TdZ 6/2023 – Theatermusik

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Theater der Zeit Theatermusik Mit

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung Marie Helene Pereira Carlos Maria Romero Kathrin Röggla Barbara Frey PC Nackt Thomas Schmauser Anastasiia Kosodii Jette Steckel Chiaki Soma

Welttheater

Haus der Kulturen der Welt Berlin

Juni 2023 EUR 9,50 CHF 10 tdz.de


Was wäre Sachsen ohne uns! Die Sächsischen Theater und Orchester im Deutschen Bühnenverein


Theater der Zeit Editorial

„Es gab noch nie eine Frau wie Anna Karenina“ in der Regie von Ragna Wei im Heidelberger Stückemarkt

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Foto Christopher Backholm

as Haus der Kulturen der Welt in Berlin hat eine wechselvolle Geschichte. Von dem amerikanischen Architekten Hugh Asher Stubbins, Jr. entworfen, wurde der Bau als Kongresshalle 1957 eingeweiht. Die zu den ikonischen Architekturen des alten West-Berlin zählende „schwangere Auster“ musste nach einem Teileinsturz des Gebäudes 1980 saniert werden und wurde – kurz vor einer anderen Zeitenwende! – im Januar 1989 zum Haus der Kulturen der Welt, mit der Spezialisierung auf die Präsentation nicht-europäischer Kulturen. Nun wird es, nach einer nochmals notwendigen Renovierung, mit neuer Leitung wiedereröffnet. Intendant und Chefkurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, studierter Biotechnologe, und sein vielköpfiges Team der verschiedensten Kunst- und Wissenschaftssparten ließen schon bei der Pressekonferenz im März erkennen, dass nun einiges anders gemacht werden soll bei der Programmierung und Kuratierung. Im Zusammenspiel beinahe wie eine Big Band, jedenfalls auch mit großem Spaß an der Sache. Ute Müller-Tischler traf sich mit Ndikung und den beiden für die Performing Arts verantwortlichen

Theater der Zeit 6 / 2023

Kurator:innen, Carlos Maria Romero und Marie Helene Pereira, zum Gespräch. (S. 32–35) Theatermusik ist stets im Wandel. Sie folgt Moden, aber auch eigenen Konventionen – und wie sie dann wieder aufgebrochen werden. Ruhr-Triennale Intendantin Barbara Frey war einst auch Schlagzeugerin. Sie spricht im Interview mit NRW-­ Redakteur Stefan Keim über ihre Auffassungen der Musikalisierung des Schauspiels. Thüringen-Redakteur Michael Helbing stellt das Deutsche Nationaltheater Weimar als die wohl im Moment avanciertest Musik-SchauspielBühne vor, und PC Nackt, dieser Wanderer zwischen Elektro-Punk-Projekten und Theaterbühnen mit Schorsch Kamerun und Sebastian Hartmann, lud zum Gespräch auf ein Boot ein, wo die Geräusche des bewegten ­Wassers nebenbei auch als Sounds besprochen wurden. Ein Schwerpunkt auf den Seiten 10 bis 24. Die fotografierten Gebilde, die ­Tho­mas Demand nach Fotos baut – ikonisch die Badewanne in einem Genfer ­Hotel, in der Uwe Barschel, zurückgetretener Ministerpräsident von SchleswigHolstein, 1987 unter ungeklärten Umständen starb – sind Thema eines Essays von ­ Thomas Oberender im Kunstinsert. Was sie auch mit Theater zu tun haben, ist auf den Seiten 26 bis 31 zu lesen. Thomas Oberender wird künftig in loser Folge weitere Kunstinserts für TdZ präsentieren. Aktuelle Theaterkritiken und Dossiers zu den Themen des Hefts finden Sie unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema Theatermusik 12 Gespräch Der Reichtum des Erinnerungsspeichers Die Regisseurin Barbara Frey spricht über Musik als wesentlichen Kern ihrer Theaterarbeit Von Stefan Keim

16 Essay Ein Ensemble als Band Weimars Schauspieler singen oft und packen regelmäßig die Instrumente aus. Jetzt tanzen sie auch noch Von Michael Helbing

21 Gespräch Genregrenzen hardcore überwinden Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Intendant und Chefkurator am Haus der Kulturen der Welt, Berlin

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PC Nackt über seine Theatermusiken für Sebastian Hartmann, Schorsch Kamerun und Jossi Wieler Im Gespräch mit Thomas Irmer

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links oben Arno Declair, unten Julia Steinigeweg / Agentur Focus, rechts Christian Kleiner

Ensemble von „Der Einzige und sein Eigentum“, ein Stück Musiktheater von Sebastian Hartmann und PC Nackt nach Max Stirner im Deutschen Theater Berlin


Inhalt 6 / 2023

Akteure 26 Kunstinsert Den Tanz der Welt zur Ruhe bringen Absorption und Theatralität im Werk von Thomas Demand Von Thomas Oberender

32 Gespräch Die Macht der Performance Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und sein Team über neue Perspektiven und Positionen am Berliner Haus der Kulturen der Welt Im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

36 Porträt Ohne sich restlos zu begreifen Der Münchner Schauspieler Thomas Schmauser ist eine absolute Ausnahmeerscheinung Von Christoph Leibold

Stück

40 Nachruf „Denken über und für das Welt-Theater“

42 Stückgespräch Musik kann eine Möglichkeit sein

Zum Tod des Theaterwissenschaftlers Joachim Fiebach Von Jörg Bochow

Diskurs & Analyse 54 Essay Der große Bogen Der 17. Juni 1953, das Dramatische im Historischem und ein Kanzler-Wort Von Thomas Wieck

57 Bericht Publikumsbeteiligung und Kapitalismuskritik Ein Landschafts-Bürger:innentheater in Sachsen steht beispielhaft für Kulturinitiativen in ländlichen Räumen Von Michael Bartsch

58 Serie Warum wir das Theater brauchen #05 Selbstverständigungsprozess Von Jette Steckel

60 Bilanz Pfarramt mit Portemonnaie Nach 14 Jahren endet die Intendanz von Ulrich Khuon am Deutschen Theater Berlin Von Hans-Dieter Schütt

Die Autorin Anastasiia Kosodii über „Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum“ Im Gespräch mit Nathalie Eckstein

44 Stück „Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum“ Von Anastasiia Kosodii

Magazin 5 Bericht Under Construction Von Stefan Keim

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken Von Thomas Irmer, Annette Hoffmann, Lina Wölfel und Elisabeth Luft

8 Kolumne Das Theater der anderen – Die neue Richtung, die nichts kostet Von Kathrin Röggla

76 Buch Hamlet in Hongkong Von Thomas Irmer

Report

77 Buch Der notwendige Hebel

66 St. Gallen Konsequent zeitgenössisch

78 Bericht Bildet Allianzen!

Nach sieben Jahren verlässt Schauspieldirektor Jonas Knecht das Theater St. Gallen Von Peter Surber

69 Heidelberg Die Gesellschaft hat das Hinschauen verlernt Mit dem Rechtsruck in Schweden wird das Theater politischer. Diskurse und Produktionen beim Heidelberger Stückemarkt legen Risse bloß Von Elisabeth Maier

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Von Natalie Eckstein

Von Sarah Heppekausen

80 Was macht das Theater, Chiaki Soma? Im Gespräch mit Shirin Sojitrawalla

1 Editorial 72 Verlags-Ankündigungen 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

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pq.cz

Get your hands dirty with scenography 8–18 June at the Holešovice Market, Trade Fair Palace & DAMU Festival of the R ARE


Magazin Kritiken

Tänzer:innen aus der Produktion „Wundertal“, ein Happening für zweihundert Tänzer:innen von Boris Charmatz konzeptioniert

Under Construction Mit dem Pina Bausch Zentrum soll in Wuppertal eine international ­bedeutende Zentrale für Tanz und Performance entstehen

Foto rechts Martin Argyroglo

Von Stefan Keim

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Seit zehn Jahren ist eins der schönsten Thea­ ter Deutschlands geschlossen. Die Stadt Wuppertal war pleite und konnte die notwen­ dige Modernisierung des Schauspielhauses nicht bezahlen. Für die im Lauf der Jahre im­ mer weiter verkleinerte Sprechsparte wurde eine kammerspielartige Bühne neben dem Opernhaus gebaut. Nun soll das Schauspiel­ haus neu belebt werden – als Pina Bausch Zentrum. Der Bund hat vierzig Millionen Euro zur Verfügung gestellt, mindestens die Hälfte muss von anderen Geldgebern dazu kom­ men. Die Stadt ist Bauherr, unterstützt vom Land NRW. Ein internationaler Architektur­ wettbewerb läuft, in diesem Juni wird das Preisgericht die favorisierten drei Entwürfe bekannt geben. Bis zur Eröffnung dauert es noch einige Jahre. Dennoch laufen bereits Aktionen, um das Projekt im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern und den inter­ disziplinären Betrieb vorzubereiten. „Wundertal“ heißt eins davon. Der Cho­ reograf Boris Charmatz, der nach vielen Jah­ ren der Neuorientierung die künstlerische Leitung des Wuppertaler Tanztheaters über­ nommen hat, war dabei federführend. Zwei­ hundert tanzinteressierte Menschen – vor allem aus Wuppertal – tanzen gemeinsam mit dem Ensemble. „Die Idee ist“, sagt die inhaltliche Koordinatorin Bettina Milz, „dass die ganze Stadt zum Tanzraum wird, von der Sonnborner Straße in Vohwinkel über das

Schauspielhaus bis zum Opernhaus in Bar­ men, alle zu Mitautor:innen werden, ihre Cho­ reografien gemeinsam entwickeln.“ Die Par­ tizipation ist eins von vier Handlungsfeldern, auf denen sich das Pina Bausch Zentrum be­ wegen will. Bettina Milz sieht darin eine Chan­ ce: „Wuppertal hat ein enormes Potenzial.“ Der Zuspruch war groß. Mehr als 650 Anmeldungen gab es für die zweihundert Plätze bei „Wundertal“. Wuppertal ist stolz auf Pina Bausch und ihr Erbe. „Wir wollen im neuen Zentrum auch den Mut von Pina Bausch fortschreiben“, sagt Bettina Milz. „Dafür steht Boris Charmatz mit seiner Arbeit.“ Er schafft neue Stücke und sorgt für die Wiedereinstudierung des Repertoires, das weiterhin international enorm gefragt ist. Neben den Arbeiten des Tanztheaters will das Pina Bausch Zentrum weitere Eigen­ produktionen entwickeln, international und interdisziplinär. „Wir werden alle Künste ein­ laden“, erklärt Bettina Milz. „Hier entsteht ein Ort der Künste unter dem Primat des Tanzes“. Es soll heute ein Ort für die Kunst von Mor­ gen geschaffen werden, der zugleich heraus­ ragende künstlerische Arbeitsprozesse, eine umfassende Teilhabe und Diversität ermög­ licht. Tanztheater und Pina Bausch Founda­ tion, internationale Produktion und Partizipa­ tion sind die vier zentralen Arbeitsbereiche. Am denkmalgeschützten Schauspiel­ haus sind nur behutsame Modernisierungen möglich. Bettina Milz schwärmt von diesem Theaterbau: „Es ist demokratisch gebaut, ohne Ränge, ohne Logen, ohne Hierarchie im Saal. Von jedem Platz sieht und hört man gut.“ Für Stücke, die eine andere Bühnensituation brauchen, und die Probenarbeit soll es einen Neubau auf dem jetzigen Parkplatz geben, durch ein attraktives, einladendes Foyer und die „Küche“ mit dem Altbau verbunden. Mit einem flexiblen, vierhundert Quadratmeter großen Aufführungssaal, der auch Installatio­ nen ermöglicht und einer großen Probebühne. Neben Tanztheater, dem Internationa­ len und der Partizipation ist das Pina Bausch Archiv das vierte Handlungsfeld (siehe TdZ 01/22). Bis zur Eröffnung wird es viel Programm geben, eine „Vorlaufphase zum Ausprobieren“, wie Bettina Milz sagt. Im September startet das Festival Fragile für junges Publikum. „Wir haben die große Chance, eine neue Kunst- und Kulturein­ richtung für das 21. Jahrhundert zu erfinden“, sagt Bettina Milz. „Dabei ist es wichtig, of­ fen für das Neue und Unbekannnte zu sein. Denn dafür ist die Kunst eine Spezialistin.“ T

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Magazin Kritiken

Theater Aachen

Ein blinder Fleck vor unseren Augen „Woher und Wohin“ ein MörgensLab Projekt von Clemens Bechtel und Inge Zeppenfeld – Recherche Clemens Bechtel, Inge Zeppenfeld, Inszenierung Clemens Bechtel, Bühne und Kostüme Sabina Moncys, Video David Gerards

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enschen warten auf ihre Weiterfahrt, trinken auf die Schnelle einen Kaffee oder sitzen auf ihrem Hab und Gut und ver­ treiben sich den Tag mit Zeitunglesen. Tau­ ben bevölkern die Haltebuchten, Spritzen liegen auf dem Bordstein, Autos eilen vorbei. Es riecht nach Zigaretten und Abgasen. Bis heute gilt der Aachener Bushof als „ungelieb­ tes Problemkind“ aus den Siebzieger jahren. Seit Jahrzehnten ist klar: Hier soll sich etwas ändern. Doch so richtig scheint das nicht zu gelingen, zu kompliziert ist die Gemengelage. Stadt, Verkehrsverbünde und Investor:in­ nen wollen die Richtung weisen, Mitbür­ ger:innen, Umweltschützer:innen, Einzel­ han­del, Auto- und Fahrradinitiativen wollen mitreden. Wie kann Stadtplanung da gelin­ gen? Und welche Rolle spielt die Geschich­ te dieses Bauvorhabens bis heute? Clemens Bechtel und Inge Zeppenfeld haben Inter­ views geführt, in Archiven recherchiert, Baupläne ausgegraben. Inmitten eines Mo­ dell-Bushofs aus weißen Holzelementen berichten die Spieler:innen des Aachener ­ Ensembles von pompösen Ausschreibun­ gen, nicht endenden Ratssitzungen und missglückten Nutzungsplänen. Auf Tribünen sitzt das Publikum darum herum, kann sich dem Ausblick auf den Bushof in der Mitte kaum entziehen. Weggucken ist nicht.

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Elmira Bahrami, Andrea Bettini, Marie Löcker und Julian Anatol Schneider in der Uraufführung von „Die beste aller Zeiten“ am Theater Basel von Michelle Steinbeck, Inszenierung von Franz Broich

Theater Basel

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ie Auslöschung der Menschheit ist ja auch für das Theater kein wirklich be­ friedigendes Szenario, da kann es noch so oft mit Katastrophen liebäugeln. Doch wenn schon, dann dionysisch. Hinter der Leinwand halten sich die Extinction Hedonists an der Aufhängung fest wie an einer Ballettstange. Sie dehnen sich ein bisschen, auch moralisch, und re­ den über ihre Schuldgefühle und inneren Krämpfe und die Erleichterung, nicht mehr ohnmächtig nichts Schlechtes tun zu kön­ nen. Ihr König hat ihnen das Ende als or­ giastische Feier versprochen. Denn wenn sie schon die Letzten sind, können sie auch weiterhin ans Meer fliegen, zu schützen gibt es eh‘ nichts mehr. Jetzt warten sie auf den Einlass zur Party. Nachdem sie ein paar Mal abgewiesen wurden, klappt es dennoch. Der Dresscode ist sowieso einheitlich, Karoline Gundermann hat die Hedonisten mit pastellbis neonfarbenen körperfernen Blousons, Jacken und Kaftans ausgestattet, die Haare sind mit Klammern am Kopf festgesteckt, später werden sie unter weißen Hartscha­ lenperücken verschwinden. Man wird das Stück der 1990 geborenen Schweizer Auto­ rin Michelle Steinbeck auch als Abrechnung der letzten Generation mit der vorletzten verstehen dürfen. In achtzig Minuten führt Franz Broich in ziemlichem Tempo durch die verschiedenen Utopien und Dystopien der Gegenwart und ihre Diskurse. Für einen Gedanken oder gar einen Charakter bleibt keine Zeit. Auf der Projektionsfläche sind mal Fotos von Zellen unter dem Mikroskop zu sehen, dann Tanz­ videos des Ensembles oder sie erweitert den Raum um das, was hinter ihr passiert. Franz Broich inszeniert die Uraufführung von „Die beste aller Zeiten“ als groteskes Stück Popkultur. Es wird nicht nur viel ge­ sungen auf der Bühne, es zeigt auch das Dilemma des Pop, vor allem affirmativ zu sein. Das gilt auch für diesen Untergang. Auf das ­ vorläufige Ende des Anthropozäns. // Annette Hoffmann

Die letzten werden die nächsten sein „Die beste aller Zeiten“ von Michelle Steinbeck (UA) – Regie Franz Broich, Bühne Jana Furrer, Kostüme Karoline Gundermann, Musik Elmira Bahrami

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Foto links oben Marie-Luise Manthei, unten Lucia Hunziker, rechts oben Jochen Quast, unten Thomas M. Jauk

Ensemble von „Woher und wohin“ am Theater Aachen, ein MörgensLab Projekt von Clemens Bechtel und Inge Zeppenfeld

Als die Spieler:innen von den geplanten Bauvorhaben erzählen, umkreisen sie den Modellbau auf Rollschuhen: Je lebendiger und städteplanerisch fortschrittlicher die Vor­ schläge werden, desto schneller fahren sie. Stadtpläne werden in rasantem Tempo von der Wand gerissen, Sitzungsprotokolle werden zu Meterware. Eine zukunftsweisende und tragfähige Entscheidung muss endlich her für die Stadt Aachen. Mit den Erzählungen aus den Sechzi­ gern, Siebzigernn oder Achtzigern verän­ dern sich auch die Kostüme, strenge Frisu­ ren, graue Röcke und Anzüge, wechseln zu wallenden Haaren, großen Brillen Schlag­ hosen und Lederjacke. „Ein schöner Ort war das hier noch nie“, ertönt die Stimme einer Passantin aus dem Off. Aber ob dieser Ort das Potential hat, zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt zu ­werden, anstatt Gefahren und soziale Un­ gleichheit noch zu verstärken? Diese Frage bleibt offen, das seit Jahrzehnten ersehnte Ergebnis bekommen wir heute natürlich nicht präsentiert. Auch bleiben die histo­ rischen, politischen und städtebaulichen Schilderungen der Spieler:innen bisweilen sehr theoretisch und akademisch, über­ raschen aber immer wieder auch durch Leichtigkeit und Witz. // Elisabeth Luft


Magazin Kritiken

Hermann Große-Berg und Sebastian Degenhardt in „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, ein Theater Erlangen in der Regie von Katja Ott

Theater Erlangen

Diskursraum im Angesicht des Todes „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“ ein Singspiel von Martin Heckmanns – Regie Katja Ott, Bühne & Kostüme Monika Gora, Musik, Jan-S. Beyer & Jörg Wockenfuß, Video Theda Schoppe

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in Esel, ein Hund, eine Katze und ein Huhn, allesamt perspektivlos, frustriert und unterdrückt in ihrem alten Leben schlie­ ßen sich zu einer Musiktruppe zusammen, um miteinander und füreinander ein besse­ res Leben, zu finden, nachdem sie ihren vor­ maligen Besitzer:innen das Fürchten gelehrt haben. Eine tierische Utopie – so weit ist das Grimmsche Volksmärchen um die Bremer Stadtmusikanten bekannt. Dem Singspiel von Martin Heckmanns, das eines der bekanntes­ ten Zitate aus der Erzählung als Titel trägt, bekommen die Figuren einen zeitgemäßen und durchaus humoristischen Anstrich, ohne dass jedoch die Ernsthaftigkeit ihrer Belange flöten geht. Denn eines sei vorab gesagt: Im Angesicht eines brennenden Planeten sollte der Mensch der Tierwelt erstmal zuhören. Sind bei den Grimm Brüdern Ausbeu­ tungsverhältnisse, Erniedrigung und Tod die zentralen Fluchtmotive der Tiere, kommt bei Heckmanns eine weitere Dimension lebens­ feindlicher Umstände hinzu: der Klimawan­ del, dessen maßgebliche Verursacher:innen die Auswirkungen zwar endlich wahrzuneh­ men beginnen, sich gleichwohl selbst aber als Opfer der Verhältnisse und eher als Zu­ schauer:innen eines globalen Dramas denn

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als Täter:innen sehen. Die alte Geschichte ist also überholt – willkommen im Zeitalter der Systemkritik, in der nichts mehr banal oder einfach, alles komplex und intersektional ge­ dacht wird. Das klingt jetzt nach einem tro­ ckenen, mühseligen und schwer überblick­ baren Stoff. Dem ist in keinem Fall so. „Die Erde schreit, in dem sie schweigt – hören Sie das?“ Hermann Große-Berg klet­ tert als Esel Grau aus dem Gerüst hervor. Politisch irgendwo zwischen 68-Aktivist und Alt-Grüner angesiedelt, kämpft gegen den Klimawandel und Ausbeutung an. Er trifft, märchengemäß, auf den Wachhund Schlau (Sebastian Degenhardt), der in seinem Job sowieso unglücklich ist und es nicht erträgt, als die Müllerin einem Flüchtlingskind das Brot verweigert. Aber zwei Tiere reichen nicht für eine richtige Musiker:innen-Karriere und so fin­ den sie einige Zeit später auch noch ein Huhn (Elke Wollmann), das im Stall die Vor­ züge des Kommunismus verkündet hat und daraufhin nur knapp dem Suppen­ topf entkommen ist, und eine (schwange­ re) Katze (Juliane Böttger), die einen ge­ waltsamen Umsturz des Systems fordert. Rohe Gewalt muss also her und so verbinden sich die vier zu jener monströsen Gestalt, die man aus Bildern kennt, um Rache an den von zur Mühlens zu nehmen, die sich zu dem Zeitpunkt schon verstecken. // Lina Wölfel

Ensemble von „Das Fest“ nach dem Originaldrehbuch „Festen" von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov in der Regie von Bettina Jahnke am Hans Otto Theater in Potsdam

Hans Otto Theater Potsdam

Nach der Asche „Das Fest“ von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov – Regie Bettina Jahnke, Bühne und Kostüme Dorit Lievenbrück, Musik Martin Klingeberg

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as Drehbuch für den dänischen Film von 1998 hat inzwischen eine beacht­ liche Geschichte auf deutschen Bühnen. In Potsdam hat die regieführende Intendantin Bettina Jahnke gleich zu Beginn einen Ak­ zent gesetzt, der das Stück nicht neu, aber doch ein wenig anders sehen und ablaufen lässt. Denn hier tritt Christian (Jan Hallmann) mit einer Urne in den Händen zunächst auf einem anderen „Fest“ auf, der Beisetzung seines Vaters. Voll Wut stiebt er die Asche in die Luft, die im fahlen Licht wie greller Nebel wirkt. Abschied als Retraumatisierung, um damit die eigentliche Fest-Handlung aus der Erinnerung in Gang zu setzen. Das Fest für Helge wird als eher kon­ ventionelles Familien- und ZuprostenTheater gezeigt, in dem ab und zu mal eine gemeine Stichelei hervorblitzt, aber kein wirklich tiefgehendes Familienpanorama entsteht. Der Helge von Joachim Berger ist ein stramm wirkender Familienfestvorsteher, der selbst seinem Vater (gespielt vom Bou­ levard-Altmeister Achim Wolff) nicht den Vortritt überlassen will und seinen Kindern, der das falsche Fach studierenden Toch­ ter Helene (Laura Maria Hänsel) und dem im Restaurantbetrieb erfolglosen Michael (Hannes Schumacher), ein bisschen Geld im Umschlag zusteckt. Das ist eigentlich nur bis ins Komische laufende Umrankung der Enthüllung, aber mehr eben auch nicht. Die Mutter Else (Janine Kreß), für die man sich als beschweigende und darin auch leiden­ de Mittäterin interessieren müsste, bleibt erstaunlich unterbelichtet. Und wenn Philip Bender als Gbatokai, Helenes PoC-Freund auftaucht, eine der zentralen Szenen des Films und vieler Bühnenversionen, duckt sich die Inszenierung sogar mutig weg. So bleibt der andere Einfall Jahnkes als Trumpf ihrer Retraumatisierungsidee: Die tote Schwester Linda (in einem aus Schot­ tenstoffen verschnitten zusammengenäh­ ten Hosenkostüm ganz wunderbar: Nadine Nollau) ist immer präsent in dieser seltsam schrecklich netten Familienhölle des Miss­ brauchs. // Thomas Irmer

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Das Theater der anderen – die neue Richtung, die nichts kostet Von Kathrin Röggla

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ir können billiger, habe ich das schon gesagt? Wir produzieren jetzt immer billiger, höre ich zum Beispiel aus dem Hör­ spielbereich. Wozu aufwendige Tonstudios und Produktionsetats? Man fährt mit dem Fahrrad an einem Schauspieler, einer Schau­ spielerin vorbei und hält das Handy hin, und schon ist die Aufnahme im Kasten. Oder noch besser: Wir machen jetzt überhaupt gar nichts mehr mit irgendwelchen Sendern, die einst das viele Geld mal hatten, sondern gehen in die freie Szene und machen alles selbst. „Mach doch mit deinem Handy dein Feature, mach doch mit deinem Handy den Langspielfilm, mach doch mit deinem Han­ dy den Theaterabend. Das geht doch schon irgendwie. Ihr seid doch jung, ihr könnt so was. Schnell und billig, eben im improvi­ sierten Bereich. Das ist auch irgendwie lebendiger.“ Es ist schon erstaunlich, was man alles mit seinem Handy machen kann. Dazu kommt die KI, wie wir wissen, die KI löst dann auch jegliche komplizierten Text­ verfahren, die KI kann Kunst, wozu braucht es da noch Nachdenkphasen, die KI ersetzt Redakteur:innen, Kurator:innen und Pro­ grammverantwortliche. Intelligent mit KI ist das Motto. ChatGPT hat schon jedes Haus­ aufgabenproblem in der Schule gelöst, war­ um nicht auch die im Theater? So könnte ich fortfahren und weiter­ machen, aber ich sehe ein, der Moment für polemische Zuspitzungen ist ungünstig. Im Moment sitze ich nämlich in einer Kommis­ sion. Es geht um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, worum auch sonst? Die Kommis­ sionsarbeit gebietet, nichts über ihre Bespre­ chungsinhalte nach draußen zu geben, auch wenn sie teilweise öffentlich tagt. Es ist ein Lernwettbewerb der Demokratie. Transpa­ renz und wertschätzende Sprache, gerechte Verfahrensformen, das steht auf der einen Seite, die Usurpierung dieser Eigenschaften und Haltungen auf der anderen. Scheintrans­ parenz, bestellte Gutachten, Überfrachtung der Kommissionsarbeit mit viel zu vielen Tagesordnungspunkten, Überlastung und zu große Kommissionsgrößen hebeln alles wieder aus, was man als Demokratiegewinn verbuchen möchte, und doch bleibt ein ge­ wisser Gewinn stets in Reichweite. Darum gilt es zu kämpfen. Aber jetzt sitze ich im Saal mit den vielen Mikrophonen, Sprech­ ordnung und zivilgesellschaftlicher Diversi­ tät. Ich erlebe, wie man Probleme aussitzt, Mehrheiten organisiert und wie sich ein Raum in einer achtstündigen Sitzung ver­

ändert. Er wandert aus sich aus, sozusagen, und die Menschen wirken ab der siebten Stunde seltsam verschwommen. Mein rhe­ torisches Vermögen lässt leider von Anfang an zu wünschen übrig und ich hege eine gewisse Bewunderung für die Abgeordne­ ten, die ihre Statements in Eleganz aus dem Ärmel schütteln. Wichtigster Lernmoment ist das Verständnis des dramaturgischen Moments. Wann habe ich einen Hebel, wann lässt sich überhaupt vernünftig was setzen, und wie oft kann ich meine Stimme erhe­ ben. Kann ich darauf vertrauen, dass mein Punkt durchaus auch mal aus einem ande­ ren Mund kommt? Was lässt sich in einem Gremium bewegen? Vielleicht sogar den Rundfunk retten? Quatsch mit Soße. Und doch. Unser aller Shakespeare scheint hier jedenfalls ins Kulissenwesen gerutscht zu sein, in Wirklichkeit die Welt rund um den Sitzungssaal, das, worum es hier geht und von dem immer Zwischenrufe kommen: Ruhegehälter, Zweiklassensystem, Umverteilung von unten nach oben mit BoniSystem, Kultur der Angst, autoritäres Verhal­ ten, Digitalisierung als Deckmantel für Neo­ liberalisierung und inhaltlichen Kahlschlag, Feudalwesen! Und Abschaffung, wohin man blickt, quer durch die ganze ARD. Kann uns Theaterleuten egal sein? Weit gefehlt. Die immense Kraft der Kulturvermitt­ lung durch Radio und Fernsehen ist nicht zu unterschätzen. Die Partnerschaften, die zwischen Sendern und Theaterhäusern bestehen, ermöglichen Produktionen und ­ Öffentlichkeit. Das gilt es alles zu bewahren und zu transformieren, trotz aller Zukunfts­ räte, die im Abseits tagen. Aber ich sitze im Raum mit den Mikros und den langen ­Tischen, nein, den immer länger werdenden. Kunst ist irgendwie schon wichtig, so für die Demokratie, werde ich gleich sagen, nur ir­ gendwie dezidierter. Wird es ankommen? Und wenn ja, wo? T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schriftstellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

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Foto links Jessica Schwarz, Fotos rechts Johan Simons: Ina Schönenburg / Ostkreuz, Tanz im August: Pascal Meier, Bernardo Cesare (Collage), Kaserne Basel: Johanna Eckhardt, Theater Marie: Ingo Höhn, Heimathafen Neukölln: Judith Buss, Impulse Theater Festival: Andreas Bolm

Magazin Kolumne


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präsentiert Tanz im August, Berlin Ein Wald von Welten: Mit 19 Produktionen zeigt das diesjährige, vom HAU präsentierte, Festival eine Vielzahl von Stimmen und künstlerischen Wegen u.a. von Faso Danse Théâtre / Serge Aimé Coulibaly und BALLET ­NATIONAL DE MARSEILLE / (LA)HORDE www.tanzimaugust.de 9. bis 26.8. NEWS FROM THE PAST ist Teil des Festivals „Performing Exiles“ der Berliner Festspiele

Heimathafen Neukölln, Berlin In der ukrainisch-deutschen Stückentwicklung verabreden sich vier Schauspieler*innen, um ein Radio-Feature aufzunehmen und fragen sich: Wie kann extreme Gewalt erzählt werden und wie erinnert man an das dadurch erfahrene Leid – ohne es zu wiederholen? 24.6., 25.6.

Tanz im August – 35. Internationales Festival Berlin

„In dubio“ von Maria Ursprung

Theater Marie, Aarau Die Gerichtsrecherche untersucht die Tücken und Chancen des Zweifels. www.theatermarie.ch 1.6. bis 4.6. (Zürich), 4.11. (TaB Reinach)

Schauspielhaus Bochum Der niederländische Theaterkünstler Johan Simons kann auf eine große Karriere als Regisseur und Theaterleiter zurückblicken. Jetzt erscheint bei Theater der Zeit ein großformatiges Arbeitsbuch, in dem auch wichtige Weggefährt:innen zu Wort kommen. 17.6. (Buchpremiere)

Projekttheater Dresden Eine leere Bühne und eure Vorgaben: Daraus entstehen Geschichten mit Humor, Herz und manchmal auch einer kleinen Träne im Augenwinkel. 20.6.

Improtheater mit Freie SpielKultur im projekttheater.

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FIGURING AGE

Impulse Theater Festival, NRW Vom 8. bis 18. Juni lädt das Impulse Theater Festival des NRW KULTURsekretariats in ­Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr erneut dazu ein, schon heute das Theater von morgen zu entdecken. www.impulsefestival.de 8. bis 18.6.

Kaserne Basel Das Festival „Kaserne Globâle – Possible Futures“ verbindet interkontinentale Zusammenarbeit und lokale Diversität zum Saison-Abschluss mit einem festlichen Finale. Infos und Programm: www.kaserne-basel.ch 22. bis 24.6.

Tharayil/Tharayil

SOPHIENSÆLE Berlin Als lustvollen Abschluss der letzten Spielzeit unter der künstlerischen Leitung von Franziska Werner laden die Sophiensæle zu einem Festival zu politischen Dimensionen von Genuss und Freizeit. Sechs Wochen lang erkundet LEISURE & PLEASURE Verbindungen von Vergnügen und Aktivismus, hinterfragt die Fähigkeit der Kunst zur Heilung der gesellschaftlichen Erschöpfung – und träumt vom Leben jenseits der Arbeit. 25.5. bis 1.7.

