TdZ 6/2024 – Puppen- und Figurentheater

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Theater der Zeit Mit

Puppen- und Figurentheater

Noam Brusilovsky Philipp Hochmair Ivo Van Hove Avishai Milstein Simone Sterr Paula Thielecke Thomas Thieme

Juni 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Ersan Mondtag in Venedig


2 7. J UN I – 6. JU L I 2024 STADTTH EAT ER G I Eß EN

Welches Morgen? www.hessischetheatertage.de

Zu Gast sind:


Foto Birgit Hupfeld

Theater der Zeit Editorial

Lea Rückpaul in „Prima Facie“ von Suzie Miller am Residenztheater München

Das ist eine sogar theatertheoretische Überraschung, die der Venedig-Biennale-­ Künstler Ersan Mondtag im Gespräch mit dem Dramaturgen Ludwig Haugk in den Ring wirft: die Errichtung der vierten Wand in der Bildenden Kunst. Mondtag bespielt den deutschen Pavillon in Erinnerung an seinen Großvater, der als türkischer Arbeitsmigrant nach Deutschland kam, unter dem Titel „Monument eines unbekannten Menschen“ mit Per­ formances, in denen der kraftvolle Volksbühnen-Schauspieler Frank Büttner im Zentrum steht und viele verblüfft. Alles dazu im Kunstinsert dieser TdZ-Ausgabe. Der Schwerpunkt Puppen- und Figurentheater geht von den vielfältigen Beob­ achtungen der Redaktion im Feld des Schauspieltheaters aus, wo Puppenspieler:innen bedeutende Partner sind oder gleich die große Bühne übernehmen. Ein Trend, der vor 25 Jahren schon einmal herausragende künstlerische Produktionen hervorbrachte, als die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster zusammen mit Suse Wächter und ihren Puppen kanonische Stücke wie Goethes „Faust“ neu sehen ließen. So etwas sollte schon in der Ausbildung als „Bandenbildung“ angestiftet werden, meint Jörg Lehmann von

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der Berliner Ernst-Busch-Schule, und TdZRedakteurin Elisabeth Maier beschreibt, wie der Studiengang Figuren­ theater an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst angelegt ist. Es gibt da noch viel zu entdecken – und vor allem auch viel auf die Bühnen zu bringen. Suzie Millers „Prima Facie“ ist das meistgespielte ausländische Stück der sich dem Ende zuneigenden Spielzeit. Der Monolog der besonders in #MeToo-Fällen erfolgreichen Top-Anwältin Tessa, die nach einer Vergewaltigung durch die Hölle ihres juristischen und dabei doch für die einzelnen Fälle immer widerspruchsvoll ungenügend bleibenden Spezialgebiets geht, beschäftigt die Theater in verschiedenen Ansätzen ihrer Darstellung und Ausdeutung, wie die Münchner Kritikerin Anne Fritsch in ihrer kritischen Umschau feststellt. Wahrscheinlich wird „Prima f­acie“ – den dem Monolog folgenden Dokumentarroman gibt es mittlerweile ­ auch deutsch – ein Diskussionsstück der nächsten Zeit bleiben. Im Stückabdruck dieses Hefts Avishai Milsteins Monolog „Schamherbstfuge“, einer der ersten Theatertexte eines israelischen Autors nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober. Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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„Krabat“ von Otfried Preußler in einer Spielfassung von Susanne Koschig und M ­ atthias Thieme, Regie Matthias Thieme am Erfurter Theater Waidspeicher

Thema Puppen- und Figurentheater 12 Die Beseeltheit der Puppen im Schauspiel Jörg Lehmann, Dozent am Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin und Karla Mäder, Leitende Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin, im Gespräch mit Thomas Irmer

16 Die Schnitzelpuppe und der Moskitoklarinettist FIDENA in Bochum zeigt die boomende internationale Szene des Figurentheaters Von Stefan Keim

20 Ein Planet aus Lumpen

Ersan Mondtag im Deutschen Pavillon der Biennale di Venezia

Das Figurentheater Blaues Haus in Krefeld entwickelt mit Nils Voges vom Kollektiv sputnic dokumentarische und diskursive Stücke Von Stefan Keim

22 „Wir müssen raus aus der Exoten-Ecke“ An der Schnittstelle zwischen Objektkunst und Puppenbau: Der Stuttgarter Studiengang Figurentheater und das FITZ Von Elisabeth Maier

24 Die Puppe als Partner Theater Waidspeicher Erfurt: Aus einer Sparte in der DDR wurde Thüringens einziges eigenständiges Puppentheaterensemble Von Michael Helbing

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/figurentheater

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26 Aushängeschild und Sprungbrett Das Puppentheater in Halle schaut mit dem Jubiläum zum 70. auf große Zeiten zurück Von Andreas Hillger

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Foto links oben Lutz Edelhoff, unten Matteo de Mayda Courtesy of La Biennale di Venezia, rechts oben By Gadi Dagon - Michal Gilad, Beit Lissing theater PR, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44278752

Theater der Zeit


Inhalt 6/ 2024

Akteure 30 Kunstinsert Die vierte Wand in der Kunst der Gegenwart Ersan Mondtag über seinen Biografie-Echoraum im deutschen Pavillon in Venedig im Gespräch mit Ludwig Haugk

36 Porträt Das Ritual-Event Philipp Hochmair, Salzburger „Jedermann“ 2024, über seine Geschichte mit dem Stück im Gespräch mit Thomas Irmer

39„Klingt so wenig nach Stadttheater, dass es mich interessiert“ Thomas Thieme über „Jedermann“ 2000 in Salzburg und 2024 in Weimar im Gespräch mit Michael Helbing

41 Porträt Blockbuster und Performancekunst Ivo Van Hove übernimmt die Ruhrtriennale und eröffnet mit Musiktheater nach PJ Harvey mit Stefan Keim

Diskurs & Analyse 56 Essay Eine von uns Wie Suzie Millers vielfach inszeniertes #MeToo-Stück „Prima facie“ auf deutschsprachigen Bühnen verhandelt wird Von Anne Fritsch

60 Serie Schlaglichter #06 Von Timur Frey

Stück 44 Schamfrist und Schamgrenzen Anmerkungen zum Monolog „Schamherbstfuge“ von Avishai Milstein

45 „Schamherbstfuge“ Von Avishai Milstein

Magazin 4 Bericht Das Ende einer Ära Von Jannick Stühff

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Michael Helbing, Stefan Keim, Christoph Leibold und Anna Bertram

8 Kolumne Heimat Wareniki Von Noam Brusilovsky

62 Serie: Post-Ost Streng wie Kati Witt Von Paula Thielecke

Report 66 Heidelberger Stückemarkt Der weite Weg nach Europa Mit dem Schwerpunkt Georgien richtete der Heidelberger Stückemarkt den Blick auf ein zerrissenes Land, der Dramenwettbewerb zeigte sozial Sensibles Von Elisabeth Maier

68 Rheinland-Pfalz Fortschritt im Vorgarten Wie das Chawwerusch Theater in Herxheim in der Pfalz seit 40 Jahren Gesellschaft gestaltet Von Thaddäus Maria Jungmann

74 Bericht Spielen auf weiter Flur Von Björn Hayer

76 Bericht Agora des neuen Theaters Von Dimi Theodoraki

78 Bücher Aus der Geschichte geschöpft Von Holger Teschke

80 Was macht das Theater, Simone Sterr? Im Gespräch mit Stefan Benz

1 Editorial 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

70 Mannheim Die Stimmen der Spargelstecher Mit dem Festival Ostopia setzt das Nationaltheater Mannheim Akzente im Diskurs über die Brüche zwischen Ost- und Westeuropa Von Elisabeth Maier

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Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: Theater der Zeit Spezial – All Abled Arts

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Magazin Bericht

Das Ende einer Ära Die freie Theaterszene Niedersachsens und das renommierte Festival ­Theaterformen verlieren mit dem Braunschweiger LOT-Theater eine wichtige Spielstätte Von Jannick Stühff

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Insbesondere freie Theater haben den Ruf, Orte des Experimentierens und der niedrigschwelligen Teilhabe zu sein. Das galt insbesondere für das LOT-Theater in Braunschweig, welches seit 28 Jahren eine feste Größe der Theaterszene in Niedersachsen und darüber hinaus darstellte. Vor kurzem musste es jedoch insolvenzbedingt den Betrieb dauerhaft einstellen. Ein großer Verlust, der nicht nur viele Menschen traurig und perspektivlos zurücklässt, sondern auch eine ganze Menge Fragen aufwirft. In einem Statement, welches das LOTTheater auf der eigenen Webseite veröffentlichte, heißt es: „In der Vergangenheit wurden seitens der Führung von LOT-Theater und Freie Spielstätten Braunschweig gGmbH [FSB] Fehler gemacht und Vertrauen verspielt.“ Das bedeutet konkret, dass die Geschäftsführenden des Theaters aufgrund einer finanziellen Schieflage, die auf massive Fehlkalkulationen zurückzuführen ist, Projektgelder veruntreuten, um zu hohe laufende Kosten zu decken. Durch mangelnde Transparenz in der internen Kommunikation wurde die Dringlichkeit des Problems allerdings erst dann öffentlich, als das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Die zusätzliche Spielstätte am Leonhardplatz, welche erst im vorigen Jahr feierlich eröffnet worden war, brachte das ökonomisch ohnehin schon fragile Konstrukt schließlich vollends aus dem Gleichgewicht.

Die Liste derer, die unter dieser Kata­ strophe leiden, ist lang. Neben den ehemaligen Angestellten, die nicht nur ihren Job verlieren, sondern in der Öffentlichkeit auch vielerorts zu Unrecht als Mitschuldige an­ gesehen werden, sind selbstverständlich auch die professionellen Theatermacher:innen der Region betroffen, die jetzt ohne Spielstätte dastehen. Des Weiteren leiden die Studierenden der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig unter dem Verlust, da für sie eine freie Spielstätte als Ort des Experimentierens und Lernens obligatorisch zur Verfügung stehen muss. Zudem sehen sich Veranstalter wie das große, internationale Festival Theaterformen oder auch das Theater- und Performancefestival RENE, das sich explizit an die niedersächsische Nachwuchsszene richtet, mit dem Wegbrechen einer fest einkalkulierten Bühne konfrontiert. Gleiches gilt für den Spielraum TPZ e. V., das Theaterpädagogische Zentrum Braunschweigs, welches in der Vergangenheit eng mit LOT und FSB verzahnt war. Der Verein hat es zwar bisher geschafft, einem eigenen Insolvenzverfahren zu entgehen, kämpft aber noch immer um seine Existenz. Neben dem Umgang mit all diesen ökonomisch-organisatorischen Problemen, die mit der Hiobsbotschaft einhergehen, sind

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Foto LOT Theater

Hausansicht einer der zwei Spielstättten vom LOT-Theater in Braunschweig


Magazin Bericht es aber auch persönliche Trauermomente und das gemeinsame Schwelgen in Erinnerungen, welche zurzeit die Stimmung der Freien Braunschweiger Theaterszene prägen. Ein Lichtblick und vor allem ein wichtiges Zeichen der Solidarität und Zusammengehörigkeit in dieser scheinbar aussichtslosen Situation war eine studentisch organisierte Demo unter dem Motto „Theater braucht Bühne“. Bereits am 23. April, also nur wenige Tage nach der offiziellen Bekanntgabe der Einstellung des Betriebs, fanden sich etwa 150 Personen in der Braunschweiger Innenstadt zusammen, um ein Zeichen zu setzen. Die klare Botschaft: Eine Spielstätte muss her! In optimistisch gefärbten Redebeiträgen bekundeten Studierende sowie Vertreter:innen des TPZ und des DFDK (Dachverband Freie Darstellende Künste Braunschweig) ihren Willen, gemeinsam an Lösungen für die akuten Problematiken und einem zukunftsfähigen und transparenten Konzept für einen Spielstätten-Neustart zu arbeiten.

Auch der Redebeitrag der Braunschweiger Kulturdezernentin Dr. Anja Hesse schien nicht frei von Hoffnung. Sie erklärte, dass es der Stadt aufgrund des Arbeitnehmer:innenschutzgesetzes bis zuletzt nicht möglich gewesen sei, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen und so den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten. Wäre dies nach dem Eintreten der Insolvenz geschehen, hätte die Stadt ebenfalls alle bisherigen Mitarbeitenden und damit auch ein nicht tragfähiges Konzept übernehmen müssen. Nichtsdestotrotz versprach sie, dass mit großer Dringlichkeit nach einer Lösung gesucht werde und lud ebenfalls alle Akteur:innen ein, sich an der Konzeption des hoffentlich bald folgenden Neustarts zu beteiligen. In einem halben Jahr, wenn also besagtes Gesetz nicht mehr greife, könne dann eventuell bereits wieder ein freies Theater seine Pforten öffnen – vorausgesetzt, es fände sich ein:e Käufer:in für die ‚alte‘ Spielstät-

Die Leidtragenden lassen sich trotz der momentan widrigen Umstände nicht unterkriegen und schauen zuversichtlich in eine ungewisse Zukunft. te, der:die das Gebäude weiterhin der Theaterszene zur Verfügung stellen würde. Denn das beschauliche kleine Häuschen in der Kaffeetwete, welches über fast drei Jahrzehnte hinweg internationalen Künstler:innen als Bühne diente, ist nun unglücklicherweise Teil der Insolvenzmasse und muss dementsprechend nach Marktwert verkauft werden. Es bleibt also abzuwarten, wie es mit dem freien Theaterstandort Braunschweig weitergeht. Die Leidtragenden lassen sich jedoch, trotz der momentan widrigen Umstände nicht unterkriegen und schauen zuversichtlich in eine ungewisse Zukunft. T

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Magazin Kritiken

Deutsches Nationaltheater Weimar:

Im Karussell der Ewigkeit

„Der Zauberberg“, Schauspiel von Beate Seidel und Christian Weise nach dem Roman von Thomas Mann – Regie Christian Weise, Bühne Nina Peller, Kostüme Lane Schäfer, Musik Jens Dohle, Choreografie Ronni Maciel

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ier ist die Adaption dem Regisseur Christian Weise mit seiner Dramaturgin Beate Seidel sowie einem grandiosen Ensemble gerade deshalb adäquat gelungen, weil sie auf jeglichen Anklang ans Literaturtheater pfeifen. Sie machen den 100 Jahre alten Roman über die Form intuitiv und dabei geradezu körperlich erfahrbar, so wie sie es vor zwei Jahren auf ganz andere Weise, und unter anderem mit filmischen Mitteln, schon mit Manns „Buddenbrooks“ taten und wie es zuletzt an gleicher Stelle Luise Voigt und Eva Bormann mit Bulgakows „Der Meister und Margarita“ überzeugend vorführten. Die Aufführung ist selbsterklärend: als eine sich binnen netto drei Stunden Spieldauer ständig in spielerisch und bald auch kostümtechnisch neuem Gewand wieder­ holende einzige Szene, die sie auf dreizehn Seiten als Nukleus des Romans formulierten. Sie steht gleichsam pars pro toto; aller radikalen Striche zum Trotz ist darin im Grunde alles enthalten: alle Temperaturen, alle Atmosphären, alle Reflexionen. Und alle böse Spottlust obendrein. Dafür hat Nina Peller die Bühne realistisch als große Halle mit ausladender Geschosstreppe eingerichtet, die im rechten Winkel aus den Zimmern in eine Kombination aus Speisesaal und Salon führt, mit zwei

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„Ein von Schatten begrenzter Raum“ nach dem gleichnamigen Roman von Emine Sevgi Özdamar in der Regie von Nuran David Calis

Schauspiel Köln:

Sprudelnde Melancholie „Ein von Schatten begrenzter Raum“ von Emine Sevgi Özdamar in einer Bühnenfassung von Stawrula Panagiotaki – Regie Nuran David Calis, Bühne Anne Ehrlich, Kostüme Sophie Klenk-Wulff, Musik Vivan Bhatti

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ine Frau schaut aus dem Fenster eines Eisenbahnwaggons. Oder ist es ihre Wohnung in Istanbul? Sie hört Geräusche von draußen, als ob ein Laster vor die Wand fährt. Draußen sieht sie einen Esel, der vor einer orthodoxen Kirche steht. Ein surreales Bild, der Prolog des Romans „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Darin erzählt die Autorin und Schauspielerin Emine S ­ evgi Özdamar eine Menge aus ihrer eigenen Biografie, schweift aber immer wieder ab ins Mythische und Fantastische. Die Autorin wehrt sich dagegen, als „migrantische Stimme“ vereinnahmt zu werden. Sie legt mehrmals großen Wert auf ihre Individualität, auf eine Wahrnehmung außerhalb aller Schubladen. Nuran David Calis hat eine völlig andere Spielweise gefunden als in seinen behutsamen, zurückgenommenen Dokumentarstücken. Diesmal dreht das dreiköpfige Ensemble voll auf. Das passt zur großartigen Theaterfassung, die Stawrula Panagiotaki aus dem 750-Seiten-Roman gewonnen hat. Sie erzählt nicht nur alle wichtigen Handlungsstränge in eindreiviertel Stunden, sondern lässt auch den poetischen, herrlich versponnenen Momenten Raum. Kristin Steffen, Michaela Steiger und ­Daron Yates teilen sich die Hauptfigur und springen mit Riesenlust an Slapstick und ­Komödie in die Nebenfiguren. Das ist an sich nichts Originelles, aber hier hat es richtig Sinn. Denn Emine Sevgi Özdamar beschreibt sich selbst als vieldeutigen, sprunghaften Charakter, zwischen Höllenmut und Selbstzweifeln, mit heftigem Humor und nagender Melancholie. Da passt es, dass die Erzählerin immer wieder neuen Schub bekommt, wenn der oder die nächste in die Rolle springt. Anne Ehrlichs Bühne ist wandelbar. Der Eisenbahnwaggon lässt sich drehen, mal sieht man ihn von außen, mal von innen. Ein perfektes Bild für ein Zuhause, das keins ist, sondern eine mobile Zwischenlösung. Türkische Geschichte spielt immer wieder hinein in den assoziationsreichen Abend. Vivan Bhattis Musik wechselt zwischen fröhlichen Songs und feinfühliger Untermalung der nachdenklichen Szenen. Einzig die Verdoppelung vieler Szenen durch Videokameras wirkt überflüssig. Doch das ist nur ein win­ ziger Kritikpunkt an einem reichen, lebendigen, humorvollen und tiefgründigen Theaterabend. // Stefan Keim

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Foto links oben Candy Welz, unten David Baltzer, rechts oben Maurice Korbel, unten Joel Schweizer

„Der Zauberberg“, Schauspiel von Beate Seidel und Christian Weise nach dem Roman von Thomas Mann, Regie Christian Weise

Esstischen links und Sitzgruppe vorm digital flackernden Kamin rechts. Hinter der rückwärtigen Glasfront, vor die sich bisweilen ein Vorhang zieht, leuchtet ein Gebirgsprospekt. Wir drehen uns munter, um mit Hans Castorp zu sprechen, im Karussell der Ewigkeit. Noch ’ne Runde, noch ’ne Runde! Erschöpfungszustände sind eingepreist. Doch dreizehn Schauspieler:innen bestücken dieses Karussell mit Geist und Seele, mit viel Witz und auch ein bisschen Poesie – darunter die als Frau Iltis bestens integrierte Souffleuse Laurie Gibson sowie, als Herr Albin, Oscar Olivo, der fast schon als Maskottchen Christian Weises in dessen Inszenierungen häufig auftaucht und derart von Theater zu Theater tingelt. Fabian Hagen schlingert und schlackert als Hans Castorp veränderlich durch die Szenerie und betont derart den schwankenden Boden, auf dem dieser naive Durchschnittsmensch durchs Leben tapst. Dascha Trautwein lässt den Unterkiefer wackeln, wenn ihre einfältige Frau Stöhr ihr künstliches Gackergelächter in Betrieb nimmt. Der große Star dieses Abends ist jedoch dieses Ensemble in Gänze, das uns hier die steile Fieberkurve einer mit Lust leidenden Gesellschaft vor- und nachzeichnet. // Michael Helbing


Magazin Kritiken

Thomas Schmauser in der Uraufführung von „Asche“ in der Regie von Falk Richter an den Münchner Kammerspielen

Münchner Kammerspiele:

Klamauk und Katastrophe „Asche“ von Elfriede Jelinek (UA) – Regie Falk Richter, Bühne Katrin Hoffmann, Kostüme Andy Besuch, Musik und Sounddesign Matthias Grübel, Video Lion Bischof

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in postapokalyptisches Szenario: Mittig ein pechschwarzer Felsbrocken, wie ein riesiges Stück Kohle, aus dem ein paar verkokelte Halme sprießen. Darüber drei ­Satelliten-Arme: Weltraumschrott. Und hinten ein Rundhorizont, der mit bedrohlichen Videobildern (Lion Bischof) bespielt wird: kreisende Krähen, Kriegsbilder, Feuersbrünste, Müllberge und dergleichen. Dazu Musik (Matthias Grübel), die mit Tönen Weltuntergangsstimmung malt. Wie aus dem Soundtrack eines Roland-EmmerichEndzeit-Block­busters. Zur Müllkippe wird zwischendurch auch die Bühne. Wie Badegäste an einem verdreckten Strand bauen die Schauspielerinnen und Schauspieler Campingstühle und Sonnenschirme zwischen Plastikabfällen auf, wobei es beim umständlichen Auseinanderfalten eines Klapptisches schon mal zu Slapstick-Einlagen kommt. Ein Gag, der leider überhaupt nicht zündet. Elfriede Jelinek hat ja durchaus einen Hang zum Kalauer. Regisseur Falk Richter unternimmt den halbherzigen Versuch, dem mit Klamauk zu begegnen. Geht bedauerlicherweise schief. Jelinek kann Komik und Katastrophe. Falk Richter eher nur Letzteres. Während die Autorin eine Welt imaginiert, die durch Kriege und Klimakollaps in Schutt und Asche liegt,

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dabei aber stets damit kokettiert, dass es dazu keiner seherischen Begabung bedarf, gibt Falk Richter den Endzeitpropheten, der mit Pathos tönt: Weh Euch, das Ende ist nah! Das liegt neben den entfesselten Klang­ gewittern des Sounddesigns und dem Krisen-Bewegtbild-Teppich auch am En­ semble, in dem Hyperneurotiker den Ton angeben. Klar, auch Jelinek befasst sich mit den letzten Dingen und den allerletzten Tagen der Menschheit. Aber dem apokalyptischen Reiter Richter ist dann doch etwas zu sehr der Gaul durchgegangen. Wo es um das Ende geht, rückt auch der Anfang, der Ursprung in den Blick. Jelinek befasst sich in „Asche“ daher mit Schöpfungsmythen, dem christlichen Herrgott und den griechischen Göttern. Im Zeitalter der KI hat sich der Mensch freilich selbst zum Schöpfer auf­ geschwungen. Vielleicht ist es ja das, was übrig bleiben wird auf Erden, wenn sie für uns unbewohnbar wird: ein Volk von Avataren, die ihre Erschaffer überleben. Richter lässt Teile des Textes von KI-Gesichtern auf einem Videoscreen sprechen. Das ist beeindruckend, trägt aber letztlich doch nur zum ästhetischen Overkill bei. // Christoph Leibold

„Striptease“ und „Auf hoher See“ von Sławomir Mrożek. Inszenierung Basil Zecchinel („Auf hoher See“) & Sophie Bischoff („Striptease“)

TOBS Solothurn:

Das Meer ist so pretty „Striptease“ und „Auf hoher See“ von Sławomir Mrożek – Inszenierung Basil Zecchinel („Auf hoher See“) & Sophie Bischoff („Striptease“), Bühnenbild und Kostüme Lea Burkhalter

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s beginnt mit einem Glitch: Das Audio­ signal der anfänglichen Ansage für die Mobilnutzung während der Vorstellung knistert, das Licht flimmert und plötzlich sitzt das Publikum im Dunkeln. Irgendwo hinter der Bühne ein lautes Krachen und da – es fallen von den Bühnenseiten zwei Schauspieler auf die Bühne. So beginnt der erste Teil des Doppelabends am Theater Solothurn. Das Publikum wird in „Striptease“, inszeniert von Sophie Bischoff, mit den beiden Charakteren in ein grün-weiß gestrichenes Zimmer geworfen, in eine surreale Metawelt ganz in der Ästhetik eines 3D-Illusionsmuseum. Wie eine Bühne auf der Bühne steht der Raum da und strahlt Kälte aus. Nicht einmal die zwei Männer in identisch grauen Anzügen wissen, was sie in diesem Zimmer tun, wie sie dorthin gelangt sind, geschweige denn, wie sie rauskommen. Gefangen zwischen Verwirrung und Panik beraten sie über mögliche Aktion und Reaktion, Theorie und Praxis, Handlung und Verhandlung. Dabei wird alles nur noch schlim­mer, insbesondere, als irgendwann eine un­defi­nier­ bare Autorität erscheint und die Männer dazu bringt, nicht nur immer mehr Kleidungsstücke, sondern auch ihre Würde zu verlieren. Die Tat­ sache, dass die befehlende Instanz eine Hand in orangenem Plastikhandschuh ist und stumm Mandate erteilt, scheint die beiden dabei am wenigsten zu irritieren. Absurd? Ja. Zwei graue Stühle stehen charakterlos im Raum herum, daneben hängt ein dunkles Bild an der Wand und zeigt eine funkelnde Nahaufnahme von Wasser. Ganz schön, eigentlich. Die Situation ist skurril und allen voran schwebt etwas Bedrohliches im Raum. Auch die Kombination von Autor, Regie und Theaterort an diesem Abend ist erstmal ein unerwarte­tes Aufeinandertreffen. Der Pole Sławomir Mrożek schrieb seine Texte mehrheitlich im französischen Exil sowie in Mexiko. In der Schweizer Kleinstadt Solothurn wird er von zwei Schweizer Regie­ abgänger:innen der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin inszeniert, ­Sophie Bischoff und Basil Zecchinel. Diese Kom­bination geht unerwartet gut auf – ja vielleicht gerade deshalb, weil da so unterschiedliche und neue Parameter aufeinandertreffen und sich verbinden. // Anna Bertram

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

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Heimat Wareniki Von Noam Brusilovsky

Mir fließen die Tränen, während ich am Gate auf meinen Rückflug von Buenos Aires nach Frankfurt warte. Diese Szene kommt mir bekannt vor. Ich kenne sie schon aus meiner Kindheit: Meine Mutter weint am selben Flughafen, nachdem wir uns von der Familie verabschiedet haben, wissend, dass ein paar Jahre vergehen werden, bis wir uns alle wiedersehen werden. Ich sitze neben ihr und kann zwischen ihrem und meinem Trennungsschmerz gar nicht unterscheiden – ich bin mit der Sehnsucht nach einem Ort aufgewachsen, in dem ich nie gelebt habe. Vom

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Kinderbett im israelischen Haifa aus nahm mich meine Mutter mit ihren Gute-NachtGeschichten mit auf eine Reise in ihre magische Heimatstadt, die am Fuße der Anden liegt. Im jüdischen Friedhof von Mendoza liegen viele Tote und jede Nacht werden sie in den Geschichten meiner Mutter aufgezählt. Bis heute kenne ich jede einzelne Geschichte und alle Namen auswendig. Im Laufe der Jahre habe ich jegliches Heimatgefühl verloren. Seit zwölf Jahren lebe ich nicht mehr in Israel. Ich möchte dieses Land gern als mein Zuhause bezeichnen und kann es beim besten Willen leider nicht mehr tun. Was bedeutet „Heimat“ für Menschen, die seit Monaten evakuiert leben; für tausende von Eltern im Gazastreifen, die die Leichen ihrer Kinder aus den Ruinen bombardierter Häuser ausgraben müssen; für die Menschen, die an einem verfluchten Samstag aus ihren Häusern im Kibbuz von einer Terrororganisation entführt wurden und sich seit dem in Geiselhaft befinden? Ich empfinde nichts Anderes als Schmerz, Wut und Scham, mit denen ich seit Monaten aufwache und schlafen gehe. Eine Heimat habe ich schon verloren. Und wie kann ich mich in Deutschland zu Hause fühlen, wenn ich von den Wahlumfragen in Thüringen und Sachsen lese, und mein jüdischer Instinkt, der mich bisher nicht getäuscht hat, mir ganz klar sagt: „Hau rechtzeitig ab!“ Die Sehnsucht nach einer Heimat machte Argentinien in den letzten Jahren zu einem Zufluchtsort von mir, in den ich immer wieder für mehrere Monate im Jahr zurückkehre. In Buenos Aires durfte ich mehrere Theaterleute kennenlernen und mit ihnen enge Freundschaften schließen. Während eines Treffens bei der renommierten Choreografin Diana Szeinblum zu Hause werden die Namen mehrerer argentinischen Kollegen erwähnt, die in den letzten Jahren aufgrund der dortigen wirtschaftlichen Krise nach Europa ausgewandert sind, und mir wird von einer Realität erzählt, die für mich kaum vorstellbar ist: Der neue Präsident ­Javier Milei erklärte kurz nach seiner Wahl der argentinischen Kulturlandschaft den Krieg. Alle Staatsförderungen für Kultur werden gestrichen, die nationalen Institute für Film und Theater sollen geschlossen werden. In den dystopischen Visionen des anarcho-liberalen Präsidenten (so nennt Milei sich selbst) soll Kunst, die nicht profitorientiert ist, aufhören zu existieren. Dabei steigt die Inflationsrate auf 250 Prozent.

Die osteuropäisch-jüdische Küche ist eine arme Küche und daher auch resistent gegen wirtschaftliche Krisen. Wareniki, mit Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, die man mit Röstzwiebeln serviert, sind das Essen armer Menschen. An jedem Esstisch, an dem Wareniki serviert wurden – sei es in Osteuropa, Argentinien oder Israel – fühlte sich meine Familie trotz aller politischen und wirtschaftlichen Umstände beheimatet. Diana Szeinblum verbindet ebenfalls mit den Wareniki Kindheitserinnerungen und als sie erfährt, dass ich sie kochen kann, schickt sie mich sofort in die Küche. Sorgfältig rolle ich einen Teig, steche Kreise aus und fülle die Wareniki mit pürierten Kartoffeln. Währenddessen erzähle ich Diana, wie meine Familie von Russland nach Argentinien kam und wie meine Eltern später von dort während der Diktatur ausgewandert sind. Diana erzählt dann von den neun Geschwistern ihrer Großmutter, die in Polen zurückgeblieben sind und im Holocaust ermordet wurden. Auf einmal überkommt mich ein ambivalentes Gefühl von Heimat, das sich in den Zwischenräumen der Zugehörigkeit befindet: Heimat ist einerseits dort, wo man sich im eigenen Zuhause nicht mehr Zuhause fühlt und andererseits dort, wo man sich zu H ­ ause fühlt, obwohl es an sich kein Zuhause hätte sein sollen. Mein Zuhause ist dort, wo ich hingehören will. Ich sage in der Runde, dass ich sofort bereit wäre, Porteño zu werden (so heißen die Einwohner von Buenos Aires) und mein Freund Hernán lacht und schlägt vor, mit mir den Platz zu tauschen, in Berlin zu arbeiten und in Euro statt in argentinischen Pesos zu verdienen. Am Tag nach meiner Rückreise schickt mir Diana ein Bild per WhatsApp, auf dem man sieht, wie ihr Sohn ein paar WarenikiReste isst. „Fühle mich wie eine stolze jiddische Mame!“, schreibt sie dazu. So stelle ich fest, dass ich in Buenos Aires meinen Freunden mit einer einfachen Geste das zurückgeben konnte, was ich dort selbst von ihnen bekommen habe – die Möglichkeit, sich zu Hause zu fühlen, gerade dann, wenn man es nötiger hat als je zuvor. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel.

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Foto links Lea Hopp, rechts Sophiensæle Berlin Falk Wenzel, Theater Konstanz Milena Schilling, Tanz im August Lance Anderson, DOCK 11 Berlin Penelope Wehrli, Kaserne Basel Jetmir Idrizi, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Konstanz

Ein Team siegt. Wer gewinnt die Theatersport EM?

Theatersport EM

Das Festival „LET’S ALLY – Ideal Teilhabe“ zielt darauf ab, Visionen für ein solidarisches Zusammenleben in vielen Facetten zu finden und präsentiert spannende Eigenproduktionen und Gastspiele. Mit dabei sind das Junge Ensemble Stuttgart, Autor und Musiker Michael Fehr, Tänzerin und Performerin Anna Seymour sowie lokale Akteur:innen und Initiativen. 28. bis 30.6.

Ab 22. Mai treten europäische Impro-Stars in 9 Städten bei 9 Shows an. Finale in Berlin am 8. Juni! Weitere Infos unter theatersport-em.de Ein fiktives anatomisches Experiment von Penelope Wehrli

DOCK 11 Berlin „Anatomorphosen“– Eine Erweiterung des Spielraums menschlicher Möglichkeiten. Penelope Wehrli, Lina Gómez, Julek Kreutzer, Mariana Romagnani, Sam Auinger. dock11-berlin.de 20. bis 23.6. les dramaturx: Bitter Fields

Sophiensæle Berlin Eine aktivistische Recherche-Revue: Nach einer Demonstration gegen die AfD stellen les dramaturx sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Erstarken der politischen Rechten und dem Klimawandel gibt. 21. und 22.6.

Kaserne Basel Zum Saisonabschluss tauchen MEXA bei ihrem eigenen letzten Abendmahl die Kaserne Basel in eine festliche Atmosphäre aus queerem Glanz: „Last Supper“, Infos und Tickets kaserne-basel.ch 6. und 7.6.

MEXA

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Tanz im August, Berlin Mit 18 Produktionen zeigt das diesjährige, vom HAU präsentierte, Festival ein Archipel der Verbundenheit u.a. mit Arbeiten von Mette Ingvartsen, Amala Dianor, Amanda Piña und Kor’sia. tanzimaugust.de 15. bis 31.8.

„Gegenrhythmen“ der akademie der autodidakten

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Die akademie der autodidakten am Ballhaus Naunynstraße, die Plattform für die Perspektiven junger Schwarzer Erwachsener und Persons of Color, präsentiert: GEGENRHYTHMEN, Leitung: Zé de Paiva, (6. bis 8.6.), KRAFTWANDLER*INNEN, Leitung: Raphael Moussa Hillebrand (5. bis 7.7.)

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Thema Puppen- und Figurentheater

„Der Auftrag/Psyche 17“ von Heiner Müller/Elemawusi Agbédjidji, Regie Jan-Christoph Gockel am Deutschen Theater Berlin

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am Deutschen Theater, wo außer Habjan auch Michael Pietsch immer wieder an Inszenierungen beteiligt ist, mit Jörg Lehmann, der an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch als Regisseur die Puppenspielstudent:innen unterrichtet und sich für ein Miteinander der beiden Sparten stark macht. NRWRedakteur Stefan Keim berichtet vom FIDENA-Festival im Ruhrgebiet, Thüringen-Redakteur Michael Helbing porträtiert das Erfurter Theater Waidspeicher, Elisabeth Maier, TdZ-Redakteurin in Baden-Württemberg, schaut auf die Ausbildung in Stuttgart und Andreas Hillger auf 70 Jahre Puppentheater in Halle/Saale.

