Theater der Zeit 06/2022 - Frank Castorf "Wallenstein" in Dresden

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Essay von Jonas Zipf: Das digalitäre Theater / Christian Weises Shakespeare-Inszenierungen Kunstinsert 9. Mai in Berlin / Zürich: Entscheidung zum Pfauen / Gedenkstätte Babyn Jar in Kyjiw

EUR 9,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Frank Castorf „Wallenstein“ in Dresden

Juni 2022 • Heft Nr. 6


FESTIVAL FÜR NEUE DRAMATIK 25. AUSGABE

GASTSPIELE NEUER STÜCKE Theresa Dopler Rainald Goetz Elfriede Jelinek Caren Jeß Fritz Kater Thomas Köck Milena Michalek Bonn Park Sivan Ben Yishai

DREI URAUFFÜHRUNGEN in der Langen Nacht der Autor:innen am 18. Juni

FISCHER FRITZ

von Raphaela Bardutzky

DAS AUGENLID IST EIN MUSKEL

von Alexander Stutz

JUDITH SHAKESPEARE (RAPE AND REVENGE)

Artwork: Esra Gülmen

von Paula Thielecke

Staatstheater Hannover - Düsseldorfer Schauspielhaus / Schauspiel Köln - Burgtheater Wien - Schauspielhaus Graz Theater Bremen - Münchner Kammerspiele - Kosmos Theater Wien - Deutsches SchauSpielHaus Hamburg Nationaltheater Mannheim / Theater Rampe Stuttgart - Schauspiel Leipzig

Partnertheater

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editorial

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D

er kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan (1911–1980) verstand alle neuen Medien in der Geschichte des Menschen als eine technische Erweiterung seiner Fähigkeiten und vor allem Wahrnehmungsorgane. Kameras sind verlängerte Augen, Telefone transportieren Stimmen an ferne Ohren, Speichermedien wie das Buch und später elektronische Medien erweitern die Fähigkeiten des Gehirns als größtem Organ des menschlichen Körpers. McLuhans Thesen, zuerst entwickelt in ­seinem Buch „Understanding Media“ (1964), überzeugen noch immer. Aber sind sie auch auf die heute hochkomplexe Computerkultur und das Internet anwendbar, da diese ganz offensichtlich nicht nur die Kommunikationsverhältnisse, sondern beinahe alle sozialen Verhältnisse, also auch die der Arbeit neu bestimmen? Und was bedeutet das für die Theaterkultur? Jonas Zipf schlägt in seinem Essay zum Auftakt des Schwerpunkts „Theater und Digitalität“ (S. 11) vor, „die Möglichkeiten der ­Digitalität nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Arbeit an dieser zu nutzen“. Mit McLuhan und Marx gesprochen: Neue Produktionsmittel bedingen veränderte Produktionsverhältnisse. Auch am Theater. Am 1. März 2022 wurde die Gedenkstätte Babyn Jar von russischen Raketen getroffen, Ende September 1941 Ort der größten Massenerschießung von Juden im Zweiten Weltkrieg, durchgeführt von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei im Zuge des deutschen Eroberungskriegs. Der Holocaust mit der Verfolgung und Ermordung ukrainischer Juden wurde nach dem Ende der Sowjetunion ein ­wesentlicher Teil der Erinnerungskultur der neuen Ukraine. Elisabeth Bauer hat Babyn Jar mehrfach besucht und dabei auch den Filmemacher Ilya Krzhanovsky zu seinen Plänen für diese Gedenkstätte gesprochen (S. 28). Das Kunstinsert dieser Ausgabe zeigt fünf Bilder vom 9. Mai in Berlin, die ­Nikolaus Stein zum Thema „Tag der Befreiung / Tag des Sieges“ gemacht hat, anzuschauen auch mit Bezug zum Beschuss der Kyjiwer Gedenkstätte und der russischen Rechtfertigung der Invasion als „Entnazifizierung“ der Ukraine. Christian Weise ist wahrscheinlich der aktivste Shakespeare-Regisseur im deutschen Theater der ­letzten Jahre. TdZ-Thüringen-Redakteur Michael Helbing nimmt eine ganze Serie von Inszenierungen unter die Lupe (S. 20), darunter die ziemlich ausgefallene „Queen Lear“ am Berliner Maxim Gorki Theater. Hätte Shakespeare so etwas gefallen – oder als Regisseur, dessen Theater ja auch von verdrehten Aktualitäten lebte, mit seinen Stücken selbst so gemacht? Vielleicht. // Thomas Irmer

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Inhalt Juni 2022 schwerpunkt digitalität und theater I

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Jonas Zipf Das digalitäre Theater Ein Essay

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Stefan Keim Ausschließlich digital Das Landestheater Detmold zeigt drei neue Onlinestücke in Zusammenarbeit mit John von Düffel und dem Studiengang Szenisches Schreiben an der UdK Berlin

kunstinsert

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Nikolaus Stein 9. Mai in Berlin Treptower Park

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Thomas Irmer Tag der Befreiung / Tag des Sieges Zur Fotoserie von Nikolaus Stein

aktuelle inszenierung

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Michael Bartsch Castorf nach Schiller, Schiller nach Castorf? Ein bombastischer „Wallenstein“ am Staatsschauspiel Dresden malt gewaltige Bilder in der Masse der Regieeinfälle

protagonisten

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Michael Helbing Shakespeares Spielmacher Berlin, Mannheim, Weimar: Christian Weise inszeniert die Welt als Bühne und die Bühne als eigene Welt

bayerische theatertage

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Michael Helbing Rollladen zu, Vorhang auf Aus Bayerns alten Theatertagen ist in Bamberg ein neues Festival geworden

ukraine

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Elisabeth Bauer Krieg in Europa – auf dem Spiegelfeld der Geschichte Babyn Jar und Ilya Khrzhanovskys Holocaust-Museumsprojekt

essay

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Theresa Schütz Theater der Vereinnahmung Publikumsinvolvierung im immersiven Theater

theaterbauten

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Martin Wigger Chance vertan Die Stadt Zürich entscheidet sich gegen den Neubau ihrer traditionsreichen Spielstätte Pfauen – ausgerechnet aus Traditionsgründen

passionsspiele oberammergau

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Blick zurück nach vorn Christian Stückl, Markus Zwink und Stefan Hageneier im Gespräch mit Teresa Grenzmann

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inhalt

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stück

auftritt

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Ein Ort mitteleuropäischer Geschichte Autor Thomas Perle und Regisseur András Dömötör im Gespräch mit Nathalie Eckstein und Thomas Irmer über „karpatenflecken“

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Thomas Perle „karpatenflecken“

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Halle „Trilogie der Unschuld“ nach Euripides, Christa Wolf und Heiner Müller in der Regie von Henriette Hörnigk (Thomas Irmer) Hamburg „Die Jagdgesellschaft“ von Thomas Bernhard in der Regie von Herbert Fritsch (Peter Helling) Gießen „BRAVE KIDS“ von Andreas Kowalewitz, Cathérine Miville und Lars Ruppel in der Regie von Cathérine Miville (Lina Wölfel) Ingolstadt „Tyll“ von Daniel Kehlmann in der Regie von Alexander Nerlich (Anne Fritsch) Jena „Leaving Carthago“ von Pina Bergemann und Anna Gschnitzer in der Regie von Pina Bergemann (Michael Helbing) Köln „Richard Drei“ nach Shakespeare in einer Überschreibung von Katja Brunner in der Regie von Pınar Karabulut (Stefan Keim)

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Sprungbrett für die Selbsterfindung Bilanz nach einem Jahr Neustart der Theaterakademie Hamburg Sternenstaub und Atomisierung BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater 2022 Starke Frauen trotzen dem Rassismus Eine neue Sicht auf die spanische Theaterszene beim 39. Heidelberger Stückemarkt Aktivismus mit Aussichten Am Teatr Współczesny in Szczecin sorgt eine neue Truppe für Aufsehen in Polen Hochkultur vs. Hochöfen Wie das Kollektiv Richtung22 Kultur in die Kulturhauptstadt von Luxembourg bringt Das Tiefe so leicht Noam Brusilovsky erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden für „Die Arbeit an der Rolle“ Der Ermöglicher Der Intendantenlegende Gerhard Wolfram zum 100. Bücher Wolfram Lotz: Heilige Schrift I; Georg Mittendrein: Der Theaterintendant

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Meldungen

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Premieren und Festivals im Juni, Juli, August 2022

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Autorinnen und Autoren, Impressum, Vorschau

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Yana Ross im Gespräch mit Nathalie Eckstein

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magazin 66

aktuell

was macht das theater?

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Titelfoto Kriemhild Hamann und Henriette Hölzel in „Wallenstein“ in der Regie von Frank Castorf, Bühne Aleksandar Denić am Staatsschauspiel Dresden. Foto Sebastian Hoppe

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Eine Fotoserie von Nikolaus Stein

Nelken im Schatten des Sowjetischen Denkmals.

9. Mai in Berlin Treptower Park


Verbotene Flaggen vor dem Denkmal.


Fahnen sind zwar verboten, Farben werden trotzdem gezeigt.


Die Performance soll an die Kriegsverbrechen in Butcha erinnern.


Blumengestecke in der Rotunde.


kunstinsert

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Tag der Befreiung / Tag des Sieges Zur Fotoserie von Nikolaus Stein

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m 9. Mai 2017 drehte der in der Belorussischen SSR geborene ukrainische Regisseur Sergej Loznitsa den Film „Den‘ Pobedy“ (Tag des Sieges) am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin Treptow. Ein Beobachtungsfilm, der mit Kamera und groß angelegter Mikrofontechnik die unterschiedlichsten Gedenkfeiern und Rituale festhält. Kranzniederlegungen, kleine Aufmärsche, militärische Ehrenbezeigungen, aber auch Picknicks, Tänze und Gesänge bis hin zu einer volksfesthaften Atmosphäre und vor allem eine ungeheure Ansammlung von Symbolen der untergegangenen Sowjetunion und des neurussischen Nationalismus auf Fahnen, T-Shirts, mitgebrachten Bildern und Plakaten. Der Film macht deutlich, dass aus Gedenken und Trauer über die unvorstellbaren Opferzahlen der Sowjetsoldaten im Zweiten Weltkrieg etwas anderes geworden war, eine von unterschiedlichsten Menschen aufgeführte erinnerungspolitische Demonstration – drei Jahre nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass. Der 9. Mai ist als Tag des Sieges der wichtigste staatliche Feiertag in Russland. Der Datumsunterschied zum Tag der Befreiung am 8. Mai in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern ergibt sich aus dem Zeitpunkt der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht für die zwei Stunden weiter östlich liegende Zeitzone Moskaus. Diese Zeitverschiebung scheint nun auch eine symbolische Bedeutung zu erlangen. Die beiden Tage sind in ihrer Bedeutung längst nicht mehr deckungsgleich. Historiker ergänzen inzwischen zum Tag der Befreiung den Fakt, dass die erste Phase des Zweiten Weltkriegs auch seitens der Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt mit der Besetzung des östlichen Polen und der Staaten des Baltikums 1939 ein brutaler Angriffskrieg gewesen sei. Der Schriftsteller und Dramatiker Vladimir Sorokin wies vor Kurzem darauf hin, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs die

Staaten Osteuropas auf Entschuldigung und Wiedergutmachung für die Taten der Befreier geradezu großzügig verzichtet hätten. Was ist nun dieser Doppeltag heute? Am 8. und 9. Mai 2022 fotografierte Nikolaus Stein am Ehrenmal im Treptower Park jeweils den ganzen Tag lang. Fahnen, auch die der Ukraine, waren von der Berliner Polizei verboten worden, wie auch das klar als Unterstützung der Aggression gegen die Ukraine geltende „Z“ und jegliche Kostümierung in Uniformen, wie es zuvor viele Jahre lang der Brauch war. Gemeinsam mit dem Fotografen entstand hier eine Auswahl für das Kunstinsert, die Bilder vom 9. Mai an diesem Ort in seinen gewaltigen Spannungen und zugleich kleinen wie großen symbolischen Handlungen zeigt. Der nächste Tag des Sieges könnte schon wieder ganz anders aussehen. //

Nikolaus Stein ist Fotograf und Gründungs­ mitglied von Iconic Mirage. Stein, in den frü­ hen 90er Jahren in Oberösterreich geboren, versieht sein Werk mit autobiografischen ­Be­zügen und einer radikalen Hantologie, der Vorstellung von der Wiederkehr kultureller oder sozialer Phänomene. Nikolaus Stein ist Alumnus der Ostkreuzschule für Fotografie und wurde mit dem Marta Hoepffner-Preis für ­Fotografie ausgezeichnet.

Foto Mika Völker

von Thomas Irmer


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„Theater und Digitalität” ist ein Themenschwerpunkt, der sich über zwei Ausgaben erstreckt. Den Anfang machen hier Jonas Zipf mit einem Essay über digalitäres Denken und ein Bericht über Online-Dramatik aus dem Studiengang von John von Düffel in Detmold.


essay

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Das digalitäre Theater Essay von Jonas Zipf

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ehmen wir einmal an, Kultur bestünde aus mehr als der künstlerischen Praxis auf Bühnen und Leinwänden, in Gale­ rien oder Museen. Nehmen wir außerdem an, ein so verstan­ dener sogenannter breiter Kulturbegriff ist der Boden und das Bett einer jeden grundlegenden Transformation der Verhältnisse. Wir sprächen dann von einem Kulturwandel und meinten etwa die Kultur eines Unternehmens oder des politischen Diskurses, des schulischen Sektors oder der Geschlechterverhältnisse. Gehen wir also davon aus, dass jede Transformation mit einem Wandel der sozialen, ökonomischen, ökologischen Kultur einher-, möglicherweise sogar von dieser ausgeht. Ob groß oder klein, geschichtlich abgeschlossen oder in die Zukunft laufend: Die Felder der uns aktuell umströmenden Transformationen wären also per se und a fortiori Schauplätze, öffent­ liche und soziale Räume der Kultur. So ist es mit den Fragen nach Nachhaltigkeit oder in der Inklusion. So ist es mit der ­Digitalisierung. Weniger „Mega“ als vielmehr „Meta“, müssen wir Digitalisierung endlich als kulturellen Wandel der Art und Weise unseres kommunikativen Handelns, eines gänzlich veränderten Mindsets des Umgangs miteinander und nebeneinander verstehen. Digitalisierung ist kein Megatrend, der unvermeidlich über uns kommt wie ein heilsbringendes Himmelreich oder die nächste Naturkatastrophe. Es lohnt sich nicht mehr, sich an das Narrativ der fehlenden Ressourcen und Kompetenzen zu klammern, die wie ein Hüter vor der Schwelle eines erst dahinter beginnenden digitalen Zeitalters stehen. Kein:e Lehrer:in, kein Mitarbeitender eines Theaters oder Museums kann sich noch hinter dieser Schutzargumentation verstecken. Genauso wenig ist sie aber ein von uns simpel auszuhandelndes und beliebig gestaltbares Momentum zur Bewältigung aller Probleme der Gegenwart. Selbst wenn Zugang und Verteilung­ (Access und Sharing) zu digitalen Wegen allen offen und frei (als Common Good und Open Source) zur Verfügung stünden,

Eine digitale Kunstausstellung 2021 in Istanbul, kuratiert mit Künstlicher Intelligenz. Foto picture alliance / Xinhua News Agency | Sadat

wäre die Welt deswegen noch lange nicht automatisch durchlässig und nachhaltig, gerecht und demokratisch. Genauso ­wenig wie die euphemistischerweise sogenannten Social Media der Garant für den Bestand der Arabischen Revolution waren, bedeutet die Verlagerung sozialer Begegnung und kulturellen Genusses ins Netz eine dauerhafte barrierefreie Inklusion oder nachhaltige Verbesserung unseres CO2-Fußabdrucks. Es geht hier nicht um die Alternative zwischen Design oder Desaster, sondern um den nach und nach immer spürbareren Vollzug eines lange laufenden Prozesses der Veränderung, der Transformation aller Verhältnisse: Der kulturelle Wandel war schon vor Entwicklung und Aufbau digitaler Kapazitäten da. Fernab und lange vor der Entstehung von Personal Computer und World Wide Web, von Hard- und Software, on- oder offline müssen wir von dem sprechen, was die Veränderung des Kommunizierens, der Politik und der Arbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte: Wir müssen von Digitalität sprechen. Digitalität ist parallel verteiltes (parallel distributed), netzwerkartig geteiltes, rhizomatisch von unten und nebeneinander entstehendes, reziprok dynamisches Austauschgeschehen. Digitalität ist Struktur und Wandel zugleich, Struktur im Wandel zur gleichen Zeit: Ein Geschehen, das sich auf der Grundlage der Individualisierung und Fragmentarisierung, der Globalisierung und des Versuchs eines Ausgleichs der sozialen Fragen in der Moderne unaufhaltsam entwickelt und seine Wege sucht. Kein technisch noch so rückständiger Staat konnte diese jeglicher ­Digitalisierung vorangehende Ausprägung von Digitalität eindämmen. Überall, wo er hinschaute, waren die Informationen schon da – überall, wo er sich um Kontrolle bemühte, die Zugänge schon geöffnet. Ausgehend vom kulturellen Wertewandel in den Gesellschaften des globalen Nordens und Westens ändert sich spätestens seit den 1960er Jahren die Art und Weise des Kommunizierens, des Liebens und des Arbeitens, des Verständigens und Aushandelns. Sie transformiert sich seit Jahrzehnten in Richtung von Digitalität. Da, wo digitale Angebote ab den 1980ern entstanden, war der digalitäre Bedarf längst da: Immer offenere und kollektivere Konzepte für Formen des Lebens und Arbeitens sind der Moderne spätestens seit den Lebensreformbewegungen und der künstleri-

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digitalität und theater

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schen Avantgarde des auszu trennenden Diskussiogehenden 19. Jahrhunderts nen entlang der Stränge tief eingeschrieben. Sie erDigitalisierung einerseits scheinen im Laufe des 20. und Governance andererJahrhunderts in den Geseits. Auch hier gilt: Practiwändern der unterschiedse What You Preach! Die digalitäre Frage nach Teilichsten eman­zipa­torischen Jugend- und Sozialbewelen und Z ­ ugängen von Dagungen. Ihre ge­danklichen ten und Informationen ist Berührungspunkte von der genauso politisch wie die Kybernetik über die frühe nach der WeiterentwickInformatik bis hin zu Künstlung des NV Solo oder dem probenfreien Samslicher ­ Intelligenz, Virtual und Augmented Reality im tag. Hinter der Bühne lässt sich nicht trennen Hier und Heute sind Legende. Als Treiber gesellvon auf und vor der B ­ ühne: Ein digitalisiertes ­Theater schaftlicher Veränderungen bahnten sie den Weg vom kann nur ein digalitäres Theater sein. Gadget über das Computing bis hin zur späteren In diesem Sinne gilt Philosophie des Internets es endlich, die Möglich­ oder der Social Media, der keiten der Digitalität nicht Tech-Konzerne des Silicon nur für die Kunst, sondern auch für die Arbeit an Valley und ihrer weltweit entstan­denen Epigonen ­die­ser zu nutzen. Wir müssen sprechen über: Mit­ und Gegenspieler. Es ist bestimmung und Beteilider heutige Netzaktivismus rund um den Angung, über Entwicklung und Aufbau von Digitalspruch einer UnversehrtJonas Zipf ist seit 2016 Werkleiter von JenaKultur, dem Eigenbetrieb der Stadt Jena für Kultur, Stadtmarketing und Tourismus. Ab August heit digitaler Identitäten à und Medien­kompetenzen, 2022 wird er Kaufmännischer Geschäftsführer auf Kampnagel Hamburg. la Chaos Computer Club über Co-Autor:innenschaft Foto Tina Peißker oder re:publica, der von und kollaborative Praxis, dieser Reihenfolge zeugt: über Writer’s und Com­­ Erst änderte sich das Beposer’s Rooms, über das Verhältnis von Home Office zur Probenarbeit, über Wiki-­ wusstsein, dann das Sein. Erst entstand digalitäres Denken, dann kam die Digitalisierung. Wissenstransfer zwischen wechselnden Theaterleitungen und -belegschaften, über Open-Source-Dispo-Software und die Ohne diese digalitäre Transformation sprächen wir heute Arbeit der Regieteams sowie Schau­ ­ spie­ ler:innen auf den gar nicht von agiler Arbeit oder New Work, von Netzwerkarbeit Clouds dieser Welt. Liegen nicht in Fragen wie diesen die oder flachen Hierarchien. Das gilt auch für die aktuellen Debatten eigentliche Fortschreibung und Weiterentwicklung des En­ und Machtfragen im Theater: Hier verlaufen keine voneinander semble-Gedankens? Darin besteht digalitäres Denken. Nicht ausschließlich und alleine in der Anwendung von Soft- und Hardwarekompetenzen auf den künstlerischen Proben- und Spielbetrieb, auf Marketing und Audience Development, die eigene Hospitality und Service-Mentalität. Es sind nicht nur die physischen Theatergebäude und das von ihnen ausgehende kulturelle Angebot, das sich neben die leeren Kirchen und brach liegenden Kaufhäuser der (Innen)Städte von morgen zu gesellen droht: Wenn die Entscheidungsträ­ger:in­nen des Theaters der Zukunft dieses Denken nicht jetzt verinnerlichen und auf die strukturelle Entwicklung von Personal und O ­ rganisation anwenden, dann werden sie neben den Bereichen des Sports und der Kirche zu den künftigen Dinosauriern der Governance zählen. //


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Ausschließlich digital Das Landestheater Detmold zeigt drei neue Onlinestücke in Zusammenarbeit mit John von Düffel und dem Studiengang Szenisches Schreiben an der UdK Berlin von Stefan Keim

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bgefilmtes Theater – man hat sich daran gewöhnt. Nicht nur in Pandemiezeiten. Videoaufzeichnungen sind eins von wenigen Mittel, um eine Ahnung der flüchtigen Kunstform Theater für die Nachwelt zu bewahren, sie sind geschichtliche Dokumente. In der Gegenwart überzeugen sie oft nicht so ganz, bleiben schlapper ­Ersatz für das Live-Erlebnis. Es gibt Ausnahmen, gerade während der Lockdowns. Das Landestheater Detmold geht nun andere Wege. Unter dem seltsamen Titel „UH? AH!“ – der tiefsinnige Dialog kommt in einem der Texte vor – präsentiert die Bühne auf

ihrer Webseite drei kurze Stücke, die extra für die digitale Welt entstanden sind. Geschrieben von Studierenden des Lehrgangs für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Mastermind hinter dem Projekt ist John von Düffel, der Branche bestens bekannt durch souveräne Roman- und Klassikerbearbeitungen, ein Vielgespielter, ein Pragmatiker. Er ist Professor an der UdK. Wenn seine Studierenden fragen, wie man Dramatiker wird, antwortet Düffel: „Indem man Stücke schreibt.“ Das digitale Theater in Detmold hat klare Vorgaben gemacht. Da sind zum einen die Schauplätze. Die Lkw-Garage des Theaters, ein sehr schmaler Gang, das Büro des Geschäftsführers. Die DramatiAndré Lassen in „Echtzeit-Komplizen“. Foto Marc Lontzek


digitalität und theater

kerinnen und Dramatiker müssen sich für einen Spielort entscheiden und dürfen nicht wechseln. Außerdem ist die Besetzung vorgegeben. Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler machen mit, jeweils in Paarungen, die von der Dramaturgie vorher festgelegt wurden. „Das war die Herausforderung“, erklärt John von Düffel. „Was fällt einem zu einer Grande Dame des Theaters und einem jungen Schauspieler ein? Oder zu zwei Schauspielern mittleren Alters.“ Die Stücke sollen ungefähr eine halbe Stunde lang werden, „ein Hybridformat ­zwischen Theater und Film“. John von Düffel nennt einen der ­großen Unterschiede zum Live-Theater: „Man kann sich, wenn man im Raum sitzt und auf die Bühne schaut, zwar näher heranfühlen. Aber man kann sich nicht näher heranzoomen.“ In der Stoffwahl waren die Studierenden frei. Sie sollen die Themen verhandeln, die ihnen wichtig sind, und die Beschränkung als Chance begreifen. „Man ist nur gut, wenn man leidenschaftlich ist“, sagt John von Düffel. „Vielleicht sind hier Keim­ zellen für größere Stücke entstanden.“ Doch zunächst geht die Blickrichtung ausschließlich ins Digitale. Die Webseite ist die Bühne. Düffel und die Studierenden haben diskutiert, ob sie Ka­ meraeinstellungen schon ins Skript schreiben sollen. Also mehr Drehbücher als Theaterstücke verfassen. Sie haben sich dagegen entschieden. Die Regisseurinnen und Regisseure – sie kommen von der Regieklasse der Folkwang Universität der Künste und damit aus der gleichen Generation – sollen kreative Freiheit haben. Ein gelungenes Beispiel ist „Garagenblues“ von Anaïs Clerc. In einer Werkstatt sucht die junge, leicht verpeilte Helena gerade nach ihrer Katze, als eine hektische Kundin hereinpoltert. Agathes Auto braucht dringend eine Überholung, was nicht durch Hand-

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auflegen oder Ölnachfüllen zu erledigen ist. Agathe ist gestresst, ihr kleiner Sohn kommt zu Besuch, sie ist geschieden, lange ­Geschichte. Helena leiht ihr ein Auto, einer Fremden, die sie ge­ rade erst kennengelernt hat. Schon die erste Szene hat Regisseur Alexander Vaassen mit dynamischer Handkamera gefilmt und zeigt, dass hier nicht nur die Bilder, sondern auch die Gefühle in Bewegung kommen. Ein zentraler Dialog findet im Chat per Smartphone statt, direkt abgefilmt, ein cellphone in the dark. Das alles sind filmische Mittel. Dennoch bleibt der Theatercharakter erhalten, durch die Einheit des Raums, auch durch die Sprache, die nicht im Realismus stecken bleibt, sondern oft leicht überhöht wirkt. Stella Hanheide ist als Werkstattbesitzerin Helena verträumt, ein bisschen weltentrückt, manchmal blendet sie sich einfach aus und zieht sich in ihre Gedanken und Fantasien ­zurück. Natascha Mamier wirkt als Agathe mehr in der Realität verwurzelt, doch auch sie hat Momente, in denen sie aus der ­Normalität herauskippt. Zum Beispiel wenn sie Helena eine erfolglose Liebeserklärung macht und diese Wort für Wort wenig später wiederholt. „Garagenblues“ erzählt eine zarte menschliche Begegnung in Abwesenheit der Katze, die für Helena bisher der zentrale Sozialkontakt war. Ein Stück über Einsamkeit und den Versuch, ihr zu entkommen. Auch Maleficent und Tigger kämpfen um einen Ausweg aus ihren festgefahrenen Leben. Sie haben eine Bank ausgeraubt und verstecken sich nun an einem absurden Nicht-Ort, in einem schmalen Gang. Immer wieder horchen sie an den Wänden, versuchen, Geräusche zu deuten. Sie haben nichts zu essen oder zu trinken mitgebracht, Maleficent hat sogar ihren Powerriegel ver­ loren. Dann entdecken sie Tiefkühltorten. Julia Herrgesell bedient

Patrick Hellenbrand und Gernot Schmidt in „Die Unzulänglichkeit der Dinge“. Foto Marc Lontzek

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Natascha Mamier und Stella Hanheide in „Garagenblues“. Foto Marc Lontzek

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sich in ihrem Stück „Echtzeit-Komplizen“ beim absurden Theater. Es gibt eine Menge surrealer Momente, einen Popsong, beide sprechen Monologe direkt in die Kamera, dann wechselt das Licht. Eine unterhaltsame Fingerübung mit offenem Ende, schönes Schauspielfutter für Kerstin Klinder als Maleficent und André ­Lassen als Tigger. Das Aufeinandertreffen der Generationen – sie könnte seine Mutter sein – könnte noch mehr ausgearbeitet ­werden, da bleibt es bei groben Skizzierungen. Ganz nah am Theater ist das Stück „Die Unzulänglichkeit der Dinge“ von Paula Kläy und Guido Wertheimer. Inhaltlich wie ästhetisch. Die beiden haben sich das Arbeitszimmer des Geschäftsführers im Landestheater als Spielort ausgesucht und zeigen dort einen ganz klassischen Dialog, ohne auffällige filmische Mittel zu nutzen. Der Text könnte ohne Probleme sofort als Ein­ akter auf einer Studiobühne gezeigt werden. Die Aufgabe des ­Projekts hat das Duo insofern nicht erfüllt, gleichwohl ist ein hochinteressantes Projekt dabei herausgekommen. Zwei Herren, ein Chef und ein Angestellter, pirschen zunächst umeinander herum. Erste, wenig überraschende Ent­ hüllung: Der Chef will seinen Angestellten feuern. Dann wird es kurios. Anscheinend arbeiten die beiden in einem Theater, das dringend junges Publikum haben will und in einem Umbauprozess ist. Das Alte wird entsorgt, um dem Neuen Platz zu machen. Und Herr Pierrot, der Angestellte, ist viel älter als er aussieht. Mit Bertolt Brecht will er noch zusammengearbeitet haben. Und sein größter Wunsch ist es, einmal das Kostüm der Schauspielerin ­Carola Neher, Brechts Wunsch-Polly aus der „Dreigroschenoper“,

zu tragen. Das hängt anscheinend im Fundus. Und dann kommt es zu einer im wahrsten Sinne des Wortes merk-würdigen Szene. Pierrot singt in diesem Kostüm mit traurigem Blick Brechts ­„Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens“. „Ja, mach nur einen Plan. Sei nur ein großes Licht. Und mach dann noch nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“ Der hinreißende Schauspieler Gernot Schmidt singt nicht schön, verfehlt manche Töne, aber sie kommen aus dem Herzen. Und der Chef ­(Patrick Hellenbrand) versteht. Am Ende sind die beiden in Rat­ losigkeit vereint. Wo soll es hin, das Theater, zwischen Poesie und Partizipation? Diese subtile Selbstreflexion junger Theatermenschen überrascht. Weil sie gegen den Trend zu stehen scheint, in dem ihre Generation gerade Theater begreift. Umso spannender und wertvoller ist sie, zumal Luis Liun Koch sie präzise inszeniert hat. Da ist es auch völlig egal, ob dieses Stück online oder auf der Bühne zu sehen ist. Ob es mit den technischen und ästhetischen Möglichkeiten der Digitalität spielt oder nicht. Paula Kläy und Guido Wertheimer haben etwas zu sagen, über die Vergangenheit und die Zukunft der Kunstform, der sie sich verschreiben wollen. Ob es sinnvoll ist, Stücke direkt für das digitale Theater zu schreiben, ob sich eine lebensfähige Kunstform zwischen Bühne und Film entwickelt, kann das Projekt des Landestheaters Detmold natürlich nicht beantworten. Wahrscheinlich wird es eine Rand­ erscheinung bleiben, falls keine neuen Lockdowns kommen. Allerdings ist es eine tolle Möglichkeit, auf Talente aufmerksam zu werden – wie in diesem Fall auf Paula Kläy und Guido Wertheimer. //


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Castorf nach Schiller, Schiller nach Castorf? Ein bombastischer „Wallenstein“ am Staatsschauspiel Dresden malt gewaltige Bilder in der Masse der Regieeinfälle von Michael Bartsch


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er stört uns noch in später Nacht?“ Als dieser Satz nach Mitternacht fällt, lachen nur noch wenige. Ein größerer Teil scheint die unfreiwillige Ironie gar nicht mehr mitbekommen zu haben, jedenfalls deuten schräge Sitzhaltungen darauf hin. Auf der Bühne des Dresdner Schauspielhauses entwickelt sich Frank Castorfs „Wallenstein“ immer mehr zu einem Stück für Souffleuse und zwölf Spieler, die bei aller Professionalität auch der extremen Belastung der finalen Probentage Tribut zollen müssen. Genug ist nicht genug, und angesichts stetig hinzugefügter Ideen-Accessoires war die Premiere am Gründonnerstag zugleich der erste Komplettdurchlauf. Chapeau gegenüber der Flüstermeisterin Angelika Bosse, die der Truppe rettend in alle möglichen Extrempositionen nachjagen muss. Ähnlichen Respekt verdienen die Fitnessübungen der drei Live-Kameramänner. Ungefähr halbieren wolle man den Schillerʼschen Text, hatte Staatsschauspiel-Chefdramaturg Jörg Bochow vorab erklärt. Also fünf bis sechs Stunden für alle drei Teile. Die Premiere dauerte eineinhalb Stunden länger. „Es ist ein Meer auszutrinken, und ich sehe manchmal das Ende nicht“, soll der Dichter über die Arbeit an seinem Großwerk gesagt haben. Bei dessen Castorf-­ Bearbeitung muss man schon von einem Ozean sprechen, meinetwegen dem Atlantischen. Denn um Europa, seine Zerrissenheit, seine Kriege, seine gegenseitigen Vergewaltigungen geht es. Der Dreißigjährige Krieg kann als Parabel dieser „Wunde Europa“ gelten. Das Programmheft druckt Notizen Castorfs aus der Konzeptionsprobe vom Februar, in der er diese Wendung gebraucht. Seine kenntnisreiche Montage historischer Ereignisse ­korrespondiert mit Fantasie und einer Assoziationskraft, die derzeit in der Ukraine für Zentraleuropäer schockierend noch von der grausamen Wirklichkeit übertroffen wird. Der lange Abend zerfällt denn auch in einen Schiller nach Castorf und einen Castorf nach Schiller. Der Regisseur bekennt sich ausdrücklich zum Fragmentarischen als Mittel beabsichtigter Irritation. Auch in Dresden entsteht zumindest im ersten Teil eine Kaskade von starken Bildern, die allerdings beim Publikum eine gute Stückkenntnis und mehr noch breite kulturelle und historische Bildung voraussetzt, um voll zu wirken. Linke Seite: Fanny Staffa, Jannik Hinsch, Torsten Ranft, Marin Blülle, Moritz Kienemann, Henriette Hölzel, Nadja Stübiger, Daniel Séjourné, Kriemhild Hamann in Castorfs „Wallenstein“. Foto Sebastian Hoppe Götz Schubert, Nadja Stübiger, Torsten Ranft, Kriemhild Hamann, Fanny Staffa in „Wallenstein“ am Staatsschauspiel Dresden. Foto Sebastian Hoppe

schauspiel dresden

Im ersten Teil kommt es auf dieses Wissen besonders an, will man sich am Castorfʼschen Kosmos delektieren. Noch nicht im langen, fürchterlichen Prolog aus dem „Lager“, der für sich spricht und vielleicht als das Bild der Inszenierung schlechthin im Gedächtnis bleibt. O Körper voll Blut und Wunden, das Haupt bedeckt mit anonymisierenden uniformen Masken! Die nackten, geschundenen Körper, das Menschenmaterial des Krieges präsentiert sich unmissverständlich. Die Verfremdungen und Kollisionen lassen aber nicht lange auf sich warten, wenn im selben Aufzug über den Sinn des Theaters sinniert wird, darüber, „euch aus des Bürgerlebens engem Kreis auf einen höhʼren Standpunkt zu versetzen“. Man verfällt in mittelhochdeutsche Anklänge, in unartikuliertes Neusprech, ­später ins sächsische Idiom, lallt oder stammelt barbarisch. Nicht alles ist zu decodieren, die genussvollen Seitenhiebe auf die nach den Sternchen greifenden Gender-Sprachtürme kommen hin­ gegen kabarettistisch direkt. Ebenso Castorfs Kalauer-Klassiker „Ne Villa willʼa“. Was original bei Schiller im „Lager“ zur Kriegsstimmung und zu Kriegsfolgen für unterschiedliche Gruppen palavert wird, hat die Regie zu einem Rundumschlag über Jahrhunderte und Schauplätze eingeladen. Da passen alle Barbareien hinein, in die die vermeintlichen Hochzivilisationen Europas zurückgefallen waren und sind. Das geht unter die Haut, wird zuweilen von ­witzig bis zynischen Einfällen begleitet und lässt nicht bemerken, dass die ersten drei Spielstunden ohne Pause vergehen. Zuerst Deutsche und Polen. Hans Frank wird zitiert, „Generalgouverneur“ nach dem Nazi-Überfall und einer der Angeklagten und Hingerichteten im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Während er das Recht des „Herrenvolks“ beansprucht, sangen im selben Geist schon einen Krieg früher Soldaten das Lied „In einem Polenstädtchen“, eine Demokratie später der Schlagersänger

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aktuelle inszenierung

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ein gefühltes Drittel des Bühnendramas spielt im Kino – nur ohne Popcorn im Parkett. Hier wird Kriegsrat gehalten, werden Fäden und Netze gesponnen, wird geliebt und geboren. Die Nahkamera verfolgt die Akteure auch sonst ständig und zoomt sie in allmählich ermüdender Weise heran.

