Theater der Zeit 09/2020 - Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs

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Warum Theater? Jakob Hayner, Chantal Mouffe, Mårten Spångberg, Christine Wahl / Theater & Moral #3 Afrika beklauen: Christoph Schlingensiefs Operndorf / Frank Castorf und B.K. Tragelehn über Jürgen Holtz

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

September 2020 • Heft Nr. 9

Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs Wajdi Mouawad und der Libanon


SUBURBAN MOTEL   Philipp Lux SEARCHING FOR MACBETH   Christian Friedel DICHTE NETZE   Turbo Pascal IHR HABT KEINEN PLAN   Monique Hamelmann DER ZAUBERBERG   Daniela Löffner ALL DAS SCHÖNE   Mina Salehpour DER NACKTE WAHNSINN + X   Sebastian Hartmann EINMETERFÜNFZIG   Rainald Grebe STUMMES LAND   Tilmann Köhler GUNDERMANN ALLE ODER KEINER   Tom Kühnel WUNDERBLOCK   Miriam Tscholl WUNSCHKONZERT + WARUM LÄUFT HERR R. AMOK?   Lilja Rupprecht DER ZAUBERER VON OZ   Christina Rast FAST FORWARD AT WORK DIE RÄUBER*INNEN   Yves Hinrichs AB JETZT   Nicolai Sykosch EIN MANN WILL NACH OBEN   Sebastian Klink DIE LABORANTIN   Adrian Figueroa MACBETH   Christian Friedel ANDROID ERGO SUM   Florian Hertweck GEFÄHRTEN   Juliane Meckert, Diana Wesser ALICE   Mina Salehpour DIE RECHTSCHAFFENEN MÖRDER   Claudia Bauer ANSCHLUSS   Alexander Riemenschneider APPETIT   Felix Meyer-Christian DER TARTUFFE ODER KAPITAL UND IDEOLOGIE   Volker Lösch DAS BUCH DER UNRUHE   Sebastian Hartmann KONFERENZ DER ABWESENDEN   Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel LULU   Daniela Löffner DIE ORESTIE   Michael Talke ASPHALT   Tobias Rausch TRILOGIE DER SOMMERFRISCHE   Rafael Sanchez MUTMAßUNGEN ÜBER JAKOB   Camille Dagen


SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH, SAISON 2020/2021 (STAND 19. MAI 2020)

Showcase Trajal Harrell Von/By: Trajal Harrell Zürich-Premieren und (hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich) eine Uraufführung: 12.–18. September 2020, Pfauen -------------------------------Medea Nach/After: Euripides Inszenierung/Staging: Leonie Böhm (Mit ein bisschen Glück) Premiere: 19. September 2020, Schiffbau-Box -------------------------------Love-Affairs: Das Weinen (Das Wähnen) Nach Texten von/Based on texts by Dieter Roth Inszenierung/Staging: Christoph Marthaler Uraufführung, zweiter Versuch: 20. September 2020, Pfauen -------------------------------Frühlings Erwachen Von/By: Lucien Haug nach/after Frank Wedekind Inszenierung/Staging: Suna Gürler (Jetzt aber) Uraufführung: 24. September 2020, Pfauen Auch interessant für Jugendliche ab 14 Jahren/Also interesting for young people age 14 and up -------------------------------Mein Jahr der Ruhe und Entspannung Nach dem Roman/Based on the novel by Ottessa Moshfegh Inszenierung/Staging: Yana Ross (Aller Wahrscheinlichkeit nach) Uraufführung: 22. Oktober 2020, Pfauen -------------------------------Love-Affairs: Familie Von/By: Milo Rau hopelijk Zürich-Premiere: 24. Oktober 2020, Pfauen -------------------------------Der Froschkönig Nach/After: Gebrüder Grimm Von/By: Nicolas Stemann (Es war einmal) Uraufführung: 14. November 2020, Pfauen Auch interessant für Kinder ab 8 Jahren/Also interesting for children age 8 and up -------------------------------Einfach das Ende der Welt (Familien-Trilogie I) Nach/After: Jean-Luc Lagarce Inszenierung/Staging: Christopher Rüping (Wahrscheinlich) Premiere: 3. Dezember 2020, Schiffbau-Halle --------------------------------

Love-Affairs: Woyzeck Von/By: Georg Büchner Inszenierung/Staging: Johan Simons Zürich-Premiere: Dezember 2020 (tba), Pfauen -------------------------------Dirty Lovely Business Von/By: Dirty Business Premiere voraussichtlich: 11. Dezember 2020, Pfauen-Kammer -------------------------------Schwestern Nach/After Drei Schwestern von/ by Anton Tschechow Inszenierung/Staging: Leonie Böhm Geplante Premiere: 16. Januar 2021, Pfauen -------------------------------Invisible Man Nach dem Roman/Based on the novel by Ralph Ellison Von/By: Moved by the Motion (Wu Tsang & boychild mit Josh Johnson, Asma Maroof und Gäste) Premiere (hopefully): 23. Januar 2021, Schiffbau-Box -------------------------------Der Besuch der alten Dame Von/By: Friedrich Dürrenmatt Inszenierung/Staging: Nicolas Stemann (Wahrscheinlich) Premiere: 5. Februar 2021, Pfauen -------------------------------Kurze Interviews mit fiesen Männern Nach dem Roman/Based on the novel by David Foster Wallace Inszenierung/Staging: Yana Ross Rechnen Sie mit einer Premiere am: 12. Februar 2021, Schiffbau-Halle -------------------------------The Deathbed of Katherine Dunham Inszenierung & Choreografie/ Staging & Choreography: Trajal Harrell Uraufführung (inshallah): März 2021, Kunsthalle Zürich -------------------------------Eine neue Inszenierung Inszenierung/Staging: Christopher Rüping Premiere (maybe): 27. März 2021, Pfauen -------------------------------Die Räuberinnen Nach/After Die Räuber von/by Friedrich Schiller Inszenierung/Staging: Leonie Böhm Zürich-Premiere (wenn, wenn, wenn): 9. April 2021, Pfauen -------------------------------Eine neue Inszenierung Inszenierung/Staging: Alexander Giesche Premiere (tbc): 24. April 2021, Schiffbau-Box --------------------------------

Der Vater Von/By: August Strindberg Inszenierung/Staging: Nicolas Stemann Zürich-Premiere (wennʼs gut geht): 30. April 2021, Pfauen -------------------------------Netflix&Chill Inszenierung/Staging: Ives Thuwis & Sebastian Nübling Premiere (bestimmt): 6. Mai 2021, Schiffbau-Halle Auch interessant für Jugendliche ab 14 Jahren/Also interesting for young people age 14 and up -------------------------------Love-Affairs: THE LINGERING NOW - O AGORA QUE DEMORA - OUR ODYSSEY II Nach/Based on Die Odyssee von/by Homer Inszenierung/Staging: Christiane Jatahy Zürich-Premiere (bitte, bitte): Mai 2021, Schiffbau-Halle -------------------------------Love-Affairs: Dusk (Entre chien et loup) Nach dem/Based on the Film Dogville von/by Lars von Trier Inszenierung/Staging: Christiane Jatahy Zürich-Premiere : Mai 2021, Schiffbau-Halle -------------------------------Love-Affairs: Antigone im Amazonas Von/By: Milo Rau Zürich-Premiere (oder?): 15. Mai 2021, Pfauen -------------------------------Love-Affairs: Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten Von/By: Johann Sebastian Bach, Friedrich Hölderlin, Christoph Marthaler Inszenierung/Staging: Christoph Marthaler Zürich-Premiere (tba): Juni 2021, Schiffbau-Box -------------------------------Gefahr-Bar™ Spezial: Gebrochene Nachrichten (Breaking the News) Von & mit/By & with: Thomas Kürstner, Nicolas Stemann & Sebastian Vogel Premiere (tbc): 23. Juni 2021, Pfauen -------------------------------2021.schauspielhaus.ch


GOTT IST NICHT SCHÜCHTERN von Olga Grjasnowa, Regie: Laura Linnenbaum, Uraufführung am 4.9.2020 GOTT von Ferdinand von Schirach, Regie: Oliver Reese, Uraufführung am 10.9.2020 GESPENSTER von Henrik Ibsen, Regie: Mateja Koležnik, Premiere am 8.10.2020 ELEKTRA Ein Projekt von Rieke Süßkow und Ensemble nach Sophokles, Regie: Rieke Süßkow, Premiere am 22.10.2020 FABIAN oder DER GANG VOR DIE HUNDE von Erich Kästner, Regie: Frank Castorf, Premiere am 13.11.2020 SCHWARZWASSER von Elfriede Jelinek, Regie: Christina Tscharyiski, Premiere am 28.11.2020 WWW-BERLINER-ENSEMBLE.DE

Cynthia Micas © Annette Hauschild

PREMIEREN SEPTEMBER BIS DEZEMBER 2020


editorial

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A

ls am 4. August im Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten, explodierte mit diesem illegal gelagerten Material die Zukunft eines ganzen Landes. „Alles ist zerstört“, schrieb der libanesisch-kanadische Schriftsteller und Dramatiker Wajdi Mouawad in Le Monde. Nicht nur der Beton. Eine Monstrosität, für die es lange schwer sein werde, Worte zu finden. Und doch müssen sie gefunden werden. Worte, um dem Schmerz, dem sonst die Sprache fehlt, einen Ausdruck zu ver­ leihen. Wajdi Mouawad ist, wie es Lena Schneider in ihrem Porträt in dieser Ausgabe beschreibt, in dieser Beziehung ein Ausnahmeautor. Seine gewaltigen, verstörenden, berührenden, weltumspannenden Theatertexte kommen immer wieder auf den Libanon zurück, das Land seiner Kindheit, das er 1978 zu Beginn des Bürgerkriegs verließ. Was blieb, war ein „Messer in der Kehle“, Kindheits­ erinnerungen an brutale Gewalt und Tod, die nun in den aktuellen Ereignissen ihr Echo erfahren. Am 20. September wird Wajdi Mouawad am Staatsschauspiel Stuttgart der erstmalig verliehene Euro­päische Dramatiker*innenpreis überreicht. Wir drucken in diesem Heft seinen Monolog „Im Herzen tickt eine Bombe“, der dort als szenische Einrichtung präsentiert wird. Für Mouawad sind gerade Theater die Orte, an denen Sprachlosigkeit wieder einen Ausdruck erlangen kann, sodass sich im Zuschauer, bestenfalls, etwas bewegt. Doch was ist dieses Etwas? Ginge es nach Dieter Haselbach, dem Soziologen und Koautor der 2012 erschienenen neoliberalen Schrift „Der Kulturinfarkt“, wäre es mess- und notierbar wie die Körpertemperatur eines Covid-19-Kranken. Pünktlich zur Sommerpause meldete er sich in der Welt und im Deutschlandfunk zu Wort, um mal wieder eine Effizienzdebatte vom Zaun zu brechen. Tenor: Man müsse ja nicht jedes Theater mit ­öffentlichen Geldern aus der Coronakrise holen, am wenigsten solche, die bei ständig sinkendem Publikum wenig nachhaltige Effekte erzeugten. Gegen dieses Kosten-Nutzen-Denken l­iefert die vorliegende Septemberausgabe ein vielstimmiges Manifest. So haben auch wir den vielerorts existenziell bedrohlichen Stillstand der vergangenen Monate genutzt, um noch einmal neu über die Frage nachzudenken: Warum Theater? Was zeichnet diese Kunstform aus? Was die Orte, an denen sie stattfindet? Antworten geben in unserem Schwerpunkt Jakob Hayner, Chantal Mouffe, Mårten Spångberg sowie Christine Wahl anlässlich der Produktion „Black Box“ von Stefan Kaegi / Rimini P ­ rotokoll am Schauspiel Stuttgart. So vielfältig diese Erörterungen dabei auch sind, eines haben sie gemein: Die Kunst, die im Theater stattfindet, ist nicht quantifizierbar. Sie ist das Gegenteil von Effizienz, hochgradig riskant und Unruhe stiftend. „Die Kunst“, schreibt Jakob Hayner, „arbeitet nicht nur am Wirklichkeitssinn, sondern vor allem auch am Möglichkeits- und Veränderungssinn. Das erfordert Widerstand gegen die ästhe­ tische Armut, die der Spätkapitalismus auferlegt und die mit der materiellen einhergeht.“ Die Widerständigkeit, das Unvereinbare, Herausfordernde zieht sich auch durch viele andere Beiträge in diesem Heft. Dorte Lena Eilers spricht mit dem Musiker Zonatan Dembele und dem ­Theaterwissenschaftler Koku G. Nonoa anlässlich von Christoph Schlingensiefs zehntem Todestag über dessen Operndorf Afrika und die Kunst der Störung. TdZ-Kolumnist Ralph Hammerthaler stellt sich in Berlin-Kreuzberg der Weggentrifizierung der Buchhandlung Kisch & Co. entgegen. Und in unserem dritten Beitrag in der Reihe „Theater und Moral“ erläutert der Autor und Dramatiker Mesut Bayraktar, wie die Bühnenkunst bereits seit der Antike versucht, die moralische Fassade des Bürgertums zu durchlöchern, um den Fokus auf diejenigen zu lenken, die jenseits des Lichtkegels stehen. Immer wieder sind und waren es dabei große Künstlerinnen und Künstler, die zu Komplizen dieses Vorhabens wurden: die wunderbare Irm Hermann, der großartige Jürgen Holtz, der hellsichtige Peter Maertens ebenso wie der berühmte Schweizer Regisseur Werner Düggelin. Von allen müssen wir uns in diesem Heft verabschieden. Sebastian Rudolph, Frank Castorf, B. K. Tragelehn, Christopher Rüping und Peter Michalzik erinnern an sie. Sie alle waren Vorbilder darin, das ureigene und eben auch demokratische Prinzip des Theaters von Rede und Gegenrede lustvoll zu praktizieren. „Als Motzki“, so Frank Castorf über Jürgen Holtz, „war er ein agent provocateur, der durch die Darstellung das Gegenteil von dem, was er sagt, bewirkt. Das war tatsächlich ein Vorgang, wie man mit Dialektik Erkenntnisse und Lachen befördern kann.“ Warum Theater? Eben darum. // Die Redaktion

In eigener Sache: Seit dem 1. August 2020 setzt sich die Redaktion von Theater der Zeit neu zusammen. Wir begrüßen Christine Wahl, die als neue Redakteurin in den Verlag eingetreten ist. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit! Von Gunnar Decker und Jakob Hayner verabschieden wir uns und Geschäftsführung, Theater der Zeit danken für die geleistete Arbeit.

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Inhalt September 2020 thema warum theater?

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Jakob Hayner Wie weiter? Ein Plädoyer für die Erneuerung der Idee des Theaters

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Christine Wahl „Im Theater kann ich unaufmerksam sein“ Stefan Kaegi denkt mit „Black Box“ in Stuttgart über das abwesende Theater nach – und verhilft ihm damit zu erstaunlicher Präsenz

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Chantal Mouffe Den Dissens fördern Die Rolle des Theaters im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie

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Mårten Spångberg Keine Garantie Warum ich Theater mag

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Jürgen Holtz (1932 – 2020) in „Galileo Galilei. Das Theater und die Pest“ von und nach Bertolt Brecht in der Regie von Frank Castorf

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Das Glück des Schrankenlosen Frank Castorf über den im Juni verstorbenen Schauspieler Jürgen Holtz im Gespräch mit Thomas Irmer

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Meine Erinnerungen an Jürgen Holtz von B. K. Tragelehn

protagonisten

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Afrika beklauen Vor zehn Jahren starb Christoph Schlingensief und hinterließ der Welt seine letzte große Vision. Ein Gespräch mit dem Musiker Zonatan Dembele und dem Theaterwissenschaftler Koku G. Nonoa über das Operndorf Afrika von Dorte Lena Eilers

abschied

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Sebastian Rudolph Heldin der Wüste Zum Tod der großen Schauspielerin Irm Hermann. Ein Abschiedsbrief

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Peter Michalzik Meine Wurzel des Theaters Ein letztes Treffen mit dem Schweizer Regisseur Werner Düggelin, der im August verstarb

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Christopher Rüping Der Dompteur der Zeit Erinnerungen an den Schauspieler Peter Maertens

theater und moral #3

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Mesut Bayraktar Glotzt nicht so moralisch Seit jeher kritisierte das Theater die Moral, um den Skandal der Ausbeutung sichtbar zu machen

kolumne

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Ralph Hammerthaler Das Herz von SO 36 Wird der Buchladen Kisch & Co. auf die Straße gesetzt?

neuerscheinungen theater der zeitbuchverlag

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„Der Schrei ist das Zentrum“ Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa über die Anfänge ihrer Bühnenkarriere und ein Leben zwischen zwei Welten im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull body* Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe Das Versprechen Die Jungfrau von Orleans

Sivan Ben Yishai

Die Wand

Björn Bicker

Die tonight live forever

Michel Marc Bouchard

ein körper für jetzt und heute

Daniel Cremer

Felicitas Brucker

Eine Volksfeindin

Friedrich Dürrenmatt

Marie Bues

Fräulein Else

Elena Ferrante

Daniel Cremer

Gott Vater Einzeltäter | UA

Christopher Hampton

Anna-Elisabeth Frick

Gefährliche Liebschaften

Marlen Haushofer

Dominic Friedel

Land ohne Worte

Henrik Ibsen

Sapir Heller

Lehrer*innen

Heinrich von Kleist

Selen Kara

Meine geniale Freundin – Teil Zwei | DSE

Dea Loher

Ewelina Marciniak

Thomas Mann

Alexander Marusch

Mehdi Moradpour

Katrin Plötner

Necati Öziri

Beata Anna Schmutz

Friedrich Schiller

Patrick Schnicke

Arthur Schnitzler

Sandra Strunz

William Shakespeare

Leonie Thies

Zeruya Shalev

Christian Weise

Gerhild Steinbuch

Jakob Weiss

Simon Stephens

Jessica Weisskirchen

Romeo und Julia Sex – Die halbe Wahrheit | UA Späte Familie | UA Steilwand Tom auf dem Lande Wir sind so frei | UA Wounds Are Forever (Selbstporträt als Nationaldichterin) | UA


inhalt

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festivals

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Margarete Affenzeller Reden ohne Spucken Die Salzburger Festspiele feiern unter Abstandsregeln ihr hundertjähriges Jubiläum, während Peter Handke in seinem neuen Stück nach einem Miteinander ohne Hass und Hetze sucht

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Martin Krumbholz Omas deutsche Tugenden Der 30. Geburtstag des Festivals Impulse in Nordrhein-Westfalen fand coronabedingt größtenteils im Netz statt – zudem schmerzlich verkürzt

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Theresa Schütz Festival der Inselkunde Besser geht‘s nicht: Die dreißigste Ausgabe der Theaterformen in Braunschweig zeigt, wie ein Festival unter strengen Pandemiebedingungen ablaufen kann

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Elisabeth Maier Entschleunigt unter Topfpflanzen Der Dramaturg und Performer Jeffrey Döring erschafft mit seiner Ästhetik der Grenzerfahrung politische Erfahrungsräume

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Christine Wahl Abgründige Sprachlosigkeit Die Berliner Regisseurin Rieke Süßkow trifft radikale Entscheidungen

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Lena Schneider Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs Der Autor Wajdi Mouawad schreibt auf Französisch und leitet ein Theater in Paris. Sein Thema jedoch bleibt der Libanon, den er vor vierzig Jahren verließ

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Wajdi Mouawad Im Herzen tickt eine Bombe

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Die Freiheit wird fünfzig Ein Porträt zum halben Jahrhundert Freies Theater München Der Langläufer Fünfzig Jahre Leben im Theater – Friedrich Schirmers Aufbruch und Rückkehr Entdeckung im Lockdown Bei der digitalen Notausgabe des Postwest-Festivals an der Berliner Volksbühne erwiesen sich Künstler aus Riga, Prag und Piatra Neamț als Avantgarde des europäischen Theaters Geschichten vom Herrn H. Einfalt und Vielfalt Politische und private Unabhängigkeitsbewegungen Die Schauspielerin Helen Wendt und die Costa Compagnie setzen ihr Projekt „Fight (for) Independence“ am Oldenburgischen Staats­theater mit einem Dokumentarfilm fort Frivol und moralisch Goethes „Faust“ als Puppenspiel – ein Gastspiel des Hermannshoftheaters Wümme auf Hiddensee Angewandtes Musik-Bauhaus „Audio.Space.Machine – Ein Bauhaus-Konzept-Album“ vom Künstlerduo wittmann/zeitblom erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden 2020 Rühr mich nicht an Der Autor Navid Kermani und der Politologe Claus Leggewie diskutieren im ApolloTheater Siegen über Zeiten des Ausnahmezustands Galilei in Amerika Zum Tod des Theaterwissenschaftlers und Brecht-Experten Eric Bentley Schrankenlos gegen Beschränktheit Zum Tod der Schauspielerin Renate Krößner Listige Renaissancen Ein Nachruf auf die Kostümbildnerin Christine Stromberg Bücher Lea-Sophie Schiel, Olivia Wenzel, Ted Gaier

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look out

stück

magazin 88

aktuell

was macht das theater?

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Meldungen

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Premieren im September 2020

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Jost von Glasenapp im Gespräch mit Sabine Leucht

Titelfoto: Wajdi Mouawad. Foto Neil Mota

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Düsseldorfer Schauspielhaus — Junges Schauspiel — Bürgerbühne — Spielzeit bis Dezember 2020 Schauspielhaus — 3.9. Hyperreal von Constanza Macras, Eine dystopische Science-Fiction-Komödie, R: Constanza Macras, UA — 5.9. Lieber ein lebendiger Hund als ein toter Löwe! Ein theatraler Rundgang mit Texten von Heinrich Heine, R: Jan Philipp Gloger, UA — 10.9. Gott von Ferdinand von Schirach, R: Robert Gerloff, UA — 11.9. Volksfeind for Future nach Henrik Ibsen von Lothar Kittstein, R: Volker Lösch, UA — 18.9. Ein Bericht für eine Akademie von Franz Kafka, R: Roger Vontobel — 8.10. Mutter Courage und ihre Kinder von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau, R: Sebastian Baumgarten — 29.10. Alice Ein musikalischer Abend nach Motiven von Lewis Carroll, R: André Kaczmarczyk, Musik: Matts Johan Leenders, UA — 20.11. Die bitteren Tränen der Petra von Kant von Rainer Werner Fassbinder, R: David Bösch — 17.12. Die Nibelungen Trauerspiel von Friedrich Hebbel, R: Stephan Kimmig — Dezember 2020/Januar 2021 come as you are (jokastematerial oder der kapitalismus wird nicht siegen) von Fritz Kater, R: Armin Petras, UA, Eine Koproduktion mit der Volksbühne Berlin Junges Schauspiel — 6.9. Das Gewicht der Ameisen von David Paquet, R: Christof Seeger-Zurmühlen, DEA, Eine Koproduktion mit Theater der Welt Düsseldorf — 19.9. Rausch Ein Glückstrip von Gregory Caers und Ensemble, R: Gregory Caers, UA — 15.11. A Christmas Carol von Charles Dickens, R: Mina Salehpour — November 2020 Liebe Kitty nach dem Romanentwurf von Anne Frank, R: Jan Gehler Bürgerbühne — 12.9. O Fortuna! #1: You’ll never walk alone Eine inszenierte Ehrenrunde durch das Paul-Janes-Stadion, R: Felix Krakau — Dezember 2020 Regie: KI Inszenierung: Martin Grünheit, Eine Produktion der Digitalen Bürgerbühne, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes



Jürgen Holtz (1932 – 2020) in „Galileo Galilei. Das Theater und die Pest“ von und nach Bertolt Brecht in der Regie von Frank Castorf am Berliner Ensemble 2019. Fotos Matthias Horn / Marcus Lieberenz (unten)




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Das Glück des Schrankenlosen Frank Castorf über den im Juni verstorbenen Schauspieler Jürgen Holtz im Gespräch

mit Thomas Irmer

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rank Castorf, Brechts Galilei war, im Alter von 86 Jahren, die letzte Rolle von Jürgen Holtz, Premiere im Januar 2019 am Ber­ liner Ensemble in Ihrer Regie. Ein Jahr zuvor eröffnete er mit ­einem fulminanten Zehn-Minuten-Monolog über die Kloake von Paris Ihre Adaption von Victor Hugos „Les Misérables“ am glei­ chen Haus. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Er hat mich als alter Mensch interessiert. Und als Schauspieler wegen seiner Unberechenbarkeit. Es war ja bekannt, dass er im Laufe seines langen Arbeitslebens wegen seines Eigensinns viel Kritik auf sich gezogen hat. In der Uraufführung von Heiner ­Müllers „Auftrag“ 1980 an der Volksbühne spielte er den Debuisson – neben Dieter Montag als Sasportas und Hermann Beyer als Galloudec –, indem er sich mit dieser Figur in den Mittelpunkt stellte. Was dem inhaltlichen Kern des Stücks entsprach – sich sein Stück aus dem Kuchen der Welt herausschneiden zu wollen. Ich erinnere mich auch daran, wie er in Müllers „Bauern“ in der Regie von Fritz Marquardt 1975 die Figur des Rammlers mit Renitenz spielte. Da war auch immer schon ein bisschen was von seinem späteren Motzki dabei. Wir sind uns damals aber nur ein paar Mal flüchtig begegnet. Motzki war in der gleichnamigen Fernsehserie der frühen 1990er Jahre ein West-Berliner Rentner, der über die Ostdeutschen und die Kosten der deutschen Einheit zügellos meckerte. Er war in der Darstellung von Holtz gewissermaßen ein Weltnörgler im Klein­ format. Das verstörend Renitente und dafür aus der Negativität Provozierende war in vielen Rollen von Holtz zu erleben. War das seine Grundenergie? Wen er geliebt hat, den hat er auch gehasst. Das musste er. So ein feindseliges Grundverhalten zu denen, die unerhört wichtig waren wie Heiner Müller, damit war er hörbereit für die Auseinandersetzung.

Als Motzki war er ein agent provocateur, der durch die Darstellung das Gegenteil von dem, was er sagt, bewirkt. Das war tatsächlich ein Vorgang, wie man mit Dialektik Erkenntnisse und Lachen befördern kann. Wunderbar fein, wie er mit Jutta Hoffmann diese von Wolfgang Menge geschriebenen Szenen gespielt hat. Und Jahrzehnte nach dem Jean in „Fräulein Julie“ (in der Regie von Einar Schleef und B. K. Tragelehn 1975 am Berliner Ensemble) zugleich dessen subproletarische Bestandsaufnahme. Ich hab ja mit vielen Leuten gearbeitet, die heute wahrscheinlich aus dem Raster fallen würden, die für mich aber zu entdecken waren. In Brandenburg und Anklam bereits, aber auch später am Deutschen Theater Berlin, wo ich gern mit Bärbel Bolle und Horst Lebinsky zusammengearbeitet habe. Das waren meistens Außenseiter, die in dem Betrieb nicht der Norm entsprachen, und es machte mir Spaß, sie zu besetzen und gemeinsam zu sehen, wie sie dabei aufgingen und fröhlicher wurden, ohne dass sie auf ihre Psychopharmaka oder anderes zurückgreifen mussten. Das war mir neben dem Signal, das man von der Bühne sendet, immer sehr wichtig. Holtz arbeitete mit den verschiedensten Regisseuren, angefangen bei Adolf Dresen, später dann mit Heiner Müller, Einar Schleef und zuletzt am Berliner Ensemble mehrmals mit Robert Wilson. Eine Wanderung durch die verschiedensten Theaterstile, die ei­ nen Schauspieler von solchem Format sicher emanzipiert und gerade wegen des Eigensinns noch weiter riskant interessant macht. Das ist ja das, was viele irritiert, dass ich mich mit denen, die so sind, sehr gut verstehe. Heute fragen die Schauspieler, auch die Sänger in der Oper, auf der Probe: „Wie wollen Sie das?“ Bei Jürgen hat mich das monströse „Ubu-hafte“ interessiert, und er war genau in dem Sinne ein Außenseiter, dass er, als wir das erste Mal zusammenkamen, Mitte achtzig war. In dem Alter, so die land­ läufige Meinung, gehört man nicht mehr auf die Bühne. In einem der Nachrufe hieß es jetzt auch, wie unerträglich es sei, einem solchen alten Menschen mit riesigen Textmassen das Leben


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jürgen holtz

schwer zu machen. Der Witz war ja gerade, dass er wie Baal so viel fressen wollte, wie es der menschliche Organismus gar nicht verdauen kann. Gier nach Leben, das hat ihn aus­ gemacht – und auch klug gemacht. Eher hätte die Rücksichtnahme eines Spielleiters seine Bösartigkeit ausgelöst. Aber das wollte er nicht. Er wollte bis zum Schluss kämpfen. Das ist das, was ich in den beiden Arbeiten mit ihm er­ leben konnte: Wenn man solchen Leuten den Genuss an der Arbeit, die Freude am Erfolg wegnimmt, um sie zu schonen, dann kann man sie vielleicht immer noch ehren, aber man ehrt sie herzlos. Das war mir wichtig, mit ihm den Kampf des Kopfes und des Leibes zu beobachten. Es scheint, Holtz wirkte oft aus der Kraft der Desillusio­ nierung. Nachdem er im DDR-­ Theater etabliert war, verließ er es 1982 und erlebte eine Kampf des Kopfes und des Leibes – Jürgen Holtz (r.) und Frank Castorf bei den Proben zu „Galileo Galilei“, der letzten großen Arbeit von Jürgen Holtz, der am 21. Juni 2020 in Berlin verstarb. Foto Moritz Haase andere Desillusionierung im ­ Westen. Er hat, das ahnt man in manchen s­ einer Reden, die schwindende Bedeutung des Theaters so wach gesehen wie kaum ein anderer Schauspieler. des nahenden Todes und des Kampfes mit dem eigenen Körper. Das zusammen mit den Gedanken zu formulieren, die er aus dem Er war vielleicht misstrauisch denjenigen gegenüber, die sich zu sehr in ihrem Schauspielerberuf mit der Abhängigkeit vom RegisText der für ihn notwendigen Souffleuse entwickelte, das war etseur oder bestimmten Bedingungen beschäftigten. Da war er ein was Neues in diesem Zusammenkommen von Sprache und MusiSolitär, der sich, egal wer es war, dagegen gestellt hat. Sein Monolog kalität. Viele im Publikum erlebten die ungeheure Überraschung einer in den „Elenden“ („Les Misérables“) war ja erst das Vorprogramm. Als wir den „Galilei“ vorbereiteten, sagte er zu mir, es gäbe Erneuerung, als würden die aus Brechts Stück bekannten Worte eigentlich keinen anderen als ihn, der das spielen könne. Beim zum ersten Mal gedacht und gesprochen. Das war die Genauigkeit. Und trotzdem war die Form jedes Mal Wiederlesen des „Galilei“ hatte ich gesehen, dass es da nicht nur um die Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers für seine Zeit ein bisschen eine andere. Mit einem Schauer habe ich ihm zugegeht, sondern es noch andere Ebenen gibt. Die Frage des Altwerhört, wie er diese Gedanken neu formuliert. „Das Elend der Vielen ist alt wie das Gebirge“ und „Immer noch unberechenbar sind den dens und wie man sich damit während einer Pestseuche als Ausnahmezustand verhält. Galilei bleibt, um weiter zu arbeiten. Mit Völkern die Bewegungen ihrer Herrscher“. Das war eine Provokader Vivisektion dieser Themen konnte Jürgen sehr gut arbeiten tion des Denkens. Ihm war der Schlusstext sehr wichtig, und ich fragte ihn, ob das nach sechs Stunden Theaterkampf nicht zu anund mit diesen Texten dabei auch seine Kollegen beobachten. Daraus ergab sich dann seine Idee, nackt zu spielen. Bei der Geburt strengend für ihn wäre. Nein, er wollte das. Es war für ihn das ist man nackt, und am Ende des Lebens ist man genauso nackt. Glück des Schrankenlosen. Und für mich ein Geschenk. Wir hatten vor, noch weiterzumachen. // Aber wo geht es dann hin? Galilei schafft ja den Himmel ab, diese Ordnung ist aufgelöst, das Weltgefüge in der Vorstellung des Menschen fällt auseinander, und er wird einsam. Für Jürgen war mit Brechts Text der Zweifel ganz wichtig. Damit entstand seine Bei Theater der Zeit erschienen: Jürgen Holtz, „He, Geist! Wo geht die Zartheit für die Figur und die Wut über die Ohnmacht, auch die Reise hin? Reden. Einreden. Widerreden“ (2015).

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Meine Erinnerungen an Jürgen Holtz von B. K. Tragelehn

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­ ondoner Globe, spielte Holtz Hamlet und Volpone nacheinanL der. Wir spielten das Original, auch neu übersetzt, und nicht die auf dem deutschen Theater eingebürgerte Verballhornung von   uerst auf der Bühne gesehen habe ich Jürgen Holtz 1963 im Theater von Stralsund, das von Adolf Dresens Greifswalder EnStefan Zweig, und auch nicht die Bearbeitung von Elisabeth Hauptmann und Benno Besson, die den komischen subplot um semble bespielt wurde. In einer Nestroy-Komödie spielte er eine winzige Rolle, eine kleine Sir Politik Möchtegern tilgt und den main plot satirisch Episode. Ein majestätischer Oberkellner wedelt mit einer liest. Wir bestanden auf der Tragödie des Fuchses. Als großen weißen Serviette einen lästigen Gast von seinem Volpone seine Talente nicht Platz. Eine Szene, ebenso mehr zum Erwerb, sondern zum Spaß verwendet, tritt die kurz wie vollendet: das, was der Theaterjargon eine Kiste Katastrophe ein. Das Gericht urteilt über ihn nach strennennt. Dann sah ich ihn in Greifswald als Hamlet. Dregem bürgerlichen Recht. Vier Verse sprach Holtz’ Volpone, sen hatte das Stück mit seinem Studienkollegen Maik sich erklärend, ins Parkett der Hamburger neu übersetzt Gegenwart. Drei seiner ersten: „Was soll ich tun / Als und zum 400. Shakespearemeinen Genius verwöhnen? Geburts­ tag 1964 inszeniert. Frei / Der Freude leben, zu Übersetzung und Auffühder mein Glück mich ruft?“, rung zogen heftige Angriffe auf sich. Dresen hatte die und seinen letzten: „Das ist die Zähmung eines Fuchses.“ Auslegung der Hamletgeschichte in Brechts „OrgaIn der folgenden Spielnon“ gelesen, bei der der einzeit kam Holtz nach Berlin, erst an die Volksbühne, wo er leitende Satz, der die Lesart auf die Zeitumstände bezog, in Bessons Inszenierung von Peter Hacks’ Gegenentwurf gern ignoriert wurde, weil die DDR-Kulturpolitik, gut zu Müllers „Umsiedlerin“ die sozialdemokratisch, auf dem Titelrolle spielte. „Moritz TasDas Denken anschaubar machen – Jürgen Holtz in „Fräulein Julie“ in der Regie von Einar Schleef und B.K. Tragelehn 1975 am Berliner sow“. Es war ein Versuch, zu Ewigkeitswert von Klassikern Ensemble. Foto Akademie der Künste, Historisches-Fotoarchiv-BE 011.01, zeigen, wie man den Stoff bestand. Im Windschatten der Bogen 001_010, Foto Vera Tenschert durchbringen kann. Es war die Auseinandersetzung konnte wirkliche „Hauptaufgabe“ in ich danach an „Volpone“, dem jener Zeit. Aber auch dieser Stück von Shakespeares EnVersuch wurde nach wenigen Vorstellungen abgesetzt. Dann spielte semblekollegen Ben Jonson, einigermaßen geschützt arbeiten. Es war für mich, nach drei Jahren Berufsverbot, wieder die erste Holtz einige Jahre am Deutschen Theater. Als unter Ruth Berghaus das Berliner Ensemble erlöst wurde Theaterarbeit. Und es war meine erste Zusammenarbeit mit ­ Holtz. Wie der große Shakespearetragöde James Burbage im aus seinem Schattendasein als Museum, das zum x-ten Male alte


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Inszenierungen in der dritten und vierten und fünften Besetzung zeigte, konnten Einar Schleef und ich, abgeschirmt von ihr, eine Unternehmung durchsetzen wie die Aufführung von August Strindbergs „Fräulein Julie“. Danach freilich ging in der DDR für uns nichts mehr. Ruth Berghaus, eingeklemmt zwischen den Behörden und den Brecht-Erben, wurde bald abgelöst. Neun ausverkaufte Vorstellungen konnten wir spielen, dann verschwand die Aufführung möglichst unauffällig. Aber die Weltpresse hatte das neue Leben des BE wahrgenommen. Die DDR-Presse debattierte vorsichtig Formfragen. Die Redaktion von Theater der Zeit verbrauchte drei Rezensenten, ehe sie einen Text durchließ. Niemand wagte es, an den Kern zu rühren, der in jeder Vorstellung das DDR-Publikum ins Herz traf: die Dialektik von Herr und Knecht. Holtz, Jutta Hoffmann, Annemone Haase, Schleef und ich: Das war eine sehr kleine Truppe, die ganz unkonventionell probieren konnte. Unsere Arbeit, mit vielen Improvisationen, war intim, intensiv und frei. Innenleben nach außen zu stülpen, Denken anschaubar zu machen und so weiter, das Ineinander von Schrecken und Lächerlichkeit zu fassen und so weiter – in diese Richtung hat sich die Arbeit bewegt. Ein Versuch, „im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum zu entdecken“: So heißt es in einer frühen deutschen Reaktion auf den französischen Surrealismus, in Überlegungen, die Walter Benjamin an eine Stelle bei Louis Aragon geknüpft hat. „Auch im Witz, in der Beschimpfung, im Missverständnis, überall, wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frisst, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bildraum sich auf.“ Benjamin nennt ihn „die Welt allseitiger und integraler Aktualität, in der die ,gute Stube‘ ausfällt“; es ist ihm das der Raum, „in welchem der politische Materialismus und die physische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum oder was sonst wir ihnen vorwerfen wollen, nach dialektischer Gerechtigkeit, sodass kein Glied ihm unzerrissen bleibt, miteinander teilen“. Das Zitat deutet die Richtung der Arbeit besser an, als ich das kann. Zur letzten Vorstellung schrieb ich für J. H. (Jutta Hoffmann) und J. H. (Jürgen Holtz) ein kleines Gedicht, eine Montage von Sätzen aus dem Duett von Julie und Jean im Stück und einem Satz von Hegel: Da sitze ich hoch Oben auf einer Säule Oben ist was nicht Unten ist Oben Kein Frieden ehe ich nach Unten komme Oben ist was nicht Unten ist Oben Rauf will ich rauf in den Gipfel in die Sonne Oben ist was nicht Unten ist Oben Mich weit umsehen in der hellen Landschaft Oben ist was nicht Unten ist Oben Mich fallen lassen ich klettre und klettre Oben ist was nicht Unten ist Oben Ist bestimmt nur dies nicht Unten zu sein Und ist nur sofern ein Unten ist Kennen Sie Soetwas Kennen Sie Soetwas Holtz konnte in der Bessonzeit der Volksbühne noch in Heiner Müllers erster Eigenregie die Hauptrolle in der Uraufführung seines

jürgen holtz

Stückes „Der Auftrag“ spielen und im Bochumer Theater mit Müller die Inszenierung weiterentwickeln. Meine Uraufführung von Müllers „Quartett“ in Bochum, mit Libgart Schwarz als Merteuil, war zuerst mit Holtz als Valmont besetzt, aber Schwarz und Holtz konnten nicht miteinander, Fritz Schediwy übernahm die Rolle. In der DDR hatten wir noch versucht, eine freie Gruppe zu gründen. Holtz, damals noch Parteimitglied, war mit mir zu ­Roland Bauer gegangen, dem Sekretär für Kultur in der Bezirksleitung der SED, nicht wissend, dass auch der schon Probleme hatte. Er wurde, wegen der bloßen Tatsache, dass er nach dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unbedacht an den 17. Juni 1953 erinnert hatte, nach Prag versetzt, als Redakteur der Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus. Nicht viel später schossen freie Gruppen wie Pilze aus dem Boden der DDR. Aber noch hielt sie stand. Wir bekamen keinen Raum für die Arbeit. Holtz drehte mit Egon Günther noch einen Film in Afrika und saß anschließend ohne Beschäftigung in Hamburg. Ich hatte in München mit meiner ersten Inszenierung bei Frank Baumbauer am Residenztheater ein Besetzungsproblem und rief ihn in Hamburg an. Molières „Menschenfeind“ war das Projekt. Peter Brombacher spielte die Titelrolle, den Alceste, und Holtz seinen Gegenspieler Philinte. Eine überaus glückliche Besetzung. Der erste Akt, mit Holtz, Brombacher, Michael Altmann, war nach sechs Probentagen, als ich ihn durchlaufen ließ, premierenreif. Holtz, DDR-Schauspieler ohne westdeutsche Originalitätssucht, hatte sich mit mir Jean Renoirs Film „Die Spielregel“ angesehen, der die Handlung einer Musset’schen Komödie ins Vorkriegsfrankreich von 1938/39 verlegte und in dem Renoir selber die Rolle des guten Onkels spielte. Holtz konnte die Vorlage ingeniös verwandeln. Da in dem festgefügten Münchner Ensemble eine angemessene Beschäftigung nicht möglich schien, ging Holtz nach Frankfurt am Main, wo er noch einmal auf Schleef traf. Sie befreiten Gerhart Hauptmann von dem Naturalismus-Klischee, das Literaturwissenschaft und Theater ihm übergestülpt hatten. Mit ihrer Aufführung von „Vor Sonnenaufgang“ brachten sie die großartige Musik dieser Oper, die Hauptmann aus dem Jargon seiner Heimatprovinz Schlesien komponiert hatte, zur Entfaltung. Über die Jahrzehnte hatte ich das Glück, mit einer großen Zahl vorzüglicher Schauspieler zu arbeiten. Jürgen Holtz war einer der besten. //

Galerie Bernet Bertram

JÜRGEN HOLTZ

KASPAR, PUPPE, KROKODIL Satiren, Karikaturen, Abstraktionen Ausstellung bis 5. September 2020 Goethestr. 2-3, 10623 Berlin +49 (0)30 32 30 11 33 www.bernet-bertram.com

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antigone. ein requiem Thomas KöcK // simone Thoma

Die schmutzigen hänDe Jean-Paul sarTre // Tobias sTöTTner ein KonsPiraTiver audiowalK

Voyage 1984. a ReView

PhiliPP Preuss / Felix römer

/ ua //

onlineProJeKT von maTThias FlaKe

JuDas euRopa

loT veKemans // marKus sascha schlaPPig

oder die Träume des driTTen reichs / ua / nach lars von Trier // PhiliPP Preuss

geRmania

/ ua / anagoor // simone derai inTernaTionale KoProduKTion

nathan. Death

/ ua / Feridun Zaimoglu /

günTer senKel // PhiliPP Preuss

momo

michael ende // subboTniK / maria neumann


protagonisten

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AUTOREN [THEATER] TAGE 2. – 4.10. 2020 Es ist ein besonderes Theaterjahr, auch für die AUTORENTHEATERTAGE, ein Jahr mit weniger Theater, dafür mit umso mehr Autor_innenschaft. Das Festival findet erstmals im Herbst statt und präsentiert über die Dauer von drei Tagen dreizehn künstlerische Blicke auf eine außergewöhnliche Zeit.

DIE AUTOREN[THEATER]TAGE Drei Festival-Uraufführungen

und zehn neue Kurzstücke von

Maria Ursprung

Doğan Akhanlı Sibylle Berg Martina Clavadetscher Elfriede Jelinek Milena Michalek Bonn Park Kevin Rittberger Nele Stuhler Miroslava Svolikova Felicia Zeller

SCHLEIFPUNKT

(in Kooperation mit dem Schauspielhaus Graz) Rosa von Praunheim

HITLERS ZIEGE UND DIE HÄMORRHOIDEN DES KÖNIGS (Deutsches Theater Berlin) Dorian Brunz

BEACH HOUSE

(in Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig)

autorentheatertage.de

präsentieren vom 2. bis 4. Oktober 2020:


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Warum Theater? Diese Frage ist so nebulös wie komplex. Wie jeder Stillstand, ­jedes aus dem Schrecken geborene Innehalten zwang auch der harte Lockdown der vergangenen Monate dazu, noch einmal grundsätzlich über das Theater nachzudenken. Warum glauben wir an diese Kunstform? Was soll sie bewirken? ­Erkenntnis? Veränderung? Oder besser: gar nichts? Keine Anweisungen. Volles ­Risiko. Ohne Netz und doppelten Mausklick? Antworten geben in unserem Schwerpunkt Jakob Hayner, Chantal Mouffe, Mårten Spångberg sowie Christine Wahl ­anlässlich der Produktion „Black Box“ von Stefan Kaegi am Schauspiel Stuttgart.


warum theater?

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Wie weiter? Ein Plädoyer für die Erneuerung der Idee des Theaters

von Jakob Hayner

E

s kann nicht weitergehen, also muss es weitergehen. Diese Sentenz, wie aus einem der Stücke Samuel Becketts, könnte als Leitspruch über der gegenwärtigen Situation des Theaters stehen. Wie wird die neue Spielzeit unter pandemischen Bedingungen aussehen, wie die danach? Niemand weiß es, niemand kann es wissen. Wir wissen jedoch inzwischen, nachdem sich der Nebel der ersten Feuilletondebatten gelichtet hat, dass ein Virus nicht die ganze Welt ändert oder naturwüchsig die Solidarität unter den Menschen hervorbringt. Oft hat man inzwischen gehört und gelesen, welcher Missstand durch die jetzige Krise nochmals deut­ licher in Erscheinung getreten ist. Das führt die Krisenhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens im Kapitalismus vor Augen. Am Horizont zeichnen sich die neuen Kämpfe unserer Epoche ab – gewaltsame Besitzstandswahrung gegen die verelendeten Massen. Doch ist in all diesen Auseinandersetzungen noch nicht die Kontur eines Neuen ersichtlich, einer radikalen und universalen Idee des Sozialen. Es ist eine Situation, die nach Orientierung verlangt, wie man einst nach dem hell strahlenden Polarstern Ausschau hielt, um über die stürmischen Weltmeere zu navigieren. Die Lage des Theaters ist deswegen so kompliziert, weil es um zweierlei zugleich geht: um die materielle Basis und den ideellen Überbau, wenn man es so ausdrücken möchte. Und beides hängt zusammen. Infolge der Einschränkungen der vergangenen Monate, mit deren Neuauflage permanent gedroht wird, sind zahlreiche Menschen in ihrer Existenz bedroht, darunter Künstlerinnen und Künstler. So rächt sich auch die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse. Mit einigem Erstaunen konnte man zur Kenntnis nehmen, dass die Theater in der Hierarchie des Systemrelevanten nach maßgeblicher Meinung weit hinter Möbelhäusern verortet wurden. Das soll nicht missverstanden werden als Forderung nach Privilegien für Künstler im Vergleich zu Möbelverkäufern. Aber der Unterschied zwischen einem Theater und einem Möbelhaus liegt doch in der Sache, die dort statthat. Das Theater ist der Ort bewusster Reflexion des Sozialen, hier redet die Gesellschaft mit der Gesellschaft über die Gesellschaft. Das ist,

Wie geht es nach dem Shutdown mit dem Theater weiter? – Keiner weiß es. Sicher ist nur: Das Theater kann und muss sich verändern. Hier das Schauspiel Stuttgart mit „Black Box. Phantomtheater für 1 Person“ von Stefan Kaegi / Rimini Protokoll. Foto Björn Klein

wenn man so will, das metaphysische Surplus der darstellenden Kunst. Und um das war es schon vor der Schließung der Theater nicht gut bestellt. Hat man sich nicht in den vergangenen Jahren schon gewundert, wie wenig an die Idee des Theaters geglaubt wurde? Wie verschämt oder auftrumpfend seine Protagonisten sich abwandten und Zuflucht suchten im Außerkünstlerischen? Nein, hier soll nicht das 19. Jahrhundert beschworen werden, als angeblich traute Einheit zwischen Schauspieler und Rolle, Publikum und Autor sowie Bühnenillusion und Wirklichkeit herrschte. Was hier im Gegenteil angemahnt wird, sind Ideen für ein Theater im 21. Jahrhundert. Ideen, die sich nicht davor drücken, der Wirklichkeit mit dem gesamten Arsenal der künstlerischen Mittel zu Leibe zu rücken. Die sich nicht in die schale Ironie des Unernsten und Nichtbehaupteten flüchten. Die nicht nur die mediale Oberfläche der Wirklichkeit reproduzieren, sondern ihren Kern offenlegen wollen. Die den Konflikt nicht durch die Beschwörung guter Absichten verdecken. Die also die Welt zu zeigen beabsichtigen, wie sie ist, und auch noch so, wie sie sein könnte, und die zugleich ein Begehren wecken, welches von dem einen in den anderen Zustand geleitet. Zu viel verlangt? Aber wo sonst sollte man alles wollen können, wenn nicht im Thea­ ter? Und kommt man nicht zu solchen Punkten, wenn man über eine Frage ernsthaft nachdenkt: Warum Theater? Die Kunst arbeitet nicht nur am Wirklichkeitssinn, sondern vor allem auch am Möglichkeits- und Veränderungssinn. Das erfordert Widerstand gegen die ästhetische Armut, die der Spätkapitalismus auferlegt und die mit der materiellen einhergeht. Es bedeutet, sich aus der Unmündigkeit zu befreien, in die der vermeintlich allwissende Markt uns gestürzt hat, indem er keine Wahrheit neben sich duldet. Wir müssen beginnen, eigene Antworten auf die wichtigen Fragen zu geben. Vieles verwerfen, um wieder Bewegungsfreiheit zu bekommen. Eine eigene Agenda entwickeln. Und noch mal: Wo sollte das besser gehen als im Thea­ter, wo das alles in Form des Spielerischen getan werden kann? Am Grunde der Idee des Theaters, so der Philosoph Christoph Menke, steht „ein höchst unwahrscheinliches, gänzlich unzeitgemäßes Vertrauen in die Kraft der Kunst: dass das Ästhe­ tische, wenn es ernst genommen wird, aus sich selbst heraus weltverändernd ist.“ Die Freiheit wird man sich nehmen müssen. Dann werden wir eventuell wissen können, wie es weitergehen kann. Und wie nicht. //

Von Jakob Hayner ist im März dieses Jahres das Buch „Warum Theater. Krise und Erneuerung“ im Verlag Matthes & Seitz erschienen.

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thema

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„Im Theater kann ich unaufmerksam sein“ Stefan Kaegi denkt mit „Black Box“ in Stuttgart über das abwesende Theater nach – und verhilft ihm damit zu erstaunlicher Präsenz von Christine Wahl

O

b das Theater systemrelevant ist, an dieser Frage scheiden sich zurzeit durchaus die Geister. Was dagegen unbestritten bleibt, ist seine Feuilletonrelevanz, trotz Corona: Im Shutdown beschwört man das Live-Spiel eben gerade aus seiner Abwesenheit heraus als Notwendigkeit. Das ist einerseits richtig und nachvollziehbar, wenn man nicht in Vergessenheit geraten will, geht andererseits aber, naturgemäß, mit einem deutlich wachsenden Hang zum Schwammigen einher. Je länger die Hymnen auf das „Theater als Möglichkeitsraum“ sich nicht am konkreten Gegenstand – sprich: an der physisch durchsessenen Aufführung – messen lassen müssen, desto entrückter klingen sie. Nun denkt zwar auch Stefan Kaegi vom Regiekollektiv Rimini Protokoll am Staatstheater Stuttgart über die Bühnenkunst, notgedrungen, im Modus ihrer Abwesenheit nach. Aber er tut es nicht nur besser als viele jener Absenz-Laudatoren, sondern tatsächlich konkurrenzlos gut – wobei der Unschärfevermeidungstrick seiner Inszenierung „Black Box – Phantomtheater für 1 Person“ im Grunde so genial wie naheliegend ist: Er besteht darin, die Abwesenheit des Theaters explizit zu machen statt sie diffus zu beklagen. Kaegi schickt die Zuschauer, jeweils einzeln, auf eine Expedition durchs leere Haus. Er erhebt die Absenz, mit anderen Worten, zum Leitmotiv, macht sie zur Hauptakteurin der Veranstaltung. Das Theater ist bei ihm nicht einfach abwesend, sondern wird in den Modus der anwesenden Abwesenheit versetzt. Mit ihrer Eintrittskarte erwerben die Zuschauer in Stuttgart die Zugangsberechtigung zu einem minutiös festgelegten Zeitpunkt, werden dann am Theatereingang mit einem iPod, Kopfhörern und virenfesten Plastikhandschuhen ausgestattet und starten im FünfMinuten-Takt auf ihre Mission. Die Navigation übernimmt eine Tonbandstimme, die der Schauspielerin Sylvana Krappatsch gehört. Sie beschreibt nicht nur jede zu öffnende Tür und jede zu bewältigende Treppenstufe in diesem mehrstöckigen Riesentanker so orientierungssicher, dass man sich wirklich unmöglich verlaufen kann, sondern ist auch für ein paar Grundsatzreflexionen zuständig.

