TdZ 4/2024 – Konfliktzone. Theater in politischen Auseinandersetzungen

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Theater der Zeit Mit

Peter M. Boenisch Wolfgang Engler Nino Haratischwili Philipp C. Mayer Olaf Nicolai Aenne Quiñones Max Radestock Marie Schleef

Abschied von René Pollesch

April 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Konfliktzone

Theater in politischen Auseinandersetzungen


volkstheater

KARTEN 089.5 23 46 55 · WWW.MUENCHNER-VOLKSTHEATER.DE

19–27/4/2024 RADIKAL JUNG DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE


Foto picture alliance/dpa | Annette Riedl

Theater der Zeit Editorial

Die Volksbühne Berlin und die ganze deutsche Theaterszene verabschiedet sich von René Pollesch

Die schockierende Nachricht verbreite­ te sich am Abend des 26. Februar: René Pollesch ist tot. Was? Das kann nicht sein! Bald dann auch ungläubige Anfragen aus dem Ausland, aus Prag, Oslo, Belgrad. Stimmt das? Die Volksbühne setzte ihre Dachfahnen auf Halbmast, dazwischen ein riesiges Banner mit dem Namen des Ver­ storbenen. Unten vor den Eingangstüren standen sehr schnell Blumen und Kerzen. Dieser Verlust für die Theaterwelt ist kaum zu benennen, und wir legen hier für die Lesezeit der folgenden Leerzeilen noch einmal eine Schweigeminute ein –

ben. Der Berliner Soziologe Wolfgang Engler analysiert diese im Überblick. Im Gespräch mit dem Dresdner Intendanten Joachim Klement und seinem Chefdrama­ turgen Jörg Bochow über die am dortigen Staatsschauspiel von Volker Lösch insze­ nierte „Dreigroschenoper“ geht es unter anderem darum, was nach einem Wahlsieg der AfD in Sachsen passieren könnte. Mit einer persönlichen Einlassung gab sich der Intendant zuversichtlich: Einen Umzugs­ transport zu bestellen kommt für ihn nicht in Betracht. Der Regisseur Max Radestock erzählt in der Post-Ost-Serie von seiner Familien­ geschichte und macht sich Gedanken zu den Aufgaben eines auf diese Thematik ausgerichteten Theaters. An dieser Stelle sei einmal hervorgehoben, dass die bei­ den neuen Serien in der Redaktion von Nathalie Eckstein und Sophie-Margarete Schuster (Schlaglichter) sowie OnlineRedakteurin Lina Wölfel (Post-Ost) be­ treut werden. Sie suchen und finden den Kontakt zu jungen Autor:innen, die erst­ mals in TdZ veröffentlichen. Insbesondere über social media finden diese Beiträge ein enormes Echo von uns wichtiger Reich­ weite. Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

Danke. Inzwischen vergeht keine Woche mehr, ohne dass eine Kulturinstitution, darunter immer wieder auch Theater, in die öffent­ liche Kritik gerät, weil ein Vortrag oder eine Personalie mit bestimmten AgendaSetzungen oder auch politischen Richt­ linien – wie dem Bundestagsbeschluss zu BDS vom 17. Mai 2019 – nicht zu verein­ baren seien. Das Feld ist riesig und durch­ aus als Konfliktzone neuer Art zu beschrei­

Theater der Zeit 4 / 2024

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Theater der Zeit

BU

Thema Konfliktzone Theater in politischen Auseinandersetzungen 12 Gespräch Polarisierung und Positionierung Der Intendant Joachim Klement und Chefdramaturg Jörg Bochow vom Staatsschauspiel Dresden über Volker Löschs kontroverse „Dreigroschenoper“ vor den Wahlen in Sachsen Im Gespräch mit Thomas Irmer

16 Essay Unter Beobachtung Documenta, Berlinale und kein Ende – wie kulturelle Institutionen in erregten Zeiten in Konflikte geraten Von Wolfgang Engler

René Pollesch, Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin

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Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de

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Fotos links oben Sebastian Hoppe, unten David Baltzer, rechts oben Steffen Baraniak

„Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) am Staatsschauspiel Dresden. Regie Volker Lösch


Inhalt 4/ 2024

Akteure 22 Kunstinsert Partitur der Geräusche Wie der Stuttgarter Komponist und Klangkünstler Philipp C. Mayer im Team um Rieke Süßkow das Theater entdeckt Von Michael Helbing

26 Nachruf Nichts mehr ok René Pollesch machte als Regisseur, Autor, Theoretiker das Theater zum Diskursraum Von Thomas Irmer

28 Nachruf Eher Punk als Theater Wie René Pollesch mit Heidi Hoh die Suche nach Wirklichkeitsräumen begann Von Aenne Quiñones

31 Nachruf Was würde René dazu sagen?

Von Olaf Nicolai

32 Porträt Die Toleranz, das Schlachten und die Feuchttücher Der Dramatiker Akın Emanuel Ş ipal schafft mit „Akıns Traum vom osmanischen Reich“ am Schauspiel Köln den großen Wurf Von Stefan Keim

Diskurs & Analyse 60 Serie Schlaglichter #04 Von Ceren Yildirim

62 Serie: Post-Ost Hessen liegt in Ostdeutschland Von Max Radestock

Stück 36 Stückgespräch Tödlich verwundet Nino Haratischwili über „Penthesilea. Ein Requiem“ und ihre Arbeit mit der Antike Im Gespräch mit Thomas Irmer

39 „Penthesilea. Ein Requiem“ Von Nino Haratischwili

Magazin 4 Bericht Gegen Gewalt ohne Ende Von Elisabeth Maier

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Anna Bertram, Stefan Keim, Michael Helbing und Christoph Leibold

8 Kolumne „The List“ Von Marie Schleef

Report 66 Polen Endlich eine richtig gute Wende Wie in Polen die Kulturpolitik der PiS-Regierung korrigiert wird Von Iwona Nowacka

69 Hamburg Die Stress-Knoten auflösen Performing Arts neu denken: Fokus Tanz #10 SORRY NOT SORRY auf Kampnagel Von Heneliis Notton

74 Bücher Das Reform-Genie Von Thomas Irmer

76 Was macht das Theater, Peter M. Boenisch? Im Gespräch mit Elisabeth Maier

1 Editorial 75 Autor:innen & Impressum 75 Vorschau

72 Erfurt Zwischen Reform und Skandal Erfurt, die einzige Landeshauptstadt ohne Schauspiel, ringt mit ganzen Problembündeln Von Michael Helbing Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: Double – Das Magazin für Puppen, Figurenund Objekt­theater

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Magazin Bericht bergischen Hauptstadt erlebt hat. Zur Premiere kam Sobol aus Tel Aviv und kommentierte die aktuelle Situation im Gespräch. Die viel beachtete Uraufführung führt dem Stuttgarter Publikum die Historie vor Augen, die der international vernetzte Dramatiker Sobol mit viel Feingefühl für beide Seiten betrachtet. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 07. Oktober und dem daraus resultierenden, erbitterten Krieg im Nahen Osten, bereichert sein empathischer, historisch messerscharfer Blick die Debatte. Mit der Uraufführung setzt der Stuttgarter Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski seinen Kurs, europäische und internationale Künstler:innen zu zeigen und in einen fruchtbaren Dialog zu bringen, gerade in Zeiten von Kriegen und Krisen, beherzt fort. Dabei gibt Kosminski allen Seiten eine Stimme. In einer Zeit, da sich die Fronten in der Gesellschaft zunehmend verhärten, sieht Kosminski im Theater die Chance, politische und gesellschaftliche Diskurse zu hinterfragen – und das aus vielen Blickwinkeln.

Paula Skorupa in„Der große Wind der Zeit“ von Joshua Sobol am Schauspiel Stuttgart. Regie Stephan Kimmig

Gegen Gewalt ohne Ende Joshua Sobols Roman „Der große Wind der Zeit“ am Schauspiel Stuttgart ist mehr als ein Zeichen für die heftigen Konflikte um den israelischpalästinensischen Krieg Von Elisabeth Maier

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Die Sprachlosigkeit zwischen Juden und Arabern überwindet der 84-jährige Dramatiker und Schriftsteller Joshua Sobol in seinem Roman „Der große Wind der Zeit“. 2021 träumte sich der israelische Künstler da in hundert Jahre Geschichte hinein. An ihrem letzten Tag am Grenzposten wird die israelische Wehrdienstleistende Libby mit ihrer Familiengeschichte konfrontiert, die von den scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen den Religionen geprägt ist. Stephan Kimmig hat die Bühnenfassung des fünfhundert Seiten starken Romans am Staatstheater Stuttgart inszeniert. „Ich bin sehr froh, dass ein deutsches Publikum die Uraufführung der Bühnenfassung in dieser kritischen Zeit der Geschichte erlebt“, findet Sobol. Denn gerade in dieser Zeit, da Antisemitismus in ganz Europa aufflammt, sei dieser Dialog wichtiger denn je. Der Literat ist erschüttert über „den Anti-Zionismus und die Israel-Phobie“, die er auch bei seinem Deutschland-Besuch in der baden-württem-

Mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Wajdi Mouawads tragischer Familiengeschichte „Vögel“ eröffnete der Regisseur Kosminski 2018 seine Intendanz in Stuttgart. Der libanesisch-kanadische Dramatiker, Schauspieler und Regisseur leitet seit 2016 das französische Nationaltheater La Colline in Paris, vernetzt auch da internationale Künstler:innen im Haus. In Fokus seiner ­„Vögel“ steht der Nahost-Konflikt. Auch er betrachtet die jüdische wie die arabische Perspektive. 2020 zeichnete ihn das Land Baden-Württemberg mit dem ersten Europäischen Dramatiker:innenpreis aus, den Kosminski am Schauspiel Stuttgart ange­ stoßen hatte. Wie schwer es ist, beide Seiten in einen ehrlichen Dialog zu bringen, zeigte die zunächst geplante Verleihung des zweiten Dramatiker:innenpreises 2022 an die große britische Dramatikerin Caryl ­Churchill. ­Wegen Antisemitismus-Vorwürfen und ihrer vermeintlichen Nähe zur BDSBoykottbewegung gegen Israel nahm das Theater die Nominierung zurück. Die junge, internationale Szene ist für Kosminski ein Schlüssel zum Theater der Zukunft. Mit dem Europa-Ensemble, das der kroatische Regisseur Oliver Frljić drei Jahre lang leitete, brachte das Staatstheater deutsche, kroatische und polnische Spieler:innen drei Jahre

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Fotos Katrin Ribbe

Theater der Zukunft


Magazin Bericht lang mit wechselnden Regieteams zusammen, um das Konzept eines europäischen Theater neu zu denken.

Ironie der Geschichte Wie erzählt Joshua Sobol seine Familiengeschichte aus der Perspektive von vier Generationen? „Das Stück konfrontiert das Publikum mit der Entscheidung der Urgroßmutter Eva, ob sie ein Opfer des mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten werden oder nach Israel zurückkehren will.“ Zunächst bleibt sie, erkennt dann aber die Gefahr und geht zurück nach Israel. Aber das sichere, kollektive Leben in dem Kibbuz, in dem ihr Sohn lebt, gibt es für sie dort nicht mehr. Die leidenschaftliche Tänzerin schließt sich einer militärischen Einheit an, die den jungen Staat Israel gegen die Angriffe aus aller Welt verteidigen will. Im Plot liegt nach Sobols Worten die Ironie der Geschichte. Ihre Urenkelin Libby entdeckt nach ihrer Entlassung aus der Armee die Aufzeichnungen der Großmutter, und deren Schicksal beginnt, ihr ganzes Leben zu bestimmen. Libby gehört zur heutigen Generation junger Menschen in Israel, welche die weltweiten Wellen des Antisemitismus ebenso schmerzlich spüren wie sie sich mit dem Genozid der Hamas auseinandersetzen müssen, „der am 07. Oktober 2023 mit dem Pogrom gegen die Zivilbevölkerung Israels begann“. Die Jugend, die zwischen Grenzbefestigungen und Kriegsnachrichten lebt, zeigt Bühnenbildnerin Katja Haß in der Stuttgarter Uraufführung in einem starken Raum. Wie schwerer, hellgrauer Beton wirkt die monumentale Kulisse. Dieses Setting lässt sich drehen und wird zum Wohnzimmer von Libbys konservativen Eltern wie auch zu einem Hügel, auf dem sie mit ihrem geliebten Großvater von der Vergangenheit träumt. Mit den Schauspielerinnen Paula Skorupa als Eva und Camille Dombrowsky als Libby gelingt Regisseur Kimmig ein starker Spagat zwischen Gegenwart und Geschichte. Sobols dramatische Kunst liegt darin, berührende Menschenporträts zu zeichnen, und in ihnen stets den gesellschaftlichen Kontext zu zeigen. Obwohl Sobol klar Position bezieht gegen die Hamas, ist dem Schriftsteller an einer nachhaltigen Versöhnung zwischen den Völkern gelegen. Da ruht die ganze Hoffnung des

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84-Jährigen auf der jungen Generation. Bei einem Verhör lernt Libby in ihren letzten Stunden als Soldatin den jungen arabischen Historiker Adib kennen, der in England aufgewachsen ist und dort lebt. Er gehört zu einer entwurzelten Generation von Palästinensern, die ihre Identität suchen. Felix Strobel zeichnet die Zerrissenheit des jungen Mannes stark. ­Indem er mit Libby die Geschichte der ver­ feindeten Religionen und Familien aufarbeitet, findet er Halt. Trotz des schweren Stoffs liegt in der Begegnung der beiden Menschen eine berauschende Poesie, die Michael Raab bildschön ins Deutsche übertragen hat. „Was im Moment passiert, zeigt doch nur, dass Gewalt weitere Gewalt hervorbringt“, sagt Joshua Sobol. Es sei sehr leicht, einen Krieg zu beginnen, und es sei leicht, ein Verbrechen zu begehen. Als solches bezeichnet er den Angriff der Hamas auf Israel. „Aber wer einen Krieg beginnt, dem muss klar sein, dass er den Preis für diesen Wahnsinn selbst zahlen muss.“ Das Blutvergießen, wie es Sobol derzeit in Israel erlebt, muss aus seiner Sicht enden, und zwar „mit einer nachhaltigen, friedlichen Lösung für den palästinensisch-israelischen Konflikt“. Dieses ambitionierte Ziel sieht er als einzigen gangbaren Weg: „Nicht mehr und nicht weniger.“ Da hat der Dramatiker eine Vision. „Es geht darum, eine Union für den Mittleren ­Osten zu formen, die vergleichbar mit der Europäischen Union ist.“ In einem solchen Rahmen sieht er eine realistische Chance, den Konflikt zwischen Israel und Palästina beizulegen. „Ich weiß, dass das in der augenblicklichen Situation tagträumerisch und utopisch klingt“, sagt Sobol. Und doch spricht aus seinen Worten Hoffnung. Denn sollte sich der Krieg nicht beenden lassen, sieht der Schriftsteller die ernste Gefahr einer nuklearen Katastrophe für die ganze Region: „Wir müssen im Blick behalten, dass der Iran seine nuklearen Waffen entwickelt.“ Ein solcher Konflikt könnte sich auch weltweit ausweiten, warnt der Künstler: „Deshalb sollte es im Interesse Europas und der USA liegen, nach einer solchen Lösung zu streben.“ Dann hätten auch die terroristischen Organisationen, die die Weltgemeinschaft gefährden, keine Chance. Mit großer Sorge sieht Sobol den wachsenden Antisemitismus, der in ganz Europa aufkeimt. Wie stellt er sich dem als Künstler

„Es geht darum, eine Union für den Mittleren Osten zu formen, die vergleichbar mit der Europäischen Union ist.“

entgegen? „Wir können nur unsere Gefühle und Visionen mit unseren Mitmenschen teilen.“ Aber doch findet er seine gesellschaftliche Aufgabe wichtiger denn je: „Künstler:innen können die Sensibilität ihres Publikums schärfen. Sie können die Aufmerksamkeit auf den unterschwelligen Hass lenken, der unter der Oberfläche gärt – und das lange, bevor sich solche Tendenzen zum Tsunami der Gewalt ausweiten.“ Mehr denn je sei es die Aufgabe der Kunst, „die Alarmglocken zu läuten“ – gerade in Deutschland mit seiner dunklen Geschichte des Holocaust. Das gelingt dem 84-Jährigen mit „Der große Wind der Zeit.“ Da schließt Sobol den Kreis der Geschichte. Es geht ihm darum, „jetzt alle Kräfte zu mobilisieren, um die gefährlichen Tendenzen zu stoppen, die Deutschland in seine dunkelsten Zeiten des letzten Jahrhunderts zurückschleudern könnten.“ T

Felix Strobel und Camille Dombrowsky in „Der große Wind der Zeit“ von Joshua Sobol

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Magazin Kritiken

Coming of Age mit Glitzer und Karaokenight

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Fiesta Faustiana

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aust will nicht erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Er will einen Hit komponieren, ein Siegerlied für den European Song Contest. Aber die Energie hat ihn verlassen. Schlaff sitzt er am Klavier, schlürft Merlot und spielt mit einer Hand Dreiklänge. Hinter ihm taucht ein Mensch mit einem Pudelkopf auf. Und als sich aus den Tönen der Song „Super Trooper“ von Abba entwickelt, wird des Pudels Kern sichtbar. Mephisto erscheint in der Gestalt von Iggy Pop. Ja, das ist ein durchgeknalltes Stück. Voller Albernheiten, Trash und Quatsch. Auch wenn die Dramaturgie gegen Ende hin ein wenig den Geist aufgibt, ist es großartig – ein wilder Theaterspaß, der auch an einem Dienstagabend das Abopublikum im ausverkauften großen Haus von den Stühlen reißt. Der „Pudelpunk Song Contest“ ist eine Hommage an den Geist des Punk. Iggy Pop führt Faust – oder den Schlagerkomponisten Rolf Kugel – nicht durch Hexenküche und Walpurgisnacht. Sondern durch die ikonischen Clubs in New York (CBGB’s), London (Roxy) und Düsseldorf (Ratinger Hof). Esther Keil trägt ein T-Shirt mit aufgedrucktem nacktem, faltigem Männeroberkörper, sie klagt über Rückenschmerzen und gibt dennoch alles – Iggy Pop eben. Es kommt zu einem Clash der Kulturen. Punk und Schlager vermischen sich. Über der vierköpfigen Band hat Oliver Kosteckas Bühne eine erhöhte Spielebene, worauf ein Chor der Engel trashige Choreografien zeigt und mit vollem Stimmbandeinsatz in den meisten Fällen die richtigen Töne trifft. Die Aufführung beweist, dass sich Goethes Texte perfekt zu Melodien von Rex-Gildo-Schlagern singen lassen und umgekehrt „Marie, der letzte Tanz ist nur für dich“ durchaus pogotauglich umgedeutet werden kann. Eine „Fiesta faustiana“ mit hohem Hossa-Faktor. Die Aufführung hat aber auch eine zweite Ebene. Sie bringt gegensätzliche Musikkulturen zusammen. Punk und Schlager begegnen sich auf Augenhöhe, niemand macht sich über den Spaß der anderen lustig. Das Publikum kann begeistert bei „Dschingis Khan“ mitklatschen und Iggy Pop verehren. Der Engelschor intoniert den Schlager „Wir wollen Sonne statt Reagan“, mit dem Joseph Beuys in Fernsehshows auftrat. Und am Schluss vereinen sich alle in einer gänzlich unkitschigen Fassung von „Ein bisschen Frieden“. Rolfralph Siegelkugel (Adrian Linke) hat doch noch seinen neuen Gewinnerhit, und Iggy Mephistopop wollte nie dafür seine Seele erjagen. Was soll er auch damit? // Stefan Keim

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Foto links oben Sepp DeVries, unten Matthias Stutte, rechts oben Candy Welz, unten Anja Köhler

und aneinander ab, treten viel in Dialog, verhandeln den Wunsch, Teil von etwas zu sein. Animierte Titel zu den Karaokesongs werden eingeblendet, und die Lust mitzusingen und der gleichzeitige Karaoke-Cringe ergänzen sich auf eine wunderbare Art. Gezeigt wird ein Verlorensein, ein Sich-Verbinden, Sehnsucht nach etwas Undefinierten. Auch Unsicherheiten haben Platz. Und das Stück schafft es, all diese Themen aufzumachen „I want to belong (and sing a song)“ von Philippe Heule und dabei einen offenen Raum zu halten. in eigener Regie Der Abend ist ein Potpourri aus theatraTheater Marie: len Stils, Songs und Fragen ans Leben. Die Figuren handeln und verhandeln, fragen und antworten mit Stilbrüchen und einer Prise Ironie und Stilisierung. Es ist ein Ausprobieren, eingebettet in immer wieder sphärische und mitdenkende Klänge und Musik, die sich wie ein Teppich anfühlen. Die Karaoke schleicht sich durch die Genres hindurch, landet ir„I want to belong (and sing a song)“ gendwann bei Radioheads „Creep“ gesunvon Philippe Heule (UA) – Regie den in Autotune, herzzerreißend und denk­Philippe Heule, Bühne, Kostüme bar absurd zugleich. Aber so ist das Ganze Mikki Levy-Strasser, Sounddesign, eben: Etwas verschoben und skurril, und Komposition Sarah Calörtscher, doch aushaltbar, weil die Handlung immer wieder in einem rhythmischen Tempo weiter ­Video Michelle Ettlin geht, sich immer wieder neu erfindet, die Fit is Showtime! Drei silbern-glitzernde Podestguren letztlich doch füreinander da sind. stufen ragen auf der Bühne in die Höhe, vorVielleicht so, wie man Gen Z verstehen kann ne rechts ein knallrotes Sofa mit mondänen oder möchte. // Anna Bertram Cocktailgläsern auf einem Beistelltisch daneben. Dahinter zwei Leinwände aus Fadenvorhängen, strahlend wie Lametta. Mehrere Garderobenstangen mit bunten Kostümen und Outfits umrahmen den Bühnenrand, als seien sie Wände – it is clearly time to perform. Das spüren vor allem die fünf Figuren auf der Bühne. Doch was genau das für Mariell, Sam, Elle, Vanja/Vito und Tim heißt, ist niemandem von ihnen so ganz klar. Bevor also überhaupt diskutiert wird, was nun passiert, steht zuerst die Frage im Raum: Wozu sind sie aufgefordert? Eine Frage, die sich an diesem Abend auf der „Pudelpunk Song Contest“ nach Goethes „Faust“ in der Regie von Christoph Roos Bühne stellt und gleichzeitig Inbegriff einer größeren Suche wird. Nämlich der Frage daTheater Krefeld/Mönchengladbach: nach, wohin dazugehören. Vor allem, wenn das Leben noch größtenteils bevorsteht. Es ist Karaokenight, und es geht darum, einen Song zu präsentieren. Zu zeigen, wer „Pudelpunk Song Contest“ (UA) nach man ist, zu sharen, zu teilen, sich darzustellen. Goethes „Faust“ von Jörg Wockenfuß Showtime eben. Alles ist ein bisschen Pop, die Outfits der Charaktere strahlen in und Nicolas Schwarzbürger – Regie bunten Farben, es glitzert immer wieChristoph Roos, Musikalische Leitung der. „Aber ich kenn das Lied gar nicht“, stellt Jörg Wockenfuß, Bühne Oliver Kostecka, Mariell fest. Und so geht die Suche los. Mal Kostüme Jenny Theisen, Choreografie mehr auf sich alleine gestellt, mal mehr in der Ralph Frey Gruppe, arbeiten sich die fünf an sich selbst


Magazin Kritiken

„Die Leiden des jungen Werthers“ nach Johann Wolf­ gang Goethe in der Regie von Swaantje Lena Kleff

Deutsches Nationaltheater Weimar:

Geburtstagsshow für einen Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ von Eva Bormann, Swaantje Lena Kleff und Beate Seidel nach Johann Wolf­ gang Goethe – Regie Swaantje Lena Kleff, Bühne Philip Rubner, Kostüme Anne Horny, Musik Ludwig Peter Müller, Choreografie Romina Geppert

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uizfrage: Zu welchem literarischen Genre gehören „Die Leiden des jungen Werthers“? So will es Charly von Bert wissen, dem zumindest diese Antwort leichtfällt: zu den Briefromanen. Das ist fraglos richtig, obgleich daraus heutzutage längst einer der erfolgreichsten Bühnenstoffe Goethes wurde. Dafür wollen sie auf der Bühne jetzt also buchstäblich „den 250. Geburtstag einer Persönlichkeit feiern, deren Essenz die Grenzen von Raum und Zeit überwindet.“ Sie meinen Werther, was insofern merkwürdig ist, als dass Goethes autofiktionale Figur dann bei Erscheinen des Romans 1774 ein Säugling gewesen sein müsste, derweil er darin als Zwanzigjähriger Briefe schreibt, die auf 1771/72 datierten. Aber was soll’s!? Weimar richtet ihm eine große Geburtstagsshow „W250“ aus, mit der Swaantje Lena Kleff ihre ziemlich muntere und reichlich burleske Inszenierung in eigener Fassung rahmt: mit Torte, ohne Briefe. Moderieren lässt sie das von den Showmastern Charly und Bert, wohinter sich selbstredend Charlotte und Albert verbergen, die in einer soliden, etwas in die Jahre gekommene Ehe elf Kindern großziehen (so wie Frau Buff und Herr Kestner im wirklichen Goethe-Erleben). Anders als die Titelrolle ruft Kleffs Inszenierung nicht danach, das Gegenwärtige

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zu genießen und das Vergangene vergangen sein zu lassen. Sie sucht in Spielweisen, Kostümen und kommentierenden Bildern nach Verbindungslinien und Bruchkanten dazwischen. Das ereignet sich zwei Stunden lang, das ist die Konsequenz der Show, als rasante Nummernfolge, in der von Ludwig Peter Müller neu arrangierte Popsongs wie Inseln der Empfindsamkeit wirken: „Because“ von den Beatles im Satzgesang, der „America“-Song von The 1975, Danger Dans „Gute Nachricht“ („Schläfst du heut bei mir?“). Lotte eignen sie fast leitmotivisch Disneys Schneewittchen zu: „Sei vergnügt, sing ein Lied!“ Ein vergnüglicher Abend wird auf jeden Fall daraus, einer, der auf Werther als Phänomen drauf-, nicht so sehr jedoch in ihn hineinschaut. Er bewegt sich oft auf der Metaebene. Die drei Werther-Darsteller klatschen bei angemessen ungehaltener Gelegenheit entsprechend gelbe Reclam-Ausgaben des Romans gegen einen auf dem Boden auslaufenden Wandteppich aus Naturwolle. Der markiert auf der Drehbühne hinter zwei halbrunden Stufen eine wilde Wiesenlandschaft als Naturort. Als universeller Innenraum dient derweil ein nachgebautes ChristianeZimmer aus dem Weimarer Goethehaus. // Michael Helbing

„Stromberger oder Bilder von Allem“ von Gerhild Stein­ buch, Inszenierung Bérénice Hebenstreit

Vorarlberger Landestheater:

Geschichte erarbeiten

„Stromberger oder Bilder von Allem“ von Gerhild Steinbuch (UA) – Insze­ nierung Bérénice Hebenstreit, Bühne und Kostüm Mira König, Musik und Bühnenmusiker Sandro Nicolussi

Einen „Engel in der Hölle von Auschwitz“ nannte sie der Historiker Harald Walser, der 2022 ein Buch über Maria Stromberger geschrieben hat. Die katholische Krankenschwester aus Kärnten ließ sich 1942 nach Auschwitz versetzen. Sie wollte sich ein Bild davon machen, was dort geschah. Es blieb nicht bei der stummen Zeugenschaft. Maria Stromberger begann die Barbarei nach Kräften zu bekämpfen. Nach dem Krieg wurde sie als vermeintliche NaziKollaborateurin inhaftiert, von ehemaligen Häftlingen aber rehabilitiert. Weithin vergessen verbrachte sie ihre letzten Jahre in Bregenz. Gerhild Steinbuch begnügt sich nicht mit der Nacherzählung dieser Lebensgeschichte. Der Zweifel, wie und ob man heute über etwas schreiben kann und darf, von dem man doch kein eigenes Bild hat, ist diesem komplexen Textgespinst ebenso eingewoben wie die Überzeugung, dass man es trotz aller Skrupel tun muss. „Kein ganzer Mensch passt in eine Geschichte“ heißt es da einmal. Solche Sätze sprechen vier Performerinnen, die sich anhand unterschiedlicher ­ Dokumente (Textzeugnisse Strombergers, Zeit­zeugenaussagen, Fotografien) an die Titelheldin herantasten – auf dass zumindest näherungsweise ein Gesamtbild entsteht. Steinbuch hat dabei die Zeitebenen so nahtlos miteinander verknüpft, dass sich der Zuschauer in diesem engmaschigen Geflecht schon mal verheddern kann. Keine Frage, ein kluges Stück, auf hohem Reflexionsniveau, aber auch eines, das zwischendurch mehr kunst- als kraftvoll wirkt. Die Inszenierung von Bérénice Hebenstreit lässt über dieses kleine Manko des Texts hinwegsehen. Die Regisseurin hält die Fäden souverän in der Hand. Ausstatterin Mira König hat sie einen Kubus aus mit Schnüren bespannten Wänden auf die Bühne gestellt, den das starke Darstellerinnen-Quartett erkundet. Sie lugen durch die Schnüre ins Innere dieses Raumes, der anfangs so unergründlich wirkt wie eine Black Box, zwängen sich hinein, betrachten historisches Bildmaterial, probieren momentweise verschiedene ­Figuren aus – eine Suchbewegung. Stück und Inszenierung sind kein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung. Das Gestern wird hier nicht ver-, sondern vielmehr erarbeitet. // Christoph Leibold

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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„The List“ Von Marie Schleef

1 „Frau“ und „weiblich“ verstehe ich nicht als feststehende Kategorie oder Identität, sondern als kulturell entstandene Zuschreibung und Konstruktion. Geschlechteridentitäten sind vielfältig.

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mmer wieder werde ich in Podiumsdiskussionen, Panels oder Publikumsgesprächen gefragt, wie ich zu meinen Stoffen komme. Seit Beginn meines Regiestudiums habe ich mir eine künstlerische Aufgabe gestellt, die ich mit meinem Berufseinstieg auch öffentlich zu teilen wagte: mich Texten von Frauen*1 zu widmen, die im deutschsprachigen Theaterraum wenig bis gar nicht bekannt sind. Daraus entstand der Anfang einer (noch relativ kurzen) Liste von hauptsächlich Uraufführungen. Lange Zeit konnte ich diese Frage gar nicht so konkret beantworten, da ich seit einigen Jahren mit einem sehr konzentrierten und fokussierten Blick durch die Welt gehe, der mich immer wieder zu verschiedenen weiblichen* Persönlichkeiten führt, ohne dass ich bewusst sagen könnte wie. Oft sind es auch andere, die mich dorthin führen. Und dann ist mir neulich aufgefallen, dass ein Mittel, das ich gerne benutze – und das ich hier gerne teilen möchte – bereits existierende Listen sind, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Eine meiner Reisen durch Listen verlief zum Beispiel so: Auf der Suche nach einem Text, der sich mit der Metamorphose einer Frau (Frau wird zu Stein, Pflanze oder Objekt) beschäftigt, stieß ich auf einen Artikel der amerikanischen Autorin Lara Ehrlich mit dem passenden Titel: „10 Short Stories About Women’s Transformations, fiction by women about mythological and psychological metamorphoses“. Eine Liste zeitgenössischer englischsprachiger Autorinnen* und ihrer Kurzgeschichten, die ich bis dahin nicht kannte; ein Portal, das wiederum in zehn verschiedene Kosmen führte. Ich blieb an Liz Ziemskas surrealem Text „The Mushroom Queen“ hängen, eine außergewöhnliche und eindrucksvolle Geschichte über eine Frau*, die ihr Leben mit einem Pilz tauscht. Inzwischen blicke ich mit einem warmen Lächeln auf diesen Moment zurück, denn Liz und ich sind Bekannte geworden und ich konnte ihren Text im letzten Jahr am Schauspielhaus Hamburg uraufführen und sogar ins Deutsche übersetzen lassen. Jetzt geht der Text als Theaterstück neue Wege und findet sein Publikum in Deutschland. Und das alles, weil Lara Ehrlich den Text und seine Autorin auf ihre Liste gesetzt hat. Aber die Reise war noch nicht zu Ende. Liz war selbst ein Portal. Denn ihre wunderbar seltsame Geschichte wurde für einen Preis nominiert – und so landete ihr Name auf einer weiteren Liste, der Short List für

den Shirley Jackson Award für die beste Science-Fiction-Kurzgeschichte. Da ich zu diesem Zeitpunkt weder von dem Preis noch von der Frau, nach der er benannt ist, gehört hatte, begann ich erneut zu graben und stieß auf die Autorin Shirley Jackson, deren posthum veröffentlichten Text „Die Möglichkeit des Bösen“ ich in diesem Jahr an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung bringen werde. Und so denke ich über Listen nach und über den Platz, den sie in meiner Arbeit einnehmen. Dass sie ein nützliches Mittel der Erinnerung sind, aber oft auch den Beigeschmack eines Rankings haben. Wie ambivalent mein Verhältnis zu ihnen ist. Auf welchen Listen ich schon stand. Auf welchen Listen ich gerne stehen möchte. Auf welchen Listen ich nie stehen möchte. Auf welchen Listen ich nie stehen werde. Von der Telefonliste zur Kontaktliste, von der Besetzungsliste zur Warteliste, von der Abschussliste zur Fahndungsliste, von der Long-List zur Short-List. 2010 besuchte ich an meinem College in New York einen Kurs mit dem Titel „Visual Imagination for the Modern Stage“. Am ersten Tag des Seminars überreichten uns der Regisseur Daniel Fish und die Bühnen- und Kostümbildnerin Kaye Voyce eine Liste, die wir Student:innen voller Ehrfurcht und Respekt nur noch „The List“ nannten. Wir konnten nicht einmal „The List“ sagen, ohne bedeutungsvoll die Augen aufzureißen, denn „The List“ hatte es in sich. Sie bestand aus drei Seiten voller Namen von Künstler:innen, Theatermacher:innen, Designer:innen, Architekt:innen und Fotograf:innen, die wir alle kennen sollten. Mit meinen zwanzig Jahren öffneten sich mir dann ganze Welten, Portale eben. Das Anliegen von Daniel und Kaye war es, uns ein künstlerisches Vokabular an die Hand zu geben, uns zu inspirieren und gemeinsame Bezugspunkte für zukünftige kollaborative Arbeitsprozesse zu schaffen. Am Ende des Seminars spielten wir Jeopardy mit unserem Wissen. Ich hatte also nicht nur die Regeln dieses ikonischen amerikanischen Spiels gelernt (Who is...?), sondern auch über dreihundert Inspirationen gewonnen. Die Liste wurde übrigens von keinem Geringeren angeführt als René Pollesch. T Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel.

Theater der Zeit 4 / 2024

Foto links Hendrik Lietmann, Fotos rechts Ballhaus Naunynstraße Zé de Pauva, Theater Konstanz Ilja Mess, Pfefferberg-Theater Torsten Stapel, Theater Casino Zug Florian Spring, RambaZamba Theater Phillip Zwanzig, Sophiensæle Berlin Gedvile Tamosiunaite, ID Festival Mirimode productions

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Casino Zug

„Courageux! Furchtlos!“ von Atif Mohammed Nor Hussein

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Wie wird man mutig, wenn die Gesellschaft mögliche Vorbilder übertüncht? „Courageux! Furchtlos!” ist eine Hommage an Alexandre Dumas, den Schwarzen Erschaffer sieges­ gewisser Helden, und eine Suche nach dem Mut, mit dem Geschichte beginnt! 21.– 25.04.

„The Journey“ ist eine literarisch-musikalische Reise in den Osten mit Lukas Bärfuss, Gwendolyn Masin, Miklós Lukács, Susi Evans, Szilvia Csaranko & ORIGIN Ensemble. Minsk, Odessa, Istanbul und Sarajevo. Die Route folgt den Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Ihre Lieder erzählen vom letzten Morgen im alten Zuhause, vom ersten Abend in einem fremden Bett. 30.04. Theater Konstanz Die Stückentwicklung „Unter anderen Umständen“ von Susanne Frieling und Florian Schaumberger nähert sich, basierend auf Recherchen, Interviews und Erfahrungsberich­ ten, den medizinischen, rechtlichen und emotionalen Aspekten von Fehlgeburten und Sternenkindern. 06.04. (Uraufführung) Radialsystem Berlin

Dirk Nadler

Pfefferberg-Theater, Berlin

RambaZamba Theater, Berlin

Im Rahmen der EU-geförderten künstlerischen Konferenz „Along the Walk“ kommen Impro-Ensembles aus ganz Europa zum Abschluss des Projekts zusammen. Workshops, Keynotes und Shows jeweils um 20 Uhr runden die Weiterentwicklung von Impro-Theater anhand des Themas „Entschleunigung“ ab. Tickets die-gorillas.de/spielplan.html 17.– 20.04.

Am 06. April feiert „Remake Caligari“ (Regie: Michael Geißelbrecht) Premiere. Inspiriert vom ersten deutschen Horrorfilmklassiker in einer Fassung des RambaZamba Theaters. Alle Infos & Tickets unter: rambazamba-theater.de 06.04. (Premiere) Kaserne Basel

„Tales of the Club“

Theater der Zeit 4 / 2024

Die Erzählung einer Nacht als interdisziplinäre Performance Collective Echo/ Lukas Stäuble: „Tales of the Club“ Infos und Tickets kaserne-basel.ch 05.04. (Premiere)

Zu Gast beim ID Festival sind auch Grammy AwardGewinnerin Miri-Ben Ari und das legendäre Jaffa Theatre, das sich seit 1998 dem interkulturellen Austausch zwischen arabischen und jüdischen Gemeinden in Jaffa widmet. 11.–14.04.

Festival mit rund 120 internationalen Künstler*innen

Kareth Schaffer // Construction Company: Bird Dances

Sophiensæle Berlin

Along the walk: 4 Shows im Berliner Pfefferberg

Eine Reflexion aus der Vogelperspektive über Grenzen, Migration, Heimatgefühle und unsere kaleidoskopische Beziehung zur Natur. In kurzen Soli verweben sich die Biografien von vier Tänzer*innen mit den Geschichten von vier Vogelarten. 11.– 14.04.

