Kathrin Röggla: Uraufführungen, Laudatio, Stückabdruck „Das Wasser“ / Sächsisches Theatertreffen Kunstinsert: Theaterneubau in Rostock / Porträt André Kaczmarczyk / Nachruf Hans Neuenfels
EUR 9,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de
Was soll das Theater jetzt tun? Eine Umfrage
Mai 2022 • Heft Nr. 5
7. – 26.5.22 stuecke.de Jeeps
Als die Welt rückwärts gehen lernte
Nora Abdel-Maksoud • Münchner Kammerspiele
Lena Gorelik • Monster Girls / PATHOS München
Sa. 7.5.
Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin) Sivan Ben Yishai • Nationaltheater Mannheim Do. 12.5. + Fr. 13.5.
Caren Jeß, Anne Lepper, Mehdi Moradpour, Nele Stuhler präsentieren den Stand ihrer Arbeit • Residenztheater München, Schauspiel Stuttgart, Schauspielhaus Wien
Sa. 14.5.
8+
8+
Mi. 25.5. 8+
Di. 17.5. + Mi. 18.5.
Zeugs
Raoul Biltgen • Plaisiranstalt / STEUDLTENN
So. 22.5.
Akın Emanuel Şipal • Theater Bremen
Di. 17.5.
Milan Gather • Junges Ensemble Stuttgart
Elfriede Jelinek • Deutsches SchauSpielHaus Hamburg
Mutter Vater Land
Felix Ensslin mit Galia De Backer und Ninon Perez • AGORA, Sankt Vith
Oma Monika – was war?
Sa. 21.5.
Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!
So. 15.5. + Mo. 16.5.
Die seltsame und unglaubliche Geschichte des Telemachos
Jurydebatte Mülheimer KinderStückePreis StückeWerkstatt
Teresa Dopler • Schauspiel Hannover Sergej Gößner • Junges Theater Konstanz
Fr. 20.5.
Fr. 20.5. ca. 13 Uhr im Livestream
Monte Rosa
Der fabelhafte Die
White Passing
Sarah Kilter • Schauspiel Leipzig Do. 26.5.
6+
Do. 19.5.
Jurydebatte Mülheimer Dramatikpreis Do. 26.5. ca. 21 Uhr im Livestream
All right. Good night.
Helgard Haug (Rimini Protokoll) • Rimini Apparat mit HAU Hebbel am Ufer / Volkstheater Wien / The Factory Manchester / Künstlerhaus Mousonturm / PACT Zollverein
stuecke.de
Do. 19.5.
Veranstaltet von
7+
Gefördert von
Festival Plus
Was soll das Theater jetzt tun?
Das vom russischen Luftangriff zerstörte Theater in Mariupol. Foto picture alliance
Theaterkünstler:innen antworten: MARTA GÓRNICKA STAS ZHIRKOV Regisseur und Intendant des Theaters am Linken Ufer in Kiew (s. Theater der Zeit 12/21 und Theater der Zeit 01/19), zurzeit in Litauen I am ok now, with my family in Lithuania! One month I was alone in Lviv and after get special permit from Minister of Culture to get out! But our flat in Kyiv destroyed … Because we lived near Kyiv, near Bucharest and Irpin … So, if you can help me to get some projects in Germany – it would be great … Thank You!
EWELINA MARCINIAK
Regisseurin, Autorin, Sängerin
Hier sind meine Worte für Sie. Und meine persönliche Reaktion auf die Situation in der Ukraine. Ich hoffe, dass wir uns bald treffen und mehr miteinander reden können. Im Moment ist mein Zuhause ein Ort für ukrainische Flüchtlinge, viele Theater und Kulturräume in Warschau wurden in Schutzräume und Orte der Intimität für Kinder, ältere Menschen und Tiere umgewandelt. Das ist eine echte Antwort auf den Schmerz. Und wir alle, die Künstler, werden gerade jetzt zu sozialen Aktivisten. IN ZEITEN DES KRIEGES brauchen wir das Theater als Schutzraum und Heimat für die Gemeinschaft. Ein Theater, das all jenen, die vor Gewalt fliehen, den Atem verschafft. Ein Theater der Intimität, das mit ANDEREN Stimmen in Resonanz gehen wird. Das in der Lage sein wird, neue Gemeinschaftsgeschichten zu erzählen, solche, die wir nicht hören und die wir uns noch nicht vorstellen können. ZU EINER ZEIT, IN DER DIE UKRAINE SCHREIT, in der der Völkermord direkt neben uns stattfindet, brauchen wir das Theater mit seiner Kraft der Transformation. Die Kraft, sich an das Ungeheuerlichste zu erinnern. Ein Theater, das geduldig zuhört. Ein Theater, das eine neue Sprache für den Krieg schafft – nicht eine verstümmelte Erzählung über ihn, nicht westzentriert. Sondern seine eigene. Ein Ein Ort, an dem eine besseTheater der neuen Formen der Solidarität. Und neuer Rituale. re Welt denkbar und möglich ist. Wir brauchen Praktiken, die der CHOR mitbringt, der lange vor der Geburt des Theaters kommt – Gemeinschaftspraktiken, Heilung. Das ist die Zukunft, die ich für das POLITICAL VOICE INSTITUTE am Maxim Gorki Theater in Berlin und meine Arbeit mit dem Theater und dem Chor am Dramatischen Theater in Warschau sehe.
Theaterregisseurin
Unser großes Privileg als Künstler:innen ist es, dass unsere Stimme gerade in diesen Zeiten von vielen Menschen gehört wird. Wir müssen über die Gewalt und über die Gräueltaten sprechen, die zurzeit in der Ukraine geschehen. Wir dürfen nicht still sein, wenn unschuldige Kinder darunter leiden. Wichtig ist, dass wir ganz klar kommunizieren, was Russland dieser Tage tut – sie denken, dass ihr Land heilig ist und die Macht verkörpert, deshalb töten sie Menschen. Unsere Verantwortung als Künstler:innen ist es, dass wir diese Verbrechen ganz klar benennen. Wir leben in Kriegszeiten. Was das PUblikum von uns erwartet, das ist schwer zu sagen. Viele wünschen sich sicherlich, dass das Kriegsthema in möglichst vielen Theaterproduktionen aufgegriffen wird. Andere würden das Thema wohl am liebsten totschweigen. Am wichtigsten ist es zu erkennen, dass sich unsere Wirklichkeit radikal verändert hat. In dieser neuen, zerrissenen Wirklichkeit bekommen viele Themen eine ganz neue Bedeutung. Dass zurzeit so viele Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland kommen, sehe ich als große Chance. Sie bringen Vielfalt an unsere Bühnen. Ziel muss sein, dass sie an internationalen Bühnen arbeiten und ihren Standpunkt einbringen dürfen.
MARGARITA ZIEDA Theaterkritikerin und Ko-Autorin von Alvis Hermanis’ „Gorbatschow“ in Moskau Ich glaube, man braucht heute mehr als je zuvor solche Theaterabende wie Robert Lepages „The Seven Streams of the River Ota“ (vor Kurzem gezeigt bei FIND an der Berliner Schaubühne), die die Menschlichkeit vermehren und die den Zuschauern Kraft geben. Man braucht heute nicht nur die Geschichten, die den Menschen gnadenlos kritisch durchleuchten, sondern viel mehr auch solche, die den Glauben an den Menschen wiederherstellen. Statt Dystopien anzuhäufen, könnte man Geschichten finden und erzählen, in denen man spürt, dass die Welt noch zu retten ist. Und jeder kann noch dazu beitragen.
OLIVER FRLJIĆ
Theaterregisseur
Das Theater sollte sich immer den Wert jedes einzelnen Menschenlebens vergewissern. Das ist die ethische und künstlerische Lektion, die ich aus dem antiken Drama „Antigone“ gelernt habe. Dieser Erkenntnis kostet dessen Protagonistin unglücklicherweise das Leben. Ich selbst kann nicht beschreiben, wie jeder Einzelne dieses Prinzip im eigenen Theaterschaffen umsetzen kann. Jedoch habe ich selbst den Krieg in Jugoslawien miterlebt. Die erste Lektion, die mich dieser Krieg gelehrt hat, ist, wie wertlos mein Leben ist. Als 16-jähriger Junge, der aus einer serbisch-kroatischen Familie kommt, hat mich jede Seite zunächst als Feind betrachtet. Jeden Tag musste ich damit rechnen, von einer serbischen Bombe oder vom kroatischen Militär getötet zu werden. Doch welchen Unterschied würde das machen? Ich bin überzeugt, dass am Ende dieses Krieges – falls er nicht zur Auslöschung der menschlichen Rasse führt – die Armen noch ärmer werden und die Maschinerie der Ausbeutung noch gnadenloser wird. Bertolt Brecht drückt das viel besser als, als ich das je könnte: „Der Krieg, der kommen wird Ist nicht der erste. Vor ihm Waren andere Kriege. Als der letzte vorüber war Gab es Sieger und Besiegte. Bei den Besiegten das niedere Volk Hungerte. Bei den Siegern Hungerte das niedere Volk auch.“ (B. B.)
THOMAS OSTERMEIER
Regisseur, künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne
Die Frage weist schon auf ein Problem hin: Wir haben es hier mit einer menschlich-politischen Katastrophe zu tun, ein Angriffskrieg von einem Kriegsverbrecher und autoritären Herrscher, mittlerweile muss man vielleicht sogar Diktator sagen. Das ist das politische Feld und wenn das Theater die Macht hätte, in dieses politische Feld, direkt einzugreifen, dann wären wir kein Theater, sondern eine Partei oder eine Regierung, eine Staatsführung, eine Armee. Diese Macht haben wir nicht. Und das heißt nicht, dass wir uns nicht mit dem Phänomen beschäftigen sollen, und da bin ich schon beim zweiten Punkt: Das Phänomen Krieg, Verbrechen, Aggression, Imperialismus, Diskriminierung, Emanzipation, Autonomie, Unterstützung von Autonomiebewegungen usw. sind Themen der Menschheitsgeschichte, die wir vom Theater seit zweieinhalbtausend Jahren kennen. Mir kommt da gleich ein Stück in den Sinn, weil ich mich frage, sollte es denn hoffentlich so schnell wie möglich ein Ende des Kriegs geben, wie schafft man es, diese unglaublichen Wunden, die dort aufgerissen wurden, die Verbrechen, die dort begangen wurden, so aufzuarbeiten, dass es wieder zu einer Verständigung zwischen diesen beiden, wie Putin selbst sagt, slawischen Brudervölkern kommt. Vielleicht bin ich da auch einen Schritt zu weit, aber da kommen mir „Die Perser“ in den Sinn, in dem jemand nach dem Krieg den Krieg beschrieben hat aus der Position von jemandem, der unterlegen ist, aber geschrieben von jemandem, der Sieger oder Gewinner des Kriegs ist. Das wäre ungefähr so, wie wenn jetzt die Ukrainer nach dem Ende des Kriegs ein Stück über die Russen schreiben würden oder eine Form von Empathie begreifen würden, und da sind wir sehr weit von entfernt. Aber das ist die Aufgabe des Theaters, diese Perspektiven einzunehmen, diese extrem widersprüchlichen und herausfordernden Perspektiven einzunehmen.
STEFFEN MENSCHING Intendant Thüringer Landestheater Rudolstadt Wir werden keinen „Kriegsspielplan“ erstellen, unser Programm ist auf Frieden, Dialog und Gemeinsinn ausgerichtet. Daran wollen und werden wir weiterarbeiten. Die zynische Behauptung, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, stimmt heute weniger denn je. Es ist ein Rückfall in die Barbarei. Und im atomaren Zeitalter ein Hasard mit dem Weltuntergang, ein globales russisches Roulette. Auch wenn es im Augenblick unpopulär scheint, die Menschheit muss zurückfinden zu Friedensverhandlungen, Entspannung und Abrüstung. Dazu gibt es keine Alternative. In Zeiten wie diesen ist die Gefahr groß, dass die Menschen an Vernunft und humaner Kondition zweifeln und in Depression und Fatalismus verfallen. Die Künste müssen dieser Stimmung, die ihre Berechtigung hat, ein kreatives Trotzdem entgegensetzen. Dass wir alles tun werden, um den Flüchtlingen aus der Ukraine zu helfen und ihren Aufenthalt bei uns zu erleichtern, ist eine Selbstverständlichkeit.
NINO HARATISCHWILI
JOHAN SIMONS Regisseur, Intendant des Schauspielhauses Bochum Die Frage, was das Publikum vom Theater in Kriegs zeiten erwartet, bereitet mir Unbehagen. Denn Kriegszeiten gab es auch vor dem furchtbaren Angriff auf die Ukraine: Syrien, Afghanistan, Irak, Kongo … Sind diese Kriege weniger wichtig, weil sie weit weg sind? Nun ist uns der Krieg erschreckend nah gekommen und trotzdem bleibt es für mich unvorstellbar, welch unsägliches Leid die Menschen erfahren. Es macht mich betroffen. Und gibt mir ein Gefühl der Hilflosigkeit. Aber dieses Gefühl darf nicht zu Resignation oder gar Ohnmacht führen. Theater muss jetzt – wie eh und je – ein Ort sein, der die Ursachen menschlicher Konflikte hinterfragt, Gedanken freisetzt und Dialoge in Gang bringt.
Regisseurin, Autorin
Tja, was sollte das Theater jetzt machen? Ich denke, das Gleiche, was wir alle Menschen, denen Freiheit und Demokratie wichtig ist, tun sollten: mit allen, uns zur Verfügung stehenden Mitteln – und ich bin mir im Klaren, dass sie sehr unterschiedlich sind – protestieren, laut werden, hinsehen, die Fassungslosigkeit kundtun über das, was diese schreckliche Diktatur tut und treibt, zu welcher Gewalt und Grausamkeit sie fähig ist, und sich mit den ukrainischen Menschen solidarisieren – sei es psychologisch, finanziell oder emotional. Das Wichtigste scheint mir, dass nicht das Gleiche geschieht, was meist geschieht, wenn wir uns an „fremde Kriege“ gewöhnen, wenn sie irgendwann nur noch bloße Nachrichten im Fernseher sind: Denn dies ist kein fremder Krieg, dies ist auch ein Krieg gegen all die Werte, die uns Menschen in Europa vereint und somit ist dies ist auch ein Krieg gegen uns. Der Westen hat lang genug ignoriert, kollaboriert und mit dem Wegsehen diesem totalitärem Regime die Illusion gegeben, dass es alles darf und alles kann, um die eigene Macht zu sichern, denn Georgien, Tschetschenien, Syrien und sogar die Krim schienen fern genug … Nun ist der Krieg in Europa angekommen und so dürften wir uns die gleichen Fehler aus der Vergangenheit nicht mehr leisten!
MARINA DAVYDOVA
Chefredakteurin der mittlerweile eingestellten Zeitschrift Teatr und Mitbegründerin des internationalen Theaterfestivals NET (Neues Europäisches Theater) in Moskau
Russland und das russische Theater insbesondere werden nun von der schärfsten Militärzensur kontrolliert: Jedes wahre Wort kann die berufliche Existenz gefährden. Und immer öfter hört man die Äußerung, dass man in dieser gefährlichen Situation das Recht hat zu schweigen. Ich denke da anders. Theater- und Kulturleute, die per se einer humanitären Sphäre zugehören, haben mit der Wahl ihres Berufs ein gewisses Maß von Verantwortung und Risiko auf sich genommen. Auf die Frage, ob jemand voller Angst vor einem Feuer davonläuft, anstatt es zu löschen, sage ich, das kann passieren. Aber wenn es darum geht, dass ein Feuerwehrmann davonläuft, sage ich, das darf nicht passieren. Anders als Bauarbeiter, Piloten, Flugbegleiter oder Kassiererinnen arbeiten Kulturschaffende mit Bedeutungen und Ideen. Das ist ihr Privileg und zugleich ihre Pflicht. Sie haben kein Recht, einfach weiter Theaterkritiken zu schreiben oder Inszenierungen aufzuführen, ohne ihre Haltung zu dem Krieg zum Ausdruck zu bringen, den ihr Land losgetreten hat. Alle anderen Bedeutungen, an denen sie arbeiten, sind in dieser Situation des Schweigens bedeutungslos. Das Theater sollte (auch nicht in Kriegszeiten) zu einem Massenmedium gemacht werden. Es ist nicht dafür da, Nachrichten zu übertragen. Das Theater kann und soll tun, was es immer schon gemacht hat – das Leben in seinen sozialen, existenziellen und ontologischen Aspekten zu erforschen. Aber die Leute, die das Theater und die Kultur erschaffen, sollten sich in der Öffentlichkeit positionieren. Ich bin mir sicher, wenn Dutzende, Hunderte, ja sogar Tausende Vertreter der russischen Kultur sich öffentlich positionieren würden, kann das die Lage in Russland entscheidend verändern. Es macht mich traurig, dass die überwältigende Mehrheit der russischen Kulturschaffenden sich immer noch für die Schande des Schweigens entscheidet.
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stück
/ TdZ Mai 2022 /
ROBERTO CIULLI
an der Ruhr
MARINA ABRAMOVIĆ
Performance-Künstlerin
Wissen Sie, erst einmal ist die Aufgabe eines:r Künstlers:in, die Wahrheit zu sagen. Die Aufgabe eines Künstlers ist, verantwortungsbewusst zu sein und mit seinen Mittel zu agieren. Jede:r muss einen eigenen Weg finden und mein Weg ist Performance. Ich mache eine Spendenaktion für die Ukraine am 16. April, mit einer Arbeit, die ich wiederhole – „The Artist is Present“ im Sitzen – und die Menschen können dafür spenden. Wir haben jetzt schon 150 000 Dollar gesammelt, die direkt in die Ukraine fließen für Medikamente etc. Und das ist das, was ich machen kann. Ein Schriftsteller muss seine Arbeit machen, ein Theaterintendant muss seine Arbeit machen, ein Politiker muss seine Arbeit machen. Ich glaube, das ist nichts Äußeres. Jede Person muss sich selbst fragen: Was kann ich in dieser Situation tun? Und ich tue meinen Teil.
Regisseur, Autor und Leiter des Theaters in Mülheim
Diese Frage stelle ich mir grundsätzlich nicht. Ich hätte viele meiner Projekte nicht gemacht, wenn ich an die Wünsche des Publikums gedacht hätte. Es ist auch gar nicht nötig. Denn schon Aischylos schrieb seine Tragödie „Die Perser“, um den siegreichen Griechen klarzumachen, welches Leid sie über die unterlegenen Perser gebracht haben. Das ist die Tradition, in der wir stehen. Im Prinzip mache ich seit 60 Jahren nichts anderes. Ich bin 1934 geboren. Natürlich weckt der Krieg in Europa Kindheitserinnerungen. Nach 1945 gab es eine Menge Kriege, in Korea, Vietnam, auf dem Balkan und anderswo. Wir waren oft mit dem Theater an der Ruhr in Städten und Regionen unterwegs, die durch Kriege zerstört worden waren. Wir haben auch die Theater von dort zu uns eingeladen. Genau das werden wir weiter tun, um vom Leid der Menschen und von der Hoffnung auf Frieden zu erzählen. Hoffnung möchte ich nicht vom Zustand der Welt abhängig machen. Hoffnung ist eine Frage des Bewusstseins oder auch des Glaubens. Ich bevorzuge jedoch das Bewusstsein.
ROMAN DOLZHANSKIY Theaterkritiker und Künstlerischer Leiter des internationalen Theaterfestivals NET (Neues Europäisches Theater) in Moskau Offensichtlich hat das Theater zwei Möglichkeiten: Die eine ist, dem Zuschauer eine Flucht vor der Realität anzubieten, die zweite ist, den Zuschauer mit der Realität zu konfrontieren, egal, wie schockierend sie sein mag. Es ist offensichtlich, dass in diesen schrecklichen Zeiten die Nachfrage nach beiden Optionen wächst. Natürlich an unterschiedlichen Stellen und aus unterschiedlichen Gründen. Krieg ist ein großzügiger Lieferant für Stoffe für Dokumentartheater, aber er ist auch Kommissar der Träume, die einen alles für eine Weile vergessen lassen. Grundsätzlich gilt, wie Andrey Tarkovsky sagte: „Je mehr Böses es in der Welt gibt, umso mehr Gründe für Kreativität.“
LEV DODIN
Open letter to Vladimir Putin
To say i’m shocked is an understatement. As a child of the second world war, even in my nightmares I could not imagine Russian missiles aimed at Ukrainian towns and villages, driving Kyiv’s citizens into bomb shelters and forcing them to flee their country. As children we played at defending Moscow, Stalingrad, Leningrad and Kyiv. It is impossible even to imagine that today Kyiv is defending itself or surrendering to Russian soldiers and officers. My brain sticks to my skull and it refuses to see, hear or paint such scenes. The last two years of death across the globe should have reminded all of us, living on either side of any border, how fragile and vulnerable human life is, and how our world collapses in a moment when we lose our loved ones. But they didn’t. These days, both the world of those whose loved ones die, and the world of those who kill someone else‘s loved ones, is collapsing. Mercy, pity, empathy do not yield to the will of states and politicians. It is impossible to dictate to people when and for whom they should fear, when and whom they should pity. Not a single state has yet learned how to control people’s feelings. The mission of art and culture has always been, especially after all the horrors of the 20th century, to teach people to perceive other people’s pain as their own, to understand that no idea, even the greatest and most beautiful, is worth a human life. Now it can be said: culture and art have once again failed in this mission. I am 77 years old, it is not difficult for me to imagine what will happen next everywhere: a division into right and wrong, a search for enemies within, a search for external enemies, attempts to reconstruct the past, to come to terms with the present and to rewrite the future. All this has already happened in the 20th century. These days we have lived to see the future. It was during these days that the 21st century began. Together we have allowed this age to dawn. To dawn as it has dawned. The 21st century has turned out to be scarier than the 20th. What is left to do? Pray, repent, hope, plead, demand, protest, yearn? Probably all that we have not done up until now: love another, forgive another as we forgive ourselves, not to believe in Evil and not to mistake Evil for Good. I am 77 years old and in my life I have lost so many people whom I loved. Today, when rockets of hatred and death are flying over our heads instead of doves of peace, I can only say one thing: stop! Let’s do the impossible: let’s make the 21st century what we dreamed it would be, not what we made it. I’m doing the only thing I can: I’m begging you to stop! Stop. I’m begging you. Lev Dodin © Пресс-служба МДТ - Театра Европы
kathrin röggla_das wasser
/ TdZ Mai 2022 /
THEODOROS TERZOPOULOS
Regisseur
Wenn wir über die Frage nachdenken „Was soll das Theater jetzt tun?“, sollten wir besser vor allem über die Frage nachdenken, „Welche Menschen brauchen wir heute?“. In einer Zeit, in der sich der Mechanismus des Vergessens durchgesetzt hat. Die Verantwortung der Künstler:innen ist groß, wenn es darum geht, die Erinnerung wachzurufen, die Prinzipien, die sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur, Stadt und Demokratie beziehen, wieder in Erinnerung zu rufen. Vielleicht sollten wir uns auf die Grundprinzipien des Lebens und der Theaterkunst berufen, von Anfang an die klassischen Texte lesen, vor allem die antike Tragödie, und uns um einen neuen Humanismus bemühen. Die Künstler sollten lernen, von Anfang an ein neues Alphabet für eine Kunst zu buchstabieren, die sich auf die menschliche Existenz konzentriert. Sie sollten nach der In unserer Zeit ernten wir großen Idee der Kunst, nach der großen Idee des Lebens streben. die Früchte des Populismus und der Pop-Subkultur, die vor allem in der Zeit der Pandemie enorm gewachsen ist. Solange der unkontrollierte Einsatz von Technik im Theater die natürliche Energie eliminiert, wird das Theater keine Perspektive haben. Die vitale Bio-Energie tendiert dazu, künstlich zu werden. Wenn das passiert – ich hoffe, nicht sehr bald – werden sich unsere Nachkommen in Klone verwandeln – in Maschinen. Ich bin nicht optimistisch, was die Zukunft der Welt angeht. Vielleicht sollten wir unsere neuen Grundlagen durch die Idee des Neuen Humanismus finden; offensichtlich werden wir diese Grundlagen in unserer unsicheren Zeit nicht entdecken, aber wir werden sie in den primären Prinzipien des Lebens und der Kunst suchen. Das Theater ist ein Kernbestandteil der Kultur, vielleicht der lebendigste. Es hat das Privileg, zum Spiegel jeder Krise zu werden, und das ermöglicht es ihm, zu manövrieren und sich zu entwickeln. Es gibt keine endgültige Antwort auf Fragen des Lebens, des Menschen, der Natur, sondern wirft immer wieder Fragen auf, die meist unbeantwortet bleiben. Das Krisentheater sollte sich nicht auf Ich möchte, dass das Thea seinen Lorbeeren ausruhen, sondern rastlos und gefährlich sein. ter heute in der Lage ist, die Menschen vor den Übeln zu warnen, die aus der Zukunft kommen.
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JON FOSSE norwegischer Schriftsteller und Dramatiker My only answer to your question is: keep on as before as much as possible. The pandemic made theatre impossible, but at least this crazy war doesn’t.
PIERRE BOKMA
am Schauspiel Bochum
Schauspieler
Wenn es um Fake News geht, sollte man das am besten dem Theater überlassen, denn dort hat der Mensch seit Tausenden Jahren daran gearbeitet, dieses Phänomen zum Wohle der Menschen zu verwenden.
Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)
YANA ROSS
Regisseurin
Was soll das Theater jetzt tun? Zunächst, was es nicht tun soll: Nicht vorschnell der naiven Reaktion aufzusitzen, dass es produktiv wäre, ukrainische und russische Künstler:innen in einen Raum für Dialog zu bringen – ich höre das von vielen deutschen Theatern und finde es, offen gesagt, naiv, anmaßend und beleidigend für beide Seiten. Ukrainer:innen werden von Russ:innen getötet, lasst uns nicht Menschen in traumatische Situationen außerhalb von Kriegsgebieten bringen, wo sie harte emotionale Arbeit leisten müssen. Hört auf „Menschen zusammenzubringen“, um euch selbst besser zu fühlen. Zweitens sollten wir in Dramaturgiesitzungen nicht die Zeit damit verschwenden, alle möglichen Lesungen/Workshops und andere schwachsinnige Projekte zu diskutieren, die wiederum dem Theater den Anschein geben, etwas Wichtiges zu tun. Das tut es nicht. Gehen Sie ein Risiko ein, machen Sie einen Schritt. Produzieren Sie ein komplettes ukrainisches Stück, arbeiten Sie mit ukrainischen Bühnenbildnern, Komponisten oder Regisseuren zusammen, schaffen Sie Raum für diese Kultur, um sich auszudrücken. Drittens, und vielleicht am wichtigsten: Bilden Sie sich weiter. Die Deutschen neigen dazu, ihre intellektuelle Strenge für überlegen zu halten und ihre Meinung für wichtig zu halten – aber der Mangel an postkolonialer Perspektive auf den Osten ist erstaunlich! Hören Sie auf, Russland als einen Ort der Hochkultur und genialer Künstler zu mystifizieren, lesen Sie die postkoloniale Theorie und wenden Sie sie auf die Expansion und Aggression der Sowjetunion an, und hören Sie auf, mit Russland zu flirten. Stockholm-Syndrom? Ich habe keine andere Erklärung für diese seltsame deutsche Zuneigung. Was KÖNNEN die Theater tun? Versuchen Sie, das große Ganze zu sehen, ich denke, Theaterstücke mit Kriegsthemen jetzt zu spielen, ist erbärmlich und zu spät. Das war 2011–2014 wichtig! Jetzt ist es an der Zeit, sich mit Karl Kraus und all den Werken aus der unmittelbaren Vor- und Nachkriegszeit zu befassen, mit Horváth und natürlich mit den post apokalyptischen absurden Landschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir müssen sehen, wie wir hierhergekommen sind, wie wir langsam die Dringlichkeit demokratischer Werte und Menschenrechte aufgegeben haben und uns der Übernahme unseres Lebens durch die Konzerne ergeben haben. Für Schriftsteller:innen ist es jetzt die wichtigste Zeit. Sie haben die Gabe und die Mittel, die überwältigende Gleichgültigkeit, die Heuchelei und den Zynismus unserer Zeit in Form und Worte zu fassen. Sie haben die Fähigkeit, etwas zu vermitteln, wofür andere kein Ohr haben. Geben Sie den Schriftstellern Raum, um den Lärm in Harmonie und Konzentration zu destillieren.
BURGHART KLAUSSNER
Schauspieler und Regisseur,
Hamburg Es kann auf dem Theater nicht schweigend hingenommen werden, dass Krieg ist. Auch wenn ohnehin jedes Wort und jede Geste von einem verständigen Publikum auf ihre Kriegskonnotationen hin abgeklopft werden. Zu sehr ist unser gesamtes Jetzt angespannt und starrt auf das Die Verkürzung der Strecke zum Tod als Programm Unglaubliche. macht Krieg so übermächtig und zugleich unbegreifbar. Wie kann hemmungsloses Morden, bis hin zu Kriegsverbrechen, möglich sein? Warum dann noch ein Verbot individuellen Mordens? Nur der erste Mord fällt ja schwer. Erst wenn wir erkennen, dass uns nicht unmittelbar der Blitz als göttliche Strafe trifft, morden wir weiter, sagt man. Die Unempfindlichen, die Unbegabten vollziehen auch auf dem Theater jeden Mord als Selbstverständlichkeit. Aber wie eindringen in das Herz des Mörders, des Kriegstreibers, wie viel Wunschdenken liegt in der Hoffnung auf Erkenntnis? Nein, lernen wir gerade unmittelbar, es gibt die Reflexion nicht, es gibt auch die Vorhersagbarkeit nicht, und es gibt das Überleben nur um den Preis des Opfers Anderer. Ist das nun das Erwachen? So wie wir uns vielleicht die Diagnose Krebs vorstellen? Willkommen in der Realität? Das Leben ein Traum? Und tatsächlich wirkt die Tatsache des Krieges wie ein Erwachen. Ein Erwachen hin zum Tod, dessen Existenz wir so erfolgreich verdrängt hatten. Aber auch ein Erwachen des schläfrigen Geistes. Alles um uns herum erscheint in einem schärferen Licht. Warum also nicht die Kunst? Gibt es sie noch? Wie hat sie sich in früheren Kriegen gezeigt? Darf sie uns außer Reflexion auch Zuflucht und Entspannung bieten? Muss sie das nicht, angesichts der Unzumutbarkeit einer lebensbedrohenden Macht? Und werden wir selbst uns nach dem ersten Schuss, der ersten selbstabgefeuerten Salve und angesichts der von uns Gemordeten gereifter fühlen? Als Verteidiger nicht nur, sondern am Ende gar als Angreifer? Das wären so die Themen für einen Spielplan im Krieg.
/ TdZ Mai 2022 /
JAN KLATA
Theaterregisseur
SHAKESPEARE MIT UNS Es donnert und blitzt. Masken runter, Messer raus. Das ist der Paradigmenwechsel. Willkommen im Birnam Forest. Ich hatte mein Stück „Macbeth“ 600 Meter von den Kremlmauern entfernt, eine surreale Erfahrung, als ich das schottische Stück in Moskau inszenierte. Die Hexen von Pussy Riot verzauberten Putins Stars, die Verschwörung um das tschetschenische Schießpulver hängt immer noch in der Luft, der Geist von Boris Nemzow spaziert durch die Straßen und klopft, klopft, klopft an die Tür. Am Tag des Vaterlandsverteidigers, auch bekannt als Männertag (23.2.), während fröhliche Schauspieler im Dunst der Feierlichkeiten probten, fragte mich Macduff: „Kennen Sie diesen Feiertag nicht? Hast du deinem Land nicht gedient?“ Ich sagte: „Nein“. Peinliches Schweigen im Raum ... gefolgt von brüderlichen slawischen Trostworten: „Mach dir keine Sorgen, das wirst du eines Tages!“. Die Bühne war also schon vor ein paar Jahren bereitet, als Macbeths Yunarmy bereit war, Gayrope zu schlagen. Jeder darf eine Vergangenheit haben, die er nicht erwähnen möchte. Also, herzliche Grüße vom Kriegsschauplatz! Du kannst weglaufen, aber du kannst dich nicht verstecken. Seien wir ehrlich, man muss für sein Recht zu feiern kämpfen. Es ist besser, auszubrennen als zu verblassen. Mit Euripides, Shakespeare und Puschkin auf unserer Seite sind wir dazu verdammt, diesen Krieg zu gewinnen.
JULIA LWOWSKI
ALEKSANDAR DENIĆ
bildner, Belgrad
Bühnen-
Es ist klar, dass wir gerade dabei sind, in die Kloake zu fallen. Es ist Zeit, nicht nur zu sprechen, sondern auch zu handeln. Was fehlt, ist Solidarität. Solidarität, Solidarität und nochmals Solidarität. Auch von Autoren, Regisseuren und anderen, die Theater machen.
Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen
Anfang März, eine Woche nach dem russischen Angriff auf mein Heimatland, fühlte ich ein akutes Bedürfnis, meine bitteren Gedanken und aufgewühlten Gefühle über die Ukraine zu teilen. Ich schrieb einen offenen Brief an Freunde und Kollegen. Seitdem sind bei mir zwei Premieren verstrichen – und die tiefe Ohnmacht, die ich in dem ersten Brief beschrieb, ist fast noch stärker geworden. Denn als Theatermacherin ist es derzeit unsagbar schwer, Theater zu machen. Jeden Tag gehe ich zur Probe und frage mich nach dem Sinn. Was mache ich da, wenn ich nicht mal auf eine Großkundgebung für den Frieden in der Ukraine gehen kann, weil ich mitten in den Endproben bin? Wie kann das, was wir hier machen, dem entsprechen, was in unserem Heimatland passiert? Meine praktischen Fähigkeiten als Regisseurin könnten doch auf eine ganz andere Art helfen, als im Theater. Transferable Der Krieg hat mich in eine Art geistige Lämung gestürzt, in skills nennt man es. der ich nur bedingt praktisch helfen kann. Es hat viele Momente gegeben, in denen wir die Vorstellungen absagen wollten, wir nicht mehr imstande waren, weiterzuspielen. Eine Schreckensnachricht überrollt die nächste, man ist gelähmt, weiß nicht, wohin mit sich. Ich kann nur ins Theater, das ist mein Beruf und meine Berufung. Und ich möchte dahin, weil es mich an das erinnert, was ich an der Kunst liebe: an die Utopie, an den Ende Mai kuratiere Kampf für eine bessere Welt und an den Mut zum Scheitern. ich an der Oper Wuppertal ein Festival zum Thema Kampfsport. Vereinfacht bedeutet das – kunstvolles Kämpfen, an der Gewalt Freude und Schönheit finden. Wie soll das jetzt gehen? Fernab von Wuppertal, am anderen Ende Europas, ging am 16. März die Nachricht um die Welt, dass ein zum Luftschutzbunker umgewandeltes Theater in Mariupol, in dem Hunderte Bürger sich verschanzt hatten, von Raketen getroffen wurde. In dieser hässlichen, grausamen Realität, in der wehrlose Menschen gezielt umgebracht werden, ist die Frage, was das Theater und das Publikum in Zeiten des Krieges braucht, undenkbar für mich zu beantworten. Wie soll ich auf diese Frage eine Antwort finden in dieser dunklen „Stunde Null“? Theater mag politisch sein, aber Theater ist keine Politik. Theater ist Kunst. Es gilt, den Zeitgeist aufzusaugen und uns den Spiegel vorzuhalten. Es wäre absurd, wenn die deutsche Kulturlandschaft weiter Dostojewski, Tschechow und Tschaikowski aufführen würden, als ob nichts wäre. Als eine von der russischen Kultur geprägte Ukrainerin möchte ich damit nicht sagen, dass die großen Künstler gecancelt sein sollten. Bloß nicht. Sie verlieren nicht an Wucht und Weisheit, nur weil in Moskau seit 20 Jahren ein Despot am Hebel sitzt. Diese Schriftsteller und Komponisten würden sich im Grabe umdrehen und so einen Krieg den jetzigen Machthabern nie verzeihen – so wie sie auch Dennoch: damals größtenteils regimekritisch waren, jeder auf seine Art und Weise. Die Aufarbeitung hätte längst passieren müssen. Umso heftiger platzen die Pestbeulen auf im russisch-ukrainischen Kulturkrieg – wer kommt woher, wer gehört wohin? Ist Gogol ein russischer, Bulgakow ein ukrainischer Schriftsteller? Eigentlich sind solche Debatten im Theater und der Gesellschaft tendenziell gesund. Nur passiert das gerade unter den makabersten Zuständen und jeder will seine „Wahrheit“ proklamieren. So eine Zerrissenheit hindert die Kreativität und lässt alles wund und unmöglich, schwarz-weiß und starr Und doch, erscheinen. In so einer Zerrissenheit will ich keine Fantasien wagen. wie so oft gibt es Momente der Erhellung, kleine Theaterwunder – ganz unverhofft.
STARKE STÜCKE
/ TdZ Mai 2022 /
7. – 21. MAI SAMSTAGS
20.15 UHR KULTUR . RAUM GEBEN Das Berliner Theatertreffen – auch in der 3sat MEDIATHEK
WWW.BAYERISCHE-THEATERTAGE.DE
Stiftung der
S Sparkasse Bamberg zur Förderung von Kunst - Kultur - Denkmalpflege
editorial
/ TdZ Mai 2022 /
S
tas Zhyrkov, der die vorstehende Umfrage „Was soll das Theater jetzt tun?“ eröffnet, ist Intendant des Kiewer Theaters am Linken Ufer. Er konnte die Ukraine verlassen mit einer besonderen Genehmigung des Kulturministeriums. Daran kann man erkennen, dass die Regierung der Ukraine den russischen Angriffskrieg auch als Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Kultur versteht und entsprechende Maßnahmen ergreift. Künstler wie Zhyrkov müssen überleben, um im Ausland den Wiederaufbau der Kultur in der Heimat vorzubereiten oder erst mal an der Bewahrung der ukrainischen Kultur im Ausland mitzuwirken. Dafür brauchen sie aber nicht nur die Genehmigung ihrer Regierung, sondern auch alle Unterstützung hier. Manchmal sind schon gute Anknüpfungspunkte gegeben, wie bei Stas Zhyrkov, der 2018 in Magdeburg „Warten auf Godot“ inszenierte (auf einem Feld von Totenschädeln – siehe TdZ 01/19) und der mit seinem Theater 2021 bei Radar Ost am Deutschen Theater eingeladen war mit „Bad Roads“, dessen Filmversion nach dem Stück von Natalia Vorozhbyt wiederum beim letzten FIND-Festival der Berliner Schaubühne gezeigt wurde. Mit der kurzen E-Mail von Zhyrkov als Einleitung wollen wir diese Versammlung unterschiedlicher Stimmen nicht allein als Bestandsaufnahme zu oben genannter Frage veröffentlichen, die übrigens ihr Vorbild in den von Herbert Ihering im Berliner Börsen-Courier veranstalteten Umfragen in den krisengeschüttelten 1920er Jahren hat, sondern auch als Aufruf zur Hilfe. Oder wie es der serbische Bühnenbildner Aleksandar Denić von allen Kolleg:innen fordert: „Solidarität, Solidarität und nochmals Solidarität“. Kathrin Röggla ist eine der gesellschaftlich wachsten Dramatiker:innen im deutschsprachigen Theater und mit gleich drei Uraufführungen in Dresden, Saarbrücken/Stuttgart und Dortmund in diesem Heft diskutiert. Mit dem Abdruck der Laudatio von Frank Raddatz und der Veröffentlichung von Rögglas Stück „Das Wasser“ schließen wir uns den Glückwünschen zum Else Lasker-Schüler-Preis an. Der Neubau für das Volkstheater Rostock ist beschlossen und mit einem kühnen Entwurf projektiert, den wir mit den Abbildungen im Kunstinsert dokumentieren und mit dem Text von Juliane Voigt erläutern. Das ursprüngliche Theater der Hansestadt wurde Ende April 1942 durch britische Luft angriffe zerstört. Mehr als 80 Jahre wird es also bis zu einem voll funktionsfähigen Theaterneubau nach dem Krieg gedauert haben, und wir schauen in diesem Moment auf das zerbombte Theater von Mariupol, in das eine bis heute unbekannte Zahl von Menschen zum Schutz geflohen war. // Thomas Irmer
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Inhalt Mai 2022 thema ukraine
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Was soll das Theater jetzt tun? Theaterkünstler:innen antworten Marina Abramović, Pierre Bokma, Roberto Ciulli, Marina Davydova, Aleksandar Denić, Lev Dodin, Roman Dolzhanskiy, Jon Fosse, Oliver Frljić, Marta Górnicka, Nino Haratischwili, Jan Klata, Burghart Klaußner, Julia Lwowski, Ewelina Marciniak, Steffen Mensching, Thomas Ostermeier, Yana Ross, Johan Simons, Theodoros Terzopoulos, Stas Zhirkov, Margarita Zieda
kunstinsert
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Juliane Voigt: Das Wunder an der Warnow
schwerpunkt kathrin röggla
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Michael Bartsch Wir sind das Klima-Problem Regisseur Jan Gehler braucht in Dresden keine Effektverstärker für die Uraufführung von Kathrin Rögglas „Das Wasser“
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Stefan Keim Der Vater greift zur Kettensäge Kathrin Rögglas „Kinderkriegen 4.0“ am Schauspiel Dortmund
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Björn Hayer Andere müssen eben arbeiten … Kathrin Rögglas „Verfahren“ in Saarbrücken uraufgeführt
sächsisches theatertreffen
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Michael Bartsch Hart erkämpfte Stabilität Vom 10. bis 15. Mai findet in Plauen und Zwickau das 11. Sächsische Theatertreffen statt – Überblick einer Landschaft
porträt
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Stefan Keim Verschlungen vom Theater Der Schauspieler André Kaczmarczyk im Porträt
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kommentar
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Stefan Keim Spielpläne im Virensturm Flächendeckend sagen die Bühnen Vorstellungen und Premieren wegen der vielen Infektionen ab
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9. – 19. JUNI 2022 MÜLHEIM AN DER RUHR, DÜSSELDORF, KÖLN + ESSEN IMPULSEFESTIVAL.DE
inhalt
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protagonisten
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Elisabeth Maier Mit Blick in die Welt Das JES Stuttgart verabschiedet seine Intendantin Brigitte Dethier
nachruf
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Klaus Zehelein Unbedingtes Wissenwollen Rede zur Trauerfeier für Hans Neuenfels
stück
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Frank Raddatz Das Drama der Ökologie Laudatio von Frank Raddatz zum Else Lasker-Schüler-Preis für Kathrin Röggla
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Kathrin Röggla Das Wasser
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Berlin „Rabatt“ von Nora Abdel-Maksoud in der Regie von Moïra Gilliéron (Theresa Schütz) Esslingen „Der große Hanussen“ von Stefan Heym in der Regie von Klaus Hemmerle (Elisabeth Maier) Frankfurt am Main „Under Bright Light“ von Forced Entertainment (Shirin Sojitrawalla) Köln „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis in eigener Regie (Stefan Keim) Nürnberg „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist (Christoph Leibold) Schwerin „Solo Sunny“ von Wolfgang Kohlhaase in der Regie von Sebastian Kreyer (Juliane Voigt) Senftenberg „Der Sohn“ von Oliver Bukowski in der Regie von Mario Holetzeck (Thomas Irmer)
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Zwischen Theatern und Museen Zu den Arbeiten von Walid Raad und einer Ausstellung in Mainz Die Zeit als Sinnverdichter Das Heiner-Müller-Programm der slowenischen Band Laibach Der Kommunikator zieht weiter Eine Bilanz von Manuel Bürgin am Theater Winkelwiese in Zürich Aufbruchstimmung Ein Drama-Showcase des Centro Dramático Nacional in Madrid Entdeckungen, Ermutigungen Dem Regisseur und langjährigen Intendanten Christoph Schroth zum 85. Geburtstag Kern des theatralischen Handelns Dem Theater historiker und Stanislawskij-Spezialisten Dieter Hoffmeier zum 90. Bücher Rudi Nuss: Die Realität kommt; Peter Handke: Zwiegespräch
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Meldungen
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Premieren
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Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau
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José Manuel Mora im Gespräch mit Elisabeth Maier 80
auftritt 58
magazin 66
aktuell
was macht das theater?
