Theater der Zeit 10/2024 - Ensemblekultur heute

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Theater der Zeit Mit

Ensemblekultur heute

Mario Banushi Jörg Bochow Michal Hvorecky Alexander Karschnia Burghart Klaussner Oliver Reese Maximilian Steinbeis Anna Viebrock

Oktober 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Gisèle Vienne Unheimliche Collagen


PREMIEREN OPER

2024 – 25

So

27.10.24

DAS RHEINGOLD Richard Wagner

Tobias Kratzer Inszenierung Vladimir Jurowski Musikalische Leitung

So

22.12.24

LA FILLE DU RÉGIMENT Gaetano Donizetti

Damiano Michieletto Inszenierung Stefano Montanari Musikalische Leitung

Fr

07.2.25

DIE LIEBE DER DANAE Richard Strauss

Claus Guth Inszenierung Sebastian Weigle Musikalische Leitung

Mo

17.3.25

KÁŤA KABANOVÁ Leoš Janáček

Krzysztof Warlikowski Inszenierung Mirga Gražinytė-Tyla Musikalische Leitung

Fr

2.5.25

DAS JAGDGEWEHR Thomas Larcher Ja, Mai

Ulrike Schwab Inszenierung Francesco Angelico Musikalische Leitung

Sa

3.5.25

MATSUKAZE Toshio Hosokawa Ja, Mai

Lotte van den Berg, Tobias Staab Inszenierung Alexandre Bloch Musikalische Leitung

Do

22.5.25

CAVALLERIA RUSTICANA / PAGLIACCI Pietro Mascagni / Ruggero Leoncavallo

Francesco Micheli Inszenierung Daniele Rustioni Musikalische Leitung

Fr

27.6.25

DON GIOVANNI Wolfgang Amadeus Mozart Münchner Opernfestspiele

David Hermann Inszenierung Vladimir Jurowski Musikalische Leitung

Fr

18.7.25

PÉNÉLOPE Gabriel Fauré Münchner Opernfestspiele

Andrea Breth Inszenierung Susanna Mälkki Musikalische Leitung

Infos / Tickets tickets@staatsoper.de staatsoper.de

Innovationspartner Bernhard Frohwitter


Foto Frank Sperling

Theater der Zeit Editorial

Installationsansicht „Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“, Haus am Waldsee, Berlin, 2024

Auf dem Titel und im Kunstinsert: Gisèle Vienne. Die französisch-österreichische Choreografin hat in den letzten 20 Jahren ein „Ensemble“ von lebensgroßen Puppen­zusammengestellt, die immer wieder in ­ihren Arbeiten zwischen Tanz, Performance, Fotoporträts der offenbar misshandelten Figuren und auch Film anzutreffen sind. Jetzt gibt es in Berlin erstmals eine große Retrospektive dieser ungewöhnlichen Künstlerin – alles im Beitrag von Theresa Schütz auf den Seiten 26 bis 31. Ensemble heute ist das Thema des Schwerpunkts in diesem Heft. Brechts Berliner Ensemble wurde vor 75 Jahren gegründet. Der derzeitige Intendant Oliver Reese spricht im Interview über seine „Ensemble-Euphorie“, die aufrechtzuerhalten ihm nicht immer leichtfällt, auch wenn er für ein Foto auf das Dach des Hauses mit dem legendären, von Peter Palitzsch entworfenen und noch immer in die Nacht

Theater der Zeit 10 / 2024

leuchtenden Signet gestiegen ist. Indes gibt es auch ganz andere Ensemble-Modelle, die auf der umfassenden Idee für eine Theatergemeinschaft basieren. Die transnationale KULA Compagnie, das Theaterhaus Jena und das seit über 40 Jahren auf der Schwäbischen Alb bestehende Theater Lindenhof in Melchingen, porträtiert von der Baden-Württemberg-TdZ-­Redakteurin Elisabeth Maier. Im Oktober 1949 konstituierte sich die Bundespressekonferenz als Verein von hauptberuflichen Journalisten. Der Politjournalist und Autor Max Steinbeis schrieb extra – in Zusammenarbeit mit Nicola Hümpel von Nico and the Navigators, Andreas Hillger und dem wie ein Kanzlerkandidat lächelnden Hauptdarsteller Fabian Hinrichs – für eine Inszenierung in der Bundespressekonferenz das Stück „Ein Volksbürger“, eine Politfarce heutiger Medienmechanik. Nach den drei Aufführungen in der Bundespressekonferenz mit angeschlossenen Theaterstreamings ist „Ein Volksbürger“ als aktuell politisches Theater mit der Frage ‚eine Farce über Politik oder Politik als Farce‘ den ganzen Monat in der arte Mediathek zu erleben. In dazu anderer Perspektive startet die neue Serie „Dramaturgie der Zeiten­ wende“, für die der Dresdner Chefdrama­ turg Jörg Bochow den Auftakt-Essay schrieb. Was wird die Theater in auch schmerzhaft schwieriger Weise die nächste Zeit umtreiben? Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema Ensemble heute 12 Interview Zettels Traum und schwindende Bindungskräfte Oliver Reese, seit 2017/18 Intendant des Berliner Ensembles über seine ungebrochene Ensemble-Euphorie und Brechts Regiepult im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt

16 Essay Ensemble, das sind alle Kollektive Kunst am Theaterhaus Jena zwischen Vergangenheit und Zukunft Von Michael Helbing

20 Essay Mit spiritueller Sehnsucht spielen Die transnationale KULA Compagnie bildet ein Ensemble der Unterschiede Von Thomas Irmer Die Choreografin und Künstlerin Gisèle Vienne

22 Essay Kritisches Volkstheater in schwäbischer Zunge Das Ensemble des Theater Lindenhof macht seit 43 Jahren Theater für die Regionen Baden-Württembergs Von Elisabeth Maier

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Fotos oben links Jan Versweyveld, unten links Karen Paulina Biswell, rechts Oliver Proske

Sandra Hüller in „I want absolute beauty“, Regie Ivo Van Hove, Choreografie: (LA)HORDE: Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel


Inhalt 10/ 2024

Akteure 26 Kunstinsert Kompositionsprinzip Collage Die Künstlerin Gisèle Vienne inszeniert Gefühlsstudien – eine Werkschau von Theresa Schütz

32 Porträt Wortlose Trauerarbeit Wie der griechisch-albanische Regisseur Mario Banushi die Begegnung mit dem Tod zur Triebfeder einer eigenen Bildsprache macht von Sophie-Margarete Schuster

38 Nachruf Der Zugewandte Eine Erinnerung an den Regisseur Christof Nel und die Zeit mit dessen Gruppe von Burghart Klaussner

Stück 40 Das Dilemma der Demokratie

Diskurs & Analyse 58 Serie Schlaglichter #08 Von Svenja Plannerer

60 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Was ist los? Auftakt neue Serie

Autor Maximilian Steinbeis, Regisseurin Nicola Hümpel und Ko-Autor/Dramaturg Andreas Hillger im Gespräch über „Ein Volksbürger“ in der Bundespressekonferenz Von Thomas Irmer

42 „Ein Volksbürger“ Von Maximilian Steinbeis

Von Thomas Irmer

61 Zwischen Illusion und Ideologie Von Jörg Bochow

Magazin 4 Bericht Demokratischer Eigenschutz Von Nathalie Eckstein

Report 66 Weimar Vor dem Untergang Endspiele beim Weimarer Kunstfest 2024, das dabei eine Landtagswahl fest im Blick hatte Von Michael Helbing

70 Ruhrtriennale Die explosive Kraft der Fantasie

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Thomas Irmer, Nathalie Eckstein, Christoph Leibold und Anna Bertram

8 Kolumne Wartest du auf Applaus? Von Iwona Nowacka

80 Vorabdruck Tropen des Kollektiven Von Matthias Rothe

Die Ruhrtriennale sucht mit einer wilden Inszenierung von Kirill Serebrennikov und einer beeindruckenden Sandra-Hüller-Show nach Wegen in die Zukunft Von Stefan Keim

82 Bericht Die begehbare Kunst der Abnutzung

76 Slowakei Die völkische Säuberung

84 Bericht Energie für die Hörspielzukunft

Eine Kulturministerin aus der ultrarechten Szene verstört die Slowakische Republik Von Michal Hvorecky

Von Stefan Keim

Von Laura Weinheimer

86 Bücher Fragmente der Düsseldorfer Freien Szene Von Henning Fülle

88 Was macht das Theater, Alexander Karschnia? Im Gespräch mit Thomas Irmer

1 Editorial 87 Autor:innen & Impressum 87 Vorschau

Theater der Zeit 10 / 2024

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Magazin Gespräch was völkische Deutungen von Kultur und Tradition aus Sicht der AfD einschließt. Die AfD sagt, was sie meint, und meint, was sie sagt. Dies muss von allen verstanden werden! Diese Partei hat einen Plan zum autoritären Umbau der Gesellschaft, der nicht nach einer Legislaturperiode endet.

Demokratischer Eigenschutz Der Sozialwissenschaftler David Begrich nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen im Gespräch mit Nathalie Eckstein

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In Thüringen ist die AfD bei den Landtagswahlen am 1. September stärkste Kraft geworden. Die Finanzierung der Thüringischen Theater ist bis 2030 gesichert, das sieht in Sachsen anders aus. Welche Gefahren drohen den Theatern in Sachsen, aber auch im gesamten ostdeutschen Raum? David Begrich: In dem Moment, in dem die AfD Zugriff auf die Kulturpolitik bekäme, wird dies zur Folge haben, dass sie ihre Agenda in der Kultur durchsetzen will. Dies würde bis zur Einmischung in die Frage der Gestaltung des Spielplans gehen. Die AfD hat seit 2016 in den Ostbundesländern immer erkennen lassen, dass sie bestimmte Theaterformate nicht nur nicht schätzt, sondern verbannt sehen will. Der Hebel hierfür ist die Kulturförderung. Die Partei würde nur unterstützen, was in ihrem Sinne wäre: nationales Erbauungsund Erziehungstheater, in dem bestimmte gesellschaftliche Realitäten und Perspektiven einfach ausgeblendet werden. Die AfD aktualisiert im Grund das Kulturverständnis des wilhelminischen Nationalismus,

Was könnten die Theater gerade im ländlichen ostdeutschen Raum tun? Welche Angebote könnten angesichts der Wahlergebnisse hilfreich sein? DB: Zunächst: Angebote an wen? Der AfD und ihrem Vorfeld unter der Überschrift Dialog erneut Resonanz zu geben, halte ich für falsch. Die Fähigkeit des rechten Blocks in der ostdeutschen Gesellschaft, sich mit herrischer Geste unter Verweis auf „Sorgen und Nöte“ Gehör zu verschaffen war sehr erfolgreich und hat zu der jetzigen Situation beigetragen. Sollen demokratische Kerne in Ostdeutschland erhalten bleiben, muss denen Gehör verschaffen, die es auch gibt: die demokratisch Engagierten. Das ist im Osten mühsam, weil es keine Großorganisationen, sondern Einzelpersonen und Netzwerke sind, die dieses Engagement tragen. Ein Theater könnte eine langfristige Kooperation mit einem Soziokultur­

Theater der Zeit 10 / 2024

Foto picture alliance / ZUMAPRESS.com | Andreas Stroh

Ca. 300 000 Menschen protestieren am Bundestag am Anfang dieses Jahres gegen Rechtsextremismus

Die demokratische Öffentlichkeit in Ostdeutschland darf gerade jetzt nicht übersehen werden oder durch westdeutsche Narrative einseitig geformt werden. Wie kann sie sich konstellieren? Was kann die Perspektive sein? DB: Ostdeutschland ist komplex, divers. Nicht nur Plattenbauten, Rentner und leere Innenstädte. Hier gibt es eine kulturelle Erinnerung und Alltagskultur, die ganz offenkundig nicht auf Augenhöhe mit dem Westen ist und eine zeitgeschichtliche Differenz zu ihm aufweist. Dies zu ändern, dauert. Eine Voraussetzung wäre ein Ende der Exotisierung des Ostens, eine Pluralisierung der Perspektiven. Ostdeutsche Sprechräume müssen erkennbar werden. Nur dann gelingen Selbstverständigungsund Reflexionsprozesse im Osten. Aber: Die derzeit zu beobachtende Regression ostdeutscher Identitätsdebatten ist eine Sackgasse. Und: Über das Problem der Abwanderung muss gesprochen werden.


Magazin Gespräch zentrum schließen, nicht-rechte Jugendliche zu Projekten einladen, sichtbar Stellung beziehen, wenn in der Stadt Rechtsextremisten sich Raum nehmen. Das kostet Mut. Das bedeutet Politisierung des eigenen Handelns im demokratischen Sinne. Wäre ich Schauspieldirektor, würde ich die Schauspielunterricht-Szene aus „Aturo Ui“ auf dem Marktplatz aufführen, wenn mal wieder Höcke auf einer Kundgebung sprechen will. Die Theater und ihre Künstler:innen sind finanziell und politisch bedroht. Wie kann eine (west-)deutsche Öffentlichkeit geschaffen werden? Wie kann Solidarität aussehen? DB: Ich stelle mir gerade vor, dass es einen Abend für ostdeutsche Demokratieinitiativen im Thalia Theater in Hamburg gäbe. Klar, da treffen Welten aufeinander. Aber wenn ein solcher Abend Sichtbarkeit herstellt, ist viel gewonnen. Sichtbar-

keit bedeutet auch Schutz vor Angriffen. Und diesen Schutz werden demokratisch Engagierte in Ostdeutschland brauchen. Sich in den westdeutschen Metropolen für das Geschehen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zu interessieren, ist purer Eigenschutz: Alles, was die AfD im Osten ausprobiert, wird sie im Westen umsetzen wollen.