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Thema Konfliktzone

Foto Sebastian Hoppe

Theater in politischen Auseinandersetzungen

Henriette Hölzel und Ensemble in „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) unter Mitarbeit von Elisabeth Hauptmann in einer Bearbeitung des Staatsschauspiels Dresden mit zusätzlichen Texten von Lothar Kittstein. Regie Volker Lösch

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Die Beschäftigung mit politischen Auseinandersetzungen gehört zum Auftrag der Theater und ist von der Kunstfreiheit gedeckt. Doch in Zeiten exponentiell schwieriger Konflikte mit nicht immer übersichtlichen Positionen darin geraten die Theater selbst unter überprüfende Beobachtung, wie es der ­Soziologe Wolfgang Engler mit vielen Beispielen aus der Kultur in seinem Essay beschreibt. Am Beispiel der Dresdner „Dreigroschenoper“, die im Wahljahr den Sieg der AfD in Sachsen brisant vorwegnimmt, wird konkret, was auf dem Spiel steht.

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Thema Konfliktzone

Der Intendant Joachim Klement und Chefdramaturg Jörg Bochow vom Staatsschauspiel Dresden über Volker Löschs kontroverse „Dreigroschenoper“ vor den Wahlen in Sachsen Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Foto Sebastian Hoppe

Polarisierung und Positionierung


Thema Konfliktzone Mit Volker Löschs „Dreigroschenoper“ nach Brecht, die eigens für den Umgang mit der AfD vor einer Kulisse des Dresdner Zwinger adaptiert wurde, gehen Sie recht offensiv in die Situation dieses Wahljahrs. Die Inszenierung zeigt unverblümt die Machtergreifung der AfD mit Mackie Messer als Kurfürst und Reichsbürger von Sachsen – als Warnstück oder vorgreifende Satire? Joachim Klement: Es ist eher das Zweite. Da ist von der Partei „Perspektive für Deutschland“ die Rede. Als wir letztes Jahr anfingen, uns damit zu beschäftigen, lautete die Frage: Wie kriegen wir die politische Relevanz von Brecht in die Gegenwart? Löschs Idee war dann, wir zeigen diese in dem Stück konkurrierenden Gruppierungen in einem politischen Umfeld, wo es darum geht, die staatliche Ordnung außer Kraft zu setzen. Jörg Bochow: Zum Ausgangspunkt gehörte außerdem die Verbindung von Kriminalität und Machtergreifung. Es gab die Verhaftungen der Reichsbürger und das Bekanntwerden von deren Umsturzplänen, das alles hat die Bearbeitung auf Bewegungen in einem weiteren Netzwerk fokussiert, die wie jeweils Peachum und Mackie Messer in Konkurrenz zu strukturierteren politischen Bewegungen stehen wie der, die wir im Stück PfD nennen. Tatsächlich endet die Inszenierung am Wahlabend – und wir haben sie etwa ein Jahr vor den Wahlen als Vorabsatire „Was wäre, wenn …“ zur Premiere gebracht.

„Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) am Staatsschauspiel Dresden. Regie Volker Lösch

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Und man erkennt darin auch die Flügelkämpfe in einer Partei, die verschiedene Strömungen zusammenhalten muss. Hat sich denn die Partei, um die es dabei gehen könnte, bei Ihnen selbst schon zu Wort gemeldet? JK: Es gab eine Kleine Anfrage im Landtag. Reaktionen wie diese kennen wir seit 2019, als seitens der AfD auf die „Erklärung der Vielen“ mit dem Versuch einer Abmahnung reagiert wurde. Das führte allerdings zu nichts, und es hat auch jetzt keine Versuche gegeben, auf uns Einfluss zu nehmen. Aber es gab im Landtag eine Debatte über die perspektivische Finanzierung des Kulturraums in Sachsen, in der die AfD auf diese Inszenierung hinwies

Die Reaktionen in den sozialen Medien waren schärfer – da herrscht ein anderer Ton.

und anschließend grundsätzlich über Fragen der Kunstfreiheit diskutiert wurde. JB: Die Anfrage hat sich erstmal ganz banal darauf gerichtet, wieviel die Gesamtproduktion gekostet habe. Das kennen wir hier in Dresden unter anderem von Nachfragen zur Finanzierung des Europäischen Zentrums der Künste HELLERAU. Dieser Hebel wird immer wieder angesetzt. Viel schärfer waren nach der Premiere der „Dreigroschenoper“ die Reaktionen in den sozialen Medien – da herrscht ein anderer Ton. Man kann sich leicht vorstellen, dass manche meinen, diese „Dreigroschenoper“ sei schon Wahlkampf. JK: Die Premiere am 06. Oktober bezog sich wie gesagt auf damals aktuelle Geschehnisse und fand lange vor dem jetzt heranrückenden Wahltermin am 01. September 2024 statt. Hier in Dresden ging es in Sachen AfD auch um die Frage, inwieweit diese Partei mit der Pegida-Bewegung in Verbindung steht, beziehungsweise stand, auf Hinweise darauf hat sich die Partei ja lange heftig gewehrt. Gleichzeitig hat sie sich weiter nach rechts bewegt. Die Inszenierung ist natürlich kein Wahlkampf, sondern sie weist in ihrer Fiktion darauf hin, was passieren könnte. JB: Und wir merken jetzt in den Vorstellungen und den Publikumsgesprächen zur „Dreigroschenoper“, dass nach den Enthüllungen zum Potsdamer Treffen der Identitären mit Politiker:innen die Stimmung viel aufgeregter ist. Das Bewusstsein, dass bestimmte politische Entscheidungen näher rücken, ist hellwach. Volker Lösch hatte auch schon „Das blaue Wunder“ 2019 in Dresden inszeniert – als bitterböse Anklage rechter Forderungen zur Asylpolitik mit der AfD an der Macht. Auch damals wirkten die Publikumsgespräche als drängender Bedarf, sich zu artikulieren, und erinnerten teilweise an den Herbst 1989.

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Thema Konfliktzone JB: Das Interesse ist wirklich sehr groß und es bleiben nach jeder Vorstellung der „Dreigroschenoper“ achtzig bis hundert Leute, um zu diskutieren. Meist geht es erstmal um die Frage, was könnte man denn tun. Das können wir natürlich nicht direkt beantworten. Aber es fällt auf, wie schnell man über die Ästhetik dieser Arbeit zur Politik als Frage des Einzelnen kommt. Verbunden mit der Frage, ob es nicht auch eine Gefahr sei, Menschen mit anderer politischer Auffassung auszugrenzen. Da merke ich, das ist ein Forum zu Fragen der Stadt. Aber wir merken auch, wie Leute aus kleineren Städten im Umland sich uns mitteilen: Das könnt ihr hier im Dresdner Stadtzentrum schön machen. Aber wo ich herkomme, sieht das ganz anders aus, und es gibt da auch andere Mehrheitsverhältnisse. Von außen gesehen, muss das Dresdner Publikum bei diesen als Frontalkritik laufenden Lösch-Inszenierungen ganz schön

was aushalten, solche Spiegel vorgehalten zu bekommen, denn die im Theater sitzen, vertreten ja zumeist nicht die damit kritisierten Positionen. Wird das auch angesprochen? JB: Es gibt unmittelbare Reaktionen, vor allem wenn nach dem Ende der Aufführung der Zwickauer Klima-Aktivist Jakob Springfeld auftritt – als Vertreter der Zivilgesellschaft. Dass in den Publikumsgesprächen eben nicht alle einer Meinung sind und so miteinander ins Gespräch kommen, ist ja wünschenswert. Dafür machen wir das. Das Wichtigste ist doch, dass die Leute erleben, keine Position wird zum Schweigen gebracht. JK: Der Auftritt von Jakob Springfeld wirkt für viele polarisierend, er trägt aber dazu bei, das Gespräch zu öffnen und nicht in der Blase der eigenen Selbstbestätigung zu bleiben. Das ist wohl der Kern der Sache für solche Inszenierungen: Ob man Polarisierung

noch verschärft oder dieser entgegenarbeiten will. Denn eigentlich geht es doch um Entpolarisierung. JB: Mit dem satirischen Zugriff wird etwas zugespitzt. Im Idealfall würde man noch eine zweite Inszenierung mit einer realistischen Perspektive auf diese Thematik anbieten. Es kommen ja auch Leute in die Vorstellungen, die sich nicht schon vorab darüber durch eine eventuell distanzierte Meinung informiert haben, wie auch Touristen, die den spezifischen Kontext nicht kennen. Wie lange werden Sie denn die „Dreigroschenoper“ im Repertoire halten – oder wie nah an den Wahlen dran spielen? Und was passiert danach, wenn sie dann retrospektiv ist? JK: Warten wir erstmal die Ergebnisse ab. Was auf der Bühne spielt, ist durch die Kunstfreiheit gedeckt. Warum sollten wir das einschränken? Und es geht dabei auch nicht um das Neutralitätsgebot. Aber um eine klare Stellungnahme, was diese Partei betrifft. JK: Das wäre wie die Frage, ob man jemanden, der sich rassistisch äußert, auch einen Rassisten nennen darf. JB: Vergessen wir nicht, es ist für jeden erkennbar Überzeichnung und Zuspitzung. Und deshalb wird die Inszenierung, auch wenn sie dann, egal wie die Wahlen ausgehen, retrospektiv geworden ist, ohne große Änderungen weiterlaufen. Nach der Premiere vom „Blauen Wunder“ sind wir von der AfD-Fraktion eingeladen worden. Es hieß, wir hätten ein Stück gegen die AfD gemacht – wir antworteten: über sie.

Links Joachim Klement (Intendant, Staatsschauspiel Dresden), rechts Dr. Jörg Bochow (Chefdramaturg und Stellvertretender Intendant)

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Die Inszenierung ist natürlich kein Wahlkampf, sondern sie weist in ihrer Fiktion darauf hin, was passieren könnte. Theater der Zeit 4 / 2024

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In Dresden hat das Theater wie beinahe nirgends sonst eine lange Geschichte verschiedener öffentlicher Auseinandersetzungen. 1989 war es mit „Wir treten


Thema Konfliktzone Links die Barockperle, rechts dann alles direkt vor der Nase.

aus unseren Rollen“ direkt an der Wende beteiligt, fünfundzwanzig Jahre später allerdings gab es bei Pegida-Märschen vor dem Theater immer wieder Angriffe und Schmähungen. Wie sollte sich das Theater in solchen Auseinandersetzungen verhalten, wenn es doch die Mitte der Bürgergesellschaft hauptsächlich vertreten soll und will? JK: Die Inszenierung ist ja nur ein Teil von dem, wofür wir insgesamt im städtischen Kontext stehen. Schon 2014 gab es eine Initiative „#WOD Weltoffenes Dresden“ unter anderem für Vielfalt der Kultur. Die besteht aus fünfzig Institutionen und Vereinen, die verschiedenste Aktionen betreiben, und da ist das Staatsschauspiel dabei. Und die Demonstrationen 1989, als dieses Theater nicht nur mitging, sondern voranging, sind für uns eine Referenz. JB: Tatsächlich gab es in Dresden mehrere Kulminationspunkte im öffentlichen Raum.1989 kamen hier die Ausreisezüge aus der Prager Botschaft durch; als Helmut Kohl hier sprach, wurde aus „Wir sind das Volk“ die Losung „Wir sind ein Volk“; und der Streit um das Erinnern am 13. Februar währt nun auch schon sehr lange. Vieles hat mit der Geschichte der Stadt zu tun, der vermeintlichen Opferrolle im und nach dem Krieg und dem Mythos Dresden insgesamt. Aber es ist vielleicht auch schon die Lage des Theaters, denn auf dem Platz davor fanden und finden viele dieser politischen Bekundungen statt – bis eben zu Neonaziaufmärschen, derentwegen einmal sogar das Publikum nicht mehr aus dem Theater kam. Auf der einen Seite die Barockperle des Zwingers, auf der anderen Seite des Theaters geht man raus und hat alles direkt vor der Nase. Nehmen wir mal an, es kommt so wie in der „Dreigroschenoper“, was werden Sie tun? Die Forderung nach Subventionskürzungen ist bekannt. Womit wäre außerdem zu rechnen?

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Jannik Hinsch in „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht am Staatsschauspiels Dresden. Regie Volker Lösch

JK: Das schauen wir uns in aller Ruhe an. Ich habe jedenfalls noch keinen Umzugswagen bestellt. Was von außen vielleicht gar nicht wahrgenommen wird, ist Dresdens Entwicklung der letzten Jahre hin zu einer wirklich weltoffenen Stadt.

JB: Es wird sicher noch mehr kritische Anfragen geben – aber auch weiterhin die „Dreigroschenoper“ neben den vielen anderen auf Aktuelles zielenden Arbeiten. Auf der politischen Ebene wird es eine Verständigung der demokratischen Kräfte geben müssen, auch wenn die AfD die stärkste Partei werden sollte. T

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Thema Konfliktzone

Unter Beobachtung Documenta, Berlinale und kein Ende – wie kulturelle Institutionen in erregten Zeiten in Konflikte geraten

Foto privat

Von Wolfgang Engler

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Thema Konfliktzone Kaum je in den vergangenen Jahren war Deutschland derart von Konflikten aufgewühlt wie derzeit. Konflikte, die sich in jüngster Zeit noch weiter verschärften, auf kulturellem wie auf sozialem Feld. Dort infolge des Hamas-Terrors und der brachialen Reaktion Israels sowie der „Remigrations-„ und Deportationsplanspiele ultrarechter Nationalisten, hier durch zunehmend handgreifliche Proteste ganzer Berufsgruppen gegen die Regierungspolitik und die Hinwendung wachsender Bevölkerungsteile zur AfD. Die kulturellen Institutionen sind in dieses doppelte Konfliktgeschehen hineingestellt und genötigt, sich zu positionieren.

Verdeckte Absichten Konflikte innerhalb der Kultureinrichtungen und deren Verhältnis zu Politik und medialer Öffentlichkeit sind Theatern, Museen, Festivals seit längerem geläufig. Sie folgen oftmals einer Logik, bei der der verbale Schlagabtausch die eigentlichen Absichten der den Konflikt schürenden Parteien verdeckt. Der viele Monate währende Streit um den Kameruner Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe zeigt das symptomatisch. Den Anlass bildete dessen Einladung, den Eröffnungsvortrag zur Ruhrtrienale 2020 zu halten. Mbembe war in Deutschland kein Unbekannter. Mit Preisen geehrt, lagen viele seiner Bücher über Kolonialismus, Postkolonialismus, die Ausgrenzungspraktiken westlicher Demokratien und die fortwährende Hegemonie der kapitalistischen Führungsmächte über den Globalen Süden in deutscher Sprache vor. Kaum wurde die Nachricht publik, setzten Blogger, Leitmedien, Politiker, Antisemitismusbeauftrage eine Kampagne gegen Mbembe in Gang. Unter weitgehender Ausklammerung von Kontext und Tenor seines Werks und notorischer Bezugnahme auf einige in der Tat polemische und überzogene Invektive gegen die israelische Siedlungs- und Besatzungspolitik („colonial occupation“, „biggest moral scandal“) erklärte man ihn zum Feind Israels, zum Antisemiten, und forderte seine Ausladung. Seine Thematisierung kolonialer Völkermorde auf dem afrikanischen Kontinent – eine Relativie-

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rung des Holocaust, seine vergleichenden Betrachtungen zu ethnischer beziehungsweise religiöser Diskriminierung – ein Vorwand, Israel systematischer Apartheid zu bezichtigen. Als vermeintlicher BDS-Aktivist hatte er ohnehin das Recht verwirkt, in diesem Rahmen aufzutreten. Die mediale Attacke traf den Falschen, aber gerade darin war sie exemplarisch. Mbembe wurde zur Unperson, weil er einen fremden, distanzierten Blick auf die Geschichte, die Genozide des 20. Jahrhunderts warf und damit ungewollt eine staatlich sanktionierte Erinnerungspolitik herausforderte, die keine Abweichung von ihren Maßgaben duldet und von oben herab dekretiert, wer Antisemit ist und wer nicht. „In Deutschland genügt der Vorwurf des Antisemitismus, um einen Redner und seine Positionen aus dem Raum des Sagbaren zu verbannen – aus der Sphäre, die mit öffentlichen Geldern finanziert wird und damit einen besonderen Anspruch auf Legitimation garantiert. Dies gilt selbst dann, wenn (wie im vorliegenden Fall) die Unterstützer auf der Leitmedien-Ebene die Mehrheit darstellen (quantifizierende Aussagen sind mit dem gewählten Verfahren schwierig). Alle noch so differenzierten und fundierten Argumente haben nicht genügt, um den Makel zu tilgen, der mit dem Dreiklang Holocaust-Relativierung, BDS-Unterstützung und Antisemitismus verbunden ist. Dabei spielte auch keine Rolle, dass die entsprechenden Vorwürfe zumindest angreifbar waren und von Mbembe selbst vehement bestritten wurden.“ Die Kampagne zielte über Mbembe hinaus auf die Leiterin des Festivals, Stefanie Carp, deren Entlassung sie bezweckte, sowie ganz allgemein auf die Einschüchterung von Akteur:innen des Kulturbetriebs, die Israel-Kritik und BDS-Nähe nicht automatisch mit Antisemitismus gleichsetzen und von Fall zu Fall entscheiden, mit wem sie kooperieren. So wie kürzlich auch Amelie Deuflhard. Die künstlerische Leiterin des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel hatte die für ihre propalästinensische Haltung bekannte britischen Klima-Aktivistin Zamzam Ibrahim als Keynote-Speakerin zur Eröffnung eines Festivals im Januar

Die kulturellen Institutionen sehen sich bis heute dem Vorwurf ausgesetzt, zu zögerlich auf den Mordfeldzug von Hamas reagiert zu haben. 2024 eingeladen. Sogleich formierte sich massiver Protest in den sozialen Medien. Deuflhard hielt an der Einladung fest. Aus „Sicherheitsgründen“ hielt Ibrahim ihre Rede in Online-Übertragung. Immerhin. Die kulturellen Institutionen sehen sich bis heute dem Vorwurf ausgesetzt, zu zögerlich auf den Mordfeldzug von Hamas reagiert zu haben. Dem Leiden und Sterben der palästinensischen Zivilbevölkerung öffentlich Raum zu geben, das konnte zu „Entgleisungen“ führen. Da hielt man die Türen lieber geschlossen. International für Aufsehen sorgte der „Verzicht“ der US-amerikanischen Performance-Künstlerin Laurie Anderson auf die Pina Bausch Professur an der Folkwang Universität der Künste in Essen, die sie zu zum 1. April 2024 antreten sollte. Anderson hatte 2021 einen Aufruf palästinensischer Künstler („Letter Against Apartheid“) unterzeichnet und damit einen an Israel gerichteten Vorwurf der BDS-Bewegung geteilt. Angesichts des in Deutschland als antisemitisch eingestuften BDS sah die Hochschule keinen Spielraum für die Prüfung des konkreten Falls und ließ sich auch dadurch nicht umstimmen, dass sich in der langen Liste der Unterzeichner zahlreiche israelische Kulturschaffende fanden.

Joe Chialo in Berlin Protest erntete Berlins Kultursenator Joe Chialo, als er im Januar 2024 den Regularien öffentlicher Kulturförderung eine Antisemitismus-Klausel hinzufügte. Er stützte sich dabei auf die AntisemitismusDefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) („Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen“) und deren

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Erweiterung durch die Bundesregierung. („Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“) Das Problem seiner Initiative war weniger der Generalverdacht antisemitischer Haltungen, unter den sich die Berliner Kulturschaffenden dadurch gestellt sahen. Was tatsächlich drohte, war Selbstzensur bei der Projektbeantragung und -durchführung, der Verlust geistiger Unbefangenheit. Zudem stand die Klausel auch rechtlich auf wackligen Füßen; auf den Rat von Juristen zog Chialo sie schließlich zurück.

Störterror Antisemitismus sorgte zu dieser Zeit beinahe täglich für Schlagzeilen. In BerlinNeukölln feierten jugendliche Araber und Palästinenser öffentlich den Terrorakt der Hamas. Bald verlagerten sich die Konflikte um die Deutungshoheit des Gaza-Krieges von der Straße in öffentliche Einrichtungen, insbesondere Universitäten. Palästinensische Aktivisten bedrängten jüdische Studierende, besetzten Hörsäle, skandierten verbotene Losungen; ein palästinensischer Student der Freien Universität prügelte einen jüdischen Studenten krankenhausreif; an der Humboldt-Universität wurde eine jüdische Richterin ausgebuht, sodass die Veranstaltung abgebrochen und in einen „sicheren“ Raum verlegt werden musste. Gleichfalls abgebrochen eine von der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera initiierte 100-Stunden-Lesung des Hauptwerks von Hannah Arendt über die Ursprünge des Totalitarismus im Berliner Museum für Gegenwartskunst Hamburger Bahnhof. Eine pro-palästinensische Gruppe, die zu der Performance eingeladen war, missbrauchte die Gelegenheit für lautstarke Beschimpfungen und Beleidigungen von Lesenden und Publikum, bespuckten einen Direktor des Hauses und bezeichneten das militärische Vorgehen Israels als „Genozid“. Kurz darauf der Eklat auf der Berlinale. Der für seine Dokumentation der Vertreibung von Palästinensern aus dem Westjordanland ausgezeichnete palästinensische Filmemacher Basel Adra forder-

te Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern, da „Zehntausende Menschen in Gaza massakriert würden“. Beifall im Saal. Schon zuvor, bei der Premiere, hatte das Filmkollektiv Israel als „Apartheidstaat“ bezeichnet. Der Regisseur Ben Russsel erschien mit Palästinensertuch auf der Bühne, bezichtigte Israel des Genozids und forderte einen sofortigen Waffenstillstand. Abermals Applaus und Jubel. Die Moderation ließ das kommentarlos geschehen. Niemand protestierte, niemand intervenierte. Die Festivalleitung wiegelte ab, sprach von „unabhängigen individuellen Meinungen, die die Haltung des Festivals in keiner Weise wiedergeben, sich aber innerhalb der gesetzlichen Grenzen bewegen“. Medien und Politiker reagierten empört: „Israelfeindschaft“, „Judenhass“, „Antisemitismus“, „Missbrauch der Kunstfreiheit“. Einige zogen Parallelen zur jüngsten documenta. Andere, wie der CDU-Kulturpolitiker Wanderwitz, forderten eine gründliche Auswertung und Konsequenzen für das Festival. Konsequenzen für die Kulturförderung forderte der Zentralrat der deutschen Juden. Protest auch vom Botschafter Israels in Deutschland. „Israelhass auf offener Bühne: Was stimmt mit dieser Kulturbranche nicht?“, fragte der Stern. Israels Kriegsführung verletzt elementare humanitäre Grundsätze, hetzt die Zivilbevölkerung durch eine zerstörte Landschaft, angstvoll, hungrig, schutzlos, das darf so keinen Tag weitergehen, die Waffen müssen schweigen, jetzt, sofort. Das sahen die Filmschaffenden nicht anders als ganz normale Bürger in aller Welt, sie reagierten spontan, emotional und ließen geschehen, dass rote Linien überschritten wurden. Allerdings: Festivals wie die Berlinale setzen auf Internationalität, auf Künstler:innen, die an die deutschen Bestimmungen und Auslegungen antisemitischer Tatbestände nicht gebunden sind. Das wirft schwer lösbare Probleme auf. Dessen ungeachtet wird diese Preisverleihung Folgen zeitigen, für die nächste Berlinale und für den öffentlich subventionierten Kulturbetrieb insgesamt. Die ganze Branche steht hinfort unter Beobachtung, mehr denn je. Emotional aufgeladen auch die Lage im Land. Unerwartet, beinahe aus dem

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Thema Konfliktzone Mancherorts ging man bewusst an einem Montag auf die Straße und rief derart die Erinnerung an den Herbst 1989 wach. Nichts, erwachte zu Beginn des Jahres 2024 die Bürgergesellschaft. Den Ausgangspunkt bildeten Enthüllungen des Rechercheteams von Correctiv. In einer Potsdamer Villa hatten sich Unternehmer, konzeptive Ideologen der radikalen Rechten, AfD-Politiker (auch CDU-Mitglieder) zusammengefunden und unter dem Leitthema „Remigration“ Überlegungen angestellt, wer aufgrund seiner Abstammung, Überzeugung, Gesinnung zu Deutschland, und wer vor die Tür gesetzt gehört. Das war nicht gänzlich neu. Prominente AfDFunktionäre hatten sich in diesem Sinn bereits zuvor und wiederholt geäußert.

Warum schlug die Erregung gerade jetzt in massenhaftes Handeln um? Weil diesmal der Geruch einer Verschwörung von Feinden der Demokratie in der Luft lag, die Deutschland nach NS-Vorbild „säubern“ wollten? Weil der Bannstrahl auch Einheimische treffen konnte, die nicht ins Bild eines ordentlichen Deutschen passten? Das lässt so wenig mit Bestimmtheit sagen, wie sich im Nachhinein ermitteln lässt, warum die Ostdeutschen ausgerechnet im Herbst 1989 gegen die Machthaber aufbegehrten und nicht früher oder später. Die Zeit war einfach reif. So auch im Januar 2024. Die öffentlich-rechtlichen Medien platzierten die Enthüllungen an prominenter Stelle, berichteten täglich über neue Einzelheiten, in einer Dringlichkeit und einem Ton, in dem ein Handlungsaufruf lag. Der wurde erhört, zunächst in den Großstädten. Initiativen schlossen sich zusammen und organisierten Demonstrationen, die auf Anhieb großen Zulauf fanden.

Und anders als früher blieb es nicht bei vereinzelten Protestaktionen. Es entstand eine regelrechte Bürgerbewegung, die sich von ihrem unmittelbaren Anlass löste und schnell auf Klein- und Mittelstädte übergriff, in allen Landesteilen, und bis heute anhält. Gerade auch in den (ostdeutschen) Hochburgen der AfD verbanden sich Menschen unterschiedlichster Professionen und politischer Orientierung, veröffentlichten Aufrufe und aktivierten auf Anhieb Hunderte, Tausende. Mancherorts ging man bewusst an einem Montag auf die Straße und rief derart die Erinnerung an den Herbst 1989 wach. Das öffentliche Zusammensein mit vielen anderen war ein Wert an sich, verlangte aber auch nach Verstetigung, nach Netzwerken, auf die man auch künftig zurückgreifen konnte, um längerfristig Einfluss auf die politische Entwicklung im Kleinen wie im Großen zu gewinnen. Vielfach bildeten gerade kultu-

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relle Institutionen, Theater, Museen, Buchhandlungen, das Rückgrat dieser Netzwerke. Lange Zeit Anfeindungen der AfD und ihrer militanten Vorhut ausgesetzt, hatten sie sich tapfer gegen Drohungen, Steinwürfe, Brandanschläge gewehrt, jetzt drehten sie den Spieß um und organisierten den Widerstand gegen die Bevormundung durch die selbsternannten Sprecher der „Normalos“: „Wir sind, wenn schon nicht das ‚Volk‘, so doch die Mehrheit in diesem Land, und ab sofort sprechen wir für uns selbst.“

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Aber die Bürger:innen sprachen nicht mit einer Stimme. Zeitgleich mit dem Aufflammen der Massendemonstrationen nahm der „arbeitende Souverän“ zu Zehntausenden die Straße in Beschlag und forderte den Rücktritt der Regierenden. Ein kompletter Berufsstand, die Bauernschaft, machte mobil, und viele zeigten sich solidarisch: Mittelständler, kleine Gewerbetreibende, Handwerker, Gastronomen, Fuhrunternehmer, Berufskraftfahrer, Beschäftigte der Logistikbranche. Autofahrer, die im Stau standen, weil Traktoren den Weg versperrten, applaudierten. Hier war Wut im Spiel. Wut über langjährige Ignoranz und krasse Fehlentscheidungen zulasten der arbeitenden Mehrheit. Wut über immer neue Vorschiften, Gesetze, eine ausufernde Bürokratie. Wut, nicht zuletzt, auf einen säumigen Staat, der seit Jahr und Tag elementare Aufgaben vernachlässigte: den sozialen Wohnungsbau, das Bildungswesens von den Kitas bis hin zu den Universitäten, die Gesundheitsversorgung besonders in der Fläche, den Erhalt und Ausbau verkehrlicher und kommunikativer Infrastrukturen. Anhaltend starker Druck auf die Außengrenzen, ungeregelte Zuwanderung offenbaren die Versäumnisse und verstärken sie. Sie verstricken Ansässige wie Hinzukommende in eine Konkurrenz um die Verteilung kultureller und sozialer Ressourcen. Ein Grundgefühl greift in wachsenden Segmenten der Gesellschaft um sich: „Für alle reicht es nicht“, und untergräbt den Zusammenhalt.

Diese spezifisch sozialen Konflikte greifen die kulturellen Institutionen, die Kulturschaffenden höchst unzureichend auf. Sie solidarisieren sich mit den Opfern von Rassismus und Antisemitismus, aber bei weitem nicht im selben Maße mit den Opfern von Kapitalmacht und politischem Versagen. Sie beziehen Stellung gegen Extremisten, Populisten, gegen die AfD. Aber sie hören denen nicht zu, die keine Rechtsradikalen, aber mittlerweile so frustriert, so geladen sind, dass sie zu den Feinden der offenen Gesellschaft überlaufen. Symbolpolitik wärmt die Herzen, aber zur Abwehr der Gefahren, die unserer Demokratie drohen, ist vor allem der Kopf gefragt. Zur Eröffnungsgala der Berlinale unterstützten einige hundert Personen lautstark die nachträgliche Ausladung Berliner AfDFunktionäre. Regisseur und Jurymitglied Christian Petzold sah das kritisch. „Ich denke, es ist kein Problem, fünf Personen von der AfD im Publikum zu haben. Wir sind keine Feiglinge. Wenn wir es nicht aushalten, dass fünf Personen von der AfD im Publikum sitzen, werden wir unseren Kampf verlieren. T

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Theater der Zeit

Akteure

Foto Konrad Fersterer/Staatstheater Nürnberg

„ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ von Werner Schwab in der Regie von Rieke Süßkow am Staatstheater Nürnberg

Kunstinsert Wie der Stuttgarter Komponist und Klangkünstler Philipp C. Mayer im Team um Rieke Süßkow das Theater entdeckt Nachruf René Pollesch machte als Regisseur, Autor, Theoretiker das Theater zum Diskursraum Porträt Der Dramatiker Akın Emanuel Şipal schafft mit „Akins Traum vom osmanischen Reich“ am Schauspiel Köln den großen Wurf

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Foto links Konrad Fersterer/Staatstheater Nürnberg, rechts Philip C. Mayer

Akteure Kunstinsert

Ensemble von „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ von Werner Schwab. Regie Rieke Süßkow

Partitur der Geräusche Wie der Stuttgarter Komponist und Klangkünstler Philipp C. Mayer im Team um Rieke Süßkow das Theater entdeckt Von Michael Helbing

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Philip C. Mayer koordiniert sorgfältig live das Sound­design für „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“

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D

Philipp Christoph Mayer, 1995 in Hanau geboren, ist Komponist, Klangkünstler und Improvisator. Neben Kompositionen für Konzerte verfolgt Mayer eine vielfältige künstlerische Praxis mit Klanginstallationen (z.B. Museum Ulm) und als Musiker in verschiedenen ­Konstellationen. Seit 2019 studiert Mayer parallel zu seiner kompositorischen Tätigkeit Philosophie an der Universität Stuttgart. Mayer war langjähriger Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes und lebt in Stuttgart. philippchristophmayer.com

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Das war ursprünglich nicht vorgesehen: dass in dieser Aufführung im Schauspielhaus Nürnberg binnen fünfundsiebzig Minuten sechshundertdreißig Sound-Files punktgenau abzufahren sein würden. Es schmatzt und knarzt, es ratscht und quietscht unaufhörlich, zu jeder einzelnen Bewegung der neun Figuren in Werner Schwabs „Übergewichtig, unwichtig: Unform“. Der Autor hatte sein Fäkaliendrama im Wirtshaus siedeln lassen, in dem ein Spielautomat und eine Musikbox stehen. Deren Ästhetik aufnehmend, verortete Rieke Süßkows Team es sinnbildhaft gleich ganz in einer Automatenbühne: Die Schauspieler stehen als (Sex-)Puppen in einer abgeranzten Jahrmarktbude (TdZ 12/2023). Das wurde jüngst als bemerkenswerte Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen, wo Philipp C. Mayer im Mai nun also auch Klänge und Geräusche ebenso live einspielen wird wie in Nürnberg. Für die Kollegen vom Ton wäre das aufgrund der Materialfülle kaum zu händeln. Dass das mal anders geplant worden war, ist kaum vorstellbar, auch für Philipp C. Mayer selbst nicht mehr. Es war, nach Hans Henny Jahnns „Der staubige Regen­bogen“ am Staatstheater Mainz, die zweite gemeinsame Arbeit von Regisseurin Rieke Süßkow, Bühnenbildnerin Mirjam Stängl und Kostümbildnerin Sabrina Bosshard sowie Komponist und Klangkünstler Philipp C. Mayer. Das Quartett stieg wiederum sehr früh in die Konzeption ein. Die Automatengeräusche beschränkten sich darin zunächst auf jene Momente, in denen die Figur der Fotzi eine Münze in die Musikbox wirft: „Ein deutscher Schlager ertönt“, notierte Schwab dazu. Erst später wurde klar, dass es da einer ganz anderen Konsequenz bedurfte: wirklich jede Bewegung klanglich zu unterlegen. Was dann folgte: „Eine wahnsinnige Arbeit“, so Mayer, „auch für die Spieler, die sich extrem viel merken müssen.“ Einige der Geräusche produzierte er mit Metallgegenständen selbst, andere wurden gesampelt beziehungsweise aus Videos mit Schreddern rausgeschnitten, wovon es im Internet sehr, sehr viele geben soll. So entstand, was dem Abend fehlte und ohne das er nicht wäre, was er ist: ein Gesamtkunstwerk, mit allen Vor- und Nachteilen stringenter und strenger Formen. Bis dato hatte Mayer mit Spielautomaten nichts, mit Theater eher wenig am Hut. Der junge Musiker aus Hanau, Jahrgang 1995, studierte Komposition in München, Paris und zuletzt Stuttgart, wo er heute lebt und ein Philosophiestudium dranhing. Noch an der Musikhochschule schrieb er die 2018 auf der Münchner Biennale aufgeführte Kurzoper „Wenn die Kehrwoche kommt“, zum Libretto Kornelius Paedes, heute Chefdramaturg des Musiktheaters in Kassel. Mayers Werkliste umfasst Kammer- und Orchestermusik, auch Instrumentalstücke im Zusammenspiel mit Elektronik sowie Klanginstallationen. Er rechnet sich mit großem Interesse und einer gewissen Distanz der Neuen Musik zu, die als Erscheinungsform so neu gar nicht mehr ist, aber inzwischen wieder in Bewegung. Süßkow und Mayer begegneten sich 2019 beim Stipendiatentreffen der Studienstiftung des Deutschen Volkes: kurz, aber nachhaltig. Nach „sehr gutem Austausch“ hielten sie via Skype Kontakt, viele ihrer Interessen und Gedanken deckten sich dabei. Süßkows Anfrage für Mainz folgte. Ihre Inszenierung war derjenigen in Nürnberg laut Mayer klangtechnisch „nicht ganz unähnlich“. Er ordnete mit einer Software jeder Figur ein Instrument

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Fotos Philip C. Mayer

Akteure Kunstinsert


Akteure Kunstinsert zu, das er live (ein-)spielte. Dem Text entsprechend, seien das „expressionistische Vertonungen“ gewesen: ein Mittel der Überhöhung, wie sie dem Abend demnach in Gänze zu eigen wurde. Mayer verfügt bislang nur über „bescheidene Kenntnisse“, das „Theater-Theater“ betreffend, wie er das Schauspiel gerne nennt. Musik bedeute darin häufig Atmosphäre: Sie erzeugt Stimmung und dient als Folie. „Sie ist aber oft nicht so handlungstreibend wie etwa der Text.“ Im Team mit Süßkow, Stängl und Bosshard hingegen werde alles als Akteur verstanden: Bühne, Kostüme, Musik. „Wir arbeiten nicht additiv, sondern so, dass alles ineinandergreift.“ Mayer darf also als Künstler vorkommen, nicht als Dienstleister. „Darüber bin ich heilfroh!“ Außerhalb dieser Konstellation, in der eine dritte Arbeit für die nächste Saison verabredet ist, könne er wohl gar keine Theatermusik machen.

