Theater der Zeit 10/2019

Page 1

Stück: Lukas Rietzschel über rechte Radikalisierung / Porträt: Julia Koschitz / Nachruf: Ágnes Heller Die Dramatikerin Nicoleta Esinencu / Bolivien: Die Gefangenenstadt Palmasola als Dokumentartheater

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Oktober 2019 • Heft Nr. 10

Deutsche Zustände Intendanten über ein neues politisches Selbstverständnis


PREMIEREN 2019 / 2020 20. SEPTEMBER 2019 PREMIERE

DAS GROSSE HEFT

19. OKTOBER 2019

AB 21. SEPTEMBER 2019

Schauspiel von Pedro Calderón de la Barca Inszenierung Michał Borczuch

PREMIERE

Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Ágota Kristóf Inszenierung Tilmann Köhler

DER STANDHAFTE PRINZ

GRRRLS GRRRLS GRRRLS

Eine Reihe mit Basler Bräuten und ihren Geschwistern Konzept Julia Fahle und Rouven Genz

8. NOVEMBER 2019 PREMIERE

IM HINTERHAUS Ein Projekt über Anne Frank mit Basler Jugendlichen Inszenierung Hanna Müller

26. SEPTEMBER 2019 PREMIERE

DIE ANALPHABETIN Schauspiel nach der gleichnamigen Erzählung von Ágota Kristóf Inszenierung Barbara Luchner

16. NOVEMBER 2019

URAUFFÜHRUNG / AUFTRAGSWERK

27. SEPTEMBER 2019

IN DEN GÄRTEN ODER LYSISTRATA TEIL 2

ANDERSENS ERZÄHLUNGEN

13. DEZEMBER 2019

Schauspiel von Sibylle Berg nach Aristophanes Inszenierung Miloš Lolić

URAUFFÜHRUNG / AUFTRAGSWERK

Schauspieloper von Jherek Bischoff (Musik) und Jan Dvořák (Text) Musikalische Leitung Thomas Wise Inszenierung Philipp Stölzl Eine Koproduktion des Theater Basel mit dem Residenztheater München

JULIEN – ROT UND SCHWARZ

Schauspiel von Darja Stocker und Mohamedali Ltaief Inszenierung Franz-Xaver Mayr

UNSERE KLEINE STADT Schauspiel von Thornton Wilder Inszenierung Anne-Louise Sarks

URAUFFÜHRUNG

Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Gianna Molinari Inszenierung Claudia Bossard

URAUFFÜHRUNG / AUFTRAGSWERK

Schauspiel von Lukas Bärfuss nach Stendhal Inszenierung Nora Schlocker

HUNDERT JAHRE WEINEN ODER HUNDERT BOMBEN WERFEN

PREMIERE

HIER IST NOCH ALLES MÖGLICH

DURCHEINANDERTAL

URAUFFÜHRUNG / AUFTRAGSWERK

19. MÄRZ 2020

Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Robert Walser Inszenierung Anita Vulesica

16. JANUAR 2020

18. OKTOBER 2019

Schauspiel von Max Frisch Inszenierung Stefan Bachmann Eine Koproduktion des Theater Basel mit dem Residenztheater München

28. MÄRZ 2020

3. OKTOBER 2019 Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Friedrich Dürrenmatt Inszenierung Anne-Kathrine Münnich

PREMIERE

GRAF ÖDERLAND

PREMIERE

DER GEHÜLFE

PREMIERE

14. FEBRUAR 2020

24. JANUAR 2020

FRÜHJAHR 2020 PREMIERE

DRAUSSEN VOR DER TÜR Schauspiel von Wolfgang Borchert Inszenierung Timon Jansen

URAUFFÜHRUNG / AUFTRAGSWERK

WIEDERAUFERSTEHUNG DER VÖGEL

Schauspiel von Thiemo Strutzenberger basierend auf «Tropenliebe» von Bernhard C. Schär Inszenierung Katrin Hammerl

23. APRIL 2020 PREMIERE

DER KIRSCHGARTEN Komödie von Anton Tschechow Inszenierung Julia Hölscher

Billettkasse 0041 61 295 11 33; billettkasse@theater-basel.ch TB-Anz-Theater der Zeit-215x285.indd 1

BASEL

THEATER

05.09.19 18:16


editorial

/ TdZ  Oktober 2019  /

N

Hurra! Am 18. Oktober erhält Theater der Zeit auf der Frank­ furter Buchmesse den Deutschen Verlagspreis 2019. Wir danken der Jury und freuen uns über die Anerkennung für unseren Verlag.

Extra Der Aboauflage liegt bei IXYPSILONZETT – Das Magazin für Kinderund Jugendtheater

ach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg wird am 27. Oktober nun auch in ­ hüringen, das bis dato rot-rot-grün regiert wird, ein neues Parlament gewählt. Es ist zu befürchten, T dass im Land von Björn Höcke auch Vertreter des sogenannten AfD-„Flügels“ Mandate erlangen werden. Zurzeit laufen zwischen Thüringer Verfassungsschutz und AfD zwei Gerichtsverfahren, in denen geklärt wird, ob die Partei vom Verfassungsschutz als „Prüffall“ bezeichnet werden darf. Im Zweifelsfall landen also ultrarechte AfDler im Landtag, die dann im Prüffall nicht nur Büros, sondern auch Verfassungsschützer vor die Tür gestellt bekommen. Um Steuergelder zu sparen, wäre allerdings zu wünschen, dass der Verfassungsschutz gleich das Büropersonal stellt. Die paradoxe Erleichterung, die nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg eintrat – Stimmverlierer sahen sich als Gewinner, weil eine Regierungsbeteiligung der AfD abgewendet werden konnte – weicht nun schweren Koalitionsverhandlungen. Holk Freytag, der Präsident der Sächsischen Akademie der Künste und ehemals Intendant des Staatsschauspiels Dresden, brachte es in einem MDR-Interview auf den Punkt: Man sei noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Der MDR hatte im Sommer unter allen Intendantinnen und Intendanten Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens eine Umfrage zur Situation und zum Selbstverständnis der Theater in politisch angespannten Zeiten unternommen. Stefan Petraschewsky vom MDR resümiert für uns: Die Theater haben gelernt, mit Hassmails und Störfeuern der AfD umzugehen, versuchen künstlerisch und ­institutionell auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu reagieren, verteidigen die Kunstfreiheit, setzen auf kulturelle Bildung. Allein 24 der 32 Theater haben eine Bürgerbühne etabliert. Theater der Zeit hat mit zwei der Intendanten sowie einer Intendantin aus dem Wahlland Brandenburg ausführlich gesprochen. Bettina Jahnke vom Hans Otto Theater in Potsdam, Roland May vom Theater PlauenZwickau und Steffen Mensching vom Theater Rudolstadt ordnen mit Dorte Lena Eilers und Gunnar Decker die politischen Entwicklungen in den dreißig Jahre alten (!) neuen Bundesländern historisch ein, finden ihre Erklärungen aber auch jenseits aller Ostspezifik in der Krise der Demokratie, der Verunsicherung durch neoliberale Politik. Als Theaterfrau sieht sich Jahnke vor der Aufgabe, den abgerissenen Dialog mit den Bürgern auch im Theater wiederherzustellen. Auch Lukas Rietzschel hat in seinem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ die rechte Radikalisierung zweier Brüder in der ostsächsischen Provinz nicht als simplen Kurzschluss aus ­ostdeutschem Milieu und Pegida erzählt, wie das derzeit gerne geschieht. Im Gespräch mit Anja ­Nioduschewski betont er, dass die tiefe Verunsicherung angesichts des politischen Systems auch im Westen des Landes radikalisierte Kräfte freisetze. „Interessant wird es jedoch, wo diese Themen ­spezielle ostdeutsche Berührungspunkte haben.“ Wir drucken die von Rietzschel mitverfasste Bühnenadaption, die gerade in Dresden uraufgeführt wurde. Die Missverständnisse zwischen Ost und West enden allerdings nicht an der Oder-Neiße-Grenze. „Die neokolonialistische Attitüde der EU Osteuropa gegenüber ist unübersehbar. Ich kann im Moment nichts Positives an Europa entdecken“, sagt die moldawische Dramatikerin und Theatermacherin Nicoletta Esinencu und zeigt es uns mit ihrem Teatru Spălătorie. Renate Klett hat diese durch und durch politische Künstlerin, die sich genauso kritisch mit ihrem eigenen Land auseinandersetzt, porträtiert. Was Steffen Mensching im Intendantengespräch als „Zustand eines Gesellschaftmodells, das kapitalistische Demokratie heißt“ kritisiert, kann man in seinen vollends pervertierten Auswüchsen in der Gefangenenstadt Palmasola in Bolivien betrachten, aus der sich der Staat zurückgezogen hat. Hugo Velarde analysiert in einem aufschlussreichen Essay die Gesetze von Palmasolas „neoliberalen Vollzug“, der en miniature vielleicht für ganz Bolivien Modell steht und den der Schweizer Regisseur Christoph Frick in einem Dokumentartheaterstück lesbar gemacht hat. Theater als eine immer auch politische Kunst – dafür stand seit ihrer Gründung und zuletzt unter der Intendanz von Frank Castorf mit ihrem dezidierten „OST“ über dem Portal die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Nicht verstanden als eine irgendwie szenisch drapierte Agenda, Moral usw. Es ging um Kunst! Auch beim Lichtdesign. Weshalb der plötzliche Tod von Torsten König, der als Leiter der Beleuchtungsabteilung viele Inszenierungen szenisch ins Licht setzte, einen großen Verlust darstellt. Der Bühnenbildner Mark Lammert verabschiedet sich von ihm – in unserem Künstler­insert. // Die Redaktion

/ 1 /


/ 2 /

/ TdZ Oktober 2019  /

Inhalt Oktober 2019 thema wahlen in sachsen und brandenburg

künstlerinsert

protagonisten

13

Stefan Petraschewsky Mit blauem Auge davongekommen Intendantinnen und Intendanten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen über das Selbstverständnis der Theater in politisch angespannten Zeiten – Ergebnisse einer Umfrage von MDR Kultur

16

Nicht das Tischtuch zerschneiden Die Wahlen und ihre Folgen – Die Intendanten Bettina Jahnke (Potsdam), Roland May (Plauen-Zwickau) und Steffen Mensching (Rudolstadt) im Gespräch mit Gunnar Decker und Dorte Lena Eilers

4

Lichtdesign von Torsten König

8

Mark Lammert Es gibt Lichtdramaturgie In Erinnerung an den Lichtdesigner Torsten König

16

4

22

Renate Klett Aus dem Jammertal namens Welt „Ich kann nichts Positives an Europa entdecken“ – Die moldawische Dramatikerin Nicoleta Esinencu wütet gegen die Ausbeutung Osteuropas

26

Christoph Leibold Den Fluss der Zeit anhalten Die Schauspielerin Julia Koschitz bringt ihr Publikum im Kleinen Theater Kammerspiele Landshut zum Frösteln und zum Träumen

kolumne

29

Kathrin Röggla Fahrstuhlmusik

protagonisten

30

Hugo Velarde Traurige Tropen im neoliberalen Vollzug Die bolivianische Gefangenenstadt Palmasola und ihre Inszenierungen – Über ein Theaterprojekt von Christoph Frick

look out

34

Margarete Affenzeller Feministische Ökonomie Regisseurin Bérénice Hebenstreit will durch ihr Theater Gesellschaft verändern und ist Aktivistin bei Attac

35

Jakob Hayner Kompromisslose Räume Robin Metzer gestaltet Bühnen, die ihrer eigenen Dramaturgie folgen – Inspiration bekommt er aus der bildenden Kunst

26


inhalt

/ TdZ  Oktober 2019  /

auftritt

38

Berlin „Die Schauspieler“ von Einar Schleef in der Regie von Peter Atanassow (Jakob Hayner) sowie „Lear“ nach William Shakespeare und „Die Politiker“ (UA) von Wolfram Lotz in der Regie von Sebastian Hartmann (Jakob Hayner) Hamburg / Potsdam „Die Katze und der General“ (UA) von Nino Haratischwili in der Regie von Konstanze Lauterbach und „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili in der Regie von Jette Steckel (Dorte Lena Eilers) Lübeck „Game of Crowns 1 – Intrige, Macht, Könige“ (UA) von und nach William Shakespeare in der Regie von Pit Holzwarth (Jakob Hayner) Mülheim an der Ruhr „Hamletmaschine“ von Heiner Müller in der Regie von Martin Ambara (Frederike Juliane Jacob) Oslo „Trilogie“ von Jon Fosse in der Regie von Luk Perceval (Thomas Irmer) Stendal „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz in der Regie von Wolf E. Rahlfs (Gunnar Decker) Zollbrücke / Oderbruch „Kabakon oder Die Retter der Kokosnuss“ nach Christian Kracht in der Regie von Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern (Tom Mustroph)

50

Stille Erosion Der Autor Lukas Rietzschel über die Theateradaption seines Romans „Mit der Faust in die Welt schlagen“ im Gespräch mit Anja Nioduschewski

52

Lukas Rietzschel, Liesbeth Coltof und Julia Weinreich Mit der Faust in die Welt schlagen

70

Hier darf man auch was an die Wand fahren Das Roxy in Birsfelden bei Basel ist ein leuch­ tendes Beispiel für die Förderung junger Gruppen – Jetzt wird das Theaterhaus 25 Jahre alt Heilige, queere Maria Die Emanzipation einer Jungfrau – Das Festival ImPulsTanz Wien unterzieht religiöse und kulturelle Traditionen einer feministischen und postkolonialen Relektüre Liebes Sommerfestival, wir müssen reden! Zu Händen: Kampnagel Hamburg Dirty Rich Das Wagner-Festival Berlin is not Bayreuth von glanz&krawall fragt in einem lässigen Mix aus Oper, Schlager und Pop, wie Musik auch heute die Menschen manipuliert Mythos Weimar Das Kunstfest in Weimar eröffnet unter seinem neuen Leiter Rolf C. Hemke mit einem langatmigen „Reichstags-Reenactment“ am historischen Ort Der neue Mensch in alter Hülle Das Spieltriebe-Festival am Theater Osnabrück erforscht die Grenzgebiete zwischen Organismus und Maschine Narrentum und Revolution In Gedenken an den Literaturund Theaterwissenschaftler Robert Weimann „Dystopien sind realistischer“ Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit. Szenen einer Erinnerung ­Geschichten vom Herrn H. Klassikerschändung und Zwergenaufstand Bücher Petre Otskheli, Maximilian Haas

82

Meldungen

84

Premieren im Oktober 2019

86

TdZ on Tour in Düsseldorf, Berlin und Hiddensee

87

Autoren, Impressum, Vorschau

88

Sewan Latchinian im Gespräch mit Gunnar Decker

38

stück

magazin 70

aktuell

was macht das theater?

Titelfoto: Bernau im September 2019. Foto Fritz Engel / Archiv Agentur Zenit

/ 3 /



Lichtdesign von Torsten König bei: „Apokalypse“ (2016), inszeniert von Herbert Fritsch (linke Seite), „Die Chinesin” (2010), inszeniert von Dimiter Gotscheff, Seite 8–9, „der die mann“ (2015), inszeniert von Herbert Fritsch an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Fotos Thomas Aurin




/ 8 /

/ TdZ Oktober 2019  /

Es gibt Lichtdramaturgie In Erinnerung an den Lichtdesigner Torsten König von Mark Lammert 1. Wir standen an der Reling, zwölf Personen auf einem kleinen Schiff, Baujahr 1947. Es schien die Sonne. Man nennt das Königswetter. Als das Schiff seine Position erreicht hatte, drei Seemeilen vor Warnemünde, 54° 13’ N 12° 06’ E, erschollen, mitgebracht und ausgewählt von seinem Regisseur, die ersten zwei Sätze aus dem 8. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch. Die sich innerhalb von 36 Stunden auflösende Urne wurde der See übergeben, nachdem der Kapitän gesprochen hatte. Zwei Freunde sprachen später, kurz. 2. Auch ich hätte etwas sagen wollen. Aber das Bild war zu stark: Während das Schiff den Beisetzungsort kreisend umfuhr und das Signal des Typhons zum Abschied erscholl, näherte sich erst ­tangential und dann mitten durch den Kreis direkt auf das Schiff zufahrend ein weißes, sehr kleines Schiffchen. Es hörte auf den Namen VAGINA oder war auf diesen Namen getauft. 3. Vermutlich jeder an der Reling backbord wird diese Szene in ­diesem Moment, ohne dass es ausgesprochen wurde, registriert haben. Ihr Wahnsinn und ihre Schönheit lagen nicht darin, dass es absurd, grotesk, theatralisch, abartig oder sonst etwas war. Natürlich blitzte in einem sekundenfreudigen Moment der Verdacht

auf, hier wäre Regie im Spiel, außerirdisch oder überirdisch. Aber der Gedanke wurde sofort verdrängt von der absoluten Sicherheit, dass niemand sich mehr gefreut hätte über das Bild, den Vorgang als Torsten selbst. 4. „Ich wollte volles Licht auf der Bühne, damit kein Schauspieler einen Irrtum, einen falschen Gang, seine Erschöpfung oder seine Gleichgültigkeit in einer wohltuenden Dunkelheit ertränken kann. Natürlich, so viel Licht wird ihm unangenehm sein; aber vielleicht spornt es ihn auch an, ein so starkes Licht … Noch etwas zum Licht: Es wird gut sein, wenn jeder Schauspieler den anderen oder die anderen durch sein Spiel anstrahlt oder sie ihn ihrerseits anstrahlen. Die Bühne könnte ein Ort sein, wo der Widerschein nicht immer schwächer wird, sondern wo die Lichtblitze gegen­ einanderschlagen. Zugleich wäre das auch ein Ort, wo die christ­ liche Nächstenliebe auf ihre Kosten käme …“ 5. Was Jean Genet an Roger Blin schreibt, lernte ich an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz kennen. Man begegnet am Theater ­verschiedenen Arten von künstlerischen Angestellten. Licht und

Torsten König bei der Arbeit – in der Agora vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Foto privat


/ TdZ  Oktober 2019  /

Dramaturgie etwa gehören dazu. Sie sind den sogenannten SCHWARZEN, die freischaffend Regie, Raum und Kostüm verantworten, zugeordnet. Lichtleute sind im besten Falle Künstler aus der Lichtabteilung. Sie sind eigentlich immer auf den ersten Blick sympathisch. Torsten war anders. Er mischte mit und hielt gegen. Seine Qualität war einfach die instinktive Kenntnis vom Scharnier zwischen Licht und Dramaturgie. 6. Die Begegnung mit Torsten König verdanke ich in gewisser Weise dem Intendanten des Deutschen Theaters in Berlin. Irgendwann im Jahr 2008, nach „Perser“, „Hamletmaschine“ und „Titus Andronicus“, sagte mir Dimiter Gotscheff, dass wir am DT nicht gemeinsam weiterarbeiten dürften. Das schien mir völlig unverständlich, auch ein wenig irre. Er erklärte mir, dass der zukünftige Intendant wünsche, dass er dort in anderen künstlerischen Konstellationen arbeite. Gotscheff, der zugleich auch an der Volksbühne inszenierte, tauschte mich deshalb aus. Ich gestehe, dass ich ihm die Geschichte damals nicht recht abnahm. Doch nach seinem Tod bestätigte mir der Intendant, dass es so gewesen ist: Es war schön für mich zu erfahren, dass Mitko nicht geschwindelt hatte. Wenigstens das! 7. Also fand ich mich an der Volksbühne wieder. Zuerst draußen vor dem Haus in einer Agora, die keine war, 2010 dann im Haus. Hier lernte ich mehr über Licht als anderswo. Dann kam 2011 und mit ihm „Die (s)panische Fliege“, danach „Murmel Murmel“ und „Ohne Titel Nr. 1“ und „der die mann“ und „Apokalypse“ und „Pfusch“. Torsten, der auch Gotscheffs „Iwanow“ illuminiert hat, hatte hier mit Herbert Fritsch seinen Regisseur getroffen – was stimmt und wieder nicht stimmt –, recht eigentlich war es eine Truppe von Spielern, denen man begegnete. Er wusste, dass ich als Zuschauer dieses Zusammenspiels ein Damaskuserlebnis ­hatte. Dieses Erlebnis von Gemeinschaftlichkeit hatte auch Torsten erfahren. Mehr geht nicht. Ich wollte das sehen, und zwar nur das. Torsten zeigte es mir. Immer. In späten Proben oder frühen Vorstellungen dieser Stücke begegnete mir etwas, von dem ich kaum glauben konnte, dass es das gibt, und von dem doch so viele sprechen. Man traut sich kaum, es zu benennen: politisches Theater. Man sah, dass es eine Qualität der Solidarität gibt wie eine Solidarität der Qualität. Und das ist eine Lektion. 8. Da lag es. Vom zweiten Rang aus gesehen. Glänzend im Abendlicht. Aber was für ein Abendlicht! In diesen Werk-Stücken von Herbert Fritsch gab es Dramaturgie. Hier war es so, wie zu erwarten man verlangen darf, es war schlüssig, und es war Inhalt. Über dem Ganzen aber lag ein Zauber, der dem Licht geschuldet war. Das Licht konnte sich entfalten. Und es legte sich über, unter und neben Raum und Regie und war, wie es mir erschien, ein sinn­ voller Zauber. 9. Torsten König war ein Künstler. Er war es schon 2009 und 2010, als ich mit ihm arbeiten durfte. Aber ab 2011 war sein Licht Bestand. 10. Das Gespenstische an diesem plötzlichen Ende ist der Zeitpunkt und der Zusammenhang mit einem anderen Ende, dem der Castorf’schen Volksbühne, bei der Torsten König fast von Anfang

torsten könig

an dabei war. Deren Ende 2017 war ein politischer und ein künstlerischer Mord. Torstens Tod war ein Unfall. 11. Polizeiinspektion Rostock, 3.5.2019: „Nachdem ein 57-jähriger Radfahrer an den Folgen eines Sturzes verstorben war, sucht die Rostocker Polizei nun Zeugen. Der Unfall ereignete sich am Mittwoch, dem 10.4.2019 gegen 12.45 Uhr in Rostock-Warnemünde. Der 57-Jährige stürzte aus bislang unbekannter Ursache auf dem Radweg in der Parkstraße auf Höhe der dortigen Jugendherberge. Durch den Sturz erlitt der Mann schwere Verletzungen am Kopf, denen er später in einem Krankenhaus erlag. Der konkrete Unfallhergang ist trotz intensiver Ermittlungen noch nicht geklärt. Obwohl die Parkstraße in Rostock-Warnemünde stark frequentiert wird, konnte bisher kein Zeuge ermittelt werden.“ 12. An den Metallstangen der Reling sich festhaltend war das Unfassbare nicht nur das wie von fremder Hand gelenkte weiße Boot, dessen Name oder die Musik. Man sah den weißen Handknöcheln der sich Festhaltenden an, dass jeder hier allein war. Torsten war nicht allein, er hatte Jana. Immer. 13. Als das Boot sich vom Bestattungsort entfernte, war, was man wünschen konnte, dass das Wasser ihm leicht sein möge. Genet sagt auch: „In den heutigen Städten ist der einzige Ort – leider immer noch an der Peripherie –, an dem ein Theater erbaut werden könnte, der Friedhof. Diese Wahl wird dem Friedhof und dem Theater gleichermaßen zugutekommen …“ Über dieses Bild l­ agerte sich anderes, das diese Zeremonie so messerscharf präzise machte, weil sie mehr als ein Abschied war. Es schien, als ob jetzt und auf Weiteres – nachdem neutralisiert worden ist, was man unter Spielleitung und Raum verstanden hat – auch das Licht von der Bühne verschwunden wäre. Das Bild, der Moment des weißen Bootes, entsprach auch dem, was Heiner Müller 1989 über B ­ ecketts Tod schrieb: „wenn ich ihn zeichnen müsste, würde ich einen Kreis ziehen, der an immer anderer Stelle unterbrochen ist, nach jeder Lücke (Unterbrechung) aus­ setzend sich fortschreibend (nach einigem Zittern vielleicht, wie der Ausschlag einer Kompassnadel auf der gleichen Bahn …“ 14. Man sagt: am Wasser gebaut. // Der Text ist ebenfalls zu finden in dem Buch „Rot Gelb Blau. Essays zum Theater“ von Mark Lammert, das im Oktober bei Theater der Zeit erscheint.

Torsten König wurde 1961 in Leipzig geboren. Sein erstes Theaterengagement führte ihn 1983 als Beleuchter ans Kleist-Theater Frankfurt (Oder), wo er ab 1987 als Beleuchtungsmeister und Lichtdesigner tätig war. 1993, unmittelbar nach Beginn der Intendanz Frank Castorfs, ging er an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin – zunächst als Beleuchtungsmeister. 2005 wurde er Leiter der Beleuchtungsabteilung. Gastverpflichtungen als Lichtdesigner führten ihn an das Stary Teatr in Krakau oder das Stadttheater in Szczecin. Seit 2011 verband Torsten König eine kontinuierliche Arbeitsbeziehung mit Regisseur Herbert Fritsch, u. a. bei Inszenierungen wie „Die (s)panische Fliege“ oder „Murmel Murmel“. Torsten König verstarb im April 2019.

/ 9 /


Die aktuelle KUNSTFORUM Ausgabe 263:

Rebellion und Anpassung Ostdeutschland – Neubewertung einer Kunstlandschaft

! ken e c e td t en tforum.d z t e J s kun . w ww

Mehr erfahren: www.kunstforum.de


/ TdZ  Oktober 2019  /

Mariana Leky Was man von hier aus sehen kann

UA: 05.09.2019, Hamburger Kammerspiele

Sally Potter The Party

DSE: 21.09.2019, Burgtheater Wien

David Lindsay-Abaire Die Reißleine

DSE: 27.09.2019, Volkstheater Wien DE: 26.04.2020, Hamburger Kammerspiele

Necati Öziri: Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch, Schauspielhaus Zürich in Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater, Berlin, 2019 © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Martina Clavadetscher Frau Ada denkt Unerhörtes UA: 27.09.2019, Schauspiel Leipzig ÖE: Mai 2020, Schauspielhaus Graz

Olivier Garofalo Warte nicht auf den Marlboro-Mann

UA: 19.10.2019, Theater der Stadt Aalen

Florian Zeller Der Sohn

DSE: 23.10.2019, St. Pauli Theater, Hamburg ÖE: 27.02.2020, Theater in der Josefstadt, Wien

Philipp Löhle Die Bremer Stadtmusikanten

UA: 30.10.2019, Theater Paderborn 24.11.2019, Landestheater Coburg

Bodo Kirchhoff Widerfahrnis

UA: 01.11.2019, Studio Theater Stuttgart 26.04.2020, Altonaer Theater Hamburg

Ivan Calbérac Jugendliebe

DSE: 08.11.2019, Theater Bielefeld

Sergej Gößner Wegklatschen. Applaus für Bonnie und Clyde UA: 08.11.2019, Bühnen Halle

Irmgard Keun / Gottfried Greiffenhagen Nach Mitternacht UA: 10.11.2019, Theater Hof

ERSTAUFFÜHRUNGEN Nina Segal Big Guns

DSE: 15.11.2019, Stadttheater Ingolstadt

2019/20 (eine Auswahl)

Sébastien Thiéry Ramses II.

DSE: Dezember 2019, Zimmertheater Heidelberg

Sergej Gößner What on Earth?!

UA: 01.02.2020, Badische Landesbühne Bruchsal

Agatha Christie / Ken Ludwig Mord im Orientexpress

DSE: 21.11.2019, Theater in der Josefstadt, Wien DE: 22.03.2020, Komödie am Kurfürstendamm im Schillertheater, Berlin

Thomas Arzt Und morgen streiken die Wale

UA: 28.11.2019, Pfalztheater Kaiserslautern

Matthew Spangler / Khaled Hosseini Drachenläufer

DSE: 30.11.2019, Westfälisches Landestheater, Castrop-Rauxel

Thomas Arzt Hollenstein, ein Heimatbild

UA: 06.03.2020, Vorarlberger Landestheater, Bregenz

Sébastien Blanc / Nicolas Poiret Zwei Lügen, eine Wahrheit DSE: 14.03.2020, Mittelsächsisches Theater, Freiberg

Philipp Löhle / Abdul Abbasi Bombe

UA: 13.03.2020, Deutsches Theater Göttingen

Katrin Lange Ich, Midas! Oder: Wie werde ich klug?

UA: 14.03.2020, Hessisches Staatstheater,

Wiesbaden Nina Segal Nachts (bevor die Sonne Esther Becker aufgeht) DSE: 14.12.2019, Staatstheater Mainz Das Leben ist ein Wunschkonzert Florian Zeller UA: 26.03.2020, Grips Theater, Berlin Vor dem Entschwinden DSE: 11.01.2020, Rheinisches Landestheater Neuss Olga Grjasnowa Gott ist nicht Felicia Zeller schüchtern Der Fiskus UA: 02.04.2020, Berliner Ensemble UA: 18.01.2020, Staatstheater Braunschweig

ÖE: Oktober 2020, Kosmos Theater, Wien

Anja Hilling Apeiron

Evan Placey Mädchen wie die

Philipp Löhle Andi Europäer (AT)

Anja Hilling Liberté oh no no no

UA: 24.01.2020, Theater Bonn

UA: 31.01.2020, Staatstheater Nürnberg

ÖE: April 2020, Burgtheater Wien

UA: 05.06.2020, Schauspiel Frankfurt

Felix Bloch Erben Hardenbergstraße 6 10623 Berlin Tel.: +49 / (0)30 / 313 90 28 info@felix-bloch-erben.de www.felix-bloch-erben.de


/ 12 /

Der Osten – das unbekannte Wesen? Die Frage beherrscht seit Monaten die Titelzeilen. Nach den Ergebnissen der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, denen in Thüringen ante portas, noch drängender. Der Westen will jetzt unbedingt „die Ostdeutschen“ verstehen, als Erklärung für Phänomene wie Nationalismus, Rechtpopulismus oder Rassismus – eigentlich gesamtdeutsche, sogar globale Probleme. Wir haben drei Theaterintendanten aus Potsdam, Plauen-Zwickau und Rudolstadt im Gespräch um eine Einschätzung sowohl der politischen als auch ihrer künstlerischen Situation gebeten. Welches Selbstverständnis die Theater angesichts der politischen Verwerfungen entwickeln, zeigt eine Umfrage des MDR unter 32 Intendantinnen und Intendanten aus drei Bundesländern.


/ TdZ  Oktober 2019  /

wahlen in sachsen und brandenburg

Mit blauem Auge davongekommen Intendantinnen und Intendanten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen über das Selbstverständnis der Theater in politisch angespannten Zeiten – Ergebnisse einer Umfrage von MDR Kultur von Stefan Petraschewsky

E

ine Re-Nationalisierung sowie eine mythische Überzeichnung von ‚Volk‘ und ‚Nation‘ wird es am Theater nicht geben.“ So antwortet Ralf-Peter Schulze, Intendant des Mittelsächsischen Theaters in Freiberg-Döbeln, auf die Frage, wie die Theater auf das derzeitig raue, von Rechtspopulisten aufgeheizte gesellschaftliche Klima im Osten Deutschlands reagieren. Und weiter: „Unsere Bühne, die sich weltoffen präsentiert, entwickelt ein positives Bild unserer diversen Gesellschaft.“ Schulzes Antworten klingen wie ein Manifest. Die anderen 31 Intendantinnen und Intendanten ­aller Theaterhäuser in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, denen der MDR im Sommer dieses Jahres einen Fragebogen zusandte, um die Situation ihrer Bühnen angesichts der politisch angespannten Lage zu eruieren, geben sich hingegen bemerkenswert entspannt. Auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren sei für sie „grundsätzlich wichtig“. Nur fünf Theater bejahen, dass diese Aufgabe jetzt „an erster Stelle“ stehe. Auch die Frage nach Hassmails, danach, ob diese Kommentare seit 2015 signifikant mehr geworden seien, beantworten 19 Bühnen mit: Nein. Sechs Theater erklären, dass sie zwar solche Mails bekämen, aber nur wenige; sieben Theater bekämen mehr als früher. Oft sei das anlassbezogen – Christoph Dittrich (Chemnitz) zählt dazu die „Ereignisse“ in seiner Stadt. Ansgar Haag (Meiningen) bekommt keine Hassmails, weist aber auf Anfragen von AfD-Abgeordneten hin, „warum so viele fremdsprachige Opern gespielt würden ... und warum Flüchtlinge oder Ausländer bei uns spielen dürften“. Haag hofft, dass sich dieser Trend nicht verstärkt. Ende Oktober stehen in Stimmungsmache auf dem Land – Rechte Slogans auf dem Elbdeich zwischen Jerichow (Sachsen-Anhalt) und Burg (Brandenburg) 2019. Foto Fritz Engel / Archiv Agentur Zenit

Thüringen die Landtagswahlen an. Noch regiert eine Rot-rot-­ grüne Koalition. Die AfD kam 2014 auf elf Prozent. Ende Mai hatten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen parallel zur Europawahl bereits Kommunalwahlen stattgefunden. Derzeit kommen die neu gewählten Stadtparlamente zusammen. Bei Theatern, die – besonders auf dem Land – als GmbH betrieben werden, sitzen nun auch AfD-Aufsichtsräte mit am Tisch. Die meisten Intendanten geben sich dahingehend prag­ matisch und hoffen auf konstruktive Politik in der Sache. Für Joachim Klement (Staatsschauspiel Dresden) ist die künftige ­ ­Strategie klar. Er zitiert, wie schon im Vorwort der Saisonbroschüre 2017/18, Carolin Emcke: „Es gilt zu mobilisieren, was den Hassenden abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren ... Vielleicht ist der wichtigste Gestus gegen den Hass: sich nicht vereinzeln zu lassen.“ Also verbündet man sich. In Dresden gibt es seit Herbst 2014 die „Initiative weltoffenes Dresden“. Im Mai 2016, zur Eröffnung des Sächsischen Theatertreffens, betonten die Intendanten in der „Bautzener Erklärung“ den Wert der Kunstfreiheit. Man wende sich „mit aller Entschiedenheit gegen jene Pegida-Spaziergänger, die, sich hinter der Maske der Sorge versteckend, bereits jetzt dafür gesorgt haben, dass man über den Freistaat nicht mehr staunend als Kulturland spricht, sondern ihn als Synonym für dumpfe, brutale, gehässige und vor allem mitleidslos egoistische Positionen versteht“. Gegen egoistische, mitleidslose Positionen setzen die Theater kulturelle Bildung. 24 der 32 Theater finden verpflichtende Theaterbesuche für Schülerinnen und Schüler sinnvoll. Sechs Theater setzen auf Kooperationsverträge mit Schulen. Ulrich ­Fischer (Eisleben) bringt es auf den Punkt: „Die Freiwilligen sind uns lieber. Allerdings haben wir weniger das Problem der unwil­ ligen Schüler, vielmehr könnte eine Integrierung in die Lehrpläne einen positiven Effekt auf Lehrer und Schulleiter ausüben. Da fehlt es mancherorts am Engagement.“ Auf die Frage, ob Theaterbesuche kostenfrei sein sollen, antworten 29 Theater mit: Nein. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, lautet das mehrfach geäußerte

/ 13 /


/ 14 /

thema

/ TdZ Oktober 2019  /

Thüringen und Sachsen-Anhalt gibt es vergleichbare EntwicklunArgument. Roland May (Plauen-Zwickau) spricht darüber hinaus eine ganz andere Problematik an, nämlich den „Druck, der auf gen. Wo die Gleichung bisher weniger Lohn für mehr Freizeit hieß, heißt die Vereinbarung jetzt: für mehr Arbeit bitte mehr Theater ausgeübt wird, die gerade als GmbH festgelegte Eigeneinnahmen für die Finanzierung erbringen müssen. Kategorien wie ­partizipative Formate à la Bürgerbühne. Theater als moralische Wirtschaftlichkeit zwingen die TheaAnstalt des 21. Jahrhunderts. In der ter zu immer mehr kommerziellem MDR-Umfrage geben 24 von 32 Thea­ Denken bei der Spielplangestaltung.“ tern an, dass es eine Bürgerbühne am Haus gibt. Fünf Thea­ter denken Dies dürfte auch dem konservaüber eine Gründung nach. Für Wolf tiven Kulturverständnis von AfD und CDU entgegenkommen. Im vollmunE. Rahlfs (Stendal) hat die Bürger­ bühne „mittlerweile den Rang einer dig so genannten „Regierungsprogramm“ der sächsischen AfD steht, eigenständigen Sparte“: Er habe es an Kultur und ihre religiösen Ursprünge seinem Haus „verstärkt mit einem seien ein wesentlicher Teil „unserer Publikum zu tun, für das ‚TheaterIdentität“. Die AfD wolle Sachsen wieSozialisation‘ nicht mehr selbstverder zu dem machen, was es einmal ständlich ist, weshalb wir neue Angewar. Was übrigens im „Regierungsbots- und Kommunikationsflächen schaffen“. programm“ der CDU ähnlich klingt: Reformation und Kunst seien besonDie Frage ist nur, ob sich die dere kulturelle Prägungen Sachsens, Politik für diese partizipativen An­ die es in Deutschland einbringe. Ein gebote weiterhin starkmachen wird. christliches Menschenbild ebenso. Die AfD Sachsen wendet sich in „Diese ganz besondere sächsische ­ihrem „Regierungsprogramm“ gegen „ein vor­ rangig politisch motiviertes, Identität verteidigen wir, indem wir unsere Kultur mit anderen teilen sopropagandahaft-erzieherisches Musikund Sprechtheater“. Sind damit auch wie ihren unerwünschten Wandel abwehren.“ Zusammen haben AfD und die Bürgerbühnen gemeint? Was ist CDU in Sachsen bei der Landtagsmit anderen Formaten, zum Beispiel wahl sechzig Prozent bekommen. dem Gesprächsformat „Dialog“, das Holk Freytag, der Präsident der Sächdas Theater in Freiberg im Spielplan sischen Akademie der Künste und hat? Die AfD hatte anlässich einer ehemals ­Intendant des StaatsschauFolge, bei der eine Publizistin und ein Zeichen setzen in der Stadt – Die #unteilbarDemonstration am 24. August 2019 in Dresden. Pfarrer über die Neue Rechte dis­ spiels Dresden, spricht im MDR-InFoto Fritz Engel / Archiv Agentur Zenit kutieren sollten, beanstandet, mit terview nach der Landtagswahl mit ­diesem Format würde indirekt Wahl­ Blick auf eine mögliche Kenia-Koalikampf gegen die AfD betrieben. Die tion davon, dass man jetzt sagen künstlerische Theaterleitung widerspricht dieser Sicht. Der „Diakönnte, man sei noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Doch malt er auch den Teufel an die Wand: „Wenn ich mir log“ sei Teil eines bestätigten Konzepts des Theaters zum Kulturvorstelle, dass 75 Jahre nach Kriegsende eine, in der Ideologie, pakt 2019–2022, und sie fügt hinzu: „Die in einem Schreiben soFolgepartei der NSDAP 27 Prozent in Dresden bekommt, dann wie öffentlich in einer Stadtratssitzung erfolgte Aussage, dass werde ich wahnsinnig.“ Ist das Öl ins Feuer ­gießen? ‚derartige Veranstaltungen in Zukunft nicht mehr in den Räumlichkeiten und in Verantwortung des Theaters organisiert und Rückblick: Nach einem Vierteljahrhundert der Fusionen, durchgeführt werden dürfen‘, halten wir für einen deutlichen EinSpartenabwicklungen und Haustarifverträge, nach Jahren der griff in die Spielplangestaltung, den wir entschieden ablehnen.“ ­Suche nach publikumsaffinen Stoffen jenseits von „Die Olsen­ Ist hier die Kunstfreiheit in Gefahr? Auch und besonders bande“ und Sommertheater kam 2015 endlich die lang ersehnte auf kommunaler Ebene? Vor diesem Hintergrund sind Antworten Theaterwende: Die Politik hatte entdeckt, dass die Theater eine vielsagend, die die Intendanten auf die Frage geben, ob der Bund ideale Infrastruktur für den gesellschaftlichen Diskurs boten, der damals anstand. Schnell waren Floskeln da: Theater als Ort der bei der Theaterfinanzierung künftig stärker mitmischen soll: Demokratie. Gerade – nächste Floskel – im ländlichen Raum, aus 13 Theater bejahen die Frage, 11 Theater finden, die Frage greife zu dem seit 1989 junge Menschen Richtung Arbeit in den Westen kurz. Lutz Hillmann (Bautzen) plädiert dafür, dass der Bund in die gezogen waren. Zurück blieben alte weiße Männer und Frauen Theaterfinanzierung einbezogen werden sollte, „damit wir von und oftmals prekäre Verhältnisse – ein Nährboden für Ratten­ möglichen politischen Konstellationen, die auf Landesebene in fänger. 2018 schloss die CDU-SPD-Koalition in Sachsen einen Kultur eingreifen wollen, unabhängiger werden“. // „Kulturpakt“ mit den Theatern. Der beinhaltet vierzig Millionen Euro verteilt auf vier Jahre, um weg von den prekären Haustarifen zu kommen und wieder übliche Tariflöhne zahlen zu können. In Der Autor ist Theaterredakteur bei MDR Kultur und Mitinitiator der Umfrage.


/ TdZ  Oktober 2019  /

/ 15 /

19

05. Nov. – 10. Nov. 2019

»Parallelwelten« Robbert&Frank Frank&Robbert Belgien Dos à Deux Brasilien LOD / Atelier Bildraum Belgien Trickster-p Schweiz Felix Mathias Ott Deutschland Livsmedlet theatre Finnland Wariot Ideal Tschechien Wanubalé Deutschland Hijinx Theatre / Blind Summit Großbritannien Iona Kewney Großbritannien LIGNA Deutschland BOT Niederlande Holler my Dear Deutschland Teatr Usta Usta Republika Polen Théâtre de l'Entrouvert Frankreich Tanga Elektra Deutschland

(»Parallel worlds«) Theater und Tanz aus dem alten und neuen Europa Unter der Schirmherrschaft von Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Landestheater Niederösterreich, St. Pölten »Am Königsweg« Elfriede Jelinek / Nikolaus Habjan (Deutschlandpremiere) (Festivaleröffnung) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 05. Nov. Compagnie Gilles Jobin, Genf »VR_I« Gilles Jobin (Deutschlandpremiere) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 06.–10. Nov Theater der Klänge, Düsseldorf »Das Lackballett« Oskar Schlemmer / J. U. Lensing / Jacqueline Fischer _ _ _ _ _ 06. / 07. Nov. Jan Martens & Marc Vanrunxt , Antwerpen »lostmovements« (»Verlorenheit in Bewegungen«) (Deutschlandpremiere)_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 06. / 07. Nov. Cristiana Morganti, Rom »Jessica and me« (»Jessica und ich«) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 08. Nov. Moving Music Theatre, Bitola »Diary of a madman« (»Tagebuch eines Wahnsinnigen«) Marjan Nečak (Deutschlandpremiere) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 08. / 09. Nov. Compagnie (1)Promptu, Aix-en-Provence »Pierre et le loup« (»Peter und der Wolf«) Sergej Prokofjew / Émilie Lalande (für Kinder ab 6 Jahre) (Deutschlandpremiere) _ _ _ _ _ _ _ _ _ 09. / 10. Nov. Dragana Bulut , Belgrad / Berlin »Happyology« (»Die Lehre des Glücks«) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 09. / 10. Nov. Ballet Preljocaj / Angelin Preljocaj, Aix-en-Provence Soirée Preljocaj »Ghost« (»Geist«) (Deutschlandpremiere) / »Centaures« (»Zentauren«) / »Still life« (»Stillleben«) (Festivalabschluss) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 10. Nov. Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo« Zum 14. Mal / Konzeption: Alain Platel, Gent _ _ _ _ _ _ _ _ _ 08.–10. Nov. Rahmenprogramm: Filme, Buchpräsentation, Gespräche, Technische Führung

Tickets unter 0331-719139 www.unidram.de & www.t-werk.de

Kontakt _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ euro-scene Leipzig // Ann-Elisabeth Wolff, Festivaldirektorin _____________

Tel. +49-(0)341-980 02 84 // info@euro-scene.de // www.euro-scene.de


/ 16 /

Nicht das Tischtuch zerschneiden Die Wahlen und ihre Folgen – Die Intendanten Bettina Jahnke (Potsdam), Roland May (Plauen-Zwickau) und Steffen Mensching (Rudolstadt) im Gespräch mit Gunnar Decker und Dorte Lena Eilers

Gunnar Decker: Wir wollen mit Ihnen über den Stellenwert des Theaters in der Gesellschaft und Ihr künstlerisches Selbstverständnis als Theaterleiter sprechen, kurz nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg. Es ist eine Frist von fünf Jahren, die das Wahlergebnis den regierenden Parteien verschafft hat, um den Riss in der Gesellschaft zu heilen. Aber zunächst stellt sich die Frage: Ist der Osten tatsächlich das unbekannte Wesen, als das er uns in den Medien immer präsentiert wird? Herr Mensching,

Sie haben in einer Intendanten-Umfrage des MDR von „Blindwut“, „Respektlosigkeit“ und „Verlust an Dialogfähigkeit“ gesprochen – meinen Sie damit nur den Osten, und was sind die Ur­ sachen dieser Krise in der Gesellschaft? Steffen Mensching: Ich kann mit der Zuschreibung, dass es sich um ein ostdeutsches Problem handele, nicht viel anfangen. Man müsste sicher spezifizieren, warum die Probleme, die in der DDR-Geschichte als Familiengeschichte – Bettina Jahnkes Inszenierung von Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ am Hans Otto Theater in Potsdam, hier mit Henning Strübbe. Foto Thomas M. Jauck


/ TdZ  Oktober 2019  /

­ esellschaft auftreten, im Osten vielleicht radikaler zutage treten, G aber die Phänomene sind nicht nur ostdeutsch, auch nicht nur deutsch. Auch finde ich den Begriff des Heilens falsch. Es gibt keinen Krankheitsfall. Es geht vielmehr um den Zustand eines Gesellschaftsmodells, das kapitalistische Demokratie heißt. Warum sind solche Entwicklungen möglich? Ist die Klasse der Besitzenden gar nicht mehr an diesem Gesellschaftsmodell interessiert? Hat sich dieses für sie überlebt, weil andere Strukturen viel mehr Profit garantieren? Ist die Demokratie inzwischen vielleicht eher hinderlich und damit auch die Zivilgesellschaft? Die Abschiebung des Problems auf die Abgehängten, die Unterprivilegierten, die strukturschwachen Regionen scheint mit zu kurz gegriffen. Dorte Lena Eilers: Bettina Jahnke, in Potsdam ist das Wahlergebnis, was die Stimmen für die AfD angeht, mit 9 Prozent beziehungsweise 17,5 Prozent in den beiden Wahlbezirken noch relativ gemäßigt. Anders als in Sachsen oder Thüringen fehlen im Wahlprogramm der AfD Brandenburg interessanterweise auch Bezüge zum Theater. Sind Sie in Potsdam weniger unter Druck? Bettina Jahnke: Potsdam ist tatsächlich eine Insel in einem Meer von Blau auf der Karte, und darum sind wir weniger von den Auswirkungen der Wahl betroffen. Aber die AfD sitzt auch hier im Stadtparlament, und das Hans Otto Theater hat als GmbH nun auch den ersten AfD-Politiker im Aufsichtsrat. Ich wurde in Wismar geboren und fühle mich als Ostdeutsche, darum bin ich bestürzt über die Auswirkungen der Wahl auf meine Kollegen in Brandenburg an der Havel, in Senftenberg oder Cottbus. Natürlich sind wir im Austausch miteinander, und die Frage ist, wie können wir darauf reagieren? Ich teile die Meinung von Steffen Mensching, dass sich in diesen Ergebnissen eine Krise des Kapitalismus zeigt. Wir müssen in unseren Theatern also vor allem ­Geschichten erzählen, die genau diese Krise beschreiben. Dafür haben wir jetzt fünf Jahre Zeit. Eilers: Das Theater Rudolstadt, das Theater Plauen-Zwickau sowie das Hans Otto Theater sind allesamt GmbHs. Was den Einfluss der AfD angeht, gelten die Aufsichtsräte als offene Flanke. Wie mächtig ist dieses Gremium bei Ihnen? Roland May: Die künstlerische Planung beeinflusst der Aufsichtsrat nicht, er ist ein Gremium wie in vielen anderen Gesellschaften auch … Eilers: … überwacht indes die Geschäftsführung. An der Oper ­Halle hat er in den vergangenen Jahren die Ausrichtung des Hauses entscheidend mit beeinflusst – freilich im Schulterschluss mit dem Geschäftsführer. Für Sie aber kein Grund zur Sorge? May: Das neue Kräfteverhältnis im Aufsichts- und Stadtrat Zwickau könnte problematisch werden. Stadträte der AfD und Linken in Zwickau artikulierten kürzlich Einsparpläne. Die Stadt Zwickau besetzt aktuell sieben der elf Sitze im Aufsichtsrat, da sie seit ­Kurzem die Hauptlast der Gesellschafterfinanzierung trägt. Ich habe gegen den Widerstand beider Oberbürgermeister erfolgreich wenigstens für ein Mitspracherecht des Stadtrats Plauen bei ­ Strukturveränderungen gekämpft. Decker: Ich würde gerne von der Krise des Kapitalismus den ­Bogen schlagen zu dreißig Jahren Vereinigungsgeschichte und dem Streit um die Deutungshoheit dieser Geschichte. Wenn man Walter Benjamin nimmt, für den Geschichte eine Erlösung von der Vergangenheit ist, zeigt ja dieses Schisma in Ostdeutschland

wahlen in sachsen und brandenburg

Bettina Jahnke, 1963 in Wismar geboren, studierte Theaterwissenschaften in Leipzig. 1994 ging sie als Regieassistentin und Regisseurin ans Staatstheater Cottbus. Zwischen 1998 und 2007 arbeitete sie als freie Regisseurin an verschiedenen Theatern in Deutschland und der Schweiz, war Dozentin an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig und ab 2005 Oberspielleiterin am Staatstheater Cottbus. 2009 übernahm sie die Intendanz am Rheinischen Landestheater Neuss. Seit der Spielzeit 2018/19 ist Bettina Jahnke Intendantin des Hans Otto Theaters in Potsdam. Roland May wurde 1955 in Weimar geboren. Er absolvierte eine Schauspielausbildung in Leipzig, anschließend spielte er am Theater in Erfurt und am Staatsschauspiel Dresden, wo er auch erste Inszenierungen verantwortete. Nach 1988 arbeitete er als freischaffender Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner sowie Schauspieler. Von 1991 bis 1993 war er als Schauspieldirektor am Vogtlandtheater Plauen engagiert. Von 2001 bis 2009 war Roland May Intendant und Geschäftsführer des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau, seit der Spielzeit 2009/10 ist er Generalintendant und Schauspieldirektor am Theater Plauen-Zwickau. Steffen Mensching wurde 1958 in Berlin geboren. Er studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Kulturwissenschaft und arbeitete zwanzig Jahre als freiberuflicher Autor, Schauspieler, Clown und Regisseur. Bekannt wurde er vor allem durch die Zusammen­ arbeit mit Hans-Eckardt Wenzel. Seine erste größere Gedichtsammlung erschien 1979, später folgten weitere Lyriksammlungen und Romane. Mensching ist Mitglied des Deutschen PEN. 1989 erhielt er den Heinrich-Heine-Preis der DDR, 2019 wird er für seinen R ­ ­ oman „Schermanns Augen“ mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. Seit der Spielzeit 2008/09 ist Steffen Mensching Intendant am Theater Rudolstadt.

auch, wie viel Unausgetragenes immer noch in dieser Geschichte steckt. Gründungsfehler, aus denen wiederum Kränkungen resultierten. Wenn Herkunftsräume, Nation und Tradition reflexartig rechts besetzt werden, entstehen so nicht weiße Flecken? Mensching: Ich würde mir die Jacke überhaupt nicht anziehen, weil ich viel zu sehr in der deutschen Sprache und in der deutschen Literatur zu Hause bin, als dass ich mich da jemals kosmopolitisch-liberalistisch rausgemogelt hätte. Wir haben in den letzten zehn Jahren einen Spielplan gemacht, in dem die Klassik einen zentralen Platz einnimmt – von der Bibel bis Bulgakow. Die ästhetischen Formen, mit denen wir dies tun, hängen wiederum damit zusammen, an welchem Ort wir Theater machen. Wir betreiben Theater nicht für das Feuilleton, sondern für die Leute vor Ort. Insofern treffen solche Unterstellungen, die man ja den linksliberalen Künstlern, zu denen ich mich stolz zähle, immer wieder macht, mich nicht. Vielleicht bin ich ein bisschen überempfindlich, was diese ostdeutschen Leiden angeht. Von Heiner Müller gibt es einen Satz, in dem es sinngemäß heißt: Wenn sie erst ihre Westwagen haben, wollen sie auch Herrn Honecker zurück. Das heißt nicht, dass ich die deutsch-deutsche Einheit als einen wun-

/ 17 /


/ 18 /

thema

/ TdZ Oktober 2019  /

Steffen Mensching, Roland May und Bettina Jahnke. Fotos Anke Neugebauer, André Leischner und Thomas M. Jauck

derbaren Prozess ansehe. Natürlich gibt es da Unwuchten, kriminelle Aktivitäten, was die Treuhand angeht, die Nichtachtung von Lebensleistung und so weiter. Aber das Wahlverhalten aus der Kränkung der Ostdeutschen heraus zu interpretieren, greift mir ehrlich gesagt zu kurz. Wenn man sich die Wahlanalyse anschaut, sind es nicht primär die in prekären Verhältnissen Lebenden, die AfD wählen. Ich kann das zumindest für Rudolstadt sagen. Der Vor- und Nachteil einer Kleinstadt: Ich weiß in etwa, wer AfD gewählt hat, ich kenne den Zahnarzt, ich kenne den Rechtsanwalt und so weiter. Es geht eben auch um Lebensentwürfe jenseits des gehobenen Konsums. Die Linken und auch die Sozialdemokraten haben sich den letzten Jahren auf die soziale Frage eingeschossen. Das ist ein wichtiger Punkt! Andere Fragen haben sie unterschätzt, unter anderem die von Kultur, die eben auch identitätsstiftend sein kann. Woher kommen wir? Was von dieser Herkunft hat noch Bestand? Wohin geht die Reise? In dieses Defizit, diese Lücke, grätschen die klügeren Strategen der neuen Rechten hinein. Decker: Wertekrise, Sinnvakuum, und am Ende redet man nicht mal mehr miteinander. Müssten die Theater nicht die Ersten sein, die sich damit auseinandersetzen, auch um wieder Brücken zu bauen? Jahnke: Ich bin keine Politikerin, auch keine Politwissenschaft­ lerin und werde jetzt nicht die Wahlen analysieren. Für mich ist die Frage, was ich als Theaterfrau machen kann. Welche Geschichten müssen wir erzählen, welche Texte sind jetzt dran? Natürlich müssen wir den Dialog, der abgerissen ist, im Theater wiederherstellen. Ganz gleich, ob das über eine Bürgerbühne, Förderkreise oder Zuschauergespräche läuft. Ich bemerke in Potsdam ein immens großes Bedürfnis der Leute zu reden. Gerade bei so einem Text wie „Viel gut essen“ von Sibylle Berg, der einen Wutbürger auf die Bühne stellt, der über Ausländer, Feministinnen, Hipster, Homosexuelle wettert. Im Zuschauergespräch knallen danach regelmäßig die Meinungen aufeinander. Darin sehe ich die Zukunft des Theaters: zusammen Freiräume zu bilden, in denen man

auch über Identität oder Herkunft reden kann. Darum machen wir jetzt von Jurek Becker „Wir sind auch nur ein Volk“. Allerdings muss man ebenfalls sehen, dass siebzig Prozent der AfD-Wähler, die Zahl steht ja im Raum, nicht nur aus Protest gewählt haben. Die stehen hinter einem Programm, das sich aus Rassismus und Menschenfeindlichkeit speist. May: In Plauen haben wir es im Stadtparlament noch mit dem Dritten Weg zu tun, einer nationalradikalen Partei. Aber was sind die Hintergründe des Konflikts? Wie die Währungsunion vom Bonner Finanzministerium ab 1990 durchgepeitscht und im Gegenzug die Wirtschaft der DDR quasi beschlagnahmt wurde, auch um Konkurrenz auszuschalten, war atemberaubend. Da wurde vielen Leuten nicht nur die Arbeit genommen, sondern auch ihr sozialer Zusammenhalt. 2008 kam dann die Bankenkrise, die uns schmerzhaft vorführte, dass Banker nicht haftbar sind für ihre Fehler. Ab 2015 drehte sich im Zuge des Migrationsthemas plötzlich jedes dritte Gespräch um den radikalen Islam. Dabei ging es weniger um Flüchtlinge, die in der Stadt sind, sondern vielmehr um eine Projektion in die Zukunft. Wie wird dieses Land künftig aussehen? Wie können wir das beeinflussen? Das ist ein Thema, das viele bewegt, mich eingeschlossen. Eilers: In einer parlamentarischen Demokratie erfolgt politische Einflussnahme eben vorrangig durch Wahlen, durch Repräsentation. Trotzdem fühlen sich, so zumindest die Erzählung, viele Menschen fremdbestimmt. Nur eine Krise der repräsentativen Demokratie? May: Im antiken Athen wie auch bei den Dogen in Venedig entschied früher ein Losverfahren über die Beteiligten bei anstehenden Großentscheidungen beziehungsweise darüber, wer auf Zeit an die Macht kam. Ein Beteiligungsmodul, das meiner Ansicht nach Volksentscheiden vorzuziehen wäre. Mensching: Ja, genau. Der belgische Historiker David van Reybrouck hat darüber ein sehr kluges Buch geschrieben mit dem Titel „­Gegen Wahlen“. Ein Versuch, die Dinge mal anders zu denken.