Foto Armin Smailovic

Puppen- und Figurentheater als Partner des Schauspiels? Das hat es immer wieder mal gegeben, und das vermehrte Auftreten von Puppen gegenüber Schauspielern und Schauspielerinnen bzw. allein auf Schauspiel­ bühnen ist im deutschsprachigen Theater gerade wieder zu beobachten. Der ­Österreicher Nikolaus Habjan, einer der Vorreiter des Phänomens in der Gegenwart, spielte mit seinen Puppen Stücke von Werner Schwab und Elfriede Jelinek an großen Häusern, Suse Wächter beschwört im Berliner Ensemble regelmäßig „Brechts Gespenster“ vor großem Publikum. Im Schwerpunkt spricht einleitend Karla Mäder, Leitende Dramaturgin

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Foto oben links, oben rechts und unten rechts Christine Zeides,

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Die Beseeltheit der Puppen im Schauspiel Jörg Lehmann, Dozent am Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin und Karla Mäder, Leitende Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin, im Gespräch mit Thomas Irmer

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links unten Armin Smailovic

Thema Puppen- und Figurentheater


Thema Puppen- und Figurentheater Thomas Irmer: Das Phänomen, dass sich Schauspiel- und Puppentheater verbinden, ist wieder verstärkt zu beobachten. Wir wollen besprechen, was dahintersteckt und welche Möglichkeiten sich für beide Theaterformen damit eröffnen. Ist das Puppentheater, und das ist eine verschiedentlich vertretene These, ein Gegenmodell zur Schauspielkunst? Ich denke, dass es im Moment vielleicht um so etwas wie eine Symbiose geht. Ein anderer Begriff könnte Hybridisierung sein, die ja in anderen Künsten auch zu beobachten ist. Deswegen würde ich grundsätzlich fragen: Was interessiert an den Puppen aus der Sicht des Schauspiels und was ist darin die Perspektive für das Puppentheater? Karla Mäder: Ich glaube, das Theater ist ein Medium, das einen ungeheuren Appetit hat, seine ästhetischen Möglichkeitsraum immer wieder zu erweitern, und das sich im Grunde genommen gefräßig alles einverleibt, was neu ist oder als scheinbar Neues sich zeigt. Ich sehe das Puppenspiel bei ganz bestimmten Regisseuren und Regisseurinnen als ein Medium, das ihren ästhetischen Kosmos bereichert.

1.,2. und 4. Probenfotos „Die Zuschauer“ von Martin Heckmanns, Regie Moritz Sostmann, eine Produktion der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, 3. „Der Auftrag/Psyche 17“ von Heiner Müller/Elemawusi Agbédjidji, Regie Jan-Christoph Gockel am Deutschen Theater

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TI: Ich kenne die von einem Experten wie Gerd Taube geäußerte Meinung, dass das Puppentheater sich nicht ganz und gar auf das Theater einlassen soll. Was ist denn euer Interesse? Jörg Lehmann: In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gab es schon einmal eine solche Entwicklung plus der dazukommenden Aufmerksamkeit, als Puppenspiel mit dem Schauspiel verbunden wurde. Das hatte viel mit den innovativen Arbeiten von Tom Kühnel, Robert Schuster und Suse Wächter in Berlin, Bremen und dann am Schauspiel Frankfurt zu tun. Gerd Taube hat 2000 als ein sehr scharfsinniger Nachdenker über das Theater der Dinge darauf hingewiesen, dass das Puppenspiel da gut sichtbar ist, auf der großen Bühne im Zusammenspiel mit dem Schauspiel. Aber er hob auch hervor, dass es eben auch noch eine andere Wurzel hat als das literarisch geprägte Schauspiel. Er hat davon gesprochen, dass wir auch von kultischen Handlungen her kommen. Davon geblieben ist zum Beispiel das Bindeglied zwischen uns und dem Schauspiel – die

Maske. Lange Zeit unterschied man noch nicht zwischen Puppen- und Menschentheater. Der frühe Goethe hat das noch nicht näher benannt, wenn er an jemanden schrieb: Ich gehe heute Abend ins Theater. Im 19. Jahrhundert trennen sich die beiden Darstellungsformen aus vielen Gründen. Hauptsächlich, weil das Schauspiel mit dem Menschen im Mittelpunkt plötzlich anerkannt und in der Mitte der Städte sesshaft wurde. Wir Puppenspieler sind da vom Brett geflogen. TI: Für dieses Auseinandertreten gibt es kaum noch ein Empfinden und man ist vielleicht deshalb überrascht, wenn beide Theaterformen wieder zusammenkommen. Das Interesse vom Schauspiel könnte ja auch gerade diesen Qualitäten des Magischen, des Rituellen gelten. Dazu ­ würde ich noch eine wichtige Sache ins Spiel bringen, dass vielleicht das Pup­ pentheater heute andere Möglichkeiten der Subversion bietet und dadurch reizvoll ist. KM: Ich glaube, es geht eher um den Moment der Verzauberung, der mit der magischen Aura von Puppen zu hat, die tot und lebendig zugleich sind. Diese Magie hat die Kraft, auch ein großes Publikum zu verzaubern. Aber Subversion? TI: Dass eine Puppe Sachen sagen kann, die heute nicht mehr korrekt wären. JL: Ich würde schon behaupten, dass die Puppe, das Ding, das Objekt, also das Theater der Dinge immer noch ein anarchisches Element in sich trägt. Wir haben doch die Kasper-Tradition im Puppenspiel. Aber ich glaube, es bewirkt noch etwas anderes, wenn eine Puppe überraschend im Schauspiel auftritt, was wir oft beim Schauspiel selbst leider übersehen, obwohl es genauso da ist. Der Schauspieler, die Schauspielerin verwandelt sich in der Garderobe für uns. Und ich glaube, diesen Akt des Artifiziellen erkennen wir zum Teil gar nicht mehr, sondern wir achten in unserer überbelichteten Gegenwart eher darauf: Was sagen die jetzt? Wir sehen den Akt der Verwandlung kaum noch. Dass niemand darüber nachdenkt, dass Ulrich Matthes, wenn er bewundernswert spielt, dass das natürlich auch was mit

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Thema Puppen- und Figurentheater

Jörg Lehman, Dozent für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“

Virtuosität zu tun hat. Wir übersehen es manchmal, dass der ja auch seinen eigenen Körper zum Instrument macht und sich verwandelt, um – sich als Matthes zurücknehmend – der Figur zu dienen. In der offenen Spielweise, die es im Puppenspiel erst seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts überhaupt gibt, also in der der Spieler, die Spielerin selber offen mit der Puppe auftritt, wohne ich dem Akt der Verlebendigung bei. Diese Art von Puppenspiel ist auch Schauspiel, mit einem Schauspieler, der, zum Beispiel im antiken Theater die Maske vor dem Gesicht trug und diese nun in der Hand hat. Ich sehe sozusagen, was die machen – und ein Stück Zeitung kann im Materialtheater plötzlich zu einem Schwan werden. Wenn das gut gemacht ist, erkennt man das Leben wieder und zugleich den Akt, dass da jemand etwas für uns mit großer Virtuosität absichtsvoll vorführt. Das wird im Schauspiel zu meinem Ärgernis häufig nicht mehr gebührend wahrgenommen. Auch die Kritik reagiert ja meist nur auf

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die Oberfläche der Interpretation des Textes, auf den konzeptionellen Zugriff. Seitenweise wird über die Regie gesprochen und deren mögliche Intentionen, und dann gucke ich, wer hat denn überhaupt gespielt? Im Puppenspiel gibt es für das Spiel als einen Akt der Verwandlung sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Der Moment der Verlebendigung eines scheinbar toten Materials als ein performativer Vorgang. Ich sehe, wie es gemacht wird, und nehme gleichzeitig an dieser Geburt des Lebens teil. TI: Als Verzauberung. JL: Ich habe das öfter nach Inszenierungen erlebt oder sogar beim Marionettentheater auf der Straße: wie ehrfürchtige normale Menschen so eine Puppe anfassen. Also das ist ein großer Moment der vorsichtigen Annäherung. Das finde ich ganz, ganz interessant, weil da in diesen Dingern offensichtlich eine Magie mitschwingt, die die Leute ganz unmittelbar verzaubert und vielleicht auch in ein kindlich naives Staunen versetzt.

TI: Diese wild herum tanzenden Skullies scheinen in einigen Momenten den Schauspieler:innen die Show zu stehlen. Gibt es da Erkenntnisse zum Konkurrenzverhältnis? KM: Ich konnte zumindest in dieser Produktion keins feststellen, sie haben sich sehr bewusst mit ihren Körpern für die Metapher und das Bild zur Verfügung gestellt. Generell gibt es, glaube ich, bei Schauspieler:innen ein großes Bewusstsein für die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Theatermittel und auch eine Lust, sie im Dienst einer Aussage zu erforschen und zu benutzen. Und in diesem Fall ist ja klar, dass die Schauspieler:innen selbst unter den Skullie-Masken stecken.

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Foto links oben Lex Karelly, unten Martina Thalhofer

Karla Mäder, Leitende Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin

Die Puppe ist die Metapher für unsere Zeit und vielleicht deswegen gerade wieder so interessant.

TI: Nehmen wir mal als Beispiel Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Heiner Müllers „Der Auftrag/Psyche 17“ am Deutschen Theater, wo afrikanisch anmutende Skelettfiguren mit riesigen Masken eine große Rolle spielen, noch dazu die Integration von Puppenspiel ins Schauspiel. Da, würde ich sagen, hat man alles, das offene Spiel, Maskentheater, aber auch die Subversion innerhalb eines Werkes, das als kanonisch gilt und als heutige Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus interpretiert wird. KM: Die Idee des Puppentheaters kommt aus Müllers Stück selbst, das in einer Szene das Theater der Revolution als Puppen- oder Marionettentheater vorgibt, das bei uns Michael Pietsch und Raphael Muff mit den von Pietsch gebauten Marionetten spielen. Dazu kommen noch die sogenannten Skullies. Die wurden von dem kongolesischen Maskenbauer Claude Bwendua geschaffen, der in Solingen lebt. Bwendua hat noch die animistische Ehrfurcht vor den Masken und die Herstellung und Benutzung dieser Skullies war tatsächlich in gewisser Weise auch ein interkulturelles Projekt, bei dem kultische Praxis aus Afrika auf einen europäischen Theaterbetrieb prallte. Für den Regisseur war das eine Möglichkeit, Sinnbilder der weißen Kolonialgesellschaft und ihrer Untoten zu schaffen, die immer noch durch Afrika geistern und nicht sterben können, wie es dann ja auch auf der Bühne passiert: Sie werden erschossen, stehen wieder auf und alles geht weiter.


Thema Puppen- und Figurentheater JL: Ich glaube, dass es einige Schauspieler und Schauspielerinnen gibt, die eine Sehnsucht haben, diesen Dingen, diesen Theatermitteln auf der Bühne zu begegnen. Weil sie plötzlich merken, dass dann ihr Spiel auch wieder anders gesehen wird, ja, dass ihr Spiel plötzlich auch wieder nicht mehr das scheinbar Bekannte ist. Also meine Behauptung wäre, der Auftritt einer Puppe auf der Bühne, wo Schauspiel passiert, verfremdet das Schauspiel in einer ganz positiven Art und Weise. Es gibt auch Schauspieler und Schauspielerinnen, die davor Angst haben, weil der Puppe plötzlich alle Herzen zufliegen. Ja, auch das ist ein Phänomen, das man psychologisch erklären könnte. Ein Beispiel fällt mir dazu ein. 2016 hat der Studiengang Schauspiel der HfS auf der kleinen Bühne im Berliner Ensemble Shakespeares „Zwei Herren aus Verona“ gemacht, Regie führte Veit Schubert. Im zweiten Akt gibt es eine wunderbare Szene, in der der Diener Lanz mit seinem Hund spricht. Veit Schubert hat das mit einer Marionettenpuppe inszeniert, gebaut von unserer Dozentin Karin Tiefensee, die vom Schauspieler des Lanz in dieser Szene nebenbei geführt wurde. Sofort gab es den berühmten Ruck im P ­ ublikum, wenn der Hund auftrat. Plötzlich war Aufmerksamkeit da, vergleichbar mit dem Moment, wenn sich ein Schauspieler verspricht. Es gibt dann diesen Momente, wo plötzlich alles an Dynamik gewinnt, und am Ende bekam der Hund natürlich immer einen Extra-Applaus und alle sagten: Das mit dem Hund, das war schön. TI: Ein anderer Aspekt, der Puppen und Objekte auf der Bühne interessant und vielleicht sogar notwendig macht, könnte sein, dass es in der Gegenwartsdramatik

Im Puppenspiel gibt es für das Spiel als einen Akt der Verwandlung sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Ich sehe, wie es gemacht wird, und nehme gleichzeitig an dieser Geburt des Lebens teil. Theater der Zeit 6 / 2024

immer öfter nichtmenschliche Figuren gibt. In „karpatenflecken“ von Thomas Perle spricht ein Berg, Ariane Kochs „Dinosauriermonologe“ mit dem „Nachwort einer Birke“ müssen nicht unbedingt von entsprechend kostümierten Schauspieler:innen dargestellt werden. Auch von daher scheint das Interesse des Theaters am Puppenspiel zu wachsen. KM: Bei uns Dramaturg:innen ist das auf jeden Fall so, aber trotzdem muss diese spezifische Entscheidung für die Besetzung nichtmenschlicher Figuren mit z. B. Puppen von der Regie ausgehen. Und Regieleute haben vielleicht auch viel Respekt vor Puppenspiel, weil Puppenspieler:innen einfach etwas können, was man lernen und studieren muss und dessen Gesetzmässigkeiten man auch als Regisseur:in ansatzweise kennen sollte, um produktiv damit zu arbeiten. Es will ja auch nicht jeder einen Opernsänger in einer Inszenierung haben, weil das eben kompliziert werden könnte ... JL: Das ist genau der Punkt. Das erwähnte Phänomen Ende der 90er Jahre entstand, weil es auf der Schule angestiftet wurde und Studierende der Regie und der Puppenspielkunst schon in der Ausbildung zusammenkamen. Das war damals ein Experiment, ausgehend von diesen Studierenden, das auch für die Ausbildung heute interessant sein kann. Zu 80 Prozent kommt bei uns in der Ausbildung die offene Spielweise zum Tragen, also selbst bei Handpuppen soll man die Spieler und Spielerinnen gern sehen. Man sieht also den spielenden Menschen und die Puppe, das Objekt, das Material. Wir machen en passant das mit, was Brecht eingefordert hat: zeigt, dass ihr zeigt. Für Schauspieler:innen ein Riesenproblem, aber beim Puppenspiel kann sich sogar ein erwachsener Zuschauer mit einem eigentlich toten Gegenstand verbünden, und dahinter steht jemand, der das vielleicht kommentiert und der Puppe zu ihrer Scheinautonomie verhilft – und wir sehen das alles offen vor uns. TI: Wird das bei Ihnen an der „Ernst Busch“ für die Ausbildung organisiert? JL: Die Stundenpläne unserer Studiengänge Schauspiel, Regie, Puppenspiel sind knallvoll, und es ist nicht leicht, das syste-

matisch zu verbinden. Da wir aber nun endlich seit 2018 mit allen sechs Studiengängen der Theaterkunst in einem Haus sind, ist Bandenbildung schon im Studium viel leichter möglich. Wir streben das an. 2021 konnten wir zum Beispiel eine gemein­same Studioinszenierung mit „der thermale widerstand“ von Ferdinand Schmalz machen, wo sechs Leute vom Schauspiel und vier von der Puppenspielabteilung auf der Bühne zusammen spielten. Substanziell wird eine solche Kollaboration immer dann, wenn der Einsatz der Puppe oder des Dings konstituierend wirkt, nicht lediglich Ornament oder Effekt bleibt. TI: Wird es am Deutschen Theater eine systematisch mit Puppen weiter entwickelte Welt nach Nikolaus Habjan geben? KM: Es wird weitere Projekte mit Habjan geben, zum Teil weit in die Zukunft hinein geplant, denn Habjan ist über lange Strecken ausgebucht. Auch Gockel und Pietsch haben nicht wenige Ideen für uns. Darüber hinaus – wir haben die „Ernst Busch“ mit ihrer Puppenspielabteilung um die Ecke und unsere Kontext-Abteilung wird auch weiter Puppen-Spezial-Wochenenden veranstalten, bei denen auch Studierende der Busch Ihre Kunst zeigen … Wir sind wach und interessiert. JL: Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass in diesem Zusammensein von Puppenund Schauspiel bestimmte Arbeits­abläufe und Probenprozesse doch sehr ver­schieden sind. KM: Oh ja! Bis hin zu der Frage, wie Puppen gelagert werden und welches Gewerk dafür zuständig ist ... JL: … oder wer die Puppen baut und in welchem Verhältnis die Puppenbauer dann zum Theater stehen. KM: Abgesehen davon ist die Puppe die Metapher für unsere Zeit und vielleicht deswegen auch gerade wieder so interessant. Wie es Büchner in „Dantons Tod“ die Titelfigur schon sagen lässt … JL: … „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ Übrigens auch ein wunderbarer Text für Schau- und Puppenspiel auf einer Bühne. Da ist jedenfalls noch längst nicht alles erforscht, ausprobiert und erspielt. T

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Die Schnitzelpuppe und der Moskitoklarinettist FIDENA in Bochum zeigt die boomende internationale Szene des Figurentheaters Von Stefan Keim

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Eine große Hundepuppe springt auf die Spielerin Stefanie Oberhoff. Das Tier berührt ihren ganzen Körper, schiebt ihr Kleid hoch, es könnte eine Vergewaltigung werden. Dann nimmt der Hund ein scharfes Messer und schneidet ein Schnitzel aus dem Bauch seiner Spielerin. „Jetzt hat die Performance ein Loch“ sagt Stefanie Oberhoff und bittet eine Kollegin, etwas zu singen, während sie aus dem Schnitzel eine Puppe näht. Dabei schaltet sie eine Kochplatte ein. Irgendwann ist die Schnitzelpuppe fertig, mit kleinen Äuglein, ein Streifen Bacon stellt die Haare dar, sie ist richtig niedlich.

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Foto AJ Korkidakis/Brian Neuman

„The Storyville Mosquito“, Figurentheater von Kid Koala beim Festival FIDENA


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Aber auch suizidal veranlagt, einsam, ein Masturbationsversuch scheitert. Die Puppe salzt sich, will lecker sein, ihr Leben hat ohnehin ein Ablaufdatum. Schließlich stürzt sie sich ins brodelnde Fett, voller Lust und Schmerz. Am Ende verschlingt der Hund seine Schnitzelkollegin. „Schnitzel of Love“ heißt diese irre Performance, die Stefanie Oberhoff nach zehn Jahren erstmals wieder spielt. Im Nachtprogramm des Figurentheaterfestivals FIDENA, der Zeit für die abgedrehten Nummern. Es war einmal eine Therapie für sie, ihr Ehemann ließ sich scheiden. Sie hat

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vor jedem Auftritt einen ungeöffneten Brief von seinem Anwalt oder vom Gericht dem Publikum vorgelesen. Und danach durch das Spiel mit dem Schnitzel eine Selbsttherapie vollzogen. Ein radikales, anarchisches Stück Figurentheater, bis heute. Ein bisschen Wildheit liegt der Festivalleiterin Annette Dabs immer am Herzen. Seit 26 Jahren leitet sie die FIDENA, diese Ausgabe ist ihre letzte. „Change“ hat sie als Motto gewählt, mit einem brennenden, aber hübsch bemalten Molotowcocktail als Plakatmotiv. „Als ich anfing“, erzählt Annette Dabs, „war das noch ein bisschen Steineklopfen. Überall musste ich ein bisschen betteln, dass wir auf die Bühnen durften. Inzwischen wollen die Leute gerne, dass wir zu Gast sind und mit ihnen kooperieren. Und überall ploppen neue Figurentheatergruppen und -Ensembles auf, an Stadttheatern, bei Festivals.“ Allein in NRW sind am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und am Rheinischen Landestheater Neuss neue Puppensembles entstanden, Nikolaus Habjan inszeniert große Opern mit Puppen in München, Dresden und Dortmund. Weil die Theaterschaffenden das kreative Potenzial der Figuren erkannt haben. „Es gibt da keine Grenzen“, sagt Annette Dabs. „Ich bin auch immer wieder überrascht, welche Themen auch von den Studierenden aufgemacht werden, mit was für Mitteln sie ihre persönlichsten, auch biografischen Dinge erzählen.“ Da gibt es zum Beispiel das KMZ Kollektiv, einige Mitglieder stammen aus Lateinamerika. Im Stück „Fünf Exponate“ setzt es sich zum Beispiel mit der Notwendigkeit der Restitution von Kulturgütern auseinander. Um Folgen des Kolonialismus geht es ebenfalls in der von der FIDENA koproduzierten Uraufführung „Kakao mit Zucker. Der köstliche Unterschied“. In der Turbinenhalle hinter der Bochumer Jahrhunderthalle spielen die drei Perfomer:innen zunächst in einem Plastikzelt. Ein zweieinhalb Meter hoher, aufgeblasener Plastikhund liegt mitten im Raum. Das Publikum wird in seinen Bauch geführt, durch den Hintern, mit einer kleinen Choreografie. „Kopf, Bein – und rein.“ Drinnen vibrieren Kakaobohnen auf einer Trommel, man kann sie probieren, per Videoperformance erzählt das Kollektiv die Geschichte des Kakaos.

Die Spieler:innen führen liebevoll die Figuren, eine Präzisionsmaschine mit Herz.

Die internationalen Gastspiele haben immer eine besondere Bedeutung. Michal Svironi aus Israel hat ihre eigene Theaterform geschaffen. In „Carte Blanche“ erzählt sie autobiografisch von ihrer verschwindenden Familie, in der sich niemand verabschiedet. Repräsentiert wird sie durch Figuren, die sie an Fäden zu einer seltsamen Parade führt. Sie malt live, lässt die Bilder sprechen, tanzt, entwickelt eine riesige Energie. Ein überragendes Erlebnis war in diesem Jahr das Eröffnungsstück „Storyville Mosquito“. Der kanadische Autor, Komponist und Star-DJ Kid Koala hat ein riesiges Filmset aufgebaut. Konzerthallen, Straßenzüge, Innenräume, ein See, vieles mehr. 15 Menschen spielen 75 Figuren, ein Streichtrio musiziert live auf der Bühne. Nichts ist vorproduziert, alles passiert live. Das Publikum sieht das Ergebnis auf der Leinwand und kann beim Entstehen der Bilder zusehen. Die Geschichte orientiert sich an klassischen Hollywood-Melodramen, voller Gefühl und schrägem Witz. Eine Stechmücke spielt großartig Klarinette und kommt in die große Stadt, um Karriere zu machen. Eine fiese, Schlagzeug spielende Tarantel ist ihre Gegnerin. Doch es gibt auch eine zarte Liebesgeschichte mit einem Insekt vom Nudel-Imbiss und die Botschaft, dass man niemals aufgeben soll. Klar, so etwas kennt man im Schauspiel von Inszenierungen Katie Mitchells, doch mit Puppen hat es noch eine andere Wirkung. Weil die Spieler:innen so präzise und liebevoll mit den Figuren umgehen müssen, eine Präzisionsmaschine mit viel Herz. Solche Gastspiele sind natürlich teuer und in diesem Fall auch nur durch die Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen in Recklinghausen möglich, wo „Storyville Mosquito“ im Anschluss zu sehen war. Die finanzielle Ausstattung der FIDENA ist ein Problem, was Annette Dabs in ihrer Eröffnungsrede – nachdem sie viele lobende Worte gehört hatte – schonungs-

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Oben „Die gestiefelte Katze“, eine Produktion von Theater Zitadelle Puppet Company, Regie Pierre Schäfer, Mitte „Schnitzel of Love“ von Stefanie Oberhoff, Regie Robert Steijn, unten „The Storyville Mosquito“, Figurentheater von Kid Koala

Die Lust am Anarchischen ist eine der Hauptqualitäten des Figurentheaters.

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los aussprach. Weil sie den ganzen Tag Förderanträge schreiben muss, konnte sie seit Jahren nicht mehr selbst inszenieren. Was ein Jammer ist, denn ihr performatives Konzert mit Werken des Komponisten Moondog und einer riesigen, unvergess-

lichen Hundefigur war vor acht Jahren so erfolgreich, dass es in den Spielplan der Bochumer Kammerspiele übernommen wurde. Außerdem ist oft erst sehr kurzfristig klar, ob sie teurere Produktionen überhaupt einladen kann. In Bochum soll nun etwas passieren. Die Stadt will ein Figurentheaterzentrum bauen, das auch ein internationales Produktionshaus sein soll, in dem Kollektive und Kompagnien ihre Stücke entwickeln können. Es wäre das erste seiner Art in Europa, die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, hat nun die Schirmfrauschaft übernommen. Bleibt zu hoffen, dass die Nachfolgeintendanz auch die Lust am Anarchischen fortsetzt. Denn darin liegt eine der Hauptqualitäten des Figurentheaters. Einer der wildesten Momente der FIDENA war, als Stefanie Oberhoff in einer entweihten Bochumer Kirche ein Klavier von der Empore auf einen Beichtstuhl werfen ließ. Und auch in der diesjährigen Ausgabe gibt es herrliche, anarchische Momente. Wenn das Berliner Theater Zitadelle zum Beispiel mit sehr schwarzem Humor das Märchen von der „gestiefelten Katze“ neu erzählt. Oder wenn das Théâtre Gudule aus Frankreich in „Santa Pulcinella“ die wilde italienische Tradition des Kasperletheaters bewahrt. In beiden Aufführungen tritt der Tod auf. In der „gestiefelten Katze“ verhuscht, verweht und kompromisslos. „Kannst du mich eigentlich sehen?“, fragt er seine Opfer. In „Santa Pulcinella“ ist er ein derber und direkter Gegner. Erst hat Pulcinella gegen Superman gekämpft und ihn mithilfe einer Dynamitstange in die Luft gejagt. Dann hat er Probleme, den toten Helden in den Sarg zu pressen. Und als der Tod erscheint, liefert Pulcinella ihm einen rasanten Kampf. Erst fechten die Puppen mit Stöcken, dann reißen sie Holzstäbe aus dem Theaterbau, prügeln sich schließlich mit Fäusten. Die Actionszene wirkt unmittelbarer als jedes CGI-Spektakel im Kino, weil Puppen körperlich präsent sind und ganz in der Gegenwart existieren. Kraftvolles Volkstheater, mit heftigem Humor, jenseits von pädagogischen Bedenken. Tolles Figurentheater eben, für alle Altersgruppen und Bildungsschichten. T

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Foto links oben Klaus Zinnecker, Mitte Marie Lienhardt, unten AJ Korkidakis/Brian Neuman

Thema Puppen- und Figurentheater


Thema Puppen- und Figurentheater

Wolfgang Amadeus Mozart

Don Giovanni 26., 29. Juni / 2. Juli 2024

Foto: Bettina Stöß

Musikalische Leitung Daniel Cohen Inszenierung Roland Schwab

Infos und Karten www.deutscheoperberlin.de 030 343 84 343 Theater der Zeit 6 / 2024

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Thema Puppen- und Figurentheater

Ein Planet aus Lumpen Das Figurentheater Blaues Haus in Krefeld entwickelt mit Nils Voges vom Kollektiv sputnic dokumentarische und diskursive Stücke Von Stefan Keim

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Die Erde erscheint auf der Bühne. Der Planet sieht zusammengeflickt aus, ein Globus aus Lumpen. Der Epilog des Stücks „Kreatura“ ist das Ende einer langen Reise, in der die Theatermacher:innen versucht haben, die Welt der Tiere besser zu verstehen. Sie haben das Publikum tief ins Meer hineingezogen, Insekten, Vögel, Wölfe gezeigt. Und auf der Tonspur Wissenschaftler:innen und Tierschützer:innen erzählen lassen. Ein Dokumentarstück mit den Mitteln des Figurentheaters. Dieses Genre gibt es nicht sehr oft. Doch das Puppentheater Blaues Haus in Krefeld ist enorm experimentierlustig. Stella Jabben und Volker Schrills spielen und leben seit 26 Jahren zusammen. Erst hatten sie zwei Tournee-Puppentheaterbühnen, dann fusionierten sie zu einer. Und schließlich entdeckten sie in KrefeldHüls das blaue Haus. „Das war ’ne alte

Kneipe“, erzählt Stella Jabben, „an der seit 50 Jahren nichts mehr gemacht worden war. Und wir haben gedacht, da muss mal ‚Puppentheater‘ dran stehen. Wir haben uns ins Zeug gelegt und fünf Jahre lang, während laufendem Betrieb und den Kindern, die wir betreuten, hier saniert und versucht, ein schönes Haus draus zu machen, also ein schönes Theater.“ Das ist es wahrhaftig geworden, der Theaterraum fasst knapp hundert Menschen, wenn viele Kinder dabei sind, die direkt vor der Bühne sitzen können. Damit das auch passiert und sich nicht die Eltern dazusetzen, gibt es einen Extraeingang für die Kleinen. Erwachsene kämen da höchstens krabbelnd durch, diese Tür wird bei Familienvorstellungen immer zuerst geöffnet, dann erst dürfen die Großen eintreten. Über 20 Stücke sind inzwischen entstanden, darunter einige für Erwachsene.

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Foto Axel Jusseit

„Deus Rising – Von unaufhaltsamen Aufstieg der Menschheit“, Text und Regie Nils Voges


Thema Puppen- und Figurentheater Ein Dauerbrenner ist „50 Shades of Gretel“, in der Gretel ein neues, zeitgemäßes Kasperletheater fordert und durchsetzt. Mit dem Theater SiebenSchuh aus Görlitz ist die Romanbearbeitung „Der wunderbare Massenselbstmord“ entstanden. Die eigene Bühne ermöglicht es, dass keine Inszenierung abgespielt wird und ein riesiges Repertoire entstanden ist. „Das ist auch eine Sache“, sagt Stella Jabben, „die uns das feste Haus, also das eigene Theater, ermöglicht hat. Weil wir uns hier ein Stammpublikum erarbeiten konnten. Die Leute kamen erst zögerlich, dann waren sie ganz begeistert. Und dann kamen durch die Mundpropaganda immer mehr Menschen. Und jetzt können wir fast jedes Wochenende spielen, auch mit dem Erwachsenenprogramm.“ Seit zwei Jahren arbeitet das Puppentheater Blaues Haus mit Autor und Regisseur Nils Voges zusammen, einem Teil des Kollektivs sputnic, das sonst an größeren und mittleren Stadttheatern inszeniert. „Deus Rising – Sterben lernen im Anthropozän“ hieß das erste gemeinsame Projekt. Zwei Menschen treten vor die Götter. Nur wenige von ihnen sind zur Ratssitzung gekommen. Obergott Don sieht wie ein knorriger Baumstamm aus. Seine Augen können rot glühen, und wenn er Eindruck machen will, schwebt er in die Luft. Ihm zur Seite sitzen Kali, die indische Todesgöttin, hier eine blauhäutige Diva. Und Quetzalcoatl, übersetzt „leuchtende Schwanzfederschlange“, ein Schöpfergott der Maya. Beide haben keine Lust, sich mit den nervigen Menschen auseinanderzusetzen und wollen sie einfach fressen. Aber Don hält sie zurück, denn die Menschen haben einen Antrag eingereicht und korrekt ausgefüllt. Die Götter sind verdattert. Wer so eine bürokratische Meisterleistung vollbringt, hat besondere Fähigkeiten und könnte gefährlich werden. „Deus Rising – Sterben lernen im Anthropozän“ ist ein Stück zwischen Philosophie und Satire, zwischen Witz und Melancholie. Stella Jabben und Volker Schrills sind als Menschen auf der Bühne sichtbar und spielen alle Puppen und Figuren. Sie projizieren auch Bilder mit dem Overheadprojektor, es gibt Toneinspielungen, wissenschaftliche Texte. Schließlich wird die Situation für die Göt-

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ter lebensbedrohlich. Neue Götter müssen helfen. Götter wie ‚der freie Markt‘. Stella Jabben kommt mit einem iPad auf die Bühne. Darauf ist eine Barbiepuppe zu sehen, die die Mimik der Spielerin spiegelt. „Ich bin der Fortschritt, ich bin die Freiheit, ich bin global!“, sagt die Stella-Barbie.