Das nach dem russischen Luftangriff am 16. März zerstörte Drama Theater in Mariupol am 29. März 2022. Satellitenfoto Maxar Technologie. Foto picture alliance / associated press
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kunstinsert
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Das Wunder an der Warnow Über den Neubau des Theaters in Rostock und dessen lange Vorgeschichte von Juliane Voigt
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ostock hat was gutzumachen bei seinem Theaterpublikum. Weil sich die Rostocker Theaterfreunde seit 1943 in einem maroden Provisorium um vier Sparten drängeln, in dem zum Beispiel die Bühnenaufbauten bis heute durchs Foyer geschleppt werden, weil es keine Hinterbühne gibt. Von einer Drehbühne ganz zu schweigen. Ja, die Rostocker haben wirklich was hinter sich, wobei die 31 Jahre dauernde Generalintendanz von Hanns Anselm Perten noch zu den guten Zeiten zählt. Außerdem rumpelt der Theaterkarren seit knapp 30 Jahren ohne Federung durch Stellen-Abbau, schwelende Auflösungs- und Fusionsandrohungen und so abrupte wie skandalöse Intendantenwechsel. Dass die Stadt jetzt wirklich ein Theater bekommen soll, kann schon als so was wie ein Wunder von Rostock gefeiert werden. Und das tun die Rostocker auch. 2029 soll sich für die erste Premiere der Vorhang heben. Bussebart heißt das städtische Areal zwischen der Langen Straße in Höhe des Kröpeliner Tors und dem Stadthafen, ein Parkplatz in attraktiver Innenstadtlage. Das neue Stadttheater wird dort ein freistehender Solitär. Eine begehbare Gebäudeskulptur, heißt es überschwänglich. Ohne Vorder- und Rückseite legen sich organisch geschwungene Fassaden aus lichtführender Materialität in Grau-Weiß-Gelb um einen aus der Mitte wachsenden Turmaufbau, der sich mittels sich windender Außentreppe erklimmen lässt. Die Dachterrasse biete einen hochattraktiven Rundumblick über die Altstadt zur Warnow und Richtung Ostsee, heißt es in der Projektvorstellung des renommierten Berliner Architekturbüros Hascher Jehle, das den Wettbewerb gewonnen hat. Das weist nicht zuletzt auch ganz metaphorisch in neue Richtungen. Bisher mussten die Rostocker viele Stufen in das läuternde Theater-Inferno hinabsteigen, um hausintern ein geologisch bedingtes Straßengefälle zu überwinden. Jetzt steigen sie hinauf. Oder nehmen den Fahrstuhl. Jedenfalls geht es jetzt in jeder Hinsicht aufwärts. Rostock hat mit dem Zuschlag eine ebenso mutige wie eindeutige Entscheidung getroffen. Zwei weitere Ausschreibungsentwürfe belegen symbolisch gleich den dritten Platz, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Wahl keiner weiteren Nachbesserung bedurfte. Intendant Ralph Reichel, die Stadt (als Bauherrin),
Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen und sogar die Ministerpräsidentin des Landes, Manuela Schwesig, feierten das Projekt geradezu euphorisch. „Die Verfasser präsentieren einen Entwurf für einen zeitgemäßen und attraktiven Theaterneubau mit hoher Aufenthalts- und Erlebnisqualität. Der Vorschlag überzeugt sowohl im städteräumlichen Kontext wie auch in Bezug auf Gestaltung, Funktion und Organisation in hohem Maße“, urteilte die Jury. Auf acht Etagen, drei unter- und fünf überirdischen, wird es zwei große Theatersäle geben, einen mit knapp 600 und einen mit 200 Plätzen, verschiedene Foyers und kleine Bühnen, multifunktionale Konferenzräume, Probenräume für alle Sparten, Büros, Theaterwerkstätten, eine öffentliche Kantine, eine Nacht-Bar – mit Kleinkunstbühne – und ein Restaurant – mit Ausblick. Von der Tiefgarage bis zur Aussichtsplattform soll das Theater sowohl ein Hort für Theater-, Opern-, Konzert- und Ballettliebhaber als auch ein Ort für die sein, die am Theaterbetrieb vorbei für den Moment auch mal nichts von Kultur wissen wollen. Der Mensch muss schließlich auch essen! Und einfach nur mal die Seele baumeln lassen. „Ein Wohnzimmer für alle Rostocker“ soll es nämlich werden, „ein Begegnungsort“, rief kühn die für das Theater zuständige städtische Mitarbeiterin der für die kommunalen Immobilien zuständigen Betriebs KOE, Sigrid Hecht, aus. Ein „Neues Wahrzeichen der Stadt“ gar. Und das will was heißen in einer alten Hansestadt, aus deren Silhouette mindestens drei große Backsteinkirchen ragen. Der Rostocker Theaterturm ragt allerdings, wenn er denn eines Tages steht, als so was wie ein Leuchtturm aus dem versteppten Norden. Erst seit 2017 sind die Pläne der Landesregierung, sämtliche Theater in Mecklenburg-Vorpommern auf Gedeih und Verderb miteinander zu fusionieren, vom Tisch. Von den jahrelangen Protesten und Kämpfen haben die vier Theater des Landes sich mal gerade erst erholt. Für Rostock wurde zuletzt sogar das Modell „Bespieltheater“ in Erwägung gezogen. Denn dem Volkstheater drohte eine Zusammenlegung mit dem sowieso stets bevorzugten Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin und die Schließung von zwei Sparten. Die Rostocker Bürgerschaft aber hatte in der Hochphase der Diskussionen um den Kulturabbau der Landesregierung 2015 selbstbewusst den Neubau eines VierSparten-Hauses beschlossen. Investitionsvolumen: 110 Millionen Euro. Hansestädter lassen sich von jeher ungern etwas vorschrei-
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volkstheater rostock
ben. Schon gar nicht, wenn der Absender in einem Schloss resihaus – eine Art Ufo aus den 1970er Jahren –, dessen weiße und schwungvolle Außenfassade immerhin von kleinen Ausgucken diert. Die 200 000-Einwohner-Stadt Rostock mit Universität und Hochschule für Musik und Theater hatte sich längst aus der Nachdurchlöchert wird. Ein Theaterneubau eröffnet auch Experimentierfelder für wendeschockstarre gelöst und ist zu einer jungen Lieblingsstadt mit Ostseestrand geworden. Eine Stadt, die aus den gröbsten Verschulneue Theaterformen und Möglichkeiten. Die Guckkastenbühne vor gänzlich verdunkeltem Zudungen heraus ist und sich wieder Kultur leistet. Das Land hat schauerraum hat zwar jahrinzwischen eine Beteiligung von hundertelang funktioniert, reicht Geschichte des Rostocker Volkstheaters aber nicht mehr. Theater ist 51 Millionen Euro zugesagt. 1786 Errichtung des ersten Theaters in Rostock Das Volkstheater Rostock nicht mehr nur ein katharti1880 Brand des alten Stadttheaters sches Nachempfinden der eiwird der wohl wichtigste Thea1895 Errichtung eines neoklassizistischen Neubaus gegenüber terneubau der kommenden genen Lebenswirklichkeit hindem mittelalterlichen Steintor, Architekt Heinrich Seeling, Jahre in Deutschland. An Roster einer unsichtbaren, aber Hamburg. Bauzeit 15 Monate, Kosten 600 000 Mark, der hermetischen Wand. Seh- und tock werden sich auch zukünf größte Teil der Kosten kam aus Spenden zusammen, neben tige Entwicklungen ablesen lasErlebnisgewohnheiten der ZuSchauspielen wurden vor allem Opern von Richard Wagner sen. Wie schafft es ein Theater, schauer sind von Kino und inszeniert, stilistisch orientiert am Bayreuther Vorbild, ab aus einem Provisorium heraus, Film beeinflusst. Dabei ist die 1911 eigene Wagner-Festspiele mit Starbesetzung, „das das ebenso mit Zuschauerdarstellerische Qualität des Bayreuth des Nordens“ Bühnenpersonals vorerst noch schwund zu kämpfen hat, wie 1925 die Stadt Rostock übernimmt den Theaterbetrieb an menschenmögliche Fähigandere Theater auch, für ein so 1942 Zerstörung des Theaters durch Bombardement, später Abriss keiten gebunden, je nach großes Haus mit unzähligen 1943 Umzug in die provisorische Spielstätte Neues Haus im Talent und Ehrgeiz von genial Möglichkeiten ein neues Publiehemaligen Gast- und Konzerthaus Philharmonie kum zu gewinnen? Kritiker des und brillant bis irgendwo 1952 Hanns Anselm Perten wird Generalintendant, unter dessen Großprojekts fragen, ob das drunter. Digitale BühnentechLeitung wird das Volkstheater Rostock zu einer der bedeunik aber eröffnet den Thea Theater nicht eine Nummer zu tendsten Theaterbühnen der damaligen DDR. Perten eröfftermacher:innen inzwischen überkandidelt sei in Anbetracht nete einige weitere kleine Spielstätten, die er mit einem fast grenzenlose Spielräume. verschiedener anderer städtiEnsemble aus 248 Künstlern und Künstlerinnen aller Das Geschehen auf der Bühne scher Millionenprojekte, wie Sparten bespielte, viele Gastspiele führten ins Ausland, zum Beispiel dem Ausbau des erobert zunehmend den Zuauch in den Westen schauerraum, bezieht das PubStadthafens für die BUGA Ab 1989/90 das Theater erleidet durch mehrere Intendanten2025. Der Deutsche Bühnenlikum ein, eröffnet Projektiwechsel und Konzeptlosigkeit einen Bedeutungsverlust verein meldet seit Jahren stagonsflächen für Video und Film, 2011 kurzzeitige Schließung des Großen Hauses wegen Brandimmersive Formate machen nierende Zuschauerzahlen in schutzauflagen Ost und West. Dazu kommt der Zuschauer:innen zu Mitakteu2012 erster Bürgerschaftsbeschluss eines Theater-Neubaus ren. Theater als gesellschaftliMehrzweckcharakter des Neu2015 neuer Beschluss eines Neubaus durch die Bürgerschaft baus, in welchem eingefleischte cher Treffpunkt muss Erwar2019 das Berliner Architekturbüro Hascher Jehle gewinnt den Theatertraditionalist:innen auch tungen einer immer pluraler internationalen Architekturwettbewerb werdenden Gesellschaft benaserümpfend profane Stadt2023 soll der Bauantrag gestellt werden, 2029 Eröffnung hallen-Bespaßung vermuten rücksichtigen. könnten. Braucht ein StadttheaDas Volkstheater Rostock ter nicht auch so was wie den 2.0, also die Belebung dieses Stallgeruch seiner Vorgeschichneuen gesellschaftlichen Ortes, te? 2006 hatte Potsdam mit dem Neubau des Hans Otto Theaters erfordert neben außergewöhnlich hochwertiger Vier-Sparten-Theden ersten architektonischen Kulturbruch im früheren Osten geaterarbeit auch soziopolitischen Erfindungsreichtum. Nach dem Motto: „Welche Welt bedeuten diese Bretter?“ wird schon lange wagt. Ein für ein Stadttheater ungewöhnlicher Theaterneubau. Der elitäre und hermetische Musen-Tempel des deutschen Bildungsum das Für und Wider von Theaterneubauten in Deutschland debattiert. Theater und Oper wird zunehmend Relevanzlosigkeit bürgertums hat sich im 21. Jahrhundert in einen allumarmenden „Demokratisierungsbau“ verwandelt. Theater soll nun möglichst in quittiert. Hat der Norden nur den sprichwörtlichen Knall nicht gehört? Es wird sich zeigen. Im Moment hat das Volkstheater alle Schichten der Gesellschaft hineinleuchten. Und das auch ganz im Wortsinn. Bei Sanierungsmaßnahmen rund um die hundertjähRostock 250 Mitarbeiter:innen, knapp 700 Veranstaltungen sterigen Jubiläen vieler Stadttheater wurden von innen leuchtende hen durchschnittlich pro Jahr auf dem Spielplan. Intendant Ralph Glasfronten vor den Schnörkel-Eklektizismus grauer Vorzeiten geReichel will schon jetzt mit dem Rostocker Literaturhaus, einschoben. Theater soll schon mal durch sich in sich hineinziehen. schlägigen Clubs, der freien Szene, Rostocker Schulen und der Gerade Neubauten sollen Transparenz und Offenheit signalisieren, Hochschule für Musik und Theater über Zusammenarbeiten wie am Beispiel Hans Otto Theater Potsdam oder aktuell am beraten. Um die nächsten Publikums-Generationen ins Theater Münchner Volkstheater oder auch dem Düsseldorfer Schauspielzu locken. //
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Abbildungen: Hascher Jehle Assoziierte GmbH Berlin
Abbildung: Hascher Jehle Assoziierte GmbH Berlin
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Mit drei Uraufführungen kehrt Kathrin Röggla in die Theater zurück
Röggla I–III Wir sind das Klima-Problem Regisseur Jan Gehler braucht in Dresden keine Effektverstärker für die Uraufführung von Kathrin Rögglas „Das Wasser“ von Michael Bartsch
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ir werden etwas kommen gesehen haben“, blickt die „Frau mit Zukunft“ dreißig Jahre voraus. Die Folgen des Klimawandels in seiner feucht-trockenen Dimension nämlich, mit dem sie sich aber erst befassen will, „wenn die Kinder groß sind“. Unter anderem mit diesem Zitat kündigt das Staatsschauspiel Dresden die Uraufführung des jüngsten Auftragswerks an Kathrin Röggla an. Wäre nicht sie die Autorin, hätte sich erst einmal Skep-
sis eingestellt. Aha, wieder ein Spiel mit der Apokalypse, gar eine masochistische Untergangsverliebtheit wie in amerikanischen Katastrophenfilmen? Text (siehe Stückabdruck S. 38) und Inszenierung aber verweigern den Besuchern im Dresdner Kleinen Haus jeden reißerischen Kitzel, jedes wohlige Gruseln bei der Vorführung einer Katastrophe. Die steht zwar als unüberwindliche Mauer, als schwarze Wand symbolisch vor uns. Aber sie bietet auch einen Durchbruch, ein Loch, das den Blick auf ein sanft plätscherndes Meeresidyll dahinter freigibt. Dieses starke Bühnenbild von Sabrina Rox stellt von Anfang an klar, dass es eine Handlungsoption, eine Alternative gibt. Wer aber sollte handeln, wenn nicht wir als Menschheitskollektiv? „Wasser“ ist auch ein Stück über das Anthropozän, zu dem das Programmheft einen kleinen Essay von Eva Horn beisteuert. Die zivilisatorischen Schäden haben wir selbst ausgelöst. Nicht ein anonymes bedrohliches ES macht etwas mit uns, sondern wir sind selbst die Subjekte. Nicht ETWAS kommt auf uns zu, wir selber bedrohen uns. Dieses Postulat zieht sich durch den gesamten Text. Und Regisseur Jan Gehler folgt dem nicht nur, er gestaltet auch eine Unmittelbarkeit, der man sich nicht entziehen kann, schafft eine Im Angesicht einer voranschreitenden Katastrophe: Sarah Schmidt, Philipp Lux, Christine Hoppe, Moritz Dürr in „Das Wasser“ in der Regie von Jan Gehler am Staatsschauspiel Dresden. Foto Sebastian Hoppe
kathrin röggla
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interaktive Atmosphäre. Der dramaturgisch geschickte Aufbau begünstigt diesen Publikumsanschluss. Der erste Teil „Die Flut“ bindet bei den Leuten und ihren Erfahrungen an. Kathrin Röggla hat in Sachsen zur Starkregenkatastrophe 2002 recherchiert, die 19 Jahre später im Ahrtal noch übertroffen wurde. Es ist „das Volk“, das sich über solche Folgen beklagt. Plastisch wird geschildert, wie der harmlose Fluss „plötzlich im Wohnzimmer steht“. Auch physisch, nicht nur metaphorisch gesehen steht uns das Wasser bis zum Hals. Adressat sind einmal mehr „die da oben“, aber sinnigerweise drängt die Gruppe der sieben Spieler mit der Anklage bis an die Rampe vor und auf das Publikum ein. Ein langer, chorisch oder aufgeteilt gesprochener Monolog. Warum zu Beginn mit Mühe ein Klavier hereingeschoben wird, erschließt sich als Bild und nach fragmentarischen Traktierungen der Tastatur nicht sogleich. Vielleicht, weil sonst nichts auf der Bühne steht, an dem man sich festhalten kann. Die Welt ist aus der Ordnung, und die Kostüme von Katja Strohschneider sind es auch. An diesem Volk stimmt auch äußerlich etwas nicht. Der legere, modische Freizeitlook wird gebrochen durch seltsame Verknotungen und Anhängsel, Zwitter zwischen Fell und Jackett. Auch wenn eingangs schon die Ahnung geäußert wird, dass wir „nachher alles gewusst haben werden“, werfen Text und Regie zunächst einen populären Köder aus und machen sich lustig über die, „die uns nicht Bescheid gesagt haben“. Die Politiker und Verantwortungsträger, die im anschaulichwörtlichen Sinn „auch nur mit Wasser kochen“. Einer dieser Verantwortungslosen, Leiter einer Beratungsfirma, wird übrigens ziemlich treffend von Regisseur Jan Gehler selbst karikiert. Er rettete damit den wegen positiver Corona-Tests bereits einmal verschobenen zweiten Premierenabend und lieferte zugleich eine vergnügliche Probe seines darstellerischen Könnens, die zu genießen den Dresdnern in seiner Zeit als Hausregisseur am Staatsschauspiel versagt blieb. Doch nach und nach wendet sich die Szenerie immer nachdrücklicher an uns, an alle. Mit dem der Autorin eigenen Sarkasmus, ja manchmal Zynismus einer pointierten Sprache. Als Ausweg aus der sukzessive voranschreitenden Katastrophe bringt sie eine Ökodiktatur, ein „Kurzzeitchina“ ins Spiel. Mit dem alttestamentlichen Propheten Jona hat Kathrin Röggla die passende Parabel entdeckt. Er soll der Stadt Ninive Gottes Zorn und den drohenden Untergang verkünden, kneift aber. Von Bord gegangen und vom Walfisch gerettet, erfährt er in dessen Bauch seine Katharsis. Diese Hoffnung bleibt immerhin, und folglich liegt der Walfischbauch irgendwo in einem nebligen Raum hinter dem Mauerloch. Jan Gehler verzichtet auf jegliche naturalistische FantasyMätzchen, vertraut ganz auf die fantasievollen Kostüme der Mitbewohner Jonas. Doch die Mauer rückt bedrohlich weiter vor, die Mahnungen werden eindringlicher, die Skepsis wächst. Sind diese vorgeführten narzisstischen Typen mit ihrem beschränkten Horizont überhaupt zu einer Umkehr fähig? „Ihr habt uns alt gemacht“, „Kinderkriegen 4.0“ als doppeldeutiger Begriff: Christopher Heisler, Adi Hrustemović, Bettina Engelhardt, Ekkehard Freye, Nika Mišković, Martina Eitner-Acheampong am Schauspiel Dortmund, Regie Julia Wissert. Foto Birgit Hupfeld
klagen zwar die jungen freitagsaktiven Klimaretter. Aber sogar sie kommen auch nicht „aus IKEA oder der Tanke raus“. Der Ton wird schärfer, während sich die Bewegungen der sieben Spieler verlangsamen. Die Stimmung und die Lichtstimmung verdüstern sich. Ungeheuerliches wird lakonisch besprochen, ein geradezu malthusianistischer Gottesplan erörtert, die Menschheit um ihres Erhalts willen zu dezimieren. Wer soll zuerst sterben? Das Wasser, Symbol der Lebenskraft, besteht nur noch aus Müll, wird zu Beton. Gerade weil Jan Gehler auf plakative Forcierungen verzichtet und ganz auf die Kraft des Wortes und die Leidenschaft der Akteure vertraut, wirkt dieses Menetekel so eindringlich. Drei Silhouetten schauen final auf das in Dunkelheit versinkende Meer. „Uns betrifft es schon nicht“, belügen sie sich noch einmal selbst. //
Der Vater greift zur Kettensäge Kathrin Rögglas „Kinderkriegen 4.0“ am Schauspiel Dortmund von Stefan Keim
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rgendwo ist Krieg, vielleicht auch eine Pandemie. Aber das ist den Leuten auf der Bühne ziemlich schnurz. Sie haben ihre eigenen Probleme, und zwar genau dort, wo sie das größte Glück verspüren sollten. In der Familie, beim Nachwuchs, den Kindern, der Zukunft unserer Gesellschaft. Kathrin Röggla hat schon vor zehn
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schwerpunkt
Jahren das „Kinderkriegen“ zum Thema einer boshaften Satire gemacht. Wobei der Begriff doppeldeutig ist, denn die Eltern bekriegen sich untereinander. Jeder und jede glaubt, das richtige Rezept zu haben, wie aus dem Nachwuchs ein mindestens halb geniales Wesen mit Menschheitsrettungspotenzial wird. Von diesem Druck erzählt das Stück. Ursprünglich war es ein Singspiel, doch nun ist die Musik verloren gegangen. „Kinderkriegen 4.0“ ist – so beschreibt es die Autorin selbst – ein „Musical, dem die Farbe abgeblättert ist“. Auch sonst hat Kathrin Röggla ihren Text überarbeitet und dem heutigen Sprachmüll angepasst. Ein junger Vater – laut Programmheft der „Engagierte“ – springt schon vor Beginn im Publikum herum. An Christopher Heislers Kleidung kleben eine Menge Kuscheltiere. Der Versuch, in die Welt der Kinder einzutauchen, endet schnell in der Grenzdebilität. Den anderen ergeht es nicht viel besser. Das Ensemble sitzt auf einer Mischung aus Klettergerüst und umgekippter Achterbahn. Über ihnen erscheint der Sprechchor des Dortmunder Schauspiels per Video und treibt die Eltern ins panische Zelebrieren ihrer Lebenslügen. Dass die Kinder ihre Ehe gerettet haben sollen, glaubt der „alten Mutter“ und ihrem Mann, dem „Spätberufenen“, keiner. Denn Bettina Engelhardt und Ekkehard Freye spielen ein in Hass und Konventionen erstarrtes Paar, bei dem jedes Kind froh sein kann, wenn es die Jugend einigermaßen unbeschadet überlebt. Ein Bundestagsabgeordneter (Adi Hrustemović) instrumentalisiert seine Familie für politische Zwecke, eine „Rabenmutter“ (Nika Mišković) kümmert sich nur um sich selbst. Auch eine „Kinderlose“ hat Kathrin Röggla in ihr Figurenpanorama aufgenommen, eine junge Frau, die sich für Klimaschutz und Ökologie einsetzt. Aber ein überzeugender Gegenentwurf ist sie nicht. Kostümbildnerin Nicola Gördes lässt die Schauspielerin Linda Elsner mit bunter Haut wie ein Alien aussehen. Kinderlose kommen aus einer anderen Galaxis, sie bleiben Außenseiter in der Diktatur der Infantilität. Dortmunds Intendantin Julia Wissert hat die Texte mit dem Ensemble genau durchgearbeitet, die Botschaften kommen klar und direkt, die Aufführung hat Tempo. Aber man weiß auch nach einer Viertelstunde, wohin der Säugling krabbelt. Oder das Häschen hoppelt. Eine allerdings spielt über ihr Rollenklischee hinaus und entwickelt Momente echter Menschlichkeit. Martina EitnerAcheampong zeigt als Oma eine vielschichtige Persönlichkeit. In ihren Blicken und den kleinen Momenten des Widerstands deutet sie an, dass es doch noch etwas anderes gibt, als sich dem gesellschaftlichen Druck zu unterwerfen. „Die Oma singt“, fordert der Chor von der Leinwand. „Ich singe nicht“, lautet die Antwort. Und wenn sie es doch tut, sind es schrille Opernkoloraturen, kein RolfZuckowski-Zuckergesäusel. Als „satirischen Horrortrip“ hat das Dortmunder Schauspiel die Aufführung angekündigt. Ein gemäßigt böses Sprachspiel ist sie geworden. Bis kurz vor Schluss. Getreu der – zugegeben leicht abgewandelten – Theaterweisheit „Damit sich doch noch was bewege, nimm rotes Licht und Kettensäge“, tobt Ekkehard Freye, der „Spätberufene“, als kleine Hommage an die Horrorikone „Leatherface“ über die Bühne. Doch ein „Blutgericht in Dortmund“ wird nicht daraus, eher der hilflose Versuch eines Amoklaufs nicht alles retten. //
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Andere müssen eben arbeiten … Kathrin Rögglas „Verfahren“ in Saarbrücken uraufgeführt von Björn Hayer
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as Gerichtsdrama scheint en vogue zu sein. Man denke nur an die theatralische Bühnenanklage unseres Versagens in der Klimapolitik, Andres Veiels „Ökozid“, oder an Ferdinand von Schirachs „Gott“, das in verschiedenen Häusern der Republik rauf und runter gespielt wird. Und natürlich wäre da auch noch Elfriede Jelineks „Das schweigende Mädchen“, eine Farce über den NSUProzess zu erwähnen. Und war da noch was? Ja, nun reiht sich auch Kathrin Röggla mit ihrem just am Saarländischen Staatsthea ter zur Uraufführung gebrachten Werk „Verfahren“ in diese Riege ein und nimmt dazu wie die österreichische Nobelpreisträgerin die mehrjährige strafrechtliche Aufarbeitung um Beate Zschäpe zum Anlass. Allerdings betrachtet sie weniger die juristischen Akteure oder die Beweisführung als vielmehr das damalige Publikum. Die stereotypen Figuren „Gerichtsoma“ (Martina Struppek) samt „Gerichtsopa“ (Alexander Ebeert), die „Frau von der türkischen Botschaft“ (Anne Rieckhof), ein „sogenannter Ausländer“ (Raimund Widra), der „Kollege Strafverteidiger“ (Burak Hoffmann), die linksalternative „Blogger*in“ (Silvio Kretschmer) sowie die „Gerichtsdienerin“ (Florence Adjidome) schauen noch einmal zurück. Das Bild wird aber nicht klarer. Der Protagonist mit Migra tionshintergrund erhält kaum Zutritt zum Tribunal, eine andere plädiert dafür, jetzt doch endlich den Blick in die Zukunft zu richten. Auch Kritik findet ihren Raum, etwa an den Medien, die den Prozess vermeintlich klein und gut verdaulich zurechtstutzen wollten. Und überhaupt, findet eine der Figuren, dürfe ja heute vieles nicht mehr gesagt werden. Worum es Röggla bei dieser Umkreisung des lediglich am Rande vorkommenden Gerichtsgeschehens geht, ist offenbar die Frage, was wir daraus gelernt haben. Entgegen aller Hoffnungen, die juristische Prozedur würde uns alle freisprechen und gleich noch erlösen, scheinen die meisten wenig daraus gelernt zu haben. Es stünde eben, so die doppelbödige Wendung einer Pro tagonistin, vieles nicht am „rechten Platz“. Um diesen Missstand zu verdeutlichen, bedient sich Röggla aller Register dekonstruk tiver Sprachkritik. Ihr Text karikiert Phrasen, spielt mit Mehrdeutigkeiten und Klischees. Nur ein Beispiel: Wenn der unter Termindruck leidende Anwalt im Nebensatz betont, dass er ja im Gegensatz zu anderen arbeiten müsse, ist die Flankierung klar. Natürlich schwingt hier das Vorurteil über den faulen, selbstverständlich ausländischen Hängemattenbewohner mit.
kathrin röggla
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Was haben wir gelernt? Das Ensemble der Uraufführung von „Verfahren“ in der Regie von Marie Bues am Saarländischen Staatstheater in Kooperation mit dem Theater Rampe Stuttgart. Foto Martin Kaufhold
Trotz diverser Bemühungen zum Verstehen der Hintergründe bleiben die dargestellten Beobachter des Verfahrens ratlos, schauen sie doch immer wieder in ein von innen beleuchtetes Loch auf der Bühne – als würde darin die große Wahrheit verborgen liegen. Ansonsten sprechen sie zum Publikum, tänzeln, posieren in skurril-surrealen Kostümen über die Bühne und vollziehen nicht
Bewerbungsverfahren www.Kleistförderpreis.de
KL EI 20 ST23 FÖRDERPREIS FÜR JUNGE DRAMATIKERINNEN UND DRAMATIKER
Die Kleiststadt Frankfurt (Oder), die Dramaturgische Gesellschaft und das Kleist Forum Frankfurt (Oder) vergeben im Jahr 2023 zum 28. Mal den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker. Bewerben können sich Autorinnen und Autoren, die zum Zeitpunkt des Einsendeschlusses am 31. August 2022 nicht älter als 35 Jahre sind, mit deutschsprachigen Theatertexten, die zur Uraufführung frei sind. Der Preis ist mit 7.500 Euro dotiert und mit einer Uraufführungsgarantie am Staatstheater Augsburg verbunden.
weiter entschlüsselbare krampfartige Bewegungen beim Szenenwechsel. Das architektonische Ensemble bietet dafür genügend Möglichkeiten. Denn wir haben es mit einem großen Treppen podest mit Rampen zu tun. Alles in (Unschulds-)Weiß, erinnernd an eine Treppe zum Justizgebäude oder eine Mondlandschaft aus einer Zeitreise gleichermaßen. Dahinter ist das Nichts, ein Blick in die Endlosigkeit der Dunkelheit. Auch dieser Prozess wird, wie man uns mitteilt, „nie vorbei“ sein. Wohl auch deswegen kreist die Gerichtsdienerin, die zeitweise in einem überdimensionalen Reifrockkleid auftritt, am Ende mit einem Fahrrad um die Kulisse. Leider kommt ebenso die Inszenierung nicht über eine permanente thematische Umkreisung hinaus. Zwar besticht die sprachkritische Textur Rögglas, gleichwohl mangelt es ihr an einem Mehrwert für eine zweistündige Bühnendarbietung. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch eine allzu dünne Regiehandschrift. Sichtlich mangelt es Marie Bues an genügend aussagekräftigen und zündenden Bildern, um der Vorlage das nötige Leben einzuhauchen. „Que Sera Sera?“, fragt eine Figur mit dem berühmten DorisDay-Lied auf den Lippen. Wer weiß das schon? Zumindest auf den Bühnen der Welt ist die Geschichte um das NSU-Trio noch nicht auserzählt. //
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Hart erkämpfte Stabilität Vom 10. bis 15. Mai findet in Plauen und Zwickau das 11. Sächsische Theatertreffen statt – Überblick einer Landschaft von Michael Bartsch
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it einigem Stolz blickt Sachsen auf seine dichte Theaterlandschaft. Doch ohne Brüche hat trotz des Kulturraumgesetzes auch diese die Jahre nach 1990 nicht überstanden. Plötzlich wurde das reiche Erbe als Last empfunden. Im Wiedervereinigungsjahr 1990 erschien immer deutlicher, dass die Dichte der staatlich finanzierten Kultureinrichtungen im „Beitrittsgebiet“ nicht zu halten war. Die DDR verteilte ihr vergleichsweise bescheidenes Bruttosozialprodukt nach anderen Prämissen, leistete sich aus westdeutscher Sicht einen über dimensionierten Kultursektor. Etwa 70 Theater mit 200 Spielstätten und 88 Orchester bedeuteten Weltrekord in der ProKopf-Versorgung. Laut Artikel 35 des Einigungsvertrags sollte aber die kulturelle Substanz keinen Schaden nehmen. Der Kompromiss bestand in e iner Übergangsfinanzierung des Bundes für die wiedergegründeten ostdeutschen Länder, auf die die Kulturzuständigkeit nunmehr überging. Damit sollte die neu zu schulternde Last bei schwacher Wirtschaftskraft befristet abgefedert werden. Zugleich entstand aber auch ein enormer Handlungsdruck in den ostdeutschen Ländern. Das galt besonders für den mitteldeutschen Raum, speziell für Sachsen.
Der wiedererwachte „Nationalstolz“ auf kulturelle und technische Leistungen kollidierte hier besonders auffällig mit den Finanzierungsmöglichkeiten unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Aber die Sachsen halten sich selbst großen Erfindergeist zugute. Und so fegte 1992 eine nach dem Komponisten Johann Gottlieb Naumann benannte Kommission durchs Land, bei der manchem Bewahrer der hergebrachten Kulturstrukturen nichts Gutes schwante. Die nämlich stellte die Kommission hinsichtlich ihrer Effizienz auf den Prüfstand. Geleitet wurde sie von einem smarten und eloquenten Kulturhistoriker und Manager namens Matthias Theodor Vogt, der für Bayreuth und zahlreiche weitere europäische Festivals gearbeitet hatte. Die Grundsatzempfehlungen der Naumann-Kommission Ende 1992 und ihre Spezifizierung wenig später lösten zunächst einen Aufschrei aus. Auch bei den Theatern, die einschneidende Veränderungen befürchteten. Der Oberlausitz beispielsweise wurde ein Theater- und Orchesterverbund mit den drei Stand orten Görlitz, Zittau und Bautzen nahegelegt. Ähnliches galt für den mittelsächsischen Raum mit einem Musiktheater in Freiberg, dem Schauspiel in Döbeln, einem Ballett in Meißen und der Mittelsächsischen Philharmonie in Riesa. Ein „Kulturraum OsterChristine Hoppe in „Wunschkonzert + Warum läuft Herr R. Amok“ vom Staatsschauspiel Dresden beim diesjährigen Sächsischen Theatertreffen. Foto Sebastian Hoppe
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„Wir sind Rio“ am Gastgebertheater Plauen-Zwickau in der Regie von Franziska Ritter. Foto André Leischner
land“ sollte mit dem Orchester Borna und den Theatern in Altenburg, Zeitz und Naumburg gleich die drei Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt vereinigen. So ging es weiter mit Fusionsvorschlägen bei teil weiser Standortautonomie. Chemnitz und Zwickau wurden als Einheit angesehen, in Leipzig sollten Oper und Musikalische Komödie verschmelzen, in Dresden Operette und die Landesbühnen mit Sitz in Radebeul.
Idee der solidarischen Kulturraumfinanzierung Die stürmische Resonanz auf die alle Besitzstände infrage stellenden Empfehlungen ließ jedoch den Kern der An regungen nahezu unbeachtet. Gerade der aber sollte sich für die zum Verzicht genötigten Einrichtungen später als segensreich erweisen. Die wesentlich auf Vogt zurückgehende Kernidee bestand nämlich in der Schaffung regionaler Kulturräume, man könnte auch von kulturellen Zweckverbänden sprechen, in denen eine solidarische F inanzierung organisiert wird. Die Träger der Kulturräume, also die Landkreise und die drei Großstädte Dresden, Leipzig und Chemnitz, bilden gemeinsam mit den aufgefächerten Zuschüssen des Freistaates jeweils eine Kulturkasse. Die Sitzgemeinden einer Kultureinrichtung werden in kleinerem Umfang beteiligt. Über die Verwendung dieser Kassengelder entscheidet der Kulturkonvent auf der Basis von Beiratsempfehlungen autonom. Erstmals in Deutschland wurde die Kulturfinanzierung zur kommunalen Pflichtaufgabe erhoben. Dieses Prinzip liegt dem im Januar 1994 beschlossenen Sächsischen Kulturraumgesetz zugrunde. Treffend wurde es zwar als „Kind der Not“ bezeichnet, aber es erwies sich wegen der breiteren Finanzierungsbasis den in anderen Ländern üblichen bilateralen Verträgen zwischen Land und kommunalen Trägern über legen. Das gilt vor allem für die „Großverbraucher“ mit hohen Personalkosten, also die Theater und Orchester, weshalb es zum Ärger kleinerer Museen oder Kulturhäuser auch als „Theater- und Orchestergesetz“ apostrophiert wurde.
Weiterhin Spar- und Fusionsdruck Der Spardruck blieb allerdings erhalten, eine von Anfang an intendierte Janusköpfigkeit des Gesetzes. Ein „Weiter so“ gab es nirgends. Die Staatstheater Schauspiel und Semperoper in Dresden blieben weitgehend verschont, aber an allen Kulturraumbühnen wurde Personal abgebaut. Auch die Diskussion um die Strukturund Fusionsempfehlungen der Naumann-Kommission riss nicht ab. Das lag allein schon an der realen Mittelverknappung in den Kulturräumen, denn der anfänglich im Gesetz auf mindestens 150 Millionen Deutsche Mark festgesetzte Landeszuschuss wurde nicht dynamisiert und hinkte der Tarif- und Kostenentwicklung lange hinterher. Finanz- und Kommunalpolitikern gelten hinsichtlich der Theater bis heute Fusionen und Spartenschließungen als das Allheilmittel, um ihre ewig knappen Kassen zu entlasten. Die Orchester in Sachsen sind schon auf eine Minimalversorgung geschrumpft. Am wenigsten zur Ruhe kommt die Oberlausitz. Während über das Kulturraumgesetz noch debattiert wurde, hatte das Theater Zittau zwei Jahre lang nur als Deutschlands erstes und einziges ABM-Theater überlebt, also mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Bundes. Mehrere Gutachten mit verschiedenen Spar modellen scheuchten die Region immer wieder auf. Darunter von Anfang an die Empfehlung eines fusionierten Theaters im Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien mit einer Aufgabenteilung zwischen Görlitz, Zittau und Bautzen. An der Neiße zeigte sich aber auch am deutlichsten, dass Spartenverzicht und Fusionen keine
Tilo Krügel als Frank in „Widerstand“ (UA) von Lukas Rietzschel, Regie Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig. Foto Rolf Arnold
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dauerhafte Stabilität garantieren. Nach endlosen D ebatten hatten Görlitz und Zittau 2011 zum Gerhart Hauptmann-Theater fusioniert. In Görlitz sind M usiktheater, Tanz und die Lausitzphilharmonie beheimatet, in Zittau noch ein arg g erupftes Sprechtheater. Geholfen hat es wenig, der letzte Eklat datiert vom Frühjahr 2021. Ein vom Landkreis Görlitz, namentlich von Landrat Bernd Lange bei der Münchener actori-Beratungsfirma in Auftrag gegebenes Gutachten wollte unter anderem das Görlitzer Ensemble liquidieren und aus dem traditionsreichen Haus eine reine Gastspielstätte machen. Die durchgespielten Szenarien wurden aber auch als Menetekel mit einer bewusst abschreckenden Wirkung interpretiert, um ihre Verwirklichung letztlich zu verhindern. Tränen gab es, als das Theater Döbeln 1992 nach kurzer Schließung seine Selbstständigkeit verlor und mit Freiberg zum Mittelsächsischen Theater fusionierte. Was die Döbelner nicht hinderte, 1997 das 125-jährige Bestehen ihrer Bühne laut zu feiern, heftiger jedenfalls als die 150 in diesem Jahr. Zwischendurch verwüstete das Muldehochwasser zweimal das Haus. Nicht nur Trauer, sondern handfeste Animositäten waren beim nicht ganz freiwilligen Zusammenschluss von Plauen und Zwickau im Spiel. Die eigensinnigen Vogtländer wollten nicht, klopften sogar beim finanziell potenteren und mental näherstehenden Theater in Hof an. Dort lehnte man so charmant wie möglich ab. Erstaunlich unangefochten hat sich in der heimlichen Erzgebirgshauptstadt Annaberg das kleine, aber rührige Eduard-von-Winterstein-Theater etabliert. Die neue Haus leitung hat in ihrer derzeit laufenden ersten Spielzeit Anlauf genommen, auch über die Gebirgsregion hinaus zu strahlen.
Gregor Wolf als Heuschrecke in „Tiere essen“ am theater junge generation Dresden, Regie Nils Zapfe. Foto Marco Prill
Paul-Antoine Nörpe und Sabine Krug in „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede“, Regie Lisa Pauline Wagner am Gerhart-HauptmannTheater. Foto Nikolai Schmidt
Das Jahr 2011 war nicht nur an der Neiße, sondern auch für die in Radebeul beheimateten Landesbühnen Sachsen ein Schicksalsjahr. Die damalige CDU-FDP-Regierung machte mit der lange gehegten Absicht Ernst, die Reise- und Stadtbühne aus der Landesträgerschaft zu entlassen. Der Freistaat blieb aber hundertprozentiger Gesellschafter, kürzte nur seinen Finanzierungsbeitrag. Das Orchester musste mit der Elbland-Philharmonie in Riesa fusionieren. Aus den Kulturraummitteln zweigte das Land kurzerhand reichlich drei Millionen Euro zur Mitfinanzierung der Landesbühnen ab.
11. sächsisches theatertreffen
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Relative Stabilität auch dank „Kulturpakt“
Foto: Mischa Leinkauf / VG Bild-Kunst
Mit Ausnahme der ständig virulenten Oberlausitz hat sich die reduzierte Theaterlandschaft in Sachsen seit einem Jahrzehnt relativ stabilisiert. Die beiden Dresdner Staatstheater als Premium- Bühnen befanden sich schon immer in einer privilegierten Posi tion. Ausdruck der prekären Lage der kommunalen Kulturraumtheater aber war über zwei Jahrzehnte lang die sprichwörtliche Haustariffalle, also der Einkommensverzicht der Beschäftigten zur Rettung ihrer Bühne. Die Differenz zum Tarif wuchs an einigen Häusern bis in Größenordnungen von 30 Prozent. Es wird ein Verdienst der bis 2019 amtierenden Kunstministerin Eva-Maria Stange (SPD) bleiben, dass mit einem gemeinsamen Kraftakt von Freistaat und Kommunen 2018 der Sprung heraus aus dieser Falle geschafft wurde. Etwa 13 Millionen Euro Zuschusserhöhung kostete die Rückkehr zu den theaterüblichen Tarifen. Für diesen „Kulturpakt“ konnte die Ministerin den Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) zunächst intern gewinnen. Ausgerechnet zur Eröffnung des letzten Sächsischen Theatertreffens vor Corona im Mai 2018 stellte der sich im Dresdner Schauspielhaus überraschend dann öffentlich an die Spitze der Bewegung und forderte eine „ordentliche Bezahlung der Kulturschaffenden“.
Vielfalt und Breite und ein Neubau
Schauspiel
DAS WEITE LAND ARTHUR SCHNITZLER / BARBARA FREY / MARTIN ZEHETGRUBER ab 20. August 2022 Jahrhunderthalle Bochum Schauspiel / Deutsche Erstaufführung
UNA IMAGEN INTERIOR — EIN BILD AUS DEM INNERN EL CONDE DE TORREFIEL ab 15. September 2022 PACT Zollverein, Essen Schauspiel / Rave
RESPUBLIKA ŁUKASZ TWARKOWSKI / BOGUMIL MISALA / JOANNA BEDNARCZYK / FABIEN LÈDÈ / LITHUANIAN NATIONAL DRAMA THEATRE ab 9. September 2022 Jahrhunderthalle Bochum
Tickets und das komplette Programm unter www.ruhrtriennale.de
Gesellschafter und öffentliche Förderer
Nach Zählung des Kultur- und Tourismusministeriums bieten derzeit 80 sächsische Spielstätten fast 30 000 Besucherplätze an. Freie Theater, Amateurbühnen, Kabaretts und meist der Unterhaltung gewidmete private Bühnen eingeschlossen. Nicht zu vergessen sind auch Naturbühnen wie Jonsdorf am Zittauer Gebirge, Rathen im Elbsandsteingebirge, die Greifensteine im Erzgebirge oder das NaturTheater Bad Elster. Überregional aufmerksam registriert worden ist einer der wenigen Theaterneubauten in der Bundesrepublik. Nach mehr als 20 Jahren Kampf bezogen 2016 die Dresdner Staatsoperette und das Theater Junge Generation endlich ein neues Domizil im ehemaligen Kraftwerk Mitte. Damit wurden nicht nur die baulichen Probleme der zuvor genutzten Nachkriegsprovisorien gelöst, sondern auch eine interessante Verbindung mit der Industriearchitektur geschaffen. Die Ausbildung von Schauspielern und Dramaturgen konzentriert sich auf Leipzig und seine nach Mendelssohn-Bartholdy benannte Hochschule für Musik und Theater. Das Institut für Theaterwissenschaften der Universität, 2014 durch HochschulSparpläne schon einmal von der Schließung bedroht, wurde 2016 um ein Kompetenzzentrum erweitert. Bei den Theatertreffen leider nicht vertreten ist die freie Szene, deren meist in den frühen 1990er Jahren erfolgte Gründungen und mehr noch ihr Überlebensgeschick zu den unbestrittenen Zuwächsen der sächsischen Theaterlandschaft gehören. Hier hinterließ die DDR nun wirklich kaum Bewahrenswertes, entstand bemerkenswert Neues. Die Leipziger naTo wäre ebenso zu nennen wie das Projekt- und das Societaetstheater in Dresden. Wenn auch nur unzureichend gefördert, sind sie doch in einem Landesverband und in den Großstädten gut organisiert. Das Landesbüro Darstellende Künste Sachsen e. V. ist als eine zentrale Service- und Schnittstelle tätig. //
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Verschlungen vom Theater André Kaczmarczyk rockt als Schauspieler und Regisseur das Düsseldorfer Schauspielhaus. Seit Neuestem ist er auch Fernsehkommissar im „Polizeiruf 110“ in Frankfurt (Oder) von Stefan Keim
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ady Macbeth ist tot. Einfach umgekippt, nicht von den Mauern des Schlosses Dunsinane gesprungen. Sie ist deutlich älter als Macbeth, mehr Mutter als Ehefrau. Er steht direkt daneben, ein schmaler junger Mann, der die einzige Person verloren hat, die ihm noch geblieben ist. Der Schauspieler André Kaczmarczyk hebt langsam die Arme. Es wirkt, als wolle er ein unsichtbares Instrument spielen, einen Kontrabass. Dann scheint er zu tanzen, erst mit dem Geist der Lady, dann mit sich allein. Es gibt keine Musik zu dieser Szene, und das ist großartig. So liegt alle Aufmerksamkeit auf diesem Mann, der alles verloren hat. Und man sieht, wie er reagiert, rein körperlich, ohne dass sich der Tanz klar deuten ließe. Ein großer Theatermoment. „Das ist wie ein Übertritt in den Wahnsinn, den man gar nicht anders zeigen könnte“, sagt André Kaczmarczyk im Gespräch.
„Der Tanz entsteht an jedem Abend neu.“ Eine Choreografin war hier nicht im Spiel. Die Bewegungen kommen aus dem Inneren, sind Ausdruck purer Emotion und deshalb auch unvorhersehbar. André Kaczmarczyk lässt sich auf so etwas ein, völlig natürlich, ohne einen Anflug von Scheu. Das macht sein Spiel bei aller Virtuosität so offen und faszinierend. Er ist einer dieser wenigen Spieler, die in jeder Rolle zum Protagonisten werden. Weil auch in kleinen und stillen Momenten zu spüren ist, dass ihnen eine unerschöpfliche Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht. Gert Voss war auch so einer. Seit sechs Jahren arbeitet André Kaczmarczyk am Düsseldorfer Schauspielhaus, vorher war er seit 2011 mit Intendant Wilfried Schulz in Dresden. Obwohl er längst so etwas wie ein Star des Hauses ist, macht er sich nicht rar. Im Gegenteil, in den Ohne einen Anflug von Scheu: André Kaczmarczyk als Macbeth in der Inszenierung von Evgeny Titov am Düsseldorfer Schauspielhaus. Foto Thomas Rabsch
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vergangenen Jahren hat er fast unermüdlich gearbeitet. Als Erich Kästners „Fabian“, als „Caligula“ von Albert Camus, auch im Jugendstück „Auerhaus“ von Bov Bjerg, als schillernder Valentine in David Bowies „Lazarus“-Musical oder als Loge open air auf dem Gustaf-Gründgens-Platz vor dem Schauspielhaus in einer etwas braven und breiten Neuerzählung des „Rheingold“. Erst saß man sie ab, die bemühte Mythe, bis der Gott des Feuers auftrat, Loge mit roten Augenlinsen und rötlichem Mantel. Schon das Kostüm war eine Schau, doch André Kaczmarczyk verließ sich nicht darauf. Er tänzelte mit den Worten wie mit dem Körper, zog die Strippen nicht nur, sondern verdrehte und ver knotete sie lustvoll, am Ende folgten alle seinen Vorgaben. So könnte er auch einen Mephisto anlegen, der Gustaf Gründgens das unreine Wasser reichen könnte. André Kaczmarczyk spielt nicht einfach nur Rollen, er definiert sie. So geschieht es nun auch im „Macbeth“. Kein kerniger Feldherr steht da auf der Bühne, der sich erst das Blut der frisch geschlachteten Feinde von den Schultern duschen müsste. Sondern ein unsicherer Junge, der völlig verwirrt ist, weil ihm drei seltsame Gestalten etwas über seine Zukunft erzählen. Eine Zukunft, die mit großer Macht zu tun hat, sogar mit der Königs krone. Selbst als ihm seine mütterliche Lady (Manuela Alphons ist fast 40 Jahre älter als Kaczmarczyk) ihre Ziele unzimperlich klarmacht, hat dieser Macbeth kindliche Züge. Er wirkt fast, als wolle er lieber eine Spielzeugeisenbahn als Englands Thron. „Macbeth rutscht von einem Zustand der Unschuld in einen der Schuld“, sagt André Kaczmarczyk über seine Rolle. „Warum das passiert, wird im Einzelnen gar nicht so klar beantwortet. Das ist auch gut so.“ Der 36-Jährige hört im Gespräch genau zu, interessiert sich dafür, was der andere gesehen hat, stellt Nachfragen. Seine Antworten bleiben manchmal ungenau. Er formuliert die Grundthesen der Inszenierung, natürlich setzt er sich auch sehr intellektuell mit den Stücken und Rollen auseinander. Doch wie am Ende Kunst entsteht, ist ein Geheimnis und soll es bleiben: „Das ist doch das Merkwürdige im Leben und im Theater. Vieles ist irrational und bleibt unerklärbar. Mir ist vieles rätselhaft, und warum sollte es dann in einer Figur und im Theater anders sein?“ André Kaczmarczyk ist auch Regisseur. Er hat in Düsseldorf einige musikalische Abende inszeniert. Mit Songs verbinden die meisten im Publikum eigene Bilder und Erinnerungen. „Ich arbeite gern mit Musik und Tanz“, sagt Kaczmarczyk, „weil eine Bewegung oder eine Melodie unmittelbarer ist als die Sprache.“ Und für Shakespeare und David Bowie, für Deep Purple oder Hans Fallada (in dessen „Kleiner Mann, was nun?“ Kaczmarczyk gerade den Pinneberg spielt) gilt: „Es gibt nicht die eine Interpretation, sondern immer nur eine Möglichkeit von vielen. Die Suche nach einer letztgültigen Wahrheit funktioniert in unserer Zeit wahrscheinlich ohnehin nicht mehr.“ In diesem Geist hat André Kaczmarczyk gerade Virginia Woolfs „Orlando“ inszeniert. Die schillernde Geschichte eines Mannes, der jahrhundertelang lebt und zwischendurch das Geschlecht wechselt, von Liebe und Vergehen, von Freiheit und Unterdrückung kommt als opulent ausgestattetes Totaltheater auf die fast platzende Bühne des kleinen Hauses. „Da sind alle Diskurse unserer Zeit drin“, erläutert Kaczmarczyk. „Aber es hat mich nicht interessiert, diesen Stoff mit diskursiven Mitteln zu verhandeln. Es sollte ein überbordendes Feuerwerk von Bildern, Kostümen, Klän-
andré kaczmarczyk
gen und Worten sein, ein ästhetischer Ausfluss sozusagen. Ich finde, das ist sehr nahe an Virginia Woolf. Sie verirrt sich ja auch beim Schreiben, findet wieder zurück, verliert sich wieder.“ Der Abend hat Schwächen. Die von Matts Johan Leenders komponierten – und von Kaczmarczyk getexteten Songs – bleiben wummernd-glitzerndes Beiwerk ohne Eigenleben, manche Rollen wirken grotesk überdreht, ohne dass ein Hintergrund zu erkennen wäre. So schleichen sich Längen in die dreistündige Aufführung. Aber es ist auch eine Vision zu spüren, eine ungebremste Theaterlust, wie sie in Zeiten einer diskursiven Dominanz selten geworden ist. „Inszenieren macht mir Freude und große Lust, das Suchen und Finden einer Form und Ästhetik. Ich lerne ja viel dabei und stehe auch noch ganz am Anfang davon“, sagt André Kaczmarczyk. „Natürlich inszenieren Schauspieler anders als Leute, die auf einer Regieschule waren. Ich glaube, das kann eine Bereicherung sein. ‚Orlando‘ ist verspielt und nicht auf eine bestimme These zugespitzt. Diskurse müssen anklingen auf der Bühne, aber ich möchte sie dort nicht akademisch durchdiskutieren. Mir geht es ums Spiel auf ganz verschiedene Weisen.“ Das Spiel. Immer wieder das Spiel. Der Mann will wirklich spielen. Spiel als Leidenschaft und Lebensinhalt. Um den Rätseln näherzukommen im Wissen, dass man sie nie lösen kann. Wie entsteht so eine absolute Hingabe an das Spiel? „Da gilt die alte Plattitüde: Ich wusste das schon immer. Als Kind war ich mal im Zirkus und wollte dorthin gehen. Die Welt hat mich verschlungen. Dann war ich zum ersten Mal im Theater. Dieser Raum, in dem vor meinen Augen etwas passiert, das nicht real ist, hat mich fasziniert. Da hab ich gespürt, da will ich hin, da will ich immer sein.“ Die Familie und die Freunde haben das akzeptiert. „Das haben alle mit misstrauischem Blick angeguckt, aber mich konnte niemand davon abhalten. Das war halt so. Das ist so.“ In einem anderen Interview hat André Kaczmarczyk von seiner Jugend in Thüringen erzählt. Von seinem aus Polen stammenden Vater, der die Familie verlassen hat, dem Stiefvater, einer „typischen Nachwende-Absteiger-Geschichte“, dem Lebensgefühl der allgemeinen Abwicklung in Eisenach, wo die Schauspielsparte des Theaters eingestellt worden war. Und von dem freien eise nacher burgtheater, das seine erste Spielstätte wurde. Diesmal hat er keine Lust auf die Erzählung seiner Lebensgeschichte. Wir treffen uns auf Distanz, per Videokonferenz. Kaczmarczyk hat’s gerade erwischt. Positiv getestet. Keine Symptome, eine Woche lang putzmuntere Isolation. Für jemanden wie ihn ist das besonders schwer. Für jemanden, der sagt: „Ich kann keinen Tag rumlaufen, ohne über Kunst und Theater nach zudenken, was das soll, warum man das alles macht. Ich bin da völlig verschlungen mit dem Theater.“ Den Begriff „verschlungen“ hat er schon einmal benutzt, in einer anderen Bedeutung. Als Kind war es der Zirkus, der ihn verschlungen hat. Nun ist er aktiver Teil der Kunstwelt, mit ihr verschlungen. Theater als Zufluchtsort aus den Zumutungen des Lebens? André Kaczmarczyk kann mit dem Begriff viel anfangen. „Das Theater war und ist für mich ein Zufluchtsort. Obwohl Theater so viel mit der Realität zu tun hat, genieße ich es auch, dass es ein Ort des Irrealen ist, ein Fluchtraum vor ich weiß nicht was. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, warum das so ist. Ich fühl mich im künstlichen Raum realer als im realen Raum.
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porträt
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Das ist irgendwie strange, daran hätten Psychoanalytiker bestimmt ihren Spaß. Oder ihre liebe Mühe.“ In einer Rolle, die ihn wohl viele Jahre lang begleiten wird, spielt André Kaczmarczyk nun einen Mann, der Psychologie studiert hat. Oder eine Frau? Ganz klar ist das nicht, denn Vincent Ross, der neue Kommissar im „Polizeiruf 110“, kleidet und schminkt sich völlig selbstverständlich feminin. Eine neue Figur im Sonntagabend-Krimi, passend, dass die beiden Kommissare – neben Kaczmarczyk spielt Lucas Gregorowicz ein Paradebeispiel heteronormativer Männlichkeit – grenzüberschreitend ermitteln, in Frankfurt an der Oder und dem polnischen Słubice. Oft wirken Schauspieler:innen an solchen Rollen, die sich über viele Jahre hinweg entwickeln, mit. „Es gab einige Gespräche, was da passieren soll“, erzählt André Kaczmarczyk. „Ich hatte wenig Interesse, einen stereotypen Bullen zu spielen, und wollte einen neuen Angang finden, einen Kriminalfall zu lösen. Die Idee stammte dann von den Autoren. Die Redaktion hat das unter dem Begriff ,genderfluid‘ gelabelt, was auch immer das genau dann bedeutet. Wie sich die Figur entwickelt, steht noch nicht fest, die weiteren Drehbücher werden ja erst noch geschrieben. Und letztlich ist es auch nur ein Merkmal der Figur unter vielen anderen.“ Figuren zwischen den Geschlechtern, auch klare Frauenrollen, hat André Kaczmarczyk schon öfter gespielt. „Das Vermischen und Verrühren, vielleicht auch das Auflösen von stereotypen Bildern finde ich spannend. Das Spiel mit Geschlechtergrenzen öffnet Räume und Möglichkeiten.“ Neue Möglichkeiten bietet nun auch die wachsende Fernsehpopularität. Da werden einige Angebote kommen von Menschen, die Kaczmarczyk bisher nicht auf 15. — 17. Juni 2022 Theaterakademie August Everding München www.theater akademie.de/ zukunfts konferenz
dem Schirm hatten. Und wahrscheinlich reißen sich ohnehin schon die großen deutschsprachigen Bühnen um ihn. Der Schauspieler lächelt: „Die Leute rufen nicht jeden Tag an und fragen, ob ich nicht endlich ans Deutsche Theater kommen will. Ich habe mich zur nächsten Spielzeit entschieden, meinen festen Vertrag in Düsseldorf zu beenden, ich brauche etwas mehr Freiraum, auch für den ‚Polizeiruf‘, da bieten sich auch andere Möglichkeiten.“ Bisher hat es ihn nicht danach gedrängt, Düsseldorf zu verlassen. „Ich habe versucht, mich in den vorhandenen Strukturen neu zu suchen. Ich habe mich gut aufgehoben gefühlt, viele Möglichkeiten bekommen, habe interessante Regisseurinnen und Regisseure kennengelernt. Man kommt irgendwann an einen Punkt, an dem man auch etwas anderes ausprobieren möchte. Nicht weil ich unzufrieden wäre, sondern um weiterzukommen.“ In Düsseldorf wird er wieder inszenieren und seine Rollen weiterspielen. Und ansonsten sehen, was passiert. Dass ihm die Welt des Theaters und vielleicht auch bald des Films offensteht, weiß André Kaczmarczyk. Aber er sagt es nicht. Er ist ein zurückhaltender Mensch. Ein Spieler, kein Selbstdarsteller. Auf der Bühne eine Wucht, privat zurückhaltend. Gibt er eigentlich gern Interviews? Er macht eine Pause, bevor er antwortet: „Man soll nicht zu viel sagen. Die Menschen sollen sehen, was sie sehen. Ich habe aber auch nichts dagegen, darüber zu reden. Es wäre albern, sich zu zieren. Aber ich möchte gar nicht so viel preisgeben über das Entstehen der Dinge. Manche Sachen müssen bei einem bleiben und einem gehören, ohne dass das Teil der Öffentlichkeit ist.“ André Kaczmarczyk sagt einen Satz, der typisch für ihn ist. „Es ist schwierig zu erklären.“ //
WENDECIRCUS DIE PALAST-EDITION!