Exzessives Spiel

Götz Schubert in der Titelrolle. Foto Sebastian Hoppe

Heino. Milder kommen die gar nicht so „gemiedlichen“ Sachsen weg. Deren berühmter starker Kurfürst August erkaufte sich 1697 die polnische Krone. Er klagt nur über ein undankbares Volk, ­darüber, es sei „schwierig, ein katholisches Volk zu regieren“. Die „Gustl von Blasewitz“ ist indessen nicht nur eine Konzession an die Dresdner Gastgeber, sie kommt bei Schiller tatsächlich als Marketenderin vor. Das Spiel mit dem Makabren gehört zum Prinzip. Wenn die drei Musketiere parodiert werden. Oder wenn vier Panzer Auto­ scooter spielen, altes Kriegsgerät, das man vielleicht „noch irgendwohin schicken kann“. Kaum entschlüsselt trägt Jannik Hinsch anfangs eine ukrainisch-nationalistische Uniform, hohe Stiefel, schwarze Pluderhosen, der nach vorn hängende kurze Zopf. Castorf ist kein Mann verkopfter Abstraktionen, lässt auch einen ziemlich echt aussehenden Gaul reiten, und das Bühnenbild seines Vertrauten Aleksandar Denić folgt dem. Ein naturalistischer Feldherrenhügel mit Aussichtsplattform dreht sich auf der Bühne, erreichbar per Seil. Obenauf sind Spieße und Standarten gepflanzt. Der Hügel erweist sich auf der Rückseite als Dach eines Sternenhimmelpavillons nach Motiven des im 19. Jahrhundert vom Astronomen Flammarion entdeckten mittelalterlichen Holzstichs mit der charakteristischen siebenzackigen Sonne im Zentrum. Es geht um den „pelerin“, den Pilger am Weltenrand. Verdeckt wird er meistens von einem gelben Vorhang mit einem Adlersymbol, der aber streng genommen ein geteilter Adler und kein womöglich Habsburger Doppeladler ist. Weil alles metaphorisch aufgeladen ist, hat man auch hier zu grübeln. Wichtiger aber als das klassische Bühnenbild ist ein barockes, jedenfalls nobles Hinterzimmer irgendwo backstage, das auch aus dem benachbarten Taschenbergpalais der Gräfin Cosel stammen könnte. Bei Castorfs Videomanie unverzichtbar, denn

Das Dutzend Spieler selbst scheint indessen lange unermüdlich. Das Mindeste, was man Castorfs erster Dresden-Beglückung abgewinnen kann, ist seine geradezu hypnotische Erweckung des Ensembles. Nicht, dass es sonst bei irdischen Regisseuren phlegmatisch über die Bretter schliche. Aber es scheint, als hätten einige Spieler nur darauf gewartet, derart herausgekitzelt zu werden. Wie entfesselt hätten manche gespielt, meinte ein Besucher. Voran Nadja Stübiger, die als Herzogin oft geradezu explodiert. Henriette Hölzel steht ihr vor allem als Marketenderin kaum nach, fügt noch eine laszive Komponente hinzu. Exzessiv bis zum Schluss zeigt sich auch Jannik Hinsch als Illo. In Torsten Ranft begegnet man hingegen einem eiskalt-gefährlichen Vater Piccolomini. Frank Büttner hat als Berliner Gast einen ergreifenden Kapuziner-Monolog. Die Wallenstein-Hauptrolle legt Vergleiche mit Dieter Mann in der Dresdner Hasko-Weber-Inszenierung von 1999 nahe. Wirkte jener würdevoll und kaum wie der erste Schlächter im Felde, so erscheint Götz Schubert durchweg als gebremst, als unsicherer Zweifler und Ringender. Die Facette des cleveren Kriegsunternehmers tritt kaum hervor. Trotz eindring­ licher Auftritte gewinnt die Figur kaum ein klares Profil. Eindringlich darf diese viel beachtete Inszenierung überhaupt genannt werden. Durchaus erwartet, wobei Quantität nicht immer mit Qualität korrespondiert. Auch die Begegnung der ­Liebenden Thekla und Max wird noch gebrüllt, ihr Lied zuvor im roten Kleid gehörte zu den wenigen innigen Momenten der­ sieben Stunden. Die permanente Forcierung erschöpft sich mit der Zeit. Auch die Ausstattung fügt sich in einen Abend der Extreme ein. Mit rund 12 000 Euro lagen die Kosten für die gewiss fantasievollen Kostüme von Adriana Braga Peretzki beim Drei­ fachen des Üblichen. Mit der Intensität ist es dann spätestens ab der zweiten Halbzeit meist vorbei. Zuvor ließen sich spät erst Figuren überhaupt erkennbar zuordnen, nun hält sich Castorf erstaunlich ­konsequent an den Originaltext. Allerdings ohne für weniger vorgebildete Zuschauer die Fäden des Ränkespiels um den großen Feldherrn und seine Eitelkeiten plausibler zu machen. Die vielen kleinen Stücke im komplexen Drama muss man nach wie vor selbst montieren. Es bleibt dabei eine launige Beobachtung, wie gebundene Sprache auf maximale Regiefreiheit trifft. Überflüssig bleibt das aufgesetzte Finale. Wie im Vorherbst beim „Tartuffe“ von Volker Lösch wird eine kollektive Schluss­ predigt als Rampentheater nachgeschoben. So, als misstraue auch ein Frank Castorf selbst der Wirkung seiner gewaltigen Bilder und damit der Auffassungsgabe des Publikums. Also noch zehn Minuten hintendran agitatorisches Pathos gegen das indigenen Völkern angetane Unrecht. „Wir wollen Rebellen sein!“, schallt es so flammend wie noch möglich in den Jugendstil-Saal. Spätnachts nicht mehr unbedingt. Wir haben trotzdem verstanden. //


PHOTO: ©FRIEKE JANSSENS, PEARL TURNSTER

BAD ROADS UA Left Bank Theatre, Kiew/Ukraine Regie: Tamara Trunova

werther.live UA Punktlive Regie & Konzept: Cosmea Spelleken

RADIKAL JUNG

KARNEVAL UA Theater Oberhausen Regie & Konzept: Joana Tischkau MOWGLI UA Konzept, Choreografie, Performance: Sorour Darabi IDENTITTI UA Düsseldorfer Schauspielhaus Regie: Kieran Joel GYMNASIUM UA Münchner Volkstheater Regie: Bonn Park CIVILISATION UA Antler Regie: Jaz Woodcock-Stewart KARADENIZ UA caner teker / Parasites Projekct Konzept, Performance, Choreografie: caner teker IT’S BRITNEY, BITCH! UA Berliner Ensemble Regie: Lena Brasch DIE JUNGFRAU VON ORLEANS Nationaltheater Mannheim Regie: Ewelina Marciniak www.muenchner-volkstheater.de

tumblinger 29

K ARTEN 08 9. 5 23 46 55 · WWW.MU E NC HNE R -VOLK S T HE A T E R. DE

WE ARE IN THE ARMY NOW UA Onassis Stegi, Athen, Griechenland Regie: Elias Adam


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Shakespeares Spielmacher Berlin, Mannheim, Weimar: Christian Weise inszeniert die Welt als Bühne und die Bühne als eigene Welt von Michael Helbing


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hristian Weise sitzt Anfang April im Nationaltheater Weimar und kriegt die Krise. Zum einen, da ihm soeben mal wieder seine „Buddenbrooks“-Premiere platzte, die in der Pandemie schon mehrfach ausgebremst wurde und nun einiger CoronaFälle im Ensemble wegen erneut auf unbestimmte Zeit gleichsam in Quarantäne geschickt wird. Zum anderen, da ein TdZ-Gespräch über Shakespeare, das sich anstatt einer Endprobe ereignet, ­unweigerlich zur Rezeption seiner „Queen Lear“ gelangt, die im Februar mit Corinna Harfouch in der Titelrolle am Berliner GorkiTheater herauskam, nachdem man auch dort mit dem Virus arg zu kämpfen hatte. Von Albernheiten und Blödeleien war nicht zum ersten Mal in Kritiken zu lesen, mit denen Weise demnach die poetische ­Fallhöhe Shakespeare’scher Lebens- und Liebeskrisen wahlweise unterläuft oder zudeckt. Und von: Klamauk. „Ich hasse diese ­falsche Benutzung des Wortes“, bricht es aus dem Regisseur heraus. „Herbert Fritsch macht Klamauk, und zwar als große Kunstform! Laurel und Hardy haben Klamauk gemacht. Ich kann so was gar nicht!“ Ein anderes „Lieblingsschimpfwort“ für seine Inszenierungen: Trash. „Es gibt großartige Trash-Künstler!“ Er zählt sich aber keineswegs dazu. Weise nähert sich einem Shakespeare-Stück eben nur ­komödiantisch, schon deshalb, weil ihm das ganze Leben wie eine Komödie vorkommt („Wenn ich in der S-Bahn sitze, muss ich ­lachen.“). Außerdem wollen die Leute doch unterhalten werden; das war im Globe Theatre auch nicht anders. Dabei ist es egal, ob es sich um eine Komödie oder Tragödie handelt, eine Zuschreibung, die letztlich ohnehin ja nur ans Ende denkt, nicht aber an den Verlauf, in dem das eine stets so sehr vorhanden ist wie das andere. Oder wie Weise es formuliert: „Du hast bei Shakespeare immer die ganze Welt!“ Wenn er sich in „Wie es euch gefällt“ diese ewige Suche nach Liebe betrachtet, könnte er heulen. Und wenn Svenja Liesau jetzt als in Sister Eddi verwandelter Edgar durch die „Lear“-Heide wackelt, uns was von „Pullermann und Pillermann“ erzählt sowie in drei verschiedene Dialekte fällt, dann orientiert sich das sehr am Originaltext, den Soeren Voima hier nur neu fasste. Doch das ist wohl so ungefähr das Prinzip: Christian Weise spannt eine lustige Folie über die Stücke, die uns derart in vergnüglicher Sicherheit wiegen und Läppisches vorgaukeln. Er dehnt diese Folie bis zum Gehtnichtmehr, irgendwann reißt sie planmäßig. Dann droht uns Gefahr, dann befallen uns Traurigkeit oder Melancholie, dann ist plötzlich doch mal Schluss mit lustig. In „Queen Lear“ kommt diese Folie als Filmleinwand daher. Weise, der „diese ganze Kamera-Scheiße“ im Theater seit den Neunzigern überhaupt nicht mochte (von Frank Castorf an der Volksbühne mal abgesehen), schickt seit 2020 bereits „Hamlet“ ins Kino, im Container vor dem „Gorki“: Horatio dreht als New Yorker Filmregisseur in Deutschland (Oscar Olivo) in bemalten Pappkulissen von Julia Oschatz. Vor allem Hamlet (Svenja Liesau)

Svenja Liesau, Corinna Harfouch, Oscar Olivo in „Queen Lear“ am Maxim Gorki Theater. Foto Ute Langkafel MAIFOTO

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tritt wiederholt aus dem Livestream und also aus dem faulenden Staat heraus sowie hinter der eisernen Wand hervor, auf der das läuft. Nun sehen wir, in den ersten 75 Minuten eines Drei-Stunden-„Lear“: eine „Star Wars“-Parodie, übertragen aus extraterrestrischen Räumen einer geschlossenen Gesellschaft, die wiederum Julia Oschatz im Videostudio direkt hinter der Leinwand einrichtete und unter der wir Schauspielerfüße auf- und ab-, ein- und heraustreten sehen. Shakespeares Geschichte aus grauer Vorzeit landet so in einer im Grunde auch schon wieder vergangenen ­Zukunft. Sofern unter dieser überhaupt noch der Subtext „Möge die Macht mit dir sein“ liegt, dann nur als frommer Wunsch, mehr noch als Zeichen der Verblendung und der Heuchelei. Ein solches Szenario folgt Weises Vorstellung, Shakespeare eröffne uns einen derart „universellen Kosmos“, dass man eine eigene Welt entwerfen und in seine Stücke setzen kann. Es sind zumeist in sich geschlossene Welten, die Weise da errichtet und einrichtet, aber nur, um sie dann zu zerlegen, nicht zu zertrümmern. „Das schafft Assoziationsräume.“ Lears Vertrauter Kent übersetzt uns das in die „Trigger­ warnung“, hier könne gleich alles ziemlich aus dem Ruder laufen. So geschieht es später auch, was ein großes Glück ist. Auf der Leinwand bricht zunächst ein Krieg der Gendersterne aus, in dem unter anderem Bastard Edmund (Aram Tafreshian) um die Vorherrschaft des männlichen Geschlechts ringt: „Ich bin, was ich bin, aus eigenem Entschluss!“. Derweil folgt Kent einem gleichsam Shakespeare’schen Motto: „Verkleiden, um man selbst zu sein.“ Aus ihm wird, in der Verbannung, der/die/das „Barbie Ken(t)“: keine Frau, aber eine „menstruierende Person“. Hier begeben wir uns auf die Spur inszenierter Kritik an Shakespeares Männer- und Frauenklischees, die Weise ebenso verlässlich mitliefert wie das diesen Stücken ohnehin immanente Spiel mit Geschlechterrollen. Dass Corinna Harfouch dabei, anders als in früheren Kollaborationen mit dem Regisseur, ebenso wenig einen Mann spielt wie ihre Schwester Catherine Stoyan als Gloster, verdankt sich dem Umstand, dass das gar nicht mehr notwendig erscheint. Der Frauenfeindlichkeit, die Weise im „King Lear“ entdeckte, begegnet Weise andernorts: indem er aus dessen Töchtern Regan und Goneril Söhne macht, auf dass sie ihm nicht zu bösen Bitches geraten. Wenn Shakespeares Stück zum Stillstand kommt und fortan draußen durch die Heide irrt, beginnt in Berlin das große ­Theater. Die Leinwand hebt sich und gibt den Blick auf eine karge Bühne frei, wo auf die hermetische Stringenz der Filmperspektive ein wildes und raues Spiel folgt. In dessen Zentrum prallen zwei Generationen und Spielweisen aufs Schönste aufeinander, aber nicht aneinander ab. Im Bettlergewand spielt Svenja Liesau als Gloster-Tochter Eddi „aus Angst den Irren“ und ergießt einen ­altklug-blöden Redeschwall auf Lear, die aus dem Darth-VaderGanzkörperanzug ins Büßergewand wechselte. Daraus wird ein grandioses Duett beredter Verständnislosigkeit. Der Abend zerfasert aufs Schönste, wankt durch tragikomische Gegenden einer Endzeit- und Untergangsstimmung ent­ gegen und gibt aller Inkonsequenz sinnbildlichen Raum, getragen von der Theaterenergie, die ein vorzügliches Ensemble mit höchster Konzentration und Hingabe erzeugt.

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protagonisten

Dass dies äußerer Umstände und diverser Probenausfälle wegen, die die Premiere sich um zwei Tage verspäten ließen, ein unfertiger Abend geworden wäre, bestreitet Christian Weise vehement. „Ich würde doch keine Premiere machen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass da was zusammengekommen ist. Ich bin Puppenspieler! Die Fäden müssen gezogen sein!“ Hier rührt er en passant an einen Kern. Er betrachtet seine Figuren, nicht aber seine Schauspieler als Puppen: als Typen mit bestimmten Eigenschaften, die lesbar werden müssen. Christian Weise aus Eisleben, Jahrgang 1973, studierte an der Ernst-BuschHochschule Puppenspiel und stieß zur Truppe um Tom Kühnel und Robert Schuster. Danach wechselte er selbst auf den Regiestuhl. Sein erster Shakespeare: „Der Sturm“, 2002, eine Koproduktion des Puppentheaters Halle/Saale mit dem Kölner Schauspiel. Traugott Buhre spielte in der gemeinsamen Inszenierung mit Christian Tschirner (alias Soeren Voima) mit Puppen. Ein kleines Puppentheater stellte Weise auch dem Prospero seines zweiten „Sturm“ zur Seite, 2016 in Darmstadt, wo die Gestrandeten auf der Insel in riesigen Strickkostümen zu großen Marionetten wurden. Und die Puppe Puck bildete sich in Weises „Sommernachtstraum“ ein, Max Reinhardt zu sein (2007 mit Corinna Kirchhoff, Robert Hunger-Bühler und Michael Maertens bei den Salzburger Festspielen und in Zürich). Weise begreift das Theater als großes Spiel, nicht nur, aber gerade bei Shakespeare, der die Bühne als Ort immer vorkommen lässt und nicht minder den Schauspieler, der eine Rolle spielt. ­Dafür entwickelt der Spielmacher Weise regelmäßig besondere, nun ja, Spielweisen. „Das ist eine große Qualität, die ich sehr an

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Susanne Wolff und Corinna Harfouch als König und Lady Macbeth und Oscar Olivo als Banquo in „Macbeth“ am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz

ihm schätze“, sagt zum Beispiel Christian Holtzhauer, „dass er sich immer seiner Aufgabe als Regisseur bewusst ist, ein Gerüst zu bauen.“ Erst das ermöglicht Schauspielern, sich im Sinne der gemeinsamen Arbeit freizuspielen, ohne dass die Aufführung deshalb zerfiele. Der Dramaturg Holtzhauer arbeitete mit Weise bereits in Stuttgart und holte ihn, als er dort Schauspielintendant wurde, zwar als Hausregisseur nach Mannheim, aber bislang kaum als Shakespeare-Regisseur. Es ergab sich allerdings recht kurzfristig ein „Macbeth“ auf dem Mannheimer Theater-Truck, von Aus­ statterin Paula Wellmann im Corona-Lockdown entwickelt: Das wurde eine Art Kaspertheater für Schauspieler, sehr reduziert und wie ein Comic gezeichnet. Dem Vernehmen nach hob das stark auf die Jarry-Ebene des „König Ubu“ ab. Die spielte bereits 2018 eine Rolle, als Weise und Oschatz „Macbeth“ fürs letzte Weimarer Kunstfest unter Christian Holtz­ hauer kunstvoll ausmalten und überzeichneten. Schon hier ging es um Kleinbürger, die ganz nach oben wollen und dann gar nicht wissen, was sie dort wollen sollen. Das auf den Kern reduzierte Personal steckte in Fettanzügen mit hängenden Brüsten und Pimmeln: dick angezogen, waren sie alle nackt, zur Kenntlichkeit entstellt. Im Zentrum des überwältigend aufspielenden sechsköpfigen Ensembles: Susanne Wolff zunächst als Macbeth mit Angstschiss


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auf dem Lokus und Corinna Harfouch als dessen Lady dahinter, die ihm alle Gewissensflausen austreibt. Nach dem ersten Morden ­sowie einer clownesken Klopperei untereinander wechselten sie die Rollen, nicht aber deren Prinzipien: Die Skrupel blieben auf Wolffs Seite, nun als Lady, das Gewissenlose auf der Harfouchs. Dem lag die Heiner-Müller-Fassung von 1972 zugrunde, flankiert vom alten Marx-Wort, Weltgeschichtliches ereigne sich das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Und diese Farce spielte grandios in einem Weimarhaus als begehbarer Kulisse, mit dem Foyer des Nationaltheaters, dem Juno-Zimmer des Goethehauses und der Küche des Bauhaus-Musterhauses. Die Lady servierte Pizza aus den Buchenwald-Öfen von Topf & Söhne. Shakespeare bedeutet bei Weise: sich verkleiden, sich was vorspielen (sich selbst und anderen). Das Leitmotiv muss lauten: „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.“ Das stammt aus „Wie es euch gefällt“, 2021 fürs Weimarer Sommertheater inszeniert, als große Drag-Show mit lauter Städtern, die das Landleben versuchen. Angeblich verwendete ja schon Shakespeare „Drag“, als Abkürzung für „dressed as girl“ im Elisabethanischen Theater ohne Schauspielerinnen. In dieser Tradition hatte Weise 2010 in Stuttgart „Was ihr wollt“ mit acht Männern besetzt. Da spielte also einer eine junge Frau, die sich als Mann verkleidet, in den sich eine Frau verliebt, die von einem Mann gespielt wird … Unter freiem Weimarer Himmel ging es nun noch etwas verrückter zu. Aus Shakespeares Männern in „Wie es euch gefällt“ wurden von Männern gespielte Frauen. Und umgekehrt: aus Rosalind zum Beispiel also ein Rosalund, der sich, von Nadja Robiné gegeben, als Ganymaid (statt Ganymed) verkleidet.

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Fabian Hagen als Orlanda in „Wie es euch gefällt“ am Deutschen Nationaltheater Weimar. Foto Candy Welz

Weise verkehrte Klischees in ihr Gegenteil: Frauen als s­ tarkes Geschlecht, Männer als Angsthasen. Hier herrschte mit größter Selbstverständlichkeit das Matriarchat, darinnen jedoch kein wildes Durcheinander, sondern eine neue Ordnung. Es fehlte über weite Strecken ein irritierendes Moment. Denn so selbstverständlich ist natürlich nichts beim Suchen und Finden der Liebe wie der eigenen Identität. Dann aber trat Thomas Kramer als O ­ rlandas Schwester Olivia auf, ließ sämtliche Hüllen fallen und stand plötzlich als Frau mit Pimmel zwischen den Geschlechtern. Den „Kaufmann von Venedig“ richtete Weise 2015 in Darmstadt als Mysterienspiel ein, mit Tina Keserovic als Antonio und auch Jessica sowie Catherine Stoyan als Shylock und Lorenzo. Für Paul Brodowskys Neuübertragung von „Maß für Maß“ recherchierte das Weise-Ensemble 2011 im Rotlichtmilieu des Stuttgarter Leonhardsviertels und improvisierte daraufhin die Rüpel-Szenen in Shakespeare’scher Tradition nach Sätzen von Zuhältern und Prostituierten neu zusammen. „So schön kann Werktreue sein“, hieß es daraufhin in einer Kritik. Das Programmblatt zum Berliner „Hamlet“ zitiert die ­Heiner-Müller-Rede „Shakespeare. Eine Differenz“ von 1989: „Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere ­Stücke schreibt.“ Weise offenbart uns diese Differenz in seinen Stücken, er feiert sie aber auch, als wollte er uns sagen: Wir werden wohl erst am jüngsten Tag bei uns angekommen sein, und solange ist das Theater ganz bei sich, wenn es bei Shakespeare ist. //

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bayerische theatertage

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Rollladen zu, Vorhang auf Aus Bayerns alten Theatertagen ist in Bamberg ein neues Festival geworden von Michael Helbing

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ollläden rasen, ratschen, rattern wie Guillotinen oder ­ ackenschüsse rauf und runter zur Eröffnung dieser 38. Baye­ N rischen Theatertage: in der Uraufführung „Kängurus am Pool“, geschrieben von Theresia Walser im Auftrag des gastgebenden ETA Hoffmann Theaters. Diese Rollläden gelten als „Überreste der Zugbrücken“, nur dass rauf und runter ihre Bedeutung vertauschten. Zur Not tut aber auch ein breiter geschlossener Lamellenvorhang seinen Abschottungsdienst, vor dem uns tags darauf die zum Triptychon aufgeklappte Persönlichkeit einer zur Empathie unbegabten jungen Frau drinnen „das sogenannte Draußen“ erklären will, obwohl es ihr selbst nichts mehr sagt: in Sibylle Bergs „Und jetzt: die Welt!“ vom Mainfranken Theater Würzburg. In Walsers Stück hat der Handelsreisende Ellrod immer ein kleines Messerchen dabei: „Falls ich mir irgendwo die Pulsadern aufschneiden muss.“ Bergs Frau berichtet vom früheren gewalttätigen Leben etwa so: „Gemma ritzte sich, ich die Nachbarskinder. Das Messer haben wir uns geteilt.“ Walser lässt eine Pistole im Postpäckchen anliefern, die ein dementer Zahnarzt unerwartet auf die Hausgemeinschaft richten wird. Nicht in Bergs Text, aber in dessen Würzburger Inszenierung holt die junge Frau am Ende eine Pistole aus dem Geburtstagspäckchen für ihren in den Keller gesperrten Ex-Stiefvater, der auch wir alle sein könnten, und bietet sie mit vergifteten Liebesgrüßen für den finalen Rettungsschuss an. Derart fallen in der Disposition zwei Theaterereignisse (von insgesamt 30 an 16 Tagen) im Programm zufällig zusammen: auch räumlich benachbarte Stücke, auf Großer Bühne und im Studio, als kommunizierende Erschöpfungs- und Erlösungsfantasien zur Lage der Nation in selbst gewählter oder von Umständen Antonia Bockelmann, Philine Bührer und Marie-Paulina Schendel in der Uraufführung von Theresia Walsers „Kängurus am Pool“ im Rahmen der Bayerischen Theatertage am ETA Hoffmann Theater Bamberg. Foto Martin Kaufhold

verordneter Isolation. Walsers Hausgemeinschaft lebt mehr schlecht als recht mit den Folgen von Pest und Lieferengpässen. Solcher Fluch erschiene Bergs Figur als Segen: „Wir sollten da draußen alle nicht mehr mitmachen“, fordert sie. Auf- oder ­Ausbruch werden aber hier wie dort auf ein ungewisses Morgen vertagt. Das sind bemerkenswerte Signale zum Auftakt dieser Theatertage, wie sie der Bühnenverein dem Freistaat seit 1983 beschert: ein Jahr später zum ersten, in diesem Mai zum siebten Mal in und von Bamberg ausgerichtet. Sollten sie doch auch vom Neu- und Wiederdurchstarten künden, nachdem eine Pandemie aus- und das Theatergeschäft einigermaßen einbrach. Endlich wieder volle Häuser und uneingeschränkte Begegnung von Angesicht zu ­Angesicht. Bestandsaufnahme, Leistungsschau, Selbstvergewisserung. Viel neue Zuversicht. Und dann Botschaften wie diese: „Wir leben in einer ab­ gespielten Welt.“ Theresia Walser beschreibt „dies Theater mit Namen Leben“, dem sie Texte ablauschte, um sie zu Szenen zu verdichten, in denen das Theater als Metapher, Referenzort, Spiel­ ebene reüssiert – und der Hornist eines aufgelösten Opernorchesters als Paketbote umherirrt. Die arbeitslose Architektin Elly fühlt sich im Innenhof wie auf einer Bühne: „Fehlt nur, dass ich mich noch verbeuge.“ Was das Leben betrifft, beansprucht sie keine Hauptrolle mehr: „Auf der Bühne kann man auch noch stehen, wenn man nicht mehr an der Rampe steht.“ Herr Ellrod rechnet mit Krisenopfern: „Wer weiß, wer da noch auf der Bühne steht, wenn der Vorhang sich wieder öffnet?!“ Der verunsicherte Ver­ sicherungsmakler Säm bezweifelt, „ob es dann überhaupt noch eine Bühne gibt“. Immerhin gibt oder gäbe es da ein Sprungbrett, das reichlich ungenutzt übern offenen Orchestergraben ragt. Bambergs Intendantin Sibylle Broll-Pape als Regisseurin und ihre Ausstatterin Trixy Royeck setzen hier den Stücktitel ins Bild: zwei Kängurus am Pool, mit Longdrinks im Liegestuhl. Sie sind Sinnbild eines absurden Aufstiegsversprechens, manifestiert in kürzlich zu Reichtum gelangten Mietern, die in eine Villa zogen und nun den Tratsch im Treppenhaus befeuern. Ansonsten redet man gepflegt aneinander vorbei. Viele ­Dialoge, wenig Dialog. Ein jeder nur des anderen Stichwortgeber in diesem aufgeschnittenen Mehrfamilienhaus, das Royeck im

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festival

Patchworkstil verschachtelt auf die kleine Drehbühne zimmerte. Routiniert rotiert es zwischen den Szenen: eine Spieluhr im Walzertakt des Musikers Ingmar Kurenbach, der auch eine Steel-­ Gitarre derart einspielte, dass vorm inneren Auge Tumbleweed durch die entleerte Gegend rollt. Die Bewohner huschen dazu durch Flure, verschwinden hinter Türen, haben nichts zu tun und sind sehr geschäftig dabei. Ihre Leichen liegen nicht im Keller. Ein Bankangestellter nahm sich im obersten Stock den Strick, ein verschwundener Sohn wirkt lebendig noch im Tod, derweil Ellrod wie Norman „Psycho“ Bates eine siechende, aber lebende Mutter vortäuscht – so wie diese Inszenierung insgesamt mit vorgetäuschter Lebendigkeit umzugehen hat. Sibylle Broll-Pape verweigert uns die falsche Spur einer Art Screwball-Komödie, die mit Walsers pointierten Dialogen frech auszulegen auch möglich wäre. Sie setzt auf eine gekünstelte Welt, wobei oft unklar bleibt, was Konzept, was Mangel sein könnte. Es herrscht ein (bewusst gesetzter?) falscher Ton, wenn etwa unvollendete Sätze ohne Auslassungspunkte gesprochen werden: Wo noch etwas kommen können sollte, mag das heißen, kommt definitiv nichts mehr. Punkt. Größtes Interesse im Ensemble von fünf Frauen und vier Männern mag Clara Kroneck als soziophobe Lehrerin Sonja stiften; sie saugt Galgenhumor aus schlechter Laune. Sie trifft sich darin gewissermaßen mit Anouk Elias, Jojo Rösler und Sina Dresp, die in der Würzburger Sibylle-Berg-Inszenierung Kulturkritik aus

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Vincent Glander und Florian von Manteuffel in „Cyrano de Bergerac“ vom Münchner Residenztheater, eingeladen zu den Bayerischen Theatertagen nach Bamberg. Foto Birgit Hupfeldd

soziophober Position entäußern. Die sogenannte Textfläche einer bipolaren Persönlichkeit gerät in Catja Baumanns Inszenierung furios zum tripolaren Monolog, in einer wütenden Revue der Sehnsucht nach Liebe, die in Hass umschlägt. „Während des Textes wird gefilmt“, heißt es bei Berg. Es gibt darin Chats, SMS, Telefonate. Und in dieser Inszenierung: keine Kamera, keinen Bildschirm, nur einen Overhead-Projektor. Die digitale Verbindung ins Draußen wird hier, unterstützt von Licht und Klang, einfach erspielt – und diese Aufführung somit zum starken Kontrapunkt in den Bayerischen Theatertagen, die auch pandemieverstärkten Trend zur neuen Form aufnehmen. Wolfgang Maria Bauer und Stefan Tilch zeigten ihren Theaterspielfilm „Die Ehe des Herrn Bolwieser“, der im Lockdown am Landestheater Niederbayern entstand. Die Münchner Kammerspiele waren digital vertreten: mit Luis Krawens Videoinstallation „The Shire“ vor dem Theater und Jan-Christoph Gockels live auf Bambergs Bühne gestreamtem Deutschland-Togo-Abend „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten – Eine Erwiderung“. Das Kollektiv punktlive aus Freiburg im Breisgau bot online seine interaktive Social-Media-Version zu Tschechows „Möwe“ an, koproduziert vom Staatstheater Nürnberg. VR-Brillen, auf denen David


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Mamets Machtspiel „Oleanna“ im Prunksaal einer historischen Bibliothek und vor dem Hühnerstall ausgefochten wird oder Einar Schleefs kurzer Monolog „14 Vorhänge“ das leere, entkernte Theater befragt, entsendete das Staatstheater Augsburg (siehe ­ auch TdZ 4/2021). Man wollte „digitale Formen in der Gemeinschaft erproben“, so Bambergs Leitende Dramaturgin Victoria Weich. Und sei es nur, wie im Falle Augsburgs, durch den Austausch danach. Weich, die zum Ende der Spielzeit nach Münster wechselt, spricht für ein fünfköpfiges Auswahlgremium, das seit dem Frühsommer 2021 insgesamt 100 Sichtungen tätigte. Das ist neu. Nach 2018 wechselten die Theatertage vom Ein- in den Zweijahresrhythmus sowie nun in die Form des kuratierten Festivals. „Das bringt den Diskurs nach vorne“, erhoffte sich auch Weich. Zuvor entsendeten Bühnen, was ihnen dispositorisch und/ oder hauspolitisch in den Kram passte. Bereits für die Theatertage 2020 am Landestheater Schwaben in Memmingen war das Programm derart ausgewählt worden, bevor es der Pandemie zum Opfer fiel. Auch mit der Sichtung für Bamberg ist man noch mal „voll reingebrettert in die Corona-Einschränkungen“. Zudem standen oft auf Abstand inszenierte Abende sowie kleine und kleinste Besetzungen zur Auswahl. Pandemieunabhängig kommt hinzu, dass selbst eine Große Bühne wie jene Bambergs vergleichsweise klein sein kann. Einstweilen bleibt es aber dabei, so viele Häuser wie möglich zu berücksichtigen, auch die vom Verband Freie Darstellende Künste Bayern vertretenen Gruppen sowie private und TourneeTheater. Künftigen Bayerischen Theatertagen wünscht Weich, „mehr auf initiative Sichtungen durch das Auswahlgremium ­setzen zu können, als von Einreichungen abhängig zu sein“. Entstanden war gleichwohl ein dezidiert zeitgenössisches Festival für Bamberg. Spielarten des Gegenwartstheaters dominierten deutlich, selbst in den rar gesäten tradierten Stoffen wie jener Online-„Möwe“ oder einem „Peer Gynt“ als Bearbeitung für drei Herren im freien Bamberger Theater im Gärtnerviertel. Eine Regensburger „Dreigroschenoper“ von Schauspielchef Klaus ­Kusenberg dürfte der vergleichsweise konservativste Beitrag gewesen sein, allerdings mit Katharina Solzbacher als Macheath. Rostands unverwüstlicher „Cyrano de Bergerac“ hingegen kam als intelligente Mogelpackung daher: als ein Spiel „für zwei Einsamkeiten“ von Federico Bellini und Antonio Latella aus dem Marstall des Residenztheaters München. Florian von Manteuffel und Vincent Glander heben auf ­leerer Bühne gleichsam zur höchst aktiven, wortwilden Medita­ tion über eitles Theater an, im Schnellsprech-Duktus und mit gepflegter Publikumsbeschimpfung inklusive. „Ich bin allein“, tönt wiederholt Manteuffel, der Cyrano-Pfau. Das ist keine Klage, mehr eine Forderung: Wenn schon ein reduziertes, ein entkerntes Stück, dann lieber gleich ein Solo …! – Stattdessen: ein vorzüg­ liches Duett als Duell um des Zuschauers Gunst, mit dem Florett und dem Holzhammer der Sprache sowie mit Bühnenmodellen des Resi und des Cuvilliéstheaters als fahrbaren Untersätzen. An solchen Abenden triumphiert das Theater sogar über die abgespielte Welt. Und in Theatertagen wie diesen mag ohnehin die Hoffnung, gar die Zuversicht liegen: Wenn sich ein alter Rollladen schließt, öffnet sich immer noch ein neuer Vorhang. //

bayerische theatertage

Call for Projects Ausschreibung für die Spielzeit 2023/24 Bewerbungsschluss: 15. Juli 2022 Was ist NOperas? Im Rahmen der Förderinitiative NOperas! des Fonds Experimentelles Musiktheater [feXm] schließen sich mehrere Theater zu einem Verbund zusammen. Gemeinsam mit dem feXm realisieren sie ein Projekt, das innerhalb einer Spielzeit an den beteiligten Häusern gezeigt wird.

Ausschreibung 2022 Mit der laufenden Ausschreibung für die Spielzeit 2023/24 geht NOperas! in die fünfte Runde. Beteiligt sind in dieser Saison das Theater Bremen, das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und das Staatstheater Darmstadt. Jenseits der von den Theatern selbst eingebrachten Ressourcen stellt der feXm für die ausgeschriebene Produktion Fördermittel von bis zu 200.000 Euro zur Verfügung.

Wer kann sich bewerben? Als Förderinitiative orientiert sich der feXm an einem erweiterten, nicht auf Formen der zeitgenössischen Oper fixierten Musiktheaterverständnis. Im Fokus steht ein prozessuales Arbeiten in mehreren Probenphasen. Bewerben können sich europaweit Teams, die gemeinsam das Zusammenspiel der Theaterebenen (Komposition, Text, Regie, Bühne) verantworten. Eine Jury ausgewiesener Fachleute im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters entscheidet gemeinsam mit den beteiligten Theatern über die Auswahl des zu realisierenden Projekts. Die Ausschreibungsfrist endet am 15. Juli 2022. Ausführliche Informationen zu Ausschreibung und Bewerbung finden Sie auf www.noperas.de »NOperas!« – eine Initiative des Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm). In gemeinsamer Trägerschaft von NRW KULTURsekretariat und Kunststiftung NRW, in Kooperation mit dem Theater Bremen, dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und dem Staatstheater Darmstadt. GEFÖRDERT DURCH:

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Krieg in Europa – auf dem Spiegelfeld der Geschichte Babyn Jar und Ilya Khrzhanovskys Holocaust-Museumsprojekt­ von Elisabeth Bauer

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ls Symbol des „Holocausts durch Kugeln“ stand Babyn Jar schon lange im Zentrum widerstreitender Geschichtsnarrative: Das historische Relief im Kyjiwer Nordosten wurde zur Bühne ­eines – zunächst nur rhetorischen – Kampfes um den „richtigen“ Umgang mit der Geschichte. Mit der russischen Invasion am 24. Februar gerieten die ukrainischen Bloodlands (Timothy Snyder) erneut ins Zentrum zivilisatorischer Kriegsverbrechen; am 1. März wurde die Erinnerungslandschaft von Babyn Jar indirekt von Raketen getroffen, fünf Zivilisten wurden getötet. Die Ukraine und mit ihr Europa stehen einem faschistischen Regime gegenüber, das seine Strategien der verkehrenden Simulation in den vergangenen Jahrzehnten ungestört perfektionieren konnte. Auch Ilya Khrzhanovsky, DAU-Regisseur und künstlerischer Leiter eines

umstrittenen Holocaust-Museumsprojekts in Babyn Jar, bedient sich der Kunstgriffe Simulation und Immersion in die Gewalt­ geschichte des 20. Jahrhunderts. Sind wir längst im von Jean Baudrillard beschriebenen hyperrealen „Zeitalter des Simulakrum“ angekommen? „War es hier? Ich gehe durch eine mit Gestrüpp bewachsene flache Landschaft. Die Menschen spazieren, reden, gestikulieren. Ich höre nichts. Die Vergangenheit schluckt alle Laute der Gegenwart. Es kommt nichts mehr hinzu. Kein Raum mehr für Neues“, schrieb Katja Petrowskaja, die ihre mit Kyjiw verknüpfte Familiengeschichte in ihren Roman „Vielleicht Esther“ hat einfließen lassen, über ihren „Spaziergang in Babij Jar“, FAZ, 2011). Viel zu lange eine Leerstelle auf der europäischen Erinnerungskarte gewesen, sticht der Erinnerungsort aus den von den

Das „Spiegelfeld“ in Babyn Jar. Foto Elisabeth Bauer


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zivilisatorischen Verbrechen zweier totalitärer Systeme überzogenen Bloodlands Ostmitteleuropas heraus: In Babyn Jar – zu Deutsch: Weiberschlucht – ereignete sich das bis zu diesem Zeitpunkt zahlenmäßig größte, antisemitisch motivierte HolocaustMassaker: Am 29. und 30. September 1941 vernichteten die Nazis und ihre lokalen Kollaborateure an Ort und Stelle 33 771 Juden und Jüdinnen. Nachdem die jüdische Bevölkerung weitestgehend ausgelöscht war, griff der Massenmord auch auf andere Minderheiten wie Roma, psychisch Kranke, Rotarmisten, ukrainische Nationalisten, Gegner des NS-Regimes sowie einfache Zivilisten über.