/ TdZ  Oktober 2019  /

Jahnke: Aber Treuhand hin oder her: Die Ostdeutschen haben mit den Füßen abgestimmt! Die wollten nicht in den Westen wegen der Demokratie, sondern wegen der D-Mark, das darf man nicht vergessen. Damals wäre die Chance gewesen, diese Welt anders zu gestalten! Decker: Der Riss ging bereits durch die ostdeutsche Wendegesellschaft, zu sehen im Wechsel der Transparente von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“. Mensching: Aber diejenigen, die „Wir sind das Volk“ gerufen haben, waren eine Minderheit, machen wir uns mal nichts vor. Jahnke: Wir sind heute wieder eine Minderheit! Mensching: Die Vertreter der sozialistischen Intelligenz von Stefan Heym bis Volker Braun sind sozusagen ausgetrieben worden, aber auf Monika Maron, Vera Lengsfeld und Uwe Tellkamp, die schon damals nationalkonservative Leute gewesen sind, hat man gesetzt – und jetzt wird man die Geister, die man rief, nicht wieder los. Jahnke: Na ja, aber die Geister sind ja noch viel älter. Stichwort verordneter Antifaschismus in der DDR. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass in diesem Gründungsmythos der DDR ein Ursprung liegt. Ines Geipel hat ein sehr spannendes Buch geschrieben, „Umkämpfte Zone“, in dem sie genau diesen Weg noch einmal nachverfolgt. Der Typus, der 1933 braun gewählt hat, wählt heute wieder so. Die Wurzeln reichen ja nicht nur in die Zeit der Wiedervereinigung zurück, sondern bereits in die der Gründung der DDR. Decker: Aber hier eine bruchlose Linie zu ziehen … Jahnke: Ja!

wahlen in sachsen und brandenburg

Decker: … von einer Diktatur in die nächste? Jahnke: Absolut! Decker: Da würde ich widersprechen, weil die Gründung der DDR ja nun eigentlich die Antwort auf die Verbrechen des Nazi-Regimes war … Jahnke: Sie war gar keine Antwort, sie war die Wiederholung des Gleichen nur unter anderen Vorzeichen. Mensching: Das sehe ich anders. Wenn man sich die Spitzen­ kandidaten der AfD anschaut, Björn Höcke in Thüringen … Eilers: … Andreas Kalbitz in Brandenburg … Mensching: … sie besitzen alle eine saubere Westbiografie. Jahnke: Ja, man fragt sich, warum sich die Ostler so von den Rattenfängern vereinnahmen lassen. Warum haben sie keine eigene Haltung dazu? Eilers: Die Definitionshoheit des Westens wird kritisiert, gleichzeitig folgt man rechten Ideologen aus dem Westen. May: Aber nicht jeder Wähler beschäftigt sich mit den Biografien derer, die sie wählen. Jahnke: Kalbitz wurde nachgewiesen, dass er 2007 an einer rechtsextremen Demonstration in Athen teilnahm. Geschadet hat ihm das nicht. Mensching: Die AfD hat den großen Vorteil, aus der radikalen ­Opposition heraus zu agieren. Sie kann alles behaupten. Und die anderen, das ist das Dilemma, müssen versuchen, die Misere zu verwalten. May: Der Baggerfahrer im Braunkohlerevier will einfach wissen, wie er nach dem Kohleausstieg wieder Arbeit finden soll.

Ausschreibung für Autorinnen des Jugendtheaters

KATHRIN-TÜRKS-PREIS 2020 Die Burghofbühne Dinslaken lobt gemeinsam mit der Niederrheinischen Sparkasse RheinLippe und der Stadt Dinslaken den Kathrin-Türks-Preis 2020 aus. • Der Preis richtet sich ausschließlich an Frauen. • Das Stück soll sich an Jugendliche ab 12 Jahren richten. • Das Stück muss frei zur UA bzw. DSE sein

Senden Sie bis zum 31. Januar 2020 sechs gedruckte Exemplare des Manuskriptes ohne Autorenkennung, ein separates Titelblatt mit Autorenkennung, ein digitales Exemplar des Manuskriptes im PDF-Format (per E-Mail an: kaltenbacher@burghofbuehne-dinslaken.de) und eine kurze Vita an: Burghofbühne Dinslaken KTP 2020 Gerhard-Malina-Straße 108 46537 Dinslaken

/ 19 /


/ 20 /

thema

/ TdZ Oktober 2019  /

Jahnke: Aber Antworten hat auch die AfD nicht. Sie gibt den Leuten bloß eine neue Identität. Da ist doch die Frage: Welche Identität können wir als Theater anbieten? Eilers: Und zwar als offene Konstruktion. Von der Rechten wird der Begriff geschlossen. Die AfD in Sachsen, Brandenburg und Thüringen ist ganz vernarrt in Brauchtumspflege. Förderprogramme wie das „Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit“, siehe Landeswahlprogramm Thüringen, werden als Gesinnungspolitik abgetan. Jahnke: Es ist aber auch nötig, von dem reflexartigen Bezug auf die AfD wegzugkommen. Mensching: Ich finde wichtig, überhaupt erst mal deren Konzept zu durchschauen. Jahnke: Aber wir müssen doch über unsere Utopien reden! Decker: Vor zehn Jahren schrieb Stéphane Hessel das großartige Manifest „Empört Euch!“. Wem gehören die Städte, der Staat, fragte er – und wem gehört unsere Geschichte? Dieses Wiederaneignungsgebot wurde als Befreiungsmanifest begriffen. Inzwischen ist dieses Gebot dem Wutbürger angehängt worden – als etwas vollkommen Negatives. Warum hat dieser ursprüngliche Aufruf, seine Bürgerrechte einzufordern, durchaus auch mit starken Emotionen, seinen emanzipatorischen Charakter verloren? Eilers: In der ideologischen Aneignung und Überformung von Begrifflichkeiten ist die AfD taktisch geschickt … Jahnke: „Vollende die Wende!“ Eilers: Auch die Bezeichnung als „bürgerliche Volkspartei“. Bürgerlich hieße: nicht radikal, also koalitionsfähig.

Saison 2019 / 20 www.kurtheater.ch

May: Entscheidend ist doch, dass breitere Partizipation stattfindet. Unsere Volksvertreter interessieren sich verständlicherweise für die Wiederwahl und alternativ, Stichwort Lobbyismus, für lukra­ tive Jobs danach. Hier gibt es massive Glaubwürdigkeitsprobleme. Vielleicht sollten mit guter finanzieller Dotierung ab Landtag aufwärts nur noch einmalige Mandate für fünf Jahre vergeben werden. Decker: Es geht aber immer auch um Widerspruchsbewusstsein, mit dem man diese gefährliche Tendenz zu Parallelgesellschaften im Osten überwinden kann. Das Bewusstsein von Drama und ­Tragödie, davon, dass die Geschichte nun mal auch ein brutaler Prozess ist, der nicht gerecht verläuft. Mensching: Wir müssen uns natürlich über eins im Klaren sein: Diese Prozesse sind nicht nur Ausdruck von bösem Willen oder schlechtem Charakter oder ländlicher Begrenztheit – das sind die Auswirkungen einer neoliberalen Politik! Wenn wir diese brutale Art, miteinander umzugehen, nicht ändern, dann landen wir in einer Situation wie am Ende der DDR, wo es alternative utopische Wirtschaftsmodelle gab, die aber überhaupt nicht ernst genommen wurden und sofort in die Tonne wanderten. Das berührt genau die Punkte, vor denen die Gesellschaft jetzt steht. Und wenn man dann so tut, als wäre es ein rein ostdeutsches Problem, verkennt man seine Ernsthaftigkeit. May: Demokratie kann auch abgewählt werden. Das hat uns ­Michel Houellebecq in „Unterwerfung“ vorgeführt. Zum Verlust von Würde und Status hat Heiner Müller im Umbruch 1990 an­ gemerkt: „Es werden Pogrome kommen, Aggressionen auf der Straße.“ Alles ist passiert und passiert weiter. Eilers: Spielerisch Widerspruchsbewusstsein erzeugen kann Theater, wird es doch meist erst dann interessant, wenn man als Zuschauer im Dissens zu dem steht, was auf der Bühne verhandelt wird. Gleichzeitig ringt es mit Angeboten wie Bürgerbühnen und Partizipationsprojekten um Beteiligung. Ein Widerspruch? Mensching: Beteiligt sein heißt nicht zwangsläufig, dass ich Teil einer Inszenierung werde oder auf die Bühne springe. Sondern: Geht das, was da verhandelt wird, mich etwas an? Oder textet jemand von oben auf mich herunter? Wenn man auf der Bühne steht, dann weiß man: Auf diesen Augenblick kommt es an. Wird da zwischen dem, der da oben steht, damit man ihn besser sieht, und dem, der zuhört, etwas kommuniziert? Vor anderthalb Jahren wurde ich ins Ballhaus Naunynstraße in Berlin zu einer Podiumsdiskussion „Gegen Rechts“ eingeladen. Ich wurde sozusagen als Mann vom Lande, der aus der Frontstadt kommt, hinzugebeten. Unter anderem habe ich dort erzählt, dass meine Zuschauer teilweise AfD-Wähler sind, ganz klar, ich aber natürlich mit ihnen leben müsse, ich muss mit ihnen auf dem Marktplatz diskutieren, das ist mein Publikum. Und genau das wollte keiner dort hören, ich wurde ausgebuht. Eilers: Was folgt nun daraus? Mensching: Da sind wir genau an dem Punkt angekommen, um den es in der Gesellschaft geht. Sobald die Leute das Gefühl haben, sie werden nicht ernst genommen als Subjekte, zerbricht der Konsens. Subjekt sein heißt, eine Zukunft zu haben, beteiligt zu sein. Wenn aber dieser Punkt der Gesprächsverweigerung eintritt, dann ist das Tischtuch zerschnitten. //


Premieren 19/20 Bella Ciao Intendanz Prof. Dr. Dr. Nix

KASIMIR UND KAROLINE ab 11.10.2019

Volksstück von Ödön von Horváth Regie Christoph Nix, Zenta Haerter

WONDERFUL WORLD (ARBEITSTITEL)

ab 14.02.2020

Ein Liederabend mit den Welthits des Jazz Regie Mark Zurmühle URAUFFÜHRUNG

DIE TAGE DER COMMUNE ab 08.11.2019

Schauspiel nach Bertolt Brecht Regie Johanna Schall

WEIN UND BROT ab 13.03.2020

Freilichtspiele Münsterplatz

HERMANN DER KRUMME ODER DIE ERDE IST RUND. (ARBEITSTITEL)

ab 19.06.2020

Freilichtspektakel von Christoph Nix Regie Christoph Nix, Mark Zurmühle URAUFFÜHRUNG

Schauspiel nach dem Roman von Ignazio Silone Regie Oliver Vorwerk URAUFFÜHRUNG

ONKEL TOMS HÜTTE

GLÜCKLICHE TAGE

Bodensee

THEATERSCHIFF ATLANTIS

URAUFFÜHRUNG

Schauspiel von Samuel Beckett Regie Wolfram Mehring

ZWEI TAGE, EINE NACHT

DER HIMBEERPFLÜCKER

ab 08.05.2020

Schauspiel nach dem Filmdrama von Jean-Pierre und Luc Dardenne Regie Martin Nimz

Komödie von Fritz Hochwälder Regie Annette Gleichmann

(ARBEITSTITEL)

ab 14.12.2019

Schauspiel nach dem Roman von Harriet Beecher Stowe

ab 17.01.2020

URAUFFÜHRUNG

ab 04.04.2020

ab 24.04.2020

DIE SIEBEN TODSÜNDEN ab 15.05.2020

Ballett mit Gesang von Kurt Weill und Bertolt Brecht Regie/Choreografie Zenta Haerter

– Utopien schaffen, zum Träumen verleiten, die Zukunft erforschen Eine interaktive Schiffspassage mit Texten von Maximilian Lang Regie Andrej Woron URAUFFÜHRUNG


/ 22 /

Aus dem Jammertal namens Welt „Ich kann nichts Positives an Europa entdecken“ – Die moldawische Dramatikerin Nicoleta Esinencu wütet gegen die Ausbeutung Osteuropas

von Renate Klett


nicoleta esinencu

Theatraler Amoklauf Moldawiens gegen die Demütigung durch die EU – „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“ von Nicoleta Esinencu und ihrem Teatru Spălătorie. Foto Ute Langkafel

der Hauptstadt Chişinău. Ein kleiner Saal mit kleiner Bühne und achtzig Plätzen im Kellergeschoss, schlicht, aber liebevoll eingerichtet. Das 2010 gegründete Theater zeigt auch Filme, veranstaltet ­Lesungen und Diskussionen und ist ein wichtiger Treffpunkt für Gleichgesinnte. Aber nur sie scheinen es zu kennen – als ich mich dorthin durch­frage, lande ich jedes Mal beim Staatstheater. Eines ihrer frühesten Stücke heißt „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“ und ist eine krude, wüste, auch komische Beschimpfung all dessen, wofür Europa steht; wütender Amoklauf eines kleinen Landes gegen die Demütigung und Ausbeutung durch einen übermächtigen Gegner. Geschrieben 2003, inszeniert 2005, wurde der Text im gleichen Jahr neben anderen im leer geräumten Rumänischen Pavillon auf der Biennale in Venedig ausgelegt. Der politische Ärger in ­Rumänien war groß: Warum ein leerer Pavillon, warum solche Texte! Sie muss heute noch lachen, wenn sie darüber spricht.

A

ls wir uns das erste Mal begegneten, das war 2006, fragte ich sie, was ich mir in Moldawien anschauen solle, im Land und im Theater. „Don’t go“, sagte sie. – „But I want to go. I’ve never been there“, erwiderte ich. – „There is nothing to see“, war die Antwort. Und so ging es gut zehn Minuten hin und her, bis ich aufgab und wir über Lieblingsfilme sprachen – da konnten wir uns schnell einigen. Es dauerte fast zehn Jahre, bis ich endlich nach Moldawien fuhr, und ich war sehr beeindruckt von dem kleinen Land voller Widersprüche, Schönheiten und Absurditäten. Bei der einwöchigen Reise durch die Republik Moldau und Transnistrien begriff ich, wie seltsam Nicoleta Esinencu sich ausnehmen muss in dieser Umgebung, und wie wichtig es ist, dass es sie gibt. Sie und ihr Teatru Spălătorie. Der Name bedeutet Wäscherei und verweist auf die vormalige Funktion dieses Orts im Zentrum

Am Anfang war das Wort – das Nicoleta Esinencu in „Who Run the World – Das Evangelium nach Maria / Apokalypse nach Lilith“ (hier mit Doriana Talmazan) aus weiblicher Perspektive umschreibt. Foto Alex Wunsch

/ 23 /


/ 24 /

protagonisten

Derzeit mit einem Stipendium in Berlin – Nicoleta Esinencu. Foto Krzysztof Zielinski

2018 beschäftigt sich Esinencu erneut mit dem Thema und schreibt ein „Requiem für Europa“. Diesmal ist der Tonfall souveräner: Spott statt Wut, Analyse statt Anklage, das Ganze eine ­Mischung aus hämischer Ironie und kabarettistischer Weisheit. Moldawien ist noch immer nicht in der EU, aber ein eifriger Zulieferer billiger Arbeitskräfte für internationale Investoren. Drei Frauen rackern unentwegt an ihren Nähmaschinen. Sie sind stolz, dass sie für elegante Textil- und Modefirmen in Westeuropa arbeiten, und voll des Lobes für ihren Chef, der sie unter dem Mindestlohn bleiben, länger arbeiten und schöne Taschen herstellen lässt, während ihre Kinder für die Schule doch nur Plastiktüten haben. Ein besonderer Verkaufsschlager ist ein von ihnen genähtes T-Shirt mit dem Weltbank-Slogan „End of Poverty“. Diesmal geht es wirklich unter die Haut. Am Ende surren die Nähmaschinen die Europahymne und lassen sie sanft in Verdis „Messa da Requiem“ übergehen.

Umzingelt von der Propaganda des Kapitalismus „Ich bin in der Sowjetunion geboren“, sagt Nicoleta Esinencu, „und während ich aufwuchs, verschwand sie und all ihre Maxi-

/ TdZ Oktober 2019  /

men und Grundsätze mit ihr. Plötzlich waren wir umzingelt von der Propaganda des Kapitalismus und des Konsums, und die ­Manipulation war ziemlich brutal. Es gibt viele Enttäuschungen, es gibt viele Fragen. Die neokolonialistische Attitüde der EU Osteuropa gegenüber ist unübersehbar. Ich kann im Moment nichts Positives an Europa entdecken.“ Dass es Theater und Institutionen aus Europa sind, die viele ihrer Arbeiten überhaupt erst ermöglichen, lässt das Gefühl der Demütigung vermutlich noch größer werden. „Dear Moldova, can we kiss just a little bit“ (UA Münchner Volkstheater, Radikal jung 2014) ist eine ihrer berührendsten Arbeiten. Die szenische Dokumentation über das Leben Homosexueller in einem extrem homophoben Land kommt ganz unsentimental und sehr überzeugend daher. Sechs Männer und Frauen erzählen Geschichten von Angst und Verzweiflung, aber auch von Glück und Geborgenheit. Es sind ihre eigenen Geschichten, die sie hier vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben öffentlich machen. Dabei schnippeln sie Gemüse und kochen Borschtsch, der nachher gemeinsam mit dem Publikum gegessen wird (Regie Jessica Glause). Homosexualität ist nicht verboten in Moldawien, aber so sehr tabuisiert, dass viele daran ersticken. Doch es tut sich was: „Beim ersten Gay Pride gab es vierzig Teilnehmer – letztes Jahr waren es fünfhundert!“, sagt Nicoleta Esinencu und ist zu Recht stolz darauf, dass ihr Stück zur Sichtbarmachung beigetragen hat. Auch „Clear history“ (2012) ist ein Tabubruch. Es thematisiert die massenhafte Deportation von Juden aus Moldawien, damals Bessarabien, im Jahr 1941, oft unter tatkräftiger Beteiligung und Jubel der lokalen Bevölkerung. Diese Tatsachen werden heute verschwiegen oder gar geleugnet. Esinencu selbst hat bei einem Stipendienaufenthalt in Deutschland zum ersten Mal davon erfahren. Das Thema ließ sie nicht mehr los. Sie recherchierte sehr lange und gründlich und lässt auf der Bühne im besten ­Dokumentartheater-Stil Berichte vorlesen und Videos projizieren. 250 000 Juden, Roma und Sinti wurden aus dem kleinen Bessarabien in KZs in Transnistrien verschleppt und dort umgebracht, viele davon aus Dörfern, die nach einer Volkszählung von 1930 bis zu neunzig Prozent von Juden bewohnt waren. Die Fakten werden nüchtern vorgetragen und prägen sich schmerzlich ein. Nur ganz am Schluss gibt es eine versöhnliche Geste: Eine Frau erklärt ein jüdisches Kind zu ihrem Sohn und rettet ihm damit das Leben. Nicoleta Esinencu, 1978 in Chişinău geboren, studierte Thea­ ter und Bühnenbild an der dortigen Kunsthochschule. Nach dem Abschluss arbeitete sie als Dramaturgin am Eugène Ionesco Theater, aber dort war es ihr zu konventionell. Also machte sie sich selbständig und gründete mit Freunden eine freie Gruppe, was damals sehr ungewöhnlich war in Moldawien. Irgendwie überlebten sie, wurden eingeladen nach Rumänien und früh schon nach Deutschland. Bis heute erhalten sie keine Unterstützung vom moldawischen Staat, wollen sie auch nicht, wohl aber immer wieder vom Goethe-Institut, deutschen Stiftungen oder Theatern. Ihre Arbeitsweise beschreibt sie wie folgt: „Wir einigen uns auf ein Thema, dann gibt es umfassende Recherchen dazu, wir tauschen uns aus, legen grob eine Richtung fest, in die es gehen soll. Ich fordere die Schauspieler auf, Szenen zu schreiben, daraus ergeben sich Eckpunkte. Die endgültige Textfassung mache ich. Dann inszeniere ich das Stück, aber auch das geschieht eher kol-


nicoleta esinencu

/ TdZ  Oktober 2019  /

lektiv. Wir improvisieren viel über die einzelnen Szenen, und es ist letztlich immer eine Gemeinschaftsarbeit.“ Sie sieht sich eher als Dramatikerin denn als Regisseurin. Die Regie soll den Text unterstützen, nicht mehr und nicht weniger. Die Aufführungen haben manchmal etwas Statuarisches, mitunter fast Steifes, weil der Text so wichtig ist, dass die Form auch schon mal vernachlässigt wird. Andererseits verdichtet sich die Dringlichkeit der Botschaft durch diese Rigorosität. Nicoletta Esinencu behauptet nicht zu wissen, wie viele ­Stücke sie geschrieben hat – „An die zwanzig vielleicht?“. Aber eins ist klar: Jedes ist anders. Mal sind es Doku-Dramen („Antidot“), mal beschreiben sie am Schicksal einer Person die Ungerechtigkeit von Träumen und Versprechen („American Dream“), mal provozieren, mal verlachen sie die große Politik oder die kleinen Ungereimtheiten, aber immer sind es aufrichtige, empathische Beschreibungen aus einem Jammertal namens Welt. ­Anders als viele ihrer westeuropäischen Kollegen hat Esinencu keine Masche, kein Rezept, nachdem sie die unterschiedlichsten Themen zusammenknautscht, sondern jedes Mal einen über­raschend frischen Ansatz. Deshalb ist man auf jedes neue Stück gespannt.

Wer regiert die Welt? 2017 gab die Theater-Wäscherei ihren festen Stammsitz auf. Vielleicht hatten sie zu viel schmutzige Wäsche gewaschen, ganz sicher zu viel gearbeitet, sie wollten mehr Zeit für sich und weniger

Geldsorgen. (Das alte Haus ist inzwischen abgerissen, ein neues wird gebaut mit lauter Luxuswohnungen). Jetzt müssen sie Säle mieten in Chişinău, und die Premieren finden zunehmend im Ausland statt. Vergangenes Jahr zum Beispiel brachten sie am Theater Rampe in Stuttgart „Who Run the World?“ heraus, einen Doppelabend aus Esinencus „Das Evangelium nach Maria“ und „Apokalypse nach Lilith“. Ihre nächste Premiere ist am 15. Oktober am HAU Hebbel am Ufer in Berlin. „Die Abschaffung der Familie“ heißt das Stück, das sich mit modernen Familienstrukturen und Familiensagas beschäftigt: von patriarchalen bis hin zu Fraumit-Kind-Versionen, von Oma-Kind-Familien, bei denen die Eltern im Ausland arbeiten, bis hin zu Partnerschaften ohne Nachwuchs. Durch den Tod ihrer Eltern mit dem Familienthema konfrontiert, beschäftigen Esinencu eher die abgründigen Aspekte von Fami­ lien wie Gewalt, Unterdrückung, Lebenslügen und Verleumdung, Themen, die sie in ihrem Stück von einem Theaterchor kommentieren lässt. Derzeit lebt Esinencu mit einem DAAD-Stipendium für ein Jahr in Berlin. Sie genießt diesen Aufenthalt, ist aber nicht versucht, auf Dauer hier oder woanders in Westeuropa zu bleiben. „Dann wäre ich eine Migrantin, und das ist ein schweres Leben“, sagt sie. „Fast eine Million der viereinhalb Millionen Moldauer ­haben das Land verlassen, und die meisten von ihnen werden nicht wiederkommen. Ich möchte dort bleiben, dort arbeiten, etwas ausrichten und verändern. Das ist mir wichtiger als mir im Westen ein schönes Leben zu machen.“ //

ÖDÖN VON HORVÁTH KASIMIR UND KAROLINE REGIE CHRISTINA TSCHARYISKI PREMIERE AM 29.09.2019 PETER RICHTER 89/90 REGIE SASCHA FLOCKEN PREMIERE AM 11.10.2019 ELFRIEDE JELINEK WUT REGIE HERMANN SCHMIDT-RAHMER PREMIERE AM 18.10.2019 E. T. A. HOFFMANN DER SANDMANN REGIE STEF LERNOUS KOPRODUKTION MIT ABATTOIR FERMÉ PREMIERE AM 19.10.2019 PAUL MAAR IN EINEM TIEFEN, DUNKLEN WALD... REGIE MIRIAM GÖTZ PREMIERE AM 24.11.2019

FRIEDRICH SCHILLER MARIA STUART REGIE MARTIN KINDERVATER PREMIERE AM 16.01.2020

LISPLE... HIMMEL DER BEGEISTERUNG (VAGHE STELLE DELL’ORSA FRIBURGHESE) REGIE HANS-PETER LITSCHER MÄRZ + JUNI 2020

FERDINAND SCHMALZ DER TEMPELHERR REGIE EIKE WEINREICH PREMIERE AM 29.11.2019

NACH WILLIAM SHAKESPEARE DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG REGIE EWELINA MARCINIAK PREMIERE AM 13.03.2020

EINE SCHAUSPIELPRODUKTION MIT MUSIK REGIE MAŁGORZATA WARSICKA PREMIERE AM 09.05.2020

THEATER.FREIBURG.DE

URAUFFÜHRUNG DIRK LAUCKE NUR DAS BESTE REGIE BASTIAN KABUTH PREMIERE AM 27.03.2020

FLINN WORKS GLOBAL BELLY REGIE SOPHIA STEPF FREIBURG-PREMIERE AM 13.06.2020

/ 25 /


protagonisten

/ TdZ Oktober 2019  /

Den Fluss der Zeit anhalten Die Schauspielerin Julia Koschitz bringt ihr Publikum im Kleinen Theater Kammerspiele Landshut zum Frösteln und zum Träumen von Christoph Leibold

D

reißig Jahre Altersunterschied! Geht das? Kann man mit 44 eine 14-Jährige spielen? Klar kann man, zumindest im Thea­ter, wo man ja auch mit 32 eine 52-Jährige spielen kann. „In mehreren Arbeiten, die ich mit Sven gemacht habe, war Alterslosigkeit eine Verabredung“, erklärt Julia Koschitz. Sven, das ist Sven Grunert, Intendant am Kleinen Theater Kammerspiele Landshut. Ehe Koschitz vor der Kamera K ­ arriere machte, spielte sie regel­mäßig bei ihm. Inzwischen hat sie sich zu einer der gefragtesten Schauspielerinnen ihrer Generation in Fernsehen („Doctor’s Diary“) und Film (zuletzt im Kino: „Wie gut ist deine Beziehung?“) entwickelt. Jetzt aber ist ­Koschitz nach Landshut auf die Bühne zurückgekehrt. Um Isa zu spielen. Eine 14-Jährige eben. Isa ist das Mädchen von der Müllkippe, das den Teenager-­Helden in Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Tschick“ auf ihrem Roadtrip durch die ostdeutsche Provinz begegnet. Als sich Herrndorf 2013 das Leben nahm, um dem Krebstod zuvorzukommen, hinterließ er das Romanfragment „Bilder deiner großen Liebe“. Darin hatte er Isa zur Hauptfigur erhoben. Landauf, landab wird „Bilder deiner großen Liebe“ derzeit in der Theaterfassung des Dramaturgen Robert Koall gespielt, der auch schon „Tschick“ bühnentauglich aufbereitet hat. Die Landshuter Aufführung ragt aus der Fülle der Inszenierungen heraus. Trotz des Altersunterschieds – oder wahrscheinlich gerade deshalb – macht Koschitz den Abend zum Ereignis. „Isa hat in ihrer schonungslosen Art, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, etwas sehr Kindliches, andererseits wirkt sie unglaublich reif und weise. In ihr stecken Wille und Mut zur

Freiheit und Autonomie, die jugendlich-wild und lebenserfahren zugleich sind“, findet Koschitz. Wenn Isa auf dem Rücken auf der Wiese liegt und in den Nachthimmel schaut, dann kommt es ihr so vor, als sei ihr „Schädel ein Sieb, in dessen Mitte eine Kerze brennt, die Lichtpunkte über die Hemisphäre streut“. Ihr Versuch, diesen komplizierten Kosmos in den Kopf zu kriegen. Andere ­halten Isa wegen solcher Überlegungen für verrückt. Drum steckte sie auch in der ­Psychiatrie. Beziehungs­ weise: Von dort ist sie ausgebüxt. Buchstäblich ver-rückt ist aber eigentlich nur der Weg, den Isa durchs ­Leben nimmt. Weil er abseits jener Pfade verläuft, die allgemein als normal erachtet werden, bloß weil die Mehrheit sie stur entlangtrampelt. Isas „Problem“ ist schlicht, dass sie Gedanken zulässt, die die meisten verdrängen, weil sie den mensch­ ­lichen ­Verstand übersteigen. Fragen nach Tod, Vergänglichkeit und Unendlichkeit. „Ich kann mich erinnern, wie ich als Kind meinen Vater gefragt habe, wo das Universum endet. Und wo es anfängt. Sowohl in Raum als auch in Zeit. Herrndorf stellt diese Fragen in einem Text, den er schreibt, als er fast schon auf dem Sterbebett liegt. Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass man sich mit diesen Dingen vor allem am Anfang und am Ende des Lebens befasst und nicht so sehr in der Mitte. In der Mitte muss man vor allem funktionieren.“ Julia Koschitz scheint trotz ihres mittleren Alters prädestiniert für die Rolle. In ihrer Stimme klingt etwas Kindliches, fast Koboldhaftes an. Dazu ihr leicht scheuer Blick im offenen Gesicht, das sie aber auch in Falten legen kann, die von Erfahrung und Enttäuschungen mit dem Leben erzählen. So saugt Koschitz die Aufmerksamkeit des Publikums förmlich an. Auch, weil es in der behutsamen Landshuter Inszenierung von Sven Grunert ­wenig gibt, was von ihr ablenken könnte. Auf der Bühne: Ein mit Plastiktüten behängJulia Koschitz. Foto Stefan Klüter

/ 26 /


/ 27 /

ter Einkaufswagen, ein Mikrofonständer – das war’s weitgehend. Von Zeit zu Zeit greift sich Koschitz eine Gitarre und spielt ein paar Akkorde, die dann geloopt über Lautsprecher nachhallen. Ruhemomente zwischen den Szenen. Manchmal a­ tmet Koschitz auch nur schwer ins Mikrofon. Und wundersam verwandelt sich dieses Geräusch der Atemlosigkeit einer Figur auf der Flucht in das beruhigende Rauschen der Meeresbrandung. Ein Gefühl von Weite stellt sich ein, während die Gleichförmigkeit des Atems zugleich wirkt, als würde Koschitz aufmerksam in sich hineinlauschen. So ist ihre Isa außer sich und ganz bei sich zugleich. Ein Mensch, der dieses ganze schöne, schreckliche Universum in sich trägt. „Diese Figur“, sagt Regisseur Sven Grunert, „braucht trotz aller dunklen und rebellischen Facetten einen hohen naiven Anteil und große spielerische Lust. Diese Vielschichtigkeit ist die Grundlage unserer Isa.“ Das Koschitz das so großartig hinbekomme, betont er, erfordere auch „riesige schauspielerische Konzentration“. Als Kind österreichischer Eltern in Brüssel geboren, wuchs Julia Koschitz in Frankfurt am Main auf und kehrte erst zur Schauspielausbildung in die elterliche Heimat zurück. Ehe sie am Franz Schubert Konservatorium in Wien aufgenommen wurde, spielte sie mit dem Gedanken, Bühnenbildnerin zu werden. Schauspielerei? Dafür hielt sie sich für zu wenig extrovertiert. Die ersten Berufsjahre waren denn auch von Zweifeln begleitet. Als ihr der Intendant des Landestheaters Coburg nach dem Vorsprechen verkündete, sie könne den Schampus aufmachen, sie sei angenommen, dachte sie sich insgeheim „Scheiße, das war’s! Die Weichen für mein Leben sind gestellt!“, schob die Skepsis aber beiseite und trat das Erstengagement an. Später wechselte sie ans Theater Regensburg. „Im Endeffekt war der Weg gut für mich, weil ich mich so ohne Druck freispielen konnte, aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr, am schwarzen Brett nachzuschauen, wie ich als Nächstes besetzt wurde.“ Es folgte der mutige Schritt: Kündigung des Festenga­ge­ ments. Umzug nach München. Dort schauen, ob man einen Fuß

Kindlich oder weise? – Julia Koschitz stellt als Isa in Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“ Fragen nach Tod, Vergänglichkeit und Unendlichkeit. Foto Gianmarco Bresadola

bei Film und Fernsehen in die Tür bekommt. Zwei ­Begegnungen wurden entscheidend: Franz Xaver Bogner besetzte sie in seiner (vor allem in Bayern populären) schräghumorigen Polizeiserie „München 7“ (2004–2016) als streberhafte Jungpolizistin. Und Ralf Westhoff engagierte sie für sein Kinodebüt „Shoppen“ (2006). Da wurde schnell klar: Die Kamera liebt Julia K ­ oschitz. In Westhoffs Speed-Dating-Komödie spielte sie eine junge Frau mit neurotischen Zügen, deren konsternierter Blick von komplexen inneren Dramen erzählt. Die Welt nannte Koschitz einmal eine „Gesichtstänzerin“. Das passt – hat Koschitz doch in ihrer Kindheit und Jugend Ballett getanzt – und irritiert sie dennoch: „Als ich das gelesen habe, dachte ich mir: Oh Gott, das klingt nach hyperaktiver Mimik. Ich hoffe, ich beherrsche auch ruhige Tänze wie Blues oder Tango.“ Tatsächlich hat Koschitz von Stehtanz bis Pogo so ziemlich alles im Angebot. Wobei sie bei der Rollenauswahl für Filme stets darauf achtet, so besetzt zu werden, dass sie diese Vielfalt auch zeigen kann. Das Spektrum reicht von der depressiven Ärztin („Der letzte schöne Tag“, 2011) bis zur MS-kranken Architektin („Balanceakt“, 2019). Ihr Bühnenrepertoire gestaltete sich ähnlich weit gefächert, wobei sie in München nach dem Umzug nur auf kleinen B ­ ühnen stand. Koschitz begeisterten Arbeiten von Luk Perceval oder ­Johan Simons an den Münchner Kammerspielen, selber gespielt hat sie in der freien Szene. „Also ganz ehrlich: Ins Theater gegangen bin ich meistens da, wo ich selber nie gespielt habe. Aber was soll man machen? Die Kammerspiele wollten mich halt ­blöderweise nicht.“ So kam es, dass Sven Grunert sie erstmals im Münchner Teamtheater sah. Das Stück hat er vergessen. Aber Koschitz machte


/ 28 /

protagonisten

einen nachhaltigen Eindruck auf ihn: „Sofort begann meine Imagination zu tanzen. Sie hat mich mit ihrem inneren Erleben zum Träumen gebracht. Wie eine stille Meditation.“ Grunert lud sie ein zum Vorsprechen und besetzte sie als Abby in Neil LaButes „Tag der Gnade“ (2004). Der Beginn einer wunderbaren Theaterfreundschaft. Es folgten: „Antigone“ von Sophokles und Ibsens „Nora“, beide mit Koschitz in der Titelrolle – für Letztere erhielt sie den Darstellerpreis bei den Bayerischen Theatertagen 2006. Dazu kam Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ und als Höhepunkt 2007 Edward Albees Mutter aller Zimmerschlachten „Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“ mit Koschitz als Martha an der ­Seite von Andreas Sigrist als deren Ehemann George, der schon in „Nora“ und „Antigone“ ihr Spielpartner war. „Bei Julia war von Anfang an klar, dass sie keine Berührungsängste kennt“, erinnert sich Sigrist. „Wir mussten keinerlei Energie darauf verschwenden, Distanz zu überwinden und uns erst mal vorsichtig abzutasten. Sie warf sich sofort mutig in die Proben.“ „Ein schönes Kompliment!“, freut sich Koschitz. „Ich habe immer Kollegen bewundert, die gesagt haben: Lieber scheitern, als nichts Neues auszuprobieren. Da hinzukommen war auch eines meiner Ziele.“ Mutig war auch Sven Grunerts Albee-Inszenierung. Entschieden entriss er das Stück der boulevardseligen Aufführungs­tradition. Statt eines Wohnzimmers mit Couchgarnitur und Hausbar ließ er sich von Bühnenbildner Helmut Stürmer eine Mischung aus Gummizelle und Todestrakt bauen. Von der Decke baumelte ein Strick, darunter klaffte ein Schacht – als wäre gerade die Falltür unterm Galgen aufgeklappt. George und Mar-

/ TdZ Oktober 2019  /

tha, Albees in inniger Hassliebe vereintes Ehepaar, traten hier auf wie Henker und Delinquent. Da lag eine Kälte zwischen den Figuren, die frösteln machte. Mutig schließlich die Entscheidung, die midlife-krisengeschüttelte Martha (laut Albee 52) mit der damals erst 32-jährigen Julia K ­ oschitz zu besetzen. „Die Abgründe, die wir aufgespürt haben, trägt jeder Mensch in sich. Dazu muss man nicht in der Midlife-Crisis sein“, konstatiert Koschitz. Auch an Isa „zerrt der Abgrund“. „Aber“, sagt sie „ich bin stärker.“ Halt geben ihr Begegnungen. Julia Koschitz gibt auch den Figuren, die den Fluchtweg von Herrndorfs Streunerin kreuzen, ihre Stimme. Wozu sie diese minimal verstellt. Jedoch ohne je ins Chargieren zu verfallen. Ein Höhepunkt der Landshuter Inszenierung ist Isas Mitfahrt auf einem Kutter, dessen Kapitän sich als Philosoph der Entschleunigung erweist. Wenn Koschitz seine Geschichte eines Bankräubers erzählt (der seine Beute verbuddelt und jahrelang nicht anrührt, weil ihn allein der Gedanke an den vergrabenen Schatz mit tiefer Befriedigung zu erfüllen scheint), sitzt sie fast regungslos im Einkaufswagen auf der Bühne des kleinen Theaters, und es ist, als würde sie mit ihrer stillen Art des Erzählens den Fluss der Zeit anhalten. So nimmt sie das Publikum mit an einen Ort, wo Zeit und Vergänglichkeit keine Rolle spielen. Und Alter sowieso nicht. Vielleicht ist das das Geheimnis von Julia Koschitz: Dass sie auf der Bühne nicht alt ist und nicht jung. Sondern alles auf einmal. Da paart sich eine fast unbekümmerte Direktheit im Spiel mit einer Reife, die sie im Zweifelsfall lieber ein bisschen weniger machen lässt, als zu viel. Eher Rumba als Rock ’n’ Roll. Aber genauso mitreißend. //


/ TdZ  Oktober 2019  /

kolumne

Kathrin Röggla

Fahrstuhlmusik

J

etzt wird das Wort abgeschafft. Wieder einmal. Das hörbare Wort zumindest, das durchhörbare, aber nicht ständig durch­ gehörte Wort. Das Durchhören spielt in der Argumentation von öffentlich-rechtlichen Anstalten also bereits eine untergeordnete Rolle, wo doch bisher die Quote, das Durchhören und die Über­ alterung des Publikums alle Augenblicke angebracht wurden, um Mainstream durchzusetzen. Es war der Imperativ formaler Gleichmacherei, die immer schon zulasten des Wortes ging. Das Argument ist diesmal die Jugend. Die neuen Hörerinnen­ schichten, die es angeblich nur im Netz gibt, das keine Linearität ­aufweist und immer sofort kundgibt, was die Menschen eigentlich wollen, wobei das immer nur das ihnen Glei­ chende sein soll. Die Podcastseligkeit der Sen­ der der letzten Jahre war schon bemerkens­ wert. „Digital first!“, heißt jetzt die Devise, ja, wenn es nur so wäre! Der Verdacht, dass es nicht wirklich um Digitalisierung, sondern um Einsparung durch Digitalisierung geht, drängt sich auf – absurderweise. Denn eigentlich soll­ te bekannt sein, dass die Online-Betreuung teuer und aufwendig ist. Es ist die Art und Wei­ se, wie hier eine agonale Rhetorik des „digital vs. analog“ oder „jung vs. alt“ angewandt wird, die aus Kürzungsargumentationen bekannt ist, unter dem Motto: Der Kuchen reicht nicht für alle, obwohl das doch genau der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist. Dazu kommt die Vermutung, dass reine Online-Bei­ träge redaktionell geringere Wertigkeit haben könnten als die gesendeten. Und es bleibt zu bezweifeln, ob OnlineProduktionen auf dieselben finanziellen Möglichkeiten zurück­ greifen können wie die traditionell gesendeten. Öffentlichkeit besteht auch darin, zufällig auf Dinge zu sto­ ßen, die man selbst nicht gewählt hätte, die einen aber interessie­ ren. Eine noch gesamtgesellschaftlich verstandene Öffentlichkeit ist strukturell ein anderer Raum, als ihn die Echokammern des Netzes nach privatwirtschaftlichen Regeln organisieren. Hier geht es auch um öffentlich-rechtliche Souveränität. Zudem wird ja auch nicht alles in die Onlinepräsenz geschoben, sondern vor al­ lem das Wort, genauer das Diskursbildende soll aus dem Äther verabschiedet werden, sowohl in hr2 wie möglicherweise auch in rbbKultur, was freilich in einer Sitzung des Rundfunkrates heftig von der Intendanz dementiert wurde, die sich alle Mühe gab, die Einsparung von einer Million Euro, die nur vom Kulturradio ge­ tragen werden muss (immerhin zwanzig Prozent des Programm­ etats), als Reform schönzureden. Wobei, wie immer weiß man nichts Genaues nicht, erfahre ich in einem vertraulichen Telefonat

bezüglich des rbb. Zu fürchten ist ein bereits bekanntes Muster: Pläne werden erst als Gerücht lanciert und dann als bereits be­ schlossen dargestellt. Angeblich erarbeiten die Redaktionen das, was ihnen blüht, „diskutieren dann die Notwendigkeiten“. Ja, die Zeit der vertraulichen Telefonate hat begonnen und die der Ängste um die eigenen Aufträge oder Posten; aber vielleicht ist zur Zeit der Publikation dieses Textes bereits mehr bekannt, was den gro­ ßen Umbau des öffentlich-rechtlichen Hörfunks ausmachen wird. Der Hessische Rundfunk, also die Entscheider dort wollen hr2 zu einem Klassiksender umbauen – Verabschiedung in die Fahr­ stuhlmusik, so nennen es manche Betroffene, die sich derzeit öffentlich zu Wort melden. Vielleicht kommt es sogar zu juristi­ schen Klagen, denn letztlich geht es um den im Rundfunkstaats­ vertrag verankerten Kulturproduktions- und Informationsauftrag. Vielleicht ist der Protest auch so stark, weil dieser Umbauplan sehr deutlich eine gewisse Haltung zu Kunst und Kultur verrät. Eine Verabschiedung in die Fahrstuhl- also Begleitmusik. Kunst jedoch ist selbst in zutiefst asozialen Gesten sozial. Sie ist nichts, was über unseren Köpfen schwebt, sondern etwas, das wir erst in unse­ rer Wahrnehmung und im Gespräch darüber herstellen – mit Kritiken, Gesprächen, Ein­ ordnungen, Informationen. Damit verbunden ist eine Sache, die ich sehr vermissen würde, obwohl oder weil sie sehr unspektakulär ­daherkommt: Kunst gleich einem längeren Gespräch zu erleben, das sich Zeit nimmt, Argumentationen zu folgen, und in dem Ge­ sprächspartner Ideen gemeinsam durchspie­ len. Sie aus dem in diesem Sinne durchaus angenehm „leisen“ Medium Hörfunk zu verbannen, wäre in Zeiten verkürzter Wahr­ heiten, ob durch Twitter und Social Media oder durch Rechtspopu­ lismus, fatal. Dieser Umbau wird unter anderem auch die Theaterhäuser betreffen, wie Anselm Weber, Intendant des Schauspiels Frank­ furt, kürzlich auf Deutschlandfunk hervorhob. Schließlich schafft der Hörfunk auch für die Theater Öffentlichkeit, ist Medienpartner, nein, mehr noch, beteiligter Akteur. Zudem steht zu befürchten, dass diese Neuordnung Teil eines viel größeren Prozesses ist, der das „künstlerische Wort“, zum Beispiel das Hörspiel, als nächste Kürzungsmöglichkeit erscheinen lässt. In Berlin wurde bereits im Rundfunkrat heftig diskutiert, allerdings blieb auch hier das Ge­ fühl, dass bei aller Rede von Transparenz vonseiten der Intendanz nicht mit offenen Karten gespielt wurde. Alle weiteren Vorgänge werden genau zu beobachten sein. Auch, mit welcher Prekarisie­ rung des Journalismus sie einhergehen, vor allem der freien noch Mitarbeitenden, die ja als Erste weggekürzt werden. //

/ 29 /


/ 30 /

Traurige Tropen im neoliberalen Vollzug Die bolivianische Gefangenenstadt Palmasola und ihre Inszenierungen – Über ein Theaterprojekt von Christoph Frick von Hugo Velarde


bolivien

/ TdZ  Oktober 2019  /

D

ie Nachricht erreicht mich während der Leipziger Buch­ messe im März 2019: Ich soll nach Santa Cruz de la Sierra fliegen, um über „Palmasola“, die neue Theaterproduktion des Schweizer Regisseurs Christoph Frick und seines europäisch-bolivianischen Teams, zu berichten. Einen Monat später sitze ich am Tag der Generalprobe auf Einladung des Leiters des örtlichen Goethe-Instituts Franz Josef Kunz, der das Projekt gefördert hat, in einem zentral gelegenen Restaurant beim Mittagessen. Der Blick auf Santa Cruz frischt die Erinnerung an dessen ehemals provinzielle Konturen auf, die nunmehr einer sich in Ringen ausbreitenden Metropole gewichen sind. Aus ihrem zehnten Ring ragt Palmasola, die berühmt-berüchtigte Gefangenenstadt, heraus – eine Miniatur der gesamten Stadt oder, wie die Schauspieler sagen, vielleicht sogar ganz Boliviens. Zu dieser Miniatur gesellt sich nun die nächste: Fricks dokumentarisch und ästhetisch außerordentlich anspruchsvolle Inszenierung „Palmasola“. Schon bei der Generalprobe wie auch bei der Premiere am nächsten Abend entfaltet die Produktion, die am 27. und 28. April im Centro de Cultura Plurinacional im Rahmen des 12. Internationalen Theaterfestivals 2019 von Santa Cruz de la Sierra gezeigt wird, ihre beunruhigende Wirkung: Das Stück durchläuft experimentell die Gewaltexzesse in dieser einzigartigen Haftanstalt. Palmasola ist Regel und Ausnahme zugleich; ein Mysterium, das jeder Insasse, will er überleben, möglichst schnell erkunden muss. „Eine Linie! Keine Paare! Dokumente in der Hand. Keine Extrakonditionen …“ Der Polizist, der den Eintritt in die Gefängnisbühne regelt, trägt eine echte Uniform und stellt bereits einen performativen Widerspruch dar. Denn wie sich bald herausstellt, ist in Palmasola die Königin Ausnahme eine unangefochtene Hüterin des Lebens. Auf der Bühne angelangt, einer Art Tiefgarage mit teils aufgeplatztem Betonboden, bewegen sich Schauspieler und Publikum mit- und nebeneinander. Es gibt keine Stühle, niemand sitzt. Die existenzielle Not, die Palmasola bedeutet, soll den Zuschauern in die Knochen fahren; auch der in Verzweiflung mündende Nihilismus, der im katholischen Santa Cruz einer ­Häresie gleichkommt: „Denn Gott hat … Urlaub. Jetzt sind wir am Drücker!“ Die vier Schauspielerinnen und Schauspieler verkörpern keine festgelegten Figuren, sondern einen Querschnitt verschiedener Akteure, die auf das Gefängnisuniversum und seine Geschichten blicken. Jorge Antonio Arias etwa schlüpft in die Rolle von El Oti (Anagramm aus Tio = Onkel, einer Art „Pate“), dem Anführer von Palmasola bis zur Razzia vom 14. März 2018, während Omar ­Callisaya verschiedene Mitläufer in Szene setzt. Vorzüglich dabei: ­Marioly Urzagaste in der Rolle der Frauen im Gefängnis und der Auftritt von Nicola Fritzen, der – in Anlehnung an den ehemaligen Häftling Claudio Q. – den von seinen bolivianischen Mitinsassen gequälten, verzweifelten Gringo Klaus aus der Schweiz spielt. Überlebensstrategien und Gewaltexzesse in einer der härtesten Haft­ anstalten der Welt – Die Dokumentartheaterproduktion „Palmasola“ des Schweizer Regisseurs Christoph Frick, hier die Uraufführung im Centro de Cultura Plurinacional in Santa Cruz de la Sierra (2019). Foto David Campesino

Von Liliput zum Leviathan Wenn es nach den Cruceños, den Einwohnern von Santa Cruz de la Sierra, ginge, müsste angesichts ihrer bizarren und von sakralen Legenden umwobenen Stadt selbst das imaginierte Macondo aus Gabriel García Márquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“ vor Neid erblassen. Es ist lange her, dass spanische Migranten, darunter auch Jesuiten, jenes magische Gebiet erkundeten, in dem Ñuflo de Chávez 1561 schließlich Santa Cruz de la Sierra gründete; jahrhundertelang schlummerte es in der Peripherie spanischer Siedlungen vor sich hin. 1825 wurde es republikanisch – auch wenn es die feudalen Fesseln erst nach der bürgerlich-demokratischen ­Revolution, die 1952 von den westlich gelegenen Anden ausging, ablegen konnte. Danach wurde die missliebige Hauptstadt La Paz, die legendäre Aymara-Stadt, zum unwillkürlichen Nachahmungsobjekt, der Santa Cruz ökonomisch jedoch bald die Stirn bieten und sie schließlich überflügeln konnte. Palmasola, ihrer städtischen Matrix Santa Cruz de la Sierra diesbezüglich nicht ungleich, war in den 1980er Jahren noch eine „einsame Palme“, die weder fromme noch rechtschaffende Cruceños auf die Palme bringen konnte. Doch Ende 1988, unter der dritten und damit letzten Regierung von Víctor Paz Estenssoro (1985–1989), der die weltweite neoliberale Wende mitvollzog, war es mit der magischen Idylle vorbei. Das verträumte Dorf im zehnten Ring der Stadt verwandelte sich auf einmal in eine Gefangenenstadt. Aus dem sogenannten „Zentrum für Wiedereingliederung“ wurde ein umzäunter Mini-Leviathan mit selbstregulierter Ökonomie, der auch kühnste neoliberale Träume Wirklichkeit werden ließ. Angesichts der von der Vorgängerregierung über­ nommenen Hyperinflation sah sich Paz Estenssoro gezwungen, die Minenwirtschaft zu reprivatisieren. Das warf 25 000 Minen­ arbeiter auf die Landwirtschaft und damit verstärkt auf den ­Kokaanbau zurück, was dem Drogenhandel, nunmehr als Motor der angeschlagenen Staatswirtschaft, einen erheblichen Impuls gab. Letzteres war allerdings die US-Regierung nicht zu dulden bereit. Unter ihrem Druck auf Paz Estenssoro und die nach­ folgenden Regierungen nahm also die Kriminalisierung des „schnellen Geldes“ aus dem Drogengeschäft danteske Züge an – wodurch bald die Gefängnisse aus allen Nähten platzten. Aufgrund der ­drückenden Lage und der neuen Doktrin vom schlanken Staat war es also kein Zufall, dass Palmasola entstand – ein selbstverwaltetes Gefängnis, in dem die meisten Insassen aufgrund von Drogendelikten eingesperrt sind. Es wurde ein ­Exempel „natürlicher“ Selektion im Fichte’schen Handelsstaat, ein Versuchslabor für Charles Darwins Survival of the Fittest und als „The Gospel of Wealth“ aus der Feder des US-amerikanischen Großindustriellen Andrew ­ Carnegie zum Evangelium dieses ­Gefängnisses sui generis. Die Erinnerung an Neo-Laisser-faire-Experimente sozial­ darwinistischer Provenienz ist in Lateinamerika noch frisch. Ein Beispiel war das Chile der späten 1970er Jahre, wo Augusto Pinochet Margaret Thatchers Entflechtungspläne von Wirtschaft und Gesellschaft als Erster in die Tat umsetzte. Des vermeintlichen Erfolges gewiss, wiederholte Großbritannien Chiles Experiment prompt. Die neoliberale Generalprobe, die alsbald auch Argentinien mit ­Bravour absolvierte, schien vollends geglückt. Das löste weltweit ein

/ 31 /


/ 32 /

ausland

/ TdZ Oktober 2019  /

soziales Trauma aus – und verschonte auch linke Regierungen wie die von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien nicht.

