Theater der Zeit 10/2020 - House of Arts. Über Macht und Struktur am Theater

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Stefan Bartling: New Leadership an Theatern / Weil es böse ist: Das neue Stück von Rainald Goetz Tage der Gewalt: Report aus Belarus / Kornél Mundruczó über Ungarn / Kunstinsert Julius von Bismarck

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Oktober 2020 • Heft Nr. 10

Wiebke Puls / Skadi Jennicke / Sven Schlötcke

HOUSE of ARTS Über Macht und Struktur am Theater


Jossi Wieler (r.) und Sergio Morabito bei den Proben zu Pique Dame, Stuttgart 2017, Still aus dem Film Das Haus der guten Geister D/CH 2019 © mindjazz pictures

„Was die tiefste Humanität des Theaters ausmacht, ist die spannungsvolle, nahe und zugleich freie, keiner als der kreativen Effizienz unterworfene Interaktion auf der gemeinsamen Suche nach künstlerischem Ausdruck …“ Jossi Wieler, Mai 2020

Veranstaltungen der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin Oktober und November 2020 Donnerstag, 29. Oktober, 19 Uhr Hanseatenweg 10

Das Haus der guten Geister

Konrad-Wolf-Preis 2020 an Alexander Lang

Film von Marcus Richardt und Lillian Rosa, D/CH 2019, 103 Min Berlinpremiere Barrie Kosky im Gespräch mit Jossi Wieler, Marcus Richardt und Lillian Rosa

Preisverleihung Mit Alexander Lang, Volker Braun, Elisabeth Gaulhofer, Christian Grashof, Volker Pfüller, Hans-Dieter Schütt, Klaus Völker, Jutta Wachowiak

Kooperation mindjazz pictures

Freitag, 13. November Samstag, 14. November, 19.30 Uhr Hanseatenweg 10

Sonntag, 15. November Matinee, 11.30 Uhr Hanseatenweg 10

KULA Compagnie Europé – eine Nationalversammlung (2019)

Roberto Ciulli Der fremde Blick

Transnationales Projekt von Robert Schuster und Julie Paucker Mit Spieler*innen aus Frankreich, Polen, Deutschland, Afghanistan, Israel. Produktion der KULA Compagnie mit dem DNT Weimar, in Koproduktion mit Les Plateaux Sauvages, Paris, Akademie der Künste, Theater Chur Teatr Ludowy Krakau, AZA / France

Buchpräsentation Mit Roberto Ciulli, Navid Kermani (tbc), Alexander Wewerka u.a. Kooperation Alexander Verlag Berlin

Änderungen vorbehalten

Samstag, 24. Oktober, 19 Uhr Hanseatenweg 10

Gefördert durch:

www.adk.de


editorial

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S

Extra Der Aboauflage liegt bei

IXYPSILONZETT – Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater

o weit nach oben wie für Frank Underwood, der sich in der Netflix-Serie „House of Cards“ vom Kongressabgeordneten bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten emporintrigiert und dabei einen guten Schuss „Macbeth“ und „Richard III.“ erkennen lässt, führt der Weg im Theaterbetrieb gewöhnlich nicht. Und natürlich geht es nicht so blutig zu. Aber Throne werden auch hier besetzt – im buchstäblichen Sinne. Ausgerechnet am Theater, das sich gern gesellschaftskritisch gibt und insbesondere die Könige des dramatischen Kanons in Grund und Boden ironisiert, herrschen vorsintflutliche Leitungsstrukturen. Immer wieder hört man von Machtmissbrauch und einem angstbesetzten ­ ­Arbeitsklima; zuletzt vom Badischen Staatstheater Karlsruhe, wo Teile der Belegschaft sich öffentlich gegen den Intendanten Peter Spuhler gestellt haben. Dass sich dringend etwas ändern muss im House of Arts, darüber ist man sich weitgehend einig. Nur wie? In unserem Schwerpunkt über Macht und Struktur am Theater sprechen Dorte Lena Eilers und Christine Wahl mit Expertinnen und Experten, die aus verschiedenen Perspektiven auf die ­Problematik schauen. Sven Schlötcke, der Künstlerische Leiter und Geschäftsführer des Mülheimer Theaters an der Ruhr, hält Kollektivleitungen für eine gute Lösung – die Schauspielerin Wiebke Puls setzt prompt dagegen, aus ihren bisherigen Arbeitszusammenhängen besonders glückliche Erinnerungen an eine „klar patriarchal-hierarchische Struktur mit einer großartigen Führungspersönlichkeit“ zu besitzen. Kunstschädlich ist für Puls vor allem der aberwitzige Erwartungsdruck von Kulturpolitik, Presse und Publikum. Während der Coach Stefan Bartling, bei dem schon viele Theaterleute in Führungskräfteseminaren saßen, wiederum die „Zielabsprachen“ in der Branche „oft zu wachsweich“ findet und die Leipziger Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke für eine strikte Differenzierung zwischen „Führungsstruktur“ und „Führungskultur“ plädiert. Fest steht: Über die Zustände hinter den Kulissen wird – und muss – weiter debattiert werden. Auf der Bühne herrscht unterdessen fast schon wieder Post-Shutdown-Normalbetrieb – unter CoronaBedingungen. Schnell hat man sich daran gewöhnt, mit Mund-Nasen-Bedeckung durchs Foyer an seinen Platz zu huschen, wo man wegen der Abstandsregeln jetzt endlich die Beinfreiheit hat, von der man seit Jahren träumt – und sich nach den Nahkämpfen zurücksehnt, die man mit seinen Sitznachbarinnen und Sitznachbarn um den Gliedmaßenradius und die gemeinsamen Armlehnen geführt hat. Immerhin sieht es bislang nicht so aus, als würde sich flächendeckend „Korona“ durchsetzen, die neue „Seuchen“-Kunst, die Josef Bierbichler am Werke sieht und in seiner Kolumne sachkundig aus­ einandernimmt. Auch die Befürchtung, der postpandemische Wiedereröffnungsspielplan werde sich auf „Die Pest“ beschränken, hat sich nicht bewahrheitet. Am Schauspielhaus Hamburg steht statt ­Camus ein neuer Rainald Goetz auf dem Programm – der erste seit „Jeff Koons“, mithin seit über zwanzig ­Jahren. „Reich des Todes“, ein Stück über den 11. September und seine Folgen, verteidigt die Notwendigkeit des Blickes auf die Täter, schreibt Jakob Hayner in seiner Kritik zu Karin Beiers Uraufführung. Neue Stücke – von Sibylle Berg über Falk Richter bis zu Theresia Walser – dominierten auch das Kunstfest Weimar, dem Thomas Irmer bescheinigt, sich „als erstes deutsches Großfestival unter CoronaBedingungen bewährt“ zu haben. Es gibt also guten Grund zur Hoffnung, dass die Ruhrtriennale das letzte abgesagte Theaterfestival war. Martin Krumbholz porträtiert den Künstler Julius von Bismarck, der dort eine Performance mit Polizeirobotern präsentiert hätte. Diese und andere Arbeiten zeigen wir in unserem Künstlerinsert. Die Polizeipräsenz ist generell hoch in diesem Heft. Ralf Mohn war Ende August, als Teilnehmer einer Berliner Anti-Corona-Demonstration versuchten, die Stufen des Reichtags zu ersteigen, vor Ort und erinnert sich an andere „Stürme“, die er dort erlebt hat – zum Beispiel den theatralen von Milo Rau vor drei Jahren. Polizeieinsätze der gnadenlosen Art erleben gerade die Menschen, die in Minsk gegen den belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko protestieren, darunter viele Kultur- und Theaterleute. Johannes Kirsten beschreibt in seinem Report eine große Aufbruchsstimmung – und fühlt sich an 1989 erinnert. Das ist inzwischen schon über drei Jahrzehnte her. Friedrich Dieckmann blickt anlässlich des Wiedervereinigungsjubiläums noch einmal auf die „Faust“-Rezeption in der DDR zurück, Thomas Wieck denkt über die Spezifik des Theaters von Alexander Lang nach, der diesen Monat den Konrad-WolfPreis der Berliner Akademie der Künste erhält. Thomas Freyer spannt in seinem Stück „Stummes Land“, das wir in dieser Ausgabe drucken, den Bogen von der DDR-Geschichte ins Heute, und der Soziologe Steffen Mau erklärt, warum viele Ostdeutsche 1990 „in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“ wollten. // Die Redaktion

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Inhalt Oktober 2020 thema macht und struktur am theater

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House of Arts Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, Schauspielerin Wiebke Puls und Sven Schlötcke, Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer am Theater an der Ruhr, über Machtmissbrauch an Theatern im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

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Postheroische Führung Den Chef, der alles kontrolliert, gibt es nicht mehr – Der Coach Stefan Bartling über den notwendigen Kulturwandel am Theater im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

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künstlerinsert

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Videoarbeiten und Installationen von Julius von Bismarck

6

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Martin Krumbholz Blick in den Glutkern der Existenz Der Künstler Julius von Bismarck vergleicht sein Verfahren mit dem psychologischen Rorschachtest

kommentar

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Ralf Mohn Die Treppe der anderen Thema mit Variationen: Der Sturm auf den Reichstag und sein tanztheaterähnliches Moment

protagonisten

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Jakob Hayner Weil es böse ist Rainald Goetz hat ein neues Stück über den 11. September und die Folgen geschrieben – Ein Bericht von der Hamburger Uraufführung

ausland

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Johannes Kirsten Wir glauben! Wir können! Wir siegen! Ein Report über die belarussische Kultur- und Theaterszene, die im Zentrum der Proteste gegen Staatschef Lukaschenko steht

kolumne

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Josef Bierbichler Die Dialektik des Elfenbeinturms Über die Seuchen-Kunst Korona und ihre Kritiker

protagonisten

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33 Thomas Wieck Die Eigen-Art mobilisieren Alexander Langs Weg vom Schauspieler zum Regisseur – Eine biografische Skizze anlässlich der Verleihung des Konrad-Wolf-Preises in der Berliner Akademie der Künste

34

Friedrich Dieckmann Und was machen wir mit Mephisto? Goethes „Faust“ im deutschen Staatssozialismus

38

Thomas Irmer Am Wochenende keine Drogen nehmen Das Kunstfest Weimar bewährt sich als erstes deutsches Großfestival unter Corona-Bedingungen

festivals


PREMIEREN 2020/2021

nztheater

Reside 20. November 2020,

GOTT

irach von Ferdinand von Sch böck ber Fär x Ma ung ier Inszen nztheater

Residenztheater 25. September 2020,

ide 11. Dezember 2020, Res

nach der gleich ist von Heinrich von Kle che Ras ich Ulr ung ier Inszen

Titov Inszenierung Evgeny

TER ULMEN BEBEN IN CHILI GIER UNeill DAS ERDnam igen Novelle von Eugene O’N Marstall 26. September 2020, erk gsw ftra /Au ung Uraufführ

M (3) – EINE STADT ER D SUCHT EINEN MÖRER OD (HÄSSLICHE FURCHTEHR?) NW GE GE TE SCHÖNS von ion Eine Konzertinstallat orsch Kamerun Sch und Eck van thy Ca a von Harbou The und g Lan tz nach Fri erun Kam ch ors Inszenierung Sch rstall 3. Oktober 2020, Ma Uraufführung

LINE BORDERJür gen Berger Dokufiktion von Sung Lee Inszenierung Kyung-

idenztheater

9. Oktober 2020, Res Uraufführung

EN ALLE EINER GEG ige nam n Roman nach dem gleich von Oskar Maria Graf Eisenach Inszenierung Alexander rstall 11. Oktober 2020, Ma Uraufführung

DER PREIS SCHEN DES MEN utzenberger von Thiemo Str ić Inszenierung Miloš Lol

idenztheater

30. Oktober 2020, Res

DANTONSer TOD

von Georg Büchn Baumgarten Inszenierung Sebastian rstall 7. November 2020, Ma Uraufführung

MEHR SCHWARZ ALS LILA Projekt mit Jugendlichen Ein partizipatives ler des Ensembles und einem Schauspie n Roman ige nach dem gleichnam ik rel Go a Len von itet von Lena Gorelik für die Bühne bearbe Kranz la nie Inszenierung Da Residenztheater 14. November 2020, gswerk Uraufführung /Auftra

DER KREIS UM NE DIE SONimm elpfennig von Roland Sch locker Inszenierung Nora Sch

rstall 19. Dezember 2020, Ma erk gsw ftra /Au ung Uraufführ

TZ MARIENPBuLA kowski

von Beniamin M. Dömötör Inszenierung András re Konzertante Vorpremie idenztheater 31. Dezember 2020, Res gswerk Uraufführung /Auftra

LOLA M.liche Oper

Eine abenteuer gsgwandl von und mit Georg Rin gsgwandl Rin org Ge ung ier Inszen theater Januar 2021, Cuvilliés erk gsw ftra /Au ung Uraufführ

DIE WOLKEN, DIE VÖGEL, M DER REIChHMoTU tiven von Aristophanes von Thom Luz nac Inszenierung Thom Luz

heater Januar 2021, Residenzt

HAMLETkespeare

von William Sha Borgmann Inszenierung Robert Februar 2021, Marstall Uraufführung

ES WAREN HS IHRER SECige n Roman

nach dem gleichnam von Alfred Neumann von Tomasz Śpiewak in einer Bearbeitung rczuch Bo hał Inszenierung Mic

ter

hea März 2021, Residenzt

ENGEL INr AMERIKA von Tony Kushne ne Inszenierung Simon Sto März 2021, Marstall Uraufführung

ERINNERUNG HENS EINES MÄDC n nach der gleichnamige ählung autobiografischen Erz aux Ern nie An von sta Inszenierung Silvia Co heater April 2021, Residenzt

G DEKALOnam igen Drehbuch nach dem gleich i und von Krzysztof Kieślowsk Krzysztof Piesiewicz Bieito Inszenierung Calixto April 2021, Marstall gswerk Uraufführung /Auftra

TEILE (HARTES BROT) von Anja Hilling t» von Paul Claudel nach «Das harte Bro lscher Hö ia Jul ung Inszenier heater April 2021, Residenzt

TARTUFFE ODER DAS SCHWEIN N DER WEInacSE h Molière von PeterLicht Bauer Inszenierung Claudia ter

Mai 2021, Residenzthea

DERLAND GRAF Özwö lf Bildern Eine Moritat in von Max Frisch hmann Inszenierung Stefan Bac ter

Mai 2021, Residenzthea

S SPIEL DES LEBEN E GI DIE KARENO-TRILO

von Knut Hamsun Kimmig Inszenierung Stephan

nztheater Februar 2021, Reside gswerk Uraufführung /Auftra

Juni 2021, Marstall

von Simon Stone ön von Horváth nach Motiven von Öd ne Sto on Sim ung ier Inszen

von Joe Orton Kraft Inszenierung Bastian

UNSERE ZEIT März 2021, Marstall Uraufführung

S HERZ AUS GLAhbu ch igen Dre nach dem gleichnam sch nbu ter Ach rt von Herbe ie Jach Inszenierung Elsa-Soph ater März 2021, Cuvilliésthe gswerk ftra /Au ung ühr uff Ura

TAFF FALL FALS tshofer

von Ewald Palme liam Shakespeare nach Motiven von Wil locker Sch ra No ung Inszenier

WAS DER BUTLER SAH Juli 2021, Marstall

DER DRANG

Volksstück von Franz Xaver Kroetz ier Inszenierung Lydia Ste

Stand Juli 2020

#wasistlosimresi residenztheater.de


OKTOBER-NOVEMBER 2020

THEATER.FREIBURG.DE

DAMASKUS 2045 (DE)

MOHAMMAD AL ATTAR // REGIE OMAR ABUSAADA MR. EMMET TAKES A WALK PETER MAXWELL DAVIES

MUSIKALISCHE LEITUNG EKTORAS TARTANIS REGIE HERBERT FRITSCH

LEARNING FEMINISM FROM RWANDA FLINN WORKS // REGIE SOPHIA STEPF

DAS KALTE HERZ (UA)

THE TIGER LILLIES NACH WILHELM HAUFF

MUSIKALISCHE LEITUNG JOHANNES KNAPP

FOTO: BRITT SCHILLING

REGIE MICHAEL SCHACHERMAIER PIPPI LANGSTRUMPF

NACH ASTRID LINDGREN // REGIE MIRIAM GÖTZ HEDDA GABLER

HENRIK IBSEN // REGIE LYDIA BUNK


inhalt

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auftritt

43

Bochum „King Lear“ von William Shakespeare in der Neuübersetzung von Miroslava Svolikova in der Regie von Johan Simons (Martin Krumbholz) Bielefeld „Deinen Platz in der Welt“ (UA) von Dominik Busch in der Regie von Dariusch Yazdkhasti (Sascha Westphal) Hamburg „Paradies (fluten / hungern / spielen)“ von Thomas Köck in der Regie von Christopher Rüping (Anke Dürr) sowie „molto agitato“ mit Kompositionen von György Ligeti, Johannes Brahms, Georg Friedrich Händel und Kurt Weill in der Regie von Frank Castorf (Dorte Lena Eilers) Neubrandenburg / Neustrelitz „Wohnen. Unter Glas“ von Ewald Palmetshofer in der Regie von Andreas Kloos (Thomas Irmer) Wien / Hamburg „Mal – Embriaguez Divina“ (UA) von Marlene Monteiro Freitas und „Die Goldberg Variationen, BWV 988“ (UA) von Anne Teresa De Keersmaeker (Helmut Ploebst) Wiesbaden „Die Küste Utopias“ (DSE) von Tom Stoppard in der Regie von Henriette Hörnigk (Shirin Sojitrawalla)

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„Die Mehrheit wollte in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“ Aus Anlass von Thomas Freyers neuestem Stück „Stummes Land“: Der Soziologe Steffen Mau im Gespräch mit Christine Wahl

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Thomas Freyer Stummes Land

magazin

68

Ambivalente Karrieren In Frankfurt am Main eröffnet das erste „Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“ von Joana Tischkau, Elisabeth Hampe, Frieder Blume und Anta Helena Recke Leben und Liebe zwischen Küche und Fabrik Zum Tod des Dramatikers Karl Otto Mühl Bücher Heiner Müller, Veronika Darian und Peer de Smit

aktuell

74

Meldungen

76

Premieren im Oktober 2020

79

Autoren, Impressum, Vorschau

80

Kornél Mundruczó im Gespräch mit Tom Mustroph

42

stück

was macht das theater?

80

Titelfoto von Ben Wolf für Theater der Zeit (mit großem Dank an Hannes Peker).

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Videoarbeiten und Installationen von Julius von Bismarck: „OMOH“ (links), Installation view, Winzavod Center for Contemporary Art, Moscow, Russia 2014. Rechte Seite: „Talking to Thunder“, 2017, Courtesy the artist; alexander levy, Berlin; Sies+Höke, Düsseldorf and Marlborough Contemporary, New York/London. S. 6/7: „Fire with Fire“, 2020, Courtesy the artist; alexander levy Berlin; Sies+Höke, Düsseldorf and Marlborough Gallery, London/New York. Fotos Julius von Bismarck / VG Bild-Kunst, Bonn 2020


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Blick in den Glutkern der Existenz Der Künstler Julius von Bismarck vergleicht sein Verfahren mit dem psychologischen Rorschachtest von Martin Krumbholz

E

s scheint nicht abwegig, angesichts der Feuer-Installation J­ulius von Bismarcks an einige Verse von Paul Celan zu denken: „Harnischstriemen, Faltenachsen, / Durchstich- / punkte: / dein Gelände.“ Der so wunderbar eigensinnige Dichter verwendet hier einige sinnlich aufgeladene, aber fremd klingende Begriffe aus der Geologie. Die rumorende Erde hat eine zerstörerische Kraft, Tsunamis entstehen bekanntlich durch bewegliche Gesteins­ platten. Das Gelände, das Julius von Bismarck vermisst, wenn auch nicht mit der „Kluftrose“ (Celan), sondern eher am Computer, sind brennende Wälder in Schweden und Kalifornien. Die aus acht ­Keramikskulpturen bestehende Allee, die man zunächst durchschreitet, bevor man sich der breiten LED-Leinwand an der Stirnseite des Saals in der Bonner Bundeskunsthalle nähert, vermittelt ein paradoxes Gefühl von Kühle. Die Bilder des gut einstündigen Videos jedoch sind heiß, der Slow-Motion-Effekt und der (nicht veränderte, nur heruntergedimmte) Original-Sound wirken gleichermaßen unwiderstehlich aufs Unbewusste des B ­ etrachters. In manchen Sprachen gibt es nur zwei Farben, Schwarz und Weiß, aber wenn eine dritte hinzukommt, ist es immer Rot. Angefangen mit dem Prometheus-Mythos, über das archaische

Lagerfeuer, den Verbrennungsmotor, das Feuer als Metapher („Feuer und Eisen“, „Feuer und Flamme“), bis hin zur Hölle, die man sich seit alters her ultraheiß vorstellt, spielen die Farbe Rot und die magische Energie des Feuers in allen Epochen der Menschheit und in allen Kulturen eine dominante Rolle – jedoch keine eindeutige. Man kann vor dem heimeligen Feuer eines Kamins oder einer Kerze träumen, wie man sonst nie träumt; man kann aber ebenso gut vor Entsetzen erstarren, wenn man eine brennende Stadt oder einen brennenden Wald betrachtet, deren vernichtende Energie sich unmittelbar und unentrinnbar überträgt. Die Freiheitsstatue am Hafen von New York trägt eine ­Fackel, kein Schwert, wie Kafka glaubte oder kühn behauptete: Vielleicht mochte der Dichter sich nicht vorstellen, dass das Feuer eine stärkere Faszination und namentlich eine größere Ambi­ valenz zum Ausdruck bringt als ein Instrument des Kriegshandwerks. Eines der aus Keramik nachgebildeten Feuerdenkmäler in Bonn stellt die Freiheitsstatue dar. Die Flammen, die aus diesen

Julius von Bismarck und Julian Charrière, „I’m afraid I must ask you to leave“, 2018, Behind the scenes, Courtesy Julius von Bismarck and Julian Charrière; alexander levy, Berlin; Dittrich & Schlechtriem, Berlin; Sies+Höke, Düsseldorf; Marlborough Contemporary, London/New York. Foto Julius von Bismarck / VG Bild-Kunst, Bonn 2020


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Skulpturen züngeln, sind virtuell erzeugt; stellt man sich hinter die kleinen LED-Rotationsgeräte, sieht man sie nicht einmal. Im Video dann meint man zunächst zwei behelmte Arbeiter in ­einem Wald zu sehen, der eben zu brennen beginnt. Nach einer Weile stellt sich heraus, dass es sich um eine einzige Arbeiterin handelt, die man doppelt erblickt. Das Prinzip dieser Arbeit besteht nämlich darin, die präsentierten Aufnahmen symmetrisch zu d ­ uplizieren, zu einer Art Doppelhelix zu verdichten, wobei die Bilder eine zentrifugale Kraft entfalten: Sie spalten sich in der ­Mitte und weichen zu den Seiten hin aus. Das Knistern des Feuers wirkt im Soundtrack ungeheuer bedrohlich; das heißt, genau genommen ist das Feuer ja lautlos (wie es auch keineswegs ­ „brennt“), es sind die brennenden Objekte, die Geräusche ­machen. Der Ton eines brennenden, umstürzenden Baums etwa hat eine magische Intensität. Immer wieder fragt man sich als Betrachter, was genau man eigentlich sieht. Ist jenes baumartige Gebilde dort im Urwald vielleicht ein archaischer Altar, ein religiöser Fetisch? Und ist es Zufall, dass Baumstämme sich zu Kreuzen überschneiden, oder wurden die Bilder in diesem Sinn manipuliert? Ist es ein Tempel, der dort brennt, oder handelt es sich um bloßes Gestrüpp? Julius von Bismarck vergleicht sein Verfahren im Gespräch mit dem ­psychologischen Rorschachtest, bei dem die Probanden in einem schlichten Tintenklecks die unterschiedlichsten Dinge zu sehen glauben. In diesem Sinn gibt das Video keinerlei Deutung vor; der eine mag Fratzen, Tierköpfe oder Aliens erkennen, der andere ­womöglich Genitalien – der Künstler mischt sich da nicht ein. Die Bilder sollen „triggern“ und inspirieren, darauf kommt es an. Auf einer Lichtung erblickt man ausnahmsweise kein ­Feuer, sondern den Einfall der Sonne – eine fast idyllische (oder fatal verführerische?) Assoziation à la Caspar David Friedrich stellt sich ein. Dann: im Vordergrund rotes Gestein (oder Laub?), dahinter andersrotes Feuer. Wie ein Blitz zuckt eine Feuerhölle vor nachtschwarzem Hintergrund auf: Nicht umsonst spricht man vom „Inferno“. Dann plötzlich ein Löschflugzeug (verdoppelt wie alles andere); es sondert eine lava-rote Masse ab. Ein wiederum roter Ballon, an einem noch unsichtbaren Helikopter hängend, eine weiße Puderwolke fallen lassend. Ein winterlicher Schrottplatz, versengt und verseucht. Eine vollkommen zerstörte Bunkerlandschaft, mitten darin ein nagelneuer blauer Pick-up. Auf einem Schild vor einem Gelände mit komplett ausgebrannten Autos entziffert man: „Thank you Firefighters.“ Diese Szenarien erinnern in ihrer Rätselhaftigkeit an Filme des Russen Andrej Tarkowski. Der Künstler verwendet kein vorgefundenes Material, er hat alles selbst gefilmt, mehr oder weniger in der Reihenfolge, in der man die Aufnahmen sieht. Er habe dabei wenig „editiert“, sagt er. Keine Manipulationen durch Montage: Verlangsamung und Spiegelung sind die einzigen ästhetischen Eingriffe. Tarkowski eben – kein Eisenstein. Selbst die Feuerwehrleute, erzählt er, seien von der Gewalt des Feuers fasziniert. Manchmal legen sie ihrerseits Feuer, um einen anderen Brand an anderer Stelle zu verhindern. Waldbrände sind globale Lagerfeuer, sagt von Bismarck, sie hypnotisieren. Das Resümee dieser Vorgänge lässt sich nicht in einfache Worte fassen; ein Tintenklecks ist immer mehr als ein Tintenklecks. Julius von Bismarck wurde 1983 in Breisach am Rhein geboren und lebte die ersten sieben Jahre in Riad in Saudi-Arabien,

julius von bismarck

weil sein Vater dort beschäftigt war. Mit seinem langen Vollbart ist der Künstler eine markante Erscheinung. Nach Ausstellungen in aller Welt ist er inzwischen sehr gefragt. Bei der jüngst ausgefallenen Ausgabe der Ruhrtriennale, wobei Corona der offizielle Grund für die frühzeitige Absage war, hätte von Bismarck eine Performance gezeigt, bei der eine Korona von Polizisten zu sehen ist. Zumindest scheinbar. Die behelmten Polizisten in ihren Tarn­ anzügen stehen in einer Reihe, bilden eine undurchdringliche Phalanx, bedrohlich, unheimlich. Und dann die Überraschung: Es handelt sich gar nicht um Menschen, sondern um Roboter, um Puppen, die sich minimal bewegen. Plötzlich, gerade will man die Phalanx respektvoll umgehen, schert einer von ihnen aus: doch ein Lebender! Man kann sich vorstellen, was für eine Verunsicherung dieses Szenario erzeugt hätte. Celan, Tarkowski – es sind geheimnisvolle, zu Verrätselungen neigende Künstler, die man assoziiert, wenn man sich mit von Bismarcks Arbeiten beschäftigt. Die „Durchstichpunkte“, gibt es sie auch bei diesen, und wozu könnten sie dienen? Welche Wunden, welche Eiterherde werden „aufgestochen“? Was wird sichtbar? Oder ist alles Konstrukt, wie es bei Fotografie und Film ja die Regel ist? Die Polizisten sind das beste Beispiel: Beschützen sie uns, oder drohen sie uns vielmehr? Schützen sie „die Guten“, drohen „den Bösen“? An diese heile Welt dürfte kaum noch ­jemand glauben. Aber was dann? Und das Feuer, wie das große Video in Bonn es präsentiert, ist als Phänomen absolut zweideutig. Ohne Feuer hätte der Mensch vielleicht nicht überlebt, aber das Feuer ist auch von einer ungeheuren zerstörerischen Kraft. Sie fasziniert, und sie macht Angst. Diese Ambivalenz ist es, die Julius von Bismarcks singuläre Arbeiten uns nahebringen wollen. Der Blick in die Glut, ob erschrocken oder verträumt, könnte, psychoanalytisch verstanden, auch ein Blick sein in den Glutkern der eigenen Existenz. //

Julius von Bismarck, geboren 1983 in Breisach am Rhein, studierte von 2005 bis 2013, mit Zwischenstopp in New York, an der Uni­ versität der Künste in Berlin. Seine künstlerischen Arbeiten wurden weltweit ausgestellt. Zuletzt war die Fotoserie „Objects in Mirror Might Be Closer Than They Appear“, eine Kollaboration mit dem Künstler Julian Charrière, in der Reihe Berliner Luft, kuratiert durch die ­Galerie Dittrich & Schlechtriem, in Berlin zu sehen. Aktuell läuft die Ausstellung „Feuer mit Feuer“ in der Bundeskunsthalle Bonn, die noch bis zum 24. Januar 2021 zu sehen ist. Foto Julius von Bismarck

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Theatermacherinnen und Theatermacher präsentieren sich gern als wegweisende Gesellschaftskritiker: Jeden Abend werden auf der Bühne Könige vom Thron gestoßen und Autokraten zu armseligen Würstchen dekonstruiert. Hinter der Bühne sieht es leider oftmals anders aus: Es kommt zu Machtmissbrauch, Angst, kreativitätstötenden Arbeitszusammenhängen. Über die Problemlage und mögliche Auswege sprechen die Kulturpolitikerin S ­ kadi Jennicke, die Schauspielerin Wiebke Puls, der Theaterleiter Sven Schlötcke und der Coach Stefan Bartling – flankiert von Bildern aus Vegard Vinges und Ida Müllers „Nationaltheater Reinickendorf“, das seinen Zuschauern vor drei Jahren tiefe Einblicke in die Hinterzimmer der Intendanzen gewährte.


macht und struktur am theater

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House of Arts Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, Schauspielerin Wiebke Puls und Sven Schlötcke, Geschäftsführer und Künstlerischer Leiter am Theater an der Ruhr, über Machtmissbrauch an Theatern im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl Glanz und Elend: Unter diesem Titel veröffentlichten wir im Oktober 2016 ein Interview mit dem Schauspieler Shenja Lacher sowie Lisa Jopt und Johannes Lange vom Ensemblenetzwerk. Es ging um Machtmissbrauch und toxische Arbeitszusammenhänge an Theatern. Lacher, damals Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater, war einer der Ersten, der sein Unbehagen an Strukturen und Umgangsformen im Betrieb in dieser Form öffentlich machte. Vier Jahre später sprechen wir immer noch davon. In Karlsruhe beschuldigten jüngst große Teile der Belegschaft ihren Intendanten Peter Spuhler des Machtmissbrauchs. Das Theater gehört reformiert. Nur wie?

F

rau Puls, Frau Jennicke, Herr Schlötcke, Intendantinnen und Intendanten an Theatern werden, und so ist es für einen Ort der Kunst natürlich richtig, vorrangig nach künstlerischen Kriterien ausgewählt. Das Problem ist nur: Nicht zwangsläufig sind sie auch die besten Chefs. Temperament kollidiert mit Respekt, Narzissmus mit Teamfähigkeit, es kommt zu verbalen Entgleisungen, Drohungen, Machtmissbrauch. Unter dem Deckmantel der Kunst wurden derartige Zustände an Theatern lange toleriert. Handelt es sich dabei um ein spezifisches Theaterproblem? Wiebke Puls: Ob es ein spezifisches Theaterproblem ist, kann ich nicht sagen, denn ich lebe ja leider nur im Theater (lacht). Nein. Aber ja, es gibt Dinge, die ich mir in Bezug auf dessen Führung anders vorstellen könnte und wünschen würde.

Welche wären das genau? Puls: Intendantinnen und Intendanten sind mit zu vielen Erwartungen konfrontiert. Ich kenne keinen Menschen, der in der Lage wäre, all diese Erwartungen zu erfüllen. Es ist auch deplatziert, sie an eine einzige Person zu koppeln, denn ein Mensch kann Theater ja nicht alleine machen. Dennoch ist der Spot, sobald die Vom Teufel geritten – Der Künstlerische Leiter, der Produzent und der Geschäftsführer tagen in Vegard Vinges und Ida Müllers „Nationaltheater Reinickendorf“ bei den Berliner Festspielen 2017. Fotostrecke S. 11 bis 18 Julian Röder

Intendanz berufen ist, auf diese eine Person gerichtet, die für die Gesellschaft nun bitte schillernde Ergebnisse liefern soll. Und noch bevor irgendeine Arbeit präsentiert wurde, werden Urteile gefällt. Das verführt die Berufenen unter Umständen zu falschem Ehrgeiz und Eitelkeit. Der Erwartungsdruck zwingt sie dazu, ihre Pläne durchzusetzen, ohne zu berücksichtigen, wie dieser Organismus Theater funktioniert. Es wäre doch erfreulich, wenn das Theater als ein künstlerischer Körper verstanden würde, der sich bei einer Neuausrichtung erst einmal finden muss, um aus sich heraus Strahlkraft zu entwickeln. Nicht der Körper sollte für die Intendanz arbeiten, sondern die Intendanz für den Körper.

Erwartungsdruck üben nicht nur Publikum und Presse aus, sondern auch die Kulturpolitik, die sich für einen Intendanten, eine Intendantin entschieden hat. Frau Jennicke, ist die Kulturpolitik mitunter zu ungeduldig? Skadi Jennicke: Grundsätzlich würde ich sagen: Es gibt gute und schlechte Führungspersonen. Im Theater wie überall sonst. Dennoch sehe ich, ähnlich wie Frau Puls, dass im Theater ein Konglomerat an Erwartungen entsteht, das man wahrscheinlich nur mit übermenschlichen Fähigkeiten erfüllen kann. Zum einen hat der Intendant, die Intendantin natürlich einen Betrieb zu führen – und das ist nicht anders als bei Führungskräften in anderen ­Unternehmen. Zum anderen aber wählt man eine Persönlichkeit, die auch künstlerisch höchsten Ansprüchen genügen muss. Da gebe ich Frau Puls recht: Man erwartet Resultate, bevor im Betrieb überhaupt Zeit gewesen ist, die Bedingungen zu schaffen. Da­ rüber hinaus soll sich der Intendant mit der Stadt identifizieren, verschiedenste Kontakte und Netzwerke bedienen und dabei bitte auch hier brillieren. Gleichzeitig soll er das Innen vor dem Außen schützen, damit eine Atmosphäre des Vertrauens entsteht: in ­dieser Mischung schwer erfüllbar. Das heißt also tatsächlich, die Kulturpolitik macht zu viel Druck? Jennicke: Den macht sie ja nicht allein. Es gibt auch einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck. Denn, ja, ein Theaterbetrieb kostet öffentliches Geld. Da erwartet die Gesellschaft – bei uns in Leipzig vertreten durch den Stadtrat – natürlich Erfolg. Die Frage lautet eher: Wie wird dieser Erfolg definiert? Sven Schlötcke: Ich weiß von vielen Kollegen – für mich am Thea­ ter an der Ruhr gilt das zum Glück nicht –, dass sich die „Durch-

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ökonomisierung“ des Theater- und Kunstbetriebs letztendlich in Form von Zahlen niederschlägt. In den Zielvereinbarungen von Intendantenverträgen finden sich häufig Angaben wie etwa eine zu erreichende Auslastung. Die kollektive Kommunikationskunst Thea­ter lässt sich aber nicht auf Zahlen – die unsere Gesellschaften ja ansonsten dominieren – reduzieren. Sie ist unter anderem auch „Statthalter der nicht vom Tausch verunstalteten Dinge“, wie Adorno es formuliert. Jennicke: Ich würde niemals eine Intendantenpersönlichkeit ausschließlich an den Besucherzahlen messen. Wenn keine Besucher kommen, das ist richtig, muss ich natürlich Fragen stellen. Ich muss vor dem Stadtrat und letztlich vor dem Steuerzahler die ja nicht gerade geringen Zuwendungen rechtfertigen. Aber Besucherzahlen sind nicht der alleinige Maßstab, nach dem ich die Leistung einer Intendanz bemesse. Schlötcke: Ich würde die Diskussion über Machtmissbrauch auch sowieso gar nicht an einzelnen Personen festmachen. Das, was Pierre Bourdieu mit symbolischer Gewalt beschreibt, ist erst einmal grundsätzlich in der Gesellschaft verankert. Es sind Formen von Herrschaft, die strukturell entstehen, gesellschaftlich anerkannt sind und die dominierenden Sichtweisen auf das Soziale legitimieren. Die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Formen von Gewalt bröckelt zum Glück derzeit im Zuge der Gender-­ Debatte, der Diversitätsdiskussion und der Auseinandersetzungen um Machtmissbrauch. Spezifisch am Theater ist eine wilhelminisch hydraulische Grundstruktur, die vielfach hierarchische Strukturen selbst in der Wirtschaft übertrifft. Aufgrund dieser sehr stark ausgeprägten Hierarchie werden Eigenverantwortung und Selbstermächtigung nicht eben befördert, die Möglichkeiten von Machtmissbrauch hingegen schon. Jennicke: Das eine sind Strukturen – da ist viel im Umbruch –, das andere sind aber Führungspersönlichkeiten. Ich glaube, dass wir das getrennt oder differenziert diskutieren sollten. Natürlich hat Macht auch immer das Potenzial zu Gewalt, aber eine gute Führungspersönlichkeit zeichnet sich aus meiner Sicht dadurch aus, dass sie Macht bewusst gebraucht, um zu gestalten – und nicht, um Menschen zu demütigen. Da reden wir über gute oder schlechte Intendantenpersönlichkeiten und nicht so sehr über Strukturen. Auch in kollektiv verwalteten Ensembles gibt es Menschen, die narzisstische Neigungen haben. Und es gibt andere, die so an sich gearbeitet haben, dass sie teamorientiert leiten können.

Nun existieren im Theater aber spezifische Bedingungen, die einen Machtmissbrauch „erleichtern“. Das künstlerische Personal ist oft über den Normalvertrag Bühne beschäftigt. Das sind Ver­träge, die jedes Jahr durch die Theaterleitung erneuert werden müssen. Diese Befristung in Dauerschleife ist, schlimmstenfalls, ein prima Druckmittel und ein dankbares Werkzeug leerer Macht­gesten. Jennicke: Aber da beginnt doch der Machtmissbrauch: Wenn ich dieses Instrument, das geschaffen worden ist, um die künstle­ rische Qualität eines Hauses gestalten zu können, dafür ent­ fremde, eine Schauspielerin, einen Schauspieler zu entlassen, weil mir seine oder ihre Meinung nicht passt, wenn ich also eine Atmosphäre schaffe, in der man nicht mehr frei reden kann, liegt doch der Missbrauch klar auf der Hand.

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Als Betroffener kann ich dagegen juristisch aber nur schwer vorgehen: Die Einschätzung künstlerischer Qualität ist bekanntlich relativ und kann immer als Kündigungsgrund vorgeschoben werden. Mitarbeiterschutz und auch eine Betriebsethik sehen anders aus. Schlötcke: Natürlich gibt es Betriebsräte und Gremien, die schützend eingreifen können. Mir wäre es zu kurz beschrieben, wenn man das Problem auf Persönlichkeitsdefizite und mangelnde Führungskompetenz reduziert. Ethik ist immer auch vom gesellschaftlichen Zustand geprägt. Es ist doch ein Unterschied, ob ich als König eingesetzt werde oder als Teil eines verantwortlichen Kollektivs. Die extrem starken vertikalen Hierarchien tragen dazu bei, dass sich Probleme leichter ausprägen als in flacheren Strukturen, die korrektiver verfasst sind. Puls: Ich habe in meinen 22 Berufsjahren einige Intendanten erlebt. Tatsächlich bis jetzt nur Männer. Besonders glückliche Erinnerungen habe ich an eine ganz klar patriarchal-hierarchische Struktur mit einer großartigen Führungspersönlichkeit. Es gab auch Intendanten mit einem ausgeprägten Willen, gemeinsam etwas zu erschaffen, die zwischenzeitlich unter Druck gerieten durch die Erwartungen von außen – und damit meine ich auch das Publikum, das zu großen Teilen unbedingt affirmative Kunst sehen will. Publikum und Presse haben sie unter scharfe ­Beobachtung gestellt, was es ihnen natürlich schwerer gemacht hat, sich nach innen zu wenden und als Teil dieser Gruppe zu empfinden. Ich habe auch erlebt, dass eine Künstlerische Leitung ihre Arbeit am Haus als „Projekt“ beschrieben hat. Das hat mich richtig entsetzt. Ein Theater besteht doch aus einer Gruppe von Menschen, die oft viel länger da sind als die, die kommen, um zu siegen und sich dann auf einen noch besseren Posten befördern zu lassen. Das Wort „Projekt“ sagt alles: Da denkt jemand, es handele sich um eine zeitlich begrenzte Angelegenheit, die nicht in eine wei­tere Zukunft geplant werden muss und bei der nicht aufgegriffen wird, was schon da ist. Ein riesiges Missverständnis. Unsere Aufgabe und Freude als Künstler ist es, immer wieder neue kreative Wege zu finden. Dazu braucht es ein künstlerisch aufgeschlossenes und mutiges Kollektiv. Wenn aber die Kontinuität kreativer Wege versperrt wird durch das Ego der Leitung, wird es dem Kollektiv schwer gemacht. Das Theater als Werkzeug für eine Person zu begreifen, halte ich für falsch.

Was muss sich ändern? Puls: Ein Ansatz wäre, Theater oder Kultur nicht als die Erfüller von Erwartungen zu betrachten, sondern vor allem als einen Ort, der neue Impulse, Denkanstöße gibt. Die Visitenkarte eines Intendanten, sein Netzwerk, auf das so viele bei seiner Berufung setzen, enthält ja in der Regel hauptsächlich Bekanntes. Wir aber versuchen, Unbekanntes zu erschließen – und eben nicht nur nachzuahmen oder durchzuexerzieren, was eine Person in ihrem Leben bereits verwirklicht hat. Der künstlerische Körper wird, selbst wenn Intendanten mit den besten Absichten anfangen, aufgrund des Erfüllungsdrucks benutzt. Ich finde das fatal. Schlötcke: Das verstehe ich. Allerdings kann die Macht der existierenden Strukturen, also des Verwaltungsapparats, der Gewerke, die in aller Regel ja immer an einem Haus bleiben, für einen


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I­ ntendanten oder ein Leitungsteam tatsächlich ein Problem darstellen. Die gewachsenen persönlichen Beziehungen, die funktionalen und sozialen Hierarchien muss man als Leitungsperson erst einmal verstehen. Und unter Umständen entstehen dabei Schwierigkeiten, sodass zuweilen mit hierarchischen Praktiken reagiert wird. Daher müsste man genau hier ansetzen: Strukturen schaffen, die begünstigen, dass Leitungen, sich selbst hinter­ fragend, ethische Prinzipien etablieren, die Menschen mitnehmen, ihre Eigenverantwortung und Kreativität fördern, um die kollek­ tive Intelligenz als Essenz des Theaters zum Blühen zu bringen. Selbst in neoliberalen Modellen wie etwa Talcott Parsons’ Idee „agiler Organisationsstrukturen“ aus den fünfziger Jahren, die jetzt in der Wirtschaft der heiße Scheiß sind, sind Leiterinnen und Leiter eher Dienstleister, die Eigenverantwortlichkeit und Selbstermächtigung ermöglichen, neues Denken herausfordern und weniger nach richtig und falsch suchen – Ermöglicher statt Bestimmer. Solche Ansätze lassen sich natürlich kritisieren, weil sie neoliberale Züge der Selbstoptimierung tragen, aber ich glaube, dass durch das veränderte Rollenverständnis eine andere Ethik entstehen kann. In kollektiveren Strukturen – und da rede ich ­sicherlich auch ein wenig pro der Strukturen, in denen ich seit Jahren von Jena bis Mülheim arbeite – ist zumindest die Chance größer, dass agile, freiere und weniger entfremdete Arbeits- und Lebenszusammenhänge entstehen können, die funktionalen ­Abhängigkeiten weniger Raum geben. Jennicke: Aus meiner Sicht unterscheidet sich das, was Sie gerade beschrieben haben, Herr Schlötcke, nur wenig von dem, was jede Führungskraft als Aufgabe vor sich hat, wenn sie irgendwo neu

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anfängt. Man findet Gegebenes vor, man hat aber gleichzeitig ­einen Gestaltungswillen. Da gilt es, die Eigengesetzlichkeit der Organisation so zu verstehen und klug zu lenken, dass die Mit­ arbeiter motiviert sind und den Gestaltungswillen, den man ­mitbringt, sich zu eigen machen. Im positiven Sinne, ohne manipulativ vorzugehen. Da sehe ich noch nicht die Spezifik von ­Theater. Die zweite Frage: Sie arbeiten in kollektiven Strukturen. Worin unterscheiden sich Ihre im Kollektiv getroffenen Entscheidungen von denen, die eine gute Führungspersönlichkeit trifft? Die Genese ist verschieden, das liegt auf der Hand, aber gibt es Unterschiede in der Qualität der Entscheidung? Schlötcke: Dass im Kollektiv per se bessere künstlerische Entscheidungen gefällt werden, würde ich so natürlich nicht sagen. Kollektive Arbeit aber entspricht viel stärker der Idee des Theaters. Anders als Literatur oder bildende Kunst kann Theater nur im Kollektiven funktionieren, wenn so etwas wie kollektive Intelligenz entsteht. Dass diese Zusammenhänge zu guter Kunst führen, ist nicht automatisch gegeben. Aber die Chance ist vielleicht größer. Es geht letztendlich darum, uns möglichst weit an die ­Utopie einer nicht entfremdeten Arbeit anzunähern, um eine glaubwürdige Binnenkultur zu entwickeln. Jennicke: Aber bei wem liegt der größere Mehrwert einer kollektiven Leitungsstruktur: bei den Beschäftigten oder beim Publikum? Schlötcke: Es bedingt sich doch beides! In vielen anderen Bereichen gibt es modernere Formen des Umgangs als am Theater. Und das ist doch ein merkwürdiger Umstand! Wir müssten in unserer Binnenorganisation geradezu Utopisten und Vorreiter neuer gesellschaftlicher Modelle sein. Theater ist eine Binnen­

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gesellschaft, die große Chancen hat, das, was auf der Bühne vertreten wird, auch nach innen zu leben. Je größer die Stimmigkeit zwischen dem Innenleben und den Behauptungen auf der Bühne, desto größer ist die Chance, dass Menschen auch das Gefühl ­haben: Ja, das ist keine Attitüde, sondern da steckt eine Haltung dahinter, die glaubhaft ist. Strukturen und Hierarchien drücken da unter Umständen bis auf die Bühne durch.

