Theater der Zeit 06/2020 – Die Spieler. Das Schauspielhaus Bochum

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Bochum: Jens Harzer, Sandra Hüller, Johan Simons im Gespräch / Streaming über alles? Theater im Netz Drama in fünf Akten: Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen / Gedichtzyklus von Volker Braun

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Juni 2020 • Heft Nr. 6

2020

Die Spieler Das Schauspielhaus Bochum


AKADEMIE

ZEIGE DEINE KLASSE Soziale Herkunft und Freies Theater 4.– 14. Juni 2020

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editorial

/ TdZ  Juni 2020  /

D

ie schönsten Geschichten über das Theater schreibt das Leben selbst. So erreichte die Redak­ tion, kurz nachdem bekannt gegeben wurde, dass das Schauspielhaus Bochum der diesjährige Preis­ träger des Martin Linzer Theaterpreises ist, ein Anruf aus Bochum. Ein älterer Herr teilte uns am Telefon seine Freude über die Auszeichnung mit. Seit Jahrzehnten besucht der 86-Jährige mit den Nachwuchsmannschaften des VfL Bochum die Vorstellungen des Theaters. Alles begann mit einer Sportfreizeit auf dem Lande und einer zufällig besuchten Aufführung von „Wilhelm Tell“ … Solche unauslöschlichen Leidenschaften kann das Theater wecken, immer wieder und immer neu. „Das Theater, das man in Bochum sehen kann, handelt von der tragischen oder komischen Selbstver­ strickung des Menschen“, heißt es in der Begründung für den Martin Linzer Theaterpreis von Jakob Hayner. „Penthesilea“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Hamlet“ und zuletzt „Iwanow“ sind die großen Bühnenstoffe, die in Bochum durch ein beeindruckendes Ensemble zum Leben erweckt wer­ den. Der Intendant und Regisseur Johan Simons spricht in unserer Juni-Ausgabe mit den beiden Schauspielstars Sandra Hüller und Jens Harzer darüber, was das Bochumer Theater so besonders macht. Es braucht die beglückenden Konstellationen, die Kristallisationspunkte des Künstlerischen, damit Theater begeistert. Wie das in Bochum gelingt, zeigt das Porträt des Ensembles. Dessen Mit­ glieder sind divers, aber nicht divergent, wie Martin Krumbholz schreibt, allesamt leidenschaftliche Spieler einer Kunst, die das Gemeinsame braucht. Doch das Gemeinsame muss zurzeit zurückgestellt werden. Es flüchtet auf Bildschirme, ins Digitale. Am Schauspielhaus Bochum werden 14 von Dramatikerinnen und Dramatikern verfasste Minidramen – sogenannte Short Cuts – ins Filmische verlagert. Als Stückabdruck veröffentlichen wir die Texte von Bonn Park und Miroslava Svolikova, zwei knappe Ausschnitte einer verrückten Welt. Das Theater in Zeiten von Corona muss ausweichen. Das sieht im Detail ausgesprochen vielfältig aus und reicht von Stücken im Telegram-Chat und Virtual-Reality-Erlebnissen über Webserien und ZoomKonferenzen bis zu Drive-in-Theater und Audiowalks. Streaming über alles? Mitnichten, wirft Carl Hegemann ein. Das Uraltmedium Theater dürfe nicht in der virtuellen Welt verschwinden, meint der Dramaturg. „Ich will nicht ins Internet, ich bin zu sehr analog. Ich will spielen.“ So drückt es Christian Stückl, der Intendant des Münchner Volkstheaters, in seinem Aufruf aus. Wir sind also ­wieder beim Spiel, dem Herzen des Theaters. Doch die Sorge, ob die gegenwärtigen Rhythmus­ störungen möglicherweise Folgeschäden haben könnten, bleibt. Warum kommen die Reanimations­ maßnahmen bei der Kultur so viel später als bei Industrie, Gastronomie und kommer­ziellem Sport? Antworten auf diese Fragen und Blicke in die Zukunft wagt Wolfgang Schneider vom Fonds Darstel­ lende Künste im Gespräch mit Sabine Leucht. Über das „Seuchenbekämpferheldentum“ schreibt Josef Bierbichler in seiner Kolumne. Zeiten, die aus den Fugen sind, interessieren das Theater und die Literatur seit jeher. Der Schriftsteller und Dramatiker Volker Braun hat einen Gedichtzyklus über die Welt im Zustand der Pandemiebekämp­ fung verfasst, den wir in vollem Umfang abdrucken. „Große Fuge. Aggregat K“ ist eine Erkundung mit Worten, zwischen denen Lücken bleiben. Sie evozieren die Frage, wie diese aus den Fugen ge­ ratene Welt wieder einzurichten sei. Das Verhältnis von Ethik und Ästhetik beleuchtet Luise Meier im zweiten Debattenbeitrag unserer Reihe Theater und Moral. Über wessen Moral sprechen wir eigent­ lich, fragt die Autorin und Theatermacherin, um in der Folge auf die Begriffe Produktion, Parteilich­ keit und Proletariat zu stoßen. Der Text liest sich zugleich als ein Aufruf zur Solidarität. Abschiede haben etwas von Nachrufen, schreibt Christoph Leibold über das Ende der Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen: fünf aufregende Jahre – ein Drama in fünf Akten, aber ohne glückliches Ende. Was nicht heißt, dass es nicht glückliche Momente gegeben hätte. Unser Autor hat davon zahlreiche erlebt, die er im Blick zurück nochmals in Erinnerung ruft. Auch Dimo Rieß lässt eine Ära Revue passieren: Am Theater der Jungen Welt in Leipzig verabschiedet sich Intendant Jürgen Zielinski nach 18 ruhmreichen Jahren. Es gibt aber auch Abschiede, die Nachrufe sind. Gestorben ist Rolf Hochhuth, der mit seinem Stück „Der Stellvertreter“ als junger Mann berühmt wurde. Wie er einst mit Frank Castorf heftigst aneinander­geriet, sich aber beide beim Wodka wieder vertrugen, schildert Kerstin Decker in ihrem Nachruf. Und auch das Künstlerinsert dieser Ausgabe ist einem jüngst Verstorbenen gewidmet: dem großen M ­ askenbildner Wolfgang Utzt. Wie es Utzt gelang, neue Möglichkeiten des Spiels und des Ausdrucks zu eröffnen, indem er die Gesichter der Spieler verbarg, schreibt unser Redakteur Gunnar Decker. // Die Redaktion


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Inhalt Juni 2020 thema martin linzer theaterpreis

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Jakob Hayner Laudatio auf das Schauspielhaus Bochum zur Verleihung des Martin Linzer Theaterpreises 2020

14

14

Kristallisationspunkte des Künstlerischen Was macht das Schauspielhaus Bochum und sein Ensemble so besonders? Der Intendant Johan Simons mit den beiden Schauspielstars Sandra Hüller und Jens Harzer im Gespräch mit Martin Krumbholz

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Martin Krumbholz Die Spieler Divers, aber nicht divergent und in jeder Hinsicht außergewöhnlich – Das mit dem Martin Linzer Theaterpreis ausgezeichnete Ensemble des Schauspielhauses Bochum im Porträt

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Miroslava Svolikova Die Beamten

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Bonn Park Wie es euch Algorithmus

stücke bochumer short cuts

künstlerinsert

4

Masken von Wolfgang Utzt (1941–2020)

7

Gunnar Decker Der Magier des Augenblicks In memoriam des großen Maskenbildners Wolfgang Utzt

protagonisten

8

Volker Braun Große Fuge. Aggregat K

theater und moral #2

24

Luise Meier Wessen Moral? Über Produktion, Parteilichkeit und Proletariat

protagonisten

28

Gunnar Decker Beethoven hinter Gittern Was bedeutet es, eingesperrt zu sein? – Das Berliner Gefängnistheater aufBruch lotet mit der Oper „Fidelio“ die Grenzen der Freiheit aus

kommentar

31

Sascha Westphal Skandalkeule statt Debattenkultur Über die Antisemitismusvorwürfe gegen Achille Mbembe und die Absage der Ruhrtriennale

protagonisten

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Christoph Leibold Durcheinander? Diversität! Großes Drama, aber kein glückliches Ende – Ein Rückblick in fünf Akten auf die Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen

36

Dimo Rieß Volkssport meets Volkstheater 18 Jahre lang entwickelte Intendant Jürgen Zielinski das Theater der Jungen Welt in Leipzig zu einem Haus, das ganze Fußballjugendmannschaften anzog – nun feierte er seinen Abschied

38

Kerstin Decker Du sollst nicht schweigen In Gedenken an den Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth

32

abschied


inhalt

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aktuelle inszenierungen

41

Christian Stückl Spielen! Wir müssen die neue Normalität selbst schaffen – Ein Aufruf

42

Tom Mustroph Heimisch werden auf der digitalen Bühne Digitales Theater I: Chat-Games und VR-Erlebnisse

44

Jens Fischer Der Coronazeitmensch Digitales Theater II: Splitscreenfilm, Web-Serien und Videokunst

46

Dorte Lena Eilers Can you hear me? Digitales Theater III: Zoom-Theater und Medienkritik

47

Carl Hegemann Digitale Geschlechtsumwandlung ist toll, reicht aber nicht Ein Zwischenruf

48

Sascha Westphal / Joachim F. Tornau / Elisabeth Maier In der Ferne, so nah Theater des Social Distancing: Audio-Walks und Drive-in-Theater in Oberhausen, Göttingen und Tübingen

kolumne

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Josef Bierbichler Seuchenbekämpferheldentum Wird die Politik beim Klima künftig ebenso konsequent handeln wie bei Corona?

look out

52

Björn Hayer Verwandlung ins Unbekannte Eine Wasserseele, die es nach Mannheim verschlagen hat – Die Schauspielerin Annemarie Brüntjen

53

Paula Perschke Die eigene Geschichte schreiben Die Theatermacherin Simone Dede Ayivi erzählt aus einer persönlichen, schwarzen und feministischen Perspektive

magazin

54

Dramatik in Zeiten der Unsicherheit Der Heidelberger Stückemarkt betritt mit virtuellen Lesungen Neuland – was leider kein Ersatz für eine umfassende Förderung von Autorinnen und Autoren ist Wir sind jung, wir sind laut Die Schweizer Autorin Julia Haenni ist die neue Ko-Leiterin der Jungen Marie in Aarau Geschichten vom Herrn H. Ferndiagnose Klarsicht im Nebel Ein Nachruf auf den Schauspieler Otto Mellies Bücher Marina Frenk

aktuell

60

Meldungen

63

Autoren, Impressum, Vorschau

64

Wolfgang Schneider im Gespräch mit Sabine Leucht

40

was macht das theater?

64

Titelfoto: Das Ensemble des Schauspielhauses Bochum. Foto Joseph Kadow

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Masken von Wolfgang Utzt (1941–2020) für „Der Kyklop“ von Euripides in der Regie von Friedo Solter (links, Deutsches Theater Berlin 1994, Probemaske), „Hamlet/Maschine“ von William Shakespeare und Heiner Müller in der Regie von Heiner Müller (Mitte, Deutsches Theater Berlin 1990), „Der Kaufmann von Venedig“ von William Shakespeare in der Regie von Thomas Langhoff (rechts, Deutsches Theater Berlin 1985). Fotos Friedhelm Hoffmann / Sammlung: Theatersammlung des Stadtmuseums Berlin



Wolfgang Utzt (1941 – 2020). Foto dpa


wolfgang utzt

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Der Magier des Augenblicks In memoriam des großen Maskenbildners Wolfgang Utzt von Gunnar Decker

I

m Frühjahr 2003 besuchte ich Wolfgang Utzt in der Masken­ bildnerei des Deutschen Theaters Berlin. Es war seine letzte Spiel­ zeit. An der Wand der rotgeschminkte Mund von Inge Keller in Großaufnahme, auf dem Tisch ein Bildband von Francis Bacon. Zu jeder Premiere schenkte er sich einen neuen Band. Nun war es eine ganze Bibliothek geworden. Denn Utzt hatte 1960 als Prakti­ kant am Haus angefangen. Da war er neunzehn Jahre alt. Aus dem Lautsprecher kamen Ansagen für die Schauspielstudenten, auf die Bühne zu kommen. Die waren in Dimiter Gotscheffs „Tod eines Handlungsreisenden“ ein Chor der gierigen Yuppies mit weißen Hemden und schwarzen Zungen im toten Gesicht. Ir­ gendwann sagte einer von ihnen, Masken wären doch gar nicht mehr in Mode. Mode? Bei solchen Worten konnte sich der freund­ liche Patriarch, der Utzt war, in einen strafenden Gott verwandeln. Wenn er Glück hatte, kam der Ahnungslose mit einem Vortrag über die Rolle der Maske in der Geschichte des Theaters davon. Theater ist die spielgewordene Maske! Die Maske nimmt dem Schauspieler sein Gesicht. Das weckt in ihm berechtigte Ängste. Aber sie gibt ihm dafür auch ­etwas zurück: fremde Gesichter, die er ausprobieren kann. Aber diese sind nicht ausgearbeitet, holen sich das Besondere aus dem Allgemeinen, nicht aus dem Einzelnen. Manchmal sind es darum auch keine menschlichen Gesichter, die die Masken zeigen, son­ dern die von Furien, Hexen, Gnomen, Lemuren oder Kobolden. Diese Bewohner von fantastischen Zwischenreichen jonglieren mit Leben und Tod. Das macht die Masken zugleich archetypisch und abstrakt. Mit den Masken wechseln jene Zustände, die dem Schauspieler vorbestimmt sind. Die Maske, die er trägt, ist nicht verhandelbar, nicht wegzudiskutieren. Man muss sie tragen, wie man ein Schicksal trägt. Wolfgang Utzt war ein Zauberer im Reich der Masken. Halb Handwerker für Gauklerbedarf, halb Hohepriester von strenger Observanz. Immer beides zugleich. Damals in der Maskenbild­ nerei erstaunte mich sein Bekenntnis, er sei gegen eine Maske, die „maskiert“. Zufrieden mit sich war er, wenn ein Schauspieler

sagte, er spüre die Maske im Spiel gar nicht mehr. Denn eine ­Maske zeigt das Verborgene und verbirgt die Oberfläche, schafft eine Situation, in der alles offen ist: Magie des Augenblicks. Jede Maske verleiht eine Identität auf Zeit und eröffnet Spielräume. Die Maske, sagte Utzt, bewahre den Schauspieler davor, sich mit seiner Rolle zu verwechseln. Aber – im Hintergrund hörte man den Yuppie-Chor aus „Tod eines Handlungsreisenden“ – man ­dürfe nicht vergessen, dass Masken auch dazu da seien, Gesichter zu zerstören. Sie zerfallen dann in lauter Wahrheitssplitter. Manche Masken bergen ganze Mythologien, wie die zum nicht realisierten „Faust II“ Friedo Solters von 1983. Manche sind Wiedergänger, wie die Wolfsmaske, die sich Ulrich Mühe in Hei­ ner Müllers „Hamlet / Hamletmaschine“ über den Kopf zieht. Diese Maske geisterte dann als Zitat noch durch andere Inszenie­ rungen des Hauses. Kann man überhaupt ohne Maske auf die Bühne gehen, fragte ich. Gewiss, das könne man, und immer mehr Regisseure hielten das fälschlicherweise für authentisch. Aber es passiere dann leicht, dass man den Schauspieler im grel­ len Scheinwerferlicht gar nicht sieht. In einer seiner letzten Pro­ duktionen, Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“, wollte ein junger Schauspieler partout keine Maske. „Und nun?“, fragte ich Utzt. „Nun sieht man ihn nicht“, bekam ich zur Antwort. Nein, mit den großen Zauberern suche man keinen Streit. Sie verurtei­ len einen sonst zur Unsichtbarkeit – für einen Schauspieler ist das gleichbedeutend mit einem Bühnentod. Wolfgang Utzt war bis zu seinem Tod am 25. April das lebendige Bildgedächtnis des Deutschen Theaters der letzten ­ sechzig Jahre. Wenn er davon erzählte, dann klang es immer ­jugendlich, voller Witz. Ausstellungen seiner Masken und den ­gezeichneten Entwürfen wanderten bis nach Chicago und Tokio. Als die Masken hinter ihm lagen, da schrieb – und malte – er ein Kinderbuch für seine Enkelin Hanna, mit dem Titel „Das Gürtel­ tier kam nachts um vier“. Auf dem Cover: ein modebewusstes Gürteltier umgürtet mit elf Gürteln. Das ist in seinem Witz un­ übertroffen, und ich kenne keinen der alten Schauspieler vom Deutschen Theater, der nicht ein Exemplar des Buches besitzt. // Im Verlag Theater der Zeit ist 2010 das Buch „In Masken geht die Zeit. Das Werk des Maskenbildners Wolfgang Utzt“ von Frank Hörnigk erschienen.

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Große Fuge. Aggregat K

WINDBÜRGER Windige Leute, gierig nach Luft in den Lungen Auf kahlen Kuppen, Brachland, brandenburgischer Steppe Ein alternativer Lohnerwerb unter sausenden Rädern

Volker Braun

Wie wenn am Feiertag ein Landmann auf sein Spargelfeld geht Das in den Himmel ragt, und sein hochgehaltnes Gezähe Arbeitet, ohne sein Zutun,

Der grüne Grashelm hat Dich ausgestochen.

ein Zubrot, das im Wind wächst

Ezra Pound, Canto LXXXI Oder am Werktag die Werktätigen vor ihrem Werk Standen andächtig, im Regen, auf die Grundmauern starrend Oder die leeren höhnischen Hallen KATARRHSIS

Das Weltende: der Plan, war erfüllt Vorfristig im Osten

Die Stadt ist ruhiggestellt wie ein Pestpatient Ein Morgenfrieden bis Mitternacht

Lange ging er mit sachtem sicherem Schritt Der Mann unter Bäumen.

Entmenschte Straßen, wie befreit von der Krätze Der Kunden. Der Senat schließt die Kneipen zu

Jetzt tappt er gottVerlassen im Asphalt umher, und wo sind die Vögel? Und nicht Mutter Natur hält ihn

Die Stadien verwaisen BLEIERN UNION. Die Museen Den Marmor-

allgegenwärtig, in leichtem Umfangen. Das Sonnenlicht weckt keine vergangenen Freuden auf.

mumien, die Theater den Geistern HALT. WER DA / NEIN, ANTWORTE DU MIR

Der Kostgänger der Jahreszeiten, auf ihre Milde War Verlaß, jetzt steht er im Wetter-

Nicht vor Publikum, nicht in dieser Saison.

wandel, Weltenaufruhr

Platzangst Flachatmung Katarrh im Kulturbetrieb, einmal

Er ist durch den Wind, die Zyclowne regieren ihn

All dem (Unfug) Einhalt gebieten EIN JAHR OHNE KUNST

Ein Virus ist stärker als er, ein Schleim ohne Stoffwechsel

So kommt Ruhe ins Verfahren, ihr Dilettanten.

„Nach heutiger Definition kein Lebewesen“ und schon bald eine

Auch die Tafel

Gesellschaft ist dichtgemacht,

Der grüne Grashelm hat dich ausgestochen

eine Schutzmaßnahme Aber having non (Habenichtse) hath no care to defend it.

Ein Flügelschlag Legt ihn um, the climate of history

Die Kanzlerin rät von sozialen Kontakten ab. Streifenwagen

Und du läufst, ein panisches Freitagskind

schaun nach ob noch Leben ist

In der Begängnis im Weltgebäude

Was haben Sie 2020 gemacht? – Die Hände gewaschen Kein Shakehands, doch vorsichtshalber der deutsche

aus der Geschichte Kein Telos, „eine Handvoll Maximen“

Gruß. Der HErr zieht den Finger zurück in der cappella sistina Damit er sich nicht ansteckt in der Risikogruppe

und ein Trampelpfad Aus den Systemen. Das ist deine Kunst jetzt Allein zu sein, mit allen, und ernst

Der Überalten, jeder vierte (Gott) stirbt.

Auf dich gestellt wie der Stein, der Halm

Ein Schatten streift dich bloß, ein fahler Hauch

Und mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren.

Touchiert deine Lungen, du atmest durch

Nur einen Sommer haben wir noch vor es Winter wird.

Im Anthropozän

Ihr Ölbäume Kretas, dreitausendjährig, ihr mächtigen

The scientists are in terror

Gletscher. Sieh das Übrige an,

And the European mind stops (Canto CXV) China schwitzt das Übel im Schwitzkasten aus Ein Unterarmwürgegriff (: in die Armbeuge husten) Lernt, Kontinente, die Lava kochen

die holozänen Bestände Hoffnungsträgerin, Artgenossin „Wie könnt ihr es wagen“ –


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GINSTER. PLANTAGENET Britannische Küsten, gelbleuchtend, büschebewehrt Sichtschutz bei der Jagd und Augenweide Ein Graf von Anjou, den Zweig am Helm, plante genêt Fing den Namen ein

DER AUSSÄTZIGE

Und nachfolgend Richard of York Ein Königreich für tausend tote Pferde,

Ich sah Bahro wieder, in Worms. Er ging ohne Mundschutz

das Ginster-

Seit Bautzen, er war immun; während wir uns in Selbsthaft verfügten.

Geblüt. Neunzig Arten; Ginster, aus der Nähe, stinkt

Wer bist du? rief ich. – Noch einmal ein Mensch, er lachte befreit:

Spesenritter, expense knight, Bastarde und Bluthunde

Im Übergang –

Die Blankverse sprechen

Es waren ihm Flügel gewachsen

Dialekt der Natur

Und er trug Kissen mit sich für die Meditation

Und Unnatur, ein haltbarer Spielplan. Scene – the Globe

Vor der Megamaschine. Ausgebremst war sie auf seinen Befehl

Das Gerücht tritt auf, ganz mit Zungen bemalt

Die Aeroplane vom Himmel geholt, und pünktlich fallen die Züge aus.

Und spricht von Schuld

Das Leben zwangs-

Waldfrevel Waschzwang Luftverletzung Die Unzucht der Schlachthöfe

entschleunigt, „nur noch ums Haus herum“ Geht die Logik der Rettung, „das Nichtstun bringt es.“

und Unschuld natürlich

Wie sie bewegt ist, miteinmal, stillezustehn,

Familiendramen mit Mord-Werkzeugen, zwangsläufig Im Badezimmer, das Bauernlegen der Banken

die Welt Wie zur Besinnung gebracht. „Das Naheliegende birgt das Geheimnis.“ So fuhr er fort.

Über die Böschung gebeugt, seh ich sie reiten

Die Alte, ausgemergelt, dement

Gelbleuchtend, zwischen den Büschen

Vom Speed, schrie uns vom Kaufland zu: Pandemie

Verrückte, die Visiere/Schädel geöffnet

Lacht und schlägt um sich mit dürren Armen, rastet aus

Das Rostbeef Europas. Ein Rohrbruch her

Und St. Rudi umarmte sie furchtlos, sein Schweißgeruch Die Sint-

Die Sinnflut ins Trockendock der Civilisation: Ein Brettspiel von F. G. Tresham (from 13 years) Der Nach-Wuchs setzt sich in Bewegung, die bodenStändige Erde, ausgeholt wie sie ist, spielt mit uns production Mit ihren Ressourcen Zonen Gezeiten Früh- und Spätschicht bis zum Verrecken. Wir Die Reservearmee im Krieg der Landschaften: Die Rosenkriege Wollt ihr sehn, was ein Weltkrieg ist. WELCOME IN THE KOM-POSTMODERNE Sayd Donna Haraway. Und umgebettet die grauen Gräber in die Zusammenhänge Exit old mankind.

Und andre Vorsicht rissen mich rückwärts, froh doch Dem Kumpel wiederbegegnet zu sein in besseren Zeiten.


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SORGEN DES STAATSWESENS Die Wesen sehn das Staatswesen an. Es ist ernst Geworden. Was kommt auf uns zu? Man sieht nichts, und sie lachen ernst, trinken Bier Lästern. Der Staat geruht zu regieren. Soviel Wesens sonst um nichts, Routinen Bluff In den Parlamenten. Es ging um die schwarze Null. Er hat lange nicht nachgedacht, nichts zurückgelegt, keine Gedanken gehortet. Nicht einmal das Klopapier Das sie wert ist. Jetzt darf er Mittel in die Hand nehmen In beide Hände, die Bevölkerung ersuchen etc. etc. Jetzt spricht die Queen. Boris Johnson Liegt auf der Intensivstation bzw. es geht ihm besser Die Büste des Perikles steht im Office, Downing Street 10. Der Stratege, der bevor er den Krieg in Attika lostrat Die Bürger zwischen die Langen Mauern einlagerte Wo sich im Gewühl der Tod breitmachte. Seine zwei Söhne Erlagen der Pest, auch Perikles. Boris denkt Er habe das Beste noch vor sich Ein gewöhnliches Wesen Fragt im Radio: wie lange geht das schon so? Daß ein beinahe heilloser Stillstand herrscht, und sich wies scheint Nur die Gewinn- und Verlustmaschine dreht Ohne erkennbaren öffentlich-kulturellen Sinn? – Die Athener

HANDSCHLAG

Ließen sich Theatergeld und Kornspenden ausschütten. Meinem Wesen entspricht

Das Wesen, das sich die Hand gibt (seit wann? die Römer

seh ich das da Daß ich Abstand halte und auf Anfrage twittere:

Etrusker), befangen oder emphatisch, zivilisiert Wird aussterben,

Ich bin

weiß Wallraff, der verdeckte nicht der

Enthüller, also das Abendland geht ohne Abschied

Und meine Billigung

Ein Winkewinke, das wars. Man kann sich verneigen ihr

habt

Wie auf einer höfischen Bühne, Regietheater, der Einfall nicht. Wir

wissen nicht was

Einander nicht zu berühren,

werden können. wir

MeToo-Ästhetik, correctness Der Jetztzeit, Dekadenz

Aber es gibt natürlich ausführlichere Metren Für Worte wie mitleiden-

Ich sitze am Tegeler Fließ

schaftlich, gemeinsüchtig

Mein Vaucluse. Laura am anderen Ufer, nicht zu durchwaten

Menschenmöglich, wenn es uns ernst wird.

Das Wasser, ein grüner inwendiger Wald, durchströmt

Was reden was denken wir hin –

Von Canzonen. Ich halte die Pfote hinein –

Mehr als wir denken sind wir sagte Einer kurzAngebunden

die Hand Die nach der Frucht greift, nach dem Werkzeug, die rettende Die sich ausstreckt zu dem überladenen Boot Im Tyrrhenischen Meer, und eine Hand ergreift. Faß zu Halte sie fest in deinem Vers. Und der sagenhafte Handschlag, velkommen, im Rathaus, der Eingebürgerten Danmarks.


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AGGREGAT K Ein Gerät, verrostet, verdreckt, unbrauchbar gemacht

Arbeit) „der Stoffwechsel mit der Natur“

Ein Strommast vielleicht, Metall und Gebein

Mit der geringsten Kraft organisiert; die unmittelbar auf die Not

Verworrener Draht ummantelt mit Blut

Des andern bezogene Handlung, nicht vermittelt

Das Bild-

Durch ein Äquivalent; Gemein-

Material alter Zeiten, in die Landschaft gesunken

Sinn und -besitz DAS IST DER KERNBEREICH DER FABRIK

Verwitterte Losungen, rätselhaft

Mitleiden-

Die Wikinger? Moskowiter? Beim Nähertreten

schaftlich, gemeinsüchtig, eine mögliche

Sperrgebiet: da geht kein Gespenst mehr um

Praxis, um die sich alles wie um die Sonne dreht

Vermint womöglich, jedenfalls nicht geheuer Liebe) Er übte sie, keusch wie ein Kämpfer Claus hat es gezeichnet ganz als Schrift

„auf dem Weg Ho Chi-Minhs“

„Unleserlich“, auf transparentem Papier

Der / dem Entfernten nah sein / sich, kein qiángjiān, kein

beidseitig Gegen das Licht zu halten, das EINST UND JETZT

bùyào zìwèi, (das flüsterte mir schon Djin auf den Wällen Xi’ans)

Feder Pinsel Finger Kreide z.T. Reißungen

Seis drum, er gewann Kraft

Das Aggregat Erinnerung Traum Der Gang in den Schneewald

Die kleinen Orgasmen zwischen den Wörtern (Eva Hesse ad Pound)

Bewußtsein

Die Sanfte Kunst, mit der leeren Hand

die „ewige Frage“ nach dem Unrecht schlechthin

fechten

Schwarze Fahnen, der Totenstrom im Hirn Haltestellenschilder = Steckbriefe, im Etwas summt noch klirrt hallt nach in dem Kasten

Ehem. Werksgelände. Unterbewußte Felder

Mit der Aufschrift K

Resttexte, ggf. Bombentrichter. Folgen Ein Geräusch aus Kavernen

Knochenschutt. ein Atemziehn, und pumpt

Die Robinsonaden des Überflusses. Klärschlamm.

Sekrete, wäßrige Fäden, Fermente, Sporen

Die Verheißung, praktisch vom Mund abgespart. Ihre schräge

Von Widerstand, aufgewehter Mut

Gestalt sitzt noch am Weg, eine Verrückte, nackt

Verzweiflung, das Springkraut aus der untersten

Vor der Wahl, vor Scham zu versinken / weiterzuwandern

Erde, und die Restkraft der Kontinente

Mit ihrem Geheimnis Schwäche Rotz Anarchie In andere Dünen, Dürregebiete, Brüder zur Sonne

Er sah mit Augen, Zunge, Zahn, sah durch Auf die Spiegelschrift, Zukunft (von VORN UND HINTEN), un-

„Es ist noch früher politischer Morgen“

Erledigt

Er drückte die Hand auf das Blatt, „auf die Geschichte“ Das Gespräch des Materials mit sich selbst

„Das Verhältnis etwa der chinesischen Tusche

Aus dem Solarplexus heraus jäh beschleunigt Der Karate-Schlag aus dem Augenblick,

Zu Metall oder Folie und ihre Reaktion auf Äthanol“ Das Gedächtnis eines entschlossenen Strichs

der sie ingangsetzt Dem gehenden Fuß geht der Boden auf –

Oder weiß schwarz „brutal überdeckt was da steht“

Entstanden März/April 2020.