Inszenierte Realität

U R- U N D E R STAU F F Ü H R U N G E N Stijn Devillé   H O F F N U N G (aus der Trilogie HABGIER, ANGST und HOFFNUNG) 07.09.19 // Saarländisches Staatstheater Frederik Brattberg   WI EDER DA  14.09.19 // Schauspiel Frankfurt Dirk Heidicke   M I S S   L ENYA ,  P L EAS E  27.09.19 // Kammerspiele Magdeburg Christoph Nix   J U N G E  H U N D E  28.09.19 // Theater Konstanz Karsten Laske   H I L F E,  DI E  M AU E R   FÄ LLT  16.11.19 // Theater Rudolstadt Gur Koren   5   K I LO   ZU C K ER  29.11.19 // Mainfranken Theater Würzburg

K I N D E R- U N D J U G E N DT H E AT E R Daniel Ratthei   G R ETA 01.11.19 // Schlosstheater Celle Veronika Fischer   RU DI   R A K ETE 01.12.19 // Theater Konstanz Daniel Ratthei   WERTH ER  I N  LOV E 11.01.20 // Comedia Theater Köln Christina Kettering   TI M E  O UT  29.02.20 // Comedia Theater Köln DREI MASKEN VERLAG GMBH MÜNCHEN Herzog-Heinrich-Straße 18, 80336 München T. 0049 (0)89 – 544 56 909 bestellen@dreimaskenverlag.de www.dreimaskenverlag.de

Palmasola gilt als eines der härtesten Gefängnisse der Welt. Da sich der Staat hier vom klassischen Panoptikum der Aufsicht verabschiedet hat, werden keine Zellen zur Verfügung gestellt. Die Insassen müssen ihre Unterkünfte selbst mieten, kaufen oder mit Gewalt erkämpfen. So wird ihnen, Schwachen wie Starken, die Gestaltung des Lebens selbst überlassen – ein rüdes Laissezfaire ohne juristisch verbindliche Rahmenbedingungen. Mehr als ­siebzig Prozent der Häftlinge sitzen jahrelang ohne Urteil ein; dieses kann oft erst mit dem „nötigen Geld“ – meist Tausende von Dollar – zur Bestechung von Staatsanwälten oder Richtern erwirkt werden. Für die meisten Insassen ein unerschwinglicher Luxus. Palmasolas Hackordnung ist ebenso zynisch wie gnadenlos. Von den weniger Privilegierten im sozialdarwinistischen Schlachthof wird bedingungslose Akzeptanz der sozialen Hierarchie e­ rwartet. Das erinnert an Étienne de La Boéties Schrift „Von der freiwilligen Knechtschaft“ aus dem 16. Jahrhundert, wonach Unterdrückte ihre Knechtschaft oftmals nicht nur hinzunehmen, sondern selbst herbeizuführen bereit seien. Dennoch ist das ökonomisch und soziokulturell kastenmäßig organisierte, selektive Strafsystem paradoxerweise ohne staatliche Intervention nicht funktionsfähig. Zur Disziplinierung und mithin Befriedung der unterschiedlichen Gefangenenschichten war der bolivianische Staat durchaus erfinderisch: Anstelle des Wächters im „klassischen“ Gefängnis „zivilisierter“ Westeuropäer tritt in Palmasola der charisma­tische Anführer auf den Plan, den, je nach Lage oder Interesse, der Staat ins Gefängnis einschleust – und nach Belieben oder arglistigem Ansinnen absetzt oder gar umbringen lässt. M ­ utmaßungen zufolge stellt er als Gratifikation für botmäßiges Verhalten auch die Beteiligung am Geschäft mit der „Weißen K ­ önigin“ innerhalb und außerhalb des Gefängnisses in Aussicht. Denn Gefangene, die den Knast mittels Bestechung unbehelligt verlassen dürfen, um ihrem Kokaingeschäft draußen weiter nachzugehen, werden, so das legalistisch verlogene Argument, wohl nicht draußen gewesen sein! Das Gefängnis als sicherer Schutz vor Strafe – eine abstruse, bolivianische I­ nszenierung. Für die Gefangenenelite in Palmasola gilt also Max Webers dritter Typus legitimer Herrschaft uneingeschränkt: der charismatische Führer, dem die außeralltägliche Hingabe an die ­Heiligkeit oder Heldenkraft gilt, mit dem man feiern kann, der bonapartistisch über den Klassen steht, der für die Gebrechlichkeiten des Lebens immer eine Lösung hat und dafür nur eines will – unbedingten Gehorsam. Wozu dann noch Wächter in dieser selbstreferenziellen, schmerzhaften Groteske des L ­ eidens, des gehorsamen Überlebens und des orgiastischen Feierns?

„Palmasola“-Zyklen All das wird in Christoph Fricks Inszenierung akribisch verdichtet: Das Dokumentarische paart sich mit magisch-realistischen


/ 33 /

Elementen, die jahrhundertelang den soziokulturellen Kontext geprägt haben. „Palmasola“ ist insofern auch ein ästhetisches Konzentrat Lateinamerikas – eine Miniatur, in der Traumwelten, Gewalt und damit Albträume eine eigenartige Symbiose bilden. Im November 2016 besuchte Frick zum ersten Mal Palmasola und lernte den inzwischen begnadigten Insassen Claudio Q. aus Zürich kennen, der wegen Kokainschmuggels einsaß. Eine weitere wichtige Informationsquelle war für ihn die Ordensschwester Monica Stalder, die sich um die ausländischen Insassen kümmert und mit den ungeschriebenen Gesetzen des Gefängnisses bestens vertraut ist. Im September 2018 kam das gesamte „Palmasola“-Team zum ersten Mal in Santa Cruz zusammen. Den Auftakt bildeten Workshops mit Insassen; Interviews mit Anwältinnen, Vertretern der Gefangenenregierung, dem Polizeioberst und mit Palmasolas Koch und seinem Küchenteam folgten. Diese Binnenperspektive aus Palmasolas Höllenkreisen wird ergänzt durch die sozio­ kulturelle Sicht, die der bolivianische Psychologe und Reporter ­Jhonnatan Torrez, neben Carolin Hochleichter verantwortlich für die Dramaturgie, ausgehend von seinen eigenen Reportagen und Recherchen in die Produktion einbrachte und damit die Struktur­ analogie zwischen den Klassenhierarchien im Makrokosmos von Santa Cruz und dessen miniaturisiertem Gefängnisuniversum herstellte. Seit September 2019 arbeitet das Team in der Schweiz an einer mehrsprachigen Adaption für Europa, die am 11. Oktober 2019 in der Kaserne Basel ihre Premiere feiern wird. Von dort aus wird die Produktion auf Tour in die Schweiz und nach Deutschland gehen.

Darwin’sches Versuchslabor – Das europäisch-bolivianische Produk­ tionsteam vor der Haftanstalt Palmasola. Foto David Campesino

Spannend wird es sicher sein, wie die bolivianische Inszenierung, die von dialektal spezifischen Verklammerungen vor Ort lebt, für den europäischen Zuschauer – sollte er passiver bleiben müssen als in Bolivien – übersetzt und damit universalisiert wird.

Nachtrag „Ein neuer Chef in Palmasola“, berichtete die Tageszeitung El ­Deber aus Santa Cruz de la Sierra am 7. Juli 2019. Nach der Ermordung von El Oti betrat Pedro Montenegro den PC-4 – den vierten, offenen Vollzug von sieben Sektoren des Gefängnisses – und ­wurde von den Insassen frenetisch begrüßt. Er schenkte einem der Gefangenen sein Handy und kümmert sich seitdem rührend um die obdachlosen, drogenabhängigen „Pitufos“ (= Schlümpfe). Oti ist tot – es lebe Montenegro! Die Bolivianer, geübte Meister in schwarzem Humor, haben für solche Fälle einen Witz parat, den mir Jhonnatan Torrez am Ende eines Interviews kurz vor meiner Abreise im April erzählte: Gott ist dabei, die Welt mit Ländern zu bestücken. Bei Bolivien angelangt, fragt ihn ein Engel: „Geben Sie ihm Wälder?“ Darauf Gott: „Hier: Wälder.“ „Vielleicht auch Täler?“ Darauf Gott: „Hier: Täler.“ „Und Schnee?“ Darauf Gott: „Hier: Schnee.“ „Bolivien kriegt doch zu viel! Andere Länder sind viel ärmer dran!“ Und Gott darauf: „Nee, nicht ärmer, Engel. Warte doch ab, was ich tue, wenn die Menschen dran sind!“ //


Look Out

/ TdZ Oktober 2019  /

Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Feministische Ökonomie Regisseurin Bérénice Hebenstreit will durch ihr Theater Gesellschaft verändern und ist Aktivistin bei Attac

F

eministische Ökonomie ist ein Forschungszweig, der den unbezahlten Teil der Wirtschaftsleistung ausfindig macht – welchen traditionell Frauen erbringen – und der sich generell mit geschlechtsspezifischer Arbeitsbewertung befasst. Am systematisch niedrig ­gehaltenen Marktwert von Frauen laboriert die Gesellschaft nach wie vor. Dafür interessiert sich Bérénice Hebenstreit. Die 32-jährige Wiener Regisseurin ist grundsätzlich von gesellschaftspolitischen Fragestellungen angetrieben. 2017 inszenierte sie den bitteren Satireroman „Superheldin­ nen“ von Barbi Marković. Er handelt von drei mit Superkräften ausgestatteten Frauen aus Ex-­ ­ Jugoslawien, die versuchen, in Wien in die Mittelschicht auf­ zusteigen. Weil das Theater solche Stoffe selten verarbeitet, wie Hebenstreit findet, griff sie zu diesem Roman und hat ihn (mit Andrea Zaiser) dramatisiert. Es gelang ihr so gut, dass die Inszenierung für das nachtkritik-Theatertreffen 2018 nominiert ­wurde. Wie aber verhandelt man Fragen nach wirtschaftlichen Gefügen auf der Bühne, ohne dabei gleich schwerfällig zu werden? Das ist eine zentrale Frage in Hebenstreits Regiearbeit. Schließlich will sie Theater nicht durch Politdiskussionen oder wissenschaftliche Vorträge ersetzen. Das Ringen um Sinnlichkeit, zumal bei scheinbar trockenen Themen, ist eine Gratwanderung, die bei ihr Abstraktes mit Konkretem verbindet. Immer wieder fungiert Musik als Dialogpartner. Und der Raum wird zum offenen Buch. Mit Raum hat sich Bérénice Hebenstreit schon befasst, da war das Theater noch weit weg. Ihre erste Berufsausbildung war Grafikdesignerin. Die Beschäftigung mit Fotografie und Tanz führte sie dann zum Theater. Nach einem Theaterwissenschaftsstudium in Wien und Montréal tauchte sie schließlich als Regieassistentin in die Praxis ein und ist gerade dabei, eine der produktivsten jungen Regisseurinnen Österreichs zu werden.

Bérénice Hebenstreit. Foto Lisa Edi

/ 34 /

Auch abseits der Bühne ist Hebenstreits Stimme wichtig. Eine ihre Forderungen lautet, den tradierten Dramenkanon neu zu erforschen, um vergessene Werke von Autorinnen sichtbarer zu machen. Da dafür vorerst das Geld und der politische Wille fehlen, geht Hebenstreit selbst auf die Suche nach Bühnentexten und trifft dabei immer eine bemerkenswerte Wahl. Zuletzt hat sie mit „Watschenmann“ einen ­Roman von Karin Peschka dramatisiert, der urbane Überlebenskünstlerinnen und -künstler aus der Wiener Nachkriegsdepression versammelt. Im Herbst bringt sie mit „Vevi“ den Roman einer schändlich vergessenen österreichischen Autorin am Vor­arl­ber­ ger Landestheater auf die ­Bühne:

Erica Lillegg (1907–1988). Bérénice Hebenstreits Anliegen ist es, gesellschaftspolitische Veränderungen voranzutreiben. Die Regisseurin ist Autorin beim Online-Nachrichtenportal mosaik-blog.at und seit einigen Jahren auch Aktivistin bei Attac, wo sie in Arbeitsgruppen und bei politischen Aktionen tätig ist. Die konkrete Auseinander­ setzung mit gesellschaftspolitischen Fragen nährt auch Hebenstreits inhaltliche Schwerpunkte am Theater. Wie weit etwa die Marginalisierung von Frauen am Theater reicht, hat sie im Vorjahr gemeinsam mit Michael Isenberg bei einem auf österreichische Bühnen bezogenen Rechercheprojekt eruiert: „Die Spielplan“, zu sehen am Volkstheater Wien. Zwar gibt es in Österreich (noch) keine dem Verein Pro Quote vergleichbare Initiative, aber zumindest eine Vorfeldgruppe, die ihre Forderungen dem zuständigen Ministerbüro bereits unterbreitet hat. Bérénice ­ ­Hebenstreit ist da mit dabei. // Margarete Affenzeller

Bérénice Hebenstreits Inszenierung „Vevi“ von Erica Lillegg hat am 26. November am Vor­arlberger Landestheater in Bregenz Premiere.


Look Out

/ TdZ  Oktober 2019  /

Kompromisslose Räume Robin Metzer gestaltet Bühnen, die ihrer eigenen Dramaturgie folgen – Inspiration bekommt er aus der bildenden Kunst

ielleicht ist jede Erfahrung, die man im Laufe seines Lebens macht, die fortgesetzte Entfaltung einer einzigen Frage. So auch bei Robin Metzer. Der junge Bühnenbildner fragt sich, wie die Dramaturgie des Raumes beschaffen ist. Für abschließende Antworten ist es dabei noch zu früh, sagt der 25-Jährige lachend. Doch allein wie umfassend man die Frage zu stellen wagt, wie radikal man sie zu denken bereit ist, macht ihren Wert aus. Dass Robin Metzer nicht zögerlich ist, konnte man schon in seiner ersten Bühnenarbeit sehen. Für Marius Schötz’ „Poco und der letzte Deutsche“ an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin hatte er einen offenen Kasten entworfen, aus Laminat vom Poco-Baumarkt. Der verwandelte sich durch den Einsatz von Spülmittel in eine halsbrecherische Rutschburg, die Schauspieler mussten um Halt ringen. Mit dem Aufstellen von Dekoration auf der Bühne kann sich Metzer nicht zufriedengeben. Er will den gesamten Raum gestalten – auch den Boden. Dieser Gestaltungswille, verbunden mit dem Hang zu starken Setzungen, fällt auf. Das können zahlreiche Gummireifen sein. Hunderte Salatköpfe. ­ Massenweise Popcorn. Oder eine dicke Schicht Torf. Ein Bühnenraum von Robin Metzer soll nicht illustrieren, sondern einer eigenen Dramaturgie folgen. Kompromisslos muss es sein, sagt er, eine Herausforderung für die Schauspieler, eine Entgegensetzung, ein eigenes System von Zeichen. Doch künstlerische Kompromisslosigkeit braucht vor allem Vertrauen. Die Lust, ein gemeinsames Wagnis einzugehen. Mit Schötz hat er einen Regisseur gefunden, der ihm im Wortsinne blind vertraut. Erst nach der Bauprobe schaut er sich den Raum an, in dem er arbeiten soll. Im vergangenen Jahr entwarf Metzer die Bühne für „Madame Poverty“ nach Gustave Flaubert an der Berliner Volksbühne. Der Raum war wie Emma, die sich in eine großbürgerliche Realität träumt, die keineswegs ihrer sozialen Realität entspricht. Edel sollte es aussehen, aber nur die billigsten ­Materialien verwendet werden, Abfälle und Reste. Sauer-

Robin Metzer. Foto Robert Hamacher

V

krautplatten als Untergrund, ein Vorhang aus Stoffüberbleibseln, ein ausrangierter Glücksspielautomat. Und dann die Salatköpfe. Gemüse statt ­edler Blumen, so ist die Wirklichkeit. Schötz’ Arbeit „Messias aus Hessen“ (Ernst-Busch-Schule 2018) ließ M ­ etzer im Sandkasten spielen. Für ­ Rebekka David entwarf er Bühnen für „Unter ­ W@asser“ am Theater Schwedt und „FOMO oder Ich war nicht da als es ­geschah“ am Staatsschauspiel Braun­ schweig. Zum Theater kam Robin Metzer über ein Praktikum am FFT Düsseldorf. „Dort habe ich alles aufgesogen“, sagt er. In Berlin bekam er dann einen Studienplatz für Bühnenbild an der ­ Universität der Künste. Doch hat er wichtige Erfahrungen vor allem außerhalb des Studiums gemacht. Er hospitierte am Berliner Ensemble. Und ­lernte den Künstler Via Lewandowsky kennen. Dessen Arbeiten haben Metzer stark beeinflusst. Überhaupt ist es die bildende Kunst, aus der er die Inspirationen für Bühnenräume zieht. Er sucht gezielt die Verbindungen zu anderen Künsten. Und er ist inzwischen gefragt. Ende September hatte am Schlosstheater Celle „Vor Sonnenaufgang“ in der Regie von Sebastian Sommer Premiere, mit einer Bühne von ihm. Anfang November folgt „Lulu“ am Theater RambaZamba in der Inszenierung von Jacob Höhne. Plüschige Bordellatmosphäre kommt für Metzer nicht infrage, er will dem inklusiven Ensemble normierte Schaufensterpuppen entgegenstellen. Wieder eine Setzung, eine Herausforderung, um dem schwierigen Ausagieren der Lust einen Raum zu geben. Im Januar arbeitet er wieder mit Schötz an der Volksbühne. Dieses Mal wird es ein Wagnis, sagt Metzer, es gibt für „vengapoise – ibiza sky" nämlich keine Vorlage. Doch das scheint ihm eher zu gefallen, als ihn abzuschrecken. // Jakob Hayner Bühnen von Robin Metzer sind in „Vor Sonnenaufgang“ am Schlosstheater Celle, in „Lulu“ am Theater RambaZamba (Premiere 7. November) und „vengapoise – ibiza sky“ an der Volksbühne Berlin (Premiere 15. Januar 2020) zu ­sehen.

/ 35 /


/ TdZ Oktober 2019  /

Abo-Vorteile Als Abonnent von Theater der Zeit kommen Sie in den Genuss zahlreicher Vorteile. Sie erhalten: jährlich 10 Ausgaben von TdZ

Lukas Rietzschel „Mit der Faust in die Welt schlagen“

Zeitschrift für Theater und Politik

Stück: Lukas Rietzschel über rechte Radikalisierung / Porträt: Julia Koschitz / Nachruf: Ágnes Heller Die Dramatikerin Nicoleta Esinencu / Bolivien: Die Gefangenenstadt Palmasola als Dokumentartheater

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Oktober 2019 • Heft Nr. 10

das Arbeitsbuch als Doppelausgabe im Sommer IXYPSILONZETT – Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater (3 Ausgaben / Jahr) double – Das Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater (2 Ausgaben / Jahr) Sonderbeilagen wie TdZ Spezial und weitere Inserts nur EUR 85,00 / Jahr (Deutschland)

kostenfreien Eintritt bei TdZ-Veranstaltungen, siehe theaterderzeit.de/tour (bei rechtzeitiger Anmeldung unter vertrieb@theaterderzeit.de)

Theater der Zeit Oktober 2019

Digitalupgrade für nur EUR 10,00 jährlich

Deutsche Zustände Intendanten über ein neues politisches Selbstverständnis

www.theaterderzeit.de/abo

Archiv Sie haben eine Ausgabe verpasst? Alle Einzelhefte (seit 1946!) sind als PDF erhältlich.

www.theaterderzeit.de/archiv

Digitalabo & App Mit dem Digitalabo lesen Sie Theater der Zeit auf all Ihren Geräten – Smartphone, Tablet, Mac und PC. Zugang zum Online-Textarchiv App (iOS, Android, Amazon) Download als eMagazin (PDF) nur 75,00 EUR  / Jahr

www.theaterderzeit.de/digitalabo

Digital-Upgrade nur 10 € für Abonnenten


auftritt

/ TdZ  März    /  / Oktober  2018 2019

Buchverlag Neuerscheinungen

Vor welchen Herausforderungen stehen Schauspielerinnen und Scha­u­ spieler angesichts einer performativen Spielpraxis? Wie gestaltet sich der Erarbeitungsprozess von Texten in der Zusammenarbeit von Regisseuren und ihren Ensembles heutzutage? Wie charakterisiert sich dabei ein per­formativer Umgang mit dem Text? Diesen Fragen geht die Sprechwissenschaftlerin Julia Kiesler in diesem Buch nach.

„Wenn keiner singt, ist es still“, sagt Roma B. in Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Raimund Hoghe zitiert diesen Satz in seinem Porträt einer Frankfurter Hausbesitzerin. Der Satz könnte aber auch über anderen Texten stehen, die Raimund Hoghe für dieses Buch zusammengestellt hat. Sie erzählen von Menschen, die Haltung zeigen und den eigenen Weg gehen.

RECHERCHEN 149 Julia Kiesler Der performative Umgang mit dem Text Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater

RECHERCHEN 150 Raimund Hoghe Wenn keiner singt, ist es still Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)

Taschenbuch mit 438 Seiten ISBN 978-3-95749-240-1 EUR 26,00 (print) / EUR 20,99 (digital)

Taschenbuch mit 160 Seiten ISBN 978-3-95749-233-3 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

ISBN 978-3-95749-199-2

www.theaterderzeit.de

Recherchen 145

Seht der Teiresias sieht In die Sonne die ungerührt Diese Geschichte bescheint: Wir werden sehen sagt Der Blinde. Und sagt wahr.

B. K. Tragelehn Roter Stern in den Wolken 2

TdZ_Rech_145_Roter Stern 2_Tragelehn_2019_Cover_final 2.qxp__ 11.07.19 10:31 Seite 1

B. K. Tragelehn

Roter Stern in den Wolken 2

Das Buch zum hundertsten Geburtstag des Landestheaters Detmold gibt einen Einblick in die Geschichte des Drei-Sparten-Hauses und zeigt, dass ambitioniertes Theater abseits der Großstädte stets möglich war und ist. Es dokumentiert das Geschehen nicht nur im Haus, sondern weit darüber hinaus: Das Landestheater Detmold gilt als größte Reisebühne Europas, nahezu die Hälfte der rund 600 Vorstellungen findet im weiteren Umkreis statt, vorwiegend in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Buxtehude, Worms oder Winterthur.

Roter Stern in den Wolken 2 sammelt – wie der erste Band Zeugnisse von B. K. Tragelehns Theater und Leben: von den Lehrjahren als letzter Meisterschüler Brechts über die ersten skandalträchtigen Inszenierungen der 1960er und (mit Einar Schleef) der 1970er Jahre bis zu den großen Theatererfolgen zwischen Ost und West in den 1980er Jahren. Auch die lange Arbeitsbeziehung mit Heiner Müller und Tragelehns Arbeit als Schriftsteller und Übersetzer finden ihren Widerhall in Reden, Aufsätzen und Gedichten wie in zahlreichen Bildern.

Immer ein Fest für Geist und Sinne! 100 Jahre Landestheater Detmold

RECHERCHEN 145 B. K. Tragelehn Roter Stern in den Wolken 2

Broschur mit 152 Seiten ISBN 978-3-95749-237-1 EUR 16,00 (print) / EUR 12,99 (digital)

Taschenbuch mit 256 Seiten ISBN 978-3-95749-199-2 EUR 18,00 (print) / EUR 14,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

/ 37 /


/ 38 /

Auftritt Berlin

„Die Schauspieler“ von Einar Schleef sowie „Lear“ nach William Shakespeare und „Die Politiker“ (UA) von

Hamburg / Potsdam „Die Katze und der General“ (UA) und „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili  Lübeck „Game of Crowns 1 – Intrige, Macht, Könige“ (UA) von und nach William Shakespeare  Mülheim an der Ruhr „Hamletmaschine“ von Heiner Müller  Oslo „Trilogie“ von Jon Fosse  Stendal „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz  Zollbrücke / Oderbruch „Kabakon oder Die Retter

Wolfram Lotz

der Kokosnuss“ nach Christian Kracht


auftritt

/ TdZ  Oktober 2019  /

BERLIN Nachts auf dem Flughafen THEATER AUFBRUCH: „Die Schauspieler“ von Einar Schleef Regie Peter Atanassow Bühne Holger Syrbe Kostüme Thomas Schuster

meint ist, dass sie alle spielen, auch wenn es

schen ist die Nacht hereingebrochen. Nach

solche gibt, die es professionell machen, und

„O Haupt voll Blut und Wunden“ hallt

solche, die es ein bisschen weniger professio-

Schleefs Chor der Flüchtlinge durch die Dun-

nell machen, Laien genannt. Es sind Freigän-

kelheit, während sich das Tor des Hangars zur

ger, ehemalige Häftlinge und sogenannte ge-

Seite schiebt und den Blick in die Nacht und

setzestreue Bürger. Wer allerdings fragt, wer

auf die scheinwerferbeleuchteten Wohn­

hier wer ist, tappt schon in die nächste

container für Flüchtlinge freigibt. Der Chor

­Authentizitätsfalle. Das spielt hier keine Rol-

fordert Hilfe für die Hilflosen, und da wir

le. Oder doch? In dem Stück geht es um

noch stehen und schauen, schließt sich

Schauspieler, die mit Ähnlichkeiten zu Maxim

schon wieder das schwere Tor und schluckt

Gorkis „Nachtasyl“ eine Notunterkunft besu-

die Stimmen der nach draußen getretenen

chen, um ein Rollenstudium der besonders

Sprechenden. //

Jakob Hayner

perfiden Art zu betreiben, als Kunst getarnter Es beginnt in einem kargen Warteraum mit

Elendstourismus. In Reih und Glied stöckeln

schmucklosen Wänden, einem Nicht-Ort, wie

diese, gehüllt in Anzug, Kleid und Mantel, zur

der Anthropologe Marc Augé solche Durch-

Tür hinein – und weiter in den nächsten

gangsräume nennt. Kurz darauf wird man in

Raum, der flach und langgezogen ist, mit

den riesigen Hangar geführt. Die Fenster

­Matratzen auf dem Boden, die Absatzschuhe

mit ihrem matten Glas lassen noch die

geben den Rhythmus vor. Mit Gastgeschen-

Abenddämmerung erahnen, wie monumentale

ken bewaffnet trifft man auf „die anderen“.

BERLIN Sag was, Bühne! DEUTSCHES THEATER: „Lear“ nach William Shakespeare und „Die Politiker“ (UA) von Wolfram Lotz Regie und Bühne Sebastian Hartmann Kostüme Adriana Braga Peretzki

Schießscharten sind sie auf die Welt gerich-

So kollidieren Chor und Gegenchor, sit-

tet. Der steinerne Boden gibt jedem Schritt

zen an einer langen Tafel, saufen und koksen

einen unheimlichen Hall. Über einhundert

zusammen, tanzen, schreien einander an und

Betten stehen hier, Doppelstock aus Stahl-

fallen übereinander her. Jeder noch so eu­

rohr. Sie lassen an Kasernen oder Gefängnisse

phorischen Verbrüderungs- und Verschwes­

denken. In diesem Hangar befand sich bis

terungsszene folgt ein harter Schnitt, die

März dieses Jahres die größte Notunterkunft

­Realität der Klassengesellschaft. Als die Staats-

für Flüchtlinge in Berlin. Die Betten gehören

gewalt mit Panzerwagen anrückt, haben die

„Nichts? – Nichts.“ Aus dem Zwiegespräch

noch zum originalen Inventar, die das Theater

Armen schon die Sachen gepackt, während

zwischen Vater und Kind ist ein Monolog ge-

aufBruch nun als Requisite nutzt. Seit über

die Theaterleute mit hilfloser Geste zur Vertei-

worden. Man hat sich nichts mehr zu sagen –

zwanzig Jahren macht aufBruch Theater in

digung der Kunst aufrufen. Auch die gewalt-

und auch das kommt nur noch aus einem

Gefängnissen und mit Gefangenen, zuletzt

same Entkleidung, Erniedrigung und Ver­

Mund. Gesprächsabbruch zwischen den Ge-

Werner Buhss’ „Die Festung“ in der JVA Plöt-

gewaltigung in einem ungehemmten Akt von

nerationen. Sebastian Hartmann nimmt am

zensee, eine Parabel auf das Eingesperrtsein

Rache durch ihre vermeintlichen Studien­

Deutschen Theater Berlin ein Thema aus

in einem irrationalen System mit strengem

objekte verbuchen die Schauspieler noch als

Shakespeares „Lear“ und bietet es dann in

Reglement. Und nun als Außenproduktion

eine krasse, aber irgendwie wertvolle künstle-

zahlreichen Variationen dar. Ein Abend, der

­Einar Schleefs „Die Schauspieler“ im ehema-

rische Erfahrung – man öffnet sich ja den so-

mehr in die Fläche als die Tiefe geht. Der

ligen Flughafen Tempelhof. Erste Erkenntnis:

zialen Prozessen, so tönen die Phrasen. Wer

sich wiederholt. Der zu keiner Handlung fin-

Man braucht keinen angesagten Kurator mit

die Welt nur ästhetisch begreift, ist im fal-

det und in sich gefangen bleibt. Aber das ist

Millionenetat, um an diesem Ort Theater zu

schen Stück. Und wer sie gar nicht ästhetisch

zugleich auch das Thema des Abends. Denn

machen. Und beeindruckendes noch dazu.

begreifen kann, dann auch. In diesem Wider-

die Alten, gespielt von Markwart Müller-­

Man wird zwischen die Betten geführt,

spruch liegt die große Komik des Stücks, die

Elmau und Michael Gerber, liegen in Kran-

einzelne Darsteller erzählen Geschichten aus

Regisseur Peter Atanassow mit der Wucht des

kenhausbetten, die schon die Anmutung

dem Leben und dem Theater. Es geht um

Schleef’schen Chortheaters zu verbinden weiß.

von Sterbebett haben. Die Kraft hat sie ver-

Wünsche, Träume und deren Scheitern. Wer

Das Chorische gibt nicht nur den for-

lassen, die Sprache auch, nur manchmal

diese Erzählungen nun für „echter“ halten

malen Rahmen der Inszenierung vor, es lässt

sind sie noch zu ein paar Tönen des Ab-

möchte, als das, was später folgt, ist schon in

auch die Individualität der Spieler hervortre-

scheus oder der Verweigerung fähig. Doch

die erste Authentizitätsfalle getappt. Denn

ten. Neben Chor und Gegenchor gibt es noch

selbst wenn die vergreisten Väter schon kurz

die Schauspieler von „Die Schauspieler“ sind

zwei Außenseiterinnen, das Weibliche als

vor dem Ableben sind, stehen die Kinder

Schauspieler. Klingt tautologisch, aber ge-

das, das immer noch mehr erniedrigt werden

noch unter ihrem Bann, übernehmen gar

kann. Das aber auch zu einer eigenen Rolle,

wie Linda Pöppel den Text der Alten. Das

einem eigenen Spiel finden kann. Die

Gesetz des Vaters erlischt nicht mit der

Schlussszene führt wieder in den Hangar, in

Kraft des Körpers, es existiert weiter und

dem der Prolog mit Wolfram Lotz’ „Rede zum

nimmt die Nachkommen gefangen. Die

unmöglichen Theater“ geendet hatte, einer

Bühne ist ein riesiger white cube, die weiße

Beschwörung der Kraft der Fiktion. Inzwi-

Zelle, die der Konzeptkünstler Brian O’Doherty

Beeindruckendes Chortheater an einem Nicht-Ort – „Die Schauspieler“ von Einar Schleef im Hangar des Tempelhofer Flughafens in Berlin. Foto Thomas Aurin

/ 39 /


/ 40 /

auftritt

/ TdZ Oktober 2019  /

als den Raum der Kunst des 20. Jahrhun-

Abends. Die Schauspieler haben es nicht

Sprache zur Bewältigung der Wirklichkeit.

derts bezeichnete. Eine weite Leere, die die

einfach, sich gegen die dominierende Bild-

„Die Politiker denken an die Armen mit

Spieler als vereinzelte Elemente um ein rie-

haftigkeit der Inszenierung zu behaupten.

­Verachtung – Ai Weiwei, oh my!“ Exzes­

siges, ventilatorähnliches Windrad in der

Immerhin gibt es beeindruckende Kostüme

sive Wortwiederholungen, Kalauer, abstruse

Mitte kreisen lässt. Wenn sie innehalten, so

von Adriana Braga Peretzki zur Schau zu tra-

­Assoziationen und abwegige Reime stürzen

kommt ein Monolog, seltener eine kurze

gen, dunkle oder weiße Kleider oder auch

ineinander. Es ist zugleich die Reflexion ei-

­chorische Passage. Vereinzelte Einzelne, die

mal eine Pluderhose, viel Halbtransparen-

ner der Menschen entfremdeten politischen

nicht zueinander finden, der Dialog bleibt

tes, dazu eingewebter Glitzer. Oder die

Sphäre in einer hochgeschraubten, in sich

aus. Jetzt sprechen zwar die Kinder, aber sie

surrealistisch ­

Ganzkörper­

selbst verliebten Sprache. „Habt ihr sie etwa

haben nichts mehr zu sagen, sind Verlorene.

kostüme, die wie aus einer anderen Welt

nicht gewählt? Wer dann?“ Dieser Monolog

Vieles verhallt in dem weiten Raum, bleibt

wirken. Das unterstreicht das Primat des

ist der Höhepunkt des Abends, ein außer­

unverständlich oder ungehört.

Visuellen, verbunden den sphärischen Elek-

gewöhnlicher Theatermoment. Und er fügt

Von „Lear“ ist auf der Bühne neben

troklängen von Samuel Wiese. Bild und

sich in die Inszenierung, ist er doch vor

ein paar Textzeilen allenfalls noch das ske-

Sound, das sind die vorrangigen Elemente

­allem Sound. Und Sound sei, so Wolfram

lettierte Thema zu erkennen, wie auch ein

der Inszenierung. Und wenn im Hintergrund

Lotz in seiner Hamburger Poetikvorlesung,

kritischer Zuschauer bei der Premiere laut-

ein Schwertkampf stattfindet, so sind es die

„momentane sprachgewordene Haltung zu

stark vom Rang aus anmerkte. Ansonsten ist

Bewegungen und die Klänge, die sich ein­

den Dingen, intuitiv Form gewordener In-

der Abend von einer aufreizenden Langsam-

fügen, doch einen Bezug zur Handlung kann

halt“. Die Haltung ist wohl noch zu enträt-

keit und auch Helligkeit (sowohl zu Beginn

man nicht erahnen. „Sag was, Bühne!“, er-

seln. //

als auch zum Ende ist das Licht im Saal an).

tönt es an einer Stelle. Doch auch hier keine

Zwischendrin ein plötzlicher Vorhang, zwei

Antwort. Nichts.

anmutenden

Schauspieler verkleidet als Pferd mit Gum-

Und dann wird doch noch das Rad an-

mipenis, dann ein nackter Schauspieler mit

geschmissen, das die ersten beiden Stun-

echtem Penis, ein bisschen Ausziehen muss

den stillstand. Neonröhren sind daran be-

offenbar sein, wobei das weit weniger provo-

festigt, welche die Bühne in grellgelbes

kativ ist als die Ereignisarmut, die Reduk­

Licht tauchen. Cordelia Wege sitzt an der

tion, das Verweigernde und Abweisende des

Rampe, sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich, und was dann folgt, ist ein halbstündiger Monolog in irrem Tempo mit ebenso

Kampf um eine Sprache zur Bewältigung der Wirklichkeit – Cordelia Wege spricht Wolfram Lotz‘ neodadaistischen Text „Die Politiker“. Foto Arno Declair

Jakob Hayner

HAMBURG / POTSDAM Der Sieg der Frauen über den kleinen großen Mann

­irren Rhythmen. Es ist die Uraufführung von Wolfram Lotz’ „Die Politiker“, eine Art neodadaistischer Sprachfluss, der komisch wie tragisch zugleich ist, ein Kampf um eine

THALIA THEATER: „Die Katze und der General“ (UA) von Nino Haratischwili Regie Jette Steckel Bühne Florian Lösche Kostüme Pauline Hüners HANS OTTO THEATER: „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili Regie und Kostüme Konstanze Lauterbach Bühne Ariane Salzbrunn

Ein schwarzer Korpus, der Lauf gedrungen, durch einen Schalldämpfer elegant verlängert. Diese Makarow vom Typ IZH ist der Ausgangspunkt von Jette Steckels Adaption von Nino Haratischwilis neuestem Roman „Die Katze und der General“ am Thalia Theater Hamburg. Wie einen Beweisgegenstand reckt Investigativjournalist Onno Bender (André Szymanski) diese Pistole anklagend in die Höhe. „Am 7. Oktober 2006“, erklärt er, „tötet ein Schuss aus einer solchen Waffe ­


/ 41 /

­Natalia Iwanowna im Aufzug ihres Wohnhau-

tigung und Ermordung der jungen Tschet-

ses in Moskau … An diesem Tag verstummt

schenin Nura Gelajewa (Lisa Hagmeister)

eine der wichtigsten journalistischen Stim-

verwickelt. Eine Tat, die fortan wie ein Alb-

men Russlands.“

druck auf seinem Leben lastet. Mithilfe Onno

Schuld und Sühne – Barbara Nüsse und Jirka Zett in „Die Katze und der General“ von Nino Haratischwili in der Regie von Jette Steckel. Foto Armin Smailovic

Natalia Iwanowna ist in Haratischwilis

Benders und der georgischen Schauspielerin

Roman das Pseudonym für die russische

Sesili, Spitzname: die Katze (ebenfalls Lisa

Journalistin Anna Politkowskaja, die bis zu

Hagmeister), die der getöteten Nura auf wun-

als würde ständig scharf geschossen. Als

ihrem gewaltsamen Tod die russische Regie-

dersame Weise gleicht, versucht er zwanzig

­Zuschauer ist man atemlos dabei. Die Schau-

rung mit ihren Recherchen über Korruption

Jahre später, seine einstigen Vorgesetzten zur

spielerinnen und Schauspieler indes haben

und Kriegsverbrechen vor sich hertrieb. Im

Rechenschaft zu ziehen. Es geht um Schuld.

kaum Zeit, ihre Rollen zu entwickeln. Die

Herzen der über mehrere Jahrzehnte angeleg-

Und Sühne.

­Figuren bleiben gegenständlich wie die Qua-

ten Geschichte ist „Die Katze und der Gene-

Anders jedoch als Dostojewskis Gesell-

ral“ ein Monument für sie, stellvertretend für

schaftspsychogramm folgt „Die Katze und

all jene, die unter dem Dreck der Vergangen-

der General“ weniger einer psychologischen

Dennoch ist Steckels Inszenierung ein

heit nach Wahrheiten graben.

der des Zauberwürfels, sind Agierende, weniger Denkende, Reflektierende.

Untersuchung menschlichen Verhaltens. Viel-

formstarker Abend. Prägnant, fast wie Bilder

Beginnend mit den Auswirkungen des

mehr gleicht das Gerüst des Romans jenem

einer Graphic Novel, verschneidet sie die ein-

ersten Tschetschenienkriegs auf ein Dorf im

sechsfarbigen Zauberwürfel, den Natalia Iwa-

zelnen Szenen, skizziert gerade so viel, dass

Kaukasus 1994, schlägt der Roman einen

nowna (Karin Neuhäuser) einst Nura schenk-

man die Handlung versteht. Tatsächlich ent-

weiten Bogen über Moskau, Marrakesch und

te: Handlungsfragmente werden zusammen­

stammt der Makarow-Monolog dem Comic

Berlin bis ins Jahr 2016. Im Mittelpunkt der

gefügt, wieder verdreht oder stehen unverein-

„Berichte aus Russland. Der vergessene Krieg

Erzählung steht Alexander Orlow (Jirka Zett),

bar nebeneinander. Die Antriebskraft liefert

im Kaukasus“ des italienischen Zeichners

einst junger Soldat der russischen Armee,

die Jagd nach der Wahrheit – wie in einem

Igort (wobei diese Quelle leider nicht genannt

heute millionenschwerer Oligarch mit Wohn-

gut gebauten Agentenfilm. Ergebnis dieser

wird). Auch Florian Lösches Bühnenbild,

sitz in Berlin. Der General, wie Freunde und

Dramaturgie ist, dass sich Handlungen, statt

­monumentale betongraue Wände, die, rauf-

Feinde ihn nennen, ist die interessanteste

aus inneren Konflikten, durch äußere Ereig-

und runterfahrend, Mauern bilden oder Men-

Figur in Haratischwilis Erzählung: Als schüch-

nisse generieren (der Mord an einem Men-

schen gänzlich einsperren, sorgen für scharfe

terner Junge zur Armee gekommen, wird er in

schenrechtsanwalt, die Geburt von Orlows

Schnitte. Dass André Szymanski in seiner

Tschetschenien durch seine Vorgesetzten

Kind), die in der verdichteten Bühnenfassung

Funktion als Erzähler diese Wände beständig

Andrei Schujew (Bernd Grawert) und Boris ­

von Emilia Linda Heinrich, Julia Lochte und

mit Jahreszahlen vollpinseln muss, führt

Petruschow (Ole Lagerpusch) in die Vergewal-

Jette Steckel derart rasant aufeinanderfolgen,

­allerdings auch zu grotesken Momenten, etwa


/ 42 /

auftritt

/ TdZ Oktober 2019  /

wenn er, wieder in der Rolle Benders, im

hundert, das alle betrogen und hintergangen

(Rita Feldmeier), aus ihrer jugendlichen

tiefsten Sumpf Moskaus immer noch mit

hat … einem lange andauernden Verrat, der

Schwester Christine (Tina Schorcht) die ele-

­Pinsel dasteht.

sich wie ein Fluch über meine Familie gelegt

gante Dame (Kristin Muthwill), aus Stasias

„Die Katze und der General“ erzählt

hatte … Es ist die Geschichte der Familie

Tochter Kitty (Tina Schorcht) die erwachsene

von der Mechanik des Krieges, weniger von

Jaschi, von acht Leben und einem roten ­

Sängerin (Franziska Melzer). Die Wechsel fin-

seiner Psychologie. Die Entmenschlichung,

­Jahrhundert, in das wir alle eingewoben sind

den auf der Bühne statt. Es entsteht das Ge-

die damit einhergeht, blitzt an diesem Abend

wie Fäden in einen Teppich.“ So endet

fühl, den Figuren beim Altern und damit

vor allem bei einem hervor: Bernd Grawert,

Haratischwilis 1300 Seiten starker Roman. ­

beim Leben zuzusehen.

der, eben noch als zartfühlender Konzert­

In Potsdam bilden diese Zeilen den Anfang.

So groß die Zeitspanne, so groß, teils

pianist am Flügel sitzend (er spielt tatsächlich

Stasia wird geboren, Tochter eines georgi-

opernhaft ist anfangs das Spiel. Immer wie-

selbst!), wenig später als kaltblütiger Kriegs-

schen Schokoladenfabrikanten, deren Schick-

der lassen sich die Schauspieler vor Bestür-

verbrecher Schujew über die Bühne stapft,

sal, kaum hat sie sich in den Weißgardisten

zung – und Gründe dafür gibt es reichlich in

die Füße mit zwei Armeehelmen verwachsen,

Simon Jaschi verliebt, von den politischen

dieser Geschichte – mit dem Rücken gegen

wie eine Figur von Heiner Müller, entsetzlich

Umwälzungen durchkreuzt wird. Die offene,

Schränke fallen, gehen in die Knie, schluch-

und faszinierend zugleich.

weite Bühne, von Ariane Salzbrunn mit lose

zen urplötzlich los. Emotionen, die über­

Gänzlich anders gestrickt ist Nino

im Raum verteilten Ledersesseln, Holz-

dimensioniert wirken, wenn demgegenüber

­Haratischwilis Roman „Das achte Leben (Für

schränken, Tischen und einem etwas zu blu-

im Glas Champagner, das Christine ihrem

Brilka)“, der als Bühnenadaption nach seiner

migen Blumendekor klassisch unaufgeregt

Mann vor Wut ins Gesicht schüttet, bloß Kon-

Uraufführung am Thalia Theater 2017 (eben-

gestaltet, zieht uns sofort hinein in dieses

fetti ist. Die Form mäandert zwischen psycho-

falls durch Jette Steckel) nun am Hans Otto

­Familienleben, dessen Erzählung zu Beginn

logischem Spiel, einigen wenigen Chorpassa-

Theater Potsdam in der Regie von Konstanze

des 20. Jahrhunderts einsetzt. Das Zaren-

gen und einer einzigen in die Biomechanik

Lauterbach Premiere hatte. Hechtet „Die

reich zerfällt, Georgien taumelt als Anhängsel

getriebenen Szene – bis im zweiten Teil nach

Katze und der General“ einer Dramaturgie der

Russlands durch zwei Weltkriege, Stalinterror

der Pause die Überdrehtheit einer großen

Ereignisse hinterher, verfolgt „Das achte

und Unabhängigkeitskampf. Ein Leben im Bann

Ernsthaftigkeit Platz macht, als hätte es

Leben“ eine Dramaturgie der Psychologie. ­

des roten Sterns, dessen Abgesandter, der

­diesen Anlauf gebraucht.

„Ich verdanke diese Geschichte einem Jahr-

Kleine Große Mann, wie der russische Ge-

„Das achte Leben“ ist ein Roman der

heimdienstchef Lawrenti Beria im Roman

starken Frauen. Immer mehr von ihnen wer-

­genannt wird, verheerenden Einfluss auf die

den als Töchter, Enkelinnen und Urenkelin-

Familie Jaschi ausüben wird.

nen Teil der Geschichte der Jaschis. Stark,

Verwoben in ein rotes Jahrhundert – „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili (hier mit Andrea Casabianchi, Guido Lambrecht und Henning Strübbe) in der Regie von Konstanze Lauterbach. Foto Thomas M. Jauk

Konstanze Lauterbach hat durch Be-

schlau und wiederständig, sind sie gegen jed-

setzungswechsel die große Zeitspanne dieser

wede Ideologie immun. Während Kostja, Sta-

Erzählung erfahrbar gemacht. Aus der jungen

sias parteitreuer Sohn (Guido Lambrecht),

Stasia (Franziska Melzer) wird die alte Stasia

selbst zu Perestroika-Zeiten in bestürzender Verzweiflung davon träumt, noch einmal anzugreifen, folgen die Frauen von Anfang an ihren eigenen Weltentwürfen. Die kleinen großen Männer, auch die von heute, haben bei ihnen keine Chance. Die Angst und die Verzweiflung, die ihnen im Leben begegnen, treiben sie nicht in die Arme einer Partei, der Kampf um Anerkennung erfolgt nicht über Dritte. Sie kämpfen für sich selbst. Mit viel Schläue, Kraft – und Humor. Es ist ein berührender und verstörender Moment, wenn am Ende, nach vier gemeinsam durchlebten Stunden, im Hintergrund all die Toten noch einmal auferstehen. Ein Familienalbum als Tableau vivant des Schreckens. Kaum einer von ihnen starb eines natürlichen Todes. Die Toten aber sind mit uns. Das lehrt uns, ganz nach Heiner Müller, Nino Haratischwili. Wir werden sie nicht los, aber wir können uns von ihnen emanzipieren, ohne sie zu vergessen. // Dorte Lena Eilers


auftritt

/ TdZ  Oktober 2019  /

LÜBECK

einem Fernsehquiz kurz vor dem großen Showdown sorgen. Auch im Kostüm dominiert die Krone, dazu ein ­bisschen Pelz, Glitzermäntel,

Das Spiel der Macht

Sonnenbrillen und ähnliche überhistorische Insignien der Macht, bei Bedarf auch Schwerter zum ­Köpfe ein- oder abschlagen.

THEATER LÜBECK: „Game of Crowns 1 – Intrige, Macht, Könige“ (UA) von und nach William Shakespeare in einer Fassung von Pit Holzwarth Regie Pit Holzwarth Ausstattung Werner Brenner

Der als Obertunte dargestellte Richard II. (Andreas Hutzel) interessiert sich mehr für Männer als für Staatsgeschäfte – und am meisten für sich selbst. Umkreist wird der selbstverliebte Herrscher von drei kleidchentragenden dauergackernden Hof­ dödeln (Johannes Merz, Heiner Kock und ­Johann David Talinski), die auf Befehl Analsex-Liedchen trällern oder bei leidiger Dudel-

Kampf um die Macht, Gewalt, Verrat, Düster-

sackmusik herumhüpfen und alberne Laute

nis – all das zeichnet den Serienhit „Game of

ausstoßen. Dass nervt dann irgendwann auch

Thrones“ aus. Der brutale Realismus lässt

den Adel, insbesondere Heinrich Bolingbroke

Fantasy-Geschichten wie „Harry Potter“ und

(Michael Fuchs), der dem Treiben mit Dul-

„Herr der Ringe“ wie beschauliche Märchen

dung des alten York (Sven Simon) ein Ende

erscheinen. Für das Theater ist das nicht un-

bereitet. Der letzte Auftritt von Richard ist

bedingt etwas Neues. Das dachte sich offen-

auch sein stärkster, muss er sich nicht nur

bar auch Pit Holzwarth, der am Theater Lü-

von der Krone trennen, sondern gewisser­

beck „Game of Crowns 1 – Intrige, Macht,

maßen von seinem zweiten Körper als König,

Könige“ zur Uraufführung brachte – von und

wie es der Historiker Ernst Kantorowicz mit

nach Shakespeare. Für Holzwarth, seit zwölf

Blick auf die politische Theologie des Mittel-

Jahren Schauspieldirektor am unterfinanzier-

alters formulierte. „Wer bin ich?“, fragt sich

ten Theater Lübeck, kein Neuland, war er

Richard als Doppel-Ich von Mensch und Kö-

doch zuvor ebenfalls zwölf Jahre bei der Bre-

nig. Eine Identitätsverwirrung der besonderen

mer Shakespeare Company. Shakespeares

Art, die aber alsbald durch seine Ermordung

Lancaster-Historie mit „Richard II.“, „Hein-

beendet wird.

Demnächst auf Netflix? – Pit Holzwarth gruppiert Shakespeares Lancaster-Historie zu „Game of Crowns 1 – Intrige, Macht, Könige“ (hier mit Robert Brandt und Lilly Gropper). Foto Marlène Meyer-Dunker

rich IV.“ und „Heinrich V.“ bietet passendes

Heinrich IV. ist das ausdrückliche Ge-

Material zum Übergang vom Bürgerkrieg zum

genteil des weibisch attribuierten Richards,

souveränen Staat der Neuzeit, zum „Levia-

ein mit der Reitpeitsche wedelnder Krieger.

than“, wie es der Philosoph Thomas Hobbes

Der wiederum leidet daran, dass sein Sohn

ausdrückte. Über drei Stunden dauert der

Harry (Lilly Gropper) eher nach Richard

Abend, der ohne Rücksichten auf Feinheiten

kommt und nicht nur ein bisschen wie Con-

vom Niedergang Richard II. bis zum Aufstieg

chita Wurst ausschaut, sondern sich zudem

Schaffe Freund und Feind, so lautet das obs-

Heinrich V. führt.

in der fragwürdigen Gesellschaft von Sir John

zöne Gesetz der Souveränität. Gegen Frank-

Das blutrünstige Thema wird durch die

Falstaff (Robert Brandt) befindet. Ärgerlich,

reich soll es gehen, verkündet Heinrich V., doch

Ausstattung von Werner Brenner illustriert.

müssen doch eigentlich allerlei Aufstände

dann ist erst mal Schluss mit der Schädel­

Die Bühne führt schräg nach oben, in der Mit-

niedergeschlagen werden, um die Herrschaft

einschlagerei zum Thron- und Kronener-

te eine übergroße Krone, die Zacken nach un-

zu erhalten. Falstaff immerhin plaudert aus,

werb. Im April hat dann „Game of Crowns 2“

ten gerichtet. Das ist der Thron, um den ge-

dass dieses kriegerische Männlichkeitsgetue

Premiere. //

rungen wird. Er ist begehbar, und wer auf ihm

auf einer reichlich bekloppten Vorstellung von

steht, drückt in der Position seine Vormacht-

Ehre basiert, die letztlich vor allem die Gräber

stellung aus. Später wird die Krone noch auf-

schmückt, aber sonst zu wenig nütze ist. Ein

geklappt werden, und der goldene Glanz, der

böses Zauberwort, sagt der alte Lüstling. Die

außen prangt, wird kontrastiert mit dem rot

einzige Szene wahrhaft menschlicher Tragik

eingefärbten Innenteil. Zu viele blutige Herr-

ist dann auch ihm vorbehalten, als er von

scherhäupter hat sie schon bekleidet. Ein Dut-

Harry als Heinrich V. in die Verbannung ge-

zend Lichtstäbe umgeben die Schräge und

schickt wird. Der neue König kann mit der

sorgen sowohl für verschiedene farbige Illumi-

alten Liebe nichts mehr anfangen. Und be-

nationen als auch für ­Effekte, die im Zusam-

herzigt den letzten Rat seines Vaters, nämlich

menspiel mit hoch­ dramatischen Musikein-

Krieg im Ausland zu führen, um den Bürger-

spielungen für eine Atmosphäre ähnlich

krieg im Inneren zu befrieden.

Jakob Hayner

n!

re pa

on v o Ab eit ten er Z u n z de r d bis t u z St ate Jet s e Da Th

% 0 4

s

/ 43 /


/ 44 /

auftritt

/ TdZ Oktober 2019  /

MÜLHEIM AN DER RUHR Postkoloniale Totenwache RINGLOKSCHUPPEN RUHR: „Hamletmaschine“ von Heiner Müller Regie Martin Ambara Choreografie Moada Yakana Bühne und Licht Thierry Fotso Mbateng Kostüme Anne Bentgens

Martin Ambara, Leiter und Regisseur des OTHNI – Laboratoire de Théâtre de Yaoundé in Kamerun, hat für seine vierte Koproduk­ tion mit dem Ringlokschuppen Ruhr Heiner ­Müllers erratisches Hamlet-Kondensat „Hamletmaschine“ einer postkolonialen Relektüre unterzogen. Schon 2013 war der Text Ausgangs- und Fluchtpunkt für die gemeinsam mit dem Bochumer kainkollektiv entstandene Arbeit „Fin de Machine / Exit. Hamlet“. Im Rücken die Ruinen Afrikas – Heiner Müllers „Hamletmaschine“ in der Regie von Martin Ambara. Foto Stephan Glagla

Abermals dient Müllers Material als

Wort „Familienalbum“ den ersten der fünf

Folie, hinter der die afrikanische Erfahrung, ­

monologischen Blöcke des Müller-Textes an-

gespeist aus den vielfachen Zurichtungen des

kündigt. Auf einer kleinen Empore neben

Kolonialismus und des auf mehreren Ebenen

dem Technikpult entwirft der Musiker, Sänger

stattfindenden Identitätsverlusts, sichtbar wird.

und Soundkünstler Rass Nganmo mithilfe

Die Landnahme des Bodens, die Vernichtung der

seiner Stimme, diverser Instrumente und ge-

der Befreiung, in ihr white facing als ent­

Körper, die Auslöschung der Identitäten gehen

loopter Sounds eine vielstimmige Klangland-

rechtete „Hure Europas“, mischen sich die

einher mit einer über Jahrhunderte gültigen

schaft. Während aus dem Schlamm G ­ estalten

Klänge des berühmten „Hallelujah“ aus dem

Tilgung der eigenen Geschichte durch den Ko-

­sich erheben, steht ein allegorischer Spuren-

„Messias“-Oratorium Georg Friedrich Händels,

lonialismus. Das Davorliegende hat keinen

sucher in Frack und Richterperücke am

der als Anteilseigner der Royal African

Raum und führt zu der Frage, wer Afrika, wie

Rand, der bei seiner sezierenden Beobach-

Company tief verstrickt war in den trans­

wir es heute kennen, eigentlich erfunden hat.

tung Wegmarken entlang einer Geschichte

atlantischen Sklavenhandel.