Dinge aus dem Rhein Nach diesem diskursiven und sehr unterhaltenden Stück sind Nils Voges und das Puppentheater Blaues Haus nun einen Schritt weitergegangen. „Kreatura – Begegnung der Arten“ hat keine durchgehende Geschichte mehr. Stella Jabben und Volker Schrills sprechen auch nur in Ausnahmefällen. Die meiste Zeit läuft ein perfekt produziertes Hörspiel, das sie live bebildern. Eine Kulturwissenschaftlerin und eine Philosophin und Tier-Theologin kommen zu Wort, Zoologen, Biologen und viele andere Expert:innen. Es geht um ethische und ganz konkrete Fragen. Eine umfassende Recherche steht hinter diesem Stück. Ein Jahr lang haben die drei an diesem Stück gearbeitet. „Die Wissenschaftler:innen, die wir interviewen wollten“, berichtet Nils Voges, „haben auch nicht immer Zeit. Da gab es mal Termine in zwei Monaten. Dann musste das ganze verschriftlicht werden. Das waren meistens zweistündige Gespräche, ein Wust an Material, der erst zu einer Dramaturgie verbunden werden musste.“ Parallel haben Stella Jabben und Volker Schrills nach Materialien gesucht. Die Erde im Epilog sieht nicht zufällig wie ein Flickenteppich aus. „Das ist alles Müll, den wir am Rhein gefunden haben“, erzählt Volker Schrills. „Das ist Müll der Menschheit, der aber von der Natur wieder beeinflusst wurde.“ Für so eine Suche gibt es Zeiten, die besonders erfolgversprechend sind, ergänzt Stella Jabben: „Wir haben mehrere Monate lang gesucht, vor allem in den Sommermonaten, in denen der Rhein Niedrigwasser führt. Da findet man auch Dinge, die halb im Schlamm vergraben und schon fast verloren sind.“ Diese gefundenen Dinge waren dann Inspirationsquellen zu vielen Figuren. Besonders eindrucksvoll sind die Quallen geworden. Elegante und zerbrechliche

Im Erwachsenenspielplan erkunden sie mit riesiger Experimentierlust, was alles möglich ist, wie viel Welt sich entdecken lässt. Erscheinungen in blauem Licht. Kleine und große, mit langen Fäden und durchsichtigen Körpern. „Wie baut man eine Qualle?“ Diese Frage war für die Spieler:innen völlig neu. „Da mussten wir erstmal die richtigen Materialien suchen und experimentieren. Auch Insekten sind ja körperlich ganz anders aufgebaut als Menschen.“ Dass die Figuren optisch funktionieren würden, war den beiden irgendwann klar. Aber die Form des Abends ist natürlich ein Wagnis: „Kein Tier spricht in diesem Stück. Wir haben keine Charaktere, denen wir folgen. Was von der Tonspur kommt, sind ausschließlich Tierlaute. Das heißt, die verschiedenen Eindrücke und Perspektiven müssen den Abend tragen.“ Es gibt auch Szenen, in denen die beiden direkt vor das Publikum treten. Das ist auch nötig, damit das Publikum in den sehr dichten und pausenlosen anderthalb Stunden mal verschnaufen kann. In einer Szene untersuchen Stella Jabben und Volker Schrills unter dem Mikroskop einen Wassertropfen. Sie erläutern die winzigen Lebewesen, die darin zu sehen sind. Die weniger als einen Millimeter großen achtbeinigen Bärtierchen entdecken sie fast immer. Sie bewegen sich manchmal sehr schnell. Ob sich noch andere winzige Lebensformen in dem gerade ausgewählten Tropfen finden, ist Glückssache. Nach all der Präzisionsarbeit zur vorproduzierten Tonspur müssen die Spieler:innen hier improvisieren und hoffen, dass genug Action im Tropfen stattfindet, um das Publikum zu unterhalten. Natürlich zeigt das Puppentheater Blaues Haus auch Stücke für Kinder verschiedener Altersgruppen auf sehr kreative Weise. Und im Erwachsenenspielplan erkunden sie mit riesiger Experimentierlust, was alles möglich ist, wie viel Welt sich entdecken lässt mit den Mitteln des Material- und Figurentheaters. T

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„Fly Ganymed“ von Paulus Hochgatterer, Inszenierung Nikolaus Habjan. Eine Kooperation mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, Studiengang Figurentheater

„Wir müssen raus aus der Exoten-Ecke“ An der Schnittstelle zwischen Objektkunst und Puppenbau: Der Stuttgarter Studiengang Figurentheater und das FITZ Von Elisabeth Maier

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Der alte Mann mit dem karierten Hemd meckert. Zerfurchte Züge erzählen von einem harten Leben. Doch der Alte kann auch fröhlich sein. Wenn Stephanie Rinke die Klappmaulpuppe führt, haucht sie der handwerklich sehr aufwendig gestalteten Figur Leben ein. Der Kunststoffkopf verändert seine Form. Und schon huscht dem Grantler ein Lächeln über das Gesicht. Das anmutige Spiel fesselt die Betrachter:innen. Für die Leiterin des Stuttgarter Studiengangs Figurentheater haben klassische Figuren ebenso ihren Reiz wie die Objekte, die viele ihrer Studierenden in Bewegung bringen: „Alles ist Material“, sagt die Professorin. Selbst einer Plastiktüte entlocken die Spieler:innen faszinierende Geschichten. „Unsere Szene ist im Vergleich zum Schauspiel überschaubar, aber wir sind international sehr gut vernetzt.“ An der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart leitet die 54-Jährige den Studiengang, der im Jahr 1983 gegründet wurde. Sie lehrt zeitgenössisches Figurentheater. „Obwohl die Gestaltung und der Bau der Theaterfigur Bestandteil des Studiums ist, geht es auch hier vor allem darum, die Figur im Spiel zu verstehen und ein Bewusstsein für das Instrument zu entwickeln.“ Figurentheater hat in Stuttgart eine gewachsene Tradition. Fast zeitgleich mit dem Studiengang Figurentheater wurde das Figurentheaterzentrum, kurz FITZ, gegründet, das seinen Sitz im Stuttgarter Tagblatt-Turm hat. Die kleine, experimentierfreudige Bühne ist weit über Stuttgart hinaus bekannt. Sie veranstaltet unter anderem das internationale Figurentheaterfestival Imaginale, das eines der großen Festivals in Europa ist. „Institutionell sind das FITZ und der Studiengang Figurentheater nicht verbunden“, sagt Katja Spiess, die das Theater eines Trägervereins leitet. Doch zwischen beiden Institutionen gebe es „starke personelle Verbindungen“. Unter den Stuttgarter Figurenspieler:innen, die die Gründung einer festen Spielstätte für Figurentheater in der Stadt vorangetrieben hatten, waren auch diejenigen, die sich für die Einrichtung einer professionellen Ausbildung starkgemacht haben – allen voran der Professor und Figurenspieler Werner Knoedgen und der

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Foto Björn Klein

Thema Puppen- und Figurentheater


Thema Puppen- und Figurentheater weltbekannte Marionettenspieler Albrecht Roser. Letzterer habe „schon früh erkannt, dass die kulturpolitische Verankerung und Professionalisierung des Genres in Westdeutschland nur dann gelingen wird, wenn systematisch professioneller Nachwuchs ausgebildet werden kann“. In der damaligen DDR gab es an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ bereits seit 1971 eine professionelle Ausbildung für Puppenspieler:innen. „Für Albrecht Roser war auch deutlich, dass es eine feste Spielstätte für Figurentheater braucht, um diese Theaterform in der Kulturlandschaft der Stadt zu etablieren.“ Beides wurde nach Spiess’ Worten 1983 in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Realität. Seither hätten sich das FITZ und der Studiengang als einander ergänzende und kooperierende Institutionen stetig weiterentwickelt. „Dass am FITZ ein regelmäßiger Abendspielplan entstehen konnte, ist ganz wesentlich dem Studiengang zu verdanken, dessen Absolvent:innen jedes Jahr mit interessanten Produktionen für Erwachsene auf dem Plan traten“, bringt Spiess die enge Vernetzung auf den Punkt. Umgekehrt unterrichteten am Studiengang immer wieder Dozent:innen aus dem In- und Ausland, die über das FITZ oder das Festival ihren Weg nach Stuttgart gefunden haben. Mit seinen Marionetten, der strickenden Oma und dem Clown Gustaf und seinem Ensemble, hat Roser einem breiten Fernsehpublikum Lust auf das Figurenspiel gemacht. Wie arbeiten der Studiengang und das FITZ zusammen? „Wir haben in den vergangenen Jahren feste Kooperationsformate entwickelt“, sagt Katja Spiess. Zu Beginn jeder Spielzeit gibt es die sogenannte Bachelorwoche. In diesem Rahmen präsentieren die Absolvent:innen des FITZ ihre Abschlussarbeiten. „Die jungen Künstler:innen bekommen einen professionellen Rahmen und werden technisch, organisatorisch und werblich vom Theater unterstützt.“ Diese Woche ist offen für das Publikum. „So haben die Theater und die Zuschauer:innen die Möglichkeit, die jungen Künstler:innen kennenzulernen“, sagt die Chefin des FITZ. Im Herbst sind Kurzformate der Studierenden im dritten Studienjahr an der Stuttgarter Bühne

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zu sehen. Das findet Spiess besonders spannend, „denn es sind die ersten Arbeiten, mit denen sie an die Öffentlichkeit ­treten“. Heute steht die Stuttgarter Hochschule für ein experimentelles Figurenspiel, das die Grenzen zwischen Objektkunst und Puppenbau spielend überwindet. Dennoch sieht Stephanie Rinke da noch Potenzial. „Wir müssen raus aus der Exoten-Ecke“, ist die Künstlerin und Wissenschaftlerin überzeugt. Doch da sieht sie das Figurentheater der Zukunft auf einem guten Weg. An den großen Theatern sind Puppen, Figuren und Masken Teil vieler Inszenierungen. Da haben Größen wie Nikolaus Habjan oder Suse Wächter Barrieren abgebaut. Mit Studierenden des Stuttgarter Studiengangs hat der österreichische Figurenspieler 2022 die deutsche Erstaufführung von Paulus Hochgatterers „Fly Ganymed“ am Staatstheater Stuttgart zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht. Das Stück über Kinder, die vor dem Krieg flüchten mussten, berührte das Publikum zutiefst. Kooperationen wie diese mit Künstler:innen aus ganz Europa sind für Stephanie Rinke wichtig. Dass immer mehr Bühnen wie etwa das Stadttheater Koblenz oder die Sächsischen Landesbühnen in Radebeul inzwischen eigene Figuren- oder Puppentheatersparten beherbergen, freut die Professorin.

Digitales in Zukunft Groß schreibt Stephanie Rinke an ihrem Studiengang den interdisziplinären Ansatz. Manchmal ist auf der Etage der Figurenspieler im Altbau am Urbansplatz Trommelmusik zu hören. Da proben die Studierenden der Musikhochschule. Die Figurenspieler arbeiten konzentriert in ihren Ateliers. „Das stört uns nicht, es macht uns Lust auf Kooperationen“, findet die Professorin, die selbst bis 1997 an der Stuttgarter Hochschule studiert hat. „Die Studierenden sollen nicht nur hervorragende Interpret:innen in den Bereichen Figur/Puppe, Objekt- und Materialtheater werden, sondern auch mit anderen Künsten ihre eigene künstlerische Ausrichtung entwickeln können. Da die meisten unserer Absolvent:innen in die Freie Szene

Viele internationale Kontakte knüpft der Nachwuchs alle zwei Jahre bei der Imaginale.

gehen, ist es wichtig, dass sie den Diskurs aufnehmen, um die zeitgenössische Figurentheaterszene mitzubestimmen.“ Das Figurentheater der Zukunft sieht Rinke in gemeinsamen Projekten mit anderen Künsten wie Musik. Performance oder Schauspiel. „Diese Vernetzung beginnt bei uns schon auf dem Campus.“ In Stuttgart werden neben den Figurenspieler:innen auch Musiker:innen und Schauspieler:innen ausgebildet. Im historischen Wilhelma-Theater und im FITZ haben die Studierenden die Möglichkeit, eigene Projekte zu entwickeln. Ihre Neugier und ihre Freude am Experiment möchte die Leiterin des Studiengangs fördern. Neue Tendenzen in Musik, Theater, Performance und Figurenspiel lotet der „Campus Gegenwart“ aus, der allen Studierenden Horizonte öffnet. Die Vielfalt der Figurentheaterszene fasziniert Rinke. Die Möglichkeiten des Digitalen auszuloten, sieht sie als eine große Aufgabe der Zukunft an. Nicht nur in diesem Bereich arbeiten die Stuttgarter Figurenspieler eng mit der Berliner Hochschule „Ernst Busch“ zusammen. Dort wird seit dem Wintersemester 2018/19 der Studiengang Spiel und Objekt angeboten. Netzwerke in die internationale Szene zu knüpfen, ist Rinke ein Anliegen. Über das Erasmus-Programm der Europäischen Union haben die Studierenden die Möglichkeit, an Partnerhochschulen im Ausland zu studieren. Viele internationale Kontakte knüpft der Nachwuchs bei der Imaginale, die das Stuttgarter FITZ alle zwei Jahre veranstaltet. Da erleben die jungen Spieler:innen nicht nur einen Querschnitt der vielfältigen internationalen Szene. Traditionell kochen die Studierenden für die Gäste aus aller Welt eine Suppe. Wie locker man da mit den Stars der Szene in Kontakt kommt, hat Stephanie Rinke selbst während ihres Studiums erlebt. Plötzlich stehen da bekannte Figurenspieler:innen im Raum und helfen, das Gemüse zu schnippeln. T

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Die Puppe als Partner Theater Waidspeicher Erfurt: Aus einer Sparte in der DDR wurde Thüringens einziges eigenständiges Puppentheaterensemble Von Michael Helbing

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Unterhalten sich zwei Brüder: „Sie ist ja noch ein Kind“, sagt der eine über seine Tochter. „Es ist doch nur ein Kind“, sagt der andere über seine Nichte. Agamemnon und Menelaos geraten heftig aneinander, als hölzerne Vollmasken ein und desselben Spielers (Heinrich Bennke). Was sie verbal und körperlich austragen, ist kein Kinderspiel; sie spielen mit dem Leben eines Kindes. Und jenes wird bald darauf, ungeheuerlich genug, von sich aus bereit sein, es zu opfern: „Ich tue es!“ „Iphigenie Königskind“ heißt diese knappe Stunde Theater mit einer Puppe, die mit einer Puppe spielt und spricht, als Alter Ego, sowie mit Masken, Speeren und vier Spielern. Pauline Mols 1989 uraufgeführte kindliche, nicht kindische Fassung der 2400 Jahre älteren „Iphigenie in Aulis“ des Euripides erzählt eine Episode aus dem schon damals fast ein weiteres Jahrtausend zurückdatierten Mythos vom Trojanischen Krieg. Entsprechend taumelt diese Inszenierung Matthias Thiemes ästhetisch, sprachlich, musikalisch hier buchstäblich zwischen grauer Vorzeit sowie dem Hier und Jetzt einem Abgrund entgegen. Das wird empfohlen für Menschen ab zehn

Jahren und spart doch nicht mit schwerem Geschütz in Wortgefechten: Agamemnon feuert mal ein „Schlampe“ auf Gattin Klytaimnestra ab, in englischen Passagen sogar mal ein „cunt“. Es handelt sich um eine von, wie in jeder Spielzeit, fünf Neuproduktionen sowie eines von insgesamt siebzehn Stücken im Repertoire des Theaters Waidspeicher, dessen Publikum sich nicht nur aus konzeptionellen, mehr noch aus pragmatischen Gründen zu drei Vierteln aus Kindern und Jugendlichen rekrutiert. Ein Stück wie „Iphigenie Königskind“ kann dabei pars pro toto auch insofern stehen, als dieses Haus die „Es ist doch nur ein Kind“-Perspektive konsequent ausblendet. Sie nehmen hier ihr Publikum jeglichen Alters so ernst wie ihre unterm Strich in aller Vielfalt abgebildete Kunst des Puppenspiels, wozu sonstige Figuren sowie Objekte ebenso gehören könne wie das Spiel mit ihrer Theaterform selbst. Sie wird ihnen mitunter zu Thema und Metapher. „Iphigenie“ verweist zudem stellvertretend auf zwei Prinzipien dieser Bühne: das Ensemblespiel, was, obschon es Solound Duostücke gibt, in der Regel drei, vier

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Fotos links und rechts oben Lutz Edelhoff, unten Steffi Giebson

„Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky, Regie Christian Georg Fuchs


Thema Puppen- und Figurentheater Spieler in einer Produktion bedeutet, sowie die offene Spielweise, in der Puppenspieler nicht nur sichtbar agieren, sondern selbst zu Darstellern respektive Figuren werden und damit zu Partnern ihrer Puppen, im Sinne eines Perspektivwechsels mitunter sogar zu deren vergrößerten Wiedergängern. So spielte Martin Vogel seit 2015 in Tennessee Williams’ autobiografischem Erinnerungsspiel „Die Glasmenagerie“ den Tom selbst als Erzähler, des Autors Alter Ego, und führte ihn als Puppe in die Vergangenheit, aus der er berichtete: Auf sein Zuhause, das er verließ und das ihn aber nicht loslässt, blickte Tom unter Eric Bass’ Regie (Sandglass Theater, Vermont) wie auf eine Puppenstube.

Anfang mit 45 Mitarbeitern Das alles begann Ende 1979 mit „Vom Katerchen, das Stiefel trug“. Intendant Bodo Witte hatte an den Städtischen Bühnen Erfurt die Sparte Puppentheater mit 45 Mitarbeitern eingerichtet, als fünfzehnte von am Ende achtzehn staatlichen Puppenbühnen in der DDR. Im selben Jahr kam die Sparte Kabarett hinzu, beide bezogen 1986 den sanierten Waidspeicher aus dem 16. Jahrhundert (für die einst in der Region verbreitete Blaufärberei mittels Waidpflanzen erbaut). Dort sitzen beide bis heute: die Puppenbühne im Parterre, das Kabarett darüber. Beide mussten das Stadttheater nach 1990 verlassen und wurden als vereinsgetragene Privatbühnen gerettet. Im Gegensatz zum Kabarett wird das Puppentheater von Stadt und Land gefördert. Nicht zuletzt deshalb hat das Kabarett regelmäßig Vorfahrt bei Abendterminen; gleichzeitige Vorstellungen erlauben die Bedingungen nicht. Als Intendantin ist die Dramaturgin Sibylle Tröster seit 2009 Chefin dieses größten sowie einzigen eigenständigen Puppentheaters in Thüringen, mit noch 26 Festangestellten, darunter sieben Planstellen für Spieler, von denen aktuell fünf besetzt sind. Es gibt noch zwei deutlich kleinere Puppensparten an den Theatern in Meiningen sowie Gera-Altenburg; letztere leitet mit Susanne Koschig inzwischen eine langjährige Waidspeicher-Dramaturgin, die mit Matthias Thieme, Frank Alexander Engel

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oder Kristine Stahl nun zunehmend auch die gleichen Regisseure engagiert. Vor allem Gera im Blick, versuchte die Stadt wiederholt vergeblich, die Puppenbühne mindestens strukturell und unter Umständen auch örtlich ins Stadttheater zu „reintegrieren“, um Stellen und also Kosten zu sparen. Öffentlicher Protest trieb allerdings die politischen Opportunitätskosten dafür jeweils zu hoch, zuletzt Anfang 2023. So, wie sie jetzt mit bis zu drei Spielern der Iphigenie-Puppe buchstäblich dazu verhelfen, auf eigenen Füßen zu stehen, haben sie dergleichen selbst längst schätzen gelernt. Auch darauf fußt das internationale Renommee, das sich, so die Bilanz zum Vierzigjährigen 2019, in Gastspielen in 28 Ländern zeigte, Deutschland inklusive. Die Erfurter traten auf Puppentheaterfestivals etwa in Jerusalem, Vermont oder Charleville-Mézières auf. Auf der anderen Seite lädt man sich die Puppenwelt selbst ein: zum internationalen Festival Synergura als Biennale, deren 14. Ausgabe jetzt vom 5. bis 9. Juni dreizehn Produktionen aus zehn Ländern nach Erfurt holt. Die Eröffnung findet, ebenso wie weitere Termine, im Theater Erfurt statt, dem man sich ohnehin zwar strukturell, nicht aber kooperativ entzieht: Christian Georg Fuchs inszenierte dort mit Opernsängern, Puppenspielern und Orchester den „Ring an einem Abend“ nach Wagner oder Monteverdis „Heimkehr des Odysseus“. Mit dem freien Tanztheater Erfurt unter Ester Ambrosino führte der Waidspeicher an gleicher Stelle, mit jeweils drei Spielern und Tänzern sowie zwei Musikern Alessandro Bariccos „Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten“ auf. In der Folge setzte man sich jüngst im Waidspeicher selbst auf eine Redewendung, die in der Branche ansonsten verpönt ist: Man ließ buchstäblich die Puppen tanzen. Wiederum in der Regie von Fuchs machten drei Spielerinnen aus Grimms „Die zertanzten Schuhe“ im Kern eine feministische Show mit einer Nummernfolge inter- und transnationaler Tänze. Drei Spieler reisen derweil als Seemänner mit der immer gleichen, aber verschieden gewandeten Puppe auf ihrem Spieltisch durch die Weltmeere zu zwölf Szenen: eine

Der Waidspeicher ist eine Insel, auf der sich Geschichten der Weltliteratur verdichten. Auswahl aus dem „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky, den sie vor blau schimmernder kartografischer Medienwand poetisch erkunden. Sie machen eine Sehnsuchtsfahrt durch Zeit und Raum aus dem hinreißenden Buch, das kaum dramatisches Potenzial bereithält, aber selbst auf die Bühne verweist: „Die Insel ist ein theatraler Raum“, schrieb Schalansky darin. „Alles, was geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo (…)“ Umgekehrt ist der theatrale Raum im Waidspeicher eine Insel, auf der sie auch große Geschichten der Weltliteratur in ihrer verspielten Kunstform derart verdichten, dass jedermann die Rede vom Kinderkram im Halse stecken bleiben muss. T

Oben „Fesche Lola, brave Liesel“ von Heinrich Thies, in einer Spielfassung für Puppentheater von Kristine Stahl und Susanne Koschig, Regie Kristine Stahl. Unten das Theater Waidspeicher in Erfurt

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Thema Puppen- und Figurentheater

Aushängeschild und Sprungbrett Das Puppentheater in Halle schaut mit dem Jubiläum zum 70. auf große Zeiten zurück Entstehung der Gulliver Puppe zum Gulliver-Festival

„Es gibt richtig und es gibt falsch – und es gibt nichts dazwischen.“ Der Leitsatz des belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot, der an diesem Abend einmal mehr den „Mord im Orientexpress“ aufklären muss, mag im Allgemeinen stimmen – aber trifft im konkreten Fall nicht zu. Denn gesprochen wird er hier von einem Menschen, der an einer Puppe hängt – und zwischen beiden besteht eine Verbindung, die offensichtlich technisch ist und zugleich magische Wirkung entfaltet. Und deshalb ist es konsequent, dass Intendant Christoph Werner das 70-jährige Bestehen des Puppentheaters Halle mit dieser Sentenz – und mit einer Inszenierung feiert, die voller Verweise auf eigene Geschichte steckt und zugleich das gegenwärtige Ensemble perfekt in Szene setzt.

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Schon einmal, im alten Domizil am Halle’schen Mühlweg, saßen vor mehr als zwei Jahrzehnten Puppen in einem Zug, um den Menschen zu entkommen und eine eigene Heimat zu finden. Die flüchtige Fingerübung, Teil eines einmaligen Spektakels, ist so legendär wie jene Arbeit, in der die damaligen Protagonisten die gleichen Magritte-Melonen trugen wie im aktuellen Krimi: „Das Bildnis des Dorian Gray“ begründete vor der Jahrtausendwende den überregionalen Ruhm des Puppentheaters, das – wie viele DDR-Bühnen seines Genres – 1954 nach sowjetischem Vorbild gegründet und nach diversen Umbrüchen vier Jahrzehnte später von Christoph Werner übernommen worden war. Seither hat sich der „Halle’sche Stil“ – eine offene Spielweise, die von virtuosem Handwerk

und dramaturgischer Raffinesse geprägt ist – auch in zahlreichen Koproduktionen und auf internationalen Gastspielen verbreitet. Am Halle’schen Puppentheater inszenierten Claudia Bauer und Gisèle Vienne, Rainald Grebe und Moritz Sostmann. Hier spielten Sandra Hüller und Traugott Buhre, Ursula Werner und immer wieder die Pianistin Ragna Schirmer, hier wurden gemeinsame Aufführungen mit den Wiener Festwochen und den Schwetzinger Festspielen, dem Schauspiel Köln und der Berliner Volksbühne entwickelt. Und stets prägte Werner als Autor und Regisseur den Spielplan, entwickelte und verfeinerte mit „Das Geheimnis des Alten Waldes“ oder „Besuch der alten Dame“, „Casanova“ oder „Konzert für eine taube Seele“ die unverwechselbare Handschrift seines

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Fotos Plasticiens Volants

Von Andreas Hillger


Thema Puppen- und Figurentheater Hauses. Auch nach dem Umzug auf die Kulturinsel und der zeitweiligen Übernahme der Intendanz am benachbarten neuen theater blieb die „Puppe“ unter seiner Leitung das Aushängeschild der Bühnen Halle, nicht zuletzt als Gastgeber für eigene Festivals und als begehrter Partner der anderen Sparten – von der Oper „Martha“ bis zum Ballett „Peer Gynt“. An diesem Jubiläumsabend wird das noch einmal im Zeitraffer gezeigt – in einem kurzen Film, der Klappmaulpuppen und Marionetten, Handpuppen und Schattenfiguren Revue passieren lässt. Er erzählt auch vom Dasein jener menschlichen Protagonisten, die – wie Nils Dreschke, Ines Heinrich-Frank und Lars Frank – teilweise schon seit Jahrzehnten zum Ensemble gehören und ihre jüngeren Spiegelbilder aus Joël Pommerats „Meine Kältekammer“ inzwischen im Fundus besuchen können. Diese Inszenierung trieb das Spiel mit der Identifizierung und Distanzierung, mit der

Stellvertreter- und Doppelgänger-Funktion der Puppen auf die Spitze. Ein fernes Echo dieses Ansatzes findet sich nun auch in der Agatha-Christie-Adaption, in der eine verschworene Gemeinschaft aus naturalistisch geformten Figuren einen Menschen tötet, der am Ende dann doch nur wieder eine Puppe ist … Und sterben muss, weil er eine Puppe auf dem Gewissen hat. Obligatorisches Objekttheater wird beiläufig erledigt, die Frage nach dem Verhältnis von Spieler und Gespieltem läuft stets unterschwellig mit – ein Abend mit Goldrand und dem Hang zum Altmeisterlichen, der den Jubilaren gut zu Gesicht steht. Der größte Gratulant aber würde den Rahmen dieser Feier im fast immer ausverkauften Haus sprengen: Mitte Juni wird auf dem Marktplatz in Halle eine 18 Meter große Figur erwartet, mit der das französische Ensemble Plasticiens Volants das Gulliver-Festival zum 70-jährigen Bestehen des Puppentheaters eröffnet. Die

mit Helium gefüllte Ballonfigur, die in einer Art von umgekehrter Marionettentechnik an Fäden in den Himmel steigt, soll die altehrwürdige Innenstadt in ein Liliput verwandeln und selbst das berühmte Händel-Denkmal in den Schatten stellen. Zugleich markiert sie den Auftakt für vier parallel gezeigte Open-Air-Inszenierungen, in denen sich die Staatskapelle, das Ballett, das Schauspiel-Ensemble und das Puppentheater mit den Abenteuern des Seefahrers aus den Romanen von Jonathan Swift befassen – keineswegs nur in der landläufigen Reduktion auf das Verhältnis von klein und groß, sondern auch mit den Blicken auf soziale und politische Konnotationen des aufklärerischen Originals, auf Hierarchien zwischen oben und unten. Da ist Halles Puppentheater dann wieder ganz bei sich und bei seinem Publikum – im Dazwischen, in dem sich bittere Wahrheiten und schöne Illusionen gegenseitig steigern und aufheben. T

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Thema Puppen- und Figurentheater

21. AUG – 08. SEP 2024 NAVID KERMANI / EVA MATTES / ROBERTO CIULLI

S WIE SCHÄDEL (UA)

Mi 21.8. 21.30 Uhr / Do 22.8. 19 Uhr, Redoute CLOUD GATE DANCE THEATRE OF TAIWAN / CHENG TSUNG-LUNG

SOUNDING LIGHT (DEA)

Sa 24.8. / So 25.8. 20 Uhr, DNT Weimar, Großes Haus KATHARINA ERNST / THOMAS KÖCK/ ANNEA LOUNATVOURI / MARTIN MIOTK / ANDREAS SPECHTL / MICHAEL V. ZUR MÜHLEN

THE WEIRD & THE EERIE (UA)

Crossmediale Performance, Fr 30.8. 20.30 Uhr / Sa 31.8. 21.30 Uhr, KET-Halle Installation, Sa 31.8. / So 1.9. 14 bis 18 Uhr / Mo 2.9. / Di 3.9. / Mi 4.9. 17 bis 19 Uhr, KET-Halle NOVOFLOT / ARNOLD SCHÖNBERG / MAX CZOLLEK / MICHAEL WERTMÜLLER

EIN ERMORDETER AUS WARSCHAU (UA)

Sa 31.8. / So 1.9. 17 Uhr, Redoute

SANDRA HÜLLER / RENÉ MARIK / SCHORSCH KAMERUN / PC NACKT

COME AS YOU ARE (UA)

Sa 31.8. 19 Uhr, DNT Weimar, Großes Haus

Karten / Tickets 03643 755334 Das volle Programm unter:

kunstfest-weimar.de Mit: Sandra Hüller / Foto: © Christian Hüller

Veranstalter

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Hauptförderer

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Theater der Zeit

Foto Jan Versweyfeld

Akteure

Ivo Van Hove konzipiert ein Stück mit Songs von PJ Harvey für die Ruhrtriennale 2024

Kunstinsert Ersan Mondtag über seinen Biografie-Echoraum im deutschen Pavillon in Venedig Porträt Philipp Hochmair, Salzburger „Jedermann“ 2024, über seine Geschichte mit dem Stück und Thomas Thieme über „Jedermann“ 2000 in Salzburg und 2024 in Weimar Porträt Ivo Van Hove übernimmt die Ruhrtriennale und eröffnet mit Musiktheater nach PJ Harvey Theater der Zeit 6 / 2024

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Akteure Kunstinsert

Fotos links und rechts oben Thomas Aurin

Die vierte Wand in der Kunst der Gegenwart Ersan Mondtag über seinen Biografie-Echoraum im deutschen Pavillon in Venedig im Gespräch mit Ludwig Haugk

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Akteure Kunstinsert

Foto rechts unten Matteo de Mayda, courtesy of La Biennale di Venezia

Frank Büttner und Eva Keller in „Monument eines unbekannten Menschen“ – eine Performance von Ersan Mondtag im Deutschen Pavillon der 60. Biennale in Venedig

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Akteure Kunstinsert

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Szene aus Ersan Mondtags „Monument eines unbekannten Menschen“ mit Frank Büttner, Marina Galić und Tina Keserović im Deutschen Pavillon.

di Venezia, rechts Thomas Aurin

Foto links oben und unten Matteo de Mayda Courtesy of La Biennale

Akteure Kunstinsert

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Akteure Kunstinsert

W

War dein Großvater, Hasan Aygün, zu seinen Lebzeiten jemals in Venedig? Ersan Mondtag: Nee, natürlich nicht. Jetzt ist er in deinem Kunstwerk sehr lange in Venedig, über ein halbes Jahr. War er überhaupt mal in Italien? EM: Ich glaube nicht. Wenn meine Großeltern mal weggefahren sind, dann in die Türkei. Urlaub hieß: in die Heimat, so viel es geht. Sie waren zwar auf diese Art viel unterwegs, aber „gereist“ sind sie nicht wirklich. Sie sind die Strecke Deutschland-Türkei oft mit dem Auto gefahren. Ab einer bestimmten Zeit hat man die Balkanroute vermieden und ist eine Zeit lang über Italien mit der Fähre gefahren. Also da kann es schon sein, dass er auf dem Weg in die Heimat mit dem Auto tatsächlich in Italien war. Er hat von der Welt nicht viel gesehen, sie war für ihn die Autobahn zwischen seinen zwei Welten: Kreuzberg und Kızıldere. Aber jetzt kommt die Welt zu ihm. Und zwar fast die komplette. Das ist schon lustig.

„Monument eines unbekannten Menschen“ heißt die Arbeit des 1987 in West-Berlin ge­ borenen Regisseurs Ersan Mondtag auf der Biennale in Venedig, die zusammen mit dem „Generationenraumschiff“ der israelischen ­Multimedia-Künstlerin Yael Bartana bis zum 24. November 2024 im Deutschen Pavillon gezeigt wird, unter dem Obertitel „Thresholds“ kuratiert von Çağla Ilk.

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Du hast das Ensemble, das in der Eröffnungsphase im Pavillon gespielt hat, ja zu einem relativ frühen Zeitpunkt festgelegt, als vieles andere für die Installation noch gar nicht entschieden war. Für mich war Frank Büttner auch ein Schnittpunkt in der Performance. Einerseits verkörpert er vielleicht eine Ableitung deines Großvaters, andererseits ist er selber eine von Migration und arbeiterlichem Leben geprägte Persönlichkeit, er bringt in die Performance ein völlig eigenes Gewicht. Hast du nach dieser Mischung gesucht, als du darüber nachgedacht hast, wer das spielen könnte, oder hast du intuitiv besetzt? EM: Das ist sehr intuitiv, wie ich das entscheide, aber wenn ich dann mit den Leuten arbeite, erkenne ich dann das Muster dahinter und ziehe oft aus meiner eigenen spontanen Besetzungsentscheidung den konzeptionellen Überbau, den ich mir vorher gar nicht so bewusst ausgedacht habe. Das finde ich immer wieder spannend. Ich habe Frank Büttner kennengelernt und wir wollten zusammenarbeiten. Aber dann hat Frank mir die Geschichte seiner Familie erzählt, die aus Ostpreußen kam und vertrieben wur-

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Foto Matteo de Mayda Courtesy of La Biennale di Venezia

Du hast Erde aus dem Dorf, aus dem dein Großvater stammt, in deiner Arbeit verwendet, aber auch das Parkett eines Kulturhauses aus Kirchmöser in Brandenburg. Für viele DDR-Bürger war Venedig auch unendlich weit weg, ausgeschlossen, dass man das jemals sehen wird … Du baust in Venedig ein Monument für Menschen, für die Venedig ein anderer Stern war, den sie nie gesehen haben. EM: Beide Gruppen fühlen sich irgendwie nicht als Teil dieser Bundesrepublik. Aus unterschiedlichen Gründen. Aber die Ursachen sind ähnlich. Und so entstand die Idee, das einfach mal in denselben Raum zu stellen und zu gucken, was passiert. Mir war schon klar, dass das einige verstören oder aufregen wird, aber ich wollte dieser Verbindung auf die Spur kommen, nicht soziologisch, sondern emotional. Der Raum stellt keine These auf, sondern stellt eine Begegnung, einen Kontakt her. Ich wollte so nach Schnittstellen suchen. Es hat mich echt überrascht, wie sehr das Geschichten aktiviert bei den Leuten, und zwar nicht nur bei Ostdeutschen oder Leuten mit einer Gastarbeitergeschichte in der Familie.


Akteure Kunstinsert de. Da dachte ich, da fließen extrem viele unterschiedliche Biografien durch eine Person: als Schulabgänger Gleisbauarbeiter, wie er nach Westdeutschland gegangen ist und dann nach Ostdeutschland zurück, weil er das nicht ausgehalten hat in Westdeutschland. Und dann dachte ich, das passt zu meinem Großvater, ohne dass ich es mir wirklich begründen konnte, weil es ja erstmal nicht so naheliegend ist. Aber dadurch kam eine neue Dimension in die Arbeit. Schon bevor klar war, dass Frank dabei ist, hatten wir ja so einen Flirt mit dem Thema. Es gab die Idee mit dem Parkettboden. Aber es war noch nicht wirklich konkret. In gewissem Sinne hat Frank diese Verbindung zwischen meinem Großvater und der DDR hergestellt. Es gibt Realitäten, es gibt Materialien, es gibt Biografien, ganz unterschiedliche Biografien, die von Frank, die von meinem Großvater, meine eigene, von anderen Beteiligten. Die Biografien der Materialien, die Migration der Materialien. Es ist was es ist. Es ist alles konkret. Und genau deshalb vielleicht so offen, dass Menschen ihre Geschichten anknüpfen können. Das Gebäude des Pavillons setzt sich selbst ja schon krass in ­Szene. Wie war die Begegnung mit diesem Raum für dich? EM: Ich fand es einfach, in dem Raum etwas zu entwickeln, weil der einfach schon so viel von sich gibt. Der Raum ist auch ein Sprecher. Es ist wie in einem Mutterbauch da drin. Ich wollte diesem Raum unbedingt dauerhaft etwas hinzufügen und das haben wir auch gemacht. Wir haben Erde von dem Grundstück meines Großvaters in das Loch eingebracht, das Maria Eichhorn 2022 im Pavillon geöffnet hat. Jetzt ist anatolische Erde im Nazikeller. Mich interessiert von Beginn der Arbeit an dieser Dialog mit der Erde, mit Mutter Erde, mit der Erde im Nationalsozialismus. Ich wollte unbedingt das Reinheitsgebot dieses Ortes beflecken mit anatolischer Erde, als konvertierende Geste, gewissermaßen. Was war da der zentrale Gedanke für den Erdhaufen am Eingang? EM: Zum einen ist es ein Versperren, aber es ist auch ein Öffnen, weil man dadurch eine andere Perspektive in den Raum öffnet. Die zentrale deutsche Geschichte, auf die alles zuläuft, ist der Nationalsozialismus. Die Idee für den Pavillon war: Wir lassen die Zentralperspektive auf die deutsche Geschichte mal weg. Und damit wollte ich einerseits so ein bisschen die Macht der Nazis brechen, aber andererseits auch die Hegemonie der Deutschen, zu sagen, womit sich Deutschland zu beschäftigen hat. Das ist ja auch eine Form von Größenwahn, der da mitschwingt bei Deutschen. In diesem Drang zum Überhöhen gibt es eine groteske Kontinuität zum Nationalsozialismus. Heute überhöhen sich die Deutschen in der Ablehnung ihrer Geschichte. Deutschland macht sich darin selbst schon wieder so wichtig. Und da dachte ich: zack, bumm, das nehm ich dir jetzt erstmal weg komplett. Und jetzt zwinge ich dich, eine andere Perspektive anzunehmen. Und du kannst dich jetzt nicht mehr an den Mittelpunkt dieses Raumes stellen, weil dieser Raum ist komplett versperrt mit unterschiedlichen Erzählungen und du kannst das nicht mehr darauf beziehen, sondern wir beschäftigen uns jetzt mit einem anderen Teil. Deine Familie war auch da. Was haben deine Verwandten erlebt, als sie im Pavillon waren?