Johan Simons

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Theater der Zeit

Thema Musik im Schauspieltheater

Foto Candy Welz

Neue Tendenzen der Musik im Schauspiel oder die Schaubühne als musikalische Anstalt. Zu ­selten wird die Musik in Inszenierungen beachtet, dabei wirkt sie oft prägend für deren Wirkung. Und noch weniger bekannt sind die Arbeitsbiografien derer, die sie herstellen, manchmal im Hintergrund, aus dem Studio, aber immer öfter auch direkt als Musiker:innen auf der Bühne. Auf den folgenden Seiten stellen wir den PostGenre-Musiker PC Nackt vor, der mit Schorsch Kamerun, Sebastian Hartmann und jüngst Jossi Wieler gearbeitet hat und parallel dazu als Teil der Band Warren Suicide eine beachtliche Karriere in der Musikindustrie wie auch mit Filmmusiken aufweist. Barbara Frey fing als Schlagzeugerin in einer Band an, die Intendantin der Ruhr-Triennale erzählt dem NRW-Redakteur Stefan Keim, wie sie davon noch heute geprägt ist. Und Thüringen-Redakteur Michael Helbing untersucht das Deutsche Nationaltheater Weimar als rockmusikalische Anstalt von Renft bis Rammstein.

Ensemble von „A Clockwork Orange“ nach Anthony Burgess in der Regie von Hasko Weber am Deutschen National Theater Weimar

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Thema Theatermusik

Ensemble von „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allen Poe in der Regie von Barbara Frey, Eröffnungspremiere der Ruhrtriennale 2021

Foto Matthias Horn / Ruhrtriennale 2021

Der Reichtum des Erinnerungsspeichers Die Regisseurin Barbara Frey spricht über Musik als wesentlichen Kern ihrer Theaterarbeit Von Stefan Keim

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Thema Theatermusik ihrer Regiearbeiten ist sie Teil eines Komponistenteams, das die Schauspielmusik entwickelt. Sie sind über die Musik zum Theater kommen. Prägt Sie das musikalische Empfinden bis heute? Barbarar Frey: Es ist das Wesentliche. Ich bin der Überzeugung, dass alles Musik ist. Das haben natürlich auch schon andere gesagt, zum Beispiel John Cage oder der Opernkomponist Leoš Janáček, den wir im August auch im Ruhrtriennale-Programm haben. Für mich ist alles Musik, die Stimme eines Menschen, dessen Bewegungen und die verschiedenen Formen von Arti­ kulation auch jenseits von Sprache. All das ist Musik, deshalb kann ich gar nicht anders als musikalisch empfinden und denken. Sie sind eine der exaktesten Regisseurinnen, die ich kenne. Kommt diese Genauigkeit auch daher, dass ein Stück für Sie eine Partitur ist? BF: Ich glaube schon. Ich hatte das Privileg, dass ich mit Musik aufgewachsen bin. Wir haben innerhalb der Familie viel darüber gesprochen, was Musik ist, wie sie entsteht und was Musik in uns auslösen kann. Man sagt ja, Musik sei die direkteste Kunst. Gleichzeitig ist sie die abstrakteste. Diesen Widerspruch finde ich total interessant. Sie kann Assoziationen und Erinnerungen auslösen, aber auch Verdruss. Die Musik, die man in jedem Lift, in jedem Geschäft hört – in Restaurants finde ich es ganz schlimm –, das ist dann mein musikalischer Verdruss. Mit den Kaffeehäusern in Wien, wo ich zurzeit lebe, habe ich Glück, dort läuft keine Musik. Die Musik spielt eine große Rolle in den Inszenierungen Barbara Freys. Kein Wunder, denn die Intendantin der Ruhrtriennale war während ihres Studiums Schlagzeugerin in einer Rockband und kam 1988 als Musikerin ans Theater. Schnell arbeitete sie auch als Schauspielerin und Regieassistentin, bis sie sich dann ganz aufs Inszenieren konzentrierte. Zehn Jahre lang war Frey Intendantin am Schauspielhaus Zürich, sie inszeniert an den großen deutschsprachigen Bühnen. Bei einigen

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„Man sagt, Musik sei die direkteste Kunst. Gleichzeitig ist sie die abstrakteste. Diesen Widerspruch finde ich total interessant. Sie kann Assoziationen, Erinnerungen auslösen, aber auch Verdruss.“

les Schmiermittel die Aufführungen unterfüttern. Das ist überhaupt nicht ihr Ding, oder? BF: Ich glaube, das kann ich auch gar nicht. Ich bewundere durchaus Kolleg:innen, die Musik als eine Art Glutamat, als Geschmacksverstärker benutzen. Rein wirkungsmechanisch verstehe ich das auch. Aber es ist nicht meine Art, dramaturgisch so zu denken.

Können Sie diese Verdruss-Musik ausblenden? BF: Eben das kann ich nicht. Ich frage mich, wie die Menschen das machen, die den ganzen Tag an diesen Orten arbeiten. Wenn man sie fragt, sagen sie: „Ach, ich hör‘ das gar nicht mehr“. Das funktioniert bei mir nicht.

Also ist für Sie Musik Teil der Dramaturgie. Das wurde ja in Ihrer Inszenierung von Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ deutlich. Zwei Pianisten spielen Akkorde, eine Viertelstunde lang. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. War das so eine Art Reinigung durch Musik, bevor das eigentliche Stück beginnt? BF: Es ist vor allem lustig, wie das entstanden ist. Wir wollten eine Ouvertüre über Improvisationen zusammenbauen und dachten allen Ernstes, das wird ein Konglomerat aller musikalischer Themen, die dann während der Aufführung vorkommen. Das hat überhaupt nicht funktioniert, war überladen, zu viel von allem, hat keine Klarheit erzeugt. Und dann hat einer der Pianisten angefangen, Harmonien aus einem Pink-Floyd-Song einfach abwärts zu spielen. Das fand ich sofort interessant. Wir haben damit weiter experimentiert und festgestellt, dass es nur dann wirkt, wenn man es sehr lange macht. Man fängt plötzlich an, ganz andere Dinge zu hören. Dann haben wir es dem Ensemble vorgespielt. Die lauschten alle und waren fast traurig, als es zu Ende war.

Auf der Bühne beobachte ich gerade einen Boom der Live-Musik. Da entstehen manchmal Soundtracks, die als emotiona-

Sie haben sich ja nicht nur mit dem „Untergang des Hauses Usher“, sondern mit Poes gesamtem Werk an diesem Abend be-

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Thema Theatermusik

Sie inszenieren manchmal Opern. Macht es Sie in Ihrem Anspruch an Exaktheit nicht verrückt, wenn da ständig Sänger:innen einspringen, die die Inszenierung gar nicht kennen und nur schnell eingewiesen werden? BF: Da treffen zwei unterschiedliche Kunstformen aufeinander. In der Musik hat die Partitur oberste Priorität. Wenn jemand die Partitur draufhat, kann er oder sie einspringen, wenn jemand aus dem Ensemble krank wird. Diesen pragmatischen Aspekt kann ich verstehen. Im Schauspiel ist es anders, weil Texte ja keine Partituren im Sinne einer korrekten Notation sind. Sprache funktioniert über Individualität. Auch im Schauspiel ist eine Umbesetzung jedoch ein merkwürdiger Vorgang. Ich habe etwas ja mit einer bestimmten Person einstudiert, die ich genau für diese Rolle

„Viele Schauspieler:innen ­mögen es gar nicht, wenn Musik als Kleister eingesetzt wird. Sie haben dann das ­Gefühl, gegen ein Gewummer anspielen zu müssen.“ 14

wollte. Da kommt bei mir schon mal das Zähneknirschen. Man kann dennoch auch Glück haben und es kommt zu wunderbaren Überraschungen. Sie meinen aber, glaube ich, etwas anderes, nämlich die rasche Austauschbarkeit von künstlerischen Persönlichkeiten. Das halte ich für ein Problem. Wie steht´s denn mit Ihnen als Musikerin? Ich hatte ja gehofft, dass Sie die größeren Freiheiten, die die Ruhrtriennale im Vergleich mit der Leitung des Schauspielhauses Zürich bietet, dafür nutzen, selbst wieder ans Schlagzeug zu gehen … BF: Natürlich hat es mich gejuckt. Aber es gibt zwei Faktoren, die das verhindern. Einer ist meine Auftrittsangst. Mir fehlt das Schamlos-Gen von großen Darsteller:innen. Wobei das natürlich mit Schamlosigkeit nichts zu tun hat, diese Künstler:innen können Nervosität in Adrenalin umwandeln. Das müsste ich mir wieder erarbeiten und das braucht Zeit. Der zweite Faktor ist ein technischer, handwerklicher. Bis ich wieder auf dem Stand wäre, auf dem ich damals war, müsste ich richtig lange üben. Und dafür reicht die Zeit leider nicht. Sie haben im Programm bei der Ruhrtriennale einen Schlagzeugmarathon. Da schlägt schon ihr Herz, oder? BF: Ich war natürlich nie auf dem Niveau, auf dem die Künstler:innen spielen, die wir im August eingeladen haben. Das sind die absoluten Größen der Szene und sehr unterschiedliche Perkussionist:innen. Was Mohammad Reza Mortazavi etwa macht, ist einfach übermenschlich. Musik aus einer anderen Kultur – Mortazavi ist Iraner – hat für mich eine ganz besondere Magie, weil ich sie als „traditionelle Musik“ kaum kenne. Mortazavi ist ein Zauberer: Er sitzt ruhig da und meditiert mit den Händen, den einzelnen Fingern auf den Trommeln. Und ich höre die ganze Welt. Sie selbst inszenieren den „Sommernachtstraum“ in Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater und entwickeln zusammen mit Josh Sneesby die Musik während der Proben. Ist die Improvisation grundlegend Ihre musikalische Arbeitsmethode?

BF: Es gibt eine sehr lange Hörphase vor den Proben. Ich höre sehr viel unterschiedliche Musik, auch aus verschiedenen Epochen. Dann mache ich eine lange ­Liste, und die geht dann zwischen London, wo mein Gegenüber, der Musiker Josh Sneesby lebt, und Wien hin und her. Josh fängt an, damit zu experimentieren, probiert mit Klavier, Gitarre, Akkordeon oder Synthesizer aus, arrangiert etwas, schickt mir die Ergebnisse als Audiodatei zurück. Ich höre mir alles an, sage etwas dazu, wir verändern die Liste. Und bevor die Proben losgehen, treffen wir uns im Musikzimmer oben im Burgtheater Wien. Wir singen zusammen, verändern die Arrangements. Das ist ein wunderbares Geben und Nehmen. Die Grundlagen kommen aus schon vorhandener Musik, und wir machen dar-

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Foto Daniel Sadrowski

schäftigt. Das tun Sie auch in anderen Inszenierungen. Ich kenne einige klassische Musiker:innen, die mir sagen, ich kann nur ein Stück von Chopin spielen, wenn sich sein Gesamtwerk kenne. Finden Sie das auch? BF: Bei Musiker:innen finde ich es ganz toll, dass sie Noten lesen, sie als Musik verstehen und innerlich hören, auch wenn sie sie nicht selbst spielen. Sie haben all das im Gemüt, wenn sie eine einzelne Sonate spielen. Das kann ich gut nachvollziehen. Ich höre gerade wieder viel Klaviermusik von Debussy. Das sind immer Phasen. Da merke ich, dass es mir zugutekommt, dass ich seit Jahrzehnten immer wieder Debussy höre. Ich spüre dann die Erlebnisse von damals wieder hochkommen, erinnere mich an die Gespräche, die ich über diese Musik hatte. Das ist unglaublich wohltuend. Insofern ist Musik auch ein Erinnerungsspeicher. Erinnerung hilft ja auch, in etwas Neues einzusteigen.


Thema Theatermusik aus Musik und Bewegungen. Würde so etwas nicht gut zur Ruhrtriennale unter ihrer Tradition der Kreationen passen? Frey: In den drei Jahren als Intendantin der Ruhrtriennale kann ich nicht alles machen, was ich gern möchte. Aber diese Arbeit haben die Schauspieler:innen sehr geliebt, weil sie ganz andere Seiten von sich zeigen konnten. Was kann diese Konzentration auf Musik in Schauspieler:innen freisetzen? BF: Viele Schauspieler:innen mögen es gar nicht, wenn – worüber wir vorhin gesprochen haben – Musik als Kleister eingesetzt wird. Sie haben dann das Gefühl, gegen ein Gewummer anspielen zu müssen. Ich habe das Glück, dass sie bei mir nicht protestieren, wenn ich musikalische Ideen einbringe. Sie hören zu und bleiben oft nach der Probe noch sitzen, wenn wir musikalisch etwas ausprobieren.

Theaterregisseurin Barbara Frey ist Intendantin der Ruhrtriennale 2021–2023

aus etwas anderes. Manchmal etwas ganz anderes. Und manchmal bleibt der Song noch erkennbar. Für den „Sommernachtstraum“ gibt es ja schon viele Bühnenmusiken, Opern, Soundtracks. Mendelssohn-Bartholdy, Benja­ min Britten und so weiter. Ich habe den Eindruck, diese Musiken verwenden sie ganz bewusst nicht, oder? BF: Das stimmt. Mich interessiert weniger die Musik, die zum Werk selbst gemacht wurde. Gerade Britten ist mir allerdings sehr vertraut. Von ihm gibt es sehr schöne Lieder, die mit dem „Sommernachtstraum“ thematisch gar nichts zu tun zu haben scheinen und es dann doch haben. Zum Beispiel „The Sick Rose“ nach einem kurzen Gedicht von William Blake.

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Das ist verhängnisvoll, darin steckt das ganze Bild der Renaissance. Da wird die Rose beschrieben, die von einem Wurm angefressen wird, und der Wurm steht für die Liebe, den Eros und so weiter. Sie verblüht. Das ist ein tolles Musikstück, mit dem wir gerade experimentieren. Hat das Ensemble einen Einfluss auf die Musik? BF: Absolut. Es gibt ja in den Ensembles viele sehr musikalische Menschen, die singen können oder ein Instrument spielen. Sie haben vor einigen Jahren in Zürich einen Musiktheaterabend inszeniert, zusammen mit dem Schlagzeuger Fritz Hauser, mit dem sie ja schon lange arbeiten. „Nachtstück“, ein Abend ganz ohne Text,

Vielleicht liegt das daran, dass Sie sehr genau über die künstlerischen Mittel nachdenken und sich exakt überlegen, welche Sie einsetzen… BF: In meinem Alter wird die Vergangenheit immer größer. Ich bin sehr französisch geprägt. Ich bin in Basel aufgewachsen, im Dreiländereck. Meine Eltern waren extrem in der französischen Kultur verankert; französische Filme, Schauspieler:innen, Chansons, Literatur. Mich interessiert der Minimalismus des großen französischen Kinos. Dieses nuancierte Spiel hat mich immer weit mehr fasziniert als das brechtsche Rampentheater. Gleichzeitig bin ich auch mit der deutschen Kultur aufgewachsen. Vielleicht ist es unbewusst eine Mischung, nach der ich suche. Da haben sich Nuancen und Tonalitäten in mir abgespeichert. Sowohl die Möglichkeit der Reduktion als auch die Lust, explizite Geschichten zu erzählen, hat für mich eine große Faszination. T

Ein Dossier mit weiteren Texten zu unserem Schwerpunkt finden Sie unter tdz.de

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Thema Theatermusik

Nahuel Häfliger (Alex) und Ensemble (Band) von „A Clockwork Orange“ nach Anthony Burgess in der Regie von Hasko Weber am Deutschen National Theater Weimar

Ein Ensemble als Band Weimars Schauspieler singen oft und packen regelmäßig die Instrumente aus. Jetzt tanzen sie auch noch Von Michael Helbing

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Thema Theatermusik

Fotos Candy Welz

Irgendwann taucht in dieser Recherche das Henne-Ei-Problem auf. Was war eigentlich zuerst da: die Musikalität eines Schauspielensembles, die ein übliches Maß überschreitet, oder Produktionen, die sehr dazu beitrugen? „Es ist eher Zufall, dass wir das alle mitbringen“, denkt Dascha Trautwein, eine facettenreiche Schauspielerin mit nicht minder wandlungsfähiger kraftvoller Gesangsstimme. Von mehr als einem Glücksfall spricht Intendant Hasko Weber: „Die Talentlage ist in diesem Ensemble schon sehr besonders. Aber die haben sich hier auch alle richtig qualifiziert.“ Leute vom Fach, die am Haus gastieren, staunen regelmäßig über das Level, dass man am Nationaltheater Weimar erreichte. Das deutete sich erstmals 2016 im „Sommernachtstraum“ an, als Schauspieler die Instrumente auspackten. Nahuel Häfliger, als Lysander besetzt, war zu jener Zeit Sänger der Pop-Rock-Band Xa‘leo in Dresden, wo er zuvor am Theater der Jungen Generation engagiert gewesen war. Er schlug Regisseur Jan Neumann ein Liebesmedley vor und übte es ein, im Trio mit Bastian Heidenreich und Fridolin Sandmeyer (der später nach Frankfurt/Main wechselte). Wo das Platz finden würde, blieb zunächst unklar. Vielleicht in der Pause? Schließlich wurde daraus, flankiert von Kollegen, der Übergang vom Zauberwald zur Athener Hochzeit. Es bekam eine dramaturgische Funktion. Im Jahr darauf, so erinnert sich Hasko Weber, äußerten Schauspieler in der Ensembleversammlung den „Wunsch, etwas Musikalisches zu machen.“ Er verfiel auf die Dystopie „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess – „und relativ schnell auch auf die Idee, das mit Rammstein zu verknüpfen.“ Deren Stücke empfand er als „Verstärker für diesen Text.“ Weber kontaktierte den Bassgitarristen und Theatermusiker Tom Götze in Dresden. „Er hat mich für verrückt erklärt.“ Und ließ sich trotzdem darauf ein. Aber so viel war klar: Weber wollte erst anfangen, Szenen nach dem Roman und Stanley Kubricks Drehbuch zu schreiben, wenn er sicher sein konnte, dass die Musik steht. Götze studierte mit zwölf Schauspielerinnen und Schauspielern binnen drei Wochen dreizehn Titel auch an In-

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„Es ist für uns alle sehr schön zu sehen, dass man Leute damit ins Haus kriegt, die noch nie im Theater waren! Wenn man früh ins Haus kommt und für den Abend ist ,Clockwork‘ angesetzt, sind alle so besonders an.“ Nahuel Häfliger

strumenten ein. Marcus Horn zum Beispiel, Autodidakt auf dem Gebiet, ist darüber zum veritablen Schlagzeuger geworden. Fast jeder bekam seinen Song, obschon Nahuel Häfliger als exzessiver Gewalttäter Alex im Zentrum dieses szenischen Konzertes steht, für das die Kollegen von Licht und Ton das Setting entwickelten. „Das glaubt uns ja immer keiner: dass da oben nur zwei Profis spielen.“ Womit Hasko Weber neben Götze den Gitarristen Lars Kutschke meint, ebenfalls Dresden. Dort sind beide in der aus „Dekadance“ hervorgegangen Funky- und Heavy-SoulBand Code MD aktiv, in der Sven Helbig an den Drums hockt: ein Weltstar der elektronischen Musik, der einerseits auch für Rammstein arrangiert und produziert, andererseits auf den und während der Proben für Inszenierungen Hasko Webers seit vielen Jahren diverse Klangteppiche knüpft, zuletzt für Hebbels „Nibelungen“. Jüngst fegte „A Clockwork Organe“ zum 29. Mal über die Bühne. Nächste Wiederaufnahme: Januar 2024. Dabei spaltet die Inszenierung durchaus. Einigen ist die Musik zu fett, andere kommen nur ihretwegen. „Das hat mega gebockt“, sagt Nahuel Häfliger. „Es ist für uns alle sehr schön zu sehen, dass man Leute damit ins Haus kriegt, die noch nie im Theater waren!“ Und auch im Haus selbst herrscht eine besondere Stimmung. „Wenn man früh ins Haus kommt und für den Abend ist ,Clockwork‘ angesetzt, sind alle so besonders an“, erzählt Weber, „auch in den Gewerken.“ In der Kombination klingt es tatsächlich so, als habe Rammstein kaum je anderes verfasst als den Soundtrack zu „Clock-

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Thema Theatermusik

work Orange“, mit Zeilen wie „Meine Sachen will ich pflegen, den Rest in Schutt und Asche legen. Ich muss zerstören, doch es darf nicht mir gehören.“ Zu beinahe jeder Szene und Wendung findet sich ein passender Song. Wenn Alex von Sex beziehungsweise Vergewaltigung als „Rein, raus“ spricht, findet sich bei Rammstein das „Rein Raus“-Lied. Wenn er aus dem Fenster springt, sich umzubringen, singt man den Song „Spring“. Flöten geht dabei eben nur Burgess‘ Pointe, dass sich Alex zu Bach, Händel, Beethoven in Gewaltfantasien ergeht und sich eins lacht, wenn die Zeitung schreibt, dass es um die Jugend besser stünde, brächte man ihr ein lebendiges Verhältnis zur Kunst bei. An die Stelle solchen Kontrastes setzt Weimar also die Verstärkung: inhaltlich sowieso, aber auch im Sinne dessen, was das Ensemble zeigen und leisten kann. „Das hat uns Auftrieb gegeben, weiter in diese Richtung zu schauen“, so Dascha Trautwein. Vielleicht liege in dieser Produktion, überlegt auch Hasko Weber, „so ein bisschen der Hase im Pfeffer.“ Mit den Ursprüngen hatte der Intendant zunächst nur insofern zu tun, als sie in seine Weimarer Anfänge fielen. Plötzlich öffnete, im Frühjahr 2014, in der Theaterkantine die „Rambazambabar“: kein thematischer Liederabend wie jeder andere. Autonom, anarchisch, mit der heißen Nadel gestrickt. Der Intendant spricht vom köchelnden Freiraum, den sich das Ensemble „komplett subversiv“ eroberte: Schauspieler, Musiker der Staatskapelle, auch eine Sängerin aus dem Opernchor und eine Requisiteurin sind dabei. Das rührte her von dem „ganz naiven Wunsch, Musik zu machen“, erinnert sich Michael Wächter, der damals eine treiben-

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Fotos Candy Weltz

de Kraft war, später nach Basel wechselte und heute am Residenztheater München spielt. „Wir haben uns Lieder rausgesucht, die wir spielen konnten: a-Moll und d-Moll, zu mehr reichte es ja nicht.“ Cindy Weinhold, die seit 2019 die Schauspielmusik am Staatstheater Oldenburg leitet, hatte das „für begabte Laien wunderbar arrangiert.“ Man fand sich dann „ganz charmant in der Unfertigkeit“, so Wächter. Dem Publikum ging es nicht anders. Bis heute existiert dieses Phänomen, inzwischen in der Spielstätte E-Werk oder im Kulturzentrum Mon Ami. Das ist immer sehr schnell ausverkauft und erlebt längst zweite Vorstellungen. Die Gruppe bleibt veränderlich, wird dabei aber immer größer. Ständig will jemand neues mitmachen, auch professionelle Theatermusiker wie Lars Kutschke oder Ludwig Peter Müller. Hier treffen sich „guerillamäßig“ Leute, „die darauf Bock haben“, so Häfliger. Zuletzt waren es 25. Jeder Song wird zweimal geprobt, dann geht’s auf die Bühne. Die Hierarchien bleiben möglichst flach, demokratisch wird über das Thema entschieden. „Das ist das Anstrengendste daran“, lacht Trautwein auf. Bei Gleichstand entscheidet eine Münze. Es ging schon um Liebe und Sex, Mord und Totschlag, das Weltall und Science-Fiction. Diesen März gruselte man sich fröhlich in der „Rambazombiebar“. In diesem Format saß Häfliger, der „ein bisschen Gitarre schrammeln“ konnte, erstmals am Schlagzeug, Trautwein, die in ihrer Jugend eher widerwillig Klavier übte, stand erstmals am Bass. Über die Zeit hinweg wurde die ganze Truppe viel professioneller. Würde die Hausleitung daraus aber eine feste Spielplanposition machen, wäre das alsbald tot. Da ist sich der Intendant sicher. Hasko Weber legte unterdessen nach. Auf „Clockwork Orange“ folgte im Herbst 2021, unter Pandemiebedingungen, „Zwischen Liebe und Zorn 1969–1975“ im Kulturzentrum Mon Ami. Wiederum unterstützt von Götze und Kutschke, formierten sich sechs Herren des Ensembles zur Band mit Langhaarperücken und Siebziger-Jahre-Klamotten, um musikalisch authentisch, gleichwohl mit spielerischer

Foto Candy Welz

Mit spielerischer Distanz an die Klaus-Renft-Combo erinnern: eine legendäre systemkritische Beat-undRock-Formation in der DDR, die der Staat bereits 1965 einmal verboten hatte.

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Ensemble von „Zwischen Liebe und Zorn 1969–1975“, eine musikalische Erinnerung an die Klaus-Renft-Combo in der Regie von Hasko Weber

Distanz an die Klaus-Renft-Combo zu erinnern: eine legendäre systemkritische Beat-und-Rock-Formation in der DDR, die der Staat bereits 1965 einmal verboten hatte (wie auch 53 weitere an der Leipziger „Beatdemo“ beteiligte Bands), bevor er sie endgültig auflösen ließ. Der Abend, der noch weitaus stärker als Konzert funktioniert, mit reduziert eingestreuten Kommentaren zur Band- und Zeitgeschichte, richtet sich vornehmlich an ein vorbelastetes Publikum Ü60. Schon deshalb musste man versuchen, die Songs so zu spielen, wie man sie kennt. „Dann triggert’s“, dekretierte Weber. „Es interessiert keinen Menschen, was wir daraus machen könnten.“

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Also wieder „die Titel gehämmert“, nach alten Aufnahmen mit Slide-Gitarre und Satzgesang. „Wir haben das alles ernst genommen!“ Als der Sänger und Gitarrist Thomas „Monster“ Schoppe, der 1970 zu Renft kam und die Band bis heute weiterführt, eine Probe besuchte, soll er „richtig geflasht“ gewesen sein. In diesem Juni gastiert die Produktion bei der Jubiläumswoche „150 Jahre Goldener Anker“, dem einschlägigen Club in Leipzig, der seit einer Umbenennung an der Renftstraße 1 liegt. Nachdem Götze zweimal derart für Weber und das DNT arbeitete, durfte er sich, so der Deal, für eine dritte Runde selbst etwas aussuchen. „Er hat sofort ,John Lennon‘ gesagt.“ Dessen Todestag,

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„Wenn die Sprache nicht reicht, fängt man an zu singen“, sagt die Schauspielerin Dascha Trautwein.

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der 8. Dezember 1980, an dem er erschossen wurde, gelte ihm als „Meteoriteneinschlag in der Popkultur.“ Ende November kommt „John Lennon – Across the Universe“ auf Weimars Bühne. Musik sei „eben doch ein anderer Schlüssel“, findet Hasko Weber. „Weil sie bei Zuschauern anders an Gefühle anknüpft“, glaubt Dascha Trautwein, „das geht noch tiefer.“ Und Nahuel Häfliger hält sie für ein gutes Mittel, um (vergehende) Zeit zu erzählen: ob damals im „Sommernachtstraum“ oder zuletzt auch in Plenzdorfs „Legende von Paul und ­Paula“ (Regie: Brigitte Dethier), wo er selbst die männliche Titelrolle spielt, während Kollege Bastian Heidenreich zwischen dem Schlagzeug, bei den Musikern Lars Kutschke und Christian Decker am Bühnenrand, und diversen Nebenrollen wechselt. Heidenreich nennen sie im Haus ohnehin einen musikalischen Allrounder. Der Schauspieler hat sich zu Hause ein kleines Studio eingerichtet und inzwischen für zwei Inszenierungen Hasko Webers, in denen er auch besetzt war, die Musik produziert: „Die Ehe der Maria Braun“ nach Fassbinder und Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Weber würde jederzeit wieder mit ihm arbeiten. Auch sonst lassen sich am DNT feste Arbeitsbeziehungen zwischen Hausregisseuren und Musikern beobachten: Jan Neumann setzt auf Johannes Winde, Swaantje Lena Kleff auf Ludwig Peter Müller: zwei probenaffine Multiinstrumentalisten, die der Intendant einer „neuen Spezies“ zurechnet, weil sie nahe an den Spielern dran sein und den szenischen Vorgang verstehen wollen würden. Jetzt lassen Neumann und Winde ihre Schauspieler auch noch tanzen: im wortlosen „Ballhaus (Le Bal)“, in dem binnen zwei Stunden 100 Jahre (ost-)deutscher

Geschichte im Schnelldurchlauf vorüberziehen, 1923 bis 2023: mit reichlich viel Gags und Slapstick, sehr viel weniger melancholisch als einst bei Ettore Scola im Pariser Théâtre du Campagnol und dem daraus entstandenen Kinofilm von 1983, den sie in Weimar zu Beginn sehr deutlich zitieren. Und mit vielen Gesellschaftstänzen, bevor aus dem Ballhaus ein Technoschuppen oder auch Rapperpodium wird. Das fußt auf einem Training in Standardtänzen, ist aber, so Trautwein, „nicht alles durchchoreographiert.“ Das Ensemble improvisiert häufig, auf hohem Niveau. Häfliger glänzt mit einem Flamenco, worin er und seine Schwester sich einst in Basel unterrichten ließen. Nun entwickelte er daraus ein Solo, dass es erst in den letzten beiden Durchläufen vor der Premiere in die Aufführung schaffte. Dascha Trautwein hat sich schon immer für Tanz interessiert und bedauert, dass solche Elemente oft am Ende der Proben wieder gestrichen würden. Allerdings singt und tanzt sie seit 2020 zugleich, in „Cabaret“, einer Koproduktion mit dem Musiktheater: und zwar eine Sally Bowles nicht nur so, wie sie zu sein hat, sondern darüber hinaus, wie sie auch sein könnte: nicht nur keck, exzentrisch, lasziv, sondern verloren im bittersüßen Rausch, voller Angst vor Ernüchterung. „Wenn die Sprache nicht reicht, fängt man an zu singen“, sagt Dascha Trautwein. So wie sie selbst als gedeckter Tisch in Shakespeares „Sturm“, der sehr lustig den „Burger Dance“ von DJ Ötzi intoniert, oder wie, ganz anders, Nadja Robiné als Kriemhild, die, übern toten Siegfried gebeugt, singend „SOS“ signalisiert, in der langsamen Portishead-Version des AbbaSongs. Darüber hinaus aber leben Weimars Schauspieler die Musik. Sie steckt ihnen in den Kehlen und in den Knochen. „Inzwischen“, so Trautwein, „traue ich uns auch ein Musical ganz aus eigener Kraft zu.“ T

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Thema Theatermusik

Der Musiker Patrick Christensen „PC Nackt“ in der Inszenierung von „Der Einzige und sein Eigentum“ von Sebastian Hartmann und PC Nackt nach Max Stirner

Foto Arno Declair

Genregrenzen hardcore überwinden PC Nackt über seine Theatermusiken für Sebastian Hartmann, Schorsch Kamerun und Jossi Wieler Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Sie haben gerade erstmals mit Jossi Wieler für dessen Jelinek-Uraufführung „Angabe der Person“ gearbeitet, wo sehr feine Stücke auf einem automatischen Disklavier – einem elektronischen Repro­ duktionsklavier – zu hören waren, die wie eine musikalische Anverwandlung Jelineks klangen, die selbst als Pianistin ausgebildet ist. Andererseits sind Sie für Elektropunk und noch ganz anderes bekannt. Wie sind Sie mit Jossi Wieler zusammengekommen?

PC: Wenn ich am Theater arbeite, suche ich eigentlich immer nach enger Kollaboration mit den anderen Betei­ ligten, bin auch gern viel bei den Proben. Bei „Angabe der Person“ aber hatten Jossi Wieler und ich von vornherein einen anderen Zugang gewählt. Im ersten Gespräch war Jossi von dem Disklavier als Leerstelle für den gerade von Jelinek verstorbenen Ehemann, also ein Klavier ohne Spieler, sehr begeistert. Unsere Verabredung war dann so, dass er mit den drei tollen Schauspielerinnen auf der Probe an Jelineks Text gearbeitet hat und ich zu Hause an meinem Musik­ konzept: dem Spürbarmachen der heimischen Atmosphäre zuhause bei den Jelineks inklusive des Konflikts mit der Öffentlichkeit, dem Berühmtsein etc. Dann wurde das erst kurz vor der Premiere verheiratet, eine für mich neue, bereichernde Erfahrung, die viel gegenseitiges Vertrauen voraussetzt.