Nun können sich aber auch die besten Vorsätze, egal ob als König oder Kollektiv getroffen, in Luft auflösen. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Starting a Revolution“ berichten die beiden Start-upGründerinnen Naomi Ryland und Lisa Jaspers von ihren Ver­ suchen, bessere Chefinnen zu sein. Tatsächlich scheitern sie zunächst und agieren genauso fies wie ihre alten Chefs. Erst als sie lernen, sich selbst in ihrem Verhalten zu analysieren, können sie das Arbeitsklima in ihrer Firma ändern. Muss jetzt jeder Intendant, jede Intendantin auf die Couch? Puls: Wem sollte ein Coaching schaden? Es wird immer voraus­ gesetzt, dass man ein Haus schon verantwortungsbewusst wird leiten können. Der Lernbedarf betrifft aber auch die Mitarbeiter. Das hierarchische Denken ist so fest an den Theatern verankert, dass die viel eingeforderte demokratische Struktur sich nicht ohne Weiteres umsetzen lässt. Warum haben demokratische Leitungsmodelle wie an der Berliner Schaubühne oder am Schauspiel Frankfurt nicht funktioniert? Beteiligte, mit denen ich gesprochen habe, sagten: „Die erwünschten Diskussionen waren einfach so wahnsinnig anstrengend und zeitintensiv, dass man sich irgendwann gewünscht hat, dass jemand sagt, was zu tun ist, damit man sich wieder dem Spielen widmen kann.“ Deswegen denke ich, wäre ein Coaching nicht nur für die Leitung, sondern auch für die Belegschaft ein toller Start, und zwar nicht erst, wenn es brennt. Ich würde fast meinen, dass das erste Jahr einer neuen Zusammenarbeit zwischen Intendanz und Haus eigentlich vor allem diesen inneren Prozessen gewidmet sein müsste. Damit man ein gemeinsames Verständnis und eine Gesprächskultur aufbaut. Klar, auch das braucht Zeit. Das Problem ist aber – das wurde mir bei einer Umfrage zum Thema Leitungsstrukturen gespiegelt, die ich letztes Jahr zur Faust-Preisverleihung gemacht habe –, dass, ich zitiere: „vielen Menschen in Machtpositionen schlicht der Wille fehlt, ihre Macht zu teilen oder abzugeben. Es fehlt der Wille, im eigenen Betrieb umzusetzen, was mit marktschreierischen Slogans auf der Bühne in Bezug auf die Stadt- und Weltgesellschaft kritisiert wird.“ Darin fühlen sich viele Künstlerinnen und Künstler richtige verarscht. Die Befragten forderten zuallererst mehr Respekt – wozu auch gehört, sich mit dem, was die verschiedenen Abteilungen zur Verfügung stellen, auszukennen. Und da bin ich wieder an dem Punkt: Das kann ein Mensch alleine nicht. Schlötcke: Natürlich ist Selbstreflexion wesentlich für Menschen, die leiten wollen. Sie müssen sich fragen: Warum traue ich mir zu, andere zu leiten? Mit welcher Haltung tue ich das? In der Königsposition prägt sich vielleicht leichter eine Haltung aus, die den Besitz der Wahrheit für sich reklamiert. Im Kollektiv setzen sich bestimmte Wahrheiten eher prozessual durch. Noch besser ist es, gar nicht mit richtig oder falsch zu hantieren. Wir wissen alle, wie schwer es ist, über Kunst zu sprechen.

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Ich glaube zudem weniger an die Idee des Trainings – jedes Unternehmen schickt seine Managerinnen und Manager zu irgend­ welchen Trainings –, sondern an Erfahrungen, die man gemeinsam macht. Nur über Erfahrung bildet sich ein wirklich anderes D ­ enken aus. Menschen in Leitungspositionen müssen diese ­Erfahrungen für sich und den „Betrieb“ – also das Kollektiv – s­ timulieren.

Die Coaching-Idee geht über die Frage, warum und wie ich leite, aber noch hinaus. Eine Führungspersönlichkeit, sagen die beiden Gründerinnen, müsse lernen, durch Selbstanalyse eigene Fehler, eigene Schwächen, auch ihren eigenen Narzissmus einzugestehen. In Zürich müssen Intendanten zum Beispiel ein psychologisches Assessment-Center durchlaufen. Wäre das auch hierzulande ein erstrebenswertes Modell? Jennicke: Ich weiß nicht, ob ein Assessment-Center das geeignete Mittel ist, die besseren Intendantinnen und Intendanten zu finden. Unter Coaching verstehe ich tatsächlich auch etwas anderes als Training. Coaching heißt, sich selbst als Führungspersönlichkeit zu reflektieren. Das ist für jede Führungskraft ein wichtiges Instrument. Es kann in einer kollektiven Leitungsstruktur schon impliziert sein ebenso wie in einem guten Führungsteam mit ­klarer Hierarchie. Schlötcke: Das kann ich zumindest aus meiner Erfahrung sagen: Natürlich weist mein Kollege mich darauf hin, wenn ich in einer bestimmten Situation Unsinn geredet oder mich nicht verhältnismäßig verhalten habe. Dazu braucht es allerdings Offenheit untereinander. Ich glaube, je größer die Hierarchie, desto geringer die Offenheit. Jennicke: Es leuchtet mir total ein, dass man in den inneren Strukturen adäquat zu dem sein sollte, was man auf der Bühne vertritt. Aber ich kann mir aus Verwaltungsperspektive nur schwer vorstellen, bei Etatfragen immer mit einem Kollektiv zu verhandeln. Es kostet sehr viel mehr Zeit, die am Ende auch Geld bedeutet. Schlötcke: Das, würde ich sagen, ist die praktische Organisation von Arbeit, weniger die innere Verfasstheit. Repräsentanz und Verantwortung in diesen Fragen müssen geregelt sein. Wenn ich mit der Stadt verhandele, sitze ich dort alleine, oder wir sind höchstens zu zweit. Puls: Mir ist es nicht so wichtig – bitte verzeihen Sie, Frau Jennicke –, ob es für Sie anstrengend ist, mit uns zu verhandeln. Wir fänden schon eine Vertretung, die mit Ihnen spricht, Sie müssen nicht 14, vierzig oder vierhundert Leuten gegenübersitzen. Ich beziehe diese ganzen Prozesse, über die wir gerade reden, auch hauptsächlich auf die interne Arbeit im Haus und nicht da­rauf, ob sie einen Mehrwert für das Publikum haben. Jennicke: Da unterscheiden sich natürlich unsere Funktionen. Als Kulturpolitikerin muss es mich sehr wohl interessieren, ob das Theater in meiner Stadt publikumsrelevant ist oder nicht. Theater ist eine Kollektivkunst eben auch in der Rezeption. Klar, wenn das Klima stimmt, wenn sich der Einzelne von der Kassenfrau über die Reinigungskraft bis hin zur Schauspielerin gemeint fühlt und dem nachgehen kann, wofür er oder sie hier angetreten ist, dann spürt ein Publikum das. Das hat für mich aber nichts mit Führungsstrukturen zu tun, sondern mit der Führungskultur. Puls: Eine Geschichte, die ich erlebt habe: Ein Regisseur wird engagiert, der einen hohen Marktwert hat. Alle freuen sich, mit


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dieser künstlerischen Person zusammenzuarbeiten. Es stellt sich aber heraus, dass dieser Regisseur, obwohl gar nicht alte Garde, Instrumente des Machtmissbrauchs auf der Probe nutzt. Es gab Beschwerden. Monate später berief die Theaterleitung die beteiligten Ensemblemitglieder ein, um die Vorgänge auszuwerten. Wir wurden befragt, ob dieser Regisseur noch einmal bei uns am Haus arbeiten sollte. Ich sagte nein, denn ich fand, dass gerade wir es uns nicht leisten können, jemanden zu beschäftigen, der, egal wie hoch sein Marktwert ist, egal, wie genialisch am Ende die Inszenierung ist, sich so benimmt. Es stellte sich aber heraus, dass dies nur eine Scheindebatte war, denn dem Regisseur war bereits eine weitere Inszenierung versprochen worden. Uns wurde lediglich freigestellt, ob wir mitmachen wollen oder nicht. Manche wollten, andere waren vorerst unentschieden. Ich lehnte rundweg ab. Ich fürchte, dadurch habe ich das Wohl­wollen der Intendanz verloren, weil ich eine „Querulantin“ war. So habe ich nicht nur Machtmissbrauch auf den Proben miter­leben müssen, sondern auch, dass Widerspruch eben doch ­bestraft wird. Schlötcke: Das ist Shakespeare. Intrigen, Verstrickungen, steht ­alles in den Texten, die man auf der Bühne in irgendeiner abstrakten Politik stattfinden lässt, aber in Wahrheit spielt sich alles im Theater ab. //

Skadi Jennicke, geboren 1977 in Leipzig, hat seit 2016 das Amt der Bürgermeisterin und der Beigeordneten für Kultur inne. Seit 2019 ist sie ­außerdem Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages. Von 1996 bis 2000 studierte sie an der Hochschule für Musik und ­Theater „Felix Mendelssohn-Bartholdy“ in Leipzig ­Dramaturgie. 2009 promovierte sie in Philosophie an der MartinLuther-Universität Halle. Foto Kirsten Nijhof Wiebke Puls wurde 1973 in Husum geboren. Von 1993 bis 1997 studierte sie an der Hochschule der Künste in Berlin Schauspiel. Nach Engagements am Schauspiel Hannover und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg ist sie seit 2005 festes Ensemblemitglied an den Münchner Kammerspielen. Sie erhielt zahlreiche Auszeich­ nungen, darunter 2018 den 3sat-Preis im Rahmen des Berliner Thea­tertreffens für ihre darstellerische Leistung in der Inszenierung „Trommeln in der Nacht“. Foto Julian Baumann Sven Schlötcke, geboren 1961 in Rostock, studierte zunächst Medizin in Rostock und war Barmusiker. Ab 1988 Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Er ist Mitbegründer des Theaterhauses Jena, wo er von 1991 bis 1999 als Künstlerischer Leiter und Regisseur tätig war. Seit 2001 ist er Künstlerischer Leiter, Geschäftsführer und Dramaturg am Theater an der Ruhr in Mülheim. Foto Björn Stock

Gewalt und Leidenschaft Nach dem Film von Luchino Visconti Regie Jakob Weiss Deutschsprachige Erstaufführung Der Riss durch die Welt Roland Schimmelpfennig Regie Theo Fransz Alles Lüge Ein Liederabend zur deutschen Wiedervereinigung Regie Niklas Ritter Die fürchterlichen Fünf Wolf Erlbruch Regie Selina Girschweiler Früchte des Zorns John Steinbeck Regie Christoph Mehler Der tätowierte Mann Peter Wortsman Regie Kevin Barz Uraufführung

Der Herr der Fliegen William Golding Für die Bühne bearbeitet von Nigel Williams Regie Ruth Messing Die Räuber Friedrich Schiller Regie Moritz Beichl Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute Jens Raschke Regie Katharina Ramser Pardauz! Schnupdiwup! Klirrbatsch! Rabum! Ein Wilhelm-BuschBilder reigen von Rebekka Kricheldorf und Johannah Zufall Regie Annette Pullen Uraufführung Alles muss glänzen Noah Haidle Regie Isabel Osthues

Die Frau in Schwarz Susan Hill und Stephen Mallatratt Regie Georg Münzel

Yesterday reloaded Ein afd-projekt von Gernot Grünewald Regie Gernot Grünewald Uraufführung

Der Schimmelreiter Theodor Storm Regie Daniel Foerster

Die Dummheit Rafael Spregelburd Regie Antje Thoms

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Postheroische Führung Den Chef, der alles kontrolliert, gibt es nicht mehr – Der Coach Stefan Bartling über den notwendigen Kulturwandel am Theater im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl

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err Bartling, Sie haben sich als Coach auf Theater spezialisiert. Warum? Sind die Theater besonders beratungsbedürftig? Oder -resistent?! (Lacht) Oder das, genau?! Tatsächlich habe ich mich gar nicht auf Theater spezialisiert. Etwa fünfzig Prozent meiner Aktivitäten liegen in der Kulturbranche, die anderen fünfzig immer noch im Wirtschaftsbereich. Weil meine Partnerin schon länger mit Theatern gearbeitet hat, wurde ich irgendwann gefragt, ob ich mit Führungskräften aus dem Theater reden könnte, um eine Perspektive von außen einzubringen. Das hat Spaß gemacht – und war für beide Seiten ein Kulturschock. Inwiefern? Ich habe beobachtet, dass Führung im Theater sehr viel stärker mit Emotionen verknüpft ist als in der Wirtschaft. Fakten, das eher Analytische, Wissenschaftlichere, fehlten mir oft erst einmal. Umgekehrt wurde mir eine sehr nüchterne Analytik gespiegelt.

Kunst, heißt es immer so schön, folge anderen Gesetzen. Auf der Bühne ist das richtig, im Betrieb nicht. Machtmissbrauch und ­toxisches Arbeitsklima sollten nicht im Namen der Kunst toleriert werden. Folgt man der 2019 erschienenen Studie von Thomas Schmidt zu „Macht und Struktur im Theater“, passiert aber genau das. Wo liegt aus Ihrer Sicht das Problem: bei der Führungsebene, im Gesamtbetrieb Theater oder, ganz abstrakt gesehen, in der sehr pyramidalen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Struktur? Ich glaube, die Problematik zieht sich durch. Warum existiert diese Struktur überhaupt? Weil es geht. Weil bislang kaum jemand gegen diese Struktur arbeitet und sagt: Wir müssen es anders machen, wir können es anders machen. Aber das Strukturproblem im Theaterbetrieb ist inzwischen doch ein recht öffentlichkeitswirksamer Diskussionsgegenstand. Ja, und ich beobachte auch, dass sich viele Führungskräfte an den Theatern langsam öffnen. Dass sie erkennen: Meine Aufgabe liegt nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Führung, und das ist keine Nebentätigkeit. Ein zentraler Punkt ist, dass die Kontroll­ gremien der Theater, sprich: Vereine oder Aufsichtsräte, ihre Funk­tion in Zukunft auf ganz andere Art werden wahrnehmen müssen. Sie sollten die Kontrollparameter, also die Erfolgskriterien,


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anders ­definieren. Ich habe einige Zielabsprachen und Satzungen gelesen und muss sagen: Die sind mir oft zu wachsweich. Da geht es um künstlerische Avantgarde und, ganz klar, häufig auch um Besucherzahlen. Aber wer hält uns davon ab, hier auch andere Indikatoren einzubauen? Welche zum Beispiel? Wenn Sie in ein Theater gehen, hören Sie ganz oft: Wir haben zu wenig Ressourcen! Wenn Sie dann fragen, wie viele Menschen dort arbeiten, heißt es: Wir sind 350 Leute. Dann erkundigen Sie sich: Was haben Sie für einen Krankenstand? – Oh, der ist hoch, der liegt bei 15 Prozent! – Das sind über fünfzig Menschen. Und das sind, jetzt mal ganz böse gesagt, Ressourcen. Da müssen Sie schauen: Was sind das für Krankheiten? Vielleicht hat sich jemand ein Bein gebrochen, ist akut erkrankt. Vielleicht sind aber auch ­viele Menschen „verschlissen“ und treten eine gewisse Flucht an. Man könnte also theoretisch sagen: Wir nehmen den Krankenstand als einen Parameter. Der Aufsichtsrat konzentriert sich darauf, wie er die Leute gesund und motiviert auf die Arbeit bekommt. Das heißt also, Sie würden Kontrollgremien und auch die Kulturpolitik in die Verantwortung nehmen, nicht nur auf die künstlerischen Ergebnisse und die Besuchszahlen zu schauen, sondern auch auf Betriebsführung und Betriebsklima? Ja. Die Harvard Business School, die ja ziemlich unverdächtig ist, wenn es um die Bejahung der Gesetze der freien Marktwirtschaft geht, hat diesbezüglich bereits 1998 herausgefunden, dass die erfolgreichsten Organisationen dieser Welt – hier gemessen an der Profitabilität – sich durch einen hohen Identifikationsgrad der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Organisation auszeichnen. Das wird auch Sinnstiftung genannt – ich weiß, der Begriff hängt vielen zum Hals heraus. Und es geht sehr klar um partnerschaftliche Führung. An Sinnstiftung herrscht im Theater sicher kein Mangel. Viele arbeiten bis zur Erschöpfung, weil sie sich überdurchschnittlich stark mit ihrer Tätigkeit identifizieren; das Defizit dürfte eher im partnerschaftlichen Miteinander liegen. Sie sagten eingangs, die Theater seien da besonders beratungsresistent? Das war eine Floskel, eine Provokation. Wenn wir mit Führungskräften aus dem Theater oder Orchester in Seminaren arbeiten, die wir über den Deutschen Bühnenverein anbieten, ist das immer sehr lebhaft. Also: Man will lernen. Das ist wichtig! Denn wenn dort jemand an der Spitze sitzt und sagt, wir können das Ganze gerne ansprechen, aber letztendlich bleibt hier alles, wie es ist, können wir als Coaches und Organisationsentwickler nicht erfolgreich sein. Das ist bei allem Coaching der Schwachpunkt: Wenn der Klient oder die Klientin es nicht wirklich will, wird sich nichts verändern. Wie stark ist der Wille, eigene Fehler einzugestehen? Gute Frage. Coaching ist nicht defizitorientiert, sondern entwicklungsorientiert. Auf diesem Grundverständnis wird häufig eine Neugier geweckt. Es geht nicht darum, zu sagen: Ihr müsst eure Fehler einsehen. Der Ausgangspunkt ist vielmehr: Ich komme

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hier in einer Situation nicht weiter, was kann ich ändern? Das setzt natürlich die Selbstreflexion voraus, dass das, was ich gerade tue, vielleicht nicht immer zweckmäßig ist und an Grenzen stößt. Grob geschätzt haben über sechzig Prozent diese Einsicht. Und die restlichen vierzig? Aus eigener Beobachtung bei Einzelcoachings kommt man bei einem Drittel nicht weiter, da muss man dann auch relativ früh sagen: Wir brechen den Prozess ab beziehungsweise starten erst gar nicht. Bei einem weiteren Drittel erzielt das Coaching einen großen Effekt, während es läuft, flacht hinterher aber ab. Und das letzte Drittel hat einen nachhaltigen Effekt, wo der Coachee dauerhaft seine Perspektive, sein Kommunikationsverhalten, sein Führungsverhalten verändert. Sind die Häuser, die auf Sie zukommen, tendenziell bereits in ­einem Krisenstadium? Oder werden Coachings eher aus dem ­eigenen Interesse der Leitungsebenen heraus begonnen? Eher Letzteres. Wenn ein Haus schon tief in der Krise steckt, müsste man auch zunächst mit anderen Maßnahmen als Organisationsentwicklung anfangen, zum Beispiel mit der Mediation von Konfliktparteien, um überhaupt auf ein Level zu kommen, von dem aus man etwas entwickeln kann. Sind es also eher die „Musterschüler“, die sich bei Ihnen melden, diejenigen, die sowieso schon die ganze Zeit ihr Tun reflektieren, während es in den wirklich schlimmen Fällen einfach so weiterläuft wie bisher? Ich habe bislang mit circa 25 Theatern und Orchestern gearbeitet. Manchmal ist es nur der Verwaltungsbereich, der ein Coaching will, während der künstlerische Bereich sich da komplett herauszieht und sagt: Ein Coach, sowas kommt uns nicht ins Haus, das ist völlig unnötig! Grundsätzlich gehe ich nur in Zusammenhänge hinein, in denen ich die Chance habe, erfolgreich zu sein. Finde ich aus Interviews, Besprechungen oder auch aus Hintergrundinformationen heraus, dass das Coaching eine Alibiveranstaltung ist, stehe ich nicht zur Verfügung. In Beschreibungen von Konflikten mit der Leitungsebene tauchen immer wieder Begriffe wie „cholerische Anfälle“ oder „Narzissmus“ auf. Das reicht tief in den psychologischen Bereich. Sind das Fälle, bei denen Sie sagen würden, die kann man mit Coaching nicht erreichen? Doch, die kann man prinzipiell schon erreichen. Das hat immer mit der inneren Haltung zu tun: Weiß ich, dass ich cholerisch ­reagiere? Und erkenne ich das als Problem? Die Frage, die wir stellen, ist: Welche Alternativen gibt es? Es kann ja passieren, dass ich in einer Situation mit meinen Mitarbeitern extrem sauer werde, ich bin nur ein Mensch. Es kann aber auch sein, dass ich sage: Leute, ich muss das Gespräch hier abbrechen. Ihr kennt mich, ich bin cholerisch, und ich bin gerade so wütend, dass ich jetzt nicht vernünftig weitersprechen kann, lasst es uns morgen früh noch einmal versuchen! Zentral ist die innere Haltung: Ist mein Wille da? Merke ich, dass ich hier etwas verändern müsste, weil ich so nicht weiterkomme?

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Stefan Bartling, geboren 1965 in Hameln, ist ­Diplom-Biologe, zertifizierter Business Coach und ab 2021 M. A. in Organisationsentwicklung. Seine Erfahrungen aus internationalen Führungs­ positionen als Key Account Director, Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzender fließen seit 2011 in seine Firma BARTLING coaching training consulting ein, seit 2017 auch in kommunikationsKULTUR mit Fokus auf Theaterbetriebe. Sein Anliegen ist es, Einzelpersonen, Teams und ganze Organisationen im Transformationsprozess ihrer Kulturund Führungsentwicklung zu unterstützen und diese Kultur nachhaltig zu verankern – in Haltung und Handlung. Foto Miriam Merkel

Ist der cholerische Charakter im Theater Ihrer Meinung nach ­besonders zahlreich vertreten – oder findet er zumindest überdurchschnittlich gute Entfaltungsmöglichkeiten vor? Auf jeden Fall ist Angstfreiheit ein großes Thema. Wenn wir ­Befragungen machen, heißt es oft: Wir möchten angstfrei arbeiten. Angst ist psychologisch betrachtet das Schlimmste, was mir passieren kann; das, was am meisten lähmt. Gerade auch im Thea­ter, das von Kreativität lebt. Wobei es, so seltsam es vielleicht klingt, auch eine produktive Angst oder besser gesagt: eine produktive Panik geben kann, wenn mich das Treiben des Regisseurs, der Regisseurin über vermeintliche Grenzen hinausbringt. Allerdings handelt es sich dabei um eine Angst, mit der ich umgehen kann. Eine solche Situation kann auch extrem schnell kippen. Es gibt Experten, die sagen, positiven Stress gibt es nicht. Insofern möchte ich mich in dieser Frage nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Es handelt sich ja auch immer um individuelle Erfahrungen. Wenn jemand cholerisch ist, könnte man sagen, ich nehme es nicht persönlich. Eine Schauspielerin sagte mir einmal, sie verstehe die Metoo-Debatte eigentlich nicht, weil man doch auch einfach Nein sagen könne, also entschieden eine Grenze aufziehen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Ich muss anfangen, eine Grenze aufzuzeigen. Ich muss als Gruppe sagen: So möchten wir in dieser Organisation nicht miteinander umgehen. Lassen Sie das bitte! Dazu müssen ein Bewusstsein, eine Achtsamkeit und eine mutige Haltung entwickelt werden. Es sollte ganz klar formuliert werden: Wie wollen wir miteinander umgehen? Ich verwende gern einen Ausdruck des alten Management-Vordenkers Peter Drucker, der sagte: „Culture eats strategy for breakfast.“ Wir können alle möglichen Ziele aufstellen, aber wenn ein Betrieb eine Angstkultur praktiziert, werden wir diese Ziele nicht erreichen. Daher arbeiten wir als Coaches auf zwei Ebenen: Haltung und Handlung. Haltung heißt, ein Leitbild, eine gemeinsame Organisationskultur zu entwickeln. Wir gehen nicht in die Betriebe und fragen: Welche Defizite habt ihr? Sondern wir fragen: Welche Werte habt ihr, und welche wollt ihr entwickeln? Sind die Werte formuliert, geht es an die Umsetzung: Wie handeln wir nach diesen Werten? Nehmen wir ein Beispiel. Oft höre ich, wir brauchen mehr Lob. Dann sage ich: Nein, ihr wollt nicht mehr Lob, ihr wollt Feedback. Aber was heißt das? Technisch gesehen ist

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Feedback geben einfach, das kann man alles an einem Vormittag lernen. Das Schwierige ist: Feedback kann ich nur dann vernünftig geben und nehmen, wenn ich die innere Haltung habe, die Person, mit der ich spreche, entwickeln zu wollen, auch wenn es bedeutet, dass ich mit meinem Zutun, mit meinen Inputs diese Person dazu befähige, inhaltlich besser zu werden als ich. Das ist das Risiko, das ich eingehe. Ansonsten findet Feedback nicht wirklich statt. Oftmals wird Feedback im Kunst- oder Theaterbereich auch so verstanden, das Gegenüber so lange zu bearbeiten, bis er oder sie meinen Visionen folgt. Auch das ist kein Feedback. Genau. Kunst ist tatsächlich ein schwieriger Bereich, weil es keine objektiven Kriterien gibt, die man ansetzen kann. Thomas Schmidt schlägt in seiner Studie Kollektivleitungen als Lösung vor. Halten Sie das für einen Ausweg? Ja und nein. Ich liebe Doppelspitzen, wenn sich die Doppelspitze ihrer Möglichkeiten, Verantwortungen und Begrenzungen bewusst ist, wenn sie also auch ihre schwache Seite öffnet. Wir nennen das gerne postheroische Führung: Eine Führungskraft, die alles weiß, die alles kontrolliert, die auf alles eine Antwort hat, gibt es nicht mehr. Ich muss also die Kompetenzen aufteilen – der eine übernimmt die Kommunikation, der andere die Zahlen –, muss sie aber gleichzeitig auch gleichberechtigt ins Feld führen. Notwendig ist darüber hinaus die Bereitschaft zum Buddy-Coaching, zur kollegialen Beratung. Dazu muss ich mich aber öffnen. Ich weiß nicht, ob Sie den Ausdruck VUKA kennen? Das steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Schauen Sie sich Corona an. Das ist VUKA. Wir müssen morgen Dinge anders machen als gestern, weil wir neues Wissen bekommen haben. Übertragen auf Betriebe heißt das: Es gibt so viele Trends und Entwicklungen, dass ich als Führungskraft nicht mehr allein auf alles reagieren und diese Reaktion zeitgemäß weiter­ geben kann. VUKA bedeutet auch, dass ich Vertrauen in meine Teams haben muss. Sie müssen transparent Informationen erhalten und Entscheidungen treffen können. Moderne Organisationen – Thea­ ter sind da wirklich noch im 19. Jahrhundert – praktizieren New Leadership. Als Führungskraft stelle ich Fragen, statt Antworten zu geben. Dadurch hebe ich meine Teams auf Augenhöhe, weil ich nicht sage, ihr macht das, was ich vorgebe. Gute Führung heißt auch, Fehlentscheidungen zu revidieren und vor allem zuzugeben, dass ich sie getroffen habe. Das Theater ist bereits an verschiedenen Mitbestimmungsmodellen gescheitert, weil Mitbestimmung Zeit kostet und anstrengend ist. Ganz klar: Effektivität wird drastisch reduziert. Vielleicht entsteht bei Entscheidungen auch nur der kleinste gemeinsame Nenner. Ich habe aber gleichzeitig viele Vorteile wie Empowerment und Motivation. Ich bin auch nicht derjenige, der Führung abschaffen möchte. Wir brauchen letztendlich eine Führungskraft, die Entscheidungen trifft. Auch jemanden, der die juristisch nicht mit allen teilbaren Informationen verwaltet. Ich möchte Führung aber relativieren; Verantwortung, wo möglich, delegieren.


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Es wird auch immer wieder gesagt, dass die Anforderungen an eine Leitungsperson im Theater, künstlerische Qualitäten sowie Führungsqualitäten aufzuweisen, nicht vereinbar sind. Erleben auch Sie Intendantinnen und Intendanten als überfordert? Es gibt oft eine Überforderung. Ich höre immer wieder: Führen von Menschen ist eine Nebentätigkeit, nichts, was ich lernen muss. Es geht um die Kunst, die Kunst, die Kunst, für die ich mich als Intendant erklären muss. Eine gewisse Demut der Führungsverantwortung gegenüber fehlt. Aber wann ist ein Theater erfolgreich? Wenn sich meine Vorstellung von Kunst durchgesetzt hat? Dann bin ich als Intendant nur mit einer gewissen Egozentriertheit erfolgreich gewesen. Oder will ich die Organisation als Ganzes zum Erfolg führen? Muss es „meine“ Kunst sein? Oder kann ich Teile der Verantwortung delegieren und entwickeln lassen? Es kann also zu einer Überforderung kommen. Ich kann darauf mit einem Top-downPrinzip reagieren oder aber auch die Ressource Zeit – die Zeit, in der ich mit Menschen kommuniziere – angemessen nutzen. Kommunikation hat viel mit Respekt zu tun. Daran mangelt es oft. Augenhöhe und Respekt sind ganz zentral. Ich muss als Führungskraft eine Lust an und einen Mut zu Kontrollverlust haben. Wenn ich als Chef einen Mitarbeiter nicht ständig kontrolliere, sondern einfach auf das Ergebnis seiner Arbeit warte und es einfordere, ist das ein Empowerment. Der Mitarbeiter spürt: Der Chef glaubt an meine Kompetenz. Er wird alles tun, um den Glauben an seine Kompetenz nicht zu enttäuschen. Ein Geben und Nehmen. Auch im Ballett findet derzeit ein Kulturwandel statt. Es geht nicht mehr um Spitzenleistungen durch Knechtschaft, sondern um ein auch körperschonendes und Verletzungen vorbeugendes Training. Der Kulturwandel findet nicht einfach von sich aus statt. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten seit zwanzig Jahren in einem Betrieb. Und jetzt kommt jemand und sagt, wir müssen alles anders machen. Das wird nie funktionieren. Wir haben verharrende Kräfte, lang­ jährige Mitarbeiter, die das Gefühl haben, dass zwanzig Jahre ihrer ­Arbeitszeit vergebens waren, und die sich möglicherweise dem ­Kulturwandel verweigern. Die Nichtwürdigung dessen, was all die Jahre zuvor erarbeitet wurde, lässt Veränderungsprozesse oftmals scheitern. Eine gute Führungskraft schafft es, die bereits geleistete Arbeit zu würdigen und die Menschen mitzunehmen. Auf der künstlerischen Ebene heißt es immer: Theater ist kontrollierter Kontrollverlust. Können Sie bei Ihren Coachings daran anknüpfen? Oder lassen die Leute den Kontrollverlust nur im künstlerischen Bereich zu? Die beiden Bereiche sind tatsächlich unterschiedlich besetzt. Künstlerisch kann der Kontrollverlust entwickelt sein, aber auf der Führungsebene könnte mir das als Schwäche ausgelegt werden: Du hast deine Leute nicht im Griff. Ich kann sie unter die Knute stellen, aber das hat mit Führung nichts zu tun. Eine situative Führung macht die Führung abhängig von der jeweiligen Situation. Mal gebe ich Macht ab, mal muss ich Entscheidungen treffen. Deshalb bin ich kein Freund von Führungsstilen, die oft bestimmten Moden und Tendenzen folgen. Es gibt Situationen, auf die ich mich einstellen muss. Und es gibt Menschen, mit denen ich arbeite. //

macht und struktur am theater

Der Zweckverband „Neue Bühne – Niederlausitzer Theaterstädtebund Senftenberg“ sucht für das Theater „Neue Bühne“ zum 01.09.2022 eine*n

Intendant*in / Verbandsvorsteher*in (m/w/d) Das Theater „Neue Bühne“ hat seinen Sitz in Senftenberg, im Landkreis Oberspreewald-Lausitz, im Lausitzer Seenland, im Süden des Landes Brandenburg. Es ist sowohl ein Regionaltheater, dessen Einzugsgebiet weit über die angrenzenden Landkreise hinausreicht, als auch eine Landesbühne, die überregional im gesamten südlichen Raum des Landes Brandenburg unterwegs ist. Ihr Leistungsspektrum umfasst zahlreiche Theaterproduktionen wie Schauspiel-, Kinder- und Jugendtheaterinszenierungen und eigene Musiktheaterproduktionen. Darüber hinaus wird ein umfangreiches theaterpädagogisches Angebot für alle sozialen Einrichtungen bereitgestellt. In den Sommermonaten bewirtschaftet die „Neue Bühne“ das open-Air Amphitheater am Senftenberger See. Rund 100 Mitarbeiter*innen ermöglichen einen abwechslungsreichen Spielplan mit bis zu 450 Aufführungen in der Spielzeit. Das Ensemble besteht aus 18 fest engagierten Schauspieler*innen und wird bei Bedarf mit Gästen ergänzt. Das Aufgabengebiet: • Sicherung der Leistungs- und Zukunftsfähigkeit des Theaters • Organisatorische und künstlerische Entwicklung eines innovativen und zeitgemäßen Theaterprogramms der „Neuen Bühne“, • Künstlerische Entwicklung des Ensembles. Projekte, Gastspiele und neue Veranstaltungsformate initiieren, • Budget- und Personalverantwortung für das Theater „Neue Bühne“, • Konstruktive Zusammenarbeit mit den Theaterträgern, den Zuwendungsgeber*innen und Unterstützer*innen des Theaters und den Partnern des Theater- und Konzertverbundes Brandenburg, • Vertretung der Theaterinteressen in der Öffentlichkeit, • Leitung des Theaters / Zweckverbandes nach Maßgabe der Gesetze und der Verbandssatzung, • Gesamtverantwortung für das Theater / den Zweckverband in der Innenund Außenwirkung. Gesucht wird eine Führungspersönlichkeit, die künstlerische Qualitäten sowie die Vermittlung künstlerischer Inhalte mit der Einhaltung eines Wirtschaftsplans zu verbinden weiß. Auf Grund ihrer Berufserfahrung und Vernetzung sollen Bewerber*innen in der Lage sein, das hohe künstlerische Niveau und das anspruchsvolle Profil der „Neuen Bühne“ sowie ihre positive Wahrnehmung und Ausstrahlung als zeitgenössisches Theater auch künftig zu gewährleisten und weiter zu entwickeln. Die Fähigkeit, das Publikum genauso wie die Mitarbeiter*innen zu begeistern und positiv zu motivieren, sehen wir als eine weitere zentrale Voraussetzung. Soziale Kompetenzen, Kommunikationsstärke, Integrationskraft und Verhandlungsgeschick müssen als selbstverständliche Basis zur erfolgreichen Leitung eines Theaters in höchstem Maße vorhanden sein. Wir bieten Ihnen zunächst ein auf fünf Jahre befristetes Beschäftigungsverhältnis, in Vollzeit bei flexibler Arbeitszeit. Die Vergütung richtet sich nach den hohen Anforderungen an diese Position. Wenn Sie es als Aufgabe sehen, ein Theater im Lausitzer Seenland im Wandel der gesellschaftlichen Voraussetzungen und den damit einhergehenden künstlerischen Ausdrucksformen in die Zukunft zu führen und bereit sind, sich dafür mit all Ihrer Kreativität und Kraft einzusetzen, freuen wir uns auf Ihre Bewerbung, in der Ihre ersten künstlerischen Vorstellungen formuliert und die üblichen Unterlagen enthalten sind. Der Zweckverband und seine Mitglieder verfolgen offensiv das Ziel der beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern. Auswahlentscheidungen erfolgen unter Berücksichtigung der Vorgaben des Landesgleichstellungsgesetzes Brandenburg. Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen und Gleichgestellten werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Bitte senden Sie Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen ausschließlich als zusammenhängendes PDF-Dokument bis zum 15. November 2020 an: Zweckverband „Neue Bühne – Niederlausitzer Theaterstädtebund Senftenberg“, Vorsitzender der Verbandsversammlung, Herrn Siegurd Heinze E-Mail: landrat@osl-online.de

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kommentar

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von Ralf Mohn

D

emokratie ist Belagerung“, übertitelt der Tagesspiegel ein ­ espräch mit Jan-Werner Müller. „Deswegen hat Jürgen HaberG mas recht“, sagt der Politikwissenschaftler dort, „wenn er für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Parlament das Bild einer Belagerung vorschlägt.“ Hatten demnach die gut 250 Menschen (Reichsbürger, ­denen Nahstehende sowie bunt gemischte Mitläuferinnen und Mitläufer), die am 28. August 2020 auf die Stufen des Reichstags liefen, um sich dort selbst zu feiern, das Recht, dies zu tun? Ein Großteil der Medien hatte berichtet, es hätte einen „Sturm auf den Reichstag“ gegeben, die Menge hätte letztlich in das Gebäude gewollt – obwohl es, soweit sich das recherchieren ließ, keinen Beleg für den Versuch des Eindringens gibt. Nach knapp zehn Minuten war der von der ­Polizei „befriedete Bezirk“ wieder leer, die Menge verlief sich. Wäre eine andere Reaktion als die der Empörung wün­ ­ schens­wert gewesen, wie sie unter anderem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kam? Das Zulaufen auf den Reichstag habe ich schon dreimal g ­ esehen – ausgehend von sehr verschiedenen Akteuren. Unabhängig von den jeweiligen Intentionen hat es ein tanztheaterähnliches ­Momentum: Die Überwindung von Zäunen, das gemeinschaftliche Hineinlaufen in den abgesperrten Bereich, auf den Reichstag zu, und die Einforderung von Rechten, die man im Bundestag zumindest als ungenügend wahrgenommen sieht, fühlen sich befreiend an. Das erste Mal, am 21. Juni 2015, ist es das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), das im Rahmen der Aktion „Die Toten kommen“ zu einem „Marsch der Entschlossenen“ aufruft. Die Menge öffnet die Zäune um den Platz der Republik und hebt vor dem Reichstag Gräber aus – ein symbolischer Akt für die Menschen, die beim Versuch, den Schengenraum zu erreichen, gestorben sind. Zweieinhalb Jahre später, am 7. November 2017, mobilisiert der Theatermacher Milo Rau zu einem „Sturm auf den Reichstag“ – als Reenactment für ein Video über den „Sturm auf den Winter­ palast“, hundert Jahre nach dem Beginn der Oktoberrevolution. Die Aktion steht im Zusammenhang mit Raus zeitgleich an der Schaubühne stattfindender „General Assembly“, in der es um Strukturen für eine globale Demokratie und die Beteiligung aller „Stände“ geht: „Versammeln wir uns vor dem Reichstag und fordern unsere Rechte ein.“ Die scheinbare Ähnlichkeit der beiden „Stürme“ – also desjenigen vom 28. August mit dem 2017 von Milo Rau initiierten – wird noch verstärkt durch eine vollmundige Behauptung in der Zeitung Demokratischer Widerstand, einer Publikation der Corona-

Maßnahmen-Gegnergruppierung Nicht ohne uns um Hendrik Sodenkamp und Anselm Lenz. Dort steht, dass „Lydia D., die mit ‚17 tsd‘ Komparsen die Treppen des Reichstags erstürmte“, diese Aktion inszeniert habe. Lydia D. gehörte, wie Sodenkamp, zur Gruppe Staub zu Glitzer – B 61-12, die im September 2017 die Berliner Volksbühne besetzt hatte, um in diesem Stadttheater einen „Systemwechsel“ herbeizuführen. Lydia D. verneint auf Anfrage, die Aktion inszeniert zu haben, war aber vor Ort dabei und ist zurzeit im Lager der sogenannten Hygienedemos anzutreffen. Teile von Staub zu Glitzer hatten 2017 mit dazu aufgerufen, sich an Milo Raus Aktion zu beteiligen. Hier, im Reenactment oder als Happening, passiert etwas, was im Theater selten ist, zumal im politischen: Die Sphäre des Tatsächlichen berührt die des Utopischen. Vor dem zentralen Ort der repräsentativen Demokratie, dem Bundestag, und mit der Überwindung der vierten Wand bekommt dieser theatralische Akt des sich im Laufen befreienden Bürgers eine Kraft, ­ die die Möglichkeit, einen Wandel herbeizuführen, greifbar erscheinen lässt. Dass die Rechte zunehmend Ästhetiken und Praktiken der Linken nutzt wie zum Beispiel die Identitären, die Greenpeace-Interventionen nachahmen, irritiert erst einmal. Gezielter ­Regel­bruch ist notwendig, um in einer sich strukturell bedingt schwerfällig gebenden Demokratie die Lücke zu überspringen: ­Irritationen oder Krisen werden von den Parlamen­ tarierinnen und Parlamentariern, die überwiegend der Mittelschicht ange­ hören, nicht immer so gesehen, wie Teile der Bevölkerung sie b ­etrachten. Das Recht auf Happening und Intervention ist also gelebte Demo­ kratie. Es bleibt die Unklarheit, wie den Gruppen zu begegnen ist, die Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ beschreibt: „Es war charakteristisch für den Aufstieg der totalitären Bewegungen in Europa …, dass sie ihre Mitglieder aus der Masse jener scheinbar politisch ganz uninteressierten Gruppen rekrutierten, welche von allen anderen Parteien als zu dumm oder zu apathisch aufgegeben worden waren.“ Die Empörung, die von vielen staatstragenden Persönlichkeiten in den letzten Tagen geäußert wurde, ist so gesehen vielleicht kontraproduktiv und lässt das ohnehin schwindende Interesse einiger, die Demokratie als die eigene zu betrachten, weiter sinken. Den Reichstag zu schützen, den Hans Haake passenderweise mit der Installation „Der Bevölkerung“ ergänzte, ist gut. Den Menschen, die sich ihm nähern, sollte man es selbst überlassen, wie sie sich ihn symbolisch aneignen. Die „zornigen Spießer, die wir vor dem Reichstag gesehen haben“ – so beendet Milo Rau ein ­Interview mit dem Spiegel –, wollten „ins Innere der Institution vordringen, als gäbe es dort irgendeine Verschwörung in einem Hinterzimmer, einen Mechanismus, einen Weltgeist … Aber sie werden den Schachspieler nicht finden. Weil es ihn nicht gibt.“ Lasst sie halt – könnte man ergänzen – gucken! //

Die Treppe der anderen Thema mit Variationen: Der Sturm auf den Reichstag und sein tanztheaterähnliches Moment


Willkommen

PREMIEREN 2020/21 Schauspiel DIE NACHT VON LISSABON 29.8.2020, Erich Maria Remarque Regie Dominique Schnizer MEPHISTO 6.9.2020, Klaus Mann Regie Christian von Treskow TÖDLICHE ENTSCHEIDUNG (UA) Digitales Theater 19.9.2020, Dominique Schnizer Regie Dominique Schnizer WILLKOMMEN 24.10.2020, Lutz Hübner, Sarah Nemitz Regie Elina Finkel GÖTZ VON BERLICHINGEN Digitales Theater 5.12.2020 Johann Wolfgang von Goethe Regie Daniel Foerster

DAS WALDHAUS (UA) 6.2.2021, Rebekka Kricheldorf Regie Dominique Schnizer DIE OSNABRÜCKBÜCHER (UA) 7.2.2021, Hélène Cixous Regie Felicitas Braun DAS NARRENSCHIFF 27.3.2021, Katherine Anne Porter Regie Dominique Schnizer KRIEGERINNEN (UA) 28.3.2021, Ron Zimmering Regie Ron Zimmering VERBINDUNGSFEHLER (UA) 16.5.2021 Julian Mahid Carly-Hossain Regie Rieke Süßkow

DIE SCHÖNE GALATHEE 28.11.2020, Franz von Suppé Musikalische Leitung Daniel Inbal Regie Felix Schrödinger TROUBLE IN TAHITI 23.1.2021, Leonard Bernstein Musikalische Leitung An-Hoon Song Regie Guillermo Amaya DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG 13.3.2021, Richard Wagner Musikalische Leitung Andreas Hotz Regie Andrea Schwalbach

Musiktheater

REQUIEM (UA) 24.4.2021, Wolfgang Amadeus Mozart / Mauro de Candia Musikalische Leitung Andreas Hotz Regie, Choreografie Mauro de Candia

DIDO AND AENEAS 26.9.2020, Henry Purcell Musikalische Leitung Daniel Inbal Regie Dirk Schmeding

DER SCHATTEN (UA) 12.6.2021, Jüri Reinvere Musikalische Leitung Andreas Hotz Regie Maximilian von Mayenburg

Tanz KUNSTRAUB (UA) 10.10.2020 Choreografie Mauro de Candia OPEN WINDOWS IX (UA) 22.1.2021, Junge Choreograf*innen REQUIEM (UA) 24.4.2021, Wolfgang Amadeus Mozart / Mauro de Candia Musikalische Leitung Andreas Hotz Regie, Choreografie Mauro de Candia BEGINNING / AFTER (UA) 5.6.2021 Choreografie Vasna Aguilar, Fernando Melo

OSKAR – Junges Theater DIE KONFERENZ 6 DER TIERE 8.11.2020, Nach Erich Kästner Regie Katharina Birch

Karten 0541/76 000 76 | www.theater-osnabrueck.de


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Weil es böse ist Rainald Goetz hat ein neues Stück über den 11. September und die Folgen geschrieben – Ein Bericht von der Hamburger Uraufführung von Jakob Hayner

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aum eine Uraufführung war in dieser Spielzeit wohl sehn­ licher erwartet worden als „Reich des Todes“ von Rainald Goetz. Über zwanzig Jahre nach seinem letzten Stück – „Jeff Koons“ – gibt es einen neuen Bühnentext des für seinen kritischen Blick auf die Gesellschaft und seine sprachliche Wucht insbesondere vom Feuilleton teils hymnisch verehrten Autors. „Reich des Todes“ wurde als ein Stück über den 11. September angekündigt und die Uraufführung im Deutschen Schauspielhaus Hamburg entsprechend auf eben jenes Datum gelegt, Regie führte die Intendantin Karin Beier selbst. Hätte man den Stücktext vorab lesen können, so hätte man freilich gewusst, dass die Anschläge vom 11. September 2001 in dem Stück im Grunde nur als Auslöser vorkommen. Es behandelt vielmehr die Folgen – und zwar jene im politischen Gefüge der USA mit nicht unerheblichen Auswirkungen auf ein paar weitere Weltregionen. Es geht um Politik, Recht, Macht und den Fall eines zivilisatorischen Tabus. Und das in der Länge von fast viereinhalb Stunden, die sich auch tatsächlich keine Minute kürzer anfühlen. Zu anderen Zeiten hätte man einen solchen Text wohl ein Königsdrama genannt. Könige gibt es zwar nicht mehr, aber Prä-

sidenten, Vizepräsidenten und Minister. Die handelnden Figuren agieren nahezu alle auf höchster politischer Ebene, und die Entscheidungen, die sie treffen, haben Folgen für die Geschicke der Welt. Es sind Helden, wenn auch negative. Und es wäre kein GoetzStück, wenn dieser vom Autor gewählte Ausschnitt der Welt nicht selbst zum Thema des Textes würde. Mit Entschiedenheit verteidigt Goetz den Blick auf die Täter, auf das Böse. Wer nur auf die Opfer schaue, bleibe in der Empörung stecken, identifiziere sich letztlich mit der Ohnmacht der Betroffenen. Weil es aber um die Gesellschaft und deren Kaputtheit gehe, so Goetz, müssen die Literatur und das Theater die Konfrontation mit dem Bösen wagen. Und überhaupt gehören Hass und Gewalt in die Kunst und müssen als menschliche Erfahrungen dort verhandelt werden. Wie verwegen ein solches Programm gegenwärtig ist, zeigt sich erst im kontrastierenden Blick auf jenes politische Theater unserer Zeit, das immer nur im Namen der Betroffenen zu sprechen beansprucht und dem Hass keine Bühne geben will. Dazu ist Goetz der Gegenentwurf. Das Misstrauen gegen das auf öffentlicher Bühne verkün­ dete Gute, in dessen einzigem und geheiligtem Namen man vermeintlich handelt, nimmt Goetz zum Thema. Denn was verkündet die Regierung von George W. Bush und Dick Cheney nach den terroristischen Attacken? Dass sie sich im Krieg gegen das Böse befinde. Dass sie für das Gute kämpfe, für Frieden, Freiheit und


„reich des todes“ von rainald goetz

Entschieden verteidigt Rainald Goetz’ neues Stück den Blick auf die Täter, aber Karin Beiers Inszenierung findet keinen Fokus – „Reich des Todes“ am Hamburger Schauspielhaus. Foto Arno Declair