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EM: Meine Mutter meinte, sie wusste nicht, dass unser Leben so eine Relevanz hat. Die haben natürlich viel geweint. Und als sie Frank gesehen haben, waren sie sehr berührt. Sie meinten: Der sieht ja wirklich aus wie Hasan. Das war total witzig. Und sie waren einfach wahnsinnig stolz, dass da einfach so eine Anerkennung stattfindet von ihrer Biografie. Sie waren stolz auf mich und dann waren sie auch sehr dankbar und gerührt davon. Es war für sie nicht denkbar, dass so etwas jemals passieren würde. War der Repräsentationsmoment wichtig? Die Anerkennung der Geschichte? EM: Ja. Es ging sogar so weit, dass meine Mutter zum Beispiel gesagt hat, dass sie sehr enttäuscht war, dass für die Rede zur Eröffnung kein hochrangiger Politiker aus Deutschland da war. Sie meinte: Der schwedische Kronprinz war da, der türkische Kulturminister war da, ganz viele andere wichtige Politiker aus anderen Ländern da. Und da meinte sie dann schon, dass sie das enttäuscht hat, dass sich da wiederum keiner von der Bundesregierung hat ­blicken lassen: Jetzt gibt es die Anerkennung und dann lassen sich die deutschen Politiker nicht blicken. Es war interessant, dass sie das so gesehen hat. Also positiv im Sinne der politischen Erzählung, aber weniger im Sinne der politischen Repräsentanz. Am Anfang standen Interviews mit Mitgliedern deiner Familie. Da­­ raus machten die Spieler:innen Motive, die keine Szenen aus dem Leben deines Großvaters darstellen, sondern freie Assoziationen sind. EM: Genau. Die Schauspieler:innen sind das Portal in die Emotion. Die Körper werden zu Portalen, zu Durchgängen. Sie haben das emotional universelle in den konkreten Geschichten aus dem Leben meines Opas gesucht und gefunden und Vorgänge daraus gebaut. Die Musik ist ja auch nochmal ein ganz starke narrative, aber eben auch dramaturgische Ebene in dem Ganzen. Die Musik hat die stärkste dramaturgische Stringenz, und baut eine filmische Dramaturgie auf, Durch die Musik wird die Zeit zum Thema der Arbeit. Beni Brachtel bringt mit der Komposition Orientierung in den Nebel. Und die findet auf der musikalischen, auf der auditiven Ebene statt. Es ist bei dieser Arbeit sehr schwer zu sagen: Ist das jetzt Theater oder ist das eine Installation? EM: Vielleicht könnte man sagen, dass wir die vierte Wand in die Bildende Kunst eingeführt haben. Das war anstrengend. Also Brecht hin oder her, wir haben ja tatsächlich die vierte Wand behauptet. Und das ist natürlich ungewöhnlich in der Performancekunst, wo man ja immer mit der Realität des Raumes umgeht. Damit haben wir komplett gebrochen, und festgestellt, dass das fabelhaft funktioniert, auch in der Nähe zu den Zuschauer:innen. Vielleicht braucht man die vierte Wand in der Bildenden Kunst mehr als am Theater. Am Theater brauchen wir die vierte Wand nicht unbedingt, aus anderen Gründen. Aber es ist interessant, wie die gute alte vierte Wand dann plötzlich in der Bildenden Kunst Sinn macht. Ich glaube, es ist so: dass die vierte Wand wird nicht aufgebrochen, sondern das Publikum steigt in die vierte Wand ein. Es ist Theater, das innerhalb der vierten Wand stattfindet. T

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Akteure Porträt

Das Ritual-Event Foto Stephan Brückler

Philipp Hochmair, Salzburger „Jedermann“ 2024, über seine Geschichte mit dem Stück im Gespräch mit Thomas Irmer

Phillip Hochmair in „Jedermann Reloaded“, Burgtheater Wien, 2023

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Akteure Porträt Was ist der Reiz am „Jedermann“, den Hugo von Hofmannsthal nach einem mittelalterlichen Stück schrieb und der seit 1920 jeden Sommer als Ritual-Event der Salzburger Festspiele vor dem Dom aufgeführt wird? Philipp Hochmair: Der „Jedermann“ war 1920 das Gründungsstück der Festspiele, und somit ist er untrennbar mit den Salzburger Festspielen verbunden. Dabei war es eigentlich nur eine Notlösung, weil Hofmannsthal mit dem eigentlichen, ganz anderen Stück, zeitlich nicht fertig wurde. Es gab damals vier ausverkaufte Aufführungen für jeweils 2000 Zuschauer. Es wurde Hofmannsthals erfolgreichstes Stück! Es ist seither in Salzburg unzählige Male neu und anders interpretiert worden. Deshalb hat jeder Theaterfreund eine ganz eigene Vorstellung davon, wie der „Jedermann“ sein soll – weshalb es völlig unmöglich ist, es allen recht zu machen. Das macht die Reaktionen auf das Stück so emotional, denn jeder nimmt den „Jedermann“ persönlich. Bei keinem anderen Stück überfällt die Zuschauer im Vorfeld so eine nervöse Neugierde! Max Reinhardt und Hofmannsthal wollten bei der Gründung der Festspiele: das Beste vom Besten. Allerdings war der äußere Anlass für die Gründung das Ende des Ersten Weltkriegs, woran heute kaum noch erinnert wird. Aber wie kam es zu dem Projekt „Jedermann reloaded“ und darin alle Rollen zu spielen? PH: Reinhardt wollte mit den Salzburger Festspielen eine Art Anti-Bayreuth, also anti-preußisch, erschaffen. Die Einnahmen sollten zur Linderung der Kriegsnot verwendet werden. Der Erzbischof hatte dem Domplatz als Bühnenbild für das katholische Moralstück zugestimmt, samt Dom-Orgel und Glockengeläut – ganz im Sinne von Max Reinhardt, der sich „die ganze Stadt als Bühne“ wünschte. Meine erste Begegnung mit „Jedermann“ in Salzburg als junger Schauspielschüler war dagegen erst einmal enttäuschend. Der Ereignischarakter blieb mir fremd. Ich bin mit der Frage, was der Reiz an „Jedermann“ sein sollte, alleine geblieben. Diese Irritation hat sicher später zu dem Wunsch geführt, aus dem großen und auch moraltriefendem Theaterspektakel einen leichtfüßigen Monolog zu machen. 2013 kam es dann zur Gründung der Band ‚Die Elektrohand Gottes‘. Wir wollten mit „Jedermann Reloaded“ ein besonderes Hörerlebnis schaffen, um näher an Jedermanns Denken und Fühlen heranzukommen. Auch an die Lyrik, an den Klang, an diese spezielle Sprache. Entstanden ist dann ein intimer Einblick, eine Reise in den Kopf Jedermanns. Und während Hofmannsthal die Gegenwart in der Vergangenheit sichtbar machen wollte, holt unsere Interpretation in der provokanten Attitüde eines Rockkonzerts das Vergängliche im Gegenwärtigen hervor. 2018 sind Sie für den erkrankten Tobias Moretti als Jedermann nach Salzburg gerufen worden. Wie spielte sich das ab? PH: Ich saß gerade mit der Band in Dresden im Studio, um unsere Platte „Jedermann Reloaded“ aufzunehmen und wir versuchten, den richtigen Sound für die Szene „Auftritt Glauben“ zu finden. Da kam völlig unvermittelt der Anruf. Die Intendantin fragte, ob ich am nächsten Tag einspringen könne. Ich habe ohne

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Ich habe damals teilweise mit den anderen Rollen mitgesprochen. Manche Kollegen hat das natürlich irritiert.

nachzudenken Ja gesagt. Es gab eine Art Verständigungsprobe, und schon ging es mit der ersten Vorstellung los. Es war zum Glück eine Abendvorstellung, nicht in der Nachmittagshitze, und alle, inklusive mir, wussten eigentlich nicht, was passiert und haben gebangt, ob es funktioniert. War das denn schwierig, den Jedermann so wieder auszukoppeln, wenn man schon alle Rollen intus hat? PH: Ich habe teilweise mit den anderen Rollen mitgesprochen. Manche Kollegen hat das natürlich irritiert. Aber ich habe so versucht, mich in das gemeinsame Spiel einzubringen. Und Dank der tollen Buhlschaft Stefanie Reinsperger, die mich sehr liebevoll an die Hand genommen hat, ist das ein ganz toller Abend geworden. Es war vielleicht die verrückteste Vorstellung meines Lebens (lacht). Jetzt ging es ja dieses Jahr mit einem Eklat los, Regisseur Michael Sturminger und das Ensemble wurden praktisch entlassen. Robert Carsen führt nun Regie. Wieviel Eigenes kann man bei einer solchen Produktion einbringen? PH: Der Regisseur Robert Carsen wurde berufen, eine neue Inszenierung zu machen, und er hat sich, aus einer Reihe von Vorschlägen, für mich entschieden. Robert Carsen kommt von der Oper. Was er konkret vorhat, weiß ich noch nicht. Die Proben fangen ja erst Anfang Juni an. Was sollte erzählt werden, nach den verschiedenen „Jedermann“Varianten, die Sie schon gemacht haben? PH: Einen Klassiker wie „Jedermann“ mit seinen Themen über Vergänglichkeit und das Sterben, kann man in heutigen Zeiten sehr gut neu entdecken und neu aufladen. Als dieses Stück das erste Mal in Salzburg gezeigt wurde, war Europa in Gefahr, es wurde aufgeteilt und zerteilt, die Monarchie war zerbrochen, keiner wusste, wie es weitergehen würde. Jetzt gibt es wieder überall auf der Welt Gefahren und Kriege – und dieses Stück vom Sterben des reichen Mannes hat nichts an Aktualität verloren und eignet sich hervorragend zur Reflexion und Selbstbesinnung. Ich denke, mit der Musik, vielleicht ist das Stück eher wie eine Gitarre, auf der man ganz verschiedene Stücke spielen kann: Flamenco, Western-Gitarre, Sachen von Bach, Heavy Metal unplugged, also ganz verschiedene Stile mit demselben Instrument. Man muss sich entscheiden. PH: Aktuell spiele ich selbst zeitgleich drei unterschiedliche „Jedermann“-Aufführungen; eine mit meiner Band „Jedermann Reloaded“, dann den „Jedermann Remix“, eine Variante mit mehr Beats und Dancefloor-Charakter mit dem österreichischen Mash-

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Akteure Porträt

Szene aus „Jedermann Reloaded“ mit Phillip Hochmair

Katharina Pethkes Film „Jedermann und Ich: ein Porträt in 3 Kapiteln“ von 2023 – es gibt inzwischen eine neue Schnittfassung – identifiziert Ihre Person so mit der Rolle, dass in diesem filmischen Experiment eigentlich das Verschwinden oder die Nichterreichbarkeit des realen Philipp Hochmair thematisiert wird und deshalb kein regulärer Porträtfilm mehr möglich ist.

Textlernen ist für mich wie Bergsteigen im Nebel – oder in der Nacht durch eine fremde Stadt taumeln. Danach vergesse ich die erkämpften Wege nicht mehr. Der Text wird zum Freund. 38

PH: Das Material zu dem Film stammt aus der Zeit, als ich mich 2013 in den „Jedermann“-Text vertieft habe. In einer solchen Phase bin ich wie auf einem anderen Planeten. Sie konnte mich also nicht mehr für die bei Dokumentarfilmen üblichen Begegnungen und Beobachtungen kriegen und hat dann genau das daraus gemacht. Sie haben mir mal erzählt, dass Sie eigentlich große Schwierigkeiten haben, Texte zu lernen. Einmal geschafft, die aber nie wieder vergessen. Was ist das für ein Phänomen? PH: Textlernen ist für mich wie Bergsteigen im Nebel – oder in der Nacht durch eine fremde Stadt taumeln. Aber wenn ich da einmal ganz durchgewandert bin, vergesse ich die erkämpften Wege nicht mehr. So entwickle ich zu einem Text ein Verhältnis wie zu einer Person: Er wird zum Freund – oder zu einer Art Heimatort. Er wird zu einer vertrauten Energie, die ich dann mit dem Publikum teilen kann, wie Musik. Meine grundsätzliche Frage ist immer: Wie komme ich mit diesen komplizierten Texten, mit den Kollegen und dem Publikum in einen gemeinsamen Groove? T

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Foto links Stephan Brückler, rechts picture alliance/dpa | Frank Hammerschmidt

up-Künstler Kurt Razelli, und dann noch „Jedermann Reloaded Symphonic“, ein Zusammentreffen meiner Band mit den Salzburger Philharmonikern. Meine Interpretation lässt sich also auch noch immer wieder weiter variieren. Carsen wird es wahrscheinlich eher ernsthaft und ästhetisch angehen. Es wird sehr spannend, was er als Kanadier mit den merkwürdigen österreichischen Knittelversen macht. Das wird auch für mich sehr interessant, denn meine Auseinandersetzung mit dem Thema ist noch nicht zu Ende.


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„Klingt so wenig nach Stadttheater, dass es mich interessiert“ Thomas Thieme über „Jedermann“ 2000 in Salzburg und 2024 in Weimar im Gespräch mit Michael Helbing Thomas Thieme

Seit Luk Percevals Sechs-Stunden-Abend „Molière. Eine Passion“ an der Schaubühne Berlin, der 2007 bei den Salzburger Festspielen herauskam, spielt Thomas Thieme nur noch fürs Fernsehen und Kino. Mehr oder weniger inszenierte Lesungen kommen hinzu. Mit 75 kehrt er im Juli ins Theater zurück: als Tod im „Jedermann“ von Regisseur und Produzent Nicolai Tegeler, unterm freien Himmel seiner Heimatstadt Weimar und in illustrer Besetzung. Das kam 2022 in Beelitz heraus und reist, zum 150. Geburtstag von Hugo von Hofmannsthal, im Herbst ohne Thieme auch nach Bayreuth und Berlin.

Herr Thieme, wie haben Sie auf diese Theateranfrage reagiert? Thomas Thieme: Naja, ich habe Herrn Tegeler zuerst gesagt, dass ich seit langem gar nicht mehr Theater spiele. Dann hat er mir bei Kaffee und Kuchen im Bäckerladen in Berlin mal alles geschildert und ich habe Blut geleckt. Das hat einen Charme, der mich überwältigt hat – und übrigens nicht die Kohle. Was genau macht diesen Charme für Sie aus? TT: Diese in Teilen krude Besetzung, die Tegeler da zusammenstellt und der Spielort: Das klingt alles so wenig nach Stadttheater, dass es mich interessiert. Es klingt auch ein bisschen unbedacht, aber lebendig! Und wenn einem Theaterstück Lebendigkeit nicht schadet, dann ist es der „Jedermann“.

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Julian Weigend spielt die Titelrolle, Marie Zielcke den Guten Gesellen. Neben solchen gestandenen Schauspielern tritt SeifenoperDarstellerin Olivia Marei als Buhlschaft auf, auch TV-Moderatoren wie Tine Wittler und Ralph Morgenstern. Michaela Schaffrath sitzt zwischen solchen Stühlen. Und für die Tischgesellschaft wurden Bürger der Stadt gecastet. Sowas gefällt Ihnen bestimmt. TT: Julian Weigend ist ein Vollprofi. Aber ich will niemandem zu nahetreten, wenn ich das insgesamt den Charme des Unzulänglichen nenne. Ich nehme mich da gar nicht aus. Das ist ein Gegenentwurf zu Salzburg, wohin Koryphäen eingeladen werden. Wenn die dich dort für „Jedermann“ anrufen, gehörst du zu den großen Hundert. Bei unserer Veranstaltung scheint mir das eher nicht der Fall zu sein. Das macht den Reiz aus. Wo in Salzburg das Who’s Who knattert, stammeln in Weimar ältere und auch gute Schauspieler sowie Seiteneinsteiger und alles, was da so angespült wird. Ich hoffe aber, dass wir nicht nur stammeln. Wir werden uns unwahrscheinlich reinhängen. Dem Unzulänglichen galt Ihr Interesse schon als Regisseur. TT: Ich kenne ja meinen Goethe: „Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis.“ Ich habe in Inszenierungen, unter denen ein paar ganz schöne Sachen waren, gemacht, aber auch viel Mist, auch Leute besetzt, die nicht vom Fach kommen, um diesen schrecklichen Theaterton zu modifizieren: Typen, die nur sich selbst konnten, das aber sehr gut. Wenn man’s mal runterbricht,

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Akteure Porträt kann ich mich selbst ja auch am besten. Die Spitze des Eisberges war der Fußballer Jimmy Hartwig, der bei mir in Leipzig sogar Woyzeck war. Wobei: Vielleicht wird’s aber gar nicht so unzulänglich in Weimar. Ich habe noch überhaupt keine Vorstellung davon. Ich lerne schön meinen Text, ziehe das mir angebotene Kostüm an und stelle mich dorthin, wo der Regisseur mich haben will. Wie werden Sie aussehen? TT: Ich werde, wenn ich es richtig verstanden habe, einen Anzug tragen und will ansonsten mit Zurückhaltung glänzen: nicht den großen Erschrecker mimen, sondern dem Tod im Grunde eine große Harmlosigkeit verleihen. Das habe ich mir jetzt mal so überlegt. Mal sehen, ob das klappt. Nachdem Ulrich Wildgruber gestorben war, übernahmen Sie in Salzburg 2000 und 2001 den Mammon, neben Ulrich Tukur als Jedermann. Mindestens in dieser Rolle waren sie einer der größten Schauspieler aller Zeiten. TT: Absolut! Ich war, glaube ich, zehn, zwölf Meter groß. Und ganz in Gold! Jedermanns Geldtruhe öffnete sich, Sie stiegen daraus groß in den Himmel auf. In einer Backstage-Sequenz der Fernsehaufzeichnung sieht man Sie nach Ihrem kurzen gewaltigen Auftritt unter der Bühne aussteigen und heftig nach Luft japsen. Das war demnach wohl anstrengend!? TT: Vollkommen! Zum einen war dieser lange goldene Umhang wenig luftdurchlässig. Er wurde nur von der Unterbühne aus etwas aufgeblasen, um noch gewaltiger zu wirken. Im Gesicht hatte ich dicke Goldschminke; ich habe danach eine Stunde lang duschen müssen. Und damals war das Geld eben nicht nur golden, sondern auch laut und dick. Ich habe mich richtig reingehängt und vielleicht fünf Minuten lang durchgebrüllt. Außerdem hatte ich richtig Angst: Wenn du so hoch über die Bühne gefahren wirst, bist du in Gottes Hand – oder in Händen der Technik. Ich war zwar an das Gestell gekoppelt, aber falls das gekippt wäre, wäre ich mitgekippt und hätte nicht mal abspringen können. Was für eine Veranstaltung ist das aus Ihrer Sicht gewesen: „Jedermann“ in Salzburg? TT: Keine avantgardistische natürlich, sondern eben ein Open-Air-Event vor dem Dom, das sehr viele Jahre auf dem Buckel hat. Und wenn du dort im Grunde genommen ein Kammerspiel machst, abgesehen von der Tischgesellschaft, musst du dafür sorgen, dass das auf dem Domplatz jedermann versteht. Die Tonlage ist also alles andere als realistisch. Unsere ganze Theaterwahrnehmung steht dem heutzutage vollständig entgegen. Das hatte alles bestimmten Regeln zu folgen und schränkte Künstler entsprechend ein. Ich weiß allerdings gar nicht, wie das in den letzten Jahren gelaufen ist. Ich habe es nie wieder gesehen. Aber offensichtlich lebt es ja noch.

TT: Ja, das war aber in jeder Beziehung etwas völlig anderes. Aber obwohl ich immer Übergewicht hatte, habe ich so etwas ganz gut absolvieren können, auch fast vier Stunden „Faust“ in Weimar oder „Richard III.“ in Luk Percevals „Schlachten“-Marathon (1999 in Salzburg und Hamburg). Offensichtlich habe ich eine gute Konstitution, mit der ich meine geringe Kondition immer kompensieren konnte. Und als Molière planten Sie den Abschied von der Bühne? TT: Genau in dieser Zeit. Ich stand ja fast immer in der Mitte eines Abends, was Kollegen an meiner lieben Schaubühne irgendwann nicht mehr so lustig fanden. Menschlich konnte ich das verstehen, professionell kaum. Ich hatte nicht mehr viel Freude mit ihnen. Zum anderen war ich durchs jahrelange In-der-Mitte-Stehen, als Lear, Othello und dergleichen, was man im Fußball „überspielt“ nennt. Zumal ich – vielleicht lachen Sie sich jetzt tot, aber so ist es – nicht mal unbedingt dorthin wollte. Ich bin sehr früh in diesen Fall gesetzt worden, ohne Wesentliches dafür getan zu haben. Ich bin nicht mal besonders ehrgeizig. Lassen Sie es meine Statur gewesen sein oder meine Stimme: Jedenfalls rückte ich schon am ersten Theater, in Zittau, nach vier Wochen als Egmont dorthin. Irgendwann bekam ich Ladehemmungen, nicht, weil ich nicht mehr konnte, sondern nicht mehr wollte. Haben Sie deshalb abgesagt, nachdem Ihnen Hasko Weber für 2015 den Wallenstein in Weimar anbot? TT: Ich bin auch ein bisschen Taktiker, nicht nur Stratege. Ich habe mir überlegt: Alle sind so nett zu dir, weil du hier Faust gespielt hast. Wallenstein ist die ungleich schwerere Rolle, sprachlich komplexer und kräftiger, und auch psychologischer. Das habe ich mir ausgerechnet und gedacht: Thieme, lass die Finger von diesem Monsterding! Ich habe die Rolle dann vor zwei Jahren gelesen: beim Festspiel der deutschen Sprache im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt, mit Partnern wie Peter Lohmeyer, Max Simonischek oder Julia von Sell. Da habe ich gemerkt, nicht, was ich verpasst habe, aber was für ein enormes Stück das ist: was du da zaubern kannst, wenn du zaubern kannst. Was für ein Festspiel ist das denn in Bad Lauchstädt? TT: Eines der besten Festivals dieser Art! Es wird immer fast ungestrichen gelesen, mit enormen Schauspielern, die jedes Jahr anrollen und große Texte deutscher Dramatik mit Leidenschaft vortragen. Voriges Jahr haben wir „Dantons Tod“ gemacht, davor „Götz von Berlichingen“. In diesem Herbst gibt es „Minna von Barnhelm“ mit Claudia Michelsen. Mich lassen sie zum ersten Mal solo von der Leine: mit „Herzog Theodor von Gothland“ von Grabbe, einem der verrücktesten Texte deutscher Sprache. Ich weiß gar nicht, ob ich’s überlebe. Aber ich nehm’s mal an. T

Eine physische Anstrengung bedeuteten die sechs Stunden als Molière in Salzburg und Berlin später dann erst recht.

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Im Stück „I want absolute beauty“ im Rahmen der Ruhrtriennale werden Lieder der Sängerin PJ Harvey verwendet

Blockbuster und Performancekunst Foto Steve Gullick

Ivo Van Hove übernimmt die Ruhrtriennale und eröffnet mit Musiktheater nach PJ Harvey Von Stefan Keim

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Akteure Ruhrtriennale Großes Schauspieltheater, harte Geschichten, assoziationsstarke Räume. Diese Beschreibungen treffen auf die meisten Inszenierungen Ivo Van Hoves zu. In den USA gilt der 65-jährige Belgier als experimentierfreudiger Vertreter des europäischen Theaters, in Deutschland finden ihn manche sogar etwas konservativ. Weil er von Menschen erzählt, nicht in einem platten Realismus, immer überhöht, aber doch auf der Basis der Psychologie. „Ein Vertreter des maximalen Minimalismus“ – so hat ihn die New York Times einmal genannt, und Van Hove kommt damit gut klar. Es ist ein Theater zum Mitdenken und Mitfühlen, jenseits von Statements und Aktivismus. Nun arbeitet Ivo Van Hove an der Eröffnungsinszenierung der Ruhrtriennale im August. Für drei Jahre ist er nun Intendant des Festivals in den Hallen und Zechen des Ruhrgebiets. „I Want Absolute Beauty“ – so heißt das Musiktheater nach Songs der britischen Allroundkünstlerin PJ Harvey. Sandra Hüller singt und spielt, das Tanztrio (LA)HORDE ist ebenfalls dabei, es hat auch die „Celebration“-Tour von Madonna mitchoreografiert. Das klingt nach einem Blockbuster, wie ihn Ivo Van Hove schon manchmal geliefert hat. Er hat auch David Bowies Musical „Lazarus“ kurz vor dessen Tod zur Uraufführung gebracht. Aber Van Hove verweist darauf, dass „I Want Absolute Beauty“ in seiner Mischung aus Tanz und Gesang etwas Neues ist. „So etwas habe ich noch nie gemacht“, sagt er im Gespräch, „das ist ein Experiment, ein Entwicklungsprozess.“ Die Proben sind über Monate verteilt und haben mit dem Tanz begonnen. „Das gibt mir Zeit, dazwischen nachzudenken.“ Ivo Van Hove ist ein Regisseur, der immer bis in die Haarspitzen vorbereitet ist. „Ich finde es wichtig, dass ich als Regisseur die Möglichkeiten eines Textes kenne. Ich weiß, warum ich etwas mache. Aber was genau passiert, das entsteht auf den Proben.“ Van Hove spricht von einer klassischen und einer „visuellen“ Dramaturgie. Letztere ist ebenso wichtig wie die erste. „Ich probe gerne von Anfang an im Bühnenbild, mit Kostümen und Musik. Der Raum sollte schon da sein. Auftritte und Abgänge gehören zu den wichtigsten Dingen im Theater.“ Mit dem Bühnenbildner und Lichtdesigner Jan Versweyfeldt – seinem Lebenspartner seit 1980 – entwickelt Ivo Van Hove das optische Umfeld. Wenn diese Parameter gesetzt sind, entstehe eine umso größere geistige Beweglichkeit. „Die Proben sind wie eine Reise. Wenn man von Amsterdam nach Berlin fahren möchte, kann man den Schnellzug nehmen oder in Bochum aussteigen und einen Tag bleiben. Schauspieler brauchen eine gewisse Freiheit.“ Die nimmt er sich auch selbst, doch auch für die inhaltliche Arbeit gibt es eine klare Grundlage. „Meistens schreibe ich erst einen Text für mich selbst. Den gebe ich nicht ans Ensemble, der ist für mich.“ So einen Text gibt es auch für „I Want Absolute Beauty“ – und viel mehr. „Mit dem Dramaturgen habe ich das Gesamtwerk von PJ Harvey gehört, die Songs immer neu zusammengestellt und Erläuterungen dazu geschrieben. Da gibt es ein ganzes Dossier.“ Nach den vielen Jahrzehnten Theaterarbeit zwischen Broadway und europäischen Bühnen muss schon eine ganze Bibliothek zusammengekommen sein. Die Pressekonferenz der Ruhrtriennale: Ivo Van Hove steht in der Turbinenhalle, direkt neben der riesigen Bochumer Jahr-

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hunderthalle, dem Hauptspielort der Ruhrtriennale. Neben dem Rednerpult rostet eine wuchtige Maschine vor sich hin, der Name Siemens ist noch deutlich zu lesen. Ivo Van Hove beherrscht die Technik, mit leiser Stimme zu sprechen, freundlich und nahbar zu wirken, aber nicht zu bescheiden. Er weiß genau, was er will. Die Rede ist strukturiert und pointiert, er wirkt im weißen Hemd ohne Krawatte auf zurückhaltende Weise elegant. Die Ruhrtriennale kennt er seit ihren Anfängen unter Gérard Mortier, seinem belgischen Landsmann. Erst war er nicht als Regisseur dabei, sondern als Zuschauer, fasziniert von den Möglichkeiten des Spielens in den Industriehallen. An solchen Orten hat er selbst angefangen. „Ich bin ein Kind der 70er Jahre“, erzählt Ivo Van Hove später im Gespräch. „Damals wollte ich Regisseur werden, fand aber das belgische Theater einfach nur schrecklich. Ich lebte in Antwerpen und dort war die Punkbewegung sehr stark. Diese Musik und die Performancekunst haben mich mehr geprägt als das Theater.“ Van Hove nennt eine Jahreszahl, unterbricht sich, schaut kurz zur Seite. „Ach, nicht lügen.“ Er steht zu seinem Alter, nennt es selbst, 65, die Zeit, an die er sich erinnert, ist lange her. Aber immer noch prägend. „Wir haben in einer leeren Halle am Hafen von Antwerpen gespielt, vergleichbar mit der Bochumer Jahrhunderthalle. Um 1980 entstand so eine neue Generation von Theatermachern, Anne Teresa de Keersmaeker war dabei, später kam Luk Perceval dazu. Wir bekamen zwar sehr gute Kritiken, aber keine öffentliche Förderung. Drei, vier Jahre lang habe ich kein Geld verdient.“ Moment. Bevor es zu romantisch wird frage ich, ob Ivo Van Hove so reich war, dass er sich jahrelanges Arbeiten ohne Verdienst leisten konnte. Er lächelt, berichtet von ein bisschen Unterstützung durch die Eltern. Aber: „Wir waren vier Freunde und haben ein Café eröffnet, das Café Illusion. Brauereien haben uns unterstützt. Das haben wir zwei Jahre lang gemacht, dort gearbeitet, getrunken, gegessen und geschlafen. Und im Keller dieses Cafés habe ich einen Text von Marguerite Duras inszeniert. Wenn mein Geld weg war, hat mich ein Kollege eingeladen und umgekehrt. Es war eine Kameradschaft. Es war eine harte Zeit, aber wir waren glücklich.“

Höchstes Niveau, nie elitär Zehn Jahre lang inszenierte Ivo Van Hove mit verschiedenen freien Gruppen. Er wurde zum ersten Mal Künstlerischer Leiter, es gab ein bisschen Förderung. Damals hat ihn vor allem neue Dramatik inszeniert, oft aus Deutschland, Heiner Müller zum Beispiel. Der Anfangsmonolog aus „Groß und klein“ von Botho Strauß wurde in privaten Wohnzimmern gespielt. Dann kamen größere Aufgaben. Van Hove wurde Direktor in Eindhoven, beim Holland Festival, von 2001 bis 2023 leitete er dann die Toneelgroep Amsterdam, aus der das Internationaal Theater Amsterdam wurde. Theater aus Belgien und den Niederlanden wurde zum Festivalhit, vor allem in Deutschland. Die Inszenierungen und vor allem auch die Arbeitsweise von Luk Perceval, Johan Simons, Jan Lauwers und der Needcompany, ebenso Ivo Van Hoves galten als eine attraktive Alternative zum deutschen Stadttheater. Intensivere Proben ohne Produktionsdruck von Anfang an, jeder einzelne Mensch ein kreativer Mitgestalter. Es begannen Weltkarrieren.