Ostdeutschland ist komplex, divers. Nicht nur Platten­ bauten, Rentner und leere Innenstädte, sondern eine kulturelle Erinnerung und Alltagskultur.

Das Theater Görlitz-Zittau will seinen Namenspatron Gerhart Hauptmann gegen Sponsoring verkaufen, wie für große Sportstadien und Konzerthallen üblich. Wie lässt sich das politisch deuten und bewerten? Welchen Konsequenzen und Konnotationen kann das Tür und Tor öffnen? DB: Ich glaube, Gerhard Hauptmann entzieht sich seiner Inwertsetzung. Nicht auszuschließen, dass es aus dem Umfeld der AfD den Vorstoß für „Gerhard Hauptmann Tage der deutschen Kultur“ gäbe. Was dann? Laufen lassen? Untersagen?

Vorsicht damit, kulturelle Deutungen aus der Hand zu geben. Sie zurückzuholen dürfte schwer werden. T

David Begrich studierte Theologie und Sozialwissenschaften in (Ost-)Berlin und arbeitet seit 1998 als Referent für politische Bildung für die Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e. V. in Magdeburg.

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SPIELZEIT 2024/2025

GUT ODER OD

BÖSE SCHAUBURG THEATER FÜR JUNGES PUBLIKUM


Magazin Kritiken

Berliner Ensemble

Fallada unterm glühenden Mond „Kleiner Mann – Was nun?“ von Hans Fallada in einer Textfassung von Frank Castorf – Regie Frank Castorf, Bühne Aleksandar Denić, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Sounddesign William Minke, Videokonzeption Jens Crull, Andreas Deinert

E

s dauert reichlich 20 Minuten, bis die Romanhandlung mit ihrem Beginn beim Frauenarzt und der Feststellung von Lämmchens Schwangerschaft einsetzt. Davor hat das siebenköpfige Ensemble ein riesiges rotes Tuch im Hintergrund heruntergerissen. Klar ist: Der Autor Hans Fallada, Trinker, Morphinist und seit seiner Jugend manischer Schreiber, ist hier eine Hauptfigur. Was Fallada mit seinen Figuren aus dem Jahr 1930 erzählt, spielt vieles an, was heute wieder diskutiert wird. Die Bühne ist erstmals seit der Zusammenarbeit mit Aleksandar Denić leer. Nur an ihrem Ende ein klaustrophobischer Videoraum für das Kaufhaus Mandel, wo Pinneberg Jacketts in allen Regenbogenfarben verkaufen soll, was ihm bekanntlich nach den Auflagen eines damaligen McKinsey-Controllers das Genick brechen wird. Die Kostüme von Adriana Braga Peretzki sind indes so üppig facettenreich wie sonst die Bühnenbilder von Denić : von 1920er-Varieté-Chic bis zu Anklängen an den Swiftie-Look für die Frauen, Seidenmorgenmäntel, feinstes Anzugtuch für die Herren.

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„Empusion“ nach Olga Tokarczuk, Dramatisierung von Lucien Haug (UA). Regie Antú Romero Nunes

Lausitz Festival

Ein Abend der großen Schauspielerinnen „Empusion“ nach Olga Tokarczuk, Dramatisierung von Lucien Haug (UA) – Regie Antú Romero Nunes, Bühne, Kostüme und Licht Matthias Koch, Musik Anna Katharina Bauer und Max Kühn

„K

önnten Sie sich jetzt endlich ausziehen“, fragt Anne Haug als Dr. Semperweiß. Doch der neue Patient Mieczyław Wojnicz (Aenne Schwarz) weigert sich. Es ist sein erster Tag als Patient im Sanatorium für Lungenkranke in Görbersdorf in Niederschlesien, 1913. Und das ehemalige Niederschlesien ist gar nicht so weit entfernt vom Forster Hof in Forst in der Lausitz, wo im Rahmen des Lausitz Festivals die Uraufführung von Olga Tokarczuks Roman „Empusion“ auf die ­Bühne kommt. Gleich an Wojnicz’ erstem Tag findet der Hausherr des Gästehauses Opitz (ebenfalls Anne Haug, die für die Verwandlung nur die Perücke umdrehen muss) seine Frau erhängt. Frauen spielen in dieser Welt des Sanatoriums keine sichtbare Rolle. Sie sind Hausmädchen und leisten Carework, sind dabei unsichtbar. In Woinicz’ Familie gab es nach dem Tod der Mutter keine mehr. In dieser Welt misogyner Männlichkeit hat Nunes alle männlichen Figuren mit Frauen besetzt. Die anderen Kurgäste Thilo von Hahn (Gro Swantje Kohlhof), Longinus Lukas (Charlotte Müller) und August August, ein anarchistischer Scherz der Eltern (Sabine Waibel), spielt das Ensemble als Männer mit einer Verfremdung. Mal skurril wie Anne Haug den Gasthausbesitzer Opitz, mal großäugig und österreichischbizarr wie Sabine Waibel August August, der bei der Vesper übertrieben „Ähn Äeih“ anbietet. Dann wird mit Eiern und Würsten hantiert. Besonders deutlich tritt der Effekt der Verfremdung dann zutage, wenn die Männer, u. a. bei einer Wanderung in den Wald (hallo verdrängtes, weibliches Unbewusstes) misogyne Pseudoweisheiten und Urteile austauschen. Bei diesen handelt es sich nicht etwa um Fiktionen der Autorin, sondern um Paraphrasen von Sätzen von Männern wie Nietzsche, Schopenhauer, Darwin, Platon, Sartre und Strindberg. Im Wald treffen sie auch auf Unheim­ liches, Kröten, es wird klar, dass die Em­ pusen, weibliche Schreckgespenster der griechischen Mythologie, die Männer beobachten. Und nicht nur das, einmal im Jahr fordert der Wald ein Opfer. // Nathalie Eckstein

Theater der Zeit 10 / 2024

oben links Jörg Brüggemann, unten links Krafft Angerer, oben rechts Lalo Jodlbauer, unten rechts Philip Frowein

„Kleiner Mann – Was nun?“ von Hans Fallada in einer Textfassung von Frank Castorf. Regie Frank Castorf

Eine drastische Ausdeutung von Pinnebergs Mutter Pia und deren Lebens­ gefährten Jachmann zeigt, wo Castorf die Abgründe des Romans findet, seine Nachtseite. Diese führt assoziationsgelenkt zu „Die Nacht der langen Messer“ aus Heiner Müllers 1975 beendeter Szenenfolge „Die Schlacht“, wo sich zwei in der politischen Gewalt des Nationalsozialismus gebrochene Brüder feindlich gegenüberstehen. Die Amplitude zwischen solchen Szenen und dann wieder karnevalesk verrückten Gruppenexzessen ist in dieser Inszenierung besonders groß. In vielen ­ ­ Momenten ist wieder einmal Castorfs Schauspiel-Energie-Entfesselung zu bestaunen, und mit – fast alle in mehreren Rollen – Artemis Chalkidou, Maximilian Diehle, Andreas Döhler, Jonathan Kempf, Pauline Knof, Maeve ­Metelka und dem ebenso famosen Gabriel Schneider seine neueste Bühnengang am Berliner Ensemble zu bewundern. // Thomas Irmer


Magazin Kritiken

Benny Claessens in „Hamlet“ in der Regie von Karin Henkel am Burgtheater Wien

Burgtheater Wien

Der fünffache Hamlet „Hamlet“ von William Shakespeare – Regie Karin Henkel, Bühne Katrin Brack, Kostüme Teresa Vergho, Musik Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Chorleitung Alexander Weise

E

ine der stärksten Szenen hat diese Inszenierung gleich nach der Pause. Da sucht Benny Claessens Hamlet seine Mutter, Königin Gertrud, auf, um sie mit ihrer Mitschuld am Mord an ihrem Gatten, sprich: Hamlets Vater, zu konfrontieren. Aber der Geist ebendieses Vaters funkt ihm wiederholt dazwischen. Man hört und sieht den Geist zwar gerade nicht auf der Bühne (sonst ist er optisch und akustisch massiv präsent in Karin Henkels Inszenierung), erlebt nur, wie sich Claessens den Einflüsterungen, die nur er wahrnehmen kann, nervös zu erwehren versucht und dabei wiederholt selbst ohrfeigt. „You are insane! There’s nothing there!“, höhnt Kate Strong in schnarrendem Englisch. Und in der Tat: Es ist ein verrückter Augenblick – im doppelten Sinne. Denn Claessens wirkt ja wirklich einigermaßen gaga, wenn er so ins Leere brabbelt und fuchtelt. Und doch ist es auch ein irrer Schauspielermoment, wie er aus dem Nichts, allein durch darstellerische Kraft und Können, die Präsenz eines Phantoms beglaubigt. Claessens ist an diesem Abend nicht der einzige Hamlet, aber wahrscheinlich der beste. Karin Henkel besetzt in ihren Inszenierungen einzelne Rollen immer wieder mal mit zwei oder mehreren Schauspieler:innen, unter denen sie die Texte der Figur dann aufteilt. Eine Vielzahl von Persönlichkeiten steckt in diesem Dänenprinzen.

Theater der Zeit 10 / 2024

Diese verschiedenen Facetten der Figur – zwischen zögerlich-depressiv und zornig-aggressiv – fächert Henkel auf und schickt dazu gleich fünf meist in Existentialisten-Schwarz gekleidete Schauspielerinnen und Schauspieler ins Rennen. Aus Hamlets Monologen, die oft Selbstgesprächen gleichen, werden so mitunter Dialoge. Überhaupt scheint das Stück hier in Hamlets Kopf zu spielen, angesiedelt in einer surrealen Bühnenlandschaft (Katrin Brack) aus drei kreisrunden, schräg stehenden Plattformen, über denen sich verschiedenfarbige Gewitterwolken ballen. Henkel lotet weniger die existenziellen Fragen um Sein oder Nicht-Sein in aller Tiefe aus. Ihr geht es um Sein oder Schein. Der Abend ist eine Reflexion über die verführerische Kraft der Verstellung. Im Guten wie im Gefährlichen. Gut, weil der Abend pures Theater ist, reines Spiel, das fernab des Realismus seine eigene Wirklichkeit schafft und damit betört. Und gefährlich, weil die Aufführung auch die Form der Verstellung vorführt, die im Zeitalter des Postfaktischen längst gängige politische Praxis der Populisten geworden ist, der immer mehr Menschen erliegen. // Christoph Leibold

„Gloria. The Right to Be Desperate“. Regie & Konzept, Bühne Gosia Wdowik

Theater Neumarkt Zürich

Nach der Psycho­analyse „Gloria – The Right to Be Desperate“ – Regie & Konzept, Bühne Gosia Wdowik, Bühne Aleksandr Prowalińsk, Kostüme Maja Skrzypek, Musik & Sound: Agata Zemla

O

b Theater und Psychotherapie etwas gemeinsam haben? Nun, als Publikum lesen wir im Theater Zeichen und Referenzen, im gleichen Atemzug ordnen wir sie ein oder übersehen sie hin und wieder. Wir decodieren und interpretieren, versuchen zu greifen, wo und wohin sich ein Körper, ein Gedanke, eine Ästhetik bewegt. Ob wir wollen oder nicht – wir entwickeln eine Haltung. Empfinden Empathie oder Verständnislosigkeit, finden den Abend gut oder schlecht. Er vermittelt sich uns – oder nicht. Es ist ein Pingpong zwischen der Bühne und dem Publikum, zwischen zwei Seiten. Die Kunst, die Schauspielenden, sie setzen sich uns darin aus, brauchen uns als Gegenüber für die Selbsterfahrung. Nicht unähnlich also einer Therapiesituation, in der sich die eine Partei versucht zu vermitteln, die andere sich bemüht zu begreifen und einzuordnen. Die polnische Regisseurin Gosia Wdowik zeichnet in „Gloria – The Right to Be Desperate“ eine Linie von Theater zur Therapiekultur, zur Suche nach dem Inneren, zum Sich-Vermitteln, zur Authentizität. Ein Stück grüne Wiese mit wuchernden Gräsern, ein paar Felsen und einem Asphaltweg liegt auf der Bühne. Dahinter ein transparenter Vorhang, der einen Raum mit zwei minimalistisch schicken Stühlen ganz in Therapiezimmerästhetik abschirmt. Eine Schauspielerin (Sofia Borsani) kündigt ihr bevorstehendes Reenactment des Dokumentarfilms „Gloria – Three Approaches to Psychotherapy“ an. Ein Film aus den sechziger Jahren, in dem die US-amerikanische Frau Gloria während ihrer drei Therapiesitzungen bei drei verschiedenen Psychoanalytikern gefilmt wurde. Sofia Borsani hier im Neumarkt also erzählt, sie bräuchte für ihre Darstellung ein Gegenüber, jemanden aus dem Publikum, einen Therapeuten, um richtig reenacten zu können. Als sich schließlich jemand bereit erklärt, wird der Mann auf die Bühne geholt und bekommt Anweisungen. Nichts müsse er sagen, einfach anwesend sein, damit sie spielen könne. Ungewohnt weit weg vom Publikum sitzen sich die beiden schließlich gegenüber auf den Stühlen im Therapiezimmer. Es geht um Sexualität und Schuldgefühle und damit verbundene innere Zwiespälte. ­ Gloria hat Schwierigkeiten, ihrer Tochter gegenüber ehrlich zu sein über ihr Liebesleben. Das ist das erste von drei Kapiteln, die erste Therapiesitzung vorbei. // Anna Bertram