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THEATER- UND ZIRKUS-REVUE ÜBER DIE WENDEZEIT 1989/90 12.–15. MAI 2022 HUMBOLDTFORUM.ORG
kommentar
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Spielpläne im Virensturm Flächendeckend sagen die Bühnen Vorstellungen und Premieren wegen der vielen Infektionen ab von Stefan Keim
Foto Nathalie Eckstein
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as Schauspielhaus Bochum hat im gesamten März kaum einmal im großen Haus gespielt. Ob Aufführungen an den deutschsprachigen Theatern stattfinden, ist zu einer Art Lotterie geworden. Nicht nur Schauspielhäuser, besonders Opernensembles und Ballettkompagnien sind betroffen. Je größer ein Ensemble ist, umso mehr wächst die Gefahr, dass sich Infektionen ausbreiten. Die Oper Bonn wollte schon vor Wochen Giacomo Meyerbeers völlig unbekanntes Singspiel „Ein Feldlager in Schlesien“ der Vergessenheit entreißen. Die ersten vier Premierenversuche mussten abgesagt werden. „Das ist auf jeden Fall die chaotischste Phase dieser ganzen Pandemie“, sagt Bonns Generalintendant Bernhard Helmich, „und die, die für uns alle mit ganz großem Abstand am anstrengendsten ist.“ Die Geschäftsführerin des Deutschen Bühnenvereins Claudia Schmitz bestätigt: „Die Absage von Vorstellungen und das Verschieben von Premieren betrifft die Bühnen derzeit tatsächlich deutschlandweit. Für die Bühnen bedeutet das eine massive Beeinträchtigung ihrer Arbeit. Sie müssen nicht nur täglich, sondern zum Teil stündlich neu disponieren. Kann die Vorstellung heute stattfinden? Kann ich etwas anderes spielen? Muss ich die Vorstellung komplett absagen?“ In den Betriebsbüros glühen die Telefone, weil sie ver suchen, für positiv getestete Sängerinnen und Sänger noch schnell Ersatz zu finden. In den Schauspielensembles ist Einspringen über Nacht fast schon zum Alltag geworden. Sollte man vielleicht dazu übergehen, für jede Vorstellung gleich ein Ersatzstück mitzuplanen, um das Publikum nicht wegschicken zu müssen? Bernhard Helmich verweist darauf, dass das Virus nicht nur Menschen erwischt, die auf der Bühne stehen: „Wenn alle Bühnenmeister positiv getestet sind, da können Sie, was den Spielplan betrifft, so flexibel sein wie Sie wollen, dann geht einfach nichts mehr.“ Natürlich trifft es auch kleine Bühnen und die Privattheater, die einen großen Teil ihres Etats an der Abendkasse einspielen. René Heinersdorff. Sprecher der Privattheater im Deutschen Bühnenverein, bringt es auf den Punkt: „Vor Corona sind Schauspieler todkrank auf die Bühne gegangen. Mit Corona bleiben sie kerngesund zu Hause.“ Tests gibt es in den Theatern vor jeder Vorstellung. Dann warten alle auf die Ergebnisse, die manchmal erst kurz vor der
Vorstellung eintrudeln. Wenn überhaupt, es häufen sich Geschichten aus den Orchestern und Ensembles von Menschen, die während der laufenden Vorstellung auf ihre Ergebnisse warten und im Zweifelsfall nicht auftreten dürfen. René Heinersdorff fordert: „Ganz klar, keine Testungen mehr, wenn keine Symptome da sind. Wenn Symptome da sind, testen und im positiven Fall es der Eigenverantwortung der Direktion und dem Ensemble überlassen, ob man trotzdem spielt.“ Mehr Eigenverantwortung im Umgang mit der Pandemie läge auf einer Linie mit dem neuen Infektionsschutzgesetz, das kaum noch Schutzmaßnahmen vorschreibt. Doch Claudia Schmitz vom Bühnenverein steht zu den Tests der Bühnenbeschäftigten: „Das hat damit zu tun“, sagt sie, „dass die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verpflichtet sind, ihre Beschäftigten zu schützen. Dazu dienen Testkonzepte, die für die Beschäftigten gelten, die bei ihrer Tätigkeit keine Abstände einhalten können und auch keine Maske tragen können.“ Die städtischen Bühnen und Landestheater scheinen die finanziellen Verluste im Moment wegstecken zu können. Allerdings erwarten sie in den nächsten Jahren harte Etatverhandlungen, wenn es keine Sonderhaushalte mehr gibt, um die Kosten von Krieg und Katastrophen aufzufangen. „Über den Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen“, erklärt Claudia Schmitz, „können Bühnen, Privattheater und geförderte Bühnen bei der Absage einer Vorstellung bis zu 90 Prozent der tatsächlich entstandenen, veranstaltungsbezogenen Kosten erstattet bekommen. Hier versuchen wir, uns als Bühnenverein einzubringen, um sicherzustellen, dass diese Gelder auch bei den Bühnen landen.“ Das gilt anscheinend nicht für die Tourneetheater, Joachim Landgraf, Geschäftsführer der 1945 gegründeten Konzertdirektion, schreibt in einer E-Mail: „Die derzeitigen Absagen treffen uns härter als die gesamten Absagen während des Lockdowns. Da wir diejenigen sind, die die Vorstellungen aus Krankheitsgründen der Schauspieler absagen müssen und somit keinen Ausgleich von den Kommunen, dem Bund oder dem Fonds Neustart Kultur erhalten.“ Bonns Intendant Bernhard Helmich klang bisher selten ratlos. In Anbetracht der Lage ist er es: „Alle unsere Überlegungen, was wir da tun können, um unser Publikum weniger zu enttäuschen als wir es im Moment leider tun müssen, schlagen derzeit fehl.“ Die Hoffnung liegt auf sinkenden Inzidenzen im Sommer und dass sich die Lage im Herbst trotz fehlender Impfflicht nicht wieder verschärft. Die meisten Expert:innen befürchten allerdings genau das. //
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protagonisten
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Mit Blick in die Welt Das JES Stuttgart verabschiedet seine Intendantin Brigitte Dethier von Elisabeth Meier
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ach 20 erfolgreichen Jahren am Jungen Ensemble in Stuttgart verabschiedet sich Intendantin Brigitte Dethier mit dem internationalen Festival Schöne Aussicht. In einer kleinen Wohn küche erlebt Oma Monika mit ihrem Enkel Abenteuer. Wenn seine Eltern bei der Arbeit sind, fragt der Junge die Seniorin, wie ihr Leben war. Brigitte Dethier, Theaterchefin des Jungen Ensembles Stuttgart (JES), steht in dieser schwierigen Rolle selbst auf der Bühne. Umsichtig denkt sie sich in die Welt der Frau hinein, die immer mehr die Orientierung im Alltag verliert. „Weißt du noch, was dein Beruf war?“ Die Neugier des Jungen, den Sebastian Kempf spielt, ist deutlich zu spüren. Das verwirrt die demenzkranke Frau. Sie erinnert sich nur noch daran, „dass er zwölf Buchstaben hatte“. In dem Stück des jungen Regisseurs Milan Gather, das für den KinderstückeWettbewerb des Mülheimer DramatikerWettbewerbs ausgewählt wurde, geht es um das Verstehen. „Diese Rolle zu spielen, das war ein Traum für mich“, sagt die 63-jährige Intendantin des JES. Zum Ende der Spielzeit gibt sie die Leitung der Kinder- und Jugendbühne am Stuttgarter Tagblatt-Turm in jüngere Hände an ihre Nachfolgerin Grete Pagan. An Ruhestand denkt die Regisseurin, die auch Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für das Kinder- und Jugendtheater (ASSITEJ) ist, noch lange nicht: „Die nächsten zwei Jahre bin ich mit Regieaufträgen ausgebucht.“ Wieder frei zu arbeiten, das reizt die Theaterfrau, die in Stuttgart-Sillenbuch am Waldrand lebt. Bei Spaziergängen rund um den nahen Fernsehturm entspannt sie sich, denkt über kommende Projekte und kulturpoli tische Krisen nach. „Vielleicht inszeniere ich später mal wieder am JES“, sagt die Künstlerin. Ab Herbst möchte sie aber erst mal Grete Pagan das Ruder überlassen. Die designierte Intendantin des JES, das Dethier aufgebaut hat, fing 2004 als Regieassistentin bei der Stuttgarter Bühne an. Dass ihre Nachfolgerin ein „Eigengewächs“ ist, das macht die Intendantin glücklich und stolz. Dass sie zum Ende ihrer Laufbahn noch mal selbst auf der Bühne stehen darf, ist für die temperamentvolle Theaterfrau besonders herausfordernd. Parallel zu ihrem Studium der Germanistik,
Theaterwissenschaften und Psychologie in Frankfurt machte sie in Heidelberg ihre Schauspielausbildung. Dann begann sie ihre Theaterlaufbahn an der Schauburg, dem Theater der Jugend in München. 2002 gründete sie die Kinder- und Jugendbühne JES, deren Strahlkraft weit über die baden-württembergische Landeshauptstadt hinausreicht. Das internationale Festival Schöne Aussicht, das vom 8. bis 15. Mai im JES und an anderen Spielorten in der Stadt über die Bühne geht, hat die Vernetzerin ebenfalls aufgebaut. Wer die Künstlerin mit dem ansteckenden Lachen auf der Bühne erlebt, spürt, dass sie da ganz in ihrem Element ist. Mit dem Enkel backt sie Stachelbeer kuchen und diskutiert über die Gleich stellung der Frau in den 1950er Jahren. Mit dicker Brille und angegrautem Dutt tanzt sie sich mit dem Jungen in Erinnerungen an ihre große Liebe und an ihr Leben als berufstätige Frau hinein. Bittere Momente hat das Stück, wenn der Junge versucht, seine Oma zu erziehen. Da schöpft Dethier aus der Krankheitsgeschichte ihrer eigenen Mutter. „Es ist nicht leicht, damit umzugehen, dass der geliebte Mensch immer mehr vergisst, sich im Alltag immer weniger orientieren kann.“ Zärtlich zeichnet die Schauspielerin Dethier auf der Bühne das Bild eines Menschen, der einfach den Augenblick genießt. Lächelnd träumt sie sich in das Lokal hinein, in dem sie mit ihrem Mann Konradin tanzte. Sie schüttelt die Glieder, strahlt wie ein Schulmädchen, ist plötzlich mit dem eigenen Enkel wieder jung. Oder sie zieht als Chefredakteurin politische Strippen. Im geistigen und körperlichen Verfall die eigene Würde zu bewahren, das zeigt die Schauspielerin wunderschön und sehr sensibel. „Dass Generationen dieses Stück gemeinsam besuchen, das finde ich wunderbar.“ Dethier versteht es auch, die bitteren Seiten des Älterwerdens auf der Bühne zu zeigen. Wenn ihre Oma Moni ratlos vor dem Herd steht, nicht weiß, was sie tun soll, dann schwingt da auch viel Bitterkeit mit. Da scheut sich die Schauspielerin auch nicht, ihre eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht zuzulassen. Solche Momente schafft der junge Regisseur Milan Gather in der einstündigen Inszenierung für Kinder ab acht Jahren immer wieder. Obwohl Brigitte Dethier leidenschaftlich gern an der Schauspielschule studiert hat und auf der Bühne stand, wechselte sie früh ins Regiefach. Das Kinder- und Jugendtheater ästhetisch weiterzuentwickeln, hat die Künstlerin gereizt. „Früher gab es da viele Vorurteile“, erinnert sie sich. Theater für Kinder, das galt in ihren Brigitte Dethier. Foto Jan Merkle
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brigitte dethier
Wichtig ist Brigitte Dethier in ihrer Anfangsjahren als künstlerisch Theaterarbeit der Blick in die Welt. zweitklassig. Dagegen hat Brigitte Mit dem Theaterfestival Schöne AusDethier angekämpft. Musik, Tanz, Performance und die bildenden sicht versammelt sie internationale Künstlerinnen und Künstler in Stutt Künste gehören für sie gerade beim Theater für Kinder dazu. Und weil gart. Eine langjährige Weggefährtin ist Jennie Reznek vom Magnet TheaKinder aus ihrer Sicht ein besonders kritisches Publikum sind, entwickeltre in Südafrika, das „Stone Play“ für Kinder ab drei Jahren in Stuttgart te sie da auch in ihren eigenen Regiearbeiten großen Ehrgeiz. zeigen wird. „Ich wünsche mir, dass „Alle Sinne herausfordern, deutsche Künstlerinnen und Künstler mit den internationalen Ensembschon die Kleinsten künstlerisch ausbilden“, das ist der Anspruch der les aus Belgien, Holland und der Schweiz miteinander in Kontakt unkomplizierten Theaterfrau. Wenn im JES Vorstellung ist, mischt sich kommen“, bringt Dethier das Festivalkonzept auf den Punkt. Dass die Brigitte Dethier gerne unter das junpersönliche Begegnung an den groge Publikum, tratscht mit Teenagern oder trinkt einen Tee mit den Eltern, ßen Esstischen, die im Foyer unter dem Stuttgarter Tagblatt-Turm aufdie über die spannenden künstlerischen Konzepte staunen. Wenn die gestellt werden, wieder möglich sind, Kinder und Jugendlichen dann späfreut die Intendantin. Arbeitstreffen ter im Theaterraum lachen und staufür Künstlerinnen und Künstler aus nen, freut sich die Intendantin mit. allen Sparten runden das FestivalKämpferisch war Brigitte Brigitte Dethier und Sebastian Kempf in „Oma Monika“ programm ab. am Jungen Ensemble Stuttgart. Foto Alex Wunsch Mit der Produktion „Hotel Dethier schon immer. Mit ihren innovativen Ideen hat sie entscheiEuropa“, ihrer vorerst letzten Arbeit am JES, erfüllt sich Dethier ihren dend dazu beigetragen, BadenWürttemberg auch zum Musterland in Sachen Theater zu Traum vom internationalen Theater. Für das Ensemble hat sie zehn Spieler:innen aus sieben Ländern um sich geschart. „Wegen machen. Von 1989 bis 1993 war sie Künstlerische Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters an der Landesbühne Esslingen, von der Pandemie stand die Besetzung bis zuletzt auf der Kippe“, sagt die Regisseurin, die das Projekt gemeinsam mit Kjell Moberg vom 1993 bis 1995 in gleicher Funktion am Landestheater Tübingen. Chefin des berühmten Kinder- und Jugendtheaters Schnawwl am NIE Theater realisiert. Mit ihm hat sie auch bereits das Projekt „The Emigrants“ in Szene gesetzt, das die Flüchtlingskrise aus Nationaltheater Mannheim war sie von 1996 bis 2002. Gerade in vielstimmigen Blickwinkeln untersucht. „Wir fragen, was den den Anfangsjahren stieß Dethier auf viel Widerstand, etliche Kontinent überhaupt noch zusammenhält“, sagt die Regisseurin. Theaterchefs lehnten es ab, finanzielle Mittel für eigene KinderDieser Frage mit Menschen aus unterschiedlichen Theaterkultuund Jugendensembles abzuzwacken. „Überzeugen“, das hat Dethier auch viel Kraft gekostet. Inzwischen haben sich Qualität ren nachzuspüren, das reizt sie. Wie geht es weiter, wenn das Alte nicht mehr ist? Diesen Horizont des zerfallenden Europas will das und Bedeutung des Kinder- und Jugendtheaters durchgesetzt. 2002 gründete sie das Junge Ensemble in Stuttgart, das BühRegieteam erkunden. Dass die Intendantin bis zuletzt mit Absanenkunst für die junge Generation mit umfassenden theaterpädagen und Neubesetzungen im Ensemble kämpfen musste, hat ihr die Arbeit sehr erschwert. „Endlose Zoom-Sitzungen“ haben das gogischen Angeboten verbindet. Dass das Haus stetig wuchs, ist auch ihrem politischen Geschick zu verdanken. Sie scheute sich internationale Projekt dann trotz der Pandemie möglich gemacht, das am 1. Mai in einem Gemeindesaal in Stuttgart Premiere feiert. nie, in wichtigen Gremien ihre Stimme zu erheben. Im Vorstand Lange wird Brigitte Dethier sich dann aber danach nicht des Deutschen Bühnenvereins hat sie viel bewegt. Manchmal wirkt ausruhen können. Am Theater Luzern realisiert sie das vierjäh die Künstlerin, die sich mit den Jahren immer mehr in die Rolle rige Projekt „Das Ring-Ding“, das in dieser Spielzeit startete. einer kulturpolitischen Akteurin hineinfand, erschöpft. Denn es Richard Wagners großen „Ring des Nibelungen“ spiegelt sie in war nicht immer einfach, Gelder für ihre ambitionierten Theaterdem spartenübergreifenden Projekt im modernen Fantasy-Genre. projekte einzutreiben. „Gerade das Kinder- und Jugendtheater war von Spardebatten besonders hart getroffen.“ Oft hat auch sie sich da Auf die langen Spaziergänge am Vierwaldstätter See freut sie sich schon jetzt. Ihre Leidenschaft für das Musiktheater hat sie an der eine blutige Nase geholt. Wenn sie von der Rotstiftpolitik spricht, ist da viel Frust herauszuhören. Für ihre Verdienste um die EntwickDeutschen Oper Berlin mit ihrer hoch gelobten Lesart von Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ aus der Sicht lung des Kinder- und Jugendtheaters hat das Land Baden-Württemstarker Mädchen wiederentdeckt. „Weniger Verwaltungsarbeit“, berg die couragierte Theaterchefin 2004 mit der Verdienstmedaille das werde sie genießen, wenn sie nicht mehr Intendantin ist. Den ausgezeichnet. Für ihre Inszenierung „Noch fünf Minuten“ bekam neuen, künstlerischen Lebensabschnitt will die Theaterchefin mit sie 2009 gemeinsam mit dem belgischen Choreografen Ives Mut zum Experiment anpacken. // Thuwis-De Leeuw den Deutschen Theaterpreis Der Faust.
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Unbedingtes Wissenwollen Rede zur Trauerfeier für Hans Neuenfels von Klaus Zehelein
I
ch wollte nie die klassischen Texte oder Kompositionen zerstören. Ich wollte sie aushorchen, ausspionieren, dahinter kommen im wahrsten Sinne des Wortes, Recherche treiben, Detektivarbeit, mich mit ihnen anfüllen, mich durch sie vergrößern, verbreitern, mich verfestigen, mich aufweichen, alles je nacheinander oder zugleich. Schon als Schüler stellte ich mir vor, was der letzte Satz des Grafen Kent in Friedrich Schillers ‚Maria Stuart‘ für Königin Elisabeth bedeutet, der auf ihren Befehl ‚Graf Leicester, komme her!‘ antwortete: ‚Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.‘ Zwar schreibt Schiller als Regiebemerkung: ‚Sie bezwingt sich und steht mit ruhiger Fassung da‘. Der Vorhang fällt, doch ich konnte es nicht glauben. Eine Königin, schon älter, gezwungen, allen gegenüber misstrauisch zu sein, verliert ihren engsten Vertrauten und Liebhaber. Plötzlich, ohne ein Wort des Abschieds, verschwindet die einzige Lichtgestalt ihres Lebens. Sie ist für immer allein. Beim Gespräch, bei Tisch, im Bett, beim Spaziergang. Zugegeben, auch ich war im gewissen Sinne allein, ohne Freundin, denn die Mädchen konntest du damals höchstens im Freibad wie zufällig anfassen, aber ich war erst fünfzehn, hatte Eltern und ein paar Freunde. In meiner Fantasie ließ Königin Elisabeth den Grafen gerade noch abgehen, ehe sie vom Schwindel ergriffen in einen Stuhl fiel und unbewegten Gesichts zu weinen begann, dann aber aufsprang und unartikulierte Schreie ausstieß, die durch die Halle echoten und die Wächter vor den Türen erschauern machten.“ Soweit seine Erinnerung an den fünfzehnjährigen Hans Neuenfels, die hier nicht wiedergegeben wurde, um von hier aus den künstlerischen Lebensweg von Hans Neuenfels dezidiert zu
verfolgen – vom Assistenten des Max Ernst in Paris, von seinem Studium am Max-Reinhardt-Seminar zusammen mit Wildgruber, Sperr, Kroetz und Elisabeth Trissenaar, seiner späteren Frau und künstlerische Lebensgefährtin; beider erste Engagements in Bern, Trier, Heidelberg, seine weiteren Arbeitsorte Bremen, Hamburg, beider langjähriges Engagement (zusammen mit Peter Palitzsch) in Frankfurt; und Wien, Zürich, Salzburg, Berlin, München, Paris, Bayreuth. All das kann man anderen Ortes nachlesen und dazu verstörend Erhellenderes in der Neuenfels-Autobiografie „Das Bastardbuch“ finden. Über die literarischen und filmischen Arbeiten von Hans Neuenfels mögen Berufenere reden. Doch weiß ich, dass gerade das Schreiben für ihn eine überaus große Bedeutung hatte – als notwendigen Rückzug aus allzu lauten Diskursen, eine Entscheidung des Für-sich-Seins und vielleicht, wie Hegel schrieb: „Sehnsucht nach der Nacht und der Einsamkeit des Selbstbewußtseins“. Die Frankfurter Inszenierung der Euripideischen „Medea“, zusammen mit der grandiosen Trissenaar – zwei Jahre vor dem Beginn meiner Arbeit an der Oper Frankfurt – war ein Ereignis, getragen von dem Pathos des Ungeheuerlichen, welches das Unsagbare ohne strategische Abrichtung in die Welt entlässt. Für mich ein schockierendes Kennenlernen. Für einen Frankfurter Großkritiker war diese „Medea“ von 1975 ein Zehnzeilen-Verriss wert – der wirkliche Skandal! Die Arbeit mit Neuenfels war – wie er es selbst eingangs beschrieben hat – geprägt durch ein insistentes Suchen, aufgreifend und verwerfend. Die Annäherung an Schrekers „Die Gezeichneten“, Busonis „Doktor Faustus“, Verdis Für die „Aida“-Inszenierung von Hans Neuenfels an der Frankfurter Oper 1981 hat der Bühnenbildner Erich Wonder spiegelbildliche Opernränge auf die Bühne bauen lassen. Foto Mara Eggert/Theatermuseum München
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„Aida“ oder Wagners „Meistersinger“, Mozarts „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“ wurde bestimmt von einer leidenschaftlichen Unbedingtheit des Wissenwollens. Sie gestaltete sich in einer ausladenden Bewegung von größter Nähe zum Text, zur Partitur, um dann in assoziative Abschweifungen zu münden, auf der Suche nach neuen Materialien und Perspektiven, nach Verschärfung und Erweiterung des künstlerischen und gesellschaftlichen Raums. In manchen Momenten reizten diese den Dramaturgen zum Widerspruch, der, genervt, in dem Neuen fels’schen Eigensinn ein egobezogenes, privatmythologisches Muster zu erkennen glaubte, das er schwerlich nachvollziehen konnte. Ja, dann kam es zum beiderseitigen Schweigen, Stille. Doch in diesen Momenten der Sprachlosigkeit lag auch Gewinn, indem manche befremdliche Abschweifung sich als Schlüssel zu einer Welt erwies, die ich – parallel zur dramatischen – als die lyrisch-surreale der Neuenfels’schen Arbeit benennen möchte. Seine oft sehr subjektive Sicht auf Texte und Partituren und die dann daraus erwachsenen starken Behauptungen, verdanken sich einem Denken, das sich Sprünge, Brüche und damit Aussparungen erlaubt, die Platz machen für überraschendes Erkennen und Sehen – ein Aufbrechen vermeintlich geschlossener Strukturen, Diskontinuiät zulassend, ja suchend. Man denke an den Rattenchor der Neuenfels’schen viel gepriesenen Bayreuther „Lohengrin“-Inszenierung: Entgegen dem Allegorie-Gedanken klassischer Tierfabeln stehen diese Ratten-Menschen erst einmal für nichts, sie sind! All das, was diesen Nagern zugeschrieben werden kann – im Untergrund lebende aggressiv-eklige, Krankheiten übertragende Monster –, findet keine Entsprechung. Erst am Ende, wenn sie sich im letzten Akt in schwarz-uniformierte Menschen verwandeln – die Erinnerung an den Faschismus provozierend –, fokussieren sich die versprengten Assoziationen. Die Arbeit der Bewegung zwischen extremen Positionen führt die Figuren der Neuenfels-Bühne, eine Bühne, die Normalität zu suspendieren sucht. Normalität war für Neuenfels, dem alles Gesellschaftliche, Repräsentative und Strategische obskur war, gleichsam der Wandschirm, hinter dem sich die persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Katastrophen, die unbewältigten Wirklichkeiten verbergen. Die Krassheit, das Anstößige in manchen Neuenfels-Arbeiten ist Resultat eines rabiat vorgetragenen Widerspruchs gegen einen Lebenszusammenhang, der – um es mit Neuenfels’ Worten zu sagen – „jedes Gespenst, jeden Abgrund, alles Triebhafte als beherrschbar vorgibt“. Diese ästhe tischen Provokationen gegen die Macht einer Rationalität des Kalküls korrespondiert mit dem notwendig Skandalösen, wie es Pier Paolo Pasolini eignet, der in einem Gespräch über seinen Film „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ die andere Seite der Medaille benennt: „Der Konsumismus ist das einzige System, das alles durchdrungen hat und das eine Aggressivität mit sich bringt, die für den Konsum nötig ist ... Ich beuge meinen Kopf im Namen Gottes, das ist ein großer Satz. Heute dagegen hat der Konsument wahrhaftig keine Ahnung davon, dass er den Kopf beugt, im Gegenteil, er glaubt, er habe es nicht getan, er hätte seine Rechte behauptet. Er fordert die ganze Zeit seine Rechte ein und glaubt, man würde ihm sagen, er hätte alles richtig gemacht, dabei ist er nur ein armer Idiot.“ Für beide Künstler ist „Normalität“, die anerkannte, gesellschaftlich verbürgte Vernunft, gleichbedeutend mit
hans neuenfels
der Suspendierung jeglicher Kritik. Die Doppelung der Sänger durch Schauspieler in der „Entführung aus dem Serail“ lässt einen Abgrund ahnen, und immer wieder gibt das Singspiel die Tragödie schmerzlich frei. Das Komische und das Tragische sind hier eben keine zwei Seiten einer Münze, sondern, wechselnd zwischen Schauspieler und Sänger, weit auseinander liegende Seins-Weisen. In seiner Berliner Inszenierung der „Ariadne auf Naxos“ von Hofmannsthal/Strauss, geht Neuenfels den Autoren nicht auf den Leim, welche die opera seria mit der opera buffa zu einem barock-kostümierten, parfümierten Zwitterwesen ver backen. Neuenfels widerspricht von Anfang an den Autoren und ihrer unseligen Konstruktion der Wahrheit einer Liebe, wie sie sich am Ende pathetisch selbst feiert – versehen mit allen kompositorischen Mitteln, die Strauss zu Verfügung stehen. Neuenfels legt das Desolate, die Dekadenz frei, mit der das Werk spielerisch, leichtfüßig umzugehen vorgibt, er schiebt das Possierliche und den Pomp beiseite, indem die Dimension des Depressiven Platz greift. Man hört die Musik neu! Neuenfels’ Musikalität erwächst eher aus einem abwartenden Hineinhören als aus einer voraus setzungslosen Empathie. In der Arbeit an Schrekers „Die Gezeichneten“ glaubte er zu Beginn des dritten Aktes etwas anderes zu hören, als die szenische Vorgabe des Komponisten, der das hergestellte, künstliche Paradies der Insel vor Genua mit Nymphen- und Satyr-Spielern bevölkerte. Ich wurde später darauf aufmerksam gemacht, dass Teile dieser Komposition aus einem aufgelassenen Werk Schrekers in die „Gezeichneten“ übernommen wurde: Da hatte bereits Neuenfels die Genueser Bürger mit Picknick-Körbchen und Klappstühlen auf die Insel geschickt, ursprünglich eine Szene, in der Arbeiter in den Feierabend entlassen werden. „... ich sah die siegreichen Pharaonen mit ihren Kriegern ... ich sah Priester und Volk in langen Reihen durch die Säulenhallen zu den Göttern wallen, sah den Todeszug in Pracht und Herrlichkeit zu den Königsgräbern einherziehen – da hörte ich – ,Bakschisch, Bakschisch‘ mir von allen Seiten entgegen schreien, und ich wurde so plötzlich recht prosaisch an die ekle Wirklichkeit erinnert“. Die Flucht vor der „eklen Wirklichkeit“ in eine fantastische und monumentale Vergangenheit des deutschen Archäologen Heinrich K. Brugsch, 1854 angesichts der ägyptischen Ausgrabungen Auguste Mariettes notiert – des Mannes, der 15 Jahre später den Tagtraum „Aida“ für Verdi aufschreiben wird, diese Flucht hat sich oft genug eingeschrieben in die Rezeptionsgeschichte eines der meistgespielten Werke des Opern-Repertoires. Ein Teil des Frankfurter Publikums schien sich während der Premiere im Januar 1981 darin einig, seine Erwartungshaltung im Protest gegen die Wirklichkeit des Werks durch lautstarke Pöbeleien, unflätige Zwischenrufe, Trillerpfeifen, höhnisches Klatschen zu äußern, um den Abbruch der Aufführung zu erzwingen. Es gelang ihnen nicht! Es war eine furchteinflößende, schreckliche, entsetzliche Erfahrung. Jemand hatte Hans und mir zur Premiere sechs Flaschen achtzehn Jahre alten Scotch in mein Büro gestellt. Direkt nach der Premiere zerschlugen wir sie: Mein Büro roch noch ein halbes Jahr nach diesem Ausnahmezustand. Die folgenden Aufführungen fanden ein würdigeres Publikum. Vor über vierzig Jahren inszenierte Hans Neuenfels diese „Aida“, die heute Legende ist. Berlin, 3. April 2022
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stück
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Das Drama der Ökologie Laudatio von Frank Raddatz zum Else Lasker-Schüler-Preis für Kathrin Röggla Kathrin Röggla ist eine der produktivsten
Wupper“ veröffentlicht. 2022 „Das Wasser“.
Element seine gewohnten Grenzen übertritt
Thea terautorinnen unserer Gegenwart. Ihre
In den Gedichten Else Lasker-Schülers um-
und Straßen, Parkplätze, Shoppingmalls, U-
große Zeit als Dramatikerin begann in der
schreibt der Ausdruck Wasser ein Reservoir
Bahnstation, Siedlung überflutet. Diesmal
Spielzeit 2002/03 mit „fake reports“, was
der Trauer. „Hinter meinen Augen stehen
gehen die Verheerungen nicht wie auf der
dann später unter „DIE 50 MAL BESSEREN
Wasser, /Die muß ich alle weinen“, lautet eine
Bühne üblich auf das Konto der Akteure des
AMERIKANER“ noch oft aufgeführt wurde.
Zeile aus der Lyrik „Das Lied“. Bei Röggla ist
Sozialen, werden sie nun als „Die Perser“
Allein in den letzten zehn Jahren entstanden
es die reale Materialität des Elements Wasser,
oder als „Macbeth“, „Wallenstein“ oder „Her-
15 Theaterstücke. In dieser Spielzeit werden
die mannigfaltiges Leid verursacht.
zog Theodor von Gotland“ exponiert, sondern
drei Stücke präsentiert. „Kinder kriegen“,
In den kommenden Minuten werde ich
die vermeintlichen Konstanten der Natur ver-
erstmals gespielt 2012, feiert im Theater
nicht das Vokabular der ökologischen Toxiko-
wandeln sich in Protagonisten von Exzessen.
Dortmund Premiere. Dann folgen gleich zwei
logie wie Erderwärmung, abschmelzende
Uraufführungen: am 7.4.2022 „Das Wasser“
Pole, Verluste der Biodiversität usw. konjugie-
„Uns fehlten eigentlich 800 l pro qm im Jahr.
am Staatsschauspiel Dresden, am 2.4.2022
ren. Vielmehr will ich auf das Stück eingehen,
Und jetzt das alles an einem Tag. Heute. Also
die Uraufführung „Das Verfahren“ über den
das deren Relevanz keineswegs bestreitet,
jetzt. Da! Kurzzeitig stehendes Gewässer, das
NSU-Prozess am Staatstheater Saarbrücken
sondern im Gegenteil deren Wirkmacht vor-
wieder in Bewegung gerät! Den ganzen Winter
in Kooperation mit Theater Rampe in Stuttgart.
aussetzt. Lassen wir uns also auf den Spuren
über keine Flüsse, im Sommer vorher noch viel
Insgesamt zählte der Verlag weit über 50 Insze-
des Textes auf jene „Suchbewegung“ ein, die,
weniger. Und jetzt? Man möchte hinaus, öffnet
nierungen von Kathrin Rögglas Theaterstücken.
so die Autorin, die gegenwärtiger Klimaerzäh-
die Tür, und da ist ein Fluss. Man sieht zum
lungen charakterisiert.
Fenster hinaus, und da steht Wasser. Es steht
Angesichts dieser Fülle werden Sie verstehen, dass ich weder die Inhalte der Stück-
Wer sich dem zentralen Narrativ des
auf einen Meter, zwei Meter, fünf Meter, sie-
texte zusammenfassen kann noch auf die Ent-
Textes, nämlich der biblischen Erzählung
ben Meter, und der Regen nimmt kein Ende.
wicklung der literarischen Techniken im Laufe
„Jonas und der Wal“ zuwendet, merkt schnell,
Du möchtest aus dem Auto aussteigen, und da
des reichen Schreibprozesses eingehen will.
dass um dieses Paradigma der wunderbaren
drückt eine Wand Wasser dagegen. Du siehst
Ich fühle mich aber auch noch aus einem an-
Errettung die Fragezeichen geradezu wuchern:
aus dem Fenster und stellst fest, du bist unter
deren Grund legitimiert, diesen Überblick zu
Wer kann oder will sich in das Innere des
Wasser. Es will herein. Es kennt immer schon
verweigern. Ich stehe heute weder als Litera-
Wals flüchten; wer außerhalb des Wals agie-
die Ritzen, Spalten, kleine Risse, Löcher. Es
turwissenschaftler noch als Theatertheoretiker
ren? Wer oder wo ist überhaupt der Wal? Einer
kennt den Weg, bevor du ihn kennst.“
oder als mehrjähriger Leiter einer Theaterzeit-
der Akteure glaubt, die Antwort zu kennen:
schrift vor Ihnen. Auch nicht als vielseitiger
„Dabei besteht der Wal aus nichts anderem
2010 hatte die Preisträgerin mit der Prosa
Theaterpraktiker. Der Grund besteht darin,
als Zeit. Die haben einfach keine Ahnung, wie
„Die Alarmbereiten“ einen virtuellen Kosmos
dass ich zusammen mit der Arktisforscherin
es ist, wenn man durch diese Wand an Zeit
seziert, der tagtäglich eine Gefahrenlage aus
und Direktorin Antje Boetius im Spätsommer
gegangen ist.“
Nachrichten über sich gerade öffnende Ab-
2019 auf der Neuköllner Terrasse der Autorin
Vielleicht lässt sich diese Zeitmauer
gründe oder zu erwartende Hiobsbotschaften
von der Gründung eines ökologisch ausgerich-
durch die Vergegenwärtigung des enormen
auffrischt. Gut ein Jahrzehnt darauf hat sich
teten Theaters des Anthropozäns im Kontext
Epochenumbruchs passieren, den namhafte
der permanente Ausnahmezustand des – neu-
der Humboldt-Universität zu Berlin berichtet
Wissenschaftler,
deutsch gesagt – Präsenzmodus bemächtigt.
habe. Seitdem ist unser Diskurs zum Thema
und Philosophen, als Beginn eines neuen Zeit-
Der britische Historiker Eric Hobsba-
Ökologie und Theater nicht abgerissen. Vor ein
alters namens Anthropozän betrachten. In die-
wm hat das 20. Jahrhundert auf die Phase
paar Monaten haben Antje Boetius und ich in
ser Epoche fällt dem Menschen die titanische
zwischen 1914 und 1989 datiert und mit
der Aula der Kunsthochschule für Medien in
Aufgabe zu, die Verantwortung für das Gleich-
dem Terminus Das kurze Jahrhundert der Ex-
Köln, wo Kathrin Röggla mittlerweile Professorin
gewicht der Sphären zu übernehmen. Der fran-
treme etikettiert. In unserer Gegenwart wird
ist, die von ihr initiierte Reihe „The Damaged
zösische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour
absehbar, dass sich die Herrschaft der Extre-
Planet – Solidarität mit unserem verletzten
vergleicht den Anbruch dieser uns noch unbe-
me noch ausweitet, wenn nicht nur die Solda-
Planeten“ eröffnet.
kannten Ära, deren Gesetze und Spielregeln
ten die Kasernen, sondern die Bäche, Flüsse
Deshalb will ich mich heute auf das
wir nicht kennen, mit der Entdeckung Ameri-
und Jahreszeiten die gewohnten Bahnen ver-
jüngste Kind der Dramatikerin fokussieren.
kas 1492. Noch, so Latour, haben wir den
lassen. An Stelle der Letzteren ist, so der dem
Der Zufall will es, dass sein Name „Das Was-
fremden Kontinent nicht betreten, sondern
Stück vorangestellte Kommentar der Autorin,
ser“ allein durch die Assonanz an das große
erkennen gerade erst seine Küstenlinie.
ein „zyklisches Modell der Katastrophe getre-
darunter
Nobelpreisträger
Stück der Namenspatronin des heute ver
In „Das Wasser“ hebt sich der Vorhang
ten: Vor der Flut kommt die Dürre, nach der
liehenen Preises erinnert. 1909 wurde „Die
über einer bedrohlichen Szenerie, wo dieses
Dürre kommt die Flut“. Im Text selber ist zu
kathrin röggla_das wasser
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lesen: „nach dem plötzlichen Starkregen eine
mehrere Generationen den Bau von Kathedra-
Starksonne“.
len in Angriff nehmen konnte. In den nachfol-
Die zunehmende Instabilität des ökolo-
genden Epochen ging diese Gewissheit ver
gischen Gleichgewichts entbindet Klima-
loren. Heute, so der Wissenschaftshistoriker
schwankungen, deren Wucht buchstäblich die
Hans-Jörg Rheinberger, wissen die Jüngeren
Fundamente des Sozialen erschüttert. Rögglas
nicht, ob die Natur am Ende ihres Lebens
Augenmerk richtet sich auf eine Gesellschaft,
noch dieselbe sein wird wie in ihrer Kindheit.
die sich von einer berechen- und beherrsch
Immer neue Stressfaktoren purzeln aus der
baren Natur verabschieden muss, weil sie
Klimablackbox und erzeugen eine Atmosphäre
sich, auch wenn sie es zum Teil nicht wahrha-
der Ungewissheit, die den Boden für das Ver-
ben will, in einem Raum der Transformation
sagen Einzelner stiftet. Die PERSÖNLICHES
befindet. Dieser mitunter äußerst schmerzvolle
DRAMA übertitelte Szene besitzt, so die
Lernprozess, dass die Natur nicht länger unse-
Autorin, einen realen Hintergrund:
rem Willen gehorcht, erzeugt Zeugnisse von „Wir haben ja die L., die Z. und die W. Also
Haustür soll nicht ertrunken werden, vor unse-
war ich in ständigem Kontakt mit der Feuer-
Foto Jessica Schäfer
Desorientierung und Verwirrung: „Vor unserer rer Haustür ist auch ein schlechtes Ertrinken. Hier herrscht ja mehr Trockenstress. Aber wir sind bereits so daran gewöhnt, dass Menschen anderswo ertrinken, vielleicht bekommen wir es gar nicht mit, wenn sie es doch vor unserer Haustür tun.“ Kaum stringenter wirkt das
wehrleitung. Die mussten ja gesagt bekommen, was das jetzt heißt: ‚4m Pegelstand‘. Ich habe an alles gedacht. Die Knackpunkte bei den Flüssen, wo das Wasser rausdrücken wird. Ich hab an die Dämme gedacht und an die Verteilung der Sandsäcke. Die
Credo des Vertreters des Homo Faber: „Wir
Zukunft. Über eine Schülerin namens Tonke,
ganze Logistik. Doch als ich spätabends nach
leben in einer Zeit, in der es um Ingenieurs-
Teilnehmerin jenes Kinderkreuzzugs gegen die
Hause kam, da fiel mir auf, dass ich komplett
kunst geht, um nichts weiter.“
Klimapolitik, den Greta Thunberg mit Fridays
die W. vergessen hab. Den einen Fluss vor
Die damit aufgeworfene Frage, in wel-
for Future intonierte, erfährt der Zuschauer:
meiner eigenen Haustür … Und dann stand
cher Zeit wir leben, führt weit über die Mei-
„Die Tonke erinnert uns alle daran, dass die
ich spätabends zu Hause und habe Panik be-
nungsbekundungen von Figuren hinaus und
Probleme woanders gemacht werden, nicht
kommen, denn der eine Fluss war plötzlich
berührt die Funktion von Theater selbst. „Die
hier bei uns. Sie werden auf höchster Ebene
vor meinem Wohnzimmerfenster, und da ge-
Zeit ist aus den Fugen“ hält eine bekannte
gemacht, und die höchste Ebene gilt es zu
hört er ganz und gar nicht hin …
Hamlet-Zeile den Epochenbruch der Elisabe-
attackieren. … die Tonke unterbricht sich und
Also mir ist das passiert, und ich weiß
thanischen Renaissance für die literarische
ruft plötzlich, es bräuchte nur 100 Konzerne,
nicht, wieso. Ich habe keine Ahnung, es war
Ewigkeit fest. Wie Rögglas Akteure sieht sich
aber eben nicht nur. ‚Wir kennen alle ihre
eben ein Aussetzer, wir leben ja auch in einer
auch der weltberühmte Protagonist von Wil-
Namen!‘ Da müsste man jetzt einmal Aktionen
Zeit der Aussetzer, warum passiert das nicht
liam Shakespeare einem steigenden Hand-
setzen, sagt jetzt die Tonke.“
auch mir, und wenn Sie jetzt denken, Sie haben
lungsdruck ausgesetzt und ist zugleich außer-
Der in den 1950er Jahren geborene So-
was verstanden, wenn Sie hören: 2,5 Meter,
stande, auf tradierte Muster zu rekurrieren.
ziologe Heinz Bude merkte vor ein paar Jahren
4 Meter, 6 Meter. Dann haben vermutlich Sie
Heute gibt das historische Novum der globalen
an, dass seine Generation in dem Bewusstsein
Ihren Aussetzer und rennen in Ihren Keller,
Verschmelzung von Menschen- und Erd
aufwuchs: „Das Schlimmste liegt hinter uns“.
weil Sie noch was rausholen wollen. Sie öff-
geschichte der Gegenwart das Gepräge und
Dieses Axiom hat sich für die heute Heran-
nen eine Tür, die Sie geschlossen halten soll-
erzeugt trotz aller technologischen Innovati-
wachsenden ins Gegenteil verkehrt. Ihnen ist
ten. Das ist dann Ihr Drama.“
onsschübe eine anwachsende Hilflosigkeit. So
klar: „Das Schlimmste kommt erst noch!“
sieht sich beispielsweise ein verzweifelter
Wie sich in einem Sediment die ver-
Das Drama des Wassers, das Drama der Öko-
Moderator mit seinem Latein am Ende: „Wir
schiedenen Gesteinsschichten überlagern,
logie mündet in individuellen Tragödien. In
haben moderate Verhältnisse, … Und wenn
geraten gegenwärtig unterschiedliche und ge-
einer Epoche, in der die Rahmenbedingungen
die nicht mehr moderat sind, wenn die völlig
genläufige Stimmungslagen der Gesellschaft
des Sozialen in Bewegung kommen, erweitert
unvorhersehbar werden, dann setzen wir unse-
ins Rutschen. Nicht nur die Wissenschaft
die Autorin den Blick der Bühne von dem rein
re Politik in Bewegung, so ist es doch, oder?
durchläuft die größte De-Legitimierungskrise
gesellschaftlichen Panoptikum auf dessen
Aber sie kommt nicht recht in Bewegung!“
ihrer Geschichte, sondern die Zeit selbst ist
ökologische Voraussetzung. Durch ihre Ent-
Jede Äußerung, jede Stellungnahme,
in Bewegung gekommen. Haltepunkte sind
würfe kann das Theater ein entscheidender
jede Bekundung komponiert das Psycho-
nicht in Sicht. Aber Kipppunkte, die das pla-
Faktor werden, die Hürden des Anthropozäns
gramm einer verunsicherten und zutiefst über-
netarische Habitat irreversibel verändern wer-
zu meistern. Kathrin Röggla hat dem Theater
forderten Gesellschaft. In diesem aus den
den. Der Mensch des Mittelalters konnte da-
einer Gesellschaft, die lernen muss, die Ver-
unterschiedlichsten Stimmen zusammenge
von ausgehen, dass die Welt am Ende seines
antwortung für das Gleichgewicht der Sphä-
setzten Fresko dürften insbesondere die Jün-
Lebens genauso aussehen würde wie zu sei-
ren zu übernehmen, Beine gemacht. Dank
geren nicht fehlen, geht es doch um ihre
ner Geburt, sodass er beispielsweise über
dafür an die Autorin. //
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Kathrin Röggla
Das Wasser Auftragsarbeit für das Staatstheater Dresden
In diesem Stück treten möglichst viele Schauspieler auf. Wir sind ja auch stets viele, zu viele, aber dennoch sind die Human Resources immer knapp, deswegen sehen wir, wie wir zurechtkommen. Vielleicht ist das ja nicht schlecht, wenn niemand nur eine Rolle spielen muss, sondern verschiedene, und das in unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Der Zustand ist wie folgt zu beschreiben: Alles ist weit weg. Also viel zu weit weg. Die Katastrophen, die sich vollziehen, sind immer woanders, auch wenn sie real vor unserer Haustüre stattfinden. Noch immer werden sie Naturkatastrophen genannt. Auch „unser“ Wissen darüber hält sich auf Abstand, als hätte Kausalität ausgesetzt, was solls, ein Überblick ist ohnehin nicht zu bekommen, schon gar nicht im Theater. Wir wissen so viel: Die Tragödie lebt vom Handlungsdruck und der ist gegeben. Die Uhr tickt, und die Dinge sind immer bereits aus dem Rahmen, die Dimensionen stimmen nie, kaum versucht man, Probleme zu benennen, und das menschliche Maß ist aus „uns“ ausgewandert. Unsere Vorstellungskraft ist mit einem Kausaldenken überbeschäftigt, das sie nicht fassen kann. Alleine der Gedanke, als Menschen nun eine geologische Kraft zu sein, aber eben nicht als einzelne, sondern nur als „wir“, als Menschheit, ist einer, der stolpern lässt. Und hier wird gestolpert. Ein Stück voller Stolpersteine. Kein Modell gibt noch was her für den größeren Gedanken, das Kümmerliche und das Staatstragende, das Fiktive der Narrationen und das Material des Realen streiten miteinander. Wenn man etwas nicht annähernd in einem Stück erzählen kann, schiebt sich die Suchbewegung in den Vordergrund. Selbst der Mythos, der oft gewählte Ort gegenwärtiger Klimaerzählungen, kann nur noch besucht werden. Hier ist es eine biblische Erzählung, die aus ihrer historischen Tiefe heraus uns die Bewegung der Gegenwart nachvollziehen lässt. Jonas und der Wal. Das Buch Jona fasziniert. Es beschreibt die Situation, in der wir uns befinden, treffend. Das Herumschieben der Schuldfrage, der Größenwahn, der Trotz. Was dieses Stück allerdings wirklich zu einem Ganzen macht, ist das Publikum. Die Narration ist auf es übergegangen, es wird die unterschiedlichen Arten des Angesprochenseins erleben, von der Wut der Bürger:innen, die Ansprache als Experten, bis zur Sorge der Krankenpfleger. Ansonsten ist das Vorher und Nachher übergegangen auf ein zyklisches Modell der Katastrophe: Vor der Flut kommt die Dürre, nach der Dürre kommt die Flut. Das Grundwasser steht auch nicht mehr, es drückt hoch, und es fällt ab. Das Meer hat keiner mehr wirklich gesehen, manche von uns aber noch viel unwirklicher. Unsere Hoffnung bleibt, dass unsere Kinder auf dieser Bühne nicht erscheinen werden.
1. Bild: FLUT Ein medialer Zusammenhang: Ansagerin und Moderator Politikerrunde: Redner, Co-Redner/in, Zusatzrednerin Referentenrunde: Referentin, Referent Bürger: Bürgerin, Bürger, Altbürger/in (Ansagerin?) 2. Bild: ÜBERFLUSS (Ninive) CEO (Redner) Bürgerin Frau mit Zukunft Mann mit Vergangenheit Kreditberater und Einheizer 3. Bild: GRUNDWASSER (hochdrückende Gewässer) Erwachsene/r, Zweiterwachsene/r, Gegenerwachsene/r (Mann mit Vergangenheit) Frau mit Zukunft Kind 1, 2, 3 4. Bild: DÜRRE Moderator, Ansagerin, Frau mit Zukunft, Erwachsene/r, Gegenerwachsene/r, Referentin, Referent 5. Bild: DAS MEER Kind 1, 2, 3 Das Publikum ist fiktiv anfangs die gefürchtete Wählerschaft/Öffentlichkeit Danach die Experten Dann fiktiv die Kinder, junge Generation Danach die Kranken und Versehrten, die, die sterben werden Grundsätzlich haben die Figuren Angst vor dem Publikum, das ist sehr komisch zu spielen, ich weiß – nur im letzten Bild wird zumindest dieses Problem verschwinden.