Schwarze Erde: Im Zentrum der Bloodlands Das Gedächtnis von Babyn Jar ist symbolisch schwer beladen – und es ist materiell. Bis zu 200 000 Menschen liegen in jener geologischen Vertiefung, in Vorkriegszeiten Teil einer multi­ ­ konfessionellen Nekropole. Die Körper der Toten haben sich für immer verbunden mit seiner Erde. Dass der Name Babyn Jar in der vielgelobten deutschen Erinnerungskultur lange überwiegend für Irritation sorgte, bezeugt ihre scheinheilige Lückenhaftigkeit. „Man gedenkt Babyn Jar nicht für die Juden, man gedenkt Babyn Jar für sich selbst, man gedenkt dem Holocaust, weil es Teil der Schaffung einer verant­ wortungsvollen Gesellschaft und, hoffentlich, einer zukünftig funktionierenden Demokratie in der Ukraine ist“, mahnte Timothy Snyder 2017 in einer Rede über die deutsche Verantwortung der Ukraine gegenüber im Bundestag. Angesichts anhaltender politischer Spannungen der vergangenen Monate wurde Babyn Jar erneut auf die Bühne der Geo­ politik katapultiert. So wendete sich etwa am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, einer der Oberrabbiner der Ukraine, Rabbi Moshe Azmann, vom schneebedeckten Babyn-JarGelände aus an den russischen Präsidenten: Er solle keinen Krieg mit der Ukraine beginnen, nicht erneut Zerstörung über das Land bringen. Wenige Minuten nach dem Angriff auf den Fernsehturm, der dem Friedhof für Kriegsgefallene und Opfer des Holodomors 1973 aufgesetzt worden war, zeichnete Rabbi Azmann, die Thora unter dem Arm, in einer Kyjiwer Synagoge eine weitere emotionale Nachricht an die russischen Menschen auf: „Leute, stoppt diesen Krieg! Und passt auf, was man euch im Fernsehen erzählt: dort belügt man euch!“ Gerade sei Babyn Jar von drei Raketen getroffen, fünf in nichts schuldige Zivilisten getötet worden – das sei symbolisch. Noch bevor die Gräueltaten von Butscha bekannt wurden, sagte er in einem DW-Interview: „Ich denke, das ist eine Vorwarnung dafür, wohin dieser Krieg noch führen kann. Bisher ist es, Gott sei Dank, noch zu keinen Vernichtungsaktionen gekommen.“

Hyperreal: Modelle des Schreckens putins Mythen folgen den Mustern der NS-Propaganda, seine ­Ideen von einer „russischen Welt“ modellieren die Linien des ­nationalsozialistischen „Lebensraums“ nach: Was mit dem symbolträchtigen Raketenangriff auf Babyn Jar begann, hätte mög­ licherweise als Ankündigung jener Kriegsverbrechen gelesen werden können, die mit den Namen Mariupol, Butscha oder ­ ­Mykolajew auf die abgründigste Art und Weise bestätigt wurden.

gedenkstätte babyn jar

Babyn Jar hat für die Genozid- und Holocaustforschung auch ­deshalb zentrale Bedeutung, weil das, was in den ukrainischen Massengräbern seinen Anfang genommen hatte – das systematische, industrialisierte Morden –, als Test für die erst drei Monate später im Zuge der Wannseekonferenz beschlossene „Endlösung der Judenfrage“ angesehen wurde. Das russische Regime nutze den „Nazi“-Begriff als Rechtfertigung für seine genozidale Kriegspolitik und bediene sich einer „amorphen und ambivalenten“ Rhetorik, resümiert Timothy Snyder. Man müsse in der Lage sein, hinter diese Schein-Welt zu blicken. In ihrer gefährlichen Mehrfachverkehrung evozieren diese Analogien jenen Prozess, für den Alexei Yurchak den Neologismus HyperNormalisation prägte (in: „Everything was Forever, ­Until it was No More: The Last Soviet Generation“, Princeton University Press, 2006). Der britische Filmemacher und Journalist Adam Curtis nahm diesen Begriff auf, um den Hyperrealismus der postkapitalistischen Wirklichkeit zu untersuchen. In einer ­hypernormalisierten Fake-Welt werde Geschichte analysiert und nach Mustern durchsucht, die jetzt passieren, aber Gefahren der Vergangenheit ähnelten. Geschichte wiederhole sich nicht, sie „reime“ sich, hatte Keith David Watenpaugh, Professor für Menschenrechtsstudien an der University of California, über die Gewaltgeschichte in der Ukraine geschrieben, ebenfalls noch bevor das ganze Ausmaß des Grauens in den rückeroberten Gebieten sichtbar geworden war. Es sind schwarze „Reime“, die dieser Tage in der Ukraine geschrieben werden.

Eine reale, eine imaginierte Ukraine Kontinuität hat in Russland nicht nur das imperialistische Machtsystem. Auch das russisch-philosophische Denken, auf das sich die Regenten verschiedener Epochen immer wieder beriefen, beruht auf einem dualistischen Prinzip, das strukturell im putin’schen ­System widerhallt: Demzufolge versteht sich die russische Kultur als Antipode des Westens, als transzendentale Umkehrung der ­rationalen, wissenschaftlichen Denkkultur. Dabei sei das Mittel der subversiven Spiegelung, Transformation und Aneignung bestimmter westlicher Strömungen von zentraler Bedeutung, um sie wie­ derum „gegen den Westen als Ganzes zu richten“, so der russischdeutsche Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys. Dieses Denken ist nicht möglich ohne eine imaginierte Grenze, entlang derer die oppositionelle Kultur gespiegelt und umgekehrt wird. In seinem Essay „Die reale und die imaginierte Ukraine“ (2006) schrieb der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk: „Diese ,zwei Ukrainenʻ existieren nicht neben-, sondern eher ineinander – als zwei Symbole, zwei Möglichkeiten für ihre weitere Entwicklung.“ putins Idee von „Malorossija“, die aus jener Vorstellung einer angeblichen „tiefen Spaltung“ der Ukraine in einen „nationalistischen Westen“ und einen „prorussischen Osten“ schöpft, wurde kürzlich von seiner Behauptung übertroffen, die Ukraine als Ganzes existiere gar nicht.

An der ukrainisch-russischen Erinnerungsfront Analog zur russisch-ukrainischen Kriegsfront lodert seit Jahren eine aufgeheizte Debatte über eine „ukrainische“ und eine „russi-

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sche“ Lesart der Geschichte. Über 30 Denkmäler, verschiedenen Opfergruppen gewidmet, wurden seit den Neunzigern in der ­historischen Schutzzone von Babyn Jar aufgestellt. So heterogen wie die Symbollandschaft, so polyphon war lange Zeit auch der ukrainische Erinnerungsdiskurs. Im Zuge der vorangetriebenen nationalen Selbstidentifika­ tion – beflügelt von der Orangenen Revolution und der Revolution der Würde, beschleunigt durch die russische Aggression und den Krieg im Donbass – ist die Ausformulierung einer ukrainischen, sich von einer sowjetischen Perspektive auf die Geschichte distanzierenden Erzählung von essenzieller Relevanz: Als staatliches Organ wurde das Institut für Nationale Erinnerung mit der Aufgabe betraut, ein einheitliches, „anti-kommunistisches“ Erinnerungsnarrativ zu etablieren. Yohanan Petrovsky-Shtern, ukrainisch-jüdischer Historiker und Bruder der Schriftstellerin Katja Petrowskaja, hatte bereits im September 2021 vor einer Invasion und Okkupation Kyjiws, die in Babyn Jar beginnen könnte, gewarnt: Ausgerechnet von einer Erinnerungsinitiative, die von ­russischen und ukrainischen Oligarchen, Präsident Wolodymyr Selenskyi, Bürgermeister Vitali Klitschko sowie viel Prominenz unterstützt wird, sahen ukrainische Historiker:innen die größte Gefahr ausgehen. putin benutze diese Oligarchen als seine Spielfiguren, argumentierte Petrovsky-Shtern.

Spiegel, Synagoge und Kristall Das Babyn Yar Holocaust Memorial Centre (BYHMC), das sich seit seiner Gründung 2016 als den Erinnerungsdiskurs dominierende, privat-staatlich finanzierte Initiative herauskristallisiert hatte, setze der Erinnerungslandschaft eine „russische“ Version der Geschichte auf, so die Befürchtung. Als 2019 bekannt wurde, dass der russische Filmemacher Ilya Khrzhanovsky, Schöpfer des dis­ kutablen DAU-Filmprojekts, den Posten der künstlerischen Leitung übernehmen würde, waren Protestrufe aus Wissenschaft und ­Medien zu vernehmen; als im April 2020 ein unfertiger Konzeptentwurf durch ein Leak in die internationale Presse gelangte, war zu lesen, Khrzhanovsky wolle die historische Schutzzone Babyn Jar in ein „Disneyland“ verwandeln – viele forderten seinen Rücktritt. Khrzhanovsky, dessen Mutter selbst jüdische Ukrainerin war, blieb auf seinem Posten. Das Gedächtnis von Babyn Jar solle aus einer Abstraktion in etwas Lebendiges mit emotionaler Wirkung verwandelt werden, ein „Gefühl von Empfindsamkeit und Schmerz für den Verlust der verschwundenen, ermordeten und zerstörten Welt“ – der jüdischen – hervorrufen und eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen, konkretisierte er das Grundkonzept. Diese bühnenartige Verbindung dreier Zeitebenen materialisierte sich als Erstes im „Spiegelfeld“: Dort, wo die topografische Vertiefung noch nachempfunden werden kann, schwebt seit 2019 eine flache, metallene Plattform wenige Zentimeter über der ­fragilen, symbolischen Erdkruste – eine futuristisch anmutende, auditive Rauminstallation. Säulen, bei Dunkelheit von innen ­heraus beleuchtet, ragen baumstammartig in die Höhe. Auf der Spiegelfläche verteilte Löcher sollen das Kaliber der von den Nazis eingesetzten Gewehre abbilden. Es folgte eine „Symbolische ­Synagoge“ aus ukrainischer Eiche – unweit des 1991 eröffneten

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Menora-Denkmals errichtet –, und zum 80. Jahresgedenken ­Anfang Oktober 2021 wurde die drei Meter hohe „Kristallene ­Klagemauer“ der Künstlerin Marina Abramović eröffnet.

Immersion in die Geschichte Eine interaktive Plattform überlagert das physische Gedächtnis von Babyn Jar in seiner virtuellen Präsenz: Sie verfügt über eine freie Enzyklopädie, ein Stimmen-Archiv, „die vollständigste Opfer­ namenliste weltweit“ sowie digitale Raummodelle des historischen Ortes. In den Monaten vor der Kriegseskalation kündigte ein bedeutungsmächtig über einer Baugrube schwebender Kran das geplante Holocaust-Museum „Kurgan“ an. Ein Bauzaun zeichnete Model­ lierungen des vom Berliner Architekturbüro SUB konzipierten ­Mu­seumsbaus nach, in dem die Geschichte der Massenerschießungen mithilfe von 3D-Technologie „reproduziert“ werden sollte. Vor bühnenartigem Grund schrieben sich Spaziergänger und Passantinnen als ob in den aus drei Zeit- und Raumebenen konstituierten Bachtin’schen Chronotop ein – verwandelten sich in Schaustellerinnen jener Alltags-, Museums- und Erinnerungsszenerie. Die einen kritisieren Khrzhanovsky dafür, dass er sich einer totalitären Rekonstruktion von Geschichte bedient; anderen ist seine interne Arbeitsweise, sein Hang zur Machtkontrolle und als „masochistisch“ empfundenes Interesse an der Gewaltgeschichte der Sowjetzeit nicht geheuer. Die Frage ist berechtigt: Müssen die mit diesem Ort verbundenen Tragödien wirklich realitätsnah ­rekonstruiert werden? „Jede Generation, jede Zeit hat eine eigene Sprache. Nun kommen wir in eine Zeit, in der wir VR, AI-Technologien, 3D-Modeling und andere technologische Tools haben“, sagte Khrzhanovsky anlässlich des 79. Jahresgedenkens. Erst die Sprache des Virtuellen und Immersiven könne die Menschen des 21. Jahrhunderts wirklich berühren. Widersprechen würde ihm die Erinnerungsforscherin Dr. Jessica Rapson, Autorin einer Anthologie über die „Topographien des Leidens“ (Berghahn Books, New York/Oxford 2015). „Es ist nicht möglich oder wünschenswert, dass der Holocaust für jene ,realʻ wird, die ihn als Geschichte konfrontieren; wir können das ,Holocaust-Universumʻ nicht als gelebte Erfahrung betreten.“

Subversive Simulation: Eine Befreiung? Geht es Khrzhanovsky um umsichtige Begegnungen mit der Vergangenheit – oder schrille Re-Enactments? Wieso legt ein Mann, der selbst in der Sowjetunion aufgewachsen ist und die sowjetische Mentalität symptomhaft verkörpert, den Finger in ungeheilte Wunden? Wie jeder Künstler wolle Khrzhanovsky uns aus der Gleichgültigkeit reißen, sagte Thomas Oberender in der Berliner Zeitung. „Ilya Khrzhanovsky erscheint mir wie eine dieser Figuren aus Vladimir Sorokins Roman ,Eisʻ, die mit ihrem Eishammer die wenigen noch schlagenden Herzen freischlagen. Aber jeder Vergleich ist falsch. Es geht um etwas Neues“, so der ehemalige Intendant der Berliner Festspiele. „Denken Sie an DAU – da wird nichts mehr ,aufgeführtʻ, die originalen Filme sind ohne Schauspieler gedreht worden. Laien und Experten haben eine Fiktion gelebt, die über die Wochen und Monate und Jahre ihre Wirklichkeit wurde.“


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Ein sowjetischer Mensch, sagte Khrzhanovsky im SZ-Interview, sei „eine psychologisch-historisch-seelische Mutation“. Seine Arbeit als Künstler ziele auf die Befreiung und Überwindung der ewigen Repressions- und Gewaltschlaufen. Das die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sprengende Megaprojekt DAU, das im ostukrainischen Charkiw ein sowjetisches Forschungsinstitut samt zeitgenössischem Personal wiederaufleben ließ, war wohl ein solcher Versuch, sich vom Sowjet-Trauma zu befreien. Das ­Sujet des DAU-Streifens „Degeneration“, in dem sich Neonazis mit KGB-Leuten zusammentun und die institutsinterne, Kommunenartig gestrickte DAU-Welt zerstören, wirke vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegs wie ein Dokumentarfilm. „Wenn Leute mit dieser Mentalität und ohne Selbstreflexion ­große militärische Macht haben, wird es sehr gefährlich. Das erleben wir jetzt.“

putins Schein, putins Fehler

gedenkstätte babyn jar

Fake: Auf der Bühne simulierter Erinnerung putins megalomanisches Wunschdenken, als historische Figur und Herrscher einer imaginären „russischen Welt“ – dem heraufbeschworenen „russkij mir“ – Geschichte zu schreiben, ist in ­einen Faschismus mutiert, der sich strukturell an der imperialistischen Nazi-Ideologie orientiert: Das Mantra „Nie wieder“ wurde ad absurdum gesetzt. In seinem Film über den ehemaligen Theatermacher und Kremlideologen Vladislav Surkov zeigte Adam Curtis 2014, wie dieser die spätsowjetische Propaganda ins 21. Jahrhundert überführt hat. „Sein Ziel ist es, die Wahrnehmung der Welt von den Menschen zu unterlaufen, sodass sie nie wissen, was wirklich passiert.“ Surkov, der 2020 seinen Posten als engster Berater putins räumen musste, habe die russische Politik in ein befremdliches, sich ständig änderndes Theaterstück verwandelt. Wenige Tage vor Kriegs­ beginn meldete sich Surkov mit der Vorausnahme eines möglichen „geopolitischen Kontakts“ zwischen russland und der westlichen Welt in Form einer verqueren, abstoßenden Gleichung zu Wort: „Wir sind für Frieden – sollte man meinen. Aber nicht für einen schmutzigen. Für einen richtigen.“

„Any performed reality is based on memory“, schreibt Literaturwissenschaftlerin Carmen Dominte über die „Bühne als Chronotop der Erinnerung“ (2013). Es ist eine Eigenart historischer Textstoffe, dass sie gewendet, gedehnt und an die politischen Utopien und Ideologien der Zeit angepasst werden können. Auf Grundlage historischer Prätexte werden Geschichten der Gegenwart und Zukunft erzählt – Simulierte „Spiegelfelder“ sei es in den Schreibstätten politischer der Geschichte Nationbuilding-Kampagnen, den Hinterbüros manischer Autokraten oder Die „Menorah“ in Babyn Jar hinter Baufolien Der Versuch, ein neues, immersives Foto Elisabeth Bauer den kuratorischen Abteilungen immer­Holocaust-Gedenken zu ­etablieren, siver Museen. scheint von dem vernichtenden GrößenIn eklektizistischer Besessenheit wahn eines verkehrten Diktators, der auf die Subversion der freien, demokratischen Welt und die totale nimmt sich putin beliebiger Prätexte an – oder erfindet sie: „Er wird diesen Prätext kreieren, wenn es ihn nicht gibt –, weil er seiner eigeZerstörung der ukrainischen Nation, Kultur und Geschichte abnen Logik, nicht der Realität folgt“, sagte Historiker Petrovsky-­ zielt, überholt worden zu sein. In diesem dissimulierten Weltbild Shtern nach dem Angriff. „Wir müssen darüber nachdenken, was wird Wahrheit als Inszenierung verkauft und die Inszenierung putin tun könnte, wenn er realisiert, dass sein geopolitischer zur Wahrheit erklärt – zugunsten e­iner recycelten „russischen ­Mythos nichts als ein Mythos ist.“ Wenn der Westen zögere, einen Welt“. Zentrales Unterscheidungsmoment zwischen einer „Theo„Prätext“ für einen möglichen russischen Angriff auf Europa zu logie der Wahrheit und des Geheimnisses“ und dem Zeitalter des Simulakrum, in dem „alles bereits tod“ und „von vornherein wieliefern, weil es bedeute, Zeichen der „Provokation“ zu senden, dann meine man immer noch, ­putin beschränke sich in seinem Denken der auferstanden“ ist, zieht Baudrillard zwischen Zeichen, die etauf die reale Welt, er folge den Regeln der Ratio. was dissimulieren, und jenen, die dissimulieren, dass es nichts gibt. „Die Rede ist von einem Präsidenten, der vom Volk gewählt („Agonie des Realen“, Merve, Berlin 1978.) worden ist, wie in demokratischen Gesellschaften üblich, einem Es scheint, als fänden wir uns auf der mehrfach gebroAutokraten, Despoten, einem autoritären Herrscher, einem neuen chenen Metallfläche des „Spiegelfelds“ – im hyperrealen GeZaren, einem Diktator, den man in einem Atemzug mit Stalin und schichtsraum – wieder. Es liegt an uns, alles Mögliche zu tun, Hitler nennen darf – oder auch nicht“, umschreibt Osteuropahisum das Unsagbare zu stoppen und uns aus der Simulation zu toriker Karl Schlögel putins wechselnde Maskeraden in der NZZ. befreien. Auch Vladimir Sorokin, einer der meistgelesenen zeitgenössi„Jetzt bin ich angekommen in Babij Jar: Ich stehe im Wald, auf schen russischen Autoren, warf dem „Monster“ kürzlich in dem Baum oben hängt ein Trauerkranz. Wer hat ihn hierhin gebracht? seinem SZ-Gastbeitrag vor, sich als Schein-Künstler aufzuführen: Wachsen die Kränze hier? Ich höre die ferne Straße und weiß nicht „Er ist kein Schriftsteller oder Künstler, er sollte in der realen Welt wohin – ich gehe einfach weiter.“ (Katja Petrowskaja: „Spaziergang leben und für jedes seiner Worte einstehen.“ in Babij Jar“, FAZ, 2011) //

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Theater der Vereinnahmung Publikumsinvolvierung im immersiven Theater von Theresa Schütz Funktionen und Wirkweisen von Handlungsanweisungen Die für alle Zuschauer:innen je erste Station dient der Einführung des Publikums in den fiktiven Mikrokosmos. Hier wird szenisch die Narration von Jake und seiner Gemeinschaft der Himmelfahrer, ihren Plänen und Zielen sowie ihren zentralen Glaubenssätzen vorgestellt. Das Publikum wird mit einer Gemeinschaft vertraut gemacht, die ihren Alltag der „Fünf Säulen der Himmelfahrer“ entsprechend eingerichtet hat, einem Bündel von „Weisungen“, die ihnen der verstorbene Gemeinschaftsgründer Jake Walcott mitgegeben habe. Diese Weisungen zum Glauben, zur Reinheit, zum Zusammensein untereinander, aber auch mit dem Heuvolk legen das soziale Miteinander fest und werden von allen Himmelfahrern verbindlich befolgt. Bei Nichtbefolgung warten entsprechende Strafen. Neben der Einführung in den Mikrokosmos und der damit verbundenen Fiktionalisierung von Zuschauer:innen als innerdiegetische Besucher:innen der „Tage des Zustroms“ wird zugleich der Ablauf des Besuchs vorgestellt. Abends widmet sich die Himmelfahrer-Gemeinschaft stets ihrer rituellen Arbeit. Als Besucher:innen sind wir deshalb eingeladen, die insgesamt zehn Schreine, die Pearl Box als zentralen Ort der Reinigung sowie drei verschiedene „Schulen“ zu besuchen, um die Gemeinschaft und ihre Praktiken kennenzulernen. Perspektivisch geht es innerdiegetisch darum, unter uns, dem Heuvolk, diejenigen wenigen ‚Auserwählten‘ ausfindig zu machen, die sich gleichfalls berufen fühlen, Teil der Gemeinschaft zu werden. […]

Der vorgesehene Grad der Mitwirkung kann dabei von teilnehmender Beobachtung bis zu aktiver Teilnahme reichen. Das Tätigkeitsspektrum von Zuschau­er:in­nen während der rituellen Praxis umfasst dabei von vorbereitenden Aufgaben wie der Reinigung von Geschirr oder Körperteilen der menschlichen Hüllen über das Ritual unterstützende Tätigkeiten wie dem Schlagen eines Rhythmus, dem chorischen Nachsprechen von Schwüren oder dem Trinken und anschließenden Ausspeien einer alkoholischen Flüssigkeit bis zur aktiven Ritualteilnahme durch eine eigene materielle oder immaterielle Opfergabe. Entscheidend ist hierbei, dass die Be­ sucher:innen allen pro Schrein ausgegebenen Handlungsanweisungen Folge leisten. Eine Verweigerung hat den Ausschluss aus der Zeremonie sowie einen Raumverweis zur Folge. […] Wir besuchen die Himmelfahrer am frühen Abend, wenn sich alle ihrer zeremoniellen Arbeit in den Schreinen widmen. Von weiteren gemeinsamen, streng getakteten Aktivitäten am Vormittag – morgendliche Traumdeutung, gegenseitige Rasur, Gymnastik oder Einzelreinigung in der Pearl Box – erfahren wir nur aus Berichten der Figuren. Die Rituale selbst sind in sich ebenfalls streng reglementiert und in ihrem Ablauf festgelegt: Ihnen muss eine ­Anfangsreinigung, eine kollektive Beschwörung der Trickster und eine Form von symbolischer Kreisziehung vorangehen. Es folgt das Aussprechen oder Singen der Anrufung an jenen Erdkerngott, der Ein Teil des Ensembles während der Einlasssequenz von SIGNAs „Das Heuvolk“ auf dem Gelände des Benjamin-Franklin-Village Mannheim. Foto Erich Goldmann


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immersives theater

sich in der menschlichen Hülle manifestieintensiver Moment, dem sich beide eine ganze ren soll. Die wichtigste Phase ist das EinWeile hingeben. Ich spüre, wie sich Davina/ dringen des Gottes in und sein Aufenthalt Maria eine Vorstellung eines schwerwiegenden im Körper der Figuren, die dabei zumeist Leids macht, davon ihrerseits ganz ergriffen in eine Form von Ekstase versetzt werden. wird, sich dann Stück für Stück im Schmerz Je nach variierender Dauer der ‚Besetzung‘ zu verlieren scheint und schließlich von mir des Gottes erfolgt dann die Auflösung des ablässt. (Aus dem Erinnerungsprotokoll Kreises, die Endreinigung und ein obligameines ersten Besuchs von „Das Heuvolk“ torischer Dank an die Trickster für den reiam 16.6.2017 in Mannheim.) […] Die beschriebene Situation im bungslosen Ablauf. […] Fragt man einzelne Himmelfahrer nach Sinn und Zweck manSchrein von Maria Marena lebt zunächst von einer Wissensasymmetrie: Während cherlei Aktivität, rekurrieren sie stets auf Theresa Schütz Jakes Willen als letzterklärende Instanz. die drei Performer:innen um die HandTheater der Vereinnahmung lungsskripte wissen, die mit ihrem Schrein Da der Alltag der fiktionalen Himmelfahrer Publikumsinvolvierung im immersiven Theater Paperback mit 346 Seiten und ihrer rituellen Praxis verbunden sind, in erster Linie darin besteht, Rituale durchIISBN 978-3-95749-405-4 zuführen, lernen die Besucher:innen diese sind wir Zuschauer:innen weitestgehend EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital) Lebenswelt schließlich auch am besten unwissend. […] Ich lasse mich hier for the Theater der Zeit kennen, wenn sie an den Ritualen selbst ritual’s sake auf eine Situation ein, die mich teilnehmen. Es lässt sich festhalten, dass situativ und emotional komplett vereinnahmt. Zugleich werde ich mit dem Befolder fiktionale Mikrokosmos bei „Das Heuvolk“ den Modus der Publikumsinvolvierung mitbestimmt. Handgen der Regeln und Anweisungen im Rahmen der aktiven Teillungsanweisungen bilden dabei das zentrale Element der Einbezienahme an der Ritualhandlung ähnlich wie in „Das halbe Leid“ (vgl. Kap. 4.3) zur Komplizin bei der gemeinsamen Erzeugung hung des Publikums in das Aufführungsgeschehen wie auch in die Lebenswelt der fiktionalisierten Glaubensgemeinschaft. […] Geeiner schmerzhaften Leid-Empfindung, die innerfiktional die Maschäftigkeit, Regeltreue und das Einfügen in eine vorgegebene, nifestierung der Göttin sicherstellt. Diese damit verbundene zweisinnstiftende Ordnung zeichnet die Himmelfahrer aus – und ebente Ebene der Vereinnahmung beginne ich allerdings erst verspädiese Lebensform, die auf der machtvollen Vereinnahmung von tet, nach der bereits gemeinsam ausgeführten Ritualhandlung, zu Individuen zum Zwecke eines vermeintlich höheren Ziels basiert, realisieren. gilt es kennenzulernen, indem man selbst zum Subjekt ihrer verAusschlaggebend hierfür war insbesondere eine kurze Beeinnehmenden Strukturen wird. gegnung mit Ahmad nach dem Ritual. Er erwähnte mir gegenDer Schrein der Göttin Maria Marena, alles in Weinrot und anüber, dass Davina als eine der Einzigen in der Gemeinde schon fast komplett von Maria Marena eingenommen sei und dass er sie genehm duftend. Hier befinden sich neben Davina (Marie S. Zwinzscher), der „Hülle“, auch die beiden Die­ner:innen Natalia (Agnieszka sehr vermisse. In einem anderen Schrein hatte ich zuvor erfahren, Salamon) und Ahmad (Jaavar Sidi Aly). Nach meinem obligatoridass die Himmelfahrer, die als Hülle fungieren, davon erheblich schen Trickstergruß nimmt sich Natalia meiner an. Eine zweite ältere physisch wie psychisch in buchstäbliche Mitleidenschaft gezogen Zuschauerin stößt noch dazu. Natalia erklärt uns, dass Maria Marena würden und dass auch ihre kognitiven Kapazitäten davon nachdie Göttin des Leids sei, dass insbesondere Frauen viel Leid zu (er-)trahaltig angegriffen würden. […] Sie alle opfern sich für die Gemeingen hätten und fragt, ob wir bereit wären, einen Teil unseres Leides als de und sind selbst ‚Opfer‘ von Jakes autoritärer, einnehmender Opfergabe für Maria Marena darzubringen. […] Dafür soll ich zunächst Struktur, mit der er für diese Konstellation ‚anfällige‘ Menschen instrumentalisiert, zerstört und ausbeutet. Auf diese Weise beeinen Schluck von einem hochprozentigen Schnaps nehmen und die Statue einer nackten Frau in der Mitte des Raumes anspeien. Dann soll trachtet, treten die Himmelfahrer innerdiegetisch als verkörperte ich mich auf den Boden setzen, auf den schweren Teppich an der SchwelHandlungs(an)weisungen ihres spirituellen Führers Jake in Erle zu der zwei Stufen hohen Podesterie, auf der die nackte und komplett scheinung. Sie haben Jakes Aufträge derart verinnerlich, dass sie mit roter Körperfarbe bemalte Davina auf einer Chaiselongue liegt und bereit sind, sich dafür selbst aufs Spiel zu setzen. Und die an den etwas abwesend wirkt. Dann gibt mir Natalia noch mal einen Schluck Ritualen teilnehmenden Zuschauenden wirken daran innerfiktioeiner roten, alkoholischen Flüssigkeit zu trinken – in dieser solle ich nal im Modus (ver-)einnehmender Komplizenschaft mit, zumal sie diese Form der Gewalt und des Machtmissbrauchs durch mein zu teilendes Leid bündeln und es anschließend in die Opferschale von Davina/Maria Marena spucken. Sie werde dann Kontakt mit mir ­Mitwirkung am Ritual nicht nur hinnehmen, sondern auch fortsetzen. Nicht zuletzt aus diesem Grund bietet sich zur Beschreiaufnehmen und ich könne ihr – mit Worten oder still – mein Leid mitteilen. Mit dem beißenden Schluck Alkohol in meinem Mund versuche bung eines solchen handlungsanweisungsbezogenen Involvieich, gedanklich ein bestimmtes Leid zu fokussieren und es mir über die rungsmodus der Begriff der Komplizenschaft im Sinne von „Mittäterschaft“ an. Der:die Zuschauer:in macht sich hier innerErinnerung wieder präsent zu machen. Davina/Maria Marena beginnt nun, sich mit dem Oberkörper zu mir herabzubeugen, sie schaut mir fiktional mitschuldig, insofern er durch sein aktives Mit-Tun das hierarchisch formierte System stützt. // tief in die Augen. Dann nimmt sie meine rechte Hand in ihre. Tatsächlich entsteht durch den geradezu hypnotischen Blickkontakt, die physiAuszug aus Theresa Schütz: Theater der Vereinnahmung sche Nähe und den Gedanken an eine schmerzhafte Erinnerung ein sehr

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theaterbauten

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Chance vertan Die Stadt Zürich entscheidet sich gegen den Neubau ihrer traditionsreichen Spielstätte Pfauen – ausgerechnet aus Traditionsgründen

von Martin Wigger

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ir sind in Zürich – und daher ist es nicht unbedingt e­rstaunlich: Es waren keineswegs finanzielle Gründe, die den ­Gemeinderat der Stadt im März dem langjährigen Projekt „Neubau des Pfauensaales“ eine Abfuhr erteilten und stattdessen eine sanfte Sanierung des zuletzt 1976 renovierten Hauses propagierten. Ganz im Gegenteil: Ein geplanter Neubau wäre nach einer Medienmitteilung der Stadt Zürich bei veranschlagten 115 Millionen Franken sogar die Lösung mit tiefsten Kosten bei gleichzeitig höchstem Nutzwert gewesen. Die jetzt beschlossene sanfte Sanierung beläuft sich einschließlich ihrer Projektierung auf 114 Millionen. Also eine Absage mit fast gleichen Kosten. Aber ohne den­­ selben Nutzwert. Bekannte Probleme bei Akustik, Sicht und Umbauten erhalten nun lediglich eine Nachbesserung. Was ist da passiert? Zunächst ein kurzer historischer Blick auf das, was zur Absage geführt hat, aus Gründen der „Tradition“. Der Pfauen ist das Stammhaus des größten Sprechtheaters der Schweiz, benannt nach der ehemaligen Gastwirtschaft Zum Pfauen auf eben diesem Gelände. Der ursprünglich 1888/89 errichtete Komplex entwickelte sich schnell zum Amüsiertempel Zürichs, mit Biergarten plus Kegelbahn und dem Volkstheater zum Pfauen. Es war der Weingroßhändler Ferdinand Rieser, der als erster ­Direktor eines offiziellen Schauspielhauses dem Pfauen histori-

A Showcase of Wahlberliner*innen

etb tb International Performing Arts Center

June 15 – 25, 2022

sche Dimension gab, und zwar in Funktion eines Theaters für ab 1933 emigrierte bekannte Künstlerinnen und Künstler wie ­Therese Giehse, Grete Heger, Kurt Horwitz, Walter Felsenstein oder Bertolt Brecht. In dieser Zeit war das Zürcher Schauspielhaus die einzige antifaschistische Bühne im ganzen deutschsprachigen Raum. Gerade wieder in Zeiten von politischem Diktat auf vielen Bühnen Osteuropas kann man nicht laut genug an diese Haltung des Schauspielhauses Zürich erinnern. Landesverteidigung als künstlerisches Denkmal. Aber erst im Nachhinein. Denn als 1952 der Pachtvertrag der Stadt mit dem längst gestorbenen Rieser auslief, verweigerten interessanterweise die Zürcher ihre Zustimmung zum Erwerb des Pfauen durch die Stadt (zu einem Kaufpreis von drei Millionen Franken) und ließen die Schweizerische Bankgesellschaft in letzter Sekunde einspringen, damit überhaupt ein neuer Vertrag geschlossen werden konnte. Wäre dies nicht passiert, gäbe es am Pfauen keine weiteren historischen Meilensteine wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt – wobei man nicht vergessen sollte, dass ihre Premieren nicht nur bejubelt wurden und es sogar Max Frisch war, der nach einem Direktionswechsel 1970 das Haus für viele Jahre nicht mehr betrat. Und selbst Christoph Marthaler gab als Intendant unter massiven Protesten des Publikums und ohne politische Rückendeckung auf. Eine Erinnerungs- und Traditionskultur mit stotterndem Motor. Immerhin erhielt Marthaler 2017 den Zürcher Kulturpreis für seine Verdienste um die Stadt, und man muss ein wenig schmunzeln, wenn nun das Schauspielhaus als Exil gewährender Ort, für dessen Fortbestand kurz nach dem Krieg eine Bank einspringen musste, ähnlich posthum aufgebläht wird. Übrigens mit geschlossener Haltung nahezu sämtlicher Parteien. Für die Stadtpräsidentin Corine Mauch, für die Unterstützungskampagne „Pro Pfauen“ namhafter Kulturschaffender aus der Stadt und natürlich für das Schauspielhaus Zürich selbst eine komplette Niederlage. Denn der jahrelange Prozess war vonseiten der Stadt und des Theaters klar aufgegleist. Vier Varianten (Bestandessanierung, ­ ­Sanierung mit kleinen Eingriffen, Sanierung mit großen Eingriffen, mfassende Erneuerung) und ein fest gesprochener Projek­ tierungskredit standen in allen Details zur Diskussion. Befürwortet aufgrund vieler Expertisen wurde von der Stadt, allein wegen der jeweils gleichen Kostenlage, die mfassende Erneuerung. Es schloss sich, politisch korrekt, ein langer öffentlicher Diskurs an,


Foto Stadt Zürich, Hochbaudepartement

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um Nutzerbedürfnisse und langfristige Entwicklungsperspek­ tiven abzuklären. Und eben das Thema „Erinnerungsort Pfauen“, das schließlich – politisch zu korrekt – dem besten Nutzwert und den längsten Perspektiven den Rang ablaufen sollte. „Der Abbruch des historischen Schauspielhauses wäre eine präzedenzlose, kulturhistorische Barbarei“, wetterte SP-Gemeinderat Mark Richli. Und sein Kollege von den Grünen, Balz Bürgisser, präzisierte: „Der Pfauensaal ist ein Ort der Geschichte, ein Ort des Widerstands im Zweiten Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus.“ Aber reicht das wirklich aus? Hängt Geschichte an rotem Plüsch und Kronleuchtern? Zumal das Schauspielhaus selbst bei umfassender Erneuerung lediglich ausgehöhlt worden wäre; Fassade und Gebäudehülle standen nie zur Diskussion. Und ­ ­dennoch rief die schweizerische Landesverteidigung nach einem architektonischen Denkmal – allein formell lag sie beim Zürcher Hochbauchef André Odermatt. Und die Kunst? Hat in diesem Fall das Nachsehen. Und die bekannt schlechte Akustik und eingeschränkte Sicht? Wird halt nachgebessert mit all dem Geld für den nicht realisierten Neubau. Natürlich gibt es immer wieder den Verweis auf die attraktive Spielstätte des Schiffbaus im Westen der Stadt: Aber hier ist kein Repertoirebetrieb möglich, abgesehen von der Randlage. Also eine große Chance vertan für Zürich und sein Theater. Vertan, weil direkt gegenüber dem Pfauen, im millionenteuren David-Chipperfield-Neubau des Kunsthauses, eine große Sammlung von unrechtmäßig erworbenen Bildern aus ehemals jüdi-

schem Besitz jeder angemessenen Erinnerung spottet – und international Empörung auslöst. Vertan aber vor allem, weil gleichzeitig das Zürcher Schauspielhaus unter seinen Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann international Aufmerksamkeit erntet. Und auch innerhalb der Stadt ist es wieder zu einem Ort geworden, über den man spricht und an dem man mit seinen Arbeiten neue Räume aufmacht. Künstlerisch. Aber nicht architektonisch. Der Pfauen wirkt wie ein gedrungenes Kaffeehaus aus den mittleren Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Bedeutung, mit der an die einst großen Zeiten erinnert werden soll, ist dem Saal in keiner Weise anzumerken. An dieser Stelle hätte wirklich größer gedacht werden können, wenn eine Politik schon großzügig sein will. Einen Vorgeschmack haben die Intendanten bereits bei ihrer Eröffnung gesetzt, mit einem komplett entkernten Foyer, das in seinem provisorischen Charakter immer schon Hoffnung auf weitere Aushöhlungen machte. Vielleicht fehlten in der ganzen Debatte auch konkretere Bilder eines architektonisch interessanten Entwurfs für den Saalumbau. Wir sind in der Schweiz: Kann sein, dass das Zürcher Stimmvolk in dieser Angelegenheit das letzte Wort hat, gerade wenn die Kosten der beschlossenen sanften Sanierung endgültig bekannt sind. Und man sich einmal vergegenwärtigt, wie schnell die Stadt ansonsten auf Bausanierung verzichtet. Insbesondere auf dem öffentlichen Wohnungsmarkt. Mit längerfristiger Perspektive bei höherer Rendite. Ein Investitionsgedanke, der nun dem Schauspielhaus versagt bleibt. //



Passionsspiele Oberammergau: Jesu Einzug in Jerusalem. Foto Birgit Guðjónsdóttir

Blick zurück nach vorn

Passionsspiele Oberammergau: Christian Stückl, Markus Zwink und Stefan Hageneier im Gespräch mit Teresa Grenzmann


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passionsspiele oberammergau

D

ie Passion begleitet Sie bereits seit Ihrer Kindheit, in lei­ tender Position seit über dreißig Jahren. Inwiefern hat sich Ihre ­Haltung zum Spiel von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verändert? Christian Stückl (CS): In den Jahren zwischen 1970 und 1984 gab es ständig Auseinandersetzungen um die Passionsspiele. An den Stammtischen im Dorf wurde über den Vorwurf des Antisemitismus, eine Textreform, die Beteiligung jüngerer Oberammergauer und vor allem auch über die Gleichberechtigung der Frauen heftig diskutiert. Irgendwann kam dieses Gefühl: Ich will das machen! Mir wurde klar: Wenn da jetzt nicht etwas passiert, dann wird das kaputtgehen. Ich habe mich zusammen mit Markus Zwink zur Wahl gestellt, und wir wurden vom Gemeinderat für 1990 mit der Spielleitung betraut. Nur verändern konnten wir in unserem ersten Spieljahr fast nichts. Markus Zwink (MZ): 1990 hatte ich sieben Takte verändert, ein InstrumentalZwischenspiel, und das war für mich schon mit Skrupeln behaftet. Wir haben gewusst, im Jahr 2000 müssen wir viel offensiver damit umgehen.