Die Klaviermusik haben Leute als Bach und Schubert identifiziert, die war aber von Ihnen komponiert. Ein perfektes Pastiche? PC: Ja, aber das war nicht mein Ehrgeiz. Es ging um eine Gesamtanlage mit der Musik, zu der noch viel mehr gehörte im Zusammenhang mit der technischen Apparatur, die in der Inszenierung zu ­sehen ist und die Themen von Jelinek ­umgibt. In Sebastian Hartmanns radikalem Assoziationstheater waren Sie bereits in der Vergangenheit der musikalische Partner, der seine Inszenierungen akustisch prägt. Trotzdem könnte man nicht sagen, das wäre ein Stil oder eine bestimmte Richtung. Sebastian Hartmann holte mich damals nach Leipzig für einige Musiken in seinen Inszenierungen, vom wortlosen „Mein Faust“ bis zu seiner Abschiedsinszenierung. Als er dort Intendant war, gab es eine große Freiheit, und der Begriff von Theater spie-

PC Nackt in der Inszenierung von „Was?“ in der Regie von Schorsch Kamerun, am Theater an der Parkaue

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Foto David Baltzer

„Ich selbst sehe mich als Theater-Quereinsteiger, der mit Sebastian Hartmann als einem Theater-Ausbrecher zusammengearbeitet hat, um etwas zu wagen.“


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len stimmte ganz im Sinne von einem Spielplatz, den man mit Freude betritt. Diese Freiheit ging ein wenig verloren, nachdem Sebastian die Intendanz aufgegeben hatte. „Der Löwe im Winter“ am Deutschen Theater war das Stück mit ihm, wo ich dachte, ich gehöre doch nicht ans Theater, und mich daraufhin jahrelang ausschließlich mit reinen Musikprojekten beschäftigt habe. Schließlich hat Schorsch Kameruns Freiheitsgefühl und Leichtigkeit mich wieder für das Theatermachen geöffnet! Erst mit „Der Einzige und sein Eigentum“ würde ich also sagen, dass Sebastian und ich schließlich bei einer definierten Methode für unsere Kollaboration angekommen sind.

nicht. Das schwebt da für sich selbst. Aus gegenseitigem Vertrauen entstanden. So könnten noch viel mehr Sachen entstehen.

„Der Einzige und sein Eigentum“, eine sehr ungewöhnliche Inszenierung, die als „Ein Stück Musiktheater“ zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Was passierte da? Verabreden Sie Stimmungen? Oder Musikkonzepte? PC: Bei „Der Einzige und sein Eigentum“ rief Sebastian mit der Idee an, eine „Dreigroschenoper“ zu bauen, also wie in der Partnerschaft von Brecht und Weill zu denken. Keine Hightech-Oper mit Sopranistinnen, sondern eine Oper, in der Schauspieler:innen singen, was ja dann auch zu populäreren Formen zwingt. Lieder zu Themen wie „Wer bin ich?“, „Wie sehe ich mich im Verhältnis zur Gesellschaft?“, all diese Fragen in Songform. Das heißt, das musste vorher mit Texten in dieser Form geschrieben werden, sodass ich dann mit einem Songbook zum Beginn der Proben kam und die Schauspieler das in den ersten Wochen richtig lernen mussten. Erst als die ihre Songs draufhatten, ging es auf die Bühne und Sebastian konnte mit seiner Bildsprache loslegen. Durch diesen ungewöhnlichen Probenverlauf konnte etwas Außergewöhnliches entstehen. Ich selbst sehe mich als Theater-Quereinsteiger, der in diesem Fall mit einem Theater-Ausbrecher zusammengearbeitet hat, um etwas zu wagen, und der den Raum dafür auch vom Deutschen Theater zur Verfügung gestellt bekam. Leute sagten, dass es sie berührt habe, sie aber nicht sagen könnten, was das genau war. Musiktheater, Oper? Nein, das ist es alles

Warum? PC: Damit sie nicht in diese Bringschuld kommen, etwas technisch perfekt singen zu wollen. Perfektion in diesem Sinn interessierte Sebastian und mich für diese Arbeit ohnehin nicht.

Sie waren dann auch bei den Proben dabei? PC: Ja, klar, die ersten vier Wochen habe ich mit den singenden Schauspielern wie ein Korrepetitor gearbeitet, rauf und runter am Klavier. Da entsteht beim Singen auch eine andere Gruppendynamik, denn die Leute müssen sich mit ihren Körpern anders öffnen. Und ich erfinde ja etwas speziell für sie, ihre Persönlichkeiten und Körper. Das geht bis zum kollektiven Klangerzeugen. Einziges „echtes“ Dogma: Es gibt keine falschen Töne!

Noch viel öfter haben Sie mit Schorsch ­Kamerun gearbeitet, der ursprünglich aus der Post-Punkszene kommt und deshalb wohl nicht als Schauspieltheaterregisseur wahrgenommen wird, auch wenn seine ­Inszenierungen im Theater stattfinden. PC: Zur Wahrnehmung der Inszenierungen von Schorsch als „Nicht-Theater Macher“ würde ich erstmal sagen: Das finde ich Quatsch! Da sind Schauspieler:innen dabei, es gibt Texte, da sind ein Bühnenbild und Kostüme. Die Rahmenbedingungen sind also dieselben wie eigentlich immer im Theater. Der Unterschied besteht doch darin, wie man damit umgeht. Und da unterscheiden sich glücklicherweise Jossi Wieler, Sebastian Hartmann und eben Schorsch. Schorsch und ich arbeiten halt gern installativ und unsere Sprachpalette reicht von Abstrakt über Punksongs bis zum Barock-Orchester. Mit der Komischen Oper haben wir eine begehbare Konzertinstallation mit Orchester, Schauspieler:innen, Chor, Elektronik und Kopfhörern für alle, an der Berliner Parkaue haben wir das WeltraumMusical „Was?“ mit einem Synthesizer für Kinder gemacht - also unser Horizont scheint manchen zu weit zum Greifen.

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Thema Theatermusik Was sollte Bühnenmusik im Schauspiel grundsätzlich bedeuten? PC: Also sollte, das ist für mich der falsche Ansatz. Nichts muss … Alles könnte … Der subventionierte Kunstbetrieb könnte sich viel mehr Freiheiten nehmen, auch die, mal zu scheitern. Was ich an den Theatern beobachte, ist, dass sehr viel Wert auf das Verbale und Visuelle gelegt wird, aber mit der Musik häufig unkreativ um­ gegangen wird. Da werden Klischees rausgezogen, und die Musiker:innen haben wenig Zeit, was zu entwickeln. Und die meisten Regisseur:innen wollen auch gar nichts anderes haben als diese Klischees. Mit der breit bestückten Palette scheint es auch keine bestimmte Richtung mehr zu geben. PC: Ich bin kein Freund von Sparten und solchen Zuweisungen. Das verhindert viel mehr, als dass es möglich macht. Darin sehe ich gerade meine Kraft, die diversen Erfahrungen. Ich habe im Himalaya mit Schamanen getrommelt, mit meinen Bands Konzerte vor tausenden stehenden und ausrastenden Fans gespielt, Filmmusik gemacht – das bringe ich alles ans Theater mit. Wenn ich jetzt ein reiner Theatermusiker wäre, hätte das wohl nicht stattgefunden. Die Hauptprägung für mich in der deutschen Kultur ist die Trennung von E und U. Da verkümmert beidseitig jeweils ein Arm. Das hat etwas mit der Auffassung von Könnerschaft zu tun. Was nicht als Hauptkönnerschaft gilt, aber trotzdem gemacht wird, gerät sofort in den Verdacht des Dilettantismus. Mein US-amerikanischer Freund Earl Harvin, der im „Einzigen“ Schlagzeug spielt, schüttelt darüber immer den Kopf. Sie wahrscheinlich auch? PC: Ich bin anders erzogen worden und auch anders ausgebildet. Ich habe Miles Davis studiert, mir aber auch Schostakowitsch angeguckt, dazu die Beatles oder John Cage und mit demselben Wertigkeitsgefühl in einer Technopunkband gespielt. Ich habe diese Trennung persönlich nie empfunden und sie hardcoremäßig abgelehnt und bekämpft. Denn ich halte das für einen Irrglauben, der den Leuten unglaublich viel Freude vorenthält. Ein

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klassischer Musiker, der nicht improvisieren kann? Schade! Denn Improvisation ist eine Erfahrung im Verständnis von Musik. Leute, die perfekt Mozart spielen, aber das körperliche Moment von Musik, z.B. Tanzen, ausklammern – das finde ich tragisch. Wenn man in Los Angeles mit Musiker:innen arbeitet, da spürst du, dass die das nicht kennen. Nehmen wir als anderes Beispiel diese berühmte Melodie „Pink Panther“ von Henry Mancini. Die ist natürlich auf dem Notenblatt ganz klassisch notiert, aber der Saxofonist / die Saxofonistin wird erst durch individuell kreative und bluesige Phrasierung dieses Thema zum Leben erwecken. Sie werden als Post-Genre-Komponist bezeichnet. Ist das von Ihnen selbst oder eine Zuschreibung? PC: Das habe ich mir nicht ausgedacht, aber ich unterstütze das. Ich laufe mittlerweile rum und stelle mich bewusst als Post-Genre-Komponist vor. Neben der Trennung von E und U gibt es zusätzlich die Trennungen innerhalb dieser Bereiche in Sparten, und auch das versuche ich mindestens gedanklich zu überwinden. Klassik, Neue Musik, Minimal, Electro, Folk Music, Gitarrenrock – das kann und will alles zusammenwirken. Gerade wenn man Musik von einem Orchester wie dem „String Theory“ Orchester spielen hört, verschmelzen die Konzepte, und man kann spüren, dass es zwar Unterschiede, aber keine Grenzen gibt. Die Grenzen meiner persönlichen Postgenre-Arbeiten bestehen eher aus den Erwartungshaltungen außen, also den Institutionen und Systemen innerhalb derer ich arbeite. Aber ich bin natürlich auch kulturell vorbelastet, insofern bin ich sicherlich kein perfekter Postgenre-Musiker, es ist eher eine Absichtserklärung. Hilft das im Theater? PC: Mir ja. Ich kann mich unterschiedlichster Methoden bedienen, das ist praktisch. Es kann ja auch alles mit Holzklötzen gemacht werden und muss nicht aus dem Laptop kommen, wenn kein entsprechendes Instrumentarium da ist. Es gibt weniger Abhängigkeiten. Ich mag das Gefühl, dass eine Bühne wie ein weißes Blatt ist.

Als akustisch leerer Raum? PC: Um mit den passenden Mitteln, nicht den herkömmlichen Mitteln das zu schaffen, was die Inszenierung erreichen will. Oft entsteht das aus der Reduktion heraus. Wenn ich dich zum Weinen bringen will, muss es zum Glück kein Streichquartett sein. Ich kann das wahrscheinlich auch mit Holzklötzen erreichen – so entstehen die spannendsten Sachen. Oder wenn viele Spieler:innen mit Plastiktüten rascheln, ist das faszinierend schön. Die Frage ist dabei natürlich, mit wem arbeite ich gerade zusammen und für welches Publikum. Aber ganz so analytisch kann ich das nicht erklären. Es heißt ja auch: Vögel sind keine guten Ornithologen. PC: So ist es wohl. Was wird als Nächstes passieren? PC: Mit Schorsch mache ich Goethes „Reineke Fuchs“ als „Musikthea­ ter“ in München am Residenztheater, mit Sebastian schreibe ich an einem neuen „Musiktheater“ namens „Atlantis“ für Dres­­den, für Constanze Klaues Lukas-­ Rietz­ schel-Verfilmung „Mit der Faust in die Welt schlagen“ mache ich den Score, und parallel arbeite ich am Aufbau meines­ neuen Vinyl-Plattenlabels „Naked Records“, einem Label für Musik zwischen den Stühlen u.a. mit den Musiken von Bühnen­ produktionen wie dem „Einzigen und sein Eigentum“ oder Nico van Werschs großartiger Musik zu Ulrich Rasches „4.48 Psychose“. T

PC Nackt (geboren 1975 als Patrick Christensen) ist mehrfach Grammy-nominierter PostgenreKomponist, Performancekünstler, Multiinstrumen­ ta­­list und Produzent in Berlin. Nackt ist Ko-Gründer diverser Projekte, u.a. die Elektro­punk Band „Warren Suicide“, das Orchester „The String Theory“, das Tonstudio „Chez Chérie“ und aktuell die Band „Raison“ mit Schorsch Kamerun und Mense Reents. Als Album-Produzent, Songwriter und Kollaborateur war Nackt für diverse internationale Künstler:innen tätig (u.a. José Gonzáles, Apparat, Dieter Meier) und hat mit seinen Projekten und als Mitglied diverser Bands wie Apparat, der Nena Band oder dem Bundesjazzorchester, Dutzende Tonträger veröffentlicht und unzählige Konzerte rund um den Globus gespielt. Ab Herbst 2023 startet sein neues ­Plattenlabel für Bühnenmusik, „Naked Records“.

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Theater der Zeit

Akteure

Foto VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Fotoecke / Photobooth, 2009, C-Print / Diasec, 180 x 198 cm von Thomas Demand

Porträt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und sein Team über neue Perspektiven und Positionen am Berliner Haus der Kulturen der Welt Kunstinsert Absorption und Theatralität im Werk von Thomas Demand Porträt Schauspieler Thomas Schmauser Nachruf Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach

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Fotos VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Akteure Kunstinsert

Treppenhaus / Staircase, 1995, C-Print / Diasec, 150 x 118 cm

Den Tanz der Welt zur Ruhe bringen Absorption und Theatralität im Werk von Thomas Demand Von Thomas Oberender

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Oben Installationsansicht, 2018, Archivmaterial / New Stop Motion, Sprüth Magers, Berlin. Unten Installationsansicht, 2017, „The Boat is Leaking. The Captain Lied“, Thomas Demand, Alexander Kluge und Anna Viebrock, Fondazione Prada, Venedig

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Foto links VG Bild-Kunst, Bonn 2023, rechts Brigitte Lacombe

Akteure Kunstinsert

Badezimmer / Bathroom, 1997, C-Print / Diasec, 160 x 122 cm

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Akteure Kunstinsert

D

Die Verbindung von Thomas Demands Fotografien und der Welt des Theaters erscheint auf den ersten Blick wenig naheliegend. Einem simplen Verständnis von Theater zufolge spielen Menschen auf der Bühne nach, was andere Menschen tun. Doch das Einzige, was Thomas Demands Bilder nicht zeigen, sind Menschen. Stattdessen sind auf ihnen Innenräume zu entdecken, Stadträume, gelegentlich sind es Naturräume, eine Grotte oder ein Wald. Die Schauplätze liegen offen vor dem Betrachter und man sieht, wie Menschen die Ordnung der Dinge in diesen Räumen in Unordnung gebracht haben, Papierstapel auf dem Boden verstreut oder eine Wanne mit Wasser gefüllt haben, aber von den Menschen selbst findet sich in den Bildern keine Spur – kein Schmutz, kein Lippenstift auf einem Glas, keine Schrift auf den Zetteln oder Büchern, kein Logo auf der blauen Cremedose. Es ist, als würden auf diesen Fotografien die Dinge ihr Leben unter sich führen. Die Klingelschilder tragen keine Namen, Demand zeigt eine Welt ohne uns.

Modellbauer

Thomas Demand, geboren 1964 in München, baut als Künstler Modelle nach Fotografien, die er dann wiederum fotografiert und lebensgroß ausstellt. Er lebt in Berlin und Los Angeles.

Weitere Künstler:innendossiers finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

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Ein berühmtes Bild von Thomas Demand zeigt eine Badewanne in einer gefliesten Badnische. Es entstand nach einem Tatortfoto, das den CDU-Politiker Uwe Barschel 1987 tot in der Wanne seines Genfer Hotelzimmers zeigt. In Demands Bild bleibt von dieser Szene nur die Wanne und der geflieste Raum, dafür kehrt die Farbe der Fliesen und des kleinen Teppichs zurück. Unweigerlich komplettiert das Hirn der Betrachter die Szene um den Menschen, der in der Wanne lag, insofern man das Polizeifoto je zuvor gesehen hat. Demands Bilder sind Bilder nach Bildern. Ausgehend von Tatortfotos, Fotografien aus den Medien oder Archiven baut Thomas Demand mit seinem Team im Studio der Räume Ursprungsfots aus farbigem Papier im Größenmaßstab 1:1 nach. Wie ein Modellbauer fertigt er nicht nur die Zimmer und Fassaden aus großen Papierbögen, sondern auch Laternen, Pflanzen und Alltagsgegenstände, vom Wasserglas bis zum Radio, vom Kinderbett bis zum Kissen darin. Die so entstehenden Bildwelten sind auf zweifache Weise unheimlich real – aufgrund ihrer Referenzen zu den oft skandalösen Geschichten hinter den Fotos, aber auch unabhängig von ihnen, weil die Ästhetik seiner Aufnahmen ihnen ein eigenes Geheimnis verleiht. Etwas stimmt da nicht auf diesen Bildern, das spürt das Auge, und zugleich wirkt etwas an ihnen tief vertraut. Nach der matten Textur ihrer Oberflächen und spezifischen Tonalität ihrer analogen Farbigkeit fallen dem Betrachter auch einzelne Stöße und Schnittflächen des Papiers auf und diese subtilen Unwirklichkeiten erzeugen ein uncanny valley, eine Akzeptanzlücke, die sich kurz darauf wieder schließt und zur Faszination wird. Demands Fotos nach Fotos zeigen eine nachgespielte Welt. Ihre nachgebauten Aschenbecher, Thermoskannen, Scheren oder Pflanzen sind Gebilde einer reinen Oberfläche, sie sind, wie CGI-Figuren, nur die „Haut“ der Dinge, innen leer. Für das Unbewusste sind Fotografien Tatsachenbilder und mit diesem Authentizitätsversprechen des Mediums spielt Thomas Demand. Fotografien sind eine überliefernde, reflexhafte Spiegelung der Welt zu einem bestimmten Augenblick und zugleich ihr

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Akteure Kunstinsert Totenbild. Denn ein Lichtbild, das jede Fotografie bis heute ihrem Wesen nach ist, erzeugt eine Generalimpression des erblickten Lebensausschnitts und löst ihn von diesem ab. Während ein Maler die Bildfläche langsam Punkt für Punkt füllt, bannt die Fotografie das Abbild in der komplexen Gleichzeitigkeit all seiner Elemente. Die spezifische Produktionsweise von Demands Fotografien kehrt diesen Vorgang um und erstattet den Bildern ihre Zeit zurück, in dem er den von ihm fotografierten Raum nach dem Quellfoto von Hand sukzessive aufbaut. 1964 in München geboren, studierte Thomas Demand zunächst Innenarchitektur und dann Bildhauerei und Kunst in München, Düsseldorf und London. Aus praktischen Gründen begann er als Student seine Skulpturen zu fotografieren und entwickelte bald ein Interesse nicht nur an der spezifischen Realität dieser Aufnahmen, sondern am Phänomen der Oberfläche selbst.

Oberflächen Softwareprogramme schaffen Oberflächen. Jedes Mobiltelefon bietet eine Oberfläche an, die in die Tiefe führt, in soziale Beziehungen, die technologisch geprägt und kapitalistisch extrahiert werden. CGI-Figuren sind ihrem Wesen nach Text, geschrieben auf einer bilderzeugenden Software. Die menschenähnliche Figur, genauso wie CGI-Objekte oder Räume sind reine Oberflächen, innen leer, nur Hüllen, die mit Aufgaben, Ideen und Gefühlen „gefüllt“ werden. Ähnlich schaffen auch die Architektur, Mode oder Design reine Oberflächen, die Modelle sind, hüllenhaft wie die Kostüme von Theaterfiguren, in die das Leben einzieht. Sogar die Figur selbst, wie sie in Theatertexten angelegt ist, lässt sich als eine reine Oberfläche begreifen, als ein literarischer Code bzw. analoges Skript, das die Gestalt einer Figur als die Matrix ihres äußerlichen Verhaltens, ihrer Worte und Gesten notiert und für ihre „Anwendung“ bereithält. In den Proben lesen die Schauspieler diesen Code und schlüpfen in diese Hülle, die er bereitstellt. Sie orientieren dabei nicht nur an ihren persönlichen Gefühlen, sondern genauso an Formelementen, aus denen sich das Verhalten der Figuren zusammensetzt: Aus den Codes und Konventionen sozialer Welten, vertrauter Gesten oder Attitüden, die sie bei anderen Menschen beobachtet haben, in Filmen, Reden von Politikern oder schlicht bei dem, was im Dispositiv des Theaters selbst als Manierismus und Technik überliefert wird, fügen die Schauspieler ihre Figur. In jeder Figur geistern daher die Ahnen früherer Figuren. So wie in jedem Foto Thomas Demands die Echos älterer Bilder der Welt auftauchen. Durch den Nachbau der ursprünglichen Fotos im Studio verwandelt sich deren ursprünglicher Gehalt in etwas Abstraktes, das eine Kettenreaktion von Referenzen auslöst – Erinnerungen an die originalen Geschichten und Fakten, aber auch ästhetische Reminiszenzen zu Werken der Kunstgeschichte, die durch seine Fotografien dem Betrachter wieder zu Bewusstsein kommen. Wie die Spieler in ihre Rollen schlüpfen, schlüpft Demand in seinem Atelier in Bilder. Und so wie die Spieler und Spielerinnen im szenischen Skript eine verborgene Logik und Stimmung aufspüren und durch ihre Verkörperung in ein reales, und zugleich formales Verhalten zwi-

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schen Menschen überführen, bringt Demand in seinen StudioInszenierungen die Dinge und Räume des ursprünglichen Bildes zurück in die physische Welt, um sie vollständig in ein anderes Medium zu überführen. Das Papier, auf dem der fotografische Abzug erscheint, zeigt in seinen Arbeiten eine Welt, die komplett aus Papier besteht – ihr „Gegenstand“ ist ihr Medium. Demands tiefere Beziehung zum Theater beruht für mich vor allem auf drei Aspekten: Stil, Aufführung und Absorption.

Stil Sein Verfahren der Bildentstehung erzeugt einen bis ins kleinste Detail kontrollierten und extrem wiedererkennbaren Look: Die dunkel leuchtende Farbigkeit ohne jede Bildkörnung, die Perspektive der normalen Augenhöhe, das Licht ohne kantige Schatten, die matte Textur der Oberflächen – all das setzt ein papiernes Bauwerk ins Bild, das wie die Erscheinung einer Figur aus kleinsten Details gefertigt und gefügt ist und darin die Muster, Logik und Entwicklung sozialer Beziehungen entdeckt. Demand baut in einem handwerklich unmittelbaren und zugleich im übertragenen Sinne Modelle, lebensgroße Skulpturen aus Papier, die auf Recherchen, Know-How und Experimenten beruhen. Wie jedes Modell zeigen seine Bilder einen Testraum unseres Wissens und ein stellvertretendes Objekt, das Prinzipien anschaulich macht. Auch Theaterproduktionen errichten auf der Bühne eine Welt in der Welt. Jedes Stück ist der Modellfall einer spezifischen Wirklichkeit, etwas Nachgebautes, das nicht nur seinen Ursprung reproduziert, sondern etwas Originales kreiert. Die Kostüme der Figuren, ihre Maske und das Bühnenbild sind im Theater in ähnlicher Weise „aus Papier“, auf den Moment und die Situation ihres Erscheinens im Bild der Aufführung hin entworfen und verschwinden nach der letzten Vorstellung auf Nimmerwiedersehen wie Gebrauchsgüter. Auch sie entstanden aus Bildern, übersetzten Oberflächen in den Raum, um sie wieder zum Bild werden zu lassen und verschwinden nach dem Klick des letzten Vorhangs. All der Substanzwandel, der die Dinge im Alltag mit sprechenden Krusten überzieht, mit Gebrauchsspuren und Anzeichen von Verschleiß, die ihrerseits Rückschlüsse auf Menschen erlauben – Kaffeetassenränder, Schmauchspuren von Zigaretten, Schnipsel verbrauchter Dinge, wurde auf Demands Bildern eliminiert. Seine bereinigten Objekte erscheinen als Archetypen der Dinge an sich. Und obgleich Demands Bildquellen so oft auf den für unsere Zeit signifikanten Geschichten beruhen, evakuiert seine Arbeit sie scheinbar in einen Raum außerhalb der Zeit. Was in Demands Welt aus Papier Aufnahme fand, sah als Bild vor zwanzig Jahren nicht anders aus als gerade gestern.

Aufführung Theatralisch ist zum anderen von Anbeginn auch die Art und Weise der Ausstellungsgestaltung selbst bzw. die von Thomas Demand gestaltete „Aufführung“ seiner Fotografien. So umgeben in den Museen seine Fotografien oft von ihm gestaltete Vorhänge, Stellwände, Kabinette, illusionistische Tapeten, Vitrinen oder Lampen,

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Akteure Kunstinsert die durch dezente Eingriffe die Umgebung seiner Bilder sanft an deren ästhetische Wirklichkeit heranführen. Demands von der Decke herabhängenden Kinoboxen in seinen Ausstellungen in Moskau und Santander sind neofuturistische Skulpturen, obgleich sie nur dem praktischen Zweck dienen, scheinbar frei im Raum schwebende Hör- und Sehräume für drei, vier Menschen zu schaffen. Die zahllosen Interieur-Objekte und ortsspezifischen Architekturen, die Demand für seine Ausstellungssituationen entworfen hat, bilden so inzwischen einen eigenen Bereich im Oeuvre des Künstlers. In dem transmedialen Ausstellungsprojekt „The Boat is Leaking. The Captain Lied.“ 2017 der Fondazione Prada in einem venezianischen Palast haben Thomas Demand und der Kurator Udo Kittelmann durch aufwändige Einbauten von Räumen, Wänden, künstlichen Bühnen und Treppen diverse Übergangsräume zwischen den ineinander verschachtelten und miteinander verbundenen WerkWelten von Anna Viebrock, Alexander Kluge und Thomas Demand geschaffen. Zum Teil wurden Erinnerungsräume aus Filmen von Alexander Kluge als begehbare „Bühnenbilder“ nachgebaut, die wiederum in Räume führten, in denen ein reales Bühnenbild von Anna Viebrock wie eine Skulptur präsentiert wurde, begleitet von Fotografien Thomas Demands, der seine Bilder in scheinbar historischen Räumen des Palazzo zeigt, die allerdings ihrerseits eine Scheinarchitektur waren, die es in diesem Gebäude so nie gab. Diese Venediger Ausstellung ermöglichte ein permanentes Ineinanderfließen von Fiktion und Fakten in einem Raum, der als Palazzo selbst Teil der Erzählung wurde. Die Idee des Modells, auf dem Demands Bilder beruhen, griff hier erstmals über auf eine immersive Gesamtarchitektur des Erlebens seiner Kunst, in der es kein Außen gab, sondern nur ein sich immer weiter nach innen verschachtelndes Labyrinth der ästhetischen Bezüge. Von hier führt 2022 der Weg in drei Pavillons, die Thomas Demand für die dänische Textilfirma Kvadrat gebaut hat, lichte Gebäude, die so gestaltet wurden, als sei alles an ihnen aus Papier gefertigt worden – das blattartig gefaltete Dach des mittleren Baus, die wie aus Papierstreben gebaute Metallstühle, Türklinken, Tische, Tapeten und Lampen: Die stille, abstrakte und doch warme Bildwelt Demands wird in den drei Ebeltofter Pavillons zu einem gesamtkunstwerkhaften Kosmos, in dem jedes Foto, das von den Besuchern hier aufgenommen wird, wie aus dem Inneren von Demands Studio wirkt.

Absorption Es ist ein seltsamer Sog, der von Demands Bildern ausgeht und den Betrachter ins Innere seiner Bildwelten führt. Seine Aufnahmen besitzen keine Tiefe hinter den Räumen, sie lenken den Blick nie in die Ferne, sondern immer ins Innere seiner Grotten, Büros, Wohnräume oder Labore. Sie geben dem Betrachter Zugang zu einem magischen Nahraum, der anziehend und beruhigend wirkt. Wie jenseits der Zeit und von den physischen Spuren des Menschen bereinigt, kommt in Demands Bildern der wilde Tanz der Welt zur Ruhe. Der Künstler hat von diesen Dingen unseren Schweiß und Schmutz entfernt, ihre Beschriftung und Geschichte, die ihnen in der ursprünglichen Welt anhängt. So entsteht eine reine Sprache

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Theatralisch ist von Anbeginn auch die Art und Weise der Ausstellungsgestaltung selbst bzw. die von Thomas Demand gestaltete „Aufführung“ seiner Fotografien.

der Sachen, des Dinglebens. Philippe Quesne hat es im Theater zum Leben erweckt in seiner „Phantasmagoria“, die Künstler des Bauhaustheaters gingen diesen Weg, genauso Mette Ingvartsen in ihren Animationen des Waldes, des Nebels oder Feuers. Für den amerikanischen Kunsthistoriker Michel Fried gibt es zwei Bildtypen, die er 1980 in seinem gleichnamigen Buch mit den Begriffen „Absorption“ und „Theatralität“ beschrieb. Die Gemälde von Jean-Baptiste-Siméon Chardin und Jean-Baptiste Greuze schaffen für Michel Fried eine intime Situation ihrer Betrachtung. Die Situation der Ausstellung tritt hinter das Kunstwerk zurück und die Wahrnehmung der Betrachter gleitet in die Welt des Bildes und dieses nimmt ihn auf. Es absorbiert die Realität des Betrachters. Dem entgegen steht für Fried die Kunst des Minimalismus, in dem die Situation der Ausstellung selbst zum Ereignis wird und ostentativ auf sich aufmerksam macht. Thomas Demands Werk besitzt beide Aspekte. Jedes Bild für sich hat durchaus den Charakter eines Stilllebens, einer beruhigten Situation, die den Blick des Betrachters absorbiert und ihn in den Innenraum des Bildes lenkt. Gleichzeitig erscheinen Demands Werke in seinen eigenen Ausstellungskonzepten aber eingebettet in Umgebungen, die subtil inszeniert sind. Nicht wie in der Minimal Art, sondern als Erweiterungen des Stimmungsraums seiner Fotografien in den Ausstellungsraum selbst. In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft und -kritik ist Michel Frieds berühmtes Buch „Absorption and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot“ von 1980 kaum rezipiert worden. Im Sinne einer Strategie der Absorption ist es auch nicht verwunderlich, dass Anna Viebrock die Fotografie „Treppenhaus“ von Thomas Demand für eine Inszenierung von Christoph Marthaler adaptiert hat, in der die Menschen sich in einem Innenraum der Gefühle und kleinen Rituale bewegen, den sie nie verlassen werden. Michel Frieds Konzept von „Absorption“ und „Theatralität“ eröffnet eine interessante Perspektive auf die jüngere Theatergeschichte und ohne die Sphäre des Theaters bislang in direkter Weise berührt zu haben, ist Thomas Demand ein Künstler, dessen ästhetischen Strategien und Erfindungen mit der Entwicklung des zeitgenössischen Theaters eng und fruchtbar verbunden sind. T

Thomas Oberender ist Autor und Kurator. Er entwickelte das Programm „Immersion“ bei den Berliner Festspielen und „The sunmachine is coming down“ am Berliner ICC. Derzeit läuft die von ihm kuratierte Ausstellung „Strange Seed“ in der Nationalgalerie Pristina.

