was: Martins Weise, den Text zu bebildern, auf einer GitterrostSchräge vor dreiteiliger Videowand (Bühne: Alexander Grüner), mit virtueller Realität und Live-Kamera (Bastian Klügel). Robert Schumanns „Kinderszenen“ geben den Ton vor, nicht erwachsen werden zu wollen: Die „Träumerei“ begleitet Schießübungen, „Von fremden Ländern und Menschen“ den Spezialeinsatz am Hindukusch. Es sind die Einzelnen und Vereinzelten, die diesem Privat­ kriegspanorama Kontur verleihen: Anna Windmüller als Ricos linksliberale Mutter, Philipp Ottos aufrechter Hauptmann, der als Kameradenschwein gilt. Die feindliche Übernahme der Zeit indes wird hier nicht zum Thema, sondern nur zur Methode. //

THEATER—BASEL—Schauspiel—ab 8.4.2022—DER LETZTE PFIFF —EIN DREHSCHWINDEL—Inszenierung—Christoph Marthaler—

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Ödipus im Ruhrgebiet Die Theater in Bochum, Dortmund und Moers zeigen verschiedene Blicke auf den Klassiker von Stefan Keim


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as Ensemble hat sich Holzklötze unter die Füße geschnallt. Von der Decke des Schlosstheaters Moers baumeln Halteschlau­ fen, wie in der U-Bahn. Die Ausstattung spielt auf die Kothurne an, die Bühnenschuhe aus der griechischen Antike, setzt eine ­klare Verfremdung, verweist zugleich darauf, dass es ganz konkret um die Gegenwart geht. Um eine Welt, die sich im Griff einer Seuche befindet. Und um einen König, der selbstherrlich agiert und so seinen eigenen Untergang herbeiführt. Die Geschichte von Ödipus gehört zu den meisterzählten der Theatergeschichte. Im Ruhrgebiet steht sie gerade dreimal auf den Spielplänen – in Bochum, Dortmund und nun auch in Moers. Das ist kein Wunder, denn die Pest, die gelähmte Gesellschaft, der Umgang mit der eigenen Schuld sind Themen, die sich schnell auf die Gegenwart übertragen ­lassen. Doch genau diese inhaltliche Nähe zur ak­ tuellen Situation könnte eine Falle sein. Denn ­natürlich schrieb Sophokles die Tragödie in ei­ nem völlig anderen Kontext. Der Althistoriker Egon Flaig hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass Orakelsprüche in der griechischen Antike keinesfalls eindeutig gesehen wurden. Nur weil Ödipus sie direkt auf sich bezieht und nicht all­ gemein politisch versteht, kommt es zu Vater­ mord und Mutterbegattung. Ulrich Greb inszeniert „König Ödipus“ in Moers in der griffigen, rhythmischen und klaren Übersetzung Dietrich Ebeners. Und zunächst ein­ mal bietet das Ensemble ausgezeichnetes Sprech­ theater. Emily Klinge übernimmt die Rolle der Chorführerin, das an beiden Seiten der Spielfläche sitzende Publikum ist der stumme Chor, also die Bürgerschaft Thebens. Sie stößt Geräusche aus, stellt Fragen, unterbricht die Handlung mit Songs von Franz Schubert bis Bob Dylan, die Regisseur Greb mit dunklen Bässen neu arrangiert hat. Ödipus ist verkörpert von Roman Mucha, ein energetischer junger Politikertyp, der sich gern für seine vergangenen Verdiens­ te feiern lässt. Er hat ja das Rätsel der Sphinx gelöst, was die Chor­ führerin oft wiederholt, gefolgt von eingespieltem Applaus wie in einer amerikanischen Fernsehsoap. Matthias Heße spielt Kreon als oberflächlich blassen, olafscholzigen Mann aus der zweiten Reihe, der auf seine Chance lauert und von dem keine Hilfe zu erwarten ist. Ödipus würde sie wohl auch nicht in Anspruch neh­ men, er ist kein Teamplayer. Ebenfalls zu diesem Herrschaftssystem gehört Iokaste, die in dieser Inszenierung ihren eigenen Tod überlebt. Weil Joanne Gläsel nicht nur die Königin spielt, sondern ein Prinzip verkör­ pert, eine hintergründige First Lady, die an vielen Strippen zieht. Georg Grohmann spielt Teiresias und den Boten, eine Art multip­

Keine Fluchtmöglichkeiten auf der spiegelglatten, leeren Bühne: Das Ensemble von „Ödipus Herrscher“ am Schauspiel Bochum. Foto Michael Saup

theater bochum, dortmund, moers

ler Influencer, der kritische Fragen stellen darf, solange er damit kein Unheil anrichtet. Die Figur, die alles ins Wanken bringt, ver­ körpert er nicht. Das tut Ödipus selbst. Er ist der Hirte, der die Taten des Königs aufdeckt. Vor der Verwandlung hat Ödipus die gepflasterte Bühne aufgebrochen und ist in den von gelben Schwaden durchfluteten Raum darunter geglitten. Voller Schleim, nur mit einer Unterhose bekleidet, taucht er wieder auf, wie ein neugeborenes Kind. Nun verändert die Inszenierung ihre Grund­ stimmung, wird explosiver, körperlicher, gefährlicher. Und ent­ wickelt immer wieder Momente boshafter Ironie. Das Schlosstheater Moers bietet eine rundum überzeugen­ de heutige Lesart des „Ödipus“, abgründig, politisch, mit Sprach­ gefühl und starken Bildern, dabei sehr unterhaltsam. Ulrich Grebs Inszenierung kann mithalten mit der grandiosen Regie­

Klare Verfremdung bei gleichzeitigem konkretem Verweis auf die Gegenwart: Roman Mucha als König Ödipus und Georg Grohmann als Teiresias in „König Ödipus“ am Schlosstheater Moers. Foto Jakob Studnar

arbeit, die Johan Simons am Schauspielhaus Bochum vorgelegt hat. „Ödipus, Herrscher“ heißt das Stück hier, die Fassung von Elsie de Brauw, Mieke Koenen und Susanne Winnacker gibt der Iokaste deutlich mehr Raum als im Original. Ödipus ist hier ein ganz anderer Mensch als in Moers. Steven Scharf trägt ein schlabberig sitzendes Jackett über dem nackten Oberkörper und scheint wirklich mehr an der Aufklärung der Geschehnisse als an seinem Machterhalt interessiert zu sein. Leise und eindringlich stellt er Fragen ins Publikum, das auch in Bochum die Gesellschaft verkörpert. Allerdings wartet Ödipus keine möglichen Antworten ab. Die große Bühne ist leer und spie­ gelglatt. Niemand kann entkommen oder etwas verschleiern, es gibt keine Fluchtmöglichkeiten.

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aktuelle inszenierung

Die Weissagung durch Vogelschau hat Bühnenbildnerin Nadja Sofie Eller und den Videokünstler Florian Schaumberger zu sche­ renschnittartigen Bildern von Vogelschwärmen vor dunkelrotem Hintergrund inspiriert. Das erinnert an Hitchcocks „Vögel“, eine Bedrohung, von der niemand weiß, woher sie kommt. Die Vögel sind im Kinothriller einfach da und greifen plötzlich Menschen an. Bis zum Schluss gibt es dafür keine rationale Erklärung. Es fällt besonders schwer, solche Ungewissheiten zu ertragen. Mit dieser Assoziation spiegelt die Inszenierung präzise die Erlebnis­ se während der Pandemie, ohne direkte Verweise zu benötigen.

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Selbst- und Sinnsuche in der Gegenwart: Christopher Heisler, Lola Fuchs und Linda Elsner in der Inszenierung „Ödipus auf dem Mars“ am Schauspiel Dortmund. Foto Birgit Hupfeld

Johan Simons setzt in „Ödipus, Herrscher“ durchaus wirkungs­ volle Theatermittel ein. Die Bühne kann sich effektvoll heben und senken, die Japanerin Mieko Suzuki performt live am Bühnen­ rand einen atmosphärischen Elektro-Soundtrack. Doch im Kern der Inszenierung steht die Sprache, die Monologe und Dialoge bringt das Bochumer Ensemble mit gro­ ßer Differenziertheit zum Leuchten. Auch in Bochum lebt Iokaste weiter. Doch anders als in Moers verweigert sie ganz offen ihren Selbstmord, verlässt die Opferrolle, setzt ein feministisches Zei­ chen. Allerdings nicht als ausgestellter Kommentar, der aus der Geschichte aus­ bricht. Eine Form, die gerade in so vielen Inszenierungen zu sehen ist, dass sie schon nicht mehr innovativ ist und oft ein­ fach nur nervt. Elsie de Brauw hat auch an der Textfassung mitgearbeitet. Ihre selbst­ bewusste und eigenständige Iokaste ent­ wickelt sich aus kleinen Verschiebungen

Keine aufgesetzten Statements: Elsie de Brauw als Iokaste in „Ödipus Herrscher“ am Schauspiel Bochum. Foto Michael Saup


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und Ergänzungen, die zu einem großen Teil von Heiner Müller stammen. So entsteht eine innere Logik der Figur, die keine auf­ gesetzten Statements nötig hat. Bochum und Moers zeigen also ausgezeichnete Inszenie­ rungen der Tragödie, garniert mit Ironie und schwarzem Humor, aber im Kern doch sehr ernsthaft. Im antiken Theater gab es im­ mer auch ein Satyrspiel. So könnte man das Projekt „Ödipus auf dem Mars“ verstehen, das Florian Hein im Studio des Schauspiel­ hauses Dortmund inszeniert hat. Noch im Foyer stürzt ein Mann in Damendress mit goldener Handtasche auf das Publikum zu. Blutbeschmiert ist seine Backe, er berichtet von einem Wildunfall. Der Sprechchor des Theaters – ein sehr engagiertes Laienensem­ ble – tritt auf und nah an die Zuschauerinnen und Zuschauer ­heran. Nur Vokale schwingen im Raum, A, E, I, O, U. Im Studio angekommen, erwartet das Publikum eine ­Videoperformance im Stil von René Pollesch. Kulleräugig und over the top agierend, referiert das dreiköpfige Ensemble die ­mythologische Vorgeschichte, es gibt auch Szenen einer Therapie­ sitzung, in der die Wirkung der Ödipus-Story auf Sigmund Freud herbeiassoziiert wird. Struktur und Sinn ergibt das Ganze nicht, das Stück ist eher eine inszenierte Lose-Blatt-Sammlung dessen, womit man sich bei den Proben so beschäftigt hat. Die eigentliche Geschichte hat das Profiensemble nach Vor­ bild aus der Wirtschaft outgesourct. Der Sprechchor übernimmt die Erzählung dessen, was im Stück von Sophokles passiert. Kon­ zentriert und ordentlich, doch im Zusammenhang der Inszenie­ rung bleibt es unbefriedigend. Weil eine szenische Auseinander­ setzung mit dem eigentlichen Kern fehlt. Die Befindlichkeiten und Ideen, die das Regieteam und das Ensemble entwickelt ­haben, sind ihnen eindeutig wichtiger als so eine alte Geschichte. Auf dem Mars – oder in einem an alte Science-Fiction-Filme erinnernden Trash-Weltraum – landet die Aufführung erst am Ende. Da gibt es dann kaum noch Bezüge auf Ödipus, es geht um die Selbst- und Sinnsuche in der Gegenwart. Das Ensemble hat eine große Spielenergie, das macht den Abend erträglich. Doch inhaltlich ist bei „Ödipus auf dem Mars“ wenig zu holen. So zeigen vor allem die Aufführungen in Moers und Bo­ chum, dass „König Ödipus“ weiterhin eine gute Grundlage dar­ stellt, um Fragen nach dem Wesen der Demokratie, der Schuld des Einzelnen und dem Weg einer geschwächten und verstörten Gesellschaft in die Zukunft zu zeigen. Wie es auch bei einigen weiteren Premieren in den vergangenen Monaten zu erleben war. Ulrich Rasche hat am Deutschen Theater Berlin inszeniert, sein wuchtiger Regiestil erinnert an Bacchanale, auch wenn er sich nicht explizit mit antiken Stoffen beschäftigt. Während Jan Eich­ berg in Bremen den Text in 70 Minuten durchjagen lässt, in einer Inszenierung, die in vielen Kritiken als eine Art Familienaufstel­ lung beschrieben wird. Dass sich so viele Theater gerade mit dem „Ödipus“ ­beschäftigen, hat auch etwas Tröstliches. Denn immerhin wird hier angedeutet, dass es eine Gesundung der Gesellschaft geben könnte. Auch wenn viele Inszenierungen dem kritisch gegenüber­ stehen. Aber „Ödipus“ zu spielen, ist zunächst ein Versuch, ­Hoffnung zu wagen, einen Ausweg aus der Pest und der Lähmung zu finden. Eine Kernaufgabe des Theaters, nicht nur in diesen ­Zeiten. //

theater bochum, dortmund, moers

7. – 18. MAI 2022

BOCHUM, HATTINGEN, RECKLINGHAUSEN

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Ein Zukunftsprojekt der

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landestheater tübingen

Krankhafte Leidenschaft in der Apokalypse Brigitte Maria Mayer inszeniert Heiner Müllers „Quartett“ am Landestheater Tübingen von Elisabeth Maier

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as Setting rückt in Zeiten des Kriegs in der Ukraine beklem­ mend nah. Heiner Müllers Drama „Quartett“ spielt in einem Bun­ ker, nach dem Dritten Weltkrieg. Die Figuren aber begegnen einan­ der in einem Salon in Zeiten des Ancien Régime, lange vor der Französischen Revolution. Im Angesicht der Apokalypse verhandeln die Verführer ihre krankhaften Beziehungsgeflechte. Leidenschaft ist ihre Waffe. Brigitte Maria Mayer, die Ehefrau des 1995 verstor­ benen großen Schriftstellers Heiner Müller, wagt mit dem Stück aus dem Jahr 1981 ihr Bühnen-Regiedebüt am Landestheater Tübingen. Dabei hat sie nicht nur die vergiftete Beziehung des Paars im Blick, das der französische Dramatiker Choderlos de Laclos 1782 in seinem Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ verewigt hat. Mit dem frischen Blick der Fotografin und Filmemacherin liest die 57-jährige Regisseurin Müllers sprachgewaltigen Theater­ text, der sich tief in die Psyche der Protagonisten bohrt. Thorsten Weckherlin, Intendant der Landesbühne in der schwäbischen Universitätsstadt, hat Mayers Regiedebüt lange geplant und mit der Berlinerin vorbereitet. Wie in ihrer Film- und Fotokunst, die um Religion, sexuelle Identität und Mythos kreist, macht die ­Regisseurin auch am Theater den Anker des Glaubens fest. Im Zentrum der Bühne ihres Bruders Gustav Mayer steht ein riesiger Altar, der in blutrotes Licht getaucht ist. Das wirkt wie eine Schlachtbank. Darüber hängt das hagere Fragment einer Christus­ figur, zerbrechlich und totenstarr. „Jesus ist gefrorene Gewalt, um Liebe zu ermöglichen“, kommentiert die Künstlerin die Heiligen­ figur. Ihr Zugriff auf den Text ist hoch aktuell. Die zu zaghaft aufge­ arbeiteten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche schwingen in ihrer Regiepremiere ebenso mit wie sexueller Missbrauch und Mädchenhandel, die Jeffrey Epstein und der britische Prinz Andrew auch in der Gegenwart zu lange ungestraft praktizieren durften. Anbindung an den Mythos: Susanne Weckerle als Merteuil in der Inszenierung von „Quartett“ von Heiner Müller in der Regie von Brigitte Maria Mayer am Landestheater Tübingen. Foto Martin Siegmund

Diese vergewaltigte Unschuld verkörpern Henriette Weckherlin als Mädchen und Christoph von Reichenbach als Junge. Aus ­Rache wollen Merteuil und Valmont ihre Körper verschachern, wie das in der damaligen Adelsgesellschaft Usus war. Ihre erschüt­ terten Gesichter sind nur auf Video zu sehen. In ihrem TheaterDebüt geizt die Regisseurin mit filmischen Bildern. Doch umso effektiver arbeitet sie damit. So kommt der Schmerz der Heran­ wachsenden, denen die Jugend geraubt wird, zum Tragen. Kivik Kuvik hat eine Videobühne in Form eines Triptychons geschaffen. Der sakrale Raum öffnet Horizonte in der tiefenscharfen Insze­ nierung. In ihrer Rolle als Marquise von Merteuil verkörpert Susanne Weckerle zwar eine Verführerin, die mit dem eigenen Alter ha­ dert. Zugleich zeigt die Schauspielerin aber die zerbrechlichen Seiten ihrer Figur, die in der Jugend selbst zum Opfer adliger Will­ kür würde. Das gilt auch für Stephan Weber, der seinen Vicomte de Valmont als brutalen Machtmenschen interpretiert, ihn aber mit feinen Stichen demontiert. In dem verzweifelten Rollenspiel, in das sich die beiden verstricken, sind sie am Ende allein. „Krebs, mein Geliebter“ – in den letzten Worten Merteuils hallt die ent­ setzliche Einsamkeit in der menschenleeren Welt nach. „Mir geht es um die Anbindung an den Mythos“, sagt die Regisseurin. Da spricht sie vom intensiven Austausch mit ihrem Mann Heiner Müller, der als politischer Dramatiker in der DDR und später im wiedervereinigten Deutschland die Gegenwart in der Geschichte spiegelte. „Mythos, das ist Gestern, Heute, Mor­ gen.“ Und obwohl Müller sehr viel stärker den gesellschaftlichen Kontext im Blick hatte, gelingt Mayer ein Zugriff, der berührt. Der Beschleunigung der Mediengesellschaft setzt sie ein Theater des Erinnerns entgegen. Werte der Aufklärung haben im 18. Jahrhun­ dert den festen Glauben an Gott zerstört. Heute ist es die digitale Fragmentierung, die Menschen aus Fleisch und Blut zu bloßen Avataren im Spiel der Clicks und Schlagzeilen verkümmern lässt. Brigitte Maria Mayers „Quartett“ bricht solche mediale Verkür­ zung nicht nur mit stärkerer Text- und Körperarbeit der Schauspieler:innen auf. Aus dem Kunstkörper der Jesusfigur rinnt Blut. So kleidet sie den Schmerz einer zerfallenden Welt in ein großes, sinnliches Endzeitgemälde. //

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„Ausm Bauch – und ehrlich!“ Ehrlich? Die Schauspielerin Maike Knirsch vom Thalia Theater Hamburg im Porträt von Hans-Dieter Schütt

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piel darf so ziemlich alles. Spiel ist eine Erlaubnis, von der Romantik ausgestellt: Mag das Leben entgeistert oder gebieterisch glotzen – wir schauen trotzdem so in die Runde, als gäbe es noch eine Welt woanders. Es gibt sie ja tatsächlich. Überall dort, wo der

Mensch erfährt, was mit ihm – und unverwechselbar nur mit ihm! – gemeint sei. Dort, wo er erfährt, auf welche Weise er zu sich selbst kommen kann.

Maike Knirsch in der Inszenierung von Thomas Köcks „Paradies“ in der Regie von Christopher Rüping am Thalia Theater. Foto Krafft Angerer


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Maike Knirsch sitzt mir in einer der Proberäume des Thalia Thea­ ters Hamburg gegenüber, in der Altonaer Gaußstraße, und wor­ über wir auch sprechen – ihre Erzählung ist: Frage, Prüfung. Ist Suche nach jener Welt woanders; tastend wirkt sie, drängend, bei gleichzeitiger Vorsicht, sie könne bei ihren Selbst- und Berufser­ klärungen nur immer bei den falschen Worten landen, bei Wor­ ten, die zu forsch, zu eindeutig sind. Zugriffe mit Zögern. Besitz­ nahme mit Bedacht. Im Dezember 2021 erhielt die gebürtige Stendalerin den Boy-Gobert-Preis der Hamburger Körber-Stiftung. Juryvorsitzen­ der Burghart Klaußner: „Maike Knirsch bringt das Kunststück fer­ tig, ganz im Moment zu spielen und ihrer Figur zugleich mit ei­ nem wohlwollenden Lächeln beim Spielen zuzusehen.“ Und dann stand die 26-Jährige auf der Bühne, in einer Gemütsmi­ schung aus erkennbarer Aufregung und ebenso sichtbarer Souve­ ränität, sie blickte lange in den Saal, und man begriff in diesem Moment Ewigkeit, in dieser Ewigkeit von Moment, was Kafka als einen Kern von Schauspiel bezeichnete: „diese Frechheit, sich an­ schauen zu lassen“. Maike Knirsch schaute ins Publikum der Preisverleihung und gab einen Monolog aus Christopher Rüpings Inszenierung „In Sachen J. Robert Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt. Sie hatte den Hauptankläger des US-Atomwissen­ schaftlers 2019 am Deutschen Theater Berlin gespielt. Oppenheimer. „Vater“ der Atombombe. Nach Jahren sitzt der Physiker zum Verhör in der US-Atomenergie-Behörde. Seine Kontakte zu Kommunisten, die Distanzhaltung zur Wasserstoff­ bombe – ist er als Geheimnisträger noch akzeptabel? Maike Knirschs Behördenanwalt nennt ihn einen Verräter an der Zu­ kunft. In der das Tabula rasa angesagt ist – für einen grundlegenden Neuanfang. Die Schauspielerin: leise und selbstbeherrscht, geradezu verständnisinnig. So lauernd sanft. Aber in der Selbstbe­ herrschung liegt ein Keim zum Beben. Und der bricht durch. Die Hände schlägt sie plötzlich vors Gesicht, als erschrecke sie selber vor dem, was jetzt an Worten folgt. Aus Erschrecken wird Ergötzen. Der Oppenheim-Anklä­ ger schreit, zischt, röhrt sich – atembe­ raubend expressiv – in ein modernes Beschleunigungsmanifest hinein, das uns gleichsam Zündungen ins Gewebe drücken möchte: Technik als Gott des Rausches, der alle Hemmungen vor to­ taler Vernichtung wegpeitscht. Die Schauspielerin in Stimme und missionarischem Schwung der Arme: urplötzlich aggressiv wie ein Ur­ fluchdrall. Eine gnadenlose Seherin: der Mensch, der einst mit der Maschine spielte, wird bald nur noch ein Spiel­ zeug der Maschine sein – und er nennt’s „Blick von der Brücke" in der Regie von Hakan Savaş Mican schlägt einen Bogen zwischen den Migrationsgeschichten in Amerika und Deutschland. Foto Krafft Angerer

maike knirsch

noch immer Leben? Ein Hauch „Blade Runner“. Horror, der die Visionen eines Orwell übersteigen könnte. Offener Himmel? Of­ fener Abgrund. „Wollt ihr das totale Engineering?“, fragte vor Jah­ ren Botho Strauß. Ja!, pulst dieser Monolog dämonisch. Es gibt das gängige Wort von der Gewinnausschüttung, Maike Knirsch betreibt Angstausschüttung, als sei Menschenverachtung eine Ne­ benart der Anmut. Her mit Atemluft! Bei dieser Boy-Gobert-Preisverleihung hatte Maike Knirsch einen Beweggrund für die Präsentation ihres Ankläger-Monologs genannt, der wahrlich einer Konfession gleichkommt: „Ich weiß noch immer nicht, was ich von diesem Text halten soll.“ Das be­ deutet: Schauspiel als Hilfeersuchen, Darstellung als Bitte um Energiezufuhr aus dem Publikum. Senden und Empfangen als Kopplung. Kaum definitiv zu fassen, aber jetzt, in unserem Ge­ spräch, kommt die Schauspielerin wahrlich in Denkfahrt: „Es geht darum, dass ich in eine Gestalt hineinfinde, aber auf verstärk­ te Weise doch ich selber bleibe. Also: sich spielend von sich selber entfernen, aber erreichen, dass da doch auch mehr und mehr Mai­ ke zu spüren ist.“ Anverwandlung, die mehr ist als Verwandlung. Sie lacht. Sie will nicht theoretisieren, sie will praktisch bleiben. „Ich will in die Widersprüche rein, in das, was mir selber vielleicht so gar nicht entspricht. Ich muss eine Konzentration entwickeln, die der Figur entgegenkommt, ich muss die Figur in mir aushal­ ten.“ Und sie spricht davon, „Luft ranzulassen“, damit Zuschauer andocken können. „Dann aber wieder: Punkte setzen und Ansagen machen!“ Klarheit! Letztlich heißt Spiel: eine „gewisse Irritation“ zu organisieren. Die durch die Proben und durch die Vorstellungen gerettet werden und nicht im Festgezurrtsein enden möge. Sie denkt an erste Zeiten im Beruf. „Ich stand in der Büh­ nengasse und wartete auf meinen Auftritt. Es war im Stück ,Auer­ haus“. Tolle Proben waren das, mit tollem Einsatz, und jetzt steh ich da, und mir kommt plötzlich alles rundum so matt vor, so ge­

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protagonisten

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dimmt, so gelähmt. Gleich muss ich raus, Energie ist nötig von null auf hundert. Und das in dieser flauen Atmosphäre. Wie schaff ich das?“ So wächst etwas wie produktive Selbstbezogenheit. „War­ te auf nichts, nimm die Situation, nimm nichts als gegeben, fass dich an deinen Schopf, zieh!“ Wieder lacht sie. Wie Spiel also sein möge? „Ausm Bauch raus“, sie macht eine Pause, „… und ehrlich.“ Ehrlich? Wo jede erzählte Geschichte doch lügt. Kunst begann nicht mit dem Kind, das aus dem Wald des Neandertals gerannt kam und erzählte, ein wirklicher, richti­ ger Wolf sei hinter ihm her. Kunst begann mit dem Kind, das aus dem Wald gerannt kam und erzählte, ein Wolf sei hinter ihm her – und den Wolf gab es gar nicht. Nun gab es ihn, und es war schrecklich, und es war gut. Alles, was echt ist, ist immer auch falsch. Und umgekehrt. Die vorhin besprochene Kopplung. Maike Knirsch erinnert sich: Ihre Mutter, Kindergärtnerin in Stendal, spielte in der jährlichen Märchenaufführung in der Turnhalle das Schneewittchen, biss in den giftigen Apfel und fiel um. „Ich war Zuschauerin, wollte durchs Absperrband, hatte Angst um meine Mutter, durfte nicht zu ihr, man beruhigte mich mit Gummibärchen. Eine banale Szene, die mich nicht losließ: Ich spielte fortan, ich biss regelmäßig in einen Apfel und fiel um.“ Auf der Bühne so lügen, dass man erfährt: Es geht nicht um Wahr­ heit, aber um Wahrhaftigkeit. „Theater spielen, aber kein Theater machen. Oder: den Leuten etwas vormachen, damit wir alle uns nicht mehr so viel vormachen lassen.“ Es gibt viele Wege zur Bühne. Maike Knirsch ist ein Beispiel für den Impuls, der aus Theaterjugendklubs erwächst. Junges

VOLKSBÜHNE AM ROSA-LUXEMBURG-PLATZ • BABYLON ACKER STADT PALAST • BALLHAUS OST • VILLA ELISABETH

6.–1

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er Berlinival für Fe s t e l l e s aktu iktheater Mus 2022 HERBERT FRITSCH / INGO GÜNTHER / TAIKO SAITO HAUEN UND STECHEN OPERA LAB • LA CAGE • GAMUT INC ANKE RETZLAFF • COLLECTIF BARBARE ENSEMBLE KNM BERLIN THE PARANORMAL Φ EER GROUP GUEDES / BAMBOZZI • STEFFI WEISMANN KOLLEKTIV INTERNATIONAL TOTEM U.A.

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Theater der Altmark und Junges DT – ihre ersten Universitä­ ten. „Man lernt ja mit der Zeit, sich in Beziehung zu allem zu setzen, mit Bedingungen zurechtzukommen, ja, auch sich zu relativieren. Aber in Stendal hat Theaterpädagoge Robert Grzy­ wotz erst mal Feuer in uns gelegt, hat krasse Sachen gemacht, er ist ein Tanzvirtuose, er hat uns rausgeholt aus dem Gewöhn­ lichen des Alltags. Bühne, das war: He, hier bin ich, ich bin wach, ich will gesehen werden! Das war ein herrlicher Kontrast zu dem, was man in der Jugend oft übers Theater denkt: Fort­ setzung des Deutschunterrichts mit den gleichen Mitteln – voll langweilig.“ Auf die Ernst-Busch-Hochschule geht Maike mit großem Respekt vor deren Renommee. Auch Bangen ist dabei. Sie at­ met durch, atmet auf: Die Schule des Robert Grzywotz hat sie bestens trainiert für alle Arten der Intensität. Maike Knirsch hatte zur rechten Zeit den richtigen Inspirator gefunden, aus Zufall wurde Fügung – deren Anziehungskraft sich als größer erwies als die Perspektive Leichtathletik und Leistungssport. Noch während des Studiums spielt sie dann am Jungen DT, wird Ensemblemitglied des Deutschen Theaters, arbeitet in der Schumannstraße mit Nora Schlocker, Jette Steckel und Armin Petras zusammen. Seit der Spielzeit 2020/2021 ist sie nun am Thalia Theater. Am melancholischsten stimmen Preise fürs Lebenswerk: Sie sind für Künstlerinnen und Künstler eine Art SchlussrundenSchmuck. Die Abschieds-Gala. Maike Knirsch erhielt den BoyGobert-Preis im Grunde auch fürs Lebenswerk – das aber horizon­ teweit noch vor ihr liegt. Die Aufbruchs-Gala. Derzeit arbeitet sie wieder mit Christopher Rüping zusammen, Ende April erlebt „Brüste und Eier“ von Mieko Kawakami seine Uraufführung. Das Stück wird nach dem Familienbild der Moderne fragen. Was geht verloren, was geht aus Verlusten hervor? Maike Knirsch fragt sich das auch in Richtung ihres Lebens. Welche Verantwortung hat ihre Generation im Brodeln der Strukturen? „Mich beschäftigt das sehr: die Abhängigkeit, der man als Schauspielerin ausgesetzt ist. Wo sage ich Nein, wo sage ich Ja? Wie wehre ich mich dagegen, als Typ geparkt zu werden?“ Am Deutschen Theater gearbeitet zu haben, empfindet sie als Glück. Es war: Jugend. Die Suchbewegung aber muss weiter­ gehen. Deshalb Hamburg. Sie wünscht sich zwischen den Gene­ rationen „Konflikt, ja, vor allem aber aufrichtige Begegnungen.“ Ensemble, ein angestaubter Begriff? „Nein, für mich gewisser­ maßen das Basislager der gemeinsamen Expedition. Es ist die Familie, die zu einer Produktion zusammenkommt und sich ­ ­irgendwann wiederfindet.“ Sie ist eine Schauspielerin, die sich wohl in einen Brecht werfen könnte, als sei es Schiller. Bei ihr, so sieht es aus, will ein Ausdruck an den Punkt kommen, da er explodieren darf. Und in gleichem Maße kann sie – bis zum Augenzwinkern – ein Still­ leben bevölkern. Ihr Stil: Erkenntnisempfindung, wenn es denn so etwas gibt. Wenn sie mit ihrem Fahrrad aus Hamburg-Otten­ sen in die Gaußstraße zur Probe fährt, steuert sie nach einer kleinen Abfahrt auf dem Gelände immer unmittelbar auf die Schiene des Fahrradständers zu. Schnell und zielsicher. Zack! Das letzte kleine Stück Berechnung vor dem Schritt in diese far­ bige Welt woanders. //


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STADTTHEATER INGOLSTADT

Der Futurologische Kongress III 13 I 05 - 15 I 05 I 2022

AUSSTELLUNG WANDELKONZERTE PERFORMANCES WORKSHOPS KLANG- UND VIDEOINSTALLATIONEN mit Roman Signer Beat Furrer Musicbanda Franui Christian Zehnder Hille Perl Donata Wenders Vanessa Porter Ensemble The Present Andreas Arend Cordis in custodia Ensemble ö! Oni Wytars

10 J A H R E SC H L OSSM ED I A L E W ERD ENBER G INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR ALTE MUSIK, NEUE MUSIK UND AUDIOVISUELLE KUNST 3. – 12. JUNI 2022 SCHLOSS WERDENBERG SCHLOSSMEDIALE.CH


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Generation Corona? Schauspielausbildung als Achterbahnfahrt: Berichte aus Wien und Bochum von Friederike Felbeck

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ie Nachricht kommt wenige Tage vor der Premiere im März 2020. Eva-Lina Wenners und Paula Winteler studieren Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste in Essen, und nach einem ersten intensiven Jahr soll es jetzt erst so richtig losgehen – der Umzug ins Theaterzentrum in Bochum steht unmittelbar bevor: „Jetzt zeigen wir’s euch allen!“ Dann der Schock: Alle Gäste müs­ sen ausgeladen, der Campus darf nicht mehr betreten werden, die erste Vorstellung vor Publikum – abgesagt! Es heißt, da kommt ein Virus, und der wird große Auswirkungen haben – auf alles. Endzeitstimmung. Ein letzter gemeinsamer Abend der elfköpfi­ gen Klasse in einer Kneipe, ein trauriger Abschied auf unbe­ stimmte Zeit. Zwei quälend lange Woche ist vollkommen unklar, wie es weitergeht. Dann heißt es: Online-Unterricht. Als fassungs­

los, aggressiv und sauer, aber auch verzweifelt beschreiben die beiden ihren damaligen Gemütszustand. Wie soll das gehen? Alle haben Angst um ihr Studium. Paula Winteler fährt erst mal nach Hause – das ist 600 Kilometer entfernt. Sie erinnert sich: „Wir waren überzeugt, dass wir einfach schlechtere Schauspielerinnen werden.“ Henri Mertens ist damals noch in Feierlaune. Er hat sich gerade gegen Hunderte von Mitbewerber:innen durchsetzen kön­ nen. Nun beginnt er sein Studium während des ersten Lock­ downs. Geraubt, unterschlagen – das erste Semester Grundlagen­ unterricht. Eigentlich eine Spezialität der Folkwang: Studierende der Fachbereiche Schauspiel, Physical Theatre, Regie und Musical erforschen gemeinsam das Universum Theater – viel Improvisa­ tion, Persönliches, größtmögliche Nähe. Für Henri Mertens be­

Der erste Jahrgang des Schauspielstudiengangs an der MUK in Wien. Foto Fabian Cabak


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deutete dies einen herben Absturz: lauter Vorfreude und dann die Gewissheit, unfassbar viel zu verpassen! Bis Mai 2020 hat sich dann alles eingependelt. Zunehmend steigt die Akzeptanz, und die Studierenden gewinnen mehr Selbst­ sicherheit. In kleiner Besetzung kann nach den ersten Lockerungen auch wieder in Präsenz oder an der frischen Luft geprobt werden: Liebesszenen mit fünf Metern Abstand. Und lange Abende vor dem Bildschirm, vereinzelte Spaziergänge mit den Kommilitonen, um die überhaupt erst (physisch) kennenzulernen. Der gesamte Unter­ richt findet auf Distanz statt. Das bedeutet Fechten mit dem Koch­ löffel, Aufwärmübungen und Bewegungstraining, bei denen man sich den Kopf am Hochbett stößt, Stimmtraining und Sprecherzie­ hung in der Privatwohnung, vor den empfindlichen Ohren der Nachbarn. Inzwischen habe sie alle Hemmungen verloren, lacht Paula Winteler. „If I can make it there, I’ll make it anywhere.“ Aber das bedeutet auch: keine WG-Partys, Leben in Infektionsgemein­ schaften und weitgehende persönliche Isolation, und das auf weni­ gen Quadratmetern allein, wochenlang. Aber die Selbstdisziplin und der Wille, diese Herausforderungen zu bestehen, ist bei allen stark ausgeprägt, der Zusammenhalt umwerfend. Sie werden es brauchen, denn das Virus bleibt lange, sehr lange noch. Julie Pitsch studiert heute im ersten Jahr Schauspiel, eben­ falls in Essen. Sie hat für ihre Aufnahmeprüfungen drei Kurz­ videos eingereicht und so die ersten Runden online absolviert. Leute kennenlernen, die Stimmung an einer Schule mitbekommen, direkten Kontakt zu den Dozenten – gestrichen. Die Videos entste­ hen mit der Handykamera zu Hause, die Familie wird zum Publi­ kum. „Das kann eigentlich nichts werden“, beschreibt sie ihre Unsicherheit. Die Absagen sind dann auch prompt anonym, ohne Feedback oder Begründung, ein Rätsel. Dann kommt sie doch in Essen in die zweite Runde. Ein Tag, zwölf Stunden, sechs Bewer­ ber. Die Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wird, führt dazu, dass viele gesagt haben „Ich will unbedingt an die Folkwang“. „Eine Ausrichtung der Kamera im Querformat, die es zu­ lässt, dass man die Totale sieht, aber auch Nahaufnahmen ent­ stehen.“ Fabia Matuschek erinnert sich, wie sie mit ihrem iPhone 8 versucht, den Anforderungen der Schulen gerecht zu werden, bei denen sie sich be­ wirbt. Heute weiß sie: Glück gehabt! Denn sie hat ein großes Zimmer mit einer wei­ ßen Wand, das macht einen besseren Ein­ druck, andere zoomen ins elterliche Wohnzimmer. Sie baut ihr Bett auseinan­ der, die Paletten-Konstruktion wird zum überdimensionalen Kamerastativ umfunk­ tioniert, noch ein paar Bücher drauf, und es kann losgehen. Fabia Matuschek stu­ diert inzwischen Schauspiel an der Musik und Kunst Privatuniversität Wien, kurz MUK genannt. Gemeinsam mit ihrem Kommilitonen Amrito Geiser lobt sie den

Die Preisverleihung beim Schauspielschul­ treffen mit Online-Teilnahme. Foto Wolf Silveri

corona und ausbildung

sehr, sehr positiven Empfang an der MUK – ein krasser Gegensatz zu der Eiseskälte, von anderen Schulen nie eine Rückmeldung zu erhalten, warum die Bewerbung abgelehnt wird. Für die Schulen hat dies rechtliche Gründe. Im Gegensatz dazu werden an der MUK alle Runden der mehrstufigen Aufnahmeprüfung in Präsenz durchgeführt. Die Termine werden in den Sommer verschoben, die Universität stellt das gesamte Gebäude zur Verfügung. Ermög­ licht wird die Einhaltung des strikten Sicherheitskonzepts durch das persönliche Engagement von Dozenten und Studierenden, die hierfür auf zehn Tage ihres Sommerurlaubs bzw. der Semesterferi­ en verzichten. Estera Stenzel, seit 2014 Professorin für Schauspiel und stellvertretende Studiengangsleiterin, beschreibt das ausge­ feilte System und die straffe Organisation, wie 280 Bewerber durch die Korridore gelenkt werden. Sie formuliert ein starkes ­Plädoyer für die aufwendige Präsenzprüfung und gegen das Ein­ reichen von Bewerbungsvideos, denn Schauspiel bedeutet Men­ schen in all ihrer Komplexität, Bildschirm ist Oberfläche. Amrito Geiser gesteht, wie ihn lange noch die Angst beglei­ tet hat: Jetzt werde ich endlich Schauspieler, ein Herzenswunsch geht in Erfüllung, ein Chemiestudium hat er dafür aufgegeben, aber wird es reichen? Auch in Wien erlebt man die Pandemie zu­ nächst als Schockwelle, die von Phasen der Euphorie und Auf­ bruch abgelöst wird. Während der Lockdowns ist der Zugang zu den Institutsgebäuden vollständig untersagt. Doch Not macht be­ kanntlich erfinderisch – so erweist sich der Online-Unterricht als blühende Wiese für die Erforschung von neuen Formaten und Inhalten. Wesentliche Voraussetzung, sagt Karoline Exner, Deka­ nin der Fakultät Darstellende Kunst und Studiengangsleiterin Schauspiel, war der Zusammenhalt im Team, an dem sie selbst einen entscheidenden Anteil hat: Ihre wöchentlichen Instituts­ berichte an gleichermaßen Lehrende und Studierende, die eine sehr persönliche und ermutigende Note haben, sind ein bisschen „Kult“ an der MUK. Und: jeden Tag ein PCR-Test. Kleingruppen proben in Präsenz – zu zweit, zu sechst, zu acht. Der Bewegungs­ unterricht findet online statt, der Gesangsunterricht fällt lange aus, aber ein jahrgangsübergreifender Chor trifft sich digital.