/ TdZ Juni 2022 /

Behutsame Modernisierung Tradition oder Veränderung – inwiefern stellt sich Ihnen diese Frage jedes Mal? SH: Ich habe öfter aus dem Profitheaterbereich die Frage gehört: „Und? Macht ihr’s jetzt mal wirklich modern?!“ Dann müssen wir unsere Herangehensweise eher verteidigen und erklären, warum das in Oberammergau einfach ganz anders ist. Für mich hat sich bisher nicht die Frage gestellt, ob man Jesus besser in heutiger Kleidung zeigt, damit es vielleicht vordergründig zeitgenössischer wirkt. Die Auseinandersetzung mit der Bilderwelt der christlichen Kunstgeschichte reizt mich immer noch mehr als eine oberflächliche Übertragung. 2022 zeige ich Bilder, die nach der Wiederholung von Geschichte fragen, die Geschichte ins Jetzt holen. Dafür braucht es aber keine ­konkreten aktuellen Bezüge – dass die biblische Geschichte weiterhin in ihrer Zeit stattfindet, macht sie ja gerade in vielerlei Hinsicht lesbar.

CS: Es ist schon bemerkenswert: 1750 entwirft der Benedik­tinerpater Ferdinand Rosner eine neue PassionsspielPassionsspiele Oberammergau 2022 struktur, und keiner der nachfolgenHerausgegeben von der Gemeinde den Autoren und Regisseure hat d ­ iese Oberammergau Struktur je wieder verlassen. Es gibt Hardcover mit 176 Seiten eine unausgesprochene Verabredung, CS: 1996 sind wir für das Spiel 2000 Mit zahlreichen farbigen Abb. dass man mit den Kostümen und dem durch die Bevölkerung gewählt worden. ISBN 978-3-95749-275-3, EUR 35,00 (print) Bühnenbild in irgendeiner Weise hisWir drei – Stefan Hageneier kam dazu – waren daher mutiger und haben getorisierend verfährt. Dass man Jesus in den Texten nicht ganz neu erfindet, sagt, wenn wir’s machen, machen wir eine wirkliche Reform. sondern sich am Material der Evangelien orientiert. Trotzdem hat sich natürlich viel getan. Wir fühStefan Hageneier (SH): Die Präsentation der Bühnenbildentlen uns schon frei, gehen aber in der Grundstruktur mit der Tradition um, die über die Jahrzehnte entwickelt worden ist. würfe war dann schon ein Wagnis. Wobei ich mit jugendlicher Leichtigkeit und Naivität darangegangen bin. Ich habe mich SH: Ein gewisser Respekt, der auch aus der enormen Erwartungsvor allem auf die ästhetische Erneuerung konzentriert. Mein Ansatz war sicher nicht revolutionär. Dennoch war es für alle haltung resultiert, ist da. Und hinterfragt man zum Beispiel die Lebenden Bilder, ob so etwas noch zeitgemäß ist, kommt man eine Überraschung, dass das Konzept so positiv aufgenommen wurde. schnell darauf, dass sie die Zuschauer nach wie vor ergreifen und wichtig für die Wirkung des Passionsspiels sind. Diese Tableaux CS: Die Spielerwahl 2000 fand nicht mehr in geheimer Wahl, vivants kamen im 18. Jahrhundert in Mode und wurden bald auch im Passionsspiel eingeführt. Die Oberammergauer waren also sondern per Akklamation statt. Trotzdem mussten wir noch jede Veränderung durch den Gemeinderat boxen. Für 2010 haben wir sehr am Puls der Zeit. Nach Johann Georg Langs Version des dann gesagt, dass wir ihm kein Mitspracherecht beim Bühnenbild ­Passionsspiels zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es dann lange mehr geben und auch die Musiker und die Schauspieler frei keine neuen Impulse mehr. ­wählen wollen. Der Gemeinderat bekam lediglich ein Vetorecht. Außerdem haben wir das Nachtspiel durchgesetzt, wodurch wir Veränderung oder Tradition? – Veränderung aus nun zu einer späteren Uhrzeit mit der Aufführung beginnen und Tradition! die Kreuzigungsszene dadurch bei Dunkelheit stattfindet. Das ist ja die Aufgabe: das Passionsspiel weiterzubringen, woanders Auch die Veränderung des eigenen Anspruchs und Blickwinkels spielt also eine Rolle? ­hinzubringen.


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CS: Natürlich spiegelt sich auch die eigene Veränderung im Spiel. Wir können ja nicht stehen bleiben. Wir sind ja von Berufs wegen gefordert, uns immer wieder neu zu hinterfragen, uns immer wieder auseinanderzusetzen mit dem Ganzen. SH: Die siebzig Jahre, in denen man die gleiche Aufführung immer nur wiederholt hat, haben dem Passionsspiel nicht gutgetan. Oberammergau als Wiege für schlechtes Sandalentheater? Das hat sich gewandelt: Ich lese oder höre heute oft vom Passionsspiel als Qualitätsbegriff für eine bestimmte Art, aufs Theater zu ­schauen. Genau da dranzubleiben, ist wichtig. CS: Das „Wir wollen etwas bewahren“ und das „Wir wollen etwas verändern“ stehen eigentlich schon seit Beginn der Tradition gegeneinander. Spannenderweise ist diese Reibung im Dorf letztlich total wichtig und gehört dazu.

Hebräische Spannungsmomente in der Musik Stellt die musikalische Weiterentwicklung dahingehend eine be­ sondere Herausforderung dar? MZ: Ja, bei der Musik ist Veränderung schwieriger. Vieles ist textgebunden, und bei neuen Nummern muss man in die Lyrik gehen. Bereits 2010 haben wir die Szene eingeführt, in der das Volk das „Sch’ma Israel“ singt. Die Farbe der hebräischen Sprache bringt eine ganz neue Stimmung ins Spiel. Unsere Intention war es, Jesus auch in seiner jüdischen Umgebung zu verorten und den Leuten klarzumachen, er war nicht der erste Christ, sondern einfach Kind seiner Zeit, seines Landes und Umfelds. 2022 fällt auch die Begleitmusik zum Kreuzweg aus dem üblichen Kontext: Aus Psalm 22 – „Eli, Eli, lama asabtani“ („Mein

Das goldene Kalb. Foto Birgit Guðjónsdóttir

Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“) – habe ich ein paar essenzielle Sätze exzerpiert. – Eine Revolution wär’s natürlich zu sagen, man lässt das „Heil Dir“ weg oder das „Halleluja“. Aber sagen Sie einem Deutschen mal, er soll an Weihnachten nicht „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen, das geht dann einfach auch nicht! Der Verzicht auf den Prologsprecher, der zweihundert Jahre lang zwischen den Spielszenen und den Lebenden Bildern auftrat, ist eine wichtige Neuerung 2022. Wie kam es zu dieser Entschei­ dung? CS: Die Musik war für die Oberammergauer und das Publikum immer schon sehr wichtig. Die Lebenden Bilder und die Musik sind ein Teil unserer Entwicklung. Ganz am Anfang kämpfte ja noch die Hölle gegen den Himmel. Luzifer hielt in der ersten Szene eine Spottrede auf das Publikum. Mit den Lebenden Bildern verschwand ab 1750, 1780 die Hölle immer mehr, auch aus den Texten. Durch diese Gliederung in zwölf Blöcke bewahren wir eine alte Form, die es fast nirgendwo anders mehr gibt. Die Musik ist da ein fester Bestandteil. Der Prolog aber, der diese Musik mit einem Text unterbricht, tat etwas, das nicht mehr in die Zeit passt: Er drängte dem Publikum Theologie auf, deutete die Szenen aus einer nachösterlichen Sicht und wies ständig darauf hin, dass wir durch Jesu Tod am Kreuz erlöst seien. Er ließ keinen Spielraum zur eigenen Interpretation und – noch schlimmer – er gab dem Publikum eine Art Moralpredigt mit auf den Weg. // Auszug aus Passionsspiele Oberammergau 2022, herausgegeben von der Gemeinde Oberammergau.


Zeitschrift für Theater und Politik

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Juni 2022 • Heft Nr. 6

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Frank Castorf „Wallenstein“ in Dresden

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auftritt

/ TdZ März   Januar2018 2020//

Neuerscheinungen

Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeisterung der Dorfbewohner bis heute ungebrochen ist. Es blickt hinter die Kulissen und begleitet die Entstehung der Passionsspiele im Jahr 2022 mit ihren über 2000 Mitwirkenden.

Fast die Hälfte der Oberammergauer Einwohner, mehr als 2000 Mitwirkende, bringt alle 10 Jahre in einer fünfstündigen Aufführung die Geschichte des Jesus von Nazareth auf die imposante Freilicht­bühne des oberbayerischen Passionsspieltheaters. Mit mehr als hundert Vorstellungen und einer halben Million Zuschauern ist es das erfolg­ reichste Laienspiel weltweit und zählt zum „Immateriellen Kulturerbe“ der UNESCO. Dieser offizielle Bildband dokumentiert Christian Stückls Neuinszenierung 2022.

Anne Fritsch Theater unser Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

Passionsspiele Oberammergau 2022 Herausgegeben von der Gemeinde Oberammergau

Paperback mit 200 Seiten EUR 15,00 (print) / 12,99 (digital) ISBN 978-3-95749-394-1

Mit dem Begriff der Intervention ist eine Überschreitung der Kunst durch die Kunst selbst aufgerufen. Im Theater scheint die Rede von Intervention dann besonders prägnant zu sein, wenn die komplexen Wechselwirkungen von Öffentlichkeit, Gesellschaft und Medien­wirk­ lichkeit über die Szene hinaus thematisiert werden. Der aus einer Tagung an der Ludwig-Maximilians-Universität München hervor­ gehende Band versammelt Beiträge, die kritische Perspektiven auf Theaterprojekte und theatrale Aktionen werfen.

Hardcover mit 176 Seiten Mit zahlreichen farbigen Abbildungen ISBN 978-3-95749-275-3 EUR 35,00 (print)

ANTHROPOS, das dritte Album des Theatermusikduos Kinbom & Kessner, beschäftigt sich mit Anfang und Ende des Anthropozäns, nimmt die menschliche Natur unter die Lupe und skizziert die Symptome einer heraufdämmernden Zukunft in diversen utopischen und dyst­­o­pischen Facetten. Die deutschsprachige Liedsammlung kombiniert die Traditionslinien von Brecht/Weill und politischen Liedermachern mit cinematischen Lap-Steel-Klangwelten und einem vielseitigen Band­arrangement. Record Release Konzert am 11.06. um 20 Uhr bei Einar & Bert, Berlin

RECHERCHEN 156 Ästhetiken der Intervention Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters Herausgegeben von Ulf Otto und Johanna Zorn

Kinbom & Kessner ANTHROPOS

Paperback mit 258 Seiten ISBN 978-3-95749-304-0 EUR 18,00 (print) / 14,99 (digital)

Musik-CD mit 10 Tracks und 16 Seiten Booklet Auch erhältlich als Vinyl, Streaming und Download EUR 15,90

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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stück

/ TdZ Juni 2022 /

Ein Ort mitteleuropäischer Geschichte Autor Thomas Perle und Regisseur András Dömötör im Gespräch mit Nathalie Eckstein und Thomas Irmer über „karpatenflecken“ ler sie ja alle in den Krieg geschickt hatte“.

besondere Sprache entstanden, mit der das

Und so stamme ich von einer deutsch-rumä­

Stück arbeitet? Ist sie Ausdruck von autobiogra-

nischen Mutter und väterlicherseits aus der

fischem Material?

ungarischen Minderheit der Region, wobei da

Thomas Perle: Der zentrale Ort im Stück, der

auch ein versteckter jüdischer Teil existiert.

sogenannte wurzelort, ist meine Geburtsstadt

Das alles hatte großes Potenzial für ein Fami­

Oberwischau im Norden Rumäniens in der

liendrama. 2015 war ich wie jedes Jahr im András Dömötör. Foto Oláh Gergely Máté

Nathalie Eckstein: Thomas Perle, wie ist diese

Maramuresch. Dieser Ort war im Laufe der Jahrhunderte geprägt durch Grenzverschie­ bungen, Fremdherrschaft, Besetzungen und Besatzungen – davon ist natürlich auch mei­ ne Familienbiografie geprägt. Also mütterli­ cherseits kommen meine Vorfahren zum Teil aus dem Salzkammergut in Österreich und zum anderen Teil aus der Zips in der heutigen Slowakei. Die beiden deutschen Volksgrup­ pen haben sich anfangs nicht gut verstanden, als sie sich Ende des 18. Jahrhunderts dort

Sommer in Oberwischau und habe gedacht, ich muss über diesen Ort schreiben, weil die­ ser Ort einfach mitteleuropäische Geschichte erzählt durch das Hin und Her von Grenzen, Sprachen, Biografien. Da war gerade die Ge­ flüchtetenkrise in vollem Gang, und ich wollte als Dramatiker eine Antwort darauf finden, warum alle Länder plötzlich nationalistisch ihre Grenzen dichtmachten, wie rechtspopu­ listische Parteien in Parlamente einzogen, wie die AfD in Deutschland. In Österreich

angesiedelt haben. Sie sind sich sehr aus

hatten wir plötzlich eine rechtspopulistische

dem Weg gegangen und haben die „teitschi

Regierung, und über die Diktatur von neben­

Reih’“ gebaut, gegenüber die „Zipserei“, sie

an in Ungarn möchte ich gar nicht sprechen.

haben also getrennte Häuserreihen auf der jeweiligen Seite des Flusses angelegt, und

Thomas Irmer: In welcher Sprache denken Sie,

deswegen gibt es in Oberwischau heute noch

wenn Sie Ihre eigene Literatur denken?

den Stadtteil Țipțerai. Dort wohnten zunächst

Thomas Perle: In allen. (lacht) Ich bin drei­

Holzarbeiter, die über Wochen im Wald arbei­

sprachig aufgewachsen oder viersprachig,

teten, während die Frauen im Tal sich um den

wenn man den Dialekt dazuzählt, meine Mut­

Hof gekümmert haben. Irgendwann fingen die

tersprache, also meine erste Sprache wäre

Folgegenerationen an, sich untereinander zu

Deutsch, das Zipserisch oder Wischau­

verheiraten, weil dann doch ein Zipser Holz­

deutsch, um genau zu sein, meine zweite

Thomas Perle. Foto Volker Schmidt

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fäller ein Auge auf ein hübsches Mädchen aus Österreich geworfen hat. Als Staat war eh alles Österreich. András Dömötör: Österreich-Ungarn. (lacht) Thomas Perle: Das war das erste Verschmel­ zen von Sprache, mein Heimatdialekt ist da­ durch entstanden, dass dieses Zipserisch aus der Zips gänzlich verschwunden ist und nur noch als Bezeichnung geblieben ist, wohinge­

Sprache ist das Rumänische, weil das ja auch eine Muttersprache meiner Mutter ist, dann kommt die Vatersprache dazu, das Ungari­ sche, und dann eben das Hochdeutsche nach unserer Emigration. Und als Kind habe ich auch bemerkt, wie ich gewechselt habe im Denken, weil mein Großvater früher auf mich aufgepasst hat, und da war Rumänisch sehr präsent. Nach unserer Auswanderung war ich meiner Mutter und meiner Schwester und

gen dieses obderennsische Idiom sich be­

dem deutschsprachigen Teil meiner Familie,

wahrt hat, dieses Österreichische aus dem Salzkammergut. Der Vater meiner Mutter war

chen Verbindungen hat. Das war anscheinend

der auch ausgewandert war, ganz nah und

aus dem Süden Rumäniens, und wie ich neu­

im Kommunismus so geregelt, und so hat

wechselte ins Zipserische. Danach ins Hoch­

lich erst von Herta Müller gelernt habe, wurde

meine

deutsche.

er als Gendarm so weit wie möglich von seiner

Großvater geheiratet, weil es eben Zitat Groß­

Meine Primärsprache ist das Deutsche.

Herkunftsfamilie ans andere Ende des Lan­

mutter „keine deutschen Burschen mehr gab,

Und Ungarisch musste ich erst wieder korrekt

des geschickt, damit er dort keine persönli­

die man hätte heiraten können, weil der Hit­

lernen, als ich während des Studiums zwei

Großmutter

meinen

rumänischen


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Ungarisch-Kurse belegte, weil ich endlich ler­

nien und diesem Dialekt. Was waren die Überle-

nen wollte, wie das mit der Vokalharmonie ist,

gungen, das in Berlin auf die Bühne zu bringen?

wie man richtig Ungarisch schreibt und liest,

András Dömötör: Immer, wenn ich mit einem

das konnte ich nie.

Stück arbeite, suche ich nach einer persönli­

Katrin Klein, Julia Windischbauer, Judith Hofmann in der Uraufführung von „karpatenflecken“ am Deutschen Theater. Foto Arno Declair

chen Verbindung. Sonst kann ich nicht damit Thomas Irmer: Das Stück ist in einer stilisierten

arbeiten. Das bedeutet, ich muss Probleme

Dialektsprache geschrieben?

oder Versatzstücke aus meinem eigenen Le­

mopolit“, aber du kannst sagen „Ich bin das,

Thomas Perle: Ich habe versucht, meine Mut­

ben suchen, aber in diesem Fall musste ich

das und das“. Und es gibt diese Stelle im

tersprache so gut es geht zu notieren. Weil es

nicht suchen. Für mich hat das Stück zwei

Stück, als die Familie in Deutschland be­

eine aussterbende Sprache ist, war es ein

Ebenen: Eine ist der konkrete historische

weisen muss, dass die deutsch ist, und ich

­Anliegen für mich, diese Sprache irgendwie

Hintergrund, der viele Gemeinsamkeiten zu

glaube, das berührt viele politische Diskurse,

zu konservieren. Die Generation meiner

meiner eigenen Familengeschichte aufweist.

die heute virulent sind. In Deutschland gibt

Schwester und meine Generation sind die

Und die andere ist die politische Ebene, die

es permanent Migration, und es ist nicht

letzten, die das sprechen. Meine Verwandten

Thomas schon genannt hat, der aufsteigende

möglich zu sagen, das sind Osteuropäer:innen,

sind immer erstaunt, wie gut die deutschen

Nationalismus und die Frage nach der eige­

die da kommen, weil das eine Kreislaufstruktur

Schauspielerinnen das lesen und unseren

nen Identität in Reaktion auf nationalistische

ist, die mit deutschem und öster­reichi­schem

­Dialekt nachmachen.

Bewegungen. Wir sind alle gemischter Her­

Kolonialismus im 17. und 18. Jahrhundert

kunft.

angefangen hat. Dieses Kreislaufmodell er­

Thomas Irmer: „karpatenflecken“ ist also auch

Wir denken, dass diese Leute dumm

scheint mir sehr wichtig für Berlin.

eine sprachbewahrende Arbeit.

sind, aber es ist wichtig, ihre Prinzipien zu

Thomas Perle: Ja, aber nicht nur das, denn

verstehen und wie sie verbunden sind mit der

Nathalie Eckstein: Gerade wird das Thema der

inzwischen wurde es ins Rumänische, Unga­

Art, wie wir die Welt sehen. Und Thomas’

innereuropäischen Migration durch Vertreibung

rische und Italienische übersetzt.

Stück zeigt, wie man verbunden ist mit ver­

und Flucht relevanter als je zuvor. Wie blicken

schiedenen Nationalitäten und wie es die

Sie angesichts der Situation jetzt auf das Stück?

Thomas Irmer: András Dömötör, Sie haben die

Frage nach eigener Identität dekonstruiert.

András Dömötör: Ich glaube, das ist ein Effekt

Uraufführung inszeniert am Deutschen Theater in

Bist du deutsch, bist du ungarisch, bist du

von Theater. Dass wenn ein Stück gut ist,

Berlin, weit weg von Österreich, Ungarn, Rumä­

jüdisch? Du kannst nicht sagen, „Ich bin Kos­

wird es immer mit dem in Verbindung stehen,


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stück

/ TdZ Juni 2022 /

was in der Welt passiert. Und ich möchte

bung ist Teil meiner Familienbiografie, und

deren Krisen, die wir durchstehen, dass wir

nicht, dass der Text reduziert wird.

das hat sich natürlich auch ins Stück einge­

irgendwann einfach nicht mehr existieren

Mir ist etwas Ähnliches passiert, als

schrieben, meine Urgroßeltern sind 1944 mit

werden. Also der Mensch macht die Natur ka­

ich „Die Pest“ inszeniert habe. Es ging plötz­

fünf Kindern vor der Roten Armee ins Sude­

putt, aber die erholt sich ja wieder, das war

lich nur noch um Corona. Und was die Insze­

tenland und später nach Ungarn geflohen, wo

auch die Idee von Wald und Berg – was ist für

nierung von der „Pest“ auch gezeigt hat:

sie den Krieg überlebt haben. Und dieses

die eine Million Jahre?

­Meine Inszenierung beginnt damit, dass der

Trauma hat sich natürlich auch in mir fest­

András Dömötör: Für mich geht es in der Szene

Sprecher sagt, dass die Menschen nicht an

geschrieben und wird immer Teil meiner Ge­

um Zeit und dass wir Zeit als eines der

den Krieg glauben. Die Leute denken, dass so

schichte sein – und lässt die jetzige Situation

Prinzipien des Textes verstehen. Ich habe die

etwas nie wieder passieren wird. Und das ist

sehr emotional erleben. Bei meinen Großtan­

Jahreszahl auf die Wand projizieren lassen.

das Problem des Humanismus, dass es ein­

ten kommt alles wieder hoch. Ich beobachte,

Und wir sehen den Countdown bis 1942, wo

fach außerhalb unserer Vorstellungskraft

wie das in deren Generation so stark wird,

das Stück beginnt. Ich wollte das Stück mit

liegt, dass ein Krieg passieren kann, und des­

dass meine Großtante sich letztens selbst

einer anderen Perspektive beginnen und eine

halb sind wir nicht darauf vorbereitet. Und

wiedererkannt hat in den Kindern auf den vie­

Ebene schaffen, die über die Zeit reflektiert,

ich, und das mag düster klingen, aber ich war

len Bildern von der Flucht vor dem Krieg.

das war der Punkt, und auch die Idee von mir, dass die Großmutter den Berg spielt und die

vom Krieg nicht überrascht. Und ich denke auch, dass das, was wir vorher hatten, die

Thomas Irmer: Der Titel kann eine geografische

Mutter den Wald, um ihre Konflikte oder ihre

Jahrzehnte des Friedens, eine Illusion war,

Nähe suggerieren, also die Karpaten, die bis in

Beziehung zu entwickeln, dass die Großmut­

denn wenn wir uns die Geschichte anschau­

die ungarisch besiedelte Westukraine reichen.

ter diese uralte Göttin ist, die über das

en, dann gibt es ständig Kriege, und dieser

Thomas Perle: Dazu habe ich ein Kinderbuch

Schicksal der Familie entscheidet, und im

hier ist im Grunde genommen näher an uns

geschrieben, zur Geschichte der Marmarosch,

Vergleich zu ihr ist die Mutter nur der Wald,

dran, aber es gibt viele Kriege, die einfach

die lange als Komitat Máramaros doppelt

und dann kommt das Enkelkind, das wieder

nicht in unserer unmittelbaren Nachbarschaft

oder dreimal so groß war und eben ein heuti­

eine andere Generation als Mensch ist.

sind. Und so war dieser Krieg für mich nicht

ger Teil der Ukraine ist. Das Kinderbuch soll

Thomas Perle: Die drei Schauspielerinnen

so schockierend. Natürlich, die Schreie sind

jetzt illustriert werden.

sind grandios, ich war wirklich begeistert von diesem Ensemble, weil die schon so eine

näher, und man spürt, dass sie näher sind. Ich habe keine wirklichen Illusionen über un­

Thomas Irmer: Ich würde gern noch über die

deutschsprachige Diversität reinbringen. Wir

sere Geschichte. Es ist nur realistisch, dass

Elemente des magischen Realismus sprechen,

haben zum einen Katrin Klein, die in Ostber­

wir einen Krieg haben, dass wir eine Pande­

also der sprechende Berg und der sprechende

lin und in der DDR eine Vergangenheit hat

mie haben, dass wir ständig mit diesen Kata­

Wald.

und seit 40 Jahren ein Urgestein am Haus ist,

strophen und Unglücken konfrontiert sind.

Thomas Perle: Ach Gott, der Wald und der

dann haben wir die Schweizer Schauspielerin

Ich würde sagen, dass ich ein Optimist bin,

Berg. Wenn du, András, sagst, du wärst ein

Judith Hofmann und die jüngste, die Öster­

ich denke, wir können immer einen Weg fin­

Optimist – als ich diese Szene geschrieben

reicherin Julia Windischbauer. Auch das fand

den, auf diese Krisen zu reagieren, aber zu

habe, war ich doch ein ziemlicher Pessimist,

ich faszinierend, diese drei Generationen,

sagen: „Wow, das passiert jetzt, das war nicht

da der Berg anfing, mit mir zu sprechen. In

aber darin auch eine Dreistaatlichkeit, und

erwartet“, halte ich für sehr naiv. Und selbst

den Waldkarpaten ist der Wald sehr präsent,

gespielt wird es in einem vierten Staat, näm­

ich, der ich aus Ungarn komme, sage so et­

und ihm wird Gewalt angetan. Es gibt unkon­

lich der neuen Bundesrepublik. //

was nur in dieser europäischen Blase.

trollierte Abholzung, und die Waldmafia treibt ihr Unwesen. Ich habe für diesen Wald ge­

Thomas Irmer: Anders gefragt – ist das seit

sprochen und für den Berg, aber eben in einer

Am 9. Juni ist die Inszenierung zu Gast beim Dra­ma­

­Februar ein anderes Stück geworden?

fernen Zukunft. Meine Dystopie war, damals

­tiker:innenfestival in Graz.

Thomas Perle: Das Thema Flucht und Vertrei­

auch ohne Krieg, mit der Klimakrise und an­

Im Deutschen Theater wieder am 14./15. Juni

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thomas perle_karpatenflecken

/ TdZ Juni 2022 /

Thomas Perle

karpatenflecken Entstanden mit der Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien

figuren der wald / kolonist / der rumäne der berg / kolonist / ein arbeiter

der berg

die mutter / kolonistin / die fremde / die tante die tochter / die enkelin / kolonistin

der wald

greti / margarethe / margit / margareta, die großmutter der name der figur variiert je nach politischer lage / besatzungsmacht / ort.

der berg der wald

// sprachen manche figuren sprechen rumänisch und/oder ungarisch. mit diesen sprachen soll frei und kunstvoll umgegangen werden. muttersprachler nicht ausdrücklich gewünscht. ebenso wird zipserisch/wischaudeutsch gesprochen. ein altösterreichischer dialekt, der durch seinen oralen charakter von sich aus schon wandelbar ist. mit ihm soll als kunstsprache umgegangen werden. prolog. ein land nach uns. nach unserer zeit. nichts. da nichts mehr. wo einst. menschen. stimmen. sprache. sprachen. nichts mehr da. verschwunden alles. am wurzelort. reste noch. vielleicht noch reste irgendwo. reste von stein. von holz. häusern. vielleicht irgendwo. vergraben. versteckt. noch. ja. vielleicht. muss vielleicht nur ein wenig genauer. suchen dort im satten grün. im sommer. dort unten im tal. genauer schauen. dort unten. im tal.

der berg

der wald

der berg

der wald der berg der wald der berg der wald der berg der wald

der berg der wald der berg der wald

der berg der wald

der berg der wald der berg der wald

schau wo? na schau doch genau dort. wo? wo soll ich denn hin schau! dort unten dein fuß schau dort an deinem fuß meinen fuß anschauen? deinen fuß. ja. da. hier? ja. genau

der wald

der wald der berg der wald der wald der berg

da siehst du es? was soll ich denn was soll ich da sehn? na da noch reste da an einem fuß. kannst du sie? kann nichts. seh’ da nichts. ganz klein sieht man da an deinem fuß noch was. ich kann es noch erkennen. erinnerst du dich? erinnerst dich? an was erinnern jetzt? was hast du auf einmal? heut bist aber sehr auf einmal was? auf einmal was bin ich heut? was? jetzt schrei nicht gleich werd mir nicht gleich so nervös! närveeß. was? erinnerst dich nicht mehr? an wås? da! wås? ha! es ist was da etwas ist noch da ißt pliebn. übrig noch ßichär. jå. awåß. lachen. war doch schön nicht? schweigen. wie lang ist das jetzt? lang. lang ist’s lang. schweigen. wie lang genau? ein stückchen bin ich gewachsen seither.

so viel gewachsen seither. zeigt, wie viel er gewachsen seither. der wald so viel? wirklich? so viel gewachsen seither? das ist der berg eine zeit eine zeit vergangen ja der wald verrückt der berg grinst. farruckt. der wald grinst. farruckt. vermiss’ sie schon ein wenig schon vermiss’ ich sie. der berg du? echt? du vermisst sie? du?! der wald ja. wieso du?! wieso betonst das du so? du! ja du! so wieso? der berg du vermisst sie? du? obwohl sie dich so behandelt? so schlecht behandelt dann am ende dann? der wald ja. komisch nicht? schon seltsam. meinst, sie kommen wieder? irgendwann? der berg glaub nicht. glaub ich nicht. glaub die haben sich jetzt endgültig glaube ich. glaube das war der schluss. glaub die gibt es gar nicht mehr. der wald allgemein? meinst im allgemeinen, dass sie der berg weg? ja. ganz im allgemeinen glaub’ ich dass sie alle weg verschwunden überall. sich gegenseitig der wald nein! das glaub ich nicht. ich glaub das nicht. die können doch nicht! der berg hast doch gesehen, was sie der wald mit denen ihresgleichen gemacht? ja. das hab ich. der berg wozu sie imstande.

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stück

der wald der wald

der berg

der wald der berg

der wald

der berg der wald der berg der wald

der berg der wald der berg der wald

der berg der wald der berg der wald der berg der wald

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ja. schweigen. weiß auch nicht, warum ich jetzt an sie warum ich plötzlich denk an sie ganz plötzlich. weil ich da an deinem fuß etwas entdeckt da ist nichts rein gar nichts da an meinem fuß. doch schau. da. nichts da ist nichts da. jetzt stell dich nicht so an und schau genau. jetzt schau da mal genau. da ist etwas von ihnen parasiten! bitte? parasiten hab ich gesagt! waren schon sehr parasitisch parasitär. sagt man kenn mich gut sehr gut aus mit parasiten. mein holz sie mir immer genommen. am anfang noch wenig. aber dann immer mehr und mehr und mehr und mehr und mehr und mehr und mehr und mehr und hab schon verstanden. mehr und mehr und mehr jaha! selbst als sie selbst immer weniger immer weniger parasiten trotzdem immer mehr holz immer mehr und mehr und mehr und mehr hab’s verstanden! und mehr. und mehr. und mehr ich hab schon bis fast nichts mehr da. schweigen. kannst dich glücklich schätzen dass die zeit kann mich glücklich, dass die zeit

der wald

der berg der wald

da hast du recht. schweigen. ach. bin ganz froh, dass die jetzt weg. tut mir leid was tut dir? das erinnern. tut mir leid für die erinnerung. ich mach’ am fuß dir das weg. schau. so. wieder weg. alles weg weg wie sie.

chor der frauen I. ♪ dort oben dort oben an der himmlischen tür steht eine arme seele schaut traurig herfür.

greti die enkelin greti

die enkelin greti die enkelin

greti die enkelin greti die enkelin greti

die großmutter immer schon ein altes weib. greti die enkelin greti die enkelin greti

die enkelin greti

die enkelin greti die enkelin greti die enkelin greti die enkelin greti die enkelin greti die enkelin greti die enkelin

ich bin ein altes weib. bist zwanzig. sag ich ja. ein altes weib bin ich. oma wieso bist noch nicht varheiralt? warum ich nit varheiralt? kibt ka mensch. keinen menschen. ka mensch. ka teitscher månn tå im tål. kein deutscher mann hier im tal. wie ßind kummen tie hitleristen als das horthyregime hier ter hitler wår jå weit weit wék. weit weit weg. amol is kummen anär kam einmal einer håt er tie hånt aßo hinauf aßo hinauf der seine hand so inni luft aßo in die luft so inni heeh in die höhe

die enkelin

greti

weißt jå. wie tie hitleristen aßo. håb ich ihm ång’schaut håt er mich ång’schaut ßoll ich auch aßo hebn tie hånt. greti, wås iß mit tir? heeb tie hånt. ßo håt er ksågt. und? ich ich håb nit k’hobn! die hand die hob ich nicht wie er. nein. meine hand blieb unten. håb ich ihm zum fondi kschickt. zum teufel hab ich ihn gejagt. noch forn krieg wår tås. das war noch vor dem krieg. der hitler dann ja alle deutschen tie scheenen pubn ålli in krieg hat er k’schickt. ter teivel. ich wår ka hitleristin nit. ich nit. nor a romener. oder a rußnak! na! a romener a walåch heiral ich nit! ich pin a teitschi ßeel. våterland mit zwanzig ich ein altes weib. wer hätt’ mich wer hätte mich schon heiraten sollen? sag du mir. wer? alle burschen die deutschen burschen im krieg gefallen. wegen dem hitler vaterland. fürs vaterland. wo war das vaterland für uns? sag! deutschland unser vaterland auf einmal? hier das tås

MONIKA GINTERSDORFER, MONTSERRAT GARDÓ CASTILLO, ANNICK CHOCO UND GÄSTE

25.6.

POLITICS OF INVITATION #6: LA FINALE SYMPOSIUM, PERFORMANCE, PARTY

fft-duesseldorf.de


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/ TdZ Juni 2022 /

die enkelin

greti die enkelin

schau tort. ßiekst in perg tort? tås is mein våterlånd. und schau tort. oben ter wåld. tås mein våterlånd. meine seele ist mein vaterland. mir doch wurscht ob das ein ungar das ein jude ein ruthene. nor a romener a walåch nur einen rumänen einen walachen heirate ich sicher nicht! einen rumänen sicher nicht.

alle sie das blut gesehen. ausgeblutet dann das deutsch. in jenem jahr. in dem alles anders. weil der krieg. ein kalter diesmal. zu ende. eine mauer. die mauer. gefallen. und in diesem land. in diesem armen land. am wurzelort. eine revolution. im fernseher die lebensgenossen tot. vor den fernsehern, den televizoren, das ganze land. in die röhren schaut. die mutter

ich schau und glaub nicht. kann nicht. incredibil. extraordinar. mir durch den kopf. die dauerwelle schüttle ich und kann nicht glauben was da atme nicht. atmet keiner niemand hier. jeder hält die luft im ersten moment hält jeder die luft an. diese puppen die glotzen diese glotzenden

die tochter

puppen. marionetten leichen. zeigen uns da leichen. leichen da im televizor. mit meinen augen schau ich und halt meiner tochter die augen nicht kann meiner tochter die augen nicht zu halten. schüttle nur die dauerwelle die auf meinem kopf der ganz leer und nicht weiß, was er denken soll. freu ich mich? ich weiß es nicht. kann nicht sagen, ob das freude. mir jetzt freuden tränen die wange herunter. glaube nicht, dass das freuden aber wissen tue ich es nicht. kann nicht wegschauen. um mich herum jubeln sie bejubeln sie den tod. ich versteh’ das nicht. und schaute nur noch auf meine mutter die ungläubig da in die röhre stumm. weiß nicht, ob das freude muss musste musste doch freude! das ganze land freute sich doch über diese beiden leichen da im fernseher. sie sich doch alle gefreut. der diktator und seine frau geflüchtet. geflüchtet gefunden tot. sie vor allem sie seine frau sollte tot. am meisten freuten wir uns

WOUNDS ARE FOREVER (SELBSTPORTRAIT ALS NATIONALDICHTERIN)

von Sivan Ben Yishai Uraufführung

darüber, dass sie da tot. sie. ja. sie sollte tot. konnte ruhig tot. er hingegen hätte ruhig noch leben ein wenig. oder? die mutter dieser prozess was war das für die tochter der lächerliche prozess den sie schnell schnell lächerlich. tot musste er tot musste sie die größte wissenschaftlerin im land unsere aller mutter. auch ich hasste sie. schon als kind. ja. das hatte ich von meiner mutter gelernt. ein wenig gejubelt meine mutter als der lebensgenossin die hände gebunden. und das goldene armband im fernsehen in großaufnahme. als sie geschrien. ihre kinder angeschrien da die freude groß. die mutter das ist also der moment auf den wir alle auf den wir alle sehnsüchtig. haben wir uns das so gewünscht? mal ehrlich haben wir es uns so gewünscht? nach all den jahren schnell schnell und schüsse in die knie und tot in die kamera pfui. die tochter pfui. // die mutter pfui. die tochter und ging dann aus dem zimmer weinend aus dem zimmer. seh’ sie vor mir im garten stehen unter dem nussbaum dort im garten stehen. still. am nächsten tag dann packte sie.