Einer kamerunischen Tradition fol-

setzt, die von Entrechtung und Erniedrigung

Neben dem Spurenleser oszillieren zwei

gend, bittet Ambara darum, sich rückwärts­

handelt, die verwoben ist mit den Namen von

Schauspielerinnen und zwei Schauspieler ohne

gewandt dem Ort der Toten zu nähern. Wie

Regenten und Akteuren einer frühkapitalisti-

Zuweisung von Rolle und Person zwischen

die Uraufführung der „Hamletmaschine“ 1979

schen, europäischen „Erfolgsgeschichte“ der

Vergangenheit und Gegenwart, Himmel (Tra-

durch Jean Jourdheuil findet der Abend in

Westindien-Kompanie und der Kirche, deren

pez) und Erde (Schlammkasten), Wasser und

französischer Sprache statt, in Worten der

Verheerungen und Verfügungen bis in die Ge-

Luft. Sie sind Hamlet, sie sind Ophelia, die

einstigen Kolonialmacht, simultan übersetzt

genwart nachhallen. Eine „Gespensterschar“,

Frau mit dem Kopf im Speißbottich. Ein sol-

via Kopfhörer. So treten wir rückwärts ein, in

bis heute geehrt und gebannt auf wertvollen

cher, mit Wasser gefüllt, steht am Ende in

einen vielschichtigen Echoraum der Gegen-

Gemälden. Eine Schar, die noch immer den

jeder Ecke des Spielfeldrandes. Die Darsteller

wart. „Gewisper und Gemurmel“, „BLABLA,

Preis diktiert, um den das heutige Afrika zu

tauchen hinein, kämpfen mit Atmung, Wasser

im Rücken die Ruinen von Europa“, die aus

haben ist. „Der Aufstand beginnt als Spazier-

und Sprechtext, derweil auf den Leinwänden

dieser Perspektive „die Ruinen Afrikas“ sind.

gang“, auch in Kinshasa oder am Tahrir-Platz.

Bilder der Seenotrettung im Mittelmeer zu

Nahe am Einlass regen sich zwei Leiber

Bilddokumente mischen sich über die Lein-

sehen sind. Nicht das Leid der Ertrinkenden

am Boden, wie in einem Grab aus hellem

wände ins Geschehen und bebildern Müllers

wird hier nachgespielt, sondern vielmehr mar-

Schlamm. Wabernder Nebel steigt aus dem

Text.

kieren die Akteure die Situation derjenigen,

Sumpf der Spielfläche auf, die – wie mit

„Das Europa der Frau“ wird zur „Frau

die den Ort verlassen, und rezipieren ihre

Asche überweht – im Schwarzlicht schim-

des Europa“: In Ophelias Schlachtfeld, in die

­Geschichte im Sinne Müllers, der einmal sag-

mernd von Sitzreihen umgeben ist. Darüber

Aufzählung der Verbrechen, verübt am weibli-

te: „Ich habe keine Hoffnung. Ich habe aber

auf jeder Seite eine Leinwand, auf der das

chen Körper, in ihre Raserei als Selbstversuch

auch keine Verzweiflung. Das ist nicht mein


auftritt

/ TdZ  Oktober 2019  /

Gebiet. Ich versuche zu beschreiben, was ist.“

drei miteinander verknüpften Erzählungen,

gen ebenso zur Geltung (auch für diejenigen,

Wie in einem Steinbruch der Worte arbeitet

Fosses letzter großer Prosaveröffentlichung

die sie nicht verstehen) wie die einzelnen

sich die Inszenierung durch die fünf Textblö-

aus dem Jahr 2014. In ihr wird das Schicksal

Spielszenen vor den jeweils für verschiedene

cke, klopft behutsam den Lehm ab und för-

der hochschwangeren Alida und ihres Gelieb-

Orte stehenden Bootsrümpfen auf der Bühne.

dert mit Prägnanz eine Lesart zutage, die

ten Asle geschildert, die etwa Ende des 19.

Diese können für das aus dem Buch heraus-

Müllers gewaltigen Sprachbildern eine große

Jahrhunderts aus einem Dorf an der norwe­

geschälte Dutzend Figuren Felsen einer rauen

Wirkmächtigkeit verleiht und dabei den glo-

gischen Westküste nach Bergen fliehen müs-

Küste oder Häuser einer unwirtlichen Stadt

balen Konfliktlinien zwischen Nord und Süd

sen, nachdem Asle in großer Not Alidas

darstellen – vor allem aber symbolisieren sie

nachspürt. Konfliktlinien, die den Diskurs zu-

­bösartige Mutter und einen Bootsbesitzer er-

Alidas und Asles Verhängnis in dieser dunk-

künftig beherrschen werden und die von der

schlagen hat, wofür er schließlich gestellt

len Welt, die so gar nichts mit dem Bild vom

westlichen Welt eigenartigerweise in jahrhun-

und hingerichtet wird. Im dritten Teil stehen

heutigen Norwegen zu tun hat. Bei Asles

dertelang antrainierter, selbstgefälliger Igno-

Alidas und Asles Sohn Sigvald und seine

­Hinrichtung am Galgen liegt sein Darsteller

ranz ausgesessen werden. //

Halbschwester Ales im Fokus einer im Grund-

Christian Ruud Kallum schwer atmend vor

ton archaischen Geschichte voller Gewalt und

einem dieser Boote, bis sein Atem plötzlich in

drängender Verlorenheit.

die Wolke hinauf zu verschwinden scheint.

Frederike Juliane Jacob

OSLO Schwebendes Trauma DET NORSKE TEATRET: „Trilogie“ von Jon Fosse Regie Luk Perceval Bühne Annette Kurz Kostüme Ilse Van den Busche

Diese Ales, der man im Buch scheinbar

Das ist einer der nicht wenigen Momente die-

als einer Nebenfigur begegnet, hat der flämi-

ser Inszenierung, wo Fosse und Perceval (wie

sche Regisseur Luk Perceval nun ins Zentrum

einst bei „Traum im Herbst“ 2002 an den

seiner Bearbeitung gestellt. Sie erinnert sich

Münchner Kammerspielen) kongenial aufein-

als betagte Erzählerin an die traumatische Ge-

andertreffen – Sprache und Nicht-Sprache,

schichte ihrer Familie. Zu Beginn tastet sie

Bild und Situation, intensivierter Text bis in

sich mit altersschweren Schritten in einen fast

die absolute Stille. Anders als bei seinen ei-

dunklen Raum. Das Bühnenbild von Annette

nen klaren Plot verfolgenden Fallada-Adaptio-

Kurz zeigt ein paar Boote kieloben über Was-

nen ist Perceval hier ganz dem Dichter Fosse

serschlieren auf dem Boden der riesigen Büh-

gefolgt, indem er die „Trilogie“ in ihrer rätsel-

ne des Norske. Darüber schwebt fast vier Stun-

haften Poesie zeigt. Für beide, Fosse und Per-

den lang eine helle Nebelwolke wie in den

ceval, ein Glück.

Bergen Bergens. Eine Wolke von Gewicht.

Die fantastische Gjertrud Jynge als

Perceval hat die über Orte und Genera-

Ales führt mit ihrem Spiel zwischen Greisin

Ende September wurde Jon Fosse sechzig

tionen laufende Handlung im spannungsvol-

und bohrendem Gewissen der Geschichte

Jahre alt und zu diesem Anlass ein seinem ­

len Wechsel zwischen prallem Erzählen und

durch eine Inszenierung, die im Ganzen die

Werk gewidmetes internationales Festival am

minimaler szenischer Ausgestaltung ange-

existenzielle Wucht einer griechischen Tragö-

Det Norske Teatret ausgerichtet. Diesem Thea-

legt. Fosses musikalische Sprache kommt so

die hat – und die das Premierenpublikum mit

ter im Zentrum Oslos ist Fosse stets auf eine

über erzählende und kommentierende Passa-

Standing Ovations feierte. //

besondere Weise verbunden gewesen. Denn hier erlebten nicht nur eine Reihe seiner ­frühen Stücke ihre Uraufführung, das Norske Teatret spielt ausschließlich in Nynorsk, einer von rund einem Drittel der Bevölkerung gesprochenen Variante des Norwegischen, in der Fosse schreibt. Für den Intendanten Erik Ulfsby ist diese erste Ausgabe des Festivals auch ein Versuchsballon, ob sich neben dem renommierten Ibsen-Festival noch ein weiteres Festival in Norwegens Hauptstadt platzieren lässt. Die bislang mehr als dreißig Stücke Fosses, von denen viele überall auf der Welt inszeniert werden, erlauben einen solchen Horizont. Eröffnet wurde das „Fossefest“ mit Luk Percevals Bühnenversion der „Trilogie“,

Eine Geschichte voll rätselhafter Poesie – Jon Fosses „Trilogie“ (hier mit Gjertrud Jynge und Christian Ruud Kallum) in der Regie von Luk Perceval. Foto Erik Berg

Thomas Irmer

/ 45 /


/ 46 /

auftritt

/ TdZ Oktober 2019  /

Mit dem Boot den Hindukusch hinauf – Ist das nicht ein Gebirge? Egal. „Die lächer­ liche Finsternis“ von Wolfram Lotz (hier mit Cornelia Heilmann und Frank Siebers). Foto Nilz Böhme

Schlagzeug auf der Lauer liegend, jederzeit für einen Überraschungsangriff gut. Hier zeigt sich Rahlfs als ein Regisseur, der mit plötzlichen Finten und Über­ raschungseffekten zu arbeiten versteht. So entsteht eine nachdenkliche Performance, zugleich grell-komisch und abgründig-dunkel. Auf ihrer Reise, die Expedition, Angriff und Flucht in einem zu sein scheint, stoßen die beiden immer wieder – selbst unter diesen obskuren Umständen – auf merkwürdig erscheinende Gestalten. Allesamt verkörpert sie Matthias Hinz, so etwa den italienischen Blauhelmoffizier Lodetti mit Hang zum Kulinarischen sowie von einer Mülltrennungsobsession beherrscht. Lodetti verkündet, dies sei die letzte Station vor jenem Wahnsinn, der

STENDAL Welch überlaute Stille THEATER DER ALTMARK: „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz Regie Wolf E. Rahlfs Ausstattung Mark Späth

Das leergefischte Meer, und auf seinem

Innenraum des Kleinen Hauses (Aus­stattung

in der Wildnis wohne. Doch vom Krieg be­

Mark Späth). Ein Hindernisparcours. Die

kämen sie hier kaum etwas mit, kein Internet,

­Zuschauer sitzen in zwei Reihen außen drum

kein Fernsehen, nur einige Granaten, die im

herum. Drei Schauspieler im Hoch­ bewe­

Lager einschlügen. Aus dem Blauhelmsoldat

gungsmodus stürzen von einer Seite zur an-

wird ein fliegender Händler, der eine schreck-

deren und sprechen den Lotz-Text im Chor. Es

liche Geschichte erzählt und gleichzeitig

ist jener absurde – und zugleich wieder

­mitteilt, dies sei die ultimative Gelegenheit,

höchst plausible – Passus des somalischen

laktosefreien Ziegenkäse zu kaufen.

Piraten vor Gericht. Fast eine Erfolgs­

Dann steht auch schon der gesuchte

geschichte. Der Diplom-Pirat von der Uni­

Deutinger vor uns, ein lässiger, Rechenexem-

versität Mogadischu dankt der somalischen

pel anstellender Urwaldcamper, der zwei an-

Studienstiftung für sein Stipendium, es

dere Soldaten im Wahn tötete und den es

hätte alles gut werden können, wenn nicht, ja

darum zu liquidieren gilt. Das Herz der Fins-

wenn was?

ternis erscheint so auf lächerliche Weise mör-

Grund wächst die Wut. Damit beginnt alles.

Da kippen die Wände mit lautem Krach

derisch – und auf mörderische Weise lächer-

Eine Handbreit unter der Wasseroberfläche

um, liegen nun kunstvoll wie aufeinander­

lich. Die starken Schauspieler Frank Siebers,

zerfließen die Konturen des Alltags, verwan-

geschobene Schollen da. Ein holpriger Weg

Cornelia Heilmann und Matthias Hinz, zu

delt sich alles in einen surreal verflüssigten

oder auch ein Fluss voller Untiefen zeigt sich.

denen am Ende noch Kathrin Berg als plötz-

Bilderbogen in Grellbunt. Darum geht es in

Welch Laufsteg des Kommenden! Hier also

lich auftauchender halber Pirat Tofdau mit

dem Hörspieltext „Die lächerliche Finsternis“

fahren, stolpern, tanzen, kriechen Hauptfeld-

einem Kurzauftritt hinzukommt, treiben die

von Wolfram Lotz, der der Stendaler Inszenie-

webel Pellner (Frank Siebers) und Gefreiter

zahlreichen Regievolten immer wieder anders

rung von Wolf E. Rahlfs zugrunde liegt. Um

Dorsch (Cornelia Heilmann) in geheimer Mis-

als erwartet auf die Spitze.

die wechselnden Aggregatzustände unserer

sion mit ihrem Boot den Hindukusch hinauf.

Und plötzlich dringt in all der überbor-

Realitätswahrnehmung. Welch grotesker Trip

Ist das nicht ein Gebirge und kein Fluss?

denden Bilderflut etwas ganz anderes durch:

auf den Spuren von Joseph Conrads „Herz der

Egal, dies hier bleibt eines jener bösen Mär-

das Hörstück, das Lotz schrieb. Denn die

Finsternis“ und Francis Ford Coppolas „Apo-

chen, die man sich erzählt, wenn solche

Bühne ist hier auch ein Tonstudio, wo man

calypse Now“!

spitzfindigen Unterscheidungen bedeutungs-

hingebungsvoll vor Mikrofonen mit Wasser

Rahlfs inszenatorischer Zugriff auf den

los geworden sind. Angetrieben werden die

oder knisterndem Papier den Echoraum einer

Text ist alles andere als zaghaft. Die ersten

beiden Bundeswehrsoldaten bei ihrer Mission

kranken Wildnis simuliert, die sich immer

15 Minuten: rasant. Ein halbes Dutzend Es-

von der Ein-Mann-Urwald-Band des irrwitzi-

weiter voranfrisst. Welch überlaute Stille.

kaladierwände, die auch Schießscheiben sind,

gen Ulrich Hartmann, ein wahrer Dämon, im

Existiert sie nur in unserem Kopf? //

in leicht blutigem Rosa gehalten, füllen den

Zimmerpflanzengrün samt Heimorgel und

Gunnar Decker


auftritt

/ TdZ  Oktober 2019  /

ZOLLBRÜCKE / ODERBRUCH Die Kokosnussknacker vom Rande THEATER AM RAND: „Kabakon oder Die Retter der Kokosnuss“ nach dem Roman „Imperium“ von Christian Kracht Regie und Bühne Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern Kostüme Aenne Plaumann

Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern haben ein Faible für Aussteiger und Sonderlinge. In ihrem Theater am Rand, idyllisch unterhalb eines Oderdeiches mit Blick auf die grünen Auen gelegen, zeichneten sie bereits die skurrilen Lebenswege von Besitzern eines Akkordeons nach und nahmen die Biografie

­Miniaturen außerhalb des Theaters: auf einem

des Polarforschers John Franklin zum Anlass,

alten Schiff, das seit Jahren schon malerisch

über Langsamkeit zu sinnieren.

auf dem Acker vor dem Theater vor sich hin

In „Kabakon oder Die Retter der Kokosnuss“ haben sie sich eines anderen Son-

rostet, unter Apfelbäumen und im Hof vor einem Fachwerkbau.

Am Rande des Dschungels – oder des Oderbruchs: „Kabakon oder Die Retter der Kokosnuss“ nach „Imperium“ von Christian Kracht in der Regie von Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern. Foto Wolfgang Rakitin

derbaren angenommen: August Engelhardt,

Der großen Bühne sind die kolonialen

1875 in Nürnberg geboren, war Vegetarier,

Ereignisse vorbehalten. In üppigen Leder­

Nudist, Kokosnuss-Anbeter und Kolonist im

sesseln sitzen wunderlich herausgeputzte

damaligen Deutsch-Neuguinea. Rühmann,

­Europäer. Eine Standuhr, auch sie Requisit

Gestalt heraus. Schmidt etwa verschmilzt mit

Serienstar des MDR und mit Morgenstern

abendländischer Zivilisation, gibt den Takt

dem Engelhardt-Jünger Lützow, Jäger gestaltet

Gründer des Theaters, hatte den Stoff schon

vor. Von draußen aber, die Rückwand des

intensiv die Vergewaltigung eines der Eingebo-

seit 2014 parat, wenige Jahre nach Erschei-

Theaters öffnet sich zum Feld und zur Streu-

renen durch einen anderen Engelhardt-Jünger.

nen der Bücher von Christian Kracht und

obstwiese, dringt die Natur herein. Man fühlt

Als Narr und Kobold mischt sich Per-

Marc Buhl, die Engelhardt zwei literarische

sich am Rande des Dschungels, eingehegt

former Wolfgang Krause Zwieback ein. Mal

Denkmale setzten. „Imperium“ von Kracht

aber noch in die Segnungen der Zivilisation.

entringt er seinen Lippen ein Echo des zuvor

lieferte die Vorlage für das Stück.

Tobias Morgenstern spielt Rhythmen, die

Gesagten, äfft es nach, überbetont es auch.

Engelhardt gelangte 1902 in die Süd­

ebenfalls die Balance zwischen Exotik und

Als guter Neodadaist erfreut er sich an Wort-

see. Auf der Insel Kabakon wollte er sein Leben

alter Kultur halten. Er schlägt mit nackten

verdrehungen

ganz der Kokosnuss widmen. Von deren Frucht-

Händen auf eine Hang Drum, eine stählerne

skiz­ ­ ziert – Dada ist immer auch Kunstge-

fleisch ernährte er sich, was Mangel­ erschei­

Riesenlinse, die in der Schweiz als Weiterent-

schichte – mit nur wenigen Strichen die mo-

nungen nach sich zog. Er konnte sich aber da-

wicklung der Steeldrums entstanden ist, aber

derne Welt um 1900, vor der Engelhardt flieht.

mit brüsten, dass einer seiner glühendsten

wie ein traditionelles Musikinstrument ganz

Verehrer, der Berliner Musiker Max Lützow, auf

ferner Kulturen wirkt.

und

Worterkundungen

und

Ein wenig zu kurz gerät an diesem Abend die anarchische Kraft des Aussteigers,

Kabakon dank der Kokosnussdiät alle Zivilisa­

Thomas Rühmann, Julia Jäger und

sein radikales „Mit mir nicht mehr“. In einer

tionsleiden loswurde. Das zog Follower an, die

Christian Schmidt breiten, auf den Sesseln sit-

erodierenden Gesellschaft – die einen steigen

Deutschland verließen und auf Kabakon siedeln

zend und vom Hang-Drum-Sound Morgen-

zur AfD aus, die anderen ziehen weg in die

wollten. Das Deutschland unmittelbar vor dem

sterns getrieben, den weiteren Lebensweg

Metropole, wieder andere fliehen aus dieser

Ersten Weltkrieg muss wilder und widersprüch-

­Engelhardts in der Südsee aus. Sie fallen sich

und suchen ihr Glück auf dem Lande, das sie

licher gewesen sein, als es die späteren Histo­

gelegentlich ins Wort, ergänzen sich, gleich-

in verheißungsvollen Farben malen – hätte

riendarstellungen zu verstehen geben.

sam ein Hirn, eine Zunge seiend. Manchmal

dies für mehr Rumoren gesorgt. So aber

Engelhardts Auszug aus Europa erzählt

vereinen sie ihre Stimmen zu chorischen Mo-

bleibt es beim Blick vom Salon aus auf einen

das fünfköpfige Ensemble in szenischen

menten, dann wieder schält sich eine neue

seltsamen Vogel. //

Tom Mustroph

/ 47 /


/ 48 /

THEATER CHUR

/ TdZ Oktober 2019  /

THEATER CHUR SAISON 2019/ 20 Do 3. Okt.

HYMNE AN DIE LIEBE Chorisches Theater von Marta Górnicka CULTURESCAPES POLEN

Mi 23. Okt.

FANTAZJA

Ein Stück von Anna Karasińska CULTURESCAPES POLEN Mi 13. Nov.

WELT IN CHUR

SAISONER

CH-ERSTAUFFÜ

CEZARY ZIEHT IN DEN KRIEG

ÖFFNUNG

WELT IN CHUR HRUNG

WELT IN CHUR UNG CH-ERSTAUFFÜHR

Eine performative Revue über das Mannsein von Cezary Tomaszewski / CULTURESCAPES POLEN Fr 22. Nov. Sa 23. Nov.

MÖRDER UNTER UNS

Fr 17. Jan.

DER LETZTE SCHNEE

Frei nach dem Film «M - Eine Stadt sucht einen Mörder» von Fritz Lang & Thea von Harbou

Von Arno Camenisch / Gastspiel Konzert Theater Bern

LONELINESS KILLS ANNA

Fr 31. Jan. – So 2. Feb. Ein Musiktheater von Peter Conradin Zumthor Di 4. – URAUFFÜHRUNG Do 6. Feb. Sa 15. Feb. So 16. Feb.

DAS ORAKEL VON DELPHI Ein Jahrmarkt der Vernunft Von Suse Wächter & Manuel Muerte

CH-ERSTAUFFÜHRUNG

Mi 18. – Sa 21. März

BOOK IS A BOOK IS A BOOK

Di 7. April Mi 8. April

HOTEL DER IMMIGRANTEN

Mi 13. – So 17. Mai

SCHWEIZER THEATER­ TREFFEN 2020

Eine Theater-Objekt-Installation von Trickster-p

Ein musiktheatrales Projekt von Anne Jelena Schulte & CapriConnection

Die jährliche Werkschau des Schweizer Theaterschaffens mit Verleihung der Schweizer Theaterpreise T + 41 (0)81 252 66 44 Mo – Fr 17 – 19 Uhr Online-Ticketing www.theaterchur.ch


ITZ NO DRAMA, BABY SMELLS LIKE GREEN SPIRIT (UA) Regie Gregor Schuster

Premiere 12. Oktober 2019

IM RAUSCH DER MASCHINEN ODER DAS RECHT AUF FAULHEIT (WA) Regie Peer Ripberger

Ab 2. November 2019

NEE, ICH BIN BLOSS FETT GEWORDEN (UA) Regie Peer Ripberger

Premiere 16. November 2019

NORMALIA (UA) Regie Johanna Louise Witt

Premiere 14. Dezember 2019

ÜBERLEBENSKUNST. EINE KÖRPERLICH-KLIMATISCHE ERFORSCHUNG (WA) Regie Nicole Schneiderbauer

Ab 23. Januar 2020

DER WIDERSPRUCH – EIN VOLKSLIED (UA) Regie Neue Dringlichkeit (CH)

Premiere 1. Februar 2020

IM ANTLITZ DER MASCHINEN ODER DAS RECHT AUF MAKELLOSIGKEIT (UA) Regie Peer Ripberger

www.itz-tübingen.de

Premiere 29. Februar 2020


/ 50 /

stück

/ TdZ Oktober 2019  /

Stille Erosion Der Autor Lukas Rietzschel über die Theater­adaption seines Romans „Mit der Faust in die Welt schlagen“ im Gespräch mit Anja Nioduschewski

Lukas Rietzschel, Ihr Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ wurde bei seinem Erscheinen 2018 als Buch der Stunde bezeichnet – „passend“ zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz –, weil er die rechte Radikalisierung zweier Brüder in der Nachwendezeit in der ostsächsischen Provinz nachvollzieht. Jetzt wurde er am Staatsschauspiel Dresden auf die Bühne gebracht, in einer Adaption, die Sie mitverfasst haben. Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, mit enormem Stimmen­ zuwachs für die AfD, schon wieder „passend“? Für die Rezeption des Stoffes bin ich ja nicht verantwortlich. Dass das Thema auf ein solches Interesse stößt, konnte ich weder planen

Lukas Rietzschel, geboren 1994 im sächsischen Räckelwitz, studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Kassel und Kulturmanagement in Görlitz. 2012 wurde sein erster Text im ZEIT Magazin publiziert, es folgten weitere Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. 2017 war er Gewinner bei poet|bewegt. Für sein Romandebüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“ wurde er 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet. Die Theateradaption dieses Romans hatte am 13. September in der Regie von Liesbeth Coltof am Staatsschauspiel Dresden Premiere. Foto Gerald von Foris

noch ahnen. Ganz unabhängig von den politischen Ereignissen der letzten Jahre wäre 2018 dieser Text erschienen. Meine Fragen

dörflich-kleinbürgerliche Nachwende-Kindheit,

dichten, ohne Ihren eigenen Stoff unfreiwillig zu

wären die gleichen geblieben. Es sieht nur so

mit Eltern, die sich nach dem Biografiebruch

interpretieren?

aus, als würden sich noch mehr Menschen

1989 neu zu justieren versuchen, die allmähliche

Genau darin, die Leerstellen und die Sprach-

damit beschäftigen.

Erosion von Bindungen einer Coming-of-Age-

losigkeit, die ich im Roman bewusst einsetze,

Geschichte in der Provinz, in der die Auswahl

auf der Bühne und durch die Bühne nicht

Der Roman schreitet 15 Jahre ab, sucht keine

zwischen falschen und richtigen Freunden nicht

zu füllen. Im Roman arbeite ich viel mit

dramatischen Plotpoints, sondern zeichnet in

sehr groß ist. Alles ohne Wertung oder Erklärung

atmosphärischen Beschreibungen, mit dem ­

exemplarischen, aber alltäglichen Situationen

erzählt, mit sehr viel Ungesagtem. Wo lag die

Schildern kleiner, hilfloser Gesten. Das kann

das Bild eines schleichenden Prozesses: eine

Schwierigkeit für Sie, das für die Bühne zu ver-

ich in einer Bühnenfassung nicht vorgeben,


/ TdZ  Oktober 2019  /

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

letztlich sind dafür die Regisseurin und die

zupassen. Ist dieser Druck vielleicht auch

dem irgendeine Wandlung der Brüder nun

Schauspielerinnen und Schauspieler zustän-

eine Erklärung für dieses Irgendwie-Hinein­

vollends einsetzen würde. Es gibt keine Initial-

dig. Also musste ich die Hilflosigkeit, die Wut

rutschen-­ins-rechte-Milieu der beiden Brüder

zündung, kein erklärbares Moment. Und

und diesen unbedingten Willen des Gehört-

im Roman?

trotzdem ist am Ende alles ins Wanken gera-

werdenwollens in die Dialoge bringen und,

Dass junge Menschen so wählen, liegt auch

ten und scheinbar unumkehrbar. Das gilt

viel mehr noch als im Roman, diese Gefühle

daran, dass sie in Zeiten dieser Polarisierung

auch für die Bühnenfassung.

in den einzelnen Personen kondensieren. Am

aufgewachsen sind, auch innerhalb eines

Ende geht es darum, ob nun in der prosai-

­Elternhauses, das sich seit 2014 vor allem in

Andererseits transportiert diese Geschichte mit

schen oder dramatischen Form, Wertung,

Ostdeutschland politisiert hat. Seither disku-

ihrer wertfreien Schilderung rechter Klicken

­Didaktik und moralisierende Elemente gänz-

tiert die Öffentlichkeit in unterschiedlichen

und fremdenfeindlicher Ressentiments gegen

lich außen vor zu lassen.

Erregungszyklen über Einwanderung und

Polen, Sorben und Asylanten eins zu eins rechte

­sogenanntes Staatsversagen. Fünf Jahre dau-

wie rassistische Sprache. Haben Sie Ihr Ziel er-

Ihre Initialzündung für den Roman waren die

ert das jetzt an. Sie können sich vorstellen,

reicht, wenn Leser und Zuschauer die rechte

fremdenfeindlichen Reaktionen auf die Ankunft

wie das die heute 18-Jährigen in ihrer Sozia-

Dorfjugend verstehen können?

der Flüchtlinge 2015, Ihr Erschrecken darüber,

lisation geprägt hat.

Ich verfolge überhaupt kein Ziel. Ich möchte

alte Freunde vor den Asylunterkünften in Sach-

eine Geschichte erzählen, ohne sie von ihrer

sen protestieren zu sehen, verbunden mit der

Es gab in den vergangenen Jahrzehnten gefeier-

Wirkung her zu denken. Zu dieser Geschichte

Frage, warum Sie es da rausgeschafft haben,

te Romane und Theaterstücke, die das Leben

gehört, dass ich einen Teil unserer Gesell-

aus diesem „bildungsfernen Milieu“. Sie schil-

der Jugend in der Nachwendezeit äußerst plas-

schaft schildere, der diese rassistische Spra-

dern dieses Milieu gekonnt, um zu erklären,

tisch schilderten, zum Beispiel von Fritz Kater

che verwendet. Nur weil dieses Milieu in

was da passiert ist, sagen aber gleichzeitig,

oder Clemens Meyer. Waren solche Texte Orien-

großstädtischen Kontexten und innerhalb

dass ein „ostdeutsches“ Milieu nicht die Erklä-

tierungspunkte in Ihrer Jugend im sächsischen

eines Bildungsbürgertums nicht auftaucht ­

rung für Pegida, Rechtsextremismus und die AfD

Räckelwitz?

oder wahrgenommen wird, heißt das nicht,

sein kann. Ein Widerspruch?

Überhaupt nicht, nein. Das aktuellste Buch,

dass es nicht existiert. Das Langweiligste auf

Das sind zwei unterschiedliche Aspekte. Erst

das ich während meiner Mittelschulzeit lesen

der Welt ist doch, wie im „Blauen Wunder“

einmal ist das Milieu, das ich beschreibe,

musste, war „Der Vorleser“. Darin wird ja vor

von Volker Lösch am Staatsschauspiel Dres-

nicht etwa bildungsfern oder gar dümmlich.

allem der Umgang der alten BRD mit dem

den, dass da jemand auf der Bühne steht und

Diese mittelständische Schicht finden Sie

Nationalsozialismus verhandelt, streng genom­

sagt: „Wählt nicht die AfD.“ Das Theater­

ebenso gut in Westdeutschland. Und auch

men ist das ein West-Buch. Dass es so etwas

publikum weiß das. Es beklatscht sich ja vor

dort gibt es Räume, die durch Deindustriali-

wie Ost-Bücher gab, in denen die Geschichte

allem selbst. Kunst kann mehr und muss

sierung, Überalterung und Wegzug geprägt

meiner Eltern oder Großeltern oder gar meine

nicht zu solchen plumpen Mitteln greifen.

sind. Auch im Westen finden Sie eine tiefe

eigenen Erfahrungen thematisiert wurden,

Gerade die Literatur schafft es, andere Le-

Verunsicherung angesichts des politischen

war mir lange unbekannt.

benswelten und Perspektiven zu eröffnen.

Systems vor, und auch im Westen finden Sie

Nur die Literatur schult Empathie. Und das

radikalisierte Kräfte, egal ob das Rechte oder

Ihr elliptischer Prosa-Schreibstil, der die kar-

auf die Bühne zu bringen, darin liegt doch der

Salafisten sind. Diese Aspekte, wenn man sie

gen Dialoge und das Schweigen der Menschen

Reiz: Ambivalenzen aufzuzeigen, Nuancen

für ostdeutsch hielte, könnten einem Erklä-

in Alltagsvorgänge und momentane Natur­

und am Ende das Publikum mit seinem Mit-

rungsversuch also nur bedingt standhalten.

wahrnehmungen einbettet, wird ja auch in der

gefühl zu konfrontieren.

Interessant wird es jedoch, wo diese Themen

Bühnenadaption beibehalten, hier auf verschie-

spezielle ostdeutsche Berührungspunkte ha-

dene Figuren verteilt. Ist das nur die Abbildung

Der lange Erzählzeitraum des Romans von 2000

ben. Damit meine ich, dass Rechtsextremis-

sprachloser Ohnmacht Ihrer Protagonisten, oder

bis 2015 war für Sie entscheidend, weil viele

mus, Strukturwandel, Wegzug und so weiter

kann man Nicht-Erklärbares nur spürbar ma-

Erklärungen für den Rechtsdrift im Osten zu kurz

einen speziellen ostdeutschen Erklärungs­

chen?

greifen würden. Sie selbst leben weiterhin in

ansatz benötigen. Eine spezielle ostdeutsche

Für die Jungs im Roman ist vor allem ein-

Görlitz, bleiben vor Ort. Ist eine Weitererzählung

Grundierung bei den politischen Phänome-

schneidend, was eben nicht gesagt, was ver-

im Sinne von „Die Kinder von Golzow“ von

nen, die Sie angesprochen haben, lässt sich

schwiegen wird. Das auf eine deutsche Büh-

­Barbara und Winfried Junge, der berühmten fil-

nicht leugnen. Gleichzeitig ist der Westen

ne zu bringen, wo ja vor allem gern geschrien

mischen Langzeitdokumentation ostdeutschen

nicht automatisch befreit davon.

wird, ist nicht einfach, als Autor ist mein

Lebens in der Provinz, für Sie reizvoll?

Handlungsspielraum da begrenzt. Dennoch

Nicht im Sinne einer Textfortsetzung, aber im

Ist es eher eine Frage von Stadt und Land? Bei

steht der Versuch im Mittelpunkt, ein lang­

Sinne einer Beobachtungsfortsetzung schon,

den Landtagswahlen haben junge und Erst­

sames Entgleiten zu zeichnen. Diese Erosions-

ja. Das wird so schnell nicht aufhören. Ich bin

wähler verstärkt AfD oder Grüne gewählt. Der

momente müssen still verlaufen, damit der

während der Arbeit am Roman auf Fragen ge-

Soziologe Wilhelm Heitmeyer erklärte das mit

Eindruck einer Zwangsläufigkeit der Hand-

stoßen, deren Beantwortung ich noch weiter

dem sehr viel höheren Konformitätsdruck in

lung gebrochen wird. Im Roman war es mein

in der Vergangenheit vermute. Ich bewege

Dörfern und Kleinstädten. Es laufe darauf

Anliegen, dass man als Leser und Leserin

mich gleichermaßen vor und zurück, ein Hin

­hinaus, entweder wegzuziehen oder sich an­

nicht das eine Kapitel aufschlagen kann, in

und Her, seitwärts wie im Krebsgang. //

/ 51 /


/ 52 /

stück

/ TdZ Oktober 2019  /

Mit der Faust in die Welt schlagen Eine Spielfassung von Lukas Rietzschel, Liesbeth Coltof und Julia Weinreich Personen Tobias Philipp Vater/Ramon Mutter/Direktorin Marcos Vater/Uwe/Christoph Menzel/Kathrin Marco/Robert Stimmen

TEIL EINS – DIE FAMILIE 2000 – 2004 SZENE 1 Philipp Was willst du? Tobias Wusstest du, dass Mutti das Haus verkauft? Philipp Sie hat es mir erzählt. Tobias Und das ist dir egal, oder was? Philipp Das habe ich nicht gesagt. Tobias Warum tust du dann nichts? Philipp Es reicht so oder so nicht. Das hat Mutti doch gesagt. Tobias Ich verstehe nicht, warum es wichtiger ist, dass du alleine wohnst. Philipp Weil das nicht auszuhalten ist bei euch! Stille. Tobias Kommst du mit zum Feuer? Philipp Weiß ich noch nicht. Tobias Ich soll dich von Ramon und Menzel grüßen. Philipp Danke. Tobias Und Robert sagt, du sollst mal wieder mit in den Bungalow kommen. Philipp Der will doch nur saufen. Stille. Philipp Du, ich hab das Jobangebot abgelehnt. Tobias Was? Wieso?

Philipp Ich glaube, ich will erstmal keine andere Position. Tobias Weiß Mutti das schon? Philipp Nein. Tobias Und das ist es jetzt, oder wie? Du wolltest doch mal vorankommen. Philipp Ich bin ja zufrieden so. Tobias Bisschen an der Werkbank rumstehen, oder was? Sich rumkommandieren lassen? Stille. Wenn du denkst, dass das richtig ist. Philipp Keine Ahnung. Bist du denn zufrieden? Tobias Die zahlen ganz gut. Philipp Ich mein… Tobias Wusstest du, dass die in die alte Schule einziehen sollen? Philipp Wer behauptet das? Tobias Also interessiert dich das nicht? Philipp Tut es doch! Tobias Dann komm mit! Mach endlich mal was! Philipp Du hast mir nichts vorzuschreiben, Tobi! Tobias Die Grundschule betrifft alle. Philipp Und warum glaubst du, dass du was dagegen tun kannst? Hat Menzel dich angestiftet? Tobias Wir sind ausgeliefert. Es macht ja sonst keiner was. Du ja auch nicht. Du hast nie was gemacht. Ich wollte das erst nicht glauben, aber es stimmt. Philipp Was soll ich denn machen? Was erwartest du denn? Was glaubst du denn, wie das funktioniert? Stille. Gehst du jetzt zum Feuer? Tobias Denk schon. Philipp Geh doch lieber nach Hause. Ist doch schon spät. SZENE 2 Philipp Da waren eine Grube und ein Schuttberg daneben. Tobias Ein Hügel aus Erde und Grasklumpen, Kies und Bruchstücken. Philipp Eine Kastanie … Tobias Kaum ein Blatt, das mehr an den Ästen hing. Philipp Kaum eine Kastanie mehr zu finden, die nicht matschig auf der Straße lag.

Tobias Der Schornstein des Schamottewerkes war zu sehen. Philipp Eine Ziegelesse, die nicht mehr rauchte. Tobias Verrostete Überreste von Schienen. Die Erde war durch den Kaolinabbau von Mulden übersät und eingedellt. Philipp Das Feld sah aus wie ein schwarzes Loch. Der Trichter eines Vulkans. Tobias/Philipp Neschwitz … Tobias Aus der Grube kam Vati und stellte sich neben Mutti. Philipp Herr und Frau Zschornack. Tobias Familie Zschornack. Philipp Halten die Steine das aus, wenn mal Schnee drauf fällt? Vater Richtig nass werden sollten sie nicht. Philipp Aber es sind doch Steine. Vater Gasbeton … Mutter Fall nicht runter! Tobias Siehst du! Wir dürfen das nicht! Philipp Ich kann das! Tobias Dann will ich auch hoch! Vater Runter jetzt! Philipp Vati roch wie die Buchsbaumhecken im Frühjahr nach dem der Schnee geschmolzen war und der Duft von Katzenpisse aus der Erde stieg. Tobias und Philipp lachen darüber. Vati macht viel allein. Er geht morgens zeitig zur Baustelle und dann am späten Nachmittag nochmal. Ich höre ihn, wenn er nach Hause kommt, abends, manchmal spät in der Nacht. Da liege ich im Bett und Tobi schläft längst. Tobias Seine Schuhe sind laut. Die wecken mich. In meinem neuen Zimmer, sobald das Haus fertig ist, werde ich niemanden mehr hören. Mutti nicht, die von der Nachtschicht kommt. Vati nicht, Philipp nicht. Die Nachbarn nicht. Ich werde ein Zimmer für mich haben, oben. Philipp Unser Haus wird auch einen Keller h ­ aben. Tobias Und einen Erker. Philipp Eine Terrasse. Mutter Eine Eckbadewanne. Tobias Und einen Garten. Philipp Und einen Carport. Vater Für unseren blauen Renault!


/ TdZ  Oktober 2019  /

Philipp Eigentlich fährt nur Mutti mit dem Auto. Das Krankenhaus liegt nicht in Neschwitz. Tobias Vati läuft meistens. Oder er wird vom Chef abgeholt. Der fährt vors Haus, vor den Block und bleibt im Auto sitzen. Ich habe gesehen, dass er manchmal noch zwei Zigaretten raucht, bevor er aussteigt und vor die Haustür tritt. Und selbst dann klingelt er nicht sofort. Philipp Er steht einfach da. Die Hände in den Taschen. Tobias Das machen viele. Philipp Wann kommen die Kabel? Vater lacht Zunächst müssen die Wände isoliert werden, mit Teer gegen die Feuchtigkeit, und erst viel später kommt die Elektrik ins Haus. Tobias Und die Fenster und das Dach? Vater Auch viel später. So schnell baut man doch kein Haus. Tobias Und malst du die Wände dann auch selber an? Mutter Ja. Rapsgelb. Philipp In der Schule hat mich eine Lehrerin gefragt, ob das unser Haus ist, das da gebaut wird. Sie hat sich neben mich gehockt. Ihre Stimme ganz leise, geflüstert im vollen Klassenraum. Ja habe ich gesagt, das wird unser Haus. Daraufhin war sie kurz still. Was arbeiten deine Eltern nochmal? Und ich antwortete, was ich immer antworte. Was stimmt und was ich für richtig halte: Krankenschwester und Elektriker. Vater Das geht diese Leute nichts an. Vor allem nicht diese ganzen Lehrer, Beamten und Politiker. Das ist unser Haus! Uwe tritt auf. Uwe Hab gehört, du brauchst Hilfe. Der Chef hat’s mir erzählt. Vater Ja. Ich wollte dich eigentlich fragen. Uwe Musst nur sagen, dann geh ich wieder. Vater Nur, wenn du Zeit hast. Schau mal, dort soll das Wohnzimmer entstehen, Mutter da die Küche und hier das kleine Bad mit Dusche. Vater Oben die Kinderzimmer, das Schlafzimmer und ein Bad Mutter mit Wanne. Vater Mit Wanne. Tobias Es klang wie ein Glockenspiel, als Uwe die Sporttasche nahm und sie auf dem nackten Betonboden absetzte. Philipp Wie blass dieser Mann ausah. Das Gesicht eingefallen, als hätte ihm jemand das Fleisch aus den Wangen geschnitten. Tobias Philipp verzog sein Gesicht … Philipp … und Tobi lacht darüber.

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Vater Uwe, das ist mein Jüngster, Tobi. Und das ist Philipp. Mutter Ich habe nur vier Stühle dabei. Das wusste ich nicht. Vater Warst lange nicht auf Arbeit. Uwe Wurde nach Hause geschickt. Mutter Wir wollen leider gleich wieder fahren. Nach Hause und dann auf Arbeit. Zu Vater Oder wollt ihr noch viel machen? Vater Nein, eigentlich nicht. Hab schon genug gemacht heute. Mutter Wenn Sie wollen, nehmen wir Sie mit. Uwe Du. Bitte nicht siezen. Ich kann laufen. Mutter Brauchst du doch nicht. Das ist gar kein Problem. Uwe Ich wohne hier sowieso in der Nähe. Beim Sportplatz. Vater Dort fahren wir vorbei. Uwe Nein, wirklich … Vater Stell dich doch nicht so an. Philipp Uwe saß neben Vati im Wagen. Tobias Tiefe Rillen in der Straße aus Betonplatten. Er zuckte bei jedem Schlagloch. Philipp Die Flaschen … Tobias Wie er seine Augen geschlossen hält. Philipp Und kneift sie trotzdem immer wieder zusammen. Tobias Schau mal, wie er seine Tasche umklammert. Philipp Als könnte er sie damit zusammenhalten. Tobias Als würde sie sonst auseinanderfallen oder aufspringen. Philipp Ja, scheint so. Tobias Siehst du das? Philipp Da ist was ausgelaufen. Tobias Hat er sich eingemacht? Philipp Das Bier. Tobias Der Fleck breitet sich auf der Hose aus. Er wird immer größer. SZENE 3 Mutter Am Samstag war Uwe wieder auf der Baustelle. Uwe Ich habe Kaffee dabei. Vater Gibt wieder Lieferschwierigkeiten. Uwe Was ist das für ’ne Firma? Vater Käbisch. Uwe Warum kommst du her, wenn es nichts zu tun gibt? Vater Weiß nicht. Uwe Hast du meine Frau mal kennengelernt? ­Hatte immer so rote Backen wie die Steine beim Schamottewerk. Egal, ob es warm war oder kalt.

Immer rot. Als ob sie sich für was schämen würde. Hat sich aber nie geschämt. Vater Weißt du, wo sie jetzt ist? Uwe Hab nichts mehr von ihr gehört. Hat auch kaum was mitgenommen. Liegt alles noch so rum von ihr. Ich bin ihr hinterhergerannt. Und hab sie fest am Arm gepackt, aber sie hat sich losgemacht. Hat richtig gekämpft. Da bin ich auf die Knie gefallen und hab gebettelt und gefleht. Vater Und sie hat nichts gesagt? Uwe Hat mich nicht mal angeguckt. Ich weiß gar nicht, ob sie geweint hat. SZENE 4 Mutter Uwe redet nicht viel, oder? Vater Ja, kann sein. Mutter Woher kennt ihr euch? Vater Von Arbeit. Mutter Hast du ihn gefragt, ob er dir helfen kann? Vater Er kam von alleine. Mutter Er muss doch gewusst haben, dass wir ein Haus bauen. Vater Bestimmt vom Chef. Mutter Er lebt allein, oder? Vater Ja. Er hat lange bei seinen Eltern gewohnt. Mutter Wirklich? Vater Er hat sie gepflegt. Mutter Hat er dir gesagt, warum seine Frau weg ist? Vater Nein. Ich hör immer nur von den Kollegen über ihn. Dummes Zeug. Mutter Dass er sie bespitzelt hat? Vater Ich glaub nicht, dass das stimmt. SZENE 5 Mutter Gefällt es dir? Philipp Ja. Mutter Endlich hast du dein eigenes Zimmer und dein eigenes Bett. Philipp Endlich raus aus diesen Wohnblöcken. Mutter So viel Platz. Alles so hell und freundlich, das musst du natürlich alles sauber halten, damit es so bleibt. Philipp Zu Tobis Einschulung war das Haus fertig. Tobi stellte sich mit seiner Zuckertüte im Garten auf das blasse, frische Gras. Grinste in die Foto­ apparate. Tobias Darf ich jetzt meine Zuckertüte auf­machen? Mutter Nein, noch nicht. Tobias Warum? Mutter Warte bis alle da sind. Die wollen doch sehen, wie du sie auspackst.

/ 53 /


/ 54 /

stück

/ TdZ Oktober 2019  /

Philipp Beim Klettergerüst musst du aufpassen. Da rutscht man runter, wenn es geregnet hat. Und Bälle und so kriegst du nur, wenn du fragst. Wenn du Probleme hast, kann ich mich darum kümmern. Kathrin tritt auf. Mutter Ah! Schön, dass Sie gekommen sind. Kathrin Du, bitte. Kathrin. Ist das wirklich okay, wenn ich dabei bin? Mutter Klar, sonst hätte ich dich doch nicht eingeladen. Zu Vater Guck mal, unsere neue Nachbarin ist gekommen. Kathrin Mein Mann ist unterwegs. Der müsste jetzt irgendwo in Österreich sein. Die Spedition schickt ihn viel rum. Zu Tobias Du hast aber eine schöne Zuckertüte. Und so viel drin. In meiner Zuckertüte war bis zur Hälfte Zeitungspapier drin aber auf den Bildern sah sie immer am vollsten von allen aus. Gibt ihm ein Geschenk. Vater Ich hatte die von meiner Cousine, oder Tante. Und die durfte ich nicht auf dem Boden abstellen. Wegen der Spitze, damit die nicht abknickt. Hätte ja sein können, dass noch ein Kind kommt und die Zuckertüte braucht. Katrin Ich war zum Glück immer Einzelkind. Mutter Meine wollte danach niemand mehr haben. So richtig gut bin ich anscheinend nicht damit umgegangen. Kathrin Heute wäre das egal. Da wird einfach eine neue gekauft. Vater Wir waren richtig geschockt, als wir die unterschiedlichen Größen und Formen gesehen haben. Und dann gibt es tausend Motive. Mutter Quasi von jedem Disneyfilm eine. Arielle, Findet Nemo, Das Dschungelbuch, Der Glöckner von Notre Dame ... Vater Ja, genau. Kathrin Ich wäre gern nochmal Schulanfängerin. Mit den ganzen Süßigkeiten. Und alle sind noch so lieb zu einem. Alles ist noch so unschuldig. Stille. Uwe kommt Hallo. Vater Komm ruhig rein. Uwe Hallo. Kathrin Hallo. Vater Willst du was trinken? Uwe Ja, bitte. Uwe gibt Tobias ein Geschenk Viel Spaß in der Schule. Kathrin Ist viel passiert.

The Agency

Uwe Ja, ist schön Kathrin Sehr schön Mutter Könnt ihr mir mal zuhören bitte! Das ist ja etwas Besonderes. Ich mache sowas auch nicht so oft. Tobias, für dich beginnt jetzt ein ganz neuer Lebensabschnitt. Zwei sogar. Mit deinem neuen Zuhause und gleichzeitig mit deiner Schullaufbahn. Das Haus ist rechtzeitig fertig geworden, so schön und groß hatte ich das nie für möglich gehalten. Ich wollte nur sagen, dass wir dir das Beste wünschen. Und Philipp natürlich auch. Ihr müsst mal gucken mit dem Kuchen, ich glaube, der ist nicht so richtig was geworden. Naja. Auf die Schule … Alle Auf die Schule! SZENE 6 Philipp Großvater wartete bei der Schule. Er hat kleine, trübe Augen. Immer etwas traurig, aber mit tiefen Lachfalten an den Rändern. Er wendete den silbernen Opel auf der kleinen Parkfläche und drehte das Radio leiser. Wir fuhren am Schamottewerk und an den Wohnblöcken vorbei. Großvater hielt den Opel vor einem rosafarbenen Plattenbau. Eigentumswohnungen der Wohngenossenschaft. Tobias Philipp öffnete die Wohnungstür. Wenn Mutter Nachtschicht hatte und Vater auf Montage war, schliefen wir bei Opa und Oma. In der Wohnung roch es immer gleich. Nach trockener Heizungsluft, Kaffee und Medizin. Der Fernseher war leise gestellt. In Mutters altem Kinderzimmer standen ein Schreibtisch und ein Sofa. Damit Philipp nachts nicht vom Sofa fiel, stellte Opa einen Stuhl mit der Lehne ans Polster. Philipp Auf dem Boden die Matratze, auf der Tobi schlafen würde. Großmutter setze sich neben ihn an den Schreibtisch. Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Tobias Hab ich im Hort gemacht. War nur Mathe. Zeigt ihr das Heft. Philipp Das ist ja ein Geschmiere! Setz dich bitte hin und schreib es noch mal sauber ab. Tobias schreibt. Sauber, Tobi! Tobias Ich mach das alleine. Philipp Ich gucke nur. Tobias Oma, ich mach das alleine. Philipp Dann greift Großmutter nach seiner Hand. Legt sie ab, wie auf einen Kinderkopf. Schiebt und drückt. Versucht, Tobis Hand zu führen. Tobi formt eine Faust, hält den Stift darin fest und lässt nicht zu, dass seine Hand sich bewegt. Tobias Das Gefühl, mich befreien zu müssen. Mit einem Schrei oder einer schnellen Bewegung.

Philipp Wenn du von Anfang an sauber schreiben würdest, bräuchte sich Oma nicht neben dich zu setzen. Tobias Das war doch alles richtig. Philipp Aber unsauber. Tobias Die Lehrer kontrollieren das eh nicht. Philipp Doch, tun sie. Tobi wischt sich mit dem Ärmel die Tränen weg. Ein paar Tränen mehr, und er hätte die Aufgabe noch einmal abschreiben müssen. SZENE 7 Phillip schreibt „Jude“. Mutter Warum steht da „Jude“? Philipp Weiß ich nicht. Mutter Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Philipp Das haben die Zehntklässler gerufen. „Jude“, das klang weich und melodisch. Aber die Zehntklässler hatten es einem Jungen hinterhergerufen, hatten es geschrien, über den Marktplatz und auf dem Weg zur Schule. Dabei laut gelacht. Jude! Jude! Dreckige Judensau! Mutter Mach das weg. Raus aus Neschwitz. Vater Es ist so leise im Wagen, so sanft und ruhig. Philipp Gestern war die Polizei in der Schule. Tobias Echt? Philipp Da ist einer im Unterricht aufgestanden und hat gesagt, dass er alle umbringen will. Tobias Was? Mutter Die grauen, abgebaggerten Flächen bis zum Horizont. Wie auf dem Mond. Vater Irgendwo dort tauchten die Kraftwerke auf. Mutter Tiefe Rillen im Boden wie Loipen. Philipp Wir haben vom Fenster zugeguckt wie die Polizei kam und den mitgenommen hat. Vater Der Senftenberger See war auch mal so eine Landschaft. Mutter Die Kiefern links und rechts, im Vorbeifahren wie eine aufgebockte Hecke. Tobias Ist der jetzt im Knast? Philipp Ja, bestimmt. Vater Die langen, geraden Stämme. Mutter Kletterstangen aus Holz. Vater Die Felder hinter dem Wald schimmerten hindurch. Zwischen den Ästen und den Nadeln. Mutter Ganz gelb der Raps. Tobias Wie alt war der? Philipp In der neunten Klasse. Tobias Dann war der ja richtig stark.

17.10. (Premiere) + 18.10.

Take It Like a Man

fft-duesseldorf.de


/ TdZ  Oktober 2019  /

Vater Wenn jetzt ein Reh aus dem Wald springen würde, dann fahre ich einfach drüber. Philipp Ja, das ist einer der Stärksten. Tobias Und Du? Philipp In meiner Klasse bin ich einer der Stärksten. Mutter Die flache Landschaft, der Sand, der Lehm. Vater Straßen, die ins Nirgendwo führten. Schnurgeradeaus. Tobias Ja ich auch. Guck. Guck mal! Philipp Ich fasse dich nicht an. Ich bin doch nicht schwul. Tobias Der seltsame Wunsch, dass Philipp einschlafen und nicht mehr aufwachen sollte. Mutter Hoyerswerda. Gleich kommt der Balkon. Da. Auf der linken Straßenseite. Schau, die Wand ist ganz schwarz. Tobias Was ist da passiert? Mutter Das Geländer verkohlt. Die Fenster sind alle eingeschlagen. Tobias Was ist da passiert? Mutti? Was ist da passiert? Vati? SZENE 8 Vater Uwe wollte hier später noch vorbeikommen. Mutter Warum kommt er denn überhaupt? Vater Er hat wohl einen Brief bekommen. Mutter Von wem? Vater Von seiner Frau, glaub ich. Ich hab das nicht ganz verstanden.
Tobias Uwe kommt heute? Warum? Mutter Er bespricht was mit Vati. Tobias Wegen dem Haus? Mutter Das weiß ich doch nicht. Sei nicht so neugierig. Philipp Er hat Schiss vor Uwe. Tobias Hab ich gar nicht. Mutter Weshalb hast du denn Angst vor Uwe? Tobias Hab ich doch gar nicht. Ich hab keine Angst. Uwe kommt. Uwe Sie verklagt mich. Vater Wieso verklagt sie dich? Vater liest den Brief. Du hast sie geschlagen? Uwe Nein, hab ich nicht! Vater Aber es steht doch hier. Uwe Aber das stimmt nicht. Ich hab sie nicht geschlagen. Ich hab sie geliebt. Ich hab sie angefleht, bei mir zu bleiben. Vater Uwe, was hast du vor der Wende gemacht? Uwe Ich war in Bautzen. Waggonbau. Das weißt du doch.