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protagonisten

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klassischen Theaterszenen bis ­ stera Stenzel beschreibt, wie E zu hoch experimentellen filmi­ sie als Dozenten die Unter­ richtsinhalte anpassen. So ent­ schen Eigenkreationen und Stückentwicklungen reichen, stehen Etüden für Alltagsbüh­ nen: auf dem Balkon, unter die nicht zuletzt auch die eige­ dem Tisch, in der Dusche. ne biografische und berufliche Situation der jungen Schau­ Werkschauen, Endarbeiten on­ line? Das sind sterile Umstän­ spielanwärter:innen ins Visier nehmen. de. Immer begleitet von der Ma­ xime: „Wir müssen öffnen!“ An der Folkwang Uni­ Sobald es geht. versität stemmt sich Daniela Holtz, Professorin für Prakti­ Das Schauspielstudium an der MUK ist ein duales für sche Theaterarbeit, gemein­ sam mit ihrem Kollegium ge­ Bühne und Film, ein klarer Vorteil. Es entstehen zahlreiche gen die Pandemie und erfindet mit einer nach der kürzlich Kurzfilme, die Studierenden setzen sich mit politischen Re­ verstorbenen Schauspielerin Elke Twiesselmann benannten den auseinander. Höhepunkt ist eine Performance mit bio­ und mit 2000 Euro dotierten grafischem Material auf der Auszeichnung den ersten Preis Grundlage von Albert Camus’ für Nachwuchs-Schauspiele­ Die Schauspielstudierenden der Folkwang-Universität proben Roman „Die Pest“. Beim inter­ rinnen überhaupt. „Die weib­ draußen. Foto Paula Winteler liche Sicht als ästhetisches Prin­ nationalen FIST16 Festival der Schauspielschulen erhält der zip ist noch immer keine Selbstverständlichkeit“, sagt Jahrgang für seine Zoom-­ Collage in Belgrad den ersten Preis. Aber Karoline Exner sieht Daniela Holtz und wünscht den Preisträgerinnen, dass sie die Courage haben, „mutig und stolz, auch bei Gegenwind“ die eigene auch die Grenzen: „Erst wenn ich mein Handwerk beherrsche, kann ich es in den digitalen Raum ver­legen.“ Neben der Leitung der Sichtweise zu vertreten. Schon vor Corona beobachtet sie, dass die Absolvent:innen sehr viel genauer hinsehen, was sie auf dem Schauspielabteilung war sie als Dekanin auch stark in die Belange der Studiengänge Gesang und Oper, Musikalisches Unterhal­ Markt erwartet, und sich fragen, ob sie sich überhaupt in das Sys­ tungstheater sowie Zeitgenössischer und Klassischer Tanz invol­ tem „Stadttheater“ hineinbegeben möchten. Das Virus wirkt da wie ein Katalysator. Und so meldet sich Daniela Holtz im Mai 2021 viert: „Wir hatten es in der Schauspielabteilung noch vergleichs­ weise gut – für die Tänzer:innen oder Musicalstudierende ist ein überraschend mit einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen digitales Studium nahezu unmöglich.“ Zeitung über die „Grauzonen der Probebühne“ aus der verschärf­ Im Oktober 2021 startet die MUK nach anderthalb Jahren ten Perspektive einer Schauspielschule zu Wort. Sie beklagt zu wieder in das erste reine Präsenzsemester – Masken tragen, Ab­ Recht die „Schieflage an den deutschen Bühnen zwischen dem, stand halten, ununterbrochen lüften scheinen die letzten läss­ was die Spieler künstlerisch abbilden sollen, und dem, was ihnen lichen Einschränkungen zu sein. Doch Österreich macht noch jeden Tag als Arbeitnehmer, die sie ja auch sind, widerfährt“. mal ganz zu: Vom 22. November bis 12. Dezember 2021 geht das Denn am Ende des Studiums steht oft Ernüchterung, dass die Land in seinen 4. Lockdown, den die Studierenden spürbar schwe­ ­eigene künstlerische Persönlichkeit, die jahrelang systematisch gefördert wurde, nun wieder veräußert werden muss. Mitsprache­ rer wegstecken. Auch die aktuelle Situation ist, so sehr sie auch von Lockerungen geprägt ist, so angespannt wie nie: Vor den heiß recht, #MeToo, gleichberechtigte Teilhabe an der Identitäts- und Strukturdebatte der Theater und im Film – das fordern ihre Stu­ ersehnten Vorstellungen von „Universal Robots“, für den 3. Jahr­ gang der erste öffentliche Auftritt vor Publikum überhaupt, dierenden zunehmend ein. Vor einer Funktionalisierung der brummt die WhatsApp-Gruppe, denn nur ein einziger CoronaSchauspielausbildung warnt auch Karoline Exner: Ausbildung Fall im gesamten technischen oder künstlerischen Team bedeutet sollte keine „Durchgangspresse“ für den Markt sein. Paula Winte­ das Aus. Der Phantomschmerz aus dem März 2020 ist noch ler, die gerade in ihr letztes Ausbildungsjahr geht, fürchtet auch, am Ende in verhärtete und veraltete Strukturen zu geraten. spürbar: auch in Wien musste wenige Tage vor der Premiere die Einmal-im-Leben-Abschlussinszenierung abgesagt werden. Eine klaffende Wunde, die Corona hinterlassen hat, ist die Abschlussklasse 2020/2021. „Die Theater hatten sich noch nicht Immerhin schafft die MUK es, das jährliche deutschsprachi­ ge Schauspielschultreffen, das 2020 komplett der Pandemie zum sortiert“, interpretiert Holtz die Schwierigkeiten dieses Jahrgangs. Opfer fällt, im Juni 2021 – wenn auch digital – mit großem Erfolg „Wir waren komplett vom deutschen Markt ausgeschlossen“, sagt für alle Beteiligten auszurichten. Im frisch sanierten Volkstheater Karoline Exner. Die meisten der MUK-Absolvent:innen dieses unter der neuen Leitung von Kay Voges säumen zahlreiche Work­ Jahrgangs arbeiten heute frei, als Gast, einige haben ein feministi­ shops und Podiumsdiskussionen ein sehr vielfältiges Programm, sches Kollektiv gegründet oder nahmen ein Erasmus-Auslands­ dessen Spektrum von auf dem Hochschulcampus abgefilmten jahr. Aktuell sind 187 Absolvent:innen von deutschsprachigen


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corona und ausbildung

Schauspielschulen auf Vor­ ber 2021 mit ihrem „Mayday der Corona Generation“ einen sprechtour. Dramaturg:innen sitzen im Schachbrettmuster, verzweifelten Notruf ab und beschwört einen bitteren Kampf und nach dem Ausfall im Vor­ jahr wird wieder kräftig enga­ der Generationen – Jung ge­ giert. Auch wenn am Spielfeld­ gen Alt. Aus Sicht der Schau­ rand in Plaudereien vorsorglich spielstudierenden heißt es aber das eine oder andere Defizit vorläufig: Wir sind noch mal ­signalisiert wird, geschieht dies davongekommen. wohl mehr aus einem ehren­ Eike Onyambe ist Absol­ werten Beschützerinstinkt. Die vent der MUK und während zuständige Zentrale Auslandsder Pandemie eine Art Held der und Fachvermittlung, die ZAV Universität geworden. Bereits Künstlervermittlung, führt ein in seinem ersten Jahr wird er angenehmes Nischendasein in Mitglied der Studierendenver­ der Bundesagentur für Arbeit. tretung, dann Teil der Corona Task Force. Das Digitale hat zu Hier wird vermittelt, es muss nicht „gefördert und gefor­ einer starken Vernetzung auch unter den Schauspielschulen dert“, keine Leistungen ge­ kürzt, keine Künstler in andere bis hinein in die Theater und Branchen gedrängt werden. auf die Filmsets geführt. Nichts Der Kunde ist hier noch Bei der Online-Vollversammlung des Schauspiels der Studierenden bleibt mehr unbeobachtet. „Das der Folkwang-Universität. Foto Calvin-Noel Auer große Hinterfragen“ von Struk­ König:in. Lange schon ist eine turen und Hierarchien hat Doppelführung für die Schau­ längst begonnen. Die Solidari­ spielstudierenden mit den un­ terschiedlichen Vermittlungsangeboten wie Film/Fernsehen und tät unter den Studierenden und Berufs­anfän­ger:innen ist massiv Musical vorgesehen. Derzeit ist man sehr beschäftigt mit der kor­ – rassistische, sexistische Übergriffe in einer „Grauzone“ unmög­ rekten Bezeichnung des Erscheinungsbildes: süd- oder mitteleuro­ lich! Nun freut er sich auf sein erstes Engagement, auf Theaterluft und echtes Publikum. „Wir haben alle jetzt genug gedreht“, seufzt päisch, arabisch, persisch oder doch besser gemischte Herkunft? Ob während der Pandemie neue Formate, Ideen oder er. „Vielleicht habe ich mir Luftschlösser gebaut“, aber er sieht eine sehr politische Generation mit viel „Bock auf Theater“ aufziehen. Initiativen entstanden sind? „Unter Corona war eine Intensivie­ rung gar nicht möglich, der Kontakt ist ja sowieso sehr intensiv“, Nur der Händedruck, die Umarmung – das kommt erst langsam sagt Volkmar Kampmann, Leiter der Abteilung für Schauspiel, wieder. Und so ist es dem soliden Optimismus, der Widerständig­ Filmschaffende, Media, Werbung und Fashion. Allein hält auch keit und der Ausdauer von Lehrenden wie Karoline Exner und die ZAV bereits seit 2017 für alle Wechselwilligen eine sogenannte ­Estera Stenzel in Wien, Daniela Holtz in Bochum und ihrem inten­ siven Miteinander in einem engagierten Kollegium zu verdanken, Transition-Sprechstunde vor. Ein reiches Beratungsangebot aus dass der Dampfer Schauspielausbildung bisher so gut durch das Workshops und Einzelfallbetreuung holt Arbeitnehmer:innen mit schwere Fahrwasser der Pandemie gekommen ist. Vor allem aber Fähigkeiten ab, die man am Theater braucht, aber auch ganz an­ sind es die Studierenden selbst – eine mutige, eloquente und derswo gebraucht werden könnten. „Das ist sehr gefragt“, ergänzt Kampmann. Es geht heute um „Mischfinanzierung“ als Model, in kämpferische Generation – ihre einzige Triggerwarnung an uns: Wir sind keine „Generation Corona“. der Werbung, im Internet, als Influencer – das Klischee des Künst­ Auch mit den Absolvent:innenvorsprechen, liebevoll AVO lers als Kellner und Taxifahrer – passé. Logopädie, IT, pädagogi­ genannt, des Jahrgangs 2021/2022 knüpft man in Wien wieder an sche und soziale Berufe sind begehrt. Vor sieben Jahren hospitiert die erfolgsverwöhnten Vorpandemiejahre an. Nach einem von der Kampmann im Grundlagenunterricht einer Schauspielschule. Ständigen Konferenz Schauspielausbildung organisierten Aus­ „Keiner war dabei, der damit gerechnet hat, dass er sein Leben lang diesen Beruf ausübt.“ Gibt es eine statistische Erhebung von tausch mit Hasko Weber als Vorsitzendem der Intendantengrup­ pe des Deutschen Bühnenvereins blickt Karoline Exner mit der ihr Berufswegen von Schauspieler:innen, ob und wie lange diese eigenen, höchst ansteckenden Zuversicht nach vorne. Aber – auch ­aktiv im Beruf bleiben? „Ich befürchte Nein. Vielleicht 40 Pro­ zent – eine subjektive Schätzung ohne Anspruch auf statistische auf der Seite der Theater hält man sich noch bedeckt: „Da kommt Genauigkeit, vor allem was die vielen Privatschulen betrifft, ent­ noch was“, schließt sie. Nun ist das Erste schon da: ein Krieg vor zieht sich das meiner Kenntnis. Wir vermitteln die, die vermittelt der europäischen Haustür. Aber wer, wenn nicht diese Spieler, die werden wollen. Aus ,Transition‘ kann man keine Trends ablei­ durch die Sorge und die Herausforderungen dieser Pandemie ge­ ten.“ Der blinde Fleck der ZAV sind seit Jahren die Regiestudie­ schult wurden, können den künstlerischen Mut, das Know-how und den politischen Willen erringen, um auch diese Krise zu be­ renden, die Dramaturg:innen. So setzt das neu gegründete junge ensemble-nNetzwerk (JEN) als Plattform für alle Studierenden wältigen und im Theater neue, ihre Standards zu setzen und ihm einen neuen Zauber zu verleihen. // der Fachbereiche rund um die darstellenden Künste im Septem­

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Kultur ist das neue Salz Nach ihrem Abschied als Chefin der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg verantwortet Elisabeth Schweeger nun die Kulturhauptstadt 2024 im Salzkammergut von Elisabeth Maier

altung und klare Kante zeigen, das ist die künstlerische ­ hilosophie von Elisabeth Schweeger. Das vermittelt die Profes­ P sorin auch ihren Studierenden. Acht Jahre lang hat die Kultur­ managerin, Intendantin und Dramaturgin die Akademie für Dar­ stellende Kunst in Ludwigsburg in der schwäbischen Provinz geleitet. Mit Kontakten in viele Länder, einer weltweiten Akkredi­ tierung der Lehre und mit dem internationalen Furore Festival hat sie das P­rofil der Hochschule geschärft, die Schauspieler:innen, Regisseur:innen und Dramaturg:innen ausbildet. „Wir haben die Lehre hier gut gerockt“, schwärmt die Wienerin. Mit 68 Jahren wechselt sie nun nach Bad Ischl ins Salzkammergut. Da ist sie seit November neue Chefin der Kulturhauptstadt 2024: „In dieser Aufgabe verbinden sich alle meine Berufserfahrungen, die ich an meinen Stationen gesammelt habe.“ Solche Aufbrüche reizen die große Theaterfrau. Angefan­ gen hat sie nach dem Studium der Vergleichenden Literatur­ wissenschaft und der Philosophie in Wien als Dozentin. Wissen lustvoll zu vermitteln, das gefällt ihr. Elisabeth Schweeger unter­ richtete an der Universität der Angewandten Künste und später an der Akademie für Bildende Kunst. Dann arbeitete die charisma­ tische Vernetzerin als Chefdramaturgin am Residenztheater Mün­ chen. Von 2001 bis 2009 war sie Intendantin am Schauspiel Frankfurt. Dann baute sie von 2009 bis 2014 die KunstFestSpiele Herrenhausen in Hannover auf. Auch da wagte sie Neues, holte Künstler:innen wie Vivienne Westwood, Bianca Jagger, Christoph Schlingensief und Christof Nel. Es hat sie motiviert, dass das ­Festival von Beginn an umstritten war. So erwachte der Kampf­ geist der Vermittlerin. Ungewöhnliche Konzepte beim Publikum durchzusetzen, darin liegt für sie eine wichtige Aufgabe der Kunst. Dass man sich in der Kultur immer wieder gegen Widerstände behaupten muss, gibt sie ihren Absolventen mit auf den Weg. Menschen und Teams zu führen und sie zu entwickeln, das liegt der leidenschaftlichen Lehrerin. In Bad Ischl geht es nun darum, Impulse für eine ganze Region zu setzen. Dass sie die Sprache der Menschen spricht, von denen viele nur selten aus ihren Dörfern herausgekommen sind, sieht die weltoffene Theaterfrau da als ein großes Plus. Die Auf­ gabe, die Kulturhauptstadt 2024 im Salzkammergut in der idyl­ lischen Bergwelt zu realisieren, findet die Literaturwissenschaft­ lerin schwierig und spannend zugleich. „Es geht ja nicht nur um Bad Ischl“, sagt die Österreicherin. 23 Gemeinden haben sich für das gemeinsame Projekt zusammengeschlossen, „da ziehe ich meinen Hut“. Salz habe die Gegend bekannt gemacht, Bergbau war die bedeutendste Arbeitswelt. Der Abbau war im Besitz der Habsburger, die Arbeiter waren Leibeigene. Das Motto der Kultur­ hauptstadt heißt „Kultur ist das neue Salz“, wobei der Salzabbau nach wie vor eine große wirtschaftliche Bedeutung hat und ­Arbeitsplätze sichert. Die Geschichte von Macht und Tradition der Habsburger beschäftigt die Festivalmacher, daran wollen sich Schweeger und Im Elfenbeinturm hatte das Theater für die scheidende Chefin der Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg Elisabeth Schweeger nie etwas zu suchen. Foto die arge lola


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ihr Team abarbeiten und kritisch reiben. Aber auch das jüdische Leben haben sie im Blick. In Zeiten des Nationalsozialismus habe die Arisierung da gewütet. Die Menschen sind von den Schergen Hitlers regelrecht ausgerottet worden. Dieses dunkle Kapitel will sie umfassend aufarbeiten, das Schweigen darüber brechen. Ein weiteres Thema in der „wahnsinnig schönen Al­ penlandschaft“ ist für sie der Fremdenverkehr. Der künstleri­ schen Leiterin geht es um die Entwicklung eines Kulturtouris­ mus, der nicht zerstörerisch auf die Umwelt wirkt und den Menschen das ganze Jahr über eine Existenz bietet. Sie möchte auch das Landleben in den Blick nehmen. In der Region leben, aber global vernetzt sein. Da will Schweeger mit Kunstschaffen­ den, Wissenschaft­ler:innen und Politikern nach­haltige Konzepte anstoßen und etablieren. Gerade bei dieser Vernetzung be­ schleunige die Digitalisierung innovative Ansätze. In eleganten dunklen Kostümen und mit ihrer feinen, souveränen Art be­ hauptet sich Schweeger auch auf politischem oder wirtschaftli­ chem Parkett. Das hat sie in ihrer langen Laufbahn gelernt. Die Akademie in der Barockstadt Ludwigsburg vor den ­Toren Stuttgarts verlässt Elisabeth Schweeger mit einem weinen­ den Auge. Die Freiräume für die Lehre hat sie genossen. Die Stu­ dierenden wie auch das Kollegium haben ihr selbst in Zeiten von Corona einen schönen Abschied beschert. „Adieu Sisi“ ist auf ­einem Plakat zu lesen, das am Theaterturm im Akademiehof hängt. Die Reminiszenz an die österreichische Kaiserin entlockt der resoluten Kulturmanagerin ihr charmantestes Lächeln. Das moderne Bauwerk mit besten technischen Möglichkeiten für die Studierenden hat der Bühnenbildner Martin Zehetgruber entwor­ fen. Gegenüber der Theaterakademie liegen die Gebäude der Filmakademie. Um den Studierenden möglichst umfassende Per­ spektiven zu bieten, arbeiten beide Hochschulen eng zusammen. Eine produktive, angstfreie Atmosphäre hat die künstle­ rische Leiterin und Geschäftsführerin am Haus geschaffen. „Ein gutes Gefühl“ steht in rosaroter Neonschrift über der Bar im Foyer. Das bringt den Geist des Hauses auf den Punkt. Elisabeth Schweeger war für die jungen Theaterkünstler:innen im besten Sinn ein Coach. Beim Furore Festival mit Produktionen inter­na­ tionaler Theaterakademien gab sie am Rande auf Bierbänken auch ganz spontan einen Tipp für Sponsorensuche oder Öffent­ lichkeitsarbeit. Oder sie hörte sich die Sorgen der jungen Künstler:innen an. Ihr Ziel war es stets, die jungen Menschen selbst ihre Erfahrungen sammeln zu lassen – auch wenn dann manches nicht ganz so perfekt klappte. Geduldig, energisch und kritisch hat sie die Arbeit ihrer Studierenden begleitet. Viele von ihnen sind Grenzgänger, die in mehreren Disziplinen zu Hause sind – wie etwa die Regieabsolventin Amanda Lasker-Berlin. Sie ist auch als Romanautorin erfolgreich. Der Austausch mit der ­Professorin habe ihr Mut gemacht, den Spagat zu wagen, ist die junge Künstlerin überzeugt. Als Dramaturgin und Journalistin hat Schweeger ein feines Gespür für konstruktive Kritik. Auch ­davon haben die jungen Menschen sehr profitiert. Mit dem Zentrum für Politische Schönheit und Rimini ­Protokoll haben bekannte Kollektive den Studierenden ästheti­ sche Horizonte geöffnet. Regisseur Christof Nel hat als einer ih­ rer langjährigen Weggefährten die Studierenden als Mentor be­ gleitet. Innovative Theaterformen haben die jüngeren Regisseure

elisabeth schweeger

wie Tom Stromberg und Christian von Treskow den Studieren­ den ­vermittelt. Daraus entstanden öffentliche Präsentationen, die weit über Ludwigsburg hinaus ihr Publikum fanden. Neben dem ­festen Stamm aus Professoren und Lehrenden arbeitete Schweeger viel mit Gästen. Dass die Hochschule jenseits der Theaterzentren liegt, sorgte aus ihrer Sicht für die notwendige Ruhe zum Arbeiten. „Man kann hier sehr konzentriert seine Projekte verfolgen“, lobte Wilke Weermann die Arbeitsbedin­ gungen ebenso wie so viele Inspirationen. Der Regisseur und Autor hat mit seinen digitalen Projekten den Sprung an große deutsche Bühnen geschafft. Im Elfenbeinturm hatte das Theater für die Chefin der ­Ludwigsburger Akademie nie etwas zu suchen. Deshalb liegen ihr politische und gesellschaftliche Themen am Herzen. Beson­ ders stolz ist sie auf ein Symposium an der ADK, das die Nach­ haltigkeit am Theater in den Blick nahm. Da diskutierten junge Künstler:innen mit Expert:innen aus Kunst, Politik und Wissen­ schaft über Möglichkeiten, künstlerisch gegen die Klimakrise ­aktiv zu werden. Mit der Reihe „Montags an der ADK“ hat Schweeger ein Diskussionsformat etabliert, das die Studieren­ den mit Experten aus Kunst, Politik und Wissenschaft zusam­ menbringt. Der Staatsanwalt Thomas Will, der die Zentrale Stelle der Landesjustiz zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen leitet, war da ebenso zu Gast wie der Kulturmana­ ger Julian W ­ arner, der das Kunstfestival der Region Stuttgart kuratiert. Das Angebot lockte auch eher theaterferne Besucher ins Haus. Als politisch denkende Theaterfrau ließ Schweeger ihren Blick immer in die Welt schweifen. Deshalb hat sie unter ande­ rem eine Kooperation mit Künstler:innen in Burkina Faso und ihrer Akademie ins Rollen gebracht. Das Projekt Emergency Exit für ehemalige Studierende der Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE) in Budapest hat sie federführend gemeinsam mit Kolleg:innen von vier Hochschulen angestoßen. Nach der Übernahme der Universität durch eine regierungsnahe Stiftung hätten die jungen ungarischen T ­ heatermacher so die Möglich­ keit, ihre Abschlüsse an anderen Universitäten im Ausland zu machen. Dieses Projekt brachte ihr und ihren Mitstreitern 2021 den Europäischen Bürgerpreis ein. Die Ausbildung junger Theaterkünstler:innen zukunfts­ fähig zu machen, war ein großes Ziel der Professorin. Vor ihrem Abschied baute Elisabeth Schweeger an der ADK gemeinsam mit anderen Universitäten einen transnationalen Master-Studiengang Performative Künste auf. „Das Programm ist unabhängig von na­ tionalen Vorgaben“, bringt die 68-Jährige das Konzept auf den Punkt. Zwei weitere Master-Studiengänge sind geplant. Für junge Schauspieler:innen soll es einen multilingualen Studiengang ­geben, der die Spieler:innen auch für den englischsprachigen Markt fit macht. Für die angehenden Regisseure ist das ADK Lab international geplant – da arbeiten die Studierenden künftig freier und mit namhaften Regisseur:innen zusammen. „Auch die Drama­ ­ turgie möchten wir in größeren Zusammenhängen ­denken.“ Schweeger hat diese Neuerungen angestoßen. Wer die Akademie ab dem Sommersemester leiten wird, gibt das badenwürttember­gische Ministerium für Wissenschaft und Kunst dem­ nächst bekannt. //

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Look Out

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Von diesen Künstler:innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Dunkle Materie Die Schauspielerin Sarah Moeschler forscht nach dem Unsichtbaren im Theater

I

n einem Video-Poem für ihre Aufführung „_darkened by barbara“ wandert Sarah Moeschler durch einen langen schwarzen Tunnel, auf dessen Wänden ihre Hand Zeichen aus Licht hinterlässt. Ihre „Kosmische Ballade mit rauschendem Hintergrund der Wahrheit“, die irgendwo zwischen den Orkantiefs Ylenia, Zeynep und Antonia im Februar 2022 am Theater an der Ruhr Premiere hatte, ist eine Liebeserklärung an das Unsichtbare. Grundlage der Performance, die zugleich ihre Abschlussarbeit für eine Schauspielausbildung an der Hochschule der Künste in Bern ist, ist ein selbst programmierter Algorithmus. Als R_ταυ 2.1. firmiert dieser als ihr Ko-Autor und hat sechs Gedichte beigesteuert. Vorbild für die Figur, die sie selbst spielt, ist die US-amerikanische Astrophysikerin Vera Rubin, die in den 1970er Jahren eine Pionierin in der Erforschung der Dunklen Materie wird – ihr, der unterschätzten, kämpferischen Naturwissenschaftlerin widmet sie den selbst entwickelten Abend, der in der Camera Obscura in Mülheim gezeigt wird und davon berichtet, „wie ich mich fühle in der Welt“. Feministische, queere und rassistische Themen verdichten sich zu poetischen Bildern und Texten. Denn Kunst und Wissenschaft zu verbinden, ist für Sarah Moeschler eine Herzensangelegenheit. Allzu verständlich, denn die gebürtige Schweizerin ist promovierte Virologin. Sie studierte Biologie an der Universität Neuchâtel und machte ihren Master in Biomedizin an der Universität Lausanne. Für sie als Wissenschaftlerin war Hautfarbe nie ein Thema, nun erfährt sie – und das überrascht sie sehr –, wie wichtig das Aussehen für ihren Beruf als Schauspielerin ist. „Erscheinungsbild: karibisch“ wird sie auf ihrer offiziellen Sedcard ausgezeichnet. Aber „Theater soll doch ein menschliches Abenteuer sein!“ Und Lernen, Träumen, Nahrung, Flexibilität und Konzentration. Sie, die im Kanton Neuenburg aufgewachsen ist, das mit den beiden benachbarten Städten La Chaux-de-Fonds und Le Locle als Wiege der Uhrmacherei gilt,

fand erst mit 25 Jahren zum Theaterspielen. Aber die Kraft und Energie des Theaters war wohl schon immer da, nur nicht sichtbar, wie die Dunkle Materie, die Sarah Moeschler „Barbara“ nennt und ins Zentrum ihrer Aufführung gestellt hat. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Toulouse, auf sich allein gestellt in einem langen heißen Sommer, dreht sich plötzlich der Schlüssel um, als sie eines Abends die Schauspieler Stanislas Nordey und Audrey Bonnet im Radio hört. France Culture überträgt „La Clôture de l’amour“ vom Theaterfestival in Avignon, zwei Monologe über das Ende einer Liebe, die Pascal Rambert seinen beiden Hauptdarstellern auf den Leib geschrieben hat. Von da an geht Sarah Moeschler fast täglich in die Theaterabteilung der Stadtbibliothek. Als sie ein Plakat entdeckt, das einen Theaterworkshop ankündigt, greift sie zu. Eine tiefe und geheimnisvolle „Leidenschaft für das Theater“ packt sie: Sie besucht Abendkurse und finanziert ihr Schauspielstudium in ­Fribourg, Lausanne und schließlich in Bern mit Workshops für Kinder und Jugendliche und wissenschaftlicher Beratung für Firmen. „Versuch’s mal!“ So lautet der Rat einer Dozentin, die beobachtet, wie Sarah Moeschler alles aufsaugt, ausprobiert, was ihr entgegentritt: „Schauspielerin wird man nicht durch eine Schule, sondern durch die Menschen, die man trifft.“ Die beiden Monologe von Stan und Audrey gehören bald zu ihren Vorsprechrollen – sie spielt den männlichen Part in deutscher Sprache, den seiner Freundin auf Französisch. Am Schauspielhaus Bochum gastiert Sarah Moeschler in Johan Simons’ „Ödipus, Herrscher“ und für „Die un­ endliche Ge­ schichte“, inszeniert von Liesbeth Coltof. Mit Beginn der Spielzeit 2021/2022 ist sie im Ensemble des Mülheimer Theaters angekommen und erobert sich Deutsch als ihre neue, zweite Bühnensprache: „Es ist anstrengend, aber genau das gefällt mir!“ Die Tochter einer Lehrerin und eines Uhrmachers spricht in „Nathan. Death“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, inszeniert von Philipp Preuss, mit einer musikalischen und glasklaren Genauigkeit, die wohl nur jemand mitbringt, der nicht in seiner Muttersprache agiert. // Friederike Felbeck Sarah Moeschler. Foto F. Götzen

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Blick hinter die Kulissen: Probe der Kreuzigung in Oberammergau. Foto Sebastian Schulte

Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel­kinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeis­terung der Dorfbewohner bis ­heute ­ungebrochen ist. Es blickt hinter die ­Kulissen und begleitet die Entstehung der ­Passionsspiele im Jahr 2022 mit i­hren über 2000 Mitwirkenden. Die A ­ utorin Anne Fritsch hat mit vielen von ihnen gesprochen: über ihre Motivation, über besondere Rituale wie etwa den Haar- und Barterlass und über das L ­ eben mit Theater auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Und darüber, warum Aufgeben keine Option ist.

Exklusiver Vorabdruck


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Anne Fritsch

Theater unser Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

Profanes und Heiliges Oberammergau ist ein gar nicht so kleines Dorf, das auf den ersten Blick vielen anderen in Bayern ähnelt. Eine Mischung aus Profanem und Heiligem, aus Hässlichem und Schönem, Kitsch und Kirche, Beton und Natur. Eingerahmt von durchaus schrof­ fen Bergen wie dem Kofel, der wie ein einzelner Zahn hinter dem Ort aufragt und so wirkt, als wäre er nur aus Versehen hier. Lion Feuchtwanger, der 1910 nach Oberammergau kam, nannte ihn boshaft einen „rechten Reklameberg“. „Der Hochgebirgs­ charakter dieses Bergs erweist sich als Täuschung: nur die dem Dorf zugekehrte Seite ist schroff und wuchtig, der ganze Berg hat fünfhundert Meter Bodenhöhe und verschwindet sogleich, wenn man sich von Oberammergau entfernt.“ (Lion Feuchtwan­ ger: „Oberammergau“, 1910). Erwandert hat Feuchtwanger den Kofel wohl nicht, sonst wüsste er, dass die Reklame hier durch­ aus hält, was sie verspricht: Trotz seiner nur 1342 Meter hat der Kofel auf dem letzten Stück bis zum Gipfel durchaus kraxelige und gebirgige Passagen vorzuweisen. Im letzten Jahrhundert hat sich einiges getan im Ort: Längst sind nicht mehr alle, die hier wohnen, oberbayerische und katholische Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. Über die Jahrzehnte kamen eine Menge Menschen aus verschiedenen Teilen Europas und der Welt nach Oberammergau. Und seit­ dem die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche nicht mehr Bedingung für die Teilnahme an den Passionsspielen ist (dazu später mehr), hat die Zahl der Kirchenaustritte auch hier zuge­ nommen. Dass die Öffnung für Anders- und Nichtgläubige bei einem Teil der Bevölkerung zunächst nicht gerade für Begeiste­ rung sorgte, ist ebenfalls kein Alleinstellungsmerkmal des Or­ tes. Als 1990 Carsten Lück als erster Protestant eine Hauptrolle spielte, sahen nicht wenige darin den Anfang vom Ende. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall; das vermeintliche Ende bedeutete vielmehr einen Neuanfang: Dass nun alle, die lange genug im Ort leben, mitmachen dürfen und niemand ­wegen seines Glaubens (oder Nichtglaubens) ausgeschlossen wird, ist die Voraussetzung dafür, dass die jahrhundertealte

­ radition auch im 21. Jahrhundert ein von der gesamten Dorf­ T gemeinschaft getragenes Projekt bleiben kann. Eine sich ver­ ändernde Gesellschaft braucht sich verändernde Regeln. Und eine Theaterinszenierung dieses Ausmaßes braucht eine Mehr­ heit, die es trägt. Blieben alle Nicht-Katholiken außen vor, wäre der Zuspruch heute wohl kaum noch so groß. Das Passionstheater, das apricotfarben und im Vergleich zu den anderen Gebäuden überdimensioniert im Zentrum steht, prägt das Dorf auch optisch. Zusammen mit all den Kruzifixen ist es eine alltägliche Erinnerung an die Spiele. Zusätzlich ver­ weisen die Namen von Häusern und Straßen auf die Passion, ihre Orte, Figuren und vergangenen Größen: Am Kreuzweg, Dedlerstraße, Judasgasse, Pater-Rosner-Straße … Sogar eine Kas­ par-Schisler-Gasse gibt es. Benannt nach dem Mann, der ver­ meintlich die Pest nach Oberammergau brachte und schließlich das Passionsspiel initiiert haben soll. Das Kunsthandwerkerzent­ rum ist im Pilatushaus untergebracht, das Schwimmbad findet man im „Himmelreich“ … Eine Runde über den Friedhof ist wie eine Reise durch vergangene Passionen. Hier sind sie alle ver­ sammelt, die Daisenbergers, die Zwinks, die Langs, die Stückls, die Rutzens, die Preisingers und viele mehr. All die Namen, die die Spiele über die Jahrhunderte prägten: Spielleiter, Darsteller, Musiker. Es fühlt sich an, als würde man alte Bekannte besu­ chen, auch wenn man ihnen zu Lebzeiten nie begegnet ist. In der Pfarrkirche St. Peter und Paul mitten auf dem Friedhof hängt bis heute im rechten Seitenaltar das Kreuz, vor dem die Dorfbewoh­ ner 1633 ihr Gelübde gesprochen und sich verpflichtet haben, fortan alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen. Die Jahr­ hunderte sieht man ihm nicht an. Hier gibt man acht auf seine Historie.

Die Spielwütigen Wo ihre Vorfahren im 17. Jahrhundert an einen Gott glaubten, der sie vor Unheil beschützen kann, ist über die Jahrhunderte das Theater selbst zu etwas geworden, an das hier (fast) alle glauben.


ANNE FRITSCH

THEATER UNSER

ANNE FRITSCH

Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeisterung der Dorfbewohner bis heute ungebrochen ist. Es blickt hinter die Kulissen und begleitet die Entstehung der Passionsspiele im Jahr 2022 mit ihren über 2000 Mitwirkenden. Die Autorin Anne Fritsch hat mit vielen von ihnen gesprochen: über ihre Motivation, über besondere Rituale wie etwa den Haar- und Barterlass und über das Leben mit Theater auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Und darüber, warum Aufgeben keine Option ist.

THEATER UNSER

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Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

Anne Fritsch Egal, welcher Religion sie angehö­ internationalen Stars, sondern THEATER UNSER ­Laien. Trotzdem oder gerade des­ ren oder an was sie sonst so glau­ Wie die Passionsspiele Oberammergau wegen ist das Interesse der Bevöl­ ben. Für die einen steht nach wie den Ort verändern und die Welt bewegen vor die religiöse Pflicht im Vorder­ kerung (und der Besucher aus al­ Paperback mit 200 Seiten ler Welt) ungebrochen, es nimmt grund, für andere das Gemein­ eher zu als ab. Josef Georg Ziegler schaftserlebnis und die Tradition, ISBN 978-3-95749-394-1 für wieder andere die Kunst – und schrieb in seinem Bericht über die EUR 15,00 (print) / 12,99 (digital) Spiele 1990: „Die Faszination des für nicht wenige eine Mischung Theater der Zeit aus all diesen Aspekten. Für alle Oberammergauer Passionsspieles rührt daher, dass es ihm gelang, hier aber ist das Theater einfach ein Teil ihres Lebens, über den zwar mitunter heftig gestritten ein Spiel vom Volk für das Volk zu bleiben. Das ganze Dorf be­ trachtet es als seine Angelegenheit und ist stolz darauf.“ (Josef wird, der aber in seiner Notwendigkeit nie infrage gestellt wird. Georg Ziegler: „Das Oberammergauer Passionsspiel“, 1990). Darin unterscheidet sich Oberammergau grundlegend Für den Spielleiter liegt die Herausforderung nicht darin, von anderen Dörfern und auch Städten: Hier prägt das Theater die Menschen zum Mitmachen zu motivieren, sondern darin, die Menschen. Nicht nur eine Elite, sondern alle. Man kommt einfach nicht drum herum. Jeder Spielberechtigte, jedes Kind die vielen Spielwütigen auf der Bühne unterzubringen. Denn eigentlich sind es viel zu viele, das sagt Christian Stückl immer im Ort bekommt eine Einladung, an den Spielen teilzuneh­ men. Die Aufforderung, Theater zu spielen, ist selbstverständ­ wieder. Oder zumindest: deutlich mehr als nötig. Das Volk tritt in Schichten an, für alle gleichzeitig ist schlicht kein Platz auf licher Teil des Aufwachsens in Oberammergau. Man muss sich eher aktiv dagegen entscheiden als dafür. Das Passionsspiel ist der Bühne. Hier und da muss auch eine zusätzliche Volksszene erfunden werden, damit alle zu ihrem Recht kommen. Nein: Bestandteil des Dorflebens und des Dorftratsches. Es zwingt Nachwuchsprobleme gibt es definitiv nicht, die Hälfte der Ein­ alle, die hier wohnen, sich mit künstlerischen Fragen – und wohnerinnen und Einwohner macht auf oder hinter der Bühne miteinander – auseinanderzusetzen. Oder, wie Rochus Rückel, mit. Während Theater fast überall eine Veranstaltung von weni­ einer der Jesus-Darsteller 2022, sagt: „Generell ist die Passion gen für wenige ist, eine Nischenveranstaltung, ist es hier etwas, immer Thema, es vergeht garantiert kein Tag in Oberammer­ an dem (fast) alle teilhaben können – und wollen. Das Spiel hat gau, wo nicht irgendwie irgendwo zehnmal über die Passion gesprochen wird.“ Wenn in einer Schulklasse oder einer Clique in diesem Ort eine gesellschaftliche Relevanz, von der Stadt- und Staatstheater nur träumen können. Diese kämpfen landauf, fast alle mitmachen, hat das eine Sogwirkung auf die Übrigen. Im Wirtshaus wird über dramaturgische Fragen diskutiert wie landab um Aufmerksamkeit und versuchen, die Menschen durch Beteiligung zur Begeisterung zu verführen. In Ober­ anderswo über Politik. Dieses Theater verlangt ihnen einiges ab, hat dem Ort aber gleichzeitig zu internationaler Bekannt­ ammergau dagegen ist das Theater seit dem 17. Jahrhundert ­positiv besetzt. Das gemeinsame Spielen wurde für die Vorfah­ heit und Wohlstand verholfen. Egal, wie erbittert da auch mal gestritten wird: Hier würde niemand infrage stellen, dass ren zum Lebensretter, für die Nachkommenden zum Gemein­ schaftsprojekt und Wirtschaftsfaktor. ­Theater relevant ist. Nein: Oberammergau ist kein ganz normaler Ort im baye­ Und das, obwohl die Grundkonstanten erst mal so gar rischen Voralpenland. Oberammergau ist Theaterort durch und nicht brisant klingen: nur alle zehn Jahre, uralte Rituale, immer durch. // dieselbe jahrtausendealte Geschichte, religiöse Thematik, keine


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Steine, Pflanzen, Sounds Das Theater der Chilenin Manuela Infante ist politisch im Geist des Zweifels von Renate Klett

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ür Manuela Infante hat Theater mehr mit Philosophie zu tun als mit Geschichtenerzählen. In ihren Stücken sind die Protago­ nisten Steine oder Pflanzen, die sich ständig verwandeln, auch schon mal in Menschen, wie es scheint. Ihr Kosmos ist groß und nicht immer verständlich, aber stets faszinierend. Sie gehört zu jenen Auserwählten, die alles dürfen und ergo tun. Sie ersinnt un­ gewöhnliche Narrative, jenseits des Anthropozäns. Die Menschen sind eh verloren, also übernehmen Bäume, die sich verbreiten und dabei sprechen, und Mineralien, die sich ihrer Lebenskunst versichern. Das hat manchmal fast märchenhafte Züge und oft auch recht brutale. Man weiß nie so recht, woran man bei ihr ist, und gerade das scheint Zuschauer wie Mitspieler zu inspirieren. Daraus ergibt sich ein politisches Theater ganz eigener Art, mit Fantasie statt Propaganda, lässiger Überlegenheit statt bitterer Abrechnung. „Was mich am Theater am meisten interessiert, ist nicht, was man damit alles machen kann, sondern, was es eigentlich ist“, sagt sie. „Dazu habe ich viele Theorien ausgebrütet. Mich

f­asziniert Theater als materielle Praxis, wie es auf verschiedene Weise funktioniert.“ An ihrem wohl berühmtesten Stück „Estado Vegetal“ (deut­ scher Titel „Gegen den Baum“) lässt sich das gut ablesen. Es be­ ginnt wie eine Vorstadtkomödie. Ein Junge fährt mit dem Motorrad gegen den großen Baum, der den Platz beherrscht. Die Anwohner streiten darüber, ob der Baum gefällt werden soll oder nicht. Der zuständige Beamte wiegelt ab, weil er die Verantwortung nicht übernehmen will. Die Streitereien versiegen, und weil niemand was tut, übernimmt der Baum die Führung. Alles ändert sich. Schließlich ist die Erde in Gefahr, und da die Menschen nichts dagegen tun, müssen eben die Pflanzen ran. Die Autorin zitiert Pflanzenforscher und Pflanzenneurologen, und die wun­ derbare Schauspielerin Marcela Salinas spielt sie alle gleichzeitig. Bäume sind älter (und oft auch schöner) als Menschen, ­haben mehr Kraft als sie. Warum sollten sie nicht die Welt regie­ ren, warum sollten sie die Welt nicht retten können?! Es gibt eine Eine Welt, die nicht mehr lebensfähig scheint und doch nicht untergehen kann: Gina Haller in der Inszenierung „Noise. Das Rauschen der Menge“ am Schauspielhaus Bochum in der Regie von Manuela Infante. Foto Nicole Marianna Wytyczak