Musik oder Geräusch? Musik? Oder vielmehr: Geräusche? Darüber denkt Mayer selbst häufig nach. Als Komponist versucht er, „diese traditionelle Unterscheidung zu unterwandern“. Im Theater habe das trotzdem eine andere Funktion. Von komponierter Musik kann in „Übergewichtig, unwichtig: Unform“ eigentlich keine Rede sein. „Trotzdem ergibt sich eine Art von Partitur allein schon dadurch, dass Geräusche und Klänge einer gewissen Dramaturgie folgen, die sich stark am Text und an den entwickelten Bewegungen orientiert.“ Mayer spricht von relationaler Musik: ein Begriff, den der Münchner Theaterwissenschaftler David Roesner gerne verwendet. Im Unterschied zur originären Kompositionsarbeit steht hier alles in Relation zu Bühne und Text. „Das bedeutet für mich insofern eine andere Art zu denken, als ich hier eher schaue: Wo und was ist meine Rolle darin und wie kann ich das, was insgesamt entsteht, verstärken?“ Komponieren ist eine einsame Tätigkeit. Im Theater genießt Mayer das Kollektiv und lernt dabei jene Rhythmik zu schätzen, die auf der Bühne entstehen kann, mit und durch Sprachmelodien oder Pausen. Das informiere auch sein Komponieren außerhalb des Theaters neu. „Es ist mir schon wichtig, nicht nur noch dort zu sein. Das ist nicht das Einzige, was ich machen will.“ Mayer will weiterhin Musikstücke schreiben, vor Publikum live improvisieren, nicht zuletzt Klanginstallationen erarbeiten: „Es gibt da diesbezüglich eine gewisse Sehnsucht, wenn man sich mit bildenden Künstlern vergleicht. Die haben über ihr Material oder Bilder oft einen präziseren Weltbezug.“ Philipp C. Mayer erlernte sehr früh das Klavierspiel. „Das ist quasi mein Instrument.“ Er benutzt es bis heute viel und sei es, um etwas ins Notensatzprogramm oder die digitale Audio-Workstation einzuspielen. Zugleich sitzt er oft vor dem Rechner. Auf beides mag er nicht verzichten. Klangmaterial, das übers Im-

Eine gewisse Herausforderung dürfte für ihn selbst die Welt des Schlagers gewesen sein, in die er für den Schwab-Abend erstmals tiefer eintauchte. Er kannte wenig und suchte nun. Theater der Zeit 4 / 2024

Arbeitstisch und Materialien von Philip C. Mayer

provisieren mit Elektronik entsteht, ordnet und formt er komponierend am Klavier. Aktuell arbeitet er derart an einer Oper mit Kammerorchester und Elektronik: ein Auftragswerk fürs Staatstheater Kassel über eine Zukunftsvision, in der Künstliche Intelligenz sämtliche Arbeit übernommen hat und sich die Menschen nur noch mit Kunst beschäftigen. In längeren Bögen gedacht, ist Mayer selbst darüber hinaus stark mit dem Zusammenspiel verschiedener Medien beschäftigt: „Wie sie interagieren und wie man durch Klänge Bedeutungen verändern, ob und wie man letztlich die Wahrnehmung herausfordern kann.“ Eine gewisse Herausforderung dürfte für ihn selbst die Welt des Schlagers gewesen sein, in die er für den Schwab-Abend erstmals tiefer eintauchte. Er kannte wenig und hörte nun umso mehr davon, bis er den einen fand, der passte. Verzerrt und wie ausgeleiert plärrt die Musikbox nun Peter Alexanders „Und hinterher, da nehm’ ich dich in meine Arme“. Im Kontext eines von Beziehungsgewalt geprägten Patriarchats, das diesem Stück immanent ist, wird daraus ein bitterböser Kommentar. „Ich bin sehr froh, gerade dieses Lied dafür gefunden zu haben“, sagt P ­ hilipp C. Mayer. T

Hören Sie hier Soundfiles aus „Übergewicht, unwichtig: Unform“, Staatstheater Nürnberg

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Akteure Nachruf

Nichts mehr ok René Pollesch machte als Regisseur, Autor, Theoretiker das Theater zum Diskursraum Von Thomas Irmer

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René Pollesch hat als Autor-Regisseur, der für jede seiner Inszenierungen ein neues Stück schrieb, seit Ende der 1990er Jahre das Theater neu gedacht und mit seinen Schauspieler:innen auf einzigartige Weise produziert. Ein nach Brecht und Heiner Müller politisches Theater der aktuellen Diskurse, das Gesellschaftskritik wie auch die Selbstkritik des Theaters auf die Bühne brachte. Mit Verve, Witz und Engagement – und einer Ensemblekultur, in der die Akteur:innen zur Ko-Autorenschaft aufgefordert waren. In ungefähr zweihundert Arbeiten an den verschiedensten Theatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz, international unter anderem auch in Chile und Polen.

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Foto Heribert Corn

Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch (29. Oktober 1962–26. Februar 2024)


Akteure Nachruf 1962 im hessischen Friedberg geboren und aufgewachsen in einem Ort, in dem sich das Künstlerische und Intellektuelle im Verborgenen hielten, wie er einmal bemerkte, bekam er als Teenager von einem Verwandten eine Schreibmaschine geschenkt – und begann zu schreiben. Er studierte dann im nahen Gießen an dem gerade gegründeten Institut für Angewandte Theaterwissenschaft bei Andrzej Wirth, der ein post-Brechtisches Theater in Theorie und Praxis vertrat und für dessen Lehre Heiner Müller, Robert Wilson und den hier weniger bekannten US-Avantgardisten John Jesurun auf die Probebühne des Instituts einlud. Nach einer Inkubationszeit der 1990er Jahre mit Aufträgen als Dramaturg an verschiedenen Theatern und dabei – auch in der Arbeitslosigkeit – wachsender Schreiberfahrung kam Pollesch über Stationen in Luzern (1999) und am Hamburger Schauspielhaus (2000) an Frank Castorfs Volksbühne, wo er ab 2001 zusammen mit Aenne Quinones die Praterspielstätte eigenständig leitete und mit seinen nun thematisch fokussierten Stückserien bespielte. Mit der „Heidi-Hoh“-Trilogie (siehe Beitrag auf S. 28), noch im Berliner Podewil als Ort der Off-Szene begonnen, kam der Durchbruch in die Welt von überregionaler Aufmerksamkeit, kritischer Diskussionen und Theatertreffen. Wichtiger aber noch war der Kontakt zu einem überwiegend jungen Publikum, das Theater als subversiv-kritischen Diskurs in den Schluchten der kapitalistischen Kultur begehrte und auch Polleschs Ablehnung des Repräsentationstheaters gut verstand, die er einmal so auf den Punkt brachte: „Wir wollen nachvollziehbare Geschichten im Theater, leben aber etwas nicht Nachvollziehbares.“

Selbstbewusstseinsbildung Als Student Andrzej Wirths und dem später einflussreichen ­Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann lernte Pollesch das Theater nicht von der Darstellung seiner Geschichte als Lehrinhalt kennen, sondern fast ausschließlich durch die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Eine Absolventin des Instituts bemerkte später einmal spöttisch, dass die Auffassung von Theatergeschichte des polnisch-amerikanischen Professors etwa die frühe Zeit von Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor bis zum Erscheinen von Robert Wilson umfasste, also nur wenige Nachkriegsjahrzehnte. Deren ästhetische Experimente reichten in die ganz unmittelbare Gegenwart hinein. Gerade das dürfte Pollesch inspiriert haben, im Theater einiges anders zu machen oder es zumindest einmal auszuprobieren. Diese Möglichkeit war ja die Spezialität des ­Gießener Instituts, das später einmal von Gerhard Stadelmaier als „größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters“ beschimpft wurde, Theorie und Praxis zusammenzuführen, möglichst unbelastet von Traditionsvorgaben und unter dem schützenden Dach einer Universitätsbühne mit nicht allzu großer Reichweite. Den größten Schatz, den Pollesch aus Gießen mitnahm, nannte er später einmal die Chuzpe, das Selbstbewusstsein, mit eigenen ­ Vorstellungen auf das Theater zugehen zu können. Allerdings erwarteten den Absolventen Pollesch, wie so manchen anderen Geisteswissenschaftler oder Theaterschulabsolventen in den Neunzigern, harte Jahre des Ausharrens mit projekt­

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artigen Gelegenheitsarbeiten. Mal eine Dramaturgie hier und da, dann wieder Zeiten demütigender Arbeitslosigkeit, die Pollesch allerdings zum Schreiben nutzte. Wobei er sich, darin ganz ­Gießener, nicht etwa an bewährten Dramenmodellen orientierte, sondern eher mit Filmen als Referenzsystem oder Anleihen bei der Trash-Kultur jener Zeit operierte. Ein Stück aus dem Jahr 1992 hatte dann auch den Titel „Splatterboulevard“. Noch in dieser Art Inkubationszeit erfand er eine Figur namens Heidi Hoh, mit der er die ihm bitter bekannten neuen Arbeitsverhältnisse zum Sprechen brachte (siehe TdZ 12/00 und 12/01). Mit den drei Heidi-Hoh-Stücken kam der Durchbruch im Theater zu dem Zeitpunkt, da die Theater nach neuen Autor:innen und deren Themen zu suchen begannen, nachdem sie einigermaßen orientierungslos durch das Wiedervereinigungsjahrzehnt gegangen waren. Im westdeutschen Theater sollte am besten alles so bleiben, wie es war – dieselben Autor:innen, die sich in den 1970er Jahren durchgesetzt hatten, für dieselben Regiestars aus jener Zeit und ihre langsam alternden Lieblingsschauspieler:innen. Im Osten rang man oft ratlos ums Publikum. Aber plötzlich wollten alle Neues spielen, die von Thomas ­Ostermeier übernommene Schaubühne sogar nur noch Jungdramatik, als „Nabelschnur zur Realität“, wie Ostermeier die Aufgabe damals nannte. Die Volksbühne wurde – bei unermüdlicher Wanderschaft zwis­ chen Hamburg, Stuttgart, Zürich und Wien – zu Polleschs künst­ lerischer Heimat, während er wiederum die Volksbühne mit seinen Arbeiten prägte. Mit allen großen Schauspielern und S ­ chauspielerinnen arbeitete er dort – und die mit ihm: Sophie Rois, Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Milan Peschel und natürlich F ­ abian Hinrichs, mit dem er ab 2010 zu einer nur diesem eigenen Sprache samt gestischer Form fand und der als Protagonist der ­letzten gemeinsamen Arbeit „Ja nichts ist okay“ – Premiere nur zwei Wochen vor der schreck­ lichen Todesnachricht – einmal mehr T ­ heatergeschichte schrieb. Es ist unfassbar, dass dieser Künstler-Autor-Regisseur, der so vielen Menschen in der Theaterwelt und weit um sie herum ge­ radezu programmatisch erscheint, tot sein soll. Und doch ­müssen in diesem Moment mindestens zwei Fragen gestellt werden. Was wird aus seinem Werk, den Stücken, die er für jeweils eine Inszenierung schrieb? Werden die Texte zugänglich gemacht? ­ Oder wird das Werk eher über filmische Aufzeichnungen mit den für diesen Theatertyp so besonders wichtigen Schauspielern ­dokumentiert? Was den rechtlichen Status der Texte angeht, so Nils Tabert vom Pollesch vertretenden Rowohlt Theaterverlag, kann im Moment ohne Klärung der Rechtsnachfolge gar nichts entschieden werden. Man sollte davon ausgehen, dass es bei der von Pollesch schon sehr früh getroffenen Entscheidung bleibt, dass andere seine Stücktexte nicht nachinszenieren dürfen. Noch viel schwieriger dürfte die Frage sein, was nun aus der Volksbühne wird. Für diese zweite große Zäsur nach 2017, dem Ende der Castorf-Ära, ist das Schlimmste zu befürchten. Denn der derzeitige Kultursenator Berlins, Joe Chialo, wechselte wie sein Vorvorgänger Tim Renner aus der Musikindustrie auf diesen Posten. Renner verursachte mit der Nichtverlängerung Castorfs die Katastrophe; erst die Berufung Polleschs nach vier Jahren brachte das Haus wieder auf Kurs. Was aber nun? T

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Akteure Nachruf

Eher Punk als Theater Wie René Pollesch mit Heidi Hoh die Suche nach Wirklichkeitsräumen begann Foto David Baltzer

Von Aenne Quiñones

„Heidi Ho arbeitet hier nicht mehr“ von René Pollesch, inszeniert am Prater Studios

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Akteure Nachruf Damals rief ich René Pollesch in Stuttgart an, es ging um eine Einladung in das Berliner Podewil zu reich&berühmt, Werkstatt und Festival zugleich – ein Ort des Nachdenkens über die sich wandelnden öffentlichen Räume und sozialen Beziehungen, ein Forum für aktuelle künstlerische Arbeitsweisen und Strategien in Theater und Performance. Ein paar Monate später, im Mai 1999, drängten sich die Zuschauer:innen im kleinen Klubraum des Podewil bei der Uraufführung von „Heidi Hoh“ mit Nina Kronjäger, Christine Groß und Claudia Splitt auf einer Mini-Bühne, dem Autor und Regisseur höchstselbst am Ton, Regieassistenz Jörg Karrenbauer – „Mercedessterne aus Speed am Boden, Dt. Bank-Labels, eine Trockenhaube, die auch als Surfboard gebraucht wird, produziert Popcorn, Snowboard u.a. Im Rücken der Zuschauer läuft ‚Norma Rae‘ von Martin Ritt. Musik: hauptsächlich Beach Boys, Readymade“. Hier wurden einem die Sätze nur so entgegengeschleudert, begleitet von grellen „ICH BIN KEINE HAUSFRAU! IHR VERDAMMTEN FICKSÄUE!“-, „IST DAS SO SCHWER ZU ­ VERSTEHEN?!!“- oder „ICH HALT DAS NICHT AUS, DAS IST DOCH KEIN LEBEN“-Schreien. Die Zuschauer:innen waren geflasht von soviel Direktheit, soviel bestechendem Scharfsinn und Humor. Das war neu, geradezu elektrisierend, eher Punk als Theater. Unbeschreiblich, die mitreißende Atmosphäre, die alle im Raum schlagartig zu einer verschworenen Gemeinschaft werden ließ. Hier beschäftigte sich jemand mit seinem Arbeitsalltag und den Mechanismen, die sich hinter vermeintlicher Selbstverwirklichung verbergen. Ein Befreiungsschlag. Endlich kam etwas, bisher so noch nicht auf einer Bühne hörbar, zur Sprache: ­„Irgendjemand lebt hier mein verdammtes Leben und das bin nicht ich“ oder „Wirtschaftliche Prozesse wirken sich auf Räume und Körper aus“ oder „Sei du selbst und du wirst vorankommen!“ Die bewegten Neunzigerjahre nach der Wende in Berlin ­wichen immer mehr dem Siegeszug neoliberaler selbstausbeuterischer Lebenswelten. Heidi Hoh sagte, was los war. Heidi Hoh begab sich „auf die Suche nach einem Wirklichkeitsraum, und das sind wir auch, wenn wir Theater machen“, so Pollesch. Dass das funktionieren kann, auf der Bühne den eigenen Alltag zu reflektieren und dabei auf ein Interesse der Zuschauenden zu stoßen, das war auch für den Autor und Regisseur damals eine Entdeckung. Und so wurde HEIDI HOH! zur Parole, zum Schlachtruf für all die umherschweifenden Produzent:innen in mehr oder weniger prekären Arbeitsverhältnissen, die sich die Frage stellten, was man denn in diesen Zeiten mit dem Theater überhaupt noch anfangen könne. Pollesch erfand stattdessen eine einzigartige Aus-

So wurde HEIDI HOH! zur Parole, zum Schlachtruf für all die umherschweifenden Produzent:innen in prekären Arbeits­ verhältnissen, die sich die Frage stellten, was man mit dem Theater überhaupt noch anfangen könne. Theater der Zeit 4 / 2024

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Akteure Nachruf drucksform für die Bühne, die tatsächlich etwas über heutige Subjekte erzählen kann. „Gesellschaftskritik in bürgerlichen Formaten, das ist ekelhaft“, sagte René 2000 in einem Interview, das wir für reich&­berühmt führten. Und weiter: „Peter Stein will eine Menge von der Zeit seiner Zuschauer. Und was bekommen die dafür? ’Ne blöde Interpretation einer literarischen Vorlage. Das ist zu wenig. Bei den Proben reden sie die ganze Zeit über Theater und denken, sie würden über das Leben reden. Das ist krank, glaube ich.“ Pollesch erfand stattdessen eine einzigartige Ausdrucksform für die Bühne, die tatsächlich etwas über heutige Subjekte erzählen kann. Ein Autor, der seine Texte nicht als„ewig gültige Wahrheiten“ verstanden wissen will, sondern sie als Material sieht, als eine Art Theorieapparat, für jeden benutzbar, um sich im eigenen Alltag zu orientieren. Dem Noch-nicht-Greifbaren Bilder geben, das war ein wesentlicher Motor für seine Beschäftigung mit dem Theater oder wie er es selbst formuliert hat: „Meine Abende greifen bestimmte Vorstellungswelten und Bilder an, die wir noch mit uns herum­ tragen und nach denen wir auch handeln wollen, aber wir schaffen es nicht mehr. Dieser Konflikt interessiert mich sehr.“ Anknüpfend an die von ihm verehrte Donna Haraway und ihren Begriff von „Theorie als Sehhilfe“ beschreibt Pollesch die große Herausforderung, die diese Herangehensweise immer wieder für die eigene Praxis bedeutet hat: „Die Normalität will immer, dass ich so gucke. Und die Sehhilfe von Donna Haraway da vorzuziehen, ist sehr schwierig und braucht wahnsinnige Energie.“ Mit dem Festival, das ich 1996 gemeinsam mit Carena Schlewitt und Kathrin Tiedemann parallel zum etablierten Berliner Theatertreffen ins Leben gerufen hatte, konnten wir die neuen Entwicklungen der Freien Szene aufgreifen und erstmals in Berlin zusammenführen. Bei reich&berühmt, das wir bis 2003 veranstaltet haben, versammelten sich viele Protagonist:innen einer neuen Theaterpraxis. Leute, die ihre Realität in literarischen Vorlagen nicht mehr wiederfanden. Stattdessen: Alles kann Material sein und die Autorschaft umfasst sowohl Konzept als auch Realisierung des jeweiligen Projektes, verbunden mit der „Herausforderung, das eigene Leben als Versuchsanordnung auf Zeit zu begreifen“, wie es 2001 im Programmmagazin zum Festival hieß. René Pollesch führte die „Heidi Hoh“-Serie in den kommenden Jahren im Podewil fort. 2000 kam „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ heraus, mit Susanne Abelein, Elisabeth Rolli, Anja Schweitzer, Bühne und Kostüme Viva Schudt, Regieassistenz Jörg Karrenbauer, eine Koproduktion des Luzerner Theater. Darauf folgte 2001 „Heidi Hoh – die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat“ mit Christine Groß, Nina Kronjäger, Wiebke Mauss, Bühne und Kostüme Janina Audick, Regieassistenz Boris Nikitin, eine Koproduktion des Mousonturm Frankfurt am Main. Im gleichen Jahr übernahm René mit alten und neuen Mitstreiter:innen den Prater der Volksbühne in der Kastanienallee. Wie hieß es doch schon in Gießen: „das gemeinschaftliche Arbeiten eigenverantwortlicher Künstler:innen und Produzent:innen“. Der Prater war der ideale Ort, um diese Praxis weiter auszubauen. Bert Neumann baute dafür 2001 als Einheitsbühnenbild

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René Pollesch erfand eine einzigartige Ausdrucksform für die Bühne, die tatsächlich etwas über heutige Subjekte erzählen kann. die „Wohnbühne“, weitere Raumkonzepte für den Prater folgten. Von Anfang an gab es hier einen gemeinsamen Ort sowohl für die ehemalige „Heidi-Hoh“-Crew mit „Heidi Hoh 1–3“ als Raubkopien oder der neuen Arbeit „Insourcing des Zuhause“ als auch für die Spieler:innen aus dem einzigartigen Volks­bühnenEnsemble in „Stadt als Beute“ und „Sex“. Im Jahr 2002 wechselte auch ich als Kuratorin und Dramaturgin an den Prater und brachte Kollektive wie Gob Squad und Forced Entertainment sowie Stefan Pucher aus Podewil-Zeiten mit an den neuen Spielort. Daneben luden wir u.a. Schorsch ­Kamerun, Jacques Palminger, Gintersdorfer/Klaßen, John Jesurun, die Gruppe Kanak Attak oder das Frauenkollektiv Hangover für neue Bühnenpro­jekte ein. Es gab Filmprogramme im Prater-Fernsehen, die mehrteilige Prater-Saga und René drehte hier die TV-Serie „24 Stunden sind kein Tag“ mit Musik der Band Britta von Christiane Rösinger. Ein Meilenstein des Pollesch-Theaters war für mich 2004 „Pablo in der Plusfiliale“. Was für eine großartige Gruppe stand da mit Inga Busch, Christine Groß, Gordon Murphy Kirchmeyer, Volker Spengler, ­Susanne Strenger und Tina Pfurr als Souffleuse gemeinsam auf der Bühne und durchleuchtete, begleitet von Ute Schall an der Kamera, den „theoriefreundlichen Alltag. Der ist intensiv und wird langsam theoriefähig! ... und nicht die Kunstscheiße und son Scheiß!“ Der Prater zu dieser Zeit war ein absoluter Glücksfall. Abseits des großen Tankers am Rosa-Luxemburg-Platz konnten wir machen, was wir wollten. Kurz bevor die Berliner Kastanienallee vollends zur „Castingallee“ mutierte und die verbliebenen Baulücken mit Eigentumswohnungen zubetoniert wurden, war hier in den Nuller-Jahren etwas möglich – eine Art durchläs­ siges Biotop, in dem Arbeiten und Leben aufs Beste verknüpft werden konnten. Sich mit dem eigenen Alltag zu beschäftigen anstatt mit ­Alltagsrepräsentation – das begann mit „Heidi Hoh“ und machte die Sprengkraft von Pollesch-Abenden bis zuletzt aus: „Meine Arbeiten leben von einer Kompetenz für das, was meine Probleme sind, von meinem Wunsch, mich zu verorten, mich zu orientieren, und der damit verbundenen Energie.“ Diese Energie manifestierte sich immer wieder auf der Bühne. Unvergesslich, wie sich Fabian Hinrichs, 2010 erstmals in „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“ auf die Bühne begab, ohne Netz und doppelten Boden, wie schon Heidi Hoh und Kompliz:innen zuvor anspielend gegen diese ­„Konstruktionen und Kopplungen im Kopf, die wir für die authentischen halten“. Nur so konnte man sich anders oder überhaupt mal wieder zurechtfinden im eigenen Alltag, jenseits der „männlichen Mittelstandsposition, die immer das Glück bei den anderen findet“. Die Bühne und der Zuschauerraum als gemeinschaftliche Denkfabrik. Lieber René, was für ein unbeschreibliches Desaster, dass Heidi Hoh diesen Planeten nun verlassen hat und hier nie wieder arbeiten wird. T

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Akteure Nachruf

Foto Olaf Nicolai

Olaf Nicolai

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Akteure Porträt

Die Toleranz, das Schlachten und die Feuchttücher Der Dramatiker Akın Emanuel Şipal schafft mit „Akıns Traum vom osmanischen Reich“ am Schauspiel Köln den großen Wurf Von Stefan Keim

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Fotos Tommy Hetzel

Akteure Porträt Das Jahr 1299, irgendwo in Ostanatolien. Osman ist der Fürst eines kleinen Reiches, das er systematisch erweitert. Einer der Gründe seines Erfolgs ist die Toleranz. „Puh, das ist echt voll die Erleichterung, dass ihr uns nicht umbringt“, sagt ein Grieche im Stück „Akıns Traum vom Osmanischen Reich. „Wie ist das, m ­ üssen wir jetzt konvertieren?“ Der Eroberer antwortet: „Ihr könnt konvertieren, wenn euch danach ist, aber ihr könnt auch gerne Christen bleiben, denn Juden und Christen zahlen höhere Steuern.“ Mit Leichtigkeit, Witz und Respekt bringt Akın Emanuel Şipal die Geschichte des Osmanischen Reiches auf die Bühne. Die pointierten Szenen erzählen vom Geist der Toleranz, ohne sadistische Gewalttaten zu verschweigen. Die Sprache nähert sich manchmal dem weihevollen Ton historischer Quellen, um sofort wieder in gegenwärtiges Alltagsgeschnatter zu wechseln. Die Geschichtsparodien von Monty Python kommen beim Lesen des Stücks in den Sinn, doch nie ist der Humor boshaft. Es sind schon schräge Herrscher, die einem hier entgegentreten, Alkoholiker und Schlächter, aber auch höchst gebildete Menschen, darunter viele Frauen, die das Reich lenken. Sie alle haben etwas Liebenswertes. „Ich war als Kind historisch interessiert und hab’ immer Römer oder Ägypter gespielt“, erzählt Akın Emanuel Şipal. „Obwohl ich oft meine Familie in der Türkei besucht habe. Meine Mutter ist in Istanbul geboren, ich war als Kind oft an den Orten, an denen sich osmanische Kultur manifestiert. Aber ich wusste nichts davon.“ Damit ist der Dramatiker nicht allein. Die europäische Geschichte ist in unseren Buchhandlungen, in den Dokumentarfilmen, die im Kino und im Fernsehen laufen, sehr präsent. Aber die türkische? „Wenn man sich damit beschäftigt,“ sagt Şipal, „entfaltet sich eine ganz andere Perspektive auf dieses Orient-Okzident-Gefüge. Es gibt ja diesen eurasischen Steppengürtel. Über den sind immer wieder berittene Menschen gekommen, haben vor allem geplündert, aber auch Wissen mitgebracht und mitgenommen. Das ermöglicht einen ganz anderen Blick auf die Polarität zwischen Europa und Asien, die sonst oft formuliert wird.“ Akın Emanuel Şipal ist ein Kind des Ruhrgebiets, 32 Jahre, in Essen geboren. Ein schlaksig-schlanker Mann mit jungenhaftem Lächeln, der viel liest, viel weiß und gerne lossprudelt. Schon sein erstes Stück „Vor Wien“ spielt auf die türkisch-europäische Geschichte an, zumindest im Titel. Es erzählt aber vom Geschäftsmann Erol, der im Flugzeug lebt, zwischen Terminen und Kulturen. Damit gewann Şipal 2012 denn Wettbewerb „In Zukunft“ des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel. Da sollten neue, migrantische Stimmen gefördert werden. Obwohl „Vor Wien“ noch auf seine Uraufführung wartet, hat das im­ Fall Şipal geklappt. Für „Mutter Vater Land“ – in Bremen uraufgeführt – bekam er 2022 bei den Mülheimer Theatertagen den Publikumspreis. Wieder eine deutsch-türkische Geschichte, diesmal über vier Generationen hinweg. Bei allen Erfolgen: Steckt Akın Emanuel Şipal da in einer Schublade? Muss er als Deutscher mit türkischer Mama nun ständig und ausschließlich über multikulturelle Lebensentwürfe schreiben? „Das nervt garantiert“, sagt er, „ich reflektiere das sehr stark. Ich bin ja kein Migrant und habe deutsche Vorfahren, bin in Deutschland aufgewachsen. Mein Interesse an der Türkei hat nicht

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„Akıns Traum vom Osmanischen Reich“ von Akın Emanuel Ş ipal. Regie Stefan Bachmann

mit meiner Herkunft zu tun. Ich könnte dort nicht hinziehen und einfach so leben. Es ist ein allgemeines Interesse, das auch entstanden ist, weil ich in meiner Kindheit öfter dorthin gefahren bin. Ich kann schon mehr Dinge wahrnehmen, weil ich Türkisch spreche. Aber es ist vor allem meine Neugier, die mich dahinzieht.“ Şipals Stücke sind unterhaltsam, hintergründig, oft unvorhersehbar. Sie überraschen, wechseln zwischen Ernsthaftigkeit und mal feinem, mal etwas derberem Humor. Es scheint nicht sein vorrangiges Ziel zu sein, sich in aktuelle Debatten einzuschreiben. „Ich merke schon den Druck und die Erwartung“, sagt er im Gespräch, „und versuche, die von mir zu weisen. Ich sag’ auch Aufträge ab, wenn ich merke, da soll ein türkischer Autor über türkische Themen schreiben. In Köln war es so, dass ich gefragt wurde, woran ich gerade arbeite. Das war bei ‚Mutter Vater Land‘ genauso. Das sind Themen, die ich gerade bearbeiten, und Stücke, die ich gerade schreiben möchte.“ Nun hat Stefan Bachmann die Uraufführung von „Akıns Traum vom Osmanischen Reich“ in Köln inszeniert. Es ist seine letzte Regiearbeit, bevor er als Intendant ans Burgtheater Wien wechselt. Eine Produktion, auf der viel Aufmerksamkeit lag. Bachmann greift zu den ästhetischen Mitteln, die bei seinen Rainald-Goetz-Inszenierungen zuletzt sehr gut funktioniert haben.

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Szenen aus „Akıns Traum vom Osmanischen Reich“ von Akın Emanuel Ş ipal

Olaf Altmann hat ein wirkungsstarkes, abstraktes Bühnenbild entworfen, hier sind es schmale Leuchten an langen Fäden, die erst am Schluss verglimmen und am Boden liegen, wenn das Osmanische Reich zusammenbricht. Ein kleines Kammerorchester unter Leitung des Komponisten Sven Kaiser untermalt die meisten Szenen, das Ensemble spricht oft rhythmisch. Letzteres geht allerdings mit Şipals fein austarierten schillernden Texten nicht gut zusammen. Vor allem der Humor wird weitgehend gekillt, auch die Stil- und Tempowechsel versacken in einem Einheitsbrei. Bachmann scheint es eher um schicke Bilder und eine klare Form zu gehen, aber eben die sind nicht der Kern des Stücks. Der Text kommt nur zur Geltung, wenn Alter Ego das Wort ergreift. Akın Emanuel Ş ipal hält die historischen Szenen mit einer ironischen Selbstbespiegelung zusammen. Sein Alter Ego lebt in Gelsenkirchen, hat zwei Kinder, eine schwer arbeitende Frau und ist ein Dramatiker, der gerade über das Osmani-

Akın Emanuel Şipal ist ein Kind des Ruhrgebiets, 32 Jahre, in Essen geboren. Ein schlaksig schlanker Mann mit jungenhaftem Lächeln, der viel liest, viel weiß und gerne lossprudelt.

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sche Reich schreibt. Alltag und Fantasie überlappen sich ständig. Geht es gerade noch um die Macht und den Zusammenhalt eines ganzen Weltreiches, ruft die Gemahlin im nächsten Moment, wo denn die Feuchttücher sind, die Alter Ego kaufen sollte. „Ich bin ein säkularer Nichtsnutz.“ Mit diesem Satz betritt Alter Ego die Bühne. „Nicht mal ein Gebet kann ich aufsagen. Ich bin so unspezifisch, ich bin ja nicht mal depressiv.“ Mehmet Ateşçi spielt Ş ipal anderes Ich mit Glaubwürdigkeit und Gagtiming. Herrlich gelingt ihm ein wüster Monolog, in dem sich Alter Ego in eine Szene hineinträumt, in der er Nobelpreisträger ist und auf seinen Kollegen Peter Handke trifft. Da ist die poetisch-komödiantisch-absurde Kraft des Stücks zu spüren. Doch Vorsicht! Ist Alter Ego wirklich ein Selbstporträt? Akın Emanuel Şipal bestätigt es weitgehend: „Ich bin vor einem Jahr wieder zurückgezogen nach Gelsenkirchen, während ich an dem Stück ge­ arbeitet habe. Meine Frau arbeitet mehr als ich. Ich bin aber nicht nur der Hausmann, die Kinder sind inzwischen im Kindergarten.“ Der nicht nur symbolische Ruf nach Feuchttüchern spielte allerdings bei der Entstehung von „Akıns Traum“ durchaus eine Rolle: „Man möchte in einen Fluss kommen. Aber dann ist ein Kind krank. Das sind zerklüftete Prozesse, dann liegt ein Stück schon mal zwei Wochen. Da kommt man weg von der Idee einer Reinheit des künstlerischen Prozesses. Dadurch entstehen auch Brüche.“ Diese Brüche gehören allerdings gerade zur Qualität von Şipals Schreiben. Ein Meisterwerk der Heterogenität war auch die Freiluftinszenierung „Hoffen und Sehnen“ auf dem Theaterplatz vor dem Bochumer Schauspielhaus. Dafür interviewte Sipal polnisch- und türkischstämmige Menschen aus Bochum und ließ ihre Erfahrungen in ein mythologisch-komödiantisches Stück einfließen, das Volkstheaterpotenzial hat. Auch der Text des enorm erfolgreichen Musiktheaterstücks „Istanbul“, das er mit Selen Kara und Torsten Kindermann entwickelt hat, stammt von Şipal. Er hat überhaupt nichts dagegen, in Teams eingebunden zu arbeiten, im Gegenteil. Mit Liesbeth Coltof – der Regisseurin von „Hoffen und Sehnen“ – hat sich eine intensive Arbeitsbeziehung entwickelt. Am Jungen Schauspielhaus Düsseldorf arbeiten sie gerade an Sipals nächster Uraufführung „Das Pommes Paradies“. Uraufführung ist am 13. April. „Es geht um den Zusammenhang von Kinderarmut und Ernährung“, erzählt der Autor. „In Deutschland haben vierzig Prozent Jodmangel, und Jod ist sehr wichtig für die Ernährung. Das hängt mit dem sozialen Status der Eltern zusammen. Mit Schulmahlzeiten könnte man das Problem erledigen. Das wusste ich nicht und fand es ganz schön krass.“ „Über Kinderarmut in einer reichen Stadt“ – so heißt das Stück im Untertitel. Es wird keinesfalls düster, das wäre nicht der Stil Ş ipals. Und auch nicht der von Regisseurin Liesbeth Coltof. Die beiden erzählen von Fabelwesen im Supermarkt, geben dem Thema etwas Märchenhaftes. „Es macht so viel Spaß, mit Liesbeth zu arbeiten“, sagt Ş ipal. „Das sind enge, kollaborative Schreibprozesse. Sie ist sehr präzise in ihren Vorstellungen, ich arbeite ihr zu. Wir sind eine Art Schreibkollektiv.“ Die Vielseitigkeit, die Offenheit, der respektvolle Humor, um schwere Themen auf unterhaltsame Weise einem größeren Publikum nahezubringen – all das macht Akin Emanuel Şipal zu einem der interessantesten jungen Dramatiker. T

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Foto links Tommy Hetzel

Akteure Porträt


Stück Gespräch

„Penthesilea: Ein Requiem“ von Nino Haratschwili in eigener Regie am Deutschen Theater Berlin: Manuel Harder (Achill) und Eka Nizharadze in der Titelrolle

Tödlich verwundet Nino Haratischwili über „Penthesilea. Ein Requiem“ und ihre Arbeit mit der Antike

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Foto Jasmin Schuller

Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Stück Gespräch Ihre Antiken-Trilogie, von der „Penthesilea“ nach „Phädra in Flammen“ der zweite Teil ist, stellt eine dramatische Neufassung von Stoffen mit langer und großer Tradition dar. Bei „Phädra“ mag man an Racine und eine französische Linie oder an Sarah Kane denken. Bei „Penthesilea“ ist natürlich der Vorgänger Kleists eine ungeheure Vergleichsgröße. War das schwierig? Nino Haratischwili: In beiden Fällen wollte ich mich von diesen Vorgängern frei machen. Bei „Penthesilea“ hat mich allerdings erstaunt, dass es außer Kleist nichts gibt. Sich mit diesem Dichter zu messen, ist aussichtslos. Mir war wichtig, etwas Eigenes zu finden. Ich wusste von Anfang an, ich möchte das als Kammerspiel erzählen, reduziert, nicht als Riesengemälde. Aber eben nicht nach oder gegen Kleist als Vorlage. Das hätte mich gehemmt. Nach welchen Impulsen entstehen Ihre Antiken-Stücke, mit welchen Materialen? NH: Ich habe ein ganzes Antike-Regal hinter meinem Schreibtisch. Schon als Kind haben mich die Göttersagen fasziniert. In den griechischen Tragödien entdecke ich wieder und wieder etwas, das mit mir selbst zu tun hat. Und dabei ist es immer universell. Wichtig ist mir, für die ganze Trilogie eine Sprache zu finden, die der großen Dimension Raum bietet und den Stoff nicht in eine Tagesaktualität zerrt. Stattdessen Pathos im Sinne des Wortes als Leidenschaft. Mit einer nicht alltagssprachlichen Künstlichkeit und dazu Brüchen – in einem eigenen Ton. Penthesilea ist eine Liebende, eine Kraftmaschine und letztlich auch eine Mörderin. In allen drei Stücken, das dritte wird „Klytaimnestra“ sein, geht es um ambivalente Frauenfiguren. Wenn Sie die schon frühe Bekanntschaft mit antiken Mythen ansprechen, war das noch im georgischen Teil Ihrer Kindheit, bevor Sie nach Deutschland kamen? Von hier aus gesehen ist ja Georgien mit der Medea aus Kolchis ein Ort der Antike. NH: Damit wurde ich schon als Kind in Georgien bekannt, wo es zum Beispiel auch eine georgische Variante des PrometheusMythos gibt. Es gibt da Echos, aber es ist nicht so, dass die griechische Mythologie als georgisches Kulturgut gilt. Eines meiner ersten Bücher überhaupt war aber ein illustrierter Band mit den griechischen Mythen und ihrer Götterwelt. Ich mochte die Logik dieser Geschichten, die hat zu mir gesprochen. Und diese Faszination ist bis heute geblieben.

Bei „Penthesilea“ hat mich allerdings erstaunt, dass es außer Kleist nichts gibt. Sich mit diesem Dichter zu messen, ist aussichtslos. Theater der Zeit 4 / 2024

Ich habe kurz vor der russischen Invasion mit dem Stück angefangen. Kurz darauf wurde das Helden-Thema in der Öffentlichkeit aktuell.

Gibt es einen Unterschied zwischen georgischer und deutscher Kultur, was das Verhältnis zur griechischen Antike angeht? NH: Vielleicht ist das in der georgischen Kultur vergleichs­ weise etwas weniger präsent, aber im Theater werden natürlich auch die Klassiker gespielt. Mein Interesse an der griechischen ­Antike hat sicher nichts mit einer besonderen georgischen Prägung zu tun, das ist mein persönlicher Zugang. Penthesileas Amazonen kämpfen in Ihrem Stück auf Seiten der Troer, bei Kleist, sehr ambivalent, gegen beide Kriegsparteien. Penthesilea steht also zu den Belagerten und Bedrängten – in einem scheinbar endlosen Krieg. Was bedeutet das? NH: Das erschien mir logischer, weil die Griechen all das ­repräsentieren, was diese Frauen in meiner Vorstellung ablehnen. Es gibt ja sehr wenig historisch Fundiertes, gerade was die Amazonen betrifft, das lässt einen großen Interpretationsspielraum Interpretation zu. Dazu kommt bei Penthesilea als Schandfleck der Familiengeschichte, dass ihre Schwester Antiope Theseus bis nach Athen nachgelaufen ist. Auch hier wollte ich die Situation der Feindschaft auf die Spitze treiben. Dafür habe ich Penthesilea auch ein bisschen älter gemacht, damit nicht der Eindruck einer Romeo-und-Julia-Konstellation entsteht – als ob sie und Achill in die Liebe fliehen könnten. Es ist alles total aussichtslos, das Drama schlechthin: Alle haben irgendwie recht und ihre Position – und es gibt keinen Ausweg. Die Rede des Waffenträgers Thersites wirkt indes wie ein aktueller Appell zu den Kriegen der Zeit – „Ein nächstes Troja wird sich immer finden“… NH: Ich habe kurz vor der russischen Invasion mit dem Stück angefangen, das hat mich natürlich aufgewühlt. Kurz darauf wurde das Helden-Thema in der Öffentlichkeit aktuell, plötzlich bekam dieser alte, fast schon verschwundene Begriff wieder Glanz und wurde aufgewertet. Auch in Georgien sprach man von Selensky als Helden. Ich wurde allerdings sehr skeptisch gegenüber dieser neuen Aufwertung des Heldenbegriffs. In der von Ihnen inszenierten Uraufführung am Deutschen ­Theater Berlin wirkte die Figur des Waffenträgers somit auch als Botschaftsträger – was natürlich eine Verkürzung ist. NH: Das ist der am einfachsten mit heutiger Aktualität zu verbindende Text, aber das ist dann auch zu einfach für das ganze Stück. Dieser Monolog, wie ihn Jens Koch gestaltet, ist wichtig, man sollte aber nicht Stück und Inszenierung darauf reduzieren.