Demokratie. Es ist nicht zu leugnen, wie stark das Gute in der Moderne eine Bezugs­größe allen Handelns geworden ist, geprägt durch jene Philosophie und Religion, wie man sie aus Europa kennt. Doch das Gute hat eine eigene Dialektik. Es rechtfertigt nämlich das Böse, sobald es dem Guten dienen soll. Tausende Jahre des Tötungstabus haben weder Gewalt noch Krieg aus der Welt geschafft. Die Überschreitung liegt in der Ambivalenz des Verbots und des Gesetzes begründet. Du sollst nicht töten, außer es gibt einen Zweck, der es rechtfertigt. Nur vernunftbegabte Wesen führen Krieg, und das Theorem des gerechtfertigten Krieges hat eine ungebrochene Bedeutung – bis zu den Angriffen auf Jugoslawien und Irak. Völkerrecht wird durch Ethik suspendiert. Ist das noch das Gute oder schon Willkür? Heute über Moral zu sprechen, ohne diese Dialektik zu berücksichtigen, führt zu Moralismus und Heuchelei. Doch greift Goetz nicht die Lügen heraus, die zur Invasion in Irak präsentiert wurden. Ihn interessiert die Frage der Folter und ihrer Legalisierung. Und damit die Frage, wie möglich wird, was nicht möglich sein darf, und wie es zuletzt gar dem Bereich des zu Bezeichnenden entzogen wird. „Keine Folter“, so heißt es beschwichtigend immer wieder. Der bürokratische Terminus lautet enhanced interrogation techniques, erdacht von machtbewussten Staatsmännern und findigen Juristen. Folter, wir wissen es, ist böse. Aber erweiterte Verhörmethoden? Bewertet man nicht moralisch, sondern nach Effektivität. Doch worum handelt es sich bei dem Vorgang? Die Leugnung des Offensichtlichen? Eine Aufweichung der Begriffe? Verwirrung der Sprache? Eine Verneinung im psychoanalytischen Sinne? Verdeutlicht es nicht die Tendenz unserer Zeit, Tabus über Worte, nicht aber Tatsachen zu verhängen? Eine auf­ geklärte Barbarei? Goetz verfährt im Modus des Anklägers, und die Regie von Beier, die trotz manchen Anflugs des Grotesken doch der Vereindeutigung des daran selbst nicht armen Textes verschrieben ist, spart weder an eingeblendeten Fotos aus Abu Ghraib, Theaterbluteinsatz noch Waterboarding-Szenen. Nun ist die These, dass die Lüge zur Politik gehört, nicht besonders neu. Und auch die Informationen, die das Stück präsentiert, sind es nicht. Man merkt, wie Goetz damit ringt, die Macht in

ihrer Funktionalität zu ergründen statt abstrakt zu verurteilen. So wird in seiner Sicht der 11. September zum Ausgangspunkt einer Revolution, die sich innerhalb des Staatsapparats vollzieht. Durch den ausgerufenen Staatsnotstand werden Veränderungen in Politik und Recht möglich, die zuvor undenkbar schienen. Die Verschwörung ist die Regierung selbst. Und um ihre Agenda durchzusetzen, muss sie das Recht zugunsten der Logik des Politischen suspendieren, die nur Freund und Feind kennt – der war on terror. Goetz versieht seine Figuren, die unschwer als Bush, Cheney, Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld und weitere zu entschlüsseln sind, mit deutschen Namen. So spielt er unter anderem auf die Debatte zwischen den Rechtstheoretikern Carl Schmitt und Hans Kelsen in den zwanziger Jahren an. Schmitt prägte die Formulierung, dass souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Kelsen vertrat die Lehre des reinen Rechts. Solcher Rechtspositivismus verkennt jedoch, dass das Recht auf Bedingungen beruht, die es nicht selbst setzen kann. Das ist die Gewalt, die von allen Revolutionären von rechts in der Folge von Schmitt affirmiert wird. Es kommt dem Stück allerdings nicht zugute, dass der Anta­ gonist – der politische Islam – mit keinem Wort auch nur erwähnt wird. Es waren eben weder Naturkatastrophe noch Virus, die zum Anlass des Ausnahmezustands wurden, sondern bewusst in ­Szene gesetzter Terror. Somit geht auch die dramatische Spannung verloren. Zeitweise könnte man meinen, der Geist des verstorbenen Rolf Hochhuth wäre in Goetz gefahren, so einseitig anklagend und agitatorisch ist das Stück. Dafür kommt es aber streng genommen ungefähr 15 Jahre zu spät. Dass erst die letzte halbe Stunde mit dem Schlusschor sich vom Dokumentarischen löst und zu einer eigenständigen Sprache und Reflexion führt, kann man vor Erschöpfung kaum noch wertschätzen. Zu sehr wurde man zuvor nach herrschender Mode mit der immer gleichen Spielweise des unveränderlich an der Schmerzgrenze in den Zuschauerraum Hineinproklamierens traktiert, ohne dass das durch Handlung verbürgt wäre. Im Hintergrund krabbelt oder hüpft meist noch jemand über die Bühne, während die Live-Musik dramatische Akzente im Stil eines Actionthrillers setzt. Die von Johannes Schütz gestaltete Bühne in Form eines grauen Kastens findet wie der gesamte Abend keinen Fokus, das Dutzend Schauspieler – darunter bekannte wie Burghart Klaußner, Sebastian Blomberg und Lars Rudolph – fungiert vor allem als Maschinen für Text und Bewegung sowie als Träger der hübsch anzuschauenden Kostüme von Eva Dessecker und Wicke Naujoks. Doch bleibt der Eindruck, dass die Inszenierung zwar viele Einfälle, aber keine Idee hat. Am rechten Bühnenrand weht eine weiße Fahne: Kapitulation des Westens und vielleicht auch des Theaters? Der Handlung, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann und vor nicht allzu langer Zeit in Filmen wie „Vice“ einem großen Publikum nähergebracht wurde, fehlt die Spannung. Den Figuren mangelt es an Eigenleben und -sprache. Der Text trägt nicht von allein und scheitert an seinem umfassenden Anspruch. Aber in dem Scheitern zeigen sich auch die Umrisse einer dramatischen Aufgabe für die Gegenwart. Nur im Durch­ arbeiten des Bösen könnte die Idee eines gesellschaftlichen Handelns entstehen, das die Gewalt weder bewusst noch unbewusst immer wieder notwendig hervorbringt. Denn der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Absichten gepflastert. //

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Wir glauben! Wir können! Wir siegen! Ein Report über die belarussische Kultur- und Theaterszene, die im Zentrum der Proteste gegen Staatschef Lukaschenko steht von Johannes Kirsten


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Erinnerung an eine Revolution in Minsk „Kaltes Erwachen im langsamen Fahrstuhl zum Blick auf die rasende Uhr. Ich stelle mir die Verzweiflung von Nummer Eins vor. Seinen Selbstmord. Sein Kopf, dessen Porträt alle Amtsstuben ziert, auf dem Schreibtisch.“ 2016, vor vier Jahren, spricht Corinna Harfouch diese Zeilen aus Heiner Müllers Revolutionsstück „Der Auftrag“ in Minsk, auf der Bühne des Kulturpalastes des Automobilwerks (MAZ). Das Schauspiel Hannover ist mit der Inszenierung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner zu Gast beim TEART Festival in der belarussischen Hauptstadt. Hier haben Müllers Zeilen auf einmal eine Dringlichkeit, an die in Hannover nicht zu denken ist. Es ist klar, auf wen die Leute den Text beziehen. Das Gastspiel ist ein Coup des Goethe-Instituts und der findigen Festivalleiterin Angelika Kraschewskaja. Hauptsächlich finanziert wird TEART von der Belgazprombank. Die Werbejingles vor jeder Aufführung sind gewöhnungsbedürftig. Hinter dieser Förderung steht der Bank­ manager Viktor Babariko, ein ebenso schwerer wie lebenslustiger Theater- und Kunstenthusiast, der sich die Förderung belarussischer Kunst und den Austausch über europäische Grenzen hinweg auf die Fahnen geschrieben hat. Heiner Müllers Revolutionsstück 2016 in Belarus: Noch ist von der Präsidentschaftskandidatur Babarikos keine Rede, und auch an die Hunderttausende auf den Straßen des Landes ist nicht zu denken. Die Streiks, an denen sich auch die MAZ-Arbeiter zahlreich beteiligen, liegen noch in weiter Ferne. Ein spontanes Nachgespräch im Foyer des Kulturhauses kommt damals nur schleppend in Gang. Der Blick richtet sich eher auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart. Bei einem Vortrag über Heiner Müller werde ich nach meiner Meinung zur Notwendigkeit von Revolutionen befragt. Ich versuche eine Antwort mit einem ­Leninzitat: „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“.

Vor der Wahl Dass immer mehr Leute unten nicht mehr wollen, kündigt sich schon in den Wochen vor der Wahl an. Wie überall auf der Welt wirkt auch in Belarus die Pandemie beschleunigend. Bestehende Konflikte treten umso krasser zutage. Das Regime Lukaschenko spielt die Gefahr durch das Virus herunter. Der Diktator verhöhnt die Menschen und legt Wodkatrinken und Traktorfahren nahe. Im Zeitalter des Internets weiß man aber, wie andere Länder mit der Pandemie umgehen. Über die Seite „By-Covid 19“ wird per Crowdfunding Geld für Masken und Schutzkleidung gesammelt. Die Menschen organisieren sich. Im Moment des staatlichen Ver­ sagens entsteht zivilgesellschaftliches, solidarisches Handeln. In dieser Gemengelage treten mehrere Gegenkandidaten auf die politische Bühne. Viktor Babariko ist einer der aussichtsreichsten. Innerhalb kürzester Zeit sammelt er 400 000 Unterschriften für seine Kandidatur. Am 18. Juni wird er zusammen mit seinem Sohn verhaftet. Da sitzt der Blogger Sergej Tichanowski, der ebenfalls angekündigt hatte, für die Präsidentschaftswahl zu kandidieren, schon seit zwanzig Tagen in Haft. Ein dritter, der ehemalige Diplomat und Direktor des IT-Parks bei Minsk, Valery

Er wird nicht mit der Straße reden, sagt Alexander Lukaschenko, aber „die Straße“ sind Hunderttausende Menschen – Aktuelle Szenen aus der belarussischen Hauptstadt Minsk. Foto Julia Tsimofejewa

Tsepkalo, entzieht sich durch Ausreise der Verhaftung. Freie Bahn für Lukaschenko? Swetlana Tichanowskaja entschließt sich, anstelle ihres Mannes zu kandidieren. Der geniale Schachzug aber ist die Ver­ einigung dreier Frauen und dreier Lager zu einer Bewegung: Tichanowskaja schließt sich mit Veronika Tsepkalo, der Frau ­Valery Tsepkalos, und Maria Kolesnikowa, die als Wahlkampf­ managerin für Babariko arbeitet, zusammen. Seit 2019 ist Kolesnikowa, die zwölf Jahre in Deutschland lebte und in Stuttgart ­Flöte studierte, Künstlerische Leiterin des OK16, eines der spannendsten Kulturorte in Minsk. Angesiedelt in einer ehemaligen Fabrikhalle in der Oktjabrskaja 16 und finanziert von der Belgazprombank, ist das OK16 ein Ort für Theater, Konzerte, Ausstellungen und Workshops. In direkter Nachbarschaft befinden sich Restaurants und Galerien. Hier unterscheidet sich Minsk von keiner ­europäischen Großstadt. Aber die politischen Gegebenheiten sind hier andere. Orte wie das OK16 sind zuallererst Freiräume, wo sich eine Kultur zeigen kann, die es an anderer Stelle schwer hat. Auch das TEART Festival nutzt das OK16 regelmäßig als Aufführungsort. B ­ abarikos Interesse war es, dem Ort eine größere


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ausland

Eigenständigkeit zu geben, auch eigene Produktionen zu ermöglichen. Neben den staatlichen Theatern gibt es so gut wie keine freie Szene. Das im Rahmen von TEART gezeigte Stück des jungen Dramatikers Vitaly Korolew „Opium“ war das erste, dass sich über Crowdfunding finanzierte. Die Schauspieler, alle an staatlichen Bühnen angestellt, probten mit dem Regisseur Sascha Marchenko in ihrer Freizeit. Dabei entbehrte der Stoff, der sich mit den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf eine Familie in einer Stadt im Süden von Belarus auseinandersetzte, nicht einer gewissen Brisanz. Bereits vor der Wahl wurde Lukaschenko nicht müde, die Chimäre eines Maidan in Belarus zu beschwören. „Maidan“ steht dabei für Gewalt und Chaos und evoziert, dass nur er der Garant für Ruhe und Ordnung sei. Mit der Wirklichkeit hat das, wie wir sehen, nichts zu tun. Tichanowskaja, Tsepkalo und Kolesnikowa sprechen die Leute emotional an. Ihre Symbole werden das Herz, die geballte Faust und das Viktoryzeichen. Dazu kommt der Slogan: „Verym! Moshem! Pramoshem!“ – „Wir glauben! Wir können! Wir werden siegen!“ Die Frauen hebeln die bisherige Ordnung aus. Das ­Regime ist vom selbstsicheren Auftreten der drei und vom Zuspruch, den sie erfahren, sichtlich überfordert. Frauen kamen bisher in Lukaschenkos Kosmos als ernst zu nehmender Faktor nicht vor. Noch vor der Wahl fabulierte er von der Last der Verantwortung als Präsident, unter der eine Frau zusammenbrechen würde. Das provoziert höhnische und witzige Kommentare im Netz. Bitterer sind die Reaktionen zwei Jahre zuvor, als es in Belarus um ein Gesetz gegen häusliche Gewalt geht, das Lukaschenko kurzerhand mit dem Kommentar beiseite fegt, dass seinen Söhnen eine Tracht Prügel auch nicht geschadet hätte. Wie sich das Verhältnis des Regimes zur Gewalt darstellt, zeigte sich in den letzten ­Wochen. In „Nahestehende Menschen“, einem eindrücklichen Dokumentarprojekt des Theaters der sozialen Forschung unter

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Die Situation erinnert an 1989 – Unter den Protestierenden in Minsk sind viele Theater- und Kulturschaffende. Foto Julia Tsimofejewa

der ­Leitung von Valentina Moroz, das ich vor einiger Zeit in einem kleinen Theaterraum in der ehemaligen Fernsehfabrik Horizont gesehen habe, geht es genau um das tabuisierte Thema der häuslichen Gewalt. Eine ganz andere Frau gerät noch vor der Wahl in den Fokus der Auseinandersetzung. „Eva“ ist ein Bild des französischen ­Malers belarussisch-jüdischer Herkunft Chaim Soutine und befand sich in der Kunstsammlung der Belgazprombank. Babariko hat sich auch den Erwerb von wichtigen Kunstwerken belarus­ sischer Maler zur Aufgabe gemacht, von denen der in Witebsk geborene Marc Chagall sicherlich der Berühmteste ist. Im Zuge der Ermittlungen gegen Babariko werden die Bilder beschlagnahmt. Das Netz reagiert prompt. Viele benutzen „Eva“ nun als Profilbild. Das Halbporträt der Frau zeigt auf einmal an einer Hand einen ausgestreckten Mittelfinger. T-Shirts mit dem Bild werden gedruckt. Schon vor der Wahl erhöht der Staat den Terror, verhaftet Menschen willkürlich auf der Straße. Das Tragen des ­T-Shirts mit „Eva“ reicht als Grund. Von Anfang an steht die Präsidentschaftskampagne der drei Frauen auch im Zeichen einer Auseinandersetzung um Kunst. Das Theater hat es in diesen Tagen des Wahlkampfs und der Pandemie schwer. Eine geplante Uraufführung des opulenten ­Romans „Hunde Europas“ meines Freunds Alherd Bacharewitsch im Mai durch das Belarus Free Theatre muss verschoben werden. Die Dystopie spielt im Jahr 2049. Belarus ist ein Teil Russlands. Ein Mann wird im Rahmen einer Morduntersuchung ins Land geschickt und stellt sich die Frage nach der eigenen Verantwortung beim Entstehen autoritärer Strukturen. Nikolaj Chalesin und


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Natalja Koljada, die beiden Gründer des Belarus Free Theatre, leben seit 2011 im Exil in London. Eine Gruppe junger Schauspieler spielt nach wie vor auch in Minsk, in einer winzigen Spielstätte, einer ehemaligen Garage. Hier wird ein Teil von „Hunde Europas“ als erstes Tryout im Juli gezeigt. An einem der letzten Tage des Jahres 2019 sehe ich „Reykjavik ’74“ der polnischen Dramatikerin Marta Sokołowska über die Auswirkungen eines kriminellen Justizsystems auf das Leben von sechs Beschuldigten. Die Inszenierung von Jura Diwakow ist schrill und voller Spiellust. Geschlechtergrenzen werden lustvoll über Bord geworfen. Die Handlung wird vom Publikum eindeutig auf die eigene Wirklichkeit bezogen. Was Spielstil und Freizügigkeit angeht, wäre die Inszenierung an einer staatlichen Bühne undenkbar. Ästhetische Fragen sind dann letztlich doch auch immer wieder politische.

Die Wahl und die Tage der Gewalt Am 9. August, dem Wahltag, gehe ich auf eine Solidaritäts­ demonstration von Belarussen in Berlin. Vor den Wahllokalen im Land und vor den Botschaften bilden sich riesige Schlangen. Die Menschen wollen ihr Wahlrecht wahrnehmen. Ich versuche, im Internet Informationen zu bekommen. Anscheinend wird aller­ orten verzögert, damit die Leute nicht abstimmen können. Die Ergebnisse aus den Botschaften sind eindeutig. Mit überwältigender Mehrheit hat hier Swetlana Tichanowskaja gewonnen. Lukaschenkos Werte liegen im niedrigen einstelligen Bereich. Aus Belarus fehlen gesicherte Angaben. Die später verkündeten offizi-

belarus

ellen Zahlen von über achtzig Prozent für den Diktator verhöhnen erneut auf dreiste Weise die Bevölkerung. Die Menschen fühlen sich um ihre Stimme betrogen. Sie gehen auf die Straße. Erst in den nächsten Tagen wird allmählich ein Bild des Wahltags und der drei Folgetage entstehen, die voller Gewalt sind. Das Internet ist zeitweise abgeschaltet. Ich versuche Alherd und seine Frau, die Lyrikerin Julia Tsimofejewa, zu erreichen, aber das Netz ist tot. Die Einzige, zu der ich Kontakt herstellen kann, ist die Kuratorin und Theaterwissenschaftlerin Tatjana Artimowitsch. Sie ist mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Artur Klinau, in ­Kaptaruny, einem Dorf an der Grenze zu Litauen, und hat dort ­litauisches Netz. Sie schreibt einen Tag nach der Wahl, dass Artur heute nach Minsk fahre. Seine Tochter ist eine von insgesamt siebentausend Verhafteten in diesen Tagen. Die Leute werden brutal misshandelt. Ein UN-Bericht dokumentiert mindestens vierhundertfünfzig Fälle von Folter. Auch Swetlana Sugako, Nadeschda Brodskaja und ­Darja Andrejanowa vom Belarus Free Theatre sind unter den Verhafteten. Der LGBTQ-Aktivist und Pianist Andrej Zavalej, den ich im Rahmen einer Aufführung des Stückes „Linke Dissidenten“ von Alena Schpak und Andrej Dichenko im OK16 kennengelernt habe, schreibt bei Facebook: „Viele meine Freunde, die schwul und lesbisch sind, errichten in verschiedenen belarussischen Städten Barrikaden, sie rufen ‚Hau ab‘, ersticken vor Tränengas, werden durch Lärm- und Blendgranaten orientie­ rungslos, verbluten und retten das Leben von verwundeten Protestierenden und auch von Einsatzkräften der Polizei. Wie viele Schwule es unter den ­OMON-Leuten und dem Militär gibt, weiß

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ich nicht. Ich möchte von ganzem Herzen glauben, dass es auf der anderen Seite der Konfrontation viele gute Menschen gibt, aber in den letzten Tagen haben sie zu viele Verbrechen, Gewalt und ­Morde begangen. ­Unverzeihlich viele.“ Es ist ein dezentraler Aufstand ohne wirk­liche Führungsfiguren, der die gesamte Gesellschaft erfasst. Nach 26 Jahren Diktatur sind die Menschen das Regime Lukaschenko leid. Auf den witzigen und kreativen Plakaten bricht sich jeden Sonntag die allgemeine Stimmung Bahn. Es wird ein Koordinationsrat gegründet, der ähnlich den Runden Tischen im Zuge der Friedlichen Revolution vor drei ­Jahrzehnten in der DDR den Übergang regeln soll. Künstler, Intellektuelle, Juristen und Arbeiter sind hier versammelt. Dem Präsidium des Rates gehört als prominentestes Mitglied die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch an.

Der Fall des Janka-Kupala-Theaters Als Reaktion auf die entfesselte Gewalt am Wahltag und an den Folgetagen verfassen mehrere Kulturinstitutionen Aufrufe. Schauspielerinnen und Schauspieler des Nationalen Akademischen Janka-Kupala-Theaters melden sich in einem Videoaufruf zu Wort und bringen ihre Sorge über die Situation im Land zum Ausdruck. Bei der ersten Großdemonstration am 16. August spricht auch der Leiter des Theaters, Pawel Latuschko, ein ehemaliger Diplomat und Kulturminister, auf dem Unabhängigkeitsplatz und erklärt sich mit den Protesten solidarisch. Einen Tag s­päter wird er entlassen. Bei einer Aussprache mit Kulturminister

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Jury Bondar – die Arroganz der Macht ist ihm ins Gesicht geschrieben – kündigen insgesamt 58 Mitarbeiter, unter ihnen ein Großteil des Ensembles. Das Berliner Gorki Theater postet den Videoaufruf aus Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen. Als ich noch einmal bei der Schauspielerin Christina Drobysch nachfrage, ob wirklich alle gekündigt hätten, schreibt sie: „Nicht nur die Schauspieler, sondern auch das Theaterpersonal hat zahlreich seine Kündigungen eingereicht. Wir sind eine Familie. Wenn einer geht, gehen alle.“ Das Janka-Kupala-Theater ist nicht irgendein Theater. Es ist das erste des Landes, das durch den Weggang des Ensembles genau hundert Jahre existiert hat, von 1920 bis 2020. Die „Kupalovzi“ werden zu einem weiteren Symbol des Widerstandes. Die Solidarität mit den Theaterleuten ist überwältigend. Auch andere staatliche Kulturinstitutionen beteiligen sich mehr und mehr an den Protesten. Das Puppentheater nimmt mit riesigen Fäusten, Händen, die das Victoryzeichen machen, und Herzen an den Protesten teil. Der Chor der Philharmonie singt auf den Stufen seines Stammhauses. Dichterinnen wie Julia ­Tsimofejewa rezitieren zwischen den Liedern Gedichte. Immer wieder wird auch in Einkaufszentren oder in der großen Markthalle des Komarowkamarktes gesungen. Vor der Markthalle findet auch der erste Protest der Frauen statt, der inzwischen die Widerstandsbewegung prägt. Als am 7. September Maria Kolesnikowa verhaftet wird, organisieren sich Proteste, die den Slogan der ­„Kupalovzi“ weitertragen: Eine für alle, alle für eine!

Wie weiter? Angelika Kraschewskaja schreibt, dass „Belarus Open“ – der Showcase, in dem im Rahmen des internationalen TEART Festivals auch dieses Jahr wieder belarussische Produktionen gezeigt werden sollen – von Ende September auf Mitte Oktober verschoben wird. Sie springt dieser Tage am OK16 in die Bresche, solange Maria Kolesnikowa in Haft ist. Der Erhalt der künstlerischen Freiräume ist gerade jetzt von unschätzbarer Bedeutung. Die „Kupa­ lovzi“ treten an öffentlichen Orten auf. In vielem erinnert die Situa­tion an 1989. Das Theater findet auf der Straße statt. Andrej Zavalej arbeitet im Rahmen eines jüdisch-belarussischen Festivals im Oktober an einem Stück über den Autor Moshe Kulbak und bereitet für Februar 2021 ein Projekt im HAU vor. Das Belarus Free Theatre hofft auf eine zeitnahe Realisierung der „Hunde ­Europas“ im Barbican Center in London. Valentina Moroz plant in naher Zukunft ein Projekt mit Vitaly Korolew zu den Protesten um die Präsidentschaftswahl. Aber das Wichtigste sei, schreibt sie, „die Teilnahme an den täglichen Ereignissen, mit denen wir versuchen, unser Ziel zu erreichen. Wir tun unser Bestes dafür, und wir sind sicher, dass wir gewinnen.“ Inzwischen ist Swetlana Alexijewitsch das letzte verbliebene Mitglied des Präsidiums des Koordinierungsrates, das nicht in Haft oder im Ausland ist. Am 9. September wendete sie sich mit einer erschütternden Botschaft an die internationale Gemeinschaft. „Lukaschenko sagt, er werde nicht mit der Straße reden. Die Straße aber sind Hunderttausende Menschen … Das ist nicht die Straße, das ist das Volk.“ Ich wäre jetzt gern mit den Freunden dort in Minsk, der Stadt, die mir seit fast zwanzig Jahren eine zweite Heimat geworden ist. //


kolumne

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Josef Bierbichler

Die Dialektik des Elfenbeinturms Über die Seuchen-Kunst Korona und ihre Kritiker

N

otiz am 8.3.2020. Drei Wochen vor dem Lockdown: Das Nichtwissen zeigt sich. Die Hilflosigkeit wächst. Mit ihr Angst und Aktionismus. Nie für möglich Gehaltenes geschieht in kurzer Zeit. Gebiete werden abgeriegelt, Länder lahmgelegt, Kontinente werden folgen. Ganze Wirtschaftszweige verlangsamen den Pulsschlag beim Kampf um Profit, bis hin zum Kollaps. Die Virus-Katastrophe wird zum wirksamen Mittel gegen die andere, die droht wie keine zuvor – abwiegelnd Klimawandel genannt: Der CO2-Anstieg hat sich zum ersten Mal verringert. Klima. Virus. Tod. Aber das Klima ist nicht bedroht, es verändert sich nur. Die gestörte Natur passt sich an das Klima an und generiert das Virus. Mehr nicht. Es gibt Lebewesen, die das nicht ertragen. Bedroht sind Pflanzenarten und andere. Auch fleischliche. Die Menschenart ist darunter. Was ­widersteht, bleibt, was nicht, verschwindet. Bald wird Hauen und Stechen sein. Noch werden Fremde angefeindet, egal aus welchem Teil Asiens sie sich hergewagt ­haben, unvorsichtig. Unvorsichtig sind alle. Auch die, die das ­Virus schon personifiziert haben als „Chines“. Sie fühlen sich ­sicher in der Anfeindung. Die ist ihr selbst gemachter Schutz gegen das Virus. Bald wird es „italienisch“ sein. Schon schwieriger. Und bald steht der Feind innerhalb der eigenen nationalen Grenzen. Er kommt aus der nächsten Stadt, dem nächsten Dorf, aus der Haustür des Nachbarn. Bürgerkrieg!!!! GUT gegen BÖS. Nach kurzer Zeit ist GUT nur mehr ICH. Nur das Klima bleibt Klima. Warum schreibt sich so was? Zynismus? Pessimismus? Destruktion? Wut ist es! Wut auf die ungehemmte Profitgier der das System bestimmenden Gewinner, die das Dogma vom ewigen Wachstum am Leben halten, egal was es anrichtet, und die damit eine bis zum Irrsinn führende Lebensbejahung kultivieren: bei sich selbst, aber eben auch bei Menschen, die von ihnen abhängen. Weil aber Profit nicht demokratisiert ist und die Abgehängten deshalb nicht souverän sein können bei ihrer Selbstbefragung, müssten sie das ganze System und damit sich selbst komplett infrage stellen. Das ist der Konflikt. Und der treibt alles ins Irrationale. Mehr ist es nicht. Mehr geht auch nicht. Das war vor sechs Monaten. Danach kein Eintrag mehr. Danach war Corona. Tote Hose. Auch in meinem Notizbuch. Überall: in Wirtshäusern, in Friseursalons, in

Reisebüros, in Flugzeugen, bei den betrügenden Autobauern – und vor allem bei allen Abhängigen. Damit auch in allen Theatern. Heute schreibt ein Kritiker in einer süddeutschen Zeitung über die zwei ersten Aufführungen in Berlin nach einem halben Jahr Seuchenpause. Auch aus ihm klingt noch die tote Hose. Er beklagt, dass es in dem einen Theater in einer „Hammer- und Sichel-Tapete um nichts geht, nicht einmal um Hammer- und Sichel-Bolschewismus“. Alles sei egal. Er fordert in schlechten Zeiten Moral ein. Die vom Deutschen Theater haben sich aber offenbar einen Witz gemacht bei der Eröffnung der neuen Spielzeit. Wahrscheinlich ist es ein böser Witz über die entgangenen 180 Tage. So stelle ich es mir vor. Ich habe es nicht gesehen. Der Kritiker will Ernsthaftigkeit. Corona hat auch ihn lahmgelegt. Er ist einer wie viele, die selber nichts mehr zuwege bringen konnten, aber gleich sofort was wissen über die, die was zuwege zu bringen versuchten. Das alles ist Korona. Korona ist die aktuelle Kunst. Alle sind Urheber, Rezipienten und Kritiker der Seuche und ihrer Bekämpfung in einem. Und unaufhaltsam treibt das Klima mit seinem Wandel in die nächste Kunstform, nicht mehr neu, aber bis dato ignoriert: unser letztes ultimatives gemeinsames Gesamtkunstwerk: der irre Traum von einer Schöpfung nach der Apokalypse. Ich warte auch nur noch auf was. Aber nur, weil ich fürchte, dass noch was kommt. Sich was ausdenken geht nicht mehr. Ausgedachtes ist nur noch Banales. Korona ist die Dialektik des Elfenbeinturms. Die Seuche hat einen weltweiten Elfenbeinturm erzeugt und schafft ihn gleichzeitig ab. Es kommt nichts mehr. Man lümmelt herum im Vergangenen. Glücklich, wer es nicht merkt. Die Vierzigtausend Ende August auf den Berliner Straßen und vor dem Reichstag sahen alle irgendwie glücklich aus. Auch die mit wutverzerrten Gesichtern. Sie freuten sich ihres Hasses, der aus ihren mitgebrachten Fahnen der Vergangenheit heraushing wie aus dem Mantel beim Exhibitionisten das Gemächt. Sie freuten sich an ihrer Vielfalt, die sie verabscheuen. Sie freuten sich über Corona, das sie vereint. Der Kritiker hat natürlich auch recht. Es gibt nur noch zwei einander widerstrebende Möglichkeiten, wie Kunst in einer Endzeit entstehen kann: Entweder als selbstreferenzielle Betrachtung des eigenen Endes oder als letztes Aufbegehren. Das Letztere wäre zu überlegen. Ersteres sollte erst als Letztes ins Auge gefasst werden. Aber dann, selbstredend, weil eh schon „irgendwie völlig egal“ (Zitat Kritiker und kritisch gemeint), als windiger Kalauer. //

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Die Eigen-Art mobilisieren Alexander Langs Weg vom Schauspieler zum Regisseur – Eine biografische Skizze anlässlich der Verleihung des Konrad-Wolf-Preises in der Berliner ­Akademie der Künste von Thomas Wieck

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erwundertes Erstaunen über sich und das eigene Sein in der Welt im jähen Gewahrwerden, dass die Welt eine andere als die vorgedachte und ausgedachte ist: Das ist wohl ein Grundgestus des jugendlichen Heldenspielers Alexander Lang am Deutschen Theater Berlin Anfang der siebziger Jahre gewesen. Dass diese bittere Erkenntnis den Helden zum hemmungslosen Rasen gegen sich und die Welt brachte, begeisterte Zuschauer und Kritiker. Im Hause selbst fand er schnell Anerkennung und Fürsprache; erstaunlich für einen jungen Schauspieler, wenn er direkt vom Berliner Ensemble kam: „Er hat intuitives Gespür für Kostüme, er weiß viel von der Erzählfähigkeit von Haltungen und Gesichtern. Er weiß oder ahnt ebensoviel von dem Wesens- und Umweltgeprägten der Stimme. Und wenn er sich in diesem Sinne alles gründlich und genau gemacht hat, kommt der romantische Ernst einer Begeisterung für das herrliche Wunder, sich auf dem Theater unentwegt verwandeln zu können, in beinahe übermütiger Aufhebung aller Selbststrenge noch dazu.“ Der Blick Ilse Galferts auf Lang in Theater der Zeit (Heft 9/1972) lässt schon eine Regiebegabung ahnen. Aber noch dominiert die Spielwut. Und Lang hat Kräftiges und viel zu spielen: Ferdinand, Caliban oder – an einem Abend – den Prinzen von Homburg und Ruprecht in dem berühmten Kleistdoppelprojekt Adolf Dresens. In „Die Insel“ – inszeniert von Klaus Erforth und Alexander Stillmark – gelang ihm und seinem Partner Christian Grashof eine schauspielerische Meisterleistung. Auf leerer Bühne, gefangen nicht von elenden, Gefängnismauern vortäuschenden Theaterkulissen, sondern gebannt von einem realen schmalen Kreidestrich auf der Bühne, spielen sie die Leidens- und Lebensgeschichten zweier gefangener Schwarzer, ganz aus sich selbst heraus, ohne jede falsche Einfühlung ins Fremde. Das Fremde, das Beklemmende, war ihre aktuelle Spielsituation, denn sie waren den Blicken der um sie herum sitzenden Zuschauer schutzlos preisgegeben. So

wurden sie zu Gefangenen. Dieses Ausgeliefertsein war stärker – weil direkt sinnlich erfahrbar von den Darstellern – als jede naturalistische Nachahmung finsterer Gefängnisqualen. Kein Entkommen nirgends; hier half allein ein hochgespanntes und selbstverges­senes Spiel bis zum bitteren Ende. Lang wird es später seinen Schauspielern immer wieder abverlangen. Dann, 1977, kam „Guevara“ mit einem artistischen Meisterstück. Die letzte Szene des Abends, die grundlegende Auseinandersetzung zwischen Castro und Guevara vor seinem Abschied aus Kuba, wurde von Lang im Alleingang gespielt: Er, Guevara, spielte auch die Figur Castro. Die Uraufführung fiel aus, verboten aus dunklen Gründen. Das DT zeigte den Probenstand 14 Tage vor dem geplanten, aber bereits gecancelten Termin in einer halboffiziellen Matinee mittels einer 35-Millimeter-Filmaufzeichnung. Die nächste Arbeit mit den Regisseuren Erforth und Stillmark sollte Heiner Müllers „Philoktet“ werden. Doch hier endete die Zusammenarbeit. Lang entdeckte beim Probieren, dass dem Stück nicht, wie die Regisseure glaubten, mit dem eindeutigen Konzept einer linearen Sinn- und Bedeutungszuweisung beizukommen war. Ihm eine konkrete historische Bedeutsamkeit oder gar eine übergeschichtliche Moral abzuzwingen, war in seinen Augen ein Irrweg. So trennten sich unaufgeregt die Schauspieler und das Regieteam. An einem Haus wie dem Deutschen Theater stand der gestaltenden Kraft der Schauspieler auch der Platz am Regiepult offen, und die Tradition dieses Hauses favorisierte den inszenierenden Schauspieler allemal. Der Regisseur Lang erstand aus dem Ensemble der Spieler, aber nicht, weil er dort keine Resonanz fand, sondern, ganz im Gegenteil, weil er um die Not der anderen wusste. 1981 erklärt er in einer Lehrveranstaltung Berliner Schauspielregiestudenten diesen Schritt: „Ich bin in die Regie eingestiegen, als eine Lücke entstand. Dresens Weggang war für mich ein schmerzlicher Verlust, da an ihm meine Orientierung als Schauspieler hing. Dazu kam, daß die Zusammenarbeit mit dem anderen Team auseinanderging. Ich stieß in die Lücke, um meinen Kollegen zunächst einmal einen Punkt gemeinsamer Arbeit bieten zu kön-


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alexander lang

nen. Ich habe ganz bewußt, als spruch war unter den gegebenen Verhältnissen unlösbar. ich anfing, Regie zu machen, Die Verhältnisse waren nicht ,Pauline‘ (1976) gewählt, denn es mehr zu verteidigen, aber laswar mir klar, daß ich Handwerk lernen mußte. Ich war nicht von sen konnte man auch noch nicht von ihnen. Gefühle, Leivornherein darauf aus, Kunst zu machen. Ich habe Lust bekomdenschaften, rationale Erwämen, meine Tätigkeit als Regisgungen und soziale Erfahrunseur konsequent zu Ende zu gen schossen unvermittelt führen, d.h. bis zu einem Punkt durcheinander. Davon erzählen zu treiben, wo ich sage, daß ich Langs Inszenierungen. Doch diese Art ­Theater satt habe.“ Konkurrenz trat auch auf den Seine Kunst-Absichten hat Plan, vorwärtsweisende und Lang schon früh festgelegt, rückwärts orientierte. während der Arbeit an „Miss Langs „Trilogie der LeidenSara Sampson“ (1978). „Und bei schaften“ (1985/86) wird gerahmt zum einen von „Judith“ der ,Sara‘ verblüfft doch, daß da (1985), der von Siegfried Mattmehrere Personen seltsame Anstrengungen unternehmen, hus hochaffektiv, hysterisch aufihr Handeln und ihre Gefühle geladenen Reformulierung der in Einklang mit einer zeitbegroßen Oper, hohl dröhnend dingten Moralvorstellung zu dahinrauschend, und zum anbringen und daß das Ende diederen von Frank Castorfs Inszeser Anstrengung der Zusamnierung des „Bau“ (1986), womenbruch eben dieser gigantimit Castorf erstmalig Heiner Müller beim Wort nahm, den schen Mühe ist. Was ist das für ein moralisches Prinzip, das die „Seine Arbeit erzeugt größtmögliche psychische Intensitäten“ – Stücktext fragmentierte, synStefanie Carp über Alexander Lang. Foto Alexej Paryla Figuren zwingt, im Tod eine Löthetisierte, so zum Spielmate­ rial eigener Weltsicht umnutzte sung ihrer Konflikte zu suchen? Dieses Stück bietet die Möglichund damit ein neues, anderes Theater in der DDR ermöglichte. keit, anhand emotionaler Durchdringung der Figuren ein geschichtliches Problem erlebbar zu machen.“ Zur selben Zeit kämpfte Lang vergeblich um eine erweiterte Langs Plan einer theatralischen Geschichte der Emotionen Mitbestimmung in der Leitung des Deutschen Theaters. Tief entals Gegenstand und Methode seiner künftigen Inszenierungen täuscht verließ er das Haus, um in der Bundesrepublik seine „Kraft ­bedurfte einer besonderen Spielweise. Er hat sie mit einem kleinen in die Entwicklung von Kunst zu investieren“. Aber hier war kein Kreis bereiter Schauspieler seit „Dantons Tod“ (1981) entwickelt, Resonanzraum für seine künstlerischen Fragen und ästhetischen ­besonders in der Art und Weise des figuralen Sprechhandelns. Antworten. Im Spannungsfeld zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit sezierten die Schauspieler unter seiner Leitung die un„Langs Arbeit an Stimmen und Sprache erzeugt größtmögliche psychische Intensitäten, die den Ausdruck der Figuren in die glückseligen Lebensgeschichten ihrer Figuren bis ins Delirium kunstvoll; zuweilen, und das war die Gefährdung, verkünstelt und Nähe des Wahnsinns bringt, und er legt gleichzeitig eine zeitliche Distanz zwischen die Schauspieler und ihre Figuren, durch welvertanzt. Diese Darstellungsweise wurde westwärts nicht als ein che der Wahnsinn als der einer historischen Situation erscheint.“ ­Kapitel aus der Dialektik der Gefühle begriffen, sondern als indiSo beschreibt es Stefanie Carp 1986 in Theater heute. Langs viduell-psychisches Versagen der Figuren und/oder manieriertes Inszenierungen sind publizistisch gründlich vorgestellt, sie müsDarstellergehabe missverstanden. Lang erfuhr sich jetzt, dort, ersen hier nicht erinnert werden. Hinweisen will ich nur darauf, dass sie im „Gespräch“ mit Heiner Müllers Theaterästhetik zu verstehen staunlich verwundert ob dessen; unverstanden. Irgendwann zog er seinen Schluss und ging dahin zurück, sind, und dass Volker Pfüller durch seine gegenwärtig grellen, ­grotesken, die Künstlichkeit des Theaters betonenden Raum-, Kosvon wo er aufgebrochen war. Seine Szenenstudien an der Hochtüm- und Maskenvorschläge politische Schärfe ins Spiel brachte. schule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ waren Höhepunkte, Die Erfolge Langs waren verständlich bei einem Publikum, noch immer stark umstritten, aber für die Studenten unvergess­ das sich hier und jetzt in seiner Individualität bestätigt sehen, s­ einer liche und sehr begehrte Übungen. Hier erfuhren sie, welche Lebensgier folgen wollte und der sozialen Einhegung zu entkomHandwerklichkeit ins Spiel einzubringen möglich und, wichtiger men trachtete; das sich anschickte, viele seiner durchaus selbst­ noch, tatsächlich vonnöten ist, wenn es gilt, die unheimlichen gewählten Bindungen aufzukündigen. Die Kehrseite dieses BegehKräfte der echten und der falschen Gefühle schauspielerisch gerens war die kaum abweisbare Einsicht in die private, kollektive, zielt einzusetzen – und dass der reine Selbstausdruck immer nur gesellschaftliche Verantwortung jeglicher Individualität. Der Widerder erste zaghafte Schritt dahin sein kann. //

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Und was machen wir mit Mephisto? Goethes „Faust“ im deutschen Staatssozialismus von Friedrich Dieckmann

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„Faust war kein faustischer Mensch.“ Emil du Bois-Reymond, 1882

s war im Frühjahr 1962, ein knappes Jahr nach der Berliner Grenzschließung, als Walter Ulbricht die Kulturschaffenden seiner Partei zu einer internen Konferenz zusammenrief, um ihnen wegweisende Worte zu sagen. Das Ziel, auf das der 1960 zum Staatsratsvorsitzenden avancierte Parteichef seine Genossen orientierte, war hochgesteckt; er hatte sich der „Faust“-Lektüre erinnert, zu der ihn in Lehrlingsjahren der sozialdemokratische Arbeiterjugend-Bildungsverein angeregt hatte, und war im Blick auf Fausts visionäres Schlusswort am Ende des zweiten Teils auf den hoffnungsvollen Gedanken gekommen, dass „die Arbeiter und Bauern des Landes ... mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus ... den dritten Teil des ,Faust‘“ schrieben. Dachte er daran, dass das hohe Ziel, das dem erblindeten Hundertjährigen vor Augen steht, die ultimative Hoffnung, einmal „auf freiem Grund mit freiem Volke“ zu stehen (Vers 11580), in der DDR insofern realisiert worden war, als das Privateigentum an Grund und Boden weitgehend zurückgedrängt worden war? Nicht durchgängig (es gab noch privates ebenso wie genossenschaft­ liches Eigentum), aber großenteils waren die Einwohner Mieter staatlicher oder kommunaler Eigentümer geworden und profitierten davon durch das definitive Ausbleiben von Mieterhöhungen. Das bedeutete zugleich, dass niemals Geld genug für substanz­ erhaltende Maßnahmen da war. Neben dem obersten Parteisekretär saß bei jener Kultur­ konferenz Anna Seghers als die Vorsitzende des Schriftstellerverbandes: „Und was machen wir mit Mephisto?“, hielt sie zwischenrufend dem perorierenden Oberleiter entgegen. Ulbricht stutzte (Christa Wolf hat die Geschichte überliefert), dann sagte er in unverfälschtem Leipzigerisch: „Nun, Genossin Anna, die Frage ­Mephisto werden wir auch noch lösen.“ Das war Faust bei seiner

großartigen Küstenlandgewinnung nicht geglückt, und spätestens, als Ulbricht Anfang 1971 von der Moskauer Führung abgesetzt wurde, weil Breshnjew ihn verdächtigte, gesamtdeutsche Ambitionen zu hegen, wusste er: Auch er hatte die Frage Mephisto nicht gelöst. Schon in den Jahren davor war das groß angelegte Reformprojekt, mit dem er in die Wirtschafts-, Kultur- und Jugendpolitik des Landes eingegriffen hatte, von Funktionären wie Erich Honecker und Paul Verner mit Moskauer Rückhalt sabotiert worden. War die DDR ein faustisches Projekt? Ihre Monopolpartei verwandelte sich spätestens in der Honecker-Ära in einen nationalökonomisch eingeschränkten Mega-Konzern mit verbeamtetem Gesamtpersonal und hypertrophierendem Betriebsschutz. Der von ihr bestimmte Staat gab sich als eine ordensmonarchisch regierte Ständegesellschaft zu erkennen, auf plebejischer statt auf aristokratischer Basis. Das konnte nicht das Gemeinwesen sein, das dem alten Faust vor Augen stand – es war der Staat, dessen Universitätsleben zu entrinnen sich der jüngere Faust dem Teufel verschrieben hatte. Als ich im Jahre 1988 gehalten war, einen Beitrag zu einer Traum-Anthologie beizusteuern, fiel mir bei, Ulbrichts kontrastierende Hauptbauwerke, den von den Berlinern Protzkeule genannten Fernsehturm und die sich in horizontaler Linearität durch die Stadt ziehende Mauer, als korrespondierende Ausgeburten eines Staatstraums zu deuten, in dem Fausts finaler Monolog spukte: die Mauer („ein Sumpf zieht am Gebirge hin“) als Abwehr des aus Westberlin andrängenden Kapitalismus, der Turm als jenes „Hügels Kraft“, den bei Faust „kühn-emsige Völkerschaft“ auftürmt. Dieser Text wurde erst nach der deutschen demokratischen Revolution druckbar – wurde er missverstanden? Es zeigte sich in der Folge, dass ein Großteil germanistischer wie theatralischer Interpreten sich Ulbrichts Vorstellung von diesem Monolog insofern zu eigen machte, als sie sie für bare Münze nahmen, so als habe Goethe bei seinen akribisch redigierten Hauptversen den Leipziger Monopolsozialisten gleichsam antizipiert. Das ist ein Missverständnis, so wie die Vorstellung Nonsens ist, dass jene ­Heroisierung des Goethe’schen Faust, die die SED von der bürgerlichen Bühnentradition entlehnt hatte, das Theater in der DDR bestimmt habe. Buchstabenhörig verwechselt man Absichten mit


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Geschehen, Verlautbarungen mit der Wirklichkeit, und nicht nur im medialen Bereich sind solche Kurzschlüsse gang und gäbe. Hat die Tendenz zur Simplifizierung damit zu tun, dass mit dem in marxistischen Kreisen des Ostens wie des Westens zu Tode gerittenen Wort Dialektik auch der Begriff Dialektik aus dem gesellschaftlichen Denken verschwunden ist? Was uns auf allen Kanälen begegnet, die auch, wo sie von Gebühren finanziert ­werden, den inneren Gesetzen der Werbung gehorchen, ist ein mechanistisches Weltbild, das von einer tief sitzenden Angst beherrscht wird, in ­Widersprüchen – denen der Wirklichkeit nämlich – zu denken. Von solchen Widersprüchen und ihrer Veränderung im Lauf von vier Jahrzehnten war die Wirklichkeit der DDR anhaltend beherrscht, und die künstlerische Produktion des Landes wurde in maßgeb­ lichen Teilen immer wieder zum Kampfplatz ihrer Sichtbar­ machung. Die Theater bewegten sich zwischen dreierlei Ansprüchen, und nur einer von ihnen waren die kulturpolitischen Erwartungen der regierenden Partei. Der andere war der eines Publikums, auf das kein Theater rechnen konnte, wenn es Leitartikel in Bühnen­ geschehen umsetzte. Der dritte Anspruch ging von dem mehr oder minder ausgeprägten Selbstbewusstsein derer aus, die als Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen das Theater machten. Hier gab es, genau wie heute, gegenüber den Vorgaben des Mainstreams den gutwilligen und den plattfüßigen Opportunismus, und es gab demgegenüber mit der Lust am ­Widerspruch immer wieder auch die Fähigkeit, ihn ästhetisch G ­ estalt werden zu lassen. Das geschah exemplarisch schon in jenem düstersten dritten Jahr der DDR-Geschichte, als Ulbrichts SED eine verlustreiche Klassenkampfpolitik ins Werk gesetzt hatte, hinter der Stalins Furcht vor einem Kriegsausbruch stand. Nicht dieser bizarren Parteilinie widersetzte sich der große Dialektiker im Turmzimmer des Berliner Ensembles (mit einem Bauerntheaterstück fügte Brecht sich ihr ein), aber dem konventionellen Faust-Bild der Arbeiterpartei

Faust-Szenen in Dunst und Nebel – Horst Sagerts „Urfaust“-­Ins­ze­ nierung 1984 im Berliner Ensemble mit Hermann Beyer in der Hauptrolle. Foto Hans Pölkow, Akademie der Künste, Berlin, Horst-Sagert-Archiv, Nr. 21_15

versetzte er einen so schweren Stoß, dass es ihn fast sein Theater gekostet hätte: Er ließ einen Assistenten, Egon Monk, Goethes ­„Urfaust“ in einer Weise inszenieren, die allen sich an die Gestalt heftenden Idealismus subversiv unterlief. Der 18-jährige HansJürgen Syberberg hat diese Aufführung mit einer Schmalfilm­ kamera gefilmt, und man kann sehen: Besonders geglückt war sie, trotz Brechts wegweisender Notate, nicht; der distanzierende ­Duktus hatte den impressiven gleichsam verschlungen. Nach der Premiere wurden weitere Aufführungen unterbunden, und das Zentralorgan Neues Deutschland richtete Ende Mai 1953 eine ganzseitige Vermahnung an das fehlgehende ­Ensemble. Da war Stalin schon zehn Wochen tot, und als die SEDFührung am 9. Juni ihren alten Kurs widerrief und abrupt einen neuen verkündete, konnte sich Brecht gerettet fühlen. Neun ­Monate später bekam er nach vier Gastspieljahren endlich ein eigenes Theater, das durch den Ruhm, den die Truppe bald darauf bei Gastspielen in Paris und London errang, vor Existenzgefährdungen sichergestellt war. 1984 wurden dort noch einmal an den „Urfaust“ angelehnte „Faust“-Szenen aufgeführt, von einem Gastregisseur, der als Bühnenbildner Weltruf hatte: Horst Sagert versetzte seine „Faust“-Szenen in den „Dunst und Nebel“, die Goethes Zueignungsverse berufen, und ließ sich für Fausts Besuch in Gretchens Kerker ein Aperçu einfallen, das es in sich hatte: Faust erschien mit einem Einkaufsnetz, in dem man Apfel­sinen erkannte. Er hatte unterwegs eine sich überraschend bietende Einkaufsgelegenheit wahrgenommen.