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Akteure Gespräch

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (rechts), Marie Elena Pereira (mitte) und Carlos Maria Romero (links)

Vom 2. bis 4. Juni 2023 feiert das Haus der Kulturen der Welt in Berlin seine ­Wiedereröffnung mit einer Reihe von Konzerten, Lectures, Performances, Prozessionen, Lesungen und Ritualen sowie die Eröffnung der Ausstellung „O Quilombismo: Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien“. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Intendant und Chefkurator, Marie Helene Pereira, Seniorkuratorin für Performative Praktiken, und Carlos Maria Romero aka Atabey, Kurator:in für Performative Praktiken, im ­Gespräch über neue Perspektiven und Positionen am HKW. Von Ute Müller-Tischler

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Foto links Matthias Völzke, rechts Ute Müller-Tischler

Die Macht der Performance


Akteure Gespräch Ute Müller-Tischler: Jetzt im Juni startet das HKW mit dem Eröffnungsprogramm. Teil davon ist „O Quilombismo. Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien“ – ein Projekt, mit dem nicht nur das HKW, sondern auch unsere Gegenwart neu vermessen werden soll. Ich habe mich gefragt, wie Sie in dieser Ikone der europäischen Nachkriegsmoderne ihren programmatischen Austausch der Kulturen der Welt umsetzen wollen? Carlos Maria Romero aka Atabey: Die Architektur des HKW suggeriert Modernität und Transparenz, wenn es um Zugang in den Raum geht. Doch das Versprechen der klaren Formen und der Funktionalität wurde aus Sicht der Besucher:innen in der Vergangenheit oft nicht eingelöst. Deshalb wollen wir mit dem ersten großen Ausstellungsprojekt „O Quilombismo“ das Haus aktivieren und auch erden. Wir haben die Funktionsweise einer Membran vor Augen, die sozusagen die Atmungsaktivität erhöht. Dadurch, dass das Gebäude von allen Seiten durchquert werden kann und mit dem Außenraum verbunden ist, entstehen ganz neue Perspektiven und Interaktionsmöglichkeiten. Marie Helene Pereira: Es war uns wichtig, über die Vorstellung von Privatem und Öffentlichem nachzudenken. Wie können wir diesen Raum öffnen und ihn so gestalten, dass er auf Besucher:innen und auch Passant:innen einladend wirkt? Betrachtet man zum Beispiel die traditionellen Wohnhäuser in vielen Kulturen, so stellt man fest, dass für Wohnzwecke runde, kreisförmige Strukturen am häufigsten genutzt werden. Die Trennung von privatem und öffentlichem Raum ist aufgehoben, da alle den gleichen Raum auf die gleiche Weise bewohnen. Man kann das Haus eines anderen betreten – oder auch durchqueren, um etwa auf die andere Seite des Viertels zu gelangen. Die moderne Architektur hat mit dieser Tradition der Raumfunktion gebrochen. Auch versuchen wir mehr Poesie und „Weichheit“ in das Gebäude zu bringen: Kunst wird überall im HKW stattfinden – innen und außen, in den Ausstellungshallen und in den Gängen. Die Besucher:innen können sich frei im Haus bewegen. Und natürlich denken wir über das Verhältnis des Gebäudes zur umgebenden Natur nach: Der Große Tiergarten und die Spree sind eng mit dem HKW verbunden. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Der argentinische Literaturwissenschaftler Walter D. Mignolo hat in seinem Buch „The Darker Side of the Renaissance“ aufgezeigt, wie eng die Entstehung

der Moderne mit der Kolonialisierung verwoben ist. Man könnte auch sagen: Es sind zwei Seiten einer Medaille. Wir befinden uns in dieser, wie Sie sagen „Ikone“ der modernen Architekturen, und sollten darüber nachdenken, welche politischen Absichten sich in der Architektur dieses Hauses manifestiert haben. Es gibt einen bestimmten Grund, warum das Gebäude – ein Geschenk der Amerikaner an West-Berlin – im Jahr 1957 ausgerechnet hier erbaut wurde, unweit der Grenze zum ehemaligen Ost-Berlin. Es gibt einen bestimmten Grund, wieso es auf einem Hügel erbaut wurde. Das Haus sollte ein Symbol der westlichen Freiheit sein, gut sichtbar für den sozialistischen Nachbarn. Das alles spielt eine wichtige Rolle. Unserer Meinung nach ist Architektur selbst performativ. Ein Haus, ein Bauwerk führt ständig etwas auf. Es gibt einen Grund, warum bestimmte Fenster so gebaut sind, und es gibt einen Grund, warum Menschen sich in bestimmten Strukturen wohlfühlen und in anderen nicht. Das Interessante am HKW ist, dass diese Architektur immer auch eine Machtperformance war. Das HKW war mal eine Kongresshalle und das merkt man. Es hat etwas Imposantes, Repräsentatives, strahlt Macht aus. Darum fragen wir uns, was man tun kann, damit das Haus einladender wird – zu einem freundlichen Ort. CMR: In den letzten Monaten waren wir wahrscheinlich am meisten damit beschäftigt, Wege zu finden, diese Machtperformance aufzubrechen. Eine Klanginstallation von Oscar Murillo beispielsweise wird sich über das gesamte Auditorium erstrecken. Sie wird mit Aufnahmen der Migrationsgeschichte von Murillos Vater aus La Paila nach London in zehn verschiedenen Sprachen aktiviert. Sie können sich vorstellen, dass sich auf diese Weise sofort eine plurale Perspektive auf den Raum öffnet. Oscar Murillos Installation bricht diesen Raum gewissermaßen auf und ermöglicht ein Nachdenken über den Quilombismo als Metapher. Die diasporische Perspektive ist ein Kommentar zur scheinbaren Neutralität dieses Raums. Denn Neutralität existiert nicht. Neutralität bedeutet, dass irgendeine Form von Arrangement stattgefunden hat, meistens zugunsten derjenigen, die es nicht bemerken, die also an der Macht sind und die herrschenden sozialen und räumlichen Konstellationen als selbstverständlich ansehen. In Wirklichkeit ist aber gar nicht klar, was neutral oder objektiv ist. Das Auditorium wollen wir als Labor nutzen, um verschiedene Erweiterungen der Sinne zu erproben. Wir wollen erfahrbar machen, wie durch verschiedene experimentelle Formen der Annäherung an die Sinne andere Welten entstehen können.

Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin bereitet sich auf seine Wiedereröffnung im Juni vor.

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Akteure Gespräch

Marie Helene Pereira, Seniorkuratorin für Performative Praktiken

schen Künstler:innen und Publikum aufzulösen bzw. die Blickrichtung einer Performance zu ändern. Die sind nur manchmal so offensichtlich, dass wir sie gar nicht bemerken. Ich vertraue da auf die Kraft, die Künstler:innen haben, besonders diejenigen, die aus dem Theater kommen und an solche Fragen nicht rein intellektuell herangehen, sondern auf eine multisensorische Art und Weise, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Körper. BSBN: Für uns ist das eigentliche Problem nicht das Machtgefälle zwischen Bühne und Publikum, sondern das Gefälle zwischen dem Visuellen und dem Auditiven. Das Auditorium hat sich im Laufe der Zeit von einem auditiven Raum zu einem visuellen Raum gewandelt. Mich interessiert, wie wir diese Hierarchie aufheben und die Möglichkeiten des Hörens wieder in den Mittelpunkt stellen können. UMT: Sie haben die Künstlergruppe Raumlabor eingeladen, die eine „Dymaxion Map“ im Sinne von Buckminster Fuller für den ersten HKW Pavillon bauen wird. Wie soll der Gedanke untrennbarer, globaler Geografien weiterverfolgt werden? BSBN: Es soll von nun an jedes Jahr am HKW ein neuer Pavillon gebaut werden. Der Eröffnungspavillon wird vom Raumlabor

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Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Intendant und Chefkurator

Berlin entworfen. Die Einladung an Architekten aus verschiedenen Teilen der Welt ist auch als Geste des Austauschs zur komplexen Frage unseres Zusammenlebens zu verstehen. Wie können wir ein Haus der Kulturen der Welt bauen, ohne darüber nachzudenken, was ein Haus eigentlich ist, oder sein kann, und wie Menschen auf der Welt zusammenleben? Das Pavillon-Projekt bietet die Möglichkeit, Vorstellungen davon in der Praxis umzusetzen und auch über die Architektur des Hauses selbst nachzudenken. Die moderne Bauweise ist in den Rest der Welt exportiert worden und hat Hegemonien in der Architekturwelt erzeugt. Unsere Frage ist, wie das aufgebrochen werden kann. Der ägyptische Architekt Hassan Fathi hat sehr vehement darauf hingewiesen, dass man in einem Land wie Ägypten, Kamerun, Kolumbien oder Senegal auf eine bestimmte Weise nicht bauen kann. In der kamerunischen Hauptstadt Douala, zum Beispiel, haben Atemwegserkrankungen enorm zugenommen, weil die Menschen an einem Ort mit einer Durchschnittstemperatur von 35 bis 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent in Gebäuden aus Beton leben. Sie bauen buchstäblich Häuser, die nicht atmen können. Es geht also auch um Fragen der Materialität und Räumlichkeit, um die Beziehung zwischen Architektur, Klima und Gesundheit. Diese Dinge zu berücksichtigen, ist uns wichtig. Das Pavillon-Projekt ist eine Art Linse, durch die wir die Welt betrachten können.

Carlos Maria Romero aka Atabey, Kurator:in für Performative Praktiken

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Fotos Matthias Völzke

UMT: In der Berliner Volksbühne hat der Bühnenbildner Bert Neumann vor Zeiten alle Stühle im Zuschauerraum herausgerissen, um die augenfällige Trennung von Bühne und Publikum aufzuheben. MHP: Auch wir haben nach Wegen gesucht, die Figur der Künstler:in zu dezentralisieren. Die Idee war, den Raum so zu gestalten, dass das Publikum selbst Teil der Aufführung wird – wenn nicht sogar die Aufführung selbst. Und wie Atabey schon sagte, wollen wir mit den Sinnen spielen. Wir setzen bewusst Dunkelheit ein: Wenn es mal nicht um das Sehen geht, dann werden die anderen Sinne geschärft. CMR: Ich verstehe, was ihr damit meint, dass man die sitzende Position des Publikums aufheben sollte, um das Machtgefälle zwischen dem, der gesehen wird, und dem, der zusieht, auszugleichen. Ich finde es besser, das nicht zu tun, denn man bricht mit einer Konvention, an die wir gewöhnt sind und die auch bequem ist. Dabei gibt es viele andere Möglichkeiten, Machtvertikale zwi-


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UMT: Kommen wir auf das Eröffnungsprogramm zurück. Performance Art steht auch hier im Zentrum und wird von ihnen auch als Form ästhetischer Transformation zwischen Welten und Künsten verstanden. CMR: Es ist schwierig, eine Grenze zu ziehen, wo Theater endet und Performance beginnt, und wo Performance endet und kulturelle Praxis anfängt. Für mich ist es viel mehr eine methodische Herangehensweise, sich der Gegenwart und der Geschichte zu nähern. Was die Programmgestaltung betrifft, gehen wir grundsätzlich nicht von einer bestimmten Kunstform aus, sondern es geht uns um die Beziehungen zu den Künstler:innen und Communities. Durch sie können wir Lebensweisen wiederentdecken, die bisher marginalisiert wurden. Bei allem, was wir machen, Performance, Theater, Tanz, Aktion, kulturelle Praktiken, rhythmische Praktiken und so weiter, geht es in erster Linie darum, Communities dabei zu unterstützen, sich selbst zu behaupten und ihre Widerstandskraft zu stärken. Wir möchten ihre Freude fördern und hierher bringen, denn das ist das Leben, das ein Haus beherbergen sollte. MHP: In unserem Programm sprechen wir bewusst von performativen Praktiken, um solche Trennungen zu umgehen. Es geht uns eher um die Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen Praktiken, in denen der Körper im Mittelpunkt steht, um eine Vorstellung des Körpers als Höhle, in die unsere Erfahrungen und Erinnerungen eingebettet sind. Und darum, wie diese performativ zum Ausdruck gebracht werden können. Wenn wir uns die Geschichte performativer Praktiken an verschiedenen Orten auf dem afrikanischen Kontinent anschauen, zum Beispiel im ­Senegal, dann ist es eigentlich nicht sinnvoll von „afrikanischem Theater“ zu sprechen, denn dort ist die Theaterpraxis in vielen Kulturen eine Erweiterung einer langen Tradition des Geschichtenerzählens. Bestimmte Theaterformen wurden in der Zeit nach der Unabhängigkeit für Propagandazwecke instrumentalisiert, parallel dazu entwickelten sich aber auch starke Gegenentwürfe. Wir denken darüber nach, wie wir das postkoloniale Theater am HKW als intellektuellen Diskurs abbilden können und wie die unterschiedlichen Erfahrungen des Theatermachens aus den Ländern, aus denen wir kommen oder die wir kennen, genutzt werden können, um hier in Berlin mit den verschiedenen Communities in Kontakt zu kommen. Wir möchten Räume des Austauschs und gegenseitigen Lernens schaffen, ohne Performance auf die Vorstellung einer Theateraufführung zu reduzieren. UMT: Am Ende des Tages kann dieser Diskurs wie vielerorts auch die überlieferten Theatermodelle Westeuropas infragestellen und auflösen, vielleicht sogar ersetzen? Am Ende des 21. Jahrhunderts werden wir es mit einem anderen Theaterbegriff zu tun haben. CMR: Ich glaube nicht, dass wir einen neuen Theaterbegriff brauchen. Es ist alles schon da. Es ist nur so, dass vieles, was aus westlicher Perspektive als neu gilt, oft einfach ausradiert wurde. Wenn es um das Theater als solches geht, denke ich, lässt es sich überall erkennen: in Inszenierungen, Erzählungen und verschiedenen Traditionen. Was wir versuchen, ist, die Wertschätzung für diese Traditionen wiederzubeleben. T

UBU (DEA) SCHAUSPIEL

ROBERT WILSON 23. | 24. | 25. | 26. Aug

ESCHENLIEBE (UA) SCHAUSPIEL

THERESIA WALSER | STEVE KARIER 24. Aug | 30. Aug | 04. Sep

DANTONS TOD RELOADED (UA) SCHAUSPIEL

AMIR REZA KOOHESTANI | MAHIN SADRI | THALIA THEATER HAMBURG 07. | 08. | 09. Sep

MISSING IN CANTU (UA) MUSIKTHEATER

JOHANNES MARIA STAUD | THOMAS KÖCK | ANDREA MOSES 02. Sep | 07. Sep

23. AUG – 10. SEP 2023 kunstfest-weimar.de

Das vollständige Programm wird Ende Juni veröffentlicht. Mit Robert Wilson © Thalia Theater, © Lucie Jansch

Veranstalter:

Karten Tickets 03643 / 755 334

Hauptförderer:

Hauptsponsor:

Thüringen | 2023

Theater der Zeit 6 / 2023

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Akteure Porträt

Ohne sich restlos zu begreifen Der Münchner Schauspieler Thomas Schmauser ist eine absolute Ausnahmeerscheinung

Foto rechts Sigird Reinichs, links Armin Smailovic

Von Christoph Leibold

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Theater der Zeit 6 / 2023


Akteure Porträt

Thomas Schmauser und Svetlana Belesova in „Nora“ von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic im Münchner Kammerspiele

In jedem Schauspieler:innen- wie auch Kritiker:innenleben gibt es Theaterglücks­momente. Die Erinnerung an einen solchen Moment, der dem Autor dieses Porträts und dem Schauspieler, dem es ­gewidmet ist, gleichermaßen unvergesslich ist, soll hier am Anfang stehen: 2012, J­ohan ­Simons, damals Intendant der Münchner Kammerspiele, inszenierte eine Sarah Kane-Trilogie: „Gesäubert/ Gier/4.48 Psychose“. Keine durchwegs begeisternde Aufführung. Das Glück nahm erst einigen Anlauf. Im dritten Teil des Abends schlug es dann aber mit voller Wucht zu. Oder besser: riss den zuschauenden Kritiker mit. Weil sich auch die Menschen auf der Bühne forttragen ließen von den sturzbachartigen Sprachkaskaden Kanes, in deren letztes, kurz vor ihrem Suizid 1999 geschriebenes Stück „4.48 Psychose“ eigene Depressions- und Psychiatrieerfahrungen eingeflossen waren. Simons Inszenierung freilich war alles andere als eine szenisch illustrierte Krankenakte. Flankiert von einem Kammerquartett saßen Sandra Hüller und Thomas Schmauser in Abendgarderobe vor Notenständern, den Dramentext gleichsam wie eine Partitur behandelnd. Das faszinierende Ergebnis: eine Sprachperformance wie ein Passionskonzert, nur dass hier nicht das Leiden Christi beklagt wurde, sondern sich ein menschlicher Daseinsschmerz Bahn brach, den jede und jeder in sich trägt. Vor allem Thomas Schmauser warf sich bewundernswert angstfrei in den Textstrom und schien trotzdem (oder gerade deshalb) obenauf zu bleiben. Wie einer der wagemutigen Surfer auf der Münchner Eisbachwelle gleich neben dem Münchner Haus der Kunst, in dessen von diskreten Jazzklängen beschallter Goldener Bar das Interview für dieses Porträt mehr als zehn Jahre später

Theater der Zeit 6 / 2023

stattfindet. „Wir haben uns damals gefragt, wieviel Musik in einem so komplizierten Text möglich ist?“, erinnert sich Schmauser nun also an „4.48 Psychose“ zurück. „Ich bin großer Jazzfan, habe lässig Gitanes geraucht und mir vor jeder Aufführung gedacht, wir machen es wie beim Jammen: rausgehen und schauen, was passiert. Man fängt einfach an. Und dann breitet sich der Text vor einem aus. Das war ein umwerfendes Erlebnis.“ Beglückend eben. Trotz des oft bestürzenden Inhalts von Kanes Stück. Solche Glücksmomente sind naturgemäß rar. Aber im Sommer vor zwei Jahren hat das Theaterleben Thomas Schmauser mal wieder beschenkt. Unter der Regie Felicitas Bruckers spielte er an den Kammerspielen in „Die Politiker“ von Wolfram Lotz. Satzkaskaden auch hier, immer wieder und geradezu manisch mit den Worten „die Politiker“ beginnend: Die Politiker tun dies. Die Politiker machen jenes. Und immer so weiter. Eine Litanei. Sprache und Rhythmus. Ein Konzert auch dieser Abend, in diesem Fall für drei Stimm­körper: Katharina Bach, Svetlana Belesova und Thomas Schmauser,

Glücksmomente sind naturgemäß rar. Aber vor zwei Jahren hat das Theaterleben Thomas Schmauser mal wieder beschenkt. Unter der Regie Felicitas Bruckers spielte er an den Kammerspielen in „Die Politiker“ von Wolfram Lotz. 37


Akteure Porträt

der einmal mehr von Musik spricht: „Das war in dem Moment ja kein Text mehr, den wir gesprochen haben, sondern wir sind rausgehen wie eine Band. Jeder setzt sich an seinen Verstärker, und los geht’s!“ Rund ein Jahrzehnt lag zwischen „4.48 Psychose“ und „Die Poli­ tiker“. Zehn Jahre, in denen Schmauser immer an den Münchner Kammerspielen präsent schien, obwohl das gar nicht der Fall war. So spielte er zwischendurch auch auf der anderen Seite der Münchner Maximilianstraße am Residenztheater (die Titelrolle in Ibsens „Volksfeind“ zum Beispiel in der Regie von Mateja ­Koležnik) und war zuletzt an der Berliner Volksbühne engagiert. So wohl wie an den Kammerspielen hat er sich aber nirgends gefühlt. Schmauser nennt sie „einen zärtlichen Ort“. Ganz anders eben als die Riesentanker Resi oder gar Volksbühne, in denen er sich verloren vorkam. Schmauser ist zwar einer, der sich auf der Bühne regelmäßig selbst verschwendet, verausgabt. Verschleudern, um über die Rampe zu kommen, mag er sich aber nicht. Überhaupt: die Frontalansprache ans Publikum ist nicht seins. München hat für ihn zudem den Vorteil der Heimatnähe. Thomas

Die Verwandlung in eine andere Person interessiert Thomas Schmauser nicht, selbst da nicht, wo es den Anschein haben könnte, er hätte so eine Metamorphose angestrebt. Eher geht es ihm um die Verwandlung in andere Zustände. 38

Schmauser wurde 1972 im oberfränkischen Provinznest Burgebrach geboren. Seine Mutter lebt noch dort. Der Vater starb, als Schmauser in Berlin engagiert war. Umso wichtiger ist es ihm, nun schnell bei der Mutter sein zu können. Und wenn umgekehrt seine „Leute aus dem Dorf nach München zu Besuchen kommen, um mal zu gucken“, was er so treibt, „dann müssen die sich richtig anstrengen, die Kammerspiele zu finden“. Weil sie hinter einer Häuserfassade versteckt sind. Das gefällt Schmauser. Ein Theater wie eine „Gartenlaube“, findet er. Dort passt er mit seiner Ausprägung der Schauspielkunst am besten hin. Mit dem Wort „Kunst“ allerdings ist er vorsichtig. Virtuosität, Genie- und Groß­kunstgerede? „Abtörner!“, findet Schmauser. Aber auch das sogenannte Handwerk ist ihm suspekt. So wie er es beschreibt, geht es beim Schauspielern weder um Handwerk noch um Genialität, sondern um Hingabe und die absolute Bereitschaft, sich einem Gedanken auszusetzen. „Zum Beispiel Sein oder Nichtsein? – das ist eine Frage, die sich jeder denkende Mensch stellen kann, wenn er möchte, um dann zu schauen, was das in ihm auslöst. Dazu musst du nicht diesen komischen Beruf des Schau­ spielers ausüben. Der ist eine Erfindung von Schauspielschulen, Regisseuren und Kritikern. Du brauchst nur deine Vorstellungskraft. Und Einbildung kann doch jeder. Nur muss es halt auch einer machen und bereit sein, das, was dabei entsteht, auszustellen. Das ist für mich der Schritt in den künstlerischen Akt.“ Wohin dieser Schritt im Idealfall führen kann, ist in Felicitas Bruckers Bühnen-Adaption von Édouard Louis Erfolgsbuch „Die Freiheit einer Frau“ zu erleben, in der Thomas Schmauser ge-

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Foto Armin Smailovic

Thomas Schmauser in „Die Freiheit einer Frau“ nach dem Roman von Édouard Louis in der Regie von Felicitas Brucker an den Münchner Kammerspielen


Akteure Porträt meinsam mit Katharina Bach und Edmund Telgenkämper auf der Münchner Kammerspielebühne steht. Louis erzählt am Beispiel seiner Mutter die Geschichte einer weiblichen Emanzipation aus den Fängen von Provinz, Klasse und Genderklischees. Schmauser, Bach und Telgenkämper teilen den Text untereinander auf. Feste Rollenzuteilungen gibt es nicht, gleichwohl stellen sich im Verlauf der Vorstellung Hauptverantwortlichkeiten ein. Bei Schmauser ist es die Mutter, für die er besonders oft zuständig ist. Ein Glücksfall für die Inszenierung. Allein die Szene, in der diese Frau vom Land schildert, wie sie in der Großstadt zum ersten Mal in ihrem Leben das ihr bis dahin unbekannte Kichererbsen-Mus Hummus gekostet hat, macht den Abend sehenswert. Eine Mischung aus Verwunderung und Verzückung, um nicht zu sagen Entrücktheit zeichnet sich in Schmausers Gesicht ab, die mehr noch als von einer reinen Geschmackssensation von einem Erweckungserlebnis kündet. Die Aufführung ist voll von solchen kostbaren, zarten Momenten, und nicht wenige davon verdanken sich Thomas Schmauser, wenn er sich der Passagen annimmt, die ganz unmittelbar der Titelheldin gewidmet sind. Dabei trägt sein Spiel keinerlei Züge von Travestie. Er verkörpert die Mutter ja nicht. Er vergegenwärtigt sie. Indem er ihr Befinden in sich selbst wachruft. Dabei, erzählt er, habe er an die eigene Mutter daheim in Burgebrach gedacht. Nicht, um sie zu kopieren. Vielmehr scheint es für ihn darum zu gehen, die Romanfigur auf der einen Seite, mit dem eigenen (Er-)Leben auf der anderen in Kommunikation treten zu lassen – auf dass daraus etwas Drittes entsteht. Mit Selbstdarstellung hat das ebenso wenig zu tun wie mit Einfühlung in eine Rolle.

Theater muss erlebt werden Die Verwandlung in eine andere Person interessiert Thomas Schmauser nicht, selbst da nicht, wo es den Anschein haben könnte, er hätte so eine Metamorphose angestrebt. Eher geht es ihm um die Verwandlung in andere Zustände. Zum Beispiel in Henrik Ibsens Emanzipations-klassiker „Nora“, den Felicitas Brucker als Doppelabend in Kombination mit Louis‘ „Freiheit einer Frau“ konzipiert und inszeniert hat. Hier ist Schmauser als in Finanznöte geratener Rechtsanwalt Krogstad zu sehen, der Nora (abermals Katharina Bach) erpresst. Bei der Beschäftigung mit diesem Gescheiterten nutzte Schmauser die eigene Erfahrung seines eher glücklosen Intermezzos an der Volksbühne als Motor: „Krogstads Themen passen zu tausend Prozent zu mir. Ich bin zurück aus Berlin und suche wieder Anschluss in München. Ich will hier wieder mitspielen, so wie Krogstad zurück ins Spiel will.“ Als Lauernder kommt Krogstad bei Schmauser daher, geduckt, aber immer bereit zum Sprung. Ein Mann mit ramponiertem Ruf, gierig nach Anerkennung. Oder sollten man besser sagen: sehnsüchtig nach Anerkennung? So wie Thomas Schmauser. Vor allem aber: so wie wir alle, die wir uns durchaus wiederfinden können in Schmausers Krogstad. Mit Selbsttherapie hat all das für Thomas Schmauser freilich nichts zu tun. Er interessiert sich nur schlichtweg mehr für Brüche als für Perfektion. Weil das Leben und die Menschen sowieso nie perfekt sind. Das Unperfekte ist der Normalzustand. Sich damit zu befassen, wäre ebenfalls normal. „Nicht jeder abgründige Gedanke

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Er interessiert sich schlichtweg mehr für ­Brüche als für Perfektion. Weil das Leben und die Menschen sowieso nie perfekt sind. Das Unperfekte ist der Normalzustand. Sich damit zu befassen, wäre ebenfalls normal.

ist gleich pathologisch“, hält Schmauser fest. Die meisten Menschen jedoch gehen vom Gegenteil aus und schrecken daher davor zurück, das zu erforschen, was Schmauser mit Pink Floyd sprechend als „Dark Side of the Moon“ bezeichnet. Für ihn gehören Expeditionen ins Ungewisse, Ungeheure dazu. Mit Blick zu den auf Blattgold aufgetragenen Wandmalereien in der Goldenen Bar, die Landkarten ferner Länder wie Kuba, Haiti oder Jamaica zeigen, erklärt er, mit der Suche auf Theaterproben sei es wie mit dem Reisen: „In solchen Ländern war ich noch nie. Deswegen würde ich da gerne hin“. Schauspielerei als eine Art Bildungsreise, um bei sich selber anzukommen. Wobei der Weg das Ziel ist. Ankunft ist eh nicht möglich. Man lernt sich allenfalls besser kennen, ohne sich jedoch selbst je restlos begreifen zu können. Weil das eigene Ich kein harter Kern ist. Eher ein Raum, den man ausschreitet und dabei andauernd neue Ecken entdeckt, da dieser Raum stetem Umbau unterliegt. Thomas Schmauser schätzt offenkundig Theater und Texte, die dem Rechnung tragen. „Was ich gar nicht mag, ist, wenn es um These und Gegenthese geht, und am Ende soll was bewiesen werden.“ Von abschließenden Antworten hält er wenig. Darum hat er auch selbst keine parat. Mitten im Gespräch bekennt er einmal: „Ich hatte so Angst vor unserem Treffen, weil ich gedacht habe, ich mache jetzt schon so lange Theater, aber ich habe eigentlich nichts zu erzählen in dem Sinne, dass ich dies oder jenes herausgefunden oder verstanden hätte, was ich jetzt irgendwem erklären könnte.“ Dass er für einen, der glaubt, er wisse nichts zu sagen, doch eine ganze Menge erzählt in der Goldenen Bar, veranlasst ihn zu dem selbstironischen Kommentar, er habe eben gerade einen „LaberFlash“. Trotzdem, er bleibt dabei: Es stört ihn, wenn zu viel geredet und kategorisiert wird, bis alles „durchgelutscht ist“. Er stößt sich am „Verständniszwang“: „Selbst die abstraktesten Sachen wollen erklärt, begriffen und dann abgefeiert werden. Das entzieht den Dingen ihren Zauber.“ Heiner Müller hat es einmal so ausgedrückt: „Die dümmste Haltung ist ja überhaupt, wenn man was verstehen will. Kein ­Publikum der Welt versteht ein Stück von Shakespeare im Theater. Um Verstehen geht’s ja gar nicht. Es geht darum, dass man was erfährt oder was erlebt. Und hinterher versteht man vielleicht was.“ Man muss Thomas Schmauser auf der Bühne erleben, wie er sich scheinbar fruchtlos Texten und Zuständen ausliefert – so wie damals bei „4.48 Psychose“ oder jetzt in „Nora“ und „Die Freiheit einer Frau“ – um etwas zu erfahren vom Glück wie von den Gefahren, die es bedeutet, Mensch zu sein. Eine Erfahrung, die durchaus erkenntnisstiftend ist. Hinterher versteht man jedenfalls ein klein wenig mehr vom Leben. T

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Denken über und für das Welt-Theater Erinnern an Joachim Fiebach (1934 – 2023) Von Jörg Bochow

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JOACHIM FIEBACH

Er war für viele der wichtigste Theaterwissenschaftler, er war Lehrer, Förderer, Kollege, Freund. Sein Denken war schnell, komplex, immer den Widersprüchen und Widerhaken der Geschichte auf der Spur, immer Neues aufsaugend und Neues produzierend. Mit Gefühlsäußerungen hielt er sich lange zurück, hier war er langsam, nahezu vorsichtig, ehe er sie zuließ. Die praktische Theaterarbeit kennend, hatte er sich auf Theorie fokussiert. Schon Mitte der 1970er Jahre entwickelten er und Rudolf Münz die Theaterwissenschaft ­ in der DDR hin zu einem weitgefassten Begriff der Theatralität gesellschaftlicher ­ Beziehungen. Joachim Fiebach war jedoch auch ein Weltbürger, seine Forschungen und seine Lehrtätigkeit im subsaharischen Afrika führten ihn zu einem neuen Blick auch auf das europäische Kunsttheater.