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

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Wartest du auf Applaus? Von Iwona Nowacka

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Ist schon ein seltsamer Augenblick, so eine Rückkehr aus der Sommerpause. Sachen, die wir bis Juni routiniert getan haben, können zum Spielzeitauftakt auf einmal ein bisschen weird daherkommen. So ein Applaus z. B. Da sitzen Hunderte Menschen und schlagen eine Hand gegen die andere, manchmal sogar rhythmisch. Es gibt welche, die es laut tun und so weit ausholen, dass sie fast den Platz­ nachbarn umstürzen, und andere, die nur schüchtern mit Fingern klatschen. Manche tun es mit erhobenen Händen. Einige rufen dabei etwas Richtung Bühne. Heutzutage gibt es auch ganz viele, die Fotos machen. Es gibt welche, die sofort aufstehen, und die, die sich gezwungen fühlen, ihnen zu folgen, wie auch die, die sitzen bleiben, auch wenn sie allein in dieser Entscheidung sind. Es gibt auch solche, die die ganze Vorstellung über geschlafen, gar geschnarcht haben und nun am lautesten applaudieren. Und währenddessen ist auf der Bühne nicht weniger los. Es wird sich verbeugt, ge­ lächelt, ernsthaft noch ganz in der Rolle geguckt, manchmal zurückgeklatscht, aufs Techniker:innenpult gezeigt, es werden Küsschen verschickt, Zeichen gen Himmel und Kosmos gesendet, es wird so getan, als ob man schon gehen möchte, abgewinkt: Jetzt reicht’s schon. Der Applaus ist also Kommunikation (nicht umsonst heißt es im Deutschen Kaffeeklatsch), aber eine im bestimmten ­ Rahmen eines Rituals, der die Spontaneität und Ausdrucksfreiheit schon ein wenig einschränkt. Man folgt Richtlinien. Im alten Rom forderte einer der Schauspieler das ­Publikum mit „Plaudite!“ auf. In manchen Stadttheatern in Deutschland hängt eine Applaus­ ordnung am Schwarzen Brett. Ich werde nie vergessen, wie ich mit diesem Wort das erste Mal in Berührung kam (es war in Zittau bei meiner ersten Arbeit an einem deutschsprachigen Theater) und versucht habe, den verwunderten polnischen Kolleg:in­nen den für mich auch neuen Begriff irgendwie zu übersetzen: Schritt nach vorne, Schritt ­zurück, Hände halten, zu dritt, zu zweit. Und dann unsere naive Frage an jemanden aus dem Ensemble: „Was ist, wenn ihr die ganze Choreografie zeitlich nicht schafft, weil das Publikum aufhört zu klatschen?“ Und die selbstsichere Antwort: „Sie machen so lange, wie wir unser Ding machen.“ Es ist eine Vereinbarung: Applausordnung muss sein.

2005 haben sich fünf Mitglieder der tschechischen freien Theatergruppe Krepsko in die Kulissen des Prager Nationaltheaters eingeschlichen, sind beim Schlusslichtwechsel auf die Bühne gegangen und haben sich noch vor den Schauspielenden verbeugt. Geplant war das Happening als eine schnelle Aktion, nach der sie sofort verschwinden, sie wurden jedoch von den Mitarbeiter:innen des Hauses aufgehalten. Die ein wenig verwirrte Polizei wurde wegen ­Applausdiebstahl gerufen. Das Ganze mitsamt einer langen Diskussion zwischen ­Polizisten, Ensemble, Regieassistentin und Krepsko-Künstler:innen im Theaterflur ist auf YouTube unter Stolen Ovation zu sehen, da Krepsko eine versteckte Kamera dabeihatte. Und auch wenn man nicht viel Tschechisch versteht, sieht man, was für Emotionen ­dieser groteske Diebstahl hervorgerufen hat. Umso länger man guckt, desto mehr Fragen kommen auf: Was wurde den Darsteller:innen des Nationaltheaters weggenommen? Hatten sie Grund, sich so zu empören? Im August war ich in einem Workshop von Lola Arias, der auf die Präsentation ihrer Produktion „Los Días Afuera“ beim Festival Zürcher Spektakel folgte. Und wie es oft so ist, wenn man obsessiv über etwas nachdenkt, auch dort wird der Applaus Thema: Wie soll man applaudieren bei einem Projekt, bei dem Menschen ihre wahren Geschichten (hier über Gefängniserfahrungen) darstellen? Was bedeutet der Applaus dann? Was für eine Verantwortung liegt bei dem klatschenden Publikum in so einem Fall? Was für eine Botschaft sendet man den Protagonist:innen? Oder was erledigen wir mit diesem Applaus? Applaudiert das Publikum dann für die künstlerische Leistung oder für den Mut oder das Erlittene? Im Polnischen gibt es einen ziemlich fiesen Ausdruck, der eine Person drängen sollte: Worauf wartest du, auf Applaus? Viele Psycholog:innen glauben, dass der ­ Applaus eine symbolische Umarmung bedeutet. So ersetzen wir direkten Kontakt zum anderen Menschen, der in der gegebenen Situation nicht möglich ist. Lasst uns einander vielleicht in der neuen Spielzeit mehr umarmen. T Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monatlich im Wechsel.

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Foto links Jakub Wittchen, rechts Theater Casino Zug Nikolaus Habjan, Sophiensæle Berlin Gedvile Tamosiunaite, TOBS TOBS, Ballhaus Naunynstraße, Zé de Paiva

Magazin Kolumne


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präsentiert TOBS (Theater Orchester Biel Solothurn) Das TOBS! Schauspiel Ensemble fächert auf der Bühne die multiplen Identitäten Orlandos auf, beleuchtet sie kaleidoskopisch und feiert die fantastische, zeitübergreifende Kraft des Theaters. Details und Tickets: tobs.ch 20.9. bis 9.11.

FFT Düsseldorf Judith Malina, Ikone des politischen Theaters in New York, hinterließ ihre „Notizen zu Piscator“, die nun auf Deutsch erscheinen. Das Werk umfasst ihre Seminarmitschriften, beleuchtet Piscators Biografie und seinen prägenden Einfluss auf das US-amerikanische Theater. 15.11. (Buchpremiere)

„Der Herr Karl“ von Carl Merz und Helmut Qualtinger

Schwerelos trägt uns Orlando durch Jahrhunderte

Theater Casino Zug Nikolaus Habjan entführt mit seinen ­Klappmaul­puppen in „Der Herr Karl“ von Carl Merz und Helmut Qualtinger in die bizarre Welt eines Durchschnittsbürgers nach dem Krieg. Nun ist das einstige Skandalstück, welches längst ein Stück österreichischen Kulturguts geworden ist, als erstklassiges Puppentheater im Theater Casino Zug zu sehen. 2.11.

Sophiensæle Berlin Hendrik Quast verwandelt die Bewirtschaftung seines Kopfes in eine skurrile „Hairkunfts“Performance. Mittels Stand-up, Musical und Body-Art beleuchtet er die widersprüchlichen Erfahrungen einer queeren und schamvollen Klassenreise. 18./19.10. und 13./14.12.

Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin Die künstlerische Arbeit am Theater ist koope­­ rativ und selbstreflexiv. Theater­macher:innen der Weimarer Republik ver­suchten, eine bessere, nicht-kapitalistische Gesellschaft vorwegzunehmen. Matthias Rothe untersucht in „Tropen des Kollektiven“ warum dieser Versuch scheiterte und in problematische Richtungen führte, am Beispiel d ­ es Epischen Theaters. 13.12. (Buchpremiere)

Theater der Zeit 10 / 2024

„STRICKEN“ von Magda Korsinsky

Ballhaus Naunynstraße, Berlin In der choreografischen Arbeit „STRICKEN“ begegnen sich ein Schwarzes Mädchen und seine weiße Großmutter. Was lernen wir nicht alles von unseren Omas! Konkrete Akte, ganze Welt­vorstellungen. „STRICKEN“ ist eine einzigartige Perspektive auf deutsche Familiengeschichte. 5.10. bis 8.10.

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Thema Ensemble heute

„Die Dreigroschenoper“ (Premiere 2021) von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble. Regie Barrie Kosky

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Theater der Zeit 10 / 2024

Foto JR Berliner Ensemble

Der Begriff Ensemble ist so vage wie häufig benutzt und wird immer wieder als vorbildlich wirkende künstlerische Gemeinschaft im Theater beschworen. Vor 75 Jahren gründete Bertolt Brecht sein Berliner Ensemble. Eine Methode seines Theaters und bis heute eine Weltmarke, obwohl vieles von Brechts A ­ rbeit kaum noch so möglich ist. Dennoch behauptet der ­derzeitige Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, seine „Ensemble-­ Euphorie“ im Gespräch auf den folgenden Seiten. Dazu stellen wir drei Beispiele heutiger Ensemble-Kultur vor. Thüringen-Redakteur Michael Helbing schildert die Kollektivarbeit am Theaterhaus Jena, darauf folgt das demnächst mit dem Preis des ITI ausgezeichnete KULA Theater mit­ seiner Geschichte und Baden-Württemberg-Korrespondentin Elisabeth Maier porträtiert das Theater Lindenhof, das seit über 40 Jahren auf der Schwäbischen Alb und in der Region als eingeschworenes Ensemble Theater zeigt.

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Zettels Traum und schwindende Bindungskräfte Oliver Reese, seit 2017/18 Intendant des Berliner Ensembles über seine ungebrochene Ensemble-Euphorie und Brechts Regiepult im Gespräch Mit Hans-Dieter Schütt

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Foto links Jonas Holthaus, rechts Moritz Haase

Thema Ensemble heute


Thema Ensemble heute Oliver Reese, vor 75 Jahren wurde das Berliner Ensemble gegründet. Sie haben gesagt, ein Theater mit einem schöneren Namen könne es nicht geben. OR: Das sage ich laut und leidenschaftlich: Ja! Das Schöne im Namen: Berlin oder Ensemble? OR: Wir wollen ja über Ensemble sprechen. Dieser schöne, wichtige, vielgestaltige Begriff bedeutet Verantwortung. Es ist ein Glanz mit Pflichten. Den Namen hat Brecht nicht für dieses Haus erfunden, sondern für seine Truppe in der Schweiz. OR: Ja, es war eine sehnsüchtige Prophezeiung, die er da 1949 in die Welt setzte. Nach langer Wartezeit – und auch den vielen Jahren im Exil – war er 1954 am Ziel: Er hatte endlich ein Haus für sein Programm, hier am Schiffbauerdamm. Ist Ensemble für Sie ein ästhetischer oder ein betriebstechnischer Begriff? OR: Entscheidend ist für mich, dass Ensemble zuallererst eine Struktur bedeutet, durch die ein stabiles Repertoire mög-

Warum? OR: Weil das sehr viel Geld kostet. Wir am BE haben jetzt die achte Saison meiner Intendanz begonnen. Eine Reihe von Inszenierungen ist seit Jahren im Spielplan, solch eine Kontinuität wäre an einem Theater nur mit Gästebetrieb nicht denkbar. Ensemble, das meint natürlich auch eine starke technische und logistische Crew.

unbedingt auf das gesamte Haus weiten. Brecht hat ein Schauspielertheater gemacht. Er meinte alle. Künstler bilden die Identität des Hauses, an dem man in Kontinuität miteinander spielt und sich gemeinsam weiterentwickelt. Unbekanntes zu zeigen, ästhetische Experimente zu wagen – das geht nur, weil ich weiß: Hier arbeiten Schauspieler und Schauspielerinnen, wegen denen das Publikum ins Theater kommt. Gesichter und Konturen müssen Zeit bekommen, sich aus- und einzuprägen. Und die Beteiligten müssen die Sicherheit des festen Engagements haben, um wagen zu können.

An der Wand Ihres Büros hängt das Plakat zu Jürgen Goschs Inszenierung „Die Möwe“, vor über 15 Jahren am Deutschen Theater. Ein Ensemble sah er klein und konzentriert: Nicht das gesamte Haus, sondern die jeweilige Truppe, die gemeinsam und verschworen ein Stück probt. Es war wie ein Gleichnis: In seinen letzten Inszenierungen blieben alle Mitwirkenden die gesamte Zeit, in allen Szenen, auf der Bühne. OR: Es ist ein Unterschied, ob zu diesem Thema ein Intendant oder der Regisseur spricht. Ich möchte das Thema

Ensemble heißt Gemeinsinn. Ich spüre Ihre Euphorie. Nun leben wir in brüchigen Zeiten, Vereinzelung grassiert. Welche Folgen hat das für die Ensemblepraxis? OR: Krasse Folgen. Handwerker Zettel im „Sommernachtstraum“ hat einen klaren Ehrgeiz: „Lasst mich den Löwen auch noch spielen!“ Solche Unbändigkeit, solch eine Lust, die alles will – sie hat unter Schauspielerinnen und Schauspielern nachgelassen. Was inzwischen attraktiver zu sein scheint, ist die Devise von Melvilles Schreiber Bartleby: „Ich möchte

lich wird. Für so eine Möglichkeit, gerade auch in der Fläche, ist Deutschland einmalig in der Welt. Ensemble und Repertoire bedingen einander. Und das ist ein hohes Politikum.