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protagonisten

Zwischen diesen beiden Inszenierungen lag im Jahre 1968 am Deutschen Theater der Anlauf eines jungen Regisseurs im Bund mit einem namhaften alten zur Inszenierung beider Teile des Werkes. Das war dem Intendanten, Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff weder 1949 noch 1954 an diesem Haus geglückt; die Gewichte waren zu groß, mit denen die kulturpolitische Führung den zweiten Teil belastet hatte. Langhoff war in ­beiden Inszenierungen ähnlich wie Gründgens in Hamburg verfahren; einem schwach besetzten Faust hatte er einen über­ ragenden Mephisto gegenübergestellt und „die Frage Mephisto“ damit auf seine Weise gelöst. Adolf Dresen, mit dem wohlwollenden Wolfgang Heinz als neuem Intendanten an seiner Seite, hielt es 1968 anders, er stellte Mephisto dem macht- und lebenshungrigen Intellektuellen als einen armen Teufel gegenüber, der sich im Dienst des Unersättlichen redlich plagt: Faust als Ausbeuter der Hölle. Der Übermut des jungen Teams war so weit gegangen, dass es in die Walpurgisnacht selbstverfasste Spottverse voller politischer Anspielungen eingestreut hatte; dass das nach der Premiere wegbleiben musste, lag auf der Hand. Aber dass die Aufführung „nach nur wenigen Vorstellungen abgesetzt“ worden sei, wie der im Übrigen kenntnisreiche Guido Böhm vermeldet („Ein sozialistisches Faust-Bild“, Theater der Zeit, Berlin 2014), ist falsch; sie brachte es in fünf Jahren auf 168 Vorstellungen. Beides, das Zustandekommen dieser Inszenierung zur Zeit des Prager Frühlings und ihre Nichtabsetzung nach dessen Niederschlagung, macht deutlich, in welchem Maß sich die Verhältnisse seit Monks und Brechts „Faust“-Versuch von 1953 geändert hatten. Davon zeugte auch das Erscheinen eines russischen ­Romans, dessen deutsche Übersetzung, ein Meisterwerk Thomas Reschkes, 1968 als ein Blitz der Erhellung in das Lesepublikum der deutschen Ost-Republik fuhr. Er hieß, faustisch genug, „Der Meister und Margarita“ und stammte von dem im ersten Jahrzehnt der Sowjetunion im Roman und auf der Bühne überaus erfolgreichen Michail Bulgakow, der um 1930 von einer kulturpolitischen Linkswende aus der Öffentlichkeit verbannt worden war; nur dank einer persönlichen Intervention Stalins hatte er als ­Regieassistent eines Moskauer Theaters überleben können. Der Meister, die Faustfigur seines von 1929 bis 1940 in Etappen geschriebenen Buches, tritt erst in dessen 13. Kapitel auf den Plan, als Insasse einer psychiatrischen Klinik, in die er eingeliefert worden war, nachdem er aufgrund hetzerischer Rezensionen seine Wohnung an einen Denunzianten verloren hatte. Diese Rezensionen hatten der Teilveröffentlichung eines Romans ge­golten, der im Jerusalem des römischen Prokurators Pontius Pilatus angesiedelt war und von dessen Rolle bei der Verurteilung des Wanderpredigers und Wunderheilers Ha-Nozri handelte. Was den geifernden Hass der Rezensenten erregt hatte, war der Umstand gewesen, dass der Autor, anders als die offizielle atheistische Propaganda, diesen Ha-Nozri alias Jesus von Nazareth als eine reale Person behandelt hatte. Gleich zu Anfang hatte Bulgakows Buch einen unwiderleglichen Zeugen für die Wahrheit dieses Pilatus-Romans aufgeboten, den Satan persönlich, der sich gegenüber zwei linientreuen Atheisten als Zeitzeuge für die Realität der Vorgänge verbürgt. Dies geschieht auf einer Promenade im Moskau der dreißiger Jahre, dessen gesellschaftliche, moralische, kulturelle Verfassung

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­ ieser real existierende Teufel in der Folge bei der Kaperung einer d Varieté-Veranstaltung erweist. Erst nach diesen exorbitanten Vorgängen war der Autor des Pilatus-Romans, nun schon im Irrenhaus, in Sicht gekommen, mitsamt der Erzählung seiner Liebesgeschichte mit der komfortabel verheirateten Margarita; es ist eine der schönsten und traurigsten Liebesgeschichten der Weltliteratur. Dieser sowjetische Faust-Roman mit seinem romantischphantasmagorischen Ende war 27 Jahre nach dem Tod des Verfassers in einer sowjetischen Zeitschrift erstmals bekannt geworden, der DDR-Verlag Volk und Welt hatte ein Buch daraus gemacht, und wenn man die kongeniale Verfilmung ins Auge fasst, die 2005 dem russischen Regisseur Wladimir Bortko gelang (als DVD ist sie mit mehrsprachigen Untertiteln zugänglich), bekommt man noch einmal ein Gefühl für die Wende im Umgang mit der Faust-Figur, die, fast zeitgleich mit der Dresen-Heinz-Inszenierung, das Erscheinen dieses Romans im Jahre 1968 bedeutete. Zu „Faust II“ kam es zu DDR-Zeiten am Deutschen Theater nicht noch einmal; ein groß angelegter Versuch scheiterte 1983 am Kleinmut eines theaterfremden Intendanten. Man musste 1979 zu Christoph Schroth nach Schwerin und 1982 zu Piet Drescher nach Chemnitz/Karl-Marx-Stadt fahren, um die ganze Tragödie auf der Bühne zu erleben, aus Perspektiven, in denen sich die Hoffnungen verwichener Kulturpolitiker mit Spiellust und Erfindungsgabe nachgerade umgekehrt hatten. Zuletzt wurde Wolfgang Engels Dresdner Inszenierung im Umbruchjahr 1990 zum Abgesang auf einen Gesellschaftsversuch, an dessen Anfang die parteigeleitete Kulturpolitik den Anschluss an die Tradition gesucht hatte. Das war plausibel gewesen: Eine politische Partei, die aus der Katastrophe des Hitler-Regimes die Folgerung gezogen hatte, nur eine grundlegende Änderung der Besitzverhältnisse in Industrie, Landwirtschaft und Bankwesen könne die Zukunft Deutschlands sichern, musste kulturpolitisch zwangsläufig konservativ agieren. So geriet eine „Faust“-Oper, auf deren selbstverfertigten Text der Komponist, Hanns Eisler, so stolz war, dass er ihn in einer Luxusausgabe drucken ließ, ehe er ein Wort komponiert hatte, im Jahre 1952 prompt ins parteipolitische Kreuzfeuer; Faust war hier dem Teufel als ein Intellektueller verfallen, der im Bauernkrieg nicht den Mut aufgebracht hatte, sich an die Seite der Aufständischen zu stellen. Lag es an dem Einspruch der Partei, dass Eisler sein Libretto auch in späteren Jahren nicht vertonte? Als am 17. Juni 1953 ein ­Arbeiteraufstand das Land erschütterte, musste ihm klar werden, dass er sich in der Situation seiner Faust-Figur befand. Dass dieser Aufstand den Interessen der Sowjetarmee, aber auch der Machterhaltung des parteiführenden Faust-Freunds so sehr entgegenkam, dass die Vermutung nahelag, beide hätten ihn nach Kräften befördert, verschärfte die Interferenz der Widersprüche noch.1 Wir haben es heute mit anderen Widersprüchen zu tun, sie machen Inszenierungen des Goethe’schen „Faust“ keineswegs leichter. Aber die ursprüngliche Figur, von Christopher Marlowe dem deutschen Volksbuch entlehnt, bleibt, ins Kollektive gewandt, eine Schlüsselgestalt dessen, was uns als die Moderne umstellt. In ihrer weltvergessenen Hybris hat sie uns anhaltend am Wickel. //

1 Vgl. Friedrich Dieckmann: Olymp im Nebel / Hintergründe des 17. Juni 1953, in: F. D., Deutsche Daten oder Der lange Weg zum Frieden, Göttingen 2009.


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PUPPETS 4.0 Ein imaginäres Museum

AB 17. OKTOBER 2020 BEI UNS ODER BEI EUCH

INFOS UND ANMELDUNG: www.fidena.de

THEATER GÜTERSLOH.SPIEL ZEIT 2020/2021 URAUFFÜHRUNGEN 17.10.2020 Theater Gütersloh

12.11.2020 Neuköllner Oper, Berlin/Theater Gütersloh

von Nora Gomringer Regie: Christian Schäfer

von Moritz Rinke/Mathias Schönsee (Text) und Cymin Samawatie/Ketan Bhatti/ Trickster Orchestra (Musik) Regie: Mathias Schönsee

OINKONOMY

15.04.2021 Theater Gütersloh

THE DOORS (NO EXIT)

DER MANN DER SICH BEETHOVEN NANNTE

Gefördert durch

von Fink Kleidheu/ Tilman Rammstedt Regie: Christian Schäfer

Alle hier aufgeführten Produktionen werden unterstützt von

INFOS UND KARTEN ServiceCenter Gütersloh Marketing, 05241 21136-36, bei allen bekannten VVK-Stellen und unter theater-gt.de


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Am Wochenende keine Drogen nehmen Das Kunstfest Weimar bewährt sich als erstes deutsches Großfestival unter Corona-Bedingungen von Thomas Irmer

I

m April, als alle Festivals vom Theatertreffen bis zur Ruhrtriennale abgesagt waren, machten sich der Künstlerische Leiter des Kunstfestes Weimar, Rolf C. Hemke, und sein Team daran, das Programm ihres Mehrspartenfestivals grundlegend neu zu konzipieren. Großveranstaltungen waren aufgrund von Corona auch in

Thüringen bis Ende August generell nicht mehr möglich. Aber könnte das Kunstfest nicht mit kleinteiligerem Programm und ­einem großen Open-Air-Anteil stattfinden? Und wie könnte man auf die Situa­ tion inhaltlich reagieren? Würde am Ende diese Festival-­ Ausgabe als erstes echtes Festival der Corona-Ära in Deutschland zählen? Tatsächlich gab es für den Start des Kunstfestes Weimar mit nahezu sechzig Programmpunkten pünktlich zum Auftakttag sogar eine Sondergenehmigung der Landesregierung: Es handele


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sich beim größten Festival Thüringens zwar um eine Großveranstaltung, aber die ersten Tage seien mit Freiluftaufführungen und Vernissagen in Räumen mit kontrollierter Besucherzahl möglich. Kunstfest-Leiter Hemke verband seine Erleichterung darüber mit einer kämpferischen Ansage: „Wir wollen es als Zeichen verstanden wissen, dass die Kultur noch da ist. Und dass wir uns nicht unterkriegen lassen.“ Zwei aufwendige Bühnenproduktionen – die Uraufführung der Oper „Electric Saint“ von Stewart Copeland und Jonathan Moore sowie Amir Reza Koohestanis Adaption von Anna Seghers’ „Transit“ – wurden ins nächste Jahr verschoben. An ihrer Stelle gingen eilig Stückaufträge für Monologe an Sibylle Berg (in ihrer Geburtsstadt quasi local heroine), Theresia Walser, Falk Richter, Sivan Ben Yishai und Lothar Kittstein, deren Uraufführungen nun zum Kernstück des Theaterprogramms wurden. Als Spielstätte fand man die Alte Feuerwache nahe des historischen Stadtzentrums – mit ihrem riesigen Hof gerade als Autokino erprobt

In faustischer Studierzimmer-Quarantäne wächst Dimitrij Schaad weit über sich hinaus – Falk Richters Inszenierung „Five Deleted Messages“ (links). Unten: In Sibylle Bergs Coming-out-Geschichte „Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“ schäkert Benny Claessens vor Weimarer Klassiker-Kulisse mit dem Publikum. Fotos Candy Welz

kunstfest weimar

und für 160 locker gesetzte Zuschauer der ideale Ort unter den gegenwärtigen Bedingungen. Hinter Falk Richters „Five Deleted Messages“ verbirgt sich der Monolog eines Schauspielers, der sich zur Vorbereitung auf die Rolle des Faust am Nationaltheater Weimar praktisch in ­Studierzimmer-Quarantäne begeben hat. Den Text des gesamten Stücks auswendig lernen, dazu die Sekundärliteratur durchforsten – darin besteht das fast manische Projekt dieses K., der als letztes Nachrichtenbild vor seiner Selbstisolation ausgerechnet den Handschlag der beiden westdeutschen Thüringer Thomas Kemmerich und Björn Höcke gesehen hat. Nach Telefonaten mit Bekannten, die selbst nicht mehr auf die Straße gehen oder andere treffen wollen, beschäftigt sich K. mit der Frage, was der Lockdown bedeutet. „Wir sollen das Gefühl haben, dass sie uns unsere Freiheiten jederzeit wieder wegnehmen können, um uns zu schützen.“ Dieses sie bleibt weitgehend unbestimmt, und K. steigert sich, anstatt sich in den „Faust“ zu vertiefen, allmählich in eine Paranoia. Das ersehnte Studierzimmer wird in seiner Sicht Teil einer Welt, die nichts mehr zusammenhält. Dimitrij Schaad agiert als K. auf einem riesigen Bühnenaufbau, rechts, ganz klein, in der Ecke neben einer Großleinwand, die ihn in Nahaufnahme zeigt. Im Bühnen-Off steht er wiederholt nackt vor einem geöffneten Kühlschrank: ein beklemmendes, aber auch komisches Bild seiner Einsamkeit. Ein solches Verhältnis zwischen einem Bühnenausschnitt und seiner mega-vielfachen Vergrößerung war

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festivals

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s­ elten zu erleben. Aber Schaad beherrscht alle Kniffe und weiß, Bäuchen der Kreuzfahrtschiffe. Das fließt wunderbar mit ein in die wie man wirkungsvoll mit der Kamera spielt. Falk Richter, der hier Walser’schen Lebenskatastrophenbetrachtungen. selbst Regie führt, hat zudem den Videokünstler und langjährigen Den dritten Monologstreich besorgten Ersan Mondtag und Partner Chris Kondek dazugeholt, der Bilder von menschen­ Benny Claessens mit Sibylle Bergs „Paul oder Im Frühling ging leeren, öden Stadtecken in den Monolog pflanzt. Die wirken jetzt die Erde unter“. Es handelt sich um die Erinnerung an eine zarte beinahe schon als historisches Zitat jener Shutdown-Wochen im Coming-out-Geschichte des mittlerweile erwachsenen Paul, der April. Aber der Ratlosigkeit K.s, dessen von Machtfragen besesseschon vor Corona in der Quasi-Quarantäne eines alles erstickenne Gedankenwelt nicht nur einmal die der jetzigen Corona-­ den Großraumbüros vor sich hin vegetierte. Doch hier steht Protestler streift, verleihen sie keine zusätzliche Dimension. nicht Bergs Text im Mittelpunkt, sondern der Auftritt von Claessens, der auf einem Lohengrin-Schwan aus Salzburg einrollt, wo ­Natürlich hatte Richter das Große und Ganze im Auge, samt ja bekanntlich gerade das genuine Fes­ ­forcierter Thüringen-Situation. Die seltsame tival­rettungsfestival s­tattgefunden hat. Macht des sie belässt seinen K. aber doch nur Claessens zieht alle Register des Alleinin dessen verzweifelter Innenperspektive. „Seit die Möwen unterhalters und überschreitet sogar An gleicher Stelle dann: Judith Rosmair, die Dimension der Großbildleinwand, in einem grünen Samtmorgenmantel und unsere Plätze indem er seine körperliche Präsenz (im mit komplizenhafter Ansprache in die KameGesicht schwitzende Batman-Joker­ ra, dazu kräftige Züge aus einer Weißwein­ eingenommen haben, flasche nehmend. Ihre Figur Jona befindet Schminke) jenseits dieser technischen als spielten sie uns, sich mit 3227 anderen Leuten auf einem Verdoppelung betont. Da feiert ein Kreuzfahrtschiff in der Karibik, das wohl – Schauspieler seine Rückkehr auf die liegen sie auf unseren Bühne, erzählt viel von sich (Besuch bei „wir sind kein gesundes Schiff“ – vorerst nirgendwo mehr anlegen darf. Es gibt schon Tote der Mutter in Belgien) und schäkert mit Sonnenliegen oder an Bord und deshalb Kabinenquarantäne mit dem Publikum, als müsste diese besonbalancieren wie täglich dreißig Minuten sortiertem Ausgang dere Beziehung gerade als ein anderes auf den Decks. Das hat Jonas ohnehin feine Coming-out entdeckt werden: Eine absotodessüchtige lute Kunstfest-Beglückung und ins­ Wahrnehmung für das Sozialverhalten ihrer gesamt die Bestätigung dieser Solos in Mitpassagiere offenbar noch weiter geschärft Passagiere auf der der Feuerwache. in Theresia Walsers „Endlose Aussicht. Ferien Reeling herum. Zu den operativen Formen gehörauf dem Seuchendampfer“. Nebenan telefonieren die Fränkels „rund um die Uhr mit ihten die „Wegwerfopern“ des nordiriWir fehlen nicht.“ ren Enkeln zum Seuchentarif“, während bei schen Duos Dumbworld, Brian Irvine den Dallmayers der Mann das gerade gratis und John McIlduff: Sieben Mal zehn von der Crew ausgegebene Puzzle vom NürnMinuten schnelles Musiktheater an atberger Weihnachtsmarkt auslegen will, das traktiven Altstadtorten. Auf den Turm allerdings größer ist als der Kabinenboden. der Herder-Kirche beispielsweise wurZwischendurch skypt Jona mit ihrem Arbeitgeber und gibt vor, im den zwei Engel projiziert, die singend „Ich sehe was, was du nicht Allgäu im Homeoffice die von ihr erwarteten Aufgaben zu erfülsiehst“ spielen, während das Publikum, mit Kopfhörern ausgestatlen. „Wir sind keine Wirtschaftshypochonder.“ Ein Kreuzfahrttet, zu ihnen aufschaut. Im lauschigen Garten des Herder-Hauses ging ein singender Morris seine seltsame To-do-Liste durch: „Am schiff, man erinnere sich an David Foster Wallace’ ätzende Reportage, ist ohnehin ein schwimmendes Tollhaus, aber ein verseuchter Wochenende keine Drogen nehmen. Mehr an Blumen riechen.“ Vergnügungskoloss auf dem Meer dessen literarische Steigerung Die selbstbewusst ironischen Mini-Opern waren keine corona­ bezogenen Arbeiten, vielmehr wiesen sie darauf hin, dass ein durchaus wert. „Seit die Möwen unsere Plätze eingenommen ­haben, als spielten sie uns, liegen sie auf unseren Sonnenliegen ­solches Festival eben die ganze Stadt auch mit neuen, ungewöhnlichen Formaten bespielen will. oder balancieren wie todessüchtige Passagiere auf der Reeling Mit einem für ein aktuelles Thema verblüffenden Effekt ­herum. Wir fehlen nicht.“ ­arbeitete Alexander Devrients Kompanie Ontroerend Goed aus Auch hier, in diesem zwischen süffig-provokanter Satire und Gent auf der großen Bühne des Nationaltheaters. „Are we not Bermudadreieck-tiefer Abgründigkeit changierenden Monolog, drawn onward to new erA“ – ein Palindrom – zeigt, wie der einzige gibt es eine zusätzliche Videokunst-Ebene. Theo Eshetu – für die Baum im Paradies geradezu hingerichtet und alles um ihn herum Auseinandersetzung mit der zweifelhaften Buntheit postkolonialer Welten in internationalen Ausstellungen bis zur documenta bemit Plastiktüten zugemüllt wird. Worauf die Handlung sich auf der Bühne live und in umgekehrter Reihenfolge abspielt: Die kannt – hat in flirrenden Farben in tiefer See wallende Mollusken gefilmt, die fast so künstlich aussehen wie aus einem Prospekt für ­Plastiktüten fliegen in den Himmel, das Bäumchen wird wieder zusammengesetzt, aber die Akteure bewegen sich dennoch nicht Kreuzfahrten in der Karibik. Die Bilder stehen langsam und lange rückwärts. Ein verblüffender Trick, den man so noch nicht kannte. für den im Zuge des Jona-Furiosos keimenden Gedanken, dass Tatsächlich, man hat sich auf fantasievolle Weise nicht unter­ ­solche Wesen nicht nur schön anzusehen sind, sondern auch seltkriegen lassen! // sam allein leben in ihrer vor uns verschlossenen Welt, tief unter den


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Theater Paderborn

Robinson Crusoe

15. August 2020

Schauspiel von Frank Radüg nach dem Roman von Daniel Defoe

Sechs Tanzstunden in sechs Wochen 18./19. September 2020 von Richard Alfieri Deutsch von Johan Grumbrecht

Antigone

3. Oktober 2020

Tragödie von Sophokles in einer Nachdichtung von Walter Jens

Name: Sophie Scholl

9. November 2020

von Rike Reiniger

Die Bremer Stadtmusikanten/ Muzykanci z bremy

21. November 2020

Märchen von Jan Kirsten nach den Gebrüdern Grimm

Shakespeares sämtliche Werke … leicht gekürzt

Komödie von Adam Long, Daniel Singer und Jess Winfield Deutsch von Dorothea Renckhoff

Mephisto – Gestohlene Texte und Lieder

16. Januar 2021

Ein Theatersolo

Nacht/Noc

12./13. März 2021

Schauspiel von Andrzej Stasiuk Deutsch von Olaf Kühl

Linie 1

9. April 2021

Musikalische Revue Buch und Liedtexte von Volker Ludwig Musik von Birger Heymann und der Band No Ticket

Pippi feiert Geburtstag

22. Mai 2021 von Astrid Lindgren Musical von Rainer Bielfeldt (Musik) und Otto Senn (Libretto)

Die neuen Abenteuer des Baron Münchhausen

Spielzeit 2020/21

27. November 2020

12. Juni 2021

Musical von Jan Kirsten (Libretto) und Team Takayo (Komposition)

21.08.20 Bericht über eine unbekannte Raumstation von J. G. Ballard URAUFFÜHRUNG 02.10.20 Das letzte Band von Samuel Beckett 10.10.20 Antigone des Sophokles 21.11.20 Struwwelpeter (Shockheaded Peter) Musical von den Tiger Lillies 23.01.21 Woyzeck von Georg Büchner 13.03.21 Die Pest von Albert Camus

19. Landesbühnentage 24.–28. März 2021

Uckermärkische Bühnen Schwedt Tel. +49 3332/538 111 | kasse@theater-schwedt.de www.theater-schwedt.de

15.05.21 Die Verlorenen von Ewald Palmetshofer 12.06.21 Eine Sommernacht ein Stück mit Musik von David Greig


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Bochum

Foto

Auftritt „King Lear“ von William Shakespeare in der Neuübersetzung von Miroslava Svolikova

„Deinen Platz in der Welt“ (UA) von Dominik Busch

Bielefeld

Hamburg „Paradies (fluten / hungern / spielen)“ von Thomas

Köck sowie „molto agitato“ mit Kompositionen von György Ligeti, Johannes Brahms, Georg Friedrich Händel und Kurt Weill Neubrandenburg / Neustrelitz „Wohnen. Unter Glas“ von Ewald Palmetshofer

Wien / Hamburg

„Mal – Embriaguez Divina“ (UA) von Marlene Monteiro Freitas und „Die Goldberg Variationen, BWV 988“ (UA) von Anne Teresa De Keersmaeker

Wiesbaden „Die Küste Utopias“ (DSE) von Tom Stoppard


auftritt

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BOCHUM Ein bitterer Abgesang auf die Familie SCHAUSPIELHAUS BOCHUM: „King Lear“ von William Shakespeare in der Neuübersetzung von Miroslava Svolikova Regie Johan Simons Bühne Johannes Schütz Kostüme Greta Goiris

Gegenteil, „ganz der Papa“, bekommt sie

Die konsequent eingehaltenen „Abstands­

­ihrerseits einen Wutanfall, wirft mit Erdklum-

regeln“ – auf der Bühne wie im Saal – stören

pen nach dem Erzeuger, verlässt das Heim

übrigens nicht weiter. Über dergleichen ist

türenknallend.

ein Werk von Shakespeare, das während einer

Man wird sich bald wiedersehen, aber

Pestepidemie entstand, weit erhaben. Und

dann hat sich Anna Drexler, indem sie ein-

eine Inszenierung von Johan Simons letztlich

fach ein kariertes Röckchen über ihrer roten

auch. //

Martin Krumbholz­

Kluft auszog, in den Narren verwandelt, der den König fast bis zu seinem Ende begleitet. Die Doppelbesetzung erfolgt nicht zufällig: Der Narr ist eine Art Lookalike der Cordelia,

BIELEFELD

dessen absurde Spottreden den König methodisch irritieren und ungefähr in dem Moment zur Räson bringen, da er tatsächlich durch­

In der Mühle des Lebens

geknallt ist. Mit Paradoxien und Metamorphosen arbeitet der Text, vielleicht doch der größ-

THEATER BIELEFELD: „Deinen Platz in der Welt“ (UA) von Dominik Busch Regie Dariusch Yazdkhasti Bühne Anna Bergemann Kostüme Clemens Leander

Harold Bloom, der große amerikanische

te und tiefste von Shakespeare überhaupt, ja

Shakespeare-Forscher, ein fast unübertrof­

immer wieder. Etwa, wenn Edgar, der gute

fener Meister des „close reading“, meinte,

Sohn des Grafen Gloster, sich in einen aus

unsere Epoche sei dem „King Lear“ nicht ge-

dem Irrenhaus entlaufenen „Tom“ verwan-

wachsen. Und Bloom hat noch mehr Interes­

delt. Konstantin Bühler spielt ihn beeindru-

santes herausgefunden. Die Titelfigur des

ckend, halb nackt, mit ätzender Ironie. Der

Dramas bezeichnet er fast wortwörtlich als

böse Halbbruder Edmund (Patrick Berg), ei-

die letztgültige Verkörperung des alten wei-

gentlich eine Paraderolle wie alle großen

Leuchtstoffröhren rahmen einen schwarzen

ßen Mannes. Wenn man bedenkt, dass das

Schurken, kommt dagegen ein wenig zu kurz.

Bühnenkasten ein und verströmen ein sanf-

Stück in grauer Vorzeit spielt, Jahrhunderte

Nicht absichtsvoll brillierend, sondern

tes, atmosphärisch stimmiges Licht. Ganz zu

lakonisch und ganz und gar menschlich gibt

Beginn von Dariusch Yazdkhastis Urauffüh-

Als hätte Johan Simons in seiner Bochu-

Steven Scharf den geschundenen Grafen

rung von Dominik Buschs Szenengeflecht

mer Inszenierung Bloom irgendwie zustim-

Gloster. Faszinierend gelöst die Szene seiner

„Deinen Platz in der Welt“ ist der Kontrast

men wollen, lässt er gegen Ende ein wenig die

Blendung: Nur ein Weißlichtblitz markiert

zwischen dem Dunkel auf der Bühne und

Zügel schleifen. Das fast unerträgliche Pa-

den Akt. Kurz zuvor hat Scharf sich nach-

dem strahlenden Rahmen jedoch derart groß,

thos der Tragödie wird unterlaufen, die fabel-

denklich eine Zigarette angezündet, im Dia-

dass einen das Licht blendet. Für einen kur-

hafte Anna Drexler, zuvor Cordelia und Narr,

log mit seinem verlorenen Sohn, den er nicht

zen Augenblick gibt es nichts als diese glei-

zitiert die Regieanweisungen („Lear stirbt“),

erkennt. „Wie Ihr mit den Töchtern, hab

ßende Helle, die einem jegliche Sicherheit

die Toten liegen zuckend auf der Bühne, und

ich’s mit dem Vater“, erklärt Edgar in der

und Orientierung nimmt. Man sitzt in diesem

das wirkt dann wie eine schale Parodie. Scha-

schönen

Miroslava

Moment zwar auf seinem Platz im Theater,

de, denn bis dahin, also vier Akte lang, war

Svolikova vielsagend dem wahnsinnigen ­

verliert aber jenen Halt, dessen man sich

im Bochumer Schauspielhaus ein fesselnder,

Lear. Dieses Drama ist ja, und darauf hat

sonst meist so seltsam gewiss ist. Noch bevor

glasklarer „Lear“ zu erleben. Pierre Bokma

wiederum Bloom nachdrücklich hingewie-

Buschs Figuren ihren Platz in der Welt verlie-

mit seinem feinen niederländischen Akzent,

sen, ein bitterer Abgesang nicht etwa ledig-

ren, erleidet also das Publikum einen ähnli-

ohne Blumen im Haar, stattdessen mit einem

lich auf den „alten weißen Mann“, sondern

chen Schock. Nur ist der selbstverständlich

Pelzhut geschmückt (Kostüme Greta Goiris),

auf die scheinbar so wundervolle und lang­

nicht so nachhaltig wie die Erschütterungen,

interpretiert den Achtzigjährigen als einen

lebige Idee der Familie.

von denen das Stück erzählt.

vor Christus …

Neuübersetzung

von

impulsiven, nicht sehr intelligenten, aber

Johannes Schütz‘ Bühnen sind alle-

Zwei Männer, Geldeintreiber für einen

dennoch nachdenklichen und vor allem hoch-

samt Variationen des leeren Raums. Diesmal

rücksichtslosen Gangster, verlieren die Ner-

sympathischen Aristokraten. Seine Begeg-

gibt es darin einen Erdhaufen und auf der

ven. Eigentlich sind sie gerade dabei, ihrem

nungen mit Cordelia sind herzzerreißend. Die

Hinterbühne eine abgetrennte Lounge, in der

Boss zu berichten, was bei einem Überfall

jüngste Tochter (die beiden anderen sind

eine um sich rotierende Kamera Schwarz-

geschehen ist. Doch sie verlieren sich immer

Travestien, von Männern gespielt) reagiert ­

Weiß-Bilder von den Schauspielern erzeugt,

wieder in wüsten Beschimpfungen und bruch-

keineswegs demütig oder zerknirscht, als der

die eben abgegangen sind oder sich auf ihren

stückhaften Schilderungen. Es dauert eine

Vater die Stoisch-Störrische vom Hof jagt. Im

Auftritt konzentrieren. Das ist eine weitere

ganze Zeit, bis klar wird, dass ein Mann, den

Variante des Live-Video-Acting, das sich dies-

sie bedroht haben, vor ihnen auf die Straße

mal nicht auf ganze Szenen, sondern auf

geflüchtet ist und einen tragischen Unfall

Fesselnd und glasklar – Johan Simons’ „King Lear“ (hier mit Konstantin Bühler).

Fragmente, Interjektionen und so weiter

ausgelöst hat. Dieser Unfall, bei dem ein Bus

stützt; mit relativ geringem Aufwand wird

in eine Menschenmenge gefahren ist, gleicht

Foto JU Bochum

eine zweite Ebene installiert.

dem Epizentrum eines Bebens, dessen

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auftritt

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Reigen der Verunsicherung und Haltlosigkeit – „Deinen Platz in der Welt“ von Dominik Busch (hier mit Simon Heinle und Doreen Nixdorf). Foto Philipp Ottendörfer

Spielerinnen und Spielern gedreht werden kann. Jeder Szenenwechsel ist damit auch ein Akt der Gewalt, bei dem die einen Figuren von anderen verdrängt werden. Der gesamte Raum hat damit etwas von einer Mühle, in der die Menschen langsam zermahlen werden. Ein eingängigeres Bild für Dominik Buschs Bestandsaufnahme lässt sich kaum vorstellen. Allerdings erwächst aus diesem Bild eine szenische Einheit, die mit der sprachlichen Vielfalt des Stücks nicht mithalten kann. // Sascha Westphal

HAMBURG Schockwellen durch das ganze Stück gehen.

als ein Vater (Thomas Wolff) seiner Tochter

Es ist nur ein Moment von vielen, in denen

(Nicole Lippold) beichtet, dass sie adoptiert

das Leben im wahrsten Sinne aus der Bahn

ist und ihre Eltern Opfer der argentinischen

geworfen wird.

Militärdiktatur waren, oder als ein Arzt

Der gute Mensch im Dschungelcamp THALIA THEATER: „Paradies (fluten / hungern / spielen)“ von Thomas Köck Regie Christopher Rüping Bühne Peter Baur Kostüme Lene Schwind

In dieser ersten Szene seines Reigens

(Cornelius Gebert) seine Familie in einem ­

der Verunsicherung und Haltlosigkeit eta­

Moment größter Gefahr im Stich lässt, waren

bliert Dominik Busch auch seine ästhetischen

immer schon da. Nur sehen die meisten Men-

Strategien. Zu ihnen gehören neben einer

schen über sie hinweg, obwohl sie doch fort-

­bewussten Vagheit der Situationen und der

während an ihren Rändern entlangbalancie-

Dialoge auch gezielte Anspielungen auf pop-

ren. Buschs analytisch-klarem Blick auf die

kulturelle Phänomene oder politische Verstri-

Welt offenbaren sich menschliche Schwä-

ckungen. Die hysterischen Handlanger und

chen ebenso wie systemische Bruchstellen.

ihr zynisch-cooler Boss erinnern an die frühen

So gesteht der Vater seiner adoptierten Toch-

Die Gesetze des Marktes können grausam

Filme von Quentin Tarantino. Deren elektri-

ter weitaus mehr als nur ein Familien­

sein, gerecht sind sie nie. Der ältere Mann, der

sierte und elektrisierende Dynamik fangen

geheimnis.

illustriert

da starr und verloren auf der Bühne steht, war

Busch und Yazdkhasti perfekt ein. Wie sich

zugleich ­

westlicher

mal selbstständiger Kfz-Mechaniker, bis ihm

Janis Kuhnt und Simon Heinle regelrecht mit

­Konzerne in die Politik (südamerikanischer)

die Werkstatt abgebrannt ist; die junge Frau

Verwünschungen

Militärdiktaturen.

neben ihm, seine Tochter, ist freischaffende

bombardieren

und

wie

Seine die

Geschichte

Verstrickungen

­Oliver Baierl als ihr Boss sichtlich mehr und

Buschs „Short Cuts“, die teils für sich

Künstlerin und muss sich von Auftrag zu Auf-

mehr die Geduld verliert, ist ein kleines

stehen, teils untereinander verknüpft sind,

trag hangeln. Beide sind sie weiß geschminkt –

­Kabinettstückchen, dessen manische Choreo­

greifen die Puzzledramaturgie von Robert

zwei Gespenster des Kapitalismus.

grafie und sprachlicher Fluss von einer

­Altmans gleichnamigen Film auf. Allerdings

Auf die eine oder andere Art gilt das

unfass­baren inneren Leere zeugen. Aus dem

spannt der schweizerische Autor sein Netz

auch für die anderen Figuren in „Paradies“,

Kontrollverlust, den die Gangster empfinden,

weiter. Zusammen ergeben die einzelnen

einer neuen, stark gekürzten Fassung von

entspringt ein reißender Strom, der sie immer

­Szenen ein Mosaik, das zugleich Welt- und

Thomas Köcks „Klimatrilogie“, die der Regis-

schneller ins Ungewisse treiben lässt.

Gesellschaftspanorama sein will und den

seur Christopher Rüping nun am Thalia Thea-

Dieses Gefühl, von den Ereignissen

­Fokus vor allem auf unterschwellige Gewalt-

ter in Hamburg herausgebracht hat. Neben

mitgerissen zu werden und letztlich keine

strömungen legt. Dariusch Yazdkhasti findet

Vater und Tochter, die sich selbst ausbeuten,

Chance auf Halt zu haben, erfüllt nahezu alle

zusammen mit seiner Bühnenbildnerin Anna

sind da die, die ausgebeutet werden: der chi-

Szenen des Stücks. Jedes Mal verlieren

Bergemann einen grandiosen räumlichen

nesische Arbeiter und seine Freundin, die aus

Buschs Figuren den Boden unter ihren Füßen.

Ausdruck für diese Struktur. Im Zentrum der

der heimatlichen Lithiumionenakku-Fabrik

Aber die Abgründe, die sich plötzlich auftun,

Bühne steht eine schwarze Wand, die von den

fliehen, nur um in einem italienischen Sweat-


auftritt

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shop bei einer noch stupideren Arbeit zu lan-

Rüpings Inszenierung setzt nun ganz auf den

­Synthesizer etwas Panflötenartiges entlockt,

den (und schließlich ihr Leben zu verlieren).

Text – und der hält dem Konzept leider nur

selbstironisch kommentieren, sie spiele hier

Und es gibt natürlich den klassischen Aus-

bedingt stand. So stehen Björn Meyer und

gerade „Dschungel“.

beuter, einen Gummibaron im Manaus des

Maike Knirsch anfangs in coronagebühren-

Ein bisschen mehr Action und Emo­

späten 19. Jahrhunderts, der von einem

dem Abstand zueinander vor zwei übereinan-

tion, aber nicht weniger Klischees bietet die

Opernhaus im Dschungel träumt („Kultur!“)

dergestapelten

Peter

Szene, die der Kritik am Warencharakter von

und die indigene Bevölkerung in Ketten legen

Baur) und lesen abwechselnd vor, was auf der

Nachrichten gewidmet ist: Da residiert eine

lässt. Ihre Geschichten werden notdürftig zu-

Breitwand des oberen eingeblendet wird: die

junge Journalistin (Maike Knirsch, jetzt mit

sammengehalten von einem ICE-Schaffner

Geschichte des chinesischen Pärchens, er-

Augenklappe) im oberen Stockwerk eines

und Erzähler (Abdoul Kader Traoré), der die

zählt meist in der dritten Person und vorgetra-

Bagdader Hotels (der Glascontainer ist nun in

coronabedingt wenigen Zuschauer im Saal

gen mit maximaler emotionaler Distanz. Ist es

gut zwei Meter Höhe aufgehängt) und hadert

mitnimmt auf eine Reise durch eine Welt, die

Zufall, dass man bisweilen Brechts „Guten

nölend und grimassierend damit, dass all ihre

von Profitgier beherrscht wird – an jedem Halt

Menschen

herauszuhören

internationalen Kolleginnen und Kollegen

wartet ein neues Beispiel.

meint? Um tatsächlich als Parabel zu taugen,

sich nur für Sex, Alkohol und Journalisten-

Ursprünglich sollte „Paradies“ ein Sta-

interessiert sich Köcks Stück aber nicht ge-

preise interessieren. Dass alle nur vom Hotel-

tionendrama im ganzen Haus werden, ein

nug für die Mechanismen des Spätkapitalis-

balkon aus fotografieren und Bilder von

ähnlich großes Spektakel womöglich wie bei

mus, die seinen Einzelfällen zugrunde liegen.

­Sterbenden sich am besten verkaufen.

Marie Bues, die 2016 bei der Uraufführung

Was der Text und die karge Bühne

Warum Köcks ausuferndes Stück 2018

des ersten Teils („fluten“) von Köcks Dreitei-

nicht hergeben, versucht Rüping durch

den Mülheimer Dramatikerpreis gewonnen

ler am Stuttgarter Theater Rampe alles aufge-

Soundeinsatz aufzufangen. So bläst, wenn

hat, ist nach diesen zwei Stunden im Thalia

boten hatte, was das kleine Haus hergab.

das Schicksal des Kfz-Mechanikers forter-

Theater nicht nachvollziehbar. //

Wegen Corona mussten Rüping und sein Dra-

zählt wird – nach dem Brand erleidet er einen

maturg Matthias Günther aber komplett um-

Schlaganfall, schließlich übergießt er sich

denken und dann zwei Tage vor der Premiere

mit Benzin und zündet sich selbst an –, ein

noch einmal vieles umschmeißen, weil einer

eisiger Wind aus den Boxen. Das meiste aber

der Hauptdarsteller krank wurde.

muss die Live-Band um die großartige Beat-

von

Containern

Sezuan“

(Bühne

Anke Dürr

HAMBURG

boxerin Lia Şahin auffangen: Mal mit HipHop, mal ganz smooth sorgt sie vor allem Wenn das Schicksal aus den Boxen bläst – Christopher Rüpings coronabedingt eingekürzte Version von Thomas Köcks Klimatrilogie „Paradies“ (hier mit Günter Schaupp). Foto Krafft Angerer

während der Szenenwechsel dafür, dass keine allzu großen Löcher im Ablauf entstehen.

Die Moral ist ein schlüpfriges Ding

Und weil auch Christopher Rüping weiß, dass das ein ganz schön billiger Trick ist, lässt er Şahin in der Manaus-Szene, als sie dem

STAATSOPER HAMBURG: „molto agitato“ mit Werken von György Ligeti, Johannes Brahms, Georg Friedrich Händel und Kurt Weill Regie Frank Castorf Musikalische Leitung Kent Nagano Bühne Aleksandar Denić Kostüme Adriana Braga Peretzki

Friede sei mit euch. Wir sind am Nullpunkt angekommen. Vor uns erstreckt sich weit und leer ein Raum von bestürzender Tiefe. Achtzig Meter trennen mich, die ich in der zwanzigsten Reihe sitze, von der Brandmauer am hinteren Ende der Bühne. Eine Weite wie eine Landschaft, an deren Horizont, dort, wo kaum erkennbar eine Frau (Valery Tscheplanowa) wie ein tanzender Neil Armstrong eine große Amerika-Flagge schwingt, die Luft zu flirren scheint. „molto agitato“, Frank Castorfs erster Opernabend an der Staatsoper Hamburg, eröffnet in cineastischem Ausmaß. Aleksandar Denićs verblüffend leere Bühne zeigt eine Supertotale, die an Sergio Leones Italowes-

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auftritt

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Ein halsbrecherischer Ritt durch die Prärie der Ambiguitäten – „molto agitato“ (hier mit Valery Tscheplanowa) in der Regie von Frank Castorf. Foto Monika Rittershaus

onen hinterlassen. Geht es um Feminismus? Sexismus? Kapitalismus? Liebe und Gewalt? Ware und Besitz? Gesundheit und Seuche? Nein, diese Inszenierung ist kein Diskursmurx, sondern ein halsbrecherischer Ritt durch die Prärie der Ambiguitäten, der Versuch einer Supertotalen in einer Zeit, in der jeder isoliert vor sich hinzulabern scheint, völlig selbstgewiss, auf der Seite des ultimativ Guten zu stehen. Doch das Gute, alte Western-Wahrheit, ist ohne das Böse nicht zu haben. Jean Baudrillard – auch er geistert durch diesen Abend – argumentierte in „Die Intelligenz des Bösen“, dass durch die Übermacht des Guten eine Form der Ambivalenz verloren gehe, die er für wesentlich halte. Denn alles, was verdrängt oder ausgeschlossen werde, um das Gute durchzusetzen, übe zwangsläufig Vergeltung. Auf diesem Boden bewegt sich Castorfs Abend. Johannes Brahms’ romantische Liebesgesänge op. 43 klingen plötzlich wie Androhungen übelster Gewalt. Das erotische Klackern von Valery Tscheplanowas High Heels mündet in eine derbe Erzählung über Harvey Weinsteins lasterhafte Libido. „Kopf ab!“, ruft Michael Klenk daraufhin empört, nur um wenig später zu Brahms’ Melodien selbst von Frauen als Hasenfleisch zu schwärmen. Ja, die Moral – auch sie ist ein schlüpfriges Ding. In „Die sieben Todsünden“, dem großen Finale, zeigt Castorf, wie relativ und formbar moralische Kategorien sind. Das „satirische tern kurz vor High Noon denken lässt. Mit

Aventures“, einer reinen Lautkomposition für

Ballett“ von Kurt Weill, Bertolt Brecht und

dieser Kameraeinstellung etablierte Leone

drei Sänger, deren autistisch vor sich hin

George Balanchine erzählt von Anna und

den Topos Western – natürlich so, wie er ihn

brabbelnde Münder eine Kamera in extremer

Anna, zwei Schwestern oder auch: Teilen ei-

verstand: schmutziger, verschwitzter, amorali-

Großaufnahme zeigt (vor allem: die roten Lip-

ner schizophrenen Person, gespielt von Valery

scher als die US-amerikanische Variante. Und

pen der Sopranistin Katharina Konradi), tritt

Tscheplanowa im Coca-Cola-roten Catsuit

damit ist man schon mitten drin im gedankli-

ein Mann in Anzug auf (Matthias Klink), der

(Kostüme Adriana Braga Peretzki), die von

chen Kreuzfeuer dieser Arbeit.

begierig in einer Zeitung liest. Als Titelzeile

ihrer Südstaatenfamilie durch sieben Groß-

Der Abend, eine Werkcollage im Geiste

ist das Wort „Lex“ zu erkennen. Ist hier das

städte geschickt werden, um Geld für „ein

der Volksbühne, beginnt mit der Ankunftsmu-

Gesetz gemeint, das Nationen wie die Ver­

kleines Haus am Mississippi“ ranzuschaffen.

sik der Königin von Saba aus Georg Friedrich

einigten Staaten auf ihren fahnenschwin­

Immer wieder droht Anna 2 – die, so Brecht-

Händels Oratorium „Salomo“, eine, wie es

genden „Friedensmissionen“ gerne mal mit

Forscher Jan Knopf, von Brecht als „Ware“

heißt, Friedensmusik, zu der ein Screen weni-

Füßen treten? Oder gar das „Lex Otto“, ­

tituliert wurde – in das vermeintliche Laster

ger friedvolle Sätze aus Ovids Metamorpho-

eine sächsische Bestimmung von 1850, das

abzurutschen, während Anna 1 – demnach

sen zitiert: Der gekränkte Zyklop Polyphem

­Frauen die Herausgabe von Zeitungen verbot?

die „Verkäuferin“ – sie zurück auf den richti-

droht, den Lover seiner Geliebten Galatea zu

Egal. Der Abend ist längst weitergaloppiert

gen Weg der Ethik zerrt, der, was ein Zufall,

erschlagen. Nach György Ligetis „Nouvelles

und hat eine Staubwolke wildester Assoziati-

auch reich und glücklich macht. Die christ­


auftritt

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liche Moral wird hier, eingebunden in die sozialökonomische Dynamik des Kapitalismus, dem Kleinbürger lediglich Mittel zum Zweck, während die oberen Klassen die Sau raus­ lassen. Es herrscht das Prinzip von Schuss und Gegenschuss in dieser widerspenstigen Komposition aus Raum, Sprache, Musik, Video und Gesang (Dirigent Kent Nagano), das selbst die Kunst nicht verschont. Die Kritik an der ausbeuterischen Gewalt der Unterhaltungsindustrie in Weills Todsünden steht quer zu Forderungen, auch auf der Bühne oder im Film auf Gewaltdarstellungen zu verzichten. Für Quentin Tarantino, dessen Film „Reservoir Dogs“ ein paar blutige Szenen liefert, undenkbar. Friede sei mit euch? Nein, Castorfs Outlaws, Jana Kurucová, Georg Nigl, Matthias Klink, Katharina Konradi und Valery Tscheplanowa, gönnen uns keine Ruhe. // Dorte Lena Eilers

NEUBRANDENBURG

talgischem Junggesellinnenabschied in ein

Traurige Komödie der verschwundenen Jugend

schwundenen Jugend.