„Ich weiß nicht, wann dieses Foyer sich wieder mit Hunderten von Menschen füllen wird“, sagt sie zum Auftakt, während man auf die geschlossenen Saaltüren blickt und gleichzeitig – von wegen anwesende Abwesenheit – durch die Kopfhörer jenes foyer­ typische Grundrauschen hört, das man seit fast sechs Monaten nicht erlebt hat und dessen extrem hoher Wiedererkennungswert aus der zeitlichen Distanz tatsächlich verblüfft: Der eigene Synapsenbetrieb registriert den Murmel-Sound sofort als derart ortsund milieuspezifisch, dass er quasi vollautomatisch die entsprechenden Bilder ergänzt. „Feststeht, es wird nie mehr so sein wie früher“, fährt die Krappatsch-Stimme fort – und erteilt ihrer Adressatin einen Auftrag: „Ich glaube nicht, dass Theater in Texten und Büchern überleben wird, und ich glaube auch nicht an Videoaufzeichnungen“, sagt sie. Theater sei „Raum, Geruch, Adrenalin, Gemeinschaft“, es überdauere „nur in der Erinnerung“. Deshalb solle man auf dem folgenden Parcours, der tief in „den Bauch“ und durch „die Gedärme“ des Theaters führen wird – in die Elektrowerkstatt und das Dramaturgie-Archiv, in die Maske, das Requisiten-Magazin oder den Souffleurkasten bis hin zum Inspizientenpult, auf die Bühne und schließlich in den Zuschauerraum – ein individuelles Erinnerungsdokument erstellen; eine Art persönliche Materialsammlung zur Frage, „was das eigentlich war: Theater“. Krappatschs Angebot: „Meine Anweisungen sind deine Tonspur, du bist die Kamera, aufgenommen wird aus der Subjektive“ und „aufgezeichnet nicht auf Film, sondern in deinem Gedächtnis.“ Voilà. Die erste Station ist die Probebühne, wo – um es mit der Produktionsdramaturgin Carolin Losch zu sagen – „alles seinen Anfang nimmt“, das künstlerische Team einer geplanten Inszenierung sich zum ersten Mal trifft und die große Utopie demnach noch „nicht klein gemacht worden ist“ vom schnöden Realitätsprinzip. Wir befinden uns also im Raum der (theoretisch) unendlichen Möglichkeiten – und die „Subjektive“ überschlägt kurz, wie überproportional häufig sich dieser Alles-auf-Anfang-Moment, von dem Losch spricht, im Theater, gemessen am realen Leben, eigentlich ereignet; nämlich mindestens vor jeder Premiere und also allein auf der großen Bühne schätzungsweise zehn- bis zwölfmal im Jahr. „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser schei-


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tern“: Von wem ließe sich diese enorm lebensqualitätssteigernde Fähigkeit, die Samuel Beckett einst so lakonisch auf den Punkt brachte, mithin sachkundiger lernen als von der Bühnenkunst? Natürlich erscheint auch Carolin Losch in Kaegis „Phantomtheater“ ausschließlich im Modus der anwesenden Abwesenheit: Ihre Stimme, ihre Schritte, ihre Bediengeräusche der Kaffeemaschine dringen, wie alles auf dieser insgesamt 75-minütigen Tour, exklusiv über die Kopfhörer an die Besucherohren. Zudem ist die Dramaturgin nicht allein auf der Tonspur: Sie unterhält sich mit Johannes Milla, dem Geschäftsführer und Kreativdirektor der Stuttgarter Agentur Milla & Partner, der sich – wie im Programmheft nachzulesen ist – auf die „Gestaltung und Produktion von Kommunikation im Raum“ spezialisiert hat. Das Prinzip hat Methode: Auch an den anderen Stationen spricht jeweils eine theaterinterne Person mit einem externen Experten oder einer externen Expertin, die aus einer anderen Pers-

Wo wagemutige Profis stellvertretend für die weniger heroischen Naturen im Parkett unmögliche Handlungen wagen – So erinnert man sich an den Reiz des Theaters in Stefan Kaegis „Black Box“. Foto Björn Klein

pektive mit dem Gegenstand zu tun haben. Außer dem Kreativ­ direktor wird man beispielsweise noch einer Akademiechefin, einem Theaterwissenschaftler, einem Rechenzentrumsdirektor und einem Politikwissenschaftler im Tonbanddialog mit den Theaterpraktikern begegnen. Rede und Widerrede, Chor und ­ ­Gegenchor: Die dialektische Grundeinheit des Theaters – und im Übrigen auch jenseits der Bühne immer wieder eine erstrebenswerte Kulturtechnik, hält die Subjektive fest. Im Unterschied zu klassischen Theaterführungen, wie sie von vielen Häusern angeboten werden, geht es in Kaegis Stuttgarter

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„Phantomtheater“ also nicht einfach um die Erklärung von kett unmögliche Handlungen wagten, undenkbare Gedanken Funktionsmechanismen. Sondern es wird philosophiert, und dachten und im Spiel Tabus brachen: Kontrollierte Sprengungen zwar, dankenswerterweise, anhand konkreter Gegenstände statt des Status quo sozusagen; Alternativentwürfe mit Netz und dopnebulös vor sich hin. So landet etwa Elisabeth Schweeger – die peltem Boden, aber nicht auf Zelluloid und aus der Konserve, sondern live und in Echtzeit: intendiertermaßen störanfällig und, Leiterin der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemtheoretisch, in jedem Moment veränderungsoffen. berg und frühere Intendantin des Schauspiels Frankfurt – im Gespräch mit der Maskenbildnerin Tony Schmoll ausgehend Insofern hat der Bühnenbildner, Lichtgestalter und Beleuchtungsmeister Jörg Schuchardt, dem man auf Kaegis Tour von Schminktiegel und Puderquaste geradewegs bei der kulturtheoretischen Grundsatzfrage, was es bedeutet, einen „neuen auf der Beleuchtungsgalerie zuhören kann, völlig recht, wenn er Menschen“ zu erschaffen. Existieren außer dem Theater eigent„das Aufblenden des Lichts zum Beginn des Theaterabends“ in lich noch andere Orte, fragt sich die Subjektive, an denen Handmaximal lapidarem Tonfall mit einem „Schöpfungsakt“ gleichund Kopfwerk, Objekt und Metapher, Basetzt: Die Lektion, wie ­perfekt das Theater sein allabendliches Kern­geschäft, die temsis und Überbau einander in derart inniger Dialektik verbunden sind? poräre Kreation einer eigenen Welt, einer„Dieser seits beherrscht, welcher exorbitante AufTatsächlich wirft Kaegis Parcours alpenetrante Wunsch, lerdings nicht nur inspirierende Fragen wand sich andererseits aber auch hinter auf, sondern gibt manchmal sogar klare dieser Illusionserzeugung verbirgt, steckt die Menschen Antworten. Zum Beispiel auf pauschale Ireinem nach der Tour buchstäblich in den relevanzdiagnosen, wie sie gerade mal wieKnochen. ,abzuholen‘, der von dem Soziologen Dieter Haselbach Im Malsaal unterhält sich Michael kann auch sehr aus der Retorte geholt wurden, einem der Resch, der Direktor des HöchstleistungsreAutoren der 2012 erschienenen Polemik chenzentrums Stuttgart, mit dem Bühnenplatt werden.“ „Der Kulturinfarkt“. Über die Subventiomaler Christian Horn, der offenbar gerade damit beschäftigt ist, einen billigen Stuhl nierung des Theaters müsse grundsätzlich neu nachgedacht werden; es erreiche „nur optisch so zu veredeln, dass er mindestens nach Charles Eames aussieht. „Wieso kauft ihr denn keinen edlen noch einen ganz kleinen Teil des Publikums“ und sei nicht mehr der Ort, „an dem sich unsere Gesellschaft trifft“, sagte Haselbach Stuhl?“, fragt Resch und klingt, als würde sich der Blick hinter die Kulissen für ihn tatsächlich ein bisschen anfühlen wie ein RundAnfang August auf Deutschlandfunk Kultur und stellte als Konklusion vage in den Raum: „Vieles findet im Netz statt.“ gang durchs ­Manufactum-Warenhaus. „Weil’s zu teuer ist“, ant„Man kann im Theater … einfach den Blick schweifen laswortet Horn. Darauf Resch, wenig überzeugt: „Aber ihr arbeitet hier doch auch Stunden, um das zu lackieren!“ Die Dinge liegen sen“, hält Johannes Milla, der Raum- und Kommunikations­ experte von der Probebühne, dagegen. „Ich kann unaufmerksam allerdings komplizierter. „Meistens will der Bühnenbildner ja eisein, mein Blick wird nicht gelenkt“, denkt er laut nach und nen ganz bestimmten Stuhl“, entgegnet Horn, „und den gibt’s ja zieht als Vergleichsgröße den Film heran, dem eine gewisse nicht so zu kaufen.“ Ein Hoch auf die Fähigkeit – und die (dank ­kognitive „Bevormundung“ qua Schnitt und Kamera­führung ja öffentlicher Förderung gegebene) Möglichkeit –, sich ökonomiin der Tat nicht abzusprechen ist. Später, im Zuschauerraum, schen und anderen unmittelbaren Verwertungszwängen zu entziehen! Theater, notiert die Subjektive, das war vor allem auch wird der Theaterwissenschaftler Frederik Zeugke den Gedanken dieser zweckfreie, zum ureigenen (Hirn-)Gebrauch freigegebene weiterspinnen. „Ich sehe, wie die anderen sehen“ und „setze Bedeutungsüberschuss, den Bühnen-Trips à la Frank Castorf oder mich quasi ins Verhältnis zu denen“, erweitert er den GesichtsVegard Vinge nicht nur im Vergleich zu effizienzorientierten kreis, wohin so ein wohltuend ungelenkter Blick überall wan„Tatort“-Dialogen generieren können. dern kann. Es muss ja nicht immer nur die Bühne sein, von der im Theater die erkenntnisstiftenden Momente ausgehen! Der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich, den man ­während der Tour auf der Unterbühne hören kann, wurde von ­Logisch, dass sich gerade passionierte Luhmannianerinnen und Luhmannianer im darstellenden Live-Gewerbe besonders wohlder Produktionsdramaturgin Carolin Losch auch für einen Profühlen. Wo sonst fände man derart ideale Bedingungen für die grammheftbeitrag interviewt. Dort sagt er auf die Frage, „als was“ Beobachtung zweiter Ordnung vor? In welcher Institution ist es er sich begreife, wenn er ins Theater gehe: „Das Schöne am möglich, seinem Sitznachbarn – und sich selbst – so schön beim ­Theater ist doch, dass man sich da eigentlich gar nicht selbst beZuschauen zuzuschauen wie im Theater? greifen muss. … Würde ich ins Theater gehen, um mich mit mir selbst zu beschäftigen, könnte ich auch zu Hause in den Spiegel „Wir gucken zwar auf die Bühne, aber eigentlich gucken wir total auf uns selber; bei allem, was da vorne passiert, bei allen schauen.“ Deshalb sei er, „was die Suche nach Relevanz, Aktualität oder Anschluss­fähigkeit“ anginge, immer extrem „hellhörig“, ­Reaktionen im Saal höre und fühle ich auch immer mich mit, wie so Heidenreich: „Dieser penetrante Wunsch, die Menschen ,abich höre und fühle“, bringt Theaterwissenschaftler Zeugke den zuholen‘, kann auch sehr platt werden – man darf die Leute Vorgang auf den Punkt – und diktiert damit gleichsam die nächste schon auch irgendwo hinbringen, wo sie noch nicht waren.“ Das Antwort auf die Frage, „was das eigentlich war: Theater“, in den immateriellen Block: Die Bühne galt als Ort, an dem wagemutige Theater ist sicher nicht die einzige Kunstform, die das kann – aber eine der besten. // Profis stellvertretend für die weniger heroischen Naturen im Par-


BOXX GROSSES HAUS é   25. SEPTEMBER 2020 DER FALL DER GÖTTER VON NICOLA BADALUCCO, ENRICO MEDIOLI UND LUCHINO VISCONTI FÜR DIE BÜHNE BEARBEITET VON TOM BLOKDIJK SCHAUSPIEL é   3. OKTOBER 2020 ENDSPIEL VON SAMUEL BECKETT SCHAUSPIEL é   10. OKTOBER 2020 BORN TO BE WILD? (UA) VON KAI TIETJE UND STEFAN HUBER REVUE é   7. NOVEMBER 2020 DER RÄUBER HOTZENPLOTZ VON OTFRIED PREUSSLER MÄRCHEN é   21. NOVEMBER 2020 MEIN FREUND HARVEY VON MARY CHASE KOMÖDIE é   16. JANUAR 2021 VOR SONNENAUFGANG VON EWALD PALMETSHOFER NACH GERHART HAUPTMANN SCHAUSPIEL é   6. MÄRZ 2021 HIGH SOCIETY VON COLE PORTER UND ARTHUR KOPIT MUSICAL

é   24. APRIL 2021 DIE PHYSIKER VON FRIEDRICH DÜRRENMATT KOMÖDIE é   12. JUNI 2021 AMPHITRYON VON HEINRICH VON KLEIST SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL IN DER EXPERIMENTA é   23. JANUAR 2021 SCHWARZE SCHWÄNE (UA) VON CHRISTINA KETTERING SCHAUSPIEL

KOMÖDIENHAUS é   14. NOVEMBER 2020 HOW TO DATE A FEMINIST VON SAMANTHA ELLIS KOMÖDIE é   15. JANUAR 2021 WEINPROBE FÜR ANFÄNGER (DSE) VON IVAN CALBÉRAC KOMÖDIE é   27. FEBRUAR 2021 DIE ZEITMASCHINE (UA) VON BRIAN BELL UND ANDREAS FRANE NACH H.G. WELLS SCIENCE FICTION é   30. APRIL 2021 BUNBURY VON OSCAR WILDE KOMÖDIE

é   27. SEPTEMBER 2020 KOMM, WIR FINDEN EINEN SCHATZ VON JANOSCH FÜR DIE BÜHNE BEARBEITET VON NICOLE BUHR SCHAUSPIEL AB 3 JAHREN é   18. OKTOBER 2020 DIE ZERTRENNLICHEN VON FABRICE MELQUIOT SCHAUSPIEL AB 9 JAHREN é   1. NOVEMBER 2020 WAS DAS NASHORN SAH, ALS ES AUF DIE ANDERE SEITE DES ZAUNS SCHAUTE VON JENS RASCHKE SCHAUSPIEL AB 11 JAHREN é   10. JANUAR 2021 RICO, OSKAR UND DIE TIEFERSCHATTEN VON ANDREAS STEINHÖFEL FÜR DIE BÜHNE BEARBEITET VON FELICITAS LOEWE SCHAUSPIEL AB 9 JAHREN é   23. FEBRUAR 2021 PETTY EINWEG – DIE FANTASTISCHE REISE EINER FLASCHE BIS ANS ENDE DER WELT VON JENS RASCHKE SCHAUSPIEL AB 12 JAHREN é   11. APRIL 2021 MEIN ZIEMLICH SELTSAMER FREUND WALTER VON SIBYLLE BERG SCHAUSPIEL AB 8 JAHREN é   5. JUNI 2021 SCHÖNE NEUE WELT NACH DEM ROMAN VON ALDOUS HUXLEY FÜR DIE BÜHNE BEARBEITET VON ROBERT KOALL SCHAUSPIEL AB 15 JAHREN

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Den Dissens fördern Die Rolle des Theaters im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie von Chantal Mouffe

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egenwärtig erleben wir den Aufstieg unterschiedlichster Formen des Widerstands gegen die neoliberale Hegemonie, in mehreren Ländern sind radikale linke Bewegungen entstanden, die den in den Mitte-links-Parteien dominierenden Sozialliberalismus herausfordern. Diese Widerstände signalisieren eine „Rückkehr des Politischen“ nach Jahren der Postpolitik, aber diese Rückkehr des Politischen führt nicht automatisch zu einem fortschrittlichen Sachverhalt. Alles wird vom Ergebnis des agonistischen Kampfes zwischen den politischen Kräften abhängen, die um die Hegemonie kämpfen. Ich bin davon überzeugt, dass kulturelle und künstlerische Praktiken in diesem Kampf eine bedeutende Rolle spielen könnten, und ich glaube, dass der hegemoniale Ansatz, den ich in mehreren meiner Bücher entwickelt habe, dazu beitragen könnte, die Art von Interventionen ins Auge zu fassen, die zur Förderung demokratischer Ziele beitragen könnten. Der hegemoniale Ansatz ist besonders fruchtbar, wenn es darum geht, die Beziehungen zwischen Kunst und Politik zu begreifen, weil er den diskursiven Charakter des Sozialen und die Vielzahl diskursiver Praktiken, durch die „unsere Welt“ konstruiert wird, in den Vordergrund rückt. Dies unterstreicht die Tat­

sache, dass die Konstruktion der Hegemonie nicht auf die tradi­ tionellen politischen Institutionen beschränkt ist, sondern sich auch an der Vielzahl der Orte abspielt, die wir gewöhnlich als ­„Zivilgesellschaft“ bezeichnen. Hier wird, wie Antonio Gramsci gezeigt hat, eine bestimmte Vorstellung der Welt etabliert und ein spezifisches Verständnis der Wirklichkeit definiert, von ihm als common sense bezeichnet, was wiederum das Terrain bildet, auf dem spezifische Formen der Subjektivität konstruiert werden. Künstlerische Praktiken, so Gramsci, seien eines dieser Terrains, auf denen sich der common sense bilde und Subjektivitäten kons­ truiert werden. Bezogen auf den hegemonialen Ansatz sind kritische künstlerische Praktiken diejenigen, die auf vielfältige Weise dazu bei­ tragen, die dominante Hegemonie zu verunsichern, und die eine Rolle im Prozess der Disartikulation/Reartikulation spielen, der eine gegenhegemoniale Politik kennzeichnet. Diese Politik der Gegenhegemonie zielt darauf ab, die Institutionen, die die dominante Hegemonie absichern, ins Visier zu nehmen, um tiefgreifende Transformationen in ihrer Funktionsweise zu bewirken. Im Wo der herrschende Konsens untergraben wird – Theater, sagt Chantal Mouffe, könne dazu beitragen, neue Subjektivitäten zu konstruieren. Szene aus „Black Box“ von Stefan Kaegi / Rimini Protokoll. Foto Björn Klein


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warum theater?

Praktiken gibt, sondern dass die kognitive Ebene über die affekpostfordistischen neoliberalen Kapitalismus hat das kulturelle und künstlerische Terrain immer größere strategische Bedeutung tive erreicht werden sollte. erlangt, weil die künstlerische und kulturelle Produktion für die Ich behaupte, dass als privilegiertes Terrain für die MobiliKapitalverwertung gegenwärtig von entscheidender Bedeutung sierung von Affekten und die Konstruktion neuer Subjektivitäten ist. Um seine Hegemonie aufrechtzuerhalten, muss das neolibeTheaterpraktiken in ihrer ganzen Vielfalt für den Hegemonialrale System permanent die Wünsche der Menschen mobilisieren kampf von entscheidender Bedeutung sind. Es gibt viele verschieund ihre Identitäten formen. Das kulturelle Terrain mit seinen dene Möglichkeiten, wie sie zur agonistischen Debatte beitragen könnten, und alle sind von Bedeutung. Ich möchte jedoch das verschiedenen Institutionen nimmt in diesem Prozess eine Schlüsselposition ein. Deshalb behauptet die hegemoniale PersMapa Teatro in Bogotá hervorheben, das einen entscheidenden Beitrag zur kulturellen und politischen Debatte in Lateinamerika pektive im Gegensatz zu anderen Auffassungen, dass kritische künstlerische Praktiken nicht geleistet hat und dazu beitrug, Prozesse der sozialen und polidurch das Verlassen des institutionellen Terrains zum getischen Subjektbildung in Ko„Warum Theater?“ Auch das NTGent stellt sich im genhegemonialen Kampf beilumbien anzustoßen vor dem fünften Band der Reihe „Golden Books“ diese Hintergrund brennender Pro­ tragen können, sondern durch F ­ rage. Warum ist diese Kunstform so einzigartig, die Auseinandersetzung mit bleme wie etwa dem Trauma des fünfzig Jahre dauernden ihm, mit dem Ziel, den Disso unentbehrlich? Antworten geben einhundert sens zu fördern. Das Ziel diepolitischen Konflikts im Land der einflussreichsten Künstlerinnen, Künstler und ses Kampfes ist die Konstruk­ oder der komplizierten MiIntellektuellen aus der ganzen Welt in Form von tion einer Vielzahl von, wie ich schung aus Armut, KriminaliErinnerungen, Briefen, Manifesten, Illustrationen, tät und sozialer Verwahrlosung es nenne, „agonistischen“ Räuin den Städten. Die Arbeit des men, in denen der herrschende Fotos und kurzen Essays. Der Begriff „Theater“ Konsens untergraben wird und Mapa Teatro hat nicht nur solreicht dabei vom klassischen Schauspiel über die che Themen repräsentiert, sonin denen neue IdentifikationsPerformancekunst und den Tanz bis hin zum polimuster zur Verfügung gestellt dern auch ­aktiv dazu beigetratischen Theater, dem Aktivismus und der Perforwerden. gen, die Bedingungen ihrer Diskussion zu artikulieren, inIch möchte betonen, mativität des Alltags. Wir veröffentlichen mit den dass kritische künstlerische dem sie politische Akteure in Texten von Chantal Mouffe und Mårten Spångberg öffent­liche Gespräche einbePraktiken nach einer solchen als Vorabdruck einen Auszug aus diesem Band. Perspektive nicht versuchen, zog, welche überhaupt erst durch den von ihnen bereitgeein angeblich falsches Bewusstsein aufzuheben, um die stellten performativen Rahmen „wahre Realität“ zu enthüllen. Dies stünde in völligem Widermöglich waren. Ein wichtiges Beispiel dafür ist das Projekt „Testigo spruch zu den anti-essenzialistischen Prämissen der Hegemoniede las ruinas“, das die Gruppe 2011 unter Beteiligung von Antanas Mockus, dem damaligen Bürgermeister Bogotás und Verantworttheorie, die die Idee eines „wahren Bewusstseins“ selbst ablehnt. Es ist immer die Einfügung in eine Vielzahl von Praktiken, Dislichen für ein Programm zur Stadterneuerung, realisierte. Das Projekt versetzte den Bürgermeister auf innovative und kreative kursen und Sprachspielen, durch die spezifische Formen von Individualitäten konstruiert werden. Die Transformation politischer Weise in die Rolle eines Zeugen und initiierte einen produktiven Identitäten kann niemals das Ergebnis eines rationalistischen Dialog über die sozialen und politischen Fragen, die den Maßnahmen der Regeneration und Stadterneuerung zugrunde liegen. ­Appells an das wahre Interesse des Subjekts sein. Sie b ­ esteht in Ich sehe das Mapa Teatro als ein herausragendes Beispiel der Einschreibung des sozialen Akteurs in Praktiken, die seine für die Rolle, die das Theater bei der Schaffung öffentlicher agoAffekte in einer Weise mobilisieren, die den Rahmen, in dem sich nistischer Räume spielen kann, und ich halte es für ein Modell der der dominante Identifikationsprozess abspielt, dis­artikuliert, um Art von Intervention, die im gegenwärtigen Kampf gegen die neoandere Formen der Identifikation möglich zu m ­ achen. Dabei sind es nicht Konzepte, die künstlerische Praktiken liberale Hegemonie notwendig ist. // Aus dem Englischen von Dorte Lena Eilers. in die Lage versetzen, Momente der Erkenntnis zu erschaffen und damit eine Transformation der Subjekte herbeizuführen. Es ist die Ebene des emotionalen Ausdrucks, die Ideen reale Kraft verleiht und sie in Wünsche überführt. Die Auswirkungen „Why Theatre?“, herausgegeben von Kaatje de Geest, Carmen Hornborstel künstlerischer Praktiken sollten daher nicht primär auf der und Milo Rau, erscheint Anfang Oktober 2020 auf Englisch im Verbrecher kognitiven Ebene betrachtet werden. Das Ziel künstlerischer ­ Verlag, u. a. mit Beiträgen von Lola Arias, Nora Chipaumire, Chto Delat, Praktiken ist nicht die Produktion von Konzepten, sondern die Extinction Rebellion, Christiane Jatahy, Susanne Kennedy, Angélica Liddell, Produktion von Empfindungen, daher sollte die kognitive/konÉdouard Louis, Ariane Mnouchkine, Rabih Mroué, Toshiki Okada, Alain zeptuelle Dimension nicht privilegiert werden. Dies bedeutet ­Platel, René Pollesch, Tiago Rodrigues, Kirill Serebrennikow, Gisèle Vienne, nicht, dass es keine kognitive Dimension in künstlerischen Antoine Vumilia, Sasha Waltz, Miet Warlop, Yes Men und vielen anderen.

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Keine Garantie Warum ich Theater mag

von Mårten Spångberg

I

ch mag Theater. Sie haben sehr schöne Treppen, und der Künstlereingang ist in den meisten Fällen minimal deprimierend. Ich spreche von den Gebäuden. Auch im Innern sind Theater wirklich schön, besonders nachdem sie viel zu oft renoviert und umgebaut wurden, um Platz für lebensrettende Modernisierungen zu schaffen wie IT-Anwendungen und unmöglich platzierte Aufzüge, die Menschen hoch und runter fahren mit unbekanntem Ziel. Theater sind großartig, weil dort Menschen arbeiten. Nicht nur Schauspieler, Tänzer, Musiker, die bezaubernde Bande der Kostümabteilung und die Leute vom Vorderhaus, sondern auch alle anderen. Diejenigen, die sich mit Dingen beschäftigen, die nichts mit Theater zu tun haben, aber trotzdem dort arbeiten, im Theater. Es ist erhebend, darüber nachzudenken. Theater sind bewundernswert, weil es dort Konflikte gibt. An welchen anderen Arbeitsplätzen gibt es Konflikte? Insbesondere solche, die bis in die Öffentlichkeit und die Medien dringen? Theater sind geniale Beispiele für gescheiterte Optimierung. Die Anzahl von Quadratmetern, die mit Aktivität, Sachen und Geschichte vollgestopft sind, können nur durch gigantische Flächen gekontert werden, die so selten genutzt werden, dass sie oft in Vergessenheit geraten sind. Nirgendwo sonst ist die Kantine so perfekt wie in Theatern. Je größer das Theater, desto besser die Kantine. Solange es Theater gibt, ist der Sozialstaat nicht ganz tot. Wenn ich für eine Lieferfirma arbeiten würde, würde ich alle Strapazen auf mich nehmen, solange ich ein Theater beliefern könnte. Oh, und nirgendwo sonst fühlt es sich so gut an, einen Besucherausweis zu erhalten. Theater sind fantastisch. Es ist nicht nur das Gebäude. Nein, es ist die Aktivität, die da drinnen stattfindet. Eigentlich ist es egal, was oder ob es gut ist, solange es Theater ist, aber sobald das T­heater nicht mehr da ist, verliert auch das Gebäude seinen kühlen Glanz, seine Kraft, seine Unvermeidlichkeit. Das ist für mich Grund genug.

* Ich mag das Theater. Was fühlt sich besser an, als sich auf einen Theaterbesuch vorzubereiten? Eine Eintrittskarte zu kaufen, oder sogar zwei. Sich auf ein Glas lausigen Champagners in der Pause zu freuen, noch bevor sich der Vorhang geöffnet hat. Das Wissen, dass die Vorstellung viel zu lang und wahrscheinlich ziemlich langweilig sein wird und gelegentlich durchaus Konflikte reproduziert, von denen wir bereits viel zu viele hatten. Es ist fantastisch, dort im Dunkeln zu sitzen, völlig bewegungsunfähig, außerstande, eigene Entscheidungen zu treffen. Im Theater sind die Lichter aus. Wo sonst im Neoliberalismus geschieht das? Das Theater ist ein Ort, der kein Multitasking kennt. Denken Sie mal darüber nach, wo sonst sitzen Sie stundenlang und tun nichts anderes, als zu sitzen? Dort gibt es so viel Freiheit, und ich erwarte nicht einmal, dass es anregend, lustig oder aufregend ist. Theater ist wirklich gut verbrachte Zeitverschwendung. Es ist sympathisch, und der Informationsfluss ist so sanft und spärlich. Etwas zu viel ­Video vielleicht, aber sonst null Fokus auf die user experience. Theater, die soziale Situation, ist einfach unglaublich. So erstaunlich, dass es eigentlich egal ist, was auf der Bühne passiert. Solange es Theater ist, kann das Soziale nicht schiefgehen. Wir sind da, gemeinsam, nicht wie im Kino oder im Museum, sondern wirklich gemeinsam. Gelegentlich kann es verlockend sein, die soziale Dimension des Theaters mit sozialem Theater zu verwechseln. Aber wie wir wissen, gibt es einen großen Unterschied zwischen Praxis und Repräsentation. Manchmal hat sich das T­heater so intensiv sozial engagiert, dass die Grenze zwischen Darstellung und Praxis durchbrochen wurde. Diese Momente


warum theater?

„Das Theater ist der Hammer“, sagt Mårten Spångberg. „Wir müssen nur daran denken, Theater Theater sein zu lassen“ – mit all seinen Risiken. Szene aus „Black Box“ von Stefan Kaegi / Rimini Protokoll. Foto Björn Klein

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dürfen jedoch nicht geprobt werden, sonst verwandelt sich die Unschuld des Engagements in bloße Manipulation. In unseren heutigen Gesellschaften ist das Theater, der soziale Rahmen, an sich schon eine Form des Aktivismus. Die Frage jedoch ist, ob das Politische vor oder nach dem Aktivismus kommt, und welche Formen der Homogenisierung die verschiedenen Positionen veranschlagen. Das Theater ist großartig, weil es uns nicht dazu einlädt, vor ihm zu stehen und ein Selfie zu machen. Es besteht darauf, vor uns zu stehen. Theater, was immer es ist, ist niemals neutral. Es mag schlecht oder gut sein, politisch oder bemüht unpolitisch, frisch oder verstaubt, groß oder klein, es scheitert trotzdem daran, neutral zu sein. Das liebe ich am Theater, und ich denke, das sind Gründe genug.

Theater ist wunderbar, weil es keine Garantie gibt. Wo sonst verlangen die Menschen ihr Geld zurück? Ist es nicht fantastisch, dass es immer noch eine Institution gibt, die kein vollständiges, wasserdichtes „Es ist angerichtet“-Erlebnis verspricht? Es gibt keine Gerhard-Richter-Retrospektive, die danebenging, oder eine von Hyundai gesponserte Veranstaltung in der Turbinenhalle, die mit einem buhenden Premierenpublikum endete. Im Theater können sogar Klassiker in sich zusammenfallen, und das tun sie immer wieder, aber wer hat schon einmal von einer Picasso-Ausstellung gehört, die ein Fiasko war? Bei Picasso ist alles abgesprochen und geregelt, während Shakespeare immer noch nervtötend ist oder werden kann. Welche andere Kulturinstitution, die Kunst veranstaltet, hat diese Form des Risikos nicht schon längst beseitigt, wenn nicht sogar jede Form des Risikos? Das Theater ist der Hammer. Wir müssen nur daran denken, Theater Theater sein zu lassen und nicht zu versuchen, ihm einen Grund zu geben. Wenn wir das tun, hört es schnell auf, Theater zu sein, hört auf, Kunst zu sein, und endet bestenfalls als Kultur, öfter noch als Pädagogik und Management. Dann wird es zu einem Machtinstrument und verliert seine Offenheit und emanzipatorische Potenzialität. Aber was ist mit Verantwortung? Haben Theatermitarbeiter und -macher nicht eine ethische Dringlichkeit, auf die Welt, die uns umgibt, zu reagieren? Ja, sicherlich als Mitarbeiter und Macher, aber diese Verantwortung ist nicht identisch mit der Verantwortung des Theaters, der Kunstform. Wir sollten uns vielleicht davor hüten, die Kunst in ein Instrument, eine Verlängerung oder Prothese unserer selbst zu verwandeln. Es mag paradox klingen, aber womöglich ist es besonders in Zeiten der Krise und der Bedrängnis wichtig, Theater Theater sein zu lassen. Vielleicht sind dies Zeiten, Frühling 2020, in denen wir dringend einen Raum brauchen, der nicht unsere Erfahrung leitet, der uns nicht sagt, was wir denken sollen oder welche Meinung angemessen ist. Einen Raum, dessen Form vertraut ist, in dem aber die Erfahrung offen, unbestimmt und generativ bleibt. Das ist, denke ich, Grund genug. Jeden Tag. // Aus dem Englischen von Dorte Lena Eilers.

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Afrika beklauen Vor zehn Jahren starb Christoph Schlingensief und hinterließ der Welt seine letzte große Vision: das Operndorf Afrika. Ein Gespräch mit dem Musiker Zonatan Dembele und dem Theaterwissenschaftler Koku G. Nonoa

von Dorte Lena Eilers

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err Nonoa, Herr Dembele, vor zehn Jahren starb Christoph Schlingensief. Sein letztes großes Projekt war das Operndorf Afri­ ka in Burkina Faso. Als der Grundstein gelegt wurde, schrieb ein deutscher Theaterregisseur, er freue sich sehr über das Projekt, weil es in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou eine BrechtTradition gebe. Diese Aussage sollte sicherlich ehrliche Freude ausdrücken, dennoch schwingt darin auch ein Hauch Postkoloni­ alismus mit. Was war Ihr erster Eindruck vom Operndorf? Koku G. Nonoa: Ich hörte 2009 zum ersten Mal von Christoph Schlingensief, als er noch auf der Suche nach einem Ort für sein Operndorf war. Zu der Zeit interessierte er mich nicht besonders. Aus einer kritischen Perspektive heraus gesehen war er wie alle anderen Europäer, die als Retter Afrikas auftreten – wie in Zeiten der kolonialen „Zivilisationsmission“. Er schien wie jemand, der nach Afrika kommt, um etwas zu bauen, was wir bereits haben –

Dörfer! Jemand, der nach dem Copy-and-paste-Verfahren in den verschiedensten afrikanischen Ländern die gleichen Projekte initiiert, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen. Ein paar Jahre später jedoch, 2013, stieß ich im Rahmen meiner Recherchen für meine Doktorarbeit auf Schlingensiefs Wiener Aktion „Ausländer raus“ aus dem Jahr 2000. Diese gegenkulturelle Performance, in der er mit Flüchtlingen arbeitete und gegen die Flüchtlingspolitik in Österreich protestierte, fand ich sehr interessant. Also sagte ich mir: Ich muss mehr über diesen Künstler erfahren. So kam ich auf das Operndorf zurück und entdeckte, was dahintersteckt, nämlich wie Kunst die Gesellschaft und unsere Wahrnehmung beeinflussen kann. Zonatan Dembele: Ich hörte 2017 in Mali von seinem Operndorf. Damals war ich als Sänger, Bassist und Gitarrist viel auf Tournee.

Von Afrika lernen – Das war einer von Christoph Schlingensiefs subversiven Slogans, mit denen er für sein Operndorf Afrika warb. Foto Filmgalerie 451 aus „Knistern der Zeit“/ Aino Laberenz / Festspielhaus Afrika


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Ich hatte die gleichen Gedanken wie Herr Nonoa. Ich bin mit Expats aufgewachsen, habe in Mali als Übersetzer für Soldaten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern gearbeitet. Ich dachte, er wäre ein weiterer Kapitalist, der in einem afrikanischen Land investieren will. Die alte Geschichte mit den Weißen: Sie kommen mit einer Idee, aber die erste Idee ist nicht immer die richtige Idee. Manchmal liegt sie weit hinter dem zurück, was die Menschen erwarten. Doch als ich mehr von diesem Projekt erfuhr, änderte sich meine Meinung. Meine Ursprünge liegen in Burkina Faso. Meine Eltern sind dort aufgewachsen, in einem Dorf im Westen des Landes fünf Kilometer von Bobo-Dioulasso entfernt. Als ich sah, was Schlingensief in seinem Operndorf realisiert hat – er ließ eine Schule bauen, um den Einheimischen zu helfen, bat Menschen von dort und nicht weiße Europäer, sich um den Ort zu kümmern, protestierte gegen die Flüchtlingspolitik in Europa –, sagte ich mir: Okay, dieser Typ war vielleicht anders. Ich bewarb mich für das Artist-in-Residence-Programm, musste einige Tests durchlaufen, aber im Jahr 2018 schaffte ich es und wurde einge­ laden. Einer von Schlingensiefs Slogans war „Von Afrika lernen“. Auch wenn er damit bewusst mit der Form politischer Parolen spielte: Ist es nicht oberflächlich, von Afrika als einer Einheit zu spre­ chen? Dembele: „Ich will von Afrika lernen“ ist ein sehr komplexer Satz. Was wollen Sie zuerst lernen? Die politischen Aspekte? Die sozialen? Die kulturellen? Wir haben so vieles in Afrika, von dem sich lernen lässt. Das Erste, was in Europa stirbt, ist das soziale Leben. Ich lebe in Belgien und sehe, wie es immer mehr zugrunde geht. Man kann auch von der Architektur lernen oder davon, wie die Gesellschaft organisiert ist. Es ist also ein guter Satz, weil man den Leuten vermittelt, dass man von Afrika lernen will. Aber Lernen ist auch ein komplexer Begriff. Wirklich von jemandem lernen zu wollen heißt, sich anzuschauen, wie derjenige sich verhält, wie er mit den Dingen des Alltags umgeht. Lernen kann aber auch bedeuten, ihn lediglich zu studieren, um über ihn und seine Dummheit zu lachen. Nonoa: Wenn ein Deutscher von einer Zusammenarbeit zwischen Deutschland, einem Land, und Afrika, einem Kontinent mit mehr als fünfzig Ländern spricht, muss man sich fragen: Wie soll das gehen? Wo ist da die Balance? Man findet diese Aussagen in allen politischen und wissenschaftlichen Diskursen. Gleichzeitig müssen wir aber auch sehen, dass nicht nur Europäer so sprechen ... Dembele: ... Menschen aus Afrika tun es auch. Nonoa: Weil wir uns meistens auf Dinge beziehen wollen, die das Gegenüber bereits kennt. Wenn wir über ein afrikanisches Land sprechen, das Europäer möglicherweise nicht kennen, sagen wir einfach: Es ist in Afrika, und so tragen wir dazu bei, den „Diskurs des dunklen Kontinents“ aufrechtzuerhalten, in dem man die Dinge nicht klar verorten kann. Schlingensiefs „Von Afrika lernen“ aber ist, wie Herr Dembele bereits sagte, ein sehr schöner und ambivalenter Satz. Er hat aber noch einen zweiten Ausdruck verwendet: „Afrika beklauen“. Wenn wir diese beiden Ausdrücke zusammenfügen, wird der ideologiekritische Ansatz Schlingensiefs sichtbar. Aus einer kolo-

christoph schlingensief

nialen und sogar neokolonialen Perspektive heraus sind Menschen gewohnt zu sagen: „Wir müssen Afrika beibringen, wie man die Dinge gut macht.“ Dembele: Ja, genau. Nonoa: Wir müssen ihnen Zivilisation bringen. Dembele: Ja! Nonoa: Schlingensiefs Aussagen und Herangehensweisen sind genau das Gegenteil von dieser ganzen Mission im Namen der sogenannten Zivilisierung des armen afrikanischen Kontinents. Sein künstlerisches Schaffen hat nicht nur zahlreiche afrikanische Elemente miteinbezogen. Zugleich hat Schlingensief mit der ­Äußerung „Afrika beklauen“ die Aufmerksamkeit auf ein Tabu­ thema gelenkt: Denn ihm zufolge geht es anhand eines erweiterten Opernbegriffs um eine kulturelle und künstlerische Erneuerung der westlichen Welt. Deshalb behauptet er, „wir müssen von Afrika lernen.“ Mit der Aussage: „Wir müssen einen Ort schaffen, indem wir Afrika etwas klauen“, prangert er gleichzeitig auf subversive Weise die kolonialen und neokolonialen Vorgehensweisen an. Europa hat vieles, von dem Afrika lernen kann, und Afrika hat vieles, von dem Europa lernen kann. Von Afrika zu lernen bedeutet, die übliche Wahrnehmung und den kolonialen Diskurs zu verdrehen, die Perspektive umzukehren. Dembele: … die Begriffe zu verkleiden. Aus europäischer Sicht klingt „Afrika beklauen“ regelrecht unan­ genehm. Europa hat wahrlich genug gestohlen. Dinge, die jetzt in deutschen, belgischen und französischen Museen stehen. Nonoa: Schlingensief hat den Menschen grundsätzlich Unbehagen bereitet. Die Erzeugung eines Störpotenzials war immer Teil seines künstlerischen und ästhetischen Schaffens. Er folgte dabei weder den Sprechweisen der Political Correctness, noch ließ er sich in seinem Handeln durch institutionelle Rahmenbedingungen einschränken. Das riesige Angebot an Kunstgegenständen, die sich heute in deutschen, belgischen und französischen Museen befinden, stammt zumeist aus kolonialen Raubzügen – und das muss thematisiert, diskutiert werden. Interessant wäre auch die Frage, was für wen unangenehm ist: die Geste des kolonialen Raubs im Namen einer „zivilisatorischen Mission“ oder dass diese Tatsache, wie Schlingensief es tat, heute wieder auf den Tisch gebracht wird. Zonatan Dembele, Sie waren 2018 Artist in Residence im Opern­ dorf. Zusammen mit Raphael Dembele und deutschen Kunststu­ denten aus Berlin haben Sie das Projekt „Donkôkéné“ entwickelt. Wie verwirklicht sich dieser subversiv-postkoloniale Ansatz dort? Wie würden Sie die Atmosphäre dieses Ortes beschreiben? Dembele: Zunächst ist es einfach ein wirklich schöner Ort, drei Kilometer von Ziniaré entfernt, sehr ruhig, vor allem in der Nacht, bis fünf Uhr morgens hört man dort kaum Geräusche, außer das Zischeln der Schlangen. Auch die Architektur, entworfen von Francis Kéré, einem Architekten aus Burkina Faso, ist sehr schön. Als Künstler hat mich das sehr inspiriert, vor allem die Kinder, die zur Schule kommen, um dort zu lernen, zu leben und zu essen. Das Operndorf vereint akademische, künstlerische und soziale Aspekte. Was mir wirklich gefallen hat, war die Kombination der sozialen und künstlerischen Seite. Das Operndorf organisiert

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protagonisten

künstlerische Projekte mit Kindern und fördert so ihren offenen Geist, ihre Kreativität. Einer unserer Songs, den ich dort komponiert habe, handelte von den Kindern: „Les enfants“. Als Kind bin ich wie diese Kinder aufgewachsen. Manche kommen ohne Schuhe in die Schule, andere mit fast nichts am Körper. Das war etwas, das mich sehr berührt hat. Nonoa: Es ist in der Tat wie eine soziale Plastik im Sinne von ­Joseph Beuys. Ein Aspekt, der wiederum eine sehr interessante Verbindung zwischen Schlingensiefs Kunst und der afrikanischen aufzeigt: Trotz ihrer Heterogenität gibt es ein Merkmal, das afrikanische kulturelle Darbietungen eint: Sie finden in Form einer ­sozialen Skulptur statt, die alltägliche Aktivitäten des Lebens, Rollenspiel und künstlerische Ausdrucksformen zusammenführt und so zu einer Gemeinschaftsbildung beiträgt. Das Operndorf als soziale Skulptur befindet sich in einem kulturellen Umfeld, in dem es vor dem Kolonialismus weder eine medienspezifische Aufteilung der Kunst in verschiedene Künste gab noch eine eindeutige Trennung zwischen Kunst und Leben. Das ist bis heute so. Gemeinsam Lehren, Lernen, Essen und Kunstmachen. Wie Herr Dembele sagt: Sein Beispiel, über ein Learning-by-Doing-Prinzip seit seiner Kindheit den Weg zum ­Berufsmusiker zu beschreiten, ist das Ergebnis dieser sozialen Plastik. Ich glaube, Schlingensief wusste um diese Tatsache, sein Projekt ließe sich also auch aus einer derartigen grenzüberschreitenden Perspektive der inhärenten Durchlässigkeit zwischen ­Leben, existenziellen Fragen und künstlerischer Kreativität betrachten. Und das ist es, was er in seinem Operndorf nicht nur zum Wohle afrikanischer Künstler, sondern auch zum Wohle westlicher Künstler institutionalisieren wollte. Hinzu kommt der Versuch, die Kompetenzen der Kinder zu institutionalisieren und zu professionalisieren. Wenn man Kunstwerke weltweit verkaufen möchte, muss man sich auf die Ebene des internationalen Kunstmarktes begeben. Traditionelle Arten, Kunst, Musik oder Theater zu machen, müssen angepasst oder modernisiert werden ... Dembele: ... traditionell heißt, die Musik beispielsweise nicht zu notieren. Nonoa: Stattdessen muss man sie für Kunstkonsumenten in der ganzen Welt zugänglich und verfügbar machen. Wenn man dies nicht tut, lassen sich daraus auch keine Gewinne generieren, denn Kunst im Allgemeinen hängt auch von ökonomischen und finanziellen Umständen ab. Deshalb können wir uns nicht beschweren, dass Leute aus Europa kommen und all unsere Kunst rauben. Die Frage ist aber: Wie sollen wir unsere Kunst dem internationalen Kunstmarkt anpassen? Ich glaube, das ist eine versteckte oder übersehene Vision von Schlingensiefs Operndorf. Der senegalesische Soziologe Felwin Sarr schreibt in seinem Essay „Afrotopia“ über die Notwendigkeit eines Empowerments der afrikanischen Kultur – vielleicht in einem ersten Schritt gänz­ lich ohne europäische Einflüsse. Nonoa: Ja, die Afrikaner müssen wirklich selbst für die Ermächtigung ihrer Kultur kämpfen. Aber das Paradoxe in Afrika ist, dass wir auch eine Gruppe von Menschen und vor allem Intellektuellen haben, die der Kolonialideologie entsprechend handeln. Das bessere Konzept wäre also, dass die Einheimischen auf der gleichen

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Zonatan Dembele, geboren 1988 in Koutiala, Mali, studierte am Konservatorium in Bamako Musik. Er ist Bassist, Gitarrist, Sänger und Arrangeur und nahm an national geförderten Austauschprogrammen der Königlichen Akademie in Aarhus und der SibeliusAkademie in Helsinki teil. 2018 war er Artist in Residence im Operndorf Afrika. Foto privat

Koku G. Nonoa, geboren 1979 in AgoméTomégbé, Togo, studierte Interkulturelle Germanistik an der Universität von Lomé. Nach mehrjährigen Tätigkeiten als Lehrer, Reisebegleiter, Schauspieler, Übersetzer und Theaterregisseur promovierte er 2018 zum Thema „Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater“ an der Universität Innsbruck. Seit 2019 ist er Postdoktorand an der Universität Luxemburg und forscht zu Theaterformen im europäischen und afrikanischen Raum. Foto Patrick Galbats

Ebene wie die europäischen Kollegen eine Kultur- und Kunstpolitik entwickeln. Dembele: Und das braucht Zeit! Wir als Artists in Residence verbringen im Operndorf zwei, fast drei Monate. Ich habe zum Beispiel viel mit den Lehrern und den Kindern gearbeitet, wir haben Aufnahmen gemacht, Videos gedreht. Aber um das Projekt wirklich zu vertiefen, war die Zeit zu kurz. Das gilt auch für den Kontakt zur lokalen Musikszene. Ich war in Ziniaré und weiß, dass es dort sehr gute Musiker gibt. Aber auch für diese Kontakte braucht es Zeit. Denn auf den ersten Blick kommt man als Fremder aus Togo, aus Mali und so weiter. Es ist schade, dass es nicht viele Verbindungen zwischen der lokalen Szene und dem Operndorf gibt. Warum bieten sie zum Beispiel das Studio nicht auch Einheimischen an in Zeiten, in denen kein Artist in Residence dort ist? Warum bauen sie kein Netzwerk mit den ansässigen Künstlern auf? Wenn wir als Künstler die Möglichkeit hätten, zurückzukommen, könnten wir unsere Arbeit fortsetzen, uns viel intensiver mit den Gedanken der Kinder und Einheimischen auseinandersetzen und ihre Inspirationen sammeln. Denkbar wäre auch ein Treffen aller Artists in Residence alle zwei Jahre zwecks Austauschs. Nonoa: Das ist eine sehr interessante Idee. Denn wir müssen aus afrikanischer Sicht auch mehr Verantwortung für das über­ nehmen, was dort auf dem afrikanischen Kontinent geschieht. Wenn es etwas gibt, woran man erfolgreich arbeiten kann, dann ist es das interkulturelle Bewusstsein der Kulturpolitik für Kunstschaffende aus Europa und Künstler aus Afrika, die sich dort im Operndorf treffen. Wir alle sind gefangen in der Falle des kolonialen und kolonisierten Denkens, das dekolonisiert werden muss, egal ob wir aus Afrika oder Europa kommen. //


MOUSONTURM Programmvorschau MOUSONTURM IM BAU RAUMLABORBERLIN • Dana Michel CUTLASS SPRING

• Gob Squad Show Me A Good Time 0 3 . – 0 6 . 0 9 . 2 0 2 0 12. – 16.09.2020 • Fabrice Mazliah Manufactured Series Duet #5: The act of reading ( UA ) 2 3 . – 2 7 . 0 9 . 2 0 2 0 • Mammalian Diving Reflex / Darren O’Donnell All the Sex I’ve Ever Had a b 1 5 . 1 0 . 2 0 2 0 • Veit Sprenger / Tobias Euler / Thies Mynther Moon Machine 19. – 2 2 . 11 . 2 0 2 0 • Verena Billinger & Sebastian Schulz Tanzabend / N.N. ab 04.12.2020 • Oliver Augst / Brezel Göring / Françoise Cactus

Reed in Offenbach

ab 12 –

16.12.2020

MOUSONTURM IN DER STADT • Joana Tischkau / Anta Helena Recke / Elisabeth Hampe / Frieder Blume Deutsches Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music (DMSUBM) ( UA ) ab 27.08.2020 • Julia Mihály & Maria Huber Terminal X – Building Our Future ( UA ) ( 21. – 23.08.2020 • andpartnersincrime Die Akademie – Nach dem Ende der Versammlung I ( UA ) 28. & 29.08. • Susanne Zaun & Marion Schneider Trip of a Lifetime 03. – 05.09. & 10. – 13.09.2020 • Theresa Beyer / Paul Hübner / Hannes Seidl You Are Here! Klänge für ein zerstreutes Publikum ( UA ) 1 2 . & 1 3 . 0 9 . / 1 9 . & 2 0 . 0 9 . 2 0 2 0 • LIGNA Zerstreuung

überall! 12 internationale choreografische Positionen zur Kollektivität in der Krise 01. & 02.09.2020 • Akira Takayama / Port B Hölderlin Heterotopia ( UA ) a b 1 9 . 0 9 . 2 0 2 0

TANZFESTIVAL RHEIN-MAIN 30.10. – 1 5 . 11 . 2 0 2 0 • Doris Uhlich HABITAT 3 1 . 1 0 . & 0 1 . 11 . • Pinsker & Bernhardt SCHAM ( AT, UA ) 0 1 . – 0 5 . 11 . • Tony Rizzi / Bad Habits About the time / Now ( UA ) 07. – 10.11 . • Tanztag Rhein-Main 1 4 . & 1 5 . 11 . DMT – DIGITALER MOUSONTURM • Forced Entertainment Table Top Shakespeare: At Home Edition 17.09. – 15.11.2020 • NODE20 Forum for Digital Arts Forum for Digital Arts 02. – 08.10.2020

UND AUSSERDEM • Faustin Linyekula Histoire(s) du Théâtre II ( DEA ) 0 2 . – 0 4 . 1 2 . 2 0 2 0 • Swoosh Lieu Neues Projekt ( UA ) ab 1 4 . 1 2 . 2 0 2 0 • Jan Lauwers / Needcompany All the Good März 2021 • andcompany&Co. feat. Arbeiter*innentheater Neue Horizonte: Eternity für alle! 19. – 23.01.2021 • Nature Theater of Oklahoma Burt Turrido. An Opera ( UA ) ab 28.01.2021

• Bruno Beltrão New Creation ( UA )

Under Bright Light

18. – 20.03.2021

• Forced Entertainment

27. – 29.04.2021

mousonturm.de


Motive: © NewfrontEars

HAU

HAU1 – Stresemannstr. 29, D-10963 Berlin HAU2 – Hallesches Ufer 32, D-10963 Berlin HAU3 – Tempelhofer Ufer 10, D-10963 Berlin HAU4 – Digitale Bühne für das HAU-Onlineprogramm

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WIR SPIELEN WIEDER! 24 JULI 2020 26 AUG 2020 DIE GOLDBERG-VARIATIONEN PROBLEME PROBLEME VON GEORGE TABORI NACH INGEBORG BACHMANN REGIE: CHRISTIAN STÜCKL REGIE: ABDULLAH KENAN KARACA IM GARTEN DES VOLKSTHEATERS 6 SEPT 2020 29 JULI 2020 GEHÖRLOSEN-HÖRSPIELUA DAS HÄSSLICHE UNIVERSUM VON NOAM BRUSILOVSKY VON LAURA NAUMANN REGIE: NOAM BRUSILOVSKY REGIE: SAPIR HELLER 22 OKTOBER 2020 7 AUG 2020 HERKUNFT DER BAU NACH SAŠA STANIŠIĆ NACH FRANZ KAFKA REGIE: FELIX HAFNER REGIE: MIRJAM LOIBL WEITERE VERABREDUNGEN FÜR INSZENIERUNGEN FÜR DIE 14 AUG 2020 KOMMENDE SPIELZEIT INDIEN GIBT ES MIT DEN REGISSEUR*INNEN: VON ALFRED DORFER CHRISTIAN STÜCKL, ABDULLAH KENAN KARACA, UND JOSEF HADER MIRJAM LOIBL, LEONIE THIES, REGIE: SIMON SOLBERG PHILIPP ARNOLD UND IM GARTEN DES VOLKSTHEATERS

SAPIR HELLER.

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abschied

/ TdZ September 2020  /

Heldin der Wüste Zum Tod der großen Schauspielerin Irm Hermann. Ein Abschiedsbrief

von Sebastian Rudolph

L

iebe Irm,

wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, und nun bist Du plötzlich für immer weg. Wenn ich an Dich denke, an die Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben, fällt mir natürlich ein – und alle wissen es ja auch und kennen Dich so: Du warst die Mutter, Du warst die Heimat. Du warst eigentlich immer da. Ein Felsen warst Du, an den anbranden konnte, was wollte oder eben musste. Du warst Dir für nichts zu schade. Du warst gut. Und Du warst natürlich auch das Abstoßungsobjekt, die Verkörperung von Sicherheit und Ordnung, das lebende Bild des umarmenden und einengenden Heims. Und dabei warst Du – und so habe ich Dich vor allem gesehen – auch eine Dame, ein Mensch, dessen Würde durch nichts angegriffen werden konnte, ein neugieriges Kind, eine unglaublich erotische Frau. Du warst keine Schauspielerin, die spielt, Du warst eine, die auf der Bühne einfach sein konnte. Das kenne ich, da fühle ich mich zu Hause (da ist sie wieder, die Heimat). Und so konnte ich mit Dir die verstörendsten, be­ törendsten Momente erleben, besonders wenn es auf der Probe nicht gepasst hat. Denn dann war alles hölzern und Theater so abwegig und sichtbar falsch. Genau dafür warst Du der Seismograf. Christoph Schlingensief fing an zu schimpfen, aber irgendwann, meistens, ruckelte sich etwas zurecht, und ohne Mühe und ohne Spiel warst Du da, warst Projektionsfläche und Menschlichkeit zugleich – voller Schönheit. Wenn es aber nicht passierte … dann hast Du einfach weitergemacht, auf eine altmodische Weise, die ich vermissen werde.