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Stück Gespräch Das Besondere dieser Inszenierung ist die Zweisprachigkeit mit deutschen und georgischen Schauspieler:innen. NH: In dem Fall, ich habe ja schon mehrfach so gearbeitet, sollte das die Zuspitzung, die ich beim Schreiben des Stoffs fand, auf der Bühne fortsetzen. Die müssen sich hassen, sie verstehen sich nicht. Für die Spieler:innen ist das eine zusätzliche Herausforderung, in diese Konstellation mit zwei Sprachen zu gehen. Sprache in einer Situation von Mehrsprachigkeit wird ja immer wieder zu einem Politikum. Nach Georgien sind sehr viele Russ:innen geflohen, die dort ihre Muttersprache wie selbstverständlich weiter sprechen. In Alltagsbegegnungen reden die Georgier:innen, vor allem die Jüngeren, dann georgisch oder englisch mit ihnen, auch wenn sie russisch verstehen. Das war also ein Mittel, die Ausgangslage im Kontext der Fremdheit zwischen Penthesilea (Eka Nizharadze) und Achill (Manuel Harder) zu verdeutlichen. In der Bühnensituation verstehen sie sich nicht nur als Figuren nicht, sondern auch nicht als Spieler:innen. Was dann doch als Verständigung passiert, weil es passieren muss, das hat mich sehr interessiert. Die Inszenierung spaltet die Figur der Penthesilea außerdem in eine junge und eine alte auf, letztere gespielt von Almut Zilcher und wahrnehmbar in gleich mehreren Funktionen: innere Stimme, Erinnerung, aber auch Chor und Erzählung. Was hat es mit dieser Entscheidung auf sich? NH: Das Stück zeigt die tödlich verwundete Penthesilea, die sich in ihren letzten Augenblicken an ihr Leben und insbesondere an die letzten vier Tage erinnert. In der Inszenierung wollte ich diese Setzung leicht verändern: Sie ist bereits tot und im Hades – und damit auch gefangen in ihrer eigenen Geschichte. T

Foto Steffen Baraniak

Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tblisi, studierte an der Hamburger Theaterakademie Regie und begann noch vor ihren mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Romanen („Das achte Leben (Für Brilka)“ 2014) mit dem Schreiben von Stücken. „Penthesilea. Eine Requiem“ ist nach „Phädra in Flammen“ der Mittelteil einer Dramentrilogie zu antiken Frauenfiguren, gefolgt von „Klytaimnestra“.

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Stück Penthesilea. Ein Requiem Nino Haratischwili

Personen: Penthesilea Achill Alcibie Thersites

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Stück Nino Haratischwili

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Die letzte Schlacht. Wenige Augenblicke vor dem Ende. Die Sonne geht auf. Der Fluss ist zu hören. Die Welt steht für einen ­Augenblick still. Blut und Leichen der vergangenen Tage sammeln sich zu den Füßen. In der Ferne steigt Rauch auf. Pferde nahen heran, darauf: elf der zwölf unbesiegbaren Kriegerinnen, die der Königin nach Troja gefolgt sind. Und doch ist sie allein. PENTHESILEA Ist dies das Tal des Todes, und singe ich das Lied der letzten Begegnung? Und wenn ja, wirst du mein Fährmann sein? Mein Charon? Und sollte ich fallen durch deine Hand, schleifst du auch meinen zerschundenen Leib zwölf lange Tage und Nächte um die Stadtmauern? O Mütter Göttinnen, nie war euer Schweigen grausamer. Wie kann es euer Wille sein, dass ich seine Gedärme rausreiße, dass ich ihm die Augen aussteche, dass ich seine Rippen breche, dass ich … Ich höre die Hunde bellen, höre die Pferde nahen. Gleich, gleich werden sie hier sein, meine elf Kriegerinnen, die zwölfte bereits zu Asche zerfallen: Alcibie. Heißt Liebe nicht Barmherzigkeit, Gnade, Vergebung? Wie konnte sie mich also zur Mörderin machen?! Dann ist sie keine. Oder eine kranke, fehlgeleitete. Und gehört geheilt. Wer heilt mich von dieser tückischen Krankheit? O Göttinnen, verdammt habt ihr mich, schon im Mutterleib. Sie werden gleich hier sein, dann soll ich mich im Hass üben, den ich doch längst verlernt habe. Und ohne Hass kein Kampf. Aber wenn ich nicht kämpfe, zu was bin ich dann gut? Wer bin ich ohne Schwert? Du, Held der Helden, sag es mir. Das Schicksal hat mich stets geküsst, nun schleift es mich an den Haaren. Soll es so sein? Mein Ende? Durch seine Kopis soll ich meinen erbärmlichen Tod finden? Nein, niemals. Drei Generationen lang würde sich mein Geschlecht von dieser Schande nicht erholen. Verflucht seist du, Antiope, meine Schwester, die das Unglück über uns gebracht hat! Verflucht seist du, mein Hurenherz! Meine Adern, vollgepumpt mit der unsichtbaren Gier, auch ihr seid verflucht. Verschleudertes Leben, das meine Lungen füllt. Und verflucht seist du, Mutter, für deine pechschwarze Prophezeiung, für deine Worte, die mich ereilen, schneller als jeder Pfeil … – Nimm deine Worte zurück, Mutter! – Das kann ich nicht. – Du kränkst mich, Mutter. Ich verspreche dir, unserem Geschlecht und den Mütter Göttinnen zu dienen, wie ich es immer getan habe. Ich brauche keine Prophezeiungen! Ruhe in Frieden, Mutter, geh ins Land der Schmerzlosigkeit und sei unbesorgt. Ich werde dir Folge leisten, werde den göttlichen Gesetzen die Treue halten. Bis zum letzten Atemzug. Verwechsele mich nicht mit deiner älteren Tochter, die einem Griechen nachlief wie eine läufige Hündin. Ich bin nicht Antiope! Ich bin’s, Penthesilea, deine unbeugsame Tochter, die Siegerin! – Beide habe ich geboren und in euer beider Herzen geblickt. Sanft und träumend war sie, kämpferisch und widerborstig bist du. Rührselig und voller Mitleid sie, verschlossen und stoisch meine Zweitgeborene. Und doch, so verschieden ihr seid, in einer Sache gleicht ihr euch: Verlieren wirst auch du dein Herz, und mit ihm dein Leben. Spät wird es geschehen, aber geschehen wird es. Die Göttinnen haben es mir zugeflüstert. So wie schon Antiopes Schicksal. Damals schwieg ich. Jetzt aber spreche ich …

© Verlag der Autoren Frankfurt am Main, 2022 Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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Mitten im Satz brach sie ab und entglitt ins ewige Schweigen. Ich verfluche dich, Mutter, für deine schwarzen Visionen! Deine Worte im Ohr, will ich lachen, mir selber ins Gesicht lachen. Aber es ist eine einzige Wunde. Erhebe dich, Penthesilea. Schwinge dein Schwert! Das sind die letzten Augenblicke, in denen du eine Kriegerin sein musst, die stolze Königin der 43 Siege! Die unbesiegbare Amazone aus dem Geschlecht des Ares. Erhebe dich! Lass dein Schwert für dich sprechen.

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ Gleich werden sie hier sein. Meine unerschütterlichen Kriegerinnen, und hinter ihnen das ganze griechische Heer. Sie werden uns umzingeln und werden Tribut fordern. Werden darauf warten, dass wir tun, was wir unser Leben lang getan haben. Nur wissen sie nicht, wie es sich anfühlt, zu töten, was mit dem eigenen Leib, mit dem eignen Herzen verwachsen ist. Sich selbst töten. Darin bin ich unerfahren. Noch. Im Hass soll ich mich üben, um meinen zerschundenen Leib aufzurichten und zuzuschlagen. Ein letztes Mal. Erhebe dich, Penthesilea! Erhebe dich! Seht mich doch an, was aus mir geworden ist, seht mich an, ihr unbarmherzigen Göttinnen. Reste. Meine Reste, die ich aufsammeln soll. Für den finalen Schlag. Reicht es nicht, dass ich versucht habe, ihn mir rauszuschneiden, zu amputieren? Reicht euch das nicht? Den Schmerz aber, den behalte ich und nehme ihn mit. Den Schmerz, den will ich für die Ewigkeit. Den darf mir keiner abtrennen. Überall Blut. Unser Blut wenigstens darf sich vereinen, darf sich mischen. Töte mich. Oder ich töte dich. Das ist die einzige Wahl, die uns die Götter lassen. Und den Krieg. Diese Augenblicke, bevor wir fallen, sind die letzten Krumen des Glücks, die man uns gewährt. Ich will mich daran satt essen. Sieh mich an und atme mich ein. Wer nichts begehrt, den kann man nicht berauben. Ich glaubte, eine Königin zu sein, aber ich war eine Bettlerin.

2 Vor der ersten Schlacht. Im Zelt des Feindes. Sonnenuntergang. Die Hitze des Tages lastet noch auf den Schultern, bleiern, schwer. Sogar die Ameisen schwitzen. PENTHESILEA Göttlichen Segen wünsche ich Euch, Held der Helden! ACHILL Ich fühle mich geehrt. Die Königin der 43 Siege bittet mich um eine Audienz? Tretet ein. Ich beiße nicht. PENTHESILEA Vor Bissen fürchte ich mich gewiss nicht. ACHILL Ich vergaß: Ihr seid eine besondere Frau. PENTHESILEA Widerstrebt es Euch, mit einer Frau zu kämpfen? Seid unbesorgt: Schonen müsst Ihr allenfalls Euch selbst. ACHILL Ich zweifele Eure Talente nicht an. Eurem Schwert eilt ein respektabler Ruf voraus. Nein, mit Euch zu kämpfen widerstrebt mir nicht, wohl aber, solche Anmut zu verunstalten. PENTHESILEA Was soll das sein? Eine Beleidigung? ACHILL Ein Kompliment. PENTHESILEA Hochmut bestrafen die Göttinnen als Erstes. ACHILL Nicht meine Götter. PENTHESILEA Hybris, da bin ich sicher, ist auch Euren Göttern ein Dorn im Auge. ACHILL Nehmt doch Platz. Macht es Euch bequem. PENTHESILEA Noch immer hochmütig? ACHILL Warum seid Ihr hier? PENTHESILEA Um mit Euch den Ablauf der Schlacht zu besprechen. ACHILL Ich bin ganz Ohr. PENTHESILEA Morgen bei Sonnenaufgang, nicht weit von hier, am Ufer des Skamandros, können wir uns gegenübertreten. Ich biete an: Schwertkampf, oder zu Pferd mit Pfeil und Bogen. ACHILL Seid Ihr fertig? PENTHESILEA Wenn Ihr dem nichts hinzuzufügen habt? ACHILL Nein, habe ich nicht. PENTHESILEA Und wie ist Eure Antwort? ACHILL Bei Sonnenuntergang also, am Flussufer. Wir jagen unsere Pferde durchs Gestrüpp und einander die Pfeile in die Leiber, oder wir lassen das alberne Vorspiel und greifen gleich zu den Schwertern. Denn deswegen

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sind wir doch hier, oder nicht? Nach der Schlacht um Troja werden wir die Unvergessenen sein. Mein Heldentum und Euer furchteinflößendes Regiment! Bereit für den Hades und die Krönung im Jenseits. Dann haben wir unser Soll erfüllt. Alle sind zufrieden. Und derjenige von uns, der den anderen überlebt – und ich fürchte: das werde wohl wieder ich sein –, wird noch einige Jahre seinen Enkelkindern von dieser glorreichen Schlacht erzählen, denn schließlich ist dies ja unser Höhepunkt, nicht wahr, der krönende Abschluss? Und damit das ganze Spektakel erzählenswert ist, lassen wir das Blut tanzen, lassen die Funken noch ein wenig greller sprühen, werfen die Schwerter noch etwas schwungvoller in die Höhe und gestalten unsere Angriffe noch anmutiger als sonst. Wir machen eine unvergessliche Show daraus, die in die Geschichte eingeht. Die Waffenträger sollen diese Legende schließlich bis nach Themiskyra und Thessalien tragen. Wir geben uns richtig Mühe, zeigen unsere besten Tricks, zeigen, was wir draufhaben, und beeindrucken mit unserer Gnadenlosigkeit. Und zwischendurch werfen wir uns ein paar Beleidigungen zu, ein paar anzügliche Sprüche, der Hass muss schließlich gefüttert, der Kampfgeist am Leben erhalten werden. Ich lasse mir etwas Besonderes für Euch einfallen, etwas, das Euer Feuer entfacht, denn männliche Machtdemonstration, darauf steht Euer Volk so gar nicht, stimmt’s? Ja, das alles machen wir, wie es unsere Pflicht ist. Denn wir sind die Auserwählten, wir träumen nicht, sondern leben unseren Traum. Manchmal wissen wir nicht mehr, wozu, aber das ist auch nicht unsere Aufgabe, zu denken, sondern: zu töten. Und, keine Sorge, ich lasse Euch gern die Illusion Eurer Überlegenheit, damit Ihr Euch sicher wähnt, Eures Sieges gewiss. Auch Ihr dürft brillieren, dort, am Ufer des wilden Skamandros, Ihr dürft mich verletzen, dürft mich bluten lassen, Ihr dürft mir die Haut aufritzen und Narben darauf hinterlassen, ich bewahre sie gerne als Andenken Eurer Anmut … Aber dann, des Spektakels überdrüssig, ramme ich die Spitze meiner Kopis tief in Euren Bauch, in den Magen oder in die Lunge, es geht schnell, das verspreche ich Euch, und danach ist dieser ganze Mist hier ein für alle Mal vorbei. Für Euch zumindest. Er sieht mir in die Augen und schmunzelt. Mit Mühe halte ich den Speichel, der ihm ins Gesicht fliegen will, zurück. Ich renne aus dem Zelt. Unterwegs überlege ich kehrtzumachen, überlege, ob es nicht doch angebracht wäre, den Dolch meiner Mutter, den ich stets am Fußgelenk trage, zu nehmen und ihm ins Auge zu stoßen. Wozu der Aufschub, warum bis morgen warten? Aber das wäre meinem Geschlecht nicht angemessen, mich danach wie eine Diebin aus dem Feindeslager zu stehlen, nein, ein paar Stunden noch, Penthesilea, ermahne ich mich. Die Sonne geht auf und dann gehört er dir. Ich sehe mich bereits seinen abgetrennten Kopf in die Höhe recken, ja, ich hasse ihn so sehr, dass sein Tod allein nicht ausreicht, ich werde ihn enthaupten und seine Schande zur Schau stellen, ich nehme es mit, sein selbstverliebtes, schwadronierendes, vor Potenz strotzendes Haupt, und stelle es am Marktplatz auf, einen Pfeiler lasse ich eigens dafür errichten. Damit alle seine Schmach sehen, seine Niederlage. Damit Troja endlich diese Plage loswird, dieses besonders missratene Exemplar seiner widerlichen Gattung. Ich sehe die Lagerfeuer brennen, ich höre die ganzen verhassten Griechen in ihren Zelten auf und ab gehen, sich für die bevorstehende Schlacht wappnen. Ich rieche ihren Wein und ihre Sehnsucht, endlich zu sterben. Ja, diesen Wunsch erfülle ich ihnen liebend gern. Aber dann lässt mich etwas innehalten, irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas an seinen Worten ist verkehrt, es ist eine Falle, die er mir gestellt hat, und ich bin hineingetappt. Er ist nicht, der er scheint. Er hat mir eine Maskerade dargeboten, und ich habe sie für sein Gesicht genommen. Seine Worte verschleiern nur … aber was? Mit hastigen Schritten gehe ich zurück, betrete, ohne um Einlass zu bitten, das Zelt und nehme ihm gegenüber Platz. Ich werde ihm seine Maske

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Stück Nino Haratischwili ­ erunterreißen, und mit ihr sein arrogantes Lächeln, das er auch jetzt wieh der aufsetzt und das mich rasend macht. So sitzen wir wieder da. Wir schweigen, und ich warte auf eine Entschuldigung. Irgendwann steht er auf, gießt Wein in zwei Gläser und reicht mir eines davon. ACHILL Myrmidonischer Wein. Das Beste, was Troja zu bieten hat. PENTHESILEA Ich trinke nicht vor der Schlacht. ACHILL Dann stoßt wenigstens mit mir an. Er steht auf und reicht ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. PENTHESILEA Es ist meinem Geschlecht nicht erlaubt, die Hand eines Mannes zu berühren. Außer im Kampf. ACHILL Und unsere Sitten erlauben es mir nicht, einen Gast ohne Trank aus meinem Zelt treten zu lassen. Kränkt mich nicht, Königin. Nicht vor morgen. PENTHESILEA Es ist nicht meine Absicht, Eure Sitten zu beleidigen. Aber es sind nicht meine. ACHILL Meine gelten hier ebenso wie Eure. Oder keine. Denn wir sind beide auf fremdem Boden. PENTHESILEA Man wird nicht zu einem anderen Menschen auf anderer Erde. Wer, wenn nicht Ihr, Held der Helden, sollte wissen, wie schnell man zum Barbaren wird, sobald man die göttergegebenen Gebote vergisst. ACHILL Nicht, wenn die Barbarei des Menschen wahre Natur ist. Dann sind wir frei, wir beide, hier und jetzt. Nun, nehmt Ihr das Glas? Meine Hand wird langsam schwer. PENTHESILEA Oh, Ihr seid dieser schweren Aufgabe gewiss gewachsen. Achill Sollten wir die kurzen Augenblicke unserer unerwarteten Begegnung nicht genießen, zu dieser späten Stunde, an diesem wunderschönen Ort, da uns das Schicksal für morgen zu Feinden bestimmt hat? PENTHESILEA Einem wunderschönen Ort, den Ihr und Euer Volk in Schutt und Asche legt. Würdet Ihr ihm den nötigen Respekt zollen, hätten meine Gefährtinnen und ich Troja nicht zu Hilfe eilen müssen. Schweigen. PENTHESILEA Was sollte das vorhin? ACHILL Was meint Ihr? PENTHESILEA Die Show, von der Ihr spracht. Ihr habt sie Euch nicht für morgen aufgespart. Ihr habt sie mir bereits dargeboten. Warum? ACHILL Ihr habt dieses Zelt betreten mit einer sehr genauen Vorstellung von meiner Wenigkeit. Und ich hatte das dringende Bedürfnis, sie zu korrigieren. PENTHESILEA Indem Ihr Euch aufführt wie ein Schwein? ACHILL Gut, endlich können wir offen miteinander sein. PENTHESILEA Warum sollte ich Euch diesmal trauen? ACHILL Ihr seid zurückgekommen. PENTHESILEA Ich habe also den Test bestanden, ja? Haltet mich nicht für eine Närrin, nur weil ich eine Frau bin. Das ist der Fehler, den ihr Griechen unentwegt macht. ACHILL Ihr kränkt mich, Königin. Ich zolle Eurem Geschlecht großen Respekt. Auch ich habe eine Mutter, gar nicht zu reden von meinem Sohn. PENTHESILEA Ja. Doch Worte kosten nichts. Erst Taten können teuer werden. ACHILL Was veranlasst Euch, so schlecht über mich und die Meinen zu denken? PENTHESILEA Briseis, das arme Geschöpf … Wart Ihr es nicht, der sie entführt, versklavt, der ihre Brüder getötet hat? ACHILL Da wären wir also wieder. Irgendwelche Geschichten, die Ihr über mich gehört und aufgrund derer Ihr Euer Urteil über mich gefällt habt. Nun, es tut mir leid, Eure vorgefertigte Meinung auch hier ins Wanken bringen zu müssen: Ich habe sie geliebt. Ja, seht mich nicht so an. Ich habe sie mitgenommen, wie es der Krieg verlangt, als Beute, als Sklavin, das ist wahr. Doch dann wurde sie mir zur Frau. In ihrer Liebe hat sie mir verziehen.

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PENTHESILEA Die Liebe. Oh ja, das Zauberwort für alles! Die Salbe gegen jede Wunde! Die Erklärung für jede Schande, jede unverzeihliche Tat! ACHILL Habt Ihr noch nie geliebt, Königin? PENTHESILEA Geliebt? Natürlich habe ich geliebt: meine Mutter, meine Töchter und mein Volk, sie alle liebe ich innig, meine Stadt und meinen Hafen, die reifen Feigen aus Themiskyra, meine Hunde und meinen Palast, das Meer liebe ich, das mich nach jeder Schlacht reinwäscht und schwerelos macht. Die Gebote meiner Mütter und Göttinnen liebe ich. Und meine Kriegerinnen, die vor allem. Meine Heiligen Zwölf, die mir nach Troja gefolgt sind und die es morgen mühelos mit Eurem Heer aufnehmen werden. ACHILL Die Königin der 43 Siege … und wie vieler verlorener Schlachten? PENTHESILEA Eine. Und dabei wird es bleiben. Pause. Was wäre gewesen, wäre ich nicht umgekehrt? Vorhin? ACHILL Ihr seid doch hier, oder täusche ich mich? PENTHESILEA Was Ihr nicht wissen konntet. ACHILL Aber hoffen. PENTHESILEA Warum? ACHILL Um mich an Eurem schönen Antlitz zu erfreuen. PENTHESILEA Hört auf, sofort! ACHILL Um zu sehen, wer Ihr seid. Nicht das, was man über Euch erzählt. PENTHESILEA Vergesst nicht, weshalb wir uns gegenüberstehen. ACHILL Stoßt Ihr nun mit mir an? Mein Arm, er fällt gleich ab. Was schade wäre. Denn so könntet Ihr ihn mir morgen nicht mehr abschlagen … PENTHESILEA Hört endlich auf zu lachen! Sein Körper – eine Festung aus Schweigen. Ich will ihn in Schutt und Asche legen, bersten soll er, damit er endlich zu mir spricht. Damit seine Schultern, sein Mund, seine Ellenbogen, seine Wirbelsäule ihn verraten. Alle Leben, die er mit seinen Händen beendet hat, sind dort eingezeichnet, in den Linien auf seiner Haut. Wer, wenn nicht ich, sollte sie lesen? Sollte all die verstummten Schreie hören, all das erloschene Augenlicht darin sehen? Wie ein Händler feilscht er mit mir. Um was? Ich verachte ihn. Würdelos ist er, der schwache Sohn eines schwachen Volkes, würdelos ist seine Art zu verhandeln. Fürchtet er sich vor mir?, frage ich mich und erzürne über sein arrogantes Lächeln, als er das Glas an seine Lippen drückt. Er trinkt gierig, und doch will dieses Lächeln nicht verschwinden. ACHILL Seht Ihr sie manchmal auch? PENTHESILEA Wen? ACHILL Die Gesichter. Suchen sie Euch auch heim? In Eurem Schlaf? Verkleben Euch die Lider? Stehlen Euch die Ruhe? PENTHESILEA Von welchen Gesichtern sprecht Ihr? ACHILL Von denen der Toten. Gestorben durch uns. Von ihren Gesichtern spreche ich, Hoheit. PENTHESILEA Hektor ist es also, der Euch den Schlaf raubt? Falls es Euch tröstet: Auch Troja ist im Schmerz um ihn erstarrt. Doch morgen ist die Trauerzeit vorbei, die elf Tage, die Zeit der Tränen, und die Schlacht wird weitergehen … Ich sehe einen gewissen Stolz in Eurem Gesicht? Der trojanische Halbgott, von Euch besiegt. ACHILL Stolz? Er hat meinen Freund getötet. Daher musste auch Hektor sterben. So verlangen es die Götter, so sind die Gesetze des Krieges. PENTHESILEA Doch verlangen die Götter nicht, dass Ihr seinen Leichnam zwölf lange Tage zu Patroklos’ Grab schleift, bevor Ihr ihn freigebt zur Beisetzung an sein Volk. ACHILL Patroklos war mir der beste Waffenträger. Der beste Mann. Der beste Freund. Nie habe ich mit jemandem so lachen können, wie mit ihm … PENTHESILEA Die Götter verlangen auch nicht, dass man erst Eure Mutter zu Rate ziehen muss, um Euch zur Vernunft zu bringen und Euch zu drängen, den zerschundenen Leichnam an die Trojaner zurückzugeben.

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ACHILL Mag sein. PENTHESILEA Und sie verlangen auch nicht … Plötzlich springt er auf, in der Linken das mir entgegengestreckte Weinglas, mit der Rechten greift er nach dem Krug und trinkt daraus, als gelte es einen Brand zu löschen, als gelte es etwas abzuwenden. Ein Unheil. Es brennt in ihm. Und ich? Was sitze ich hier und führe diese irregeleitete Unterhaltung, die einem Labyrinth gleicht? Jeden Moment wird er sich umdrehen und mir seinen Zorn entgegenschleudern, einen Pfeil aus geübter Hand, und ich warte nur darauf, denn Zorn ist etwas, das ich kenne, das mich zu mir selbst zurückführt, meine Füße in Bewegung setzt, mich ihm an die Kehle springen lässt. ACHILL Wir sind zu alt zum Töten, findet Ihr nicht? Schweigen. ACHILL Danke. PENTHESILEA Wofür? ACHILL Dass Ihr es zugebt. PENTHESILEA Ich bereue nichts, falls Ihr das meint. Mein Leben steht im Dienst meines Geschlechts. Wie Eures im Dienst der Griechen. ACHILL Natürlich. Wie konnte ich es vergessen. Die Pflicht. Die heilige Pflicht zu kämpfen. PENTHESILEA … die eine Gabe ist, für die Ihr den Göttern dankbar sein solltet. ACHILL Die Gabe zum Töten? Meine Dankbarkeit währt ewig. PENTHESILEA Die Gabe zum Siegen. Neun Jahre gelang es Thetis, so sagt man, ihren Sohn vom Krieg fernzuhalten. Schon bei seiner Geburt hatten die Götter ihr geweissagt, dass er in Troja sein Ende finden würde, er, der Unbesiegbare. Sie hat ihn vor der Prophezeiung bewahren wollen, wie meine Mutter mich. Und doch ist er da. Jetzt. Nach neun Jahren kommt der Krieg zu ihm. Holt ihn ein. Auf einmal sehe ich, wie er auf die Knie sinkt, mit der linken Hand noch immer das Glas umklammernd, und sein Haupt auf die sandige Erde legt. ACHILL Hätte ich nicht aufgehört zu kämpfen, wäre er noch am Leben. Nicht Hektors Schwert, meinen Capricen ist er zum Opfer gefallen, Patroklos, mein treuester Freund. Meinem kindischen Verhalten. Meiner verfluchten Sturheit. Was macht er da? Dieser Mann, dem ich morgen in der Dämmerung den Tod bringen soll? Oder er mir? Zum ersten Mal denke ich über diese Möglichkeit nach. Niemals habe ich meine Siege vorher angezweifelt, nur eine Schlacht verloren, 43 gewonnen, was also treibt mich dazu, diesen dummen Gedanken zu denken? Ich habe noch viele Rechnungen offen, ich bin noch nicht bereit für den Tod, meine Töchter sollen mich noch nicht beerben. Was macht er da? Kauert wie ein Tier, wie ein verlassenes, angeschossenes Tier. Er soll aufstehen. ACHILL Ohne mich wäre er noch am Leben. Versteht Ihr, Königin, versteht Ihr das? Er wendet den Blick ab, als sei in meinen Augen ein Abgrund. Fürchtet er sich vor mir? Aber nein, es ist etwas anderes, das ihn zwingt, seinen Blick von mir abzuwenden. Meine Brust? Es ist meine Brust. Es sticht mich, zwischen meine Rippen rammt sich etwas, wie bei meiner ersten Verwundung, in meiner ersten Schlacht, in Pontos. Wie stolz war ich gewesen, das erste Mal in den Kampf zu ziehen, an der Seite meiner Mutter. Wie unvermittelt traf mich der Pfeil, wie tief war die Wunde, wie pochend der

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41. Heidelberger Stückemarkt Das Theater Festival

Gastland Georgien 26.4.— 5.5.2024 Schaubühne Berlin Düsseldorfer Schauspielhaus Schauspielhaus Wien Schauspiel Stuttgart Deutsches SchauSpielHaus Hamburg und viele andere


Stück Nino Haratischwili Schmerz. Und nun, so viele Jahre später, kehrt er zurück, und ich öffne die Lippen, doch kein Laut dringt hinaus. Aber nein, ich werde mich nicht schämen, beschließe ich. Der Krater, meine linke Brust, soll ihm eine Prüfung sein, die er zu bestehen hat. Die letzte Schlacht, dann heimwärts, dann reife Feigen und Frieden … Ich zwinge mich zu einem Lächeln, es ist ein Lächeln unter Trümmern, da erhebt er sich, richtet sich vor mir auf, ich sitze, er steht, er sieht auf mich hinunter und hält das Glas an meine Lippen. Zerreißen tut es mich zwischen mir und mir. Ich kann seine Narben sehen, unzählige, auf seinen Armen, eine Landkarte seiner Kämpfe. Zu alt? Ja, ich bin zu alt dafür, ich bin zu alt, denke ich, und während ich das denke, senkt sich meine Hand langsam auf sein Haupt. Noch ein Lufthauch und ich berühre sein Haar. Nur zum Gebären braucht es einen Mann, nur zum Gebären braucht es einen Mann … Das erste Gebot der Mütter Göttinnen pocht in mir, schreit in mir, dann wieder Stille. Plötzlich fällt die Welt von uns ab. Kein Geräusch mehr. Nichts. Nur er und sein Atem und das kühle Glas an meinen Lippen. Ich rieche ihn. Er riecht nach Tannen. Nach Tannen und Wäldern, an denen es hier in diesem trockenen Land so mangelt. ACHILL Trinkt. Es fühlt sich gut an, glaubt mir. Wenn man erstmal den eigenen Träumen entwachsen ist, wird es leichter. Was kommt danach? Egal. Wir haben das Jetzt, und darauf sollten wir trinken. PENTHESILEA Ich bin zurückgekommen, weil ich Euch durchschaut habe. ACHILL Und? Wen habt Ihr entdeckt? Durch mich hindurch, hinter mir? Wen? PENTHESILEA Jemand, den ich noch nicht kannte. ACHILL Den Ihr kennen wolltet? PENTHESILEA Ich sollte nun wirklich … ACHILL Warum bloß, Königin, hat mich niemand vor Eurer Schönheit gewarnt? Er spricht leise. Flüstert fast. Ich senke den Blick. Ich atme seinen Atem. Die niederträchtigen, würdelosen Gesetze seines Stammes erlauben es ihm, so zu reden, nicht einmal Schamesröte treibt es ihm ins Gesicht, als er das sagt. Meine Lippen nähern sich dem Glas, irgendwann muss ich diese Beschämung ungeschehen machen, sie auslöschen, denke ich, aber noch bevor ich trinken kann, zieht er das Glas wieder weg und lässt es auf den sandigen Boden fallen, sodass der Wein spritzt. Sein Gesicht ist direkt vor meinem, seine Zunge dringt in meinen Mund. Seine Zunge – rau und rot und feucht. Mein Mund ist voller Ohnmacht und Empörung. O Göttinnen, rettet mich! Doch es sind fremde Laute, die aus meiner Kehle dringen. Ich ziehe ihn an

den Haaren, er lacht, wieder lacht er, ich hasse dieses Lachen. Er stößt mich zu Boden, doch ich werfe ihn von mir herunter. Ich brülle etwas, ich weiß nicht, was, er erhebt seine Faust, sein Gesicht verrät Fassungslosigkeit, dann senkt er sie wieder. Starrt mich nur an. Ich stürme aus dem Zelt. Endlich ist er von mir abgefallen, wie die Kruste von einer verheilten Wunde.

3 Die erste Schlacht. Am Ufer des Skamandros. In der Morgendämmerung. Der Fluss rauscht. Man hört Kriegslieder, Pferde werden vor die Streitwägen gespannt. PENTHESILEA Ich bin in einem Land, das ich nicht kenne, das ich nie zuvor betreten habe. Und doch ist alles hier vertraut: der beißende Geruch des nahenden Todes. Der Himmel, der in Stücke zerfällt, weiße, rote, schimmernde. Und die Schlacht im Rücken. All die Hopliten und Gymneten, Schleuderer und Bogenschützen, Peltasten und Reiter, dazwischen meine elf Gefährtinnen auf ihren Pferden. Ich höre sie, wie sie, die Gesichter schwarz angemalt, die Gebote der Göttinnen rufen, bevor sie sich in die Schlacht stürzen. Mein Pferd, unruhig, siegeshungrig, wie seine Herrin. In meiner Nähe: sein Waffenträger, ein buckeliger Mann, und meine Waffenträgerin, Alcibie, deren Gier nach Blut ich in meinem Nacken spüre. Ihr Hass ist klebrig und schwer. Nichts berauscht sie so wie eine weitere griechische Leiche. Dann gibt etwas in ihr für einen Augenblick Ruhe, vor dem es sonst kein Entrinnen gibt. Ein weiterer toter Grieche bedeutet ihr einen Gedanken weniger an meine tote Schwester. Alcibie, die Unverwundbare. Nie hat sie auch nur einen Kratzer abbekommen in all den Kämpfen, all den Schlachten. Meine Garantin für den Sieg, vor der ich nie ein Geheimnis hatte, und jetzt scheint mir, uns trennt eine Wüste, endlos und leer. Ich darf sie nicht anstecken mit meinem Argwohn, meiner Unsicherheit. Gehe ich einen Schritt auf sie zu, stolpere ich über ihren Stolz. Also schweige ich. Das Schweigen trennt uns, meine Schmach. Da kommt er, auf seinem Pferd. Schwarz, wie eine mondlose Nacht. ACHILL Einen gesegneten Morgen, Königin! PENTHESILEA Ihr seid spät, Held der Helden. Darf ich vorstellen: Alcibie, meine Waffenträgerin, die beste Bogenschützin meines Geschlechts und treueste Gefährtin, die ich je hatte. ACHILL Thersites an meiner Seite. Aus Kalydon, aus dem Airgiosischen Geschlecht. Odysseus hat ihn mir als Patroklos’ Nachfolger bestimmt. Man rühmt ihn, der beste Waffenträger unseres Heeres zu sein. Heute wird er es unter Beweis stellen müssen. THERSITES Wählt Ihr Pfeil und Bogen, oder Schwertkampf?

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ ACHILL Die Königin soll entscheiden. PENTHESILEA Lasst uns die Pferde nicht unnötig ermüden. ALCIBIE Schwertkampf also. THERSITES Die Sonne ist aufgegangen. Der Kampf kann sogleich beginnen. ACHILL Er beginnt, wenn ich es sage. THERSITES Was? Aber … ACHILL Der Sonne nämlich sind wir scheißegal. ALCIBIE Nein, der Bucklige hat recht. Wir sollten nicht länger warten. PENTHESILEA Ein kurzes Gebet für meine Kriegerinnen sei mir noch gestattet. Clonie, Polemusa, Derinoe, Evandre, Antandre, Bremusa, Hippothoe, Harmothoe, Derimacheia, Antibrote, Thermodosa, schwingt eure Schwerter, schont nicht den Feind, die Ehrbaren sollen die Sieger sein. Ares sei mit euch! ALCIBIE Hoi hoi hoi! PENTHESILEA Hoi hoi hoi! Mütter Göttinnen, gewährt meinen Schwestern euren allmächtigen Schutz! So, ich bin bereit. ACHILL Doch wer, glaubt Ihr, entscheidet darüber, wer der Ehrbare ist? PENTHESILEA Wie? ACHILL Euer Gebet. Ihr sagtet: Die Ehrbaren sollen die Sieger sein. Ist der Ehrbare also der Stärkere? Der, der überlebt? Rechtfertigt seine Kraft seinen Sieg? Ist die Ehre nach dem Gesetz des Krieges also die Kraft gepaart mit Skrupellosigkeit? ALCIBIE Ich denke, Ihr solltet Eure Positionen einnehmen. ACHILL Vor nicht einmal einem halben Mond, da lebte mein bester Mann noch, Patroklos. Jetzt ist er tot, und ich soll eine Frau von solcher Anmut … ALCIBIE Ihr beleidigt meine Herrin! PENTHESILEA Lass das meine Sache sein, Alcibie! ACHILL Wozu das Töten? Ich habe es vergessen. Kann mich wer daran erinnern? Hey, ihr Schluchten, Berge, hey Fluss – sagt es mir doch! ALCIBIE Was soll nur aus einem Heer werden, dessen größter Held den Verstand verloren hat? THERSITES Schweig! Wer hat dir, einer Waffenträgerin, erlaubt, dein Maul aufzureißen? Weißt du, wer vor dir steht? Geehrt solltest du dich fühlen, dem größten Held Atticas so nah sein zu dürfen. ALCIBIE Fürstin, wir sollten beginnen! PENTHESILEA Held der Helden, mir scheint, dass der Kummer um Euren Freund Euch gefangen hält. Wir gewähren Euch noch eine Nacht der Trauer. THERSITES Herr, das ist eine Herablassung, eine Kränkung, die wir niemals dulden können, noch dazu aus dem Munde eines Weibs. ACHILL Bring mir Wasser, Thersites. PENTHESILEA Ist Euch nicht wohl? ACHILL Es ist rührend, Königin, dass Ihr Euch um mein Wohlergehen sorgt, Augenblicke nur, bevor Ihr es zu beenden gedenkt.