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pflanzliche Intelligenz, die sich in Sachen Überleben durchaus an der des Menschen messen kann. Auch in „How To Turn To Stone“ vertritt Infante das von ihr erfundene „nicht humane Theater“, will sagen: Hier geht es nicht um Menschen, sondern um Materie. Steine können nicht sterben, außer der Mensch mischt sich ein und zerhackt sie. Aber der Stein ist stärker und kann sich rächen. „Ein Stein wird nicht geboren, er bildet sich. Er wächst in Schichten. Das Gewicht eines Steins ist angesammelte Zeit. Darum tut es so weh, wenn dich ein Stein trifft. Denn was dich trifft, ist geballte Geschichte.“ So wird gleich zu Beginn des Stücks die Marschrichtung vorgegeben. Anfangs wähnt man sich auf dem Mars, aber Schicht um Schicht wird klar, dass dies die malträtierte Erde ist. All die Erdlöcher, Abrutsche, massives Gerät und Sprengun­ gen lassen sie aussehen wie der Mars, und das wird nie wieder zu ändern sein. Das harte Leben der Bergleute in der Kupfergrube verbindet sich mit ausgegrabenen Kadavern, die auf eine Steini­ gung hindeuten. „Die Leichen sind Produktionsfehler“, sagt das Management. Auch auf der Straße liegen Leichen, einige angeb­ lich schon seit 300 Jahren, und auch die Lebenden versteinern. Es ist eine Zukunft, die uns schon erreicht hat. Ob die besser ist, wird nicht gesagt, aber das zu erkunden, wäre allemal gut. „Für mich ist das Theater nicht das Medium oder der Inhalt, nicht, was man dort sagt, sondern, was man nicht sagt – es ist in gewisser Weise ein heiliger Ort. Als ich jung war, wollte ich Philo­ sophie studieren oder Musik. Theater kam mir gar nicht in den Sinn. Aber die Musik hatte für mich nicht genug Inhalt und die Philosophie nicht genug Dunkelheit. Das Theater hingegen er­ schien mir als der Ort, an dem wir über das sprechen können, was wir nicht verstehen und vielleicht auch nie verstehen werden. Des­ halb nenne ich es einen Heiligen Ort.“ Manuela Infante, 1980 in Santiago de Chile geboren, ist ­Autorin und Regisseurin von Theaterstücken, Drehbuchautorin und Musikerin. Sie studierte in Santiago und Amsterdam, grün­ dete 2002 das Teatro de Chile, mit dem sie 15 Jahre lang Süd- und Nordamerika sowie Europa bereiste. 2019 gewann sie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens mit „Estado Vegetal“. Die Auszeichnung ist verbunden mit einer Auftragsarbeit für das Schauspielhaus Bochum. So entstand das Solo „Noise. Das Rau­ schen der Menge“, das Anfang Juli 2019 seine Premiere feierte. Die hinreißende Schauspielerin Gina Haller entfesselt anderthalb Stunden lang das Abbild einer Welt, die nicht mehr lebensfähig scheint und doch nicht untergehen kann. Am Anfang versteht man eher nichts in diesem Chaos aus Höllenkrach, ‚loop pedal‘ und Satzfetzen, doch allmählich bilden sich Situationen und Schrecken heraus. Es geht um Frauen, die in den Wald flüchten und später erhängt gefunden werden, um Hunde, die den Herz­ schlag verschütteter Menschen hören und sie dadurch retten kön­ nen, um die Rebellion in Chile, bei der die Polizei den Studenten direkt ins Gesicht schoss – mehr als 340 haben ihr Augenlicht dabei verloren. „Gerüchte sind das Geräusch der vielen, und Geräusch ist ein Land ohne Grenzen!“ heißt es im Text, und Haller spielt genau das. Sie zirpt, kreischt, quietscht, jault und bellt, kriecht auf dem Boden, springt in die Höhe, reißt die riesigen Plastikfolien herun­ ter, wickelt sich darin ein, leckt ihre Wunden und spuckt Feuer aus

manuele infante

Worten. Das Land ohne Grenzen bäumt sich auf, und alles scheint möglich – doch wie meist bei Revolten erstirbt es in Gewalt und Resignation. „Noise“ ist komplex wie alle Stücke Infantes, es ist politisch aus dem Geist des Zweifels, nicht der Unterwerfung, und der Soundscape aus Hallers vielfältigen Stimmen, nebst ihrer elektro­ nischen Verarbeitung, erzeugt eine Identifikation, der sich nie­ mand entziehen kann. Und das will man auch gar nicht – schließ­ lich ist der Aufstand gerecht, und selbst seine Gerüchte sind glaubhaft. Die Atmosphäre ist entrückt und unheimlich. Was ist Realität, was Halluzination? Man kann gar nicht so schnell gucken, wie Haller sich ver­ wandelt und beides gleichzeitig ist. Sie spielt die komplette Revol­ te mit allen Machtkämpfen, Missverständnissen und Triumphen. „Alles hat seine dunkle Seite“, sagt Infante, „und die interessiert mich mehr als die schöne, glitzernde. Meine Stücke entstehen während der Proben, ich stelle viele Fragen, und die Akteure ­beantworten sie, jeder auf seine Weise. Wir improvisieren viel, verändern viel und machen es neu. Und aus all diesen Situationen entsteht der Text.“ Ihre Dramaturgie ist assoziativ, mitunter reziprok. Die vie­ len Handlungsstränge verknüpfen sich wie in einem geheimen Ritual, das die Oberhand gewinnt und dennoch jederzeit verän­ dert werden kann. Es ist diese Freiheit, die den Aufführungen ihre Stärke verleiht und ihre Glaubwürdigkeit. Dass Infante sich mit Ovids „Metamorphosen“ ausein­ andersetzen musste, liegt auf der Hand. Schließlich hatte er schon vor 2000 Jahren Menschen in Pflanzen, Felsen oder Wasser ver­ wandelt. Und die berühmte erste Zeile seines fünfbändigen ­Gedichts lautet: „Neue Gestaltung, in die sich Körper verwandeln, treibt zu künden mein Herz.“ Das tut er denn auch in mehr als 250 Mythen und Sagen. Für ihre Aufführung sucht Infante vor­ wiegend solche Episoden aus, in denen Männer/Götter junge Frauen/Nymphen verfolgen, vergewaltigen und schnell wieder verlassen. „Ovid versteht es sehr gut, eine Geschichte in einer an­ deren zu verstecken“, sagt sie, „und ich versuchte, diese Methode zu übernehmen, was sehr schwer war.“ Ihre Binnenerzählungen kreisen um das Schicksal der Frauen, von Daphne, die zum Lorbeerbaum wird, bis zur elfen­ beinernen Statue, die Pygmalion für seine Lust zum Leben er­ weckt. Durch das Begehren der Männer werden die Frauen ver­ dinglicht, gehören also nicht mehr zur humanen Welt. Infante erfindet dafür mysteriös verbrämte Bilder, die antike Götter und moderne Menschen ineinander verweben. Dabei gelingt ihr das Kunststück, die Schönheit des alten Textes zu bewahren und ihn gleichzeitig zu hinterfragen. „Ursprünglich sollte das Stück fünf Stunden dauern“, sagt sie und lacht, „aber dann hab ich gekürzt und gekürzt und gekürzt, und das ist auch gut so.“ „Metamorphoses“ wurde in Brüssel erarbeitet. Ihre nächste Premiere ist in Barcelona – „ein Stück über das Feuer“, (mehr will sie nicht verraten). Danach macht sie in Basel „a piece about ­endings“, und sie ist noch mit einigen anderen europäischen ­Theatern im Gespräch. Manuela Infante ist „in“, und sie weiß, was das bedeutet, kennt die Verlockungen und Bedrohungen da­ durch. Aber sie ist klug genug, nicht in die Fallen zu tappen, und offen genug, sich darüber zu freuen. //

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Treuhandkriegspanorama 1 AUDIOGUIDE Fangen wir also an. Gemeinsam zunächst. Wir sind froh, dass es beginnt. Ja, ein wenig aufgeregt sogar. So lange schon hatten wir gehofft. Insgeheim. Auf eine Veränderung. Denn. Gerade noch, bevor es so plötzlich still um uns he­ rum wurde, hatten wir sie sattgehabt. Die Alltäg­ lichkeit der wiederkehrendenden Verrichtungen. Nahrungsaufnahmen. Schlaf. Atmung. Die scham­ besetzte Dringlichkeit der Ausscheidung. Nun aber, mit dem Erwerb des Einzeltickets, sind wir Teil eines größeren Ganzen geworden. Teil ei­ ner gleichsam entrückten wie nahbaren Welt, die ein Ende, eine Grenze nur zur Erde hin sowie zum Himmel, nicht aber in der Unendlichkeit des Hori­ zonts für uns bereitzuhalten scheint. Aber alles der Reihenfolge nach. Uns zu einer ersten Bewegung aufraffend durch­ schreiten wir die dürftig kühlende Luft des Foyers. Eilen vorläufig voran. Hinauf alsbald. Den golde­ nen Handlauf behutsam mit dem ausgestreckten Finger entlangfahrend. Steigen empor. Stufe um Stufe. Und sinken dann, so wollten wir es, sanft hinab. Hinab ins Panorama. Ins Bauernkriegs­ panorama, das uns nun endlich, endlich dunkel leuchtend umgibt. Und wie auf ein geheimes Zei­ chen hin, und das ist es wohl, was wir in all unse­ ren abgelegten Tagen stets gesucht hatten, werden wir erfasst von einem leichten, einem lauwarmen Schwindel. Das ruhige Summen und Brummen der Rotation. Ein Taumeln. Wanken. Ein Trudeln. Zwischen Bauern und Salzknechten. Inmitten der fürstlichen Heerscharen. Und finden einen ersten Halt, wenn Sie mir darin folgen wollen, erst im abseitigen Zentrum der Schlacht, im sich ewig ­ wiederholenden, ewig fortdauernden Herabsen­ ken der Bundschuhfahne in der Hand Thomas Müntzers. 2 MUTTER Mutti hier. Na ja. Wirst mich wohl er­ kannt haben. An der Stimme. Wahrscheinlich. Du. Ich habs schon drei Mal bei dir versucht. Bist be­ stimmt in irgendeiner Besprechung. Oder wie auch immer man das heutzutage nennt. Jedenfalls. Also. Ruf mich doch zurück, wenn du das hier ge­ hört hast. Wäre schön. Also. Gut. Jedenfalls. Stille. Jedenfalls Vati. Du. Stille. Der Vati liegt im Krankenhaus. Im Koma. Und. Also. Das wollte ich dir nur kurz sagen. Ja? Stille. Na ja. Ruf ruhig zurück. Die Mutti. 3 ist das Bauernblut auf dem Schlachtberg auf dem museumseigenen Parkplatz funkeln die Autos in der Mittagssonne

ein toter Käfer ein paar Schritte abseits unter Marienglas im Karst am Hang und weit der Blick während sich Müntzer drinnen im Kreis dreht und mit ihm die ganze sogenannte frühbürgerliche Revolution Coca-Cola im Foyer ein dickliches Kleinkind nuckelt sich von allen unbemerkt in einen kleinen Rausch irgendjemand spricht un­ ablässig spricht und jemand hustet jemand lässt etwas fallen jemand fragt nach Gruppenpreisen und einem Audioguide AUDIOGUIDE Am 16. Oktober des Jahres 1987 schließlich, einem selbst für die entsprechende Jahreszeit auffallend tristen Freitag, setzte einer der damals bekanntesten Maler der DDR, Werner Tübke, nach zwölf Jahren Arbeit seine Signatur un­ ter das 123 Meter lange und 14 Meter hohe Auf­ tragswerk. Titel der monumentalen Arbeit: Früh­ bürgerliche Revolution in Deutschland. Willkommen, möchte ich Ihnen zurufen, willkom­ men verehrtes Publikum in der Zeit der deutschen Bauernkriege. Aber ich rufe nichts. Ich verschwin­ de. Ich lasse Sie allein mit dem Panorama. Mit Müntzer, seinen Bauern und Salzknechten und dem letzten Aufbegehren gegen die Übermacht der fürstlichen Heerscharen. feindliche Übernahme der Zeit Einfall der Wendejahre in Müntzers Jahrhundert staunend sehen die kämpfenden Bauern sich selbst als streikende als hungernde Kalikumpel jeder trägt eine andere Zeit huckepack der Bauer tauscht die Forke gegen das Transparent auf dem Schlachtfeld werden Liegen aufgestellt es wird Tee getrunken gegen den Hunger vor dem Werktor aber im roten Gewandt liegt ein toter Narr der die Zeit vorwegnimmt die Kumpel steigen über ihn hinweg die Abraumhalde von Bischofferode plötzlich unmöglich nah wie sie sich

dem Stoßwind folgend ostwärts zusammen mit den Westwagen der ersten tollkühnen Treuhandmanager wie ein Keil ins Bild ins Panorama hinein in den wilden wilden Osten vor den Turm schiebt zu Babel wo schon das Geld gewechselt wird Kalikumpel plötzlich zwischen einfachem Volk das neue Geld in der Tasche Müntzer als Täufer davor blind ein jeder für die Zeit des anderen Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann Feind wird.1 bei Dämmerung schließlich zwischen Müntzer und der Ruine des babylonischen Albtraums (noch hält sich alles auf der Leinwand) fährt mein mintgrüner Mietwagen fahre ich hinter Holungen am Abraum vorbei zum Elternhaus vor dem die Mutter bereits wartet die mich angerufen hatte am Morgen mit trockener Stimme mein Blick hinüber zur Schlacht über den Schlachtberg hinweg zum Krankenhaus in dem der Vater liegt mein Vater seit heute mit Lungenembolie Bergmannstradition frag ich mich der sich noch nie für die Arbeit des Alten für die vergangene Arbeit die vielbesprochene tote interessiert hat „so muß man die wuchersüchtigen Böswichter weg­ thun“1 ruft Müntzer gerade aber ich und mit mir mein grüner Wagen sind schon vorüber und so muss er mir nachlaufen mit der gesenkten Fahne im Krankenhaus übergibt der Spät- an den Nachtdienst ohne besondere Vorkommnisse als wäre das Schichtende die Grenze die es täglich aufs Neue zu überschreiten gilt Schucht unterdessen der studierte Bergbauingenieur hastet das erste Mal übers Panorama vorbei am toten Narr der ihm bekannt vorkommt noch kennen wir uns nicht noch betrachtet er das alles aus der Ferne nur sein Anzug sein Auftritt Steigen aus dem Dienstwagen


thomas freyer_treuhandkriegspanorama

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Schafe scheren Heu wenden den Zaun flechten die Augen geschlossen Vater hinter Schläuchen die Bauern versunken in ihrer Arbeit unbemerkt von ihnen auch das Teufelswerk die modernen Maschinen um sie um ihn herum

verraten mir seine Unzugehörigkeit zu allem anderen SCHUCHT 2. April 1991. Während der Morgen­ gymnastik höre ich die Nachrichten, erfahre vom Tod meines Freundes Detlev Rohwedder, von dem Mord an diesem aufrechten Mann. Erste Reaktion im Büro, wie kann ich Frau Herwart trösten. Sie liegt im Kranken­ haus, ist nicht erreichbar, verletzt am linken Arm, El­ lenbogendurchschuss. Blumen?2 8. April 1991. Im Büro von Heinz-Werner Meyer, würde ich mich bereit erklären, statt Mitte des Jah­ res in den Ruhestand zu gehen, die Aufgabe des Vorstandes für Energiewirtschaft im Vorstand der Treuhandanstalt zu übernehmen, das Ressort zu übernehmen, das Detlev Rohwedder bis zu seinem Tode betreut hat. Ich erbitte mir zwei Tage Bedenk­ zeit, muß meine Frau fragen, sollte auch einen Arzt konsultieren, denn seit Jahren plagt mich in unregelmäßigen Abständen gelegentlich Blut­ hochdruck.2 Mutter vor der Haustür sie stemmt wie ich es oft an ihr gesehen hab die Arme in die Seiten als müsste sie sich zusammenhalten sie hat Stullen geschmiert

KAINKOLLEKTIV

4 MUTTER Du, ich hab Stullen geschmiert. SOHN Mensch, Mutti. MUTTER Bist spät. SOHN Bin spät losgekommen. MUTTER Viel Arbeit. SOHN Viel Familie. MUTTER Ist ja gut. Komm. Komm erst mal rein. Du. Siehst hungrig aus. Und blass. Aber blass warst du schon immer. SOHN Schon als kleiner Bengel. Ich weiß. MUTTER Immer größer. Immer frecher bist du geworden. SOHN Lass nur. Ist nicht schwer. Die Tasche. MUTTER Ich schaff das schon. SOHN Ja. MUTTER Ich komm schon zurecht. SOHN Seh ich doch. Stille. SOHN Hast du was gehört? MUTTER Was? SOHN Was? Stille. SOHN Was von Vati. Was Neues? Aus dem Kran­ kenhaus?

Thomas Freyer, geboren 1981 in Gera, studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin und debütierte 2006 mit dem auch im Ausland nachgespielten Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“. „Treuhandkriegspanorama“ wurde am 21. Januar 2022 in der Regie von Jan Gehler am Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt (siehe S. 22). Foto Matthias Horn

MUTTER Nein, nein. Nichts. SOHN Du, ich kann meine Schuhe. Die kann ich auch alleine. Die stell ich selber weg. MUTTER Wie war die Fahrt? Willst du ein Bier? SOHN Ich will eigentlich nur, dass du mir alles erzählst. MUTTER Alles, ja. Wenn du angekommen bist. SOHN Jetzt bin ich ja hier. MUTTER Komm erst mal an. 5 ein Blick hinüber die Schlacht streifend hinter den Höllensturz der Verdammten die arbeitslosen Frauen der Kumpel zwischen Bauern die

ich schiebe die Schuhe unter die alte Telefonbank während Mutter in die Küche stapft ich bring den Teller mit den Schnitten meine Tasche nach oben ins Zimmer wo sich die Hitze vom Tag noch staut Vaters Werkstatt das Büro sein Rückzugspunkt mit dem schweren Wäscheschrank unter dem schlecht isolierten Dach liege ich auf dem schmalen Bett Blutwurst und Harzer ein lauwarmes Bier nach dem Duschen eine Zigarette am Fenster auf dem Schreibtisch der zitronengrüne Aschen­ becher aus Glas viel können wir nicht tun im Moment spricht die knochige Ärztin quer hinüber legt die Sackpfeife beiseite ich sehe sie in der halben Dunkelheit einer fast wolkenlosen Nacht an Vaters Bett stehen wir müssen sagt sie Geduld haben es tut mir leid ja im Wäscheschrank den ich aufklappe wie ein Faltbuch wo das fürstliche Heer eine Schneise in das Kampfgeschehen schlägt wo Vaters Akten lagern seine Briefe Verträge kopierte Seiten IG Bergbau Treuhand Landesregierung seine Bibliothek des Aufstandes ist alles durcheinander untypisch denke ich noch

SCHWARZE EURYDIKE 29.+ BLACK EURYDICE 30.4. EURYDICE NOIRE MUSIKTHEATER fft-duesseldorf.de

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als wäre alles nur hineingeworfen worden von einem Pedanten was machst du da 6 MUTTER Was machst du da? SOHN Ordnung. MUTTER Altes Zeug. SOHN Hab dich gar nicht kommen hören. MUTTER Nein? SOHN Da. Sieh mal. „Aufruf zur Solidarität mit den Kalikumpeln aus dem Eichsfeld.“ MUTTER Ja. SOHN Die Sachen. Die sind alle durcheinander. MUTTER Ja. SOHN Wo er doch immer so ordentlich ist. Stille. SOHN Hier. Das ist typisch. Akkurat aus der Zei­ tung ausgeschnitten. Sauber auf ein weißes Blatt geklebt. Handschriftlich das Datum. Juli 93. Name der Zeitung. Und: Beginn unseres Hungerstreiks. Und alles in Klarsichthülle. MUTTER Ein Hobby. SOHN Ein halbes Leben. MUTTER Aber doch nicht deins. SOHN Nein. MUTTER Sag mal, hast du geraucht? SOHN Mensch, Mutti. Ich bin fast vierzig. MUTTER Ich bleibe deine Mutter. SOHN Auch wenn ich hundert bin. Ich weiß. MUTTER Ich dachte, du hättest endlich aufge­ hört mit diesem Mist. SOHN Du. Siehst müde aus. MUTTER Papperlapapp. SOHN Ich sag nur, was ich seh. MUTTER Morgen. Morgen fahren wir ihn besu­ chen. SOHN Ja. Stille. MUTTER Und jetzt schlafen wir. SOHN Zu Befehl. MUTTER Du wieder. SOHN Nacht, Mutti. MUTTER Ja. 7 akzisefreier Trinkbranntwein aus der obersten Schublade des Schreibtischs Bergmannsschnaps weiter drüben kontrolliert die Nachtschwester Vaters Vitalzeichen seine Angst vorm Arztgang

www.hellerau.org

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das verschlossene Blutgefäß im linken Lungenflügel die plötzliche Ohnmacht auf der Treppe zum Keller sein Stürzen Fallen auf den Hinterkopf Mutter wie sie ihn findet weil er nicht auf ihr Rufen zum Abendbrot reagiert ich stehe vor dem alten Schrank während mir alles entgegenzurutschen scheint der Schnaps brennt etwas auf der Zunge SCHUCHT Erste Eindrücke: Pionierarbeit wie im Wilden Westen, gekoppelt mit pingeliger deutscher Gründ­ lichkeit. John von Freyend überreicht mir eine dicke Map­ pe mit Richtlinien, die Reisekosten, Spesen, Titel, Orden und Ränge regeln. Auf meine Frage an Frau Breuel, wer der Betriebsrat sei, damit ich mich dort bekanntmachen könne, Achselzucken. Wir haben keinen Betriebsrat.2 in der Ferne unter dem Regenbogen die Wagenburg der aufständigen Bauern Rauch steigt auf zwischen den Wagen davor die Schlacht Müntzer umgeben von Trommlern kein Tropfen Blut der Tod spielt voller Hingabe auf seiner Sackpfeife (die ich doch kenne) noch ist die Schlacht nicht verloren im Haus ist es still ich trinke Schnaps und ordne die Papiere 8 VATER Hier unten ist es immer ein bisschen wärmer. Im Grubenfeld. Dunkel. Und ruhig. Der Schachtsumpf, in den das Gestein rieselt. Tiefster Punkt des Berges. Das Grubenwasser steigt. Seit auch über Schacht 2 der Betondeckel liegt. Seit al­ les schwarz geschaltet ist, wird nicht mehr ge­ pumpt. „Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk.“ Längst kein Frischwetter mehr hier unten. Ein ver­ riegelter Raum. Und dieses dünne Zischen. Dieses

01.–03.04.

Transverse Orientation

Geräusch. Wie sich die Grube füllt. Das Wasser kommt. Aber noch bleibt etwas Zeit. Wenn es regnet, drückt es das Salz aus dem Ab­ raum ins Grundwasser. Die Halde weithin sichtbar. Der gleichbleibende Verlauf der Tage. Die Stille über dem Eichsfeld. Der Anfang liegt verschlossen. Abteufung durch die Aktiengesellschaft Bismarckshall im Jahr 1909. Schacht 1 und 2. Weithmannshall und Holungen. Das liegt ganz unten. Die erste Erinnerungsschicht. Fast andachtsvoll berichtet vom Vater, dem es der eigene erzählt hatte. Vor Jahren. Und so weiter. Das letzte Ereignis, wenn man es auf den Kopf stellt. Und man stellt es auf den Kopf, um es zu begreifen. Den Deckel aus Beton und die Bronzeta­ fel. 108 Jahre Bergbau. Ganz oben. In der Unter­ haut des Erinnerungssinns. Fast am anderen Ende. Unser kleiner Widerstand. Unser letztes Aufbäu­ men. Unser Arbeitskampf gegen den Staat. Gegen die BASF. Gegen die Kali und Salz AG Kassel. Ge­ gen die Treuhand. Gegen die IG Bergbau und Energie. Gegen die Kalikumpel im Westen. Die Kalikumpel aus Unterbreizbach und Zielitz. Ge­ gen den ganzen kläglichen Verlauf der Zeit. Der erste Gedanke die letzte Fluchtkammer. Die Stelle, an der jeder neue Tag zu kippen scheint. Hier un­ ten. Unter dem Ausbleiben eines Sonnenauf- und -untergangs. Unter feucht glitzerndem Gestein. Das gleichmäßige Heben und Senken des Brust­ korbs. Mein letzter Tag dort oben der letzte des Jahres 1993. Die endgültige Schließung der Grube. SOHN Hier bist du. VATER Natürlich. SOHN Raus aus dem Krankenhaus. VATER Und rein in den Berg. SOHN Wie tief sind wir? VATER 600 Meter und einen halben. SOHN Und keine Angst? VATER Nur beim ersten Einfahren. Damals. Als 16-Jähriger. Eingepfercht in ein Stück Stahl. Und so tief hinab. Ein Hoch auf alle Schließmuskel. Schürer auf. VATER Ach, die alten Genossen. SCHÜRER Glückauf. VATER Ja. SCHÜRER Das. Also. Sagt man doch so. Hier unten. Und oben, nicht? SOHN Wer ist das? VATER Schürer. SOHN Wer? VATER Steht alles in den Akten, mein Sohn. Al­ les im alten Wäscheschrank. Keine falsche Be­ scheidenheit. Nimm dir, was du brauchst. SOHN Da ist alles durcheinander.

14./15.04. Deutschlandpremiere

Dimitris Papaioannou 08./09.04.

Lieder ohne Worte Thom Luz und Ensemble

Chapter 3: The Brutal Journey of the Heart

L-E-V/Sharon Eyal & Gai Behar 22./23.04.

Sitzen ist eine gute Idee

Antje Pfundtner in Gesellschaft 27.04.–01.05.

#nebenan #побач

Unabhängige Kunst aus Belarus


thomas freyer_treuhandkriegspanorama

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Kaserne

VATER Nichts da. Ich bin schließlich Pedant. SOHN Du hattest immer zu tun. VATER Immer gerannt. SOHN Gehetzt. VATER Gemacht und getan. Ja. SOHN Was machst du da? VATER Ich fang an. Ich nehm ein Stück vom ­Bodensatz. Keine Akte. Kein Schreiben. Nur eine kleine, blasse Erinnerung. Im Oktober 1989 sitz ich am Frühstückstisch. Es ist kurz nach fünf. ­Kaffee. Kippe. Wurstbrot. SOHN Blutwurst. VATER Gleich gehts aufs Fahrrad. Richtung ­Holungen. Zehn Minuten bis Müntzer. Umziehen in der Kaue. Schichtbeginn sechs Uhr. SOHN Oktober 89. Krenz jetzt neuer Mann. Im Politbüro kommt zur Vorlage: geheime Verschluss­ sache / b5 1158/89. Unter der Leitung des Genos­ sen Gerhard Schürer. SCHÜRER Vorsitzender der Staatlichen Plan­ kommission. Seit 1965. Seit sich mein Vorgänger. Seit sich also der Genosse Apel. Seit der sich in seinem Dienstzimmer. Vor der Unterzeichnung ­ eines Vertrages mit den sowjetischen Freunden. Weil er mit dem Reformieren der Planwirtschaft letztlich an eben diesen und dem einknickenden Ulbricht scheiterte. Seit sich, rundheraus gespro­ chen, der Träger des Vaterländischen Verdienst­ orden in Gold, Erich Apel, in seinem, meinem Dienstzimmer am dritten Dezember 1965 eine Kugel in den Kopf gejagt hat. Aber das ist. Eine an­ dere Geschichte. VATER Mensch, jetzt muss ich wieder dran den­ ken. Dass dir Blutwurst gar nicht schmeckt, mein Junge. SOHN Hat mir nie. VATER Dacht ich immer. Dass doch. Aber. SOHN Mutti auch. VATER Stimmt. SOHN Macht ja nix. VATER Ja. SOHN Macht gar nix. SCHÜRER Dürfte ich? SOHN Bitte. SCHÜRER Ausgehend vom Auftrag des General­ sekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, ein ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen vorzulegen, wird folgendes dar­ gelegt: Die Deutsche Demokratische Republik hat beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft bedeutende Erfolge erzielt.3 VATER Alles wie immer. SCHÜRER Wir haben in der Mikroelektronik als eines der wenigen Länder der Welt die Entwicklung

und Produktion mikroelektronischer Bauelemente …3 VATER Wie ich es satthatte. Damals. Die ewig gleichen Sätze aus den ewig gleichen Gesichtern. Dieser Stillstand. Das Warten auf nichts. Ich wollt doch was. Von allem. SOHN Mich habt ihr in die Schule geschickt. Nicht auffallen. Nicht über alles reden. VATER Du warst noch so klein. SOHN Draußen ein anderer als zu Hause. VATER Unser Glück war das. Unser Haus. Und keine Störung, kein Alarm und nichts von außen. SOHN Rückgang der produktiven Akkumula­tion. Kosten der Erzeugnisse ergeben ein Mehr­faches des internationalen Standes. Hoher Verschleiß­ grad des Straßennetzes. Verfall von Wohnungen. Übermäßiger Planungs- und Verwaltungsaufwand. Allgemeine Kostenerhöhung. Fehlende materielle und finanzielle Mittel. Das Ende des ersten und letzten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. SCHÜRER Davon verstehen Sie, meiner Mei­ nung nach, überhaupt nichts. Sie waren fünf, als der Sozialismus im Würgegriff der kapitalistischen Übermacht ruhmreich zugrunde ging? SOHN Sieben. SCHÜRER Wie auch immer. VATER Lesen Sie ruhig weiter. Es scheint Ihnen gutzutun. SCHÜRER Im internationalen Vergleich der Ar­ beitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40 % hinter der BRD zurück.2 Oder hier: Die Verschul­ dung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestie­ gen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.3 SOHN Wie hoch war die denn? Die Verschul­ dung. SCHÜRER 49 Milliarden Valutamark. SOHN In einem 1999 veröffentlichten Exper­ tenbericht der Deutschen Bundesbank ist von knapp 20 Milliarden Schulden die Rede. Eine Pro-Kopf-Verschuldung von etwa 13.000 DM, während sie in der BRD zur gleichen Zeit bei etwa 15.000 DM lag. In Ihrem Bericht fehlen die Gel­ der der sogenannten KoKo, der Kommerziellen Koordinierung unter der Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski. SCHÜRER Also doch ein wenig angelesene Kenntnis. VATER Mein Junge. Meine Akten. SOHN Die internationalen Finanzmärkte sahen die Situation jedoch noch nicht als kritisch an. So­ wohl im Jahre 1988 als auch 1989 konnten die DDR-Banken Rekordbeträge im Ausland aufneh­ men.4

2.4. Konzert: Fai Baba 7.4.–10.4. Schwerpunkt: Kaserne Globâle mit Eisa Jocson, Collectif d’Art-d’Art: Michael Disanka, Christiana Tabaro, Venuri Perera, XENOMETOK, MSYLMA & Ismael, Azade Shahmiri u.v.a

22.4. & 23.4. Musik: BScene Clubfestival 2022 mit Harvey Causon, Friedberg, Gina Été, Nomuel, Miss C-Line, Lila Martini u.v.a. 27.4. Konzert: Hermanos Gutiérrez Support: Amoa & Sandro

VATER Ja, was denn nun? SOHN Die Frage ist: War die DDR Ende 1989 pleite oder nicht? Was war er wert? Kurz vorm gro­ ßen Verkauf? Der ganze Salat? SCHÜRER Das ist die Frage. SOHN Wenn es keine Änderung in der Politik gegeben hätte, wäre die DDR früher oder später zahlungsunfähig geworden. Allein, weil sich der Zustand der Produktionsmittel immer weiter ver­ schlechtert hätte. SCHÜRER Vielleicht. SOHN Vielleicht? Stille. SCHÜRER Kann man nicht sagen. Kommt ganz darauf an, wie Sie es sehen wollen, junger Mann. SOHN Wo wollen Sie denn hin? SCHÜRER Ich muss, wenn es nicht stört, mit aller Dringlichkeit ein Buch schreiben. Mit meiner Sicht der Dinge. Wie jeder vernünftige Genosse. SOHN Herr Schürer! SCHÜRER Im Übrigen muss ich verhaftet werden. Und freikommen. Ich muss Unternehmensberater werden. Bei Dussmann und den Belinda-Strumpf­ werken. SOHN Wie ein vernünftiger Genosse. SCHÜRER Die Konsequenzen der unmittelbar be­ vorstehenden Zahlungsunfähigkeit wäre ein Moratori­ um (Umschuldung), bei der der Internationale Wäh­ rungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat.3 SOHN Und jetzt? VATER Jetzt ist er weg. Stille. VATER Das war. Eine Aufregung. Damals. Sag ich dir. Mein Junge. SOHN Vati. VATER Was für eine Aufregung. SOHN Wir sind doch noch gar nicht fertig. Wo willst du denn hin? VATER Das ist erst der Anfang. Dieses Ende. 9 Winter zwischen Babel und dem aufragenden Fels Westwind bläst übers weite Schneefeld Bauernland Arbeiterland jemand trägt einen Mauerrest triumphierend durch die Provinz nachts jetzt nur noch Bier und Deutschlandfahnen mit einer Peitsche macht eine Bäuerin Jagd auf die alte Obrigkeit ein fliehender Bischof dem

28.4. Konzert: Bukahara 30.4. Offbeat Jazzfestival Basel Konzert: Marc Ribot «Ceramic Dog»-Trio 30.4. Offbeat Jazzfestival Basel Konzert: KUU! Artificial Sheep

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Kardinal wird Abwasser ins Gesicht gekippt alle treten aus der Partei aus die alten Genossen verkriechen sich vorerst während sich das Volk begrüßen lässt Schein für Schein auf der anderen Seite der neuen Demarkation und draußen vorm HO klappt einer seinen Tisch auf sechs Westmark für den Becher Jogurt nach einer halben Stunde ist alles verkauft aus den Händen gerissen Offenbar ist statt einer deutschen Fusionslösung eine baldige Angliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich geworden.5 im Schloss Schönhausen zum ersten Mal der Zentrale Runde Tisch unter einem dunklen Berliner Himmel Ullmanns Idee der Anteilsscheine das Volkseigentum in der Hand des Volkes zum Schutz gegen den Ausverkauf Lohn der letzten vierzig Jahre blass aber das alles im nationalen Glitzer und der Verlockung eines ganz anderen eines neuen Lebens wir sind ein Volk ein Volk plötzlich kommt die D-Mark bleiben wir vom ersten Westgeld kauf ich mir ein funkferngesteuertes Auto mein Vater verbietet mir damit auf der Straße zu spielen es soll kein anderer sehen ich heule sofort los was wie ich weiß nichts daran ändern wird Die Verlustgefahr resultiert daraus, dass die Rechtskon­ struktion „Volkseigentum“ nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dessen Geltungsbereich ja vermutlich auf das Territorium der DDR ausge­ dehnt werden wird, enthalten ist. Deshalb muss umgehend das Volkseigentum in eine Form transformiert werden, die den Rechts- und Eigen­ tumsformen der Bundesrepublik entspricht.5 auf den Straßen jetzt immer mehr Gebrauchtes aus dem Westen wir stecken uns gegenseitig Südfrüchte in den Hals

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das Auto die Hose das Sonderangebot die meisten wollen das neue Geld den Katalog die Winterkollektion alles muss im Überfluss vorhanden sein alles muss so werden wie es noch nie war und nie gewesen ist auch nicht auf der anderen Seite der Werra aber wer glaubt schon dem toten Narr der noch vorm Werktor liegt

wir kaufen alles was neu ist und unbekannt fressen Kiwis mit Schale und denken es müsste uns schmecken das neue Land geht durch den Magen uns ist als wäre auch der eigne Durchfall neu ein Denkmal am Ende der dunklen Sackgasse Abstand nimmt vom eignen Volk den Ekel im Gesicht der unbekannte Dissident die Klassenlehrerin vermerkt bei Fehltagen immer noch ob sie im Westen stattfanden die Sündigen verenden in der Warenwelt statt Schwein und Teufel gibt es Überraschungseier Diese Treuhandgesellschaft hat zum Beispiel die Auf­ gabe, sicherzustellen, dass die Wertbestimmung jedes einzelnen, konkreten Volkseigentums wirklich frei über den Markt erfolgt: eine Wertbestimmung insbe­ sondere im Hinblick auf das qualifizierte und kulti­ vierte Zukunftspotential des Standortes DDR im Herzen Europas an der Nahtstelle zu Osteuropa kann nur über die Nachfrage konkurrierender Inter­ essenten aus der Wirtschaft der ganzen Welt zustan­ dekommen.5 in das alte Ministerium für Außenhandel Unter den Linden ziehen die ersten Mitarbeiter der Anstalt (zur treuhänderischen Verwaltung des Volksver­ mögens) ein kaum Möbel Technik Überblick Blindflug übers erodierte Land exterritorialer Wahlkampf allerorten Importware Führung Finanzierung Drucker Strategie Kohl spricht und spricht verschenkt Schallplatten und schaut was die geschichtliche Stunde jetzt möglich macht eine Allianz für Deutschland die nur einen Weg kennt ein Land wird zum Beitrittsgebiet und die meisten in diesem Land wollen genau das die meisten wollen Derrick und Beckenbauer

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in der Treuhand werden die Kombinate entzerrt Umwandlungen am Fließband Ordnung die Mitarbeiter fahren nach Westberlin wenn sie mit dem Westen telefonieren wollen fahren nach Westberlin wenn sie wissen wollen wie der Hase läuft lesen in den Bibliotheken und Tageszeitungen über das System des alten Feindes das man so genau so praxisnah noch gar nicht kannte TREUHANDMITARBEITER Der erste große Arbeitsaufwand, der auf uns zukam, war eigentlich, ich muss das so primitiv sagen, dass wir uns alle mit den neuen rechtlichen Bestimmungen ver­ traut gemacht haben. Also keiner von uns kannte das Gesetz über eine Aktiengesellschaft.6 ein weiterer TREUHANDMITARBEITER Das war eine fast schier unlösbare Aufgabe, weil die Betriebe selbst, die nun ihre Umwandlungsunterlagen vorgelegt haben, gar nicht wussten genau, was sie alles zu erbringen haben. (…) Die Räumlichkeiten drüben Unter den Linden, unsere Büroräume, die glichen ei­ nem Heerlager wie im Dreißigjährigen Krieg. Über­ all saßen welche mit einer kleinen Reiseschreib­ maschine und so weiter, oder großen, je nachdem, und haben dann Unterlagen umgeschrieben, verbes­ sert, wenn es vor Ort möglich war, ansonsten haben sie kluge Hinweise bekommen, mit denen sie wieder nach Hause zogen, und dann kamen sie ein paar Tage später wieder. Und sie hatten ja alle nur den Wunsch, jetzt müssen wir das noch hinter uns brin­ gen, um in eine GmbH zu kommen oder eine Aktien­ gesellschaft zu werden.6 noch ein TREUHANDMITARBEITER Man kann sich das gar nicht vorstellen, wenn so ein Betriebsdirektor, der dreißig Jahre unter Planwirt­

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schaftsbedingungen, nun über Nacht die Aufgabe ge­ kriegt hat, sein Kombinat umzuwandeln in eine Akti­ engesellschaft oder in eine GmbH, das war sehr interessant, was die Leute da gedacht haben. 6 im Sommer dann das schwere Geld auf dem Alexanderplatz die heilige D-Mark beflaggtes Schwitzen mit dem Schein in der Hand dort wo später der neue Sitz der Treuhandanstalt sein wird wo die externen Berater teuer gekauft den neuen Wert bemessen für die alten Betriebe so ein Tag so wunderschön wie heute so ein Tag Panik im Ansturm der Willigen vor der Filiale der Deutschen Bank Schlag null Uhr die aufgerissenen Münder der erste Schein gestreckt in einen lauwarmen einen unverschämt gewöhnlichen Nachthimmel

SCHUCHT Die Sache ist wieder einmal typisch für alles, was wir hier vorfinden. In der Übergangszeit sind von den Regierungen Versprechungen gemacht worden, die heute kein Mensch mehr einhalten kann und möchte. Ob es hier bei der Mibrag so war, in Es­ penhain oder im Kali, überall hat man um des politi­ schen Friedens willen materielle Zusagen gemacht, die heute unbezahlbar sind.2

SCHUCHT Es ist immer wieder das alte Problem einer unblutigen Revolution, selbst einer blutigen (…), daß die Technokraten, die gut Ausgebildeten, die Leute mit Führungskraft und Organisationstalent in den Unternehmen an der Spitze sind, und daß die Sanft­ mütigen, Friedlichen, die diese Revolution in Gang ge­ setzt haben, sich am Ende den gleichen Führungska­ dern gegenübersehen, denen sie vorher ausgesetzt waren.2 aus dem Kombinat Kali wird die Mitteldeutsche Kali AG alleiniger Eigentümer noch vor dem Beitritt ist die Treuhandanstalt einer der Berater des neuen Aufsichtsratsvorsitzenden wird Alwin Potthoff angestellt bei der Kali und Salz AG Kassel der Konkurrent aus dem Westen erhält Einblick in die ostdeutschen Geschäfte während man in Kassel bei der BASF die höchsten Verluste der Unternehmensgeschichte einfährt die Beschleunigung der Rotation das Panorama entzieht sich dem Blick Treuhand und Bundesregierung getrieben längst

täuschen vor das Steuer in der Hand zu halten während die Fliehkraft immer stärker wird und die ersten aus dem Bild wirft immer wenn ich schau lässt Müntzer seine Fahne sinken

und immer wieder spreche ich mit dem Papier den Ordnern aus dem Wäscheschrank sortiere nach Jahreszahlen und Institution Staub der alten Tage ich baue mir einen Vater im Berg am Frühstückstisch vor dem Fernseher der spricht und lacht der redet fragt antwortet im Zimmer nebenan Mutter längst im Schlaf die Nacht schon tief 10 VATER Ich war immer Bergmann. Wie der Vater. Der Großvater und so weiter. Schachthauer in Erb­ folge. Eichsfelder Tradition. Jahrelang haben wir hier in Bischofferode Devisen beschafft. Für die dauerklammen Genossen. Bis wir die endlich los­ geworden sind. Unter unseren Ärschen Salz für 40 Jahre. Wir hatten Aussicht. Kundschaft. Zukunft. Von der Treuhand gab es 1990 fast 15 Millionen für neue Maschinen. Während am Jahresende schon fünf von zehn Gruben geschlossen waren, lief bei uns die Arbeit auf vollen Touren. Aus vollen Bü­ chern. Wir hatten was vor. Hier unten. Hier sind wir weit weg von allem. Im Alten Mann. Kaum ein Geräusch dringt bis hierher. Nur das Zucken der Luft. Folge des Herabsinkens. Versatz der alten Tage. Hier liegt, was niemand brauchte. Irgendwann senkt sich der First auf uns herab. Aber noch ist Zeit. Und man kann, wenn man will, darin graben. Der Raum hier unten längst zu eng für einen Widerhall. Im Staub liegt alles. Im Versatz des gebrochenen Gesteins. Noch bleibt ein wenig Zeit. Auch wenn das Grubenfeld

längst dicht, längst schwarz geschaltet ist. Auch wenn der First sinkt. Und sinkt. KOHL Liebe Landsleute! Vor wenige Wochen wurde der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Re­ publik unterzeichnet – hier im Palais Schaumburg, dem Amtssitz früherer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit heute ist er in Kraft.7 SOHN Hier bist du. VATER Hier kann alles runterkommen. Alter Mann. Verstehst du? Altes Abbaugebiet. Warum bist du einfach durch die Absperrung gegangen? KOHL Jetzt wird für die Menschen in Deutschland – in wichtigen Bereichen ihres täglichen Lebens – die Einheit erlebbare Wirklichkeit.6 VATER Das kann alles einstürzen. Alles über uns einbrechen. KOHL Viele unserer Landsleute in der DDR werden sich auf neue und ungewohnte Lebensbedingungen einstellen müssen – und auch auf eine gewiß nicht ein­ fache Zeit des Übergangs. Aber niemandem werden dabei unbillige Härten zugemutet.7 SOHN Musst aufhören, alles umzugraben. Deine Hände. Die bluten ja überall. VATER Quatsch. SOHN Was suchst du denn? VATER Altes Zeug. KOHL Den Deutschen in der DDR kann ich sagen, was auch Ministerpräsident de Maizière betont hat: Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor – dafür vielen besser.7 SOHN Wir haben die gehört. Diese Rede. VATER Im Auto. Im Radio. Ja. Als hier noch kei­ ne Autobahn war. SOHN Und ihr habt euch gestritten. Du und Mutti. VATER Passiert. SOHN Weil sie rüber wollte. VATER Ja. SOHN Und du nicht. VATER Ich war Bergmann. SOHN Warum wollte sie rüber? VATER Das fragst du mich. KOHL Ich bitte die Landsleute in der DDR: Ergrei­ fen Sie die Chance, lassen Sie sich nicht durch die Schwierigkeiten des Übergangs beirren. Wenn Sie mit Zuversicht nach vorn blicken und alle mit anpacken, werden Sie und wir es gemeinsam schaffen.7 VATER Der hat 16 Millionen neue Verbraucher gegrüßt. SOHN Dich. VATER Und dich. KOHL Wir werden es schaffen – wenn wir uns auf

verdeckt, Ariane Koch 6. / 7. / 10. April Theater Winkelwiese Zürich Ich habe genug. Über Abschiede. Mit Bach. 11./12. April Gare du Nord Basel Bitte nicht schütteln! 29. April Kellertheater Brig 30. April La Vouta Lavin

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die Fähigkeiten besinnen, mit denen wir vor über vier­ zig Jahren, in einer ungleich schwierigeren Situation, aus den Trümmern unserer zerstörten Städte und Landschaften die Bundesrepublik Deutschland auf­ gebaut haben.7 SOHN Ihr habt euch gefreut. Damals. Übers neue Geld. Sekt und Schnittchen vor dem Fernseh­ gerät. VATER Wir haben Kohl geglaubt. KOHL Ja, nun. Warum denn auch nicht? SOHN An das neue Wirtschaftswunder. KOHL Selbstverständlich. SOHN Weil ihr dachtet, dass ihr dazugehört. Zum Westen. Und hier alles wird wie dort. VATER Wir hatten es so satt. Diesen Sozialismus der alten Männer. Wir wollten unsere Freiheit. SOHN Und einen neuen Fernseher. VATER Keine Gängelungen mehr. SOHN Und nichts mehr aus den volkseigenen Betrieben. Euer Bannfluch fürs Ostsortiment. KOHL Entschuldigung, aber. Brauchen Sie mich noch? SOHN Kohl konnte es nicht schnell genug ge­ hen. KOHL Eine geschichtlich einmalige Gelegenheit. SOHN Vor allem eine anschwellende Flut von DDR-Flüchtlingen, die in die bundesdeutschen So­ zialsysteme einsickerten. Gorbatschows wackeln­ der Thron in Moskau. KOHL Ein in der Tat begrenztes Zeitfenster. Ein Vorhaben mit besten Aussichten. SOHN Und ihr habt alles geglaubt. Mehr als 50 Prozent haben damals im Eichsfeld für Kohl ge­ stimmt. VATER 56 Prozent. SOHN So viele haben gedacht, dass es ab jetzt nur noch vorwärts geht. VATER Weißt du, du fährst hier ein. In meinen Berg. Du und all das Zusammengelesene. Deine schlauen Worte. Dein Blick aus der Ferne. Wir standen da knietief drin. Damals. Alles war schnell. Alles gleichzeitig. Wir wussten nicht, was passieren wird. Wir hatten diese kleine dumme Hoffnung. SOHN Ich hab mich nicht versteckt. Bin nicht in den Berg gekrochen. Oder ins Arbeitszimmer. Im­ mer wenn es schwierig wurde. VATER Ich lieg im Krankenhaus. Eigentlich. SOHN Ich weiß. VATER Und dafür kann ich doch nichts. SOHN Natürlich nicht. KOHL Sie brauchen mich doch gar nicht mehr. SOHN (gibt Kohl einen Brief) Das müssen Sie aber noch vorlesen, Herr Kohl. Frisch aus dem Wäscheschrank. Von ihrem Duzfreund Heinz ­

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Braun. November 1990. KOHL Lieber Helmut,8 SOHN Braun ist langjähriges CDU-Mitglied und zusätzlich, und das ist wirklich interessant, BASFBetriebsrat. KOHL Nach Gesprächen mit Führungskräften und vor allem Betriebsräten und Kollegen einiger Kaliberg­ werke schreibe ich Dir, weil ich große Sorgen um die Zukunft der Arbeitsplätze habe.8 VATER Waren schlechte Zeiten. Für Kali. Damals. SOHN Die untergehende Sowjetunion über­ schwemmte den Markt mit billigem Kali. Zu zehn Prozent des eigentlichen Preises. VATER Aber wir, wir hatten eine andere Qualität. Wir hatten Abnehmer. Für unser K60 und K61. In Kanada und Skandinavien. SOHN Die direkte Konkurrenz von BASF. VATER Die wollten nur unser Salz. KOHL Unabhängig davon werden die Kaliwerke im neuen Gebiet der Bundesrepublik über die Treuhand­ anstalt mit erheblichen Geldmengen subventioniert, wobei diese Werke sich in einem traurigen Zustand befinden müssen. Niemand kann sagen, ob die Pro­ duktion dort überhaupt weitergeführt werden kann.8 VATER Die Auftragslage bei uns war gut. Ende 1990. Wir wollten mithalten. Mitmischen. Gegen alle Widerstände. KOHL Ich glaube, dass wir mit unseren Steuermit­ teln Arbeitsplatzverluste in Niedersachsen und Hessen finanzieren.7 SOHN Im August, einen Monat nach der Wäh­ rungsunion, verliert Mutti ihren Arbeitsplatz. Sie hockt plötzlich zu Hause, spricht wenig. Sie fragt nach der Schule, wenn ich nach Hause komme. Sie will, dass ich es zu etwas bringe. Sie versteht die Zeit nicht, in der wir leben. Sie meckert, wenn ich eine Drei nach Hause bringe. KOHL Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du Dir ein­ mal vom Vorstandsvorsitzenden der Kali und Salz, Herrn Dr. Walterspiel (…), einen persönlichen Bericht über die heutige Lage geben läßt. (…) Mit freundlichen Grüßen. Heinz Braun.8 SOHN Sie hatten das nicht ernst gemeint, oder? Die Sache mit den blühenden Landschaften? KOHL Nun, mein junger Freund. Ich gebe 1999 in einer internen Beraterrunde angeblich folgen­ den Satz von mir: Wir haben die miese Lage be­ wusst nicht – das war nicht zufällig, wir haben dar­ über diskutiert – wir haben bewusst, wie wir glaubten, psychologisch richtigerweise, die Negativ­ zahlen nicht hochgespielt.9 Ich habe, so wird be­ hauptet, das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen nicht schädigen wollen. Das ist natürlich eine infame Lüge.