Probenbesprechung zu „Ellen Babić“ von Marius von Mayenburg in der Regie von Oliver Reese

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Thema Ensemble heute bitte lieber nicht.“ Man drängt nicht mehr danach, sehr viel präsent zu sein, man möchte gezielt auswählen. Ein Reflex auf die allgemeine Hatz? OR: Interessant: Kunst ruft auf zu Besinnung und Entschleunigung – aber was, wenn die Kunstausübenden selber aussteigen? (Lacht.) Ich spreche hier von einer bedenklichen Tendenz, aber natürlich ist das Leben, zum Glück, reicher. Dennoch: Bartleby ist im Vormarsch. Für die Planung eines Hauses ist das eine Hypothek. Überall? OR: An Bühnen jenseits der Metropolen ist das sicher weniger die Tendenz, die Aufgaben werden dort klarer diktiert (bis zu fünf oder sechs Rollen pro Spielzeit), der finanzielle Spielraum ist geringer, und der Einfluss der Agenturen mit ihren Filmoder Fernsehangeboten kleiner. Film und Fernsehen sind ein großer Konkurrenzfaktor? OR: Absolut. Hauptsächlich Jüngere klopfen leichter an die Tür der Intendanz: Ich möchte raus aus den Ensemblepflichten, ich möchte mein Leben freier organisieren, ich möchte mir Drehtermine nicht durch Theaternotwendigkeiten blockieren lassen. Es ist nicht außergewöhnlich, dass Absolventen und Absolventinnen fest zusagen, plötzlich aber von einer Agentur abgefangen werden und das verabredete Engagement gar nicht erst antreten. Das Thema ist zu einer schweren Prüfung für das Ensembletheater geworden. Damit verbundene Konflikte sind mitunter echt bitter. Es geht um Verträge. OR: Ja, ebenso aber um Beziehungen, ums künstlerische Miteinander. Zu Beginn der letzten Saison hat der Intendant des Königlichen Theaters Kopenhagen das Ensemble dort aufgelöst. Er hielt den Stress nicht mehr aus. Dauernd Beschimpfungen, weil er wegen des Theaterbetriebs Dreherlaubnisse verweigern musste. Das ist der Geist der Zeiten. Wo ist jetzt Ihre Euphorie? OR: Meine Euphorie ist belastungsfähig. Das feste Ensemble ist ein grandioses

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lebendiges Wesen. Die andere Wahrheit: Es ist auch eine Fußfessel. Das Ensemble bietet Sicherheit, und das 13. Monatsgehalt ist gewiss nicht der unerheblichste Punkt in einer Reihe von Vorteilen, aber: Ensemble engt in gleichem Maße ein. Ich gestehe, die Zwickmühle macht mir (und denen, die hier planen und disponieren) das Leben manchmal schwer. Chefregisseur, Schauspieldirektor, Chefbühnenbildner: Bezeichnungen aus vergangener Zeit? OR: Bei Ihrer Frage denke ich unwillkürlich an jene Jahre am Deutschen Theater, als es mit Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff, Michael Thalheimer und später noch Barbara Frey einmalige, sich gegenseitig kontinuierlich hochtreibende künstlerische Konstellationen gab. Das war Regie in ziemlicher Handlungsfreiheit, prägend für die Spielerinnen und Spieler wie für den Stil des ganzen Hauses. Aber erstens lässt sich die Wiederholung von so etwas nicht administrieren, und zweitens gehen wir hier am Berliner Ensemble einen anderen Weg. Es gibt keine Gruppenbildungen, Regisseure und Regisseurinnen arbeiten zwar regelmäßig, aber nicht so dicht, sie lassen sich weniger in die Pflicht nehmen, haben dennoch Lust auf die besondere Hingabe des Ensembles. Was heißt Hingabe? OR: Na ja, Leidenschaft für all das, was eben mit diesem Begriff des Repertoires verbunden ist. Ich meine Menschen am Theater, die kann man anrufen, und sie springen an, sie springen ein, sie spielen gern und groß auf, auch da, wo sie mal „nur“ mitspielen – das alles gibt es zum Glück auch noch. Wie ist es mit dem festen Engagement von Regisseuren und Regisseurinnen? OR: Bindungskräfte schwinden auch da. Ich lud ein und bekam Körbe. Prominente Namen könnte ich nennen. Man will an bestimmten Häusern vorkommen, aber nicht fest. Denn sich zu binden, das bedeutet nicht nur Regie, sondern auch eine erweiterte Verantwortung. Das ist Beteiligung an Leitungsprozessen. Dies wird gescheut – und vielleicht auf die eigene Intendanz gewartet. Dabei ist das Leben in

freier Regiekunst doch echt mühselig: Der Daueraufenthalt in Gästeappartements schafft künstlerische Nomaden. Bis wohin ist eine geschrumpfte Truppe noch ein Ensemble? OR: Kampf ist immer. Die Frage ist: Stehen wir schon in einem Überlebenskampf um unser jahrzehntelang gewachsenes System? Zu beobachten ist ein Umbruch auf dem Markt der StreamingDienste. Er wird gnadenloser. Früher verhandelten künstlerische Betriebsbüros am Theater mit Produktionsleitungen vom Film über einzelne Drehtermine. Heute sind Produktionsfirmen rabiat: Entweder du stehst fürs Drehen, wie gering deine Einsätze auch sein mögen, drei volle Monate zur Verfügung oder du bleibst draußen. Diese Sachlage könnte die Rückbesinnung auf das fördern, was man am Theater hat. Drohen Rumpftruppen? OR: Auch unsere Arbeitsweisen haben sich ja verändert – ich habe noch Theaterzeiten erlebt, da wurde in Shakespeare-Inszenierungen jede Figur durchbesetzt, bis zum dritten Soldaten. Wäre heute nur schwer vorstellbar. Was sicher befreiend ist. Wir bieten andere künstlerische Perspektiven. Holen wir uns Rat bei Goethe: „Vorbei, ein dummes Wort!“ Herr Reese, Ihre Euphorie! OR: Keine Bange. Aber es nützt nichts: Die Konflikte gehen nicht immer gut aus, es fließen Tränen, es gibt schlaflose Nächte. Also: Je nach Tagesform bin ich dem Ensembletheater ungebrochen zugewandt, vor allem, wenn ich aus Proben komme, an manchen Tagen aber, wenn es in besagter Sache mehrmals an der Tür klopft, fühle ich schon eine ziemliche Zerknirschung. Wie ist der Bedrängung zu entkommen? OR: Ich weiß es nicht. Natürlich gibt es Gegenbewegungen, also Hoffnung. Es kehren Leute zurück aus dem windigen Gelände des freien Marktes, sie haben Geld verdient, aber sie vermissen das Theater. Finanziell können wir mit Film und Fernsehen nicht konkurrieren, aber doch durchaus mit etwas Zentralem, mit etwas, das

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dem Spiel zugrunde liegt. Sprache z. B., Figurenentwicklung, Zusammenspiel. Brecht sprach davon, im Publikum neue Ansprüche zu wecken. Welche sind das heute? OR: Was ist neu, was alt? Oft ist das Neue das, was verschüttet war und wert ist, wieder freigelegt zu werden. Man kann es ganz einfach sagen: Es geht darum, nicht an den Leuten vorbeizuarbeiten. Das Publikum? Wer ist das? Am Schauspiel Frankfurt war mir das klarer, ich kannte extrem viele ständige Gäste, in Berlin ist die Antwort disparater. Seit fast 40 Jahren bin ich in wechselnden Engagements. Erfahrungen helfen, aber sie dürfen einem die Welt vor uns nicht verbauen. Sie ist vielleicht zehrender und härter als je zuvor. Die Medienvielfalt malträtiert? OR: Sie macht aber auch wach. Und genau da gibt das Ensemble eben auch Hoffnung und Halt. Es geht um das Empfinden von und für Gemeinsamkeit. Etwa im Ringen darum, nächste Generationen für das Theater zu begeistern, Menschen mit einem ganz anderen Existenz- und Zeitgefühl. Und junge Erzähl- und Spielweisen.

Foto JR Berliner Ensemble

Ist Zeitgefühl auch Geschichtsgefühl? OR: Das Vergessen ist schneller als das Bewahren. Gegenwart durchjagt uns. Dem widersetzt sich Theater, gleichzeitig darf es sich den geänderten Lebensrhythmen nicht verweigern. Auch hat sich der Kanon der dramatischen Literatur in den letzten Jahren, ja, man kann das sagen: nahezu aufgelöst, wenigstens perforiert. Viele Stücke sind der Collage, der Überschreibung ausgesetzt. Auf manchem Besetzungszettel sind daher nicht mehr konkret Rolle und Spieler bzw. Spielerin ausgewiesen, sondern da steht „Mit“, und dann folgt die Liste der Besetzten. Mehrfachbesetzung und Rollentausch sind zu einem ästhetischen Prinzip geworden. Noch einmal zu Brecht, er ist eine Säule Ihres Spielplans … OR: Schön, wir kehren zurück zur Euphorie! Er war ein literarischer Superstar. Und hatte zugleich wenig Gelegenheit, seinen Weltruhm zu genießen. Dessen Eck-

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Szene aus „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble. Regie Barrie Kosky

punkte waren „Die Dreigroschenoper“, dieser überraschende Jugenderfolg, und dann die sehr späten zwei Jahre bis zu seinem Tod, 1954 bis 1956, hier am BE. Dazwischen das Exil. Auf seinen Fluchten hat ihm kaum jemand einen Groschen gegeben, in Finnland am See ist man kein Superstar. Er schrieb weltberühmte Stücke, aber für die Schublade, nach dem Krieg ging er weiter, dieser Kampf darum vorzukommen, in der Schweiz, in der DDR, wo er am DT zuerst nur als Gast geduldet war. Ein Leben lang Herzschwäche, Durchsetzungsmühe, erst im Auspfeifen seiner Lunge dann der Weltruhm. Hier am Haus, wo er grandios begonnen hatte. Das ist eine so unglaubliche Pointe. Dieses Schicksal verliere ich nie aus dem Blick. Und wenn ich heute das Ensemble so hoch schätze, dann ist das natürlich eine Ehrerweisung – in Produktivität. Bei den Endproben jeder Inszenierung wird immer das Original-Brecht’sche Regiepult

aufgebaut, ein kleines hölzernes Pult. Etwas Bleibendes, aber auch ein deutliches Zeichen von Verwitterung. OR: Ja, die alten Leinenfetzen hängen da herab … Jedes Mal ein Bild, das rührt und schreckt. Ensemble – sagen wir zum Schlusse so: Es bedeutet quirligen Betrieb. Aber wohin im Hause gehen Sie, wenn Sie endlich mal allein sein wollen? OR: In den Zuschauerraum, zu ungewöhnlichen Zeiten, Sonntagnacht oder Montagvormittag. Wenn es ganz still ist. Keiner da, Türen zu. Ich setze mich unbemerkt irgendwohin, neues Haus, großes Haus, schaue nach vorn und frag mich nach dem, was da noch unbedingt hin muss, auf diese leere Bühne Brechts. Außer Ihnen wirklich niemand im Raum? OR: Soll ich jetzt sagen: doch … T

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Thema Ensemble heute

Ensemble, das sind alle Kollektive Kunst am Theaterhaus Jena zwischen Vergangenheit und Zukunft Von Michael Helbing

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Ein besonders zuletzt sehr erfolgreiches Ensemble – Theaterpreis des Bundes, Berliner Theatertreffen – hat das Theaterhaus Jena planmäßig, aber mit Träne im Knopfloch verlassen. Dessen harter Kern bleibt in der Stadt und verkündete jüngst in einer Publikation, was aufgrund dort reflektierter Entwicklungen folgerichtig erscheint, doch nicht zwingend zu erwarten war: „Es geht weiter, auch mit uns.“ Man wird als freie Gruppe in anderen Kollaborationen weitermachen.