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Foto Thomas Berns

Akteure Ruhrtriennale Viermal hat Ivo Van Hove bereits am Broadway inszeniert, außerdem an anderen Theatern in New York, Opern in Brüssel, Amsterdam, Paris, Schauspiel nahezu überall auf der Welt. „Ich suche immer das Risiko und wollte nie provinziell sein. Wir sind mit dem Ensemble aus Amsterdam viel gereist und haben unsere Vorstellungen von Südamerika über Australien bis nach Kanada gespielt – manchmal erfolgreich, manchmal nicht.“ In einem anderen Land zu arbeiten, bedeutet, sich auf andere Gedanken, Prägungen auch Organisationsformen einzulassen. „Als ich das erste Mal in London gearbeitet habe“, erzählt Ivo Van Hove, „war das ein komplett anderes System. Ich probe nicht von 10 bis 18 Uhr mit vielen langen Pausen, sondern von 11 bis 16 Uhr mit ein paar kurzen Pausen. Nachher waren alle glücklich. Man muss sich an neue Situationen anpassen, darf sich aber nicht selbst verlieren. Alle müssen bereit sein, ein gemeinsames Gleichgewicht zu finden.“ Inhaltlich hat der Schwerpunkt gewechselt seit den Anfängen in Antwerpen. Die großen, oft historischen Stoffe sind inzwischen ins Zentrum seiner Arbeit gerückt. Eine Zeit lang hat er jedes Jahr mindestens einen Klassiker inszeniert, aber auch, schon lange bevor es zum allgemeinen Trend wurde, Filme und Romane auf die Bühne gebracht. Auch bei der Ruhrtriennale, wo er eine Trilogie von Büchern des bei uns weitgehend unbekannten niederländischen Autors Louis Couperus inszeniert hat. Feinsinnige, subtile Theaterabende. Oder auch vor 16 Jahren „Rocco und seine Brüder“, das Sozialdrama von Luchino Visconti. Da saß das Publikum rund um einen Boxring, es wurde viel geschwitzt und gelitten. „Auch wenn ich einen Klassiker inszeniere“, erklärt Ivo Van Hove, „gibt es immer Elemente der Performancekunst. Da kommt die Aufführung ganz nah an die Realität. Für mich ist die Sprache der Körper genauso wichtig wie der Text.“ Die vierte Wand zum Publikum durchbricht er allerdings nur sehr selten. „Ich glaube an Geschichten mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Da bin ich gar nicht postmodern. Mein Theater ist emotional, aber nie sentimental. Ich möchte die Geschichte so klar wie möglich erklären. Ich mache Theater für ein Publikum, das so vielfältig ist wie möglich.“ Damit liegt Ivo Van Hove genau auf der Linie der Ruhrtriennale. Denn das Festival soll zwar Kunst auf höchstem Niveau präsentieren, aber niemals elitär werden. Das ist in den vergangenen Jahren etwas in Vergessenheit geraten. Van Hove will diese Tradition wiederbeleben. Er hat das Programm auf viereinhalb Wochen konzentriert und lockt auch tagsüber mit Schnupperkonzerten, kostenlosen Workshops und kulinarischen Häppchen ins Festivalzentrum Wunderland an der Bochumer Jahrhunderthalle. Er bietet Stars wie Isabelle Huppert als Jean Racines „Bérénice“ und als Gastspiel die durchgeknallte Komödie „Pferd frisst Hut“ mit Musik von Ruhrgebietsikone Herbert Grönemeyer. Über Politik spricht er wenig. „Polis bedeutet Gemeinschaft, Gesellschaft. Parteipolitik interessiert mich auf der Bühne überhaupt nicht. Aber Fragen der Gesellschaft sind besonders wichtig.“ Das war’s. Aber vielleicht versteht sich die Haltung Ivo Van Hoves von selbst, wenn man sich seine Inszenierungen anschaut. Denn es geht immer um Menschen, oft um sogenannte Außenseiter, um komplexe Wesen, die viel mit sich herumschleppen und nach Glück streben. Oder einfach nur ums Überleben. Die Schau-

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Ivo Van Hove, Intendant der Ruhrtriennale 2024–2026

spielerinnen und Schauspieler können oft glänzen, weil sie psychologisch arbeiten dürfen. „Im amerikanischen Theater“, schränkt Ivo Van Hove etwas ein, „geht mir das manchmal zu weit. Ich entwickle mit den Schauspielern keine ausführliche Biografie eines Charakters. Theater ist Imagination, kein Method Acting.“ Die Sprache ist für Ivo Van Hove extrem wichtig. Er hat mal – vor einigen Jahren – eine Anfrage aus Russland abgelehnt. „Ich verstehe die Sprache und die Intonation nicht. Ich kann nur in einer Sprache inszenieren, die ich auch verstehe. Also Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch.“ Ein Kosmopolit, der Grenzen kennt. Und der sich genau überlegt, welche Stücke zu einem Land oder einem Publikum passen. Marieluise Fleißer wollte Ivo Van Hove schon lange inszenieren. „Aber das funktioniert nicht an der Comédie-Française oder in Amsterdam. Ich bin sehr froh, dass ich es nun am Burgtheater machen durfte.“ Von London an die New Yorker MET, dann nach Montpellier, um zwei Filme von Ingmar Bergman auf Französisch zu inszenieren. Das war und ist das Leben Ivo Van Hoves. „Ich freu mich riesig auf jede Arbeit“, sagt er. Nun gibt es auch mal eine Pause. „Ein großes Stück meines Lebens gehört dem Theater. Aber es gibt auch ein Leben daneben. Letztes Jahr war ein bisschen crazy, es hat uns viel gegeben, aber jetzt nehmen wir uns Zeit zwischen den Inszenierungen. Natürlich entwickeln wir Dinge, aber wir bestimmen über unsere eigene Zeit.“ Ivo Van Hove ist immer auf der Suche nach Themen und Stoffen, die er auf die Bühne bringen will. Wie er sie auswählt, ist ein Geheimnis. Vielleicht sogar für ihn selbst. „Wenn ich ein Stück lese“, sagt der Regisseur, „weiß ich eigentlich immer, ob ich es machen will oder nicht. Da muss ein impulsives Ja-Gefühl da sein. Wenn ich auf Anfragen sage, ich muss noch überlegen, wird es fast immer ein Nein. Es sei denn, ich soll eine Oper inszenieren, die ich noch nicht kenne. Die muss ich natürlich erstmal hören.“ Kurze Pause. Ist alles gesagt? Ein Satz noch: „Ich muss einen personal drive haben, um alles zu geben, was ich geben kann.“ T

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Stück „Schamherbstfuge“

Schamfrist und Schamgrenzen Anmerkungen zum Monolog „Schamherbstfuge“

Für einen Richter a. D. ist eine sogenannte Schamfrist die Zeitspanne, in der er sich der Beschäftigung mit Interessenkonflikten erzeugenden Angelegenheiten enthält, bevor er wieder als Rechtsanwalt arbeiten darf. Sei es aus taktischen Gründen oder aber aus tatsächlicher Rücksichtnahme wird eine Schamfrist eingehalten, bis die wirklichen Absichten einer Person offengelegt werden dürfen. Verwitwete durchleben eine Schamfrist, bis sie nach dem Todesfall bereit sind, wieder zu heiraten, und Schuldner dürfen mit ihr ab dem vereinbarten Rückzahlungstermin bis zum ersten Strafaufschlag rechnen. Für die Opfer des 7. Oktobers, die das Massaker irgendwie zu überleben vermochten, wurde der darauffolgende Herbst eine traumatische Hölle auf Erden, deren Schamgrenzen sich bis in eine feindliche Zukunft hin erstrecken, voll mit Verdacht, Ablehnung und Abscheu. Woher nahmen diese Juden wieder einmal die Chuzpe, in diese quasi gerechte Opferverkleidung hineinzuschlüpfen? Wem gehört die Scham? Denen, die per Zufall keinen tödlichen Schuss abbekommen haben? Denen etwa, die es nicht geschafft haben, sie zu retten? Oder denen, die einen Wandel von der gebrandmarkten Position zionistischer Kolonial-Schergen zu der von hilflosen Posttraumatikern beargwöhnen? Der Monolog „Schamherbstfuge“ ist der zweite Teil einer ­Trilogie, die im Rahmen des Projekts „Schreiben über die Situation“ entstand. Initiiert vom Institut für Neue Soziale Plastik wurde ­dieser Text Anfang April von den Münchner Kammespielen produziert und mit der großartigen Leoni Schulz als Erzählerin unter der ­Regie von Benno Plassmann uraufgeführt. Ich bedanke mich bei Stella Leder und Matthias Naumann für die Mitarbeit und möchte den Text all den jungen Menschen widmen, die beschämt sind, weil sie noch nicht, oder nicht schnell genug, in ihre Lebensroutine ­zurückgefunden haben, oder weil sie ihre Wünsche so lange zurückstellen müssen, bis die Welt wieder in ihren Fugen steht. T

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Avishai Milstein ist Autor, Regisseur, Übersetzer und Chefdramaturg am Tel-Aviver Beit-Lessin Theater. Im deutschsprachigen Raum hat er u. a. an der Berliner Schaubühne sowie in Heidelberg, Hildesheim, Karlsruhe und Ulm inszeniert. Sein Stück „Die Friedensstifterin“ wurde 2023 am Staatstheater Kassel uraufgeführt und ist zu den diesjährigen Hessischen Theatertagen in Gießen eingeladen.

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Foto By Gadi Dagon - Michal Gilad, Beit Lissing theater PR, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44278752

Von Avishai Milstein


Theater der Zeit

Stück Schamherbstfuge Ein Monolog von Avishai Milstein

Wäre durchaus willkommen, hätte die Schauspielerin den Anflug eines schweizerischen Akzentes. An besonders emotionalen Stellen darf sie ihn hemmungslos walten lassen.

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Stück Avishai Milstein

V © Avishai Milstein. März, 2024 Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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Von Kind auf habe ich geträumt, zweierlei zu werden: Tänzerin und Jüdin. Also fing ich an zu sprinten. Nach dem, was ich in der Villa in der Prinz-Ludwigs-Höhe gesehen habe. Ich guckte schnell auf die Uhr. Was blieb mir übrig? Außer zu rennen. Ja wie damals. Scheiße. Ist mir auch blitzschnell aufgefallen. Dass ich binnen einem Monat zweimal um mein Leben rennen musste. Ich war schön fit, prima trainiert. Das war nicht das Problem. Trotz meiner Versehrtheit. Das Problem war eher mit dem Schicksal, oder? Das jüdische Schicksal ist schon problematisch, darüber wären sich selbst meine Eltern einig gewesen. Jetzt hatte ich es drauf. Was blieb mir anderes übrig. Ich war erschrocken, entsetzt. Die Schädel, die Nadeln, die skalpierte Kunstkopfhautrolle, die wie dünn und fein geschnittene Apfelschale, von Blutflecken umgeben noch dazu, zur Schau gestellt war. Ich habe das alles gesehen, ich schwöre es euch, ich werde es später auch uploaden. Von wegen Familientreffen. Die leeren Spritzen. Das Hakenkreuz. Die Bilder von den Massenmärschen. Der Gestank, die beiden Dicken, die halbnackt auf dem Boden umschlungen gelegen sind und geschnarcht haben. Das war sie, das war die Frau, ich schwöre es euch. Die Frau war Nazi, was denn sonst. Sie hatte sich zwar als Hanna vorgestellt, als sie mir den Hund überantwortet hatte, vor zwei Tagen, aber was bedeutet das schon? Hitlers infame Pilotin hieß auch Hanna, das ist allgemein bekannt, oder? Er sei gut trainiert, der Albert. Er sehe heimtückisch aus, immerhin ein Amstaff. Aber er sei schon richtig greis, das heißt, er rase nie, ganz zahm und halbblind sei er auch noch, du kannst deinen Alltag weiter leben, keine Sorge. Nur aufpassen beim Spaziergehen: wenn kleine Kinder auf der Strecke sind, einfach einen Bogen um sie machen, sonst fangen sie meistens wegen ihm zu heulen an. Ja, gern, ich nehm ihn auf, kein Problem. Aber bitte, bittebittebitte, ihn am Montag spätestens um 9 abholen, ich habe um 11 einen wichtigen Termin, den wichtigsten Termin meines Lebens vielleicht, und ich muss dort sorgenfrei und voll konzentriert erscheinen. Das ist mitten in der Stadt, und ich darf um Gottes willen nicht zu spät kommen. Schon gut, schon gut, um 8 Uhr werde ich da sein. Zur Not hast du meine Nummer und Adresse, wenn was schief läuft. Aber bitte ruf mich nicht an. Wir machen ein Familientreffen am Wochenende, viele kleine Kinder werden dabei sein, Enkelinnen, Nichten und Neffen, die vor Albert Angst haben. Und die alte Garde, die Opas, die Omas, haben ihn immer für nichts als eine Kotfabrik gehalten, also kein Grund mich anzurufen. Deine Dogsitterinengebühr erhältst du bei der Rückgabe, gell? Du weißt noch, wie viel ich nehme? Klar, haben wir doch ausgemacht, zwohundertfuchzig für die zwei Tage. Alles klar. Also bis Montag. Ja, bis denn. Darf ich kurz fragen, was das bedeutet, der wichtigste Termin deines Lebens? Heiratest du? Natürlich nicht. Bin ich noch zu jung. Wie alt bist du?

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Zwanzig. Im Dezember. Na dann, erzählst du es mir am Montag, wenn ich den Albert abholen komme. Ich darf das gar nicht erzählen. Ein Aberglaube. Dann eben nicht. Ach, Quatsch. Ich bin immer so schlecht mit Geheimnissen umgesprungen, von Kind auf, immer die schönsten Überraschungen zerplappert. Ich bin das ganze Gegenteil. Und das ist schon zu viel verraten. Also. Ein Casting-Termin. Ich bin Tänzerin. Und ich darf vor meinem Lieblingschoreografen vortanzen. Ich bin extra dafür aus Luzern nach München gekommen, und warte hier seit drei Wochen geduldig drauf. Tänzerin? Wie kurios. Und was wirst du so vortanzen vor deinem Lieblingschoreografen? Mein Lieblingschoreograf ist Zauberer. Magier. Der Meister der berauschten Drehungen. Guckst du gern experimentelles Tanztheater an? Weniger. Dann wird dir sein Name nichts sagen. Er ist der einzigartige Abdel-Latif Catharzi. Ach, Gott im Himmel! Er ist marokkanisch-iranischen Ursprungs. Und sein Stil ist unnachahmlich. Kommt von orientalischen Sufi-Drehungen her. Das kennst du doch. Ach, wenn ich schon tanzen war, dann Landler – kennst du? War aber nie richtig meine Leidenschaft. Er hat komplette Choreografien nur aus Drehungen geschaffen. Und nur nach links, wie die Tradition gebietet. Sodass wenn dann eine Tänzerin sich plötzlich nach rechts dreht, stell dir mal vor, was das für einen Effekt erzeugt, oder? Kaum 29 ist er und gilt schon als der angesagteste Choreograf seiner Zeit bei den Kritikern. Er lebt in Berlin im Exil und kommt extra nach München. Und wie bereitest du dich drauf vor? Nicht so leicht, in der winzigen Bude so viel zu drehen, gell? Ich musste lachen. Das Reden mit ihr hat mir gut getan. Drei Wochen lang, dass ich mich mit fast niemanden gesprochen habe. Die paar Tänzerinnen, die ich am Studio anquatschte, sonst komplette Rede-Diät. Meiner Mama habe ich getextet: Es geht mir gut, ich übe viel ein und ich rufe dich nach dem Casting an. Nein, wir sind nicht angewiesen worden, etwas vorzubereiten. Wir wurden nur darum gebeten, uns mit leichten, dünnen Klamotten im Studio einzufinden. Wieso? Wird bei ihm nackig getanzt, bei deinem irakischen – Iranisch-marokkanischen. Aber warum fragst du so? Ja, wenn ein Mann auf leichte, dünne Klamotten besteht. Ach, er ist nicht so! Aber ich weiß es echt nicht. Ich habe die Kolleginnen ausgefragt, die bei ihm früher vorgetanzt haben, um mich drauf vorzubereiten, aber sie haben mir keine klare Antwort gegeben. Zum einen haben sie alle nach einer Session mit ihm ausgesehen, als schwebten sie auf einer Wolke. Andererseits hatte ich den Eindruck, sie sollten es nicht preisgeben. Ob er sie sich hat ausziehen lassen. In seinen Arbeiten kommt es schon vor, dass nackt getanzt wird. Aber ob man das schon beim Testen, beim Vortanzen, machen muss, oder ob das sogar eine Bedingung ist, um aufgenommen zu werden – ich quäle mich mit diesem Gedanken, seit ich in München bin. Früher hätte ich mir drüber wahrscheinlich keine großen Gedanken gemacht, aber jetzt … Ich meine … Hast du noch einen Moment Zeit? Aber nur ein paar Sekunden.

1. FESTIVAL

THEATER THERAPIE TREFFEN vom 21. bis 23. 6. 24 im Theaterhaus Stuttgart « Ich würde diesen Unterschied zwischen Kunst und Therapie gar nicht machen. » Lore Perls

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Stück Avishai Milstein Kann ich dir meinen Unterbauch zeigen? Wieso? Was hast du da? Ich möchte dich damit nicht überfallen, aber ich kenne hier niemanden, und ich muss endlich herausfinden, wie ich mich dabei fühle, und wie jemand, die mich anguckt, darauf reagiert. Ich habe meine Augen geschlossen. Schnell habe ich meine leichte Hose bis zu den Knien heruntergezogen, und den dicken Pullover bis zu den Brüsten nach oben, und habe gewartet. Albert fand das scheiße. Ruhe, du Arschloch! Was hat dich geweckt, du hirnlose Speichelpumpe!? Der bellt so selten. Und wie er gebellt hat. Das hat ihn scheinbar angeekelt, was er gesehen hat. Wer hat dir das angetan? Und sie auch. Richtig abgestoßen. Ich zog mich schnell wieder an. Entschuldigung. Ich war auf Nova. Nova? Das Musik-Festival? Am 7. Oktober? War dort tanzen. Ihr Gesicht war richtig verzerrt. Bist du Jüdin? Warum hast du das nicht gesagt? Schneller konnte man sich nicht abwenden. Und schon war sie weg, diese Hanna. Na, großer Süßer. Sie hat dich beleidigt, deine Besitzerin? Tut mir leid. Macht sie das oft? Jetzt sind wir bis Montag aufeinander angewiesen. Und am Montag um acht ist sie nicht eingetroffen. Und mir hing ihr Albert schon zum Hals heraus. Und um elf musste ich vortanzen. Ich hatte genau 40 Minuten, um Albert mitzunehmen und ihn, mit zweimal Umsteigen, an ihrer Villa abzuliefern. Komm, komm, du Süßer, wenn Mama dich nicht abholen kommt, fahren wir gemeinsam zu ihr. Aber komm schon, dalli, jetzt gehört es sich, zu kuschen und Selbstdisziplin zu zeigen. Komm schon. Was ist? Willst du nicht nach Hause? Es entwickelte sich zwischen uns am Wochenende keine tiefergehende Beziehung. Er hat meistens gepennt, während ich versucht habe, die sich immer wiederholenden Bewegungen und Positionen aus den bekannten Choreografien meines angebeteten Abdel-Latif nachzutanzen. Ich schaute mir dabei im Spiegel zu, und ich kam mir nur plump und immer schwerer dabei vor. Dann habe ich versucht, diesen bekannten Höhepunkt der Choregrafie einzustudieren, wo die Tänzerin, die sich allen Erwartungen entgegen eben nach rechts dreht, sich dabei auch auszieht. Für Abdel-Latif sei dieser Wendepunkt ganz maßgeblich, denn da werde was gegen Frauenunterdrückung im Iran

verdeutlicht und generell über Frauenmut heutzutage erzählt. Die Stelle ist übrigens ganz bekannt und erscheint im Tik-Tok fast aller Tänzerinnen, die sich mit dieser Rolle auseinandergesetzt haben. Natürlich ohne die ausgesprochene Nacktheit. Aber ich konnte mich nicht zusammenreißen, mich nicht dazu bringen, dass ich mich auch nur für mich ausziehe. Ich habe mich seit dem 7. Oktober nicht ausgezogen. Aber ich konnte an nichts anderes denken, als dass ich mich in meiner Situation schon beim Vortanzen vor ihm würde ausziehen müssen. Ich habe den Albert sogar ins Badezimmer getragen. Aber ich habe mich vor mir selber derart geschämt, dass ich mich selbst mit geschlossenen Augen nicht entkleiden konnte. Der armen Hanna ging mein versehrter Körper derart zu Herzen, dass sie selbst für ihren Albert nicht zurückgekehrt ist, und ich kann den doch nicht zum Studio mitnehmen, und überhaupt, ich passe schon gern auf Hunde auf, aber als Job, und nicht freiwillig, oder? Übrigens, ich bin keine Jüdin. Keine Angst. Obwohl, wie gesagt, ich immer eine werden wollte und mein zweiter Name Michal ist. Ich war nur einen Katzensprung davon entfernt, es zu werden, sozusagen, aber mein Vater hat es mir untersagt. Und er war einer. Sei froh, dass deine Mama dich von diesem Missgeschick bewahrt hat. Mit erstem Namen heiße ich eigentlich Elisabeth, nach meiner Oma mütterlicherseits. Aber je häßlicher er sich gegen die Juden ausgelassen hat, umso angezogener fühlte ich mich von ihnen. Mit 17, also vor drei Jahren, bin ich zum ersten Mal heimlich nach Israel gereist. Er war noch am Leben, Papa, und ging davon aus, ich wäre mit Freundinnen zum Urlaub nach Südfrankreich gefahren. Eine von uns hat uns zu dieser Mega-Villa am Mittelmeerstrand gelockt, die im Besitz ihrer Familie war. Schweizer Juden sind auf jeden Fall die Glücklichsten. Die normalen Schweizer haben das erarbeitet oder geerbt, ihr Kapital. Die Juden haben ihren Besitz in die Schweiz gemogelt, und drüben haben sie es von den armen Arabern eingeheimst, die zurecht mit ihnen nicht in einem und demselben Land leben wollen. Ich mag auch nicht mit Juden in einem und demselben Land leben, und ich bin leider Gottes einer, und mein Vater, dein Opa, war ein Holocaust-Überlebender, verdammtnochmal. Er hat mir sein Judentum nur aufgebürdet. Konnte ich was dagegen unternehmen? Außer aus Protest nie nach Palästina gegangen zu sein. Aber ich habe mich sofort in ihr Land verliebt, ich kam mir nirgends zugehöriger vor. Schon mit dem ersten süßen Sonnenstrahl beim Verlassen des Flughafens. Und während meine Freundinnen sich alle Mühe gegeben haben, sich in einen israelischen Typen zu verknallen,

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Young Stage 05. – 09.06.

Cie des Marmots & Collectif Ouinch Ouinch

Highlights Juni

Happy Hype 14. & 15.06.

Reut Shemesh ESTHER 14. & 15.06.

Auf den Spuren Tessenows in der Gartenstadt Hellerau 30.06.


Stück „Schamherbstfuge“ habe ich mich dabei ertappt, wie ich mich in die Landschaft, in den Strand, in den Sand, in das Wetter verliebte. Sie haben rund um die Uhr Typen mit in diese geile Strandvilla geschleppt, während ich nackt schwimmen gegangen bin, und vor Sonnenaufgang auf dem weichen Standsand Ausdruckstanz geübt habe. Was hast du in dieser Ecke der Welt verloren, hat meine Mama lamentiert, als ich damals zurückgekehrt bin und ihr heimlich diese Tote-Meer-Kosmetika geschenkt habe. Etwas, von dem ich nicht wusste, dass es mir gehört. Deinen Vater unglücklich machen willst du? Wird das jetzt dein Lebensziel sein, zu konvertieren, nachdem du die schöne Matura erlangt hast? Ich habe mich echt geschämt, dass meine Leidenschaft für Israel meinen Papa bedrängen sollte. Ich werde es deinem Papa nicht verraten, wenn du mir versprichst, du wirst nie wieder dorthin fahren. Kann ich darüber schlafen? Dann war er tot, plötzlich, Schlaganfall über Nacht. Wegen dir ist es ihm zugestoßen. Im Unbewussten hat er geahnt, dass du dich in diese jüdische Falle hineinbegeben magst. Du bist uns jetzt nicht im Geheimen konvertiert, gell? Mama, was soll das? Ich bin mit den Freundinnen auf Abenteuer gegangen, es hätte genausogut Mallorca oder Ibiza oder Kongo sein können. Das war eine Lüge. Keins dieser Länder hätte es verdient, dass ich mich dafür auch nur durch eine Reisebürobroschüre begeistern würde. Als ich dann genug gespart habe, und just einen Monat vor meinem Vortanztermin bei meinem genialen Schwarm Abdel-Latif in München, bin ich zum zweiten Mal nach Israel geflogen. Diesmal alleine. Ich wollte nichts als in der Wüste tanzen. Ein Neo-Nazi-Hort oder eine Alt-Nazi-Sekte war das, das war mir klar. Ich hatte immer Angst, nach Deutschland zu kommen, vor allem nach München. Ich ließ Albert an der Türschwelle stehen, hätte mich zu Tode ärgern können, dass ich mein Geld nicht im Voraus kassiert hatte. Jetzt reichte mein Geld nicht mal für ein Taxi, um zum Studio zu fahren. Ich bin einfach weggerannt, wie die letzte Gscherte, durch diese Villenoase, unweit der Isar. Dass es so was überhaupt gibt, solche Nazi-Orgien mitten in der Stadt! Wenn ich bei denen noch länger verweilt hätte, hätten sie mich bestimmt gefangen genommen, betäubt, vergast. Ich musste diese giftigen Gedanken beim Davonrennen hinausschreien,

egal ob die Menschen mich für meschugge halten würden, denn ich hatte mir vorgenommen, gelassen und voll konzentriert im Studio anzukommen, und ich hatte jetzt ein bisschen mehr als eine Stunde, bis das Urteil gefällt werden würde, ob mein Idol Abdel-Latif mir verfallen würde. Ich muss es verpasst haben, dass der Albert hinter mir her galoppierte und fast so laut, wie ich kreischte, bellte. Nee, neeneeneenee – du darfst nicht mitkommen. Ich kümmere mich nicht mehr um dich! Du gehst zu deinen Nazis zurück. Du wartest brav und ausgelaugt, bis deine Tante Hanna aufwacht und sich um dich kümmert. Er wollte sein Gebell nicht aufgeben, und ich bin einfach davongerannt, immer schneller werdend aber war er hinter mir her. Von wegen greiser Hund und gut trainiert, ein Nazi-Hund war er, von den Schergen in der Villa ein Helfershelfer. Ich habe an den Ampeln nicht angehalten, hoffte, dass er bei seinem Rasen schlicht überfahren wird, aber er hat nur Schrecken und Panik durch die Gegend verbreitet und selbst die Autofahrer zurückgeschreckt. Wieder kam mir der alte Gedanke, den ich schon in den Turnstunden in der Schule immer gehabt hatte, dass ich, wenn ich damals in anno dazumal Jüdin gewesen wäre, hätte ohne Weiteres aus jedem Ghetto, KZ oder Todesmarsch wegrennen können, wie nach der Party am 7. Oktober, als diese Araber miteinander gehadert haben, wer der erste an mir dran sein wird, nachdem sie mich hatten umfallen lassen und wie Monster in die Scheide traten, und ich bin einfach aufgestanden und habe zu sprinten angefangen, und obwohl sie mich angechossen haben, mein Gerenne scheint schneller als ihre pfeifenden Kugeln gewesen zu sein, so wie es jetzt entschlossener war selbst als Alberts Zorn und Rage – und wenn mich das nicht zumindest körperlich zu einer Fast-Jüdin macht, dann verstehe ich gar nichts mehr. Aber jede Tapferkeit muss ab und zu erneut geprüft werden, und somit standen wir urplötzlich vor der Isar, ich und der Albert neben mir, und ich wusste, wenn ich den Bus zum Stadtzentrum nehmen wollte, musste ich das Ufer entlang noch bis zur Hessenloher Brücke und dann noch drüber bis ans andere Ufer rennen, und der Albert würde nicht nachlassen, denn er war bestimmt dazu abgerichtet worden, Juden zu verfolgen, zu fangen, und zu Tode zu beißen, also bin ich einfach ins Wasser gesprungen und fing an, die paar Meter bis zur Insel inmitten der Isar zu schwimmen. Ich wollte mich schon auf die Insel hochziehen, als ich etwas Messerscharfes an meinem Nacken spürte. Ein Maul war das, mitsamt dem Gebiss dieses nimmermüden Köterhalunken, der auf nichts anderes erpicht war als auf einen Kampf bis zum Tode gegen mich.

BUT I‘VE CHOSEN ENTDRAMATISIERUNG * 25 Jahre Postdramatisches Theater

EINE DISKURSIVE GEBURTSTAGSFEIER

28.9.

Eine Veranstaltung des FFT Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Alexander Verlag Berlin. 25 Jahre postdramatisches Theater wird gefördert durch die Kunststiftung NRW. Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

Forum Freies Theater

* Rene Pollesch, 2016 fft-duesseldorf.de


Stück Avishai Milstein Mit meinen letzten Kräften bin ich ans Inselufer gelangt, Albert mit seinem Gebiss nach wie vor an meinem Nacken hängend, und beide sind wir in die andere Isarseite gesprungen, und beide sind wir davon geplanscht wie ein Kunstschwimmerpaar in einer zu einem gewaltigen Kräftemessen ausgearteten Kunstschwimmershow. Wem gehört die Scham? Derjenigen, die sie fühlt, oder denjenigen, die sie betrachten? Seit dem 7. Oktober trage ich sie in mir. Mit den Narben, die ich mich seither weigerte anzusehen, nahm sie auch Besitz von mir, diese Scham. Als ich mich vor dieser Hanna halb ausgezogen habe, hat sich meine Scham auf sie übertragen. Scheinbar ist sie vor lauter Scham nicht zur abgemachten Stunde bei mir erschienen. Selbst wenn ich mich nicht mehr schämen würde, angenommen er würde mich irgendwie doch beim Tanzen ausziehen lassen, könnte es immer noch der Fall sein, dass er, der grosse Abdel-Latif, sich schämen würde, mich beim Tanzen anzugucken, was aber doch meine Scham sein wird, die ich, um überhaupt tanzen zu können, ihm aufgezwungen haben würde. Ich bin nicht meine Scham, aber er darf auch nicht meine Scham mit der seinen verwechseln. Ich habe ihn tatsächlich im Voraus bemitleidet, dass er sich mit meinem schechten Zustand derart auseinandersetzen wird müssen. Das waren meine Gedanken in den Tagen vor dem Vortanztermin. So hat meine Vorbereitung ausgesehen. Ich habe versucht, den Schamballast abzulegen, die Schuld, dass ich doch nach Israel gefahren bin, dass ich in der kurzen Zeit meine zwei Träume gleichzeitig wirksam zu machen versucht habe. Die voreilige Jagd nach dem ersten Traum muss mir die Erfüllung des zweiten zunichte gemacht haben. Did they touch you, fragte mich der Soldat bei der Erste-Hilfe-Station an der Kreuzung, 12 Kilometer weit weg vom Festival-Gelände, zu der ich mit meinem letzten Atem angerannt gekommen bin. No, no. Did they rape you? No, no. No Are you sure? Because you look – No, no, yes, I’m sure, can I go? Where do you want to go? Do you have someone in Israel? Friends? Relatives? You must see a doctor. I’ll have you taken to the hospital – No, no hospital, I’m okay, really, I’m okay You must see someone. A doctor, a psychologist, a social worker – Thank you, but I’m really fine – You don’t want to see –? I don’t want that anybody will see me. Please! Where are you from? Are you Jewish? Are you Jewish? Are you Jewish? Hey, where are you going to? Why are you running? Hey, hey, be careful, we don’t know if there are more terrorists elsewhere. Hey!! Zugegeben, Albert war ganz geduldig, als ich unablässig mit meinen Sorgen um meinen versehrten Körper durch mein verwundetes Bewusstsein in immer breiter werdenden Kreisen geschwebt bin. Wenn die Scham mal nicht mehr die meine ist, bleibt der Körper noch meiner? Wenn ich keine Scham mehr über meine eigene Nacktheit fühle, bleibt sie noch meine Nacktheit, oder ist es eine fremde Nacktheit, die ich mir nur geborgt habe, damit ich Abdel-Latifs Vision befriedige? Und, in dem Fall, gehört auch die Vesehrtheit etwa nicht mehr mir, sind die Wunden austauschbar, die Haut aushandelbar? Wo befinde ich mich dann aber? Und der Wunsch zu tanzen? Wünsche ich es mir immer noch, vom genialen Choreografen Abdel-Latif Catharzi angesehen, ausgesucht und aufgenommen zu werden? Oder verselbstständigt sich dann ein Körper, in dem ich mich gar nicht befinden sollte, denn trotz dem Rennen und dem Fliehen von dort und dem Fliegen hierher befinde ich mich immer noch dort, misshandelt und geschändet, weil ich zur falschen Zeit und am falschen Ort meine zweierlei Träume vereinen wollte.

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Ich bin abgetaucht. Dachte, mich so vor Albert davon zu stehlen. Das Isarwasser war an der Stelle extrem trüb, fast milchig. Der Albert planschte und tapste ziellos über mir. Ich wünschte, ich könnte so lange unter Wasser bleiben, bis er da oben verschwinden würde. Wie viel Zeit hatte ich überhaupt noch bis zum Casting? Ich bin in dieses Rohr hineingeschwommen, dessen anderes Ende vermutlich an der Wasseroberfäche herausragte. Ich wollte drin so lange ausharren, bis sich dieser Hund über mir verpisst hatte. Dieses Rohr ist immer breiter, ja richtig tunnelartig geworden, und plötzlich verzweigte es sich so, dass ich nicht mehr wusste, in welche Richtung ich weiter zu schwimmen hatte. Hauptsache, ich bin den Albert losgeworden. Entschlossenen Geistes, wie ich plötzlich wurde, habe ich mich für die eine Richtung entschieden und habe mich dahin befördert. Gut so, denn die Trübheit wechselte dort in ein weiches Licht, wie aus einem alten Gemälde. Ich konnte diese gestürzten Wände wahrnehmen, mit den hebräischen Buchstaben drauf. Das waren fünf der zehn Gebote auf einer Tafel, ich habe es sofort wiedererkannt. Und diese Tafel war mitten in einer Arche festgebaut. Ja, was soll das? Wo bin ich gelandet? Sind Sie endlich die Botin vom Museum? Es waren ältere und jüngere dabei, tasächlich nur Männer. Sie standen dort still vor mir und trugen diese dunklen Klamotten, Hüte, diese alten vergilbten Gebettücher. Als Kind hatte ich schon immer in unserer Synagoge in Luzern beim Gottedienst zu ihnen stoßen wollen, was nach sich zog, dass meine Eltern sich und dann mich aufs lauteste geschimpft hatten. Sie meinten mich? – Ich wandte mich um. Hat da jemand mich angesprochen? Wer von ihnen war das, der diese Frage gestellt hatte? Doch, Sie. Da sind Sie, und hier sind wir, und die Frage wurde Ihnen gestellt. War es deren Ältester? Der mit dem grauen Bart? Wer sind Sie? Habe ich gefragt. Also, Brider, der Frage nach ist sie das nicht. Das sagte jetzt wer? Sie waren sich so ähnlich, und das Wasser so undurchsichtig. Ojjjj – Ein tiefes Seufzen erklang unter ihnen, das sich bis nach hinten, durch alle ihre Reihen hinzog und widerhallte. Ich wollte sie zählen, aber ich kam so durcheinander wegen der kleinen Wellen, die ihr Gemurmel zeitigte. Noch ist sie das nicht! Noch nicht! – Das sagte jetzt gerade einer der Jüngeren in der dritten oder vierten Reihe, und seine Stimme klang anders, irgendwie selbstsicherer, als hätte er sich vorgenommen, dass diese Information klar und deutlich bei allen Mitgliedern dieser Gruppe landen würde. Na dann, entschuldigen Sie, gnädige Frau, wir haben zu tun. Nichts zu entschuldigen, aber wer sind Sie? Wird sind das, was von uns übrig geblieben ist. So wie wir auch aussehen, so wie es uns zumute ist, so sind wir halt. Sollen wir Ihnen folgen, oder nicht? Mir? Wieso? Wohin? Ojjjj – seufzte die Gemeinde mir entgegen. Die junge Dame ist etwas perplex. Nein, die junge Dame will das abklären. Die junge Dame hat sich verschwommen und uns hat man wieder vergessen. Gott sei Dank. Gott sei gelobt. Und Dank. Brider! Fehlalarm. Wir können weiter beten.

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Und die Bridergemeinde gab ein uneinheitliches Gesumse von sich, das sich durchaus als Beten interpretieren ließ. Seit wann sind Sie denn da? Der Jüngere mit der klaren Stimme drehte sich zu mir um, erhob seine Hand, was anscheinend hieß, dass das Gesumse unterbrochen werden muss. Wir haben diesen Fragebogen schon ausgefüllt. Im Sommer. Als Sie gekommen sind und uns unserer Synagoge beraubt haben. Sie verwechseln mich – Doch, gehen Sie in die Stadt zurück und erkundigen Sie sich. Fragen Sie beim Bürgermeister, beim Reichsstatthalter. Das steht bei ihnen schwarz auf weiss. Seit Kriegsbeginn. Eigentlich etwas früher. – Das hat jetzt ein anderer gesagt. Ungefähr. Es kommt drauf an, ab wann man zählt. – Versuchte ein Dritter einen Kompromiss anzubieten. Ist doch egal. Seit Kriegsbeginn. Welchen Krieg meinen Sie? Welchen Krieg, welchen Krieg! Welchen Krieg gibt es denn jetzt auf der Welt? Ach, es gibt schon einige. Der Krieg gegen uns, den meinen wir. Die ganze Welt ist im Krieg gegen uns. Weiss man, dass Sie sich hier befinden? Ab jetzt redeten sie alle durcheinander: Doch. Die Frau vom Museum weiss Bescheid. Vom sogenannten jüdischen Museum. Sie haben unsere Synagoge schon im Sommer ausgegraben und ins sogenannte jüdische Museum befördert. Aber uns haben sie hier in Ruhe gelassen. Uns haben sie im Stich gelassen. Weil sie mit uns nichts anfangen konnten. Nichts anfangen wollten. Und weil wir nicht an Land wollten. Konnten. Jetzt sind Sie aber hier und wir haben spekuliert, Sie wären die Botin von der Chefin vom jüdischen Museum. Vom sogenannten. Es gibt keine Juden mehr auf der Welt. Und ganz ohne Juden, wozu ein sogenanntes jüdisches Museum? Wegen des Krieges, verstehen Sie? Wir sind ein Befund, verstehen Sie? Deswegen schickten sie Sie. Plötzlich tauchten wir ihnen im Sommer auf. Als sie die Ruinen von der Synagoge aufgespürt haben. Quatsch! Wir tauchten nirgends auf, das kann unserer Geografie wegen nicht der Fall gewesen sein. Sie haben nicht mit uns gerechnet. Also für sie tauchten wir auf. Nein! Sie sind abgetaucht. Nicht wir sind aufgetaucht. Wir sind nimmer an die Wasseroberfläche gestiegen. Nu, schojn. Ich meinte aufgetaucht im metaphorischen Sinn. Der Wahrheit gemäß sind wir nicht aufgetaucht. Sie sind abgetaucht und auf uns gestoßen. Wir waren zu laut mit dem Beten, so war es. Genau. Und plötzlich hat es für sie auf der Welt wieder Juden gegeben. Nur wussten sie keine Lösung für uns. Aber das ist gut so. Ich bin keine Botin vom Museum. Es ist der reine Zufall, dass ich hier bin. Erzählen Sie bloß, erzählen Sie! Bitte! Ach, das ist eine lange Geschichte, warum ich hier bin. Ausrede. Die Unsere ist halt länger, warum wir hier sind! Viel länger!