SOHN Klar. Kohl ab. VATER Ich würde das heute. Also. So nicht noch einmal machen. So leben. So entscheiden. Ich würde nicht mehr kämpfen. Aber das ist. Ist jetzt vielleicht auch egal. SOHN Lauf doch nicht weg. VATER Nicht weg. Weiter. SOHN Warte. VATER Höher. 11 ein TREUHANDMITARBEITER Die Beherrschung der Liquiditätsprobleme in der Wirtschaft erweist sich als gravierender Faktor für die Stabilität dieses Landes, für seine erfolgreiche Überlei­ tung von der zentralistischen Verwaltungswirtschaft in die soziale Marktwirtschaft und für ein harmoni­ sches Zusammenwachsen beider deutscher Staaten zum vereinigten Deutschland. Es geht darum, das Eintreten eines wirtschaftlichen Kollaps und ver­ schärfte soziale Spannungen, insbesondere durch millionenfache Arbeitslosigkeit, unter allen Umstän­ den zu vermeiden.10 der alte Traum an einen Baum hängt die verfolgte Gans den Fuchs mein Vater unverändert nach der Visite basale Stimulation Nahrung nach wie vor über die nasogastrale Sonde der Patient bleibt an diesem Mittwoch so steht es geschrieben unauffällig schräg hinterm Narrenschiff in einer blauen Blase Kohl der Verkündungsengel mit seinen Flügeln aus Saumagen fast schwerelos schwebend über dem wüsten Land dem so genannten Beitrittsgebiet Untergangsreigen von Fabrik zu Fabrik zieht die freie Marktwirtschaft wieder ein TREUHANDMITARBEITER Täglich kamen mit Fernschreiben Hiobsbotschaften nach der Währungsreform, wir müssen zumachen, wir müssen entlassen, wir können keinen Lohn zahlen und und und und und.6


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und dann ein weiterer TREUHANDMITARBEITER Der 1.7. war eine gefährliche Situation, D-Mark kam, und wir mussten im Wirtschaftsministerium mit der Treuhand gemeinsam im Juni vorbereiten, was machen die denn nun am 1.Juli früh um sieben? Wer zahlt dann Rechnungen, wer zahlt Löhne (…) Und diese prakti­ schen Fragen zu klären, das hat man dadurch, dass man das nach bewährter Methode, im Brief an alle – und dann hat man gefragt, ja, wieviel brauchst du denn Geld? Und dann haben die geantwortet, wie sie das ge­ wöhnt waren, wenn sie einen Brief aus Berlin gekriegt haben. Viel, sehr viel. Das wurde dann zusammenge­ rechnet in einer gigantischen Aktion von 8000 Unter­ nehmen, müssen Sie sich mal vorstellen.6 und während Kohl verkündet den ostdeutschen Narren fallen sie ein in die Treuhand die externen Berater von KPMG Treuarbeit McKinsey und Roland Berger und Partner bilden als Leitungsausschuss das strategische Zentrum der Treuhand und wollen wo man noch anständig bezahlt wird wo die Spreu vom Weizen abgeschlagen wird was abhaben vom Kuchen der Transformation wo die Betriebe ihre Wertigkeit erhalten nach den neuen Standards eins bis stille Liquidation wo man doch die langjährigen Geschäftspartner in den alten Bundesländern wie man jetzt sagt im Hinterkopf behält Kohl steht noch rum und winkt und winkt und schlägt hilflos mit den kurzen Flügeln Roland Berger empfiehlt der Treuhand eine schlanke Struktur an den dünnen Leib soll externe Beratung und huckepack sitzt Roland längst und macht den Braten fett zusammen mit den anderen und die Preise klein für die Firmen im Westen die Großkunden

25. – 30.4. 22 Festival der Freien Darstellenden Künste der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg

6tagefrei.de

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PLASCHNA / VORSITZENDER LEITUNGSAUS­ SCHUSS Wir haben ... das in Sanierungswürdigkeit und Sanie­ rungsfähigkeit gegliedert. Sanierungswürdigkeit ist davon abhängig, daß ein Unternehmen bereits ein im Westen absetzbares Produkt hat. Es sollte damit zum Ausdruck gebracht werden: Wenn es das nicht hat, dann ist es von vornherein nicht sanierbar. Denn wir waren nicht aufgerufen, mit deutschen Steuergeldern neue Produkte zu entwickeln. Denn das wäre gegen den westlichen Wettbewerb verzerrend.11 und während das Geld nicht fließt im Land weil die Währung zu hart ist für die weichen Versprechen und während die Straßen enger werden durch die die man dort hingesetzt hängt ein wütender Mob den fahlen Ablasshändler nicht an den Ast den Ablassbrief nicht darüber darin nicht die schwarze Liste Betriebe Fabriken die aufgefallen waren dem Ausschuss weil sie das meiste Geld verschlangen die Dreihundertsechs und während sie die Engel der Beratung den göttlichen Zorn des Kapi­ tals auf die Gottlosen schütten aus vollen Schalen triffts wieder nicht die Obrigkeit und nicht die Macht wie sich der Müntzer das noch dachte bevor sein Kopf das Stadttor zu Mühlhausen zierte PLASCHNA / VORSITZENDER LEITUNGSAUS­ SCHUSS Jedes Unternehmen wurde betriebswirtschaftlich von Unternehmensberatern und den von mir erwähnten Wirtschaftsprüfern detailliert analysiert. Es wurde aus­ einandergenommen nach allen Regeln der Kunst. Es wurden seine Absatz-, seine Märkte-, seine Kostenposi­ tionen, es wurde total auseinandergenommen und be­ trachtet. Dann wurde das Unternehmen in einem zentralen Einstufungssystem dargestellt. Es wurde am Ende – so bedauerlich das ist, aber in der Masse mußte es zu einer Regelung kommen – mit einer Zahl verse­

hen. Diese Zahlen waren von 1 bis 6; das war zufällig so; das hätte auch A, B, C heißen können.11 und während das dünne Schwarz der verbrannten Anteilsscheine nach oben steigt und hinüberweht bergab zum alten Haus der Elektroindustrie wo die Räume zu eng werden für das wachsende Tier Treuhand das hungrig geworden ist und nach Ordnung giert während all dessen ruht und wiegt der Alexanderplatz inmitten einer nächtlich aufgebrachten Flusslandschaft Gebirge darum und neben der Weltzeituhr verbrennt der janusköpfige Luther die Bannandrohungsbulle des Papstes und ist doch mit dem anderen Gesicht den Fürsten zugewandt wieder ein TREUHANDMITARBEITER Wir besichtigten dieses Reichsluftfahrtministerium an einem trüben Dezembernachmittag, halb duster, es war unbeschreiblich. (…) Es war schauerlich. Dann sind wir da reingegangen. Die Toiletten, seit 50 Jahren nichts gemacht. Also es war abenteuerlich. (…) Die Tapeten kamen von den Wänden, Gardinen hingen da halb fest, und das Mobiliar war unter aller Kanone, es war so eigentlich, wie wir das in Westdeutschland in den fünfziger Jahren wahrscheinlich zum Teil noch vorgefunden haben. (…) Wir gingen da also rum, und ich höre Herrn Rohwedder noch sagen, „Also sanitäre Anlagen, das muss hier alles in weiß sein, wenn man aufs Klo geht, muss man fröhlich sein“.6 und Kohl fliegt übers Land und winkt dem Kohl zu (dem vom nächsten Mai) dem grad ein anderer ein Ei an seinen Kopf geworfen hat obwohl er doch nur Hände schütteln wollte die Treuhand aber umgezogen

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jagt weiter Köpfe und immer mehr Experten und Berater die Angebote prüfen Käufer sondieren Verhandlun­ gen begleiten und die Betriebe akkurat bewerten man hat zu wenig Personal zu viel ist das was überall erwartet wird vom Tier das alle Wut längst auf sich zieht (was praktisch ist) und keiner kauft noch Fit und fast keiner Filinchen nur wenige Florena und wirklich niemand kauft die Dose Halberstädter Leberwurst und nur vereinzelt wird nach Rondo noch gefragt und durch die Städte zieht das Narrengericht die verkehrte Welt für einen Tag die Kohlmasken übers Gesicht gezogen stumm meist so haben wir uns das aber nicht vorgestellt mein armer Konrad als wir die D-Mark wollten noch vor kurzer Zeit ein Schritt zurück ins Zentrum im Kreis einmal und mehr bis mir der Schwindel in den Kopf steigt und mit dem Schwindel der ganze spätbürgerliche Anknüpfungsversuch der alten roten Kader Müntzer und Krenz Müntzer und Honecker Müntzer und Ulbricht Müntzer Ulbricht Honecker Krenz Modrow de Maizière Kohl am späten Abend wieder Kälte Vater in seinem Krankenbett die dünne Haut über den Knochen alles ist aus Papier

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12 MUTTER Warum schläfst du nicht? SOHN Hast du mich erschrocken. MUTTER Hab doch gedacht, dass du längst im Bett bist. Hab mich hingelegt. Und dann das Knar­ zen gehört. Im Bett. Das alte Holz. SOHN Kannst auch nicht schlafen? MUTTER Ich könnte schon, wenn es still wäre. Stille. MUTTER Machst du immer noch Ordnung? SOHN Das ist doch Vati. MUTTER Ist doch nur. Nur Papier. SOHN Wusstest du, dass es im Frühjahr 1991 eine Vorstandssondierung zwischen der treuhand­ eigenen MDK und der westdeutschen Kali und Salz AG gab? MUTTER Du, ich hab das alles tausend Mal gehört. SOHN Diese Absprache, diese Markteinteilung versperrte Bischofferode und den anderen Gruben den westdeutschen Markt. Der unantastbare Kun­ denstamm der Kali und Salz AG Kassel. MUTTER Und andersherum. Ich weiß. SOHN Aber andersherum greift die Absprache überhaupt nicht. Die Kali und Salz AG hätte im Osten niemals verkaufen können. Nicht zu ihren Preisen. MUTTER Du sprichst wie Vati. SOHN Ist doch gut. MUTTER Muss ich nicht zweimal haben. Jeman­ den, der sich eingräbt. Und weg ist er. Also. Wenn du reden willst. Wenn du was wissen willst. Wenn du was nicht verstanden hast. Wenn du dich manchmal einsam fühlst, weil du annimmst, nur du hast diese Gedanken. Nur du hast diese Familie. Diesen Vater. Diese Mutter. Wenn das alles der Fall ist. Dann kannst du mich einfach fragen. Ja? Dann kannst du einfach deine Mutti fragen. SOHN Aber du bist nicht hier. MUTTER Nein. SOHN Du liegst im Bett. Wir reden nicht. MUTTER Ich schlafe längst. SOHN Und ich sitze hier herum. Allein. Zwi­ schen Vaters Papieren. Mitten in der Nacht. MUTTER Und hast seine geheimen Schnapsre­ serven gefunden. SOHN Akzisefreier Trinkbranntwein. Deutsches Erzeugnis. Weiterverkauf wird strafrechtlich ver­ folgt. MUTTER Mit dem Papier jedenfalls. Da kriegst du den auch nicht zum Reden. Deinen Vater. SOHN Vielleicht nicht. Stille. MUTTER Morgen. Fahren wir ins Krankenhaus. SOHN Hast du schon gesagt.

MUTTER Trink nicht so viel. SOHN Ja. MUTTER Und grüß Vati. Wenn du ihn triffst. In seinem Berg. 13 TREUHANDMITARBEITER Die kulturelle Vielfalt, auch die neuen Bundesländer haben mich im Anfang, alleine von der Landschaft her fasziniert, dieses Unberührte, was also nicht wie im Westen zugepflastert war, das waren also besondere Er­ lebnisse.6 noch ein TREUHANDMITARBEITER In Berlin geht es ja. Aber in Chemnitz finden sie kei­ nen. Das können Sie keinem zumuten, keiner Familie zumuten.6 ein weiterer der vielen TREUHANDMITARBEITER Da ist man über Bodenwellen gestolpert, weil man das nicht kannte, dass ein Straßenbelag so gewellt ist, und das war eine ganz fremde Welt.6 ein weiterer der vielen TREUHANDMITARBEITER Am ersten Tag habe ich mich noch in den Bus gesetzt und bin schnell in den Westen gefahren, zum Abge­ wöhnen, habe gedacht, „Ob du das aushältst?“. Und hinterher hat man es eigentlich mehr schätzen können, auch diese gewisse Ruhe und dass da eben nicht soviel Neonreklame war.6 noch ein TREUHANDMITARBEITER Dieses Ursprüngliche, wie Deutschland mal aussah, kannte man am Ende ja schon gar nicht mehr.6 wieder ein anderer TREUHANDMITARBEITER Ich will darauf hinaus, dass ständig neue Leute kamen, dass es sozusagen ein großer Einschmelzvorgang war. (…) Es war also ein ständiges Einschmelzen-Müssen. Und wer ankam, war nach drei Tag auf dem Stand wie die, die schon da waren. Die waren zum Teil aber auch erst drei Wochen da oder drei Monate …6 wieder ein neuer TREUHANDMITARBEITER Alles, was in der Treuhand stattfindet, ist eine Brutal­ sanierung. Ob es eine Privatisierung, eine Sanierung oder eine Abwicklung ist, das sind nur graduelle Unter­ schiede. Aber der Effekt ist der gleiche, denn was übrig bleibt sind nie mehr als 30 % der ursprünglichen Ar­ beitsplätze.6 ein ganz neuer TREUHANDMITARBEITER Mir tut es unglaublich leid, dass Menschen, die hier arbeiten und sich engagieren, möglicherweise zu einem

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BEN JA MIN B UR GER & DIMITR I S TA P F ER XENOME TOK L E S MÉMOIR E S D‘HEL ÈNE MIXED P ICK L E S # 1 1 T HE AT E R- R OX Y. C H


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späteren Zeitpunkt, wenn sie hier ausscheiden, Proble­ me haben werden, weil ihnen ein negatives Image an­ gehängt wird.6 wieder jemand Neues, ein TREUHANDMIT­ ARBEITER Die Treuhand ist auch insofern eine geniale Einrich­ tung, als sie einen Puffer zwischen den Politikern und den Betrieben, denen, die betroffen sind, bildet. Dafür werden wir bezahlt. Das ist Teil unseres Gehalts, dass wir für die Politik den Kopf hinzuhalten haben.6 ein ganz neuer TREUHANDMITARBEITER Meine Leute, die haben mehr geleistet als in diesem Deutschland in den letzten zwanzig Jahren oder drei­ ßig Jahren irgendjemand anders.6 ein noch nicht angehörter TREUHANDMIT­ ARBEITER Man muss die menschlichen Komponenten sehen …6 ein ganz neuer TREUHANDMITARBEITER Diese Truppe hat hier in den neuen Bundesländern roundabout eine Millionen Menschen auf die Straße geschickt, und es gab keine Volksaufstände, nichts.6 ein noch nicht angehörter TREUHANDMIT­ ARBEITER … es geht immer immer um den Menschen …6 14 VATER Im Blindschacht jetzt. Keine Aussicht auf Sonnenlicht. Weit weg vom alten Baufeld. Kein Si­ gnal. Kein „Korb frei“ Keine vier und vier Anschlä­ ge mehr. Die letzte Seilfahrt. Fünffacher Schlag. Vor Jahren noch die Flutungsbohrungen im Westfeld. Die plötzliche Erschütterung nach einer langen, in sich fast endlosen Zeit der völligen Geräuschlosigkeit. Eine Abwesenheit von Lauten wie ich sie mir sonst nur in der Kälte des Alls oder der Tiefe eines ozea­ nischen Grabens vorstellen konnte. Ein Grollen in stiller Tatenlosigkeit. Manchmal noch, wenn ich still sitze, höre ich die Motoren der Radlader. Wische ich mir den Schweiß, den Staub von der Stirn. Laut vor allem war es hier. Laut und heiß. Jetzt bleibt das Grollen meines Magens. Mitbringsel vom Hungerstreik. Aber das war später. Und danach? Nach der Schließung 93 bin ich in die Auffanggesellschaft. Wie die meisten. Ab und an bin ich noch runter. Aber immer weniger. Von Jahr zu Jahr. Seit 2017 ist der Grubenbau schwarz geschaltet. Und ich in Rente. Oben noch der Be­

trieb zur Wetterführung. Und hier unten läuft uns die salzige Suppe langsam bis an die Eier. Sinkt der First. Aber noch. Noch bleibt ein wenig Zeit. Noch können wir durch die Blindschächte ziehen. Uns verstecken in den Fluchtkammern. SOHN Hier bist du. VATER Hab schon gedacht, dass du nicht mehr kommst. Dass du abgesprungen bist. Ist doch alles alter Kram. SOHN Ja? VATER Komm. Hier gehts lang. SOHN Wo sind wir hier? VATER In einem Blindschacht. Kommen von ei­ ner Sohle zur nächsten. Vorsicht. Pass auf deinen Kopf auf. SOHN Und wer ist das? VATER Na, der Schucht. Klaus Schucht. 91 kam der zur Treuhand. Kurz nach Rohwedders Tod. Kam in den Vorstand. Energie, Bergbau und Che­ mie. Der war verantwortlich für uns. Für Bischof­ ferode. SOHN Im August 91 bewilligt er ganze 341 Milli­ onen für die Sanierung der Mitteldeutschen Kali AG. Als Vorbereitung für einen möglichen Ver­ kauf. Allein 30 Millionen fließen, um die Salz­ fracht in der Werra zu vermindern. SCHUCHT Der Verkauf des Kalis im Osten ist die schärfste Drohung, die ich überhaupt anbringen kann. Davor hat BASF nun wirklich Angst, denn ein mut­ maßlicher Käufer könnte ohne Rücksicht auf die Be­ lange der BASF versuchen, den Markt zu durchdrin­ gen und würde damit erreichen, daß die Verluste bei Kali und Salz ins Unendliche stiegen.2 SOHN Das Kartellamt hat von Anfang an Beden­ ken, setzt Schucht im Juni 91 sogar eine Frist. Zu Hause sitzt Mutti fast ein Jahr über Stellenanzei­ gen. Sie bringt mich zum Arzttermin, geht zu El­ ternabenden. Sie unterschreibt die Zettel fürs Feri­ enlager. Sie geht in die Stadt, um kurze Hosen, Socken für mich zu kaufen. Überhaupt ist sie in dieser Zeit an allen Orten gleichzeitig. Mutti im Garten. Mutti beim Einkauf. Müll rausbringen. Mutti kocht. Näht. Schmiert. Bügelt. Und immer abends über den Zeitungen. Den Anzeigen. VATER Vati beim Betriebsrat. Vati beim Gruben­ betriebsleiter. SOHN Vati geht. Vati schläft. VATER Vati redet von sozialverträglichen Entlas­ sungen. Von 187 Millionen Tonnen Kali, die noch im Berg stecken. SOHN Von den 20 Millionen D-Mark, die Bi­ schofferode jährlich Miese macht, spricht er bis heute nicht. Oder davon, wie unrentabel das Werk vor 89 gearbeitet hat.

ABSCHLUSSARBEIT DER THEATERAKADEMIE von CHARLOTTE HESSE EUROPACAMP DER ZEIT-STIFTUNG 07.–10.04. Facing New Realities

u.a. mit GOD’S ENTERTAINMENT: Unter dem Teppich

[k] TO GO APP: AGENTS OF HISTORY Statues of Resistance SV SZLACHTA Das Revier MEINE DAMEN UND HERREN Der Ball KRASS KULTUR CRASH FESTIVAL 27.04.–08.05. #DEUTSCH LANDEN

VATER Vati redet davon, wie wir das Werk renta­ bler machen. SOHN Und redet von nichts anderem. SCHUCHT Wolf von BASF kommt mit dem Vor­ schlag, nun doch eine gemeinsame Gesellschaft zu grün­ den, nämlich aus Kali und Salz die Kali und Salz-Ak­ tivitäten auszugründen und diese mit unseren Aktivitäten zu fusionieren. Er rechnet uns vor, daß im Falle des Alleinbetriebs wir 2,3 Mrd. DM ausgeben müß­ ten und wir hier mit etwa 1,4 Mrd. DM sehr viel billiger wegkämen. Die Rechnung wird in dieser Höhe nicht ganz richtig sein, aber in der Tendenz ist sie stimmend.2 SOHN In der Schule halten die Erwachsenen nicht mehr Schritt mit der neuen Zeit. Frau Gut­ sche ist nach einem viermonatigen Kurs plötzlich Englischlehrerin. Herr Kausig rast durch den Stoff, gehetzt vom Westplan durch die frischen Bücher. Frau Dahms kann sich das Schlüsselwerfen ein­ fach nicht abgewöhnen. Herr Küchel das Auf-denTisch-Schlagen mit dem Tafellineal. Von einem Tag auf den nächsten fehlen zwei Lehrerinnen. Auf dem Schulhof ein neues Wort: Stasi. Wir selbst wissen nicht, was wir dürfen, und halten meist still. VATER Hab ich gar nicht mitbekommen. Da­ mals. Hab ich wohl keinen Kopf gehabt. Dafür. SOHN Du hattest Müntzer. VATER Und du deine Schule. SOHN Ich war neun. VATER Im Werk rede ich mit den Kumpeln. SOHN Zu Hause sprichst du nicht. VATER Bin immer erschöpft. Die Tage waren lang damals. Ich hab das noch im Fleisch. Die Lü­ cken, wo die Kraft saß, die ich gelassen hab. SOHN Immer müde. Oder weg. VATER So wollten wir das nicht. Das neue Land. SOHN So ist der aber. Der Kapitalismus. VATER Sagte der Sohn, dem es an nichts fehlte. Der sich entscheiden konnte, was aus ihm wird. Der mit all dem groß wurde, was für uns neu war. SOHN Ich will wissen, wie es war. VATER Du willst nix wissen. Du willst mir ans Bein pissen. SOHN Ich will mit dir reden. VATER Du hast auch nie was gefragt. SOHN Nein. VATER Und jetzt stehst du hier. Im Papierberg. Zwischen den Ordnern, den Fotos und Heftern. Sprichst mit dir selbst. Und ich sag nichts und lieg blöd rum. Ein paar Kilometer weiter. In meinem Krankenhausbett. SOHN Und da wirst du gesund. VATER Werd ich wohl. SOHN Und kommst zurück in dein Haus. VATER Ja.

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u.a. mit BRANKO ŠIMIĆ / NIKOLA DURIĆ, BALKAN PARADISE ORCHESTER, SELMA SELMAN, BERNADETTE LA HENGST, LAIBACH / ANJA QUICKERT, DEUTSCHLANDLIEDER, TÜMAY KILINÇEL, JULIAN WARNER, FARHOT, SEYDA KURT, QUENDRA MULTIMEDIA / JETON NEZIRAJ, DJURDEVDAN-PARADE

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SOHN Und gräbst im Garten. Und sitzt wieder auf deiner Bank und rauchst. Und trinkst deinen Tee. Und sagst nichts. VATER Wir hätten es geschafft. SOHN Wir hätten es geschafft. VATER Ja. SOHN Das hab ich so oft gehört. Von dir. Wir hätten es geschafft. Wenn du im Garten saßt. Blick auf die rote Halde. Oder im Auto. Wenn wir Mutti abholen waren. Vom Baumarkt. Der schöne neue Arbeitsplatz, auf den sich Mamas Unzufriedenheit der kommenden 29 Jahre richten wird. Wir hätten es geschafft. Wir hätten es geschafft. VATER Hätten wir. SOHN Habt ihr aber nicht. Ihr habt es nicht ge­ schafft. Ihr hattet keine Chance. Von Anfang an nicht. Frag den doch mal. Den Herrn Schucht. Wo ist der denn? Der ist doch hier rumgelaufen wie ein kleiner König. Ihr habt gekämpft und verloren. Habt Abfindungen bekommen, von denen andere nur träumen konnten. Und eure Auffanggesell­ schaft. Und all die Jahre Löhne, von denen ihr euch die Häuser gebaut habt, in denen ihr jetzt hockt. Ihr und eure Privilegien, von denen ihr nichts hören wollt. Frag mal Mutti. Wie das war als gelernte Erzieherin an der Baumarktkasse. Frag nach ihren Freundinnen. Die standen alle zuerst auf der Straße. Die mussten sich umsehen, da wollten du und deine Kumpel noch ins Süd-WestFeld vordringen. Die haben auch gekämpft. Die haben sich das auch alles anders vorgestellt. Aber das, was in den Köpfen bleibt, sind die heldenhaf­ ten Kalikumpel. Ihr ward nur ein Beispiel. Und kein gutes, wenn du mich fragst. Ihr ward nicht überall. Ihr ward nur hier. Nur hier für euch. VATER Und das ist der Grund? SOHN Was? VATER Deswegen kommst du hier runter? In meinen Berg? SOHN In deinen Berg. VATER Das ist. Ist mein Berg. SOHN Du hast mir überhaupt nicht zugehört. Stille. VATER Hab schon gehört. Was du gesagt hast. Hab ich. Stille. SOHN Ich soll dich von Mutti grüßen. Übrigens. VATER Kommt ihr morgen? Mich besuchen? SOHN Ja. VATER Bitte keine Blumen mitbringen. Ich krieg nichts mit, aber das macht mich rasend. SOHN Keine Blumen. VATER Das bringt mich um. SOHN Nicht sehr witzig, Vati.

VATER Ein bisschen schon. SOHN Wo willst du denn jetzt schon wieder hin? VATER Schritt halten. Mit der Zeit. SOHN Jetzt warte doch mal. SCHUCHT Flug nach Frankfurt und Fahrt nach Ludwigshafen. In Ludwigshafen erwarten mich Wolf und Werner von BASF. (…) Sympathisch die beiden, aber hart, wie der ganze Stil der BASF. Wir sprechen das Kaliproblem durch und beschließen, die Dinge zu beschleunigen, den Kleinkram bei der Erstellung des Da­ tenwerks zu vermeiden, mehr auf die großen Linien zu achten, also zum Beispiel nicht über die Geschäftsaus­ sichten jedes einzelnen Produkts im Jahr 2010 zu räso­ nieren oder den Dollarkurs von 1997 vorzufinden.2 VATER Das mit Müntzer. SOHN Ja? VATER War Quatsch. Dass die das Werk so ge­ nannt hatten. Die roten Meister. Die Alten. Als ob das was mit uns zu tun gehabt hätte. Oder mit dem Land. Der alte Mist. Die Bauernkriege. Als ob das genügt. Zu sagen. Das war einer von uns. Der war, wie wir sind. Ausgerechnet. SOHN Was ausgerechnet? VATER Ein Protestant. 15 SCHUCHT Gleich kommen Wolf und Bethke. Ach­ leitner und ich werden mit den beiden den Knoten Mit­ teldeutsche Kali / Kali & Salz durchschlagen. Die Ver­ träge sind soweit vorbereitet.2 SOHN Können Sie nicht damit aufhören? SCHUCHT Womit? SOHN Mir nachzulaufen. SCHUCHT Sie gefallen mir, junger Mann. Ich möchte, dass Sie meine Arbeit kennenlernen. Was haben Sie da? SOHN Die Akten. Papiere. Mein Vater hat alles gesammelt. SCHUCHT Bergmann? SOHN Bischofferode. SCHUCHT Oh. SOHN Etwa zur gleichen Zeit, Mitte 1992, be­ nötigt Bischofferode erneut Investitionen, um neue Vorkommen im Süd-West-Feld zu erschlie­ ßen. Die MDK mit Hauptsitz in Sondershausen aber mauert und fordert den sofortigen Stopp ­aller Aktivitäten. SCHUCHT Mit Frau Breuel ist abgestimmt, daß wir natürlich nicht voll den Forderungen der BASF entsprechen können, uns aber auch nicht lange bei Kostenberechnungen und Verhandlungen aufhalten. Zur Hälfte bleibt uns das Unternehmen erhalten, das heißt, alles, was über eine bestimmte an sich gerecht­ fertigte Summe hinausgeht, bleibt zur Hälfte Kapital

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der Treuhandanstalt. Im übrigen ist die Kaliindustrie notleidend.2 SOHN 1992 steigt die Arbeitslosenquote in Nordthüringen auf rund 24 %. Im Dezember ­desselben Jahres steht der Kali-Fusionsvertrag. Die Treuhandanstalt überweist mehr als eine Milliarde D-Mark als Bareinlage für die bevorstehende Fusion. Zusätzlich dazu übernimmt der Staat ­ ­einen beachtlichen Teil möglicher aufkommender Schulden in den ersten drei Jahren nach der ­Fusion. 80 bis 90 %. Schätzungen gehen davon aus, dass dadurch noch einmal fast zwei Milliar­ den D-Mark geflossen sind. SCHUCHT In der Vorstandssitzung geht MDK rei­ bungslos durch.2 SOHN In Artikel 20 des Fusionsvertrages wird ein Wettbewerbsverbot vereinbart. Niemand außer das neue Gemeinschaftsunternehmen darf in Deutschland Kali- oder Steinsalz fördern. Die Treu­ hand will die MDK unter allen Umständen verkau­ fen. Und BASF weiß das. Für den Chemiekonzern mit Sitz in Ludwigshafen ist es ein Geschäft, bei dem das Risiko maximal minimiert wurde. SCHUCHT Wie das klingt. So kalt. SOHN Als hätte es wirklich eine Chance gege­ ben. Für den Thomas-Müntzer- Schacht. Als hätte diese Sauerei der Fusion erst zum Untergang ge­ führt. Als wäre nicht alles, was auf den Sommer 90 folgte, auf die Wirtschafts- und Währungsreform, dieser ganze verdammte Mist, als wäre nicht alles, was danach geschah, in seiner Abfolge von tiefster, marktliberaler Logik geprägt. SCHUCHT Heute höre ich in Berlin von Frau Wes­ termann, aber auch von Wolf, daß die Mittagsschicht in Bischofferode nicht anfahren will. Sie will erzwin­ gen, daß wir Verhandlungen mit Herrn Peine führen, und zwar sofort, damit die Grube verkauft und auf diese Weise erhalten werden kann. Dies ist natürlich völliger Unfug, denn selbst wenn es Herrn Peine gelän­ ge, das Bergwerk zu führen und die Kali-Produktion abzusetzen, so dann nur mit erheblichen Unter­ stützungen des Landes Thüringen. Diese öffentlichen Gelder würden benützt, um im Wettbewerb den KaliPreis zu senken, was wiederum zu Verlusten in unse­ rem fusionierten Kali & Salz-MDK-Unternehmen führen müßte, die die öffentliche Hand, nämlich die THA ausgleichen würde über den Mechanismus des Verlustausgleichs (…). Ein Irrsinn, der auf alle Fälle verhindert werden muß. Nur deswegen heikel, weil ­dieser Herr Peine und die Landesregierung kühn die Behauptung aufstellen, sie wollten und könnten die Arbeitsplätze retten.2 SOHN Artikel 20 des Fusionsvertrages verhin­ derte schlussendlich einen eigenständigen Verkauf

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des Thomas-Müntzer-Schachts in Bischofferode außerhalb der großen Fusion. SCHUCHT Warum schauen Sie denn so? SOHN Mein Vater liegt dort drüben. Wollen Sie den mal sehen? In seinem ewigen Krankenbett. Und sehen Sie? Dort ist er noch einmal. Unten im Berg. Wie er da herumläuft. Immer hin und her im Grubenfeld. SCHUCHT Und ach. Dort. Der Kohl. Mit Ei am Kopf. Wie schön. SOHN Mai 91. SCHUCHT Am Abend dann die Unterredung mit Peine. Die beiden Herren und mehrere Mitarbeiter wa­ ren zu uns gekommen. Sie möchten das Kalibergwerk Bischofferode kaufen. Ein Unding. (…) In dem langen Gespräch haben wir versucht klar zu machen, daß wir hier nicht verkaufen, sondern fusionieren (…) und daß der Weiterbetrieb von Bischofferode auch unter der Führung von Peine nur dann möglich sei, wenn Peine einen eigenen Markt mitbrächte, denn sonst würde das Problem Stilllegung von Bischofferode auf ein x-beliebi­ ges anderes Bergwerk verlagert. (…) Ich erwähne auch, daß wir die Stilllegung eigentlich schon hätten im vori­ gen Jahr hätten durchführen müssen aufgrund einer Empfehlung des Leitungsausschusses aus September 1991. (…) 6.30 Uhr Abfahrt nach Erfurt, wo ich gleich morgens mit Ministerpräsident Vogel um 10.00 Uhr verabredet bin. Vogel ist ein sehr entgegenkommender, jovialer, angenehmer Mann, der sich nur mehr und besser gegen seine jugendlichen Kabinettsmitglieder durchsetzen müßte. (…) Ich schildere Vogel dann die unmögliche Lage, die entstehen würde, wenn das Land Thüringen 20 Mio DM Subventionen je Jahr zahlen müßte. Dies sind nämlich die Verluste, die das Berg­ werk macht (…). Dreistündige Diskussion mit den Betriebsräten von Bischofferode. Völlig vergiftetes Kli­ ma. Der Landrat dabei, der Bürgermeister. (…) Die THA ist umstellt. Eier fliegen en masse. (…) Eine ein­ zige Katastrophe. Bisher ist noch nie so aggressiv vor der THA demonstriert worden. Und dies ist (außer der PDS) – die katholische Bevölkerung aus dem Eichs­ feld! (…) Ich mache einen etwas polemischen Vorstoß in Fragen Bonität (…), betone, daß die THA mit P­eine dieses Geschäft unter keinen Umständen mache, von dem sie heute schon sehen könne, daß es nicht gut­ gehen würde (…). Man würde danach fragen, ob wir die Bonität sorgfältig geprüft hätten. Dies hätte ich ge­ tan, gebe auch an, daß nach SCHUFA Peine eine persönliche Kreditlinie von 100.000 DM und nicht mehr hat.2 SOHN Der Grubenbetriebsführer von Bischoffe­ rode Henkel fährt im Dezember 92 zum Hauptsitz der MDK nach Sondershausen, wo der Vorstand das Konzept der Fusion vorstellt. Wenn das Werk Bischofferode im kommenden Jahr nicht deutlich bessere Zahlen schreibt, wird es am Jahresende geschlossen. Aber die anhaltende Krise auf dem Kalimarkt bedeutet, dass bessere Zahlen schlicht und einfach nicht in Sicht sind. Zudem beliefert Bischofferode die französische EMC und finnische Kemira Oyj, zwei direkte Konkurrenten von BASF auf dem Kaliumsulfatmarkt, mit qualitativ hoch­ wertigem K60 / K61 aus dem Eichsfeld. Sollte Bischofferode geschlossen werden, müssten die ­ beiden Unternehmen auf Kali vom russischen ­Produzenten Uralkali zurückgreifen. Die dort be­ stehenden Exportbeschränkungen würden die bei­ den Konkurrenten der BASF deutlich schwächen. Die bevorstehende Schließung des Thomas-Münt­ zer-Werkes in Bischofferode ist nichts anderes als eine Marktbereinigung. Und die Treuhandanstalt?