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Martin Linzer Theaterpreis 2020 T

heater der Zeit vergibt jedes Jahr im Juni einen Theaterpreis. Er ist Martin Linzer gewidmet, der gemeinsam mit Herbert ­Ihering, als dessen Schüler er sich begriff, einer dezidiert linken Theaterkritik im 20. Jahrhundert den Weg ebnete und bis ins be­ ginnende 21. Jahrhundert unverwechselbar ausschritt: haltungs­ stark, beobachtungsscharf und stilsicher. Martin Linzer, der 2014 verstarb, hinterließ eine noch heute klaffende Lücke, für uns wie für das Theater, das er liebte, ohne sich ihm aufzudrängen. Prä­ sent ohne Attitüde, schrieb er mit intellektueller Wachheit und Noblesse seine Theaterkritiken, oft an den Hauptstraßen des Theaterbetriebs vorbei im vermeintlich Kleinen das Große ent­ deckend. Er tat das 57 Jahre lang für unsere Zeitschrift. So ehren wir ihn und danken ihm, indem wir uns auf seine Spur begeben. Mit Vernunft und ohne Besserwisserei, aber mit deutlichem Be­ zug aufs Wirkliche. Dieses zu suchen soll der Anspruch des Prei­ ses sein, den wir, gemäß dem Votum eines jährlich wechselnden ­Alleinjurors von Theater der Zeit, jeweils einem Ensemble oder einer freien Gruppe zuerkennen wollen, dabei einen weiten ­Theaterbegriff ausschreitend. //

Schauspiel, das einen packt – Sandra Hüller und Jens Harzer in Heinrich von Kleists „Penthesilea“ (Regie Johan Simons, Schauspielhaus Bochum 2018). Foto Monika Rittershaus


martin linzer theaterpreis

Schauspielhaus Bochum Wer Preise vergibt, tut Urteile kund. Man möchte mitteilen, was man für außerordentlich und gelungen hält. Dass der diesjährige Martin Linzer Theaterpreis an das Schauspielhaus Bochum und sein Ensemble geht, hat Gründe. Und zwar gewichtige. Denn was unter Johan Simons an dem Haus geschieht, muss man auch im fernen Berlin zur Kenntnis nehmen. Die Berliner – noch dazu, wenn sie ins Theater gehen – denken nämlich immer, in ihrer Stadt gäbe es erstens alles und zweitens besser als anderswo. Doch dann fährt man nach Bochum ins Theater und stellt fest, dass beides nicht stimmt. Das Theater, das man in Bochum sehen kann, handelt von der tragischen oder komischen Selbstver­ strickung des Menschen. Es richtet sich an alle, nicht nur an die Wohlbetuchten oder -informierten. Es beweist, dass zeitgenös­ sisches Schauspiel sich an klassischen Texten entzünden und un­ sere Gegenwart beleuchten kann. Ein solches Theater wird eine Zukunft haben, weil es mit dem Publi­ kum den künstlerischen Griff nach den Sternen wagt. Nach einem denkwürdigen Abend wie „Iwanow“ von ­Simons streift man durch das nächtliche Bochum. Die Feierwütigen am Bermuda3Eck vermischen sich mit den Wodkagelagen auf dem russischen Land. In den Secondhandläden und Pfandleihgeschäften um den Hauptbahn­ hof hallen die Klagen über die Schulden im Stück wider. Es ist, als hätte Anton Tschechow das Bochum unserer Tage ge­ kannt. Oder überhaupt unsere Zeit. Die gro­ ßen Erzählungen des Theaters fassen viel Wirk­ lichkeit. Der von Jens Harzer verkörperte Iwanow ist ein kluger, aber verzweifelter Mensch. In seinem zerfallenden goldenen Käfig erleidet er einen Widerspruch, an dem er letztlich zugrunde gehen muss. Er sieht den Mangel, die Haltlosigkeit und den Abgrund, die sich im Zentrum der Gesell­ schaft auftun. Und zugleich findet er keinen Weg heraus. Diese Darstellung bleibt wie der gesamte Abend über lange Zeit im Ge­ dächtnis, und vielleicht wird man sie nie vergessen. Das ist die Hoffnung einer flüchtigen Kunstform wie Theater. Was zeichnet unsere Epoche aus? Die Selbstabschaffung des Menschen durch seine Tätigkeit – wie es Tom Schneiders „Die Hydra“ nach Heiner Müller zeigt. Die Arbeiten des Herakles ver­

schränken sich mit der entbehrungsreichen Schufterei im Ruhr­ gebiet, deren Andenken man im Deutschen Bergbaumuseum in Bochum bestaunen kann. Was aber kommt nach der Arbeit? In dieser Gesellschaft ist es nicht die Freiheit, lautet Müllers realisti­ scher Befund, sondern die Zerstörung. So verschwindet Sandra Hüller hinter Plastikfolie wie das Soziale in der Quarantäne. In der kybernetischen Moderne, in der permanentes Just-in-timeFeedback an die Stelle einer geschichtlichen und sittlichen Vision getreten ist, wagt das Theater den Blick auf den größeren Zusam­ menhang: Arbeit am Krisenbewusstsein des Menschen in einer verkehrten Welt. Jens Harzer und Sandra Hüller gehören zu den beein­ druckendsten Schauspielern, die man zurzeit im Theater erleben kann. Sie hervorzuheben soll nicht schmälern, wie großartig das gesamte Bochumer Ensemble ist. Wie muss das Schauspiel ­beschaffen sein, das fasziniert, die Aufmerksamkeit fesselt und Leidenschaften sowie Vernunft weckt? Das offene Geheimnis, wie es Peter Brook einmal nannte, besteht in der dreifachen Bezie­ hung des Schauspielers – zum eigenen Ich, zu dem Anderen und zum Publikum. Und dazwischen muss jeder Schauspieler wie ein Seiltänzer um die Balance ringen. Wenn man wie mit angehalte­ nem Atem einem Abend wie „Iwanow“ folgt, der immerhin nicht weniger als viereinhalb Stunden dauert, dann wohnt man einem solchen Balanceakt bei. Der euphorische Schlussapplaus tut die Erleichterung kund, dass alle Seiltänzer nach ihren Höhenflügen wieder wohlbehalten auf dem Boden gelandet sind. Schauspiel kann das Leben zeigen, und zwar in der verdich­ teten Form und mit all seinen untergründigen Spannungen. Aus dem Wust des Mannigfaltigen gewinnt das Theater das Exem­ plarische und spiegelt diese Erfahrung gleichsam als Konzentrat wider. Nicht umsonst ist die Bedeutung von Iwanow im Russi­ schen die des Jedermann. Es geht um uns als gesellschaftliche und politische Wesen. Wir blicken in den Spiegel des Theaters. Er verstärkt das Erstaunen darüber, wie wir leben. Vielleicht verstärkt er auch die Hoffnung, dass es nicht für immer so bleiben muss. Und so beginnen wir, uns zu begreifen. Das geschieht überall dort, wo man sich mit heiterem Ernst und aufrichtiger Hingabe der Kunst widmet. Wie in Bochum. Dafür gibt es in diesem Jahr den Martin Linzer Theaterpreis. Herzliche Gratulation! // Jakob Hayner Juror Martin Linzer Theaterpreis 2020

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Kristallisationspunkte des Künstlerischen

Was macht das Schauspielhaus Bochum und sein Ensemble so besonders? Der Intendant Johan Simons mit den beiden Schauspielstars Sandra Hüller und Jens Harzer im Gespräch mit Martin Krumbholz

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andra Hüller, Sie sind bei sich zu Hause in Leipzig. Wie hat man sich den Alltag einer Schauspielerin vorzustellen, die aufgrund der Coronakrise nicht auftreten darf? Sandra Hüller: Es gibt genug zu tun. Ich unterrichte zusammen mit meinem Mann meine Tochter, auch andere Kinder im Haus, wir haben einen strukturierten Tagesablauf, sodass wir nicht ab­ stürzen und unsere Körper nicht verfallen. Ich habe noch keinen einzigen Tag herumgelegen. Nur mit Theater hat das eher wenig zu tun? Hüller: Es gibt auch Aufgaben für das Online-Programm des ­Bochumer Schauspielhauses. Wir hatten gerade eine Ensemble­ versammlung, wo wir besprochen haben, dass wir uns der Hintan­

stellung der Kultur jedenfalls nicht kampflos ergeben. Es war eine sehr kämpferische Versammlung. Jens Harzer, wie ist das bei Ihnen? Johan Simons: Ich weiß nicht, ob er uns hört. (Pause.) Der hört uns nicht. Jens Harzer: Jetzt hör ich euch! Mein GOTT! Sie sind zu Hause in Hamburg. Wie sieht der Alltag eines Schauspielers aus, der nicht auftreten darf? Harzer: Man tritt einfach nicht auf. (Sandra Hüller lacht.) Ich probiere eigentlich seit fünf Wochen mit Leander Haußmann den „Geizigen“, ab und zu trifft man sich über Zoom, wie das jetzt eben getan wird, ansonsten lerne ich Text und tue so, als würde ich bald auftreten. Ich weiß gar nicht, ob es etwas mit mir macht, wenn ich nicht auftrete. Irgendwie schiebe ich es von mir weg.


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Zwischen den Requisiten hausen die Schauspieler – Anton Tschechows „Iwanow“ (Regie Johan Simons, Schauspielhaus Bochum 2020). Foto Monika Rittershaus

Johan Simons, wo sind Sie jetzt? Simons: Ich bin jetzt in Holland, fahre morgen nach Bochum, werde auf Corona getestet, erfahre 24 Stunden später das Ergeb­ nis. Dann kann ich frei herumlaufen, mit 1,50 Metern Abstand. Wie hat man sich das Bochumer Schauspielhaus im Standby-Modus vorzustellen? Sitzen da lauter Schneider, die Schutzmasken nähen, während die Dramaturgen zu Hause an Spielplänen basteln? Simons: Ja, das Kostümatelier macht wunderschöne Mund-NaseMasken, und die Dramaturgen basteln an einem Programm, von dem wir nicht wissen, wie und wann es stattfinden soll. Wir hoffen, dass wir so bald wie möglich wieder probieren und spielen können. 1,50 Meter Abstand, ich bin gespannt, was dann fehlen wird, wenn man sich nicht anfassen kann. Was da fehlt, wird man ja auch im Saal ständig spüren. Da sitzt man auch 1,50 Meter voneinander ent­ fernt. Und dafür sind viele Überlegungen nötig, für die ich nicht allein verantwortlich sein kann. Wie läuft es weiter mit „Hamlet“ und „Iwanow“, wenn wir diese Stücke wieder aufnehmen: Müssen alle Schauspieler coronafrei getestet sein, was für Verabredungen müssen getroffen werden? Das Theater muss ganz neu denken! Nehmen Sie als exponierte Schauspieler eigentlich Einfluss auf den Spielplan? Würden Sie, Frau Hüller, zum Beispiel sagen, ich würde gerne mal Hamlet spielen? Hüller: Bei „Penthesilea“ war es so, dass Johan Simons mich ge­ fragt hat, was ich gerne mal bearbeiten würde. Das war schon die­ ses Stück. Aber das war das einzige Mal, richtig, Johan? Sonst war ich immer gespannt darauf, was andere für Ideen hatten. Ich dachte immer, das wird schon passen. Harzer: Ich glaube, man sollte sich als Schauspieler so wenig wie möglich wünschen. Hüller: Oft ist es besser, wenn es auf den ersten Blick nicht passt. Wenn es nicht zu bequem ist.

martin linzer theaterpreis

Der 1946 in den Niederlanden geborene Schauspieler und Regisseur Johan Simons leitete unter anderen die Haagsche Comedie, die Theatergroep Hollandia, das NTGent, die Münchner Kam­ merspiele, die Ruhrtriennale und seit der Spielzeit 2018/19 das Schauspielhaus Bochum. Neben vielen anderen Auszeichnungen wurden insgesamt sieben seiner Inszenierungen zum Berliner ­Theatertreffen eingeladen, zuletzt dieses Jahr „Hamlet“. Die Hauptrolle in „Hamlet“ spielt die vielfach ausgezeichnete Filmund Theaterschauspielerin Sandra Hüller, geboren 1978 in Suhl. Sie erhielt für ihre Darstellung den Gertrud-Eysoldt-Ring 2019. Nach ihrer Ausbildung an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin war sie unter anderem Teil des Ensembles am Schauspiel Leipzig, dem Theater Basel, den Münchner Kammerspielen. Seit 2018/19 ist sie am Schauspielhaus Bochum. Gemeinsam mit Hüller steht der 1972 in Wiesbaden geborene Schauspieler Jens Harzer in „Penthesilea“ in der Regie von ­Simons auf der Bühne. Harzer spielt seit 2018/2019 regelmäßig in Bochum. Nach seinem Studium an der Otto Falckenberg Schule in München war er 16 Jahre Teil des Ensembles von ­Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen und dem Residenztheater. 2009 ging er ans Thalia Theater Hamburg. Zudem ist er in zahlreichen Filmen zu sehen. 2019 wurde ihm von Bruno Ganz der Iffland-Ring vermacht. Fotos Joseph Kadow

Würden denn Sie, Herr Harzer, gern mal eine zentrale weibliche Rolle spielen? Phädra? Harzer: Na ja, ich bin mit Achill ja auf dem besten Weg, der ist ja ein halbes Mädchen. Und wie man an meinen langen Haaren sieht … Nein, eigentlich kann ich dazu nichts sagen. Sie haben sich die Frage noch gar nicht gestellt? Harzer: Das wäre ja unverschämt, wenn man auch noch das Käth­ chen von Heilbronn spielen wollte. Aber sagen wir es doch so: Je mehr weibliche Anteile eine männliche Figur hat, desto besser. Frau Hüller, Sie haben im Programmheft erklärt, Sie wollten Hamlet etwas von seinem Zynismus nehmen. Hat sich dieser Vorsatz bei den Proben bestätigen lassen?

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Hüller: Ehrlich gesagt ist uns der Zynismus kaum aufgefallen, weil die Fassung so klar und liebend war. Ich fand diese Seite der Figur nicht so interessant, und da haben wir eben etwas anderes gesucht. Und gefunden? Hüller: Och, vielleicht. Dagegen hat man bei „Iwanow“, Herr Harzer, nicht unbedingt den Eindruck, Sie gäben sich Mühe, die Figur von ihrem Zynismus zu befreien, oder? Harzer: Was für eine Frage. (Pause.) Ich glaube, dass unsere Les­ art der Figur keine zynische ist. Man könnte die Figur sicher pa­ thologischer spielen, oder mehr abgekapselt in sich … Passt Zynis­ mus zu Tschechow? Ich glaube nicht. Peter Handke würde von inniger Ironie sprechen. Verloren eher oder entscheidungs­ schwach und daher auch verletzend und taumelnd. Simons: Ist Zynismus vielleicht auch eine Rettung? Zwar eine egoistische … Und diese Rettung ist nicht Iwánow vorbehalten. Oder Íwanow. Ich sage das ständig falsch jetzt … Harzer: Ich finde, dass die Aufführung mit Zynismus wenig zu tun hat. Simons: Warum fragen Sie eigentlich danach? Er behandelt seine todkranke Frau recht grob, geht zu seiner Geliebten … Harzer: Wenn Sie das meinen, das ist ja die Geschichte. Die kann man nicht besser oder schlechter machen. So gesehen sind alle Tschechow-Figuren Egoisten, selbst in den wärmsten Stücken, selbst in „Onkel Wanja“. Man kann die Figuren sehr ichbezogen lesen, klar, aber das ist dann noch nicht mal die Hälfte der Wahrheit. Gerade in der radikal reduzierten Form ist „Penthesilea“ gewissermaßen Literaturtheater par excellence. Wenn dieser Begriff heute in einem abschätzigen Sinn gebraucht wird, was denken Sie? Hüller: So habe ich das noch nie gehört. Harzer: Das sind so Begriffe von euch Journalisten … Na gut, mei­ netwegen, also ich habe eigentlich noch nie etwas anderes ge­ macht als Theater mit Literatur und Texten. Simons: Ich bin, glaube ich, 2003 nach Deutschland gekommen, und ich habe immer die Sprachgewalt der deutschen Literatur be­ wundert. „Penthesilea“ ist vielleicht das schwierigste Stück, das ich kenne. Wie die beiden das spielen, das ist Musik in meinen Ohren. Ich spreche einfach schlecht Deutsch, aber ich höre, dass die beiden fantastisch miteinander Musik machen, das ist modernstes Musik­ theater, könnte man fast sagen. Nicht Literaturtheater. Die Figuren in „Penthesilea“ sind in einem leidenschaftlichen Konflikt zwischen Stolz und Begehren. Lassen sich diese Tendenzen spielerisch in Einklang bringen? Hüller: Die widersprechen sich natürlich total. Harzer: Was waren noch mal die Begriffe? Stolz und … Hüller: Begehren. Ich glaube, es ist ein bisschen mehr als Stolz. Herkunft. In den Genen der beiden sind ja verschiedenste Dinge angelegt. Stolz hört sich so an, als könnte man das mit einem Fin­ gerschnipsen überwinden, so einfach ist das nicht. Kann man stolz begehren? Kann man begehrlich stolz sein? Das geht nicht

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zusammen. Das kann man bei Kleist nicht verbinden. Die Zeit war noch nicht reif für so eine radikale Verbindung. Wenn man die Schleife weiterdreht, kommt man vielleicht eines Tages zu ei­ nem Punkt, wo es möglich wird. Harzer: Der große Kleist wäre nicht der große Kleist, wenn er nicht die Menschen in diese unauflösbaren Paradoxien stürzen würde. Auch die kleinsten Figuren sind auf dem Weg, sich aus ihren Bindungen zu lösen. Das ist dann von irgendeinem Punkt an nicht mehr zu erklären. Herr Simons, setzen Sie sich selbst Quoten, wenn Sie ein Ensemble zusammenstellen? Fünfzig Prozent müssen Migrationshintergrund haben, zwanzig Prozent von der Ernst-Busch-Hochschule kommen, zwei bis drei regelmäßig im Fernsehen zu sehen sein … Simons: Nein. Es ist intuitiv, ist auch ein Bauchgefühl. Wenn man in Bochum über die Straße geht, sieht man die unterschiedlichsten Hautfarben, hört die unterschiedlichsten Sprachen, und dem sollte unser Ensemble entsprechen. Gina Haller zum Beispiel, die in „Hamlet“ Ophelia und Horatio spielt und in „Iwanow“ die Sascha, wenn man sie und ihre Hautfarbe sieht, könnte man vielleicht den­ ken: Die hat doch nichts mit diesem Polonius zu tun, aber das ist das Gute an Theater: Es kann, darf und muss eine Behauptung sein. Herr Harzer, Bruno Ganz hat Ihnen vor einem Jahr den IfflandRing vermacht. Bedeutet das für Sie, dass Sie den Rest Ihres ­Lebens aufpassen müssen, wer Ihr Nachfolger oder Ihre Nach­ folgerin wird? Harzer: Das mit dem Preis kann man auch langsam mal weglas­ sen. Es ist ja keine Lebensaufgabe, diesen Ring zu tragen. Das war vielleicht bei Werner Krauß so. Die Zeiten haben sich doch im besten Sinne demokratisiert, auch in den Künsten. Was nicht hei­ ßen soll, dass es nicht Spitzenkräfte gibt. Ich muss nur aufpassen, auf gute Leute zu treffen. Wie wir alle übrigens. Die Entscheidung wird sich also spontan ergeben? Harzer: Ach, da bin ich doch schon längst durch: Drei Monate nach der Verleihung musste ich das in Wien hinterlegen. Aber kann ich noch was anderes sagen? Dieser Preis (der Martin Linzer Theaterpreis; Anm. d. Red.) ist doch für das Bochumer Ensemble, nicht? Jetzt sitzen hier Sandra Hüller und ich, aber eigentlich müssten hier alle anderen sitzen, das ist hoffentlich ganz klar. Sonst ist das ja fast fahrlässig. Der Suchprozess, den Johan vor drei Jahren angestoßen hat, beinhaltete frühzeitig den Wunsch, auch Sandra und mich an Bord zu haben, in welcher Form auch immer. Nur sind wir im Gegensatz zu anderen aufgrund verschie­ dener Umstände eben nicht ganz nach Bochum gegangen. Der Kristallisationspunkt des Bochumer Schauspielhauses ist aber doch die Künstlerpersönlichkeit von Johan Simons. In einer Zeit, da viele Intendanten eher Dramaturgen oder was weiß ich sind, ist das der entscheidende Unterschied: Die Subjektivität einer künst­ lerischen Leitung ist doch das, was einen dazu bringt, an so ein Haus zu gehen. Nicht die Kompatibilität mit dem, was sonst alle machen. Ich finde, darin liegt der schöne Erfolg für das Bochumer Theater. // Das Gespräch wurde Ende April als Videokonferenz geführt.


martin linzer theaterpreis

Die Spieler von Martin Krumbholz

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Divers, aber nicht divergent und in jeder Hinsicht außer­gewöhnlich – Das mit dem Martin Linzer Theaterpreis ausgezeichnete Ensemble des Schauspielhauses Bochum im Porträt

iner schleicht sich an, hat ein Gewehr, führt etwas im Schilde. An der Rampe sitzt Jens Harzer als Nikolaj Alexejewitsch I­ wanow, er hält ein Buch in der Hand, scheint kurz davor, einzuschlafen. Der sich da anschleicht, ist der ständig besoffene Gutsverwalter Borkin. Nähergekommen, zielt er auf seinen Herrn, will ihn ein bisschen erschrecken, weiter nichts. Harzer zuckt zusammen, aber er behält ganz und gar die Contenance. Keine Empörung, kein Aufschrei, nur ein müdes Lächeln. Dies ist der stumme, fabelhaft komische Auftakt der Tschechow-Inszenierung von ­ ­Johan Simons. Der weitgereiste Kritiker der Frankfurter Allgemei­ nen Zeitung schrieb, dieser „Iwanow“ sei die einzige Aufführung der Spielzeit, die man unbedingt gesehen haben müsse. Das war ein paar Wochen vor Corona. Borkin ist Thomas Dannemann, der 2005 bei Jürgen Gosch Macbeth und vorher den Bassow in den „Sommergästen“ gespielt hat. Wer es sich leisten kann, einen superben Spieler (und auch Regisseur) wie Dannemann in einer, nun ja, Nebenrolle zu beset­ zen, der schöpft offensichtlich aus dem Vollen. Zusammen mit Martin Horn und Bernd Rademacher bildet Dannemann ein veri­ tables Männertrio, lauter Nichtsnutze, vom müden Iwanow erdul­ det, jedoch nicht ernst genommen. Anders als der junge Arzt Lwow, der heimlich in Iwanows kranke Frau verliebt ist und sich über die Eskapaden des Hausherrn rechtschaffen empört. Der 1993 geborene Marius Huth spielt ihn brillant, mit einer Schärfe, die wiederum an seinen schneidigen Jurastudenten Erich aus den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ erinnert: Geistige Anti­ poden, Humanist hier und Protofaschist dort, subkutan verbun­ den durch die eindrückliche Präsenz ihres Auftritts. Kann man ein Ensemble porträtieren? Zumal ohne Unge­ rechtigkeiten, denn jede und jeden zu nennen wird kaum möglich sein? Es geht wohl nur nach dem Suchscheinwerferprinzip: Ein­ zelne herausgreifen, stellvertretend für alle, die dieses bemerkens­ werte, diverse, aber nicht divergente Bochumer Ensemble aus­ machen. Ein Ensemble, das erklärtermaßen ein Spiegelbild des Bevölkerungsschnitts sein soll, wie man ihn in der Bochumer ­Innenstadt, etwa im sogenannten Bermuda3Eck, der quirligen Vergnügungszeile zwischen Schauspielhaus und Bahnhof, antrifft. Etablierte polyglotte Kräfte, Nachwuchsspieler, Migrantenkinder der zweiten und dritten Generation und „alte weiße Männer“.

Eines unter zahlreichen großartigen Ensemblestücken – Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (Regie Karin Henkel, Schauspielhaus Bochum 2019). Foto Lalo Jodlbauer

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Menschen wie die Baselerin Gina Haller, Jahrgang 1987, eine gra­ zile Erscheinung mit kurzem Haar und dunkler Haut. Ihr Spiel hat etwas berührend Spontanes, Direktes, bisweilen scheinbar Ungeformtes. In Simons’ „Hamlet“ ist sie eine androgyne OpheliaHoratio als Doppelfigur, ein Alter Ego des von Sandra Hüller gespiel­ ten Dänenprinzen. In „Iwanow“ spielt sie die Sascha, eine junge, leidenschaftliche Frau, die den verheirateten Titelhelden begehrt und, ohne besondere Mühe, erobert. Wild geworden vor Verlan­ gen nach einem in dieser Welt so offensichtlich verlorenen Mann. In Karin Henkels „Geschichten aus dem Wiener Wald“ spielt Hal­ ler eine mediokre Mutter und die perfide Großmutter abwech­ selnd, ein Kabinettstückchen ohne Tiefgang, aber mit viel Witz. In der Horváth-Inszenierung ist Marina Galic eine spröde, zerbrechliche und doch auch zunehmend starke, selbstbewusste Marianne, neben dem Berliner Ulvi Teke, der an dem salbadern­ den Strizzi Alfred weniger das Wienerisch-Bräsige als das Emp­ findliche, notorisch Gekränkte und ewig Missverstandene betont. Teke war, in einer unwirklichen Bomberjacke, auch der verliebte König Alfons in Simons’ Eröffnungsinszenierung „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwanger. Ein drahtiger, gelenkiger Spie­ ler, zudem erfreulich vielseitig. Tekes Partnerinnen dort waren keine Geringeren als Anna Drexler, früher im Ensemble der Münchner Kammerspiele, und Hanna Hilsdorf als Frau und ­Geliebte des pflichtvergessenen Königs. Doch zurück zu „Iwanow“, jener Inszenierung, die dem FAZ-Votum zum Trotz nicht zum abgesagten Berliner Theater­ treffen eingeladen wurde – stattdessen hätte der Bochumer „Ham­ let“, verdientermaßen, dorthin reisen dürfen. Da wäre etwa Marina Frenk, 1986 in Moldawien geboren und als Siebenjährige nach Deutschland gekommen: Sie gehörte bereits dem Bochumer En­ semble von Elmar Goerden an (2005–2010), spielt und singt in diversen Ethnopopbands und hat auch schon ihren ersten Roman mit dem hinreißenden Titel „ewig her und gar nicht wahr“ publi­ ziert (s. S. 56) – ein ubiquitäres Multitalent. Als solches stattet sie die reiche und übellaunige Witwe Babakina, wirklich eine Neben­ rolle, mit einem trockenen Mutterwitz aus. Tschechows Dramatur­ gie produziert ja episodische Strukturen, in denen jeder und jede die Chance nutzen muss, sich mit ein paar entschiedenen Strichen für wenige vergängliche, aber unvergessliche Momente in den Vor­ dergrund zu spielen. Johan Simons erlaubt sich den Scherz, die gerade nicht aktiven Figuren wie Requisiten in ein riesengroßes Regal im Hintergrund der von Johannes Schütz entworfenen ­Bühne zu räumen. Stumm schauen sie von dort dem Spiel zu.

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Zu diesen meist Anwesend-Abwesenden gehört auch der spiel­ süchtige Steuereinnehmer Kosych, den Konstantin Bühler mit seinen stereotypen Sprüchen knapp am Rand einer interessanten Karikatur präsentiert. Sandra Hüller und Jens Harzer in allen Eh­ ren, aber das Bemerkenswerte an diesem Bochumer Ensemble ist ja eben, dass auch mittlere und kleinere Rollen großartig besetzt werden können. In „Hamlet“, um noch einmal den Schauplatz zu wechseln, sind Konstantin Bühler und Ulvi Teke Rosenkranz und Güldenstern (oder Güldenstern und Rosenkranz?), jedenfalls ein eher bizarres, fast nachdenkliches, nicht vordergründig komi­ sches Komikerpaar, keineswegs harmlose Sparringspartner für Hüllers Hamlet. Den ersten Totengräber spielt eine temperamentvoll-clow­ neske Jing Xiang, und den zweiten eine etwas affektiert-rede­ scheue Ann Göbel. Stefan Hunstein, auch er ein früherer Münchner Kammerspieler, gibt einen impulsiven und jähzornigen, durchaus herrschsüchtigen König Claudius. Bernd Rademacher, während Anselm Webers Intendanz meist nur in Episodenrollen zu sehen, blüht unter Johan Simons auf: Als kauzig-trockener Polonius, als schluffiger Zauberkönig in „Geschichten aus dem Wiener Wald“, auch als von seiner Frau entmachteter Gutsherr Lebedew in „Iwa­ now“ – anrührende Porträts von Männern mit Vergangenheit, mehr oder weniger reiner Unschuld, fataler Spottlust und flagran­ ter Melancholie. Denn auch so kann man das Klischee „alter weißer Mann“ ein wenig charmanter umschreiben. Zu den unbestrittenen Protagonisten am Bochumer Schau­ spielhaus zählen natürlich Simons’ niederländische Landsleute, seine Ehefrau Elsie de Brauw, studierte Theologin und Psychologin, die in Lot Vekemans’ „Gift“ zu sehen ist. Und Pierre Bokma, ein Mittsechziger, der in der „Jüdin von Toledo“ brillierte und Ende April den König Lear in Simons’ Regie hätte spielen sollen, wenn nicht die Krise dazwischengekommen wäre und diese Premiere in den ideellen temporären Schnürboden geschossen hätte. Und dann noch Guy Clemens, der zwei Rollen in dem Doppelabend „Plattform/Unterwerfung“ nach Michel Houellebecq übernom­ men hat, sowie der in Brüssel geborene, Französisch sprechende Mourade Zeguendi, der in „Unterwerfung“ mit sardonischem Hu­ mor den islamischen Uni-Präsidenten Robert Rediger spielt. Was Johan Simons mit der Aussage meint, das Theater dür­ fe und müsse Dinge behaupten, die vielleicht nicht auf den ersten Blick unmittelbar einleuchten oder konventionellen Erwartungen entsprechen, sieht man frappierend an der Besetzung des bra­ chialen Fleischers Oskar in Henkels Horváth-Inszenierung

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„­Geschichten aus dem Wiener Wald“. Mourad Baaiz, 1991 in Brüs­ sel geboren, nordafrikanisch verwurzelt, ist das glatte Gegenteil eines körperlich mächtigen Metzgermeisters, nämlich ein femi­ nin wirkender Mann mit schwermütigem Blick, dessen latent-ag­ gressive Anwandlungen (wenn er seine Braut Marianne mit ei­ nem verunglückten Judogriff auf den Donaustrand katapultiert) völlig überraschend und, nach herkömmlichen Begriffen, eher unglaubwürdig in die plane Erzählung platzen. Das muss man erst einmal akzeptieren. Aber diese Behauptung, quasi am entge­ gengesetzten Ende des Klischees, wirft ein anderes Licht auf die Figur. Deren weiche Seite, ihre Sentimentalität, ist hier einmal nicht die verdrängte Umkehrung eines grobschlächtigen Charak­ ters, sondern es ist umgekehrt: Die unterschwellige Grobheit be­ freit sich nur ausnahmsweise, an Sonntagnachmittagen, wenn Verlobung gefeiert wird. Ausnahmeschauspielern wie Sandra Hüller und Jens Harzer zuzusehen, ist eine große Freude. Doch Harzer hat recht: Mögen die beiden auch hin und wieder sich selbst genug sein, wie in Kleists „Penthesilea“, die sie unter Verzicht auf alle weiteren Rol­ len zu zweit spielen, so ist doch die Idee überholt, es komme nur auf die Besten an, der Rest könne getrost im Mittelmaß verharren. In Bochum ist das ganz gewiss anders. Hat man sich darüber ein­ mal verständigt, darf man bewundern, wie souverän Harzer diesen traurigen, haltlosen, zynischen und empathischen Gutsbesitzer, Arbeitgeber, Freund, Ehemann, Liebhaber seinerseits aus dem Mittelmaß befreit, wie er das Schwanken dieser kleinen Seele aus­ tariert und scheinbar unwiderstehlichen Versuchungen preisgibt, bevor ihr letztes Stündchen schlägt.

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Schauen sie noch oder spielen sie schon? – Das Ensemble hat in Shakespeares „Hamlet“ (Regie Johan Simons, Schauspielhaus Bochum 2019) in der ersten Reihe Platz genommen. Foto JU Bochum

Und bewundern darf man, wie Hüller, die überraschenderweise erklärt, das Shakespeare-Stück je zuvor weder gelesen noch gese­ hen zu haben, mit umso frischerer, unvoreingenommener Ener­ gie die Rolle des Hamlet interpretiert. Und wie sie zwar die femi­ ninen Züge des Prinzen annimmt und verwertet, wie sie ihm aber auch eine männliche Unerbittlichkeit, Spottlust, sogar Mord­ bereitschaft abgewinnt: Eigenschaften eines Menschen, der nicht zu (entscheidungs-)schwach, sondern vielmehr zu intelligent ist für das sattsam bekannte Niveau dieser Rosenkranz-und-­Gül­den­ stern-Welt. Hüller hat recht: Man muss das nicht zynisch finden. Hamlet ist ein Spieler, und ein besserer als alle anderen. Gerade deshalb wird er – der Rest ist Schweigen – verlieren. Wenn die Theater eines Tages ihre Pforten wieder öffnen, wird das Schauspielhaus Bochum nicht nur mit einem vermutlich wegweisenden „König Lear“ aufwarten, sondern auch mit einem musikalischen Abend unter dem zweideutigen Titel „Herbert“. Der Popstar Herbert Grönemeyer, der seine Heimatstadt einst mit der Liedzeile „Du Blume im Revier, Bochum, ich komm’ aus dir“ noch unsterblicher gemacht hat, als sie ohnehin schon ist, trifft auf seinen Namensvetter Herbert Fritsch, der zwar kein Bochu­ mer, sondern Augsburger ist – aber diese kleine Differenz sollte die Vorfreude nicht trüben. //

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Bochumer Short Cuts Ein Autor*innen-Film-Projekt für das Bochumer Ensemble Ein schillerndes Wimmelbild unserer Zeit nennt das Schauspielhaus Bochum sein seit dem 19. Mai online stattfindendes Autor*innen-Film-Projekt. Um nicht länger daheim auf den Spielbeginn warten zu müs­ sen, beauftragte Dramaturgin Angela Obst 14 Dramatikerinnen und Dramatiker, für das gesamte Ensem­ ble szenische Miniaturen zu verfassen, die sich mit der derzeitigen Situation in der Coronakrise auseinan­ dersetzen. Auf Grundlage dieser Texte wurden Kurzfilme gedreht (Regie Johan Simons, Filmregie René ­Jeuckens), die wöchentlich mit drei neuen Folgen auf der Website und den Social Media-Kanälen des Schau­ spielhauses Bochum erscheinen. Wir drucken die Minidramen von Miroslava Svolikova und Bonn Park.

DIE BEAMTEN von Miroslava Svolikova beamter 1: wir haben gehört, dass schlecht gespro­ chen werde von uns. beamter 2: es soll schlecht gesprochen werden. beamter 1: wir sollen gelder veruntreuen. beamter 2: wir sollen licht verbieten. beamter 1: wir sollen nahrung reglementieren. beamter 2: wir sollen lächerliches tun. beamter 1: es heißt, wir seien das dumme selbst. beamter 2: es heißt, wir seien das falsche, und das richtige nicht. beamter 1: es heißt, man brauche uns nicht. beamter 2: es heißt, man brauche uns so sehr wie einen abszess. beamter 1: aber das stimmt nicht. beamter 2: man irrt sich. beamter 1: man irrt sich gewaltig. beamter 2: vielleicht. beamter 1: ziemlich sicher. beamter 2: sie brauchen uns. beamter 1: weil wir verwalten? beamter 2: sie brauchen uns. beamter 1: sie brauchen uns doch? beamter 2: brauchen beamter 1: seien sie doch froh. beamter 2: seien sie doch froh, dass irgendjemand sich um sie kümmert. beamter 1: jemand kümmert sich um sie. beamter 2: immerhin, schätzen sie das einmal wert. beamter 1: wertschätzung!