CALL FOR PROJECTS Ausschreibung für die Spielzeit 2025/26 Bewerbungsschluss: 15. Juli 2024

WAS IST NOPERAS? Im Rahmen der Förderinitiative »NOperas!« des NRW KULTURsekretariats schließen sich zwei Theater zu einem Verbund zusammen. Gemeinsam realisieren sie in den Spielzeiten 2025/26 und 26/27 jeweils ein Musiktheater-Projekt, das nach seiner Premiere an dem ersten Theater am nächsten Haus weiterentwickelt wird. Mit einer dem Projekt angepassten Gestaltung von Probezeiten eröffnet »NOperas!« Wege zur kooperativen Stückentwicklung.

AUSSCHREIBUNG 2024 Mit der Ausschreibung für die erste der beiden Spielzeiten (2025/26) geht »NOperas!« in die insgesamt siebte Runde. Beteiligt sind jetzt als erstproduzierendes Haus das Theater Münster sowie das Staatstheater Darmstadt. Über die von den Theatern eingebrachten Ressourcen hinaus werden Fördermittel von bis zu 150.000 Euro zur Verfügung gestellt.

WER KANN SICH BEWERBEN? »NOperas!« folgt einem erweiterten Musiktheaterverständnis. Im Fokus stehen die Stückentwicklung und das prozessorientierte Arbeiten in mehreren Probenphasen. Bewerben können sich europaweit Teams, die gemeinsam das Zusammenspiel von Komposition, Text, Regie und Bühne verantworten. Eine Jury der beteiligten Häuser, des Trägers sowie externer Expert:innen des zeitgenössischen Musiktheaters wählt das zu realisierenden Projekt aus. Die Ausschreibungsfrist endet am 15. Juli 2024. Ausführliche Informationen auf www.noperas.de »NOperas!« – eine Initiative des Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm). Getragen vom NRW KULTURsekretariat, in Kooperation mit dem Theater Münster und dem Staatstheater Darmstadt. Gefördert durch:

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Stück Avishai Milstein Viel, viel, vielvielviel – Okay. Ich mag nicht mit euch wetteifern. Aber glaubt mir, bitte, es gibt keinen Krieg jetzt in Deutschland. Das wurde uns schon angedeutet. Im Sommer. Aber das haben wir im Sommer so wenig geglaubt, wie wir das jetzt glauben. Das ist für uns unglaubwürdig gewesen und unglaubwürdiger geblieben. So. Geworden. Unglaubwürdiger kann das nur geworden, nicht geblieben sein. Doch, seit 1945 ist Deutschland kein Kriegsgebiet mehr. Gerade das glauben wir eben nicht. Fragen sie warum? Warum? 1945 ist noch gar nicht gewesen! Möchten Sie mitkommen und sich das selber beweisen lassen? Oj – Glauben Sie auch an Beweise? Schon. Die junge Dame glaubt an Beweise. Ojjj. Wir eben weniger. Wir glauben an Ihn. Aber das ist doch lächerlich und dumm. Im Gegenteil, gnädige Frau. Seit dem Sommer ist niemand zu uns wieder gekommen. Wenn das kein Beweis dafür ist, dass draußen ein Krieg herrscht? Die Straßen sind blockiert. Sie marschieren Tag und Nacht für den Führer Und sie haben einer nach dem anderen laut gespuckt. Dass wir im Wasser leben müssen, heißt noch lange nicht, dass wir uns an der Nase herumführen lassen mögen. Aber wie haben Sie hier unterm Wasser überlebt? Fast 80 Jahre? Hei Brider! Die junge Dame fragt, wie kann das sein, dass wir im Wasser achtzig Jahre lang überlebt haben.

Tja…

Dank dem Beten. Oder? Ja, das muss es sein. Dank dem Beten. Wir haben hier nichts als gebetet. Das hat scheinbar funktioniert. Sie haben hier 80 Jahre lang nur gebetet, ein ganzes Menschenleben einfach verbetet. Okay, sie haben die Zeit überlebt, aber ist es nicht schade drum, das Leben so nur mit Angst zu verbringen? Tja, das liegt nicht an uns, gnädige Frau. Es liegt an Ihnen da draußen, dass Sie zur Vernunft gelangen und den Krieg beenden. Wir können insoweit nicht umhin, als weiter zu beten. Der Krieg wurde beendet und die Nazis wurden niedergeschlagen. Und es gibt noch Juden außer Ihnen auf der Welt. Es gibt sogar einen Judenstaat, da bilden Juden die Mehrheit. Und es ist für sie und für mich das schönste Land auf der ganzen Welt. Wie heißen Sie?

Elisabeth Michal. Ist die gnädige Frau auch Jüdin? Fast-Jüdin. Ich habe es vor kurzem besucht und ich habe dort getanzt, und das Wetter war herrlich und –

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Die junge Dame, diese Fast-Jüdin, mag uns Mores lehren. Sie will uns rumkriegen und erzählt, dass Juden ein eigenes Land haben und dass es ihnen dort gut geht. Wenn das nicht ein Witz wäre. Und schrittweise haben sie da alle angefangen zu kichern. Warum finden Sie das so witzig? Mir kamen wirklich die Tränen in den Augen. Ach, warum sind Sie sowas von stur? Halsstarrig, heißt es über uns, gnädige Frau. Ich will dich bringen in das Land, darin Milch und Honig fließt. Ich will nicht mit dir hinaufziehen, denn du bist ein halsstarriges Volk. Hirngespinst. Das widerspricht jeder Intelligenz. Dass die Juden einen eigenen Staat haben? Das widersetzt sich der reinen Vernunft. Und dass es ihnen dort gut geht? Ein Argument bar jeder Realität. Sowas hat es nie gegeben. Nicht mal in der Torah ist sowas erwähnt. Geh zurück zur Schule, junge Dame, und büffle was Anständiges. Der Jude kann nicht mal seine Familie verwalten, also einen ganzen Staat? Zwei Juden können sich nicht ertragen, wenn sie in einem Stockwerk wohnen, also ein Dutzend Herden Juden in einem einzigen Land? Und wenn es wahr wäre, wir wollen sowas gar nicht. Denn wir wollen in Ruhe überleben. Halsstarig oder pimmelstarrig. Nur überleben. Welche Wahl haben wir denn? Die Herren Spediteure, die unsere Synagoge angeblich zum sogenannten jüdischen Museum abgeräumt haben, haben mit uns einen Scherz gemacht und gemeint, vielleicht solltet ihr auch mal ins Museum transportiert werden. Das war kein Witz. Das war ihr Ernst. Mag sein. Welche Wahl haben wir aber? Im sogenannten besten Fall am sogenannten jüdischen Museum vor Besucherfamilien und Schulgruppen zu beten, wie die Affen, oder hier, in der Isar, nur für uns? Nach einer Weile meinte ein anderer: Für Ihn eher. Nach einer Weile meinte ein anderer: Also, ich bin schon für den Transport ins Museum. Bin schon ein bissel neugierig, von neuen Fratzen begafft zu werden. Nach noch einer Weile meinte der Erste: Ach komm, hör auf, ständig einer anderen Meinung zu sein. Doch. Ein sogenanntes Museum nur für uns. Was würden Sie, gnädige Frau, an unserer Stelle wählen? Im Museum als eine lebendige Ausstellung zu verleben oder in der Isar in Vegessenheit zu überleben? Eine schwere Entscheideung! Eine sauschwere. Wie die Gojim das sagen. Und sie haben wiederum hintereinander gespuckt. Von Kind auf träumte ich zweierlei zu werden: Tänzerin und Jüdin. Und jetzt musste ich mich beeilen. Ich habe eine Idee. Wir werden eine Tik-Tok-Befragung machen, Ich werde euch uploaden und die User befragen, wo sie euch am liebsten erleben wollen. Okay? Du kannst deinen Köter schon hochbringen, meinte eine nette, ­dreadlocksköpfige junge Frau vom Studiofenster oben, als sie mich und Albert unten auf der verkübelten Straße sah. Er kann auf dich hier auf dem Korridor nebenan warten. Aber komm schon hoch, du bist scheinbar die Letzte und der Maestro möchte bald anfangen. Ach der da? Der gehört mir gar nicht. Der möchte mich nur adoptieren. Bleib hier unten, du bist nicht mein Freund. Du bist der Nachteil von diesen Tagen. Jede Minute mit dir ist nichts als Schaden und Verlust. Jetzt zieh nicht so eine Grimasse, als wärst du hier das Opfer! Hi, er sieht ganz schön erschöpft aus. Er kann hier währenddessen doch was trinken, ich hole ihm Wasser. Und dir – Brauchst du ein Handtuch?

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Ich habe eins vorrätig. Danke. Ich heiße Annegret. Und du? Elisabeth. Wir waren eine Gruppe von 13. Ich war bestimmt die jüngste. Von wegen sorgenfrei und konzentriert, man konnte die Spannung hinter den gutmütigen Gesichtern und den schlanken Körpern spüren. Als Einzelkind, so wie ich aufgewachsen war, fand ich es schon merkwürdig, mit wie vielen Partnerinnen ich plötzlich meinen intimsten Traum teilen musste. Wir haben schweigend abgewartet. Nach ein paar Minuten hat eine angefangen, sich aufzuwärmen. Dann haben auch andere mitgemacht. Anfangs schüchterne, winzige Schritte wurden almählich zu freien, fast frechen Tanzschritten. Dann haben sie sich gedreht, quasi zufällig, in kleinsten Kreisen, und immer nach links. Jede hat doch die Videos von Abdel-Latif auswendig gelernt, das war ganz offensichtlich. Ob das Ganze jetzt aufgenommen wird? Ob der Meister im Schnittraum nebenan sitzt und uns live zuschaut? Naürlich habe ich mitgemacht. Aber nicht wegen einer möglichen Kamera, ich schwöre es euch, ich habe das nicht geplant, das muss schon in mir so tief verankert gewesen sein, vor lauter Gedanken, so richtig vorprogrammiert, wie ich diese unterdrückte Frau im Iran zu geben habe, dass ich beim ruckartigen Nach-Rechts-Drehen meine dünne Hose ausgezogen habe, und als ich mich dabei ertappt habe, bin ich umgekippt und lag mit dem Rücken auf dem Boden. Schnell knieten sich alle Mädels rund um mich, entsetzt mit verzerrten Gesichtern, als wäre ihnen das Grauen an sich widerfahren. Was hast du da? Are you ok? Wer hat dir das angetan? Abdel-Latif lässt sich entschuldigen. Eine große Frau trat durch die Tür ein. Sie sah aus, als sei sie aus Berlin. Er kann heute nicht dabei sein, meldete sie. Die israelische Armee ist soeben in Gaza einmarschiert. Es tut ihm leid, aber er kann heute mit Kunst gar nichts anfangen. Er muss an seine Brüder und Schwestern dort denken und hat große Angst davor, was sie dort ab sofort über sich ergehen lassen werden müssen. Wir haben eure Kontaktdaten und wir werden uns später mal melden. Zu besseren Zeiten. Solange aber erwartet er schon, dass ihr zu ihm auf der großen Demo am Karlsplatz stoßt. From the river to the sea, Palestine must be free! Blitzschnell haben alle Frauen wieder ihre bunten Herbstklamotten angezogen und sich zurechtgemacht. From the river to the sea, Palestine must be free! Wie auf ein Kommando sind sie da an mir vorbeigerannt, bevor sie das Studio verlassen haben. Kommst du mit? – Haben die letzten mir zugerufen. From the river to the sea, Palestine will be free, from the river to the sea Palestine will be free!!! Nur eine ganz kleine und hagere Tänzerin hat bei mir noch Station gemacht. Wie heißt du? Ich?

Komitee Ade

22.06.24 I love that accent, but what are you saying?

Michal. Ich heiße Chang Nam. Aber ick sprecke kein Deutsch. I’m from Taiwan. I’m from Israel. Ich saß immer noch auf dem Boden, und bedeckte mit meinen Händen meinen splitternackten Unterkörper. Aber sie hat es durchschaut. Are you ok? Yes. I was just falling over because this Sufi dance is really difficult. Don’t you think so? I’m glad the Maestro didn’t see me. No, I mean your scars. You said – Israel. Are you ok? Ich schwieg. War das meine oder ihre Scham?

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Stück Avishai Milstein How did you get it? Ich schwieg. I will believe you.

I was born with it. Oh. I’m sorry. You don’t mind me asking that. Are you going to the demonstration? I don’t think so. I have a dog to take care of. But do you need any help? . Are you sure? Ich habe genickt. Bye. Bye.

Meine Güte. Was war das für eine – ja, Erleichterung? Was ich jetzt empfand, war eine Welle der Erleichterung. Eine besonders sturmartige Welle – der Erleichterung. Ein Gewicht, das mit einem Schlag von mir abfiel, einem gigantischen Schlag. Meine Chance, vom göttlichen Abdel-Latif doch auserkoren zu werden, ist nicht vertan worden, sie wird bald nachgeholt werden, garantiert. Meine Wunden werden bis dahin heilen, Hanna wird mir mein Geld überweisen. Und vielleicht, wer weiß, wird der Zweite Weltkrieg auch zu Ende sein. Ich muss nur abwarten, starrhalsig meine Träume abwarten. Das ist doch das jüdische Schicksal, oder? Was für Zeiten sind das denn, in denen Kindheitsträume in Lebensgefahr münden, ihre Erfüllung in Blut zu ertrinken droht, wo Götter Erzfeinde werden wollen? Zu Hause angekommen, habe ich Albert zu trinken gegeben und mich gründlich geduscht. Black

– ENDE –

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Theater der Zeit

Foto Candy Welz

Diskurs & Analyse

Sarah Finkel in „Prima facie“ von Suzie Miller am Theater Heilbronn, Regie Elias Perrig

Essay Wie Suzie Millers #MeToo-Stück „Prima facie“ auf deutschsprachigen Bühnen verhandelt wird Serie Schlaglichter #06: Timur Frey: Zeit und Raum Serie Post-Ost: Paula Thielecke: Streng wie Kati Witt

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Diskurs & Analyse Stückrezeption

Eine von uns Wie Suzie Millers vielfach inszeniertes #MeToo-Stück „Prima Facie“ auf deutschsprachigen Bühnen verhandelt wird Von Anne Fritsch

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Foto Lex Karelly

Anna Rausch, Luisa Schwab und Otiti Engelhardt in „Prima Facie“ von Suzie Miller am Schauspielhaus Graz. Regie Anne Bader

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Diskurs & Analyse Stückrezeption So etwas gab es selten. Eigentlich nie. Im Mai 2019 wurde ein Theaterstück am Stables Theatre in Sydney uraufgeführt: Suzie Millers „Prima facie“, ein Monolog für eine Schauspielerin. Im September 2023 fand die Deutschsprachige Erstaufführung am Deutschen Theater in Berlin statt, es folg(t)en 16 weitere Inszenierungen im deutschsprachigen Raum allein in dieser Spielzeit. Dazu kommen Aufführungen in den USA, England, Australien und 31 weiteren Ländern. Die Autorin hat einen knapp 300 Seiten langen Roman aus dem Theaterstück gemacht, die Film­ version der Inszenierung des Londoner National Theatre mit Jodie Comer lief in ausgewählten Kinos – was hat dieses Stück, dass es derart einschlägt? Zum einen ist es als Solo für die Theater leicht umzusetzen. Zum anderen – und das ist wahrscheinlich der entscheidende Punkt – trifft es inhaltlich einen Nerv. Denn die britisch-australische Autorin Suzie Miller hat so etwas wie das #MeToo-Stück der Stunde geschrieben, das Martyrium der Strafverteidigerin Tessa Ensler nach ihrer Vergewaltigung in einen dichten Monolog gepackt. Jede Menge Zweifel an der Gerechtigkeit des Rechts­ systems inklusive. Suzie Miller hat selbst als Anwältin gearbeitet; sie weiß, wovon sie schreibt. Der Titel „Prima facie“ bezeichnet den ersten Eindruck von einer Situation, der im Fall sexualisierter Gewalt selten der Wahrheit entspricht und dennoch häufig ausschlaggebend wird für die Urteilsfindung. Im Stück sieht das so aus: Tessa Ensler hat sich ihre Position hart erkämpft, sich gegen privilegiertere Konkurrentinnen und vor allem Konkurrenten durchgesetzt. Sie genießt ihre Macht, hat kein Problem damit, Männer zu verteidigen, die wegen sexueller Gewalt angeklagt sind. Für sie ist ihr Beruf wie Leistungssport, was zählt, ist der Sieg. Tessa glaubt ans System: Schuldig ist, wessen Schuld bewiesen ist. Für alle anderen will sie den Freispruch. Sie spürt die Unsicherheiten der Zeug:innen auf und nutzt sie aus. Ihre Spezialität: das Sexualstrafrecht. Ihre StandardVerteidigung: Er wusste nicht, dass es kein Einvernehmen gab.

Die Inszenierungen in Berlin, Kassel, Heilbronn, München und Graz zeigen, wie unterschiedlich das Stück daherkommen kann.

danken durch. Wieder und wieder. Nimmt sich selbst ins Kreuzverhör. Macht all die Fehler, die traumatisierte Frauen machen. Tessas Perspektive dreht sich um 180 Grad. Die knallharte Verfechterin des Rechtssystems gerät ins Zweifeln. Im Stück stehen Sätze wie dieser: „Das Gesetz über sexuelle Übergriffe wird unter falschen Voraussetzungen ausgelegt. Die weibliche Erfahrung sexualisierter Gewalt passt in kein von Männern geprägtes System.“ Wer nun denkt, der Text ließe der Regie wenig Spielraum, irrt. Die Inszenierungen in Berlin, Kassel, Heilbronn, München und Graz zeigen, wie unterschiedlich das Stück daherkommen kann, je nachdem, worauf die Regisseur:innen ihren Fokus legen. Am Deutschen Theater in Berlin inszenierte András Dömötör das Solo mit der Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno. Auf der leeren Bühne, auf der Moïra Gilliéron eine Art Kampfarena aus LED-Streifen markiert hat: der Ring, in dem Tessa ihre Kämpfe ausficht. Hinter ihrer Stärke steht das Bewusstsein, wieviel sie investieren musste, um an diese Position zu kommen. Als Frau mit

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Angst vor dem Täter Suzie Miller porträtiert eine Frau, die sich ihren Platz sichern will in einem männlichen System. Eine Feministin? Nicht wirklich. Bis sie selbst zum Opfer wird. Ihr Kollege, mit dem sie eine Affäre hat, vergewaltigt sie nach einem gemeinsamen Essen, nach jeder Menge Alkohol – und nach vorangegangenem einvernehmlichen Sex. Sie weiß, dass sie schlechte Karten hat, vor Gericht mit dem Vorwurf der Vergewaltigung durchzukommen. Trotzdem erstattet sie Anzeige. Es geht um sie, aber auch um all die Frauen vor ihr, denen Gewalt angetan und nicht geglaubt wurde (auch nicht von ihr selbst). Auf einmal weiß sie, dass einvernehmlicher Sex und Vergewaltigung sehr nah beieinander liegen können, dass das eine auf das andere folgen kann. Auf einmal steht sie auf der anderen Seite, durchlebt alles selbst: Die Angst, dem Täter wieder zu begegnen. Das lange Warten auf den Prozess. 782 Tage sind es in ihrem Fall. 782 Tage Zweifeln an sich selbst, dem System und der eigenen Entscheidung. Das erneute Durchleben des Übergriffs im Prozess. Die Retraumatisierung. Sie spielt ihr Verfahren in Ge-

Theater Aachen: Warten auf Godot. Regie: Christian von Treskow

»Wenn die Nase arbeitet, dann arbeitet der ganze Körper.« (Meyerhold)

BIOMECHANIK

Eine künstlerische Denkweise des Körpers

13. – 15. Oktober 2024 Mit Tony De Maeyer www.bundesakademie.de/dk

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Diskurs & Analyse Stückrezeption wenig privilegierter Herkunft. In ihrem Fall auch: als Schwarze Frau. Nach dem Übergriff nimmt sie symbolträchtig ihre Perücke ab, die auch für die Rosshaar-Perücken britischer Anwält:innen steht, zeigt sich pur und verletzt. Aus dem Profi wird ein Mensch. Aufstieg und Fall liegen in dieser Inszenierung sehr nah beiein­ ander. Dömötör nimmt die Gesellschaft mit in den Blick, in der einige es deutlich leichter haben, ihren Weg zu gehen und Karriere zu machen. Und viele andere deutlich schwerer. Seine Inszenierung rückt die Strukturen in den Fokus, innerhalb derer dieses Drama spielt.

Am Theater Heilbronn setzt Regisseur Elias Perrig auf die psychologische Auslotung des Textes. Sarah Finkel steht in einem monumentalen, ein Gerichtsgebäude andeutenden Raum. Sie ist allein und verloren in einem übermächtigen System. Kurz schleicht sich ein Gedanke an Kafka ein. Finkel folgt den Worten Tessas bis in den Abgrund, verstummt immer wieder, so schwer ist es, das Geschehene auszusprechen. Ganz pur und ohne Spielereien stellt Perrig diese verletzte Frau ins Zentrum. Wenn Finkel dasitzt, die Hände zwischen den Beinen eingeklemmt, nach vorne gebeugt, und von der Befragung durch die Polizei erzählt, ist alles in diesem Moment: der Schmerz, die Scham, die Schuldgefühle, die Selbstzermarterung. Eindrücklich werden ihre inneren Kämpfe sichtbar, die Ungerechtigkeit: „Statt das System zu hinterfragen, hinterfragen wir die Opfer.“ Das Stück wird zum Psychokrimi, mühelos hält Finkel über zwei Stunden die Spannung.

Philine Bührer in „Prima Facie“ von Suzie Miller am E.T.A. Hoffmann Theater Bamberg, Regie Mona Sabaschus

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Einen komplett anderen Weg geht Regisseur Tim Wittkop am Staatstheater Kassel. Im Foyer des Studierendenhauses der Universität Kassel inszeniert er den Monolog als Zusammenspiel von Schauspiel und Tanz. Die Dissoziation, ausgelöst von traumatischen Erfahrungen, wird ihm zum Ausgangspunkt: das Gefühl, sich selbst von außen zu sehen, nicht länger Teil des eigenen Erlebens zu sein. Wittkop spaltet die Figur der Tessa auf in die Schauspielerin Lisa Natalie Arnold und die Tänzerin Anna Gorokhova. So übersetzt er das Unaussprechliche der Vergewaltigung schlüssig in eine körperliche Erfahrung. Der Kampf mit sich selbst, der zum Scheitern verurteilte Versuch zu vergessen, wird zu einem Gefecht zwischen den beiden Darstellerinnen: Die Schauspielerin will die Erinnerungen ihres Körpers unterdrücken, die Tänzerin lässt das nicht zu. Auch wenn der Text ein wenig kurz kommt, ist diese eigenwillige Interpretation intensiv. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Regisseurin Anne Bader am Schauspielhaus Graz: Sie lässt den Monolog von drei Schauspielerinnen spielen, von Anna Rausch, Luisa Schwab und Otiti ­Engelhardt. Sie lässt die Pros und Cons, die in Tessas Kopf in den Wochen und Monaten vor dem Prozess gegeneinander kämpfen, in einer Kakophonie hörbar werden, einem Durcheinander all der Stimmen von außen und innen, die sie zerreiben. Hie und da wirkt diese Aufspaltung ein wenig künstlich und konstruiert, sie wäre nicht nötig gewesen. Am Münchner Residenztheater hat Regisseurin Nora Schlocker großzügig gestrichen. Alles, was Kommentar ist, fliegt bei ihr raus. Sie fokussiert alles auf das Erleben dieser Frau, die Lea Ruckpaul spielt. Ob sie zu Beginn wie eine Amazone durch den Raum schreitet, bereit zum Kampf; ob sie beinahe durchdreht ob der Schizophrenie ihrer Situation oder ob sie am Ende mit Tränen in den Augen ihren eigenen Prozess durchlebt: Ruckpaul hält die Spannung in jeder einzelnen der gut 90 Minuten. Nora Schlocker verzichtet auf Experimente, bleibt beim Realismus der Erzählung. Die Blicke des Publikums richten sich auf die leere Bühne, als Lea Ruckpaul hinten im Zuschauerraum aufsteht und eines der weißen Podeste betritt, die sich wie ein Pfad bis zur Bühne schlän-

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Foto Birgit Hupfeld

Plädoyer für die Veränderung


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geln. „Im Saal ist es still, aufgeladen, alles wartet auf mich“, sagt sie. Sie hat sich hochgekämpft, obwohl sie auf keiner Privatschule war und ihre alleinerziehende Mutter Büros putzt wie das, in dem sie nun arbeitet. Mit den ersten Worten zieht Ruckpaul ihr Publikum in ihre Welt, den Gerichtssaal, in dem sie die Zeug:innen der Staatsanwaltschaft in trügerischer Sicherheit wiegt: „Er hält sich für die Katze und mich für die Maus.“ Wenn sie dann ihre Fragen abfeuert wie Schüsse, hat sie das Spiel gewonnen. Sie genießt das Adrenalin, den Sieg. Sie glaubt an dieses System, in dem ihr Job es ist, „die beste Version der Geschichte“ ihrer Mandant:innen zu erzählen. Die Verantwortung liegt am Ende bei Richter und Jury: Sie entscheiden, welche Geschichte sie glauben. Schwarz und weiß, das sind die Farben dieser Inszenierung. Schwarz wie die Anwaltsrobe, weiß wie ein unbeschriebenes Blatt oder eine noch leere Akte. Schwarz-weiß wie ein Rechtssystem, in dem es nur Schuld gibt oder Unschuld, und in dem es aus gutem Grund eindeutige Beweise braucht, um jemandes Schuld zu beweisen. Beweise, die es im Sexualstrafrecht meistens nicht gibt. Den Kontext machen Schlocker und ihre Bühnenbildnerin Marie Caroline Rössle optisch klar. Anfangs ist die geschwungene Bühne strahlend weiß, ein Raum, der noch nicht geprägt ist von subjektiven Sichtweisen, ein Gericht wie Tessa, es sich in ihrer idealistischen Sicht erträumt. Später wird Ruckpaul jede Menge Ölgemälde an die weißen Wände hängen. Portraits von Männern. Jüngere und ältere, dickere und dünnere, allesamt mächtige Männer. Männer, die die Gesetze gemacht haben, und Männer, die sie durchsetzen. Als Tessa als Zeugin vor Gericht steht, wird ihr klar: „Ich bin die Einzige. Die einzige Frau.“ Die Macht, die sie lange ausgeübt hat und mit der sie sich nun selbst konfrontiert sieht, ist eine durch und durch patriarchale. Miller endet mit einem Plädoyer für eine Veränderung des Systems, nicht hoffnungsvoll, aber entschlossen: Am Ende findet Tessa im Text zurück zu ihrer Stärke, die sie in Zukunft mit Empathie verknüpfen wird. Damit es nicht länger ums Rechtkriegen geht, sondern um Gerechtigkeit. Millers Stück ist ein Statement. Es bringt das Dilemma missbrauchter Frauen auf den Punkt. Es macht klar, warum die Dunkelziffer bei Sexualdelikten so hoch ist, warum viele Übergriffe nie zur Anzeige kommen. Weil das, was danach kommt, für viele Opfer nicht aushaltbar ist. Nora Schlocker dagegen endet in München mit einer Frau, die sich geschlagen gibt. Lea Ruckpaul kehrt in München zurück auf ihren Platz im Publikum. Sie ist kein Einzelfall. Sie ist eine von uns. Ihre Geschichte ist eine von vielen. Zu vielen. Nora Schlocker macht mehr als die anderen in ihrer Inszenierung deutlich, dass es keine einfache Antwort auf dieses hochkomplexe Problem gibt. Sie entlässt das Publikum mit mehr Fragen als Antworten. Ein Prozess oder gar eine Verurteilung ohne Zeugin ist keine Lösung. Ein Verzicht auf Strafverfolgung ebenso wenig. Ein größeres Bewusstsein für das Dilemma aber ist ein erster Schritt. Vielleicht kann dieses Stück dazu beitragen. T

Zur schönen Aussicht von Ödön von Horváth

Premiere

7. Juni 2024 Regie:

Lilja Rupprecht

www.rambazamba-theater.de

Fernab der Metropolen versteht sich das Theater Lindenhof als Heimattheater für die Welt und Welttheater für die Heimat. Zur Spielzeit 2027/28 sucht die Stiftung Theater Lindenhof mit Sitz in Burladingen-Melchingen eine*n

Intendant*in als

Künstlerische*r Leiter*in (m/w/d) Teambewerbungen im Rahmen einer GesamtvollzeitStelle sind möglich. Sie sind bereit, gemeinsam mit dem Theaterteam und in Kooperation mit unseren regionalen Partnern das Theater in die Zukunft zu begleiten? Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung und Ihre Ideen und Visionen für unser Theater. Bewerbungsschluss: 31. Dezember 2024 Weitere Infos online: Theater Lindenhof, Unter den Linden 18, 72393 Burladingen

www.theater-lindenhof.de

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #06

Schlaglichter # 06 Zeit und Raum Von Timur Frey

Mit unserer Open-Call-Reihe „Schlaglichter“ laden wir ­ Studierende und Berufsein­ steiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskur­ siven Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbstbestimmten Raum bieten.

Timur Frey studiert an der Hochschule der Künste Bern. Arbeiten u. a. am Theater Basel, ab der Spielzeit 24/25 dann am Staatstheater Wiesbaden zu sehen. Für „Im Schatten unseres Hauses“ am Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielstudierender 2023 mit dem Ensemblepreis und dem Preis der Studierenden ausgezeichnet.

Andrew Scott in einen Still aus dem Film „All of Us Strangers“, in der Regie von Taichi Yamada

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #06 Ich habe vor ein paar Wochen den Film „All of Us Strangers“ im Kino gesehen. Und ich war sehr berührt. Es geht um einen Drehbuchautor, verkörpert von Andrew Scott (grandios: so verletzlich, so kraftvoll), der zu seinen toten Eltern (car crash) in seiner Kindheit (zurück?) reist und mit ihnen Gespräche führt, die er nie führen konnte – er war zwölf, als sie starben. In dem Hochhaus, in dem er in London wohnt, lernt er währenddessen den jüngeren Harry kennen, verkörpert von Paul Mescal (am treffendsten beschrieben vielleicht mit: hot. Aber da so Vereinfachungen ja total unfair sind, vielleicht lieber: sehr klar und konkret, sehr humorvoll gespielt). Das Faszinierende an dem Film ist, wie mit den Zeitebenen gespielt wird. Mit dem ach!-so-Realen, mit Traum, mit vermeintlich Vergangenem, mit wahrscheinlich Zukünftigem.