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EIN UNHEIL WIRD KOMMEN. DER SCHIMMELREITER NACH THEODOR STORM, REGIE: JOS VAN KAN ab 14 Jahren / ab 26.02.2022 Die sieht, wie mir scheint, in der Fusion die einzig verbliebene Chance, die deutsche Kaliindustrie langfristig von jahrelangen staatlichen Subven­ tionen zu entkoppeln. Stört Sie das nicht? SCHUCHT Was? SOHN Dass Sie hier herumlaufen müssen. Stän­ dig. Und reden. Und alles anfassen. Das Pano­ rama. Die Bauern. Die Bergleute, mit denen Sie sich immerzu sehen lassen wollen. SCHUCHT Sie gefallen mir, junger Mann. SOHN Haben Sie schon gesagt. SCHUCHT Sie haben alles gelesen. Meine Dienst­ tagebücher. Über meinen mühseligen Auftrag, den ich für dieses Land erduldet, gesucht und erfüllt habe. SOHN Ich habe. Nicht alles gelesen. SCHUCHT Nicht? SOHN Ich hatte die Zeit nicht. SCHUCHT Das sollten Sie ändern. SOHN Leben Sie hier? SCHUCHT Mein junger Freund, ich lebe über­ haupt nicht mehr. SOHN Ich meine. Hier. Ob Sie jetzt hier zu fin­ den sind. Im Panorama? SCHUCHT Natürlich. SOHN Im April 93 werden die letzten Details des Vertrages geklärt. Verhandelt wird bereits ohne die MDK. Die Übernahme wird beschlossen. Bischof­ ferode soll Ende des Jahres geschlossen werden. Am 7. April besetzen Kumpel das Werk. SCHUCHT Es fehlt offensichtlich völlig an der Ein­ sicht ins Unvermeidliche. Gegen den Beschluss des Verwaltungsrates hilft auch kein Eierwerfen. Wir den­ ken gar nicht daran, uns von diesen Dingen beeindru­ cken zu lassen.2 16 MUTTER Ich dachte, du schläfst. SOHN Ich bin noch nicht durch. Es ist so viel. MUTTER Ich frag mich. Seit du hier bist. Seit du dich in diesem Zimmer verkrochen hast. Und das Licht nicht mehr ausgeht. Obwohl es doch Nacht ist. Längst. Und ich das Rascheln hör. Hinter der Zimmertür. Und deine Stimme. Das Flüstern. Brabbeln. Ich frag mich, was du willst. Was du da suchst. Im Papier. SOHN Ich frag mich, ob er recht hatte. Vati. Ob

sie es geschafft hätten. Mit Peine. Allein. Gegen den fusionierten Großkonzern. MUTTER Weiß man nicht. SOHN Nein. MUTTER Kann man nie. Stille. MUTTER Da beißt die Maus keinen Faden ab. SOHN Nein. Stille. MUTTER Da gehts den Menschen wie den Leu­ ten. Stille. MUTTER Und so weiter. SOHN Und so weiter. MUTTER Ja. Stille. MUTTER Ich bin schon wach, weißt du? Bin draußen im Garten. Vorm Haus. Ich steh so früh auf. Immer. Seit Vati. Na ja. Wenn du mich suchst. Wenn du Lust hast. Auf ein bisschen Schweigen. Und Kaffee. SOHN Ja. Gleich. Bald. Vielleicht. MUTTER Ist gut. SOHN Ja. MUTTER Also. 17 im Land der Tochtergesellschaften und Verbraucher der Auszug der Musen durch die Jahre hinweg durch einen Umbruch hindurch das Ausbluten der Ideen Adam auf dem Feld Knochen und Schädel aussäend Eva mit der Peitsche hinter ihm zwischen entleerten Plattenbauten auf das sie fruchtbar werde die Ernte oder „lasset uns die Hand drauf geben dass es die unsere sei“12 TREUHANDMITARBEITER Und da gibt es Regeln, Buch, wir haben sowieso so ein Handbuch für Privatisierung, so ein Handbuch für

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Organisation, was kein Aas liest, lesen kann und sich auch nicht dran halten kann (…) Ich wette, in mei­ nem Direktorat inklusive mir, hat kein Mensch diesen Verwaltungsordner oder diese mehreren oder über­ haupt nur im Ansatz studiert. Meine Sekretärin kennt ein paar Sachen, aber das war es auch.6 in Berlin wird die Treuhand erwachsen Pickel und Richtlinien Privatisierung über allem über allem in der Welt für alles jetzt Formulare Schucht längst an Bord und stets in meiner Nähe während der tote Rohwedder im zugigen Treppenhaus noch immer die Osterpredigt vom letzten Jahr verteilt „Die Entscheidung für die deutsche Einheit war zugleich eine Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft in ganz Deutschland.“13 TREUHANDMITARBEITER Und dass nun so viele Dinge zusammengefallen sind, die Sache mit dem Ostmarkt und die Krise nun auch noch dazu. Wer ein bisschen Einblick hat, der merkt, „Ja verdammt verständlich ist es, dass sie alle auf die Treuhand schimpfen, aber andererseits treffen sie da­ mit nicht den Richtigen“. Ich will nicht sagen, dass wir uns damit beruhigen, aber im Grunde genommen ist das für jeden auch eben eine innere Bestätigung zu sagen, „Also es ist trotzdem nicht falsch, was wir ma­ chen, es ist der einzige Weg, es gibt nichts anderes.“6 ein anderer TREUHANDMITARBEITER Ich meine, wir haben ja alle nicht zu verantworten, dass hier so ein System geherrscht hat, insoweit kann man sich da auch etwas leichter tun, und die Men­ schen, die hier gelebt haben, hatten das auch nicht zu verantworten, dass sie in diesem System großgeworden sind und mitmachen mussten, leben mussten. Also das kann man ganz ohne bad feelings angehen …6 93 ein Land biegt ein in einen langen Sommer auf der Aktionärsversammlung der Kali und Salz AG Kassel wird die Fusion gebilligt das Aus für Bischofferode Johannes Peine will zugreifen kaufen investieren der westfälische Mittelständler den die Treuhand abwatschen muss damit der Deal über die Bühne gehen kann wie er geplant ist der Baum den Peine ausreißen will ein trockenes Ding halb absterbend halb aufblühend unter seinen Händen wer weiß das schon bleibt fest in der Erde im Graben vor dem Felsen

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wo man ihm eine blaue Schleife um den Hals gebunden hat hinter ihm die versammelte Belegschaft oder das was nach drei Jahren noch davon übrig geblieben ist es sieht nicht gut aus für die Kumpel aber die wollen nicht aufgeben 18 HÄBERIN mir platzt der Arsch von dieser Sitzerei RENATE sei still ich hab an dieser Luft genug so heiß und voller Diesel tief im Berg BIRGITT wenn wir den Männern helfen können so mach ich was man mir abverlangt ich sitz mir meinen fetten Arsch so flach wie der seit zwanzig Jahren nicht mehr war wenns muss besetz die Tiefe ich ein Leben lang RENATE du hast Reserven Birgitt mehr als ich HÄBERIN weil du nur Blätter frisst und Stängel Kind seit du zu Hause sitzt und Arbeit suchst wos keine gibt mehr weit und breit RENATE sei still BIRGITT sie hat ja recht die Kinder fahren schon zur Arbeit rüber schlafen nur noch hier HÄBERIN ich bin zu alt für einen Neuanfang die Füße tun mir weh ich latsche rum den ganzen Tag und stell das Fressen auf den Tisch für Mann und Brut das Geld ist knapp das Haus zahlt sich allein nicht ab mein Mann der säuft wenn er nicht hungern muss ich putz das Klo ich mach Kaffee und Fleischsalat mich fragt kein Schwein wann ich das letzte Mal zur Arbeit bin die Beine fett das kriegt mit Fußbad man am Abend nicht mehr dünn das brennt und sticht mir durch die dünne Haut das ewige Gelatsche Schufterei wenn ich noch eine Arbeit hätt wenn ich was wäre noch ein bisschen mehr als ich die für die Kinder nur noch lebt und für den Mann und sein Geheul bring mich zurück ins Schlachthaus wo ich meine Arbeit hatt gib mir zurück das Messer in die Hand RENATE wünscht doch die Zeit zurück der Mann erfüllt beim Saufen nur den Plan wisst ihr wies war im Berg Maschinen aus der Kaiserzeit und Selbstkritik wenn man das Maul nicht hält drei Mann für das was drüben einer schafft BIRGITT deswegen hast du demonstriert nicht wahr mit Mann und Maus und Koffer in der Hand für Einheit und für Marktwirtschaft jetzt schau jetzt hast du was du wolltest hier jetzt kehrt die Marktwirtschaft uns die Betriebe aus und besenrein wird was nicht Geld abwirft RENATE ich habe meine Arbeit auch verlorn HÄBERIN wie Erwin wisst ihr noch der Sauf­ kumpan von meinem Mann der hing im Baum so schön im letzten Mai ein Zettel in der Hand ich dank dir Helmut Kohl die Frau zu Haus im Bett und auch das Kind fein zugedeckt drei Späne wenn gehobelt wird ich scheiß mit Anlauf auf die alten Hoffnungen

RENATE wenn die Fusion heut durchgewunken wird gibts Tote oben sag ich euch mein Mann der hungert sich die Seele klein und schwarz den krieg ich nicht mehr auf die Beine so BIRGITT wart ab noch gibt es keine Meldungen HÄBERIN seit die dort oben hungern fresse ich den Anteil meines Mannes mit mich kriegt kein Schwein mehr aus dem Berg ich bleibe hier mehr als nen halben Kilometer tief BIRGITT das hast du schön gesagt mein Zucker­ fratz HÄBERIN nicht wahr RENATE bei dieser Hitze schwitzt man Fett BIRGITT da kannst du endlich fressen was du willst RENATE das liegt bei mir nur am Verdauungstrakt der macht noch Klassenkampf das Westprodukt rutscht durch bei mir ich scheiße Mon Chéri BIRGITT jetzt weiß ich endlich auch warum dein Mann an deinem dünnen Arsch klebt immerzu HÄBERIN Renate Kind nimms nicht zu Herzen dir die Tiefe macht dass wir so blöde tun und dass man umschult uns von Zeit zu Zeit wir können nichts die Arbeit ist vorbei das macht das Herz gar und die Finger krumm da sind die Männer viel romantischer die kämpfen erst dann hängen sie im Baum und baumeln blöd im Wind wir klagen nicht wir hängen Wäsche auf und irgendwann sind auch die Kinder aus dem Haus der Mann der findet irgendwann ein Hobby bis wir sterben BIRGITT das hast du wieder schön gesagt HÄBERIN hab Dank RENATE wir sterben doch schon immerzu und überschminken uns das Wachsgesicht die Kinder glotzen mitleidig uns an und schweigen nur wenn man nichts fragt wisst ihr manchmal da träum ich von nem Arbeitsplatz und schäm mich früh wenn ich das Frühstück mach der Spitzner unser alter Sekretär der hat sich nur für kurze Zeit geschämt erst Planwirtschaft dann plötzlich Demokrat hält Reden jetzt und spricht von Arbeitskampf BIRGITT der hält zu uns was keiner tut RENATE der hat uns diesen ganzen Mist doch eingebrockt jetzt spenden wir dem freiwillig Applaus HÄBERIN so viel Moral passt momentan nicht mehr in meinen Tagesablauf rein in dem die tote Arbeit residiert mir ist egal wer für uns spricht RENATE seid doch mal still BIRGITT das Telefon RENATE nimm du ab BIRGITT nein RENATE dann du HÄBERIN ich höre gibts was Neues schon bei euch verstehe ja ist gut ich habs kapiert bin ja nicht dumm in meinem Kopf nicht taub Stille. HÄBERIN es ist vorbei bis Jahresende noch dann kann verrotten selig was hier ist ich hab gewusst das es so kommen wird BIRGITT ich auch RENATE ich nicht BIRGITT du auch HÄBERIN im Ernst es war


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mir eine Ehre wehrte Damenschaft gemacht ist der Vertrag mit Unterschrift gebilligt auch vom Ministerium wir fahren aus und gehen heim wenn wir verschämt einander wiedersehen bald uns wortkarg kalt beäugen und verschreckt den Niedergang den eigenen mit dem der anderen vergleichen nehmt krumm nichts nehmt nichts an verhärtet nur die andren sind es längst 19 während der neuen Schwurgemeinschaft das Land unter dem Arsch ein neues geworden ist während der Betriebsrat nach Warburg fährt wo der Unternehmer Peine seinen Sitz hat dort wo die letzte Hoffnung wohnt wo man sich umhört vor Ort in der Bäckerei auf der Straße neben der Tankstelle während in Kassel der Fusionsvertrag im Geheimen unterschrieben wird während der Treuhandausschuss des Bundestages der Fusion schlussendlich zustimmt während das alles immer wieder immer wieder im­ mer und immer übers Panorama huscht und zieht und treibt während mir Schucht bei allem zusieht mir auf jeden Schritt folgt jedes Kratzen am Ohr jedes Schlucken jede unwesentliche Bewegung steht mein Vater wieder in der alten Winterlandschaft winkt mir zu mit Mütze und Fäustlingen im Kofferraum der letzte Wochenendeinkauf eingepackte Mortadella Maggie und Cornflakes schauen mich an aus der Klappbox wo es doch jetzt eigentlich ans Hungern geht zusammen mit den Kumpeln wo die Frauen den Schacht besetzen und die Liegen ausgeklappt werden in der alten Kantine träumen schon die Ersten von Bockwurst und Kalbsbraten in der stickigen Luft des Hochsommers ein Rest Branntwein im Kopf längst Morgen im Haus hinter der Halde und blasses Blau Mutter wühlt erst in den Beeten dann in der Küche während ich am offenen Fenster rauche auf dem Boden hinter mir ein halbes Leben aus Papier in meiner Hand ein Foto der rote Abraum im Abendsonnenlicht mein Vater davor in seiner Bergmannstracht es muss heiß gewesen sein an diesem Tag die Stirn nass sein Haar längst grau Jahre nach seiner letzten Einfahrt sein Blick wie immer wenn er fotografiert wurde kindlich unbeholfen

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20 MÜNTZER Bockwurst. Mit ordentlich Senf. Oder Kalbsbraten. Schnitte mit Käse. Eiersalat. Tote Oma meinetwegen. Mit Kartoffeln und Sauer­ kraut. Saure Gurken. Ich Thomas Müntzer von Stoll­ berg …1 Oder Zupfkuchen. Salamipizza. Mayo. Ein­ fach so. So weit bin ich. Semmel jedenfalls mit Schinken. Semmelknödel böhmische Art. Roster. Ja. Roster ist gut. Laßt euch nicht erschrecken das schwache Fleisch und greift die Feinde kühnlich an …1 Ragufeng, wenns sein muss. Kirschen. Eingelegt. Zur Mittagszeit. Oder Butter. Da. Einfach aus der Verpackung falten. Reinbeißen. Oder mit der Zun­ ge drüber. Frisches Brot. Immer wieder. Aber auch Schweinekotelette. Schweinmedaillons. Rohes Schweinehack. Nach dem ersten Erwachen. Ihr dürft das Geschütz nicht fürchten, denn ihr sollt sehen, daß ich alle Büchsensteine in den Ärmel fassen will, die sie gegen uns schießen …1 Spiegelei. Angebratene Zwiebeln. Mit Champignons. Pfifferlinge mit Ma­ joran. Ja. Knoblauch. Gebraten in Butter. Pommes. Pommes. Die Kinder wollen immer nur Pommes essen, seit es Pommes gibt. Pommes jedenfalls auch. Auch schon am Vormittag. Ja, ihr seht, daß Gott auf unserer Seite ist, denn er gibt uns jetzt ein Zeichen …1 Senfei. Soljanka. Irgendwas im Schlaf­ rock. Irgendeinen Mist in irgendeinem andern. Oder Broiler vielleicht. Dass die Finger glänzen. Aber selten. Auch Biersuppe. Oder wieder und wie­ der und wieder eine Roster. Frisch. Der heiße Saft spritzt, dass die Kohle zischt. Oder roh aus dem Darm gepresst. Mit Senf in jedem Fall. Auf die Faust. Zwei Stück. Oder kalt. Am Tag danach. Stille. Und Kalter Hund. Kalbsgeschnetzeltes. Königs­ berger. Lang nicht mehr. Oder Frikassee. Frikadel­ len … seht ihr nicht den Regenbogen am Himmel? der bedeutet, daß Gott uns, die wir den Regenbogen im Panier führen, helfen will, und dräut den mörde­ rischen Fürsten Gericht und Strafe …1 Oder einfach Roster. Mit der nassen Hand vom Grill greifen. Senf nachschieben. Mit dem Finger aus dem Glas. Und tief rein. Ganz tief. In den Mund. Dass sich mir alles, alles dreht. Vor lauter lauwarmem Tee. Und neben mir die tranigen Kumpel. Wie sie die Beiträge ­ lesen. Über uns. In den Zeitungen. Sendungen. Germans Occupying Mine They Seek To Save.14 Hühnersuppe vielleicht. Einen Löffel. Oder ein zaghafter Biss in den kümmerlich abge­ brochenen Rest einer vertrockneten Salzstange. Der Schluck aus dem Wasserglas. Metall auf der Zunge. Es wird kein Bedenken oder Spiegelfechten helfen. Die Wahrheit muss hervor. Die Leute sind hungrig, sie müssen und wollen essen.15 Matjes. Beim Dösen am Nachmittag. Immer auch grobe Hausmacherleberwurst. Blutwurst. Natürlich. Und Rehrücken. Wenn ich mich einsam fühle. Oder die Frau vorbeischaut. 21 SOHN Hier bist du. Hier oben. VATER Jetzt haben sie den alten Förderturm ge­ legt. SOHN Schon lang. VATER Und ein Museum gemacht. Aus der alten Betriebsambulanz. SOHN Ja. VATER Wenn ich noch mal so hungrig sein könnte. So. So wie damals. Wenn es noch was gäbe. Nicht nur die Fotos, auf denen ich an Kalbsbraten denke.

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SOHN Wo willst du denn hin? VATER Zurück. SOHN In deinen Berg. VATER Natürlich. SOHN Wenn alles gebrannt hätte. Damals. Wenn der übergesprungen wäre. Der Funke. Wenn das wirklich überall gewesen wär. Euer Bischof­ ferode. Überall die Haufen. Plötzlich. In der ost­ deutschen Landschaft. Besetzte Werke. Gegen die Laufrichtung der Ereignisse. VATER Dann hätten wir es geschafft. SOHN Dann vielleicht. VATER Warum guckst du so? SOHN Ihr allein gegen alle. Die Treuhand. Die IG Bergbau. Ihr gegen die Kali und Salz AG Kas­ sel. Die MDK. BASF. In guten Zeiten. Da ward ihr Bischofferode. Ganz allein. Mit guten Aussichten und guten Geschäftskontakten. Vorkommen für Jahrzehnte. 1993 muss Bischofferode schon über­ all sein. Muss die verteilt sein. Eure Last. Die doch alle treffen muss, die auch schon einmal et­ was getroffen hat. In Wolfen. Oder Wittenberge. In Eisenach. Warnemünde. In Schwedt. Oder Magdeburg. Aber das Geld teilt. Und herrscht. Und teilt immer weiter. Quer durch die ostdeut­ schen Gefilde. Stück für Stück. Ganz ohne Flä­ chenbrand. VATER So einfach ist es nicht. SOHN Nein? VATER Ich war Mitte 30. Ich wollte noch was. Vom Leben. Mit Mutti. Und dir. Und ich wollte Bergmann bleiben. Wollte den Schmutz, den Lärm. Die Dunkelheit. Und das verdiente Geld. Und du? SOHN Ich? VATER Willst deinen Job in der Agentur. Deinen Urlaub mit der Familie. Das Geld, das dir zusteht für deine Mühen im Büro. Und nichts rast. Nichts fährt heute durch die Pläne von gestern. Weißt du. Ich hab einfach versucht, nicht umzufallen. Ich hab versucht, da durchzukommen. Durch die ­komische Zeit. SOHN Das hast du doch geschafft. VATER Ja? SOHN Auch ohne den Schacht. Ohne Müntzer. VATER Ja? SOHN Hast du. VATER Ja? Stille. VATER Ja? Stille. MUTTER Und jetzt? Willst du dich einfach da­ vonmachen?

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VATER Du hier? MUTTER Fällst einfach die Treppe runter. Wo ich doch extra Kotelette gemacht hab. Für dich. Und Erbsen. Lässt mich allein im Haus. Das ist plötzlich so groß. Und du sagst nichts. Obwohl ich dich schüttle. Obwohl ich dich anschreie. Und dann der ganze Salat. Der Krankenwagen. Die ­Sanitäter, die ins Haus latschen. Weil das, was sie sehen, das ist, was sie jeden Tag sehen. Aber für mich ist das neu. Und du regst dich nicht. Und ich höre, wie die Sanitäter miteinander reden. Ganz ruhig. Und dann steh ich an der Tür. Und dann mach ich die zu und schau durch das kleine Fens­ ter auf die Straße, wo sie dich in den Wagen schie­ ben. Und dann ist es still. Und das Krankenhaus. Das ist so weit weg. Jedenfalls. Ich hab dir Blumen mitgebracht. VATER Oh. MUTTER Und ich weiß gar nicht, ob ich die hierhin stellen darf. Und ich weiß nicht, ob ich die einfach nehmen kann. Deine Hand. Und. Wo bist du denn jetzt? SOHN Mutti. MUTTER Wo ist er denn hin? Der hat doch gra­ de noch. Der hat doch gesprochen und erzählt. Von seiner ewigen Treuhand. SOHN Der ist noch ein bisschen in seinem Berg. MUTTER Ja. Stille. MUTTER Jedenfalls. Stille. MUTTER Du kannst ja noch bleiben. 22 du kannst ja noch bleiben sprach die Gans zum Fuchs im Baum und grinste still im Schlaf nichts dreht sich auch nicht die Verhältnisse die Kumpel hungern sich die Hoffnung groß wir fressen nur was aus dem Westen kommt wir waschen unsre Wäsche nicht mit Spee wir kaufen Opel und Rama und Kinderüberraschung TREUHANDMITARBEITER Denn Sie dürfen ja nicht vergessen, dass die Firmen, die wir jetzt noch haben, in der Regel natürlich auch die größten Probleme machen, also das kann man ja nicht anders sehen, denn sonst wären sie ja längst weg (…). Und wir müssen natürlich jetzt manchmal auch ein paar harte Entscheidungen treffen, denn es hat ja keinen Zweck, auch wenn Sozialisten so einen Blöd­ sinn immer wieder behaupten, immer wieder Geld in so eine Firma reinzustecken, nur um angeblich Ar­ beitsplätze zu erhalten. Das bringt ja langfristig gese­ hen nun beweisbar nichts.6 Gysi im Eichsfeld der Sozialist im katholischen Land der Linke mit Planwirtschaftshintergrund wütend gegen die kapitalistischen Umtriebe gibt er den kleinen Mann volksnah und verständig mit Kaffee aus dem Plastikbecher und Kippe

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vier Wochen Hungerstreik bereits auf dem Werksgelände jeden Tag die Aufnahmewagen von SAT1 ZDF RTL man erwartet Berichtenswertes im Schacht derweil wachen die Frauen aus dem Faxgerät des zerstrittenen Betriebsrates quillt internationale Solidarität Versuche in Zärtlichkeit große Reden im grauen Wurstdunst der über das Werksgelände zieht fast Zehntausend sind gekommen man pfeift auf Politik noch ein TREUHANDMITARBEITER Ich möchte so sagen, die soziale Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben sich hier in Ostdeutschland nicht geschickt etabliert. Um nicht zu sagen, es war aus meiner Sicht ein Fehler – nicht sehr frühzeitig doch systematische Strukturpolitik anzusetzen, der Treuhand diese Aufgabe zu geben. (…) Es dem freien Spiel der Kräfte auszusetzen und darin die Lösung zu sehen, nur weil unser Wirtschaftssystem normalerweise so funktioniert, das konnte nicht gutgehen.6 weit unter dem Fußpunkt des Fallenden dem ostdeutschen Ikarus sitzen sie zusammen hinter der Hecke am Brunnen die Solidarischen zu Lesung und Gesang zu Rede und Gespräch die ostdeutsche Intelligenz Heym Plenzdorf als hätte man sie ohne ihr Zutun dazugesetzt in die Zusammenhänge die sich nicht vergleichen lassen mit dem eigenen Schrei­ ben ein Pastor predigt etwas abseits für die Grube man spricht von den Puhdys die morgen kommen sollen ein Ständchen für die Frauen im Schacht der Abraum aber mit jedem Hungertag ein wenig blasser schon wieder ein anderer TREUHANDMITARBEITER Die Treuhand ist politisch und organisatorisch ein aus­ laufendes Modell. Alle diskutieren nicht die Frage, wie kann die Treuhand besser arbeiten, so sondern (…), wie kann es nach der Treuhand mit den Dingen weiter­ gehen, die übrig bleiben müssen, wenn das operative Geschäft beendet ist.6 die alten Kader kriegen frischen Applaus zusammen mit den Bergmännern fühlt man sich betrogen es war ein chancenarmes Spiel die Straßen voll mit denen die man nicht mehr braucht in den Betrieben und Fabriken wer hier bleibt ruft die Stimme Müntzers heiser übers Panorama an Kohl vorbei der immer noch nach seinem Eierwerfer sucht und seinem Wirtschaftswunder wütend dabei über den Platz vorm Stadthaus hetzend wer hier bleibt ist am Arsch

die Mühen der Ebene wohin der Blick fällt irgendwo fällt etwas fällt der Blick zu Boden fällt was und fällt und wir schauen zu und erwarten den Aufprall und erwarten nichts anderes mehr von diesem letzten Tag im Jahr 23 auf dem Weg zum Krankenhaus durch alten Schnee schmutzig und fest an den Straßenrändern eine verlassene Gegend manchmal wackelt hinter einem Fenster noch eine Gardine eine Hand mit dem Mietwagen durch die kleinen Ortschaften SCHUCHT Am 31.12.1993 ist der Kompromiss in Bischofferode nun doch geglückt. Bayreuther hat sich mit seinem Plan durchgesetzt. Er hat jedem noch ein­ mal eine Abfindung von 7500 DM über den Sozial­ plan hinaus angeboten und damit ist die Angelegen­ heit geregelt. Gott sei Dank, das Thema ist beendet.2 VATER Ist es das? SCHUCHT (…) das Thema ist beendet.2 VATER Ist gut. SCHUCHT (…) ist beendet.2 VATER Hab ich verstanden, Herr Schucht. Wir waren ja nicht die Einzigen, nicht? Ein Punkt wa­ ren wir. Einer von vielen. Und Sie, Sie hatten ja eine Menge zu tun. Eine große Aufgabe. Das Gan­ ze. Ein aufgebrachtes Meer aus vielen kleinen Punkten. Und wir ganz oben. Auf der Dünung. Da waren wir zu sehen. Für kurze Zeit. Für Sie. SCHUCHT (…) beendet.7 VATER Beendet. Ganz recht. Und so gut ge­ macht, wie es eben möglich war, oder nicht? Im­ merhin. Die beste unter vielen Möglichkeiten. Bes­ ser hier ein paar ohne Arbeit, als dort noch ein paar mehr. Oder nicht? Das ist sie doch. Die Rechnung. So funktioniert es doch. Immer schon. Immer nur das kleinere Übel. Als wäre das schon alles, was es zu gewinnen gibt. Als wäre alles andere gar nicht erstrebenswert. SOHN Schon gut, Vati. VATER Ja. SOHN Der hört nichts. Der geht nur rum. Und redet so, weißt du? VATER Bist du im Krankenhaus. SOHN Auf dem Weg zu dir. SCHUCHT Donnerstag nachmittag Grubenfahrt im Kali (…), anschließend Abendessen mit allen, die am Kalivertrag mitgearbeitet hatten. Es wird ein fröh­ licher Abend. Ich kann mich um 23.00 Uhr zurückzie­ hen, stelle aber am nächsten Morgen fest, daß die letz­ ten um 3.00 Uhr ins Bett gegangen sind.2 AUDIOGUIDE Mit einem letzten Blick aufs Pa­ no­rama, so kurz vor dem Ende, wollen wir dies al­ les also ausklingen lassen. Wollen es dabei belas­ sen, es zurücklassen in der Zeit. So oft schon ha­ ben wir es abgeschüttelt. Uns von den gekrümm­ ten Rücken geschlagen. Blicklos. Mit den Armen fuchtelnd. Aber dort, wo noch getanzt wird unter dem Galgen, dort, wo die Zeit längst abgelaufen ist,


thomas freyer_treuhandkriegspanorama

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der Tod und das Rad der Fortuna miteinander wett­ eifern, dort bringt die ostdeutsche Frau, die das Mittagessen für die Familie gekocht, den Tisch ge­ deckt und wieder abgedeckt, die Töpfe also, Teller, die Pfanne gesäubert, den Tisch schließlich abge­ wischt, getrocknet, das Geschirrtuch über eine Stuhllehne gehängt hat, dort geht die ostdeutsche Frau zu den Tonnen, dort bringt sie den Müll raus. Dort trifft sie den Nachbarn aus dem vierten Stock. Dem erzählt sie von ihrer Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Vom alten VEB, den sie, die gelernte Ökonomin, aufzulösen beauftragt wurde. Der Nachbar nickt, wie wir gut erkennen können. Der spricht etwas, was wir nicht verstehen können, und sehen doch weiter drüben, wie er bereits an ihrer Tür klingelt. Am Abend, weil er den Personal­ chef der Firma, in der er selbst erst seit dreieinhalb Monaten arbeitet, oben in seiner Wohnung am Te­ lefonapparat hat. Die Frau also, die selbst noch kei­ nen Anschluss hat, sie zieht, wie wir erahnen, eine dünne Strickjacke über die Schürze, in der sie das Abendessen vorbereitet, den Tisch gedeckt, das Spiegelei gebraten, den Gurkensalat zubereitet hat. Sie steigt die Treppen nach oben, während sie sich die Jacke zuknöpft, und betritt die unbekannte Wohnung des oft freundlichen, an manchen Tagen verschlossen wirkenden Nachbarn, der hier im Haus seit über einem Jahr, seit seine Tochter ins Hessische, in eine Ausbildung hineingezogen ist, seit er also hier im vierten Stock allein wohnt. Der Personalchef indessen ist kaum zu verstehen, er nuschelt feucht, worauf der Nachbar, bereits auf dem Weg nach oben aber hingewiesen und sich

nicht zu erschrecken gebeten hatte. Ein Termin wird vereinbart. Für den nächsten Tag. In der Firma. Weil man dort tatsächlich gesucht hatte. Nicht nach ihr persönlich, das nicht. Aber so nimmt sie es, wäh­ rend sie nach unten stapft, zurück in die Wohnung, wo im spärlich beleuchteten Wohnzimmer längst das Sandmännchen läuft. Im alten Apparat. Damit wollen wir also unseren Frieden machen. Und ein wenig applaudieren, wenn es soweit ist. Nicht wahr? Fahrt neben weiß schmutzigen Feldern die Sonne derweil so tief stehend dass alles Weiße zu gleißen beginnt eine Überblendung des Vergangenen ein Wind fährt in Vaters alte Papiere und treibt sie in schnell kreisender Bewegung nach oben hinter uns längst das schwache Rot der Halde im Rückspiegel hinter dem Gleißen nichts im Krankenhaus in den weiten Gängen die Station in einer Art langem nichtssagendem Schlaf im Zimmer angekommen schließlich neben ihm am Bett sitzend nehme ich Vaters Hand Ende.

Quellen 1 Ernst Bloch „Thomas Müntzer als Theologe der Re­ volution“ 2 Diensttagebücher von Klaus Schucht 3 Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED / 30.10.1989 4 Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989 / Bundesbank August 1999 5 Freies Forschungskollegium „Selbstorganisation“ für Wissenskatalyse an Knotenpunkten / 11.02.1990 6 Dietmar Rost, Innenansichten der Treuhandan­ stalt. Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Führungskräften, Freie Universität Berlin 1994 (For­ schungsgruppe Altern und Leben [FALL], Forschungs­ bericht 43, Mai 1994) 7 Fernsehansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl zum Inkrafttreten der Währungsunion, 1. Juli 1990 8 Brief von Heinz Braun (CDU-Stadtrat Ludwigsha­ fen) an Helmut Kohl vom 26.11.1990 9 „Kohls Lüge von den blühenden Landschaften“, Der Spiegel / 26.05.2018 10 Treuhandanstalt: Dokumentation, Band 2 11 Beschlußempfehlung und Bericht des 2. Untersu­ chungsausschusses „Treuhandanstalt“ nach Artikel 44 des Grundgesetzes / Drucksache 12/8404 vom 31.08.1994 12 Mailied Bertholt Brecht 13 Detlev Karsten Rohwedders Brief an die Mitarbei­ ter der Treuhandanstalt am 27. März 1991 14 New York Times / 21.07.1993 15 Aus „Luthers sämtliche Werke“ / abgedruckt unter dessen Schriften gegen Müntzer und die aufrühreri­ schen Bauern © Rowohlt Theater Verlag

An der Universität der Künste (UdK) Berlin ist in der Fakultät Darstellende Kunst folgende Stelle zu besetzen:

PROFESSUR AN EINER KUNSTHOCHSCHULE (m/w/d)

– BesGr. W 2 – unbefristete Vollzeitbeschäftigung Lehrgebiet: Spiel und Darstellung Lehrverpflichtung: 18 LVS

Besetzbar: 1. April 2023

Kennziffer: 4/364/22

Aufgabengebiet: szenischer Grundlagenunterricht, verstanden als Basistraining schauspielerischen Ausdrucks, Begriffsbildung unterschiedlicher Spielweisen, Vermittlung der Befähigung zu autonomem Arbeiten in den Feldern Improvisation, Strukturbildung und Reproduktion; Rollen- und Szenenstudium sowie Partner* innenarbeit im Grund- und Hauptstudium; Projektarbeiten im Grund- und Hauptstudium. Ihre schriftliche Bewerbung richten Sie bitte mit aussagefähigen Bewerbungsunterlagen unter Angabe der Kennziffer bis zum 29. März 2022 auf dem Postweg an die Universität der Künste Berlin – ZSD 1 –, Postfach 12 05 44, 10595 Berlin; Sendungen in Paketform sind an die Hausadresse Universität der Künste Berlin – ZSD 1 –, Einsteinufer 43, 10587 Berlin zu richten. Bitte schicken Sie Ihre Bewerbung zusätzlich in digitaler Form (in einem PDF zusammengefasst, max. 3 MB) an: fk4sekr1@intra.udk-berlin.de. Mit der Abgabe einer Bewerbung geben Sie Ihr Einverständnis, dass Ihre Daten elektronisch verarbeitet und gespeichert werden. Für Auskünfte steht Ihnen Frau Lenzen, susanne.lenzen@intra.udk-berlin.de, gern zur Verfügung. Die Bewerbungsunterlagen können aus Kostengründen nur mit beigefügtem und ausreichend frankiertem Rückumschlag zurückgesandt werden. Weitere Informationen unter: www.udk-berlin.de/universitaet/stellenausschreibungen

An der Hochschule für Musik und Theater Rostock ist im Institut Schauspiel zum nächstmöglichen Termin folgende Stelle zu besetzen:

Künstlerische Mitarbeiterin/ Künstlerischer Mitarbeiter (m/w/d) im Fach „Bewegung“ Die Stelle ist unbefristet und umfasst einen Umfang von 80-100 %. Die Vergütung erfolgt nach EG 13 TV-L. Zu den Aufgaben gehören u. a. folgende Tätigkeiten: Leitung und Ausgestaltung des Moduls „Körper“, verantwortliche Gestaltung des Bewegungsunterrichts für den Studiengang Schauspiel (90 %) und die Studiengänge des Instituts Musik und im Lehramt Theater (10 %). Gesucht wird eine engagierte Persönlichkeit mit mehrjährigen, berufspraktischen Erfahrungen und pädagogischer Erfahrung in der Ausbildung von Schauspielstudierenden an einer staatlichen Hochschule oder vergleichbaren Institutionen. Erforderlich ist eine erfolgreich abgeschlossene, fachbezogene Hochschul- oder vergleichbare Ausbildung. Wir erwarten Nachweise interdisziplinärer Kompetenz in der Ausbildung und der künstlerischen Praxis sowie individuelle Zusatzqualifikationen (z. B. Feldenkrais, Alexandertechnik, Yoga o. ä.) und eine nationale/ internationale Vernetzung. Bitte bewerben Sie sich bis zum 17. April 2022 ausschließlich über die Website der hmt Rostock, wo Sie auch weitere Details zum Aufgabenbereich der Stelle finden.

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Auftritt Düsseldorf „Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper)“ von Bonn Park und Ben Roessler in der Regie von Bonn Park Erlangen „GRNDGSTZ“ Annalena und Konstantin Küspert in der Regie von Helge Schmidt Hamburg „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwi­ li in der Regie von Jette ­Steckel Heidelberg „Der Kitschgarten“ nach Motiven von Anton Tschechow in der Regie von Milan Peschel Leipzig „vendetta vendetta (a bunch of opfer­ songs“ von Thomas Köck in der Regie von Thomas Köck München „Gier unter Ulmen“ von Eugene O’Neill in der Regie von Evgeny Titov Schwedt „Nacht“ von Andrzej Stasiuk in der Regie von Jan Jochymski Tübingen „Im Thurm“ von Markus ­Höring in der Regie von Thorsten Weckherlin


auftritt

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DÜSSELDORF „Star Trek“ auf Valium DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS: „Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper)“ von Bonn Park und Ben Roessler (UA) Regie Bonn Park Bühne Julia Nussbaumer, Jana Wassong

Die Phaser der Sternenflotte haben zwei Einstellungen. Man kann mit ihnen den Gegner töten oder betäuben. In „Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper)“ stellen Captain Jean Luc Yešilyurt und seine Mannschaft die Waffen auf „harmlos“. Bloß niemanden verletzen, lautet ihre Devise. Autor und Regisseur Bonn Park hat das „Star Trek“-Universum für eine positive Zukunftsvision geplündert, Streichelfiktion statt Science-Fiction. Theater zum Kuscheln

einem Eisplaneten angezogen. Als die Offi-

in schweren Zeiten.

ziere auf die Oberfläche des Planeten bea-

Theatertherapie aus der Zukunft: Thomas Wittmann, Lioba Kippe, Lea Ruckpaul, Florian Claudius Steffens in der Inszenie­ rung von „Rückkehr zu den Sternen (Weltaumoper)“, Text und Regie von Bonn Park, Musik von Ben Roessler am Düssel­ dorfer Schauspielhaus. Foto Thomas Rabsch

Am Anfang des Stücks muss die Besat-

men, treffen sie Wesen, die nur bis zu ei-

zung des Raumschiffs Wassong noch einen

nem bestimmten Punkt altern. Dann läuft

Angriff überstehen. Alle taumeln über die

der Prozess rückwärts, bis sie als Babys

Bühne wie es Captain Kirk, Mr. Spock und die

sterben. Diese natürliche Ordnung ist zer-

anderen Helden in der ersten „Star Trek“-Se-

stört. Die Wesen altern und empfinden das

rie aus den sechziger Jahren taten. Die Bühne

als Fluch. Die erste Offizierin der U.S.S.

von Julia Nussbaumer und Jana Wassong ist

Wassong (Lea Ruckpaul) gehört zu ihnen

Bonn Park bei der gemeinsamen Arbeit sei-

wie die Kostüme von Leonie Falke eine liebe-

und sehnt sich nach dem Tod. Das stellt

nen Text entwickelt hat. Gleich zu Beginn

volle Hommage an die ersten beiden Fernseh-

den Captain (Serkan Kaya) vor ein Dilem-

spielt das Orchester aus Studierenden der

reihen um die Raumschiffe, die den Namen

ma. Er ist für seine Besatzung verantwort-

Robert Schumann Hochschule Düsseldorf

Enterprise trugen. Die Action wird stark stili-

lich und fühlt sich zu seiner „Nummer 1“

die berühmte Star-Trek-Fanfare von Alexan-

siert, das Ensemble singt die Texte, Tänzerin-

besonders hingezogen. Aber die Achtung

der Courage in verfremdeter Form, aber

nen bewegen sich im genau choreografierten

einer fremden Kultur ist die erste Direktive

deutlich erkennbar. Opernhaft wirken man-

Gleichschritt. Auf Spannung kommt es Bonn

der Zauberflotte.

che Ensembles, doch meistens dominieren

Park überhaupt nicht an. Ihn interessiert die

Diesen Widerstreit treiben Stück und

harmonisch-kitschige Musicalmelodien. Das

Philosophie der Sternenflotte – oder im Stück

Inszenierung keinesfalls auf die Spitze. Bonn

passt zum friedlich-braven Gestus dieser

der „Zauberflotte“ –, eine humanistische

Park zeigt vielmehr, wie vernünftige Menschen

Aufführung.

Welt, in der Kapitalismus und Rassismus

an so ein Problem herangehen und offen dis-

Es ist leicht, die Schwächen des

überwunden sind. Das Raumschiff ist das

kutierend zu einer Lösung kommen. Nur ein

Stücks zu benennen. Handlung und Dialoge

Gleichnis einer aufgeklärten und toleranten

Mal rastet Wissenschaftsoffizierin Melitta

sind ziemlich banal, einige wenige Gags ver-

Gesellschaft.

(Rosa Enskat) aus und beschimpft alle, die ge-

sanden in der Nettigkeit. Das Ensemble ge-

Eine Mission mit Konflikten muss es

rade um sie herumstehen. Eigentlich hat sie

winnt kein besonderes Profil, alle erfüllen

natürlich geben. Das Raumschiff wurde von

keine Gefühle, sie ist ein Android – wie Data in

vorhersehbar und professionell ihre Aufga-

der Serie „Star Trek – The Next Generation“.

ben. Aber Bonn Parks Inszenierung beein-

Der Bordarzt experimentiert mit ihr und lässt

druckt durch die stilistische Konsequenz.

sie Gefühle aus dem 21. Jahrhundert empfin-

Und das Stück ist ein Wagnis. Naivität und

den. Der Versuch führt fast in die Katastrophe

Freundlichkeit gehören nicht gerade zu den

und wird schnell abgebrochen.

angesagten Stimmungslagen auf deutsch-

Linke Seite: Das Patriarchat als krankes, heroinsüchtiges Konstrukt, das im Kern leer ist: Lisa Hag­meister in „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili in der Inszenierung von Jette Steckel am Thalia Theater Hamburg. Foto Armin Smailovic

Ben Roessler hat die Musik während

sprachigen Bühnen. Am Ende tritt Kilian Po-

der Probenphase komponiert – wie auch

nert als Bordarzt und Chefingenieur vor den

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roten Vorhang und wendet sich direkt ans Pu-

Sie meinen das Bundesverfassungsgericht,

blikum. „Sorgen Sie sich nicht“, sagt er, „es

das dem Wappenvogel tatsächlich auf die

wird alles gut.“ Er weiß das, weil er aus der

Nerven geht. Darsteller Max Mehlhose-Löffler

Zukunft kommt. Wir werden alle Virusvarian-

bezieht die Frage jedoch auf den stickigen

ten und den Angriffskrieg überleben. Garan-

Adlerkopf und das enge Kleid. Passt schon,

tiert. Wenn wir freundlich bleiben, kann uns

versichert er: „Für solche Momente bin ich

nichts passieren. Über diese Art Theaterthera-

Schauspieler geworden!“

Verfassung auf Probe mit unbefristetem Vertrag: Hermann Große-Berg, Max Mehlhose-Löffler, Barbara Krebs, Juliane Böttger in der Inszenierung von „GRNDGSTZ“ von Annalena und Konstantin Küspert in der Regie von Helge Schmidt am Theater Erlangen. Foto Jochen Quast

pie mit „Star Trek“ auf Valium kann man

Das Publikum lacht auf. Szenenap-

schmunzeln und sich sanft gelangweilt fühlen.

plaus für einen selbstironischen und selten

Anlass: 70 Jahre Grundgesetz. Der Text ent-

Und doch hat die Aufführung etwas Sympathi-

ehrlichen Augenblick inmitten dieses Abends.

zweite jedoch die künstlerischen Wege,

sches. Mehr noch, etwas Liebenswertes. //

Das steht nicht im Text, wohl auch nicht in

gleichwohl bediente sich Wächter für ihre

der vom Autorenduo mit dem Regisseur stark

Aufführung „Unantastbar?“ daraus.