In der „Hamlet“-Inszenierung in Zürich hatte Christoph die Angewohnheit, mitten in einer Szene auf die Bühne zu springen. Während der Vorstellung. Man sieht das auch in dem Film, den er mit Peter Kern gemacht hat. Er sprang auf die Bühne, um alles anzuhalten, und rief: „Was ist da los?“ Dann begann er zum Beispiel, über Gertrud, die Mutter, zu sprechen, die Du spieltest. ­Deinen Blick werde ich nie vergessen. Etwas pikiert ob seines ­Eindringens in unseren Raum und gleichzeitig belustigt mit blitzenden Augen warst Du unerreichbare Mutter und Komplizin zugleich. Mit einem Seitenblick nahm Christoph den Kontakt zu Dir auf und gewann daraus seine Energie für die folgende Analyse der Verbindung zwischen Hamlet und seiner Mutter. Es war alles anwesend: Du und er, Hamlet und Gertrud, eine Theaterszene und ein Schlingensief-Moment mit Zuschauern, die riefen: „Gehen Sie da runter, wir wollen das Stück sehen!“ Ich habe gerade mit meinem kleinen Sohn „Herr der Ringe“ gelesen, und mein Held dort ist Sam Gamdschie. Schon seit ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe. Nicht der große Zauberer oder der geheimnisvolle Waldläufer oder der schöne Elb, nein, der kleine Kerl, der den Ringträger auf seinem Rücken den Schicksalsberg hinaufträgt, in der Wüste seine Hand streichelt und ihm Mut zuspricht, Ausdruck der für mich größten Werte: Hingabe und Demut. Du warst, glaube ich, auch so ein Sam Gamdschie. Die folgenden Zeilen von Hölderlin würde ich Dir gerne auf Deinen Weg mitgeben: „Ich weiß nicht, wie mir geschiehet, wenn ich mein Auge erhebe vor Deiner Schöne, aber alle Lust des Himmels ist in den Tränen, die ich weine vor Dir.“ //


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Keine Schauspielerin, die spielt – sondern eine, die auf der Bühne einfach sein konnte: Irm Hermann als Königin Gertrud in Christoph Schlingensiefs „Hamlet“ (hier mit Peter Kern). Foto Filmgalerie 451 / David Baltzer


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Meine Wurzel des Theaters Ein letztes Treffen mit dem Schweizer Regisseur Werner Düggelin, der im August verstarb

von Peter Michalzik

E

s ist einer jener unglaublich heißen Tage Ende Juni in diesem unglaublich heißen Sommer 2019. Es ist kurz vor dem Abschied von Intendantin Barbara Frey vom Zürcher Schauspielhaus. Der 89-jährige Regisseur Werner Düggelin sitzt mir im Donati in Basel beim Mittagessen gegenüber, und wir versuchen gemeinsam, dem flüchtigen Geist des Theaters nachzuspüren. Am Ende dieses ­langen Mittags wird er sagen, unser Essen sei fast wie eine Séance gewesen. Er habe Sachen gesagt, die er noch nie gesagt habe. Ja, wir haben über Angst gesprochen an diesem Mittag bei Donati, über Lebenskrisen und romantische Todessehnsucht. Er

habe, hat Düggelin gesagt, niemals Angst gespürt. Vor Krankheiten, ja, aber nicht vor dem Tod und nicht vor dem Leben. Er habe nie Existenzangst gehabt. Wir haben über die Offenheit von Schauspielern gesprochen, ihre Durchlässigkeit. Überhaupt sei seine Entwicklung nicht die zur Einfachheit gewesen, wie so oft gesagt werde, zur Reduktion, es war eher die Entwicklung zur Durchlässigkeit. Vielleicht kann man es so sagen: Der Regisseur Werner Düggelin hat im Verlauf seines langen Regielebens immer einfachere S ­ achen auf der Bühne gemacht, um die Durchlässigkeit der Schauspieler immer sichtbarer werden zu lassen.

Der Dügg – So wurde der große Regisseur Werner Düggelin von Freunden und Bewunderern liebevoll genannt. Foto dpa


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Wir haben über viele Aufführungen gesprochen, die berühmten, die weniger bekannten, eine Johannespassion in Neapel zum Beispiel, mit Kindern. „Das waren zum Teil Kinder, die noch nie Theater gesehen hatten, die auf der Straße lebten. Aber wie einer von ihnen da am Kreuz hing, das werde ich niemals vergessen. Oder wie die Darstellerin der Maria Magdalena die Füße gewaschen hat.“ Wir haben auch über Theatertheorien und Regiekonzepte gesprochen. Aber es ist deutlich, Düggelin mag das nicht. „Theater hat für mich, es hört sich vielleicht kitschig an, mit Menschen zu tun. Immer.“ Schweigen. „Ja, gut, aber was heißt das?“ „Ich will eine Wahrheit erreichen.“ – „Ja, aber was heißt das?“ Er erzählt von einem „Zigeunerbaron“, den er in Wien, wo er im Mittelteil die „Zigeuner“, die immer als zerlumpte, zerschossene Kriegsheimkehrer auftreten, als Volk in weißen Seidenanzügen, mit bunten Hemden und einem Glas Champagner in der Hand auftreten ließ. „Das steht bei Strauß so da. Das war die Wahrheit. Aber ich hatte mich damit an etwas vergangen. Was denken Sie, was da los war. Es gibt einen dritten Ausgang, meinten die Bühnenarbeiter zu mir, um mich vor der aufgebrachten Menge vor dem Bühneneingang zu schützen. Im Hotel Sacher, wo ich wochenlang verwöhnt worden war, wurde am nächsten Tag, bei der Abreise, nicht einmal mehr mein Koffer getragen.“ „Ja, gut, aber woher kam das? Was ist das, die Liebe zur Wahrheit im Theater?“ Wir schweigen. Düggelin sagt auf die Frage, ob es ein Schweizer Theater gebe: „Ja, die Fasnacht in der Innerschweiz. Da, wo ich herkomme.“ Düggelin ist anfangs aus der Schweiz geflohen, nach Paris, hat bei Roger Blin gelernt und ist bei ihm in Becketts und Ionescos Welt eingetaucht. Dann tauchte er in Darmstadt auf, wo er, wie er sagte, „richtig Scheiße“ produzierte, weil er dachte, dass er mit den deutschen Schauspielern so träumen könne wie mit den französischen. Dann wurde er berühmt, München, Berlin, Wien, Hamburg, Salzburg, Zürich. Alle begannen, ihn den „Dügg“ zu nennen. Er inszenierte Klassiker, neue Stücke, Opern. Zuletzt hat er in Zürich mit zwei Schauspielern Büchners „Lenz“ erarbeitet. Wir schweigen immer noch. „Vor vielen, vielen Jahren habe ich gemerkt, dass mich ­Theater langweilt. Ich fragte mich damals selbst: Warum habe ich das Theater früher so geliebt? Was war es, das ich so geliebt habe? Es muss doch einen Grund geben, dass ich das nicht mehr verstehe!“ Ich schaue ihn erwartungsvoll an. „Der Grund war: Ich habe dem Theatralischen mehr vertraut als den Menschen und dem Text.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Ich hörte meine Schauspieler auf meiner Probe Texte sagen, die mich nicht interessierten. Ich war auf meiner eigenen Probe vom Theater gelangweilt.“ „Wann war das?“ „Das war die Zeit ganz großer Erfolge, als ich noch jung war, 32, 33 Jahre alt.“ „Es war eine echte Krise, eine Lebenskrise?“ „Ja. Große Arbeiten lagen vor mir. Ich habe abgesagt. Weil mich niemand verstand, sagte ich, ich sei krank.“

werner düggelin

„Entscheidend war die Unlust?“ „Ja. Gespiegelt hat mir das Hans Bauer. Er hatte von mir ,Wie es euch gefällt‘ in Stuttgart gesehen. Da haben sehr viele große Stars mitgespielt. Er habe dort drin gesessen und sich gefragt, was, das soll jetzt dieser hochbegabte, junge Mann gemacht haben? Und später, als ich wieder arbeitete und Intendant in Basel geworden war, hat er meinen ,Woyzeck‘ gesehen. Da kam er in mein Intendantenbüro und hat geweint. Auch das hört sich kitschig an, aber so war es. Und dazwischen war die Krise. Dazwischen wollte ich nicht mehr. Ich hatte keinen Spaß mehr. Und der Bauer hat’s genau gemerkt.“ „Was ist denn in der Zeit dazwischen passiert, dass es wieder ging?“ „Nichts.“ „Nichts?“ „Ich komme mir schon vor wie Beckett. Nichts. Er wollte, als noch niemand ,Warten auf Godot‘ verstand, nichts erklären. Er wollte die Sätze stehen lassen und sie nicht erklären.“ „Das ist aber doch eine Frage von grundsätzlichem Interesse, die Frage nach den lebendigen Wurzeln des Theater­ machens.“ „Ja, das stimmt. Entscheidend ist, dass Sie merken, dass Sie spüren, dass Sie zulassen, dass diese Wurzel nicht mehr da ist. Dazu erzähle ich eine weitere Geschichte: Rosel Schäfer, eine von mir sehr geliebte Schauspielerin, die bei einem Autounfall gestorben ist, hatte im ,Woyzeck‘, sie war Marie, einen sehr schwierigen Satz zu sagen: ,Heiland, Heiland, ich möchte Dir die Füße salben.‘ Nun, da braucht es viel, dass ein solcher Satz auf der Bühne nicht Literatur bleibt, auch wenn er gesprochen wird. Es braucht eine Auseinandersetzung mit dem Glauben. Vielleicht wissen Sie, ich hasse Religionen. Ich bin ein gläubiger Mensch, aber ich hasse jede Religion. Auf diesem Feld braucht es einen sehr langen Weg, bis man bei dem Satz ankommt. Auch für eine so großartige Schauspielerin wie Rosel Schäfer. Es braucht ernsthafte Diskussio­ nen, bis der Schauspieler auch angefasst ist von dem Satz. Für diesen Weg braucht man einen Mut, den nur wenige Menschen haben. Und für den Mut braucht es die Erfahrung der Krise.“ Der alte Düggelin, der mir an diesem heißen Tag gegenübersitzt, wirkt, als würde er es wieder gerne ausprobieren, als würde er gerne weitermachen, wieder und von Neuem, den Geist des Theaters mit ein paar Schauspielern auf eine Bühne zu bringen, diese flüchtige Wahrheit über Menschen, die man in Texten finden kann, die man mit Schauspielern erleben kann, die man auf einer Bühne sehen kann. Ja, ja, sagt er, er würde gerne noch viele Inszenierungen machen. Und nein, er werde es nicht mehr tun. Es strenge ihn zu sehr an. Aber nein, es sei nicht bitter, dass er nicht mehr inszenieren könne. Werner Düggelin ist eines jener Glückskinder, die sich nicht angedient haben, er hat sich, sagt er, nie beworben. Er habe in seinem Leben immer das gemacht, was er wollte, und die Dinge seien auf ihn zugekommen. Und deswegen sei es nicht bitter, dass er jetzt nicht mehr inszenieren könne. Er habe gemacht, was er wollte. Er sei zufrieden. Am 6. August ist Werner Düggelin, der am 7. Dezember 1929 geboren worden war, in Basel gestorben. //

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protagonisten

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Der Dompteur der Zeit Erinnerungen an den Schauspieler Peter Maertens von Christopher Rüping

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er Theaterhimmel über Hamburg hat einen neuen Stern bekommen. Peter Maertens, der wunderbare Grandseigneur des Thalia Theaters, ist am 11. Juli im Alter von 88 Jahren gestorben. Hier unten, in der Hitze der Stadt, spürt man seine plötzliche ­Abwesenheit schmerzlich.

Seit ein paar Tagen bin ich wieder hier in seiner Stadt, probe an seinem Theater, an dem in dieser Spielzeit zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten kein Maertens mehr spielen wird. Ich wohne sogar in St. Georg, in seinem Stadtteil. Oft ertappe ich

Peter Maertens (l.) war der Anfang und das Ende, sagt Christopher Rüping – Auch in „Panikherz“, ihrer letzten gemeinsamen Arbeit, hier mit seinem Kollegen Sebastian Zimmler. Foto Krafft Angerer


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mich bei der Vorstellung, wie Peter durch gerade diese Gasse läuft, um genau diese Ecke biegt. Ich stelle mir vor, wie er auf der Straße von eben diesen Anwohnern, die mir fremd sind und fremd bleiben werden, die er aber gekannt haben muss – oder die zumindest ihn gekannt haben müssen –, mit einer Mischung aus hanseatischem Pragmatismus und unverhohlenem Stolz gegrüßt wird. Es gibt eine Anekdote – Peter erzählt sie wenige Wochen vor seinem Tod in einem sehr schönen Gespräch mit dem Dramaturgen ­Matthias Günther, das glücklicherweise aufgezeichnet wurde. Sie handelt von Peters Vater, dem Schauspieler Willy Maertens, der 1945 Intendant des Thalia Theaters wurde. Weil er nach dem Krieg kein eigenes Auto hatte, stellte das Theater ihm einen Wagen und einen Fahrer. Und dieser Fahrer, der Willy Maertens nun also jeden Tag durch Hamburg fuhr, wurde allmorgendlich von selbigem da­ rauf hingewiesen, bloß vorsichtig zu fahren: Schließlich könne jeder Fußgänger ein potenzieller Abonnent sein, dessen Gesundheit man ja nun auf gar keinen Fall gefährden wolle! Ich glaube, ich habe das Prinzip Stadttheater und seinen Zauber überhaupt erst dank Peter verstanden: Die unverkrampfte (weil gelebte und nicht am Schreibtisch entworfene) Verwebung mit der Stadt, in der man arbeitet – das war sowohl Peters Alltag als auch der seines Vaters. Ich lausche weiter der Tonaufnahme des Gesprächs zwischen Peter und Matthias. Peter erzählt nun von wichtigen Begegnungen mit Regisseuren: Heinz Hilpert, Jürgen Flimm, Luk Perceval, Nicolas Stemann. Am Ende nennt er auch mich, was mich unendlich dankbar und demütig macht. Aber ihr Gespräch bleibt nicht in der Vergangenheit stecken, dafür war Peter nicht der Typ, er wechselte mühelos zwischen Erinnertem und Geplantem. Und so wendet sich auch dieses Gespräch bruchlos der Zukunft zu: Peter schlägt vor, demnächst wieder auf die Thalia-Bühne zurückzukehren, zwar könne er im Moment nicht laufen (er sagt, die Techniker müssten ihn wohl stützen), aber im Rollstuhl sitzend lesen, das ginge durchaus. Und schon beginnt er ein Gedicht zu rezitieren und fragt Matthias nach seiner Meinung: Ob das wohl was wäre? Es ist dann nicht mehr dazu gekommen. Man sagt das immer so schnell: „Die Bühne war sein Ein und Alles.“ Oder: „Er hat für das Theater gelebt.“ Ich glaube das nicht. Nie. Ich glaube nicht, dass Peter Maertens, dieser Vollblutschauspieler, dessen Vor- und dessen Nachfahren Michael, Kai und Miriam Maertens ebenfalls auf der Bühne standen und stehen, für das Theater gelebt hat. Ich glaube nicht, dass die Bühne sein Ein und Alles war. Peter hatte eine Familie, die er liebte und die ihn liebte. Er hatte Freundschaften, die er bis ins hohe Alter unterhielt. Er war Fußballfan, hielt eine Zeitlang zum Hamburger SV, war dann Stammgast bei den Heimspielen des FC St. Pauli. Und natürlich hatte er Träume und Albträume, hat sich Sorgen gemacht um die Gesundheit und das Glück seiner Kinder, hatte Ängste und Sehnsüchte, hatte Geheimnisse (wahrscheinlich), hatte Erin­nerun­ gen an durchzechte Nächte und Sonnenaufgänge, hatte ein Lieblingslokal und eine Lieblingsfarbe (vielleicht), hat Pläne gemacht und verworfen, hatte Gedanken, die verwehten, und Begegnungen, die sich im Sand verliefen. Ich weiß von alledem nichts, wir haben nie darüber gesprochen, aber das heißt nichts anderes, als dass er andere Menschen hatte, mit denen er darüber sprach.

peter maertens

Wenn wir uns miteinander unterhielten, ging es ums Theater. Oder um Hamburg. Manchmal (zu selten) bin ich mit Peter gemeinsam durch St. Georg oder Altona gelaufen, und er erzählte mir von dieser Stadt, die er in Schutt und Asche gesehen und deren Wiederaufbau er begleitet hatte. Jedes Haus und jeden Straßenzug sah er mehrfach und in unterschiedlichen Zuständen der Zerstörung und des Wiederaufbaus vor seinem geistigen Auge – eine endlose Doppelbelichtung: Das, was war, und das, was ist. Beide Wirklichkeiten existierten neben­einander, waren in ihm vereint. Überhaupt, die Doppelbelichtung: Ich habe Peter als alten Mann kennengelernt, bei unserer ersten Begegnung war er 82 Jahre alt. Und trotzdem bilde ich mir ein, ihn mir als jungen Mann vorstellen zu können: das Blitzen in den Augen, der Schalk im Nacken, das Lachen, das ihm so leichtfiel. Auch die Großzügigkeit gegenüber ehemaligen und gegenwärtigen Schauspielkolleginnen und -kollegen, die schnell in offene Bewunderung umschlagen konnte. Die Neugier! Er hatte schon so viele kommen und gehen sehen – und blieb trotzdem neugierig auf alle, die da nachrückten. Die Unsicherheit auch, jedenfalls manchmal. Und – bei all der Erfahrung, all der Geschichte, die dieser große Schauspieler nicht nur erlebt, sondern selbst geprägt hatte: seine Bescheidenheit. Es war, als wären in dem Peter, den ich kennenlernen durfte, all die Peters enthalten, die ich leider verpasst habe: konstante Mehrfachbelichtung, die simultane Präsenz von Gegenwarten und Vergangenheiten. Ein mühe­loses Gleiten zwischen dem, was war, dem, was kommt, dem, was ist. Diese seltene Gabe hatte Peter auch auf der Bühne – ich glaube, sie ist ein Wesenszeichen vieler großer Schauspielerinnen und Schauspieler: den Puls der Zeit für einige Momente aus seiner erbarmungslosen Gleichmäßigkeit zu befreien. Mit der Zeit zu spielen. Ihr für ein paar Augenblicke zu entwischen. In gewisser Weise war Peter für mich auf der Bühne immer auch ein Dompteur der Zeit. Zu Beginn von „Bye Bye Hamburg“ drehte er sie zurück, verwandelte die Gaußstraße, in der wir damals spielten, Jahrzehnt für Jahrzehnt zurück: in eine Probebühne, in das Lager eines Gemüsehändlers, in eine sandige Brache. Er führte uns bis ins Jahr 1940, als seine Mutter, die unter ihrem Künstler­namen Charlotte Kramm ebenfalls am Thalia Theater gespielt hatte, als „Nicht-Arierin“ bereits Auftritts- und Hausverbot hatte und die Vorstellungen, in denen sein Vater Willy spielte, also nicht mehr besuchen konnte, sodass er, Peter, als kleiner Junge alleine im Saal des Thalia Theaters saß und seinem ­Vater da oben beim Spielen zuschaute. Am Ende von „Die lächerliche Finsternis“ traf man mit einer schwer zu erklärenden Zwangsläufigkeit auf ihn im Dschungel – so, wie man am Ende von „Apocalypse Now“ auf Marlon Brando trifft. Er war der Anfang und das Ende. Auch bei „Panikherz“, unserer letzten gemeinsamen Arbeit: Sie beginnt mit ihm als Benjamin von Stuckrad-Barre im Cowboy-Outfit und endet auch so. Jeder Abend ein Spektakel, jedes Leben eine gute Geschichte. Für mich hätte es ewig so weitergehen können. Die Zeit hat es anders gewollt. Lieber Peter, ich wünsche dir eine gute Reise. Ich vermisse dich. //

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Eröffnungsfest

BELLA CIAO

Revolutionäre Lieder und Texte mit dem Ensemble und dem Bürger*innenchor Fr 4. September 2020

WOYZECK

Robert Wilson/Tom Waits/ Kathleen Brennan nach Georg Büchner Sa 19. September 2020

PÜNKTCHEN UND ANTON

Erich Kästner Familienstück Sa 7. November 2020 Schulpremiere Di 24. November 2020

KING SIZE

Christoph Marthaler Do 7. Jänner 2021

ALLE MEINE SÖHNE

GELD, PARZIVAL

Joël László – Uraufführung Koproduktion mit dem Theater Marie So 4. Oktober 2020

Arthur Miller Mi 17. Februar 2021

JEPHTHA

Georg Friedrich Händel In Kooperation mit dem Symphonieorchester Vorarlberg So 7. März 2021

SPRICH NUR EIN WORT Maximilian Lang – Uraufführung Sa 10. April 2021

SCHLAFES BRUDER Robert Schneider Do 29. April 2021

DIE VÖGEL Aristophanes Sa 29. Mai 2021

Foto: Annette Schreyer

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Theater und Moral Die Welt ist mehr als das, was augenfällig ist. Auf der Vorderbühne im Licht steht der Einzelne, der nur das Gute will. Doch die im Dunkeln sieht man nicht, jene außerhalb der Lichtkegel der bürgerlichen Beleuchtung. Dort ­verbirgt sich das Obszöne aller bisherigen Gesellschaften, die Ausbeutung. Und das Theater, so argumentiert der Autor und Dramatiker Mesut Bayraktar, hat sich seit der Antike immer bemüht, dieses Verborgene sichtbar zu ­machen – und die moralische Fassade zu durchlöchern. Bayraktars Essay ist der dritte Beitrag in unserer Reihe über Theater und Moral.

Christopher Rüpings Inszenierung von Bertolt Brechts „Trommeln in der Nacht“ an den Münchner Kammerspielen 2017. Foto Julian Baumann

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mesut bayraktar

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Glotzt nicht so moralisch Seit jeher kritisierte das Theater die Moral, um den Skandal der Ausbeutung sichtbar zu machen von Mesut Bayraktar

I. Seitdem das Theater in der antiken Sklavenhaltergesellschaft in Griechenland entstanden ist, steht es im Konflikt mit der Moral. Während die Moral die Gesamtheit ethisch-sittlicher Normen umfasst, die das individuelle Handeln zugunsten des gesellschaftlichen Konsenses regulieren, stellt das Theater diesen gesellschaftlichen Konsens in seinem inneren Zusammenhang zur Schau. So macht es ihn verhandelbar. Theater als Theater macht den gesellschaftlichen Konsens ipso facto fragwürdig und schafft eine Bedingung der Möglichkeit von Dissens. Es verweltlicht politische Macht im Wege spielerischer Selbstkonfrontation der realen Gesellschaft mit einer virtuellen, die die reale zu sein vorgibt. Das unreflektierte Selbstverhältnis wird in einer sinnlichen Reflexionsform erfahren. Das ist die historische Aufgabe des Theaters. Sein Begriff besteht, folgt man Platon, aus einer dreistelligen Relation: Der Theoros ist der Zuschauer im Theater, das Theorein das zusehende Anschauen und die Theoria das in der Anschauung gewonnene Bild der Sache. Mithin entsteht die sinnliche Reflexion aus dem Gegenteil ihrer selbst, nämlich aus der Sache. Und es ist dann auch Platon gewesen, der das Theater und die Kunst aus moralischen Gründen im idealen Staat verboten wissen wollte, damit die Klassenmacht der Besitzenden nicht untergraben wird. Der Polis-Bürger, selbst von Sklavenarbeit lebend, sollte sich kein vom Schauspiel produziertes Bild der widersprüchlichen Idee des Dēmos-Ganzen machen dürfen. Die platonische Kritik an der Kunst fällt heute zusammen mit dem Selbstverständnis der Postdramatik. Beide zielen auf ein Nachahmungsverbot. Die Ablehnung des Mimetischen nichtidentischer Seinsverhältnisse schlägt um in die Ontologisierung vulgärsubjektivistischer Selbstidentität einzelner Selbste. Diesen Innenraum des Subjekts, unterworfen

und proletarisiert zugleich, verkauft das delphische Orakel ­namens Markt als Freiheit. II. Im Gegensatz zu Platon entschied Aristoteles den Konflikt zwischen Theater und Moral weitaus subtiler. An der Nachahmung in der Kunst schätzte er die Katharsis, die eine Gemeinschaftserfahrung der Vielen und Verschiedenen ermöglicht. Sie erlaubt aber auch eine Art Ersatzhandlung, mit der die Unzufriedenheit unschädlich gemacht und so in die Herrschaft der ausbeutenden Klassen integriert werden kann. Jahrhunderte später war es Hegel, der sagte, die Kunst bringe den Menschen dazu, ihren Schein als Wirklichkeit zu fassen, Schein und Sein zu verwechseln. Kunst ist nicht nur machtzersetzend, wie Platon dachte, sondern nach Aristoteles kann Kunst ebenso ein Machtfaktor sein. Und zwar progressiv wie repressiv, je nachdem, ob sie sich selbst gehorcht oder der Autorität. Es war die bürgerliche Klasse, die in ihrem revolu­ tionären Kampf gegen den Feudalismus das kritische Poten­zial des Theaters zunächst beförderte und mobilisierte. Selbstzweck der Kunst und bürgerliche Emanzipation fielen zusammen, bis die Bürgerlichen nach der politischen und ökonomischen Macht­ eroberung bis heute die Kunst der Moral und dem stummen Zwang des Marktes überantwortet haben. So arbeitet Kunst im Dienst des Anti-Realismus der kapitalistischen Produktionsweise, die fortwährend Fetischismen und Illusionen erzeugt, um den Prozess der Verwertung zu verhüllen. Was heißt hier also Moral? III. Moral, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen absieht, ist Moralismus. Sie ist abstrakt, Moral heckende Moral. Gerade da­ rum, weil sie trotz ihres abstrakten Standpunkts auf dem realen

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theater und moral #3

Boden gesellschaftlicher Wirklichkeit steht, verhüllt sie nicht nur die herrschenden Verhältnisse. Abstrakte Moral zerstört vielmehr die Realität jener, die sich moralische Makellosigkeit nicht leisten können, da mit abstrakter Moral der Hunger nicht zu stillen ist. Insofern ist Moralismus nach innen gebrochene soziale Gewalt und hat nur den Zweck, das Gewissen der Beherrschten zu kolonisieren. Das Über-Ich wird mit polizeilichen Befugnissen ausgerüstet, um jeden kritischen Gedanken des Ichs im triebhaften Protest des Es, das an der Warenförmigkeit der Außenwelt leidet, zu neutralisieren. Schuld ist immer das Individuum, nicht die Gesellschaft, in der der Mensch Individuum wird. Leid wird Selbstmitleid, das seine Wahrheit außer sich mittels einer Scham in sich versteckt. So verlängert sich die materielle Ausbeutung des warenförmig annektierten Körpers in seelische. Der Eiter der Wunden, die die Ausbeutung den Körpern zufügt, staut sich im vom Privateigentum entäußerten Gesellschaftlich-Unbewussten. Moralismus entpuppt sich als Vergeistigung sozialer Gewalt im Überbau, die im Unterbau den realen Ausbeutungsprozess verwaltet. Die Moral der Herrschenden war und ist immer abstrakt. Die Reflexion über die Frage „Wessen Moral?“, wie sie Luise Meier stellt (siehe TdZ 06/2020), hat heute zum Ausgangspunkt die bürgerliche Moral, weil sie die herrschende ist. Konkrete Moral hingegen ist die Moral der Geschichte der Freiheit, spezifiziert in einer historischen Situation der Unfreien. Sie ist revolutionär, weil sie nicht auf außerweltliche oder überzeitliche Grundlagen zurückgreifen muss. Ihre Leidenschaft bezieht sie aus dem Leiden an der Verweigerung der Garantien des Lebens. In der Moderne ab dem 19. Jahrhundert trat sie stets in der Gestalt der Moralkritik auf, weil das universale Versprechen der Bürgerlichen auf Freiheit sich als partikulares erwies. Konkrete Moral – konkret, weil sie den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang in ihre Urteilsfindung einbezieht – ist Moralkritik. IV. Demnach ist ein bloß moralisches Argument ein unpolitisches, es wirkt entpolitisierend auf ganzer Linie. Kennzeichnend für das Moralisieren ist die Privatisierung gesellschaftlicher Widersprüche. Sie treten nicht mehr in Erscheinung, werden gar tabuisiert. Wenn der Moralismus in der Kunst „ein verdeckter Angriff auf Denken, Kritik und Erfahrung“ ist, wie Jakob Hayner behauptet (siehe TdZ 04/2020), so ist die Kehrseite dieses Sachverhalts das Fehlen einer Kunst der Dramatik und Konfrontation, ein Mangel, der mit dem Abhandenkommen des Blicks auf die Klassenkämpfe ab 1990 bis heute einhergeht. Die Klassen sind verschwunden, blitzhaft, wie bei einem Attentat. Mitverursacher der „Moralfalle“ (Bernd Stegemann) ist demnach auch die postdramatische Entgrenzung der Kunst auf Kosten der Kunst. Kunst aber, die auf die Konfrontation von strukturell Nichtübereinstimmenden verzichtet, leistet Selbstverzicht. Übrig bleibt die Einteilung in „moralisch“ oder „unmoralisch“. Übersehen wird dabei, dass sich in der Widerspruchslosigkeit der Handlungsmaximen die Macht der Bürgerlichen selbst applaudiert. Räsoniert so viel ihr wollt, aber gehorcht dem Wertgesetz, das ist der Kern des kategorischen Imperativs der bürgerlichen Gesellschaft, den zu hinterfragen Kunst und Theater verlernt zu haben scheinen, obwohl dies noch im letzten Jahrhundert das Ethos der Dramatik bildete.

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V. Das Gegenteil – die Ambivalenz, die sinnliche Opposition, der denkende Genuss – wird durch die abstrakte Moral zugunsten des reinen Gewissens erledigt. Hegel hat dazu einen passenden Ausdruck, nämlich die „schöne Seele“. Der Bürgerliche fällt zurück in den „leeren Formalismus“ der Moralität und wird eine „wirklichkeitslose schöne Seele“, welche „in sehnsüchtiger Schwindsucht zerfließt“ und „ein reines Sein oder das leere Nichts“ ist, da sie sich die Unschuld eben damit bewahren möchte, sich aus den ­Widersprüchen und Kämpfen der Welt herauszuhalten. „Diese absolute Selbstgefälligkeit“ bleibt „ein einsamer Gottesdienst seiner selbst“ und kann „auch eine Gemeinde bilden“, „deren Band und Substanz etwa auch die gegenseitige Versicherung von Gewissenhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit, vornehmlich aber das Laben an der Herrlichkeit dieses Sich-Wissens und Aussprechens und an der Herrlichkeit dieses Hegens und Pflegens ist“. Soweit Hegel. Blickt man ins Theater, kann man sich dem Verdacht nicht entziehen, dort tüftele eine Gemeinde von schönen Seelen, die vom Leben der unteren Klassen und den realen Folgen der eigenen Lebensweise wenig wissen will. Umrahmt wird dies vom Chor der Feuilletonisten, die sich Institutionenkritik im Bachelorstudium angeeignet haben statt in der gesellschaftlichen Praxis gegen die Institutionen. Fast die gesamte moderne Kultur hat heute ihre Hauptbeschäftigung darin, den Massen ein Leben vorzutäuschen, das darauf abzielt, die Verdrängung der Ausbeutung zu erleichtern. Es geht um das Vergessen. Der ungeheure Pluralismus, der wie ein scheinbarer Kulturreichtum aussieht, zerschlägt in Wirklichkeit die Orientierung des Menschen in der Welt, was zu leisten die Hauptfunktion von menschlicher Kultur war und ist. Kultur aber im spätbürgerlichen Kapitalismus ist Dekomposition der Kulturtätigkeit, die zur Desorientierung Beihilfe leistet. Darin gleicht die heutige Kultur dem vielfältigen Drogenmarkt. Sie fragmentiert die Einheit des Weltganzen. Nur so kann der Bürgerliche ein Leben führen, von dem er aufrichtig denkt, es sei das menschliche Leben schlechthin. Abstrakte Moral macht daraus die beste aller möglichen Welten, wohingegen die konkrete Moral sie als die schlechteste aller möglichen entlarvt. VI. Ich will ehrlich sein: Ohne glücklichen Zufall, was schlimm genug ist, hätte ich das Theater nicht für mich entdeckt. Ich kenne weder aus meiner näheren und entfernten Verwandtschaft noch aus dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, irgendjemanden, der je ein Theater betreten hat. Im Foyer würde sie der Blitz der Scham lähmen. Nicht, weil sie zu dumm für das Theater sind, sondern weil das Theater nicht das Leben der unteren Klassen verhandelt, nicht ihre Widersprüche, nicht ihre historischen Niederlagen und Perspektiven. Das Theater ist für meine Eltern und viele meiner Freunde aus Arbeiterfamilien, oft auch für mich, eine fremde Welt. Dort herrscht die Moral der Sieger. Sie entschärft jede Konfrontation, schlimmer noch, die Sieger der ­Moral sind immer die, die bereits gesiegt haben. Eine solche Kunst zieht Grimassen über die Besiegten im Antlitz einer humanen Mission wie einst die im christlichen Glauben missionierenden Orden in versklavten Kontinenten, aus denen man Rohstoffe,


mesut bayraktar

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VII. Der Skandal der Ausbeutung ist in der Moderne ein anderer als noch zu den Zeiten von Platon und Aristoteles. Nach Karl Marx fällt er unmittelbar mit der bürgerlichen Moral der Freiheit und Gleichheit zusammen. Im Markt begegnet jeder jedem als freier und gleicher Warenbesitzer, sowohl der Arbeiter als auch der ­Kapitalist. Jeder figuriert als eine Charaktermaske der Warenform im Ensemble gesellschaftlicher Kapitalverhältnisse. Während jedoch der Kapitalist nach Bedarf auf dem Markt die Ware Arbeitskraft kauft, sind die doppelt freien Lohnarbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Sie werden im Gegenzug nach ihrem Wert – dem ihrer Arbeitskraft und deren Reproduktion – bezahlt, und trotzdem produzieren sie den Mehrwert, der nicht nur dem Kapitalisten das Luxusleben finanziert, sondern die arbeitenden Klassen unterjocht. Den abgeschöpften Mehrwert realisiert der Kapitalist wiederum auf dem Markt in der Form des Profits, sobald er seine Waren verkauft. So zeigt sich, dass das, was in der

Zirkulationssphäre als Freiheit und Gleichheit ideell erscheint, materiell in der Produktionssphäre Unterdrückung und Ausbeutung ist. Die Zirkulationssphäre fällt wie ein samtener Bühnenvorhang über die raue Produktionssphäre und verhüllt, was hinter den Vorgängen vorgeht. Die abstrakte Moral der Freiheit und Gleichheit verhüllt nicht nur den Skandal der Ausbeutung, sondern sie ist real ihre Form. Folglich lässt sich die Unwahrheit der bürgerlichen Moral nur in den Voraussetzungen und Folgen der überindividuellen Zusammenhänge erfassen. Mittel hierfür liefert das Theater. Denn die Dramatik ist die Kunst der Bewusst­ machung des Gesellschaftlich-Unbewussten: die Anwesenheit des scheinbar Abwesenden. Sie ist dialektisch, von ihren innersten Antrieben bis zu der Eigenart, wie sie Realität verdichtet. Heute verlangt es nach einer klassendramatischen Dialektik zwischen Darstellung und Dargestelltem, welche den Erfahrungshorizont öffnet, in dem sich das Poetische lebendig entfaltet, sodass das Meer der Möglichkeiten im Pflasterstein der Wirklichkeit vorscheint. So wird sichtbar, was zunächst verborgen erschien. Das Bekannte, damit es erkannt wird, wird unbekannt gemacht. Denn noch immer gibt es Ausbeutung, und noch immer ist der direkte Blick auf sie verstellt. So endet auch die Aufgabe des Theaters nicht: Es übt Moralkritik, ententfremdet die Verhältnisse, macht sichtbar, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht nur konkret-­ moralisch bankrott ist, sondern von der Verdrängung der Ausbeutung lebt und daher vergehen muss. Es geht um nichts anderes als um die Entzauberung der entzauberten Welt. //

GROSES HAUS

GRABBE-HAUS

ANDERE SPIELSTÄTTEN

Anton Tschechow ONKEL WANJA 25. September 2020

E.T.A. Hoffmann DER SANDMANN 16. September 2020

Ray Cooney AUSER KONTROLLE 22. Januar 2021

Martin Heckmanns EIN TEIL DER GANS 14. November 2020

Conor McPherson DER GUTE DIEB 14. Oktober 2020, Kaiserkeller Detmold

Frank Wedekind FRÜHLINGS ERWACHEN 12. März 2021

George Brant AM BODEN 6. März 2021

Elfriede Jelinek WINTERREISE 30. April 2021

David Mamet OLEANNA 12. Mai 2021

www.landestheater-detmold.de

Magnus Vattrodt EIN GROSER AUFBRUCH 20. November 2020, Detmolder Sommertheater Annie Baker IM KINO 16. Januar 2021, Kaiserhof-Kino Detmold

Foto © Oliver Möst

Gold und Diamanten in die Mutterländer verschiffte. Wir werden doppelt betrogen, zum einen in der Lohnarbeit und zum anderen von einer Kunst, die aufgrund moralistischer Vorbehalte den ­Betrug verschweigt oder verschönert. Noch heute spüre ich einen radikalen Widerwillen, wenn ich das Theater betrete und mich als Beiseitegeschobener wiederfinde wie Karl Roßmann in Franz ­Kafkas „Amerika“. Aber aus Liebe zur radikalen Idee des Theaters verschaffe ich mir trotzdem Zutritt.

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kolumne

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Ralph Hammerthaler

Das Herz von SO 36 Wird der Buchladen Kisch & Co. auf die Straße gesetzt?

E

s gibt auch Nächte im Buchladen, dann, wenn die Bücher schlafen und nur ein bisschen Licht in eine Ecke fällt, dorthin, wo wir sitzen, vor und hinter dem Tisch, an dem tagsüber die Geschäfte laufen. Jetzt ist der Tisch voller Flaschen, und bald muss wieder einer los und Bier holen gehen, beim Späti nebenan oder, für ausgefallene Sorten, beim Späti gegenüber, ein paar entscheidende Schritte weiter. Thorsten und Ulla sind eigentlich immer da, manchmal auch Jürgen; alle drei haben im Laden zu tun. Da­ rum reden wir auch über Bücher, alte und neue, welche übersehen worden sind und welche man gern übersehen darf. Dass Bücher nachts im Buchladen schlafen, ist an sich ein Schmarren. Denn sie umgeben uns und wispern pausenlos Text. Es kommt vor, dass ­Peter in der Runde sitzt, Stahlwerker aus dem Ruhrgebiet, ein echter Unternehmer. Ganze Pakete lässt er sich nach Dortmund schicken, wispernde Bücher, weil er dem Kiez und dem Laden verbunden ist. Ich glaube, er raucht nicht. Wir anderen aber rauchen und trinken so viel, dass das Gespräch heller und fast hellsichtig wird. Wer sich morgen daran erinnert, ist selber schuld. Kisch & Co. liegt in Berlin, in der Oranienstraße, wo das Herz von SO 36 schlägt. Alle kennen den Laden, und wenn es mehr gibt als alle, dann gibt es sie jetzt. Gerade nämlich ist diese Buchhandlung in allen ­Medien, sogar im heute journal. Weil es sie seit ein paar Monaten schon nicht mehr geben dürfte, der Mietvertrag ist abgelaufen und wird, wie es ausschaut, nicht mehr verlängert. Aber wie schaut es schon aus? Wie schaut ein Immobilienfonds aus, der sich das ganze Gebäude unter den Nagel gerissen hat? Wie spricht man ihn an, und wo ist er zu Hause? Herr oder Frau Fonds? Hat der Fonds ein Gesicht? In das man notfalls spucken könnte? Tja, so leicht ist es nicht. Wenigstens aber ist heraus­ gekommen, dass Tetra-Pak-Erbinnen, die Rausing-Sisters, hohe Anteile daran halten. Beide gelten als ebenso profitorientiert wie wohltätig; wohltätig, weil auf moralische Hygiene bedacht. Eine der Rausings hat über das unglückliche Leben ihres Vaters ein Buch geschrieben, ferner gibt sie mit Granta ein englischsprachiges Literaturmagazin heraus – bipolare Störung, würde ich sagen. Thorsten & Co. haben, als Kreuzberg nicht hip, sondern schmuddelig war, die Lange Buchnacht in der Oranienstraße aufgezogen, zwei Jahrzehnte lang immer wieder. Einmal habe ich mit ihm Deniz Yücel gelesen für Deniz Yücel, der damals in der Türkei einsaß. Bringt nichts, dachte ich mir, um kurz darauf das Gegen-

teil zu denken: Was ist wichtiger für einen Autor, als dass seine Texte gehört werden? Überhaupt ist dieser Laden auch ein Schriftstellerladen, Ulrich Peltzer geht ein und aus, Thomas Melle schaut vorbei, Rainald Goetz … In dem durch Frau Fonds gekaperten Gebäude befindet sich auch ein junges Architekturbüro. Im heute journal wird gemeldet, dass Frau Fonds auch sprechen kann, und zwar durch einen Anwalt: Weil Sie es sind, statt der bisherigen zwölf Euro für den Quadrat­ meter in Zukunft 38 Euro. So buchstabiert man Gentrifizierung. Wenn Thorsten etwas Ruhe hat, bringt er Kaffee, und wir gehen nach draußen und rauchen. Mal haben wir Einfälle, mal nicht. Vor drei Jahren, als der Eigentümer noch ein Gesicht hatte, hatten wir gute Einfälle. Auf eine Demo für den Buchladen kamen mehr als zweitausend Leute. Und auch sonst passierte allerhand. So sprang noch mal ein Dreijahresvertrag heraus. Auch diesmal muss die Chance, die der Laden eigentlich nicht mehr hat, genutzt werden. Eine Fülle von Youtube-Videos ist bereits online. Und jeden zweiten Mittwoch sperrt die Polizei die Straße für eine Kundgebung. Weil viele Initiativen von Räumung bedroht sind, hören die Reden lange nicht auf. Einer vom Kneipenkollektiv Syndikat hat den Termin schon vor Augen, ohne dass er wüsste, dass am Samstag darauf seine Fans in Neukölln randalieren. Noch wird für Kisch & Co. nicht randaliert. Noch verläuft alles friedlich. Politische Reden, Musik, Literatur. Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag hat uns, vier seiner Autoren, mitgebracht, auch Manja Präkels. Ich lese aus „Kurzer Roman über ein Verbrechen“, vor allem die Stellen, in denen der Buchladen vorkommt. Erstaunlich ist, wie schnell sich die Menge auf eine andere Ton­ lage einstimmt. Jörg trägt eine schwer ausgebeulte Tasche an der Schulter. Ich stelle mir vor, dass unsere Bücher darin stecken. Aber dann kommt er her und schlägt sie auf, und ich sehe, dass er Bierflaschen schleppt. Mir wird klar, warum dieser Mann so erfolgreich ist. Wieder Mittwoch, da sitzt Meret Becker vorm Laden und sitzt gerade richtig, weil als „Tatort“-Kommissarin am Tatort. Dann gibt Max Müller mit seiner so alten und so jungen Band Mutter ein Konzert auf der Straße. Es gibt nur eine Zeit, ja, die neue Zeit, die alte Zeit ist tot, ja. Die Sonne scheint, die Gitarre kracht. Und wir alle fühlen uns gut. Nur wer einen jähen Impuls zulässt, bedenkt, dass unser Gutfühlen mit einer Illusion verschwistert sein könnte. Aber wir sind viele. Und im Rücken stehen tausend wispernde Bücher. //


Staatstheater Braunschweig Frankenstein nach Mary Shelley R: Michael Talke Premiere 11.09.2020 Gaslicht Patrick Hamilton R: Christoph Diem Premiere 12.09.2020 Pfisters Mühle: Ein Heimatverein nach Wilhelm Raabe R: Rebekka David Premiere 14.11.2020 Woyzeck Georg Büchner, Tom Waits, Kathleen Brennan, Robert Wilson R: Ulrike Arnold Premiere 30.01.2021 Alles, was wir geben mussten Kazuo Ishiguro R: Felicitas Brucker Premiere 19.03.2021 Des Teufels General Carl Zuckmayer R: Christoph Diem Premiere 20.03.2021

Larissa Semke, Schauspiel


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„Der Schrei ist das Zentrum“ Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa über die Anfänge ihrer Bühnenkarriere und ein Leben zwischen zwei Welten im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

A

ls Valery Tscheplanowa 2007 mit den ersten Sätzen der Ophelia aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ in der Regie von Dimiter Gotscheff auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin trat, war dies wie eine Explosion. „Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den auf­ geschnittenen Pulsadern.“ Seitdem sind 13 Jahre vergangen, in denen Valery Tscheplanowa wie ein Irrlicht durch die Stadttheater zog und längst auch ihren Weg zum Film gefunden hat. Der ­soeben im Verlag Theater der Zeit erschienene Gesprächsband „backstage TSCHEPLANOWA“ schildert die Reise einer eigen­ willigen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein einsames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen ­Intendanten und palästinensischen Macho-Frauen erzählt und mit ihrer Theaterarbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet. Die vorliegende Passage ist ein kurzer Ausschnitt davon. Das Gespräch wurde im Sommer 2019 geführt.

Anders als in unserer Stückfassung gab es damals noch keinen dritten Auftritt für die Buhlschaft, keine Szene, in der sie sich, kurz bevor der Jedermann stirbt, von ihm verabschiedet. Daher habe sie, wenn der Tod kam, einfach nur geschrien. Und dieser Schrei war das Wichtigste. Das ist interessant. Denn tatsächlich ist das Erste, wenn ich an Valery Tscheplanowa auf der Bühne denke, ihr Schrei. Als Zuschauer der Hamletmaschine von Heiner Müller, Ihrer ersten großen Arbeit am Deutschen Theater Berlin 2007 in der Regie von Dimiter Gotscheff, wurde man von ­Ihrem Schlussschrei als Ophelia, „Im Namen der Opfer!“, förmlich vom Sitzplatz gefegt. Ein Jahr zuvor hatten Sie mit Gotscheff Die Perser geprobt, eine Inszenierung, in der Sie letztlich nicht mitspielten. Mark Lammert, der für diese Produktion die berühmte gelbe Wand geschaffen hatte, berichtete 2018 in seiner Laudatio zur Verleihung des U ­ lrich-Wildgruber-Preises an Sie, dass die Proben mit Ihnen größtenteils aus zwei Elementen bestanden: einem „elfenhaften Drehen der Wand“ und einem „wesenhaften Schreien“. Ja! Das war der Anfang! Wie entdeckt man diesen Schrei? Diesen eigenen Ton? Sicherlich nicht auf

Valery Tscheplanowa, Sie kommen gerade aus Salzburg, wo Sie bei den

der Schauspielschule.

Festspielen im diesjährigen Jedermann die Buhlschaft spielen. Hugo von

Ich habe mal eine Kritik über Edith Clever gelesen, in der stand, sie

Hofmannsthal sagte vor einhundert Jahren über diese Stadt: Das mittlere

habe ein Antlitz und einen Schrei. Diese Beschreibung hat mich so

Europa habe keinen schöneren Raum. Der ewige Salzburg-Hasser Tho-

getroffen! Ich dachte: Ja, das ist es! Man muss als Schauspieler ein

mas Bernhard hingegen sprach von einer perfiden Fassade, derer man so

Antlitz und einen Schrei haben. Diesen Schrei zu finden, ist für mich

schnell wie möglich entfliehen solle. Steht Ihr Fluchtauto auch schon

wie das Zentrum des Bühnendaseins. Es gibt eine lustige Geschichte

­bereit?

aus der Schauspielschule. Ich spielte Anna Petrowna aus Iwanow und

Beides trifft zu! Ich empfinde die Stadt aber als sehr angenehm. Die

sollte in einer Szene jemanden rufen. Einer meiner Dozenten sagte:

Leute haben, vor allem, was den Jedermann betrifft, teils ein enormes

„Du rufst so, dass man mitschreien will.“ Angeblich ist er hinterher in

Wissen …

seinen Schuppen gegangen und hat es ausprobiert.

… und können wahrscheinlich die ganze Rezeptionsgeschichte herunter-

Den Schrei?

beten.

Ja! (lacht) Also so zu schreien, dass es einen mit dem Schrei wegträgt.

Oh ja! Letztens nahm ich zwei Zuschauer in meinem Taxi mit, die

Nachdem ich mit den beiden Zuschauern in Salzburg im Taxi gesessen

standen da so am Straßenrand herum. Der Mann erzählte, dass man

hatte, dachte ich: Komisch, warum ist der Schrei weg? Ich würde

früher die Buhlschaft nach der Qualität ihres Schreis beurteilt habe.

­gerne mal recherchieren, wer zuletzt geschrien hat.


auftritt

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Neuerscheinungen Buchverlag

Und was bedeutet Antlitz? Auf jeden Fall nicht bloß ein Gesicht. Es ist eher das Wesen, das einem innewohnt. Und das auch nicht damit beschrieben ist, dass ich eine Frau bin, dass ich 39 Jahre alt bin, dass ich aus Russland stamme. Der Schrei wiederum hat für mich auch damit zu tun, noch zu wissen, wie man als Kind geschrien hat. Er hat etwas Ursprüngliches. Genau. Es gibt ein Schreien, das einen nicht heiser macht. Das ist aber Technik. Nicht nur. Es ist eine Art von Zustand. Denn das Kind schreit aus einem Gefühl des Vertrauens heraus. Und zwar zur Mutter, zur Welt, zum eigenen Körper. Wenn es mir gelingt, so zu schreien, ist das etwas sehr Angenehmes, ich glaube, auch für den Zuschauer. Wobei es auch den Angstschrei gibt. Etwa wenn einem, wie im Jedermann, der Tod begegnet. Auch den Schrei der Empörung, den Verzweiflungsschrei. Ein Kind schreit aus einer Not heraus, weil es sich noch nicht anders artikulieren kann. Ja, der Ort, von dem der Schrei kommt, ist für mich entscheidend. Ich glaube, wer den Schrei in sich findet, hat auch den Zugang, um emotionale Räume zu gestalten. Viele Stücke handeln von Zuständen, von Sackgassen oder von Figuren, die in Not geraten. Diese Not zu beschreiben, erfordert in der Regel viel Sprache – und die will geführt sein, will zum Klingen ­gebracht sein. In der Suche nach einem Schrei liegt der ­Ursprung, diesen ausdeklinieren zu können, davon erzählen zu können. Eine Art Kristallisationspunkt für alles. Genau. Und Djadja Mitja, also Onkel Mitja – so nannte ich ­Dimiter Gotscheff –, suchte diesen Schrei von Anfang an. Er ließ mich wochenlang nur schreien. (lacht) Daraus entstand später Die Hamletmaschine. Gotscheff soll gesagt haben: „Ein Ton ist wichtig in unser Gewässer Raum“. Mir kam es zunächst seltsam vor, ein Gespräch über ein Schauspieler­ leben mit einem Stück zu beginnen, das wie der Jedermann von den letzten Dingen handelt. Aber für Sie ist es möglicherweise gar nicht seltsam.

Dorte Lena Eilers backstage TSCHEPLANOWA 144 Seiten EUR 18,00 (print) / 14,99 (digital) Buchpremiere am 22. September 2020, Akademie der Künste, Pariser Platz Berlin. TdZ-Abonnenten erhalten freien Eintritt bei vorheriger Anmeldung unter vertrieb@theaterderzeit.de.

Foto Heike Blenk

Ja, das stimmt.

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2020/21 DIE KASSETTE

Carl Sternheim

Regie: Tobias Rott, Bühne: Susanne Füller, Kostüme: Kerstin Jacobssen

Konstantin Küspert

PREMIEREN 2020 | 2021 SCHAUSPIEL CHEMNITZ

SKLAVEN LEBEN

Regie: Juliane Kann, Bühne & Kostüme: Vinzenz Hegemann

Thornton Wilder

WIR SIND NOCH EINMAL DAVONGEKOMMEN Regie: Tobias Rott, Bühne & Kostüme: Cornelia Brey

Sarah Berthoiaume

NYOTAIMORI

Regie: Mia Constantine, Bühne: Romy Rexheuser, Kostüme: Catharina Quandt

Roxane Kasperski / Elsa Granat

MEINE VERRÜCKTE LIEBE Regie, Bühne & Kostüme: Ansgar Haag

Édouard Louis

IM HERZEN DER GEWALT

Regie: Anika Stauch, Bühne & Kostüme: Christian Rinke, Helge Ullmann

Friedrich Schiller

MARIA STUART

Regie: Ansgar Haag, Bühne: Thomas Dörfler, Kostüme: Kerstin Jacobssen

Catherine Léger

18.09.2020 GUT GEGEN NORDWIND

DIE BABYSITTERIN

Regie: Martina Gredler, Bühne & Kostüme: Hochschule Dresden

19.09.2020 BIN NEBENAN. MONOLOGE FÜR ZUHAUSE

Tilmann von Blomberg

HEISSE ZEITEN

Musik. Leitung: Thomas Kässens, Regie: Thomas Helmut Heep Bühne: Christian Rinke, Kostüme: Maira Bieler

19.09.2020 SCHWANENGESANG 02.10.2020 DAS MASS DER DINGE

Max Frisch

17.10.2020 TRAUM EINES LÄCHERLICHEN MENSCHEN

Regie: Peter Bernhardt, Bühne & Kostüme: Monika M. Cleres

BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER Bertolt Brecht

31.10.2020 DIE 39 STUFEN

DIE DREIGROSCHENOPER

Musik. Leitung: Peter Leipold, Regie: Tobias Rott Bühne: Christian Rinke, Kostüme: Kerstin Jacobssen

21.11.2020 ARCHE NOA

Gotthold Ephraim Lessing

28.11.2020 DIE FEUERROTE BLUME

MINNA VON BARNHELM

Regie: Ansgar Haag, Bühne: Christian Rinke, Kostüme: Annette Mey

23.01.2021 DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER 29.01.2021 DER DRACHE 30.01.2021 THE RAPE OF LUCRECE

© Marie Liebig

20.02.2021 TSCHICK 19.03.2021 MESSER IN HENNEN

Nora Hickler in LEONCE UND LENA

20.03.2021 DIE POLONAISE VON OGINSKI 08.05.2021 UNDINE - KLEINE WELLE 10.07.2021 RONJA RÄUBERTOCHTER

WWW.THEATER-CHEMNITZ.DE

Biofragie: Ein Spiel © Dieter Wuschanski

07.05.2021 IN DER STRAFKOLONIE

Karten erhältlich unter 03693-451-222 /-137 und www.meininger-staatstheater.de



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NEU

AB SOFORT IM BUCHHANDEL ERHÄLTLICH! SPIELEN - ÜBER DEN GRUNDIMPULS DES THEATERS HRSG. Christoph Nix, Martin Stefke und Mark Zurmühle | Verlag Stadler Konstanz, 2020 | ISBN: 978-3-7977-0755-0, Taschenbuch, 76 Seiten | Verkaufspreis: 10 Euro


Premieren Schauspiel

Eigensein

Nacht ohne Sterne Theaterstück von Bernhard Studlar I: Sebastian Schug Premiere 25.9.20 | brechtbühne im Gaswerk Die Physiker Komödie von Friedrich Dürrenmatt I: Antje Thoms Premiere 26.9.20 | martini-Park Fliegende Bauten (Uraufführung) Ein Liederabend I: Elsa Vortisch Premiere 3.10.20 | brechtbühne im Gaswerk Tintenherz Familienstück zur Weihnachtszeit nach dem Roman von Cornelia Funke I: Teresa Rotemberg Premiere 15.11.20 | martini-Park Der Drache Märchenkomödie von Jewgeni Schwarz I: Andreas Merz-Raykov Premiere 21.11.20 | brechtbühne im Gaswerk Die Antwort auf alles (Deutschsprachige Erstaufführung) Theaterstück von Neil LaBute I: Maik Priebe Premiere 8.1.21 | brechtbühne im Gaswerk Der Zauberberg Schauspiel nach dem Roman von Thomas Mann I: André Bücker Premiere 20.2.21 | martini-Park Medeamaterial Theatertext von Heiner Müller I: Tom Kühnel & Jürgen Kuttner Premiere 26.2.21 | brechtbühne im Gaswerk Wittgensteins Mätresse (Deutschsprachige Erstaufführung) Nach dem Roman von David Markson I: Nicole Schneiderbauer Premiere 24.4.21 | Großer Scheibengasbehälter Die Kunst des Wohnens Musikalische Komödie von Georg Ringsgwandl I: Alexander Marusch Premiere 1.5.21 | martini-Park Cyrano de Bergerac (Sommertheater) Romantische Komödie von Edmond Rostand I: David Ortmann Premiere 17.6.21 | Kunstrasen im martini-Park Iskhalo somlambo / Der Ruf des Wassers (Uraufführung) Interkontinentale Stückentwicklung I: Dorothea Schroeder Der Premierentermin wird noch bekannt gegeben. brechtbühne im Gaswerk

staatstheater-augsburg.de

Foto: Jan-Pieter Fuhr


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Autor


festivals

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SALZBURGER FESTSPIELE

Reden ohne Spucken Die Salzburger Festspiele feiern unter Abstandsregeln ihr hundertjähriges Jubiläum, während Peter Handke in seinem neuen Stück nach einem Miteinander ohne Hass und Hetze sucht von Margarete Affenzeller

A

ix-en-Provence, Bregenz, Bayreuth, Edinburgh – andernorts wurden große Festivals abgesagt. Aber die Salzburger Festspiele ließen so schnell nicht locker. Sie haben im vergangenen Corona-Frühling hoch gepokert und die Entscheidung über eine Austragung bis zur letzten Minute aufgeschoben. Ende Mai konnten sie dann ein verschlanktes Programm in Aussicht stellen. Es ist im August über die Bühne gegangen. Das kämpferische Vorgehen wurde von Anfang an kritisch gesehen – weil es manchen gesundheitlich riskant, unsolidarisch oder finanziell ruinös erschien. Aber die Festspiele und ihre unerschrockene Präsidentin Helga Rabl-Stadler haben nichts falsch gemacht. Sondern nach langem Abwägen und mit einem entsprechenden Sicherheitskonzept ermöglicht, was eben ging. Und das ­waren zwei Schauspiel- und zwei Opernpremieren, eine Wiederaufnahme des „Jedermann“ sowie ein umfangreiches Konzertprogramm. Insgesamt wurden statt der üblichen 240 000 nur 80 000 Karten aufgelegt. Betriebswirtschaftlich ist das sicher ein harter Schlag, zumal in einem Jahr, in dem man aufgrund des weltweit beworbenen 100-Jahr-Jubiläums mit satten Einnahmen gerechnet hätte. Aber Festivals veranstaltet man nicht in erster Linie der Rentabilität wegen. Viele haben aufgeatmet, dass der Kulturbetrieb nach Monaten des Stillstands wieder auf die Beine kommt. Natürlich hat in Salzburg, diesem mitteleuropäischen, touristischen Kreuzungspunkt am Rand der Alpen, die Umwegren­ta­ bilität einen besonderen Stellenwert. Die Festspiele sind mehr als andere Kulturereignisse ein entscheidender Wirtschaftsfaktor und deshalb auch stärker im Wahrnehmungsbereich der Politik. Manche unken, dass für die in Österreich ab August erlaubte Zuschaueransammlung von eintausend Personen bei den Festspielen Maß genommen worden wäre. Wie auch immer, die Sicherheitsauflagen waren hoch und wurden streng exekutiert. Sorgte vor Beginn noch eine infizierte Mitarbeiterin für eine Schrecksekunde, so konnte der Vorstellungsbetrieb planmäßig am 1. August aufgenommen werden. Niemand weiterer war infiziert.