Erstes Bild: DIE FLUT STUDIO ANSAGERIN: Die schlechte Nachricht zuerst. MODERATOR: Nein, so fängst du nicht an. ANSAGERIN: Ich fange überhaupt nicht an. MODERATOR: Doch, doch! (schubst sie nach vorne) ANSAGERIN: Also, die schlechten Nachrichten zuerst. Plötzlich haben wir Flüsse. Das war nicht vorauszusehen. Plötzlich haben wir Berge, Meere und Seen, ja, wir haben Gewässer. Stehende und fließende, vom Grund aus aufsteigende. Plötzlich sind sie da, Flüsse, wo vorher nichts oder allenfalls Bäche oder Fließe waren, oder eine Straße, ein Parkplatz, eine Shoppingmall, wo vorher eine UBahnstation war, jetzt ein Fluss, wo vorher die
Siedlung stand, jetzt reißendes Wasser. Flüsse und Pegelhöchststände, Flüsse und 800 l pro qm am Tag. Uns fehlten eigentlich 800 l pro qm im Jahr. Und jetzt das alles an einem Tag. Heute. Also jetzt. Da! Kurzzeitig stehendes Gewässer, das wieder in Bewegung gerät! Den ganzen Winter über keine Flüsse, im Sommer vorher noch viel weniger. Und jetzt? Man möchte hinaus, öffnet die Tür, und da ist ein Fluss. Man sieht zum Fenster hinaus, und da steht Wasser. Es steht auf einen Meter, zwei Meter, fünf Meter, sieben Meter, und der Regen nimmt kein Ende. Du möchtest aus dem Auto aussteigen, und da drückt eine Wand Wasser dagegen. Du siehst aus dem Fenster und stellst fest, du bist unter Wasser. Es will herein. Es kennt immer schon die Ritzen, Spalten, kleine Risse, Löcher. Es kennt den Weg, bevor du ihn kennst. MODERATOR: Wir wissen, Sie finden so was nicht gut. Das gehört nicht hierher, werden Sie sagen. Wir haben moderate Verhältnisse, da, wo wir leben, sagen Sie. Und wenn die nicht mehr moderat sind, wenn die völlig unvorhersehbar werden, dann setzen wir unsere Politik in Bewegung, so ist es doch, oder? Aber sie kommt nicht recht in Bewegung! Das erwarten wir hier oben auf der Bühne von Ihnen. Sie da unten müssen die Politik in Bewegung bringen, damit wir es hier oben fein haben, hier in unserem Theater. ANSAGERIN: Auch wir fragen, woher kommt das ganze Wasser so plötzlich? Also wir leben ja nicht mitten im Gebirge, wo stets was von oben kommt. Wir haben hier auch kaum ein Oben oder Unten, da sind wir uns sicher, wozu sonst der ganze Sozialstaat? Dennoch, das Oben muss unmerklich entstanden sein über Nacht. Ein Berg muss gewachsen sein, denn den braucht es doch, damit ein Gefälle entsteht. MODERATOR: Unmerklich, und doch eine Katastrophe mit Ansage, werden Sie sagen. Wir hätten es wissen können, d. h. irgendjemand hätte es wissen können, der uns mal bitteschön Auskunft geben hätte sollen … ANSAGERIN: Das Wasser macht dabei keine Geräusche, es ist ganz leise, unheimlich still. D. h., eben noch war es still – da haben wir das Hausdach noch gesehen, wie es herausragte aus der Flut, jetzt ist es wieder still, und das Hausdach ist weg. Und schon wieder ist es still, und man sieht auch nichts mehr vom Lkw, der sich eigentlich in der Bundesstraße verkeilt hat. Vermutlich ist er wieder frei, fließt weiter. Es heißt, alles fließt jetzt weiter, aber zu sehen ist nichts. Ist ja mittlerweile schon fast ganz dunkel. MODERATOR: Zu hören auch nichts, d. h. einmal war es doch laut. Oder war es in Wirklichkeit die ganze Zeit schon laut, nur wir konnten es nicht mehr hören, wir konnten den Lärm nicht mehr hören, d. h. wir konnten ihn nicht mehr erkennen als Lärm. Denn das passiert, wenn man eine Art von Geräuschen nicht mehr vom Hintergrund unterscheiden kann. Man sagt ja, die brüllenden Gewässer, die stampfenden, schlagenden, gurgelnden, brausenden und rauschenden, aber das verliert auch irgendwann seinen Sinn, wenn es andauert. ANSAGERIN: Sie sind jedenfalls lauter als die Menschen, die auf den Dächern sitzen. Auf jedem Dach ein kleines Grüppchen. Wir haben versucht, uns gegenseitig anzurufen, selbstverständlich, mit unseren Handys, Nachbarn im Chat, aber da war nichts zu machen, die Netze waren zusammengebrochen, sofort zusammengebrochen, alle Netze. Das einzig existierende Netz ist das Wasser, aber es bringt nicht zusammen, es reißt auseinander.
kathrin röggla_das wasser
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MODERATOR: Das wollen Sie jetzt nicht hören, stimmt’s? ANSAGERIN: Auch Flüsse hören nicht immer etwas, wissen Sie, dass manche von ihnen taub genannt werden. Ja, es gibt in der Natur nicht nur taubes Gestein, es gibt auch taube Flüsse. Oder haben Sie noch nie von der Tauber gehört, von der Taubkyll? Und jetzt, jetzt hören sie alle garantiert gar nichts mehr. Sie hören nicht die Rufe der Menschen und Tiere, sie hören nicht das Ächzen der Gebäude, es interessiert sie ganz und gar nicht. MODERATOR: So was gibt es nicht in Ihrer Welt, was? Einer Welt, in der Bachregulierungen einen Sinn machen und der Regen wandert. Mal dahin, mal dorthin, nicht immer auf eine Stelle. ANSAGERIN: Wegen des Lärms wechseln die Flüsse jetzt schnell ihren Namen. Sie heißen jetzt nicht mehr Reichsteiner Bach, Rinnel, Biela, der Bielebach, der Leupolishainer Bach, der Teufelsgrundbach und der Eselsgrund, sie heißen nicht Waldbach und Pehnabach, nicht Schafhornbächel und Stuppenbach, nicht mehr Katzbach, Prießnitz und Weißeritz, Buchenbach und Amselgrundbach, es gibt nicht mehr den Weißtropper Graben, den Kleditschgrundbach, die Wilde Sau und der Lowitzbach oder Wolfsteichbach, sie heißen nur noch „die Flut“. Die Flüsse antworten jetzt mit einer Stimme, die Steine und Berge antworten jetzt mit einer Stimme, die Felsabbrüche antworten mit einer Stimme. MODERATOR: Das ist das Wasser: Tosendes Geräusch, knallendes Geräusch, klirrendes Geräusch, man hält es kaum aus. Macht doch jemand bitte das Fenster zu! ANSAGERIN: Die Rede ist vom bleibenden Wetter, das Wetter bleibt jetzt immer bei uns, mehr noch, es tritt auf der Stelle. MODERATOR: Etwas ist durcheinandergekommen und tritt auf der Stelle. Und wir wissen wie immer nichts. Das heißt, nachher werden wir alles gewusst haben, nur jetzt wissen wir nichts. Das ist doch immer so. Nachher heißt es: Manches ist freigeschwemmt worden. ANSAGERIN: Manches wird freigeschwemmt werden, freigespült. Ganze Munitionslager werden freigespült aus dem Zweiten Weltkrieg. Dass dieser Zweite Weltkrieg immer wieder freigespült werden kann, ist erstaunlich. Immer wieder wird er freigespült, und mit ihm wird jede Menge mit freigespült aus unserer sogenannten Jetztzeit. MODERATOR: Wir wissen wie immer nichts und werden nachher alles gewusst haben. ANSAGERIN: Das Wasser steht auf einen Meter, zwei Meter, fünf Meter, sieben Meter, und der Regen nimmt kein Ende. Du machst die Tür auf, und
da steht eine Wand Wasser. Du siehst aus dem Fenster und stellst fest, du bist unter Wasser. Es drückt herein, es kennt immer schon die Ritzen, es kennt den Weg. IM HINTERGRUND TAUCHT VIELLEICHT EIN SCHRIFTZUG AUF, DER SAGT: „Sind Sie mit der Hochwasserhilfe 2021 zufrieden? Was wünschen Sie sich für eine Hochwasserhilfe 2022? Beantworten Sie diesen Fragebogen in nur zehn Minuten!“ IM HINTERGRUND TAUCHT VIELLEICHT EIN SCHRIFTZUG AUF, DER SAGT: „Sind Sie mit Jona und seiner Hochwasserhilfe zufrieden? Hat Jona die Warnlücke schließen können, wie Gott ihm befahl? Wie hat die Stadt Ninive die Nachricht über ihren Untergang aufgenommen?“ IM HINTERGRUND TAUCHT VIELLEICHT EIN SCHRIFTZUG AUF, DER SAGT: „Wie bewerten Sie Ninive, biblische Stadt der Sünden oder nur eine ganz normale westliche Großstadt? Ist Jona überhaupt auf dem Weg nach Ninive gelangt? Oder ist er noch in dem Sturm am Meer? Wird ihm Gott einen Wal schicken, um ihn zu retten? Wie wird der heute aussehen?“ IM BAUCH DES WALS Pressekonferenz. Politiker. Stadtverantwortliche. Runder Tisch. Männlich, weiblich, divers. Da sitzen welche, die versuchen, sich rauszureden, und schielen ängstlich aufs Publikum, sie sprechen grundsätzlich nach vorne, nicht miteinander. REDNER: Warum wir nicht im Bauch des Wals sind? Ganz einfach, weil wir uns nicht drücken. Wir rennen vor keiner Verantwortung davon, wir stellen uns ja. Oder sind wir etwa jetzt nicht da? Außerdem lebt es sich im Augenblick hier nicht schlecht, die Wasserversorgung steht wieder, genug Frischwasser für alle Bewohner, die Zufahrtswege sind wieder garantiert, wenn auch nicht in alter Form hergestellt. Zumindest von der einen Seite … CO-REDNER/IN: Das wird auch nicht gehen. Wir werden uns von einigem verabschieden müssen … REDNER: Da kann uns keiner kommen. Die Elbe fließt auch wieder ab, also normal, wie sie sollte – naja, sagen wir, sie fließt wieder im Rahmen, auch das Wasser hat wieder eine normale Färbung angenommen, auch wenn so was wie Schifffahrt derzeit noch nicht möglich ist. ZUSATZREDNERIN: Kann ich nun? (wartet kurz) Warum wir nicht im Bauch des Wals sind? Ganz einfach, weil wir das, was wir hier jetzt gesehen haben, schon oft erlebt haben. Das gab es immer wieder. Man spricht dann jedes Mal von der Jahrhundertflut und der Jahrhundertdürre, das gehört
einfach dazu. Das sind die Medien. Dabei war es eine der Fluten, wie es sie früher schon gab. Denken wir an das Jahr 2002 – nein, denken wir nicht. REDNER: Warum wir nicht im Bauch des Wals sind? Ganz einfach, weil wir das, was sich hier jetzt gezeigt hat, schon oft erlebt haben. Das gab es immer wieder. Man spricht dann jedes Mal von der Jahrhundertflut oder der Jahrhundertdürre, das gehört einfach zu. Das sind die Medien. Denken wir nur an das Jahr 2002 – CO-REDNER/IN: Nein, denken wir lieber nicht. ZUSATZREDNERIN: Warum wir nicht im Bauch des Wals sein können? Ganz einfach, so eine Bibelstelle hätten wir gar nicht parat. Wer ist uns jetzt mit dem Buch Jona gekommen? (Schaut in die Runde oder ins Publikum, ahnungslose Gesichter) Gut. Wir können das Bild also zurücknehmen, das versteht hier keiner mehr. Wir leben in einer Zeit, in der es um Ingenieurskunst geht, um nichts weiter. Wir haben eben den Sprecher des Bauernverbandes gehört – vielen Dank an seine Adresse – der uns all die Sorgen der Landwirte mitteilte, aber nichts von einem Innenleben des Wals erzählte, weder Pottwal noch Blauwal, auch die Umweltbehörde wird noch eine Stellungnahme zu den weiter folgenden Regenfällen CO-REDNER/IN: Starkregenfällen – ZUSATZREDNERIN (leicht genervt): Starkregenfällen – verfassen, aber nichts über Fisch-, pardon, Säugetieremägen verlautbaren lassen, in denen wir in Wirklichkeit feststecken könnten. Sie haben sich wie halbwegs vernünftige Menschen über Nitrate unterhalten, die jetzt aus den Böden geschwemmt worden sind, und über die EU-Richtlinie, die Versalzung der Böden und Gewässer, den Nitratkreislauf, den die Öffentlichkeit wieder einmal nicht auf dem Schirm hat, weil alle nur über Unterspülungen, vollgelaufene Keller und Autobahnsperren sich unterhalten. CO-REDNER/IN: Wir sprechen von hohen Strafzahlungen – ZUSATZREDNERIN: … und auch wenn die Vernunft einmal aussetzt, mit dem wird man umgehen müssen. Sehr düster ist es auch nicht mehr, eher zu viel Sonne als zu wenig, – CO-REDNER/IN: plötzliche Sonne, nach dem plötzlichen Starkregen eine Starksonne. REDNER (nimmt ärgerlich auf): Warum wir nicht im Bauch des Wals sind? Ganz einfach, wir hatten es nicht vor. Uns passiert so was nicht. CO-REDNER/IN: Wir sind eingeübt in Trockenheit. Hier in der Region fehlen 800 l pro qm im Jahr, und jetzt so was. REDNER (ist wirklich verärgert): Und dann gibt es auch noch die Technik. Das hier ist ein Technik
Preisverleihung 25. Mai 2022 | 19.00 Uhr HAU Hebbel am Ufer (HAU1) und auf www.fonds-daku.de
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standort, schon vergessen? Und jetzt so was. Also reden wir hier einmal nicht von Tipping Points, von Schwellen, die unumkehrbar überschritten worden sind … CO-REDNER/IN: und zack, ist so ein Wal da, zack, bricht die Zeit im Wal aus. REDNER (langsam genervt von Co-Redner/in und sie mehr und mehr adressierend, auch wenn er noch nach vorne spricht): So stellen Sie sich das vor, mit all dem Wasser rundherum, aber ich glaube, so läuft das nicht. Da können Sie sich gleich zur Bürgerinitiative gesellen, ja, die da drüben, die wissen auch nicht mehr als wir. Auf so eine Ungewissheit können wir auch nicht bauen, sonst landen wir nicht einmal im Bauch des Wals, sondern am Grund des Meeres. ZUSATZREDNERIN: Nein, es bleibt dabei, das Tier um uns bleibt unausgelebt. Das müssten ja Massen und Kräfte sein, aber noch sind wir die einzige Kraft vor Ort. REDNER: Und das soll man den Weltverbesserern mal sagen. CO-REDNER/IN: Wir werden nicht verdaut, wir verdauen. REDNER: Wir werden nicht verschluckt, wir verschlucken. D. h. wir verschlucken uns nicht. ZUSATZREDNERIN: Wir befinden uns nicht in einer organischen Materie, die darauf aus ist, uns zu töten, wenn schon, töten wir selbst! (hört erschöpft auf) CO-REDNER/IN (kommt endlich zu Wort): Wir würden obendrein in so einem Wal überhaupt nicht Platz haben, das wäre ja ein wirkliches Problem. Sagen wir einmal, der Boden in so einem Wal ist endlich, und der Bodenkampf fände drinnen noch mal ganz anders statt, wie er hier ohnehin schon stattfindet. REDNER: Ja, schauen Sie nur, wie in unserem Land über Strohmänner Landbesitz gekauft wird. Also das sind ja keine Bauern, die da die Felder nutzen, auch wenn Bauern sie gekauft haben, wenn Bauern gekauft worden sind, um Felder zu kaufen. CO-REDNER/IN: Wir sehen Landmaschinen kommen, aber sie sind es nicht, das sind die Chinesen (Zwischenrufe) oder so was wie Chinesen. ZUSATZREDNERIN: Wir blicken auf eine scheinbar unendliche Felderwirtschaft, aber es sind nichts als sogenannte Ausgleichsflächen. Ausgleichsflächen für die Zulassung der Mast von zigtausend Schweinen in Hochhäusern. Denn so läuft das hier. Für mehrstöckige Stallsysteme braucht es Ausgleichsflächen. Und in der Schweinemast wird das Geld gemacht, nicht in der Fläche. REDNER: Wir sehen eine Landschaft im Schluckauf, weil kein Bauer mehr weiß, worauf er sich einstellen muss. Alle fünf Jahre kommen neue Richtlinien von der EU. Alle warten. ZUSATZREDNERIN (setzt plötzlich wieder ein): Okay, okay, wir sind im Bauch des Wals, zugegeben, und haben jetzt Frischwasserverantwortung, doch die können wir nicht alleine übernehmen, da muss noch jemand anderer ran – ich spreche nicht von Gott, wie Sie sich das vorstellen, nein. Ich meine, im Norden von uns steht eine Fünf-Millionen-Stadt, die trinkt uns all das Wasser weg. Die könnten sich doch auch mal an der Ostsee bedienen, es gibt doch Entsalzungsanlagen, Wasseraufbereitung – Gut, die fressen Strom, aber es gibt noch andere Optionen. REDNER: Wir sind im Bauch des Wals, zugegeben, damit müssen wir jetzt klarkommen. Aber „Geht los und warnt Ninive!“ das ist doch die reinste Ver-
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arschung – entschuldigen Sie das derbe Wort – inive, das gibt es nicht mehr, das ist total fiktiv, N oder soll es etwa Berlin sein oder Brüssel? Es ist ja immer Berlin oder Brüssel! „Geht los und warnt Ninive!“, das ist so was von gestern, da hat jemand etwas nicht richtig verstanden, solche Sprüche sind zum Kotzen – entschuldigen Sie das derbe Wort – weil sie so tun, als gäbe es einen klaren Auftrag. Aber den gibt es nicht. Was heißt „losgehen“, was heißt „warnen“ jetzt einmal konkret? Ist das nicht kryptisch, vor allem, wenn man sowieso festsitzt. ZUSATZREDNERIN: Und wissen wir, was da draußen los ist. Da draußen herrscht vermutlich ein Unwetter. REDNER UND CO-REDNER/IN ZUSAMMEN: Nein, das wissen wir nicht. JONA Auftritt der Bürger:innen mit den bereits abfallenden Ohren, vielleicht sitzen sie auch im Publikum, nein, tun sie nicht, denn im Publikum sitzen ja die Expert:innen, dort sitzen die Schlaumeier, die uns alles erzählen werden, da sind die mit dem ausreichenden Wissensstand. BÜRGERIN (zu Publikum): Sie sind ja die Wissenschaftler. Sagen Sie uns doch, was los ist! Sie sind doch die, die uns jetzt was erzählen. Wir verstehen es ja nicht. Wir verstehen es ja immer wieder nicht. Sie sind die Statistiker, die erklären, was auf uns zukommt, die Herren und Damen mit den Zahlen. Sie sind die mit dem Plan. Wir die Planlosen. Die einen Pegelstand nicht verstehen können. Denen man alles erklären muss. In einfachen Worten. Wir sind im Grunde Idioten, die alles noch mal erklärt haben wollen. Sie sind die mit dem Wissensvorsprung, d. h. Ihr Wissen ist bei uns stets noch nicht angekommen. BÜRGER: Wir nehmen alles falsch auf, Sie wissen ja, wenn, dann nur über social media. Sagen Sie es bitte als fun fact! Vielleicht eine bildgestützte Variante. Lassen Sie es aus anderen Mündern kommen! Youtubestars, Influencer, Promis. Aus dem Dschungelcamp. Wir brauchen Botschaftertiere, sonst läuft bei uns gar nichts. Ein bisschen Drama. Schnelle Bilder. Der Klimawandel als Kometenerzählung. Kommen Sie uns nicht mit Zahlen. Zahlen sind anstrengend. Die verstehen wir nicht. BÜRGERIN: Und sagen Sie uns bitte nicht, wir hätten ein Zeitproblem. Das haben wir schon so oft gehört. Das können wir einfach nicht mehr hören. Seit Jahren geht das so – Und? Ist was passiert? Mit ihrem Zeitproblem können wir nichts anfangen. Zeitprobleme hat unsereins die ganze Zeit. Immer gilt es, schnell zu reagieren, und immer ist dann gar nichts passiert. Gar nichts ändert sich. BÜRGER: Sie sind doch die mit dem Wissen, wir sind die mit den Wissenslücken. Sie sind die Wissenschaftler. Sie sagen uns, wie es läuft. Aber sagen Sie, gibt es nicht Kollegen, die das ganz anders sehen? BÜRGERIN: Die paar Idioten aus Washington kennen wir aus Netflixserien, die paar Idioten aus Berlin sind uns schon lange bekannt, und die aus Brüssel brauchen wir erst gar nicht kennenlernen. Hat man ja jetzt gesehen, hat man gesehen! Kommunal ist noch was zu holen. Da gibt es noch Menschen, die sich einsetzen. Lichtwechsel. BÜRGERIN (zu Bürger): Aber jetzt mal im Ernst: Hast du das verstanden? BÜRGER (zu Bürgerin): Ist das der Infoabend der Dresdener Wasserbetriebe, oder was?
BÜRGERIN: … Ich habe auch nicht recht zugehört. BÜRGER: Ist das die Bürgerinformation zur Lage der Klärwerke, oder was? BÜRGERIN: Ich kann mich auf so was einfach nicht konzentrieren. Immer wenn von Klimakatastrophe die Rede ist … Bürger: Ist das der Runde Tisch zum „Guten Leben“? Oder zum Autobahnteilabschnitt? BÜRGERIN: Du, ich höre da auch nicht hin, ich weiß, das ist blöd, weil, das ist ja schon wichtig. Ich bin ja keine Klimaleugnerin. BÜRGER (ruft wieder nach vorne): Sehen Sie, das ist unser Problem! Nicht Ihre Unwetterereignisse, von denen Sie sprechen. Das stehende Wetter. Deadstream, was soll das sein? Wir haben hier ganz konkret eine Inventur zu überstehen. Wir haben keine Zeit für Botschaften kommenden Unheils, wir haben das Gegenwärtige abzuarbeiten. BÜRGERIN: … Ich bin ja gar nicht dagegen. Nein, aber ich sehe einfach nicht, was ich jetzt – also wie mich das jetzt. BÜRGER: So oft war bereits bei Ihnen die Rede von der Flut, dabei fehlt uns hier ganz konkret das Wasser. Und wir fragen uns ebenso konkret, wie halten wir dieses Geschäft am Leben? Das ist unser Problem, nicht Ihre Autobahnauffahrt, die Sie verhindern wollen. Wir haben kein Geld mehr. Diese Kommune ist pleite. Wie wollen wir irgendetwas noch auf die Beine stellen ohne eine ordentliche Verkehrsanbindung? Wie wollen wir Schulen, Krankenversorgung am Laufen halten, d. h. überhaupt wieder installieren ohne Kontakt zur Außenwelt? BÜRGERIN (plötzlich konkret zu Bürger): Ich weiß auch, dass das alles katastrophal enden wird, ich kann jetzt nur nicht auf Ihren Gesprächszug aufspringen, mit dem Sie davonrasen in Ihre städtisch-bürgerliche Behaglichkeit. (nach vorne) Sie retten sich doch auch nur. BÜRGER (ignoriert Bürgerin): Wir haben hier diese regionale Obstwiese. Und nicht weit von uns ist diese neue Agrargenossenschaft, die … ALTBÜRGER:IN (taucht auf, spricht nach vorne): Sie erzählen ja von der Flutnacht im letzten Jahr, als ob Sie dabei gewesen wären, dabei sind Sie gar nicht da gewesen. Wir wissen das. Solche wie Sie sind nie bei irgendetwas dabei gewesen. Sie müssen uns nicht erzählen, wie man sich am besten wappnet vor solchen Katastrophen – ja, ja: indem man sie gar nicht erst entstehen lässt. Aber sagen Sie einmal ganz ehrlich: Sind wir für Ihre Klimakatastrophen allein verantwortlich? BÜRGERIN: Sie denken, hier am Land kann man alles machen. Das ist so was von der Stadt aus gedacht. Wir sind doch die, wo ihr Klimaschutz stattzufinden hat – nichts gegen Klimaschutz, aber stellen Sie sich doch selbst mal Windräder vors Haus. ALTBÜRGER:IN: Ich sage Ihnen mal eines: Wir haben hier keinen praktischen Arzt mehr, uns fehlen Schulen, den Pflegedienst können wir von weiß Gott woher organisieren, und politische Vertreter lassen sich auch nicht mehr blicken. Und dann kommen Sie! BÜRGER: Ich würde ganz schön still sein so an Ihrer Stelle. Ich würde aufpassen, was ich sage. Schließlich gibt es auch hier Leute, die können ganz schön ungemütlich werden. Die sagen dann: Wir wissen alles über Sie. Wir wissen, wo Sie wohnen. Und mit was Sie die Wahl gewonnen haben. Alles schon erlebt. BÜRGERIN: Sie können uns nichts mehr erzählen. (zu Bürger) Wissen Sie, was sein konkretes
kathrin röggla_das wasser
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Problem ist? Er hat seine Behörde nicht im Griff. BÜRGER: Er hat seine Mehrheiten nicht beisammen. ALTBÜRGER:IN: Er hat ein Riesenproblem mit seiner Koalition. BÜRGER: Er hat die Zuständigkeiten nicht klar erfasst. Ihm begegnen jetzt immer mehr Leute, die sagen, das sei nicht ihr Ressort. Kennt man doch. Am Ende machts niemand. ALTBÜRGER:IN: Das ist nicht zu fassen. Kommt hierher und erzählt uns was von Soforthilfen. Man sollte denen mal die Fresse polieren. PERSÖNLICHES DRAMA
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REFERENTIN: Klar bin ich dabei gewesen. Also vor Ort. Und wissen Sie, was mein persönliches Drama in jener Nacht war? Ich war als Entwässerungsbeauftragte der Stadt O. verantwortlich für den ganzen Bezirk mit seinen drei Flüssen. Wir haben ja die L., die Z. und die W. Also war ich in ständigem Kontakt mit der Feuerwehrleitung. Die mussten ja gesagt bekommen, was das jetzt heißt: „4 m Pegelstand“. Können Sie etwa Pegelstände lesen? Nein, können Sie nicht, aber ich kann das. Na eben. Die Feuerwehr tut sich auch schwer damit, Pegelstände zu interpretieren, deswegen haben die mich gerufen. Also wurde ich zur Leitungsrunde gerufen. Ich habe an alles gedacht. Die Knackpunkte bei den Flüssen, wo das Wasser rausdrücken wird. Ich hab an die Dämme gedacht und an die Verteilung der Sandsäcke. Die ganze Logistik. Es war ja sehr brenzlig, vor allem bei der L. Doch als ich spätabends nach Hause kam, da fiel mir auf, dass ich komplett die W. vergessen hab. Den einen Fluss vor meiner eigenen Haustür habe ich einfach vergessen. Ich habe nur an die beiden anderen Flüsse gedacht. Immer nur an die L. und an die Z., aber nicht die W. Weiß der Geier, warum ich den einen Fluss nicht auf dem Schirm gehabt habe. Und dann stand ich spätabends zu Hause und habe Panik bekommen, denn der eine Fluss war plötzlich vor meinem Wohnzimmerfenster, und da gehört er ganz und gar nicht hin. Ich bin dann raus und sogar noch auf den Damm, da habe ich gemerkt, der bricht gleich. Ich stehe also total benommen da und sehe noch, wie das Wasser schon Erdreich rausschwemmt, also wie das Wasser trübe wird, das ist immer so ein Zeichen, so kurz bevor, also so kurz bevor … Was sehen Sie mich so an? Das ist mein Drama. Ich komme spätabends nach Hause und denke, die Situation ist in trockenen Tüchern, ja, so sagt man doch, aber dann fließt da plötzlich so ein Fluss quasi durch mein Haus, den ich vergessen habe.
Und jetzt wollen Sie mir erklären … Bitte? Nein. Also mir ist das passiert, und ich weiß nicht, wieso. Ich habe keine Ahnung, es war eben ein Aussetzer, wir leben ja auch in einer Zeit der Aussetzer, warum passiert das nicht auch mir, und wenn Sie jetzt denken, Sie haben was verstanden, wenn Sie hören: 2,5 Meter, 4 Meter, 6 Meter. Dann haben vermutlich Sie Ihren Aussetzer und rennen in Ihren Keller, weil Sie noch was rausholen wollen. Sie öffnen eine Tür, die Sie geschlossen halten sollten. Das ist dann Ihr Drama. REFERENT: Man erzählt sich durchaus von Menschen, die steckengeblieben sind in ihren Aufzügen nach unten, zur Tiefgarage, in den Keller, um noch was rauszuholen, bevor das Wasser kommt. REFERENTIN: Ja, Menschen, die sich schnell noch nach ihrem Hab und Gut umsehen wollten, die gibt es ja überall. Und dann kamen sie nicht mehr raus. Keller als Todesfallen, Tiefgaragen als Todesfallen, Autos als Todesfallen … ALTBÜRGER/IN: Wer hätte das gedacht. Auch ich bin in einem Fahrstuhl und möchte eine Heldin sein, doch es klappt nicht. Das Wasser steigt langsam. Dieses Wasser ist still. Es gurgelt nicht einmal. REFERENTENEBENE FLÜSTERN: Sprich du! – Nein, du erst. – Hör mal, wir haben ausgemacht, dass du beginnst. – Das war so vereinbart in der letzten Sitzung. – Ich habe ja am wenigsten mit den Ereignissen zu tun gehabt. – Du sprichst für euer Referat, nicht ich – Ich bin noch neu. Sowieso. – Also los! – Ich kann nichts sagen. Ich weiß doch gar nicht, wer die Informationen erhalten hat. Überhaupt, wie das ablief. Wenn ich da jetzt Fehler mache … REFERENT: Also ich bin ja nicht für sein Wording verantwortlich. Ich kann auch nicht jedes Fotoverhalten kontrollieren. Wenn er im falschen Moment Scherze macht. Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben – zu defensiv? REFERENTIN: Zu defensiv. REFERENT: Ich kann mit ihm das besprechen, also Vorschläge machen. Ich weiß, ich weiß, das ging jetzt gar nicht, also so was von gar nicht – zu defensiv? Referent nickt. REFERENT: Da wurde eine rote Linie überschritten. Aber was soll ich machen, ich koche auch nur mit Wasser, und er versteht es eben auf der anderen Seite, mit den Leuten zu reden. Also er kann mit denen. Das kann ja nicht jeder. Und wir haben
01.05.2022
Nebenan/ Побач Unabhängige Kunst aus Belarus
derzeit nur ihn. Also in vielen Fällen macht er es gut. Also wer mag überhaupt noch so einen Job machen, wenn man alles nur falsch machen kann. Wo klar ist, da wird nur noch geköpft (Referentin wird nervös, macht Zeichen), also für jede schlechte Nachricht wird man geköpft. Man wird also da geköpft. REFERENTIN LÖST AB: Wir kochen auch nur mit Wasser, das müssen wir uns immer klarmachen. Sie (deutet auf das Publikum) sagen, wir machten nichts. Aber das stimmt nicht. Sie sagen, wir seien eine Wand, aber auch das ist nicht ganz richtig. Also gar nicht richtig. Wir reden nur und handelten nicht. Wir handeln andauernd, also wir sind ganz schön aktiv. REFERENT (zieht ihn weg, in Folge sprechen sie zueinander): Nein, so wird das nichts. Das klappt nicht, das verstehen die nicht. Da weiß ich doch schon vorher, dass es nach hinten losgeht. Mit so einer Botschaft erreichst du keinen. REFERENTIN: Du hast recht. Es fehlt uns an Glaubwürdigkeit. REFERENT: Naja. REFERENTIN: Das ist es eben. Wenn wir so von vorne kommen, erleben wir nur Gegenwind. REFERENT: Außerdem sind wir zu leise. Wenn uns die verdammt Technik nicht lauter stellt, wird das nie etwas. Ist ja nur ein Flüstern, das zu hören ist. Wir kriegen keine Lautstärke zusammen. REFERENTIN: Sollen die da drüben das doch machen, (weist auf die andere Bühnenseite) die haben eine ganz andere Personaldecke. Schon wie unsere Institution aufgestellt ist, uns fehlen einfach die Leute. REFERENT: Ja, wir sind völlig unterbesetzt. Immer diese Politik mit Augenmaß. Als ob das noch ginge. (winkt Zusatzrednerin von der anderen Bühnenseite hinzu) ZUSATZREDNERIN: Streng genommen sind wir für diese Wasserproblematik an dieser Stelle gar nicht zuständig … (geht wieder ab) ZWISCHENRUFER/IN: Und schon wieder ist ein Jahr vergangen. REFERENT: Wie? REFERENTIN: Der/die hat recht. Uns läuft die Zeit davon. Aber auch in anderen Bereichen … REFERENT: Sicher, man kann es nur als Problem unter anderen behandeln, es sollte aber eigentlich ganz vorne stehen … REFERENTIN: Man muss das doch von der Organisation her denken. REFERENTIN: Die werden uns gar nicht zuhören, das ist der Fakt. Das ist ne Lobby. REFERENT: Die werden nur stur sagen, wir machten es uns zu einfach.
07./08.05.2022
Encantado
Lia Rodrigues Companhia de Danças 14.–21.05.2022
ZEITGEIST TANZ
Dresden Frankfurt Dance Company 25.–29.05.2022
Premonitions of a Larger Plan
Dresden Frankfurt Dance Company
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REFERENTIN: Und. Sie können uns nichts erzählen. REFERENT: Solche wie Sie! Kommen hier an und wollen uns was erzählen! REFERENTIN: Wir wüssten nicht, wer in dieser Region für Stabilität sorgt. Ich kenne doch die ganzen Sprüche. ZWISCHENRUFER/IN: Und schon wieder ist ein Jahr vergangen. REFERENTIN: Richtig. Das bestreitet ja keiner. Die Dinge müssen eben gut überlegt sein, auch der rechtliche Rahmen. Sonst geht das alles nach hinten los. Man geht ja nicht zum ersten Mal in diese Organisation. Aber es wäre der richtige Hebel. Der richtige Ort. Der richtige Zeitpunkt. REFERENT: Sollte man nicht zuerst nach Allianzen suchen? ZWISCHENRUFER/IN: Und schon wieder ist ein Jahr vergangen. REFERENTIN: Wir sind doch gar nicht Ihre Feinde. Wir sind da nun wirklich die falschen Gegner. Zu denen drüben müssten Sie sehen. REFERENT: Niemand sagt, dass Sie für den CO2Abdruck des ganzen Landes verantwortlich seien … Sie sorgen für Ernährungssicherheit, das ist klar … Ohne Sie gibt es hier gar nichts, ja! ZWISCHENRUFER/IN: Und schon wieder ist ein Jahr vergangen. REFERENT (zu Zwischenrufer/in): Mensch, nun hören Sie mal auf! REFERENTIN: Es reicht jetzt! ZWISCHENRUFER/IN: Und schon wieder ein Jahr! REFERENT: Seien Sie endlich still! REFERENTIN: Haben Sie es noch immer nicht kapiert? (Erneuter Auftritt von Zusatzrednerin als Amts- und Würdenleiterin) … ah, da ist sie ja. ZUSATZREDNERIN (nach vorne): Bin ich zu hören? Bin ich schon auf Leitung? Gut, ja, dann kann ich also loslegen. Hören Sie mich? Nein. Kann die Technik mich etwas lauter machen? Noch etwas, bitte? So bin ich ja kaum zu hören. Ja, so ist gut. So höre ich mich zumindest selbst. Also, wir sind hier sehr dankbar für Ihre Initiativen. Überwältigt von Ihrer Hilfsbereitschaft und wollen hier erst einmal ein großes Dankeschön loswerden. ZWISCHENRUFER/IN, undeutlich: Greenwashing! ZUSATZREDNERIN (tut so, als wäre das ein positiver Zuruf): Danke, danke! Wir wissen derzeit noch nicht, wie wir Ihr Angebot umsetzen können, wir können hier ja nicht wie wild losagieren, wir müssen da etwas Systematik reinkriegen. Außerdem steht es noch nicht fest, welche Direktiven wir vom Bund bekommen. Auch die EU hat da ein Wörtchen mitzureden. ZWISCHENRUFER/IN, undeutlich: Stimmt nicht! ZUSATZREDNERIN: Haben Sie mich verstanden? Das ist nicht meine Entscheidung. Bitte? Ich habe Ihre Frage nicht ganz verstanden. Aber ich kann versichern, wir sind in voller Fahrt. Wir sehen zuversichtlich nach vorn, dass wir das auch geregelt bekommen. Und ja, kommen wir jetzt zu Ihrer Kritik: Viele wollen jetzt was gewusst haben, was vorher einfach nicht abzusehen war. Das läuft doch immer so. Und natürlich hätte man mehr wissen können. Das sagt sich nur so leicht, wenn man nicht ins Geschehen verwickelt war. ZWISCHENRUFER/IN: Das ist ja das Problem! ZUSATZREDNERIN: Haben Sie mich verstanden? Das ist nicht meine Entscheidung! Geht ab.
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IM BAUCH DES WALS REFERENT (zaghaft): War doch vorauszusehen. ZUSATZREDNERIN: Die Taliban erobern Kundus, das war vorauszusehen. Die Ereignisse an der belarussischen Grenze, die waren vorauszusehen, an der ukrainisch … nein, ich gebe zu, war nicht vorauszusehen –, aber das? Mir kann keiner sagen, er habe es gewusst. Wir waren ja alle überrascht. Selbst Wissenschaftler, die sich seit Jahren damit beschäftigen, sind jetzt andauernd überrascht von ihren neuen Daten. Von der Geschwindigkeit, mit der alles eintritt. Das antarktische Eisschelf, das abbricht, die Geschwindigkeit der Eisschmelze. Anstieg des Meeresspiegels. Und da kommen Sie und sagen „Ninive“. (Sie geht nach vorne an die Rampe) REFERENTIN: Ja, das Wasser war einfach nicht vorauszusehen. Niemand hat damit gerechnet. Noch nie hat es das in einem Ausmaß gegeben, dass eine Wasserwalze acht Meter hoch durch die Täler rauscht. Die ja keine Täler sind, strenggenommen. Nur leichte Senken. Das kommt noch hinzu. REFERENT: Du brauchst nicht so zu brüllen, die hören dich auch so. REFERENTIN: Ich brülle nicht. REFERENT: War jedenfalls vorauszusehen, dass nichts davon in den Boden geht. ZUSATZREDNERIN (noch immer vorne, zu Publikum): Sie sind doch der Herr der Zahlen, dann sagen Sie mir doch, wie es jetzt weitergehen soll! (wartet, lauscht, geht wieder zurück, zu den anderen) Sehen Sie. REFERENTIN (ignoriert sie): Wir können die Zeit auch nicht zurückdrehen. REFERENT (zu Referentin): Du bist immer noch sehr laut. ZUSATZREDNERIN (macht weiter): Sie haben doch die Prognosen. REFERENTIN (unbeirrt): Wir haben alles gemacht, was wir für notwendig befunden haben. REFERENT (zu Referentin): Bitte, es ist nicht nötig, dass du mich anschreist. REFERENTIN: Ich schreie dich nicht an! Aber weißt du was: Ich bin ja die am Ende, die dann fertiggemacht wird … REFERENT: Das glaubst du, es ist ja meine Telefonnummer, die da auf der Website steht, da hat irgendein Idiot von der PR ohne Nachdenken meine Telefonnummer auf die Website gepackt, und jetzt ist sie in der Welt, und alle rufen mich an. REFERENTIN: Es sind Leute umgekommen. REFERENT: Natürlich, das ist mir bekannt. Aber alle rufen mich an (und nicht dich). Wartet kurz. DAS PERSÖNLICHE DRAMA, Teil 2 REFERENT: Das ist mein persönliches Drama: Sie sind froh, mich erreicht zu haben, aber ich bin nicht der Richtige. Also egal, was, egal, wer, irgendein Fuzzi, der Fragen zum Borkenkäfer hat, irgendeine Tante, die sich über die Politik des Ministeriums beschweren möchte, ein Wesen, das etwas gegen Gartenregulierungen hat, wählt diese Nummer, und denkt, meine Aufgabe wäre es, mit ihm oder ihr zu reden. Umweltmenschen, die eine Initiative in Gang bringen wollen. Beschwerdeführer:innen aller Couleur. Ich sage denen gleich, also wir sind für Sie nicht zuständig, aber glaubt ihr, die nehmen das zur Kenntnis? Und was mache ich? Ich erzähle denen was, dass es meine Aufgabe wäre,
für den Minister oder für unser Amt Studien durchzugehen. Also mir Studien anzusehen und auszuwerten, ist an denen was dran oder nicht, und dann ist es gut. Das ist mein Job, nicht der Publikumsverkehr. „Also wir sind nicht für Sie zuständig, tut mir leid.“ Und dann fragen die immer nach einer anderen Telefonnummer. Und da beginnt schon das Problem: Es gibt keine andere Telefonnummer. Es gibt für deren Fragen einfach keine Telefonnummer, bei der man anrufen kann. Ich kann ihnen keine Telefonnummer geben, und deren Fragen kann ich auch nicht beantworten. Also erfinde ich Telefonnummern, ich bin da sehr kreativ. Manchmal. Manchmal hole ich mir auch nur deren Antworten ab, also ich hole mir Antworten ab, wie: Bei der nächsten Wahl soll ich mich frisch machen. Oder: Warten Sie es ab, bald geht es Ihnen an den Kragen. Wir wissen, wo du wohnst. Nein, das sagen sie nicht, das hat mir jemand geschrieben. (zu Referentin, als hätte die was gesagt) Wenn es nur das wäre. Wenn es nur Insektenfragen, Baumschnittfragen, Wasserstandfragen und der Borkenkäfer wäre. (hält inne, blickt auf die Uhr. Und dann, als würde man zu einem Refrain zurückkehren) REFERENTENEBENE REFERENT: Sie sagen, sie hätten das Handyvideo gesehen. REFERENTIN: Oh Gott, das Handyvideo, nicht schon wieder! ZUSATZREDNERIN: Das mit den Wölfen? REFERENTIN: Nein, das mit dem Wasser. ZUSATZREDNERIN: Das mit dem Munitionsfund in der Ostsee? REFERENTIN: Nein, mit dem Wasser. ZUSATZREDNERIN: Das mit der einstürzenden Brücke, mit den verendenden Tieren? Das mit den Waldbränden? Mit den Versteppungen? Das mit der extremen Trockenheit? REFERENTIN: Mit dem Wasser! REFERENT: Also im Haus. Z. B. Plötzlich kam das Wasser von unten. Drückte hoch. Dabei hatte es gar nicht geregnet. Auch so ein Mythos, mit dem wir umgehen müssen. Draußen auf dem Feld Dürre, aber im Haus drückt das Wasser von unten. REFERENTIN: Plötzlich stürzt aus dem Nichts eine Brücke ein. CO-REDNER/IN (kommt dazu): Leute, wir müssen weiterkommen. Wir alle haben die Bilder gesehen und wissen, wir wollen so was nicht, also so was wollen wir nicht. Wir wollen solche Bilder nicht mehr produzieren. REFERENT: Sie sagen, sie hätten das Handyvideo gesehen, das mit dem Wasser und das ohne Wasser, und sie bringen beide nicht zusammen. REFERENTIN: Jetzt musst du lauter werden, sonst wird das nichts. Du musst außerdem die Sprache wechseln. REFERENT: Auch das Tiefbauamt reagiert nicht. CO-REDNER/IN: Ihr wisst genau, das Tiefbauamt ist auf diese Fragen nicht eingestellt. REFERENTIN: Ich erinnere mich, auch die „Woche des guten Lebens“ wurde von dem Stadtrat beschlossen, und das Tiefbauamt reagierte nicht. ZUSATZREDNERIN: Ich bitte dich: Das Tiefbauamt ist berühmt fürs Nichtreagieren. REFERENT: Das glaube ich nicht. Alle Behörden reagieren. Behörden müssen reagieren!
kathrin röggla_das wasser
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REFERENTIN: Die sehen die Stadt nur als befahrenes Gebiet mit Verkehrsteilnehmern. Die Stadt ist Verkehrsteilnehmergemeinschaft und nichts anderes. Einen Verkehrsstopp, d. h. einen Verkehrsaussetzer können die gar nicht verstehen. ZUSATZREDNERIN: Da sind wir voll ausgebremst worden. REFERENT: Wie? REFERENTIN: Lass sie reden und reden und dann, wenn es um entscheidende Sachen geht, sagen die, der Wirtschaftsplan kann nicht genehmigt werden. Oder sie finden einen Formfehler. REFERENT: Aber Formfehler meldet man doch eigentlich vorher an. Also vor der Sitzung. REFERENTIN: Nicht das Tiefbauamt. CO-REDNER/IN: „Sie können nicht einfach wild Mails verschicken!“ (geht ab, Zusatzrednerin folgt) REFERENTIN: Tsss … Das reinste Ressortdenken … (Rückkehr zum Refrain) REFERENTIN: Aber: Habt ihr das Handyvideo gesehen? REFERENT: Das mit dem Wasser? REFERENTIN: Nein, das mit dem Wald, aus dem nichts mehr kommt. REFERENT: Was soll denn aus Wäldern schon kommen? REFERENTIN: Na, es kommt nichts mehr heraus. Wal. Nicht Wald. REFERENT: Aus dem Wal… aus dem Wal ist kein Entkommen! REFERENTIN: Niemand stellt hier die richtigen Fragen: Was ist, wenn man von einem Tier verschluckt worden ist, und es nicht merkt? Was ist, wenn wir tatsächlich von einem sehr großen Tier verschluckt worden sind, dessen Ausmaße wir noch nicht verstehen? Stattdessen hält der Glyphosatstreit an, der Nitratstreit. Wir kämpfen um kleinste Zentimeter im CO2-Handel. Der Streit um den Wasserstoff. Der Wasserstoffgedanke hört nicht auf, in die falsche Richtung zu laufen. Die Kernkraftdiskussion, auch nur die falsche Richtung. Nur der Fluss nicht, der fließt immer nur in die eine Richtung. Könnte er umdrehen, könnte das Wasser mal bergauf fließen, dann kämen wir hier raus. Lichtwechsel. THEATER MODERATOR: Ja, nichts als Ressortdenken … und eine Personalvollversammlung. ANSAGERIN: Seit Kurzem ist das Theater Basisdemokratie …
MODERATOR: z. B. in der AG-Sitzung BÜRGERIN: z. B. in der Steuerungskommission ANSAGERIN: in der Vollversammlung der Wal bewohner MODERATOR: Und da sitzen sie dann. Nichts als Mitglieder. Da ist das Kopfschmerzmitglied, das Mitglied „Ich muss mal kurz vor die Tür“, das Mitglied, das gerade eben einen wichtigen Anruf bekommt, das Mitglied, das sich aus dieser Fragestellung gerne heraushalten möchte, aber vielleicht doch etwas sagen kann. „Nämlich“ – Das Mitglied, das schon so lange wartet, dass man ihm das Wort erteilt, das Mitglied, das zuerst die Hand gehoben hat, aber sich jetzt nicht vordrängeln will, das Mitglied, das nicht beabsichtigt, jemanden zu unterbrechen, aber jetzt doch findet, dass man über diese Sache ganz anders sprechen müsste. „Genau!“ Das Mitglied, das das Prozedere mal grundsätzlich in Frage stellt. „Wer hat hier überhaupt die Tagesordnung gemacht?“, das Mitglied, das findet, dass man grundsätzlich mal wertschätzend sprechen sollte, „Was ist hier mit uns geschehen in den letzten Wochen?“ Da sei man schon mal woanders gewesen. Das Mitglied, das sagt „Ich denke, Sie haben jetzt genügend Raum bekommen, Ihre Sicht der Dinge darzustellen“, und jemand flüstert „hoppla“, ein Satz, der direkt neben „Es sind uns gewissermaßen die Hände gebunden“ fällt. Das Mitglied, das so einen Tonfall wirklich problematisch findet. Man sei ja nicht hier, um sich gegenseitig zu belehren. Das Mitglied, das seinen Austritt lange nicht bekannt geben wollte, aber es dennoch jetzt tut, weil sich hier nichts mehr bewegt. Das die Zeitproblematik viel zu spät aufgreifende Mitglied, „Jetzt muss mal langsam etwas geschehen.“, wenn die meisten schon nicht mehr können. Deplatziert nachhakendes Mitglied. Jetzt sind aber wirklich alle erschöpft.
eine Art Kurzzeitchina, wenn auch fadenscheiniger, wenn auch nicht mit der vollen Wucht, schließlich wurden da auch nur so Dinge beschlossen, und jetzt steht es eben wieder an. REFERENTIN: Das ist doch reine Angstmache! REFERENT: Das ist doch Unsinn, es geht doch nur um ein paar Firmen, ein paar regulatorische Maßnahmen, die nicht und nicht geschehen! (Er hält kurz inne und kommt auf sein altes Thema zurück) REFERENT: Noch einmal, sein Wording stammt nicht von mir. Wir hatten uns auf etwas anderes geeinigt, aber er kann das letztlich immer selbst entscheiden, wie er das ausdrücken möchte. REFERENTIN: Was siehst du mich an, ich bin weisungsgebunden. (lacht) REFERENT: Trotzdem, du bist dran. BÜRGERIN: Er hat einfach Angst vor seinen Wählern. Ist ja nicht so, dass alle den sofortigen Ausstieg aus der Kohle wollen. REFERENT: Stopp – Du bist dran! REFERENTIN (setzt an zu singen): Wenn sich der Himmel braun vor CO2 färbt, würden wir etwas ändern, klar. Wenn alle Pflanzen grau sich färbten, würden wir etwas ändern, ja. Wenn alle Flüsse stehenbleiben würden, wäre längst etwas geschehen, sowieso. Wenn alle Geräusche sich verziehen, wären wir längst los – gezogen, und doch ist das schon so, ist das schon so. und, nachgesetzt, in anderem Tonfall: Hast du das Handyvideo gesehen?
BÜRGERIN: Wie? Das funktioniert nicht? Hm, ich fürchte, dann bleibt uns nichts anderes übrig. Ich fürchte, dann müssen wir ganz unpopulär werden, jetzt müssen wir in diesem Wal ein paar äußerst unpopuläre Entscheidungen treffen, denn uns bleibt nur ein enger Zeitkorridor. Wir müssen zu einer Art Kurzzeitchina werden, das allerdings gleich wieder aufhört, haben wir die wichtigsten Maßnahmen umgesetzt. Nach der Rettung des Klimas gibt es dann kein Kurzzeitchina mehr, nach der Stabilisierung der Werte, kein Kurzzeitchina, Schluss mit Kurzzeitchina, aber vorher muss es her, natürlich moderater, aber was soll man machen, wenn die Leute nicht parieren. In der Pandemie, stimmts oder habe ich recht, hatten wir auch
Pressekonferenz-Ende. Eine Figur ist übrig geblieben, die offensichtlich Beraterin war. Steht am Rand und blickt ängstlich aufs Publikum. Es ist etwas geschehen. CEO (REDNER): Ich sage mal, wir müssen erst mal sehen, wie wir hier rauskommen. Wir können jetzt noch nicht an Ninive denken, ein Schritt nach dem anderen, okay? Wir sind eine einfache Beratungsfirma, die nicht an Ninive denken kann. Wir befassen uns mit (hier etwas schneller) lean management, content values und innovativen workflows. (wieder normale Geschwindigkeit) Und Sie sind doch auch nur ein Zusammenschluss an Bürgerinitiativen aus der Gegend, die nicht an Ninive denken können, jetzt mal ehrlich. Das machen nur die Großen, wenn überhaupt. Die big five. Hier geht
Zweites Bild: ÜBER FLUSS (NINIVE) IM BAUCH DES WALS
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es Ihnen doch um das kommunale Überleben. Für uns heißt es insofern: Nirgends Ninive, aber überall Versalzungsprobleme. Ausgefallene Ernten, verbackene Böden und kein Ninive, sondern fehllaufendes Management. Wie hat alles angefangen? Wir wurden losgeschickt – nein, wir, also unser Unternehmen – wir saßen unter diesem Baum, und plötzlich ist er verdorrt – nein, stimmt nicht, da kommt laut Businessplan erst etwas anderes. Wir kamen vom Weg ab – wa rum sage ich immer noch „wir“, obwohl ich weiß, ich bin allein, seit ich aus dem Wal wieder draußen bin, nichts mehr übrig von meinem Team, mit dem ich zur Schulung aufbrach. Das war ja so verabredet, also ich soll diesen Standort hier über nehmen. Aber von wegen hoch auflöslicher Landschaft! Von wegen Landwirtschaft high tech, mit flexiblen Daten gestützte Landschaft, satelliten gesteuert! Diese Landschaft, das kann ich Ihnen versichern, ist nicht gesteuert. Also ich saß unter diesem Baum, und dann ist er tatsächlich einfach verdorrt, und da war ich schon sauer, also so richtig sauer, weil wir ja unser Saatgutprogramm haben – halt nein, das kommt ja noch, das ist ja Zukunftsmusik, ich und der Baum. Ich und der verdorrende Baum. Ich in der Wüste, Gott verfluchend, den ich nicht kenne, aber trotzdem verfluche. Oder so. Ich in der Minus-800-lLandschaft. Das ist die Gegenwart. Die Zukunft hält weitaus mehr Wassereinbußen für uns parat. Als hätte der Baum und die Landschaft derzeit etwas mit mir zu tun. Haben sie aber noch nicht, zumindest nicht direkt, nur über unser Saatgutprogramm besteht ein sehr indirekter Kontakt. Wird halt heiß. Wird halt trocken. Und ich werde dann auch mit niemandem sprechen, schon gar nicht mit Gott, wie jetzt alle denken. Zuerst aber werde ich woanders sein. Muss ja mein Geld verdienen. Gut. Ninive, wieso auch nicht? Man verfolgt eben seine Spur. Eine Stadt ist so gut wie die andere. Und dann, Häuschen am Stadtrand, Kinder, Kredite. Immer muss man irgendetwas finanzieren. Kennen Sie, nicht? Kostet ja alles. Und der Boden ist eine endliche Ressource, also findet der Preiskampf statt. Die Immobilienpreise gehen jetzt schon durch die Decke. Aber ich werde dann sagen, bald verdorrt nichts mehr, wir machen unsere neuen Pflanzensorten, wir brauchen keinen Gott mehr, denn wir haben wasser unabhängige Pflanzensorten, die unser Unternehmen vermittelt. Die Saatgutfirma, mit der wir arbeiten, hat es bald heraußen. Lassen Sie also das mit dem Eintüten der Zukunft, Sie Bürgerinitia tive, Sie, Sie Kommune, hören Sie auf mit Ihrem Sparprogramm: „Nicht das Geringste genießen, nicht auf die Weide gehen, sondern in Sack und Asche hüllen – Ninive“. So stellen Sie sich die Maßnahmen vor, als ob das die Chinesen interessiert. Was sage ich? Nein, wir sind da schneller und kommen mit unseren Pflanzensorten auf den Markt, und dann werden Sie schon sehen. Mir ist heiß. Die Sonne knallt ja ganz schön. Hallo? Ist da jemand? Hallo? Plötzlich taucht eine andere Frau auf, die über die Bühne joggt, stresst, werkelt. Vielleicht mit Buggy vorne dran. BÜRGERIN: Entschuldigen Sie, ich kann mich nicht recht konzentrieren, auf das, was Sie da … Ich habe anderes zu tun. Ich weiß nicht, was Sie da genau …, aber zum Klimawandel komme ich, wenn die Kinder groß sind. Zum Artensterben
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komme ich, wenn die Kinder groß sind und der Hund tot – nein, das ist ein schlechter Scherz. Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter! Lassen Sie mich durch, ich habe hier eine geschäftsführende Verantwortung! Für ein Unternehmen in einer Größenordnung, die Sie nicht einordnen können. Sie haben ja keine Ahnung, wie es hier läuft. Ninive nennen Sie es. Ich nenne es einfach Verantwortung für die Sachen, die man bestimmen kann und Gelassenheit bei denen, die man nicht bestimmen kann. Leider. Aber tut mir leid, das hier ist für Sie ja doch das falsche Format. Richten Sie Ihre An frage an den „Runden Tisch“. Das wurde doch vom Bürgermeisteramt eingerichtet, oder? Wir haben anderes zu tun, ja! (haut ab) KREDITINSTITUT Auftritt Kreditberater und Einheizer, zieht die Rednerin von der Bühne, stellt dann zwei Stühle und einen Tisch auf die Bühne, als befände man sich in einer Beratungssituation. Danach holt er die Frau mit Zukunft auf die Bühne, die ihm optimistisch folgt. KREDITBERATER UND EINHEIZER ZUR FRAU MIT ZUKUNFT: Kommen wir nun zu Ihnen … Sie sind ja neu hier … Sie müssen sich erst einrichten … verständlich … Wo ist oben, wo unten, oder? … Sie haben schon fixe Pläne, wie Sie sich hier einrichten? … (zu Publikum): sie ist die frisch Zuge zogene, sie kennt das hier alles nicht. (lacht) FRAU MIT ZUKUNFT: Na, hören Sie mal, ich bin die Frau mit Zukunft und schon eine ganze Weile hier. KREDITBERATER UND EINHEIZER: Na, dann legen Sie mal los „Frau mit Zukunft“! Was haben Sie so vor in unserer Stadt. (bietet ihr den Stuhl an) FRAU MIT ZUKUNFT (bleibt stehen): Wie ich schon sagte … EINHEIZER (setzt sich hin, Papiere ordnend): Sehen Sie in mir einen einfachen Finanzberater. Geben Sie mir alles rüber: Eigenkapitalauskünfte, Rentenbescheide, feste Werte, Immobilienbesitz, Einkommen und Gütertrennung, ach, und ja, die Krediterwartung, Risikolebensversicherung … FRAU MIT ZUKUNFT (setzt sich eifrig, Morgenluft witternd): Gerne. Also in einem Jahr möchte ich hier schon einen Fuß auf dem Boden haben. Also uns installiert haben, die Kredite fürs Haus, auch die Versicherungen stehen … in zwei Jahren gehe ich davon aus, dass die Dinge so mehr oder weniger laufen. Alle Adressen bekannt, alle Ansprechpartner zu organisieren, alle Wege im Kopf. Ich muss mich nicht mehr um Telefonnummern kümmern, der Job ist sicher. Es läuft. In zwei Jahren möchte ich angekommen sein, wie es so schön heißt, so richtig da. Verwurzelt. Die ganze Familie. Die Stadt stellt längst keine Fragen der vier Himmelsrichtungen mehr an uns, sondern nur die des richtigen sozialen Umfelds. Die Kinder habe verbindliche Freunde, vielleicht sogar schon so was wie erste Liebesgeschichten, in die sie sich hineinbegeben können, weil sie sich sicher fühlen. Wirklich zu Hause. Auch der Rasen im Garten weist keine Löcher mehr auf, dichter Bewuchs, wohin man blickt, das macht unser neues Rasenprogramm – Rollrasen und Spielrasen, Schattenrasen und englischer Luxusrasen. Trittfest und sattgrün in vier bis fünf Wochen. Der Starkregen wird kein Problem für ihn darstellen. Grundwasser drückt auch nicht hoch. Wir können durchatmen.