Geld, Parzival von Joël László Uraufführung

beamter 2: wertschätzung! beamter 1: aber beamter 2: aber beamter 1: wir lesen nicht ihre emails. beamter 2: wir durchleuchten nicht ihre post. beamter 1: wir scannen am flughafen nicht ihren körper ab. beamter 2: nein. beamter 1: nein. beamter 2: oder doch? beamter 1: nein, das machen andere. beamter 2: das machen andere. beamter 1: das machen ganz andere. beamter 1: das machen nicht wir. beamter 2: nein, wir haben besseres zu tun. beamter 1: wir haben besseres zu tun. beamter 2: wir schauen, dass das ganze rennt. beamter 1: dass das ganze wie am schnürchen rennt. beamter 2: was genau, fragen sie? beamter 1: na, alles. beamter 2: alles. beamter 1: alles muss funktionieren, jeden tag. beamter 2: alles rennt vor sich hin, jeden tag. beamter 1: ist ihnen vielleicht schon einmal aufge­ fallen. beamter 2: fällt einem kaum auf, aber hin und wie­ der dann doch. beamter 1: wissen sie, was mir auffällt? beamter 2: was fällt ihnen auf? beamter 1: wenn ich das haus verlasse, dann bin ich nicht gleich tot.

GO TELL von Julia Haenni / Junge Marie Uraufführung

beamter 2: ja, das stimmt. beamter 1: das ist schön, wenn man sich das überlegt. beamter 2: so habe ich das noch nicht gesehen. beamter 1: dass man aus dem haus geht und nicht sofort tot umfällt, das ist doch schön. darauf kann man stolz sein. beamter 2: das ist schon etwas. beamter 1: das wird leicht unterschätzt. beamter 2: ja. beamter 1: ich gehe jeden tag einmal aus dem haus, und ich bin noch immer nicht tot umgefallen. beamter 2: ich auch. also ich auch nicht. beamter 1: obwohl es nicht gut aussieht, da draußen. beamter 2: nein, sieht nicht gut aus. beamter 1: trotzdem, ein wichtiger erkenntnisgewinn. beamter 2: eine erkenntnis, die sich an die andere reiht. beamter 1: die erkenntnisse reihen sich aneinander und ergeben eine erkenntniskette, aber wenn die erkenntniskette reißt, dann wird man verrückt. beamter 2: und auch dann, und selbst dann küm­ mert sich noch jemand, dass man in die richtige anstalt kommt. beamter 1: dass man in die richtige anstalt kommt und die richtigen tabletten einnimmt. beamter 2: dass man richtig behandelt wird und nachher wieder zurück kann, in die normale welt. beamter 1: dass man wieder in die normale welt ­hinein kann. beamter 2: darum kümmert sich jemand. beamter 1: es wird sich um alles gekümmert. beamter 2: wir kümmern uns um sie. beamter 1: das war nur eine veranschaulichung, nur damit sie wissen, wie es um sie steht. beamter 2: wir kümmern uns. beamter 1: wir kümmern uns um sie, und wenn sie nachher rausgehn, dann sind sie nicht sofort tot. beamter 2: also zumindest nicht, wenn es nach uns geht. beamter 1: nein, wenn es nach uns geht, ganz ­sicher nicht. beamter 2: nein. wer räumt denn sonst die ganzen toten weg. beamter 1: nein. beamter 2: ja. beamter 1: dann haben wir ja schonmal die wich­ tigsten dinge geklärt. beamter 2: sehr gut. beamter 1: nichts zu danken. beamter 2: das machen wir gern. beamter 1: wir machen es gern und wir werden auch dafür bezahlt. beamter 2: wir machen es gern, wir werden dafür bezahlt und mehr gibt es nicht zu sagen.

Schleifpunkt von Maria Ursprung Schweizer Erstaufführung

Theater Marie Spielzeit 2020/21


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beamter 1: vielen dank! beamter 2: vielen dank! beamter 1: vielen dank! beamter 2: auf wiedersehen! beamter 1: wiedersehen! © Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Die Dramatikerin Miroslava Svolikova, geboren 1986 in Wien, studierte Philosophie, Bildende Kunst und Szenisches Schreiben. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet: 2016 gewann sie das Hans-Gratzer-Stipendium mit „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“, 2018 eröffnete „Europa flieht nach Europa“ die Autorentheatertage am Deutschen Theater in Berlin. Einladungen zum Austrian Cultural Forum New York und zum Goethe-Institut Tokio und eine Nominierung für den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarkts 2020 folgten. Sie betreibt das Kunstprojekt „YYY!“. Foto Max Zerrahn

WIE ES EUCH ALGORITHMUS Internetspiel für zwei Personen von Bonn Park 1 LECKERSTES GERICHT DER WELT UND ­ LLER ZEITEN A TOLLE_GERICHTE_KANAL Hallo! Heute zeige ich euch, wie man aus einer Wohnung ein richtig leckeres Gericht macht. Es ist ganz einfach. Dazu reibt ihr erstmal alles mit Mehl ein. Einfach alles! Ungefähr so. Und so. Wichtig ist es, dass ihr ganze Mehlpakete gegen eure Wände werft. Aber auch gegen den Kühlschrank. Und hier, auch die Toilette muss abgeschmissen werden. Vergesst nicht auch euren Partner oder eure Part­ nerin mit einem Mehlpaket abzuwerfen. Unbe­ dingt auch die Kinder mit ganzen Mehlpaketen abwerfen, am besten oft! Die Kinder ganz beson­ ders. Bitte schmeißt auch Mehl auf eure Yoga­ stunden, eure Podcasts, eure Videospiele, eure Se­ rien, eure Bücher, eure Spaziergänge und eure Tagesschau. Verreibt es auch gründlich auf der ganzen Zeit, die ihr mit Sinn, Fortschritt und Hei­ terkeit füllen wollt, und auf die wenigen, unange­ nehmen und blitzartig erscheinenden Augen­ blicke, in denen ihr denkt, ihr seid schon tot. Stäubt es fein über die Sexgeräusche eurer Nach­ barn. Bomba­diert euren schwierigen Schlafrhyth­ mus, Bildschirme und Videotreffen. Dann die See­ le voll machen mit Mehl, bis ihr nicht mehr atmen könnt. Reibt es euch in die Netzhäute und Kiemen, schneidet euch einen Schlitz mit eurem Fußnagel in den Oberschenkel und presst so viel Mehl wie ihr könnt da rein. Jetzt ist überall Mehl. TOLLE_GERICHTE_KANAL geht ein paar Schritte weg von der Kamera und steht in der Mitte des Rau­ mes. Er schmeißt ein Streichholz vor sich hin und alles brennt. 2 ICH TÖTE MICH, DAMIT DIE WAHRHEIT RAUSKOMMT COOLE_VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN_AUF_ YOUTUBE Hallo ihr Lügner! Ich glaube euch nichts. Alles ist anders. Ihr seid alles Lügner! Ihr seid nur am ­Lügen! Warum lügt ihr so viel! Ich kenne die Wahr­ heit. Es ist zwecklos, mich weiter anzulügen. Denn ich kenne die Wahrheit. Ihr seid nur gemeine Lüg­ ner. Bitte hört auf mich! Ich weiß, dass alle Lügner sind. Sie haben es mir gesagt. Sie kamen zu mir, neulich, und meinten: Ja, es stimmt, wir sind alles Lügner. Früher gab es auch schon große Lügner. Heute wissen wir, dass sie gelogen haben. So wird es auch jetzt kommen. Alle lügen und ich hatte

dann Recht. Bitte hört einfach auf zu lügen. Ich flehe euch an. Es ist wichtig für Frieden und Ruhe. Nur wenn ihr alle aufhört zu lügen, können wir alle gut leben. Niemand mag Lügen. Ich bin bereit, euch zu verzeihen, nur lasst dieses ständige Lügen! Ich verstehe es nicht, wieso müsst ihr so viel lügen. Die Wahrheit ist doch voll in Ordnung. Ist doch gar nicht schlimm. Eure Lügen sind egoistisch und ge­ mein. Das ist nicht gerecht. Ich denke, es reicht jetzt mit euren Lügen. Mein ganzes Leben knie ich vor euch und bitte euch, das Lügen zu lassen. End­ lich rauszurücken mit all der Wahrheit. Aber ihr wollt einfach nicht hören. Aber ich weiß, dass nichts von dem stimmt, was ihr sagt. Und ihr macht alles kaputt, ihr macht alle Seelen kaputt. Ich habe alle Beweise. Sie sind hier, in meinem Herzen. Und, es tut mir Leid, ich kann nicht mehr. Deswegen werde ich jetzt hier mein Herz heraus­ reißen, damit ihr alle die Wahrheit sehen könnt. Ich werde mich jetzt töten, damit die Lügen auf­ hören. Bitte nehmt diese Beweise und bringt sie zu den Regierungen dieser Welt! Ihre Lügen werden dann sofort aufhören. Damit keine Beweise zer­ stört werden, muss ich es mit meinem Händen einfach so herausreißen. Es ist klar, dass deswegen dieses Video höchstwahrscheinlich nicht monitari­ siert wird, wegen Gewaltdarstellungen. Deswegen würde es mir sehr helfen, wenn ihr ein Gefällt-mir und ein Abonemment hinterlassen könntet. In der Videobeschreibung findet ihr auch einen Link zu meinem Patreon. Danke auch an meinen Sponsor Seatgeek, ohne den dieses Video nicht möglich wäre. Holt euch 20% Rabatt für ein Ticket bei einer Großveranstaltung mit Rabattcode COOLE_VER­ SCHWÖRUNGSTHEORIEN. Haha! Ok, gut. Also. Bis bald. COOLE_VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN_AUF_ YOUTUBE reißt sich das Herz heraus, der Bildschirm wird überfüllt mit einem goldenen Licht. Das Video ist wahrscheinlich zu Ende. 3 DIE KOMMENTARSPALTE ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTERNET Fotzifotzrotzfickfickfick. ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTERNET_ AUCH Fickifickkackrotzipflock. ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTER­ NET Scheißescheißhasshasshass ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTER­ NET_AUCH Kotzikotzikotzikotz ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTER­ NET Hundefickscheißdreck ihr ficker nuttensöhne ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTER­ NET_AUCH Ich will nicht mehr!

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stück

ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTER­ NET Ich auch nicht! ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTER­ NET_AUCH Ich bring mich jetzt irgendwie um! Aber so, dass es lustig ist, dass es ein lustiges Rät­ sel ist, wenn man mich findet, und man scharf überlegen muss, wie es wohl passiert ist! ICH_SCHREIBE_KOMMENTARE_IM_INTERNET hat sich schon längst umgebracht. 4 TAGESSCHAU (ODER -THEMEN?) Jingle. Atemberaubendes Studio. INGO Ich begrüße Sie herzlich zur Tagesschau oder ­-themen. Ich bin Ingo. :) Berlin. Nichts. München! Nichts. Hamburg. Nichts! Aber der dumme Präsident aus Amerika hat etwas Witziges gesagt. Hm. Ich schau jetzt da rüber in die andere Kamera! Teenager auf der ganzen Welt haben Altenheime angezündet, in der maßlosen Hoffnung, dass dann endlich alle wieder raus dürfen, wenn die Ge­ fährdeten tot sind, weil sie Ängste aus der Hölle haben, dass sie ihr ganzes Leben zu Hause ver­ bringen werden oder zumindest die schönsten Jahre, die, von denen alle ihnen immer sagen, dass sie nie wieder zurückkommen werden und es nie wieder so schön sein wird wie, als man jung war, weil sie einen unermässlichen Drang nach Gym­ nasium haben, auf Coopertest, Chloroplasten, Weimarer Republik und rauchen, wenns verboten ist, aber auch auf Knutschen, Gespräche, Humor und Umarmungen, auf das Leben einfach. Einfach Lust auf irgendetwas halt! Hauptsache irgendetwas verfickte Hölle! Diejenigen, die kleine Babygeschwis­ ter haben, brachten sie mit in die Schule, damit diese zum ersten Mal eine Haut berühren konnten, die nicht ihren Eltern gehört. Da alle das Reden verlernt haben, klangen alle Interviews mit den Schülerinnen so: IN PLASTIK EINGEWICKELTES MIKROFON MIT BILD (Schülerin) ädiagäjiodjföaewjfädsfjdsl­ kafjödslkfja INGO blickt noch dem Beitrag auf seinem eigenen ­Monitor nach, weint Tränen, dann aus Versehen Blut. Erst nur aus den Augen, dann aus der Nase, den ­Ohren, aus dem ganzen Gehirn einfach, Ingos Glied­ maßen fallen nach und nach ab. Über die Kamera läuft auch Blut, ein dumpfer Aufprall des in Ohn­ macht gefallenen Kameramanns. Das Bild ist verrückt und es zeigt einen Ausschnitt des (atemberaubenden) Studiobodens, man sieht überall Blut auf dem Boden

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und Gliedmaßen und enttäuschte Menschen, die nichts mehr machen können, außer zu bluten und zu liegen und hoffentlich zu sterben. Ingo reißt sich aber zu­ sammen: Jetzt schaue ich da rüber! Schnitt auf eine andere Kamera, falls die Regie noch am Leben ist. Das Wetter. Es wird einfach immer besser. Es sind einfach nur angenehme Verhältnisse draußen, es ist so schön draußen, einfach wunderschön, es ist zauberhaft, nicht zu warm, nicht zu kalt, atem­ beraubend sonnig, aber auch kühle Brisen, saftige Wiesen und Einhörner, Dinosaurier sind auch ­wieder da, sie lassen sich sogar streicheln. Aber ist ja egal! Machen Sie einfach noch was mit Mehl oder schauen Sie noch eine Serie! Das war die Tagesschau oder -themen? Und wie immer: Bleiben Sie Dings! Ingo stirbt aufrichtig traurig, aber mit einem zu­ versichtlichen Lächeln. 5 DAS LETZTE VIDEO IM INTERNET DAS_LETZTE_VIDEO_IM_INTERNET diese*r Vlog­ger*in macht das Geräusch, wenn man alleine zu Hause aufwacht, morgens oder manchmal nach­ mittags oder nachts, je nachdem, wo die Stimme noch neu ist und nicht bereit, ein ‚A‘ aus der Kehle, das ganz tief hinten im Hals vibriert, langsam ­vibriert, und man es aushält, ganz lange, so lange es geht, bis man erstickt. Diese Person stirbt natürlich dann auch. Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa

06 / 2020 Trickster P Kihako Narisawa Patrick Gusset vorschlag:hammer

theater–roxy.ch


bochumer short cuts

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aaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa

aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa­ aufhören. Alle Menschen sind zu Hause gestorben. Ende.

Bonn Park wurde 1987 in Berlin geboren und wuchs in ­Berlin, Korea und Paris auf. Er studierte Slawische Sprachen, Literatur und Szenisches Schreiben in Berlin. In dieser Zeit inszenierte und schrieb er bereits für die Volksbühne Berlin und hospitierte u. a. bei Frank Castorf. 2011 erhielt er den Innovationspreis des Heidelberger Stücke­markts für „Die Leiden des Jungen SuperMario in 2D“, 2017 den ersten Preis des Stückemarkts beim Ber­ liner Theatertreffen mit „Das Knurren der Milchstraße“. Parks Stück „Das Deutschland“ – von ihm am ETA Hoffmann Theater in Bamberg ­ inszeniert – wurde für die ­Mülheimer Thea­tertage 2020 nominiert. Foto Niklas Vogt

© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag

Online Programm Mitschnitte, Interviews, Kurzfilme und vieles mehr auf www.hellerau.org/online-programm

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Moral ist eine Frage des Standpunkts – mittig vorne Luise Meier in „1989: The Great Disintegration“ von andcompany&Co. Foto Dorothea Tuch

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Theater und Moral Wie verhalten sich künstlerischer Ausdruck und moralischer Anspruch zueinander? Was ist Moral – und was Moralismus? Und was hat das mit dem Neoliberalismus zu tun? Die Autorin und Theatermacherin Luise Meier greift in ihrem Essay diese Fragen auf, um grundsätzlich nach der Position des Moralischen in der Gesellschaft zu fragen. Das führt sie im zweiten Beitrag unserer Reihe zu der Trias von Produktion, Parteilichkeit und Proletariat. Die Diskussion wird in den nächsten Heften fortgesetzt.


luise meier

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Wessen Moral? Über Produktion, Parteilichkeit und Proletariat

von Luise Meier

A

us linker und zudem marxistischer Sicht erscheint Moral verdächtig. Sie hat zunächst nichts mit den materiellen Bedingun­ gen zu tun, um die es bei der wirklichen Veränderung der Welt gehen soll. Wo bleibt denn da die Basis? Moral ist nur Überbau, also Luftschloss. Aus einer ebenfalls linken Sicht ist aber das ­Moralische nicht einfach disqualifiziert. Die kritische Perspektive kann auf Moral nicht verzichten. Denn es gibt kein Jenseits der Moral, wie es keine Unabhängigkeit von der Eingebundenheit in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang geben kann. Moral ist von den jeweiligen historischen Bedingungen und dem jewei­ ligen Standpunkt innerhalb der Gesellschaft abhängig. Auch die jeweilige Gegenmoral ist moralisch. Es gibt keine universelle Moral. Es gibt Moral, die dem je­ weiligen Standpunkt nützt, die einen bestimmten gesellschaft­ lichen Zustand stützt oder eben nicht. Die bürgerliche Leis­ tungsmoral nützt der Hartz-IV-Empfängerin nichts, wohl aber dem Kapitalismus. Selbst diejenigen, die Jobs haben, können durch die Drohung der Arbeitslosigkeit kleingehalten werden. Konkurrenz und Scham verhindern Solidarisierung – alles bleibt beim Alten. Auch die philanthropische Moral nützt denjenigen wenig, die ihr Objekt sind. Statt einen Diskurs über Umver­ teilung zu führen, werden sie mit symbolisch aufgeladenen ­Kuchenkrümeln „beschenkt“, für die sie dann aufrichtige Dank­ barkeit zu zeigen oder das Gastrecht ihrer Gönnerinnen nicht zu missbrauchen haben.

Produktion Theater könnte fragen, welche Wirkung eine Moral für wen ent­ faltet und wem sie nützt und wem nicht. Es kann die bürgerliche Moral mit ihren inneren Widersprüchen konfrontieren und deren historische Bedingtheit erforschen. Oder es kann als Laboratori­

um sozialer Fantasie mit neuen Vorschlägen oder „Zukunfts­ moral“, wie Friedrich Engels es nannte, experimentieren. Es gibt aber nicht nur einen mehr oder weniger bewussten Umgang mit den Fragen der Moral auf der Bühne und im Text, sondern es gibt auch eine mehr oder weniger bewusste moralische Praxis in der Produktion der Stücke selbst. So entstehen kritische Stücke, deren Produktions­bedingungen jedoch nahtlos an bürgerliche Moral­ prinzipien anschließen. Wenn es aber unmöglich ist, sich aus der bürgerlichen Moral herauszunehmen, dann geht es darum, mit­ ten in ihr stehend Kritik zu üben und sich dadurch praktisch in neue moralische Prinzipien zu verstricken, wodurch die alten ge­ schwächt werden. Eins gilt es festzuhalten: Die Kritik an moralischem Denken und Handeln kann keine Kritik der Moral als solcher sein, weil es keine Entscheidung für ein Außerhalb geben kann, sondern nur die Frage nach der richtigen, nützlichen Moral aus einer bestimm­ ten Perspektive. Es geht nicht darum, Moral zu bejahen oder zu verneinen, gut oder schlecht zu finden, sondern zu fragen: Wes­ sen Moral, welche Moral, zu welcher Zeit, an welchem Ort, mit welchem Ziel, mit welchem Effekt? Sie muss situiert werden. Das muss auch in die konkreten moralisch legitimierten Handlungen hinein verlängert werden. Unterwäsche mit feministischen Bot­ schaften zu produzieren, wenn im Produktionsprozess Frauen ausgebeutet werden, ist ein offensichtlicher Widerspruch, sofern die Produktionsbedingungen in die Bewertung des Produkts hin­ eingenommen werden. Nicht nur die Moral, die die Handlung ­legitimiert, ist historisch gewachsen, sondern die konkrete mora­ lische Handlung hat selbst ihre Geschichte, ihre Möglichkeits­ bedingungen. Wenn Millionen für philanthropische Aktionen ausgegeben werden, wie sieht die Geschichte dieser Millionen aus, wie sind die Milliarden entstanden, von denen die gespen­ deten Millionen nur ein kleiner Teil sind, und wie geht die Ge­ schichte weiter, was sind die Effekte, welche Milliarden lassen sich un­ behelligt erwirtschaften, weil hier und da eine Million in Philan­thropie investiert wurde?

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theater und moral #2

Man kann es für die aufklärerische Aufgabe von Theater halten, auf der Bühne zu sezieren, zu situieren, zu kritisieren. ­Jedoch würde dann die Frage nach der Kontextualisierung des Theaters selbst aus dem Blickfeld geraten. Auch im Theater, auch das ­Theater wird produziert, und die Auseinandersetzung mit den Produktionsbedingungen gehört zur Kritik des Produkts. Theater­ macherinnen und ihre Institutionen sind Produkte, die Produkte hervorbringen, und die Produktionsbedingungen werden repro­ duziert durch ihre Produkte. Aus den Kreisläufen gibt es kein Ent­ rinnen, und wo die Kritik einmal ansetzt, kommt sie nicht zur Ruhe. Permanente Revolution könnte man meinen, unendliche Umdrehungen. Bei jeder Umdrehung gibt es aber auch die Mög­ lichkeit eines Sprungs oder Stolperns, einer Änderung der Um­ laufbahn. Die Erweiterung des Blicks auf die Produktionsbedingun­ gen bringt einen weiteren Kritikpunkt mit sich: Inwiefern bedingt der Ausschluss bestimmter Perspektiven spezifische Produktions­ bedingungen, die diesen Ausschluss reproduzieren? Die Kritik an diesen Ausschlüssen, ob sie am Produkt oder an den Produktions­ bedingungen ansetzt, ist weder rein moralische Kritik noch amo­ ralische Kritik, sondern Kritik der Moral. Bei der Frage nach den Produktionsbedingungen landen wir immer, aber nicht aus­ schließlich bei der Frage nach ihrer moralischen Legitimation, nach historischer Bedingtheit und den inneren Widersprüchen von konkreter Praxis und moralischem Anspruch. Hier setzt Ideologiekritik feministischer und antirassis­ tischer Spielart an, die nicht um ihrer selbst willen betrieben wird, um etwa böse von guten Menschen oder Ideen zu schei­ den, sondern die Legitimierung der Ausbeutung, Kolonisierung, Kriminalisierung, Ausschließung, Einknastung und Pathologi­ sierung von rassifizierten und vergeschlechtlichten Menschen und die derart legitimierten ökonomischen Verhältnisse bekämpft. Denn all diese Mechanismen regulieren und naturalisieren den Ausschluss von Produktionsmitteln und die Verfügbarkeit von fremder Arbeitskraft. Es wäre ein Fehler, diese Kritik als moralische Kritik von der Kritik an den Produktionsverhältnissen abzugrenzen, nur weil sie auch eine Kritik an der moralischen Rechtfertigung der Pro­ duktions­ verhältnisse darstellt. Hinter dieser Kritik an einer bestimmten Moral steht ein Gegenentwurf, eine andere Moral, die andere Produktionsverhältnisse einfordert.

Parteilichkeit Wodurch entsteht aber der Eindruck, es handele sich um zweier­ lei Kritik? Um eine moralische oder gar moralisierende Kritik einerseits und andererseits bei denen, die kritisiert werden, die aus dem Theater heraus oder von der Bühne herab auf ihre Kri­ tikerinnen blicken, um Arbeiten, die das Thema der Moral höchstens analysieren, für sich jedoch keinen moralischen Standpunkt beanspruchen? Das hat damit zu tun, dass diejeni­ gen, die am stärksten von der bestehenden Moral betroffen sind und mit ihr zu kämpfen haben, an ihre Grenzen stoßen und die Aufmerksamkeit darauf lenken, während umgekehrt für diejeni­

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gen, die sich selbstverständlich in den Bahnen der bestehenden Moral bewegen, die nicht mit ihr in Konflikt geraten, der Ein­ druck entsteht, es gäbe keine moralischen Fragen. Ihnen er­ scheint jede Forderung nach einer Veränderung der moralischen Architektur als Beschränkung gegenüber dem vermeintlich frei­ eren Status quo. Die Freiheit, Frauen zu objektivieren, als hysterisch oder emotional zu stigmatisieren und vom politischen Diskurs auszu­ schließen, ist von der Seite der Ausgeschlossenen aus betrachtet eine erhebliche Einschränkung der Freiheit der Frauen oder ein Zwischenschritt zur Legitimation solcher Einschränkung. Wer die Freiheit einfordert, nicht objektiviert zu werden, erscheint dann als moralisierende Freiheitsbeschneiderin, während die anderen die großzügigen, liberalen Freiheitsbefürworter geben können. Am Vorwurf des Moralisierens hängt auch der der Ir­ rationalität oder Gefühlsduselei. Gerne wird das Wort „Hysterie“ benutzt, mit dem die pejorative Herabsetzung von Frauen nach wie vor zu haben ist. Der Vorwurf, dass Empörung oft eine ­verunmöglichte oder zu anstrengende Handlung ersetzt, also Ohnmachtsgefühle verdrängt oder kompensiert, ist sicher nicht immer unbegründet. Allerdings hilft es dann nicht, sich über die Ohnmacht der Empörung zu empören. Man muss stattdessen an die Ohnmacht ran, deren Symptom sie ist. Wenn man mich darauf hinweist, dass meine wütenden Tritte gegen die ver­ schlossene Tür nichts brächten, ist durch den Hinweis allein die Tür noch nicht geöffnet. Der Vorwurf der irrationalen Empörungsmaschinerie macht den eigenen Standpunkt zum übergeordneten. Man erhebt sich selbst zum klarsichtigen, kalten, rationalen, von oben oder außen auf die Sache Herabblickenden, der die Empörungs­maschinerie diagnostiziert. Oder sagen wir es so: Diejenigen, für die gesorgt ist, müssen sich bei der Verteilung der letzten Brot­krümel nicht anstellen, müssen nicht „hysterisch“ mit den Armen wedeln, nicht kopflos herumrennen und „gierig den Mund auf­reißen“. ­Ihnen gilt das Gerangel an den Futtertrögen, das ewige aufgeregte Geschrei um die Verteilung der Güter, als unfein. Die Taktiken der Empörung, der Kompromisslosigkeit, der irratio­nalen Wut und letztlich auch der herausgeschrienen Ohnmacht resultieren eher aus einer Position, die sich als in die Ausein­andersetzung ver­ strickt und als in ihr gemeint wahrnimmt. Das ist zuvorderst ein Standpunkt der Parteilichkeit, der aber gerade nicht von mangeln­ der analytischer Schärfe geprägt ist. Das bedeutet nicht, dass nur die Kritikerinnen der Kunst­ werke in das Gerangel um die Ressourcen involviert sind, wäh­ rend die Künstlerinnen einen objektiven Blick von außen für sich beanspruchen könnten. Künstlerinnen, die schon Zugang zu den Ressourcen haben, die also nicht (mehr) am dreckigen Kampf um die Güter teilnehmen müssen, erwecken den Eindruck, diese stünden ihnen selbstverständlich aufgrund höherer Kriterien zu. Der besitzstandswahrende Kampf derer, die schon Zugang zu den Ressourcen haben, hat den Status quo, die Selbstverständlichkeit des Gewohnten, die Ordnung der Dinge auf seiner Seite. Die Coolness gegenüber den erhitzten Gemütern und der distanzierte Blick sind Zeichen dessen, dass die eigenen Interessen mit der Ordnung der Dinge bereits übereinstimmen und des Eingreifens nicht mehr bedürfen. Wenn für einen im Betrieb alles gut läuft,


luise meier

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sind die Forderungen der Angestellten nach mehr Lohn nicht ratio­nal, sondern deren Gier, Faulheit, Neid und falschem An­ spruchsdenken geschuldet.

Proletariat* Die Standpunktabhängigkeit der Moral ist auch für den Vorwurf des Essenzialismus erhellend. Es sei ein Widerspruch, wenn Kate­ gorien wie Geschlecht oder „Rasse“ überwunden werden sollten, man sich aber auf eine geschlechtliche oder rassifizierte Identität bezieht und darauf besteht, dass die an diese Identität geknüpften Diskriminierungserfahrungen für andere nicht nachvollziehbar sind. Wenn strukturell benachteiligte Gruppen für sich beanspru­ chen, dass die relativ bevorteilte Gruppe ihre Probleme nicht nach­ vollziehen kann, beziehen sie sich nicht auf ihre Natur oder Essenz, sondern auf ihre Position im gegenwärtigen Gesellschaftssystem. Wenn ich im Bus vorne sitze und sage, dass man von hinten nicht sehen kann, wie dicht der Bus die ganze Zeit auf das vorausfahren­ de Auto auffährt, heißt das nicht, dass man von Natur aus nicht in der Lage ist, das Verkehrsgeschehen wahr­zunehmen und zu be­ urteilen, sondern ich weiß: Das ist ein ver­änderbarer Zustand, der sich aber nicht ändern wird, solange du hinten sitzt. Die Position oder Identität, die signifikante Erfahrungen produziert, ist weder selbst gewählt noch natürlich, sondern ­Produkt der gesellschaftlichen Zustände. Wie Proletariat* sind Geschlecht und Rassifizierung Stiefelabdrücke, die der Tritt des falschen Systems auf uns hinterlassen hat. Oder in Eso und mit Beuys: Zeig deine Wunde und du wirst geheilt werden. Da sich die herrschende gesellschaftliche Position, die sich gerne auch als Mehrheitsposition versteht, immer als neutral, also nicht stand­ punktabhängig, sondern potenziell alles überblickend wahr­ nimmt, wirkt das Bestehen auf situativ bedingtes Erfahrungswis­ sen paradox. Der Universalitäts- und Neutralitäts­anspruch der vermeintlichen Mehrheit führt dann oft zu der Schlussfolgerung, dass es keine Probleme gäbe, solange ihr keine gemacht werden. In antirassistischen, feministischen und anderen emanzi­ patorischen Kämpfen wird Teilhabe an Debatten, Ressourcen und künstlerischer Reflexion angestrebt – und zwar eben nicht als ver­ dinglichtes Objekt, sondern als Gesprächspartnerinnen und Künstlerinnen. Es geht ganz klassisch um die Aneignung der Pro­ duktionsmittel durch das Proletariat*. Proletariat mit Sternchen, weil auch diejenigen, deren Ausbeutung durch N ­ aturalisierung, Vergeschlechtlichung und Rassifizierung ­ unsichtbar gemacht wurde, als der Teil der kapitalistischen M ­ aschinerie zu verstehen sind, der ihr gefährlich werden kann. Proletariat* bedeutet, dass sich diejenigen zusammenschließen, deren Spaltung durch Hier­ archisierung und Konkurrenz die Dreierkombination Patriarchat– Kapitalismus–Rassismus jahrhundertelang mitproduziert hat. Es bedeutet, einen Platz offenzuhalten für die Perspektive, die das Bild der Lage noch genauer, noch schärfer, noch umfangreicher, noch nützlicher machen könnte. Wir sehen klarer, wenn wir uns neben andere stellen und uns mit ihnen austauschen, als wenn wir versuchen, sie zu überblicken. Wir warten quasi noch auf die Kritik oder Konstellation von Kritiken, die uns endlich aus der ­falschen Endlosschleife herauskatapultiert. //

Kooperationen

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protagonisten

Beethoven hinter Gittern Was bedeutet es, eingesperrt zu sein? Das Berliner Gefängnistheater aufBruch lotet mit der Oper „Fidelio“ die Grenzen der Freiheit aus

von Gunnar Decker

Z

um Auftakt zeigt die Kamera vier Streicher hinter Gittern. Sie spielen den ersten Satz aus Beethovens Streichquartett Nr. 1 in F-Dur. Die Inszenierung, so der musikalische Leiter Simon Röss­ ler, Schlagzeuger bei den Berliner Philharmonikern, favorisiere die „hybride Form“, also das Zusammenspiel von Oper, Melodram und Konzert. Und darum wird auch nicht der ganze „Fidelio“ von 1805 hier aufgeführt, sondern Motive daraus in einem musika­ lischen Beethoven-Arrangement samt einer gewagten Collage aus Fremdtexten von Jean Genet, Rolf Hochhuth, Rudolf Leonhard, Peter Weiss bis Heiner Müller. Dramaturg der Produktion ist Hans-Dieter Schütt. Die Klänge Beethovens in der leer stehenden Teilanstalt 3 der JVA Tegel in Berlin erzeugen einen geradezu schreienden Kontrast zu diesem tristen Ort. Die musikalische Verlaufslinie er­ reicht, nach einzelnen Arien aus „Fidelio“, der Mondscheinsonate, Passagen aus der 3. und 5. Sinfonie, schließlich den Schlusschor der 9. Sinfonie, mit dem Text von Schillers „Ode an die Freude“. Von allem zu viel? Kann man in diesem Falle nicht sagen. Eher eine Neuschöpfung aus dem Genius Loci. Es ist die zweite Zusam­ menarbeit von aufBruch mit den Berliner Philharmonikern, er­ zählt die Produktionsleiterin Sibylle Arndt. Deren Education-Pro­ gramm ermöglichte bereits die „Parsifal“-Inszenierung vor zwei Jahren, ebenfalls in der JVA Tegel.