Ich will mich ihm nähern, will ihn ansehen und ihm den Glauben zurückgeben, der ihn verlassen hat. Aber welchen? Woran glaube ich selbst? An welchen Sieg, an welches Glück, das er verheißen könnte? Ich muss klar bleiben, wach bleiben, ich habe mit der Nacht gerungen, mit dem Rest seines Geruchs auf meiner Haut. Ich verfluche mich, Alcibie mitgenommen zu haben, aber so ist das Gesetz. Es zu brechen hieße nur, Misstrauen zu wecken. Diese Gegenwart fühlt sich geborgt an. O Mutter, verflucht seist du mit deiner pechschwarzen Prophezeiung! Schwester, soll deine Schande nun auch mich ereilen? Mütter Göttinnen, lieber lasst mich sterben. PENTHESILEA Vielleicht sollten wir den Kampf vertagen? Flüstere ich. Er lächelt. THERSITES Sie macht sich lustig über Euch, Achill, Held der Helden. Achill Halt den Mund, du Missgeburt! Ein Echo. Aus der Schlucht. Der Fluss antwortet. Miss. Ge. Burt. Ich muss an meine Pflicht denken. Meine Pflicht, ihn zu töten. Meine Pflicht, Troja zu Hilfe zu kommen. Gegen den gemeinsamen Feind. Dieses würdelose Geschlecht der Griechen, das seine Macht nur durch List zu sichern weiß, das raubt und stiehlt, was ihm nicht zusteht, das unsere Gebote missachtet. Clonie, Polemusa, Derinoe, Evandre, Antandre, Bremusa, Hippothoe, ­Harmothoe, Derimacheia, Antibrote, Thermodosa – mein Mund formt ihre Namen, sucht bei ihnen Halt, klammert sich an die Buchstaben, als würde ich sie gerade erst erfinden. Meine Geschöpfe. Meine Armee. Stärker als 100 Mann. Unser Sieg nur eine Frage der Zeit. Das griechische Heer – ein Witz, spätestens seit dem Streit zwischen Achill und … Meine Zunge stolpert. Sein Name. Sein Name in meinem Mund, sein Geschmack … seit dem Streit zwischen ihm und Agamemnon, den nur Odysseus höchstselbst hat schlichten können. Doch kaum, dass er die Zügel lockerließ, flohen alle griechischen Krieger auf ihre Schiffe. Zu lange dauert der Krieg schon an. Zu lange sind die Männer schon hier. Fern ihrer Dörfer und Frauen, ihrer Kinder und Felder. Ihre Sehnsucht ist stärker als ihr Kampfeswille. Alcibie nähert sich. Sie ist rasend. Sie versteht mich nicht, und das kann sie mir nicht verzeihen. Das gesteht sie mir nicht zu. Meine Unverwundbare. ALCIBIE Was ist? PENTHESILEA Gib uns noch etwas Zeit. ALCIBIE Warum? Mag er auch vom Wahn befallen sein, was kümmert es uns? PENTHESILEA Er ist noch in Trauer um …

WILDE BÜHNE: BLUTEN Von der Menarche bis zur Menopause [12 plus] Premiere: 12. April 2024 Infos & Karten 0341. 486 60 16 | www.tdjw.de


Stück Nino Haratischwili ALCIBIE Niemals würdet Ihr den Kampf hinauszögern, sollte ich den Tod finden. Umso gnadenloser würdet Ihr dem Feind den Todesstoß versetzen … so will ich doch hoffen? PENTHESILEA Jemanden anzugreifen, der nicht auf dem Schlachtfeld ist, wäre unter unserer Würde. ALCIBIE Wir sind auf dem Schlachtfeld – Ihr und ich, und auch er. PENTHESILEA Nein, er nicht. Nicht mehr. ALCIBIE Sollte der Kampf vertagt werden, habt Ihr das zu verantworten. Dann soll er vor dem Heer sprechen und seine Schwäche selbst erklären. Er trinkt gierig Wasser, so wie letzte Nacht den Wein. Es ist ein Loch in ihm, das er nicht füllen kann. Kein Meer, kein Ozean reicht dafür aus. Der kleine Mann an seiner Seite beäugt ihn wachsam. Ihre Verbindung – eine Zwangsehe. Sein wahrer Freund – unter der Erde. Unter der fremden. Ich muss ihn erlösen. Ich muss ihn vor sich selbst retten, aber wie? Hatte ich doch weder Vater noch Bruder, noch Mann. Wie soll ich seine Gedanken erraten, wenn ich nicht einmal seinen Körper zu lesen vermag? Er nähert sich mir. Er missachtet die Gesetze des Krieges. Er missachtet die Welt. Sein Geist watet allein durch einen Sumpf, der ihn einsaugt. Tief und tiefer. Alcibie hat recht. Ich kann nicht in der Ohnmacht verharren. Der Mann ist mir der Henker. Der Mann ist mir der Feind. Der Mann ist mir das Unheil. Wach auf, Königin, wach auf, Penthesilea! ACHILL Dann lasst es uns ohne Waffen machen. PENTHESILEA Ihr wollt ringen? ACHILL Warum nicht? ALCIBIE Kein Zweifel, er ist von Sinnen. THERSITES Das wäre unter Eurer Würde, Held der Helden. ALCIBIE Lächerlich wäre es. Wie Kinder in der Kampfschule. Er kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. Ich schaue mich um. Alcibies Blicke treffen mich wie Faustschläge. Und doch kann ich nicht anders. Ich nehme die mir entgegengestreckte Hand. Meine Stute schnauft und scharrt mit den Hufen. Wir stehen einander gegenüber, er und ich. Der Bucklige ist empört, Alcibie sprachlos. In der Ferne hören wir die Schwerter aufeinanderschlagen. Jemand ruft. Jemand stürzt. Jemand ist tot. Die vertrauteste Musik meiner Welt. Und doch höre ich sie kaum, das Rauschen des Flusses nimmt mich in Beschlag, und die Empörung, die uns umgibt. Da, auf einmal, schubst er mich. Ja, er schubst mich und lacht dabei. Ich verliere das Gleichgewicht, kann mich aber abfangen. Alcibie ruft etwas, ich gebe ihr zu verstehen, dass ich keine Hilfe brauche, dass sie zurückbleiben soll. Er schubst mich erneut. Und hört nicht auf zu lachen. Wie gestern, im Zelt. Als kenne er ein Geheimnis über mich, eines, das nicht einmal mir selbst bekannt ist. Vielleicht stimmt das auch. Vielleicht hat er schon längst etwas begriffen, was sich mir nicht erschließen will. Ich muss an die Frauen denken, die er mit seinen Händen schon berührt hat, und stürze mich auf ihn. Alles hinausschreiend, was seit gestern Nacht in mir tobt und wütet. Sein Lachen bleibt auf seinem Mund haften, als sei es damit verwachsen. Ich reiße ihn zu Boden. Er rührt sich nicht, leistet mir keinen Widerstand: eine Beleidigung, eine Demütigung. Seine Kraft unter mir, diese Kraft, die schon so viele Leben vorzeitig beendet hat, ich will sie spüren, ich will, dass er sie mir zeigt, dass er mich nicht schont. ALCIBIE Schluss mit dem Schmierentheater! Sie sagt es zu Thersites, ich bin erleichtert, löse meinen Griff und bleibe liegen. ALCIBIE Kümmere dich um deinen Herrn. Morgen um die gleiche Zeit treffen wir uns wieder. Zu einem würdevollen Kampf, und nicht solch einem …

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Da springt er auf und stürzt sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich. Ich versuche mich zu entwinden. Und mit einem Mal hasse ich alle Frauen, die er berührt, hasse alle Kinder, die er gezeugt hat, hasse alle Wege, die er gegangen ist. Ohne mich. Er sieht mir in die Augen. Diese Stiche zwischen den Rippen, dieser trockene Mund, dieses Kribbeln unter den Achseln und diese Gier, diese Gier, dieser Durst, dieser unerträgliche Durst. Was ist das? Sanftmut, so tödlich wie alles Schlangengift der Welt, ergießt sich in mich. Er atmet mir ins Gesicht. Er wendet seinen Blick nicht von mir ab. Seine Lippen so nah den meinen. Verflucht seist du, Mutter, für deine pechschwarze Prophezeiung. Antiope, hätte ich dich doch eigenhändig getötet, als Kind schon. Du hast mich verpestet. Mit deinem Verrat hast du das Unheil über unsere Familie gebracht. Ich flüstere ihm etwas ins Ohr. Dann schiebe ich ihn von mir herunter, zur Seite. Wie ein schwerer Sack fällt er von mir ab, dieser müde, alte Mann.

4 Vor der zweiten Schlacht. Nachts. In der Atempause des Blutvergießens. Der Mond taut auf, wie junger Schnee. Und das Glück ertrinkt im Meer, ohne das Ufer erreichen zu können. ALCIBIE Ihr hättet das nicht zulassen dürfen! PENTHESILEA Was hast du erwartet? ALCIBIE Es ist ein Spiel, ein listiges, schmutziges Spiel. Er führt etwas im Schilde, selbst seine eigene Mutter würde er betrügen. PENTHESILEA Er ist von Trauer zerfressen. ALCIBIE Na und? Ist es an uns, Mitleid für ihn zu haben? Sie sind alle gleich. Räuber und Entführer. Schänder und Marodeure. PENTHESILEA Gedulde dich noch. ALCIBIE Mich gedulden? Unsere Frauen haben das griechische Heer zurückgedrängt, tiefer in die Berge hinein. Unser Plan, Euer Plan geht auf. Wir werden sie mühelos erledigen. Doch was sage ich unseren Kriegerinnen? Was sage ich ihnen, wenn sie, blutverschmiert von der siegreichen Schlacht, hierher zurückkehren, wenn sie fragen werden, was ihre Königin in dieser Zeit getan hat? Fast glaube ich, der Mann hat Euch angesteckt mit seinem Trübsinn, mit seinem Wahn. PENTHESILEA Du wagst es, mich anzuzweifeln? ALCIBIE Nein, Fürstin. Für Euch gebe ich mein Leben, das wisst Ihr. Ich will nur begreifen … PENTHESILEA Da gibt es nichts zu begreifen. Er war nicht zum Kampf bereit. Lehren uns nicht die Gebote der Mütter, dass man einen Wehrlosen nicht töten darf? Und sei er auch der schlimmste Feind? Alcibie Vergebt mir. Ich will nur nach Hause. Wir alle wollen schnell zurück. Und das Heer der Griechen, so heißt es, ist erschöpft und … PENTHESILEA Und du, Alcibie? Du redest, als seist du des Krieges überdrüssig. ALCIBIE Nicht des Krieges, aber des Wartens. Die Göttinnen sind uns wohlgesinnt. Und hättet Ihr ihn getötet, wäre unser Schiff schon auf dem offenen Meer, zurück Richtung Themiskyra. Aber es sei, wie es sei. Dann eben morgen. Ich rate Euch, den Bogen zu wählen – darin ist Euch niemand ebenbürtig. Wir scheuchen die Pferde auf, wir treiben ihn die Enge. Ich habe das Gelände erkundet. Es gibt eine Böschung, dahinter ein Gestrüpp. Von dort aus könnt Ihr ihn erlegen. Ich denke nicht, dass er diese Jagd überlebt. So wird es nicht einmal zum Kampf kommen. PENTHESILEA Ich soll ihn aus dem Hinterhalt töten? ALCIBIE Wir lernen aus unseren Verlusten eher als aus unseren Gewinnen. Waren das nicht Eure Worte? Wir werden nicht die gleichen Fehler machen wie in Athen …

Theater der Zeit 4 / 2024


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PENTHESILEA Du träumst noch jede Nacht davon, was? Du musst es vergessen, Alcibie. ALCIBIE Wie könnte ich? Unser größtes, unser fatalstes, unser schmerzlichstes Fiasko? PENTHESILEA Doch seither kennen wir nichts als Siege. Wir haben unseren Preis bezahlt, und meine Schwester auch: Sie liegt begraben unter fremder Erde. Und du solltest endlich aufhören, sie nachts in deinen Schlaf einzuladen. ALCIBIE Ich muss sie nicht erst einladen. PENTHESILEA Ach, meine Alcibie, mein Schutzschild, mein Amulett. Komm, massiere mir den Nacken. Vielleicht vertreibt dir das die düsteren Gedanken. Antiope, die Unglückselige, soll in Athen bleiben. In Troja hat sie nichts zu suchen. ALCIBIE Ich hatte ihr Kamillenblüten ins Haar geflochten. Im Frühling, in ihrem Palastgarten in Themiskyra. Die Sonne schien und ihre Haut schimmerte wie Perlmutt. Die Luft war rein, die Hunde schliefen friedlich. Wir waren vielleicht 15 oder 16 Sommer alt, alles schien möglich, alles denkbar. Wir kamen gerade vom Unterricht in Kampfkunst, ich hatte sie besiegt, aber sie war nicht einmal böse deswegen, nein, sie lachte und sagte, sie lasse mir gerne den Vortritt, aus ihr werde ohnehin keine Kriegerin, sie sei für anderes geschaffen. Und ich wollte wissen: Für was? Und sie: für die Blumen, zum Beispiel. Da griff ich nach den Kamillen auf der Wiese und flocht sie ihr ins Haar. Und sie strahlte und ließ mich darin baden, in ihrem goldenen, dichten Haar, wie in einem Weizenfeld. PENTHESILEA Alcibie … ALCIBIE Wie konnte sie nur diesen Fremden lieben? Wie konnte sie ihm folgen? Diesem selbstverliebten Athener und Möchtegernkönig? Wie ihr Geschlecht verraten? Wie konnte sie alles, was heilig ist, vergessen? Wie konnte sie ihre Mutter, ihre Schwester, wie konnte sie mich in diese Finsternis stoßen? Diese würdelosen Geier. Dieses beschämende Volk. Und sie mitten unter ihnen. Und dann gebiert sie ihm auch noch einen Sohn! Und hält ihn am Leben, gibt ihm ihre verbliebene Brust. Warum nur, Fürstin, warum? PENTHESILEA Die Göttinnen haben ihre wachsamen Augen nicht immer auf uns gerichtet. Manchmal schweift ihr Blick ab, und schon sind wir verloren. ALCIBIE An diesem blendend hellen Frühlingstag habe ich zum ersten Mal das Glück gestreichelt, versteht Ihr? PENTHESILEA Und wie hat es sich angefühlt, dein Glück? ALCIBIE Es roch nach ihr: nach Veilchen und warmem Brot. Es schmeckte nach ihr: nach süßem Wein und klarem Wasser aus dem tiefsten Brunnen Themiskyras. Es fühlte sich an wie ihre Haut: samtweich und kühl, wie eine Schlange kurz vor der Häutung. PENTHESILEA Sie war schwach. Das ist alles. Schon als Kind war sie das. Mutter nahm sie deswegen immer in Schutz. Wie oft war ich wütend darüber, als Kind, als junges Mädchen, als Frau. ALCIBIE Sagt das nicht, Fürstin. Sie war nicht schwach. Sie war nur voller Sanftmut. PENTHESILEA Was ist Sanftmut anderes als Schwäche? ALCIBIE Und doch wart auch Ihr heute sanftmütig. Ihm gegenüber. PENTHESILEA Du bist so stur, Alcibie. So stur. Du erinnerst mich an Myrina, meine Zweitgeborene. Du willst immer recht haben, genau wie sie. Sie treibt mich damit jedes Mal zur Weißglut. ALCIBIE Fürstin, nehmt es mir nicht übel, ich will nur verstehen. Noch nie habe ich Euch vor einem Kampf zurückweichen sehen. Warum also heute? PENTHESILEA Dein Misstrauen ist eine Beleidigung. Gib mir Bescheid, wenn die Frauen von der Schlacht zurück sind. Jetzt will ich allein sein. Schweigen. ALCIBIE Was habt Ihr ihm gesagt? Ihr habt ihm etwas ins Ohr geflüstert, als er auf dem Boden lag. PENTHESILEA Du bist voller Argwohn.

Theater der Zeit 4 / 2024

26. – 28.4.

KONAMI LA FLEUR

DER FUSSBALLTANZ TANZPERFORMANCE Forum Freies Theater Düsseldorf fft-duesseldorf.de © Roberto Boccaccino


Stück Nino Haratischwili ALCIBIE Nein, ich sehe nur die Zweifel auf Eurer Stirn, Fürstin. Ich kenne jede Eurer Lachfalten, jedes Eurer Grübchen, jede Furche und jede Linie in Eurem Gesicht, ich bin es doch, Alcibie. PENTHESILEA Dann kannst du auch meine Gedanken lesen? ALCIBIE Manchmal. PENTHESILEA Nimm dich in Acht vor deinem Hochmut, meine Unverwundbare. ALCIBIE Es ist die Sorge, nicht der Hochmut. PENTHESILEA In Athen haben wir verloren, aber zuvor 43 Mal gewonnen. Besinne dich darauf, Alcibie, besinne dich, meine Gefährtin, mein Amulett. Du musst meine Schwester aus deinen Gedanken verbannen. Denke lieber darüber nach, dass du dem Ältestenrat nicht jedes Mal entwischen kannst, dass du nicht jeden Mann ablehnen kannst, den man für dich wählt. Du kannst sie nicht immer schon vor der Heiligen Pflicht töten. Denn dann haben sie sich an dir noch nicht schuldig gemacht … Alcibie Das muss dieses unglückselige Geschlecht auch nicht, um seine gerechte Strafe zu verdienen. Die Trauerzeit um Antiope war noch nicht um, da ließ Theseus sich schon diese Schlampe aus Kreta kommen … PENTHESILEA Nicht alle sind gleich. ALCIBIE Sie alle haben ein Körperteil zu viel. Punkt. PENTHESILEA Du musst ein Kind gebären. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Es ist der Wille der Mütter, der Wille des Ältestenrats. ALCIBIE Warum quält Ihr mich, Fürstin? Ich flehe Euch an: Zwingt mich nicht, meiner Natur untreu zu werden. Ich habe meine Pflicht anderweitig erfüllt. Ich habe gedient, habe keinen Kampf gescheut, ich habe einen Berg an feindlichen Leichen angehäuft. Ich bin keine Mutter, und werde auch keine sein. PENTHESILEA Hat sie dir auch diesen Wunsch genommen? Meine Schwester? Ist es ihr Tod, der dich so sprechen lässt? Ihr Verrat? Ihr Verlust? Sie schweigt, und ich sehe sie an. Ihren zu Boden gerichteten Blick. Ich kenne die Antwort. Warum habe ich sie nie danach gefragt? Und warum tue ich es jetzt? Ich weiß um ihr wundes Herz, um ihr Verhängnis: meine Schwester. Über ihren Tod hinaus übt sie Verrat an unserem Geschlecht. Will sie sich an mir rächen dafür, dass ich mit Waffen nach Athen kam, um sie zu befreien? Wie sie mir damals ins Gesicht lachte und sagte: Ich liebe ihn, ich bleibe hier, warum begreifst du das nicht? Und wie ich schrie: Liebe? Liebe?! Wie kann das Liebe sein?! Sieh dich doch an: Eine Hure, eine Dirne, eine Sklavin wirst du sein, nichts weiter, ein Haustier dieses Mannes, sein hübsches Gewächs. Wie sie weinte. Und wie ich sie verachtete. Wie sehr ich sie hasste. Und doch hätte ich vielleicht hören sollen, auf Mutter, die sagte: Lass sie gehen. Ich konnte es nicht, ich dachte, es sei meine Pflicht. Aber ihren Tod … ihren Tod wollte ich nicht, Mütter Göttinnen, ich schwöre es bei meinen Töchtern. Ich bin erschöpft. Ich will, dass sie mich alle verlassen: Alcibie und der Geist meiner toten Schwester, der mir nach Troja gefolgt ist. Der mir ins Gesicht lacht, der mich verhöhnt. Ich will in einen tiefen Schlaf sinken, ich will alles vergessen – und kämpfen. Morgen. ALCIBIE In den letzten Jahren habt Ihr nicht mehr viel über Eure Schwester gesprochen. Seit Athen, seit ihrem Tod. PENTHESILEA Ich hätte dich damals nicht mit Molpadia zum Palast schicken sollen. Dann hättest du ihren Tod nicht in deine Träume einweben müssen. ALCIBIE Ihr habt ja nicht wissen können, dass sie … PENTHESILEA Hat sie dich gesehen? Schweigen. PENTHESILEA Hat sie dich erkannt, bevor Molpadia sie niederstreckte? ALCIBIE Ja. Das tat sie. PENTHESILEA Und?

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ALCIBIE Ich höre die Frauen von der Schlacht zurückkehren. Wir sollten hinausgehen und sie empfangen. PENTHESILEA Geh du. Ich komme nach. ALCIBIE Wollt Ihr nicht mit ihnen feiern? Keine der Unseren ist gefallen, heißt es. PENTHESILEA Ruf mich dann zum Abendessen. Schweigen. PENTHESILEA Was stehst du noch da? ALCIBIE Ihr habt mich alles gelehrt. Ihr wisst, dass auf mich Verlass ist? PENTHESILEA Wüsste ich es nicht, wärst du dann hier?

5 Vor der zweiten Schlacht. Dieselbe Nacht. Penthesileas Zelt. Die Kriegerinnen schlafen nach dem blutigen Kampf, dem siegreichen für das Amazonengeschlecht. Nur Hunde bellen und vereinzelt brennen Lagerfeuer. Die Begierde ist ein hungriges Tier, das überall lauert. Mein Zelt roch noch Stunden, nachdem sie fort war, nach ihrem Misstrauen. Später, beim Feuer und beim Essen, lassen wir uns von Harmothoe den Tag erzählen. Mit ihrer Zunge ist sie genauso geschickt wie mit ihrem Schwert. Sie sind glücklich und feiern ihre Siege, aber mich lässt ihr Glück kalt. Sie haben die Griechen zurückgedrängt. Weg von der Stadt. Wie ich es geplant, wie ich es vorhergesagt hatte. O, wie ich euch verfluche, ihr Prophezeihungen! Unsere glorreiche Stunde, sagen die Frauen und singen unsere Lieder. Jemand spielt Lyra. Jemand lacht. Es wird getrunken – und ich, auf einmal fremd unter ihnen, durch mein schmutziges Geheimnis der Einheit entrissen. Ich versuche zu lachen und zu loben. Versuche, ihnen Mut zu machen für die morgige Schlacht. Und dann fragen sie mich, fragen, warum der Held der Helden noch am Leben sei, und Alcibies Blick verbrennt mir die Schläfen. Ich senke die Augen und versuche ihnen ruhig zu antworten. Dabei will ich schreien, ihnen ins Gesicht schreien, dass ich den Tag verfluche, an dem ich hierherkam, will schreien, dass ich sie beneide, jede einzelne von ihnen, die ihm nicht begegnet ist. Dass ich mich frei wünsche, frei von den Bestimmungen der Mütter, frei von allen Geboten, dass ich mir wünsche, ein Niemand zu sein, verfolgt weder von der Schande meiner Schwester, noch von der teerschwarzen Prophezeiung meiner unglückseligen Mutter. Denn dann könnte er am Leben bleiben. Dann könnte ich seine Hände nehmen und ihn lesen wie eine vertraute Schrift. Könnte seinem Körper lauschen. Ich will ihnen ins Gesicht schreien, dass ich seinen Körper nicht vergessen kann, der auf mir lag, als hätte er mich verformt durch seine Last, durch seine Schwere. Als wäre ich aus Lehm. Ich will schreien – doch ich schweige und stoße auf meine Töchter an, auf ihre Kühnheit und Klugheit. Ist es Verrat? Fühlt er sich so an? Wie eine ätzende Säure?! Ich verrate meine Töchter, meine Schwestern, meine Mütter, in wenigen Stunden verrate ich sie ein weiteres Mal. Wann habe ich das letzte Mal geweint? Die Frauen raunen und lassen nicht ab. Wie es sein könne, dass der Held der Helden so schwach gewesen sei, so erbärmlich, und warum ich ihn verschont hätte, fragen sie mich, und Alcibie, die Unbarmherzige, sieht mich an, als bekomme sie endlich Zuspruch, Bestätigung, das Recht mich zu verurteilen. Sie, der meine Schwester alle Güte und Hoffnung ausgetrieben hat. Ich erkläre mich wieder und wieder. Berufe mich auf unsere Gebote. Und dann, bevor ich mich zurückziehe, sprechen wir alle im Chor, laut und bestimmt: Nur zum Gebären braucht es einen Mann. Der Mann ist das größte Übel der Welt. Außer den Mütter Göttinnen erkennen wir nur den Kriegsgott

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ Ares an. Den Schwanz ersetzen wir durchs Schwert. Keine Hand des Amazonengeschlechts berührt je eines Mannes Hand. Nach der Erfüllung der Heiligen Pflicht gilt es den Mann zu töten. Die Söhne, die aus der Besamung hervorgehen, gehören ertränkt. Alles, was auf dem Schlachtfeld hindert, gehört abgetrennt. Die Lust hat viele Gesichter und bedarf keines Mannes. Über den Dienst an dem Amazonengeschlecht ist nichts zu stellen, nicht einmal das eigene Leben. Und während ich sie spreche, die Sätze, kommen sie mir auf einmal lächerlich vor. Sinnlos. Wer schrieb sie auf, wer legte sie uns in den Mund? Ist es mein Recht, sie anzuzweifeln? Die Ordnung der Göttinnen? Wer bin ich, es zu tun, wer gab mir die Erlaubnis dazu? Aber ich kann nichts dagegen machen, ich sehe die verzerrten Gesichter der Mütter, die ihre Söhne im Meer ertränken, sehe den Rauch, der von den Scheiterhaufen aufsteigt, auf denen wir die Leichen der Männer verbrennen, die wir nach der Erfüllung der Heiligen Pflicht in den Tod geschickt haben. Ja, sie haben uns vor Unheil und Plagen bewahrt, die Gebote, vielleicht auch vor uns selbst. Ich ertaste die Stelle, wo meine abgetrennte Brust gewesen ist, und auf einmal fehlt sie mir. Zum ersten Mal wünsche ich sie mir zurück, wünsche mich wieder vollständig. Zum ersten Mal wünsche ich mir, 15 zu sein. Und ich schäme mich. Die Scham ist so groß, dass ich fürchte, die Frauen könnten sie sehen. Antiope, hättest du doch nicht gehurt und wärst diesem falschen König nicht nach Athen gefolgt. Eine Verräterin in der Familie ist verzeihlich, das kommt vor, aber zwei? Zwei aus dem Leib derselben Mutter? Verflucht seien unsere beiden Namen! Jetzt warte ich auf mein Urteil, und das Warten ist bleiern und schwer. Verbrannt gehöre ich, verbrannt und verdammt, wie soll ich meinen Töchtern je wieder in die Augen blicken? Soll das die Liebe sein? Der Wein, den ich aus deinen Händen trinke, das Wasser, mit dem ich deinen Leichnam wasche? Soll das die Liebe sein? Die angehaltene, die erbettelte, die geschundene Zeit? Soll das die Liebe sein? Die gähnende Leere, die mich befällt, sobald ich an eine Zukunft denke, in der du tot bist? Soll das die Liebe sein, diese Wüste in meiner Mundhöhle? Soll das die Liebe sein? Die Früchte einer Erinnerung, schon im Werden verfault? Ich halte es nicht aus, es ist Zeit, ich eile hinaus, suche alles ab, doch keine Spur, er hat mich verraten, natürlich, natürlich, eine weitere Falle, die er mir gestellt hat. Ich kehre zurück ins Zelt. Und da ist er, wieder mit diesem unerträglichen Grinsen um seinen Mund, liegt auf meinem Bett und wartet. PENTHESILEA Wie bist du hier reingekommen? ACHILL Von dort. Zeigt es. PENTHESILEA Aber ich habe doch gesagt: von Norden. Es hätte dich den Kopf kosten können. ACHILL Das war es mir wert. PENTHESILEA Hör auf mit dem dämlichen Grinsen! ACHILL Ich bin der große Held, schon vergessen? Zu dieser späten Stunde wollte ich auch ein kleines bisschen dein Held sein. Und? Hat es funktioniert? PENTHESILEA Du benimmst dich kindisch! ACHILL Setz dich zu mir. PENTHESILEA zögert Ich habe noch nie … ACHILL Noch nie? Und deine Kinder …? PENTHESILEA Heilige Pflicht. Dem Mann werden dabei die Hände gebunden. Er lacht. Er lacht laut. Er lacht ohrenbetäubend. Ich habe Angst, er weckt das ganze Lager auf. ACHILL Wunderbar! Auch eine Erfahrung. Gut. Probieren wir es aus. Los, hol das Seil oder was auch immer ihr dafür benutzt.

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PENTHESILEA Sei nicht albern. ACHILL Wenn es der einzige Weg ist, dich auf dieses Bett zu kriegen, der einzige Weg, dass du mir vertraust, dann bitte, hier bin ich! PENTHESILEA Wir können nicht ewig so weitermachen. Das Schauspiel heute war erbärmlich. ACHILL Darf ich dich wenigstens küssen? PENTHESILEA Ich habe noch nie … ACHILL Auch das stimmt nicht. Letzte Nacht. Schon vergessen? Und für deinen ersten Kuss war es gar nicht mal so übel. Komm schon. Du wolltest, dass ich herkomme. Und ich sagte doch: Ich beiße nicht. Schau, so, schließ die Augen. Was ist denn? Habe ich etwas Falsches gesagt? PENTHESILEA Wie viele waren es? ACHILL Tote? Ich hab sie nicht gezählt. PENTHESILEA Wie viele Frauen? Vor mir? ACHILL Darauf kommt es nicht an, Penthesilea. Nein, als Letzter noch da zu sein, das ist die wahre Trophäe. Das haben mich die Schlachten gelehrt. Nur das zählt, dass nach dir niemand mehr kommen wird. Und daran besteht für mich, was uns betrifft, kein Zweifel. Für dich etwa? PENTHESILEA Hör auf mit deiner ewigen Albernheit! Achill Ich meine es ernst. Wenn ich an morgen denke, sogar todernst. PENTHESILEA Du weichst mir aus! ACHILL Nein, du bist es, die ausweicht. Ich werde dich nicht töten, Penthesilea. Ich kann nicht. PENTHESILEA Dann muss ich es tun. Dich töten. ACHILL Ja. Vielleicht. Und weißt du was, ich verrate dir auch einen Trick, eine kleine Schwäche von mir, eine Schwachstelle … PENTHESILEA Nein, schweig! Ich will keinen Vorteil. Den Kampf sollen andere für uns entscheiden, nicht wir: unsere Pfeile und Bögen, unsere Schwerter, unsere Götter und Göttinnen. ACHILL Aber siegen willst du schon? Dann tue es. Ich habe genug Siege angehäuft. Ich brauche keine mehr. Sie ersetzen nicht das Leben. Machen die Toten nicht wieder lebendig. Flicken niemanden wieder zusammen. Also nimm dir all meine Siege, auch die künftigen, ich schenke sie dir. PENTHESILEA Sei bitte einmal ernst. Siehst du denn nicht, dass es keine Lösung für uns gibt? Wir haben diese Nacht und die morgige Schlacht. Das ist alles. Keine Worte mehr. Keine Erklärungen. Ich habe so viele Fragen, aber die Zeit reicht nicht. ACHILL Dann komm her, zu mir. PENTHESILEA Welche von ihnen hast du am meisten geliebt? Welche deiner Frauen? ACHILL Ich dachte, keine Erklärungen mehr? PENTHESILEA Antworte mir! ACHILL Deidameia war die Erste. Damals war ich auf Skyros, meine Mutter hatte mich fortgeschickt, um mich nicht dem Krieg zu überlassen. Sie war eine Königstochter, Deidameia, meine ich, eine überaus edle, reizende … Warum nur habe ich ihn gefragt? Ich will ihm die Zunge herausreißen, damit er kein Wort mehr über sie verliert. Stattdessen küsse ich ihn. Verbiete ihm das Wort. Oder versuche es zumindest … ACHILL Sie gebar mir einen Sohn. Neoptolemos, der mir nach Troja gefolgt ist. Er wollte mir auf diese Weise nah sein. Nur den Krieg habe ich ihm zu vererben vermocht. Ich war ein miserabler Vater. Ein miserabler Mann. Deidameia war nicht glücklich an meiner Seite. Sie wollte ein Heim. Sie wollte einen Mann, den sie jeden Abend in Empfang nehmen könnte. Ich wollte sie nicht unglücklich wissen – und ging. Als nächstes dann kam Briseisis … Er soll aufhören, er soll aufhören, schreit es in mir.

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Stück Nino Haratischwili PENTHESILEA Geliebt? Geliebt nennst du das?! ACHILL Ich habe ihr Unrecht getan. PENTHESILEA Du hast sie versklavt und sie zu deiner Hure gemacht. ACHILL Sag so etwas nicht. Wir waren einander teuer, bis … Ich hasse ihn. Ich hasse ihn für sein Geschlecht. Ich hasse ihn für seine Taten. Seine Worte. Noch mehr aber hasse ich sie, dafür, dass sie ihn vor mir hatte. Sie, eine Sklavin, eine Magd. Und ich denke an Alcibies Worte. An ihren Hass. An ihre Weigerung, die Heilige Pflicht zu erfüllen. ACHILL Sie war gut zu mir. Sie pflegte mich und salbte meine Wunden. Wir töteten ihre Brüder, und doch lernte sie, mich zu lieben. Sie verzieh mir. Dank ihr konnte ich all das ertragen. All die Toten. Sie hielt die Geister von mir fern. Aber seit sie fort ist, kehren sie zurück. PENTHESILEA Also stimmt es, was gesagt wird, dass du wegen einer Frau aufgehört hast zu kämpfen? ACHILL Wegen einer Frau wird dieser Krieg überhaupt geführt. PENTHESILEA Willst du damit sagen, dass sie die Schuld trifft? Ihr macht die Frauen zu Sündenböcken. Ihr benutzt sie, um Kriege anzufangen und um sie wieder zu beenden. Ihr gebraucht sie als eure Währung. Das ist ekelhaft. ACHILL Ist eure Welt denn friedlicher? Ich denke, 43 Siege zeugen vom Gegenteil. PENTHESILEA Diese Welt wurde von euch erfunden. Also müssen wir eure Sprache sprechen. Sie besser beherrschen als ihr selbst. Deswegen sind wir so weit gekommen. Deswegen sind wir frei. Deswegen … ACHILL Ach, bist du das? Frei? PENTHESILEA Ja, frei an Freiheit, die mein Land mir bestimmt. ACHILL Aber du bist kein Land. Du bist ein Mensch. PENTHESILEA Die vollkommene Freiheit ist das Los der Götter. ACHILL Dann sollten wir einmal im Leben auch Götter sein. PENTHESILEA Schweig. Sie strafen uns auch so schon. Erzürne sie nicht noch mehr, erweise dich lieber dankbar. ACHILL Kein Gott zu sein und doch Unmenschliches leisten zu müssen, ist kein Schicksal, für das man dankbar sein muss. PENTHESILEA Und Selbstmitleid nichts, womit sich ein Held schmücken sollte. Ist das deine Schwachstelle, dein Selbstmitleid? ACHILL Nein, aber vielleicht ja du? PENTHESILEA Bitte! Keine Schmeicheleien mehr. Keine Versprechen. Keinen Trost. Keine Geständnisse … ACHILL Sag mir, was dann? PENTHESILEA Ich weiß es nicht. ACHILL Doch, du weißt es. PENTHESILEA Was ist aus ihr geworden? Aus deiner Sklavin? ACHILL Dieses Schwein Agamemnon gab sie mir zurück. Sie wollten, dass ich aufs Schlachtfeld zurückkehre, also zwang Odysseus ihn dazu, denn das war meine Bedingung. Aber da hatte er sie schon berührt, Agamemnon. Er hatte sie in seine Gemächer gelockt. Er schwor das Gegenteil, doch ich glaube ihm kein Wort. PENTHESILEA Trotzdem nahmst du sie zurück, und auch dein Schwert? ACHILL Ich gab sie frei. Ich ließ sie ziehen. In ihr verwüstetes Heim. PENTHESILEA Und nun willst du, dass ich ihren Platz einnehme. Dass ich sie dir ersetze, was? Deine Geister von dir fernhalte? Vielleicht hat Alcibie recht. ACHILL Womit? Dass ich mich zum Narren mache? Das ganze griechische Heer schaut auf mich und erwartet deinen Tod. Das ganze Heer drängt mich, deine Armee zu zerschlagen. Ich aber stehe da und sehe dich an. PENTHESILEA Es ist die Trauer um deinen Freund, die aus dir spricht. Auch sie wird vergehen. Bringen wir es hinter uns. Morgen früh.

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ACHILL Aber bis dahin leben wir in dieser Nacht. Sie muss uns ein ganzes Leben ersetzen. PENTHESILEA Hör auf, ein Kind zu sein! ACHILL Was wäre schlecht daran? Ich könnte von vorn beginnen. Ich würde auf meine Mutter hören, dem Krieg fernbleiben. Patroklos wäre noch am Leben. Ich würde meinem Sohn meine Zukunft ersparen. Ich würde dich suchen und finden. Mit dir nach Thessalien gehen. Mich dort niederlassen. Ein Haus bauen, aus thessalischem Stein, weiß, blendend weiß. Deine Töchter wären auch meine … Wer ist eigentlich ihr Vater? PENTHESILEA Väter. ACHILL Beide …? PENTHESILEA Die Heilige Pflicht verlangt es so. ACHILL Gut. Komm und erfülle deine Pflicht auch jetzt. Ich will, dass du mir glaubst. Ich fürchte mich nicht vorm Sterben. Nicht so wie vor dem Leben, das vor mir liegt. Hier, los, mach schon. PENTHESILEA Red keinen Unsinn! Das tue ich nicht. ACHILL Dann mach ich es selbst. Hier muss doch irgendwo ein Seil … PENTHESILEA Hör auf! Wir schauen einander stumm an. Lange. Dann finden wir ein Tau, das meine Kriegerinnen und ich vom Schiff mitgenommen haben. Er steht da wie ein kleines, duldsames Kind und lässt es über sich ergehen. Lässt sich aufs Bett fallen und wartet. Und lacht und wartet und lacht. ACHILL Du hast doch selbst gesagt: Wir haben nicht viel Zeit. Unter anderen Umständen bliebe dir eine Ewigkeit, um dein Misstrauen gegen dein Vertrauen zu tauschen. Deine Missgunst gegen dein Wohlwollen. Meine Schwachstelle gegen meine Stärken. Aber in dieser Nacht bleibt dir nichts anderes übrig, als mir zu glauben, meine Worte anzunehmen, denn sie sind das einzige, was ich dir geben kann. Den Rest müssen wir uns träumen. PENTHESILEA Was bringt es, ein Leben zu träumen, das uns nicht gehört? ACHILL Würdest du das denn wollen? Dein Leben gegen ein anderes tauschen? PENTHESILEA Es gibt kein anderes. Ich bin eine Kriegerin. So wie du ein Krieger. Ich setze mich zu ihm. Beginne ihn zu entkleiden. Ich beuge mich über die Landkarte eines fremden Kontinents. ACHILL Ich will, dass du die Augen schließt und mir folgst. Mit mir nach Thessalien gehst. Ich will, dass du an die Palmen denkst, die über uns wachsen, und an Orchideen in deinem Garten, die ich für dich pflanze. Ich will, dass du an unsere verschwitzten Leiber denkst, in einem schlichten Bett, während die Möwen unruhig die Lüfte durchschneiden. Die Schiffe im Hafen, und wir ermattet und glücklich, besinnungslos glücklich. Die reifen Birnen, die ich dir in den Mund lege, vorsichtig, begleitet von deinem hellen Lachen … Er sieht mir zu, wie ich mich nun selbst ausziehe. Auch mein Körper ist mir fremd geworden, wie mein Land. Nichts dort erkenne ich wieder, sehe alles wie zum ersten Mal: durch seinen Blick. Ich setze mich auf ihn. Meine zerschundene Brust – eine Leerstelle. Seine Neugier weist mir den Weg. Meine Abdrücke auf seiner Haut. Seiner vernarbten Haut. Ich entledige mich des Hasses, ich entledige mich der Wut. Alle Gebote, durch seinen Kuss in tausend Stücke zersprungen. Ich entledige mich der Kriege und des Schicksals, zum ersten Mal bin ich frei. Das geliehene Glück, daran will ich mich festhalten, nur daran. Jetzt sind wir nackt. Neugeboren. Wiedergeboren.