Auch in drei Jahren können wir durchatmen. Die Luft soll ja auch zum Atmen sein, die Temperaturen zum Aushalten, d. h. kein Schwindelgefühl abends nach einem Nachmittag im Freien, keine Schwierigkeiten morgens, aus dem Bett zu kommen, und die Streitigkeiten mit der Nachbarschaft werden sich auch eingestellt haben wegen des Mülls, der sich unweigerlich als Problem herausstellt. Auch die Nachrichten von den Waldbränden sollen aufgehört haben. KREDITBERATER UND EINHEIZER: Schneller, wir haben hier nicht ewig Zeit … ich habe um 12.00 noch einen anderen Kunden … Frau mit Zukunft: Auch in fünf Jahren soll es gepflanzte Bäume geben und in sechs Jahren, die weiterwachsen, das müssen sie auch können, und die Vögel sollen irgendwie zurückgekommen sein, die jetzt nach und nach ausbleiben und bereits ausgeblieben sind, so genau wissen wir das nicht. Meine Arbeit soll mir immer noch Spaß machen, keine Probleme unter der Kollegenschaft, also niemand fühlt sich auf den Schlips getreten, wenn gewisse Maßnahmen unausweichlich werden. Von den Feldern her soll kein komischer Geruch kommen, den wir anfangs nicht zuordnen können und dann aber akzeptieren werden. Schließlich kommen die Gefahren nicht wirklich an uns heran, die sind eher drüben, im Osten der Stadt. KREDITBERATER: Ja, wissen wir … FRAU MIT ZUKUNFT: In sieben, acht Jahren werden die älteren Kinder dann dem Ende ihrer Schullaufbahn entgegengehen, und keiner von uns wird dabei husten. Sie werden gesund geblieben sein, wir werden gesund geblieben sein, wir werden hinausfahren können und vielleicht so was wie Landschaft vorfinden. D. h. Platz dafür zwischen all den Neubaugebieten. Die Gegend wird ja beliebt sein. Und in ihr auch noch Käfer, d. h. Insekten, die nicht auf irgendwelchen Listen stehen. Die Wetterlagen sollen dennoch Geschäftsabschlüsse zulassen … EINHEIZER: Sagten Sie schon, wir sind eigentlich schon weiter … FRAU MIT ZUKUNFT: Die Wetterlagen sollen dennoch Geschäftsabschlüsse zulassen. Ja, ich möchte in neun Jahren nicht mehr andauernd über Geld nachdenken müssen. Auch wünsche ich mir, dass die Kinder dann nicht mehr so viel streiten wie heute. Der Gedanke ans Millionärsdasein, das einen absichert, wird sie nicht mehr länger verfolgen. Es wird ohnehin nicht mehr alles eine Frage des Geldes sein. Auch die endlosen Diskussionen über Fortnite werden sich erübrigt haben, sie gehen ja dem Ende ihrer Schullaufbahn entgegen. Ach, das sagte ich schon. Keiner wird dabei jedenfalls husten. Es wird berufliche Zweige geben, in die man einsteigen kann, und gerne gehe ich davon aus, dass die Nahrungssicherheit dann noch gegeben ist, zumindest in unseren Breitengraden. Auch in denen der anderen werden sich Dürreperioden hoffentlich wieder verkürzen. Man denkt ja auch an die anderen … EINHEIZER: Das geht mir zu langsam. Dafür gibt es keinen Kredit. So ein Szenario ist mir zu ungenau. FRAU MIT ZUKUNFT: Puh. (Steht auf und beginnt, als wollte sie deklamieren) Ich selbst möchte auch in zehn Jahren noch so was wie ein reguläres Erwerbsleben haben und gute Kontakte zu Kollegen. Es soll sich sinnvoll anfühlen, was ich mache, und der Eindruck, dass man die gleiche Sprache
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spricht, vorherrschen. Auch andere sollen das haben, so was wie einen beruflichen Alltag, es geht mir ja auch um andere, also andere, sagte ich ja schon. Also nach der Gesundheit wird man immer noch alleine aus Höflichkeit fragen und nicht aus Ängstlichkeit. (Einheizer steht ebenfalls auf) Nicht zu viele Menschen sollen in fünfzehn Jahren zum Umzug gezwungen werden, aber ich greife da vor. Schließlich wollen die meisten noch in der Stadt bleiben können, wo bitte schön die Verkehrswende endlich eingetreten sein soll. Und gerade des wegen wird auch dann niemand vom Meeres spiegel sprechen, der Meeresspiegel hat draußen zu bleiben aus dem Stadtdiskurs. Da draußen, meinetwegen, gibt es einen Meeresspiegel, aber nicht hier. Unser Großer soll dann langsam seinen Universitätsabschluss machen, die Mittlere vielleicht einen Fachabschluss, und sich dabei nicht die Haare ausreißen. (Einheizer möchte unterbrechen, Frau mit Zukunft schiebt ihn weg und wird lauter) Sie sollen es leicht haben, auch über Gras gehen können im Garten. Endlich, nach einem Jahr der Stagnation aufgrund der zu erwartenden Erkrankung. (zu Einheizer) Ja, ich habe schon verstanden, schneller … (Einheizer zieht sich zurück mit Vergeblichkeitsgesten unter dem Motto: Lassen wir sie reden, bringt eh nichts) Die Nachrichten werden ausbleiben, in siebzehn Jahren werden diese Nachrichten über Katastrophen endlich ausbleiben, auch Nachrichten vom siebzehnten Dürresommer in Folge. Von Ex tremwetterereignissen. Vielleicht weil es mit den Medien nicht mehr so läuft. (Bürgerin taucht interessiert auf) Aber die technischen Neuerungen werden auch geholfen haben, wir werden ja auch der – dank unseres Unternehmens – erfolgten Umstellung der Landwirtschaft beigewohnt haben – und ja, es wird auch Geld dabei verdient werden, aber eben nicht nur, und das ist es ja. Die Ziele der Bundesregierung sollen auch in zwanzig Jahren nicht verfehlt werden und die Verkehrswende ist eingetreten. Ach, das hatten wir ja schon. Sie sehen, die Konzentration leidet (wehrt Bürgerin ab, die sie stoppen möchte): ich weiß, ich weiß … EINHEIZER (kommt wieder zurück): So … FRAU MIT ZUKUNFT (ignoriert beide): So werden wir in zwanzig Jahren wohl nicht mehr gut in Erinnerung haben wie es heute ist – seien Sie still, ich rede jetzt – wir werden aber nicht mehr vollzählig sein. Wir sind aber nie vollzählig. Das ist ja heute schon so, aber wir werden uns dann an einen rasanteren personellen Abbau gewöhnt haben, aber wir hoffen, wir werden immer noch mit Singvögeln rechnen, Spatzen, vielleicht werden wir uns verwundert umdrehen, wenn ein Insekt vorbei-
fliegt, also Spatzen, den Rest kriegen wir ja ohnehin nicht mehr mit. Ich war noch nie gut in Bio logie. Und unsere Kinder werden ja schon in einer ganz anderen Welt aufgewachsen sein, die werden ohnehin ein Stück weiter weg von der Natur leben, das sehe ich ja schon jetzt, und es ist klar, dass sich dieser Trend fortsetzen wird bei ihren eigenen Kindern. Vielleicht werden wir aber auch ganz andere Experten geworden sein, ich hoffe aber, wir werden noch was kennen. EINHEIZER: Die Zeit ist um, der nächste Kunde wartet schon … FRAU MIT ZUKUNFT (ignoriert ihn mühsam): In 25 Jahren, dann, wenn alles Leben aufhört, wie manche heute behaupten, um es dann gleich wieder zu dementieren, werden wir etwas kennen. Auch in dreißig Jahren, wenn die Abwesenheit der Verkehrsgeräusche insgesamt mit der Ankunft unserer Enkelkinder zusammenfallen wird oder etwas Ähnlichem wie Enkelkinder, werden wir etwas kennen. Denn etwas wird doch noch nachkommen, oder? Etwas wird geboren worden sein. Nein, das muss vorher gewesen sein. Ich bin jetzt total durcheinandergekommen. Die Ankunft war vorher, natürlich, 30 Jahre ist zu lange, so lange haben wir gar nicht mehr. Sei es wie es sei, wir werden uns unterhalten haben, wir werden Kinder aufwachsen gesehen haben, zuerst die einen, dann die anderen, dann nur noch die anderen. Wir werden noch lange Luft zum Durchatmen gehabt h aben. (atmet kurz durch, dann wie ein Schlusspunkt) Wir werden einiges kommen gesehen haben. Atmet durch, Einheizer und Bürgerin sehen sie entsetzt an. FRAU MIT ZUKUNFT: Ich brauche einfach mal eine Pause, also sprechen Sie mich bitte nicht an, ich kann einfach nicht mehr. Sie wissen nicht, wie es ist, eine Familie durchzubringen, Sie haben keine Ahnung. Wenn man heute zum Mittelstand gehört, hat man in dieser Zeit voller Zukunft keine Denkpause. EINHEIZER: Denkpause gibt es hier nicht, Mittelstand auch nicht. Ihre Zeit ist ohnehin schon um, und jetzt kommen Sie und wollen hier auf der Bühne auch noch Zeitkredit. Das kostet was. Also versuchen wir es anders herum: Mit wem werden Sie schlafen? FRAU MIT ZUKUNFT: Bitte? EINHEIZER: Herr Gott noch mal, mit wem werden Sie mhmhmhm haben in all den Jahren? (kichert) FRAU MIT ZUKUNFT: Finden Sie das jetzt nicht etwas unpassend? EINHEIZER lacht: Mit keinem!
MANN MIT VERGANGENHEIT drängelt sich nach vorne: Aber ich! Ich habe mit ganz vielen geschlafen. Ich kann ganz viel erzählen. EINHEIZER: That’s the right spirit! Ja, vielleicht hilft hier etwas Vergangenheit … FRAU MIT ZUKUNFT: Ich meine, hier geht es doch um was anderes. Erstens nicht um uns persönlich, sozusagen privat und zweitens blicken wir mit unseren Lebensentwürfen in die Zukunft … MANN MIT VERGANGENHEIT: Also ja, ich habe eine Vergangenheit, ich habe ganz viel Vergangenheit, aber derzeit eher so leider nur Vergangenheit, weil ich mich neu sortiere. Also eine Vergangenheit bei Daimler, eine ganze Vergangenheit im Dax, wenn man so will, ich war im Bett mit den Automobilkonzernen, auch wenn man das nicht so formulieren würde, ich hatte sogar einige Neben einandervergangenheiten, das begann schon in der Zeit der Assistenzen und Praktiken, ich war Frontend, ich war Backend, alles Informatik – und dann noch dieser ganze Weg dahin … EINHEIZER: Ein bisschen viel Vergangenheit … MANN MIT VERGANGENHEIT: Ja, das würde man heute nicht mehr so – aber ich sortiere mich ja auch neu, und all diese Vergangenheiten fallen von mir ab. Also sie fallen einfach weg, als wäre etwas zu weit gegangen, also die Daimlervergangenheit fällt ab, aber wenn ich ehrlich bin, kann ich mir heute ohnehin nur ein Leben außerhalb des Konzerns vorstellen, ich habe mich ja aus zahlen lassen. Sie werden lachen, es war die Bürokratie, die mich da rausgetrieben hat … EINHEIZER: Können Sie mal bitte zur Gegenwart … MANN MIT VERGANGENHEIT (unterbricht ihn): Also, das war ja nicht auszuhalten. Man denkt bei Konzernen ja nicht an Bürokratie, aber hier kam sie sozusagen mit dem Rollrasen, um mit den Worten meiner Vorgängerin zu sprechen, sie kam als rollender Rasen über meine ganze Arbeits fläche – als Fachkraft finde ich schnell etwas Neues, habe ich mir dann gesagt, aber ich finde eben nur immer das Gleiche, und das Gleiche will ich ja nicht mehr, das ist ja Vergangenheit. Vom Gleichen habe ich mich verabschiedet, ich will auch nicht mehr zurückschauen, aber die Vergangenheiten sind alles, von dem ich erzählen kann, weil, jetzt ist da ja nichts. Also keine Gegenwart derzeit noch. Ich würde gerne etwas Sinnvolles machen, aber das ist nicht so leicht. Man landet so schnell im immer Gleichen … EINHEIZER: Auch bei Ihnen tickt die Uhr … MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich will nicht mehr zurückschauen, immer spreche ich von
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Daimler, wenn ich von meinem vergangenen Leben spreche. Und diese Vergangenheiten werden merkwürdigerweise mehr, sie schließen sich derzeit zusammen und gleichzeitig fallen sie weg, also sie entfallen … EINHEIZER: Wir haben nicht mehr ewig Zeit, entscheiden Sie sich … MANN MIT VERGANGENHEIT: Sie schließen sich zusammen. Ich lebe in einem Sabbatical, sagen alle, die so was nicht hören wollen, so was provoziert, ich weiß. Das Leben eines Rentiers. Und es stimmt auch, oder etwa nicht? Naja, eigentlich immer weniger, bald ist das Geld weg. Ist ja heute nichts mehr wert, nicht so wie früher, vor der Inflation. Ich gehöre also zu den Leuten, die plötzlich etwas hinterlassen wollen und nicht können. D. h. ich überlege mir, wie es weitergeht mit diesem Planeten. Und dieser Gedanke gehört defi nitiv nicht zu meiner Vergangenheit. Ich könnte mich ja selbstständig machen für unseren Planeten, oder in ein planetares Ehrenamt eintreten, „ein Ehrenamt“, habe ich mir gesagt, „mach mal ein Ehrenamt!“ Aber niemand hat geantwortet, schon gar kein Planet. Nur jetzt, wo das Wasser von allen Seiten kommt, passt das doch … EINHEIZER: Die Zeit ist abgelaufen, fürchte ich … MANN MIT VERGANGENHEIT: Wie jetzt? Meinen Sie, es ist zu bereits lange fünf Minuten vor zwölf? Es ist nie zu spät. Für einen Wirtschafts informatiker ist es nie zu spät. EINHEIZER: Doch, doch, auch für einen Wirtschaftsinformatiker ist es zu spät. MANN MIT VERGANGENHEIT: Sie wissen doch, dass so was dauert. Als ich noch zuständig war für den Bereich Entwicklung, so vor 15 Jahren, da wussten wir, mit der Elektromobilität, das dauert, das wird noch 20 Jahre dauern, quatsch, noch 30, das sagten wir damals in den Nullern, man kann eben nicht von heute auf morgen eine Wirtschaft umbauen … es fehlt dann doch die Infrastruktur … komisch, die Zukunft war genau 20 Jahre entfernt, und das ist sie heute immer noch … sie bleibt immer in diesem 20-jährigen Abstand, die ganze Zeit … EINHEIZER (blickt auf die Uhr, wird leicht panisch): Der Zeiger der Klima-Uhr ist längst ausgewachsen … MANN MIT VERGANGENHEIT: Also ich muss schon sagen … EINHEIZER (so ziemlich panisch): Er hat alles überwachsen, das ganze Ziffernblatt. Das ganze Ziffernblatt ist voll mit dem Zeiger auf fünf vor zwölf. Wir haben keine Uhrzeit mehr, wir haben keine Uhrzeit mehr. Es ist zu Ende, es ist alles vorbei. (rauscht ab) POLITISCHES PARKETT (Duett von Mann mit Vergangenheit mit Frau mit Zukunft) MANN MIT VERGANGENHEIT: Sag du doch was … FRAU MIT ZUKUNFT: Also ich muss schon sagen, ich habe ja auch nicht wirklich Zukunft … MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich hätte was tun können, als ich Minister war. FRAU MIT ZUKUNFT: Aber nein, du warst ja nur für kurze Zeit Minister … MANN MIT VERGANGENHEIT: Trotzdem, es ist so wenig vorwärts gegangen … FRAU MIT ZUKUNFT: Was soll ich da sagen, ich war jahrelang Ministerin, und es ging auch nicht vorwärts.
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Nach einem kurzen Moment des Innehaltens: Du, in Italien haben sie mittlerweile ein Umweltministerium, das den Namen wirklich verdient. Sie überlegt kurz. Und in England ein Ministerium für Einsamkeit, dass ich nicht lache. MANN MIT VERGANGENHEIT (macht weiter): Du weißt schon, damals in Lissabon, in Paris, in Kopenhagen, in … FRAU MIT ZUKUNFT: Oder im Bundestag, nur mal so. MANN MIT VERGANGENHEIT: War interessemäßig und innerparteilich nicht machbar. FRAU MIT ZUKUNFT: Überparteilich schon gar nicht. MANN MIT VERGANGENHEIT: Ach was, wir waren so abhängig von den Wahlperioden. Da ging ja real nichts. FRAU MIT ZUKUNFT: Es war der Takt zwischen Realpolitik und Wahlversprechen, zwischen Koalitionsvereinbarung und Lobbyismus. Zwischen Oppositionsgesten und Verhandlung … Mensch, jetzt hast du mich aber ganz schön auf den Vergangenheitstrack geführt. MANN MIT VERGANGENHEIT: Und du mich in die Zukunft. Jetzt brauchen wir ein Kurzzeitchina, weil es anders nicht geht, oder zumindest die Drohung, damit die Leute nicht die falsche Partei wählen. FRAU MIT ZUKUNFT: Sagt wer? MANN MIT VERGANGENHEIT: Na ich. FRAU MIT ZUKUNFT: So einfach ist das nicht. Schließlich stehen wir mitten in einem Europa … MANN MIT VERGANGENHEIT: Klar, aber es besteht aus Technokratie und Bürokratie … FRAU MIT ZUKUNFT: Das sagst ausgerechnet du! MANN MIT VERGANGENHEIT: Es ist ja nicht so, als hätten alle hier über Schwermetalle promoviert und versuchten es jetzt besser zu machen. Oder als hätten alle ihren Agraringenieur in der Tasche und machten jetzt Food Innovation in Freital. FRAU MIT ZUKUNFT: Wo bitteschön ist der ewig wachsende grüne Markt, der new green deal, von dem alle reden? MANN MIT VERGANGENHEIT: … also ich entscheide ja nicht mehr, aber … FRAU MIT ZUKUNFT: Warum haben wir nicht … MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich hätte schon früher … EINHEIZER (springt plötzlich herein): Hätte hätte Fahrradkette! Er zieht den beiden Figuren den Vorhang vor oder wirft ein Tuch über sie, jedenfalls müssen sie aus ihren Rollen raus. Sie sehen aus wie plötzliche Dienstälteste, die nicht mehr recht wissen, was sie da verloren haben. ENTRACTE FRAU MIT ZUKUNFT: Wie lange haben wir noch? MANN MIT VERGANGENHEIT: Etwa fünf Minuten. FRAU MIT ZUKUNFT: Das ist ein Witz, oder? MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich finde das nicht so witzig. FRAU MIT ZUKUNFT: Fünf Minuten, in denen alles gesagt werden muss. Die alles enthalten. MANN MIT VERGANGENHEIT: Das sind eben die Vertragslaufzeiten. Fünf Minuten auf der Bühne, in denen von mir alles gegeben werden muss, damit man sieht, dass es mit mir weitergehen kann, so als Schauspieler. Dass ich sozusagen heiß
bleibe und nicht etwa nachlasse oder mich sozusagen auf der Bühne ausruhe … FRAU MIT ZUKUNFT: Ausruhen! MANN MIT VERGANGENHEIT: … und dann braucht es eben den nächsten Vertrag … und da kommt er schon – danke Dispo! Die nächsten fünf Minuten also. FRAU MIT ZUKUNFT: Was? MANN MIT VERGANGENHEIT: Wir sind schon in den nächsten fünf Minuten. Streng dich mal an! FRAU MIT ZUKUNFT: Wie im wirklichen Leben. So kommen doch keine Inhalte zustande. MANN MIT VERGANGENHEIT: Doch, doch, wenn wir uns beeilen, wenn wir ganz schnell machen. FRAU MIT ZUKUNFT: Du machst Witze. So kann ich mich nicht konzentrieren. Außerdem, es ändert sich nichts. Schweigen FRAU MIT ZUKUNFT: Also wir haben ja nicht einmal ein Zehntel von dem gesagt, was wir sagen wollten. MANN MIT VERGANGENHEIT: Und gleich ist die Zeit vorbei. FRAU MIT ZUKUNFT: Genau … wir haben nichts gesagt. MANN MIT VERGANGENHEIT: Also mach schon. FRAU MIT ZUKUNFT: Wieso jetzt ich? MANN MIT VERGANGENHEIT: Du bist doch die mit dem Vertrag. FRAU MIT ZUKUNFT: Bitte? Ich habe nicht mal einen. MANN MIT VERGANGENHEIT: Bitte? Das habe ich jetzt nicht … FRAU MIT ZUKUNFT: Ich mache das so … um mich erst einmal zu beweisen, dann kommt vielleicht ein Vertrag, haben sie gesagt. MANN MIT VERGANGENHEIT: Jetzt machst du Witze … Das wäre doch – Mist, jetzt ist meine Zeit wieder um. Ich brauche langsam Ergebnisse, also hilf mir. FRAU MIT ZUKUNFT: Ergebnisse? Wir wollten was ändern! Wir wollten hier in diesem Theater doch gemeinsam die Sache in Angriff nehmen. Wir wollten einen Unterschied machen. Und wenn es auch nur fünf Minuten sind, die wir hier gemeinsam an die kommenden Generationen denken. MANN MIT VERGANGENHEIT: Ja, Frau mit Zukunft. FRAU MIT ZUKUNFT: Bitte? MANN MIT VERGANGENHEIT: Tut mir leid, ich habe jetzt einen anderen Job. FRAU MIT ZUKUNFT: Wie? MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich muss jetzt … FRAU MIT ZUKUNFT: Deine fünf Minuten sind noch gar nicht um … He! Frau mit Zukunft steht alleine da, wie im wirklichen Leben, sie spricht etwas verwirrt „Text“: Jemand soll das mal genau ausrechnen. Jemand muss mir mal ganz konkrete Daten geben, was mein CO2-Abdruck nun wirklich ist. Also es muss Transparenz herrschen und ehrliche Preise. Also jemand sollte endlich einmal die ehrlichen Klimakosten an alles drantaggen. Aber bitte ganz deutlich. Nicht immer dieses Greenwashing, man würde mit grüner Technologie etwas fürs Klima machen, aber man verbraucht in Wirklichkeit nur mehr Ressourcen. Atomkraftwerke, Elektromotorik, Hybride … Auch hier im Theater. Jemand muss doch einmal mit den ganz konkreten Daten rüberkommen, nicht immer diese unkonkreten, schwammigen. Man kennt sich gar nicht mehr aus wie bei
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diesen Tilgungsvereinbarungen. Wer bekommt jetzt welchen Zins? Und was sind die wahren Kosten. Hört auf, mit den versteckten Kosten zu operieren! Und wie lange läuft das Ganze noch? Sie wird grob von der Bühne abtransportiert. Der Einheizer erwacht wieder zum Leben. Vielleicht ziehen Schafe über die Bühne. EINHEIZER: Also … äh … holt man endlich jemand den Flächenpapst? Also holt jemand mal bitte den Flächenpapst, weil, so geht das nicht. Man kann doch nicht einfach diese Grünflächen hier verbauen, d. h. da wollte ich eigentlich mein Häuschen draufbauen und durfte auch nicht. Also dürft ihr auch nicht. Wo ist der Flächenpapst mit seinem Zwei-Hektar-Ziel für Sachsen. Gemeinsam gegen die Bodenversiegelung! Stimmen aus dem Off, Rufe wie aus der Dispo durch die Anlage in der Theaterkantine: Wo bleibt denn jetzt der Flächenpapst – Im Bereich „Boden und Altlasten“ – Nein, wo ist der Flächenpapst? Flächenpapst, bitte auf die Vorderbühne! Er sollte längst da sein und Auskunft geben! Der Flächenpapst soll auftreten und sich endlich zum DreißigHektar-Ziel für Deutschland bekennen. Einheizer verschwindet, in Erscheinung tritt die Bürgerin, die ihr Lied singt: Wer konnte ahnen, dass Fledermäuse wichtiger sind als wir? Wer konnte ahnen, dass der rote Milan wichtiger ist als wir – gibt’s den überhaupt noch? Wer konnte ahnen, dass dieser komische schwarze Käfer – na, dass der wichtiger ist als wir – wie heißt er noch? Wie heißt er noch? Wer konnte ahnen, dass es plötzlich um Flechten und Pilze gehen könnte, um irgendwelche Bodenkriechtiere, Sprungschwänze, die dem Boden Luft verschaffen, um Fäulnisprozesse, um humuserzeugende Bakterien, und nicht um uns! Ich glaube, mein Schwein pfeift … es pfeift …
Drittes Bild: GRUNDWASSER (hochdrückende Gewässer) IM BAUCH DES WALS Die drei Erwachsenen (wie Shakespeare’sche Hexen): Erwachsene/r und Zweiterwachsene/r stehen vorne auf der Bühne und blicken ängstlich und etwas desorientiert ins Publikum, ein bisschen abgerückt Gegen erwachsener. Der/die Erwachsene gibt den Ton an, der/die Zweiterwachsene eifert ihm nach. Gegen erwachsene/r hat einen Knopf im Ohr, er telefoniert und wirkt sehr selbstbewusst. Er ist höchstwahrschein-
lich der Mann mit Vergangenheit. Sie also sind der Wal, das Publikum ist das Wasser, wo sie die Kinder vermuten. ERWACHSENE/R blickt suchend ins Publikum: Meine Kinder sind außerhalb des Wals, da bin ich mir sicher, d. h. sie müssen irgendwo draußen sein, ich suche sie ja schon länger, aber jetzt bin ich mir sicher, ich höre sie reden, ich höre, wie sie sich besprechen. ZWEITERWACHSENE/R: Die nuscheln ganz schön, finde ich. ERWACHSENE/R: Es war zuerst ein Murmeln, jetzt aber werden sie lauter. Sie behalten ihre Version des Weltuntergangs nicht mehr für sich. Sie teilen sie aus. Sie klagen an. Weil ich im Wal sitze, sterbe ihre Zukunft, sagen sie. GEGENERWACHSENE/R: „Ihr dürft uns nicht als jung bezeichnen“, schreien sie uns an, ihr habt uns alt gemacht. ZWEITERWACHSENE/R: Ich finde, die nuscheln. GEGENERWACHSENE/R: „Ihr seid da drin im Bauch des Wals und habt uns alt gemacht. Vor der Zeit.“ ERWACHSENE/R (direkt ins Publikum): Ja, jetzt schaut nicht so betroffen drein, wir wissen, dass ihr jetzt gerade betroffen dreinschaut. Das kennen wir von euch. ZWEITERWACHSENE/R (zu E): Kommt keine Antwort. Wieder einmal typisch. Man sucht den Kontakt und nichts kommt. GEGENERWACHSENE/R: Die gehen zu einer Demo. Hambacher Forst. Danneröder Wald. Kohlekraftwerke. Ich sehe es genau. ERWACHSENE/R: Wo? GEGENERWACHSENE/R: Da hinten: „Glaubt ihr, dass man ewig so weitermachen kann. In eurem Tier hocken und was von unserer Jugend und unserer Zukunft faseln. Irgendwas von Genera tionengerechtigkeit. Ihr schießt einen Weltwasserbericht nach dem anderen heraus, oder Weltwaldbericht oder Weltluftbericht. Ihr kommt mit der Bundesbremse, aber wisst im Vorhinein, das alles wird nicht funktionieren … ihr seid die, die Zeit haben, denn ihr sitzt im Wal. Wir sind im Wasser, also draußen. Wir sind die mit den kaum sitzenden Augenblicken. ZWEITERWACHSENE/R (leise, das Nuscheln nachahmend): „Wir sind hier und wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut.“ GEGENERWACHSENE/R (laut): „weil ihr uns die Zukunft klaut!“ ZWEITERWACHSENE/R (ängstlich zu E): Tatsächlich ist es hier drinnen (oben) ganz schön voll. Lauter Alte und Altgewordene, d. h. Delegierte aus
einem anderen Jahrhundert, ich glaube kaum, dass wir da noch jemanden aufnehmen können. ERWACHSENE/R: Werden wir auch nicht. GEGENERWACHSENE/R: Sie sagen, sie wollen nicht mehr die Kleinen sein, weil, das sind sie ja nicht. Sie müssen andauernd die Großen sein, also so in Wirklichkeit, weil wir den Job nicht machten. Wir säßen ja nur im Wal herum und unternähmen nichts. Wir führten Besprechungen durch, die nichts brächten, also keine Ergebnisse, wohin man schaut, nur Wasser und keine Ergebnisse. Jetzt sei doch die Zeit der Ergebnisse und nicht die Zeit der Nichtergebnisse, also jetzt, um 20.00 im späten 21. Jahrhundert sei … ZWEITERWACHSENE/R: Wir hatten von Anfang an ein spätes Jahrhundert, findet ihr nicht? Wir hatten von Anfang an ein von vorneherein überholtes Jahrhundert, da konnte man einfach nichts machen. ERWACHSENE/R (schaut runter): He, ich sehe da unten niemanden mehr. GEGENERWACHSENE/R: Wir führten Besprechungen durch und seien unauffindbar. Wir seien ja nie zu Hause. Wir würden keine Ansprechpartner in Sachen Zukunft abgeben. Sie würden ja derweil untergehen. Mit all dem arktischen Eis. ERWACHSENE/R: Da ist niemand mehr! ZWEITERWACHSENE/R: Sie trauten niemandem mehr. Nicht den politischen Kräften, nicht dem Rest. Nichts als Greenwashing. GEGENERWACHSENE/R: Also ich verstehe die … ZWEITERWACHSENE/R: Wie? Jetzt auf einmal? Ich verstehe gar nichts. Aber so ist das eben, wenn lebende Materie zwischen einem steht. Dabei besteht der Wal aus nichts anderem als Zeit. Die haben einfach keine Ahnung, wie es ist, wenn man durch diese Wand an Zeit gegangen ist. Also, wenn man Erfahrung gesammelt hat. Wenn man weiß, dass es Arbeitsplätze braucht, eine vernünftige politische Umsetzung. GEGENERWACHSENE/R: Dabei haben wir keine Ahnung, ob der Wal nicht längst gestrandet ist. Modrig riecht es jedenfalls, man hat hier sicher ein Schimmelproblem. Oder Algen. Ich sage immer, Wasser ist der natürliche Feind des Architekten. ERWACHSENE/R: Dahinten sind sie! GEGENERWACHSENE/R: Ja, ich sehe sie. Unsere Kinder schwimmen. Kurzes Schweigen. GEGENERWACHSENE/R: Moment mal (Geste, als hätte er einen Knopf im Ohr) Meine Kinder sagen eben, sie haben Recht bekommen. Vom Verfassungsgericht, sagen sie, vom deutschen Verfassungsgericht. Wegweisend sagen sie.
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A L L WAT CHED OVER BY MACHINES OF LOVING GRACE Zämmeheebe
S UP ER BRUNO Das Sex Stück
DR CHUR Z , DR S CHL UNGG UND DR B ÖÖ S T HE AT E R- R OX Y. C H
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ZWEITERWACHSENE/R: Obwohl hier nichts den Weg weist. ERWACHSENE/R: Wegweiser sind hier tatsächlich nicht aufgetaucht, eher Wegweiser. Und „Urteil“ hören wir nicht gern, das ist so definitiv. Da muss man sich danach richten. Das ist nicht wegzudiskutieren, und das machen wir ja sonst auch immer. (stockt) Warum sind wir noch mal im Wal? ZWEITERWACHSENE/R: Weil wir keine Urteile hören wollen. ERWACHSENE/R: Quatsch, wegen Ninive. ZWEITERWACHSENE/R: Ein Ort, wo beide Ministerien sich gegenüberliegen, das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium, wie in einem alten Gegensatz. Und zwischen ihnen steht ausgerechnet die Lore. Damit man gleich weiß, wohin der Hase rennt. Wenn man hier Nachhaltigkeit sagt, meint man Bergbau. GEGENERWACHSENE/R: Moment mal … ZWEITERWACHSENE/R: Aber das wissen die Kinder nicht. Die haben ja keine Ahnung. Sie verstehen nichts von Ökonomie. Z. B. auch nicht, dass die Bauern auf ihre Äcker schauen müssen, das ist ja ihre Investitionsgrundlage, also ihr Produktionsmittel. Also ohne Äcker gibt’s ja keinen Ertrag. ERWACHSENE/R: Oder dass Entscheidungen von Dax-Konzernen nicht so einfach von ein paar Personen getroffen werden. GEGENERWACHSENE/R: Moment mal, meine Kinder … ZWEITERWACHSENE/R (ignoriert Gegenerwach sene/n): Sicher, im Wal hören sich diese Gespräche auch anders an als draußen. GEGENERWACHSENE/R: Meine Kinder sprechen von etwas ganz anderem, die sind ja global unterwegs. ERWACHSENE/R (lacht): Draußen lernt man ja auch eher schwimmen. GEGENERWACHSENE/R (wieder Knopf im Ohr): Sie können sich nicht mehr über Wasser halten, sagen sie. ZWEITERWACHSENE/R (beharrt): Sie lernen schwimmen. Das ist dann halt so. Sie werden sich anpassen. ERWACHSENE/R: Wir werden das so oder so nicht mehr mitbekommen. GEGENERWACHSENE/R: Jetzt ist nichts mehr zu hören, es ist plötzlich still. ZWEITERWACHSENE/R: Es war vorher im Prinzip schon still. Also so eine Art Stille. ERWACHSENE/R: Etwa die Stille aus dem Ahrtal? Die Stille aus dem Mittelmeer, die Stille herbeigerufen aus Afghanistan, aus dem Sudan? Aus dem Erzgebirge, na, lieber nicht. Das Oder-NeißeSchweigen? Auch nicht. ZWEITERWACHSENE/R: Was hat das denn mit dem hier zu tun? GEGENERWACHSENE/R: Das Grönländer Eis, das keine Ruhe geben kann? Das antarktische Schelf, das bricht und bricht, das ist so laut, diese bis hierher verrutschende Stille. Die Stille vor dem Schuss. ZWEITERWACHSENE/R: Wir haben nichts damit zu tun. GEGENERWACHSENE/R: Also meine Kinder (hört wieder sein Ohr) meine Kinder sind total global unterwegs. Frau mit Zukunft taucht wie eine Irrläuferin auf, blickt verwirrt in Richtung Publikum: Starrt mich nicht so an? Bin etwa wieder ich schuld an allem?
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Da stimmt doch etwas nicht. Das ist doch viel zu groß hier! Das kann doch nicht sein. Ich bin’s nicht, das ist doch die Politik, also die Politik muss was machen. Ich kenne ja nicht einmal die ehrlichen Preise, ich weiß doch nicht einmal, was hier wirklich einen Unterschied machen würde. (verschwindet wieder) ERWACHSENE/R: Bitte einen Screenshot von „so was von nicht schuld“! Kurzes Schweigen. FRAU MIT ZUKUNFT (von der Hinterbühne, als würde sie zu Mann mit Vergangenheit sprechen): Aber als Energieminister hättest du schon was machen können. Aber als Finanzminister hättest du schon was machen können. Aber als Wirtschaftsminister hättest du doch was machen können, aber als Agrarminister hättest du schon was machen können. Aber als Umweltminister … ERWACHSENER: Schnauze! GEGENERWACHSENER (ironisch): Bitte Screenshot von „Schnauze!“ … bitte … sehen Sie! DER WALD Lichtwechsel … Gegenerwachsene/r geht nach vorne an die Rampe und spricht das Publikum direkt an. Im Folgenden sind die Rollen verkehrt, er ist der, der bedrängt wird, die beiden anderen haben moralisches Oberwasser, sie wirken bösartig. GEGENERWACHSENE/R: Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung! Also ich muss mich wirklich entschuldigen, aber ich habe den Weg einfach nicht gefunden, sorry, ich kam hier echt nicht raus. Ich weiß, ich bin jetzt viel zu spät, ich bin im Grunde auch noch nicht wirklich da, weil – Also ich habe erst den Weg aus IKEA nicht rausgefunden, dann habe ich den Weg aus Karstadt nicht rausgefunden, damit ging es weiter, und schließlich war da noch REWE, also REWE kann man ja nun wirklich nicht auslassen, da habe ich den Weg ebenfalls nicht rausgefunden. Und zu guter Letzt aus der Araltankstelle, das war aber ganz zum Schluss, gut, das hätte auch eine Shell sein können oder eine Esso. DAS IST JETZT NICHT WICHTIG. Fest vorgenommen habe ich mir, morgen aus Deichmann rauszufinden und aus dem H&M, denn morgen ist Kleidertag. Eine echte Herausforderung wird auch sein, den Weg aus dem Mediamarkt zu finden oder aus Saturn oder Decathlon oder Toys’r’us, aber wem erzähle ich das. Sie kennen das ja, also Sie kennen das ja. Und jetzt dieser Wal, ja, jetzt dieser Wal. ERWACHSENE/R stellt sich ebenfalls nach vorne: Hören Sie auf, andere kommen aus dem Lidl und Aldi nicht heraus, das ist die ganze Wahrheit! ZWEITERWACHSENE/R ruft von hinten: Und wieder andere aus Penny oder McGeiz nicht … also seien Sie schön still. Woolworth lässt die nicht raus, oder KIK. ERWACHSENE/R: Ja, und wieder andere hängen ganz schön fest in den Asiagroßmärkten von Osteuropa. GEGENERWACHSENE/R dreht sich zu beiden hin: Sie brauchen sich gar nicht so zu echauffieren, ich erkläre gerade meinem Kind, warum ich noch nicht da bin. Warum ich den Weg nicht finde … ERWACHSENE/R (nach vorne): Kind, Kind, Sie sind doch nicht alleine hier. Alle müssen mithören, was Sie da sagen. GEGENERWACHSENE/R (zu Erwachsener/m, der oder die ihn oder sie ignoriert): Das ist eine Privatkonversation. Sie haben da nicht mitzureden.
ERWACHSENE/R: Privat gibt es hier nicht. ZWEITERWACHSENE/R: Genau! GEGENERWACHSENE/R (wieder nach vorne): Hörst du, Kind, wie manche Menschen es einfach nicht kapieren. (Dreht sich zu Erwachsener/m): Mein Kind möchte wissen, wieso ich noch nicht da bin. Ich erkläre es ihm. Capisci? Das interessiert sich nicht dafür, ob andere aus Trashmärkten nicht herauskommen und eine Klimarevolte machen, das interessiert sich nur ganz konkret dafür, warum ich aus IKEA nicht rauskomme. ERWACHSENE/R: Das ist öffentliche Erziehung, was Sie hier machen. Dazu kommt, Sie haben überhaupt kein Kind hier bei sich. GEGENERWACHSENE/R: Eben, eben, ich bin ja auch noch nicht bei ihm. (Macht wieder die Knopfim-Ohr-Show) ERWACHSENE/R: Sie haben hier überhaupt kein Kind. ZWEITERWACHSENE/R: Wollte ich auch schon anmerken. GEGENERWACHSENE/R: Wollen Sie mir mein Kind absprechen? Das ist ja die Höhe! (zur Frau mit Zukunft, die am Rand langsam nach vorne gegangen ist) Der da nimmt uns das Kind weg! FRAU MIT ZUKUNFT: Was fällt Ihnen ein? Sollen wir die Polizei rufen? GEGENERWACHSENE/R: Was haben Sie mit unserem Kind gemacht? ERWACHSENE/R: Ich, gar nichts. ZWEITERWACHSENE/R: Wieso? GEGENERWACHSENE/R (ignoriert ZWEITERWACHSENE/N, der sich wieder zurückzieht): Sie haben ihm Angst gemacht. Sie haben ihm erzählt, es hätte keine Zukunft mehr. (zu vermeintlichem Kind): Das ist ein ganz böser Mensch … ERWACHSENE/R: Hören Sie auf! GEGENERWACHSENE/R: Der hat keine Ahnung … mein Kleines … ERWACHSENE/R: He, wie Sie über mich reden! GEGENERWACHSENE/R: Wer redet hier über Sie? Ich rede immer noch mit meiner Tochter. ERWACHSENE/R: Ja, ja … GEGENERWACHSENE/R: Hören Sie auf, mir meine Tochter symbolisch wegzunehmen. (er beginnt, hektisch in sein imaginäres Ohrmikro reinzuflüstern) ERWACHSENE/R: Was machen Sie jetzt? GEGENERWACHSENE/R: Jetzt rede ich mit meinem Sohn. Meine Tochter hört nicht mehr zu, sie handelt jetzt. Ihr reicht es jetzt endgültig. ERWACHSENE/R: Bitte. Soll sie. GEGENERWACHSENE/R: Nichts bitte. Das ist heute nicht mehr Greenpeace, das kann ich Ihnen verraten. ERWACHSENE/R: Sie wissen aber schon, dass Sie mir gerade drohen. GEGENERWACHSENE/R: Ach, um Sie persönlich geht es doch gar nicht. Geht drohend auf E zu, der sich zurückzieht. GEGENERWACHSENE/R (Knopf im Ohr): Also wie gesagt, ich bin jetzt aus dem Möbellager raus, vorher war ich aus dem Autohaus nicht raus. FRAU MIT ZUKUNFT: Das ist so bei uns am Land, da ist man immer aus den Autohäusern nicht heraußen. Da sieht man sich im Baustoffhandel wieder. Wir sind nämlich jetzt aufs Land gezogen. Wir wohnen jetzt da, wo die Orte nach Pflanzennamen und Landschaftsresten heißen. Eichfelde, Tiefenbrunn, Talgrund, Wasserloch, Gänsebad, schönes Wäldchen.
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ZWEITERWACHSENE/R (wieder neugierig geworden): Schönes Wäldchen? FRAU MIT ZUKUNFT (bekräftigt): Schönes Wäldchen. Die Orte heißen eben nicht nach Sportereignissen, Unternehmensführungen und Börsenknällen, sondern nach Landschaftsspuren, denn die soll es ja auch noch geben. Also die muss es ja geben. Nach Flussniederungen, Auen und Wäldern, nach Höhenrücken und Schluchten. Kein Navi kann den Weg aus dem Autohaus berechnen, keine linke Spur kann ich nehmen, um zu überholen. Hier ist es ja nicht einmal zweispurig. GEGENERWACHSENE/R (zu Publikum): Jetzt kommt der Moment, an dem Sie mich unterbrechen müssen, wo Sie sagen müssen: „Sie brauchen aus IKEA nicht rauskommen, Sie brauchen die Araltankstelle nicht verlassen, es genügt, wenn das 100 Konzerne machen.“ Also wenn jetzt mal bitte 100 Konzerne aus der Araltankstelle herauskommen – Bühnentechnik, bitte mal 100 Konzerne aus der Araltankstelle rausbeordern, können Sie das nicht? Bühnentechnik, bitte nur mal 100 Konzerne aus diesem Raum führen, weil, die stecken auch hier drin, also die stecken immer drin! Wenn 100 Konzerne hier rausschleichen, dann sind wir die meisten Probleme los. Dann steht das 1,5-Grad-Ziel. Sie sollen endlich rauskommen und eine Klimaverabredung treffen. Jetzt aber sicher, jetzt aber wirklich sicher! HÖRSAALBESETZUNG Die Referenten sind wieder kurz vor einer Pressekonferenz, einem Publikumsgespräch. Im Hintergrund das Grundrauschen der Menschen, die in einen Saal strömen. REFERENT: Wir sind uns doch einig, wir dürfen die Kinder nicht sprechen lassen. REFERENTIN: Klar, sie sollen nur im Bild sein. REFERENT: Auf keinen Fall reden. REFERENTIN: Am besten mittig. REFERENT: Machen sie aber nicht. ZUSATZREDNERIN: Die platzen mit ihrer Zukunft raus, die ihnen gestohlen wurde. REFERENT: Wir lassen den Pressesprecher reden, niemand sonst. REFERENTIN: Man kann ja Interviews später anbieten. REFERENT: Bloß nicht. ZUSATZREDNERIN: Und jetzt haben sie doch gesprochen. REFERENTIN: Was? ZUSATZREDNERIN: Na, da schaut man einmal nicht hin, und schon reden die.
REFERENT: Ach du lieber Himmel, ich dachte, du bist dafür verantwortlich. ZUSATZREDNERIN: Ich dachte, das machst du. REFERENT: In meinen Zeiten als Pressesprecher wäre das nie passiert. REFERENTIN: Die Kinder für Einzelstatements später, aber nie für ein ganzes Gespräch! ZUSATZREDNERIN: Und jetzt haben sie das ganze Gespräch gemacht. REFERENT: Jetzt werden wir das nicht mehr los. Jetzt wird Kind 1 sichtbar. KIND 1: Die Amalia spricht … Also die Amalia spricht jetzt, ich bitte um Ruhe, die sagt jetzt, wir wollen uns ein paar Geschichten erzählen, denn wir haben etwas erlebt. Also die Amalia z. B. ist in der Abfall- und Kreislaufwirtschaft unterwegs, und da bekommt sie so einiges mit. D. h. alles läuft auf ein Mischwassersystem hinaus. Das Mikroplastik landet natürlich in der Elbe, die Medizinrückstände landen natürlich in der Elbe, das geht doch gar nicht anders hier, besonders bei Starkregen. Jede Menge Schwermetalle und Phosphate im Klärschlamm obendrein, aber was soll man machen. Den Starkregen schafft unser Kanalsystem nicht, sagt die Amalia, und wir haben jetzt oft Starkregen. Pssst! Die Amalia spricht, die Amalia hat uns was zu erzählen, also hören wir ihr bitte alle zu! Ich weiß, das ist um diese Uhrzeit schwierig, es ist ja immer spät, also es ist ja immer zu spät. Also … psssst! Die Amalia spricht und möchte über Mikroplastik informieren. Das stammt ja hierzulande hauptsächlich vom Autoreifenabrieb, so in den Städten. Ja, die Amalia ist in der Abfall- und Kreislaufwirtschaft unterwegs und bekommt so was dort eben mit. Der Autoreifenabrieb, sagt sie, das ist aber nur ein Beispiel jetzt für vieles, was hier nicht richtig läuft. Aber es gibt auch Errungenschaften hier im Klärwerk. Z. B. unsere neuen Fauleier Fauleier in Faultürmen. Mit denen haben wir etwas geschafft, sagt die Amalia, wegen der Energiegewinnung. Wegen der Methangasproduktion in den Fauleiern gibt es so was wie Energiegewinnung aus der Abfallwirtschaft. Noch einen Moment … die Amalia möchte noch hinzufügen, dass Deutschland die besten Filteranlagen herstellt, aber die nur in die Schweiz und nach Kanada exportiert und gar nicht selbst benutzt. Warum benutzt es die nicht, fragt die Amalia, und jetzt ist sie plötzlich fertig mit reden … ZUSATZREDNERIN: Und? Wäre das so schlimm? REFERENTIN: Der Phosphor! Wir waren noch gar nicht beim Phosphor und der Pflanzenkohle … ZUSATZREDNERIN: Wir waren noch gar nicht beim sachsenweiten Bündnis, und –
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REFERENTIN: … und dem Workshop mit dem Gastroverband wegen der Recyclingbehälter, mit dem Verband der Bauwirtschaft und den Reifenherstellern. REFERENT: Hallo! Das war keine gute Idee, dass wir sie … ZUSATZREDNERIN: Wir sind noch 400 Schadstoffe von dem biologischen Abbaubaren entfernt. REFERENTIN: Wir sind keine Experten im Detail, wir geben nur Anstöße. REFERENT: Ja, wir … ZUSATZREDNERIN: Und legen keinen Zeige fingerauftritt hin. Aber was machen die? KIND 1: Es geht darum, wie wir vom Schädling zum Nützling werden. ZUSATZREDNERIN: Ja, ja, wissen wir. FRAU MIT ZUKUNFT (blickt ins Publikum): Hey! Plötzlich haben wir wieder Kinder, das ist ja großartig. Das ist ja ganz fantastisch. MANN MIT VERGANGENHEIT: Ja, plötzlich stehen da Menschen, die sich als unsere Kinder ausgeben, und wir sind uns nicht sicher, kennen wir die noch? FRAU MIT ZUKUNFT: Aber klar doch, klar doch! Nur plötzlich gibt es Schulen, die bei uns anrufen und uns erklären, dass es so nicht weitergeht. Die Kinder würden nicht erscheinen, also beim Unterricht erscheinen, sie blieben dem Unterricht fern, um zu demonstrieren. Z.B. fehlten sie beim Schwimmunterricht, der ist ja nachmittags. Und so lernten sie nicht schwimmen, und das Schwimmen ist im Moment eine äußerst wichtige Fähigkeit. Also das soll man schon gelernt haben. MANN MIT VERGANGENHEIT: Sie wollen aber nicht, sie sagen, sie haben ohnehin keine Zukunft, wozu also schwimmen. Ich frage mich, sind das noch die Kinder, die vom Bundesverfassungsgericht Recht bekommen haben? Nein, die Kinder, die vom Bundesverfassungsgericht Recht bekommen haben, sind weit weg, das waren ausgewählte Kinder, die ihren direkten Schaden nachweisen konnten, deren ganz konkrete Einschränkung der Freiheitsrechte zu konstruieren war, diese Kinder hier haben kein Recht bekommen. FRAU MIT ZUKUNFT: Sind es die, die lieber über Afghanistan reden als das Tauschcafé? Sind es die, die lieber über Produktionsbedingungen in Bangladesh sprechen wollen als über die ökologische Nischenproduktion? MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich kann nicht so weit sehen. REFERENTIN: Wer hat die Kinder sprechen lassen?
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REFERENT: Meine Rede. Damit hat ja keiner gerechnet, dass die einfach loslegen, dass sie jetzt überall da sind. REFERENTIN: Und im Alleingang Pressekonferenzen … REFERENT: Aber immer schön außerhalb des Wals. So hört die doch keiner. ZUSATZREDNERIN: Doch, doch, die werden gehört, und wie! Die erzeugen ja den ganzen politischen Druck. Kind 2 kämpft sich nach vorne. KIND 2: Also der Sven spricht jetzt. Der Sven macht jetzt Vorschläge, was wir alles unternehmen könnten. Den Sven lässt leider niemand ausreden, das wird schwierig mit dem Sven. Wird er Gehör finden? Er macht ja auf Wasserstoffthematik, das kommt im Augenblick immer gut, das geht so nach vorne, das ist so Zukunft. Aber die anderen sagen, das ist nur business as usual. Dabei hat der Sven etwas erlebt. Er hat eine Wasserstofffirma gegründet, das war vor Jahren, da war er noch ein halbes Kind, frisch von der Uni, und hatte kein Produkt und keinen Markt. Jetzt ist er ein ganzes Kind und hat ein Produkt, aber immer noch keinen Markt. Der Sven spricht auch so leise. Er flüstert jetzt: Schon mal was von Lobbys gehört? Der Sven geht aber weiter vorwärts, der lässt sich nicht so leicht unterbrechen. Er blickt in die Zukunft und trifft dort die EU-Kommissarin für Energiewirtschaft, die aber auch nicht weiterweiß. Er sagt ihr: Wir brauchen ja eine Alternative, einen Ersatz fürs Öl. Wir brauchen Kraftstoffe, ist ja logisch, und der Sven ist ganz in Kraftstoffen zu Hause, auch wenn man ihn fast nicht hört. Doch jeden Moment kommen die Saudis ums Eck und nehmen dem Sven die Marktlücke weg, oder die Marktposition, was weiß ich. Der Sven möchte jetzt bitte einmal ausreden. Könnt Ihr den Sven mal ausreden lassen? Also das heißt, unterbrecht den mal nicht! Der Sven fängt jetzt von vorne an, hat aber Schluckauf. Er sagt: Die schlechte Nachricht zuerst, und das soll man schon mal nicht sagen. Also so soll man nicht beginnen. Ja, die schlechte Nachricht zuerst: Wir haben keine Zeit mehr. Wir haben den Punkt vermutlich schon lange überschritten. Der Sven sagt noch mal: Die schlechte Nachricht zuerst. Dabei hat er sie ja schon gesagt. Aber jetzt kommt eine zweite schlechte Nachricht: Wir werden um ein Kurzzeitchina nicht herumkommen. Ernährungsdiktatur, Mobilitätsdiktatur, Konsumdiktatur, Rationalisierung. Der Sven sagt, das sei nicht seine schlechte Nachricht, er hat da noch eine andere, aber bezüglich des Kurzzeitchinas möchte er sagen, das könnte auch anders gehen, wenn wir ganz schnell den Absprung aus den fossilen Rohstoffen schaffen. Und jetzt sagt der Sven nichts mehr. Jetzt geht eine Stille aus vom Sven. Was ist mit deiner schlechten Nachricht? REFERENT: Wer hat die Kinder sprechen lassen, oweh! So bekommt man das nie durch. Wir wollen doch alle eindeutig in andere Zeiten hinein, aber mit solchen Drohungen … ZUSATZREDNERIN: Wir schreiben Rechtsgeschichte, sagen die Kinder, wir sind auf dem Klageweg. Wir haben schon mehrere Klagen hinter uns, sogar das Bundesverfassungsgericht, das ist doch toll, also das ist doch so was von großartig. Nur wohin gehen wir weiter? REFERENTIN: Das soll man nicht überbewerten. Die Politik muss auch noch was draus machen.