Peter Handke lässt in „Zdeněk Adamec“ alles zu und die Sprache strömen – Doch Regisseurin Friederike Heller nutzt die gebotenen Freiheiten kaum. Foto Ruth Walz

Die Salzburger Festspiele sind mit ihrem umfassenden Sicherheitskonzept nun zu einem Pionier geworden, der anderen Festivals, aber auch der neuen, schwierigen Spielzeit vorausgeht. Der Theaterbetrieb kann nicht dauerhaft im Lockdown bleiben. Publikum wie Veranstalter müssen sich mit neuen Sicherheitsmaß­ nahmen vertraut machen, sie werden uns vermutlich noch lange Zeit begleiten. In Salzburg war der Aufwand dafür enorm: Karten ­wurden ausschließlich personalisiert ausgegeben (Tracking), Zugangsbereiche an den Spielstätten wurden voneinander isoliert, im Innenraum galt Maskenpflicht (ausgenommen während der Vorstellung, für die sie aber ebenso empfohlen war), und die Sitzplatzordnung entsprach der aktuell geltenden Abstandsregel (mindestens ein Meter, mehr als in jedem Zugabteil). Alles wurde streng kontrolliert, von den Personaldaten beim Eingang bis zur Disziplin im Saal. Wer meinte, kurz vor Vorstellungs­beginn im Halbdunkel noch flugs einen besseren Sitzplatz ergattern zu können (von denen es aufgrund der lockeren Ordnung ja genug freie gab), wurde vom wachsamen Personal umgehend ­daran gehindert. Und war sich der Häme des umsitzenden Publikums gewiss. Wir leben nun mit einer neuen Theateretikette, an die man sich erst gewöhnen muss. Enges Zusammenstehen und Zuflüstern oder Gedränge beim Einlass und im Foyer – das soll nun verhindert werden. Das distanzierte Gebaren brachte auch den sozialen Teil des Festspielprogramms zum Erliegen. Pausen und Gastronomie waren in Salzburg ausgesetzt. Es bleibt somit ein gewisser Widersinn erhalten: Sind Festivals beziehungsweise das Theater üblicherweise dazu da, Menschen zusammenzubringen, so geht es derzeit darum, sie möglichst voneinander fernzuhalten. Damit sieht sich auch die neue Spielzeit konfrontiert: Ein Raum für den gemeinschaftlichen Austausch fehlt (noch). Von fünf geplanten Neuproduktionen im Schauspiel­ programm konnten nur zwei realisiert werden: Neben Milo Raus „Everywoman“ mit Ursina Lardi war das gleich zum Auftakt die Uraufführung von Peter Handkes „Zdeněk Adamec“. Das Stück, das der Nobelpreisträger bescheiden als „Eine Szene“ untertitelt (56 Seiten), handelt vom gleichnamigen 18-jährigen tschechischen Fachschüler, der sich 2003 aus Protest gegen den Weltzustand und dessen verlogenes „demokratisches System“, wie er in seinem Abschiedsbrief schrieb, am Wenzelsplatz in Prag mit Benzin übergossen und verbrannt hat. „Weiträumige Szene, mit Öffnungen nach allen Seiten, dicht bevölkert mit Feierabendleuten“, so lautet die Regieanweisung, und sie steckt einen ganz typischen Handke-

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Schauplatz ab. Einen indefiniten Ort, an dem nicht viel passiert, der aber doch höchst belebt ist beziehungsweise mit dem Sprechen der Figuren in Bewegung kommt, sich auflädt und anreichert mit ihren Äußerungen und Beschreibungen. So ähnlich war es schon in „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“, in „Immer noch Sturm“, in „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, und so war es auch schon vor dreißig Jahren im „Spiel vom Fragen“, in dem eine Gruppe von Pilgern durch die Welt zieht. „Zdeněk Adamec“ hat kein Personenverzeichnis, keine vorgezeichneten Figuren. Das Stück ist eine Abfolge von auf dem P ­ apier noch herrenlosen Reden in der ersten Person, welche Regie beziehungsweise Dramaturgie erst zuteilen müssen, um Figuren zu formen. Welcher Text gehört zu wem? Was würde beispiels­weise zu jener Spielerin in pinker Weste und mit Wuschelhaar passen (Luisa-Céline Gaffron), was zum soignierten Herren mit Hut (Hanns Zischler) und was zu jenem aufgekratzten Mann im Zaubergewand, der zur rechten Zeit mit einer Feder spielt (André Kaczmarczyk)? Handke lässt alles zu und lässt die Sprache s­ trömen. Regisseurin Friederike Heller, die seit ihrer musikalischen Inszenierung von „Untertagblues“ 2004 am Akademietheater als Handke-Expertin gilt, nützt die gebotenen Freiheiten allerdings nicht aus. Sie und Dramaturgin Andrea Vilter zähmen diesen Wildwuchs an Reden. Sie arrangieren Figuren beinahe stereotyp: Das kleine Latinum für den soignierten Herren, nach kürzeren Sätzen bittet die mit Akzent sprechende Frau im bodenlangen Mantel (Sophie Semin, Handkes Gattin). Dabei hätte gerade die im Text angelegte Lockerung des ­Stereotyps hellhörig gemacht. Das Wild-Zusammengewürfelt-Sein

ist schließlich einer der schönsten Topoi in Handkes Stücken. ­Einander Fremde üben sich mit größter Selbstverständlichkeit im Vertrautwerden. Darum geht es auch in „Zdeněk Adamec“: In ­Dialog treten, sich ins Wort fallen, einander widersprechen, mit ­Details punkten, flunkern und schwärmen, einander zuhören, sich etwas vorgaukeln, ins Tanzen kippen oder ein wenig singen. Jedenfalls: miteinander ins Reden kommen. Und zwar über den Selbstmord des jungen Mannes und dessen Beweggründe. Handke hat mit „Zdeněk Adamec“ ein literarisches Requiem geschrieben, für das Friederike Heller erneut mit Musiker Peter Thiessen von der Hamburger Band Kante zusammengearbeitet hat. Zugleich erhebt Handke den Teenager aber auch zum Kronzeugen in einer vielstimmigen Diskussion um die unerträgliche, vom Mediengetöse und Kommunikationsirrsinn zugerichtete Gegenwart, die, so beschreibt der Autor und Nobelpreisträger eine eindrück­liche Szene, von den Lichtern der Großkonzerne freudig hell ­beschienen wird. Und alle machen mit, das ist eben nicht aus­zuhalten. Jeder der sieben Spieler hat so seine, an Zdeněks Geschichte entzündete Meinung und Welterklärung. Man hört ihnen gerne zu, auch wenn der aus Stehen, Gehen, Sitzen bestehende Abend – es soll, wie man später erfährt, ein Heartbreak Café sein – einfallsund kraftlos verstreicht. Man ahnt aber, was den Wert des Stückes ausmacht: Handke sucht, wie schon in einigen Dramen zuvor, nach einer neuen, glaubwürdigen Dialogform, die dem Theater in seiner klassischen Form weitgehend weggerutscht ist. Er tastet die Dialogfähigkeit ab in einer von Polarisierung, Hass und Populismus zurechtgestutzten Zeit. //

Pan Pan

Cascando

von Samuel Beckett

Performance-Walk „Ich fürchte mich, zu eröffnen. Aber ich muss eröffnen. Also öffne ich.” Zur Spielzeiteröffnung 2020/21 verwandelt die irische Theatercompany Pan Pan Samuel Becketts Hörspiel Cascando in eine musikalische Pilgerreise durch den Düsseldorfer Stadtraum.

Di 8. – Sa 12.9. 20 Uhr

Treffpunkt: FFT Kammerspiele

D CHLAN DEUTSEMIERE R P

Foto: Matthew Andrews Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

fft-duesseldorf.de


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»Lust und Zuversicht allein, sind die Seele meines Wirkens.« Friedrich Schiller

PREMIEREN 20/21 Ellenbogen Ellenbogen (UA) Madama Butterfly Mein Freund Harvey Carmen Die Sterne vom Himmel runter La clemenza di Tito Der zerbrochene Krug Die lustige Witwe Eine Mittsommernachts-Sex-Komödie Das Dschungelbuch Du bist heute wie neu Die Verteidigung der Gummibären Furor Doppelkabine (UA) Mäuseken Wackelohr Rumpelstilzchen Malala Die Verwandlung Krabat Alice im Wunderland VOR?Spiel!

Hübner & Nemitz | Regie: Alice Asper | 11.9.2020

DEUTSCHE FEIERN

Werner | Regie: Marlene Anna Schäfer | 10.10.2020 � UA

MARLENI Dorn | Regie: Jan Holtappels | 5.11.2020

ALTE MEISTER Bernhard | Regie: Frank Behnke | 26.11.2020

2020/21

SPIELZEIT

DEUTSCHE ÄRZTE GRENZENLOS

Moğul | Regie: Tuğsal Moğul | 16.1.2021 � UA

WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT

Foto: Oliver Berg

FUROR

WIEDERAUFNAHMEN

Thüringer Landestheater Rudolstadt Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt GmbH www.theater-rudolstadt.de / Intendant: Steffen Mensching

Louis | Regie: Michael Letmathe 2.10.2020

JUDAS Vekemans | Regie: Jan Holtappels 13.10.2020

BIN NEBENAN. Monologe für zuhause Lausund | Regie: Michael Letmathe & Sandra Bezler 18.11.2020

JULIUS CAESAR / DIE POLITIKER Shakespeare / Lotz | Regie: Frank Behnke | 5.2.2021

KOMETEN ODER

Bungarten | Regie: Theresa Thomasberger | 13.2.2021 � UA

ALTE SORGEN

Milisavljević | Regie: Pia Richter | 26.2.2021 � UA

DIE MÖWE Tschechow | Regie: Frank Behnke | 17.4.2021

BRUDER EICHMANN Kipphardt / Hammerstein | Regie: Kathrin Mädler | 6.5.2021

DER MITBÜRGER

Küspert | Regie: N. N. | 7.5.2021 � UA

GENERALINTENDANT Dr. Ulrich Peters

SCHAUSPIELDIREKTOR

Frank Behnke

Tickets: (0251) 59 09 - 100

� theater-muenster.com


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festivals

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IMPULSE

Omas deutsche Tugenden Der 30. Geburtstag des Festivals Impulse in Nordrhein-Westfalen fand coronabedingt größtenteils im Netz statt – zudem schmerzlich verkürzt von Martin Krumbholz

der Tasche zog, habe sie instinktiv denken müssen: „Das ist bestimmt geklaut!“ Sie kann darüber froh lachen, wie der Zuschauer auch, aber solche aberwitzi  ie sechs afrodeutschen Frauen, die gen Reflexe geben immerhin zu denken. Magda Korsinsky für ihre Installation „Ich bin extrem deutsch“, bekennt diese „Stricken“ interviewt hat, haben weiße Frau, deren Vater aus dem Sudan Großmütter. Der Titel verdankt sich der stammt – und man glaubt es ihr. Über speziellen Textur der Leinwand, auf weldie Beziehungen der Frauen zu ihren Vätern erfährt man bei alldem leider che die Porträts der jungen Frauen projiziert werden. Sie sind aus Textilien ge­wenig. „Stricken“ konnte man flexibel im fertigt, die die Großmütter aus ihren Schränken geholt haben. Beim BetrachInternet abrufen; die internil-Produktion „Es ist zu spät“ lief dagegen als Live-Show ten der Videos – das Festival Impulse an einem späten Samstagabend. Der „Alfand dieses Jahr coronabedingt in einer verkürzten Version online statt – drängte leinunterhalter“ Arne Vogelgesang, der sich der Eindruck auf, dass die Großsich hinter dem Label internil verbirgt, mütter für die Erziehung der Mädchen präsentiert hier mit einem charmanten eine prägendere Rolle gespielt haben als Lächeln die deprimierendsten Daten zur Ein Generationendialog auf Leinen – In Magda ihre weißen Mütter. Nur hin und wieder Klimakatastrophe, die mindestens so Korsinskys Installation „Stricken“ sprechen garnierten sie ihre Kommunikation mit schwarz sind wie der imposante Vollbart junge Afrodeutsche über ihre weißen Großmütter. der tröstlichen Versicherung: „Du bist ja des Propheten. (Am Schluss, als Special Foto Stefan Korsinsky / Expander-Film gar nicht schwarz – nur mokka!“ Effect, rasiert er ihn ab.) „Es ist zu spät“: Ein mehr oder weniger subkutaDer Titel verrät es ja schon. Die Spezies Mensch, die 0,01 Prozent aller Lebewesen ner Rassismus und der jeweilige Umauf diesem Planeten ausmacht, hat es gang damit, oft ironisch, humorvoll, lievollbracht, die Überlebenschancen der restlichen 99,99 Prozent zu bevoll-distanziert, liefert Stoff für die Interviews. Als ein dezimieren – mittelfristig, langfristig, darüber kann man streiten. „Teufelsdreieck“ schildert eine der Frauen mit einem Lächeln die „Ich habe gelernt, dass …“: Mit dieser wiederkehrenden Triangel Oma/Mutter/Tochter. Die oft jungen (und berufstätigen) Floskel instrumentiert Vogelgesang seine Mitteilungen, wohl um Mütter haben das Feld offenbar recht gern ihren eigenen Müttern den Eindruck zu vermeiden, er wolle andere belehren. Nein, beüberlassen, die ihrerseits die größere erzieherische Kompetenz für sich beanspruchten. Die Väter, die etwa als Studierende und lehrt werden muss sicher niemand mehr, im Großen und Ganzen sind die Fakten bekannt. Man mag das Lächeln dieser smarten junge Akademiker aus verschiedenen afrikanischen Ländern in die deutsche Provinz kamen, rückten ins zweite Glied. Eine der Kassandra nicht diabolisch nennen – aber welche bessere Vokabel fällt einem dazu ein? Dass der Bart am Schluss der HaarschneideFrauen berichtet von der Sturheit und dem Eigensinn ihrer Großmutter, eine andere spricht von bedingungsloser Liebe. Gepredigt maschine geopfert wird, erscheint als genau das: ein spirituelles worden seien die alten deutschen Tugenden: Fleiß vor allem, Opfer. Nützen wird es wenig, denn der Götter sind keine. „Druck auf dem Schwamm“. Nicht zuletzt ging es um eine entDaneben präsentierten die Impulse, seit 2018 (und bis 2023) kuratiert von Heiko Pfost, eine virtuelle Eröffnungsparty, schiedene Bindungsbereitschaft: „Erfolgreich ist man so lange, wie man sich nicht getrennt hat“, bringt eine der Frauen die Moral eine Akademie zum Thema „Soziale Herkunft und freies Theater“ und einen „Telefonkanon“ mit den Veteraninnen She She Pop. der Oma auf den Punkt. Eine andere junge Afrodeutsche berichtet freimütig von Nächstes Jahr soll dann – nach dieser Notoperation im Internet – der dreißigste Geburtstag der Impulse nachgefeiert werden, live ­ihrem eigenen verinnerlichten Rassismus. Als ihr einmal in der Bahn ein schwarzer Fahrgast gegenübersaß und ein Handy aus und mit Gästen, wie es sich für ein Festival gehört. //

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THEATERFORMEN

Festival der Inselkunde Besser geht‘s nicht: Die dreißigste Ausgabe der Theaterformen in Braunschweig zeigt, wie ein Festival unter strengen Pandemiebedingungen ablaufen kann von Theresa Schütz

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ir tun nicht so, als gäbe es hier Theater“, so heißt es programmatisch in der kollektiv gehaltenen Eröffnungsrede von Festivalleiterin Martine Dennewald und ihrem Team zum Auftakt der diesjährigen Ausgabe der Theaterformen. Während angesichts der Coronakrise die meisten Festivals abgesagt werden mussten, hat man sich in Braunschweig mit den Künstlerinnen und Künstlern (vornehmlich online) zusammengesetzt und binnen zweieinhalb Monaten alternative Formate entwickelt. Zehn Tage lang kann ich mich in Online-Formaten wie experimentellen Film­ essays, einem Hörstück, einem Audio-Bild-Text-Archiv einer nicht gezeigten Aufführung sowie kuratierten Gesprächsformaten ver-

tiefen, kann mit Aufträgen der liebevoll kuratierten „Perform at Home“-Reihe selbst kreativ werden, erhalte auf Anmeldung sogar zwei Postsendungen nach Hause und habe zudem die Möglichkeit, in Braunschweig vier Installationen und eine delegierte, ausschließlich von Zuschauerinnen und Zuschauern ausgeführte Performance live mitzuerleben. Ganz ehrlich: Besser geht’s nicht. Der rote Faden durch die Produktionen und Aufführungserfahrungen bildet dabei das Thema von räumlicher Isoliertheit bei gleichzeitiger globaler Einbindung und (digitaler wie wirtschaft­ licher) Vernetzung, das sich im Motiv der Insel sinnfällig manifes-

Entlang der atlantischen Sklavenroute – Selina Thompson setzt sich in „salt“ mit dem Leid ihrer schwarzen Vorfahren auseinander. Foto The Other Richard

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festivals

Spielze it 2020 & 2021 Opening Night von John Cassavetes Regie Charlotte Sprenger Ode an die Freiheit Kabale und Liebe / Maria Stuart / Wilhelm Tell nach Friedrich Schiller Regie Antú Romero Nunes Erst auf führung PARADIES fluten / hungern / spielen von Thomas Köck Regie Christopher Rüping Der Geizige von Molière Regie Leander Haußmann Maß für Maß von William Shakespeare neu von Thomas Melle Regie Stefan Pucher Deutsche Erstauf führung Network Bearbeitung von Lee Hall nach dem Film von Paddy Chayefsky Regie Jan Bosse Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren Regie Jette Steckel IBSEN-KOMPLEX oder Der Kampf um die Wahrheit nach Henrik Ibsen Regie Thorleifur Örn Arnarsson Herkunft von Saša Stanišić Regie Sebastian Nübling Shockheaded Peter Junk-Oper von den Tiger Lillies, Julian Crouch und Phelim McDermott Regie Peter Jordan und Leonhard Koppelmann Uraufführung State of Affairs von Yael Ronen Regie Yael Ronen Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin Der Tod in Venedig von Thomas Mann Regie Bastian Kraft Blick von der Brücke von Arthur Miller Regie Hakan Savas‚ Mican Urauf führung Mittagsstunde von Dörte Hansen Regie Anna-Sophie Mahler Deutschsprachige Erstauf führung Die Jakobsbücher von Olga Tokarczuk Regie Ewelina Marciniak Eine Inszenierung Regie Charlotte Sprenger Drei Schwestern von Anton Tschechow Regie Mateja Koležnik In Planung Uraufführung Junge Regie Paradiesische Bauten von Peter Thiers Regie Peter Thiers thalia-theater.de/premieren

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tiert und überdies dazu einlädt, den Blick vom eigenen Zentrum auf zum Teil unbekannte Orte der Peripherie zu richten. So regt zum Beispiel Ogutu Muraya in „The Ocean Will Always Try to Pull You In“ dazu an, sich genauer mit der komorischen Insel und ehemaligen Kolonie Mayotte zu beschäftigen, die als französisches Überseegebiet seit 2014 immer mehr nach Europa flüchtende Menschen beherbergt. Mit den zwei Tanz(film)produktionen „Ibuibu Belu: Daily Life“ und „Salt“ von Eko Supriyanto reise ich in die Landschaften dreier indonesischer Inseln, und mit dem zugesandten Gedicht „My Dear Prison Officer“ der iranischen Schriftstellerin Negar Rezvani werde ich mit den menschenunwürdigen Bedingungen im Offshore-Internierungslager auf Nauru vor Aus­ tralien konfrontiert. In anderen Fällen sind es die Herkunfts­inseln der Künstlerinnen oder ihrer Elterngenerationen, die wie bei Laura Liz Gil Echeniques „Los Sobrevidentes“ aus Havanna zum Ausgangspunkt einer kollektiven Erinnerungsarbeit werden. Eine enge identitätsstiftende Großmutter-Enkelinnen-Konstellation und der Versuch, die eigene diasporische Identität künstlerisch zu kartografieren, verbindet Echenique mit der britischen Künstlerin Selina Thompson, die mit ihrem Stück „salt“ zum ­dritten Mal in Folge zu den Theaterformen eingeladen ist. „salt“ basiert auf den Erfahrungen, die Thompson machte, als sie entschied, 2016 die atlantische Sklavenroute abzufahren, um sich – auch vor dem Hintergrund des eigenen sedimentierten Schmerzes alltagsrassistischer Erfahrungen in Großbritannien – mit dem historischen Leid ihrer näheren und entfernteren schwarzen Vorfahren auseinanderzusetzen. Ohne Aufführung erfahren wir davon aus einem eigens produzierten Zoom-Gespräch zwischen Thompson und der Autorin Saidiya Hartman, deren Buch „Lose Your Mother“ die Arbeit inspiriert hat. Beide beklagen am Beispiel des touristifizierten Gedenkorts Elmina Castle in Ghana das Fehlen eines Orts der Trauer und der damit ver- und unterbundenen Betrauerbarkeit ihrer Vorfahren. Wie in ihren Vorgängerproduktionen arbeitet Thompson an einer systematischen „Entzauberung Europas“, indem sie es immer wieder an seine brutale Geschichte von Ausbeutung und Kolonisierung rückbindet. Dass sie dabei selbstkritisch auch ihre eigenen Privilegien als schwarze gebildete Künstlerin mit britischem Pass im Blick hat, verbindet ihre Arbeiten mit Zwoisy Mears-Clarke und Venuri Perera, die im Filmessay „Porcelain White“ gleichfalls problematisieren, wie sie als schwarze, ­englischsprachige, bürgerlich und westlich sozialisierte Personen immer auch unweigerlich weißes Erbe mitverkörpern. Da diese beiden Künstler dem Berliner Publikum nicht zuletzt aus dem Umfeld der von Anna Mülter kuratierten Tanztage bekannt sein dürften, steht das Vorhandensein dieser Produktion im diesjährigen Programm nicht nur für den anstehenden Leitungswechsel von Dennewald zu Mülter, sondern symbolisiert vielleicht auch ein Versprechen auf eine Kontinuität bestimmter wertvoller ­Traditionen des Festivals Theaterformen: der starke Fokus auf postkoloniale Themen, das Festhalten an einzelnen Künstlerinnen und Künstlern über mehrere Ausgaben hinweg sowie die maßgeblich von Martine Dennewald und ihrem Team in Gang gesetzte Transformation des Festivalbetriebs hin zu diskriminierungsfreiem, hierarchiefreierem und klimafreundlicherem Produzieren. Besser geht’s nicht.//


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Andrea Cruz Company Spanien Andrea Salustri Italien Cie Les 3 Plumes Italien/Frankreich Cie Claudio Stellato Belgien Companyia PSiRC Spanien Ferenc Fehér Ungarn Howool Baek Deutschland/Südkorea Laurent Bigot Frankreich Li Kemme Deutschland Olivier de Sagazan Frankreich Tof Théâtre Belgien Trickster-p Schweiz

Tickets unter 0331-719139 www.unidram.de & www.t-werk.de


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Oper Schauspiel Tanz

Ab 20.09. Der Kirschgarten

KomĂśdie von Anton Tschechow Inszenierung und Konzept: Christos Passalis und Angeliki Papoulia

Ab 05.11. Meine geniale Freundin 1 – 4 Schauspiel mit Musik nach den Romanen von Elena Ferrante Inszenierung: Lily Sykes

Ab 24.11. Frau Holle đ&#x;˜€đ&#x;˜€

Ein Märchen ßber das Wetter nach den Brßdern Grimm Inszenierung: hannsjana

Ab 03.12. Eine theatrale FĂźhrung von Giacomo Veronesi

Am 04.12. Happy End auf der Allmend Ein Nachspiel im Stadion des FCL Inszenierung: Massimo Furlan

Ab 22.01. Schilten

Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz nach dem Roman von Hermann Burger Inszenierung: Christiane Pohle

Ab 26.02. TELL – eine wahre Geschichte nach Friedrich Schiller Inszenierung: Franz von Strolchen

Ab 17.04. Kunst

20 21

Ein kulturpolitisches Poem von Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo

Ab 12.05. Das Klima

luzernertheater.ch 041 228 14 14

PROGRAMM 20/21 JETZT ONLINE WWW.BUEHNE-AARAU.CH

T

Eine BĂźrgerversammlung von Christophe Meierhans und Extinction Rebellion

Am 05.06. Die 5. Jahreszeit

Eine einmalige Stadtbespielung von Thomas Verstraeten

KĂźnstlerische Leitung: Sandra KĂźpper


OFFEN! #wirfreuenunsaufsie #schauspiel

PREMIEREN APOKALYPSE BABY DSE 2.10.20 Despentes | Simitzis DIE NEUEN TODSÜNDEN UA 3.10.20 Ben Yishai, Darlasi, Davydova, Faber, Schmit, Strömquist, Zaree | Bergmann CARMEN 15.10.20 Bizet | Bergmann DIE VERWANDLUNG 28.11.20 Kafka | Bilmen TONI ERDMANN UA 5.12.20 Ade | Linke WIR SIND DAS KLIMA! DSE 29.1.21 Foer | Wengenroth GOTT 30.1.21 v. Schirach WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF? 6.2.21 Albee | Bergmann GABRIEL DSE 25.3.21 Sand | Daubnerová DER GUTE GOTT VON MANHATTAN 28.3.21 Bachmann | Durand-Mauptit IN DEN GÄRTEN ODER LYSISTRATA 2 DE 5.5.21 Berg FRÄULEIN JULIE 21.5.21 Strindberg | Engelkes EIN SPORTSTÜCK 12.6.21 Jelinek | Luque SPECIALS MOZART & SALIERI 20.9.20 Puschkin | Agranovski, Strunk DIE GROSSE HITPARADE 24.9.20 Thoß, Weinhold CORONA-SOLOS 24.10.20

WWW.STAATSTHEATER.KARLSRUHE.DE


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Spielzeit 2020/21 Umbrüche II PREMIEREN Bartholomäusnacht – ein Requiem (UA) von Thomas Krupa 11.09.20 Markgrafentheater PROTEST4 (UA) Gewinnerkonzept Regienachwuchswettbewerb Vol. IV 12.09.20 Garage Wer Ost sagt, muss auch West sagen (UA) von Daniela Dröscher Bürgerbühne Erlangen 03.10.20 Der Bau nach einer Erzählung von Franz Kafka 31.10.20 Garage So oder so – Hildegard Knef von Gilla Cremer 11.12.20 Vorbühne Markgrafentheater Andorra Parabel von Max Frisch 21.01.21 Markgrafentheater GRNDGSTZ (UA) von Annalena & Konstantin Küspert 27.02.21 Markgrafentheater

N. N. 15.04.21 Markgrafentheater Auf hoher See Groteske von Sławomir Mrożek 16.04.21 Garage Ich* – Die neue Uni*Diversität (UA) Bürgerbühne Erlangen 26.06.21

Spielzeit 2020/21

Premieren

Die Ballade vom großen Makabren von Michel de Ghelderode

26.9.20

Oskar und die Dame in Rosa von Éric-Emmanuel Schmitt

27.9.20

Urmel aus dem Eis von Frank Pinkus nach dem Kinderbuch von Max Kruse

21.11.20

In 50 Jahren ist alles vorbei Ein Otto-Reutter-Liederabend

28.11.20

Wer hat Angst vor Virginia Woolf ...? von Edward Albee

JUNGES THEATER

KALT (UA)

Es war einmal … 4&5 Kindergeschichten neu erzählt 20.09. & 08.11.20 Garage

Schauspiel von Joachim Zelter

In einem tiefen, dunklen Wald ... von Paul Maar Kinderstück zur Weihnachtszeit 29.11.20 Markgrafentheater

Die Präsidentinnen

„Aufruf an alle Deutsche!“ 100 Jahre Sophie Scholl (AT) 10.06.21 Garage

30.1.21

20.2.21

Faust, der Tragödie zweiter Teil – The End Time Opera nach Johann Wolfgang von Goethe

13.3.21

von Werner Schwab

17.4.21

Extrawurst von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob

1.5.21

C.C. Mätressen (UA) Ein dokumentarisches BaRockmusical zum 800. Jubiläum der Stadt Ansbach von Axel Krauße und Peter Sindlinger

19.6.21

Habe Häuschen. Da würden wir leben. von Roger Willemsen theater-ansbach.de

wird bekannt gegeben


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N E B E L S A D , U E N T N N BEGI WENN ES D R I W H C S FRI . T S B R E H IM formdusche.de

TSBY MAKING A GREAT GA nach F. Scott Fitzgerald

20.21


Look Out

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Von diesen Künstler*innen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Entschleunigt unter Topfpflanzen Der Dramaturg und Performer Jeffrey Döring erschafft mit seiner Ästhetik der Grenzerfahrung politische Erfahrungsräume

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ingesperrt mit seinen Topfpflanzen sitzt der Performer und Dramaturg Jeffrey Döring im Wohnzimmer. Aus dem Radio sind die neuesten Nachrichten zu den Corona-Ausgangssperren zu hören. Im Kurzfilm „Mein Freund der Baum. Was wir von Topfpflanzen lernen können“ nehmen die Gewächse i­mmer mehr Raum im Leben des Protagonisten ein. Starr ist die Kamera auf das Wohn­ zimmer gerichtet. Tagsüber sitzt Döring auf dem Sofa, spricht mit den Pflanzen, gibt ihnen sogar ­Namen. Nachts be­ginnen die Gewächse zu sprechen. Lustvoll experimentiert der 28-Jährige in diesen Sequenzen mit den schillernden Möglichkeiten des Ani­ mationsfilms. Zehn Minuten Entschleunigung zelebriert Döring in dem Kurzfilm, der im Rahmen des Filmfestivals Corona Creative des MDR entstanden ist. Kameratechnik und Performance zu verbinden, das reizt den Künstler aus Leipzig, der an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg Dramaturgie und Medienkunst studiert hat. Bereits im Studium arbeitete der Grenzgänger zwischen den Künsten mit der Filmakademie zusammen, die ihre Räume auf demselben Campus hat. Der Shutdown für die Kultur ließ ihn Möglichkeiten digitaler Medien neu entdecken. Einen weiteren Kurzfilm produziert er derzeit für die Staatsoper Stuttgart. Zu den Klängen des ­Madrigals „Lamento della Ninfa“ von Claudio Monteverdi hat Döring in den verwaisten Straßen der Großstadt einen Film über die Unmöglichkeit der Liebe gedreht. Dessen Musik und das Thema fesseln ihn schon seit Langem. Mit seinem Kollektiv Goldstaub näherte er sich in dem szenischen Projekt „Wankelmut der Herzen“ der schwerblütigen Musik des italienischen Komponisten an, der den Übergang von der Renaissance zum Barock markiert. Dabei Medieninstallationen und Sounddesign zu neuen Aufführungsformaten zu verbinden, reizt ihn. Die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Opernensemble und den Musikern öffnet Döring neue Perspektiven für das

Sprechtheater. Eines seiner Herzens­ projekte ist die „ZauberBurg“, die Döring gemeinsam mit dem Komponisten Max Andrzejewski beim Ess­ linger Podium Festival realisieren will. Wegen der strengen Corona-­ Verordnungen in Baden-Württemberg wurde die aufwendige Konzert­ inszenierung nicht nur in den Oktober verschoben. „Wir mussten den Ansatz der Produktion ganz neu denken“, sagt Döring über das Projekt, das auf lang angelegten Recherchen und Gesprächen mit Ess­linger Bürgerinnen und Bürgern beruht. Die zunächst geplante Nähe zum Publikum will er durch virtuelle Elemente ersetzen. Basierend auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ fragt Döring in dem Stück nach dem Gesundheitsideal der heutigen Leistungs­ gesellschaft. „Dass das Thema durch die Corona-Pandemie so aktuell werden würde, hätte ich mir anfangs nicht träumen lassen.“ Gesundheit sei nicht länger nur ein persönliches Gut, sondern ein ­Warenwert geworden. Da reizen den kritischen Theatermacher gerade die unbequemen ethischen Fragen: „Wer entscheidet, welche Patientin, welcher Patient einen Beatmungsplatz bekommt, wenn die Kapazitäten knapp werden?“ Kritische Fragen wie diese müsse das Theater aufwerfen, findet Döring. Politisch Haltung zu zeigen, findet der Künstler wichtig. Vor allem aber will er mit seinem Team künstlerische Grenzerfahrungen aus­loten. Auch Künstlerinnen und Künstlern, die durch das Raster fallen, will er ein Forum bieten. Durch seine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Gehörlosentheater in München hat der ­Regisseur auch für sich neue Ausdrucksformen entdeckt. „Ich habe die Gebärdensprache gelernt, das öffnet einen anderen Blick auf die Welt“, sagt er lachend. Auch das ist für ihn ein hochpolitisches Thema. // Jeffrey Döring. Foto David Klumpp

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Elisabeth Maier Die „ZauberBurg“ von Jeffrey Döring und Max Andrzejewski wird am 11. und 12. Oktober im Rahmen des Podium Festivals in Esslingen zu sehen sein.


Look Out

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Abgründige Sprachlosigkeit Die Berliner Regisseurin Rieke Süßkow trifft radikale Entscheidungen

ritiker bezeichnen eine gelun­ gene Inszenierung ja schnell einmal als „radikal“. Aber Rieke Süßkows „Medea“-Version ist es wirklich. In ihr fällt den ganzen Abend über kein einziges Wort. Trotzdem – oder womöglich gerade deshalb – wirkt die Ehetragödie, in der Medea mit ihrem fremdgehenden Gatten Jason feststeckt und schließlich die gemeinsamen Kinder tötet, hier besonders abgründig. Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren in einem durchsichtigen Edelwohnkasten; man schaut der Familie von außen, durch trans­parenten Gazestoff, bei ihren Alltagsroutinen zu: Zeitungslektüre, Abendessen, Hausauf­ gabenerledigung, sexuelle Verrenkungsgymnastik im Ohrensessel und – ganz wichtig – die regelmäßige Beloh­ nungspralinenverteilung als innerfamiliäres Macht- und Positionsbestimmungsritual. Die Hartnäckigkeit und Präzision, mit der es Süßkow gelingt, tatsächlich Sprachlosigkeit zu inszenieren (und nicht etwa ein populäres Missverständnis von ihr, die beredte Pantomime), besitzt wirklich Seltenheitswert. Kaum zu glauben, dass der Abend, der 2019 auf Kampnagel Premiere feierte und sofort zu Branchenevents wie dem jungen europäischen Regiefestival Fast Forward nach Dresden eingeladen wurde, erst Süßkows Diplomarbeit ist: die Abschlussinszenierung ihres Regiestudiums an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. „Mich hat an ,Medea‘ die Frage nach der Selbstunterdrückung interessiert“, erklärt die 1990 in Berlin geborene Regisseurin, bei der die kolchische Königstochter aussieht wie Jackie Kennedy. Das tatsächliche Leben hat sich hinter dem zu erfüllenden Image – dem „sehr amerikanisierten, kapitalistischen Bild von der glücklichen Familie“ – bereits vollständig verflüchtigt. So sei die Sprachlosigkeit in die Inszenierung gekommen, sagt Süßkow – die das eiserne Schweigen angesichts des immensen „Medea“-Erfolges sicher zu ihrem inszenatorischen Markenzeichen hätte ausdehnen können. Ästhetische Radikalität als Selbstzweck scheint die Regisseurin allerdings nicht zu interessieren. Sie ist eine genaue Lese-

Rieke Süßkow. Foto Oliver Brosmann

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rin, horcht in die Texte hinein, schaut, „was sie brauchen“, statt ihnen Schablonen aufzupfropfen. Die Kevin-Rittberger-Uraufführung „IKI. Radikalmensch“, die Süßkow im Herbst 2019 am Theater Osnabrück inszenierte und mit der sie zum Festival Radikal jung nach München eingeladen wurde, brauchte zum Beispiel das Gegenteil von Sprachlosigkeit. Weil „IKI“ ein dialektisches Stück ist, das komplexe Gegenwartsfragen – nach Umwelt, Moral, künstlicher Intelligenz und der Idee von einem neuen (vermeintlich besseren) Menschen – angemessen vielschichtig umkreist statt einfach Imperative über die Rampe zu pre­ digen, machte Süßkow genau diese suchende Bewegung zum Inszenierungsthema. „Die Zuschauer zu belehren, interessiert mich nicht“, sagt sie. „Wenn man ein einigermaßen offener Mensch ist, wird einem sowieso schnell klar, dass es nicht funktioniert, Dinge nur aus einer Perspektive zu betrachten.“ Auch Süßkows eigener Weg zum Theater verlief inspirierend ungeradlinig. Sie entstamme keinem klassischen Theatergängerumfeld, erzählt sie. „Eigentlich bin ich sehr naiv zum Theater gekommen, einfach mit so einer Leidenschaft und Bildern im Kopf. Ich musste mich da richtig reinkämpfen.“ Nach dem Abitur machte sie im Rahmen eines freiwilligen sozialen Dienstes in Schottland zunächst Theater mit Kindern und Jugendlichen, auch mit geistig behinderten oder gehörlosen, lernte die Gebärdensprache. Erst danach studierte sie Theaterwissenschaften in Wien und schließlich Regie in Hamburg: Ein Weg, der sie auch ein Stück weit autonom gemacht habe, sagt Süßkow, weniger verunsicherbar durch Trends und andere von außen herangetragene Erwartungen. Nächsten Monat wird Rieke Süßkow in ihrer Geburtsstadt, am Berliner Ensemble, „Elektra“ inszenieren. Die Proben laufen zwar noch, aber eines steht bereits fest: „,Elektra‘ wird ganz anders als ,Medea‘.“ // Christine Wahl „Elektra“ in der Regie von Rieke Süßkow hat am 22. Oktober am Berliner Ensemble Premiere.

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Warum Theater? Jakob Hayner, Chantal Mouffe, Mårten Spångberg, Christine Wahl / Theater & Moral #3 Afrika beklauen: Christoph Schlingensiefs Operndorf / Frank Castorf und B.K. Tragelehn über Jürgen Holtz

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auftritt

/ TdZ  März    / /  / September  Januar  2018 20202020

Buchverlag Neuerscheinungen

Der vorliegende Sammelband unternimmt den Versuch, Praktiken und Arbeitsweisen mehrperspektivisch zu beschreiben, um Einblicke in die aktuelle Situation des Theaters in Togo, Burundi und Tansania zu ermöglichen. Wer macht mit wem in welchem Kontext welches Theater? Wodurch zeichnen sich die Arbeitsweisen und künstlerischen Infrastrukturen aus? Und welche kulturpolitischen Visionen gibt es? RECHERCHEN 157 Theater in Afrika II - Theaterpraktiken in Begegnung Kooperation zwischen Togo, Burundi, Tansania und Deutschland Herausgegeben von Ramsès Bawibadi Alfa, Elisa Elwert und Christoph Nix Paperback mit 150 Seiten Zweisprachig deutsch / französisch ISBN 978-3-95749-308-8 EUR 16,99 (print) . EUR 12,99 (digital)

Der berühmte griechische Regisseur Theodoros Terzopoulos beschreibt in „Die Rückkehr des Dionysos“ die Grundlagen seines weltweit gefeierten Theaters: Die Neugeburt des modernen Theaters aus dem Geist der kreatürlichen Körperarbeit. Das Buch enthält 40 detailliert erklärte Übungen zum Selbststudium für Schauspielerinnen und Schauspieler.

Klappenbroschur mit 120 Seiten Mit zahlreichen Abb. und Film-DVD EUR 19,50 (print). EUR 16,99 (digital)

Buchpremiere am 22. September 2020, Akademie der Künste, Pariser Platz Berlin Dorte Lena Eilers backstage TSCHEPLANOWA Paperback mit 144 Seiten ISBN 978-3-95749-276-0 EUR 18,00 (print) . EUR 14,99 (digital)

Die arabischsprachige Ausgabe von „Die Rückkehr des Dionysos“.

Theodoros Terzopoulos Die Rückkehr des Dionysos Mit einem Vorwort von Erika Fischer-Lichte

Dieser reich bebilderte Gesprächsband schil­dert die Reise einer eigenwilligen Schauspielerin, die 1980 im sowjetischen Kasan beginnt, den Leser durch die Wirren des Systemumbruchs in ein ein­sames norddeutsches Dorf führt, von russischen Schamanen, hilflosen Intendanten und palästinen­sischen Macho­-Frauen erzählt und mit ihrer Theater­ arbeit mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf noch lange nicht endet.

Ein Panorama zeitgenössischen Schreibens für die Bühne in 25 Porträts. Soll man die Lage der zeitgenössischen Dramatik als dramatisch be­ zeichnen? Nein! Unsere Bestandaufnahme im aktuellen "Stück-Werk 6" zeigt, dass nicht nur eine neue, diversere Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern auf den deutschsprachigen Bühnen reüssiert, sondern dass formal wie thematisch die Entwicklungen der letzten Jahre in ihren Texten produktiven Widerhall gefunden haben. Arbeitsbuch 2020 Stück-Werk 6 Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt Herausgegeben von Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewski Paperback mit 144 Seiten ISBN 978-3-95749-299-9 EUR 24,50 (print) . EUR 19,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs Der Autor Wajdi Mouawad schreibt auf Französisch und leitet ein Theater in Paris. Sein Thema jedoch bleibt der Libanon, den er vor vierzig Jahren verließ von Lena Schneider


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in Junge spielt auf einem Balkon in Beirut. Er spielt mit seinem Kinderfahrrad. Der Junge hört Schreie. Er beugt sich hinunter, und er sieht: einen Autobus, der von einer Gruppe Männer beschossen wird. Der Junge ist sieben. Der Junge sieht, aber er versteht nicht. Es ist der 13. April 1975. Der Junge heißt Wajdi Mouawad. „Bei allem, was ich beschreibe, geht es nur darum“, sagt er vierzig Jahre später im Intendantenbüro des Théâtre de la Colline über den Tag. Er leitet das Haus seit 2016. Vom Büro aus kann man die Dächer von Paris sehen. Der Libanon scheint fern. Für den Leiter dieses Theaters ist er es nicht. Als im Sommer 2020 in Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodieren, meldet sich Mouawad aus dem Urlaub zu Wort, in einem Zeitungsartikel, der die Korruption der Regierung für die Katastrophe verantwortlich macht. „Alles ist zerstört im Libanon“, schreibt er in Le Monde. „Nicht nur der Beton. Die Zukunft.“ Das Ereignis, schreibt er, sei ein Echo auf den 13. April 1975. Der Tag gilt als Auslöser für den Bürgerkrieg, der bis 1990 im Libanon wütete. Eine christliche Miliz greift damals wehrlose ­palästinensische Zivilisten an. Wenige Jahre später verlässt Wajdi Mouawad mit seiner Familie, christlichen Maroniten, das Land. ­Wajdi Mouawad ist zehn. Die Familie zieht zunächst nach Paris. Fünf Jahre später wird ihr die Aufenthaltserlaubnis entzogen, geht die ­Reise weiter nach Montreal. Seine Mutter wird kurz nach der Ankunft in Kanada den Kampf gegen den Krebs verlieren – etwas, das er später unter anderem in dem Text „Im Herzen tickt eine Bombe“ (siehe Stückabdruck) aufnimmt. Erst einmal aber soll er hier, in Paris, zur Schule gehen. „Jeder macht auf seine Weise B ­ ekanntschaft mit dem Tragischen“, wird er später in einem ­Interview sagen. Für ihn ist es dieser erste Schultag im 15. ­Arrondissement. „An diesem Tag spürte ich Dinge, die ich davor nicht gekannt hatte: tiefe Langeweile und Traurigkeit.“ Der Mann, der auf diese Art zum Tragischen fand, arbeitet sich bis heute so intensiv und ungebrochen am Tragödiengenre ab wie wenige andere zeitgenössische Theaterautoren. Am 20. September wird er dafür am Schauspiel Stuttgart den erstmals verliehenen Europäischen Dramatiker*innenpreis erhalten. Im deutschsprachigen Raum wird er 2006 mit „Verbrennungen“ („Incendies“) bekannt, dem zweiten Teil der Tetralogie „Das Blut der Versprechen“ („Le Sang des promesses“). Innerhalb von zwei Jahren wird die Übersetzung von Uli Menke 23 Mal nachgespielt – so oft wie kein anderes seiner Stücke. In deutschen Spielplänen ist er fortlaufend präsent: Allein im September 2020 wird das 2017 uraufgeführte Stück „Vögel“ zweimal Premiere feiern, in Bremerhaven und Potsdam. Es erzählt von dem Versuch einer Liebe zwischen einer Araberin und einem Juden, vor dem Hintergrund eines Terroranschlags. Wie oft bei Mouawad geht es darum, das Schweigen über die Vergangenheit zu brechen – auch, wenn das unerträglich ist. Mouawads Figuren sind Geschwister des Ödipus. Auch diejenigen in „Verbrennungen“. Seine Figuren sind Geschwister des Ödipus – Kaum ein zeitgenös­ sischer Autor arbeitet sich so intensiv und ungebrochen am Tragö­ diengenre ab wie Wajdi Mouawad. Dafür erhält er jetzt den Euro­pä­ ischen Dramatiker*innenpreis. Foto Simon Gosselin

wajdi mouawad

Der Text führt durch verschiedene Länder, vergangene Zeiten, hin zu fast undenkbarem Grauen. Die Wiener Aufführung in der Regie von Jan Bachmann wirkte damals ziemlich ratlos angesichts dieser für das deutschsprachige Theater so neuen Qualität des Textes: Hier brachte ein Autor mit epischem Furor eine verästelte Geschichte, verschiedenste zeitliche Ebenen und eine so poetische wie brachiale Sprache zusammen – vor dem historischen Hintergrund eines Bürgerkrieges. Mit einer Dramaturgie, die an Sophokles anknüpft: Schuld und Unschuld, Glück und Elend, individuelle Lust und historische Last sind untrennbar eng miteinander verschlungen. „Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle“, heißt es in „Verbrennungen“: „Man zieht es nicht so leicht heraus.“ Für Mouawad ist die Kindheit ein verlorenes Land. Er hat seit 1978 nicht mehr im Libanon gelebt. Dennoch taucht der Ort in nahezu allen Texten auf. Namenlos. Nennen könne er ihn nicht, schrieb er einmal, „denn wenn ich auch ursprünglich von dort stamme, so komme ich doch nicht länger von dort“. Es bleibt das Herkunftsland als Schauplatz, Erinnerung, Hintergrund. Als Chiffre für Krieg, Gewalt, Verwüstung. Als der Regisseur Krzysztof Warlikowski ihn 2015 einlädt, für ein mit Isabelle Huppert geplantes „Phädra“-Projekt einen Text beizusteuern, entblättert Mouawad die phönizische Facette der Figur: Als Enkelin der mythischen Prinzessin Europa wuchs Phädra an den Stränden der libanesischen Stadt Sidon auf. Dort, wo auch Mouawad als Kind spielte. „Sie war von meinem Blut“, schreibt er im Vorwort zu dem Text, den er „La chienne“ (Die Hündin) nennen wird. Premiere ist im März 2016, wenige Monate nach den durch islamistische Extremisten verübten Attentaten in Paris, bei denen 137 Menschen sterben. Phädra als Libanesin zu denken, bedeutet für Mouawad auch, „den Orten der Massaker aus meinen Kriegen, den Orten meines Exils wieder zu begegnen.“ Auch Phädras Volk wird ins Exil vertrieben werden. Die Pariser Attentate vom 13. November 2015 rücken die von Krieg und Gewalt zerrüttete Welt von Mouawads Stücken und die sich in Sicherheit wähnende Welt, in der seine Werke rezipiert werden, so dicht zusammen wie nie zuvor. „Früher, als in Quebec und Frankreich Frieden herrschte, erschien das, was ich schrieb, möglicherweise als interessante Außenperspektive, aber auf einmal war der Orient da. Auf einmal hat die Wirklichkeit das Theater eingeholt.“ In der Nacht der Attentate probt er mit einer Gruppe Studierender „Victoires“ (Siege), ausgerechnet. Als nach und nach die Neuigkeiten in den Probenraum durchsickern, beginnt Mouawad zu erzählen. Vom Libanon. Jemand holt Bier, jemand spielt Klavier. Am Ende schlief niemand, berichtet er im Intendantenbüro, alle tanzten. Vom Theater erwartet – ersehnt – Mouawad eben das: den Moment der Katharsis. „Einen Moment, in dem jeder, willens oder nicht, anerkennen muss: Etwas in mir hat sich bewegt.“ Er glaubt daran, dass dem Autor eine Art Sprachrohr-Funktion zukommt. „Wenn ich nur für mich spräche, würde mich das nicht interessieren“, sagt er. „Ich komme aus einem Land, wo die Leute nicht sprechen, also ist es notwendig, dass andere Leute an ihrer Stelle sprechen.“ Und er fragt: „Wenn der Zwillingsbruder, den du über alles liebst, vergewaltigt wurde und ihm vor Schmerz und Scham die Sprache fehlt, was tust du? – Wenn du ihn liebst, redest du, nicht bloß um ihn zu verteidigen, sondern auch um auszudrücken, was er in sich trägt. Genau das tut man, wenn man schreibt.“

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Theater Paderborn

Spielzeit 2020/21 21.08.20 Bericht über eine unbekannte Raumstation von J. G. Ballard URAUFFÜHRUNG 02.10.20 Das letzte Band von Samuel Beckett 10.10.20 Antigone des Sophokles 21.11.20 Struwwelpeter (Shockheaded Peter) Musical von den Tiger Lillies 23.01.21 Woyzeck von Georg Büchner 13.03.21 Die Pest von Albert Camus 15.05.21 Die Verlorenen von Ewald Palmetshofer 12.06.21 Eine Sommernacht ein Stück mit Musik von David Greig

Mouawads Schreiben wird von einem Missverständnis begleitet, sagt er: „Meine geschriebene Sprache ist eine andauernde Übersetzung aus dem Arabischen.“ Ein Arabisch, das sich als Französisch verkleidet hat. „Was man meiner Sprache vorwerfen kann, ist, dass sie geschwätzig und überzogen ist. Aber sie ist nicht geschwätzig und überzogen oder lyrisch. Es ist einfach Arabisch.“ Erst in der Übersetzung in andere Sprachen verliere sich dieses Missverständnis, erst dann habe man wieder unverstellten Zugang zum Text. „Was mir tief drinnen ein bisschen das Gefühl gibt“, sagt er, „auf französischem Terrain wie auf Feindesland zu leben.“ Und Wajdi Mouawad schreibt nicht nur mit Worten. Er schreibt auch mit Videomaterial wie in „Inflammation du verbe vivre“ (Entzündung des Verbes lebe) 2016. Oder mit Farbe und dem eigenen Körper wie in dem Solo „Seuls“ – Einsam(e) – von 2008, einer polyphonen Annäherung an Rembrandts Gemälde „Der verlorene Sohn“, in der sich Erzählung, Performance und Selbstporträt vermischen. Dass Wajdi Mouawad auch Regisseur ist, ist seiner Arbeit als Autor zu verdanken. Begonnen hat es in Montreal, wo er 1991 das Théâtre Ô Parleur gründet und seine eigenen Texte aufführt. Es überrascht kaum, dass er sich auch der griechischen Tragödien angenommen hat. Lückenlos. Zwischen 2011 und 2015 inszeniert er alle sieben Stücke von Sophokles, gebündelt in drei Teile. „Des femmes“ (Frauen) wird 2011 in Avignon gezeigt, wo er ein häufig eingeladener Gast ist, im Jahr 2009 als artiste associé. „Des femmes“ ist ein atemberaubender Ritt durch die Nacht mit den Trachinierinnen, Antigone und Elektra. Die Kulisse gibt der ehemalige Steinbruch Carrière de Boulbon vor den Toren der Stadt ab, gespielt wird bis Sonnenaufgang. Es folgen 2013 „Des Héros“ (Helden) und 2015 „Des mourants“ (Sterbende). Mouawads Übersetzer und Freund Robert Davreu stirbt, bevor der Zyklus beendet ist. So kommt es, dass er „Philoktet“ und „Ödipus auf Kolonos“ selbst überträgt. Auch als Manifeste seiner Trauer. Der Monolog „Im Herzen tickt eine Bombe“, uraufgeführt 2003 im Théâtre de Sartrouville, liest sich wie ein Kondensat dessen, was Mouawads Werk ausmacht. Im Mittelpunkt auch hier: ein junger Mann, Wahab, auf der Suche. Nach der Frau, die seine tödlich an Krebs erkrankte Mutter einmal war – und auch nach der Erlösung aus einem Trauma. „Ich bin der Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs, der mein Heimatland verwüstet hat“, sagt Wahab. Wir begegnen in ihm auch dem Jungen auf dem Balkon wieder. Aber diesmal nimmt er den Fahrstuhl. Er fährt nach unten. Ein Bus kommt, hält. Der Junge nimmt Blickkontakt mit einem anderen Jungen im Bus auf. Sie lachen sich an. Dann steht der Bus in Flammen. Wahab sieht, wie der Junge verschlungen wird, von einer Frau mit hölzernen Armen. Man muss immer dorthin gehen, wo es am finstersten ist, sagt Wajdi Mouawad. Seitdem er Leiter des Théâtre de la Colline ist, schreibt Wajdi Mouawad jedes Jahr ein Manifest. Der Titel für 2020 lautet: „Für den Schatten“. Ein Plädoyer für all das, was sich der Vernunft, dem Licht entzieht. „Das Geheimnis. Das Mysterium. Der Widerstand.“ So ist auch „Im Herzen tickt eine Bombe“ zu lesen. Wahab wird der Frau mit den hölzernen Armen wiederbegegnen, am Totenbett der Mutter im Krankenhaus. Er wird mit ihr einen grausigen Totentanz vollziehen – und in dem Moment, da alles verloren scheint, von einem Rudel Wölfe gerettet werden. „Ich lächle“, sagt Wahab am Ende. „Was soll ich auch sonst tun?“ Die Antwort hält er schon in der Hand: einen Pinsel. //