Theater der Zeit 5/ 2023

Foto Ina Voigt

Akteure Nachruf


Akteure Nachruf

1934 – 2023

Nahezu versteckt, aber unverkennbar trat diese neue Theatertheorie in seinem Buch „Die Toten als die Macht der Lebenden“ hervor und nahm in vielem vorweg, was die Theaterwissenschaft bis in die Gegenwart bestimmt, wenn er „das symbolisch-bezeichnende Ausstellen als übergreifend Gemeinsames aller Theatralität“ bezeichnete. Ich hatte das Glück, 1988 als Student im ersten Semester der Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität auf ihn zu treffen. Er hat dem ehrwürdigen Institut, das in diesem Jahr Hundert würde und die Disziplin begründet hat, die Bezeichnung gegeben: Theaterwissenschaft / Kulturelle Kommunikation. Ja, es gehörte Glück dazu, ihn zu treffen, oft war er unterwegs, immer mehr auch in Nordamerika. Joachim Fiebach, klein und behände wie er war, übersprang die Grenzen, er brachte die französische Postmoderne und das amerikanische Ritualtheater mit in die DDR, er öffnete uns gleichsam die Mauer, bevor sie fiel. Heiner Müller holte er ins Seminar, den Whiskey für Müller in einer Limonadenflasche tarnend. Er lud Wole Soyinka nach Berlin, den er in der DDR übersetzte und herausgab, lange bevor Soyinka den Nobelpreis für Literatur bekam. Fiebach kannte sich mit europäischen Avantgarde-­ Bewegungen ebenso aus wie mit außer­ europäischen theatralen Darstellungen und ihren jeweiligen kulturellen Kontexten. Er las neben englischer Literatur auch Fachbücher auf Französisch und Russisch. Mit den audiovisuellen Medien, vor allem

dem frühen Film und den Medientheorien, hat er sich ausgiebig beschäftigt und die Wechselwirkungen von Theater und Medien in sein Denken über Gesellschaft, Politik, Theater und Theatralität einfließen lassen. Fiebach war kompromisslos, wenn es um wissenschaftliche Anforderungen ging. Studierenden aus dem In- und Ausland sagte er rundheraus, dass sie beim ihm falsch sind, wenn sie nicht vorbereitet zum Seminar kamen und sich in Allgemeinplätzen ergingen. Fiebach konnte man nur mit absolut klarer Argumentation und der Nachvollziehbarkeit einer These überzeugen, ein interessanter Gedanke allein reichte bei ihm nicht aus. Er war kein Mann der Administration, konnte die Abwicklung des Institutes nach seiner Emeritierung 1999 nicht verhindern – damals sollten sogenannte Doppelstrukturen in Berlin abgeschafft werden. Fiebach machte weiter, lehrte nun um so mehr in den USA, Kanada und auch an der Freien Universität. Er blieb dem Theater treu, meist ging er zu Castorf, bekanntester Absolvent seines Instituts, in die Volksbühne, auch wenn er oft nur bis zur Pause blieb. Neugierig war er auf junge Grenzgänger:innen im Theater, bis 2017 führte er so die internationalen Studierenden durch die Aufführungen des Festivals für junge Regie Fast Forward in Braunschweig. Manchmal bedauerte er, zu wenig das Leben genossen zu haben, etwa wenn er zusammen mit Heiner Müller vor dem Mauerfall im „Westen“ war, Müller durch

die Kneipen zog und er, sich selbst dis­ ziplinierend, im Hotel seine Bücher las. Als Kollege und jüngerer Freund konnte ich ihn „Jochen“ nennen und beobachten, wie er seine Empathie und seine Verletzlichkeit immer mehr auch zeigen konnte. Oft rang er mit der Vergeblichkeit, durch sein Schreiben etwas bewirken zu können für eine wahrhaft emanzipatorische Ver­ änderung der Gesellschaft. Dennoch machte er weiter, brachte Buch um Buch heraus, fuhr auf internationale Konferenzen und hielt seine unverwechselbaren Vorlesungen, gespickt mit historischer Tiefenschärfe und mit dem Bewusstsein, wie ambivalent jede wissenschaftliche Beschreibung sein kann. Dafür fügte er ­ sein legendär gewordenes „und / oder“ in die Rede ein, weil ihm das Nichtmitdenken verschiedener Möglichkeiten unmöglich war. In einer großen Kraftanstrengung fasste er 2015 noch einmal seine jahrzehntelangen Forschungen zusammen in seiner „Welt Theater Geschichte: Eine Kulturgeschichte des Theatralen“ (erschienen im Verlag Theater der Zeit). Ein Jahr zuvor hatten wir im Juni 2014 in Toronto seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert. Jochen war unermüdlich, er reiste, lehrte, sein beweglicher Geist alterte nicht. Seine Art zu denken, sein leiser, feiner Humor, seine sanfte Empathie machen ihn unvergesslich. Joachim Fiebach, ein wahrhafter Welttheaterwissenschaftler und großartiger Mensch, ist am 23. April 2023 in Berlin gestorben. T

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Theater Theaterder derZeit Zeit 5 6 / 2023

Foto Christian Kleiner

Anastasiia Kosodii: Musik als eine Möglickeit


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Zur Zeitsus, kuratiere Johannes Kirsten und Sasha Agnistoriam et que solorum rernatur la nus, conMarianna Salzmann) dasnulla Projekt „Während diesunt Geschichte sich senimus nonseris quam voluptat. selbst schreibt“ amdenit Maxim Gorki TheaterNulluptia in Berlin.nestecab inum autemo qui voloren ihilicae consedi oritis illatium nimi, comnim fuga. Itat laboreeine volorFlucht. aut am, nullam et abore, eosam auta Sie beschreiben Wie gehenniam Sie mit Fluchterfahrungen vendaes temporecto in der Literatur um?quo ma quatio. Nullut eribus et re nonsed qui aut in corumqu atquibusapid quogenauso vel expereratia nusci in Ich denke, man kann damit umgehen wievolupta mit jeder nobitat. 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Sowohl die Ukraine auch ipfür sam, sit diasWelche dem doluptis aut quis aliquasitias ilissit, sit quatqui Ihren Text? Rolle spielt die Musik? quatiunt, autae Lieder mil et lique nobit velestius earum re quisein, niIch denke, und Musik können atem eine Möglichkeit mus aut ommolec zu aboreculpa sequam que nonseri eine Geschichte erzählen,pratio wennet quia andere Erzählinstrumenonsecatusam earum fuga. Natent autem quost, ilis magnien te nicht funktionieren. Zum Beispiel haben wirsus zusammen mit debitaes alia veliquam dolupta velit reria quatate dem Komponisten Yuriyqui Gurzhy (mit dem wir ad auch schonperiabeim tenda volorepuda voles niam, eum nitionsedit voluptatur a volorrorrum volorec turemol upturita nonsequae omnia digentur? Gentiant ium et offic temolor audia dolum quosti nonseque es „Um ehrlich sein, ichsoluptatur? lieber weniger earia qui omni utzu et dem am würde fugit ut unt, Nonecuptate sandemped que es erenihit vention sequibus nobis aliti natempopoetische Fragen beantworten.“

Theater der Zeit 56//2023 2023

velitaspel resequiat doluptaqui dolupietur re­rem P rojekt „What ipsame is Jewish music“volupta zusammengearbeitet haben) für pediProjekt sedi iur„Wie simus, voluptatia quistem reritae. Et debitat et fugit das man mit Toten spricht“ eine Reihe von Liedern la nitMusikkompositionen ut quam nonsequiatgeschrieben ipsus illa abo. Magniat iostibea seque und – einige erzählen von der maioneste des quost, occus untum nam dis sam faccaesequis aut qui Erfahrung nächtlichen russischen Luftangriffs, einige vom so qui ipsame„Frieden“ la dolore mit veritdenselben min et lam fuga. Equidunto quos genannten Russen, einige von quia der Mögeos nos eines ditat. Atomkriegs, Eperiti doloribuscia cumDritten vellatium inullest officabo. lichkeit einige vom Weltkrieg, vor dem Oria sum natio magnis andischützt. uta delles dolorum sitas quunt qui qui die Ukraine Europa gerade queullor arunt odis el inimpore consent. Volorehent, esent aut et facipsant dolut praturdie molectorum es ressimaxim quatusanis est Die Textnachrichten, im Text erscheinen, verleihen dem Text ut occupta pe nossunt, nobit voloritibus molo mound temDistanz facesendi eine Unmittelbarkeit. Wie verschieben sich Nähe in dolenit,des volorati undis ellesciendi quas qui doluptas et voluptas Zeiten Krieges? quosLetztes remquat iorepudio volupta tioressectem fuga. Et ullestrum Jahr habe ich in Lviv eine Anstecknadel mit zwei vernati prectatus restem–cus laccus porecaerunt ­W orten usandae auf Ukrainisch gekauft „Якnonet ти?“am („Wie geht es dir?“). aut arum reperum essi anihil mod molorum ipidebis doluptur Das ist diequiBotschaft, die alle Ukrainer einander oft schicken – aspercimus test fugiam fugitas nostoribusam cusrusau nach jedem rero neuenquisto russischen Raketenangriff, Angriff durch pore nonsequat asimaximpore nest porerum excea idus. sische Drohnen usw. Es ist natürlich auch eine „Ichveribus liebe dich“Unt faccabdie idignim es et, incitet et odipsa dessed endi voNachricht, Art von „Ich liebe isdich“, die man denutMenschen lecum volupta erfersped mossiti aturerferum schickt, die vielleicht schon getötet wurden. Imdolendelibus Allgemeinenrerum wünhitasse laut ut escipissum aligenimit tempori beaqui commolusche ichplit niemandem diese Erfahrung, Ausnahme aller Russen picae plibere cullor arunt odis el inimpore consent. Volorehent, natürlich. esent aut et facipsant dolut pratur molectorum es ressimaxim quatusanis est ut Empathie occupta peinnossunt, nobit molo mo tem Was bedeutet einem Text in voloritibus Zeiten des Krieges? facesendi dolenit,nicht volorati undis qui doluptas et Es bedeutet, etwas zu ellesciendi schreiben, quas von dem man nicht voluptasdass quosandere remquat tioressectem möchte, überiorepudio die eigenevolupta Erfahrung schreiben.fuga. T Et ullestrum vernati usandae prectatus restem cus nonet am laccus porecaerunt aut arum qui reperum essi anihil mod molorum ipidebis doluptur aspercimus rero quisto test fugiam fugitas nostoribusam cus aut officiusda nimi, ut apedige ndenda exces eos audi blam res seque pre, odistius dit quosti alignisqui imus min cusam, que nos pla erferit entiis exceation comnimus, sam quatam, quo blaborp orundit iantum ex expe pro ipsandelit, sitempo reheniet qui blabo. Ita qui omnietur a dolupta exerovid quae liciist lat lat minctae sed es auagnit anim acium quid maximusam que nobisi videllest quiatisqui doluptur aut et res mintiuntur sus iliquid eium nis inihit, imus. Lit omnimpo rionestius disquas iducias eos aut aboritatum que nos am resequias ad quibusc iaspicae nis doluptat. Deniaecte omnissi nvellaut et hillestio conecul laborum quia Anastasiia Kosodii ist Autorin und Regisseurin. voluptate experunde is que corenim agnam, eumquamentum rest Sie ist Mitbegründerin des Theaters Zaporizka is dolupit atistot asinissimi, quam eos quam est, officia spelitas nova drama in ihrer ukrainischen Heimatstadt aciust ventur aliquodis essum quundi inimi, siminihit liquaspide Saporischschja. Ihre Texte „Ministry of Education and Science of Ukraine“ und „The Greatest enti venim fugia dernatqut volo isquiaero moditatPain ut porro minim on Earth“ wurden dort uraufgeführt. re excea conet reiumquiam harcips anducim usaestia conem. Et 2019 wurde sie leitende Dramatikerin des Postario que rent od quaturi tem evenihit fuga. Nem et quia volum voPlay Theaters in Kyjiw. Ihr Stück „Timetraveller‘s lore doluptatur, anim acium quiddes maximusam que nobisi guidesimagnit to Donbas“, das im Rahmen Projekts videllest quiatisqui autInternationalen et res mintiuntur sus iliquid eium „Krieg imdoluptur Frieden“ des Dramatiker:innenlabors in Berlin wurde im gleichen nis inihit, imus. Lit omnimpo rionestius disquasJahr iducias eos aut Theater in Lviv aufgeführt. aboritatum am queLesa nosUkrainka am resequias ad quibusc iaspicae nis doluptat. 2019 war sie außerdem Autorin im Projekt „City Deniaecte omnissi nvellaut et hillestio coneculDonezk laborum quia voTo Go“, das in drei Städten der Regionen luptate experunde is que coren aboritatum que nos am resequias und Lugansk mit Kindern in lokalen Schulen wurde. 2020 sie Ko-Autorin des ad quibusc aufgeführt iaspicae nis dolup imwar agnam, eumquamentum rest is Stücks „Was ist jüdische Musik“ überest, ukrainidolupit atistot asinissimi, quam eos quam officia spelitas acischen Antisemitismus. 2021 arbeitete Anastasiia ust ventur aliquodis essum quundi inimi, siminihit liquaspide enti Kosodii zusammen mit Natalia Vorozhbyt an venim fugia„Crimea dernatquis dolorporum qui conserupicae nobiitam 5am“, einem internationalen Projekt, das natest restiatustis sequi doluptas netur politischen Gefangenen gewidmet ist.

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Theater der Zeit

Stück Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum Anastasiia Kosodii (8 Songs) Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel Für alle Freund:innen Landkarte mit Texten über die ukrainische Realität nach dem 24. Februar 2022. Liedtexte, die noch auf ihre Musik warten, beschreiben die Alltäglichkeit des Krieges und zerlegen diese Alltäglichkeit in einzelne Komponenten – in Kompositionen über: Mut und seine Schattierungen – in der Entscheidung, vor dem Krieg zu fliehen oder sich dagegen zu wehren; Reflexionen über das 20. Jahrhundert; 5 Uhr morgens als Lieblingszeit der Russen, um Raketen auf ukrainische Ziele zu schießen; Tägliche Appellroutine in Messenger-Apps; Festhalten der Realität in den Fotogalerien der Smartphones, da die Realität möglicherweise bald nicht mehr existiert; Kriegsgeschichten auf TikTok; Zeitempfinden während eines Raketenangriffs; Träume vom Leben danach (nach dem Krieg). UA frei! Szenische Lesung Baden-Württembergischen Theatertage, 28.05.2023

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Theater der Zeit 6 / 2023


Stück Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum

Nullte Komposition – Über den Anfang

D

die ukrainische Nation singt so viel wie keine andere das denken zumindest die Ukrainer:innen selbst in unserem Repertoire gibt es zum Beispiel zahllose Lieder über die Natur hauptsächlich traurige eine Nation von Landwirten und Gärtnern die oft die Ernte nicht einbringen kann in einem Lied spricht ein unbekannter Autor über das Leben mit der Metapher eines Baumes der von einem stürmischen Wind mit den Wurzeln aus der Erde gerissen wird und über die Liebe die bis zum Ausreißen der Wurzeln leiden muss denn so ist das Leben in einem anderen auch über die Liebe und Bäume zwei eine offensichtlich tragische Liebe denn aus einem Baum wird bald eine Geige in noch einem anderen symbolisiert ein gebeugter Baum die gesamte Ukraine ursprünglich war das Lied in Moll das neue Arrangement gibt Hoffnung auf die Veränderung falscher Richtungen mit vereinten Kräften vielleicht ich weiß nicht ob es Sinn hat diese Lieder anzuschalten oder irgendwelche anderen jetzt ohne lange Einführung sagen sie nichts außer dem Einfachsten wenn ich überlege dass das alles ist was man über uns in ein paar Jahren wissen wird möchte ich nicht in ihnen leben

© 2023 DREI MASKEN VERLAG GmbH München Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds

Theater der Zeit 6 / 2023

deshalb schlage ich heute etwas anderes vor acht Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für ein westliches Publikum eine über Tapferkeit und ihre unscheinbaren Schattierungen die zweite Komposition über Äußerlichkeiten (im Krieg altern die Menschen schnell aber darum geht es nicht) die dritte über fünf Uhr morgens die Lieblingszeit der Russen für das Abfeuern von Raketen auf unser Land die vierte über die Nachrichten die kommen auch wenn wir sie nicht wollen die fünfte über den Himmel über uns

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Stück Anastasiia Kosodii die Bewohner dieses Himmels die sechste über die Welt im Spiegel sozialer Netzwerke wurde über Sie da eigentlich noch nie irgendwo was geschrieben? prüfen Sie das mal die siebte über den Tod als Dimension der Zeit die achte darüber wie man davon erzählen kann und überhaupt über alles

Löcher in die Tasche schneiden die Katzen da reinsetzen zur zerstörten Brücke laufen den Borschtsch von den Freiwilligen essen aufgewärmt in der Mikrowelle sich die Zunge verbrennen Danke sagen wo kann ich das lassen ich habe nicht aufgegessen Entschuldigung fahren bleiben hören

keine meiner Kompositionen die ich jetzt vorschlage hat Musik auch das hat einen Sinn davon erzähle ich am Ende Sie können sich eine vorstellen oder schreiben würde ich vorschlagen das wäre eine gemeinsame Äußerung

sich die Ohren zuhalten im Flur liegen im Keller liegen im Zimmer liegen den Schrank vors Fenster schieben sich fragen ob die Schockwelle den Schrank auf dich wirft nicht schlafen schlafen um vier Uhr morgens schreiben wie geht’s euch und ich liebe euch dazu Tiktoks gucken

vielleicht ?

die Posts deiner Ehemaligen lesen wo die ihren Jetzigen Liebeserklärungen machen

Erste Komposition – Über Tapferkeit was bedeutet es tapfer zu sein ich überlege sich am 25. Februar ins Auto setzen fahren mit dem Gewehr auf der Brücke stehen zusehen wie andere fahren zum Blutspenden gehen in der Schlange warten die Explosionen hören dem Mann vertrauen der versprochen hat dich rauszubringen dem Mann vertrauen dem es egal ist ob du rauskommst oder nicht in jedem langgezogenen Laut die Sirene hören und sie in echt hören dein Zuhause verlassen zuhause bleiben weil du Kühe hast mit den Kälbern dreißig Kilometer durch die Felder unter Beschuss auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet laufen nicht wissen was man mit der Katze mit drei Katzen machen soll

überlegen wann sie sich trennen sich trennen für immer die Chats löschen Freunden erklären sich weigern zu erklären zu reden er ist ein guter Mensch aber um sieben Uhr morgens ins Telefon schreien verfickt noch mal was fragst du mich wie man über die Grenze kommt ich bin vor einem Monat über die Grenze das ist jetzt alles anders schreiben ja alles gut und weitermachen aber zu früh zurückzukehren ein Video mit Kollegen ansehen wo sie sich als Terroristen bezeichnen überlegen wie lange sie gefoltert wurden jeden Morgen die Wanne volllaufen lassen roten Lippenstift kaufen sich wegen Akne sorgen alle retten außer den Nächsten sagen die Stadt gibt es nicht mehr aber das Meer ist noch da

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THTR RMPE

THEATERRAMPE.DE


Stück Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum nichts fühlen wegen all dem an die Zeit denken wenn du beginnst zu fühlen Angst haben vor der Zeit und die Zeit messen ihre Menge im Voraus man muss einfach die wahrscheinlichste Zahl rausfinden dann kannst du dich vielleicht retten.

Die Geschichte meiner Familie beantwortet keine dieser Fragen zumindest nicht in optimistischem Sinn. Würde man eine Generation in einem Raum versammeln und sie genau das fragen würden sie antworten 1) gar nicht 2) nie 3) ? ich denke über Schönheit nach und darüber dass Rettung und Liebe mit ihr etwas gemeinsam haben und diese Gemeinsamkeit ist ihre Unverbindlichkeit es geht immer

Zweite Komposition – Über Äußerlichkeiten meine Oma wurde 1937 geboren geht langsam in das erste Stadium von Demenz über hält es für nötig ihr Geld in verschiedenen Ecken der Wohnung zu verstecken dann vergisst sie wo sie es versteckt hat denkt dass alle sie bestehlen mein Bruder und meine Mutter ich stehle nicht ich bin zu weit weg von Saporischschja.

auch ohne. als erste in unserer Familie hat die Mutter meines Opas etwas Unverbindliches gewählt hat Musikinstrumente gespielt aus Opa einen Amateurgeiger gemacht der auf Hochzeiten und Veranstaltungen spielen konnte alles was man brauchte für ein sattes Leben auf den Fotos sieht sie aus wie ein kreativer Mensch mit Brille und Locken Opa sagte sie sei ganz glücklich gewesen in Saporischschja

vor ein paar Tagen rief Oma meine Mutter an und sagte Tanja wir müssen reden nicht über das gestohlene Geld Oma sagte Tanja ich habe ein Gebet für dich das hat mir meine Mama weitergegeben ein Gebet gegen schnelles Altern ich habe es nicht gesprochen und so sehe ich jetzt aus siehst du

bis ihr Mann zusammen mit ihr und dem Sohn in die Westukraine geschickt wurde nach dem Krieg dem Zweiten Weltkrieg einen Kolchos leiten ihr Mann leitete den recht erfolgreich einige Jahre

(ein Gebet mit LSF 50-Effekt)

konnte vorübergehend die zugezogenen Kommunisten mit der lokalen UPA aussühnen

In der Alten Pinakothek in München betrachte ich die Säle mit den Barockbildern weiche den russischsprachigen Exkursionen aus und überlege 1) wie haben sie diese ganzen Kriege überlebt 2) wann haben sie Zeit gefunden über Schönheit nachzudenken 3) was haben sie Liebe genannt

sie verabredeten im Voraus wo wer ist um einander „nicht zu bemerken“ dann tötete mein Opa einen von der UPA zufällig mit sechzehn Jahren gehen die Menschen manchmal dummerweise in Häuser wo sie nicht sein sollten

Nebenan/ Поруч Unabhängige Kunst aus der Ukraine Незалежне мистецтво з України Festival 28.06. – 02.07.2023


Stück Anastasiia Kosodii Opa und sein Vater fuhren gleich am nächsten Tag nach Saporischschja aus Angst vor Rache seine Mutter blieb da für ein Jahr irgendwer musste das Hab und Gut verkaufen erklärte mir Opa als ich ihn fragte ob sie keine Angst um sie gehabt hätten als sie zurückkehrte fing sie an zu trinken verkaufte auch die Stiefel ihres Sohnes die er von seinem ersten Lohn in der Fabrik gekauft hatte um Wodka zu kaufen er redete danach nicht mehr mit ihr Opas Vater heiratete bald eine andere Frau seine Frau die ein Jahr lang das Hab und Gut in der Westukraine verkauft hatte starb an Alkoholismus irgendwann Fotos von ihr gibt es aus dieser Zeit nicht mehr vielleicht war sie nicht mehr kreativ und hübsch

sie hat Hörprobleme wacht nicht mitten in der Nacht auf unterbricht ihren Schönheitsschlaf nicht gegen vier oder fünf wie es auch sein sollte mit über Achtzig.

Dritte Komposition – Über fünf Uhr morgens um 5.13 Uhr morgens fallen Raketen auf meine Stadt seit 4.57 dämmert es man sieht schon alles eine Rakete wird abgeschossen die Trümmer fallen auf ein Einkaufszentrum durchschlagen das Dach zerstören eine Shisha-Bar Filialen von verschiedenen Ketten ein ExpressNagelstudio die Schockwelle schlägt die Fensterscheiben aus in den Hochhäusern daneben Trümmer der Fassade der Raketen und Glassplitter liegen auf der Fahrbahn der Asphalt wird warm

die letzten sechzehn Jahre seines Lebens und die ersten sechzehn von meinem 1) wünschte sich Opa dass ich gut Geige spielen lerne 2) fürchtete sich Opa dass ihn Kämpfer von der UPA holen kommen

von der

nichts davon ist passiert.

andere Raketen

ich habe Mama nicht gefragt wie das Gebet für nicht schnelles Altern genau geht und ob die Engelsflügel erwähnt werden, die vor der Sonne schützen göttliche Hilfe bei der Glättung tiefer Falten auf der Stirn Injektionen des Heiligen Geistes in die Nasolabialfalten fehlender Schlafentzug durch russische Raketen, gewährt vom Heiligen Michael, damit verbundene gesunde Hautfarbe

töten einen Menschen verletzen drei beschädigen

Morgensonne es schweigen die Vögel die Verkehrspolizisten bitten die Fahrer die Parallelstraße zu nutzen drei fallen auf Einfamilienhäuser im Osten der Stadt zweiundsechzig Gebäude in der Nähe mindestens. ich überlege wie der Morgen des Russen beginnt der die Raketen auf meine Stadt abfeuert ob der Russe davor schläft ob ihn seine Kollegen auch Russen um drei wecken ob er sich die Zähne putzt

zumindest über Letzteres mache ich mir keine Sorgen meine Oma kann die Sirenen nicht hören

dann Zahnseide nimmt etwas frühstücken kann seinen Proviantbeutel öffnet das Beerenkonzent-

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Stück Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum

dann die Koordinaten öffnet heute sind Saporischschja und Krywyj Rih dran gähnt weil es noch nicht fünf ist die Geräte einstellt an den Geburtstag seiner Tochter im Gebiet Saratow denkt überlegt ihr ein Fahrrad zu schenken daran denkt wie teuer ein Fahrrad durch die Sanktionen geworden ist die Raketen startet Tee kochen geht losen Schwarztee in die Morgendämmerung guckt von den morgendlichen +13 fröstelt an die Ablösung denkt das Fahrrad googelt.

Vierte Komposition – Über die letzten Nachrichten

😊🤗

Odesa um. Der zweite Tag ohne Wasser. Wir halten durch ERSTE Hallo. Alles okay bei euch? Mama hat was von einer Rakete geschrieben. ZWEITE Hallo! Da war eine, aber keine Ahnung, wo genau die eingeschlagen ist. Ich war da gerade auf dem Prospekt und es klang weit weg. ERSTE Hallo. Alles okay bei euch? ZWEITE Ja. ZWEITE Bei uns ist’s ruhig. Ich bin auf Arbeit) ERSTE Wunderbar ZWEITE Bei uns ist’s ruhig. Ich bin auf Arbeit. ERSTE Gut. Aber wieso bist du heute auf Arbeit. Am Samstag. ZWEITE Statt Montag. ERSTE Aha. ZWEITE Guten Morgen. Bei uns ist’s ruhig. Ich bin auf Arbeit. ERSTE Hallo! Wunderbar) ZWEITE Hallo. Kein so ganz ruhiger Morgen, gerade kam was geflogen.

Fünfte Komposition – Über das Himmlische

ERSTE Mama und meine andere Schwester leben unter Besatzung. ZWEITE 45 Kilometer von Melitopol in Richtung Meer. ERSTE Sie wollen erst mal nicht weg, obwohl sie könnten, weil sie dort Kühe haben und so, aber noch ist es da ruhig, keiner tut ihnen was, waren nur welche da nach Soldaten suchen, aber die sind ja alle seit den ersten Tagen im Krieg, deshalb haben sie keine gefunden. Ist alles nicht so toll. ERSTE Onkel Kolja ZWEITE Aus Nowokarliwka, 83 Kilometer von Saporischschja ERSTE Auch besetzt, er konnte anrufen, sagt, da laufen irgendwelche Kasachen rum, fragen nach Essen, haben einen Opa gefragt – ERSTE Vater, gib uns was zu essen ZWEITE Und er so zu ihnen: Ich bin nicht euer Scheißvater. Kolja hat versucht, sie auszufragen, wieso sie da sind, aber da ist kein Gespräch zustande gekommen. ERSTE Verfickt, was redet der überhaupt mit denen. ZWEITE Hab ich auch gesagt. ERSTE Tante Oksana ZWEITE Aus Mykolajiw ERSTE Hat geschrieben: alles okay. Die Russen haben uns die Verbin-

im letzten Sommer Nummer 2021 fand in Kiew eine Parade zum Unabhängigkeitstag statt der Tag der Unabhängigkeit der Ukraine der dreißigste

JEANINE

DANCE

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#1–3

dung vom Dnipro gekappt. Unsere stellen auf Wasserversorgung aus

ein Jagdflugzeug das über dich hinwegfliegt ist auf der anderen Seite des Himmels von der es kommt zu hören keine Ahnung wie das funktioniert das graue schnelle Dreieck da oben du unten im Auto wo alle erstarren hören beobachten unseres oder nicht das weiß niemand niemand ist Militärexperte wollen glauben dass es unsers ist du willst glauben dass es unseres ist und dann fragst du dich wo hab ich dich denn schon mal gesehen erst später fällt es dir ein

BALL

Zwieback isst und Apfelmarmelade von 2013

TROTT

rat verdünnt mit


Stück Anastasiia Kosodii ich hatte meine Mutter eingeladen sie war seit Jahren nicht mehr in Kyjiw oder überhaupt irgendwo gewesen außer in Saporischschja. meine Wohnung ist im neunten Stock eines Hauses beim Flughafen Zhuljany ein paar Tage vor dem 24. August fanden dar über die Proben für die Flugparade statt flogen die Proben für die Parade der Luftflotte vorüber ich sehe mir das Video auf meinem Handy an und das Video das meine Mutter mir geschickt hat sie filmt viel lieber als ich was hat mich das immer genervt damals auf dem Video vom August 2021 fliegen zwei Patrouillenflugzeuge über mein Haus Militärtransportflugzeuge auch zwei ein Flugzeug für den Transport von Verwundeten ein Löschflugzeug Militärtransportflugzeuge mit kurzen Start- und Landestrecken ein schweres Militärtransportflugzeug begleitet von zwei Jagdflugzeugen ein gepanzertes Sturzkampfflugzeug Bombenflugzeuge ein taktisches Militärtransportflugzeug und eine sehr schöne Mrija das größte Flugzeug der Welt und das einzige nicht-militärische in dieser Gruppe einfach ein Transportflugzeug ein Frachtflugzeug ein fliegender riesiger LKW am Himmel mit drei Motoren auf jeder Seite sehr schön sieht das aus das schreit meine Mutter in dem Video mich regt das auf damals aus jetziger Perspektive will ich sagen Mama hatte Recht

das Telefon nicht loszulassen war eine gute Idee alles nacheinander aufzunehmen war eine gute Idee alles nacheinander gibt es vielleicht bald nicht mehr kauf dir ein Telefon mit Hunderten Gigabyte Speicherplatz Cloud-Speicher den größten Google-Laufwerken speichere dort Megabytes deiner Fotos und Videos wie meine Mutter nimm das Flugzeug Mrija jedes Mal auf wenn es über euch hinwegfliegt auch wenn das alle nervt schrei dass es sehr schön aussieht sei fasziniert von den drei Motoren auf jeder Seite weil die Mrija von den Russen in der Schlacht um den Flughafen Hostomel in der Nähe von Kiew, 34,6 Kilometer von deinem Haus entfernt, zerstört werden wird und nun ja in dem Auto das sich bewegt während du das Jagdflugzeug beobachtest das sich auch bewegt von einem Ende des Himmels zum anderen du denkst dass es unseres ist dich retten kommt während du fliehst durch die Außenbezirke von Kyjiw, durch die Stadt Wassylkiw die in fünf Stunden beschossen wird deshalb muss man schneller fahren was du auch tust obwohl du nichts von dem Beschuss weißt noch nicht du fährst personifizierst das Flugzeug redest mit ihm okay bitte wenn du kannst vernichte die Feinde beschütze uns und jeden Abend vor dem Einschlafen sagst du dasselbe beschütze uns Mama Papa den Bruder und Oma. mich vernichte die Feinde unsere früher habe ich darum gebeten dass es keinen Krieg gibt aber vielleicht

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Stück Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer:innen für das westliche Publikum hätte ich damit 2014 anfangen sollen.

über Asow

Sechste Komposition – Über die visuelle Komponente [Alle Videos in dieser Szene können nach Rücksprache mit der Autorin durch aktuellere ersetzt werden, nur das letzte Video kann nicht geändert werden.]

über Nachbarn und das letzte „Das Video hat mein Freund gedreht als er zur Arbeit gefahren ist.“

Siebte Komposition – Über die Zeit

ok ok ok jetzt einfach zum Luftholen zeige ich ein paar Tiktoks die ich sehr lustig finde

Wenn ich über die Zeit nachdenke denke ich dar über nach was ein direkter Raketentreffer mit dem menschlichen Körper macht. Am 1. März 2022 trafen die Russen den Dorohoschytschi-Fernsehturm in Kyjiw mit zwei Raketen.

in dem ersten haben ukrainische Stare gelernt die Geräusche von Raketen zu imitieren

Der Berater des ukrainischen Innenministers twitterte ein Foto der Verstorbenen:

in den Kommentaren: „Haben Stare nicht immer so gesungen? ...“

„Zivilisierte Welt, schaut hin und seid entsetzt! Die Folgen des Angriffs auf den Kyjiwer Fernsehturm. Noch vor einer Stunde waren das lebendige Menschen! Mütter, Väter, Kinder!“

(ganz in der Nähe ist Babyn Jar)

im zweiten dreht Creator Sdenikiza ein Video auf irgendeinem Parkplatz in Southampton „Scheiße, ich will auch in eine britische Schule und vibe teenage time aber ich bin 22 und das Einzige, was mich hier erwartet, ist die Fabrik ☹“ Videounterschrift: „warum bin ich so alt“ Cereal is probably the worst way to start your morning, sagt Brandon, der Menschen zur richtigen Art zu leben berät, aber es gibt auch anderen Ansichten dazu dann das hier, ohne Erklärungen noch eins, vielleicht braucht man ein paar Repeats um alles zu verstehen

Ich glaube nicht, dass jemand diese Fotos sehen sollte. Die Temperatur an der Absturzstelle ist so hoch, dass sie einen Menschen vollständig verbrennt. In schwarze Kohle in Form eines menschlichen Körpers verwandelt mit erhobenen Armen mit angezogenen Beinen geballten Fäusten Ich betrachte die erhobenen Hände und denke, dass sie Schmerzen haben. Ich frage mich wie lange der Schmerz in so einem Fall anhält. Und wie lange lang ist.

Westwind Festival Gastgeber: Theater Marabu Bonn www.westwind-festival.de

Förderer

39. Theatertreffen für junges Publikum NRW 11. – 17.6.2023 in Bonn

in Kooperation mit dem Theater Bonn, dem Beethoven Orchester Bonn, dem Jungen Theater Bonn, der Bühne in der Brotfabrik und dem Kulturzentrum Brotfabrik


Stück Anastasiia Kosodii

Achte Komposition – Über das was kommt ich weiß nicht wie ich über den Krieg schreiben soll Worte haben ein kurzes Haltbarkeitsdatum kürzer als Milch morgen öffnet ihr die Nachrichten und alles ist anders vielleicht besser ich wünschte mir es wäre besser aber allein dieses Wort seine Bedeutungen wechselhafter als die Wettervorhersage die Wolkenbewegungen die Dauer der Baumblüte die Stetigkeit des Klangs nur wenn es gelingen würde eine sehr starke Stimme zu finden wer könnte so eine Stimme haben und was sagt sie uns

dem Kochen des Wassers Stille fehlender Stille Schlafen im eigenen Bett dem Auftauchen des Abonnenten im Netz einer Antwort auf die Frage „Wie geht es dir“ eines Namens auf den Listen evakuierter Kriegsgefangener der russischen Niederlage des ukrainischen Siegs einer Zeit die dir niemand nimmt an einem Ort den du dir selbst ausgesucht hast für lange für kurz so wie nur du es willst.