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Vater Und? Uwe Was und? Vater Hast du für den Staat gearbeitet? Uwe Wie kommst du darauf? Vater Ich hab da Sachen gehört. Uwe Was für Sachen? Vater Hast du, oder hast du nicht? Uwe Ich dachte, wir wären Freunde. Vater Ich weiß einfach nicht, wie ich dir helfen soll. Du hast uns sehr geholfen. Aber ich weiß langsam nicht mehr weiter. Uwe Ich hab mir sogar Geld für das Geschenk zum Schuleingang für Tobi geliehen. Vater Das hättest du doch nicht machen brauchen. Uwe Ich hab meine Frau nicht geschlagen. Vater Uwe, hast du für die Stasi gearbeitet? Ja oder nein? Uwe Warum kannst du mir nicht helfen? Vater Das habe ich doch! Ich hab dich hier bauen lassen, und du hast Geld dafür bekommen. Schwarz! Ich hab schon zwei Kinder, ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern. Uwe Na gut. Vater Uwe, wo gehst du hin? Philipp Uwe öffnete die Haustür und drehte sich noch einmal um. Vati blickte ihm nach, vom Küchenfenster aus. Unbewegt und stumm. Tobias Es war kein gutes Gefühl. Vater Ich kann ihm nicht helfen. Mutter Was stand in dem Brief? Stille. Hast du ihn gefragt, ob er nochmal herkommen möchte? Vielleicht die Dachbalken streichen? Die Regentonne aufbauen? Vater Das hättest du doch machen können. Du hast doch die ganze Zeit zugehört! Stille. Vielleicht kann ich ihn ja anrufen, oder besuchen. Mir nochmal den Brief angucken. SZENE 9 Mutter Ich hatte es einfach vergessen. Im Topf vor mir köchelnden die Pilze, blubberten. Dieses schleimige Braun. Da erst erinnerte ich mich wieder an das rote Autodach, das ich unter der Wasseroberfläche gesehen hatte. Wie es hin und her schaukelte, als würde es von einer Strömung bewegt. Das Wasser war aufgeschlämmt. Ich war durch den Wald gegangen, den Korb in meiner Hand. Es gab Jahre, da konnte man sich vor lauter Pilzen kaum retten. Eigentlich mag ich den Geschmack von Pilzen nicht. Uwe Ich habe alles aufgeräumt. Die Haustür nur angelehnt. Ein bisschen Geld auf den Tisch gelegt. Niemand war unterwegs, kein Auto, kein Pilze-

SPIELZEITERÖFFNUNG 26.09.– 06.10.2019 #1000 TATEN ZUR ERINNERUNGSKULTUR

u.a. mit TRAJAL HARRELL, JUSTIN SHOULDER, WE MOKHTALEFS, YOLANDA GUTIÉRREZ

ANNIKA SCHARM / HANNAH WISCHNEWSKI MIEZEN: COPYCATS 2019 JENS DIETRICH / MILENA KIPFMÜLLER RWANDAN RECORDS FRANCK EDMOND YAO DAS SANDWICH SYNDROM ANTJE PFUNDTNER IN GESELLSCHAFT SITZEN IST EINE GUTE IDEE CONSTANZA MACRAS CHATSWORTH SHAHIN SHEIKHO HAPPY NIGHTMARE

sammler. Es gibt Tage im Herbst, da ist der Wald voller bunter Regenjacken. Der Mond zwischen den Kiefernstämmen. Er ist da, dann wieder nicht. Die Wolken sind ihm egal. Ich fuhr langsam und kurz auf der Gegenfahrbahn. Bremste, bog ein. Am Ortseingang habe ich die Lichter ausgeschaltet. Mit der letzten Straßenlaterne. Irgendwo hier musste, weiter unten, am Grunde des Kaolinloches noch die kleine Baracke stehen die voll war mit Fledermäusen. Hab ich gehört. Was ich alles gehört habe. Wie matschig der Boden war. Wie das ausgesehen hätte, wäre ich steckengeblieben. Ausgerechnet hier. Nicht einmal das kriegt er hin! Guckt ihn euch an! Uwe, die größte Lachnummer von allen. Die Reifen drehten durch und da hätten Kiefernstämme sein können, überall. Immer nur diese ewigen Kiefern. Spärlich beleuchtet. So hoch und dünn. Was soll denn das jetzt? Wo willst du denn hin? Bleib doch hier! Sieh mich an! Wenigstens das. Ich hatte den Steinbruch weiter hinten im Wald erwartet. Kurz dachte ich, ich würde ihn verfehlen. Ich dachte auch, es würde so etwas wie Schwerelosigkeit geben, Leichtigkeit. Mein Kopf knallte gegen das Dach. Danach gegen das Lenkrad. Der Airbag löste viel zu spät. Ich weiß nicht, wie das Wasser gerochen oder geschmeckt hat. Ich habe es nicht richtig gesehen. Aber es kam zuerst in meinen Mund, in den Rachenraum, in den Magen. Gleichzeitig in die Lunge. Das ging schneller, als ich dachte. Ich hab das Wasser nur aufgeschlämmt. Um richtig aufzuquellen, hätte ich länger im Wasser bleiben müssen, fest angeschnallt auf meinem Sitz. Aber so konnte man mein Gesicht noch erkennen, die Struktur meiner Haut, meine Kleidung. Ich denke, das war eigentlich ganz gut so. In den Steinbrüchen werden alle möglichen Sachen entsorgt. Weihnachtsbäume, die samt Lametta an der Oberfläche treiben, Einkaufswagen, Mopeds und Trabbis. Ich habe alles Mögliche gesehen. Mutter Ich habe die Polizei erst am Abend angerufen. Ich hatte es einfach vergessen, weil das ja nichts Besonderes ist, dass etwas in den Steinbrüchen treibt. In den Steinbrüchen wird alles mögliche entsorgt. Tobias Was ist mit Uwe? Vater Woher weißt du das? Tobias Das hat mir Philipp erzählt. Philipp Hab ich gar nicht. Tobias Doch, hast du. Dass er sich umgebracht hat und eine Waffe im Auto hatte. Philipp Das hat jemand in der Schule gesagt. Tobias Hatte Uwe überhaupt ein Auto? Vater Ich weiß es nicht. Vater geht.

9 1 0 2 OK T KA

HAMB L E G A N MP

URG

/ 55 /


stück

/ TdZ Oktober 2019  /

DIE LANDESBÜHNE ESSLINGEN

PRÄSENTIERT:

Janoschs

MÄUSESHERIFF Regie: Viva Schudt 8. Oktober Mannheim 14. Oktober Phillipsburg 21. Oktober Filderstadt 13. November Stuttgart 28. November Aalen

MERLIN VERLAG

21397 Gifkendorf 38 Tel. 04137 - 810529 info@merlin-verlag.de www.merlin-verlag.de

Tobias Was macht Vati? Mutter Lasst den. Der will noch das Laub aus dem Carport fegen. Philipp Schaut mal! Das ist in Amerika. Stille. Tobias Ein Flugzeug fliegt in ein Hochhaus. Der Himmel ist blau, es ist Tag. Philipp Dann ein zweites Flugzeug in ein anderes Hochhaus daneben. Tobias Mutti setzt sich und hält ihre Hand vor den Mund. Asche bedeckt die Straßen. Philipp Vati fährt sich durch die Haare. Bilder von Männern. Aufnahmen von Überwachungskameras. Was ist das? Tobias Ist das Krieg? Stille. Tobias Ist das Krieg? Stille. Mutter In Deutschland passiert das nicht. TEIL ZWEI – PHILIPP 2004 – 2006 SZENE 1 Christoph Die sind gefährlich. Philipp Du musst sie nur weit wegwerfen. Philipp wirft. Christoph Weiter weg!

Philipp Ist doch gut so. Hier! Christoph Mach du lieber. Was hast du Silvester gemacht? Philipp Wir waren wieder bei Oma und Opa. Christoph Ja, wir auch. Philipp So langweilig. Die ganze Zeit in der Stube sitzen und warten. Und dann nur zwei kleine Raketen abfeuern. Christoph Meine Eltern wollen dafür auch nichts ausgeben. Philipp Und wegen Tobi gab’s wieder nur Kinderkram im Fernsehen. Christoph Durfte der überhaupt so lange wach bleiben? Philipp Und wir hatten fast einen Unfall! Christoph Echt? Philipp Wir stehen im Stau. Da fängt der Laster hinter uns auf einmal an, näher zu kommen. Ganz langsam. Christoph Konnte der nicht bremsen? Philipp Doch, der stand ja auch vorher schon die ganze Zeit. Aber auf einmal war der fast im Kofferraum. Tobi und ich haben uns umgedreht und Mutti hat gerufen „Hier sind Kinder im Auto. Hier sind doch Kinder drin.“ Die hatte richtig Angst. Richtig Panik. Christoph Habt ihr nicht die Polizei gerufen? Philipp Was sollen die denn machen? Mein Vater ist dann ausgestiegen und zu dem Lenkradkasper hingegangen. Christoph Lenkradkasper? Philipp So hat mein Vater den genannt. Du hättest mal sehen sollen, wie der in seinem Lkw saß. Ein richtiger Polackenlaster. Christoph Dann hat der deinen Vater auch nicht verstanden. Philipp Eben! Mein Vater hat versucht, dem klar zu machen, dass er zu nah dran ist. „Können Sie nicht den Abstand einhalten. Abstand. Ab-stand. Das ist unsere Autobahn.“ Christoph Na klar! Ein Deutscher würde nicht so fahren. Philipp Der Scheiß Pole hat so getan, als würde er nichts verstehen. Der hat sogar gegrinst. Wenn du da nicht aufpasst, zieht der dich gnadenlos über den Tisch. Christoph Die wissen, wie sie dich ausnehmen. Die sollen sich mal ihre eigenen behinderten Straßen angucken! Philipp Und vor allem mal Deutsch sprechen, wenn die schon auf unserer Autobahn unterwegs sind! Christoph Ja, genau! Sag mal, hast du wegen deinem Praktikum schon eine Idee? Philipp Ich gucke noch. Und du?

alles wahr

Christoph Ich würde gern zur Zeitung gehen. Philipp Warum? Christoph Na, das interessiert mich. Philipp Und dann? Christoph Ich weiß nicht. Etwas von der Welt sehen. Vielleicht Journalist werden. Philipp Journalisten sind Lügner. Christoph Wer sagt das? Philipp Das wissen doch alle. Christoph Die im Gymnasium brauchen gar kein Praktikum zu machen. Philipp Die lernen ja auch nur Zeug das man später nie braucht. Christoph Und du? Philipp Ich könnte zur Not bei meinem Vati in die Firma. Er hat gesagt, dass ich dort sogar ein bisschen was verdienen könnte. Christoph Ein richtiges Gehalt? Philipp Na klar! Und am besten noch ein Dienstwagen. Christoph Und eine Sekretärin. Philipp Ein eigenes Büro. Christoph Mit Wasserspender! Laute Musik. Ramon, Robert und Menzel. Philipp Beim Fahrradständer standen zwei Autos. Schwarze, alte, kantige Volkswagen. Am Steuer saß eine Frau, vielleicht gehörte ihr das Auto. Ein Typ lehnte draußen an der Tür und rauchte. Auf dem Schulgelände. Die Musik wurde lauter, sie lachten. Es war völlig unmöglich, sie nicht zu ­sehen. Wie sie da standen! Wie sie zu wissen schienen, dass sie beobachtet wurden. Christoph Komm lass uns gehen. Philipp Was machen die? Christoph Gibt bestimmt Ärger. Die wollen nicht, dass die mit den Autos da stehen. Das ist Schul­ gelände. Was is’n dort? Philipp Eine Gruppe Schüler stand vor der Schulmauer. Andere Schüler schoben von hinten, um ­sehen zu können, was vorn passierte. Ich ging näher ran, drückte die Schultern und Rücken zur Seite. Ich versuchte, mich größer zu machen und konnte immer noch nicht erkennen, was es bei der Mauer gab. Christoph Ey, die guckt! Philipp Die Direktorin stand am Eingang mit verschränkten Armen. Sofort drehten sich die Kinder nach der schwarzen Silhouette am Eingang um. Packten ihre Handys aus. Schossen Bilder. Direktorin Geht alle rein! Los, alle rein! Philipp Auf die Mauer war etwas gemalt worden. Gesprüht. Ein schwarzes Kreuz. Ähnliche hatte ich

Ein Stück Verschwörungstheorie Daniel Di Falco / Theater Marie ab 16.10.2019 Tojo Theater Reitschule Bern

THEATER MARIE

/ 56 /


/ TdZ  Oktober 2019  /

schon gesehen. An Parkbänken, an der Bushaltestelle auf dem Markt. Eingeritzt in Holz, in Plexiglas, in Lack. Jetzt also auf dieser Mauer. Es verlief an den Rändern der Zacken. Zacken, mit denen diese Kreuze aussahen wie Zahnräder. Was ist das? Direktorin Nichts. Philipp Was ist das? Direktorin Du sollst rein gehen. Philipp Was ist das? Direktorin Nichts. Philipp Warum wird es dann weggewischt? Direktorin Das ist nur eine Schmiererei. Philipp Die macht sonst auch niemand weg. Direktorin Doch. Philipp Das habe ich noch nie gesehen. Direktorin Nur weil du es nicht siehst, heißt das nicht, dass wir uns nicht darum kümmern. Jetzt geh rein. Philipp Die Direktorin ging auf die Autos zu. Ihr Schritt ganz schnell. Aber wie sie dabei fast aus den Hausschuhen schlappte. Hausschupflicht! Ihr Atem aus Kaffee und Schnaps. Jeder wusste das. Wie lächerlich sie aussah, wie erbärmlich. Sie schien zu verlangen, dass man ihr entgegenkam. Aber nein! Die Leute blieben einfach bei ihren Autos. Zogen nochmal an der Zigarette. Die ließen sich nicht vertreiben. Die nicht. Menzel Sieg Heil! Sieg Heil!

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Philipp Nur mal im Vorbeifahren. Ramon Ist dir was aufgefallen? Philipp Nein, wieso? Ramon Würdest du die Gesichter wiedererkennen? Philipp Nein. Ramon Du lügst. Philipp Nein, ich lüge nicht, wirklich. Ramon Glaubst du, du kannst mich verarschen? Philipp Ich hab nichts gesagt. Ramon Wenn du uns verraten hast, kriegst du aufs Maul. Philipp Wirklich. Ich würde das nicht machen. Tobias will aufs Klo, drängt sich dazwischen. Ramon Was willst du? Tobias geht stumm an ihm vorbei. Ramon Siehst du nicht, dass wir uns hier unterhalten? Ramon zieht Tobias an seinem Pullover.

Direktorin Du weißt, wer das war. Philipp Nein. Direktorin Du hast sie doch gesehen am Fahrradständer. Wer war alles dabei? Philipp Ich hab nur die Autos gesehen. Direktorin Warum hast du dann so lange auf dem Schulhof gestanden? Weißt du überhaupt, was das ist? Philipp Na klar. Direktorin Das ist kein Witz. Philipp Ich weiß. Direktorin Wenn du etwas weißt, musst du mir das sagen. Stille. Halt dich von den Typen fern. Kannst zurück in die Klasse.

Tobias Ey! Der geht kaputt! Philipp! Philipp Bitte! Ramon Was? Tobias Ich muss doch nur aufs Klo. Ramon Na, dann los! Ramon schubst Tobias zum Pissoir. Tobias öffnet seine Hose und kann nicht. Er zieht seine Hose wieder hoch. So dringend musstest du ja gar nicht. Oder ist er dir die ganze Zeit aus der Hand geflutscht? Hast ihn gar nicht erst gefunden, was. Tobias hält seine offene Hose fest und geht. Die haben einfach keine Respekt mehr. Philipp Ja. Ramon Denen muss man zeigen, wer der Stärkere ist. Sonst mucken die immer weiter auf. Wir waren nicht so. Wir wussten, wie wir uns zu verhalten haben. Philipp Ich hab heute früh einen zur Seite geschoben. Der hat sofort angefangen zu heulen. Ramon Siehst du. Erst den großen Macker machen und dann rumheulen. Philipp Ich habe nichts verraten. Ich weiß ja gar nichts. Ich stand da nur. Ramon Schon okay. Ich glaub dir.

Philipp, Ramon, Tobias treten auf.

SZENE 3

Ramon Was wollte die wissen? Philipp Die hat gefragt, ob ich die kenne, die in den Autos sitzen. Ramon Was hast du gesagt? Philipp Nichts. Ramon Aber du hast uns schon mal gesehen.

Tobias An der Tongrube war sonst niemand. Das Wasser hellblau in der Mitte, grau an den Rändern. Wurzeln, die aus dem Sand ragten. Philipp hatte mir mal erzählt, dass die Mädchen einen eigenen Steinbruch hatten. Nur für sich. Wo sie ungestört waren und den ganzen Tag verbrachten.

SZENE 2

02. – 04.10.2019 Auftakt TANZPAKT Dresden mit Doris Uhlich, Ivana Müller und Elpida Orfanidou 10. – 13. & 16. – 20.10.2019 Ballettabend Dresden Frankfurt Dance Company (DE)

www.hellerau.org

14./15.10.2019 life in numbers Katia Manjate (MOZ) & Anna Till (DE)

Marco Was machen die da? Tobias Lachen, tuscheln. Vielleicht waren sie sogar nackt, das konnte Philipp nicht sagen. Und wenn man ihn fand, diesen Steinbruch, merkten sie das natürlich. Dann suchten sie sich einfach einen neuen. Es gab ja so viele. Marco breitet sein Handtuch aus. Ein großer Delfin war darauf abgebildet. Ist das nicht für Mädchen? Marco Nein. Tobias Aber mit dem Delfin. Marco Das hat mir meine Mutti geschickt. Wo sie Urlaub gemacht hat in der Türkei. Tobias Hat dein Bruder auch eins bekommen? Marco Der ist alt genug, der kann sich das selber kaufen. Der spart auch gerade für ein Auto oder eine eigene Wohnung, das weiß er noch nicht ganz. Tobias Was denn für ein Auto? Marco VW natürlich. Oder Opel. Aber wo er noch selber ein bisschen dran schrauben kann. Tobias Ich würde lieber die Wohnung nehmen. Marco Ich auch. Tobias Hat er eigentlich eine Freundin? Marco Ich glaube nicht. Er kommt immer allein nach Hause. Er versucht, leise zu sein, wenn er ins Zimmer kommt. Aber ich höre, wenn er sich in sein Bett legt. Vor allem, wenn er was getrunken hat. Tobias Du hörst das? Marco Er atmet dann immer lauter als sonst. Und wenn er eingeschlafen ist, schnarcht er. Tobias Philipp war noch nie betrunken. Marco Kommt der eigentlich auch noch? Tobias Glaub schon. Marco Hm. Tobias Er geht sowieso lieber ins Freibad. Ich weiß nicht, warum er hierher kommen will. Marco Zum Angeben. Tobias Ja, wahrscheinlich. Marco Nico macht das auch. Der will immer zeigen, dass ich der jüngere bin. Und schwächer. Tobias lacht Und dümmer. Marco Schnauze! Philipp und Christoph treten auf. Philipp Hey, ihr Babys! Tobias Selber! Philipp Seid ihr schon drin gewesen? Christoph Es sieht trüb aus. Tobias Der Wind hat es aufgewühlt. Aber jetzt ist es ruhig. Marco Und warm am Rand, direkt beim Einstieg. Christoph Hallo Marco Hallo. Was macht er da?

24.10. – 02.11.2019 89/19 – Vorher/Nachher Mit She She Pop, Kornél Mundruczó/ Proton Theatre, Carsten „Erobique“ Meyer, Thomas Heise, Sanja Mitrović, Tanja Krone u.a.

/ 57 /


/ 58 /

stück

/ TdZ Oktober 2019  /

Christoph Wie schwimmen sieht das nicht aus. Marco lacht Hoffentlich ertrinkt er nicht dabei. Tobias Beim Schulschwimmen war er der Schnellste gewesen. Zu Philipp Sehr gut! Sehr gut! Philipp kommt aus dem Wasser. Philipp Und? Tobias Richtig gut! Philipp Ich muss schneller werden, wenn ich wieder der Beste sein will. Tobias Das klappt bestimmt. Philipp Es muss klappen. Alle werden da sein. Alle werden zugucken. Philipp Schönes Handtuch. Tobias Er hatte kein anderes. Philipp Glaub übrigens nicht, dass ich dich beschützen werde, oder so was. Tobias Wieso? Philipp Das was auf dem Klo passiert ist. Tobias Was meinst du? Philipp Auf mich hat auch keiner aufgepasst. Wenn du den Großen blöd kommst, bist du selber schuld. Tobias Ich bin niemandem blöd gekommen. Philipp Benimm dich einfach. Tobias Ich habe gar nichts gemacht! Ich wollte nur auf Toilette. Du hast es doch gesehen. Du warst doch dabei. Du hättest doch was machen können. Philipp Zeig einfach ein bisschen Respekt. Dann passiert dir auch nichts. Halte dich zurück. Du kannst froh sein, dass ich da war und Ramon beruhigen konnte. Tobias Was? Du hast nichts … Marco (Stimme) Geh an deinen eigenen Alle (Stimme) beschissenen See! Marco (Stimme) Kannst du mich verstehen? Alle (Stimme) Deinen eigenen! Christoph Wo kommen die her? Marco Wer ist das? Was wollen die? Philipp Vier Männer stehen am anderen Ende der Grube. Wo sie auf einmal hergekommen waren, haben wir nicht mitbekommen. Sie tragen bunt karierte Badehosen, die ihnen bis über die Knie reichen. Tobias Beide kurzgeschorene Haare, die Haut war noch hell am Haaransatz. Christoph Sommerschnitt. Christoph (Stimme) Halt die Fresse. Alle (Stimme) Sorbenschwein! Philipp Das ist kein sorbisches Gebiet hier. Der darf hier nicht sein. Tobias Ich habe das erste Mal von den Sorben gehört, als es um Uwe ging. Er kam aus so einem Dorf.

Tobias (Stimme) Du sollst mich nicht so blöde angrinsen mit deiner Hackfresse! Alle (Stimme) Inzestpack! Philipp Der Deutsche schubste ihn weg. Tobias Der Sorbe taumelt. Er sieht dünner aus. Hat weniger Muskeln. Christoph Er fällt aber nicht um, er hällt sich auf den Beinen. Marco Noch ein Stoß. Dieses Mal mit der Faust. Philipp Ich habe noch nie gesehen, wie eine Faust ein Gesicht trifft. Wie alles verschoben wird; Nase und Mund. Tobias Wie das klingen muss. Marco Wie das wehtun muss. Philipp (Stimme) Ich bringe dich um! Hörst du? Alle (Stimme) Ich bringe dich um! Tobias Der Deutsche hat eine Flasche in der Hand. Christoph Eine Bierflasche. Tobias Ich weiß nicht, wo die auf einmal herkommt. Philipp Erst droht er noch. Der Sorbe hält sich sein Gesicht. Der Deutsche wedelt mit der Flasche. Tobias Dann ein Schlag vom Sorben. Auf die Brust, in den Magen. Philipp Sofort die Flasche, die auf seinem Kopf zerplatzt. Marco Sie zerplatzte nicht. Sie blieb ganz. Christoph Wahrscheinlich hat er mit dem Flaschenboden getroffen. Tobias Aber der Kopf. Philipp Der Kopf zerplatzt. Christoph (Stimme) Verstehst du mich jetzt? Alle (Stimme) Verstehst du jetzt, was ich sage? Tobias Er blickt auf und bemerkt uns. Philipp Überall Blut. Christoph Die Flasche wirft er ins Wasser. Philipp Er rennt weg. Stille. Marco Ist er bewusstlos? Tobias Ich weiß es nicht. Christoph Wir müssen den Krankenwagen rufen. Philipp Er hat schon Recht. Das ist kein sorbischer Ort. Christoph Deswegen darf er ihn doch nicht einfach zusammenschlagen. Marco Vielleicht ist er tot. Philipp Wahrscheinlich hat er ihn provoziert. Sonst wäre der Deutsche doch nicht auf ihn losgegangen. Selber schuld. Tobias Wenn die Sorben so viel Geld haben, wie Vati erzählt hat, können die doch ihr eigenes Schwimmbad bauen.

SZENE 4 Vater Hallo. Hallo. Hallo. Kathrin lächelt Hab dich gar nicht gehört. Vater Ich wollte dich nicht stören. Kathrin zu Tobias Du hast bald Ferien, oder? Vater Ja, genau. Stille. Ist schön geworden mit den Balkonen. Kathrin Finde ich auch. Vater Und mit der Wandfarbe. Kathrin Ja. Vater Das passt gut zusammen. Kathrin Ja. Stille. Vater Bist du allein? Kathrin Er ist bei seinen Eltern. Stille. Vater Ich wollte dich gar nicht stören. Kathrin Was willst du? Vater Ich hab dich da liegen sehen. Kathrin Ja, ist schön heute. Vater Geht es dir gut? Kathrin Warum fragst du das? Vater Nur so. Tobias Ein Glas Apfelschorle stand auf dem Tisch. Und Wespen schwirrten darum. Sie setzten sich, ganz kurz, als wollten sie nur nippen, sich die dünnen Beine kühlen. Sie hoben ab. Drehten eine Runde. Kathrin Willst du was trinken? Schau mal, der alte Sack steht schon wieder am Fenster. Vater Macht er das öfter? Kathrin In letzter Zeit immer häufiger. Der scheint regelrecht zu warten, bis ich raus gehe. Es reicht schon, wenn ich einfach nur im Garten bin und Äste verschneide. Vater Ekliger Typ. Kathrin Vielleicht ist das doch ganz gut mit dem Hund. Vater Welcher Hund? Kathrin Ist nicht meine Idee. Ich brauche eigentlich keinen. Mein Mann sagt, ich brauche das. Als Ersatz. Und als Schutz. Du hast die Ausländer doch gesehen. Und ihn. Willst du noch was? Vater Nein, danke. Tobias Vielleicht wollten die Wespen wissen, was es sonst noch gab, ob etwas besser sein konnte als die Apfelschorle. Aber was konnte denn besser sein? Kathrin Oder willst du mich beschützen? Das denkt ihr Männer doch die ganze Zeit. Vater lächelt Du schaffst das schon. Kathrin lacht Warte mal ab, wenn ich mit einem Pitbull über die Straße gehe. Vater Dann komme ich dich aber nicht mehr besuchen! Kathrin Ach nein?

O   h Body! www.schlachthaus.ch

Rathausgasse 20/22 3011 Bern

2. – 13. Oktober 2019 Feministische Theater– und Performancetage In Zusammenarbeit mit dem Frauenraum und dem Kino Reitschule sowie der Dampfzentrale Bern.


/ TdZ  Oktober 2019  /

Tobias Sie schienen zu viel getrunken zu haben, schwer geworden zu sein. Einige Wespen trieben auf der Oberfläche, andere sanken bereits zu Boden, in Klumpen, wie bei einer Lavalampe. Kathrin Hast du den Holzhaufen fürs Hexenfeuer schon gesehen? Vater Tobi und Philipp berichten mir über jeden Zentimeter. Ich frage mich immer, wo die Jugendfeuerwehr das ganze Holz dafür findet. Kathrin Die haben doch sonst nichts zu tun. Vater Außer saufen. Kathrin lacht. Stille. Kathrin Ich mag das nicht, wie die Klamotten danach nach Rauch stinken. Vater Und das ganze Gesaufe. Und dann liegen die ersten schon im Wald. Das sind ja noch Kinder. Kathrin Die werden immer jünger. Vater Und dann fängt irgendjemand an, sich zu prügeln. Kathrin Und die laute Musik. Vater Die Wärme. Kathrin Das flackernde Licht. Stille. Vielleicht können wir ja mal zusammen hingehen. Vater Ja, das wäre schön. SZENE 5 Tobias Wenn nachts das Telefon klingelte, wussten alle, was passiert war. Mutti nahm den Hörer ab, dann war es lange still im Haus bis sie leise ins Schlafzimmer zurückkehrte. Sie nahm eine Hose aus dem Schrank und verließ das Haus. Ich konnte die Scheinwerfer sehen. Zwei mal geraten die Reifen des Renaults in ein Schlagloch. Vater Ich glaube, es ist wieder was mit Opa. Tobias Was ist passiert? Vater Versuch wieder zu schlafen. Tobias Es dauert lange, bis die Sonne aufgeht. Die ganze Nacht hatte ich darauf gewartet. Ich musste an Opa denken. An seinen silbernen Opel. Und an unseren letzten Ausflug zur alten Förderbrücke F60. Ich hatte vorn neben ihm gesessen. SZENE 6 Tobias Das Zimmer ist abgedunkelt. Die Vorhänge mit den grünen und orangen Karos zugezogen. Opas Gesicht ist weiß. Sein Bart schimmert gelblich. Die Augen hat er geschlossen. Philipp Wie geht es ihm? Mutter Er kann nicht sprechen. Wie seid ihr hergekommen?

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Philipp Mit dem Fahrrad. Mutter Und wo ist Vati? Tobias/Philipp Wissen wir nicht. Mutter Ist er zu Hause? Philipp Kann sein. Mutter Er kommt bestimmt später. Oder? Philipp Vater verbrachte immer mehr Zeit mit Kathrin. Alles unter den seltsamsten Vorwänden. ­ Heute musste er Kathrin helfen mit den Siche­rungen. Mutter Ihr müsst nicht hier sein. Philipp Ist schon okay. Tobias Opa atmet langsam und ungleichmäßig. Er wackelt mit seinem Kopf. Unter dem Laken machen seine Hände Fäuste. Verkrampfen und lassen wieder locker. Greifen in den Stoff. Was ist mit Opa? Was passiert jetzt? Mutter Nicht weinen. Tobias Ich denk daran, wie Opa in der Küche stand und Kartoffeln schälte. Er trug stets eine gelbe Maggieschürze. Ein Werbegeschenk, das ihm so gut gefallen hatte, dass er zwei weitere Schürzen davon gekauft hatte. Opa war immer da gewesen. Manchmal erzählte ich, dass ich eigentlich von meinen Großeltern aufgezogen wurde, weil meine Eltern so häufig arbeiten waren. Philipp Ich schau Tobi von der Seite an. Übertreib nicht. Sei nicht so kindisch. Das hätte Opa auch nicht gewollt. Ich warte darauf, dass die Tränen in Tobias’ Augen sich lösen und ihm über die Wange laufen. Aber sie bleiben, wo sie sind. Tobias geht. Philipp Wo gehst du hin? SZENE 7 Tobias Ich spuckte in den Wind und wischte mir die Wange nicht ab. Eine Gruppe Männer stand auf der Wiese bei der Tankstelle und grillte. Ich konnte die Bratwürste riechen. Der Mais stand hoch. Immer dieser Mais überall, immer die gleichen Autos, die die Kurven schnitten. Draußen waren die ­Arbeiten am Jahrmarkt zu hören. Die Arbeiter, die den ­Autoskooter aufbauten. Bierflaschen, die über ­Metallstege rollten. Hämmer und Akkuschrauber. Das Kettenkarussell stand längst. Marco lag auf dem Bett seines Bruders. Im Zimmer roch es ­modrig, obwohl das Fenster gekippt war. Überall lag das Papier von Nahrungsergänzungsriegel die er täglich statt der richtigen Mahlzeiten aß. Der Fernseher lief. Wo ist dein Bruder? Marco Nico ist draußen. Vielleicht beim Pavillon. Guck mal, hat mir meine Mutti geschickt.

Tobias Ist das besser als … Marco „Vice City“? Viel besser. Ich darf aber nicht ohne meinen Bruder spielen. Und der Fernseher ist zu alt. Das Bild ist beschissen. Tobias Hm, glaub ich. Marco Ich hab sie angerufen und gefragt, ob ich vielleicht einen neuen Controller bekomme. Tobias Und? Marco Vielleicht zum Geburtstag. Tobias Dann können wir zu dritt spielen! Marco Ja, aber das dauert ja noch. Tobias Marco schaltete den Fernseher aus und sah aus dem Fenster. Da fiel mir ein, dass ich ihm mal erzählt hatte, dass unser Haus eine ­Million Euro wert ist. Dass wir besser sind als er und seine Familie. Dass er seine Schuhe bei uns ausziehen soll und er sich nicht so auf das Sofa legen sollte wie bei sich zu Hause. Dass er sich zu benehmen hatte und meine Eltern mit „Sie“ ansprechen sollte. „Danke“ und „Bitte“ sagen. Höflich sein und sauber. Jetzt schämte ich mich dafür. Marco Da ist was. Tobias Was denn? Marco Da. Das sieht aus wie Feuer. Tobias Es flackert wie eine Fackel. Marco Glas zersplittert. Der Pavillon steht in Flammen. Das Feuer klettert vom Geländer zum Dach und reicht bis hoch in den Himmel. Erreicht die Äste der Bäume, die Schilder der Buden, Skelette der Fahrgeschäfte. Eine Gruppe von Menschen rennt grölend und jolend in den Wald. Vati!!! Vati!!! Vati!!! Das Dach des Pavillons stürzt ein, Funken in der Luft. Aus den Wohnwagen kommen Schausteller mit Eimern. Sie schütten Wasser auf den Pavillon. Aus dem Wald Pfiffe. Jubelrufe. Silhouetten der Männer. Sonst nur Dampf und Flammen. Vati! Nico! Vati! Das Feuer greift auf andere Äste über. Sträucher brennen und kleine Bäume. Wenn nichts passiert, brennt der Wald. Ich weiß nicht, wo die sind. Tobias. Die kommen bestimmt bald wieder. Marco Vati bleibt eigentlich nie so lange weg. Tobias Er scheint zu wissen, wo sein Vater und Bruder sind. Der Blick Richtung Wald und Pavillon, als hätte er sie dort erkannt. Diese Gruppe Männer. Ihre Pfiffe so laut, als hätten sie vor Marcos Fenster gestanden. Marco Ich verstehe das nicht. Tobias Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Flammen, die in die Höhe wuchsen, kannte ich vom Hexenfeuer. Aber diese Gewalt! Diese Geschwindigkeit! Der kleine Funke, der genügte. Du kannst mit zu mir kommen, wenn du willst.

Künstlerhaus Mousonturm Oktober 2019 „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ Antonio Gramsci: Gefängnishefte Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main GmbH, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/Main

/ 59 /


/ 60 /

stück

/ TdZ Oktober 2019  /

Marco Ich kann doch nicht einfach weg. Vati oder Nico kommen ja bald wieder. Tobias Ich rufe meine Mutter an. Sie soll uns abholen. Du kannst bei uns schlafen. Morgen ist doch Wochenende. Marco Ja, stimmt schon. Tobias Ich hol mein Fahrrad dann morgen oder so ab. Marco bewegt sich nicht. Seine Haltung ist unverändert. Er beißt mit seinen Zähnen im geschlossenen Mund aufeinander und streichelt sich mit der Hand sanft über den Hinterkopf. Glaubst du, der Rummel findet dieses Jahr statt? Marco Keine Ahnung. Tobias Haben wir Hausaufgaben auf? Marco Kann sein. Ich weiß nicht, wo die sind. Tobias Die kommen gleich wieder, wir können auch so lange warten. Wie wunderbar hoch die Flammen geschlagen waren. Der Geruch von verbranntem Holz. Die Rauchsäule im dunklen Nachthimmel. Die Jubelschreie. Marcos Vater taucht aus einer dunklen Ecke auf. Irgendwo aus Richtung Wald. Er taumelt ein wenig und schwitzt. Marcos Vater Du kannst wieder nach Hause gehen. Alles gut. War nur einkaufen. Tobias Ist alles in Ordnung? Marcos Vater Was soll denn nicht in Ordnung sein? SZENE 8 Philipp, Ramon. Ramon schraubt an seiner Simson/ Schwalbe rum. Philipp Ramon? Ramon Woher weißt du, wo ich wohne? Philipp Du hast das mal erzählt. Ramon Hm, kann sein. Meine Mutter lässt aber sowieso jeden rein, der klingelt. Ich sag ihr immer, dass sie da aufpassen soll. Ich bin ja auch nicht immer da, weißt du. Hier sind manchmal Leute unterwegs, da kannst du nur den Kopf schütteln. Willst du was trinken? Philipp Was hast du denn? Ramon Radeberger und noch ’nen Kasten Zeckenbier. Philipp Radeberger. Ramon öffnet das Bier mit dem Feuerzeug und bietet es Philipp zum Öffnen seines Bieres an. Mach du lieber. Ich hab da manchen schon das Feuerzeug kaputt gemacht. Sie trinken. Ich ­hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich balancierte erst das Bier und dann die Bier­spucke im Mund von Wange zu Wange. Ich überlegte, den Rest in den Ausguss zu schütten. Aber das würde Ramon hören. Vor allem würde er es riechen. Ramon Kalt wär’s besser.

Philipp Bier ist Bier. Ramon Rauchst du? Philipp schüttelt den Kopf. Vernünftig. Mein Vater hat den ganzen Scheiß hiergelassen. Richtig gutes Werkzeug aus DDR-Zeiten. Nicht diesen Billigkack, den du heute bei OBI zu kaufen kriegst. Philipp Wo ist dein Vater? Ramon Keine Ahnung. Hat sich verpisst und fickt sich jetzt vielleicht durch Polen. Philipp Aber du hast ihn noch gekannt? Ramon Nein, nicht so richtig. Der hat meine Mutter im Stich gelassen, da war ich so zwei oder drei Jahre alt. Da hatten wir auch mehr Kühe. Aber glaub ja nicht, man könnte damit Geld verdienen. Was die für die Milch zahlen, ist ein Witz. Wenn man das durchrechnet, machen wir Minus. Mit jedem beschissenen Liter. Ich lass mich von meiner Mutter auf gar keinen Fall bezahlen. Sonst könnten wir uns das alles nicht leisten. Scheiß-EU. Philipp Ja. Ramon Ich dachte am Anfang auch, dass das gut wäre mit dem Euro. Ich hatte von meiner Mutter so ein Starterpaket bekommen, die überall verteilt wurden. Schön gold und glänzend. Natürlich ist das erstmal aufregend. Aber dann wird dir klar, wie stark die Mark war und dass jedes Billoland Europas mit ihren Kackwährungen von uns profitiert. Philipp Woher weißt du das? Ramon Das weiß man doch. Philipp Ja. Ramon Meine Mutter hatte drei Währungen in ihrem Leben. Drei! Wenn du der sagst, es gibt eine neue Währung, lacht die nur. Und wenn du der sagst, dass das jetzt die beste Währung überhaupt ist, die besten Scheine und Münzen. Ich glaube, die knallt dir eine. Es gibt aber Leute, denen kannst du alles andrehen. Die glauben den ganzen Scheiß, der gesagt und geschrieben wird. Philipp Ja! Ramon Ihr habt euch doch ein Haus gebaut, oder? Philipp Ja, genau. Ramon Und ein Auto? Philipp Ja, einen Renault. Ramon Das ist kein Auto. Dann sind deine Eltern auch darauf reingefallen. Philipp Wieso meine Eltern? Ramon Denen wurde auch eingetrichtert, dass sie jetzt ein Haus kaufen müssen und ein französisches Auto und einen Fernseher. Dass sie jetzt Eigentum brauchen und ganz viel besitzen müssen, um am Wohlstand teilzuhaben. In den Urlaub ­fliegen. Ich ich ich, weißt du. Kauf dich glücklich. Vergiss, wo du herkommst und dass dir die Politik

Internationale Bücher, DVDs & CDs Der Onlineshop von

Sichere Zahlungsarten (Direktüberweisung, Paypal) Weltweiter Versand

Bühnenbild & Kostüm Tanz & Performance Oper & Musiktheater Schauspiel Puppen- & Objekttheater Schule & Grundlagen Stücke & Dramen

was anderes versprochen hat. Hauptsache, du gibst ordentlich Geld aus. Das ist Volksverdummung! Philipp Volksverdummung. Ramon Naja. Ich wollte dir nicht das Ohr abkauen. Philipp Hast du nicht. Alles gut. Wirklich nicht. Ramon Du musst bestimmt bald wieder nach Hause. Philipp Ja, bald. Ramon Wissen deine Eltern eigentlich von der ­Sache mit der Mauer? Philipp Ich habe niemandem was gesagt. Ramon Das meine ich nicht. Philipp Die haben in der Zeitung gelesen, dass die Polizei wegen einer Schmiererei bei uns war. Da hat mein Vater gefragt, ob die nichts Besseres zu tun hätten. Und meine Mutter wusste gleich, wer die beiden Polizisten waren. Manchmal kommen die ja ins Krankenhaus und begleiten Betrunkene oder Ausländer. Sie hat gesagt, dass keiner von beiden in der Lage wäre, jemandem hinterherzurennen, wenn es darauf ankommt. Ramon Alles gut, beruhige dich. Philipp Die Direktorin hat so ein Drama daraus gemacht. Ramon Meine Mutter weiß, dass die heimlich säuft. Sie sagt, dass die schon einmal einen Entzug gemacht hat. Deine Mutter arbeitet doch im Krankenhaus. Philipp Ja. Ramon Dann verdient die doch bestimmt ganz gut. Philipp Weiß ich nicht, kann sein. Ramon Das ist keine große Sache. Kein Grund zur Aufregung. Philipp Ich meine ja nur … Ramon Ich rufe dich mal an, okay? Vielleicht können wir ja mal was machen. Philipp Ja, gern! SZENE 9 Menzel Heil, ihr Spasten! Stille. Ramon Zu Philipp Schön, dass du da bist. Wo hast du den Schnaps her? Philipp Hab ich aus dem Keller geklaut. Menzel Und warum nur eine? Philipp Na … Ramon Alles gut, beruhige dich. Zu Christoph Und du bist? Christoph Christoph. Robert Glückwunsch! Philipp Ist das dein Bungalow? Ramon Nein, der gehört seiner Oma. Robert Der Garten auch. Früher hat sich mein Opa darum gekümmert. Christoph Und das ist okay, wenn wir hier sind?

WWW. STAGEBOOKS .SHOP Jetz onlin t e


/ TdZ  Oktober 2019  /

Robert Solange nichts kaputt geht. Meine Oma fand nicht so gut, was letztens passiert ist. Philipp Was ist denn passiert? Menzel Was? Philipp Was passiert ist? Menzel Müsst ihr nicht wissen. Philipp Ramon hatte gefragt, ob ich dabei sein wollte. Endlich! Er hatte angerufen: Komm vorbei, wenn du willst. Es kommen auch noch andere. Auf dem Boden standen mehrere Flaschen Schnaps und Bier. Aus dem Radio in der Schrankwand kam mal Musik, mal Rauschen. An den Wänden Poster von Dynamo. Die Mannschaften der Saison 2002/ 2003 und 2003/2004. Menzel Läuft hier eigentlich nur so Polacken­ kacke? Robert Der kann keine CDs lesen. Menzel Dann hättest du dich kümmern müssen! Ramon Wo soll er denn so kurzfristig noch was herholen? Menzel Ist das mein Problem? Menzel bekommt einen Plastikbecher Warum soll ich das Zeug aus einem Plastikbecher trinken? In der Schrankwand stehen doch Gläser. Robert Die gehören meiner Oma. Menzel Wie süß, der Robert! Warst du heute wählen? Robert Nein. Menzel Hättest du aber tun sollen. Die alte Fotze hat schon wieder gewonnen. Ich könnte kotzen, wenn ich die sehe. Robert Ist mir doch egal. Menzel Du hast das immer noch nicht verstanden. Entweder du gehörst dazu und machst mit, oder du lässt es. Ganz oder gar nicht. Robert Als würde es darauf ankommen, wen ich wähle. Menzel Wie willst du denn sonst gewinnen? Ramon Menzel, lass es. Menzel Ein, zwei Leute mehr und die würde nicht wieder Kanzlerin sein. Da kommt es doch auf ­deine Stimme an. Oder willst du, dass der Mist so weitergeht? Robert Ich kann es doch jetzt sowieso nicht mehr ändern. Menzel Ich zerr’ dich das nächste Mal in die Scheiß Kabine rein! Ramon Schnapszeit! Menzel zu Robert Du kriegst nichts. Krieg dich erst mal auf die Reihe mit deinem Alkoholproblem. Robert Mir doch egal. Menzel Dann verrecke doch! Robert nimmt die Schnapsflasche trotzdem.

Peter Voss-Knude

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Robert Wie Mundspülung. Zu Philipp Hier. Schön, Uwe. Philipp Uwe? Robert Unten wird’s eklig. Menzel schlägt Robert gegen den Hinterkopf. Menzel Du fettes Stück Scheiße. Lachnummer. Er fährt seit zwei Jahren mit seiner alten Klassenlehrerin ins Riesengebirge. Der Älteste und Größte unter irgendwelchen Achtklässlern. Wahrscheinlich fickt er sie! Robert Schnauze!! Christoph Zu Philipp Willst du wirklich bleiben? Philipp Hast du Angst? Menzel über Christoph Was is’n das für’n Emo hier? Christoph lacht Heil, ihr Spasten! Ramon Lass den. Menzel Hat dich dein Vati wieder verdroschen? Christoph Ich … Menzel … interessiert mich nicht!

Menzel hebt etwas auf und wirft es. Philipp, Menzel, Robert, Ramon, Christoph. Philipp Silvester waren wir wieder eingeladen. Menzel Ich hab mich an die Abmachung gehalten. Robert Zeig mal her! Ramon War es dieses Mal schwerer zu bekommen? Menzel legt ein Päckchen ab Das ist so leicht. Der Fidschi führt mich nach hinten, ich lächle ihn an, drehe mich nach ihm um. Mal ein Blick über die Schulter. Und ich tue so, als hätte ich gar keine Ahnung. Als hätte mich mein Freund geschickt. Ich lade alles ein und fahre über die Grenze und wurde noch nie kontrolliert. Ich könnte mein Auto mit Scheiße einreiben und alle Scheiben einschlagen. Ich könnte noch zwei Räder extra montieren oder eins weglassen. Die Bullen gucken mich an, ich drücke die Titten zusammen, ich setze mich hinters Lenkrad wie eine Omi, ganz nah ran, schön aufrecht, und die denken nur: Die Kleine war bestimmt tanken und hat für ihre Freundin noch eine Schachtel Zigaretten gekauft, bevor sie heute Abend feiern gehen. Ramon Lasst mal rausgehen. Philipp Wir gingen unter der alten Eisenbahn­ brücke hindurch. Ramon Ist gleich so weit. Menzel Da geh ich hoch! Ramon Menzel! Menzel Komm mir nicht mit dem Ton. Robert Lass sie doch, wenn sie will. Menzel Und deinen Zuspruch brauch ich auch nicht! Hier, das ist Babykram. Die wollen doch, dass

»THE LANGUAGE OF TERROR IS TERROR ITSELF THE TERROR OF LANGUAGE IS TERROR ITSELF THE TERROR OF TERROR IS LANGUAGE ITSELF«

GW_AZ_Theater der Zeit_Peter-Voss-Knude.indd 1

man hier hoch geht. Die Brücke ist dafür gemacht worden! Für mich! Die hat auf mich gewartet! Ramon Niemand wartet auf dich! Menzel Dieses Land, mein Lieber! Die ganze beschissene Welt! Philipp Pass auf! Robert Wie süß. Der kleine Schuljunge macht sich Sorgen. Menzel Haltet mal die Fressen! Ruhe! Da! Da ist jemand. Ramon Da ist niemand. Menzel Da laufen zwei. Die Beine breit, als würde denen die Straße gehören. Verpisst euch! Robert Du bist betrunken. Menzel Ruhe! Das sind Sorben. Sorben erkenne ich auf hundert Meter. Die sind wie Nigger. Die kannst du gar nicht verwechseln. Robert Erzähl dem nichts, du bist Halbsorbe. Menzel Schnauze! Ey! Sorbenschweine! Ihr seid auch noch dran!

Christoph Was hat sie da? Menzel Getroffen! Voll in die Fresse! Rennt! Rennt! Hebt eure kleinen Judenbeine! Ha Ha! Wieder bei der Gruppe Die sollen mir das nicht versauen hier. Zu Philipp Pass mal auf, da kommt gleich eine ­Telefonzelle. Hast du Bock? Philipp Worauf? Menzel Bisschen Feuerwerk. Ramon Kannst dir dabei auch was wünschen, wenn du willst. Robert Oder mit jemandem schmusen. Menzel Diese Telefonzellen braucht ja keiner mehr. Die stehen noch bisschen zur Zierde rum. Und hin und wieder stellt irgendein Linker ein Buch rein. Zum Tauschen. Wer es nimmt, muss sein eigenes rein stellen. Total behindert. Unter uns, hier liest sowieso keiner Bücher. Ramon Jedenfalls wollen wir das Ding aufstemmen. Menzel Das geht, das haben wir schon probiert. Ramon Gerade ist sie abgeschlossen. Wir stemmen die Tür auf und du … Menzel Du wirfst sie rein. Ganz einfach. Ramon Anzünden. Menzel Fertig. Philipp Ich … Menzel Du musst die nur anzünden. Christoph Philipp. Ramon Da passiert nichts. Christoph Philipp. Menzel Einfach mal was ausprobieren.

13.09. bis 26.10.2019 Eröffnung am 12.09.2019, 19 bis 22 Uhr kuratiert von Solvej Helweg Ovesen im Rahmen von SoS (Soft Solidarity)

29.07.19 13:21

/ 61 /


/ 62 /

stück

Ramon Man muss ja offen für Neues sein. Menzel Kleines Tischfeuerwerk hat noch niemandem geschadet. Philipp Okay. Menzel Na siehst du! Philipp Menzel öffnete das Paket, nachdem sie es vorsichtig auf den Boden gestellt hatte. Sie kniete davor wie vor einer Schatztruhe. Gab mir die toilettenpapierdicken Rollen und lächelte. Menzel Guter Mann! Philipp Ich zünde den Böller an. In dieser Form und Größe hatte ich zuvor noch nie einen gesehen. Wir rennen weg. Ohne ein Kommando zu brauchen. Als wäre es ein Instinkt. Menzel Jetzt! Robert Ein Knall wie eine Sprengung. Meine Ohren fühlen sich wie taub an. Ein lang anhaltendes Piepen. Die Explosion wie ein Schlag auf meine Brust. Glas, das wie feiner Staub auf die Straße rie­ selt. Große Scherben. Menzel, die jubelt, auf die Straße rennt und die Scherben über den Asphalt kickt, wie ein Kind, das durch den ersten Schnee tobt. Robert liegt auf dem Boden. Christoph Er blutet! Philipp Was? Menzel Was ist passiert? Christoph Weiß ich nicht, wir müssen einen Krankenwagen rufen. Ramon Hat er Glas im Gesicht? Philipp Wir müssen den hinsetzen. Wir müssen was machen. Menzel Beruhige dich. Der ist auf die Fresse gefallen, der ist stockbesoffen. Philipp Wir müssen das desinfizieren. Hat jemand Alkohol? Ramon Ich hab noch Schnaps dabei. Philipp Der müsste gehen. Ramon gießt einen Feigling über Roberts Gesicht. Noch einen! Ramon Das kann der Jude mir bezahlen. Christoph Philipps Mutter ist Krankenschwester. Philipp Wir müssen ihn hier irgendwie wegkriegen. Er unterkühlt, er ist nicht ansprechbar. Menzel Das ist nicht deine Schuld. Der wird noch daran verrecken, wenn der das nicht in den Griff bekommt. Christoph Wir müssen den tragen. Menzel Ich fass den nicht an. Am Ende pisst der sich noch ein. Ramon Menzel! Menzel Was ist? Ramon Wir schaffen das nicht bis zwölf zurück.

/ TdZ Oktober 2019  /

Menzel Scheiße! Dann machen wir es eben hier. Noch zwei Minuten bis Neujahr. Ramon Haben wir noch was zum Anstoßen? Menzel Kannst ja sein Gesicht ablecken. Zwanzig Sekunden. Zehn. Sie umarmt Ramon. Frohes Neues. Gibt Philipp die Hand. Christoph Ich möchte nach Hause. Ramon Wollt ihr schon gehen? Philipp Ja, so langsam. Menzel Aber schön, dass ihr da wart. Ramon Ja und danke für die Hilfe. Menzel Lasst euch nicht vergewaltigen! Philipp und Christoph allein. Philipp Sag es endlich. Ist alles okay? Christoph Ja. Nein. Pause. Das sind Nazis. Philipp Was meinst du? Christoph Menzel hat die ganze Zeit Sorben und so beleidigt. Philipp Das war doch nur zum Spaß. Christoph Die hat mit einem Stein geworfen! Philipp Hast du das gesehen? Christoph Na, dass sie was aufgehoben hat. Philipp Deshalb muss es ja kein Stein gewesen sein. Christoph Aber sie hat es geworfen! Philipp Vielleicht war es ein Tannenzapfen, das ist doch nicht schlimm. Pause. Christoph Im Bungalow hingen überall Fahnen. Philipp Deshalb ist man doch kein Nazi. Alle anderen dürfen stolz auf ihr Land sein, nur in Deutschland ist das verboten! Christoph Das meine ich ja gar nicht. Philipp Was willst du mir damit sagen? Christoph Die wollen, dass du da mitmachst. Hast du das nicht gemerkt? Mit den Böllern? Das ist strafbar. Philipp Du warst doch auch dabei. Christoph Ich wusste doch nicht, was da passiert. Philipp Du hast auch Heil gerufen. Christoph Das ist was anderes. Philipp Warum? Christoph Weil ich das aus Spaß gemacht habe. Philipp Aus Spaß? Christoph Ja. Philipp Was würden deine Eltern dazu sagen? Christoph Ich bin kein Nazi. Philipp Ich auch nicht! Und Menzel, Ramon und Robert auch nicht. SZENE 10 Tobias Das Sofa war ausgeklappt und ich erkannte die Füße unter der Decke. Das eingefallene Gesicht mit den Haaren auf der Stirn. Vater?

Vater Was!!?? Tobias Warum schläfst du hier? Vater Geh wieder hoch. Tobias Was ist passiert? Wo ist Mutti? Vater Lass mich!! Tobias Warum ... Vater Weg!!! Philipp zu Tobias Komm mit. Tobias Was ist denn nun? Philipp Guck her. Trinkt. Tobias Es reicht ja jetzt. Tobias Bist du jetzt betrunken? Philipp Doch nicht von einem Bier. Willst du? Tobias Ich trinke das nicht. Philipp Das kommt noch. Früher wollte ich auch keines trinken. Tobias Warum hast du das geklaut? Philipp Fällt nicht auf. Vati trinkt so viel davon, der kriegt das eh nicht mit. Während Tobias spricht, schießt Philipp ihn mit den Waffen an. Menzel, Robert. Tobias Philipp hatte sich zwei Waffen für den Häuserkampf gekauft, wie er sagte. Eine Pumpgun und eine halbautomatische Softair. Dazu eine gebrauchte Feldjacke von der Bundeswehr. Menzel hatte die über Ebay besorgt. Da tauchte sie das erste Mal auf. Menzel. Die anderen kannte ich nicht. Philipp Ramon und Robert! Tobias Ich durfte mit in den Wald und mal in die Luft schießen, auf Bäume, auf eine Fahne, die sie mitgebracht hatten. Sie lauerten in den Kaolin­ löchern und Gruben wie Hasen. Dreckig von Sand und Lehm. Hör auf! Philipp Tut weh, was? Tobias Philipp war in Menzels Team. Jedes Mal. Ich dachte, dass Menzel nur einen Stock zu werfen brauchte und Philipp würde ihn holen. Wie er sie angesehen hat. Lass das! Philipp Du darfst dich halt nicht treffen lassen. Tobias Menzel hat gefragt, ob ich nochmal mit dabei sein will. Ob ich mal mitkommen will. Vielleicht habe ich ja Lust. Mal was machen. Klar, habe ich gesagt. Warum nicht? Schießt auf ­Philipp. Philipp Hör auf! Du hast auf mich geschossen. Tobias Jetzt hast du Schiss was? Bist wohl feige! Philipp Schieß ruhig noch mal! Tobias geht Ich gehe zu Marco. Philipp Pass auf, dass du dich nicht von seinem Gestank anstecken lässt. Stille. Ist sein Bruder immer noch im Knast? Stille. Oder sein Vater? Stille. Tobi?

Theater der Jungen Welt Leipzig

PSST !

Eine choreographische Stückentwicklung über Geheimnisse | Von Leonie Graf | Uraufführung [5 plus] Premiere: 3. Oktober Karten 0341.486 60 16 | www.tdjw.de


/ TdZ  Oktober 2019  /

SZENE 11 Marco Ich wollte dich gern nochmal sehen, Tobi. Tobias Warum? Marco Ich habe gestern mit meiner Mutti telefoniert. Sie hat alles geklärt. Tobias Was hat sie geklärt? Marco Ich ziehe nach Stuttgart zu ihr.