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Das Recht alleine … REFERENT: Können wir das bitte einmal außen vor lassen? Kind 3 kämpft sich nach vorne. KIND 3: Also jetzt spricht die Tonke. Tonke möchte mal etwas klarstellen, sie findet nämlich die ganzen Initiativen hier zu Reparaturcafés und Tauschzirkel super. Sie findet auch die Informa tionskampagne klasse, da muss man echt nicht dran rühren. Sie würde überhaupt für mehr Solidarität plädieren. Also es hat sich ja eine breite Allianz aus ganz unterschiedlichen Initiativen gebildet, die Hand in Hand zu gehen gelernt haben, als Queere, als LGTBQ community, als Menschen im antirassistischen und antikolonialistischen Empowerment, einfach INTERSEKTIONAL denken und handeln! Das ist alles ganz schön ermutigend das zu sehen. Die Tonke erinnert uns alle daran, dass die Probleme woanders gemacht werden, nicht hier bei uns. Sie werden auf höchster Ebene gemacht, und die höchste Ebene gilt es zu attackieren. Das sei ja ein Herrschaftsraum, durch den man sich bewege … die Tonke unterbricht sich und ruft plötzlich, es bräuchte nur 100 Konzerne, aber eben nicht nur. „wir kennen alle ihre Namen!“ Da müsste man jetzt einmal Aktionen setzen, sagt jetzt die Tonke. Sie lacht und fährt fort, die Tonke fährt eigentlich immer fort und spricht von der Hand, „wir sind wie fünf Finger einer Hand und Hände bewegen was“, aber bei der Hand bleibt die Tonke nicht stehen, die Tonke bleibt eigentlich nie stehen, sie kommt also zu den Füßen und erinnert an die polizeiliche Gewalt, die man erlebt hat, und wie sich da ein fester Verband aus staatlicher und unternehmerischer Gewalt gebildet hat, sie meint, dass das eigentlich ganz klare Fronten sind, „und wir wollten hier einen friedlichen Protest hier leisten“, es ist doch ziviler Widerstand. KIND 2 (müde): Wir wissen das. KIND 1: Wir haben die Informationen längst. KIND 2: Das ist alles so negativ. KIND 3: Wieso jetzt negativ? KIND 1: Ja, gut. Negativ. Aber eben nicht nur. KIND 2: Ja, was ist das für eine Vollsperrung, in die wir geraten? ZUSATZREDNERIN: Ja, habt ihr diesen ganzen EU-weiten Aufbruch verschlafen? Da passiert doch jede Menge im Moment! KIND 3: Du hast hier nichts zu melden. ZUSATZREDNERIN: Also ich stehe voll hinter euch! KIND 2 (gelangweilt): Nein, wir haben den sogenannten EU-weiten Aufbruch nicht verschlafen, wir haben ihn nur nicht gesehen. ZUSATZREDNERIN: Seht ihr nicht, was hier in dieser Stadt alles passiert? Was all diese Organisationen von Greenpeace bis German Watch auf großer politischer Ebene erreicht haben. KIND 2 (müde): Das wissen wir. KIND 3: Ich weiß nur, dass Cem und Lilian da sein wollten. Ich weiß nur, dass Hansel und Grätel nicht erschienen sind. Ich weiß nur, dass wir nicht davon ausgehen können, dass wir Bock und Triptop jemals wieder sehen werden. Und Charly auch nicht. KIND 1: Zwischen meterdicken Wänden aus Fleisch eingesperrt, das habe ich nicht erwartet. Wann hat uns eigentlich dieser Wal verschluckt? Ich wusste ja gar nicht, dass Kinder auch verschluckt werden? Oder liegt es an der Sendung? Damit wir ein hübsch altersdiverses Bild abgeben? Und: Steckt das Tiefbauamt dahinter?
KIND 3: Das Tiefbauamt steckt immer dahinter. REFERENT: Ja, das Tiefbauamt … KIND 2 (müde): Das Tiefbauamt steckt nicht dahinter. Das macht gar nichts. KIND 1: Ich weiß nur, dass sie ständig bei mir anrufen und herumkritisieren. KIND 3 (alarmiert): Das Tiefbauamt? KIND 1: Nein, die Polizei, die für die Demoroute zuständig ist. Die besorgten Bürger … ZUSATZREDNERIN: Merkt ihr nicht, was ihr da macht? Ihr erzählt euch nur solche Geschichten, die Negatives beinhalten. Die euch erklären, dass alles vergeblich ist. Dass nichts mehr zu retten ist. Dass wir auf ewig in diesem Wal festhängen, ja, auch ihr, während draußen jede Menge Menschen ertrinken. Ich vermute das mal, weil, das hört man immer. Vielleicht ertrinken sie ja auch woanders, nicht vor unserer Haustür. Vor unserer Haustür soll nicht ertrunken werden, vor unserer Haustür ist auch ein schlechtes Ertrinken. Hier herrscht ja mehr Trockenstress. Aber wir sind bereits so daran gewöhnt, dass Menschen anderswo ertrinken, vielleicht bekommen wir es gar nicht mit, wenn sie es doch vor unserer Haustür tun. (tritt verwirrt ab) KIND 2 (müde): Wer da jetzt negativ ist … KIND 3: Ich weiß nur, dass ich die Anwaltsnummer auf meinem Arm nicht mehr lesen kann, da habe ich die EA-Nummer feinsäuberlich auf den Arm geschrieben und jetzt kann ich sie nicht mehr lesen, weil sie total verwischt ist. Wenn wir jetzt geschnappt werden! Was mache ich, wenn ich eine Anwaltsperson brauche? KIND 1: Schau auf die Arme der anderen. KIND 3: Das geht dann vielleicht nicht. Vielleicht habe ich dann keine anderen Arme zur Ver fügung. Und wir werden eine Anwaltsperson brauchen. Wir brauchen jemand, der uns wieder rausreitet. KIND 1: Was soll ich auch anders sein als negativ, wir sind ja einzig mit Negativnachrichten aufgewachsen. Stirbt die Menschheit jetzt aus, fragten wir schon als 10-Jährige. – Nein, das tut sie schon nicht, antworteten damals unsere nervösen Eltern. Wieso? Wir sind doch die letzte Generation, kam dann von uns. – Aber nein, sagten die, erstens, wir machen schon was dagegen, wir machen schon unsere Hausaufgaben, macht ihr mal eure, und zweitens, so schnell geht das nicht. Und wir haben darauf vertraut. Aber sie haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht. KIND 3: Wir sind viele. KIND 2: Das ist noch keine ausreichende Taktik. Lichtwechsel – IM BAUCH DES WALS Auftritt von Erwachsener/m, Zweiterwachsener/m, Gegenerwachsener/m (Mann mit Vergangenheit), Frau mit Zukunft, Kind 1, 2 und 3. Gruppenszene mit flackerndem Licht, die Erwachsenen sind mit sich selbst beschäftigt … ZWEITERWACHSENE/R: Was machen die? ERWACHSENE/R: Sie schwimmen. ZWEITERWACHSENE/R: Das ist das Wasser, es zwingt uns alle in die Knie. ERWACHSENE/R: Die einen mehr, die anderen weniger. Ist es nicht so? ZWEITERWACHSENE/R: Wir sind drinnen, sie sind draußen, das ist das Problem. ERWACHSENE/R: Das sieht nur so aus, ich sage ihnen immer, verliert den Mut nicht.
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FRAU MIT ZUKUNFT: Sie wollen keine Kinder. Also meine Kinder wollen keine Kinder mehr bekommen. MANN MIT VERGANGENHEIT: Das wollten wir doch auch nicht. Erinnere dich, wer will schon in dem Alter Kinder bekommen? FRAU MIT ZUKUNFT: Sie meinen das viel ernster, das mit dem Nichtkinderkriegen. MANN MIT VERGANGENHEIT: Ich bitte dich: Mit elf, zwölf, dreizehn? FRAU MIT ZUKUNFT: Siebzehn. KIND 3: Was an den Worten „Keine Zukunft“ versteht ihr nicht? KIND 1: Ihr sagt, das Ende des Jahrhunderts kommt noch lange nicht, wir sagen: Das Ende des Jahrhunderts ist schon lange da gewesen. KIND 2 (müde): Und ist immer noch da. Das bleibt jetzt bei uns. KIND 3: 14.000 Forscher:innen klagen an. 140.000 Demonstrant:innen alleine in der Stadt. FRAU MIT ZUKUNFT (zu Mann mit Vergangenheit): Hören wir auf, er ist in einem verletzlichen Alter. Was willst du ihm noch alles erzählen? Der braucht doch nicht noch mehr von diesen Geschichten. MANN MIT VERGANGENHEIT (zu Frau mit Zukunft): Ich? Ich habe dem gar nichts erzählt. Außerdem: Der hört ohnehin nicht zu. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist ziemlich kurz. FRAU MIT ZUKUNFT: Was willst du – Pubertät! Kurze Stille. ERWACHSENER: Ich meine, wir können hier alle miteinander reden. Wir können uns an einen Tisch setzen. Niemand muss Angst haben, verprügelt zu werden für seine Meinung oder im Knast zu landen. FRAU MIT ZUKUNFT (zu Mann mit Vergangenheit): Was sagt er? MANN MIT VERGANGENHEIT (zu Erwachse ner/m): Wie meinen Sie das? Haben die etwas ausgefressen? ERWACHSENE/R: Besser nicht. Es gibt andere Länder, da wird nicht lange gefackelt. ZWEITERWACHSENE/R: Ja genau. Das sollten Sie mal Ihren Kindern stecken. Die packen die Kinder einfach in Lkws, und ab mit ihnen. FRAU MIT ZUKUNFT: Wohin? ZWEITERWACHSENE/R: Keine Ahnung … ERWACHSENE/R: Ich dachte, du hast es gelesen, ich dachte, du hast das Handyvideo gesehen … MANN MIT VERGANGENHEIT: Wir reden hier und reden, und haben ganz die Zeit übersehen. Ich fürchte, wir müssen uns hier entschuldigen, wir müssen langsam nach Hause, nicht? (blickt Frau mit Zukunft an)
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FRAU MIT ZUKUNFT: Ja, weißt du, wo die Kinder sind? Kurze Stille. MANN MIT VERGANGENHEIT: Nein, nein, nein, mit dreizehn macht man so was nicht. Das beginnt erst mit sechzehn. Auch wenn Kinder heute anders drauf sind, mit dreizehn ist es definitiv zu früh. Das sagen auch die Psychologen. Mit dreizehn bringt man sich nicht um, auch wenn man es vielleicht doch mal androht. Das ist so eine Geschichte, in die du dich reinsteigerst. Es wird nicht passieren. Hörst du, es wird nicht passieren. Definitiv nicht. FRAU MIT ZUKUNFT: Was wissen wir, was passiert? Er ist nicht wieder aufgetaucht. MANN MIT VERGANGENHEIT: Du kommst an seine sozialen Medien ohnehin nicht dran. Das weißt du. FRAU MIT ZUKUNFT: Ich komme an den sowieso nicht dran, soziale Medien hin oder her. MANN MIT VERGANGENHEIT: Der kommt schon wieder. FRAU MIT ZUKUNFT: Niemand kommt wieder. Der findet uns ja nicht mehr. MANN MIT VERGANGENHEIT: Mit dreizehn, pardon siebzehn lässt man kein Leben hinter sich. FRAU MIT ZUKUNFT: Denke an Ankes Tochter. MANN MIT VERGANGENHEIT: Ankes Fünfzehnjährige? Sie haben sie rechtzeitig gefunden. FRAU MIT ZUKUNFT: Rechtzeitig finden ist eine schöne Sache. Birguels Vierzehnjähriger hat auch ein Leben hinter sich gelassen. MANN MIT VERGANGENHEIT: Aber nicht so. FRAU MIT ZUKUNFT: Ich meine, man versteht es ja, bei allem, was passiert. Sie kommen auf Ideen und denken, die Radikalisierung hilft ihnen. Und dann kommt der Absturz. Kurze Stille. ERWACHSENE/R: Mir brauchst du nichts erzählt, ich kenne sie alle. Ich habe sie alle im ICE getroffen, diese Kinder auf ihrem Weg ins Rheinland, ins Braunkohlerevier. Ende Gelände. Fünf Finger hat die Hand. Kinder, mit Erklärvideos bewaffnet, sind losgezogen, um Revolution zu spielen. ZWEITERWACHSENE/R: Aus Netflixserien geklaute Überheblichkeiten, immer schön antirassistisch, antikolonialistisch, queer und transsexuell. Antisexistisch. ERWACHSENE/R: Das sind Bürgerskinder, denen bei Gott nichts zustoßen darf. Und alle heißen Greta. ZWEITERWACHSENE/R: Noms de guerre! Eine Gamerjugend, die eben noch auf Twitch ihre Spiele gestreamt haben und ihr Leben abhängig ma-
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chen von Klickzahlen und Followern, und jetzt proben sie den Aufstand. ERWACHSENE/R: Eben wollten sie professionell sein und jetzt – bumm- antikapitalistisch – und jetzt – bumm – Postwachstum. Das, was geblieben ist, ist das Quasseln, und jetzt ist eben der Klimawandel dran. Kurze Stille. FRAU MIT ZUKUNFT: Was sagt sie? MANN MIT VERGANGENHEIT (Knopf im Ohr): Sie sagt, wir tun so, als hätten wir noch Zeit. Lichtwechsel, Positionswechsel der Figuren. ENTRACTE: VOR DEM BAUCH DES WALS Wieder die Erwachsenen, aber plötzlich außerhalb des Wals – man hört lautes Stimmengewirr, es ist Zeit vergangen. ERWACHSEN/ER: Was sind das für Stimmen? GEGENERWACHSENE/R: Das ist mein Sohn. Er erklärt, er komme jetzt auch aus IKEA nicht raus, das hat er geschafft. ERWACHSENE/R: Nein, was sind das für Stimmen? Ich meine, die kommen von da drinnen … FRAU MIT ZUKUNFT: Das ist meine Tochter. Sie klingt beinahe stolz, weil sie das Autohaus nicht verlassen kann. Meine Kinder sprechen jetzt von Araltankstellen, die sie nicht entlassen. Ich weiß nur, sie sind nicht da, wo ich bin, vielleicht bin ich also die Ausgespuckte. ERWACHSENE/R: Vielleicht bin ich der, der längst auf dem Trockenen sitzt und auf Resultate wartet, die es nicht geben kann. Das Fleisch, in dem ich jetzt stecke, heißt Diabetes, es heißt Diag-
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nose. Das Fleisch, in dem ich stecke, heißt verminderte körperliche Leistungsfähigkeit. Ich werde nur noch zu wenigen Dingen zu gebrauchen sein, und dann gar nicht mehr, das geht jetzt schnell. Aber dass mein Sohn, dass meine Tochter da freiwillig rein ist, kann ich gar nicht glauben, ich dachte immer, die machen das besser. Die retten uns die Welt, oder so. Keine Ahnung, warum ich davon ausgegangen bin, aber – FRAU MIT ZUKUNFT: Kenne ich. Meine Kinder sind da auch drin. Sie sagen, das mit der Weltrettung erledigen schon die Geräte und sprechen andauernd von Ingenieurswissen, als ob sie was davon verstünden. Eine technische Revolution, die aber immer nicht ankommt, die immer woanders landet, wo man sie dann nicht brauchen kann. GEGENERWACHSENE/R: „Zu dieser späten Stunde“, frage ich, und die Antwort bleibt aus. FRAU MIT ZUKUNFT: Wozu gibt es die KI, setzen meine Kinder fort, ich höre sie wie durch eine Fleischwand durch, dabei dürfte nichts zwischen uns liegen. Aber da liegt so viel. GEGENERWACHSENE/R (Knopf im Ohr): Ich glaube ja, die Kinder reden von nichts als Krediten und Kreditlaufzeiten. Wir sollten sie wirklich unterbrechen. FRAU MIT ZUKUNFT: Können wir nicht. Wir sind draußen. ERWACHSENE/R: Ja, wir sind nicht mehr im Wal. Die Kinder, oder was sich jetzt Kinder nennt, machen jetzt drinnen weiter, sie haben uns längst daraus verabschiedet. Die Stelle im Fleisch bietet genau Platz für sie, aber für niemand anderen mehr. GEGENERWACHSENE/R: Hört ihr das Wasser kommen? Es kommt nämlich. FRAU MIT ZUKUNFT: Ja. Lichtwechsel.
Viertes Bild: DÜRRE
ANSAGERIN: Die schlechte Nachricht zuerst. MODERATOR: So kannst du nicht anfangen. ANSAGERIN: Ich fange auch nicht an. MODERATOR: Doch, du musst endlich anfangen. ANSAGERIN: Ich höre hier auf. MODERATOR: Es gibt nur schlechte Nachrichten. ANSAGERIN: Ich erinnere mich nicht. MODERATOR: Du musst dich doch an deinen Text erinnern. Was macht die Souffleuse? ANSAGERIN: Glaube mir, ich muss mich nicht erinnern. MODERATOR: Ich erinnere mich noch an die gute Nachricht: „Wir sind als Umweltverein nicht klagefähig“, haben sie gesagt. Wir sind dann auf die Idee der Generationen gekommen dank dieser wunderbaren Anwältin aus Hamburg. Ja, doch. Die hat Erfahrung, und weiß, wie man so eine Klage aufbaut. Und wir haben es in den Niederlanden gesehen und in England. So baut man etwas, was nicht leicht von einem Richter vom Tisch zu fegen ist. Mensch, das war ein Sieg! Generationengerechtigkeit! Nein: „Die Freiheit zukünftiger Generationen!“ Mit dem Freiheitsbegriff ist immer etwas zu drehen. Und jetzt muss die Politik endlich liefern. ANSAGERIN: Und? Hat sie geliefert? MODERATOR: Moment – Wir hatten vier verschiedene Klagen eingebracht und die Argumentationen ineinanderlaufen lassen. Das grundsätzliche Argument der Klagefähigkeit in Klimafragen war ja schon vorher akzeptiert worden, das kam vor in einer Urteilsbegründung eines Prozesses, den wir vorher geführt haben. Und jetzt muss die Politik liefern. ANSAGERIN: Ich bitte dich, das war die gute Nachricht vor einem Jahr. MODERATOR: Ja. Ich sage ja, die schlechte Nachricht zuerst. ANSAGERIN: Nein. MODERATOR: Ach du meine Güte. ANSAGERIN: Um 21.00 hört es auf zu regnen. Man hört Helikoptergeräusche.
STUDIO REFERENTENEBENE Ansagerin und Moderator vom ersten Bild vorne, im Hintergrund halten sich auf der einen Seite Erwachsene/r, Gegenerwachsene/r und Frau mit Zukunft sowie auf der anderen Seite Referent:innen auf. Es herrscht Lagerstimmung. Der Ort, an den man kommt, wenn das eigene Heim abgesoffen ist. Wenn man evakuiert wurde. Ein Ort zwischen Turnhalle, Intensivstation, Studio und Zwischenlager, der kein klar zugeordneter Privat- oder Öffentlichkeitsort mehr ist. Irgendwo hinten wird mit der Zeit ein Krankenbett sichtbar.
Kaserne
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REFERENTIN: Hast du das Handyvideo gesehen? REFERENT: Das von den toten Wäldern, durch die nichts mehr kommt? REFERENTIN: Nein, das Video von dem Fluss, der plötzlich überall ist. REFERENT: Das ist kein Video. REFERENTIN: Doch, da gibt es doch Hunderte Videos. Überall gibt es jetzt diese Flüsse. REFERENT: Das ist kein Video, das passiert jetzt in echt.
11.5.–15.5. Tanzfest Premiere: Jeremy Nedd & Impilo Mapantsula How a falling star lit up the purple sky 19.5. Konzert: International Music Support: Vomit Heat
REFERENTIN: Nein, ich meine das mit dem Schutt, dem grauen Wasser, in dem alles Leben stehenbleibt. Plötzlich wird das Wasser zu Beton. Man sieht einen Körper darin. Fast unkenntlich geworden. REFERENT: Ja, all diese Dinge, die ein Leben ausmachen können, sind plötzlich grauer Schlick, Gerümpel. Es ist von der Betretbarkeit die Rede, die jetzt fehlt. Unbetretbare Städte, aus denen nicht einmal Helikopter heraushelfen können. Der ganze Kontinent mit grauem Schlick überzogen, mit Müll und Gerümpel. REFERENTIN: Ich bin noch bei den aneinanderschlagenden Autos. Höre Autos aneinanderschlagen. REFERENT: Das sind die Mülltonnen, die hochgehoben werden. REFERENTIN: Oder Kanaldeckel, und wenn man nachher durch das trübe Wasser watet, fällt man in die Löcher. REFERENT: Braunes Wasser. Eine Kloake mit enormer Geschwindigkeit. (lauscht) Oh, das war jetzt aber wirklich ein Lkw, der von der Wucht des Wassers zusammengefaltet wird. REFERENTIN: Und kurze Zeit später: Eine völlig stille Landschaft, in der sich nichts mehr bewegt. Der Kontinent eine graue Oberfläche, auf der nichts wächst und lange wachsen wird. REFERENT: Macht doch jemand das Fenster zu! (stockt) Aber das ist ja jetzt auch weg. Schau, unser Fenster wurde nach innen gedrückt, das Fenster schwimmt davon. REFERENTIN: Jetzt sitzen wir schon die ganze Nacht in diesem Dachspeicher und kommen nicht runter. Und dann ist auch noch das einzige Fenster weg. Wartet kurz. REFERENTIN: Und schon beginnt der Geruch. Der beißende Geruch nach Benzin und Heizöl, das sich in schwarzen Lachen auf der Wasseroberfläche abzeichnet – REFERENT: Der Gestank nach Fäkalien, Kanalisation. Das ist das Wasser. Es drückt alles nach oben, was nicht nach oben gehört und nach unten, was da nichts verloren hat. REFERENTIN: Macht doch jemand das Fenster zu! REFERENT: Das tote Wetter ist stehengeblieben. Die Hitze wird dem Ganzen ein Ende bereiten. REFERENTIN: Aber was soll hier noch brennen? STUDIO ANSAGERIN (setzt wieder an): Ich dachte, wir kommen nie aus dieser Trauerfeier heraus. MODERATOR: Wir sind aus dieser Trauerfeier heraus, und es hieß, jetzt ist die Welt noch immer nicht untergegangen …
21.5. Mamu Tshi, Dickson Mbi, Joy Ritter Steps: Portraits in Otherness 25.5. Kaserne Woanders Premiere: Fleischlin/Hellenkemper & Kompliz:innen Das Sex Stück 27.5. Konzert: Erobique Support DJ: Emel Ilter
kathrin röggla_das wasser
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Wartet. MODERATOR: Mach einen Screenshot von „Weiterleben“! ANSAGERIN: Nein, jetzt sind wir auf Sendung Wartet. ANSAGERIN: Wir sind auf Sendung und warten auf Armageddon. Ich meine, wie lange reden wir schon davon. Wartet. ANSAGERIN: Das Spektakel, das dieser Katastrophenfilm – wie hieß er noch? – gezeichnet hat, bleibt doch ganz entschieden aus. Wartet. ANSAGERIN: Wir sehen nur ein paar graue Wälder, ein wenig Überschwemmung, und langsames Absterben, gaaaanz langsam. MODERATOR (antwortet plötzlich): Wir sind nicht auf Sendung, und das Artensterben sieht man eh nicht. 130 Arten am Tag. Also Arten. Also nicht … Arten! Die Schöpfung rückwärts runter. Wartet. MODERATOR: Man sollte trauern. Also ich denke, jemand hier sollte wirklich trauern, nicht so … ANSAGERIN (im Tonfall der Fernseh-Ansage): Aber ist Trauer hier ein angemessenes Gefühl? Ist jetzt Trauer zu empfinden ein angemessenes Gefühl? Dürfen wir das überhaupt noch, traurig sein? MODERATOR (wiederholt): Wir sind nicht auf Sendung. ANSAGERIN (erinnert sich): Stimmt. Nicht mehr. So richtig. Wartet. ANSAGERIN: Irgendwie hätte ich doch gedacht, wir würden zumindest etwas davon zu sehen bekommen. Wir sehen hier aber nichts. Weniger Wasser sieht man ja nicht. Wo das Grundwasser mal vor Jahren war, sechs Meter, ist es auf 200 Meter runter. MODERATOR: Ja, aber das wissen die da alles schon. ANSAGERIN: Aber wir sehen es nicht! Ich meine, man sollte es SEHEN! Wenn wir, wie du sagst, trauern sollen, dann sollte man etwas gesehen haben. REFERENTIN (kommt von der Seite, über Publikum): Haben die nicht auf deren Herweg die Trockenschäden gesehen? Es soll mittlerweile auf jedem Weg in ein deutsches Theater graue Fichtenwälder zu sehen geben. ANSAGERIN: Danke! (drängt sie weg) Ich schaue auf meine Klima-Uhr, und es ist fünf Minuten nach zwölf, und wir hören von Missernten, wir hören von Hitzetoten, aber wirklich zu sehen ist nichts. Also hier. Ich hätte hier schon ein wenig mehr erwartet.
MODERATOR: Ich bitte dich, wir sitzen im trockensten Ort Deutschlands, und du willst was sehen. ANSAGERIN: Red nicht. Der liegt in Thüringen. REFERENT (kommt von der anderen Seite): Auch wir sitzen vor dem Dürremonitor. Da sieht man alles. REFERENTIN (drängt sich wieder hinzu): Die letzten Jahre gaben nichts anderes her. REFERENT: Doch, die Fruchtfolgegestaltung. Wir können sagen, der Lavendel alleine ist es nicht. Lavendel kommt ja weitgehend ohne Wasser aus. ANSAGERIN (wieder wegdrängend): Ein Trockenstress macht noch keine Schlagzeile. MODERATOR (die Referenten nachahmend): Wir sind die mit dem Trockenstress und der CrispsSchere, der Genschere. Wir basteln an wasserlosen Arten. Und das mit dünner Personaldecke. ANSAGERIN: Jemand müsste das mal wirklich einmal beziffern, also den Verlust wirklich beziffern, also mit verständlichen Zahlen rausrücken, nicht immer mit den unverständlichen. FRAU MIT ZUKUNFT (nach vorne): Seien Sie leise, da schläft doch jemand! ANSAGERIN: Ach unser Patient, den habe ich doch ganz vergessen. MODERATOR: Was für ein Patient? ANSAGERIN: Der hört doch nichts mehr. Alles, alles haben wir gemacht, und jetzt passiert nichts. FRAU MIT ZUKUNFT (im Hintergrund): Pssst! Es werden Betten verschoben. Es werden Vorhänge zugezogen. Es piepsen Geräte. FRAU MIT ZUKUNFT: Ich kann mir nicht vorstellen, dass er weg ist. Dass es ihn jetzt erwischt hat. Der ist doch gar noch nicht so alt. Und jetzt sitzen wir und warten, dass es mit ihm vorbei geht. Ist schon komisch. Ein Mensch stirbt, und die Welt steht still. MANN MIT VERGANGENHEIT: Die Welt steht nicht still. Ich meine, der war ja fast noch ein Kind. FRAU MIT ZUKUNFT: Ist. Noch lebt er ja. Und fast noch ein Kind ist übertrieben. MODERATOR (vorne an das vormalige Gespräch anknüpfend): Ich bitte dich, jetzt haben die Griechen das Problem, jetzt brennen denen die Wälder, wo man dachte, die haben keine Wälder mehr, weil denen doch bereits alles verdorrt ist, oder bereits abgebrannt … Er überlegt. MODERATOR: Die Griechen, die Italiener, die Kanadier, die Australier, die Amerikaner, die Franzosen, die Deutschen, die Spanier, die sowieso … FRAU MIT ZUKUNFT (im Hintergrund): Pssst! MODERATOR (leiser): … und immer noch sind Wälder da, erstaunlicherweise rund um ihre Städte
rum gibt es immer noch Wälder, die brennen, ja selbst in ihren Städten drinnen Wälder, wer hätte das gedacht. Ich dachte, alle Wälder sind passé. Auf Wälder einigt man sich nur noch in Klimakonferenzen, weil es sie eh nicht mehr gibt. Aus dem Hintergrund, Frau mit Zukunft: Ist denn hier niemand da, der angemessen … MODERATOR: Überall diese Bilder von Feuer und Rauch – Italien! Ja, nichts als Rauch, man sieht nichts mehr, man verirrt sich in den Städten. ANSAGERIN: Das kommt auch von den vielen Menschen. Könnten ruhig ein paar weniger sein. Diese Pandemie hat ja so manches Problem gelöst, mal ehrlich, Gott würfelt nicht, der hat doch einen Plan. MODERATOR: Bitte? ANSAGERIN: Uns zu dezimieren, die Spitze zu kappen, wir sind zu viele, 10 % können weg, vielleicht 20, 30 %, dann wird alles einfacher, dann reguliert es sich von alleine, seine Schöpfung. STIMME: Stiefmutter Gaia ist böse. ANDERE STIMME: Ach, hör doch auf! Aus dem Hintergrund, FRAU MIT ZUKUNFT: Könnt ihr nicht … ANSAGERIN (zischelt): Die Alten zuerst, das sagen sich doch mehr und mehr Leute, die Jungen darf es einfach nicht treffen, (zu Frau mit Zukunft): das denken Sie doch genauso!, die Alten könnten doch ruhig sterben, oder die Außereuropäischen, da kann es ruhig ein paar weniger geben, das sagen die sich und wundern sich, wenn sie dann Lieferkettenprobleme haben. MODERATOR: Jetzt hör aber auf! ANSAGERIN: Na ist ja wahr, die Lieferkettenprobleme kommen mit dem Wegfallen der Außereuropäischen oder der Osteuropäischen, was auch immer, 100.000 Lkw-Fahrer fehlen den Engländern alleine in ihrem Brexitparadies, das ist schon bitter. Ohne Lkw-Fahrer keine Lieferketten! MODERATOR: Selbst schuld. D. h. man könnte mal fragen … ANSAGERIN: Gell? Also ein paar weniger von uns, es müssen aber die anderen sein, das ist doch das gegenwärtige Mindset. Nicht die hier bei uns, aber mal ehrlich, wenn ein paar afrikanische und asiatische Metropolen vom Erdboden verschluckt würden, wenn das alles Hinterland würde, Ressourcen, die wir verbrauchen könnten. FRAU MIT ZUKUNFT KOMMT NACH VORNE: Können Sie Ihr Gespräch nicht andernorts und zur anderen Zeit weiterführen … ANSAGERIN: Er hört nichts mehr, das haben die Ärzte zumindest gesagt. Es ist völlig gleichgültig, was wir sagen.
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IMPACT 20.05. RE-COVER 27.05. MOLECULAR SCARS 02.06. DIE TANZ-TRILOGIE VON INTER-ACTIONS / EDAN GORLICKI
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FRAU MIT ZUKUNFT: Er ist noch nicht tot, wenn Sie das meinen. AUS DEM HINTERGRUND: Und wir sind auch noch da! ANSAGERIN: Jedenfalls fehlt das dicke Ende. Wo sind die großen Todeszahlen, da hieß es immer, jetzt geht es um Todeszahlen. Das sind die einzigen Zahlen, die ankommen. MODERATOR: Ja, wenn man was verhindern möchte, heißt es das. ANSAGERIN: Alle anderen kommen ja nicht an. Und so kommen sie andauernd mit Todeszahlen, Sterblichkeitsraten, Übersterblichkeit und so Kram. Ja, ich finde, wir müssen endlich mal überlegen, wer alles sterben kann. Also, wo es nicht so schlimm ist. Das ist doch die Stelle in jedem Katastrophenfilm. Die Alten, die Lahmen, die Blinden, die Schwachen, die Kranken, die mit Vorerkrankung, die, die woanders wohnen, die, die gerade weggezogen sind, die, die gerade erst hergezogen sind. Die, die eh nichts verstehen. Die uns auf dem Geldbeutel liegen, die, die uns komisch kommen. Die Rückständigen, die schlechtes Deutsch sprechen, die kein Englisch sprechen, die, die nichts vorwärts sprechen … Zögert. Moderator entdeckt den Kranken auf der Bühne. ANSAGERIN: Also das sage ja nicht ich, so reden doch die Leute manchmal. MODERATOR: Ja, so reden sie … Was macht der Kranke da? FRAU MIT ZUKUNFT: Sag ich ja. Die ganze Zeit. MODERATOR: Weiß das die Theaterleitung? Oder die Inspizientin? ANSAGERIN (blickt ins Publikum, auch aus der Rolle gefallen): Ein Kranker pro Vorstellung ist doch üblich, d. h. eine Kranke. MODERATOR: Ich dachte, Sie meinen die da unten. Im Publikum haben wir immer Patienten. Aber hier oben? REFERENTIN: Und mitten auf der Bühne! MODERATOR: Mitten im Saal – okay. Es sitzt ja immer mindestens eine kranke Person im Publikum, statistisch liegen wir da noch höher eigentlich. Das Publikum ist nicht durchwegs fit und gesund. Das ist völlig normal, dass da einige darunter sind, die ganz schön zu kämpfen haben. ANSAGERIN: Wir werden alle sterben! MODERATOR: Nein. Sie werden alt. (zeigt nach unten) Sie haben Schwächeanfälle. Glaube mir, Teile des Publikums leidet unter Schwächeanfällen. Und Husten! Manche bekommen einfach auch nur schlecht Luft. Man muss vorsichtig mit ihnen umgehen. Sie nicht zu sehr ansprechen. Aber wir? Wir hier oben? Wir sind nicht Teil dieser Verabredung. AUS DEM HINTERGRUND: Angelika, du bist wieder zu laut! ANDERE STIMME: Der Kranke, herrje, wir haben den Kranken vergessen. DRITTE STIMME: Immer vergessen wir den Kranken. Wir können einfach nicht andauernd auf ihn Rücksicht nehmen. ERWACHSENE/R: Es gibt einen Kranken? Warum? GEGENERWACHSENE/R: Er bekommt das ohnehin nicht mehr mit. FRAU MIT ZUKUNFT: Ach, auf einmal. ERWACHSENE/R: Aber warum? FRAU MIT ZUKUNFT: Trotzdem, aus Anstand. ANSAGERIN: Hey, wir müssen jetzt weiter, sonst bekommen wir wirklich ein Problem. MODERATOR: Wir müssen jetzt schneller spielen, weil wir gar keine Zeit mehr für so was haben.
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ANSAGERIN: Stimmt, wir müssen jetzt schneller spielen, weil ich den Babysitter ablösen muss. MODERATOR: Wir müssen schneller spielen wegen des Kranken. FRAU MIT ZUKUNFT: Echt jetzt? MODERATOR: Wir müssen schneller spielen, weil wir … Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Das wissen wir doch. Der stirbt doch bald. ANSAGERIN: Wie bald? Ich muss doch die Abmoderation machen. Lasst mir noch Platz für die Abmoderation. MODERATOR: Nein. ANSAGERIN: Nein? MODERATOR: Nein.
Fünftes Bild: DAS MEER DAS MEER Zwei Stimmen beginnen im Wechsel, eine dritte kommt später dazu, Kind 1, 2 und dann 3. Es ist ein in völligem Kontrast zu allen vorigen Szenen streng musikalisches Sprechen in heftiger Dichte. Vielleicht sind im Schlussbild alle Figuren auf der Bühne, vielleicht empfiehlt sich im Kontrast zum letzten Bild eine reine Dreierszene, die eher Verlassenheit ausdrückt. Hier wird das Publikum nicht fiktionalisiert, sondern eher klassisch gespielt. 1: Hat das Meer nicht gesehen 2: Wer 1: Hat das Meer nicht gesehen 2: Das Meer 1: Hat nicht gesehen, nie – waren nur zehn Kilometer 2: Die Figur aus dem Buch 1: Nein, aus der High School, in echt 2: hat kein Meer 1: ja 2: Das nicht aber anderes 1: Ich bitte dich, zehn Kilometer 2: anderes als das Meer 1: zu Deutsch: ein Katzensprung 2: Bushaltestelle Bundy Drive, nein Central Ave 1: und jetzt 2: das Unmeer, das, was jetzt kommt 1: Gibt’s nicht 2: jetzt 1: zehn Zentimeter gestiegen, 50 Zentimeter bald 2: Das Meer kommt jetzt zu ihm 1: zu ihr – Nägel kauend am Straßenrand sitzend. 2: Das Meer kommt gekrochen, geschossen, emporsteigend, 1: Nägel kauend, weil es herausmuss 2: graues Wasser sagen sie, Wasser wie Beton 1: eine Latina oder kein Busticket. 2: Voller Müll das 1: oder die Eltern wollen nicht, dauernd auf Arbeit 2: Wasser ohne Substanz, einfach in Bewegung 1: in Culver City oder sonst wo. 2: Kommt jetzt 1: Kommt jetzt auf uns alle zu … 2: Uns oder die 1: Aber er 2: Aber sie 1: Hat kein Meer gesehen 2: Ja 1: hat kein 2: Das kommt noch hinzu 1: Da in dieser Stadt, die von nichts anderem spricht als vom Meer.
2: Tourismusfaktor eins 1: Das Meer ist der Star der Stadt 2: Aber jetzt kommt es zu allen und dann will es niemand 1: Hat das Meer nicht gesehen 2: Nicht kommen sehen 1: Keine Busfahrkarte zum Meer – afroamerikanische Schlüsselkinder, leicht übergewichtig und nachmittags ohne Betreuung 2: Latinas mit unglaublich ängstlichen Eltern oder war es umgekehrt 1: Unterwegs zum Strand. 2: Um zu sehen, um endlich zu sehen 1: Und dann 2: kommt der Bus nicht aufgrund der allgemeinen Lage 1: oder es ist nicht da 2: das ist es nicht, das ist nicht das Meer 1: das ist was anderes Kurze Pause. 2: Die Eltern wollen nicht, dass sie rausgehen 1: wollen nicht 2: und Schlüsselkinder sagt man nicht mehr 1: nachmittags vor allem 2: aber Hunger nach mehr gibt es auch 1: Schulspeisung fällt ja aus in der Pandemie 2: alle Stellen zu sagen sie 1: Das kommt jetzt öfter 3: Wir hier kennen auch die Abwesenheit 1: Wir sehen ja fern 2: kennen das, wenn nichts da ist 3: mit Verlusten war zu rechnen 1: Bis auf das Meer 2: Verstehe ich nicht 1: Ich auch nicht 3: Aber die Wellen sind schneller 1: Das Meer wächst, heißt es, es wird jetzt schnell größer 2: Wir erkennen es kaum noch, es wechselt die Farbe 1: Was alles Meer ist heutzutage 2: hat die Farbe gewechselt, ist grau und dickflüssig, feste Materie jetzt überall 1: Wasser, das grau wird, 2: und irgendwann stehenbleibt. 1: Wasser, das nur aus Müll besteht, Mitgerissenem, nicht mehr aus sich selbst. 3: Sie sind dann Teil des Wassers und wissen es nicht. 1: nix zu sehen 2: Es steht dann 1: keine Kinder mehr 2: bereits fest Kurze Pause. 1: Hat das Meer nicht gesehen 2: wie aus einem Buch über Holzarbeiter im 19. Jh., die die Eisenbahn entlang der kalifornischen Küste … 1: Hat das Meer nicht gesehen im andauernden 21. Jahrhundert … 2: als Armut noch ein Lied hatte … 1: … ist auch jetzt nichts zu sehen, sagen sie ihm … 3: Fünfzehnjährige jedenfalls, die wütend sind 1: sieht das Meer jetzt 2: schon nicht mehr ansprechbar 1: ist es nicht, das ist es nicht, sagt er oder sie. 2: Gar nicht, 1: wurden getäuscht 2: kannst nicht reden mit denen, geht nicht, kommt nichts raus 1: Schauen weg, sprichst du sie an. 2: hier Handys, dort
kathrin röggla_das wasser
/ TdZ Mai 2022 /
3: Seit fünfzehn Jahren dieser Blick 2: Verziehen sich aber nicht, sondern stehen da 3: Urplötzlich eine Wand voller Fünfzehnjähriger, die nicht mehr wollen 1: Hier oder dort oder ganz woanders? 2: Kannst nicht reden mit denen 1: Geht nicht, kommt nichts raus 3: Hier am Land, in der Provinz 2: Wirst dauernd unterbrochen 1: Keinen Satz zu Ende sagen 2: Hören nicht zu und sehen weg 1: aus gutem Grund 3: Machen nicht, was sie sollen 2: Du kommst nicht weiter. Das Gespräch bleibt einfach stehen, wo es war 3: Rempeln dich an und sagen keinen Pieps 1: Haben das Meer nicht gesehen und 3: Rempeln dich an und sagen keinen Pieps 1: werden es nicht mehr sehen zumindest so wie es sein sollte 2: das ist jetzt weg auch hier 1: die Lücke schließt sich 3: Als Antwort auf alles 2: was wir unternommen haben 1: nicht unternommen 3: Unsere Kinder sinds nicht, sind von anderen 2: unsere Kinder sind verlorengegangen 1: nichts als Verkehrsbetriebe, Wohnhäuser, Gewerbestandorte 3: Unsere Kinder sinds nicht, die hier sprechen eine andere Sprache 1: auf die es keine Antwort gibt 2: alle Antworten sind schon vorausgegangen
1: oder fallen zurück 2: Richtung Meer 1: auf uns 3: kennt ihr die, ja, sag einmal, kennt ihr die 1: das kommt aber jetzt ein bisschen spät, sagen sie 2: Nägel kauend an der Bushaltestelle 3: kennt ihr die? 1: Der Bus kommt heute nicht 3: Uns betrifft es schon nicht, das Meer 1: kommt niemals an 3: wo es nicht hinsoll in unseren Augen 2: Der Bus ist schon lange weg, Jahrzehnte. 1: Das ist die Stadt am Meer 3: und das sind die Fünfzehnjährigen 1: werden einen schon nicht erschlagen 3: oder doch 2: was habt ihr Pause. 2: was habt ihr da 1: Einen Augenblick nur hat er 2: hat sie 1: nicht hingesehen, was solls, dann war es wieder weg 2: das Meer – unheimlich schön und unheimlich groß 1: nein, das war etwas anderes, 3: unter bestimmten Bedingungen 1: die niemals zutreffen werden in seinem Leben 2: in ihrem! 1: Ja, mein Gott! Unter keinen Umständen gibt es noch eine Verbindung 2: zwischen schön und unheimlich 1: Nur unheimlich und Schluss 2: kein Meer mehr
1: das ist jetzt weg 2: nichts mehr 1: auf dieser Welt 3: nichts. Ende.
© S. Fischer Verlag 2022
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Foto Birgit Guðjónsdóttir © Gemeinde Oberammergau
Der offizielle Bildband
Oberammergau 2022
(14. Mai bis 2. Oktober 2022)
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Auftritt
Berlin „Rabatt“ von Nora Abdel-Maksoud in der Regie von Moïra Gilliéron Esslingen „Der große Hanussen“ von Stefan Heym in der Regie von Klaus Hemmerle Frankfurt am Main „Under Bright Light“ von Forced Entertainment Köln „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis in eigener Regie Nürnberg „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist Schwerin „Solo Sunny“ von Wolfgang Kohlhaase in der Regie von Sebastian Kreyer Senftenberg „Der Sohn“ von Oliver Bukowski in der Regie von Mario Holetzeck
auftritt
/ TdZ April 2022 /
BERLIN Sayonara! MAXIM GORKI THEATER: „Rabatt“ von Nora Abdel-Maksoud (UA) Regie Nora Abdel-Maksoud Bühne Moïra Gilliéron Kostüme Katharina Faltner
Nun ist Autorin und Regisseurin Nora AbdelMaksoud also auch im Maxim Gorki Theater, in dem sie mit Beginn der Intendanz von Shermin Langhoff als Schauspielerin engagiert war und 2017 bis 2018 ihre Stücke „Making of“ und „The Sequel“ im Studio R zur Uraufführung brachte, auf der großen Bühne angekommen! „Rabatt“ heißt ihr jüngster Streich, der sich inhaltlich wie ästhetisch nahtlos in ihr Schaffen einreiht. Zunächst zum Plot: Lieferando-Fahrer
Dena die todgeweihte Lieferando-Fahrerin, die sich alles nur ausgedacht hat.
Temporeich vorgetragenes Schauspieler theater: Falilou Seck, Niels Bormann, Orit Nahmias, Aysima Ergün in „Rabatt“ am Maxim Gorki Theater. Foto Lutz Knospe
Davide erleidet bei einer Sushi-Auslieferung
Das Ganze muss man sich nun in Ab-
an die geldliebende Journalistin Dena und
del-Maksoud-Manier als extrem temporeich
ihre Assistentin Luigi einen Herzanfall und
vorgetragenes Schauspielertheater vorstellen.
stirbt. Beim Abtransport der Leiche gerät
Im Gegensatz zu ihren frühen Stücken/Insze-
auch Denas privater Safe in Form eines Kis-
nierungen wird in „Rabatt“ nur noch sehr we-
sistische Äußerungen beklatscht wird. Eine
sens in die Hände des Bestattungsunterneh-
nig szenisch aufgelöst. Die meiste Zeit stehen
typische Abdel-Maksoud’sche Antiheldin.
mens. „Undertaker“ Dirk und sein Bruder,
die Darstellenden in Zweierkonstellationen im
Nun stellt sich allerdings die Frage, ob
Verwalter Anselm, sind Discountbestatter im
himmelblauen Bühnenkasten, der sich mit
Theater, ob ein kurzweiliger 80-Minüter wie
Vorort-„Valley“: Sie bestatten vornehmlich
Szenenwechsel zum Valley perspektivisch in
„Rabatt“ heute überhaupt (noch) zur Kritik
Menschen aus dem Niedriglohnsektor wie Da-
die Bühnentiefe öffnet. Sie erschnipsen sich
taugt. Nachdem sich die Aufführung der Dar-
vide, bei denen ad hoc keine Angehörigen aus-
das Licht des Verfolgers und damit Aufmerk-
stellung von Denas „Lüge“ gewidmet hat, en-
findig gemacht werden können. Und dies tun
samkeit. Dabei bekommt die Spielweise et-
det sie mit der „Wahrheit“, und zwar im
sie unerschrocken effizient: ungewaschen,
was stark Moderierendes, auch Posierendes,
buchstäblichen Sinne: Zwei Gorki-Schauspie-
nackt, ohne lange Kühlung, ohne Urne – nur
das sich leider rasch erschöpft.
lerinnen spielen Lieferando-Rider. An einer
eine Aschekapsel in einem Abflussrohr. Als
Zum einen paart Abdel-Maksoud Kritik
früheren Stelle verhandelten die vier Figuren,
Dena ihr Kissen zurückfordert, verlangt Dirk im
am Niedriglohnsektor mit Kritik an einer auch
dass sie im Grunde allesamt gar keinen Kon-
Gegenzug einen Artikel zur Rehabilitierung
hierzulande üblichen „ordnungsbehördlichen
takt zu Menschen aus dem Niedriglohnsektor
seines Rufs. Unterdessen versucht der Geist
Bestattungspraxis“, wie sie zuletzt u. a. von
hätten. Gleiches gilt ja ehrlicherweise auch
des toten Davide, Dena mittels Bowie-Referen-
Klassismusforscherin Francis Seeck unter-
für viele Menschen aus der Theater-Bubble.
zen und Bourdieu-Lektionen den gesellschaft-
sucht wurde. Diese Praxis wird mit der würde-
Und wie lässt sich in dieser zynischen Kons-
lichen Verblendungszusammenhang einer auf
losen Kapsel-Idee der als Ganoven inszenier-
tellation Kritik platzieren? „Wenn Typen wie
Ungleichheit und Ausbeutung basierenden
ten Valley-Repräsentanten (gespielt von Niels
ich“, und dabei zeigt Taner Şahintürk alias
Welt aufzuzeigen, für die die Erzählung einer
Bormann und Falilou Seck) noch pervertiert.
Davide in die erste Reihe, „für Typen wie ihn
„Leistungsgesellschaft“ blanker Hohn ist. Just
Zum anderen wird mit Dena (Orit Nahmias)
45 Minuten durch Schneeregen fahren, um
als Dena geläutert ihre Geldgier zugunsten ei-
eine Vertreterin einer privilegierten Berlin-
ihm eine Schale Süßkartoffel-Sticks zu lie-
ner würdevollen Beerdigung Davides zu Grabe
Bubble aus dem Medienbereich porträtiert, die
fern, und er denkt, das ist okay so. Warum
tragen will, folgt der Plot-Twist: Eigentlich ist
beständig zwischen englisch und deutsch
denkt er, das ist okay so?“ Beide Modi –
wechselt, nur guten Gin trinkt, Taxi dem „Assi-
Schauspiel und Anklage (eines Publikums,
schlauch“ U8 vorzieht und ihre Werte verkauft,
von dem angenommen wird, dass es gleich-
wenn sie in Talkshows und Büchern über „ver-
falls Lieferando-Dienste in Anspruch nehme,
engte Meinungskorridore“ wettert und für ras-
ETFs habe und schlicht „Teil des Systems“
„Mölln 92/22" von Nuran David Calis am Schauspiel Köln. Foto David Baltzer
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sei) – greifen hier zu kurz. Und vielleicht weiß
Gerade in Zeiten des Ukraine-Kriegs rückt
das auch Nora Abdel-Maksoud und überant-
das Thema beklemmend nah.
wortet das Finale der Berliner Rockband
Es ist ein Glücksfall, dass die WLB das
Chuckamuck, die dem partyhungrigen Premi-
verschollene Drama des großen DDR-Schrift-
erenpublikum ihren Song „Sayonara“ entge-
stellers und Kulturpolitikers Stefan Heym in
Theresa Schütz
Cambridge entdeckt hat. Der Germanist
genbrüllt. //
ESSLINGEN
Starke Charakterporträts des Ensembles: Marcus Michalski als Erik Jan Hanussen in „Der große Hanussen“ in der Regie von Klaus Hemmerle. Foto Patrick Pfeiffer
Christoph Grube, Bruder des Esslinger Inten-
auch Markus Michalik, der die Rolle des SA-
danten Marcus Grube, hat das Stück bei sei-
Führers Graf Helldorf eine Spur zu wetterwen-
ner wissenschaftlichen Arbeit an der engli-
disch verkörpert, nennt sich seinen Freund.
schen Elite-Universität entdeckt. Heym hat
Hanussen saugt Lügen auf wie Honig.
das Stück in englischer Sprache geschrieben.
In Marcus Michalskis kluger Rollenstudie of-
Manches in der Übersetzung von Stephan
fenbart sich ein Machtmensch, der Massen
Wetzel klingt schroff, hölzern. Die kantig ge-
manipulieren will. So meißelt er Hanussens
zeichneten Figuren haben das Ensemble vor
politische Rolle heraus. Bis zu seiner Ermor-
Herausforderungen gestellt. Dennoch liegt in
dung durch die SA-Schergen war er ein glü-
dem Stück großes inhaltliches Potenzial. Das
hender Mitläufer. In Frank Chamiers Bühne
fördert Hemmerles Regie zutage. Mit starken
sind die Sessel und Stühle schräg angeschnit-
Soundcollagen von Felix Jeiter fließen die
ten. Im Bühnenbild gerät die Welt aus den
Übergänge in der kantig gebauten Szenen
Fugen. An der Bar steht Gesine Hannemann.
folge ineinander. Hemmerle versucht nicht,
Sie mixt Longdrinks und Cocktails für die illus-
dramaturgische Schwächen zu vertuschen.
tre Gesellschaft. Mit zynischem Zwinkern kom-
Vieles ist in dem Text zu ausschweifend er-
mentiert sie die verdeckten Recherchen des
zählt. Dem Ensemble gelingt das schillernde
Journalisten Rakosch, der die Wahrheit über
Kriegsangst und die Furcht vor geistiger
Porträt einer unmenschlichen Zeit. Dass „Der
den Hellseher Hanussen herausfinden will.
Gleichschaltung verfolgten den Dichter Ste-
große Hanussen“ erst jetzt von der Landes-
Felix Jeiter spielt einen Reporter, dessen Lei-
fan Heym im Exil in Los Angeles. Diese Zei-
bühne entdeckt wird, verwundert.
denschaft die Wahrheit ist. Am Ende bleibt
Schillernder Totentanz WÜRTTEMBERGISCHE LANDESBÜHNE ESSLINGEN: „Der große Hanussen“ von Stefan Heym (UA) Regie Klaus Hemmerle Übersetzung Stephan Wetzel Bühne und Kostüme Frank Chamier
terfahrung hat er 1941 in Los Angeles in sei-
Hemmerles Regie setzt auf starke Cha-
ihm nur die Flucht. Längst hat der Gestapo-
nem einzigen Theaterstück verarbeitet. Wie
rakterporträts des Ensembles. „Ich bin zu ei-
Emporkömmling Terboven in der Redaktion
Adolf Hitler, der mit den Nationalsozialisten
nem geistigen Anführer einer ganzen Bewe-
seiner Berliner Tageszeitung das Ruder über-
am 30. Januar 1933 die Macht ergriff, ver-
gung geworden, einer Bewegung hin zu einem
nommen. Benjamin Janssen ist ein aalglatter
führte der Hellseher Erik Jan Hanussen die
tieferen Leben des Geistes und der Seele.“
Karrierist, der sich die Macht krallt.
Menschen – er soll unter anderem den
Platte Behauptungen wie diese verkauft Mar-
Als Schauspielerin, die nach oben will,
Reichstagsbrand vorausgesehen haben. Der
cus Michalski in der Titelrolle so elegant, dass
heftet sich Franziska an Hanussens Ruhm.