THTR RMPE Eingeladen zu den Autor:innentheatertagen 2022 Deutsches Theater, Berlin 08. – 18. Juni Koproduktion mit dem Nationaltheater Mannheim

THEATERRAMPE.DE

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stück

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sollt euch eine heimat machen.

fui. ß’ a schiechi stådt!

die kaiserin befahl „mit dem waldwesen vertraut. im bau von holzriesen, schleusen, rechen und klausen. im holzwirtschaftlichen betrieb geschult. eyn gar wildes thal erschließen“. schickte volksgut fort.

in ’n wåld! in ’n wåld! weitär! weitär!

die kolonisten wir packen packen unsere sieben sachen. in ischl. in gmunden. in ebensee. ob der enns. in tirol. in der steiermark. wir die ersten kolonisten. gen osten! gen osten! wandern wandern wandern aus in diesem großen großen reich.

nicht mehr war verschwunden. sollten jetzt das lineal in die hand und die füller. durchstreichen! fingen an durchzustreichen die propaganda aus den schulbüchern. verschwinden lassen zeile für zeile. auch erste freundinnen waren verschwunden.

auf fuhrwerken weiter immer weiter weiter weiter. weitär. weitär. immär weitär richtung marmarosch! und heimat machen! pagus vissó circa annum MDCCLXX primos accepit colonos germanos ex austria. im jahre 1770 circa kamen die ersten deutschen kolonisten aus österreich hier an.

ka prot! ka prot! die wahre noth!

schau wie kroß! ter traunsee. mit dem schiff darüber schau tie fisch! auf der donau. der donau entlang.

in den westen. 1990.

vier tage bis nach wien. wien! wien! tå schau wie scheen! aßo scheen ßo scheen! fui. ß’ a schiechi stådt!

die tochter

und weiter weiter sechs tage weiter.

die mutter die tochter

die mutter die tochter

die mutter die tochter

pescht! schau schau tie donau! wie scheen! aßo scheen ßo scheen!

im neuen jahr ließ ich die uniform die schuluniform meine blieb im schrank. mama sagte die müsse ich nicht mehr musst nit. zur schule gehen soll ich ja jå zur schule gehen noch. kånnst kann ich muss ich aber nicht mehr lang. die ersten bänke waren leer schon am ersten tag im neuen jahr. lächelte der diktator an der wand

03./04.06.2022

Premiere

Macht #3 – Hoffnung Johanna Roggan/ the guts company 07.06.2022

Philip Glass zum 85. Geburtstag

Im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele

zwischen flüssen. 1790. die kolonisten wir heimatlosen fremdlinge auf diesem flecken erde hier am rande der welt am rande der monarchie machten uns schafften uns einen unseren neuen wurzelort. in diesem tal hier.

die kolonisten was ist das hier? was soll das hier? kein brot. kein brot.

www.hellerau.org

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schau wie scheen. aßo scheen. ter wåld. tie luft. tås wåßär die luft so gut. wir trauern nicht um die alte heimat alte heimat trauern wir nicht. eine kolonistin ich wein ein bisschen ein kolonist ich auch nur mein wein ist der schnaps. die kolonisten die sprache eine kolonistin språch! ein kolonist pahålt-mer ßich. die kolonisten erhalten wir

10./11.06.2022

The Sacrifice Dada Masilo

15. – 26.06.2022

Festival „Young Stage“


thomas perle_karpatenflecken

deutsche volkslieder erklingen von dort von da und dort. und wem wir begegnen dem rufen wir fröhlich grüßgott ein kolonist krießkott! die kolonisten zu. tardius supervenerunt germani et slavi e scepusio. später noch anderes deutsches volk und slawen hier ins tal gewandert. die kolonisten moment moment wer kommt denn wer kommt von dort? schaut’s tort! eine kolonistin schaut’s tort! wär ßeits eeß? die kolonisten wer seid ihr? ein kolonist

kommen andere schau da von dort von anderswo die kolonisten kommen noch mehr angesiedelt hier. und sprechen ja was sprecht ihr? welche sprache ihr? deutsch teitsch wie wir?

das hier unsere heimat jetzt! deutschland dann heimat aller deutschen. nach dem krieg. nach ihrer ausreise sitzt die großmutter dem deutschen beamten gegenüber. margarethe

ßind wir aus siebenbürgen. und tort wu haben sich unseri vorfahren angesiedelt aus eesterreich ßind kommen deutsches volk auch von anderscht heute slowakei. ein paar aus polen galizien. die habent ßich nicht vermengt. teitsches volk und teitsches volk af tie goschn habnt ßich gebn. die kolonisten af tie goschn! af tie goschn kriegts! alte wunden gerissen wie grenzen.

der schiedsspruch gesprochen. der zweite. im fernen wien. weit weg von hier. am wurzelort es sommer. in der nacht die herbstluft kalt und frisch schon durch die blätter weht. am 30. august 1940. schranken werden aufgetan. soldaten marschieren. marschieren ein im wurzelort. margit die enkelin margit die enkelin margit die enkelin

margit

nein. ihr seid fremd eine kolonistin fremdi ßeids! wék! keht’s wék! wék wék fun tå! die kolonisten weg von hier. baut woanders eure reihen!

die enkelin

margit

ht schütteln! it viel Gesang. ic n te it B i n u 9./11. J es Theater m Konfliktscheu ugias er Stall des A d d n u s le u rk He 15./16. Juni riedrich Dürrenmatt F n o v ug Ich habe gen 18./19. Juni Abschiede. Mit Bach. Über

wie ßind kummen die madjoren als die ungarn kamen wår ßummär. war sommer. håb ich k’årbeit’ af tie póduri oben k’maht tås gråß habe ich oben auf der póduri dem plateau das gras gemäht. håm-mer k’håbt tie teitschi schul wår-mer jå teitsches volk nit? wår-mer teitsches volk. ich håb ßähr kud håb ich k’lernt. ßähr ßähr kud. ich ging auf die deutsche schule waren ja deutsches volk nicht? nor wie ßind kummen tie madjoren war nix mähr teitsch.

im Tojo Theater Reitschule Bern

uns stolz. und machen schöne blonde kinder. bauen häuser ein kolonist zimmär! die kolonisten unsere zimmer die bauen wir in einer reihe ordentlich. mit einer stubn und einer kuchl. jenseits hier im jenseits der wälder wo nachts die wölfe heulen eine kolonistin und kummän tir pis vorn fenster tie welf! ein kolonist jå! die kolonisten bis vors fenster kommen sie nachts die wölfe. im winter wenn oben oben dort im wald nichts mehr zu fressen eine kolonistin fressnt unseri kinder! ein kolonist tie blondn scheenän. die kolonisten spielen viele blonde kinder jetzt auf unseren gassen die morastig ungangbar wenn es regnet. bloßfußig rennen sie da zwischen unseren höfen. arm sind wir doch kinderreich. die kolonisten zwischen unseren gärten die wir bewirtschaften. das gehört uns. eine kolonistin unseri fisolen tås! die kolonisten das ist unser. was wir wirtschaften zum fressen für uns. unsere höfe die wir fegen sauber ordentlich eine kolonistin teitsch. die kolonisten und singen singen singen

THEATER MARIE

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stück

auf amol wår tås dorf voll mit tschendern. die enkelin schändern. gendarmen mit ihren pfeilkreuzen die nyilaschen. die ungarische miliz. margit ålles af amol nor madjorisch herst? jeder kuhtreeck håt missn ßein madjorisch! die enkelin jeder kuhdreck musste ungarisch auf einmal. damals lebten vielleicht fünfzig ungarn hier im dorf. ein dorf mit ein paar tausend seelen. der rest margit teitsches volk die enkelin deutsche rumänen margit walåchn zigeinern die enkelin roma margit rußnaken die enkelin ruthenen margit polackn die enkelin polen margit auch armenär die enkelin armenier margit und tie judn die enkelin juden. margit und ßind kummen tie feinen madjoren. ßich auszeigt af tie gåssn. madjorisieren håbnt wolln ålläs. und tås teitschi volk ißt wordn madjorisch. margit håbnt mich kmåcht. meini schwester erika ißt wordn a ildikó. aufpassen håst missn. wånn håbn tich k’härt reden teitsch inni schul håst kriegt håst kriegt af die goschn håst kriegt. oder håb’n tich zogen pan tie håårn ieberm ohr. tå. zieht die enkelin an den haaren über dem ohr.

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die enkelin margit

die enkelin margit die enkelin

margit die enkelin

margit die enkelin margit die enkelin margit

die enkelin margit die enkelin // margit margit

au! aßo håb’n tich zogen. ich lern tich awåß. loos mich. ich bring dir etwas bei. hör mir gut zu. loos här! die ungarn die magyaren gingen ganz herrschaftlich herrschaftlich und fein gekleidet in ihren uniformen auf den gassen. hielten sich für besser. auf der straße hast dich nicht mehr getraut zu reden und auch im haus hattest du angst. ständig diese angst. die deutsche schule haben sie zugesperrt. alle namen sie geändert. alles nur noch ungarisch. doch trotz allem magyarisieren gab es im ganzen tal nur stinkiges volk stinkertes volk plötzlich fing es zu stinken an im tal. wenn ein ungar auf der gasse hast du nur gehört büdös czipszer. stinkender zipser. büdös olah. stinkender rumäne. büdös zsidó büdös czigány büdös. büdös. büdösch. büdösch. büdösch. büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch büdösch.

der wald gefällt. gefällt. gefällt. baum fällt! baum fällt fällt fällt. baum fällt! fällt fällt. baum fällt! fällt fällt. und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen. fällt fällt fällt. und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen. fällt fällt fällt! baum fällt! fällt fällt. baum fällt! fällt fällt. baum fällt! baum fällt! baum fällt! feld. feld.


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feld. baum fällt! fällt fällt. baum fällt!

fallen die burschen fallen die bäume fallen die bäume fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen fallen die bäume.

fällt still. fällt. und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen. ein alois auf dem karren tot tot ins tal und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen. ein alfred auf dem karren tot tot ins tal und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen. ter bubi! auf dem karren tot tot ins tal und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen! und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen! und fallen die bäume fallen die bomben fallen die burschen! fallen die bomben fallen die burschen fallen die bomben

shabbat ausgelöscht das licht für immer. auf der póduri. ein bergplateau mit feldern. wo kartoffeln. wo mais. dort die großmutter krumm auf dem krummbirnfeld. in der zeit nach dem krieg. die mutter im bauch noch ungeboren drückt auf die blase. die großmutter hackt. wühlt erde auf. so kommen sie zum vorschein die knollen. gegen den hunger den ewigen. den man gelitten. so gelitten auf der flucht. am feld vorbei fährt ein auto. weiß. glänzt in der sonne, die herbstlich schon. wühlt den staub auf. der wirbelt in der luft. greti nå tå schau här. sie folgt dem auto. will wissen wer das ist. wem das schöne auto gehört. mit fremdem kennzeichen. bleibt dort stehen, wo niemand sonst mehr stehen bleibt. greti und steigt aus a scheenes weib. kånz ellegánsch im weißn måntl. und schau ich wie keeht ßie zun tie grébär. und ßieg ich ßes wie legt ßie a staan af a gråb. und wie kummt ßie zuruck mit sunnänglésär af tie augn macht sie aßo die fremde winkt. na komm schon komm! kumm greti freindlich die fremde glück sollst haben mehr als ich. mit deinem kind. siehst dort das grab dort? liegt mein vater. der hatte noch ein glück. starb früh

zu seinem glück achtundreißig. für meine mutter gibt’s kein grab. die war zu alt fürs arbeiten zu alt für sie. auch kein grab für meinen mann keine gräber für meine beiden söhne. weiß nicht einmal in welche richtung der wind ihre asche geblasen. greti und meini goschn weiß nit wås zun ßågn. die fremde brauchst nichts sagen. sitz ein bisschen sitz nur ein wenig hier mit mir. sitz. und lausch dem wind. schweigen. sie lauschen. hörst ihn? auch du ihr werdet einmal weg von hier verschwunden sein wie wir. greti und ich fång zun låchn ån. und ßåg ich ihr uns ßamer kaam zuruck kummen vun fliecht. werd-mer nimmär weg fun tå. die fremde schweigt. drückt der großmutter eine schokolade in die hand. die schaut verwundert und bleibt zurück im staub.

westen. 1990. die tochter

geh dorthin zurück woher du gekommen! geh dorthin zurück! zurück zurück! geh dorthin dorthin zurück mit dir! denke mir ich bin doch von hier bin ich doch.

06/ 2022

JOH A NN A HEUS SER C O SIM A GR A ND PATR ICK GUS SE T DIE R A B TA L DIR NDL N T HE AT E R- R OX Y. C H

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stück

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teitsch in deutschland. ist nicht dasselbe. wollen helfen bei den blühenden landschaften herr kohl! tauschten einen bauern gegen dicken kohl. meine mutter geht jetzt fleißig arbeiten steht am fließband jetzt. und putzt nebenbei putzen wir. das diplom meines vaters haben sie anerkannt zum glück! was für ein glück wir haben. das diplom kann er sich jetzt anschauen der vater zuhause spätabends nach seiner schicht. auch er sortiert im lager pappkartons. wir bleiben. ich gehe sicher nicht mehr zurück!

margareta

die enkelin margareta die enkelin

margareta der rumäne die enkelin margareta die enkelin margareta die enkelin

osten. am wurzelort die brücken wieder aufgebaut. in den fenstern wieder scheiben. in dem dorf es wieder menschen, die zurück. und vergessen wollen. das elend. den krieg. das flüchten. die großmutter ist auf unterhaltung. auf einer hochzeit. ein rumäne hat ein auge auf sie geworfen. die enkelin

margareta die enkelin

und kamen zurück. wollten nicht in der fremde fremde wollten nicht dort ihr leben kamen zurück zuruck zahaus und fargessn. und tanzt die großmutter und dreht sich tanzt und vergisst. vergisst nicht wird nie vergessen ihr lebtag wird sie alles in sich

wie alle wird sie alles in sich doch für einen augenblick da schaut sie sieht den gendarmen in seiner uniform dort stehen. der schaut sie an liebe. auf den ersten blick tie liebe. wirklich? jå. und schaut verliebt sie an macht ihr der großmutter der jungen frau schöne augen. und kummt er zun mir tu cine ești? fragt die großmutter wer sie margareta. und verlieben sich an ort und stelle. und heiral ich toch a walåch. und heiratet doch die großmutter einen rumänen den großvater.

die enkelin ein arbeiter

die enkelin

der rumäne die enkelin der rumäne die enkelin der rumäne die enkelin der rumäne die enkelin

hinter den bergen donner. oktober 1944. greti

die enkelin greti

der rumäne kauft ein haus. der rumäne sucht ein haus für sich und seine frau und bald familie. sucht in einer straße. findet viele häuser leer. kauft sich eins davon. niemand spricht warum die häuser leer. darüber hat das volk zu schweigen in der rumänischen volksrepublik.

die enkelin

greti die enkelin

der rumäne

die enkelin

der rumäne

versucht eine dicke mauer einzureißen und flucht dumnezeu ce dracu’? să-mi bag picioru’ rahat cu praf în pizdă pschsch! zum teufel was für eine scheiße und so weiter mutterfotze la naiba

LIVE ART FESTIVAl #12 Back to live, back to irreality TIANZHUO CHEN Trance TRAJAL HARRELL / SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH DANCE ENSEMBLE Deathbed LA FLEUR Nana kriegt keine Pocken SIRWAN & GANG In your shoes BOUCHRA OUIZGUEN Éléphant MITHKAL ALZGHAÏR Clamours (Schreie) BEYOND THE LONE OFFENDER Dynamiken der alternativen Rechten

ce dracu’ ce-i asta? fragt den teufel was zum teufel das asta a fost casă de jidani jidani au stat aici înainte de război ein judenhaus das einst hier juden gewohnt vor dem krieg antwortet der arbeiter niciodată! taci din gură! und flucht den arbeiter an. aici niciodată jidani hier niemals es juden an diesem ort es numai nemți și români nur rumänen und deutsche ein paar în rest nimeni! sonst niemand hier!

greti die enkelin greti

Kongress in Kooperation mit dem Goethe-Institut Hamburg u.a. mit MANDEEP RAIKHY, TALYA FELDMAN, NURAN DAVID CALIS / SCHAUSPIEL KÖLN u.a.

unß håm-mer kut k’lebt zusammen ålleß volk. wir lebten sehr gut zusammen ålleß volk. jeder håt ßich schaut ßoll ßeini årbeit måchn. a jeder håt k’håbt ßein feiertåg. reschpektiert håm-mer ßich uns. hatten respekt voreinander. sprachen alle mindestens zwei sprachen trei språch a jeder mindestens zwei. selbst ein einfacher holzarbeiter musste wusste mehrere sprachen. kosmopoliten ein internationales dorf und wårent jå auch vieli judn in ort. trei sinagoganer wårnt.

2 2 0 2 N JU L HA E G A N P KAM

MBURG


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die enkelin

die enkelin //greti greti

greti

die enkelin greti die enkelin greti

die enkelin

greti

nor wie ßind kummen tie ungarn tie magyaren håm-ment wegfiert tie leit. af årbeit. ßo håmment k’ßågt. erscht kroßi stårki jidische ménnär. tåß zweiti mol ålli leit. beim zweiten transport haben sie gesagt die familien würden zusammengeführt. so haben sie gesagt. zusammenführung. ålli weibern. ålli kindern. ålli åltn. ålles jidischi volk håmment zåmmklaubt vun ieberåll und eink’sperrt tort. vun shtetl håmment k’måcht a ghetto. ßo wår tåß. tåß kånnst toch nit fargessn. håmment tie leit låssn farhungern. meini mutter ißt kången a couragierti kången tort zun zaun mit a labl prot und a liter milich. kébn fer die årmen leit. tås erschti mol håt er ßes noch klåssn ter ßoldåt tås zweiti mol håt er kschrien nem szabad! ßie terf tåß nit måchn. wånn noch amol kummt ßie ßo werd er ßes auch hinein tort tort hintern zaun. und nåchtän? einwaggoniert tie leit und wék. dann kam der donner ßo a tunnär hinter tie pergär. ter ruß håm-mer kwusst kummt ter ruß. werd ich nit sterben ná und dachte als junges mädchen fünfzehn war ich werd noch nicht sagte mir greti ná marl

die enkelin

greti die enkelin

greti

die enkelin

greti die enkelin

greti die enkelin greti die enkelin

greti die enkelin

tu ich sterb noch nit. der mensch hält mehr aus als er denkt. hinter den bergen fing es zu donnern an und die hitleristen deutsche soldaten jetzt gingen durch die gassen. sachen packen! schnell schnell! der russe kommt! ter ruß! ter ruß! half meiner mutter noch das geschirr zu zerbrechen. einen teller nach dem anderen. unser vieh freigelassen tie viecher unseri schweiner, kieh, huntn ålles und unß schaute meine kleinen schwestern an zwei kleine mädchen vier und zwei unß teitsches volk jetzt einwaggoniert. alles deutsche jetzt evakuiert. in den westen evakuiert. ich packte meine berge mir ins herz nahm meine karpaten mit. und fuhren so und fuhren so tagelang. am anfang noch als deutsches volk af polen. in polen pin ich ståndn nackert. wås? tås håb ich ter niemols nit tarzehlt. still. stand nackt neben der mutter mit den beiden schwestern eine links eine rechts ich sterb noch nit in polen stand ich nackt bei den duschen stand ich nackt. zwischen all den anderen frauen standen wir dort und froren warteten

greti die enkelin greti die enkelin

greti die enkelin

greti

die enkelin

greti

die enkelin

die enkelin //greti greti

tie språch unseri språch unsere sprache ähnlich jener farwechsalt. und vor der türe dort diskutierten sie. wir standen und warteten dann gingen die türen auf. af tie popiern håbnt ksegn. in unseren dokumenten deutsche vertriebene rumänische flüchtlinge auf dem weg nach nirgendwo flüchtig auf der flucht für immer gegangen. håm-mer tenkt unß keh-mer ewig unß ewig unß wék fun tiesi welt. dachte ich sehe meine berge meinen wald nie wieder. von einem lager in ein anderes. am ende des krieges verstummte unser deutsch sprachen ungarisch wurden rumänen romener håm-mer mißn ßein unß romener. unß teitsches volk. die menschen hatten einen solchen hass auf alles deutsche einen großen hass. kroßi gål. nå wåß machst? inni fremdn? wu? wu ißt tein ort? ßeimer zuruck.

chor der frauen II. ♪ arme seele arme seele komm zu mir herein. denn da werden deine kleider ja alle so rein. so rein und so weiß

HEY THERE! IS USING ME.

ON THE OTHER SIDE Ein interaktives Theaterplanspiel über Radikalisierung im Internet von VERAVOEGELIN und Sebastian Ryser [14 plus]

Infos & Karten 0341. 486 60 16 www.tdjw.de

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stück

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so weiß wie der schnee. und so wollen wir miteinander ins himmelreich gehn.

bitte ankreuzen. bekennen sie sich zum deutschtum? die wende machte grenzen auf. und viele dort am wurzelort packten. packten die kinder ein. packten für die kinder ihre sachen. schnell schnell. nicht zu spät sein. pünktlich sein. noch rechtzeitig hinaus, bevor die grenzen wieder dicht. die enkelin

margarethe

die enkelin

bekamen papiere die großmutter und die mutter. sie schrieben kreuzten an standen schlange saßen beamten gegenüber. ich bekenn mich ja zum deutschtum ja. zahaus nor teitsch nur deutsch zuhause wir deutsch g’sprochn deutsch gesprochen und deutsche bräuche teitsches volk deutsch. jå ja. wir packten unsere sachen mama packte unsere sachen und fuhren durch unseren wald in der roten dacia serpetinen in den westen. vollbepackt mit geschirr dem guten samt mamas porzellanfiguren. bluteten das land aus. flossen in den westen. standen schlange dort für die neue staatsbürgerschaft.

margarethe

die enkelin margarethe

die mutter

die mutter margarethe die enkelin

margarethe die enkelin

margarethe

die enkelin

margarethe die enkelin

sind deutsch ja. teitschi sagen wir. österreich ja eigentlich alles deutschland einmal nicht? lacht. da schaut er beeß mich an der beamte. und drückt mir den vertriebenenausweis in die händ’. ich bekenne mich zum deutschtum ja doch mein herz das blutet rumänisch noch. wir sind angekommen ich noch nicht. und sollt’ doch. nicht? so war doch euer plan. nicht? für mich uns kinder seid ihr doch weg. für uns. ich bin nicht angekommen. bin noch nicht angekommen. wie ich pin kummen af teitschlånd meine großmutter hat erzählt, dass sie unter einem tisch schlafen musste als sie in deutschland angekommen. tortn wår mein plåtz untern tisch håb ich missn schlåfn. hatte ein halbes jahr dort unter dem tisch die großmutter. hatte geld gespart. arbeit gefunden und gespart. auf einer matratze unterm tisch geschlafen. fer énk. für uns hatte sie gesagt. hatte schon schlimmeres erlebt.

margarethe die enkelin

die mutter

die tochter

die tochter

VANESSA STERN DIE RACHE DER PANDA-PUSSIES THEATER Juni 21 23 24 25 sophiensaele.com

außer haus red-mer hochteitsch jetzt! den osten hörten sie auf meiner zunge. lachten. sah den ostblock mir an. die karpaten wie flecken auf meiner haut ließen sich nicht weg ostblock ostblock ostblock jogging ziehst den jogginganzug an. so kleidet man sich hier. und zog den jogginganzug an ich den pinken und föhnte meinen pony rund. und war plötzlich in diesem land von dem ich immer geträumt.

flimmern.

t

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schau mir die mutter schau meine mutter ganz genau mir ganz genau ohne scham an. wie sie dort sitzt und starrt. ihr starrer blick in den kasten der rumänisch spricht die ganze zeit. und leben jetzt seit fünfundzwanzig? ja fünfundzwanzig jahren hier. kamen an hier. mit dem auto an. das flimmern bringt sie dorthin zurück woher wir weg. in ihrem kopf sie wieder drüben dort. lebt mehr im drüben


thomas perle_karpatenflecken

/ TdZ Juni 2022 /

greti

die tochter

greti die tochter

greti

Kaserne

die tochter

als im hier. im kopf. ihr herz hat sie dort als pfand gelassen. darum sind wir jedes jahr zurück. wie tie storchn. wer amol trinkt tås wåsser vun tortn kummt immär zuruck auch fremdi, wåß ßind kummen håmänd aßo ksågt. dort sie es sich wieder in die brust gesteckt und frei geatmet immer ein wenig freier und glücklicher geatmet dort. uns wår-mer tie erschtn mit a televizor inni gåssn. wir waren die ersten mit fernseher in der gasse. wenn ich als kind den fernseher an tanzten ameisen im schnee ganz schnell. nur zwei stunden am tag gab es programm. am abend. ein bisschen kommunistische propaganda danach dallas. der fernseher ging aus das licht ging aus die heizung ging aus. lebten in einem sparsamen land. unser diktator hatte einen plan. damals sagte man noch ganz offen sagte man diktator dictatoru’. ceauşescu nannte sich conducător. führer. ich auf meini åltn teeg håb ßo vieli diktatorn tarlebt im fernseher lächelt ceauşescu meine mutter lächelt auch ein wenig sehe ein lächeln in ihren augen die glasig. und verschwindet wieder. der fernseher zeigt wie wir gelebt im drüben. wie das war damals. zeigt die wahrheit der vergangen-

2.6.–4.6. Steven Schoch & Chris Handberg mit Choir of Matter Moontalker

heit. die goldene ära kitschkommunismus in der ich kind gewesen. die tante die enkelin

schwestern. ein wohnzimmer. aus vergangenen zeiten. im vierten stock. im block. am wurzelort. hinter spitzenvorhängen. zwischen makramee und perserteppich. vor sich neskaffee in porzellan. parfümierte rosenkränze in plastikdosen. aus plastik auch der lavour im waschbecken im bad, das rosa gekachelt. die tante die enkelin

die tante die enkelin

die tante

die enkelin

die tante

die enkelin die tante die enkelin

almástészta? apfelkuchen? gerne. danke. sehr lieb. vielen dank auch! köszönöm. porcukor nélkül? ohne puderzucker? puderzucker wichtig ganz wichtig essenziell. der muss sich über alles legen der zucker weiß. fehér. fontos. nagyon fontos fehér fehér. die dauerwelle der großmutter schimmert weißer als die ihrer schwester. hat sich gut noch gut gehalten die großmutter ist ein wenig gebogen schon der rücken. die stiegen hoch ging es schwerer als sonst. nehész nagyon nehész felmenni a lépcsőn schwer sehr schwer die treppen so steil meredek steil schon

10.6. Konzert Adrian Sieber Some Of My Best Friends Are Songs

13.6. Party 3.6. Konzert Liste Art Fair Basel × Swiss Bohren & Der Club of Gore Art Awards × I Never Read, Art Book Fair Basel 9.6.–11.6. Opening Party w/ Goldproduktionen Willikens & Ivkovic Vereinslokal Utopia

die tante

die enkelin

die tante die enkelin greti die enkelin

die tante die enkelin die tante die enkelin die tante die enkelin die tante die enkelin greti

die tante die enkelin

greti die tante die enkelin

zu steil. kann sie nicht mehr die tante sie nicht mehr steigen die stiegen. de vasárnap am sonntag aber die qual am sonntag das hinuntersteigen essenziell! für sie. vasárnap minden vasárnap a kín! le a lépcsőn fontos! essenziell das treppensteigen hinunter hinuntersteigen hinunter durch das dunkle stiegenhaus. a lépcsőjárás minden vasárnap a templomba jeden sonntag in die kirche! in welchi meeß kehst? fragt die großmutter ihre kleine schwester und die schwester die tante schaut sie bös’ ganz böse schaut sie ihre große schwester an. fél kilenckór! um halb neun! hát persze! in die messe um halb neun natürlich! magyar misére die ungarische messe selbstverständlich! hova máshova? wohin sonst? tie teitschi um zehn! warum schlåfst nit aus und kehst inni teitschi meeß? waal pin ich a ungarin! schreit die tante in ihrer muttersprache der sprache ihrer mutter. aßo jå na da schau her. die dame jetzt eine ungarin.

15.6.–18.6. Kunstbuchmesse I Never Read, Art Book Fair Basel 18.6. Party I Never Read, Art Book Fair Basel präs.: zweikommasieben Magazin Release w/ Mega u.v.a.

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stück

/ TdZ Juni 2022 /

JEAN GENET ESSAYS / INTERVIEWS

die tante die enkelin

WERKAUSGABE BAND IX Deutsch von Cristiane Kayser ISBN 978-3-87536-335-7

greti

MERLIN VERLAG

greti die enkelin

greti die enkelin die tante die enkelin

die tante die enkelin

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

lacht die großmutter lacht die kleine schwester die tante aus. die tante schaut schaut ihre schwester an ganz böse ihre große schwester an. ich måch a spaß. tie ungarn farstehn ka spaß nit. sagt sie zu mir und erwartet lachen. doch stille bleibt stille im raum. in der man sich die bilder an den wänden das hochzeitsbild von tante und onkel. in der ecke rechts darin ein bild das zwanzig jahre ganz bestimmt schon her der onkel ja bereits lange schon jetzt so lange auch schon tot. und sitzt und schweigt. noch a stickl påcherei? kern. vegyétek die tante legt noch ein stück apfelkuchen auf das porzellan mit dem silbernen rand. schaltet den fernseher selbstverständlich an. wir hatten das nicht. kannten das nicht. fernsehen. wurde uns verboten fernzusehen. die freiheit genommen zu jeder zeit fernzusehen. darum läuft er jetzt muss er jetzt im heute permanent im hintergrund laufen. sonst verpassen wir etwas. was wir nicht hatten, holen wir uns jetzt. migránsok. der donaukanal spricht. nebenbei ganz

die enkelin

greti die tante die enkelin

greti die enkelin

greti die tante die enkelin

greti

die tante

die enkelin

greti die enkelin

migráns sok migráció. nyolckór kimegyek az első misére. um acht uhr aus dem haus zur ersten messe die ungarische. die ungarn immer als erste auf. die ungarn wissen immer als erste bescheid. und tu pist jetzt a kroßi ungarin. vun wånn ån? seit wann die tante ungarin schon? weil sie einen ungarn geheiratet? deswegen? deswegen soll sie die großmutter jetzt auch rumänin sein? weil sie håb kheirlt a walåch? niemols nit. felvettem a magyar honpolgárságot. und die augen der großmutter werden ganz groß werden sie. und die großmutter kann nicht glauben was ihre ohren da hören. was ihre schwester da auf einmal spricht. ihre schwester sich die staatsbürgerschaft geholt die ungarische. uns ßei-mer teitschi toch! und tobt die großmutter schreit die kleine schwester an. erika! ildikó! wie sie sowas nur machen konnte! ihre herkunft so verleugnen die deutsche! und schüttelt mit dem kopf. und schüttelt mit dem kopf. tu wårst zu jung pán fliecht zu jung ungarisch redn jå. åber tås keht zu weit. csak ő véd meg minket óv minket magyarokat. mi hozza tartozunk magyarországhos. magyarok vagyunk. weil nur er uns schützt uns ungarn überall. gehören dazu zum ungarland. sind magyaren ßie! jå und zeigt auf mich die großmutter mit dem finger

greti

die enkelin

die tante

die enkelin

die tante die enkelin

greti die tante die enkelin

die tante die enkelin

die tante die enkelin greti die enkelin

greti die enkelin

greti

die enkelin

greti

auf mich tås marl kånn sågn is ßie a ungarin mit a ungarischn våter. åber tu? blutungarin ich. so sagen sie. könnte mir laut verfassung der neuen die ungarische staatsbürgerschaft holen. nur wozu? mert a románok fenyegetnek minket mint a kommunizmusba! in rumänien sie alle bedroht von den rumänen umzingelt vom orthodoxen doch sie als ungarische katholische római-katolikus! römisch-katholische ungarin fühlt sich bedroht in ihrer eigenen heimat. fühlt sich dorthin zugehörig. tu pist farruckt wor’n. farruckt! magyar katolikusok. zum ungarland gehöre sie. wie im kommunismus werde sie bedroht. sorba álltunk tanácsház előtt szavazni. deshalb stand sie schlange vor dem rathaus wie viele andere ungarinnen hivatalosan magyar asszony lettem. und wurde offiziell ganz ungarin. af teitschlånd hét ich tich hinausnehmen ßolln! und standen wieder schlange dort um ihn zu wählen. können ihn nur wählen weil nur er uns schützt. uns alle christen schützt vor denen die da kommen. er. orbán. jå tås måcht er kut! wie bitte?! und denk jetzt ich hör schlecht aber tås is richtig. prauch-mer ka fremdårtiges volk nit tå pán uns. jetzt mach ich die augen groß ganz groß meine augen und kann nicht glauben was meine großmutter da jetzt spricht. wie kånnst aßo redn? richtig red ich. tie wåhrheit red ich. tie schwårzn und arabern


thomas perle_karpatenflecken

/ TdZ Juni 2022 /

prauch-mer nit pán uns. die enkelin und kann meine großmutter nicht fassen. pist toch ßelbär. éß zwei alli zwei ßeids ßelbär fliecht! ward doch flüchtlinge selbst alle beide! greti // die tante tås wår awåß kånz ånderes! greti die tante greti // die tante greti //die tante die enkelin

greti

die enkelin

greti die enkelin

kånz kånz ånderes! uns ßei-mer christen christen. und schüttel nur den kopf jetzt ich. schüttel meinen kopf. warum sind sie nicht blieben dort drüben? warum sind sie kommen hierher? den alten menschen den arsch gewischt! dafier haben sie mich braucht. und immer noch gefragt nach so vielen jahren noch warum wir hergekommen gehen sie doch zuruck. haben sie schon uns gesagt.

chor der frauen III. stehen in schwarz verwurzelt die frauen aller generationen oben auf dem friedhofsberg am wurzelort. dort. stehen zwischen eisenkreuzen. zwischen beton. zwischen erdhaufen. stehen im schnee. stehen im hohen gras. stehen im stroh. singen diese zeilen. immer diese zeilen. die enkelin

im westen stehe ich singe mit ihnen den frauen singe ich wie großmutter es auch immer getan. mit dem klumpen erde in der hand stehe ich.

und fällt die erde herab herab hier vor mir herab auf großmutters sarg.

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annex. dort oben.

♪ dort oben dort oben an der himmlischen tür steht eine arme seele schaut traurig herfür. arme seele arme seele komm zu mir herein. denn da werden deine kleider ja alle so rein. so rein und so weiß so weiß als wie der schnee. und so wollen wir miteinander ins himmelreich eingehn. ins himmelreich ins himmelreich

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ins himmlische paradies. wo gott vater, wo gott sohn wo gott, heiliger geist ist.

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Auftritt HALLE

„Trilogie der Unschuld“ („Medea“ nach Euripides, Christa Wolf, Heiner Müller;

„Mauser“ und „Quartett“ von Heiner Müller)

HAMBURG

„Die Jagdgesellschaft“ von

GIESSEN „BRAVE KIDS“ von Andreas Kowalewitz, Cathérine Miville und Lars Ruppel INGOLSTADT „Tyll“ von Daniel Kehlmann JENA „Leaving ­Carthago“ von Pina Bergemann und Anna Gschnitzer KÖLN „Richard Drei“ (Mitteilungen der Thomas Bernhard

Ministerin der Hölle). Nach Shakespeare in einer Überschreibung von Katja Brunner


auftritt

/ TdZ Juni 2022 /

HALLE Dreifach Untergang NEUES THEATER HALLE: „Trilogie der Unschuld“ („Medea“ nach Euripides, Christa Wolf, Heiner Müller; „Mauser“ und „Quartett“ von Heiner Müller) Regie Henriette Hörnigk Bühne und Kostüme Claudia Charlotte Burchard Sound und Video Bernd Bradler

Der Bogen von der Vorgeschichte (Mythos ­Medea) über die blutige russische Geschichte (Tragödie der proletarischen Revolution) bis zum „Bunker nach dem Dritten Weltkrieg“, so die Regieanweisung Heiner Müllers für „Quar­ tett“, ist groß gedacht. Henriette Hörnigk und Dramaturgin Sophie Scherer irritieren zwar mit ihrem Titel von der Unschuld, aber das katastrophische Denken in der Bezüglichkeit

derholen wird. Die Regie lässt über dem

der drei Stücke aufeinander ist grandios

Spielkarree immer wieder Videobilder aus

­angelegt: als Untergang in drei Varianten.

­Syrien oder dem Nahen Osten laufen, die im

Bettina Schneider als Merteuil und Alexander Gamnitzer als Valmont in „Quartett“ als Teil der „Trilogie der Unschuld“ in der Regie von Henriette Hörnigk. Foto Bühnen Halle, Falk Wenzel

Mit „Medea“ entsteht als Auftakt der

Verlauf des Abends immer weitere Assozia­

Kampf einer Frau gegen Königsherrschaft

tionsräume anregen. Diese Ebene der drän­

und Liebesverrat fast als psychologisches

genden Bilder ist sozusagen das vierte Drama

Drama in halbantiken weißen Gewändern.

über der Trilogie, mit dem Bernd Bradler in

Christa Wolf hat in ihrer historisch begrün­

einigen Momenten vieles öffnet, aber manch­

tett“ verbinden können, aber hier geht es. Mit

deten Auffassung die Figur von der Dämo­

mal mit seinen Bilderkaskaden auch etwas

Gewinn, auch für die bereits eine eigene

nisierung befreit. Medea ist nicht die monst­

beliebig wirkt – oder eben überfordert.

Sparte darstellende Aufführungsgeschichte von Heiner-Müller-Textkombinationen.

röse Kindsmörderin und mit Zauberwaffen

Aufregend ist das eingespielte Ge­

rächende Hexe, sondern die Betrogene, die in

spräch von Alexander Kluge mit Thomas Hei­

„Quartett“ ist schließlich mit Bettina

ein fremdes Land gelockt wurde, wo sie nur

se über Halle-Neustadt, dieser sozialistischen

Schneider als Merteuil und Alexander Gam­

noch als Fremde behandelt wird, als Iason sie

Großsiedlung des neuen Menschen, als Vor­

nitzer als Valmont als das alle hinterhältigen

verlässt. Laura Lippmann spielt diese Medea

spiel zu „Mauser“, in dem der Blutzoll für die

Triebhaftigkeiten auskostende Sprachgemälde

zwischen lauter Auflehnung und Verzweiflung

Veränderung der Verhältnisse verhandelt wird.

und so auch schauspielerisch beeindrucken­

beinahe als geplagte Alleinerziehende mit

Mit Müllers Text wandelt sich der Abend zu

der Geschlechtertausch-Todesrausch insze­

einer treuen Amme (großartig: Franziska ­

einer Aufführung seiner besonderen Sprache,

niert, der es, als dritter Wechsel der Spielwei­

H­ ayner) gegen eine Art Bankett-Tisch, an

die schon mit dem Monolog „Landschaft mit

se, sein soll – und auch hier, mit Rückblick

dem der Ex wegen günstiger politischer

Argonauten“ als Übergang von „Medea“ be­

auf „Medea“, sein muss. Am Abgrund nach

­Allianzen Platz genommen hat. Das ist nicht

gonnen hat – und damit das psychologische

dem Dritten Weltkrieg oder Grab vor dem Jet­

gerade

interpretatorischer

Drama ablöst. Die beiden Gewaltrevolutionäre

zigen, zu dem am Ende der Darsteller-Chor

­Ansatz, aber durchaus erkennbar in feminis­

A und B (Harald Höbinger und Till Schmidt)

aus „Mauser“ als Prozession führt. Dazu er­

tischer und auch humanistischer Interpreta­

stehen auf Glasplatten über einer Grube, die

klingt eine etwas demolierte, aufgedreht

tion, dass von hier aus viel Unheil sich wie­

dann in „Quartett“ der Abgrund sein wird. Es

übersteuerte Version der „Marseillaise“: zu

sind vor allem solche Findungen von Hörnigks

den Waffen, Bürger! –, die damit nach den

Regie, die das Ganze nicht nur verbinden,

bekannt unbequemen Fragen von „Mauser“

sondern auch weiter denken lassen. „Mau­

alles Weitere anregend und angestrengt of­

ser“, vielleicht Müllers abstraktestes Stück

fenlassen dürfte. Das ist zweifellos die Quali­

über Gewalt und tödliche Disziplinierung,

tät dieser groß spannenden Trilogie. //

ein

scharfer

Linke Seite: Jonas Hien und Bettina Stucky in „Die Jagdgesellschaft“ in der Regie von Herbert Fritsch am Hamburger SchauSpielHaus. Foto Matthias Horn

würde nicht so leicht „Medea“ und „Quar­

Thomas Irmer

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auftritt

HAMBURG Grundsätzlich komisch SCHAUSPIELHAUS HAMBURG: „Die Jagdgesellschaft“ von Thomas Bernhard Regie und Bühne Herbert Fritsch

/ TdZ Juni 2022 /

tet auf einen General und mächtigen Politi­

hypernervöses Spektakel, Wortkaskaden, die

ker, der hier haust und an Grauem Star leidet.

sich im tiefen toten Wald verlieren. Dass das

Den Tod seiner Wälder hält seine Ehefrau, die

Stück auch ein Nachdenken über den Sinn

Generalin, vor dem fast Blinden geheim. Sie,

des Schreibens, der Kunst anbietet ange­

überdehnt und gespreizt gespielt von Ange­

sichts der Gräuel und Katastrophen, diese

lika Richter, empfängt den Schriftsteller, hält

Frage hätte gestellt werden können. Nur: Wen

mit ihm das Warten aus, das sich unerträglich

juckt’s? Der Abend bleibt im Zuständlichen

dehnt. Karten werden pantomimisch gespielt,

hängen, er lacht pausenlos über sich selbst,

es wird breit gekräht, wenn eine Karte sticht:

anstatt in sich hineinzuschauen. Man geht

„Gewonnen!“. Bis der General von der Jagd

und staunt über so viel gespielten Witz, der

kommt, links durch eine riesige Fenster­

nirgendwo hinzielt als auf die Lachmuskeln

öffnung kündigt er sich an, begleitet von bär­

der Herbert-Fritsch-Fangemeinde. //

Vor 48 Jahren am Wiener Burgtheater von

beißigen und stummen Bartträgern, Troll-arti­

Claus Peymann uraufgeführt, wirft dieses

gen Zottelwesen. Man könnte sie auch für

Stück bis heute Fragen auf. Etwa: Wie zy­

eine klischeehafte Ansammlung russischer

nisch ist es, zu leben, ja zu schreiben ange­

Waldbauern halten. Dazwischen asiatisch-

sichts einer drohenden Apokalypse? Eine bri­

mongolisch anmutende Figuren wie aus dem

sante Frage, die in der Inszenierung von Her­

Märchen, die Kostüme hat Cosima Wanda

bert Fritsch am Deutschen SchauSpielHaus

Winter entworfen. Michael Wittenborn ver­

allerdings keine Rolle spielt. Ein Abend, der

körpert den General gewohnt trocken, bor­

fertige Formen bietet, Gewohntes, auch Lus­

niert und trudelnd, mit langem dünnem Haar.

tiges, aber nichts wirklich Neues. Ausrut­

„Ich geh nicht ins Theater, grundsätzlich

scher, Fehlschüsse, die böse Nazi-Hexe im

nicht!“, spuckt er aus: eine endzeitliche

Buller-Ofen: das ganze Einerlei von perfekt

­Figur, halbtot, durchwurmt wie seine Bäume.

getimtem Slapstick, das aber geheimnislos

„Was Sie hier sehen, bringen Sie auf die

auf ein Stück trifft, das viele Fragen stellt.