GROSSES HAUS HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI / Schauspiel von Bertolt Brecht /

2021

PREMIEREN

2020

Koproduktion mit der hmt Rostock / 17.10.2020 CABARET / Musical von John Kander, Fred Ebb und Joe Masteroff / Fassung Chris Walker / Übersetzung Robert Gilbert RAPUNZEL / Weihnachtsmärchen von Peter Dehler nach den Gebrüdern Grimm / Ab 5 Jahren / 20.11.2020 DIE 39 STUFEN / Komödie von John Buchan & Alfred Hitchcock / Bearbeitung von Patrick Barlow / Übersetzung Bernd Weitmar / 16.01.2021 JUGEND OHNE GOTT / Schauspiel nach Ödön von Horváth / 20.03.2021

ATELIERTHEATER QUALITYLAND / Von Marc-Uwe Kling / Szenisch eingerichtete Lesung OLEANNA – EIN MACHTSPIEL / Schauspiel von David Mamet / Übersetzung Bernd Samland BILDER DEINER GROSSEN LIEBE / Romanbearbeitung von Robert Koall / Nach Wolfgang

Herrndorf / 19.09.2020 SKY IS THE LIMIT / Klassenzimmerstück von Lorenz Hippe und Cédric Pintarelli / Ab 12 Jahren DER PROZESS / Schauspiel nach Franz Kafka / Koproduktion mit der hmt Rostock / 24.10.2020 DER KLEINE PRINZ / Schauspiel nach Antoine de Saint-Exupéry / Ab 6 Jahren / 29.11.2020 DIE MARQUISE VON O. / Schauspiel nach Heinrich von Kleist / 09.01.2021 FRÄULEIN JULIE / Tragödie von August Strindberg / 23.04.2021

KLEINE KOMÖDIE WARNEMÜNDE HEUTE ABEND: LOLA BLAU / Musical für eine Darstellerin von Georg Kreisler WER KOCHT, SCHIESST NICHT / Solostück von Michael Herl / 30.10.2020 FRIVOLE LIEDER / Musikalische Zeitreisen / Folge 4 / Mit Mario Lopatta und John Carlson EIN ABEND FÜR GEORGETTE DEE / Musikalische Zeitreisen / Folge 5 / 30.01.2021 OFFENE ZWEIERBEZIEHUNG / Komödie von Franca Rame & Dario Fo / Übersetzung von Renate Chotjewitz-Häfner / 21.03.2021 Änderungen vorbehalten

www.volkstheater-rostock.de


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Wajdi Mouawad

Im Herzen tickt eine Bombe Aus dem Französischen von Uli Menke

Wir wissen nie, wie eine Geschichte beginnt. Ich meine, wenn eine Geschichte beginnt und wenn euch diese Geschichte passiert, dann wisst ihr nicht, dass sie beginnt. Ich meine… Ich meine, ihr lauft nicht gemütlich die Straße runter, und auf einmal denkt ihr: Schau mal einer an, da beginnt eine Geschichte. Ich meine, wir wissen es nicht… und dann, wenn wir endlich merken, dass wir mitten drinstecken, in der Geschichte, dann wissen wir nicht, wie alles ausgeht. Keiner kann das wissen. Erst am Ende. Wenn alles vorbei ist, wenn wir die Augen aufmachen und denken: Die Geschichte ist zu Ende. Sie ist vorbei und weil sie vorbei ist, fangt ihr an, die Stille zu hören, die große Stille, in der ihr fast ertrunken wärt. Das ist so. Um also die Stille auszutricksen, versuchen wir, Worte zu finden. Um zu erzählen. Auch wenn es Quatsch ist, aber ein Wort, das man tief in sich drin findet, ist wie eine Oase mitten in der Wüste. Wir beeilen uns, dorthin zu kommen und zu trinken. Wir trinken das Wort. Das erste Wort, das ich gefunden habe, um zu erzählen, was passiert ist, ist das Wort „früher“. Ich sage „früher“, aber es ist noch nicht lange, dass ich „früher“ sagen kann. Manchmal sage ich: „Früher, da war ich ein Kind.“ Aber wann habe ich damit aufgehört? Ich weiß es nicht. Jetzt ist es so. Ich höre die Alten reden. Sie sagen: „Vor dem Krieg.“ Das vor bestimmt das früher. Der Krieg ist etwas Starres. Manchmal auch: „Bevor der und der gestorben ist.“ Auch das ist starr. Der Tod ist starr. Früher. Was weiß ich. Ich heiße Abdelwahab, wie der Sänger, aber alle nennen mich Wahab, ich bin neunzehn und neuerdings kann ich das Wort „früher“ sagen und manchmal ist das eine Katastrophe. Wie das alles angefangen hat, weiß ich nicht… Ich kann nicht sagen, ob ich das Klingeln gehört habe. Ich kann‘s nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass ich plötzlich in meinem Bett saß und mich fragte, ob ich geträumt hatte. Möglich wäre das. Es war dunkel, es war kalt. Hatte ich geträumt? Dann

hörte ich es wie zur Antwort klingeln: „Du hast nicht geträumt.“ Hätte aber sein können. Draußen war Schneesturm und die Räumfahrzeuge machten Radau. Ein Höllenlärm. Ich hätte es geträumt haben können. Trotzdem hatte ich plötzlich den Hörer in der Hand. Mit normaler Stimme sagte ich: „Hallo“. Jemand sagte: „Wahab?“ Ich sagte: „Ja“. Jemand sagte: „Komm schnell.“ Und ich habe aufgelegt. Draußen Schneesturm. Die Wettervorhersage hatte ihn für den darauffolgenden Tag angekündigt, aber er war schon über Nacht gekommen. Ich gehe eine vereiste Straße entlang. Es regnet ­Rasierklingen. Die Kälte. Die große Winterkälte, die einem Gesicht, Finger und Füße auszehrt. Die Seele zittert, aber wegen etwas anderem. Ich warte. Der Bus rumpelt Richtung Haltestelle, aber die Ampel schaltet auf Rot. Er hält an. Er ist zwanzig Meter entfernt. Ich sehe den Busfahrer, der einen Schluck von irgendwas Heißem trinkt. Er sieht mich. Die Ampel ist rot. Mein Blinzeln lässt den Schnee auf meinen Wimpern schmelzen und der komplette Winter weint sich auf meinem Gesicht aus. In der Manteltasche halte ich etwas Kleingeld zwischen meinen verkrampften Fingern. Ich atme heftig in mein Halstuch, damit der Hauch aus meinem Mund mir die Nase wärmt. Der Bus rührt sich nicht. Man möchte alle erschießen. Bomben legen. Früher schien mal die Sonne. Aber wann? Wann…? Diese Stadt ist eine Strafe. Doch man darf sich nicht beklagen. Lieber das, als eine Bombe in die Fresse. Ich bin der Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs, der mein Heimatland verwüstet hat. Man weiß nie, wie eine Geschichte beginnt. Man weiß es nie. Ich meine, ich saß nicht da und habe darauf gewartet, dass es passiert. Es passierte einfach. Ich schlief. Driiiing! Hallo? Komm schnell! Klack! Kühlschrank. Bus an der Straßenecke. Grüne Ampel. Der Bus schliddert auf mich zu. Wenn der Schneesturm doch tausend Jahre andauern würde. Wenn es tausend Jahre schneien würde. Pausenlos. Soll er alle Rekorde brechen. Zeitrekorde. Mengen-

rekorde. Scheißrekorde. Soll es so viel schneien, dass ich später sagen kann: „Vor dem Schneesturm“, „Nach dem Schneesturm“, und jeder in meinem Alter wüsste, von welcher Nacht ich rede. Der Bus hält an. Die Türen gehen auf. Ich steige ein. Als ich jünger war, war das Wort „früher“ vor allem meinem Vater, meiner Mutter vorbehalten. Meine Mutter sagte: „Vor dem Krieg… war das ein schönes Land.“ Sie sprach von jenem fernen Land, dem Land der Vorväter, der Zedern und des Wassers, der Berge und der Sonne, das verlorene Land, das besiegte Land, und ich, weit weg von meinem Zwillingsbruder Bürgerkrieg, saß in einer Ecke des Wohnzimmers und hörte den Großen beim Reden zu. Ich stellte mir einen ausgedehnten, sonnigen Spaziergang vor. Das Meer brach sich zu Füßen der Spaziergänger, die die Hosen bis zu den Knien hochgekrempelt hatten und mit den Schuhen in der Hand herumliefen. Mein Vater sagte: „Vor meiner Hochzeit…“ und ich sah einen freien Mann. In dem Alter war ich vor allem mit dem Später beschäftigt. Später bist du groß, dann verstehst du, kannst du, machst du, gehst du, und ich stopfte mich mit Unmöglichkeiten voll. Jetzt ist all das für mich Früher und ich stecke in dem so oft herbei­ gesehnten, so heftig herbeigeträumten Später, und jetzt, wo ich drinstecke, kann ich sagen, dieses Später ist für‘n Arsch. Ich sitze hinten im Bus, ich bin groß geworden, ich friere mir den Arsch ab und keiner weiß, wer ich bin und was mit mir los ist. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein wird. Mit ein bisschen Glück komme ich als Letzter an. Ein Auto hab ich nicht. Ich kann gar nicht Auto­ fahren, deshalb habe ich meinen Platz im Bus bezahlt. Das wäre fast in die Hose gegangen. Mir fehlten fünfundzwanzig Cent. Ich musste mit dem Fahrer verhandeln. Dabei hatte ich versucht, mich durchzumogeln, indem ich mein ganzes Kleingeld in den Münzschlitz warf, aber er hat die Ohren ­gespitzt. Das war ein ganz Schlauer. Ein Fuchs. Er war wohl schon lange Busfahrer. Ohne hinzuschauen, am Klang der Münzen, die in die Metall-

09 / 2020

TheaTerfesTival Basel 2020 WeingarTner / lindh hecke / rauTer theater–roxy.ch


wajdi mouawad_im herzen tickt eine bombe

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büchse klimperten, hat er‘s gewusst. Ich geh zurück. Er schaut mich nicht an. Er hält seine Hand in die Luft und sagt: - Det reicht nicht. - Mehr hab ich nicht… - Det reicht nicht. Wir drehten uns im Kreis. - Und jetzt? - Und jetzt fehlen fünfundzwanzig Cent. Ich weiß nicht mehr, wie es ausgegangen ist… es gibt Gespräche, die ich lieber vergesse. Ich habe ihm erzählt: „Ich fahre ins Krankenhaus.“ - Da haste Recht, fahr mal ins Krankenhaus. Wenne krank bist im Kopp, musste dich behandeln lassen. - Meine Mutter liegt im Sterben, du Arschloch, und deine fünfundzwanzig Cent kannste dir in‘ Arsch stecken! Das brach so aus mir raus. Er hat nichts gesagt. Ich bin ganz nach hinten gegangen. Den Fahrer hab ich zu den Fahrgästen neben ihm sagen hören: „Noch so’n Kackfranzose.“ - Ich bin kein Franzose und du kannst mich am Arsch lecken, hab ich gebrüllt. Wenigstens das. Wenn uns die Mutter stirbt, gibt uns das gewisse Rechte. Wenn man es schlau einfädelt, kann man da richtig was rausholen. Jeder ist gerührt, jeder ist erschüttert, wenn man sagt, dass einem die Mutter stirbt und man erst neunzehn ist. In den Augen der anderen werden wir zu Trägern eines besonderen Schicksals: Der da, dem stirbt gerade die Mutter, sagen die Leute mit gedämpfter Stimme. Das verlangt Respekt. Ich wiederhole: Man kann da großen Nutzen draus ziehen. Verdammter scheiß Wichser! Ich schlag gleich irgendwem eine rein! Wenn der Fahrer mir nochmal so kommt, lass ich den sein Armaturenbrett mit allen Knöpfen dran fressen! Scheiße! Ich sitze hinten im Bus, rede zähneknirschend mit mir selbst, rede, um mich zu beruhigen, spreche vor mich hin, tausend Flüche gegen alle Welt, mein Wortschatz aus allen drei Sprachen geht dabei drauf: Muttersprache, Jugendsprache und die von jetzt. Leck mich am Arsch, du fetter scheiß Knallkopp akhou charmouta! Du Arsch von einer Schwuchtel, Krutzitürke von ­Akroute! Kiss okhtak ère bayak, scheiß kleiner Fisch, ich ramm dir meinen Dödel ins Herz, du Fettsack! Massenweise Worte, Sätze auf der Zunge, um den Sturm in meinem Hirn, Gewissen, Verstand, meiner Seele oder was sonst noch alles in einem drin ist, zu übertönen, denn irgendetwas in meinem Kopf murmelt ganz leise, ganz, ganz leise brutale Worte, und trotz des Buslärms, trotz des Lärms von meiner Wut und vom Knirschen meiner Zähne,

trotz Wind und Schnee und Sturm und Wut höre ich sie, diese Worte, die aus grauer Vorzeit kommen: „Meine Mutter stirbt, sie stirbt und wird mir nicht mehr auf den Sack gehen, die blöde Kuh!“ Hätte ich eine Knarre, gäb ich mir die Kugel, um dieses Wirrwarr zu beruhigen. Eine Riesenwelle erfasst mich von innen heraus und reißt mich mit und lässt mich am Riff meines Zweifels zerschellen. Sie schleudert mein Herz auf den schwarzen Boden des Busses. Ein blutiger Klumpen, ich sehe ihn nach Luft schnappen, wie Fische nach Luft schnappen, wenn sie aus dem tosenden, aber überlebenswichtigen Meer geschleudert werden. Ich sehe mein Herz. Wie große gestrandete Walfische, die aus dem Chaos am Strand versuchen, wieder in die Wellen zu kommen, versucht es, in das sprudelnde Wasser meiner Tränen zurückzukehren, um wieder schlagen zu können. Aber meine ­Augen sind trocken. Und ich, allein hinten in meinem Bus, ersticke, weil ich in der Pflicht stehe, meine Mutter zu lieben, weil sie stirbt, obwohl ihr Gesicht, das Gesicht meiner Mutter, so lange schon in Vergessenheit geraten, irgendwo in der Wüste meines Gedächtnisses verschüttgegangen ist, als vor zehn Jahrhunderten diese große Verwandlung passierte. Ich war vierzehn. Und scheiß drauf. Eines Tages hatte meine Mutter ein anderes ­Gesicht. Vielleicht ist das der Beginn meiner Geschichte. An meinem vierzehnten Geburtstag hatte meine Mutter auf einmal ein ganz anderes Gesicht. Ich meine, komplett anders. Und keiner hat sich darüber gewundert. Und keiner hat mir was gesagt. Da bin ich abgehauen. Als man mich wieder geschnappt hatte, haben sie mich gefragt: „Wahab, warum bist du abgehauen?“ Weil ich Angst vor dem veränderten Gesicht meiner Mutter hatte, antwortete ich. Sie haben mich zum Arzt gebracht. Eine echte Keksfresse. Er hat mir die Frage nochmal gestellt, und ich habe dasselbe geantwortet. „Was meinst du damit“, hat mich die Keks­ fresse schließlich gefragt. - Wie, was meine ich damit? - Ja… - Ich meine damit, dass meine Mutter früher ein anderes Gesicht hatte als das, was sie jetzt hat. - Das verstehe ich nicht… wie anders? - Ja… anders. Auf einmal! - Ist sie älter geworden? - Nein! Als wäre es jemand anderes! Völlig anderes! - Ich kann dir nicht ganz folgen. Du meinst, deine Mutter ist nicht mehr deine Mutter? - Das dachte ich zuerst auch. Ein Gast, eine Freundin der Familie, keine Ahnung, und dann, nein… sie war‘s, aber mit einem anderen Gesicht.

Claire Dowie Buy

little Buy less Buy nothing at all

(Dse)

Daedalus Company, regie: regina Busch gallus theater, Frankfurt/Main Premiere: 3. september 2020

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

- Wie sieht denn das Gesicht deiner Mutter aus? - Rund, grüne Augen, die Haare mit Haarspray frisiert. - Und dann? - Eines Tages komme ich aus der Schule, und sie hat ein blasses Gesicht, blasse Augen, und diese langen blonden Haare. Sie ist schlank und alle tun so, als wäre das normal. - Wann war das? - Vor zwei Wochen. An meinem Geburtstag. Ich bin vierzehn geworden. - Was willst du jetzt tun? - Was soll ich denn machen? - Das frage ich dich. - Na, nichts. Ich werd das Maul halten. Das ist alles. Gut. Sie ist meine Mutter. Ich weiß. Mein Kopf weiß es. Das reicht vielleicht. Das ist alles. Er hat nichts mehr gesagt. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Mit den andern habe ich auch nicht mehr darüber gesprochen. Ich wollte nur, dass man mich in Ruhe lässt. Ich hatte meine Kumpels und das war okay. In meinem Kopf hatte ich die vergessenen Gesichter meiner Mutter. Um sie in meinem Gedächtnis festzuhalten, habe ich begonnen, sie zu zeichnen. Meine Erinnerungen an sie zu zeichnen. Anfangs war das ziemlich ungeschickt, sie war nicht wiederzuerkennen, Mandelaugen, plattes Gesicht, Segelohren, keine Perspektive, ich konnte es nicht. Jetzt kann ich es etwas besser und ich komme meiner Erinnerung näher. Ich hab die Schnauze voll und mir steht’s bis hier. Es sind noch drei Haltestellen bis zum Krankenhaus, aber das ist mir egal. Ich ziehe an der Schnur. Der Fahrer wirft mir durch den Spiegel einen Blick zu. Die Ampel wird grün. Der Bus fährt an. Gut.

24.–27.09.2020 SCHLACHTHOF 5 (UA)

Musiktheater nach dem Roman von Kurt Vonnegut

Maxim Didenko, Vladimir Rannev, Johannes Kirsten, AJ Weissbard, AuditivVokal Dresden (RU/DE)

hellerau.org

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Ich stehe auf, um näher an der Tür zu sein. - Das ist noch nicht das Krankenhaus. - Ich weiß. - Verlogener Sausack. Ich entgegne nichts. Ich steige aus. Der Bus fährt weg und ich stehe auf dem Bürgersteig. Ich weiß nicht. Dass der Fahrer meint, ich hätte ihn ange­ logen, um die Fahrkarte billiger zu bekommen, betrübt mich mehr als der Anlass, aus dem ich hier zu einer Tageszeit stehe, wo man nicht sagen kann, ob es spät in der Nacht oder sehr früh am Morgen ist. Vielleicht ist es das, was mich langsam am meisten verblüfft: nicht die Gefühle zu empfinden, die in Einklang mit der Situation stehen. Das ist doch tödlich. Im Fernsehen heulen die Helden, wenn sie traurig sind, und lachen, wenn sie glücklich sind. Ich denke, in meinem Herzen ist ein gewaltiges Durcheinander, völlige Unstimmigkeit zwischen der Wirklichkeit und meinen Gefühlen, und zwar so, dass am Ende alles rauskommt, aber seltsam zusammengewürfelt. Ist halt so. Ich gehe die Straße entlang. Vielleicht ist sie jetzt schon tot. „Macht mir das was aus?“, frage ich mich. „Nichts“, antworte ich. Die Stimme meines Bruders war entschieden, befehlend. - Hallo? - Wahab? - Ja. - Komm schnell. Und ich habe aufgelegt. Die andern sind bestimmt schon alle da, die Familie. Sind sicher alle am Heulen. Der Wind weht in Böen. Er reißt mir die Augen aus. Ich bin es nicht mehr, der hier geht. Da ist das Krankenhaus. Irgendwas in mir führt mich hin. Mein ganzes Leben. Ich weiß, man hat es so eingerichtet, damit ich heute hier an diesem Ort lande. Ich möchte fliehen. In die Sonne. Aber das ist undenkbar. Fliehen ist undenkbar. Sogar in meinem Kopf. Nichts. Ich bin zu klein. Um kehrtzumachen bräuchte ich die Kraft, gegen mein ganzes Leben anzukämpfen. Nur eine Bewegung gegen die Laufrichtung und mein Kopf ist ab. Schon lange bin ich zu getrieben. Ich überquere die letzte Straße. Ich gehe rüber. Da ist das Krankenhaus. Ich bin Parzival mit der Wunde im Herzen, der zurückkehrt zur Burg. Artus stirbt und ich habe den Gral nicht gefunden. Meine Hände halten nichts. Sie stecken verkrampft in meinen Taschen und ich gehe gesenkten Hauptes weiter, den Körper in die heftigen Böen gebeugt. Ich hätte mir gewünscht, sie kratzt geräuschlos ab. Herzinfarkt oder Thrombose, durch Ertrinken oder einen Autounfall. Irgendwas Trockenes, Kur-

Kaserne

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zes, der erste Schuss ein Treffer. Ohne vorher­ gehende Symptome, keine Behandlung, keine Chemo, keine Bestrahlungen, nichts, Schluss aus. Keine Zeit, die noch vergeht. Gerade mal, um uff zu sagen. Es braucht Stolz, um an Krebs zu sterben. Das dauert. Es ist zum Kotzen und kotzt einen an. Ich weiß das. Wie oft, scheiße, hat sie mich heulend mitten in der Nacht angerufen? Wahab? Wahab…? Und ich, mit einem Schlag aus dem Schlaf gerissen, mit einem Ruck zurück auf dem Kontinent des Bewusstseins, aus den Armen des Vergessens geraubt, ich kam in ihr Zimmer. Die andern schliefen. Mein Vater schnarchte. Was? Was? Was ist los? Es tut mir weh, Wahab! Wo denn? Mein Gott, es tut so weh. Wo tut es dir weh? Es tut mir weh. Wir drehten uns im Kreis und ich wusste nicht mehr, ob ich schlief, oder ob ich wach war. Seit einiger Zeit hatte sie meine Nächte in Beschlag genommen und ich träumte, sie würde nach mir rufen und ich stünde auf. Davon wurde ich wach; ich war in meinem Bett. Manchmal rief sie mich wirklich. Mit der Zeit verwischte der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Meer und Himmel, wenn sie sich am Horizont vermengen. Dieselbe Farbe. Keine Konturen mehr. Es tut mir weh, Wahab. Ich weiß. Massier mir die Füße. Ich kniete mich ans Bettende. Ein Kind, das betet. Ich begann damit, ihr die Knöchel zu streicheln. Feine Härchen unter meinen Händen. Früher nahm sie Wachs, um glatte Beine zu haben. Das war lange her, noch vor der Verwandlung. Jetzt musste sie sich nicht mehr schön machen, sie würde ja sterben. Dann hob ich ihr Bein an und massierte ihre Ferse. Raue Haut. Abgestorbene Haut. Diese Ferse, die so viel mitgemacht, die sie getragen hatte, sie war jetzt nutzlos. Entbehrlich. Mit den Daumen trommelnd massierte ich dann die Fußsohlen. Den Fußbogen. Wo die Haut so weich ist. Ich gab mir Mühe. Ich stellte mir vor, ihr Schmerz wiche aus ihrem Körper. Phosphoreszenz. Nicht eine Stelle, die ich nicht mit all der Zärtlichkeit streichelte, zu der ich fähig war. Ich sagte mir, das Gesicht meiner Mutter mochte ein anderes sein, aber sie hatte noch immer dieselben Füße. Wenn ich weinte, hielt ich den Atem an, damit sie nichts merkte. Der Schmerz musste raus. Ihrer. Meiner. Am Ende war ich erschöpft. Ich begann zu träumen. Mein Kopf auf ihren Füßen, schlief ich ein. Im besten Fall fiel sie in Ohnmacht, im schlechtesten weinte sie. Der Schmerz war groß und es war nichts zu machen. Nichts. Ich blieb da und sah zu, wie sie verbrannte, und ich wusste nicht mehr, wer ich war. Und weil das Schweigen, das sich breitmachte, zum Kotzen war, zum Morden, zum mit-

leidlosen Töten, zum Zertreten, deshalb fragte ich sie schließlich: „Was kann ich tun, was kann ich bloß tun?“ Und es war, wie als ich klein war und weinend nach Hause kam, um Trost in ihren Armen zu finden. Aber jetzt waren ihre Arme abgeschnitten und es war kein Trost mehr möglich. Kein Trost mehr, nur das tödliche Metall der Realität. Mit ihrem unbekannten Gesicht schaute sie mich an, und ich glaube, dass sie unter meinem Leiden litt. Gerührt von meinem Leiden, als würde sie gerade entdecken, dass sie jemand ist, für den man Mitleid empfinden kann. Vielleicht mein schönstes Geschenk. Unerwartet und unerträglich. Vor mir steht ein Weihnachtsmann. Das ist kein Witz. Da steht ein Weihnachtsmann. Ein echter. Ich meine: er steht da. Im Schnee. Er geht über den Bürgersteig. Mir gegenüber. Er geht weiter. Ein Weihnachtsmann. Es ist alles dran. Rote Kleidung, weißer Bart, schwarze Stiefel. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Er ist da. Ich weiß nicht. Er ist erschienen. Früher hatte ich oft Erscheinungen. Eine Erscheinung, sage ich mir. Aber nein. Voll echt. Er muss aus dem Krankenhaus gekommen sein… auf Visite bei den Kranken… bei den Kindern… irgendwas in der Art. Trotzdem wird mir mulmig. Er ist jetzt auf meiner Höhe. Bleibt stehen. Er muss seine Schlüssel in der Hand gehabt haben, denn ich sehe nicht, wie er sie aus der Tasche holt. Er schließt die Autotür auf. Er beugt sich runter. Er hat einen fetten Arsch. Er dreht die Zündung. Er richtet sich wieder auf und hält einen kleinen Handfeger, und ohne groß nachzudenken beginnt der Weihnachtsmann die Windschutzscheibe und die Fenster seines Autos vom Schnee zu befreien. Ich schaue ihn an. Ich rühre mich nicht. Ich weiß nicht. Als hätte es nie Musik gegeben. Er geht einmal rum. Ohne mich anzuschauen. Er schmeißt seinen Handfeger auf den Rücksitz, steigt ins Auto, schlägt die Tür zu, legt ‘nen Gang ein. Er will losfahren. Geht nicht. So ist das. Er gibt nicht auf, aber nichts zu machen. Das Auto fängt an zu qualmen, ich schau mir die Chose an: die Räder drehen sich, kreisen, kreischen, rutschen, drehen durch, nichts zu machen. Er kommt nicht vom Fleck. Er gibt Gas, vorwärts, rückwärts, er kommt nicht vom Fleck. Es ist zum Verzweifeln. Das ist wohl eine dieser Nächte, wo man sich sagt, dass das eben eine dieser Nächte ist. Die Räder drehen sich in alle Richtungen, nach rechts, nach links, dem Auto ist es egal. Es ist zum Heulen. Ich rühre mich nicht. Das Auto auch nicht. Es dauert. Er versucht‘s mit Schmackes. Vollgas. Das Auto heult. Er fährt sich fest. Er regt sich auf. Er macht

Fr 11.9. Workshop: Dshamilja Gosteli, Pascale Altenburger & Marianne Naeff Critical Whiteness auf und hinter der Bühne – eine Einführung

Do 24.9. Fr 25.9. Saisonauftakt: Peeping Tom Kind

Di 29.9. Kadiatou Diallo mit Anta Helena Recke & Mario Lopes KIN-SHIP-ING – Künstlerische Praxis als Beziehungsspinnerei

Do 17.9.– So 20.9. look&roll – Barrierefreies internationales Kurzfilmfestival

Sa 26.9. Saisonauftakt: Ines Brodbeck, Eric Gut, Sandro Corbat, Frederyk Rotter Molino Sessions (AT)

Mi 30.9. Konzert: Dachs

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Früher war alles besser

SYSTEM relevant?

SCHAUSPIELPREMIEREN DER SPIELZEIT 2020/21

Sag mir wo Du stehst?

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WIE IST DER BEGRIFF KAPITALISMUS FÜR SIE BEHAFTET? 3% 13 % 27 % 40 % 12 % 5%

Sehr positiv Eher positiv Neutral Eher negativ Sehr negativ Weiß nicht keine Angaben

THE KRAUT

Heidicke I: Wolfgang Berthold 08.08.2020

WOYZECK

Büchner I: Reinhard Göber 22.08.2020 URAUFFÜHRUNG

HUMANKAPITAL

STÜCKENTWICKLUNG ZUM BEDINGUNGSLOSEN GRUNDEINKOMMEN I: Melina van Gagern 28.08.2020

NORA

Ibsen I: Reinhard Göber 13.09.2020

Basis: 1.009 Befragte aus Deutschland ab 18 Jahren, 21.-25. Juli 2017 Quelle: YouGov / statista

URAUFFÜHRUNG

ANGST — DER FEIND IN MEINEM HAUS

S. Löschner nach Kurbjuweit I: Sascha Löschner 17.09.2020

DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG

DAS ABENDLAND

Jakobsen I: Dirk Löschner 18.09.2020

FAHRENHEIT 451

Kruschke nach Bradbury I: Annett Kruschke 05.11.2020

WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF?

DIE WELLE

Tritt nach Rhue I: Sabine Kuhnert 05.03.2021 DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG*

THE LAST SHIP

Sting I: Dirk Löschner 27.03.2021

DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS

Pommerat I: Oliver Freund 12.05.2021

* Das Theater Vorpommern teilt sich das Recht der Deutschen Erstaufführung mit dem Theater Koblenz.

Albee I: Reinhard Göber 21.11.2020

www.theater-vorpommern.de

MONODRAMEN 1

MONODRAMEN 3

URAUFFÜHRUNG

URAUFFÜHRUNG

DAS VORSPRECHEN

I: Reinhard Göber

KING KONG THEORIE

Michel nach Despentes I: Sabine Michel 30.09.2020

MONODRAMEN 2

URAUFFÜHRUNG

GRETA

S. Löschner I: Sascha Löschner

ICH, ICH UND ICH!

Gombrowicz I: Joanna Lewicka 14.01.2021

CAMILLE KOMPLEX — OLYMP DE GOUGES

Kruschke I: Annett Kruschke

DAS PRODUKT

Ravenhill I: Alexander May 29.04.2021

3. MONODRAMENFESTIVAL GREIFSWALD: 29.05.2021


stück

Nichts trennt mich mehr vom Krankenhaus. Keine Straße. Nicht einmal eine Straßenlampe. Ein Parkplatz vielleicht. Ich stehe zwischen in Reih und Glied geparkten Autos. Friedhof. Ich bin mitten

auf dem Parkplatz. Die Krankenhaustür ist verglast. Mein Gott. Scheiße. Scheiße. Rückwärtsgang. Zurück auf Los. Bitte. Oder vielleicht ein Unfall. Eine Autobombe. Ein Attentat, irgendwas, egal was. Ich weiß nicht was. Ein Erdbeben. Aber nein. Nichts als Schneefall. Das hat noch keinen umgebracht. Ich muss reingehen. Der Aufzug hält an, die Türen gehen auf, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Untergeschoss. Ein Schwachsinn. Ein langer Flur in Altrosa, überall vollgehängt mit Weihnachtsdeko. Verdammt. Wenn die einen mal ein bisschen mit ihrer Scheißdeko in Ruhe lassen könnten, das ist auch so schon hässlich genug. Ich gehe los, ich zittere, auf beiden Seiten Zimmer und Alte am Abkratzen. Nicht heute, aber morgen. Ich höre jemanden sagen: Sie war jung. Ein anderer fragt: Welche denn? Ich weiß nicht, ob er eine Antwort bekommen hat, ich bin nicht mehr da. Am Ende des Flurs eine Menschentraube, da ist es. Ich sehe meine Tante. Eine Dicke, fettleibig. Gefühlsmensch. Sie wird heulen, wenn sie mich sieht. Sie wird sich so sicher sein, was ich fühle, dass sie mich wird trösten wollen. Diese Fotze denkt, dass ich traurig bin, weil im Fernsehen, wenn man da seine Mutter verliert, ist man traurig. Also wird sie sich auf mich stürzen. Scheiße. Ich hab die Schnauze voll von dem Zirkus. Jetzt bin ich am Zimmer. Die Fettleibige fällt mir in die Arme. Sie muht irgendwas. Ich hasse sie alle. Ich weiß nicht warum, aber ich würde sie ohne Skrupel wegballern. Sie sind alle da. Ich treffe sie in einem drei mal vier Meter großen Raum, in dem ein einfaches Bett steht, und in diesem einfachen Bett liegt der Körper dieser Frau mit den langen blonden Haaren, die stirbt. Ihre Augen sind offen und sie sieht zur Decke und ihren Eingeweiden entweicht bei jedem Atemzug ein Röcheln. Meine Schwester Nawal hält ihre Hand und die Fettleibige steht hinter dem Bett, beugt sich über ihr Gesicht und brüllt ihr niederträchtiges Zeug ins Ohr: „Mariamme, Mariamme, Liebes, du bist so schön!“ Jetzt halt die Fresse, halt die fette Fresse, du fette Kuh, du Schlampe! Ich sage nichts. Die andern, die Onkel und Tanten, sind da. Alle gucken. Mein Vater ist da. Ich schaue ihn an. Nidal, mein Bruder, steht neben mir. Alle wirken entsetzt. Ich ziehe meine Jacke aus. Ich lege sie über einen Stuhl am Ende des Bettes, auf den sich zu setzen offensichtlich keiner Lust hat. Meine Mutter röchelt. Sie röchelt und ich schäme mich. So ist das. Im letzten Augenblick klammert das Leben sich fest und für die anderen, die Lebenden, dauert es ewig, auf den Tod zu warten. Ich halte es nicht mehr aus. Ich gehe aus dem Zimmer.

Ich gehe ans Ende des Flurs. Dort gibt es ein kleines Wartezimmer. Ein Plastiktannenbaum steht in einer Ecke, Geschenkattrappen zu seinen Füßen, ein Klavier und dieser ewige Schmuck. Eine vergoldete Girlande oben an der Wand ist an beiden Seiten mit kleinen Streifen Klebeband befestigt. Sie sieht aus wie alle Girlanden, traurig und banal. Ich schaue sie an. In grünen Buchstaben steht da in halbwegs mittelalterlicher Schrift das famose: „Frohe Weihnachten und ein schönes neues Jahr / Merry Christmas and a happy new year“. Na gut. „Frohe Weihnachten / Merry Christmas“, das wird schwierig, aber „Ein schönes neues Jahr and a happy new year“, da habe ich nichts dagegen, ich weiß nur nicht, wie ich das hinkriegen soll. Ich setze mich auf ein Sofa. Auf einem Tischchen liegen ein paar Zeitschriften. Ein richtiges Wartezimmer. Warten auf was? „Bitte warten Sie hier, Ihre Mutter kratzt gleich ab, es kann nicht mehr lange dauern.“ Scheiße. Wenn ich nur dran denke, muss ich kotzen. Was haben die sich dabei gedacht, ein Wartezimmer in der Palliativmedizin einzurichten? Sicher schwarzer Humor. Sadismus. Sie haben sogar ein Schildchen an der Wand angebracht, direkt am Eingang: „Wartezimmer“. Damit keine Missverständnisse aufkommen. Sie wollen sichergehen, dass wir es auch verstehen: Wartezimmer, und nichts anderes. Arschlöcher! Ich will aufwachen. Ich will’s versuchen. Na los! Hopp! Aufgestanden da drinnen! Nichts zu machen. Ich strenge mich sehr an. Aber nichts. Ist halt so. Wie ein Messer in der Kehle. Drei Tage nachdem ich ausgebüxt war, bin ich auf einem Bauernhof gelandet. Bis mich die Polizei aufgelesen und nach Hause zurückgebracht hatte, saß ich neben einem jungen Mädchen, das nicht sprach. Maya. Maya, durch die mir die Schönheit geschenkt wurde. Während es draußen stürmte, saßen wir alle beide am Bett ihres Großvaters. Der Großvater hatte mir von den Wölfen erzählt und die Wölfe hatten mich von meinen Ängsten befreit. Er hatte mir gesagt, dass er von klein auf Angst vor Wölfen hatte und dass er jetzt, wo er bald sterben würde, diese Angst wieder habe, und zwar noch stärker. Dann hat er mich gefragt, wovor ich Angst hätte, ich erzählte ihm von meinem Zwillingsbruder, dem Bürgerkrieg, der mein Heimatland hat ausbluten lassen. Erzähl, sagte er. Also habe ich erzählt. Und jetzt, während ich im Wartezimmer darauf warte, dass meine Mutter stirbt, erinnere ich mich an meinen Zwillingsbruder, den Bürgerkrieg. Und ich sage mir, dass das vielleicht der Anfang gewesen ist. Nicht der Telefonanruf, nicht das Gesicht meiner Mutter an meinem vierzehnten Geburtstag, nein, der Anfang, das ist mein Zwillings-

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den Motor aus. Ich warte. Die Tür geht auf. Der Weihnachtsmann steigt aus dem Auto und sagt: Kruzifix! Er findet im Kofferraum eine Metallschaufel und beginnt, das Eis aufzuschlagen und den Schnee, der sich rings um jedes Rad aufgetürmt hat, wegzuschaufeln. Dann, wieder im Auto, fängt er von vorne an. Derselbe Zirkus. Vorwärts, rückwärts. Nutzlos. Erbarmungslos. Er steigt wieder aus. Ich rühre mich nicht. Er schaut mich an. - Was machst du da? - Ich gehe ins Krankenhaus. - Biste krank? - Nee. Meine Mutter. Sie stirbt. - Ach so, antwortete der Weihnachtsmann. Er schweigt. Schaut mich an. Ich merke, er will mich etwas fragen. Er weiß nicht wie. - Kein Spaß das, sagt er. - Nee, antworte ich. Ein großer Dialog. Ich rühre mich immer noch nicht. Er kratzt sich am Kopf und schaut sein Auto an. Jooo!, sagt er. Ich seh’s kommen. Er gönnt sich ein kurzes Schweigen. Sicher der Form halber. Damit es nicht so brutal rüberkommt. Ich will weiter, aber er ist schneller. - Willst du mich nicht ein bisschen schieben? - Es ist so, meine Mutter liegt im Sterben und… - Dauert nur ‘ne Sekunde! Bei so einem Argument konnte ich nicht Nein ­sagen. Er steigt wieder in sein Auto. Dreht die Zündung. Ich schiebe. Es geht nicht voran. Wir hängen fest. Er insistiert. Ich mit aller Kraft. „Schieb! Schieb!“, schreit der Weihnachtsmann. Ich krieg seinen ganzen Auspuff in die Fresse. Schieb! Schieb! Ich schieb doch! Haste nichts in den Armen, Scheißdreck?! Schieb! Irgendwas muss ich machen. Ihm irgendwas sagen. Dass es nicht ernst ist, oder nicht gravierend. Das wird schon wieder, ein bisschen Geduld, früher oder später taut die Sonne alles weg. Schnee ist nicht der Tod, das wird wieder, der klebt nicht auf ewig an den Rädern, es gibt Hoffnung. Ich muss dem Weihnachtsmann sagen, dass die Zeit weitergeht, und dann wird er’s vergessen, kurz, ich muss hier verschwinden. Er sieht es schließlich ein. Er steigt wieder aus, und jetzt sieht er echt unzufrieden aus. - Sie müssen einen Abschleppwagen holen, sagte ich. - Kruzifix! antwortete der Weihnachtsmann, und ich bin gegangen.

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ÜBER DEUTSCHLAND DENKEN DENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND ÜBERDENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DENKEN DENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND ÜBERDENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DENKEN DENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND ÜBERDENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DENKEN DENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND ÜBERDENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DENKEN DENKEN ÜBER DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND ÜBERDENKEN  szenische Lesungen zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung

 PREMIERE 2.10.2020 ― Bühne 

theater-senftenberg.de


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stück

bruder, der der Auslöser der größten Angst meines Lebens ist. Ich erinnere mich… Ich bin sieben. Im Land meiner Kindheit. Ich kralle mich an den Lenker meines Dreirads und drehe auf dem Balkon meine Runden. Ich breche alle Rekorde. Mein Rennwagen zischt dahin, Lichtjahre von der Erde entfernt. Ich muss so schnell es geht zum Planeten Vulgus, wo das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht. Ich werde kein Erbarmen mit den monsterhaften Monstern haben. Übrigens macht es mir meine Laserkanone, die direkt neben der Hupe fest am Lenker sitzt, möglich, alle vulgären Vulgusiner zu pulverisieren. Meine Mutter nervt. Ihre Anwesenheit erinnert mich daran, dass ich immer noch zu Hause und nicht im Hyperspace bin. Macht nichts. Meine Augen verwandeln sie und ihr Bügelbrett sogleich in einen entsetzlichen Weltraumgnom mit Schellfischschuppen und Fliegenaugen. Ich rase dahin, trampele, frei wie der Wind. Mach mal langsam und fahr nicht so schnell, brüllt der Gnom mit dem Bügelbrett, und ich, mutig wie kein Zweiter, antworte ihr, dass das schäbige Gift aus ihrem Mund mich nicht von meinem Auftrag wird abhalten können. Die Menschheit wartet auf mich und ich werde es nicht vermasseln. Sieg! Der Gnom ist auf dem Rückzug. Aber nicht für lange, der Gnom kommt zurück und sagt, ich müsse mich beeilen, um Tante Helene zu besuchen. Ich heule. Ich zappele, kämpfe und setze mich zur Wehr, aber nichts zu machen, schon bin ich zusammen mit dem Gnom im Aufzug und wir fahren die sieben Stockwerke hinab. Wir sind auf der Straße. Stickige Hitze. Die Sonne stürzt sich auf die Stadt. Meine Mutter sagt: Warte. Sie geht in ein Geschäft, Zigaretten holen. Ich rühr mich nicht von der Stelle. Da sind Autos. Viele. Überall Hupen. Ich sage und mache dabei die Stimme meiner Mutter nach: Warum hupen die bloß? Ein Bus kommt vorbei. Brechend voll. Er bleibt vor mir stehen. Im Radio ein fröhliches Lied. Ich schaue mir die Fahrgäste an. Sie sind komisch. Es gibt Frauen. Alte. Dicke. Schlanke. Dünne. Sie schwitzen. Ein Junge in meinem Alter grinst mich an. Ich gehe näher ran. Hebe die Hand. Der Bus steht still. Hinten wird gehupt, damit es vorangeht. Der Junge wirft mir durch die Menge zu: Kif el yôm byo’dar baad yodhar mén el layl? Das ist ein Satz aus dem Lied. Wie kann der Tag noch immer aus der Nacht entstehen? Ich tue so, als wäre ich eine Bauchtänzerin. Ich mache die Bewegungen. Wir lachen. Er im Bus, ich auf der Straße. Es geht weder vor noch zurück. Der Busfahrer ist wütend, er beschimpft alle und jeden. Ein Auto kommt aus

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der Gegenrichtung und bremst. Quietschende Reifen. Knallende Türen. Die Leute rennen. Ich verstehe das nicht. Mein Freund lässt mich nicht aus den Augen. Alles geht zu schnell. Ein Mann kommt mit einem Schlauch und spritzt die Buskarosserie nass. Ich denke an meine Mutter und an ihre ­ Bewässerungstipps für empfindliche Kräuter. Das Wasser riecht komisch. Die Fahrgäste werden vollgespritzt. Panik breitet sich unter ihnen aus. Sie schreien. Wollen aussteigen, können aber nicht. Irgendwer hat die Fahrzeugtür blockiert. Leute rennen. Sie schreien: „Das ist kein Wasser. Das ist kein Wasser. Das ist Benzin. Benzin!“ Ich schaue meinen Freund an. Er ist klatschnass. Es ist heiß. Er hat die Augen weit aufgerissen. Der Mann spritzt immer weiter. Der Busfahrer fleht ihn an: Im Namen deiner Mutter, im Namen deiner Mutter! Leck mich am Arsch, sagt der andere und schießt ihm eine Kugel in den Kopf. Leute schreien. Der Busfahrer fällt auf die Hupe. Überall Männer. Maschinengewehre in der Hand. Eine Frau will aus dem Fenster klettern. Drei lange Salven: Tatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatata Tatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatata Tatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatatata Und mit einem Schlag, wirklich mit einem Schlag, übergangslos, brennt der Bus. Er brennt mit den Alten, den Frauen und den Dicken. Er brennt. ­Alles brennt. Die Frau, rittlings auf dem Fensterbrett, rührt sich nicht mehr. Sie brennt. Ihre Haut schmilzt. Ich fixiere die Augen meines Freundes. Er schaut immer noch zu mir. Der Rauch bringt mich zum Weinen. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Ich bin allein. Die Stadt verdampft. Ich schwimme inmitten von nichts. Dichter Nebel. Die Maschinengewehre knattern, die Hupe heult, das Feuer frisst alles auf und im Feuerschein, im rotschimmernden Busgerippe, erblicke ich die Silhouette einer schwarzgekleideten Frau, die auf meinen Freund zugeht. Ihre Hände und ihre Arme sind aus Holz, ihr Gesicht ist verschleiert. Diese Frau hat vorher für niemanden existiert. Sie hatte keinen Körper, keine Seele, nichts. Sie ist aus dem Feuer geboren, und jetzt ist sie da, ich sehe sie, ich sehe, wie sie meinen Freund bei der Gurgel packt, ich sehe, wie sie ihm den Hals umdreht, ihm den Kopf abreißt, ihn zum Mund führt und verschlingt. Sie dreht sich zu mir um. Sie sieht mich an. Ich kann nicht weglaufen. Wer ist sie? Es gibt nichts mehr, kein Licht mehr, keine Schönheit mehr, ­keine Schönheit mehr.

Ich habe Mayas Großvater die ganze Geschichte erzählt. Er hat gelächelt. Er hat zu mir gesagt: - Nur eine Kinderangst kann eine andere Kinderangst besiegen. Hab Vertrauen, Wahab, vielleicht stehst du eines Tages vor der Frau mit den hölzernen Gliedern und hast Angst, sehr große Angst, aber hab Vertrauen, lass die Angst in dich hinein, lass dich von der Angst durchdringen, und wenn sie über dir ist und du denkst: ich bin verloren, dann werden die Wölfe auftauchen. Das Rudel wird gerannt kommen, um dich von der schreck­ lichen Frau zu befreien. - Und Sie? - Sollten mir im Augenblick meines Todes die Wölfe erscheinen, wird die Frau mit den hölzernen Gliedern in meiner Erinnerung auftauchen, ihnen eigenhändig den Hals brechen und mich retten. Nur eine Kinderangst kann eine andere Kinderangst besiegen. Im Wartezimmer, nicht weit vom Tannenbaum, steht das Klavier. Ich kann nicht spielen, egal. Macht nichts. Ich setze mich. Ich streichele die Tasten. Ich klimpere ein bisschen rum. Auf den Weißen. Die Schwarzen sind zu dissonant. Es gibt keinen Ausweg mehr. Scheiße. Früher gab es eine versteckte Tür in meinem Hinterkopf. In ausweglosen Situationen fand ich einen Weg, um zu entwischen. Ich habe lange Zeit gemalt, ohne es jemandem zu verraten, und dieses Buntmalen war mein Ort der Freiheit. Man konnte mich schimpfen, schlagen, umbringen, ich sagte mir: Ja, aber ich, ich male. Und das war ein Akt, um zu über­ leben. Es gelang mir sogar über die Hölle Herr zu werden… die Hölle… ich erinnere mich… die Polizei hatte mich aufgelesen und zurück nach Hause gebracht. Total peinlich. Lächerlich. Beschämend. „Na, sind wir etwa ausgebüxt?“ Schon die beiden Bullen ließen es sich nicht nehmen: „Du bist unser elfter Ausreißer in fünf Tagen.“ - Ihr seid echt geile Typen, antwortete ich. Wir standen vor der Wohnungstür. Einer der beiden wollte klingeln, ich bedeutete ihm, er solle das lassen. Ich hatte die Schlüssel. Mein Geburtstagsgeschenk. Ich habe die Tür aufgeschlossen. Als die Polizisten weg waren, die Tür wieder zu, ist nichts weiter passiert. Ich stand im Flur. Alle waren da. Die Familie. Sie schauten mich an. Die Frau mit den langen blonden Haaren vorneweg. Bis zum Schluss hatte ich gehofft, dass alles wieder gut würde, oder dass ich wenigstens in der Lage wäre, etwas zu verstehen. Aber nein. Nichts. Hilflose Gesichter. Nichts zu machen. Sie schauten mich an, Mutter Vater Schwester Bruder, und ich wusste,

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etwas nahm seinen Lauf. Es hatte gerade ein Menschenopfer gegeben… jemand war am Sterben, die Kehle durchgeschnitten oder so ähnlich, und ich hatte schon den Geschmack von meinem Blut im Mund. Aber auch da noch, inmitten dieser Erniedrigung, hatte ich eine versteckte Tür gefunden. Das Schweigen. Maya hatte mir klargemacht, dass ich ein Recht darauf hätte zu schweigen, dass das Schweigen unser Reich war, ein Reich, in dem sie jahrelang eine der wunderbaren Prinzessinnen gewesen war, und jetzt hatte sie mir dieses Reich anvertraut, denn als sie mit mir zu sprechen begann, hatte Maya es verlassen, um es mir zum Geschenk zu machen. Das Schweigen war groß. Ich war noch nicht am Ende meiner Entdeckungen. Was die Frau mit den langen blonden Haaren betraf, so sagte es mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Dass sie, als sie mich geschnappt hätten, nur das geschnappt haben, was sie von mir wussten. Was sie von mir wussten. Aber der Rest, dieser so kleine Teil, der dazu angetan ist, dass man an ihn glaubt, ist ständig unterwegs, schön wie die Farben bei Sonnenaufgang. Das Schweigen war ewig. - Geh schlafen, morgen hast du Schule. Mehr Worte sind nicht gefallen, und von meiner Flucht, von dem ganzen Abenteuer, das für mich ein großer Riss war, der einzige, der mich der Hässlichkeit einer Welt, zu der man mich verdonnern wollte, hätte entreißen können, davon war nie wieder die Rede. Mit den Jahren hat sich das Schweigen in Farben verwandelt, die ich wütend auf die Leinwand meiner Räusche pinselte. Bilder, in denen ich zunächst versuchte, die Form der geliebten und verlorenen Gesichter zu finden, dann ihre Poesie und ihre Wut und ihren Kummer, Hunderte von Bildern, in denen die Räume durch blaue Klekse in tausend Nuancen angedeutet werden, in denen das Abenteuer der Schönheit zu einem Eintauchen in das Herz der Gewalt und der Leiden wird, die meine Existenz so quälend gemacht hatten. Die Jahre vergingen. „Was machst du aus deinem Leben, Wahab?“ - Malen, Mama. - Aber dein Beruf. - Ich werde malen. Bilder malen. - Was ist das wieder für ein Quatsch? - Das ist kein Quatsch, Mutter. Porträts. - Porträts. Was für Porträts? Wovon redest du? Porträts von was? - Von dir… von deinem Gesicht… um mich zu erinnern… um dich nicht zu vergessen… werde ich malen. Es war eine Katastrophe. Hätte sie verstehen können, dass das, was ich ihr da anbot, eine Form der Versöhnung war? Ein Raum, wo wir uns treffen

wajdi mouawad_im herzen tickt eine bombe

könnten…? Stattdessen war es, als würde ich wieder ausreißen. Und diesmal, ohne dass man mich wieder auflesen könnte. Es gibt keine Polizei, die die Macht hätte, jemanden in sichere Berufe zurückzubringen, der von der tosenden Welle der Existenz erwischt und in die Eingeweide der Malerei geschleudert wurde. Es war nichts mehr zu ­machen, nichts mehr zu machen. Wie jetzt weiter? Ich meine, weiter, um wohin zu kommen? Man hat keine Wahl. Die Zielgerade. Ich klimpere noch immer herum. Ganz leise. Ohne Lärm zu machen. Note für Note. Mein Bruder taucht auf. Die Gegenwart ist der Boss. Sie rächt sich. - Wahab, komm. Es ist jetzt. Das sind seine eigenen Worte. Komm. Es ist jetzt. Seine Worte. Ich denke mir nichts aus. Er geht wieder. Ohne zu warten. Na gut. Ich ihm hinterher. Ich sehe nichts. Ich vergesse alles von dem Weg dorthin. Ich gehe ihm hinterher. Schritt für Schritt. Nebel. Ich bin wieder in dem kleinen Zimmer. Ich erinnere mich nicht, reingegangen zu sein. Ich s­ tehe zwischen der Tür zu meiner Linken und Nidal zu meiner Rechten. Er und ich an die Wand gequetscht. Die ganze Familie ist da, es ist sogar eine Kusine dazugekommen, oder zwei. Die Krankenschwester, als einzige, sitzt auf dem Bett. Meine Schwester hält mit verlorenem Gesicht die linke Hand der Frau mit den langen blonden Haaren, und die andere, die fette Sau, brüllt ständig: - Mariamme, Mariamme, wir sind bei dir. Ja. Wir sind voll bei ihr. Sie stirbt, und du frisst ­Entenbrust bei der Beerdigungsfeier. Ganz sicher sind wir bei ihr, du vor allem, Fotze. Aber ich sage nichts. Die Frau mit den langen blonden Haaren liegt im Sterben. Die Krankenschwester wartet. Die Dicke muht. - Mariamme, Mariamme… Der Krankenschwester platzt der Kragen. - Madame, seien Sie still! Sie muss allein sein, um zu sterben. Sie gab Ruhe. Alle waren still. Nur das laute Aus­ atmen… aber das Todesröcheln ist auch Schweigen. Ich betrachte den Bauch meiner Mutter, ihren Bauch, der sich die letzten Male ihrer kurzen Existenz dehnt und entspannt. Ich betrachte ihren Bauch. Vor nicht allzu langer Zeit war ich da drin. Sie war mit mir schwanger und hat mich geboren und dabei dieselben Schreie ausgestoßen, die ihr Sterben ihren Eingeweiden entreißt, für einen ­Augenblick werde ich zum Bruder ihres Sterbens.