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Tobias Wo ist Vati? Mutter Bei Kathrin. Tobias Warum machst du nichts? Mutter Was soll ich denn machen? Tobias Du könntest ihm doch wenigstens wieder Abendbrot machen. Mutter Bitte was? Bist du bescheuert? SZENE 13

Stille. Tobias Schön. Stille. Und dein Bruder? Marco Der kommt dann nach. Irgendwann. Tobias Schön. Marco Du kannst mich ja mal besuchen kommen, wenn du magst. Stuttgart soll ganz schön sein. Tobias Klar, auf jeden Fall. Marco Ich werde dort auch meinen Führerschein machen. Und meine Mutti hat ein Auto. Dann können wir mal rumfahren. Ins Schwabenland... Tobias Das machen wir, ja. Stille. Wie geht es deinem Vater? Marco Kannst du dir ja denken. Tobias Na ja. Ich muss dann wieder. Marco Klar. Tobias Ich wollte an den Abend zurück, als Marco mir das neue GTA gezeigt hatte. Bevor der Pavillon angezündet worden war. Vor Opas Tod. Bevor Vater auf dem Sofa schlief. Bevor ich angefangen hatte, meine Abende mit Menzel und den Jungs zu verbringen. SZENE 12 Philipp Mutter sitzt auf dem Sofa, die Füße hochgelegt und blättert in einer ihrer Zeitschriften, die Großmutter ihr mitgebracht hatte. Tobias Oma wollte immer die Kreuzworträtsel und Mutti die Rezepte. Philipp Wann immer Vati sie mit einer solchen Zeitschrift erwischte, machte er sich darüber lustig. Volksverdummung. Tobias Volksverdummung. Mutter Philipp, kommt Christoph auch mit? Philipp Nein. Mutter Der war lange nicht mehr hier. Philipp Ja, kann sein. Mutter Der ist doch eigentlich ganz nett. Philipp Ich sehe ihn nicht mehr so oft. Mutter Philipp, pass auf dich auf. Philipp ab. Tobias Sie hat dunkle Augenringe bekommen. Ihren Haaransatz hat sie lange nicht nachgefärbt. Ihre Haare warf sie morgens nach dem Kämmen ins Klo, aber spülte sie nie weg. Wie ein Nest lagen sie auf dem Wasser. Blaue Tropfen vom WC-Tab perlten daran ab. Ich ekelte mich davor und spülte zwei Mal, bevor ich mich hinsetzte. Ich befürchtete, dass ich mit meinem Penis sonst ihre Haare berühren würde. Mutter weint. Was ist los? Mutter Was soll denn sein? Tobias Stimmt das, dass der Hund von Kathrin angefahren wurde? Mutter Ja. Letzte Nacht. Tobias Warum? Mutter Woher soll ich das wissen? Tobias Hat das niemand mitbekommen? So einen Hund kann man doch nicht einfach anfahren. Da geht doch das Auto kaputt. Den sieht man doch. Mutter Wenn das Auto groß genug ist.

Philipp Komm mit, wir machen was Lustiges, hatte Menzel am Telefon gesagt. Menzel Na, hast du deine Hausaufgaben gemacht? Philipp Was machen wir? Robert Das war meine Idee. Ramon Schnauze! Menzel zu Philipp Hast du ’ne Kapuze? Philipp Nein. Ramon Wir warten noch bis es dunkler ist. Menzel Ich bringe dich dann auch Nachhause, wenn du willst. Philipp Ja, gern. Menzel Ihr wohnt da hinten, oder? In dem Ein­ familienhaus? Philipp Genau. Wieso? Menzel Zschornack heißt du doch, oder? Philipp Ja. Menzel Hat bei euch mal ein Uwe Deibritz ge­ arbeitet? Philipp Das war der Arbeitskollege von meinem Vater. Menzel Ich kannte den. Ramon Das ist der Stasityp, der sich im Steinbruch ersäuft hat. Menzel Schnauze! Ramon In der Klasse von deinem Bruder ist doch die Somali. Die kann nichts dafür, dass sie hier gelandet ist. Aber statt ’ner Somali hätte die Familie auch ein deutsches Kind adoptieren können. Robert Oder einfach einen Hund. Menzel Ich war mal in Frankfurt. Da gibt es Stadtteile, wo du keinen Deutschen mehr siehst. Arbeitslose Kamelficker, die ihre Frauen verhüllen. Die kriegen dumme Kinder wie Heu. Ramon Menzel will mal zu der Familie fahren. Menzel Bisschen reden. Philipp Und dann? Sofort wollte ich mich entschuldigen. Oder sagen, dass ich ab jetzt die Klappe halten würde und einfach nur tat, was mir gesagt wurde. Ich war ja wirklich dankbar, dass sie mich mitgenommen hatten. Das sollten sie jetzt auf keinen Fall falsch verstehen. Robert hatte einen blauen Sack dabei und Kontakte zu einer Fleischerei. Mehr wollte er nicht sagen. Wir erreichten den Ortseingang. Das Haus, in dem die Familie wohnte, war ein Reihenhaus. Menzel Noch besser. Dann kriegen die Nachbarn gleich mit, was hier falsch läuft. Philipp Sie hielt mir den Sack hin und die Öffnung mit beiden Händen weit auseinander. Ich sah hinein und konnte es zunächst nicht erkennen. Fliegen, die aufstiegen. Menzel nickte zufrieden. Menzel Geil, oder? Philipp Autos in den Einfahrten, kleine Fahnen an den Scheiben. Eine italienische darunter. Robert Als könnte Italien Fußball spielen. Philipp Er flüsterte bereits. Ramon Kinderspielzeug auf den Rasenflächen. Robert Niedrige Buchsbaumhecken ringsum. In den Fenstern Orchideen.

Philipp Menzel hatte den Sack geschultert und ging voran. Menzel Eng an den Hecken entlang, von Carport zu Carport. Philipp Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Wiese. Robert Nirgends Deckung. Philipp Ramon sagte schon lange nichts mehr. Robert auf seinen Abrollschuhen direkt hinter ­ Menzel. Sein T-Shirt auf links gedreht, weil MarioBarth-Shirts eine zu grelle Schriftfarbe hatten. Im Haus war schon Licht. Menzel Näher ran. Nicht aus der Deckung gehen. Nicht hektisch bewegen. Philipp In einiger Entfernung Glascontainer und junge Bäume. Die rosaroten Blüten kreisrund um die Stämme verteilt. Auch dort keine Deckung. Menzel Los, jetzt! Philipp Menzel griff in den Sack. Sie wühlte darin und zog einen Fuß hervor. Abgehackt knapp unter dem Kniegelenk. Die Klauen ungewöhnlich sauber. Menzel wog ihn mit ihrer Hand. Schweine waren für die unreine Tiere. Ich griff hinein. Keine Handschuhe. Am schlimmsten aber das Kondenswasser an meinem Unterarm. Ich erwischte ein wesentlich kürzeres Bein. Warf es zeitgleich mit Menzel. Ramon und Robert direkt hinterher. Kurz aus der Deckung heraus. Menzel kam bis zum Dach, dort rollte das Bein zum Schneefanggitter, wo es hängen blieb. Genau so, wie sie es geplant hatte. Ramon traf auch. Roberts Bein rollte in die Dachrinne. Ich schmiss meines gegen die Hauswand. Es schlug dagegen wie ein blinder Vogel. Der Schweinskopf war noch im Sack. Das Wichtigste. Menzel schleuderte Sack und Kopf, wie aus einer einzigen Bewegung heraus, fließend, athletisch, vor den Treppenabsatz der Haustür. Dumpf, wie eine fallengelassene Bowlingkugel. Als wäre der Schädel aufgeplatzt. Eine Frau schrie. Vielleicht ein Mädchen. Die Türkin. Plötzlich eine Männerstimme. Ich rannte. Strauchelte nicht, stolperte nicht. Achtete gar nicht auf meine Beine. Auf nichts, außer auf mein Blickfeld. PAUSE DRITTER TEIL – TOBIAS 2013–2015 SZENE 1 Tobias Ich erinnere mich an diesen Nachmittag. Philipp Mutter auf Spätschicht. Kaffeetrinken bei Kathrin. Vater hatte Puddingschnecken von Bofrost aus dem Tiefkühlfach genommen. Tobias Dann saßen wir zu viert auf der Terrasse, und der Hund schlief in der Sonne auf den Steinen. Philipp Ihr könnt doch ein bisschen mit dem Hund spielen, sagte Vati. Ich helfe Kathrin drin mit den elektrischen Jalousien. Tobias Damals war es uns nicht aufgefallen … Philipp … dass sie die Terrassentür von innen verschlossen hatten. Vater und Kathrin hatten nichts gegessen. Diese Puddingschnecken nur, damit ich und Tobi draußen sitzen blieben. Wir rüttelten an der Tür. Riefen, schrien. Der Hund bewegte sich nicht. Als wäre es mit ihm abgesprochen. Vati! Vati! Vater! Tobias Philipp pisste auf die Beete, weil er nicht ins Haus kam. Vater hatte sich immer weiter zurückgezogen. Er war oft allein spazieren gegangen und hatte Kathrin getroffen. Jeder wusste es.

/ 63 /


/ 64 /

stück

Vater tritt auf Philipp? Tobias? Philipp läuft weg. Was hat er? Tobias Keine Ahnung. Vater Ich wollte mit euch reden. Tobias Was denn? Vater Vielleicht könnt ihr mich ja mal besuchen kommen … Kathrin würde sich auch freuen … Die Wohnung ist schön geworden … Wir haben sogar einen Balkon. Da können wir draußen sitzen … Trinkst du schon Bier? Ich kann welches besorgen … Tobias? Tobias Ja, gern. SZENE 2 Menzel Wie geht es deiner Oma? Philipp Ganz gut, glaube ich. Menzel Die Männer sterben immer als Erste. War bei meinem Opa auch so. Philipp Was hat der gemacht? Menzel Polizeischule. Hat in der Kantine gearbeitet. Meine Oma war ihr Leben lang Optikerin. Ein Betrieb, immer der gleiche Chef. Kann sich heute keiner mehr vorstellen. Zschornacks sind gute Leute, hat meine Oma gesagt. Die hat deinen Vater in den Himmel gelobt. Dass Uwe bei euch arbeiten durfte, wird sie nie vergessen. Philipp Stimmt es, dass er bei der Stasi war? Menzel Wer hat das gesagt? Philipp Ich habe das mal aufgeschnappt. Menzel Seine Frau, diese Fotze hat das in die Welt gesetzt. Die ist abgehauen, weil die drüben mehr Geld bekommen hat. Uwe war ein Säufer, kein Geld für gar nichts, aber der hätte das nie gemacht. Vor allem nicht bei seiner eigenen Frau. Philipp Warum hat sie das dann behauptet? Menzel Unser Name ist komplett ruiniert. Hier gucken uns die Leute nicht mal mit dem Arsch an. Ich war auch nicht auf der Beerdigung von meinem Opa. Das hätte ich gar nicht verkraftet, meine Oma dort ganz allein stehen zu sehen. Die hat das alles nicht verdient. Stille. Ich will einen Laden kaufen. Philipp Was für einen Laden? Menzel Ramon ist auch dabei. Eine Werkstatt für Kfz und Mopeds vielleicht. Geil, oder? Philipp Ja. Stille. Und du und Ramon könnt euch das leisten? Menzel Naja, wir müssten natürlich bisschen Geld leihen. Kredit aufnehmen. Sowas halt. Philipp Warum hast du damals die Mauer beschmiert? Menzel Das war ich nicht. Philipp Wer denn dann?

/ TdZ Oktober 2019  /

Menzel Keine Ahnung. Philipp Erzähl mir doch nichts. Menzel Das war schon da, bevor wir an dem Tag gekommen sind. Philipp Warum hat Ramon dann gesagt, dass ihr es wart? Menzel Da musst du Ramon fragen. Philipp Der hat mich auf dem Klo richtig bedroht! Menzel Kennst ihn doch. Philipp Die Polizei hat mich aus der Klasse geholt! Menzel Alles ist mit Hakenkreuzen vollgemalt. So viel Zeit hab ich gar nicht. Philipp Ich dachte, du wolltest mich dabeihaben. Menzel Mir ist scheißegal, was du machst. Du rennst mir hinterher wie so ein Hund. Ich weiß gar nicht, warum. Philipp Ich fand immer gut, was du machst. Menzel Ich mag keine Mitläufer, weißt du. Philipp Bin ich nicht. Menzel Die anderen sehen das genauso. Philipp Ich war doch bei dem ganzen Kack dabei. Menzel Ja, eben. Du warst halt dabei. Philipp Was hätte ich denn machen sollen? Menzel Keine Ahnung. Ich hab mir bei dir gleich gedacht, dass du einfach nur dazugehören willst. Ramon hat’s auch gemerkt, wo er dich auf der Toilette zur Rede gestellt hat. Dein erstes Bier bei ihm in der Garage. Er hat’s direkt bemerkt. Aber es hat dir ja nicht geschadet. Du hattest doch Spaß. Philipp Tobias hatte mich mal gefragt, warum wir jetzt da waren, wo wir waren. Warum Vater weggezogen war. Warum Marco dumm und sein Bruder im Gefängnis war, Christoph vielleicht schwul. Warum Robert seine alte Klassenlehrerin zu lieben schien und immer noch arbeitslos war. Ramons Vater abgehauen, seine Mutter bei MäcGeiz. Menzel und ihre Sorbenfamilie. Uwe, der Alkoholiker. Diese ganzen Versager. Tobias fragte mich, ob wir irgendwann dazugehören würden. Was ist mit Tobi? Menzel Der ist alt genug, um selber zu wissen, was er will. SZENE 3 Philipp Christoph? Christoph? Christoph Philipp. Philipp Wie geht es dir? Ich hab dich ewig nicht gesehen. Christoph Ich wohne jetzt in Dresden. Philipp In Dresden? Christoph Da kann man sowas wie duales Abitur machen. Das dauert ein bisschen länger, aber dann hast du Abi … Philipp Abi … Christoph …und eine Ausbildung. Philipp Schön. Christoph Ja.

Stille. Christoph Und was machst du sonst so? Philipp Naja, wie immer. Kennst du doch. Christoph Und hängst du noch mit Menzel ab? Philipp Wieso fragst du das? Christoph Nur so. Philipp Stört dich das? Christoph Nein, überhaupt nicht. Philipp Hast du ein Problem damit? Christoph Philipp, ich hab nur nachgefragt. Philipp Ja, weil du wissen wolltest, ob ich jetzt einer von denen bin. Christoph Das hab ich nie behauptet. Philipp So läuft das doch immer. Ob du jetzt nach Dresden gehst oder nach Leipzig oder Berlin. Du bist jetzt was Besseres. Und du kommst hierher, zu Besuch, und denkst dir ‚Was für dumme Menschen. Was für rückständige Menschen. Was für Nazis‘. Christoph Nein! Philipp Das kommt noch! Christoph Niemand zwingt dich, hierzubleiben! Du kannst auch weg. Du kannst auch dein Abi nachholen. Studieren. Lehrer werden, Arzt. Philipp Und wenn ich das nicht will? Christoph Dann ist das auch in Ordnung. Philipp Scheinbar ja nicht. Christoph Ich … Philipp … Du wirfst mir vor, dass ich hiergeblieben bin. Dass ich eine Ausbildung gemacht habe. Vielleicht heirate ich ja irgendwann. Vielleicht kriege ich irgendwann Kinder. Ist das dann auch schlimm? Christoph Ich … Philipp … Du kommst aus deiner Scheiß-Großstadt hierher und erzählst mir, wie ich leben soll! Und alles, was nicht diesem Scheiß-Stadtleben entspricht, ist automatisch dumm. Ich bin doch kein Hinterwäldler! Christoph Philipp. Philipp Aber ein Nazi. Das bin ich, oder? Christoph Philipp, ich will ja irgendwann wiederkommen. Philipp Willst du das? Christoph Ja. Philipp Und uns dann unter die Arme greifen mit deinem Wissen? … Und uns sagen, was wir besser machen können? … Und wo unsere Fehler sind? … Niemand braucht dich hier. Christoph Ich hab nie behauptet, dass ich besser bin als du oder irgendwer. Nur, weil ich mal gehe, weil ich mal gucken möchte, was es sonst noch gibt, bin ich kein Verräter. Und wenn ich zurückkommen möchte, dann nicht, um jemanden zu belehren, sondern weil das auch meine Heimat ist. Weil mir meine Familie am Herzen liegt. Und du, Philipp. Und irgendwie auch Leute wie Menzel. Philipp Geh einfach. Christoph Pass auf dich auf. Christoph ab. Menzel tritt auf.

Stille. SZENE 4 Philipp Und dann? Christoph Vielleicht studiere ich dann noch. Philipp In Dresden? Christoph Mal sehen. Stille. Und du? Philipp Ich hab ’ne Ausbildung zum Mechatroniker gemacht. Christoph Bei Schmidtke? Philipp Karsubke. Christoph Ah. Philipp Ja.

Tobias Kommst du? Philipp Heute nicht. Tobias Was ist los? Philipp Ich muss doch nicht immer dabei sein. Tobias Ist was passiert? Philipp Lass mich doch einfach mal in Ruhe! Menzel Dein Bruder ist ein Mädchen. Der verdient gutes Geld als Mechatroniker, hat ’ne gute Wohnung. Ich weiß nicht, warum der sich so gehen lässt.


/ TdZ  Oktober 2019  /

Tobias Das geht vorbei. Menzel Der kommt immer nur an, wenn er gerade nichts anderes zu tun hat. Den hat das nie richtig gejuckt, was wir machen. Du weißt, was ich meine. Ramon und Robert kommen dazu. Ramon Wo ist Philipp? Menzel Kommt nicht. Robert Hey, guckt mal! Wahlparty der CDU. Singt „An Tagen wie diesen ...“ Menzel Mach die Scheiße aus! Robert Ich will das aber sehen. Guck dir mal den fetten Lappen an! Menzel Ich aber nicht! Ramon Reg dich mal ab, Junge! Menzel Du sagst mir heute nicht, was ich zu tun habe. Tobias Das würde wieder ein langer Abend werden. Sie würden über ihre Arbeit reden, außer Robert. Ich hatte meine Ausbildung in der Fahnenfabrik in Kamenz begonnen. Solides Gehalt, viel Arbeit am Computer. Vati hatte mir noch bei den Bewer­bungen geholfen. Draußen der späte Abend. Vor ­Wochen war es um diese Zeit noch hell gewesen. Menzel Was macht eigentlich die Christenschwuch­ tel? Der Typ, den Philipp mal mitgebracht hat. Tobias Christoph? Menzel Ja, kann sein. Ramon Lass den in Ruhe. Menzel Ich mach doch gar nichts. Ramon Ich seh doch, was in deinem kranken Kopf abgeht. Die Schweinesache ist auch schiefgelaufen. Du musst nicht allen zeigen, was du für eine Ver­ sagerin bist. Tobias Ramon war der Einzige, von dem Menzel sich so etwas sagen ließ. Robert Mir tun die Eltern leid. Das muss hart sein, wenn die jetzt nicht Oma und Opa werden können. Ramon Der Vater von Christoph ist ein Säufer wie deiner, das sollte dir leid tun. Robert Halt die Fresse. Menzel Ich hab keinen Bock mehr auf euch! Geht. Tobias Menzel! Ramon Lass die. Tobias Wir sahen ihr nach. Die Tür schloss sich langsam. Gleichmäßig, vom Wind zugedrückt. SZENE 5 Tobias Ich lief nicht über das Feld. Philipp kürzte gern darüber ab. Ich ging lieber über die Straße, auch wenn es länger dauern würde. Mit etwas Glück würde Mutti dann schon schlafen. Ich ertrug es nicht, wie sie im dunklen Wohnzimmer saß und auf mich wartete. Wie sie durch die leeren Räume ging. Ich merkte es auch, wenn sie nach der Nachtschicht wach im Bett lag. Bis zum Nachmittag. Dann runterkam in die Stube und sich über meinen Lärm beschwerte. Mit Restfarbe aus dem Keller hatte sie die Wand überstrichen, an der das Regal gestanden hatte, das Vater unbedingt mitnehmen wollte. Zu wenig Farbe für die ganze Wand. Ein einziges Mal bin ich mit Philipp nach Räckelwitz in die neue Wohnung von Vater und Kathrin gefahren. Mit Balkon und Glastüren und Edelstahlküche. Ein heller Farbstreifen an der Wohnzimmerwand über dem Sofa. Als Akzent, wie Kathrin meinte. „Schön“, habe ich gesagt. Sie schien das glücklich zu machen.

lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Ich lief am Wohnblock vorbei. Bei Philipp brannte kein Licht mehr. Er hätte im Haus wohnen bleiben können. Seinen Beitrag leisten, etwas von seinem Gehalt abgeben. Hauptsache er. Hauptsache eine Wohnung für sich allein, Hauptsache das beschissene Moped. Mutter lag auf dem Sofa, zusammengerollt mit dem Gesicht zur Lehne und schlief. Ich stand vor ihr und beobachtete ihr unregelmäßiges Atmen. Der nackte Fußballen, der gänzlich durch die schwarze Socke drückte. „Wir können doch mal wieder was unternehmen“, hatte sie gesagt. Vater, der mit uns in die Tagebauten gefahren war. Alte Fabriken. Hoyerswerda, Weißwasser. Dieses ganze eingefallene, verlassene Zeug. Untergegangene, traurige Scheiße. Kein Mensch auf der Straße. Abriss und Leerstand. Die Schulen, die sie schlossen, die Sparkassen und Arztpraxen. Die Kreise, die sie zusammenlegten, die Gemeinden und Städte. Für Griechenland war Geld da gewesen und für unnötige Umgehungsstraßen. Was war zuerst da gewesen? Die Straßen, die die Orte umgingen und damit leer fegten. Oder die leeren Orte, an denen jeder vorbeifahren wollte. Im Fernsehen Schneeberg. Die Ersten, die auf die Straße gingen. Der Clown von den Grünen, der interviewt wurde. Studierter Wichtigtuer. Bücherwand. Menschenleben hier, Menschen retten da. Fick dich! Der Marktplatz war voll. Und kein Politiker weit und breit, der sich den Massen stellte. Die hockten zu Hause, warm und gemütlich. Dienstwagen Mercedes. Noch nie im Leben mit den Händen gearbeitet. Der Pfarrer stellte sich gegen die Demonstranten, indem er die Kirchenglocken einschaltete. Lächerlich! Als käme es auf die Kinderficker an. Als würde das jemanden jucken, wenn der Scheiß-Kirchturm nicht angestrahlt war. Die haben keine Ahnung. Die wissen nicht, was hier passiert! SZENE 6 Mutter Frohe Weihnachten! übergibt Tobias ein Geschenk. Jetzt hast du auch endlich eins. Tobias nimmt das Smartphone aus der Verpackung Was soll das? Mutter Freust du dich nicht? Tobias Das ist viel zu teuer. Mutter Aber dein altes Klappding fällt ja fast auseinander. Tobias Egal, wollte ich sagen, leg lieber das Geld zur Seite. Danke. Mutter Die Kamera soll auch ganz gut sein. Tobias Unser erstes Weihnachten ohne Vater. Philipp Nach dem Gottesdienst in der Kirche wurde auf dem Marktplatz immer noch gesungen. Wahrscheinlich ist er dort mit Kathrin. Tobias Obwohl er das nie mochte Philipp Nicht mit uns. Tobias Hier. Überreicht Philipp ein Geschenk. Philipp Danke. Überreicht Tobias ein Geschenk. Frohe Weihnachten. Tobias Ja, Frohe Weihnachten. Mutter Da! Da ist er wieder! Philipp Wer? Mutter Der schleicht wieder ums Haus. Mach die Jalousien runter! Tobias Schwaches Licht von der Straßenlaterne. Die Silhouette, die sich auf das Haus zubewegte. Mutter Ich ruf die Polizei! Philipp Wer ist da? Mutter Hallo?

Tobias Marco? Philipp Marco stand im T-Shirt draußen. Blass und abgemagert. Die Haare dünn und kreisrund ausgefallen. Tränen flossen über den Schorf in seinem Gesicht. Tobias Marco? Marco Ich brauche Hilfe. Philipp Was? Tobias Ich dachte, du bist in Stuttgart? Marco Ich brauche Hilfe. Mutter Er soll ins Krankenhaus gehen. Marco Ich brauche deine Hilfe. Tobias Was ist los? Was ist passiert? Marco Ich glaube, Vati ist tot. Tobias Was? Mutter Dann musst du die Polizei rufen. Marco Nein, nicht die Polizei. Du musst mitkommen. Philipp Das kannst du vergessen. Tobias Sag mir doch, was passiert ist.
 Marco läuft im Kreis Scheiße! Scheiße! Fuck! Fuck! Philipp Der ist völlig fertig. Mutter Ich ruf die Polizei. Philipp/Tobias Keine Polizei! Mutter Wenn sein Vater tot ist, muss die Polizei kommen. Tobias Ruf den Scheiß-Krankenwagen! Philipp Der wird jämmerlich verrecken. Marco Ich habe Angst. Ich habe Angst, weißt du? Tobias Wovor? Marco Kannst du bitte mit nach Hause kommen? Tobias Zu dir? Marco Ja. Mutter Was ist da? Marco Ich weiß es nicht. Tobias Was hast du denn mit dir angestellt? Warum bist du nicht gegangen? Warum bist du nicht längst woanders? Zu Philipp Kommst du mit? Philipp? Bitte? Philipp In der Wohnung von Marco brannte Licht. Tobias Von der Straße aus konnten wir es sehen. Philipp Aber das musste ja nichts bedeuten. Tobias Die Tschechen sind das Problem, weißt du. Philipp Ja, wahrscheinlich. Tobias Die verstecken das Zeug in den Radkästen. Das findet niemand. Das kontrolliert ja auch niemand. Bei den Tschechen kannst du sogar ein Gramm ohne Strafe besitzen. Crystal Meth. Offene Grenzen versprochen und jetzt kommt nur noch Dreck ins Land. Philipp Hat dir Menzel das erzählt? Tobias Hauptsache Exportweltmeister. Die sind alle bekloppt geworden. Marco Scheiße! So eine Scheiße! Philipp zu Tobias Halte eine bisschen Abstand. Tobias Und wenn er umkippt? Philipp Der ist so oder so im Arsch. Tobias Marco öffnete die Wohnungstür. Marco Da liegt er! Da! Fuck! Tobias Marcos Vater auf dem Boden. Marco Da liegt er. Philipp Im Licht des Aquariums. Marco Da liegt er. Tobias Zigarettenhülsen auf dem Boden verteilt. Marco Da liegt er. Philipp Als wäre er ein Maschinengewehrschütze. Marco Da liegt er. Er ist tot. Tobias Die Flaschen. Marco Er ist tot. Philipp Das Bier. Marco Er ist tot! So eine Scheiße!

/ 65 /


/ 66 /

stück

Tobias Der atmet. Philipp Der bewegt sich. Marco Vati? Marcos Vater Marco? Was macht ihr hier? Tobias? Tobias Geht es Ihnen gut? Marco Pass auf. Marcos Vater Es ist Weihnachten. Marco Pass auf. Tobias Marco hat gesagt, es ist was passiert. Marco Pass auf. Marcos Vater Nichts ist passiert. Marco Pass auf. Philipp Geht es Ihnen wirklich gut? Marco Pass auf. Marcos Vater Marco kümmert sich um mich. Marco Ich pass auf dich auf, Vati. Tobias Ich glaube, Marco muss in ein Krankenhaus. Philipp Wissen Sie, was er da nimmt? Marcos Vater Marco muss nirgendwo hin. Tobias Warum ist er nicht in Stuttgart? Marcos Vater Was soll der denn in Stuttgart? Tobias Er wollte doch zu seiner Mutter. Marcos Vater Niemand weiß, wo die ist. Tobias Aber … Marcos Vater Geht nach Hause, Jungs. Frohe Weih­ nachten. Philipp Frohe Weihnachten. Tobias Scheiße. SZENE 7 Tobias Philipp kommt nicht zum Abendbrot. Mutter Was ist denn mit dem los? Tobias Keine Ahnung. Ich erreichte ihn nicht mehr. Wenn Menzel sagte, dass er ein Mitläufer sei, warum wehrte er sich nicht dagegen? Die anderen lachten über ihn. Ich lachte mit. Am Abend war Russland auf der Krim einmarschiert. Mutter und ich sahen es in den Nachrichten. Der Aufstand in Kiew. Regierungen von Ländern, die keinen interessierten. Länder ohne Bedeutung. Obama, der von roten Linien sprach und Konsequenzen ankündigte. Die dicke Merkel, die sich sorgte. Und immer wieder die Asylanten. Das Wort „dezentral“. Einzelne Wohnungen, überall in der Stadt verteilt. Ich hatte erst vor kurzem von Rostock und Hoyerswerda erfahren. Schrecklich, ja. Irgendwie. Aber so war Widerstand. War doch logisch, dass die alte DDR sich wehren würde. Mutter Ich muss das Haus verkaufen. Tobias Was? Mutter Es geht einfach nicht mehr. Ich habe es versucht, auch mit deinem Geld. Es reicht einfach nicht. Tobias Und wenn Philipp was dazu gibt? Mutter Ihr verdient doch beide nicht viel. Tobias Wer bekommt es? Mutter Es wird wohl eine Zwangsversteigerung geben. Tobias Und dann kaufen die dreckigen Ausländer unser Haus wie bei Kathrin, oder was? Mutter Was soll ich denn machen? Tobias Du hättest noch warten können. Ein halbes Jahr oder so. Mutter Wie denn, Tobias? Tobias Wie niedrig die Hecke beim Einzug gewesen war. Wie weiß und strahlend die Dachbalken. Die Kastanie still vor meinem Fenster. In so vielen Nächten hatte ich mich vor ihren schaukelnden Ästen gefürchtet. Irgendwann kommen die Polen, an einem späten Nachmittag, in der abendlichen Dämmerung, ich hatte das oft gesehen, und laden

/ TdZ Oktober 2019  /

auf ihre Anhänger, was noch etwas taugte. Den Glastisch aus der Stube. In den Wänden würden die Löcher meiner Poster und Fahnen bleiben, wenigstens das. Meinen alten Schreibtisch. Auf dem Boden der vergilbte, verblichene Teppich. Warum gibst du das so leichtfertig auf? Mutter Es ist doch nur ein Haus. Tobias Das ist unser Haus. Mutter Lass das mal meine Sache sein. Tobias Nein, das ist nicht deine Sache! Mutter Dir geht doch auch sonst alles am Arsch vorbei. Tobias Ich kümmere mich mehr um diese Familie als du! Geht ab. Mutter Ja, hau ruhig wieder ab! SZENE 8 Philipp, Tobias. Philipp Was willst du? Tobias Wusstest du das mit dem Haus? Philipp Mutti hat es mir erzählt. Tobias Und das ist dir egal, oder was? Philipp Das habe ich nicht gesagt. Tobias Warum tust du dann nichts? Philipp Es reicht so oder so nicht. Das hat Mutti doch gesagt. Tobias Ich verstehe nicht, warum es wichtiger ist, dass du alleine wohnst. Philipp Weil das nicht auszuhalten ist bei euch. Tobias Kommst du mit zum Feuer? Philipp Weiß ich noch nicht. Tobias Ich soll dich von Ramon und Menzel grüßen. Philipp Danke. Tobias Und Robert sagt, du sollst mal wieder mit in den Bungalow kommen. Philipp Der will doch nur saufen. Stille. Du, ich hab das Jobangebot abgelehnt. Tobias Was? Wieso? Philipp Ich glaube, ich will erst mal keine andere Position. Tobias Weiß Mutti das schon? Philipp Nein. Tobias Und das ist es jetzt, oder wie? Du wolltest doch mal vorankommen. Philipp Ich bin ja zufrieden so. Tobias Bisschen an der Werkbank rumstehen, oder was? Sich rumkommandieren lassen? Wenn du denkst, dass das richtig ist. Philipp Keine Ahnung. Bist du denn zufrieden? Tobias Die zahlen ganz gut. Philipp Ich mein … Tobias Wusstest du, dass die in die alte Schule einziehen sollen? Philipp Wer behauptet das? Tobias Also interessiert dich das nicht? Philipp Tut es doch! Tobias Dann komm mit! Mach endlich mal was! Philipp Du hast mir nichts vorzuschreiben, Tobi! Tobias Die Grundschule betrifft alle. Philipp Und warum glaubst du, dass du was dagegen tun kannst? Hat Menzel dich angestiftet? Tobias Wir sind ausgeliefert. Es macht ja sonst keiner was. Du ja auch nicht. Du hast nie was gemacht. Ich wollte das erst nicht glauben, aber es stimmt. Philipp Was soll ich denn machen? Was erwartest du denn? Was glaubst du denn, wie das funktioniert? Gehst du jetzt zum Feuer? Tobias Denk schon.

Philipp Geh doch lieber nach Hause. Ist doch schon spät. Tobias Ich melde mich, wenn es losgeht. SZENE 9 Festplatz, laute Musik. Tobias Irgendwie schaffte es die Jugendfeuerwehr, jedes Jahr noch mehr Holz in den Wäldern zu ­finden. Ich konnte sehen wie der Haufen immer ­weiter gewachsen war. Achtzehnjährige bewachten den Haufen. Gegen die anderen Dörfer, gegen die Zecken und Sorben. Sie starrten verloren in die Dämmerung, ihre Bierflaschen am Stuhlbein. Ihre Gesichter von den Bildschirmen ihrer Handys blau angestrahlt. Gelang es, den Haufen, bis zum 30. April zu verteidigen, konnte er bis in den Himmel brennen. In jener Nacht würde sich am Horizont eine Linie kleiner und großer Feuer aus den anderen Ortschaften wie ein Fackelzug bilden. Menzel Grüß dich! Krass voll hier! Hast du Ramon schon gesehen? Tobias Dort hinten irgendwo, glaub ich. Menzel Wer die Augen offen hält und ein bisschen nachdenkt, hat es längst bemerkt. Hier und heute siehst du die Assis und Kanaken schon in schwarz. Und es werden immer mehr. Mehr Asylanten. Von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, die landen am Strand von Sizilien. Und diese Untermenschen werden Lehrer oder Ärzte oder Politiker. Kannst du dir das vorstellen? Weißt du, wie Deutschland dann aussieht? Wie sie uns behandeln werden? Ramon Hier seid ihr! Ist voll hier. Menzel Ja, alles Ärzte und Ingenieure. Tobias Da vorn ist eine gute Gruppe. Die stehen schön mittig. Menzel Sehr gut. Ramon Die habe ich auch gesehen! Menzel Die Handys können gar nicht groß genug sein in ihren Taschen. Ramon Und die Jeans alle neu, aber zerrissen an den Knien. Da kommt die dunkle Haut durch. Rote und weiße, wie nie getragene Turnschuhe. Tobias Das ist keine Sprache, das sind die Laute von Tieren. Menzel Als würden sie sich gleich an die Gurgel springen. Habt ihr noch Geld für zwei Bier? Ramon Ja, sicher. Menzel Nicht wegrennen, nicht unnötig verdächtig machen. Blickkontakt, bevor es losgeht. Philipp Das Feuer strahlte alles an. Selbst hier am Rand war es warm. Tobias nahm die zwei Bier, als würde er sie jemandem bringen wollen. Er drehte sich mit dem Rücken zu den Ausländern. Ganz langsam. Tobias Ich zwang mich, tief und ruhig zu atmen. Menzel Im Westen wehrt sich niemand. Dort begreift niemand, was passiert. Was auf dem Spiel steht. Philipp Der Rauch stieg weiter zum Himmel. Tobias Ich spürte das Feuer jetzt auf meiner Wange. Ramon Wie Ratten kommen sie aus ihren Lastern und Schiffen gekrochen! Menzel Zu Hause zerstören sie ihre Städte und misshandeln ihre Frauen. Philipp Blickkontakt mit Menzel. Vor ihm Pärchen und einzelne Frauen. Männer, die um sie zu buhlen schienen. Tobias Deutsche. Perfekt!


lukas rietzschel_mit der faust in die welt schlagen

Tobias Noch mehr wahllose Schläge. Mitunter habe ich die Augen geschlossen. Nur noch die rechte Faust. Meine Faust jetzt wie ein Hammer. Auf und ab! Philipp Tobias! Tobias Die Syrer auf dem Boden, Afghanen, was auch immer. Philipp Aufhören! Philipp wird zu Boden gerungen. Menzel tritt nach. Tobias Und auf einmal ist niemand mehr, den ich schlagen kann. So schnell geht das. Stimmen Durchlassen! Durchlassen! Tobias Die Security! Ramon Zurückziehen! Tobias Die Security zerrt die Syrer vom Boden auf. Sie drücken deren Hände auf dem Rücken zusammen und führen sie ab. Menzel Richtig so! Abschieben! Tobias Ein Sprechchor setzt ein. Stimmen Abschieben! Abschieben! Tobias Menzel klopft mir auf die Schulter. Die ­rechte Hand habe ich in meine Tasche gesteckt, vielleicht ist sie gebrochen. Auf keinen Fall ins Krankenhaus. Nicht heute Nacht. Mutters Schicht. Willkommen in Deutschland! Mutter Kannst du nicht bisschen aufpassen, was er macht. Philipp Mach ich doch. Ich hab auch ein eigenes Leben. Mutter Ich mach mir einfach nur Sorgen, weißt du. Du hättest nicht gehen dürfen. Ich glaube, er denkt, du hast ihn im Stich gelassen. Du bist doch sein Bruder.

ENDSPIEL

Beckett | Regie: Max Claessen | 12.9.2019

BONN IST EINE STADT IM MEER

Bungarten | Regie: Simone Blattner | 20.9.2019 � UA

DIE BRD-TRILOGIE

Fassbinder | Regie: Frank Behnke | 28.9.2019

2019/20

SPIELZEIT

DER GUTE MENSCH VON SEZUAN Brecht | Regie: Katrin Plötner | 8.11.2019

MASS FÜR MASS

Shakespeare | Regie: Laura Linnenbaum | 16.11.2019

SZENE 10 Tobias Ich bekam die Nachrichten auf mein Handy, die Einladungen. Heimatschutz, Bürgerwehr, Proteste. Bilder, die wir teilten, Musik und Texte von anderen Websites. Gruppenzugehörigkeit nur auf Einladung. Menzel war in Freital gewesen, Pa­ trouillen in den Bussen, Proteste gegen das Hotelheim. Die Übergriffe von Ausländern in Freital und Dresden kamen immer näher. Montags auf die Straße zu gehen brachte uns nicht voran. Die Politik blockte ab. Viel schlimmer waren die Deutschen, die den ganzen Mist gutheißen, Gutmenschen und Ausländerfreunde. Menzel Alles gut? Tobias Keine Ahnung. Und bei dir? Menzel Ist immer noch komisch, in einem Steinbruch zu baden. Tobias Ich hab mir ’ne Weile vorgestellt, ich würde auf das rote Autodach von Uwe springen. Menzel Ja, so was Ähnliches hab ich auch gedacht. Hat lange gedauert, bis das weg war. Tobias Ich war in letzter Zeit oft mit ihr allein, manchmal häufiger, als ich es wollte. Menzel, die von einem Moment auf den nächsten stumm und traurig und dann wieder hasserfüllt und ekstatisch sein konnte, war nicht immer leicht zu ertragen. Menzel Manchmal hab ich Lust, die Leute anzuschreien und zu rütteln, weil mich das nervt, wenn niemand was sagt oder macht. Ich träume sogar davon. Ich träume manchmal einfach nur, dass ich Menschen anschreie. Das ist alles. Mehr passiert dann nicht im Traum.

MÜNSTER 69 – REVOLUTION IN DER PROVINZ Messing | Regie: Ruth Messing � UA FRÄULEINELSE.COM

Schnitzler | Regie: Andrea Spicher � UA

ANNA KARENINA

Tolstoi | Regie: Max Claessen

Foto: Marion Bührle

Menzel Das ist nicht mein Land, das die Grenzen nicht verteidigt. Ramon Das ist nicht mein Land, das diese Marionettenossis an der Spitze hat. Philipp Zwei letzte Schritte rückwärts. Tobi lässt sich nach vorn fallen und schüttet das Bier in die Luft. Sofort kreischen die Frauen. Tobias Das Fallen fühlt sich lange an. Ich muss mit dem Gesicht aufkommen, denke ich, unbedingt. Philipp Umstehende Männer schubsen die Ausländer weg. Was soll das? rufen sie. Tobias Einer hilft mir aufzustehen. Philipp Ramon kommt von hinten und schlägt mit der Faust nach den dunklen Gesichtern. Ramon Druck und Gegendruck. Die wehren sich. Tobias Schlagen zurück. Lautes Gekreische. Philipp Menzel stößt dazu. Ein Messer. Tobi steht hinter ihr in der Deckung. Zittert, sogar seine Zähne. Tobias Mehr Männer kommen. Betrunken, beschützend. Philipp Bier spritzt auf Tobias Gesicht. Tobias Die Faust geballt. Philipp Er schlägt wahllos in die Menge. Trifft harte, Tobias Dünne Arme, Wirbelsäulen. Zwei Schläge in den Nacken des Bärtigen. Von hinten. Menzel Der geht zu Boden. Tobias Menzel tritt nach. Philipp Aufhören! Tobias Ich glaube, meinen Herzschlag in der Lunge zu spüren. Mein Kopf, der wie von selbst die Opfer wählt. Dann die Arme, links und rechts. Ich bin mein eigener Zuschauer. Philipp Tobias!

WIEDERAUFNAHMEN

/ TdZ  Oktober 2019  /

DER REICHSBÜRGER

Küspert | Regie: Julia Prechsl � UA

JUDAS

Vekemans | Regie: Jan Holtappels

DER BUNDESBÜRGER (IM FREIEN FALL) Küspert | Regie: Ruth Messing | 9.1.2020 � UA

89/90

Richter | Regie: Julia Prechsl | 10.1.2020

VATERLANDSVERRÄTER

Heckmanns | Regie: Frank Behnke | 21.2.2020 � UA

EFFIE BRIEST

Fontane | Regie: Gregor Tureček | 6.3.2020

DEUTSCHE ÄRZTE OHNE GRENZEN

Moğul | Regie: Tuğsal Moğul | 12.3.2020 � UA

PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG

von Kleist | Regie: Frank Behnke | 25.4.2020

GENERALINTENDANT Dr. Ulrich Peters

VOR SONNENAUFGANG

Palmetshofer nach Hauptmann | Regie: Alexander Nerlich | 8.5.2020

Tickets: (0251) 59 09 - 100

SCHAUSPIELDIREKTOR

Frank Behnke

� theater-muenster.com

/ 67 /


/ 68 /

stück

/ TdZ Oktober 2019  /

Vielstimmigkeit?!

www.bundesakademie.de

stand gegen die Gutmenschen blieb ohne Unterstützung. Neuerdings waren wir Pack, ausgeschlossen von jeder Diskussion. Und Menzel zog sich immer mehr zurück. Sie ging allein in der Verhandlungen des Tongrube baden. Eine Niederlage zeichnete sich ab. Schon wieder, immer wieder. Politischen im Theater Ramon Menzel hat sonst nichts. Tobias Ich mach das nicht nur für Menzel. Fachtagung mit Menzel Können wir? Workshops Tobias Ist noch zu hell, oder? 07. bis 09. Dezember 2019 Menzel Bis wir dort sind, ist es dunkel. Tobias Ich nehme mein Handy aus der Hosentasche und betrachte das Display. Ich wünsche mir, dass Philipp sich melden würde. Einfach nur reagiert auf eine der Nachrichten oder Anrufe. Philipp Tobias! Ramon Hast du alles? Tobias Ich nickte. Ich ließ das Fenster runtergekurbelt und lehnte meinen Arm heraus. Das Radio Tobias Kenn ich. Mich nervt die ganze Scheiße hier. TdZ_Okt_2019.indd 1 04.09.2019 14:26:17war stumm geschaltet. Wir passierten die Garagen. Dann die Eisenbahnbrücke. Der Himmel mittlerImmer das Gleiche, und alles geht vor die Hunde. weile dunkelblau, schwarz am Horizont. Links die Immer schon, als wäre das nie anders gewesen. Wohnblöcke. Licht in den Wohnungen, die ich Menzel Als würde dich die ganze Zeit jemand fest kannte. Blick aufs Handy, dann steckte ich es wieumklammern, aber du willst das gar nicht. Du der in die Tasche. willst raus, aber kannst nicht. Philipp Tobias! Tobias Ja. Tobias Gegenüber das Schamottewerk. Alles, was Menzel Und dann will ich auf alles einschlagen, davon übrig geblieben war nach den Jahren. Nierichtig rein mit der Faust, bis alles blutet. Der ganmand ze Mist, den einfach keiner rafft. unterwegs. Ich drehte mich nach dem Werk und Tobias Ja! Dachte ich. Genau so! den Wohnblöcken um, dann nach der Einfahrt in Menzel Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Das unsere ehemalige Straße. In Kathrins altem Haus klingt wahrscheinlich richtig bescheuert. brannte Licht. Mutti hatte mir einmal die neuen Tobias Nein, gar nicht. Bewohner gezeigt. Menzel Verstehst du das? Ramon Ich warte hier. Tobias Ja, bisschen. Natürlich verstand ich sie! Tobias Ramon öffnete die Flasche, trank schnell ein Menzel Dieses ganze System ist am Arsch. Diese gutes Drittel davon und reichte sie Menzel. Die tat Gesellschaft, wo niemand mehr sagen kann, was das Gleiche, bevor sie sie mir gab. er will. Wo dir vorgeschrieben wird, was du essen, Tobias Schön Uwe. Menzel lächelte. Die Schule wie viel du trinken und wie schnell du fahren samt Hof war vollkommen dunkel. Ich dachte dardarfst. Du bist ein Rassist, du bist ein Sexist! Die an, umzudrehen und mich zu Ramon zu setzen sollen alle mal die Fresse halten! oder ganz abzuhauen. Vielleicht eine andere AusTobias Weißt du, was ich glaube? bildung suchen. Eine eigene Wohnung. Vater anMenzel Hm? rufen und sagen, dass ich mal zum Kaffeetrinken Tobias Es braucht mal wieder einen richtigen vorbeikomme. Mehr Zeit mit Philipp verbringen. Krieg. Vielleicht ein Ausflug zu Marco in die Klinik. Es gibt gar keine andere Lösung. SZENE 11 Robert Alles gut? Bist du sicher, dass wir das machen sollen? Ramon Ich weiß nicht, ob ich mitkomme. Tobias Ich blickte auf mein Handy, schaltete es Menzel Wie? Was soll denn das jetzt? stumm. Ramon Das Schweineding damals war schon zu Philipp Tobias! viel. Meine Mutter würde zusammenbrechen. Die Tobias Der Schulgarten war verwildert. Er wucherkönnte sich nirgends mehr blicken lassen. te bis auf die Betonplatten vor der Eingangstür. Robert Dann fahr wenigstens das Auto. Menzel blieb stehen und zeigte auf den DachvorRamon Kann ich machen, ja. sprung. Räuberleiter, dann zog sie die anderen beiTobias Die Sonne ging zu langsam unter, quälend den hoch. Von hier aus waren die Fenster zu erreilangsam für einen Sonnenuntergang, den wir alle chen, die nicht mit Spanplatten verschlossen erwarteten. Menzel und Ramon saßen beisamwaren. men. Sie flüsterten und hoben gelegentlich ihre Menzel Unser Land. Unsere Heimat. Das nimmt Köpfe. Ich wäre gern bei ihnen gewesen. Was auch uns niemand weg! immer sie untereinander und miteinander hatten, Tobias Menzel schnaufte und stemmte sich gegen ich wollte es auch. Nach allem, was passiert war, das Fenster. Robert half ihr dabei. hatte ich das längst erwartet. Robert Los, schlag die Scheiß-Scheibe ein! Robert War das ’ne schöne Schule früher? Menzel Mach du. Tobias Ja, ging. Tobias Ich hielt den Stein in der Hand und den Robert Ich fand Schule immer scheiße. Arm noch ausgestreckt. Tobias Die Lehrer waren ganz nett. Manche zuMenzel Na los! mindest. Dieser Sommer war der schlimmste. KeiTobias Es würde egal sein, es war längst egal. In ne Nachrichten mehr ohne Flüchtlinge, die Zeidieser Schule waren wir alle versammelt gewesen. tungen voll mit Ankündigungen über neue Heime. Meine Schule, mein Ort, mein beschissenes Leben. Die Proteste in Dresden brachten nichts, der Auf-

Ich schlug mit dem Stein wie mit einem Hammer gegen die Scheibe. Erst ein dumpfer Schlag, dann das helle Klirren. Menzel Gut gemacht. Tobias Ich stieg durch das Fenster. Der Linoleumboden knirschte. Der Raum roch wie jeder Klassenraum vor der ersten Stunde, selbst jetzt. Dort hinten an der Wand hatte ich gesessen. Menzel Hier. Du machst den Raum und die daneben. Ich mach die Toiletten. Zu Robert Du die anderen Räume. Tobias Ich blieb zurück. Ich ging zum Tisch der Lehrerin und öffnete die Schublade. Natürlich war sie leer. Durch die Fenster blasser Mondschein. Irgendwo im Gebäude jubelte Menzel. Dieses Jubeln hatte ich damals auch im Wald gehört. Warum hatten sie Marcos Bruder geschnappt und Menzel nicht? Warum hat Robert die Schweinesache ausbaden müssen? Warum hatte Ramon eine gebrochene Hand vom Hexenfeuer? Jetzt dachte ich das erste Mal daran. Philipp Tobias! Tobias Philipp? Ich öffnete zwei der Packungen und stopfte die Taschentücher in den Abfluss. Dann drehte ich den Wasserhahn auf. Das Wasser würde langsam steigen. In jede Ritze sickern. Schimmel würde sich ausbreiten und das Haus unbewohnbar machen, bis es abgerissen werden müsste. Es war mein Plan. Mit Feuer kommst du vielleicht in die Zeitung. Aber Schimmel führt zum Abriss. Das waren meine Schule, mein Ort, mein beschissenes Leben. Ich ging in den Flur und suchte die Treppe, die zum Dachboden führte. Ich hörte schon, wie Wasser auf den Linoleumboden tropfte. Philipp Tobias! Tobias Zeig dich bitte! Philipp Lauf weg! Lauf weg! Tobias Scheiß drauf! Ich stopfe die restlichen Taschentücher in die Rillen und Winkel der Dachbalken und zünde sie an. Philipp Feuer! Überall Feuer! Ich sehe Tobias zum Fenster rennen. Ein Blick auf sein Handy. Tobias Zwei entgangene Anrufe.

© 2018 Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin Bühnenfassung und Stoffrechte: © S. FISCHER Theater & Medien, Frankfurt am Main


magazin

/ TdZ  Oktober 2019  /

Foto-Copyright: Reinhard Werner

REGIE KATKA SCHROTH

2019 / 2020 · Eine Auswahl

Sibylle Berg HASS-TRIPTYCHON Wiener Festwochen / Koproduktion Maxim Gorki Theater, Berlin · Regie: Ersan Mondtag

John von Düffel

René Pollesch PASSING – IT’S SO EASY, WAS SCHWER ZU MACHEN IST Münchner Kammerspiele · Regie: René Pollesch

Ulrike Syha

IKARUS

DER ÖFFENTLICHE RAUM

Theater Ulm · Regie: Jasper Brandis

Theater Drachengasse, Wien · Regie: Sandra Schüddekopf

Harry Mulisch DIE ENTDECKUNG DES HIMMELS Düsseldorfer Schauspielhaus · Regie: Matthias Hartmann

Thomas Melle

Alice Birch ANATOMIE EINES SUIZIDS Deutsches Schauspielhaus Hamburg · Regie: Katie Mitchell

ODE Deutsches Theater Berlin · Regie: Lilja Rupprecht

www.rowohlt-theater.de

Thomas Freyer LETZTES LICHT. TERRITORIUM Düsseldorfer Schauspielhaus · Regie: Jan Gehler

Mustafa Can DIE FARBE DES MORGENS AN DER FRONT Theater Paderborn · Regie: Milena Fischer-Hartmann

Juli Zeh NEUJAHR Theater Bielefeld · Regie: Dariusch Yazdkhasti

Anne Habermehl WOYZECK Badisches Staatstheater Karlsruhe · Regie: Anne Habermehl

/ 69 /


/ 70 /

Magazin Hier darf man auch was an die Wand fahren Das Roxy in Birsfelden bei Basel ist ein leuchtendes Beispiel für die Förderung junger Gruppen – Jetzt wird das Theaterhaus 25 Jahre alt  Heilige, queere Maria Die Emanzipation einer Jungfrau – Das Festival ImPulsTanz Wien unterzieht religiöse und kulturelle Traditionen einer feministischen und postkolonialen Relektüre

Liebes Sommerfestival, wir müssen reden!