– ENDE –

in den ersten Tagen nach dem 24. Februar 2022 und nach der gewaltsamen Auflösung des Majdan in Saporischschja am 26. Januar 2014 konnte ich keine Musik hören hatte diese Fähigkeit verloren war zu aufgeregt um mir Kopfhörer aufzusetzen eine Komposition im Notebook anzuschalten welche Musik könnte mir in dieser Zeit etwas sagen? ich glaube nicht dass es so eine Musik gibt (und es gab sie auch nicht) jetzt denke ich vielleicht ist das eine gute Form acht Kompositionen Lieder die Musik hätten sein sollen aber die Musik hat sich noch nicht wiederentdeckt die Worte haben sich auch noch nicht eingefügt existieren in Erwartung von irgendwas dem Ende des Krieges der Rückkehr nach Hause der ersten Aprikosen

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ANTHROPOS – Neue Theatermusik von Kinbom & Kessner

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Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Foto Arno Declair

„Der Zauberberg“ von Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater Berlin

Essay Der 17. Juni 1953, das Dramatische im Historischem und ein Kanzler-Wort Bericht Ein Landschafts-Bürger:innentheater in Sachsen steht beispielhaft für Kulturinitiativen in ländlichen Räumen Serie Warum wir das Theater brauchen #05. Jette Steckel: Selbstverständigungsprozess Bilanz Nach 14 Jahren endet die Intendanz von Ulrich Khuon am Deutschen Theater Berlin

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Diskurs & Analyse Essay

Der große Bogen Der 17. Juni 1953, das Dramatische im Historischem und ein Kanzler-Wort Von Thomas Wieck

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Am 17. Juni 2023 wird landauf, landab in Deutschland der siebzigste. Jahrestag des sogenannten Volksaufstands 1953 in der DDR gewürdigt. Die Demonstrationen, Streiks und Randalen waren aber kein Volksaufstand, welches Volk stand hier auf? Das deutsche Volk stand nicht auf, war es doch geteilt und es teilte, getrennt in Ost und West, gewiss nicht Freud und Leid miteinander. Der Begriff „Volksaufstand“ ist die nachgeholte Überhöhung eines vielfarbig schillernden geschichtlichen Ereignisses, einer Arbeiterrevolte. Alles begann in Berlin-Ost mittags am 16. Juni 1953. Bauarbeiter der Stalinallee zogen vor das Haus der Ministerien in der Leipziger Straße und verlangten nach Ulbricht und Grotewohl, um von ihnen die Rücknahme neuer Arbeitsnormen zu erzwin-

Theater der Zeit 6 / 2023

Foto picture alliance / ZB | zbarchiv

Nach vorangegangenen Streiks in Ost-Berliner Betrieben versammeln sich am 17. Juni 1953 Demonstrant:innen in den Straßen von Berlin


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gen. Hatten sie das ND vom Tage wohlweislich nicht gelesen, stand doch da geschrieben, dass die Normen zurückgezogen würden? Zielte ihr Marsch auf mehr und anderes? Ein Schreibmaschinentisch wird aus dem Gebäude auf den Vorplatz getragen, Minister Selbmann tritt aus dem Gebäude, klettert auf den Tisch und erklärt nochmals die Rücknahme der Normen. Die Demonstration brüllt ihn nieder. Da besteigt ein etwa fünfzigjähriger Bauarbeiter die provisorische Tribüne „Kollegen! Es geht hier nicht mehr um Normen und Preise, es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalinallee, hier steht Berlin und die ganze Zone. Das ist eine Volkserhebung. Die Regierung muss aus ihren Fehlern die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie, geheime Wahlen.“ „Allen war auf einmal leichter. Jetzt war der Punkt erreicht, wo das Ventil geöffnet wird. Das Geschrei wollte kein Ende nehmen.“ (Peter Bruhn in einem 1954 verfassten, später veröffentlichten Bericht). In diesem Moment hatte die Versammlungsmasse ein Gefühl ihrer Gemeinsamkeit, aber noch keinen handlungsleitenden Begriff. Doch der fand sich bald: Generalstreik. Der unbekannte Redner tauchte wieder in die Masse ein. Seine Mission war erfüllt und Selbmann ging zurück ins Ministerium. Hinter diesen Forderungen stand die unausgesprochene Losung „Russen raus!“ Ostdeutsche Arbeiter nahmen die deutsche Frage in ihre Hände. Gesamtdeutschland war die alles antreibende Hoffnung, ein zonensprengender Generalstreik das Gebot der Stunde, und das Ziel war ein freies und einiges Vaterland, aber wie sollte das aussehen? Wer hatte davon eine Vorstellung, außer dem sprichwörtlichen „Früher war alles besser und überhaupt unter Adolf…“ Diese Gedanken und Ziele waren weltpolitisch aberwitzig, aber sie waren nun einmal in der Welt. Würde der nächste Tag Antworten geben können? Wurde die kommende Nacht eine Nacht der Streik-Komitees, der Arbeiter-Räte, der Proklamationen, der Kuriere zwischen Ost und West? Nein, dem Prolog folgte weder ein handliches Revolutionsszenarium noch ein realistischeres Zukunftsbild. Am nächsten Morgen streikte eine Vielzahl von Belegschaften der Industrie- und Baubetriebe, zwar an einem Tag, aber untereinander völlig unkoordiniert gegen die staatlichen Arbeitsauflagen und den sinkenden Lebensstandard, der eh schon gering war, und dann kam, was kommen musste: „Deutschland, Deutschland über alles“, der Marsch zurück ins Vergangene wurde intoniert. Das massenhafte und letztlich utopische Aufbegehren zerfiel zusehends in einen wütenden Ausbruch ohnmächtiger Randale. Von Generalstreik keine Spur. Die Streiks und Demos verkamen zur blutigen Farce. Bar jeder Führung und ohne politischen Gesamtwillen konnten die Massen auf der Ost-Berliner Straßenbühne nicht zum politischen Tanz aufspielen. Revolutionär war an diesem Ausbruch nichts und angesichts der sowjetischen Panzer mussten sie nach Hause und am nächsten Tag wieder als einzelne an die Arbeit gehen, auch deshalb, weil der andere, der größere Teil der deutschen Arbeiterschaft, schon hinreichend neu versorgt, sich dem „Volksaufstand“ verweigerte. Ein halbes Jahrhundert später glaubte ein Berliner Bibliothekar den unbekannt gebliebenen national-revolutionär bewegten Bau-

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CALL FOR PROJECTS Ausschreibung für die Spielzeit 2024/25 Bewerbungsschluss: 17. Juli 2023

WAS IST NOPERAS? Im Rahmen der Förderinitiative NOperas! des Fonds Experimentelles Musiktheater [feXm] schließen sich mehrere Theater zu einem Verbund zusammen. Gemeinsam mit dem feXm realisieren sie ein Projekt, das innerhalb einer Spielzeit an den beteiligten Häusern gezeigt wird.

AUSSCHREIBUNG 2023 Mit der laufenden Ausschreibung für die Spielzeit 2024/25 geht NOperas! in die sechste Runde. Beteiligt sind in dieser Saison das Staatstheater Darmstadt, das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und das Theater Bremen. Jenseits der von den Theatern selbst eingebrachten Ressourcen stellt der feXm für die ausgeschriebene Produktion Fördermittel von bis 150.000 Euro zur Verfügung.

WER KANN SICH BEWERBEN? Als Förderinitiative orientiert sich der feXm an einem erweiterten, nicht auf Formen der zeitgenössischen Oper fixierten Musiktheaterverständnis. Im Fokus steht ein prozessuales Arbeiten in mehreren Probenphasen. Bewerben können sich europaweit Teams, die gemeinsam das Zusammenspiel der Theaterebenen (Komposition, Text, Regie, Bühne) verantworten. Eine Jury ausgewiesener Fachleute im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters entscheidet gemeinsam mit den beteiligten Theatern über die Auswahl des zu realisierenden Projekts. Die Ausschreibungsfrist endet am 17. Juli 2023. Ausführliche Informationen zu Ausschreibung und Bewerbung finden Sie auf noperas.de »NOperas!« – eine Initiative des Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm). Getragen vom NRW KULTURsekretariat, in Kooperation mit dem Theater Bremen, dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und dem Staatstheater Darmstadt. Gefördert durch:


Lothar Trolle entfesselte in seinem dramati­ schen Torso „Greikemeyer“ das Chaos 1953 im nachstalinschen Tollhaus DDR. Der Alp der Toten, der auf den lebenden Geschlechtern lastet, wird mobil und geht um.

arbeiter wenigstens beim Namen nennen zu können: Fritz Hahn. Mehr fand er nicht heraus. Grausig-ironischer Zufall oder späte, erschreckende Identifikation: Fritz Hahn (geb. 1907, gest. 1982) hieß ein hochkrimineller Berliner SA-Führer, der nach 1945 eine Zeitlang als Maurer arbeitete. Wer war der Redner vom 16. Juni? Wir wissen es nicht, ein Phantom? Besser ist die Zwieschlächtigkeit der Geschehnisse im Juni 1953 kaum zu charakterisieren. Das deutsche Volk, die deutsche Einheit, die deutsche Nation verschwammen zu Chimären. Und das hat ein Autor auf solch groteske Weise dramatisiert, dass dieser Text nie gespielt wurde. Lothar Trolle entfesselte in seinem dramatischen Torso „Greikemeyer“ (1974/2010) das Chaos 1953 im nachstalinschen Tollhaus DDR. Der Alp der Toten, der auf den lebenden Geschlechtern lastet, wird mobil und geht um. Am 16. Juni wird der fleißigste Genossenschaftsbauer des Landes, Greikemeyer, von den sieben Todsünden des Sozialismus umgebaut in den Todfeind des Sozialismus. Das alte sozialistische Ich des Greikemeier aufersteht als sein Wiedergänger, um ihn zu retten vor den Verlockungen eines anarchischen Lebens, verfolgt es ihn, scheitert jedoch dabei und verbrennt sich selbst. Die Geister Hitlers und Stalins und die faustische „Sorge“ gespenstern übers Land. Frauen verwandeln sich wider Willen in Männer. Die Tiere und Pflanzen in den Ställen und auf den Feldern der LPG sprechen in höchster Not zu uns, Arbeiterhorden vagabundieren durchs Land. Am vorläufigen

Sowjetischer Panzer am 17. Juni 1953.

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Ende des 1. Teils des Stückes, der 2. Teil blieb ungeschrieben, steht der „Engel der Revolution“ mit der sowjetischen KK-MPi im Arm und verkündet trotz alledem seine Unsterblichkeit. Trugbilder, Gespenster, Geister suchen die Menschen heim, dringen in sie ein, dirigieren sie, zerstören sie. Das Chaos gebiert nicht die Revolution, und auch zur Apokalypse kommt es nicht. Das klassische deutsche Geschichtsdrama findet nicht statt. Trolle weist in aller Unvollkommenheit und Weitschweifigkeit den Weg ins Künstlerisch-Theatrale, mit den probaten verfremdenden Mitteln aus dem „Zeughaus der Komödie“ (Brecht) skelettiert er die geschichtlichen Vorgänge und verhindert jedwede nachholende dramatisch-theatralische Ideologisierung und Instrumentalisierung des 17. Juni. Trolle sprengt die Einheit und Plausibilität der Fabel, um der Geschichte ansichtig zu werden. Geschichte wird nicht entsorgt, nicht verbogen, sie wird zurechtgebogen, bis sie ihr Innerstes preisgibt: den Tanz um die Macht – lustvoll und wirkungsstark im Zusammenspiel mit dem Publikum als Farce dargeboten. Ein derartiges dramatisches Verfahren, eine solche „Verhandlung des heutigen Weltzustands mit theatralen Mitteln“ (Wolfgang Engler) scheint mir heute akut! Wird das Theater wieder ein Instrument der geschichtlichen Subjekte oder bleibt es wie seit zwei Jahrzehnten ein Organ individueller Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten? „Keine Tagesfrage, die nicht in endlosen Kommentaren, Sondersendungen, Talkshows, Befragungen, Interviews bis zum Erbrechen ‚verbalisiert‘ würde – aber kaum Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft über die Fähigkeit verfügt, ihre wirklich fundierenden Grundfragen und Grundlagen, die doch stark erschüttert sind, auch als ungewiss zu ‚dramatisieren‘“ (Hans-Thies Lehmann). Theater und Dramatiker sollten uns Zuschauer anhalten, genauer hineinzuschauen in den Weltenlauf, um der Gegenwart im Wissen um ihr Gewordensein gelassener begegnen zu können. Heute vagiert wieder ein merkwürdiger Begriff durchs Land: Zeitenwende. Wir sollten ihm kritisch nähertreten, entspringt er doch keiner historischen Analyse und bezeichnet auch keinen geschichtlich einschneidenden Umbruch, er dient als handliche Losung, um einem Politik-, keinen Zeitenwechsel, in dem fortdauernden Kampf um die Weltherrschaft zwischen USA und Russland Unausweichlichkeit zuzusprechen. „Ich plädiere dafür, dass Amerika sein Ziel weiter verfolgt, die Vorherrschaft als Weltmacht gegenüber Moskau zu festigen. Ich empfehle deswegen die Dezentralisierung des sowjetischen Machtbereichs im Inneren zu befördern und das Auftreten der Sowjetunion in der Welt einzugrenzen.“ (Zbigniew Brzeziński: „Planspiel“, Vorwort Januar 1989) Dämmert hinter der „Zeitenwende“ der spät eingeforderte Tribut für die deutsche Einheit im Namen der Pax Americana auf? „Ein wiedervereinigtes Deutschland mit demokratischen Strukturen – eingebettet in Europa und die NATO. Amerikas Einfluss in Europa war gesichert. (Condoleezza Rice, in: Der Spiegel 39/2010) Beide Geopolitiker sprachen wahr. Wer sagt uns 2023 die Wahrheit? Das Theater ist gefordert, „die Vergangenheit so darzustellen, dass sie die Gegenwart in eine kritische Lage bringt“ (Walter Benjamin). T

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Foto links picture alliance / akg-images | akg-images, Karte rechts Staatsschauspiel Dresden (www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/a-z/x-doerfer/), rechts unten Michael Kleinhenn

Diskurs & Analyse Essay


Diskurs & Analyse Bericht

Oben die teilnehmenden Dörfer, unten Theaterprojekt in Nossen von Regisseurin Esther Undisz

Publikumsbeteiligung und Kapitalismuskritik Ein Landschafts-Bürger:innentheater in Sachsen steht beispielhaft für Kulturinitiativen in ländlichen Räumen Von Michael Bartsch

Aus den geöffneten Fenstern der Pestalozzi-Grundschule im sächsischen Nossen dringt flotter Gesang mit Klavierbegleitung auf die Straße. Eine bunt gemischte Theatergruppe von etwa einem Dutzend Personen probt in der Aula gerade das „Investorenlied“. „Das Geld wird im Berg gemacht – Rendite wächst über Nacht“, solche Zeilen bleiben hängen. Regisseurin Esther Undisz schimpft nur, dass die Strophenanfänge kaum zu verstehen seien. In das Stück und die Liedtexte verpackt ist auch ein Grundkurs Kapital und Geldwirtschaft, Geld, das angelegt werden und arbeiten ­müsse, „sonst dreht es Dir den Rücken zu“. Das hier geprobte Laienspiel wird im Amtsblatt der Stadt mit dem Titel „Unter Nossen – Eine Stadt im Blaurausch“ angekündigt. Für Kenner eine Anspielung auf den Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh. Am 23. Juni soll es premierenreif sein, fünf

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Vorstellungen sind geplant. Eine kleine Sensation für die durch Eingemeindungen auf reichlich 10 000 Einwohner angewachsene Stadt, vielen nur durch das Autobahndreieck bekannt. Bis etwa 2001 spielte das Mittelsächsische Theater Freiberg/Döbeln noch gelegentlich hier im Schloss, erinnert sich Tilo Staudte. Er war damals Ausstattungsleiter und ist nun bei diesem Bürger:innentheater dabei. 2022 startete ein sächsisches Projekt namens „X-Dörfer“. Es wird formal von der Bürger:Bühne des Dresdner Staatsschauspiels getragen., Kopf. des Vorhabens aber ist Miriam Tscholl, die ab 2009 zehn Jahre lang eben diese Dresdner Bürger:Bühne leitete und ihr zum Ruf eines bundesweiten Vorbilds verhalf. Mittlerweile arbeitet sie frei, inszeniert unter anderem an den Münchner Kammerspielen, blieb Sachsen aber nicht nur mit ihrem Hauptwohnsitz in Freital nahe Dresden treu. Die Problematik kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen sei zwar von der Kulturpolitik längst erkannt. Es fehlten aber Mittel, Strukturen und Beratung, daran etwas zu ändern. Die örtlichen DDR-Kulturhäuser wurden nach 1990 größtenteils abgewickelt, Betriebe als organisatorische und finanzielle Träger brachen weg, beklagt die in Freiburg im Breisgau aufgewachsene Miriam Tscholl. So entstand die Idee eines Angebots, einer Ausschreibung, bei der sich eben „X Dörfer“, aber auch Kleinstädte bewerben können. Sie wuchs schon im Rahmen der Bewerbung Dresdens zur europäischen Kulturhauptstadt 2025, um die Landeshauptstadt stärker mit dem Umland zu vernetzen. Hier scheiterte Dresden 2019 zwar. Die erste Ausschreibungsrunde 2022 aber blieb, in diesem Frühjahr folgte eine zweite. Esther Undisz schrieb also einen Text, der keineswegs nur Vergangenheit beschwört. Inspirieren ließ sie sich auch von ostdeutschen Erfahrungen nach der Wende und einem aktuellen Investoren-Luftschloss im nahen Döbeln. Der Schweizer Batteriehersteller Blackstone wollte dort Akkumulatoren aus dem 3DDrucker produzieren. 25 Millionen Euro Fördergelder standen in Aussicht, aber die angeheuerte Belegschaft sitzt seit einem Vierteljahr zu Hause. Im Anfang März fertiggestellten Text geht es um einen ähnlichen Hype. Elemente wie Lithium und Kobalt werden für die Akkumulatoren- und Chipproduktion benötigt und verzaubern gegenwärtig alle, die von Elektromobilität und Digitalisierung die frohe Zukunft erhoffen. Und sie wecken die Gier, mit ihrer Förderung viel Geld zu verdienen. Unter Nossen liegt nämlich eine angeblich vielversprechende Menge Kobalt. Ein cleverer Investor ist gerade dabei, die Nossener zum Erwerb von Anteilsscheinen zu überreden, um danach schürfen zu können. Die Sachsen aber erweisen sich als einigermaßen helle und wittern die Abzocke. Wie es ausgeht, wird noch nicht verraten. T

Eine Langfassung dieses Artikels finden Sie unter tdz.de

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #05

Selbstverständigungsprozess Von Jette Steckel

In unserer TdZ-Serie schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesell­ schaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen

# 05

Bisher erschienen Nora Schlocker Anne Lenk René Heinersdorff Jonny Hoff 58

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Foto Alexander Bunge

Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #05 Wir brauchen das Theater nicht. Wir brauchen das Kino nicht. Wir brauchen kein Museum. Wir brauchen kein Konzert. Wir brauchen eigentlich auch keinen Park. Aber wir brauchen auch kein Pay-TV. Wir brauchen Essen, Trinken, ein Bett und die Luft zum Atmen. Mehr nicht. Warum? Um zu leben. Reicht das nicht? Wir brauchen auch nicht das andere Geschlecht. Fortpflanzen können wir uns inzwischen anders. Das reicht zum Überleben; sollte das ein Anliegen sein. Alles andere ist nicht wichtig. Alles andere ist nicht systemrelevant. Wir können also eine Menge sparen. Wir können uns das sparen. Vielleicht sparen wir uns dann auch eine Menge Ärger. Wenn wir uns einfach auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn wir uns auf das reduzieren, was wir von Natur aus brauchen. Zurück zur Natur. Das ist vielleicht das einzig relevante Mittel, das noch helfen könnte gegen unsere gesellschaftlichen Ausformungen und Wucherungen und Erhitzungen. Zurück zur Natur – es lache, wer kann. Es ist schließlich unsere Natur, die all das angerichtet hat, die das Spannungsfeld von Konstruktion und Destruktion erzeugt, das Leben bedeutet. Und, um zurück zum Theater zu kommen: Es wird unsere Natur sein, die sie wieder erfinden wird. Bitte um Verzeihung für meinen Zynismus, das ist natürlich alles Quatsch. Aber so etwas kommt dabei heraus, wenn man Künstler:innen bittet, sie selber sollten außerhalb ihrer künstlerischen Arbeit begründen, warum und wieso sie ihre Kunst für „relevant“ hielten – ein Verfahren, welches in unserem Falle unweigerlich auf die fragwürdige These hinausläuft, dass, wer nicht regelmäßig ein Theater besucht, kein Mensch im tieferen Sinne ist. Jedweder Versuch einer Apologie des Theaters gerät unter diesen Voraussetzungen in Gefahr, zum totalen Gerede zu verkommen. Und somit regt sich der Wunsch, den folgenden Versuch einer Antwort zu verweigern und stattdessen einfach ins Theater einzuladen. Es ist unser Trieb, der da steuert, in diesem Fall der Nachahmungstrieb, also der Drang, das Wesen, das wir sind, zu verstehen und zu beherrschen. Jedes Kind folgt ihm. Komischerweise sieht man den Menschen, der spielt, deutlicher, als wenn er nicht spielt. Das spielende Kind ist in seinem Spiel wie gläsern – wir sehen seine Innenwelt. Aber auch der oder die Schauspielende an sich ist mindestens genauso interessant zu betrachten wie die Figur, die er oder sie spielt – der Reiz und die Befriedigung des spielenden Menschen und auch des Zuschauenden liegt in dem, was durch Verstellung offenbar wird. Das Spiel selbst ist die Maske, deren Schutz erlaubt, die Masken fallen zu lassen. Wie beim Krumping erst die Schminke im Gesicht die totale Entäußerung erlaubt. Das Theatralische ist Unruhe, tief und unerklärlich. Gefühle denken. Das ist unser Metier. Hier ist alles umgekehrt. Man geht vom Glänzenden, vom Falschen, vom Nachgeahmten aus, um zu einem inneren Leben zu kommen. Es gibt nichts Verlogeneres und nichts Wahreres als das Theater. Wir lügen immer und wer es weiß, ist klug – erste Lektion meines Freundes Carl. Alles ist Anschein. Am Theater nimmt man in sich auf, um wiederzugeben. Auf der Bühne und im Zuschauerraum.

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Ich spüre selten so verlässlich seelischen Frieden wie bei der Betrachtung. Oder beim Hören von Musik. Darf ich betrachten oder hören, bedeutet das, ich darf mich mit mir auseinandersetzen. Vor allem mit dem, was ich an mir nicht verstehe, aber spüre. Ein Austausch von Wahrnehmungen findet statt, formuliert durch Kunst. Ich bin für diesen Moment aus dem Effizienzzwang des westlichen Lebensalltags entlassen. Obwohl ich wach bin und leistungsfähig. Einer der wohl lebenswertesten Zustände, die ich kenne. Können wir ihn brauchen?

Warum wir das Theater brauchen? Eine Gesellschaft, die permanent meint, ihre Kunst in Frage stellen zu müssen; eine Gesellschaft, die überhaupt darauf kommt, ihre Kunst in Frage zu stellen, als wäre sie nicht Nahrung, und ihre Abschaffung nicht Entzug, eine Gesellschaft, der immer aufs Neue und immer vergeblicher dargelegt werden muss, warum sie Theater „brauche“, eine Gesellschaft nämlich, die ihren Selbstverständigungsprozess durch Geldbewegung und Warenzirkulation ersetzt hat, eine solche „Gesellschaft“ braucht vermeintlich kein Theater mehr. Es geht schon lange nicht mehr darum, mittels des Theaters innerhalb des Gegebenen eine Art Korrektiv zu bilden, an welchem das Gegebene seine Grenzen oder seine Bestimmung oder seine grundsätzlichen Aporien erfährt – das mag der Fall gewesen sein, solange eine Gemeinschaft es für selbstverständlich und notwendig erachtete, ein Bild ihrer selbst zur Verfügung zu haben, einen Entwurf, wie illusionär und unhaltbar auch immer, in dem das Gegebene sich nicht nur spiegelte, sondern welcher das Gegebene übertraf, darüber absichtsvoll hinausging und eben darum als wertvollster Besitz der Gemeinschaft galt. Diesen Zusammenhängen, deren wesentliches Merkmal Respekt vor dem Unbegreiflichen ist, verdankt das Theater seine Existenz, seinen Sinn, seine Berechtigung – Zusammenhänge, an denen gemessen schon Schillers Begriff vom Theater als „moralischer Anstalt“ etwas spießig wirkt.

Was bleibt Nun, Fakt ist, dass es nach wie vor viele Menschen gibt, die Theater machen wollen, und ebenso viele, die gern zuschauen. Weil sie auf der Suche sind. T

Jette Steckel, geboren 1982 in Berlin, inszenierte zuletzt „Das Himmelszelt“ von Lucy Kirkwood am Deutschen Theater Berlin und „Die Beses­se­nen“ von Albert Camus am Thalia Theater Hamburg.

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Pfarramt mit Portemonnaie Nach 14 Jahren endet die Intendanz von Ulrich Khuon am Deutschen Theater Berlin Von Hans-Dieter Schütt

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Fotos Arno Declair

Diskurs & Analyse Essay


Diskurs & Analyse Bilanz

Von oben rechts nach unten links „Der Menschenfeind“ von Molière in der Regie von Anne Lenk, „Angabe der Person“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Jossi Weiler, „Der Zauberberg“ von Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann, „Öl“ von Lukas Bärfuss in der Regie von Stephan Kimmig

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Dass wir an alten Wohnhäusern bisweilen jene gebleichten Buchstaben studieren, die an einstige Kohlehandlungen und sogenannte Kolonialwarenläden erinnern – was hat das mit Theater zu tun? Es hat mit dem Gedanken daran zu tun, dass Dinge zu Ende gehen. Und wir uns in solchen Momenten von einer falschen Vermutung überwältigen lassen: Wir schauen auf alte Signale wie auf eine uneingeschränkt „gute alte Zeit“. In der Verwitterung besagter Inschriften erkennen wir aber zugleich etwas von jener groben Art, mit der unser eigenes Dasein eines Tages betrachtet wird: nicht ausschließlich als das gute Alte oder alte Gute, sondern auch als eine verblassende Spur auf bröckelndem Untergrund. Mit Wehmut oder Heftigkeit setzen wir uns deshalb gegen relativierende Urteile zur Wehr, die das Heute über das Gestern spricht. Wir ahnen Verletzung. Dies ist eine Wahrnehmung, die zweifelsfrei jedem Intendanzwechsel innewohnt. Auch Ulrich Khuons Beginn am Deutschen Theater 2009, nach seiner Triumphzeit am Hamburger Thalia, erregte im ruppigen Berlin Skepsis. Dabei ging ihm doch der Ruf des Glanzes voraus. 2000 war er als Nachfolger von Jürgen Flimm nach Hamburg gekommen, 2006 erreichte er mit fast 280 000 Besuchern die höchste Zuschauerzahl aller deutschsprachigen Bühnen. Sechsmal ging die Reise zu einem der jährlichen Theatertreffen in Berlin. Dennoch: Misstrauen. Ankömmlinge gelten schnell als Eindringlinge, zumal, wenn sie in Erfolgsgeschichten hinein berufen werden; da hilft das eigene Renommee wenig. Bernd Willms hatte als vorheriger Intendant des DT einen zähen, zausenden, am Ende betörend erfolgreichen Kampf um Berliner Spitzenwerte gefochten: starke Regisseur:innen, ein starkes Ensemble. Und trotz nahezu befriedetem Ost-West-Konflikt schimmerte noch immer durch, was dieses DT zu allen Zeiten gleichsam zu einer potenziellen Hochschule für Grenztruppen befähigt hatte: Der zeitenfeste Geist dieses Hauses lehrt auf besondere Weise, wie man erfolgreich Fremde abwehrt. Ja, im September 2009 hatte der gebürtige Stuttgarter Khuon ein Theater übernommen, das vor allem mit den Regisseuren Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff und Michael Thalheimer wieder ein großer Ort geworden war. Thalheimer, ein Gefährte Khuons und Genius aus der Hamburger Zeit, zeigt in seiner Kunst, woher Kälte zwischen den Menschen kommt, er forscht sezierend an unwirtlicher Stelle: an Seelentiefpunkten. Er blieb in Berlin ein Suchender – und verließ das DT (wie auch Andreas Kriegenburg). Gosch trieb seinen Inszenierungen alle Theatralik aus, sie waren sehr besondere Erschütterungen durch Wahrhaftigkeit – der Regisseur starb kurz vor Khuons Amtsantritt. Gotscheff vier Jahre später. Dessen Theater starrte aus der Leere in die Leere, aber überm dunklen schweren Grund seiner Welt-Bilder schimmerte doch ein gewinnend trotziger Existenzstrahl. Aki Kaurismäkis „Der Mann ohne Vergangenheit“ etwa: Trauer um Ursprünge, ein Fühlen mit den Verlierern, ein Durchdrungensein vom Adel der so ungerecht Abgestempelten. So also gingen in Khuons Berliner Zeit sehr günstige Konstellationen in neues Gelände oder ins Grab. Und Kritiker:innen

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meinten beizeiten, ausgerechnet der Erfolgsgewohnte vollziehe seine Arbeit in den sattsam bekannten Schubladen, landläufig beschriftet: bieder, auswechselbar. 14 Jahre Schumannstraße 13a – in einer schwierigen Zeit, die das Theater prinzipiell und allerorts in die Mangel nahm. Bühnen begannen die Sonderstellung einer unverwechselbar eingreifenden geistigen Kraft einzubüßen; Ensembles liefen zu den Patchwork-Familien der gesellschaftlichen Splitterung über; große Schauspieler und Schauspielerinnen flottierten zunehmend frei. Dazu kamen später die Strukturdebatten – eine unbestreitbare Notwendigkeit, die aber das Publikum kaum interessiert, weil sie nicht unmittelbar in bessere Kunst umschlägt. In solcher Lage Exklusivität? An Khuon war zu bewundern, wie er den Stempel des „Stadttheaters“ nicht nur ertrug, sondern ihn zum Tugend-Etikett umschmolz und nicht in die übliche Prominenz-Panik verfiel. Große Namen als kleine Rettung? Nein, Vielfaltsgebot. Ibsen und Schimmelpfennig, Labiche und Lenz. Beharren auf Gegenwart. Schirach und Schmalz und und und. Die Regisseure Jossi Wieler, Nicolas Stemann, Jan Bosse, René

Pollesch gleichsam als Gefährtenschaft von Anne Lenk („Hiob“, „Maria Stuart“) und Daniela Löffner („Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz, „Väter und Söhne“ von Brian Friel). Bisweilen auch nur gedämpfte Erfolge. Aber es galt: weitergehen – bei gleichzeitig geduldiger Wartekraft! Das Große lässt sich nicht bitten und bolzen. Wahrscheinlich war auch in den Khuon-Spielzeiten die gefühlte Anzahl der Produktionen mitunter so hoch, dass anreizende Produktivität und künstlerisch abträglicher Stress unweigerlich in Streit geraten mussten. Premierenflut und also Arbeitsschnelligkeit besaßen eine spezielle Tücke: Wie lange braucht ein Theater, damit uns Schauspieler und Schauspielerinnen – inmitten modernen Transitverhaltens – vertraut wird? Mitunter schien sich nur schwer ein haltbarer Faden zu finden, der die Partikel des jeweiligen Spielplans band. Für gordische Knoten aber reichte das Material allemal: Konflikte zwischen Tradition und Öffnung, Schutzmauer und Aufbruch, Bestandwahrung und Wagnis. Khuon freilich ist kein Knotenhauer, er benutzt nicht das Beil, sondern lieber die Fingerspitzen. So einer

Links „Leonce und Lena“ von Georg Büchner in der Regie von Ulrich Rasche, rechts „Das Himmelszelt“ von Lucy Kirkwood in der Regie von Jette Steckel

Theater der Zeit 6 / 2023

Fotos Arno Declair

Diskurs & Analyse Bilanz


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Auch Ulrich Khuons Beginn am Deutschen Theater 2009, nach seiner Triumphzeit am Hamburger Thalia, erregte im ruppigen Berlin Skepsis. Dabei ging ihm doch der Ruf des Glanzes voraus.