Ich sehe sie sterben. Ich sehe ihren Bauch sterben. Nichts kann mich wieder hineinbringen, mich zurückkehren lassen. Von nun an ist die Geschichte alt. Ich habe das Gefühl, dass ich, indem ich bei ihrem Tod dabei bin, auch bei meiner eigenen ­Geburt dabei bin. Stopp! Da ist es! Meine Mutter stirbt. Ihr Gesicht verkrampft sich, ihre Muskeln spannen sich an. Sie wird den Ast loslassen. Ihr Kopf sinkt zur Seite, zur Tür, zu meinem Bruder und mir, sie macht ihren letzten Atemzug, den letzten, der sich hinzieht und an dessen Ende ein wenig schwarzes Blut aus ihrem Mund rinnt, als wäre es der Ekel, den sie vor diesem Leben voller Sorgen, Schreie, Mühen empfindet… Dann nichts mehr. Wir warten auf einen neuen Atemzug. Aber nichts. Keine Luft mehr. Starr. Statue. Fertig. Sie ist tot. Die Seite ist umgeschlagen. Endpunkt ihres Lebens. Der Buchdeckel schließt sich, bald schließt sich der Sargdeckel über ihrem vergessenen Gesicht. Das Register ihrer Existenz ist abgeschlossen. Ich hebe den Kopf. Ich weiß nicht warum. Um woandershin zu schauen. Ich sehe die Uhrzeit über mir. Die Uhr im Zimmer zeigt genau sieben Uhr. Das Schicksal hat ihr das dürftige Geschenk gemacht, sie zur vollen Stunde verscheiden zu lassen. Schweigen. Schweigen. Schweigen. Alle Welt schweigt. Keine Tränen mehr, keine Schluchzer. Der Tod. Ich schaue sie an. Sie fixieren den Leichnam. Ich höre eine Stimme in ihnen brodeln: „So will ich nicht enden.“ Die Angst lässt sie die Schnauze halten. Na gut. Es ist klar, der Zustand allgemeiner Würde, der sich der Versammlung ­bemächtigt hat, hält in so einer Familie nicht lange vor. Schon gewinnt das Naturell die Oberhand. ­Alles bricht in sich zusammen. Es geht wieder los. Man regt sich auf. Und da die Tote tot ist, kann man sich frohen Herzens gehen lassen. Leck mich doch. Sie weinen nicht, sie heulen nicht einmal. Sie brüllen. Sie heben den Kopf und ersticken an ihrem Gegluckse. Ich fange an, die Tote zu beneiden. Sie kann sie nicht mehr hören. Nur Nidal macht aus seinen Tränen stille Perlen. Auf mich gestützt, beweint er den Tod seiner Mutter. Mein Kummer um ihn ist groß. Ich werfe einen Blick zu Nawal. Sie ähnelt diesen Sportlerinnen, die nach einem Hundertmeterlauf nach Atem ringen. Ich sehe sie an. Ich finde sie schön in ihrer Erschöpfung. Von uns allen hat sie den Wettbewerb klar für sich entschieden. Sie weint nicht. Mein Vater weint nicht. Er hat das zu oft im Fernsehen ge­sehen. Wie ich. Ich weine nicht. Ich bin mitten im Dreh. Ich

THEATER WINKELWIESE Die Verwandtschaft (Uraufführung) von Christoph Rath, CONG 19. September – 2. Oktober 2020

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stück

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Nachhaltigkeit

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zufügen, mit dem Pinsel schon in der Hand drehst du dich für eine Sekunde weg, um aus dem Fenster zu schauen, du wirfst den Blick zurück auf die Leinwand, und fertig. Das Bild war schon fertig. Ein Ereignis. Vergiss deine Pläne, die Entscheidungen, die Struktur… Vergiss deine Farben. Es ist Informations- und einfach so. Nichts zu machen. Es steht nicht in unserer Macht. Und jetzt, genauso. Ich dachte, ich Inspirationstag für wäre damit durch. Ich bin losgegangen. Ich habe Theaterschaffende meine Schwester umarmt und bin los. Leck mich. An einem Nichts liegt das. An nichts… An einer 4. Nov. 2020, online Jacke! Was ist eine Jacke… Draußen ist Winter. ­Kälte. Sturm. Ich könnte so rausgehen. Ich könnte… Aber es ist dann trotzdem ein Zeichen. Ganz klar. Ruhe bewahren. Noch ist nicht alles verloren. Ich hab sie vielleicht woanders hingelegt, ins Wartezimmer zum Beispiel… Es ist so blöd… Ich will nur etwas Zeit gewinnen… Es ist ganz klar. Ich weiß genau, wo meine Jacke ist. Sie ist da drin, im sage mir, das könnte einen sehr schönen Filmanfang abgeben. Aber noch einmal: ich bin niemandes TdZ_Sep_2020.indd 1 17.07.2020 14:48:26Zimmer der Toten, über dem Stuhl am Bettende, auf den sich keiner setzen wollte. Scheiße! Die Held. Ich weine nicht. Die andern machen das sehr Zimmertür ist zu. Einen Moment lang stelle ich gut an meiner Stelle. Die Krankenschwester bittet mir den Körper der Frau mit den langen blonden uns schließlich rauszugehen. Sie muss die Tote waHaaren vor, mit einer Jacke als Totenwache. Was ist schen, das Blut entfernen, ihr die Augen schließen ein Körper? Ein Kostüm, wo keiner mehr drin und ihr die Arme in eine gebührliche Position legen. steckt. Ein Kostüm wacht über ein Kostüm. Kein Was muss, das muss. Die Erfordernisse des Todes Sohn, keine Mutter. Nur Kleidung. unterweisen die Gefühle. Die Krankenschwester schließt die Zimmertür. Wir stehen alle im Flur unEs liegt an nichts. Wirklich nichts. Ich wollte los. ter der Weihnachtsdeko. Lächerlichkeit bringt keiIch habe meine Schwester umarmt und wollte weg. nen um. Jämmerliches Rumgerede, künstliche TräScheiße! Entweder gehe ich sofort, oder ich gehe nen. Nawal kommt zu mir. später. Wie damals. Entweder ich lasse mich sofort - Was hast du vor, Wahab? umbringen, oder ich lasse mich später umbringen. - Ich gehe. Heute Abend hänge ich meine Bilder Aber diesmal kommt Ausreißen nicht in Frage. auf. In zehn Tagen habe ich eine Ausstellung. Ich Man muss nach der Musik tanzen. Es liegt an habe mein letztes Bild gefunden. nichts. Nichts. Die andern reden miteinander. - Brauchst du Geld? Lärm. Ich verstehe kein Wort. Ich weiß nicht mehr. - Nein, geht schon. Ein fernes Gemurmel. Bestenfalls ein dumpfes - Brauchst du sonst was? Grummeln. Ich nähere mich der Tür. Die Unend- Wenn du zur Vernissage kämst, Nawal, würde lichkeit in greifbarer Nähe. Mit etwas Glück ist die mich das sehr freuen. Krankenschwester noch da. Keiner sieht mich, Sie versteht. Sie umarmt mich. Ich will weg. Meine dabei stehen wir einer neben dem andern. Ich ­ Jacke. Wo ist meine Jacke… Wo ist… Leck mich! wundere mich kurz, dass keiner wieder reingegangen ist, aber im Grunde sind wir alle gleich, nieScheiße! mand hier dürfte Lust haben, ganz allein da reinzugehen. Na gut. Ich mache die Tür auf. Ich trete Woran liegt das? Immer kommt es aus der Richein, ich mache wieder zu. Die Krankenschwester tung, aus der man es am wenigsten erwartet. Ein ist nicht mehr da. Der Leichnam liegt ausgestreckt Ende ist nichts, das man entscheiden kann. Man auf seinem Bett, ich schaue ihn nicht an, aber seikann es versuchen, aber leck mich am Arsch, imne Anwesenheit durchdringt mich in jedem mer wird man beschissen. Bei einem Bild weiß ­Augenblick. Ich gehe zu meiner Jacke. Ich schaue man nicht, dass es fertig ist, und auf einmal: fertig. zur Wand. Die Tote ist hinter mir. Ich stelle mir Ein Ereignis. Du willst gerade noch ein helles einen Augenblick vor, wie sie sich in ihrem Bett Ultra­marinblau oder ein Florentiner Violett hinzu-

HENRIKE IGLESIAS UNDER PRESSURE

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aufrichtet, und ich will sterben. Vulkanische Hitze steigt mir in den Kopf, und trotz Schweiß, Furcht, Tod und dem Irrsinn dieses Augenblicks versuche ich mich an die Realität zu klammern, indem ich präzise und klare Vorgänge ausführe: Ich nehme meine Jacke, ziehe sie an, mache den Reißverschluss zu, ich bin bereit, ich drehe mich um. Die Frau mit den hölzernen Gliedern steht im Zimmer. Es raubt mir den Atem. Ich will wegrennen, aber ich kann mich nicht rühren. Sie ist da, und ich schaue sie an. Es gibt nur noch uns. Kein Bett mehr. Kein Leichnam, kein Licht. Sie, da, ein paar Schritte von mir entfernt. Den Kopf gesenkt. Sie knirscht mit den Zähnen. Sie hebt den Kopf. Ihr Schleier fällt. Sie starrt mich an. Ihr Blick dringt in mich wie eine Lawine. Jetzt sehe ich sie, ich sehe sie. Ich sehe ihr Gesicht und erkenne sie. Es ist Krieg. Im Zimmer ist Krieg. Der mit dem brennenden Bus von vor langer Zeit. Ich will schreien. Aber es kommt nichts raus. Nichts. Sie macht einen Schritt vor. Holzbeine. Und ich schaue sie immer noch an, unfähig, die Augen abzuwenden. Ich schaue sie an, ich schaue ihr Gesicht an und erkenne sie wieder. Mit all der Kindheit, zu der ich imstande bin, erkenne ich sie wieder. Erkenne meine ganze Wut und mein ganzes Leid. Erkenne meinen Zorn und meinen Hass. Ich erkenne sie. Ich erkenne sie wieder. Sie kommt näher, streckt ihre Holzarme aus und schreit mich an wie sie im Herzen meiner früheren Albträume gebrüllt hat: „Dein Herz gehört mir!“ Ihre Hände verkrampfen. Holzhände. Ich ersticke! Ich traue meinen Augen nicht. Ich erkenne sie wieder. Blind, blind, blind war ich! Sie bevölkerte meine Ängste und meine Nächte, besiegte mich immer, wenn es dunkel wurde, ließ meine Seele schreien, machte mein Alleinsein zur Qual, und ich habe sie nie erkannt! Sie war der Ausbruch all meiner Schmerzen. Verborgen in allen Ecken meiner Seele, tauchte sie dann auf, wenn ich, im Herzen einer zu schrecklichen Dunkelheit, das Licht herbeisehnte. Sie tauchte auf, weil das plötzliche Licht der Erkenntnis mich blendete, und sie schickte sich an, mich zu verschlingen. Ihr Gesicht blieb mir verborgen, meine Angst war zu groß, als dass ich es hätte sehen können, heute aber zeigt es sich mir: Die Frau mit den hölzernen Gliedern hat ein bleiches Gesicht mit langen blonden Haaren. So lange habe ich neben ihr gelebt, ohne Verdacht zu schöpfen! Sie war‘s! Sie! Der Krieg, das war sie. Der Krebs, das war sie! Die

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Frau mit den hölzernen Gliedern! Ich habe nichts bemerkt. Nichts verstanden. Ich habe die Kindheit nicht ernst genug genommen. Hätte ich es gewusst! Hätte ich es gewusst! Hätte ich besser hingesehen, besser hingehört, ich hätte mich verteidigen können, hätte kämpfen und das Opfer meiner Mutter verhindern können. Aber ich war zu klein und meine Mutter hat sich mutig in den Weg gestellt und sich statt meiner verschlingen lassen: Eine Wölfin verteidigt immer ihre Jungen. Danke, Mama. Entschuldige, Mama. Es gibt keinen Gott, aber trotzdem, ich bewahre die Hoffnung: Ich gehe einen Schritt vor und spreche zu meiner Mutter, und während ich dieser schrecklichen Frau in die Augen schaue, sage ich: „Mama, ich weiß, dass du noch da bist.“ Die Frau mit den hölzernen Gliedern beginnt zu brüllen, wie sie damals brüllte, als sie versuchte, mich zu erwürgen. Früher bin ich geflohen. Heute gibt es keine Ausflucht. Es ist jetzt. Ich muss mich dem Sturm entgegenstellen. Meine Jacke beschützt mich. Ich nähere mich ihr. Da ist sie mit ihren langen blonden Haaren und ihren hölzernen Gliedern. Scheußlich. Sie ist da, entsetzlich, aber sie kann mich noch so sehr glauben machen, dass sie mich erwürgen, mich an der Gurgel packen und mir den Kopf abreißen wird, sie kann noch so sehr all meine Phantasie in Beschlag nehmen, ich gehe auf sie zu, unerschütterlich, und ich schaue ihr ins Gesicht. Ich stehe vor ihr. Ich zittere. Mein Ende ist nahe, der Abgrund ist entsetzlich. Sie brüllt, sie brüllt! Ich lasse mich verschlingen, mein Fleisch löst sich mit jedem Biss von meinem Gesicht, ich fließe, ich schmelze, mein Fleisch geht im unerträglichen Feuer ihres Hasses auf. ­Napalm bei jedem Schrei, aber ich leiste ihr verzweifelt weiter Widerstand. Ich lasse sie durch mich hindurchgehen, ich lasse ihre hölzernen Hände meinen Hals umdrehen, die Bänder reißen, der Nacken knackt, die Knochen brechen, ich kriege keine Luft mehr, und ich schaue ihr immer weiter ins Gesicht, ich schaue in ihr Totengesicht, ich bin wütend, und meine Augen sind sonnenspeiende Vulkane. „Hab ich dich endlich“, brüllt sie. ­Alles ist aus! Das Leben verlässt mich. Nichts mehr unter meinen Füßen. Kein Boden. Nichts mehr, um mich zu retten. Zu spät, es ist zu spät, sie hat gewonnen, ich bin mir sicher. Ich wehre mich nicht mehr. Etwas in mir willigt ein. Ich willige ein. Plötzlich öffnet sich die Tür und ich sehe das Rudel Wölfe, große weiße Wölfe aus dem Norden in das Zimmer stürzen, die Frau mit den hölzernen Gliedern anspringen und sie verschlingen. Die große Wölfin packt sie am Hals. Die Frau schreit, wütet, kämpft, aber nichts zu machen, die Wölfe sind zu viele und tragen die Wut ihrer Rasse in sich. Sie lässt mich los. Ich atme. Erwache zum Leben. ­Finde wieder zu Kräften. Jetzt sehe ich sie an: bombardiere sie mit Blicken. Ich sehe ihre Angst. Ich schlage meinen letzten Nagel ein: „Du bist nicht mehr Herrin über mein Leben“. Sie hört meine Wut, ihre Augen versinken, ihr Blick bekommt ­Risse und durch die Scharten ihrer Hässlichkeit hindurch setze ich nach und nach das vergessene Gesicht meiner Mutter neu zusammen. Das Krankenzimmer taucht wieder auf, mit ihm der Stuhl und die Lichter und der Körper meiner Mutter, wie er auf dem Totenbett liegt. Das Zimmer ist voller Wölfe. Das schwarze Blut der Frau mit den hölzernen Gliedern raucht noch aus ihren wütenden Mäulern. Nur eine Kinderangst kann eine Kinderangst besiegen! Meine Erinnerungen kommen

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wieder zum Vorschein. Ich betrachte das wieder­ gefundene Gesicht meiner Mutter. Das Gesicht einer Schönheit. Ein Gesicht, das tot ist. Ich beuge mich vor. In ihren Falten sehe ich die Wege, die ich gegangen bin, als ich ausgerissen, als ich durch die Welt gezogen bin, um meine Seele zu retten. Über das Gesicht meiner Mutter gebeugt, sehe ich die tiefen Täler, in die ich hinabgestiegen bin, um mich der Welt zu nähern. Ich betrachte ihr Gesicht. Die Angst ist bezwungen, Mama. Für mich kann die Reise beginnen. Ich nähere mich ihrem Ohr, berühre es mit meinen Lippen. Ich atme ihren Geruch ein. Sie ist noch da. Kaum wahrnehmbar, weiße Blume mitten auf dem Weg. Ich versuche, ihr meine Liebe zu sagen. Ich sage: „Ich hätte dich gerne kennen gelernt, aber zu viele Ängste haben uns getrennt. Von nun an wirst du im Herzen all meiner Farben sein. Entschuldige wegen der Sorgen.“ Das wieder zusammengesetzte Gedächtnis. Ich kann erhobenen Hauptes „früher“ sagen. Die Zeit vergeht nicht mehr auf dieselbe Art. Der Morgen bricht an. Die Wölfe sind unsichtbar. Ich gehe aus dem Zimmer. Ich schließe die Tür. Ich laufe durch die Stadt. Ich bin müde. Der Weg bis zu mir nach Hause ist lang. Ich gehe im Schneefall. Der Frühling ist noch fern. Ich begegne Passanten. Sie ahnen nichts und das ist auch besser so. Ich komme in mein Viertel. Ich setze mich auf eine Bank. Ich schaue die Leute an. Ein Bus fährt vorüber. Brechend voll. Keine Gefahr. Überwältigend viel Leben spielt sich um mich herum ab. Ich muss nach Hause. Ein Bild malen. Eine Geschichte zu Ende bringen. So ist das. Die Kälte macht steif. Ich stehe auf. Ich betrachte die weiße Leinwand. Meine Farben sind da. Die Pinsel liegen bereit. Ich beginne immer in der Stille. Ein Vogelflug durch den kalten Winterhimmel. Ich lächele. Was soll ich auch sonst machen? Einfach die Wahrheit. Ich kann nicht mehr weinen.

Spielzeit 2020/21

Schauspiel-Abo TAK Theater Liechtenstein Tage des Verrats Beau Willimon | R: Oliver Vorwerk TAK Theater Liechtenstein Tod eines Handlungsreisenden Arthur Miller | R: Oliver Vorwerk TAK Theater Liechtenstein Der Fremde Albert Camus | R: Oliver Vorwerk Schauspiel Hannover Orlando nach Virginia Woolf | R: Lily Sykes Theater Konstanz Jeder stirbt für sich allein Hans Fallada R: Shirin Khodadadian Deutsches Nationaltheater Weimar Ich liebe Dir Dirk Laucke | E: Beate Seidel Lichthof Theater Hamburg Cum-Ex Papers R: Helge Schmidt TAK Theater Liechtenstein Die menschliche Stimme Francis Poulenc / Jean Cocteau R: Oliver Vorwerk Staatsschauspiel Dresden Früchte des Zorns John Steinbeck R: Mina Salehpour Deutsches Theater Berlin Am Boden George Brant R: Anna Berndt

© Leméac Éditeur Inc., Montréal / Actes Sud, Arles cedex 2007 Deutschsprachige Aufführungsrechte bei Verlag der Autoren, Frankfurt am Main, 2017.

Staatstheater Mainz Werther Johann Wolfgang von Goethe R: Brit Bartkowiak www.tak.li

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Premierenübersicht schausPiel September – Januar 20 | 21

theater bonn 10. & 11. sePtember lenZ von Georg Büchner | Regie: Armin Petras SchauSpielhauS

11. sePtember nicht Fisch nicht Fleisch von Franz Xaver Kroetz | Regie: Max Schaufuß WerkStatt

25. & 26. sePtember shaKesPeares sÄmtliche WerKe (leicht GeKürZt) von Adam Long, Daniel Singer & Jess Winfield Regie: Roland Riebeling SchauSpielhauS

29. OKtOber Die GlasmenaGerie von Tennessee Williams | Regie: Matthias Köhler WerkStatt

30. OKtOber sZenen einer ehe von Ingmar Bergman | Regie: Jan Neumann SchauSpielhauS

7. nOvember Der ZerbrOchne KruG von Heinrich von Kleist | Regie: Jens Groß OpernhauS

27. nOvember alice im WunDerlanD nach Lewis Carroll | Regie: Simon Solberg SchauSpielhauS

18. DeZember messer in hennen von David Harrower | Regie: Martin Nimz WerkStatt

29. Januar anGst (at) uraufführung von Volker Lösch, Lothar Kittstein und Ulf Schmidt Regie: Volker Lösch SchauSpielhauS

SPIELZEIT 2020/2021 Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada, Regie: Babett Grube Premiere am 18. September 2020

Herkunft

Uraufführung von Saša Stanišić, Regie: Sascha Hawemann Premiere am 2. Oktober 2020

Der Funke Leben

von Erich Maria Remarque, Regie: Lars-Ole Walburg Premiere am 9. Oktober 2020

Schlingensief 2020

Ein Spektakel zum Erinnern, Feiern und Weitermachen 23. bis 25. Oktober 2020

STERBEN in Oberhausen Regie: Kaufmann/Witt ab 20. Oktober 2020

Mermaids (AT)

4+

Regie: Shari Asha Crosson Premiere am 20. November

Peter Pan

6+

von James Matthew Barrie, Regie: Florian Fiedler Premiere am 28. November 2020

From Horror Till Oberhausen

Der Film, den ihr wollt Konzept und Regie: FUX (Falk Rößler und Nele Stuhler) Premiere am 4. Dezember 2020

Der Ursprung der Liebe

ein Projekt von Karoline Behrens, Ronja Oppelt und Lise Wolle nach der Graphic Novel von Liv Strömquist Premiere am 15. Januar 2021

Tigermilch

15+

von Stefanie de Velasco, Regie: Babett Grube Premiere am 5. Februar 2021

Wir nehmen uns die Freiheit, noch nicht zu wissen, was das ist, weil wir derzeit eine Menge denken, aber wenig wissen können. Regie: Florian Fiedler Premiere am 20. Februar 2021

Im Dickicht der Städte

von Bertolt Brecht, Regie: Jan Friedrich Premiere am 19. März 2021

Sturmtief O‘Hara

Eine postkoloniale Schmonzette nach „Vom Winde verweht“

von LA FLEUR, Leitung: Monika Gintersdorfer/Frank Edmond Yao Premiere am 23. April 2021

Nebraska

Uraufführung von Wolfram Höll, Regie: Elsa-Sophie Jach Premiere am 15. Mai 2021

Un ballo in maschera. Ein Maskenball (AT) Regie: Babett Grube Premiere am 29. Mai 2021

WWW.theater-bOnn.de


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Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Premieren 2020 – 2021 Sep 2020

Wegen COVID19Auflagen: Nachgeho lte Premiere

von Gabriele Hänel nach Rudyard Kipling Schauspiel und Puppentheater Regie Moritz Sostmann

8+

Was fehlt? – Die große Show über das, was bleibt UA

von Lydia Huller, Jan Preißler, Paula Thielecke und Ensemble Schauspiel 14 + Regie Jan Preißler und Paula Thielecke

DER DRESSIERTE MANN Komödie von John von Düffel

Momo nach Michael Ende Schauspiel 8 + Regie Katharina Brankatschk

Apr 2021

Diamond Sky

Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute

von Nick Wood Schauspiel 12 + Regie Petra Schönwald

von Jens Raschke Puppentheater 10 + Regie Nis Søgaard

Nov 2020

Mai 2021

Nov 2020

Die gestohlene Weihnachtsgans Auguste

Tiere essen nach Jonathan Safran Foer Schauspiel 12 + Regie Nils Zapfe

nach der Erzählung „Die Weihnachtsgans Auguste“ von Friedrich Wolf Schauspiel 6 + Regie Nils Zapfe Dez 2020

Der Löwe, der nicht schreiben konnte von Martin Baltscheit Puppentheater mobil Regie Sarah John

4+

Jan 2021

Zaubermühle! von Katrin Lange Schauspiel 8 + Regie Ania Michaelis

Mai 2021

Transformers ∑ von innen nach außen UA ein inklusives Forschungsprojekt über den Wandel der Körper von Anna Lubenska und Ensemble Theaterakademie 12 + Regie Anna Lubenska

Bambi von Oliver Schmaering nach Felix Salten Puppentheater 6 + Regie Lorenz Seib

tjg. theater junge generation

9. Oktober 2020

großes Haus

16. Oktober 2020

Burgtheater

28. Oktober 2020

Ralbitz

30. Oktober 2020

großes Haus

13. /14. November 2020

großes Haus

28. November 2020

großes Haus

3. Dezember 2020

Burgtheater

20. Dezember 2020

Burgtheater

22. Januar 2021

Burgtheater

6. Februar 2021

großes Haus

26. Februar 2021

großes Haus

7. März 2021

Burgtheater

ČMJEŁA HANA CHCE DO DOWOLA LEĆEĆ HUMMEL HANA FLIEGT IN DEN URLAUB von Mirko Brankatschk GOTT von Ferdinand von Schirach BAUTZENER BÜHNENBALL 2020 In Zusammenarbeit mit dem Sorbischen National-Ensemble

RÄUBER HOTZENPLOTZ UND DIE MONDRAKETE Eine musikalische Himmelfahrt von Martin Lingnau und Wolfgang Adenberg Nach dem gleichnamigen Buch von Otfried Preußler FEINDLICHE ÜBERNAHME Komödie von Thomas Steinke DIE KLEINE MEERJUNGFRAU Puppentheater nach Hans Christian Andersen GODOW & SOMORRHA Gedöns vonner Insel – 2 von Stephan Siegfried

DOŁHOŽ FENKI BĚŽA UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER Komödie von Michael Cooney in obersorbischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS von Joël Pommerat übersetzt von Isabelle Rivoal DAS MÄRCHEN VON DER SALZPRINZESSIN Ein altes Motiv neu erzählt - Marionettentheater 20. März 2021

Drachhausen

18. April 2021

Burgtheater

25. April 2021

großes Haus

JAJA Z KRAJA LANDEIER - BAUERN SUCHEN FRAUEN Komödie von Frederik Holtkamp in niedersorbischer/wendischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche NUR EIN TAG Puppentheater nach Martin Baltscheit

Shakespeares EIN SOMMERNACHTSTRAUM Ein Schauspiel mit Musik Kooperation mit dem Sorbischen National-Ensemble

Mai 2021

3. Mai 2021

Cottbus

ein inszenierter Stresstest von Sophia Keil und Ensemble Theaterakademie 14 + Regie Sophia Keil

5. Mai 2021

Burgtheater

30. Mai 2021

Burgtheater

24. Juni 2021

Hof der Ortenburg

Druckausgleich UA

Jun 2021 Feb 2021

Radior

DIE REISE ZUM MITTELPUNKT DES RAUMES – DAS BAUHAUS LEBT! Ein interaktives, synästhetisches Figurentheater

nach Janosch Schauspiel 4 + Regie Martin Grünheit

nach den Brüdern Grimm Puppentheater 4 + Regie Frank Alexander Engel

großes Haus

PRĚKI – DURICH - LOBORKA von Mirko Brankatschk

drei Projekte von und mit Jugendlichen Theaterakademie 14 + Regie drei Jugendliche

Oh, wie schön ist Panama

Rotkäppchen

17. September 2020

HORCE PLINCY LANDEIER - BAUERN SUCHEN FRAUEN Komödie von Frederik Holtkamp in obersorbischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche

Mrz 2021

Okt 2020

Burgtheater

HALLO NACHBAR (Un)Sinnbilder mit Glump von Ingeborg von Zadow

tjg. tak-ticker 2021 UA

Mrz 2021 Okt 2020

11./12. September 2020

26. September 2020

Mrz 2021

Das Dschungelbuch UA

Premieren Spielzeit 2020/2021

Das NEINhorn nach Marc-Uwe Kling und Astrid Henn Puppentheater Sonnenhäusel im Großen Garten 4 + Regie Johanna Zielinski

MAŁY NYKUS DER KLEINE WASSERMANN von Otfried Preußler KUS HINAK – MAŁE WAMPIRY EIN BISSCHEN ANDERS – KLEINE VAMPIRE von Alexander Galk Sorbisches Kindertheater

KASPER UND DAS WAHRHEITSTUCH Puppenspielklassiker nach Lena Foellbach, aufgetrennt und neu vernäht

25. Bautzener Theatersommer SHERLOCK HOLMES DIE BEATLES-BÄNDER + DAS BIEST VON BAUTZEN von Lutz Hillmann nach Motiven der Erzählungen von Arthur Conan Doyle

Telefon: 03591/584-0 www.theater-bautzen.de 0351 . 3 20 42 777

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Magazin Die Freiheit wird fünfzig Ein Porträt zum halben Jahrhundert Freies Theater München  Der Langläufer Fünfzig Jahre Leben im Theater – Friedrich Schirmers Aufbruch und Rückkehr  Entdeckung im Lockdown Bei der digitalen Notausgabe des Postwest-Festivals an der Berliner Volksbühne erwiesen sich Künstler aus Riga, Prag

Geschichten vom Herrn H. Einfalt und Politische und private Unabhängigkeitsbewegungen Die Schauspielerin Helen Wendt

und Piatra Neamț als Avantgarde des europäischen Theaters  ­Vielfalt

und die Costa Compagnie setzen ihr Projekt „Fight (for) Independence“ am Oldenburgischen Staatstheater mit einem

Frivol und moralisch Goethes „Faust“ als Puppenspiel – ein Gastspiel des Hermannshoftheaters Wümme auf Hiddensee  Angewandtes Musik-Bauhaus „Audio.Space.Machine – Ein

Dokumentarfilm fort

Bauhaus-Konzept-Album“ vom Künstlerduo wittmann/zeitblom erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden 2020

Rühr mich nicht an

Der Autor Navid Kermani und der Politologe Claus Leggewie diskutieren im Apollo-Theater

Siegen über Zeiten des Ausnahmezustands

Abschiede

Bücher Lea-Sophie Schiel, Olivia Wenzel, Ted Gaier

Eric Bentley, Renate Krößner, Christine Stromberg


magazin

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Die Freiheit wird fünfzig Ein Porträt zum halben Jahrhundert Freies Theater München

de nichts. Dafür zog die Truppe im Auftrag des Goethe-Instituts durch die Welt und gab Workshops an Universitäten in Nairobi oder in Tampa, Florida. 1976 tourte sie mit „After Brecht“ durch Südamerika, einer grell-zirzensischen Provokation mit Hakenkreuzfahne und manipulativen Spielchen, die laut Bildstein 1973 beim Internationalen Theaterfestival in Wrocław von

International bedeutende freie Gruppen, die

Sein Theater, das die Freiheit schon im Namen

Studenten bejubelt und von deutschenfeind­

ihren fünfzigsten Geburtstag erleben, sind

trug, als es das freie Theater als Begriff noch

lichen polnischen Gruppierungen als „Apothe-

selten in Deutschland. Umso ärgerlicher,

gar nicht gab, verschmolz all diese Einflüsse

ose auf Hitler“ missverstanden wurde. „Natür-

dass die für September geplante Jubiläums-

mit den artifiziellen Bewegungs- und Sprech-

lich muss man manchmal aufpassen, dass

feier des Freien Theaters München (FTM) nun

weisen asiatischer Theaterformen zu einem so

man nicht falsch interpretiert wird“, räumt er

coronabedingt verschoben ist. Trotzdem wühlt

kantigen wie sinnlichen Tanz-Aktions-Ritual-

auch in Bezug auf die Stücke des Titanic-­

sich Kurt Bildstein unermüdlich weiter durch

theater-Hybrid und blieb auch weiter für neue

Autors Markus Riexinger ein, die er selbst

die Kistenberge in seiner Wohnung, denn im

Einflüsse offen. Im Videoschnipsel-Archiv auf

2017 und 2019 in München inszeniert hat. In

Herbst 2021 ist rund um das vertagte Fest

der Website des Theaters kann man dessen

„Jacky“ und „Pop Amok“ geht es um Neonazis

auch eine Ausstellung über das FTM im Deut-

Spielarten Revue passieren lassen: die clownes­

und die Freiheit der Kunst, die für das FTM

schen Theatermuseum geplant.

ken und die exhibitionistischen, die zahlreichen

auch darin besteht, weder politically correct

Dessen Geschichte begann am 29. April

Stelzenläufer-Paraden à la Bread and Puppet

sein noch Gebrauchsanweisungen für ihre

1970: Im Schwabinger Wirtshaus im Fäustle-

wie die puppenhaften Susanne-Kennedy-Vor-

­Rezeption liefern zu müssen.

garten teilt ein Steg den Zuschauerraum.

boten in Peter Handkes „Das Mündel will Vor-

„Die Frage, was unser Theater bedeu-

George Froscher inszeniert Jakob Michael

mund sein“ von 1975. Und, immer wieder, die

tet, hat uns von Beginn an begleitet“, sagt

Reinhold Lenz’ „Soldaten“ als expressives,

stampfenden Sprechchöre, die an Einar Schleef

Bildstein. „Wir haben sie umgedreht und ge-

bildstarkes Körpertheater. In der Rolle des

erinnern, oder die rollenden Bühnenteile und

fragt: Was war es für euch? Was habt ihr gese-

Tuchhändlers Stolzius debütiert der Architek-

Requisiten, die für das FTM so typisch sind.

hen?“ Und zwar ganze fünfzig Jahre lang. //

Dieses Theater schwitzte und ackerte,

gesehene András Fricsay abgesprungen war.

und am meisten schwitzte und ackerte Kurt

Und die Presse ist Feuer und Flamme.

Bildstein, dem ich als Neumünchnerin erstmals

Es war die Zeit der ganzseitigen Thea-

um die Jahrtausendwende begegnete: Ein

terkritiken in den Feuilletons. Es war die Zeit,

schmalgliedriger Mann, der mit weit aufgeris­

in der, wie Helmut Schödel noch 1977

senen Augen in einem hohen Ton seltsam ver-

schrieb, „im Theater fast immer fertige Ge-

einzelte Worte skandierte, seinen oft nackten

schichten erzählt“ wurden. Nicht so bei den

Körper peitschend, innerlich brennend und

„Theater-Piraten“ vom FTM, wo man literari-

feenleicht tänzelnd zwischen Grand Guignol, ­

sche Vorlagen liebte, aber eher kaperte als

Geisha und Artaud’schem „Gefühlsathleten“.

ausbuchstabierte. Weshalb ein Kritiker wie

Bildstein war Medea, er war einer von

Friedrich Luft sehr dafür war, die „Narren“

drei Macbeths und die eine blutige Lady in

fortzujagen, wogegen einer wie Benjamin Hen-

dem rhythmisch-archaischen Shakespeare-

richs gelegentlich Stadttheatermacher bei Fro-

Meisterstück des FTM von 1988, mit dem die

scher und Bildstein zum Nachsitzen schickte.

Gruppe bei internationalen Festivals und in

Froscher, Jahrgang 1927, hatte zuvor

den Opernhäusern von Istanbul und Ankara

schon inszeniert, Bühnenbilder gemalt und

gastierte. Er war George Froschers ewiger

Kostüme genäht sowie als Schauspieler die

Hauptdarsteller, Arbeits- und Lebensgefährte –

Provinz kennengelernt. Er hat bei Kurt Jooss

und ist jenseits der Bühne ein reizender und

in Essen und bei Martha Graham in New York

bescheidener Mensch. Während der heute

Tanz studiert, mit Jean-Louis Barrault, Geor-

77-Jährige vor allem über die ansteckende

gio Strehler und dem Living Theatre gearbei-

Energie und universelle Neugier seines 2015

tet und mit Ginger Rogers ebenso getanzt wie

verstorbenen Partners spricht, fällt fast ver­

im Fernsehballett.

sehentlich der Satz: „Ich war halt neben George die Autorität für Körpertraining und

Schwitzen und ackern – Peter Pruchniewitz (l.) und Reinhold Behling in „Macbeth“, dem rhythmisch-archaischen Meisterwerk des FTM aus dem Jahr 1988. Foto George Froscher

-ausdruck“. Mit Trainings und Kursen finanzierte die Crew ihre künstlerische Arbeit und zog sich ihren Schauspielernachwuchs heran. Aus der Idee, ein festes Theaterlabor zu errichten wie Eugenio Barba in Holstebro, wur-

Sabine Leucht

x-mal Mensch Stuhl

turstudent Kurt Bildstein, weil der dafür vor-

Fotoausstellung im öffentlichen Raum und Buchpräsentation zum 25-jährigen Projektjubiläum der Fassaden-Installation von Angie Hiesl + Roland Kaiser 17.09.2020-31.01.2021 Roncalliplatz, 50667 Köln Vernissage 17.09.2020, 18 Uhr

Infos unter angiehiesl-rolandkaiser.de

DomCarré

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magazin

/ TdZ September 2020  /

Der Langläufer Fünfzig Jahre Leben im Theater – Friedrich Schirmers Aufbruch und Rückkehr Alles begann in Castrop-Rauxel. Am 1. Au-

und Tiefen. Schirmer, der sich immer wieder

te er mit volkstheatralischen Stoffen wie

gust 1970 startete dort das Theaterleben des

neu erfand und 1991 dreißig Kilo abspeck-

Friedrich Wolfs „Der arme Konrad“, Heinrich

Friedrich Schirmer – zunächst als Hospitant,

te, ist vieles: Langläufer (der auch mit Olym-

Laubes „Die Karlsschüler“ oder Oliver Storz’

aber bald schon als Dramaturg. Früh geprägt

piasieger Dieter Baumann Runden drehte),

„Die barmherzigen Leut’ von Martinsried“ auf

wurde er von Schauspielerinnen und Schau-

Marathonmann (2003 in Köln) – und im

sich aufmerksam. Und zu den Talenten: In

spielern wie Angela Winkler (die ihn „Friedel“

Theater Mentor, Förderer, Impulsgeber, An-

Freiburg (ab 1989) und vollends in Stuttgart

nannte) oder Günter Strack (der ihm eine

stifter. Einer, der seine Begeisterungsfähig-

(ab 1993) entdeckte Schirmer Nachwuchs­

­Zukunft als Theaterchef voraussagte).

keit gern ans Publikum weiterreicht. Was ihn

regisseure wie Martin Kušej, Christof Loy,

Der Kollege behielt recht: 1985 über-

zu einem der wichtigsten (nicht wichtigtue-

nahm Schirmer tatsächlich seine erste In-

rischsten) Ermöglicher der Schauspielszene

tendanz, und mittlerweile sind es fünfzig

werden ließ, ist sein Gespür für Geschichten

Jahre, die er am Theater verbracht hat – zeit-

und Talente.

weise als Kapitän großer Staatstheater-­ Tanker, mit allen damit verbundenen Höhen

Zu den Geschichten: In Esslingen, ­seiner ersten Station als Theaterleiter, mach-

Förderer, Impulsgeber, Anstifter – Friedrich Schirmer ist ein Theatermann, der sich immer wieder neu erfindet, hier zum Beispiel 1986 in Esslingen. Foto Hanskarl von Neubeck


magazin

/ TdZ  September 2020  /

Stephan Kimmig, Elmar Goerden, Hasko Weber

bringen. Angesichts nicht eingehaltener Zu-

Helmut Dietls Erfolgsfilm „Schtonk!“. Eine ­

und Volker Lösch, war somit Wegbereiter

sagen seitens der Kulturpolitik und entspre-

kleine Sensation, dass die Uraufführung dem

­einer ganzen Regie-Generation.

chend drohender Defizite trat er schließlich

Esslinger Team anvertraut wurde! Nicht ohne

2010 aus Protest wegen „gravierender Un-

Stolz verweist Schirmer darauf, dass seine

terfinanzierung“ des Hauses zurück.

Landesbühne seit Jahren sogar mehr Zu-

Zwölf Jahre Stuttgart (zeitweise war er fürs Hamburger Thalia und fürs Deutsche Theater Berlin im Gespräch): Es war eine

Doch, wie gesagt, Schirmer ist ein

stürmische, glück­liche Zeit. Mit unvergess­

Langläufer. Ein Kämpfer, für den Offenheit,

lichen Theater­momenten, darunter „Gothland“,

Verletzlichkeit und Großzügigkeit zu diesem

Seit 2019 teilt er sich die Esslinger In-

„Richard II.“ mit Anne Tismer in der Titelrolle,

Naturell nicht im Widerspruch stehen.

tendanz mit Marcus Grube: ein dritter Weg

„Die Geier-Wally“ in Nahost-Ruinen, „Ham-

Nach einer Rückzugsphase kam die Überra-

zwischen Festhalten und Loslassen. Thea­

let“ mit Samuel Weiss bei den Salzburger

schung: Er übernahm 2014 erneut die In-

tralisch geht er eher auf Distanz zum Zeit-

Festspielen, Judith Herzbergs Familienepos

tendanz der Landesbühne Esslingen, die er

geist. Sein Credo: „Geschichten erzählen, die

„Über Leben“, Stephan Kimmigs „Thyestes“-

schon von 1985 bis 1989 geleitet hatte.

das Publikum in der gelebten Gegenwart be-

Inszenierung, die zum Berliner Theatertref-

Wie das, fragten sich manche: nach Thea-

rühren.“ Wobei er sich erlaubt, ruhig auch

fen eingeladen wurde, und als Finale das

tern wie Stuttgart und Hamburg, nach Gast-

mal einen Schritt zurückzutreten, „nicht

Festival Theater der Welt. Übrigens: Schir-

spielen in Teheran und Moskau wieder

noch schneller, noch witziger, noch performa-

mer war einer der Ersten, der René Pollesch

zurück auf Anfang? Zurück zum Wander­

tiver“ als die großen Theater sein zu wollen.

an ein Staatstheater holte.

bühnen-Leben mit Abstechern nach Gera­

Seine Zeit ab 2005 am Hamburger

bronn und Ilshofen?

schauer anzieht als das weitaus besser aus­ gestattete Staatsschauspiel Stuttgart.

Bis 2024 läuft sein Vertrag erst einmal, und Schirmer plant bereits den nächsten

Schauspielhaus dagegen stand unter keinem

Schirmer tat es einfach und brach da-

guten Stern. Seine Ehefrau Marie Zimmer-

mit ein Tabu im Immer-größer-immer-höher-

Herbst 2020: Bernhard Schlinks erfolgreich

mann, Schauspiel­ chefin der Wiener Fest­

Zirkus. Er gewann das Publikum mit Stoffen

verfilmten Roman-Bestseller „Der Vorleser“,

wochen, nahm sich das Leben. Als Intendant

wie Heinrich Manns „Der Untertan“ und

vom Autor gemeinsam mit Regisseurin Mir-

der größten Sprechbühne Deutschlands ge-

Robert Seethalers „Der Trafikant“, mit Volks-

jam Neidhart dramatisiert. Eigens für Esslin-

lang es ihm zwar, nach schwierigen Anfangs-

theater à la „Bauernoper“ und mit einem ech-

gen … //

jahren das Haus wieder auf Erfolgskurs zu

ten Coup: der ersten Bühnenfassung von

Uraufführungs-Coup

zum

Saisonstart

Otto Paul Burkhardt

Favoriten Festival 10. – 20. September 2020 Dortmund

Performance Theater

Musik Tanz

äöü, Antje Velsinger, caner teker, CHICKS*, David Guy Kono, HARTMANNMUELLER, KGI, Mareike Hantschel/ Lucie Ortmann/ Katrin Ribbe, Nesrin Tanç, Philine Velhagen, Reut Shemesh, Rotterdam Presenta, Saskia Rudat, Screwing Bitches, Swoosh Lieu, Thomas Lehmen, Transnationales Ensemble Labsa, Tümay Kılınçel, Tunay Önder, Ursina Tossi, WHY NOT? Kollektiv, YOU ARE GROUP

Veranstaltet von:

Gefördert von:

im

Antje Velsinger: dreams in a cloudy space © Imke Lass

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/ TdZ September 2020  /

Ab 28 | 08 | 20

DIE PANNE Friedrich Dürrenmatt Regie: Cilli Drexel

Ab 11 | 09 | 20

DER TRIP ROUSSEAU Dominique Ziegler Deutschsprachige Erstaufführung Regie: Robin Telfer

Ab 22 | 10 | 20

ALL YOU CAN BE! Eurydike und Orpheus Max Merker und Aaron Hitz Uraufführung Regie: Max Merker

Wieder ab 20 | 11 | 20

ROMEO UND JULIA William Shakespeare Regie: Veit Schubert

Ab 22 | 01 | 21

FAUST I Johann Wolfgang von Goethe Regie: Nis Søgaard

Ab 05 | 03 | 21

DIE JAHRESZEITEN Nach dem gleichnamigen Roman von Peter Bichsel in einer Bühnenbearbeitung von Deborah Epstein Uraufführung Regie: Deborah Epstein

Ab 29 | 04 | 21

DIE MITWISSER Eine Idiotie Philipp Löhle Schweizer Erstaufführung Regie: Katharina Rupp

www.tobs.ch (Änderungen vorbehalten)

Premieren Schauspiel 2020/21 Uraufführung Blackbird Matthias Brandt I: Christian Schlüter Uraufführung Deinen Platz in der Welt Dominik Busch I: Dariusch Yazdkhasti The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets Tom Waits, William S. Burroughs, Robert Wilson Spartenübergreifende Produktion I: Michael Heicks Uraufführung Das Material I: Konrad Kästner Uraufführung Voluptas & die hungrigen Kinder Ein Ensemble-Projekt

Uraufführung Two women waiting for … Hannah Arendt und Mary McCarthy gemeinsam zwischen Amerika und Europa I: Christian Franke Mephisto Klaus Mann I: Dariusch Yazdkhasti Amphitryon Heinrich von Kleist I: Cilli Drexel Uraufführung Cry Baby – Die Janis Joplin Todesparty (AT) Christof Wahlefeld I: Michael Heicks Der Sturm William Shakespeare I: Alice Buddeberg

Frankenstein Mary Shelley I: Tuschy/Suske

Uraufführung I’m no spring chicken, darling. (AT) Henrike Iglesias

Der Räuber Hotzenplotz Otfried Preußler I: Michael Heicks

Intendant Michael Heicks Schauspieldirektor Christian Schlüter

Weitere Produktionen, Wiederaufnahmen und Projekte in Planung.


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IT S PIE LZE 1 2020/202

Schauspieldirektor Jonas Knecht

Die Gastfremden von Ivna Žic | Regie: Christina Rast Uraufführung: 10. September 2020

ZUSAMMEN /HALT 2020/2021

Radikal allein Monologreihe | Regie: Wojtek Klemm, Manuel Bürgin, Anja Horst, Mélanie Huber u. a. Ab Herbst 2020

The Black Rider von William S. Burroughs, Tom Waits und Robert Wilson Regie: Barbara-David Brüesch Premiere: 31. Oktober 2020

Die lächerliche Finsternis von Wolfram Lotz | Regie: Jonas Knecht Premiere: 5. Dezember 2020

Die Orestie von Martin Pfaff nach Aischylos | Regie: Martin Pfaff Uraufführung: 14. Januar 2021

Carte Blanche Postpandemisches Rechercheprojekt Koproduktion mit dem Kunstmuseum St. Gallen Uraufführung: 13. Februar 2021

Schleifpunkt von Maria Ursprung | Regie: Olivier Keller Koproduktion Theater Marie, Bühne Aarau, Theater Winkelwiese Schweizer Erstaufführung: 11. März 2021

König Lear von William Shakespeare in einer Übersetzung und Bearbeitung von Thomas Melle Regie: Christina Rast Schweizer Erstaufführung: 16. April 2021

HotSpotOst: Letzte Chance 2031 von Brigitte Schmid-Gugler und St. Galler Autorenteam Uraufführung: 23. April 2021

AutorInnenförderung Dramenprozessor Abschluss: 27. und 31. März 2021 Stück Labor Hausautorin Maria Ursprung Abschluss: 18. Juni 2021

… und für Kinder und Jugendliche Zwei Monster, Das Dschungelbuch, Kuno kann alles

www.theater-baden-baden.de

+41 71 242 06 06 | theatersg.ch


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Entdeckung im Lockdown Bei der digitalen Notausgabe des Postwest-Festivals an der Berliner Volksbühne erwiesen sich Künstler aus Riga, Prag und Piatra Neamț als Avantgarde des europäischen Theaters

Ein DJ, allein und souverän vor seinen Platten-

pany KatIZ. Auf den Bildschirmen dreier

tellern: So schreibt sich das digitale Volksbüh-

Smartphones erscheinen Performerinnen, die

nen-Festival Postwest weiter in die Zukunft.

sich offensichtlich in einer Bewerbungssitua-

Jedenfalls, solange noch Strom durch die Rou-

tion befinden. Jede agiert in ihrer eigenen

ter fließt. Janis Krauklis kann man da auflegen

Box, inszeniert sich ausschließlich für die

sehen, den legendären DJ aus Riga, der bereits

Handykamera.

in sowjetischen Zeiten Techno in die Klubs mit

Die Zoom- und Skype-Performances in

kyrillischen Buchstaben brachte und als Lehr-

Corona-Zeiten sind hier konsequent weiterge-

meister gleich mehrerer DJ-Generationen in

dacht. Nicht nur die Rahmung des Handy-

Osteuropa gilt. Die Vibes wabern und die Far-

screens wird in die Aufführung einbezogen.

ben um ihn ebenfalls. Er ist allein, zuweilen

Auch die Distanzierung, die physikalische

sieht man im Hintergrund ein Technikerbein –

Entortung der digitalen Kommunikation, wird

so sieht eine Festivalparty in Corona-Zeiten

zum künstlerischen Mittel. Das gesamte Pro-

aus. Immerhin nachtanzen kann man zu Hause.

blemfeld des sich Anpreisens und Verkaufens

Nachsehen und nachhören auch. Und

auf den digitalen Märkten scheint beispiel-

es lohnt sich. Denn dieses Postwest-Festival –

haft auf. Alle Akteurinnen sind Kanonenfutter

kuratiert von der jungen russischen Theater-

einer digitalen Verwertungs- und Kapitalisie-

wissenschaftlerin Alina Aleshchenko, die als

rungsmaschinerie.

Referentin der Intendanz von Klaus Dörr an

Als geradezu hellseherisch erwies sich

der Volksbühne arbeitet – schraubte sich aus

Postwest dann durch die Themensetzung eini-

der gefälligen Mitleidsnische ganz kräftig heraus, die West-Institutionen Ostkünstlerinnen

lag. Bemerkenswert war auch die Perfor-

Die lettische Performance „Cannon Fodder“ denkt die Zoom-Aktionen der Corona-Zeit konsequent weiter – Anta Aizupe, Inese Pudzha und Jana Jatsuka (v. l.) inszenieren sich für ihre Handykameras.

mance „Cannon Fodder“ der lettischen Com-

Foto Maxim Shesterikov

und -künstlern gewöhnlich anbieten. Es hatte einerseits ästhetisches Format, was nicht nur am DJ-Mythos Krauklis

SPIELZEITERÖFFNUNG 2020/21 24. SEPTEMBER BIS 11. OKTOBER

MARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN, LIZENZ NR. 7

CORONÄISCHE ZEITEN: ÜBER ZUSTÄNDE, STRATEGIEN UND KÖRPER IN DER KRISE (KAMPNAGEL, MOBILE AKADEMIE, KURATION: RON ZIMMERING, ISABEL GATZKE)

JOANA TISCHKAU PLAYBLACK PATRICIA CAROLIN MAI KONTROL REGINA ROSSI SCHLAGSAHNE CHRISTOPH FAULHABER PARA SOCIAL SKILLS ARIEN AUS STEIN MIGRANTPOLITANS/USCHI GELLER EXPERIENCE MAX CZOLLEK TAGE DER JÜDISCH-MUSLIMISCHEN LEITKULTUR

SOLICASINO

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magazin

/ TdZ  September 2020  /

ger eingeladener Künstlerinnen und Künstler. Den Prager Regisseur Michal Hába hatte der Lockdown mitten in den Proben zu „The Heroes

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Einfalt und Vielfalt

of Capitalist Labour“ erwischt, einem Stück nach dem Reportagebuch der Journalistin Saša Uhlová über die Arbeits- und Lebens­ bedingungen von Leih- und Wanderarbeitern

Zum Abschluss – denn in Zukunft dann an

weißer Hautfarbe könne man leider nicht so

auf Spargelfeldern und in Fleischfabriken. An-

dieser Stelle ohne mich – noch eine bei-

viel machen. Warum das so ist, würde man

statt eine Digitalversion der Produktion zu er-

spielhafte Begebenheit, wie ich vor einiger

gern erfahren. Tut man aber nicht. Der Rest

stellen, führten Hába und Uhlová ein Gespräch

Zeit bei einer Diskussion über Diversität auf

ist durchaus konfus. Mal sollen Geschlecht

über Ausbeutung im Postkommunismus. Sie

deutschen Bühnen war: Auf dem Podium

und Hautfarbe sichtbar gemacht werden,

kritisieren die weitgehende Entpolitisierung

sitzen in trauter Einigkeit ein Erfolgsdrama-

mal wiederum gar keine Rolle mehr spielen.

der Gesellschaft, die Ausbeutung jetzt als

tiker, eine Erfolgsregisseurin und ein eben-

Ist das nun total gut, schrecklich oder eher

Schicksal, als Normalzustand oder persönli-

falls erfolgreicher Schauspieler

traurig? Der Erfolgsfestivalleiter

ches Pech zu betrachten pflege.

und Regisseur, der es zudem

berichtet, dass er eine Klausel

Auch die rumänische Regisseurin Gia-

noch zum Festivalleiter ge-

mit

nina Cărbunariu beschäftigt sich – schon lan-

bracht hat, weswegen er der

eingeführt habe. Hä? Überhaupt

ge, bevor das Thema angesichts der skandalö-

Einfachheit halber der Erfolgs-

Klauseln: Die finden alle drei

sen Zustände in deutschen Fleischfabriken

festivalleiter genannt werden

ganz wunderbar. Zum Beispiel,

auch hierzulande auf die Tagesordnung kam –

wird. Erfolg im Theater ist zwar

wenn bei Stücken die Hautfarbe

mit dem Schicksal der Wanderarbeiterinnen

auch eher nur wie drei Richtige

der Schauspieler vorab festge-

und Wanderarbeiter ihres Landes. Sie warnt

in der Prekaritätslotterie, aber

schrieben wird. Bin ich etwa der

davor, sie nur als Opfer zu sehen, weil dies

immerhin. Drei Mittdreißiger,

Einzige, der die juristisch bin-

deren eigene Perspektive negiere, sich durch

die von ihrer Kunst gut leben

dende Festlegung von Rollen

Arbeit in der Fremde ein neues Leben ermög-

können. Auch wenn der Erfolgsdramatiker

nach ethnischen Kriterien oder biologischen

lichen zu wollen.

behauptet, er müsse bald vielleicht Fahrrä-

Merkmalen etwas merkwürdig findet?