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Foto rechts Oskar Schlechter, links Felix Adler

Azeret Koua, Céline Karow, Daniele Szeredy, Josef Bäcker und Lukas Pergande, seit September 2024 die künstlerische Leitung des Theaterhaus Jena


Thema Ensemble heute Das bedeutet in dieser Konsequenz eine neue Qualität in der 33-jährigen Geschichte des Hauses, die derweil von einem neuen Ensemble fortgeschrieben wird, das dabei gleichsam die nächste Stufe jener Entwicklungen derart zündet, dass es zugleich, bewusst oder nicht, an die Anfänge anknüpft. Diese wiederum gehen, konzeptionell und strukturell, auf einen „Diebstahl aus Mülheim“ zurück. So beschreibt es Sven Schlötcke, der das Theaterhaus 1991 mit Horst-J. Lonius gründete und zehn Jahre später zur Leitung des Theaters an der Ruhr stieß, wo ihn dieselben Gedanken bis heute immer wieder umtreiben: Theater als kollektive Kunst. Mit dieser Gemengelage zwischen Vergangenheit und Zukunft haben wir es hier zu tun. Josef Bäcker aus dem neuen, fünfköpfigen Leitungsteam in Jena macht sie en passant deutlich, als wir uns zum Gespräch treffen. Auf dem Theaterhof kommen wir an zwei Kollegen aus der Technik vorüber. Bäcker stellt sie als Ensemblemitglieder vor. Das ist neu. Lizzy Timmers, die seit 2018 zum Theaterhaus gehörte und 2022 in die Leitung ging, konzedierte bereits im Frühjahr die Wirkung dessen: „dass die Menschen sich mehr mitgenommen fühlen“. Denn die Nachfolger hätten schon in der Vorbereitung mit dem ganzen Haus über Themen und Projekte gesprochen. Nachzulesen ist das in der Publikation „How to Ensemblerat?“, die man sich auf den Internetseiten des Theaterhauses herunterladen kann. Begleitet von Anna Volkland lässt dessen nunmehr ehemalige Truppe in dieser 130 Seiten starken Gesprächs- und Materialsammlung künstlerisch mitbestimmtes Arbeiten und das Ensemblerat-Modell mit Vor- und Nachteilen, allem Gelingen und Scheitern Revue passieren, wie sie es praktizierten. Eingeläutet worden war das, als das niederländische Kollektiv Wunderbaum 2018 ans Theaterhaus kam und mit seiner Arbeitsweise für Stückentwicklungen und Recherchetheater Schauspieler sich zu spielenden und/oder regieführenden Theatermachern ermächtigen ließ. Nach nur vier, zudem durch „Corona“ ausgebremsten Jahren ging Wunderbaum wieder. Die künstlerische Leitung, die in Jena nach spätestens sieben Jahren wechseln

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muss, wurde alsbald neu ausgeschrieben, für 2024. Mit der Ansage „Wir sind noch nicht fertig hier“ an die Gesellschafter des privat getragenen, aber öffentlich geförderten Hauses konnten die Übriggebliebenen derweil für zwei Spielzeiten übernehmen: Lizzy Timmers und „Wunderbaum“-Ausstatter Maarten van Otterdijk in der Leitung, die Schauspieler Pina Bergemann, Henrike Commichau und Leon Pfannenmüller im neuen Ensemblerat, zu dem bald vier neue Kollegen stießen, an deren Engagement sie beteiligt waren, sowie eine Regie- und eine Ausstattungsassistentin. Neu ins Haus kam auch die Dramaturgin Hannah Baumann. Fortan probierte man aus, was wahlweise als semikollektives Organisationsoder Hybrid-Mitbestimmungsmodell beschrieben wird. Laut Hannah Baumann, so liest man’s in „How to Ensemblerat?”, lebte es „davon, dass man sich füreinander entscheidet“. Lizzy Timmers glaubt, „dass

Fortan probierte man aus, was wahlweise als semi­ kollektives Organisationsoder Hybrid-Mitbestimmungs­ modell beschrieben wird.

das Publikum in Jena auch davon begeistert wurde, dass sie hier Menschen auf der Bühne gesehen haben, die eine bestimmte Autonomie ausstrahlen“. Henrike Commichau fügt die ehrliche, sich fast zwangsläufig übertragende Begeisterung hinzu, „wenn ich mich mit Themen auseinandersetzte, die mich wirklich interessieren“. Mit Pina Bergemann und Leon Pfannenmüller haben diese drei nun das Kollektiv Post Paradies gegründet. Paradies heißen ein Teil des innerstädtischen Volksparks sowie der ICE-Bahnhof in der Nähe; als künstlerisches Paradies, aus dem sie die

Ensemble von „Die Hundekot-Attacke“, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2024. Von links: Hannah Baumann, Linde Dercon, Nikita Buldyrski, Leon Pfannenmüller, Henrike Commichau, Pina Bergemann, Anna K. Seidel, Walter Bart.

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Der ehemalige Ensemblerat des Theaterhaus Jena

Umstände vertrieben, begreifen sie wohl auch das Theaterhaus. Trotzdem finden sie es „wichtig, dass der Gedanke der Erneuerung tief in der DNA des Theaterhauses Jena verankert ist und ein regelmäßiger Wechsel der Leitungsteams ein festes Prinzip ist“. Zumindest an diesem Teil des Modells „quasi als Gesetzgebung“, wie es nach seiner bis 1999 währenden Ära etabliert wurde, zweifelt Sven Schlötcke von Mülheim. „Das finde ich einen unkünstlerischen Gedanken.“ Wesentliches Element von Ensemblebildung und -pflege sei Kontinuität. Warum und wann sich was entwickelt, könne sehr unterschiedlich sein.

Fußball-Mannschaftsgeist In Mülheim gründete Roberto Ciulli 1980 das Theater, das seit Anbeginn alle Mitarbeiter als Teil eines Ensembles verstand. Schlötcke, der das als allerdings in Teilen gescheiterte Utopie für Jena übernahm, wo man damals zwischen Künstlern und gleichberechtigten Kunstermöglichern unterschied, ist seit 2001 in Mülheim dabei. „Strukturell verändern wir hier aber andauernd etwas.“ Das Modell Mülheim war letzt-

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lich auf eine Person zugeschnitten, auf Ciulli selbst; dergleichen galt für Jena noch nie. Aber auch darüber hinaus merkte Schlötcke schnell, nachdem er plötzlich beim alten Vorbild landete, was ihm alles daran nicht gefiel. Es kam bald zu Auseinandersetzungen, die dann allerdings auch möglich und letztlich wohl produktiv waren. „Trotzdem ist so vieles richtig daran“, sagt Schlötcke über dieses Modell, das Diskurse zu nicht-entfremdeter Arbeit aus den Sechzigern und Siebzigern aufnahm: „Wenn Leute einen Stuhl auf die Bühne stellen und nicht wissen, warum, oder im Büro sitzen, ohne inhaltlich involviert zu sein.“ Das ist in Mülheim völlig anders. „Es ist ein großer Unterschied, ob Menschen ihre Arbeit als Dienstleistung begreifen oder als einen Teil ihres Seins im System Theater.“ Bei Schauspielern sei man zunächst mit solistischer Exaltiertheit konfrontiert, indes Bühnenkunst von kollektiver Intelligenz lebe. Im Sinne des Kritikers Benjamin Henrichs müsse Theater wie Fußball sein: „Das meint nicht nur die Dramaturgie des Unerwartbaren, sondern auch den Mannschaftsgeist.“ Den aufs ganze Haus zu erweitern, ist demnach gelebte Utopie: „dass alle wis-

sen, warum wir spielen.“ Alle, das sind 60 Leute, in etwa zehn mehr als in Jena. 1992 ging Jenas Ensemble (Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler) für ein Wochenende in Klausur. Nach lauter Stückvorschlägen entstand „der spießigste Stadttheaterspielplan, den man sich vorstellen kann.“ Es wurde klar, dass die Diskurse ­inhaltlicher zu führen sind: Themen statt Stücke. In Mülheim stellte man das Programm nun 2023 um: vom Repertoirebetrieb zu mehreren „Spielinseln“. Für zentrale Themenentscheidungen treffen alle Mitarbeiter zusammen, allerdings nicht von Anfang an. Dass das nicht zu schaffen wäre, sei „die Frucht einer Erfahrung aus Jena“. Die Leitung stellt „einen Strauß von fünf bis zehn Themen“ zur Auswahl. Ähnliches ereignete sich im Januar in Jena. Die neue künstlerische Leitung hatte ein Drittel ihres Programms, drei Produktionen, offen ausgeschrieben: für jedermann. 350 Bewerbungen gingen ein. Nach der ersten von drei Auswahlstufen hob man die Anonymisierung auf, im Finale versammelten sich alle Mitarbeiter in zugelosten Miniensembles an Tischen, jedes mit einer Stimme. „Das ging derart demokratisch und perfektioniert bis zum Auszählen zu, wie ich es noch nicht erlebt hatte“, sagt Pressedramaturgin Andrea Hesse, die das Theaterhaus als Mitarbeiterin nicht nur von Anfang an kennt, sondern sogar dessen Vorgeschichte eines Bespieltheaters in der DDR, bevor das Zuschauerhaus 1987 abgerissen worden war. Aus dem Prozess hervorgegangen sind die apokalyptische Komödie „Oase“ von Robert Rausch, inszeniert von Simon Jensen, Anne Sophie Kapsners queer-­ feministischer Western „Die Gesetzlose“ und „Guten Morgen, Zukunft“ von Musa Kohlschmidt nach Maxie Wanders Gespräche protokollierendem Buch „Guten Morgen, Du Schöne“ (1977) über Frauen in der DDR, derweil nun auch ostdeutsche Frauen von heute befragt werden. Mit Simon Jensen ging dem Team derart, trotz Anonymisierung, jemand ins Netz, den man vom Staatstheater Braunschweig kennt. Von dort kommen vier der fünf Leitungskollegen: neben Bäcker, der dort Schauspieldramaturg war, fanden sich die als Regieassistenten engagierten Lukas

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Foto Felix Adler

Thema Ensemble heute


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Pergande und Daniele Szeredy sowie Inspizientin Céline Karow zusammen, hinzu kam Azeret Koua, zuletzt am Resi in München beschäftigt. Untereinander nur minimal verbunden, wurde die Jena-Bewerbung ihre erste gemeinsame Arbeit. Die Ausschreibung hatte sie über Strukturen nachdenken lassen. Man spricht jetzt vom darstellenden Ensemble, wofür nach 600 Bewerbungen und 30 intensiveren Sichtungen sieben Schauspieler engagiert wurden, sowie zumindest intern vom erweiterten Ensemble. „Allen zuhören“, lautet die Devise. Es geht laut Bäcker um Sichtbarmachung, was nicht bedeuten muss, jeden auf die Bühne zu zerren, etwa zum Schlussapplaus. Man wolle „die Leute empowern“. Jenas neuer Ensemblebegriff geht aber weit darüber hinaus: Immer wieder würden sich im Haus kleine Gemeinschaften bilden, und jeden Abend ein Ensemble, das die Zuschauer und letztlich die Stadt umfasst. „Wir können nicht sagen: ,Wir schaffen jetzt Kunst‘“, so Josef Bäcker. „Wir schaffen alle zusammen vielmehr Gelingensbedingungen für Kunst.“ Mal entsteht sie dann, heißt das, mal eben auch nicht. „Es gibt an diesem Haus ein Bewusstsein für ein Miteinander“, sagt Schauspieler Florian Thongsap Welsch und spricht von transparenten Strukturen. „Ich brauche es sehr zu wissen: Ich kann nur auf der Bühne stehen, weil Dinge funktionieren und viele Leute das erarbeitet haben.“ Welsch stammt aus Bangkok und wuchs zwölf Kilometer von Bäcker entfernt auf, ohne dass man sich traf; sechs Jahre Altersunterschied und der Teutoburger Wald lagen dazwischen. Welsch studierte in Rostock und kommt vom Theater der Jungen Generation Dresden nach Jena. Ohnehin sprach das Leitungsteam bewusst keine befreundeten Spieler an. „Wir haben herausgefunden, dass wir nicht mit Menschen starten können, mit denen wir schon Arbeitsbeziehungen hatten“, so Bäcker. „Wir beginnen jetzt eine gemeinsame Geschichte.“ Die wird durchaus von historischem Bewusstsein flankiert: ob Bäcker an seinen Helden Rainald Grebe denkt, von dem er jüngst in Jena den Beleg eines Bücherkaufs fand, oder Welsch an die „unfassbar tolle Arbeit der vergangenen Spielzeit“

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mit semikollektivem Modell. „Jetzt bin ich aber hier“, so Welsch, „jetzt sind wir hier, und wir werden das weiterdenken.“ „Weg vom Schauspieler als Diva, hin zum Teil eines gemeinsamen Betriebs“, das gilt für Welsch wie seine neuen Kollegen: Saba Hosseini, aus Teheran stammend, Mona Louisa-Melinka Hempel aus Bern, Luana Velis aus Bergisch-Gladbach, Thato Kämmerer aus Johannesburg, Jonathan Perleth aus Rostock, Ioana Niţ ulescu aus Bukarest. Auch sie treten in Jena nicht einfach nur als Darsteller, sondern als Theatermacher an. Im Unterschied zu den Vorgängern geht es derweil deutlich text- und autorenbasierter zu. Azeret Koua bereitet als Regisseurin und Autorin gerade ihre surrealistische Tragikomödie „Rhapsody“ als Eröffnungsinszenierung für Ende Oktober vor, wird aber auch eine Stückentwicklung verantworten: „Lass dich überraschen, bald ist es geschehen“ nach den CorrectivRecherchen zu „Remigrations“-Fantasien. Gertrude Steins Kinderbuch „Die Welt ist rund“ und László Krasznahorkais Roman „Herscht 07769“, im nahen Rudolstadt uraufgeführt (siehe TdZ 01/2023), kommen auf die Bühne sowie, als Sommerspektakel 2025, „Laszlos Herz“, ein neues Stück von Peter Neugschwentner. Für die große programmatische Linie, an der entlang dergleichen stattfindet, zitiert Azeret Koua oft und gerne die Sängerin Nina Simone: „An artist’s duty is to reflect the times.“ Das trifft sich gewissermaßen mit den Vorgängern, die in Jena für ihre Post-Paradies-Gründung ausrufen: „Mit fast anthropologischem Blick bewegen wir uns durch die Welt, unsere Themen finden wir in Begegnungen und in der Aktualität.“ Die neue künstlerische Leitung des Theaters, zunächst für drei Jahre mit Verlängerungsoption verpflichtet, will derweil darüber hinaus noch niedrigschwelligere Strukturen schaffen, in denen sich Ensembles immer wieder neu bilden und Gäste hinzukommen können. Kunstermöglicher sollen sie nun alle sein. Wie sie das Theaterhaus nach maximal sieben Jahren verlassen möchten, war das Quintett beim Bewerbungsgespräch gefragt worden. Die Antwort: so, dass es danach eigentlich keine künstlerische Leitung mehr braucht. T

Eine Versicherungsrecherche Von Maria Ursprung

Ab 16. Oktober 2024 🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢🡢 🡢🡢🡢🡢🡢