Bühne, das ist eine Komödie, denn der ­

Peter Helling

GIESSEN Persiflage auf die schöne neue Welt? STADTTHEATER GIESSEN: „BRAVE KIDS“ von Andreas Kowalewitz, Cathérine Miville und Lars Ruppel (UA) Inszenierung Cathérine Miville Musikalische Leitung Andreas Kowalewitz Bühne Lukas Noll Kostüm Lucia Becker

Wie eine Pipette in die Bakterien­

Schriftsteller ist ein Komödienschreiber!“

lösung stößt ein Schriftsteller in die fremde

Dazu spielt Ingo Günther gekonnt Klavier, fast

Welt eines Jagdhauses, irgendwo fern im

jeder Satz wird musikalisch untermalt, gebro­

­Osten. Er redet ohne Punkt und Komma über

chen, manchmal Slapstick-haft überreizt wie

Krankheit und Tod. Nervös wippend, mit röt­

ein Charlie-Chaplin-Streifen. Leider wird der

licher Wellenfrisur und in Creme-farbenem

Text dadurch noch weniger verständlich. Ein

Anzug, steht da Bastian Reiber als Mann der

Ton-Rauschen, das schrecklich verwirrt und

„Backstage Exklusive for Winners“ steht auf

Feder: Er spielt mit jeder Faser, wie unwohl

nicht wirklich erhellt.

dem goldgelben Armband, das jede:r Be­

ihm in seiner Haut ist, an diesem Ort, der

Im Theater von Herbert Fritsch spielt

sucher:in vom Einlasspersonal im Stadtthea­

Beton-sichtig wuchtig, skurril, ein bisschen

keiner und keine einfach eine Figur, sondern

ter Gießen angelegt bekommt. Auf Nachfrage,

abgründig ist. Die Jagdhütte nämlich, die

jongliert mit ihr, stellt ihre Zitathaftigkeit aus,

wofür das Band sei, erklärt mir eine Mitarbei­

­Regisseur Herbert Fritsch höchst selbst ent­

kitzelt ihre Lächerlichkeit heraus. Da wird

terin, dass ich es mir mit meiner guten Arbeit

worfen hat. Mittig steht ein riesiger, kartof­

also gestolpert, geräuspert, gerutscht und ge­

für den Konzern in den letzten zwölf Monaten

felförmiger Kanonenofen, dessen schwarzes

staunt. Der hyperelegante und zivile Schrift­

verdient hätte. Selbe trägt eine marineblaue

Eisenrohr sich perspektivisch schräg nach

steller trifft auf eine Horde Pseudo-Barbaren.

Seidenkrawatte um den Hals, auf der in

vorne reckt, wie ein halb erhobener Arm zum

Herbert Fritsch heizt nicht nur den Ofen auf

Knallpink ein „W“ aufgedruckt ist – das Fir­

Hitlergruß. Alles ist schräg, und die Maserung

der Bühne an, sondern das Spiel seines auf

menlogo des imaginativen Wohl-Konzerns,

des Bodens lässt an die Bohrlöcher des Bor­

Humor getrimmten Ensembles. Das Spiel

dessen 100-jähriges Jubiläum im Zentrum

kenkäfers denken, der hier wütet: Ringsum

sprengt den Text: Das Staunen, der Ekel an­

der Stückentwicklung steht. Alle Mitarbei­

der Wald ist längst befallen und tot. Rechts

gesichts eines kriegsversehrten und immer

ter:innen des Theaters sind an diesem Abend

drängen die Stämme sich fast ungeduldig ins

noch mächtigen Untoten des Krieges, eines

auch Mitarbeiter:innen des Wohl-Konzerns.

Bild. Dass eine Unterart der Borkenkäfer

Überlebenden von Stalingrad, eines Groß-

Alle tragen entweder eine marineblaue Kra­

auch Buchdrucker genannt wird, passt ganz

Nazis, hat etwa so viel Wirkung wie das Zu­

watte, ein marineblaues Halstuch oder ein

gut: Es geht schließlich um die kleinen und

sammentreffen eines Marsmenschen mit ei­

marineblaues Einstecktuch – alle mit dem

ungeschriebenen Worte, die der Schriftsteller

nem Astronauten. Alles schrumpft zu Spaß

Wohl-Logo bedruckt.

sprechend aussondert angesichts einer gro­

und Gag. Schon witzig, aber wirkungslos.

tesken Situation.

Als VIP-Gäste werden wir in den Thea­

Die tiefere Dimension dieses Textes,

tersaal gebracht, wo vor einer imposanten

Die Situation: Der Schriftsteller ist zu

der doppelte Boden, das alles scheint Herbert

­Kulisse (Bühnenbild von Lukas Noll) die sehr

Gast, „das Abstoßende zieht uns an, die Jagd

Fritsch nicht zu interessieren. Stattdessen er­

an ein TV-Studio à la „Wetten, dass?“ erin­

beispielsweise ist abstoßend“, sagt er. Er war­

schrickt man pausenlos vor dem anderen, ein

nert, ein Streichquartett klassische Musik


auftritt

/ TdZ Juni 2022 /

Das Ensemble von „BRAVE KIDS“ in der letzten Regie von Cathérine Miville als Intendantin des Stadttheaters Gießen. Foto Rolf K. Wegst

Zeiten kann darüber aber nur eine bestimmte Altersspanne lachen. „BRAVE KIDS“ legt den Finger auf ­viele Problemstellungen der Digitalisierung – es geht um Macht, um Geld, den monetären Wert künstlerischer Arbeit und letztendlich einen Generationenkonflikt. Den Abgrund hinter der bunt-glitzernden Showfassade kann man indes nur vermuten, tiefere Lehren lässt schon das Format nicht zu – pompöse Abendgarderoben und überspitzte Charakter­ darstellungen zugunsten der Punchline-Quo­ te verdecken Kapitalismuskritik und Medien­ bildung. Auch bleibt die Multimedialität des Abends hinter dem Spektakel zurück – trotz spielt. Die Eventmanagerin Frau Bogdanovic

springt Carla Maffioletti als überdrehte blond-

Deepfake-Videos und sprechendem Roboter

(Carolin Weber) verkündet, dass wir jetzt in

gekreppte Influencerin Larissa Sternenstaub

auf der Bühne. //

den Backstage-Bereich geführt werden, um

auf die Bühne und versucht, ihren Fol­ low­

von dort aus das „Spektakel“ zu beobachten.

er:in­nen Eyeliner, Bausparverträge und eine

Prompt stürmen Besucher:innen über die

Reise nach Bayern gleichzeitig anzudrehen,

Seitengänge auf beziehungsweise hinter die

die sogleich in einem Song geloben, ihr zu

Bühne, um dort eine weitere Bühne samt

folgen und alles zu liken, was sie sagt.

­Zuschauerraum vorzufinden, auf der sich nun

Apropos Musik – Miville beendet ihre

die Show hinter der Show abspielt oder eher:

Intendanz spartenübergreifend. Dafür hat sie

eine zweieinhalbstündige Persiflage auf die

die Musicalstars Sophie Berner und Andrea

„Medien-Macht-Geld-Welt“, gekleidet in den

M. Pagani als Showsternchen Mira La Grande

Mantel einer Musical-Revue.

und Carlo Moreno engagiert. In einem zehn­

Der Text zur Uraufführung von Cathé­

minütigen Medley performen sich die beiden

rine Miville – ihrer letzten Regiearbeit als

durch die bekanntesten Musical-Nummern

Intendantin am Stadttheater Gießen – ist ­

von „Maybe this time“ aus „Cabaret“ bis zum

gemeinsam mit dem Poetryslammer Lars ­

Titelsong aus „Kuss der Spinnenfrau“.

Lina Wölfel

INGOLSTADT Narr in unserer Zeit STADTTHEATER INGOLSTADT: „Tyll“ von Daniel Kehlmann Regie Alexander Nerlich Bühne Stella Lennert, Wolfgang Menardi

Ruppel, die Musik zusammen mit Andreas

Highlight der Gala sind aber die ­„lieben

Kowalewitz entstanden. Erzählt wird das

Kleinen“ vom Stipendiat:innen-Programm,

Schwarz gekleidete Gestalten beugen sich

Chaos hinter der Jubiläumsgala, denn im ­

ein Sozialprojekt des Firmen-Chefs Dr. Dr.

vornüber, bilden eine Reihe. Ein schlaksiger

Backstage-Bereich bekommt die schöne neue

Wohl (Harald Pfeiffer). Als Chor sollen sie mit

Typ mit blassblauer verzottelter Prinz-Eisen­

digitale Welt Risse: Da sprengt die IT-Abtei­

Melodien aus dem Film „Die Kinder des Mon­

herz-Frisur setzt unsicher einen Fuß auf ei­

lung für ein paar Minuten im Rampenlicht

sieur Mathieu“ die Herzen der Spen­der:innen

nen der Rücken, richtet sich auf, findet sein

den pedantisch getimten Zeitplan, schreit

weichsingen, aber die „Kids“ wollen nicht

Gleichgewicht. Macht einen Schritt, auf die

Bogdanovic ihre Anspannung in ein von ihrer

nur artig sein und niedlich aus­sehen, sondern

nächste Gestalt, strauchelt, fängt sich wieder.

Assistentin (Lucy Jo Petermann) gereichtes

selbst mitbestimmen und etwas bewegen.

Alessia Ruffolo spielt diesen Tänzer auf dem

Kissen und fürchtet die sonst so toughe Wohl-

Von ihren Handys aus hacken sie sich in den

Rücken der Menschen. Es ist der „Tyll“ aus

Media-Geschäftsführerin

Pavone),

Server der Gala und tauschen die Laudatio

Daniel Kehlmanns gleichnamigem Roman,

dass am Spendentelefon nicht genug fürs

des Bundespräsidenten prompt durch ein ei­

den Alexander Nerlich nun am Stadttheater

gute Firmenimage zusammenkommt. Miville,

genes, per Deepfake (ein mithilfe Künstlicher

Ingolstadt inszeniert hat. Dieser berühmte

früher Mitarbeiterin bei der Münchner Lach-

Intelligenz erstelltes Bild oder Video, das echt

Narr, der sich als Kind selbst das Seiltanzen

und Schießgesellschaft, inszeniert das alles

wirkt, es aber nicht ist) ge­neriertes Statement

beibrachte, weil es sonst in seinem Leben

geradezu slapstickhaft. Im Sekundenwechsel

aus – „Generation Greta: Sorry, wir haben’s

kaum etwas Erquickliches gab. Kehlmann hat

folgen Künstlerwitze auf Technikerwitze auf

verbockt, euch eine gute Welt zu hinterlas­

ihn ins 17. Jahrhundert versetzt, zwischen

DB-Witze auf Reichenwitze auf Witze über

sen“. Es wird nicht klar, ob dieses Video als

Dreißigjährigen Krieg, Pest und Hexenverfol­

politische Korrektheit. Zu allem Überfluss

Gag gemeint ist, oder nicht. In postfaktischen

gung. Als sein Vater als Hexer verurteilt und

(Karola

/ 61 /


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auftritt

/ TdZ Juni 2022 /

Alessia Ruffolo als „Tyll“ in der Regie von Alexander Nerlich. Foto Jochen Klenk

Alexander Nerlich weiß, dass er den 500-Sei­ ten-Roman nicht stringent auf der Bühne nacherzählen kann. Er setzt Schlaglichter, konzentriert sich in seiner Fassung auf zeit­ lose Eindrücke einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Auf Krieg, Krankheit, Verfolgung. Eindrücke, die natürlich aktuell wie selten sind. In vielerlei Hinsicht ist die Zeit, in die Kehlmann

seine

Eulenspiegel-Geschichte

versetzt hat, wieder nah an unsere gerückt. Pandemie, Verschwörungstheorien, Krieg in Europa – die Vorzeichen sind ähnlich. Und doch überwiegt am Ende der Aufführung der Eindruck all dessen, was fehlt. Wo Kehlmann detailverliebt mit größter Prä­zision und Be­ obachtungsgabe Entwicklungen beschreibt, bleibt hier nur Zeit für ange­ris­sene Zustände. Von dem überbordenden, prallvollen Roman bleibt nicht viel mehr als ein Gerippe. // Anne Fritsch hingerichtet wird, läuft Tyll mit der Bäckers­

bis zu seiner Hinrichtung, die mit kerzen­

tochter Nele davon, die beiden schlagen sich

beleuchtetem Altar im Hintergrund allerdings

als fahrende Künstler durch.

ein wenig pathetisch gerät.

JENA

Nerlich beginnt den Abend mit dem

Tyll Ulenspiegel ist ein Narr. Einer, der

Ende: In schwarzen Ganzkörperanzügen

die Leute in seinen Bann zieht. Dem sie zu­

lauert oder kauert das Ensemble in dem

schauen wollen – oder müssen. Selbst wenn

Krater, der in einen weiß gefliesten Raum

sie ihre Kühe schreien hören, die so dringend

gerissen wurde und von schwarzer Asche

gemolken werden müssten. Sie können sich

bedeckt ist. An den Rändern flackern Ker­

nicht abwenden, sind verzaubert. Es ist dies

zen. Stella Lennert und Wolfgang Menardi

eine der Szenen aus dem Roman, die in Erin­

haben einen apokalyptisch anmutenden

nerung bleiben, weil Kehlmann diese Situa­

Raum entworfen, eine Mischung aus Kriegs­

tion so genau erfasst, die Leser auf diesen

ruine und Labor, eine Versuchsanordnung

Marktplatz entführt. Man fiebert mit, hört die

zum unerschöpflichen Thema Mensch. Hier

Not der Kühe und ist doch wie die Bauern

also, in den Überbleibseln ihrer Leben erin­

gefesselt von diesem Spektakel. Es ist die

nern sie sich an die Zeit vor dem Krieg, an

Gleichzeitigkeit von allem, vom Schönen und

Das muss ein unglaublicher Erfolg gewesen

Tyll. Ruffolo zieht sich eine bunte Weste

Schaurigen, ein lange ersehnter Moment der

sein, damals, vor sechs Jahren am Broadway,

über den Anzug, verwandelt sich in Tyll,

Freiheit. Kehlmanns Tyll ist ein Narr aus der

wo Pina Bergemann als Autorin, Regisseurin

dreht die Zeit zurück.

Not. Einer, dem das Leben keine Alternative

und Hauptdarstellerin mit „Leaving Car­

Von Szene zu Szene springt das En­

lässt und der das Beste daraus macht. Dieser

thago“ die Theaterwelt ins Wanken brachte.

semble nun durch dessen Leben: die trauma­

Tyll, der die Menschen zum Staunen bringt

Die Kritiken überschlugen sich, Bergemann

tische Nacht alleine im Wald mit dem Esel;

und zum Lachen in ihrem Elend, den zeigt

schrieb sogar selbst welche. Na schön, ir­

die Spiele mit Nele; die Studien des Vaters;

Alexander Nerlich nicht. Ihm geht es mehr

gendwie schien niemandem aufzufallen, dass

die ewige Grütze; die Folterung und Hinrich­

um das Krisengefüge als um das Individuum.

der Titel etwas komisch klingt. Müsste es

tung des Vaters; die Flucht … Beim Vater,

Er zeigt immer neue Tylls, immer wieder

nicht „Leaving Carthage“ heißen? Egal. Der

dem Müller, der sich viel lieber mit den Ster­

schlüpft ein anderes Ensemblemitglied in

Erfolg war allein schon deshalb wirklich un­

nen am Himmel und der Heilung der Men­

seine Rolle, zeigt eine andere Facette der Fi­

glaublich: weil es ihn gar nicht gab.

schen beschäftigt als mit dem Korn, hält

gur. Es gibt den lauten Tyll, den kindlichen,

Es gab nicht einmal dieses Stück. Es

­Nerlich sich besonders lange auf, zeigt, wi­e er

den abgeklärten und den provokativen. In

gab nur: den Titel. Erfunden in Bruchteilen

seinem Sohn Denkaufgaben stellt und wie

­dieser Aufspaltung aber geht die Faszination

von Sekunden, in denen Synapsen Fasching

ihm sein Wissensdrang schließlich zum Ver­

dieser Figur, die eben all das in einem ist,

feiern, für eine vermeintlich karrierehemmen­

hängnis wird. Jan Gebauer spielt ihn intensiv

­irgendwo verloren.

de Lücke im Lebenslauf einer Schauspielerin,

Völlig von der Mutterrolle THEATERHAUS: „Leaving Carthago“ von Pina Bergemann und Anna Gschnitzer (UA) Regie Pina Bergemann Bühne und Kostüme Bettina Kirmair


/ 63 /

die sich mit und von der Mutterrolle besetzen

mann, der sie zum Stück mit feministischer

ließ. Schwangerschaft und Elternzeit in New

Perspektive herausfordert. Ihr Plan hingegen:

York, ausgerechnet auch noch in jenem Jahr,

„Es gibt keinen Plan.“

Ein Stück, das in die Wunde greift, die die Mutterlüge schlägt: „Leaving Carthago“ in der Regie von Pina Bergemann. Foto Joachim Dett

in dem Marina Abramović erklärte, drei Mal

Das ist den Frauen zu wenig. Um sie

abgetrieben zu haben, weil sie Kinder als

bei der Stange zu halten, stammelt sie eine

„ein Desaster“ für ihre Arbeit als Künstlerin

Handlung ihres Broadway-Erfolgs zusammen:

Bergemann krümmt sich im Loch, über ihr eine

empfände.

Pina als Schauspielerin Nina in verhängnis­

Kamera, die sie wie den Fötus in der Frucht­

Inzwischen arbeitet Bergemann in

voller Mutterrolle sowie diese als Tina, die

blase filmt. Sie freundet sich in postnataler

Jena, wo das niederländische Wunderbaum-

schreckliche Piratin mit dem Schwur „Für

­Depression mit alten Bekannten an: chronische

Kollektiv Schauspielern zu Theatermacher-

immer Braut des Windes, niemals Mutter ei­

Erschöpfung, Überforderung, Geburtstrauma.

Impulsen verhilft. Hier machte sie ihre Le­

nes Kindes!“. Die wird dann trotzdem

Später rechnet sie vor, dass Theater- und Care-

bensnotlüge öffentlich, um mithilfe der

schwanger und Pina-Nina-Tina vom vorzüg­

Arbeit zweieinhalb Vollzeitjobs bedeuteten, und

Autorin Anna Gschnitzer das Stück zum Titel

lich einstudierten Chor auf die Planke gejagt.

schreit nach dem „Fucking Dorf“, das es doch

nachzureichen. Eines, das nun mitten in die

Eine Gruppendynamik, die den Pro­

angeblich braucht, ein Kind großzuziehen. Sie

Wunde greift, die die Mutterlüge schlägt: also

benprozess bestimmt haben könnte, über­

ist beides: „unfassbar glücklich, eine Mutter

jene „Erzählung, dass man alles schafft“.

trägt sich. „Ich hätt’ ‘nen Monolog machen

sein zu dürfen, und richtig im Arsch!“

Mit ihr beginnt der Abend. Bergemann

sollen“, ruft Bergemann. „Scheißidee mit

Das überträgt sich auf einen Chor der

gleichsam im Comedy-Solo als Superweib:

dem Chor!“ Da ist sie längst buchstäblich ins

Furien. Dies droht Dimensionen einer antiken

Mutter von Drillingen, ach was, Vierlingen

Loch gefallen, das Bettina Kirmair auf ihrer

Tragödie anzunehmen, die sich in Tränen der

gar, mit Mann, Haus, Hund und Auto, eige­

Bühne hinterließ, die ein Vorhang mit

Wut, der Trauer und des Lachens auflöst. Ihr

nem Kindergarten, einer Ausbildung als

riesigem Reißverschluss gleichsam zwischen

Stück tappt bitter-komisch in die Falle des Pa­

Schauspielerin und als Steuerfachangestell­

Kind und Karriere abzuschließen versucht.

triarchats, Ella Gaiser übernimmt am Herd die

te, zudem ehemalige Deutsche Meisterin im Schwergewichtsboxen …

Bergemann, so die Erzählung, entglei­

Rolle der pseudomodernen Frau im „furchtbar

tet ihr Stück, ehe sie es zu fassen kriegt. Sie

schlechten Theaterstück Vater-Mutter-Kind“,

konstruiert es, es dekonstruiert sich gleich

das in der Küchenschlacht zertrümmert wer­

zwei

wieder und legt die Schwächen frei: nicht die

den muss. Das Musical-Finale planscht ent­

Schauspielerinnen darunter, Ella Gaiser und

dieses ganz im Gegenteil starken, ergreifen­

hemmt in Muttermilch. Die nährt die Hoff­

Dorothea Arnold, alle als Boxerinnen in Pink

den und erheiternden Abends der Selbst­

nung,

und Orange sowie mit Wut im Bauch. Ein

ermächtigung, sondern die menschlicher

gesellschaftliches Prinzip werden könnte. //

ganzer Chor als Sparringspartner für Berge­

Selbstüberschätzung.

Auftritt Chor der Mütter aus Jena: eine Handvoll

Laiendarstellerinnen

und

dass

sorgende

Mütterlichkeit

ein

Michael Helbing


/ 64 /

KÖLN

spielt wird, fällt gar nicht besonders auf. Die genderfluide Besetzung dieser Rolle ist auch

„Richard Drei“ in der Regie von Pınar Karabulut am Schauspiel Köln. Foto Krafft Angerer

nicht mehr neu. Lina Beckmann bei den

Nonbinäre Schauwerte SCHAUSPIEL KÖLN: „Richard Drei“ (Mitteilungen der Ministerin der Hölle) (UA) Nach Shakespeare in einer Über­ schreibung von Katja Brunner Inszenierung: Pınar Karabulut Bühne Michela Flück Kostüm Claudia Irro Video Susanne Steinmassl

­Salzburger Festspielen und Marissa Möller im Schlosstheater Moers sind nur zwei Beispiele

Sonst geht Regisseurin Pınar Kara­bulut in die

für weibliche Lesarten dieses Inbegriffs

Vollen. Das Ensemble brüllt, schreit und ze­

mensch­lich-männlicher Bosheit. Katja Brun­

tert in bunt-trashigen Kostümen, Richard

ner geht darüber hinaus. In ihrem Text löst

fährt in einem Schwanmobil über die Bühne

sie konsequent die Grenzen zwischen den

und verleiht es, wenn ein von ihr gedungener

­Geschlechtern auf, was die Regisseurin Pınar

Mörder schlecht zu Fuß ist. Es gibt Tanznum­

Karabulut mit großer Theaterlust auf die

mern zu wummernder Musik, manchmal erin­

­Bühne überträgt. All die Lords und Ladys be­

nert das Ensemble mit puppenhaften Bewe­

greifen sich nicht als binäre Wesen. Fröhlich

gungen und grobem Spiel ans Kasperletheater.

erfindet die Autorin immer neue Spielarten

Faszinierend sind die Videos von Susanne

der Gendersprache. Statt „Niemand“ heißt es

Steinmassl. Auf zwei Projektionsflächen, die

mehrmals „niemensch.“

an die Flügel eines Altars erinnern, bringt sie

Dabei ist Shakespeares Handlung weit­

eine schräge Mischung aus klassischer Port­

gehend erhalten geblieben. Gewissenlos mor­

rätkunst und der Bilderwelt heutiger Fantasy­

Friedenszeiten! Furchtbar! Dafür ist Richard

det sich Richard auf den Thron, obwohl er mit

comics. Die Bilder bewegen sich, aber nur ein

nicht geschaffen. Die Schauspielerin Yvon

der Macht überhaupt nichts anfangen kann.

bisschen, sie werden nicht zu Animationsfil­

Jansen vibriert vor Energie, vor Zerstörungs­

Der Text schwirrt umher zwischen angedeu­

men, sind bunt und gespenstisch zugleich.

wut. Dieser Richardkörper ist für den Krieg

teten Zitaten und Gegenwartsbezügen, hoher

Mensch hörte, es wurde noch bis zur

gemacht, will ein Torpedo sein. Der Anfangs­

Sprache, teils herrlichen Wortverdrehungen

Premiere heftig gekürzt. Der Abend ist immer

monolog von Katja Brunners Shakespeare-

und Alltagsdirektheit. Ein wilder Laberschwall

noch viel zu lang. Die Vielzahl der Themen,

Überschreibung „Richard Drei“ ist eine scharf­

mit poetischen Momenten. Die stärkste Büh­

das dauerironische Bombardement mit gro­

kantige Provokation. In eine Gesellschaft, die

nenwirkung erzielen Textflächen, die den Fort­

ßen Gesten und pathetischen Tönen ermüdet.

entsetzt ist vom realen Krieg in Europa, platzt

lauf der Geschichte unterbrechen. Da sinniert

Inhaltlich bleibt kaum etwas haften. Anderer­

dieser Richard oder diese Richardis, gewis­

„die Basis“ über Willkommenskultur und

seits reißt die Inszenierung immer wieder mit,

senlos, machtlüstern, zu allen Grausamkeiten

Pandemiefolgen, da beschwert sich ein

Pınar Karabulut entwickelt ein maßloses ­­Pop-

bereit. Nicht, weil sie etwas Bestimmtes

Männerchörchen darüber, dass die Kultur­ ­

und Trash-Theater mit großen Schauwerten.

­erreichen will. Ein Torpedo hat kein Regie­

tradition der Kavaliersdelikte verloren geht. In

Eine kraftvolle Knallchargenshow der Queer­

rungsprogramm. Ein Torpedo will explodieren

einem der intensivsten Momente vor der Pau­

denker. Eine Theaterparty, die Kopfschmer­

und töten.

se geht es um die Zahl der Selbstmorde und

zen verursacht, die man in der Rückschau

unsere kollektive Ratlosigkeit. Da wird es still

aber auch nicht verpasst haben will. //

Der Beginn der Kölner Uraufführung ist sehr stark. Dass Richard von einer Frau ge­

und nachdenklich.

Stefan Keim


/ TdZ Juni 2022 /

PROGRAMM ICH BLEIBE HIER UA

nach dem Roman von Marco Balzano PREMIERE, 22. JULI 2022, Kranewitterstadl, Telfs, 20.00 Uhr

MONSTER & MARGARETE UA

22. JULI – 4. SEPTEMBER 2022

/ 65 /

TICKET BUCHEN

t chauspiele.a www.volkss Hotline 83038 753 +43 (0)676

Schauspiel von Thomas Arzt PREMIERE, 18. AUGUST 2022, Kuppelarena, Sportzentrum Telfs, 20.00 Uhr

DER TRÄUMER IST BEREITS FRISIERT WIEDERAUFNAHME, 26. JULI 2022, Kranewitterstadl, Telfs, 20.00 Uhr

RAHMENPROGRAMM #BE_EQUAL! Theaterwochen für Kinder und Jugendliche 19 + 20. AUGUST 2022, Kleiner Rathaussaal, Telfs, 18.00 Uhr

„DIE HÄSSLICHE HERZOGIN“ Lesung mit Julia Gschnitzer 22. AUGUST 2022, Großer Rathaussaal, Telfs, 20.00 Uhr

KEINE ANGST 50 Jahre Austropopp mit Katharina Strasser 29. AUGUST 2022, Großer Rathaussaal, Telfs, 20.00 Uhr OR BRÜM – BLAUES GOLD das neue Live Programm von GANES 03. SEPTEMBER 2022, Großer Rathaussaal, Telfs, 20.00 Uhr

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/ TdZ Juni 2022 /

Magazin Sprungbrett für die Selbsterfindung Bilanz nach einem Jahr Neustart der Theater­akademie Hamburg Sternenstaub und Atomisierung BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater 2022 Starke Frauen trotzen dem Rassismus Eine neue Sicht auf die spanische Theaterszene beim 39. Heidelberger Stückemarkt

Aktivismus mit Aussichten Am Teatr Współczesny in Szczecin sorgt eine neue Truppe für Aufsehen in Polen Hochkultur vs. Hochöfen Wie das Kollektiv Richtung22 Kultur in die Kulturhauptstadt von Luxembourg bringt Das Tiefe so leicht Noam Brusilovsky erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden für „Die Arbeit an der Rolle“ Der Ermöglicher Der Intendantenlegende Gerhard Wolfram zum 100. Bücher Wolfram Lotz: Heilige Schrift I; Georg Mittendrein: Der Theaterintendant


magazin

/ TdZ Juni 2022 /

Sprungbrett für Selbsterfindung Bilanz nach einem Jahr Neustart der Theaterakademie Hamburg Fast alles ist neu am Wiesendamm in

nen fünf Regieräume, drei Schauspiel­

Hamburg-Barmbek. Ein langgestreck­

studios, ein Opernstudio, sogar einen

ter Klinkerriegel, hundert Jahre alter

Kostümfundus. Bei allem neuen Kom­

Fabrikcharme. Hier wurden früher

fort: Die Theaterakademie igelt sich

Werkzeugmaschinen hergestellt, auch

nicht ein. Neben den Abschlussprojek­

von Zwangsarbeitenden im Zweiten

ten am SchauSpielHaus und dem­

Weltkrieg. Heute? Elegante weiße

Thalia Theater gibt es Kooperationen

Fenstersimse, ein massives Eingangs­

mit der UdK Berlin, mit Kampnagel,

portal aus dunklem Metall. Innen

dem Puppentheater ein paar Hundert

­betritt man ein luftiges, nüchternes

Meter entfernt und dem Museum der

Foyer, einen Aufenthaltsraum mit

Arbeit, man will sich ins Stadtviertel

Gemeinschaftsküche und hippen,

Barmbek öffnen. Last but not least

geschwungenen Sitzmöbeln aus Holz:

muss man nur einen der langen Gänge

Die sind bei den Studierenden noch

entlang westwärts gehen, eine Tür öff­

nicht richtig populär, aber das

nen, und schon steht man mitten in

kommt schon noch, sagt Schau­

Es geht so los: die neue Theaterakademie Hamburg.

einem professionellen Theater: dem

spielstudentin Emma Bahlmann mit

Foto Christina Körte

ebenfalls neu eröffneten Jungen Schau­ SpielHaus. Emma Bahlmann wird hier

einem Lächeln aus ihrer Zoom-­

bald ihre erste Gage verdienen.

Kachel. Zuletzt haben sie ein paar hässliche Sofas angeschleppt, lang­

Ortswechsel in den MalerSaal des Deutschen

Für Antonie Zschoch war der Um­

sam, sagt sie, kriegt der neue Campus Patina

SchauSpielHauses. Zweite Vorstellung von

zug nach einem Jahr Zoom-Unterricht in die

und so was wie „Studi-Flair“, wie sie es nennt.

„[BLANK]“, Alice Birchs grob gezimmerter

geleckten neuen Räume fast ein Schock. „Ich

„Es tut mir leid um die neue Ausstattung“,

Szenenfolge von Menschen zwischen Drogen,

bin hier richtig reingestolpert“. Es war der

aber vielleicht muss das sein, dieses subversiv

Abstiegsängsten

Emma

Regiestudentin im zweiten Jahr alles zu neu

Widerständige. Hier soll es schließlich ent­

Bahl­ mann spielt Echse, einen Teenager ir­

und zu heilig. Inzwischen hat sie sich an die

stehen: das neue Theater.

und

Sehnsucht.

gendwo in einer Suburb, vor kahlen Wänden

neuen Räume gewöhnt. Sie gehört zu den

Im April 2021 sind sie eingezogen.

in Betonoptik. In der Abschlussinszenierung

Ersten, die beim neu gegründeten Programm

Nach einer 16-jährigen Odyssee durch die

des dritten Jahrgangs kommt jeder und jede

Drama mitmachen: Da werden schon in der

Stadt hat die Theaterakademie die Räume

zur Geltung, die Männer mit Nagellack und

Ausbildung Theaterfamilien gegründet. Eine

bekommen, die ihr schon damals verspro­

Kajal, die Frauen toughe Energiebündel, halb

angehende Autorin, eine Regiestudentin, ein

chen worden waren. Emma Bahlmann, die

Göre, halb Jugendknast, die Träume ver­

Dramaturgie-Student etwa erforschen Stoffe

im dritten Jahr Schauspiel studiert, hat noch

waschen wie die Schminke auf den Wangen.

interdisziplinär, sagt Antonie Zschoch. „Hier

das letzte Hochschul-Domizil in der Ham­

Emma Bahlmann spielt sich in einen Drogen­

wird kollektiv gearbeitet, wird die Regierolle

burger City Nord miterlebt. Ein Beton-Un­

rausch hinein, lässt ihr rotes langes Haar krei­

hinterfragt.“ Sabina Dhein formuliert es so:

getüm. Rau, aber cool. Und jetzt? Uncoole

sen wie einen Propeller, dass man meint, sie

„Wir stellen die Rahmenbedingungen zur

Neubau-Optik? Sabina Dhein ist seit 2012

hebt gleich ab. Splitter einer Jugend ohne

Verfügung, aber erfinden müssen sich die ­

Direktorin der Hochschule, ihre Bilanz nach

Eltern, ohne Schutzraum, „blank“ eben. Julia

Studierenden selbst“. Antonie Zschoch und

einem Jahr Wiesendamm: „Sehr positiv! Wir

Hölscher inszeniert das Stück in dynami­

Emma Bahlmann erleben eine Theaterwelt im

sind angekommen, haben tolle Projekte hier

schen Wechseln. Sie nimmt sich als Regis­

Umbruch. Erzählweisen werden infrage ge­

gemacht, die Studierenden nehmen das an“.

seurin sehr zurück, gibt den jungen Spielen­

stellt. Es geht um Diversität, Gender-Gerech­

Unter dem neuen Dach versammeln sich

den einen Raum. Und da spürt man große

tigkeit,

nicht nur fünf Studiengänge, darunter

spielerische Freiheit, Körperlichkeit, Lust auf

Emma Bahlmann ist überzeugt, sie können

Schauspiel und Schauspieltheaterregie: Die

Neues.

sich hier ausprobieren, „das kann auch mega

Akademie hat jetzt gleich zwei Bühnen. So­

flache

Hierarchien,

Vernetzung.

Sabina Dhein hat Lust auf Neues,

in die Hose gehen, das ist auch okay, gehört

auch wenn der Umzug eine Herausforderung

dazu“. Und: „Es geht so los, hab ich das Ge­

war: „Ich hab’ jede Fuge kennengelernt.

fühl!“ Und vielleicht nehmen die Studieren­

Eine Theaterwelt im Umbruch: der Umzug der Theaterakademie Hamburg.

Lange blieben die Bühnen unbenutzbar, weil

den irgendwann die S-förmigen Sitzmöbel in

irgendwas im Suezkanal hängen geblieben

der Gemeinschaftsküche an. Es geht so los. //

Foto Christina Körte

war“. Jetzt haben sie neben den beiden Büh­

Peter Helling

gar ein festes Technikteam.

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/ TdZ Juni 2022 /

Sternenstaub und Atomisierung BAM! Berliner Festival für aktuelles Musiktheater 2022 Zersplitterte Discokugeln funkeln durch den

ßen. Um den Austausch europäischer Szenen

Zeit gelingt, die Sympathien des Publikums

Theaternebel in Anke Retzlaffs „Dream Ma­

zu fördern, waren dieses Jahr Künstler und

zu gewinnen.

chine“. Eine computerartig verzerrte Stimme

Künstlerinnen aus der Schweiz zu Gast.

Eine herausragende Entdeckung war in

versichert einer im Weltall verlorenen Perfor­

Die Wiederbegegnung mit dem Publi­

dieser Hinsicht das Ensemble von Anke

merin der Paranormal Φeer Group: „I’m sorry

kum wurde in einigen Produktionen wie in

Retzlaff, die mit einem Team von drei Musi­

for your loss of signal.“

der des Ensembles Trisolde (einem Spin-­

kern sich durch emotionale Extremzustände

Das BAM!-Festival, das während der

Off des Musiktheaterkollektivs Hauen und

und den albtraumhaften Charakter der Pan­

Pandemie selbst um seine Existenz fürchten

­Stechen) so intensiv wie immersiv zelebriert.

demie spielte, sang und rappte. Ausgehend

musste, zeigt eine Momentaufnahme des

Ein Ensemble, das jedes in Dämmerschlaf

von der Situation eines erkrankten Elternteils

noch-nicht-post-pandemischen

Musikthea­

verfallene Theaterhaus (oder in diesem Fall

und unterbrochener Reisemöglichkeiten er­

ters der freien Szene. Wie in den vorhergegan­

das Kino Babylon) wieder mit vibrierender

reichen die Hauptfigur des Stücks nur noch

genen Ausgaben fängt es Tendenzen dieses

Energie füllen kann. Die überbordenden

vielgestaltigen Genres ein, in dem sich ein

spielerischen Einfälle, die Opern- und pop­

experimenteller Umgang mit Konventionen

kulturelles Material mit tradierten Figuren

von Oper, Theater und Musik begegnen, die

des Schauspiels verbinden, darf dabei skiz­

Experimenteller Umgang mit Konventionen: „Dream Machine“ beim BAM!.