Stefan Keim

ERLANGEN Verfassung auf (der) Probe DAS THEATER: „GRNDGSTZ“ von Annalena und Konstantin Küspert (UA) Regie Helge Schmidt Ausstatter Anika Marquardt & Lani Tran-Duc (Atelier Lanika)

überarbeiteten Fassung für eine nachgeholte

Einige ihrer Standardpuppen, Sigmund

Uraufführung; es ist aber inszeniert, kommt

Freud oder Gartenzwerge, fanden im Stück

jedenfalls aus dem Bauch und folgt der Re-

Niederschlag. Nun finden sich solche Figuren

gel, wonach eine Situation dann und nur

so oder so in Erlangen wieder, wo Helge

dann komisch wird, wenn man sie ernst

Schmidts Inszenierung viele Ideen entwickelt

nimmt.

und keinen Zugang findet. Die Zwerge tau-

Insofern ist dies zugleich eine Ausnah-

chen auf (Alissa Snagowski und Janina

me von den Regeln dieser Inszenierung. Die

Zschernig), um zu erfahren, dass sie gestri-

geht betont lustig, lustig, tralalalala zu Werke

chen wurden. Juliane Böttger hängt sich den

und missversteht dabei den Hilferuf des Tex-

Sigmund-Freud-Bart um und psychoanaly-

tes, szenisch aufgeladen und gebrochen zu

siert etwa den unbenutzten Artikel 18 (Barba-

werden.

ra Krebs), der jenen die Grundrechte ab-

„GRNDGSTZ“ behauptet eine Revue

spricht, die Grundrechte verletzen.

und ist eine Montage, verfasst und zusam-

Was Grundrechte sind, will ein Konrad-

mengestellt von Annalena und Konstantin

Adenauer-Schwellkopf von Digital-Assistentin

Küspert, deren „Reichsbürger“-Monolog er-

Alexa wissen. Ein weiterer Schwellkopf zeigt

folgreich durch die Theaterlandschaft wan-

Elisabeth Selbert, die die Gleichberechtigung

Der Bundesadler schrumpft zur Bordstein-

dert (siehe TdZ 4/2018) und die nun ihre

von Mann und Frau ins Grundgesetz schrieb.

schwalbe, lässt sich nieder zur Zigarettenpau-

vierte gemeinsame (Zu-)Arbeit vorstellen: ge-

Mit eigenem Kopf sondert Hermann Große-

se. Konspirativ schleichen Polen (Barbara

plant für Puppenspielerin Suse Wächter,

Berg hinterm Handmikrofon Teile aus Carlo

Krebs) und Ungarn (Hermann Große-Berg)

2019 am Staatstheater der Stadt Karlsruhe,

Schmids Rede „Was heißt eigentlich: Grund-

heran. „Nervt dich das nicht?“, raunen sie.

in der das Bundesverfassungsgericht sitzt.

gesetz?“ von 1948 ab, ohne sie zu durchdrin-


auftritt

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gen. Pars pro toto steht er damit für den allge-

Vier Freundinnen stehen im Zentrum von

berin und Gerechtigkeits- Fanatikerin. Und

meinen Mangel, dass uns hier selten jemand

Nino Haratischwilis neuem Roman „Das

Dina? Die Fotografin? Ist die Zündkapsel des

erlaubt, ihm beim Denken zuzuschauen.

mangelnde Licht“: Dina, Qeto, Ira und Nene.

Abends, bringt die anderen zum Leuchten,

Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht

Am Anfang sind nur drei der vier auf der Büh-

führt sie ihrer Bestimmung zu. Maja Schöne

begegnen sich in herzlicher Abneigung („Wir

ne, sie sind schwarz gekleidet. Dina, die vier-

spielt sie wild, überbordend. Sie lebt und

passen einfach nicht zusammen“), Mephisto

te, lebt nicht mehr. Auf einer Retrospektive in

liebt wie eine Waffe.

erklärt im Prolog im Himmel biblische Ge-

Brüssel wird die Fotografin 2019 gefeiert:

Dina beginnt, ihre Welt zu fotogra­

schichten gleichsam für grundgesetzwidrig,

Ihre großen Porträts geistern als Video-Schatten

fieren, abzulichten. In der Bühnenfassung

Gott dann dieses Grundgesetz zur kostbaren,

über hohe Wände, die mit bunten Quadraten

des 830-seitigen Romans geht es vor allem

aber brüchigen Angelegenheit.

bedruckt sind, ein Pixel-Teppich. Die Lücke,

um das Licht. Jede der vier versucht auf

Das alles sollen, so der Rahmen, Num-

die Dina hinterlässt, ist dieser Theaterabend.

ihre Weise, die schwarze, männerdominier-

mern einer Geburtstagsgala werden, für die

Ihre Bilder werden zu Fenstern in die Vergan-

te Welt auszuleuchten. Und sie selbst, die

hier coram publico geprobt wird, was uns je-

genheit. Wie Dina starb, bleibt bis zum

Männer?

doch bereits die Aufführung bedeutet. So wie

Schluss ein Geheimnis.

Patriarchat als krankes, heroinsüchtiges ­

Der

Theaterabend

zeigt

das

das Grundgesetz, soll das wohl heißen, ja

Und dann eröffnen die Wände des

Konstrukt, das im Kern leer ist. Und dem

auch eine Verfassung auf Probe ist und doch

Bühnenbilds von Florian Lösche und die

sich die jungen Männer in den Rachen wer-

längst einen unbefristeten Vertrag erhielt.

Videos von Zaza Rusadze fast tänzerisch ­

fen. Ole Lagerpusch unter Dauerstrom als

Sechs Schauspieler stolpern und albern sich

Räume, Säle, verwandeln sich in Küchen,

Qetos Bruder Rati. Sebastian Zimmler als

angestrengt lässig durch lauter Allegorien

Jugendzimmer, bilden schattige Kammern

ein Clan-Prinz, Balletttänzer der Gewalt,

und werden selbst zum allegorischen Ensem-

und düstere Straßenzüge. So entstehen flie-

Jirka Zett, verträumt und irrlichternd. Und

ble, das für die Abwesenheit des Dramati-

ßende Übergänge zwischen Zeiten und Or-

Julian Greis fast kindlich bedrohlich: Sie

schen stehen muss. Derweil zertrümmern

ten. Von 2019 tauchen wir ein in die Kind-

verkörpern die Facetten von Mackertum in

wiederholte Videokommentare eines Journa-

heit und Jugend der Freundinnen, ins

aller Härte und Erbarmungslosigkeit, ver-

listen, einer Behindertenaktivistin und eines

Georgien der 90er Jahre. Wir sehen ihnen

erbtes Gift, das sie sich mit der Nadel in

bayerischen Innenministers den letzten Rest

beim Älterwerden zu, verspielte Energiebün-

den Arm spritzen, bis sie verrecken. Opfer

von Rhythmus.

del, die durch Dick und Dünn gehen. Fritzi

sind sie alle.

Immerhin singen sie, vertont von Frie-

Haberlandt, Lisa Hagmeister, Maja Schöne

Jette Steckel findet bezwingende Bil-

der Hepting, bemerkenswert Heine („Wir wol-

und Rosa Thormeyer verkörpern grundver-

der, etwa wie ein Affe einen Mord im Zoo be-

len jetzt Frieden machen“), Brasch („Was ich

schiedene Temperamente: wie sie in den

obachtet und im Gegenlicht verharrt. Die Re-

habe, will ich nicht verlieren“) und Adenauer

Hinterhöfen im georgischen Tbilissi das Le-

gisseurin neigt dazu, sehr viel erzählen zu

(„Man soll nicht immer und überall von Demo-

ben ausprobieren, in der Schul­uniform, mit

wollen. Indem sie aber kluge Übergänge

kratie nur sprechen“). Und sie enden in einem

artigen Käppchen, später mit Karottenjeans

schafft, wird diese Fülle zum Rausch. Die

Ton mit der „Kinderhymne“ von Brecht/Eisler,

und Pony-Frisur (Kostüme: ­Sibylle Wallum).

Spiel- und Verwandlungslust des Ensembles

als sei vorher Bedeutendes geschehen.

Wie sie die neuesten Popsongs hören, den

machen den Abend zum Theaterfest. Wenn

allerersten Kuss halbwegs überstehen. Die

etwa Barbara Nüsse und Karin Neuhäuser als

vier spielen überwältigend gut.

Großmütter und in liebender Abneigung ver-

Ferdinand von Schirachs „Terror“, über den sich das Stück kurz lustig macht, stellte auf dem Theater unser Verhältnis zum Grund-

Schnell wird klar, dass diese Jugend

bunden zwischen sich die Risse Georgiens

gesetz allerdings weitaus dringlicher auf die

gefährdet ist, historische Filmaufnahmen

ausmachen. Und sich trotzdem grollend er-

Probe. //

von rollenden Panzern Ende der 80er, An-

tragen. Fabelhaft.

Michael Helbing

HAMBURG Vexierspiel aus Licht und Schatten THALIA THEATER: „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili (UA) Regie Jette Steckel Bühne Florian Lösche Video Zaza Rusadze

fang der 90er Jahre versetzen das Publikum

„Das mangelnde Licht“ wirkt wie der

in den Zustand der Gegenwartsstarre. Der

dunkle Zwilling von Jette Steckels Inszenie-

Krieg in der Ukraine, der russische Überfall,

rung von Nino Haratischwilis Roman „Das

wird in Georgien 1989 vorexerziert, den-

achte Leben (Für Brilka)“. Die Erzählweise

noch vermeidet die Inszenierung jede platte

brutaler, gewalttätiger, das Licht trüber. Die-

Analogie. Es gibt auch tiefe Verwerfungen

ses Theater ist hemmungslos ins Spielen ver-

innerhalb des Landes, kriminelle Struktu-

liebt, völlig Diskurs- und Brechungs-frei, bei-

ren, Nenes Onkel ist ein gefürchteter Clan-

nahe altmodisch, auf eine kluge Art. Die

Chef. Sie muss einen Mann heiraten, den

bunten Wände kreisen erbarmungslos weiter,

sie hasst, die Hochzeit wird zum feierlich-

das Leben will es so. Das Black am Ende ist

düsteren Ritual: Rosa Thormeyer verkörpert

schwärzer als gewöhnlich. //

glaubhaft die lebenslustigste der vier. Lisa Hagmeister spielt die leiseste Stimme an diesem Abend, ihre Qeto hat den größten Überblick. Ira, die ihre lesbische Sexualität bei Nene entdeckt, will A ­ nwältin werden, Fritzi Haberlandt als liebend-linkische Stre-

Peter Helling

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HEIDELBERG

chows „Kirschgarten“ auf die Bühne zu bringen. Wegen erschwerter Probenbedingungen durch die Abstands- und Hygieneregeln war

Ein Vaudeville kluger Lebensfragen

eine Inszenierung mit so vielen Figuren aber nicht mehr machbar. Eine Steilvorlage für den innovativen Regisseur, seine eigene

Balance von Schwermut und Leichtigkeit: Christina Rubruck, Esra Schreier, Daniel Friedel, Lisa Förster und Katharina Quast in der Inszenierung von „Der Kitschgarten“ von Milan Peschel am Theater Heidelberg. Foto Susanne Reichardt

Tschechow-Collage zu erschaffen. Dabei drif-

THEATER UND ORCHESTER HEIDELBERG: „Der Kitschgarten“ nach Motiven von Anton Tschechow Regie und Textfassung Milan Peschel Bühne/Kostüme Nicole Timm

tet Peschel aber keineswegs ab vom Universum des großen Dramatikers. Motive aus dem

Regisseur, tragische und komische Momente

„Kirschgarten“, in dem es um den Verkauf

in Tschechows ästhetischem Universum klug

des großen Gartengrundstücks geht, um die

zu balancieren. Das karge, in dunkles Schwarz

Existenz der dekadenten Großgrundbesitzer

getauchte Bühnenbild und die Kostüme hat

zu retten, hat Peschel mit anderen Dramen

Nicole Timm der Uraufführung im Moskauer

sowie mit Einaktern und Erzählungen kombi-

Künstlertheater aus dem Jahr 1904 nach-

Zu kitschig, zu altbacken, zu dröge? Keines-

niert. Im „Kitschgarten“ jongliert der faszi-

empfunden. Klug tarieren Karsten Rischer

wegs, findet Milan Peschel. „Der Kirschgar-

nierende, auf der Bühne und vor der Kamera

und Ralph Schanz mit ihrem Lichtdesign die

ten“ des russischen Dramatikers Anton Tsche-

unergründliche Spieler Peschel so grandios

Stimmungen aus, die im „Kitschgarten“ in

chow aus dem Jahr 1903 hat den Regisseur

mit Tschechows Motiven, dass selbst Kenner

Sekundenschnelle wechseln.

am Theater Heidelberg inspiriert, die Tragi­

seiner Texte bisweilen ins Schleudern gera-

„Die überwiegende Mehrheit der Rus-

komödie auf ihre Aktualität abzuklopfen. Und

ten. Wo spricht Tschechow, wo Peschel? Das

sen sucht nichts, tut nichts und jammert he-

da geht der Regisseur, dem auch als Schau-

virtuose Spiel mit den Perspektiven verwirrt

rum. Sie sind alle so ernst, machen wichtige

spieler die skurrilen Rollen am besten liegen,

und zeigt Tschechows Zeitlosigkeit.

Gesichter, philosophieren, und zur selben

ungewöhnliche Wege. In der Rolle des „Be-

Statt den Kampf um Landbesitz im 19.

Zeit haben die Arbeiter nichts zu essen,

ckenrand Sheriffs“ spielte Peschel 2021 seine

Jahrhundert lustlos aufzuwärmen, kreist der

schlafen auf dem Fußboden, dreißig, vierzig

ungewöhnliche Gabe vor der Filmkamera aus,

Vaudeville-Abend, den Peschel im Alten Saal

in einem Zimmer, mit Wanzen, Gestank,

die schrägen Seiten des Lebens zu zeigen. Im

des Heidelberger Theaters geschaffen hat,

Feuchtigkeit und moralischem Verfall.“ Aus

„Kitschgarten“ dreht er nun Tschechows düs-

um nichts Geringeres als um den Sinn des

den Worten der Schauspielerin Lisa Förster

teren, von der russischen Melancholie getränk-

Lebens. Mit einer Musikauswahl, die von

spricht tiefe Trauer über den Verfall eines

ten Text durch die Mangel seiner eigenen Per-

Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ bis

Systems, das sich buchstäblich aufreibt.

spektive. Dabei fällt er bisweilen in einen

zur Hippie-Hymne „Going Up the Country“

Dass es Peschel keineswegs darum geht, die

übertriebenen Aktualitätsrausch.

von Canned Heat reicht, punktet der Abend

klugen Lebensfragen ins Lächerliche zu zie-

Vor der Pandemie hatte sich das Thea-

auch auf der sinnlichen Ebene. Mit dem For-

hen, die der russische Dramatiker in seinen

ter Heidelberg mit Peschel verabredet, Tsche-

mat des burlesken Singspiels schafft es der

Texten aufwirft, zeigt seine kluge Stückent-


auftritt

/ TdZ April 2022 /

wicklung. Die Textzitate nutzen Thomas

Thrones“ zum Opfer fallen. Amal Keller, Dirk

schwangerer Text versucht, sich dem ideologi-

Braschs und Peter Urbans Übertragungen aus

Lange und Denis Petković steigen in grünen

schen Phantasma anzunähern und verknüpft

dem Russischen.

Samtroben über die Treppen, die an Rafaels

es mit dem heute der Rache anhaftenden

Peschel gelingt über weite Strecken

Schule der Athener Philosophen erinnern, und

Ohnmachtsgefühl.

das Kunststück, Schwermut und Leichtigkeit

rekapitulieren die rachsüchtige Historie. Ihre

Während die emotional getriebene Re-

auszubalancieren. Wenn Andreas Seifert als

Überlegungen kreisen nebeneinander, ohne

vanche als irrationale Bedrohung dem moder-

schrulliger Professor über die Schädlichkeit

sich gegenseitig voranzutreiben. Die ellipti-

nen Rechtsstaat gegenübergestellt sei, nahm

der Wanzen philosophiert, darf das Publikum

schen, wiederkehrenden Sätze scheinen wie

sie in mythischen Zeiten auf der Schwelle zur

herzhaft lachen. Da läuft der Schauspieler,

der beschriebene Mechanismus kein Ende zu

festgeschriebenen Gerichtsbarkeit eben jene

dessen komödiantische Gabe fasziniert, zu

nehmen.

Funktion der Strafe und Sühne ein. Im anti-

Höchstform auf. Wunderschön träumt sich die

In der ersten Regiearbeit des Autors

ken Theater ist dieser Übergang in einer un-

junge Esra Schreiner in die Lebensentwürfe

Thomas Köck steht ein Chor Leipziger Sänge-

endlichen Schleife gefangen. Der Tod des

von Tschechows „Drei Schwestern“ hinein.

rinnen den drei Ensemblemitgliedern gegen-

antiken Heros bleibt ein ambivalentes Opfer,

Zu plakativ geraten Peschel dagegen

über. Sein diskursiver Text „vendetta vendetta

das sich auf keine Seite schlagen lässt und

die Aktualisierungen. Ehegattensplitting, das

(a bunch of opfersongs)“ reflektiert über kol-

als einmaliges wiederholt werden muss. Es ist

Mittagessen in der Kindertagesstätte, der

lektive Rache und individuelle Wut, die Re-

„[e]in letztes im Sinne des Sühnopfers, das

­Familienstreit um die Elternzeit – da spannt

vanche der Natur und der sogenannten Mitte

Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt;

der Regisseur den Bogen einfach zu weit.

der Gesellschaft. Die singende Menge bildet

ein erstes im Sinn der stellvertretenden

Nicht zuletzt wirkt das deshalb so aufgesetzt,

den Gegenpart zu den vereinzelten Darstelle-

Handlung, in welcher neue Inhalte des Volks-

weil Peschels kluge Stückfassung doch aufs

rinnen und Darstellern. In schwarzen, baro-

lebens sich ankündigen“, beschrieb es Walter

Schönste zeigt, wie aktuell Tschechows Thea-

cken Kleidern, royalen Kopfbedeckungen und

Benjamin im „Ursprung des deutschen Trau-

ter noch immer ist. //

ausgestattet mit einem Maschinengewehr-

erspiels“. Im Schauspiel Leipzig wird das auf

Gehstock stellt sich die Gruppe im Bühnen-

der Bühne nicht enden wollende „Herumlau-

bild von Martin Miotk, hinter der eine antike

fen um den Altar“ zum komisch übersteigern-

Kulisse nach oben und unten gezogen wird,

den Todesreigen. Die Schauspielerinnen und

auf, um die musikalischen Collagen von And-

Schauspieler stürzen sich vom Podest hinab,

reas Spechtl erklingen zu lassen. Opernzeilen

um den Opferwahnsinn zu Ende zu führen,

wie „Der Rache Hölle brennt in meinem Her-

nur um wiederaufzuerstehen und laut schrei-

zen“ schlagen um in einen diffusen Sprech-

end abermals Suizid zu begehen.

Elisabeth Maier

LEIPZIG Die Erinnyen kreisen

chor, der zur Projektionsfläche für die Wutbürger-Kollektive der letzten Jahre wird. Ob

SCHAUSPIEL LEIPZIG: „vendetta vendetta (a bunch of opfersongs)“ von Thomas Köck (UA) Regie Thomas Köck Bühne Martin Miotk

Eine Frauenleiche begründete die Römische Republik, erzählen die schreitenden Rache­ priester. Nachdem die sittliche Lucretia vom Tyrannen Tarquinius vergewaltigt wurde, wählte sie den Selbstmord, obwohl Vater und Ehemann die Schuld ganz dem Täter gaben. Die geschändete Frau, die doch ohne Schande ist, wählte den Tod, gegen den Rechtsspruch des Pater familias. Ihr Opfer soll den Übertritt von der Tyrannenherrschaft in die rechtsstaatliche Republik markieren. So beginne die Geschichte der Blutrache mit ihrem Ende und wiederholt sich dennoch ständig. „Die sollen sich mal einen anderen Körper suchen, den sie rächen können“, meinen die Spielenden. Auch Maries Tod durch Woyzecks Hand steht in derselben blutigen Reihe, wie Talisa und Catelyn Starks Ende, die der Red Wedding in „Game of

als rasender Mob, der das Kapitol stürmt, oder Netzwerk rassistischer Einzeltäter, die Rächenden von heute kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Aber wo ist dieses oft beschworene Zentrum? Köcks bedeutungs-

Die Rächenden kommen heute aus der Mitte der Gesellschaft. Der Chor in Thomas Köcks Regie-Debüt seines Textes „vendetta vendetta“ am Schauspiel Leipzig. Foto Rolf Arnold

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Eine Geschichte über Traumatisierung und tiefes Misstrauen: Pia Händler als Abbi Putmann und Oliver Stokowski als Ephraim Cabot in „Gier unter Ulmen“ in der Regie von Evgeny Titov am Residenztheater München. Foto Birgit Hupfeld

Statisch und diskursiv nimmt sich die Insze-

Dieses Mal entführt uns die Regie gemein-

nierung der Vendetta als gesellschaftliches

sam mit dem kongenialen Bühnen­ bildner

Paradigma an. Die Gedanken bleiben bruch-

Duri Bischoff in eine anthrazitfarben ge-

stückhaft, wie die eingespielten Bilder und

türmte Wüste aus unheimlichen Schiefer-

Referenzen, die selten weiterverfolgt werden.

platten und dunklen Wackersteinen, bedroh-

Ein Ende der Rache verspricht der Abend

lich karger Hintergrund für alles, was da

nicht, doch zeichnet sich sein qualitativer

kommen wird. Ein Jahr lag die fast fertig

Umschlag ab. Befreit vom Schicksalhaften

gearbeitete Inszenierung auf Corona-Eis und

des tragischen Helden sind die Rächer, Inter-

erwacht jetzt unter dem Brennglas des Russ-

gen sich zu einer explosiven Mischung. Titov

nettrolle und Tempelritter unserer Tage zwar

land-Ukrainekriegs zu geradezu hellseheri-

nimmt, auf seine ganz eigene Weise, das

vereinzelte Individuen, aber verstehen sich zu

scher Bildkraft, die den Zuschauer an einen

Stück ohne Angst vor Pathos, Symbolen und

organisieren. //

dieser apokalyptisch zerstörten Orte katapul-

groß komponierten Bildern im besten Sinn so

Lara Wenzel

MÜNCHEN Die Klage der Steine BAYERISCHES STAATSSCHAUSPIEL RESIDENZTHEATER: „Gier unter Ulmen“ von Eugene O’Neill Regie Evgeny Titov Bühne Duri Bischoff

tiert. Nach und nach gibt spärlich streifiges

tief beim Wort, wie man es zuletzt von Alt-

Licht seltsame Figuren frei, die sich – dank

meistern wie Breth oder Grüber sah. Mit ei-

Eva Desseckers meisterlich misshandelter

nem wahren Schauspielfest erlöst er uns von

Stoffe und elaboriert einfachen Kostümen –

der jahrelang an deutschen Theatern zeleb-

seit staubigen Ewigkeiten aus Schatten in

rierten Behauptung, dass Texte nur noch als

die Sichtbarkeit herausschälen.

digital verstärkte Flächen und Gefühle so

„Gier unter Ulmen“, eines der hierzu-

fragwürdig seien, dass sie nur noch in ironi-

lande unbekannteren Stücke von Eugene

sche Parenthesen gesetzt werden können. Ein

O’Neill aus dem Jahr 1924, gehört in die Rei-

ebenso zielsicherer wie anrührend zarter

he seiner Familiendramen, die ihr Sujet mit

Eben (Noah Saavedra) erscheint wie zum

der Wucht und Unausweichlichkeit antiker

Abraham-Isaak-Opfer mit vertauschten Rol-

Tragödien abhandeln: Anstatt sich aufs Alten-

len, das tote Opferlamm zeichenhaft über der

teil zurückzuziehen, setzt der verhärtete

Schulter, kauft sich von den als Höhlenmen-

75-jährige Farmer Cabot mit der Heirat seiner

schen vegetierenden älteren Brüdern Simeon

dritten, provozierend jungen Frau seinen drei

und Peter (Simon Zagermann und Niklas Mit-

erwachsenen Söhnen die zweite Stiefmutter

teregger) frei, um sie ins utopische Goldland

vor die Nase. Die Familien-Ordnung kippt,

California zu entlassen, und stürzt sich ins

Nur eines ist schon gewiss, wenn man eine

niemand kennt mehr den ihm zugehörigen

Duell mit der leuchtenden Pia Händler als

Regiearbeit von Evgeny Titov besucht: Man

Platz, jeder ist in seine Einsamkeit zurückge-

hassgeliebte Abbie. Diese okkupiert wie ein

wird auf einen verblüffend in sich geschlosse-

worfen. Anstelle der Zukunftspläne der Jun-

mythisches Vogelwesen mit manipulativ vita-

nen ästhetischen Kosmos von höchster Ei-

gen tritt ein erbitterter Kampf um die Erbfol-

lem Zauber fast gleichzeitig alle Ebenen und

genart treffen. Und unerbittlich in den Spie-

ge.

dunkle

Nischen der steinernen Spielflächen. Mit der

gel der eigenen Emotionen blicken müssen.

Familien-Geheimnisse, Lust auf Verbotenes

komplizierten Vereinigung der Liebenden

Alles andere ist kaum vorhersehbar.

sowie auf finale Selbstermächtigung vermen-

wider Willen schenkt uns der Abend einen ­

Animalisches

Begehren,


auftritt

/ TdZ April 2022 /

Höhepunkt an malerischer Bildsprache: im ausgedehnt choreografierten Balztanz, der

SCHWEDT

Abbies lebendig blühendweißes Fleisch unter lang rotflammendem Haar wollüstig über die düsteren Felsen schmelzen lässt, während

vaggio-hafter Schönheit ersehnt. Der tatsächlich sichtbare Auftritt des Geistes von Ebens verstorbener Mutter in Gestalt der Sopranistin

polnische Klischees, obwohl Mikolaj Grabowskis Inszenierung den von Stasiuk themati­

Aller Seelen

Noah Saavedras feinziselierte Muskulatur die Kopulation mit ihr in vollkommener Cara-

studiert. Es gab viel zu lachen über deutsch-

sierten Organhandel im Ost-West-Transfer keinesfalls unterschlug. Das Stück geriet in Vergessenheit, Stasiuk freilich nicht.

UCKERMÄRKISCHE BÜHNEN SCHWEDT: „Nacht“ von Andrzej Stasiuk Regie Jan Jochymski Ausstattung Sophie Lenglachner

Nun, in Schwedt, ein paar Hundert Meter von der Grenze zu Polen, wurde das Stück wiederentdeckt. Dort waren Autodiebe lange ein großes Thema, reiche Juweliere wohl eher nicht. Aber die deutsch-polnische Nachbar-

Dora Garcidueñas – ein schauspielerischer wie gesanglicher Gänsehautmoment. Oliver

schaft und deren wechselseitige Wahrnehmung

Stokowski als trotzig verkrusteter Ephraim

Als Andrzej Stasiuks erstes Stück 2005 in Kra-

ist in dieser Gegend Alltag, und man durfte ver-

­Cabot fasziniert durch kämpferisches Behar-

kau und Düsseldorf in Koproduktion uraufge-

muten, dass Stasiuks geniale Groteske von der

ren im Falschen, mit wunderbar poetisch ver-

führt wurde, standen die komischen Aspekte

operativen Verbindung einer slawischen Seele

störenden Mitteln, unvergesslich das kantig-

dieser „slawo-germanisch medizinischen Tra-

mit einem deutschen Biedermann eine andere,

seltsame eigensinnige Tänzchen, das die

gikfarce“ im Vordergrund. Der Autor, vom lite-

vielleicht aktuellere Interpretation erfährt.

jüngeren Generationen das Fürchten lehrt.

rarischen Naturell her kein Dramatiker, aber

Jan Jochymski konzentriert einerseits

„Gier“ (unter Ulmen) mag an der Ober-

ein sarkastischer Beobachter der post-sozialis-

auf den präzise, aber auch komisch erzählten

fläche als eine Materialismus-Kritik daher-

tischen Umbrüche und dafür ein hinreißender

medizinischen Handlungsstrang mit den bei-

kommen, darunter aber liegt – und vor allem

Reise-Essayist, hatte für „Nacht“ die originelle

den Ärzten (Ines Venus Heinrich und Bern-

bei Titov – eine Geschichte über Traumatisie-

Idee, dass nach einem verunglückten Ein-

hard Schnepf) am Bett des Transplantations-

rung und tiefes Misstrauen. Jede dieser

bruch bei einem deutschen Juwelier diesem

patienten, der in Gestalt und Habitus von

grundverzweifelten Figuren bietet lieber sich

das Herz eines polnischen Autodiebs einge-

Udo Schneider nicht wie ein Juwelier von der

selbst oder das, was sie besitzt, dem anderen

pflanzt wird. Der Schmuckhändler erschoss

Düsseldorfer Königsallee wirkt, sondern tat-

als Handelsware an, bevor sie es riskiert, sich

den ausnahmsweise mal das Fach wechseln-

der Kraft ihrer Gefühle unmittelbar auszu­

den Einbrecher und erlitt dabei einen tödli-

liefern. An dieser Sollbruchstelle scheitert

chen Herzinfarkt, Letzterer stand nun gleich

zwangsläufig blutig die Erfüllung jeglicher

als Organspender zur Verfügung. Nach erfolg-

emotionalen oder spirituellen Sehnsucht. Das

reicher Transplantation empört sich der Deut-

harte Stoffliche ist die „sichere Bank“, die

sche über die ihm unbekannte, aber durchaus

Immobilie wird weit vor das ungewiss flattern-

verdächtige Herkunft seines neuen Herzens.

de, verwundbare Herz gestellt. //

Die Ärzte versuchen, ihn zu beruhigen, der Dora Dorsch

Mann habe ja immerhin deutsche Literatur

Was von Westlichem und Östlichem lässt sich gerade an der Oder zusammenfügen? Adele Schlichter als Seele und Fabian Ranglack als Dieb an der sich drehenden Scheibe auf der Bühne der Inszenierung von „Nacht / Noc“ von Andrzej Stasiuk in der Regie von Jan Jochymski an den Ucker­märkischen Bühnen Schwedt. Foto Udo Krause

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auftritt

/ TdZ April 2022 /

sächlich eher wie der Chef einer Firma für

Nützlichkeit der Dinge, oder schlimmer noch,

Feuerkopf, Zweifler, Wanderer, Hymniker,

Innenausbau im Brandenburgischen, die ihn

Organe geben für den materiellen Erhalt einer

Sprachschöpfer, sanfter Rebell – irgendwo

voller Sorgen überfordert hat. Die Ärzte rufen

spirituellen Verfasstheit? Die Premiere ein

dazwischen liegt das, was wir Friedrich Höl-

immer wieder „Brave Heart!“, als wär’s ein

paar Tage vor der Invasion hat Jochymskis da-

derlin nennen. Ganz groß sollte 2020 sein

Erkennungszeichen, und der Regisseur macht

für sensible Inszenierung zumindest so sehen

250. Geburtstag gefeiert werden, mit allem

klar, dass hier auch ein bisschen Klamotte

lassen. Am Ende liegen der Mann mit dem

Drum und Dran, mit „Pallaksch“-Nächten

steckt, über die man lachen kann. Der Dieb in

neuen Herzen und sein Retter, der mit seiner

und Hölderlin-App, mit Schlagzeilen wie „Ra-

der Darstellung von Fabian Ranglack läuft vor

Seele kraftvoll verbunden bleibt, in einem

dikal, genial, geisteskrank“. Die Vita des

allem in den poetisch konternden Szenen mit

Bett. Das ist eine nicht nur in Schwedt gute

Dichters, der mit Hegel und Schelling eine

seiner eigenen Seele (Adele Schlichter) zu

Perspektive für die Wiederentdeckung von

WG des wilden Denkens bildete und dann 36

großer Form auf – womit sich über die einfa-

Stasiuks Drama-Debüt. //

Jahre „geistig umnachtet“, wie es damals Thomas Irmer

chen Klischees hinaus das Stück zu seinem

hieß, in jenem Tübinger Turm am Neckar ver-

eigentlichen Thema entwickelt, nämlich was

brachte, der heute Touristen-Hotspot ist – sie

von Westlichem und Östlichem sich gerade

gilt noch immer als vermarktbares Faszino-

an der Oder zusammenfügen lässt.

sum, garniert mit Best-of-Zitaten à la „Wo

Dazwischen werden die von Stasiuk als Weitung der Perspektive geschriebenen Chorszenen von dem ganzen Fünfer-Ensemble in der Dopplung mit lebensgroßen weißen Pup-

TÜBINGEN Ich heiße Scardanelli

sum deklamiert. Das wirkt zwar etwas steif und die Komik bremsend, aber Jochymski öffnet hier damit auch die eigentliche Dimension, die Stasiuk dem Stück als Problem von Europa mit eingeschrieben hat. Geht es nur um einen Tausch, Seele gegen Wert und

Verlängert bis Juni 2021, fanden trotz Pandemie bundesweit rund 500 der geplanten 700 Veranstaltungen statt, vieles freilich musste ein-, zweimal verschoben werden.

pen als Publikumsansprache über Totes und Lebendiges, Ost und West, Organe und Kon-

aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

LANDESTHEATER TÜBINGEN: „Im Thurm“ von Markus Höring (UA) Musikalische Leitung Philipp Amelung Regie Thorsten Weckherlin Bühne Martin Fuchs Kostüme Bernadette Weber

Zum Beispiel die Kammeroper „Im Thurm“, die erst jetzt mit eineinhalb Jahren Verspätung am Landestheater Tübingen (LTT) zur Uraufführung kam. Hölderlin, der viel Vertonte – auf die fließende Grenze zwischen Sprache und Musik deutet auch sein Diktum „Bald sind wir aber Gesang“. Vor allem die

5.—8. Mai 2022

DE / PL

Freiluft Puppentheater Bautzen / budy in festival

www.theater-bautzen.de

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auftritt

/ TdZ April 2022 /

Kammeroper im Theater: Johanna Pomm­ ranz und La Banda Mordern in der Inszenierung von „Im Thurm“ von Markus Höring, Musikalische Leitung Philipp Amelung in der Regie von Thorsten Weckherlin. Foto Martin Siegmund

Moderne ließ das Dunkle, das Fragmentari-

ten“. Am LTT trägt der Protagonist seinen

sche seiner Texte Klang werden: Eisler, Hen-

Nicknamen „Höldi“ in Großlettern auf dem

ze, Zender oder Rihm. Das 90-Minuten-Opus

Rücken: Johannes Fritsche gibt ihn mit kraft-

„Im Thurm“, dessen Text und Musik der

vollem Bariton als glühenden Poeten, der

Münchner Tonsatzlehrer Markus Höring ver-

hier, ganz im Sinne der freiheitlichen Streit-

fasst hat, verzichtet auf philosophisches Rau-

schrift „Das älteste Systemprogramm des

nen, kommt eher lyrisch fein gesponnen da-

deutschen Idealismus“, an der auch Hölder-

her. Die Life-Work-Balance Hölderlins wird

lin beteiligt gewesen sein soll, als Kraftzent-

lehrplantauglich entlang von Originaltexten,

rum agiert. Dabei geht die Regie keineswegs

duett Papierschwalben steigen lässt: kleine

Zitaten und Dokumenten erzählt, als Bogen

humorfrei zur Sache. Dichterfürst Goethe,

Fluchten aus ständischen Zwängen.

zwischen Aufbruch und Heimkehr, gegliedert

Vorsicht Kalauer, tritt in alberner Pudelperü-

Die Musik? Bleibt stets in der Komfort-

in vier Lebensalter. Der regieführende LTT-

cke auf und rät dem armen Hölderlin hochnä-

zone einer erweiterten Tonalität, bewegt sich

Chef Thorsten Weckherlin mischt das zuwei-

sig „Mach Er lieber Kleines“, um ihn dann

stilpluralistisch zwischen Renaissance-Madri-

len betuliche Setting von Anfang an kräftig

mit „Faust“-Handschuhen in die Flucht zu

gal, flämischer Vokalpolyphonie, aparten De-

auf. Während die Ouvertüre warnende Trito-

boxen. Auch Klamauk darf sein, wenn Hölder-

bussy-Mixturen und ostinaten Schostako-

nus-Motive und freudige Beethoven-Anmu-

lins Mutter ihrem „Fritzle“ die Weigerung,

witsch-Grotesken. Mozarts KV 333 wird zitiert

tungen kunstvoll verwebt, sitzt die Hauptfigur

Pfarrer zu werden, wie eine Exorzistin mit er-

und gerät als Goethe-Soundtrack entlarvend

noch im Publikum. Alsbald wird sie die pa-

hobenem Kruzifix austreiben will. Splatterig

in Schieflage. Ab und zu kräht die „Marseil-

pierübersäte Bühne entern, um – als Prolog

wird es gar, wenn Jakobinerfreund Sinclair

laise“ dazwischen. Famos agieren unter Phil-

im Turm, umgeben von Anstaltsinsassen – ihr

den Feingeist Höldi mit einem abgehackten

ipp Amelungs expressiver Leitung neben Frit-

verrätseltes Alter Ego „Ich heiße Scardanel-

Kopf aus der Guillotine schockiert. Später

sche das Ensemble La Banda Modern, ein

li!“ in die Welt zu brüllen. „Verrückt“, so zeigt

wird Hölderlin selbst als Psychiatrie-Fall für

starkes Vokalquartett, Johanna Pommranz als

es die Regie, ist nicht der Dichter, sondern

„Raserey“ und „Manie als Nachkrankheit der

Susette mit zartesten Höhen sowie Patrik

die Gesellschaft. Das erinnert an das früher

Krätze“ vorgeführt: geknebelt in der Hanni-

Hornák und Aline Quentin. Farbenreiche

am realen Tübinger Turm prangende Graffito

bal-Lecter-haften Gesichtsmaske aus der

­Musik, zupackende Regie. Der Geburtsjahr-

„Der Hölderlin isch et verruckt gwä“, ein

Werkstatt des Dr. Autenrieth. Doch immer

Trubel ist verrauscht, Hölderlin bleibt – ein

schwäbisches Echo auf Pierre Bertaux‘ einst

wieder beflügeln magische Momente, wenn

bewegliches Bild. Immer anders. //

sprengkräftige These vom „edlen Simulan-

Fritz mit Susette im terzenseligen Liebes­

Otto Paul Burkhardt

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/ TdZ April 2022 /

Magazin Text und Schlagwerk Volker Brauns Langgedicht „Luf-Passion“ in der Berliner ­Akademie der Künste Die Königin Gabriela Maria Schmeide erhält den Tilla-DurieuxSchmuck und Luk Perceval laudatiert Cyberhexen gegen Antiziganismus ­Netzwerk für Roma-Theatergruppen wächst in Ungarn West-Balkan-Blues Der Kosovo Theatre Showcase in Pristina spiegelt die Probleme der Region Große Träume – kleines Theater? Der sardische Theatermacher Ignazio Chessa Der Schattenmagier Hansueli Trübs Schattentheater in Aarau Große Fragen, nicht nur für junges Publikum Das 3. jungspund Festival der Schweizerischen Kinder- und Jugendtheaterszene in St. Gallen Bücher Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron; Peter Michalzik: Horváth Hoppe Hitler


magazin

/ TdZ April 2022 /

Text und Schlagwerk Volker Brauns Langgedicht „Luf-Passion“ in der Berliner Akademie der Künste­ Das Luf-Boot aus Papua-Neugui-

demie der Künste mit diesem Text

nea, ein Ende des 19. Jahrhun-

beschäftigt und ihn jeweils zur

derts aus einem einzigen Stamm

Aufführung

gefertigtes Langboot mit zwei Se-

Karge, ein Altmeister des politisch

geln und einem Ausleger, ist zum

aufrührerischen Theaters in den

Symbol der Aufarbeitung deut-

siebziger (DDR) und achtziger

scher Kolonialgeschichte und ih-

(BRD) Jahren, ließ die „Luf-Passi-

rer unklaren Darstellung in ethno-

on“ von vier Schau­ spieler:innen

logischen Sammlungen geworden.

(Claudia Burckhardt, Hans-Jörg

Als Prachtstück im neu eröffneten

Frey, Jörg Thieme und Felix Tittel)

Berliner Humboldt Forum, in das

als szenische Lesung feierlich

es aus den bis in die Kaiserzeit

ernst vor Pulten im Plenarsaal vor-

zurückreichenden Sammlungen in

tragen. Mit dem Einfallsreichtum

Berlin-Dahlem gebracht wurde,

des Perkussionisten Günter „Baby“

sollte es auch die hochstehende

Sommer, dem Braun den Text im

Pflege und Bewahrung des Welt-

Druck widmet, wurde das immer-

kulturerbes repräsentieren. Vor

hin eine Performance in Nachfol-

der Umsetzung wurde das 15 Me-

ge der lange schon ausgestorbe-

ter lange Holzboot „entwest“, das heißt von Ungeziefer und anderem Befall gereinigt, und anschließend durch eine eigens dafür verbliebene Öffnung in den jetzigen

Ausstellungsraum

ge-

schoben. Mit der Er­ öffnung des

gebracht.

Manfred

nen Aufführungsform ‚Jazz und Der Perkussionist Günter „Baby“ Sommer, dem das Langgedicht im Druck gewidmet ist, in der Szenischen Lesung von „Luf Passion“ in der Akademie der Künste. Foto links: „Wir müssen aufhören aufhören / Auf Nacken von andern zu knien / die nicht atmen können“: Das Foyer der Akademie der Künste wurde von Thomas Heises Projekt „Notizen“ beschrieben. Fotos gezett.de

Der Historiker Götz Aly bestritt in sei-

dagegen zusammen mit drei in blauen Overalls gekleideten Schau­ spielstudent:innen (Jakob Gühring, David Rothe, Laura Talenti) den vollständigen Text in zwei Tagen

Humboldt Forums war es somit eingemauert – und die Diskussion begann.

­Lyrik‘. Der Filmemacher und Theaterregisseur Thomas Heise hat

ten Teil der deutschen Kolonialgeschichte

auf den Boden des Foyers in trittfester weißer

dort erweitert.

Farbe schreiben lassen, die letzten Zeilen „Wir müssen auf­hören aufhören / Auf Nacken

nem kurz vor der offiziellen Eröffnung er-

Volker Braun hat in seinem 18-teiligen

schienenen Buch „Das Prachtboot“ (Mai

Zyklus „Luf-Passion“ die Geschichte dieses

von andern zu knien / Die nicht atmen kön-

2021) einen irgendwie rechtmäßigen Erwerb

letzten Boots seiner Art als komplexe Be-

nen“ fließen sogar vor den Eingang auf die

des Boots von seinen Erbauern, deren

standsaufnahme für die Gegenwart bearbeitet

Straße. Hin zu den fast täglich auf dem Platz

­kleines Volk der Lufiten im kaiserlich koloni-

und dabei zum Teil aus den gleichen Quellen

vor der Akademie stattfindenden Protesten

sierten Bismarck-Archipel nach Angriffen,

wie Aly geschöpft. Auch der Gegenstand der

gegen einen neuen Kolonial-Krieg. //

Verschleppung zur Zwangsarbeit und Krank-

Aneignung, das Boot „ist in meine Hände

heiten zum Untergang verurteilt war. Ent-

übergegangen“, fehlt nicht. Doch Brauns Rie-

scheidend ist die Formulierung des Ge-

senmontage – er zitiert andere Dichter:innen

schäftsführers

Handelsgesellschaft

von Sibylla Schwarz bis Ann Cotten – geht

Hernsheim & Co., Max Thiel, dass das Boot

über den Zweifel des Historikers weit hinaus.