Staatsschauspiel DResden PEER GYNT nach Henrik Ibsen

Regie Joanna Praml Premiere 08.09.2023

LULU von Frank Wedekind

Regie Daniela Löffner Premiere 09.09.2023

MINISTERIUM DER TRÄUME nach Hengameh Yaghoobifarah Regie Monique Hamelmann Premiere 10.09.2023

wird freilich sofort missverstanden, wenn sich ihm doch mal die Faust ballt und von einer Entscheidung wirklich eine deutliche Entschiedenheit ausgeht. Was macht diesen sanften, kämpferischen Ulrich Khuon also aus? Genau dies: Das Kämpferische bleibt leise, es riskiert (gern und tapfer!) die Gefahr, übersehen zu werden. Das Experiment kommt ohne den Blinkstoff der Konjunktur aus. Das Krasse versucht sich im Paradoxon, beiläufig zu sein. Er verkörpert eine Wahrheit, von deren Tücke man immer zu wenig ahnt: Man ist nie Held auf allen Seiten eines Widerspruchs. Das Schwäbische und theologisch Grundierte dieses Mannes scheinen auf den ersten flüchtigen Blick ganz und gar jene Bodensee-Welt zu erzählen, in der die Kirchtürme darüber wachen, dass die Schäflein welche bleiben. Auf den ersten Blick aber nur. Arbeiten von Rosa von Praunheim („Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs“) und Kirill Serebrennikow („Decamerone“) offenbarten die Suche nach schillernder, scharfer, schonungsloser Behauptung von Lebensfarbenlust und politischer Courage. Khuon ist ein Theatermensch, der in Abständen das grelle Geselligkeitsgewerbe mit der Besinnungssphäre eines Benediktinerklosters tauschte. Sein Ton feiert das Bedachtsame wie einen hohen Mut – und ist hoher Mut. Solcher Ton spielt mit der Schwere, als sei alles leicht. Das ist das Schwerste. Der Khuon-Ton ist kein Brustton, aber er bietet die Stirn und hält durch. Just dies zeigen 14 DT-Jahre. Von einem Intendanten bleibt, was eine Lebendigkeit auf der Bühne so behauptet, als gäbe es Administration gar nicht. Khuon war anarchisch ohne Aufputz – den Stillen frag, was Schrei heißt, den Friedfertigen, wie Gewalt uns treibt und drückt. Ulrich Matthes, einer seiner treuen Spieler, hat es so gesagt: „Ulis graue Sakkos und Pullover, sein Bürger-Look, mögen einen oberflächlichen Betrachter dazu verleiten, seine Neugier aufs Extreme, seine Fähigkeit, sich auf die ausgeprägtesten Egos einzulassen, zu unterschätzen.“ Unter diesem Aspekt suche ich die Khuon-Jahre ab. Erinnerung ist nicht identisch mit Einordnung, sie ist mir ein SinneSog – das Einzelne leuchtet, nicht die Tendenz. Dies etwa – passend zum eben erwähnten Stichwort „Extreme“ – war eine der wichtigsten Entscheidungen: dem Regisseur Sebastian Hartmann ein prägendes, gesichertes Freifeld zu öffnen. Als Intendant am Centraltheater Leipzig war Hartmann arg verunsichert, seelisch wohl auch verletzt, weil erheblich attackiert worden – aber mit regelmäßiger Regie am DT fand gleichsam eine Auferstehung statt. Das Theater Hartmanns ist Barock in Kühlräumen. Ob „Gespenster“ oder

Theater der Zeit 6 / 2023

DIE DREIGROSCHENOPER

von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) Regie Volker Lösch Premiere 06.10.2023

DER SANDMANN nach E.T. A. Hoffmann Regie Sebastian Klink Premiere 07.10.2023

WAS WIR ERBEN von Romy Weyrauch

Regie Romy Weyrauch Uraufführung 14.10.2023

AJAX von Thomas Freyer

Regie Jan Gehler Uraufführung 28.10.2023

FAST FORWARd

Europäisches Festival für junge Regie 02.–05.11.2023

DER SATANARCHÄOLÜGENIALKOHÖLLISCHE WUNSCHPUNSCH von Michael Ende Regie Philipp Lux Premiere 04.11.2023

PIAF von Laura Linnenbaum

Regie Laura Linnenbaum Premiere 25.11.2023

HEY SEXY! von Turbo Pascal

Konzept Turbo Pascal Uraufführung 01.12.2023

WOYZECK von Georg Büchner

Regie Lily Sykes Premiere 02.12.2023

NAPOLEON Bonaparte von Tom Kühnel Regie Tom Kühnel Uraufführung 26.01.2024

ATLANTIS von Sebastian Hartmann und PC Nackt Regie Sebastian Hartmann Uraufführung 27.01.2024

MAMMA MEDEA von Tom Lanoye

Regie Lilja Rupprecht Premiere 23.02.2024

DO IT YOURSELf! von Tobias Rausch

Regie Tobias Rausch Uraufführung 24.02.2024

JUDITH SHAKESPEARE – RAPE AND REVENGE von Paula Thielecke Regie Laura Kutkaitė Premiere 02.03.2024

UNART

Jugendwettbewerb für multimediale Performances 06. & 07.03.2024

DER BESUCH DER ALTEN DAME von Friedrich Dürrenmatt Regie Nicolai Sykosch Premiere 05.04.2024

Ein neues Projekt von Adrian Figueroa Regie Adrian Figueroa Premiere 06.04.2024

DAS SCHLOSS nach Franz Kafka

Regie Maxim Didenko Premiere 04.05.2024

DIE JAGD nach Thomas Vinterberg und Tobias Lindholm Regie Daniela Löffner Premiere 31.05.2024

DAS SPIEL VON LIEBE UND ZUFALL von Pierre Carlet de Marivaux Regie Lily Sykes Premiere Mai /Juni 2024

MUSIKALISIERT EUCH! von Bernadette La Hengst

Regie / Musik Bernadette La Hengst Uraufführung 20.06.2024


Diskurs & Analyse Bilanz „Lear / Die Politiker“: Hartmann verfremdet nicht Wirklichkeit, sein Theater will selber Fremdkörper sein. „Woyzeck“ und „BerlinAlexanderplatz“: In diesem Theater ist der Körper der wahre Philosoph, denn er öffnet jeder Erkenntnis einen Triebhorizont, er setzt jeder Maßlosigkeit ein Sprungbrett in den Schmerz. Zwar gab es auch am DT Angriffe auf Hartmann („In Stanniolpapier“), sie trafen und stärkten jedoch ein faszinierendes künstlerisches Kraftzentrum. Das von Khuon durchsetzungs­ sicher in einem Spannungsgelände mit anderen Regiehandschriften verankert wurde. Genannt seien Stephan Kimmig („In Zeiten des abnehmenden Lichts“, „Wassa Shelesnowa“, „Kinder der Sonne“) oder Bastian Kraft („Biografie: Ein Spiel“, „Tod eines Handlungsreisenden“). Das Behutsame und das Brachiale, das Epische und das Eruptive als Gegensatz und Ergänzung. Das Gegenwartsinteresse Khuons: Dafür stand insbeson­ dere der Name Dea Loher. „Am Schwarzen See“ etwa oder „Das letzte Feuer“, beide Stücke inszeniert von Andreas Kriegenburg, dem oftmaligen Uraufführungsregisseur der Autorin. „Das letzte Feuer“ erlebte die Premiere noch in Hamburg, die Dernière in Berlin. Getrieben Erzählende, verzweifelt Schweigende, suchend Stolpernde: Die Geschichten eines Wohn-

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Tickets & Infos ab Mai 2023 unter: dramatikerinnenfestival.at

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hauses, seiner bösen, bitteren, besorgten, beladenen, bangen und bittenden Nachbarschaften. Schuld! Das ist das Wort, das durch Lohers geheimnisvoll gebaute Dramatik schreit, stottert, stöhnt, weint. Gegenwartsdramatik, das hieß für Khuon: Fragment, nicht unbedingt Erfolgsgarantie, Labor statt Palast. Khuons Mut, gleichsam Gartenarbeit gegen Gala zu setzen. Autoren und Autorinnen des Zeitgenössischen: Nachdrängende zuhauf! ­ Aber auch durchschlagende Kraft? Packende Gegenwarts­ geschichten, die zu Spielplanzentren werden? Zu selten. Umso mehr verdienten in all den Jahren die Autor:innentheatertage am DT höchsten Respekt. Khuon hatte sie schon in Hannover erfolgreich betrieben. Sie haben etwas von: klar sehen – und doch hoffen. Hoffen heißt: arbeiten, zeigen, diskutieren. Voraufführungen, Premieren. Stücke aus dem Deutschen Theater selbst, dazu Gastspiele. Einst waren die Intendanten Künstler, also Fantasten und Wunderlinge, dann kamen die Manager, aber in Leitungskünstlern wie Ulrich Khuon wuchs dem Theater gewissermaßen ein Pfarramt mit Portemonnaie zu. Und das Geld versuchte, dem Glauben ein Freund zu sein. Khuon, von Ruhmsucht geheilt, ehe sie überhaupt ausbrechen konnte, beendet nun seine direktorale Laufbahn. Keine Rennbahn. Keine Einbahn. Arbeit nach dem Grundsatz: Jedes Theater beweist nur immer, dass man es auch ganz anders machen kann. Und ich sehe vor mir die trippelnden Gestalten aus Andreas Kriegenburgs „Nathan“-Inszenierung. Lessings Gestalten wie Erdmännlein, aus dem Urschlamm gekrochen, erdig verkrustet: der Anfang der Welt. Das Kindische, Drollige – welch ein Kontrast zu jener Entzauberung, die heute alle Weltsichten durchzieht. Alles auf Anfang. T

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Foto links Maria Sturm, rechts Christopher Backholm

Der Dramaturg und Intendant Ulrich Khuon


Theater der Zeit

Report

„Es gab noch nie eine Frau wie Anna Karenina“ in der Regie von Ragna Wei im Rahmen vom Festival Heidelberger Stückemarkt

St. Gallen Nach sieben Jahren verlässt Schauspieldirektor Jonas Knecht das Theater St. Gallen Heidelberg Beim Heidelberger Stückemarkt zeigen sich Diskurse und Produktionen aus Schweden nach dem Rechtsruck verstärkt politisch

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Report St. Gallen

Konsequent zeitgenössisch Nach sieben Jahren verlässt Schauspieldirektor Jonas Knecht das Theater St. Gallen Von Peter Surber

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Als er 2015 als Schauspieldirektor nach St. Gallen gewählt wurde, war das zumindest für die lokalen Medien „ein Paukenschlag“. Jonas Knecht, Jahrgang 1972, war nicht nur der erste Einheimische in dieser Position; er brachte nach 17 Jahren in Berlin auch ein ungewöhnliches Profil mit. Nach dem Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch hatte er sich bis dahin als Regisseur mit seinem theater konstellationen in der freien Szene bewegt. Das weckte Hoffnungen in einer Stadt, in der sich „die Freien“ seit Jahrzehnten vergeblich um einen eigenen Spielort bemühen. Und dem früheren Stadt- und heutigen Kantonstheater, dem mit Abstand höchstsubventionierten Kulturbetrieb der Ostschweiz, gern den Schwarzen Peter für diesen Missstand zuschieben. Das Haus für die Freien ist auch heute noch nicht gefunden. Aber Jonas Knecht hat einige Öffnungen bewirkt. Seit 2018 findet alle zwei Jahre Jungspund statt, das Theaterfestival für junges ­Publikum, getragen von einem Verein, mit freien Gruppen,

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Foto links Tanja Dorendorf/ T+T Fotografie, rechts Iko Freese

„HotSpotOst– Sankt Irgendwo im Nirgendwo“ nach einer Idee von Rolf Bossart mit Texten von Brigitte Schmid-Gugler, Rolf Bossart und Stefan Späti; inszeniert von Jonas Knecht


Report St. Gallen dem Figurentheater und dem Theater St. Gallen als Partner und Knecht als Mitglied der Programmgruppe und Mitinitiator dieser Biennale. Weitere Kooperationen fädelte Knecht mit dem Dramenprozessor und dem Hausautor:innen-Modell StückLabor ein (siehe TdZ 03/23). Auch für einzelne Produktionen spannte das Theater mit freien Gruppen zusammen. Die Etablierung der freien Szene als „vierte Sparte“ am Dreispartenhaus blieb jedoch sein (gelegentlich öffentlich geäußerter) Wunschtraum. Seine erste Spielzeit eröffnete Jonas Knecht mit einem „Triple-­Hamlet“: mit dem Original, kulturpolitisch angereichert, auf der großen Bühne, einem vom Tanzensemble mitbewegten „Meta-Hamlet“ in der zweiten Spielstätte Lokremise sowie einer Fassung für Jugendliche. Knecht legte damit vor, was er in St. Gallen in den kommenden Jahren etablieren würde: Sprechtheater als multimediale, spartenübergreifende und möglichst alle Sinne ansprechende Kunst. Musiktheatralische Formen, LiveHörspiele, Audio-Installationen und Arbeiten mit Video sind in den über achtzig Produktionen unter seiner Leitung zur Selbstverständlichkeit geworden. Sein technisches Flair (Knecht hatte ursprünglich Elektrotechnik studiert) kam ihm nicht zuletzt in der Pandemie zugute – das St. Galler Schauspiel schaltete rasch, setzte auf Hörspiele oder auf installative Projekte, etablierte eine Monolog-Reihe, ­lotete Formen unter freiem Himmel aus. Aus dem Haus hinaus ging das Ensemble auch mit einem umgebauten Schiffscontainer, den es unter anderem für die Tourneeproduktion mit „Spekulanten“ des einheimischen Autors Philippe Heule nutzte. Der Container stand für Knecht für ein Theater, das sich dafür interessiert, was passiert, wenn die Wirklichkeit in die Fiktion einbricht – und umgekehrt. Und als niedrigschwelliger Eingang ins Theater. Stücke oder Projekte? Jonas Knecht setzte grundsätzlich auf ersteres. Das waren auch Klassiker von Aischylos bis Tennessee Williams, aber im Vordergrund stand die Gegenwartsdramatik. Knecht brachte Wolfram Lotz mehrfach nach St. Gallen, spielte Maxi Oberexer, Thomas Melle, Felicia Zeller, Konstantin Küspert, Sibylle Berg, Maria Ursprung, Nis-Momme Stockmann und viele andere. Der Erfolg: durchmischt, aber insgesamt erfreulich, bei dem nicht gerade auf Experimente abonnierten Ostschweizer ­Publikum. Stoffe, die anschlussfähig für eigene Erfahrungen sind, fanden am meisten Widerhall, darunter Lutz Hübners Schul­drama „Frau Müller muss weg“ oder Thomas Melles „Versetzung“. Aus diesen Zeitstücken ragte ein Abend heraus, der nun ausdrücklich als Projekt deklariert war: „Verminte Seelen“ griff den Skandal auf, dass über Jahrzehnte bis in die 1970er-Jahre hunderttausende Jugendliche und Erwachsene in der Schweiz „administrativ versorgt“ als „verwahrlost“, „arbeitsscheu“ oder „liederlich“ abgestempelt und psychiatrisiert wurden. Die Ostschweiz war ein Brennpunkt dieser menschenverachtenden Sozialpolitik. Den Theaterabend begleiteten Debatten und Zeitzeugenberichte, seine Festivaltournee (u.a. zum Heidelberger Stückemarkt und zum Zürcher Theaterspektakel) endete durch die Covid-19-Pandemie. Schweizer Stoffe sind im Rückblick ein wichtiges Vermächtnis der Ära Knecht. In „Lugano Paradiso“ arbeitete Autor Andreas Sauter die „Fichenaffäre“ auf, die gigantische Bespitzelungs­

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maschinerie des Schweizer Staats während des Kalten Kriegs. Oder: Fünf Kurzstücke umkreisten mal ernst, mal slapstick­ artig „Das Schweigen der Schweiz“ (und wurden ans Schweizer Theatertreffen eingeladen). Ivna Žic problematisierte in „Die Gastfremden“ die restriktive Migrationspolitik des Landes. Mit „Vrenelis Gärtli“ zum Start und „Selig sind die Holzköpfe“ zum Schluss seiner St. Galler Zeit befragte Knecht alpine Mythen und Legenden. Und mit einem Kollektiv von Autorinnen und Autoren realisierte er „HotSpotOst“, eine karikaturistische, allerdings im Endergebnis allzu brave Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt und ihrem notorisch angeknacksten Selbstbewusstsein. Alle diese Produktionen fanden in der Lokremise statt, die der Kanton zum Kulturzentrum umgebaut hatte, bestückt mit

Ensemble in „Selig sind die Holzköpfe“, Texte von Katja Brunner, Anja Horst, Ariane von Graffenried und Martin Bieri; inszeniert von Jonas Knecht

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Report St. Gallen Im Vordergrund stand die Gegenwartsdramatik. Knecht brachte Wolfram Lotz mehrfach nach St. Gallen, spielte Maxi Oberexer, Thomas Melle, Felicia Zeller, Konstantin Küspert, Sibylle Berg, Maria Ursprung, Nis-Momme Stockmann und viele andere.

In der zu Ende gehenden Spielzeit war das Sprechtheater mit gerade noch zwei Produktionen sowie dem Familienstück im großen Haus vertreten, in früheren Jahren waren es fünf Positionen gewesen. Das ist allerdings politisch gewollt – Kanton und Stadt St. Gallen als Hauptträgerinnen verpflichten das Theater per Leistungsvereinbarung zu einer Eigenfinanzierung von dreißig Prozent, mehr als jedes andere Mehrspartenhaus in der Schweiz. Das zwingt zu einer programmlichen Gratwanderung, welche der langjährige kaufmännische Direktor Werner Signer bis zu seiner jetzigen Pensionierung gemeistert hat, allerdings mit den genannten Abstrichen beim Sprechtheater. Signer war primus inter pares eines vierköpfigen Direktoriums mit den Leitern von Oper, Schauspiel und Konzertbetrieb. Seinen Abgang nutzte der Verwaltungsrat der Träger-Genossenschaft für eine Art Palastrevolution von oben: Neu steht ein Intendant, diskret als „Gesamtverantwortlicher Direktor“ tituliert, allein an der Spitze. Die bisherigen Direktoren sind zu Spartenleiterinnen und -leitern zurückgestuft, neu dafür mit Tanz als eigener Sparte und erweitert um die Leitungspersonen von Dramaturgie, Marketing, Technik und Finanzen. Auf den Direktionsposten gewählt wurde der bisherige Opernchef, Jan Henric Bogen. Das Modell rief heftige öffentliche Proteste hervor, den Kritiker:innen gilt es als Rückfall in alte hierarchische Zeiten, auch wenn Bogen explizit einen partizipativen Führungsstil verspricht. Der Unmut eskalierte an der Generalversammlung der Genossenschaft Ende 2022, als Folge trat der Verwaltungsratspräsident per sofort zurück, seine Stellvertreterin, die St. Galler Kulturministerin, versucht die Wogen zu glätten. Erstes Opfer der neuen Leitungsstruktur war jedoch Jonas Knecht. Sein 2022 auslaufender Dreijahresvertrag wurde nur noch um ein Jahr bis 2023 verlängert, um dem (damals noch nicht gewählten) künftigen Direktor freie Hand für die Besetzung der Stelle zu lassen. Das ist inzwischen geschehen und trug einiges zur Beruhigung der Gemüter bei: Knechts Nachfolgerin wird seine bisherige Hausregisseurin Barbara-David Brüesch, die schon den ersten „Hamlet“ inszeniert hatte. Und Jonas Knecht wird ab Herbst 2024 Intendant des Theaters Erlangen und will dort versuchen, Theaterleitung neu zu denken – beweglicher und kollegialer als auf dem schwerfälligen Dampfer namens Theater St. Gallen. Nicht ändern soll sich aber seine Neugier, auf alle möglichen ­Arten zu erproben, „wie wir heute zeitgenössisch auf der Bühne stehen“. T

Schauspieldirektor Jonas Knecht

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Foto rechts T+T Foto, links Christopher Backholm

Programmkino, Kunstzone und zwei Theatersälen. So attraktiv die Räume und der industrielle Charme der „Lok“ für eine zeitgenössisch offene Theaterästhetik sind: Im großen Haus war das Schauspiel dafür umso weniger präsent. Die Hauptspielstätte, der 1968 eröffnete, skulpturale Betonbau von Claude Paillard, ist über die Jahre immer stärker von Oper und Musical in Beschlag genommen worden. Entsprechend zermürbend war schon für Knechts Vorgänger der Kampf um die Positionierung des Schauspiels. Eine janusköpfige Angelegenheit, sagt Knecht selber – einerseits ist mit experimentellen Formen und ohne klingende Klassikernamen das große Haus mit über siebenhundert Plätzen kaum noch zu füllen, andrerseits sei es auch für Sprechtheater essentiell, großräumig inszenieren zu können und so die eigenen Fantasieräume zu erweitern.


Report Heidelberger Stückemarkt

„Es gab noch nie eine Frau wie Anna Karenina“ in der Regie von Ragna Wei im Rahmen vom Festival Heidelberger Stückemarkt

Die Gesellschaft hat das Hinschauen verlernt Beim Heidelberger Stückemarkt zeigen sich Diskurse und Produktionen aus Schweden nach dem Rechtsruck verstärkt politisch Von Elisabeth Maier

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Die Risse in der schwedischen Gesellschaft sind tief. Seit Jahren ist dort der Rechtsruck spürbar. Im einstigen Musterland der Sozialdemokratie regiert seit Oktober 2022 eine rechte Dreierkoalition. Dass im Heimatland der Klimaaktivistin Greta Thunberg gerade junge Wähler:innen die rechtsextremen Schwedendemokraten an die Macht brachten, zeigt die düstere Zukunftsperspektive. Der politische Wandel hat für die Kunstszene drastische Folgen. Mit dem Schweden-Schwerpunkt lenkte das Theater Heidelberg beim vierzigsten. Stückemarkt nun den Blick auf das skandinavische Land. „Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten sind zweitstärkste Kraft im Land“, sagte die Kuratorin Ulricha Johnson. Die Leiterin des Internationalen Theaterinstituts (ITI) in Schweden hat das Gastland-Programm kuratiert. Sie zeichnete ein düsteres Bild der Kulturpolitik. Dass die Szene in dem Land mit zehn Millionen Einwohner:innen unter den drastischen Kürzungen leiden wird, steht für sie außer Zweifel. Ihren kämpferischen Impuls ließen die Künstler:innen in den Gastspielen, Lesungen und Gesprächen spüren. „Das ­Theater wird politischer“, sagt Johnson. „Es spiegelt die Vielfalt der Gesellschaft und setzt auf dokumentarische Formen.“ Die Schauspielerin und Übersetzerin, die lange als künstlerische Entwicklungsmanagerin beim staatlichen Tourneetheater Riksteatern tätig war, denkt kulturpolitisch. Die jungen Künstler:innen s­ etzen nach ihren Worten darauf, politische Inhalte elegant und subtiler zu vermitteln, als dies ihre Vorgänger in den 1970er-Jahren getan hätten. Das zeigte das Gastspiel „Ambulanz“ der Regisseurin und Autorin Paula Stenström Öhman. In der Notaufnahme eines Krankenhauses laufen die Fäden der fast dreistündigen Produktion zusammen, die in einen Femizid mündet. Die Autorin und

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Report Heidelberger Stückemarkt erfolgreich. Die Aufgabe, „Gegenwartsdramatik zu fördern und aktuelle Themen in die Theater zu tragen“, das ist für Schultze Ziel des Stückemarkts. Das gilt auch für den deutschsprachigen Wettbewerb. Den mit 10 000 Euro dotierten Autor:innenpreis gewann Leonie Lorena Wyss mit ihrem Stück „Blaupause“. Insgesamt vergibt das Heidelberger Theater 32 000 Euro Preisgeld. „Diese hohen Fördergelder machen unsere Sponsoren möglich“, sagt Schultze. Zwar werde neue Dramatik viel gespielt, aber bei der nachhaltigen Förderung des Nachwuchses sieht er Nachholbedarf.

Drei neue schwedische Stücke Die drei schwedischen Dramatiker:innen, die sich dem europäischen Wettbewerb stellten, stehen für Vielfalt und Aktualität. Was die ­ Formensprache angeht, gehen sie unterschiedliche Wege. Mitglieder des Schauspielensembles lasen aus den Texten, die ins ­Deutsche übersetzt worden sind. Als Kampf um Wahrheit legt der schwe­dische Autor Alejandro Leiva Wenger sein Stück „Minnestund“ (auf Deutsch: Leichenschmaus) an. Mit dem tragikomischen Drama gewann der 46-Jährige beim vierzigsten. Heidelberger Stückemarkt den europäischen Dramatiker:innenpreis. Der angehende Soziologe Jon, der sich eher zur Sozialarbeit hingezogen fühlt, wird eines Tages mit einem verstorbenen Freund aus der Vergangenheit konfrontiert. Allerdings kennt er diesen Sackarias nicht. Doch das verschweigt er trauernden Mutter, die ihn zum Leichenschmaus bittet. Virtuos spielt der Autor mit Schein-Wirklichkeiten und mit Wahrnehmungen der Figuren, die sich ihre eigene Vergangenheit zimmern.

Foto Sören Vilks

Mitbegründerin des Kollektivs Lumor Teater hat das psychologisch tiefe Drama in Kooperation mit dem Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm realisiert. Vom „Dramaten“ gehen in Schweden wichtige Impulse für eine innovative Bühnenkunst aus. Die Dramatikerin, die auch Kriminologie studierte, lotet in dem Stück die Grenzen zwischen einem überlasteten Gesundheitssystem und der Grausamkeit einer Gesellschaft aus, die das Hinschauen verlernt hat. Da wird eine Mutter von ihrem Mann zu Tode geprügelt. Hilflos muss der Sohn zusehen, wie die vorhersehbare Katastrophe ihren Lauf nimmt. Das gesamte System des Familienumfelds wie auch der Fürsorge sieht weg. In einem leeren Raum mit Wänden und Fluchttüren verortet Ausstatterin Anna Heymowska die Handlung. Im Keller des Krankenhauses werden Versuchstiere gezüchtet. Es ist eine schreckliche Unterwelt. In Klangschluchten reißt der Sounddesigner Saemundur Grettisson die Akteur:innen, die sich immer mehr in das Netz aus Gewalt und Gleichgültigkeit verstricken. So zeichnet die Autorin das Porträt einer Gesellschaft, die ihre Menschen nicht schützen kann. Mit starkem Schauspielertheater überzeugte die Produktion das Publikum im Heidelberg. Psychologisch fundierte Rollenporträts unterstrichen die politische Kraft dieses Theaters, das tagesaktuelle Schlagzeilen aus den Medien konsequent weiterdenkt. Über das große Interesse am Schweden-Schwerpunkt freute­sich der Heidelberger Intendant Holger Schultze. „Junge schwedische Autor:innen kommen im deutschen Theater selten zum Zug.“ Deshalb war es ihm ein Anliegen, gerade dem Dramatiker:innen-Nachwuchs aus dem skandinavischen Land ein Forum zu bieten. Mit achttausend Zuschauer:innen war das Festival sehr

Jonatan Rodriguez und Maia Hansson Bergqvist „Ambulanz“ von Paula Stenström Öhman in eigener Regie

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Beim schwedischen Autor:innentag im Heidelberger Zwinger ließ Wengers Stück, das 2016 in Stockholm uraufgeführt wurde, das Publikum vergnügt, aber auch verstört zurück. Bei Eierbrötchen und Alltagsgesprächen erschafft sich die Hauptfigur Jon da mit einer fremden Familie einen besten Freund, den es nie gegeben hat. Das Verwirrspiel hat gesellschaftspolitische Tiefenschärfe. Wenger entwirft Porträts von Menschen, die verlernt haben, einander wahrzunehmen. Daran krankt die Wegwerfgesellschaft, in der das Erinnern beliebig austauschbar ist. Bei der Auswahl der drei schwedischen Autor:innen ist er Kuratorin Ulricha Johnson und der Heidelberger Dramaturgie ein spannender Querschnitt gelungen. Mit Åsa Lindholms „Girls will make you blush“ (auf Deutsch: Mädchen bringen Dich zum Erröten) war auch ein Jugendstück in der Auswahl. Mittels starker Körperbilder zeigt die Autorin da, was sich in den Körpern und in den Köpfen von Mädchen in der Pubertät bewegt. Dabei setzt die Grenzgängerin zwischen Tanz und Theater auf eine Kunstform, die gerade jenseits der Worte ihre Faszination entfaltet. Mit ihrer kraftvollen Theatersprache erreicht Lindholm ein erwachsenes Publikum. Der Schauspieler und Autor Adel Darwish aus Syrien, der seit 2015 in Schweden lebt, verarbeitet in „Hierarchy of Needs“ (deutsch: Hierarchie der Bedürfnisse) seine Erlebnisse als Theaterschaffender mit der Flucht. Der Traum, in der neuen Heimat mit seinen syrischen Kolleg:innen verbunden zu bleiben, reflektiert die Erfahrungen der Migration auf den Ebenen des Traums und der Wirklichkeit. Sein Drama zeigt, wie das Leben in der multikulturellen Gesellschaft Barrieren überwindet. Doch die Integration stößt an Grenzen, wenn das Verständnis versagt. Dass sich viele Schweden schwertun, internationale Impulse zu integrieren, erlebt der Künstler nach eigenem Bekunden in der täglichen Theaterarbeit. Anders als im deutschen Theater genießen Kinder- und Jugendbühnen in Schweden hohes Ansehen. Da setzte die Autorin Suzanne Osten Meilensteine, seit sie 1975 die Kinder- und Jugendtheatersektion Unga Klara am Stockholmer Stadttheater gegründet hat. Grundsätzlich sind die Stücke für Familien konzipiert. „Es ist ein Privileg, für Kinder und Jugendliche zu spielen“, findet Adel Darwish, der beim Backa Teater Göteborg auf der Bühne steht. Ihn fasziniere es, sich diesem kritischen und direkten Publikum zu stellen. „Glücklich bis ans Ende unserer Tage“ heißt die Stückentwicklung der Autorin Emma Palmkvist und des Regisseurs Lars Melin. Spielerisch gibt das Ensemble da Anleitungen zum Glücklichsein. Doch das Projekt kann im Alltag auch scheitern. Sprachlosigkeit und Missverständnisse arbeitet das Ensemble in einer klaren, kindgerechten Sprache heraus. Dass diese theatrale Vielfalt in der aktuellen politischen Situation auf dem Spiel steht, liegt für Ulricha Johnson auf der Hand. „Die Politik hat sich entschieden, den Regionen mehr finanziellen Spielraum zu gewähren“, schildert sie die Lage. Da obliege es den dortigen Parlamenten, Gelder zu verteilen. Oft stellten die Rechten nun die Frage in den Raum: „Wollt Ihr Kultur fördern oder Krankenhäuser erhalten?“ In diesem zunehmend kulturfeindlichen Klima die reiche Theaterszene Schwedens zu erhalten und weiterzuentwickeln, das ist für die Kuratorin die große Aufgabe der Zukunft. T

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S�DWIND FESTIVAL

Juli 5.–11. 3 202

2. Bayerisc hes Th für junges eatertreffen Publikum


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Digital

Neuerscheinungen aus dem Verlag

All you can read Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie Assoziationen zum Thema aus unserem großen Verlags­archiv mit mehr als 8000 Texten. tdz.de/streaming

Das ganze Theater Musiktheater, Puppenspiel, Zirkus, Tanz, Kindertheater u. v. m.

Podcast Lina Wölfel und Stefan Keim sprechen im neuen TdZ-Podcast „Wölfel & Keim & Theater“ über aktuelle Streitthemen und Fragen der Theaterkritik. Diskutieren Sie mit auf Instagram, Facebook und Twitter. tdz.de/podcast

Newsletter-Updates Mit dem Verlags-Newsletter können Sie Neuerscheinungen des Verlags lesen, noch bevor sie aus dem Druck kommen. Der MagazinNewsletter erscheint monatlich und stellt die neue TdZ-Ausgabe, Kritiken und aktuelle Dossiers vor. tdz.de/newsletter

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Minneapolis, 2020 – Dieses Bild zirkulierte in den sozialen Medien während des Lockdowns, als die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in Minnesota ausbrachen, ausgelöst durch die Ermordung von George Floyd. Im Buch beschrieben von Joshua Wicke.