Dirty Rich Das Wagner-Festival Berlin is not Bayreuth von glanz&krawall fragt in einem lässigen Mix aus Oper, Schlager und Pop, wie Musik auch heute die Menschen manipuliert  Mythos Weimar Das Kunstfest in Weimar eröffnet unter seinem neuen Leiter Rolf C. Hemke mit einem langatmigen „Reichstags-Reenactment“ am historischen Ort  Der neue Mensch in alter Hülle Das Spieltriebe-Festival am Theater Osnabrück erforscht die Grenzgebiete zwischen Organismus und Maschine  Narrentum und Revolution In Gedenken an den Literatur- und Theaterwissenschaftler Robert Weimann  „Dystopien sind realistischer“ Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit. Szenen einer Erinnerung  Geschichten vom Herrn H. Klassikerschändung und Zwergenaufstand  Bücher Petre Otskheli, Maximilian Haas Zu Händen: Kampnagel Hamburg


magazin

/ TdZ  Oktober 2019  /

Hier darf man auch was an die Wand fahren Das Roxy in Birsfelden bei Basel ist ein leuchtendes Beispiel für die Förderung junger Gruppen – Jetzt wird das Theaterhaus 25 Jahre alt Das blaue Haus fällt auf in dieser Gegend. Die

Voraussetzung für diese Erfolge ist neben der

Künstler hangeln sich von Idee zu Idee, weil

breite Hauptstraße ist gesäumt von Geschäf-

guten Vernetzung die Struktur des Hauses.

sie pro Produktion Geld erhalten.“ Eigentlich

ten, die vielleicht einmal bessere Tage gese-

Bühne, Künstlerwohnung, Proberaum, Büros

wäre es aber besser, so der Theaterleiter, nur

hen haben. Eine Kneipe sucht einen neuen

und Bar sind unter einem Dach vereint. Seit

alle zwei Jahre zu produzieren, dafür aber dop-

Mieter. Birsfelden gehört zum Kanton Basel-

Februar verfügt das Roxy über einen zweiten

pelt so viel Geld zu erhalten. „Schließlich hat man ja auch nicht jedes Jahr eine gute Idee.“

land. Das Flüsschen Birs markiert die Grenze zu Basel. 1927, als das Dorf noch nicht mit

Der Wunsch, neue Fördermodelle zu

der Stadt zusammengewachsen war, erbaute

entwickeln, gärt auch in der Basler Szene.

hier ein Varieté-Besitzer aus Basel eines der

Ende August gingen t. Basel, die Vereinigung

ersten Landkinos der Schweiz. In den fünfziger

der Theaterschaffenden, und das Tanzbüro

Jahren gab ein neuer Betreiber den „Lichtspie-

Basel in die Offensive. Bei einem öffentlichen

len Birsfelden“ den Namen Roxy. In den acht-

Podium überreichten deren Vertreter den Kul-

ziger Jahren ging es mit dem Vorortkino berg-

turämtern von Basel-Stadt und Baselland ein

ab. Nach der Schließung wurde es Eigentum

zehnseitiges Plädoyer. Das in die Jahre ge-

der Neuapostolischen Kirche. Der Wechsel von

kommene Fördermodell müsse überarbeitet

der Unterhaltungs- in die Religionsbranche

werden. Die lokale Theater- und Tanzszene ist

scheiterte. 1994 baute ein Verein mit Hilfe der

stark gewachsen, die Fördermittel zu knapp,

Gemeinde das Kino in ein Theater um. Das

die Fördermodelle antiquiert. Die Kultur­

Konzept ist seither in seinen Grundzügen

ämter nehmen den Ball auf. Nach Gesprä-

gleich geblieben: Das Roxy soll vor allem

chen mit der Szene soll bereits Ende 2022 ein

Produk­tionshaus für die Basler und die basellandschaftliche Theater- und Tanzszene sein. Seit sechs Jahren führt Sven Heier das Haus. Der 56-jährige Deutsche war zuvor als Produktionsleiter in der freien Szene, für das

neues Förderkonzept zum Tragen kommen. Glücklich, wer ein solches Theater hat – das Roxy in Birsfelden. Links: „Augias oder Herakles auf der Kläranlage“ der Gruppe Kurzer Prozess. Fotos Paula Reissig/ Ketty Bertossi

Zürcher Jugendtheaterfestival Blickfelder und

Das Roxy darf wahrscheinlich bereits kommendes Jahr die Früchte seiner Anstrengungen ernten. Wenn der Landrat zustimmt, soll die Jahresförderung von Baselland von 550 000 auf 650 000 Franken aufgestockt

für die Theaterformen in Hannover tätig. Von

werden. Auch den politisch Verantwortlichen

seinem internationalen Netzwerk profitieren nun

Proberaum. In einer ausgedienten Tankstelle

ist klar geworden, was sie an diesem Theater-

junge Künstlerinnen und Künstler. Das Roxy

eröffnet es auf Wunsch der Szene einen

haus haben. Es trägt zur Künstlerförderung

wird mittlerweile überregional als Talentschmie-

Coworking-Space für junge Theater- und

bei, hat eine gute Auslastung von siebzig Pro-

de wahrgenommen, bei Schweizer Förderforma-

Tanzschaffende, dramaturgische und produk-

zent und stiftet im Straßendorf Birsfelden

ten wie „Prärie“ oder „Premio“ etwa, oder bei

tionstechnische Beratung inklusive. Das ent-

Identität. Neben den Aufführungen gibt das

Koproduktionspartnern in Zürich und Bern.

spricht dem Spirit des Hauses. „Wir versu-

Roxy Gemeindeanlässen, lokalen Musikverei-

Seit Heier am Ruder ist, wächst auch

chen, den jungen Künstlern Vertrauen zu

nen und Schulen eine Heimat. Zum Geburts-

die internationale Reputation. Künstlerinnen

geben, sie zu fördern und sie gleichzeitig zu

tag wird ein Film über die bewegte Geschich-

und Künstler, die im Roxy ihre ersten Experi-

schützen“, sagt Heier. Das, was sie zeigen,

te des Hauses gedreht. Die Dramaturgin

mente wagten, werden zum Impulse Festival

sei fragil, oft sehr persönlich. „Und mir ist

Katharina Germo inszeniert auf dem Jahr-

nach Nordrhein-Westfalen eingeladen, wie bei-

wichtig, dass wir ein Ort sind, wo junge

markt von Birsfelden einen Hörspaziergang.

spielsweise Thom Truong oder Markus&Markus.

Künstler auch mal was an die Wand fahren

Und die Gruppe vorschlag:hammer entwickelt

Der Choreograf Alessandro Schiattarella tourt

dürfen.“

mit den Einwohnern ein Kriminalstück na-

derzeit in Südafrika. Tobias Koch gewann die-

Junge Künstler fördern heißt auch über

ses Jahr mit „Such Sweet Thunder“ den

Fördermodelle nachdenken. Heier sagt dazu:

Young Choreographer’s Award beim Festival

„Ich würde gerne erreichen, dass die Kompa-

ImPulsTanz in Wien.

nien mehr Zeit für ihre Kreationen haben. Die

mens „Twin Speaks“. Glücklich die Gemeinde, die ein solches Theater hat. // Mathias Balzer

/ 71 /


/ 72 /

magazin

/ TdZ Oktober 2019  /

Heilige, queere Maria Die Emanzipation einer Jungfrau – Das Festival ImPulsTanz Wien unterzieht religiöse und kulturelle Traditionen einer feministischen und postkolonialen Relektüre Am 27. Juli 2019 verstarb der Choreograf

Überlegenheit des Christentums in einem Er-

­Johann Kresnik. Der 1939 in Kärnten Gebo-

oberungstanz darzustellen. Der mexikanische

rene erarbeitete 1988 am Theater Heidelberg

Tänzer Rodrigo de la Torre griff dieses Material

seine Tanztheater-Version von Shakespeares

auf und etablierte seine Form des Tanzes in

„Macbeth“. Gottfried Helnwein gestaltete das

der von Drogen und Gewalt beherrschten mexi-

Bühnenbild, die Musik komponierte Kurt

kanischen Grenzstadt Matamoros als alternati-

Schwertsik. Eine Rekonstruktion dieser bild-

ve Form von Selbstdarstellung im öffentlichen

gewaltigen Arbeit eröffnete am 11. Juli dieses

Raum. Indigene Praktiken treffen auf koloniale

Jahres die 36. Ausgabe des Festivals ImPuls-

Narrative und popkulturelle Elemente.

Tanz in Wien. Initiiert von Mei Hong Lin, Lei-

Bei Piña bewegen sich die Tänzerinnen

terin der Tanzsparte am Landestheater Linz,

und Tänzer langsam, federnd auf das Publi-

konnten mithilfe alten Videomaterials die

kum zu. Vorne angekommen, machen sie

Dimensionen der Bühnenbauten berechnet ­

kehrt, andere Grüppchen bilden sich und be-

und die choreografischen Abläufe nachgebil-

wegen sich erneut frontal nach vorne. Vor je-

det werden. Bei jedem Todesfall – und bei

dem Neuanfang in Richtung Publikum wech-

„Macbeth“ gibt es derer ja einige – pumpen

seln sie ihre Kleidung. Tragen Jacken mit

Schläuche Blut in ein Becken. Ein Eisentor

langen Bändern, klirrende Röcke, Baseball-

mit lärmendem Riegel öffnet sich, entlässt

kappen oder Kapuzenpullis. Elemente aus

die Tänzerinnen und Tänzer für ihre Schwer-

Folklore oder Straßenkultur werden genau wie Nacktheit zum Kostüm. Im langsamen Vor-

arbeit in den Raum. Sie hantieren mit Messern, Gedärmen und Riesenstiefeln. Kresniks „Macbeth“ emanzipiert sich von der Shakespeare-Vorlage, wird zur assoziativen Meditation über Gewalt.

Emanzipation einer Jungfrau – Teresa Vittucci unterzieht in „Hate Me, Tender“ die heilige Maria einer feministischen Neuinterpretation. Foto Yoshiko Kusano

wärtsdrängen der Performance erscheint das Übermaß an Dekoration als klare Absage an die Idee einer Ursprünglichkeit und Reinheit von kulturellen Traditionen.

Solch große Gesten wirken im Kontext

Die Performancekünstlerin Teresa Vit-

eines zeitgenössischen Tanz- und Perfor-

tucci versucht mit „Hate Me, Tender“ eine fe-

mancefestivals antiquiert. Was einst Gegen-

Dynamite“, Konzeptkünstler Roland Rausch­

ministische Relektüre der Jungfrau Maria. Aus

behauptung zum Ballett-Kitsch war, ist heute

meier, arbeitet im Kollektiv Wiener Tanz- und

dem biblischen Zusammenhang emanzipiert,

selber Kitsch. Umso erstaunlicher, dass unter

Kunstbewegung mit der französischen Cho-

wird sie zur Galionsfigur einer sexual-anatomi-

den zwölf für den Young Choreographers’

reografin und Tänzerin Anne Juren zusam-

schen Unterrichtsstunde stilisiert. Vittucci

Award nominierten Produktionen die estni-

men. Gemeinsam zerlegen sie klassische

drapiert einen neonorangen Schleier um ihren

sche Performancekünstlerin Maria Metsalu

Gags, zum Beispiel den Tortenwurf, in ihre

mit Muskeln bemalten, sonst aber nackten

mit „Mademoiselle x“ eine Kresnik-epigonale

Bestandteile und zeigen die mühsame und

Körper. Erzählend verwandelt sie einen Schuh

Arbeit vorstellte. Dasselbe Farbschema (Rot,

mit viel Ernst betriebene Arbeit zweier alter

in eine Vulva, changiert zwischen naiver Pose

Schwarz und Weiß), dasselbe Leid (eines Kör-

weißer Männer, komisch zu sein.

und pädagogischer Erklärung. Leider etwas

pers, der sich selbst zur Schwerarbeit zwingt).

Auch die Choreografin Amanda Piña

unfertig, im Sinne von zu kurz und zu wenig

Einziger Unterschied: Bei Metsalu genießt

bereitet bestehendes Material neu auf. Sie

weitreichend, war Vittuccis Arbeit trotzdem

das Publikum keinen Sicherheitsabstand zum

arbeitet seit 2014 an einem Mammutprojekt

eine der stärksten des gesamten Festivals.

Kunstblut, es wird herumgespritzt, die Perfor-

namens „Endangered Human Movements“.

Wie sie ihre Stimme zwischen Leid und Lust

merin rückt aggressiv nah.

Mittels Performances, Workshops, Installatio-

moduliert und Bedeutungsverschiebungen

Sehr frontal, dafür aber sehr lässig prä-

nen und Publikationen sucht und untersucht

initiiert, ist gruselig und komisch zugleich.

sentiert sich „The Deadpan Dynamite – The

sie menschliche Bewegungspraktiken, die

Der Young Choreographers’ Award, für den

Art of the Gag“. „Deadpan“ ist der englische

vom Verschwinden bedroht sind. Ein Archiv

auch Vittucci nominiert gewesen war, ging

Begriff für trockenen Humor. Damit hat Re-

des Ephemeren. Bei „Danza y Frontera“ geht

trotzdem an Tobias Koch, Thibault Lac und

gisseur Yosi Wanunu, der seit 1997 in Wien

es um eine präkolumbianische Tanzform, die

Tore Wallert für „Such Sweet Thunder“ und an

unter dem Label toxic dreams Theater macht,

von den spanischen Missionaren verändert

Tatiana Chizhikova und Roman Kutnov für

viel Erfahrung. Sein Partner in „The Deadpan

wurde, um die Kolonisation Mexikos und die

„Time to Time“. // Theresa Luise Gindlstrasser


/ 73 /

Liebes Sommerfestival, wir müssen reden! Zu Händen: Kampnagel Hamburg

Endlich wieder Du und ich, endlich wieder zwei

schende Momente, einige Denkanstöße, aber

Vorstellungen pro Abend und heiße Diskussio-

kein Zauber, keine wirklich neue Perspektive

nen im Festival-Avant-Garten! Ach, aber irgend-

auf das hier verhandelte Thema der Begeg-

wie ist alles nicht mehr so aufregend, rasant

nung von Mensch und Humanoiden.

Speed-Dating mit DJ – Kid Koalas „Ambient Vinyl Orchestra“ beim Sommerfestival auf Kampnagel. Foto AJ Korkidakis

und wild wie früher. Sind wir vielleicht zu lange

Du hast Dich insgesamt sehr in Richtung

zusammen? Seit mehreren Jahren schreibe ich

Tanz und Musik orientiert und willst die Stadt

schen Realität und Fiktion, Gestern und Heu-

über Dich, und schon letztes Jahr hatte ich das

erobern. Der Hamburg-Audiowalk von Ligna er-

te. Denn was Martinez geplant hat und was

Gefühl, dass unsere Liebe etwas erkaltet.

kundet nicht nur das Gängeviertel, er trägt das

scheinbar zufällig auf der Bühne passiert,

Festival gleichsam in die Stadt und macht Ge-

bleibt aus gutem Grunde ungewiss.

Du hast immer noch die richtig guten Grenzgänger zwischen Theater, Tanz, Perfor-

schichte aus neuen Blickwinkeln erlebbar.

Dass man danach weiterziehen kann

mance und Installation bei Dir zu Gast, und

Aber gleich zwei Kooperationen mit

an die Turntables von Kid Koala alias Eric San

ich weiß zu schätzen, dass Du keine schnelle

dem Planetarium Hamburg, immersive Kup-

aus Montréal, versöhnt mich schon wieder

Nummer bist. Du setzt auf langjährige Part-

pelkunst mit Musik? Weshalb? Das Kampna-

mit Dir, liebes Festival. Was für eine schräge

nerschaften zu Deinen Künstlern, und das ist

gel-Gelände ist einer der inspirierendsten Orte

Idee, das Publikum zu viert an Tische zu set-

großartig. Denn genau das brauchen Künstler

der Stadt, ins Planetarium können die Ham-

zen wie auf den „Fisch sucht Fahrrad“-Partys

in Zeiten unsicherer Finanzierungen und An-

burger das ganze Jahr über gehen. Nun gut.

der neunziger Jahre und jedes Grüppchen mit

tragswahnsinn. Aber was sie auch brauchen,

Schwer verliebt war das Publikum wie-

einem Plattenspieler, einer Effektbox und

sind Gesprächspartner, die Ideen konzeptio-

der einmal in die ehemalige Forced Entertain-

farbcodierten Vinylplatten auszustatten! Da

nell hinterfragen und auseinandernehmen.

ment-Performerin Ursula Martinez, die eine

ist Teamwork gefragt: Schnell her mit der

Da wäre beispielsweise Rimini Proto-

irrwitzig komische und gleichsam berührende

blauen Platte, Regler hochziehen, ein biss-

koll. Eigentlich bin ich ein Fan der ersten

Studie ihrer Familiengeschichte darbot. In „A

chen scratchen und Teil von Kid Koalas „Am-

Stunde. Schon als Stefan Kaegi noch in ande-

Family Outing“ zitierte sie ihre erste eigene,

bient Vinyl Orchestra“ werden! Dass die mär-

rer Konstellation unter dem Namen Hygiene

zwanzig Jahre alte Bühnenarbeit, in der sie

chenhaft-versponnene Stimme der Isländerin

Heute arbeitete, konnte ich für diese Art des

mit ihren Eltern auf dem Sofa plauderte. Wir

Emilíana Torrini nur von der Platte kommt,

Theaters ins Schwärmen geraten wie ein Tee-

sehen Ausschnitte davon auf Video, bevor sie

stört nicht weiter. Dafür dirigiert uns Félix

nie. Aber die ständige Technisierung der Mittel

ihre inzwischen demente Mutter auf die Büh-

Boisvert mit Verve durch neue und alte DJ-

tut seinen Inhalten nicht immer gut. 2018

ne holt. Der ehemalige Sofaplatz ihres ver-

Skills, während Karina Bleau auf Glasplatten

fuhren wir mit einem Truck zum Thema „Ver-

storbenen Vaters bleibt leer. Scheinbar zufäl-

und in einem Aquarium mit Farben und Ma-

kehr“ durch die Stadt – mit einem Busfahrer

lig hangeln sich die beiden von Erinnerung zu

terialien spektakuläre Weltraumlandschaften

und einer Schülerin als ungleichen Moderato-

Anekdote. Verblüffend wie immer das Timing,

zaubert. Da hat man plötzlich wieder ein

ren, das war schon fad genug. In „Uncanny

wenn Martinez plötzlich synchron mit ihrem

Kribbeln im Bauch, wenn die Einsätze funkti-

Valley“ setzt Kaegi einen Pseudo-Roboter auf

zwanzig Jahre jüngeren Video-Ich auf der

onieren und man den richtigen Rhythmus

die Bühne, der wie der Autor Thomas Melle

Bühne agiert. Umso schmerzhafter sind die

scratcht. Das, liebes Sommerfestival, ist es,

aussieht und mit dessen Stimme spricht. Bei

Wendungen ins Heute, wenn ihre Mutter ih-

was unsere Beziehung wieder braucht! Wir

beiden Experimenten steht der Aufwand in

ren Text „vergisst“ und das Skript zu Hilfe

sehen uns 2020. //

keiner Relation zum Ergebnis. Ein paar überra-

holt. Hier verschwimmen die Grenzen zwi-

Deine Natalie Fingerhut


/ 74 /

magazin

/ TdZ Oktober 2019  /

Dirty Rich Das Wagner-Festival Berlin is not Bayreuth von glanz&krawall fragt in einem lässigen Mix aus Oper, Schlager und Pop, wie Musik auch heute die Menschen manipuliert

„Kann mal bitte jemand insze-

becken und mehr spießbürgerli-

nieren, wie sich der dichte

chen als ritterlichen Regularien,

Duft im Hintergrund zerteilt?“

die den Umgang mit Hundekot

Performerin und Regisseurin

und Liebesbeziehungen gleicher-

Vanessa Stern sieht sich durch

maßen regeln. Im zweiten Teil

die ­Regieanweisungen Richard

ihrer Wartburg-Performance schei­

Wagners in einen durchaus

nen im Klappstuhl-Setting der

nach­vollziehbaren Überforde­

Unbehausten

rungs­zustand katapultiert. Die

tiefgründigere Fragen auf. Etwa

ge­ samte Schilderung der Ein-

im Exkurs zum Wagner-Kollegen

gangsszenerie des „Tannhäu-

Verdi, in dessen „Aida“ ja notfalls

ser“, Schauplatz Venusberg, ist

noch lebendig begraben weiter-

für Bühnenbild und Kostüm

gesungen wird. Oper und Todes-

eine mehr als sportliche Herausforderung, adäquate Mittel für die

Hier bin ich Chef, hier darf ich‘s sein – Im „Tannhäuser“ von glanz&krawall herrschen eher spießbürgerliche als ritterliche Regularien. Foto Ingo Teusch

allerdings

auch

kitsch – warum passt das so gut zusammen?

schwüls­tig-schwelgerische Lust­

Die leicht konsumierbaren

grotten-Fantasie eines ­offen­bar

Ironie-Angebote werden auch

libidinös überschäumenden Komponisten zu

Stern sowie den Musikern Romano, Melentini

beim Sängerkrieg im „Festplatz“-Rondell unter-

finden. Nicht leicht.

und Tanga Elektra scheinen glanz&krawall in

laufen. Nicht nur dadurch, dass Tannhäuser

Stern und Mitstreiterinnen Valerie Ober-

einer Vielzahl parallel laufender Spektakel

statt gegen die mangelnde Sinnlichkeitserfah-

hof, Stephanie Petrowitz und Ines Hu ver­

tatsächlich erst mal auf maximale Distanz

rung seiner Konkurrenten gegen den Umgang

suchen entsprechend gar nicht erst, Wasser-

zum beweihräucherten Wagner-Kosmos und

der Festivalmacher mit Richard Wagner wet-

fälle und Korallenwuchs zu visualisieren,

insbesondere zu seiner romantischen Oper in

tert. Sondern auch durch den Mix aus Pop

sondern hängen sich die Bühne mit Plüsch-

drei Akten „Tannhäuser“ gehen zu wollen.

und Schlager (u. a. Xavier Naidoos „Sie sieht

und Karo­decken voll, setzen sich als Freie-

Was schon bei der Besetzung des Titelhelden

mich nicht“), der hier gegen das 19. Jahrhun-

Szene-­ Nymphen schief-scheußliche Gebisse

mit der imposanten und maximal ironiefähi-

dert antritt. Denn es sind ja tatsächlich die

ein und verkehren die im Original schon wenig

gen Sopranistin Vera Maria Kremers beginnt,

Pop-Schmachtfetzen, die Wagner den Rang

subtilen sexuellen Anspielungen ins Fröhlich-­

die unter angeklebtem Zottelbart ihr tragi-

als Massenmobilisierungsmusik abgelaufen

Explizite, Stichwort: Flöte blasen. Der Weg

sches Wagner-Schicksal umarmt.

haben – ohne Sinnstiftendes zu bieten. Wenn

der Wagner-Näherung lautet hier Subversion

Tannhäuser, anfangs in der Sexhölle der

glanz&krawall Andrea Bergs „Ab sofort wird

durch Affirmation, was ein ansehnlich grotes-

heidnischen Venus versackt („Naht euch dem

gelebt“ zu „Ab sofort bin ich tot“ umdichten,

kes Satyrspiel produziert, mal abgesehen vom

Strande! Naht euch dem Lande!“), beschließt

deuten sie damit auch auf eine leere Sehn-

im Wagner-Kontext scheinbar unerlässlichen

ja, sein Liebesglück doch besser wieder auf Er-

sucht nach rückhalt­ loser Entgrenzung hin,

Hitler-Auftritt, hier im wahrsten Sinne mit

den zu suchen und – im großen Sängerkrieg auf

die der Gesamtkunstwerker versiert zu bedie-

dem Holzhammer (unter der Nase).

der Wartburg – die Landgrafen-Tochter Elisa-

nen wusste.

Das

Berliner

Musiktheater-Kollektiv

beth zu freien, die sich hier an verschiedenen

Das Wagner-Material lässt sich jeden-

glanz&krawall bittet auf den grünen Hügel.

Locations ansehnlich auf dem Präsentierteller

falls nicht widerstandslos entsorgen. Und kann

Der besteht auf dem Gelände der B.L.O.-Ateliers

dreht (Angela Braun). Doch schickt Wagner

ziemlich produktive Reibung stiften, wie Sän-

in Berlin-Lichtenberg zwar nur aus gleich­

­seinen Recken statt ins Happy End lieber auf

ger-Performer Romano mit seinem Set „Tann-

farbigen Sitzsäcken, die gechillte Atmo­sphäre

die Via Dolorosa der Vergebungssuche.

häuser 2.0“ demonstriert. Der hat die Opern-

schaffen. Aber das dreitätige „Tannhäuser“-

Die glanz&krawall-Köpfe Marielle Sterra

Motive ziemlich tief verinnerlicht und spuckt

Wagner-Spektakel trägt ja auch den Titel

und Dennis Depta kontern dieses religiös ver-

sie als kraftvollen Elektro- und Rapmix wieder

„Berlin is not Bayreuth“.

brämte Pathos mit popkultureller Entspannt-

aus: „Champagner, Goldregen, wildes Blitz-

Zusammen mit Freie-Szene-Protago-

heit und verwandeln die Wartburg in einen

lichtgewitter. Endlich ist er wieder da, Tann-

nistinnen wie Cora Frost, Das Helmi, Vanessa

Campingplatz mit Bierausschank, Plansch­

häuser, der edle Ritter.“ // Patrick Wildermann


magazin

/ TdZ  Oktober 2019  /

Mythos Weimar Das Kunstfest in Weimar eröffnet unter seinem neuen Leiter Rolf C. Hemke mit einem langatmigen „Reichstags-Reenactment“ am historischen Ort

Der neue Leiter begrüßt die

quittiert.

Massen, die vor dem National-

Kolonialismus, geduldete

Nationalismus,

theater zusammenströmen. Der

politische

Platz ist gut gefüllt, als der in

rechts, die Themen waren

Frack und Zylinderhut geklei-

nicht inaktuell. Doch wirk-

dete Rolf C. Hemke das dies-

te die Inszenierung wie

jährige Kunstfest Weimar er-

eine Geschichtslek­tion: in-

öffnet – und zugleich Teil des

teressant, aber auch lang-

von ihm erdachten und von

atmig

Nurkan Erpulat inszenierten

wenig anspruchsvoll.

und

Morde

von

künstlerisch

„Reichstags-Reenactment“ wird.

Schon unter Hem-

Die zur Beteiligung aufgerufe-

kes Vorgänger Christian

ne Bevölkerung tummelt sich

Holtzhauer hangelte sich das

um das der deutschen Kultur-

Kunstfest

Weimar

nation gewidmete Goethe-Schil­

Aus neu macht alt – Das „Reichstags-Reenactment“ beim Kunstfest Weimar.

wacker von Jubiläum zu ­

ler-Denkmal vor dem National-

Foto Candy Welz

Jubiläum – Peter Weiss, Russische Revolution, das

theater, das nicht nur 1919

Bau­haus. Nun also die De-

die verfassungsgebende Versammlung beherbergte, sondern ein paar

lidaritätslied“ von Bertolt Brecht und Hanns

mokratie. Und auch wieder das Bauhaus, so

­Jahre später auch den ersten Reichsparteitag

Eisler gegeben wurde? Das zehn Jahre nach

mit dem „Meyer-Pavillon“ von Gintersdorfer/

der NSDAP. Der „Mythos Weimar“, wie Peter

der reenacteten Zeit entstandene Lied vermit-

Klaßen, der zwischen Theater und dem neu-

Merseburger es nannte, bestand in der Ver-

telte den Eindruck, die Weimarer Republik

eröffneten Haus der Weimarer Republik an

bindung von Geist und Macht – und glücklich

sei eine sozialistische gewesen und nicht de-

den zweiten Bauhaus-Direktor Hannes Meyer

war diese Verbindung keineswegs immer.

ren erklärtes Gegenteil, errichtet auf den Ge-

erinnerte und dabei gemütliche Happening-

Bei der Eröffnung wurde zunächst das

beinen von Rosa Luxemburg und Karl Lieb-

Atmosphäre verbreitete. Ein Schwerpunkt

berühmte Foto vom Auszug der Abgeordneten

knecht. Die Reden von Politikern bildeten

wurde von Hemke auf die Musik und deren

nachgestellt. Hüte wurden verteilt, um zu-

den Schlüssel zu der Zeit. Die regierende

Beziehung zu anderen Künsten gelegt, bei-

mindest etwas historische Ähnlichkeit zu er-

SPD zeigte sich in erbärmlichem Zustand.

spielsweise mit der musikalischen Kommen-

zeugen, eine riesige schwarz-rot-goldene Fah-

Friedrich Ebert leugnete die deutsche Kriegs-

tierung eines erstmals der Öffentlichkeit prä-

ne wehte über dem Balkon. Der Regisseur

schuld, fabulierte von der „Vergewaltigung

sentierten Gemäldes von Georg Baselitz oder

arrangierte per Mikrofon, die Fotografen

des deutschen Volkes“ durch fremde Mächte

der Vertonung des Gefühlslebens von Bau-

knipsten. Ein Wiederkehr des „Ornaments der

und beschwor den „Geist von Weimar“. Phi­lipp

hausbautenbewohnern. Katie Mitchells „Zau-

Masse“ (Siegfried Kracauer) als historisches

Scheidemann und Gustav Noske unterstri-

berland“ vom Théâtre des Bouffes du Nord

Zitat? Eine Menge, die sich zu Bildern arran-

chen nochmals, dass man von Marx und der

wurde erstmals außerhalb von Frankreich ge-

giert, in denen sie sich selbst bestaunt und

Aufklärung so ziemlich alles vergessen hatte,

zeigt, eine eindrückliche Konfrontation von

beklatscht – ähnlich wie bei Milo Raus

stattdessen Volkskörper und Staatsräson ver-

Heinrich Heines und Robert Schumanns

„Sturm auf den Reichstag“? Ein zur Kunst­

herrlichte. Auch die ostentative Fürsten-

„Dichterliebe“ mit zeitgenössischen Liedern

aktion erhobenes Signum der herrschenden

feindschaft der SPD bekräftige vor allem

von Martin Crimp (Text) und Bernard Foc-

Selfie-Kultur? Es bleibt Ratlosigkeit.

deren Ruf nach der Integration ins nationale

croulle (Musik). Neben dem großen Spektakel

Nach dem Fototermin rief Hemke dazu

Kollektiv. Spätfolgen garantiert. Auf den „Geist

gab es auch die leisen Töne. Selbst das Zent-

auf, das Theater zu besetzen und eine „neue

von Weimar“ berief sich auch der in der

rum für Politische Schönheit zeigte einen für

Nationalversammlung“ zu bilden, woraufhin

­Kulturstadt heiß geliebte Hitler. Die von Lai-

seine Verhältnisse eher wenig skandalösen,

sich die Beteiligten in die – nicht durch klei-

en, Politikern und Schauspielern verlesenen

aber gewohnt seichten Gedenkabend über

ne Reserviert-Schildchen besetzten – Stühle

­Reden wurden an den vorgesehenen Stellen –

den Übergang der Weimarer Demokratie in

fallen ließen. Warum aber zu Beginn das „So-

„das deutsche Volk ist frei!“ – mit Applaus

den Faschismus. //

Jakob Hayner

/ 75 /


/ 76 /

magazin

/ TdZ Oktober 2019  /

Der neue Mensch in alter Hülle Das Spieltriebe-Festival am Theater Osnabrück erforscht die Grenzgebiete zwischen Organismus und Maschine Wenn der Mensch, mit dem Symbol ® ausge-

bedrängenden Höhle, in der klar wird: Die Art,

stattet, zur Marke wird, dann muss man ent-

wie wir künstliche Intelligenzen heute den-

scheiden: Welche Eigenschaften gilt es zu

ken, ist mehr ein Spiegel unserer geheimen

schützen, und welche lassen sich ökonomisch

egozentrischen Wünsche als ein futuristischer

gewinnbringend vermarkten? Wie weit wollen

Lebensentwurf. Peter musste scheitern.

wir die Entkopplung von Intelligenz und Be-

Das Scheitern des Subjekts ist ein häu-

wusstsein vorantreiben, und welche Rolle

fig auftauchendes Sujet der Menschheits­

spielt dabei unsere Gesellschaft mit ihren

geschichte: angefangen mit der Vertreibung

durchaus veränderungswürdigen Arbeits- und

aus dem Paradies bis hin zum Wunsch nach

Sozialstrukturen? Das Spieltriebe-Festival bie­

einem demokratischen Staat mit geregelten

tet auf diese Fragen mit seiner achten Aus­

Markt- und Teilhabeverhältnissen. Dement-

gabe „Mensch®“ elf Antworten, verteilt auf

sprechend arbeitet sich auch das Festival dar-

fünf Routen quer durch Osnabrück. Installatio-

an ab. So misslingt zum Beispiel Elija in

nen, Performances, Musiktheater- und Tanz-

Mehdi Moradpours „Ein Körper für jetzt und

stücke lassen das Festival zwar formenreich

heute“ die Erschaffung eines Körpers ohne

dastehen, qualitativ aber stark variieren.

Ort, im Dazwischen, fern des binären Ge-

Als Auftaktinszenierung, die jeder Rou-

schlechtssystems. Maude in Sarah Berthiau-

te vorangestellt ist, wurde mit Oskar Panizzas

mes „Nyotaimori“, die mit den Folgen des

„Die Menschenfabrik“ ein passender Text aus-

Turbokapitalismus in einer sich zwischen

gewählt. Auf der Suche nach einem Nacht-

Selbstbestimmtheit und Entfremdung polari-

quartier gelangt ein Wanderer an ein großes

sierenden Arbeitswelt kämpft, geht noch ei-

Gebäude, in dem, wie er sogleich vom Haus-

nen Schritt weiter und begreift Scheitern als

herrn erfährt, Menschen am Fließband herge-

unsere letzte Freiheit. Schade, dass sich bei-

stellt werden. Replikate, die rein ökonomische

de Stücke abseits ihrer Hauptaussage in hoch-

Interessen bedienen. Von Panizzas 1890 publi-

gestochenen Floskeln verlieren.

zierter Parabel über das, was das Menschsein

Bleibt die Frage, welche Utopien wir

ausmacht, bleibt nicht viel übrig. Mit über­

beim Gedanken an die Zukunft noch zulassen können. „Die Zukunft ist jetzt! Es wird nicht

zeichneter Freundlichkeit, unterwürfigen Liebesgeständnissen und einem püppchenhaften Äußeren lässt Regisseur Jakob Fedler 14 Bürgerinnen und Bürger Osnabrücks in Tüllkleid und Bob-Frisur weniger erschreckend

Die Menschmaschine – Das Tanztheater­ projekt „Tabula Rasa“ von Mauro de Candia (hier mit Neven Del Canto) beim Spieltriebe-­ Festival. Foto Uwe Lewandowski

schlimmer, es wird nur anders. Und dazu muss man sich verhalten“, geben mir Moritz Sauer und Johannes von Dassel von Br*other Issues mit auf den Weg. Deren Performance „Daydreams and Nightscreams“ gehörte zu den

als amüsant auftreten, sodass das Nachdenken über eine neu hierarchisierte Klassenge-

kann, was dazu führt, dass Peter schließlich

unterhaltsameren Abenden des Festivals –

sellschaft zwischen Mensch und Mensch®

eine Projektion seines eigenen Selbst liebt

wenn auch mit bitterem Beigeschmack.

nicht bis zum Äußersten geführt wird.

und IKI, zwischen Resignation und Aufleh-

Br*other Issues gehen in ihren queerpoliti-

Konsequenter da Rieke Süßkow, die

nung schwankend, ersetzt wird. Eindrucksvoll

schen Performances vom Persönlichen zum

mit Kevin Rittbergers „IKI.Radikalmensch“

hier vor allem das Bühnenbild, denn Lukas

Politischen. In einem Schlafseminar erfahren

anhand der Frage „Ist der neue Mensch nicht

Fries schafft einen Raum, der als Gesamt­

die Zuschauer am eigenen Leib, was es be-

nur der alte in neuer Hülle?“ ein bürgerliches

organismus zwischen belebt und unbelebt,

deutet, Selbstoptimierung bis in die privates-

Trauerspiel zwischen Peter und seiner inti-

Mensch und Maschine, Mann* und Frau* kei-

ten, utopischsten Sphären zu betreiben. Was

men künstlichen Intelligenz IKI inszeniert.

nen Unterschied kennt. Ein rot-pink schim-

passiert, wenn unser Schlaf zum Kapital wird?

IKIs lernen als Partner das Verhalten von

mernder Stoff verhängt zunächst die Wände

„Mensch®“ zeichnet ein Zukunftsbild

Menschen zu lesen und zu interpretieren. Da-

eines Zimmers, wird dann nach und nach

im Jetzt – und das zu Recht. Denn wie kann

durch kann sie/er/es ideal auf Bedürfnisse

heruntergerissen und über den Zuschauer­

Zukunft funktionieren, wenn wir mit dem,

eingehen, während der Mensch die/den/das

raum gespannt. Das wohlig weiche Liebes-

was in der Vergangenheit und Gegenwart pas-

IKI nach persönlichen Wünschen konfigurieren

nest entwickelt sich so mit der Zeit zu einer

siert ist, nicht umgehen? //

Lina Wölfel


magazin

/ TdZ  Oktober 2019  /

Narrentum und Revolution In Gedenken an den Literatur- und Theaterwissenschaftler Robert Weimann Als ich vom Ableben Robert Weimanns hörte,

kehrungen des auf die profanen Genüsse (Es-

einem der herausragenden deutschsprachi-

sen) versessenen Narren könnten den Traum

gen Literatur- und Theaterwissenschaftler seit

vom Goldenen Zeitalter „zuweilen gegen

den 1960ern, dachte ich zuerst an sein 1958

übermächtige Klassenaufspaltungen und ge-

erschienenes Buch „Drama und Wirklichkeit

gen den aufziehenden Natur-Geist-Dualismus

in der Shakespearezeit“. Seine Darlegungen

verteidigt haben“.

der historischen Bewegungen und gesell-

Mit solchen Beobachtungen trägt das

schaftlichen Umstände, die für ein halbes

Buch zu der – spätestens seit Michail Bachtins

Jahrhundert zur einzigartigen Blüte des öf-

Rabelais-Deutung ­weltweiten – Beschäftigung

fentlichen Theaters im elisabethanischen

mit der enorm widersprüchlichen Komplexität

England führten und in/mit denen die ge-

„in­offizieller“, „anderer“ Denkweisen und thea­

schichtlich einmalige Kunst Shakespeares

traler Praktiken und ihrer ­ Gegen­ sätzlichkeit

wachsen konnte, war Anfang der 1960er für

zum offiziellen kul­ turell-ideologischen Werte-

uns junge Berliner Theaterwissenschafts­

kanon und entsprechenden theatralen Prakti-

assistenten nicht nur „fachlich“ faszinierend.

ken jeweils herrschender Machtsysteme bei.

Wie eine selbstverständlich harsche Kritik an

An die höchst umsichtig abwägenden

der Masse derjenigen, die, sich fälschlich auf

Darlegungen konnten die avancierten kriti-

Marx berufend, künstlerische Prozesse me-

Robert Weimann (1928 – 2019).

schen Theatermacher anknüpfen, die seit den

chanistisch als bloße Wieder­ spiegelungen

Foto Inge Zimmermann

1960ern nicht zuletzt mit Rückblicken auf verschüttete Traditionen gegen das alte hege-

ökonomischer „Gesetz­mäßigkeiten“ behan-

moniale illusionistische Dramentheater und

delten, war das Buch Beispiel einer tiefgründenden historisch-materialistischen Sichtung/

noriert worden waren, die aber so, indirekt

sein Wertsystem Theaterkunst gleichsam re-

Erläuterung höchst komplizierter, komplex-

und teilweise direkt als Grundelemente des

volutionierten. In der DDR war Weimann so

widersprüchlicher Bewegungen beziehungs-

einzigartigen öffentlichen elisabethanischen

für wohl mehr als zwei Jahrzehnte ihr höchst

weise Wechselbeziehungen zwischen den ver-

Theaters und der Dramatik Shakespeares,

begehrter Begleiter. Gerade die Untersuchun-

schiedenen

Realitäten.

gleichsam die Herausbildung des bis ins

gen zu Shakespeare und der Tradition des

Umsichtig, respektvoll-kritisch ältere und vor

20. Jahrhundert dominierenden illusionis-

Volkstheaters, ins Englische übersetzt, dürf-

allem neueste englisch- und deutschsprachi-

tisch-rationalistischen „großen hehren“ Dra-

ten darüber hinaus seine nicht unwichtige

ge Forschungsergebnisse verarbeitend, ver-

mentheaters Europas mitprägten. Das Buch

Wirksamkeit in der angloamerikanischen Lite-

folgte es die wirtschaftlichen, politischen,

behandelt unter anderem den antiken Mimus

raturwissenschaft Nordamerikas begründet

ideologischen, kulturell-religiösen Bewegun-

und seine wahrscheinliche Weiterwirkung bis

haben, wo er bis Anfang des neuen Jahrhun-

gen und Verhältnisse in dem vom Kompro-

ins Mittelalter, die dramatische Gestalt des

derts als Professor an der University of Cali-

miss des frühkapitalistischen Bürgertums mit

Narren, Beziehungen von Folk-Drama, Volks-

fornia, Campus Irvine lehrte. //

dem Adel getragenen elisabethanischen Ab-

brauch und Shakespeares „Lear“, Moralitä-

solutismus, von denen das Werk Shakes-

ten, Interludien sowie Kontinuität und Wan-

peares spricht, eine Epoche, die mit Beginn

del zur Nationalbühne. Es sieht die tradierte

des 17. Jahrhunderts kulturell unter anderem

Plattformbühne als Basis von Shakespeares

mit der adligen Machtübernahme über das

Universalität. Und es spricht vom alten

englische Theaterwesen endete.

Clown-Tanz, den der große Volksclown Tarlton

gesellschaftlichen

Unter Weimanns vielen Veröffentli-

entwickelte, dessen Ethos sich bei Shakes-

chungen bis ins hohe Alter ist das umfangrei-

peares Narrengestalten wiederfindet. Weiter-

che Buch „Shakespeare und die Tradition des

hin handelt es von den publikumsnahen

Volkstheaters“ wohl die größte Leistung. Es

episierenden Wirkungen gegen das „voran­

öffnete und es drängte geradezu den Blick

schreitende Gesetz der Illusion“, vom Kämp-

auf Theatertraditionen, die spätestens seit

fen und Streben und der Heilung sowie der

dem 18. Jahrhundert durch die kulturelle He-

schamlosen Komik der Narren im Folk-Dra-

gemonie bildungsbürgerlicher Idealisierung

ma, getragen vom Geist der Herausforderung

großer, „hehrer“ Kunst, milde formuliert, ig-

und Selbstbewältigung. Die grotesken Ver-

Joachim Fiebach

Mainzer Str. 5 · 80804 München Tel. +49 (0)89 36101947 info@theaterstueckverlag.de www.theaterstueckverlag.de

FFM Buchmesse 2019: Ehrengast Norwegen

Liv Heløe WARUM ERST JETZT (mind. 1 H – frei zur DSE)

12.10.2019

Auszugsweise Lesung am Staatstheater Mainz

/ 77 /


/ 78 /

magazin

/ TdZ Oktober 2019  /

„Dystopien sind realistischer“ Die Philosophin Ágnes Heller als Dramaturgin unserer Zeit. Szenen einer Erinnerung A death of one’s own

ben demgegenüber eine Spannung in

Ágnes Heller hat nicht den Tod ge-

ihrer als ureigen empfundenen Natur,

wählt – wer könnte das? In dem Buzz

die sie zu freier Selbstverwirklichung

der Social Media höre ich von ihrem

verpflichtet. Die „Unbedingt Frem-

Tod. Die Szene: Á. H. schwimmt auf

den“ erleben diese Spannung nicht,

den Balaton hinaus. Kehrt nicht zu-

sie haben niemals einer Welt wirklich

rück. Hat sie, wie Sokrates, den Zeit-

angehört. Fremdheit ist ihnen reine

punkt gewählt? Tage, Wochen, Monate,

Natur. An diesen Figuren zeigt sich

Jahre hätte es dann gedauert, um

Freiheit als „ein nicht fundierendes

einen so unaufgeregten Tod vorzu­ ­

Fundament“. Doch – und dies ist ihr

bereiten. Es wäre ein ganzes Leben.

Clou – auch diese Berufung darf sich mit Fug und Recht auf die N ­ atur be-

Enttäuschung

rufen. Es wird keine Letztbegründung

New York. Erster Golfkrieg. In einem

geben: nicht in der Vernunft und

Café irgendwo im Karree der 14. Stra-

nicht in der Tradition. Wenn alles der

ße und der 5. Avenue in New York sit-

Natur entspringt, entspricht nichts

zen wir: unsere Mentorin Ágnes Heller,

der Natur.

mein Freund Charlie und ich. Wir riechen verheißungsvolle Düfte oder den

mémoire und histoire

Gestank der Stadt. Echo und Abge-

Ágnes Heller schildert in ihrer Auto­

sang des Versprechens einer Identität.

biografie die Szene, wie eifrige Intel-

Jetzt: Iran und das Atomprogramm.

lektuelle 1956 während des ungari-

Ágnes Heller ist in dieser Sache ein

schen Aufstands verdutzt die Frage

hawk. Harte Linie. Nichts fürchtet sie

stellten, woher man denn jetzt Waf-

mehr als die Naivität des Westens. Sei-

fen besorgen könne. Aus ihrer Erin-

ner Linken. Ich gehörte auch zu ihnen, ich weiß, worum es geht.

nerung heraus schreibt sie, in diesem Ágnes Heller (1929 – 2019). Foto Mediendesign/Wien

Moment hätten Waffen an jeder Straßenecke aufgelesen werden können.

Things change

Auch sie erlebt sich als aufgeregt,

Not dark yet: Ferenc Fehér, ihr Ehemann,

den Kriterien wahren Wissens. Ein philoso-

aufgefordert, überfordert. Doch die Beschrei-

muss die New School verlassen, und sie wird

phischer, ein ästhetischer Schock. Zur Bewäl-

bung ihrer mémoire rechtfertigt keine Verbin-

überzeugt sein: Die Verwürfe des sexual

tigung griff sie beherzt auf das Bildungs­

dung zur histoire, zu einer Kontinuität bis

­harassment haben ihn nicht nur die Anstel-

repertoire zurück. Wenn Philosophie nur noch

heute. „Würde ich mich mit meinem damali-

lung gekostet. Er stirbt an einem Herzinfarkt

Therapie sein kann, dann ist die auszubil­

gen Selbst identifizieren, bräuchte es keine Iro-

in Budapest.

dende Urteilsfähigkeit gleichermaßen ratio-

nie.“ Die Ironie der Geschichtsschreibung

nal und ästhetisch.

entwickelt sich aus dieser Situation – oder

Abhängigkeit

vielen ähnlichen, immer möglichen Situatio-

Ferenc raucht Stummel in den Pausen der Semi-

When everything is natural – nothing is!

nen. Es gibt, wie Heller in „A Theory of His-

nare. Irgendwann, woanders, frage ich sie: „Hast

In der Lektüre Shakespeares trifft Ágnes Hel-

tory“ begrifflich genauer argumentiert, keine

du denn jemals auch geraucht?“ Ohne Pause:

ler die Unterscheidung: absolute strangers

wertfreie Historio­grafie. Weil wir in der Ge-

„Leidenschaftlich!“ Pause: „Aber ich habe auf-

(Othello, Shylock) und conditional strangers

schichtsschreibung unsere Subjektivität aus

gehört. Ich wollte meine Freiheit zurück.“

(Coriolanus, Romeo, Julia). Letztere bindet

der Sicht von heute rechtfertigen wollen, ist

sie zurück an die Bedingungen ihrer Herkunft

die Alternative das Theater: Dieses kann

Übergang

und Tradition, als zum Beispiel Söhne, Müt-

nicht anders, als die Subjektivität des Spre-

Richard Rorty sang den Abgesang auf das

ter, Väter, Angehörige einer Nationalität oder

chens und Erinnerns als genau diese vor

Leitmotiv der Philosophie: die Suche nach

einer anderen sozialen Gruppe, etc. Sie erle-

­Augen zu führen.


magazin

/ TdZ  Oktober 2019  /

GESCHICHTEN VOM HERRN H.

Schluss, Folgerung, Alltäglichkeit „Ich sage nicht nur, dass ein gerechter Staat nicht möglich ist, ich sage eher, dass er nicht

Klassikerschändung und Zwergenaufstand

wünschenswert ist.“ Und weiter: „Dystopien sind realistischer.“ War Ágnes Heller letztlich eine antimoralische Ethikerin?

Es gibt im Kunstbetrieb einen eigenartigen

deröslein“ nicht eine Vergewaltigung ver-

„Wir haben das wirklich geglaubt.“

Brauch. Er geht ungefähr so: Man nehme

harmlost, sondern zeigt, dass man Schön-

„Es tut mir leid“, hört man sie in einem

eine Person des kulturellen Lebens und för-

heit nicht mit Gewalt gewinnen oder gar

Deutschlandfunk-Interview sagen. Und sie

dere eine Tatsache zutage, die mit den herr-

besitzen kann, also vielleicht geradezu das

wiederholt: „Es tut mir leid.“ Diese Wiederho-

schenden Sitten unvereinbar erscheint. Die-

Gegenteil meint. Oder dass Goethe durch-

lung klingt erkennbar apologetisch, sogar

se

mit

aus kein typischer Vertreter des deutschen

wehmütig. Man unterstellt ihr beim Hören ein

möglichst spektakulären Mitteln. Ein sol-

Bürgertums war, sondern auch ein dezidier-

Gedenken an eine Zeit, in der sie als Georg

cher Vorgang lässt diejenigen,

ter Kritiker desselben. Das ist

Lukács’ Schülerin und später als Vertreterin

die ihn verantworten, als ausge-

ein Ärgernis eines solchen als

des Neo-Marxismus selbst mit an der Vorstel-

sprochen mutig, unerschrocken

Klassikerschändung inszenier-

lung gearbeitet hatte, dass Philosophen die

und nebenbei auch ebenso kri-

ten

Zukunft verändern, ja sogar herbeiführen

tisch und kreativ erscheinen,

nächst werden Ungenauigkei-

könnten. „Diese leidenschaftlichen jungen

selbst wenn der der Verfehlung

ten und Fehlinformationen in

Menschen. Ich gehörte auch zu ihnen. Ich

Beschuldigte schon lange tot

die Welt gesetzt, die dann hero-

weiß, worum es geht.“

ist. Was aber gar von Vorteil ist,

isch skandalisiert werden. Was

denn Widerspruch oder ernst-

bleibt, sind die Ungenauigkei-

Das letzte Wort

hafte Auseinandersetzung sind

ten

„Was ist Gerechtigkeit?“ Aber auch: „Wie

bei dem Vorhaben eher hinder-

Nicht besonders aufklärerisch.

kann ich richtig leben?“ Das Denken und Le-

lich. So widerfuhr es jüngst auch Goethe zu

Das nächste Ärgernis ist, dass ein po-

ben von Ágnes Heller öffnet sich nur der Per-

seinem 270. Geburtstag. Die Künstlergruppe

litisches Eingreifen simuliert wird, das kei-

spektive eines Kaleidoskops. Oder, vielleicht,

Frankfurter Hauptschule bewarf das im Wei-

nes ist. Wer sich ernsthaft an Texten stört,

als das Leben der vielgewanderten Frau, als

marer Ilmpark gelegene Gartenhaus am Tag

die sexuelle Gewalt verherrlichen, dürfte im

Odyssee. Ithaka wäre dann der Ort einer Ethik

vor der Eröffnung des Kunstfests Weimar mit

Bereich des Hip-Hop ein nahezu uner-

des Vermeidens, welcher die verführerische

Klopapier. So weit, so lustig. Die per Video

schöpfliches Feld solcher Aussagen finden.

Klarheit und Rauschhaftigkeit idealistischer

dokumentierte Aktion sorgte in der Stadt

Und vor allem ein aktuelles. Doch die Insze-

Handlungsmaximen nach langer Fahrt über-

kaum für Aufmerksamkeit. Umso mehr in

nierung von Skandalen kann weder auf Ge-

wunden hätte. Fast erschöpft, aber immer

den Medien. „Wir haben das Goethe-Haus in

halte und Ambivalenzen noch auf Wirkun-

bereit, gegen die Versuchungen der Resigna-

Weimar geschändet“, verkündete die Frank-

gen Rücksicht nehmen. Die Frankfurter

tion einzustehen, schreibt sie am Ende der

furter Hauptschule selbstbewusst.

Hauptschule, die zuvor durch die Ankündi-

Enthüllung

skandalisiere

man

Zwergenaufstands:

und

Zu-

Fehlinformationen.

Skepsis eine stärkere Wirksamkeit in der rea-

Goethe, der „lüsterne Dichtergreis“

gung einer Heroin-Performance und die In-

len Welt zu als der Moral der Verwirklichung.

sei „nicht irgendein alter, weißer Mann,

szenierung einer rechtsextremen Interventi-

Sie spricht zu den Philosophen, mag man

sondern der alte, weiße Mann“. Er habe

on auf der Wiesbaden Biennale auf sich

denken, zu jenen, die beispielsweise 1956

Frauen nachgestellt und mit dem „Heide-

aufmerksam machte, sind Medienprofis, die

vergeblich nach Waffen suchten, wenn sie

röslein“ zudem „Vergewaltigungslyrik“ ver-

nur die herrschenden Gesetze der Aufmerk-

formuliert: „Wir brauchen eine Revolution

fasst. Auch strotze sein Werk vor „eroti-

samkeitsökonomie nutzen und befördern.

des Lebens, des Alltagslebens. Das Leben

schen Hierarchien zu Ungunsten seiner

Als bestätigend empfinden diese es dann,

muss selbst transzendiert werden, dies schien

Frauenfiguren“, die wie das Gretchen „nai-

wenn beispielsweise die AfD die sogenannte

mir der entscheidende Punkt. Wir müssen

ve Dummchen“ seien. Kurz: „Wir fanden

Schändung des Goethe-Gartenhauses ihrer-

nicht ‚die Macht erringen‘ und brauchen kei-

Goethe schon immer scheiße in seiner Rolle

seits aufgreift. Oder der Thüringer Staats-

ne proletarische Revolution. Wir müssen un-

als Repräsentant des deutschen Bürger-

schutz ein Verfahren wegen gemeinschaftli-

sere Leben ändern.“ //

tums“, so ein Mitglied der Gruppe im Inter-

cher Sachbeschädigung einleitet. Das ist

view. Wenn nun die Frankfurter Hauptschu-

eine perverse Fixierung auf die Macht, wie

le nur ebenso genau lesen würde, wie sie

es der Philosoph Michael Hirsch in Bezug

vermeintlich denunziatorische Indizien auf-

auf das Zentrum für Politische Schönheit

spürt, so hätte ihr auffallen können, dass

einmal ausdrückte. Man will von ihr wahrge-

Margarete mitnichten ein naives Dumm-

nommen und anerkannt werden, sie aber

chen ist, sondern eine ausgesprochen ratio-

nicht überwinden. Eine Sackgasse – künst-

nal denkende und handelnde Vertreterin

lerisch, politisch und intellektuell. //

Felix Ensslin

TdZ ONLINE EXTRA Eine Langfassung dieses Artikels finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/10

www

des Kleinbürgertums. Oder dass das „Hei-

Jakob Hayner

/ 79 /


/ 80 /

Auf den Spuren eines georgischen Modernisten

sem Bildband, der in Halbleinen gebunden

Der junge Berliner Verlag ciconia ciconia hat

sches Vergnügen bereitet.

und in einer nummerierten Kleinauflage erscheint und bei der Lektüre auch ein hapti-

sich einer verdienstvollen Aufgabe angenom-

Otskheli, so erfährt man, wurde 1907

men: In bibliophilen Ausgaben widmet er sich

im georgischen Kutaissi geboren, verbrachte

künstlerischem Erbe und Gegenwart im post-

Kindheit und Jugend jedoch in Moskau, das

Kostümentwürfe von Petre Otskheli zu „Othello“ von 1933, eine Inszenierung von Kote Mardschanischwili, die allerdings nicht zur Premiere kam. Zeichnungen Petre Otskheli / ciconia ciconia

sowjetischen Raum. Progressive Köpfe wer-

wo er Inszenierungen von Klassikern wie

den hier mit schönen Editionen gewürdigt.

zeitgenössischen

Das gilt für den Aktionskünstler Pjotr Pawlenski

Auch als Szenenbildner für den Film ver-

und die Pussy-Riot-Aktivistin ­Mascha Alechina genauso wie für den Skandalschriftsteller ­Vladimir Sorokin. Nun fällt der Blick in das Georgien der zwanziger und dreißiger Jahre. Der Szenograf Petre Otskheli dürfte bisher wohl kaum jemandem im deutschsprachigen Raum ein

Petre Otskheli: In Flammen der Zeit. Georgien, Theater, Moderne. Hg. von George Kalandia, ciconia ciconia, Berlin 2019, 192 S., 39,90 EUR.