In Coronazeiten, in denen der isolierte Zuschauer Theater per Stream schaut, wirken die geschlossenen, mit Scheinwerfern aus­ gestrahlten Räume geradezu surreal. Mehrfach waren die Flure und die berühmte Treppe, die etwas von einer Showtreppe zwischen Himmel und Hölle hat, bereits Bühne für aufBruch, erstmals bei Heiner Müllers „Philoktet“ von 2015. Und nun hören wir hier den sehnsuchtsvoll klagenden Chor der Gefangenen: „O welche Lust, o welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben! O welche Lust! Nur hier, nur hier ist Leben, der Kerker eine Gruft, eine Gruft.“ Das führt uns zum eigentlichen Drama, wofür das Gefängnis steht, die­ ser Inbegriff eines geschlossenen Raums. Alle Türen verschlossen, kein Fluchtweg offen. Nichts für Klaustrophobiker! Die Musik allein dringt durch die Gitter hindurch, beweist sich als ein ätherisches Medium, das Stein und Stahl schweben lässt. Ist das nun Realität oder bloße Fantasie? Und wo verläuft hier überhaupt die Grenze? Beethoven hat mit „Fidelio“ eine Ge­ fängnisoper komponiert (seine einzige Oper), mit einem Libretto von Jean-Nicolas Bouilly (deutsch von Joseph Sonnleitner, S ­ tephan von Breuning und Friedrich Treitschke), das sich beim zeitgenös­ sischen Schauergenre um 1800 bedient, mit einem Schurken von Gouverneur des Gefängnisses Pizarro und seinem geheimnis­ vollen persönlichen Gefangenen Florestan, den niemand zu Ge­ sicht bekommen darf. Fidelio ist der Deckname für Florestans Frau Leonore, die sich als Mann verkleidet ins Gefängnis ein­ schleicht, um ihn zu befreien. Das Gefängnis als Gegenstand einer Oper? Das war wohl erst nach der Französischen Revolution denkbar. Die Freiheit hin­


gefängnistheater aufbruch

Auch hinter Gittern werden Spielräume zu Freiräumen – Ludwig van Beethovens Gefängnisoper „Fidelio“ in der JVA Tegel in Berlin, aufgeführt vom Gefängnistheater aufBruch. Foto Thomas Aurin

ter Gittern – damit zielte Beethoven auf die zurückgebliebenen deutschen Zustände. Doch Regisseur Peter Atanassow sah in der Handlung, wie sie das Libretto erzählt, eher eine Operette. Ver­ wechslung und glückliche Rettung – wäre das nicht zu leicht­ gewichtig für diesen Ort? Darum wollte er statt des reichlich folk­ loristischen Gefängnislibrettos einen vielstimmigen Exkurs über Macht und Ohnmacht des Einzelnen angesichts von Institutionen aufführen. Denn diese entscheiden, wann eine Tür verschlossen wird und wann sich eine öffnet. Mehr noch beschäftigte ihn die Frage, welche Freiheit wir überhaupt meinen angesichts der Beet­ hoven-Musik einerseits und des – auch heute noch – bedrücken­ den Gefängnisalltags andererseits. Sind unsere so selbstverständ­ lich gelebten Freiheiten außerhalb des Gefängnisses vielleicht nur eine Verdrängungsform jener Unfreiheit, die Hegel als Notwen­ digkeit bezeichnete – Freiheit also tatsächlich nicht mehr (und nicht weniger) als „Einsicht in die Notwendigkeit“? Auch der sich frei dünkende Zeitgenosse lebt nicht ohne Fesseln, wenn auch un­ sichtbaren. Beethoven markiert, gerade was das Gefängnisthema be­ trifft, einen Wendepunkt. Anfang des 19. Jahrhunderts vollzog sich eine Revolution des Denkens. Auch über Verbrechen und Strafe dachte man nun anders. Bis dahin sprach man eher von Freveltaten angesichts Gottes, die es zu sühnen galt. Der einer sündhaften Tat Verdächtige, sei es Mord oder Betrug, wurde so lange gefoltert, bis er gestand. Das durch Marter erpresste Ge­ ständnis stand im Mittelpunkt des Gerichtstags, der so zum gro­ ßen – und blutigen – Schauspiel wurde. Die vorherbestimmte

Strafe bestand für den reuigen Sünder, der mit aller Raffinesse gefoltert worden war, in der perfide ausgeklügelten Zerstörung seines Körpers. Als ob ein Sadist Regie führte. Die Schmerzens­ schreie der Delinquenten, denen mit glühenden Zangen Fleisch aus Armen und Beinen gerissen wurde (in die Wunden goss man danach Säuren oder flüssiges Blei), sollten ein Lobgesang auf Gott sein. Schließlich wurde er aufs Rad „geflochten“ oder von Pferden gevierteilt. Die makabren Details dieser Art von Rechtsprechung, die wie aus einem drittklassigen Horrorfilm zu stammen schei­ nen, kann man bei Michel Foucault in „Verbrechen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ nachlesen. Die Aufklärung war es dann, die dem einer Straftat Verdäch­ tigen überhaupt erst einmal einen fairen Prozess ermöglichte, an­ hand von Gesetzen geführt. Bahnbrechend wurde hierfür Napole­ on und sein Code civil von 1804. Entscheidend war nun die juristische Beweisführung und nicht mehr das erzwungene ­Geständnis. Die Marter wurde abgeschafft. Wer vor Gericht stand, bekam das Recht, sich zu verteidigen, denn die Richter repräsen­ tierten nun nicht mehr eine unfehlbare göttliche Ordnung, ­sondern die bürgerliche Gesellschaft, zu deren Eigenschaften Un­ fehlbarkeit nicht gehört. Das Recht war jetzt etwas, das man ver­ handelte. Je geschickter der Anwalt, desto niedriger die Strafe. Zu dem Aspekt der Strafe trat ein weiterer: die Umerziehung. So wur­ den aus Kerkern, in denen Menschen wie lebendig begraben wur­ den, Gefängnisse mit einem klar geregelten Tagesablauf. Eine mögliche Rückkehr in die Gesellschaft war von nun an Teil des Strafvollzuges. Um diese Fragen kreist das Leben im Gefängnis bis heute. Und Theater im Gefängnis? Im Ensemble von aufBruch gibt es auch zu lebenslanger Haft Verurteilte (die frühestens nach fünf­ zehn Jahren entlassen werden können) und Sicherungsverwahrte, die ohne Entlassungsperspektive leben müssen. So seltsam es klingt: Für das Ensemble sind die Langstrafler eine wichtige Stüt­ ze. Sie sind meist Einzelgänger, lassen sich diszipliniert auf die Probenarbeit ein, bleiben über Jahre dabei, spielen oft die Haupt­ rollen. Das Hauptproblem eines Gefangenenensembles sind vor allem junge Straftäter aus dem Drogenmilieu. Sie sind ein insta­ biles Element, das die Arbeit unberechenbar macht. So geht es letztlich – als Gastdramaturg im Gefängnis­ theater erlebte ich das einmal hautnah – bei jedem neu zusam­ mengesetzten Gefangenenensemble zuerst um das Finden einer tragfähigen Struktur. Denn die Spielräume sind innerhalb der geschlossenen Institution erarbeitete Freiräume! Eine fragile Balance aus schöpferischer Anarchie und berechenbarer Ord­ ­ nung. Und ein schwieriger Probenprozess, der zugleich zur Ein­ übung in soziales Verhalten wird. Wer hier wegen welcher Verbre­ chen wie lange sitzt, ist dabei kein Thema. Einige Mitspieler sprechen von sich aus darüber, andere nicht. Aber mehr als ein „Urlaub vom Knast“, wie das einer von ihnen ausdrückte, ist es natürlich doch: Die in den allermeisten Fällen berechtigte Strafe scheint das eine, die unstillbare Sehnsucht nach Freiheit das an­

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protagonisten

dere. Dieser Widerspruch rückt in den Inszenierungen von auf­ Bruch – mehr als fünfzig in verschiedenen Berliner Gefängnissen seit der Gründung 1997 – immer wieder in den Fokus. Die Stückauswahl vergangener Jahre deutet es an. Das ­Brudermordprojekt „Kain und Abel“ etwa oder „Underground“ nach dem Film von Emir Kusturica (eines der Außenprojekte, die aufBruch einmal im Jahr mit Strafentlassenen, Freigängern und freien Schauspielern initiiert), aufgeführt im vormaligen Kühl­ stollen einer Brauerei. Ein Einblick in die Welt der Partisanen, die sich im Verborgenen auf den Tag X vorbereiten, der nie kommt. „Philoktet“ behandelte die Inselwelt als Strafkolonie, „Der Haupt­ mann von Köpenick“ die trügerische Magie von Uniformen, die dem Outsider eine Chance zur Hochstapelei geben, „Wallensteins Lager“ das gärende Innenleben einer kriegerischen Männer­ ­ horde. Straflager sind immer am schlimmsten. Dostojewski schreibt in seinen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ aus eigener E ­ rfahrung, nichts sei am Eingesperrtsein bedrückender als die Tatsache, dass man niemals allein sein könne. Paradoxer­ weise steigert der Zwangskollektivismus die Einsamkeit bis ins Unerträgliche. Der Bau des Gefängnisses in Tegel war eine Reaktion auf Kerker und Straflager. Ein Reformbau um 1900, nach dem ame­ rikanischen „Philadelphia-Modell“, das die Quäker als religiöse Menschenfreunde entwickelten. Jeder Gefangene hat hier seine eigene Zelle, die jedoch sehr eng ist – darum sollen bei der in ­einigen Jahren beginnenden Rekonstruktion jeweils zwei Zellen zu einer zusammengelegt werden. Licht ist dabei ein wichtiger Gesichtspunkt, die Fenster sind durchaus groß, und die Gitter sieht man kaum, da sie parallel zu den Fenstersprossen verlau­ fen. Geht man als Nicht-Insasse über das Gelände, dann scheint die Backsteinbauanlage fast romantisch mit ihren Wirtschafts­ höfen, Gärtnerei und Kirche. Sportplatz und Kulturhaus sind später dazugekommen. Aber um diese kleine Welt herum ver­ läuft nun einmal eine hohe Mauer, die vielen Türen und Tore sind mit Schlössern versehen, die zu öffnen es ungewöhnlich schwe­ rer Schlüssel bedarf. Im Bauch eines Gefängnisses, das noch so human ausge­ staltet sein kann, sammeln sich ungute Gefühle wie Angst, Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Ist Theater an diesem Ort mehr als simple Unterhaltung gegen die drückende Langeweile? Es scheint im besten Falle ein Selbstausdruck widerstreitender ­Empfindungen. So auch in „Fidelio“. Interessant, dass über die

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Beethoven-Klänge gleich am Anfang Rap gelegt ist. In diesem wird im Grunde das gleiche gesagt wie bei Beethoven, nur mit ­etwas anderen Worten: „Befreie meinen Geist aus diesem Stahl­ beton!“ Aber Beethoven ist bekanntlich alles andere als soft: Er macht die Musik zur Revolution, sprich Umwälzung all jener Ver­ hältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist. Das Duo Atanassow-Schütt ist bekannt dafür, in CastorfTradition verschiedenste Fremdtexte zu kompilieren. Als zentraler Kontrapunkt zur historischen Kulisse erscheint das Zwischenspiel nach Rudolf Leonhard „Die Geiseln“, eine Szene aus dem von den Nazis besetzten Paris Anfang der vierziger Jahre. Warum werden Geiseln erschossen? Weil sie, so die hier ausgesprochene Logik der Täter, schuldig hätten werden können. Das ist die Logik jenes Ausnahmezustands, in dem juristische Normen wie humane Werte außer Kraft gesetzt sind. Willkür und Rache herrschen nun wieder. Ohnmacht angesichts der Macht, Wehrlosigkeit ange­ sichts von Gewalt, das sind Motive, die, so Atanassow, heute zu einer „Fidelio“-Inszenierung gehören. Trotz der vielen musikalischen und textlichen Partikel, aus denen dieser „Fidelio“ zusammengesetzt wurde, frappiert er mit seiner kompakten Geschlossenheit. Neben den Hauptfiguren agiert ein wuchtiger Chor sprachlich überaus präzise. Offenbar lohnte es sich, für dieses komplizierte Projekt die Probenzeit auf drei Monate zu verlängern. All die schwierigen Gesangspartien leisten die Gefangenen selbst. Rocco (Resul Tat), der opportunis­ tische Gefängniswärter, oder Marzelline (Gino) verblüffen dabei ebenso wie Rodrigo (Karim) und die anderen. Herausragend je­ doch Peter Maier als Pizarro, der Schurke in Amt und Würden. Anfangs will man es nicht glauben, dass hier kein ausgebildeter Opernsänger agiert, so präsent ist er in Stimme und Gestik. Aber in seiner Intelligenz vibriert etwas. Aggressivität? Über seine Rolle sagt Maier, Pizarro sei einer, „der sich einbilde, die Kontrolle zu haben und sich andererseits eingestehen muss, dass er diese Kon­ trolle gar nicht hat“. Das gehe ihm nah, denn das habe viel mit ihm selbst zu tun. //

Die Märzvorstellungen von „Fidelio“ in der JVA Tegel mussten wegen der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus abgesagt werden. Der rbb zeigte einen Mitschnitt der Inszenierung Ende April, der bis Oktober 2020 in der rbb Mediathek abrufbar ist.


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kommentar

Skandalkeule statt Debattenkultur Über die Antisemitismusdebatte um Achille Mbembe und die Absage der Ruhrtriennale von Sascha Westphal

Werk basierenden Vorwürfe wurden von Felix Klein, dem Anti­ semitismus-Beauftragten der Bundesregierung, aufgegriffen und noch einmal bekräftigt. Als Gegenreaktion solidarisierten sich zahlreiche namhafte jüdische Künstler und Wissenschaftler aus Israel und den Vereinigten Staaten mit Mbembe und forderten in   m 22. April wurde die diesjährige Ausgabe der Ruhrtrienna­ einem Aufruf an Bundesinnenminister Horst Seehofer die Abset­ le abgesagt. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH, der Trägerin des Festivals, hat diesen radikalen Schritt mit der gegenwärtigen zung Kleins. Was als Streit um die Ruhrtriennale begann, hat sich zu einem internationalen Skandalon entwickelt. Coronapandemie und der sich aus ihr ergebenden Planungsunsi­ cherheit begründet. Eine letzten Endes zu erwartende Entschei­ Es erschreckt, dass es so weit kommen konnte. Denn letzt­ dung. Dennoch fällt auf, dass die Absage relativ früh erfolgt ist, lich wird kaum jemand unbeschädigt aus dieser Debatte hervor­ vier Monate vor Beginn des Festivals, das gehen, weder die Politik noch das Festival, am 14. August in der Bochumer Jahrhun­ weder Mbembes Gegner noch seine Für­ Lorenz Deutsch derthalle eröffnet werden und bis zum 20. sprecher. Vor allem Lorenz Deutsch und seine September stattfinden sollte. Mitstreiter in NRW müssen sich fragen las­ und seine Mitstreiter sen, warum sie dem ­renommierten Theore­ Außerdem überrascht es, dass Stefanie in NRW müssen sich Carp, die künstlerische Leiterin der Ruhr­ tiker des Postkolonialismus erst jetzt so triennale, die ihre dreijährige Intendanz mit fragen lassen, warum sie ­vehement entgegentreten. Der Antrag mit dieser Ausgabe beendet, anscheinend kaum dem Titel „In Nordrhein-Westfalen ist kein Platz für die antisemitische BDS-Bewegung“, in die Entscheidungsfindung einbezogen dem renommierten wurde. Hintergrund ist vermutlich ein be­ auf den sie sich berufen, wurde am 20. Sep­ Theoretiker des reits seit 2018, Carps erstem Jahr als künst­ tember 2018 als Reaktion auf die damalige lerischer Leiterin, bestehender Konflikt Debatte um Stefanie Carp vom Landtag an­ Postkolonialismus genommen. Mbembe ist seit 2019 Albertuszwischen der Festivalchefin und den in ­ Magnus-Professor an der Universität zu Köln Nordrhein-Westfalen Verantwortlichen für erst jetzt so vehement und hat sowohl dort als auch am vom Land die Ruhrtriennale, der erneut aufgebrochen entgegentreten. maßgeblich mitfinanzierten Düsseldorfer scheint. Damals ging es um die Ein-, AusSchauspiel Vorträge gehalten. Dass ihm, der und Wiedereinladung der schottischen Band 2010 einen Aufruf an die Universität von Young Fathers, die der BDS-Kampagne ­Johannesburg, ihre Zusammenarbeit mit der israelischen Ben­nahesteht, welche seit etwa zwei Jahrzehnten die kulturelle, politi­ Gurion-Universität zu beenden, unterzeichnet hat, nicht früher sche und wirtschaftliche Isolation Israels propagiert. Wenngleich das Konzert am Ende trotzdem nicht stattfand – die Band hatte letzt­ vorgeworfen wurde, die BDS-Kampagne zu unterstützen, wirft ein seltsames Licht auf Deutschs Initiative. lich selbst abgesagt –, hatte die Diskussion um die Young Fathers Eine Diskussion über einzelne Positionen Mbembes hätte eine Frontlinie geschaffen. Fortan herrschte zwischen der Festival­ längst beginnen können. So klingt in dem extrem pathetischen leiterin und den sie kritisierenden Politikern und Journalisten ein und deutlich poetisierten Text „On Palestine“, der 2015 in dem von gewisses Misstrauen. Die Chance auf eine nachhaltige Normalisie­ BDS-Sympathisanten herausgegebenen Sammelband „Apartheid rung des Verhältnisses war vertan. Zwar sah es 2019, in Carps Israel“ erschienen ist, eine Haltung an, die über eine berechtigte zweitem Jahr, fast so aus, als ob sich die Wellen geglättet hätten. Kritik an der Politik rechter israelischer Regierungen hinausgeht. Doch mit der Veröffentlichung ihres diesjährigen Programms Gerade die Forderung nach der globalen Isolierung Israels, mit brach der nur oberflächlich überdeckte Konflikt wieder auf. der das kurze Pamphlet endet, regt zu Widerspruch an, zumal Stefanie Carp hatte den 1957 in Kamerun geborenen und Mbembe den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in seit Längerem an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg diesem Text nur aus der postkolonialen Perspektive betrachtet und lehrenden Historiker und Philosophen Achille Mbembe eingeladen, dessen sehr spezifische historische und geopolitische Dimensio­ am 14. August die Eröffnungsrede zu halten. Auf diese Ankündi­ gung reagierte Lorenz Deutsch, der kulturpolitische Sprecher der nen außer Acht lässt. Doch wer darauf mit dem Vorwurf des Anti­ FDP im NRW-Landtag, mit einem offenen Brief. Deutsch forderte, semitismus antwortet, hat nicht nur das Maß verloren. Er verhin­ dert auch eine Diskussion, die auf beiden Seiten bestehende Mbembe wieder auszuladen, da er ein Parteigänger der BDS-Kam­ blinde Flecken ausräumen könnte. Und gerade diese Diskussion pagne sei und in seinen Schriften den Holocaust verharmlose. Diese teils auf einzelnen Sätzen aus Mbembes umfangreichem hätte ein Festival wie die Ruhrtriennale ermöglichen können. //

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Prolog Bilanzartikel zum Ende einer Intendanz lesen sich manchmal wie Nachrufe. Will eigentlich keiner, lässt sich aber nicht immer ver­ meiden. In diesem Fall zumindest nicht. Dabei schien der „Ver­ storbene“ bei bester Gesundheit, er hatte sich, obwohl zwischen­ zeitlich schwer angeschlagen, blendend erholt. Und dann das: plötzlicher Theatertod durch Corona. Mitte März 2020. Gerade wurden die Theater dichtgemacht, man darf aber noch Menschen treffen. Ein Interview mit Matthias Lilienthal in seinem Intendan­ tenbüro. Bis zum 19. April, heißt es damals, soll die Schließung dauern. Lilienthal glaubt schon im März nicht dran: Best-CaseSzenario für die Rückkehr zum Spielbetrieb sei Ende Mai. Und dann ergänzt der Mann, der nicht unbedingt als Leisetreter ­bekannt ist, fast kleinlaut: „Ich würde mir wünschen, dass wir ­wenigstens noch einen Monat vor Livepublikum spielen dürfen.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Akt I

Durch­ einander? Diversität! Großes Drama, aber kein glückliches Ende – Ein Rückblick in fünf Akten auf die Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen von Christoph Leibold

Wären die fünf Münchner Lilienthal-Jahre ein Fünfakter, welcher Gattung wären sie zuzurechnen? Der Tragödie? Nein, dafür haben sie zu viel Spaß gemacht. Der Komödie? Auch nicht, es fehlt das Happy End. Der Groteske? Manche Diskussionen um das Haus waren bizarr, aber der Leistung dieses Theaters würde diese Klas­ sifizierung nicht gerecht. So könnte man noch endlos Genres ins Feld führen, passend wären alle ein bisschen – aber so richtig ­keines. Womit das Entscheidende gesagt ist: Die Münchner Kam­ merspiele unter Matthias Lilienthal entzogen sich den Kategorien. Zur vollsten Zufriedenheit des Intendanten: „Unser Plan ist auf­ gegangen. Wir wollten eine Hybridisierung internationaler Regie­ handschriften mit den Ästhetiken freier Gruppen und des Stadt­ theaters, die sich gegenseitig beeinflussen. Wir wollten das Wirrwarr.“ Das Problem war, dass Teile des Münchner Publikums es lange Zeit eher nicht wollten. Oder zumindest heillos überfor­ dert reagierten. Wären also die fünf Münchner Lilienthal-Jahre ein Fünf­ akter, müsste man von einem ersten Akt ohne Exposition ­sprechen: „Kein vorsichtiges Anschleichen, sondern sofort der ­Absprung“, erinnert sich Schauspielerin Julia Riedler, die neu ans Haus gekommen war und gleich in der Eröffnungspremiere spielte. Nicolas Stemann, als Hausregisseur installiert, ließ Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ aussehen wie eine Textfläche von Elfriede Jelinek. Es folgten unter anderem Simon Stones Bühnen­ update des Visconti-Films „Rocco und seine Brüder“ und der eher spröde Denksportabend „Ode to Joy“ des libanesischen Künstlers Rabih Mroué. Die ganze Palette unterschiedlicher Ansätze vom Start weg! „Leiden, um sich an was Neues zu gewöhnen, gehört dazu“, verkündete Lilienthal damals fröhlich. Er ließ in der ersten Saison Arbeiten von Philippe Quesne, Gob Squad und She She Pop fol­

Wer hoch hinaus will, kann tief stürzen oder schweben – Thomas Schmauser und Christian Löber in Thomas Melles Bearbeitung von Shakespeares „König Lear“ (Regie Stefan Pucher, Münchner Kammerspiele 2019). Foto Arno Declair


matthias lilienthal

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gen und warf außerdem ein paar junge Regisseure ins kalte Was­ ser, frei nach dem Motto: „Mal sehen, wer am Ende nicht unter­ gegangen ist.“ Christopher Rüping ging mit Dostojewskis „Der Spieler“ prompt baden (um später spektakulär wieder aufzutau­ chen), und Alexander Giesche ließ in „Yesterday You Said Tomor­ row“ einen Staubsaugerroboter den Schauspielern die Show steh­ len. Da sahen sich diejenigen bestätigt, die befürchtet hatten, unter Lilienthal würde die Schauspielkunst abgeschafft. „Vieles hat anfangs unbeholfen provokativ gewirkt“, glaubt Julia Riedler. Man habe wegkommen wollen von festgefahrenen Positionen – so spielt ein Mann, so eine Frau, so spielt eine deut­ sche Schauspielerin, so ein internationaler Performer – und etwas Neues erfinden. „Man musste einander sehr genau zuhören, weil man nie davon ausgehen konnte, dass klar war, was gemeint ist. Es hat gedauert, bis wir das Anliegen verinnerlicht hatten.“ Ried­ ler empfand den Start dennoch als glückhaft: „Wir waren mit vol­ lem Risiko unterwegs, konnten tief stürzen, aber eben auch hoch fliegen!“ Es langsamer anzugehen wäre für Lilienthal ohnehin keine Option gewesen: „Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man etwas an einem Theater ändern will, muss man das in der ersten Spielzeit tun. Dabei sehe ich die Dramaturgie und mich als Chemiker, die bestimmte Substanzen mixen und dann interes­ siert zusehen, zu welchen Reaktionen es kommt.“

Akt II Lilienthals Chemielaboranten hatten in der ersten Spielzeit zwar nur selten die zündende Mischung für die Bühne gefunden, dafür braute sich im Parkett eine explosive Gemengelage zusammen. Der Tropfen, der das brodelnde Reagenzglas zum Über­kochen brachte, war die Kündigung des Publikumslieblings B ­ rigitte Hob­ meier. Der zweite Akt sieht im Regeldrama das „er­regende Mo­ ment“ vor. Hier war es! Die Süddeutsche Zeitung brach eine Grund­ satzdebatte vom Zaun. Tenor: Lilienthal vergrault (groß­ artige) Schauspieler und überlässt (dilettantischen) Performern das Haus. Geflissentlich übersehen wurde, dass mit Julia Riedler, ­Samouil Stoyanov und Thomas Hauser auch starke S ­ pieler neu dazugekommen und langjährige Protagonisten von Wiebke Puls über Annette Paulmann bis Walter Hess und Stefan Merki immer noch da waren (und es bis heute sind). Mal abge­sehen davon, dass die als Performer gehandelten Franz Rogowski, Jelena Kuljić und Damian Rebgetz sich zu keiner Minute hinter den Genannten zu verstecken brauchten. Auch diesbezüglich hatten sich Fragen der Kategorisierung bald erledigt. Dennoch: „Wir sind in eine krasse Drucksituation geraten. Ich hatte permanent das Gefühl, wir müssen eine Art Prüfung ablegen, um zu beweisen, dass wir das Recht haben, hier zu ­spielen“, erzählt Riedler. Noch schlimmer traf es die „Performer“. Der Australier Damian Rebgetz gab sein Kammerspiele-Debüt in Anna-Sophie Mahlers Adaption von Sepp Bierbichlers bayerischer Generationensaga „Mittelreich“. Eigentlich einer der wenigen Publikumserfolge der Anfangsphase. Nur Rebgetz schlug Ab­ ­ lehnung entgegen. „Die Art, wie einige im Publikum zu husten anfingen, wenn ich etwas nicht korrekt ausgesprochen habe, hat mich irritiert. Das war ein Schock.“ Später beschloss Rebgetz, es nicht persönlich zu nehmen. Wenn der holprige Start ihm etwas gezeigt hat, dann, dass „München in puncto Vertrautheit mit

Spielformen der freien Szene außerhalb des Spielart-Festivals ­etwas Nachholbedarf hatte“.

Akt III Diversität ist zurzeit das große Thema an deutschen Theatern. An vielleicht keinem anderen Haus wurde das Feld so erschöpfend beackert wie an den Münchner Kammerspielen. Auch das breite Spektrum unterschiedlichster Darstellungsstrategien lässt sich ja durchaus als Beitrag zu maximaler Diversität be­greifen. Zugleich nahmen die Kammerspiele Diversität aber auch in dem ernst, was im Englischen unter den Stichworten race, class und gender ver­ handelt wird. Zwei Wegmarken in der dritten Lilienthal-Spielzeit waren die Gründung des Open Border Ensembles, das geflüchteten Künstlern eine neue Heimat gab, sowie Anta Helena Reckes Reenactment von Anna-Sophie Mahlers „Mittelreich“-Inszenie­ rung mit einem Cast of Colour. Reckes Experiment wurde zur Wahrnehmungsprobe für das angestammte Stadttheaterpubli­ kum. Gewohnt, die Probleme weißer Menschen als universell zu verstehen, sah es sich nun einer schwarzen Besetzung gegenüber, die das gleiche Repräsentationsrecht für sich reklamierte. Eigent­ lich eine Selbstverständlichkeit. Doch allein die Tatsache, dass die Mehrheit der Zuschauer diesen Abend als zumindest ungewöhn­ lich empfunden haben dürfte, spricht Bände über vorurteilsbehaf­ tete Sehgewohnheiten, zu deren vollständiger Überwindung es noch ein weiter Weg ist. Reckes „Schwarzkopie“ darf man getrost als Meilenstein auf diesem Weg verstehen. Überhaupt häuften sich die Etappensiege: Christopher ­Rüpings „Trommeln in der Nacht“ und Toshiki Okadas „No Sex“ zählten dazu. Die Formkurve zeigte nach oben. Doch der Erfolg kam zu spät. Im Frühjahr 2018 verkündete Matthias Lilienthal, er stehe nicht für eine Vertragsverlängerung über die anvisierten fünf Jahre hinaus zur Verfügung. Damit behielt er die Deutungs­ hoheit über seinen Abgang. Die CSU im Münchner Kulturaus­ schuss hätte seine Weiterbeschäftigung ohnehin boykottiert. Zum Ende der Saison verabschiedete sich auch noch Nicolas Stemann, der dem Haus mit Jelineks „Wut“ und Tschechows „Kirschgarten“ einige der stärksten Inszenierungen beschert hatte, in Richtung Zürich. Hausregisseur weg, Intendant angezählt: Der dritte Akt brachte zuverlässig die Wende, aber nicht, wie man hätte befürch­ ten können, zur Katastrophe.

Akt IV Denn im vierten Akt und Jahr scherte die Dramaturgie der Ära Lilienthal aus dem klassischen Schema aus. Retardierendes Moment? Im Gegenteil: Es wurde rasend spannend! Damian ­ R­ebgetz hatte angefangen, mit den Ressentiments des Publikums zu spielen. In Yael Ronens „#Genesis“ fragte er provokant: „Where the fuck are the German actors?“ – zum Vergnügen der Zuschauer. Für Matthias Lilienthal war klar: „Es sind nur noch zwei Jahre, wir können jetzt machen, was wir wollen.“ Zum Beispiel einen knapp zehnstündigen Antikenmarathon. Im Casino würde man sagen: Lilienthal und Regisseur Christopher Rüping gingen all in. Ihr Mut wurde belohnt. „Dionysos Stadt“ wurde zum rauschhaften Theaterfest, das die begeisterten Zuschauer und die begeisternden Darsteller, darun­

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ter Nils Kahnwald, Maja Beckmann und Gro Swantje Kohlhof, zur Schicksalsgemeinschaft verschweißte. Die Erfolge häuften sich: Philippe Quesnes bizarre Pastorale „Farm Fatale“, die eine Welt nach dem Klimakollaps imaginierte, den nur eine Handvoll Vogel­ scheuchen überlebt haben. Oder Susanne Kennedys verstörende „Drei Schwestern“-Installation nach Tschechow und Nietzsche, die die Wiederkehr des ewig Gleichen beschwor. „Es ist nicht so, dass in den ersten drei Spielzeiten alles Kacke war“, betont Matthias Lilienthal, „und dann ist der Knoten geplatzt!“ Das galt höchstens fürs Publikum.

Akt V Lange dümpelte die Auslastung bei etwas über 60 Prozent herum, nun schnellte sie hoch auf 85 Prozent. Nächster Beitrag zum ­Thema Diversität, diesmal mit dem Schwerpunkt Gender: Leonie Böhms „Die Räuberinnen“ wurde mit einem Frauen-Ensemble entwickelt, das Schillers hierarchische Männer-Gang in den Fun­ dus sperrte, um als weibliche Solidargemeinschaft die Bühne zu kapern. Komplementär dazu: Thomas Melles „König Lear“-Über­ schreibung: Die Heldendämmerung des alten weißen Mannes, in Szene gesetzt von Stefan Pucher mit dem herrlich verspulten ­Thomas Schmauser in der Titelrolle. Alexander Giesches Staub­ saugerroboter kehrte als Toshiki Okadas „Vacuum Cleaner“ zurück und verzückte nun alle. Christopher Rüping indes setzte seine Be­ schäftigung mit Brechts Frühwerk fort. „Im Dickicht der Städte“ wurde nicht seine stärkste Arbeit, bestechend aber, mit welcher Selbstverständlichkeit an den Münchner Kammerspielen mittler­ weile in vielen Produktionen verschiedene Sprachen parallel ge­ sprochen werden, hier neben Deutsch und Englisch auch noch Serbisch und Arabisch, die Muttersprachen der Darsteller Jelena Kuljić und Majd Feddah (der über das Open Border Ensemble ans Haus kam).

Die Rückkehr des Staubsaugerroboters (nicht im Bild) – Toshiki Okadas „The Vacuum Cleaner“ (Münchner Kammerspiele 2019). Foto Julian Baumann

Eine Sprachvielfalt, die nicht dem zwanghaften Versuch, polyglott zu wirken, geschuldet ist, sondern der zwingenden Logik eines Theaters, das sich global drängenden Fragen von der Migration bis zum Klimawandel stellt und dafür den adäquaten Ausdruck gefunden hat. „Die Kammerspiele als deutschsprachiges Stadt­ theater sind eine Mogelpackung“, konstatiert Lilienthal. „Die Hälf­ te der Proben finden auf Englisch statt. Die Kammerspiele sind dabei, sich von der deutschen Sprache zu emanzipieren.“ Anders gesagt: „Das Sprachenwirrwarr ist Konstruktionsprinzip des Hau­ ses.“ Da ist es wieder, dieses Wort: „Wirrwarr“. Vor fünf Jahren war es für viele Zuschauer gleichbedeutend mit „unerträgliches Durcheinander“. Tatsächlich ist es wohl nur ein anderes Wort für „Diversität“. Auch die muss man anzunehmen lernen, um sie als bereichernd zu empfinden. Die Mehrheit der Zuschauer hat das inzwischen begriffen. Die Katastrophe, die eigentlich für den fünf­ ten Akt vorgesehen ist, schien damit abgewendet. Doch dann kam Corona.