Magier hieß eigentlich Hermann Chajm Stein-
ihm nicht nur die Schönen und Reichen der
Dennoch zeichnet sie die junge Nathalie
schneider und war jüdischer Herkunft. „Der
Großstadt Berlin folgen. Der linientreue Rich-
Imboden selbstbewusst und kämpferisch. In
große Hanussen“ hat der Regisseur Klaus
ter Moeller ist bei Daniel Großkämper ein
diese einzige weibliche Figur legt Heym die
Hemmerle im Schauspielhaus der Landes-
klassischer Mitläufer. Im Nationalsozialismus
Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Als Con-
bühne Esslingen (WLB) uraufgeführt. Er treibt
verkommt die Justiz, einst Säule der demo-
férencier führt Achim Hall durch die Hand-
das Ensemble in einen Totentanz auf dem
kratischen Gesellschaft, zum gleichgeschal-
lung. Mit leisen, klaren Worten verkündet er
Vulkan der goldenen 1920er Jahre hinein.
teten Apparat – ebenso wie die Presse. Und
den Untergang der Weimarer Republik mit
auftritt
/ TdZ April 2022 /
ihrer abstoßenden Dekadenz. Trotz aller for-
ten Kram und gibt sich seiner Erschöpfung
ter Kraft absolvierten Chaos-Parade unter
malen Defizite ist Heyms Rückschau auf die
hin. Dann geht es wieder von vorne los,
gnadenlosem Licht. Aus Peter Brooks „Der
Verfolgung durch die Nazis und den Weg ei-
die Musik ändert sich, die Gänge der
leere Raum“ macht Forced Entertainment
ner Gesellschaft in Zerstörung und Krieg ein
Bühnenarbeiter:innen auch. Die Gedanken
einen vollen, zugestellten Raum. Theater in
Elisabeth Maier
des Publikums wandern mit, manche im
Reinform: Leute gehen durch den Raum,
Saal beginnen zu lachen, was eher eine
während andere ihnen zusehen. „Under
Übersprungshandlung als dem Geschehen
Bright Light“ meint gleichermaßen das
geschuldet ist. Bis auf winzige Ausnahmen
Arbeits- wie das Rampenlicht.
wichtiges Zeitstück. //
gibt es nicht viel zu lachen, es ist ein trauri-
Die Blaumänner zitieren die Arbeits-
ger Abend, ein hoffnungsloser, eine Vergeb-
welt und zielen auf den permanenten Opti-
lichkeitsstudie, ein Untertagsblues. Die Si-
mierungswahn unserer Tage, unter dem Dik-
syphose
an
tum eines permanenten „Schneller, Höher,
Amazon-Mitarbeiter:innen oder Zalando-Bo-
Besser“. Nicht einmal der Humor bietet eine
ten, die sich kameraüberwacht abhetzen.
Fluchtmöglichkeit, wie noch in „Out of
Mit ihren konformen Kartons in Händen
Order“, das dem Nicht-Funktionieren oft
könnten es aber auch gerade gefeuerte Leh-
komisch beizukommen versuchte. Diesmal
man-Brothers-Banker sein, die ihr ausge-
ergibt sich 75 Minuten lang kein gangbarer
laugtes Selbst nach Hause tragen. Die sechs
Ausweg. In seiner absurden Alternativlosig-
auf der Bühne erschöpfen sich nach allen
keit und seiner Feinnervigkeit erinnert das an
Regeln der Kunst, manchmal fallen sie um
Samuel Becketts „Quadrate“. „Under Bright
oder halten ein Nickerchen. Später kollabie-
Light“ spinnt seine formvollendete Choreo-
Gegen Ende der Performance tanzt Robin
ren sie regelrecht. Proportional zu ihrer Mü-
grafie verrückt weiter. Am Ende liegen die
Arthur mit einer Stehleiter, wiegt sie in sei-
digkeit vermehren sich die Dinge auf der
Gegenstände auf einem Haufen wie achtlos
nen Händen wie eine Frau, und man könnte
Bühne, auf einmal sind es drei Leitern, acht
abgestellter Sperrmüll, während die Ar bei
schwören, die Szene schon mal in einem
Stühle und zahllose Kartons. Die Musik
ter:innen sich vom Acker machen. Zurück
Charlie-Chaplin-Film gesehen zu haben. Der
schwillt dementsprechend an, die Schläge
bleibt ein angespanntes Publikum und die
Slapstick und das habituell Überforderte
darin werden dumpfer, spitze Saxofonklänge
bange Frage: Soll das unser ganzes Leben ge-
sind auch der neuen Performance des briti-
zerschneiden die zu delirieren beginnende
wesen sein? //
schen Kollektivs Forced Entertainment ein-
Luft. Dann wird der Ton rauer, tinnitusner-
geschrieben. Diesmal verlieren sie dabei,
vender, aggressiver, die Ordnung der Dinge
wie schon in ihrem 2018 in Frankfurt am
ist dahin, Kartons fliegen durch die Luft wie
Main uraufgeführten Stück „Out of Order“,
Kissen in einer Kinderzimmerschlacht. Das
kein Wort.
zuerst noch traumverloren emsige Treiben
FRANKFURT AM MAIN Der volle Raum KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM: „Under Bright Light“ von Forced Entertainment Regie Tim Etchells Bühne Richard Lowdon
Die Bühne markiert ein Quadrat aus grünem Kunstrasen, begrenzt von einigen weißen Stellwänden. Robin Arthur, Nicki Hobday, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O’Connor treten in Blaumännern und schwarzen Laufschuhen dahinter hervor. Mit ihnen auf die Bühne kommen vier Stühle, acht Kartons, ein Podest, eine Leiter und ein Tisch. Die Performer:innen aus der Arbeiterstadt Sheffield tragen die Dinge von hier nach dort, von einer Ecke in die andere, stapeln sie mal vorne, türmen sie mal hinten auf, laufen zügig oder hastig, quer oder diagonal zu den Seiten des Rasenstücks. Dabei rempeln sie sich nicht an, obwohl sie meist stur geradeaus blicken, Gesichter der Arbeit ziehen. Dazu ertönt ohrenbetäubender Lärm in einer Mischung aus Jahrmarktsmusik und Presslufthammergewummer
(Komposition:
Graeme Miller). Ein Gong ertönt wie ein Weckruf. Nach zehn Minuten versammelt sich der Trupp um den in einer Ecke gelager-
auf
der
Bühne
erinnern
weicht einer schwer atmenden und mit letz-
Shirin Sojitrawalla
Arbeits- und Rampenlicht: „Under Bright Light“ von Forced Entertainment amMousonturm Frankfurt. Foto Hugo Glendinning
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/ TdZ April 2022 /
Wer hat die Deutungshoheit über das Ver brechen? – „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis in seiner Regie am Schauspiel Köln. Foto David Baltzer
nige
enthalten
konkrete
Hilfsangebote,
verstaubten aber fast 30 Jahre lang im Stadtarchiv. Das Ensemble zeigt historisches Filmmaterial
und
Zeitungsausschnitte.
Zwar
haben der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm und sein Vize Wolfgang Kubicki die Verletzten im Krankenhaus besucht. Doch man sieht die Distanz, die Fremdheit. Und Bundeskanzler Helmut Kohl kam gar nicht. Wie kann da eine Versöhnung stattfinden? Die liegt in weiter Ferne, sagt das EnNatürlich wird das nicht nachgespielt im
semble. Zunächst einmal geht es darum, den
Stück „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis.
Konflikt ehrlich auszutragen und einen ehrli-
Es geht darum, wie rechtsradikaler Terror he-
chen Dialog auf Augenhöhe zu beginnen.
runtergespielt und halbherzig bekämpft wur-
Nuran David Calis inszeniert diskursives
de, über Jahrzehnte hinweg. Und darum, wie
Dokumentartheater ohne viele Zutaten. Es
mit den Opfern umgegangen wird. In Mölln
gibt eine ebenso zurückhaltende wie stim-
gibt es eine Gedenktafel und Erinnerungsver-
mungsvolle Bühnenmusik von Vivan Bhatti,
anstaltungen, offiziell im Rathaus. Doch die
das Kinderzimmer wird einmal auseinander-
Familie gestaltet ihre eigenen Gedenkfeiern,
geschoben. Es zerfällt in drei Teile, drei Tote
am Ort des Geschehens. Das Kölner Ensem
hat es gegeben. Ansonsten präsentieren
ble ist nach Mölln gefahren und hat daran
Kristin Steffen, Stefko Hanushevsky und
teilgenommen. „Wie die Anwohner reagiert
Ismail Deniz die Ergebnisse ihrer Recher
haben“, erzählt Schauspielerin Kristin Stef-
chen. Mal nachdenklich und selbstkritisch,
fen im Stück, „das war absolut verstörend.
mal engagiert und mit Nachdruck. Auch ihre
Ein Kinderzimmer steht auf der Bühne, mit
Die sind da einfach durchgelatscht. Da hab
persönlichen Erlebnisse spielen eine Rolle.
vier Wänden drum herum. Das Publikum
ich gemerkt, dass diese Gedenkfeier nicht nur
kann durch die Fenster und die Tür hinein-
nicht akzeptiert wird. Sie ist unerwünscht.“
KÖLN Die Deutungshoheit gehört den Opfern SCHAUSPIEL KÖLN: „Mölln 92/22“ von Nuran David Calis (UA) Regie Nuran David Calis Bühne Anne Ehrlich Kostüme Patricia Ruszkiewicz
Ergänzt werden die Berichte durch Videointerviews. Da kommen weitere Mitglie-
Wer hat die Deutungshoheit über das
der der Familie Arslan zu Wort, auch der
Poster an den Wänden. Es ist ein Raum, in
Verbrechen? Das ist eine der Fragen, die im
Anwalt Mehmet Daimagüler, der Opfer im NSU-
dem sich die Kinder der Familie Arslan sicher
Stück diskutiert werden. Zwei junge Männer
Prozess vertreten hat. Er beschreibt, wie er
gefühlt haben. Bis er abbrannte, wie das gan-
aus der Familie Arslan sind zur Premiere an-
damals als erstes türkischstämmiges Mitglied
ze Haus. Zwei Kinder und eine Frau sind ge-
gereist, das Ensemble holt sie kurz vor
im FDP-Präsidium sich nicht getraut hat, auf
storben in Mölln, am 23. November 1992,
Schluss auf die Bühne. Sie erzählen von Soli-
Rassismus und rechte Gewalt hinzuweisen.
als zwei Skinheads Brandbomben in zwei
daritätsbriefen, die bei der Stadt Mölln gelan-
Weil er Karriere machen und nicht riskieren
Wohnhäuser warfen.
det sind und nicht weitergeleitet wurden. Ei-
wollte, sich zu blamieren. Falls die Morde
Int. Trickfilmfestival Stuttgart 5./6./7. Mai Animeo & Humania augenauf! Winterthur 17. Mai OH ROMEO!? Kurtheater Baden 19. Mai Herkules und der Stall des Augias 21. Mai Ich habe genug. Über Abschiede. Mit Bach.
THEATER MARIE
schauen, auf einen bunten Teppich, ein Bett,
auftritt
/ TdZ April 2022 /
vielleicht doch mit einer Auseinandersetzung
die Fälschung ist offenbar noch besser in
wie die Regisseurin im Programmheft zutref-
unter türkischen Kriminellen zu tun haben. Er
Form als das Original, gemessen jedenfalls an
fend feststellt. Die Ehefrau als „Anhängsel“?
selbst hat in Gedanken die Opfer zu Tätern
den Scorer-Punkten, die Alkmene für die
Gibt’s gottlob kaum mehr. Außer halt im Fuß-
gemacht, wie viele andere. Dass Daimagüler
Performance des Fake-Gatten vergibt. Fair-
ball. Ergo: Alkmene als Spielerfrau.
sich offen dazu bekennt, löst großen Respekt
play sieht anders aus. Als sich der Göttervater
Anna Klimovitskaya sieht in der Rolle
aus. Wie überhaupt dieses kantige, kompro-
am Ende zu seinem groben Foul bekennt,
mit blonder Mähne und im Püschelkleid denn
misslose Dokumentartheater beeindruckt.
bleibt auch Alkmene nur ihr finales „Ach!“.
anfangs auch aus wie ein Cheerleader-Pompon
„Mölln 92/22“ ist ein Abend voller
Es ist schon bemerkenswert, wie krie-
auf zwei Beinen, durchläuft dann freilich im
Menschlichkeit und Wärme, aber ohne fal-
gerisch der Fußballjargon ist. Auch da werden
Hosenanzug eine Entwicklung, an deren Ende
sches Versöhnungskuscheln. Beharrlich ar-
Schlachten geschlagen, es wird geballert,
ihre Emanzipation steht. Mit punkiger Kurz-
beitet Nuran David Calis inzwischen über
Gerd Müller war einst gar der „Bomber der
haarfrisur allein auf der altrosa Bühne von
viele Jahre hinweg daran, die Kluft zwischen
Nation“. Angesichts des Kriegs in der Ukraine
Judith Oswald (deren Lamellenwände flotte
Migrant:innen und Mehrheitsgesellschaft im-
mag es ein kluger Schachzug gewesen sein,
Auf- und Abtritte ermöglichen, wie man das
mer präziser zu beschreiben und Probleme zu
Kleists Stück zu entschärfen. Zwar ist dieses
vor allem aus dem Boulevardtheater kennt) be-
benennen. Auch diese Aufführung ist ein
Lustspiel durch das verstörende Thema Iden-
endet sie den Abend mit einer wegwerfenden
Schritt, um sich näherzukommen, nicht mehr
titätsverlust ohnehin nicht uneingeschränkt
Handbewegung. Soll heißen: „Ach! Männer!
Stefan Keim
erheiternd. Gleichwohl: Die Verwechslungsko-
Wer braucht noch diese Machos?“
und nicht weniger. //
mik, die es zu bieten hat, erzählt sich in die-
So erlebt wenigstens eine Figur eine
sen Tagen ungleich schwerer, wenn es sich
positive Identitäts-Häutung. Die Herren der
bei den Figuren um Kriegsheimkehrer han-
Schöpfung indes bleiben so gefangen in Ge-
delt. Dann schon lieber Fußballer, die zwar
schlechterklischees wie in den eng anliegen-
auch gern zu martialischen Metaphern grei-
den Turnhöschen und Rauten-Pullis, in die
Leichtfüßig verspielt
fen, am Ende aber doch nur Bälle ins Tor
sie Kostümbildnerin Sibylle Wallum gezwängt
schießen statt mit Munition auf Menschen.
hat. Sascha Tuxhorn mit Björn-Ulvaeus-Ge-
Anne Lenk allerdings hatte die Idee zu
dächtnisfrisur (der von ABBA) gibt einen er-
STAATSTHEATER NÜRNBERG: „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist Regie Anne Lenk Bühne Judith Oswald Kostüme Sibylle Wallum
ihrer Inszenierung schon lange vor dem Ukra-
kennbar zerknirschten Amphitryon, der die
ine-Krieg. Nur wurde die Premiere pandemie-
Empathie, die er weckt, auf einen Schlag ver-
bedingt ein ums andere Mal verschoben.
spielt, als Jupiter ihm am Ende die Geburt
Hauptgrund für das Konzept war jedenfalls
des Herkules prophezeit, der aus dem Schä-
gar nicht der gegenwärtige Krieg, von dem
ferstündchen mit Alkmene hervorgehen wird.
Lenk noch gar nichts wissen konnte, sondern
Na wenn das so ist – gern geschehen, Götter-
die Geschlechterverhältnisse im Stück, die
vater! Wer einen Halbgott zurücklässt, darf
„nicht mehr so richtig alltagstauglich“ seien,
sich Amphitryons Identität und vor allem
NÜRNBERG
Der Feldherr als Feldspieler – darauf muss man auch erst mal kommen. Anne Lenk macht aus Kleists Kriegern: Kicker. Amphitryon mutiert am Staatstheater Nürnberg vom Heereszum Spielführer, der nach erfolgreicher WM als Weltmeister nach Theben heimkehrt. Dort muss der gefeierte Fußballgott allerdings feststellen, dass ihn ein echter Gott zum Tor des Monats, ach was, mindestens zum Toren des Jahrhunderts gemacht hat. Denn noch während sich der WM-Held auf dem Rasen abrackerte, räkelte sich Womanizer Jupiter bereits im Bett mit des Mannschaftskapitäns Ehefrau Alkmene. Amphitryon sieht sich gehörnt und, schlimmer noch, seiner Identität beraubt. Fußball-Fans wissen: „Es gibt nur einen Rudi Völler!“ Amphitryon dagegen scheint plötzlich doppelt zu existieren, und
Mutation vom Heeres- zum Spielführer: Yascha Finn Nolting als Merkur und Sascha Tuxhorn als „Amphitryon" in der Regie von Anne Lenk am Staatstheater Nürnberg. Foto Konrad Fersterer
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auftritt
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Gemahlin selbstverständlich jederzeit aus
rung hat schon wieder Charakter. Das Publi-
leihen. Denn zumindest das maskuline
kum sitzt drin, im Bühnenraum, sozusagen,
Selbstverständnis ist mit dem virilen Erben
der muffelnden Gemütlichkeit eines Kultur-
Herkules ja wieder hergestellt.
hauses der 80er, Getränke gibt’s an der Bar,
Das ist die schwer düstere Pointe des
Zigarettenqualm kommt aus der Nebelmaschi-
Abends, die nur leider fast verspielt wird, weil
ne (Bühne und Kostüme von Matthias Nebel).
er ansonsten so leichtfüßig geraten ist. Tjark
Da kann man als Zuschauer schon mal durch-
Bernau als Jupiter, dazu Merkur Yascha Finn
einanderkommen. Bin ich jetzt in einem Thea-
Nolting, Janning Kahnerts Sosias und Lea So-
terstück? Oder in der Tingeltangel-Kleinkunst-
phie Salfeld als dessen Ehefrau Charis, die
Bühnenshow, in der Benno Bohne gerade zum
das Identitätsklau-Theater ihrer Herrschaft
wiederholten Mal den Witz mit den Schuhen
auf Diener-Ebene durchexerzieren, spielen
erzählt und dann „die schönsten Männer der
mit sichtlichem Vergnügen für die Galerie –
Welt“ von den „Tornados“ mit einem launigen
was im Theater wie im Fußball für großen Un-
„Haut Rein!“ anfeuert?
terhaltungswert sorgt, aber nicht immer für
„Solo Sunny“ – das ist die Geschichte
überzeugende Erfolge. Letztendlich vertän-
einer jungen Frau. Sie hat ihre Arbeit in der
deln sie damit den Tiefsinn des Textes. Das
sozialistischen Produktion geschmissen, wohnt
liegt natürlich auch an der Taktik, die ihnen
in einem Berliner Abrisshaus und singt in einer
die Regisseurin mitgegeben hat. Die ge-
Combo. Mit einem immergleichen Kleinkunst-
schlossene Mannschaftsleistung des Ensem-
Programm tingelt die Truppe durch Provinz-
bles sorgt dafür, dass die Inszenierung keine
Kulturhäuser. Bald gibt es Ärger in der Zwangs-
Niederlage wird. Aber vercoacht hat Anne
familie. Sunny macht, was ihr gefällt, sagt, was
Lenk den Abend schon. // Christoph Leibold
sie denkt, und schläft, mit wem sie will. Sie kämpft um die große Liebe und den großen Durchbruch als Sängerin. Es ist die Geschichte eines Ausbruchs aus der DDR-Norm-Biografie,
SCHWERIN
einer vorgeschriebenen Laufbahn aus Arbeiten, Heiraten, Kinder kriegen. Sunnys Geschichte
Meta-Film
handelt von Scheitern und Absturz, von Aufstehen und Weitermachen. Im heutigen Deutsch: von der Suche nach sich selbst.
MECKLENBURGISCHES STAATSTHEATER: „Solo Sunny“ von Wolfgang Kohlhaase Regie Sebastian Kreyer Bühne und Kostüme Matthias Nebel
Der Film wird zum Glück in der Schwe-
Auf der Suche nach sich selbst: Flavius Hölzemann und Julia Keiling in „Solo Sunny“ in der Regie von Sebastian Kreyer. Foto Silke Winkler
riner Inszenierung nicht stumpf nacherzählt. Regisseur Sebastian Kreyer inszeniert den
Filmverweisen, die als Video eingespielt wer-
Ausbruch. Es wechselt rasant zwischen min-
den, die Handlung erklärt „Und dann habe
destens drei Spielebenen. So wie das Publi-
ich die ganze Wohnung blau gemalt, und im
kum manchmal nicht genau weiß, ob sie jetzt
Film dann kommt die berühmte Szene, wo
„She is Sunny. They will say. Some day.“ Das
nur Zuschauer sind oder als Kulturhausbesu-
man Alexander Lang sieht, mit seiner geilen
ist Sunny, werden sie eines Tages sagen. So
cher mitspielen, ist das auch auf der Bühne.
Unterhose.“ Und dann sieht man im Filmaus-
heißt es in Sunnys Solo, auf das alle immer
An drei Ecken sind da die drei Handlungsorte
schnitt, wie Alexander Lang, der im Film den
warten bei „Solo Sunny“. Bei der Filmpremi-
installiert, Sunnys Wohnung, die Wohnung
Ralph gespielt hat, versucht, sich die blaue
ere 1980 ließ sich der die Zeiten überdauern-
des Philosophen und die Künstlergarderobe
Farbe vom Hintern zu wischen. Jochen Fahr
de Erfolg des Streifens nicht orakeln. Aber,
eines Kulturhauses. „Ich soll hier am Anfang
als Benno Bohne mit dem ewig flachen
ja, das ist Sunny. Wir sind in Zeiten von „ei-
mal was sagen“, sagt die Schauspielerin Julia
Schuh-Witz wird anfallartig zur Witzmaschine,
nes Tages“ angekommen. Konrad Wolfs Film
Keiling und erzählt die Geschichte der wah-
zusammenhanglos lässt er einen Brüller nach
um das Mädchen Ingrid Sommer, bezie-
ren Sunny, denn der Drehbuchautor Wolfgang
dem anderen los. Rasant wechseln die Schau-
hungsweise Renate Krößner in ihrer Mäd-
Kohlhaase hatte Sunny nicht erfunden, es
spieler die Zeiten, die Figuren, sogar die
chenrolle, ist Kult. Und jetzt auch als Thea-
gab eine lebendige Vorlage. Dann setzt sie
Geschlechter. Wenn sie den Film spielen,
terstück zu sehen.
sich eine Perücke auf, und es geht los: Auf-
spielen sie so überdeutlich, als würden sie
tritt Sunny. Schlüsselszenen des Films wer-
spielen, dass sie spielen. Keine Angst vor
das
den haargenau kopiert, Wort für Wort. „Is’
platten Witzen. Es geht alles auf, komisch,
Mecklenburgische Staatstheater in das dor
ohne Frühstück“ kommt natürlich auch vor.
witzig, klug. Es kommt zu absurden Dialogen.
tige Kulturhaus verzogen. Das spart jede
Aber dann verlassen sie das Stück einfach
Einmal fragt Sunny den Mann in ihrem Bett:
Menge Ausstattung. Sprelacart-Vertäfelung,
wieder und driften völlig ab. Gehen durch die
„Wer bist du denn?“ Und er sagt: „Christoph
Bestuhlung, Vorhänge – alles in der gleichen
vierte Wand, Sunny wird wieder zu Julia Kei-
(Götz), ich spiele hier den Ralph.“ Auch die
Nichtfarbe. Konservierte Geschmacksverir-
ling, die dem Publikum im Szenenraffer mit
Videowand macht Nebenschauplätze auf.
Crivitz hat kein Theater. Für die Produktion
von
„Solo
Sunny“
ist
auftritt
/ TdZ April 2022 /
Eine Talkshow, in der Nina Hagen und Angela
links und Fridays for Future, der titelgebende
Dagegen fallen die beiden Frauen deutlich
Merkel 1992 über Drogen diskutieren. Helga
Sohn Finn dagegen wird von der rechtspopu-
ab: Die Schwester Tine (Esra Maria Kreder)
Hahnemann im Interview, Ostberlin früher,
listischen Seite abgeholt, zumal ihm der Arzt
läuft ständig nur auf Hochtouren im Sorben-
eine DDR-Fabrik, in der Plüschtiere produ-
Dr. Bremer als Mentor und Patenonkel dafür
Dirndl (noch ein großes Nebenthema in die-
ziert werden. Der Film-Blick aus Ralphs Woh-
zur Seite steht. Eine mustergültige Sozial-
sem vollgestopften Paket), die von Johanna-
nung in der Gleimstraße, im Hintergrund wird
Problem-Familienaufstellung, in der Bukowski
Julia Spitzer dargestellte Mutter übertreibt
mal wieder ein Haus gesprengt.
freilich etliche Fallen der Entlarvung falscher
ihre Yoga-Not im Sari aufs Feinste, aber am
Klischees vorsieht. Alles scheint stimmig,
Ende soll man ja gerade das durchschauen.
und ist doch ernsthaft zu hinterfragen.
Eine solche Doppelbödigkeit braucht Roland
„Solo Sunny“ erzählt eigentlich auch die Geschichte eines verlorenen Mädchens, das als ehemaliges Heimkind nach Halt
Mario Holetzeck hat als Regisseur zu-
sucht. So tief geht das Stück nicht. Muss es
gleich die Gesamtausstattung für die Studio-
auch nicht. In diesen Zeiten braucht keiner die
bühne entworfen: ein mit Planen behängtes
Die Sprache Bukowskis ist seinen Figu-
Seelenschau einer wackligen Existenz. Sunny
Baugerüst im offenen Geviert, am Boden eine
ren immer um eine Pointe voraus. Wenn zum
hat überlebt, bis heute, darauf kommts an. //
Schicht Sand, die gleich zu Anfang als Sedi-
Beispiel Vater und Sohn sich in den Zusam-
ment von dem angesprochen wird, was von
menhang von „Suizid und Umschulung“ hin-
allen Walters und der Menschheit überhaupt
einsteigern, ist das ein böser Lacher in Bu-
übrigbleibt. Damit ist der Ton gesetzt, den die
kowskis bekanntlich grandioser Dialogkunst.
Inszenierung über weite Strecken verfolgt.
Diese Qualität stellt Holetzeck mit den Schau-
Mit bitterem Humor die Figuren gegeneinan-
spielern in seiner Uraufführung auf jeden Fall
der zeigen. Den Sohn erarbeitet sich Leon
heraus. Die wirklich inszenatorische Deutung
Haller als gegen alles skeptisch Frustrierter;
dieses Stücks muss jedoch erst in einer folgen-
sein T-Shirt zeigt den Spruch „Ich brauche
den Inszenierung herausgeholt werden.
Juliane Voigt
SENFTENBERG Fallen in der Lausitz NEUE BÜHNE: „Der Sohn“ von Oliver Bukowski (UA) Regie, Bühnen- und Kostümbild Mario Holetzeck Video Oliver Seidel
Kurzweg als Bergmann-Vater nicht; er ist der Geschlagene in diesem Schauspiel.
keinen Sex, denn ich werde jeden Tag ge-
Es war die die letzte große Premiere in
fickt“. Den von den anderen Familienmitglie-
der Intendanz von Manuel Soubeyrand, der
dern verfolgten Alternativen (sozial, spirituell,
die neue Bühne Senftenberg als Landestheater
aktivistisch) steht er ablehnend gegenüber,
im Süden Brandenburgs neu positionierte
aber ob er deshalb ein Rechter wird, weiß
und ein technisch erneuertes Haus seinem
man bis zum Schluss nicht so richtig. Das ist
Nachfolger Daniel Ris übergibt. Bukowskis
überhaupt die Frage, wenn der Regisseur an
Stück ist ein für diese Ära inhaltlich vollkom-
einer Stelle die Tür zu einem brennenden Ku-
men passender Schlusspunkt. // Thomas Irmer
Oliver Bukowski gewann 2020 mit „Der Sohn“
Klux-Klan-Kreuz auf dem Hof öffnet: Muss
den LAUSITZEN-Stückewettbewerb (Abdruck
hier übertrieben werden, um Finn kenntlich
in TdZ 4/20), aber die Uraufführung kam
zu machen? Eher nicht. Finn ist die Frage der
coronabedingt erst zwei Jahre später auf die
Zukunft dieser Region in Gestalt, also auch
Bühne. Die Problemlage des auf diesen Teil
als berechtigte Gegnerschaft und provozie-
der Niederlausitz fokussierenden Stücks hat
rend pessimistische Figur. Wie auch alle Spie-
Mit bitterem Humor die Figuren gegenein ander zeigen: Leon Haller in der Uraufführung von „Der Sohn“ von Oliver Bukowski in der Regie von Mario Holetzeck.
sich freilich kaum geändert, was schon mit
ler einmal mit Elon-Musk-Masken auftreten.
Foto Steffen Rasche
dem Video-Schnipsel-Intro von Oliver Seidel leicht zu bemerken ist. Da gibt es glitzernde Seen und schwingende Adler, aber auch für die Kohle aufgebaggerte Landschaft – und mit späteren Motiven werden dazu abenteuerliche Investment-Pleiten wie die einst als Luftschiffwerft geplante Badehalle von Tropical Island und der als Rennstrecke kaum genutzte Lausitz-Ring ins Bild gerückt. Was wie die Parodie eines Imagefilms über blühende Landschaften aussieht, funk tioniert als Referenzrahmung für Bukowskis Familie Walter bestens. Der Vater Thomas ist ein entlassener Braunkohle-Bergmann, der nun, Mitte 50, als Kaufland-Security bei null wieder anfängt bzw. „als Null“, wie seine Frau Anja meint, die ihr persönliches Landschaftserblühen vor allem im Yoga sucht. Tochter Anja hat es mit der Rebellion von
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Magazin Zwischen Theatern und Museen Zu den Arbeiten von Walid Raad und einer Ausstellung in Mainz Die Zeit als Sinnverdichter Das Heiner-Müller-Programm der slowenischen Band Laibach Der Kommunikator zieht weiter Eine Bilanz von Manuel Bürgin am Theater Winkelwiese in Zürich Aufbruchstimmung Ein DramaShowcase des Centro Dramático Nacional in Madrid Entdeckungen, Ermutigungen Dem Regisseur und langjährigen Intendanten Christoph Schroth zum 85. Geburtstag
Kern des theatralischen Handelns Dem Theaterhistoriker und StanislawskijSpezialisten Dieter Hoffmeier zum 90. Bücher Rudi Nuss: Die Realität kommt; Peter Handke: Zwiegespräch
magazin
/ TdZ Mai 2022 /
Zwischen Theatern und Museen Zu den Arbeiten von Walid Raad und einer Ausstellung in Mainz Walid Raad ist ein vielseitiger Künstler, Per-
richte sind nicht zynisch, sondern wissend,
heimnisvoll beisammen, bis Raad sie durch
former, Filmemacher, Videogestalter, Zeich-
und er ist ein begnadeter Erzähler.
seine Interpretationen zum Leben erweckt.
ner, Fotograf, Moderator, Welterklärer. 1967
Die Atlas Group zielt darauf, die offizi-
Seine „Walkthroughs“ mit dem Publikum
im Libanon geboren, lebt er heute in New
elle Berichterstattung zum Bürgerkrieg mit
sind genau berechnet und so märchenhaft,
York, wo er an der renommierten Cooper Union
oral history zu unterwandern. „Ich komme
als hätte Sheherazade höchstselbst sie
lehrt. Seine Arbeiten wurden zur documen-
von der Fotografie her, nicht vom Theater“,
erfunden.
ta11 und dOCUMENTA (13) eingeladen. Er
betont Raad. „Meine Projekte beginnen im-
Wasserfälle fallen auf vier winzige Bun-
hatte zahlreiche Einzelausstellungen in aller
mer mit Bildern, nicht mit Geschichten. Die
deskanzler, die Heuschrecken von der histori-
Welt, die jüngste, „We Lived So Well Together“
Bilder habe ich selbst fotografiert, aber ich
schen Plage kleben auf den Rückseiten der
in der Kunsthalle Mainz (noch bis 15. Mai).
behandle sie so, als ob ich sie irgendwo ge-
Bilder, und die verschwundenen İznik-Deko
Was seine Arbeiten so besonders macht,
funden hätte. Und dann frage ich mich, wo-
rationen aus dem Osmanischen Reich erste-
und ihn zum Magier, ist die Vermischung von
her sie kommen, was sie aussagen. Also be-
hen durch die Führungen wieder auf. Die je-
Realität und Fiktion, das Insistieren auf einer
ginne ich, ihre mögliche Geschichte zu
weiligen Geschichten sind amüsant und voller
Doppelbödigkeit in allen Dingen, Menschen
erfinden. Und mitten in der Performance sage
Widerhaken. Raad verwandelt diese „Walk
und Materien. Kunst ist für ihn nicht statisch,
ich plötzlich einen Satz, der es genau trifft,
throughs“ in eine intelligent verschrobene
sondern sie wächst oder zerfällt nach Belie-
und dann weiß ich: Das ist die Geschichte!
Rätsel-Performance.
ben. „Je länger man etwas ansieht, desto
Das ist der Satz, der mir gefehlt hat.“
Das ist Theater und Vermächtnis zu-
fremder schaut es zurück“ – der berühmte
Sein Gemisch aus Realität und Fiktion,
gleich – die Kunst kriegt Flügel, und wir
Satz könnte von ihm sein, lässt er doch das
Albträumen und Halbwahrheiten erinnert an
hechten hinterher. Und es ist eine Wohltat,
Sichtbare im Abgrund verschwinden und den
die smarten Kunstaktionen von Hans-Peter
einen Künstler zu erleben, der nicht im gera-
Abgrund im Rausch des Erzählens.
Litscher, bei denen man auch nie weiß, was
de angesagten Mode-Sprech die Welt erklärt,
1989 gründet Raad The Atlas Group,
echt und was erfunden ist. Nur sind diese
sondern sie erschnüffelt wie ein Hund auf
mit der er den libanesischen Bürgerkrieg mit
„Litscheriaden“ kleiner und feiner gestrickt.
Spurensuche im Wald.
allen Folgen und Verstrickungen dokumentiert.
Walid Raad hingegen mag es gern groß, ver-
„Ich muss meine Auftritte an die je
Hunderte, wenn nicht Tausende von Dokumen-
mischt Politik, Ästhetik, Literatur und Ver-
weiligen Begebenheiten anpassen“, sagt er.
ten, Briefen, Aussagen und Forschungen bil-
drossenheit zu einem Riesenpuzzle aus Ver-
Es muss Raum geben für das Politische, „das
den einen Ring des Grauens und gleichzeitig
mutung und Behauptung.
Formale, das Faktische, das Hysterische, das
der Durchhaltekraft. Und einige der Geschich-
Vieles an seinen Arbeiten wirkt myste-
Intellektuelle, das Ästhetische, und ich glau-
ten sind so absurd, dass man sie schier nicht
riös, das soll es wohl auch. Das Gründungs-
be, dass ich sie allesamt bedienen kann. Es
glauben mag (nicht glauben soll?). Aber dann
jahr der Atlas Group wird mal mit 1989, mal
hängt immer von den Umständen ab. Wenn
wird einem klar, dass es vielleicht gerade die
mit 1999 angegeben. Wenn man ihn googelt,
ich im Libanon auftrete, dann halte ich mich
Absurdität ist, die sie wahr macht.
kriegt man häufig Rad-Touren angeboten –
an das Ästhetische, denn die Fakten kennen
Die Green Line, die Beirut zerteilte,
dabei bedeutet sein Name Raad soviel wie
sie ja selbst. Dabei fällt mir ein – wer war es
wurde weltberühmt, und Anfang der 80er Jah-
Donner. Er lässt sich nicht festlegen auf Stile
– ich glaube, es war Godard, der gesagt hat:
re gab sich ein heruntergekommener, aber
und Methoden, spielt in Theatern wie in
Die Palästinenser kriegen die Geschichten,
sehr angesagter Club auf der New Yorker
Museen und weiß die unterschiedlichen Kon-
die Israelis kriegen die Poesie …“ //
Bowery den Namen „Downtown Beirut“. Das
notationen sehr wohl zu nutzen. Das lang
könnte glatt ein Gag von Walid Raad sein, der
jährige Projekt „Les Louvres and/or Kicking
nicht müde wird, die schnittigen Sportwagen
the Dead“ entstand als Antwort auf den zwei-
aufzuzählen, die Tag für Tag zerbombt wurden,
ten Louvre in Abu Dhabi 2008 und wurde in
und über die Motoren zu sprechen, die durch
vielen Museen Europas gezeigt. „I Long To
die Explosion hinausgeschleudert werden und
Meet The Masses Once Again“ kam 2020 in
draußen liegenbleiben, bis sie jemand zwecks
Köln heraus, und die jüngste Arbeit in Mainz
Weiterverwertung aufräumt. S eine Kriegsbe-
lässt sich mit ihren Sorgen und Entdeckerfreuden als permanente Kunstreise verstehen.
Walid Raads aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle Mainz: „We Lived So Well Together“. Foto Norbert Miguletz
In drei geräumigen Sälen des Museums stehen Skulpturen und Fotografien von majes tätischen Wasserfällen auffordernd und ge-
Renate Klett
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De- und Rekontextualisierungsstrategien. In „Wir sind das Volk“ kehrt das Heiner-MüllerProgramm von Laibach ans HAU zurück, hier: Agnes Mann. Foto Sašo Podgoršek der Zeit. „Wir wollen weder diesen Krieg ‚ausnutzen‘ noch irgendeinen Profit daraus ziehen“, sagt Novak und verweist auf ein anderes, mittlerweile ebenfalls furchtbar aktuell aufgeladenes acht Jahre altes Stück von i hnen. Im Video „Iron Sky – The Coming Race“ (www.youtube.com/watch?v=OSHaVHHhfI) ist ein Wladimir Putin am Kartentisch zu sehen, der Land um Land dem Territorium Russlands hinzufügt und dazu ein spektakuläres Tanzsolo, eine Hybride aus Ballett und Kosakentanz, auf die Bretter legt. „Es ist für uns jetzt
Die Zeit als Sinnverdichter
schwer genug, dass wir das bereits 2014 vorausgesehen haben“, meint Novak. Auch „Wir sind das Volk“ wird zu einem seherischen Abend. Allerdings in vielerlei Richtungen. Der ewig ausgestreckte Arm eines
Das Heiner-Müller-Programm der slowenischen Band Laibach
Kindes im Grimm’schen Märchen erinnert an rechtsextremistisches Gedankengut in diesem Land, das durch den Ukraine-Krieg ja nicht einfach verschwunden, sondern bestenfalls
Die in der beginnenden Pandemie halb verges-
HAU-Publikum noch hübsches Gelächter
überdeckt, aber wohl eher anders amalgamiert
sene Produktion „Wir sind das Volk“ von der
aus; in Unkenntnis des Müller’schen Kontex-
ist. Die neuen Rüstungsmilliarden vom „Ba
Band Laibach mit Texten von Heiner Müller
tes mochte man sich da noch Zwerchfell be-
zooka“-Kanzler Olaf Scholz jagen unter dem
wird urplötzlich zum aktuellen Stück zur Lage.
bend von jedem Deutschsein-Wollen distan-
Fliegerhimmel einen Schauer nach dem ande-
Gesagtes, Geschriebenes und auch Gesun
zieren. Müller entnahm den Satz ursprünglich
ren über den Rücken. Die auf Stahlfässer her-
genes ändern sich, wenn die Kontexte sich
dem Tagebuch eines jüdischen Jungen, der
abkrachenden Trommelstöcke erzeugen nicht
ändern. Diese Erfahrung durfte man beim
im Warschauer Ghetto umkam. Knapp 80
nur den alten Sound der Industrialisierung; sie
musikalisch-theatralen Industrial-Event „Wir
Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zwei
tragen in sich auch die Wucht von Militär
sind das Volk“ machen, den die slowenische
Jahre nach der Uraufführung von „Wir sind
märschen. Das war einst der Sound von Macht
Konzept-Band Laibach mit sehr deutschen
das Volk“ und wenige Wochen nach Beginn
und Stärke – und vom Bewusstsein, mit vor
Texten von den Gebrüdern Grimm über Adolf
des russischen Überfalls auf die Ukraine er-
Stolz geweiteter Brust auf der richtigen Seite
Hitler bis Heiner Müller im Berliner HAU ver-
reicht der Satz nun neue Bedeutungshorizon-
zu stehen. An diese illusionierenden Zustände
anstaltete. Das war nicht ganz unerwartet, weil
te. Die Deutschen sind plötzlich die Guten,
knüpft Laibach musikalisch dekonstruierend
mit Laibach und Müller nicht nur De- und
die nicht irgendwo einmarschieren, sondern
an. Müllers Texte erzählen den Krieg dann vom
Rekontextualisierungsstrategen aufeinander-
ganz im Gegenteil Opfern helfen. Und wenn
Ende her, von der Zerstörung und Verstörung
trafen. Auch die per Tondokument eingespielte
Cveto Kobal dann auch noch das ursprünglich
aus, vom Vertriebensein, vom Fremdsein des
nationalsozialistische Rhetorik ist mit seinen
von Hans Albers vorgetragene „Fliegerlied“
Einzelnen.
antikapitalistischen Momenten sehr schil-
anstimmt, das einst Tausende blonde Bur-
„Wir sind ein Volk“, entstanden auf In-
lernd. Und Grimm’sche Märchen sind per se
schen von der Flieger-HJ begeistert in die NS-
itiative von Anja Quickert von der Internatio-
deutungsoffen in ganz viele Richtungen.
Luftwaffe trieb, dann sind die Flugrouten, die
nalen Heiner Müller Gesellschaft, ist ein stör-
die Videoprojektion an den Himmel des
rischer Abend. Er bewegt sich zwischen den
sierung erwies sich dann doch das Müller-
altehrwürdigen Hebbel-Theaters wirft, nicht
Genres, ist mehr installatives Konzert denn
Zitat „Ich will ein Deutscher sein“. Es wurde
mehr Metapher für deutsche Bomberrouten.
Musical. Das Statische auf der Bühne lässt
von Cveto Kobal, unterstützt von einem Strei-
Nein, jetzt scheinen es russische Bomber, die
aber auch den Geist frei wandern. Und viel-
cherquartett und den Perkussionsperformern
am Himmel Linien ziehen. Und im Dunkel
leicht ist es genau richtig, dass fast vier Jahr-
von The Stroj, in der Manier eines Schlager-
des Zuschauerraums in Berlin fühlt man sich
zehnte nach der ersten Begegnung zwischen
barden vorgetragen. Bei der ersten Auffüh-
beklemmend nah an Kiews Bombenkellern.
Müller und der Band erst jetzt dieses Werk
Aber als Glanzstück der Rekontextuali-
rungsserie im fernen Jahr 2020 löste der in
Die Künstler haben die Szene von
Dauerschleife gesungene Satz beim Ironie-
2020 zu jetzt nicht verändert, versichert Lai-
seligen und postdramatisch konditionierten
bach-Mitglied Ivan Novak gegenüber Theater
zustande kommt. Im März 2022 kam auch der dazugehörige Tonträger auf den Markt. // Tom Mustroph
magazin
/ TdZ Mai 2022 /
Der Kommunikator zieht weiter Eine Bilanz von Manuel Bürgin am Theater Winkelwiese in Zürich Foto Andreas Lehner
Manuel Bürgin ist ein Kommunikator. Er sagt, was er denkt, und wenn er erzählt, dann plastisch und konkret. Den Satz, der seine siebenjährige Intendanz (2015–22) am besten zusammenfasst, sagt er gleich zu Beginn unseres Gesprächs: „Es hat sich gelohnt, sich
Dies zeigt sich vielleicht am stärksten in seinem Umgang mit der hausinternen FörderPlattform, dem DRAMENPROZESSOR. Jeweils vier Autor:innen erarbeiten während einer Spielzeit zusammen mit Theaterschaffenden ein neues Stück. Die Dramaturgin
nicht einzuschränken.“ Es stimmt: Bürgin
Ann-Marie Arioli und der Autor Andreas
hat im Kellergewölbe der altehrwürdigen Villa
Sauter leiteten mit Bürgin drei Jahrgänge
Tobler auf Vielfalt gesetzt. Und es gab Leute,
dieser Werkstatt für szenisches Schreiben:
die ihn dafür kritisierten. Sein Vorgänger
mit großem Erfolg. Im Jahrgang 2016/17
Stephan Roppel hatte das Profil des Hauses
schrieb Julia Haenni ihr Stück „Frau im
zweifellos geschärft und mit einem beinahe
Wald“, die Uraufführungsinszenierung war
protestantischen Sola-scriptura-Purismus fast
eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt.
ausschließlich auf Gegenwartsdramatik ge-
Maria Ursprung schrieb 2018/19 ihr Stück
setzt. Bürgin und sein Team fanden: Es füh-
„Schleifpunkt“ und war damit (während der Pandemie) zu den Autorentheatertagen in
ren viele Wege zu einem gelungenen Theater abend. Man kann sich den scheidenden
Höhepunkt der Fluchtbewegung aus den
Berlin eingeladen. Dies hat sich im Jahrgang
künstlerischen Leiter der Winkelwiese darum
Kriegsgebieten in Syrien nahm die Winkel
2020/21 wiederholt: Alexander Stutz’ Stück
als Botaniker vorstellen, der vor Monokultu-
wiese an einem Aufführungsmarathon von
„Das Augenlid ist ein Muskel“ kommt im Juni
ren warnt – und mir scheint: zu Recht.
Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“
2022 als Produktion des DT in Berlin zur
Man glaubt Bürgin, wenn er sagt, dass
teil, bei dem insgesamt fünf Theaterhäuser
Uraufführung. Aus der Rückschau meint er:
er sein Theater als Ort mag: „Alles ist kom-
der Stadt mitmachten: Neben dem Schau-
„Wir sind den Autor:innen stets auf Augen
pakt, alles ist nah. Ein Handgriff, und man hat
spielhaus, der Gessnerallee, dem Theater
höhe begegnet. Für uns waren das immer
eine Leiter. Gleich daneben steht das Licht-
Neumarkt und dem Fabriktheater zeigte man
künstlerische Partner.“ Dass dies keine Flos-
pult. Und in zehn Schritten ist man drüben im
in der Winkelwiese das vielstimmige, viel-
kel ist, zeigt sich darin, dass Bürgin ab kom-
Büro.“ Es ist diese Nähe, die seiner Art des
sprachige „Die, should sea be fallen in“ von
mendem Sommer mit Julia Haenni und Maria
Arbeitens entspricht. Bürgin ist ein Teamplay-
Ivna Žic und Peter Waterhouse.
Ursprung neu das Theater Marie leiten wird.
er, er denkt in der Gruppe, und die kurzen
Manuel Bürgin schielt nicht zu sehr
Dem neuen Team wird sich die Autorin
Wege, die Unmittelbarkeit, das liegt ihm. Aber
auf Erfolg. Am Scheideweg zwischen „Her-
Mar tina Clavadetscher und Andrea Brunner
er mochte und mag auch den Bühnenraum:
zensprojekt“ und „Schlauheit“ sind er und
anschließen, die zusammen mit Manuel
„Der Bogen, unter dem das Publikum sitzt, ist
sein Team mehr als ein Mal in Richtung „Her-
Bürgin für Geschäftsführung des Theater
derselbe Bogen, unter dem auch die Schau
zensprojekt“ abgebogen. Er konnte nicht
Winkelwiese zuständig war.
spieler:innen spielen. Diese Nähe gibt der
wissen, ob sein Publikum seine Passion für
Die Zeit als Gastgeber im Theater
Raum vor.“ Gleich in der Eröffnungsproduktion
Hörspiele teilen würde, und initiierte das For-
Winkelwiese hat Bürgin genossen. In Zukunft
hat er auf diese Gegebenheiten reagiert: Méla-
mat „Zu Ohren kommen“. In der Reihe wur-
wolle er aber wieder mehr Kunst machen, und
nie Huber inszenierte Stephan Teuwissens
den dem Publikum neue Produktionen des
diese nicht bloß verwalten. Mehr Regie will er
Auftragswerk „So fängt es an“. In dem Stück
Schweizer Radios SRF in Anwesenheit der
führen, und mehr spielen will er auch. Er freue
spielte Bürgin – ausgebildeter Schauspieler –
Künstler:nnen vorgestellt. Waren klingende
sich auf längere Probezeiten am Theater Marie,
neben Ingo Ospelt gleich selbst mit. Der
Namen (Katja Brunner, Thom Luz) mit diesen
eine größere Konzentration „mit mehr Tiefgang“.
Abend kreiste um die Frage, was da vor sich
Abenden verbunden, waren die Plätze gut be-
Man darf auf diese Arbeiten gespannt sein,
geht, wenn einer als Ankömmling in ein Haus
setzt, bei weniger bekannten Künstler:innen
denn wenn sie nicht bloß fantasievoll und ver-
einzieht, wo aber schon jemand lebt. Mit die-
hat das Format sein Publikum nicht gefun-
spielt sind, sondern zudem eine Schärfe
sem Einstand, der um Aneignung und Nähe
den. „Ich bin stolz darauf, dass wir es den-
wagen, die auch mal weh tut – wie Bürgins
kreiste, setzte Bürgin ein Zeichen, dass
noch gewagt haben“, sagt Bürgin. Auch sonst
vielleicht bislang dichteste, konzentrierteste
Theater etwas mit dem Ort zu tun haben
hat man das Gefühl, dass er die Zeit seiner
Arbeit: seine Inszenierung von Wyrypajews
sollte, an dem es gespielt wird.
Intendanz als gemeinsame Suche verstanden
„Sonnen linie“ im Jahr 2018 –, dann sollte
Der neue Leiter wirkte nicht nur nach
hat, und nicht als die Umsetzung vermeint-
man sich das nicht entgehen lassen. //
innen als Kommunikator – auch nach außen
lich sicherer Rezepte oder das Befolgen star-
hin war er ein Netzwerker: Kurz nach dem
rer Dogmen.
Dominik Busch
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Aufbruchstimmung Ein Drama-Showcase des Centro Dramático Nacional in Madrid Das Ensemble von „Supernormales“ von Esther F. Carrodeguas, in der Regie von Iñaki Rikarte am Centro Dramático National in Madrid. Foto Luz Soria
Spanien ist dieses Jahr Gastland der Frank-
Tabu. Esther F. Carrodeguas (geb. 1979) war
furter Buchmesse. Was das Theater und ins-
eine der ersten Stipendiat:innen und schrieb
besondere die zeitgenössische spanische Dra-
für das CDN das Stück „Supernormales“.
matik angeht, ist die Kenntnis hier relativ
Eine flotte Szenenfolge über einen jungen
gering. Aber das könnte sich nun ändern. Der
Mann, den eine Sexassistentin besucht, da er
Heidelberger Stückemarkt (siehe S. 80) hat
offenbar einen therapeutischen Anspruch gel-
Rolle von Mutterschaft und damit verbunde-
gleichfalls Spanien zu Gast, und das Centro
tend machen kann. Oder ist es doch eher ein
nen neuen Familien-Modellen. Soziologisch
Dramático Nacional (CDN), eine Art refor-
Grundrecht der Gleichberechtigung, für das
gesprochen: Reproduktion als soziales Prob-
miertes Nationaltheater mit zwei Bühnen im
seine Mutter im Hintergrund eintritt? Carro-
lem, bis hin zu dem rechtlichen Status von
Zentrum der Hauptstadt, bemüht sich um
deguas führt diese Ausgangsfrage in ein brei-
Migrantinnen mit Kindern und Trans-Vätern.
eine systematische Förderung von jungen Au-
teres Feld des Umgangs mit Behinderungen
Beeindruckend an diesem Dokumentarthea-
toren. Dazu gehören seit 2020 Residenzen
bis hin zu den Folgen im Privatleben solcher
ter ist vor allem, wie die einzelnen Geschich-
mit Workshop-Entwicklungen und in der
Assistentinnen. Ein mutiges Stück mit der
ten vorgetragen werden und sich nach und
jüngsten Ausgabe der eigenen Zeitschrift
Extra-Überraschung, dass es auch noch wit-
nach miteinander verbinden in einem Büh-
Dramática eine Bestandsaufnahme zur neuen
zig ist. Inszeniert hat es der CDN-Schauspie-
nenbild, das wie die Bar einer Hotellobby
Dramatik mit einer katalogartigen Darstellung
ler Iñaki Rikarte mit einer gemischten Beset-
aussieht und neben dem großen Ensemble-
von beachtlichen „75 Dramatiker:innen für
zung aus behinderten und nichtbehinderten
auftritt auch die intimeren Momente der je-
das 21. Jahrhundert“. Ihr Herausgeber, der
Schauspielern und Laien in deren verblüffen-
weiligen Person ermöglicht. Eine Berliner
CDN-Produzent Fernando Sánchez-Cabena-
dem Zusammenspiel. Die bejubelten Vorstel-
Version wird derzeit am Maxim Gorki Theater
do, schätzt den Moment als äußerst günstig
lungen werden stets auch von Behinderten-
für September 2022 vorbereitet.
für neue Autoren im Theater ein, wie auch die
Gruppen besucht, die aus der ersten Reihe
Die Aufbruchsstimmung, mit der sich
stellvertretende Direktorin Fefa Noia, die sich
ihre Begeisterung dafür kundtun, dass ihr
eine Reihe von Jungdramatiker:innen in kur-
für die Fortführung der Autorenresidenzen
Leben einmal so behandelt wird. „Supernor-
zen, meist selbstironischen Statements bei
stark macht. Es gibt Themen, die brennen,
males“ ist ein Hit, der für das noch junge
einem Treffen im modernen Teatro Valle-Inc-
wie die langen Schatten der Franco-Diktatur,
Phänomen der systematisch betriebenen
lán des CDN vorstellten, erinnerte ein biss-
die nun fast fünfzig Jahre nach deren Ende
Autorenförderung im spanischen Theater
chen an den Beginn der Welle der neuen Stü-
vor allem in Familiengeschichten aufgearbei-
noch viel bedeuten könnte.
cke vor rund 25 Jahren, die in die Spielpläne
tet werden. Auch die kulturellen Autonomie-
Die zweite Inszenierung von Gewicht in
der Theater vieler Länder kamen. Damals war
bestrebungen der einzelnen Regionen des
diesem Showcase war „Lengua madre“ (Mut-
es nur dem katalanischen Autor Sergi Belbel
Landes sind ein Thema und selbstverständ-
tersprache) von der auch in Deutschland
vergönnt, für das europäische Theater ent-
lich der Blick auf neue soziale Phänomene.
nicht unbekannten Argentinierin Lola Arias
deckt zu werden. Vielleicht kommt jetzt mehr
Dass Behinderte ihre Sexualität leben
(geb. 1976). Das mit den eigenen biogra
aus Spanien. //
wollen und ihnen dabei vielleicht geholfen
fischen Geschichten gecastete Ensemble
werden müsste, ist auch in Spanien fast ein
stellt Fragen nach der sich verändernden
Thomas Irmer
magazin
/ TdZ Mai 2022 /
Entdeckungen, Ermutigungen Dem Regisseur und langjährigen Intendanten Christoph Schroth zum 85. Geburtstag Am Schweriner Theater war Kunst eine Re
Verlogenheit zu bejahen, ohne ein schlechtes
in dem ganz anderes wachsen konnte – weil
publikflucht: in die Welt. Fünfzehn Jahre
Gewissen zu bekommen. Politik mitzutragen,
es langsam wachsen durfte: Vertrauen, Ge-
lang, von 1974 an, hat Intendant und Regis-
birgt immer Lüge in sich, man nimmt Scha-
meinsinn, Ensemble also. Und Ideen, die
seur Christoph Schroth im Norden des Ostens
den. Weil man irgendwann vorbeigeht am
mehr waren als Quotenjäger für die Funk
auf eine besondere Weise Theater gezaubert,
Widerspruch“. Es folgen Schwerin, die Berli-
tionäre der Effizienz. Und eine einprägsame
gearbeitet, gewuchtet. Der „Faust“ etwa.
ner Volksbühne, eine Gastinszenierung am
Schauspieler-Kontur,
Goethe als freches Gleichnis, als ein böser
Burgtheater Wien. Es war eine Zeit (die DDR
wie vorher in Schwerin: Lore Tappe, Wolf-
wie belebender Blick auf die brüchige,
sank schon ins Abendlicht), da wäre der
Dieter Lingk, Barbara Bachmann, Kai Börner,
in
Cottbus
ebenso
Susann Thiede, Thomas Harms,
wart. Schroths Theater erteil-
Stephanie Schönfeld, Sigrun
te
bearbeitbare allen
Foto Marlies Kross
Gegen-
also
Zeitungsausrufe
zeichen ein Hausverbot. Das Publikum strömte und drängte. Die scheinbare Provinz als Zentrum.