„in meine Hände übergegangen“ sei. Kauf-

Sie behandelt nicht nur die museumspoliti-

belege und dergleichen gibt es nicht, aber

schen Fragen von Provenienz und Restitution

wie Thiel die Verschiffung des Boots nach

oder, wie auch Aly deutlich macht, einen

Deutschland organisierte und an die Berliner

ahnungslosen Umgang mit der verdrängten ­

Sammlungen verkaufte, ist gut dokumen-

Vergangenheit. Bei ihm kann der letzte Kapi-

tiert. All das spielt nun in die Diskussionen

tän des Boots Lumumba heißen und in den

um Raubkunst mit hinein – und hat das Feld

Kongo fahren.

der

von den kolonialen Schauplätzen Afrikas in

Auf zwei ästhetisch völlig verschie­

die Südsee und in den noch wenig bekann-

denen Wegen hat sich nun die Berliner Aka-

Thomas Irmer

n!

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magazin

/ TdZ April 2022 /

Die Königin Gabriela Maria Schmeide erhält den Tilla-Durieux-Schmuck und Luk Perceval laudatiert in Zolas „Bestie Mensch“. Ich kenne nur

In einer Zeit, in der immer mehr Druck auf

eine, die das kann, und das bist du. Und da

unseren Schultern lastet, ist es eine tägliche

es ist mir eine besondere Ehre, heute anläss-

habe ich noch nicht einmal dein unübertrof-

Aufgabe für jeden von uns zu entscheiden,

lich des Tilla-Durieux-Schmucks eine Laudatio

fenes Multitalent als Sängerin, Filmschau-

welche Seite des Lebens wir sehen wollen.

auf dich zu halten. Eine ganz besondere Ehre,

spielerin und die unzähligen verschiedenen

Die hoffnungsvolle Seite oder die desillusio-

für die ich im Planungschaos dieser postpan-

Rollen, die du für andere Regisseure gespielt

nierte Seite. Die Entscheidung für die Hoff-

demischen Zeit alles stehen und liegen gelas-

hast, erwähnt.

nung, für die Freude, für die Fantasie, für den

Liebe liebste Gabriela,

Aber dein begnadetes Talent ist nicht

Glauben an die Menschheit ist zu einem poli-

Es ist nicht nur eine Ehre, weil ich dein

der einzige Grund, warum ich dankbar bin,

tischen Akt geworden. Trotz des Schmerzes

besonderes Talent loben kann: weil du die

diese Laudatio halten zu können. Was mir in

an die Kraft des Lebens zu glauben, an die

einzige Schauspielerin bist, die ich kenne,

all den Jahren unserer Zusammenarbeit am

Intuition und an die Kreativität. Trotz ihrer

die es schafft, in ein und derselben Vorstel-

meisten in Erinnerung geblieben ist, und was

Verzweiflung, ihrer von Angst getriebenen

lung, an ein und demselben Abend, dem Pu-

meiner Meinung nach auch das Geheimnis

Dummheit an die Menschheit zu glauben. In

blikum Tränen des Lachens und auch des

deines großen Talents ist, ist deine Freude am

jedem Augenblick die Möglichkeit in der Un-

Schmerzes zu entlocken. Oder wie du in „Je-

Spielen, deine Freude daran, dich auf die Su-

möglichkeit zu sehen, das ist dein großes

der stirbt für sich allein“ mit dem Abschieds-

che nach dem Unbekannten zu begeben, auf

­Talent, liebe Gabriela, deshalb verdienst du

monolog von Frau Rosenthal das Theater in

die Suche nach Imagination, auf die Suche

nicht nur dieses „Tilla-Durieux-Collier“, son-

eine ohrenbetäubende Stille gehüllt hast und

nach Verbindung mit deinen Kollegen und

dern bist du für mich die Königin der Köni-

eine halbe Stunde später mit Kriminalrat Zott

dem Publikum. Wenn ich an unsere oft inten-

ginnen, die Mutter der Mütter von Hamlet. //

das Publikum zum Lachen brachtest. Wer

sive Zusammenarbeit zurückdenke, erinnere

kann das schon? Wer verbindet so viel Ironie

ich mich vor allem an die Freude an der Ar-

mit so viel Abgründigkeit? Unvergesslich ist

beit, die Freude an der Entdeckung, die Freu-

deine Interpretation des Zerfalls der gutherzi-

de an dem „Nicht-Wissen“, an der Suche

Dein Luk P.

gen Gervaise zur alkoholkranken Straßenratte

nach der reinen Freude des Schaffens.

Hamburg, 4. März 2022

sen habe, um nach Hamburg zu kommen.

Gabriela Maria Schmeide bei der Preisverleihung des Tilla-Durieux-Schmucks am Thalia Theater Hamburg. Foto Peter Bruns

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Cyberhexen gegen Antiziganismus Netzwerk für Roma-Theatergruppen wächst in Ungarn Der Entwurf einer romafuturistischen Cyber-Zukunft: Zita Moldovan, Augustina Iohan, Fatma Mohamed und Miahela Drăgan in der Inszenierung „Romancen“ am Giuvlipen Theater. Foto Augustina Iohan

Science-Fiction, Historie und Hexenkunst

romani Frauen sichtbar macht und zugleich

verbinden sich im Giuvlipen Theater zu einer

eine positive Gegenerzählung, wie die der

radikalen Neuerzählung von Vergangenheit

romafuturistischen Cyberhexe, entstehen lässt.

und Zukunft. Roma Futurism ist die spekula-

In ihren letzten Produktionen behandelte das

tive Fabulation eines kommenden Lebens,

Kollektiv den Holocaust in Rumänien, dem

das romane Stereotypen verkehrt und zur

25 000 Roma zum Opfer fielen, die Hyper­

kraftvollen Wiederaneignung in Stellung bringt.

sexualisierung von Romani-Frauen und in

Der Wunsch, Gemeinschaftlichkeit in einem

„Romacen“ von 2019 den Entwurf einer

unabhängige Theatergruppe großen Wert auf

Phenjalipen, einer Schwesternschaft, zu or-

roma­futuristischen Cyber-Zukunft.

Nachwuchsförderung. In „Tollfosztás“, einer

ganisieren, steht im Zentrum des Konzepts

Seit einigen Jahren engagieren sich die

Inszenierung über die Morde an Rom:nja

von Mihaela Drăgan. Entwickelt während ei-

Künstlerinnen von Giuvlipen für ein staatlich

durch Rechtsextreme, spielen und erzählen

ner Residenz im Para Site Art Center in Hong-

gefördertes Theater, das der rumänischen

fünf Kinder geträumte und erlebte Abenteuer,

kong, ist der mit Afro- und Sinofuturism ver-

Minorität gewidmet sein soll. Moldovan sieht ­

die

wandte Entwurf ein Hybrid aus Verwünschung,

darin ein starkes Statement für Rom:nja, die

schließlich mit ihrem Tod enden. Das Projekt

Manifest und magischem Realismus, der sich

sich oft nicht als solche bezeichnen, um sich

sollte keine einmalige Zusammenarbeit blei-

im Wirken der rumänischen Theatergruppe

vor Antiziganismus zu schützen. Auf dem Weg

ben. Balogh und das Independent Theatre

als Forderung artikuliert.

zu mehr Selbstrepräsentation auf der Bühne

Hungary arbeiteten daran, einen nachhaltigen

2015 gründeten Drăgan und Zita Mol-

wächst in Europa ein Netzwerk aus Theater-

Eindruck im Leben der jungen Menschen zu

dovan das romani Kollektiv und benannten es

gruppen, die ihre Expertise in Koproduktionen

hinterlassen, indem sie professionelles Wissen

mit einem Neologismus. Sie kombinierten

und internationalen Festivals teilen. Jährlich

teilten und Bildungswege öffneten. Für Emília

das Romanes-Wort für Frau, Giuvli, mit Pen,

begegnen sich romane Kompagnien beim Roma

Lovas begann so vor 13 Jahren ihre Schau-

das Schwesternschaft oder schwesterliche

Heroes Festival in Budapest, das 2017 vom In-

spielkarriere, das Debüt als Regisseurin wird

Solidarität bedeutet, und schufen so einen

dependent Theatre Hungary gegründet wurde.

sie beim Roma Heroes Festival 2022 feiern.

durchsetzt

von

rassistischer

Gewalt

Begriff für Feminismus. Diese Neukreation

Die von Rodrigó Balogh geleitete G ­ ruppe

Strukturelle Diskriminierung und die

bereicherte die Sprache und findet nun über

kämpft in Ungarn gegen den strukturellen Anti-

damit verbundene Armut macht es Rom:nja

die Gruppe hinaus Anwendung. Ihre gemein-

ziganismus, indem sie Rom:nja als dramatische

häufig sehr schwer, in akademische und

same Arbeit antwortete auf die Notwendig-

Helden erzählt. Auf den institutionellen Büh-

künstlerische Ausbildungsstätten zu gelangen.

keit, einen Raum für romane Schauspielerin-

nen tauchen oft nur rassistische Stereotypen

Die in Ungarn im April anstehenden Wahlen

nen und Schauspieler zu schaffen, wo sie

auf, die keine eigene Handlungsmacht haben.

lassen kaum Hoffnungen aufkommen, meint

über ihre Geschichte und Kultur, Probleme

Schauspieler und Regisseur Balogh erfüllte es

Rodrigó Balogh. Oppositionskandidat Péter

und Ideen sprechen können. Hinzu kommt

mit Scham, immer wieder mit diesen diskrimi-

Márki-Zay, der gegen den rechtskonservativen

der Fokus auf feministische und tabuisierte

nierenden Figuren konfrontiert zu werden.

Viktor Orbán antritt, ist ein konservativer Ka-

Themen, der die doppelte, also antiziganis­

Damit seine selbstverfassten Dramen

tische und sexistische Diskriminierung von

von Rom:nja gespielt werden können, legt die

tholik, der keine Verbesserungen für Rom:nja durchsetzen will. //

Lara Wenzel


magazin

WestBalkanBlues Der Kosovo Theatre Showcase in Pristina spiegelt die Probleme der Region Theaterkunst trägt in sich Elemente der

„The Return of Karl May“, produziert ge­

spieler Svetozar Cvetković als schrulliger Poet

­Arbeit des Sisyphos. Während sich Thea­ter­

meinsam mit der Volksbühne Berlin, ging

gezeichnet. Als weiteres zeitgenössisches Ele-

künstler:innen aus Kosovo und Serbien für

auf wechselseitige Klischeebildungen von

ment darf man die Entscheidung werten, Aga-

gemeinsame Produktionen treffen und dabei

Deutschland, Albanien und Kosovo ein.

memnon-Sprößling Orest als schwul zu insze-

die alten Kriege aufarbeiten, wirkt der Krieg

Für einen ganz besonderen Moment

nieren. Er trifft als urban geprägter Re-Migrant

in der Ukraine wie ein Spaltpilz in beiden

sorgte die zyprische Compagnie Pocket Thea­

im eher rückständig wirkenden Motel ein. Sein

Ländern. Kosovo drängt in die Nato, während

tre mit der Produktion „Madeleine’s Incident“.

Liebhaber ist ein motorisch hyperaktiver Mo-

Serbien wieder näher an das Russland des

Darin ging es um eine Roma-Familie, die aus

dern-Dance-Lehrer mit einem Studio in Berlin.

Wladimir Putin heranrückt.

Deutschland ausgewiesen wird und deren Kind

Immer wieder wirbt er bei Mitspielern und Pu-

Es ist ein Jammer. Viel Wegstrecke ist

einen schweren Unfall erleidet. Es darf zur Be-

blikum für Workshops und verspricht Trauma-

bereits zurückgelegt auf dem Balkan. Als Be-

handlung nicht zurück nach Deutschland. Die

Bearbeitung und Persönlichkeitsentwicklung

leg dafür kann das Kosovo Theatre Showcase

Geschichte um verweigerte Hilfeleistung vor

durch Bewegungstraining. Sein Berliner Tanz-

in der Hauptstadt Pristina gelten. Zum vierten

Ort, um Visa, die nicht ausgestellt werden, um

studio ist eine Metapher für die vielen, und

Mal fand er im letzten Herbst bereits statt. An-

administrative Hartherzigkeit ganz allgemein

vielfach kritisierten, Zivilisierungsaktivitäten

fangs handelte es sich bei dem Festival vor

kann sich so in Zypern abspielen, wo das

des Westens in der Balkanregion allgemein.

allem um eine Präsentation der freien Compag-

Stück aufgeführt wurde, im Kosovo, wo es

„Viele dieser internationalen Hilfskräfte haben

nie Qendra Multimedia. Sie hat sich seit dem

­Autor Neziraj zunächst ansiedelte, aber auch

eine Söldnermentalität. Sie gehen von Krisen-

Jahre 2002 um den umtriebigen Dramatiker

in vielen anderen Ländern nicht nur des Balkans.

ort zu Krisenort und kennen sich nur ober-

Jeton Neziraj entwickelt und erarbeitete sich

Herzstück des Festivals war allerdings

flächlich mit der Situation vor Ort aus. Sie

wegen ihres kritischen Blicks auf Krieg, Nach-

die Neuproduktion von „Balkan Bordello“.

treten dabei mit dem Selbstverständnis auf,

krieg und Korruption sehr viel Respekt. Sie zog

Dramatiker Neziraj verlegt hier die Kriegs-

die angeblich wilden Balkanvölker z­ ivilisieren

sich aber auch viel Gegnerschaft zu, vor allem

heimkehrer-Handlung der „Orestie“ in ein

zu müssen“, kritisiert Neziraj.

vonseiten der organisierten kosovarischen

heruntergekommenes Motel in einem nicht

„Balkan Bordello“ wurde auch in Bel-

Kriegsveteranen. Die störten immer mal wieder

näher bezeichneten Land. Es kann sich auf

grad aufgeführt. Im März und April geht es auf

Vorstellungen. Sie schrieben allerdings auch

dem Balkan, aber auch in Westeuropa befin-

Tournee in die USA – und ist plötzlich hyper­

eigene Kritiken zu seinen Stücken – und traten

den – überall dort, wohin traumatisierte und

aktuell. „Nun wird das Publikum in Agamem-

so in einen sehr ungewöhnlichen Diskurs ein.

bestialisierte Kriegsteilnehmer so heimkeh-

non wahrscheinlich Putin erkennen“, mut-

In späteren Jahren diente das Festival

ren. Die Besetzung ist international. Die Aga-

maßt Neziraj. So wie sich die Dauerperformance

stärker der Vorstellung und Vernetzung koso-

memnon-Figur wird von George Drance,

des Sisyphos mit immer neuem Sinn auflädt,

varischer und albanischer Theaterkünstler:in­

einem Schauspieler des kooperierenden La ­

so werden auch alte Kriegsstücke in neuen

nen. Die letzte Ausgabe hatte dann den gan-

MaMa Theatre aus New York verkörpert. Der

Konfliktszenarien auf einmal tagesaktuell.

zen Balkan sowie die Diaspora im Blick. In

sich spreizende Warlord, der gerade aus

Das ist kein Trost, aber doch ein An-

Zusammenarbeit mit dem Theater Winkelwie-

Afghanistan, Syrien, dem Irak oder warum ­

sporn fürs Weitermachen. Ein Spin-off des

se Zürich und dem Schlachthaus Theater

nicht der Ukraine heimkommen mag, wird

Festivals, das Kunst und Künstler:innen aus

Bern wurden etwa der Alltag kosovarischer

von Ehefrau Klytemnestra (Onni Johnson,

der Balkanregion in die Welt tragen, und zu-

Migranten in der Schweiz („The Double Life“)

ebenfalls vom La MaMa) kühl ins Jenseits ge-

gleich die Theaterwelt auf den Balkan brin-

und auch die dortige Untergrundarbeit für

schickt. Ihr Partner im Gattentöten, Aigisthos,

gen soll, ist die englischsprachige Theater­

die UÇK („Swiss Connection“) aufgearbeitet.

wird vom in Belgrad sehr bekannten Schau-

kritikplattform seestage.org. // Tom Mustroph

Kriegsstücke in neuen Konfliktszenarien auf einmal tagesaktuell: „Balkan Bordello“ am Qendra Mulitimedia in Pristina. Foto Ferdi Limani

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magazin

/ TdZ April 2022 /

Große Träume – kleines Theater Der sardische Theatermacher Ignazio Chessa Im Norden Sardiniens, in der Stadt Olbia,

essen, oder das Stück „Rut“, inszeniert von

wurde vor zwei Jahren ein gigantischer Thea-

Nicola Bremer, hatte seine italienische

terbau errichtet. Der Architekt Giovanni

Premiere auf Sardinien. Mit seinem neuen ­

­Michelucci hatte am Meer drei Theaterhäu-

Stück „Fucilate l’artista (Erschießt den

ser, Laboratorien und Werkstätten sowie ei-

Künstler) trat er auf der großen Bühne des

nen Leuchtturm geplant. Zwei Jahre nach

Theaters von Cagliari auf und geht im Früh-

seinem Tod wurde das Haus eröffnet, aber nie

jahr 2022 auf Lateinamerika-Tournee. Das

bespielt. Die Vorstellungen im Anfiteatro

alles darf nicht darüber hinwegtäuschen,

­Michelucci lassen sich an einer Hand abzäh-

dass die Bedingungen, unter denen Theater-

len. Das Management wechselte, keiner weiß,

macher in Italien und Sardinien leben, in der

was man mit so einem Komplex anfangen

Post-Berlusconi-Zeit immer noch prekär, ig-

soll. Aus der Presse ist das große, weiße Haus

norant und verachtend sind. Der Medienver-

verschwunden, im Bewusstsein der Bevölke-

brecher Berlusconi hat viele Theater ge-

rung war es nie angekommen, die Gelder, die

schlossen, und dabei ist es auch geblieben.

von der EU zur Verfügung gestellt wurden,

Im Februar landete Ignazio Chessa ei-

teilen sich Bauunternehmer und Berater.

nen Coup. Er dramatisierte den Roman „La

Hingegen fehlt es den Theatern Sardi-

madre“ der sardischen Literaturnobelpreis-

niens überall am Geld. Die freie Szene er-

trägerin Grazia Deledda (1871–1936), deren Werk in Sardinien bis heute in Buchläden

nährt sich selbst, die Künstler arbeiten in der Gastronomie. Sie sind der rechten Regionalregierung ohnehin ein Dorn im Auge und gelten als Überbleibsel des Kommunismus und der Dekadenz. Ignazio Chessa lebt seinen künstlerischen Gegenentwurf mit viel Humor.

Ein Coup: die Dramatisierung des Romans „La madre“ der sardisches Literaturnobel­ preisträgerin Grazia Deledda in der Insze­ nierung des sardischen Theatermachers Ignazio Chessa. Foto Gianfranco Jeff Pisoni

und Tankstellen ausliegt. Deledda ist ein gefallener Engel, aus gutem Hause, aus der dunklen Stadt Nuoro, ihr Herz und Talent ganz nah an den Armen, bei den Knechten und Mägden und später leider auch bei Mussolini. Wenige Schriften sind ins Deutsche über-

Er betreibt das kleinste Theater Sardiniens und, bevor es einen Gegenbeweis gibt, sogar

Chessa singt und tanzt, dreht Filme und mit

setzt: „Cenere“, (Asche), „Canne al vento“,

der ganzen Welt.

Musikern wie der Gruppe Tazenda im Gefängnis

(Schilf im Wind) oder „La madre“ (die Mutter).

Lo Teatrí: 38 Plätze, mitten in Alghero,

von Sassari. Er macht die Werbung selbst, ver-

„La madre“ schildert 36 Stunden aus

der schönsten Stadt auf der Westseite der In-

teilt Flugblätter, gibt Theaterworkshops in

dem Leben des Priesters Paolo und seiner Ge-

sel, neben Sardisch wird Katalanisch gespro-

Schulen und Krankenhäusern. Als Junge hat er

liebten Agnes. Es ist ein Psychogramm tiefer

chen. Die Kinder der alten katalanischen Er-

Schafe gehütet, in den Bergen der Toskana. An-

Abhängigkeit. Der junge Priester bricht aus,

oberer sind glückliche Touristen. Chessa ist ein

ders als sein geistiger Bruder, der Schriftsteller

rebelliert gegen Mutter und Gott, da hat die

Tausendsassa, eine Figur, die einem sardi-

Gavino Ledda („Padre Padrone“) ist er kein vom

Liebe wenige Chancen. Der Roman ist auf eine

schen Märchen entsprungen sein könnte. Ein

Vater geschlagenes Kind. Er hatte Glück. Bei

Stunde und zehn Minuten Spieldauer redu-

frecher Mann, mit flinken Augen, zarten Hän-

der PCI (Partito Comunista Italiano) wurde Ig-

ziert, das tut ihm gut, wenig Pathos und viel

den und schnellen Bewegungen. Er schreibt

nazio Chessa zuständig für die Organisation von

Tempo. Die Spieler:innen arbeiten tagsüber als

und inszeniert Stücke über sardische Außen-

Kultur- und Theaterfesten, ein Sprungbrett für

Postbeamte und Verkäuferinnen, und Chessa

seiter, wie die mittelalterliche Richterin Eleo-

eine Ausbildung als Schauspieler bei der Scuo-

gelingt es, nicht in die Falle der Komik zu rut-

nora von Aborea, den kunstbegeisterten Grün-

la di Teatro MTM. Er schlug sich durch, fand

schen, wo ihn manche Zuschauer gerne sehen

der der Kommunistischen Partei Antonio

Theatermacher, Musiker, wie Chiarra Murru

würden. Das Thema mag in Nordeuropa über-

Gramsci, den Aristokraten Enrico Berlinguer,

oder Claudio Sana, die mit ihm spielten, kom-

holt sein, in Sardinien ist es aktuell wie selten

aber auch für Kinder über Guiseppe Verdi oder

ponierten, sodass seine Inszenierungen immer

zuvor. Davon zeugte auch eine Gruppe Franzis-

Gioachino Rossini. Samuel Beckett tauchte

musikalischer, feiner gesponnen, eine eigene

kaner, die die Premiere besuchte: ausverkauf-

von 1968 bis 1972 jedes Jahr in Alghero auf,

Theatersprache entwickeln.

tes Haus, stürmischer Beifall. Selbst der größ-

was liegt näher, als „Godot“ zu inszenieren,

Dann fand er den Laden, baute Garde-

te Skeptiker schien befriedigt: Der Intendant

und natürlich Dario Fo: „Der Dieb, der nicht zu

robe, Toilette, die Bühne, den Zuschauer-

des Teatro Astra war sprachlos. The beat goes

Schaden kam“. Mit diesem Stück debütierte

raum. Die sardische Rock- und Folkszene

on, Chessa zieht weiter, erst mal Lima, dann

er 1979 als Schauspieler in Rom.

unterstützte ihn, sie spielten für ein Abend­

die Welt. //

Christoph Nix

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Der Schattenmagier Hansueli Trübs Schattentheater in Aarau Was ist ein Mensch ohne Schatten? Nichts,

macht. Schon bald wird jedoch klar, dass die-

wie Adelbert von Chamissos „Peter Schle-

se Bestandteil eines Labors sind, in das

mihl“ schmerzlich erfährt. Man kann die Frage

Hansueli Trüb einlädt: Das Publikum soll aus

auch umgekehrt stellen: Was ist ein Mensch

nächster Nähe sehen können, wie Schatten

mit Schatten? Viel, wie Hansueli Trüb – eine

geformt und „gemalt“ werden.

Versuchslabor, in dem Schatten das Sagen haben: Hansueli Trüb in der Inszenierung „Shadows“ an der Bühne Aarau. Foto Chris Iseli

prägende Persönlichkeit des Schweizer Figu-

Hansueli Trüb ist kein hochtourig agie-

CD-Ständer sehen. Irrtum. An einer bestimm-

rentheaters – in „Shadows“, einer Koproduk-

render Theatermann; bedächtigen Schrittes

ten Stelle fährt die Eisenbahn in gleißendes

tion von Das Theater-Pack und Bühne Aarau,

durchquert er den Raum; rückt da und dort

Licht – und fährt an eben dieser Stele vorbei,

zeigt. Trüb ist vom Schattentheater seit Jahr-

etwas zurecht; ergreift gleichsam nebenbei

die sich im Schattenwurf als Wolkenkratzer

zehnten fasziniert. Präsentiert er nun, in der

eine ellenlange Leine, an der eine Glühbirne

präsentiert. Dazu prasselt der Regen auf die

Regie von Astride Schläfli, seine „Shadows“,

befestigt ist. Trüb macht vieles damit; lässt die

Dächer einer Großstadt, die wir nicht sehen,

zieht er Bilanz über seine Versuche und Er-

Leine unter anderem kreisen – und immer ist

aber erahnen können. Geräuschstrukturen

gebnisse im Umgang mit dieser besonderen

man gebannt von den Silhouetten, Geräuschen

und Klangfetzen verwandeln die Alte Reit­

Theaterform.

und Rhythmen. Christian Kuntner unterlegt

halle somit in ein Versuchslabor, in dem die

Die klassische, rechteckige Leinwand

den Vorgängen einen dunkel-unheimlichen,

Schatten das Sagen haben: Aus kleinen ent-

gilt Trüb dabei nicht mehr als das A und O;

bisweilen auch raunenden oder metallischen

wickeln sich große und umgekehrt. Hansueli

stattdessen projiziert er auf bewegliche Ele-

Soundteppich. Dieser begleitet, unterstützt

Trüb selbst wirkt klein, aber seine Schatten

mente. Der Raum spielt dabei eine entschei-

oder konterkariert Trübs Aktionen. Man sitzt

sind raumfüllend: Sie werden auf die Hallen-

dende Rolle. Steht Trüb die im Herbst 2021

da, ist verblüfft, wenn akustisch nicht das Er-

wände, das Dachgebälk sowie die federleich-

eröffnete Alte Reithalle in Aarau zur Verfü-

wartete, sondern das Unerwartete eintrifft. Das

ten, allerorten vom „Bühnenhimmel“ fallen-

gung, ist das ein Geschenk. Sie nimmt einer-

Ohr wird gewissermaßen wachgekitzelt, um

den, seidenen Transparentbahnen geworfen.

seits durch das ungeschönte Gemäuer und

das Visuelle mit größter Aufmerksamkeit zu

Diese Bahnen! Als kalte Luft in die Alte Reit-

das Gebälk sowie andererseits durch ihre rie-

verfolgen und auf sich wirken zu lassen.

halle strömt, bauschen sie sich oder wickeln

sige Dimension für sich ein. Kein Wunder,

Wie eine Spielzeugeisenbahn aussieht,

sich um den Schattenmagier – und dies im

dass der Schattenmagier darin zu verschwin-

überrascht niemanden. Überraschend ist je-

Verbund mit Klängen, die von überall wie nir-

den scheint. Deshalb kann man ihn zu Be-

doch, welche Wandlung eine Requisite er-

gendwo zu kommen scheinen. So geht das

ginn kaum orten, wenn er die spärlich be-

fährt. Zunächst erkennt man die von Trüb

eine ganze Weile, bis die Geräusche verhallen

leuchtete Halle betritt und sich an schwer

herbeigetragene Stele mit den Schlitzen zwar

und das Licht immer weniger wird – bis es am

identifizierbaren Gegenständen zu schaffen

nicht, doch man will in ihr unbedingt einen

Ende erlischt. Zauberhaft. //

Elisabeth Feller


magazin

/ TdZ April 2022 /

Große Fragen, nicht nur für junges Publikum Das 3. jungspund Festival der Schweizerischen Kinder- und Jugendtheaterszene in St. Gallen Wäre er echt, der nostalgische kleine Zir-

an und setzen dabei weniger auf wortlastige

kus, in dem Julia Anna Sattler und Michael

Dialoge denn auf Interaktion mit dem Pub-

Finger von der Kompanie Cirque de Loin in

likum: So etwa auch „Wo diis Huus wohnt“,

der Eröffnungspremiere des jungspund Fes-

ein Stück über Herkunft und Familienver-

tivals als Kamel und Clown Abend für

hältnisse des Zürcher Theaters Reich &

Abend die immergleiche Nummer präsen-

Schön. „Eltern raus!“, heißt es da ziemlich

tieren (bevor sie eines Tages beherzt ihrer

bald: Natürlich mit Augenzwinkern. Denn

– er hätte wohl die ver-

was alle Stücke eint, ist ihre Tauglichkeit

Sehnsucht folgen)

gangenen zwei Jahre nicht überlebt. Die

für bei­nahe alle Zuschauer:innen, abgese-

Coronakrise ist an den wenigsten Theater-

hen von der Altersempfehlung nach unten.

schaffenden im Rampenlicht und hinter

Dem Festivalpublikum muss man das nicht

den Kulissen spurlos vorbeigezogen; gerade

mehr eigens sagen.

der freien Szene haben die wochenlangen

Die Magie der Präsenz war mehr

Schließungen, die wiederholten Verschie-

denn je spürbar; das Festival hat sich über

bungen und Absagen zu schaffen gemacht.

die allgemeine Krise hinweg etabliert. Es

Insofern ist das noch junge, alle

bereichert das kulturelle Leben der Region

zwei Jahre in St. Gallen stattfindende

und füllt schweizweit eine Lücke mit Work-

Thea­ terfestival für junges Publikum als

shops, Diskussionsrunden, Künstler:in­nen­

Szenetreff und Schaufenster des aktuellen

gesprächen und der Möglichkeit, während

Schweizerischen Kinder- und Jugendthea-

zehn Tagen so viele richtungweisende Pro-

ters ein Glückskind. Die zweite Ausgabe

duktionen für junges Publikum zu sehen

war 2020 gerade noch vor dem ersten

und zu vergleichen.

diesjährige dritte konnte am 17. Februar

Wechselseitiger Austausch und wichtige Impulse: Die Finissage des jungspund Festivals in St. Gallen.

ein wissenschaftliches Symposium hinzu:

nach kurz zuvor gelockerten Schutzmaß-

Foto Ueli Steingruber

Die Schweizerische Gesellschaft für Thea-

Lockdown über die Bühne gegangen. Die

nahmen starten: ohne Zertifikatspflicht,

In diesem Jahr kam erstmals noch

terkultur und das Institut für Theater­

ohne Einschränkungen der Platzzahl und

wissenschaft der Universität Bern organi-

mit verschmerzbaren Ausfällen, zehn prall

Bandbreite der Stücke reichte von multimedi-

sierten im Rahmen des Festivals ein

gefüllte Tage lang. Zwei Vorstellungen muss-

alen Performances für Kleine und Große wie

dreitägiges Vortrags- und Diskussionsforum

„Die Mitte

„Das große Fragen“ des Zürcher Theaters

zum Thema

der Welt“ nach dem Roman von Andreas

goldtiger über Objekt- und Figurentheater

Theater für alle?“ Da ging es nach einem

ten kurzfristig abgesagt werden,

„Kinder- und Jugendtheater –

Steinhöfel – eine Produktion des Theaters St.

(etwa die schaurig-komische Menschenfres-

Rückblick in die Geschichte ums gegenwär­tige

Gallen, das als Festivalpartner die Lokremise

sergeschichte „Yark“ von Dani Mangisch oder

Selbstverständnis und um die Frage, wie sich

als Spielstätte und attraktives Festivalforum

die Schauspiel, Puppen und Film kombinie-

mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung für

zur Ver­fügung stellt –, war pandemiebedingt

rende Auseinandersetzung mit

„Romeo und

die professionelle künstlerische Arbeit gene-

mit den Proben in Verzug geraten und fiel als

Julia“ in der Regie von Sebastian Ryser, eine

rieren lässt – aber auch danach, wie eine sinn-

zweite Festivalpremiere aus.

Produktion des Figurentheaters St. Gallen für

volle Förderung aussehen müsste. Es fehlt der

So blieben immer noch zwölf Produktio-

Menschen ab 12) bis hin zum theatralen

freien Szene nicht nur an finanziellen Mitteln,

nen für alle Altersgruppen ab vier Jahren, die

­Spaziergang „Die Märchen von Michael Köhl-

sondern oft auch an geeigneten Probenräumen

meisten davon bislang noch kaum gespielt.

meier“ des Vorstadttheaters Basel und der

und Aufführungsorten. Dabei will junges Thea-

Trotz schwieriger Umstände war die fünf­

Tanzperformance „Geh nicht in den Wald, im

ter entgegenkommend sein, das Publikum,

köpfige Programmgruppe um Festivalleiterin

Wald ist der Wald“ der Cie. Tabea Martin, die

bestenfalls ein altersgemischtes und sozial di-

Gabi Bernetta in der Coronazeit quer durch die

sich spielerisch-vieldeutig mit Ausgrenzung

verses, dort aufsuchen und mitnehmen, wo es

Schweiz gereist und hatte aus mehr als 30

und Ängsten befasst – ohne das Thema ver-

mit seinen Fragen an das Leben steht. Aus St.

­visionierten Aufführungen junger wie etablier-

meintlich „kindgerecht“ positiv aufzulösen.

Gallen haben beide Seiten dafür im wechsel-

ter Kompanien eine facettenreiche Auswahl

Auffallend viele Produktionen stellen

getroffen. Die ästhetische und thematische

existenzielle Fragen, regen zum Nachdenken

seitigen Austausch wieder wertvolle Impulse mitgenommen. //

Bettina Kugler

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magazin

/ TdZ April 2022 /

Bücher Wiesenkindheit: Yade Yasemin Önders Roman über eine schrecklich nette Familie Vater, Mutter, Kind. Dieses Urmodell dramatischer Figurenkonstellationen treibt die Autorin Yade Yasemin Önder um. Ihr Debütstück „Kartonage“, im Rahmen der Autorentheater-

Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 256 Seiten, 20 Euro

Dreizimmerwohnung im Park.“ Ausgehend von diesem Polaroid unternimmt die Tochter eine assoziative Erinnerungsreise in eine Kindheit und Jugend der westdeutschen Nachwendejahre. In kurzen Kapiteln und chronologisch mäandernd erzählt sie vom absurd übergewichtigen Vater, dessen Unfalltod in seiner Kontingenz (wenn die Tochter ihn rechtzeitig zum Mittagessen

tage 2017 am Deutschen Theater Berlin ur-

geholt hätte, hätte er sich nicht versehentlich

aufgeführt, erzählte von Herrn Werner, seiner Frau „Wernerzwei“ und der gemeinsamen

nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese

bei der Gartenarbeit zersägt) etwas Lächer­

Tochter. Das Ehepaar lebt einen Biedermeier-

geboren. […] Auf die Wiese hat mein Vater

liches anhaftet, und der zugleich als Zäsur

(Alb)traum im titelgebenden Karton, Werner-

eine Dreizimmerwohnung gebaut, und meine

die Episoden in Davor und Danach gliedert.

zwei kocht unablässig Marillenmarmelade,

Mutter bestand nicht auf einer Badewanne.

Sie erzählt von der übrig gebliebenen Mutter,

die sukzessiv den Gatten vergiften soll, eines

Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme

mit der sie um Regeln des Zusammenlebens

Tages fällt die totgeglaubte Tochter buchstäb-

und Moos, und das Wetter tat sein Übriges:

zu zweit feilscht. Von einer Nachbarin n ­ amens

lich vom Himmel mitten in die Szenerie.

Ausgebleicht waren alle von der Witterung,

Hannelore Kohl, von durchnummerierten na-

Im Verlag Kiepenheuer & Witsch er-

vor allem die aus Holz. Die Füße faulten si-

menlosen Schulfreundinnen auf Klassenfahrt

schien jetzt Önders erster Roman. Er trägt

cherlich, doch das war uns egal. Egal war

und von ebenso katalogisierten Liebhabern,

den enigmatischen Titel „Wir wissen, wir

aber nicht, der Herd kam zu spät, es war

die sich fast durchweg als Reinfälle entpuppen.

könnten, und fallen synchron“, wieder geht

schon Dezember, erst dann konnte die Milch,

Dem Leser drängt sich bisweilen der

es um eine Tochter und ihre Eltern. Was in

die nicht von meiner Mutter stammte, in ei-

Eindruck auf, in einem sprachlich elaborier-

„Kartonage“ der Karton als surrealer Wohnort

nem kleinen roten Topf erhitzt werden. Das

ten Tagebuch zu blättern, in dem viele, aber

war, ist im Roman eine Wiese: „An einem Tag

schmeckte mir, dann grinste ich, und mein

eben nicht alle Einträge für Außenstehende


bücher

/ TdZ März / April 2022 2022 /

von Interesse sind. Glücklicherweise konterkariert Önder das Biografisch-Alltägliche mit einer großen Lust an der fantastischen Übertreibung, und ihre Erzählerin beherrscht das Spiel mit dem absichtsvoll Missverständ­ lichen. Als beklemmende Grotesken gelingen so die Begegnungen zwischen einem deutschen, mütterlichen, und einem türkischen, väterlichen, Teil der Familie. „Jedenfalls, während ich bei diesem Leichenschmaus gerade ein Kaiserbrötchen mit meinen Händen

vom Juni 1934 datierten Schreiben an den Peter Michalzik HORVÁTH HOPPE HITLER. 1926 bis 1938 Das Zeitalter der Masse. Aufbau, Berlin 2022, 303 Seiten, zahlreiche Abb., 26 Euro

Reichsdramaturgen Rainer Schlösser, dem Horváth in einem zu vermutenden Selbstrettungsopportunismus die Mitarbeit am „Wiederaufbau Deutschlands“ anbietet. Michalzik verurteilt ihn nicht dafür. „Das Feld war unübersichtlich.“ Über Marianne Hoppe, die in diesem Dreieck die Einzige ist, die die jeweils anderen beiden persönlich kannte, ist von ihrer beruflichen Nähe zur NS-Macht schon einiges gesagt worden. Bei Horváth, der bis heute im Theater in erster Linie über seine

aufreiße und einer dieser zahlreichen Onkel

kritischen Volksstücke („Italienische Nacht“,

dort ein Frikadellenbällchen reinzustecken versucht, muss ich plötzlich auflachen. Im-

Ausstellung erinnert. Chronologisch aufge-

„Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“)

mer wenn er das Bällchen gerade reinstecken

baute Abteilungen, ausführliche Bildanaly-

­rezipiert wird, ist da nicht so viel bekannt.

will, drücke ich die Öffnung meines Brötchens

sen, das Ausstellen von Parallelen, Querver-

Michalzik erkennt einen anderen Horváth.

zusammen. Immer wieder versucht er es, im-

bindungen und Gegensätzlichkeiten in einem

mer wieder fallen die Bällchen daneben und

besonderen Zeitabschnitt.

Auch sucht der Autor nach Parallelen zu heute. Natürlich ist der Populismus für ent-

zu Boden, immer energischer will er sein Ziel

Drei Biografien, die jeweils auf ihrem

täuschte Massen da ein lohnender Hinweis

erreichen, und ich, ich verwehre es ihm. Ich

Feld im Aufstieg begriffen sind. Die junge

­(indes seine Bemerkung, die DDR-Bürgerrecht-

schmunzele, kichere und breche schließlich in

Marianne Hoppe, die 1928 ans Deutsche

ler hätten den Begriff Volk mit dem Protestruf

schallendes Gelächter aus, minutenlang, die

Theater von Max Reinhardt engagiert wird,

„Wir sind das Volk!“ zu rehabilitieren versucht,

ganze Sippschaft hält den Atem an.“

dort bereits in kleinen Rollen Beachtung fin-

in die Irre geht). Nein, die aktuelle Situation für

Überschattet wird der zwischen Melan-

det und nach 1933 als Filmstar der UFA eine

Künstler liefert den brisanten Echoraum für

cholie und Abenteuerlust changierende Gang

große Karriere vor sich hat. Ausgewählte Por-

sein glänzend geschriebenes Buch. //

durch diese Lebensgeschichte vom Ringen

trätfotos analysiert Michalzik nicht nur als

mit dem „Symptom“, einer Bulimie-Erkran-

Entwicklung ihrer Biografie, sondern liest in

kung, die sich frech versprachlicht: „Ob du

ihnen auch den Zeitgeist als „Bild der Frau“

mich wegwirfst oder nicht, die Spätfolgen

in den eruptiven Zwanzigerjahren und nach-

bleiben in dir!“ In der ersten Begegnung mit

folgend vor allem als Filmfigur. Ihr gegenüber

diesem unerwünschten Gegenspieler muss

der als Dramatiker erfolgreiche Ödön von

die Erzählerin lakonisch feststellen: „Die

­Horváth mit seinen frühen Volksstücken über

Hauptfigur hat die Szene verlassen.“ Und be-

Verlorene und Verführte als Teil einer neuen

tritt doch immer wieder mit neuem Mut die

Masse. Ein Begriff, den Michalzik einerseits aus

Bühne ihrer Geschichte. So wie der Roman

der Kultur der damaligen Zeit, andererseits spe-

selbst

gleichzeitig

zifischer von Elias Canetti her entwickelt.

prescht, fliegt auch seiner Protagonistin

Und mit diesem Thema kommt der Dritte ins

buchstäblich das eigene Leben um die Ohren

Spiel: Hitler, der zu Massen spricht, sie in sei-

und sie selbst hinterher. Beide aber, Text und

nen Reden förmlich zur Vermassung treibt auf

Figur, landen in einem verblüffenden Kunst-

dem Weg zur totalen Macht. Die ersten drei

stück jedes Mal wieder auf den Füßen. //

Bilder sind also ein Kinderbild von Horváth mit

in

viele

Richtungen

+ SH OW CAS E

Lucien Strauch

seinen dunklen Augen, eine geradezu strahlende 20-jährige Hoppe und Hitler als Mann in der Masse in dem berühmten Foto vom

Virtuos gebaut

Münchner Odeonsplatz zu Kriegsbeginn 1914 (dessen Echtheit heute aber bezweifelt wird).