Intersektionalitätspflicht

Cărbunariu macht auch auf die nächs-

der verkaufen, weil er im Theaterbetrieb

Den Schlusspunkt setzt eine Anmer-

te Volte der Ausbeutung aufmerksam. Migran-

gegen so viele Wände laufe. Ein kurzer Blick

kung aus dem Publikum: Man müsse im

tische Erwerbspersonen haben meist kein

auf die Autorenvita (beim Abgehängtenver-

Theater endlich mal das Spielen infrage

Anrecht auf Sozialhilfe in dem System, für

lag Suhrkamp): Allein in den vergangenen

stellen. Warum müsse immer auf der Bühne

das sie arbeiten. Werden sie krank, muss das

fünf Jahren wurden seine Stücke ungefähr

gespielt werden? Woher komme der Wunsch

heimische Gesundheitssystem dafür aufkom-

fünfzig Mal gespielt, zudem erhielt er unge-

nach Verwandlung? Wer so fragt, kann mit

men, denn nur dort sind sie versichert. Die

fähr zwanzig Stipendien und Preise. An

bedeutungsschwerem Ausdruck auch gleich

Arbeit ist outgesourct, die Krankheitskosten

Wände stößt er wahrscheinlich auf der

die Bedeutung des Atmens für den Men-

werden abgeschoben: Osteuropa trägt viele

Flucht vor einer der zahlreichen Jurys, die

schen infrage stellen. Er stirbt halt, wenn es

Lasten des westlichen Wohlstands. Insofern

ihm schon wieder einen Preis an den Kopf

aufhört. Ebenso das Theater. Ohne Spiel

war es nur konsequent, dass die Gruppe Qen-

schmeißen wollen.

und Schein ist es nichts mehr. Fantasie und

dra Multimedia aus Kosovo ihren Beitrag

Eine Frau aus dem Publikum meldet

Utopie, die sich im geglückten Spiel ver-

„The Return of Karl May“ als Unterstützungs-

Kritik an. Ob der Erfolgsdramatiker nicht

bünden, wären gleich mit entsorgt. Jene

paket für die in die Krise geratene Berliner

davon profitiere, ein weißer Mann zu sein.

gesinnungssprachlichen Ergüsse sind das

Volksbühne

und

Das hört der offenbar gar nicht gerne, denn

Unkünstlerischste,

Elendsgroteske als Energiezufuhr für einen

hastenichgesehn rattert er seine ganz eige-

das ich mir vorstellen kann. Und was das

anämischen Kunstbetrieb.

tarnte:

Balkanvitalität

ja

Kunstfeindlichste,

ne Leidensgeschichte herunter. Arbeiter­

mit Diversität im Sinne einer sozialen Öff-

Es zeigt sich: Dreißig Jahre nach dem

familie, Vaterselbstmord, Mutterunglück.

nung zu tun haben soll? Die gesellschaftli-

Zusammenbruch des sozialistischen Systems

Kommt nicht gut an. Aus Österreich stammt

chen Schranken dieser Welt fallen doch

hat es diese Künstlergeneration endgültig satt,

er außerdem auch noch, das kann man qua-

nicht, nur weil die Betuchten und Gebilde-

den Westen nur nachzuahmen oder bestenfalls

si schon als Behinderung gelten lassen. Die

ten nun im inneren Zirkel ihre besorgten

den ihr zugewiesenen Platz für die vitalste

Ich-Perspektive dominiert den Abend. Alle

Mienen zur Schau stellen. Zu meiden wären

Freakshow im gesamteuropäischen Festivalzir-

haben etwas beizutragen, denn irgendwie

auch das Phrasen- und Schablonenhafte im

kus auszufüllen. Sie richtet sich nicht mehr

betroffen ist jeder. Die Erfolgsregisseurin

Sprachlichen. Meine Vorstellung von Diver-

nach den Modellen des Westens und auch

beginnt viele Sätze mit „das find’ ich total

sität wäre, dass auf den Bühnen auch eine

nicht nach dessen (durch Förderung formulier-

gut“ oder „total schrecklich“ oder „total

wahrhaft künstlerische, die Fassade durch-

ten) Erwartungen, sondern stellt ganz eigene

traurig“. In einem ihrer Stücke habe sie

schlagende Sprache repräsentiert wäre.

Fragen. Und die sind, so konnte man bei Post-

„man“ durch „frau“ ersetzt, das war „total

Und zwar egal, von wem. //

west staunend erfahren, auch die zentralen

geil“. Aber mit Ensembles mit mehrheitlich

Fragen des Westens.

Tom Mustroph

Jakob Hayner

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Politische und private Unabhängigkeitsbewegungen Die Schauspielerin Helen Wendt und die Costa Compagnie setzen ihr Projekt „Fight (for) Independence“ am Oldenburgischen Staatstheater mit einem Dokumentarfilm fort Absolute Freiheit klingt reizvoll, ist als Unab-

niert – Sprache, Religion, Kultur, Familie, Werte

abhängigkeitsbewegungen auseinandersetzte.

hängigkeit von jedwedem äußerlichen Zwang

– versetzt in die Lage, Freiheit zu verstehen als

Nach einem Tanzabend aus dem Geist der kata-

aber unmöglich in einer alles und alle miteinan-

Möglichkeit, eigenständig Entscheidungen zu

lanischen Separatisten im Oldenburger Edith-

der verbindenden Wirklichkeit. Sie bleibt also

treffen und Handlungen zu vollziehen.

Russ-Haus für Medienkunst sowie einem Doku-

ein abstrakter Begriff und eine relative Erfah-

Bei solchen Auseinandersetzungen ge-

theaterabend am Staatstheater Nürnberg über

rung: Erst das, was Ich-Bewusstsein determi-

riet der afrodeutschen Schauspielerin Helen

Ab- und Ausgrenzungen in Franken, Bayern,

Wendt ihr Selbstbild durcheinander, als sie sich

dem Vereinigten Brexit-Königreich und seiner

mit dem Regisseur und Künstlerischen Leiter

ehemaligen Kolonie Sudan konnte der dritte

der Costa Compagnie Felix Meyer-Christian im

Teil des Projekts coronakrisenbedingt nicht im

Rahmen des zweijährigen, von der Bundeskul-

Rahmen des flausen+Banden-Festivals am Ol-

turstiftung

denburgischen Staatstheater uraufgeführt wer-

Brückenschläge vom Polit-Panorama zur bikulturellen Selbstfindung – Helen Wendt erzählt in einem Dokumentarfilm von ihren Wurzeln zwischen Brandenburg und Mosambik. Foto Costa Compagnie

geförderten

Doppelpass-Projekts

„Fight (for) Independence“ mit politischen Un-

den, wo Wendt Ensemblemitglied ist.


magazin

/ TdZ  September 2020  /

Alternativ wurde ein Dokumentarfilm ins Netz

nicht kommentierend, nie moralisierend ein-

der, dass sie nicht als Deutsche wahrgenom-

gestellt, der deutlich macht, dass nationale Se-

gegriffen. Die O-Töne der Zeitzeugen stehen

men wird: „Rassismus ist für mich, wenn ich

zessionsprozesse und persönliche Emanzipati-

für sich. Sie werden mit Wendts empathischer

mehr akzeptiert werde, wenn ich einen weißen

onen nicht nur Freiheit von etwas erreichen

Stimme nur ab und an ergänzt um Hinter-

Freund oder meine weiße Mutter dabeihabe.“

wollen, sondern auch Freiheit zu etwas. Die

grundinfos. Denn neben der gezeigten Begeis-

Nachdem Wendt sich lange Zeit als weiß wahr-

Suche nach Autonomie ist immer auch eine

terung der revolutionären Subjekte muss bei-

genommen hat, als in einer weißen Gesell-

nach Verwurzelungen. Es sei der Kampf um

spielsweise auch erzählt werden, dass gleich

schaft aufgewachsene Deutsche, nimmt sie

eine Geschichte, um Identität, wie Wendt sagt,

nach der Unabhängigkeit Mosambiks die Be-

sich nach der Auseinandersetzung mit ihrer

die im Film ihre private Unabhängigkeitsbewe-

freiungsbewegung Frelimo, die als Staatspar-

mosambikanischen Familiengeschichte „mehr

gung als Tochter einer Brandenburgerin und

tei bis heute regiert, 16 Jahre lang Krieg führte

als schwarz wahr“ und sagt: „Ich bin verun­

eines Mosambikaners thematisiert.

gegen die antikommunistische Guerilla Rena-

sichert und schäme mich ein bisschen, dass

1985 wurde Helen Wendt in Leipzig

mo, die von den Apartheidsregimen in Rhode-

mir das nicht vorher aufgefallen ist.“ Schnitt.

geboren. Drei Jahre später floh die Mutter mit

sien und Südafrika sowie den Vereinigten

Eine Black-Lives-Matter-Demo in Berlin kommt

ihr aus der DDR nach West-Berlin, die Bezie-

Staaten mitfinanziert wurde. Aufgrund solcher

ins Bild. Auch ein Kampf um Souveränität.

hung zum Vater bestand aus Kurzbesuchen.

Erfahrungen resümiert eine Aktivistin, Unab-

Es ist beeindruckend, wie dem Film die-

Er war einer von Zehntausenden Mosambika-

hängigkeit müsse mehr bedeuten „als nur un-

se Brückenschläge gelingen – vom vielstimmig

nern, die im sozialistischen Bruderland als

abhängig von der kolonialen Vergangenheit

widersprüchlichen Polit-Panorama der Separa-

billige Arbeiter oder Studenten kurz gastieren

oder einem großen Investor zu sein, es sollte

tisten zur bikulturellen Selbstfindung; von der

durften, um ihr erlerntes Know-how anschlie-

darum gehen, unter Menschen leben zu kön-

Kolonialgeschichte bis zum aktuellen Diskurs

ßend daheim einzubringen. Mosambik wurde

nen und jeden so zu respektieren, wie er ist.“

über Alltagsrassismus. Und vom Freiheitsdurst

1975 unabhängig – nach fast 500 Jahren

Was Wendt tatsächlich erlebt: Sie fla-

zum Bewusstsein, dass Unabhängigkeit nicht

portugiesischen Kolonialterrors. In das ost­

niert über die Märkte und durch die Straßen

allein Sinn stiftet, „Fight (for) Independence“

afrikanische Land reisten die Theater­macher

der Hauptstadt Mosambiks, kennt keinen, wird

aber Lebenselixier ist. //

als Filmteam und fanden jeweils sehr poin-

aber – so erzählt sie – häufig angesprochen,

tiert argumentierende Gesprächspartner.

„als wäre ich Mosambikanerin“. Beeindru-

Jens Fischer

Auf der Musikspur wird zart Atmosphäre

ckende Erlebnisse; schließlich passiert es ihr

Theater der Zeit ist Medienpartner

akzentuiert, aus dem Off erfreulicherweise

in ihrer ersten Heimat Deutschland immer wie-

des flausen+Banden-Festivals.

Jahre

Hamburger Kammerspiele

S E I T

1 9 4 5

www.hamburger-kammersp iele.de

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THEATER NEU ERLEBEN AUS DISTANZ GANZ NAH SCHAUSPIEL-PREMIEREN

VON SEPTEMBER BIS DEZEMBER 2020 NORA_SPIELEN! Schauspiel von Henrik Ibsen Premiere: Samstag, 5. September 2020 Inszenierung: Schirin Khodadian GLÜCK. EIN ABEND MIT SIEBEN GEWINNERN UND DEN BESTEN MOMENTEN IN ZEITLUPE Eine revueartige Glücksjagd Uraufführung: Samstag, 12. September 2020 Inszenierung: Bettina Bruinier DIE POLITIKER Sprechtext von Wolfram Lotz Premiere: Freitag, 18. September 2020 Inszenierung: Mark Reisig TRÜFFEL TRÜFFEL TRÜFFEL Lustspiel von Eugène Labiche Premiere: Samstag, 19. September 2020 Inszenierung: Julia Prechsl GESPRÄCH MIT EINER STRIPPERIN Schauspiel von Jakob Nolte Uraufführung: Freitag, 2. Oktober 2020 Inszenierung: Miriam Lustig EINE KURZE CHRONIK DES KÜNFTIGEN CHINA Schauspiel von Pat To Yan Europäische Erstaufführung: Freitag, 6. November 2020 Inszenierung: Moritz Schönecker

SPIE L 202 ZEIT 0|2 1

DONKEY, DER SCHOTTE UND DAS PFERD, DAS SICH ROSI NANNTE Familienstück von M. Bieri und A. von Graffenried frei nach M. de Cervantes Deutsche Erstaufführung: Sonntag, 8. November 2020 Inszenierung: Bettina Bruinier 14. FESTIVAL PRIMEURS Frankophone Gegenwartsdramatik – Écriture dramatique contemporaine 18.–21. November 2020 Erstmals mit französischer Live-Übersetzung! www.festival-primeurs.eu KARTENVORVERKAUF AB 24. AUGUST 2020 TELEFON +49 (0)681 3092-486

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Generalintendant Bodo Busse Schauspieldirektorin Bettina Bruinier Chefdramaturg u. Künstlerischer Leiter Schauspiel Horst Busch Künstlerische Leitung sparte4 Luca Pauer, Thorsten Köhler www.staatstheater.saarland

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Will kommen

PREMIEREN 2020/2021

REIMT SICH AUF HYÄNE / DIE VERWANDLUNG DIE ENDLICHE UNGENach Franz Kafka Regie: Juliane Kann SCHICHTE I-XVII (UA)

Lothar Kittstein / Stefan Hornbach Regie: Swaantje Lena Kleff 6.9.2020 Alte Feuerwache Koproduktion mit dem Kunstfest Weimar

SENSEMANN & SÖHNE (UA)

Jan Neumann und Ensemble 26.9.2020 e-werk weimar Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz

Anders wo www.willkommenanderswo.com

CABARET

Buch von Joe Masteroff, Musik von John Kander, Gesangstexte von Fred Ebb Musikalische Leitung: Dominik Beykirch Regie: Nurkan Erpulat 3.10.2020 Großes Haus

ICH LIEBE DIR (UA)

Dirk Laucke Szenische Einrichtung: Beate Seidel 28.10.2020 Studiobühne

DIE EHE DER MARIA BRAUN

Festival für Partizipatives Theater am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen

Drehbuch von Peter Märthesheimer und Pea Fröhlich Nach einer Vorlage von Rainer Werner Fassbinder Regie: Hasko Weber 31.10.2020 Großes Haus

24.11.2020 Studiobühne

AM BODEN

George Brant Szenische Einrichtung: Sebastian Kowski 28.11.2020 Studiobühne

BUDDENBROOKS

Verfall einer Familie Nach Thomas Mann Regie: Christian Weise 30.1.2021 Großes Haus

DRAUSSEN VOR DER TÜR

Wolfgang Borchert Regie: Marcel Kohler 6.2.2021 e-werk weimar

DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA

Ulrich Plenzdorf Regie: Brigitte Dethier 16.4.2021 Großes Haus

VOR SONNENAUFGANG

Ewald Palmetshofer Regie: Stephan Rottkamp 22.4.2021 e-werk weimar

MONGOS

Sergej Gößner Regie: Bastian Heidenreich 28.4.2021 Studiobühne Kooperation mit dem Theater Erfurt

fb: thespiszentrum insta: thespis_zentrum Gefördert durch

Design: Studio Pandan

WIE ES EUCH GEFÄLLT

William Shakespeare Open-Air-Sommertheater Regie: Christian Weise 18.6 –16.7.2021 am e-werk weimar

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magazin

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Frivol und moralisch „Faust“ als Puppenspiel – ein Gastspiel des Hermannshoftheaters Wümme auf Hiddensee Die beiden jungen Männer

sen die jungen Zuschaue-

sehen aus, als seien sie gera-

rinnen in der ersten Reihe

de vom Strand gekommen,

vielleicht noch nicht. Bis

noch barfuß. Unbedingt wol-

eben waren sie noch ganz

len sie diese „Faust“-Insze-

amüsiert,

nierung sehen, aber die Vor-

mucksmäuschenstill. Das ist

stellung ist ausverkauft, wie

die Kunst von Antje König.

alle Abende des Gastspiels.

In Sekundenschnelle ver-

Antje König, die Puppen-

wandelt sie sich mit Stim-

spielerin vom Hermannshof-

me, Gestik, Mimik in die so

theater Wümme, ist hier

gegensätzlichen Figuren des

schon einmal bejubelt wor-

Stücks. Sie ist frivol und

den. Die jungen Männer ver-

moralisch, skrupellos und

treiben sich die Zeit mit

zärtlich. Und damit die

­Mückenklatschen und haben

Sache nicht zu besinnlich ­

schließlich Glück: Eine nicht

wird, hat Karl Huck ihr ein

abgeholte Reservierung –

Zwischenspiel

und zwei Klappstühle sind

Gretchen als ältere Varieté-

ihre.

tänzerin, die sich von MeKarl Huck, der Haus-

jetzt

sie

eingebaut:

phisto bezahlen lässt. Ein anderes

zweiten Spielstätte der See­

Dank Zaubertrank verjüngt und frisch rasiert – Auch in Karl Hucks PuppenspielVersion des Goethe-Klassikers auf der Insel Hiddensee becirct Faust Gretchen.

bühne Hiddensee, ist auch

Foto Sergey Panteleev

nenapplaus.

herr des Homunkulus, einer

sind

der Regisseur des Abends.

Überlebensmittel

ist ihr nicht geblieben. SzeViele Orte, Konflikte,

Seit Langem arbeitet er mit

Personen in achtzig Minu-

dem Hermannshoftheater zusammen. Er be-

Und schon windet sich Gretchen aus dem

ten; viele pfiffige Ideen. Gretchens Albträume

grüßt im Publikum seinen Studienfreund Jörg

Bett, zieht sich eine taillierte Uniformjacke

scheppern als akustisches Stimmengewirr

Schüttauf und überprüft die Abstände des

an und setzt die Mephisto-Kappe auf. Auch

über die Bühne, als würde man im Radio den

locker bestuhlten Raums, in dem vor Corona

mit Mephisto wird Antje König eins. Sie

Sendersuchlauf aktivieren. Fausts Sehnsüchte

hundert Gäste Platz gefunden haben, heute

spricht und spielt und bewegt die purpur-

erscheinen im Fensterrahmen als barbusiges

nur 24.

prächtig kostümierte Figur. Man meint, ihr

Frauengemälde wie ein Pin-up im aufspringen-

Antje König hat bisher erst einige weni-

hämisches Kichern im Minenspiel der Puppe

den Spind. Dass jede einzelne Figur nicht nur

ge Vorstellungen dieses „Faust“ gespielt. Dass

zu sehen, wenn sie Faust überredet, seine

gut oder böse ist, nicht nur arglos oder ver-

der Lockdown auch sie zum Pausieren ge-

Seele zu verkaufen. Faust, der frustrierte Wis-

schlagen – das will diese Inszenierung zeigen.

zwungen hat, ist ihr nicht anzumerken. In tau-

senschaftler, ist emotional und sexuell ausge-

Und es gelingt besonders gut vor einem gemal-

benblaue Laken gehüllt, liegt sie im Bett. Ganz

hungert. Wenn er doch nur einmal einen be-

ten Gartenprospekt. Gretchens Nachbarin

jung sieht sie aus, wenn sie als Gretchen ver-

rückenden, beglückenden Moment erleben

Marthe, eben noch traurige Witwe, versucht,

sonnen das Lied von der Ratte singt, der es

und sagen könnte: „Verweile doch, du bist so

Mephisto zu verführen. Sie fährt sich kokett

eng wurde in der Welt, „als hätt’ sie Lieb’ im

schön“! Mephisto kann das arrangieren. Er

ins schwingende Puppenhaar, und der verloge-

Leibe“. Im Arm hält sie ihre Puppe, ihr Gret-

verabreicht einen Verjüngungstrank, und

ne Mephisto beginnt vor Schreck zu stottern.

chen, und gleich im ersten Bild deutet sich an,

schon erinnert die „Faust“-Puppe nicht mehr

„Das gucke ich mir glatt noch mal an“,

wie die Schauspielerin, die Puppenspielerin

an den bärtigen Sigmund Freud, sondern –

flüstert eine Zuschauerin, als Gretchen wieder

und die Puppe zusammenwachsen werden.

frisch rasiert – an einen aufgekratzten, lie-

das Lied von der Ratte summt. Antje König

beshungrigen,

unterbricht den lang anhaltenden Schluss­

In Goethes Text kommt das Lied an anderer Stelle vor, bei den feiernden Studenten in

gleichwohl

verunsicherten

Mann in mittleren Jahren.

applaus, um eine Zusatzvorstellung anzukün-

Auerbachs Keller. Hier schafft es Ruhe und

Dass er Gretchen für eine Liebesnacht

digen. Sie hätte den Beifall auskosten sollen:

Konzentration im Publikum: eine elegante Re-

gewinnen kann, dass sie schwanger wird und

Der Termin hätte sich sofort auf der Insel her-

gie-Idee, die sich durch die Inszenierung zieht.

panisch ihr Neugeborenes ertränkt – das wis-

umgesprochen. //

Claudia Ingenhoven


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Spielzeit 2020|2021

SCHAUSPIEL

Fr. 11. 9. 2020

REGIE MANUEL CZERNY

CAROLIN MILLNER

Fr. 25. 9. 2020

DER MENSCHENFEIND MOLIÈRE

Premiere

U ra u ff ü h r u n g

EIN ABEND FÜR GUNDERMANN

TOD DER TREUHAND

U ra u ff ü h r u n g

ICH MACHE MEINEN FRIEDEN

REGIE CAROLIN MILLNER

Sa. 26. 9. 2020

REGIE ELISABETH GABRIEL

SCHAUSPIELHAUS Otto-von-Guericke-Str. 64, 39104 Magdeburg | Karten unter (0391) 40 490 490 | www.theater-magdeburg.de


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Angewandtes Musik-Bauhaus „Audio.Space.Machine – Ein Bauhaus-Konzept-Album“ vom Künstlerduo wittmann/zeitblom erhält den Hörspielpreis der Kriegsblinden 2020

Zum Jubiläumsjahr 2019 entwickelten die

haben dafür selbst entsprechende Musiken

den nach rechts abgedrifteten Gatten Jochen

beiden Performance-Künstler und Hörspiel-

komponiert, mit Anleihen bei Kraftwerk oder

„umzuerziehen“. In der Regie von Stefan Kanis

macher

Christian

Georg

den Knisterrhythmen der heutigen Laptop-

klingt die Erzählung sehr mentalitätsgenau

Zeitblom ­

eine

Aufarbeitung

Szene, gleichsam als angewandtes Musik-

samt sächsischem Dialekt – und stellt alle

der Bauhaus-Geschichte. Schon der Titel

Bauhaus. Diese akustisch raffiniert wirkende

drängenden Fragen. Böhme setzt damit seine

„Audio.Space.Machine – Ein Bauhaus-Kon-

Form der verspielten Essay-Montage stand im

Serie von Hörspielen zu ostdeutschen Befind-

zeptalbum“ (Deutschlandfunk Kultur) ver-

Wettbewerb der neuesten Arbeit von Altmeis-

lichkeiten fort, zu der – gleichfalls vom MDR

spricht eine Unternehmung abseits der gängi-

ter Alexander Kluge nahe: „Das neue Alpha-

produziert – auch „Der Kormoran“ (2013)

gen Feature-Formate oder Hör-Dokus.

bet“ (Bayerischer Rundfunk) ist ein in hun-

und „Manitu“ (2017) gehören: sozialpsycho-

Tatsächlich handelt es sich bei dem

dert Minuten weit ausgreifendes, von Kluge

logische Erkundungen mit ernstem Witz.

Projekt, das dieses Jahr mit dem Hörspiel-

selbst so genanntes „Denkprotokoll“. Nach

Ganz am Anfang seiner Karriere und be-

preis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde,

den dokumentarischen und postdramati-

reits einige Jahre vor seinem 2014 uraufge-

um ein hybrides Gebilde: eine Art Essay-Mon-

schen Prägungen des neuen Hörspiels schei-

führten Erfolgsstück „Die lächerliche Finster-

tage mit erzählenden Passagen, Kommenta-

nen sich nun verstärkt seine experimentell-

nis“ schrieb Wolfram Lotz das Hörspiel „Das

ren und O-Tönen, bei denen die Bauhaus-

essayistischen Formen auszubilden.

Ende von Iflingen“, das im vergangenen Jahr

Wittmann akustische

und

Gründer Walter Gropius, László Moholy-Nagy,

Das erzählende Hörspiel wird davon

schließlich vom SWR produziert wurde und

Johannes Itten und Oskar Schlemmer zu Wort

freilich nicht verdrängt und bleibt die Domäne

ebenfalls unter die letzten drei Preisanwärter

kommen. Im Kern wird damit vor allem ver-

der produzierenden Sender in ARD, ORF und

kam. In der Endzeitparabel bricht der Erzengel

mittelt, dass es das eine Bauhaus-Konzept

dem Schweizer Rundfunk, die stets die zwei

Michael zu besagtem Ort auf, um die Men-

als streng definierte Moderne gar nicht gab,

Dutzend Produktionen für diesen Wettbewerb

schen zu richten. Doch die sind, wie nach einer

sondern die Ästhetik vielmehr im Widerstreit

selbst auswählen und einreichen. Vom Mittel-

rätselhaften Katastrophe, schon verschwun-

der Positionen (und auch Eitelkeiten) ständig

deutschen Rundfunk kam die Radiokomödie

den; der biblische Rächer findet nur noch spre-

im Fluss war. Mit diesem steten Wandel – bis

„Die Entgiftung des Mannes“ von Holger Böh-

chende Tiere vor. Der Text wurde inzwischen

hin zu den wenig bekannten Aneignungen im

me unter die letzten drei Kandidaten vor der

von Jan Bosse in Wien auch fürs Theater adap-

Nationalsozialismus oder der schlicht kom-

Endabstimmung. Sie schildert mit wachem

tiert und dürfte sich jetzt mit neuen Assoziatio-

merzialisierten Trivialisierung bei IKEA – wird

Gespür für die Gegenwart die Geschichte von

nen erleben lassen – als verlockende Finsternis

spielerisch und ironisch der Mythos Bauhaus,

Steffi und Isa, die sich einst bei den Dresdner

im Hörspiel. //

wie er gerade in mehreren Ausstellungen ge-

Montagsdemos 1989 kennenlernten und nun

feiert wurde, zerlegt und – das ist das Er-

wieder treffen, als Steffi Pegida-Plakate für

Der Autor ist Mitglied der Jury. Die im Preisstatut

staunliche – dabei wieder aufgefrischt.

ihren Mann bei Isas Werbeagentur drucken

vorgeschriebene Diskussion zum Wettbewerb fand

Die Autoren, die seit rund zwanzig Jah-

lassen will. Die beiden (exzellent: Carina Wie-

als Telefonkonferenz mit anschließender Online-

ren als Duo wittmann/zeitblom bekannt sind,

se und Anja Schneider) fassen einen Plan,

Abstimmung statt.

Thomas Irmer


magazin

/ TdZ  September 2020  /

Rühr mich nicht an Der Autor Navid Kermani und der Politologe Claus Leggewie diskutieren im Apollo-Theater Siegen über Zeiten des Ausnahmezustands

Fünf Theaterabende, die man nicht alle Tage

Krebstod. Zum Thema Liebe gab es aus Ker-

erlebt: Der Intendant des Apollo-Theaters in

manis Bildinterpretationen einen Ausschnitt

Siegen, Magnus Reitschuster, hatte aus der

zu El Grecos „Der Abschied Christi von seiner

pandemiebedingt verordneten Leere seines

Mutter“, deren liebendem Abschied alles Müt-

Spielortes eine Tugend gemacht – er streamte

terliche fehlt, sowie einen Verweis auf Heinrich

nicht, sondern rief nach den ersten Lockerun-

von Kleists „Penthesilea“, in der die Liebende

gen Anfang Juni ein Festival der Abstände aus,

den Geliebten wortwörtlich verschlingt. Von

mit Gastspielen des Deutschen Theaters Ber-

Liebe zu Hass war es da nicht weit, aber die im

lin und des Berliner Ensembles sowie Kam-

freien Gespräch behandelten Beispiele hatten

merkonzerten der Südwestfälischen Philhar-

weniger den Hass als Wut, Zorn oder Ressen­

monie. Eröffnet wurde die Reihe durch den in

timent zum Gegenstand. Zum Thema Gewalt

Siegen geborenen Navid Kermani gemeinsam

lenkte Leggewie mit dem Gemälde „Susanna

mit dem Politologen Claus Leggewie unter

im Bade“ der frühfeministischen Malerin Arte-

dem Zeitthema „Ausnahmezustand“. Die von

misia Gentileschi den Fokus auf das Thema

Kermani ausgewählte Themenpalette war so

„häusliche Gewalt“, die im Lockdown offenbar

ernst wie breit: „Berührungen“, „Geburt und

zugenommen hat.

Tod“, „Liebe und Hass“, „Gewalt und Flucht“,

Hin und wieder verliefen sich die bei-

„Schönheit und Verzückung“, dennoch blieb

den in ihren anderthalbstündigen, ansonsten

genügend Raum für spontane Geistesblitze,

enorm intensiven und fast druckreifen Dialo-

Humor und Abschweifungen. Kermani las Ab-

gen, kamen aber zum Abschluss beim Thema

schnitte aus seinen Büchern, Leggewie kom-

Schönheit anhand der von ihnen gezeigten

mentierte und führte die Themen weiter.

Bilder auf ethische Fragen etwa des Reporta-

Das C-Wort, das derzeit jedes Gespräch dominiert und Theater, wie man es kannte, verhindert, wurde weitgehend vermieden. Ganz vorsichtig bestiegen die beiden am ersten Abend die Bühne vor dem eisernen Vor-

Gefahrvolle Nähe – Das Gemälde „Susanna im Bade“ der Barockmalerin Artemisia Gentileschi verweist auf die Gewalterfahrun­ gen im Lockdown. Foto Wikipedia Commons/ Artemisia Gentileschi/Public domain

ge- und Bildjournalismus, der über Grauenhaftes berichtet und die Leiden anderer oft in trügerischer Schönheit vorführt. Darf man das? Ja, sagten beide, die Bürgerkriegsgebiete bereist haben, zumal heute auch Reporter nicht mehr reisen dürfen und die grausame

hang und schauten in einen spärlich besetzten, halb erleuchteten Zuschauerraum, in

geht. Liebe, dass er fortgeht“. Ein kühner Bo-

Welt noch weiter wegrückt. Und wer Flüch-

dem Berührungen durch Abstandsgebote fast

gen führte zur „Proxemik“, den von der Sozial­

tenden nicht hilft, tut nicht nur ihnen, son-

unmöglich waren. Kermani las eine Geschichte

anthropologie notierten, kulturell variablen

dern auch der eigenen Person Gewalt an.

aus „Du sollst“, in der ein Liebender seiner

Regelungen von Nähe und Distanz im Alltags-

„Theater, Konzerte, Ballett, Opern,

Geliebten das Versprechen abnimmt, niemals

leben, die gerade durcheinandergeraten. „Mit

Ausstellungen, auch Lesungen sind nicht ein-

von Liebe zu sprechen. Leggewie verwies auf

welchen Langzeitfolgen?“, fragte Leggewie.

fach nur Deklamationen“, erklärte Kermani

Gemälde von Giotto bis Claude Lorrain, die

Am nächsten Abend las Kermani aus

am letzten Abend. „Noch die hermetischsten

Bezug nehmen auf eine Geschichte aus dem

„Dein Name“ den Abschnitt über die Geburt

Aufführungen nehmen die Reaktionen des

Johannesevangelium, die von der Begegnung

eines Frühchens kurz nach dem Tod einer

Publikums auf, sind ein Wechselspiel von

des noch nicht auferstandenen Jesus mit Maria

Freundin. Beider greisenhaft wirkende Gesich-

Spieler und Zuschauer und verändern sich

Magdalena vor der leeren Grabkammer er-

ter zeigen, wie nah Pränatal- und Palliativstati-

daher mit jeder Aufführung. Und Kunst, zu-

zählt, deren Berührungsversuch er mit einem

on beieinanderliegen können und welchen

mal darbietende Kunst, ist nicht nur Inhalt,

vielsagenden „Noli me tangere“ abwehrte –

seelischen Aufruhr Geburt und Tod erzeugen.

sie ist Aura, Geruch, Publikum, Freiheit des

rühr mich nicht an, halt mich nicht fest. Die-

Leggewie baute eine Brücke erst zu Hannah

umherschweifenden Blicks, Lichtstimmung,

ses durch ein raffiniertes Spiel der Hände

Arendts bei Augustinus entlehnter Idee der

guter Klang, Nähe und Ferne.“ Auch Vorstel-

bekräftigte Berührungsverbot interpretiert der

„Natalität“, dem Anfangenkönnen des Men-

lungen, die ausfallen, können große Theater-

französische Philosoph Jean-Luc Nancy so:

schen, und zu Cory Taylors nüchtern-bewegen-

abende ergeben. //

„Liebe, was dir entkommt, liebe den, der fort-

dem Report „Dying. A Memoir“ über ihren

Petrus Textor

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HELDEN*/HELDINNEN* Eine theatrale Stadtraumbespielung

EVENT

von John Clancy I: Peter Kesten

DIENSTAGS BEI KAUFLAND von Emmanuel Darley I: Kathrin Mädler

IN DER DÄMMERUNG (DSE) von Zinnie Harris I: Ingrid Gündisch

DON QUIJOTE

nach Miguel de Cervantes I: Anne Verena Freybott

THE EXITEERS (UA)

von Maya Arad Yasur I: Sapir Heller

BILDER DEINER GROSSEN LIEBE nach Wolfgang Herrndorf I: Maike Bouschen

DIE FÜSSE IM FEUER (UA) Balladen & Songs I: Kathrin Mädler

LÜGNERIN (UA)

nach Ayelet Gundar-Goshen I: Niko Elefetheriadis

SZENEN EINER EHE

nach Ingmar Bergman I: Max Claessen

DIE KUNST DER KOMÖDIE von Eduardo de Filippo I: Oliver D. Endreß

LAMPEDUSA

von Anders Lustgarten I: Magdalena Schönfeld

IN EINEM TIEFEN DUNKLEN WALD Familienstück nach Paul Maar I: Julia Dina Heße

IPHIGENIE AUF TAURIS

von Johann Wolfgang von Goethe I: Gregor Tureček

DIE LABORANTIN

von Ella Road I: Robert Teufel

37. Bayerische Theatertage vom 12. bis 23. Mai 2021

Spielzeit 2020/21 GROSSES HAUS

»(R)Evolution – Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert«, von Yael Ronen und Dimitrij Schad, Regie: Servé Hermans – 25.9.2020 »Der Schneesturm«, von Vladimir Sorokin, Regie: Mareike Mikat – 24.10.2020 »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«,

von Václav Vorlíček und František Pavlíček, Fassung Henner Kallmeyer, Wintermärchen (6+), Regie: Marcelo Diaz, – 22.11.2020 »Die Nashörner«, von Eugène Ionesco, Regie: Claus Peymann – Februar 2021 »Max und Moritz«, Stückentwicklung, Regie: Ekat Cordes, Musikalische Leitung: Tobias Hofmann – Februar 2021 »Hedwig and the Angry Inch«, von Stephen Trask und John Cameron Mitchell, Regie: Philipp Moschitz – März 2021 »Vor Sonnenaufgang«, von Ewald Palmetshofer, Regie: Jochen Schölch – April 2021

KLEINES HAUS

»Amsterdam«, von Maya Arad Yasur, Regie: Mona-Julia Sabaschus – 26.11.2020 »Geschlossene Gesellschaft«, von Jean-Paul Sartre, Regie: Schirin Khodadadian – Februar 2021 »Tyll«, nach dem Roman von Daniel Kehlmann, Regie: Alexander Nerlich – März 2021

TURM BAUR

»Die Konferenz der Vögel«, nach Farid Uddin Attar, Regie: Knut Weber – 19.9.2020 »Soul Kitchen«, von Fatih Akin, Mitarbeit: Adam Bousdoukos, Regie: Tobias Hofmann – Juni 2021

JUNGES THEATER

»Hab dich mal nicht so!«, (Arbeitstitel) Rechercheprojekt

zwischen physical distancing und social solidarity (14+), Regie: Ulrike Günther – 3.10.2020 »Der schaurige Schusch«, von Charlotte Habersack (3+), Regie: Katharina Wüstling – 24.10.2020 »Die Sprache des Wassers«, von Sarah Crossan (11+), Regie: Mia Constantine – Dezember 2020 »All das Schöne«, von Duncan Macmillan (15+), Regie: Johanna Landsberg – Januar 2021 »Ein Freund wie kein anderer«, (Uraufführung) von Oliver Scherz (5+), Regie: Martina van Boxen – Februar 2021

»Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin«,

von Roland Schimmelpfennig nach Hans Christian Andersen (8+), Regie: Julia Mayr – April 2021

Stadttheater Ingolstadt


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Der Kritiker und sein Lieblingsautor – Eric Bentley (r.) mit Bertolt Brecht, der ihm die Einführung seines Werks in die Vereinigten Staaten verdankt. Foto Akademie der Künste, Berlin, Brecht-Fotoarchiv, 08/211, Foto Ruth Berlau

dessen Inhalte und Techniken deutlich an das deutsche Vorbild erinnern, ist nicht verwunderlich. Das Stück „Are You Now or Have You Ever Been: The Investigation of Show Business by the Un-American Activities Committee 1947–1958“ aus dem Jahr 1972 handelt von den Aktivitäten des besagten notorischen Komitees, dessen paranoide Untersuchungen gegen Brecht 1947 ein berühmter Teil seiner politischen Geschichte wurden. 1973 folgte „The Recantation of

Galilei in Amerika Zum Tod des Theaterwissenschaftlers und Brecht-Experten Eric Bentley

Galileo Galilei: Scenes from a History Perhaps“ – ein deutlich von Brechts berühmtem Galilei-Stück inspirierter Text. Während der 1970er Jahre trennte sich Bentley von seiner zweiten Frau und lebte offen als Homosexueller: eine Entscheidung, ­ die er als Dramatiker nicht nur in seinem Stück „Lord Alfred’s Lover” (1979) über Oscar Wilde reflektierte, sondern in einer ganzen ­

Am 5. August 2020 ist Eric Bentley, einer der

war außerdem Gastprofessor unter anderem

Reihe von Texten zum Thema Homosexualität

bedeutendsten amerikanischen Theaterwis-

an der Harvard University.

ver­arbeitete wie etwa „The Kleist Variations“

senschaftler und Theaterkritiker, der selbst

Eric Bentley war in seiner langen Karri-

(1982) oder „La Ronde“, einer Bearbeitung

auch Stücke schrieb, 103-jährig zu Hause in

ere besonders dem modernen europäischen

von Arthur Schnitzlers zynischer Komödie

Manhattan gestorben. In Bolton, England ge-

Drama zugeneigt; speziell Autoren mit starker

„Der Reigen“ aus dem Jahr 1990.

bürtig, erwarb er 1938 in Oxford den Bache-

politischer oder didaktischer Tendenz wie

Bentleys weit verbreitete und einfluss-

lor in Geschichte, emigrierte bald danach in

eben Shaw. Daher überrascht es nicht, dass

reiche Bücher, seine zahlreichen Übersetzun-

die Vereinigten Staaten und wurde dort 1948

schließlich Bertolt Brecht zu seinem favori-

gen moderner europäischer Dramatik und seine

Staatsbürger. Bereits zwei Jahre zuvor hatte

sierten Künstler – und zu seinem Vorbild –

Einführung Brechts in die Vereinigten Staaten

sich Bentley mit der Veröffentlichung seiner

wurde. Bentley gilt als führender Brecht-Ex-

sichern ihm einen wichtigen Platz in der ame­

Essaysammlung „The Playwright as Thinker“

perte in den Vereinigten Staaten, ihm ist die

rikanischen Theatergeschichte des späten 20.

einen Ruf als bedeutender Dramenkritiker er-

Einführung von dessen Werk ins amerikani-

Jahrhunderts. Dass seinen Stücken trotz nobler

worben. 1947 erschien „Bernard Shaw“ –

sche Theater zu verdanken.

Absicht und solider Kenntnis dramatischer und

von Shaw selbst als das beste Buch schlecht-

Es war zweifellos auch Bentleys le-

dramaturgischer Strukturen bis jetzt keine ver-

hin über ihn gepriesen. Es folgten weitere

benslanges Interesse an politisch engagierten

gleichbare Wertschätzung zuteilwurde, be-

einflussreiche Publikationen wie „In Search

Dramatikern, das ihn zur Beteiligung an der

schäftigte Bentley in seinen letzten Jahren

of Theatre“ (1953), „What is Theatre“ (1956)

Antikriegsbewegung der 1960er Jahre führte.

sehr: Er wäre lieber als Stückeschreiber denn

oder „The Life of the Drama“ (1964).

1969 gründete er unter dem Namen DMZ

als Kritiker berühmt geworden. Tatsächlich war

1952 wurde Eric Bentley Theaterkriti-

(Demilitarisierte Zone) ein politisches Kaba-

von ihm der Ausspruch bekannt, er hätte bes-

ker bei der Zeitschrift The New Republic so-

rett deutschen Stils, für das er Songs, Verse

ser ausschließlich Dramen verfasst, um nur als

wie Dozent für dramatische Literatur an der

und Parodien schrieb. Von da an ließ Bentley

Dramatiker in Erinnerung zu bleiben.

Columbia University und im Jahr darauf Pro-

die Rolle des Professors und Kritikers immer

Die zahllosen Theaterstudenten, deren

fessor für den Brander-Matthews-Lehrstuhl,

mehr hinter sich und konzentrierte sich auf

Horizont er enorm erweiterte, können – mich

der als eine der angesehensten Positionen im

das Stückeschreiben. Schon früh als führen-

selbst eingeschlossen – für seine Beiträge in

amerikanischen Theaterbetrieb gilt. Bis zu

der Übersetzer von Brechts Werken ins

beiden Bereichen nur dankbar sein. //

seiner Emeritierung 1969 verfasste Bentley

­Englische anerkannt, stürzte er sich nach der

Essays für führende Journale und Zeitungen

Emeritierung von der Columbia University in

in den Vereinigten Staaten und England und

sein eigenes dramatisches Schaffen. Dass

Marvin Carlson Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett.

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DDR-Endzeit-Stimmung – Christine Stromberg mit Wolfgang Utzt und Heiner Müller (v. l.) auf einer Probe zu Müllers „Hamlet/Maschine“ 1989. Foto Nachlass Christine Stromberg – Stadtmuseum Berlin

ren kostümliche Betreuung auch zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, einen Auftritt des Leipziger Thomanerchores und sah, wie dessen Burschen in kratzigen synthetische Rollkragenpullis, Dederonwesten und Plasteschuhen schwitzten. „Nee, Kinder, so können wir unsere Thomaner unmöglich in die Welt schicken“, sprach die Meisterin und entwarf die

Listige Renaissancen Ein Nachruf auf die Kostümbildnerin Christine Stromberg

bis heute aktuelle „Stromberg-Bluse“, einen verfremdeten Matrosenanzug mit markanten weißen Winkelstreifen im Fünfeck. Ein anderes Blauhemd, sozusagen die listige Renaissance des unter den Nazis und in der DDR als Ausgehkleidung bürgerlicher Knaben verpönten Relikts aus wilhelminischen Zeiten. Die Arbeitsbeziehung mit dem Deutschen Theater war besonders intensiv. In der

Am 17. Juni dieses Jahres starb die Kostüm-

hatte dort eine Buch- und Kunsthandelslehre

Endphase der DDR entwarf Christine Strom-

bildnerin Christine Stromberg nach kurzer

begonnen. Zu Ende brachte sie sie – wie auch

berg die Kostüme für die berühmten Heiner-

schwerer Krankheit. Die letzten Lebensjahre

ein anschließendes Malerei- und Bildhauerei-

Müller-Inszenierungen

und allerletzten Daseinsaugenblicke ver-

studium – nicht. „Ich hatte für einen Fa-

und „Hamlet/Maschine“.

brachte sie im Haus der Familie ihres Sohnes.

sching eine Wand gestaltet“, erzählte sie ein-

Ich selbst war zu dieser Zeit Schau-

Geboren wurde sie 1928 in Bydgoszcz,

mal. „Ein Professor meinte daraufhin, ich

spielstudent an der Ernst-Busch-Hochschule

dem damaligen Bromberg, als zweites von vier

hätte eine große dekorative Begabung, ob ich

und besuchte meine Tante Christa, die sie auf

Kindern des theaterbegeisterten Studienrates

nicht ans Theater wolle. Ich wollte schon,

herzlichste Weise ebenfalls war, manchmal.

Kurt Skonietzki und seiner Ehefrau Johanna.

wusste aber, unbedarft wie ich war, gar nicht,

Ihre Torten und Kuchen fand ich ähnlich ge-

was es für Berufe hinter den Kulissen gab.“

nial wie ihre Kostüme. Und während sie den

Mit Christine Stromberg ist eine der

„Der

Lohndrücker“

ganz Großen ihres Faches von uns gegangen.

Zum Theater wollte sie also – heiraten

Haushalt für „ihre Männer“ schmiss, fiel ihr

Und sie hat ihrerseits mit den ganz Großen

hingegen nicht. Als der Architekturstudent

auf, wie rot die Hände dabei werden konnten.

der Theaterwelt zusammengearbeitet: mit

Friedrich Stromberg, einer der späteren Mit-

Am nächsten Tag berichtete sie ihrem Mas-

Bertolt Brecht und Helene Weigel, mit Dmitri

erbauer des Berliner Fernsehturms, sie frag-

kenbildkollegen Wolfgang Utzt davon, dem

Schostakowitsch und Paul Dessau, mit Wolf-

te, ob sie seine Frau werden wolle, lehnte sie

daraufhin die Eingebung für die „roten Hän-

gang und Thomas Langhoff, mit Heiner Mül-

zunächst ab. „Ich will nicht heiraten, sondern

de“ der Arbeiter im „Lohndrücker“ kam:

ler und Ulrich Mühe.

Künstlerin sein – vielleicht Geliebte.“ Bald

Thea­ter als kollektive Kunst.

Der Filmstar Anthony Hopkins wollte sie 1986 am Londoner National Theatre, wo

trug Christine seinen Namen, und Künstlerin wurde sie sowieso.

Als Regisseur durfte ich dreimal mit ihr zusammenarbeiten: am Deutschen Theater, in

er „King Lear“ spielen sollte, unbedingt als

An der Kunsthochschule Berlin-Wei-

Dortmund und in Senftenberg. Tante Christa

Kostümbildnerin, nachdem er bei einer Vor-

ßensee wagte sie in der Bühnenbildklasse

war damals schon im Ruhestand. Aber ihre

stellung in Ost-Berlin ihre Kostüme gesehen

Heinrich Kilgers einen Neubeginn. Kilger, der

Kunst, Kostüme für Figuren aus deren Orten,

hatte. Da Christine Stromberg seit 1963 Di-

zugleich Ausstattungsleiter des Deutschen

Zeiten und sozialen Stellungen heraus in die

rektorin der Kostümwerkstätten aller Berliner

Theaters war, holte sie nach dem erfolg­

Gegenwart zu übersetzen, fand ich stets phäno-

Staatstheater der DDR und als solche Inhabe-

reichen Abschluss 1954 als Assistentin ans

menal – und im Vergleich zur stilistischen

rin eines Reisepasses war, mit dessen Hilfe

Haus. Danach engagierte sie der Bühnen-

­Beliebigkeit hipper Klamotten, die heutzutage

sie in West-Berlin immer wieder die schöne-

und Kostümbildner Caspar Neher als „Zei-

oft auf den Bühnen zu sehen sind, im besten

ren und besseren Stoffe besorgte, gestatteten

chenknecht“, wie sie es einmal nannte, ans

Sinne provokant.

ihr die zuständigen Organe dies.

Berliner Ensemble, bis sie schließlich zu den

Ende des Zweiten Weltkriegs war Chris-

Zentralen Kostümwerkstätten ging.

tine Stromberg mit ihrer Familie in einem

Mitte der 1970er Jahre erlebte Christine

Flüchtlingstreck nach Weimar gelangt und

Stromberg auf einem Staatsakt der DDR, de-

Liebe Tante Christa, der irdische Tisch der alten Theatergötter wird immer leerer. Du fehlst. Danke. Und Gruß nach droben. Dein Sewan //

Sewan Latchinian


magazin

/ TdZ  September 2020  /

Die theaterfernen Nachrufe,

jedwede

die zum Tod von Renate Kröß-

Gestaltungskraft ab. Wer mit

ner am 25. Mai dieses Jahres

König ging, wurde gegangen.

schauspielerische

erschienen sind, blicken eher

In Gorkis „Nachtasyl“

auf die Film- und Fernseh­

flüchtet sich Krößners Figur

darstellerin zurück, nicht auf

Nastja nach der Vergewal­

die außerordentliche Bühnen-

tigung vor aller Augen in ih-

schauspielerin. Den Nachrufen

ren Kinderwagen, den sie als

müssen die Erinnerungen fol-

Zeichen der ewigen Sehn-

gen: Mit Hermann Beyer de-

sucht nach familiärer Gebor-

bütierte die 1945 in Osterode

genheit mit sich durch das

am Harz geborene R ­enate

ganze Geschehen schleppte,

Krößner 1966 in der legendä­

nun nichts mehr wissen wol-

ren Peter-Hacks-Uraufführung

lend von dieser Welt, die ihre

„Der Schuhu und die fliegen-

Träume zerstört hat; sie flie-

de Prinzessin“, einer Inszenier­

hend: Fluchtbewegungen in

ung der Staatlichen Schau-

einem Lande, das Fluchten

spielschule im Ost-Berliner

tödlich strafte.

BAT. Und gleich ihrem Part-

Ein dritter erinnerungs-

ner entsprach sie „als fliegen-

würdiger Auftritt: „Renate

de Prinzessin dem Grundton

Krößner spielt den wider-

dieses gewitzten Märchens,

sprüchlichsten Menschen in

halb unschuldsvoll noch, halb

,Bernarda Albas Haus‘. Ihre

schon welterfahren, ihre eigenen Rechnungen aufmachend, wobei sie allerdings nicht auf ihre Rechnung kommt und schließlich, wie sich das gehört, zu ihrem Schuhu zurückfindet“, befand ein zeitgenössischer Kritiker. Doch

im

Schrankenlos gegen Beschränktheit Zum Tod der Schauspielerin Renate Krößner

gemeinen

Martirio ist die am meisten Zufluchtbedürftige, Gemarterte, Leidenschaftliche, überdies eine Verwachsene mit hochgezogener Schulter. Erst ein argloses, dann ein misshandeltes Kind. Sie vermag in Martirio sogar die psychische Anlage zur Terroristin

Schauspielerleben sah es an-

anzudeuten, die ratlose Not-

ders aus. Krößners Partner blieb großstäd-

schnell gewonnenen Ensembles – zu arbeiten:

wehr gegen den Terror der Machthabenden.“

tisch, und sie selbst entschied sich für die

Bei der DDR-Erstaufführung von Wolfgang Hil-

So beschrieb es der Kritiker und Dokumentar-

Provinz: Mit einer Gruppe Mitstudierender

desheimers „Turandot“-­ Komödie in Dessau,

filmer Rolf Liebmann 1982 in der Ost-Berli-

ging sie nach Parchim, ans traditionelle Ab-

bei Gorkis „Nachtasyl“ in Greifswald und bei

ner W ­ ochenpost.

solvententheater der Schöneweider Schau-

Lorcas „Bernarda Albas Haus“ in Anklam.

Ordinär im Ausdruck und schamlos in

Erinnerungen: Die verlassene Prinzessin

der Preis­gabe ihrer Leiblichkeit, ließ Renate

Sie lebte ein entschiedenes, selbstbe-

Turandot steigt mit der Losung der Französi-

Krößner ihre Figuren gegen Anstand und Sitte

stimmtes Bühnenleben – was ein schwieriges

schen Revolution auf den Lippen in den Reise-

lospoltern – selbstversunken, distanziert und

Leben war, wenn man Schauspielerin in der

koffer des fremden Prinzen aus der Ferne und

zugleich schrankenlos höchster Aggressivität

sogenannten Theaterprovinz und dabei allen

klappt ihn über sich zu. Turandot gibt sich

fähig. Sie spielte oftmals in einem eigenen

provinziellen

Be-

selbst als Reisefracht in die alte Welt der

Figurenkosmos und war doch stets eine be-

schränktheiten so feind war wie sie. Und wenn

­bürgerlichen Ideale auf. Die gepackten Koffer

wusste Ensemblespielerin, ja eine strenge

man sich, nach Jahren ensemblegeschützter

waren inzwischen in der DDR wieder eine reale

Sachwalterin des gemeinsam erarbeiteten

Zusammenarbeit in Brandenburg an der

Option geworden. Die zentrale Theaterkritik

Werkes, der Aufführung.

­Havel mit Herbert König, harsch und scharf

schlug erbarmungslos zurück und sprach Re-

1983 kann König nach Düsseldorf

entschied: „Mit meiner Theaterarbeit erwähle

nate Krößner im März 1980 in Theater der Zeit

übersiedeln. Zwei Jahre später folgt ihm Re-

spielschule.

Beschränkungen

und

ich mir auch eine bestimmte Regie.“

nate Krößner mit ihrer Familie, ohne dort zu

Renate Krößner wurde freischaffend, und ihr Regisseur König rangierte auf dem ungeschriebenen und geleugneten, aber durchschlagenden Index ganz oben. So war es ihnen in den folgenden zwei Jahren nur dreimal vergönnt, miteinander – und mit fremden, doch

reüssieren. Sie war nicht – wie man dort Renate Krößner verkörperte weit mehr als nur Sunny, die Filmfigur aus Konrad Wolfs DEFA-Klassiker „Solo Sunny“, die sie berühmt machte – Sie lebte auch ein selbstbestimmtes Bühnenleben. Foto dpa

glaubte – identisch mit ihrer Figur Sunny aus Konrad Wolfs legendärem DEFA-Film „Solo Sunny“. Ihre Fantasien und Absichten überstiegen deren – und jener – Maß um vieles. // Thomas Wieck

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Oversexed and underfucked

Performer Ron Athey in „Solar Anus“ den Raum des Onszönen, also dessen, was on

Changierende Bilder – In der Bondage-Show „Red“ von Mr. & Mrs. Fushicho (Köln 2019) steht keineswegs die Macht des Mannes im Mittelpunkt, sondern die Lust der Frau.

Live-Sex-Shows – der Vollzug expliziter sexu-

scene geschieht, erweitert und Männlichkeits-

eller Handlungen auf einer Bühne vor Publi-

bilder infrage stellt, wenn er sich eine Perlen-

kum – sind in deutschen Clubs verboten. Ein

kette aus seinem von einem Sonnentattoo um-

Grund dafür ist, dass sie den „guten Sitten“

kränzten Anus zieht. Florentina Holzinger und

widersprechen. Lea-Sophie Schiel beschreibt

Vincent Riebeek bringen ebenfalls Gender­

Zugänglichkeit ihrer sonst theorielastigen Ar-

dies in ihrer nun im transcript Verlag erschie-

normen in ihrer Performance „Schönheits-

beit. „Sex als Performance“ ist ein angenehm

nenen Studie „Sex als Performance“ als ein

abend“ durcheinander, wenn Riebeek von

differenzierter Beitrag in einer aufgeheizten

Beispiel dafür, wie das Begehren von Verbo-

­Holzinger mit einem Strap-on-Dildo penetriert

feministischen Debatte, die nicht grundlos

ten strukturiert wird. In der Arbeit untersucht

wird. Es kommt zur Dekonstruktion der Rollen

„Porn Wars“ genannt wird. In ihrer Studie geht

die Theaterwissenschaftlerin und Performerin

des dominanten Cis-Manns und der unte­

es nicht um die illusionistische Frage „Wie un-

Sex auf der Bühne in künstlerischen und por-

rwürfigen Cis-Frau. Das Obszöne, in diesem

terdrücken wir unseren Sex?“. An Foucault an-

nografischen Kontexten mit dem Vokabular

Fall das sogenannte pegging, das sonst aus der

knüpfend, dekonstruiert sie vielmehr den hard

aus Theaterwissenschaft und Gender Studies.