Berghotel eingeladen. Das ist die Konstella­ tion für diese traurige Komödie der verAndreas Kloos hat aus Palmetshofers

Mit Schmerzen im Herzen – Ewald Palmetshofers „Wohnen. Unter Glas“ (hier mit Anika Kleinke) in der Regie von Andreas Kloos. Foto Christian Brachwitz

Sprache, die das Alltägliche und Beziehungsbanale in bester österreichischer Manier in

THEATER UND ORCHESTER NEUBRANDENBURG NEUSTRELITZ: „Wohnen. Unter Glas“ von Ewald Palmetshofer Regie Andreas Kloos Ausstattung Esther Bätschmann

eine auftrumpfende Kunstbehauptung wen-

beireden und in hochtrabender Sprache lei-

det, eine Sprechakt-Komödie geformt. Anika

den, weil ihr halbes Leben vielleicht schon

Kleinke, deren Jeani als Erste die Bühne be-

das Ganze war. Das jedenfalls kommt sehr

tritt, legt sofort los und ergeht sich in Halb-

stimmig und auch witzig rüber.

sätzen unter körperlichen Verrenkungen in Berichten über die einstige WG.

Kloos hat sich mit seinen Spielerinnen und Spielern ein paar schöne Extras einfallen

Auf der Bühne von Esther Bätschmann

lassen. So etwa, wenn Babsi in phlegmatisch

sind drei im Sicherheitsabstand aufgestellte

angewiderter Zuhörerpose sich immer mal

Ewald Palmetshofers Komödie über die Not

Stühle samt Telefontischchen zu sehen, die

­wieder auf die Thymusdrüse trommelt, was ja

dreier Mittdreißiger – Babsi, Jeani und Max –

in einem Gasthof mit Jagdambiente stehen

als Yoga-Entspannungstechnik angeblich zur

aus dem Jahr 2008 hat sich im Repertoire der

könnten, wie es der ausgestopfte Hirsch-

Steigerung des Tatendrangs beitragen soll.

Gegenwartsdramatik etabliert. Vermutlich, weil

­beziehungsweise Wildschweinkopf zu beiden

Jeani liefert ein paar beeindruckend artisti-

der Autor, nunmehr mit ganz anderen Themen

Seiten nahelegen. Kein hipper Ort, eher ein

sche Soli, darunter ein minutenlanger Lach­

und Stoffen, mittlerweile zu den wichtigsten

Raum der Verlassenheit, in dem mindestens

anfall. Max schließlich schraubt sich in einem

deutschsprachigen Dramatikern gehört, ganz

fünfzig Jahre lang nicht mehr umdekoriert

furiosen Monolog über die Elektronikkette Sa-

sicher aber auch, weil das Stück mit seiner

wurde. Wie Jeani trägt auch Judith Mahlers

turn und iPhone-Hüllen mit Nutten-Sprüchen

„Stummelsprache“ aus unbeendeten Sätzen

Babsi ein Dirndl, das zunächst mit einer

in einen Zustand, der ihn hinterher eifrig in

einen soziologischen Befund über die behütet

­Lederjacke kaschiert wird. Max, in Lederhosen

der Bibel lesen lässt. Dieser Max von Momo

Unbehausten vorstellt, der auch für die unmit-

gekleidet, hat sogar einen Gamsbarthut da-

Böhnke hält ausgezeichnet die Balance zwi-

telbare Gegenwart von Interesse ist.

bei. Derartige Zitate österreichischer Trachten

schen Sprachkunst und Figurenkomik. Als er

Früher lebten die drei in einer WG,

wirken in Verbindung mit den Figuren, die ja

in einer Bar von der sich nach ihm verzehren-

man war „ein bisschen links“ und schwelgte

mit einem heutigen urbanen Habitus aus­

den Jeani zur Bums-Techno-Version des Schla­

in jugendlicher Gruppendynamik samt erhoff-

gestattet sind, wie ein Verfremdungseffekt.

gers „Holz vor der Hüttn“ angebaggert wird,

ter Beziehungsanbahnungen. Jetzt hat Jeani,

Eine auf Abstand zielende Setzung, die die

sieht man ihm die ganze Pein an, die bereits

kurz vor ihrer Hochzeit, ihre ehemaligen

Figuren in eine andere (konservative, ländli-

sein halbes Leben bestimmt. Am Schluss

­Mitbewohner Babsi und Max zu einer Art nos-

che) Welt versetzt, in der sie aneinander vor-

wird die Trachtenkostümierung durch Funk­

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auftritt

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tions­klei­dung ergänzt – vielleicht bricht man

Verlockung und Verzicht treffen einander in

auf,

ja doch noch zu einer Bergwanderung auf.

dem Titel „Die Goldberg Variationen, BWV

geradezu als gegensätzlich bezeichnet wer-

die

künstlerischen

Mittel

könnten

Allerdings glühen nun auch kleine Teufels-

988“. Diesen nüchternen Namen hat Anne

den, obwohl sich die Wege der beiden Künst-

hörnchen auf den Köpfen der drei – es

Teresa De Keersmaeker ihrer jüngsten Arbeit

lerinnen gekreuzt haben: anfang der 2000er

könnte also auch in die andere Richtung

gegeben, die bei den pandemiebedingt ver-

Jahre, als Freitas zwei Jahre hindurch die von

gehen.

schobenen und stark reduzierten Wiener Fest-

De Keersmaeker gegründete Brüsseler Tanz-

Palmetshofers Stück ist ja schon ganz

wochen uraufgeführt wurde. Seit vierzig Jah-

akademie P.A.R.T.S. besuchte. Anschließend,

verschieden gedeutet worden, wobei allen

ren verzichtet die belgische Starchoreografin

2004, startete sie ihre Laufbahn als Choreo-

Versionen der Generationenbefund der Mitt-

beinahe ausnahmslos auf poetische Stück­

grafin, während die längst weltbekannte

dreißiger gemeinsam war. Hier in Neubran-

bezeichnungen. Sie hält die Titel nüchtern,

­Belgierin begann, sich mit indischer Musik zu

denburg spielt der zwar auch eine Rolle, je-

kühl und doch verlockend. Meist zitiert De

befassen. Im Jahr darauf warf Anne Teresa De

doch weniger konkret als vielmehr durch die

Keersmaeker darin bloß die musikalische,

Keersmaeker die Uraufführungen „Desh“ und

Komik abgründig hilfloser Figuren abstra-

fallweise auch eine literarische Referenz.

den Doppelabend „Raga for the Rainy

hiert, die nicht unbedingt mit dem Unterfut-

Ganz und gar nicht nüchtern dagegen

Season / A Love Supreme“ auf den Markt,

ter der neuesten Soziologie ausgestattet sind.

verhält sich Marlene Monteiro Freitas. Sinn-

während Marlene Monteiro Freitas mit ihrem

Stattdessen wird die Sprache besonders ernst

lichkeit ist bei der auf den Kapverden gebo­

Frühwerk „Primeira Impressão“ auf den Plan

genommen – und damit gelingt diese Insze-

renen Künstlerin eine dominierende Prämis-

der Nachwuchschoreografie trat.

nierung mit ihrer geschickt gesetzten Ver-

se. Sie nennt ihre Werke so, wie sie sind,

Mit 41 Jahren, in Freitas’ heutigem

fremdungstechnik. //

„Bacantes – Prelúdio para uma purga“ oder

Alter, hatte De Keersmaeker ein opulentes ­

zuletzt „Mal – Embriaguez Divina“: „Vorspiel

Stück herausgebracht: „Rain“ (2001), hart

für eine Reinigung“ oder „Göttlicher Rausch“.

am Kitsch gestrickt, zu „Music for 18 Musi­

Frühere Titel sind „Jaguar“, „Elfenbein und

cians“ von Steve Reich. Jetzt, bei den „Gold-

Fleisch – auch Statuen leiden“ oder „Tieri-

berg Variationen, BWV 988“, ist jede speku-

scher Ernst“. Ein Titel ohne Wortspiel wie

lative Ästhetisierung verflogen. Zwei Stunden

„The Six Brandenburg Concertos“ (De Keers-

verbringt sie auf der Bühne mit dem jungen

maeker, 2018) scheint undenkbar. Freitas’

Pianisten Pavel Kolesnikov und der Gesamt-

Arbeiten ziehen ihre Zuschauer in traumähn-

version der Goldberg-Variationen, also der

liche Labyrinthe. Auch „Mal – Embriaguez

Aria zu Beginn und am Schluss sowie den

Divina“, das ich nicht am Uraufführungsort

dreißig Variationen dazwischen. Tatsächlich

Kampnagel in Hamburg, sondern kurz nach

hat diese (Selbst-)Behauptung etwas mit

De Keersmaekers „Goldberg Variationen“ bei

­ihrem Leben zu tun. De Keersmaeker ist im

den Festwochen gesehen habe, kann als Irr-

Juni sechzig geworden, und ihre Ansage lässt

Thomas Irmer

WIEN / HAMBURG Rausch und Kontrolle WIENER FESTWOCHEN / INTERNATIONALES SOMMERFESTIVAL AUF KAMPNAGEL: „Die Goldberg Variationen, BWV 988“ (UA) von Anne Teresa De Keersmaeker

garten erfahren werden. Oder wie ein Film von David Lynch.

„Mal – Embriaguez Divina“ (UA) von Marlene Monteiro Freitas

Freitas’ und De Keersmaekers Choreografien zeigen kaum gemeinsame Nenner. Sie spannen ganz unterschiedliche Dispositive

Verlockung und Verzicht – Anne Teresa De Keersmaekers „Die Goldberg Variationen, BWV 988“. Foto Anne Van Aerschot


auftritt

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nichts an Deutlichkeit vermissen: Ich kann dieses große Solo tanzen, und zwar genau so, wie ich es will. Wer zu Beginn das angedeutete Zitat aus „Fase“, jener Choreografie, die der 22-Jährigen 1982 zum Durchbruch verholfen hatte, identifizieren kann, könnte weitere ­Bezüge auf ihre Werkbiografie suchen. Lohnender allerdings ist es, zu verfolgen, wie sich De Keersmaeker von einer introvertierten, schwarz gekleideten Figur in eine offene, hellgewandete Erscheinung verwandelt und weiter zur paillettenglitzernden Nymphe mit pinkem T-Shirt. Dabei sollte Kolesnikov nicht aus dem Blick geraten, der im ersten Teil barfuß und in lässigem Freizeitlook auftritt, im zweiten jedoch den seriösen Pianisten gibt, der die Bach’sche „Clavier-Ubung“ (so steht es auf dem Noten-Erstdruck von 1741) wie im Schlaf beherrscht. De

Keersmaekers

äußerst

intimer

Musikbezug ist häufig Hauptthema im bisherigen Œuvre der Choreografin und auch in ihrem jüngsten Stück. Sie folgt damit der Direktive des tanzenden Körpers, die über­ ­ wiegend auf Darstellungen vitaler Potenziale und deren eng verwobener Strukturen zielt – von der ephemeren Verortung in Dynamiken des Hier und Jetzt, zwischen Plan und Chaos, als Geist und Fleisch, in Narration und ­Abstraktion und so weiter. So führt sich der Körper als „Selbstverständlichkeit“ vor, die den Status ihres Selbstverstehens niemals erreicht. Diesen Konflikt kann Musik als emotionaler Kompass auffangen, sie kann Zeit strukturieren und psychischen Navigationen eine Richtung geben. Ein Prinzip, dem die Tänzerin in den „Goldberg Variationen“ folgt, immer wieder mit Ironie und mit dem wiederholten Verweis darauf, dass alles, was unsere Wege beleuchtet, uns auch rahmt. Im Irrgarten der Psychoanalyse – Marlene Monteiro Freitas‘ neueste Choreografie „Mal – Embriaguez Divina“, die auf Kamp­ nagel in Hamburg zur Uraufführung kam.

Exakt an diesem Punkt berühren „Die

finden sich etliche Darstellungen von An-

Goldberg Variationen, BWV 988“ und Marlene

knüpfungspunkten zwischen Sigmund Freuds

Monteiro Freitas’ „Mal – Embriaguez Divina“

Es und Über-Ich, zwischen dem Unkontrol-

einander dann doch. Was De Keersmaeker an-

lierbaren und dem Drang zur Kontrolle, den

deutet – gestisch mit wiederholtem Finger­

Trieben und der „Moral“. Zur psychoanaly­

framing und szenografisch mit einem Screen,

tischen Lektüre führt am Beginn des Stücks

dem das auf sie projizierte Lichtrechteck ent-

vor allem das Audio-Zitat aus einer berühm-

gleitet, wodurch ein zweites, ein driftendes

ten Szene in David Lynchs Film „Blue ­Velvet“.

entgegengestellt wird, auf der die drei Tänze-

Feld als „Eingrenzung“ entsteht –, macht Frei-

Es sprechen: der Sadist Frank Booth als Es,

rinnen und sechs Tänzer wiederholt Platz

tas zum dominanten Motiv: Was Menschen zu-

der Voyeur Jeffrey Beaumont als Über-Ich

nehmen. Ein Ich existiert nur als Phantom,

sammenhält, konstruiert auch ihr Gefängnis.

(zugleich auch Stellvertreter des Publikums)

denn die Bühne gehört ganz dem Tanz zwi-

und Dorothy Vallens als passives Ich.

schen Trieb und Kontrolle. Wer diese Per­

„Mal – Embriaguez Divina“ kann psy-

Foto Charlotte Hafke

choanalytisch oder politisch gelesen werden,

Die Rolle des Voyeurs übernimmt bei

formance wie eine Folie über Anne Teresa

am besten aber wohl in einer Überkreuzung

„Mal – Embriaguez Divina“ das interpassive

De Keersmaekers Soloarbeit legt, kann sich

dieser beiden Lektüreansätze. In dem Stück

Publikum, dem auf der Bühne eine Tribüne

wohl kaum der Versuchung erwehren, „Mal“

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auftritt

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als möglichen Blick auch in den Kopf der

mächtig. Und ich bin nur der unterste Tür­

Nach einer sehr coronakompatiblen Beckett-

ihren Bach entlangtanzenden Figur in den ­

hüter.“ Der Mann wagt es nicht. Am Ende

Trilogie im Juni startet das Wiesbadener

„Goldberg Variationen“ auszutesten.

wartet eine sinnliche Ernüchterung: Der

­Theater mit einer sich nicht um Abstands­

Dort zeigt sich die Über-Ich-Kontrolle

„göttliche Rausch“ des Theaters der Triebe

regelungen

als leitendes Prinzip, bis hin zur kalkulierten

erweist sich als das albtraumhaft schwanken-

deutschsprachigen Erstaufführung in die

Entgleisung, sodass der Tänzerin genügend

de Labyrinth in einer Aufführung, die, in wel-

neue Spielzeit. Hinter dem herrlichen Titel

Spielraum bleibt, um ihre Figur lebendig zu

chen Variationen auch immer, für alle den­

„Die Küste Utopias“ verbirgt sich eine Trilo-

halten: Vor allem, wenn sie sich Koketterien

selben Titel trägt: „Biografie“. //

gie des englischen Autors Tom Stoppard,

Helmut Ploebst

gestattet, zu Boden geht, unter dem Klavier

und

Mäßigung

scherenden

die im angelsächsischen Raum bereits für

versteckt und schon gar, sobald eine Triebsper-

Furore gesorgt hat. 2002 in London ur­

re in Form einer schweren Metallstange von De

aufgeführt, heimste etwa die New Yorker

Keersmaeker aus dem Bühnenhintergrund nach vorn und wieder zurückgekickt wird. Hier

WIESBADEN

gen lässt es als Spiel mit dem Bataille’schen „Mal“ (dem Bösen) auf die Szene und kleidet

Es lebe die vorrevolutionäre Zeit!

es in lynchesken blauen Samt. Kaum zeigt sich bei „Mal – Embriaguez Divina“ offene Gewalt. Sie kracht nur akustisch in Form wiederholter Detonationsgeräusche in die Ohren des Publikums. Schließlich lässt eine Stimme aus dem Off Franz Kafkas Parabel vom Türhüter hören. Dieser sagt zu dem Mann, den er warten lässt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin

Awards ein, auch in Frankreich und Japan war das Ganze schon zu sehen. In drei

lauert das Unbewusste in den schwarzen ­Stoffen der Bühnenbegrenzung, Freitas dage-

Broadway-Produktion gleich sieben Tony-

­Teilen – Aufbruch, Schiffbruch, Bergung – widmet sich Stoppard der russischen Intelligenzija im 19. Jahrhundert. Süffig er­ zählt er vom Leben und Lieben berühmter

HESSISCHES STAATSTHEATER WIESBADEN: „Die Küste Utopias“ (DSE) von Tom Stoppard Deutsch von Wolf Christian Schröder Regie Henriette Hörnigk Bühne Gisbert Jäkel Kostüme Claudia Charlotte Burchard

Persönlichkeiten wie Michael Bakunin, ­ ­Alexander Herzen und Iwan Turgenjew, wo-

Leben und Lieben der russischen Intelligenzija im 19. Jahrhundert – Tom Stoppards erster Teil der Trilogie „Die Küste Utopias“ in der Regie von Henriette Hörnigk. Foto Karl und Monika Forster


auftritt

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bei sich die Handlung von 1833 bis 1868

vibriert vor Wagemut und Lebenslust. Im

nen. Christoph Kohlbacher als mal erbar-

erstreckt.

­Laufe der Trilogie wird sich dann der Fokus

mungswürdig händeringender, mal albern am

Es beginnt auf dem Landgut Premuch-

von ihm auf den Revolutionär Alexander Her-

Klavier aufspielender Literaturkritiker Belins-

ino irgendwo in der russischen Provinz. Dort

zen verschieben, der in Gestalt von Matze

kij setzt dem Abend dabei so manches Glanz-

haust die Großfamilie Bakunin, die sich im

Vogel an diesem ersten Abend eher dezent in

licht auf. Auch Lina Habicht als eine der

ersten Bild an einem langen Tisch um ihren

Erscheinung tritt. Stoppard entwirft ein aus-

­Bakunin-Töchter und später in der Rolle von

Patriarchen Alexander versammelt. Die Töch-

schweifendes Panorama der damaligen Zeit,

Belinskijs Katja setzt Pointen wie Nadel­

ter liebreizen in weißen Kleidern, während

thematisiert das tief sitzende russische Min-

stiche und umgibt ihre Figuren mit einer die

die Mutter matronenhaft auftrumpft und der

derwertigkeitsgefühl ebenso wie die allerorten

Jahrhunderte umspielenden Lässigkeit.

Vater altbekannte Sprüche absondert und

aufkeimende Sehnsucht nach Veränderung

Die großen Themen Kunst und Leben,

sich die tuberkulöse Seele aus dem Leib hus-

und Revolution und den ausstrahlenden deut-

Macht und Revolution verabreicht die Insze-

tet. In diesen Zeiten ziemlich démodé. Egal.

schen Idealismus rund um Schelling, Hegel,

nierung mit viel szenischer Fantasie als mun-

Vom ersten Augenblick an inszeniert

Fichte. Aus den Konflikten zwischen den

teres Palaver und unterhaltsamen Reigen. Sie

die Regisseurin Henriette Hörnigk, Chef­

­Generationen und den Geschlechtern schält

schert sich dabei weder um Geschlechter­

dramaturgin und stellvertretende Intendantin

er eine gleichermaßen zeitspezifische wie im-

klischees, noch scheut sie folkloristische

am Neuen Theater in Halle, den ersten Teil

mer aktuelle Erzählung über den Fortgang der

­Einsprengsel. Vielmehr nutzt sie beides für

der Stoppard-Trilogie als vielversprechenden,

Geschichte.

ein stimmungsvolles und atmosphärisch auf-

dreistündigen Bilderbogen aus einer anderen

Die anderen beiden Teile sind für Mai

geladenes Sittengemälde. Dass Malewitschs

Zeit. Man fühlt sich wie bei Tschechow, und

angekündigt, dann soll es auch eine Gesamt-

„Schwarzes Quadrat“ den Theatervorhang

im Hintergrund weist ein riesiges Gemälde in

aufführung geben. Zum Binge-Watching eig-

ziert und, wie im Programmheft erläutert,

eine schöne, aber öde Landschaft.

net sich das vorzüglich; wer den ersten Teil

auch das Bühnenbild inspirierte, wirkt trotz-

Den titelgebenden Aufbruch verkörpern

gesehen hat, möchte wissen, wie es weiter-

dem ulkig, ist diese Inszenierung vom revolu-

Alexanders Kinder, von denen Stoppard alle

geht. Auch deshalb, weil Hörnigk den Stoff

tionären Formwillen der russischen Avant­

Söhne bis auf einen gestrichen hat: Michael

auf die leichte Schulter nimmt, indem sie ein

garde doch so weit entfernt wie Tschechows

reift dann bekanntlich zum aristokratisch

munteres Kommen und Gehen inszeniert, ein

drei Schwestern von Moskau. //

geschulten Anarchisten heran. Paul Simon ­

geselliges Treiben, in dem die Figuren als lieShirin Sojitrawalla

verkörpert ihn alsdermegaagilen Luftikus, der bevoll karikierte Vertreter anzeige theater zeit 178x120 2020 03_anzeige 10.09.20 14:37 Seite 1ihrer Art erschei-

SPIELZEIT 2020 2021 Online-Karten: www.kleinestheater-landshut.de

UND ES GEHT DOCH VON THOMAS LETOCHA URAUFFÜHRUNG / PREMIERE: 3. OKTOBER 2020 REGIE: PETRA DANNENHÖFER

EDITH PIAF ... DER SPATZ VON PARIS VON CARMEN-DOROTHÉ MOLL WIEDERAUFNAHMEPREMIERE: 17. OKTOBER 2020 REGIE: CARMEN-DOROTHÉ MOLL

DIE WAND NACH EINEM ROMAN VON MARLEN HAUSHOFER PREMIERE: 14. NOVEMBER 2020 REGIE: SVEN GRUNERT UNTERWERFUNG VON MICHEL HOUELLEBECQ, INSZENIERTE LESUNG PREMIERE IM RAHMEN DER 20. LANDSHUTER LITERATURTAGE 3. DEZEMBER 2020 REGIE: GABRIELE GYSI

kleines theater KAMMERSPIELE Landshut

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stück

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„Die Mehrheit wollte in eine Derrick-Bundesrepublik einwandern“ Aus Anlass von Thomas Freyers neuestem Stück „Stummes Land“: Der Soziologe Steffen Mau im Gespräch mit Christine Wahl Herr Mau, in Thomas Freyers Theaterstück

gemeinschaft heraus, weil man sich eben be-

deutschem Boden bezeichnet. Es gab den

„Stummes Land“ stellen vier Leute um die vierzig,

stimmte Dinge herbeitauschen musste und

­offiziösen Mythos des besseren Deutschlands.

die in der DDR gemeinsam zur Schule gegangen

dafür gute Netzwerke brauchte. Es gibt mit-

Ich denke, man konnte in den achtziger Jah-

sind, fest, dass ihnen das Erbe der Elterngene­

unter eine Idealisierung dieser DDR-Solidari-

ren in der DDR unbefangener und unreflek-

ration tiefer in den Knochen steckt als ange-

tät, die aber eben sehr eng und auf Gleiche

tierter Deutscher sein als in der damaligen

nommen. Was sagen Sie als Soziologe – und als

gerichtet war. Der Umgang mit dem kulturell

Bundesrepublik. Auch deshalb, weil es in der

Ostdeutscher – zu diesem Befund?

Anderen oder auch mit großer gesellschaftli-

offiziellen Doktrin diesen deklarierten Antifa-

Eine generelle Beobachtung, die ich immer

cher Komplexität war dieser Gesellschaft

schismus gab, den ja auch viele in der SED-

wieder mache, ist, dass ein wirklich rigoroses

nicht in die Wiege gelegt – was nicht heißt,

Führungselite durchaus mit ihren eigenen

Gespräch über die DDR, über die Vereini-

dass man das nicht lernen kann.

Biografien als Verfolgte oder Inhaftiertes des Naziregimes beglaubigen konnten. Die Kehr-

gungserfahrung und die Transformation weder in Ostdeutschland noch im gesamtdeutschen

In „Lütten Klein“ schreiben Sie, die gesell-

seite war die oberflächliche Aneignung dieser

Kontext hinreichend stattfindet. Manche Leu-

schaftlichen Spannungen, die im Osten zutage

deutschen Geschichte durch die allgemeine

te sagen, Ostdeutschland fehlt ein 1968, also

treten, seien „mehr als eine Missstimmung

Bevölkerung.

eine Rebellion der jüngeren Leute gegen die

übellauniger und undankbarer Ostdeutscher, die

Elterngeneration, ein Befragen auf ihre Ver-

anderen wenig gönnen“. Vielmehr beschreiben

Das Nationalgefühl spielte auch während der

antwortung im SED-Staat. Das kam 1989/90

Sie sie als „Ausdruck gesellschaftlicher Frak­

Friedlichen Revolution im Herbst 1989 eine

nicht so richtig in Gang, weil die Eltern nicht

turen, von denen viele in der DDR-Gesellschaft

zentrale Rolle: Aus dem anfänglichen Reform­

mehr in Machtpositionen waren. Die musste

schon angelegt waren und die im Zuge der ge-

bedürfnis jener Demonstranten, die der Nomen-

man nicht mehr herausfordern, sondern sie

sellschaftlichen Transformation nicht geheilt,

klatura „Wir sind das Volk“ entgegenriefen,

hatten selber mit Existenzängsten zu tun, so-

sondern häufig noch vertieft wurden“. An wel-

wurde schnell der deutsch-deutsche Wieder­

dass die jüngere Generation eigentlich sehr

che Brüche denken Sie konkret?

vereinigungswille vieler, der sich im Ruf „Wir

schonend mit der älteren umgegangen ist,

Ein wichtiger Faktor ist sicher die ontologi-

sind ein Volk“ manifestierte.

sich zum Teil auch mit ihr solidarisiert hat.

sche Unsicherheit der neunziger Jahre, wo

Ja, die enorme Aufwallung nationalistischer

Außerdem spielte sicher eine Rolle, dass

Leute unglaublich viel verloren haben, beruf-

Gefühle und deren politische Instrumenta­

­diese Auseinandersetzung, wenn es sie denn

lich deklassiert worden sind, zum Teil ihr kul-

lisierung im Zuge des Wiedervereinigungs­

gegeben hätte, immer vor einem westdeut-

turelles Gepäck zurücklassen oder zumindest

prozesses haben ein eigenes Gewicht. Die Bot-

schen Diskurspublikum stattgefunden hätte,

Geltungsverluste hinnehmen mussten und

schaft an die Ostdeutschen war ja: Ihr könnt

das schon von vornherein ideologisch auf der

dann festgestellt haben: Ich muss jetzt eine

qua Zugehörigkeit zur deutschen Kultur, Ge-

richtigen Seite stand und qua Position alles

ganze Menge tun, um wieder einen Ort in der

sellschaft und Sprache Vollmitglieder in der

besser wissen musste.

Gesellschaft für mich zu finden, auch materi-

erweiterten Bundesrepublik werden. Und in-

ell wieder auf sicheren Grund zu kommen.

dem man die Eintrittskarte an die Nationali-

Das Personal in Freyers Stück – ein eher gut

Das hat in Ostdeutschland zu einer relativ

tät geknüpft hat, hat man den Leuten auch

­gebildetes, teilweise kosmopolitisches Milieu –

starken Besitzstandsmentalität geführt, in

signalisiert: Euer Status und euer Wohl und

offenbart einander zu vorgerückter Stunde

der das Festhalten und das Bewahren wesent-

Wehe in der dann erweiterten Bundesrepublik

­starke Abgrenzungstendenzen gegen andere: Es

liche Motive sind.

hängt an dieser ethnisierenden Gemeinschafts-

herrscht ein ausgeprägtes „Wir-Die“-Bewusst-

feststellung. Das haben viele Ostdeutsche

sein vor. Das ist ein Topos, mit dem Sie sich

Thomas Freyer zeigt in seinem Stück auch eine

tatsächlich wörtlich genommen. Die Mehrheit

auch in „Lütten Klein“ auseinandersetzen, Ihrer

stark nationalistische Tradition in der DDR auf,

wollte in eine Derrick-Bundesrepublik ein-

2019 erschienenen Studie zur ostdeutschen

einen Konnex zwischen Kommunismus und

wandern und hat sich dann gewundert, dass

Mentalität.

­Nationalismus.

sie in der Döner-Kebab-Bundesrepublik auf-

Die DDR war eine sehr homogene, zusam-

Es gab tatsächlich einen DDR-Nationalismus:

wachte. Die wollten keiner postmigrantischen

mengerückte und auch umzäunte Gesell-

Die DDR hat große Anstrengungen der natio-

Gesellschaft beitreten, sondern einer ähnlich

schaft, wo intensiv kleinformatige Solidarität

nalen

unternommen

nationalen Gemeinschaft, wie sie sie schon

gelebt worden ist, zum Teil auch aus der Not-

und sich als ersten sozialistischen Staat auf

kannten. Und das hat erst einmal für Irritatio­

Bewusstseinsbildung


stück

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nen gesorgt – was nicht heißt, dass alle Ost-

nur im Hinblick auf das Umlernen, sondern

deutschen rechtsradikal und xenophob sind.

auch auf das Zurücklassen kultureller Bestände, an die sie gewohnt waren. Man muss-

Sie stellen in Ihrer Studie die These auf, dass

te sich bedingungslos auf das Neue einlas-

diese Aktivierung des Nationalgefühls auch eine

sen. Genau das wird jetzt zum Teil gegen

kompensatorische Funktion hatte – dafür, dass

Migrantinnen und Migranten gewendet, in-

die Ostdeutschen an den Transformationspro-

dem man sagt: Wir mussten uns damals ein-

zessen politisch nicht beteiligt wurden.

passen, als wir in die Bundesrepublik gekom-

Ja, das war eine kompensatorische Möglich-

men sind, und ihr kommt jetzt hierher und

keit, all dem, was man den Ostdeutschen an

wollt eure Religion weiterleben, wollt Gebets-

demokratischer Teilhabe und Mitgestaltung

räume im Wohngebiet haben und so weiter.

verweigert hatte, durch einen Vergemein-

Vor allem in der älteren Generation führt das

schaftungsschub zu ersetzen: Ihr seid dabei,

häufig zu Kopfschütteln, weil das mit der ei-

liebe Landsleute, liebe Brüder und Schwes-

genen Erfahrung abgeglichen wird.

tern! Es wurden ja tatsächlich Familienmetaphern gewählt und ein großer Gemeinschafts-

Obwohl Sie den wissenschaftlichen und analyti-

kult aufgebaut. Gleichzeitig hat man den

schen Charakter in Ihrer Studie unmissverständlich hervorheben, ist Ihnen – neben viel Zu-

Ostdeutschen das konstitutionelle Moment, was eine Vereinigung ja auch sein könnte – zum Beispiel durch eine Verfassungsdiskussion, durch ein gemeinsames Regelwerk – nicht zugestehen wollen. Dafür gab es natürlich handfeste geopolitische Gründe, die man gar nicht in Abrede stellen darf, weil das wirklich eine prekäre Übergangsphase gewesen ist, aber es ist nicht folgenlos geblieben.

Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der sozialen Ungleichheit, Transnatio­ nalisierung, europäische Integration und ­Migration. 2019 erschien im Suhrkamp Verlag sein neuestes Buch „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transforma­ tionsgesellschaft“. Foto Marten Körner

Polemisch zugespitzt – so schreiben Sie in An-

spruch – von einigen auch vorgeworfen worden, die untersuchten Phänomene qua Beschreibung zu affirmieren; die Ostdeutschen also gewissermaßen zu entschuldigen. (Lacht) Das sind Leute, die noch einmal aus ihren ideologischen Gräben hochspringen. Die lesen mein Buch immer noch mit der Brille nicht enden wollender Systemkonkurrenz. Es ist aber gar nicht mein Thema, ob der Sozialismus nun gut war oder nicht. Wenn

spielung auf einen Buchtitel des DDR-Dissiden-

die Kritik schreibt, der Autor solle doch bitte

ten Rolf Henrich – sei „der ,vormundschaftliche

deutschen eine Situation eingetreten, in der

mal überlegen, wie Lütten Klein – das titel­

Staat‘ durch den mindestens pa­ternalistischen,

sie sich bevormundet fühlen mussten: Zu ei-

gebende Rostocker Neubaugebiet – aussähe,

wenn nicht gar seinerseits vormundschaftlichen

nem Zeitpunkt, wo sie im Zuge der Friedli-

wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben

Westen abgelöst worden, sodass der Umbruch

chen Revolution gerade angefangen hatten,

hätte, dann würde ich sagen: Ja, natürlich

in gewisser Weise an jene Verhältnisse an-

sich als politische Subjekte mit Handlungs-

sähe es schrecklich aus und heruntergekom-

schloss, die er überwinden wollte“. Das habe

macht zu verstehen, kam eine neue Macht,

men. Wahrscheinlich wäre die DDR schon

bei den Ostdeutschen zu „Subjektverlust“, „Dul-

die durchgängig die Regeln bestimmte. Das

dreimal pleite gegangen. Diese Kritik verfehlt

dungsstarre“ und Identifikationsschwäche mit

hat zu Verohnmächtigung geführt, zu einer

meinen Zugang, stolpert über sich selbst. Ich

den Institutionen geführt, zumal auch deren

Schwäche der politischen Kultur.

erkläre, warum es heute in Ostdeutschland

Führungspersonal vornehmlich aus den alten ­

diese Frakturen, Demokratieskepsis, auch

Bundesländern transferiert wurde.

Am Schluss Ihrer Studie diagnostizieren Sie

eine rechtspopulistische Bewegung gibt. Da-

Der Vereinigungsprozess bedeutete aus ost-

den Ostdeutschen nach ihrem dreißigjährigen

für kann man soziologische Perspektiven

deutscher Sicht eine Selbstauslieferung hin

„Transformationsgalopp“ eine „Erschöpfung“ ge­

ganz gut nutzen, weil sie die Phänomene, die

zu einer deutlich mächtigeren und potenteren

genüber „Veränderungs- und Anpassungszumu-

bei uns allen Fragen aufwerfen, entschlüs-

Bundesrepublik. Das war zwar mehrheitlich

tungen“, die neoliberale Selbstoptimierungsim-

seln. Aber wenn man jede Analyse des Ein-

gewollt, aber trotzdem war man dann ent-

perative genauso umfasst wie „die Aufforderung,

heitsprozesses als Kritik an der Einheit und

täuscht, dass man plötzlich keine Diskurs-

traditionelle Werte abzustreifen und sich auf

als Wunsch interpretiert, in den Sozialismus

macht mehr hatte, dass andere an den politi-

eine diverser werdende Kultur einzulassen“.

zurückzukehren, dann ist das für mich eine

schen Hebeln saßen und man auch über

Die Ostdeutschen sind 1990 qua nationaler

Gesprächsverweigerung und ein Denken, das

wenig ökonomische Möglichkeiten verfügte.

Zugehörigkeit zu den Etablierten geworden

wir seit den neunziger Jahren überwunden

Das ganze bundesdeutsche Regelwerk wurde

und haben dieses Moment dann gegen ande-

haben sollten. //

ja ohne Wenn und Aber – mit ein paar kleinen

re gewendet. Sie fragten sich: Wenn die nati-

Veränderungen im Bestattungsrecht und im

onale Mitgliedschaft das Entscheidende ist,

Erbschaftsrecht für uneheliche Kinder – voll-

wie kommen dann eigentlich andere dazu,

ständig übernommen. Damit ist – das hat Jür-

hierherzukommen und Rechte einzufordern?

gen Habermas neulich noch einmal sehr

Zudem haben sie selber unglaubliche Verän-

schön in einem Interview gesagt – für die Ost-

derungszumutungen erfahren müssen, nicht

TdZ ONLINE EXTRA Eine Langfassung dieses Gesprächs finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/10

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Thomas Freyer

Stummes Land 1. Teil Ein gedeckter Tisch in der Mitte des Raums 1 ESTHER  Mensch, Daniel. Ist das schön. DANIEL  Da bin ich also. ESTHER  Dass es endlich geklappt hat. Komm. Gib mir deine Jacke. DANIEL  Gut siehst du aus. ESTHER Ach. DANIEL  Doch, doch. ESTHER  Jetzt setz dich erst mal. Soska ist auch schon da. SOSKA  In Anbetracht des katastrophalen Zustands meiner Wohnung war ich geradezu erleichtert, als ich gehört habe, dass wir uns hier bei Esther treffen. DANIEL  Ganz der alte Soska. Lass dich umarmen, mein Lieber. Groß bist du geworden. SOSKA  Spotte nicht, Sportsfreund. DANIEL  Ist schön. Wirklich. Schön, dich wiederzusehen. SOSKA Ja. Stille. ESTHER  Habt ihr was von Laura gehört? SOSKA  Sie hat geschrieben, dass sie auf dem Weg ist. ESTHER  Mir hat sie nicht geantwortet. Stille DANIEL  Wahrscheinlich hat sie es einfach nicht geschafft. ESTHER Wahrscheinlich. SOSKA  Diesen Blick, liebe Esther, den kenne ich noch gut. ESTHER Ja? SOSKA  Und der gefällt mir nicht. ESTHER Wein? DANIEL  Sie hat viel zu tun. Also Laura. Hab ich gehört. Also gelesen. In ihrem Blog. ESTHER  Die Kinder, ja. DANIEL  Und die Tiere. Der Hof. SOSKA  Und drum herum diese entsetzliche Natürlichkeit. Dieses Wachsen. Keimen. Dieses ständige Verrotten. Zerfallen. Eine Grässlichkeit. Allein die Vorstellung. DANIEL  Sie wird gleich kommen.

SOSKA  Das wird sie. ESTHER  Ihr habt recht. Sicherlich. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. So ein Leben mit Hof und Hund. Und Kindern. DANIEL  Der Wein ist gut. ESTHER  Ein Spanier. SOSKA  Der Wein ist nicht gut, Daniel. Der Wein ist ein Gedicht. DANIEL  Ein Gedicht? Du bist kitschig geworden. ESTHER  (lacht) Du bist unmöglich, Soska. SOSKA  Das hoffe ich. Dem Kitsch bin ich, nebenbei gesagt, schon immer verfallen. Dass euch das erst jetzt auffällt, wisst ihr, liegt daran, dass ich ein alter Mann geworden bin. ESTHER  Wie immer übertreibst du. DANIEL  Sieht lecker aus, Esther. Das Essen, meine ich. ESTHER Ja? DANIEL  Ist das Lamm? SOSKA  Diese kleinen Schälchen. Schüsselchen. Pasten. Pasteten. Und diese Farben. Ein Potpourri an Fernweh. Eine exotische Verführung. Esther, ich wusste ja gar nicht. ESTHER  Ist gut, Soska. Ich habe mir einfach etwas Mühe gegeben. DANIEL  Und das sieht man auch. SOSKA  Jetzt schau nicht so, Esther. Ich habe mich ganz einfach gefreut auf diesen Abend und bin ein wenig aufgeregt. Das ist alles. DANIEL  Du, als alter Mann. Du solltest an deiner Freundlichkeit arbeiten. SOSKA  Mit aller Dringlichkeit. DANIEL  Nicht, dass man dich am Ende für einen alten Griesgram hält. SOSKA  Siehst du, Daniel. Das ist genau das, was ich vermisst habe. In all den Jahren. Diese unnachahmliche Art. Griesgram. Du hast nicht die leiseste Ahnung, wie sehr ich die Tatsache genieße, dass du derart abgelegte Wörter benutzt. Wir dürfen uns, und das meine ich mit aller mir verfügbaren Ernsthaftigkeit, wir dürfen uns ganz einfach nicht mehr aus den Augen verlieren. Lacht nur. ESTHER Du. SOSKA  Lacht. Das wird uns guttun. DANIEL  Du solltest nicht so schnell trinken. Vielleicht.

SOSKA  Im Gegenteil, mein Lieber. Ganz im Gegenteil. Ich habe mir übrigens etwas ganz Spezielles für unser kleines Wiedersehen überlegt. Ich bin voller Vorfreude. Aber ich scheue mich auch ein wenig davor. Ich fürchte mich, wenn ihr versteht. DANIEL  Du fürchtest dich. SOSKA  Natürlich. Und das Trinken hilft mir, es zu überwinden. Esther wiederum scheint es zu helfen, reglos aus dem Fenster zu starren. ESTHER  Was? Nein. Tut mir leid. Ich war. War nur kurz in Gedanken. SOSKA  Ich würde was drum geben, zu erraten, was dir durch den Kopf geht. ESTHER  Ach. Ich. Hab viel um die Ohren. Grade. Den Kopf voll. Mehr nicht. Ich bin froh, dass ihr hier seid. Dass wir diesen Abend für uns haben. Ein paar alte Geschichten. Gutes Essen. Wein. Und deine unvermeidlichen Kommentare, Soska. Zu allem und jedem. Auch darauf hab ich mich gefreut. DANIEL  Man darf Soska nicht ermuntern. Unter keinen Umständen. SOSKA  Deine Warnung kommt wie immer zu spät. Trinken wir. ESTHER  Auf uns. DANIEL  Ja, auf uns. SOSKA  (lacht) Ein Gedicht. Stille. DANIEL  Vielleicht sollten wir einfach anfangen. Mit dem Essen. Hab seit dem Flieger nichts mehr gehabt. SOSKA  Essen wir. ESTHER Meinetwegen. Es klingelt. ESTHER Laura! DANIEL  Ich werde verhungern. SOSKA Elendig. DANIEL  Zugrunde gehen. SOSKA Prost! DANIEL  Was hast du dir überlegt? Für uns? SOSKA  Geduld, mein Lieber. ESTHER  Die Jungs sind auch schon da. LAURA  Tut mir leid. ESTHER  Gib mir mal deine Jacke. LAURA  Ich bin viel zu spät. SOSKA  Zehn Minuten. Allerhöchstens. DANIEL  Gut siehst du aus.

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thomas freyer_stummes land

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LAURA  Willst du mich nicht anständig begrüßen? DANIEL  Wie meinst du das? SOSKA  Sie meint, du solltest lieber aufstehen und sie umarmen, statt irgendeine allgemeingehaltene Bemerkung über ihr Äußeres zu machen. Hab ich recht? LAURA  Dass ich gut aussehe, finde ich nicht unbedingt allgemein. Die Jacke kann ich doch allein aufhängen, Esther. ESTHER  Möchtest du Wein? SOSKA  Ich möchte. ESTHER  Setz dich doch. LAURA  Kommst du mich jetzt umarmen, Daniel, oder nicht? DANIEL  Also. Doch. Ja. Natürlich. ESTHER  Dein Glas. Das ist doch noch halb voll. SOSKA  Einen Moment. DANIEL  Schön. Also. Dich wiederzusehen. LAURA  Ich wollte eigentlich viel früher bei euch sein. ESTHER  (leise) Du trinkst zu schnell. SOSKA  Auf dich, Laura. LAURA  Auf dich, mein lieber Soska. Ich möchte einmal erleben, dass ich mit einem sauberen Oberteil das Haus verlassen kann. Wir haben hier, meine Damen und Herren, eine Idee Kindertomatensoße. Hier, soweit ich das sehen kann, etwas vom Nachtisch. Und was das hier oben ist, möchte weder ich noch wollt ihr es genauer wissen. SOSKA  Das harte Leben einer Mutter vom Lande. DANIEL  Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein. ESTHER  Er hat seit dem Flieger nichts mehr gegessen. LAURA  Das harte Leben eines Jetset-Weltbürgers. SOSKA  Herrlich. Es ist herrlich, dass du da bist, Laura. LAURA  Weil es dich bis jetzt noch nicht getroffen hat. SOSKA  Ein Teil von mir, selbst wenn ich irgendwo betrunken herumliege, mir der Speichel als dünner, gelbweißlicher Film aus dem Maul tropft, ein Teil von mir ist immer kampfbereit. Das hast du doch nicht vergessen, oder? LAURA  Ich habe rein gar nichts vergessen. SOSKA  Das hast du schön gesagt. DANIEL Also. ESTHER  Ja, ja, ja. Daniel hat absolut recht. Wir sollten jetzt wirklich essen. Ich hoffe, dass es euch schmecken wird. LAURA  Das sieht gut aus. DANIEL  Das sieht sehr gut aus. LAURA  Ist das Lamm? SOSKA  Auf diesen Abend. ESTHER  Lasst es euch schmecken.

2 SOSKA  Es ist schlussendlich egal, ob du sehr viel oder sehr wenig Geld verdienst. Es entsteht eine Scham. Darüber, dass man das eine oder das andere nicht verdient hat. Es nicht gerecht ist. LAURA  Also, egal ist es eigentlich nicht. ESTHER  Wenn man nichts hat und zusehen muss, dass man nicht aus der eigenen Wohnung fliegt. Dass man genug zu essen hat. Wer das erleben muss, dem ist es nicht egal. DANIEL  Ich arbeite viel. Das Geld, das ich verdiene, steht mir zu. Also. Ich schäme mich für nichts. ESTHER  Und was verdienst du? DANIEL  Ich verdiene ausreichend. LAURA  (lacht) Ausreichend. SOSKA  Du redest nicht darüber. Du willst uns den Betrag nicht sagen. DANIEL  Es geht euch nichts an. SOSKA  Du schämst dich. Du schämst dich, weil andere, die genauso hart arbeiten wie du, nicht damit auskommen. ESTHER  Nicht damit auskommen können. Das ist doch der Unterschied. DANIEL  Wie auch immer. Der Wein ist gut. LAURA  Du zahlst deinen Preis. Über kurz oder lang. Diesen Stress. Den will ich jedenfalls nicht haben. DANIEL  Hab ich nicht. LAURA  Die ständigen Reisen. Meetings. Projekte. Aufwachen in irgendeinem Hotelzimmer. Zeit absitzen in irgendeinem Flugzeug. Irgendeinem Taxi. Und der Druck. Dass alles gelingen muss. Damit es immer so weitergehen kann. DANIEL  Du, ich hab mir das ausgesucht. Ich bin zufrieden. ESTHER  Und siehst müde aus. DANIEL  Jetzt hört endlich auf damit. Ich bin froh, dass ich den Job machen kann, den ich machen will. Ich hab mich nie geschämt dafür. Ich hab mich da hochgekämpft. Bin stolz drauf. Und außerdem. Das wollte ich doch eigentlich sagen. Außerdem bin ich sehr froh, dass es heute Abend geklappt hat. Mit uns vieren. Und nebenbei. Ich war es nicht, der das Treffen ständig verschoben hat. LAURA  Du kannst mich beim nächsten Mal gern besuchen, wenn eins der Kinder auf den Frühstückstisch kotzt. DANIEL  So hab ich das nicht gemeint. LAURA  Mit Kindern steht man immer mit mindestens einem Bein in der Katastrophe. Tagtäglich. Am Abend hängt man zerschossen auf dem Sofa. Beim Einschlafen redet man sich ein, dass es gar nicht so schlimm war. Nur um am nächsten Morgen in der nächsten Katastrophe zu landen.