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Thema Ensemble heute

Mit spiritueller Sehnsucht spielen Die transnationale KULA Compagnie bildet ein Ensemble der Unterschiede Von Thomas Irmer

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Die beiden kommen gerade aus dem bayrischen Birach vom jährlichen Summercamp der KULA Compagnie zurück. Khitam Hussein, die man als das Sprachzentrum dieser vielsprachigen Theatergruppe bezeichnen könnte, und der Regisseur Robert Schuster, einer der Gründer von KULA. Mit dem Kunstbetrieb Birach, einem ehemaligen Vierseithof, bietet Martin Gruber, einst als Professor für Bewegung an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ein Kollege von Schuster, einen Ort, wo künstlerische Übung und physisches Training in größerer Gemeinschaft und aller Ruhe möglich sind. Übung in Gemeinschaft, Austausch in der ländlichen Abgeschiedenheit, das ist eine wichtige Zeit der Compagnie, deren Mitglieder ansonsten über viele Länder verstreut leben und die sich doch als ein Ensemble verstehen. In Birach entstand vor über zehn Jahren die Idee von KULA, erklärt Robert Schuster die Anfänge: „Ursprünglich

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Foto Kula Compagnie, kulacompagnie.eu

Die Theatercompagnie KULA arbeitet kollektiv, frei von gängigen Produktionszusammenhängen


Thema Ensemble heute wollte ich eigentlich nur ein Laboratoire für Schauspieler:innen und habe dazu eingeladen. Das war 2014. Diese jungen Schauspieler:innen aus verschiedenen euro­ päischen und außereuropäischen Ländern waren mit der Frage beschäftigt, wo können wir einen Ort haben, um Schauspiel miteinander zu praktizieren. So eine Art Actors Studio. Und natürlich schon von Anfang an mit der speziellen Herausforderung, dass wir aber unterschiedliche Sprachen sprechen. Wie können wir im Spiel bleiben, wenn wir uns eigentlich nicht verstehen?“

Name als Prinzip Nach den Pariser Anschlägen auf Charlie Hebdo im Januar 2015 entwickelte sich die Idee für ein konkretes Projekt, das dann in Ko-Produktion mit Theatern in Freiburg, Weimar, Mulhouse und Bochum zustande kam. Mit diesem Andocken an große Theater stellte sich die Frage nach den eigenen Produktionsstrukturen, die ja noch gar nicht richtig fest entwickelt waren und eher den Arbeitsweisen der Freien Szene ähnelten. Schuster fragte sich auch, ob man diese Gegenüberstellung von Stadttheater und Freier Szene nicht auch aufheben und darin etwas Neues finden könnte. Und dabei ein „handwerklich-ästhetisch-ethisches Bindungsgewebe zu kreieren, das, was diese Ensemble-Unternehmungen ja immer versuchen“. Auch der nun etablierte Name KULA gehörte zur programmatischen Ausrichtung der Anfangszeit. „Er bezeichnet ein Tauschprinzip auf einer Inselgruppe in Papua-Neu-Guinea, wo es darum ging, ein Geschenk, das keinen materiellen oder ökonomischen, aber einen besonderen emotionalen Wert hat, von Insel zu Insel zu geben, und mit jedem Weitergeben wird es mehr aufgeladen in seinem emotionalen Wert.“ Das würde man, von außen betrachtet, erst mal als die ideale Theaterbotschaft der kulturellen Verständigung verstehen, aber das Kula-Prinzip wirkt auch im Inneren der Compagnie und ganz speziell für ihre sprachliche Situation. „Dass wirklich alle die Möglichkeit haben, in ihrer oder seiner Erstsprache zu sprechen“, sagt Khitam Hussein, „kann auf jeden Fall auch ein Geschenk sein, weil es natürlich was

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ganz anderes ist, ob man sich jetzt in seiner Erstsprache ausdrückt oder ob man eine Fremdsprache spricht.“ Hussein ist als Tochter einer deutschenglischen Mutter und eines palästinensischen Vaters im friesischen Jever aufgewachsen. Bei einem sozialen Dienstjahr in einem israelischen Kinderheim lernte sie Hebräisch, später kam noch Persisch dazu und in der Arbeit mit den aus Afghanistan stammenden KULA-Schauspielerinnen dessen Dari-Variante. Mit Schuster zusammen arbeitete sie auch an der viersprachigen Inszenierung von Wajdi Mouawads „Vögel“ am Berliner Ensemble, dessen komplizierte Übertitelung bei jeder Vorstellung im Prinzip ein Stück KULA-Arbeit war. In der aktuellen Produktion „Dibbuk zwischen (zwei) Welten“, für die sie auch die Übertitelung fährt, sind außerdem noch Jiddisch, Russisch und Französisch dabei. Die Verkehrssprache auf den Proben des KULA-Ensembles ist indes Englisch und nur in Momenten muss Hussein, die übrigens auch offizielle Botschafterin der KULA-Compagnie ist, direkt dolmetschen. Aber das heißt ja nicht, dass auch der gesprochene Rollentext vom Gegenüber einfach so aufgenommen werden kann. „Es ist zum einen eine Herausforderung, den oder die Spielpartner:in nicht zu verstehen oder zumindest verbal nicht zu verstehen, doch es öffnet eben auch andere Sinne wieder oder andere Fähigkeiten, mit denen man doch dann vielleicht hören oder verstehen kann, die jetzt nicht einfach schlicht über Worte gehen“, bringt Hussein die Probensituation auf den Punkt. Auch aus diesem Grund muss das Gemeinschaftliche von KULA auf andere Weise als anderswo geschaffen werden. Nicht nur in der relativ kurzen Zeit des Beisammenseins in Birach. Es gibt auf Proben und vor den Vorstellungen aufeinander bezogene physische Übungen, Rituale des gemeinsamen Kochens und Essens, auf den Fahrten zu und vor allem nach den Vorstellungen vibriert Popmusik der verschiedenen Kulturen im Mitsingen durch die Minibusse. Bei solchen Momenten ungebändigter Theaterfreude sieht Schuster in dem Ganzen von KULA sogar eine spirituelle Sehnsucht zum Ausdruck kommen, die er für sein oft räumlich getrenn-

Wie können wir im Spiel bleiben, wenn wir uns eigentlich nicht verstehen?

tes Ensemble als den eigentlichen Moment der Theaterarbeit erkennt. Und dann sagt er den sehr besonderen Satz: „Ich suche eigentlich die Beruhigungspunkte mehr als die Schmerzpunkte.“ Dennoch: „Über Politik zu diskutieren ist unvermeidbar, schon wegen der Passsituation oder beschränkter Reisemöglichkeiten von einigen ist das nicht auszublenden. Einfach zu sagen, darüber reden wir nicht, das gehört nicht zu unserem Ritual. Wenn jemand aus seinem oder ihrem Land nicht raus kann, dann versucht die Gruppe, sich dieser Problemlage zu stellen.“ Aus diesem Grund gibt es für einzelne Gastspiele auch Varianten der Besetzung, wie bei der „Dibbuk“-Inszenierung. Und wenn eine bestimmte Flugverbindung z. B. aus Israel gestrichen wird, dann wird nach alternativen Reisewegen gesucht und auch schon mal mit größerem Aufwand das KULA-Mitglied aus einem anderen europäischen Land abgeholt. „Das generiert natürlich dann oft das Gespräch über politische Themen, aber es geht nicht um das politische Thema an sich, sondern eigentlich um die damit verbundenen Umstände. Das könnte man natürlich auf die demokratischen Herausforderungen in unserem eigenen Land adaptieren, zu sagen, wir müssen bei den Umständen für die Menschen beginnen, um dafür Rituale zu schaffen, dass sie begreifen, sie sind nicht allein – und nicht auf das Thema setzen und sagen, so geht es nicht weiter.“ Das ist die höhere Botschaft als Prinzip des KULA-Ensembles: Wie können wir im Spiel bleiben, wenn wir uns eigentlich nicht verstehen? Im November erhält KULA den Preis des ITI Germany im Rahmen der euro-scene Leipzig. T

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Kritisches Volkstheater in schwäbischer Zunge Das Ensemble des Theater Lindenhof macht seit 43 Jahren Theater für die Regionen Baden-Württembergs

„Best of Spätzle“, szenische Einrichtung Gerd Plankenhorn mit Berthold Biesinger und Bernhard Hurm Oben: „All Right. Good night“ von ­Helgard Haug am Theater Lindenhof. Regie Claudia Rüll Calame-Rosset

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Fotos oben Richard Becker / Theater Lindenhof, unten Simone Haug / Theater Lindenhof

Von Elisabeth Maier


Thema Ensemble heute

Sie essen „Spätzle mit Soß“ und schlürfen grünen Most aus „Gränny-Schmidt-Äpfeln“ von der Schwäbischen Alb. Dabei ergründen Berthold Biesinger und Bernhard Hurm vom Theater Lindenhof in Melchingen die Untiefen ihres Heimatdialekts. Mundart hat für die beiden Sprachkünstler nichts mit derbem Humor zu tun. In ihrem Programm „Best of Spätzle“ erforschen die zwei Schauspieler die Spitzfindigkeiten der Schwaben. Sie entlocken dem Idiom eine wunderbare Poesie. Das Bundesland, in dem Dichter wie Schiller, Mörike und Hölderlin aufgewachsen sind, wird oft wegen seiner ausgeprägten Nasallaute verspottet. Die Landesregierung poliert das angestaubte Image mit der knallgelben Kampagne „The Länd“ auf. Seit 43 Jahren macht das Lindenhof-Ensemble mehr als das. Ihr innovatives Theater in Mundart und auf Hochdeutsch lässt über die Region hinaus aufhorchen. Dabei sind noch etliche Gründungsmitglieder des Melchinger Ensembles dabei. Der 69-jährige Hurm war jahrelang Intendant und sieht sich eigentlich als Rentner. Sein „Spätzle“-Programm mit Berthold Biesinger, mit dem er seit zehn Jahren durch die Lande tourt, spielt er ebenso weiter wie

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die eine oder andere Gastproduktion. Außerdem wurde er im Juni für die Grünen wieder in den Burladinger Gemeinderat gewählt. Dort sitzen jetzt sechs Stadträte der rechtextremen AfD. Mit seinen 934 Einwohner:innen ist Melchingen ein Ortsteil der baden-württembergischen AfD-Hochburg, die bis zum 1. Juni 2020 mit Harry Ebert den ersten AfD-Bürgermeister in dem Bundesland hatte. Da weht der Kultur seitens der Politik ein scharfer Wind um die Nase. Umso wichtiger findet es der Theatermann und Kommunalpolitiker, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Was bedeutet es, gegen solchen politischen Rechtsruck Theater zu machen? „Es ist wichtiger denn je, gerade jetzt für unsere Werte einzustehen“, findet Hurm. Und Berthold Biesinger, der u. a. im Stück „Die ganze Hand“ über den katholischen Staatspräsidenten Eugen Bolz, der gegen die Nazis Widerstand leistete, auf der Bühne steht, hebt die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters hervor: „Mit unserer Kunst erinnern wir an die Geschichte. Das hat eine große Kraft.“ Der leidenschaftliche Mundartspieler setzt da auf das kritische Volkstheater, das der Lindenhof seit 1981 macht. Mit Stücken wie Franz-Xaver Kroetz’ „Bauern sterben“ oder dem Sommertheater „Jerg Ratgeb – Maler“ über den Bauernkriegskünstler, geschrieben vom Lindenhof-Mitbegründer Uwe Zellmer, feierte die vielfach preisgekrönte Bühne schon früh Erfolge.

Ein Netz von Gastspielen „Wir haben als Initiative angefangen“, erinnert der heutige Intendant Stefan Hallmayer an die ersten Jahre. Der erste Spielort der „Theaterwütigen“ war die Scheuer, die damals noch nicht ausgebaut war. Da entwickelten die Laien ihre eigenwillige Theaterkunst, die sie mehr und mehr professionalisierten. Durch den Kauf des Lindenhofs hatten sie zumindest eine kleine Spielstätte. Jahrelang standen die Zuschauer:innen im Regen, wenn sie vor dem engen Gang auf den Einlass warteten. Der Albaufstieg ist auch mit dem Auto nicht ganz einfach, besonders bei Regen oder Glatteis. Durch die Wald- und Felslandschaft kommen die Fans aus der ganzen Region ins Theater, viele aus

Mit dem Spagat zwischen der Spielstätte auf der Alb und den Gastspielen im ganzen Land kommt das Ensemble gut klar.