Neue Musik und Performancekunst einschlie­

zenhaft bleiben, weil es innerhalb kürzester

Foto Thomas Rabsch


magazin

/ TdZ Juni 2022 /

Anrufe mit schlechter werdenden Nachrich­

mehrmals, tatsächlich die Erzählerin schnell

Tradition, sei es zu den verfallenden Atmo­

ten. Die Isolation gebiert Albträume ohne

hinter der liebevoll eingerichteten Bühne ent­

sphären aus manchen Stücken Christoph

Ausweg, Telefone, die sich durch das Auf­

langstöckeln zu hören, um noch hier oder da

Marthalers, oder den dandyhaft aus der Zeit

legen und Nichtantworten nicht zum Schwei­

eine Maschine in Gang zu setzen, oder tat­

gefallenen Figuren von Martin Wuttke oder

gen bringen lassen, unterdrückte und über­

sächlich jemanden im Publikum rascheln oder

Sophie Rois. Eine ähnliche, doch anders ver­

steigerte Angst- und Wutgefühle, die sich

lachen zu hören. Auch hier gelang die Bezie­

ortete Atmosphäre schuf Sheppard, in dessen

in dieser explosiven Bühnenperformance

hung zwischen technischer Form und Erzäh­

Stück sich Claude Debussys Musik und Lyrik

schließ­lich Bahn brechen. Dabei gelingt es,

lung, da sich das Gespensterhafte fortsetzte in

von Pierre Louÿs und anderen begegneten.

in einem polyrhythmischen Zusammenspiel

der Suche eines fiktiven Filmgeräusche-Kom­

Mit minimalen Gesten und umso intensive­

von Sprache und Musik eines jener Gelenk­

ponisten nach Momenten der Stille inmitten

rem Ausdruck kreist das Stück um ein den

stücke des experimentellen Musiktheaters zu

chaotischer Filmszenen, aber auch nach der

Figuren selbst rätselhaftes Begehren, das

finden, an dem Strukturen zwischen den

Stimme seiner mysteriös verschwundenen

zwischen den Geschlechtern umherirrt und

Künsten übertragen werden, hin- und her­

Frau in seiner ungeheuren Tonbandsammlung.

sich nur seiner eigenen Sehnsucht gewiss ist.

springen und oszillieren, und so eine Gleich­

Die Tradition von geisterhaften Stimmen und

zeitigkeit des Verschiedenartigen in der

Geräuschen aufgreifend, die in Phasen der

Künstler:innen des Festivals mit akustischen

Schwebe gehalten wird.

Pandemie, als alle in einem stillen Zuhause

wie digitalen Mitteln experimentierten, neue

saßen und auf die Geräusche und Nachrichten

Geräuschmaschinen entwickelten oder Aus­

lauschten, selbst eine neue Blüte erlebten.

flüge ins Filmische unternahmen, können sich

Neben den überragenden Perfor­mer:in­ nen des Festivals, denen dies gelingt (genannt

Trotz

der

vielfältigen

Weise,

wie

sei hier unbedingt die lustige, beeindruckende

Erneut war ein großer Teil des Festivals

entscheidende ästhetische Momente des ex­

Chloé Bieri), löste das Schweizer Collektif

an der Berliner Volksbühne verortet und hatte

perimentellen Musiktheaters nur in einem

barbare die lange Zeit der Nichtbegegnung ­

dieses Mal mit Herbert Fritsch auch eine der

Raum mit Publikum verwirklichen. Die gute

zwischen Performern und Publikum, indem es

prägenden Figuren des postdramatischen

Nachricht ist, dass trotz manch (erzwungener)

in seinem Stück „Revox. A Tale of Phantoms“

(Musik-)Theaters an Bord. Auf ganz eigene

Tendenz zur Atomisierung das Signal noch

mittels binauraler Kopfhörer eine gespensti­

Weise stand die Produktion „Une mystifica­

nicht abgebrochen ist. //

sche Atmosphäre erzeugte. Durch räumlich-

tion“ („Les satyres sont mors“) des Berliner

akustische Täuschungseffekte vermeinte ich

Kanadiers Glen Sheppard in Bezug zu dieser

Irene Lehmann

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Starke Frauen trotzen dem Rassismus Eine neue Sicht auf die spanische Theaterszene beim 39. Heidelberger Stückemarkt

Die Demütigung sitzt tief. Am Rande eines

Velasco mit dem kritischen Blick auf die poli­

Familienfests sucht eine junge Frau Ruhe im

tische Wirklichkeit in dem südeuropäischen

Schatten eines Baums. Da kleben ihre Haare

Land, das von katholischer Tradition geprägt

in der harzigen Rinde fest. Mit einer Küchen­

ist. Franziska Muche hat die großen Sprach­

schere schneidet ihr der Vater die Haare ab.

bilder kongenial übersetzt.

Der Schmerz, den diese Risse in der Gesellschaft offenbaren: Marta Pazos’ Othello-Überschreibung. Foto Estrella Melero

Mit diesem bösartigen Ritus beginnt der Lei­

Neue Dramatik auch jenseits der­Metro­

Wurzeln ihrer eigenen Theaterkunst. Auf der

densweg der Heldin in María Velascos Stück

polen Madrid und Barcelona zu entdecken,

Leinwand wie auf der Bühne fanden die

„Ich will die Menschen ausroden von der

war das Ziel von Ferrer und Mora. Inhaltlich

Performerinnen Rocío Bello und Elena H. ­

Erde“. Mit dem starken, poetischen Text ent­

überzeugte auch Xavier Uriz’ Text „Thanato­

Vill­alba schnell einen Draht zum Publikum.

schied die Dramatikerin und Regisseurin den

logie“. Da geht es um eine Häufung von

Mit einer Überschreibung von Shakes­

internationalen Autor:innenpreis des Heidel­

­Suiziden in der Gesellschaft, die schließlich

peares großer Tragödie „Othello“ überzeugte

berger Stückemarkts für sich. Die Auszeich­

als Pandemie eingestuft werden. Klug, wenn­

die Regisseurin und Bühnenbildnerin Marta

nung, die das Land Baden-Württemberg ge­

gleich formal zu schlicht gebaut, spiegelt der

Pazos. Mit dem jungen galizischen Autor

stiftet hat, ist mit 5000 Euro dotiert.

mallorquinische Autor die politische Dimen­

Fernando Epelde hat Pazos einen neuen

Frauen sind in der spanischen Theater­

sion der Vereinzelung in der Gesellschaft und

Blick auf die kontroverse Figur des afrika­

szene stärker denn je. Da denkt die männlich

der Suizide in einem persönlichen Schicksal.

nischen Generals gewagt, der seine europäi­

dominierte Gesellschaft um. Das spiegelte

Thomas Sauerteig hat den Text aus dem Kata­

sche Ehefrau tötete. Die Intrige, die rassisti­

die Auswahl der Kurator:innen José Manuel

lanischen übersetzt. Ein junges Publikum

sche Militärs gesponnen haben, durchschaute

Mora und Carlota Ferrer. Die Vielfalt der Stim­

spricht Ruth Rubio mit dem Stück „Die

Shakespeares Held nicht. Pazos lässt in der

men und Formen dominierte beim internatio­

­Feuerfesten (Universum 29)“ an. Der spiele­

schauspielerisch starken Frau Männer und

nalen Wettbewerb wie auch bei den Gastspie­

risch konzipierte Text bezieht sich auf ein

Frauen aus ihren Körpern heraustreten und

len spanischer Bühnen. Drei Autorinnen und

­Experiment, das der Verhaltensforscher John

mit unterschiedlichen Stimmen sprechen.

einen Autor hat das spanische Kuratoren-

B. Calhoun 1972 mit Ratten durchführte.

Grandioses Schauspielertheater und die Cho­

Team ausgewählt. Mit María Velasco siegte

Auch bei der Auswahl der Produktio­

reografie von María Cabeza de Vaca zeigen

eine Dramatikerin, die nicht nur radikal einen

nen am Spanien-Wochenende setzten die

den Schmerz, den diese Risse in der Gesell­

feministischen Ansatz verfolgt. Formal über­

­Kuratoren auf ein breites Spektrum. Die Autorin

schaft offenbaren. Die weibliche Sicht auf

zeugte ihr Text in der Vierer-Auswahl durch

Rocío Bello, deren Familiendrama „Mein Ita­

die gesellschaftlichen Strukturen, die Othello

die Lust am Experiment ebenso wie durch

lienfilm“ ebenfalls im Autor:innenwettbewerb

zum Mörder seiner eigenen Ehefrau machen,

Sprachkraft: „Sie sieht aus wie eine Kahl­

vertreten war, gastierte mit ihrem Kollektiv

offenbart einen neuen Blick auf den engli­

köpfige, eine dieser Frauen, die geschoren

Los Bárbaros. Das Team aus Madrid verbindet

schen Klassiker. Pazos steht für eine Gene­

wurden, und gedemütigt, in Francos Spanien,

Fiktion und Wirklichkeit mit Videokunst. Im

ration junger spanischer Regisseurinnen, die

oder im Zweiten Weltkrieg. Und da tröstet sie

Stück „Die Erklärungen“ begeben sich die

den Horizont des spanischen Theaters wei­

der Baum.“ Große poetische Bilder verbindet

Theaterschaffenden auf die Suche nach den

ten. //

Elisabeth Maier


magazin

/ TdZ Juni 2022 /

Aktivismus mit Aussichten Am Teatr Współczesny in Szczecin sorgt eine neue Truppe für Aufsehen in Polen

„Edukacja Seksualna“ heißt das Stück von

‚Stadt der Freiheit‘ nicht nur als Eigenwer­

Motor für mehr Potenzial machen will. „Edu­

Michał Buszewicz, das in Polen ein per Ge­

bung, sondern tatsächlich auch im Selbst­

kacja Seksualna“, obwohl weder von ihm ge­

setz neuerdings verbotenes Schulfach adres­

verständnis.

schrieben noch inszeniert, aber von ihm be­

siert. Denn die Sexualerziehung wurde von

Besonders ist auch, wie es zu der neu­

auftragt und in der Öffentlichkeit wirkmächtig

der natio­ nalkonservativen PiS-Regierung an

en Intendanz am Teatr Współczesny (Theater

betreut, ist praktisch sein Antritt in Szczecin

Schulen abgeschafft, fast im gleichen Atem­

der Zeitgenossen) kam. Anna Augustynowicz,

– mit großem Echo vor Ort und ins ganze

zug, in dem sie das Abtreibungsrecht prak­

als renommierte Regisseurin eine Erneuerin

Land hinein. Er würde damit an die polnische

tisch bis auf ganz wenige Ausnahmen aufhob.

der Repertoires in Polen und stets offen für

Theaterrevolution der Jahre um 2000 an­

Eine offenbar panische Angst vor der Darstel­

neue künstlerische Positionen, leitete das

knüpfen, als Grzegorz Jarzyna, Maja Kle­

lung von Sexualbeziehungen in differenzierte­

Theater über dreißig Jahre lang und bekam

czewska, Jan Klata, Krzystof Warlikowkski

ren Geschlechterverhältnissen trieb die in

zum Abschied das wohl einzigartige Privileg,

u. a. als Regisseur:innen das polnische Thea­

diesem Punkt antiliberale Kaczynski-Partei in

ihre Nachfolge selbst zu bestimmen. Sie ent­

ter mit Ausstrahlung in die ganze Welt erneu­

die weitere Spaltung der Gesellschaft, mit der

schied sich für Jakub Skrzywanek als künstle­

erten und mit bahnbrechenden Inszenierun­

katholischen Kirche im Hintergrund und dazu

rischen Direktor, wie die Position des Inten­

gen zu internationalen Regiestars wurden, die

traditionsfremden Ideen überhaupt.

danten in Polen offiziell heißt. Skrzywanek

dem Theater mit großer Kunst gesellschaftli­

Die Inszenierung in der Regie des

(Jahrgang 1992) gehört zu den aktivistischen

che Relevanz von höchsten Graden verliehen.

­Autors ist eine lockere Szenenfolge ohne jeg­

Theaterkünstlern, deren Berufsstart schon in

Genau das könnte nun wieder in Szczecin

lich explizite Darstellungen, als Revue des

die konservative Wende des Landes fiel, und

ein Ausgangspunkt sein, mit aktivistischem

„Entschämens“ dieses Themas. Das Beson­

hat mit dem dokumentarischen Stück „Tod

­Theater, das gerade im Mai mit „Spartakus“,

dere ist vielleicht gar nicht so sehr die päda­

von Johannes Paul II.“ am Teatr Polski in

einem Stück gegen Homophobie, Premiere

gogische Aufklärung von Jugendlichen, son­

Poznań über den körperlichen Verfall des Hei­

hatte, vor allem aber als soziales Experiment

dern dass Sex auch für Erwachsene ein

ligen Papstes heftige Kontroversen ausgelöst,

für neue ästhetische Wege des Theaters in

schwieriges soziales Problem bleiben kann,

die er als junger Theatermacher im heutigen

dieser Zeit. //

jenseits von Beziehungshändel und Porno­

Polen weiterhin nicht scheut und nun zum

einsamkeit. Fast immer zeigt es Dialoge mit Ende unbekannt – oder eben zum Weiterfüh­ ren auffordernd. Angeboten wird das Stück für Schüler:innen ab 15 und ist vom Bürger­ meister von Szczecin eigens abgesegnet. Der gehört der PO (Bürgerplattform) an und un­ terläuft damit die Volkserziehung der Regie­ renden in Warschau. Es ist der in Polens Kul­ tur nicht untypische Konflikt zwischen der Landesregierung und den in vielen großen Städten auch für die Kultur verantwortlichen liberalen Stadtoberen, die ihre Theater nicht unbedingt an der Kaczynski-Linie ausgerich­ tet sehen möchten. „Edukacja Seksualna“ hat nun für besonders viel Wirbel gesorgt, denn es betrifft ein Gesetz, das vom Theater mit großem Zuspruch des Publikums hinter­ fragt wird. Szczecin an der Oder, keine zwei Stunden von Berlin, versteht sich zudem als

„Edukacja Seksualna“ am Teatr Współczesny in Szczecin. Foto Piotr Nykowski

Thomas Irmer

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/ TdZ Juni 2022 /

Hochkultur vs. Hochöfen

Konfrontative Aktionskunst in Luxembourg: das Kollektiv Richtung22. Foto Laurent Antonelli

len kann, inwiefern die locals bei der Planung von Esch2022 mitbedacht wurden. An der ästhetischen Ausrichtung der Eröffnungsfeier, bei der eine virtuelle Rakete in die Luft geschossen wurde, wird diese Dis­ krepanz besonders deutlich. Dem setzt Rich­ tung22 konfrontative Aktionskunst entgegen, die durch Abflachung von Hierarchien mittels Humors und der Verlagerung von Aktionen in den öffentlichen Raum sowohl die Ortsansäs­ sigen als auch die Region selbst zu einem integrativen Teil ihrer künstlerischen Praxis macht. Anstatt der Region ein gentrifiziertes Korsett aus Glas und Beton anzulegen, wird mit dem bereits vorhandenen gearbeitet, wird die kulturelle Identität der Gegend anhand

Wie das Kollektiv Richtung22 Kultur in die Kulturhauptstadt von Luxembourg bringt

ihrer Geschichte und der Beschäftigung mit der Bevölkerung, die dort lebt, erfragt. An­ statt Kunst über Menschen zu machen, wird Kunst mit Menschen gemacht, um allen den Zugang an Kunst und Kultur zu ermöglichen.

Kulturhauptstadt: ein Titel, der schmückt und

Dabei verdeutlicht sich in der humoristisch in­

Ob Esch2022 den Anstoß für eine Ge­

Assoziationen von kulturellem Erbe bei

szenierten Parade, die den abwertenden Blick

sellschaft, in der ein integrativerer Zugang zu

gleichzeitigem Zukunftsgedanken freisetzt.

der Hauptstädter auf die Menschen im Süden

Kunst und Kultur möglich ist, geben kann,

Mit 160 Projekten und 2000 Veranstaltungen

spiegelt, ein strukturelles Problem, das sich

wird sich zeigen. Denn wenngleich Begriffe

wollen die Veranstalter:innen von Esch2022

mühelos auch auf andere Städte abstrahieren

wie Digitalität und Wandel als markante

unter dem Slogan ,,Remix Culture“ deshalb

ließe: Der Weg von oben nach unten vollzieht

Schlagwörter herhalten, wird für die Entwick­

die Brücke zwischen diesen Polen schlagen.

sich leicht, umgekehrt wird es bereits schwie­

lung der Region am Ende entscheidend sein,

Stichwort: Digitalität, nachhaltige Entwick­

riger – das gilt ebenso für die Entwicklung von

welche Bevölkerungsschichten zukünftig vom

lung, Fortschritt. Doch wohin soll, wohin will

Städten, wie für die Kulturbranche.

Strukturwandel erfasst werden, und welche

sich das einstige Kohle- und Stahlgebiet im

Dabei ist das Konzept der Kulturhaupt­

nicht. Trotz aller Kritik kann die diesjährige

Süden Luxembourgs orientieren, insbesonde­

stadt nichts, was per se verwerflich wäre, im

Kulturhauptstadt aber auch mit einigen High­

re mit Blick auf die kulturelle Identität und

Gegenteil: Auf europäischer und nationaler

lights aufwarten – vor allem im Bereich Perfor­

die Förderung nachhaltiger Projekte? Und wer

Ebene fließt Geld in kulturfördernde Initiati­

mance-Kunst. So sind es Inszenierungen wie

hat Zugang zu diesen Entwicklungen?

ven, werden neue Strukturen geschaffen. Das

„Totem ou un Sens commun“ der Compagnie

Auf diesen Fragen baut die Arbeit

scheint vor allem für ein kleines Land wie

Deracinemoa und die Science-Fiction-Theater­

des luxembourgischen Künstler:innenkollektivs

­Luxembourg lohnend, da sich dadurch Chan­

performance „Die Maschine steht still“, insze­

Rich­tung22 – das u. a. mit Theaterstücken,

cen zur Entwicklung lokaler Projekte und der

niert von Marion Rothhaar, die herausstechen.

Happenings und Kurzfilmen an Esch2022

Förderung der hiesigen Kunst- und Kultur-

Während die Compagnie Deracinemoa

partizipiert – auf. Und so hat man Dan ­

Szene ergeben. Hier setzt jedoch eine Kritik

in ihrem für 5000 bis 10 000 Menschen kon­

­Kaemmpfer, Deputy-Territory-Senior-Partner der

ein, die auch Richtung22 mit ihren Aktionen

zipierten Stück der Frage nach der kollektiven

ebenso fiktiven wie schmierigen Beraterfirma

formulieren: Oft liegt der Fokus solcher Ver­

Erfahrung des Massenexils nachspürt, funkti­

Eescht & Jonk, vor Beginn der offiziellen Eröff­

anstaltungen auf großangelegten Prestigepro­

oniert Rothhaar in ihrer Arbeit – in der es um

nungsfeier per Livestream auf eine sechsstün­

jekten, die an der Lebensrealität der Men­

den Menschen im Zustand völliger Isolation

dige Kultivierungs-Mission geschickt: Mit Glas

schen vor Ort vorbeigehen. Die Relevanz von

geht – den Bahnhof Esch-Belval mittels

und Beton ging es – nebst Bagger, Megafon,

Veranstaltungen, in denen die Frage nach der

­Video-Animationen und Soundscapes zu ei­

Sektflöten und einer Beraterfirma, die aus der

Zukunft des Menschen im digitalen Zeitalter

ner futuristischen Bühnenlandschaft um. Da­

Industriestadt ein attraktives Stadtquartier for­

verhandelt wird, ist unstrittig. Unstrittig ist

bei beruht die Relevanz beider Inszenierun­

men soll – zu Fuß von Luxembourg-Stadt run­

aber auch, dass solche Projekte die Lebens­

gen auf der Formulierung teils dystopischer

ter in den Süden des Landes, um der Re­gion

realität vieler Menschen aus der Region nicht

Zukunftsbilder – etwas, das im Jahr 2022

das zu bringen, an dem es ihr mangelt: Kultur.

miteinschließen und man sich die Frage stel­

aktueller denn je scheint. //

Lisa Elsen


magazin

/ TdZ Juni 2022 /

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Das Tiefe so leicht

In der von ihm selbst erzählten Geschichte

keit und Fiktion – ein großartiges Hörstück im

Erkennungsmelodie eingesetzte Instrumental

des amerikanischen Bariton-Stars Lucia Lucas

stimmigen Rhythmus von O-Ton, Opern­

„The Typewriter“ von Leroy Anderson, ein

gibt es gleich mehrere Verwandlungen. Die in

zitaten und Hoffmann-Parts, dazu sogar noch

beschwingtes Stück mit klackernden und ­

die jeweilige Rolle eines breit angelegten

ein wiederum dies alles spiegelnder Konter

klingenden

­Repertoires, aber auch die eines Outings als

zweier „World of Warcraft“-Spieler. Noam

man heute bei diesem Thema des Schreib­

Transgender-Frau, die ihre mittlerweile be­

Brusilovsky, 1989 in Israel geboren, absol­

tisch-Mörders für geradezu unmöglich hält.

rühmte Stimme einer männlichen Stimmlage

vierte zunächst eine Theaterausbildung dort

Auch hier erweist sich Brusilovsky als ein

verdankt und mit der Bekanntmachung ihrer

und anschließend ein Regie-Studium an der

Könner des scheinbar zu leicht Gemachten,

Identität durchaus etwas riskierte in der

Berliner Hochschule Ernst Busch mit nach­

das in die Tiefe ausgreift.

Opernwelt. „Singen lernen bedeutet, die ei­

folgend kleineren Inszenierungen an Haupt­

gene Stimme zu entdecken“, erkennt Lucas.

stadt-Theatern und ersten Hörspielen.

Schreibmaschinensounds,

die

Das dritte Stück in der finalen Diskus­ sion ist der rein dokumentarischen Form des

Schließlich war es auch eine Befreiung, denn

Brusilovsky, der am 17. Mai in Köln

Hörspiels zuzurechnen. In „Saal 101“ (Baye­

die Männerrollen konnten nun unbefangen

mit dem diesjährigen Hörspielpreis der

rischer Rundfunk) wird in 24 Folgen in der

gespielt und gesungen werden – als somit

Kriegsblinden ausgezeichnet wurde, kann

Zusammenstellung des Materials von Kata­

­authentische Verwandlung.

­außerdem damit hervorgehoben werden, dass

rina Agathos, Julian Doepp, Katja Huber und

Lucas erzählt das mit einem charman­

er in der über 70-jährigen Geschichte dieses

Ulrich Lampen der NSU-Prozess hörbar nach­

ten amerikanischen Akzent in Barrie-Kosky-

Preises noch mit einem zweiten Stück in die

vollzogen. Ein Riesenstück auch als Ein­

hafter Leichtigkeit mit einigen Gesangs­

Diskussion der engeren Wahl und schließlich

führung und Darstellung des Justizsystems in

beispielen aus „Don Giovanni“ und „Der

auch in die Endrunde kam. In dem dokumen­

der Verhandlung gegen die Hauptangeklagte

fliegende Holländer“. Allein das macht große

tarischen Hörspiel „Adolf Eichmann. Ein

­Beate Zschäpe, prominent besetzt mit Spre­

Freude, würde aber im Modus eines Features

­Hörprozess“ (rbb) rekonstruiert er zusammen

chern wie Thomas Thieme und eine bemer­

verbleiben, wenn Noam Brusilovsky nicht

mit Ofer Waldman die Rundfunkübertragung

kenswerte Darstellung akribischer Zeugen­

auch die lose Rahmung einer Künstlernovelle

­dieses für die Nationsbildung Israels so wich­

vernehmung und komplexer Falluntersuchung,

von E. T. A. Hoffmann dazu komponiert hätte.

tigen Gerichtsprozess. Die erst im letzten

das wegen der in Deutschland geltenden Be­

In „Don Juan“ fällt ein reisender Opern-

Moment von Ministerpräsident Ben-Gurion ­

stimmungen zur Wiedergabe von Prozessen

Enthusiast durch eine Tapetentür im gerade

durchgesetzte Radioübertragung im Sender

eben nur so gemacht werden konnte. //

bezogenen Hotel direkt in Mozarts „Don Gio­

Kol Israel, ihre Wirkung in Wohnzimmern

vanni“ hinein. Brusilovsky hat diese Erzähler­

­privat und in der israelischen Öffentlichkeit

figur mit Mechthild Großmann besetzt, be­

insgesamt dürfte zu den wichtigsten Ereignis­

kanntlich die tiefste weibliche Stimme im

sen in der internationalen Rundfunkhistorie

Schauspiel-Olymp.

überhaupt gehören. Diese mediale Geschich­

Thomas Irmer

So entsteht in dieser SWR-Produktion

te des Eichmann-Prozesses wird aus der

ein mehrschichtiges Spiel um Stimmen,

Sicht der damaligen Rundfunkredakteure

Der Autor ist Mitglied der Jury, die am 25. März

Kunst und deren eben nicht damit festzu­

erzählt und mit Hörerzuschriften erweitert. ­

erstmalig wieder in Präsenz beim rbb in Berlin die

legender Identifizierung zwischen Wirklich­

Brusilovsky verwendet das damals als eine Art

Preisvergabe entschied. //

Foto SWR Thomas Ernst

Noam Brusilovsky erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden für „Die Arbeit an der Rolle“


magazin

/ TdZ Juni 2022 /

Der Ermöglicher Der Intendantenlegende Gerhard Wolfram zum 100. Die Erinnerung an Gerhard Wolfram, fünfund­

von der historisch gewachsenen Souveränität

zwanzig Jahre Intendant in der DDR, ist eine

der Behandlung unserer Lebensprobleme be­

Erinnerung an ein Lebenswerk, das Möglich­

stimmt ist“, um den Konflikten und Wider­

keiten und Grenzen vernünftigen Handelns in

sprüchen der unmittelbaren Gegenwart mit

unfreien Zeiten aufweist.

einem freien komödiantischen Spiel zur Freu­

Jenseits aller taktischen Schachzüge und trotz vieler schmerzhafter Kompromisse

de des Publikums auf den Leib zu rücken. Zwei Uraufführungen, die Bühnenfas­

ram wird nicht in die Wüste geschickt,

meisterte er sein Amt dank seines unerschüt­

sung des Romans „Die Aula“ von Hermann

sondern 1983 wundersamerweise Intendant

terlichen Vermögens, sich offenherzig über

Kant und Heiner Müllers „Der Bau“ sollten das

des Dresdner Staatsschauspiels. Auch auf

fremdes Gelingen freuen und diese Freude

Konzept praktisch bestätigen. Doch weit ge­

dem Intendantenkarussell in der DDR ging

ungetrübt mitteilen zu können, im gelassenen

fehlt, allein die affirmative Bühnenfassung „Die

nichts ohne persönliche Fürsprecher, und

Wissen darum, das fremde Werk auf die ihm

Aula“ kam, und der ideologisch beargwöhnte

Wolfram hatte in Hans Modrow, dem SED-

gemäße Weise ermöglicht zu haben.

„Bau“ wurde verworfen. Hinter der Maske der

Chef von Dresden, einen solchen zur rechten

Trotz aller zentralistischen Kaderpolitik

scheinbaren Komik der „Aula“ begann sich die

Zeit an der rechten Stelle: Das Dresdner

prägte sich im Theatersystem der DDR eine

historische Selbstüberschätzung der „Sieger

Mehrspartentheater 1983 entflochten, und

viergliedrige Funktionstypologie des Intendan­

der Geschichte“ zu spreizen, die Geschichte

so wurde Wolfram der erste Intendant des

ten aus: der gestaltende, der ermöglichende,

war nicht zu übertölpeln, und der Sozialismus

selbstständigen Dresdner Staatsschauspiels.

der verwaltende und der verhindernde Inten­

wurde zur Utopie. 1968 brachte es an den Tag.

Doch nun band Wolfram das Theater

dant. Gerhard Wolfram zählte zu den Ermög­

Das Hallenser Theatermodell, damals hochge­

konzeptionell längst nicht mehr an parteige­

lichern (Thomas Langhoff). Seit 1953 Chef­

lobt, war schnell verschlissen. Wolfram trennte

nehme Ideologeme und abstrakte Sozialismus­

dramaturg des Maxim-Gorki-Theaters Berlin,

sich schwer von der Illusion, gesellschaftskon­

vorstellungen. „Immer deutlicher wird das

adaptierte er damals schon das Goethe-Wort

formes und ästhetisch anspruchsvolles Theater

Problem eines neuen zeitgenössischen Funkti­

„Die Bühne und der Saal, die Schauspieler

zu vereinen. Sozialistisches Volkstheater muss­

onsverständnisses unserer Theaterarbeit. Be­

und die Zuschauer machen erst ein Ganzes“

te sich wandeln, und wollte es sich ästhetisch

wegung entsteht überall dort, wo die Theater­

und passte es den Erfordernissen der fünfzi­

behaupten, gegen die Gesellschaft in ihrem

leute den enorm gewachsenen subjektiven

ger Jahre an, um die „große Kollektivität von

­So-Sein wenden. Das war die Hallenser Lehre.

Faktor im Zuschauer oder beim potentiellen

Zuschauerraum und Bühne“ durchzusetzen.

Während seiner elfjährigen Intendanz am Deut­

Zuschauer ernst nehmen, wo Theater aus der

Seitdem hielt er fest am Ideal eines „so­

schen Theater verfocht er den künstlerischen

Information in die schöpferische Phase der

zialistischen Volkstheaters, der demokratischen

und politischen Anspruch des Theaters, „eine

Kommunikation tritt, das künstlerische Grund­

Spielstätte einer Gesellschaft“, die, so hoffte

Tribüne unserer sozialistischen Gesellschaft

erlebnis immer vorausgesetzt.“ In diese schöp­

er, „zutiefst demokratisch ist und sich in einem

und somit Teil der sozialistischen Demokratie

ferische Phase führte Wolfram sein Ensemble,

gewaltigen Entwicklungsprozess vorwärtsbe­

zu sein“. Diese Maxime Wolframs aus dem Jah­

befreite sich das Dresdner Schauspiel aus jah­

wegt.“ 1961 entdeckte er im Théâtre de la Cité

re 1974 wurde von der Berliner Parteibürokratie

relanger Erstarrung und avancierte zum krea­

de Villeurbanne das Theaterspiel, das ihm vor­

als Kampfansage gegen die ideologische Prädo­

tivsten Theater der letzten DDR-Jahre.

schwebte. „Ein aktives, kräftiges Volkstheater,

minanz der Partei verstanden. Wolfram war spä­

Folgerichtig wird dieses Theater im

dessen naive Vorgänge lebenswahr, optimis­

testens seit 1978 Intendant auf Abruf, aber die

­Okto­ber 1989 zur unmittelbaren politischen

tisch und siegesgewiss sind. Ein ansteckendes,

umfänglichen und komplizierten Sanierungen

Tribüne mit dem legendär gewordenen Aufruf

mutmachendes und überlegenes Theater. Ein

der Kammerspiele und des Deutschen Theaters

des Schauspielensembles im Anschluss an die

Theater, das durch seine dargestellten Inhalte

verlangten nach einem eingespielten Lei­

Vorstellung am 6.10.1989: „Wir treten aus un­

an der Befreiung des Volkes von Unterdrückung

tungsteam, und Wolfram hatte noch eine

seren Rollen heraus“. Die Straße wurde wieder

und Ausbeutung teilhaben will.“

Schonfrist, die er glänzend nutzte, indem er

die angestammte Tribüne des Volkes, und das

Emphatisch schrieb er „Wie nahe liegt

Alexander Lang zum Regiedurchbruch verhalf

Theater wurde kenntlich, als das, was es war

Villeurbanne bei Bitterfeld!“ Und so versuchte

und dem Deutschen Theater einen neuen stil­

und sein wird: „Eine Insel, geprägt durch Hoff­

er in seiner ersten Intendanz am Landesthea­

bestimmenden Regisseur bescherte.

nung und Verzweiflung.“ (Gerhard Wolfram

ter Halle zusammen mit seinem „ewigen“

Anfang 1982 schlug die Partei zu:„Der

1990) Mit stehenden Ovationen verabschie­

Chefregisseur Horst Schönemann, den kultur­

Leitungszustand befindet sich in einem libe­

dete ihn sein Ensemble im Oktober 1990.

politisch vorgeschriebenen „Bitterfelder Weg“

ralen Aufweichen und nicht in einer straffen

Gerhard Wolfram gab altershalber die Inten­ ­

unter dem Eindruck dieser Volkstheater auf

Hand, die – wie seit Jahren bekannt – Genos­

danz an seinen Chefdramaturgen Dieter Görne

eine sehr eigenständige Weise zu interpretie­

se Wolfram als Person und der Partei gegen­

guten Gewissens ab. Am 15. Juni 2022 würde

ren: „Angestrebt wird eine Theaterarbeit, die

über sowieso nicht garantieren kann.“ Wolf­

er 100 Jahre alt werden. //

Thomas Wieck

Foto Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater, HL Böhme

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magazin

/ TdZ Juni 2022 /

Bücher

sehr, und zwar in Richtung / Gespräch mit DEM MÖGLICHEN LESER / Interessant / Viel­ leicht will er doch ins Internet (ich habe keine

Heiliges Sprachproblem

Ahnung)“ // Wolfram Lotz: Heilige Schrift I S. Fischer Verlag, 912 Seiten, 34 Euro

Wolfram Lotz liefert in seinem neuen Buch eine zarte Poetik seines Schreibens Als Rainald Goetz 1999 „Abfall für alle“ schrieb, war das eine Sensation. Ein „Roman

Nathalie Eckstein

Fibel für Führungskräfte Ein Ratgeber, wie man Intendant wird und es dann möglichst lange bleibt, hat bislang ge­

eines Jahres“, wie es im Untertitel heißt, in

fehlt in der Theaterliteratur. Tatsächlich ist

dem der Autor jeden Tag mitschreibt, ein Jahr

erzählen, das geht praktisch nicht (hier ja

diese wichtige Position im hiesigen Theater­

lang und den Text, in täglichen Lieferungen,

auch nicht)“

system kein Ausbildungsfach, und die Berufs­

ins Internet stellt.

Ähnlich wie Rainald Goetz kommt

bezeichnung stammt ursprünglich aus der

Was Goetz angefangen hat, den Alltag

Wolfram Lotz ohne Punkte am Ende seiner

Militärverwaltung, woher gewissermaßen der ­

eines schreibenden, denkenden Ichs in einer

Sätze aus. Was bei Goetz tatsächlich den

Laufbahncharakter einer solchen Endposition

Schriftform kommensurabel zu machen, fin­

Anschein vom Vermeiden von Literatur, von

rühren könnte. Lange wurden hierzulande füh­

det in Wolfram Lotz’ neuem Buch rund 20

Unmittelbarkeit von Notizen hat, bekommt bei

rende Regisseure Intendanten, mitunter auch

Jahre später eine Art Widerhall.

Lotz viel eher einen Verscharakter, wie alle

Schauspieler, in den letzten Jahrzehnten ver­

Im Jahr 2017, als er in einem Dorf in

seine Texte, auch seine Theaterstücke, letztlich

mehrt Dramaturg:innen und in einigen Fällen

Frankreich ist, schreibt er alles auf. Jeden Tag.

Langgedichte sind: „Ja, Grundform eben auch

Leute, die man vorher als Kulturmanager be­

Knapp 3000 Seiten. Kurz danach löscht er

hier: Nicht Erzählung, sondern Gedicht / Poem“

zeichnet hat. Neuestes Phänomen sind die

­alles wieder. Trotzdem liegen jetzt 900 Seiten

Alles Schreiben ist hier, wie in seinen

Team-Intendanzen, bei denen kleinere Kollek­

Text vor, die er einem Freund per Mail ge­

Theatertexten,

immer

der

Versuch,

der

tive sich die Führungsarbeit teilen. Letzteres

schickt hat. Soweit die Erzählung des Verlags.

„SPRACH­TOTHEITSBEGEISTERUNG“ zu ent­

will unter anderem dem Eindruck entgegentre­

Der schiere Umfang des Textes ist schon eine

gehen, und (da ist auch die Textform genuin the­

ten, der Intendant (männlich) sei so etwas wie

Überraschung, denn Wolfram Lotz, einer der

atral) einen Rhythmus, eine Zartheit zu behalten,

ein Relikt aus dem Feudalsystem in einer an­

am meisten gespielten Gegenwartsautoren im

die „mehr aus einem Sprechen kommen soll,

derweitig höher entwickelten Gesellschaft.

Theater, hat bisher ein schmales Oeuvre.

aus / Gründen der Körper- und also Ich-Nähe“

Der Wiener Georg Mittendrein wurde

Das Internet spielt also, folgt man der

Die Schrift wird letztlich heilig, weil sie

nach vielen Jahren in der Off-Szene seiner

Erzählung des Verlags, nicht nur innerhalb

Medium der Welterfahrung ist. Nur durchs

Heimatstadt 1991 Intendant des Landesthea­

des Buches eine Rolle, sondern hat auch ent­

­Schreiben gibt es die Möglichkeit, den Dingen

ters Altenburg, danach im italienischen Bo­

scheidend zu dessen Vorliegen beigetragen.

nah sein zu können: „Wie ich mir wünschen

zen, anschließend leitete er ab 2001 das kom­

Wolfram Lotz geht einkaufen. Wolfram

würde, dass ich immer ganz nah und hell an

plexe Fusions- und Mehrspartengebilde in den

Lotz verreist. Wolfram Lotz baut eine Legotank­

den / Dingen hier schreibend dran sein könnte“

sächsischen Städten Plauen und Zwickau. Er

stelle mit seinen Kindern. Wolfram Lotz denkt

Was Wolfram Lotz hier liefert, ist nicht

kennt sich also aus mit Stadttheatern mittlerer

nach über das Schreiben, über das Theater und

weniger als seine vorsichtige Poetik, die darin

Größe, mit ihren Bedingungen zwischen Lokal­

über das Internet. Das tut er mit der zarten

besteht, im Schreiben die Welt überhaupt er­

politik, möglichst alle ansprechender Spiel­

­Vorsicht, die man von ihm kennt. Er imaginiert

fahren und verstehen zu können. Beim Lesen

plangestaltung bei oft wechselnden Ensemble­

sich als Miley Cyrus, als die er Theaterstücke

kann man verfolgen, wie Lotz versucht, ver­

zusammensetzungen oder der Macht eines

schreibt, er sitzt als Akademie für deutsche

wirft, sich annähert und sich wieder entfernt.