Foto picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Dieses Ungebunden-Sein an die Zeit, dieses Danebenstehen oder eher mittendrin in ihr, als wäre sie eine wabernde Seifenblase, die jederzeit zu zerplatzen droht. Being in power of time. Or at least not holding on to it and maybe that’s why being in power of time. Vielleicht auch ein Privileg derer, die sich als jung, vital und somit als gutaussehend empfinden. Die Haut ist glatt. Der Saft sitzt. Die Zeit ist noch auf unserer Seite. Zumindest, wenn kein car crash bevorsteht und uns rausreißt. Und das spüren bestimmt die, die den Zenit schon überschritten haben. Spüren ihre eigene Haut, die bestrichen wird mit Hyaluronsäure (am Tag) und Retinol (in der Nacht). Was die dafür haben, ist: Raum. Inanspruchnahme von Raum geht scheinbar mit dem Vergehen der Zeit einher. Und jetzt? Wenn man das Glück hat, teilhaben zu können am Theaterraum? Ob ganz direkt durch Papa oder Mama oder Onkel oder Tante (jaja, Vetternwirtschaft ist offiziell verpönt, man muss schon selber pinkeln können) oder indirekt durch dieselben, weil das Theater und die anderen Räume der Kunst, Räume sind, die einem bekannt sind, die oft besucht werden und wurden, Räume also, in denen man sich geschmeidig hindurchbewegt. Oder das Glück hatte, seinen Kampfgeist (jaja, Gestaltungswillen klingt charmanter, wir sind schließlich in der Kreativbranche) auf etwas richten zu können, zum Beispiel auf die Tore dieses Raums. Weil man auch Teil des Raums sein will. What a question. Wenn man also jetzt da ist, an diesem Übergang, an der Schwelle zu diesem Raum, zum Beispiel als angehende Bühnen­ persönlichkeit – was jetzt? Wie umgehen mit einem (hoffentlich) wachsenden Bewusstsein dafür, jetzt sichtbar zu werden – für wen? Irgendwie ist Theater ja ein sehr lahmes Medium. Schöner gesagt: ein prozesshaftes Medium, vielleicht auch irgendwie neben der Zeit stehend, zumindest wenn der Blick noch nicht getrübt ist durch feudale Produktionsbedingungen (das ist laut vielen Berichten ja anscheinend der Fall? Just asking for a friend) und mit Naivität in einen Probenraum hineinschaut. Schüchtern, herausfordernd, verheißungsvoll – love it. Und meistens steht es auch mitten in einer Stadt, pompös raumbesetzend (jaja, es gibt ganz viele andere Formate und Räume, die bespielt werden, aber ich

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Irgendwie ist Theater ja ein sehr lahmes Medium. Schöner gesagt: ein prozesshaftes Medium, vielleicht auch irgendwie neben der Zeit stehend.

beziehe mich gerade auf die Stadt- und Staatstheaterinstitutionen und die sind ja nicht ganz unwichtig und machtlos, nach denen wird sich auf die eine oder andere Weise gerichtet, die haben einen gewissen Einfluss auf einen Ton und Takt, der angegeben wird, da sitzen Menschen drin, die in Positionen tätig sind, von denen aus Entscheidungen getroffen werden, getroffen werden müssen). Wenn ich dann da drin sitze in einer Aufführung, ist mir zu 99 Prozent nach maximal zwei Minuten sehr langweilig und dann irgendwann passiert etwas, wo sich in mir drin was in Gang setzt. Oft ist dieser eine Auslöser dafür nicht fixierbar, oft ist es ein Zusammenspiel von Vielem. Eine Atmosphäre, ein Raum, der geschaffen wird, mit dem und in dem ich mich verknüpfen kann, wo etwas schwebt, wo mich etwas mitträgt, aufnimmt, wo etwas geöffnet wird und ich einen anderen Blick bekomme auf die nassen Pflastersteine vor dem Gebäude, aus dem ich danach laufe, in die Nacht hinein, durch eine Stadt hindurch, mit ach! so vielen anderen darin, von der auch ich ein Teil bin, in der ich mich immer wieder verorten muss. Was hilft, ist das Dojo von der Aikidomeisterin Renata Jocic in Bern zu besuchen. Und das ist sie: eine Meisterin. Diesen Raum zu betreten, ist eine Erfahrung. Unter ihrem Schirm in diesem Raum umherzuwandeln, so kindlich verloren und so selbstbewusst, so beschützt und die Vorstellungskraft anregend. Wie sie den Raum mit ihren offenen Armen beherrscht, mit einer so fordernden, wohlwollenden, zärtlichen Dominanz. In dem man sich der Form des Aikido mit seinem Gegenüber einlässt und durch das gemeinsame Training mit den anderen und dem Raum verbindet. Denn im Aikido lädt man das Gegenüber immer in seinen Raum ein. Die Einladung kommt von dem Gegenüber mit dem höheren Dan und somit auch mit einer Verantwortung. „Ai“ auf Japanisch bedeutet nicht nur „Liebe“, vielmehr kann es verstanden werden, als die Art und Weise, wie wir uns begegnen, wie wir in einen Kontakt zueinander treten. Und die Bedingungen für dieses Momentum, das dort geschaffen wird, in ästhetische Räume zu überführen, das könnte ein Anspruch sein, um die Hallen der zeitgenössischen Kunst zu füllen. T

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost

Streng wie Kati Witt

Paula Thielecke, Regisseurin und Autorin

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Foto Marian Adreani

Von Paula Thielecke


Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost Im Superwahljahr 2024 mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg (am 1. und 22. September) laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser neuen Serie meldet sich die Gene­ration Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Immer freundlich, immer zielgerichtet, immer bereit – so soll sich verhalten, wer was will: „Pass mal auf, du Herzchen. Du musst dir schon überlegen, mit wem du hier Zeit verbringst. Ich bin eine strenge Feministin aus Ostdeutschland, die der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in vielerlei Hinsicht kritisch gegenübersteht. Mag ja ganz lustig sein mit uns, aber es gibt Dinge, die uns voneinander trennen. Und wenn das hier funktionieren soll, müsstest du schon mehr Arbeit leisten als ich, um deinen Vorsprung abzubauen.“ Da wir aber gerade nackt auf der Werkbank lagen, blieb ihr nichts als die Flucht in große Augen. „Das sieht man dir gar nicht an, Hase.“ „Aus guten Gründen, Hase.“ „Gut, Hase. Und jetzt, Hase?“ Nicht nur, dass ich auf eine Münchnerin abfuhr, nein, ihre naive Dreistigkeit rührte mich. Wegen des Privilegiengefälles weigerte ich mich trotzdem, die Verantwortung für die Situation zu übernehmen. Also blieb ich stumm. Ihr fiel nichts Besseres ein, als mir zuzuzwinkern. Ein Zeichen ihrer ernsthaften Bemühungen? Ernsthafte Bemühungen – Traum oder Alptraum? Was sollte sie auch tun? Schließlich hatte auch sie ihre Werte und fand, es wurde „ernst“ mit uns – mit 38 wollte sie unbedingt ihren Deckel in mir sehen. Nach den Erfahrungen der letzten 33 Jahre hatte ich mir aber abgewöhnt, irgendetwas ernst zu nehmen #selbstschutz. Und Moment mal – ist ein Zwinkern mit den Augenbrauen überhaupt ein Zwinkern? Während sie schon dabei war, die nächste Runde Sex zu initiieren, spürte ich deutlich: Kritik und Skepsis drohten mich zu verunsichern. Ich war gewappnet. Niemand liebt mich ungestraft. Also legte ich mich ins Zeug und fragte, kurz bevor sie kam, nach ihrem Jahreseinkommen: „So Schatzi, im patriarchalen Kapitalismus fängt romantische Liebe bei den Besitzverhältnissen an und hört genau da auch wie-

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der auf, also zeig mir jetzt deinen letzten Steuerbescheid und klär’ mich ein für alle Mal über deine Erbschaftsverhältnisse auf!“ Ha! Damit lockte ich sie endgültig aus der Reserve. Coitus Interruptus! Von der Werkbank auf die Anklagebank! „ABER BIST DU ÜBERHAUPT NOCH OSTDEUTSCH? WANN BIST DU EIGENTLICH GEBOREN? ’90? DAS ZÄHLT NICHT!!! ALSO REIß’ DICH AM RIEMEN, DU OPFER, MEINEN STEUERBESCHEID, DEN KRIEGST DU NICHT.“ Gut. Wer die Herkunftskeule ausgräbt, muss mit den Folgen rechnen. Sie trennte sich auf der Stelle von mir. Meine Altersvorsorge in Form eines Hauses am Starnberger See zog sich die Stiefel an und war im Begriff, mich allein in der freien Marktwirtschaft zurückzulassen. Verzweifelter Sprint zum Dokumentenschrank: „HIER – MEINE GEBURTSURKUNDE! DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK!“ Es ist nicht so, als würde ich mir irgendwas aus Dokumenten, Urkunden, Auszeichnungen oder Zeugnissen machen, aber auf die allgemeine Autoritätshörigkeit konnte ich mich auch in diesem Fall wieder verlassen. Mich „ausweisen“ zu können, entlässt mich aus der Situation und die Frage, ob das dann noch zählt, hat sich dann meist von selbst geklärt. „Armer Hase, wie schrecklich – dein Leben. Gehen wir segeln! Meine Eltern haben das Boot schon für den Sommer fit gemacht. Da kannst du dann auch schreiben. Es gibt eine Siebträger und die Starnberger Sonne arbeitet für uns.“ Ich bemühte ich mich um Würde: „Super, Hase. Und tut mir leid Hase, wenn ich dich in eine unangenehme Situation gebracht habe, Hase.“ „Gut, dass du es ansprichst – Ich würde mir wünschen – MACH DAS NIE WIEDER! Ich rede nicht gern über Geld und würde mich freuen, wenn du meine Grenzen respektierst. Es wäre schade um uns – wir ergänzen uns gut.“ Da stand ich nun, nackt mit meiner Geburtsurkunde in der Hand, und schämte mich für sie. Trotzdem entschied ich mich für den bewährten Weg des geringsten Widerstandes und hauchte ihr ein leises „FICK MICH“ auf die Zunge. Auf die Komplexität der Problematik eingehen zu müssen, beschämt mich und mit Scham umzugehen, strengt mich an. Diese Lebenspraxis hat viele Vorteile: Jedes Mal, wenn es mir gelingt, nicht in die Tiefe zu gehen, spare ich Kraft. Und die gesparte Kraft, kommt dann aufs Kraftkonto, wo sich mein Kraftkapital ganz eigenständig vermehrt; einen Teil der gewachsenen Kraft kann ich dann immer abheben und ins Geldverdienen und damit in mein Dasein investieren. Darum geht’s in diesem Leben hier: Geld. Wenn ich an etwas glaube, dann das: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Meine kritische

Ich bin eine strenge Feministin aus Ostdeutschland, die der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in vielerlei Hinsicht kritisch gegenübersteht. 63


Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost Bevor ich investiere, muss ich mich erst mit dem schlechten Gewissen und meinem Selbstwert auseinandersetzen. Ich liebe Geld, weil ich muss.

bis hassende Haltung zum System der Kapitalakkumulation auf Kosten ganzer Biografien und Charaktere musste ich mir mühsam aberziehen. Da ich mir erst mit 29 über meine mangelhaften Startvoraussetzungen für ein gesundes Leben im Kapitalismus bewusst wurde, musste ich die Lust auf Geld erst entwickeln. In meiner Erziehung spielte Geld zwar eine Rolle, hatte aber keinen Wert. Das Wenigste war genug, und das hat auch niemand infrage gestellt. Im Gegenteil. Es gab kein Bewusstsein über die eigene innere und äußere Mangelwirtschaft. Die war charakterimmanent. Saß ich in meinen Zwanzigern einmal die Woche im „Kapital“-Lesekreis, musste ich mit Anfang 30 lernen, mich in einem lebensfeindlichen System zurechtzufinden, ohne dessen Eigenschaften zu übernehmen. Ich hasse es, auf mich allein gestellt zu sein und schäme mich für meinen Neid auf andere, die zu ihren Eltern oder anderen Familienmitgliedern fahren, weil es etwas zu feiern gibt (z. B. Weihnachten) oder sich nach einer anstrengenden Zeit einfach mal bekochen lassen wollen. Wenn ich mich entspannen will, muss ich erstmal investieren. Und bevor ich investiere, muss ich mich erst mit dem schlechten Gewissen und meinem Selbstwert auseinandersetzen. Ich liebe Geld, weil ich muss. Ich habe weder genug Kraft auf dem Konto, um über meine Herkunft nachzudenken, noch mich mit der Geschichte meiner Familie auseinanderzusetzen. Die sogenannte Spurensuche interessiert mich genauso wenig, wie alles andere, was mit den Traurigkeiten einer womöglich imperialistischen Übernahme zu tun hat. Ich kann mir keine Schwermut leisten. Mehr Notwendigkeit sehe ich in der Existenzsicherung als in der Veröffentlichung meiner Marginalisierung. Ich leiste Aufbauarbeit, um die Versäumnisse meiner Eltern auszugleichen. Dass sie nie eine Dreizimmer-Altbauwohnung mit Balkon zur Südseite am Landwehrkanal gekauft haben, als es noch ging, oder mir zumindest irgendeinen anderen Lösungsansatz für die schwerwiegenden Folgen der Kindeszeugung ohne Idee geboten haben, zwingt mich zur Strenge. WIE KONNTET IHR UNS NICHT AUF DEN KAPITALISMUS VORBEREITEN?! Gut, dass es so schlimm kommen würde, konnte niemand ahnen. Trotzdem; WEHE ICH MUSS EUCH DAS HEIM ZAHLEN, WENN IHR ALT SEID! PFLEGEN WERDE ICH EUCH SICHER NICHT. GUCKT NICHT SO, ICH MUSS JA AUCH DAMIT KLARKOMMEN, DASS ES MICH GIBT. Manchmal, zum Beispiel sonntags, nehme ich mir einen Moment für Fantasie; dann stelle ich mir vor, wie viel entspannter mein Leben jetzt womöglich wäre, hätte die SED 1972 nicht das Land meiner Familie enteignet oder wären meinen Eltern nicht die Erfahrungen und Ingenieurs-Studienabschlüsse

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aberkannt worden oder hätten sie sich selbst mit etwas mehr Selbstbewusstsein oder ihre Tochter mit etwas mehr Finanzkapital ausgestattet. Immerhin, mein Kapital besteht aus umfangreicher künstlerischer und literarischer Bildung, sozialistischer Disziplin und dem Glauben, dass Kunst die Gesellschaft verändern kann. (Spoiler: Kann sie nicht. Aber sie spendet Trost. Ist ja auch was.) Mein Kompromiss mit der Realität lautet daher: In dieser Variante meines Lebens freue ich mich, aus Scheiße Bonbons zu machen, wie meine Eltern es mir beigebracht haben. Von den wirkmächtigen Unterschieden lasse ich mich nicht weiter stören. Der Deckel bleibt schön zu. Anyways. Keine Zeit für Kitsch. Meine Reise weg von mir selbst hin zum Starnberger See stand kurz bevor. Auf der Suche nach meinem Bikini wühlte ich mich durch die Kaiserkommode meiner Urgroßmutter. Die Kommode ist mein frühzeitig ausgezahltes Erbe. (Ich: „Are u kidding me?“ Familie: „Nope.“) Auf Kleinanzeigen hätte ich dafür 160 EUR bekommen. Also entwurmte ich das Teil und behielt es selbst. Meinen Bikini konnte ich nicht finden, weil ich nie einen besaß. Was ich aber fand, war ein Hohlraum. Mit der VEB-Schlagbohrmaschine bohrte ich ein Loch ins massive Fundament. Was mich dort anstrahlte, rührte mich zu Tränen. Sofort rief ich die Münchnerin an und sagte ihr für das gemeinsame Leben ab. Sie schrie irgendwas von wegen „Liebe“. Es war mir so egal, dass ich ihr nicht mal die Meinung geigte. Freiheit! „Gold kannste wegtragen, der Rest ist egal.“ (O-Ton Uroma.) Im Moment liegt der Goldkurs für 999er Gold bei 69.060,77 Euro pro Kilogramm. Bei 42 Barren macht das 2.900.552,34 EUR. Da ich etwas Sinnvolles damit machen wollte, rief ich sofort den Makler an, den ich vor zwei Jahren in der Uckermark gevögelt hatte. Wir vereinbarten ein Date in Komitz, damit er mir die ausgebaute Kirche zeigen konnte, die dort gerade zum Verkauf stand. Ein Teil meiner Familie kaufte 1912 das nie geweihte Gebäude samt Grundstück. Im Zuge der Enteignungen der SEDDiktatur verloren sie alles und ihr Land wurde LPG-Eigentum. Ein Investor aus Baden-Württemberg kaufte es nach der Wende, musste aber vor zwei Jahren Privatinsolvenz anmelden und nach Spanien auswandern. Voll Genugtuung unterzeichnete ich den Kaufvertrag. Während mein Makler und ich es auf dem zur amerikanischen Küche umgebauten Altar trieben, bekam ich Lust auf Wohltätigkeit: Zurück in Berlin und traf ich die Produzentin-Regisseurin-Autorin, die mir seit ihrem kritischen Beitrag im HegelLesekreis letztes Jahr so gekonnt im Kopf hing. Zwei Çay und eine Rhabarber-Schorle im Café Kotti später bat ich sie, ihren Film finanzieren zu dürfen. Zu meiner Erleichterung sagte sie zu. In der Nacht schrieb ich meinen Eltern eine kurze Notiz: Ich wolle ja nichts heraufbeschwören, aber sie können sich ihren PflegeheimPlatz aussuchen, die Wartelisten seien lang und sicher ist sicher. Danach wärmte ich mir die Graupensuppe vom Vortag auf und zur Feier des Tages goss ich zwei statt einen Esslöffel Lausitzer Leinöl hinein. T

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Theater der Zeit

Foto Mariam Giunashvili

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„Greenhouse“ von Tamara Chumashvili, Gvantsa Enukidze und Masho Makashvili. Gastspiel aus Georgien

Heildelberger Stückemarkt Mit dem Schwerpunkt Georgien richtete der Heidelberger Stückemarkt den Blick auf ein zerrissenes Land, der Dramenwettbewerb zeigte sozial Sensibles Rheinland-Pfalz Wie das Chawwerusch Theater seit 40 Jahren Gesellschaft gestaltet Mannheim Mit dem Festival Ostopia setzt das Nationaltheater Mannheim Akzente im Diskurs über die Brüche zwischen Ostund Westeuropa

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„Sergo Parajanov“ von Levan Khetaguri, Tengiz Khukhia und Elene Matskhonahvili, Regie Elene Matskhonashvili

Der weite Weg nach Europa Mit dem Schwerpunkt Georgien richtete der Heidelberger Stückemarkt den Blick auf ein zerrissenes Land, der Dramenwettbewerb zeigte sozial Sensibles Von Elisabeth Maier

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Der Kampf der Menschen in Georgien dominiert derzeit die Schlagzeilen. Beim Heidelberger Stückemarkt stand der Staat an der Grenze zwischen Asien und Europa im Fokus. Mit seinen Freuden in Georgien war Davit Gabunia, der Kurator des Gastland-Programms beim Heidelberger Stückemarkt, zurzeit ständig verbunden. Dort geht die Polizei gegen die proeuropäischen, friedlichen Demonstrierenden mit Wasserwerfern und mit Tränengas vor. Sie protestieren seit Wochen gegen ein Gesetz, das den vermeintlichen Einfluss ausländischer Organisationen auf die Zivilgesellschaft eindämmen soll. „Umso wichtiger ist es, dass wir wichtige Stimmen unseres zeitgenössischen Theaters hier in Heidelberg vorstellen dürfen“, ist der Kurator überzeugt. Die Sorge wegen der unklaren Lage in seinem Heimatland ist ihm anzumerken. In der Hauptstadt Tbilissi zeigen sich die Risse in der Gesellschaft besonders drastisch. Als eines der wichtigen deutschen Festivals für deutsche und europäische Gegenwartsdramatik betrat das Theater der Stadt Heidelberg wieder Neuland. Sowohl inhaltlich als auch ästhetisch zeigten die deutschsprachigen und die georgischen Autor:innen die innovative Kraft der neuen Generation der Dramatiker:innen. Anaïs Clerc, Lars Werner, Julie Guigonis und Leonie Ziem stellten ihre Texte vor. Dass der Hauptpreis jeweils zu gleichen Teilen an den Autor Arad Dabiri vergeben wurde, der in Österreich lebt, und an das Kollektiv Frankfurter Hauptschule, unterstreicht die hohe Qualität der Texte. Mit starken Dialogen, schnell und poetisch, bringt Dabiri in seinem Stück „Druck!“ das Lebensgefühl einer Generation auf den Punkt, die zwischen den Kulturen um Halt ringt. Hin- und hergerissen zwischen den Werten ihrer iranischen Eltern und ihrer westeuropäischen Sozialisation, driften die jungen Leute in die Kriminalität ab. Mit dem Satz „Europa ist am Arsch“ schreien sie ihre Zukunftsangst heraus. Mit seinem Ansatz hinterfragt Dabiri auch das Theatersystem. Der Autor fordert, dass die Rollen divers besetzt werden sollen. Da aber stoßen in der Realität noch viele Theater an enge Grenzen. Die Zusammensetzung der Ensembles spiegelt nicht die Vielfalt der Gesellschaft wider. Damit trifft der Autor einen wunden Punkt im Theatersystem. Dabiris Siegerstück wird am 23. Januar 2025 am Nationaltheater in Mannheim uraufgeführt. Starke Handschriften prägten auch den Blick auf die georgische Szene. Der Autor und Literaturkritiker Davit Gabunia, der am Royal District Theatre in Tiblissi als Dramaturg arbeitet, hat für den Wettbewerb der Autorinnen und Autoren Stücke ausgewählt, die die Vielfalt der georgischen Kultur spiegeln. Doch aus seiner Sicht drohen Rückschritte, weil der Einfluss des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf den EU-Beitrittskandidaten Georgien wächst. Das Kultusministerium setze bei der Besetzung freier Schlüsselpositionen in den Theatern und in der Kultur auf regierungstreue Stimmen. Der Weg nach Europa wird weiter und weiter. Bei der Auswahl für den Wettbewerb der Autoren setzt Gabunia auf ästhetische Entdeckungen. Um den Zerfall von Gesellschaften und um das Vergessen kreist der Text des Regisseurs und Dramatikers Davit Khorbaladze, mit dem das Programm der Szenischen Lesungen mit dem Heidelberger Ensemble um 13.30 Uhr im Zwinger 3 beginnt. „Der weiße Hund“ ist reich an poetischen

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Foto links Mikhail Bagatelia, rechts oben Herwig Prammer, mitte Mikhail Bagatelia, unten Juda Kathia Fsuturi

Report Heidelberger Stückemarkt


Report Heidelberger Stückemarkt Assoziationen, die die soziale Ungleichheit und die politischen Konflikte in der georgischen Gesellschaft spiegeln. Als Regisseur setzt Khorbaladze auf ein radikales Körpertheater. Die Krisen und Katastrophen in Europa interessieren die Autorin Marita Liparteliani in ihrem Kammerspiel „Terzett“. Sie reißt Themen wie die Pandemie, Waldbrände und Umweltzerstörung an, lenkt dabei den weiten Blick nach Europa. „Wer klopft?“ heißt das Kinderstück von Alex Chigvinadze. Er verführt das Kinderpublikum, aber auch die Erwachsenen zu einer Fantasiereise, in der Armut und soziale Konflikte überwinden. „Auf die Kinder sollten wir unser besonderes Augenmerk legen“, findet Davit Gabunia. Die Bildung der jungen Generation zu weltoffenen, toleranten Menschen ist ihm wichtig. Chigvinadzes lustvolle Sprachspiele überzeugten nicht nur die Jury des europäischen Autor:innenpreises – er entschied auch den Publikumspreis für sich.

wurde 2022 bei der „Langen Nacht der Autor:innen“ am Deutschen Theater in Berlin vorgestellt. Das perfide System der Ausbeutung und Unterdrückung entlarvt Regisseur David Bösch in seiner Inszenierung am Landestheater Linz. Im Fokus steht Piotra, eine Pflegekraft aus Polen. In eine fremde Kultur geworfen, muss sie Tag und Nacht einen grantigen alten Mann betreuen. Klug zeigen die Schauspieler:innen, was dieses soziale Gefälle mit den Menschen macht. Von einem Miteinander auf Augenhöhe sind Ost und West noch sehr weit entfernt. T

Feminismus oder Zauberkräfte Dass gerade in Zeiten der politischen Eskalation Georgien Gastland ist, freut den Heidelberger Intendanten Holger Schultze. Hat die politische Lage die Organisation erschwert? Durch das dichte internationale Netzwerk, das sich Schultze und sein Team aufgebaut haben, sei es gut möglich gewesen, die Gastspiele zu realisieren. Das Publikum mit der Spaltung der georgischen Gesellschaft vertraut zu machen, findet Schultze gerade jetzt unverzichtbar. „Noch vor wenigen Jahren hätten wir alle nicht gedacht, dass wir für das Gastspiel von Michel Friedmans ‚Fremd‘ des Theaters Hannover Polizeischutz brauchen, weil der Autor kommt.“ Das führt dem international bestens vernetzten Theaterchef die Risse in der deutschen Gesellschaft vor Augen, in der Antisemitismus längst wieder zur ernsthaften Bedrohung geworden ist. Als Autor ist Davit Gabunia in der europäischen Szene zuhause. Sein Stück „Tiger und Löwe“, in dem er die Erinnerung an die Ermordung von 150 georgischen Kunstschaffenden im Jahr 1937 auf Befehl des Diktators Josef Stalin aufarbeitete, hatte im Mai 2018 am Staatstheater Karlsruhe Premiere. Ihm geht es darum, „die ästhetischen Perspektiven in unserer Theaterszene zu zeigen“. Da sticht eine Produktion des Tbilisi Center of Performing Arts besonders hervor. Die Multimedia-Performance „Greenhouse“ ist eine Kollektivarbeit von fünf Künstlerinnen, die die Rolle der Frau auf dem Hintergrund eines Volksmärchens kritisch hinterfragen. Die bildgewaltige Show basiert auf dem georgischen Volksmärchen „Anana“. Das ist eine Frau mit Zauberkräften, in die sich ein Prinz verliebt. Doch der kann sich nicht entscheiden und heiratet immer wieder andere Frauen. Die Performerinnen haben mit Frauen in Georgien gesprochen und ihre Rolle in der Gesellschaft als „Pflege-Dienstleisterinnen“ hinterfragt. Hin- und hergerissen zwischen dem Alltag und ihren Träumen, die wie die Illusionen im Bühnenraum platzen. Dass sich die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa zwar auflösen, aber die Gräben bleiben, zeigte Raphaela Bardutzkys „Fischer Fritz“. Das erfolgreiche Stück war 2021 bereits beim Heidelberger Stückemarkt nominiert, bekam dann den Förderpreis für neue Dramatik an den Münchner Kammerspielen und

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Oben „Fischer Fritz“ von Raphaela Bardutzky, Regie David Bösch Mitte „Niko Nikoladze“ von Levan Khetaguri, Tengiz Khukhia und Elene Matskhonahvili, Regie Elene Matskhonashvili Unten „Medea s01e06“ von und in der Regie von Paata Tsikolia

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Report Chawwerusch Theater

Fortschritt im Vorgarten Wie das Chawwerusch Theater in Herxheim in der Pfalz seit 40 Jahren Gesellschaft gestaltet Von Thaddäus Maria Jungmann

Herxheim bei Landau: In der Jungsteinzeit Schauplatz für Kannibalismus-Rituale, heutzutage unschuldig in Weinreben gebettet. Der Umgang miteinander scheint mittlerweile so lieblich wie der regionale Wein, trinkt man doch gemeinsam mit fremden Menschen bei Weinfesten als verschwisternden Akt aus einem Dubbeglas. In dieser idyllischen Vorstellung von Herzlichkeit – ähnlich abgrüdig wie in einem Heimatfilm –, bin ich als queere Person aufgewachsen, suchte permanent von strafenden Blicken umgeben nach einem Ort der Akzeptanz und fand ihn im Chawwerusch Theater. Nun wird dieses progressive Stückchen Heimat in einer Landschaft von spießigen Steinvorgärten 40 Jahre alt. Die Rückkehr in das Dorf versuche ich zu vermeiden, umso beruhigender, das Gespräch mit den beiden Mitgliedern Ben Hergl und Miriam Grimm als virtuelles Wiedersehen zu gestalten. Das Jubiläumsjahr steht unter dem Motto „Es ist an der Zeit“; doch wofür? Der Blick mit Visionen für das Theater ist klar in die Zukunft gerichtet, aber klar ist: keine Zukunft ohne Vergangenheit. Aus einem waghalsigen Vorhaben eines Kollektivs wurde ein freier, professioneller Theaterbetrieb. Begonnen hat alles mit politischem Straßentheater zu einer Zeit, als Mitte der 80er Jahre die Grünen in den Bundestag einzogen und Friedensdemonstrationen gegen den sich anbahnenden Atomkrieg organisiert wurden. Die damaligen und bis heute noch aktiven Gründungsmitglieder Ben Hergl, Felix S. Felix, Monika Kleebauer und Walter Menzlaw zogen gemeinsam als Wanderschauspieler:innen und Gaukler:innengruppe mit Traktor und Zelt durch den Odenwald. Inspiriert von Grotowskis Armen Theater, mit wenig viel zu erzählen, wendeten sie sich von den elitären Staatstheatern ab und prägten mit der Erzählung von regionaler Geschichte den Stil für den sie auch heute noch als Chawwerusch bekannt sind, berichtet Hergl: „Wir haben damit den Nerv der Zeit getroffen, weil Leute das Bedürfnis hatten, ihre eigene Geschichte zurückgespiegelt zu bekommen.“

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Der Name Chawwerusch leitet sich von dem hebräischen Wort chawwer/Kompliz:in ab und besitzt den gleichen Wortstamm wie die pfälzische Bezeichnung „Kafruse“, was eine Bande rotzfrecher Kinder bezeichnet: eine rotzfreche Theaterbande also, die sich damals an verschiedenen Orten für Aktionen trifft und dann wieder auseinandergeht. Doch Ende der 80er Jahre suchte die Bande nach einer festen Spielstätte und stieß auf Herxheims früheren Tanzsaal, der von Hergls Großmutter betrieben wurde. Das Theater ließ sich geografisch im Dorf dort nieder, wo sie heutzutage mehr denn je hingehören: ins Zentrum der Gesellschaft. Doch damals warnte Hergl, dass sie als linksorientierte Menschen in dieser „stinkkatholischen Gemeinde“ nicht mit Freuden empfangen würden. Ein paar Tage später schon stand die Polizei vorm Haus, weil Anwohner:innen meinten, das mutmaßliche Fluchtauto der RAF im HerrhausenAttentat vor dem Theater parken gesehen zu haben. „Ab diesem Zeitpunkt war klar, dass wir nicht mit politischen Parolen einziehen können“, erinnert sich Hergl: „Orientiert an Brecht machen wir kein politisches Theater, sondern politisch Theater.“

Tradition des kritischen Volkstheaters Das große Misstrauen der Einwohner:innen sollte mit dem Lai:innenprojekt „Starker Duwak“ abgebaut werden. Inhaltlich beschäftigte sich das Stück mit der lokalen Geschichte des Nationalsozialismus. Bisher wurde im Dorf diese Aufarbeitung verdrängt, sodass die Dorfverwaltung erst drei Jahre nach dem Vorschlag die Durchführung gewährte, weil sie einen Konflikt mit noch lebenden Zeitzeug:innen fürchteten. Chawwerusch blieb vehement, sah die Dringlichkeit, darin einen Kulturbegriff fernab von Saumagen und Fasching zu prägen, der zuließ, Unbequemes endlich anzusprechen. Wie mit der Anregung und Gestaltung einer Gedenkkultur setzten sie immer wieder Impulse für die Mitgestaltung des

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Report Chawwerusch Theater Um generell das Publikum zu verjüngen, suchten sie nach Themen, die andere Personen als das Stammpublikum ansprechen sollen und dieses mit neuen Themen sensibilisieren.

Foto oben Chawwerusch Theater, unten van Schie

„Masken, Muskeln und Moneten – Jahrmarkttheater über Geschichten und Geschichte aus Pfalz und Odenwald“ von 1985

Dorflebens. Um ihre Arbeit systematisch zu vertiefen, gründeten sie den Verein Spurensicherung und Volkstheater, um ähnlich den heutigen Methoden des living archives, durch Interviews und Archivarbeit eigene Stücke zu entwickeln. Mir persönlich stößt der Begriff „Volk“ gerade im dörflichen Zusammenhang etwas auf, doch Hergl erwidert direkt: „Wir verstehen uns in der Tradition des kritischen Volkstheaters. Wir beschäftigen uns thematisch mit der Entstehung der Demokratie.“ Gerade für diese Stoffe, welche sie auch an Orten wie dem Hambacher Schloss als einem der wichtigsten Symbole der Demokratiebewegung aufgeführt haben, avancierte Chawwerusch zu einem Aushängeschild der Kulturlandschaft Rheinland-Pfalz. Wie soll allerdings ein Theater weitergeführt werden, das mit dem Verlust der Gründer:innen droht, das Gesicht zu verlieren. Mit dieser Schwierigkeit sieht sich Miriam Grimm, Mitglied der zweiten Generation, konfrontiert. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Stephan Wriecz bekamen sie zum 30. Jubiläum – also von zehn Jahren – den Auftrag, mit dem Pilotprojekt „Expedition Chawwerusch“ eine Sparte für junges Publikum zu leiten. Der Generationenwechsel wurde also schon in weiter Voraussicht eingeführt. Um generell das Publikum zu verjüngen, suchten sie nach Themen, die andere Personen als das bisherige Stammpublikum ansprechen sollen, aber gleichzeitig dieses mit neuen Themen zu sensibilisieren: „Wir wollen in erster Linie niemanden umerziehen, was Theater auch gar nicht kann. Aber aus unserer Sicht ist es dringend notwendig, Stoffe für Menschen zu erzählen, die sich in der Welt nicht vertreten sehen“, so Grimm. Mit dem aktuellen Stück der Expedition „Livename“ hinterfragen sie das binäre Geschlechtersystem. Obwohl selten ausverkauft, bleibt das Stück – obwohl das Theater anders als große Häuser auf die Einnahmen angewiesen ist – dennoch im Spielplan, um weiterhin relevante Themen zu behandeln.

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Um in Zukunft dem Publikum einen anderen Zugang zu ermöglichen, konnte mit Celina Hellmann erstmalig eine Theaterpädagogin eingestellt werden. Außerdem sollen mit ihr noch mehr Jugendgruppen gegründet werden, „weil es für die Jugendlichen eine großartige Erfahrung sein kann, in verschiedene Rollen zu schlüpfen“. Auch für meine persönliche Entwicklung war das eine Chance, die aufgezwungene Rolle eines heterosexuellen Jungen endlich abzulegen, neue Rollen anzunehmen, aber privat endlich ich selbst sein zu können. Doch mit zunehmenden finanziellen Kürzungen im Kulturbereich von Land und Kommune drohen auch Sparmaßnahmen für das Theater, die solche Möglichkeiten verhindern. Chawwerusch stürmt als Reaktion das Rathaus, erlebt wie schon während der Pandemie eine starke Solidarisierung der Bevölkerung, was wiederum zeigt, wie enorm wichtig das Theater in diesen dörflichen Strukturen ist, weil sie mit ihren Stücken einen Diskurs ermöglichen und vor allem einen sozialen Ort der Begegnung schaffen. Für Hergl heißt es so langsam Abschied vom Theater zu nehmen, was sich schwierig erweist, wenn sich die eigene Wohnung im gleichen Gebäudekomplex befindet. Für Grimm gilt es, wie mit dem neuesten Kollektivmitgleid Danilo Fioriti, neue Wegbegleiter:innen zu finden, Bewährtes weiterzuführen und dabei neue künstlerische Wege zu finden. Dabei geht es ihr nicht ausschließlich um ästhetische Entscheidungen, sondern auch um die Frage von Arbeitsrechten für eine zukunftssichere Work-Life-Balance. Bei all dem Wandel ist sie sich aber sicher: Die Marke von Chawwerusch, aus trockener Geschichte Theater zu machen, wird bestehen bleiben. T

Der Chawwerusch-Produktion „Die Komödiantin“ (2004)

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Report Festival „Ostopia“

Die Stimmen der Spargelstecher Mit dem Festival Ostopia setzt das Nationaltheater Mannheim Akzente im Diskurs über die Brüche zwischen Ost- und Westeuropa Von Elisabeth Maier

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Riesige Spargelspitzen in Orange, gefleckt mit Schuppen in Lila und Grün, sind im Theatercafé im Alten Kino Franklin in Mannheim ein Hingucker. Mit der Installation lenkt das Team des Mannheimer Nationaltheaters den Blick auf das Festival „Ostopia“. Mit den Thementagen erinnerte das Theater an die sogenannte Osterweiterung der Europäischen Union, die sich zum 20. Mal jährt. Wenige Kilometer entfernt ernten Arbeiter:innen aus Polen und anderen Ländern Osteuropas auf den Schwetzinger Feldern Spargel. Die Migranten leisten harte körperliche Arbeit, damit das Edelgemüse auf deutsche Teller kommt. Andere pflegen Senior:innen rund um die Uhr. Dafür werden sie schlecht bezahlt. Diese soziale Diskrepanz zwischen Ost und West ist in der deutschen Gesellschaft längst Alltag. „Menschen aus dem östlichen Europa erleiden Rassismus“, sagte der Historiker Hans-Christian Petersen beim Podiumsgespräch „Let’s talk about ‚Post-Ost“. Da ihre Abschlüsse aus Beruf und Studium nicht anerkannt würden, landeten Migrant:innen aus dem Osten oft in prekären Arbeitsverhältnissen. Vielen Frauen bleibt nichts als die Prostitution. Von einer Vereinigung auf Augenhöhe sind die Gesellschaften in Ost und West für Petersen noch weit entfernt. Das gilt nicht für die Theaterszene. Herzstück des Festivals war eine polnisch-deutsche Koproduktion. Die Zerrissenheit der politischen Systeme reflektiert der polnische Starregisseur Jan Klata in Platons „Der Staat/Państwo,“. Das multimediale Theater hat das Nationaltheater Mannheim gemeinsam mit dem JuliuszSłowacki-Theater in Krakau produziert. Ein Großteil von Klatas monumentaler Theaterkunst ist übertitelt. Denn die Spieler:innen sprechen den Text auf Altgriechisch. 375 vor Christus hat der griechische Philosoph Platon den Text verfasst, in dem es um

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Fotos Bartek Barczyk

„Der Staat/Państwo“ von Platon am Nationaltheater Mannheim, Regie Jan Klata


Report Festival „Ostopia“ die Frage geht, wie ein Staatsgefüge funktioniert. Da wandelt der Vordenker Sokrates durch die Stadt und fragt: „Was ist Gerechtigkeit?“ Das Thema ist gerade in Polen hochpolitisch. Denn den Begriff „Gerechtigkeit“ hat die rechtspopulistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in den vergangenen acht Jahren für ihre Zwecke missbraucht. Darunter hatten die Kulturschaffenden zu leiden. „Kritische Theatermacher wurden und werden da von Führungspositionen im Theater entfernt“, schildert Jan Klata die Lage. Das hat der ehemalige Intendant des Stary Teatr in Krakau selbst erlebt. Er leitete das Haus zwischen Januar 2013 und August 2017, wurde dann an dem Staatstheater nicht mehr verlängert. Zwar hat der Europapolitiker Donald Tusk im Dezember 2023 die Regierungsgeschäfte übernommen. Auf nationaler Ebene erstarken die demokratischen Kräfte, die den Blick nach Europa richten. Doch dieser Aufwind ist nach Klatas Worten trügerisch. Bei den Kommunalwahlen machte die ultrakonservative PiS-Partei jenseits der Zentren als stärkste Kraft das Rennen. „Diese politische Stimmung im Land hat unsere Arbeit geprägt“, blickt der international vernetzte Regisseur auf die Prod­ uktion zurück. Der Staat, den er mit dem deutsch-polnischen­ Ensemble entwirft, windet sich im Fieber. Der Bühnenraum von Mirek Kaczmarek ist eine riesige Höhle als gleißendem Licht und schrillen Farben. So reißt der Künstler das Publikum in einen Rausch der Ratio. Die philosophischen Thesen entwickeln die Schauspieler in der Textfassung der Dramaturgin und Altphilologin Olga Śmiechowicz kraftvoll und mit drallem Körpertheater. „Begreifst Du nicht, dass die Gerechtigkeit zum Nutzen des Stärkeren ist, der die Macht ausübt?“ fragt die Schauspielerin Linda Pöppel in der Rolle des Philosophen Trasymachos. Er ist bekannt durch seine Thesen vom „glücklichen Tyrannen“. Ihre polnische Kollegin Dominika Bednarczyk lässt dagegen Sokrates ein positives Bild der Gerechtigkeit entwerfen – und an den Mächtigen scheitern.