Dazwischengehen! Welche Inspiration, welche Kraft, welche Ideen und welche Praxisformen aus der Kunst heraus können für das soziale Handeln unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen bedeutsam werden? Seit 2018 führen die Herausgeber*innen Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel auf der Suche nach Antworten einen Dialog mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen, die sich in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Pädagogik und in der Wirtschaft verorten lassen – und sie haben zwischen diesen Personen einen regen Austausch angezettelt. So haben sie in diesem Band Beispiele versammelt, in denen das Dazwischengehen! ganz selbstverständlich geschieht – vor allem da, wo das soziale Miteinander ausschließlich nach Kriterien der Zwecklogik, nach individuellem Gewinn- oder Machtstreben organisiert wird; da, wo es schlichtweg in einem uninspirierten und uninspirierenden

Alltagstrott zu ersticken droht, oder da, wo demokratische Grundsätze missachtet und Gleichheitsgrundsätze außer Kraft gesetzt werden. Akteur*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsfeldern haben hierzu beispielhafte, von der Norm abweichende Haltungen und Spezialkenntnisse entwickelt und eigensinnige Wege erprobt, die so zu einer Inspiration für soziales Handeln in der Gesellschaft insgesamt werden können. Dazwischengehen! enthält Beiträge u. a. von Armen Avanessian, Augusto Corrieri, Jochen Gimmel, Simone Hain, Thomas H ­ eise, Isabell Lorey und Joshua Wicke.

Recherchen 166 Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik Paperback mit 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen 22 € (print + digital)

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Fotos: Birgit Hupfeld (Podcast), Aren Aizura (oben), Dietmar Gust (B. K. Tragelehn), Andrea Davis (VOICES, FutureBrownSpace)

tdz.de/sparten


„Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischen­ setzen“ In diesem Buch zieht Brechts letzter Meisterschüler und langjähriger Freund von Heiner Müller, B. K. Tragelehn, versonnen und verschmitzt, hellwach für die Finsternisse der Zeit, an seiner Zigarre und erzählt. Wieder. Noch einmal. In Gesprächen mit HansDieter Schütt wandert er durch sein Leben und besteht auf der Stimmung eines Abendspaziergangs. Der 1936 in Dresden geborene Regisseur, Dichter und Übersetzer verkörpert Lust am Widerspruch, Begehren nach dem Paradox, Freude an frivoler Verweigerung. Für ihn war das Leben im Osten eine Geschichte der Verbote, das Leben im Westen ebenfalls eine Chronik des Unliebsamen. Im verkoppelten Ostwesten dann die Wiederaufnahme des alten Möbelspiels: „Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischensetzen.“ Flankiert werden die Gespräche durch Texte von Josef Bierbichler und Friedrich Dieckmann.

Hans-Dieter Schütt B. K. Tragelehn. Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. Paperback mit 206 Seiten € 18 (print + digital)

B. K. Tragelehn

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Vorschau TdZ on Tour Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partnern or­ganisieren. Eintritt frei für TdZAbonnenten (abo-vertrieb@tdz.de) SAMSTAG, 17.6. Arbeitsbuch 2023: Johan Simons. Dialog mit dem Tod Schauspielhaus Bochum

FutureBrownSpace – Schwarze Ästhetik in weißen Zirkusräumen

Neuer Zirkus Es steht immer noch sprichwörtlich ein Elefant im Raum, wenn wir heute über Zirkus sprechen: die koloniale Vergangenheit des Zirkus, die aktuell kaum aufgearbeitet ist. Sie wird vielmehr von zahlreichen romantisierenden Zirkusbildern überlagert und viel zu selten klar benannt. Was bedeutet es, in Anbetracht dieser Historie, heute zeitgenössische Formen von Zirkus zu kreieren, zu zeigen, zu vermitteln, zu lehren oder zu inszenieren? Die neue VOICES Ausgabe Re-exploring the grotesque beschäftigt sich mit dem Begriff des Grotesken und legt ihn als Folie über den Zirkus. Die versammelten Texte fragen aus kulturtheoretischer, theaterund zirkuswissenschaftlicher, dekolonialer, queer-feministischer und künstlerischer Perspektive. Es sind Reflexionen darüber, was uns das Groteske in seiner Vielschichtigkeit und mit seinen Ambivalenzen heute in Bezug auf die Diversität von Körpern, Körperbildern und eben aktuelle Zirkus- und Tanzpraktiken sagen kann. VOICES IV Re-exploring the grotesque Circus perspectives on diverse bodies Heft mit 76 Seiten 8 € (print + digital)

FREITAG, 7.7. Jonas Biermann Soubeyrand Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus Einar & Bert, Berlin Weitere Termine unter tdz.de/on-tour

Bücher in Planung Martin Zehetgruber. Bühnen Arbeitsbuch Johan Simons Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus Moritz Ott: Der urheberrechtliche Schutz performativer Kunst Puppe50 – HfS Ernst Busch Berlin 30 Jahre Bayerische Theaterakademie August Everding ixypsilonzett – Wie macht Ihr das?! 40 Jahre Kampnagel Thomas Oberender: Gaia-Theater

Laden Sie die aktuelle Verlags­ vorschau als PDF herunter, um mehr über die Bücher des Frühjahrs zu erfahren, oder kontaktieren Sie den Verlag: info@tdz.de

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

„Das weite Land“ von Arthur Schnitzler in der Regie von Barbara Frey, Koproduktion zwischen Ruhrtriennale und Akademietheater Wien, 2022. Bühne von Martin Zehetgruber

Alles Katastrophe! Foto Martin Zehetgruber

Der Bühnenbildner Martin Zehetgruber und seine Erinnerungsbilder Von Judith Gerstenberg

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Seit vierzig Jahren prägen die vielfach ausgezeichneten Bühnenwelten des Österreichers Martin Zehetgruber die europäische Theaterszene. Es sind Bilder, die auf der Netzhaut nachbrennen. Reste von Eindrücken, die sich abgelagert haben im Gedächtnis – in seinem, in dem der Gesellschaft. Emotional begriffene Situationen, Bilder, Texte, Begegnungen. In allen Bühnen steckt er selbst. Und mit jedem seiner Räume fordert er den Dialog ein, zwingt zum Umgang mit ihnen. Die Dramaturgin Judith Gerstenberg gibt nun eine umfangreiche Werkmonografie heraus, die den Werdegang Zehetgrubers nachzeichnet und Stimmen seiner künstlerischen Wegbegleiter:innen versammelt.

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„Bitte? Alles Katastrophe? – Was soll das für ein Titel sein?“ Ich bin irritiert, meine Ablehnung lasse ich deutlich mitschwingen. Es ist unser erstes Treffen für diesen Band, der seine Bühnenwelten vorstellen soll. Martin Zehetgruber schaut mich an, lacht, zuckt mit den Schultern: „Alles Walzer?“ Auf eine ausführlichere Erläuterung brauche ich nicht zu hoffen. Ich schlage im Österreichisch-Deutschen Wörterbuch nach und finde mich kurze Zeit später in der Kulturgeschichte seines Heimatlands wieder. „Alles Walzer!“ – Das jährlich ausgerufene Kommando beim Wiener Opernball, welches der Steifheit artig einstudierter Knickse „den wirbelnden Tumult der walzertanzenden Masse“ folgen lässt, ist ein außerhalb der österreichischen Landesgrenzen argwöhnisch beäugtes Kulturereignis – mit Geschichte. Ich lese über tiefgreifende geistige Umbrüche, die die Entstehungszeit dieses Gesellschaftstanzes prägten, über Revolutionen, politische Unsicherheiten und darüber, dass der Walzer sowohl eine „frühe Manifestation des Individualismus darstellt als auch eine kollektive Flucht in die Tanzekstase“, in die sich die Paare durch die ununterbrochene Kreisbewegung hineinsteigern. Ich ersetze „Walzer“ mit „Katastrophe“, blättere mich durch Zehetgrubers Bildarchiv und begreife.

Im besten Fall Geschichten. Der Unter­ titel. Martin Zehetgruber liefert nur Fragmente. Flashs. Bilder, die auf der Netzhaut nachbrennen. Die Verbindung der Bruchstücke, die Erzählung überlässt er anderen. Mir. Dem Publikum.

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BLACK Erinnerungen. Keine Abbilder. Keine Vorlagen. Keine realen Räume. Reste von Eindrücken, die sich abgelagert haben im Gedächtnis – in seinem, in dem der Gesellschaft. Emotional begriffene Situationen, Bilder, Texte, Begegnungen. Sie türmen sich zur Abraumhalde in seinem Kopf. Die Entwürfe für die Bühnen entstehen dort. Spontan. Er skizziert sie schriftlich. Erst nachträglich recherchiert er, sucht Belege für seine Ahnungen, zieht Material aus Kunst und Literatur hinzu.

oder Danach. Etwas hat stattgefunden oder etwas kündigt sich an. Etwas Umwälzendes. Nichts bleibt so wie es ist. So finden sich bei Zehetgruber auch keine „Durchsteher“. Seine Bühnen sind in Bewegung. Die Bilder beanspruchen eine eigene Erzählebene, sie verwandeln sich im Laufe des Abends, überraschen, verschwinden, bleiben flüchtig, trotzen der scheinbar beständigen Materialität. Obgleich jedes einzelne von ihnen für die Ewigkeit gebaut zu sein scheint. Mühen und Aufwand hat Zehetgruber nie gescheut. Im Gegenteil. Er fordert sie ein, geht es doch immer um ganze Welten und um die Wucht, die es braucht, um sie zu vernichten. Und um den Schmerz, den diese Vernichtung hinterlässt. Um den Verlust. […]

BLACK Maßlosigkeit. Verausgabung. Verschwendung. Zehetgruber sucht sie. „Nichts schlimmer als das Maßvolle, das Ausgewogene, die Balance“, sagt er und gibt zu verstehen, wie schnell ihn die Ungeduld und Langeweile ereilt. Nur die Maßlosigkeit impliziert die Möglichkeit des Scheiterns, öffnet Flanken, macht verletzlich. Darin findet sich das Drama, die Theatralität. T Auszug aus Judith Gerstenbergs Beitrag „Erinnerungsbilder“ in dem bei Theater der Zeit erscheinenden Buch

[…] Der Anspruch an das körperliche und mentale Erleben eines Stückes ist bei Zehetgruber gleichwertig. Er legt Fährten, Zeichen aus unserer abendländischen Zivilisations- und Kulturgeschichte. Und: Er spielt mit der Beunruhigung, mit etwas abwesend Anwesendem und aktiviert damit die Einbildungskraft der Zuschauer:innen, rührt an Ängste, provoziert Erwartungen, manipuliert Aufmerksamkeiten. Seine Bilder erzählen vom Zustand eines Davor

Alles Katastrophe! Bühnen / Stages Martin Zehetgruber Herausgegeben von Judith ­Gerstenberg Broschur mit 276 Seiten, 35 € (print + digital)

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Magazin Bücher

Hamlet in Hongkong Eine Studie zu Heiner Müller in Asien Von Thomas Irmer

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Lianhua Hes nun in Buchform veröffentlichte Dissertation wurde an der Universität Stuttgart angenommen und baut von Heiner Müllers frühem Gedicht „Der glücklose Engel“ (1958) ausgehend eine Poetik der Geschichtsphilosophie, die Müllers Werk bis in die späten Texte bestimmte. Das ist für die Literaturwissenschaft ein lohnender Gegenstand und der chinesischen Doktorandin nach einem vierjährigen Forschungsstipendium des Chinese Scholarship Council durchaus gelungen. Methodisch stützt sie sich dabei auf Theorien der Intertextualität, insbesondere auf Gérard Genettes „Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe“, gründlich ausgeführt bei der Untersuchung von Müllers Langgedichten im Spätwerk. Es bot sich bei Lianhua Hes Herkunft für sie gewiss auch an, einen komparatistischen Blick auf Heiner Müller in Ostasien mit einzubringen, über dessen Rezeption dort hier nicht allzu viel bekannt ist. Der Verlag kündigt im Klappentext an, dass ein „postkolonialer Blick“ – nach der allbekannten eurozentrischen Perspektive auf Müllers Werk – „neue Lesarten eröffnet“. Das ist nicht der Fall. Lianhua He bezieht sich ja ausdrücklich auf Theoretiker:innen, die in den letzten Jahrzehnten die Literaturwissenschaft in Europa und Nordamerika geprägt haben, und orientiert sich bei der Deutung von Müllers Werken durchaus an bekannten Mustern. Die Arbeit enthält allerdings einige Exkurse zur Rezeption in China und Hongkong sowie in Südkorea und Japan. Japan hat freilich eine schon längere Tradition mit der Übersetzung und Aufführung von Müllers Stücken, die wohl in ihrer Komplexität inzwischen eine eigene Studie verdient. So sind vor allem die Ausführungen zu China und Hongkong besonders interessant, wo die „Hamletmaschine“ als Müllers bekanntestes Stück schon mehrfach inszeniert wurde. In Hongkong durch den Regisseur Chan Ping-chiu, der den Text 2008 und 2010 für eine Kritik der Konsumgesellschaft mit dem Hintergrund der nun nicht mehr existenten Kronkolonie und der Rolle der Kunst unter verschärften Marktbedingungen bearbeitete und aufführte, nachdem er bereits 1995 das Stück im Rahmen eines universitären Kurses „Absurd und Postmodern“ das erste Mal inszeniert hatte. Chan wurde durch Müllers Verfahren eines Metatextes im Verhältnis zu Shakespeare für die eigenen Bearbeitungen angeregt, und hier

findet der Exkurs auch einmal wieder zurück zur Grundlinie der ganzen Studie und andeutungsweise auch zur postkolonialen Situation Hongkongs. 2010 fand die erste Inszenierung in Festlandchina durch den Regisseur Wang Chong statt. Der setzte Videoclips von der Beerdigung des koreanischen Diktators Kim Il-sung zusammen mit Ausschnitten aus Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ und Bildern von der chinesischen Kulturrevolution vor die Aufführung des Texts, die dann offenbar mit Stilelementen der Pekingoper realisiert wurde. Lianhua He resümiert diese einzelnen „Hamletmaschinen“ als „neuen Mythos“, der in ihrer Deutung das Schicksal der Intellektuellen in unterschiedlichen Kulturen vergleichen lässt, „die in einem politischen Dilemma gefangen waren und die erlebte Geschichte nur anschauten, nicht aber verändern konnten“. Das 2003 erschienene „Heiner MüllerHandbuch“ enthält keinen eigenen Eintrag zu China/Hongkong. Lianhua He hat in ihrem Exkurs immerhin eine kleine, aber wichtige Bestandsaufnahme geliefert im Rahmen dieser Studie, die außerdem Müllers Nachdichtungen chinesischer Autor:innen in einem eigenen Kapitel vorstellt. Die werden übersichtlich untersucht und in der Nachfolge von Brechts Interesse an chinesischer Literatur beurteilt. T

Lianhua He: Geschichtsphilosophie als Literatur. Intertextuelle Analysen zum Werk Heiner Müllers. transcript Verlag, Bielefeld 2022, 250 S., 45,99 €

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Magazin Bücher Der Stadttheaterbetrieb gestaltet sich nach wie vor als ein patriarchales System. Und es reicht tief. Nicht nur in der Frage der Frauen in Führungs- und Regiepositionen, auch in Hinblick auf den Gender-Pay-Gap, die Frage nach der Aufteilung von Carework zuhause und der Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf am Theater, sondern auch hinsichtlich der Frage, wie Stoffe, Motive, Figuren und Texte überhaupt wahrgenommen und rezipiert werden vor der Folie eines männerdominierten Kanons. Noch 2018 hat Frank Castorf in der Süddeutschen Zeitung Frauenregie mit Frauenfußball verglichen. „Status Quote“ herausgegeben von Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann (alle drei haben für die Jury des Theatertreffens zahlreiche Inszenierungen gesehen und bewertet) versammelt Gespräche mit Regisseurinnen, die in den Jahren seit der Einführung der 50 %igen Frauenquote der Regiepositionen der zum Theatertreffen eingeladenen „bemerkenswertesten“ Inszenierungen seit der Einführung zur Festivalausgabe 2020 durch Yvonne Büdenhölzer zum Theatertreffen eingeladen wurden (sie selbst zieht kurz Bilanz). Die Quote bildet dabei nicht die Wirklichkeit ab, kann aber als ein Korrektiv fungieren: Die Werkstatistik des Deutsches Bühnenverbandes verzeichnet in der Spielzeit 2021/22 knapp 35 % der Inszenierungen durch weiblich gelesene Regiepositionen, viele davon aber im Kinder- und Jugendtheater, auf der Neben- oder Studiobühne. Eva Behrendt beschreibt ihren Blick als Kritikerin und bemerkt auch hier eine patriarchale Prägung ihres Blicks. Sie stellt fest: In den ersten 16 Jahren des Bestehens des Theatertreffens war keine einzige Inszenierung einer Regisseurin eingeladen. Das ist kein Zufall. 1980, das Jahr der ersten Einladungen weiblicher Regie, saß Hilde Spiel als einzige Frau in der Jury. Die Ausnahme in dieser Zeit bildete einzig Andrea Breth, die als lesbische Frau mit einer öffentlich gemachten depressiven Erkrankung ohnehin Rollenvorstellungen und Konventionen unterwanderte. Die Fragen, die von den Herausgeberinnen und von ihren Kritikerkolleginnen gestellt werden, haben stets dieselbe Struktur: „Status Quote“ zieht mit Theater­treffen-­ Fragen zur eingeladenen Inszenierung, Gedanken zur Frauenquote, die Frage nach Regisseurinnen Bilanz zur Frauenquote einer spezifisch weiblichen Ästhetik. Damit Von Nathalie Eckstein kann die Fragestruktur nach Bedarf angepasst werden. So geben die ausführlichen

Gespräche Einblicke in die je eigenen Arbeitsweisen und Erfahrungen, die den Regisseurinnen angemessen sind. Die Antworten der Regisseurinnen, die zu Wort kommen, fallen hingegen unterschiedlich aus. Fragt man Claudia Bauer, die 2017 als einzige Frau mit einer Arbeit eingeladen war, nach der Quote, spricht sie von ihrem ersten Impuls, es handle sich um „Almosen für Gehandicapte“. Anne Lenk legt die jahrelang geltende unsichtbare Männerquote offen, dass die „‚neutrale‘ Position immer noch der weiße Mann ist“, wie Signa Köstler sagt, und Pınar Karabulut verweist auf Solidarität mit anderen Personengruppen, die im patriarchalen Theaterbetrieb bisher strukturell unterdrückt werden. Fast alle beschreiben Lohneinbußen gegenüber männlichen Kollegen. Wie tief die patriarchalen Muster auch bei den erfolgreichen Regisseurinnen greifen, zeigen die teils humorvoll eingebetteten Bemerkungen von Ewelina Marciniak und Yael Ronen in Bezug darauf, dass die Frauenquote ihr Hochstapler-Syndrom anspreche. Was hilft, gegen den männlichen Geniekult anzukommen, sind Netzwerke, sowohl auf der Bühne, wie Florentina Holzinger schildert, als auch im Umfeld der Arbeit, ein gegenseitiges Unterstützen, wie Lucia Bihler beschreibt. Mateja Koležnik, im jugoslawischen Sozialismus aufgewachsen, hat, wie sie sagt, gelernt zu kämpfen, um zu überleben. Den Schluss und Ausblick bilden kurze Statements von Theaterleiterinnen, Intendantinnen, Schauspieldirektorinnen und Professorinnen – auf die Formel bringt es Shermin Langhoff: Zukunft braucht Vielfalt. Dabei geht es um mehr als um eine Frauenquote, sondern um die Sichtbarmachung aller marginalisierten Personen. Dass die Quote ein notwendiger Hebel ist, darüber sind sich alle einig. Dass es besser wäre, ihn nicht zu brauchen, ebenso. T

Der notwendige Hebel

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Status Quote. Theater im Umbruch: Regisseurin­ nen im Gespräch. Hg. von Sabine Leucht, Petra Paterno, Katrin Ullmann. Henschel Verlag, Leipzig, 192 S., 18 €

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Magazin Symposium

Bildet Allianzen! Das Symposium „Familien­ vereinbarkeit in den Performing Arts“ in Oberhausen Von Sarah Heppekausen

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Das sind die Fakten: „Jede:r ist sein eigenes KBB.“ Es ist das künstlerische Betriebsbüro, kurz KBB, das in einem Theater alle zentralen Abläufe steuert, zuständig ist für Logistik und Organisation und auch auf alle kurzfristigen Änderungen im Betriebsablauf reagiert. Und mit „jede:r“ meint Frauke Meyer vom Frauenkulturbüro NRW in diesem Fall die Familien, die Eltern und Pflegenden, die im Theater arbeiten. Proben bis 22 Uhr, ständiges Reisen, familienfreundliche Wohnungen finden, das Kind für sechs Wochen an einer neuen Schule anmelden, den eigenen Körper pflegen und fit halten und Care-Arbeit leisten. Die Liste an Anforderungen ist lang und mit dieser Aufzählung bei weitem nicht erschöpft. „Familienvereinbarkeit in den Performing Arts“ hat das Frauenkulturbüro NRW entsprechend ein Symposium übertitelt, das im Theater Oberhausen stattfand und als zweite Stufe des mehrjährigen Modellprojekts „Familienvereinbarkeit an Theatern“ verstanden wird. Voran ging eine Studie zum Thema am Kulturpolitischen Institut der Universität Hildesheim mit den Modelltheatern Oberhausen und Münster. Welche Parameter und strukturellen Voraussetzungen benötigen Theaterbetriebe, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingen kann? So lautete die zentrale Forschungsfrage der Studie. Und Antworten, Ideen und Problembeschreibungen gab es auch beim Symposium reichlich. Da waren vor allem Mütter wie die Sängerin und Gründerin des Vereins „Bühnenmütter“, Annika Mendrala, die klarmachte, dass Mutterschaft am Theater nicht sexy sei. Viele Frauen bekämen nach der Geburt ihres Kindes nur noch Nebenrollen oder Produktionen auf kleinen Bühnen angeboten. Jede vierte Mutter verliere ihren Vertrag. Aber auch ein Techniker und junger Vater hakte mal nach, warum es in den Tarifverträgen am Theater eigentlich keine Chance auf andere Arbeitszeiten gebe. Nur vormittags zu arbeiten und nicht am Wochenende, das wäre familienfreundlich. Was

fehlte, war nicht nur ein:e Zuständige:r beim Symposium, der dazu Stellung nehmen konnte. Zuständige für diesen Bereich gebe es schlicht und ergreifend überhaupt nicht. Die Veranstaltung hatte durchaus emotionalen Wert. Sich etwas von der Seele zu reden, Missstände anzusprechen, persönliche Erfahrungen zu teilen – das kann ja schon heilsam sein. Und motivierend für mehr Engagement. Auf dem Podium, in den Diskussionen und Workshops kam immer wieder zur Sprache, dass Familie auch einsam machen kann. So paradox das erst mal klingen mag. Aber im Berufsleben verschweigen vor allem Künstler:innen häufig ihre Elternschaft, sprechen da nicht über Betreuungsprobleme oder körperliche Veränderungen, über Schlafmangel und Stillschwierigkeiten. Über das Thema Care-Arbeit werde mittlerweile an den Theatern mehr gesprochen, in Gagenverhandlungen wie in Bühnenproduktionen. Aber die meisten Häuser hätten weder eine Strategie noch eine klare Kommunikation zur Familienvereinbarkeit, erklärte Nicola Scherer-Henze, die als Professorin der Universität Hildesheim die Ergebnisse der Studie zusammenfasste. Und was sagt die Intendanz? Kathrin Mädler vom Theater Oberhausen ist eine der wenigen Engagierten, stellte sich dem Thema immerhin öffentlich beim Symposium, diskutierte und argumentierte mit. Im Haus hätten sie eine Arbeitsgruppe gebildet. Konkret will sie die Planbarkeit von Proben verbessern, neue Probenmodelle ausprobieren, bewusster kommunizieren und das Thema Familienvereinbarkeit aus der stillschweigenden Tabuzone rausholen. Gegen die Einsamkeit und Sprachlosigkeit! Aus soziologischer Außenperspektive ging Diana Lengersdorf, Professorin für Geschlechtersoziologie an der Universität Bielefeld, noch einen Schritt weiter. Sie empfiehlt ganz entschieden, Allianzen zu bilden, zum Beispiel mit der Feuerwehr, die auch im Schichtdienst arbeitet. Raus aus der Blase schließlich ist Familienvereinbarkeit ein gesellschaftliches Anliegen. T

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Fotos links Katja Illner, rechts Ina Schönenburg/Ostkreuz

Workshop im Symposium „Familienvereinbarkeit in den Performing Arts“


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Karla Maier (Hospitanz), Cecilia Hussinger (Hospitanz) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 6 / 2023 Jörg Bochow, Chefdramaturg, Dresden Sarah Heppekausen, freie Autorin und Theater- und Tanzkritikerin, Ruhrgebiet Annette Hoffmann, Kritikerin, Freiburg Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Theaterkritiker, München Elisabeth Luft, freie Autorin und Kultur- und Theaterjournalistin, Köln Ute Müller-Tischler, Kunstwissenschaftlerin, Berlin Thomas Oberender, Autor, Kurator und kultureller Berater, Berlin Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Shirin Sojitrawalla, Journalistin, Wiesbaden Jette Steckel, Regisseurin und Autorin, Berlin Peter Surber, Journalist, St. Gallen Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 9,50 (Print) / EUR 8,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 95,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 105,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Fur Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 78. Jahrgang. Heft Nr. 6, Juni 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.05.2023 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau Arbeitsbuch

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Der niederländische Regisseur und Theaterleiter Johan Simons

Am 1. Juli erscheint das TdZ-Arbeitsbuch „Johan Simons. Dialog mit dem Tod“ Der niederländische Theaterkünstler Johan Simons kann auf eine großartige Karriere als Regisseur und Theaterleiter zurückblicken. Erste Erfolge als künstlerischer Leiter der Theatergroep Hollandia machten ihn in den 1980er und -90er Jahren international bekannt. Seine Arbeit hat ihn in die L ­ eitung der Münchner Kammerspiele und der Ruhrtriennale (2015 bis 2017) geführt, seit 2018 ist er Intendant des Bochumer Schauspielhauses. Das vielleicht wichtigste Thema seiner Inszenierungen ist die Auseinandersetzung mit dem Tod,

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l­egendär seine Bochumer „Hamlet“-Inszenierung von 2019 mit der Ausnahmeschauspielerin Sandra Hüller in der Titelrolle. Dieses reich illustrierte Arbeitsbuch will nicht nur Aufschluss geben über verschiedene Aspekte der Arbeit des Regisseurs Johan Simons, es versammelt auch Zeugnisse seiner Mitstreiter:innen und Weggefährt:innen. Zu Wort kommen u. a. ­Sandra Hüller, Pierre Bockma, Elsie de Brauw und Mieke Koenen in Interviews, Essays und Bildern. Herausgegeben von Susanne Winnacker.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Shirin Sojitrawalla

Sie selbst sprechen von „Theater der Welten“. Hätten Sie das Festival gern unbenannt? CS: Prinzipiell ja. Wir blicken nicht auf die eine Welt, wollen sie nicht nur von einem zentralen Standpunkt aus sehen. Pluralität kann nicht auf einem binären Ansatz gründen, sondern ergibt sich aus dem Maß, in dem sich Ebenen und Kontexte differenzieren, überlappen, überschneiden. Das Festival muss allen Seinsformen eine Bühne bieten und unsere anthropozentrische Perspektive radikal in Frage stellen. Ein konzeptioneller Anker Ihres Programms ist der so genannte Inkubationismus. Was ist damit gemeint? CS: Der Begriff Inkubation bezieht sich sowohl auf das Ausbrüten der Eier bis zum Moment des Schlüpfens als auch auf die Phase bis zum Ausbruch einer Krankheit. Die Covid-Pandemie zwang uns in den Zustand der Inkubation. Ich finde, dass wir aus dieser Erfahrung lernen müssen. Inkubationismus ist für mich gleichbedeutend mit einer positiven Einstellung gegenüber einem Leben in Ungewissheit.

Chiaki Soma, Programmdirektorin des Festivals Theater der Welt 2023, ist Gründerin und stellver­trenden Direktorin des Kollektivs Arts Commons Tokyo. Sie war u. a. als Pro­grammdirektorin von „Festival/Tokyo“ (2009–2013), Kuratorin für darstellende Künste der Aichi Triennale (2019/2022) und Executive Producer des Toyooka Theater Festivals 2021 tätig. Theater der Welt findet vom 29. Juni bis 16. Juli in Frankfurt am Main und Offenbach statt.

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Gibt es eine Produktion, die Ihnen besonders am Herzen liegt? CS: Schwierige Frage! Viele Produktionen im Programm sind Inszenierungen, an denen ich als Produzentin oder Dramaturgin in Japan mitgewirkt habe. Vor zwei Jahren begann Apichatpong Weera­ sethakul mit „A Conversation with the Sun (VR)“, nachdem ich ihm ein VR-Headset von Tokio nach Chiang Mai geschickt hatte. Satoko Ichihara schlug ich vor, sich von der alten japanischen Yoroboshi-­Legende inspirieren zu lassen. Als Kuratorin verknüpfe ich die Fantasie und schöpferische Kraft der Kunstschaffenden mit den Dramen der Vergangenheit und/oder mit neuen Medien, damit innovative Wechselwirkungen entstehen. Ich freue mich sehr,

diese Projekte zum ersten Mal in Europa zu präsentieren. Was ist denn in Ihren Augen heute die wichtigste Aufgabe des Theaters? CS: Das Theater überlebt nicht als Genre oder Produktionsform, sondern nur als Haltung und soziale Praxis. Die institutionalisierte Bühne, das Theater als systemisch verankerte Spielstätte gibt es nur in Deutschland und wenigen anderen Ländern Europas. Die Schaffung weiterer Einrichtungen dieser Art interessiert mich nicht. Mich treibt eher die Entwicklung einer neuen ­Dramaturgie an, die das vom Theater seit der Antike akkumulierte Wissen neu ordnet und nutzt. Ihr Programm umfasst zahlreiche transdisziplinäre Produktionen. Warum ist Ihnen das wichtig? CS: Ausgangspunkt der Projekte, die ich produziere, sind die Fragen der Künstler:innen und nicht Bühnenmaße oder Marketingstrategien. Mit zunehmender Vielfalt der Medien in unserem Leben steigt auch ihre in der Kunst zum Einsatz kommende Zahl. Theater der Welt wird mehrere Inszenierungen mit taktilen Elementen präsentieren, darunter Aya Momoses „Performing Acupuncture“, bei der eine Akupunktur­ behandlung Teil des Stücks ist. Die Arbeit entstand in der Coronazeit, als Körperkontakt verboten war. Mit „Young Worlds“ gibt es zudem ein eigenes Programm für Kinder und Jugendliche. CS: Drei Jahre Corona bedeuteten für die junge Generation massive Einschränkungen ihrer Möglichkeiten und ihres Aktionsradius. Ihre Kontakte zur Außenwelt müssen jetzt maximal gefördert werden. Dies ist Teil des Heilungsprozesses. Ich glaube überdies nicht daran, dass das Theater die Jugend „bildet“ oder „erziehen“ kann. Die Bühne ist vielmehr der Ort, an dem die Sinne der jungen Generation geweckt, ihre Fantasie und Kreativität gekitzelt werden. Das Theater befähigt sie, in dieser rauen Gesellschaft zu leben. T

Aus dem Englischen von Lilian Astrid Geese

Theater der Zeit 6 / 2023

Foto NÓI CREW ( noicrew.com)

Was macht das Theater, Chiaki Soma?

Chiaki Soma, Sie sind die erste nichteuropäische Kuratorin in der Geschichte von Theater der Welt. Was bedeutet das fürs Festival? CS: Als Kuratorin aus einer nichtwestlichen Region setze ich der unterschwelligen Überlegenheit und stark nach Westen zentrierten Perspektive der Kunstszene etwas entgegen. Es obliegt gleichwohl nicht mir, sondern denen, die mir die Festivalleitung übertrugen, zu bewerten, was das für den spezifischen Kontext bedeutet.


3D DESIGN © LUCAS GUTIERREZ

16. & 17. JUNI IM NEUEN HAUS/WERKRAUM

WWW.BERLINER-ENSEMBLE.DE/WORX-WERKSCHAU


Elfriede Jelinek

Regie: Jacob Höhne, Linda Glanz, Lily Kuhlmann, Rosa Rieck, Marten Strassenberg, Josephine Witt

www.rambazamba-theater.de

In Kooperation mit der HfS Ernst Busch Teil des Kulturprogramms der Special Olympics World Games Berlin 2023


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