Epilog „Wir sind zusammen mit unserem Publikum in einen Rausch­ zustand gekommen“, sagt Julia Riedler. Aber der Trip wurde jäh unterbrochen. Was folgte, war ein kalter Entzug. Schlimm für alle Theater. Noch schlimmer aber für die Münchner Kammerspiele, die womöglich ums verdiente Finale gebracht wurden. Damian Rebgetz sagt: „The drama certainly fits the whole story of the last five years!“ So setzt Corona dem Ganzen, nun ja, die Krone auf. Nachrufe kennen kein Happy End. //


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Volkssport meets Volkstheater 18 Jahre lang entwickelte Intendant Jürgen Zielinski das Theater der Jungen Welt in Leipzig zu einem Haus, das ganze Fußballjugendmannschaften anzog – nun feierte er seinen Abschied von Dimo Rieß

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s ist Februar, Winterferien in Sachsen. Das Leipziger Theater der Jungen Welt (TdJW) gehört wieder einmal Kindern und Jugend­ lichen, die in allen Räumen ihrer Fantasie freien Lauf lassen und an Utopien arbeiten. Eines dieser spielerischen Projekte, für die sich die Führungsriege auch mal hinter die Zuschauerpodesterie ver­krümelt, um die Presse zu empfangen. „Finale, oho!“ steht auf der Einladung. Von einem Finale kann man in der Tat sprechen. Jürgen Zielinski, 1953 im Ruhrgebiet geboren, verlässt nach 18 Jahren als Intendant das TdJW. Er hat das älteste deutsche Kinder- und Ju­ gendtheater geprägt, das bei seinem Antritt nicht einmal ein Haus hatte und wegen eines Brandes im Zirkuszelt spielte. Und er hat die oft skeptische Sicht auf Kinder- und Jugendtheater verändert. Weil er nicht akzeptiert, dass es als künstlerisch zweitrangig be­ trachtet wird. Gutes Theater ist gutes Theater, egal auf welcher Bühne. Wer dabei zuschauen will, wie Zielinski die Galle auf­ steigt, kann ruhig mal das Gegenteil behaupten.

Die Pressekonferenz nun verkündet das große Abspielen. Winnie Karnofka, seit 2013 Dramaturgin am Haus, tritt Zielinskis Nach­ folge an und braucht Raum für ihren Spielplan. Logisch, aber ganz so pragmatisch läuft das in der Praxis nie ab. Das Abspielen wird zur sentimentalen Abschiedsstrecke – und ausgerechnet die fällt aus. Etwa zur Zeit der Pressekonferenz springt das Corona­ virus nach Deutschland über. Einen Monat später schließen die Theater. Jetzt arbeitet der Chef im Homeoffice. Neben der stets etwas ruckartigen Gestik Zielinskis springt beim Videochat ein grauer Bart ins Auge. „Coronabart“, sagt er. Und: „Die Gefühlslage ist okay.“ Dennoch fällt das Loslassen schwer nach 18 Jahren TdJW. Davor liegen Stationen auf Kamp­ nagel in Hamburg und am Landestheater Tübingen, wo er jeweils die Jugendtheater aufbaute. In Leipzig konnte er „Das Winter­ märchen“ nach Shakespeare noch vor der Schließung verabschie­ den. „Es wurde so frei und intensiv gespielt, dass es mich echt

Nicht nur Schulen beißen an wie hungrige Hechte – „Juller“ von Jörg Menke-Peitzmeyer über den jüdischen Fußballer Julius Hirsch erlebte in der Regie von Jürgen Zielinski (rechts) eine respektable Gastspielserie. Fotos Tom Schulze / TdJW


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e­ rwischt hat.“ Der Mann mit dem Raucherbass räumt Tränen ein. Wahrscheinlich wären einige hinzugekommen in diesen Wochen. Bei „Nathan der Weise“, 15 Jahre auf dem Spielplan. Oder bei „Jul­ ler“, das Stück von Jörg Menke-Peitzmeyer über den jüdischen Fußballer Julius Hirsch, ein Opfer der Nazis. Die Inszenierung erzählt viel über Zielinski. Über sein Interesse an jüdischen ­Themen, die sich nicht zuletzt in regelmäßigen Kooperationen mit israelischen Theatermachern gezeigt hat. Über seine heraus­ ragende Fähigkeit, das Theater zu ver­netzen. Vielleicht handelt es sich nur um eine dieser Theaterlegen­ den, aber am TdJW erzählt man sich, dass ihm das ­sogar ohne Worte gelingt. Dimitri Khvtisiashvili, Leiter des georgi­ schen Jugendtheaters, traf er bei einem Festival in der Raucherpause. Ohne ge­ meinsame Sprache war nach der Ziga­ rette die Koproduktion „Splikifant“ ver­ einbart. „Juller“ hat in Kooperation mit der Kulturstiftung des Deutschen FußballBundes eine respektable Gastspielserie hinter sich und reichlich theaterfernes Publikum erreicht. Auch ein Punkt, der Zielinski wichtig ist: für heterogenes Pu­ blikum sorgen, auch mal im Stadtraum agieren wie bei den Sommertheatern. Zu „Juller“ kamen ganze Fußball­ jugend­ mannschaften. Und sie kamen nicht nur, „wir haben sie gekriegt“, erzählte Drama­ turg Jörn Kalbitz einmal vergnügt über die Wirkung des Abends. „Volkssport meets Volkstheater“, sagt Zielinski und spielt mit den Assoziationen. Volkstheater, weil im TdJW Gene­rationen zusammenkommen in Familienvorstellungen, weil einerseits schon Zweijährige ein altersgerechtes Theater­ erlebnis erfahren können und andererseits ein ernstzunehmender Abendspielplan für Jugendliche und junge Erwachsene entstan­ den ist. Manchmal kann man das „jung“ weglassen, in der „Grön­ holm-Methode“ von Jordi Galceran, einem Drama über knallhar­ ten Wirtschaftsdarwinismus, saßen Manager im Publikum. Das Spartentheater hat sein Publikumsspektrum erweitert. Das sieht man heute deutlich, und schon 2007 schrieb die Leipziger Volks­ zeitung: „Längst sind Erwachsene nicht mehr ausschließlich als Begleitpersonal da.“ Den Begriff „Volk“ überlässt Zielinski nicht, wie er sagt, „den anderen“. Seine Intendanz hat deutliche Zeichen gegen Ras­ sismus gesetzt, auf und neben der Bühne. Etwa mit „Mein Kampf“ von George Tabori, damals, als sich noch ein regionales NPD-Büro in der Nachbarschaft befand. Später mit „Brennpunkt X“ von Nur­ an David Calis, jenem außergewöhnlichen, die Perspektiven wechselnden Theatererlebnis mit Geflüchteten, das dem Haus den Sonderpreis des Sächsischen Förderpreises für Demokratie bescherte. Die Schulen beißen an wie hungrige Hechte, wenn das TdJW Schulstoff hinhält, Klassiker aus dem Lehrplan. Wichtiger sind Zielinski Produktionen wie „Kinder des Holocaust“ von ­Martin Kreidt und Marion Firlus oder „Aus der Traum!“ von Holger

jürgen zielinski

­ chober, das von Burn-out im Fußball-Geschäft erzählt. Druck S und Diskriminierung, aber auch die Angst vor Tod und Abschied hallen als verallgemeinerbare Themen in vielen Stücken wider. Schule braucht Ergänzung, und Theater kann sie bieten, das ist eine der Grundüberzeugungen Zielinskis. Nicht im Sinne der Lehrplanerfüllung, sondern als angstfreier Erfahrungsraum, der persönliche Entwicklung, Toleranz und demokratisches Verständ­ nis fördert. Dafür hat er auch die Theaterpädagogik des Hauses deutlich ausgebaut, eng verzahnt mit dem künstlerischen Ensemble. Er habe das TdJW im „Dornrös­ chenschlaf“ vorgefunden, sagt Zielinski. Geweckt hat er es unsanft. Seine erste Saison bescherte dem Haus ein Be­ sucherplus von 10 000 Zuschauern. Das Ensemble spielte 500 statt 400 Vorstel­ lungen. Mancher ist geflohen vor einem Theatermacher, der sein Umfeld oft über­ fordert – sich selbst aber auch. Reinhart Reimann, seit 1981 auf der TdJW-Bühne, kann sich noch lebhaft an die Eröff­ nungsrede Zielinskis erinnern. „Wir DDRSchauspieler mussten eine neue Spra­ che, ein neues Denken lernen. Wir wussten ganz genau, hinter seiner Fröh­ lichkeit steht Härte und eine gewisse ­Gnadenlosigkeit. Aber hätte er die nicht gehabt, wäre das Haus nicht geworden, was es heute ist. Er hat es durch schwere Zeiten geführt.“ Zeiten, in denen Fusionsdebatten tobten. In denen die Spielfähigkeit am seidenen Faden hing. 250 000 Euro leierte Zielinski der damaligen Kulturstaatsministe­ rin Christina Weiss für die Zuschauerpodesterie aus dem Kreuz. Gleich­zeitig gelangen ihm ästhetische Setzungen, die überregio­ nal a­ ufhorchen ließen. Er holte Vivienne Newport für eine choreo­ grafisch-tänzerische Theatersprache. In „Hotel Babylon“ legte er das Publikum in Betten, und Leipziger mit Migrationshinter­ grund erzählten Geschichten. „Da dachten einige, ich bin verrückt geworden“, sagt Zielinski. Die Kulturstiftung der Länder dachte das nicht und verlieh den „Kinder zum Olymp“-Preis. Die erste von vielen Auszeichnungen. Künstlerisch ist sich Zielinski treu geblieben. Aber er tritt gelassener auf, bei Proben lässt er seinen Schauspielern mehr Raum. „Er weiß, was er geleistet hat“, sagt Reimann. „Das hat ihn verändert, er ist ansprechbarer, freundlicher, ruhiger geworden.“ Winnie Karnofka übernimmt ein intaktes Haus. Strukturstaus ha­ ben sich zuletzt gelöst, die lang ersehnte Zweitbühne im Theater­ haus ist bespielbar, neue Probenräume sind entstanden. Das Thea­ ter, das mit seinem 4,2-Millionen-Etat jährlich deutlich über 50 000 Zuschauer erreicht, stellt niemand mehr infrage. Zielinski denkt über die eigene Intendanz hinaus und kämpft mit seiner Mischung aus Knurrigkeit und guten Argumenten weiter für eine Etaterhöhung. Und ab August? Er dreht die Laptopkamera Rich­ tung Balkon auf einen griechischen Tavernenstuhl. „Den habe ich mir gerade gekauft“, sagt er. Dass der Theater-Workaholic oft ­da­rin sitzen wird, glaubt man eher nicht. //

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abschied

Du sollst nicht schweigen In Gedenken an den Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth

von Kerstin Decker

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m letzten Abend seines Lebens wollte Rolf Hochhuth Taxi fahren. „Sie müssen eine Maske aufsetzen!“, sagte der Taxifahrer. „Niemals!“, antwortete der Dramatiker. Er, Rolf Hochhuth, Ent­ decker des elften Gebots „Du sollst nicht schweigen!“ soll sich ei­ nen Maulkorb anlegen, freiwillig? Er hätte den Taxifahrer davon unterrichten können, dass er gerade ein Gedicht geschrieben hat über den neuen corona-getarnten Disziplinierungs- und Verbots­ wahn. „Regeln sind Regeln!“, erklärte sinngemäß der Taxifahrer. Der Dramatiker hätte nun antworten können: „Das haben die Nazis auch gesagt!“ Vielleicht hat er es sogar getan. Das Taxi ließ den Dramatiker stehen, am letzten Abend seines Lebens, 89 Jahre alt. Aber er hat es geschafft: Niemals hat er einen Maulkorb getragen. Eschwege im April 1945. Am 1. des Monats war der Sohn des Schuhfabrikanten Friedrich Ernst Walter Hochhuth 14 Jahre alt geworden, eine Woche später kam die US Army. 14 ist ein Alter höchster Wachheit. Die Amerikaner machten seinen widerstreben­ den Onkel kurzerhand zum Bürgermeister, und der engagierte den Schuhfabrikantensohn als „Laufjungen des Magistrats“. Der Laufjunge sah den nie abreißenden Strom der Bittsteller im Vor­ zimmer des Bürgermeisters, er sah die vielen fremden Menschen in den Straßen. Vertriebene, KZ-Häftlinge. Lauter menschliches Strandgut. Jede kleine Stadt ist eine verlässliche Welt, ein Mikro­ kosmos. Diese Welt war geborsten und er, der Lebensanfänger, mittendrin.

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Die habituelle Respektlosigkeit des Rolf Hochhuth, die ihm zwei Bundeskanzler (Ludwig Erhard und Helmut Kohl) und ein Minister­ präsident (Hans Filbinger, den er zu Fall brachte) vorwerfen würden, hat wohl hier ihren Ursprung. Er war Konfirmand, er würde nun bald in die Gemeinschaft der Im-Glauben-Gefestigten aufgenom­ men werden, aber eine Frage hatte er noch: Wie konnte Gott die Konzentrationslager zulassen? Wie sein Stellvertreter auf Erden? Elf Jahre später las ein junger Bertelsmann-Lektor den ­Bericht, den der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein nach seiner Verhaftung am 4. Mai 1945 geschrieben hatte, las über dessen Treffen mit dem päpstlichen Nuntius in Berlin, über den Versuch, dem Mann des Vatikans klarzumachen, was in Auschwitz ge­ schah: „Exzellenz!, auch uns trifft die Blutschuld, / wenn wir schweigen.“ Und Rolf Hochhuth wusste augenblicklich, dass er die klassische Exposition eines Dramas vor sich hatte. Er brauchte den „Stellvertreter“, das Stück, das den größten Theaterskandal der Nachkriegsgeschichte auslösen würde, nur noch zu schreiben. Allerdings hatte er dazu überhaupt keine Zeit, denn er musste Bücher für den Bertelsmann’schen Lesering her­ ausbringen, etwa eine neue Wilhelm-Busch-Ausgabe. Er überre­ dete Bundespräsident Theodor Heuss zu einem Busch-Vorwort. Und dann wurden in sechs Wochen über eine Million Buschs ver­ kauft. – „Sollte ich da nicht eine Umsatzbeteiligung bekommen?“, fragte der fleißige Lektor seinen Verleger. „Ausgeschlossen!“, ant­ wortete Reinhard Mohn, aber drei Monate Sonderurlaub könne er haben. Rolf Hochhuth nahm den Urlaub und fuhr geradewegs nach Rom. Auf dem Dach des Petersdoms schrieb er sein Stück „Der Stellvertreter“. Natürlich hätte ihn kein Mensch veröffentlicht. Bertels­ mann ließ ihn zwar schon setzen, aber dann merkten die Setzer, was drinstand. Und Mohn tobte. Fast die Hälfte seiner Leser seien Katholiken, ob der Sonderurlauber sein Haus denn völlig ruinie­ ren wolle? Es vergingen noch Jahre, bis das ungedruckte Stück Erwin Piscator in Berlin in die Hände gespielt wurde, und der ­sagte: „Ich mache das!“ Wer sagt, die Kunst könne die Welt nicht ändern? Die ­Aufführung des „Stellvertreters“ hob sie ein Stück weit aus den Angeln. Sein „christliches Trauerspiel“ führte den Autor um die Welt. In 25 Ländern wurde es gespielt, in 22 erschien es als Buch. In New York trat Hannah Arendt zum ersten Mal im Fernsehen auf – für Rolf Hochhuth. Er musste bloß aufpassen, dass ihn die­ ser Sturm nicht umwarf. Er war jetzt 32 Jahre alt. Vielleicht ist ihm seitdem eine starke Wetterfühligkeit geblieben: Leben ist nur bei höchsten Windstärken. Leben ist im Auge des Orkans. Rolf Hoch­ huth, der Windmacher? Sein nächstes Stück „Soldaten“ geißelte den Bombenkrieg als Verbrechen und porträtierte Winston Churchill als Mörder des Präsidenten der polnischen Exilregierung Władysław Sikorski. Drei Flugzeugabstürze. Erst der letzte war tödlich. Die Briten ha­ ben Hochhuth nie vergeben. So wie Bundeskanzler Ludwig Er­ hard dem Autor seinen Spiegel-Essay von 1965 nicht verzieh, be­ titelt „Der Klassenkampf ist nicht zu Ende“. Was Rolf Hochhuth so aufgebracht hatte, war des Kanzlers Wahlkampf-Plan für die Vermögensbildung des kleinen Mannes: 312 D-Mark steuerfrei pro Jahr. – „Das ist doch die Hundesteuer der besseren Leute!“, empörte sich der Autor noch gestern wie vor über einem halben


rolf hochhuth

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Jahrhundert. Ist das nun schon fast unzurechnungsfähig oder bei­ nahe genial? Bei Hochhuth schien das immer nah beieinander zu liegen, aber am Ende behielt er meist recht. Vielleicht wegen des Hundesteuer-Vergleichs hat Kanzler Erhard den Dramatiker zum „Pinscher“ erklärt und sich damit mindestens so unvergesslich gemacht wie mit der Erfindung der sozialen Markwirtschaft. Allerdings ist auch Hochhuths Vater, der frühere Schuhfabrikant, ganz blass geworden, als er auf Empfeh­ lung eines Bekannten las, was sein Sohn im Spiegel geschrieben hatte. War das nicht noch schlimmer als der „Stellvertreter“? Wie kam das Kind eines Schuhfabrikanten zu solchen, nun ja, klassen­ fremden Stellungnahmen? Er hat Eschwege im Frühjahr 1945 nie vergessen. Man hat ihn den „Chefankläger der deutschen Literatur“ genannt, sprach gar von „Hochhuths Terror-Theater“, und bei besonders abfälliger Gesinnung unterstellte man ihm „Schulfunk-Naturalismus“. Das mag an seiner Neigung liegen, alles auszusprechen, dabei lebt Theater nicht zuletzt vom Unausgesprochenen. Aber das ließ er ungern zu, dazu wusste er zu viel. Selbst seine Regieanweisungen gerieten leicht zu historischen Exkursen. Das Enthüllungstheater, das Zeitstück wird immer ein Spezialfall des Theaters bleiben. Aber an Treffsicherheit überbot ihn niemand. Wohl keiner der Macher der Deutschen Einheit hätte 1990 geglaubt, dass man sich einer kurzlebigen Institution, die Treuhand genannt, dreißig Jahre später noch erinnern würde. Erinnern? Prä­ senter, unvergessener kann man gar nicht sein im Gedächtnis der Ostdeutschen. Sollte man wirklich glauben, dass Rolf Hochhuth dies bereits 1993 in „Wessis in Weimar“ nicht nur prophezeit, son­ dern gestaltet und bühnenfertig gemacht hat? Niemand außer ihm. Wer meinte, diesen Hochhuth nicht ernst nehmen zu müs­ sen, begründete das gemeinhin so: Er personalisiere. Ist das nicht unfassbar naiv? Adorno hatte Rolf Hochhuth einen offenen Brief geschrieben, weil der Jungdramatiker ihn „unseren modischen Chef-Theoretiker“ genannt und trotz der „Dialektik der Auf­ klärung“ darauf beharrt hatte, dass der Einzelne in der Masse sehr wohl Subjekt bleibe, bleiben könne. Bei den meisten Menschen sei es schon eine Frechheit, wenn sie „Ich“ sagen, glaubte Ador­ no? Das hätte er mal Hochhuths Großmutter ins Gesicht sagen sollen. Hochhuths Großmutter, die Goebbels Rundfunkansprache zum Überfall auf die Sowjetunion nur mit einem Satz kommen­ tiert hatte: „Jetzt verlieren wir diesen Krieg auch noch!“ Die moderne Gesellschaft gliedere ein und stoße aus und richte den Einzelnen zu nach den Imperativen ihrer Zwecke, sagte die Frankfurter Schule. Aber hat sich Adolf Eichmann nicht eben­ so verteidigt? Natürlich personalisiert Hochhuth. Anders ist das Prinzip Verantwortung gar nicht zu denken, und ohne dieses sind moder­ ne Welten verloren. Natürlich sind auch Regisseure verantwort­ lich. Nachdem Hochhuth Frank Castorfs „Wilhelm Tell“-Inszenie­ rung sah, schrieb er, Regisseure wie den sollte man auf offener Bühne ­erschießen. Das ist die Freiheit der Kritik. Und dann saß Hochhuth als Kritiker der Welt in einem Beckett von Castorf. „Die Katastrophe“ spielte in der Theaterkantine der Berliner Volks­ bühne in einem Meer von Glasflaschen. Absurdes Theater eben. Hochhuth beargwöhnte es immer, denn in seiner Jugend galt: Nur absurdes Theater ist gültiges Theater! Alles andere sei anachronis­

Leben im Auge des Orkans – Rolf Hochhuth blättert in der Akademie der Künste in Berlin in seinem Buch „Sommer 14“, dessen Bühnenversion er 2009 mit arbeitslosen Schauspielern erarbeitet hatte. Foto dpa

tischer Unfug, so Adorno. Als die Glasflaschen-Akteure bei ­Castorf schließlich Messer in die Zuschauertische rammten, zuck­ ten alle zurück. Nur Hochhuth blieb völlig regungslos sitzen. Frank Castorf: „Das Messer durchschlug einen Aschenbecher, der flog dem Hochhuth an die Arterie und zerschnitt sie.“ Das Blut des Dramatikers spritzte meterweit. Die Zuschauer waren tief ­be­eindruckt ob dieses Effekts. Später, als Hochhuth schon in der Charité lag, erschien Castorf abschussbereit an dessen Bett. Und – sie tranken zusammen Wodka. Zwei Anarchistenseelen ­erkannten einander. Rolf Hochhuth ist am 13. Mai in Berlin gestorben. //

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Wir müssen spielen! Aber wie, wenn die Theater aufgrund von Corona geschlossen sind? Wir liefern einen Überblick über digitale Projekte und Social-DistancingInszenierungen vom Chat-Game über VR-Erlebnisse bis hin zum Drive-in-Theater. Da digitale Geschlechtsumwandlung, wie der Dramaturg Carl Hegemann in seinem Zwischenruf schreibt, zwar toll ist, aber nicht reicht, eröffnen wir die Kurzkritikenreihe mit einem flammenden Appell von Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters: Wir müssen spielen! Auf der Bühne! Und zwar schnell.

Plakat des Münchner Volkstheaters zum Start der Spielzeit 2018/19. Foto Bernd Schifferdecker / Volkstheater

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n der derzeitigen Coronakrise bin ich mit vielen Politikern d’accord. Wir mussten die Theater schließen. Und ich finde es gut, dass viele Leute da mitgehen und dieses Tücherl vor der Nase tragen, auch wenn es manchmal furchtbar ist. Auch in meinen demokratischen Rechten fühle ich mich nicht eingeschränkt. Ich kann weiter nachdenken, mich öffentlich äußern. Letztlich aber habe auch ich es nicht mehr ausgehalten. Man sitzt am Schreib­ tisch und fragt sich: Wie geht es weiter? Wie sieht die neue Nor­ malität aus, die Vizekanzler Olaf Scholz ins Leben gerufen hat? Wie für das Theater? Wenn ich vorgestern Rheinland-Pfalz’ Ministerpräsidentin Malu Dreyer sagen höre: Ja, für das Theater werden wir auch noch eine Lösung finden – im Herbst, war klar: Wir müssen warten. Die Kultur wird totgeschwie­ gen. Und das geht nicht! Ulrich Matthes hat vor zwei Tagen gesagt, er laufe auf seelischem Not­ aggregat. Genauso geht es mir. Und wenn unsere Wartezeit sogar sieben Monate dauern soll, dann brennt dieses Notaggre­ gat bei mir durch. Also haben wir uns gesagt: Wir müssen eine Idee entwickeln. Das Internet haben schon viele gefunden, und ich ­finde das auch total spannend. Ich aber will nicht ins Internet, ich bin zu sehr analog. Ich will spielen. Ich will da sein. Wir wollen zurück auf die Bühne! So schnell wie möglich. Das sind wir unse­ rem Publikum und auch uns schuldig. Daher haben wir ein Konzept entwickelt. Wir gehen jetzt in die Sommerpause, um am 15. Juli mit den Proben für die nächste Spielzeit zu beginnen. Wir wollen fünf Produktionen rausbrin­ gen, die neu überlegt werden müssen, auf Abstand inszeniert, um coronatauglich zu sein. Am 24. Juli wollen wir dann in die neue Spielzeit starten. Natürlich gibt es dafür ein Hygienekonzept. Wir werden aus dem Zuschauerraum, in den 600 Leute passen, jede zweite Reihe ausbauen. Auf die Bühne bauen wir ein zweites ­Podest. Gespielt wird zwischen den beiden Tribünen. Am Ende würden wir etwa hundert Leute ins Theater bringen. Wir haben gesagt: Lieber spielen wir vor hundert Leuten als gar nicht. Die Produktionen sollen nur eine oder eineinhalb Stunden lang sein, so können wir eventuell zweimal am Abend spielen. Wenn es in der Kirche möglich ist, mit Abstand zu spielen, dann wollen auch wir mit Abstand spielen dürfen. Der Fußball soll spielen. Die ­Gastronomie soll spielen. Und wir wollen auch spielen. Wir wer­ den Pläne entwickeln, wie die Leute aufs Klo gehen, wie sie ins Haus rein- und wieder rausgehen. Wir legen Namenslisten an, um ­Infektionsketten rückverfolgen zu können. Die Bühnenbilder werden zunächst reduziert sein, um auch in den Werkstätten in kleinen Teams und mit Abstand arbeiten zu können.

Wie aber inszeniert man eine coronataugliche Liebesszene? Ich weiß es selbst nicht. Ich habe mal in Indien gearbeitet. Da ist es absolut nicht möglich, dass man sich auf der Bühne küsst. Stattdes­ sen erklingt ein hackbrettähnliches Instrument, das heißt dann: Kuss! Ob das bei uns funktioniert? Vielleicht müssen wir auch an die Wand beamen: Jetzt käme Kuss. Das ist eine Herausforderung. Aber die Herausforderung anzunehmen, ist besser als gar nichts zu tun. Die Bamberger Symphoniker haben schon Blasproben ge­ macht, um zu schauen, wie weit da der Virus hinausfliegt. Wir wer­ den bei besonders lauten Szenen vielleicht mit Mikroport arbeiten. Neben den fünf Inszenierungen, die coronatauglich sind, die womöglich auch die Spuckrichtung eines Schauspielers be­ achten, wollen wir auch in den Garten gehen, da lässt sich für fünfzig Zuschauer etwas machen. Für die Vormittage wollen wir Kinderprogramme entwickeln, abends soll es musikalische ­Dämmerschoppen geben, denn es gibt derzeit so viele Musiker ohne Arbeit. Und ich fordere jetzt schon alle Musiker auf: Wer denkt, dass er corona­ tauglich ist, der soll sich melden. Was mir wirklich wichtig ist: Wir, die wir an den Stadt- und Staats­ theatern in einer recht ­sicheren Position sitzen, dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, einfach zu warten. Natür­ lich hat auch der Oberbürgermeister gesagt: Schick so viele wie möglich in Kurzarbeit. Aber ich hab’ gesagt: Ich will keine Kurz­ arbeit! Ich will spielen! Dieses auf Sicht fahren, ich kann’s nicht mehr hören, denn ich weiß schon gar nicht mehr, wo ich hin­ schauen soll. Wir müssen die neue Normalität selbst schaffen. Daher danke ich in erster Linie allen Mitarbeiterinnen und Mit­ arbeitern im Haus, die diesen Weg mitgehen. Es ist nicht selbst­ verständlich, auf einen Teil des Sommerurlaubs zu verzichten. Es ist auch nicht ganz leicht, den Rhythmus, den man über Jahre gewohnt war, umzuwälzen, Veränderung zuzulassen. Also bitte, Staatsregierung, bitte, Kunstminister! Die Stadt steht schon hinter uns, unser Kulturreferent Anton Biebl ist hier. Lasst uns gemeinsam Ideen entwickeln, damit wir wieder auf die Bühne können. Vielleicht haben wir nicht die Lobby des Fußballs oder der Kirche, aber wir sind da, und wir müssen uns melden. Ich will nicht totgeschwiegen werden. Wir lassen uns nicht auf Trockeneis legen. Ich möchte selber dampfen. Vielleicht werden auch fünf coronataugliche Inszenierungen furchtbar fad, wir sind darin ja auch noch nicht geschult, aber wir werden es machen! Wir freuen und sehnen uns nach euch. Nach eurem Applaus und nach euren Buhs. Danke! //

Spielen!

Wir müssen die neue Normalität selbst schaffen – ein Aufruf von Christian Stückl

Bei diesem Text handelt es sich um eine redaktionell bearbeitete und gekürzte Rede, die der Intendant des Münchner Volkstheaters Christian Stückl bei einer Pressekonferenz am 6. Mai hielt.


Heimisch werden auf der digitalen Bühne Digitales Theater I: Chat-Games und VR-Erlebnisse von Tom Mustroph

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heaterprodukte in den digitalen Raum zu werfen, ist gar nicht so schwierig. In Lockdown-Zeiten wurden Webbrowser kur­ zerhand zu Schaufenstern eines ganzen Archipels von Theater­ museen. Was wurde nicht alles ins Netz geschaufelt, was jahre­ lang auf Festplatten und Videokassetten gespeichert war, ohne dass je ein menschliches Auge von den Inhalten Notiz genommen hätte? Als Hinweis auf die Relevanz von Theatermuseen war diese Streaming-Praxis sicherlich gut. Die Stärken des Theaters verloren sich aber dabei. Emotio­ nen durchdrangen nur selten die neue vierte Wand von Compu­ terbildschirm und Smartphone-Oberfläche. Gelang dies doch, so war es meist das Werk von Künstlerinnen und Künstlern, die nicht aus purer Vorstellungsabsagenot ins digitale Wasser ge­ sprungen waren, sondern die sich schon länger mit virtuellen und Onlineformaten auseinandergesetzt hatten.