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ Noch nie ist mir ein Körper so zum Verhängnis geworden. Ein Abgrund scheint er mir, in den ich mich kopfüber stürze. Nein, ich fliege. Ich rieche an seiner Haut. Dieser Duft soll mich nie mehr verlassen. Ich rieche den Schweiß, ich rieche den Sand, ich rieche all das, was ich niemals mit ihm sein kann. Ich markiere die Stellen, die andere Frauen an ihm für sich beansprucht haben, ich überschreibe sie mit meiner Geschichte. Ich will seine Erinnerung sein, mehr als alles will ich zu seiner schönsten Erinnerung werden. Das ist das Einzige, was ich ihm schenken kann. Die Erinnerung, und den Tod. Ich fasse an mein Fußgelenk, ertaste den Dolch – und schneide mit einer einzigen Bewegung das Seil durch. Er lacht, und dieses Mal muss auch ich lachen. Er umklammert meinen Rücken und wirft mich von sich ab. Zwei Tiere sind wir jetzt, endlich, schamlos bis in die Knochen. Ich wusste vorher nichts von meinem Hunger. Wie soll ich ihn von nun an stillen? Die Schreie, die aus uns dringen, müssen erstickt werden, wir halten einander den Mund zu. Wir verschwinden. Hinter all den Tränen und all den Kriegen, all den Steinigungen, hinter allen Strafen, allen Verheißungen, allen Bestimmungen. Endlich frei. Und die Welt zerrinnt zwischen meinen Beinen. Ja, ich glaube dir. Ich glaube dir. Sage ich ihm. Bis ans Ende dieser Nacht glaube ich dir alles.

6 Vor der zweiten Schlacht, noch immer. In der Dämmerung. Die Nacht will den Tag noch nicht gebären. Der Fluss flüstert. Bald werden sich die Schlachtfelder füllen. Die Toten schauen von den Bäumen aus zu, an denen ihre Wünsche hängengeblieben sind wie bunte Fäden. Alcibie schläft noch, als ich zum Ufer des Skamandros aufbreche. Ich wasche mich in dem kalten, klaren Wasser, aber ich kann die Nacht, sein Erbe, nicht tilgen: seinen Geruch nicht, seine Geheimnisse, sein Lachen nicht und seinen Schweiß, nicht seine Kindheit, mir in kleinen Portionen verabreicht, während er auf meiner verwaisten Brust lag. Seine Schritte nicht. Nicht sein Herz, das ich mit den Fingerkuppen ertastet habe. Seine Sehnsucht nicht. Seinen toten Freund nicht. Seine Träume nicht, denen man die Gedärme herausgerissen hat. Alles Ungesagte nicht, für das die Nacht nicht ausreichte. Ein Leben nicht. Was noch? Mein neues Ich nicht. Eine neue Königin, die sich wünscht, eine Namenlose zu sein. Eine Penthesilea, die diesen Namen nicht mehr verdient. Verloren bin ich, und war nie friedlicher. Mutter, nun liebe ich deine pechschwarze Vision. Nun will ich sie leben, nur sie. Nun will ich in Troja bleiben, an diesem Ufer wohnen, von einem Kampf zum anderen aus­ harren. Sag mir, Mutter, du weise Frau, sag mir, was ich tun kann? Die Erde ist doch groß. Platz genug für alle. Warum nicht für uns, für ihn und mich? Liebt er mich? Weidet sie ihn genauso aus, diese Liebe? Göttinnen, gebt uns noch ein paar Augenblicke. Schiebt das Ende auf, ich flehe euch an. Nur zum Gebären braucht es einen Mann. Der Mann ist das größte Übel der Welt. Außer den Mütter Göttinnen erkennen wir nur den Kriegsgott Ares an. Den Schwanz ersetzen wir durchs Schwert … Verdammt seid ihr, Gebote, die mich in Ketten legten! Achill Schnell, lass uns beten. Er ist allein gekommen. Ohne Pferd. Und ohne seinen falschen Waffenträger. PENTHESILEA Beten? Ich? Zu deinen Göttern? ACHILL Zu Helios, dass er seinen Wagen später anspannt, dass er noch nicht am Himmel aufsteigen soll.

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PENTHESILEA Und du glaubst im Ernst, dein Helios lässt sich bestechen? ACHILL Vertrau mir. Was liebst du? PENTHESILEA Ich dachte, du wolltest beten. ACHILL Das tue ich doch. Also, sag schon. PENTHESILEA Das Meer. ACHILL Was noch? PENTHESILEA Die Tannen. ACHILL Und? PENTHESILEA Meine Töchter. ACHILL Und sonst? PENTHESILEA Feigen. Reife Feigen aus Themiskyra. ACHILL Was mehr? PENTHESILEA Den Kampf. Und du? Was liebst du? ACHILL Dich. PENTHESILEA Und? ACHILL Dich. PENTHESILEA Im Ernst, was weiter? ACHILL Deinen Hintern. PENTHESILEA Hör auf. ACHILL Deine linke Brust. PENTHESILEA Du sollst aufhören – ACHILL Deine Taille. PENTHESILEA Sprich weiter. ACHILL Die Art, wie du den Kopf nach hinten wirfst, wenn du wütend bist. PENTHESILEA Aber außer mir, was liebst du da? ACHILL Einen Toten. Und den Krieg. Vielleicht, weil ich nichts anderes kenne. PENTHESILEA Sie werden bald hier sein, in Reih und Glied, und werden Tribut fordern. Sie werden uns ihre Worte in den Mund legen, und ihre Waffen in die Hände. ACHILL Du bist krank. PENTHESILEA Wie bitte? ACHILL Wir sagen einfach, du seist krank. PENTHESILEA Kranke kann man heilen. Und schickt sie zurück aufs Schlachtfeld. ACHILL Einerlei. Es verschafft uns Zeit. PENTHESILEA Es wäre Verrat an meinen Frauen. ACHILL Was hasst du? PENTHESILEA Den Verrat? ACHILL Und was noch? PENTHESILEA Lügen. ACHILL Und? PENTHESILEA Euch Griechen. Nun sag du. ACHILL Troja. PENTHESILEA Was noch? ACHILL Zahnschmerz. PENTHESILEA Weiter? ACHILL Dass ich nicht weiß, wozu ich noch gut bin. PENTHESILEA Zum Küssen. ACHILL Ja? PENTHESILEA Ich mag deine Küsse. Die will ich sammeln, in eine ­kleine, goldene Schatulle will ich sie legen, will sie hüten und bestaunen, in den Nächten, in denen ich alleine bin. ACHILL Das verbiete ich dir. Nächte ohne mich, meine ich. Lach nicht. PENTHESILEA Diese Worte können unmöglich dem Held der Helden gehören. ACHILL Tun sie auch nicht. Sie gehören dir. PENTHESILEA Bis du mich tötest. Dann gehören sie wieder dir. Und vielleicht bald einer anderen.

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Stück Nino Haratischwili Er beginnt zu schreien, zu toben, zu wüten. Ein verwundetes Tier. Ich sehe ihn erstaunt an. Was ist in ihn gefahren? Er wirft mit Steinen um sich. Er flucht. Er spuckt. Er ist außer sich. Oder vielleicht jetzt erst bei sich? Ich weiß es nicht. Ich merke: Ich kenne ihn nicht. Er sieht mir in die Augen und bleibt stehen, erstarrt, als sei ihm auf einen Schlag alle Kraft entwichen. ACHILL Sag, was ist wichtiger? PENTHESILEA Wie meinst du das? ACHILL Ist es wichtiger zu leben als die, die wir sind, oder zu sterben als die, die man uns auferlegt zu sein? PENTHESILEA Siehst du uns hier, und unsere Schatten dort? Beides gehört zusammen. Ohne sie wären wir nicht vollständig. Oder würdest du mich begehren, wäre ich nicht die Summe dessen, was du über mich weißt? Mich, die Tochter des Ares? Meine Siege, mein unbeugsames Schwert, meine Gefolgschaft aus unbezwingbaren Kriegerinnen? Ich bin nicht nur diese Lippen, die dich rufen, und diese Haut, die du erkundest, nicht nur diese Arme, die dich halten, nicht nur dieses Haar, in das du dein Gesicht tauchst. Ganz Themiskyra und das Schwarze Meer trage ich in mir. ACHILL Ich meine es ernst, Penthesilea. Wir sagen, du seist krank. Hast Schwindel, Fieber. Oder du täuschst eine Ohnmacht vor. PENTHESILEA Beiß mich. ACHILL Ich soll was? PENTHESILEA In den rechten Arm. ACHILL Ist das auch Teil eurer Heiligen Pflicht? PENTHESILEA Nein, aber mein linker Arm ist nicht so kampferprobt wie der rechte. Ich strecke ihm meinen rechten Arm entgegen. Hinter uns die Posaunen. Meine Frauen greifen an. Ja, unser Plan geht auf. Nur ich, ich bin die, die nicht aufgeht. Nur ich bin gelähmt. Nur ich bringe Schande über mein Geschlecht. Er beugt sich über mich, wie ich mich über die Karte Trojas gebeugt habe, damals, in Themiskyra, nächtelang das Gelände studierend, um unseren Schlachtplan auszuarbeiten. Er fährt mit seiner Zunge über meine Haut, bohrt seine Zähne hinein. PENTHESILEA Die Sonne geht auf, Achill. Wir müssen den Tag mit einem Sieg feiern und die Nacht mit einem Toten beweinen.

7 Die Sonne ist aufgegangen. Die Schlachtfelder erwachen zum Leben, Kriegslieder erklingen. Die Waffen werden gestimmt, ein Orchester des Todes beginnt seine Symphonie. In der Ferne die Schlacht, in der Ferne das Blut, in der Ferne die Bögen, die Streitwägen, die auf dem Boden aufschlagenden Körper. Wie vertraut mir diese Laute waren. Jetzt scheinen sie mir fremde Lieder, Gesänge aus einer anderen Welt. Ich höre Thersites’ Schritte. Sein Hinken ist ohrenbetäubend. Alcibie folgt ihm. Auf ihrem Rücken: mein Schwert, das so viele Häupter zu Boden hat fallen lassen. Die Wunde an meinem Arm blutet und pocht. Auch deine Zweitgeborene hat den Schwur gebrochen, Mutter, vergib mir. THERSITES Achill, Held der Helden, unser Heer wird zurückgedrängt, wir brauchen den Sieg. Hier, Eure Kopis. ALCIBIE Die Freiheit Trojas endlich zum Greifen nah, Königin. Besiegelt diesen glorreichen Tag mit Eurem Sieg. Hier, Euer Schwert. PENTHESILEA Es ist nur, Alcibie, ein Schlangenbiss macht mir zu schaffen.

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ALCIBIE Ein Biss? Zeigt. THERSITES Eine seltsame Schlange. PENTHESILEA Sie muss nachts, während ich schlief, in mein Zelt gekommen sein. ALCIBIE Ausgerechnet der rechte. PENTHESILEA Wir müssen den Kampf vertagen, um meine Wunde zu versorgen. ACHILL Das will ich gelten lassen. ALCIBIE Der Bucklige hat recht: Der Biss scheint mir für eine Schlange ungewöhnlich. THERSITES Wir können nicht länger warten. Uns rinnt die Zeit davon. Mit links oder rechts – der Kampf muss stattfinden. ACHILL Sie hatte mir Aufschub gewährt, nun ist es an mir, ihr das Gleiche zuzugestehen. Reite los, Thersites, und unterrichte Odysseus. THERSITES Das wird er nicht akzeptieren. Die Forderung wird sein: mit links zu kämpfen. Sie treibt doch bloß ein listiges Spiel mit Euch, Held der Helden. ALCIBIE Du wagst es, du missratener Kerl, meine Königin … PENTHESILEA Lass ihn. Er geht nur seiner Pflicht nach. Aber du, Thersites, sollst wissen: Anders als euer Odysseus kämpfen wir Amazonen nicht mit List. ACHILL Tue, was ich dir befehle. THERSITES Hört mich an, Achill, ich bitte Euch. Noch eine weitere Verzögerung, und Troja ist für uns verloren, und all die Jahre, all die Mühe, all die Toten, Patroklos inbegriffen – sie wären umsonst gewesen. ACHILL Nie wieder will ich seinen Namen aus deinem hässlichen Mund hören! THERSITES Auch in meinen Adern fließt adliges Blut, doch wenn Euch mein Antlitz nicht edel genug erscheint, so trifft mich keine Schuld, denn so haben es die Götter nun mal entschieden. Darum bin ich nicht minder Euer ergebener Diener, und darum scheue ich mich nicht – um der Wahrheit willen –, Euren Zorn auf mich zu ziehen. ACHILL Reite los, habe ich gesagt. Der Kampf ist vertagt. Weiter gibt es nichts zu reden. Nach Sonnenuntergang komme ich zur Besprechung ins Lager. Ende der Diskussion. Er kehrt uns den Rücken zu und will sich entfernen. Aber sein Waffenträger bleibt. Er hat nicht vor zu gehen, und Alcibie sieht wirr erst in seine Richtung, dann in meine. Ihr Misstrauen ist längt der blanken Wut gewichen. Das Vertrauen, in jahrelangen Kriegen erprobt, bröckelt. Ein ganzer Fels wird gleich zum Einsturz kommen, und ich kann ihn nicht aufhalten. Ich senke den Blick: ein Mädchen, auf frischer Tat dabei ertappt, wie es in einen fremden Garten eingedrungen ist, um Apfelsinen zu stehlen. Auf einmal hasse ich Alcibie. Hasse sie abgrundtief. Ich will nicht von ihr so angesehen werden, meine Scham reicht auch so schon für drei Generationen, da brauche ich keine weiteren Richter. THERSITES Nein! Schreit der Waffenträger, und seine Stimme lässt den Held der Helden innehalten. Man spricht zu ihm als einem Helden, aber jetzt, scheint mir, wünschte er, ein Kind zu sein. Stur und bedürftig. Grenzenlos in seinem Wollen. Der Mann ihm gegenüber, vom Leid gezeichnet, kennt diese Sehnsucht nicht. Womöglich hat er sie nie gekannt. Womöglich ist sein Weg eine Aneinanderreihung von Zurückweisungen und Enttäuschungen. ACHILL Was sagst du da? THERSITES Ihr dürft nicht fort. Nicht mehr, Achill. ALCIBIE Wir können einen Kampf mit links nur in Erwägung ziehen, wenn auch er zeigt auf Achill verwundet ist.

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ THERSITES Dann beißt ihn, Kriegerin, beißt ihn, wie er Euch gebissen hat. ACHILL Halt dein verfluchtes Maul, Thersites, sonst gibt es für dich kein Morgen! THERSITES Mein Leben lang habe ich euch gedient, euch, den Glorreichen. Habe meinen Willen geköpft, um den euren zu erfüllen. Und wie oft, wie oft habe ich die Schuld auf mich genommen, weil ihr nicht auf mich habt hören wollen, wie oft habe ich eure Irrtümer ausgebadet. Ich will keine weitere Schuld mehr tragen, nur weil Euch Euer verdammtes Ego wichtiger ist als alle Menschenleben, die Euch anvertraut sind. Seit neun Jahren bin ich hier. Alles, was mir lieb und teuer war, liegt begraben unter dieser trocknen, rissigen Erde. Wir stehen vor dem Ende, und egal wie es ausfällt, ein Ende muss her. Denn nichts ist endlos auf der Welt, auch dieser Krieg nicht. Eure Heldentaten, Eure Muskeln und ­Waden entschuldigen nicht alles. Und die Geilheit Eures Schwanzes auch nicht. Dieses Schlachten muss ein Ende haben. Sonst wird keiner übrig sein, um von diesem Elend zu erzählen, niemand, um unsereins zu gedenken. Jeder aufgeschobene Tag, jede aufgeschobene Stunde ist ein weiterer Tropfen in diesem blutigen Meer der Sinnlosigkeit, in dem wir alle ersaufen. Die Männer verlieren den Mut, den Glauben, und je länger der Krieg dauert, desto mehr vergessen sie, was sie hergeführt hat: das Versprechen des Sieges. Daher müsst Ihr es tun. Ob Ihr wollt oder nicht, denn das ist nun mal die Rolle, die das Schicksal Euch bestimmt hat. Seit neun endlosen Jahren sterben auf dieser verdammten Erde Männer – wegen eines Weibs. Und wegen eines andern wollt Ihr sie nun ein zweites Mal verdammen, indem ihr Tod umsonst gewesen sein soll?! ALCIBIE Wovon sprichst du? Bist du nicht bei Trost? THERSITES Und du? Bist du denn blind? In Tollwut sind diese beiden vereint. In Liebestollwut und Geilheit. Die Schlange – dass ich nicht lache! Sie umkreisen einander wie rollige Katzen bei Vollmond. Verliebtheit und Torheit eint sie. Sieh sie dir doch an. Ich begreife nicht, wie er es schafft, aber im Bruchteil eines Augenblicks ist er bei seinem Waffenträger, hat ihn beim Schopfe gepackt und wirft ihn zu Boden. Der Bucklige schreit, aber die Entschlossenheit, seine Mission zu Ende zu führen, ist dem Gesicht seines Herrn eingeschrieben: Er schlägt zu, und tritt und tritt. ACHILL Noch ein Wort und … THERSITES Und wenn Ihr mir die Zunge herausreißt … ALCIBIE Bringt diesen Lügner zum Schweigen! Meine Königin, einen Mann begehren? Einem Mann fügsam sein? Meine Königin der 43 Siege? Meine Königin, der die Griechen so verhasst sind wie mir? Meine Königin, die den Krieg gegen Attica begonnen hat, um ihre Schwester von den Griechen zurückzuholen? THERSITES Ja, Königin, worauf wartet Ihr? Klärt Eure Vertraute doch auf. ALCIBIE Niemals, meine Fürstin. Niemals! THERSITES Als ich nach Troja kam, wollte ich meinem Land dienen. Denn was sollte es für mich, einen Krüppel, Höheres geben als den Helden und Göttergesegneten zu dienen? Ihnen noch mehr Glanz und Größe zu verleihen, ihnen zu weiteren ruhmreichen Taten zu verhelfen? Besingen wollte ich sie, ihre Glorie für die Nachwelt festhalten. Dass ich nicht lache! Sieh sie dir an, du Unverwundbare, sie sind nichts als Tiere, bereit, ihr Volk zu verraten. Bereit, für ihre Triebe jedes Gebot zu hintergehen. Sieh sie dir an, deine Fürstin, und sag: Ist es nicht Verrat, der aus ihren Augen spricht? Ist es nicht … ACHILL Ein letztes Mal: Schweig! THERSITES Warum? Weil Euch die Wahrheit verhasst ist, mein Held? Aber ich werde nicht schweigen, nicht mehr, so wie ich vor Odysseus nicht geschwiegen habe. Ihr habt mich ausgelacht, verhöhnt, gedemütigt, nur weil ich gewagt habe zu sagen, was alle denken, doch keiner aussprechen

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will: Niemand will länger hierbleiben. Keiner von Euren Soldaten will auch nur einen weiteren Tag dieses Krieges! Sie desertieren, fliehen, schwimmen aufs offene Meer hinaus, und Ihr, Ihr nennt sie Verräter. Dank Euch haben wir alle neun Jahre unseres Lebens verloren. Anstelle unserer Frauen haben wir den Tod in unseren Armen gewiegt, Nacht für Nacht. Das Leid, im Laufe der Jahre ist es mit unserer Haut verwachsen. Ich habe Eure Waffen getragen, Eure Wunden versorgt, um am Ende festzustellen: Ihr seid ein noch weitaus schlimmerer Krüppel als ich. Meine Nase und mein Buckel werden niemandem zum Verhängnis, Eure Taten aber schon. Agamemnon hätte Eure Sklavin lieber behalten sollen, und Ihr Troja für immer fernbleiben. Nun ist es zu spät. Nun haben Eure Könige Euch zurück aufs Schlachtfeld geworfen. Aber dann kämpft auch, verdammt nochmal, kämpft doch endlich! Ein erneuter Tritt trifft ihn in den Magen. Gleich wird der Bucklige Blut spucken, aber aufhören wird er nicht. Nie mehr. THERSITES Schlagt nur zu, Achill, wenn das der Preis ist dafür, dass Ihr erneut zum Schwert greift, so zahle ich ihn. Zahle ihn liebend gern. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Dieser Krieg hat mir ohnehin alles genommen, alles, was mir lieb und teuer war. Tausende Vergewaltigungen, deren Zeuge ich wurde, Ihr werdet sie mit Euren Schlägen nicht tilgen. Tausende Beutezüge und Tausende Versklavungen, die sich mir für immer ins Gedächtnis gebrannt haben, Ihr werdet sie nicht ungeschehen machen. Tausende Gehängte. Tausende Verbrennungen, tausende abgezogene ­Fingernägel, die Ihr angeordnet habt. Tausende tote Kinder, mit deren ­Leibern die trojanischen Straßen gepflastert sind, ich habe sie gezählt. Ich habe sie alle gezählt. Tausende Waisen, die nachts bettelnd durch die ­Straßen ziehen – ich höre sie noch. Tausende Gräber, die ich eigenhändig ausgehoben habe. Tausende im Meer ertränkte Seelen, ohne Grab, ohne Gedenken, auf ewig heimatlos. Den Gestank von brennendem Fleisch, und das Blut, überall das Blut, mit dem Ihr und Euresgleichen die Städte gefärbt habt. All das ist in mir drin, für immer eingeritzt in mich. Schlagt mich ruhig weiter, nur zu, vielleicht gelingt es Euch, all das aus mir rauszuprügeln. Bis kein einziger Gedanke, keine einzige Erinnerung mehr in mir bleibt. Aber tilgen könnt Ihr nichts. Dieses fremde Blut wird noch an meinen Knochen kleben, wenn ich unter der Erde liege, und Tausende Meinesgleichen werden sich erinnern. Wir alle wollen ein Ende. Ihr aber sehnt Euch nach einem Anfang. Nur: Dafür ist dies der falsche Ort. So wie ich keinen geraden Rücken und keine festen Waden mehr bekomme, so könnt auch Ihr nicht zu einem anderen Menschen werden. Die Liebe ist nur Rauch, der von Eurer eigenen Leere und Verlorenheit aufsteigt. Denn wenn Ihr ehrlich seid: Ihr fürchtet Euch vor dem Ende dieses Krieges. Weil, wer seid Ihr dann noch, wenn Ihr kein Held mehr sein könnt? Wer seid Ihr, Königin, ohne Euren 44. Sieg? Er redet sich in Rage, wird immer lauter, der Fluss trägt seine Worte davon, als Echo kehren sie zu uns zurück, Speichel fliegt aus seinem Mund, niemand kann ihn zum Schweigen bringen, Alcibie sieht entsetzt zu mir, doch auch ich weiß nicht, was tun. Da höre ich ihn schreien, so laut, dass ich glaube, die ganze Welt müsse es hören. Ich sehe den Held der Helden, wie er in Thersites’ Gesicht tritt, seinen Kopf in die staubige Erde drückt. THERSITES Um ewigen Ruhm zu erlangen, müsst ihr Helden auf dem Schlachtfeld fallen, wo auch sonst? Ob in diesem oder im nächsten Krieg. Denn, auch daran habe ich keinen Zweifel, es wird wieder einer kommen. Ein nächstes Troja wird sich immer finden. Eine nächste Terra Nullius, die Ihr und Euresgleichen mit Blut beschriften könnt, ein Ort des Leides, das weniger zählt als das Eure. Denn es ist ja nur ein Barbarenort, ein Barbarenland ohne eigene Geschichte, ohne eigene Identität, die Ihr glaubt, ihm

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Stück Nino Haratischwili geben zu müssen, die Ihr glaubt, mit eigener Geschichte überschreiben zu müssen. Hier geschehen Dinge, die in Euren Ländern unerhört wären. Denn diesen Ort habt Ihr selbst geschaffen. Ihn erfunden, um Eure wahre Bestimmung zu finden. Die Regeln selbst aufgestellt. Die Gesetze selbst in Tafeln gemeißelt. Damit das sinnlos dahinschleichende Leben einen Sinn erhält. Damit Frauen zu Huren und Männer zu Bestien werden, damit Kinder schon im Mutterleib zu den Waffen greifen. Ihr bringt Zivilisation und Aufklärung. Ihr bringt Straßen, gepflastert mit Leichen, mit Frauen, denen man die Speerspitzen in den Unterleib gejagt hat, mit Kindern, die man zusehen ließ, wie ihre Väter verbrannten. Ihr werdet sicher Gründe finden, unermesslich viele Gründe für einen weiteren Krieg, und noch einen, und noch einen, um schön im Training zu bleiben, immer gut in Form, der Bestimmung folgend, ihr Göttergesegneten, ihr Auserwählten. Um weitere Heldentaten zu vollbringen. Weitere 43 Siege zu erringen. Aber diesen Krieg werdet Ihr beenden müssen. Auch wenn Ihr Euch vor dem Frieden fürchtet, auch wenn für Euch im Frieden der wahre Krieg beginnt, weil Ihr Euch dann selbst aushalten müsst. Aber so ist es nun mal. Mir mein Buckel und Euch Eure Heldentaten. Die Liebe aber wird Euch nicht reinwaschen. Verdammt seid Ihr bis in alle Ewigkeit! Wer glaubt, von einem Schützling des Ares zu einem der Aphrodite zu werden, ist töricht. Ihr habt diese Schlachtfelder ausgeworfen wie ein endloses Netz. Und nun führt diesen Kampf auch zu Ende. Damit er zu einem Ende kommt. Denn der Tod verleiht Euch den Sinn, den Ihr im Leben vergeblich sucht. Er sieht seinen am Boden liegenden Waffenträger an und tritt ihm auf den Arm. Ich höre die Knochen bersten. Er zermalmt ihn, denke ich. Der Bucklige schreit und schreit, dann verstummt er. Und lächelt. Er lächelt mit seinem zahnlosen, blutigen Mund – und besiegelt sein eigenes Ende. THERSITES Wisst Ihr, an wen ich gerade denke? Briseis. Dieses schöne, stolze Mädchen, das Ihr gebrochen und zu einer Nutte gemacht habt, Ihr und Euer Freund Agamemnon. Ihr trugt mir auf, sie nach Lyrnessos zurückzubringen, wo nichts sie erwartete, nichts und niemand. Aber, nun ja, Ihr wolltet ihr ja unbedingt die Freiheit schenken, und so brachte ich sie dorthin, erinnert Ihr Euch? Unterwegs schlugen wir an einem See unser Nachtlager auf. Sie ging zum Wasser, um sich zu waschen. Ihre Schönheit war, Euch zum Trotz, ungebrochen, ihre jugendliche Kraft strahlte in der Nacht, als wäre sie eine kleine Sonne. Und da habe ich mir genommen, was mir zustand. Habe mich quasi selbst ausgezahlt, für meine 9-jährige Treue, die Ihr nie gewürdigt habt. Ich wollte so gerne wissen, wie es sich anfühlt, ein Held zu sein. Ihr Fleisch war köstlich, ihr Becken schön eng. Sie hat nicht einmal geweint, das arme Kind. Denn Ihr wart ihr ein guter Lehrmeister … PENTHESILEA Tue es nicht. Flüstere ich, doch kein Laut dringt aus meinem Mund, und ich weiß, dass es ihn eh nicht aufhalten würde. Er kann ihn nicht gehen lassen, nicht mehr. Er schleift ihn über den steinigen Boden, zum Fluss. Thersites schreit so laut, seine Schreie werden mich bis nach Themiskyra verfolgen, sollte ich je dorthin zurückkehren, sollte ich je wieder in die hellen Gesichter meiner Töchter blicken. Ich gehe zu Boden, knie nieder. Und höre ihn Thersites ins Wasser werfen. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu sehen, wie er in den Fluss steigt, wie er, gegen den Strom angehend, den Buckligen unter Wasser drückt, so lange, bis alles Leben aus ihm gewichen ist.

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8 Die Sonne steht im Zenit. Die Symphonie der Schlachtfelder setzt zu ­ihrem lautesten Akkord an. ALCIBIE Fürstin? Sagt etwas, Fürstin. Sagt mir, was ich tun kann, damit dieser finstere Traum endet. Ihr müsst kämpfen. Denn dafür sind wir hier. Sonst können wir nicht zurück, wie stünden wir da? Was würden die Frauen denken? Sie riskieren ihr Leben für Euch, und Ihr wollt nicht einmal zum Schwert greifen? Das dürft Ihr nicht, Penthesilea! Seht mich an! PENTHESILEA Ich sehe dich, meine Edle. Meine unbeugsame Freundin. Warst mir immer treuergeben, mein Amulett, mein Schutzschild. Erinnerst du dich an unsere Spaziergänge in Themiskyra? Am Hafen? Erinnerst du dich an unsere Schwüre? Erinnerst du dich an unsere Kämpfe, Seit an Seit? Wie viele Griechen wir getötet haben? Nur den einen nicht, der uns Antiope nahm und einen Krater in dein Herz schlug. Und so bitte ich dich, Alcibie, schenke mir auch jetzt deine unerschütterliche Treue, bis meine Wunde verheilt ist und … ALCIBIE Es ist also wahr? PENTHESILEA Eine Nacht, um mehr bitte ich nicht. Ich höre die Bäume miteinander flüstern, ich höre die Rufe in der Ferne. Und doch ist das Einzige, was ich denken kann, genau dies: Noch eine Nacht. Und die ganze Welt soll in Flammen aufgehen. Ist er noch im Wasser? Wäscht er Thersites‘ Blut von sich ab? Alcibie drückt mir mein Schwert in die Hand. Ihren Hass schleudert sie mir ins Gesicht. ALCIBIE Ihr kämpft mit der linken Hand. Oder ich hole die Frauen her, ich lasse sie diesen Mann umzingeln und in Stücke reißen. Entweder Ihr bringt es zu Ende, oder es geschieht auf meine Art. PENTHESILEA Wag es ja nicht … ALCIBIE Doch, das tue ich. Denn es ist meine Pflicht. Ihr würdet das Gleiche tun, an meiner Stelle. Ihr hättet das Gleiche getan, früher, bevor wir hergekommen sind, vor ihm. Aber Ihr werdet nicht unser Geschlecht verraten, Ihr nicht, Königin! Nicht nach allem, was Eure Schwester … PENTHESILEA Antiope, immer wieder Antiope. ALCIBIE Ihr habt nicht 43 Mal gesiegt, um heute zu verlieren. Ihr werdet diesem Schwein, das seinen eigenen Diener ertränkt, geben, was er verdient. Mag er auch ein Held sein, so ist er doch ein Mann wie alle anderen. Auch er wird die Welt für sich beanspruchen, wie alle vor und alle nach ihm. Denn Ihr und ich, wir sind dafür da, ihm Einhalt zu gebieten. Wir sind das auserwählte Volk, Penthesilea, Ihr müsst Euch nur besinnen, Ihr, die Anführerin dieses heiligen Stammes, werdet das einzig Richtige tun. Und so lange werde ich nicht weichen. PENTHESILEA Alcibie. Ich flehe dich an. Du bist meine Vertraute. Du bist meine Schwester, seit man mir die leibliche genommen hat. Diese eine Nacht, ich bitte dich … ALCIBIE Ihr macht Euch lächerlich. Ihr erniedrigt Euch selbst. Unseren Schwur, habt Ihr ihn vergessen?! Sie drückt mir ihre Klinge so fest gegen meine Schulter, dass ich anfange zu bluten. ALCIBIE Nur zum Gebären braucht es einen Mann. Der Mann ist das größte Übel der Welt. Sie wird immer lauter. Erhebt ihre Stimme, brüllt mir ins Ohr. ALCIBIE Außer den Mütter Göttinnen erkennen wir nur den Kriegsgott Ares an. Den Schwanz ersetzen wir durchs Schwert.

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ Ihr Gesicht rot, schweißbenetzt. Ihr Atem der eines Drachens. Gleich speit sie Feuer.

Er dreht sich zu mir um. Alcibie blickt in seine Richtung. Wieso sage ich das? Wieso mache ich mich so erbärmlich klein?

ALCIBIE Keine Hand des Amazonengeschlechts berührt je eines Mannes Hand. Nach der Heiligen Pflicht gilt es den Mann zu töten.

ALCIBIE Wie könnt Ihr es wagen? Wie könnt Ihr dieses heilige Wort besudeln? Wie könnt Ihr es mit einem Fluch belegen, es verpesten, indem Ihr es diesem falschen Geschöpf schenkt? Die Göttinnen haben sich von Euch abgewandt. Ein Wahn muss Euch befallen haben. Also werde ich für Euch kämpfen, werde ich Eure Pflicht erfüllen!

Sie spuckt mir ins Gesicht. Ihre Wut ist grenzenlos. Sie kann es nicht ertragen, sie kann nicht damit leben, dass ihre Göttin stürzt und in tausend Stücke zerspringt. Vergebt mir, Mütter! ALCIBIE Die Söhne, die aus der Besamung hervorgehen, gehören ertränkt. Alles, was auf dem Schlachtfeld hindert, gehört abgetrennt. Die Lust hat viele Gesichter und bedarf keines Mannes. Mein Gewand färbt sich rot. Doch ich spüre keinen Schmerz. ALCIBIE Über den Dienst an dem Amazonengeschlecht ist nichts zu stellen, nicht einmal das eigene Leben! Tötet ihn, Penthesilea, tötet ihn endlich! Da kommt er zurück, vom Fluss, durchnässt, mit tropfendem Haar. Ich gebe ihm ein Zeichen, stehenzubleiben. Das hier, das ist eine Sache zwischen uns, zwischen mir und meiner Freundin, die mir zur Feindin wird. Die mein Herz nicht mehr kennt. Und die ich nicht davon abhalten kann, gnadenlos zu sein. Denn genau das habe ich sie selbst gelehrt. ALCIBIE Er wird Euch betrügen und hintergehen. Er wird von Euch nur eine leere Hülle zurücklassen, und nicht einmal damit wird er sich zu­ friedengeben. Er wird Euch zu Staub zermalmen, um gleich darauf zur Nächsten überzugehen. Er wird Euch bei der erstbesten Gelegenheit verraten. Er wird Euch trinken und verspeisen, wie ein Festmahl, und wenn er Euch satthat, wird er sich bei Euren Töchtern bedienen. PENTHESILEA Du hast sie geliebt. ALCIBIE Kein Wort mehr, Fürstin! Seid still, um der Göttinnen willen, seid still! PENTHESILEA Du hast von ihr geträumt, Nacht für Nacht, und deinem Glück ihr Gesicht geliehen. Ja, in Wirklichkeit kennst du meine Schwäche nur zu genau, weißt, was ich gerade erleide. Daher bitte ich dich: Sei gnädig. Du hast sie getötet, stimmt’s? Nicht Molpadia ist es gewesen, sie nahm bloß die Schuld auf sich, um dich zu schützen. Sag, dass das die Wahrheit ist: Du hast meine Schwester niedergestreckt, deine Antiope. Weil sie dich zurückgewiesen, weil sie dir ins Gesicht gelacht, weil sie ­ihren Bogen gegen dich gerichtet hat: für die Liebe eines falschen Königs. ALCIBIE Ich liebte sie, ja, ich habe sie geliebt, und trotzdem tat ich meine Pflicht. Sie richtete ihren Bogen gegen uns, ihr eigen Volk, und so habe ich geschossen. Ich hatte keine andere Wahl. PENTHESILEA Und doch, würdest du heute noch einmal dorthin zurückkehren und sie sehen, sag mir, würdest du es wieder tun? ALCIBIE Ja, ja, das würde ich! PENTHESILEA Deine Augen füllen sich mit Tränen. ALCIBIE Bitte, tut das nicht. PENTHESILEA Ich habe dich nicht verraten. Nun verrate auch du mich nicht. ALCIBIE Sie war ebenso dumm, wie Ihr es seid. Auch sie hat nicht begriffen, dass wir bloß Beute sind für diese niederträchtigen Kreaturen, dass sie uns einfach so nehmen, Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert. Und Ihr seid so verblendet zu glauben, dass es mit ihm anders wäre? PENTHESILEA Ich liebe ihn.

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Ihre Klinge verlässt mich, um sich nun gegen ihn zu richten. Sie ist in Rage, sie will Blut sehen, will ihrem Hass endlich freien Lauf lassen. Sie hebt ihr Schwert in die Höhe, um zu einem Sprung anzusetzen, anmutig und edel wie ein Panther, und ihn niederzustrecken. Da reißt mein wunder, pochender, angeschwollener Arm ihr das Schwert aus der Hand und schwingt es: Mühelos dringt es in sie ein. Wie sanft das edle Metall in sie gleitet. In meine Freundin, mein Amulett, meine rechte Hand, meine ­Unverwundbare, die ich nun ein für alle Mal verwunde. Ich sehe in ihre Augen, in ihre fassungslosen Augen, und ich weiß: Ich werde das nicht überleben. Ich halte sie, bette sie in meine Arme und beginne, ihren toten Körper hin und her zu wiegen, wie damals meine Erstgeborene, Otere, als ich sie, noch ein blutiges Bündel, in meinen Armen hielt, sie, endlich von meinem Leib getrennt, und doch für immer meins. – Hättest du mich doch gelassen, hättest du mir noch diesen einen Aufschub gewährt … Ich hasse ihn, der mich zum Mörder meiner engsten Vertrauten gemacht hat, und zugleich pocht der Gedanke durch meinen Kopf: eine weitere Nacht, eine weitere Nacht dem Tod entrissen, eine weitere Nacht, die ich mir erkauft habe, mit ihrem Tod. PENTHESILEA Vergib mir, meine Liebste! Vergib mir, Alcibie! Er schaut zu mir rüber, und ich höre sein Schweigen. Wir werden bleiben, bis jemand kommt und uns zum Ende zwingt.