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ESTHER  Kotzen die wirklich auf den Frühstücks­ tisch? DANIEL  Ich kann gut mit Kotze. Also. Ich ertrag das gut. Und. Ich kann das wegwischen, ohne selbst. SOSKA  Wie vernünftig er redet, seit ihn der Hunger nicht mehr quält. ESTHER  Können wir nicht einfach in Ruhe zu Ende essen? DANIEL  Es schmeckt wie Lamm. 3 LAURA  Die Straße, in der ich gelebt hab, bevor ich rausgezogen bin. Aufs Land. Das war einfach meine Gegend. Jahrelang. Ich kannte die Läden. Die Leute. Ich hab mich wohlgefühlt. ESTHER  Für mich wär das nichts gewesen. LAURA  Am Ende hatte ich das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. SOSKA  Und dann bist du zu den Ziegen gezogen. LAURA  Alles hatte sich verändert. Der Schreibwarenladen verschwunden. Der Bäcker. Die Apotheke. Stattdessen: Craft Beer Bar. Lounge. Und ein Büro für Innenarchitektur. Die Leute sind weggezogen. Andere dazu. Hab gedacht, die müssen doch sehen, dass ich nicht mehr hierher gehöre. Dass das nicht mehr meine Gegend ist. Bei den meisten neuen Läden hab ich noch nicht mal gewusst, was genau man da kaufen kann. DANIEL  Sagte meine Mutter. SOSKA  Ich präsentiere: der Mann, der mir zu mehr Freundlichkeit riet. LAURA  Für einen wie dich, Daniel, ist das kein Problem. Ich weiß. Du kommst rum. Kennst dich aus. DANIEL  Städte verändern sich nun mal. Das ist doch nichts Neues. Alles ist in Bewegung.

ORACLE and 28. – 31.10. Claudia Bosse SACRIFICE 1 oder die evakuierung der gegenwart

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ESTHER  Aber vielleicht bewegt sich das alles viel zu schnell. LAURA  Ich kann doch nicht die ganze Zeit schauen, dass ich noch hinterherkomm. Ich hab meinen Job. Die Kinder. DANIEL  Du wohnst ja auch nicht mehr da. LAURA  War aber meine Straße. SOSKA  Sieht die Straße vielleicht anders. ESTHER  Jetzt warst aber du unfreundlich. LAURA  Kurz vor dem Umzug bin ich in einen dieser neuen Läden rein. Wollte schauen, was es da gibt. Was die verkaufen. Falls sie was verkaufen. Die haben mich angeguckt, als hätt ich was Fieses im Gesicht. Ich. Ich hab gelächelt. Bisschen schräg. Ihr wisst ja, wie das dann aussieht. Der Typ am ersten Schreibtisch ist irgendwann aufgestanden und hat sich zu mir gedreht. „Bist du die Neue? Der Workspace da hinten neben dem Kaffeevollautomaten ist noch frei. 400 pro Monat plus Nebenkosten. Bin übrigens Magnus. Mach hier den ITMist.“ Ich hab kein Wort mehr rausgebracht. Hab blöd geglotzt und bin raus. SOSKA  Du bist wunderbar, Laura. LAURA  Das sagst du, weil du froh bist, dass dir das nicht passiert ist. SOSKA  Ich wäre erstarrt. Erblasst. Verloren. ESTHER  Ich darf nicht so schnell trinken. Das passiert mir so oft. LAURA  Ich bin schon nach einem Glas bedient. SOSKA  Wir müssen trinken. Mehr trinken. ESTHER  Haben die wirklich auf den Tisch gekotzt? Deine Kinder. Ich meine. Passiert so was öfter? LAURA  Mitten ins Frühstücksmüsli. Eine komplizierte Angelegenheit. DANIEL  Was meinst du? LAURA  Danach noch unterscheiden zu können, was was ist. ESTHER  Das verstehe ich nicht. SOSKA  Es ist wohl besser so. 4 LAURA  Mein Vater ist der festen Überzeugung, dass die liberale Demokratie eine überholte Übergangslösung ist. Ich hab ihn oft nicht verstanden. Wenn wir uns über Politik gestritten haben. Für ihn ist das, was wir für eine Selbstverständlichkeit halten, ganz einfach eine Phase. Etwas, was vorübergeht. Wie das Land davor. Er lächelt über meinen „larmoyanten Hang zu Gerechtigkeit“. DANIEL  Wer kann schon mit seinen Eltern reden? LAURA  Er ist ein Rassist. SOSKA  Jeder hier ist ein Rassist. ESTHER  Was hat das denn mit Rassismus zu tun?

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SOSKA  Laura zum Beispiel. Sie kann eine Feministin und eine Rassistin sein. Das ist wirklich gar kein Problem. LAURA  Also ich. Ich bin in erster Linie eine Laura. Und an diesem Abend auf eine ungewöhnliche Art durstig. SOSKA  Das ist ganz klar die richtige Richtung, wenn du mich fragst. LAURA  Ich würde dich ja fragen. Wenn du nicht immer ganz von selbst anfangen würdest mit dem Gequatsche. SOSKA  Ich quatsche nicht. Ich doziere. DANIEL  Wenn man ein bisschen rumkommt. Also im Leben. Wenn man was anderes kennenlernt. Und nicht nur den Ort, an dem man aufgewachsen ist. Dann wird man auch kein Rassist. ESTHER Bullshit! DANIEL  Also. Ich meine doch nicht dich. ESTHER  Ich finds gut, hier zu leben. Und dein kosmopolitisches Hotel-Hopping schützt dich vor Rassismus nicht die Bohne. DANIEL  Dich hab ich doch überhaupt nicht gemeint. ESTHER  Aber ich dich. LAURA  Hier ist doch alles tot. Habs gesehen. Alles neu in den Straßen. Alles renoviert. Saniert. Wie ein scheiß Kurort, die Innenstadt. SOSKA  Dann lieber ein Hauch inzestuöser Land­idylle aus der Speckgürtelabteilung? LAURA  Du weißt doch, was ich meine. ESTHER  Also ich weiß nicht, was du meinst. Ich bin froh, dass hier nichts verfällt. Dass ich nicht in so einer vergessenen Stadt lebe. LAURA  Das sind angemalte Lücken. Dekoration. Wenn keiner drin lebt. ESTHER  Ich leb aber hier. Und wenn was schön ist, muss ich das nicht schlechtmachen. Mutter schafft die Pflege von Papa einfach nicht allein. LAURA  Das. Wusste ich nicht. SOSKA  Sie wusste es nicht. ESTHER Natürlich. LAURA  Und ich meinte das auch gar nicht. Ich rede über diese Stadt. Als wir zur Schule gegangen sind, sah es hier noch nicht aus wie in einem Freiluftmuseum. DANIEL  Ich find. Also. Man hat sich da Mühe gegeben. In der Stadt. Meine ich. Ich bin nur durchgefahren. Mit dem Taxi. Aber. War schön. LAURA  Nur keine Lücke lassen. Nur immer drübermalen. Nichts aushalten. Als hätte das hier alles keine Vergangenheit. Keine echte jedenfalls. DANIEL  Wusste ich gar nicht. Dass du so vanitasmäßig unterwegs bist. SOSKA  Kunst Grundkurs nehme ich an.

DANIEL Abgewählt. SOSKA Verständlich. DANIEL  Hab gemalt, als hätte mir jemand einen Pinsel in die Faust gesteckt. SOSKA  Dir fehlt Gefühl. DANIEL  Mir fehlt ein Grund. SOSKA  Gibt es noch Wein? LAURA  Die Wohnungen stehen ja doch leer. ESTHER Und? LAURA  Jetzt fangen die an, irgendwelche Stadtmauerreste aufzubauen. ESTHER  Ist doch gut. LAURA  Ich brauch das nicht. ESTHER  Für dich ist das ja auch nicht gemacht. Du bist längst raus. DANIEL  Mich stört das nicht. SOSKA  Ich will euch eine kleine Geschichte erzählen. LAURA  Gerade jetzt hab ich mich gefragt, was mir zu meinem Glück eigentlich noch fehlen könnte. SOSKA  Ich möchte so viel für dich sein, Laura. Aber eine Enttäuschung. Das nun wirklich nicht. LAURA  Sieh es als eine spezielle Form der Motivation. ESTHER  Mir wird immer ganz schwindlig, wenn ihr so daherredet. LAURA  Das wiederum könnte auch am Wein liegen. DANIEL  Also. Ich will deine Geschichte eigentlich gar nicht hören. SOSKA  Damit bist du, fürchte ich, nicht allein. Trotzdem. Es ist mir ein großes Bedürfnis sie gerade jetzt mit euch zu teilen. DANIEL  Dein spezielles Vorhaben. SOSKA Vielleicht. LAURA  Welches Vorhaben? SOSKA  Der Erste im Haus war ein junger Türke. Vor fünf Jahren. Ich hab mich gefreut, dass er mich immer so freundlich grüßt. Dass er die Hausordnung macht, wie alle anderen. Dass es nicht komisch riecht. Aus seiner Wohnung. Also. Ich will wirklich ehrlich mit euch sein. Ich hab diesen Jungen von Anfang an gemocht. Und im Blick gehabt. Die ganze Zeit. Versteht ihr? LAURA  Das ist albern, Soska. SOSKA  Ihr solltet mich einmal sehen, wenn er am Abend Besuch bekommt. Wenn seine Freunde durchs Treppenhaus stapfen. Wie ich hinter der Tür stehe. Im dunklen Flur. Durch den Spion ins Treppenhaus guck. Und nicht mehr wegschauen kann. Nicht mehr weitermachen kann. Mit dem Abwasch. Dem Film. Dem Rasieren. Mit irgendetwas, das mit mir zu tun hat. LAURA  Bei dir. Also. Nimm mir das nicht übel. Aber. Das kann ich mir irgendwie gut vorstellen, Soska. Trinkst du währenddessen?


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SOSKA  Ohne Unterlass. ESTHER  Du hast Angst. SOSKA  Ich habe. Eine Beschäftigung. Ich habe etwas zu tun. Und am nächsten Tag, am übernächsten, wenn ich ihm vor dem Briefkasten begegne, grüßen wir einander freundlich. Ich bin froh, dass er da ist. Würdet ihr mir das glauben? Dass ich mir einen Stuhl hinter die Wohnungstür stelle? Und warte, bis ich etwas höre hinter der Tür. Dass ich lausche und warte, bis der Besuch sich wortreich verabschiedet? Glaubt ihr, dass es schon so weit mit mir gekommen ist? Dass meine Welt so klein geworden ist wie dieser alberne Platz hinter der Tür? LAURA  Ich frag mich, warum du uns das alles erzählst? SOSKA  Ich frage mich, wer von euch dreien den Mut aufbringt, sich so zu zeigen, wie man sich nicht zeigen will. ESTHER  An solchen Dingen hattest du schon immer deinen Spaß. SOSKA  Wohin stellst du deinen Stuhl, Esther? Hinter welcher Tür wartest du? ESTHER  Ich mach die nicht mit. Deine Spielchen. SOSKA  Und du, Laura? Gibt es keine Geschichte, die du für uns hast? Oder du, Daniel? Gibt es noch Wein? LAURA  Du bist betrunken, Soska. SOSKA Selbstverständlich. ESTHER  Ich lass mich von dir jedenfalls nicht als Rassistin beschimpfen. SOSKA  Das ist in keinem Fall böse gemeint. Diese Angst. Die hockt irgendwo da hinten. Im Kopf. Verstehst du? Und davor. Da hast du ein Hirn. Und das soll verhindern, dass die das durchdringt. Dass die zutage kommt. Und Worte findet. Die Angst. Das ist die Aufgabe. ESTHER  Du bist ein Idiot. DANIEL  Ich hab mich das schon in der Schule immer wieder gefragt. Warum fliegen alle Mädels auf diesen impertinenten Typ? LAURA  Eine kurze, schwache Phase meines Lebens. ESTHER  So kurz nun auch nicht. SOSKA  Es war eine schnelle, leidenschaftliche Liebe. LAURA  Beim Küssen damals. Da hast du gezittert. SOSKA  Deswegen habe ich mir das Trinken angewöhnt. Meine Angst vor den Frauen. DANIEL  Ich habe eine Geschichte. Du hast mich nach einer Geschichte gefragt, Soska. ESTHER  Und jetzt hast du dir genügend Mut angetrunken. DANIEL  So in etwa. SOSKA  Du hast meine volle Aufmerksamkeit. DANIEL  In einem Park. In meiner Nähe. Es gibt dort ein paar syrische Familien. Also. Ich glaub,

dass sie syrisch sind. Die sind oft dort. Sitzen an den großen Steintischen. Sie essen dort. Sie reden. Lachen. Sie machen nichts. Sie sind nicht gut angezogen. Auch die Kinder nicht. Wenn es kälter ist. Oder wenn es regnet. Manche haben nur Badelatschen an. Die Erwachsenen scheinen sich nicht großartig um die Kinder zu kümmern. Die Kinder ziehen in großer Gruppe im Park herum. Sie. Machen nichts. Sie sind ein wenig laut. Und eigentlich passiert nichts. Es sind Kinder. SOSKA  Aber es stört dich. DANIEL  Anfangs nicht. SOSKA  Aber etwas daran stimmte nicht. DANIEL  Ich habe angefangen den Park zu meiden. War ich doch da, beobachtete ich sie. Und ich fing an mich dafür zu verachten. LAURA  Was hast du getan? DANIEL  Ich hab die Polizei angerufen. LAURA  Hast du nicht. DANIEL Natürlich. ESTHER  Und was hast du gesagt? DANIEL  Ich hab gesagt, ich glaube, dass sie nicht gut mit ihren Kindern umgehen. Dass sie sich nicht genügend um sie kümmern. Dass sie die Kinder vernachlässigen. Womöglich. Dann hab ich im Jugendamt angerufen. Dann die Ausländerbehörde. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales. Es war. Wie ein kleiner Rausch. Alles ging schnell. Das Raussuchen. Kopieren. Anrufen. Ich hab die Nummern. Hier. Alle in meinem Telefon gespeichert. Wollt ihr es sehen? SOSKA  Nicht nötig. LAURA  Ich. Ich will es sehen. DANIEL  Glaubst du, dass ich das tun würde? ESTHER  Dafür hast du gar keine Zeit. Und keinen Sinn. DANIEL  Weil ich so viel zu tun hab? ESTHER  Weil du, Daniel, dich ausschließlich um die Dinge kümmerst, die etwas mit dir zu tun haben. DANIEL  Aber das hat etwas mit mir zu tun. Sie sind in dem Park, in den ich auch gehe. ESTHER  Ich glaub dir nicht. DANIEL  Da. Schau ins Telefon. SOSKA  Nicht. Nicht zeigen lassen. Das zerstört unser kleines Spiel. Es geht darum, ob du Daniel glaubst oder eben nicht. LAURA  Nein. Kein Wort. Dass es dich stört. Die Syrer im Park. Ja. Aber dass du etwas tust. Dass du deine kostbare Zeit damit verschwendest. SOSKA  Die Nummern im Telefon. Das Notorische daran. Diese gewisse Penetranz. Dass man ihm endlich zuhören soll. Natürlich. Das ist er. Unser Daniel.

NORM IST F!KTION #5/1 PREMIERE: 03.10.2020 VORSTELLUNGEN: 07.–10.10. 2020

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DANIEL  Das bin ich. ESTHER Ekelhaft. SOSKA Wunderbar. LAURA  Kein Wort glaub ich. SOSKA  Wir sind alle Rassisten. DANIEL  Ist gut. Mensch. Soska. Lass gut sein. SOSKA  Wir haben es von unseren Vätern gelernt. Ganz einfach. Wir haben gedacht, all das ließe sich abschütteln. Ändern. Ließe sich anders leben. Wir haben uns selbst beschissen. Haben geglaubt, dass all die Worte, all die Angst, all die dumpfe Selbstgewissheit keine Spuren in uns hinterlassen würde. Jetzt sind wir selbst Eltern. Zumindest einige von uns. ESTHER  An mir liegt es nicht. LAURA  Ich kann dir eins leihen. ESTHER  Eins leihen? LAURA  Bei einem Mann hättest du gelacht. SOSKA  Wir rennen unermüdlich durch das, was wir uns mühsam zusammengesucht haben. Unser kleines Leben. Und merken. All das ist noch in uns. Die Worte hallen nach. In den Räumen. Zwischen den Gedanken. Die Angst sitzt uns spitz in den Knochen. Sie strahlt, wie eine kleine, kalte Sonne. Und das bisschen Vernunft, was wir uns zusammengespart haben. In unseren Widerreden. Unseren Abgrenzungen. Kleinen Aufmüpfigkeiten. Unserem Drang danach, alles zu werden. Nur nicht wie sie. Und all das, was wir für eine Mauer hielten, hinter der wir lehnten. All das ist jetzt plötzlich porös geworden. Auf unsere Köpfe rieselt der Sand. Obwohl es doch das war, worin wir uns untergebracht hatten. Worin wir die ganzen Jahre so behaglich lebten. ESTHER  Hört, hört! SOSKA  Lach nur. Ich habs gesehen. In deinen Augen hab ich es gesehen. Dass du weißt, wovon ich rede. LAURA  Ich habe auch eine Geschichte. ESTHER Du? LAURA  Warum nicht? Es ist doch lustig. SOSKA  Ich hoffe nicht. DANIEL  Jetzt lasst sie doch mal. ESTHER  Er hat recht. LAURA  Ich bin eine Frau. Engagiere mich. Ich bring mich ein. Ich mach was für das, wofür ich steh. Im Verein für Gleichberechtigung. Bin dort aktiv in mehreren Arbeitsgruppen zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Ich fahr dort hin. So oft wie möglich in der Woche. Ich weiß, wo ich stehe. Und das ist die offene Seite der Gesellschaft. Die liberale. Die menschliche. Ich hab einen Blick. Für Diskriminierung. Für Ungerechtigkeit. Dagegen will ich kämpfen. Und das fühlt sich. Das ist gut. Dass ich das mache. Das ist sinnvoll. Auch wenn es die

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oft gibt. Die Ernüchterungen. Rückschläge. Die Unverbesserlichen auf der anderen Seite. Mit ihrem Hass. Und ihrer unfassbaren Engstirnigkeit. DANIEL  Das ist noch keine Geschichte, Laura. LAURA  Neulich, mein lieber Daniel, war ich auf dem Weg zu einem Café. Ich war dort mit einer Frau aus dem Verein verabredet, um über unser neues Patinnen-Projekt für geflüchtete Frauen zu sprechen. Mein Mann hatte früher Schluss und konnte die Kinder aus der Kita holen. Ich war spät dran. Der Tag bis dahin ein Reinfall. Neben dem Café habe ich einen Mann vor der offenen Mülltonne gesehen. Ich konnte ihn nur von hinten sehen. Sein Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Mit beiden Armen in der Tonne wühlend. Ich habe gedacht, das ist ein Flüchtling. Der wühlt in unserem Müll. Ich habe so ein Gefühl bekommen. Ich wollte, dass er damit aufhört. Dass er nicht mehr in unseren Sachen wühlt. In seinem eigenen Müll soll er stöbern. Das hab ich gedacht. Weil es doch unsere Tonne ist. Unser Müll. Vor unserem Café. Als der Mann sich umdrehte, sah ich, dass er ein Obdachloser war. Und plötzlich kam mein Mitgefühl zurück. Er sucht was zu essen, dachte ich. Er macht das, weil er in Not ist. Nicht, weil er das will. Ich habe in meinen Taschen nach Kleingeld gesucht. Ich war froh, dass es ein Obdachloser war. Einer von uns, hab ich gedacht und mich geschämt. Für diesen Gedanken. Im Café hab ich trotzdem Bescheid gesagt. Man kann die doch abschließen, hab ich gesagt. Die Tonnen. Dass ich so bin. So geworden bin. SOSKA  Wie dein Vater. LAURA  Ja. Stille. ESTHER  Es war Schwein. DANIEL Was? ESTHER  Das Fleisch. Kein Lamm. DANIEL  Das war doch Lamm. ESTHER  Ich bin total hinüber. LAURA  Tut mir leid, Esther. Wegen vorhin. ESTHER  Schon gut. LAURA  Nein, wirklich. ESTHER  Ist wirklich gut. DANIEL  Das muss Lamm gewesen sein. Stille. SOSKA  Es ist Rotz. Nach längerer Betrachtung und eingedenk der Tatsache, dass die Farbe durch den fortwährenden Trocknungsprozess etwas an Intensität verliert, stelle ich fest, dass der Fleck auf deinem Oberteil, liebe Laura, Rotz, wahrscheinlich aus der Nase eines deiner beiden Kinder ist. DANIEL  Er wird sentimental. ESTHER  Er zeigt menschliche Regungen.

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LAURA  Ich will gar nicht wissen, woher du diesen Gedanken nimmst. SOSKA  Ich hätte es dir gern erklärt. LAURA  Da bin ich mir sicher. SOSKA  Du solltest dir diesen Wein vielleicht doch nicht mit derartiger Unnachgiebigkeit in den Körper schütten. LAURA  Ich hab einfach Durst. DANIEL  Sieht man. ESTHER  Ich will auch noch. LAURA  Hattest du, das wollte ich dich immer schon fragen, Soska. Hattest du was mit dieser Charlotte? Damals? SOSKA Ich? DANIEL  Das wusste ich gar nicht. SOSKA  Weil du bis zum Ende deiner erfolgreichen Schullaufbahn mit deinem heißgeliebten Chemie-Bausatz gespielt hast. ESTHER  Ich hätte dir das einfach nicht zugetraut. LAURA  Hast du noch eine Flasche? SOSKA  Mir ist alles zuzutrauen. Mir und allen anderen. ESTHER  Was ist? Warum schaust du mich so komisch an? LAURA  Wissen wir da was nicht? DANIEL  Ich glaube, was Soska betrifft, wissen wir das allermeiste nicht. LAURA  Es gibt Dinge, die ich ganz einfach nicht wissen will. ESTHER  Ich bin jedenfalls keine Rassistin. SOSKA  Du verstehst das falsch, Esther. Es ist gar nicht schlimm, dass ich dich so bezeichne. Ich selbst bin, nebenbei gesagt, keinen Deut besser. Ohnehin liegt es uns in den Genen. Unseren weißen. Und wir verbringen unsere Zeit damit, uns mehr oder weniger dagegen zu wehren. Aber hier, Esther. Hier sind wir unter uns. Wo, wenn nicht hier, könnten wir uns diese Grässlichkeiten, die in uns hausen, von der Seele reden. ESTHER  Ich habe solche Gedanken nicht. DANIEL  Nun lass sie doch. LAURA  Nein, nein, mich würde es auch interessieren. ESTHER  Ich ertrage euren Zynismus nicht länger. SOSKA  Es ist Verzweiflung, Esther. Nichts weniger. Verzeih mir den Plauderton. Wie sonst könnten wir darüber sprechen? ESTHER  Gerade der. Dein Plauderton. Macht mich rasend. SOSKA  Das ist gut. ESTHER  Weil wir uns das leisten können. Weil es uns nicht trifft. LAURA  Wir setzen schlussendlich etwas fort, das unsere Väter begonnen haben. Die wollten, je älter

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sie wurden, etwas zurück. Von ihrer Kindheit. Und von der Unschuld, die angeblich darin gelegen ­haben soll. DANIEL  Mein Vater hatte sich im Keller einen kleinen Flugplatz für seine Modelle gebaut. Er hat viel Zeit dort unten verbracht. Die kleinen Panzer verschieben. Im Osten. Die Flugzeuge kreisen lassen über England. Ein Rest von Geborgenheit. Ich habe ihn selten so zärtlich erlebt. ESTHER  Alles daran ist eine Abscheulichkeit. SOSKA  Und du, Esther? Du bist frei davon? ESTHER  Ich bin zu jung, um nostalgisch zu sein. Stille. SOSKA  Ich will, dass du ehrlich bist. ESTHER  Zu deinem Vergnügen? SOSKA  Zu deiner Erleichterung. ESTHER  Soll ich Buße tun? Wozu? SOSKA  Eine kleine Beichte vielleicht. Eine kleine, deutsche. ESTHER  Vor einem Polen? SOSKA Bravo. ESTHER Was? DANIEL  Das ist ein Anfang. SOSKA  Ein erster Schritt. Das darfst du dir auf keinen Fall übel nehmen. ESTHER  Du kannst mich mal! LAURA  Ist doch nicht schlimm. SOSKA  Wer will noch Wein? ESTHER Ich. Stille. SOSKA  Diese kurzen Momente. In denen man denkt, man wäre anders. Man wäre besser als die anderen. Besser als die Väter. DANIEL  Übertreib nicht, Soska. SOSKA  Du hast recht. ESTHER  Ich hab lange Zeit gedacht, dass wir alle gleich wären. Dass es egal wäre, welche Hautfarbe wir haben. Welche Sexualität. Welche Religion. Was auch immer. Ich hab gedacht, es käme allein darauf an, was jemand mit dem eigenen Leben anfangen will. Was jemand erreichen will. Und ob jemand bereit ist, alles dafür zu tun. Aber. Das ist eine Falle. Wir schieben alles ab. Jede Verantwortung. Auf den Einzelnen. Wenn es jemand nicht schafft, liegt es an niemandem sonst. Wenn kein Geld da ist. Jemand keine Wohnung findet. Keinen guten Job. Wenn einer nicht dazugehört. Es ist eine Falle. Eine tiefe Grube, in die wir uns alle hocken. Uns gegenseitig beäugen. Beschnuppern, wie ängstliche Hasen. Und das, was wir sehen, halten wir für eine vollständige Welt. Von einer Grubenwand bis zur nächsten. DANIEL  Ist das alles? SOSKA  Lass sie reden.

Zeitgenössische Positionen zum Sächsischen Jahr der Industriekultur 23.10.–01.11.2020


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ESTHER  Und ich weiß das alles. Weiß, dass wir eigentlich nicht gleich sind. Weiß, dass es nicht egal ist, an was wir glauben. Wen wir lieben. Welche Farbe unsere Haut hat. Ich weiß das alles. Und weiß es wieder nicht. Es ist kompliziert. Es ist schon spät. SOSKA  Nein, nein. Das ist gut. ESTHER  Ein Teil in mir. Ja. Der weiß das. Der ruhige Teil. Der wach liegt, wenn ich schlafen soll. Aber wenn der nächste Tag anbricht, steht fest, dass alles egal ist. Dass jeder machen kann, was er will. Dass jeder selbst verantwortlich ist. Fürs Glück. Und fürs Geld. Und. Dafür, dass man mitreden kann. Das hat man uns doch beigebracht. Und. Warum denn auch nicht? Wir haben alle die gleichen Rechte. Die gleichen Aufstiegschancen. Wir leben doch im Hier und Jetzt. Wir haben doch dazugelernt. Aus der Vergangenheit. Wir wissen, wann einer unmenschlich ist. Menschenfeindlich. Wir wissen, dass das dummes Zeug ist. Das rassische Gerede. Und wir haben doch Tränen in den Augen. Wenn wir jemanden sehen. In einem Film vielleicht. Jemand, der sich nach oben arbeitet. Gegen alle Widerstände. Aus eigener Kraft. Und ich liebe diese Geschichten. Weil sie all das bestätigen, was mich beruhigt. Und freispricht. Von aller Verantwortung für jemand anderen. Immer wieder passiert mir das. Dass ich denke, jeder kann hier in diesem Land tun, was er will. Kann werden, was er will. Warum versucht man uns ständig vom Gegenteil zu überzeugen? Und warum versucht hier jede noch so kleine Minderheit zu bestimmen, was in der Mehrheit zu geschehen hat? Wir sind doch Menschen. Alle, die wir hier leben. Alle gleich. Ich muss mir doch nicht ständig sagen lassen, was für ein schlechter Mensch ich bin. Immer wieder geht es mit mir durch. Immer wieder diese Scham darüber. Dass ich so etwas denke. Und doch ist es eingebrannt. Und ich weiß, auf welche Seite ich mich schlagen werde, wenn es einmal enger werden sollte. Wenn einer sagt, diesen Job. Den habe ich nicht bekommen, weil ich Schwarz bin. Dann weiß ich doch. Was ich ihm sagen werde. Streng dich mehr an. Dann hast du Erfolg. So hab ich es gelernt. SOSKA  Siehst du? ESTHER Was? SOSKA  Es hat doch gutgetan. ESTHER  Einen Scheiß hat es. SOSKA  Wir sind alles Schweine. So ist das nun einmal. ESTHER  Wenn das alles ist, was dann zu sagen ist. SOSKA  Was willst du hören? ESTHER  Na ja. SOSKA  Sag schon. ESTHER Nein.

SOSKA  Was ist los? ESTHER  Du hast mich schon genug vorgeführt. DANIEL  Meine Damen und Herren, wir haben soeben den glorreichen Höhepunkt dieses Abends erreicht. LAURA  Wohl eher den Tiefpunkt. SOSKA  Trinken wir darauf. Dass wir jetzt ganz unten sind. Nicht lachen, Laura. Nichts daran ist komisch. ESTHER  Ja. Trinken wir. 5 Zuerst war da ein zögerliches Knistern unter dem alten Dielenboden. Leise. Wie von Bonbonpapier. Später dann, als die Dämmerung längst eingesetzt hatte, ein dumpfes Pfeifen. Ein dünner Windzug, der sich durch die alten Fensterdichtungen nach draußen zu drücken schien. Ein Knacken. Ein trockenes Knirschen hinter dem grobkörnigen Putz der Wände. Als würde sich etwas langsam, schwerfällig in Bewegung setzen. Die Luft im Zimmer, so schien es, geriet daraufhin in ein rhythmisches Zucken. Als die Nacht längst tief und wolkenlos auf den Dächern hing, war da ein körniges Rasseln. Tief aus dem Mauerwerk. Und so, als fiele Sand ein enges Regenrohr hinab. Der Ton gleichbleibend. Summend. Einem Meeresrauschen ähnlich. Drinnen aber, wo die hohen Wände des Raums die Decke erreichten, erste Risse. Dünn noch wie ein vereinzeltes Haar. Unter den Dielen derweil ein aufgeregtes Flattern. Ein schmatzendes Klatschen. Die Luft kalt. Darin ein leichtes Schweben schwarzer Federn. Staub, der fast unmerklich auf den Tisch zu sinken begann. Hinter den Wände nun die Umrisse einer unbekannten Landschaft. Die Decke offen längst. 6 Ein Toter, der in einer schwarzen Plastiktüte verpackt ist, stürzt durch die Decke auf den Tisch, an dem die vier sitzen

2. Teil / die sprechenden Kinder 1 / Weimar, 1958 RADIOSPRECHER / L  „Strahlende Sonne über dem Thüringer Land, strahlende Sonne über dem Ettersberg bei Weimar. Eben kommen die Ehrengäste die breite Treppe herunter, ich sehe Ministerpräsident Otto Grotewohl und die Zehntausenden, die sich hier versammelt haben, klatschen begeistert und winken den Sprechern der 21 Nationen zu.“ GROTEWOHL / D  „Die Stimmen der Toten und der Lebendigen vereinigen sich in den Glockentönen

MAX CZOLLEK TAGE DER JÜDISCH-MUSLIMISCHEN LEITKULTUR KRASS KULTUR CRASH FESTIVAL

zu dem mahnenden Ruf: Nie wieder Faschismus und Krieg! Friede sei ihr erst Geläute!“ RADIOSPRECHER / L  „Es war ein erschütternder Eindruck, und ich habe selten so etwas erlebt, als die einzelnen Nationen vom Beifall umbrandet hier herunterzogen, größere und kleine Gruppen mit ihren Fahnen. Und immer wieder wurde, wie jetzt wieder, gejubelt, immer wieder wurde geklatscht. Und immer wieder, und das war das, was jeden gepackt hat, der hier war, immer wieder tönten die Rufe auf: ‚Deutschland!‘ Es tönte der Ruf auf: ‚Frieden!‘“ VATER / E  Deutschland! Deutschland! S  Buchenwald. Die heilige Kuh des kommunistischen Widerstands. Mein Vater auf dem Ettersberg. September 58. Zieht mich an der Hand den Berg hinauf. Durch die Massen. Oma zu Hause vor dem Radio. Die Eröffnung der Gedenkstätte. RADIOSPRECHER / L  „Eine solche Feier, verehrte Hörerinnen und Hörer, ist in Westdeutschland leider unmöglich. Aber hier in der Deutschen Demokratischen Republik wird der antifaschistische Kampf, hier in der DDR wird der Kampf für den Frieden vom ganzen Volk mit seiner Regierung getragen.“ S  Vater kauft mir eine Wurst. Und sich ein Bier. Aus den Lautsprechern Unverständliches. Die ganze Stadt ist hier oben. Überall Gedränge. Lachen. Die ersten betrunken. Mutti will nach Hause. Vater redet von Thälmann. Ich bin sieben. Und verstehe nicht viel davon. VATER / E  (singt) „Deutsch unsre Fluren und Auen! Bald strömt der Rhein wieder frei. Brechen den Feinden die Klauen, Thälmann ist immer dabei. Thälmann und Thälmann vor allen, Deutschlands unsterblicher Sohn. Thälmann ist niemals gefallen – Stimme und Faust der Nation.“ S  (in das Lied hinein) Volksfeststimmung unterm Glockenturm. Der Aufmarschplatz des neuen Staates. Die Landschaft senkt sich stumm ins Tal. Mutti längst gegangen. Die kommunistischen Helden zum Denkmal gemacht. Eine gereckte, bronzene Faust in den thüringischen Himmel. Die rote Fahne. Ein Kind. Nackt unter Wölfen, heißt es jetzt. Vater hebt mich auf seine Schultern. VATER / E  Siehst du auch alles? S  Auf der Tribüne Grotewohl. Vater erklärt irgendetwas. Aber um uns herum stehen so viele, reden, schreien sich was in die Ohren. Ich halte mich an seinem Kinn fest. Spüre seinen Atem auf dem Handrücken.

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U.A. MIT BRANKO ŠIMIĆ, DAMIR AVDIĆ, MABLE PREACH, NIKOLA DURIC, WE ARE VISUAL, MICHEL ABDOLLAHI

LAURENT CHÉTOUANE OP. 131 : END/DANCE JOSEP CABALLERO GARCÍA / QUEERPRAXIS WHO’S AFRAID OF RAIMUNDA TRANSGENERATOREN: KUNST & POLITIK FÜR KINDER & ERWACHSENE U.A. MIT STINE MARIE JACOBSEN, SEIMI NØRREGAARD, GP&PLS, DJ MUNE_RA

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GROTEWOHL / D  „Standhaft kämpften sie und standhaft sind sie gefallen. Man hat sie zerbrochen, vergast, erschlagen und zu Tode gequält. Doch sie beugten sich nicht. Aufrecht und treu ihrer großen Idee ergeben, gingen sie in den Tod.“ S  Die roten Kapos von Buchenwald. Busse. Reschke. Thälmann in Bautzen derweil. Seine Briefe an Stalin, der ihn fallen lässt. Erschossen schließlich. Im Innenhof des Krematoriums. Hier floss das Blut, aus dem der neue Staat gemacht ist. Heißt es jetzt. Aber. Ich bin ein Kind. Ich weiß das alles nicht. VATER / E  Was redest du denn da die ganze Zeit? S  Ist viel zu laut hier. VATER / E  Was? S Nichts. VATER / E  Die haben den Jungen gerettet. Verstehst du? Das Kind. Weil sie zusammengehalten haben. Die Kommunisten. Weil sie mutig waren. Und kämpfen wollten. Sie haben ihn von der Liste genommen. S  Von welcher Liste? VATER / E  Die Liste. Also. Mit den Menschen, die die Nazis umbringen wollten. Den Juden. Die deportiert wurden. Mit den Zügen. Sie haben den Namen gestrichen. Und einen anderen dafür hingeschrieben. S  Welchen anderen? VATER / E  Also. Das weiß ich nicht. Und das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist. Der Junge hat überlebt. Weil ihn die Kommunisten gerettet haben. S  Das ist gut. VATER / E  Ja. S  Kann ich noch eine Wurst haben? VATER / E  Noch eine? S  Die Gruppe Ulbricht aus dem Moskauer Exil. Die, die Stalins Säuberungen überlebten. Sie hatten die Ehemaligen, die befreiten Helden längst zurückgedrängt in die zweite Reihe. Im Kampf um die Macht im neuen Staat. Haben die Posten besetzt im sowjetischen Rückenwind. Die Buchenwalder, sie hatten Schmutz an ihren Händen. Das Denkmal frisch poliert. Als Grabstein ihrer Ansprüche. Ihre Geschichten zurecht gemacht von den Moskauern. Eingepasst in die große Erzählung vom sauberen Antifaschismus. Ihre Namen, zu Marken reduziert, schmücken Schulen und Straßen. VATER / E  Sie haben das Kind gerettet. S  Sie haben ein anderes Kind geopfert. VATER / E  Sie haben getan, was möglich war. S  Erich Reschke. Nieter im Schiffsbau. Seit 22 in der KPD. Seit 38 Häftling in Buchenwald. Der Mann fürs Grobe. Zeitweilig Lagerältester. Verhängte ­Massenstrafen für Häftlinge. Ließ sich von der SS zu seiner Beförderung zum Lagerschutzführer 1943

einen Wachhund schenken, den er auf andere Häftlinge hetzte. Mithäftlinge bescheinigen ihm die Funktion eines willigen Werkzeuges in den Händen der SS. Nach Kriegsende wurde Reschke Polizeipräsident in Weimar. Später in Thüringen. 1950 zeigte man plötzlich, weil die Zeit reif war, auf den Schmutz an seinen Händen. Auf das Blut. Stalins Mühle Workuta verschluckte ihn geübt. Spuckte ihn aus. 1956. Die SED rehabilitierte ihn. Er ging seinen Weg. Wurde Major der Volkspolizei. Erhielt den Vaterländischen Verdienstorden. In Bronze. Später in Gold. Den Orden Banner der Arbeit. Zuletzt die ­Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Er hatte seinen Platz zurückgefunden. Oder Ernst Busse. Geboren 1897 in Solingen. Der Messerschleifer. Mit einem der ersten Transporte 1937 ins KZ Buchenwald gekommen. Blockältester. Lagerältester. Kapo im Krankenbau. Er schonte die Genossen und opferte andere. Die Moskauer Exilanten kannten seine Vergehen. BUSSE / L  „Ich wurde in das Konzentrationslager Buchenwald wegen antifaschistischer Tätigkeit gegen Hitler-Deutschland eingewiesen. Ich möchte vor der Ermittlung nicht verheimlichen, dass ich bei der Erfüllung meiner Pflichten als Lagerältester manchmal zu verschiedenen Strafen gegenüber den Häftlingen greifen musste.“ VERNEHMER / D  „Antworten Sie konkreter.“ BUSSE / L  „Ich schlug Häftlinge, die die Lagerordnung verletzt hatten. So zum Beispiel 1940, kurz nachdem ich den Posten des Lagerältesten erhalten hatte, schlug ich einen Häftling. Außerdem verhängte ich recht oft sogenannte Massenstrafen, das heißt, ich zwang zweihundert bis dreihundert Menschen nach der Tagesarbeit, lange zu marschieren und alle möglichen Übungen durchzuführen, nur deshalb, weil einer oder einige von ihnen die durch die SS vorgesehene Lagerordnung verletzt hatten.“ VERNEHMER / D  „Warum wurden Sie im Lager ein Gehilfe von Faschisten?“ BUSSE / L  „Tatsächlich wurde ich von der SS-Führung als Lagerältester nominiert. (…) und habe in dieser Funktion auch die Lagerordnung durchgeführt. Dennoch muss ich sagen, dass ich die mir durch die SSFührung auferlegten Pflichten nur deswegen erfüllte, weil ich in dieser Hinsicht Aufträge von der Führung unserer antifaschistischen Untergrundorganisation hatte, deren Mitglied ich war und die im Lager existierte.“ VATER / E  Keine Wurst mehr. Für dich. S  Aber Vati. VATER / E  Schluss. S  Hab so einen Hunger. VATER / E  Wo ist denn die Mutti eigentlich?

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2 / Halle, 1953 GERICHT / S  „Bei diesen Aktionen am 16. und 17.6.1953 versuchten die westlichen Agenten, eine gewisse Missstimmung unter unseren Werktätigen für ihre faschistischen und verbrecherischen Pläne auszunutzen. Um ihre Reihen zu stärken und zu vergrößern, galten ihre ersten Bemühungen der ‚Befreiung‘ der bereits wegen ihrer faschistischen Verbrechen Abgeurteilten. Zu dieser Sorte verurteilter Verbrecher gehört auch die Angeklagte Erna Dorn.“ L  Stalin tot. Und Opa im Sessel. Alter Märzkämpfer. War in Buchenwald, sagt Mutti, die das Mittagessen zubereitet. Kohlsuppe. Mit Rinderbrust. Beim Essen Schweigen. Opa rührt im Teller herum. Vater auf Schicht. Wagonbau Ammendorf. Unruhig die Stadt an diesem Tag. Schüsse in die Luft vorm Büro der Kreisleitung. 8000 davor. In den Straßen erste Rotarmisten. Und das Deutschlandlied. Am „Roten Ochsen“ rammen sie das Tor zum Gefängnishof ein. Schüsse. Tote. Rückzug. Aber davon weiß ich nichts. Bin viel zu klein. OPA / D  Faschisten. MUTTER / E  Arbeiter. OPA / D  Muss kein Widerspruch sein. MUTTER / E  So was? Aus deinem Mund? OPA / D  Das Fleisch. Das gute. Das nimmst du. Mit Handschlag. Wenns von den Genossen kommt. MUTTER / E  Behalt dein Fleisch, wenn du dafür was von mir hören willst. OPA / D  Das eine oder das andere, Mädchen. MUTTER / E  Sollst mich nicht so nennen. OPA / D  Bleibst mein Mädchen. L  Und meine Mutti. MUTTER / E  Davon verstehst du wirklich nichts. L  Weil ich noch zu klein bin. MUTTER / E  Weil du noch zu klein bist. OPA / D  „Lernen, lernen und nochmals lernen“? L  Ist leicht. Ist Lenin, Opa. OPA / D  Ist richtig, Prinzessin. MUTTER / E  Jetzt esst mal. Muss in den Salon gleich. L  Das Geräusch, wenn der Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür ratscht. Die schnellen Schritte im Flur. Vater plötzlich zu Hause. Ein Lächeln im Gesicht, als er in die Küche kommt. Sind so viele, sagt er. Drückt mich so plötzlich, dass ich mich erschrecke. Meine Mutter, die sich über den Abwasch beugt. Die halbe Stadt ist auf der Straße. Opa steht schweigend auf. Sind deine Genossen, ruft Vater ihm hinterher. Die schießen auf uns, hörst du? ERNA DORN / E  „Die Losungen, die vor der Haftanstalt von angesammelten Menschen gerufen wurden, lauteten immer: ‚Gebt uns die politischen Häftlinge

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heraus.‘ Als dann später meine Zellentür aufgeschlossen wurde und mir zwei unbekannte Personen hereinkamen, wurde ich von der einen Person angesprochen (…), warum ich inhaftiert sei. Ich sagte zu dieser Person, dass ich zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt bin wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Person sagte mir: ‚Diese Leute suchen wir. Sie sind richtig.‘. Auf meine Frage, was eigentlich los ist, sagte mir diese Person: ‚Die Revolution ist ausgebrochen.‘“ DEMONSTRANT / S  (singt) „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.“ L  (in das Lied hinein) Gesang in den Straßen. Schüsse plötzlich aus der MfS-Bezirksverwaltung. Am frühen Abend Flugblätter der Sowjets. Lautsprecherdurchsagen. Immer mehr Militär in der Stadt. Einnahme strategischer Punkte. Ausnahmezustand. Ausgangssperre zwischen 21 und vier Uhr. Demonstrations- und Versammlungsverbot. Abriegelung der Zufahrtsstraßen. Die Angst vor den streikenden Arbeitern aus Leuna und Buna, die nicht kommen an diesem Abend. Aber immer noch Sechzigtausend auf dem Hallmarkt. DEMONSTRANT / S  Wir fordern: den Rücktritt der Regierung der DDR. Freie Wahlen in ganz Deutschland. Abzug der Besatzungsmächte. Freilassung aller politischen Häftlinge. Senkung der HO-Preise um 40 Prozent. L  Einer spricht von der deutschen Einheit und Revidierung der Oder-Neiße Grenze. DEMONSTRANT / S  (singt) „Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang.“ L  Opa am offenen Fenster in der Wohnstube. Über der Stadt ein dumpfes Dröhnen. So leise, dass ich denke, nur ich könne es hören. Ab und zu das Geräusch eines Schusses. Mutti in der Küche. Allein am Tisch sitzend. Längst zurück von der Arbeit im Friseursalon. OPA / D  Und der macht da mit. Dein Mann. MUTTER / E  Hast du gehört, was in Berlin los ist? Im ganzen Land? OPA / D  Westpropaganda. MUTTER / E  So einfach ist es also. OPA / D  Die richtige Seite ist die, auf der die Antifaschisten stehen. MUTTER / E  Bist ein sturer Hund. Warst es immer. OPA / D  Hat mir mein Leben gerettet. Auf dem Ettersberg. MUTTER / E  Auf deinem Ettersberg.

OPA / D  Und jetzt marschieren die wieder. Die Faschisten. Und meine Tochter. Steht da und applaudiert dazu. Deutschland hat den Krieg verloren. Und jetzt kriegt ihr den Hals nicht voll genug. Ist nicht mal acht Jahre her. MUTTER / E  Erzähl das deinen Genossen, Papa. Ich hab zu tun. OPA / D  Wirst sehen. MUTTER / E  Ja. OPA / D  Wirst sehen. Wenn wir nichts tun. Was dann passiert mit diesem Land. L  Panzer auf dem Hallmarkt, während vorn auf der Tribüne die letzten Ansprachen laufen. Im Schritttempo durch die Massen. Das Kanonenrohr auf die Tribüne gerichtet. Sowjetische Soldaten geben Warnschüsse ab. Vati immer noch nicht zu Hause, obwohl es fast neun ist. Deutsche Polizisten räumen das Stadtzentrum. In der Bezirksleitung arbeitet man an der Sichtweise. Erna Dorn. Das konstruierte Exempel nach dem Aufstand. Die sich während der Verhöre in sich ständig widersprechenden Selbstbezichtigungen erging. Mutter. Hausfrau. Agentin. Jetzt passte eine ihrer vielen Geschichten in das Bild, das sich die Genossen machten von den Tagen im Juni. Eine faschistisch-, westliche Verschwörung. Die Demonstranten hatten Erna Dorn befreit, während der Stürmung der Gefängnisse. Sie tauchte unter, bis sie die Genossen wieder hervorholten. Nun, plötzlich, als frisch gebackene Rädelsführerin vor Gericht. Zeugen für eine Rede auf dem Hallmarkt gab es keine. Am Münchner Platz in Dresden gräbt man derweil das alte Fallbeil wieder aus. Richtet es her. Bronchopneumonie steht auf dem Totenschein. Der Kopf der Erna Dorn im versiegelten Sarg zwischen den Füßen. ERNA DORN / E  „In Ravensbrück führte ich die Registrierung und Aufnahmen der politischen Häftlinge. Ich habe mich auch in einem Falle an KZ-lern vergangen, indem ich sie schlug.“ VERNEHMER / D  „Warum traten Sie in den Dienst der Gestapo?“ ERNA DORN / E  „Da mein Vater, der sich heute in Westdeutschland befindet, ein aktiver Faschist war und ebenfalls Angehöriger der Gestapo war, wurde ich von meinem Vater gezwungen, in den Dienst der Gestapo einzutreten. Meine Mutter war dagegen, weil, wenn mein Vater nach Hause kam und von seinen begangenen Verbrechen erzählte, meine Mutter es mit der Angst bekommen hat, weil ihr derartige Unmenschlichkeiten gar nicht vorstellbar waren.“ L  Alles passte. Alles passte gut. Viel zu gut. Aber das störte nicht in diesen Tagen. Auf dem Tablett serviert: die Faschistin aus bürgerlichem Milieu. Die überzeugte Täterin, die während des Aufstands

den demokratischen Staat angreifen will. Die, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu etwas verführte, was sie selbst überhaupt nicht wollten. Die Führung hatte, was sie wollte. Aber davon verstehe ich natürlich nichts. Davon weiß ich nichts. MUTTER / E  Ruf die an. Deine Genossen. Geh hin und sag, deine Tochter will ihren Mann zurück. OPA / D  Abwarten. Ruhig bleiben, Mädchen. L  Vati, der nicht nach Hause kommt. Vati, der verhaftet ist. Im „Roten Ochsen“ sitzt. Sein Kumpel vom Wagonbau am nächsten Tag bei uns. Kasernierte Volkspolizei in den Betrieben. Überall Verhaftungen. Panzer. Rotarmisten. Vati, der keine Briefe schreiben darf. Der vor Gericht kommt. 15 Jahre aufgebrummt. RADIOSPRECHER / S  „Im Sowjetischen Sektor von Berlin, wie in einigen anderen Orten der Deutschen Demokratischen Republik, gelang es Provokateuren durch Täuschung und Betrug, einen kleinen Teil der Werktätigen mit sich zu ziehen. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nahm entschieden gegen die faschistischen Pogromhelden Stellung. Das eben besiegelte letzten Endes den vollen Misserfolg ihrer verbrecherischen Pläne.“ L  Opa im Sessel. Alter Märzkämpfer. Der kaum noch aus dem Haus geht. Mutti noch im Salon. Ich müsste was sagen, denk ich. Aber seit Vati in Haft ist, reden wir nur das Nötigste. OPA / D  Was macht die Kunst, Prinzessin? L  Alles gut. MUTTER / E  Bist ja auch schon da. L  Mutti, die mit dem Einkauf nach Hause kommt. Die den Beutel auf dem Küchentisch abstellt. Mir einen Kuss auf die Wange drückt. MUTTER / E  Schon gut. Das schaff ich auch allein. L  Erna Dorn in der Zeitung. „Der Abschaum der Menschheit.“ Opa zeigt mit dem Finger darauf. Schweigt. OPA / D  „Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk; und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation.“ L  Klingt wie ein Nazi, denk ich. Aber Opa würde nie einen Nazi zitieren. OPA / D  Thälmann, meine Prinzessin. Thälmann. L  Hab ich gewusst. OPA / D  Hast du.