Ganz stoisch, ohne sich von Corona beeinflussen zu lassen, zog etwa die Gruppe Onlinetheater.live ihren Projektfahrplan für ­„Hyphe“ durch. Ein Jahr lang dauerte die Produktion dieses Multi­ player-Theater-Games, mehrere Monate nahm allein die Program­ mierung der Chatplattform in Anspruch. Zugang erhielt man über einen Login an einem herkömmlichen Webbrowser. Ein Countdown zählte die Minuten zum Start herunter – und dann war man in einen kleinen Pilz verwandelt und sollte rhizoma­ tische Beziehungen mit anderen Pilzen eingehen. Das tat man auch, und verfolgte über eine Karte, wie sich die eigenen Bezie­ hungen und auch die der anderen entwickelten. Zwischendrin tauchte ein ­Vogelmensch auf, der wieder mehr Ehrlichkeit in die mensch­ lichen Beziehungen einführen wollte. Das Spiel hatte zwar Grenzen, Fragen kamen nur vom System, und für ein wirk­ liches Austesten von Ehrlichkeit hätte es mehr Interaktionen ge­ braucht. Eine Sogwirkung erzeugte das Spiel aber doch. Viele Teil­ nehmer wünschten sich eine Fortsetzung. Kommunikation stellte auch einen großen Reiz der ChatGames „Lockdown“ und „Twin Speaks“ der Gruppen machina eX

Das „CyberBallet“ der CyberRäuber am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Foto VR CyberRäuber

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digitales theater I

und vorschlag:hammer dar. Beide Projekte benutzten als digitale Spielstätte die Messenger-Plattform Telegram. Der Zugang erfolg­ te über Smartphone. Bei „Lockdown“, einem von machina eX auf der Basis der vorherigen Produktion „Patrol“ entwickelten Spiel, sollten Klein­ gruppen aus jeweils drei Teilnehmern das Verschwinden einer WG-Mitbewohnerin aufklären. Die Spurensuche erfolgte über ­Audiobotschaften und Textnachrichten. Man wurde zu externen Websites geführt und hatte Karten zur Hilfe. machina eX ver­ schmolz die fiktionale Wirklichkeit der WG um die verschwunde­ ne Tess so stark mit der realen Infrastruktur der Stadt Düsseldorf, dass aus dem Spiel heraus (versehentlich) auch Einrichtungen der Realwelt, deren Namen sich nur marginal von den Ereignisorten des Spiels unterschieden, angerufen wurden. Das Projekt ent­ stand in Zusammenarbeit mit dem FFT Düsseldorf, mit dem die Gruppe in der Vergangenheit auch eine Doppelpass-Förderung verbunden hatte. „Twin Speaks“ von vorschlag:hammer nutzte ebenfalls all diese Möglichkeiten und zeichnete sich zusätzlich noch durch den opulenten Einsatz von Videos aus. Auch hier bot eine Kriminal­ story das narrative Gerüst, die indes mehr an den Erzählweisen eines TV-„Tatorts“ ausgerichtet war. Die Filmszenen waren bereits Bestandteil einer im Jahre 2019 zur Premiere gebrachten Bühnen­ produktion. Jetzt waren sie die Realwelt-Elemente eines digital zugänglichen Spiels. „Twin Speaks“ und „Lockdown“ etablierten den Messenger­ dienst Telegram so erfolgreich als Nebenspielstätte von Theater, dass die Verwendung dieses Tools auch nach Rücknahme der ­Coronaeinschränkungen Bestand haben sollten. „Twin Speaks“ wurde zuerst vom Ballhaus Ost in Berlin präsentiert, später vom Schlosstheater Moers, einem Partner im Doppelpass-Programm. Es ist kein Zufall, dass technologisch aufwendigere Produktionen besonders von freien Gruppen realisiert werden können, die in längerfristigen Förderzusammenhängen operieren. Das trifft auch auf die CyberRäuber und ihr ebenfalls im Rahmen einer Doppelpass-Partnerschaft mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe entstandenes „CyberBallet“ zu. Die Cyber­ Räuber schlagen einen für die Raum- und Präsenzkunst Theater besonders reizvollen Weg ein. Auf der Plattform VRChat richteten sie mehrere Bühnen ein. In diese begab man sich als Avatar – und war zunächst schier überwältigt vom Raumerlebnis. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, sich Positionen zu suchen, die ­eigene Perspektive zu organisieren und auch noch mit anderen Besucherinnen und Besuchern zu kommunizieren, geriet die Per­ formance selbst ein wenig in den Hintergrund. Bewegungs­ sequen­zen des Tänzers und Choreografen Ronni Maciel waren mit Motion-Capture-Verfahren aufgezeichnet und in die virtuelle Realität überführt. Dort wurden sie vervielfältigt, gespiegelt, in verschiedene zeitliche Intervalle aufgelöst und wieder zu Formati­ onstänzen zusammengestellt. Der Tänzerkörper wurde optisch ebenfalls bearbeitet. Er war durchlässig und funktional auf ein Hybrid aus Skelett, Muskelgewebe und Blutkreislauf reduziert. Die VR-Künstler Marcel Karnapke und Björn Lengers agierten hier als Demiurgen am digitalen Tänzerkörper. Zugleich zeigten sie mit diversen Projektionsformen und Effekten, was in diesen komplett neuen Räumen alles möglich sein kann. Tanzsequenzen

können auf Wände, Decke und Boden gelegt werden. Spiegelun­ gen sind möglich, Projektionen einer Livekamera ebenfalls. Zur Steuerung wurde ein virtuelles Mischpult, das sichtbar im Raum war, genutzt. Das Spiel um eine künstliche Intelligenz, die sich einen Körper wünscht, könnte als Initialprojekt für eine ganz neue Theatersparte funktionieren. Entdeckt wurde VR mittlerweile auch von anderen Theater­ häusern. Das Staatstheater Augsburg bietet sogar einen Lieferservice für VR-Brillen an. Brille bestellen, Tür öffnen, Brille aufsetzen und los geht es. Die beiden derzeit erhältlichen Produktionen „Judas“ und „shifting_perspective“ loten aber nur ganz vorsichtig die neuen Welten aus. „Judas“ ist lediglich die in VR verlagerte Filmaufnahme des Monologs von Lot Vekemans in der Regie von Magz Barrawas­ ser. Immerhin kann man in der schmucken Goldschmiedekapelle der Kirche St. Anna herumspazieren, während „Judas“-Darsteller Roman Pertl einen Tisch zusammenzimmert und seinen Verrat als Realpolitik zu begründen versucht. „shifting_perspective“ (nach einer Idee von André Bücker und einem Konzept von Ricardo Fernando und Carla Silva) ist hingegen eine Neuproduktion für VR. Ist auch hier der Anfang noch ganz realistisch gehalten, so verlassen die Tänzerkörper später den Schwerkraftraum, schwe­ ben am Betrachter vorbei und kreuzen ihre Datenbahnen. Ebenfalls mit VR experimentiert die Costa Compagnie. Das komplette mit einer 360-Grad-Kamera aufgenommene Recher­ chematerial für die Produktion „Fight (for) Independence“ wird für einen 3-D-Film (Onlinepremiere 15. Juni) und eine VR-Installation (im Edith-Russ-Haus für Medienkunst Oldenburg, bis 14. Juni) aufbereitet. Insgesamt verlieh der Lockdown vor allem Gruppen und Künstlern, die schon länger digitale Strategien verfolgen, größere Sichtbarkeit. Die Produktionsprozesse sind aber aufwendig. Und nur Glücksumstände wie bereits vorhandenes digitales Material erlaubten überhaupt einzelne Produktionen. Eine Perspektive über den Lockdown hinaus dürften vor allem Formate haben, die auch digital besondere Raumerfahrungen bieten und mit kollektiv geteilten Livemomenten spielen. Zu Letzterem ist in Einzelfällen aber noch nicht einmal großer technischer Aufwand notwendig. Das Berliner Institut für künst­ lerische Forschung (IKF) adaptierte das biografische Kammerspiel „Hans Schleif“ (Premiere 2011 am Deutschen Theater Berlin) am Schauspielhaus Zürich als Zoom-Konferenz. Die Recherche des Schauspielers Matthias Neukirch über die SS-Karriere seines Großvaters Hans Schleif wurde mit Live-Kameras aufgenommen (Regie Julian Klein). Neukirch schuf mit sparsamen Gesten einen derart intensiven Reflexionsraum, dass die etwa fünfzig Teilneh­ mer nicht nur zwei Stunden lang dabeiblieben, sondern sich da­ nach noch über eigene private wie professionelle Zugänge zur ­NS-Geschichte austauschten. Das IKF ist zugleich Initiator des Projekts Digitale Bühne. Es will digitale Proben- und Distribu­ tionsplattformen entwickeln, die den gesamten Theaterbetrieb unabhängiger von kommerziellen Anbietern machen. //

TdZ ONLINE EXTRA Eine Langversion dieses Artikels mit Links zu den Projekten finden Sie unte www.theaterderzeit.de/2020/06

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Der Coronazeitmensch Digitales Theater II: Splitscreenfilm, Webserien und Videokunst von Jens Fischer

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enschliche Tragödien löst Covid-19 aus, sorgt für existen­ zielle Dramen – und ist für alle, die das Glück hatten, sich noch nicht zu infizieren, zumindest ein Trauerspiel, denn nur ein Heil­ mittel scheint gesellschaftlich wirksam: sich sozial und damit kör­ perlich fernzubleiben. Wenn jeder Schritt, jede Geste aufeinander zu kritisch beäugt wird, jedes leidenschaftliche, vielleicht laut und feucht gesprochene Wort nur im Abstand von einigen Metern möglich ist, herrscht auch in den Theatern dystopischer Naturalis­ mus. Nichts geht mehr. Also ab mit den Inhalten in den virenfreien virtuellen Raum, wo Künstler mit Künstlern und Publikum vor­ schriftsmäßig kontaktlos umgehen können. Dort weiterhin Texte mit Schauspielern zu inszenieren, haben aber nur wenige Theater den Mut. Muss doch 3-D-Bühnen- in 2-D-Monitorkunst umge­ switcht werden. Theaterregisseure sind aber keine genuinen Film­ regisseure, was auch umgekehrt gilt, und die stadttheatereigenen

Videoteams häufig auch eher Techniker denn Künstler. Aber warum nicht jetzt Quereinstiege versuchen? Theatrale Selbstermächtigung in neuer digitaler Ausprägung! Noch ganz viel Theater spürbar ist bei Antú Romero Nunes. Um die Premiere seiner „Ode an die Freiheit“ nicht ganz ausfallen zu lassen, hat er die letzten Proben vor der Schließung des Thalia Theaters in Hamburg mit Kamerabegleitung fortgesetzt. „Maria Stuart“, der erste Teil des geplanten Schiller-Triptychons, ist ein ­ ­frech-fröhlich-furioser Schlagabtausch zwischen Barbara Nüsse und Karin Neuhäuser, ihr Duell ein Kampf mit den beiden Hauptrollen sowie dem fragilen Verhältnis von Nähe und Distanz. Es folgte die kauzige „Wilhelm Tell“-Digest-Version mit dem KomödiantenDuo Thomas Niehaus und Paul Schröder. Beides ergab zusam­ men zwar keinen Film, dafür zwei ausgereifte szenische Skizzen.

Wiederauferstandene Pestopfer in einer paralysierten Stadt – Bert Zanders Adaption von Albert Camus‘ „Die Pest“ für das Theater Oberhausen. Foto Bert Zander


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Da die Kunst des gelassenen Zu-Hause-Seins selten beherrscht wird, reißen viele der fix produzierten Theaterfilme die Wunden der medizinisch notwendigen Vereinzelung auf. Bars geschlos­ sen, tagtäglich Homeoffice, überall Sicherheitsabstand, daher können Singles nur körperlos in der immateriellen Sphäre des Netzes flirten. Parship und Tinder boomen. Auf dieses Phänomen stürzt sich „Corona zu zweit“. Der Leiter des Theaters Gütersloh, Christian Schäfer, realisierte online die erste Uraufführung nach den Theaterschließungen, eine von Joachim Zelter geschriebene Liebesgeschichte zweier allein vor sich hin leidender Menschen der Coronazeit, die alle Stichworte der aktuellen Diskurse auf­ greift, also zitiert, aber nicht dramatisch durcharbeitet. Ihre Monound Dialoge nahmen die Schauspieler unabhängig voneinander im privaten Ambiente mit der Handykamera in Selfie-Manier auf, spielten die gegenseitige Ansteckung mit Liebe wie auch Corona ironisch korrekt aus, während die Regie erlesen fotografierte Bild­ metaphern dazwischenschnitt, um ein Klima aus Existenzängs­ ten, Verzweiflung, Unsicherheit und Hoffnung anzudeuten. Hier wie für viele Filme anderer Häuser gilt: Endlich reagiert das Thea­ ter mal schnell auf aktuelle Entwicklungen – wenn auch nur mit schlichter, humorvoller Unterhaltung. Ersatztheater fürs Ersatz­ leben. Pausenfüller der erzwungenen Spielpause. Je zwei Kontaktsucher spendierten das Deutsche Theater in Berlin, das Residenztheater München sowie die Schauspielhäuser in Düsseldorf, Nürnberg und Hannover der Produktion „zeitfür­ einander“. Unter der Regie von Anne Lenk haben sich fünf Schau­ spielerinnen und fünf Schauspieler aus ein paar Ticks und ­Typenklischees lustige Figuren gebastelt, als die sie per Videochat fünfminütige Speeddatings locker aus der Hüfte improvisieren. Streng heterosexuell, jede mal mit jedem im Paarbildungs­versuch. Es wird viel unsicher gelacht, smalltalkend cool nach Gemeinsam­ keiten gesucht, Wein getrunken, keck gefragt, verführerisch ge­ lächelt. Insgesamt ein charmanter Jux sich selbst auf TV-ComedySerien-Niveau unterfordernder Schauspieler. In coronafreien Tagen hätte wohl keines der beteiligten Theater sein Logo dieser Webserie als Gütesiegel verliehen. Nicola Bremers „Radio Einsamkeit“ bringt die Neue Bühne Senftenberg in Kooperation mit der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in der Regie von Maximilian Pellert als dreiteilige Serie zur Uraufführung. In sieben Städten per ­Videokonferenz entwickelt, gespielt, gefilmt, montiert. Der Titel lässt keine Zweifel am Sujet aufkommen. Zwar nicht Covid-19, aber ein Schneesturm hat das öffentliche Leben lahmgelegt. In feinem Schwarz-Weiß eingefangen, sind verschneite Straßen zu sehen, in Wohnkücheneinöden klammern sich Zwangseinsied­ ler an Radiogeräte. Auch im Bild ist eine nervtötend dampf­ plaudernde Moderatorin, die zu jeder Nachricht das Zitat eines Geistesheroen raushaut. Tontechniker und Produzentin sind auf ihrem Laptop zugeschaltet und diskutieren, was die Leute da draußen in der Krise hören wollen … bis endlich, so endet der erste zwanzigminütige Teil, doch noch mal was passiert: Ein Volksaufstand, es gibt Tote, das Militär marschiert auf, was uns – Black auf dem Bildschirm – als Hörspiel serviert wird. Die über Metaebenen stolpernde Narration und kaum überzeugende schauspielerische Leistungen helfen leider nicht gegen Ein­ samkeit.

digitales theater II

Den besten Uraufführungstext realisierte das Deutsche Theater Berlin als Splitscreen-Film: Katharina Köths autobiografische Aus­ einandersetzung mit ihrem Vater, einem delirierenden Reichs­ bürger. Ihn entdeckt „Die härteste Tochter Deutschlands“ in ei­ nem Youtube-Video als Hitler-Verehrer, Demokratiehasser und Holocaustleugner. Während der Darsteller des Vaters (die Rollen werden beständig getauscht) im Wahn in seinem (Gedanken-) Keller bramarbasiert, verkriecht sich die Tochter während eines Skype-Gesprächs in einer selbstgebauten Höhle, an einem Schreibtisch verkündet Spieler Nummer drei aktuelle CoronaNews. Zwei Kollegen schauen aus ihren Bildkacheln zu. Neben ihnen läuft ein endloser Code im Dualsystem. Die alle unter­ jochende Matrix? Solche Assoziationen legt in einem weiteren Fenster die live zu verfolgende Internetrecherche zu Verschwö­ rungstheorien nahe – die ja derzeit gern von Neonazis angefeuert werden, gerade auch in Sachen Corona, Stichwort: Filterblasen. Diese Themen im Internet aufzugreifen, liegt also nahe. Als Thea­ termittel das mehrmalige Tauschen der Rollen zu übernehmen, sorgt für Distanzierung. Zur Verwirrung läuft parallel noch ein Chat. Aufputschend dröhnt schleppender Gitarrenrock. Außer Rand und Band gerät die multiperspektivische Bilderfolge durch Technikspielereien – wird ab und an kaleidoskopisch zersplittert und strudelt ins Nichts. Gerade die zwischen Scham, Abscheu, Angst, Hass, Hohn, Mitleid und Vaterliebe rebellierende Tochter geht verloren in dieser Reizüberflutung, in der Theater- und ­Videoclip-Erzähltechniken verschmelzen. Wäre es möglich, sich darauf in einer dreidimensional analog arrangierten Videoinstal­ lation einzulassen, könnte die Inszenierung funktionieren. Zu­ sammengepfercht auf einen Monitor, erschlägt einen dieses Spiel mit den Sehgewohnheiten einer von der Allgegenwart des Bild­ schirms geprägten Kultur. Fast ohne Einschränkungen herausragend ist Bert Zanders Adaption von Albert Camus’ „Die Pest“ für das Theater Ober­ hausen, ein bundesweiter Hit der coronakrisenbedingten OnlineSpielpläne. Zander engagierte rund sechzig Bürgerinnen und Bürger, die sich daheim beim Rezitieren von Passagen aus dem Buch gefilmt und so Material für eine sinnträchtige Szenencollage produziert haben: Die Stadtbevölkerung berichtet über die Pande­ mie. Zander projiziert die Aufnahmen auf Symbole einer sich ­isolierenden Gemeinschaft: Per Rollladen abgeriegelte oder gleich zugemauerte Fensternischen, verschlossene Türen, Containerund Garagentore einer abendlich ausgestorben wirkenden Stadt, durch die moderierend eine Erzählerin wandert. Zwischentitel sorgen wie im Stummfilm für Orientierung, zudem werden dialo­ gische Episoden des Romans von Ensemblemitgliedern gespielt und in ephemerer Anmutung in leere Räume kopiert, unter ande­ rem auf die verwaiste Theaterbühne, in einen Pressekonferenz­ saal und eine gruslige Dachbodeneinsamkeit. Die Schauspieler wirken wie Lemuren – zur Erinnerung an ihre Geschichte wieder­ auferstandene Pestopfer. Wie auf diese Art Theater und Lesung in Film transformiert werden und die paralysierte Stadt als Bühne dient, ist formal schlüssig, technisch ausgereift, optisch reizvoll, inhaltlich, darstellerisch und in Sachen Bürgerbeteiligung ge­ glückt – so funktioniert Theater als eigenständige Videokunst im Netz, die weder mit TV-Serien, Fernsehfilmen noch Live-Bühnen­ kunst konkurriert. //

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Can you hear me? Digitales Theater III: Zoom-Theater und Medienkritik von Dorte Lena Eilers

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ir haben Ressourcen entwickelt, um Sie in diesen schwie­ rigen Zeiten zu unterstützen.“ Mit diesem karitativ verpackten Wer­ beslogan wirbt das US-amerikanische Softwareunternehmen Zoom neuerdings um Kunden. Das Konferenztool, das vor der Coronakrise nahezu unbekannt war, hat sich trotz Datenschutzmängeln seitdem tief in unseren Alltag eingeschrieben. Der Homo zoomoticus blickt uns regelmäßig aus vier, sechs, zehn oder auch sechzig Splitscreens entgegen, als habe er sich mit seinem Entstehen zeitgleich selbst im handlichen Format archiviert. Das Rastermuster erzeugt Nähe. Oder gibt es nur vor, wirklich da und wirklich nah zu sein? „Cathy? Can you hear me?“ Dieser Satz zieht sich wie ein melancholischer Refrain durch die dreiteilige Internetserie der britischen Performancegruppe Forced Entertainment. Wir sehen Claire Marshall, Cathy Naden, Robin Arthur, Terry O’Connor, Rich­ ard Lowden und Tim Etchells im – wer hätte das gedacht – Splitscreen irgendwo bei sich zu Hause sitzend. Gähnend langwei­ lig, würde nicht nahezu unmittelbar ein seltsamer Sog von den

sechs Performern ausgehen. „Der Grund, warum ich diese Perücke trage“, murmelt Marshall in ihre Kamera und streicht sich über ihr weißes Haar, „ist der, dass ich vorgebe, in Quarantäne zu sein und das seit wirklich sehr langer Zeit.“ Mit diesem schräg im Raum schwebenden Satz ist der Ton dieses sonderbaren Zoom-Meetings gesetzt. Wir treten ein in einen Bereich, in dem selbst die ausgefeil­ teste Technik nicht verbergen kann, dass die zwischenmenschliche Kommunikation grundsätzlich störanfällig ist. Wer spielt hier wem etwas vor? Wer sendet? Wer empfängt? Kommt das, was ich aus­ zudrücken versuche, auch wirklich an? Oder kann mich mein Ge­ genüber, selbst wenn ihm meine Sätze per Ohrstöpsel eingetrich­ tert werden, gar nicht verstehen? „Can you hear me?“ „End Meeting For All“ erzählt, feinsinnig in Bild und Ton komponiert, von der Sehnsucht nach Kommunikation – und ihrem Misslingen („I’m melancholic.“ – „Alcoholic?“). Ständig versucht sich jemand mitzuteilen, ständig kommt etwas da­ zwischen. Ein Hund bellt, der Paketbote klingelt, jemand steht mitten im Monolog eines anderen auf und telefoniert. Scheinbar willkürlich und improvisiert, bilden diese Ereignisse eine musika­ lische Textur, durch die ganz verhalten und nahezu übertönt ­Momente großer Ernsthaftigkeit dringen, etwa wenn Claire Mar­ shall versucht, einen Ausschnitt von Esther Summersons Mono­ log aus Charles Dickens „Bleakhaus“ zu zitieren: „Ich lag mehrere Wochen krank danieder, und mein gewohntes Tagewerk war mir eine weit in der Vergangenheit liegende Erinnerung geworden.“ Dieses Mikrotheater aus geloopten Dialogen und Handlun­ gen wirkt in seiner musikalischen Verdichtung sozialer Aktion wie ein virtuelles Konzeptalbum, das nicht nur das Medium Inter­ net kritisch beäugt, sondern auch das Medium Sprache als ver­ meintlichen Träger von Information untersucht. „End Meeting For All“, produziert für den PACT Zollverein in Essen, das HAU Hebbel am Ufer in Berlin und den Mousonturm in Frankfurt am Main, ist damit wohl die lustigste und gleichzeitig traurigste Zoom-Konferenz dieser Coronazeit. Auch „K.“, ein vierteiliges Projekt von Philipp Preuss nach Tex­ ten von Franz Kafka für das Schauspiel Leipzig, spielt mit dem Me­ dium der virtuellen Konferenz. Maximal vierzig Zuschauer können sich pro Folge live zuschalten, ohne jedoch zu interagieren. Im letz­ ten Teil der Serie ist es Kafkas „Der Bau“, der den Zuschauer in das digitale Erdreich eines sonderbaren Tieres (oder Menschen) entführt. Panisch blickt uns ein Auge entgegen, nur Iris und Pupille sind zu sehen. Der Bau ist zugleich ein Körper, aus dem man herausschaut, während auf der Mikroebene jederzeit ein Angriff von außen erfol­ gen kann. Dank des starken Textes entwickelt der visuelle Psychotrip – in dessen Verlauf mehr und mehr Sprecher auftauchen, verfremdet und überlagert mit Aufnahmen von Wäldern, Schneelandschaften und digitalen Mustern – tatsächlich eine atmosphärische Dichte. Dennoch wird einem gerade bei dieser Erzählung, in der es ständig um Räume geht, schmerzlich bewusst, was einem fehlt: Kräfte, für die in diesem „Bau gewissermaßen kein Raum ist“, da er haupt­ sächlich aus zweidimensionalen Bildern besteht. // In den Gängen eines digitalen Erdreichs – „K.“ nach Texten von Franz Kafka in der Regie von Philipp Preuss am Schauspiel Leipzig. Foto Konny Keller / Folge 2


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I. Luis August Krawen lässt die Pfauenbühne im Zürcher Schau­ spielhaus langsam verschwinden in üppiger Vegetation. Man sieht den Pflanzen beim Wachsen zu. Im Parkett entsteht ein See, der Kronleuchter verwandelt sich in einen Baum, der mitsamt Wurzeln imposant über dem See hängt. Zwischen den Schling­ pflanzen schimmert die rote Bestuhlung, nur im Rang sind noch ein paar Sitzreihen verschont geblieben. Kein Zuschauer ist zu sehen, auch kein Schau­ spieler. Dafür gibt es Ei­ dechsen im Schilfgras, und ein müdes Krokodil steckt kurz seinen Kopf aus dem Wasser. Auch das neu gestaltete Foyer steht unter Wasser. Dort sieht man Flamingos und einen überraschend fast bis zur Decke springen­ den Delfin. Die Szene ist gleichzeitig surreal und hyperrealistisch. Um sie zu kreieren, musste der begabte Virtual-Reality-Künstler, der sie geschaffen hat, den Pfauen vermutlich nicht mal betreten. Ein paar Fotos dürften gereicht haben, die er dann in seinem gut aus­ gestatteten Homeoffice gescannt und in nächtelangen Sitzungen in das verwandelt hat, was wir nun auf der Zürcher „Zuhaus­spiel­ haus“-Seite im Netz bewundern können: ein Theater, das nur durch die Fantasie derer, die es machen, begrenzt ist. Friedrich Schiller, der im ästhetischen „Reich des Spiels und des Scheins“ einen Ort der Befreiung „von allem, was Zwang heißt, sei es im Physischen, sei es im Moralischen“ sehen wollte, wäre wohl be­ geistert gewesen. Und Theodor W. Adorno, der gesagt hat, Kunst sei Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein, und müsse sich als Gegenwartskunst auf dem historischen Stand der gesellschaft­ lichen Produktivkräfte befinden, sicher auch.

schauern und Akteuren, sein Begegnungscharakter das entschei­ dende Alleinstellungsmerkmal ist, müsste man nun auch mit der „digitalen Kopräsenz“ im virtuellen Raum arbeiten und die Mög­ lichkeiten, die dieses neue Medium der darstellenden Kunst bie­ tet, für die Entwicklung qualitativ neuer menschlicher Begeg­ nungsweisen einsetzen, die sich an der interaktiven Kunstpraxis orientieren, aber deren Möglichkeiten auf ungeahnte Weise er­ weitern. Die digitale, körperlose Kopräsenz wird die leibliche ­allerdings nicht ersetzen können. Menschen als eigentlich überflüssige or­ ganische Anhängsel des digitalen Apparats zu be­ trachten, wäre ein absur­ der Kurzschluss. Denn diese Welten sind ohne Menschen, die gestalten und empfinden, und ohne eine letztlich un­ einholbare vorgefundene Natur nichts anderes als Zahlenkolonnen, die ver­ schwinden, wenn der Strom ausfällt. Das neue Virus ist genauso wenig computergeneriert oder durch Rechenoperationen zu er­ setzen wie die Menschen, die es befällt. Deshalb weckt der exzes­ sive Aufenthalt in virtuellen Räumen sehr schnell eine unstillbare Sehnsucht nach physischer Gegenwart.

Digitale Geschlechtsumwandlung ist toll, reicht aber nicht Ein Zwischenruf von Carl Hegemann

II. Ein nach Regeln der Kunst entwickeltes Cyberspace-Theater, in dem Darsteller und Zuschauer sich in dreidimensionalen virtuel­ len Bühnenräumen frei bewegen können und der aufgeklärten Magie keine Grenzen gesetzt sind, könnte das altmodische und schwerfällige Theater mit echten Menschen und handgemachten Requisiten so anachronistisch erscheinen lassen wie das Pferde­ fuhrwerk nach der Erfindung des Autos. Der Regisseur und viel­ leicht sogar der Dramaturg könnten mit dem digitalen Material, das keinerlei Widerstand leistet (außer es stimmt was nicht mit der Software), machen, was sie wollen, ohne irgendwelche morali­ schen Bedenken. Falls die körperliche Distanz, die uns zurzeit verordnet wird, andauert, wird das Theater kaum darum herum­ kommen, sich mit seinen digitalen Transformationsmöglichkei­ ten intensiver auseinanderzusetzen. Dazu reicht es nicht, das Netz zum Fernseher, zum Infoportal oder zum Chatroom zu ma­ chen. Theatrale Digitalität zu denken, müsste heißen, die neuen Darstellungsmöglichkeiten in ihrer Besonderheit ernst zu neh­ men. Wenn für das Theater die „leibliche Kopräsenz“ von Zu­

III. Im besten Fall könnte aus der Erfahrung, dass digitale und analo­ ge Darstellungsweisen sich nicht ausschließen, sondern einander bedingen können, etwas Neues entstehen, das der Atomisierung der Gesellschaft entgegenarbeitet und den unbegrenzten Geist, der uns als Menschen ausmacht, verbindet mit der physischen Be­ grenztheit, ohne die wir ebenfalls keine Menschen wären. Es zeichnet sich aber wohl etwas anderes ab, und zwar leider genau das, was wir schon vor 25 Jahren befürchtet haben, als wir in Bo­ chum am Schauspielhaus bei dem Versuch scheiterten, „Dino­ park“ (Theater als „Uraltmedium“ oder „Einmalerfindung“) und „Cyberspace“ (Theater als zukunftsweisendes Experiment) zusam­ menzubringen: „Das Theater (mit echten Menschen) wird auch im nächsten Jahrtausend nicht totzukriegen sein, aber dann ist es vielleicht nur noch ein exklusives Vergnügen für die ganz Reichen und für ein paar Freaks in irgendwelchen Kellern. Der Rest wird elektronisch abgespeist.“ (Aus einem Gespräch mit Gerhard Preu­ ßer in „Plädoyer für die unglückliche Liebe“, Recherchen 28, ­Theater der Zeit 2005) Alternativen zu dieser kostengünstigeren weltweiten Abspeisung (inklusive Überwachung, Manipulation und Ruhigstellung) der Bevölkerung zu finden, müsste eine zen­ trale politische und ästhetische Aufgabe der Theater werden, wenn sie als Orte der Gegenwartskunst auf dem Stand der Pro­ duktivkräfte überleben wollen. Das wird nur möglich sein, wenn es dem Uraltmedium gelingt, sich auf seine digitalen Transforma­ tionen einzulassen, ohne in der virtuellen Welt zu verschwinden. Bei älteren konkurrierenden Medien wie Film, TV und Video ist ihm das in den letzten Jahrzehnten schon ganz gut gelungen. //


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In der Ferne, so nah Theater des Social Distancing: Audio-Walks und Drive-in-Theater in Oberhausen, Göttingen und Tübingen

Theater Oberhausen: Mit Jelinek durch die Stadt Wie bestellt und nicht abgeholt steht er da, im Gestrüpp unter­ halb der großen Werbetafel für ein Möbelhaus und wartet vergeb­ lich. Der Märchenprinz hat ausgedient, bei Elfriede Jelinek sowie­ so. Aber auch in der alltäglichen Wirklichkeit unserer Welt, die vom Glauben an den Konsum bestimmt wird. Während man auf der anderen Seite der viel befahrenen Straße in der Nähe des Oberhausener Hauptbahnhofs steht und dem immer ungeduldi­ ger werdenden Daniel Rothaug zusieht, erklingen aus den Kopf­ hörern Passagen aus Jelineks zweitem „Prinzessinnendrama“. Die Geschichte von Dornröschen und dem Prinzen, der sie er­ weckt, bekommt an diesem Ort eine andere Bedeutung. Jelineks Dekonstruktion klassischer Märchenromantik spiegelt sich in ­einem ganz konkreten Alltagsbild. Den Blumenstrauß in der Hand, erinnert einen Rothaugs wartender Galan daran, dass es Märchenprinzen in Wahrheit nur in Hollywoodfilmen und ­Werbeclips gibt.

Solche Verbindungen ergeben sich in Paulina Neukampfs Annä­ herung an die „Prinzessinnendramen“ immer wieder. Ursprüng­ lich wollte sie die drei Stücke für die kleine Oberhausener Bühne inszenieren. Doch die Pandemie hat das unmöglich gemacht. Also hat sie drei „Hörspaziergänge“ für jeweils zwei Per­sonen konzipiert, die, unter Beachtung aller Auflagen und geleitet von Symbolen auf dem Trottoir, durch Altoberhausen gehen (Ausstat­ tung Pascal Seibicke, Sounddesign Sarah De Castro). Die Wege führen zu markierten Punkten. Dort verweilt man kurz, um ei­ nem Hörstück zu lauschen, während Ensemblemitglieder stum­ me Szenen spielen und das Leben um einen herum seinen Gang geht. Dieses Konzept ist natürlich aus der Coronasituation heraus entstanden. Nur unter Audio-Walk-Voraussetzungen war Ende

Gesundheitsdiktatorischer Zukunftsstaat – Antje Thoms „Die Methode“ nach Juli Zeh erlebt der Zuschauer völlig virenfrei als Drive-in-Autotheater. Foto Thomas M. Jauk


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April ein Live-Theater-Erlebnis überhaupt realisierbar. Aber Pau­ lina Neukampfs Inszenierung ist alles andere als eine Notlösung. Das ständig wechselnde, für jeden Zuschauer individuelle Inein­ ander von Text, Spiel und dem gewöhnlichen städtischen Treiben verleiht der Inszenierung eine Komplexität und Ambivalenz, die erst durch das Format des „Hörspaziergangs“ möglich werden. // Sascha Westphal

Theater Göttingen: Social Distancing auf Maximalstufe Was Fast-Food-Restaurants schon lange kennen und sich manche Arztpraxis in der Coronakrise von ihnen abschaute, das kann nun auch das Theater: Drive-in. Das Deutsche Theater in Göttingen hat auf die pandemiebedingten Einschränkungen mit der Er­ findung des „Isolationstheaters“ reagiert. In der Tiefgarage des Hauses zeigt Regisseurin Antje Thoms die gesundheitspolitische Dystopie „Die Methode“ nach dem Theaterstück und Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh – und die Besucherinnen und Be­ sucher fahren im Auto von Station zu Station, wo sie auf jeweils einen Bewohner, eine Bewohnerin jenes gesundheitsdiktatori­ schen Zukunftsstaats treffen, der sich „Die Methode“ nennt. Die Methodenmenschen sitzen hinter Glas wie der Besu­ cher hinter dem geschlossenen Autofenster, in einem alten Chrys­ ler, einem Büro- oder Fitnesscontainer, sogar in einer Seilbahn­ gondel (Ausstattung Florian Barth). Eine Soundbox bringt ihre Worte ins Wageninnere. Das ist Social Distancing auf Maximalstu­ fe und zugleich eine selten unmittelbare Theatererfahrung, gera­ de wenn man allein im Wagen sitzt, Auge in Auge mit dem schau­ spielerischen Gegenüber, ganz direkt angesprochen mitunter, das betretene Wegschauen als einziger Ausweg. Thoms zeichnet mit dem aufwendigen Projekt – um jeden Abend mehrere Durchläufe spielen zu können, wurden alle Rol­ len vier- oder fünffach besetzt – das Bild eines autoritären Über­ wachungsstaats, der die kollektive Gesundheit mit allen Mitteln durchsetzen will. In dem das Rauchen einer Zigarette ein ähn­ liches Kapitalverbrechen ist wie die Liebe zu einem Menschen mit dem falschen Immunstatus. Und in dem das Recht auf Krankheit zur revolutionären Forderung wird. Angesichts der nicht immer hellsichtigen Äußerungen der Autorin und Juristin Juli Zeh zur Coronakrise könnte man vor­ schnell geneigt sein, in dem Stück eine plumpe Polemik gegen die deutsche Pandemiepolitik zu sehen. Doch „Corpus Delicti“, die recht frei genutzte Vorlage, stammt schon aus dem Jahr 2007.