Begriff gewesen sein. Das knapp zweihundert

Dramatikern

ausstattet.

sucht er sich. 1937, inmitten des sogenannten Großen Terrors, findet der junge Künstler dreißigjährig den Tod durch staatliche Hinrichtung. Wenige Texte begleiten die eindrucksvollen Bilder. In einem Geleitwort und zwei kurzen Artikeln bemühen sich die Autoren, Otskheli auf die Spur zu kommen. Nur wenige

Seiten umfassende Buch „In Flammen der

biografische Eckdaten eines kurzen Lebens

Zeit. Georgien, Theater, Moderne“ stellt nun

bald schon von der Revolution erschüttert

lassen sich von dem früh Verstorbenen, fast

diesen unbekannten Vertreter der östlichen

wurde, kehrte in seine Geburtsstadt zurück,

Vergessenen ausmachen. Auch die Stationen

Theateravantgarde vor. In Skizzen und Figuri-

lebte später in Tbilissi. Früh findet er seinen

seiner Theaterarbeit werden nur kursorisch

nen zeigt sich ein erstaunliches Talent in die-

Weg an Bühnen in Georgien und Russland,

genannt, ergeben aber kein klares Bild.


bücher

/ TdZ  Oktober 2019  /

Fremd sind dem Leser hierzulande viele

(Das) Ich und der Esel

­Namen. Erläuterungen zur theatergeschichtli-

Maximilian Haas: „Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance“, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2018, 334 Seiten, 26,90 EUR.

chen Einordnung, zur Bedeutung einzelner

Der Wolf mag durch den Menschen zum

Bühnen und Akteure wären hilfreich gewe-

Hund geworden sein, aber der Mensch konnte

sen. Auch die Angaben zu den einzelnen

sich umgekehrt erst durch die Hund-Werdung

­Bildern beschränken sich fast ausnahmslos

des Wolfes als solcher begreifen. So etwa

auf Titel und Jahr der Inszenierungen. Eine

könnte man die doppelte Perspektive charak-

weitaus

gelingt

terisieren, die seit einiger Zeit aus den soge-

durch den Abdruck der Verhörprotokolle und

nannten Human-Aminal Studies eingefordert

des folgenden Beschlusses des NKWD, der

wird: Es geht in diesem recht jungen For-

Tier-Relation (Descartes, Kant, Heidegger)

schließlich den Tod für Otskheli bedeutete.

schungsfeld darum, die Einseitigkeiten einer

dient dabei als Ausgangspunkt für ein Pano-

Hier wird anhand eines Einzelschicksals an-

Geschichtsschreibung

Wissen-

rama der heterogenen Theorielandschaft:

schaulich, was die stalinistische Pervertie-

schaftstradition zu überdenken, in der Tiere

Haas spannt einen Bogen von Jakob Johann

rung des Menschheitsprojekts Sozialismus

allenfalls als passive Statisten der Mensch-

von Uexkülls früher Biosemiotik und Alfred

bedeutete: das brutale Ende eines Künstler­

heitsgeschichte vorkamen. Mit Esoterik hat

North Whiteheads Prozessphilosophie über

lebens.

das nichts (oder nur in Ausnahmefällen) zu

die Tier-Überlegungen Jacques Derridas und

plastischere

Darstellung

und

einer

Die zusammengestellten Abbildungen

tun, wie manchmal geargwöhnt wird, mit einer

Gilles Deleuzes / Félix Guattaris bis hin zu

ergeben den seltenen Eindruck eines selbst-

Relativierung anthropozentrischer Selbstüber-

jüngsten Interventionen des „Neuen Materia-

ständigen Kunstwerks. Die raren Proben- oder

schätzung hingegen sehr viel, und zudem mit

lismus“ (Donna Haraway, Karen Barad) und

Aufführungsfotos, fehlende Rezensionen oder

einem auffälligen Bedeutungszuwachs „relati-

dem Einsetzen eines (techno)-ökologischen

Notate geben kaum eine Vergleichsmöglich-

onaler“ Denkansätze, der sich direkt aus

Denkens, das Ökologie gerade nicht mehr auf

keit mit der letztlichen Bühnenumsetzung.

Alltags- beziehungsweise Entgrenzungserfah­

„Natur“ reduziert.

Hier stehen die Skizzen für sich – und vermö-

rungen des 21. Jahrhunderts ergibt. Dass die

Der Clou des Buches liegt indes darin,

gen zu bestehen. Es wird ein georgischer

Frage, wie Unterscheidungen von Menschen

dass Haas seine theoriegeschichtlichen und

­Modernist erkennbar, der sichtlich beeinflusst

und Tieren genau gefasst werden können, sich

-politischen Ausführungen parallel zu einer

von Konstruktivismus und Art déco Theater-

heute neu stellt, wird jedenfalls schlagartig klar,

ausführlichen Schilderung und Analyse der

welten auf dem Papier schaffen konnte. Seine

wenn man nur an die jüngsten Diskussionen

Performance-Serie „Balthazar“ entfaltet, ei-

Figurinen zeigen nicht nur deutlich und

um die Herstellung von Mäusen mit menschli-

ner Choreografie mit einem Esel, die vor eini-

­detailreich Kostüme, sondern machen darü-

chen Bauchspeicheldrüsen in Japan denkt.

gen Jahren Furore gemacht und die Haas zu-

ber hinaus Haltung und Charakter der Figuren

Angesichts der grundsätzlich multidis-

sammen mit dem Künstler David Weber-Krebs

kenntlich. Mitunter kippen die Darstellungen

ziplinären Ausrichtung der Animal Studies

selbst entwickelt hat. Fast liest sich die aus-

ins Surreale: Dann gleichen die Figuren Tie-

verwundert es nicht, dass ihre Fragen seit ei-

gedehnte, auf vier Kapitel verteilte Schilde-

ren, Maschinen oder Pflanzen. Besonders

nigen Jahren verstärkt auch die Theaterwis-

rung und Analyse dieser Produktion wie ein

kraftvoll und inspirierend wirken seine zeich-

senschaft beschäftigen. Und so liegt mit der

zweites Buch im Buch; auch kompositorisch

nerischen Annäherungen an „Othello“ von

Studie „Tiere auf der Bühne“ des Berliner

trägt „Tiere auf der Bühne“ also dem Gedan-

1933, eine Inszenierung, die aufgrund des

Theaterwissenschaftlers und Dramaturgen

ken der Relationalität Rechnung. Insgesamt

plötzlichen Todes des Regisseurs nicht reali-

Maximilian Haas nun auch ein Buch vor, das

ist Haas eine Studie gelungen, die exempla-

siert werden konnte und einzig durch diese

die maßgeblichen Positionen des Feldes auf

risch zeigt, wie künstlerische Forschung aus-

Skizzen bildhaft belegt werden kann. So ent-

höchstem philosophischem Niveau verglei-

sehen kann, an der sich zugleich künftige

stehen die Szenen im Kopf des Betrachters,

chend diskutiert, in Bezug setzt und teils

Arbeiten zum Thema auch jenseits theater-

düster verwoben und von sinnlicher Energie. //

auch problematisiert. Die Kritik klassischer

theoretischer Kontexte werden messen lassen

Erik Zielke

philosophischer Auslegungen der Mensch-

müssen. //

AFTER DAS OSTEUROPE WEST-DING FESTIVAL OKTOBER 09 — 13

FESTIVAL OKTOBER 15 — NOVEMBER 10

TICKETS SOPHIENSAELE.COM FON 030 283 52 66 SOPHIENSTR.18 10178 BERLIN

Sebastian Kirsch

/ 81 /


aktuell

Meldungen

/ TdZ Oktober 2019  /

■ Der Autor und Regisseur Moritz Beichl wird

stadt-Palast und Theater an der Parkaue sind

ab der kommenden Spielzeit Hausregisseur

laut Förderband e. V. Kooperationen mit wei-

am Deutschen Theater Göttingen. Bereits

teren Bühnen geplant.

■ Mit Beginn der neuen Intendanz von Oliver

nach seinem Regiestudium an der Theater-

Graf am Theater für Niedersachsen (TfN) in

akademie Hamburg inszenierte der 1992 in

Hildesheim werden ab der Spielzeit 2020/21

Wien Geborene in Göttingen. Beichl, der sich

Ayla Yeginer und Cornelia Pook die Schau-

auf Gender-Fragen spezialisiert hat, ist neben

spieldirektion übernehmen. Ayla Yeginer,

Antje Thoms inzwischen der zweite Haus­

1983 in Kiel geboren, wird am TfN auch als

regisseur am Deutschen Theater Göttingen.

Angela Winkler (hier mit Bernd Moss) in „Drei Schwestern“ am DT. Foto Arno Declair

/ 82 /

Hausregisseurin tätig sein. Cornelia Pook, geboren 1979 in Saarbrücken, ist seit der

■ Das Ministerium für Kultur und Wissen-

Spielzeit 2009/10 Schauspieldramaturgin

schaft des Landes Nordrhein-Westfalen un-

am TfN. Jasmina Hadžiahmetović, die eigent-

terstützt die neu gegründete Akademie für

lich zum Intendanzwechsel die Schauspiel­

­Digitalität und Theater in Dortmund und damit

direktion übernehmen sollte, wird aus persön-

deren Ziel, das Theater in Deutschland fit für

lichen Gründen nicht antreten.

die Herausforderungen der digitalen Moderne zu machen. 1 272 000 Euro beträgt die Höhe

■ Aus gesundheitlichen Gründen hat der Ber-

der Förderung des Landes, die die erste Aka-

liner Kultursenator Klaus Lederer den lang-

demie ihrer Art für digitale Innovation, künst-

jährigen Intendanten des Theaters an der

lerische Forschung und technikorientierte

der Deutsche Schauspielpreis für Theater ver-

Parkaue Berlin Kay Wuschek von seinen

Aus- und Weiterbildung erhält.

liehen. Das gab der Bundesverband Schau-

Dienstverpflichtungen freigestellt. Die Ver-

■ Der Schauspielerin Angela Winkler wurde

spiel bekannt. Ausschlaggebend dafür sei

■ Im denkmalgeschützten, aber sanierungs-

u.  a. ihre Irina in der Inszenierung „Drei

tendanten, weshalb die Parteien einvernehm-

bedürftigen Zoo-Gesellschaftshaus am Alfred-

Schwestern“ (Regie Karin Henkel) 2018 am

lich den Vertrag aufhoben. Das Haus war

Brehm-Platz in Frankfurt am Main soll zu-

Deutschen Theater Berlin gewesen. Angela

kürzlich wegen Rassismusvorwürfen in die

künftig Kinder- und Jugendtheater gespielt

Winkler, geboren 1944 in Templin, erhielt ihr

Kritik geraten. Die Berliner Senatsverwaltung

werden, so steht es in einem Grundsatzbe-

erstes Theaterengagement bereits 1967 in

für Kultur und Europa legt indes keinen

schluss der Stadt Frankfurt. Für die Errich-

Kassel, bevor sie von der Berliner Schaubüh-

­Zusammenhang nah.

tung eines Frankfurter Kinder- und Jugend-

ne entdeckt wurde. Daraufhin folgten zahl­

theaters ist es bereits der zweite Anlauf.

reiche Inszenierungen mit Peter Zadek am

Schon Anfang der 1990er Jahre existierte das

Wiener Akademietheater und dem Berliner

KOMM, wurde jedoch nach eineinhalb Jahren

Ensemble. Für ihre Theaterarbeit erhielt

aus Spargründen geschlossen.

sie u. a. bereits die Kainz-Medaille (1996)

Christian Watty. Foto Jörg Letz

tragsbeendigung entsprach der Bitte des In-

und den Gertrud-Eysoldt-Ring (2001). Die

■ Das Modellprojekt flausen+ des Theaters

Preisverleihung fand am 13. September in

Wrede in Oldenburg zur Förderung szenischer

Berlin statt.

Forschung initiiert erstmalig seit Beginn auch einen internationalen Austausch. Den Anfang

■ Die Theater- und Filmschauspielerin Margit

im Rahmen des Residenz- und Förder­

Carstensen erhält den diesjährigen Götz-George-

programms macht dabei eine Kooperation

Preis. Der Preis wird in diesem Jahr zum

professioneller deutscher und italienischer

zweiten Mal von der Götz-George-Stiftung ­

Künstler*innen. Aus der Meldung des Thea-

ver­ geben und zeichnet vornehmlich ältere

ters Wrede geht zudem hervor, dass auch

Schauspieler*innen aus, die sich um den

­Kanada das Forschungsstipendienprojekt bei

­Beruf der Schauspielkunst verdient gemacht

sich adaptieren wird.

haben. Carstensen, 1940 in Kiel geboren,

ropäischen Theater- und Tanzfestivals euro-

■ Der vom Kulturverein Förderband e. V.

nach u. a. in Heilbronn, Braunschweig und

scene Leipzig. Nachdem die langjährige

­initiierte „Berliner Spielplan Audiodeskription“

Hamburg engagiert, bis sie 1969 an das

Festivalleiterin Ann-Elisabeth Wolff sich nach

startet im Oktober. Im Verlauf von zwei Spiel-

Thea­ ter Bremen wechselte. Dort lernte sie

30 Jahren dazu entschieden hatte, die Lei-

zeiten sollen durch die Einrichtung von

Rainer Werner Fassbinder kennen, dessen

tung abzugeben, wurde Watty durch ein fünf-

Audio­ deskription 16 Bühnenproduktionen

Theater- und Filmproduktionen sie bundes-

köpfiges Fachgremium bestimmt. Christian

mit über 40 Aufführungen live für blinde und

weit bekannt machten. Der Nachwuchspreis

Watty ist seit 2013 Mitglied des Künstleri-

sehbehinderte Zuschauer*innen kommentiert

ging erstmalig an ein junges Schauspiel-­

schen Beirats der euro-scene Leipzig und

werden. Neben den festen Kooperations­

Ensemble: an Banafshe Hourmazdi, Benjamin

Mitglied im europäischen Netzwerk für Thea-

partnern Berliner Ensemble, Deutsche Oper

Radjaipour und Eidin Jalali für ihre Leistung

ter- und Tanzschaffende IETM.

Berlin, Deutsches Theater Berlin, Friedrich-

in dem Film „Futur Drei“.

■ Christian Watty wird ab 2021 neuer Festi-

studierte Schauspiel in Hamburg und war da-

valdirektor und Künstlerischer Leiter des eu-


aktuell

/ TdZ  Oktober 2019  /

Merlin Sandmeyer. Foto Armin Smailovic

zur Uraufführung gebracht worden sind. Der letzte Vorschlagstermin ist der 1. November 2019. Zusätzlich wird ein Stückwettbewerb zur Nachwuchsförderung ausgeschrieben. Der letzte Einsende­ termin für diesen ist der 15. Februar 2020. Vorschlagseinreichungen und weitere Informationen unter www.kjtz.info

■ Begleitet von zwei Coaches, führen Jugendliche beim Jugendwettbewerb UNART für multimediale Performances selber Regie. Die Gewinner*innen der vier Finale können sich für die Teilnahme an dem neuen euro­

■ Der Boy-Gobert-Preis der Körber-Stiftung

päischen Projekt You Perform Lab in Hamburg

geht in diesem Jahr an den 29-jährigen

qualifizieren. Ausgeschrieben wurde der Wett­

Schauspieler Merlin Sandmeyer. Sandmeyer,

bewerb vom Deutschen Theater Berlin, dem

geboren 1990 in Saarbrücken, absolvierte

Thalia Theater Hamburg, dem Schauspiel

sein Schauspielstudium an der Otto Falcken-

Frankfurt und dem Staatsschauspiel Dresden

berg Schule in München. Währenddessen

auf Initiative der BHF Bank Stiftung. Weitere

spielte er bereits in verschiedenen Produktio-

Infos unter www.unart.net

nen der Münchner Kammerspiele, wofür er 2015 den O. E. Hasse-Preis für Nachwuchs-

■ Der Deutsche Bühnenverein fordert Klar-

darsteller erhielt. Seit der Spielzeit 2018/19

heit über den Stellenwert der Kultur in der

ist Sandmeyer am Thalia Theater in Hamburg

EU-Kom­mission, da es nach den Plänen der

engagiert. Die mit 10 000 Euro dotierte Aus-

gewählten Kommissionspräsidentin Ursula

zeichnung wird am 8. Dezember 2019 im

von der Leyen erstmals seit 1999 keine*n

Thalia Theater überreicht.

Kommissar*in explizit für den Bereich Kultur

TdZ on Tour n 07.10. Buchpremiere Arbeitsbuch: Luk Perceval, Botschaft von Belgien, General­ delegation der Regierung Flanderns, Berlin n 11.10. Buchpremiere Theater_Stadt_ Politik. Von Konstanz in die Welt, Theater Konstanz n 17.10. Buchvorstellung Res publica Europa – Networking the performing arts in a future Europe, Theaterbuchhandlung Einar & Bert, Berlin n 24.10. Buchpremiere Gyula Molnár und Francesca Betini: Bin nicht im Orkus – Eine kurze Collage aus einem zerschnittenen Textbuch und sechs abgespielten Figuren, Sammlung Puppentheater / Schaustellerei des Münchner Stadtmuseums n 30.10. Buchvorstellung backstage KLAUSSNER, Buchhandlung Geistes­ blüten, Berlin n 18.11. Buchpremiere Volker Pfüller: Bilderlust, Deutsches Theater Berlin Weitere Termine und Details unter www.theaterderzeit.de

und Bildung mehr geben soll. Aus Sicht des

■ Der Deutsche Theaterpreis Der Faust wird

Bühnenvereins ist die geplante Abschaffung

am 9. November 2019 im Staatstheater Kas-

des eigenen Portfolios für Kultur und Bildung

szene mit ihren Neuübersetzungen der Stücke

sel verliehen. In acht Kategorien werden her-

in der Europäischen Kommission ein schlech-

von Henrik Ibsen und August Strindberg.

ausragende künstlerische Leistungen geehrt.

tes Signal für Europa.

­Außerdem übertrug sie für den Rowohlt Thea-

Der Preis für das Lebenswerk geht an Roberto

ter Verlag fast alle Werke des schwedischen

Ciulli, wie der Deutsche Bühnenverein bereits

■ Der Dramatiker, Hör- und Fernsehspiel­autor

Dramatikers Lars Norén ins Deutsche sowie

bekannt gab. Ciulli stehe, so die Jury, wie

Helmut Bez ist am 7. August im Alter von

zahlreiche Texte von William Shakespeare.

kein anderer für eine offene und diverse Ge-

88 Jahren in Plau / Mecklenburg gestorben. Er

1996 wurde sie mit dem Übersetzerpreis der

sellschaft. Seit fast 40 Jahren schaffe er es

begann seine Karriere als Schauspieler und

Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

als Leiter, Regisseur und Schauspieler am

­Regisseur, ab Mitte der sechziger Jahre trat er

Theater an der Ruhr in Mülheim, sich immer

als Autor, der zunächst Stücke für heitere

■ Der Schauspieler Bruno Thost, geboren

weiter zu entwickeln, mit Humor, Menschen-

Musiktheater schrieb, an die Öffent­ ­ lichkeit.

1936, ist am 28. August in Wien verstorben.

kenntnis, Ernst und Liebe.

Seine oft gespielten Sprechstücke, die er ab

Thost war nach seinem Schauspielstudium in

den siebziger Jahren begann zu schreiben, wie-

Stuttgart zunächst in Stuttgart, Cuxhaven,

■ Das Bundesministerium für Familie, Senio-

sen ihn als einen auch kritischer in die Wirk-

Hamburg und Düsseldorf engagiert, bevor er

ren, Frauen und Jugend hat den Deutschen

lichkeit der DDR blickenden Realisten aus, der

1970 an das Burgtheater nach Wien kam.

Kindertheaterpreis 2020 und den Deutschen

genaue Beobachtung und problembewusste

Zeitgleich trat Thost auch im Theater in der

Jugendtheaterpreis 2020 ausgeschrieben. Die

Anteilnahme miteinander verband. „Jutta und

Josefstadt auf und war als Operetten- und

Preise werden seit 1996 alle zwei Jahre ver-

die Kinder von Damutz“ (UA 1978 in Halle,

Musicaldarsteller u. a. in der Volksoper und

geben und sind insgesamt mit 35 000 EUR

1995 auch als Fernsehspiel innerhalb der

der Wiener Kammeroper zu sehen. 2001 wur-

dotiert. Ausgezeichnet werden können Stücke

­Krimi-Reihe „Polizeiruf 110“) gilt als sein be-

de er mit dem Österreichischen Ehrenkreuz

lebender Autor*innen, die in deutscher

kanntestes, weil umstrittenstes Theaterstück,

für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.

Sprache geschrieben wurden oder in deut­

veröffentlicht in Theater der Zeit 10/1978.

scher Übersetzung vorliegen und zwischen dem 10. November 2017 und dem 31. Okto-

■ Die Übersetzerin Angelika Gundlach, gebo-

ber 2019 durch einen deutschsprachigen

ren 1950 in Hamburg, ist am 18. August ver-

Theaterverlag veröffentlicht oder durch ein

storben. Das teilte der Rowohlt Theater Verlag

professionelles deutschsprachiges Theater

mit. Gundlach prägte die deutsche Theater-

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

/ 83 /


/ 84 /

aktuell

/ TdZ Oktober 2019  /

Premieren Aalen Theater der Stadt L. Hippe: BAM! Ich bin glücklich! (W. Tobias, 13.10., UA); O. Garofalo: Warte nicht auf den Marlboro-Mann (J. Giele, 19.10., UA) Augsburg Staatstheater S. Berg: Und jetzt: Die Welt! (L. Hoepner, 03.10.); W. Shakespeare: Der Sturm (A. Bücker, 12.10.) Baden-Baden Theater H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (N. May, 11.10.) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater J. W. v. Goethe: Faust 1 in 2 (S. Broll-Pape, 11.10.); B. S. Deigner: Der Reichskanzler von Atlantis (B. Bartkowiak, 13.10., UA) Basel Theater n. F. Dürrenmatt: Durcheinandertal (A. Münnich, 03.10.); n. F. Dürrenmatt: Hundert Jahre weinen oder hundert Jahre Bomben werfen (F. X. Mayr, 18.10., UA); P. Calderón d. l. Barca: Der standhafte Prinz (M. Borczuch, 19.10.) Bautzen Deutsch-Sorbisches Volkstheater R. W. Fassbinder: Angst essen Seele auf (J. Müller, 04.10.) Bayreuth studiobühne S. Stephens: Heisenberg (M. L. Müller, 19.10.) Berlin Ballhaus Ost A. Tretau: Machbar unmöglich – Eine zukünftige Ausstellung zur aktuellen Klimakrise (A. Tretau, 11.10.); D. Schrader: Ambient 1: Theatre for Airports (Hyperion) (D. Schrader, 11.10.); J. Burmeester/J. Dietrich: Geister – Séancen für das 21. Jahrhundert (M. Muerte, 17.10.); Chicks: Asking you some questions about Sex (Chicks, 26.10.); K. Reinhardt: Fennymore oder Wie man Dackel im Salzmantel macht (S. Mauksch, 27.10.) Berliner Ensemble M. Houellebecq: Die Möglichkeiten einer Insel (R. Borgmann, 09.10.) Deutsches Theater H. Müller: Philoktet (A. R.

Koohestani, 05.10.); n. M. d. Cervantes/ J. Nolte: Don Quijote (J. Bosse, 12.10.); 30.nach.89 – Talking About Your Generation (U. Plate, 19.10.) English Theatre C. Thorpe: Status (R. Chavkin, 18.10., DEA); n. H. Ibsen: Noraland (S. Lieberman, 18.10., UA); Dirty Granny Tales: Rejection (Dirty Granny Tales, 27.10., DEA) Schaubühne am Lehniner Platz Molière: Amphytrion (H. Fritsch, 13.10., DEA) Theater an der Parkaue R. Schimmelpfennig: Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin (R. Schimmelpfennig, ­ 16.10., UA) theaterdiscounter Thermoboy FK: Karneval der Tiere (Thermoboy FK, 10.10.); Tornado (T. Rausch, 20.10.) Volksbühne K. Voges: Don‘t be evil (K. Voges, 02.10., UA); H. Müller: Germania (C. Bauer, 17.10.) Bern Konzert Theater C. Chaplin: der große Diktator (19.10.) Bonn Kleines Theater Bad Godesberg D. Kehlmann: Heilig Abend (S. Krause, 03.10.) Theater n. G. Hauptmann/ E. Palmetshofer: Vor Sonnenaufgang (S. Hawemann, 02.10.); R. Zink: Die Installation der Angst (C. Weyde, 31.10.) Bremerhaven Stadttheater P. Valentine: Gode Geister (G. Fuchs, 12.10.); S. Vanaev: Der Feuervogel / Der Bolzen (S. Vanaev, 19.10.) Celle Schlosstheater N. Simon: Sonny Boys (A. Döring, 05.10.); F. Akin: Aus dem Nichts (19.10.); J. Logan: Rot (25.10.) Chemnitz Theater P. Quilter: Glorious! – Die wahre Geschichte der Florence Foster Jenkins (H. Olschok, 12.10.) Darmstadt Staatstheater I´m Old Fashioned 2 – Jetzt noch älter! (10.10.); Keine Zeit für Helden – Kranichstein erklärt die Welt (N. Steinbach, 16.10.)

WO IST DAS THEATER? von Anne Jelena Schulte Uraufführung: 18.10.2019 www.theaterhaus-jena.de

Oktober 2019

Dessau Anhaltisches Theater A. Ayckbourn: Bürgerwehr (P. Tiedemann, 05.10.) Detmold Landestheater A. Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten (B. Grubel, 08.10.) Dinslaken Burghofbühne R. Bradbury: Fahrenheit 451 (N. Blank, 31.10.) Dresden Staatsschauspiel G. Büchner: Woyzeck (J. Gockel, 19.10.) Theater Junge Generation A. Doron: Ecotone (A. Doron, 25.10.) Düsseldorf Schauspielhaus R. Kipling: Das Dschungelbuch (R. Wilson, 19.10.) Essen Schauspiel M. v. Mayenburg: Der Stein (E. Finkel, 26.10.) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm Trust/Shakespeare/Alléluia (D. Niangouna, 25.10., DEA) Schauspiel Heidi in Frankfurt – Ein Integrations­ theater (M. Droste, 11.10.); H. Ibsen: Brand (R. Vontobel, 12.10.); J. Zeh: Corpus Delicti (M. Schwesinger, 27.10.) Freiberg Mittelsächsisches Theater N. Whitby: Sein oder Nichtsein (T. Roth, 05.10.) Freiburg Theater n. P. Richter: 89/90 (S. Flocken, 11.10.); E. Jelinek: Wut (H. Schmidt-Rahmer, 18.10.); E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (S. Lernous, 19.10.) Göttingen Deutsches Theater W. Shakes­ peare: Was ihr wollt (M. Beichl, 12.10.) Junges Theater H. Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (T. Sosinka, 11.10.); H. El Kurdi: Angstmän (A. Giese, 27.10.) Greifswald Theater Vorpommern H. Müller: Die Hamletmaschine (A. Kruschke, 11.10.); W. Shakespeare: Hamlet (R. Göber, 12.10.) Halberstadt Nordharzer Städtebund­ theater W. Shakespeare: Hamlet (J. Liebetruth, 12.10.)

Hamburg Schauspielhaus A. Birch: Anatomie eines Suizids (K. Mitchell, 17.10., DEA); L. Bärfuss: Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (A. Riemenschneider, 19.10.) Thalia Theater A. R. Nunes/ A. Haug: Neverland. Ein internationales Projekt (A. R. Nunes, 12.10., UA); M. Biller: Sechs Koffer (E. Jach, 19.10., UA) Hannover Schauspiel E. Hickson: The Writer (F. Heller, 09.10., DEA); V. Woolf: Orlando (L. Sykes, 25.10.); n. Sopho­ kles/T. Köck: Antigone. Ein Requiem (M. Bues, 26.10., UA); J. v. Dassel: Dark Room (R. C. Bar-zvi, 27.10., UA) Heilbronn Theater H. Müller: Germania 3 - Gespenster am Toten Mann (A. Vornam, 05.10.) Ingolstadt Stadttheater n. W. Shakes­ peare/B. Fäh: Rose und Regen, Schwert und Wunde (J. Mayr, 05.10.); In a Land called Honalee. Ein „Peter, Paul and Mary“-Abend (N. Eleftheriadis, 10.10.); W. Shakespeare: Romeo und Julia (M. Mikat, 18.10.) Innsbruck Tiroler Landestheater L. Hübner / S. Nemitz: Furor (A. Mair, 05.10., ÖEA); R. Biltgen: Robinson. Meine Insel gehört mir (L. Müller, 11.10.); Molière: Der Menschenfeind (R. Frey, 12.10.) Jena Theaterhaus A. J. Schulte: Wo ist das Theater? (Wunderbaum, 18.10., UA) Karlsruhe Badisches Staatstheater S. Hornbach: Planet B (D. Delker, 02.10.); I. Bergmann: Passion – Sehnsucht der Frauen (A. Bergmann, 05.10., UA); Casino Global (L. Talamonti, 13.10., UA) Kiel Theater n. J. Steinbeck/F. Galati: Früchte des Zorns (M. Kreutzfeldt, 05.10.); A. Rohde: Die Reise auf den Planeten der Röbotierlinge (J. Echeverri Ramírez, 05.10.)


aktuell

/ TdZ  Oktober 2019  /

Berlin Internationales Festival des zeitgenössischen Figuren- und Objekttheaters

23.10.— 29.10. 2019

Schaubude

Theater der Dinge

Klagenfurt Stadttheater n. Gebrüder Grimm: Vom Fischer und seiner Frau (K. Huck, 02.10.); P. Handke: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (R. Schuster, 10.10.) Konstanz Theater Ö. v. Horváth: Kasimir und Karoline (C. Nix/Z. Haerter, 11.10.); M. Rinke: Wir lieben und wissen nichts (S. Eberle, 19.10.) Krefeld Theater E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (S. Mey, 04.10.); ­Molière: Tartuffe (D. Baron, 05.10.); U. Cyran n. A. Frank: Das Tagebuch der Anne Frank (U. Cyran, 22.10.) Landshut kleines theater – Kammerspiele n. Euripides: Medea (S. Grunert, 04.10.); A. Tschechow: Jetzt käme der Kuss (C. Schmidt-Schaller, 11.10.); A. Schimkat: Must be love (D. Shiner, 25.10.) Leipzig Cammerspiele Studio Urbanistan: The Sunset Looks Violent (Studio Urbanistan, 10.10., UA); 196ff (C. Hanisch/R. Endt, 11.10., UA) Schauspiel H. v. Kleist: Die Hermannsschlacht (D. D. Pařízek, 03.10.); J. Flierl/M. Dietz: Wismut – A Nuclear Choir (J. Flierl/ M. Dietz, 05.10.); n. H. C. Andersen/ G. Burger/S. Beer: Die Eisjungfrau (S. Beer, 26.10., UA) Theater der Jungen Welt L. Graf: psst! (L. Graf, 03.10., UA) Linz Landestheater F. Raimund: Der Verschwender (G. Schmiedleitner, 12.10.); T. Bernhard: Ritter, Dene, Voss (S. Suschke, 31.10.) Lübeck Theater Fifty Shades of Porn (V. Türpe, 20.10.) Magdeburg Theater B. Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (T. Kramer, 03.10.); N. Raine: Konsens (K. Langenbach, 04.10.); A. Camus: Die Pest (K. Minkowski, 05.10.); Utop 89 … und wer kümmert sich um die Fische? (M. Kiderlen/K. Willems, 05.10., UA); D. Kehlmann: Heilig Abend (T. Kramer, 31.10.) Mainz Staatstheater O. Preußler: Krabat (M. Naujoks, 06.10.) Meiningen Staatstheater E. Toller: Hinke­mann (T. Rott, 03.10.) München Residenztheater E. Palmetshofer: Die Verlorenen (N. Schlocker, 19.10., UA); M. Gorki: Sommergäste (J. H. Gibbins, 25.10.); T. Luz/D. Ives: Olympiapark in the Dark (T. Luz, 26.10., UA); Münster Wolfgang Borchert Theater M. Delaporte/A. d. l. Patellière: Alles was sie wollen (K. Sievers, 10.10.) Neuss Rheinisches Landestheater P. Maar: In einem tiefen, dunklen Wald (D. Schirdewahn, 27.10.) Nürnberg Staatstheater D. Kehlmann: Heilig Abend (M. Loibl, 03.10.); C. Ercan: I love you, Turkey! (S. Kara, 05.10., DSE) Osnabrück Theater S. Lütje/C. Schildt/n. Gebrüder Grimm: Aschenputtel (K. Birch, 13.10.); n. F. Kafka: Kafka (D. Schnizer, 26.10., UA)

www.schaubude.berlin

Paderborn Theater – Westfälische Kammerspiele P. Löhle: Die Bremer Stadtmusikanten (D. Strahm, 30.10.) Pforzheim Theater S. Seidel: Barbie, schieß doch! (S. Mey, 17.10.) Potsdam Hans Otto Theater Masteroff/ Ebb/Kander: Cabaret (B. Mottl, 18.10.); R. Kricheldorf: Homo Empaticus (U. Müller, 24.10.) Rendsburg Schleswig-Holsteinisches Landestheater B. Bjerg: Auerhaus (E. Brunner, 18.10.); n. W. Rose/M. Caleita/E. Cörver: Ladykillers (W. Apprich, 19.10.) Reutlingen Theater Die Tonne F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (M. Schneider-Bast, 10.10.) Rostock Volkstheater D. Schroeder/ AKA:NYX: Looking for Freedom (D. Schroe­ der/AKA:NYX, 03.10., UA); I. Keun: Das kunstseidene Mädchen (O. Strieb, 12.10.); Sophokles: König Ödipus (L. S. Langhoff, 19.10.); M. Frisch: Andorra (S. Thiel, 26.10.) Saarbrücken Saarländisches Staats­ theater N. Haidle: Ada und ihre Töchter (T. Köhler, 31.10.) Überzwerg – Theater am Kästnerplatz n. T. Michels/­S. Rolser/ n. R. Michl: Es klopft bei Wanja in der Nacht (S. Rolser, 13.10.) Schwedt/Oder Uckermärkische Bühnen J. Kirsten: Till Ulenspiegel – Eine Liebe

für Flandern (R. Simon, 05.10., UA); Kitsch! (F. Ranglack, 31.10.) Stendal Theater der Altmark That’s Life! Best of Swing (C. Jung/A. Dziuk, 18.10.); K. Šagor: Patricks Trick (L. Villinger, 19.10.) Stralsund Theater Vorpommern N. Soleimanpour: Weißes Kaninchen, Rotes Kaninchen (S. Löschner, 16.10.) Stuttgart Schauspielbühnen F. Coste: Nein zum Geld! (S. Khodadadian, 25.10.) Tübingen Landestheater S. Sinha: Erschlagt die Armen! (P. Richter, 03.10.) Ulm Theater n. T. Bernhard: Alte Meister (D. Krönung, 03.10.); U. Schmidt: Berblinger, Schneider (K. Drechsel, 03.10., UA); J. v. Düffel: Ikarus (J. Brandis, 05.10., UA) JUB – Junge Bühne M. Wendt: Goldzombies (S. Wisser, 13.10.) Weimar Deutsches Nationaltheater D. Batliner / C. Cedó / G. Helminger / V. Klepica/ D. Laucke / R. C. Schnyder / C. Székely / A. Teede: Identität Europa (K. Hilbe/R. D. Kron, 03.10., UA); J. W. v. Goethe: Urfaust (T. Wellenmeyer, 06.10.); Ö. v. Horváth: Glaube Liebe Hoffnung (J. Kruse, 27.10.) Wien brut I. Fiksdal: Diorama (I. Fiksdal, 05.10., ÖEA); G. Steinbuch: Oratorio Europa (G. Steinbuch/P. Rinnert, 08.10., UA); A. Wolkow: Der Zauberer

der Smaragdstadt (S. Wolfram, 13.10.); irreality tv: Der Hantologische Kongress (irreality tv, 23.10., UA); S. Sourial: Colonial Cocktail Volume 3: Digestivo (S. Sourial, 23.10., UA) Burgtheater G. Danckwart: Theblondproject (G. Danck­ wart/C. Peters, 05.10., UA); T. Appelgren: Thomas und Trygvve (A. Sczilinski, 06.10., ÖEA); M. Bulgakov: Meister und Margarita (T. Ojasoo/E. Semper, 17.10.); J. Horwood/n. G. Cross: Wie versteckt man einen Elefanten? (I. Berk/M. Millar, 26.10., UA) Kosmos Theater A. Bremer/ n. I. Brdar: Rule of Thumb (Daumen­ regeln) (N. Kusturica, 09.10., ÖEA) thea­ tercombinat C. Bosse/n. L. A. Seneca: Thyestes Brüder! Kapital – Anatomie ­einer Rache (C. Bosse, 02.10.) Wiesbaden Hessisches Staatstheater H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (U. E. Laufenberg, 26.10.) Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord E. Kästner: Fabian. Der Gang vor die Hunde (T. Egloff, 19.10.); O. Lavie: Der Bär, der nicht da war (C. Tietz, 27.10.) Winterthur Theater F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (E. Perrig, 23.10.) Würzburg Mainfranken Theater F. Wittenbrink/G. Greiffenbach: Comedian Harmonists (A. Wledermann, 19.10.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater H. Lewis/J. Sayer: Mord auf Schloss Haversham (R. Hentzschel, 19.10.) Zwickau Theater R. May: Die bessren Zeiten sagen guten Tag (R. May, 03.10.); n. J. Becker: Wir sind auch nur ein Volk (J. Jochymski, 05.10.)

FESTIVAL Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm NORSK. Festival für norwegische Musik, Literatur und Performance (15.10.–19.10.)

TdZ ONLINE EXTRA

www

Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www.theaterderzeit.de

/ 85 /


aktuell

/ TdZ Oktober 2019  /

Die backstage-Reihe von Theater der Zeit geht in eine neue Runde: „Klaußner“ heißt der ­Gesprächsband kurz und knackig, für den TdZ-Autor Thomas Irmer den Theater-, Filmund Fernsehschauspieler Burghart Klaußner vors Mikrofon bat. Die Buchpremiere fand am 30. August auf der Seebühne Hiddensee statt. Mit an Bord waren der Autor Thomas Irmer, Burghard Klaußner und der Leiter der Seebühne Hiddensee Karl Huck. v.l.n.r.: Karl Huck, Burghart Klaußner und Thomas Irmer. Foto Theater der Zeit v.l.n.r.: Fritz Behrens, Raimund Hoghe und Ursula Sinnreich. Foto Katja Illner / Kunststiftung NRW

Wie in seinem Porträt einer Frankfurter Hausbesitzerin, die in den 1980er Jahren Nein zur Zerstörung ihres Viertels durch den Bau von Europas höchstem Hochhaus sagte, berichtete der Autor, Choreograf und Tänzer ­Raimund Hoghe schon früh über Menschen, die Haltung zeigen und ihren eigenen Weg gehen. Zahl­ reiche Texte sind so über die Jahre entstanden, die nun in dem bei Theater der Zeit erschienenen Buch „Wenn keiner singt, ist es still“ veröffentlicht wurden. Am 6. September wurde der Band in der Kunststiftung NRW in Düsseldorf vorgestellt. Bei der Veranstaltung zugegen waren Raimund Hoghe, der Präsident der Kunststiftung Fritz Behrens, die Generalsekretärin der Kunststiftung Ursula Sinnreich und TdZ-Geschäftsführer Paul Tischler.

Seht der Teiresias sieht In die Sonne die ungerührt Diese Geschichte bescheint: Wir werden sehen sagt Der Blinde. Und sagt wahr.

ISBN 978-3-95749-199-2

www.theaterderzeit.de

B. K. Tragelehn Roter Stern in den Wolken 2

TdZ_Rech_145_Roter Stern 2_Tragelehn_2019_Cover_final 2.qxp__ 11.07.19 10:31 Seite 1

Recherchen 145

/ 86 /

B. K. Tragelehn

Roter Stern in den Wolken 2

Am 11. September präsentierte B. K. Tragelehn sein neuestes Buch „Roter Stern in den Wolken 2“ im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin. Das Werk versammelt Zeugnisse seiner Theaterarbeiten und seines Lebens. Der Germanist Kai Bremer moderierte die Veranstaltung, die im Rahmen der ­ ­Reihe „Fragen an Heiner Müller – Klassengesellschaft reloaded und das Ende der Gattung“ stattfand.

B. K. Tragelehn (l.) und Kai Bremer. Foto Theater der Zeit

Er zählt zu den Stars der internationalen Ballettwelt: Dinu Tamazlacaru, seit 2012 Erster Solotänzer des Staatsballetts Berlin. Einblick in die Karriere dieses faszinierenden Tänzers gibt Jan Stanislaw W ­ itkiewiczs Buch „Dinu Tamazlacaru“. Im Apollosaal der Staatsoper Berlin fand am 10. September die Buchpremiere statt, in Anwesenheit von Dinu Tamazlacaru, der stellvertretenden Intendantin und Betriebsdirektorin des Staatsballetts Berlin Christiane Theobald und TdZ-Geschäftsführer Paul Tischler.

v.l.n.r.: TdZ-Verwaltungsleiterin Hjördis Gesang, Erster Solotänzer des Staatsballetts Berlin Dinu Tamazlacaru, TdZ-Geschäftsführer Paul Tischer und die stellvertretende Intendantin des Staatsballetts Berlin Christiane Theobald. Foto iKlicK Fotostudio


impressum/vorschau

AUTOREN Oktober 2019 Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Mathias Balzer, Kulturredakteur, Basel Felix Ensslin, Autor und Regisseur, St. Vith Joachim Fiebach, Theaterwissenschaftler, Berlin Natalie Fingerhut, freie Autorin, Hamburg Theresa Luise Gindlstrasser, freie Autorin, Wien Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Frederike Juliane Jacob, Theaterwissenschaftlerin, Fröndenberg Sebastian Kirsch, Theaterwissenschaftler, New York Renate Klett, freie Autorin, Berlin Mark Lammert, bildender Künstler, Berlin Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Stefan Petraschewsky, Hörfunkredakteur, Halle Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Berlin Hugo Velarde, Autor und Übersetzer, Berlin Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Lina Wölfel, Theaterwissenschaftlerin, Hildesheim Erik Zielke, Lektor, Berlin TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2019/10

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer und Harald Müller Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Redaktion Dorte Lena Eilers +49 (0) 30.44 35 28 5-17, Harald Müller (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-20, Anja Nioduschewski +49 (0) 30.44 35 28 5-18 redaktion@theaterderzeit.de Dr. Gunnar Decker, Jakob Hayner

Vorschau

Thema Das Jahr 1989: „Von den Folgen her betrachtet“, schrieben Thomas Flierl und Frank Raddatz im Theater der Zeit-Arbeitsbuch 2009, „ist dieses historische Jahr womöglich noch gar nicht zu Ende, sondern fängt gerade erst an, indem es, verspätet, auch die westlichen Gesellschaften zur Transformation zwingt.“ Dreißig Jahre später lässt sich dieser Satz nur bestätigen. Die Gesellschaften befinden sich, global gesehen, nach wie vor im rasenden Umbruch. Nicht selten suchen Menschen dabei Schutz bei rechts­ populistischen bis rechtsradikalen Parteien, die sich als die großen Ausbremser stilisieren. Wir beschäftigen uns im November mit den innerdeutschen Spezifika, sprechen u. a. mit dem Präsidenten der Zentrale für politische Bildung Thomas Krüger und ­blicken mit dem Soziologen Wolfgang Engler auf die vergangenen dreißig Jahre zurück.

Improvisierter Friedhof in Kabul. Foto AHRDO

Mitarbeit Claudia Jürgens, Eva Merkel (Korrektur), Marietta Weber (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Kathrin Tiedemann Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Yann Bachmann, Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PieReg Druckcenter Berlin GmbH 74. Jahrgang. Heft Nr. 10, Oktober 2019. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 02.09.2019

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

/ 87 /

Demonstration für die Öffnung der DDR-Grenzen am 4. September 1989 in Leipzig. Foto dpa

/ TdZ  Oktober 2019  /

Ausland Wenn in Afghanistans Hauptstadt Kabul ein paar Hundert Meter von einem Selbstmordattentat entfernt ein Theater­ kollektiv ein Antikriegsstück probt, geht übersprudelnde Kreativität innerhalb weniger Minuten in innerliche Qual über. Zeit ist plötzlich ein verrinnendes Gut, und die Proben stehen in Konkurrenz zu solidarischer Notfallhilfe. Der Theatermacher Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn war als Teil des Schauspielerkollektivs vor Ort bei den Proben und berichtet von einem Tag, an dem eine Gewalttat nicht nur die Menschen zusammenschweißte, sondern auch eine tiefe Mutlosigkeit auslöste. Dennoch fand nur 48 Stunden später eine Theaterpremiere statt: genau im richtigen ­Moment, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meinen. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. November 2019.


Was macht das Theater, Sewan Latchinian? Herr Latchinian, nach drei Jahren Theater-

kind und Arthur Schnitzler bis zu Jean-

abstinenz sind Sie seit dieser Spielzeit

Paul Sartre und Thornton Wilder. Da

Künstlerischer Leiter der Hamburger Kam-

möchte ich gern anknüpfen. Und ebenso

merspiele. Wie ist es Ihnen in der Zeit seit

an die große Schauspielertradition, von

dem unfreiwilligen und auch unfeierlichen

Elisabeth Bergner, Gustaf Gründgens bis

Abschied aus Rostock ergangen?

zu Ulrich Mühe und Susanne Lothar, die

Manchmal habe ich mich wie Philoktet

mit Peter Zadeks Inszenierung von

auf Lemnos gefühlt, aber ich kann

Sarah Kanes „Gesäubert“ 1999 zum ­

auch sagen, es waren die längsten

Theatertreffen eingeladen wurden.

Theater­ferien meines Lebens. Auf welche Schauspieler setzen Sie moSie haben den juristischen Streit um Ihre

mentan?

unrechtmäßigen Entlassungen vom Volks-

Nicole Heesters spielt seit Ende Sep-

theater gewonnen. Empfinden Sie darüber

tember in „Marias Testament“ von

Genugtuung?

Colm Tóibín, mit Peter Bause und

Das ist schon ein Trauma. Während ich

­Pierre Sanoussi-Bliss inszeniere ich ge-

in Rostock um die Erhaltung der Sparten

rade – etwas aktualisiert – „Ich bin

und gegen die Entlassung von Sängern,

nicht Rappaport“ von Herb Gardner, ein

Tänzern und Schauspielern kämpfte,

Stück über Männerfreundschaft.

spielten andere hinter meinem Rücken Die Kammerspiele sind ein Privattheater,

ganz andere Spiele, ich muss sogar von Verrat sprechen. Auch danach habe ich sehr wenig Solidarität in der Theaterwelt erlebt. Andere feiern sich seitdem als Intendanten des Volkstheaters, und ich bin der fristlos Entlassene. Da wusste ich wirklich nicht, ob ich noch mal zurück in die Theaterwelt will. Ich bin ja auch A ­utor und habe zudem andere Qualifikationen erworben, etwa eine Sprengb­erechtigung als Taucher bei der

Intrigen und Verrat. Was wie ein spannendes Sujet für ein Kammerspiel klingt, wurde für Sewan Latchinian Realität: Nur kurz dauerte seine Ära als Intendant am Volkstheater Rostock, bis er – unrechtmäßig, wie Gerichte jetzt entschieden – 2015/16 entlassen wurde. Zurückgekehrt aus den „längsten Theaterferien“ seines Lebens, hat Latchinian nun einen neuen Posten angetreten: als Künstlerischer Leiter der Hamburger Kammerspiele. Foto Anatol Kotte

NVA. Aber dass es nun einen Theater-

das sich sein Geld erspielen muss. Liegt da der Boulevard nicht nahe? Schenkelklopfmentalität hat mit den Kammerspielen nichts zu tun. Und ­finanzielle Not bin ich gewohnt. Allerdings dachte ich in Senftenberg, dass ein Fünf-Millionen-Etat schon die ­Unterkante des Machbaren sei – wir haben hier einen Zuschuss von einer Million. Da muss man noch mal anders rechnen – aber für mich ist es großartig zu sehen, mit welchem Idealismus hier ge-

pakt gibt, der die Existenz der Bühnen in Mecklenburg-Vorpommern endlich sichert, da-

es doch bemerkenswert, dass Sie die Kam-

arbeitet wird. Die Schauspieler etwa proben

für hat es sich gelohnt.

merspiele an dritter Stelle nennen! Dem In-

sechs Wochen ohne Probenpauschale, erst

tendanten Axel Schneider, entsetzt von den

danach beginnen sie zu verdienen. Die Auf­

Ist das Buch, das Sie schreiben wollten, inzwi-

Horrormeldungen aus der Nachbarschaft, ge-

gabe also ist auch hier wieder, aus materiellem

schen fertig, und was bekommen wir da zu lesen?

fiel meine künstlerische Arbeit in Rostock

Mangel und Freundlichkeit poetischen Reich-

Sechshundert Seiten liegen schon vor. Der

und Senftenberg. Er kannte mich aber auch

tum zu zaubern.

Roman ist in der Endphase. Er kreist um die

schon als Schauspieler am Deutschen Thea-

große Frage von Kultur und Barbarei. Ein

ter in Berlin. Ich habe hier erst eine Regie

Und Sie selbst werden auch wieder öfter als

Jahrhundert wird besichtigt, basierend auf

gemacht und wurde dann von ihm eingela-

Schauspieler zu sehen sein, im November wan-

meiner

den, Künstlerischer Leiter zu werden.

deln Sie auf den Spuren von Eberhard Esche,

deutsch-armenischen

Familienge-

der einst am Deutschen Theater mit „Deutsch-

schichte. Der Völkermord 1915 an den Armeniern – auch unter deutscher Beteiligung –

Welche Akzente wollen Sie setzen?

land ein Wintermärchen“ für Furore sorgte –

steht am Anfang, aber auch andere prägende

Das Kammerspielformat, befördert durch die

­begleitet von der Band Wallahalla.

Ereignisse in meinem Leben wie die NVA oder

Architektur des Hauses, reizt mich, gerade in

Esche, das Deutsche Theater und das „Winter-

die Rostocker Zeit kommen vor.

der möglichen intimen Verbindung von Text

märchen“, das sind so Prägungen, die ich gerne

und Spiel. Meine Mutter hatte mir einst Wolf-

überall hin mitnehme. Zumal Heine ja bei sei-

Sie sagen, beinah hätten Sie mit dem Theater

gang Borcherts „Draußen vor der Tür“ in den

ner Reise tatsächlich nach Hamburg kam.

gebrochen. Nun aber doch nicht. Wie kamen Sie

Nikolausstiefel getan – ein ungeheures Leseer-

gerade an die Hamburger Kammerspiele, die im

lebnis. Und nun an dem Haus zu arbeiten, wo

Die Hamburger Kaufleute!

Schatten des Thalia Theaters oder des Hambur-

dieses Stück 1947 zu Uraufführung kam, ist

Ja, aber immer auch Hanseaten mit großem

ger Schauspielhauses stehen?

wunderbar. Die Hamburger Kammerspiele sind

Respekt vor der Kultur und mit Selbstironie.

Hamburg hat mehr als dreißig Theater, da ist

von großen Texten geprägt – von Frank Wede-

Die Fragen stellte Gunnar Decker.


25.10. – 9.11.2019

spielart.org München Eine Initiative der Stadt München und der BMW Group


29. November 2019 Münchner Premiere

PREMIEREN 2019/2020

Residenztheater

AUFGANG VOR SONtshNofeEN mann r nach Gerhart Haupt von Ewald Palme locker Inszenierung Nora Sch

sidenztheater 19. Oktober 2019 Re werk ags ftr /Au ung Uraufführ von Ewald Palme locker Inszenierung Nora Sch

LEONCEchnUerND LENA nach Georg Bü Inszenierung Thom Luz

villiéstheater 20. Oktober 2019 Cu re mie Pre ner nch Mü

USKE TIERE DIE DREIDuM mas nach Alexandre von Antonio Latella in einer Bearbeitung lini Bel co eri Fed und Latella Inszenierung Antonio sidenztheater 25. Oktober 2019 Re

GÄSTE SOMMER rki von Maxim Go ibbins Inszenierung Joe Hill-G rstall 26. Oktober 2019 Ma Uraufführung

OLYMPIAPARK IN THE DARK Luz

m Bild in Klängen von Tho n von Charles Ives nach einer Kompositio Inszenierung Thom Luz sidenztheater 30. Oktober 2019 Re re mie Pre Münchner

ESTERN DREI SCHnacWh An ton Tschechow von Simon Stone ne Inszenierung Simon Sto

villiéstheater 8. November 2019 Cu werk ags ftr /Au ung ühr uff Ura

DER RISS DURCH DIE WELT rten Unterhaltung gescheite 170 Fragmente einer fennig von Roland Schimmelp Köhler ann Tilm ung ier zen Ins

sidenztheater 16. November 2019 Re

rstall 19. Dezember 2019 Ma werk Uraufführung /Auftrags

K ASSANDRA / PROME THEUS. RECHT AUrF WELT von Kevin Rittberge tenmüller Inszenierung Peter Kas

Residenztheater 20. Dezember 2019 werk ags Uraufführung /Auftr

DER EINGEBILDE TE KRANKE Molière von PeterLicht nach Bauer Inszenierung Claudia

enztheater 23. Januar 2020 Resid

E STAMM DER STAMaRrieKluis e Fleißer Volksstück von lscher Inszenierung Julia Hö

enztheater 31. Januar 2020 Resid Münchner Premiere

WOYZECerK

von Georg Büchn che Inszenierung Ulrich Ras sidenztheater 21. Februar 2020 Re

RENINAvon Lew Tolstoi ANNA K Anam igen Roman nach dem gleich nkel Inszenierung Karin He all 12. März 2020 Marst

NG DER DRA Franz Xaver Kroetz Volksstück von ier Inszenierung Lydia Ste

ÄUBERTOCHTER 20. L DES LEBENS RONJA Rnam SPIE un igen Roman nach dem gleich von Astrid Lindgren Kranz Inszenierung Daniela

theater März 2020 Residenz

von Knut Hams n Kimmig Inszenierung Stepha

sidenztheater 21. November 2019 Re re mie Münchner Pre

enztheater 27. März 2020 Resid re Münchner Premie

Lustspiel von He lscher Inszenierung Julia Hö

von Tony Kushn ne Inszenierung Simon Sto

YON AMPHITinrRich e von Kleist nach Molièr LULU

Marstall

von Frank Wedekind Kraft Inszenierung Bastian

DER PREIS HEN DES MENSC enberger

sidenztheater 7. Dezember 2019 Re Münchner Premiere

RENEN DIE VERLO tshofer

22. November 2019

all 24. April 2020 Marst Uraufführung

AMERIK A ENGEL IN er enztheater 18. April 2020 Resid re mie Pre Münchner

TARTUFFE ODER DAS SCHWEIN SEN DER WEI t nach Molière von PeterLich Bauer Inszenierung Claudia

von Thiemo Strutz ić Inszenierung Miloš Lol

iéstheater 25. April 2020 Cuvill werk ags ftr /Au ung ühr uff Ura

LOLA M.liche Oper

Eine abenteuer von Georg Ringsgwandl Ringsgwandl, Inszenierung Georg r aie erm ach Michael Sch theater 15. Mai 2020 Residenz

TOD DANTONS er

von Georg Büchn Baumgarten Inszenierung Sebastian 21. Mai 2020 Marstall werk Uraufführung /Auftrags

T M – EINE STADT SUCH DER EINEN MÖR ion von Cathy van Eck Eine Konzertinstallat n und Schorsch Kameru ch Kamerun Inszenierung Schors Münchener Biennale Koproduktion mit der 10. Juni 2020 Marstall Uraufführung

IHRER SECHS ES WAREN namigen Roman nach dem gleich von Alfred Neumann von Tomasz Śpiewak in einer Bearbeitung rczuch Bo hał Mic ung ier Inszen theater 3. Juli 2020 Residenz

DERLAND GRAF Özw sch ölf Bildern von Max Fri Eine Moritat in Bachmann Inszenierung Stefan Theater Basel Koproduktion mit dem Rahmen von Anfang Juli 2020 im rstall Ma im » «Welt /Bühne Uraufführung

LINE BORDER naler Theaterabend

Ein dokufiktio von Jürgen Berger ung Lee Inszenierung Kyungs ul ative VaQi Theater Seo Cre mit n tio duk Kopro 9 Stand September 201

#wasistlosimresi residenztheater.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.