Orchesters und den Fallstricken, die ein

Sprache mit seiner Familie am Tisch, und er

Ob man der Erzählung des Verlags nun

wandert als Peter Handke durch den Schwarz­

glaubt oder nicht: Der Text vollzieht perma­

Mittendrein führt das alles in ins­

wald. In dieser Imagination ist er nie überheb­

nent eine Bewegung: die Suche nach Öff­

gesamt 24 Paragrafen gegliedert mit feiner

lich, sondern, wie immer, in der Pose dessen,

nung, nach Gehörtwerden und die Koketterie

österreichischer Ironie aus, bis hin zur sozia­

der auch nicht weiß, wie er es an die Spitze des

mit dem Unverstandensein, dem Einsamsein:

len Funktion der Kantine oder dem Status

deutschsprachigen Dramas geschafft hat. Es ist

„Heute neigt sich der Text hier offensichtlich

eines Intendanten in der Stadtgesellschaft.

selbst­bewusster Betriebsrat auslegen kann.

das Ausprobieren von Rollen und das Anpro­

Auch wenn man in Rechnung stellt, dass hier

bieren einer Realität, selbst theatrale Praxis.

das vielerorts nicht mehr so existierende gute

Eine Frage, die ihn immer, und gerade bei diesem Unterfangen, permanent begleitet, ist eine sprachphilosophische. Wie kann Litera­ tur die Wirklichkeit abbilden? Die Abbildung der Wirklichkeit muss selbst hochgradig artifizi­ ell erfolgen, um ihr gerecht werden zu können. „Aber wie schwierig das ist, gewollt Dinge abzubilden, ohne schon etwas / mitzu­

alte Stadttheater beschrieben wird, dürfte die Georg Mittendrein: Der Theaterintendant Verlag Der Apfel, Wien 2021, 146 Seiten, 22,50 Euro

Lektüre selbst für zukünftige Führungskräfte zur Überprüfung ihrer Ambitionen lohnend sein. Eine Perle ist die Antwort eines anony­ misierten Intendanten auf die Frage, wie viele Leute an seinem Theater arbeiten: „Ich schätze, etwa die Hälfte.“ Viel Spaß! // Thomas Irmer

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aktuell

Meldungen

/ TdZ Juni 2022 /

jektive und transparente Überprüfung der

Leitung von Jens Hillje hat aus über 60 ge­

Vorwürfe“ sei vom Unternehmen eingefordert

sichteten Produktionen ausgewählt. Die elf

worden. Man würde die Ergebnisse der Unter­

eingeladenen Inszenierungen sind: Bad Roads

■ Ab der kommenden Spielzeit wird die ukrai­

suchung abwarten und dann notwendige Kon­

(UA) von Natalia Vorozhbyt, Regie: ­ Tamara

nische Dramatikerin und Regisseurin Anasta-

sequenzen ziehen.

Trunova; Left Bank Theatre, Kyjiw; We are in the Army Now (UA), Regie: Elias Adam Onas­

Mannheim. Kosodii, die vor der russischen

sis Stegi; Athen / Griechenland; werther.live

Invasion regelmäßig als Kulturmanagerin und

(UA) nach Johann Wolfgang von Goethe, Regie:

Dramatikerin in der Ukraine tätig war, ist seit

Cosmea Spelleken (punktlive); Karneval (UA)

Overhead Project. Foto Ingo Solms

siia Kosodii Hausautorin am Nationaltheater

2019 leitende Dramatikerin des PostPlay Theaters in Kiew. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich u. a. mit Menschenrechtsverletzun­ gen auf der besetzten Halbinsel Krim sowie dem Ursprung des Krieges im Donbass.

■ Der künstlerische Leiter des Internationaal Theater Amsterdam Ivo van Hove übernimmt

Regie: Joana Tischkau, Theater Oberhausen; Mowgli (UA) Konzept: Sorour Darabi Kuns­ tenfestivaldesarts; Identitti (UA) von Mithu Sanyal Regie: Kieran Joel, Düsseldorfer Schau­ spielhaus; Gymnasium (UA) (Stückabdruck in TdZ 12/21) von Bonn Park und Ben Roessler, Regie: Bonn Park, Münchner Volkstheater; Civilisation von Jazz Woodcock-Stewart in Zu­

am 1. November 2023 die Intendanz der

■ Der Tabori Preis 2022 geht in diesem Jahr

sammenarbeit mit Morgann R ­ unacre-Temple,

Ruhrtriennale. Van Hove tritt damit turnus­

an das Performancekollektiv Meine Damen

Regie: Jaz Woodcock-Stewart; Karadeniz (UA)

mäßig die Nachfolge von Barbara Frey an. Er

und Herren. Die Tabori Auszeichnungen er­

Eine Produktion von caner teker / PARASITES

übernimmt für drei Spielzeiten (2024–26)

halten die Regisseurin Simone Dede Ayivi

PROJECTS tanzhaus nrw und HAU Hebbel

die Intendanz der Ruhrtriennale.

und die Company Overhead Project. Die erst­

am Ufer; It’s Britney, Bitch! (UA) von Lena

mals international ausgelobte Tabori Aus­

Brasch und Sina Martens, mit Texten von

■ Zur Spielzeit 2023/24 übernimmt Stephan

zeichnung erhält die moldauische Künstlerin

Laura Dabelstein, Miriam Davoudvandi, Fikri

Beer die Schauspieldirektion am Pfalztheater

Nicoleta Esinencu für ihre Arbeit mit dem

Anıl Altıntaş und Lena Brasch, Regie: Lena

Kaiserslautern. Stephan Beer, geboren 1977

Theaterkollektiv teatru-spălătorie. Der Tabori

Brasch, Berliner Ensemble; Die Jungfrau

in Magdeburg, der seit 2006 als Regisseur

Preis ist mit 25 000 Euro dotiert, die Tabori

von Orleans nach Friedrich Schiller, Regie:

arbeitet, tritt damit die Nachfolge von Harald

Auszeichnungen mit jeweils 15 000 Euro.

Ewelina Marciniak, Nationaltheater Mann­

Demmer an.

heim. Das Festival findet vom 24. Juni bis 2. Juli am Münchner Volkstheater statt.

■ Mit vier neuen Lehrkräften erweitert die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch

■ Für ihr Gesamtwerk erhält die britische

ihr Studienangebot. Als erste Frau ist Friede­

Dramatikerin Caryl Churchill den Europäischen

rike Heller zur ordentlichen Professorin für

Dramatiker:innen Preis 2022. Verliehen wird

Schauspielregie berufen worden. Auf die neu

der mit 75 000 Euro dotierte Preis alle zwei

ein­ ­ gerichtete Gastprofessur für Kollektives

Jahre seit 2020 vom Schauspiel Stutt­

Ulrich Matthes. Foto privat

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Arbeiten als Erweiterung des Studiengangs Regie ist Anja Kerschkewicz berufen worden. Im Fachbe­reich Puppenspiel wird die neue Gastprofessur für Kulturmanagement von Paul Enke bekleidet. Zur Förderung interna­ tionaler Studierender ist Autor Sven Dolinski

gart. Der Nachwuchsdramatiker:innen Preis, der mit 25 000 Euro dotiert ist, geht an die ukrainische Dramatikerin Lena Lagushon­ kova. Die Verleihung findet vom 18. bis 20. November 2022 im Schauspielhaus der Stuttgarter Staatstheater statt.

als neue Lehrkraft für besondere Aufgaben

■ Der Schauspieler Ulrich Matthes hat das

ernannt worden.

Verdienstkreuz 1. Klasse erhalten. Bundesprä­

■ Der Schriftsteller Wolfram Lotz erhält den

sident Steinmeier sagte bei der Verleihung im

Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikpreis

■ Der Schriftsteller Lukas Bärfuss und die Re­

Schloss Bellevue, die Ehrung sei ein Dank für

2022. Die Jury, bestehend aus dem Kritiker

gisseurin Yana Ross werfen den Salzburger

das, was Matthes an „lebendiger Vergegen­

und Autor Till Briegleb, dem Dramatiker und

Festspielen „toxisches“ Sponsoring vor. Ge­

wärtigung“ dem Publikum auf deutschen

Regisseur Thomas Jonigk und der Bühnenver­

nauer geht es um das Sponsoring des Berg­

Bühnen geschenkt habe. Ulrich Matthes ge­

legerin Ute Nyssen, schreibt in ihrer Begrün­

bauunternehmens Solway, das mit Menschen­

hört zum Ensemble des Deutschen Theaters

dung: „Das beglückte Erstaunen, das der po­

rechtsverletzungen, Umweltverschmutzung und

Berlin.

etische Witz all seiner Texte beim Adressaten

engen Beziehungen zum Kreml in Verbindung

auslöst, beruht auf einer Art Reinigungseffekt

gebracht werde. Bärfuss und Ross forderten

■ Das Münchner Volkstheater hat die Auswahl

– Katharsis vielleicht.“ Der privat finanzierte,

die Salzburger Festspiele auf, das Spon­

zum Festival Radikal jung bekannt gegeben.

jährlich verliehene Preis ist mit 15  000 Euro

soring zu beenden. Die Salzburger Festspiele

Die Jury, bestehend aus Christine Wahl, C.

dotiert und wird im Mai im Literaturhaus Köln

­erwiderten in einer Stellungnahme, eine „ob­

Bernd Sucher und Florian Fischer unter der

verliehen.


meldungen

■ Das Programm der 25. Autor:innen­

■ Michael Degen erhält posthum den dies­

Schwerin. 1999 übernahm er die Leitung der

theatertage am Deutschen Theater vom 8.–18.

jährigen Ehrenpreis für sein Lebenswerk beim

Bad Hersfelder Festspiele. Seit 2000 arbeite­

Juni steht fest. Für die Lange Nacht der

Deutschen Schauspielpreis. Die Entscheidung,

te er frei als Regisseur in Dresden, Heidel­

Autor:innen hat die Jury, bestehend aus dem

ihm die Auszeichnung am 9. September zu

berg, Luxemburg und Recklinghausen. Dort

Dramatiker Ferdinand Schmalz, der Schau­

verleihen, war bereits vor mehreren Wochen

war er seit 2005 regelmäßig Mitarbeiter bei

spielerin Julischka Eichel und der Musikerin

getroffen worden. Der Deutsche Schauspiel­

den Ruhrfestspielen.

und Theater­ macherin Christiane Rösinger,

preis wurde 2012 im Rahmen der Berlinale

aus knapp 200 Einsendungen die drei Thea­

das erste Mal vergeben.

tertexte ausgewählt, die am 18. Juni zur Uraufführung kommen. Einge­ ­ laden sind:

■ Der österreichische Maler und Bildhauer

Raphaela Bardutzky „Fischer Fritz“ Regie: ­

und Aktionskünstler Hermann Nitsch ist am

Enrico Lübbe (Koproduktion mit dem Schau­

18. April im Alter von 83 Jahren verstorben.

spiel Leipzig), Alexander Stutz „Das Augen­

Als Erfinder des sogenannten Orgien-Mysterien-

lid ist ein Muskel“ Regie: Jorinde Dröse

Theaters, bei dem er Text, Malerei, Performance

(Deutsches Theater Berlin) und Paula Thiel­

und Ritual verknüpfte, wurde er bekannt. 2021

ecke „Judith Shakespeare (Rape and Re­

gab Hermann Nitsch sein Debüt bei den Bay­

venge)“ Regie: Christina Tscharyiski (Kopro­

reuther Festspielen und gestaltete das Bühnen­

■ Der ehemalige Intendant des Theaters In-

duktion mit dem Schauspielhaus Graz). Das

bild zu Richard Wagners „Walküre“.

golstadt Peter Rein ist tot. Rein, der von 2001–2011 das Theater leitete, ist am 14.

gramm mit Einladungen aus dem deutsch­

April im Alter von 59 Jahren verstorben. Rein,

sprachigen Raum.

geboren 1962 in Donauwörth, studierte am

■ Der langjährige Organisations- und Pro­ duktionsleiter der Berliner Festspiele Albrecht Grüß ist tot. Er starb am 15. April an einem Herzinfarkt. Albrecht Grüß arbeitete mehr als 17 Jahre unter drei Intendanten für das Fes­ tival. Grüß, geboren in Freiberg, lernte zunächst Drucktechnik, bevor er in Berlin Südostasiengeschichte und Soziologie stu­

Max-Reinhardt-Seminar und arbeitete ab 1991 als Regisseur. 1996 wurde er Ober­ spielleiter am Erfurter Theater. Mit 38 Jahren wurde er Intendant in Ingolstadt.

Korrektur Mai-Heft Aufgrund eines technischen Fehlers fehlt auf S. 22 am Ende ein Teil des Textes „Der Vater

dierte. Er arbeitete am Städtischen Theater

■ Der Regisseur, Dramaturg, Schauspieler

greift zur Kettensäge“ von Stefan Keim. Wir

Leipzig, an der Berliner Schaubühne, am

und Theaterleiter Ingo Waszerka ist gestor­

korrigieren: „Es stehen ja keine Menschen

Hackeschen HofTheater Berlin, wiederkeh­

ben. Er verstarb am 16. April im Alter von 83

auf der Bühne, mit denen man fühlen oder

rend als künstlerischer Produktionsleiter bei

Jahren an den Folgen einer Lungenentzün­

um die man fürchten könnte. Hier wird die

der Ruhrtriennale und seit 2004 bei den

dung. 1939 in Breslau geboren, arbeitete er

Schwäche der klug konstruierten und genau

Berliner Festspielen. Im Rahmen seiner Ar­

seit 1965 an verschiedenen deutschen Büh­

gearbeiteten Inszenierung sichtbar. Hinter all

beit ermöglichte er ­ diverse anspruchsvolle

nen. Von 1993 bis 1999 war er Schauspiel­

den Thesen und Pointen fehlt das Mensch­

Arbeiten.

intendant des Mecklenburgischen Staatstheaters

liche. Eine tolle Oma kann nicht alles retten.“

TdZ on Tour Anfang Mai fand die Buch­ premiere der neuesten „Re­ cherche“ von Theresa Schütz’ Dissertation „Theater der Ver­ einnahmung.

Publikumsinvol­

vierung im immersiven Thea­ ter“ in der Theaterbuchhandlung Einar und Bert statt. Der Text entwickelt ein Verständnis von immersivem Theater und unter­ sucht Publikumsinvolvierungen am Beispiel verschiedener Theaterarbeiten, unter an­ derem SIGNA. (siehe S. 32)

Foto Theater der Zeit

Ingo Waszerka. Foto Sigrid Meixner

Rahmenprogramm bildet ein Gastspielpro­

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Peter Rein. Foto Stadttheater Ingolstadt

/ TdZ Juni 2022 /


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aktuell

/ TdZ Juni 2022 /

Premieren und Festivals Altenburg Theater M. Kressin: Liebe macht frei (M. Kressin, 03.06., UA) Annaberg-Buchholz Eduard-von-Winter­ stein-Theater H. v. Hofmannsthal: Jeder­ mann (M. Steinweder, 26.06.) Baden-Baden Theater I. Dachsteiner: Be­ rührungspunkte (I. Dachsteiner, 26.06.) Bamberg ETA Hoffmann Theater W. Shake­sp ­ eare: Romeo und Julia (M. Köhler/­ R. C. Bar-Zvi, 25.06.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater S. Nordqvist: Pettersson und Findus – Ein Feuerwerk für den Fuchs (S. Siegfried, 05.06.); D. Ratthei: Pink Guerilla (09.06.); n. A. C. Doyle/L. Hillmann: Sher­lock Hol­ mes – Das Biest von Bautzen (L. Hill­ mann, 23.06.) Berlin Ballhaus Ost Hysterisches Globus­ gefühl: Wir wollen, dass es schön ist (Hysterisches Globusgefühl, 23.06., UA) Deutsches Theater T. Bernhard: Auslö­ schung. Ein Zerfall (K. Henkel, 04.06.); P. Thielecke: Judith Shakespeare – Rape and Revenge (C. Tscharyiski, 18.06., UA); R. Bardutzky: Fischer Fritz (E. Lübbe, 18.06. UA); A. Stutz: Das Augenlid ist ein Muskel (J. Dröse, 18.06. UA); R. Pollesch: Liebe, einfach außerirdisch (R. Pollesch, 01.07., UA) Grips Theater M. Ostwald: Die Blauen Engel (B. Hauck, 03.06., UA) RambaZamba Theater M. Mosbach/ S. Sünkel: Cold Cases: Antike (M. Mos­ bach, 16.06., UA) Volksbühne STURM UND DRANG – Geschichte der deut­ schen Literatur I (J. Gosselin, 03.06., UA) Biel/Solothurn TOBS Biel R. Herrmann: Poème du Seeland (I. Freymond, 11.06., UA) Solothurn R. Herrmann: Poème du Seeland (I. Freymond, 16.06., UA) Bochum Schauspielhaus A. E. Şipal: Nad­ zieja i tęsknota / Umut ve Özlem / Hoffen und Sehnen (L. Colthoff, 18.06., UA) Bremen Theater A. Bakker/S. Krauss/M. Seidler: What we really really want. Eine Show über das Märchen der Gleichbe­ rechtigung (A. Bakker/S. Krauss, 29.06.) Bruchsal Badische Landesbühne W. Shakes­ peare: Ein Sommernachtstraum (E. Nagel, 15.06.) Chemnitz Theater J. M. Barrie: Peter Pan oder der Junge, der nicht erwachsen wer­ den wollte (S. Wolfram, 02.07.) Cottbus Staatstheater T. Lillies: Two Pen­ ny Opera (A. Petras, 11.06.) Darmstadt Staatstheater J. Kesselring: Arsen und Spitzenhäubchen (J. Kuhnert, 10.06.); M. A. Yasur: Amsterdam (J. Prechsl, 12.06.) Dessau Theater J. Lully/J. Molière: Der Bürger als Edelmann (C. v. Treskow, 12.06.) Dortmund Theater C. Hütter: 105 mal 68. Wir regeln das (C. Hütter, 04.06., UA) Dresden Staatsschauspiel T. Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne (S. Hart­ mann, 02.06.); R. Adams: Watership Down – Unten am Fluss (T. Kühnel, 03.06.); H. Fallada: Ein Mann will nach oben (S. Klink, 16.06.) Theater Junge Generation J. Friese/C. Duda: Alle seine Entlein (I. Sajeviç, 04.06.); Anis Ham­ doun u. Ensemble: Der Räuber Hotzen­ plotz (N. Zapfe, 11.06.) Erlangen Theater Y. Ronen/D. Schaad: (R)Evolution (E. Finkel, 25.06.)

Esslingen Württembergische Landesbüh­ ne T. Waits/W. S. Borroughs: The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets (C. Biermeier, 18.06.); O. Storz: Freibad­ clique (C. Gnann, 24.06., UA) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mouson­ turm Ariel Efraim Ashbel a. f.: It takes a Village: Bar Mitzvah’d at Forty (Ariel Efraim Ashbel a. f., 11.06., UA); A. P. ­ Arendt: Politeia (A. P. Arendt, 17.06., UA) Schauspiel G. Tabori: Die GoldbergVariationen (D. Tavadze, 10.06.); SHARE! Das große Stadtprojekt (M. Droste/K. Spira/J. Foth/L. Schmelmer, 18.06.); J. W. v. Goethe: Die Wahlverwandtschaften (L. Nielebock, 23.06.) Freiberg Mittelsächsisches Theater R. Cooney: Außer Kontrolle (A. Beutel, 17.06.) Görlitz Gerhart Hauptmann-Theater P. Süskind: Der Kontrabass (F. Drews, 23.06.) Göttingen Deutsches Theater G. Brant: Am Boden (J. Schwung, 03.06.); R. Kricheldorf/H. Zufall: Pardauz! Schnupdi­ wup! Klirrbatsch! Rabum! (A. Pullen, 24.06., UA) Graz Schauspielhaus P. Thielecke: Judith Shakespeare – Rape and Revenge (C. Tscharyiski, 18.06., UA) Greifswald Theater Vorpommern T. Brasch/­W. Shakespeare: Was ihr wollt (U. Koschel, 03.06.); T. Brasch/W. Shakespeare: Was ihr wollt (U. Koschel, 03.06.); S. Andringa: Die Werkstatt der Schmetterlinge (G. Lukas, 09.06.); S. An­ dringa: Die Werkstatt der Schmetterlinge (G. Lukas, 09.06.) Halle neues theater E. Rostand: Cyrano de Bergerac (R. Jakubatschk, 09.06.) Hannover Schauspiel n. I. Bergmann: Szenen einer Ehe (S. Kimmig, 10.06.) Heidelberg Theater und Orchester n. N. Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsin­ nigen (M. Letmathe, 11.06.); J. Schwarz: Die verzauberten Brüder (M. Süß, 19.06.); n. T. Stoppard/n. M. Norman: Shakes­ peare in Love (H. Schultze, 24.06.) Heilbronn Theater W. Shakespeare: Ro­ meo und Julia (E. Perrig, 11.06.); J. Zeh: Corpus Delicti (N. Buhr, 18.06.) Ingolstadt Stadttheater O. Scherz: Ein Freund wie kein anderer (M. v. Boxen, 04.06., UA) Innsbruck Tiroler Landestheater G. Gen­ brugge: Koffer auf Reisen (I. Gündisch, 04.06., ÖEA); F. Kafka: Kafka Umírá – Kafka stirbt (M. Simonischek, 18.06., UA) Karlsruhe Badisches Staatstheater En­ semble/M. Schötz/M. Meinhold: Wunder geschehen (M. Schötz/M. Meinhold, 04.06.); T. Hubrii: Verzerrte Realitäten (T. Hubrii, 30.06.) Kiel Theater 20.000 Meilen unter dem Meer (A. Großgasteiger, 25.06.) Köln Schauspiel J. Bosse: Falstaff – Ein Shakespeare-Projekt (J. Bosse, 12.06.) Krefeld/Mönchengladbach Theater W. Mouawad: Vögel (M. Gehrt, 04.06.), Thea­ter N. Payne: Konstellationen (M. Mühlen, 05.06.) Landshut Landestheater Niederbayern n. T. Stoppard/n. M. Norman: Shakespeare in love (M. Everding, 17.06.)

Juni, Juli, August 2022

Leipzig Schauspiel Linie 2072 (M. Döpke/M. Ilg, 08.06., UA); System Innen­ stadt. Leipzig – Ein seismographischer Stadtspaziergang (J. Karrenbauer, 09.06., UA); F. Wedekind: Frühlings Erwachen (Y. Hinrichs, 10.06.); R. Bardutzky: Fi­ schers Fritz (E. Lübbe, 18.06., UA); Tage­ buch eines Wahnsinnigen (30.06.) Lübeck Theater F. Stahmer/A. Kock: Her Home (F. Stahmer, 03.06.) Magdeburg Puppentheater G. Hänel: Hofspektakel 2022: Feuerwerk der Liebe (O. Dassing/M. Hirche, 01.07., UA) Mainz Staatstheater E. Rottmann: Mats& Milad (A. Nerlich, 02.06.)∞ H. Frauen­ rath, V. Doddema: Ich hab Dich, Babe (H. Frauenrath, V. Doddema, 02.07. UA); A. Kaurismäki: Der Mann ohne Vergangen­ heit (K.D. Schmidt, 08.07.); J. Hader, A. Dorfer: Indien (M. Reisig, 17.07.) Meiningen Staatstheater N. W. Gogol: Der Revisor (R. Miersch, 04.06.) Memmingen Landestheater Schwaben Ich seh’ den Mond und denk’ an Dich – Ein Liederabend über das Leben und die Liebe (A. Fonferek, 11.06., UA); Von Her­ zen – Liebesszenen aus sechs Jahren Memmingen (K. Mädler/A. V. Freybott, 25.06., UA) München Residenztheater J. W. v. Goethe/ C. v. Günderrode: Werther (E. Jach, 22.06.) Naumburg Theater K. Ludwig: Baskerville (M. Pfaff, 10.06.) Oldenburg Staatstheater Sheroes (F. Stuhr, 03.06., UA); M. Becker/C. Laufs/W. Jacoby: Pension Schöller – Throwback to the Neunziger (M. Becker, 03.06.); Land sehen (L. Joost-Krüger/J. Schumacher, 15.06.); C. Weinhold: Wahres oder Rares – Lieder, die die Welt nicht braucht oder eben doch? (C. Weinhold, 25.06.) Osnabrück Theater A. Kaurismäki: Die andere Seite der Hoffnung (J. Fedler, 11.06.) Paderborn Theater I. Minhós Martins: Hier kommt keiner durch! (C. Sachs, 02.06.); A. M. Schenkel: Tannöd (J. G. Goller, 11.06.) Potsdam Hans Otto Theater Molière: Der Geizige (M. Paulovics, 03.06.) Regensburg Theater N. Sideri: Gefesselt (J. Knorr, 02.06., UA); P. Marber: Drei Tage auf dem Land (C. Drexel, 04.06.); Jugendclub: I need a hero!? Eine Held:in­ nenreise (A. Kiesewetter/L. Mangels/L. Hörmann, 18.06., UA) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Lan­ destheater und Sinfonieorchester G. Ravicchio/N. d.: Robinson Crusoe (L. ­Thode, 02.06.); Raumstadtspieler: Frühstück mit Gorillas (K. Springborn, 03.06.); Thea­ terjugendclub Rendsburg: Josie oder: Der stille Klassenraum (M. Nomura, 25.06.) Rostock Volkstheater A. Beyeler: Die Kuh Rosemarie (D. Pfluger, 04.06.) Rudolstadt Theater n. W. Allen/J. Fischer: Eine Mittsommernachts-Sex-Komödie (P. Besson, 17.06.); R. Kipling/R. Pape: Das Dschungelbuch (R. Neumann, 30.06.) Schwerin Mecklenburgisches Staats­ theater W. Shakespeare: Wie es euch gefällt (N. Mattenklotz, 25.06.) Stendal Theater der Altmark S. Gößner: lauwarm (S. Rosler, 07.06.)

Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt n. T. Capote: ­ Frühstück bei Tiffanny (B. Hille, 10.06.) Schauspiel F. Dostojewskij: Schuld und Sühne (O. Frljić, 18.06.); M. Tscholl: Pigs (M. Tscholl, 23.06.); n. V. Jestin: Hitze (S. Rindone, 19.07.) Tübingen Zimmertheater C. Lorenz/n. J. D’Aprile: Making Of (Lorenz, 04.06., UA) Ulm: n. R. Walser: Das große Erwachen (S. Pardula, G. Chailly, 11.06., UA) Weimar Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Junges DNT: Von Vätern und Söhnen (S. Mahn, 05.06.); F. Schil­ ler: Die Räuber (J. Neumann, 17.06.) Wien die Angewandte T. Prochasko: Rough Translation – Lesungen & Gesprä­ che mit ukrainischen Dichter:innen (T. Prochasko, 14.06.) brut S. Fors: A mouth­ ful of tongues (S. Fors, 11.06., UA); S. Mayer/Kopf h.: Colourful Greyzones – Live in Concert (12.06.); A. Eynaudi: Noa & Snow – Poem #9 (A. Eynaudi, 21.06.) Wuppertal Wuppertaler Bühnen J. W. v. Goethe: Stella – Ein Schauspiel für Lie­ bende (S. Maurer, 11.06.); Rampen­ schau – Ein Szenenabend des Inklusiven Studios (23.06.) Zittau Gerhart Hauptmann-Theater n. A. Dumas: Der Graf von Monte Christo (I. Putz, 01.07., UA) Zürich Theater Kanton G. Pigor: Die faulste Katze der Welt (S. Bodamer, 08.07., SEA) FESTIVALS Berlin Schönholzer Heide Fundort Luna­ park (25.06.–03.07.); Fundort Heide­ theater (26.08.–04.09.) Braunschweig Staatstheater Theaterfor­ men (30.06.–10.07.) Erfurt Phoenix 2.0 (05.–10.07.) Görlitz Gerhart Hauptmann-Theater Inter­nationales Straßentheaterfestival (07.07.–09.07.) Graz Schauspielhaus Dramatiker:innen­ festival (08.06.–12.06.) Hamburg Thalia Theater Körber Studio Junge Regie (01.06.–05.06.) Heidelberg Schloss Heidelberger Schloss­ festspiele (19.06.–07.08.) Köln Schauspiel BRITNEY X (10.06.– 12.06.) Magdeburg Puppentheater 13. Interna­ tionales Figuren Theater Festival Blick­ wechsel – Beste Freunde – Ein ganzes Jahr (22.06.–25.06.); München Volkstheater Radikal jung (24.06.–02.07.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Kunstfest Weimar (24.08.– 10.09.) Angaben ohne Gewähr. Theaterspielpläne und Premierendaten können sich aktuell kurzfristig ändern. Premierendaten bitte bis zum 5. des Vormonats an redaktion@tdz.de.

TdZ ONLINE EXTRA

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Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de


/ TdZ Juni 2022 /

AUTORINNEN UND AUTOREN Juni 2022

impressum/vorschau

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Vorschau Martin Zimmermann „Eins Zwei Drei“. Foto Augustin Rebetez

Elisabeth Bauer, Journalistin, Berlin Lisa Elsen, freie Autorin, Berlin Anne Fritsch, Journalistin, München Peter Helling, Kritiker, Hamburg Irene Lehmann, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin Martin Wigger, Theaterleiter, Zürich Jonas Zipf, Leiter JenaKultur, Jena

IMPRESSUM Theater der Zeit – Die Zeitschrift für Theater und Politik

Herausgeber Harald Müller Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz), Lina Wölfel (Digitale Dienste) Korrektur Sybill Schulte Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH, Benzstraße 12, D-12277 Berlin

Circus in flux. Der Zirkus hat in den letzten 50 Jahren einen nachhaltigen Wandel seiner Inhalte und Existenzweise erlebt: Progressive Zirkusformen etablieren sich neuerdings unter dem Begriff des „Zeitgenössischen Zirkus“ in den darstellenden Künsten. Das diesjährige Arbeitsbuch, herausgegeben von Jenny Patschovsky und Tim Behren, widmet sich dem Zeitgenössischen Zirkus und präsentiert mit Analysen, Interviews und Bildmaterial verschiedene künstlerische Positionen. Mit der zusätzlichen Einlage des VOICES Magazins „Re-thinking objects“ taucht das Buch tief in den aktuellen zirkusästhetischen Diskurs über neue Materialismen ein und nimmt außerdem die Verbindungen zum zeitgenössischen Tanz auf. (erscheint am 1. Juli)

Verlag und Redaktion Theater der Zeit GmbH, Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-17 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 redaktion@tdz.de / www.theaterderzeit.de Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Anzeigen Harald Müller, +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Lizenzen lizenzen@tdz.de 77. Jahrgang. Heft Nr. 6, Juni 2022. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.05.2022 © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit, © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren und Theater der Zeit. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. © Fotos: Fotografinnen und Fotografen

LESERSERVICE Bestellung abo-vertrieb@tdz.de / +49 (0) 30.44 35 28 5-12 Einzelverkaufspreis € 9,50 (Print) / € 8,50 (Digital) Jahresabonnement € 95,– (Print) / € 84,– (Digital) / € 105,00 (Digital + Print) 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch

Theater und Digitalität. Mit dem zweiten Teil des Schwerpunktes Theater und Digitalität gehen in der September-Ausgabe die Erkundungen weiter: Welche neuen Erzählformen werden möglich durch Virtual Reality? Was kommt damit in den Blick? Und wie wird sich die Theaterkritik künftig damit beschäftigen?

„Der Erlkönig“ am Puppentheater Zwickau. Foto Kultour-Z

1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

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Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. September 2022. Abonnent:innen erhalten am 1. Juli das TdZ-Arbeitsbuch „Circus in flux“.


Was macht das Theater, Yana Ross? Foto Flavio Karrer

In der Produktion „Kurze Interviews mit fiesen Männern – 22 Arten der Einsamkeit“ haben Sie mit Pornodarsteller:innen gearbeitet. Wie war die Arbeit mit ihnen im Unterschied zu der mit regulären Schauspieler:innen?

sagen hatte. Ich bin sehr dankbar, dass es zu so einem besonderen Zeitpunkt an einem so besonderen Ort passiert ist. Jetzt ist es hof­ fentlich die erste Begegnung mit einem inter­ nationalen Publikum.

Wir müssen bei der Idee der Inszenierung be­ ginnen: Die Idee, Live-Sex auf der Bühne zu

Bemerken Sie im Zuge des russischen Angriffs-

erleben, kommt von der Lektüre von David

krieges Reaktionen auf Ihren biografischen

Foster Wallace. Jedes Mal, wenn ich den Text

­Hintergrund?

lese, bin ich gleichzeitig fasziniert und abge­

Meine ewige Identitätskrise und meine Fähig­

stoßen, man will aufhören zu lesen, aber kann

keit, mich anzupassen, lässt mich oft fühlen

diesen „literarischen Porno“ nicht weglegen.

wie ein Chamäleon oder ein Oktopus. Wie sie

Und ich dachte, ich brauche etwas, um das

absorbiere ich die Farbe meines natürlichen

Publikum in eine bestimmte Art der Wahrneh­

Umfeldes. Und ich habe das Geschenk, einen

mung zu bekommen. Um die Sprache von Wal­

Teil meines Lebens im Osten verbracht zu

lace zu akzeptieren, muss man durch etwas durch, und man muss eine Wahl haben, ob man weitergehen will oder nicht. Das war der Grund, warum ich mit Pornodarsteller:innen gearbeitet habe. Die stellen natürlich eine Art nicht-normativen Cast dar. Ich habe nicht nach dem perfekten Paar gesucht. Conny Dachs ist 58, und Katie Pears ist in ihren 40ern, sie sind Veteran:innen ihres Feldes und haben viel Erfahrung in ihren Körpern und auf ihrer Haut. Ich wollte bei diesem Experiment zwischen verschiedenen Darstel­ler:in­nen her­ ausfinden, welche Fähigkeiten sie gemeinsam haben. Es war ein sehr besonderer Prozess, und ich bin sehr glücklich, dass wir mit der Intimitätskoordinatorin Katarzyna Szustow ge­ arbeitet haben. Das war wohl das erste Mal im Theater. Es ist ein Beruf beim Film, wenn man

Die amerikanisch-litauische Regisseurin Yana Ross, geboren 1973, wuchs in der Sowjetunion (Ventspils, Moskau) auf. Sie wurde in den USA an der renommierten Yale School of Drama ausgebildet. Arbeiten mit internationaler Festivalbeteiligung sind: Tschechows „Onkel Wanja“ (Uppsala, Scen­ konstbiennalen in Malmö, 2015), „Die Möwe“ (Stadttheater Reykjavik, Kon­takt Festival in Torun 2016 – Regiepreis); „Wunschkonzert“ von Franz Xaver Kroetz (Teatr Łaźnia Nowa in Krakow 2015, Wie­ ner Festwochen 2016). Sie ist fest im Regieteam am Schauspielhaus Zürich, wo zuletzt „Kurze Interviews mit fiesen Män­ nern“ entstand. Diese Produktion wird am 27. und 28. Juni in Venedig bei der Bien­ nale – Teatro im Arsenale-Areal gezeigt.

Sex simulieren muss. Und es gab Situationen,

haben und den Großteil meines Lebens im Westen, man kann das als böse oppositionelle Empires einander gegenüberstellen. Die USA und die Sowjetunion … Die Mythologie, die Le­ gendenbildung, die großen kulturellen Brüche in beiden Geschichten. Und diese Erfahrung in meiner Erinnerung zu haben, in meiner Haut zu haben, unterfüttert meine Arbeit. Aber ich frage mich immer, wenn ich anfange zu arbeiten, nach meiner eigenen Identität im Verhältnis zur kulturellen Landschaft, die ich durchquere. Auf eine Art ist es Teil meiner Arbeitsmethode. Schauen wir in die Zukunft: Sie werden am ­Berliner Ensemble arbeiten. Was passiert da? Ich arbeite quantitativ nicht so viel, es ist mir wichtig, mir Zeit zu nehmen, um etwas zu erar­ beiten. Ich habe diese Woche schon angefangen, einen Workshop im Gespräch mit einer Gruppe

in denen wir eine bestimmte Sprache entwi­

nern“ auf der Biennale in Venedig eingeladen.

von Schauspieler:innen zu entwickeln, die eine

ckeln wollten, wie wir die Kluft zwischen zwei

Was bedeutet die Einladung für Sie?

neue Version von Tschechows „Iwanow“ erarbei­

professionellen Gruppen überbrücken können,

Sie bedeutet vor allem Stress und schlaflose

ten werden. Es ist ein Ensemblestück, ich bin

und ich glaube, wir haben alle davon gelernt.

Nächte und wahrscheinlich Magenprobleme.

immer interessiert an der Geschichte eines

Aber es bedeutet auch die Aufregung, eine

Hauses, und der Titel des Hauses ist „Berliner

In der Beschäftigung mit toxischer Maskulinität –

sehr spezielle Arbeit teilen zu können. Ich trug

Ensemble“, also nehme ich es sehr ernst. Ich

wie explizit feministisch haben Sie sich dem

David Foster Wallace zehn Jahre mit mir her­

frage, wie kann ein Ensemble die Last gemein­

Stoff genähert?

um und bot es immer wieder Theatern an, aber

sam tragen? Wie kann man etwas entwickeln

Das ist eine Kritiker:innenfrage. (lacht) Ich ar­

niemand war interessiert. Und ich denke, alles

aus dem Fokus einer Gruppe heraus? Und ich

beite sehr praktisch. Und natürlich gibt es

passiert aus einem bestimmten Grund. Das

kontextualisiere auch die heutige Welt. Die

Theorie am Anfang der Proben, aber ich will

Stück kam schließlich in Zürich zur Premiere,

deutsche Geschichte. Ich würde sagen, der

ein einfaches Beispiel geben: Ich habe ein

in einem Haus, in dem ich mich zu Hause füh­

Großteil meiner Arbeiten mit Klassikern be­

iPhone, und wenn ich es in die Hand nehme,

le, und die Menschen, mit denen ich gearbei­

schäftigte sich mit der jeweiligen lokalen Ge­

reichen meine Finger nicht um das iPhone he­

tet habe, sind meine Familie geworden. Das

schichte. Wir sprechen darüber, was passiert,

rum. Das Smartphone wurde designt von ei­

war eine besondere Atmosphäre von völliger

wenn die Handlung in der Mitte von Deutsch­

nem amerikanischen Mann für die Hand eines

Freiheit und gegenseitigem Verständnis. Und

land passieren würde. Und das bedeutet auch,

amerikanischen Mannes. Bis die Welt nicht

eine bestimmte Laissez-faire-Haltung gegen­

die Geschichte der letzten Jahre in den Blick

beiden Händen gerecht wird, mache ich femi­

über dem Publikum. Dass sie glauben, alles

zu nehmen und uns zu fragen, wie uns das be­

nistisches Theater.

schon gesehen zu haben, sie nicht mehr über­

einflusst hat und wie wir an den Punkt gekom­

raschen oder schockieren zu können, war auch

men sind, an dem wir heute stehen. Welche

Sie bezeichnen sich selbst als „kulturelle No-

sehr befreiend. Ich konnte mich einfach auf

Rolle spielt die intellektuelle Elite in dieser Situ­

madin“. Jetzt sind Sie mit Ihren „Fiesen Män-

meine Arbeit konzentrieren, darauf, was ich zu

ation? //

Die Fragen stellte Nathalie Eckstein


Premiere

16. Jun 22

Cold Cases: Antike

Regie: Matthias Mosbach

Kulturbrauerei Schönhauser Allee 36 – 39 www.rambazamba-theater.de


nter Tickets und Infos u w.de www.theatertage-b Kartentelefon: 07131. 56 30 01


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