9 Vor der entscheidenden Schlacht. In der Nacht. Unweit des Flusses, in der Schlucht. Ein großes Feuer, in dem die Leichen verbrannt werden. Die Königin neben dem Held der Helden, der keiner mehr sein will. Sie sieht zu, wie alles, was sie gewesen ist, von den Flammen vernichtet wird. ACHILL Der Schmerz wird gleich nachlassen. Ich habe die Wunde mit Blättern gereinigt. Meine Mutter hat mir diesen Verband immer gemacht, wenn ich als kleiner Junge mit aufgeschürften Knien und Ellenbogen nach Hause kam. Sie kannte sich mit Pflanzen aus. PENTHESILEA Wie lange, denkst du, wird es dauern, bis meine Kriegerinnen nach mir suchen? Und deine Griechen nach dir? ACHILL Nicht mehr heute Nacht. Das ist, was zählt. PENTHESILEA Ich habe sie getötet. ACHILL Wir vergessen die Toten, haben wir doch gesagt. Wir betrauern sie morgen. PENTHESILEA Meine Freundin, mein Amulett. Sie tot, auf dem Scheiterhaufen, und ich soll mit dir die Nacht feiern? ACHILL Hör auf, hör auf. Sie sind nicht umsonst gestorben. Sie sind tot, damit wir leben. Diese eine Nacht, Penthesilea. PENTHESILEA Ich kann das nicht. Geh, lass mich. Ich muss zu meinen Frauen.

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Stück Nino Haratischwili ACHILL Bleib hier, bei mir, ich bitte dich. Lass mich dich trösten. PENTHESILEA Ich will deinen Trost nicht. Ich will, dass Alcibie lebt. Ich will, dass dein Buckliger lebt. Ich will nach Themiskyra. Zurück zu meinen Töchtern. Zu meinem Volk. ACHILL Verlass mich nicht. Nicht jetzt. Nicht nach all dem. PENTHESILEA Ihr Fleisch ist es, das brennt, riechst du es? Riechst du die Endgültigkeit? ACHILL Ich liebe dich, Penthesilea. PENTHESILEA Wie kann Liebe sein, was einen zum Mörder macht? Ich will diese Liebe nicht. Schneide meinen Brustkorb auf, nimm sie wieder heraus, trag sie fort, ertränke sie im Fluss, wie du ihn ertränkt hast. Ich will sie nicht. Ich will sie nicht … ACHILL Auch wenn es eine vergiftete Liebe ist, eine andere habe ich nicht. Ich springe auf, renne davon, er fängt mich ein, wir stürzen zu Boden, er hält mich fest, will, dass ich Ruhe gebe, er will seinen Hunger stillen, nur das, alles andere soll in diesem Feuer aufgehen, alles andere soll brennen. Er riecht nach Wein, wie bei unserer ersten Begegnung. Ich höre die Hunde, sie suchen nach mir, meine Frauen. Ihre falsche Königin, ihre Göttin aus Gips, die suchen sie, noch ahnungslos. Er greift nach mir. Ich schlage seine Hand weg. Sein Blick – fassungslos, zäh und klebrig. Seine Augen verschleiert, nebelverhangen. Ich denke an den Hafen, im Nebel, an trüben Herbsttagen, meine Alcibie an meiner Seite, die langen Wanderungen. Mein Kopf ist wund, meine Haut zum Zerreißen gespannt, und alles Blut, aller Groll, alles Entsetzen, alles Begehren werden aus mir raus strömen, wie eine Welle werden sie alles mit sich reißen, endlich, endlich … Warum straft ihr mich nicht, ihr Mütter? Oder bin ich mir selbst Strafe genug? Ich spüre seine Lippen auf meinem Nacken. Ich spüre seinen Atem, der mich wärmt. Ich spüre sein Drängen. Und ich ekele mich. Ich ekele mich vor mir selbst. Das Unheil war kein Fluch, das Unheil bin ich selbst. Er und ich, wir sind es. Nur Tod und Elend sind die Früchte dieser Liebe. Wieder greift er nach mir, hebt mich hoch, trägt mich in die Nacht, seine Zunge wandert auf meiner Haut, sucht nach einem Halt, nach einem Ankommen. Bei der alten Eiche lässt er mich runter, lehnt mich gegen den Baumstamm, packt mich an der Schulter, an der gesunden, von Alcibies Wut unversehrten Schulter. Mit der anderen Hand nimmt er mein Bein und hebt es empor. Hatte Thersites recht? Haben wir diese Welt selbst erschaffen? Wer ist nun schuld? Was ist das Leben, woraus ist es gewebt? Was bin ich ohne mein Schwert? Wer ist dieser Mann? Hier bin ich, am Rande des Krieges, am Rande der Liebe. Oder ist das ein und dasselbe? Er bedrängt mich, mein Leib verrät mich, mein Leib ist ihm folgsam, mein Kopf aber will zerspringen. Ich will ihn von mir fernhalten, abhalten, er darf mich nicht besänftigen, nur klar und wach finde ich zu einer Entscheidung, nur klar und wach kann ich kämpfen. Ich will nichts genießen, ich will nichts feiern, ich stehe am Scheiterhaufen zweier Toter. Er hingegen scheint alle Vernunft abgeworfen, alle Sitten vergessen zu haben. Ihm ist es einerlei. Ich beneide ihn darum. Er beginnt mein Gewand zu zerreißen. Ich schlage ihm ins Gesicht. ACHILL Sieh mich an, Penthesilea, sieh mich an, wende dich nicht ab, nein, nein, nein … Du hast mich hierhergeführt, du hast es gewollt, und nun bringen wir es auch zu Ende, lieben wir uns zu Ende, ficken uns zu Ende. Hörst du, hörst du mich?

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Alcibies Gesicht. Ich sehe es vor mir, ihre Augen, ihr Entsetzen, ihr letzter Atem, ihre Verachtung. Ich kann das nicht. PENTHESILEA Ich kann das nicht! Schreie ich, und er lacht mir ins Gesicht, sein Speichel benetzt meine Wange, alles Sein ist in diesem winzigen Augenblick zusammengepresst, in dieser Nacht, der Nacht, dem Gewand der Diebe, zu denen wir geworden sind. Diese Nacht. Sie gehört uns nicht. Sie gehört den Toten. War es falsch, 43 Siege zu erkämpfen? War es falsch, auf Ares’ Pfaden zu wandeln? Was hätte ich tun sollen? Welcher Weg wäre derjenige gewesen, der mich nicht hergeführt hätte? Der mich nicht vor diese Wahl gestellt hätte? O Mutter, du Unglückselige … Seine Augen funkeln, fiebrig. Die Flammen spiegeln sich darin wider. Das Feuer, das meine treuesten Gefährtinnen zu Asche werden lässt. Ich winde mich, versuche mich zu befreien, aber ihm ist es egal, er ist geblendet von seinem Wollen, alles Unsagbare würgt ihn, alles Unverzeihliche reißt ihm bei lebendigem Leib die Haut ab. Will er meinen Zorn, will er, dass ich ihm die Augen auskratze, will er mich zu einer Bestie machen, ihm gleich, oder hofft er auf meine Gnade? Was will er? Er packt mich am Kinn, sieht mir in die Augen. ACHILL Ich bin dieser Krieg, Penthesilea. Ich bin es. Er wird enden, wenn ich es sage, wenn ich ihn beende. Ich entscheide das, und mir ist einerlei, wer noch alles fällt, wer noch alles stirbt. So ist die Welt nun mal. Der Krieg nimmt uns das Denken ab. Ohne ist es leichter. Wir tun nur unsere Pflicht, stimmt’s? Man muss sie nur Feinde nennen, und schon geht es. Was macht es für einen Unterschied, ob eine deiner Kriegerinnen stirbt, oder einer aus meinem Heer? Ist er weniger Mensch als sie? Nur, weil du ihn zum Feind erklärst, wird es gut, wird es richtig, nicht wahr?! Brüllt er mir ins Gesicht. Ich rieche seinen Schweiß. Rieche seine Angst. Rieche seine Erschöpfung. Ich lege meine Hand auf sein Gesicht, mit aller Kraft drücke ich ihn weg, er soll mich nicht ansehen, er soll mir nicht in die Augen blicken. Wir sollten trauern, nicht ficken. Wir sollten die Toten ehren, nicht unsere Fleischeslust stillen. ACHILL Du wolltest das doch? Das wolltest du doch von mir? Also nimm es auch an, verdammt! Sein Gewicht auf einmal so schwer, als wäre er ein ganzer Kontinent. Ich schlage ihm erneut ins Gesicht. Zu was gerinnt meine Sehnsucht? Zu was macht er mich? Wer werde ich sein, nach dieser Nacht: eine gefallene Königin, eine Verräterin, eine Mörderin? Diese Beinamen habe ich mir doch alle schon verdient. Will er meinen Hass zurück, der mich einst nach Troja geführt hat? Was wusste ich vom Leben, bevor ich ihn traf? Die zehn Gebote und die 43 Siege, zwei Geburten und zwei langersehnte Töchter, fast 50 Ernten, vier Fluten, acht Erdbeben, zwei Männer, beide tot, der Heiligen Pflicht folgend, zwölf unbesiegbare Kriegerinnen, eine davon eigenhändig auf den Scheiterhaufen gelegt. Eine Mutter, sechs Frauen im Ältestenrat, unzählige unter meiner Obhut, unter meiner Aufsicht, unter meinem Befehl. Aber was wusste ich vom Leben? ACHILL Um ein Leben zu vergessen, muss man ein anderes haben. Wir aber haben nur dieses eine. Flüstert er, als errate er meine Gedanken, und gräbt sein Gesicht in meinen Hals. In der Ferne das Feuer. In der Ferne die Hunde. In der Ferne das Heer. In der Ferne die Aussichtslosigkeit. Ich höre ihn nicht mehr. Eine Taubheit, eine Dumpfheit legt sich auf mich.

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Stück „Penthesilea. Ein Requiem“ Ich sehe mich mit Alcibie am Ufer entlanglaufen. Ich sehe die stolzen Schiffsmaste im Hafen von Themiskyra. Ich sehe die pfirsichfarbene Haut meiner Töchter. Ich sehe meine Mutter mir eine Feige in den Mund legen. Endlich weiß ich, was zu tun ist. Ich bohre meine Fingernägel in seine Schulterblätter. Wie habe ich mich vor diesem Augenblick gefürchtet, und nun ist er gekommen, unmerklich, schleichend. ACHILL Ja, tue es, tue es, hasse mich. Das macht es einfacher, Penthesilea, das macht es leichter. Der Schmerz wird zu einer Wiege, in die ich mich lege. Sein Körper scheint aus Stahl, aus Stein zu sein, seine Hände: Klingen der besten Schwerter. Seine Küsse: Verbrennungen, gegen die keine Salbe wirkt. Wir bewegen uns in einem Rhythmus der Endgültigkeit. Diese Liebe gehört geköpft, erhängt, amputiert. Ich muss sie wieder herausschneiden. Ich muss sie aus mir entfernen. Der Gedanke pocht in meinem Kopf. ACHILL Es gibt kein Haus mehr, das mich erwartet, kein Land, das ich mein Eigen nennen darf, kein Gesicht, keine Stimme mehr, die mir vertraut wären. Dein Hass ist meine einzige Heimat. Dein Körper mein einziges Zuhause. Ich kann nirgendwohin mehr zurück. Ich befreie meine Hand und versuche mein Fußgelenk zu erreichen, und dort wiederum meinen treuen Freund, der 18 Leben auf seinem stolzen Griff trägt. Nun sehnt er sich nach einem neunzehnten: der Dolch meiner Mutter.

10 Die letzte Schlacht. Die Sonne geht auf. Der Fluss ist zu hören. Die Welt steht für einen Augenblick still. Blut und Leichen der vergangenen Tage sammeln sich zu den Füßen. In der Ferne steigt Rauch auf. Pferde nahen heran, darauf: elf der zwölf unbesiegbaren Kriegerinnen, die der Königin nach Troja gefolgt sind. Und doch ist sie allein. PENTHESILEA Ist dies das Tal des Todes, und singe ich das Lied der letzten Begegnung? Und wenn ja, wirst du mein Fährmann sein? Mein Charon? Und sollte ich fallen durch deine Hand, schleifst du auch meinen zerschundenen Leib zwölf lange Tage und Nächte um die Stadtmauern? O Mütter Göttinnen, nie war euer Schweigen grausamer. Wie kann es euer Wille sein, dass ich seine Gedärme rausreiße, dass ich seine Augen aussteche, dass ich seine Rippen breche, dass ich … Ich höre die Hunde bellen, ich höre die Pferde herannahen. Gleich, gleich werden sie hier sein, meine elf Kriegerinnen, die zwölfte bereits zu Asche zerfallen. Antiope. Heißt Liebe nicht Barmherzigkeit, Gnade, Vergebung? Wie konnte sie mich also zur Mörderin machen?! Dann ist sie keine, oder eine kranke, fehlgeleitete. Und gehört geheilt. Wer heilt mich von dieser tückischen Krankheit? Jemand ruft nach mir. Ist es Clonie, Polemusa, Derinoe, Evandre, Antandre, Bremusa, Hippothoe, Harmothoe, Derimacheia, Antibrote oder Thermodosa? Mein Leib ist wund. Das Feuer erloschen. Der Geruch des verbrannten Fleisches liegt über Troja. Die Frauen kommen. In der Ferne griechische Posaunen. Auch sie eilen herbei. Was werden sie vorfinden? Wen tot, wen lebendig? Wessen Leiche wird zu betrauern sein? ACHILL Man sollte die Neugeborenen in die Mütterleiber zurückdrängen. Die Geburten aufschieben. Das Leben zurückpfeifen. Töten soll ich ihn also? Mit meinem Schwert ihn durchbohren, oder mit diesem Dolch ihm die Kehle aufschlitzen? Aber wie, wie soll ich meine Hand über ihn erheben, über diesen grünäugigen König, der nie einer war? Seinen Leib an das Ufer des Skamandros betten und ihn von den

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Geiern beweinen lassen? Niemals! Denn hätte ich je einen König anerkannt, so schwöre ich dir, wärst du es. Und denke ich an den Tod, so denke ich daran, wie du dich schmückst mit meinem Blut, dein Gesicht damit einreibst, die schönste Kriegsbemalung, die du je hattest: mein Blut. ACHILL Tut es weh? Es muss nur schlimm genug sein, dann geht es. Verflucht seist du, Antiope, meine Schwester, die das Unglück über uns gebracht hat! Verflucht seist du, mein Hurenherz! Meine Venen, vollgepumpt mit der unsichtbaren Gier, auch ihr seid verflucht. Verschleudertes Leben, das meine Lungen füllt. PENTHESILEA Sieh mich nicht so an. Deine Blicke verbrennen meine Haut. Deine blutunterlaufenen, müden Augen. Sprich nicht weiter. Bitte nicht. Nimm dein Schwert. Hörst du nicht die Hufe? Er nimmt meine Hand mit dem Dolch, führt sie zu seinem Gesicht und lässt mich seine Haut aufritzen. Das Blut tropft mir in den Mund. Sein warmes Blut. Nein, nicht so! Nicht sein Blut soll mich bedecken. Meines soll ihm zum schönsten Schmuck werden. Ich ritze meine Wange auf. Er hält inne. Sieht mich entsetzt an. ACHILL Tue es nicht. Ich tue dir noch mehr weh, wenn nötig … Er weitet meine Rippen. Spuckt mir ins Gesicht. Brüllt. Weint. Seine ­Hände gleichen Krallen. Ein todbringender Vogel. Der kleine Dolch, er reicht für uns beide. Ich steche damit in seine Hand. Er schreit auf. Dann rammt er ihn in meine. Ich bleibe stumm. Ich hasse ihn. Töte mich. Oder ich töte dich. Die einzige Wahl, die sie uns lassen. Deine Götter. Meine Göttinnen. Das Schicksal. Die Gebote, und der Krieg. Wer tötet wen, und warum? Sind die Gründe nicht längst verjährt? Waren das nicht deine Worte, bei unserer ersten Begegnung im Zelt? Unsere erste Begegnung. Wird das hier also die letzte sein? Er entreißt den Dolch meiner Hand. Der Schmerz lässt mich aufjaulen. Ich drehe mich schlagartig um, Blut spritzt ihm ins Gesicht. Wessen, weiß ich nicht. Ich bäume mich über ihm auf. Sein Gesicht verzerrt sich, als die Klinge über meine Wange streicht. Ich schlage seine Hand weg. Instinktiv. Ich will mich abwenden, aber er hält mich fest. Die Pferde sind nah. Es muss schneller gehen. Der Dolch tanzt zwischen uns, gleitet von Hand zu Hand wie ein geübter Tänzer, wie in einer Darbietung, der letzten. Die Augenblicke, bevor wir fallen, sind die wenigen Krumen des Glücks, die man uns gewährt. Ich will mich daran sattessen. Plötzlich spüre ich etwas Warmes mein Innerstes füllen. Eine Wonne. Eine Befreiung. Ausgerechnet jetzt spüre ich diese Leichtigkeit, ich muss ­lachen. Ich lache ihm ins Gesicht. Dann schreie ich auf, ich atme und atme, keine Luft der Welt scheint mir genug. Er fährt mit seiner blutigen Hand über meine Wange. Wir bemalen unsere Gesichter für die letzte Schlacht, die längst begonnen hat. Die Hunde­ meute hetzt heran. Die Pferde nur noch wenige Augenblicke entfernt. Die Erde bebt. Wer nichts begehrt, den kann man nicht berauben. Ich glaubte, eine Königin zu sein, aber ich war eine Bettlerin. PENTHESILEA Hörst du sie? ACHILL Ja.

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Stück Nino Haratischwili Und mit einem Ruck dringt er in mein Fleisch vor, bis zu einer Grenze, an der es nicht weitergeht. Ich will, dass er aufhört. Ich schreie und steche zu. Ich steche in seine Lende, dann noch einmal, ich weiß nicht mehr, wohin, es spielt keine Rolle mehr. Sein Fleisch streckt sich mir entgegen, sein Fleisch will durchbohrt werden. Das Blut rinnt mir die Unterschenkel ­hinab. Ich sehe die Augen meiner Töchter vor mir. Ich sehe Alcibie, höre sie pfeifen. Mit dem aufkommenden Wind. Sie sind da. Gleich sind sie da. Nur noch ein Augenblick. Ich küsse ihn. Noch nie waren meine Lippen hungriger. Dann werfe ich ihn von mir ab. Sein Körper, schwer und ermattet, schlägt geräuschlos auf dem Boden auf. Wir werden umzingelt. Die Griechen von links, meine Frauen von rechts. Sie kreischen, sie schreien und rufen die Namen der Göttinnen, die Griechen recken ihre Speere in die Höhe. Sie wollen das Ende sehen. Das große Finale. »Töte ihn, Fürstin!«, schreien sie. »Töte das Mannsweib!«, schreien sie. ACHILL Du verdammte Hure. Ich bringe dich um! Ich bringe dich um! Er schwankt, kann kaum noch aufrecht stehen, überall sind Wunden, überall ist Blut. Überall sind wir. Unsere Spuren der Vernichtung. Ich bin die Geisel meiner Schmerzen, dennoch setze ich mein Kriegsgesicht auf.

ACHILL Ich werde dich mit meiner Kopis ficken, du männerhassende Nutte! Mit letzter Kraft schlägt er zu, ich kann nicht mehr, ich krümme mich, zum ersten Mal begehrt mein Körper gegen ihn auf, und als ich zum Schwert greife, da zieht auch er seine Kopis. Unsere Waffen: zwei Feinde, lange schon bereit, wozu wir es nicht waren. Ich begreife nicht, wann, wie, in welchem Augenblick, mit welcher Handbewegung es ihm gelingt, aber das Nächste, was ich sehe, ist, wie die Zeit sich dehnt, wie seine Klinge sich in meinen Unterleib bohrt, und das Einzige, was meine Klinge noch zu erreichen vermag, ist seine Ferse. Zu mehr reicht die Kraft nicht, höher hinaus gelange ich nicht. Nur die Ferse, aber in die dringt meine Klinge unbarmherzig, mit voller Wucht ein. Ich ­begreife nicht, warum die Griechen so brüllen und meine Frauen die Schwerter zucken, ich schaffe es nicht einmal mehr, ihm mein Gesicht zuzuwenden. Ich höre ihn nicht, ich höre sie nicht, begreife nicht, was los ist, und gleite zu Boden. Heißer Wind kommt auf und trägt die Asche davon. Die Toten werden zu Schatten. Und wir nehmen ihre Plätze ein.

PENTHESILEA Du verlogenes Schwein! Ich reiße dir die Gedärme raus! ACHILL Ich werde deine Innereien den Hunden zum Fraß vorwerfen, du Fotze! PENTHESILEA Ich werde deine ganze impotente Mannschaft zusehen lassen, wie ich deinen Kopf aufspieße!

– ENDE –

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Die sächsischen Theater nehmen Abschied von Gunild Lattmann, 1976 - 1996 Intendantin des Theaters der Jungen Generation Dresden. Viele von uns haben bei ihr das praktische Theaterhandwerk erlernt und wissen, dass sie ohne die Begegnung mit ihr heute nicht da wären, wo sie sind. Mit Weitsicht und Warmherzigkeit führte sie ein Theater, in dem offener Austausch und kritische Nachfragen zum Ziel der Kommunikation mit dem jungen Publikum wurden. Unter ihrer Leitung wurde ein Theaterkonzept entwickelt, in dem explizit formuliert war: „Wir wollen die Beziehung an die Stelle der Erziehung setzen“. In den 1980er Jahren gelang das vor allem mit dem auf Erneuerung ausgerichteten Teil der sowjetischen Dramatik und mit der emanzipatorischen Kraft von Stücken der progressiven westeuropäischen Kinder- und Jugendtheaterszene.

Foto Detlef Ulrich

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Diese Arbeit hat dem Theater einen exzellenten Ruf eingebracht und viele Fest- und Feiertage beschert wie die DDR-Erstaufführung „Max und Milli“ von Volker Ludwig und Gastspieleinladungen zu Festivals nach München und Lyon mit dem schwedischen Stück „Der kleine Prinz von Dänemark“ von Torsten Letser. So war das TdJG zum Zeitpunkt der friedlichen Revolution 1989 im Kreise der Dresdner Theater eine wichtige Adresse, ein Forum der Debatten natürlich vor allem für die nachwachsende Generation. Nach der Wende hat es sich einen wichtigen Platz unter den Sächsischen Bühnen ebenso wie innerhalb der Gruppe der nationalen und internationalen Theater für Kinder- und Jugendliche erworben. Gunild Lattmann hatte schon vieles geschafft als Theaterleiterin, als es ihr 1996 auch noch gelang, ihr Erbe als Intendantin bruchlos an ihren Nachfolger Dietrich Kunze zu übergeben.

Ihre Stimme wird fehlen.


Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr impulsefestival.de


Theater der Zeit

Foto Falk Wenzel

Diskurs & Analyse

Szene aus „Die Lage“ von Thomas Melle, Regie Max Radestock, Theater Halle, 2023

Serie Schlaglichter #04 Ceren Yildirim: Derman sendedir Serie Post-Ost Max Radestock: Hessen liegt in Ostdeutschland

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #04

Schlaglichter # 04 Derman sendedir Von Ceren Yildirim

Mit unserer Open-Call-Reihe „Schlaglichter“ laden wir ­ Studierende und Berufsein­ steiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskur­ siven Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbstbestimmten Raum bieten.

Ceren Yildirim (Künstler:innenname: rî) wohnt in Frankfurt am Main und studiert seit 2022 im Master Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie arbeitet multimedial im Bereich der Darstellenden Künste. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Widerstandsgeschichten und -kulturen im mittleren Osten, Wahrheitsregime und Dokumentalität. Seit 2022 ist sie Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung.

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #04 Vakti seherde Açılır perde Düştüğ ün yerde Derman sendedir

Zur Zeit der Morgendämmerung Öffnet sich der Vorhang Wo du gefallen bist ist das Heilmittel bei dir1

Hasret Gültekin war ein alevitisch-kurdischer Musiker, er wurde im Alter von 22 Jahren bei lebendigem Leib verbrannt. Am 2. Juli 1993 fand in Sêwas (tr. Sivas) im Madimak Hotel das Pir Sultan Abdal Festival statt, bei dem hunderte Intellektuelle und Künstler:innen zusammenkamen. Unter den Teilnehmer:innen des Festivals waren viele alevitische Kurd:innen, aber auch andere staatlich verfolgte Minderheiten, die für eine Demokratisierung des Landes kämpften. Ein Mob aus fünfzehntausend nationalistischen Islamisten zog vor das Hotel. Sie bewarfen die Teilnehmer:innen mit Steinen, steckten das Hotel in Brand und jubelten mit „Allahu akbar“Rufen. Das alles geschah mit staatlicher Unterstützung, weder Polizei, Feuerwehr noch Politik griffen ein, stattdessen schützten sie die Täter. Wie soll man am Menschen festhalten, wenn dieser andere bei lebendigem Leibe verbrennen kann? Ist der Mensch überholt und ist es an der Zeit, ihn loszuwerden? Wenn ich an Madimak denke, dann bin ich nicht bereit, den Menschen loszulassen. Ganz im Gegenteil: Ich denke mehr denn je, sollten wir das Mensch-Sein verteidigen.

Foto I’m Conqueror/Shutterstock

Weg der Wahrheit Ein zentrales Konzept des Alevitentums ist rêya heq (kurd.: Weg der Wahrheit), denn das Alevitentum ist keine Religion, sondern ein Lebensweg. Dieser Weg hat vier Tore und vierzig Stufen, die im Prinzip den Weg vom Individuum als Teil einer ethisch-politischen Gesellschaft beschreibt. Es geht darum, als Individuum einen Weg zu gehen, der immer von der Gemeinschaft begleitet wird; alle ziehen sich gegenseitig in die Verantwortung. Der Weg ist nicht als lineare Entwicklung zu verstehen, sondern als endloser Zyklus. Es gibt im Alevitentum keinen Gott, der den Menschen erschaffen hat und über ihn herrscht. Stattdessen wird an die Energie des Universums und damit an die Schöpfungskraft der Natur geglaubt. Diese steckt nicht nur im Menschen, sondern in jedem Wesen. An dem Weg der Wahrheit ist zu erkennen, dass der Mensch mit allen anderen Wesen gleichwertig geschaffen wurde und deshalb eine ethisch-politische Verantwortung hat, sich nicht hierarchisch über andere Wesen zu stellen. Das ist eine kurze Skizze der Philosophie, aber wie sieht das in der Praxis aus? In Zeremonien, die „Cem“ genannt werden, kommt die Gesellschaft zusammen. Ein zentrales Merkmal dieser Zeremonien ist, dass sie nur stattfinden können, wenn es zwischen den Teilnehmer:innen keine bestehenden Konflikte gibt. Falls es diese gibt, müssen sie am Anfang geklärt werden. Weitere wichtige Elemente sind Lieder, deren Texte die gemeinsamen Werte vermitteln, die mit der tenbûr (kurd.: Langhalslaute) begleitet werden. Außerdem wird gemeinsam „sema“ getanzt, ein Tanz, der die Bewegung der Planeten im Universum und die Bewegung von Kranichen beinhaltet.

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Das heilige Buch der Alevit:innen ist der Mensch und es würde freien Theaterschaffenden gut tun, ihre Praxis mehr mit der gesellschaftlichen Realität zu verknüpfen.

Kraniche sind besondere Tiere für Aleviten, weil sie Herdentiere sind, bei denen jedes Mitglied der Gruppe mal die Führung beim Fliegen übernimmt. Diese Idee der hierarchiefreien, natürlichen Autorität ist zentral im Alevitentum. Ähnliche Gedanken finden sich auf der ganzen Welt. Ob es alevitische Kurd:innen sind, die ihre heiligen Berge und Flüsse gegen die Angriffe des faschistischen türkischen Staates verteidigen, oder die Wet’suwet’en, die ihr Land gegen die Pipelines und die Ausbeutung des (neo)kolonialen kanadischen Staates verteidigen. Der Gedanke ist, dass dort, wo andere Lebewesen und die Erde angegriffen werden, auf direkte Weise auch wir angegriffen werden, weil der Mensch immer untrennbar Teil des großen Ganzen ist. Selbst die positivistische Wissenschaft legt mit ihren Zahlen dar, dass wir dabei sind, unsere Lebensgrundlage zu verlieren. Das heilige Buch der Alevit:innen ist der Mensch und es würde freien Theaterschaffenden gut tun, ihre Praxis mehr mit der gesellschaftlichen Realität zu verknüpfen. Es müssen intellektuelle und finanzielle Hürden abgebaut und wirkliche Teilhabe am Theater für alle ermöglicht werden. Wir brauchen nicht noch mehr Performances über Cyborgs, denn wir können die systemischen Krisen der heutigen Zeit als Menschen lösen. Theater kann ein Raum sein, das vermeintlich Verlorene oder Unmögliche – die Vision einer gerechteren Welt – zu beleben. Es kann der Ort für tiefgreifende Kritik, politische Allianzen und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sein. Das Graben in indigenen Geschichten und Philosophien bietet viele Lösungsansätze hierfür, aber sie werden oft nicht wahrgenommen. Das Leben muss von jeglicher Herrschaft befreit werden und das Theater muss entscheiden, ob es für die ethisch-politische Verantwortung bereit ist. T

1 Hasret Gültekin – Derman sendedir (Übersetzung von Autorin)

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost

Max Radestock, Schauspieler und Regisseur

Hessen liegt in Ostdeutschland Foto Fabian Jung

Von Max Radestock

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost Im Superwahljahr 2024 mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg (am 1. und 22. September) laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser neuen Serie meldet sich die Gene­ration Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Ein Post-Ost-Theater fixiert sich nicht auf Zuschreibungen und typische „Ost-Probleme“. Was soll das auch sein? Post-Ost-Theater muss die totale Gegenwart stören – überall. Aber im Osten bedeutet das vielleicht etwas anderes. Es kommt immer mal wieder vor, dass man sein Geburtsland in ein Formular eintragen muss. Beim Antrag zur Mitgliedschaft bei der Künstlersozialkasse beispielsweise. Eigentlich ein Akt, der fast automatisch von der Hand geht. Eingeübt. Unbedeutend. Für mich nicht. Ich zögere jedes Mal und schreibe dann: DDR. Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr. Ich bin ziemlich genauso alt, wie das geeinte Deutschland und damit so alt wie die Widersprüche, die es produziert. Meine Biografie entzieht sich den typischen Zuschreibungsmustern. Bei den Montagsdemos in Plauen auf dem Theaterplatz bin ich im Kinderwagen mit dabei. Im Jahr 1991 wird mein Vater Schauspieldirektor des Theaters in Marburg und gehört damit zu den ersten Theaterschaffenden aus der DDR, die im Westen ein Theater leiten. Also ziehen wir um, von Sachsen nach Hessen. Auf einmal wohnen wir in einer Reihenhaussiedlung auf dem hessischen Dorf. Der eine Nachbar sagt: aus dem Osten und auch noch Künstler, um Gottes willen und lässt eine Hecke zwischen uns wachsen, eine grüne Mauer. Mit der Nachbarin zur anderen Seite teilen wir den Garten, gemeinsame Urlaube folgen, sie ist bis heute eine enge Freundin unserer

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Familie. Wenn wir aus Hessen zu meinen Großeltern nach Leipzig fahren, ist der Blick aus der Platte im 15. Stock für mich als Kind vor allem faszinierend. Die soziale Dimension erkenne ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich kann noch nicht lesen, als mein Vater in der Lokalpresse in Marburg Mittelpunkt einer deutsch-deutschen Auseinandersetzung wird. Mein Vater hat in den 70er Jahren als junger Mann ein Blatt Papier unterschrieben, seitdem wird er als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi geführt. Er hat sich mehrmals mit seinem Führungsoffizier getroffen. Er sagt, er habe unter Druck unterschrieben und habe nie brisante Informationen preisgegeben. Und doch sei das der größte Fehler seines Lebens gewesen. Dies alles halten meine Eltern zunächst von mir fern. Sie wollen mich nicht belasten. Der Teil meiner Familie, der weiterhin in Ostdeutschland lebt, existiert in einer anderen sozialen Realität, als ich sie größtenteils in Hessen erlebe. Meine Großeltern wohnen in der kleinsten Wohnung, die ich kenne, und meine Tanten pendeln zwischen Niedriglohnsektor und Arbeitslosigkeit. 2011 ziehe ich selbst nach Leipzig und beginne mein Schauspielstudium. Es fühlt sich an, als würde ich dahin zurückgehen, wo ich nie gewesen bin, um es frei mit Thomas Brasch zu sagen. Für meine Mitschüler:innen am Gymnasium in Hessen ist der Umzug in die neuen Bundesländer keine Option. Niemand zieht freiwillig in den Osten. Das ist nur verständlich, die besseren Jobaussichten gibt es in Westdeutschland. Das hält die Eltern meiner Freund:innen aus Hessen aber nicht davon ab, sich bei mir zu erkundigen, ob es sich lohne, in Halle oder Leipzig in Wohnungen zu investieren. 2023 arbeite ich, inzwischen als Regisseur, in Halle an einer Inszenierung von Thomas Melles „Die Lage“, ein Stück über Wohnraum und Mietmarkt. Thomas Melle kommt aus Bonn, sein Text bezieht sich implizit auf den Wohnungsmarkt westdeutscher Großstädte. In Halle am Theater sind viele deshalb skeptisch, ob das Thema Mieten und Wohnen auch hier genug Zuschauer:innen findet. Inzwischen ist die Inszenierung über zwanzigmal gespielt worden und beweist die Relevanz des Themas. Wohnen ist die soziale Kernfrage unserer Zeit und in Ostdeutschland zusätzlich brisant, denn der Wohnraum gehört oft Westdeutschen. Zum Beispiel den Eltern meiner Freund:innen aus Hessen.

Eine Ablenkungstaktik Bei den Wahlen im Herbst in drei ostdeutschen Bundesländern könnte die AfD zur stärksten Kraft und im schlimmsten Fall Teil einer Landesregierung werden. Schon jetzt, vor der Wahl, wird in etlichen Talkshows reproduziert, was viele eh schon zu wissen glauben: Die Menschen im Osten sind rechts, zurückgeblieben und unkultiviert. Diese ihnen zugeschriebene Identität, ihr unveränderbarer ostdeutscher Kern führe an der Urne unweigerlich zum Kreuz bei der AfD. Diese ständige mediale Heraufbeschwörung des rechten ­Ostens ignoriert die realen sozialen Bedingungen und findet sich mit den prekären Zuständen ab, manifestiert sie sogar.

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ID Festival

Dem Post-Ost-Theater muss ein dialektischer Spagat gelingen. Die westdeutsche Erfindung des Ostens, wie Dirk Oschmann es nennt, muss dekonstruiert werden.

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Radialsystem 11–14 April 2024

Der nackte Wahnsinn Komödie von Michael Frayn yn

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Das Narrativ des rechten Ostens ist eine Ablenkungstaktik, um sich nicht mit den Rechten vor der eigenen Haustür beschäftigen zu müssen: In Hessen ist die AfD zweitstärkste Partei und vereint fast zwanzig Prozent der Stimmen auf sich. Sogenannte Baseballschlägerjahre waren und sind auch für Menschen im Westen Realität, für solche mit migrantischer Herkunft, für queere Menschen oder linke Aktivist:innen. Hessen liegt in Ostdeutschland. Jedenfalls nach westdeutscher Zuschreibungslogik.

Aufgaben des Theaters Auf der Bühne ist der Glaube an einen unveränderbaren Kern das Ende jeder szenischen Handlung – die Grundvoraussetzung von Theater ist die Veränderung, der Glaube an die Veränderung der Bedingungen der Welt und somit der Glaube an Veränderungen unserer Beziehungen untereinander. Die Aufgabe eines post-ostdeutschen Theaters ist es, eine andere Zukunft zu denken. Es lässt sich nicht in Zuschreibungsspiralen verwickeln, sondern nimmt die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen für unser Miteinander in den Blick. Ein post-ostdeutscher Blick auf unsere Gesellschaft reduziert Menschen nicht auf einen unveränderbaren Kern, sondern macht soziale Notlagen klar und formuliert eine radikale Kritik der Gegenwart. Egal wo. Dem Post-Ost-Theater muss ein dialektischer Spagat gelingen. Die westdeutsche Erfindung des Ostens, wie Dirk Oschmann es nennt, muss dekonstruiert werden. Gleichzeitig müssen wir die sozialen Unterschiede da, wo sie bestehen, auch klar benennen und dürfen die strukturellen Unterschiede in Löhnen, Chancen und Eigentumsverhältnissen nicht unter den schwarzrotgoldenen Teppich kehren. Diese Praxis kann überall stattfinden. Das PostOst-Theater ist nicht ortsgebunden. Brechts Ausspruch „Ändere die Welt, sie braucht es“ gilt in Bamberg und in Bernburg gleichermaßen und gleichzeitig. Überall kann der Möglichkeitsraum für eine solidarische Gesellschaft erspielt werden, mehrdimensional und nicht nur auf der Ost-West-Achse. Post-Ost-Theater kann überall da stattfinden, wo gesellschaftliche Widersprüche Antrieb künstlerischer Praxis werden. Nur bedeuten diese Widersprüche manchmal etwas anderes im Osten, fühlen sich anders an, knistern anders im Feld zwischen Publikum und Schauspiel. Das ist der Ost-Anteil an Post-Ost. T

Theater der Zeit 4 / 2024 04.03.24 09:35


Theater der Zeit

Foto Maya Wallraff

Report

„Butching Cowboys“ von Anajara Amarante im Hamburger Festival Fokus Tanz #10 Sorry Not Sorry auf Kampnagel

Polen Wie die Kulturpolitik der PiS-Regierung korrigiert wird Hamburg Performing Arts neu denken: Fokus Tanz #10 Sorry not Sorry auf Kampnagel Erfurt Die einzige Landeshauptstadt ohne Schauspiel ringt mit ganzen Problembündeln

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Report Polen

Endlich eine richtig gute Wende Wie in Polen die Kulturpolitik der PiS-Regierung korrigiert wird Von Iwona Nowacka

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Als ich das letzte Mal für Theater der Zeit 2017 aus Polen berichtete, ging es um die Machtübernahme der PiS und die ersten Eingriffe in die Kultur durch die noch relativ neue Regierung. Was als Zerstörungswelle nicht nur des Kulturökosystems, sondern auch des ganzen Staatsorganismus im Zuge der sogenannten „guten Wende“ angefangen hatte, dauerte dann acht Jahre lang. Nun erleben wir endlich eine richtig gute Wende. Aber es gab keine Garantie einer solchen vor den Wahlen am 15. Oktober, die von vielen als die letzte Chance für das rechtsstaatliche Polen betrachtet wurden. Die Hoffnung tauchte langsam beim Anblick der Schlangen vor den Wahllokalen auf. Eine in der neueren Geschichte Polens beispiellose Wahlbeteiligung von 74,38 % wurde erreicht. Die Wahllokale im In- und Aus-

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Foto Karolina Jóźwiak/Warsaw Theatre Meetings 2024

„Dialog Danke“: Der vom PiS-Kulturministerium aufgezwungene Chefredakteur von Polens wichtigster Theaterzeitschrift Dialog gibt seinen Posten auf.