Szene verbannt wird, kommt auf die Bühne

core des Sex und fragt: „Wie werden wir durch

Um über Live-Sex-Shows recherchie-

und wird onszön. Keine Kunst- oder Porno-

den Sex unterdrückt?“ //

ren zu können, besuchte sie das erotische

Performance ist nach Schiel nur subversiv

Theater Casa Rosso in Amsterdam. In ihrer

oder normativ. Überraschend verbinden sich

Aufführungsanalyse stellt sie fest, dass dabei

diese Qualitäten in einer Bondage-Show. Im

kaum die Sitten zerstört oder Normen subver-

Fokus stehen eine kunstvoll gefesselte Perfor-

tiert werden, wie es das Verbot in Deutsch-

merin – ein exemplarisches Bild submissiver

„Alle Männer in der Familie sind tot oder

land nahelegt. Vielmehr wird mit den artifizi-

Weiblichkeit – und die Lust, die sie empfindet.

weit weg, die hinterbliebenen Frauen be-

ellen Mitteln des Theaters ein „natürlicher,

Schiel sieht hier einen Bruch mit dem auf die

schädigt, jede auf ihre Art, und ich kann rei-

harter Kern“ des Sex inszeniert. Zur Auffüh-

männliche Lust fixierten Pornoskript.

sen, sooft und so weit ich will, obwohl es mir

Foto Tiefenschaerfe

Lara Wenzel

Im Schleudergang

rung kommt das übliche heteronormative

Eine besondere Qualität ihrer Auffüh-

nie wichtig war.“ Mit „1000 Serpentinen

Drama, das dem immer gleichen Skript folgt.

rungsanalysen ist, dass sie ihre Beobachtungen

Angst“ legt die Theaterautorin Olivia Wenzel

Dass dieser hard core gar nicht existiert, stellt

bewusst subjektiv erzählt. Damit erhöht sie die

einen

Parodie-Begriff fest. Diesen entwickelte die Queer-Theoretikerin anhand von Drag-Performances, welche nicht ein vermeintliches ­Original wiederholen, sondern sich über die Idee des Originals an sich lustig machen. Das offene Spiel mit dem „natürlichen Sex“ geschieht laut Schiel besonders in Kunst-Performances. Sie beschreibt, wie der

schwindelerregenden

Debütroman

hin, der von einer Kindheit und Jugend in

die Autorin mit Rückgriff auf Judith Butlers Lea-Sophie Schiel: Sex als Performance. Theaterwissenschaftliche Perspektiven auf die Inszenierung des Obszönen. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 352 S., 50 EUR.

Thüringen während der 1990er Jahre erzählt. Es geht um das Zuhause – die sogenannte Heimat – und das ewige Unterwegssein. Ostdeutschland, DDR, die Zeit danach, Bahnhöfe, Flughäfen, Neonazis und immer wieder Fragen zur Verortung und zum Befinden einer namenlosen Hauptfigur. Wenzel, selbst in Weimar geboren, erzählt schnörkel-


bücher

/ TdZ  September 2020  /

los von Alltagsrassismus, Depressionen, so-

hungen, die immer wieder auftauchen, aber

zialen Ängsten, Sehnsucht und komplizier-

nie zu Ende erzählt werden, verliert das le-

ten Beziehungen.

sende Auge das Gespür für die Verknüpfun-

Da ist der Bruder, dessen Leben am

gen der Nebenfiguren untereinander, selbst

Bahngleis ein Ende fand; die unzulängliche

wenn sie miteinander verwandt sind (Bruder,

Mutter, die früher Punkerin war und keine

Mutter, Oma). Wenngleich auf diese Weise

Lust auf eine spießbürgerliche Kleinfamilie

deutlich wird, wie durchgehend kompliziert

hat. Dazu kommt die liebevolle Großmutter,

die Verhältnisse sind und wie unklar der Pro­

eine ehemalige SED-Anhängerin, die am

tagonistin ihre sozialen Kontakte erscheinen,

Interesse gilt in seinen Artikeln Fragen der

liebsten das All-you-can-eat-Buffet in einem

schmerzt diese Oberflächlichkeit ungeheuer-

Musik als kollektiver Erfahrung. Seinen Ge-

chinesischen Restaurant besucht und nicht

lich. Es sind möglicherweise zu viele Serpen-

genständen nähert er sich mit Witz; kenntnis-

versteht, warum ihre Enkelin lieber die Trep-

tinen, von denen Wenzel erzählen will. Viel-

reich, aber an keiner Stelle belehrend. Kritik

pe als den Fahrstuhl nimmt, als eine Frau in

leicht hätten hundert gereicht. //

übt er sowohl am Konsumismus der Branche

Paula Perschke

Nazi-Kluft im selbigen mitfahren will. Und

als auch an linker Folklore. Nur zwei Beiträge des textreichen, gut

schließlich noch Kim, die unentschiedene Liebesbeziehung.

Ted Gaier: Argumentepanzer. Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 216 S., 18,00 EUR.

Von Riot- und Rollenfestspielen

zweihundert Seiten füllenden Bandes widmen sich der Theaterarbeit. In einem Essay mit dem Titel „Nicht in diesem Memorandum-

„Für immer Punk möchte ich sein / Für immer

ton“ beschreibt Gaier seine Protesterfahrun-

Punk / Willst du wirklich immer Hippie blei-

gen in Athen 2012. Das Schwabinggrad Bal-

ben?“ Diese Zeilen des hymnengleichen Gol-

lett hat als einziger nichtgriechischer Vertreter

dene-Zitronen-Klassikers schallten wohl durch

in vorderster Reihe für einige Tage den Wider-

die Zimmer mehrerer Generationen – mehr

stand gegen die Irrsinnspolitik der Troika

oder minder – revoltierender Jugendlicher. Was

­unterstützt. Zentral sind auch in diesen Aus-

die Goldenen Zitronen von anderen Punkbands

führungen nicht die Beschreibungen künst­

seit den achtziger Jahren in der Bundesrepub-

lerischer Vorgänge, sondern die politische

Innerhalb dieses Geflechtes reist (oder flieht)

lik unterscheidet, sind die textliche Qualität,

Positionierung. Gaier ist als Teil der Goldenen

die schwarze Protagonistin in die USA, nach

die musikalische Experimentierfreude ohne

Zitronen wie auch als Performer Vertreter ei-

Vietnam, Marokko, Polen oder an einen Bran-

Genregrenzen, ihr feines Gespür für Ironie und

ner Agitpropkunst. Sein Text zu Anta Helena

denburger See. Erinnerungsflashbacks an

die Bevorzugung von Humor statt martiali-

Reckes vielbesprochener „Schwarzkopie“ von

den toten Bruder, Selbstgespräche, Schlaflo-

schem Auftreten – was ihr auch ein weitaus

Anna-Sophie Mahlers Inszenierung „Mittel-

sigkeit, Alkohol und unmotivierter Sex schleu-

größeres Publikum geschaffen hat. Ähnlich

reich“ an den Münchner Kammerspielen ist

dern sie tausend Serpentinen tief in den Ab-

wie Sänger Schorsch Kamerun, der sich auch

in diesem Sinne zu verstehen: Anders als in

grund ihrer Angst. „Wo bist du gerade?“

als Romancier und Theaterregisseur einen Na-

den zahlreichen Wortmeldungen, in denen

Immer wieder schaltet sich eine fragende

men gemacht hat, ist Zitronen-Mitbegründer

Reckes konsequente Regieentscheidung – sie

Stimme ein, um die Protagonistin unnachgie-

Ted Gaier nicht nur Instrumentalist und Texter

hatte Mahlers Abend detailgenau kopiert,

big zu verhören. Spätestens hier zeigt sich

der Gruppe, sondern in verschiedenen künstle-

allerdings ­

Wenzels Talent, für das Theater zu schreiben.

rischen Zusammenhängen unterwegs. Auch

­Darstellern – theoretisch erschlossen werden

Ihre Geschichte spinnt sich großteils aus

vor dem Theater macht er nicht halt: etwa als

sollte und zur intellektuell ausgeklügelten

skizzenhaften Monologen zusammen. Man

Theatermusiker, als kontinuierlicher Kollabo-

Meisterleistung erklärt wurde, beschreibt

möchte zunächst annehmen, hier einen wei-

rateur von Gintersdorfer/Klaßen, oder als Teil

­Gaier die Arbeit, durchaus positiv gemeint,

teren Roman sinnsuchender, konsumbegeis-

des Schwabinggrad Balletts, das seit Jahren

als aktivistische Leistung. So kann man In-

terter Großstadthipster vor sich liegen zu ha-

den Spagat wagt zwischen linker Demokultur

szenierungen auch lesen.

ben. Wenzels Geschichte aber ist anders. Sie

und Performancekunst.

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Berlin 2020, 352 S., 21 EUR.

ausschließlich

mit

schwarzen

Dieser klare Blick auf Wirkungen und

erzählt aus einer schwarzen Perspektive und

Nun hat der Verbrecher Verlag „Argu-

Mittel zieht sich durch das Buch, gerade in

widmet sich Ängsten auf einer persönlichen

mentepanzer“, einen Sammelband mit Tex-

der Analyse politischer Vorgänge. Und so le-

und gleichzeitig analytisch, fragenden Ebene.

ten von Gaier, herausgebracht: Dabei handelt

sen sich auch die Zitronen-Songtexte, mit

Die Autorin schreibt umgangssprachlich und

es sich um überarbeitete Artikel zum politi-

denen der Band schließt. Zum Beispiel in der

enthemmt. Manchmal im thüringischen Dia-

schen und popkulturellen Geschehen, zuvor

Darstellung der „alten Kaufmannsstadt, Juli

lekt, manchmal strotzen die Seiten vor Angli-

veröffentlicht unter anderem in Spex, taz und

2017“, die vielleicht noch nicht gänzlich aus

zismen. Die Sprache ist erfrischend leicht,

junge Welt, um einen mal anerkennenden

der Erinnerung gefallen ist in Zeiten, in de-

mischt sich allerdings nicht immer nachvoll-

(Ton Steine Scherben), mal vernichtenden

nen wieder vermehrt über das Wesen der

ziehbar mit dem Englischen (bestes Wort:

(Herbert Grönemeyer) Blick auf Musikerkolle-

­Polizei gesprochen wird: „Und so begannen

„familymäßig“). Was im Theater funktionie-

gen, um einen kleinen Beitrag zur Geschichts-

die Riot- und Rollenfestspiele. / Gut orchest-

ren mag, führt im Roman zu Verwirrung:

schreibung sub- und gegenkultureller Identi-

riert. Alle kannten ihre Rolle.“ //

Durch das collagenartige Anreißen von Bezie-

tät in Westdeutschland. Gaiers vorrangiges

Erik Zielke

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aktuell

Meldungen

/ TdZ September 2020  /

und findet mit ihrem Repertoire aus Ur- und

ein toxisches Arbeitsklima vor. Das baden-

Erstaufführungen

Neuproduktionen

württembergische Ministerium für Wissen-

weltliterarischer Stoffe auch überregional Be-

schaft, Forschung und Kunst hält bislang an

achtung.

der Vertragsverlängerung fest.

2025 Intendant und Geschäftsführer der

■ Der Verwaltungsrat der Württembergischen

■ Das ITI-Festival Theater der Welt findet

­Thüringer Landestheater und Thüringer Sympho-

Staatstheater beschloss am 20. Juli die Ver-

2023 in Offenbach und Frankfurt am Main

niker Saalfeld-Rudolstadt GmbH. Landrat ­Marko

tragsverlängerung des Geschäftsführenden

unter der Leitung von Anselm Weber (Schau-

Wolfram als Vorsitzender der Gesellschafter-

Intendanten Marc-Oliver Hendriks, teilt die

spiel Frankfurt) und Matthias Pees (Künstler-

versammlung informierte den Theater-­ Auf­

Stuttgarter Pressestelle mit. Hendriks’ Ver-

haus Mousonturm) statt. Die Wahl der beiden

sichtsrat über die erfolgreichen Vertrags­

trag gilt nun bis zum 31. August 2027. Er ist

Städte erfolgte erstmalig in einem zweistufigen

verhandlungen. Mit Beginn der Spielzeit

seit dem 1. September 2009 im Amt. Baden-

Verfahren aus Bewerbungen von insgesamt

2008/09 hatte Mensching die Leitung des

Württembergs Ministerin für Wissenschaft,

vier Städten bzw. Regionen. Die dies­jährige

Zwei-Sparten-Theaters in Rudolstadt über-

Forschung und Kunst Theresia Bauer (Grüne)

Ausgabe des alle drei Jahre stattfindenden

nommen.

betonte die Bedeutung dieser Beständigkeit

Festivals konnte coronabedingt nicht stattfin-

vor allem angesichts der kommenden Opern-

den und wird im nächsten Jahr in Düsseldorf

■ Peter Carps Vertrag wurde vom Gemeinderat

sanierung, die frühestens 2025 begonnen

nachgeholt.

der Stadt Freiburg um drei Jahre verlängert.

wird.

sowie

■ Steffen Mensching bleibt bis Ende Juli

Er wird bis zum Jahr 2025 die Stelle des ­Intendanten am Theater Freiburg bekleiden.

Monika Grütters. Foto Christopher Thomas

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■ André Bücker bleibt Intendant des Staats-

Wie die Badische Zeitung vermeldete, sei er

theaters Augsburg. Wie die Augsburger Allge-

bereit, über die Vertragslaufzeit hinaus in

meine mitteilt, hat der Stiftungsrat des Thea-

Freiburg zu bleiben. Seit seinem Antritt in der

ters beschlossen, seinen 2022 auslaufenden

Spielzeit 2017/18 waren die Zuschauer­

Vertrag zu verlängern. Derweil sind die Sanie-

zahlen gestiegen. Auch während der Corona­

rungskosten des Hauses von 190 Millionen

krise habe er das Haus umsichtig geleitet,

Euro auf 320 Millionen Euro gestiegen, mel-

heißt es in einem städtischen Statement.

det die Stuttgarter Zeitung. Trotz der Kostenexplosion wird die Generalsanierung wie ge-

■ Christoph Nix, derzeit noch Intendant am

plant fortgesetzt, beschloss der Augsburger

Theater Konstanz, wird Künstlerischer Leiter

Stadtrat am 23. Juli. Die Fertigstellung ist für

der Tiroler Volksschauspiele 2021 bis 2024 in

Mitte 2026 geplant.

Telfs. Die dortige Volksschauspiele GmbH ­beruft den „in allen Bereichen so erfahrenen

■ Am Badischen Staatstheater Karlsruhe ist ei-

■ Kulturstaatsministerin Monika Grütters

und fantasievollen Theatermacher“ mit großer

nem leitenden Mitarbeiter wegen Vorwürfen

(CDU) stellt Hilfsprogrammen für Künstler und

Freude, wie in der Pressemitteilung hervor­

sexueller Belästigung gekündigt worden, wie

Kulturschaffende 52 Millionen Euro zur Verfü-

gehoben wird.

unter anderem die Süddeutsche Zeitung mit-

gung. Damit erhöht sich das Stipendienbudget

teilt. Die Vorgänge um die namentlich nicht

für die Jahre 2020 und 2021 um 43,5 Millio­

■ Die Intendantin des Landestheaters Schwa-

genannte Person sind Teil einer Führungs­

nen Euro. Existenzen von Künstlern und Kul-

ben in Memmingen, Kathrin Mädler, wird das

krise am Haus. Theatermitarbeiter werfen

turschaffenden, die oft in Solo-Selbstständig-

Haus für weitere fünf Jahre leiten. Seit 2016

dem Generalintendanten Peter Spuhler, des-

keit tätig sind, sollen so gesichert und vor den

führt Mädler die mit dem Theaterpreis des

sen Vertrag erst im Mai bis ins Jahr 2026

Auswirkungen der Coronakrise geschützt wer-

Bundes 2019 ausgezeichnete Landesbühne

­verlängert worden war, Machtmissbrauch und

den. Die Stipendien können an Künstlerinnen


aktuell

/ TdZ  September 2020  /

und Künstler aller Sparten ausgezahlt wer-

■ Das Kinder- und Jugendtheaterzentrum der

den. Der Betrag für eine Einzelperson soll in

Bundesrepublik Deutschland fördert im Rahmen

Kaiserslautern bis Karlsruhe auch als ver-

der Regel 1000 Euro im Monat umfassen,

seines Programms „Nah dran! Neue S ­ tücke fürs

dienstvoller Intendant. Pavel Fieber starb am

berichtet die Tagesschau. Finanzielle Hilfen

Kindertheater“ folgende Autoren mit Auftrags-

6. Juli in Würzburg.

waren bereits in der Vergangenheit geplant.

honoraren: Carsten Brandau („Wie ich über

spieler und später an Theatern von Ulm über

meinen Schatten stolperte und wieder auf-

■ Elisabeth Ebeling ist tot. Die 1946 geborene

■ Die Dramaturgin Valerie Göhring erhält das

stand“, Theater Lüneburg), Sergej Gößner

Schauspielerin ist am 16. Juli nach längerer

diesjährige

Marie-Zimmermann-Stipendium

(„Der fabelhafte Die“, Theater Konstanz),

Krankheit im Alter von 73 Jahren gestorben,

der Akademie Schloss Solitude. Göhrings

Ossian Hain und Arthur Romanowski („Die ­

wie das Theater Aachen mitteilt. Ebeling

künstlerische Arbeit mache „vorherrschende

Katze auf der Matte im Weltraum“, jugend-

­feierte 2019 ihr 50. Bühnenjubiläum. Nach

Blick- und Machtverhältnisse“ sichtbar, hob

theaterwerkstatt spandau), K ­aren Köhler

ihrem Schauspielstudium an der Hochschule

die Jury in ihrer Begründung hervor. Die

„Himmelwärts“ (Junges Theater Ingolstadt).

für Musik und Theater Hannover war sie an renommierten Bühnen wie dem Berliner En-

anderem an den Münchner Kammerspielen

semble tätig und arbeitete mit einfluss­reichen

Tilo Prückner. Foto dpa

1992 geborene Dramaturgin arbeitete unter und ist ab der Spielzeit 2020/21 am Berliner Maxim Gorki Theater tätig.

■ Wolfgang Bordel wird mit dem Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern ausgezeichnet. 36 Jahre lang leitete er das Theater

Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder zusammen. Seit 2005 war Ebeling Ensemblemitglied der Aachener Bühne.

■ Am 5. August verstarb die Schauspielerin, Autorin und Dramaturgin Valeria Frabetti. Sie

Anklam, an dem von 1981 bis 1985 auch

wurde am 4. April 1948 in Bologna geboren

Frank Castorf als Regisseur und Oberspiellei-

und schloss 1975 ihr Studium der Medizin

ter tätig war. Bordel hatte die Intendanz im

an der dortigen Universität ab. Anschließend

Jahr 1983 übernommen und es nach dem

absolvierte sie ein Schauspielstudium bei

Zusammenbruch der DDR geschafft, das

­Gianfranco Rimondi und war 1976 Mitbegrün-

Haus zu privatisieren und eine Kulturfabrik

derin von La Baracca, einer Kompanie für

zu gründen. Der mit 10 000 Euro dotierte

■ Der Schauspieler Tilo Prückner ist am

Kindertheater, die sie ab 1983 leitete. 1995

Preis wird am 3. September von Mecklen-

2. Juli in Berlin verstorben. Prückner, gebo-

übernahm Frabetti die künstlerische Leitung

burg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Ma-

ren 1940 in Augsburg, kam über München,

des Theater- und Kunstzentrums für Kindheit

nuela Schwesig in Schwerin verliehen.

St. Gallen, Oberhausen und Zürich 1970

und Jugend Testoni Ragazzi, in dem die Kom-

nach Berlin an die Schaubühne, deren Grün-

panie von da an fest arbeitete. Mit ihrer

■ Der Münchner Förderpreis für deutsch­

dungsmitglied er war. Ab 1973 arbeitete er

künstlerischen Arbeit und als Präsidentin der

sprachige Dramatik wird neu gestaltet und

regelmäßig als Gast am Bayerischen Staats-

italienischen ASSITEJ prägte sie über vierzig

wieder ausgeschrieben. Neben dem Preisgeld

schauspiel. Überregional bekannt wurde er

Jahre das Kinder- und Jugendtheater.

soll er künftig auch Residenzen sowie eine

durch Krimiserien wie etwa den „Tatort“ mit

kontinuierlichere Zusammenarbeit des Preis-

Robert Atzorn, in denen er zumeist den gütig

trägers oder der Preisträgerin mit den Münch-

zuarbeitenden älteren Kollegen spielte.

ner Kammerspielen beinhalten. Das gab das Theater bekannt, das den Preis gemeinsam

■ Der Schauspieler, Regisseur und Sänger

mit dem Kulturreferat der bayrischen Landes-

Pavel Fieber ist tot. Der 1941 in Jägerndorf

hauptstadt und dem dort ansässigen Drei

(Tschechoslowakei) geborene Künstler wirkte

Masken Verlag ausschreibt.

an zahlreichen Bühnen zunächst als Schau-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

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/ TdZ September 2020  /

PREMIEREN 2020/21 Anton Tschechow

09. OKT 2020

Björn SC Deigner

11. OKT 2020

Thomas Köck

31. OKT 2020

Paul Maar/Ulrich Limmer

21. NOV 2020

DER KIRSCHGARTEN REGIE: SIBYLLE BROLL-PAPE

DIE POLIZEY URAUFFÜHRUNG REGIE: DANIEL KUNZE

FLUTEN/HUNGERN/SPIELEN PARADIES KLIMATRILOGIE | REGIE: CILLI DREXEL

HERR BELLO UND DAS BLAUE WUNDER

WEIHNACHTSMÄRCHEN AB 5 JAHREN REGIE: JANA VETTEN 04. DEZ 2020 Mark Ravenhill

DER STOCK DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG REGIE: MATTHIAS KÖHLER

Miroslava Svolikova

22. JAN 2021

Gabriele Tergit

30. JAN 2021

GOTT IST 3 FRAUEN (Gi3F) URAUFFÜHRUNG REGIE: JAKOB WEISS EFFINGERS

REGIE: SIBYLLE BROLL-PAPE

nach Hannah Arendt

12. MÄR 2021

Roland Schimmelpfennig

19. MÄR 2021

DIE BANALITÄT DES BÖSEN REGIE: CLEMENS BECHTEL

DER RISS DURCH DIE WELT REGIE: SIBYLLE BROLL-PAPE

Ödön von Horváth

07. MAI 2021

KASIMIR UND KAROLINE REGIE: STEFAN OTTENI

Philipp Gärtner

14. MAI 2021

William Shakespeare

03. JUL 2021

GOLD REGIE: WILKE WEERMANN WAS IHR WOLLT

CALDERÓN-SPIELE | REGIE: MIA CONSTANTINE

W W W. T H EAT ER . BA M B ERG . D E

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HigHligHtS

Spielzeit 2020/21

TAGEDIEBE WELLENREITER ABENTEURER

Judas Monolog von Lot Vekemans

Das kleine Ich bin ich Puppenspiel nach dem Kinderbuch von Mira Lobe und Susi Weigel »Das Schicksal stellt mich auf eine Nadelspitze« Eine Jakob-Michael-ReinholdLenz-Collage

THEATER HOF 120/21 9/20

Intendant: Reinhardt Friese

THE COLD HEART

Musiktheater von Martyn Jaques nach dem Märchen „Das Kalte Herz“ von Wilhelm Hauff

Fräulein Smillas Gespür für Schnee Theaterfassung von Armin Petras und Juliane Koepp nach dem gleichnamigen Roman von Peter Høeg Futur Eins: Leben auf dem Mars (UA) Science-Fiction-Abenteuer von Rike Reiniger

MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER

Blues Brothers Ein szenisches Konzert im Auftrag des Herrn

Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg von Bertolt Brecht, Musik: Paul Dessau

Premiere: Samstag, 10. Oktober 2020

Der Urknall Musik von Jed Feuer Text von Boyd Graham

KANZLIST KREHLER

Oleanna von David Mamet

Premiere: Samstag, 26. September 2020

Tragikomödie von Georg Kaiser

Premiere: Samstag, 14. November 2020

FLORENCE FOSTER JENKINS Schauspiel von Bill White

Premiere: Donnerstag, 17. Dezember 2020

WILLKOMMEN

Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz

Premiere: Donnerstag, 11. Februar 2021

Wende.Punkte Eine Produktion des Clubs der Experten

Das vollständige Programm gibt es im Spielzeitheft und auf der Theaterwebseite.

BRUDER EICHMANN

Schauspiel von Heinar Kipphardt

Premiere: Freitag, 26. März 2021

DRAUSSEN VOR DER TÜR

Schauspiel von Wolfgang Borchert

Premieren: Samstag, 27. März 2021

DER STURM

Romanze von William Shakespeare

Premiere: Samstag, 15. Mai 2021 Karten: 09281/ 7070-290 | www.theater-hof.de

Landestheater Sachsen-Anhalt Nord Karlstraße 6, 39576 Stendal www.tda-stendal.de


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aktuell

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Premieren

September 2020

Baden-Baden Theater T. Dengler: Discotopien (S. Dengler/M. Thomas, 12.09.); n. Molière/H. Jüssen: Der Menschenfeind (J. Nordalm, 26.09.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater I. v. Zadow: Hallo Nachbar – (Un)sinnbilder mit Glump (S. Siegfried, 11.09.); M. Brankatschk: Prěki – Durich – Loborka (abgehauen – rübergeflohen) (M. Brankatschk, 17.09.); F. Holtkamp: Horce plincy (Landeier) (R. Vogtenhuber, 26.09.) Berlin Berliner Ensemble O. Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern (L. Linnenbaum, 04.09., UA); F. v. Schirach: Gott (O. Reese, 10.09., UA) Deutsches Theater n. J. Zeh: Corpus Delicti (R. Lehniger, 15.09.) Grips ­Theater V. Ludwig: Bella, Boss und Bulli (R. Neumann, 03.09.) Maxim Gorki Theater K. Rittberger: Schwarzer Block (S. Nübling, 05.09., UA); Y. Ronen/Ensemble: State of Emergency (Y. Ronen, 26.09., UA) Sophiensaele Henrike Iglesias: Under Pressure anzeigeTdZ2020.indd 1 (10.09., UA); Z. Mears-Clarke/ der Welt (D. Yazdkhasti, 06.09., R. Flämig/A. Hentschel: Postost UA); H. Ibsen: Peer Gynt (A. 2O9O (24.09., UA) Volksbühne Nathusius, 12.09.); Ensemble: n. Euripides/n. S. Sargnagel: Voluptas (Ensemble, 13.09., UA) Iphigenie. Traurig und geil im Bregenz Vorarlberger LandesTrauerland (L. Bihler, 11.09.) theater n. G. Büchner: Woyzeck Bielefeld Theater M. Brandt: (T. Wellemeyer, 19.09.); T. Arzt: Blackbird (C. Schlüter, 05.09., Else (ohne Fräulein) (B. S. DuUA); D. Busch: Deinen Platz in arte, 20.09.)

Geld, Parzival von Joël László Uraufführung

wad: Vögel (N. Ritter, 26.09.) Bruchsal Badische Landesbühne H. Ibsen: Ein Volksfeind (C. Ramm, 24.09.) Celle Schlosstheater J. Vernes: In 80 Tagen um die Welt (A. Döring, 11.09.); D. Jacobs/M. Netenjakob: Extrawurst (Ensemble, 24.09.); A. Tschechow: Die Möwe (M. Peters, 25.09.) Chemnitz Theater D. Glattauer: Gut gegen Nordwind (C. Knödler, 18.09.); A. Tschechow: Schwa­ nengesang (J. Esser, 19.09.); I. Lausund: Bin nebenan. Monologe für Zuhause (S. Esser, 19.09.) Coburg Landestheater M. Straub/ R. Hild: Globe Songs Episode 1: Here we go, rockin‘ all over the world (M. Straub, 26.09.) Dessau Anhaltisches Theater F. Poulenc: Die menschliche Stimme (La voix humaine) (J. Weigand, 24.09.); T. Fontane: Effi Briest (K. Eppler, 25.09.) Detmold Landestheater Der Sandmann (B. Grubel, 16.09.); A. Tschechow: Onkel Wanja (J. Steinbach, 25.09.) 22.06.20 09:43 Dinslaken Burghofbühne n. W. Bremen shakespeare company Shakespeare/A. Gundlach: Ein J. Schall/G. v. Dyk: Der Nibe­ Sommernachtstraum (M. Spaan, lungen Wut – Furor Teutonicus 04.09., UA); J. v. Burchard: Von (J. Schall, 03.09., UA) der Schnecke, die wissen wollte, Bremerhaven Stadttheater n. J. wer ihr Haus geklaut hat (J. v. Zeh/M. Schwesinger: Corpus Burchard, 11.09., UA) Delicti (M. Barrawasser, 18.09.); Dortmund Theater N. Schwitter/ A. Beyeler: Die Kuh Rosmarie n. M. Iwasa: Viele Grüße, deine (T. Spinger, 20.09.); W. Moua-

GO TELL von Julia Haenni / Junge Marie Uraufführung

Schleifpunkt von Maria Ursprung Schweizer Erstaufführung

Theater Marie Spielzeit 2020/21


aktuell

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Giraffe (J. Vetten, 11.09.); A. Siebers: Miss You (AT) (A. Siebers, 18.09., UA); I. Sajko/A. E. Şipal/S. B. Yishai/L. Ali/K. Taha: 2170 (J. Wissert, 25.09., UA) Dresden Staatsschauspiel G. F. Walker: Suburban Motel (P. Lux, 04.09.); Searching for Macbeth (C. Friedel, 05.09.) Theater Junge Generation G. Hänel/n. R. Kipling/n. C. Abel-Musgrave: Das Dschungelbuch (M. Sostmann, 19.09., UA) Essen Schauspiel n. H. v. Kleist/ C. Fromm: Die Marquise von O… (C. Fromm, 19.09.) Esslingen Württembergische Lan­ desbühne K. Grønskag: Satelliten am Nachthimmel (J. Müller, 19.09.); K. Felsmann: Immerfort in einem Wort (C. Weinheimer, 20.09.); B. Schlink: Der Vorleser (M. Neidhart, 25.09., UA); L. J. Baueregger/A. Szedlak: Robin Hood (L. J. Baueregger, 27.09.); J. Ehni: Wagner und Fritz (D. Nelle, 27.09., UA) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Trip of a Lifetime. Ein performativer Stadtspaziergang (S. Zaun/M. Schneider, 03.09., UA); You Are Here! Neue Klänge für ein zerstreutes Publikum (T. Beyer/P. Hübner, 12.09.); Hölderlin Heterotopia (Akira Takayama/Port B, 19.09., UA); Manufactured Series Duet #5: The Act of reading (F. Mazliah, 23.09., UA) Schauspiel n. W. Shakespeare: Wie es euch gefällt (D. Bösch, 11.09.); S. Kane/P. C. d. Marivaux: Streit:Gier (R. Borgmann, 12.09.); M. Mose­ bach/L. Brandt/Z. Bánk: Stimmen einer Stadt VII – IX (A. Weber/K. Eich, 13.09., UA); n. H. Heine: Deutschland 2020. Ein Wintermärchen (R. Wenig, 20.09.) Freiburg Theater n. Sophokles: Elektra (M. Warsicka, 24.09.) Graz Schauspielhaus T. Köck: Dritte Republik (eine Vermessung) Teil Drei der Kronland­ saga (A. Vulesica, 11.09., ÖEA); L. Vekemans: Niemand wartet auf dich (J. Strauch, 22.09., DSE)

Halle Neues Theater A. Seghers: Transit (R. Jakubaschk, 11.09.); T. Brussig: Helden wie wir (D. Rahnefeld, 19.09.); P. Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (M. Brenner, 25.09.) Thalia Theater C. Funke: The Princess Knight (K. Brankatschk, 12.09., UA); L. Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen (S. L. Awe, 26.09.) Hamburg Schauspielhaus A. Steinhöfel: Die Mitte der Welt (M. Beichl, 10.09., UA); R. Goetz: Reich des Todes (K. Beier, 11.09., UA); T. Moğul: Wir haben getan, was wir konnten (T. Moğul, 12.09., UA) Thalia ­Theater T. Köck: PARADIES fluten – hungern – spielen (C. Rüping, 05.09.); Molière: Der Geizige (L. Haußmann, 12.09.) Heilbronn Theater n. L. Visconti/ T. Blokdijk: Der Fall der Götter (M. v. Henning, 25.09.); n. Janosch/N. Buhr: Komm, wir finden einen Schatz (N. Buhr, 27.09.) Ingolstadt Stadttheater J. Carrière/ n. F. Attar: Die Konferenz der Vögel (K. Weber, 19.09.); Y. Ronen/Y. N. Harari/D. Schaad: (R)Evolution – Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert (S. Hermans, 25.09.) Kassel Staatstheater W. Shakes­ peare: Der Sturm (T. Bockelmann, 12.09.); D. Loher: Bär im Universum (M. v. Boxen, 13.09., UA); H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (M. Dietz, 18.09.); R. Spregelburd: z.B. Philip Seymour Hoffmann (W. Weermann, 20.09., DSE) Konstanz Theater H. Fallada: Jeder stirbt für sich allein (S. Khodadadian, 26.09.); P. Ehmann: Generation Extinction (P. Ehmann, 27.09., UA) Landshut Landestheater Niederbayern A. Gurney: Love Letters (W. M. Bauer, 12.09.); n. J. W. v. Goethe: Urfaust (P. Oberdorf, 18.09.); K. Küspert/A. Küspert: Der Reichsbürger (C. Silberhumer, 27.09.) Leipzig Cammerspiele C. Zajt: 2174 (C. Zajt, 10.09., UA); S.

Beim Stadttheater Pforzheim ist zur Spielzeit 2022/2023 die Position einer/eines

INTENDANTIN/ INTENDANTEN (m/w/d) neu zu besetzen. Die Stadt Pforzheim als Oberzentrum der Region Nordschwarzwald zählt rund 125 000 Einwohner. Das Pforzheimer Theater ist ein typisches Regionaltheater, dessen Einzugsgebiet weit über die angrenzenden Landkreise hinausreicht. Das Stadttheater Pforzheim ist ein MehrspartenTheater mit Musiktheater, Ballett und Schauspiel. Träger dieser Einrichtung ist die Stadt Pforzheim. Als Spielstätten stehen ein Theatersaal mit 510 Plätzen sowie ein Podium (variable Spielstätte mit bis zu 160 Plätzen) zur Verfügung. Die Sinfoniekonzertreihe der dem Stadttheater Pforzheim zugehörenden Badischen Philharmonie Pforzheim findet im angrenzenden CongressCentrum statt.

Die Leitung des Pforzheimer Drei-Sparten-Theaters obliegt in gemeinsamer Verantwortung der Intendanz und dem Verwaltungsdirektor. Gesucht wird eine kommunikative Persönlichkeit mit der besonderen fachlichen und persönlichen Befähigung und einschlägiger Berufserfahrung für die künstlerische Leitung eines Drei-Sparten-Theaters. Ausgeprägte Organisations- und Teamfähigkeit sowie die Bereitschaft zu wirtschaftlichem Handeln werden neben sozialer Kompetenz, Verhandlungsgeschick und Kreativität vorausgesetzt. Zu den Kernaufgaben zählt die Ensemblebildung in allen Sparten. Der Vorstellungs- und Personalumfang des Musiktheaters nimmt eine besondere Stellung innerhalb des Theaterbetriebs ein. Zur Umsetzung der Ziele des Chancengleichheitsplans werden Frauen ausdrücklich zur Bewerbung aufgefordert. Schwerbehinderte und Gleichgestellte werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt. Bitte bewerben Sie sich online (in einer zusammengefassten PDF Datei mit max. 5 MB) unter Angabe der Kennziffer 20-157 und Ihrer Gehaltsvorstellung bis zum 20. September 2020 an poa@pforzheim.de. Durch die Abgabe Ihrer Bewerbung willigen Sie darin ein, dass wir Ihre personenbezogenen Daten in den Systemen der Stadt Pforzheim für dieses Bewerbungsverfahren speichern und verarbeiten. Ein Widerruf dieser Einwilligung ist jederzeit möglich.

Stadt Pforzheim Personal- und Organisationsamt Marktplatz 1 75175 Pforzheim E-Mail: poa@pforzheim.de

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aktuell

Glatzmaier: Marianne (S. Glatzmaier, 22.09., UA); Die s. Fiktion: Über Morgen (Die s. Fiktion, 29.09.) Schauspiel n. E. Jeli­ nek/n. W. Müller/n. F. Schubert: Winterreise / Winterreise (E. Lübbe, 25.09.); M. Schrefel: Ein Berg, viele (P. Richter, 26.09., UA) Linz Landestheater J. W. v. Goethe: Junger Klassiker – Faust Short Cuts (N. Neitzke, 20.09.); P. C. d. Laclos: Gefährliche Liebschaften (S. Lietzow, 25.09.) Lübeck Theater T. Storm: Der Schimmelreiter (B. Bartkowiak, 04.09.); R. Reiniger: Name: Sophie Scholl (S. Rolser, 17.09.) Memmingen Landestheater Schwaben J. Clancy: Event (P. Kesten, 11.09.); E. Darley: Dienstags bei Kaufland (K. Mädler, 12.09.); Z. Harris: In der Dämmerung (I. Gündisch, 18.09., DSE); M. d. Cervantes: Don Quijote (A. V. Freybott, 25.09.) Neuss Rheinisches Landestheater T. Waits/W. S. Burroughs/G. Cohen: The Black Rider (A. May, 12.09.); n. Brüder Grimm: Der Fischer und seine Frau (L. Großmann, 13.09.); n. Molière: Der Geizige (T. Goritzki, 26.09.) Nürnberg Staatstheater H. v. Kleist: Das Erdbeben in Chili (J. P. Gloger, 18.09.); n. G. Orwell/ B. Nikitin: Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder (B. Nikitin, 19.09., UA) Oldenburg Staatstheater W. Bochert: Draußen vor der Tür (L. Voigt, 04.09.); N. Hornby: Nip­ ple Jesus (C. Goulard, 05.09.); F. v. Schirach: Gott (P. Hailer, 18.09.); A. Bronsky: Scherbenpark (F. Stuhr, 24.09.) Osnabrück Theater K. Mann: Mephisto (C. v. Treskow, 06.09.); D. Schnizer: Tödliche Entscheidung (D. Schnizer, 19.09., UA) Parchim Mecklenburgisches Staatstheater T. Ott-Albrecht/C. Plümer: Zwischen Gretchen und Corona (T. Ott-Albrecht, 03.09.); Mark Down u. Nick Barnes: Spaceman (B. S. Henne, 03.09.) Regensburg Theater n. G. E. Lessing/K. Küspert: Nathan (C. Drexel, 25.09., UA)

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Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Landestheater und Sinfonieorchester A. Ayckbourn: Glückliche Zeiten (W. Hofmann, 12.09.); P. Lund/T. Zaufke: Grimm! (P. Lund, 19.09.); G. E. Lessing: Nathan der Weise (A. Marusch, 26.09.) Reutlingen Theater Die Tonne Hierbleiben… Spuren nach Gra­ feneck (E. Urbanek, 17.09., UA); H. Kondschak: Keine Macht für niemand (H. Kondschak, 24.09.) Rostock Volkstheater W. Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe (R. David, 19.09.); Oleanna – Ein Machtspiel (J. Strauch, 24.09.) Rudolstadt Theater Du bist heute wie neu – Ein Manfred-KrugLiederabend (R. Heise, 05.09.); M. Kliefert/S. Mensching: Ellenbogen Ellenbogen – Ein Stück Gegenwart von Steffen Mensching und Michael Kliefert (M. Kliefert/S. Menschig, 26.09.)

Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen R. Alfieri: Sechs Tanzstunden in sechs Wochen (A. Salzmann, 18.09.) Schwerin Mecklenburgisches Staatstheater Ensemble/P. Wen­ genroth: Gundermann – Männer, Frauen und Maschinen (P. Wengenroth, 04.09., UA); D. Glattauer/U. Zemme: Gaud gägen Nordwind (K. Waldmann, 12.09.); J. Sartre: Geschlossene Gesellschaft (M. Nimz, 29.09.) St. Gallen Theater G. Pigor: Zwei Monster (S. Bodamer, 05.09.); I. Žic: Die Gastfremden (C. Rast, 10.09., UA) Stendal Theater der Altmark L. Vekemans: Judas (W. E. Rahlfs, 12.09.); Im Theater ist nichts los (C. Jung, 13.09.); M. Lobe: Das kleine Ich bin ich (C. Jung, 13.09.); M. Kling: Die KänguruChroniken (N. Bussenius, 19.09.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt R. Lewandowski: Heute weder

Hamlet (H. Weiler, 18.09.); D. Glattauer: Die Wunderübung (A. Preuß, 25.09.) Tübingen Landestheater B. Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (D. Günther, 26.09.) Ulm Theater S. Beckett: Warten auf Godot (J. Brandis, 26.09.); G. Pigor: Die zweite Prinzessin (C. Van Kerckhoven, 27.09.) Weimar Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle L. Kitt­ stein/S. Hornbach: Reimt sich auf Hyäne / Die endliche Ungeschichte I – XVII (S. L. Kleff, 06.09., UA); J. Neumann/Ensemble: Sensemann & Söhne (J. Neumann, 26.09., UA) Wien Burgtheater P. Calderón d. l. Barca: Das Leben ein Traum (M. Kušej, 11.09.); n. Sopho­ kles/T. Köck: Antigone. Ein Requiem (L. Walburg, 12.09., ÖEA); I. McArthur/n. J. Austen: Stolz und Vorurteil* (*oder so) (L. Sykes, 13.09., DEA); L. Kirkwood: Das Himmelszelt (T. Lanik, 27.09., DEA) Kosmos Theater B. Herold: Kind.Erbe. Reich. (B. Herold, 18.09., UA) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord M. Chase: Mein Freund Harvey (S. Bunge, 05.09.); F. Meliquiot: Die Zertrennlichen (A. Flache, 13.09.); n. W. Shakespeare/G. Plass: Der Sturm (G. Plass, 19.09.)

TdZ ONLINE EXTRA Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www www.theaterderzeit.de


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SPIELZEIT 2020/2021 Miteinander! Generalintendant und Schauspieldirektor: Roland May

S C H A U S P I E L

WOYZECK

Dramenfragment von Georg Büchner

DER GOTT DES GEMETZELS

Komödie von Yasmina Reza

RUMPELSTILZCHEN

Märchen nach den Gebrüdern Grimm

AUS DEM NICHTS

Schauspiel nach dem gleichnamigen Film von Fatih Akin

DER BESUCH DER ALTEN DAME

Tragische Komödie von Friedrich Dürrenmatt

AUF EIS

Jugendstück von Petra Wüllenweber

FRANKENSTEIN – DAS MONSTER IN UNS

Musikalische Expedition nach Mary Shelleys Frankenstein

DER ZERBROCHNE KRUG

Lustspiel von Heinrich von Kleist

ROCK OF AGES

Musical Comedy von Chris D‘Arienzo

DIE KUH ROSMARIE

Kinderstück von Andri Beyeler

www.theater-plauen-zwickau.de


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26/09/20

STADTTHEATER

Jeder stirbt für sich allein

von Hans Fallada Regie Schirin Khodadadian

27/09/20

WERKSTATT

Generation Extinction JTK 16 +

Ein immersives Theaterprojekt in der Stadt von Philipp Ehmann Regie Philipp Ehmann Uraufführung

03/10/20

SPIEGELHALLE JTK 13 +

Nibelungenleader von Kristo Šagor Regie Kristo Šagor Uraufführung

23/10/20

STADTTHEATER

Der ideale Mann Komödie von Oscar Wilde Regie Maya Fanke

13/11/20

STADTTHEATER

Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann

von Heinrich Böll Regie Franziska Autzen

12/12/20

SPIEGELHALLE

dosenfleisch

von Ferdinand Schmalz Regie Matthias Kaschig

theaterkonstanz.de T +49 (0) 75 31 / 900 2150


impressum/vorschau

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www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller

Aktuelle Inszenierung Lang ist es her, dass ein Theaterstück von Rainald Goetz das Bühnenlicht der Welt erblickte. 1999 brachte das Deutsche Schauspielhaus Hamburg sein Stück „Jeff Koons“ zur Uraufführung. Dann war erst einmal Schluss mit dem Schreiben für das Theater. Bis jetzt. Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhauses, wird Anfang September die Uraufführung von Rainald Goetz’ neuestem Stück „Reich des Todes. Politische Theorie“ inszenieren. Ein Text, der den autoritären Machtmissbrauch in Zeiten der Krise verhandelt. Geschichtlich übergreifend und über das Aktuelle hinaus werden auf der Bühne die Kipp­momente der Macht und ihre Akteure gesucht. Jakob Hayner berichtet über den Abend.

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17 Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de, Jakob Hayner Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Lara Wenzel (Assistenz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 9, September 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 05.08.2020 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Festivals Thüringen ist nicht nur das Land der großen Dichter und Denker, sondern auch das der kleinen Dörfer. Zum 100. Geburtstag des Bundeslandes setzt sich das Kunstfest Weimar in Ausstellungen, Installationen und Performances verstärkt mit ­seiner Region auseinander. Fast wäre das Jubiläumsprogramm der Coronapandemie zum Opfer gefallen – doch ab dem 1. September sind Großveranstaltungen in Thüringen wieder erlaubt. Das Kunstfest ist damit das erste Festival in Deutschland, das ­wieder mehr oder weniger im Normalbetrieb stattfinden kann. Und wir sind natürlich dabei.

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Oktober 2020.

„Landutensil“ von Yvonne Andrä und Stefan Petermann. Foto Yvonne Andrä

Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Mesut Bayraktar, Dramatiker und Autor, Ludwigsburg Otto Paul Burkhardt, Theater- und Musikkritiker, Tübingen Marvin Carlson, Theaterwissenschaftler, New York Jens Fischer, Journalist, Bremen Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Claudia Ingenhoven, Journalistin, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Sewan Latchinian, Regisseur und Intendant, Hamburg Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Journalistin, Esslingen Peter Michalzik, Journalist und Autor, Frankfurt/Main Chantal Mouffe, Philosophin, London Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Paula Perschke, freie Autorin, Berlin Sebastian Rudolph, Schauspieler, Zürich Christopher Rüping, Regisseur, Zürich Lena Schneider, Kulturredakteurin, Potsdam Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Mårten Spångberg, Choreograf, Künstler und Theoretiker, Berlin Petrus Textor, freier Autor, Siegen B. K. Tragelehn, Dichter und Regisseur, Berlin Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Autor, Berlin Erik Zielke, Lektor, Berlin

„Reich des Todes. Politische Theorie“ von Rainald Goetz. Vorabfoto Arno Declair

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN September 2020

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/09

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Was macht das Theater, Jost von Glasenapp? Herr von Glasenapp, warum zücken derzeit

stehe auf dem Standpunkt, dass auch

bestimmte Parteien so gern die Waffe

andere staatliche Institutionen und

„Neutralitätsgebot“?

sogar Beamte nicht nur berechtigt, ­

Das ist häufig eine Scheinwaffe. Viele,

s­ondern verpflichtet sind, sich deutlich

die sich darauf berufen, haben die Grund­

gegen eindeutig als verfassungswidrig

sätze nicht verstanden. Es geht um das

erkannte Gruppierungen zu stellen.

Gebot staatlicher Institutionen zur partei­

­Allerdings ist nicht alles, was abwegig,

politischen Neutralität. Das bedeutet nicht,

dumm oder politisch unkorrekt ist,

dass es keine Widerrede geben darf.

gleich verfassungswidrig.

Gibt es aus juristischer Sicht eine pauscha-

2018 gehörte der Intendant der Münchner

le Antwort auf die Frage, welches außer-

Kammerspiele zu den Initiatoren der

künstlerische politische Engagement In-

„Ausgehetzt“-Demo, die sich gegen die

tendanten und Angestellten eines Theaters

Flüchtlingspolitik der CSU wandte. Zur

erlaubt ist?

Erinnerung: Damals hat sich Horst See­ ­

Wenn es um die Parteinahme zugunsten

hofer öffentlich über 69 Abschiebungen an

oder zulasten einzelner politischer Par-

seinem 69. Geburtstag gefreut. Daraufhin

teien geht, gilt der Grundsatz, dass

wollte die Münchner CSU-Fraktion dem

staatliche Institutionen als solche sich

Theater das Demonstrieren verbieten. Ist

nicht für oder gegen diese engagieren

dieser Fall juristisch anders zu bewerten?

dürfen. Dass Schauspieler und Inten-

Wenn die staatliche Institution zu einer

danten als Privatpersonen ihre politi-

Demonstration gegen eine Partei oder

sche Meinung vertreten, ist dagegen

gegen einen Vorgang, der nur einer Par-

selbstverständlich erlaubt. Und es ist

tei zuzurechnen ist, aufruft, nimmt sie

nicht verboten, sich auch als staatliche Institution sachlich zu tagespolitischen Themen zu äußern. Das gilt jedenfalls dann, wenn es um Themen geht, von denen die Institution auch betroffen ist. So ist es zum Beispiel unbedenklich, wenn sich ein Theater gegen die Kürzung der Kulturförderung öffentlich positioniert. Allerdings können auch andere rechtliche Grenzen wie das Dienstrecht oder das Hausrecht zu beachten sein. Das muss im Einzelfall geprüft werden. In einem aktuellen Fall hat die AfD-Fraktion Görlitz gegenüber dem Geschäftsführer des

Das Theater und die AfD – eine endlose Geschichte: Vor wenigen Wochen hatte die AfD in Görlitz versucht, Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Geschäftsführer des Gerhart-Hauptmann-Theaters, Caspar Sawade, anzuzetteln. Grund: Das Theater habe mit der Teilnahme an einer Demo gegen Corona-Leugner gegen das Neu­tralitätsgebot staatlicher Institutionen verstoßen. Ja? Keineswegs. Denn so einfach ist es nicht. Jost von G ­ lasenapp, Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Greifswald und Verfasser des Aufsatzes „Das Neutralitäts­gebot als rechtliche Scheinwaffe gegen staatliche ­ Courage“ erklärt, wann besagtes Gebot für Stadt- und Staatstheater greift – und wann nicht. Foto Marco Grund

Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz-Zittau

möglicherweise parteipolitisch Einfluss – und das gegebenenfalls unter Ausnutzung ihrer besonderen Stellung und der ihr vom Staat zur Verfügung gestellten Ressourcen. Das kann gegen das Neutralitätsgebot verstoßen. Wenn aber eine Demonstration lediglich aus Anlass einer konkreten Maßnahme der Regierung stattfindet, kann das wieder anders zu beurteilen sein. Und darum geht es ja hier. Ich sehe nicht, dass sich staatliche Institutionen nicht mit Regierungshandeln und unsäglichen Entgleisungen von Regierungsmitgliedern kritisch auseinandersetzen dürfen.

Dienstaufsichtsbeschwerde erlassen, weil

Die Freiheit der Kunst ist selbstverständ-

das Haus sich an einer Gegendemonstration ge-

Die Gegendemonstration richtete sich konkret

lich nicht gleichbedeutend mit einem ­politischen

gen Corona-Leugner beteiligt hat. Ist der AfD-

gegen die Verwendung antidemokratischer Sym-

Mandat. Steht sie nicht dennoch ­geradezu in der

Vorstoß rechtens?

bole wie Reichsflaggen durch Anti-Corona-De-

Pflicht, Stellung zu beziehen?

Es geht hier doch wohl eher um ein tages­

monstranten. Davon ist die Institution Theater

Selbstverständlich! Es ist ja die zentrale

politisches Thema, das Maßnahmen der

zumindest weniger direkt betroffen als von der

Aufgabe insbesondere des Theaters, an ­

Landesregierungen betrifft. Einzelne Stand-

Kürzung der Kulturförderung. Als der Demokra-

­Meinungsbildungsprozessen mitzuwirken. Im

punkte können dabei noch nicht einmal ein-

tie verpflichtetes Organ aber vielleicht schon?

Rahmen der Kunstausübung kann daher

zelnen Parteien zugeschrieben werden. Eine

Ich halte das auch ohne direkte Betroffenheit

Neutralität gegenüber dem politischen Ge­

Stellungnahme staatlicher Institutionen –

für zulässig. Es geht hier nicht um die Posi­

schehen nicht verlangt werden. Darum geht

auch im Rahmen einer Demonstration – dürfte

tionierung für oder gegen eine politische

es aber bei der Teilnahme an Demonstratio-

aus meiner Sicht in solchen Fällen zulässig

Partei, sondern um einen Einzelaspekt des ­

nen nicht. //

sein.

politischen Tagesgeschehens. Ich persönlich

Die Fragen stellte Sabine Leucht.


PREMIEREN 2020/21 Vögel

Noch ist Polen nicht verloren

von Wajdi Mouawad

von Jürgen Hofmann

SEP-2020 / GROSSES HAUS

JAN-2021 / GROSSES HAUS

Die Jury tagt

Linda

von Julia Schoch

von Penelope Skinner

OKT-2020 / GROSSES HAUS

FEB-2021 / GROSSES HAUS

URAUFFÜHRUNG

Die Stützen der Gesellschaft

89/90

von Henrik Ibsen

von Peter Richter

MÄRZ-2021 / GROSSES HAUS

OKT-2020 / REITHALLE

Amadeus

Maria Stuart

von Peter Shaffer

von Friedrich Schiller

MÄRZ-2021 / SCHLOSSTHEATER

OKT-2020 / GROSSES HAUS

IM NEUEN PALAIS POTSDAM-SANSSOUCI

Der Vorname

Die Lage

von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière

von Thomas Melle

NOV-2020 / GROSSES HAUS

MAI-2021 / GROSSES HAUS

The Rape of Lucretia

Good. Better. Greta.

von Benjamin Britten

von Frank Abt und Natalie Driemeyer

Potsdamer Winteroper

MAI-2021 / REITHALLE

Koproduktion mit der Kammerakademie Potsdam NOV-2020 / SCHLOSSTHEATER IM NEUEN PALAIS POTSDAM-SANSSOUCI

Der Diener zweier Herren Komödie von Carlo Goldoni JUN-2021 / SOMMERBÜHNE AM TIEFEN SEE

Die Mitwisser von Philipp Löhle DEZ-2020 / REITHALLE

In den Gärten oder Lysistrata Teil 2

verschoben aus 2019/20

von Sibylle Berg

aufgrund der Corona-Pandemie

JAN-2021 / REITHALLE

HANSOTTOTHEATER.DE


MK: Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen MĂźnchner Kammerspiele

Theater der Stadt


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