Regisseur Jan Klata In bunten Kostümen tanzen die Akteure durch eine Welt, die Klata in ein psychedelisches Gefängnis verwandelt. Regenbogensocken und Tüll verraten Klatas spielerische Leichtigkeit. So nimmt er dem schweren politischen Stoff die Trägheit. Dazu hat der Regisseur eine Musik geschrieben, die in Klangfetzen zersplittert. Darin spiegelt der Künstler ein System, das auseinanderzufallen droht. So wie die europäischen Gesellschaften in Ost und West, in die sich immer tiefere Risse graben. „Ihr schaut auf den Rechtspopulismus in Polen und auf die Angriffe gegen unsere Kulturinstitutionen“, sagte die Schauspielerin Dominika Bednarczyk im Nachgespräch. „Aber in Deutschland ist die AfD ebenso auf dem Vormarsch.“ Da ist aus ihrer Sicht die Gefahr für innovative Kulturinstitutionen groß. Mit ihren warnenden Worten sprach sie vielen Zuhörer:innen aus der Seele. Wie haben beide Seiten von der polnisch-deutschen Koproduktion profitiert? Jan Klata fand es spannend, mit der deutschen Schauspielerin Linda Pöppel und mit seinen polnischen Kollegen über den Begriff der Gerechtigkeit zu diskutieren: „Wir haben

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verschiedene Blickwinkel.“ Doch in der gemeinsamen Arbeit habe man viele Parallelen entdeckt. Die Ressentiments etlicher Polen gegen Deutschland spürt er, auch wenn sie in seiner Wahlheimat Warschau nicht so stark zu Tage träten wie auf dem Land. Sprachbarrieren gab es in der gemeinsamen Arbeit nicht. „Da wir den größten Teil in altgriechischer Sprache spielen, gibt es zunächst keine Differenzen“, sagt Klata. Ihn reizt der Blick auf die gemeinsamen Wurzeln der europäischen Kultur in der Antike. Mit griffiger, klarer Übertitelung, übersetzt von Olaf Kühl, konnte auch das deutsche Publikum den philosophischen Diskursen auf der Bühne folgen.

Brückenschläge Richtung Osten Das deutsche Publikum mit der osteuropäischen Theaterkultur vertraut zu machen, liegt dem Mannheimer Schauspiel-Intendanten Christian Holtzhauer am Herzen. Klatas starke, wegweisende Theaterbilder öffneten dem deutschen Publikum ästhetische Horizonte. Der polnische Künstler denkt Theater als ein Gesamtkunstwerk. „Gerade jetzt ist es wichtig, Brücken zu bauen und sich in der ­Theaterszene international zu vernetzen.“ Das ist für Holtzhauer mit Blick auf die antieuropäischen Tendenzen in Osteuropa sogar ein Muss. Das Festival ist für ihn „ein wichtiger Schritt, um Diskurse in Gang zu bringen, etwa über Arbeitsmigration und Rassismus in Ost und West. Brückenschläge zur osteuropäischen Kultur finden sich auch in seinen Spielplänen. Die Bühne hat die Uraufführung von „Juices“ der deutsch-polnischen Sprachkünstlerin Ewe Benbenek herausgebracht. Regie führte die tschechische Regisseurin Kamila Polivková. Die Produktion war auch zu den Mülheimer Theatertagen für Gegenwartsdramatik eingeladen. Den Kanon um neue Stücke zu erweitern, die sich mit der Wirklichkeit von Arbeitsmigrant:innen aus Osteuropa beschäftigen, ist Holtzhauers Ziel. Den Blick der Mannheimer Bühne nach Osteuropa hat die slowakische Dramaturgin Dominika Široká geweitet. In ihrer ehemaligen Universitätsstadt Olomouc in Tschechien richtet sie ein internationales Theaterfestival aus. „Diversität ist in unserer Spielplankonzeption eine wichtige Leitlinie.“ Zu dieser Viel­ stimmigkeit gehört für sie auch der kritische Blick auf die Diskriminierung von Menschen aus Osteruropa, die nach Deutschland kommen. Ihren Stimmen auf der Bühne Gehör zu verschaffen, ist der Dramaturgin ein Anliegen. In der ehemaligen Arbeiterstadt Mannheim im Nordwesten Baden-Württembergs leben viele Migrant:innen aus dem Osten. Als Leiterin des Stadtensembles bringt Beata Anna Schmutz ihre Themen zu Gehör. Die experimentierfreudige Volkstheater-­Chefin hat mit der Autorin Ewe Benbenek im Rahmen des Festivals die musikalische Performance „Ein Pfund Spargel“ eingerichtet. Da geht es um die Ausbeutung der Saisonarbeiter:innen. Schmutz entwickelt mit ihrem Mannheimer Stadtensemble Stücke, die Lebenswirklichkeiten der Akteur:innen spiegeln. Gerade in Zeiten, da die Stadtgesellschaften immer weiter auseinanderdriften, sieht sie „die verbindende Kraft des Theaters.“ Dazu ist für die polnisch-deutsche Dramaturgin „vernetztes Denken“ der Kunstschaffenden in West- wie in Osteuropa unverzichtbar. T

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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Learning for the future Edition Bayerische Theaterakademie August Everding Learning for the Future Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste Hans-Jürgen Drescher, Johannes Hebsacker, Antonia Leitgeb und Daniel Richter (Hg.) 222 Seiten, 22 € (Paperback oder E-Book)

Open Table Founding an International University for Performing Arts

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Thomas Irmer (links) und Olaf Nicolai (Mitte) im Gespräch mit René Pollesch

Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche mit René Pollesch aus 20 Jahren Am 12. Juni 2019 hat der Berliner Kultursenator Klaus Lederer im Roten Salon der Volksbühne Sie als neuen Intendanten dieses Theaters ab 2021 vorgestellt. Diese Entscheidung war nach dem Scheitern Chris Dercons mit allergrößter Aufmerksamkeit erwartet worden – und es gab zuvor alle möglichen Vorschläge für die Zukunft der Volksbühne nach diesem absoluten Schlamassel. Wie verlief Ihre Bewerbung in dieser Situation? René Pollesch: Unsere Bewerbung lief über einen Zeitraum von zehn Monaten und war sehr ausführlich und musste mehrfach nachgebessert werden. Von Anfang an sollte auch überprüfbar sein, ob das finanziell tragfähig ist, was wir vorhaben. Das war also alles sehr sorgfältig, wahrscheinlich auch aus der Erfahrung der vorherigen Berufung von Chris Dercon, wo bestimmte finanzielle Aspekte trotz eingängiger Warnungen schon im Vorfeld vernachlässigt wurden – wie später aus der Recherche über seine ­Planungen zu erkennen war. Bei uns ist der Großteil der Produktionen aufgeführt mit konkreten Angaben, ob das bezahlbar ist, ausgearbeitet von einer erfahrenen Betriebsdirektorin.

Ein Anknüpfen an die alte Volksbühne, in der Sie bis 2017 neben Frank Castorf und Christoph Marthaler zu den wichtigsten künstlerischen Positionen gehörten? RP: Ein Anknüpfen mit neuen Inhalten. Und mit neuen Künstlern natürlich. Jetzt könnte man natürlich sofort einwenden, ich bin nicht so neu und Vegard Vinge und Ida ­Müller sind auch nicht neu an der Volksbühne. Aber die Konstellation, in der wir hier zusammenfinden, ist durchaus neu. Was mich besonders gefreut hat, und das mag für dieses Neuzusammenfinden stehen, ist die Begegnung von Martin Wuttke und Ida und Vegard. Ich kannte die beiden vorher kaum – vor allem nur durch Bert Neumann, der sie ja bis zu seinem frühen Tod sehr unterstützte – und habe nun das Gespräch mit ihnen gesucht. Das war sehr toll, sehr ergiebig und sehr konkret.

Thomas Irmer René Pollesch – Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche 92 Seiten, 15 € (Paperback oder E-Book)

Fotos unten links Jean-Marc Thurmes, oben Mitte Uwe Walter, rechts unten Julian Baumann

Die Folgen des Klimawandels, das Fortschreiten antidemokratischer Tendenzen, die Corona-Pandemie aber auch tiefgreifende technologische Entwicklungen lassen die gesellschaftliche Gegenwart als multiple Krise erscheinen. Wie bearbeiten Theater diese Herausforderungen? Welche Fähigkeiten entwickeln Theaterschaffende dabei? Vom 15. bis zum 17. Juni 2022 trafen sich Praktiker:innen und Forschende mit internationalen Studierenden an der Theaterakademie August Everding, um verschiedene Visionen für die Kunst, ihre Institutionen und die Ausbildung zu diskutieren. Die Publikation dokumentiert ihre differenzierten Analysen und originellen Zukunftsideen. Mit Beiträgen u.a. von Sivan Ben Yishai, Amelie Deuflhard, Jennifer Gunkel, Adrienne Goehler, Pınar Karabulut, Friedrich Kirschner, Tine Milz, Jasmin Maghames, Manolis Tsipos, Yener Bayramoğlu, Lisa Jopt und Barbara Gronau.


Inklusion am Stadttheater

All you can read Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie Assoziationen zum Thema aus unserem Verlagsarchiv mit mehr als 9000 Texten. Den Zugang gibt es ab 5,99 € pro Monat, inkl. E-Paper-Download – tdz.de – Jetzt 30 Tage für 1 € testen.

Theater der Zeit Spezial All Abled Arts Notizen zu Inklusion an einem Stadttheater 72 Seiten, 9,50 € (Heft oder ePaper)

Nachdem die Freie und die inklusive Szene den Weg bereitet haben, sind in den letzten Jahren auch einige Stadttheater in Deutschland inklusiver geworden. Eines davon sind die Münchner Kammerspiele.18Unter der Intendanz von Barbara Mundel sind erstmals nicht nur Schauspieler:innen mit körperlicher Behinderung, sondern auch Schauspieler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung fest in einem Stadttheater-Ensemble angestellt. Auch im Bereich Text, Regie und Choreografie arbeiten die Münchner Kammerspiele inklusiv. Das Theater der Zeit Spezial geht von diesen konkreten Erfahrungen der vergangenen Spielzeiten seit 2020/21 aus. Einen kurzen Abriss zur Geschichte des inklusiven Theaters in Deutschland gibt Georg Kasch. Der Schauspieler Dennis FellHernandez interviewt die Intendantin Barbara Mundel und das Team der Münchner Kammerspiele um Nele Jahnke reflektiert über die strukturellen Entwicklungen und Erfahrungen und weitere beteiligte Künstler:innen teilen ihre Perspektiven. Das Spezial erscheint in Alltagssprache und in Leichter Sprache. Titelseite, Inhaltverzeichnis und Anfang des Editorials der ersten Saisonvorschau (2019/20) der neuen Intendanz, veröffentlicht am 4. Juni 2019

NEWSLETTER-UPDATES Mit unserem Newsletter informieren wir unmittelbar über unsere Neuerscheinungen. Lesen Sie Bücher und Magazine noch bevor sie gedruckt sind, und finden Sie weiterführende Texte auf tdz.de.

Front page, table of contents and beginning of the editorial of the first season preview (2019/20) of the new artistic codirectorship, published on June 4, 2019

Dennis Fell-Hernandez und Ensemble von „In Ordnung“ an den Münchner Kammerspielen

Schauspielhaus Zürich 2019 – 2024 Überbordend sinnlich, international gefeiert, diversitätsoffen und jenseits von disziplinären Grenzen, zugleich angefeindet, verbrämt, umkämpft: Die Intendanz von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann am Schauspielhaus Zürich war eine richtungsweisende Zeit. Als alphabetisches Glossar verpackt, evoziert der vorliegende Reader die Hoffnungen und Versprechen, die mit der Intendanz verbunden waren, repräsentiert die vielfältigen Handschriften der beteiligten Künstler:innen und ruft öffentliche Debatten um die Neuausrichtung des Schauspielhauses auf. Was also bleibt, von diesem Versuch das Stadttheater für das 21. Jahrhundert neu zu denken? Theater Is Dead. Long Live Theater. Schauspielhaus Zürich 2019 – 2024 gibt darauf keine finalen Antworten, sondern versammelt Material, das für zukünftige Erneuerungsversuche relevant sein könnte. Dabei entsteht ein künstlerischer Text- und Bildband, der einen erweiterten Theaterbegriff feiert und die in Zürich entstandenen Arbeiten zwischen Theater, Tanz, Film und den performativen Künsten abbildet und kontextualisiert.

Theater Is Dead. Long Live Theater Schauspielhaus Zürich 2019 – 2024 312 Seiten, 30 € (Leinen­ gebundenes Hardcover oder E-Book)

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Bücher in Vorbereitung Judith Malina: Notizen zu Piscator Annette Menting: Schauspielhaus Chemnitz För Künkel, Mirjam Hildbrand: Zirkuskunst in Berlin um 1900 Recherchen 170 Matthias Rothe: Tropen des Kollektiven Recherchen 172 Teresa Kovacs: Theater der Leere Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

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Magazin Bruchsal

Susanne, Weckerle, Solveig Eger, Franziska Beyer in „Kill Baby“ von Ivana Sokola, Regie Annika Schäfer

Spielen auf weiter Flur Die 20. Landesbühnentage in Bruchsal und vier anderen Städten bieten künstlerische Arbeit im Schatten der großen Häuser Von Björn Hayer

Abed Haddad und Michaela Finkbeiner in „Der kleine Ritter Trenk“. Regie Jürgen Lingmann

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Foto links oben LTT/Martin Sigmund, unten Sonja Ramm

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Von Lieferando, nur als Theater. So ungefähr funktionieren Landesbühnen, die die kleinen Gemeinden abseits der urbanen Zentren mit Inszenierungen versorgen. „Wir bringen Kunst und kulturelle Bildung ins Land“, so Wolf E. Rahlfs, Intendant der Badischen Landesbühne in Bruchsal, zur Eröffnung der 20. Landesbühnentage, die erstmals dezentral und daher in gleich fünf Aufführungsstätten stattfinden (neben Bruchsal in Wilhelmshaven, Castrop-Rauxel, Radebeul, Stendal). Leicht hat man es mit diesem Aufgabenprofil nicht immer. Bühnenbilder gilt es so zu konstruieren, dass sie in jeder Turn- und Stadthalle nutzbar sind. Darsteller:innen müssen sich flexibel auf neue Szenerien einstellen. Hinzu kommt ein gigantischer logistischer Planungsaufwand, was insbesondere die Koordination der Gewerke anbetrifft. Da viele junge Menschen ihre ersten Seherfahrungen eben jenem künstlerischen Reisebetrieb verdanken, kann man seinen Wert kaum hoch genug bemessen. Landesbühnen bauen Hürden ab und sorgen oft gerade in abgelegeneren Gebieten, wo demokratiefeindliche Bewegungen gern auf Wählerpirsch gehen, für Dialog und Empathie. Wohl auch aus diesem Grund dürfte das diesjährige Festival mit einem begeisternd für die Kraft der Freiheit eintretenden Stück, Kirsten Boies „Ritter Trenk“, eröffnet worden sein. Um seinem autoritären Fürsten zu entkommen, flüchtet der titelgebende Held (Abed Haddad) mit Superman-Shirt in eine fremde Stadt. Bald schon verhilft ihm sein schauspielerisches Talent dazu, am Hof eines Ritters in den Wettstreit mit seinen Rivalen und vorigen Herrscher Wertolt (Lucy Jo Petermann) zu treten. Die Challenge: Wer den üblen Drachen im Wald besiegt, dem wird ein Wunsch erfüllt. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Der Protagonist triumphiert und darf damit seine Familie und alle Unterdrückten aus der Leibeigenschaft lösen. Auch wenn Jürgen Lingmanns Inszenierung etwas verstaubt und mutlos wirkt, und ihr ob ihres revolutionären Impetus ein wenig mehr Mut gutgetan hätte, zieht sie einen doch mit ihrem absurden Humor in den Bann. Spätestens, als etwa das feuerspeiende Ungetüm nur als niedlicher Plüschdrache erscheint, sind auch die Erwachsenen von der Groteske eingenommen. Ästhetisch ambitionierter mutet hingegen die aus Tübingen stammende Reali-

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sierung von Ivana Sokolas „Kill Baby“ unter der Regie von Annika Schäfer an. Während wir gerade auf politischer Ebene über die Zukunft des Abtreibungsparagraphen streiten, veranschaulicht dieser Text sehr genau, welche Gedanken eine ungewollte Schwangerschaft begleiten. Auf einmal wird die Welt eng, so kleine wie das Zimmer der Guckkastenbühne, in dem Kitti (herausragend: Solveig Eger) gemeinsam mit ihrer Mutter und Großmutter die Monate nach dem Stelldichein mit einem offenbar windigen Typen erlebt. Teig – als so passendes wie kurioses Bild für das Heranwachsen des Embryos – wird geknetet, mit dem man sich anschließend gegenseitig füttert. Auch die Haare machen sich die drei Frauen zusammen. Deutlich wird dadurch, dass die drei Generationen letztlich dasselbe Schicksal eint. Alle drei haben unglücklich geliebt, alle haben ihre berufliche Zukunft für die Erziehung aufs Spiel gesetzt. Unter dem „Himmel voller Erzeuger“ und vor einem rosa Vorhang, der nur entfernt an eine unschuldige Mädchenzeit erinnert, läuft derweil als wiederkehrendes Intermezzo eine sphärische Version des Songs „Liebe ohne Leiden“. Als wenn es das gäbe – als ironisches Passepartout funktioniert es indessen allemal, das zweifelsohne ebenso inwendig bewegt. Sei es im weiteren Verlauf des Aufführungsmarathons das Antikriegsdrama „Im Westen nichts Neues“ (Landesbühne Schwaben) oder die Komödie „Indien“ (Württembergische Landesbühne Esslingen), das vergnüglich vom Austausch in einer gespaltenen Gesellschaft Kunde gibt – in Bruchsal trifft man damit den Nerv der Zeit und beweist eindrucksvoll, dass im Schatten der Aufmerksamkeit für die großen Mehrspartenhäuser zahlreiche Schätze zu entdecken sind. T

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Magazin Athen

Agora des neuen Theaters Mit „Grape“ hat sich das Athens Epidaurus Festival eine junge Sparte geschaffen

Oben „Taverna Miresia* – Mario, Bella, Anastasia“ von Mario Banushi Mitte Katerina Evangelatos, Künstlerische Leiterin des Athens Epidaurus Festival Unten „Borborygmi“ von Chara Kotsali

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Foto links oben Nasia Stouraiti, Mitte Andreas Simopoulos, unten Karol Jarek

Von Dimi Theodoraki


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In diesem Sommer findet in Griechenland das 69. Athens Epidaurus Festival statt, die wichtigste internationale Institution in Griechenland, dessen Künstlerische Leitung zum fünften Mal von Katerina Evangelatos ist. Vom 1. Juni bis zum 24. August wird das Festival mit insgesamt 93 internationalen und griechischen Produktionen an verschiedenen Spielorten stattfinden, darunter im Epidaurus-Theater (kleine und große Bühne), am Herodeion in Athen, im Peiraios 260 in Athen und anderen Spielorten. Und dazu nun auch das neue Festival-Format „Grape“, ein Akronym aus „Greek Agora of Performance“. „‚Grape 2024‘ wird zum zweiten Mal in Folge organisiert und ist meine persönliche Wette“, betont Katerina Evangelatos im Interview mit Theater der Zeit. „In Griechenland hatten ähnliche Initiativen in der Vergangenheit eine kurze Lebensdauer, vor allem aufgrund mangelnder Organisation. Die Idee für ‚Grape‘ entstand aus Gesprächen mit meinen Kolleg:innen und aus meiner persönlichen Erfahrung und Beobachtung der weltweiten Theaterpraxis. Diese Initiative ist wichtig, weil sie griechische Künstler:innen fördert und zu ihrer internationalen Anerkennung beiträgt. Die Organisator:innen von ‚Grape‘ erweitern den Auftrag des Festivals und stellen einen Teil ihres Budgets zur Verfügung, um Aufführungen in einem komprimierten Zeitraum von fünf Tagen zu präsentieren.“ Die Künstlerische Leiterin des Athens Epidaurus Festivals und Regisseurin erklärt, dass „Grape“ eine Reihe von Aufführungen präsentiert, die sich mit aktuellen Themen und Ansätzen „in einer brennenden Welt“ befassen. „Durch verschiedene Bühnensprachen beantworten sie die doppelte Frage: Wie können wir unser Leben leben? Wie können wir unser Leben ertragen?“ Sie bearbeiten beispielsweise Fragen der Identität und sind von der soziopolitischen Realität des griechischen Alltags inspiriert. Gleichzeitig gibt es Aufführungen, die von der Volkstradition der griechischen Mythen inspiriert sind. Auf diese Weise bildet „Grape“ ein interessantes Mosaik, das verschiedene Aspekte der menschlichen Erfahrung abdeckt und ein multidimensionales Theatererlebnis bietet. Die Aufführung von Efthimis Filippou und Angeliki Papoulia mit dem Titel „Etymologies“ findet im Saal des Alten Parlaments im Zentrum von Athen statt. Das Thema des

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Stücks sind die imaginären Wurzeln von Wörtern, die die Unsicherheit, Anfechtung und Mehrdeutigkeit in Bezug auf Sprache, Kommunikation und nationale Identität hervorheben und das ist eine Erfahrung, die den Ort als Teil der Aufführung mit einbezieht. Dazu gibt es zwei Tanzaufführungen mit einer soziopolitischen Perspektive. Die Performance „Borborygmi“ der Choreografin Chara Kotsali analysiert das Konzept des Lärms in westlichen Gesellschaften und seine Klassendimension. Außerdem präsentiert Anestis Azas das Stück „Ta skilia/The dogs“, das von Aristophanes’ „Die Vögel“ inspiriert ist und das Konzept der Gerechtigkeit in einer Hundegesellschaft untersucht. Die Aufführung „Amalia melancholia, Queen of the Palm Trees“ von Zoe Chatziantoniou, die sich auf die Geschichte der Königin Amalia und ihre Unfähigkeit, Kinder zu bekommen, konzentriert und damit die Erwartungen der Gesellschaft ihrer Zeit fotografiert, wird im Sychrono Theatro aufgeführt. Die Aufführung „Bless This Mess“ der Choreografin Katerina Andreou, für die sie wichtige KoProduzenten aus der ganzen Welt gewinnen konnte, während die Aufführung „ Point of Refreshment“ von Argyro Chioti sich auf die Welt des Geistes konzentriert. Die Performance „Connection Error“ von Yolanda Markopoulou – Station Athens Group schließlich beleuchtet die wahren Geschichten von Geflüchteten, die in Athen leben und arbeiten, während Mario Banushis „Taverna Miresia*– Mario, Bella, Anastasia“ sich auf die Taverne seines Vaters in Albanien bezieht. Mit Ausnahme der zwei Aufführungen werden die restlichen Aufführungen im Theater Peiraios 260 stattfinden. Katerina Evangelatos schließt mit den Worten ab: „Dieses Jahr haben wir ein sehr starkes Aufgebot an Künstler:innen, von denen die meisten in der Mitte ihrer Karriere stehen. Letztes Jahr hatten wir ein von zahlreichen Kurator:innen aus 27 Ländern gebildetes Programm des ganzen Athens Epidaurus Festivals. ‚Grape‘ – im Vergleich zu anderen Showcases – richtet sich nicht nur an Fachleute, sondern ist für alle Besucher:innen offen. Wir laden das Publikum ein und bieten englische Untertitel für alle Aufführungen an.“ Vom 21. bis 25. Juli 2024 wird „Grape“ in Athen mit der Beteiligung verschiedener künstlerischer Sprachen und der Aufführung neuer, mutiger Werke die Vielfalt und Kreativität der zeitgenössischen griechischen Szene hervorheben. T

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Magazin Bücher

Aus der Geschichte geschöpft Manfred Karge erzählt in seinen ­Erinnerungen von 60 Jahren deutschdeutscher Theatergeschichte Von Holger Teschke

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Gegen Ende der Ära Peymann brachte Manfred Karge am Berliner Ensemble einen Abend über Brechts Mitarbeiterinnen Margarete Steffin, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau auf die Bühne. Eine szenische Huldigung, die an den Anteil der Frauen an Brechts Theaterarbeit erinnern sollte. Die beiden Letztgenannten hatte Karge als junger Schauspieler und Regisseur am Schiffbauerdamm noch kennengelernt. Hier begann 1963 mit dem „Mahagonny Songspiel“, das er gemeinsam mit Matthias Langhoff inszenierte, seine Regie- und Schauspielerkarriere, die ihn über die Volksbühne und das Schauspielhaus Bochum bis ans Wiener Burgtheater und ab 2000 wieder ans BE zurückbrachte. Zwischendurch inszenierte er in Avignon und Paris, London und Zürich, schrieb Theaterstücke und Libretti und spielte unter der Regie von Besson, Peymann und Tabori. 60 Jahre Theater im geteilten und wiedervereinten Deutschland und auf den großen Bühnen Europas. Die Tür dazu hatte ihm ironischerweise das DDR-Kulturministerium geöffnet, das 1976, nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann, befand, Karge und Langhoff sollten besser „für einige Zeit im Ausland arbeiten“. Ihre Inszenierungen von Gegenwartsstücken im Rahmen des „Spektakels“ 1974 sowie von Heiner Müllers „Die Schlacht“ 1975 hatten an der Volksbühne für mehr Furore gesorgt, als den Kulturoberen der SED lieb war. Letztere konnte trotzdem als Gastspiel in Paris gezeigt werden, „wurde ein triumphaler Erfolg und markierte gewissermaßen den internationalen Durchbruch Heiner Müllers als Dramatiker“, vermerkt Karge mit Blick auf die Theatergeschichte. Aus einiger Zeit wurden siebzehn Jahre, bis Karge 1993 aus Wien nach Berlin zurückkehrte, die Leitung der Regie-Abteilung an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ übernahm und für das Kunstfest Weimar ein „Faust“-Projekt inszenierte. Manfred Karge erzählt in diesen Erinnerungen anekdotenreich und unterhaltsam über seine Zusammenarbeit mit Benno Besson und Heiner Müller, Helene Weigel und Tilda Swinton, Claus Peymann und George Tabori. Und er huldigt seinerseits CarmenMaja Antoni, Lore Brunner und Simone Frost. Seine Begegnungen mit Hanns Eisler und Rudolf Forster schildert er ebenso lebendig wie die mit dem japanischen Nô -Meister Hideo Kanze und dem finnischen Komponisten Toni Edelmann. Einen „Zeitzeugen des gro-

ßen Theaters, das nicht wiederkehrt“, nennt ihn Carmen-Maja Antoni im Vorwort. Aber Karge berichtet auch über seine Kindheit in Guben gegen Kriegsende, als ihm ein französischer Zwangsarbeiter das Leben rettete und über seine erste Begegnung mit Soldaten der Roten Armee. Im Juni 1945 wurde sein Vater aufgrund einer Denunziation verhaftet und starb schon im Dezember in einem sowjetischen Speziallager bei Fürstenwalde. Sein Name steht heute auf einer der eisernen Tafeln auf dem Waldfriedhof Halbe. Acht Jahre später sah er als Schüler am 17. Juni 1953, wie zwei Männer in sein Klassenzimmer stürmten, das Stalin-Bild von der Wand rissen und aus dem Fenster warfen und wie aus allen Fahnen der Stadt das E ­ mblem mit Hammer, Sichel und Ährenkranz herausgeschnitten wurde. So verknüpft Manfred Karge in diesen Erinnerungen Theatergeschichte mit deutscher Geschichte, wie er es in all seinen Inszenierungen und Stücken getan hat. T Manfred Karge: Eigentlich immer Glück gehabt. Begegnungen und Begebenheiten. Verlag neues leben, Berlin 2024, 191 Seiten, € 20

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Theater der Zeit 6 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Dimi Theodoraki (Hospitanz), Graciela Peralta (Hospitanz) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 6 / 2024 Stefan Benz, Journalist, Gießen Anna Bertram, Journalistin, Zürich Noam Brusilovsky, Regisseur und Hörspielautor, Berlin Timur Frey, Schauspielstudent, Bern Anne Fritsch, Journalistin und Redakteurin, München Ludwig Haugk, Dramaturg, Berlin Björn Hayer, Autor und Kritiker, Lemberg Andreas Hillger, Journalist, Halle/Saale Thaddäus Maria Jungmann, Tanzwissenschaftler:in und Performer:in, Köln Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Theaterkritiker, München Avishai Milstein, Autor und Chefdramaturg, Tel Aviv Jannick Stühff, Journalist, Braunschweig Holger Teschke, Autor und Regisseur, Berlin Paula Thielecke, Regisseurin und Autorin, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin

Vorschau Arbeitsbuch

79. Jahrgang. Heft Nr. 6, Mai 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 06.05.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit

Foto rechts unten Willem de Kam

tdz.de

Berichtigung Im Mai-Heft war im Schwerpunkt „Perspektiven der Volksbühne“ zum Beitrag von Walter Bart, Wunderbaum, versehentlich das Ensemble vom Theaterhaus Jena abgebildet. Hier also die Wunderbaum-Truppe hinterm Billard-Tisch.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. September 2024 Nach dem Sommer schauen wir in der Septemberausgabe zurück auf einige der großen Festivals u.a. das in Epidaurus, wo Theodoros Terzopoulos „Die Orestie“ inszeniert, und nach vorn in die neue Spielzeit.

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Am 1. Juli erscheint das Arbeitsbuch 2024 „Werk-Stück II – Die neue Regie-Generation “. Erholsame Ferien – selbstverständlich auch mit Theater.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Benz

Frau Sterr, eigentlich hätten Sie 2023, gleich am Ende Ihrer ersten Gießener Saison, die Biennale Hessische Theatertage ausrichten sollen. Warum wurde das Projekt dann um ein Jahr verschoben? SS: Gießen war 2023 mal wieder dran. Wenn man frisch ankommt, hat man viele Ideen im Kopf und überlegt auch kurz: Kriegt man das nicht auch noch hin? Man ist ja in einer euphorischen Phase der Planung. Aber wir haben überlegt und gesagt: Das ist zu viel, das schaffen wir nicht. Können wir das nicht 2024 machen? Dadurch sind Sie aber in den Zweijahresturnus des MADE.Festivals der Freien Szene geraten. SS: Das war auch kurzzeitig als Pro­ blem wahrgenommen worden, aber dann haben wir gesagt: Lasst uns das doch zusammen machen. Wobei man sagen muss, dass es auch schon bei früheren Theatertagen Slots für die Freie Szene gab. Die ersten Hessischen Theatertage gab es 1984 bis 2005 jährlich. Aber eine richtige Festival-Tradition hat sich nie herausgebildet. Mussten Sie die Theatertage auch für sich erst erfinden? SS: Inhaltlich auf jeden Fall. Wobei es formal schon eine Kontinuität gibt, einen Etat beim Ministerium, den man abrufen kann. Die Theater wissen um das Festival und wollen da auch hinfahren. Die Theatermacher:innen betrachten das nicht als Bürde. Patrizia Schuster hat nach Kassel und Marburg bei uns auch schon zum dritten Mal die Leitung des Festivals übernommen und mitorgansiert. Da gibt es also schon Kontinuitäten.

Simone Sterr, Jahrgang 1970, wird mit 23 Jahren Dramaturgin am Schlosstheater Celle, ab 1999 leitet sie die ­Jugendsparte am Theater Würzburg, geht dann als Dramaturgin und Regisseurin ans Theater Gießen. Mit 32 Jahren wird sie Intendantin des Theaters Aalen, 2005 bis 2014 ist sie Intendantin in Tübingen, 2015 wird sie Schauspielchefin in Bremen, 2020 kommt sie ins Leitungsteam des Theaters Oberhausen. Seit 2022 ist Simone Sterr Intendantin in Gießen. Die Hessischen Theatertage finden vom 27. Juni bis 6. Juli in Gießen statt.

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Sie haben das Festival-Motto „Welches Morgen?“ gewählt. Es soll um Gegenwartsdramatik und Zukunftsfragen gehen. Wie soll das ausschauen? SS: Wir haben zwei Schwerpunkte, die sich im Motto verbergen: Wir haben die Theater in Wiesbaden, Darmstadt, Frankfurt, Marburg und Kassel angefragt, eine Auswahl zu schicken mit zeitgenössischer Dramatik, Überschreibungen, Stückentwicklungen und Produktionen dramatischer Vorlagen aus der Gegenwart. Eine Programmgruppe ist durch das Land ge-

reist, hat sich alles angeschaut und dann den Spielplan zusammengestellt. Das alles hat mit dem Schwerpunkt unseres Hauses zu tun. Wir sind im Schauspiel sehr konsequent ein Theater der zeitgenössischen Vorlagen. Der zweite Schwerpunkt ist Nachhaltigkeit. Sie selbst eröffnen die Theatertage mit der Premiere „Fifty Degrees of Now“. Der Stoff handelt von der Zukunft, aber die Produk­ tion selbst will konkret zukunftsweisend sein. Die Bundeskulturstiftung fördert deshalb die Inszenierung aus dem „Fonds Zero“ für klimaneutrale Kulturprojekte. SS: Es geht um Lernprozesse innerhalb des Betriebes. Nachhaltigkeit ist ja nicht immer Recycling. Es gab vier Workshoptage. Bis Ende der Spielzeit wollen wir ein System erarbeitet haben: Wie bauen wir zukünftig, wie lagern wir, wie wirtschaften wir hier? Das haben wir am Projekt selbst durchgespielt. Und diese Erfahrung wollen wir beim Festival mit den anderen Theatern teilen. Ein neues Format ist der Stückemarkt der Hessischen Theatertage in Zusammenarbeit mit Theater der Zeit. SS: Es war nur folgerichtig für uns als ein Haus, das zeitgenössisches Autor:innen­ theater macht. Das ist unser Profil, und das sollte bei den Theatertagen sichtbar werden. Wir haben drei Veranstaltungen, bei denen wir aus den neuesten Texten von Anah ­Filou, Avishai Milstein und Antigone Akgün lesen. Von Filou und Milstein sind ja auch Aufführungen auf dem Spielplan. SS: Ja, und in Antigone Akgün haben wir eine wichtige Stimme im hessischen Theater, was die Entwicklung von Dramatik angeht. Lockt am Ende eine Uraufführung? SS: Dazu reicht das Budget nicht. Wir wollten im Festival vor allem eine Plattform für neue Dramatik bieten und die Autorinnen dort zu Wort kommen zu lassen. T

Foto Rolf K. Wegst

Was macht das Theater, Simone Sterr?

Theater der Zeit 6 / 2024


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