Schroth
betrieb
Fischer. (siehe auch TdZ 3/22) Schroth rückte Cottbus ins überregionale Licht. Hielt auch dem Spektakel die Treue, das in Schwerin „Entdeckun-
Volkstheater. Ohne Ruch des
gen“ hieß, im Brandenburgi-
Herabkömmlichen. Aber auch
schen „Zonenrandermutigung“.
ohne jene Verklärung der Kö-
Dramatiker wie Lothar Trolle,
chin zur Staatenlenkerin.
Thomas Brasch, Georg Seidel verdankten ihm Öffentlichkeit.
Im Mai 1937 in Dresstudierte
Gegenwart verwechselte er nie
Schroth Journalistik, entrann
mit Aktualität. Und da war
aber ahnend dem zukünf
auch wieder ein „Faust“. Eine
tigen Beruf: Er wurde Assis-
Cottbuser Inszenierung, die auf
tent am Gorki-Theater, ging
dem Teppich blieb – was hier
1966 nach Halle, wo die
aber das Gegenteil des Gemä-
berühmte Inszenierung „Zeit-
ßigten, Unspektakulären war:
genossen“ (von Stolper/Gab-
Auf dem Teppich kniete Gret-
rilowitsch/Raisman) entstand,
chen. Gen Mekka gerichtet.
mit Kurt Böwe und Martin
„Meine Ruh ist hin.“ Gretchen
Trettau. Ein Bühnen-Best
als streng und weiß Verschlei-
seller ganz aus Glut für die
erte. Die Liebe aber schafft es,
sozialistische
Arbeitsethik.
dass die Muslimin den Gebets-
Halle damals: das in der DDR
teppich mit den Füßen, aufge-
den
geboren,
weltberühmte Zeitgenossen-
regt und erwartungsvoll, weg-
Theater. Ursula Werner, Gerd Grasse, Wolf-
Name Schroth vielleicht eine Aussicht aufs
stoßen wird. Mit Faust gemeinsam löst sie
gang Winkler, Jürgen Reuter, Marie Anne Flie-
reformbedürftige Berliner Ensemble gewesen.
das Schleiertuch. Die Haare Gretchens fallen,
gel, Roman Silberstein. Sie trugen gern
Nur kurz währt das Experiment des Oberspiel-
sie fallen ihr auf die Schultern, als breche ein
Lederjacke: der stämmige Böwe, der klug
leiters. Es fehlt Kulturpolitikern (und Riva-
Damm: eine große dunkle Welle Schönheit.
lenkende Schönemann, der literarische Dra-
len!) der Mut. Der Regisseur geht nach Cott-
maturg Stolper, der drängend-kämpferische
bus, „dorthin, wo ich gewollt werde“.
Christoph Schroth steht für ein Theater, in dem sich ein großes Menschenzutrauen
Schroth. Sie gehörten zusammen, und Ger-
Ein Lausitzer Intendant von 1992 bis
auslebt. Aber in dieses Theater ist auch das
hard Wolfram war ein fühlsamer Intendant.
2003. Schroth als einer der letzten Langzeit-
Wissen eingewebt um das, was uns fremdsteu-
Aber just Schroth steht für den Riss.
Leiter deutscher Bühnen. Theater als Basis
ert, was uns festnagelt, was unseren Traum
Es dauert nämlich nicht lange, da ist er
lager der „unberuhigten vernunft“ (Volker
vom Eigentlichen immer wieder gefährdet.
arg bedient von einer Gegenwartsdramatik,
Braun). Gegen die allgemeine Praxis, die na-
Und was uns leider dazu treibt, unser klopfen-
„die stets mit dem richtigen, leicht hingewor-
hezu panischen Wachstums- und Wechsel
des, unwägbares Unbewusstes zu leugnen und
fenen Wort“ liebedienerisch zur Stelle war,
hypes nach dem Ende der DDR, setzte er die
zu züchtigen. //
und „mit der es einem leicht gemacht wurde,
produktive Schonung durch ein Arbeitsklima,
Hans-Dieter Schütt
/ 71 /
magazin
/ TdZ Mai 2022 /
Kern des theatralischen Handelns Dem Theaterhistoriker und Stanislawskij-Spezialisten Dieter Hoffmeier zum 90. Mit der kühlen Mitteilung, Brecht habe be-
Foto privat
/ 72 /
reits 1953 gefordert, die Lehren und Methoden Stanislawskijs in ihrem historischen
Statt forschend zu arbeiten, litt er darunter, ausgleichend-vermittelnd
administrieren
zu
müssen. Erst 1988 konnte er die zweibän
Entstehen, ihrer inneren Widersprüchlich-
digen „Ausgewählten Schriften“ von Stanis-
keit kennenzulernen, begann Dieter Hoff-
lawskij, von ihm teilübersetzt, umfänglich
meier, Dozent für Deutsche Theaterge-
kommentiert herausgeben und die verworrene
schichte an der Leipziger Theaterhochschule
Terminologie Stanislawskijs in eine einleuch-
im Jahre 1967 als erster deutscher Theater-
tende deutsche Begrifflichkeit übertragen
historiker seine jahrzehntelange Expedition
Jetzt waren die notwendigen Grundlagen ge-
durch das sprachlich und terminologisch
schaffen, um 1993 die erste deutsche Stanis-
ganz eigenwillige Dickicht der Schriften und
lawskij-Monografie herauszubringen.
Inszenierungen Konstantin S. Stanislawskijs.
Hoffmeier fand nun zwar die erforder
Hoffmeier beschrieb sein Unternehmen,
liche Muße, wie immer arbeitete er direkt aus
Stanislawskij neu, sprich historisch, entge-
den russischen Originalen, um auch die Insze
gen der normativ kulturpolitisch festgezurr-
nierungen des großen Gegenspielers Meyer-
ten Lesart zu lesen:
hold („Meyerhold inszeniert – Eine Übersicht
„Wenn man seine Ansichten undogma-
über Etappen und Varianten seiner Regie tätigkeit“) und die Regieästhetik Eisensteins
tisch, d. h. in ihrer historischen Entwicklung und nicht in äußerlich zurechtgestutzter Syste-
Großartige Theoriegebäude lagen ihm fern, er
(„Warum Eisenstein? – Einblicke in einige
matik auffassen will, muss man alle Bemühun-
wollte zum Kern des theatralischen Handelns,
seiner
gen erwähnen, bei denen er seine Grundansich-
den Bedingtheiten und Möglichkeiten des
ten“) ingeniös nachzuzeichnen, aber Verlage
ten erneut an der Wirklichkeit der Gesellschaft
schauspielerischen Prozesses vordringen, ihn in
fand er dafür nicht mehr. Die Erfahrungen
und des Theaters zu überprüfen versuchte,
seiner historischen Entwicklung beschreiben, in
des intensiven deutsch-russischen Theater
selbst wenn ihm das nicht völlig glückte. … Erst
seinen internen Kämpfen verstehen und,
dialogs, begonnen mit den sagenhaften Gast-
auf solcher Materialgrundlage kann später über-
Pädagoge, der er war, so zu einem besseren Ver-
spielreisen des Meininger Hoftheaters (auch
haupt untersucht werden, welche Anwendungs-
ständnis des Schauspielerischen in der Theater-
das ein nicht zufälliger Forschungsgegen-
möglichkeiten sich in unserer heutigen Theater-
Ausbildung beitragen. Das führte ihn 1974
stand Hoffmeiers) nach Moskau, St. Peters-
praxis für Stanislawskijs Lehren und Methoden
geradewegs an eine Schnittstelle von Theorie
burg, Kiew und Odessa 1890, mit Richard
ergeben … und worin sie unter weiterentwickel-
und Praxis, an das ursprünglich als theatrali-
Vallentins legendärer Berliner „Nachtasyl“-
ten geschichtlichen Bedingungen zwangsläufig
sches Labor konzipierte Institut für Schauspiel-
Aufführung 1903 und dem kurz darauf fol-
unzulänglich bleiben.“
regie Berlin (Ost). Das Institut verfiel schnell in
genden triumphalen Gastspiel der Stanis-
Um diese Ziele zu erreichen, war der
einen unheilvollen Dualismus von theoreti-
lawskij-Truppe in Berlin 1906, dann mehrfach
Ausbruch der Theaterwissenschaft, westlich
schem Anspruch und praktischen Ausbildungs-
schmerzhaft unterbrochen und doch immer
aus den geistesgeschichtlichen Traditionen und
zwängen, aber am Institut war es – wie nirgend
wieder aufgenommen, begannen jetzt zu ver-
östlich aus dem parteiideologischen Gehege,
sonst im Lande – möglich, ohne fremde Ein-
wittern.
unumgänglich. Sie musste sich erst zur Wissen-
sprache und Vorschrift zu forschen und zu leh-
schwemmten theatergeschichtliches Wissen
schaft emanzipieren, was ihr erstaunlicherweise
ren. Marxismus methodisch zu erproben und
hinweg. Doch die schauspielmethodischen
zeitgleich und beidseits mittels des Rückgriffs
nicht ideologisch nachzuplappern, war hier ge-
und -ästhetischen Verfahren und Erkenntnis-
auf sozialpsychologische Erklärungsmuster des
fordert. Aber ihm selbst war das weniger als
se Stanislawskijs – auch seine Irrlehren,
theatralischen Handelns gelang. Die reform-
seinen Mitarbeitern vergönnt, kostete ihn doch
selbst seine Abwegigkeiten – sind, oftmals
freudige westdeutsche Theaterwissenschaft ori-
das nur widerwillig übernommene Direktorat
unerkannt und verborgen wirkend, vordring-
entierte sich an Meads „symbolischer Interakti-
von 1977 bis 1987 und die damit verbundenen
lich in der Schauspielpädagogik durchaus
on“ und die östliche an dem Marx’schen
lächerlichen Hahnenkämpfe zwischen den
virulent. Die russische Theatergeschichte ist
Praxisbegriff und einer marxistisch adaptierten
Regielehrern und mit dem machtbesessenen
Teil der europäischen Theatergeschichte und
Sozialrollentheorie. Arno Paul sprach von der
Rektor Hans-Peter Minetti der Ernst-Busch-
die deutsche Theatergeschichte schwerlich
„Theaterwissenschaft als Lehre vom theatra
Hochschule, in die das Institut schließlich bra-
ohne die Anregungen aus dem Osten vorstell-
lischen Handeln“, Dieter Hoffmeier beschei
chial 1981 eingegliedert wurde, Kraft für die
bar. Dieter Hoffmeiers wissenschaftliche Ar-
dener im theoretischen Anspruch über „Das
wissenschaftliche Arbeit und Zeit für Seminare
beit spricht davon und ist deshalb aktuell. //
Handeln des Schauspielers auf der Bühne“.
und Vorlesungen.
inszenierungsmethodischen
Die
wechselnden
Schrif-
Modernitäten
Thomas Wieck
© Nathan Ishar
02. Juni – 06. Juni
2022
KÖLN circus-dance-festival.de Gefördert von TANZPAKT Stadt-Land-Bund aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Kulturamt
/ 74 /
magazin
/ TdZ Mai 2022 /
Kritik aus Enttäuschung
Bücher
Peter Handkes neuestes Buch wird mit Si-
Die Realität ist glitchig
cherheit bald auch die Bühnen erreichen. Denn das „Zwiegespräch“, ohne Gattungszu-
IS THIS REAL? steht auf einer leeren Plakatwand und stellt damit gleich eine programmatische Frage des Romans. Was ist real, wenn mehrere Schichten aus (virtuellen) Realitäten übereinander lagern? Die Realität glitcht, sie verschwimmt, sie entzieht sich.
Rudi Nuss: Die Realität kommt DIAPHANES, Zürich 2022, 248 Seiten, 22,50 Euro
weisung des Autors, ist zwei großen Schauspielern gewidmet, beide in den letzten Jahren verstorben und unsterblich als die Engel über Berlin in Wim Wenders’ Film, für den Handke das Drehbuch schrieb: Bruno Ganz und Otto Sander. So wird man sich die beiden beim Lesen des Dialogs vielleicht in Erinne-
Zunächst einmal ist die Realität in Rudi Nuss’ Debütroman vor allem eins: löch-
Internet aufgewachsen ist, einen Roman
rig. Überall Wurmlöcher in der Welt, überall
übers Internet geschrieben. Vielmehr aber: Er
„Genug jetzt ins Leere geschaut“ lau-
Übergänge von der einen virtuellen Welt in
hat einen Roman in der Logik des Internets
tet der erste Satz, der auch einen Beckett-
eine andere, und als wäre das nicht genug,
geschrieben. Eine Welt, in der alles gleich
Dialog in Gang setzen könnte. Es gibt eigent-
malt der Mitbewohner Wolfgang Bilder mit
zeitig vorhanden ist, ist eine Welt, in der die
lich nichts direkt zu besprechen, sondern
Schwarzen Löchern in der Landschaft und
eigene Verortung unklar wird.
eher als eine Möglichkeit des Erzählens zu
rung rufen, aber es können auch andere sein.
hat Löcher in der Unterhose. Währenddessen
Mit großer Melancholie und der großen
umkreisen oder als Spiel aufzumachen. So
lassen immer mehr Menschen sich und ihr
Geschwindigkeit mehrerer gleichzeitig geöff-
erinnert sich der eine an seinen Großvater als
Bewusstsein in Löchern versenken, in Pools.
neter Tabs erzählt Rudi Nuss davon, wie sich
„eine Spielernatur“, um zu sinnieren: „Das
In einer dystopischen Welt am Rande
die Realität an ihren Rändern anfühlt. Dabei
Idealisieren der Ahnen ist Teil der Materie“.
verschiedener Schichten einer zerfallenden
bleibt er auch der Ästhetik des Internets ver-
Dass vieles von Handkes Werk sich wesent-
(virtuellen) Realität und am Rande eines Lan-
haftet: Es gibt keine Ziele mehr, aber sehr viel
lich aus seiner eigenen Familien-Mythologie
des, an einer Küste, lebt Conny mit dem
Zeit. Ein Roman, der zeigt, wie es sich an-
speist, darf hier mitgelesen werden. Bis zu-
schwulen Paar Nikita und Wolfgang auf ei-
fühlt, lange Zeit vor einem Bildschirm ver-
rück zu seinem ersten Roman „Die Hornis-
nem Schrottplatz, wo Nikita Drogen aus alten
bracht zu haben. Der Cyberspace ist soft,
sen“ (1966), der hier in loser Assoziation als
Computerteilen schmilzt. Herumliegen neben
kalt, plüschig und sehr einsam.
konkret bekämpftes Hornissennest in der
Kuscheltieren und alten Monitoren auch Pixel
Längst drängen sich Fragen nach dem
Geschichte des Großvaters erscheint. „Zwie-
und abgenutzte Systeme. Die Welt, in der
Eindringen der Logik des Internets ins Erzäh-
gespräch“ kann somit auch als spuren
Conny lebt, ist bevölkert vom Inhalt des Inter-
len und in die Dramaturgien auch am Thea-
suchende Rückblickspoesie gelesen werden,
nets: „Daten längst vergangener Userx, Mes-
ter. Dortmund ist dafür eins der frühen Bei-
für zwei Stimmen des einen Handke.
sages und Posts von wirren Sexts voller Typos
spiele, wo Kay Voges’ „Borderline Prozession“
Wer nun nach Äußerungen zu den Ereig-
und rassistisch[e] Shitposts und in Gewäs-
(2016) das Publikum bereits mit Gleichzei-
nissen unserer Gegenwart oder Bekundungen
sern gelöst[e] Discourse bis hin zu irrelevan-
tigkeit und dem Gebundensein an die eigene
zu den Diskussionen um den Nobelpreis für
ten, vergessenen Cartoonserien, Amateurporn
Perspektive herausforderte. Heute dringen
Handke in dem Buch sucht, wird darin kaum
zarter Otter und flauschiger Dykes“. Immer
digitale Erzählformate mit Virtual Reality
etwas finden. Das wäre auch die völlig falsche
wieder: der Ausflug in die Virtual Reality
mehr denn je in die Theater. Aus dem Team
Einstellung für eine Lektüre. Aber es gibt darin
Avalon. Die Welten zwischen den Welten
des Schauspiels Dortmund unter der Voges-
eine dezidierte Kritik des Gegenwartstheaters,
sind voller Informationen, Gestalten, Avatare,
Intendanz hat sich die Akademie für Theater
eine fundamentale Enttäuschung des Theater-
Mischwesen und Chipskrümel.
und Digitalität gebildet. //
autors, der über mehr als fünfzig Jahre, von der
Auf der Suche nach einer sowjetischen
Nathalie Eckstein
„Publikumsbeschimpfung“ bis zuletzt „Zdeněk
utopischen Virtual Reality verliebt Conny sich
Adamec“, das Theater mit seinen Stücken im-
in einen Riesenvogel, und Bewusstsein teilt
mer wieder bis heute produktiv herausgefordert
sich in Form von sieben Kojoten. Zwischen
hat: Das Theater habe „seinen Moment verlo-
den verschiedenen Schichten der Realität zu
ren“, englisch „he lost his momentum“, vergli-
switchen, wird für die Figuren zur Selbst
chen mit einem Bogenschützen, „der den Pfeil
verständlichkeit. Die Schichten aus Codes
entweder zu früh oder zu spät von der Bogen-
lagern übereinander und lassen das Gefühl
sehne schnellen läßt“. Da ist es auch kein Trost,
zurück, sich darin verlieren zu können.
dass es dem Film nicht anders ergeht, so die
Rudi Nuss, geboren 1994, gewann 2016 den Publikumspreis beim open mike, war 2019 für den WORTMELDUNGEN Förderpreis nominiert und erhielt 2020 das Stipendium des Berliner Senats. Er hat, als ein Autor der ersten Generation, die mit dem
Peter Handke: Zwiegespräch Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 68 Seiten, 18 Euro
zitierte Stimme. Am Ende geht es um „das Recht auf Ruhe“, zugleich im Sinne von Ruhe geben und Ruhe haben. Beides ersehnt, gibt es das nicht für diese beiden Stimmen Handkes. // Thomas Irmer
bücher
/ TdZ Mai 2022 /
Das Stadtlabor Place Internationale erkundet historische, aktuelle und kommende Aufstände und erprobt gemeinschaftliches Handeln. Künstler*innen, Aktivist*innen und Theoretiker*innen kommen zusammen, entwickeln Installationen, Performances und Diskursräume, machen die Stadt zur Bühne, laden zu Workshops, Exkursionen und Gesprächen ein und entwerfen gemeinschaftliche (Stadt-)Räume.
STA DT L A B O R
6.–28.MAI Forum Freies Theater
Konrad-Adenauer-Platz 1
40210 Düsseldorf
MIT Ayreen Anastas, Adania Shibli, Rene Gabri & Gästen | Claudia Bosse mit Kompliz*Innen | Alessi Dell’Umbria | Kathrin Ebmeier/Oval Office Bar | École des Actes | Emanzenexpress X Working Class Daughters & Tanja Abou | Ted Gaier | Gintersdorfer/Klaßen | Arno Gisinger | Moritz Hannemann | Hauke Heumann | Bouchra Khalili | Johanna-Yasirra Kluhs | Jan Lemitz | Mable Preach & Formation Now** | Elisabeth Neudörfl | Guillaume Paoli | Paradise—Park— | Planwerkstatt | Susanne Priebs, Christoph Schmidt und Studierenden der PBSA Düsseldorf | Lea Richter & Leonie Wendel | Klaus Ronneberger | Christoph Schäfer | Helmut Schneider | Anja Schürmann | Schwabbinggrad Ballett & Arrivati | Sliders | Laura Strack | Katja Stuke & Oliver Sieber | Kathrin Tiedemann | Klaus Wisotzky und vielen weiteren fft-duesseldorf.de
Place Internationale wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.
Gefördert durch die
Gefördert von
N E D R E W T E N G E R D I E N I C HT G E am 25. Mai 2022 ia Ursprung Schauspiel von Mar
, Uraufführung
theatersg.ch
/ 75 /
/ 76 /
aktuell
/ TdZ Mai 2022 /
Meldungen
Verbote sowie internationale Reaktionen und
falls in Gefahr befinden sich der Chefregisseur
Solidaritätsbekundungen gelistet. Auch Davy-
des Theaters, Serhiy Pavlyuk, der künstlerische
dova hatte in einem Appell auf ihrer Facebook-
Leiter des Kherson Academic Regional Puppet
■ Die russische Zeitschrift Teatr wurde einge-
seite betont, dass man „die Ukraine als ein
Theatre Viktor Havrilyuk sowie Knyhas Ehefrau,
stellt. Darüber wurde Marina Davydova, Chef
unabhängiges und autonomes Land betrachte
die mittlerweile unter Arrest steht. Oleksandr
redakteurin der Zeitschrift, am 22. März per
und man nicht wolle, dass Russland zu einem
Knyha ist unter anderem Vorsitzender der Eura-
Schreiben in Kenntnis gesetzt. Unterzeichnet
Schurkenstaat wird. Man wolle, dass das Blut-
sian Theatre Association, Präsident des Melpo-
hatte das Schreiben Gennadi Smirnov, der
vergießen sofort aufhört“. Im Zuge dessen for-
mene Tavria International Theatre Festivals und
stellvertretende
Mitglied des Kherson Regional Council.
Gewerk-
derte sie russische Theaterschaffende dazu
schaftsbundes der Russischen Föderation, zu
Vorsitzende
des
auf, sich ihrem Appell – der anschließend auf
dem ebenfalls der Verband der Theaterschaf-
der Homepage der Zeitschrift veröffentlicht
■ Die Regisseurin Selen Kara und die Drama-
fenden der Russischen Föderation gehört.
wurde – anzuschließen. Auch Alla Shenderova,
turgin Christina Zintl werden ab Sommer 2023
Deren Vorsitzender Alexander Kalyagin bestä-
die Stellvertreterin von Davydova, hat mittler-
als Doppelintendanz die Leitung am Schau-
tigte die Information. Wenig später hatte sich
weile ihre Anstellung verloren. In einem Artikel
spiel Essen übernehmen. Christina Zintl über-
der russische Verband der Theaterkritiker an
für die russische Tageszeitung Kommersant
nimmt die Zuständigkeit für Dramatur gie-
Kalyagin gewandt, man sei „zutiefst besorgt
hatte sie darüber berichtet, welche Folgen der
und Verwaltungsbelange, Selen Kara den
über die Nachricht von der Einstellung von
Krieg für die russische Kulturszene hat.
Produktionsbereich.
im Land gehöre, die noch Platz für professio-
■ Der künstlerische Leiter des Mykola Kulish
■ Ludger Engels übernimmt ab 1. April die
nelle Kritik und akademische Theaterwissen-
Theatre in Cherson, Oleksandr Knyha, wurde von
Leitung der Akademie für Darstellende Kunst
schaft habe“. In einer Online-Chronik hatte Teatr
russischen Invasoren verschleppt und an einen
Ludwigsburg. Engels ist seit 2015 Professor,
Reaktionen und Auswirkungen auf den Krieg
unbekannten Ort gebracht. Der Vorsitzende der
Studiengangsleiter, Dozent und Mentor Regie
in der Kultur dokumentiert, und zwar seit Be-
National Union of Theatre Artists of Ukraine,
an der Akademie für Darstellende Kunst Ba-
ginn des russischen Überfalls auf die Ukraine
Bogdan Strutynskyi, hat sich deshalb mit einem
den-Württemberg. Zuvor war er Chefregisseur
bis einschließlich dem 3. März 2022. In dieser
Appell an die Theatergemeinschaft gewandt,
und stellvertretender Intendant des Theaters
Chronik wurden u. a. Entlassungen, Rücktritte,
um eine Befreiung Knyhas zu bewirken. Eben-
Aachen.
Teatr, das zu den wenigen Fachzeitschriften
AUSSTELLUNG WANDELKONZERTE PERFORMANCES WORKSHOPS KLANG- UND VIDEOINSTALLATIONEN mit Roman Signer Beat Furrer Musicbanda Franui Christian Zehnder Hille Perl Donata Wenders Vanessa Porter Ensemble The Present Andreas Arend Cordis in custodia Ensemble ö! Oni Wytars
10 J A H R E SC H L OSSM ED I A L E W ERD ENBER G INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR ALTE MUSIK, NEUE MUSIK UND AUDIOVISUELLE KUNST 3. – 12. JUNI 2022 SCHLOSS WERDENBERG SCHLOSSMEDIALE.CH
meldungen
/ TdZ Mai 2022 /
■ Patric Bachmann und Olivier Keller führen
köpfige Theaterkollektiv, das sich bereits
1980er Teil des Ensembles des Hamburger
ab der Spielzeit 2024/25 die Direktion der
1987 gegründet hat, versteht sich selbst als
Schauspielhauses. Unter der Intendanz von
Schauspielsparte von Theater und Orchester
„neurodivers“ und hat in den letzten 13 Jah-
Peter Zadek übernahm er dort u. a. die Titel-
Biel Solothurn TOBS. Sie leiten die Schau-
ren zahlreiche nationale und internationale
rolle im Musical „Andi“ sowie 1988 die Rolle
spielsparte gleichberechtigt, Keller als Regis-
Auszeichnungen für ihre Arbeit bekommen.
des Jack the Ripper in „Lulu“. Am Berliner Ensemble spielte er 2004 die Rolle des
Monika Gintersdorfer. Foto Knut Klaßen
seur und Bachmann als Dramaturg.
■ Regisseur und Theaterleiter Hellmuth Mati-
„Peer Gynt“, ebenfalls unter der Regie von
asek ist im Alter von 90 Jahren verstorben.
Peter Zadek. Außerdem war er in der Rolle
1962 wurde er Intendant des Landestheaters
des Parzival in Claus Peymanns Uraufführung
Salzburg, bevor er 1964 am Staatstheater
von Peter Handkes „Das Spiel vom Fragen
Braunschweig und 1978 an den Wuppertaler
oder Die Reise zum sonoren Land“ zu sehen.
Bühnen als Generalintendant tätig war. Ende der 70er Jahre übernahm er den Posten des
■ Der Schauspieler Michael Degen ist im Alter
Direktors der Otto-Falckenberg-Schule in
von 90 Jahren verstorben. Degen, der in zahl-
München und führte bis 1996 das Münchner
reichen Theater-, Film- und Fernsehproduk
Gärtnerplatztheater. Matiasek, der als Regis-
tionen mitgewirkt hat, wurde in den 50er
■ Regisseurin Monika Gintersdorfer erhält
seur an zahlreichen Häusern tätig war (u. a.
Jahren unter Bertolt Brecht Teil des Berliner
2022 den Preis des ITI. Die Verleihung des
an der Staatsoper Stuttgart und am Burgthe-
Ensembles. Von 1985–1993 war er außerdem
mit 3000 Euro dotierten Preises findet am
ater Wien), war von 2000 bis 2003 Präsident
festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus
25. Juni im Zuge der Veranstaltungsreihe Po-
der Bayerischen Theaterakademie „August
Hamburg. Weitere Engagements folgten, u. a.
litics of Invitation am Forum Freies Theater
Everding“ und von 1997–2008 für die Carl-
am Bayerischen Staatsschauspiel München
(FFT) in Düsseldorf statt.
Orff-Festspiele im oberbayerischen Andechs
und am Theater in der Josefstadt in Wien.
verantwortlich.
Degen arbeitete im Laufe seiner Karriere mit
■ Das Back to Back Theatre (BtBT) erhält den
namhaften Regisseur:innen wie Claude Chab-
mit 2,5 Millionen norwegischen Kronen
■ Der Schauspieler Uwe Bohm ist im Alter von
rol, Peter Zadek und Ingmar Bergman zusam-
dotierten International Ibsen Award. Das fünf-
60 Jahren verstorben. Bohm war in den
men. Daneben inszenierte er auch selbst.
EIN INTERDISZIPLINÄRES THEATERPROJEK T ÜBER NS-ZWANGSARBEIT IN LEIPZIG UND GEGENWÄRTIGE FORMEN RECHTER R ADIK ALISIERUNG ON THE OTHER SIDE Ein interaktives Theaterplanspiel über Radikalisierung im Internet von VERAVOEGELIN und Sebastian Ryser TRACING REMEMBRANCE Ein mobiles digitales Game auf den Spuren von NS-Zwangsarbeit im Leipziger Stadtraum THE FUTURE IS YOURS Ein partizipatives Stadtteilprojekt im Leipziger Osten über Widerstand und Solidarität in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
THEATER DER JUNGEN WELT LEIPZIG in Kooperation mit: G E DE N KS TÄT TE FÜR Z WA N G SA R B E IT LE I PZ IG
/ 77 /
aktuell
/ TdZ Mai 2022 /
Premieren Ansbach Theater L. Strömquist: I’m every wo man (M. Bouschen, 07.05., DEA); T. Walser: Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel (L. Gröflin, 14.05.) Baden-Baden Theater M. d. Cervantes: Don Quijote (B. Ipsen, 22.05.); Ö. v. Horváth: Ju gend ohne Gott (A. Charim, 28.05.) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater T. Wal ser: Kängurus am Pool (S. Broll-Pape, 13.05.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater O. Preußler: „Mały nykus“ (Der kleine Wasser mann) (M. Staiger, 04.05.); W. Gööck: „Bills Ballhaus-Band“ (W. Gööck, 06.05.) Berlin Deutsches Theater n. H. Hesse / T. Melle: Der Steppenwolf (L. Rupprecht, 07.05.); D. Blue: Die vier letzten Dinge (A. Linz, 08.05., DEA) RambaZamba Theater Ensemble RambaZamba: Mujer (S. Lu, 13.05.) Theaterdiscounter P. Kläy/G. Wert heimer: Die Anatomie eines Hasen (M. Damghani, 05.05.); W. Hasenclever: Kulissen (E. Weinreich, 12.05.); i.: Schöpferwissen. Training für werdende Götte (i., 21.05.) Biel Theater Orchester P. Bichsel: Die Jahres zeiten (D. Epstein, 11.05., UA) Bielefeld Theater H. Iglesias/O. H. Kim: Fal ten (H. Iglesias, 20.05., UA) Bochum Schauspielhaus T. Schachinger: Nicht wie ihr (M. Jelden, 04.05.); L. Pauwels: Baroque (L. Pauwels, 14.05., UA); FARN. c.: The Shape of Trouble to Come – Ein posthu manes Ritual (T. Schneider, 17.05., UA); Dra ma Control/Ö. Ö. Dündar: Mädchenschrift (S. Kara, 29.05., UA); F. S. Fitzgerald: Der große Gatsby (Z. G. Wende, 29.05.) Bonn Junges Theater n. M. Kling: Das Nein horn (B. Niemeyer, 29.05.) Theater J. Rasch ke: Was das Nashorn sah, als es auf die ande re Seite des Zauns schaute (H. Biedermann, 05.05.); M. Milisavljevic: <3…still loading (A. Durand-Mauptit, 20.05., UA); T. Storm: Der Schimmelreiter (D. Friedel, 21.05.) Bremerhaven Stadttheater J. Brettschneider: Sonne, Mond und Sterne (J. Brettschneider, 08.05.); N. Haidle: Für immer schön (T. Eg loff, 14.05.) Darmstadt Staatstheater V. Schmidt: Darm stadt represent (verweile doch!) (V. Schmidt, 07.05.); R. Wagner: Lohengrin (A. Moses, 08.05.); J. W. v. Goethe: Die Wahlverwandt schaften (H. M. Goetze, 20.05.) Dessau Anhaltisches Theater O. Lavie: Die Prinzessin mit dem Loch im Bauch (J. Weigand, 01.05.); W. Gombrowicz: Yvonne, die Burgunderprinzessin (F. A. En gel, 27.05.) Dinslaken Burghofbühne C. Collodi: Pinoc chio (A. Scherer, 28.05., DEA) Dortmund Theater S. Zhadan: Depeche Mode (D. Duszczak, 07.05.); S. Spahić: Danach (S. Spahić, 07.05., UA); M. Cremer/H. Schaus: Die Kartoffelsuppe (A. Gruhn, 13.05.); E. Placey: Mädchen wie die (A. Baranowski/J. Rausch, 20.05.)
Mai 2022 Dresden Staatsschauspiel F. Wedekind: Lulu (D. Löffner, 13.05.); N. Dietz: Power (N. Dietz, 13.05., UA); A. H. Ensemble: Zukunft hier entlang! (A. H. Ensemble, 14.05., UA) Essen Schauspiel J. Steckel/J. Lochte/E. Lin da Heinrich/n. N. Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka) (E. Finkel, 07.05.) Frankfurt am Main Schauspiel V. Güntner: Power (M. Naujoks, 06.05., UA); J. Roth: Hiob (J. Wehner, 07.05.); E. Jelinek: Lärm. Blindes sehen. Blinde sehen! Was ich sagen wollt (S. Bachmann, 20.05., UA) Freiberg Mittelsächsisches Theater M. Ende: Der satanarchäolügenialkohhöllische Wunsch punsch (O. Hais, 30.05.) Gelsenkirchen Musiktheater im Revier P. Hin demith: Neues vom Tage (S. Trebes, 07.05.); H. W. Henze / K. A. Hartmann: Das Wunder theater / Wachsfigurenkabinett (Z. Geréb, 26.05.) Halle Neues Theater J. Schall / C. Oehme: Vorwärts! Wir sind vergessen (J. Schall, 13.05., UA) Hamburg Schauspielhaus V. Martinowitsch: Revolution (D. D. Pařízek, 13.05., UA); S. Jević/D. Enz: Out there (D. Enz, 20.05., UA) Hannover Ballhof Eins n. A. Dieudonné: Das wirkliche Leben (R. C. Bar-Zvi, 20.05., UA) Schauspiel n. A. Miller: Fokus (L. Lin nenbaum, 13.05., UA) Heidelberg Theater und Orchester M. Strobl: Schulbesuch Europa (W. Tobias, 23.05.) Heilbronn Theater I. Calbérac: Weinprobe für Anfänger (J. Kerbel, 06.05.); G. Kreisler: Heu te Abend Lola Blau (A. Salzmann, 07.05.) Ingolstadt Stadttheater J. Reddington: Die Prognose (J. Reddington, 14.05.); S. V. Bun garten: Die zweite Sonne (M. Mikat, 14.05., UA); J. Harrison: Marjorie Prime (R. Wagner, 14.05., DSE) Innsbruck Tiroler Landestheater W. Moua wad: Vögel (S. Weber, 14.05.) Kaiserslautern Pfalztheater F. Zeller: Der Fis kus (K. Ramser, 21.05.) Kassel Staatstheater A. Tschechow: Der Kirschgarten (J. Friedrich, 05.05.); S. B. Yis hai: Your Very Own Double Crisis Club (L. N. Junghanns, 08.05.) Kiel Theater S. Stephens: Maria (M. Kraus haar, 06.05.); A. Frick/n. c.: Don Quijote (A. Frick, 08.05.) Krefeld Theater R. North: Rückblick – Aus blick (R. North, 07.05.) Leipzig Schauspiel D. Uhlich: Tank (D. Uhlich, 31.05.); V. Halper: Letzter Aufguss (K. Krösche, 28.05.); Gootopia – The Treat ment (D. Uhlich, 05.05., UA); Auflösung (d. p., 24.05.) Linz Landestheater J. Nestroy: Liebesge schichten und Heiratssachen (D. Schnizer, 07.05.); n. W. Shakespeare/H. Müller: Mac beth (S. Suschke, 28.05.) Theater Phönix S. Baum/D. Feik: Eurydike*Orpheus (A. Baum, 26.05., UA)
BRUNO BELTRÃO/GRUPO DE RUA KRASS KULTUR CRASH FESTIVAL
Lübeck Theater P. Holzwarth: Neil Young Journeys through Past and Future (P. Holzwarth, 06.05.); A. A. Dudda: Komplizen (L. Tiemeyer, 12.05.) Magdeburg Puppentheater M. Baltscheit: Diva – ein Hundeabenteuer (F. Bernhardt, 14.05., UA); R. Schimmelpfennig: Die Frau von früher (L. Schubert, 26.05.) Mainz Staatstheater A. Lehner: Vater Unser (R. Philipp, 07.05.); D. Kinahan: Der Vorfall (K. Mädler, 14.05., DSE); Il trionfo del Tempo e del Disinganno (C. Wagner, 20.05.) Marburg Hessisches Landestheater W. Böke meier/M. Turan: Wir, „Kinski“ und ich – Aus nahmezustand im Theater (M. Turan, 07.05.) Meiningen Staatstheater n. G. Hauptmann/E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (N. Cha raux, 20.05.) Memmingen Landestheater Schwaben Aus verkauft – Recherche zum Wert unserer Le bensmittel (C. Stürmer, 13.05., UA) Mönchengladbach Theater n. W. Hauff/s. s.: Zwerg Nase (A. Betov, 15.05.); Zwerg Nase (21.05.); F. Poulenc: Die Gespräche der Kar meliterinnen (B. Blankenship/R. Blanken ship, 21.05.) München Residenztheater V. Dalle Mura: Bruce und die Sehnsucht nach dem Licht (F. Hein, 06.05.); D. Enia: Finsternis (N. Schlo cker, 12.05., DSE); A. Eisenach: Der Schiff bruch der Fregatte Medusa (A. Eisenach, 14.05., UA); B. Koltès: Die Nacht kurz vor den Wäldern von Bernard-Marie Koltès in der Inszenierung von Robin Ormond (R. Ormond, 18.05.); H. Klaus: Bluthaus (C. Guth, 21.05.) Nürnberg Staatstheater Where I end and you begin (S. Bodamer, 20.05.); N. Stockmann: Der Reaktor (J. Gockel, 21.05., UA); T. Royale/M. Czollek/T. Perle/M. Sanyal/A. M. Hussein: Wer ist wir? (27.05., UA) Oldenburg Staatstheater S. Hornbach: Über meine Leiche (F. Stuhr, 14.05.); W. Shakes peare: Macbeth (L. Morrell/J. Mathieson, 18.05.) Osnabrück Theater S. Stanišić: Herkunft (C. Schlüter, 07.05.) Paderborn Theater Westfälische Kammerspiele K. v. Roth: compYOUte (K. v. Roth, 05.05., UA); W. Shakespeare: Rose und Re gen, Schwert und Wunde (Eine Sommer nachtstrau (P. Benecke, 28.05.) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater H. Kondschak: Dogs (T. Ott-Albrecht, 08.05.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Landes theater und Sinfonieorchester C. Behrends: Odysseus Meerumschlungen (C. Behrends, 07.05., UA); D. Jacobs/M. Netenjacob: Extra wurst (M. Peters, 21.05.) Reutlingen Theater Die Tonne Y. Shamir: Träume sind Schäume (Y. Shamir/D. Tille, 19.05., UA) Rostock Volkstheater Y. Reza: Kunst (S. J. Fi scher, 07.05.)
Rudolstadt Theater H. v. Kleist: Der zerbro chene Krug (M. Fennert, 14.05.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen M. Brickman/R. Elice: The Addams Family (L. Frank, 28.05.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater F. Veber: De Nervbüdel (O. Ketelhut, 04.05.) St. Gallen Theater B. Horváth: 10 (B. Hor váth, 11.05., UA); S. Berg: UND JETZT: DIE WELT! oder Es sagt mir nichts, dieses soge nannte Draussen (J. Bernetta, 18.05.); M. Ur sprung: Die nicht geregnet werden (J. Knecht/M. Bues, 25.05., UA) Stendal Theater der Altmark D. Renckhof/A. Long/J. Winfield/D. Singer: Shakespeares sämtliche Werke (D. Renckhoff, 21.05.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und K omödie im Marquardt Ensemble: hotel europa (B. Dethier/K. Moberg, 01.05., UA); T. v. Blom berg/K. Wolff/C. Gerlitz: Himmlische Zeiten – Altwerden ist nichts für Feiglinge (K. Wolff, 21.05.) Tübingen Landestheater (LTT) Ligna: Wer ist Q? (Ligna, 13.05., UA) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staats kapelle W. Shakespeare/F. Günther: Der Sturm (The Tempest) (S. L. Kleff, 26.05.) Wien Burgtheater Laokoon: Keine Menschen seele (Laokoon, 13.05.) Kosmos Theater R. Dürig: Federn lassen (B. Rádóczy, 04.05., UA) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord E. Jelinek: Wolken.Heim. (M. Dudzic, 06.05.) Wuppertal Wuppertaler Bühnen A. Tsche chow: Die Drei Schwestern (H. Hüster, 21.05.) Solothurn Theater Orchester P. Bichsel: Die Jahreszeiten (D. Epstein, 06.05., UA) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater A. Strind berg: Fräulein Julie (B. Schwarzbach, 21.05.) Zürich Theater Kanton M. Molière: Die Geizi ge (B. Brüesch, 19.05.)
FESTIVAL Wasserburg am Inn Theater 16. Wasserburger Theatertage (26.04.–08.05.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater B. LEBEN; Freiluft Puppentheater Festival (05.05.–08.05.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm home.frankfurt.telaviv (03.05.–07.05.) Heidelberg Theater und Orchester Heidelber ger Stückemarkt (29.04.–08.05.)
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AUTORINNEN UND AUTOREN Mai 2022
impressum/vorschau
Vorschau
Dominik Busch, Dramaturg, Luzern Björn Hayer, Kritiker, Lemberg Renate Klett, Kritikerin, Berlin Christoph Leibold, Kritiker, München Tom Mustroph, Autor und Journalist, Berlin Frank Raddatz, Autor und Dramaturg, Berlin Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Kritikerin, Wiesbaden Juliane Voigt, Journalistin, Stralsund Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin Klaus Zehelein, Dramaturg und Intendant, Berlin
IMPRESSUM Theater der Zeit – Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller
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Schwerpunkt: Längst drängen Formate digitalen Erzählens in die Spielpläne der Theater. In der Juni-Ausgabe widmet sich ein Schwerpunkt verschiedenen Bereichen von Digitalität und Theater. Welche Erzählformate gibt es? Wie kann die Theaterkritik der Zukunft aussehen? Und wie die Digitalität bereits das digalitäre Theater erschaffen hat, untersucht Jonas Zipf in einem Essay.
Nicht das Publikum, die Personen auf der Bühne tragen VR-Brillen: „Der Mond schien blau“ am tjg Dresden. Foto Marco Prill
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Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz), Lina Wölfel (Digitale Dienste), Lisa Elsen (Hospitanz) Korrektur Sybill Schulte Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH, Benzstraße 12, D-12277 Berlin Verlag und Redaktion Theater der Zeit GmbH, Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-17 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 redaktion@tdz.de / www.theaterderzeit.de Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Anzeigen Harald Müller, +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Lizenzen lizenzen@tdz.de 77. Jahrgang. Heft Nr. 5, Mai 2022. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 06.04.2022 © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit, © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren und Theater der Zeit. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. © Fotos: Fotografinnen und Fotografen
LESERSERVICE Bestellung abo-vertrieb@tdz.de / +49 (0) 30.44 35 28 5-12 Einzelverkaufspreis € 9,50 (Print) / € 8,50 (Digital) Jahresabonnement € 95,– (Print) / € 84,– (Digital) / € 105,00 (Digital + Print) 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch
Ukraine: Die HolocaustGedenkstätte Babyn Yar unweit von Kiew wurde Anfang März von einer russischen Rakete getroffen. Elisabeth Bauer hat den Ort besucht, wo der russische Filmregisseur Ilya Khrzhanovsky ein ganz eigenes Memorial-Projekt entwickelt hat.
Christian Weise und Shakespeare: In den letzten Jahren hat der Regisseur verschiedene Shakespeare-Stücke inszeniert, jüngst „Queen Lear“ mit Corinna Harfouch am Berliner Maxim Gorki Theater. In der Juni-Ausgabe nun, aus gegebenem Anlass verschoben, der ausführliche Bericht über Weises Adaptionen von Thüringen- Korrespondent Michael Helbing.
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www.facebook.com/theaterderzeit / www.twitter.com/theaterderzeit / www.instagram.com/theaterderzeit www.theaterderzeit.de
Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2022.
Die Gedenkstätte Babyn Yar während Bauarbeiten 2021. Foto Elisabeth Bauer
Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat
Was macht das Theater, José Manuel Mora? Als Scout für das Gastland Spanien gestal-
modernes Theater seit Jahrzehnten leben und
ten Sie das Programm des Heidelberger
diese auch kontinuierlich entwickeln?
Stückemarkts im Mai mit. Die spanische
Das liegt an den Theaterpersönlichkeiten.
Theaterszene ist im Aufbruch. Viele junge
Àlex Rigola hat diese Bühne aufgebaut
Autor:innen kommen auf den Markt. Wie be-
und bis 2010 geleitet. Er und seine
werten Sie den Stellenwert der spanischen
Nachfolger haben sich aber nie vor den
neuen Dramatik in Deutschland?
Kämpfen mit der Politik gescheut. Ob sich
Schon als ich 2008 zum ersten Mal beim
Projekte realisieren lassen, liegt am Kampf
Stückemarkt des Berliner Theatertreffens
geist der Theaterpersönlichkeiten.
mit meinem Stück „Meine Seele anderswo“ in szenischer Lesung dabei war, hat-
Was waren die Auswahlkriterien für denAu-
te ich den Eindruck, dass die spanische
torenwettbewerb beim Heidelberger Stücke
Dramatik in Deutschland im Kommen ist.
markt, das Sie gemeinsam mit der Regisseu-
Deutsche Bühnen führen spanische neue
rin Carlota Ferrer kuratieren?
Dramatik auf, Texte junger Autor:innen
Wir haben Wert darauf gelegt, Produktio-
werden ins Deutsche übersetzt. Gerade
nen von Künstler:innen zu zeigen, die in
die junge Generation, die noch nicht so
der Szene bereits etabliert sind. Gleichzei-
etabliert ist, kommt auf die Bühne. Das
tig ging es uns aber darum, den Blick auf
deutsche Theater ist offener für neue
neue, spannende Texte zu lenken. Die
Stücke aus Spanien, als das umgekehrt
Möglichkeit, neue Dramatik zu entdecken,
der Fall ist. Da setzt man auf arrivierte
hat uns gereizt. Die aufregendsten Augen-
deutsche Dramatik, auf große Namen.
blicke für Kuratoren sind ja die, wenn sie
Gibt das spanische Theatersystem denn der jungen Theatergeneration Raum, sich zu entfalten? Es ist wichtig, Strukturen zu schaffen, in denen sich Autor:innen und Regisseur:in nen entfalten können. Da sehe ich noch Defizite im spanischen Theatersystem. Kulturelle Projekte sind sehr stark von den politischen Machtverhältnissen abhängig. Da ist es schwer, Langzeitprojekte zu realisieren, weil sich die Finanzierung nicht langfristig planen lässt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Bühnen in
José Manuel Mora, geboren 1978 in Sevilla, studierte Dramaturgie und Regie in Madrid und arbeitet als Autor und Dramaturg sowie als freier Mitarbeiter bei El Cultural, der Kulturbeilage der Tageszeitung El Mundo. Er war Hausautor am Royal Court Theatre London und im Sala Beckett in Barcelona. Von 2006 bis 2009 absolvierte José Manuel Mora einen postgraduierten Studiengang in Performance Studies an der Amsterdam School of the Arts. 2008 war er beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens vertreten. Er wurde mit dem Nationalpreis für junge Autoren in Madrid ausgezeichnet, wo er auch lebt. Foto Theater und Orchester Heidelberg
auf etwas ganz Neues stoßen. Dem Heidelberger Publikum eine Vielfalt der Stimmen zu präsentieren, das ist unser Ziel. Starkes Theater gibt es nicht nur in den Kulturmetropolen Madrid und Barcelona. Der Blick in die Peripherie lohnt sich. Ein weiteres Kriterium war für uns, starke Theatersprachen zu finden und zu zeigen. Regisseurinnen sind bei den Gastspielen stark vertreten. Carlota Ferrer hat Ihr Stück „Fragen ans Universum/Preguntando Al Universo“ in Szene gesetzt. Marta Pazos hat „Otello“ nach William Shakespeare von
ganz Europa eine Gier nach neuen
Fernando Epelde in Szene gesetzt. Was sind
Stücken entwickeln. Es gibt einen Urauf-
deren Stärken? Beide Regisseurinnen suchen nach den
führungs-Hype. Doch es geht ja darum, für Performances oder andere neue Formate.
versteckten Bedeutungen im Text. Sie arbei-
sieren, dass das Theater zu einer Art Algorith-
Ebenso werden die freien Gruppen unter-
ten mit Tiefenschichten, die weit über die
mus des Zeitgeistes wird.
stützt, um frei von wirtschaftlichen Zwängen
naturalistische Betrachtungsweise hinausge-
produzieren zu können. Das Problem in Spa-
hen. Etliche spanische Regisseur:innen sind
Noch vor wenigen Jahren waren viele junge
nien sehe ich darin, dass die umfassende kul-
dagegen noch sehr stark im mimetischen
Theaterschaffende in Spanien darauf angewie-
turelle Perspektive fehlt. Immer wieder gibt
Prinzip verhaftet. Die spanische Tradition ist
sen, sich in der freien Szene einen Namen zu
es Projekte, die nicht zu Ende gebracht wer-
sehr stark am Text orientiert. Gerade die zwei
machen. Oft waren sie auch gezwungen, sich
den dürfen, weil die Verantwortlichen ausge-
starken Regisseurinnen Ferrer und Pazos ge-
nebenbei den Lebensunterhalt zu verdienen. Hat
tauscht werden, wenn die politische Macht
hen vom Text aus, beziehen aber die anderen
sich das geändert?
gewechselt hat. Die Kultur ist da zu abhängig
Ausdrucksmittel des Theaters ein. Sie arbei-
Da hat ein Umdenken stattgefunden. Junge
von der Politik. Wo bleibt da die langfristige
ten im besten Sinn interdisziplinär, weil die
Theatermacher sind heute sehr viel besser in
Vision für die Kultur?
Sprache an Grenzen stößt. //
Autor:innen zu entwickeln. Es darf nicht pas-
die etablierten Theaterstrukturen integriert. Die großen Häuser spielen neue Dramatik.
Es gibt doch aber Bühnen wie das Teatre Lliure
Und auch die etablierten Bühnen sind offen
in Barcelona, die eben diese Vision für ein
Die Fragen stellte Elisabeth Maier
11. sächsisches theatertreffen
10. – 15. Mai 2022
PLAUEN UND ZWICKAU
Vielfalt feiern saechsisches-theatertreffen.de DEUTSCH-SORBISCHES VOLKSTHEATER BAUTZEN EDUARD-VON-WINTERSTEIN-THEATER ANNABERG-BUCHHOLZ GERHART-HAUPTMANN-THEATER GÖRLITZ-ZITTAU LANDESBÜHNEN SACHSEN
TICKETS PLAUEN [03741] 2813-4847 ZWICKAU [0375] 27 411-4647
MITTELSÄCHSISCHES THEATER SCHAUSPIEL LEIPZIG STAATSSCHAUSPIEL DRESDEN STÄDTISCHE THEATER CHEMNITZ THEATER DER JUNGEN WELT LEIPZIG THEATER PLAUEN-ZWICKAU TJG. THEATER JUNGE GENERATION DRESDEN
Das 11. Sächsische Theatertreffen ist eine Veranstaltung des Deutschen Bühnenvereins, Landesverband Sachsen, gemeinsam mit dem Theater PlauenZwickau, unterstützt durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.
#Theatertreffen
6.–22.5. 2022
Das Theatertreffen wird gefördert durch die
gefördert von
Die Berliner Festspiele werden gefördert durch
Konzept / Design: Eps51 Foto: Tree #9, 2007 © Myoung Ho Lee, Courtesy Yossi Milo Gallery, New York
Medienpartner