3 / Erfurt, 1975 E  August 75. Nach der Schule mit Katrin. Auf dem Weg zum Johannesplatz. Stefan, ihr großer Bruder, trägt jetzt Militärstiefel. Frau Bolt, unsere Klassenlehrerin, nennt solche Jungs Rowdys. Am Franzosenlager trennen wir uns. 17000 waren hier im Ersten Weltkrieg gefangen. Franzosen. Russen.

THEATER MARIE Joël László Theater Marie Uraufführung

Geld, Parzival

ab 4.10.20 VLT Bregenz 29./30.10.20 Kurtheater Baden

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Briten. Niemand hat mir das gesagt, und ich weiß es auch nicht. Jetzt stehen hier die Neubaublocks. VATER / L  Du bist früh. E  Der Fahrstuhl ist kaputt. Ich nehme die Treppe bis in den achten Stock. Ich finde meinen Schlüssel nicht. VATER / L  Hast du wohl hier vergessen, mein Schatz. E  Mein Vater hatte Nachtschicht. Ist gerade erst aufgestanden. Er trinkt Mokka, während ich ihm von den Ferienspielen erzähle. In der Stadt schwirrt der Mob. Mit Eisenstangen und Holzlatten durch die Innenstadt. 300 Jugendliche machen Jagd auf algerische Vertragsarbeiter, die in Richtung Fischmarkt fliehen. 300 Kinder des antifaschistischen Staates. Aber das weiß ich nicht. Das kann ich gar nicht wissen. HONECKER / S  „Als Ausgeburt des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium verkörpert der deutsche Faschismus am brutalsten das menschenfeindliche Wesen dieser Ordnung.“ E  Einer hetzt seinen Schäferhund auf die Fliehenden. VATER / L  Was hast du gesagt, mein Schatz? E  Der Bruder von Katrin. Der Stefan. Der ist jetzt ein Nazi. VATER / L  Ein Nazi? So so. Hat er das gesagt? E  Der hat gesagt, dass die Algerier hier sind, um deutsche Frauen zu vergewaltigen. Dass das schon oft passiert ist. Aber alle schweigen. Weil das doch Kommunistenfreunde dort sind. Irgendwie. Und dass die Wohnungen kriegen. Einfach so. Und mehr Lohn. Und dass er für das richtige Deutschland kämpfen will. Und er hat was über alte Grenzen gesagt. Aber das hab ich nicht verstanden. VATER / L  Die haben doch Verwandtschaft. Im Westen. Oder? E  Weiß nicht. VATER / L  Hab ich gehört. E  Kann sein. VATER / L  Einen Onkel haben die drüben. E  Katrin hat so einen grünen Füller. So einen neuen. VATER / L  Sag ich doch. E  Und Jeans. VATER / L  Also. E Was? VATER / L  Jetzt weißt du, woher der das hat. Und jetzt iss mal schön auf, mein Schatz. HONECKER / S  „Der Fremdenhass liegt sehr stark in der deutschen Mentalität. Bei uns in der DDR ist das überwunden. Bei den Maidemonstrationen sieht man Menschen verschiedener Hautfarbe und Herkunft, die in Brüderlichkeit und Freundschaft zusammengehen.“

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E  Zwei Tage später greifen Jugendliche in der Innenstadt Algerier an. Volkspolizisten geleiten die Flüchtenden in den Innenhof der Hauptpost. Die Angreifer nehmen die Verfolgung auf. STEFAN / D  „Gebt die Algerier raus!“ E  Immer mehr versammeln sich vor dem Gebäude. 150 zuerst. Dann 300. STEFAN/ D  „Schlagt die Algerier tot! Jagt sie heim! Sie sollen sich wieder in den Busch scheren!“ E  Die ersten Steine fliegen. Scherben überall auf dem Vorplatz. STEFAN / D  „Totschlagen! Aufhängen!“ E  Durch den Hintereingang gelingt es, die Algerier schließlich zu evakuieren. In den Wohnheimen finden Sicherheitskräfte Flugblätter. „DDRFaschisten.“ „Wir wollen wieder nach Hause.“ STEFAN / D  Wir nehmen das jetzt in die Hand. Patrouillen auf dem Anger. Sind alles Verbrecher. Kannst du jeden rausziehen. Von denen. E  Im Angermuseum glauben Mitarbeiter, dass Algerier mit Messern Jagd auf Deutsche machen. STEFAN / D  Gibt zwei tote Deutsche. Auch ne Frau. Ist doch ganz klar, was hier passiert. E  Angestellte einer Druckerei sagen, dass sie sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen. Im Kombinat Umformtechnik geht das Gerücht um, drei Deutschen seien die Kehlen durchtrennt wurden. STEFAN / D  Die haben ein deutsches Paar überfallen. Im Nordpark. Hab ich gehört. Den Mann haben die gleich kaltgemacht. Die Frau von drei Algeriern vergewaltigt. Und in der Zeitung? Nix. Überhaupt nix. E  In einigen Kindergärten kursieren Gerüchte. Es gäbe Weisungen der Abteilung Volksbildung. STEFAN / D  Weil die Mutter vom Christian doch Erzieherin ist. Die hat das erzählt. Und. Hab mir das aufgeschrieben. Also. Es gibt da verschiedene Schreiben: „in denen auf Veranlagungen der Algerier, sich schon 9- bis 14-jährigen Mädchen zu nähern, hingewiesen worden sei.“ VATER / L  Also. Wenn in den Zeitungen nichts steht. Wird wohl keine große Sache sein. E  Das haben doch alle mitbekommen. VATER / L  Was hast du gesagt, mein Schatz? E  Mein Vater verschwindet im Bad. Ich bin noch jung. Ich weiß von all den Dingen nichts. Im Radio läuft der ewige Farbfilm. Einen Monat später, beim Pioniernachmittag machen wir die Wandzeitung zu Ende, die wir vor den Ferien begonnen hatten. Ernst Thälmann. Ein Vorbild für uns. Erschossen von Faschisten im KZ Buchenwald. Gestorben für uns.

RISK AND RESILIENCE PERFORMANCEFESTIVAL OKTOBER 08 — NOVEMBER 01

4 / Berlin, 1961 D  August 61. In drei Tagen bauen sie eine Mauer durch die Stadt. Aber davon weiß ich nichts. Und kein anderer hier. Ich bin erst neun. MUTTER  /  S  Wenn du älter bist, mein Hase. Und jetzt, Abmarsch ins Bett. Vergiss das Zähneputzen nicht. Hörst du? D  Die meisten Väter in unserem Haus sieht man morgens in Uniform aus dem Haus gehen. Mein Vater trägt einen Anzug. Eine rote Krawatte. MUTTER / S  Nicht bummeln. D  Er ist selten zu Hause. Wenn ein Anruf kommt, ob nachts oder am Sonntag, verschwindet er. MUTTER / S  Was redest du denn da? D Nichts. MITARBEITER MfS / L  „Zur Einschätzung des GI Willer muss gesagt werden, dass er nicht den Nutzen bringt, den wir uns bei der Werbung aufgrund seiner faschistischen Vergangenheit versprochen hatten.“ D  Vater arbeitet bei der Staatssicherheit. Hauptabteilung IX / 11. Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen. Aber das weiß ich nicht. Und darüber wird nicht geredet. Die meiste Zeit bin ich mit Mutter allein. MUTTER / S  Bist du immer noch nicht fertig? MITARBEITER MfS / L  „Der Kandidat war Mitglied der NSDAP und bekleidete Funktionen eines Polit- und Blockleiters. Darüber hinaus diente er aktiv in der faschistischen Wehrmacht. Sein höchster Dienstgrad war Leutnant. Der Kandidat war V-Mann des SD in Leipzig. Daraus ergibt sich, dass für die Herstellung einer Feindverbindung gute Voraussetzungen bei ihm vorhanden sind. Durch operative Maßnahmen muss erreicht werden, dass er in das Blickfeld des Gegners gebracht wird.“ D  Fast sieben laufende Regalkilometer Akten ­lagern in der Freienwalder Straße in Hohenschönhausen. Direkt daneben die zentrale Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. MUTTER / S  Staatssicherheit? Wer hat dir das gesagt? D  Warum schaust du denn so, Mutti? MUTTER / S  Weil es wichtig ist. D  Ich hab Vatis Ausweis gefunden. Im Schlafzimmer. Hab seine Hose gebraucht. Und die Jacke. Wollte doch ne Höhle bauen. Unterm Bett. Und da ist der Ausweis rausgefallen. Aus der Tasche. MUTTER / S  Ist ja nicht schlimm. D  Guckst aber so. MUTTER / S  Darf nur keiner wissen. D Nein. MUTTER / S  Darfst du keinem erzählen. D  Mach ich nicht, Mutti. Musst aber aufhören.

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Kaserne

MUTTER / S  Mit was? D  So zu gucken. MUTTER / S  Ach. MITARBEITER MfS / L  „Er bedankte sich vielmals, dass ihn die Sicherheitsorgane der DDR nicht zur Verantwortung ziehen werden. Er erklärte sich bereit, in jeder Beziehung für seine Vergangenheit geradezustehen und die Staatssicherheit der DDR in ihrer Arbeit zu unterstützen. Obwohl eingeschätzt werden muss, dass verschiedene Punkte der Vergangenheit des Schilling noch nicht restlos geklärt wurden, wird der Schilling für unsere Organe alles tun, was von ihm verlangt wird.“ MUTTER / S  Es bleibt unser Geheimnis, hörst du? D  Ja, Mutti. MUTTER / S  Und dem Vati erzählen wir besser auch nichts. D Nein. MUTTER / S  Schaffst du das, mein Hase? Ein Geheimnis für dich zu behalten? AUGUST BIELESCH / E  „Seit der am heutigen Tage mit mir geführten Aussprache wurde mir klar, dass ich wegen falscher Angaben in den von mir beschriebenen Fragebogen, Verschweigen meiner Angehörigkeit zur SS und der ausgeübten Tätigkeit als Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz Birkenau, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Durch meine Bereitschaft, offen und ehrlich mit dem Ministerium der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten, möchte ich meine Fehler wieder gutmachen. Alles, was ich höre und sehe, was gegen die Sicherheit der DDR gerichtet ist, sowie alle Hinweise über staatsfeindliche und kriminelle Handlungen werde ich in mündlicher beziehungsweise schriftlicher Form berichten.“ D  August Bielesch. Geboren 1924. 1942 in seinem slowakischen Heimatdorf für die Waffen-SS gemustert. 1943 Versetzung zur sogenannten Konzentrationslager-Verstärkung. Nach fünfwöchiger Grundausbildung im KZ Buchenwald ab Juli 43 tätig im Konzentrationslager Auschwitz II (Birkenau). MUTTER / S  Du bist ja immer noch wach. D  Am 1. Mai 44 Beförderung zum SS-Sturmmann der Reserve. Am selben Tag trifft ein Deportationszug aus Frankreich ein. 1004 jüdische Kinder, Frauen, Männer. Gleichzeitig beginnt die massenhafte Deportation der ungarischen Juden. MUTTER / S  Kannst du nicht schlafen? D  Ist Vati schon da? MUTTER / S  Der hat angerufen. Kommt später. D  Gut. MUTTER / S  Komm. Mach mal bisschen Platz. N Stückchen noch.

D  Was macht man da? Wenn man bei der Staatssicherheit arbeitet? Ich schlafe. Meine Mutter neben mir. Auch sie hat die Augen geschlossen. Atmet tief. Nahe Berlin wird der Konstrukteur Heinz Reimers verhaftet. Er hatte sich am 17. Juni 1953 an den Protestmärschen nach Berlin beteiligt und wird nun der staatsfeindlichen Hetze verdächtig, weil er sich im Westberliner Auffanglager Marienfelde als politischer Flüchtling registrieren lassen wollte. Zwei Tage nach seiner Verhaftung kommt er ins zentrale Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen, wo er sich nach zwei Monaten das Leben nimmt. Das ist Vatis Arbeitsplatz. Ich zucke im Schlaf. Sie legt mir die Hand auf den Arm. Ich weiß nichts. Ich bin ein Kind.

sah wie mit Köpfen sie mit Füßen als wärs ein Leichtes durch die Wolken stießen an seinen Rändern fault der alte Kontinent der Vater streicht sich stumm die Butter lang auf seinem Brot der Fernseher läuft spuckt Bilder aus sie zucken lautlos übern Küchentisch der Sohn geht grußlos aus dem Haus

3. Teil

die Nassen Hungrigen die Durstigen Verschmutzten Erschöpften und Verdammten die zwischen allen Ländern hängen auf schmalen Linien hocken die die Karten teilen

weil uns das Maul das allzu voll uns wurde mit der Zeit nicht dichthält mehr weil uns der ungesagte Rest mit jeder Stille mehr und mehr zwischen die Zähne quillt das Weggelassene Verpasste schon am Kinn herunterläuft uns vor die Füße tropft das Unverdauliche

ist eine Frechheit doch bei Gott wo ich der keinem was zuleide tut in Ruhe nur was fressen wollt dass man mir diese Halben zeigt zur Frühstückszeit dass mir der Rest den an Geschmack ich hab dabei vergeht soll ich verhungern wegen denen soll ich jetzt draufgehn nur weils andre tun

wir murmeln vor uns hin die Schminke frisch das Licht Kostüme und der ganze unerhörte Quatsch

der aus dem Schlaf geschreckt wischt seinen Traum sich weg der pellt beruhigt sein Frühstücksei den küsst die Frau dem winkt das Kind der macht sich auf den Weg den grüßen die Kollegen der sitzt an seinem Platz in einer Bank gewährt Kredite oder nicht ist Mittag bald wie doch die Zeit vergeht ein kleines Hüngerchen ist schon zu spürn

ein letztes Luftholn nur kein Mundabwischen mehr die Stadt im Morgengrauen noch der Fluss zieht träge Wolken schmutzig dicht zerrissen hier und da am Ufer steht der Nebel stur über den Wiesen und aus dem Schlaf schreckt einer hoch der sah die Toten fliegen sah sie verpackt im schwarzen Plastiksack

Do 1.10.– Sa 3.10. fleischlin / meser What Is Human – ein Abend über und mit Familie

Sa 17.10.– Mo 19.10. Ariane Andereggen Age on Stage / Am Rande des Rollenfeldes

Di 6.10.– So 11.10. PANCH – Performance Art  Network Switzerland PARTOUT – Platform for International Performance Art

Di 20.10. Kadiatou Diallo mit Rohini Devasher & Legion Seven KIN-SHIP-ING – Künstlerische Praxis als Beziehungsspinnerei

die Straßen sauber taghell jetzt das Blut fließt anderswo und irgendwo ein Krieg der spuckt die Nächsten aus aus einem Land

Do 22.10. Lesung: Ted Gaier Argumentepanzer Sa 31.10. Konzert: Heizöfeli, Kush K, Manuel Troller (solo) u.a. Romantic Reloaded II

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mit deutschem Waffenarsenal denn Arbeitsplatz ist Arbeitsplatz die Banken baun auf sichere Papiere nur die Meere tragen Tote mehr und mehr an ihre Strände nie wieder setz ich einen Fuß in diesen Sand nie wieder Urlaub dort mit der Familie der Mann vom Reiseservice nickt verständnisvoll und sucht nach Zielen die noch unberührt sind von uns selbst in deutschen Wäldern äst das Reh die Lichtung lockt in goldnem Glanz es ist doch schön hier und man ist noch unter sich wir grüßen stumm und ziehen uns die Wandersocken an es war nicht alles schlecht im letzten Urlaub nein das Land die Leute nett das Essen ach man weiß ja nie was da der Koch so alles reingeknetet hat ich sage dir nachdem ich diesen Kerl den dunklen Bärtigen gesehen hab der hat dir doch in den Salat gewichst wohin mit all der Männlichkeit mit diesem Hass der uns so plötzlich überkam was soll ich wüten gegen eine Bank ich hab mein Konto doch bei ihr und meine Anlagen die mir wenn ich schon Falten hab am Arsch den selben retten solln die Mittagssonne blass die Wolken langgezogen längst der Sohn der grußlos ging spuckt einem ins Gesicht schlägt ein auf einen der noch steht zeigt einen anderen der rennt rennt einem Nächsten hinterher schmeißt einen Stein

und mehr brüllt rum vor einem Haus mit anderen der Hass zehrt die Gesichter auf im Haus die die wir Fremde nennen man hat sich lang nicht mehr so lange schon nicht mehr noch nie hat man wenn mans bedenkt sich so in dieser reinen Form noch nie so gut so sehr als Mann gefühlt wie jetzt wo die Gardinen Feuer fangen der Vater hasst die Mutter seiner Kinder die Frau die neben ihm geschlafen ihm ihren Atem faulig ins Gesicht geblasen hat des Nachts die jetzt im Bad steht und zum dritten Mal an diesem Tag das Älterwerden ihrer Haut beschminkt der Vater klopft das Fleisch das unter einer Folie vor ihm liegt er sieht im Küchenfenster sich streicht sich die Haare aus der Stirn was nehmen die auch ihre Kinder mit auf diese Boote die wissen doch dass das gefährlich ist die müssen sich nicht wundern ich hänge meine Fahne raus zum Trotz wer mir das nehmen will den hänge ich daneben der Sohn kommt auf Ideen das Haus brennt schnell und Rauch steigt auf das Klatschen Johlen der Flaneure das Deutschlandlied ach ist das schön wenn man zusammen bis zum Ende singt da merkt man noch dass aus demselben Holz demselben Fleisch man ist dass man das Blut teilt und verteilt wenn man das eigne schützen muss und singend zieht man durch die Stadt und hier und da weil man das Gute will weils kalt geworden hier im Land legt man ein Feuer wo es muss als Maßnahme wie man so sagt zur Gruppenbildung allgemein für das Gefühl ein Mann zu sein fürs Vaterland mit Singen nur ists nicht getan die Toten fliegen aus dem Haus vor dem der Sohn nach oben blickend

staunend steht verpackt sind sie wie sichs der Mann geträumt der Wind fährt sachte über ihre Plastikhaut sie treiben hoch der Wind nimmt mit was er sich greifen kann und Rauch steigt auf und Glas bricht überall hört man das Schreien Klatschen das Gejohle wer flieht wer sich ins Freie schleppt den wirft der Mob zurück ins Licht es ist so laut in dieser Stadt ist so ein Wühlen ständig und der Schmutz dass sich der Mensch darin verliert dass er entzweit mit der Natur dass er aufs Land sich sehnt sich sehend sieht den kleinen Wundern der Natürlichkeit schon gegenüberstehen und alle Toten fliegen hoch und hoch und höher kreisen sie wir krempeln uns die Ärmel hoch wir packens an was soll ich wüten gegen den Konzern der mir mein Müsli macht und meinen Quark was soll ich wüten gegen Geld das mehr wird durch sich selbst nur nicht bei mir mit Wetten auf den Untergang mit Wetten auf den Preis von Reis was soll ich wüten gegen einen der nur gegen die zu wüten scheint die mir am Arsch vorbeigehn seit ich wüten kann das bisschen Singen so gefährlich ist das nicht und von den Rändern zieht die Fäulnis längst zu uns am Himmel schwarze Punkte jetzt fast wie ein Vogelschwarm den es nach oben zieht dann tiefer auf uns zu nach oben wieder hoch durch ein paar Wolken gehts zurück hinab ganz knapp nur über unsre Köpfe ein Rascheln überall ein Pfeifen Zischen hat man denn so was schon gesehn und unsren Kindern halten wir beim Blick nach oben schnell die Augen zu


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die Fäulnis treibt sich einen Keil ins Innere am Himmel zieht die dunkle Plastikwolke schon aus allen Richtungen heran

verdreht in eine Richtung die wenn man es recht bedenkt nicht möglich scheint ist schon ein Ding so ein Gelenk

da braut sich was zusammen da kommt was auf uns zu

Verwesung nimmt was ihrs ist sich fällt ein in Zimmer Häuser Städte dem toten Fleisch entkriecht der neue Duft der Zeit

und alle Toten fliegen hoch und unsre Kinder sehn die Sonne nicht und unsre Stadt soll schöner werden ohne uns die Toten sinken aus dem Himmel jetzt man hört sie fallen hört wie sie die Luft zerschneiden mit ihren Beinen Armen Köpfen die aus den Tüten ragen der Angestellte aus der Bank schreckt hoch wie er schon in der Nacht erschrak oh diese elendige Müdigkeit er sitzt am Tisch der letzte Antrag abgelehnt muss eingeschlafen sein denkt er als etwas pfeift als etwas reißt der Aufprall dumpf von oben rieselt schon der Putz ein Riss der sich den Weg zur Deckenmitte sucht ein zweiter Aufprall schon liegt etwas auf dem Tisch ein halbes Bein schaut aus dem Sack

am Fenster stürzt etwas vorbei nach unten in den Innenhof die Totgeschlagenen Vertriebenen die Abgewiesenen Ertrunkenen die allzu oft Vergessenen und schweigend sitzen wir zusammen über all den Jahren die versickern ich hab den Überblick nur über meine Wohnung noch das heißt wenn meine Frau die keine Arbeit hat nicht wieder alles umstellt in der Zeit in der ich fleißig wie ich bin auf Schicht die Arbeit mach die noch zu machen ist bevor der ganze Laden ohne mich

und mein gesammeltes Knowhow zum nächsten Tag antritt ein Einschlag nach dem anderen auf Wiesen Wegen Dächern dieser Stadt auf Straßen Plätzen Motorhauben der Sohn hält sich die Hände schützend über seinen Kopf ganz so als könnte er mit seinen dünnen Ärmchen etwas bewirken ach diese Müdigkeit das Schlafen Wachen Schlafen und das Dazwischen immerzu der Halbschlaf halb den Tag hineingezogen in die dummen Träume ins Auto jetzt und eine Landpartie ist so ein schöner Nachmittag und diese Luft so frisch da draußen so ein Glück der Sonnenschein treibt uns das Dunkle aus dem Kopf und überall hört man das Singen solln sie verrecken wie sie wollen solln sie doch fallen stürzen sich

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erschlagen lassen der Moloch einer Ängstlichkeit an letzten Häusern geht vorbei die frohe Fahrt ins Grün wir wollen in die Wälder gehen und Käfer sammeln wenn die Sache es verlangt wenn man zum Äußersten uns zwingt hier gibt es sie die lang vermisste Männlichkeit ich fress den Käse den der Bauer seinen Ziegen hier noch eigenhändig aus dem Euter presst im Dorf sind wir im Goldnen Hirsch gibts Rindsroulade Rotkraut Bier hier kennt man sich man grüßt sich stumm wenn einer neu ist fällt es auf seht ihr die Monster unterm Bett seht ihr die Geister dort im Schrank und die Gespenster auf dem Tisch sagt mir dass ihr sie auch seht auch erkennen könnt dass ich allein nicht durch die Nacht mit denen muss und alle Toten schauen stumm auf uns herab und alle Toten lachen uns das Leben aus und den einen dort am Ortseingang der unverständlich weil in einer andren Sprache zu uns spricht den schicken wir zusammen mit der politisch intressierten Jugend hinauf zu seinen Brüdern Schwestern Tanten die umkamen bei irgendeinem Giftgasanschlag deutsches Fabrikat Wertarbeit versteht sich keiner der da übrig blieb nun ja dazu ist es am Ende ja gemacht

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mein Dorf ist doch mein Dorf ich will nur Sauberkeit vor Ort weil ich ein saubrer Mensch bin seit Geburt wenn ich den Schmutz such geh ich in die Stadt wenn nur diese vermaledeite Müdigkeit das ständige Erschlaffen der Gedanken nicht mehr wäre wenn ich nur dieses eine Mal mich aufrecht halten könnte nur ein Mal trennen könnte was zum Schlaf und was zum Tag gehört ich will dass der der seine Hände dort noch immer allzu unschuldig erhebt das Dorf verlässt was will der hier hab ich gefragt hinauf mit ihm zu seinesgleichen helft mit dem Baseballschläger ihm beim Fliegen das Blut das Schreien ja nicht angenehm das stimmt und dass das Hirn so schnell und derart unverfroren aus dem Loch im Kopf tritt nein wer hätte das gedacht dass der nach allem immer noch so vor uns hinzuröcheln weiß noch einen Schlag mit dieser Schaufel und noch einen Tritt zum Hinterkopf ist doch ein sturer Hund der kleine Bengel da zwölf Jahre alt vielleicht sind es nur zehn wer weiß das schon ist schwer das mittendrin noch abzuschätzen der liegt und röchelt noch am Löschteich auf der Wiese in seinem Blut und Hirn ist das zu fassen noch einmal ran ein jeder schlägt was er zur Hand die ganze Dorfgemeinschaft packt mit an denn Solidarität scheint mir die wird gelebt in diesem Dorf wenns um den Tod geht

nur einer steht mit seiner dummen Frau am Zaun und droht mit Polizei spricht von Gesetzen von Vernunft die Frau beim Anblick unsrer Taten erbricht sich auf das Tulpenbeet wenn du sag ich das Maul nicht hältst liegt deine Brut beim nächsten Mal daneben von oben fallen uns die Eingepackten auf den Kopp jetzt schnell die Sache muss erledigt sein am Tisch sitzt schweigend kauend rum der Vater der den Sohn beäugt der grad zur Tür hereingekommen ist und sich von seinen Händen wäscht das Blut von dem der längst die Wolken ziert am Himmel überm Feld was glotzt der so der Alte ich packe an wo anzupacken ist der hängt als wärs genug die Fahne raus der kratzt wenn es drauf ankommt sich am Arsch glotzt blöd und riecht am Finger die Toten schlagen schon die Stadt in Schutt der Staub legt sich auf die die durch die Straßen rennen der Tag zieht in den Schlaf in den Beginn der Dämmerung die sich wie eine dunkle graue Decke stumm über die Stadt zu schieben scheint wir wissen nichts von den Geschlagenen kein Stück von denen die von allem was wir sind längst aussortiert nichts von den Vielen die noch nie dazugehörten ist nur ein Traum ein blöder Witz ich schau aus meinem Fenster ist dunkel schon im Westen noch ein letzter roter Schein die Kinder schlafen längst


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es ist nur Arbeit nur ein Job

die Stadt liegt ruhig in ihren Straßen ganz hinten dort vorm Supermarkt geht einer still spazieren

kein Winter keine Toten mehr versprochen ist versprochen wir stehen noch ein kleines Stück beisammen vor dem Haus wir trinken Wein und schwatzen schwatzen schwatzen noch ein Weilchen vor uns hin bevor wir wie wir sind nach Hause gehn nach Haus

wenn meine Frau doch nur das Fressbrett einmal halten könnt wenn ich nicht alles hören müsst wenn einmal Ruhe wär ein kurzer Augenblick nur nichts wenn sie sich nachts bewegt im Schlaf und schmatzt und röchelt wie ein Schwein das leise vor sich hin verreckt wenn nur das stumme Liegen nicht das Blicken auf den Wecker das Schauen an die Decke nicht die Nacht mir würd zerteilen und Stück für Stück ein jedes groß genug nicht um darin zu leben

Ende.

Copyright © Thomas Freyer, 2020 Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2020

sind wir Barbaren denn weil wir uns kümmern um diejenigen die aussehn wie wir selbst sind wir Barbaren wir im Dorf ists ruhig geworden Nacht vor Bier und Schnaps sitzt man daheim der Tag war nicht der Rede wert wie all die letzten Jahre nichts und hinterm Fenster Dunkelheit war nur ein Traum jetzt sind wir wach und liegen rum in unsren umgepflügten Betten so lange schon kein Winter mehr jetzt treibt die Kälte schon die Dorfstraße entlang umschlingt die schlecht gedämmten Häuser und Schnee fällt sacht obwohl die Zeit dafür nicht ist und staunend kommt das Dorf ins Freie und staunend fangen sie in Schlafanzug in Schlüpfern die Flocken mit dem Mund ein heller Schein tief rot dort wo die Stadt im Tal noch liegt wie eine Kuppel

Thomas Freyer, geboren 1981 in Gera, studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Sein Stück „Amoklauf mein Kinderspiel“ gewann 2006 den Förderpreis des Theatertreffens. Die Hörspielfassung des Stücks wurde im selben Jahr mit dem Prix Europa ausgezeichnet. Ebenfalls 2006 erhielt Thomas Freyer den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, verliehen in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover. 2007 wurde er mit dem Förderpreis des Schiller-Gedächtnis-Preises des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet sowie 2017 mit dem Förderpreis des Lessingpreises des Freistaates Sachsen. Sein neuestes Stück „Stummes Land“ wurde am 25. September 2020 am Staatsschauspiel Dresden in der Regie von Tilmann Köhler uraufgeführt. Foto Matthias Horn

Quellen / Zitate zum 2. Teil 1958 / Weimar – „Durch Kämpfen und Sterben zum Sieg“ Deutschlandradio Kultur – „Der gesäuberte Antifaschismus“ Lutz Niethammer

und alle Toten brennen heiß und im Dorf bringt man die Kinder schnell ins Haus man singt dass man nicht reden muss man singt sich das was draußen ist aus den Gedanken ist nur der Schnee mein Kind

und morgen früh ist alles weg ist nur ein Spiel sind nur Gedanken wir stehen hier und reden bloß ins Dunkle rein ist bald vorbei das ganze Licht der Mist die Schminke und der Rest wir sind ganz unberührt von allem was wir sagten wir gehen ab wir spucken aus

1953 / Halle – „Die Kommandeuse“ Jens Ebert, Insa Eschenbach – „17. Juni 1953“ Bundeszentrale für politische Bildung, DeutschlandRadio, ZZF Potsdam – „17. Juni 1953“ Ilko-Sascha Kowalczuk 1975 / Erfurt – „Die braune Saat“ Harry Waibel – „Gebt sie uns heraus, wir wollen sie hängen“ Rainer Erices 1961 / Berlin – „NS-Verbrecher und Staatssicherheit“ Henry Leide

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Magazin Ambivalente Karrieren In Frankfurt am Main eröffnet das erste „Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“ von Joana Tischkau, Elisabeth Hampe, Frieder Blume und Anta Helena Recke  Leben und Liebe zwischen Küche und Fabrik Zum Tod des Dramatikers Karl Otto Mühl  Bücher Heiner Müller, Veronika Darian und Peer de Smit


magazin

/ TdZ  Oktober 2020  /

Ambivalente Karrieren In Frankfurt am Main eröffnet das erste „Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“ von Joana Tischkau, Elisabeth Hampe, Frieder Blume und Anta Helena Recke Elfriede Fiegert? Noch nie gehört. Hinter dem

natürlich auch vom jeweiligen Alter und

Motown kultivierten ein bestimmtes Image

deutschen Namen verbirgt sich ein schwarzer

Wissensstand ab.

wie auch der fragwürdige Begriff Black Mu-

Kinderstar, der 1952 mit dem Film „Toxi“ be-

Im DMSUBM werden sie nun im Zu-

sic es tut. Im Ausstellungstitel taucht er im

rühmt wurde. Fiegert war das, was man ein

sammenhang

Kulturge-

Bewusstsein seiner Fragwürdigkeit auf, wie

Besatzungskind nennt, der Vater GI, die Mut-

schichte aus- und vorgestellt: Poster, Plat-

überhaupt das Unhinterfragte und gerade

ter deutsche Ärztin. 1946 geboren, wurde ihr

tencover,

Autogramme,

darum Fragwürdige den dramaturgischen

1955 mit „Der dunkle Stern“ abermals eine

Zeitungsausschnitte und anderes mehr be-

Bogen der Schau spannt. Die Machenschaf-

Hauptrolle zugespielt. Auch später trat sie

zeugen deutsche Karrieren und darüber hin-

ten von Frank Farian und seiner Fake-Bands

noch hier und da in Erscheinung, bevor es

aus immer auch Spezifika des Blicks, den

Milli Vanilli und Boney M. haben sich he­

ruhig um sie wurde. Nun gehört Elfriede Fie-

Weiße auf Schwarze werfen. Insofern fügt

rumgesprochen, der deutsche Hintergrund

gert zu den insgesamt 250 Namen, die den

sich dieses Museum mit seinem vielfältigen

als Makel im internationalen Showgeschäft

Auftakt zur Ausstellung „Das Deutsche Muse-

Begleitprogramm gut ins bisherige Werk von

ist weniger präsent und verschärft sich bei

um für Schwarze Unterhaltung und Black

Recke und Tischkau, die etwa in der zum

schwarzen

Music“ (DMSUBM) bilden. Ein kleines Muse-

Theatertreffen 2020 geladenen Arbeit „Die

noch.

um im Frankfurter Museum Angewandte

Kränkungen der Menschheit“ das Zuschau-

Rund vierzig Minuten dauert der in

Kunst. Ausgedacht haben es sich die Theater-

en und Zurschaustellen im Kontext kolonia-

vielen Beziehungen augenöffnende Rund-

regisseurin Anta Helena Recke, die Performe-

ler Bildstrukturen zum Thema machen.

gang und führt auch vorbei an einem Mehr-

der

deutschen

Memorabilia,

Musikerinnen

und

Musikern

rin und Choreografin Joana Tischkau, der Mu-

Auch diesmal ist es vornehmlich die

siker Frieder Blume und die Dramaturgin

Reise im eigenen Kopf, die den Parcours

wäsche der Mädchenband No Angels und

Elisabeth Hampe. In Zusammenarbeit mit

ebenso bestimmt wie die etwas beliebig zu-

Bro’Sis-Postern an der Wand. Die Präsenz

dem Künstlerhaus Mousonturm und dem

sammengesammelten Exponate in diesem

der schwarzen Künstlerinnen und Künstler

HAU Hebbel am Ufer verwirklichen sie eine

Museum auf Zeit. Darunter etwa Berichte

im Unterhaltungssektor macht klar, wie un-

generationen-Teenagerzimmer

mit

Bett­

Mischung aus Archiv und temporärer Aus-

über die Moderatorin Arabella Kiesbauer,

terrepräsentiert sie in anderen Branchen

stellung. Hintergrund des Ganzen bilden

die zehn Jahre lang auf ProSieben talkte.

waren und sind. Roberto Blanco etwa ge­

Überlegungen zu einem schwarzen Kanon,

1995 wurde die Tochter einer Deutschen

hört seit Jahrzehnten so selbstverständlich

einer schwarzen Genealogie.

und eines Ghanaers Ziel eines Briefbomben-

zum deutschen Schlagergeschäft wie Tony

Die Liste mit den 250 Namen am Ein-

attentats. Kein Einzelfall, Morddrohungen

Marshall. Ein schwarzer Nachrichtenspre-

gang verewigt Persönlichkeiten der deut-

gegen schwarze Künstlerinnen und Künstler

cher oder Politiker indes wäre in den sech­

schen Unterhaltungsindustrie. Sie beginnt

ziehen sich als unheilvoller Faden durch

ziger Jahren in Deutschland weithin un­

um das Jahr 1920 herum und endet etwa im

diese Schau. Von Kiesbauer hängt auch ein

vorstellbar gewesen.

Jahr 2005. Viele bekannte Namen sind da­

Playboy-Cover an der Wand, darunter auch

Die Kunstwissenschaftlerin Mahret

runter: Barbara Becker, Charles Kaufmann,

eines mit der Naddel genannten Dieter-Boh-

Ifeoma Kupka spricht von einer bis heute

Arabella Kiesbauer und noch viel mehr we-

len-Ex Nadja Abd el Farrag sowie eines mit

unhinterfragten populärmedialen Repräsen-

niger bekannte: die Sängerin und Percussio-

Ricky von der Girlgroup Tic Tac Toe. Parade-

tation schwarzer Deutscher im Kontext von

nistin Sheryl Hackett, der Musiker Trevor

beispiele für den Dreiklang aus Exotismus,

Musik, Unterhaltung und Sport. Überlegun-

Taylor, die Schauspielerin Leila Negra, die

Sexismus und Rassismus? Was daraus folgt,

gen wie diese bilden den Subtext der Schau.

aus Chemnitz stammende Popsängerin Tina

reimen sich die Besucher selbst zusammen

Was die Porträtierten eint, sind ihre ambiva-

Daute und, und, und. Wer wen kennt, hängt

oder erfragen es. Da es keine Informations-

lenten Karrieren. Dabei erzählen die gesam-

tafeln gibt, ist man auf Erklärung angewie-

melten Erinnerungsstücke in diesem Muse-

sen. Joana Tischkau, die ohne Punkt und

um, das eher einer Installation gleicht,

Komma reden kann, ist heute die Museums-

ebenso viel über die Vergangenheit wie über

führerin. Zu den drei Playboy-Covern sagt

die Gegenwart. Denn wo gäbe es heute noch

sie an diesem Nachmittag nichts, dafür viel

Boney-M.-Pizza mit vier schwarzen Oliven?

über die Vermarktungsstrategien deutscher

Kurz: Dieses Museum zeigt, was sich getan

Produzenten und die fiktive Internationali-

hat. Und: was nicht.//

Viele bekannte – aber noch viel mehr weniger bekannte Namen vereint das „Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music“ von Joana Tischkau, Elisabeth Hampe, Frieder Blume und Anta Helena Recke. Foto Justus Gelberg

sierung manch einer Band. Musiklabels wie

Shirin Sojitrawalla

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Leben und Liebe zwischen Küche und Fabrik Zum Tod des Dramatikers Karl Otto Mühl

Es war seinerzeit, 1973, eine kleine Sensati-

montag“ und „Kur in Bad Wiessee“. Sie wur-

on. Der fünfzigjährige Wuppertaler Export-

den aufgeführt und auch als Hörspiele

kaufmann Karl Otto Mühl, bislang kaum als

gesendet, wenngleich sich der Erfolg der

Autor in Erscheinung getreten, schrieb ein

„Rheinpromenade“ mit ihrem speziellen Plot

Stück, das so präzise wie einfühlsam die

und ihrem eigenen spröden Humor nicht wie-

höchst ungewöhnliche Romanze zwischen ei-

derholen ließ.

Autor des Arbeitermilieus – Karl Otto Mühl (1923 – 2020) blieb seinem Beruf in einer Wuppertaler Metallwarenfabrik stets treu und zog daraus seine Stoffe. Foto privat / NordPark Verlag

nem verwitweten Rentner und einer fünfzig

Der 1923 geborene Mühl war im Krieg

Jahre jüngeren Küchenhilfe erzählt: eine zar-

und hatte in amerikanischer Gefangenschaft

im Schauspiel Köln nach langer Pause wie-

te Liebschaft, die von den Angehörigen des

Tankred Dorst kennengelernt, den ebenfalls

deraufgeführt; der inzwischen neunzigjährige

alten Mannes beargwöhnt, kaum geduldet

eine Episode mit der Industriestadt an der

Autor wohnte der Premiere bei. Er erlebte

und letztlich sabotiert wird. „Rheinpromena-

Wupper verband. Beide stießen nach 1945 zu

eine Zeitreise in die schier verblichenen Sieb-

de“ wurde von den Wuppertaler Bühnen zur

der von Paul Pörtner gegründeten Künstler-

ziger mit ihren dominierenden Farben Oran-

Uraufführung angenommen, vom Intendan-

gruppe Der Turm. Gleichwohl begann Mühls

ge, Grün, Braun, zugleich aber, in der Regie

ten Arno Wüstenhöfer höchstselbst milieurea-

eigentliche Karriere erst in den frühen Siebzi-

von Nora Bussenius, eine Art Generalüber­

listisch inszeniert und, nach einer vielbeach-

gern, in einer Epoche, da das Schauspiel der

holung des überraschend strapazierfähigen

teten Premiere, zum Stück der Saison;

Wuppertaler Bühnen eine einzigartige Blüte

Textes. 1973 hatten Heinz Voss und Vita

insgesamt kam es auf sechzig Inszenierun-

erlebte. An diesem Haus wurden damals auch

­Kowala das altersdifferente Paar so treuherzig

gen. Ein solch durchschlagender Erfolg war

die geistesverwandten Werke von Marieluise

wie authentisch quasi mit den Mitteln des

selbst dem seinerzeitigen Branchenführer des

Fleißer wiederentdeckt; der Chefdramaturg

Actors Studios gespielt; vierzig Jahre später

„Kitchen Sink Realism“, Franz Xaver Kroetz,

Horst Laube schrieb selbst ebenfalls Stücke.

gingen, in einem surrealen Setting, Martin

nicht oft beschieden.

1975 veröffentlichte Mühl seinen Roman

Reinke und Marina Frenk distanzierter, aber

„Siebenschläfer“, in dem er die unmittelbare

auch moderner mit den subtil emanzipativen

Nachkriegszeit in Wuppertal schilderte.

Tendenzen des Sujets um: Der nach natura-

Karl Otto Mühl, der fast alle Beteiligten an der damaligen Sternstunde überlebt hat, blieb seinem sogenannten bürgerlichen Beruf

Bis ins höchste Alter blieb Karl Otto

listischen Maßstäben zu jung besetzte Reinke

in einer Wuppertaler Metallwarenfabrik treu,

Mühl aktiv, erschien regelmäßig zu Treffen

öffnete die nun keineswegs senile Figur des

definierte das Schreiben also gewissermaßen

der Wuppertaler Autorengruppe und meldete

Fritz Kumetat im Hinblick auf Virilität und

als Zweitberuf. Nach einigen Veröffentlichun-

sich zu Wort. Er war ein aufmerksamer, herz-

Sexualität. Die neidischen, das Postsparbuch

gen Ende der vierziger Jahre hatte er die

licher Mensch und ein ausgezeichneter Zuhö-

des Alten hütenden Familienangehörigen,

Schriftstellerei beinahe schon aufgegeben;

rer. Er gründete eine Schreibwerkstatt für Ju-

Tochter und Schwiegersohn, verkümmerten

umso besser hatte er das Arbeiter- und Ange-

gendliche und initiierte die „Lesefreuden“,

währenddessen hinter Plexiglas – in Giftgrün.

stelltenmilieu kennengelernt, in dem seine

unter deren Schirm Hunderte von Lesungen

Stücke spielten. Einige von ihnen erschienen,

in Seniorenheimen stattfanden.

wie die Heiner Müllers, im West-Berliner Rot-

2013, im letzten Jahr der Intendanz

buchverlag. Es folgten unter anderen „Rosen-

Karin Beiers, wurde die „Rheinpromenade“

Karl Otto Mühl starb am 21. August 2020 in Wuppertal. Er wurde 97 Jahre alt. // Martin Krumbholz


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PREMIEREN 2020|21 03. Nov. – 08. Nov. 2020

ZWISCHEN PITTI UND STERN MEISSEN Kindheit in Sachsen |Collage von Esther Undisz – Uraufführung Premiere: 3.10.2020, Theater Radebeul – Studiobühne

»Alles nicht wahr«

INSELZAUBER – Opernabend | Doppelabend: DIE INSEL TULIPATAN von Jacques Offenbach & TROUBLE IN TAHITI von Leonard Bernstein Premiere: 17.10.2020, Theater Radebeul

(»It simply ain’t so«) Theater und Tanz aus dem alten und neuen Europa

KISS ME, KATE

Unter der Schirmherrschaft von Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig

Musicbanda Franui & Nikolaus Habjan , Wien »Alles nicht wahr« / Georg Kreisler Deutschlandpremiere (Festivaleröffnung) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 03. Nov.

Musikalische Komödie von Cole Porter Premiere: 31.10.2020, Theater Radebeul

DIE SCHNEEKÖNIGIN

Tanztheater nach dem Märchen von H. C. Andersen – Uraufführung – Premiere: 15.11.2020, Theater Meißen

Schauspielhaus Graz »The hills are alive« (»Die Berge leben«) Neville Tranter & Nikolaus Habjan / Deutschlandpremiere _ _ _ 04. Nov.

HÄNSEL UND GRETEL – Kammerorchesterfassung-Erstaufführung –

Paolo Nani , Vordingborg »Brevet« (»Der Brief«) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 04. / 05. Nov.

RIGOLETTO – Kammerorchesterfassung von Joe Hickman

Nils Freyer, Berlin Vogelsang meets Hoyer \ »Fünf Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier von J. S. Bach« \ »Affectos humanos« _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 04. / 05. Nov.

ZUHAUSE BIN ICH DARLING

Oper von Engelbert Humperdinck Premiere: 28.11.2020, Theater Radebeul Oper von Giuseppe Verdi Premiere: 16.1.2021, Theater Radebeul

Komödie von Laura Wade Premiere: 28.1.2021, Theater Radebeul – Studiobühne

Compagnie Alias , Genf »Sideways rain« (»Regen seitwärts«) / Guilherme Botelho _ _ _ 05. Nov. Schubert Theater, Wien »F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig« Nikolaus Habjan & Simon Meusburger _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 06. / 07. Nov. Pierre Rigal / Compagnie dernière minute , Toulouse »Press« (»Druck«) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 06. / 07. Nov. Tanz aus Budapest \ Góbi Dance Company »Ne hisztizz!« (»Mach Dir keine Sorgen!«) Rita Góbi / Deutschlandpremiere \ Ferenc Fehér »Imago« _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 06. / 07. Nov.

DER ZERBROCHNE KRUG

Lustspiel von Heinrich von Kleist Premiere: 30.1.2021, Theater Radebeul

SCHUMANN – ZWISCHEN SKANDAL UND KLISCHEE Tanztheater von Wagner Moreira – Uraufführung Premiere: 13.3.2021, Theater Radebeul – Studiobühne

PARADE

Musical von Jason Robert Brown | Text von Alfred Uhry – Deutschsprachige Erstaufführung – Premiere: 27.3.2021, Theater Radebeul

BUS 57 – EINE WAHRE GESCHICHTE

nach dem gleichnamigen Roman von Dashka Slater – Uraufführung – Premiere: 31.3.2021, Theater Radebeul – Studiobühne

Compagnie Philippe Saire , Lausanne »Hocus Pocus« (Für Kinder ab 7 Jahre) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 07. / 08. Nov.