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Und es lehrt all jene, die dieser Tage bereits die Maskenpflicht im Supermarkt für diktatorisch halten, wie eine wahre Gesundheits­ tyrannei aussähe. // Joachim F. Tornau

Zimmertheater Tübingen: Rendezvous mit der Tödin Auf der Bank vor dem Zimmertheater Tübingen steht „Ruhestät­ te“. Verwelkte Rosen erinnern an die Vergänglichkeit. Hinter den Mauern des historischen Gebäudes am Neckar befindet sich ei­ gentlich die Bühne, doch der Zutritt ist sowohl dem Publikum als auch den Künstlern derzeit verwehrt. „Freund Hein. Ein AudioWalk mit dem Tod“ heißt die Produktion der Autorin Hannah Zu­ fall. Fünf Tage vor Probenbeginn traten die Coronaverordnungen in Kraft. Das Team des Instituts für theatrale Zukunftsforschung, wie die Intendanten Peer M. und Dieter Ripberger ihr Haus nen­ nen, musste nach Alternativen suchen. Radikal hat das Regieteam das Konzept umgearbeitet. Ent­ standen ist ein eigenständiges Format, das den philosophisch wie auch poetisch dichten Text Zufalls berührend zum Klingen bringt. Auf einem zweistündigen Spaziergang durch die Universitätsstadt konfrontiert die Stipendiatin des Nietzsche-Kollegs in Weimar das Publikum mit dem Tod. Mit Smartphone und Kopfhörern begeben sich die Zuschauerinnen und Zuschauer auf eine Reise, die schmerzt. In einem Schaufenster zeigt Ausstatterin Sarah ­Sauerborn Kostüme, die sie für die Bühne entworfen hatte. Thea Rinderlis An­ zug ist mit glitzernden Organen besetzt. Sehnsüchtig klingt die Stimme der Spielerin, wenn sie vor dem Pathologischen Institut von der Choreografie berichtet, die dort geplant war. Die Reise endet auf dem Stadtfriedhof. Unweit vom Grab Friedrich Hölderlins weist Ma­ rio Högemann den Zuhörern den Weg in die morbide Welt. Hannah Zufall, die mit David Gieselmann, Maja Das Gupta, Konstantin Küspert, Anne Rabe und Lars Werner über Twitter das Stück „Corona Monologe. Oder wie geht man auf Distanz“ ent­ wickelt, hat ihren tiefenscharfen Text überzeugend ins neue For­ mat übertragen. Dabei schürft sie in der Kulturgeschichte. In frü­ heren Jahrhunderten trat der Tod in Gestalt beider Geschlechter auf: „Ich stelle mir am liebsten einen weiblichen Tod vor, das hat etwas Schwesterliches, fast Tröstliches.“ Bei aller technischen Per­ fektion, die die von Ilja Mirsky programmierte App hat, verhehlt das Ensemble Grenzen des Mediums nicht. Augenblicke des Schweigens legen den Verlust künstlerischer Möglichkeiten ­schonungslos bloß. // Elisabeth Maier

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Š Peter Engel

landestheater-tuebingen.de


kolumne

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Josef Bierbichler

Seuchenbekämpferheldentum Wird die Politik beim Klima künftig ebenso konsequent handeln wie bei Corona?

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n den letzten Jahren wurde beim Bemühen um eine ergiebigere Anpassung des Politischen ans Wirtschaftliche das Gesundheits­ wesen nahezu komplett privatisiert. Vermutlich gedacht als huma­ nitär erscheinende, soziale Verbesserung im marktwirtschaftlichen System. In Wirklichkeit die Umwandlung sozialer Einrichtungen in Orte rücksichtsloser Ausbeutung. Die folgenden Jahre wurden Wirtschaftsblütenjahre und so vorzeigbarer Beweis für den angeb­ lichen Erfolg der vorausgegangenen Regulierungen. Die Stimmung im Land ist in dieser Zeit dementsprechend: Es gibt zehn Prozent Dauergewinner mit kontinuierlich steigen­ der Gewinnzufuhr. Stimmung: permanente Ak­ kumulation von Wohlbefinden. Es gibt um die sechzig Prozent, die weder gewinnen noch ver­ lieren. Stimmung: allmähliche Anhäufung von Frust. Und es gibt die, die teils zu Recht, teils eher gefühlt glauben, Verlierer zu sein, weil sie Gewinner nie waren und weil über die unglei­ che Verteilung plötzlich wieder geredet wird. Stimmung: explosiv gewordene Unzufriedenheit. Auf dem Höhepunkt dieser Wirtschafts­ blütenzeit strömen urplötzlich Fremde ins Land, nicht unaufhaltsam, nur un-aufgehalten, und verkörpern perfekt den gesuchten Sündenbock für die immer spürbarer werdende Ungleichheit in der Gesellschaft – und verpassen dabei, buch­ stäblich im Vorbeigehen, dem gerade erfolgreich restaurierten al­ ten System ein neues politisches Gesicht: eines mit erkennbar alten Runzeln, wie Runen so schräg. Die darauffolgenden Positionierungskämpfe „Wer ist der bestgetarnte Nazi im Land“ um Wählerstimmen von Flüchtlings­ feinden und jeder Art Rassisten sind noch nicht vorbei, da bricht die Seuche aus. Und wieder urplötzlich greift die Politik durch, im Land und auf dem gesamten Globus und über alle Systeme hin­ weg – in lang nicht mehr erlebter Manier. Vermutlich ist Panik der Auslöser, die Angst, für Hunderttau­ sende drohender Tode zur Rechenschaft gezogen zu werden und danach im Chaos zu versinken. Wie wäre eine solche Einhelligkeit auf dem gesamten Erdball anders erklärbar? Parteihäuptlinge jeder Couleur, die noch vor Kurzem keine fremdenfeindliche Injurie un­ ausgespuckt ließen, die sie nicht als Rassisten ausgewiesen hätte, weil nur so Stimmen zu raffen waren bei ihren heillos mit Frem­ denhass verseuchten Landsleuten – gerade die machen sich nun davon vom Acker der Menschenverächter und breit im Seuchen­ bekämpferheldentum, fliehen vor dem eigenen Versagen in der Vergangenheit in die wohlkalkulierte politische Immunität des unantast­baren Lebensretters.

Alle berufen sich auf den Paragrafen 1 des Grundgesetzes „Die ­Würde des Menschen ist unantastbar“ mit lang nicht mehr gekonn­ ter Empathie. Sie pflügen den Acker der Demokratie als selbst­ ernannte Souveräne mit Notstandsgesetzen, andere perfektionieren ihre Diktaturen, mit unbegrenztem Potenzial zu noch mehr. Alles, was schon nah an den oberen Bereich hin aufgeschwommen war, erlangt nun Fettaugenkonsistenz. In ganz Europa! Überall! Auf der ganzen Welt! Das muss festgehalten werden: Es konnte nur so lau­ fen, wie es läuft, weil auf dem ganzen Globus mit einem Mal der Wert des Menschenlebens im Vordergrund steht, wie eingeritzt ins Fleisch der lebenden Körper von fast sieben M ­ illiarden. Mehrere Hunderttausend Tote der Kriege in der sogenannten Neuzeit haben nicht bewirkt, was die unsichtbar die Einatemluft durchtanzenden Viecher ausrichten. Was heißt das? Das, was eine überwälti­ gende Zahl Menschen jetzt zu glauben scheint: Man kann Politikern, wenn es wirklich ernst wird, uneingeschränkt vertrauen? Sie, die sich in dieser unvergleichlichen Wirklichkeit in die Ver­ antwortung gestellt sehen und diese Wirklichkeit, die eine große Fremde ist, nun am Rand einer drohenden Katastrophe entlang im Gleich­ gewicht zu halten suchen, die machen das im Moment unvergleichlich gut und, wie es sich an­ fühlt, auch unvergleichlich gerecht – nicht nur, weil es keine Vergleichsdaten gibt, sondern auch, weil gerade diese Art von Gleichheit, erreicht mit demokratisch zweifelhaften Maßnahmen, den Anschein erweckt, dass gerade das den Gesetzen der Demokratie entspricht. Die gleichmachende Angst vor dem finanziellen Ruin, die in beinah allen Gesellschaftsschichten und Berufen bis hinein in Weltkonzerne grassiert, wurde ausgelöst von der Durchsetzungs­ kraft demokratisch gewählter Politiker und ist deshalb ein Phänomen, an das in Zukunft erinnert werden muss. Denn es ist der Beweis, dass das demokratisch legitimierte, politische Personal keineswegs machtlos ist. Auch nicht gegenüber der angeblich übermächtigen Wirtschaft. Daran müssen sie erinnert und gemessen werden, wenn die Seuche vorbei ist, die, die dann als Krisengewinnler mit optimiertem Profil Minister- und Ministerpräsidentenämter wei­ terführen oder noch höhere Ämter übernehmen! Sie, die vorher noch offen als Menschenfeinde aufgetreten sind und auf Stimmen­ fang den getarnten Nazi gaben und Vertriebene als Asyltouristen diffamierten und die eigene Kanzlerin zu entsorgen trachteten! Sie können doch nicht plötzlich Andere geworden sein, nur weil sie sich gerade anders geben! Werden ihre Farben noch leuch­ ten, wenn es um den viel bedrohlicheren Klimawandel geht, der auch nur mit ähnlichen wie den gerade geübten Methoden zu ver­ hindern sein wird? Schau ma mal. //

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Look Out

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Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Verwandlung ins Unbekannte Eine Wasserseele, die es nach Mannheim verschlagen hat – Die Schauspielerin Annemarie Brüntjen

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o sonst könnte man die 1993 in Oldenburg geborene Annemarie Brüntjen wohl eher antreffen als am Mannheimer Rheinufer? Seitdem wegen Corona nun auch das Theater lahmgelegt und die Zeit neu zu organisieren ist, gehören die schmalen Auen entlang des Flusses zu ihren bevorzugten Spazierorten. Inmitten der kurpfälzischen Sech­ ziger-Jahre-Architektur findet das Nordlicht zumindest dort das ersehnte Wasser vor. Nicht leicht sei ihr der Ortswechsel gefallen. Aus­ gebildet an der Berliner ErnstBusch-Schule, verschlug es sie zunächst an das Berliner Ensemble, das Neue Theater Halle, anschließend an das Renaissance Theater Berlin, bis sie 2019 ihr Engagement am ­Nationaltheater Mannheim annahm. Sich an neue Situationen anzupassen, hat sie allerdings durch ihren vielfältigen Beruf ohnehin gelernt. Was sie daran schätzt, ist die gezielte Verwandlung in das ganz Unbekannte. „Spannend ist natürlich die große Entfremdung“, wie sie Brüntjen etwa in ihren Rollen als rachsüchtige Kriemhild in „Die Nibelungen“ (Neues Theater Halle) oder zuletzt als Kassandra in der von Philipp Rosendahl realisierten „Orestie“ (Nationaltheater Mannheim) erlebte. „Reifer und reicher“ werde sie durch die Erarbeitung ihr persönlich nicht nahestehender Charaktere, sagt sie. Es gelte dabei zum einen, das „innere Kind wiederzuentdecken“, und zum anderen den befreienden Impuls zu suchen und bewusst „aus dem eigenen Ich herauszutreten“. Motivation für das eigene Spiel seien emotionale Grenzerfahrungen. „Ich bin sehr sensibel und nehme Stimmungen wie ein Schwamm auf“, sagt Brüntjen, weswegen ihr schon in ­Jugendjahren gerade das Live-Medium Theater zum Ziel aller Bestrebungen wurde. Hätte es mit der Schauspielerei nicht geklappt, wäre sie wohl am ehesten Sängerin geworden. Dies mag wohl auch ihre Begeisterung für die Figur der Polly in Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ erklären, die sie in Halle in der In-

szenierung von Henriette Hörnigk verkörpern durfte. Und falls die Rollen einmal keine Lieder zulassen, greift die Akteurin zu Hause beherzt selbst zur Gitarre oder schreibt eigene Songs. Überhaupt erweist sich die Musik als zentrale Metapher in Brüntjens Selbst- und Arbeitsverständnis. Sie kann das Ich vertiefen oder davon wegführen. Und überdies ermöglicht sie, dass ein Ensemble zusammenwächst. Letztlich bilden das Ego und das Wir die beiden Pole des Schauspielens, wie die Künstlerin zuletzt eindrucksvoll in Enis Macis „Bataillon“ (Nationaltheater Mannheim) unter Beweis stellte. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Sophie Arbeiter, Otiti Engelhardt und Carina Thurner mimt sie eine Weberin, die im Keller eines Hochhauskomplexes, mithin die urbane Utopie eines perfekten Zusammenlebens, Erzählungen und Bilder verwebt. Es handelt sich um ein hochkomplexes Stück voller diskursiver Verknotungen und Anspielungen beispiels­weise auf die antike Mythologie oder Charles Darwins Evolu­tionstheorie. Im Zentrum steht das Austarieren zwischen der Gemeinschaft und dem Ich in Zeiten des Hyperindividualismus, wie ihn der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt. Brüntjen selbst verortet sich klar als Teamplayerin, die es schätzt, die Energien im Rahmen der Proben und in der Interaktion mit ihren Mitspielern auf sich wirken zu lassen. Erfreulich ist übrigens, dass sie selbst nur wenig negative Erfahrungen als junge Frau im sonst männerdominierten Theaterbetrieb gemacht hat. Hier und da mal schwierige Regisseure, aber in die Opferrolle wurde sie persönlich nicht gedrängt. Und sollte doch ein Probentag zu unerfreulichen Ergebnissen führen, kann neben Musik auch noch etwas Yoga helfen, worin sie sich gerade übt. Derart selbstbewusste und begabte junge Frauen kann das Schauspiel nur gut gebrauchen! // Annemarie Brüntjen. Foto André Röhner

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Björn Hayer


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Look Out

Die eigene Geschichte schreiben Die Theatermacherin Simone Dede Ayivi erzählt aus einer persönlichen, schwarzen und feministischen Perspektive

ibt es eine afrodeutsche Thea­ tergeschichte?“ Die Theatermacherin und Autorin Simone Dede Ayivi stellt Fragen. Keine einfachen, sondern durchaus kom­ plexe, die Einfluss auf ein zukünf­ tiges Denken über das Theater haben könnten. Ayivi wurde 1982 in H ­ anau geboren und studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Dort schloss sie ihr ­ Diplom mit einer Arbeit über ­ „Schwarze (Selbst-)Repräsentation im deutschen Theater“ ab. Gleichzeitig zog sie nach Berlin, um zu schreiben, zu inszenieren und weiterzuforschen. Ayivi denkt nach, will sich ständig weiterbilden und selbst befragen. „Manchmal habe ich zuerst einen Satz im Kopf. Manchmal ein Bild. Danach entscheidet sich, welches Format ich wähle.“ Schreiben ist dabei mindestens genauso wichtig wie Theater. Wenn es sich nicht sowieso verschränkt. Ayivi publiziert Beiträge über Häuserkämpfe und zur Kritik des Rassismus. Sie schreibt für die taz, die Zeit und das Missy Magazine oder verfasst persönliche Essays zum Thema Heimat und Ausschluss in Sammelbänden wie „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Recherche und Dokumentation sind Ayivis Leidenschaften, auch hat sie einen Blick auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten und widerständige Bewegungen. Zu sehen war das besonders in ihrer Produktion „Solidaritätsstück. Ein strömungsübergreifender Protestbrief“, die 2019 in den Berliner Sophiensælen uraufgeführt wurde. Im gemeinsamen Chor mit ihren „Kompliz*innen“ werden gesellschaftliche Missstände angeklagt. Gleich zu Beginn des Abends hört man die bewegte Geschichte der Sophiensæle. Freie Spielstätten, so Ayivi, sind meist Orte, die erst fürs Theater umgenutzt wurden. Verdeutlicht wird, in welchem Haus sie und ihr Publikum sich befinden. Ihre Arbeit ist eine ständige Suche nach Geschichten und

Simone Dede Ayivi. Foto Clarita Maria

G

­ edeutung. Seit der Kindheit ist sie B mit der Bühne vertraut, ihr Vater ist Musiker. Während der Schulzeit wurde Theater für Ayivi wichtig. Theater funktioniert für sie als Gruppenprozess, als kommunikatives Mittel. Es ist ein unverzichtbarer Ort der Begegnung. „Ich musste allerdings erst ­lernen, mich selbst als Zuschau­erin mitzudenken. Denn für welches Publikum war Theater eigentlich ­ gemacht? Bisher war es so: Weiße ­ Schauspieler*innen zitieren. Schwarze Schauspieler*innen erklären, warum sie etwas zitieren.“ Erklären will sich Ayivi längst nicht mehr. Stattdessen will sie sich selbst ein Vorbild sein, Theaterräume einnehmen und der eigenen Perspektive einen Ort des Ausdrucks verschaffen. Biografische Bezüge sowie das eigene Erleben des Alltages sind Bestandteile von Ayivis Arbeit. Sie nimmt auch Bezug auf politische Themen, was sich in ihren Arbeiten widerspiegelt. Die Solo-Performance „First Black Woman in Space“ von 2016 ist inspiriert von Mae C. Jemison, der ersten schwarzen Frau, die ins Weltall flog. Das war 1992. Für Ayivi ist sie ein Vorbild und Symbol der Ermächtigung. Für den Abend hat sie schwarze Frauen zu ihren Wünschen und Träumen befragt. Hologramm­ artig erscheinen sie immer wieder auf der Leinwand und be­gleiten die Performerin. Es geht ihr um Sichtbarkeit und ­Möglichkeitsräume. Die Inszenierung ist angelehnt an die philosophischen und ästhetischen Ideen des Afrofuturismus. Folgt man denen, sollen schwarze Menschen in die Vergangenheit reisen und Geschichte ändern können. Simone Dede Ayivi glaubt an Utopien. Sie erzählt und fragt aus einer persönlichen, schwarzen und feministischen Perspektive – die dem Theater ausgesprochen guttut. // Paula Perschke

Simone Dede Ayivis Medienperformance „The Kids Are Alright“ wird voraussichtlich im Oktober in den Sophiensælen Berlin zu sehen sein.

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Magazin Dramatik in Zeiten der Unsicherheit Der Heidelberger Stückemarkt betritt mit virtuellen Lesungen Neuland – was leider kein Ersatz für eine umfassende Förderung von Autorinnen und Autoren ist  Wir sind jung, wir sind laut Die Schweizer Autorin Julia Haenni ist die neue Ko-Leiterin der Jungen Marie in Aarau  Geschichten vom Herrn H. Ferndiagnose  Klarsicht im Nebel Ein Nachruf auf den ­Schauspieler Otto Mellies  Bücher Marina Frenk


magazin

/ TdZ  Juni 2020  /

Dramatik in Zeiten der Unsicherheit Der Heidelberger Stückemarkt betritt mit virtuellen Lesungen Neuland – was leider kein Ersatz für eine umfassende Förderung von Autorinnen und Autoren ist Auf dem geteilten Bildschirm sind fünf

Nicht nur der intensive Austausch der Drama-

Schauspielerinnen und Schauspieler mit

tikerinnen und Dramatiker aus deutschspra-

Schutzmasken zu sehen. Nach wenigen Augen-

chigen Ländern und aus dem Gastland Litau-

blicken nehmen sie ihre Mund- und Nasen­

en fehlte. Auch die Gastspiele internationaler

bedeckung ab, lesen aus Sören Hornungs

Bühnen mit neuer Dramatik fielen flach.

„Arche Noa – Das Ende vom Schluss“. In

Zeiten der Unsicherheit spiegeln die

Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

gemeinsam?

dem Drama geht es um einen Nebel, der alle

Nominierten

Menschen tötet. Die letzten Überlebenden

Kapteins „un.orte“ öffnet den Blick in eine

haben sich in einem Supermarkt versammelt.

Psychiatrie, ein Jobcenter, ein Gefängnis. „Ich

„Diesem Nebel ist es egal, woher wir kommen

sind drei Buchstaben, die ich nicht kenne“,

und wer wir sind“, sagt Simone, die Aushilfe.

sagt die Autorin. In starken Sprachbildern ent-

In der zerfallenden Welt hat sie plötzlich

wickelt Yade Yasemin Önder in „Die Worte ge-

Macht über Supermarktregale und Menschen.

hören uns“ den Kampf einer türkischen Fami-

Mit dem Stück hat Hornung den diesjährigen

lie in Deutschland um die verlorene Identität.

Chemnitzer Dramatikerpreis gewonnen. In dem

Mut zum formalen Experiment beweist Sina

dystopischen Text gibt er einer Genera­ tion

Ahlers mit „Schamparadies“. Tief blickt sie in

Stücks „Menschen im Wald“ daheim in Wien

eine Stimme, die den Boden unter den Füßen

die Psyche von Mietshausbewohnern, die um

am Bildschirm verfolgt. „Ein Textgestrüpp“,

verliert.

Würde kämpfen: „Man sucht Menschen und

wie sie über das neue Heimatdrama sagt. Auf

findet die Masse, die sich abrackert“, heißt es

intensiven Austausch in der geschichtsträchti-

in dem wortgewaltigen Text.

gen Universitätsstadt hatte sich die Künstlerin

Lange bevor die Coronakrise die Welt veränderte, schrieb der junge Autor sein End-

des

Wettbewerbs.

Johanna

200+ Stücke für 1–2 D/H führen wir in unserem Programm. Bei der Suche nach dem für Sie passenden helfen wir Ihnen natürlich auch weiterhin gerne und freuen uns auf Ihre Anfrage. Bleiben Sie gesund! — Ihr Theaterstückverlag

zeitdrama, das in diesem Jahr als eines von

Mit den Lesungen bot die Heidelberger

ebenso gefreut wie auf die Gastspiele. Den-

sechs deutschsprachigen Stücken für den

Bühne den Autorinnen und Autoren ein Fo-

noch sieht sie in der Krise eine Chance, neue

Heidelberger Stückemarkt nominiert war. Wie

rum. Gerade jetzt sieht Theaterchef Holger

digitale Formate zu entwickeln. Wie das gelin-

so viele Festivals fiel auch dieses der Pan­

Schultze die Verantwortung der Bühnen ganz

gen kann, erprobt die Autorin zurzeit mit dem

demiebekämpfung zum Opfer. Stattdessen

besonders darin, sie zu fördern. Doch welche

Stuttgarter Theater Rampe, dem Theater

übertrug das Theater und Orchester Heidel-

Uraufführungen in absehbarer Zeit möglich

Lübeck und Backsteinhaus Produktion. Im ­

berg die Lesungen der Nominierten über die

sind, bleibt ungewiss. „Becketts ,Warten auf

Rahmen des Doppelpass-Projekts der Kultur-

Festival-Homepage per Stream. Obwohl das

Godot‘ könnte das Stück der Stunde werden“,

stiftung des Bundes wird ihr „Haus der Anti-

reibungslos klappte, war die Netzversion

sagt er mit Blick auf die engen Beschränkun-

körper“ als virtuelles Web-Portal realisiert, das

letztlich nur Ersatz. Für den Intendanten

gen für den Theaterbetrieb, was etwa Ab-

am 6. Juni online gehen soll.

Holger Schultze dennoch ein Kraftakt, da ­

standsregeln angeht. Dennoch hofft Schultze,

Ein Kammerspiel im Familienkreis hat

auch gemeinsame Proben im Theater nicht

dass die Pandemie kreative Kräfte freisetzt.

Philippe Heule mit „Das Haus brennt“ ge-

möglich waren. „Zumindest dieses Herzstück

Zwischen 1603 und 1613 sei wegen der Pest

schrieben. Den studierten Schauspieler und

des Wettbewerbs wollten wir dem Publikum

auch Shakespeares Globe Theatre geschlos-

Regisseur interessieren Strukturen von Miss-

bieten“, sagt der Intendant, dem die erste

sen worden – 78 Monate lang. Schultze blickt

brauch und Gewalt, die hinter vermeintli-

Absage des bedeutenden Festivals seit seiner

in die Zukunft, bastelt mit seiner Dramaturgie

chem Familienidyll lauern. Filigran zeichnet

ersten Auflage 1984 sichtlich schwerfiel.

am „Coronaspielplan“ für die neue Spielzeit,

der Schweizer Autor die Figuren, die sich im

da die laufende Saison vorzeitig beendet wur-

Gefängnis eines Einfamilienhauses aneinan-

de. Das Preisgeld für die Dramatikerinnen

der reiben. In Zeiten sozialer Distanz eben-

Der Stückemarkt im Kachelformat – Im Uhrzeigersinn: „Das Haus brennt“ von Philippe Heule, „Menschen im Wald“ von Natascha Gangl, „Die Worte gehören uns“ von Yade Yasemin Önder, „Arche Noa – Das Ende vom Schluss“ von Sören Hornung, „Schamparadies“ von Sina Ahlers und „un.orte“ von Johanna Kaptein.

und Dramatiker wurde diesmal vom Stifter

falls ein Szenario, das den Geist der Zeit

Manfred Lautenschläger auf 12   000 Euro

trifft. Die künstlerische Isolation belastet den

aufgestockt und zu gleichen Teilen an die

Theatermacher, der zwei Engagements als

sechs Nominierten im deutschsprachigen

Dramaturg und eine eigene Regiearbeit auf

Wettbewerb verteilt.

die lange Bank schieben muss: „Theater ist

Screenshots Theater Heidelberg

keiten verweist. Sie hat die Lesung ihres

„Ein schönes Zeichen“, findet Natascha Gangl, die auf die ökonomischen Schwierig-

Teamarbeit.“ Da sieht er eine Lücke, die das Netz nicht überbrücken kann. // Elisabeth Maier

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Wir sind jung, wir sind laut Die Schweizer Autorin Julia Haenni ist die neue Ko-Leiterin der Jungen Marie in Aarau Zeit haben, um runterzufahren, Resümee zu

ihrem jüngsten mit dem Stück „Don Juan.

üblichen,

ziehen und (nicht nur) über Theaterstruktu-

Erschöpfte Männer“ sollte es in hohem Tempo

Und: Taugt der Schweizer Nationalheld Wil-

ren nachzudenken – genau das hat die

weitergehen. „Ich hatte noch einen kleinen

helm Tell überhaupt noch für eine moderne

Schweizerin Julia Haenni derzeit, weil die

Auftrag fürs Theater Basel“, sagt Julia Haen-

Schweiz? „Es geht vor allem darum“, so Haenni,

Theater wegen der Coronakrise geschlossen

ni, „aber dieser entfiel wegen der Corona­

„junge Frauen laut werden zu lassen, aber

sind. Zeit zu haben, ist für die gefragte Auto-

krise. Nun steht eine Stückentwicklung für

auch Menschen, die vielleicht nicht schon

rin, Performerin, Schauspielerin und Regis-

das Junge Theater des Theaters Heidelberg

immer hier waren oder die als sogenannte

seurin ungewohnt. Mit ihren in dichter Folge

zum Thema Angst an, Premiere ist im Früh-

Ausländer gelten und deswegen keine Stim-

entstandenen Arbeiten und Projekten für die

ling nächsten Jahres. Daran sind auch Schul-

me haben in der Öffentlichkeit.“

freie Szene, aber auch für die Tuchlaube

kinder beteiligt. Aber wie bewerkstelligen wir

Aarau, das Fabriktheater Zürich und das

bloß die Recherchen mit ihnen?“

überkommenen

Vorstellungen?

Dieses „laut werden“ ist der Autorin wichtig, wenn es um junge Menschen geht:

Schlachthaus Theater Bern machte sie in den

Viel früher, im Oktober, findet die Pre-

„Junge Menschen haben viel zu sagen.“ Des-

vergangenen Jahren auf sich aufmerksam.

miere mit der Jungen Marie statt. Die „Spiel-

wegen will sie deren Stimmen „groß ­machen,

Sie war Hausautorin am Konzert Theater

partnerin“ des Theaters Marie wird seit Kur-

denn sie sind die Zukunft unseres Landes“.

Bern und Stipendiatin des Autorenförder­

zem von Haenni, der Schauspielerin Barbara

Haenni hat die Arbeit mit ­Jugendlichen schät-

programms Dramenprozessor, in dessen Rah-

Heynen sowie dem Fotografen und Theater-

zen gelernt, als sie mit einigen von ihnen an

men ihr Stück „Frau im Wald“ entstand, das

techniker Luca Schaffer geleitet. Mit „Go

2018 in Aarau gemeinsam mit dem Theater

Tell“ will das Kollektiv gemeinsam mit jungen

Marie uraufgeführt wurde.

Menschen ein Stück entwickeln, das Fragen

Die Liste ihrer Verpflichtungen ist be­

stellt wie diese: Welche Schweiz ­wollen wir

eindruckend – ihr Erfolg ist es auch. Nach

leben, verkünden, repräsentieren – abseits der

Die Zeit der Wilhelminen – „Frau im Wald“ von und mit Julia Haenni (zweite von rechts). Foto Xenia Zezzi


magazin

/ TdZ  Juni 2020  /

der Münchner Schauburg „Bodybild!“ erarbeitete: ein Spiel über die Selbstsuche junger Menschen in der Welt von Reklametafeln. Die

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Ferndiagnose

damalige, „sehr schöne Arbeit“ in München gab den Ausschlag für Haennis Zusage, die Leitung der Jungen Marie zu übernehmen.

Was wäre das Theater nur ohne Streit und

stimmen, sondern nur jeder selbst. Infek­

Entwickeln, erproben, verwerfen, für

Konflikt – auch ohne Happy End!? Das war

tionsschutz sollte angemessen, nicht total

gut befinden – und das am liebsten, „wenn

schon in der antiken Tragödie als kritische

sein. In der Demokratie ist jeder Mensch

sich viele beteiligen“: Das ist der 1988 in

Diagnose einer Gesellschaft gemeint, die

aufgerufen, die Rechtmäßigkeit und Ver-

Aarau geborenen Autorin ein Herzensanlie­

falsche Gegensätze statt vernünftiger Aus­

nünftigkeit der Entscheidungen der Regie-

gen. Weil sie weiß, wie kurzweilig und mit

einandersetzung hervorbringt: Kreon hält

rung zu überprüfen. So wie Frank Castorf im

feiner Ironie durchsetzt das Resultat sein

Antigone für eine Irre und sie ihn für einen

Gespräch mit dem Spiegel. Auch hier alles

kann. Wie zum Beispiel „Don Juan. Erschöpf-

Tyrannen. Der Rest ist bekannt. Das Theater

wie immer. Castorfs Provokationen zielen

te Männer“, ein Stück, das fünf junge Männer

aber kann unterschiedliche Be-

auf die autoritätshörig-selbstge-

fast am Don-Juan-Mythos verzweifeln lässt.

weggründe verständlich machen.

rechte Kleinbürgerlichkeit und

Ob der Vielfalt ihrer oft ungewollt komischen

Warum fühlt sich beispielsweise

das angstgetrieben Irrationale –

Bemühungen, dem ewig jungen Liebhaber

der eine in der körperlichen Un-

mit breiter Streuung und leid­

und damit den Männerklischees zu entrin-

versehrtheit, der andere aber in

licher Trefferquote. Angstfreiheit

nen, lacht das Publikum – doch die Figuren

der politischen Freiheit bedroht?

und Todesverachtung sind, ins-

auf der Bühne lacht es nie aus. Vielleicht

Und warum führt das zu einem

besondere in der Kunst, eine

passt dazu diese Bemerkung von Haenni: „Ich

Konflikt, in dem man sich

Tugend, weil sie schlechtes Le-

verstehe Theater als Gastgeberin. Ich lade

gegen­seitig des Wahns bezich-

ben mehr als den Tod fürchten.

gerne Menschen zu mir ein und hoffe, dass

tigt? So tummeln sich vor der

Das muss man nicht mögen.

sie mit mir diskutieren.“

Berliner Volksbühne seit Wochen

Doch eine Welt ohne solchen

Julia Haenni darf sich derzeit viele Ge-

Menschen auf „Hygienedemos“ der Kommu-

danken über vieles machen, weil sie Zeit hat.

nikationsstelle Demokratischer Widerstand.

Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz indes

„Ideen sind reichlich vorhanden. Einmal

Die Gruppe mit dem hochtrabenden Titel

versammelten sich immer mehr von jenen,

schreiben, frei vom Produktionsdruck? Das ­

kommt aus dem Umfeld des Hauses Bartleby

die gewohnheitsmäßig Widerstand mit frei

wäre ein Traum, doch dieser lässt sich im Mo-

und der ehemaligen Volksbühnenbesetzer.

ausgelebtem Ressentiment verwechseln:

Widerspruch wäre eine schlechtere Welt.

ment nicht realisieren.“ Seit einigen Wochen,

Während die Widerständler damals als

Nazis, Verschwörungsideologen, Esoteriker.

sagt sie, verspüre sie große Lust, sich wieder

Kritiker einer neoliberalen Kultur- und Stadt-

Der als Kulisse genutzten Volksbühne wurde

mit Lyrik zu beschäftigen. „Die hat mich

politik vom Feuilleton bejubelt wurden, sind

das dann doch zu braun, sie hängte ein

schon immer sehr interessiert wegen ihrer

sie nun gar nicht mehr gut gelitten. Obwohl

­distanzierendes Transparent auf. Statt die

Bildhaftigkeit und Musikalität. Wer weiß,

die No-Budget-PR-Profis alles wie immer

politisch immer unschöner werdende Ge-

­vielleicht werde ich mich an einen Lyrikband

machen. Über deren Beweggründe kann man

mengelage darzulegen, berauschten sich die

wagen, falls die Quarantäne noch lange

ebenso diskutieren wie über deren überstei-

Widerständler an der Fiktion einer Diktatur,

Elisabeth Feller

gerte Selbststilisierung. Wenn jedoch die

an den bloßen Zahlen von Tausenden Teil-

Regierung Gesundheitspolitik per Grund­

nehmern oder an den illustren Titeln ihrer

Siehe auch den Stückabdruck „frau verschwindet

rechtseinschränkungen zu betreiben gedenkt,

Unterstützer. Jede Gegenöffentlichkeit läuft

(versionen)“ von Julia Haenni in Theater der Zeit

die Überwachung verstärkt, die Öffnung von

Gefahr, mit dem bloßen Gegenteil einer

02/2020.