Stuttgart und der benachbarten Universitätsstadt Tübingen. Inzwischen hat die erfolgreiche Stiftung das Theater für 2,5 Millionen um ein Foyer und weitere Räume erweitert. Als Regionaltheater wird der Lindenhof auch vom Land gefördert. „Den Umbau haben wir mit Spenden und aus Fördermitteln des Ministeriums für Ländlichen Raum ­finanziert“, sagt Hallmayer, der ebenfalls seit den Anfängen dabei ist. Viel Unterstützung bekommt das Theater auch vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der regelmäßiger Gast ist. Er rief an einem seiner Geburtstage zu einer Spendenaktion für das Theater auf „statt Geschenken“. Weil der Lindenhof ein Regionaltheater ist und mit mehr als 20 Partnerstädten Projekte oder Gastspiele realisiert, fördert das Land die Bühne. „Wenn nicht heut‘, wann dann!“ heißt das Theaterstück zum Bauernkrieg 1525, das der Dramaturg, Autor und Schauspieler Franz-Xaver Ott derzeit für die Stadt Friedrichshafen schreibt. Das Theaterstück „Zum Aufstand des gemeinen Mannes“ wird ab 17. Mai im Rahmen des Bodenseefestivals gezeigt. „Ich bin viel in der Stadt, sitze in Archiven und recherchiere“, sagt Ott. Das Ensemble des Lindenhofs wird das Stück dann in der Regie von Dieter Nelle auf die Bühne bringen. Der Autor findet es spannend, sich durch diese Kooperationen intensiv mit der Stadtgeschichte zu beschäftigen. „Mit unseren Partnerstädten realisieren wir auch partizipative Projekte“, sagt Stefan Hallmayer. Da er und seine Kollegen im Lindenhof-Ensemble selbst als Laien anfingen, und sich dann in Theaterkursen und Kooperationen mit Profis immer mehr professionalisierten, habe man da keine Berührungsängste. Ein Beispiel ist das Projekt

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„Der verkaufte Großvater“ Komödie von Anton Hamik in einer schwäbischen Fassung von Franz Xaver Ott. Regie Siegfried Bühr

„50 Jahre Filderstadt“, das die jüngere Geschichte der Reformstadt aufarbeiten soll. „Es war nicht ganz einfach, das bei der Politik durchzusetzen“, sagt Hallmayer über das Projekt, in dem Bürgerinnen und Bürger spielen sollen. Alexander Frey, der das künstlerische Programm des Messe- und Kulturhauses Filharmonie „im Speckgürtel von Stuttgart“ verantwortet, hat gemeinsam mit dem Intendanten viele Menschen motiviert und für das Projekt begeistert. „Seit 30 Jahren lebt unsere Partnerschaft

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mit dem Lindenhof“, sagt der Kulturmanager. Dass die Theatermenschen nun selbst mit den Menschen arbeiten, freut Frey, der selbst jahrelang die Öffentlichkeitsarbeit am Lindenhof verantwortet hat, und sieht in der Arbeit mit den Profis eine große Chance: „Wir müssen das Theater in die Stadtgesellschaft tragen.“ Die Regisseurin Claudia Rüll Calame-Rosset führt Regie in dem Bürgerinnenprojekt. Was macht für Alexander Frey den Reiz der Zusammenarbeit mit dem Regionaltheater aus? „Wir

bekommen mehr als Gastspiele. Das Publikum kennt die Spieler:innen und erlebt das Repertoire Lindenhof in unserem Saal.“ Neben den hochkarätigen Gastspielen, mit denen die Stadt mit 46 000 Einwohner:innen ein Publikum aus der ganzen Region anzieht, ist die feste Kooperation für Frey „eine Konstante“. Mit dem Spagat zwischen der Spielstätte auf der Alb und den Gastspielen im ganzen Land kommt das Ensemble gut klar. Franz-Xaver Ott ist glücklich, „dass sich unser Ensemble inzwischen verjüngt hat“. Denn die erste Lindenhof-Generation denkt in drei Jahren ans Aufhören. „Wir sind sehr offen für Neues, aber wollen den Geist des Ensembles erhalten.“ Der regionale Fokus solle ebenso erhalten bleiben wie die Pflege der schwäbischen Sprachkunst. „Deshalb wird der Findungsprozess einer neuen Leitung länger dauern.“ Mit dem Umbau des Theaters habe man die Voraussetzungen geschaffen, „dass es hier gut weitergeht“. Mit den neuen Mitgliedern des Ensembles ist da schon ein wichtiger Schritt getan. Luca Zahn hat an der Royal Academy of Arts in London studiert und ist nun an den Lindenhof zurückgekehrt. Er ist im wenige Kilometer entfernten Herrenberg aufgewachsen. Die jungen Spieler:innen Rino Hosennen und Hannah im Hof kommen von der Züricher Hochschule der Künste. Sie sammeln am Lindenhof Erfahrung. „Wir profitieren von unseren älteren Kollegen“, sagt Hannah im Hof. Mit der erfahrenen Schauspielerin Linda Schlepps brachten die beiden beim Tag der offenen Tür im Theater das szenische Frage-Antwort-Spiel „Quizoola“ von Tim Etchells und Forced Entertainment auf die Bühne. Die Reaktionen der Schauspieler:innen verblüfften nicht nur das Publikum. Auch die Spieler:innen lernten sich mal ganz anders kennen. „Wir durften da sehr selbstständig arbeiten“, findet Rino Hosennen. Linda Schlepps haben „die frischen Ideen der jungen Kolleg:innen inspiriert“. Die drei leben nicht auf der Schwäbischen Alb, sondern in Tübingen, das von seiner Universität und einer breit gefächerten Jugendkultur geprägt ist. Die Lust und die Neugier auf den nahen Generationenwechsel machen den Reiz des bemerkenswerten Regionaltheaters aus. T

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Foto Richard Becker / Theater Lindenhof

Thema Ensemble heute


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Foto Aggelos Barai

Akteure

„Ragada“, der erste Teil der Trilogie von Mario Banushi. Regie und Konzept Mario Banushi

Kunstinsert Die Künstlerin Gisèle Vienne inszeniert Gefühlsstudien – eine Werkschau Porträt Wie der griechisch-albanische Regisseur Mario Banushi die Begegnung mit dem Tod zur Triebfeder einer eigenen Bildsprache macht Nachrufe Eine Erinnerung an den Regisseur Christof Nel und die Zeit mit dessen Gruppe

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Installationsansicht Gisèle Vienne „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“, Haus am Waldsee Berlin, 2024

Kompositionsprinzip Collage Die Künstlerin Gisèle Vienne inszeniert Gefühlsstudien – eine Werkschau Von Theresa Schütz

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Fotos links Frank Sperling, rechts Estelle Hanania, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Akteure Kunstinsert

Szenenbild „Crowd“ (2017) von Gisèle Vienne, im Vordergrund: Louise Perming

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Szenenbild „Der Teich“ (2020) von Gisèle Vienne, Adèle Haenel

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Fotos oben © Karin Ribbe, Ruhrtriennale 2023, unten Jean-Louis Fernandez; rechts oben Enric Duch, unten Frank Sperling

Szenenbild „EXTRA LIFE“ (2023) von Gisèle Vienne, v. l. n. r.: Theo Livesey, Katia Petrowick, Adèle Haenel


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Ausstellungsansicht „Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde“, Georg Kolbe Museum Berlin, 2024

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Installationsansicht Gisèle Vienne. „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“, Haus am Waldsee Berlin, 2024

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Gefühlsstudie zu adoleszenten Empfindungswelten Gisèle Vienne, geboren 1976 in Frankreich, wuchs als Tochter der Künstlerin Dorothea Vienne-Pollak mehrsprachig auf und begann, im Alter von elf Jahren Puppen zu bauen. Sie studierte Tanz, Harfe, Philosophie und ­Puppenspiel. All die verschiedenen künstle­ rischen Sprach- und Ausdrucksformen durch­ ziehen ihre Arbeiten der vergangenen 20 Jahre und werden aktuell im Rahmen einer kollabora­ tiven Werkschau an verschiedenen Orten in Berlin präsentiert.

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Was erzählt es uns als Besucher:innen, wenn wir mit den ausgestellten Körpern sogleich Geschichten von Missbrauch, Pädokriminalität, Vergewaltigung, Mord oder Selbstverletzung verbinden? Warum fallen andere Szenarien unserer Vorstellungskraft hier schwer? Und wie gehen wir damit um, wenn die Puppen zu Identifikationsund Projektionsflächen eigener traumatischer Erfahrungen werden? Spätestens hier wird deutlich, warum Vienne die Werkschau auch als „Gefühlsstudie“ bezeichnet. Als eine solche ist sie hochpolitisch, zumal sie sich explizit der Generation der Jugend zuwendet – in

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Fotos Karen Paulina Biswell, oben Frank Sperling

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Im ersten Ausstellungsraum im Berliner Haus am Waldsee sitzt eine weiblich gelesene Gestalt mit langen grau-weißen Haaren, den Rücken zum Eingangsbereich gekehrt. Sie trägt einen Oversized Hoodie in türkis-gelbem Batiklook, wirkt versunken. Erst wenn man sich ihr von der Seite nähert, sieht man, dass es sich um eine lebensgroße Puppe handelt. Ihre Augen sind aufgrund des dicht gepinselten Mascaras und des gesenkten Blickes kaum zu erkennen. In der Hand hält sie einen handschriftlich verfassten Brief. An ihrer linken Wade schimmert ein roter Fleck durch die Strumpfhose. Ihre Versunkenheit öffnet Vorstellungsräume. Sei es, weil der Brief, der sich als Liebesbrief entpuppt, zur weiteren narrativen Spurensuche anregt. Sei es, weil ihre Mimik und Körperhaltung eine Ruhe ausstrahlen, die auch den eigenen Körper zur Ruhe und damit ankommen lässt. Auch die nächsten Räume sind von mehreren lebensgroßen Puppen bewohnt. Zu sehen ist dasjenige Jugendzimmer, das bereits Teil der Szenografie von Viennes Inszenierung „Der Teich“ (2020) war. Ob gemeinsam auf dem Bett liegend oder beieinandersitzend – hier deuten die nach innen gekehrten Blicke der Gestalten ein Bedrücktoder auch Entrückt-Sein an, das von der sphärisch anmutenden, elektronischen Musik (Caterina Barbieri: „Swirls of You“) verstärkt wird. Es folgt eine gewaltige Rauminstallation mit 13 Glasvitrinen, die nebeneinander auf dem Boden liegend eher an Särge als an klassisches Museumsmobiliar erinnern. Darin weitere Puppen, allesamt Frauen, Kinder, Jugendliche. Als Besucher:in hat man keine andere Wahl, als auf sie hinabzuschauen, sie bückend zu beäugen. Eine unbequeme Perspektive, die Schauder weckt und zugleich gewohnte Ausstellungswahrnehmungsordnungen produktiv unterwandert. Der Ausstellungsuntertitel „A Puppet Play” verweist damit nicht nur auf die herausragende ästhetische Bedeutung, die der Puppenbaukunst im Werk der Choreografin Gisèle Vienne zukommt, sondern lädt auch ein, die Ausstellung(en) selbst als Szenarium zu begreifen: Welches Theater entfaltet sich auf dieser Bühne der still gestellten Puppenkörper? Für mich sprechen ihre eindringlichen Blicke vor allem von Verletzlichkeit. So wie die Puppen unseren Blicken ausgeliefert sind, werden schließlich auch die Körper von Frauen, Kindern und Jugendlichen im „sozialen Theater“ (Vienne) der Wirklichkeit beständig machtvollen Blickregimen unterworfen. Es ist jene strukturelle Gewalt, die in normativen Körperbildern, mit denen wir aufwachsen, ebenso wirksam ist wie in anhaltenden patriarchalen Ordnungen, die bestimmen, welche Körper wann und wie öffentlich un/sichtbar werden.


Akteure Kunstinsert einer Zeit, in der Missbrauchsfälle von Kindern durch Institutionen gedeckt werden, die Klimakatastrophe Zukunftslosigkeit suggeriert, gewaltvolle Angreifer:innen immer jünger werden, sich große Mengen mit Social Media sozialisierter Jugendlicher rechten Positionen zuwenden, aber ebenso viele auch für den Klimaschutz auf die Straße gehen und gesellschaftliche Normen der Elterngeneration zur Neuverhandlung stellen. Viennes Werk fokussiert immer schon die komplexen Empfindungswelten junger Menschen. So widmet sich z. B. auch „Crowd“ jener spezifischen affektiven Kraft, die von alternativen Jugendkulturen wie der Ravekultur ausgeht, und zwar in ihrer ganzen Ambivalenz von Eskapismus, Selbstvergessenheit, Rausch, Trance bis zum Triggern dissoziativer Störungen.

Medientransfer als Archivierungsstrategie? Insbesondere nach Besuch des Obergeschosses im Haus am Waldsee, in dem blutverschmierte Holztransportkisten, die zur Szenografie von „I apologize“ (2004) gehörten, ebenso warten wie der Medienwechsel von gefertigten Puppen zur Porträtfotografie (von Gisèle Vienne selbst sowie von Estelle Hanania, die Viennes Werk seit einer Dekade fotografisch begleitet), wird deutlich, dass diese reichhaltige und faszinierende, multimediale Werkschau mehr ist als eine Einladung zum Puppenspiel. Sie scheint auch der konzeptionelle Versuch zu sein, Viennes grandiose Werke darstellender und performativer Aufführungskunst in das Museumsdispositiv zu überführen, um sie am Leben zu halten. Über das Wiederauftreten bekannter Puppen und Figuren werden nämlich nicht nur jüngere, noch tourende Inszenierungen wie „Der Teich“ und „EXTRA LIFE“ erinnert, auch abgespielte Produktionen wie „Kindertotenlieder“ (2007), „Jerk“ (2008) oder „The Ventriloquists Convention“ (2015) werden gleichsam reanimiert. Dies gelingt, weil Motive und Zeichen ein dichtes Referenznetz zwischen den Präsentationsorten spannen. Worin sich klugerweise auch noch Viennes choreografisches Kompositionsprinzip der Collage dissoziativer Bruchstücke mitvermittelt. Zum Beispiel schlagen die den Puppen als Requisiten beigegebenen Süßigkeiten oder Halloween-Masken nicht nur inhaltlich den Bogen zu einem Gespräch zwischen „Frankie“, einer knabenhaften Bauchrednerpuppe und seiner Puppenspielerin im extra für die Ausstellung im Kolbe Museum fertiggestellten Film „Kerstin Kraus, 2019–2024“, einer Hommage an Kerstin Daley-Baradel, die zu Viennes Compagnie gehörte und 2019 verstarb. Das Naschwerk verweist auch auf den US-amerikanischen „Candy Man“-­ Serienmörder, dessen grausame Sexualmorde an fast 30 Jungs von Vienne, gemeinsam mit ihren künstlerischen Wegbegleitern Dennis Cooper und Jonathan Capdevielle, in „Jerk“ künstlerisch einfach schockierend gut verarbeitet wurden. Noch dichter wird das Referenznetz, sobald man realisiert, dass es eine Figur gibt, die zahlreiche Doppelgängerinnen in der Ausstellung besitzt: Einmal liegt sie im Haus am Waldsee in einem leeren Raum, gekleidet in Jeans und weißem Sweatshirt der Marke FILA; einen Raum weiter sitzt sie aufrecht und bebrillt im Jugendzimmer, taucht dann in einer der Vitrinen wieder auf und ist auf einer der Fotocollagen bezeichnenderweise eine der wenigen Abgebildeten, die direkt in die Kamera schauen und nicht den Blick verloren gen Off senken.