Report Polen land mussten in einigen Fällen bis in die Nacht arbeiten. Gründe für den großen Wahlaufstand: bedrohte Frauenrechte und Gefahr eines Polexits. Auch wenn die PiS-Partei die meisten Stimmen bekommen hatte, eine absolute Mehrheit hat sie nicht erzielt, und keine andere Partei wollte mit PiS eine Koalition eingehen. Die ersten Sitzungen des neuen Parlaments haben sich so großer Beliebtheit gefreut, dass der Youtube-Account des Sejm (neben dem Senat die zweite Kammer im polnischen Parlament) den silbernen Playbutton bekommen hat. Jetzt hat der Sejmflix, wie er umgangssprachlich genannt wird, 743.000 Follower. Michał Marszał, ein Social-Media-Satiriker, hat im Internet gescherzt, dass die Sitzungen auf einen großen Bildschirm gehören, worauf hin die Warschauer Kinoteka im Kulturpalast dies tatsächlich organisiert hat. Über sechshundert kostenlose Zählkarten waren nach einer halben Stunde ausgebucht. Das Durchschnittsalter im Kinosaal betrug am 11. Dezember, dem Tag der Ablehnung des Antrags der PiS um das Vertrauensvotum und der Berufung von Donald Tusk zum Premierminister, zwanzig Jahre.

Abberufungen und Nachfragen Zum neuen Kulturminister wurde Bartłomiej Sienkiewicz ernannt, der sich als ein geeigneter Mann für special tasks zeigt. Der Urenkel des ersten polnischen Literatur-Nobelpreisträgers 1905, Henryk Sienkiewicz, der die Mission seines Werks in Herzensstärkung sah und tatsächlich damit eine Massenleserschaft erreichte, hat seine eigene Mission auch mit Massenmedien angefangen. Schon sechs Tage nach Vereidigung der neuen Regierung hat der Sejm ein Gesetz zur Wiederherstellung der „Rechtsordnung und Unparteilichkeit der öffentlich-rechtlichen Medien“ verabschiedet. Mehr als hundert PiS-Abgeordnete nahmen an der Abstimmung nicht mal teil, weil sie den Sitz des öffentlich-rechtlichen TVP-Fernsehsenders besetzten. Am selben Tag entließ der Kulturminister Leitungen der öffentlich-rechtlichen Medien. Der PiS-affine Staatspräsident nannte es Anarchie und blockierte das Gesetz, das den öffentlich-rechtlichen Medien die Finanzierung garantierte. Daraufhin beschloss der Minister, das Liquidationsverfahren der staatlichen Mediengesellschaften einzuleiten. Die Maßnahmen des Ministers weckten Legalitätskontroversen seitens unabhängiger Organisationen. Nachgefragt, warum er sich nicht für einen gesetzlich weniger umstrittenen Weg entschieden hatte, erwiderte er, dass ein solches Verfahren zu lange dauern würde und das Handeln des Fernsehens unter der alten Leitung aufgehalten werden musste, womit er die Hasspropaganda der zur PiS-Röhre gewordenen öffentlichen Medien meinte. In Chefetagen anderer nationalen Institutionen sei auch „Metzgerarbeit durchzuführen“, wie es der Minister selbst bezeichnete. PiS-Köpfe fallen unter anderen in der wichtigsten polnischen Galerie Zache˛ta, wo der Leiter Janusz Janowski wegen Programmmängel, nicht erfüllter Verpflichtungen (unter anderem Verzicht auf europäische Mittel, Nichterfüllung der Berichtspflicht) abberufen wurde. Dank diesem Eingriff konnte das Ministerium unter anderem verhindern, dass ein Liebling der PiS, Ignacy Czwartos, bei der nächsten Biennale in Venedig eine

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In Chefetagen anderer nationaler Institutionen sei auch „Metzgerarbeit durchzuführen“, wie es der neue Minister selbst bezeichnete. PiS-Köpfe fallen unter anderen in der wich­ tigsten polnischen Galerie Zachęta.

Arbeit zeigt, bei der Angela Merkel und Wladimir Putin durch ein brennendes Hakenkreuz verbunden dargestellt sind. Der ehemalige Chef der Zache˛ ta sieht seine Entlassung als Angriff auf die künstlerische Freiheit, eine neue Leitung wird in einem Ausschreibungsverfahren gewählt. Auch der Leiter des Gdansker Museums des Zweiten Weltkriegs, eines der Lieblingsinstitutionen der PiS, musste gehen, weil er vor dem Minister erklärte, sich mit der Politik und den Maßnahmen des neuen Ministeriums nicht identifizieren zu können. Diese Begründung kann für ihn eine Grundlage sein, vor das Arbeitsgericht zu gehen. Der Minister geht jedoch lieber das Risiko ein, Entschädigung und Prozesskosten zu bezahlen, als eine inkompetente Person öffentliches Geld in großem Umfang verwalten zu lassen. Wo sich jedoch diese Gefahren vermeiden lassen, werden gesetzlich unantastbare Wege gegangen, zum Beispiel wo eine von PiS lange angewandte Strategie der Entstehung zweier ähnlicher Institutionen und deren Nutzung zum Wechsel der Leitung und Umstrukturierung durchgesetzt wurde. Dass das vorige Kulturministerium so viele neue Institutionen mit den gleichen Zielsetzungen wie ihre schon bestehenden Zwillingseinrichtungen gegründet hatte, macht die Aufgabe leichter. So wird in naher Zukunft das Adam-Mickiewicz-Institut, das vor der PiS-Ära die polnische Kultur im Ausland sehr erfolgreich förderte, mit dem Büro Niepodległa (für Erinnerungspolitik) verbunden. Oder das Buchinstitut mit dem Literaturinstitut, die ja schon vom Namen her eine absurde Verdoppelung anmuten lassen. Das letztere wurde 2019 gegründet. Das erstere hatte einen PiS-nominierten Leiter bekommen, der nicht nur finanziell verdächtige Entscheidungen traf, sondern auch rechtsorientierte Publizisten stark förderte und die legendäre seit den Fünfzigerjahren erscheinende Theaterzeitschrift Dialog, die neben essayistischen und theaterwissenschaftlichen Texten auch Theaterstücke aus In- und Ausland abdruckt, durch die Berufung eines inkompetenten Chefredakteurs fast ruiniert hätte. Die Redaktion hat im Akt eines zivilen Ungehorsams die Arbeit unter dem neuen Chef eingestellt und eine alternative Zeitschrift mit Unterstützung aus der Stadt Warschau veröffentlicht (die erste Ausgabe war der Demontage der Kultureinrichtungen durch PiS gewidmet und stellt heute eine Art Resümee ihrer „Kulturtätigkeit“ dar). Nun kommt die Zeitschrift unter Leitung eines von der Redaktion gewählten Mitarbeiters Piotr Olkusz zurück. Um die Wiedereinstellung der entlassenen Mitarbeiterinnen wird noch gekämpft. Endlich kann auch Krzysztof Głuchowski – der Intendant des Krakauer Słowacki-Theaters – aufatmen. Er wurde nun vom

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Report Polen Vorwurf der Verletzung der Finanzdisziplin freigesprochen, der für die lokalen PiS-Behörden einen Weg eröffnen sollte, ihn als Intendant loszuwerden, da unter seiner Theaterleitung die regierungs- und kirchenkritische Inszenierung von Adam Mickiewicz’ Nationaldrama „Totenfeier“ in der Regie von Maja Kleczewska entstanden ist. Das ganze Ensemble war für seinen Intendanten eingetreten. Solidarisch zeigten sich auch Intendant:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Im Laufe dieses Rachezugs an Głuchowski wurde dem Theater auch die vorher versprochene Finanzierung weggenommen. Über siebenhundert Tage dauerte das nun beendete Verfahren gegen ihn.

Rasanter Wandel Die ökonomische Zensur war in diesen acht Jahren ein wichtiger Bestandteil des Kontrollsystems. Wie im Falle der ministeriellen Projektzuschüsse, die alljährig vergeben werden. Die Liste der gewährten Finanzierungen stellt dieses Jahr ein völlig anderes Bild dar. Ein Beispiel: Einen Zuschuss bekommt das Festival Malta, das 2018 gegen das Ministerium gerichtlich vorgehen musste, nachdem dieses die schon gewährten Gelder nicht hatte auszahlen wollen, als der Name von Oliver Frljić – für die Rechtskonser­ vativen ein rotes Tuch – unter den Kurator:innen erschien. Ein

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a­ nderes Beispiel: Das Teatr Klasyki geht leer aus. Ein weiteres 2020 als Stiftung gegründetes PiS-Gebilde und Theater ohne Spielstätte (also auch ohne die mit der Nutzung eines Gebäudes verbundenen Kosten), dafür aber mit einem ministeriellen Jahreshaushalt von zehn Millionen Zloty und einer Mission, systematisch Nationalspielpläne anzubieten, Polentum zu fördern und klassische Texte auf traditionelle Art und Weise aufzuführen. Viele von der Zentrale abhängige Korrekturmaßnahmen verwirklichen sich schneller als erwartet. Es gibt jedoch Bereiche, in denen sie sofort ins Stocken geraten. Die Koalition erlebt gerade eine Spaltung im Thema Schwangerschaftsabbruch und die erste große Imagekrise. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Frauen als Wählerinnen das Ergebnis der letzten Wahlen gesichert haben. Und im April finden regionale Wahlen statt, die sich auf viele Theaterhäuser und Kultureinrichtungen sehr viel direkter auswirken. T

FIDENA 7. – 12. MAI 2024 BOCHUM, DORTMUND, HERNE, RECKLINGHAUSEN

www.fidena.de


Report Hamburg

„With or without you“ von Fia Neises im Rahmen des Festivals Fokus Tanz #10 Sorry Not Sorry – Blickpunkt Inklusion

Die Stress-Knoten auflösen Foto Xenia Dürr

Performing Arts neu denken: Fokus Tanz #10 Sorry not Sorry auf Kampnagel Von Heneliis Notton

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Report Kampnagel Eine kraftvolle Neuinterpretation dessen, wie wir Darstellende Kunst produzieren, konsumieren und betrachten.

Ko-kuratiert von Dan Daw Creative Projects (DDCP), stellte der Fokus Tanz #10 Sorry not Sorry auf Kampnagel ableistische Normen infrage. DDCP, eine von Menschen mit Behinderungen geleitete Kompanie, gelang es, ein zweiwöchiges Festival ins Leben zu rufen, das Tanz durch eine queer-crip-Linse betrachtete (siehe auch TdZ 1/24) und Raum für verschiedene Arten der Bewegung, der Selbstdefinition und des Seins schuf. Der Fokus Tanz ermöglichte Menschen mit Behinderungen einen Zugang zur Darstellenden Kunst, sowohl in der Position als Künstler:in als auch als Zuschauer:in. Das Festival hat mich veranlasst, meine Vorstellungen von Performance zu hinterfragen und auch meine Art, selbst in dieser Szene zu arbeiten. Inwiefern kann ein von Menschen mit Behinderungen geleitetes Festival dazu beitragen, strukturelle Veränderungen zu erzielen, anstatt sich nur auf formale Repräsentation und kulturpolitische Aspekte zu konzentrieren? Kampnagels Geste, Ko-Kurator:innen von außerhalb der Institution einzuladen, eröffnet eine gelungene Alternative zu der Auffassung, dass einzelne Kurator:innen in jeder Hinsicht Expert:innen sein müssen. Zur omnipotenten Expert:in: Für mich als Autorin verkörpert das Format der Rezension eine kapitalistische Denkweise, die den Fokus auf das Endprodukt legt und darauf, ob die Arbeit „ihr Geld wert“ ist, wodurch der Entstehungsprozess in den Hintergrund rückt. Anstatt hier ein Feedback-Sandwich aus positiven und kritischen Anmerkungen aufzutischen, werde ich daher eher offene Gedanken als fertige Antworten formulieren. Als nichtbehinderter Mensch laufe ich tendenziell Gefahr, in eine bevormundende Empathie zu verfallen, und ich möchte mit meinem Text keinen autoritären Raum beanspruchen. So gilt es zu erwähnen, dass meine Gedanken aus den Arbeiten entstanden sind, die das Festival präsentierte, und dieser Text durch Gespräche mit meiner Festivalbegleiterin Silja Gruner inspiriert wurde.

Vielleicht beginnt die Aufführung für Sie schon zu Hause, wenn Sie die sorgfältig aufgelisteten Informationen zur Barrierefreiheit durchlesen und sich über Content Notes, Sitzmöglichkeiten, einen persönlichen Abholservice durch das Festivalteam und so weiter informieren. Oder vielleicht beginnt Ihre Erfahrung mit dem Zugang vor der Vorstellung (pre-show access), einem Format, das sich die DDCP überlegt hat. Vor der Show bemerken Sie vielleicht Mitarbeiter:innen des Festivalteams, die bereit sind, Ihnen alle Informationen zur Barrierefreiheit zu geben oder Ihnen vor Beginn der Vorstellung in den Raum zu helfen, damit Sie sich an die Umgebung gewöhnen oder einen Sitzplatz aussuchen können.

Crip-time-Erfahrung Performance ist ein machtvolles Format, denn sie schafft sowohl gemeinsamen Raum als auch gemeinsame Zeit, sie erfindet ihre eigenen Regeln und erlaubt, diese kollektiv umzusetzen. Festivals laufen meist nach einem genauen Zeitplan ab – sorgfältig geplante Auftrittszeiten, Entfernungen zwischen den Veranstaltungsorten, 15 Minuten für das Künstler:innengespräch nach der Show und so weiter. Wenn man den Begriff der crip time ins Spiel bringt und berücksichtigt, wie viel Zeit unterschiedliche Personen brauchen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, wie viel Kontrolle Einzelne über ihre Planung haben, ob es Zeit für emotionale oder körperliche Erholung gibt ... – ist dann eine Performance, die zwei oder 15 Minuten nach der angekündigten Zeit beginnt, zwangsläufig verspätet oder einfach in ihrer eigenen Zeit? Was wäre, wenn es mehr Produktionen mit einem weniger festen Zeitplan, einer weniger festen Form und einem weniger festen Ort gäbe? In gewisser Weise fing die Pop-up-Performance „Dancing Queer“ von Shrouk El-Attar einen Zwischenraum ein, das Foyer. Von einem solchen Standpunkt aus könnten wir uns nicht nur auf die Punkte A und B konzentrieren, sondern ebenso neugierig auf die Reise von einem Ort zum anderen sein. Das könnte auch beeinflussen, wie wir Dramaturgie betrachten – was finden wir unterhaltsam, was fesselt unsere Aufmerksamkeit? Verblüfft über die vielfältigen Einflüsse und mit einem Gefühl von „Ich weiß wirklich nicht, wohin das führt“, sah und fühlte ich

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Ryoji Ikeda & Les Percussions de Strasbourg

Highlights Dezember

Highlights April

Udo Zimmermann zum 80. 13.04.

100 Cymbals 07.04.

10. Lange Nacht der Dresdner Theater

Chaya Czernowin, IRCAM & Les Percussions de Strasbourg

Gob Squad

POETICA 12.04.

20.04.

Western Society 26. & 27.04.


Report Kampnagel „Butching Cowboys“ von Anajara Amarante, und lauschte später dem Gespräch mit der Künstlerin. Ich fragte mich: Wie kann Dramaturgie Momente der emotionalen Ruhe in einer Aufführung ermöglichen? Bei einer relaxed performance können sich die Zuschauer:innen frei bewegen, Geräusche machen und den Raum verlassen. Es gibt in der Regel genügend Licht und alternative Sitzmöglichkeiten wie Sitzsäcke, und keine lauten Geräusche. Dieses Format kam in mehreren Performances des Fokus zum Einsatz. „With Or Without You“ von Fia Neises, eine ebensolche relaxed per­ formance, hieß wirklich alle Gefühle des Publikums willkommen und ließ Trauer und Freude aufeinander treffen. Die Performance stellte auf eine poetische Art und Weise die Idee eines autarken Individuums unter neoliberalen Bedingungen infrage, unter denen jede Frage nach Fürsorge ein verletzliches Unterfangen ist. Sie zeigte, wie Verbundenheit eine Alternative zum Individualismus sein kann. Sie zeigte, wie künstlerische Zusammenarbeit mehr mit Beziehung als mit Wettbewerb zu tun haben kann – sowohl im Prozess als auch in der schlussendlichen Aufführung. In Zusammenarbeit mit einer anderen Person und seidenen Stoffbahnen können neue Arten der Beziehung zum Raum erkundet werden. Barrierefreiheit adressiert weniger die Fähigkeiten einzelner Körper als vielmehr die Räume, die für einige Körper und Köpfe schlichtweg unzugänglich sind.

Foto rechts oben und unten Maya Wallraff, mitte Diego Maeso

Bilanz der Erwartungen In der Vielfalt der Bewegungen, Reaktionen und der geschärften Sinne wird das Publikum zu einem kollektiven Körper, der sich nur in einem sicheren und einladenden Raum bilden kann, wo Aufführungen auf unterschiedliche Weise erlebt werden. Was, wenn Tanz ein gemeinsamer Prozess wäre, bei dem die Verknotungen von Stress und Angst gemeinsam als Choreografie entwirrt werden, die sich anpassen lässt und offen für Lernvorgänge und Veränderungen ist? Das Festival organisierte nicht nur ein zugängliches Programm und präsentierte eine große Vielfalt an zeitgenössischer Darstellender Kunst, sondern war auch eine kraftvolle Neuinterpretation dessen, wie wir Darstellende Kunst produzieren, konsumieren und betrachten. Darf sich ein:e Künstler:in unwohl fühlen und eine Vorstellung absagen? Wie können wir die reproduktive Arbeit anerkennen, die mit der Organisation eines Festivals verbunden ist, und wer ist dafür zuständig? Welche Fürsorge erwarten wir von Kurator:innen? Wer profitiert von den Maßstäben des gesunden Menschenverstandes? Wer wird durch sie ausgeschlossen? Was können wir anbieten, bevor wir gefragt werden oder bevor wir fragen müssen? T Aus dem Englischen von Laro Bogan Szenen aus dem Festival Fokus Tanz #10 Sorry not sorry in Kampnagel: oben und unten„Butching Cowboys“ von Anajara Amarante, mitte „Dancing Queer“ von Shrouk El-Attar

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Report Erfurt

Zwischen Reform und Skandal Erfurt, die einzige Landeshauptstadt ohne Schauspiel, ringt mit ganzen Problembündeln Von Michael Helbing

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Theaterdeutschland schaut seit zwei Jahren verstärkt auf Erfurt: erst interessiert, gespannt, beinahe begeistert, inzwischen zunehmend entgeistert. Hier hatten sie in aller Öffentlichkeit begonnen, was ­Offizielle der Stadt den Theatertransformationsprozess nennen. Der wurde langfristig an- und breit ausgelegt. „Das, was Sie hier machen, ist einmalig“, versuchte mehr als einmal Kulturberater Marc Grandmontagne aus Wien, die Motivation hoch, die Erwartungen daran aber zugleich realistisch zu halten. Er sprach vom Experiment, „dass wir in einem Beteiligungsprozess mit der Zivilgesellschaft, der Kultur und der Politik versuchen, ein Stadttheater umzubauen und dieses Haus zu neuer Relevanz in der Stadtgesellschaft zu führen“. Das Risiko, jederzeit damit zu scheitern, wurde eingepreist. Grandmontagne betreute, beriet und moderierte ein Jahr lang diesen Prozess im Auftrag der Stadt, zusammen mit dem Dramaturgieprofessor Hanns-Dietrich Schmidt aus Essen. So umfassend der von ihnen avisierte „Kulturwandel“ sein mag, so zentral erscheinen zwei damit verbundene konkrete Ziele. Da wäre zum einen eine in dieser Form beispiellose kollektive Leitung eines Hauses mit einem Etat von aktuell fünfundzwanzig Millionen Euro und dreihundertvierzig Mitarbeitern. Zum anderen aber ist, ohne zusätzliche Förderung, mehr von der Neu- als einer Wiedereinrichtung einer Sparte die Rede: Seit 2003 ist Erfurt die einzige deutsche Landeshauptstadt ohne Schauspiel, das in Erwartung einer Fusion mit dem Nationaltheater Weimar geschlossen gewor-

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Foto Theater Erfurt

Hausansicht vom Theater Erfurt


Report Erfurt den war, welches dagegen unerwartet erfolgreichen Widerstand leistete. Eine solche Wunde zu tilgen, würde den Bruch mit einer aus Erfahrungswissen entstandenen Theaterregel bedeuten, wonach niemals wiederkommt, was einmal verschwunden ist. Die Zeit der Konjunktive sollte jetzt eigentlich vorbei sein. Liefe alles nach Plan, hätte Erfurts Stadtrat die Satzung seines Eigenbetriebes Theater bereits entsprechend angepasst und man könnte sich derzeit um dessen Leitung ab 2027 bewerben. Es kam anders. Stieß einst eine Debatte um die vierte Vertragsverlängerung für Generalintendant Guy Montavon den Transformationsprozess überhaupt erst an, so torpediert nun dessen vorzeitiger, höchst unfreiwilliger De-facto-Abgang das Verfahren. Auf allgemeine Kritik am deutschen Stadttheatersystem und dem ihm innewohnenden Intendantenmodell hob die Beteiligungsphase mit vier öffentlichen Diskussionsrunden und vielen internen Einzelgesprächen ohnehin ab. Im Abschlussbericht von Grandmontagne und Schmidt hieß es dann: „Neue Dynamik für die Kritik am Theater entfachten Skandale wegen schlechter Führung, Machtmissbrauch (beispielsweise durch #MeToo) und wenig zeitgemäß wirkende Arbeits-, Vergütungs- und Strukturbedingungen.“ Erst wenige Monate später wurde offenbar, wie sehr dergleichen Erfurt selbst betraf. Die städtische Gleichstellungsbeauftragte machte via Lokalzeitung öffentlich, dass sich über Jahre hinweg eine ganze Reihe von Vorwürfen des Machtmissbrauchs und sexueller Belästigung im Theater angesammelt hatte. Über die Art und Weise, wie sie das tat, müssen nun Arbeitsrichter urteilen, nachdem sie deshalb umgehend gekündigt wurde. Einige der mitunter auch schon verjährten Fälle sollen den Intendanten selbst betreffen, alle jedenfalls aber die Verletzung seiner Fürsorgepflicht. Nichts Genaues weiß man nicht, Betroffene schweigen. Ein allenfalls nur in Teilen erklärbares Defizit von drei Millionen Euro und ein insgesamt undurchsichtiger Umgang mit Finanzen sind derweil hinzugetreten. Externe Wirtschaftsprüfer sollen nun Licht ins Dunkel eines Gebarens bringen, das Montavon ersten Prüfungen zufolge vor allem selbst an den Tag gelegt haben muss. Seine Verwaltungschefin, gleichwohl im Januar ebenso freigestellt wie Montavon, hätte demnach nur ausgeführt, was der Intendant wollte. Montavon, polyglotter Opernregisseur aus Genf und eine nahezu barocke Erscheinung, ist (oder war) als Intendant der Typ Fürst. Die ganz alte Schule also. Gegen längst geäußerte interne und externe Bedenken wusste Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) aber jene Vertragsverlängerung durchzusetzen, die auf eine am Ende ein Vierteljahrhundert währende Ära hinauslief. Die schriftlich fixierte Perspektive, gleichzeitig eine Reform für die Zeit danach anzupacken, bei der die Stadtgesellschaft mehr als ein Wörtchen mitzureden hat, diente dabei als Kompromisslinie. Derzeit macht die Politik macht allerdings die Causa Montavon zur Causa Bausewein, denn Ende Mai sind Kommunalwahlen in Thüringen. So wird alles sehr viel komplizierter. Der parteilose Kulturdezernent Tobias J. Knoblich fühlt sich derweil in seiner Marschrichtung bestätigt: „Es müsste jetzt doch auch dem letzten klargeworden sein, dass so ein auf eine Person fokussiertes Intendantenmodell nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass unsere Transformationsarbeit in die richtige Richtung

ging.“ Er schlägt eine sechsköpfige Kollektivleitung vor, mit einer Geschäftsführung aus dem Bereich Kulturmanagement als primus inter pares sowie den Chefs von Verwaltung, Technik und den neu zu sortierenden Sparten Musiktheater, Schauspiel und Kulturelle Bildung/Theaterpädagogik (eine GMD-Position etwa bleibt bislang unberücksichtigt.) Stadträte, die weiterhin an die Intendantenhierarchie glauben, spotten über einen „Elferrat“. Es braucht noch Überzeugungsarbeit. Unter anderem Ludger Engels von der Akademie der Darstellenden Kunst Baden-Württemberg ist eingeladen, sie demnächst zu leisten. Das Schauspiel mit acht Darstellern und vierzehn Stellen insgesamt soll knapp zwei Millionen Euro kosten: demnach zu ­finanzieren durch Umverteilung der Mittel im Haus. Unter anderem müsse das Musiktheater als einer von vielen Bausteinen Anzahl und Aufwand seiner Produktionen reduzieren, liest man. Auch damit müssen sich entgegen allen Zeitplänen der künftige Stadtrat und unter Umständen auch ein neuer OB befassen, bevor Nägel mit Köpfen daraus werden. Zudem scheiterte ein zwischen Montavon und der Stadt ausgehandelter Aufhebungsvertrag im noch amtierenden Stadtrat: nicht nur, aber auch am Wahlkampf. Damit bleibt Montavon vorerst bis Sommer 2027 zumindest formal Intendant; Anwälte sollen einen neuen Anlauf zur gütlich geeinigten Aufhebung versuchen. Bis Ende des Jahres könnte es dauern, bevor alle Beteiligten Gewissheit darüber ­haben, wie es weitergeht. T

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23 - 25. Juni 2024 Theater der Zeit 4 / 2024

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22.02.2024 12:26:40


Magazin Bücher

Das Reform-Genie Stephen Hintons monumentale Studie erfasst Kurt Weills Musiktheater Von Thomas Irmer

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Von Kurt Weill sind schöne Bonmots überliefert wie das, mit dem er die für ihn unbrauchbare Unterscheidung zwischen Kunst und Unterhaltung zurückwies: „Es gibt nur gute und schlechte Musik“, so der vor allem als musikalischer Partner Brechts weltweit bekannte Komponist in einem Interview 1940. Es gibt noch eine andere, in der Weill-Forschung wie auch in der Theaterpraxis belegte Dichotomie, dass es nämlich einen deutschen und einen amerikanischen Weill gebe, dessen Werk, insbesondere das für Theater und Musiktheater, in diese beiden Kulturen zerfalle und dementsprechend bewertet werden müsse. Damit möchte der Germanist und Musikwissenschaftler Stephen Hinton in seinem Buch, das auf eine beinahe lebenslange Beschäftigung mit Weills Werk zurückgreifen kann, ein für alle Mal Schluss machen. Es gibt keinen irgendwie aufteilbaren Weill, sondern nur einen für das Theater schaffenden Komponisten, der sich im Laufe seines doch kurzen Lebens (1900 geboren in Dessau, gestorben 1950 in New York) in den verschiedensten Genres von Musiktheater um Neuerungen bemühte und dies mit eigenen Werken vielseitig bekräftigte. Hintons zentraler Begriff ist „Reform“, den man nicht nur im landläufigen Sinne als Reformieren von etwas Überkommenem verstehen sollte, sondern der sich im Englischen auch als Um- oder Neuformen verstehen lässt. Daher ist das Buch auch nicht biografisch aufgebaut – ein umfangreiches Anfangskapitel setzt sich gründlich mit den einschlägigen Weill-Biografien auseinander –, sondern nach Werktypen gegliedert. Einaktopern, Songspiel, Stücke mit Musik, Epische Oper, Lehrstücke werden bis zu den Darstellungen von Musical Plays, Filmmusik und American Opera vorgestellt und Weills „Reformierung“ jeweils untersucht. Der Grundstrom, mit dem Weill die Gegenwart „musikalisieren“ will, tritt deutlich hervor. Hinton gelingt dabei eine Werkgeschichte – die sich so übrigens auch als Handbuch benutzen lässt –, die nicht den Mustern eines jeweils kulturellen Kontexts folgt, sondern die Werke für das erneuerte Genre diskutiert. Ein Weill, der mit Brechts „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ hervortrat, in Amerika aber ein Diener der Kulturindustrie geworden sei, wie Adorno über den trotzdem treffend als „Musikregisseur“ genannten Komponisten befand, das scheint Hinton mit seiner Zitierweise des Philosophen vornehm zu belächeln. Weill arbeitete in den

USA mit den besten Theaterautoren für seine Musiktheaterstücke zusammen: Maxwell Anderson, Elmer Rice, Langston Hughes. Wie zuvor Brecht waren diese literarischen Arbeitspartner höchstes Niveau und nicht Kulturindustrie-Format. Das alles behält Hinton bei seinen Werkanalysen stets im Blick, elegant formuliert und mit Quellen belegt. Ferruccio Busoni warnte seinem Schüler Kurt Weill, „die Furcht davor, trivial zu sein, ist für den modernen Künstler das größte Handicap“. Diese KrampfaktWarnung hat auch der ­Musikwissenschaftler beherzigt, der sich nicht im allzu Spezialistischen verzettelt, Hintons Studie ist im Ton nie schwer akademisch. Das Buch erschien 2012 in der University of California Press und wurde nun von Veit Friemert ausgezeichnet ins Deutsche gebracht. Zu ergänzen ist nur, dass aus den 1949 entstandenen Liedern zu Tom Sawyer und Huckleberry Finn inzwischen das ­Musical für Kinder „Tom Sawyer“ mit einem Libretto John von Düffels entstand, das 2014 am Deutschen Theater Göttingen uraufgeführt wurde und mittlerweile, von der Kurt Weill Foundation anerkannt, zu Weills Musiktheaterwerk gehört. Die 2023 an der Komischen Oper Berlin entstandene Inszenierung von „Tom Sawyer“ wurde gerade von der Oper Graz übernommen und ist dort im Mai und Juni zu erleben. T Stephen Hinton: Kurt Weills Musiktheater. Vom Songspiel zur American Opera, Suhrkamp Verlag Berlin 2024, 830 S., € 58

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Theater der Zeit 4 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 4 / 2024 Anna Bertram, Journalistin, Zürich Wolfgang Engler, Soziologe, Berlin Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Theaterkritiker, München Olaf Nicolai, Bildender Künstler, Berlin/München Heneliis Notton, Autorin, Tallinn Iwona Nowacka, Übersetzerin und Dramaturgin, Szczecin Aenne Quiñones, Stellv. Künstlerische Leitung HAU, Berlin Max Radestock, Regisseur, Berlin Marie Schleef, Regisseurin, Berlin Ceren Yildirim, Studentin Angewandte Theaterwisssenschaft, Frankfurt am Main

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 4, März 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 04.03.2024

Foto picture alliance / Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild/dpa | Ralf Hirschberger

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit tdz.de

Vorschau Arbeitsbuch Vorschau 5/ 2024 Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Mai 2024 Stückabdruck: Viktor Jerofejew, aus Russland nach Deutschland emigrierter Schriftsteller, hat nach seinem Roman „Der große Gop­ nik“ ein Stück gleichen Titels für das Theater Freiburg geschrieben, Uraufführung 13. April. Gopniks sind in Russland Hinterhof-Rowdys in Bandenstrukturen – wer der größte von ihnen ist, kann man sich leicht denken.

Theater der Zeit 4 / 2024

Kunstinsert: Markus Selg ist vor allem für seine künstlerischen Kollaborationen mit Susanne Kennedy im Theater bekannt. Doch das ist längst nicht alles – Thomas Oberender stellt ihn noch einmal anders vor.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Elisabeth Maier

Peter M. Boenisch ist seit 2019 Pro­ fessor für Dramaturgie an der Universität ­Aarhus in Dänemark. Von 2001 bis 2003 beriet er Sigrid Gareis beim Aufbau des Theoriezentrums im Tanzquartier Wien. Von 2004 bis 2018 forschte und lehrte er an der University of Kent in Canterbury, dann als Professor an der Royal Central School of Speech and Drama an der University of London. In Kent gründete er 2007 mit Patrice Pavis und Paul Allain das informelle Theaterforschungs-Netzwerk European Theatre Research Network (ETRN), um den Austausch von englischer und kontinentaleuropäischer Theatertheorie und -praxis zu fördern.

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Die EASTAP, European Association for The Study of Theatre And Performance, deren Präsident Sie nun sind, geht es unter anderem darum, die Theaterwissenschaft in Europa sichtbarer zu machen. Wo liegen denn da aus Ihrer Sicht die Defizite? PMB: Der Verband wurde 2017 von Theaterwissenschaftler:innen gegründet, die unzufrieden waren mit der traditionellen Arbeitsteilung: Die Wissenschaft denkt, die Künstler:innen machen. Den Anstoß gaben Kolleg:innen, die direkt mit Künstler:innen zusammenarbeiten. Die niederländische Thea­ terwissenschaftlerin Maaike Bleeker beschreibt Dramaturgie in diesem Sinn als „thinking-doing“, in einem Wort. Künstler:innen wie Milo Rau, Gianina Carbunariu ˘ und Tiago Rodrigues haben seit der Gründung EASTAP mit vorangebracht. Werden in diesem Kontext auch die wissenschaftlichen Diskurse hinterfragt? PMB: Die Diskurse werden von den großen Ländern gesetzt – wenn man zum Beispiel an Erika Fischer-Lichtes „Performativität“ denkt oder an Hans-Thies Lehmanns „Postdramatisches Theater“. Es gibt aber auch viele weniger prominente Zugänge, die kaum in andere Sprachen übersetzt sind, aber auf wichtige Weise andere Kontexte und Situationen reflektieren, gerade dort, wo Theater nicht allein in urbanen Metropolen entsteht. Da gilt es neue Perspektiven anzustoßen. Sie selbst haben Ihre wissenschaftliche Arbeit als Professor für Dramaturgie ja zunächst in England, jetzt in Aarhus fortgesetzt. Was war der Grund? PMB: Mich hat in Aarhus die Kombination aus dem deutschen und dem englischen System sehr angezogen, die ein wenig vergleichbar mit der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen ist. 1959 hat hier der dänische Dramatiker Christian Ludvigsen das Institut mitgegründet und bald darauf Eugenio Barba ins benachbarte Holstebro geholt. Sein Ansatz war vom Geist des „denkenden Handelns“ geprägt. Dramaturgie bezieht sich bei uns gar nicht ausschließlich auf Theater, sondern auf das ganze Leben: auf Wissen über Kommunikation, die Vermittlung von Werten und das Austragen von Konflikten. Früher habe ich diesen Praxisbezug auch in England gefunden, als ich

2003 nach Canterbury berufen wurde – lange vor dem Brexit –, um dort einen Dialog mit dem kontinental-europäischen Theater herzustellen. Regie kristallisierte sich dann als einer der Schwerpunkte heraus. In England kamen Sie auch mit dem deutschen Regiestar Thomas Ostermeier zusammen. Wie sah diese Kooperation aus? PMB: In London habe ich Gastspiele Ostermeiers erlebt und einige Publikumsgespräche und Workshops mit ihm moderiert. Daraus ergab sich die Idee, seine Regiearbeit wissenschaftlich zu begleiten, was in einem von uns gemeinsam geschriebenen Buch mündete. Dafür habe ich dort Fördermittel bekommen, was in der deutschen Wissenschaftsförderung zumindest damals nicht vorstellbar war. Es ist keine klassische Forschung über Ostermeiers Werk entstanden, sondern es ging um Fragen wie: Was ist Regie heute? Wie spielt man Figuren heute? Wieso arbeitet man im Theater in der Zeit der Neurowissenschaft noch immer mit einem Stanislawski-System, das im Grunde ja vorpsychologisch ist? Das sind Beispiele für Fragen, über die Wissenschaft und Kunst in einen Dialog kommen. So ist auch der Austausch motiviert, wie ihn Künstler:innen und Wissenschaftler:innen bei EASTAP pflegen. In Zeiten von Kriegen und Krisen steht Ihr europäischer Verband vor neuen Herausforderungen. Wie wirkt sich das auf das internationale Netzwerk aus? PMB: Die Theaterwissenschaft ist von der grundsätzlichen Infragestellung der europäischen Aufklärungsinstitutionen und der Demokratie an sich betroffen. Man merkt zum Beispiel im Dialog mit osteuropäischen Kolleg:innen, dass sie gar keine Konferenz mit einem Vorlauf von zwei bis drei Jahren ausrichten können, weil sie nicht wissen, wie dann die Lage an den Universitäten ist. Die Krise ist eine Herausforderung für unseren Verband. Wir brauchen Formate, die spontaner und kleiner sind. Es geht immer stärker darum, zu vernetzen und Lobbyarbeit für Theater an sich zu leisten. Mein Ziel ist, dass wir künftig in jedem Land eine:n EASTAPBotschafter:in haben, um besser auf lokale Entwicklungen eingehen zu können. Denn die eine europäische Theaterwissenschaft gibt es nicht. T

Theater der Zeit 4 / 2024

Foto Aarhus Universitet

Was macht das Theater, Peter M. Boenisch?


Seit 10 Jahren – Deutschlands einzige Theaterbuchhandlung

Foto: Holger Herschel

Wir sind

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DER GROSSE GOPNIK

Viktor Jerofejew

Uraufführung: 13.04.2024 Regie: Eike Weinreich

Karten unter 0761 201 28 53 theater.freiburg.de

„[Jerofejews] diagnostisches Spiegelbild seiner Heimat und deren Machthaber ist der Roman der schicksalhaften Stunde.“ Kerstin Holm, Frankfurter Allgemeine Zeitung


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