„Ein Buch wie eine Ausstellung“, eröffnet

In dieser Dramaturgie der aufeinander

­Peter Michalzik das Vorwort. Ende der 1990er

bezogenen Montagen kürzerer Kapitel gelingt

Jahre, während der Arbeit an einer Biografie

Michalzik eine faszinierende Erzählung als

von Gustaf Gründgens hat er die hochbetagte

dokumentarisches Panorama. Das erlaubt

Marianne Hoppe noch kennenlernen können.

ihm dabei auch, die literarische Entwicklung

Sie sprach überraschend viel von Horváth,

Horváths hin zu wenig bekannten Details zu

und das war wohl die Keimzelle für dieses

erklären. Etwa dessen bis heute nicht gänz-

rund zwei Jahrzehnte später entstandene

lich erforschte Beteiligung an Filmprojekten

Buch, das in seiner Gliederung und den ein-

und die in diesem Zusammenhang noch

zelnen Fokussierungen tatsächlich an eine

schwieriger zu beurteilende Haltung in einem

Thomas Irmer

FIGURE IT IN TE R N ATIO N A L E S

T REFFEN FÜR FIGURENTH EATER + S H OWC A S E = 8 . – 1 2 . 6 . 2 2 Christoph Bochdansky [AT] | Florian Feisel [DE] | flunker produktionen [DE] | Golden Delicious [ISR/FR] | Grupa Coincidentia [PL] | Jan Jedenak [DE] | Lehmann und Wenzel [DE] | Li Kemme [DE] | Wilde & Vogel [DE] und weitere

WESTFLÜGEL LEIPZIG W W W.W E S T F L U E G E L . D E

/ 83 /


aktuell

/ 84 /

Meldungen ■ Damit eine ,,Ukrainian Cultural Task Force“

/ TdZ April 2022 /

■ Anna Wagner und Marcus Droß teilen sich

hätten auch der Bildungsminister aus Warschau

ab dem 1. September 2022 die Intendanz

und der polnische Kulturminister die Inszenie-

und die Geschäftsführung des Mousonturms.

rung verurteilt. Das Theater selbst stand zuvor

Zentraler Schwerpunkt in ihrer Arbeit sollen

kurz davor, zum Nationaltheater erhoben zu

Tanz und Performance werden.

werden. Nun werde die entscheidende fehlende Unterschrift vom zuständigen Ministerium

von Theaterschaffenden nach Litauen, Polen und Deutschland ausreisen und ihrer Arbeit

■ Wolf E. Rahlfs wird Intendant der Badischen

nicht gegeben, weswegen dem Theater Beträge

im Exil weiter nachgehen kann, hat sich der

Landesbühne Bruchsal. Rahlfs, der von 2003

in Millionenhöhe fehlen werden. Darüber hin-

Intendant des Left Bank Theaters in Kiew, Stas

bis 2006 Ensemblemitglied an der Badi-

aus drohe dem Intendanten des Theaters,

Zhyrkow, mit einem Hilferuf und einer Initia-

schen Landesbühne war und anschließend

Krzysztof Gluchowski, die Entlassung. Grund

tive an Theaterschaffende in Deutschland

als freier Regisseur und Schauspieler ge­

für das massive Eingreifen der Regierung sei

gewandt. Dazu werden Institutionen und ­

arbeitet hat, ist seit der Spielzeit 2018/2019

die Inszenierung des dritten Aktes, in dem in

­Theater gebeten, einen Unterstützerbrief zu

geschäftsführender Intendant am Theater der

der Inszenierung von Maja Kleczewska die re-

unterzeichnen. Dabei gehe es mehr um ein

Altmark in Stendal.

bellischen Kräfte als Frauen, die sich für ihr

kulturpolitisches Signal als um eine sofortige

Recht auf Abtreibung einsetzen und dafür ver-

■ Milo Rau hält die Zürcher Poetikvorlesung.

haftet werden, gezeigt werden. Auch Konrad,

möchte, kann eine Mitteilung an die Koor­

Im November 2022 wird er „zu den ästheti-

der „vermutlich der größte romantische Held

dinatorin der Partnersuche, Birgit Lengers,

schen und gesellschaftspolitischen Grund­

Polens“ ist, ist mit einer Frau besetzt. 1968

senden: lengers@deutschestheater.de

fragen seines künstlerischen Schaffens“ spre-

hatte es bereits schon einmal einen Skandal um

chen. Die Vorlesungen sollen sich der Frage

die Inszenierung des Stücks gegeben, der sogar

widmen, wie Theater „als Ort der Verantwor-

größere Studentenunruhen auslöste.

Berliner Ensemble. Foto Moritz Haase

Verpflichtung. Wer den Brief unterzeichnen

tung, an dem der ästhetische als politischer Akt in Erscheinung tritt“, gelingen kann.

■ Im Rahmen der Tarifverhandlungen mit dem Deutschen Bühnenverein fordert Die Theater-

■ Das Brandenburgische Landesmuseum für

gewerkschaft Genossenschaft Deutscher Büh-

moderne Kunst und das Staatstheater Cottbus

nen-Angehöriger eine Erhöhung der Mindest-

setzen gemeinsam mit dem Cottbuser Auf-

gage auf einen Mindestbetrag zwischen 2750

bruch und dem Piccolo-Theater ein öffent­

und 3100 Euro. Die Höhe der Mindestgagen

liches Zeichen gegen Protestspaziergänge mit

soll dabei an die Qualifikation der Solo­

Rechtsgesinnten. Mittels Flaggen und Plaka-

künstler:innen und Bühnentechniker:in­ nen

ten positionieren sie sich „entschieden gegen

sowie an die Größe der Häuser angepasst wer-

rechtspopulistische Haltungen ebenso wie

den. Weiter verlangt die GDBA eine Einstu-

gegen die damit einhergehenden Vorstellun-

fung nach Dienstjahren und höhere Gagen für

gen von Gesellschaft und Zusammenleben“.

Gäste, da diese ein ,,höheres unternehmeri-

Ideologische Instrumentalisierungen ständen

sches Risiko“ trügen als die festangestellten

in klarem Widerspruch zum Anliegen der Ins-

Mitarbeiter:innen, wie es weiter heißt. Zurzeit

titutionen nach Gemeinsinn, Solidarität und

liegt die Mindestgage, die seit 2018 nicht

konstruktiven Diskussionskulturen.

mehr erhöht wurde, bei 2000 Euro. Einzelne Häuser, wie beispielsweise das Theater Bre-

■ Nach der Premiere der Inszenierung von

men oder die drei Staatstheater in Hessen,

Adam Mickiewicz’ „Dziady“ (Totenfeier) am

zahlen ihren Mitarbeitenden bereits freiwillig

■ Als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine

­Juliusz Słowacki Theater in Krakau in der Regie

höhere Gagen.

hat das Berliner Ensemble einen Vorhang mit

von Maja Kleczewska kam es am polnischen

der Friedenstaube von Picasso wieder auf­

Theater zu Auseinandersetzungen mit der natio­

■ Die Autorin Kathrin Röggla hat für ihr drama-

gehängt. Entstanden ist das Emblem 1949,

nalkonservativen Regierung. Das Stück gilt als

tisches Gesamtwerk den Else-Lasker-Schüler-

im Rahmen des Weltfriedenskongresses, be-

polnisches Nationalepos, die Regisseurin als

Dramatikpreis 2022 erhalten. Die Auszeich-

vor es am 12. November 1949 bei der Insze-

eine der renommiertesten Theaterkünst­ ler:in­

nung erhielt Röggla von Malu Dreyer, die in

nierung „Herr Puntila und sein Knecht Matti“

nen Polens. Zunächst habe die Bildungsminis-

ihrer Rede betonte, ,,Röggla sei eine scharfsin-

auf dem Vorhang des Berliner Ensembles –

terin der Wojewodschaft Kleinpolen auf Twitter,

nige Beobachterin unserer Zeit, die es schafft,

das sich damals noch in den Räumlichkeiten

ohne das Stück gesehen zu haben, vor der In-

mit Rhythmus, Bildlichkeit und Gestik hoch

des Deutschen Theaters befand – zu sehen

szenierung gewarnt, am nächsten Tag seien alle

reflektierte Antworten auf das zu geben, was

war. Brecht, der Anfang der 1950er Jahre mit

Lehrer:innen der Wojewodschaft angewiesen

sie als forcierte Denkerin und Aktivistin wahr-

dem Berliner Ensemble in das Theater am

worden, von dem Besuch der Inszenierung, de-

nimmt“. Die mit 10 000 Euro dotierte Aus-

Schiffbauerdamm zog, ließ den Vorhang an-

ren Stoff Schullektüre ist, Abstand zu nehmen,

zeichnung wird alle drei Jahre von der Stiftung

schließend als Mahnung gegen den Krieg

da es „wider die polnische Staatsraison“ sei,

Rheinland-Pfalz für Kultur zur Förderung der

hängen.

wie es in der Erklärung heiße. Zwei Tage später

deutschsprachigen Dramatik verliehen.


aktuell

/ TdZ April 2022 /

■ Die Autorin Sasha Marianna Salzmann er-

Die Azubis; Der Traum vom Wald, Theater im

pitz; Landestheater Coburg; Manuela Neude-

hält den diesjährigen Preis der Literaturhäu-

Werftpark Luca – Die Urzelle spielt verrückt,

gger und Ensemble (in Koproduktion mit der

ser. Begründet wird die Entscheidung damit,

kirschkern Compes & Co Hamburg Schatten-

Tafelhalle Nürnberg); Münchner Kammer­

dass Salzmann ,,es verstehe, in vor Erzähl-

werfer, Figurentheater Osnabrück Fux, STÜCK-

spiele; Kollektiv punktlive (in Koproduktion

freude sprudelnden Texten mit leichter Hand

LIESEL/ Orsina Tossi Die große Frage, Theater

mit dem Staatstheater Nürnberg); Staatsthea-

historische Bögen zu spannen“. Der Preis der

Karo Acht Ungeheuer, von Verena Steiner.

ter Augsburg; Münchner Kammerspiele; Lan-

Literaturhäuser ist mit 20 000 Euro dotiert.

destheater Niederbayern; Otto Falckenberg

■ Das Autor:innenduo Sokola/Spreter wird die

Schule; Theaterakademie August Everding.

■ Die Schauspielerin Lisanne Hirzel wurde

Hausautor:innenschaft am Schauspiel des

mit

Aufmunterungspreis

Theaters Münster übernehmen. 2020 erhiel-

■ Der Schauspieler Ernst-Erich Buder ist am

2021 ausgezeichnet. Hirzel ist seit der

ten Ivana Sokola und Jona Spreter für ihr

14. Februar im Alter von 85 Jahren verstor-

Spielzeit 2019/2020 Ensemblemitglied am ­

Stück „Tierversuch“ den Publikumspreis des

ben. Von 1971–2009 war Buder Mitglied im

Schau­spiel Chemnitz. Die Armin-Ziegler-Stif-

Hans-Gratzer-Stipendiums am Schauspiel­haus

Ensemble des Schauspiels Hannover.

tung verleiht alle zwei Jahre den ,Aufmunte-

Wien, bevor das Stück 2021 im Rahmen

rungspreis an Nachwuchsschauspieler:innen.

eines Residenzprogramms an den Münchner

■ Der Schauspieler Christian Futterknecht ist im

Kammerspielen zu sehen war.

Alter von 76 Jahren verstorben. Futterknecht

Schweizer

war seit Ende der 60er Jahre Ensemblemitglied

■ Die Stiftung Preußische Seehandlung zeichnet die Theaterproduzentin und Inten-

■ Der Heidelberger Stückemarkt hat seine

dantin von Kampnagel Hamburg Amelie Deufl­

­Nominierungen bekannt gegeben. Für den mit

hard mit dem Theaterpreis Berlin 2022 aus.

10 000 Euro dotierten Preis hat die Jury, be-

Die Jury begründet ihre Entscheidung damit,

stehend aus Marie Bues, Björn Hayer, Ulrike

dass sie sich in ihrer Arbeit unermüdlich für

Syha, Carola Unser und Jürgen Popig, sechs

die „Professionalisierung, Besser-Finanzierung

Texte ausgewählt. Nominiert sind: Philip Gärt-

und ästhetische Selbstentzündung“ der freien

ner, Miriam V. Lesch, Leo Meier, Ivana Sokola,

Darstellenden Künste einsetze.

Paula Thielecke und das DIEZEN kollektiv

des Wiener Theaters in der Josefstadt. Heinz Klunker. Foto Anja von Bruchhausen

dem

/ 85 /

(Katharina Kern, Lena Reißner, Rosa Rieck).

■ Die Auswahl für den Stückemarkt des 59.

Gastland in diesem Jahr ist Spanien, vorge-

Theat­ertreffens steht fest. Die Jury hat aus über

stellt werden Stücke von Rocío Bello, Maria

300 Einsendungen aus 61 Ländern fünf Arbei-

Velasco, Xavier Uriz und Ruth Rubio. Alle

ten ausgewählt, die zwischen dem 6. und 22.

­Stücke werden im Rahmen des Festivals vom

Mai in Berlin vorgestellt werden. Die diesjäh­

29. April bis 8. Mai in Heidelberg präsentiert.

rigen Arbeiten sind: AirSpace or In the Next Century, von Eric Marlin (USA) (Text) And I

■ Die Auswahl für die 38. Bayerischen Theater-

dreamt I was drowning, von Amanda Wilkin

tage am ETA-Hoffmann-Theater Bamberg steht

■ Der langjährige Autor von Theater der Zeit

(England) (Text) Bakice / Grannies, von Kolektiv

fest. Eingeladen sind mehr als 25 Inszenierun-

Heinz Klunker verstarb am 25. Januar 2022 in

Igralke und Tjaša Črnigoj (Kroatien/Slowenien)

gen, die im Rahmen eines Festivals vom 13.

Berlin. Der 1933 in Stauchitz (Sachsen) ge-

(Projekt) Circle Hasu We plant seeds in the

bis 28. Mai gezeigt werden sollen. Die Jury um

borene Publizist und Kritiker studierte zu-

spring of mountains, von Aine Nakamura (Japan/­

Friederike Engel, Christoph Leibold, Anne Maar,

nächst in Leipzig, nach seiner Übersiedlung

Deutschland/USA) (Projekt) Future Wife, von

Mehdi Moradpour und Victoria Weich, wählte

nach Westdeutschland in Münster. Von 1962

ruth tang (Singapur/USA/Neuseeland) (Text).

aus über 100 Inszenierungen aus. Eingeladen

bis 1978 arbeitete er als Feuilleton-Redak-

sind: ETA-Hoffmann-Theater Bamberg; Main-

teur in Hamburg beim Deutschen Allgemei­

■ Die Auswahl des Festivals HART AM WIND,

frankentheater Würzburg; theaterlust produk-

nen Sonntagsblatt und leitete anschließend

dem Norddeutschen Festival für junges Publi-

tions GmbH (Haag i. OB); Theater Hof; Resi-

die Feature-Redaktion des Deutschlandfunks

kum, steht fest. Das Festival für professionelles

denztheater – Bayerisches Staatsschauspiel;

in Köln. Klunker beobachtete vom Westen

Theater für junges Publikum, das alle zwei Jah-

Susanna Curtis und Ensemble (in Koproduk­

aus das Theater der DDR. 1972 erschien sein

re in einer anderen Stadt in Norddeutschland

tion mit der Tafelhalle Nürnberg); Kulturbühne

Buch „Zeitstücke und Zeitgenossen. Gegen-

ausgetragen wird, findet dieses Jahr, erstmalig

Spagat (München); Theater im Gärt­nerviertel

wartstheater in der DDR“ im Fackelträger-

als Wanderfestival, vom 12.–17. Juni 2022 in

(Bamberg); Münchner Volks­ thea­ ter; Staats­

Verlag, später in hohen Auflagen als Taschen-

Bremen, Oldenburg, Wilhelmshaven statt. Die

theater Nürnberg; Metropoltheater (München);

buch, da es lange eine wichtige Quelle zum

siebenköpfige, intergenerative Jury hat aus über

Landestheater Schwaben (Memmingen); Staats­

ostdeutschen Theater im Westen blieb.

50 Inszenierungen ausgewählt. Die diesjähri-

theater Augsburg; kleines Theater KAMMER-

Außer­dem beschäftigte er sich in seiner Ar-

gen Produktionen sind: Listentomystory, Junges

SPIELE Landshut; Marie Steiner und Alexan­

beit ab den siebziger Jahren mit dem Theater

Schauspielhaus Hamburg; re-member, von

dra Rauh (in Koproduktion mit der Tafelhalle

in Jugoslawien bis in die Zeit der Zerfallskrie-

­Teresa Hoffmann & Lina Höhne; Als mein Vater

Nürnberg); Stadttheater Ingolstadt; Dehnber-

ge. Aufgrund seiner Expertise wurde Klunker

ein Busch wurde, Theater Osnabrück; Hope

ger Hof Theater; Theater Ansbach; Kinder und

mehrmals in die Jury des internationalen Bel-

Spot Ocean, von Ronja Donath; born2porn, von

Jugend Theater Kunstdünger; Theater Mumm-

grader Festivals BITEF berufen.


/ 86 /

aktuell

/ TdZ April 2022 /

Premieren Altenburg Theater Gera A. Rabe/D. King: Foxfinder (L. Villinger, 02.04.); A. Lortzing: Der Wildschütz oder Die Stimme der Natur (M. Dissmeier, 08.04.); B. Landes/N. Haidle: ­Alles muss glänzen (M. Thieme, 23.04.); M. McDonagh/M. Molitor/C. Seltmann: Der Krüppel von Inishmaan (M. Kressin, 29.04.) Annaberg-Buchholz Eduard-von-WintersteinTheater S. Harnick/J. Masteroff: Liebesbrief nach Ladenschluss (D. Wilgenbus, 02.04.) Baden-Baden Theater H. Ibsen: Gespenster (O. Kukla, 08.04.); I. McArthur/n. J. Austen: Stolz und Vorurteil* (*oder so) (S. Huber, 29.04.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater W. Shakespeare: Ein Sommernachtstraum (M. Holetzeck, 08.04.) Berlin Berliner Ensemble S. Kane: Phaidras Liebe (R. Borgmann, 22.04.); A. Strindberg: Totentanz (K. Voges, 28.04.) Deutsches ­Theater Unspoken. Eine Doku-Oper (K. Gudmonaitė, 24.04., UA); N. Haidle: Birthday Candles (A. Bergmann, 29.04., DEA) Volks­ bühne K. De La Cruz: „SMAK! SuperMacho AntiKristo (K. De La Cruz, 13.04., UA) Bochum Schauspielhaus C. Sienknecht/B. Bürk: Die Hermannsschlacht – allerdings mit anderen Texten und auch anderer Melodie (C. Sienknecht/B. Bürk, 29.04., UA) Bonn Junges Theater n. R. Seethaler: Der Trafikant (B. Niemeyer, 06.04.) Theater Bonn J. Raschke: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (H. Biedermann, 08.04.); A. Tschechow: Onkel Wanja (S. Hawemann, 23.04.) Bremen Theater n. G. Büchner/M. Gin­ters­ dorfer/K. Klaßen: Woyzeck. Ein Singspiel für die, die nicht an die Macht wollen (M. Gintersdorfer, 21.04.); F. Aydemir: Ich bin Hazal (N. Forstman, 23.04.); n. B. Brecht/A. Akgün: Leer/Stand – Der Brotladen oder: Wem gehört der Stadtrau (A. Akgün, 30.04.) Bruchsal Badische Landesbühne D. Bowie: Loving the Alien (A. Schilling, 07.04.) Castrop-Rauxel Westfälisches Landesthea­ ter O. Bukowski: Warten auf‘n Bus (R. Ebeling, 02.04.); J. Anouilh: Antigone (K. Eppler, 10.04.) Cottbus Staatstheater n. S. Lem/B. Rádóczy: Solaris (B. Rádóczy, 09.04.) Darmstadt Staatstheater M. Sanyal: Identitti (S. Dastmalchi, 01.04.) Dessau Anhaltisches Theater B. Quaderer: Für immer die Alpen (James & Priscilla, 01.04.) Döbeln Mittelsächsisches Theater R. Cooney: Außer Kontrolle (A. Beutel, 16.04.) Dortmund Theater A. Müller: The Future (A. Müller, 29.04., UA); Operation Memory: Cherchez La FemMe (Operation Memory, 30.04., UA) Dresden Staatsschauspiel K. Röggla: Wasser (J. Gehler, 01.04., UA); F. Schiller: Wallenstein (F. Castorf, 14.04.) Düsseldorf Schauspielhaus The Future of Ver­ letzlichkeit (03.04.) Eisenach Landestheater D. MacMillan/J. Donnahoe: All das Schöne (L. Ghandour, 09.04.); In der Schwebe (E. Jurkiewicz, 18.04., UA) Erlangen Theater Spielclub Höhenflug Till! (M. Böhnhardt, 08.04.); M. Pressler/O. H. Frank: Das Tagebuch der Anne Frank (K. Birch, 25.04.); Theater in der Garage T. Köck: Und alle Tiere rufen: dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr (monkey gone to heaven) (E. Hannemann, 29.04.); Markgra­ fentheater M. Heckmanns: Mein Vater und seine Schatten (K. Ott, 30.04.) Esslingen Württembergische Landesbühne M. Rauhaus: Und wer nimmt den Hund? (K.

April 2022 Sievers, 01.04., UA); M. Kling: Das Neinhorn (M. Steinweder, 02.04.); E. k.: Meister Eder und sein Pumuckl (J. Müller, 03.04.); M. A. Yasur: Amsterdam (C. Küster, 04.04.) Frankfurt am Main Historisches Museum M. Droste/J. Foth: Erinnern Verändern (M. Droste/J. Foth, 02.04., UA) Schauspiel W. Weermann: Unheim (W. Weermann, 08.04., UA); J. W. v. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (L. Nielebock, 14.04.) Freiburg Theater W. Bochert: Draußen vor der Tür (S. Lernous, 14.04.); J. W. v. Goethe: Faust I + II (K. Garbaczewski, 16.04.); The 3rd Box (G. Joplin/M. Gillette, 23.04., UA) Gelsenkirchen Musiktheater im Revier G. Puccini: Madama Butterfly (G. Rech, 02.04.); H. v. Kleist: Amphitryon (N. Sogaard, 08.04.); M. Morau: Millennials (M. Morau, 30.04.) Görlitz Gerhart Hauptmann-Theater L. Fall: Der liebe Augustin (A. Nicklich, 23.04.) Göttingen Deutsches Theater P. Löhle: Der Hund muss raus – Ein Suchtstück (P. Löhle, 01.04., UA); A. Thoms/F. Barth: Das Refu­ gium – Eine interkollektive Erfahrung der Harmonie (A. Thoms, 16.04., UA); Ensemble u. Prinzip Gonzo: Das letzte Haus – Ein utopisches Parlament (Prinzip Gonzo, 20.04., UA); I. Bergman: Szenen einer Ehe (M. Beichl, 29.04.) Graz Schauspielhaus W. Shakespeare: Ein Sommernachtstraum (M. Bothe, 22.04.); Trashland. Bürger*innenbühne über Glanz und Schrott der Wegwerfgesellschaft (A. Azas/P. Tsinikoris, 29.04.) Greifswald Theater Vorpommern S. Gößner: Mongos (A. Kuß, 06.04.) Halle Neues Theater Euripides: Trilogie der Unschuld – Medea | Mauser | Quartett (H. Hörnigk, 22.04.) Thalia Theater Ö. v. Horváth: Jugend ohne Gott (K. Brankatschk, 29.04.) Hamburg Schauspielhaus W. Shakespeare: Romeo und Julia (M. Spaan, 02.04.); T. Bernhard: Die Jagdgesellschaft (H. Fritsch, 02.04.); A. Birch: [BLANK] (J. Hölscher, 08.04.); C. Oran: Tei & Len (C. Oran, 09.04., UA) Thalia Theater M. Kawakami: Brüste und Eier (C. Rüping, 30.04., UA) Hannover Ballhof Zwei n. H. Hegemann: Bungalow (R. David, 14.04.) Schauspiel M. Lopez: Das Vermächtnis (R. Jakubaschk, 22.04.) Heidelberg Theater und Orchester S. Ellis: How to Date a Feminist (G. Zahn, 01.04.); Institut f. Kontrolle u. Exzess: saufen fechten heidelberg (Institut f. Kontrolle u. Exzess, 09.04., UA); J. Haenni: Angst oder Hase (N. Kalmbach, 23.04., UA); S. V. Bungarten: Maria Magda (B. Bartkowiak, 29.04.) Heilbronn Theater M. Frisch: Biedermann

und die Brandstifter (T. Wellemeyer, 09.04.) Hildesheim Theater für Niedersachsen S. Lehnberg: Death and Breakfast (D. Wilgenbus, 30.04., UA) Ingolstadt Stadttheater D. Kehlmann: Tyll (A. Nerlich, 02.04.); K. Köhler: Himmelwärts (M. Constantine, 16.04., UA); E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (J. Schölch, 29.04.); K. Schlender: Wenn der Rock, den Du trägst, älter ist wie Du (U. Hatzer, 30.04., UA) Innsbruck Tiroler Landestheater L. Nöbauer: Geh weg. Herr Berg! (L. Nöbauer, 10.04., UA) Kaiserslautern Pfalztheater F. Schiller: Die Räuber (H. Demmer, 02.04.); J. Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah (M. Kamp, 08.04.) Kiel Theater F. Schiller: Don Karlos (M. Kreutzfeldt, 23.04.); S. Perel: Hitlerjunge ­Salomon (J. Ender, 30.04.) Köln Schauspiel N. D. Calis: Mölln 92/22 (N. D. Calis, 08.04., UA); n. W. Shakespeare:

­ ichard III. (P. Karabulut, 23.04., UA); A. H. R Recke: Svenja – eine visuelle Alptraumanalyse (A. H. Recke, 29.04., UA) Konstanz Theater E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (K. Šagor, 02.04.); J. Haenni: bodybild (A. Peters, 22.04.) Krefeld Theater A. Dorfman: Der Tod und das Mädchen (R. Alzakout, 23.04.); R. Strauss: Salome (A. Pilavachi, 02.04.); s. s.: Ein Fall für Grete (A. Betov, 10.04.) Leipzig Schauspiel Body of Knowledge (s. h., 08.04.); E. Karhu: Für meinen Bruder (E. Jach, 14.04., UA); W. Hauff: Das kalte Herz (E. Lübbe, 17.04.); K. Brunner: Die Kunst der Wunde (K. Plötner, 30.04., UA) Theater der Jungen Welt L. Graf: Mutig mutig (L. Graf, 09.04., UA); Wilde Bühne: Struwwel (C. Weinheimer/C. Mährlein, 23.04., UA); L. Freudenthal: Schule des Wetters: Schnee (L. Freudenthal, 24.04., UA) Linz Landestheater M. Decar: Jenny Jannowitz (A. m., 08.04., ÖEA); F. Salten: Bambi (M. Brachvogel, 22.04.) Lübeck Junges Studio T. Melle: Sickster (M. Claessen, 08.04.); Flammendes Herz. Stückentwicklung (K. Winkmann, 23.04.) Kam­ merspiele H. Ibsen: Hedda Gabler (M. Biel, 01.04.); n. H. v. Kleist/n. E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (M. Štorman, 15.04.) Magdeburg Theater W. Kohlhaase: Solo Sunny (E. Gabriel, 29.04.) Mainz Staatstheater H. Tòmasson: Gudruns Lied (E. Stöppler, 15.04.); Le Sacre (30.04., UA) Mannheim Theaterhaus G7 E. N. Celkan: Last Park Standing (P. Wieandt, 07.04.) Marburg Hessisches Landestheater M. Frayn: Der Nackte Wahnsinn (D. Günther, 14.04.) Meiningen Staatstheater B. S. Deigner: Waldstück (S. Khodadadian, 09.04., UA) Memmingen Landestheater Schwaben F. Zeller: Wunsch und Wunder (M. Schönfeld, 01.04.); A. Gundar-Goshen: Lügnerin (N. Eleftheriadis, 23.04., UA), Residenztheater: G. Ringsgwandl: Lola M. (G. Ringsgwandl, 14.04.) Mönchengladbach Theater K. Kurschat: Procedure Ada 2.0 (K. Kurschat, 10.04.) München Residenztheater K. Hamsun: Spiel des Lebens (S. Kimmig, 08.04.); B. Agbaje: Bitches (P. Morris, 29.04., DEA) Münster Theater M. Gorkij: Sommergäste (A. Kriegenburg, 23.04.) Naumburg Theater S. Neugebauer: Zwei Fridas (S. Neugebauer, 08.04., UA) Neustrelitz Theater und Orchester H. v. Kleist: Michael Kohlhaas (M. Dietz, 22.04.) Nürnberg Staatstheater H. Dietl/U. Limmer: Schtonk! (C. Brey, 22.04.) Osnabrück Emma Theater M. Baltscheit: Nur ein Tag (F. Schütz, 10.04.) Paderborn Theater – Westfälische Kammer­ spiele M. Ursprung: Schleifpunkt (K. Kreuzhage, 09.04., DEA) Potsdam Hans Otto Theater E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (M. Peters, 01.04.); C. Kettering: Weiß ist keine Farbe (P. Schönwald, 29.04.) Regensburg Theater M. Uhl: Nachbarn (M. Uhl, 08.04., UA); A. Ayckbourn: Happy Birthdays (K. Kusenberg, 09.04., DEA); Alles steht Kopf! Eine Stückentwicklung des Kinderclubs (T. Kalmbach/L. Wagner, 14.04., UA); M. Frisch: Biedermann und die Brandstifter (S. Heller, 16.04.); M. Milisavljević: SCHREI ES RAUS! – überleben (M. Hackbarth, 30.04., UA) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­ destheater und Sinfonieorchester W. Hoff­ mann/n. K. Mann: Mephisto (W. Hoffmann, 02.04.); L. Hübner: Gretchen 89ff. (F. Jens, 09.04.)

Reutlingen Theater Die Tonne n. A. Pusch­ kin/N. Rimski-Korsakow: Mozart und Salieri (E. Urbanek, 02.04.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen U. Kohlert: Der Entstörer (M. Radestock, 26.04.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater S. Sondheim: Pfeifen kann doch jeder (Any­ one Can Whistle) (M. Berger, 05.04., DSE); n. A. Tschechow: Finita la Comedia oder Die ­Errettung der Welt durch die Anhänger des Eskapismus (M. Peschel, 22.04., UA); A. Mitta/J. Dunski/V. Frid: Leuchte, mein Stern, leuchte (M. Nimz, 29.04.) St. Gallen Theater M. Frisch: Biedermann und die Brandstifter (C. Rast, 08.04.) Stendal Theater der Altmark Spiel unter den Fassaden (J. Gehle, 23.04.) Stralsund Theater Vorpommern M. Svolikova: Rand (D. Czesienski, 13.04., DEA); W. Mouawad: Vögel (A. Pullen, 23.04.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt A. Bovell: Dinge, die ich sicher weiß (H. Weiler, 29.04.) Schauspiel K. Warlikowski: Odyssey. A Story for Hollywood (K. Warlikowski, 07.04., SEA); M. Mikhalchuk/V. Hapeyeva: 18 Briefe und eine Fabel aus Belarus (M. Mikhalchuk, 23.04., UA) Tübingen Landestheater F. Zeller: Der Fiskus (M. A. Schäfer, 08.04.); n. J. Steinbeck: Jenseits von Eden (J. Jochymski, 09.04.) Weimar Deutsches Nationaltheater n. T. Mann/B. Seidel/C. Weise: Buddenbrooks – Verfall einer Familie (C. Weise, 02.04.); M. Baitscheit: Nur ein Tag (S. Siegfried, 10.04.); Junges DNT: X Gedanken über Sehnsucht (M. Burgau/R. Ziesenis, 16.04.) Wien Akademietheater R. Goetz: Reich des Todes (R. Borgmann, 02.04., ÖEA) Burgthea­ ter Wien M. Youssef: Dschabber (A. Sczilinski, 08.04., ÖEA); Euripides: Die Troerinnen (A. Jacobs, 23.04.); C. Kracht: EUROTRASH (I. Tiran, 29.04.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersach­ sen Nord C. Serreau: Hase Hase (R. Teufel, 23.04.); U. Nilsson: Die besten Beerdigungen der Welt (L. v. Buren, 24.04.) Wuppertal Wuppertaler Bühnen P. Wallgram / G. Calderón: EX. Mögen die Mitspieler platzen (J. Nordalm, 09.04., DEA) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater D. Harro­ wer/M. Isakstuen: Nacht der verbotenen ­Begierden (P. Hachtel / L. Wagner 02.04.) Zwickau Theater Plauen-Zwickau n. M. Shelley: Frankenstein – Das Monster in uns (T. Esser, 29.04.) FESTIVAL Wasserburg am Inn Theater 16. Wasserburger Theatertage (26.04.–08.05.) Berlin Schaubühne am Lehniner Platz Internationale Neue Dramatik (31.03.–10.04.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mouson­ turm New Creation (18.04.–20.04.) Heidelberg Theater und Orchester Heidelberger Stückemarkt (29.04.–08.05.)

Angaben ohne Gewähr. Theaterspielpläne und Premierendaten können sich aktuell kurzfristig ändern. Premierendaten bitte bis zum 5. des Vormonats an redaktion@tdz.de.

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/ TdZ April 2022 /

AUTORINNEN UND AUTOREN April 2022 Otto Paul Burkhardt, Kritiker, Stuttgart

impressum/vorschau

/ 87 /

Vorschau Kathrin Röggla. Foto Jürgen Bauer

Dora Dorsch, Autorin, Wien Friederike Felbeck, Kulturjournalistin, Düsseldorf Elisabeth Feller, Journalistin, Aarau Lena Gorelik, Autorin, München Peter Helling, Kritiker, Hamburg Renate Klett, Theaterkritikerin, Berlin Bettina Kugler, Journalistin, St. Gallen Mark Lammert, bildender Künstler, Bühnenbildner, Berlin Tom Mustroph, Journalist, Berlin Christoph Nix, Intendant, Jurist, Konstanz Luk Perceval, Regisseur, Antwerpen Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Lucien Strauch, Dramaturg, Berlin Lara Wenzel, Autorin, Leipzig

IMPRESSUM

Nach langer Pause kehrt Kathrin Röggla gleich dreifach in die Spielpläne zurück. In der Mai-Ausgabe erscheint ihr neues Stück „Das Wasser“ als Stückabdruck, das am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wird, begleitet von der Laudatio von Frank Raddatz neben der Berichterstattung über drei Inszenierungen ihrer Stücke.

Theater der Zeit – Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz), Lina Wölfel (Digitale Dienste), Lisa Elsen (Hospitanz)

Porträt: Der in Suhl/Thüringen geborene Schauspieler André ­Kaczmarczyk wusste schon früh, dass er Schauspieler werden wird. Großgeworden in Jugendclubs, spielt er heute am Düssel­ dorfer Schauspielhaus und hat im März die Inszenierung „Orlan­ do“ von Virginia Woolf als Regisseur zur Premiere gebracht. Seit Kurzem ist er auch als Kommissar im „Polizeiruf 110“ zu sehen.

Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Druck PIEREG Druckcenter Berlin, Benzstraße 12, D-12277 Berlin Verlag und Redaktion Theater der Zeit GmbH, Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-17 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 redaktion@tdz.de / www.theaterderzeit.de Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Anzeigen Harald Müller, +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Lizenzen lizenzen@tdz.de 77. Jahrgang. Heft Nr. 4, April 2022. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.03.2022 © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit, © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren und Theater der Zeit. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. © Fotos: Fotografinnen und Fotografen

LESERSERVICE

Der Regisseur Christian Weise hat in den letzten Jahren ver­ schiedene Shakes­ peare-Stoffe insze­ niert, darunter „Wie es euch gefällt“ am Nationaltheater Wei­ mar und „Ein Som­ mernachtstraum“ bei den Salzburger Fest­ spielen und zuletzt „Queen Lear“ am Maxim Gorki Thea­ ter mit Corinna Har­ fouch. Der Thüringen-Redakteur Michael Helbing widmet sich den verschiedenen Adaptionen.

Bestellung abo-vertrieb@tdz.de / +49 (0) 30.44 35 28 5-12 Einzelverkaufspreis € 9,50 (Print) / € 8,50 (Digital) Jahresabonnement € 95,– (Print) / € 84,– (Digital) / € 105,00 (Digital + Print) 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch 20 % Rabatt für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Preise gültig innerhalb Deutschlands und inkl. Porto und Versand. Lieferungen außerhalb Deutschlands zzgl. € 25,-

www.facebook.com/theaterderzeit / www.twitter.com/theaterderzeit / www.instagram.com/theaterderzeit www.theaterderzeit.de

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Mai 2022.

Corinna Harfouch in der Inszenierung von „Queen Lear“ in der Regie von Christian Weise am Maxim Gorki Theater. Foto Ute Langkafel MAIFOTO

Korrektur Sybill Schulte


Was macht das Theater, Julie Paucker? Sie sind erstmalig allein programmverant-

Die „Metamorphosen“ vom Theater Basel,

wortlich für die Einladungen zum Schwei-

die Eröffnungsproduktion der neuen In-

zer Theatertreffen, das im Mai zum neunten

tendanz, in der Regie von Antú Romero

Mal in Graubünden und Liechtenstein statt-

Nunes. Ein Abend, der ganz auf die Kraft

findet. War das tatsächlich allein zu bewäl-

des Spielens setzt. An dem klassischen

tigen?

Stoff werden alle möglichen Formen

Das Auswahlverfahren des Schweizer Thea­

durchgespielt, vom Hau-drauf-Slapstick

tertreffens, das als Veranstalter ein mehr-

bis zum raffinierten Kammerspiel – eine

sprachiger Verein ist, erfindet sich gerade

Liebeserklärung ans Theater.

neu. Bei früheren Ausgaben gab es ein Kuratorium von Journalistist:innen, die im

Sie sind somit eine Art Sonde in diese Land-

Abstimmungsverfahren die Auswahl be-

schaft.

stimmten. Dann gab es bei der letzten,

Das ist persönlich extrem spannend. Man

durch die Corona-Krise eingeschränkten

fragt mich natürlich auch, warum wir wie

Ausgabe ein künstlerisches Leitungsduo

das Berliner Theatertreffen nicht auch

mit dem Theaterdirektor von Fribourg

Deutschland und Österreich einbeziehen.

Thierry Loup und mir. Ab jetzt und für die

Da wir ja aber kein deutschsprachiges

kommenden Ausgaben bin ich die alleini-

Festival sind, müssten dann mindestens

ge künstlerische Leiterin. In der Roman-

noch Italien und Frankreich dabei sein.

die und im Tessin bekomme ich Unter-

Das könnte man hier nicht veranstalten, und auch als Sonde nicht leisten. Der

stützung von Scouts, die mich beraten,

Witz ist ja zu zeigen, wie vielfältig und

Die Schweizer Theaterlandschaft zeichnet

Julie Paucker ist künstlerische Leiterin des Schweizer Theatertreffens, das vom 18. bis 22. Mai in Graubünden (Theater Chur und Post­ remise Chur) und am TAK Liechtenstein stattfindet. In ihrer Funktion ist sie für die Auswahl der sieben Inszenierungen des Theatertreffens aus einer Shortlist von 20 Produktionen ver­ antwortlich. Paucker war u. a. von 2006 bis 2012 Dramaturgin in Basel und anschließend bis 2018 am DNT Weimar. Mit der transnationalen KULA Compagnie macht sie eigene, mehrsprachige Projekte. www.recontre-theatre-suisse.ch.

sich durch eine besondere Diversität aus,

Foto Annette Hauschild

gedacht und daraus folgend entstehen

denn ich kann mir viel, aber natürlich nicht alles anschauen. Die Besonderheit des Schweizer Theatertreffens ist ja, dass es wandert. Ab jetzt soll es aber regel­ mäßig in die drei Sprachregionen mit festen Partnern wiederkehren, wenn man so will als Triennale. Der Kern des Festivals ist das Anliegen, die verschiedenen Schweizer Szenen in einem jährlichen Treffen zusammenzubringen.

­übrigens auch durchaus international das Theaterschaffen in einem so kleinen Land wie der Schweiz ist. Wahrscheinlich schon deshalb, weil die Theaterkulturen innerhalb der Schweiz so verschieden sind? So ist es. Das Theater der französischsprachigen Schweiz unterscheidet sich auch in den Strukturen von dem in der deutschsprachigen Schweiz – Theater wird anders

sprachlich, regional, mit vielen freien Grup-

andere Produktionsabläufe. Das sind ei-

pen neben den großen Städten mit ihren

gentlich zwei Welten, und die zu verbin-

­historisch etablierten Theatern – und eben

den, ist eine Mission, die noch nicht er-

darin auch verschiedenen Traditionen.

Inhalten aus. Das war meine Erfahrung beim

füllt ist. In der Romandie herrscht das Prinzip

Gerade diese Diversität trifft sich sehr mit

Sichten. Eine andere eingeladene Produktion

der Compagnien und der einladenden, mit-

meinen Interessen. Und ich denke, das bildet

beschäftigt sich mit dem Schweizer Sport des

produzierenden Theater vor, alles b ­ asiert auf

sich in der Auswahl ab. Es sind offene For-

Schwingens. Da wird ein Schweizer Kult

Tour, während in der Deutschschweiz die gro-

men aus allen Landesteilen vertreten, vom

verhandelt, mitsamt der darin enthaltenen ­

ßen Stadttheater mit Repertoire und festen

Schauspiel hin zu Performance und einem

Rollenbilder – hauptsächlich über Bewegung.

Ensembles die Szene mitbestimmen. Das,

eher choreografischen Theater. Eröffnungs-

Oder – auch ein Highlight: „Giselle“ von

was ich jetzt mache, das Programmieren, ist

produktion ist Martin Zimmermanns „Danse

François Gremaud, der inzwischen auch in

in der Romandie etwas ganz Selbstverständli-

macabre“, eine tänzerisch clowneske Perfor-

Frankreich sehr bekannt ist. Eine Performerin

ches, die meisten Häuser basieren auf die-

mance, poetisch und politisch zugleich – ein

tanzt ein ganzes Ballett, wirklich ein Ereignis,

sem Prinzip. Das führt tatsächlich auch zu

Totentanz auf einer Müllhalde. Mein Eindruck

wie da mit Humor kritisch und gleichzeitig

anderen künstlerischen Ergebnissen. Dies

ist, dass Künstler:innen im Moment das Be-

liebevoll auf das romantische Original ge-

sichtbar zu machen, und die Theaterschaf-

dürfnis haben, direkt am Alltag anzudocken.

guckt wird.

fenden der ganzen Schweiz auch in Work-

Das Gefühl, in einer sehr aufgebrochenen,

shops darüber in einen Austausch zu bringen,

politischen Zeit zu leben, zu der man sich

Von den großen Theatern der Deutschschweiz

verhalten muss, drückt sich in Formen und

gibt es auch etwas?

ist das Ziel des Treffens. // Die Fragen stellte Thomas Irmer


ITZ BACK !

Im AnTlITZ der mAsChInen

Von Peer Mia Ripberger

nee, ICh BIn Bloss feTT geworden …

Von Anaela Dörre und Peer Mia Ripberger

sChImpf & sChAnde

Von Hannah Zufall

wIe eIn ZArTer sChIllerfAlTer – eIn AudIowAlK

Von Peer Mia Ripberger

Vreedom – eIne dreIdImensIonAle BefreIung Von Kollektiv Mosaik

mAKIng of (UA)

Von Charlotte Lorenz

www.itz-tübingen.de

Ab 8. April 2022 Ab 9. April 2021 Ab 23. April 2022 Ab 1. Mai 2022 Im Stadtraum ab 7. Mai 2022 Ab 4. Juni 2022


39. Heidelberger Stückemarkt

29.4. 8.5.2022 Das Theater Festival Gastland Spanien


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