Möbelhäusern für wichtiger erachtet als die

herrschenden Meinung – sogar wenn diese

Versammlungsfreiheit und prompt die Mili-

unvernünftig ist – selbst das Vernünftige

tär- statt die Gesundheitsausgaben erhöht,

aus den Augen zu verlieren. Wie in der anti-

dann muss man das nicht widerspruchslos

ken Tragödie liegt das Fatale in den falschen

hinnehmen. Der tägliche mediale Beschuss

Gegensätzen.

­dauert.“ //

Stay at home and read a book!

Nahezu lächerlich wirkt die Berliner

tränkt jeden Gedanken in einem Meer von

Posse angesichts dessen, dass Millionen

Zahlen. Doch das Leben und die Politik sind

US-Amerikaner wegen des Schutzes vor ei-

mehr als Statistik.

ner Krankheit neben ihrer Arbeit auch die

So kritisiert der Philosoph Giorgio

Versicherung, also den Schutz vor Krankheit

Agamben – auch wie immer –, dass die Illu-

verloren haben. Zudem bedroht nichts die

sion des totalen Schutzes mit der totalen

Gesundheit so sehr wie Armut. Die Diagnose

Verfügungsgewalt des Staates bezahlt werde.

einer Gesellschaft, die solche Alternativen

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Selbst wenn das gewollt wäre, dürfte es

hervorbringt, dürfte düster ausfallen. //

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/ TdZ Juni 2020  /

Klarsicht im Nebel

Es gibt Klischees, die haften einem lebenslang an. Bei Otto Mellies war es das

ebenso leise wie deutlich: „Kinski, wenigstens das Stichwort muss ich ver-

des kultivierten Sprechers, der eine gediegene Klassikeratmosphäre

erschafft.

stehen.“ Hat dieses Er-

Ein Nachruf auf den Schauspieler Otto Mellies

lebnis zur viel gerühmten Klarheit der Artikulation

Schuld daran ist vielleicht

bei Mellies beigetragen?

sein Ferdinand in Martin

Nein, denn er lässt Irrita-

Hellbergs DEFA-Film „Ka-

tionen zu. Als Mellies

bale und Liebe“ von 1959.

später selbst den Clavigo

Ulrich Mühe wusste, nach-

spielen soll, aber nicht

dem er Mellies als Ferdi-

weiß wie, da hat er den

nand erlebt hatte, dass er

sich in seinen Fesseln

nur eins werden wollte:

windenden Klaus Kinski

Schauspieler. Er sprach von

vor Augen, von dem eine

jener Szene, in der Ferdi-

verstörende Intensität aus­

nand in aufsteigender inne-

geht.

rer Unruhe durch den Nebel

Wenn es einen Re-

geht. Das habe ihn erschüt-

gisseur gab, der Mellies

tert. Ich sah mir daraufhin

forderte, dann ging er weit

den Mitschnitt an und war-

mit ihm. So mit Alexander

tete auf den Nebel. Er kam

Lang als Minister von

nicht, aber irgendwo musste

Grumbkow in „Die trauri-

er doch sein?

ge Geschichte von Fried-

Was Mellies auszeich­

rich dem Großen“ nach

nete, war die Klarheit des

Heinrich Mann oder als

Ausdrucks bis dorthin zu

Obergruppenführer Hörder

treiben, wo sich alles wieder

wieder bei Lang in „Win-

vernebelte. Wo aus den

terschlacht“ nach Johan-

Antworten die Fragen her­ vorschossen. Kein Pathos ohne Abbruch des hohen Tons, Einbruch des ratlosen Schweigens. Nein, Mellies

nes R. Becher. Da hingen Konnte die Klarheit des Ausdrucks bis dorthin treiben, wo sich alles wieder vernebelte – Otto Mellies (1931–2020) in Gerhart Hauptmanns „Der Rote Hahn“ in der Regie von Horst Lebinsky (Deutsches Theater Berlin 1997).

die Schauspieler wie Ma-

Foto dpa

Spielraum zu verschaffen,

rionetten an den Regie­ fäden. Sich hier dennoch

suchte nicht den Effekt, sein

war die eigentliche Kunst.

Ausdruck kam aus den Tie-

Hörder habe Lang „zu ei-

fen seiner Figuren. Er konn-

nem grotesken, gefähr­

te deren innerer Zerrissenheit mit Haltung

seine ganze Familie zu Tode kam. Über das,

lichen und zugleich biederen und sentimen-

begegnen. Mellies gehörte zu den Schauspie-

was damals geschah, schreibt er, „werde ich

talen

lern, die noch Wolfgang Langhoff in den fünf-

nichts erzählen, niemals“. Aber die Erfahrung

Gemengelage präzise auszuloten, ohne zu

ziger Jahren ans Deutsche Theater geholt

bleibt, klingt noch in seinem „Nathan der

psychologisieren, war die Herausforderung.

hatte. Er entsprach dessen Ideal eines jungen

Weise“ von 1986 in der Regie von Friedo

Bis in seine letzten Lebensjahre suchte

Helden (wie auch etwa Horst Drinda). Der

Solter nach, den er über dreihundert Mal ­

Mellies nicht Sicherheit, sondern das Wagnis.

Kommunist Langhoff kam aus dem KZ, er

spielte. Krieg, so hatte er erfahren, „verroht

In Andreas Dresens Fernsehfilm „Raus aus

wusste, was ein echter und was ein falscher

die Menschen“. Bei Dreharbeiten in der Sow-

der Haut“ ist er ein dogmatischer DDR-Schul-

Ton war – und so forderte er von seinen ju-

jetunion zeigte einmal seine Begleiterin auf

direktor, der – in RAF-Analogie – von Schü-

gendlichen Helden den Mut, im Spiel über

eine Stelle: Dort hätten deutsche Soldaten

lern entführt und in einem Keller gefangen

die Lebenslügen der tragischen Idealisten

ihren Mann erschossen. Auf die Frage,

gehalten wird. Der Despot, all seiner Macht-

aufzuklären.

­wa­rum, antwortete sie: „Nur so.“

mittel beraubt, wird plötzlich zum hilflosen

Charakter“

geformt.

Solcherart

Und immer war da ein verhaltener

Ende der vierziger Jahre als Anfänger

Opfer, das um seine Würde ringt. Ob er da

Schmerz angesichts des Ungeheuers, das der

in Neustrelitz engagiert, fährt Mellies oft

wieder an Kinskis vor Ohnmacht schäumen-

Mensch in der Geschichte zu sein vermag. In

nach Berlin zum Deutschen Theater, sieht

den Clavigo gedacht hat? Klarsicht schloss

seiner Autobiografie schildert Mellies sehr

dort den „Clavigo“ mit einem ihm unbekann-

bei diesem großen Schauspieler den Nebel

knapp, wie bei Kriegsende 1945, nach der

ten Schauspieler, der gefesselt auf der Bühne

nicht aus. Am 26. April starb Otto Mellies im

Eroberung seiner Heimatstadt Stolp (dem

liegt und hastig den Text heraussprudelt.

Alter von 89 Jahren in Berlin. //

heutigen Słupsk) durch die Rote Armee, fast

Plötzlich unterbricht ihn sein Spielpartner

Gunnar Decker


magazin

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Zerrissene Träume „Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.“ So hat Heiner Müller die Herausforderungen künstlerischer Arbeit auf den Punkt gebracht, woran die Romandebütantin Marina Frenk anknüpft. Traumerzählungen sind es, die sich durch ihr kürzlich im Wagenbach Verlag erschienenes, collagenhaft angeordnetes Prosax

werk „ewig her und gar nicht wahr“ ziehen. Die Autorin macht nicht den peinlichen Fehler, die Träume als bloßes Werkzeug für Erklärungen der Handlung zu nutzen, sondern sie schafft mit ihnen symbolträchtige, eigenständige Miniaturen innerhalb dieses – ohnehin an Bildern überreichen – Romans. Lage – aus Mutterschaft, Eifersucht, erlöschender Liebe und Sehnsucht. Die Schlaglichter auf die bewegte Vergangenheit und Gegenwart der Hauptfigur werden ergänzt durch Einblicke in die Familiengeschichte, Marina Frenk: ewig her und gar nicht wahr. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, 240 S., 22 EUR.

Eine Grenzgängerin wie ihre Romanfigur – Marina Frenk in „Je suis Jeanne d’Arc“ (Regie Mikael Serre, mit Till Wonka und Falilou Seck, Maxim Gorki Theater 2015). Foto Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

die in ihr fortwirkt: die schützende Deporta­ tion aus Bessarabien durch sowjetische Truppen, um einer Deportation durch die Nazis zu

wachsen, ist auch im Theater keine Unbe-

entgehen; Friedenszeiten in der Sowjetunion;

kannte: Nach ihrer Ausbildung an der Folk-

der fortwährende Exodus, zerstreut in New

wang-Hochschule in Essen spielte sie am

York und Israel, ohne Ankunft in Sicht. Es

Schauspielhaus

sind insbesondere diese Passagen, die diesen

Leipzig, Schauspiel Köln und zuletzt regel-

Im Zentrum des schmalen, aber vielschichti-

zutiefst persönlich erzählten Roman über

mäßig am Berliner Maxim Gorki Theater. Mit

gen Buchs steht Kira, eine junge bildende

eine Privatgeschichte erheben und eine Vor-

ihrer Arbeit als Hörspielautorin, als Perfor-

Künstlerin, die man wohl zu Recht als Grenz-

stellung davon möglich machen, was jüdi-

mancekünstlerin und als Sängerin in unter-

gängerin bezeichnen kann: Als russische

sches Leben im 20. und 21. Jahrhundert be-

schiedlichen m ­ usikalischen Formationen hat

J­üdin in Moldawien geboren, wird sie mit ih-

deuten könnte. Es ist fast ein Klischee, dass

sie bewiesen, dass sie längst über das Schau-

rer Familie schnell zum Opfer der falschen

Romanerstlinge häufig stark autobiografisch

spielfach hinausgewachsen ist. Sähe man sie

Freiheitsverheißungen, die mit dem Zerfall

gefärbt sind, und auch bei diesem Buch darf

von nun an gar nicht mehr auf der Theater-

der Sowjetunion einhergehen. Der Weggang

man mutmaßen, dass sich in die Identitäts­

bühne, wäre das sicher ein Verlust. Es bleibt

nach Deutschland ist die Folge. Kira bewegt

suche der Künstlerin Kira viel von ihrer Auto-

zu hoffen, dass sie der Schauspielerei ver-

sich zwischen künstlerischem – und auch

rin eingeschrieben hat.

bunden bleibt und auch die Ambitionen als

kommerziellem – Erfolg und Selbstzweifel.

Marina Frenk, 1986 im sowjetischen

Hinzu kommt eine überfordernde persönliche

Moldawien geboren und im Ruhrgebiet aufge-

ANGELA ALVES NO LIMIT REMOTE-PERFORMANCE JUNI 16 17 18 20.00 UHR

Bochum,

Centraltheater

Romanautorin nicht aufgibt. // Erik Zielke

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aktuell

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Karin Beier. Foto Florian Raz

Meldungen

■ Die Dramaturgin Claudia Lowin und der

Yazdkhasti wurde 1973 in Krefeld geboren

­Regisseur Christian Schlüter werden ab der

und wuchs in Iran auf. Er studierte in Ham-

Spielzeit 2021/22 die Leitung der Schau-

burg Schauspieltheaterregie und arbeitete als

spielsparte des Theaters Osnabrück überneh-

Regisseur an verschiedenen Bühnen, unter

men. Sie sind Teil des Teams um den neuen

anderem dem Theater Bielefeld.

Intendanten Ulrich Mokrusch, der 2021 sein Amt antritt. Lowin ist seit 2017 leitende Dra-

■ Ab der Spielzeit 2021/22 wird Lars  Tietje

maturgin am Staatstheater Braunschweig und

die Nachfolge von Ulrich Mokrusch als Inten-

bildet dort das Leitungsteam der Schauspiel-

dant des Stadttheaters Bremerhaven antreten.

sparte mit Christoph Diem. Seit 2018 beklei-

Tietje leitet seit 2016 das Mecklenburgische

det Schlüter das Amt des Schauspieldirektors

Staatstheater in  Schwerin  und Parchim als

am Theater Bielefeld, bereits 2007 über-

Generalintendant und Geschäftsführer. Bre-

nahm er die Oberspielleitung am Haus.

merhavens Kulturdezernent Michael Frost zeigte sich glücklich, mit Tietje einen „erfah-

■ Der Regisseur Frank Behnke wechselt als

renen und ambitionierten Intendanten“ für das

Schauspieldirektor vom Theater Münster zum

Stadttheater Bremerhaven gewonnen zu haben.

■ Karin Beier hat ihren Vertrag als Leiterin

Staatstheater Meiningen. Sein Vertrag beginnt

des Deutschen Schauspielhauses Hamburg bis

mit der Spielzeit 2021/22 zusammen mit

■ Der Verwaltungsleiter des Berliner En-

2023 verlängert. Seit 2013 ist Beier Inten-

dem des designierten Intendanten Jens

sembles, Thomas Walter, wechselt als Ge-

dantin des größten Sprechtheaters Deutsch-

Neundorff von Enzberg. Behnke wurde 1962

schäftsführender Direktor mit Beginn der In-

lands. Geboren 1965 in Köln, war sie als

in Hannover geboren. Er arbeitete als Regis-

tendanz von René Pollesch zurück an die

Hausregisseurin am Schauspielhaus Düssel-

seur und Dramaturg unter anderem in Osna­

Berliner Volksbühne. Er wird sein Amt zur

dorf und dem Burgtheater in Wien tätig. Von

brück und Nürnberg. Seit 2012 ist er Schau-

Spielzeit 2021/22 antreten. Walter war be-

2007 bis 2013 übernahm sie die Intendanz

spieldirektor am Theater Münster.

reits von 2014 bis 2018 an der Volksbühne

nierungen wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die kommende Spielzeit plant Beier mit der Uraufführung eines neuen Stücks von Rainald Goetz zu eröffnen.

■ Neuer Intendant der Theater Vorpommern in Greifswald, Stralsund und Putbus wird ab der Spielzeit 2021/22 Ralf Dörnen. Ein Auswahl-

in gleicher Funktion tätig, bevor er unter

Frank Behnke. Foto Oliver Berg

des Schauspiels Köln. Zahlreiche ihrer Insze-

Chris Dercon das Haus verließ.

■ Christian Stückl, der Intendant des Münchner Volkstheaters und Leiter der Oberammergauer Passionsspiele, wird mit dem nicht dotierten Ehrenpreis der Evangelischen Akademie Tutzing in der Kategorie „Zivilcourage“ ausgezeichnet. Er erhält ihn für sein langjähriges

gremium sprach sich einstimmig für den bis-

Engagement gegen Antisemitismus, Antijuda-

herigen Ballettdirektor des Theaters aus. Er

ismus und Rassismus.

tritt die Nachfolge von Dirk Löschner an, des-

■ Der Regisseur Alexander Giesche erhält für

sen Vertrag 2021 ausläuft. Dörnen wurde 1960 in Leverkusen geboren und begann sei-

■ Der Regisseur Dariusch Yazdkhasti wird zur

nen beruflichen Werdegang als Tänzer. Bevor

Spielzeit 2021/22 Schauspieldirektor am

Inszenierung „Der Mensch erscheint im Holo-

er 1997 Ballettdirektor und Chefchoreograf

Theater Bielefeld. Der bisherige Schauspiel­

zän“ nach Max Frisch den mit 10 000 Euro

am Theater Vorpommern wurde, arbeitete Dör-

direktor Christian Schlüter wechselt in die

dotierten 3sat-Preis im Rahmen des Berliner

nen freischaffend an verschiedenen Bühnen.

Schauspielleitung an das Theater Osnabrück.

Theatertreffens. Giesche habe die „erste große

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aktuell

/ TdZ  Juni 2020  /

Alexander Giesche. Foto Blommers & Schumm

■ Mitte Mai hat trotz langer Proteste der AbTirana (Albanien) begonnen. Das berichtete unter anderem die taz. Polizisten räumten gewaltsam den Platz und Bagger rückten an. Das 1939 errichtete Theater wurde seit Juli 2019 besetzt und bespielt, um es vor dem Abriss zu schützen (siehe auch TdZ 09/2019

www.bundesakademie.de

riss des historischen Nationaltheaters in

Weiterbildung online! Und ab Juli hoffentlich auch wieder vor Ort.

und 12/2019). Anfang Mai ging das Gebäude vom Kulturministerium in den Besitz der Stadtverwaltung über, die nicht an europäische Verträge zum Schutz von Kulturgütern gebunden sei, heißt es. Den Plänen des PreInszenierung zum Thema Klimawandel“ vor-

mierministers Edi Rama zufolge soll das

gelegt, heißt es in der Begründung. Preis­

Theater einem Shopping-Komplex weichen.

träger im vergangenen Jahr war der Regisseur

„Das Ausmaß sexueller Belästigung12.05.2020 und Ge-12:03:39 Die Aktivisten hoffen nun auf europäische TdZ_Juni_2019.indd 1

Ersan Mondtag.

Unterstützung.

■ Ein von der Initiative Kulturschaffender in

■ Das Netzwerk aus Kunst- und Kultur-

Deutschland formuliertes Positionspapier for-

schaffenden Die Vielen organisierte am

dert dringende Verbesserungen der aktuellen

8. und 9. Mai anlässlich des 75. Jahrestags

■ Die 1932 in Düsseldorf geborene Theater-

Hilfsprogramme in der Coronapandemie. So

der Befreiung Deutschlands vom National-

und Filmschauspielerin Eva Kotthaus ist am

sollen Selbständige auch ohne Betriebsko-

sozialismus sowie anlässlich des darauf­

20. April gestorben. Kotthaus studierte ab

stennachweis die Hilfen in Anspruch nehmen

folgenden Europatags „Glänzende Aktions-

1951 an der Otto Falckenberg Schule in

können und den Betroffenen landes- und

tage“. In über 32 Städten fanden Aktionen

München. Es folgten Engagements an ver-

bundesweit ein monatlicher Bedarf von 1180

im Stadtraum, in den Kulturinstitutionen

schiedenen Theatern in Ost- und West-

Euro zur Verfügung gestellt werden. Den offe-

und im Internet statt. Im Vorfeld sammel-

deutschland. Neben dem Theater war sie in

nen Brief haben über 7000 Kulturschaffende

ten Die Vielen mit einer Petition mehr als

zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen

und Unterstützer unterzeichnet.

91 000 Unterschriften für die bundesweite

zu sehen. 1954 gab sie ihr Filmdebüt in der

Einführung des 8. Mais als gesetzlichen

DEFA-Produktion „Kein Hüsung“. Der Durch-

Feiertag.

bruch gelang Kotthaus 1955 mit ihrer Dar-

walt im Kultur- und Medienbereich ist erschreckend“, erklärte Kulturstaatsministerin

■ Dem Theaterdiscounter Berlin wurden über-

Monika Grütters.

stellung der Anna Kaminski im Film „Himmel

raschend die Räumlichkeiten gekündigt. Bis zum 31. August soll das freie Theater das Ge-

■ Seit 2018 gibt es die unabhängige Vertrau-

ohne Sterne“. In „Geschichte einer Nonne“

bäude räumen, das in Besitz eines privaten

ensstelle Themis gegen sexuelle Belästigung

(1959) von Fred Zinnemann war sie neben

Investors ist. Der Theaterdiscounter und Un-

und Gewalt in der Film-, Fernseh- und Thea-

Audrey Hepburn zu sehen. Später spielte sie

terstützer fordern, die Kündigung zu verschie-

terbranche. Ende April wurden Ergebnisse

vorwiegend in Fernsehproduktionen.

ben oder auszusetzen. Sollte der Appell an

einer ersten Evaluation veröffentlicht. Inner-

den Investor scheitern, muss notfalls eine

halb von 18 Monaten wurden insgesamt 255

Interimsspielstätte gefunden werden. Langfri-

Fälle von sexueller Belästigung am Arbeits-

stig wolle man aber eine verbindliche Zusage

platz mitgeteilt, über 500 Beratungsgesprä-

für den Bau eines neuen Theaters im Rahmen

che wurden geführt. Es habe sich, so Themis,

der kommunalen Bauten im Planungsgebiet

bestätigt, dass überwiegend Frauen von sexu-

Molkenmarkt.

eller Belästigung und Gewalt betroffen sind.

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PREMIERE: 11.06.2020

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Buchverlag Neuerscheinungen

Das altersgemischte Performancekollektiv Masters of the Universe entwickelt seit sechs Jahren ein „Theater der neuen Generation“. Basisdemokra­tisch und jenseits von Sparten-­Denken arbeitet es an zeitgenössischer Performance Art, die sich glei­chermaßen an Kinder und Erwachsene richtet. Das Buch, gleichsam visuelle Bestands­ auf­nahme, persönliche Innensicht und analytischer Rundumblick, dokumentiert die Entwicklung der Gruppe mittels Fotos, Stücktexten, Interviews und Essays.

Eine „Dramaturgie der Peripherie“ hat das Theater Chur in den letzten 14 Jahren entwickelt. Es ist ein Beispiel für die Diskussion über „Theater in der Pro­vinz“, zu deren Aufgaben die Programmgestaltung für ein heterogenes und vielsprachiges Publikum gehört. Ute Haferburg und Ann-­Marie Arioli sowie ihr Vorgänger Markus Luchsinger (†) haben eine Programmdramaturgie entwickelt, die zwischen Tradition, Identität und Innovation vermittelt.

Masters of the Universe Theater der neuen Generation Herausgegeben von SKART und Kampnagel Hamburg

Pro Specie Rara. Eine Dramaturgie der Peripherie Theater Chur 2006–20 Herausgegeben von Ann-Marie Arioli und Ute Haferburg

Paperback mit 120 Seiten ISBN 978-3-95749-283-8 EUR 16,00 (print) . EUR 12,99

Klappenbroschur mit 160 Seiten ISBN 978-3-95749-280-7 EUR 20,00 (print) . 16,99 EUR (digital)

Marcel Cremer war ein Grenzgänger. Nicht nur als Gründer und Leiter des AGORA Theaters, einer freien Gruppe in St. Vith, die als herausragende Institution der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens vorbildhafte Wirkung für ein interkulturelles Theater hat. Das Lesebuch gibt Einblick in Cremers nach wie vor aktuelles Werk. Darüber hinaus wird die lebendige Auseinandersetzung mit seinem Erbe in der Beschreibung aktueller Inszenierungen des AGORA Theaters gezeigt.

Ulrike Guérot, Robert Menasse und Milo Rau riefen am 10. November 2018 in einem eindrucksvollen performativen Akt gemeinsam mit 30 000 Menschen und in über zwanzig Ländern in ganz Europa die Europäische Republik aus. Was für ein historischer Moment! Ein Kontrapunkt zum Wiedererstarken von Nationa­lismen. Diese Publikation spiegelt die Intention dieses andauernden Projekts mannigfaltig und lustvoll in Bildern, Geschichten und politischen Beiträgen wider.

Marcel Cremer und die Agora Ein Lesebuch zum Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens Herausgegeben von AGORA Theater und Christel Hoffmann

The European Balcony Project The Emancipation of the European Citizens Herausgegeben von Ulrike Guérot, Verena Humer, Robert Menasse und Milo Rau

Taschenbuch mit 352 Seiten ISBN 978-3-95749-281-4 EUR 20,00 (print) . 16,99 EUR (digital)

Taschenbuch mit 208 Seiten ISBN 978-3-95749-277-7 EUR 18,00 (print) . EUR 14,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


impressum/vorschau

/ TdZ  Juni 2020  /

AUTORINNEN UND AUTOREN Juni 2020 Josef Bierbichler, Schauspieler und Autor, Ambach Volker Braun, Schriftsteller, Berlin Kerstin Decker, freie Autorin, Berlin Elisabeth Feller, Kulturredakteurin, Wettingen Jens Fischer, Journalist, Bremen Björn Hayer, Kritiker, Lemberg (Pfalz) Carl Hegemann, Autor und Dramaturg, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor- und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Luise Meier, freie Autorin, Berlin Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Dimo Rieß, freier Journalist, Leipzig Christian Stückl, Intendant und Regisseur, München Joachim F. Tornau, freier Journalist, Kassel Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Erik Zielke, Lektor, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/06

Vorschau

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Jakob Hayner +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker Mitarbeit Annette Dörner und Claudia Jürgens (Korrektur), Lara Wenzel (Assistenz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber.

Arbeitsbuch Soll man die Lage der zeitgenössischen Dramatik als dramatisch bezeichnen? Nein! Zwar findet sich heute die Dramatik – nach der Überproduk­tion an neuen, aber kaum nachgespielten Stücken der Nullerjahre, nach der ästhe­ tischen Wende ins Postdramatisch-Performative, mit kollek­ tiver ­ Autorschaft, Rechercheprojekten, Roman- und Film­ adaptionen – in einem weit aufgefächerten Verständnis davon wieder, was ein Theaterstück ist. Doch unsere Bestands­ aufnahme im aktuellen Stück-Werk 6 zeigt, dass im Kontext dieses erweiterten Autorenbegriffs nicht nur eine neue, diver­ sere Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern auf den deutschsprachigen Bühnen reüssiert, sondern dass ­formal wie thematisch die Entwicklungen der letzten Jahre in ihren Texten produk­ tiven Widerhall gefunden haben. Ein ­Panorama zeitgenössischen Schreibens für die Bühne in 25 Porträts – unter anderem über Katja Brunner, Nino Haratischwili, ­Thomas Köck, Wolfram Lotz, Sasha Mariana Salzmann und Clemens J. Setz.

Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 6, Juni 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.05.2020 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Das Arbeitsbuch erscheint am 1. Juli 2020. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. September 2020.

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Was macht das Theater, Wolfgang Schneider? Wolfgang Schneider, was machen die

„Reload“ der Bundeskulturstiftung Im-

­Theater falsch, dass sie erst lange nach der

pulse setzen, um kleinere Formate zu er-

Bundesliga und den Biergärten in den Fokus

proben, Theaterspaziergänge weiter zu

der Politik gerückt sind?

entwickeln, internationale Kooperationen

Ihre Frage müsste andersherum gestellt

zu planen und andere Räume zu erschlie-

werden: Wie haben es DFL, Gastronomie-

ßen, nicht nur die virtuellen. Auch große

betriebe und dergleichen geschafft, zu-

Häuser wären in ihrer klassischen Archi-

erst bedient zu werden? Und da sind

tektur neu zu denken und zu überplanen.

noch nicht die schlimmsten Finger benannt, die nach der Staatskohle schreien,

Als Kulturpolitikforscher haben Sie die ge-

wie Autolobby, Bauernverband, Luft­

samte Theaterlandschaft im Visier. Wäre

hansa … Kultur spielt in der Politik leider

jetzt der Moment, über Strukturveränderun-

nach wie vor eine marginale Rolle. Ihre

gen nachzudenken? Und welche könnten

Förderung wird als freiwillige Aufgabe

das sein?

­definiert. Im Grundgesetz fehlt noch im-

Wenn die darstellenden Künste in regiona-

mer der Artikel 20b: „Der Staat schützt

len Theaterentwicklungsplanungen veran-

und fördert die Kultur.“

kert wären, wie es die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen

Also anders gefragt: Warum wird das Thea-

Bundestages schon vor Jahren gefordert

ter von so wenigen vermisst?

hat, und wenn sich die gesamte Land-

Die Menschen, die ich beim Einkaufen

schaft darin wiederfinden würde, die Lan-

treffe, beklagen die Absage des Kirch-

desbühnen und die freien Gruppen, das

weihfestes und vermissen ihre lokalen

Amateurtheater und die Gastspielhäuser,

Gesangvereine. Die Theateraffinen soll-

das Theater der Stadt und das Theater des

ten wahrnehmen, dass nach wie vor mehr als die Hälfte der Bevölkerung nie in ­ihrem Leben ein Theater besucht. Daraus ergibt sich die kulturpolitische Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass das Theater wegen seiner Substanz, Relevanz und Brisanz nachgefragt wird. Das bedeutet konkret? Was sollten die Thea­ter Ihrer Meinung nach kulturpolitisch

Wer wird zuerst bedient? Die Kultur, wie es scheint, als Allerletztes. Die Coronakrise macht deutlich, wo Theater, Kinos, Konzerthäuser in der Prioritätenliste der Politik rangieren. Wolfgang Schneider, Gründungsdirektor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Vorsitzender des Fonds Darstellende Künste, fordert deshalb eindringlich mehr Zusammenhalt: „einen runden Tisch der Verbände, eine Graswurzelbewegung für die Agora Artes“. Foto Isa Lange

tun?

ländlichen Raums, dann wäre zumindest ein klarer Auftrag formuliert, Vielfalt in Produktion, Distribution und Rezeption zu ermöglichen. Ja, ich vermisse das in diesen Wochen viel beschworene Zusammen­ halten, den runden Tisch der Verbände, die Graswurzelbewegung für die Agora Artes. Wäre also auch denkbar, dass die Theaterlandschaft als ganze langfristig von der Krise profitiert?

Einerseits müssen sie derzeit alle um ihre

Profitieren kann die Theaterlandschaft nur,

Haushalte besorgt sein. Insbesondere die

Vorschlägen zuvorgekommen. Wer gestaltet

wenn sie sich zusammentut, wenn die öffent-

freien Künstler kämpfen um ihr existenzielles

hier eigentlich das Theater von morgen, und wie

liche Förderung alle in den darstellenden

Überleben. Andererseits könnte die Krise

könnte es aussehen?

Künsten gleichberechtigt in die Lage versetzt,

auch dazu genutzt werden, die „Selbstver-

Ein Gestaltungswille ist erkennbar, und die

zu agieren, um davon auch leben zu können –

ständigung in der Gesellschaft“, von der oft

Theatermachenden sind gefordert, sofort zu

als Tänzerin, Puppenspieler, Theaterpädagogin,

in Spielzeitheften zu lesen ist, tatsächlich zu

handeln. Die einen tun das altbacken, indem

Schauspieler, Musikerin, Dramatiker, Bühnen-

leisten. Auch mit konzertierten Aktionen jen-

sie alles so haben wollen, wie es immer war.

bildnerin etc. Insbesondere die Zukunft der

seits der Bühne. Derzeit gilt es ja, etwa ein

Manche alte Männer sehen sogar die Freiheit

Kinder- und Jugendtheater hängt aber davon

bedingungsloses Grundeinkommen, humani-

der Kunst bedroht und wollen, wie der Wies-

ab, ob deren Zielgruppe teilhaben kann, weil

täre Hilfe für Geflüchtete und den 8. Mai als

badener Intendant, dem Staat das Theater

dies zumeist nur in Zusammenarbeit mit den

Feiertag zur Förderung der Demokratie durch-

„zurückgeben“. Andere streamen sich durch

Schulen geht. Deren Expertise in Sachen Teil-

zusetzen.

den Tag und produzieren digital, was analog

habeermöglichung und Vermittlungsformaten

gedacht war. Aber Theater lebt nun einmal

ist gefragter denn je! Ohne die Bühnen für

In einigen Bundesländern dürften die Theater

von der leibhaftigen Begegnung. Deshalb

junges Publikum kann es keine Zukunft des

unter Einhaltung strenger Hygieneauflagen jetzt

können Ergebnisse aus Arbeitsstipendien wie

Theaters geben, weil es dann niemand mehr

theoretisch sofort öffnen. Einzelne Häuser sind

„Inter-Aktion“ für die Soziokultur, „#take-

zu schätzen wüsste. //

diesem Signal der Politik schon mit eigenen

care“ vom Fonds Darstellende Künste oder

Die Fragen stellte Sabine Leucht.


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Fotos: Holger Herschel

Einar & Bert Theaterbuchhandlung & Café Winsstraße 72 / Heinrich-Roller-Str. 21 D-10405 Berlin Reduzierte Öffnungszeiten: Di – Fr 11.00 – 16.00 Uhr Sa 12.00 – 18.00 Uhr Tram 02 – Metzer Straße (250 m) Tram 04 – Am Friedrichshain (250 m) S+U Alexanderplatz (1,3 km)

Bestellungen sind möglich per: Telefon +49 (0)30 4435 285-11 E-Mail info@einar-und-bert.de Unsere Onlineshops: Theaterbücher: www.stagebooks.shop Allgemeines Sortiment: http://t1p.de/einarundbert Modernes Antiquariat: www.booklooker.de/ stagebooks/Bücher/Angebote/ Danke, dass Sie in einer unabhängigen Buchhandlung einkaufen!



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