EIN BLICK VON DER BRÜCKE Schauspiel in zwei Akten von Arthur Miller Premiere: 10.4.2021, Theater Radebeul

Schubert Theater, Wien »Was geschah mit Baby Jane?« Nikolaus Habjan / mit Manuela Linshalm _ _ _ _ _ _ _ _ _ 07. / 08. Nov. Compagnie Berlin , Antwerpen »True copy« (»Echte Kopie«) Bart Baele & Yves Degryse _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 07. / 08. Nov. Compagnie Maguy Marin , Lyon »May B« (Festivalabschluss) _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 08. Nov. www.euro-scene.de

RICHARD O’BRIEN‘S THE ROCKY HORROR SHOW

Musical Play von Richard O‘Brien Premiere: 4.6.2021, Alter Schlachthof Dresden

DIFFERENCE? WHAT DIFFERENCE DOES IT MAKE. Tanztheater-Kooperation mit dem Festspielhaus Hellerau Premiere: 2.7.2021, Festspielhaus Hellerau

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magazin

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Aufzeichnung der amerikanischen Matrix – Heiner Müller an der Schreibmaschine (Los Angeles 1994). Foto Brigitte Maria Mayer

dreihundert Seiten extrahiert, alphabetisch geordnet von „Amerikaerfahrung“ bis „Zombie“ und „Zweiter Weltkrieg“. Die Einträge sind verschiedenen Textsorten entnommen. Vieles stammt aus den zahlreichen Interviews, in denen oft mit aphoristischer Schärfe geurteilt wurde: „Die USA sind das reichste Armenhaus in der Welt.“ Daneben gibt es Bruchstücke aus dem dramatischen Werk („Heil COCA COLA“) und zum Stichwort „Gangster“ das komplette Hörspiel „Der Tod ist kein Geschäft“ aus dem Jahr 1961 – das in der Tradition Karl Mays und zugleich Brechts ein vollkommen klischeehaftes Fan-

„Heil COCA COLA“

ein Feld, das ebenfalls lange viel zu wenig

tasie-Amerika vorstellt. Der umfangreichste

Beachtung fand, als Germanistik und Thea-

Eintrag gilt, wenig überraschend, Robert

1975 ging Heiner Müller zusammen mit sei-

terwissenschaft

der

Wilson. Da längere Einträge sich aus ver­

ner Frau, der bulgarischen Regisseurin Ginka

Brecht-Spur steckten. Aber Müller war als

schiedenen Quellen speisen, die zeitlich auch

Tscholakowa, als Gastdozent ans Department

Autor ein genialer Komparatist, der sich aus

weit auseinanderliegen können, wird eine ge-

of Germanic Studies der University of Texas

jeder Literatur das An- und Aufregendste

dankliche Entwicklung ablesbar. Gerade im

in Austin, einer der größten amerikanischen

holte. Im Fall der amerikanischen Literatur

Fall von Wilson ist das sehr erhellend, von der

Universitäten. Empfohlen hatte ihn Günter

war die Beute besonders groß, mit Edgar

Bewunderung als Partner aus völlig anderen

Kunert, der dort drei Jahre zuvor als erster

­Allen Poe, William Faulkner, T. S. Eliot und

kulturellen Kontexten hin zu einer allmählich

Autor aus der DDR eingeladen war und über

vor allem Ezra Pound als stete Bezugs­

kritischen Distanzierung. Das ist ohne Zweifel

diesen Aufenthalt einen heute noch sehr inte-

größen und Zitatenlieferanten. In Letzterem

der Mehrwert dieser akribischen Zusammen-

ressanten Report schrieb, „Der andere Pla-

spiegelte er sich in seiner autobiografischen

stellung auch für diejenigen, die heutzutage

net“. War für Kunert dieser Amerika-Besuch

Dichtung „Mommsens Block“ 1993: „der

von Müllers komplexen Amerika-Bildern nicht

ein einschneidendes Ereignis, so muss für

andere Vergil / Der auf den falschen Cäsar

mehr überrascht werden können, aber darin

Müller das Erlebnis seiner ersten USA-Reise

gesetzt hat.“

dennoch neue Zusammenhänge entdecken.

hauptsächlich

in

in mehrfacher Hinsicht sogar als Wendepunkt

Der Dramaturg und Publizist Frank

Der Leviathan, dieses ungestalte Allmachts-

gelten. Seine danach entstandenen oder voll-

Raddatz, häufiger Gesprächspartner („der

monster, war in seinen amerikanischen Aus-

endeten Stücke, insbesondere „Leben Gund-

Mann, der meine Interviews erfindet“, stellte

formungen für Müller ein besonders wertvol-

lings“, „Die Hamletmaschine“ und „Der Auf-

Müller ihn einmal vor), besuchte den Dichter

les Material, auch wenn er bis zum Schluss

trag“, nahmen amerikanische Themen und

bei seinem letzten Amerika-Aufenthalt in der

gegen Fast Food und Hollywood wetterte.

Stoffe auf, ihre Dramaturgie wurde mit der

Villa Aurora in Kalifornien, bei dem – auch

Wichtig blieb die Erkenntnis von den ersten

Collagetechnik experimenteller, und Müllers

mit Blick auf Pound – noch einmal bedeuten-

Eindrücken eines „Kapitalismus mit Rän-

bis dahin durch die Katastrophe des Zweiten

de Gedichte entstanden. Selbst ihm, das

dern“ in „Landschaften, die nicht domesti-

Weltkriegs und der Tragödie des Kommunis-

räumte Raddatz bei der Vorstellung des

zierbar sind“.

mus geprägte Weltsicht erweiterte sich zu

­Buches in Berlin ein, sei lange nicht klar ge­

Buchgestalterisch wartet der Band mit

Landschaften und ungeheuren Räumen. Bald

wesen, wie wichtig der gesamte Amerika-

einer schönen Idee auf. Jedes Buchstaben­

folgten weitere Reisen, und die Auseinander-

Komplex für Müller war. Nun hat er aus der

kapitel wird mit einem Bild eingeleitet, im

setzung mit Amerika wurde zu einer gegensei-

Gesamtausgabe ein ganzes Lexikon von über

ersten Teil Fotos von Ginka Tscholakowa von

tigen Beziehung, denn die Stücke wurden

der ersten Amerika-Reise, danach Bilder von

übersetzt, in Zeitschriften und Buchausgaben

Brigitte Maria Mayer vom Kalifornien-Aufent-

gedruckt und vor allem an Universitätstheatern gespielt. Höchstens noch in Frankreich erfuhr Müllers Werk – bis heute – eine solch produktive Rezeption außerhalb des deutschen Sprachraums. Zu Müllers Amerika gehört auch eine intensive Beschäftigung mit dessen Literatur,

Heiner Müller: Der amerika­nische Leviathan. Ein Lexikon. Hg. von Frank Raddatz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 341 S., 18 EUR.

halt 1994. Unter XYZ findet sich Müllers Schreibmaschine auf einem Tisch in der Villa Aurora – als beinahe unscheinbares Instrument zur Aufzeichnung der amerikanischen Matrix, die in diesem wunderbaren Reader wiedergegeben ist. // Thomas Irmer


bücher

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Erfahrungen des Gestischen

ungarischen Nationalsymbol überhöhten AkaGestische Forschung: Praktiken und Perspektiven. Hg. von Veronika Darian und Peer de Smit, Neofelis Verlag, Berlin 2020, 348, S. 28 EUR.

Im Gegensatz zur Geste fokussiert Gestisches einen Prozess, eine Gestimmtheit und Haltung, die sich einer Auflösung in Zeichen widersetzt. Es ist die Perspektive, der sich die Beiträge im Band „Gestische Forschung.

zie an und erzählen ihre Geschichte als ursprünglich nach Ungarn eingewanderter ­ Baum – Synonym für eine plurale Gesellschaft. Künstlerische Positionen gestischer Forschung werden in den Beiträgen Michael Wehrens, Mitglied der Performancegruppe friendly fire, Rée und Peer de Smits, die über

Praktiken und Perspektiven“, der im Juli im Neofelis Verlag erschienen ist, theoretisch

postkolonialistischen Theoretikerin Gayatri

ihr Projekt „festhalten. berühr mich nicht“ in

und künstlerisch annähern. Jeder Text in der

Spivak, die eine Möglichkeit des Sprechens

einer psychiatrischen Klinik reflektieren, und

von den Theaterwissenschaftlern Veronika

mit Subalternen und ihren Positionen be-

in einem G ­ espräch zwischen Ulrike Haß und

Darian und Peer de Smit herausgegebenen

schreibt, nimmt Darian als Ausgangspunkt,

Sven Lindholm verhandelt. Letztere bestim-

Sammlung vollzieht eine eigene philosophi-

Wissenschaft als Praxis gestisch zu befragen.

men das Hervorrufen von Stimmungen zwi-

sche, am Material analysierende oder theater-

Am Beispiel des Vortrags von Wissenschaft-

schen den Teilnehmern einer theatralen Ver-

praktische Suchbewegung, die sich selbst auf

lern und Wissenschaftlerinnen untersucht sie

suchsanordnung als Geste der szenischen

Gestisches im Schreiben und Arbeiten be-

deren Körperlichkeit und Haltung.

Forschung. Jessica

Der transdisziplinäre Band versammelt

gen zur Geste im epischen Theater untertei-

Hölzl, Micha Braun, Eiichirô Hirata und Maren

des Weiteren Beiträge zum Gestischen in der

len

fragt. Im Sinne Walter Benjamins Überlegun-

Die

Theaterwissenschaftler

und

Witte analysieren gestisches Agieren in der

Sprache, dem Schreiben und der Notation,

Choreografin Rée de Smit die Abhandlungen

theatralen Praxis am Beispiel des Theaters der

Einblicke in das gestische Rezipieren von

und unterbrechen den Lesefluss.

Dinge, des japanischen Körpertheaters und

­Architektur und die spezifischen Gesten der

Zu Beginn widmet sich das Handbuch

der Arbeiten des Performers Martin Clausen.

Mode. Die versammelten Texte teilen ihre

zur gestischen Forschung der philosophi-

Braun zeigt anhand der Produktion „Magyar

­methodische Unabgeschlossenheit und offe-

schen Untersuchung des Begriffs. In einem

akác“ der Theaterregisseure Kristóf Kelemen

ne Suchbewegung. In diesem Band, der sich

bis in die Antike zurückreichenden Abriss be-

und Bence György Pálinkás, wie im „gesti-

von der geläufigen semantischen Lesart der

stimmt der Philosoph Fabian Goppelsröder

schen ‚Hantieren mit der Geschichte‘“ rechts­

Geste abgrenzt, ist Gestisches nicht nur

die Geste als Denkfigur der Irritation. Die

populistische Narrative verändert werden kön-

Gegenstand, sondern auch Modus der For­

Geste des „deconstructive embrace“ der

nen. Die Künstler nehmen sich der zum

schung. //

die

Malereien

der

Tänzerin

Lara Wenzel

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aktuell

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Meldungen

/ TdZ Oktober 2020  /

Vernetzung der lokalen freien Szene zeit­

2019 zwei Produktionen unter der Intendanz

genössischer Tanz- und Performancekunst.

Klement unter die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison gewählt.

■ Frank Baumann wird neuer Geschäftsfüh­rer Andrea Moses. Foto Bernd Uhlig

in

Krefeld

und

Mönchengladbach.

■ Nach dreißig Jahren Tätigkeit im Berliner

Der

57-jährige Diplom-Kaufmann leitete zuvor 21

Kostümhaus Theaterkunst wechselt die Ge-

Jahre lang das Finanz- und Rechnungswesen

schäftsführerin Susanne Franke in den Beirat.

an der Deutschen Oper am Rhein, bevor er an

Ab dem 1. Januar 2021 übergibt sie ihr Amt

das Theater Krefeld und Mönchengladbach

an Andrea Peters, die seit über dreißig Jahren

am Niederrhein wechselte, wo er nun die

in der Medienbranche beruflich vernetzt

Nachfolge von Michael Magyar antritt. Neben

ist. Als alleinige Geschäftsführerin richtete

einem Schwerpunkt auf dem kaufmänni-

­Susanne Frank das Unternehmen auf dem in-

schen Part möchte der neue Geschäftsführer

ternationalen Markt aus; sie eröffnete neben

auch einen Schwerpunkt auf Marketingaspek-

Berlin weitere Standorte in Budapest, Köln

te legen und das Controlling optimieren.

und Warschau und baute kontinuierlich das digitale Angebot in Form des sogenannten

■ Jossi Wieler erhält in diesem Jahr den

„Theaterkunst-Showrooms“ aus. Das Berliner

■ Andrea Moses übernimmt zum Beginn der

Schweizer Grand Prix Theater / Hans-Reinhart-

Kostümhaus Theaterkunst gehört zu den füh-

Spielzeit 2021/22 die Operndirektion des

Ring. Der 1951 in Kreuzlingen/Ostschweiz

renden Kostümhäusern Deutschlands.

Deutschen Nationaltheaters und der Staats-

geborene Theater- und Opernregisseur zählt

kapelle Weimar. Sie folgt Hans-Georg Wegner,

zu den „Erneuerern des Musiktheaters“

■ Der Schauspieler und ehemalige Intendant

der als Generalintendant ans Mecklenburgi-

(NZZ). Von 2011 bis 2018 war er Intendant

des Deutschen Theaters in Berlin Dieter Mann

sche Staatstheater Schwerin wechselt. Moses

an der Staatsoper Stuttgart, wo er zusammen

wurde im Alter von 79 Jahren für sein Le-

beabsichtigt, zusammen mit dem Dramatur-

mit Sergio Morabito über 25 Produktionen

benswerk ausgezeichnet. Bei der Verleihung

gen und Regisseur Michael Höppner, experi-

realisierte. Seit 1957 wird der Hans-Rein-

des Deutschen Schauspielpreises wurde er

mentelle Musiktheaterformate für die Stadt

hart-Ring von der Schweizerischen Gesell-

im September mit dem Ehrenpreis des Bun-

zu entwickeln.

schaft für Theaterkultur verliehen und gilt als

desverbands Schauspiel geehrt. „Seine Liebe

wichtigster Schweizer Theaterpreis. 2014

zur Genauigkeit und zum Denken macht ihn

■ Der designierte Generalintendant des

wurde er in den neu geschaffenen, mit

zum Publikumsliebling“, begründet der Ver-

Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin,

100 000 Franken dotierten Schweizer Grand

band seine Entscheidung. „Er spielt sensibel,

Hans-Georg Wegner, hat sein neues künstleri-

Prix Theater / Hans-Reinhart-Ring umgewan-

ernst, präzise, unaufgeregt und analytisch –

sches Leitungsteam ab der Spielzeit 2021/22

delt.

im Theater genauso wie im Film, Fernsehen

vorgestellt. Nina Steinhilber wird neue Schau-

oder Hörfunk.“ Joachim Klement. Foto Sebastian Hoppe

spieldirektorin, Martin G. Berger übernimmt die Künstlerische Leitung des Musiktheaters, und Xenia Wiest wird neue Ballettdirektorin. Zusammen mit den bisherigen Direktoren Mark Rohde (Generalmusikdirektor), Rolf Petersen (Direktor Fritz-Reuter-Bühne) und ­ Thomas Ott-Albrecht (Intendant des Jungen Staatstheaters Parchim) werden sie das neue künstlerische Leitungsteam bilden.

■ Matthias Pees wird bis 2024 Intendant am

■ Die Jury für die Autorentheatertage 2021 am Deutschen Theater Berlin ist nominiert. Die Schauspielerin Fritzi Haberlandt, der Musiker und Theatermacher Schorsch Kamerun und der Dramatiker und Büchner-Preisträger L­ ukas Bärfuss, der gleichzeitig auch den Juryvorsitz übernimmt, werden den Stücke­wettbewerb im nächsten Jahr begleiten. Aufgabe der Jury ist es, aus den eingesendeten Stücken drei Texte auszuwählen, die am 12. Juni 2021 während

Künstlerhaus Mousonturm bleiben. Der Frank­

der Langen Nacht der Autor*innen im Deut-

furter Magistrat hat den bestehenden Vertrag

schen Theater uraufgeführt werden.

mit dem Intendanten und Geschäftsführer

■ In die erste Corona-Liste bedrohter Kultur-

verlängert und damit auf einen Vorschlag von Kulturdezernentin Ina Hartwig­­reagiert. Seit

■ Die Intendanz von Joachim Klement am

einrichtungen wurden vier Institutionen aus

seinem Amtszeitbeginn 2013 hat Matthias

Staatsschauspiel Dresden wurde für fünf wei-

den drei Bundesländern Nordrhein-West­

Pees im Bereich Theater, Tanz und Perfor-

tere Jahre verlängert. Klement ist seit 2017

falen, Berlin und Baden-Württemberg auf­

mance neue inhaltliche Schwerpunkte und

Intendant in Dresden. Zuvor war er seit der

genommen. Es handelt sich dabei um die

Kooperationen umgesetzt. Zudem holte er die

Spielzeit

am

Kammeroper Köln, den Musikclub Gretchen

Inszenierungen und Projekte von internatio-

Staatstheater Braunschweig. Mit „Das große

in Berlin, das Theater Lindenhof in Melchin-

nalen Theaterschaffenden nach Frankfurt

Heft“ und „Erniedrigte und Beleidigte“ wur-

gen und das MACHmit!-Museum für Kinder

und stärkte die Sichtbarkeit und überregionale

den beim Berliner Theatertreffen im Jahr

in Berlin. Die Corona-Liste bedrohter Kultur-

2010/11

Generalintendant


aktuell

/ TdZ  Oktober 2020  /

einrichtungen erscheint seit September 2020

■ Die bayerische Staatsministerin Carolina

von Bremen. 1982 begann er ein Studium an

in der Zeitung des Deutschen Kulturrates

Trautner überreichte am 11. September das

der Hochschule für Musik und Theater in

­Politik & Kultur. Sie stellt eine Weiterent-

Signet „Bayern barrierefrei“ an das Landes-

Hannover, spielte nach seinem Abschluss zu-

wicklung der bekannten Roten Liste bedroh-

theater Schwaben. Das Signet wird für konkre-

nächst am Berliner Tacheles, später eine Zeit

ter Kultureinrichtungen dar, die zum Ziel hat,

te, beachtliche Beiträge zur Barrierefreiheit

lang an der Volksbühne unter Frank Castorf.

auf den Wert einzelner Kultureinrichtungen

in Bayern vergeben und setzt ein Zeichen der

Seine erste Filmrolle erhielt Ünel 1987 in

und Initiativen hinzuweisen.

Anerkennung für Inklusionsarbeit. Die Verlei-

„Der Passagier“ in der Regie von Thomas

hung fand im Rahmen der Spielzeiteröffnung

Brasch. 2004 wurde er mit dem Deutschen

■ Laut einem Bericht der Stuttgarter Zeitung

des Landestheaters Schwaben auf dem Thea-

Filmpreis als bester Hauptdarsteller für seine

wird ein Mitarbeiter am Badischen Staats­

terplatz in Memmingen statt. Das Theater ver-

Rolle in Fatih Akins international bekanntem

theater Karlsruhe wegen des Vorwurfs des se-

fügt über den „Comfort [Komm vor] Einlass“,

Film „Gegen die Wand“ ausgezeichnet.

xuellen Missbrauchs angeklagt. Es geht dabei

der Menschen mit körperlichen oder sensori-

um die angebliche Verbreitung pornografi-

schen Einschränkungen, mit sichtbaren und

Erratum: Im Septemberheft wurde in dem

scher Bilder. Das Verfahren ist über eine Be-

nicht-sichtbaren Behinderungen vor den Vor-

Nachruf auf Eric Bentley leider ein unvoll-

schuldigung durch einen Instagram-Nutzer*in

stellungen einen früheren Zugang ermöglicht,

ständiger Fotoverweis angegeben: Das Foto,

in Gang gesetzt worden. Wegen des Verdachts

sowie über „Touch Tours“ für blinde, sehbe-

das Eric Bentley mit Bertolt Brecht zeigt,

der versuchten Nötigung wird auch gegen

hinderte und seheingeschränkte Menschen.

stammt aus dem Brecht-Fotoarchiv der Aka-

den/die Verfasser*in der Instagram-Einträge

Außerdem ist das Gebäude barrierefrei und

demie der Künste, Bestand 08/211, und ist

ermittelt. Das Badische Staatstheater be­

besitzt eine induktive Höranlage.

von Ruth Berlau / Hoffmann. Wir bitten den

findet sich derzeit zudem in einer öffentlich

Fehler zu entschuldigen.

gewordenen Leitungskrise. Ein großer Teil der

■ Der Schauspieler Birol Ünel ist am 4. Sep-

Belegschaft hatte Generalintendant Peter

tember 2020 im Alter von 59 Jahren in Berlin

Spuhler im Juli sein Misstrauen ausgespro-

gestorben. Ünel wurde am 18. August 1961

chen. Verwaltungsrat und Intendanz einigten

in Silifke in der Türkei geboren. Im Alter von

sich daraufhin auf ein Maßnahmenpaket, um

sieben Jahren zog er mit seinen Eltern und

das Klima am Haus zu verbessern.

Geschwistern nach Deutschland in die Nähe

ta_2010_tdz

27.08.2020

16:55 Uhr

TdZ ONLINE EXTRA Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

www

Seite 1

DER SPIELZEITSTART DIE IRRE VON CHAILLOT KOMÖDIE VON JEAN GIRAUDOUX SA 10.10.2020 // BÜHNE

URAUFFÜHRUNG

URAUFFÜHRUNG

EINE SZENISCH-MUSIKALISCHE REVUE-COLLAGE IM GEISTE DER AUFKLÄRUNG FR 09.10.2020 // KAMMER

EIN THEATER-PLANSPIEL IN KOOPERATION MIT DEM BRACHLAND-ENSEMBLE FR 23.10.2020 // DEPOT

UNNÜTZES LOKAL WISSEN EUROPA

DOPPELABEND

DAS ENDE VON EDDY

NACH DEM ROMAN VON EDOUARD LOUIS // VON UND MIT TOMMY WIESNER

URAUFFÜHRUNG

CYBORG 2020 WHERE IS MY MIND VON UND MIT MELINA PYSCHNY

MI 18.11.2020 // VORBÜHNE // AB WINTER IM MÖRGENS

THEATER AACHEN (0241) 4784-244 WWW.THEATERAACHEN.DE

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aktuell

/ TdZ Oktober 2020  /

Premieren Aachen Theater M. C. Lachmann/D. Wilmington/K. Krumbein: Unnützes Wissen – Eine szenisch-musikalische Revue-Collage im Geiste der Aufklärung (M. C. Lachmann, 09.10., UA); J. Giraudoux: Die Irre von Chaillot (E. Teilmans, 10.10.); D. Breuer/I. Zeppenfeld: Lokal Europa: Ein Planspiel über globale Systeme, lokale Nachbarschaft und afrikanische Hühner (D. Breuer, 23.10., UA) Annaberg-Buchholz Eduard-von-­­Win­ terstein-Theater T. Pigor: Cinderella (A. Ingenhaag, 04.10.); n. F. u. P. v. Schönthan/C. Goetz: Raub der Sabinerinnen (U. A. Schleiff, 18.10.) Baden-Baden Theater R. R. Jan Sobrie: Wutschweiger (A. Wittmiß, 03.10.); I. Osthues/n. K. Mann: Mephisto (I. Osthues, 16.10.) Bamberg E. T. A.-Hoffmann-Theater Schöne Aussichten! Ein musikalischer Abend (S. Broll-Pape, 03.10.); A. Tschechow: Der Kirschgarten (S. Broll-Pape, 09.10.); B. S. Deigner: Die Polizey (D. Kunze, 11.10., UA) Basel Theater n. Ovid: Metamorphosen (A. R. Nunes, 09.10., UA); D. Lindemann: Das Ende der Welt, wie wir es kennen (J. Pohl, 17.10., UA); n. A. Hitchcock: Hitchcock im Pyjama (C. Sprenger, 24.10., UA) Berlin Berliner Ensemble n. H. Ibsen: Gespenster (M. Koležnik, 08.10.); R. Süßkow: Elektra (R. Süßkow, 22.10.) Deutsches Theater R. v. Praunheim: Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs (R. v. Praunheim, 02.10., UA); P. Handke: Zdeněk Adamec (J. Wieler, 21.10., DEA); n. F. Schiller: Maria Stuart (A. Lenk, 30.10.) Volks­ bühne n. Aischylos: Die Orestie (T. Ö. Arnarsson, 01.10.); E. O‘Neill: Mourning becomes Electra (P. Kara­ bulut, 16.10.) Biel / Solothurn TOBS D. Ziegler: Der Trip Rousseau (R. Telfer, 06.10., DSE); M. Bieri/M. Merker/A. Hitz: All you can be! (M. Merker, 22.10., UA) Bochum Schauspielhaus Y. Reza: Drei Mal Leben (M. Eitner-Acheampong, 02.10.) Bonn Contra-Kreis-Theater S. Keim/­ n. E. Wallace: Der Mönch mit der Klatsche (H. Johanning, 22.10.) fringe ensemble C. Ercan: Map to Utopia (F. Heuel, 15.10., UA) Klei­ nes Theater Bad Godesberg L. Goldstein: Anne & Debbie (F. Oppermann, 02.10.) Theater T. Williams: Die Glasmenagerie (M. Köhler, 29.10.)

Oktober 2020

Bregenz Vorarlberger Landestheater J. László: Geld, Parzival (O. Keller, 04.10.) Bremen bremer shakespeare com­ pany H. C. Andersen: Der Zinnsoldat und die Tänzerin (M. Schiffers, 15.10., UA) Theater W. Mouawad: Im Herzen tickt eine Bombe (A. Zandwijk, 02.10.) Bremerhaven Stadttheater A. McCarten: Superhereo (F. Schütz, 10.10.); F. R. Dario Fo: Mien Mann un seine Wiewer (Offene Zweierbeziehung) (R. Widmer, 17.10.); n. W. Shakespeare: Othello (S. Vanaev, 18.10., UA) Bruchsal Badische Landesbühne H. Treichel: Der Verlorene (C. Ramm, 03.10.) Chemnitz Theater N. LaBute: Das Maß der Dinge (U. Euen, 02.10.); F. M. Dostojewski: Traum eines lächerlichen Menschen (C. Knödler, 17.10.); K. Winkmann: Out! – Gefangen im Netz (S. Stein, 21.10.); A. Hitchcock/J. Buchan: Die 39 Stufen (S. J. Fischer, 31.10.)

Ab dem

Coburg Landestheater Matthieu ­Delaporte, Alexandre d. l. Patellière: Das Abschiedsdinner (A. Rößler, 03.10.); n. D. Fo: Bezahlt wird nicht! (T. Köhler, 11.10.) Cottbus Staatstheater R. H. Filip Markiewicz: Antigone Neuropa (F. Markiewicz, 03.10., UA); A. Petras/ n. I. Geipel: Umkämpfte Zone (A. Petras, 24.10., UA); J. C. Petersen: Knochen (J. C. Petersen, 31.10., UA) Darmstadt Staatstheater L. Vekemans: Gift. Eine Ehegeschichte (C. Mehler, 02.10.); n. F. Schiller: ­Johanna von Orléans – Am Beispiel Friedrich Schillers (C. Bossard, 23.10.) Detmold Landestheater n. F. Schiller: Die Räuber (K. Kappenstein, 10.10.); C. McPherson: Der gute Dieb (J. Steibach, 14.10.) Döbeln Mittelsächsisches Theater n. F. Dostojewski / A. Hacke: Träume! (A. Wöhlert, 17.10.) Dresden Theater Junge Generation L. Huller / J. Preißler / P. Thielecke

30. Oktober 20 20 ch!

spricht er zu Eu

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u. Ensemble: Was fehlt? – Die große Show über das, was bleibt (J. Preißler / P. Thielecke, 02.10., UA); n. den Brüdern Grimm: Rotkäppchen (F. A. Engel, 11.10.) Staatsschauspiel: Gundermann: Alle oder keiner. Eine Revue über Helden, Gras und Kohle (T. Kühnel, 9.10. / 10.10.); M. Tscholl: Wunderblock I: Roswitha (M. Tscholl, 15.10.), M. Tscholl: Wunderblock II: Dörte (M. Tscholl, 16.10.), M. Tscholl: Wunderblock III: Thomas (M. Tscholl, 22.10.), Eggenfelden Theater an der Rott G. Dyrek: Venedig im Schnee (T. Donndorf, 16.10.) Essen Theater E. Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (Who’s ­Afraid of Virginia Woolf?) (K. Dahlem, 09.10.); L. Vekemans: Gift. Eine Ehegeschichte (S. Östrovsky, 10.10.) Esslingen Württembergische Landes­ bühne R. Seethaler: Heartbreakin‘ – Die Biene und der Kurt (C. Gnann, 09.10., UA); G. Ruck-Pauquet: In jedem Wald ist eine Maus, die Geige spielt (L. v. Buren, 10.10.); B. Cappagli: Gefühlsstrudel (B. Cappagli, 24.10., UA) Frankfurt am Main Künstlerhaus Mousonturm All the Sex I’ve Ever Had (M. D. R. Darren O‘Donnel, 13.10., UA) Schauspiel E. LaskerSchüler: IchundIch (C. Tscharyiski, 02.10.); n. K. Mann: Mephisto (C. Bauer, 03.10.) Freiberg Mittelsächsisches Theater n. F. Dostojewski / A. Hacke: Träume! (A. Wöhlert, 02.10.); G. Courteline: Der häusliche Friede (R. Schulze, 30.10.) Freiburg Theater M. Al Attar: Damaskus 2045 (O. Abusaada, 09.10.); G. Smith: 2 Glorreiche Halunken (G. Smith, 17.10.); n. W. Hauff: Das Kalte Herz (M. Schachermaier, 24.10.) Flensburg Schleswig Holsteinisches Landestheater P. Süskind: Der Kontrabaß (B. Geyer, 03.10.) Göttingen Deutsches Theater W. Erlbruch: Die fürchterlichen Fünf ­ (S. Girschweiler, 24.10.) Graz Schauspielhaus J. W. v. Goethe: Reineke Fuchs. Ein Epos in zwölf Gesängen (M. Salehpour, 02.10.); M. Ursprung: Schleifpunkt (M. Bues, 09.10., UA) Halle Neues Theater A. Verbeke: Geht das schon wieder los – White Male Privilege (N. Eleftheriadis, 31.10.) Thalia Theater U. Hub: Das letzte Schaf (R. Jakubaschk, 18.10.)

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aktuell

/ TdZ  Oktober 2020  /

Berlin Internationales Festival des zeitgenössischen Figuren- und Objekttheaters

3.11.—10.11. 2020

Schaubude

Theater der Dinge

Hamburg Schauspielhaus n. W. Shakespeare: Richard the Kid (K. Henkel, 10.10.) Thalia Theater n. L. Hall: Network (J. Bosse, 24.10., DEA) Hannover Landesbühne (TfN) F. S. Thomas Zaufke: Moby Dick (M. Gredler, 25.10.) Heilbronn Theater S. Beckett: Endspiel (A. Vornam, 03.10.); S. Huber/ K. Tietje: Born to Be wild? (S. Huber, 10.10., UA); F. Melquiot: Die Zertrennlichen (A. Kuß, 18.10.) Ingolstadt Stadttheater Hab dich mal nicht so! (U. Günther, 03.10.); C. Habersack/S. Büchner: Der schau­ rige Schusch (K. Wüstling, 24.10.); V. Sorokin: Der Schneesturm (M. Mikat, 24.10.) Innsbruck Tiroler Landestheater M. Zimmermann: Quarantäne. Die Revue (M. Zimmermann, 02.10., ­ UA); n. F. Schiller: Kabale und Liebe (R. Frey, 03.10.) Jena Theaterhaus Ensemble: Zur Wartburg (W. Bart, 15.10.); n. C. Wolf: Stadt der Engel (L. Timmers, 30.10.) Kaiserslautern Pfalztheater P. Roos: Bürckel! – Frau Gauleiter steht ihren Mann (S. Schmelcher, 01.10., UA); n. Homer/R. Schimmelpfennig: Die Odysse (J. Langenheim, 16.10.) Kiel Theater M. Frisch: Homo Faber (J. Ender, 10.10.); n. C. Collodi: Pinocchio (A. Großgasteiger, 16.10.); A. ­Ayckbourn: Raucher/Nichtraucher: Aben­teuer im Zelt (D. Karasek, 22.10.) Klagenfurt Stadttheater B. LiepoldMosser: Servus Srečno Kärntenpark (B. Liepold-Mosser, 01.10.) Krefeld Theater U. Proschka: Alle maskiert! (H. Jackson, 11.10., UA) Leipzig Cammerspiele L. Matika: Dead Whore (L. Matika, 15.10., UA) Schauspiel Forces of Nature (I. Müller, 02.10.); D. Brunz: beach house (P. Preuss, 15.10., UA); F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (N. D. Calis, 17.10.); To Speak Light Pours Out (K. McIntosh, 24.10.) Linz Landestheater M. Plattner: Die Sedierten (S. Suschke, 03.10., UA); Sophokles: König Ödipus (P. Wittenberg, 10.10.); F. Molnár: Liliom (P. Wittenberg, 16.10.) Magdeburg Puppentheater A. Jungwirth: Schonzeit (N. Sogaard, 29.10.) Mainz Staatstheater J. Neumann: Sensemann & Söhne (J. Neumann, 02.10., UA); n. S. Wolfgang v. Goethe, Hugo v. Hofmannsthal: Elektra | Iphigenie (A. Nerlich, 24.10.) Meiningen Staatstheater K. Küspert: Sklaven leben (J. Kann, 01.10.); T. Wilder: Wir sind noch einmal davongekommen (T. Rott, 09.10.) Memmingen Landestheater Schwa­ ben M. A. Yasur: Blaue Stille (S. Heller, 02.10., UA); W. Herrndorf: Bilder

#KünstlicheKörper

www.schaubude.berlin

deiner großen Liebe (M. Bouschen, 24.10.) Münster Theater L. Werner: Deutsche Feiern (M. A. Schäfer, 10.10., UA) Wolfgang Borchert Theater F. v. Schirach: Gott (M. Zanger, 29.10.) Naumburg Theater D. Fo/F. Rame: Offene Zweierbeziehung (S. Neugebauer, 09.10.) Neuss Rheinisches Landestheater n. E. Kästner/ I. Böhack / D. Ledig / G. Loepelmann: Pünktchen und ­Anton (E. Veiders, 29.10.) Nürnberg Staatstheater R. Pollesch: Take the Villa and Run! (R. Pollesch, 30.10., UA) Osnabrück Theater L. Hübner / S. Nemitz: Willkommen (E. Finkel, 24.10.) Paderborn Theater n. . Sophokles: Antigone (P. Neukampf, 10.10.) Plauen Theater n. G. Büchner: ­Woyzeck (J. Jochymski, 09.10.) Potsdam Hans Otto Theater J. Schoch: Die Jury tagt (C. Fillers, 02.10., UA); n. P. Richter: 89/90 (F. Brunner, 23.10.); n. F. Schiller: Maria Stuart (A. Buddeberg, 30.10.) Radebeul Landesbühnen Sachsen E. Undisz: Zwischen Pitti und Stern Meissen (E. Undisz, 03.10., UA); J. Menke-Peitzmeyer: Soko Pisa – Die DDR in 40 Minuten (S. Pietsch, 03.10., UA)

Rendsburg Schleswig Holsteini­ sches Landestheater J. Galceran: Der Kredit (M. N. Koch, 11.10.) Reutlingen Theater Reutlingen Die Tonne P. Shipton: Die Wanze (K. Eppler, 30.10.) Rostock Volkstheater n. B. Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti (E. Finkel, 17.10.); n. F. Kafka: Der Prozess (D. Pfluger, 24.10.); J. Mortimer: Das Pflichtmandat (W. Bordel, 31.10.) Rudolstadt Theater G. Polt: Die Verteidigung der Gummibären (A. Stillmark, 09.10.); I. Budischowsky: Rumpelstilzchen (K. Stahl, 31.10.) Schwedt/Oder Uckermärkische Büh­ nen n. Sophokles: Antigone (J. Stein­ berg, 03.10.) Stendal Theater der Altmark G. Belli: Die Werkstatt der Schmetterlinge (C. Jung, 04.10.); F. Kruckemeyer: Der Junge mit dem längsten Schatten (J. Lingmann, 26.10.) Stuttgart Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt D. Kehlmann: Heilig Abend (E. Hosemann, 16.10.); Loriot: Loriots dramatische Werke (C. Baumann, 23.10.) Junges Ensemble Paradies (B. Dethier/ I. Thuwis-De Leeuw, 31.10., UA) Theater tri-bühne e. V. G. Révay/ n. D. Manotti: Wer hat Angst vor

Bernie Madoff? (E. Koerber, 23.10., UA) Tübingen Zimmertheater P. Ripberger: Wie ein zarter Schillerfalter (P. Ripberger, 24.10., UA) Ulm Theater F. Zeller: Der Fiskus (J. S. Cremer, 01.10.); D. Macmillan: All das Schöne (M. Micksch, 02.10.); B. Brecht/K. Weill: Die Dreigroschenoper (J. Kraus, 16.10.); D. Ratthei: Pink Guerilla (C. Van Kerckhoven, 23.10., UA) Weimar Deutsches Nationaltheater J. Masteroff / F. Ebb / J. Kander: Cabaret (N. Erpulat, 03.10.); S. ­ Kowski / S. Lauer / T. Schmeichel: Hoffnung – schiller synthesized (S. Lauer / T. Sschmeichel / S. Kowski, 17.10.); D. Laucke: Ich liebe Dir (B. Seidel, 28.10., UA); n. R. W. Fassbinder/ P. Fröhlich / P. Märthes­ heimer: Die Ehe der Maria Braun (H. Weber, 31.10.) Wien Burgtheater R. Schimmel­ pfennig/n. H. C. Andersen: Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin (M. Constantine, 04.10.), n. L. Fuks/ Franznobel: Der Leichenverbrenner (N. Habjan, 08.10.);G. Tabori: Mein Kampf (I. Tiran, 09.10.); n. H. C. ­Andersen: Des Kaisers neue Kleider (R. Pape, 10.10.); A. Gmeyner: Automatenbüfett (B. Frey, 30.10.) ­ Kosmos Theater J. Haenni: Frau verschwindet (Versionen) (K. Herm, 20.10., ÖEA) TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße n. R. Brad­ bury/M. M. Susanne Draxler: Fahrenheit 451 (S. Draxler, 03.10.) Wiesbaden Hessisches Staatsthea­ ter A. T. Adebisi: W183 – Inside Westend (A. T. Adebisi, 03.10.); K. Lange: König Midas – ich! Oder: Wie werde ich klug? (R. Fiedler, 06.10., UA); n. A. Camus: Die Pest (S. Sommer, 23.10.); n. W. Shakespeare: König Lear (U. E. Laufenberg, 24.10.); C. Nöstlinger: Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse (S. Rumphorst, 31.10.) Wilhelmshaven Landesbühne Nieder­ sachsen Nord J. W. v. Goethe: Iphigenie auf Tauris (R. Teufel, 24.10.); M. Matter: Ein Schaf fürs Leben (F. Fuhrmann, 25.10.) Zittau Gerhart-Hauptmann-Theater n. M. Schäuble: Endland (P. Hachtel, 03.10.) Zürich Schauspielhaus n. D. Roth: Das Weinen (Das Wähnen) (C. Mar­ thaler, 01.10., UA) Zwickau Theater Y. Reza: Der Gott des Gemetzels (A. Stöcker, 15.10.)

TdZ ONLINE EXTRA Täglich aktuelle Premieren finden Sie unter www www.theaterderzeit.de

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KUNSTFORUM Band 269 lesen:

Entzauberte Globalisierung Alternative Visionen des Polykulturellen

! ecken d t n e Jetzt stforum.de un www.k

„Die Rede von ‚meiner Kultur‘ ist absurd, da Kultur etwas ist, das jeder mit jedem teilt.“ — Hans Ulrich Obrist Jetzt mehr erfahren: www.kunstforum.de/269


impressum/vorschau

/ TdZ  Oktober 2020  /

Josef Bierbichler, Schauspieler und Autor, Ambach Anke Dürr, Journalistin und Theaterkritikerin, Hamburg Jakob Hayner, freier Autor, Berlin Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Johannes Kirsten, Dramaturg, Berlin Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Ralf Mohn, freier Autor, Berlin Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Helmut Ploebst, Autor, Theoretiker und Tanzkritiker, Wien Shirin Sojitrawalla, Theaterkritikerin, Wiesbaden Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Autor, Berlin

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Ausland Als sich Frank Castorf im Jahr 2000 unter dem Titel „Endstation Amerika“, einer Adaption von Tennessee Williams’ „A Streetcar Named Desire“, mit dem Zusammenhang von Kapitalismus und Depression auseinandersetze, ahnte niemand, dass der Titel zwanzig Jahre später Programm sein würde. Die Politik Donald Trumps hat aus den Vereinigten Staaten im wahrsten Sinne des Wortes eine Endstation für Rechtspopulisten und bewaffnete Corona-Leugner geformt. Wir widmen uns dem Land im Monat der US-Präsidentschaftswahlen und befragen Theater­ macherinnen und -macher nach ihren Zukunftsprognosen.

„Endstation Amerika“ in der Regie von Frank Castorf (Volksbühne Berlin, 2000). Foto Marcus Lieberenz

Vorschau

AUTORINNEN UND AUTOREN Oktober 2020

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2020/10

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Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Hannah Krug (Hospitanz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Paula Perschke +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 75. Jahrgang. Heft Nr. 10, Oktober 2020. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 07.09.2020

Festival Arbeit und Leben – mit dieser Verknüpfung beschäftigt sich das diesjährige Favoriten Festival in Dortmund. Wie wollen wir arbeiten? Unter welchen Bedingungen? Werden wir aus­ genutzt? Oder erfüllt uns unser tägliches Tun? Was sind neue ­Formen der Solidarität, des Streiks oder der Sorgearbeit? Und wie wird in unserer kapitalistischen Welt der nicht mehr arbeitende Körper im Alter definiert? Sascha Westphal hat das Festival in der „Arbeiterstadt“ Dortmund besucht.

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

www.theaterderzeit.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Twitter und Facebook: www.twitter.com/theaterderzeit www.facebook.com/theaterderzeit

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. November 2020.

Foto Imke Lass / Favoriten Festival

Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17

„Dreams in a cloudy space“ von Antje Velsinger beim Favoriten Festival.

Herausgeber Harald Müller


Was macht das Theater, Kornél Mundruczó? Kornél Mundruczó, Budapest ist – wie-

Was hat diese neue Kulturpolitik

der einmal – in aller Munde, weil Stu-

bewirkt? Wer hat profitiert, wessen ­

dierende und Lehrende die dortige

Arbeitsgrundlagen sind beschnitten

Film- und Theateruniversität besetzt

worden?

haben. Sie haben früher auch dort

Das Theater ist in erster Linie im-

­studiert. Was ist der Anlass der Be­

mer für das lokale Publikum ge-

setzung?

dacht, und die Theater in Ungarn

Ich studierte zwischen 1994 und

sind voll. Wir können also nicht

2003 an der Budapester Universität

­sagen, dass das System nicht funk-

für Theater- und Filmkunst: erst

tioniert. Aber doch gibt es Gewinner

Schauspiel, später Regie. Neun un-

und Verlierer, und die größten Ver-

vergessliche Jahre, die mir sehr viel

lierer im jetzigen System sind die

gegeben haben. Inzwischen ist die

freien Gruppen. Es gibt ein Pro­

Institution durchaus reif für eine

duktionshaus und einige weitere

Reform geworden, aber was jetzt ­

Spielorte. Innovation, die unter-

passiert, ist eine reine Machtüber-

stützt werden sollte, wird mit Klein-

nahme. Die Universität wurde von

geld gemacht. Die Theaterszene ist

einer privaten Stiftung übernom-

unglaublich polarisiert. Eine sehr ­ stressige Situation. Die kunstschaf-

Damit kann man sich nur solidari­

Kornél Mundruczó ist einer der wichtigsten unabhängigen Film- und Theaterregisseure Ungarns. Gerade lief im Budapester Trafó Theater, dem einzigen freien Theater des Landes, die 150. Vorstellung von „Frankenstein-Projekt“, der allerersten Produktion seiner Gruppe Proton Theater. In Freiburg fand im Juli seine Uraufführung von „Die sieben Todsünden & Motherland“ statt, ARTE strahlte kürzlich eine Aufzeichnung von „Evolution“, seiner Koproduktion mit der Ruhrtriennale 2019, aus. Er selbst studierte an der Budapester Universität für Theater- und Filmkunst, die im September von Studierenden und Lehrenden besetzt wurde.

sieren.

Foto Mátyás Erdély

zwischen Budapest und Berlin zu

men, deren Kuratoriumsmitglieder von der Regierung bestimmt wurden. Die Autonomie der Universität wurde aufgehoben, Rektorat und Senat sind zurückgetreten. Den Studenten blieb kaum eine andere Wahl. Ich bewundere die Courage, die Entschlossenheit und den Mut, mit denen sie für ihre eigenen Rechte, ihre eigene Zukunft kämpfen.

fenden Menschen leiden darunter genauso wie die Kunst selber. Manche bekannte ungarische Theaterkünstlerinnen und -künstler wie etwa Ihr Kollege Árpád Schilling haben bereits das Land verlassen. ­ Wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft? Wo und wie werden Sie produzieren? Meine eigene Entscheidung ist,

pendeln. In Budapest habe ich

Was genau sind die Forderungen?

meine freie Gruppe, das Proton ­ Theater, meine Filmproduktionsfir-

Sie fordern die Wiederherstellung der Autonomie der Universität und alles, was

wofür Geld ausgegeben wird, einfach alles.

ma Proton Cinema und natürlich meine Wur-

damit zusammenhängt. Seit der Wende 1990

Die Universität wollte, durfte aber nieman-

zeln, aber meistens arbeite ich doch im Aus-

haben wir Demokratie in Ungarn. Darüber,

den in das Kuratorium der Stiftung delegie-

land. In einer anderen Kultur zu arbeiten, ist

wie sie funktioniert, kann man sich streiten,

ren.

immer wieder eine Herausforderung. Mir

aber es ist eine Demokratie. Diese Demokra-

macht es aber Spaß, Brücken zwischen ver-

tie erlitt in den vergangenen zehn Jahren

Wie hat sich in den vergangenen Jahren die un-

schiedenen Kulturen zu bauen. Ich bin also

ernsthafte Wunden. Unter anderem wurde die

garische Theaterszene entwickelt? Von außen

meistens unterwegs. Genau wie das Proton

Freiheit der Lehre und der Kunst beschränkt.

her war seit der Berufung Attila Vidnyánszkys

Theater, das nur existiert, wenn es auf Tour-

Der Dialog zwischen denen an der Macht und

als Intendant des Nationaltheaters in Budapest

nee sein kann. Always on the road. Wie lange

denen, die nicht an der Macht sind, ist fast

eine Fokussierung auf sogenannte nationale

aber man das aushält, wird uns die Zukunft

völlig aufgehoben. Die Studenten wollen das

Themen zu beobachten. Was genau hat da statt-

verraten.

ändern, sie wollen Partner in den Gesprächen

gefunden?

über ihre eigene Zukunft sein.

Die meisten Theater in Ungarn werden von

Was kann die Besetzung der Theater- und Film­

Intendanten geleitet, die im Sinne der rechts-

universität bewirken? Was sind Ihre Hoffnun-

Welchen Einfluss hat die private Stiftung für

nationalen Ideologie arbeiten. Doch mit der

gen?

Theater und Filmkunst, der Attila Vidnyánszky,

Ideologie geht die Essenz der Kunst, ihre Ein-

Die an der Macht haben bis jetzt noch nie

der Intendant des Nationaltheaters, vorsitzt, auf

zigartigkeit und der persönliche Charakter

einen Rückzieher gemacht. Ich bin aber auf

die formell staatliche Universität?

verloren. Noch gibt es einige Ausnahmen, die

der Seite der Studenten. Bin einer von ihnen.

Die Stiftung hat die absolute Vollmacht und

meisten davon in Budapest, aber eine ideolo-

Es gibt keine andere Wahl. //

entscheidet, was dort gelehrt wird, wer lehrt,

gische Umformung findet definitiv statt.

Die Fragen stellte Tom Mustroph.


20.21

Das fällt mir zum ersten Mal auf!


� � SCHAUSPIEL METAMORPHOSEN Nach Ovid Inszenierung: Antú Romero Nunes Mit: Paula Beer Barbara Colceriu Jonas Dassler Vera Flück Nairi Hadodo Anne Haug Michael Klammer Marie Löcker Annika Meier Sven Schelker Aenne Schwarz theater-basel.ch

AB 9.10.


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