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Es ist jene strukturelle Gewalt, die in normativen Körperbildern, mit denen wir aufwachsen, ebenso wirksam ist wie in anhaltenden patriarchalen Ordnungen, die bestimmen, welche Körper wann und wie öffentlich un/sichtbar werden. Das nächste Mal erblicke ich sie schon von außen durch das Fenster des Kolbe Museums. Sie hält das Gegenstück zum eingangs beschriebenen Liebesbrief in der Hand, der mit „Klara“ gezeichnet war. „Klara“ ist auch der Name der beiden Figuren, die Adèle Haenel in Viennes letzten Bühnenarbeiten verkörpert. Letztere wird zugleich als Autorin jener Briefkommunikation ausgewiesen. In „EXTRA LIFE“, uraufgeführt bei der Ruhrtriennale 2023, tritt Haenel als Geschwisterteil „Klara“ auf, das wie ihr Bruder in der Kindheit von ihrem Onkel missbraucht wurde und seitdem eine Persönlichkeitsabspaltung entwickelt hat. Hierin wie auch in „Der Teich“, einer Inszenierung, die den Selbstmordversuch eines Kindes thematisiert, das sich von seiner Mutter nicht geliebt fühlt, hat Gisèle Vienne gemeinsam mit Protagonistin Adèle Haenel und ihrem Team eine völlig neue Form zeitgenössischer Figurenverkörperung entwickelt: eine Choreografie minutiös sezierter, emotionaler Zustände, die hoch artifiziell und zugleich extrem berührend ist. Und noch über das hinaus geht, was durch die in Slow Motion tanzenden Körper in „Crowd“ bereits ästhetisch angelegt war. Aufgrund ihrer vielen Erscheinungsweisen nimmt „Klara“ damit eine Schlüsselrolle im „Puppet Play“ der Werkschau ein. Möglicherweise ist sie nicht Widergängerin, sondern Präfiguration eines Körpers, der es in Zukunft geschafft haben wird, sich aus dem gewaltvollen sozialen Theater zu performender Rollenerwartungen zu befreien. Es ist der Joint-Venture-Förderung von Kooperationsprojekten im Bereich zeitgenössischer bildender Kunst der Senatsverwaltung für Kultur und Europa zu verdanken, dass im Rahmen der Berlin Art Week seit 12. September 2024 zum ersten Mal eine umfangreiche Werkschau der multidisziplinär arbeitenden Künstlerin Gisèle Vienne in Berlin zu erleben ist. Sie gliedert sich in die Einzelausstellung „This Causes Consciousness to Fracture – ­A Puppet Play“ im Haus am Waldsee (kuratiert von Anna Gritz, 12. September 2024 bis 12. Januar 2025), die Gruppenausstellung „Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann – Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde“ (kuratiert von Joanna Kordjak, 13. September 2024 bis 9. März 2025) im Georg Kolbe Museum sowie der Präsentation ihres Films „Jerk“ (2021) und Aufführungen von „Crowd“ vom 14.–16. November 2024 in den Berliner Sophiensælen. T

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Akteure Porträt

Wortlose Trauerarbeit Wie der griechisch-albanische Regisseur Mario Banushi die Begegnung mit dem Tod zur Triebfeder einer eigenen Bildsprache macht Von Sophie-Margarete Schuster

„Taverna Miresia – Mario, Bella, Anastasia“, Regie und Konzept Mario Banushi

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Fotos Nasia Stouraiti, rechts oben Theofilos Tsimas

Szenen aus dem zweiten und dritten Teil der Trilogie von Mario Banushi. Oben: „Goodbye, Lindita“, unten: „Taverna Miresia – Mario, Bella, Anastasia“. Regie und Konzept Mario Banushi

Im alten Rom gehörte es zum Totenkult, dass Schauspieler die Trauerzüge der aristokratischen Beerdigungen begleiteten. Mit Wachsmasken porträtierten sie die Verstorbenen. Bezeichnet wurden diese aus Wachs geformten Gesichter als Imago – als „Bild“ des Toten. Die künstlerische Visualisierung der Verstorbenen begleitete das Trauern der Angehörigen. Es ist eine Begleitung, in der sich das Theater bereits früh als eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten erprobte. Die Arbeiten des Regisseurs Mario Banushi lesen sich heute, über 2.000 Jahre später, als eine neue Form des Imago. Seine Trilogie – „Ragada“ (2022), „Goodbye, Lindita“ (2023) und „Taverna Miresia“ (2023) – entwirft in gewisser Weise eine weitergedachte Praxis des Imago, die im Verlauf dieser ersten drei Regiearbeiten zu einer eigenen theatralen Formsprache heranwächst. Eine Frau saugt Staub.

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Sie verschiebt eine Kommode, um alle Ecken der Wohnung mit dem Staubsauger erreichen zu können. Als sie die Kommode öffnet, entfaltet sich diese wie eine Blume. Eine nackte Frau kommt zum Vorschein. Durch das Fenster fällt goldenes Licht. Gemeinsam waschen sie die Frau; niemand spricht ein Wort.

Die Bilder, die der albanisch-griechische Regisseur Mario Banushi in seinen Inszenierungen entwirft, ähneln diffusen Traum­sequenzen. 33


Akteure Porträt

„Ragada“, Regie und Konzept Mario Banushi

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Akteure Porträt Die Bilder, die der albanisch-griechische Regisseur Mario Banushi in seinen Inszenierungen entwirft, ähneln diffusen Traumsequenzen, die sich im Licht der Bühne scharf stellen – als eine Art psychoanalytisches Kammerspiel; als das Mosaik einer persönlichen Trauerarbeit. Das Zentrum bildet die Begegnung mit dem Tod. Sie ist der Ursprung seiner theatralen Bilderreise, deren Koordinaten aus der eigenen Biografie stammen: Mario Banushi wurde 1998 in Albanien geboren. Mit sechs Jahren wanderte er mit seiner Familie nach Griechenland aus. Dort studierte er Schauspiel am Konservatorium in Athen. In seinen ersten beiden Regiearbeiten („Ragada“/„Goodbye, Lindita“) befasste sich der junge Regisseur mit dem Tod seiner Stiefmutter; die dritte Arbeit („Taverna Miresia“) ist eine Auseinandersetzung mit der Abwesenheit seines verstorbenen Vaters – eine Abwesenheit, die bereits vor dem Tod begann. Sein Vater führte in Albanien ein Restaurant mit dem Namen Taverna Miresia. Auf der Bühne erhellt Banushi mit einer Leuchttafel ein Schild, das wie ein Authentizitätsmarker den Namen ebenjenen Restaurants trägt. Es ist das eigene Leben, das zur Kunst wird.

Foto Mario Banushi

Über den Mut, das Innere zu teilen In ihrer Abfolge verschränken sich die drei Arbeiten zu dem Porträt eines Abschieds. Grundlage dieses Porträts ist die Entscheidung, die eigene Trauer zum Material seiner Arbeit zu machen. Kein Shakespeare, kein Tschechow – der Regisseur entschied sich bewusst gegen die Klassiker. Es war eine Entscheidung, für die es den Mut brauchte, das eigene Innere mit der Welt zu teilen – es auf eine Bühne zu überführen, auf der sich Realität und Fiktion zwangsläufig ineinander verirren. Eine solche Verirrung kann für einen jungen Menschen sowohl Schutz als auch Risiko bergen – Mario Banushi macht sie gekonnt zu Kunst. Und zwar zu Kunst mit internationalem Erfolg: „Ragada“ war ein solcher Erfolg, dass daraufhin „Goodbye, Lindita“ vom Griechischen Nationaltheater in Athen produziert wurde; 2023 ist seine Arbeit auf dem Internationalen Belgrader Theater Festival BITEF dann gleich zwei Mal ausgezeichnet worden. Es folgten zahlreiche Nominierungen sowie Einladungen zu internationalen Festivals – u. a. nach Deutschland zum Fast Forward nach Dresden (2023) und unlängst zum Zürcher Theater Spektakel. Zusammengehalten wird die Trilogie durch die Kombination verschiedener Stilelemente, mit denen der Regisseur die einzelnen Sequenzen untereinander vernetzt. Zwei Menschen sitzen am Küchentisch: Er (Mario Banushi) hilft ihr beim Essen. Plötzlich öffnet sich der Kühlschrank und weißes Licht quillt hervor. Eine dritte Person tritt aus dem leuchtenden Schrank. Die alte Frau am Tisch entkleidet sich; mit einem Sieb streut Banushi Mehl auf ihre nackte Haut – so, als sei ihr Körper ein Stück Teig, das zu einem Brot gebacken werden müsse. Anschließend greift er zu einem Staubsauger, um den Teppich vom verstreuten Mehl zu befreien. An dieser kurzen Sequenz aus seiner ersten Inszenierung „Ragada“, die während der Corona-Pandemie in einer Wohnung in Athen Premiere hatte, lässt sich bereits unschwer eine Parallele zu der vorab beschriebenen Kommodenszene erkennen. Beinahe wie ein ästhetisches Muster: Es ist still. Die Bühne ist eine Woh-

PREMIEREN

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Akteure Porträt

nung. Wir folgen einer scheinbar alltäglichen Situation, die durch eine traumähnliche Verfremdung – eingeleitet durch das Öffnen einer Tür, eines Fensters, eines Duschvorhangs oder eines Möbelstücks – unterbrochen wird. In der bildlichen Verdichtung der Szenen erhöhen sich Vorgänge wie Haarekämmen, das Waschen der Körper und das Füttern eines anderen Menschen zu religiösen Riten, in denen der Einbruch des Todes in den Alltag als theatraler Prozess sichtbar wird. Die Nacktheit der Darsteller:innen nimmt in diesem Zusammenhang immer wieder eine mehrdeutige Stellung ein; in ihr liegt eine Ambivalenz: Mal erzählen die nackten Körper von Nähe und Verbundenheit, mal erscheinen sie wie Geister – platziert in einer ihnen fremd gewordenen Welt. Ebendieses Dazwischen, die Begegnung der Lebenden mit dem Tod, wird in den Arbeiten Banushis im Besonderen durch

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eine markante inszenatorische Entscheidung getragen: den Verzicht auf das gesprochene Wort. In der Wortlosigkeit seiner Inszenierungen bekommt die Trauer eine neue Größe. Sie schrumpft nicht in den Wörtern ein. Sie wird nicht in den Buchstaben eingedampft, sondern nimmt sich den Raum, der ihr in unseren Körpern zukommt. In der Abwesenheit der verbalen Sprache verschiebt Banushi die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf die sinnliche Erfahrung des Bühnenraums: das einfallende Licht, den Geruch von Weihrauch, das leise Rauschen eines Radios oder eines Fernsehers, das Wasser und die Erde, mit denen die nackten Körper gewaschen und eingerieben werden. Im Verzicht auf das gesprochene Wort – der erprobten und uns vertrauten Form der Äußerung – tut sich ein Raum auf, in dem der Mensch seinen Gefühlen neu zu begegnen lernt. Ein Raum, in dem das Theater zu

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Foto AEF 2023/Mario Banushi

Mario Banushis Arbeiten haben das europäische Theater an den Tod erinnert.


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einem Ort der Heilung wird. Einem Ort, an dem der Tod einen Platz findet. Der Weg dieser Heilung wird – das macht sich bereits an der Besetzung sichtbar – durch eine auffällige Präsenz des weiblichen Körpers begleitet. Sie erzählt sich beinahe wie das sakrale Denkmal einer menschlichen Ursprünglichkeit, in der sich die Begegnung mit dem Tod zu einem Kreis schließt. Im Dienst dieses Denkmals ist die Wortlosigkeit seiner Arbeiten nicht absolut: Zu Beginn, in den ersten Minuten der Inszenierung „Ragada“, gibt es einen kurzen Moment, in dem der Regisseur die Stille seiner Trilogie bricht. Er ruft auf der Bühne seine Mutter an; verstärkt durch ein Mikrofon erzählt sie am Telefon eine persönliche Geschichte über ihren Krankenhausaufenthalt während der Geburt ihrer Tochter. In einer anderen Szene wird ein Brautkleid mit Fäden an allen Ecken des Raumes befestigt – aufgespannt zu einem Spinnennetz, in dem die Frau wie eine Fliege in ihrem eigenen Kleid fixiert wird. Behutsam befreit sie sich aus den Fängen, öffnet ein Fenster und steigt hinaus. Die Präsenz des weiblichen Körpers umspannt die Trilogie wie ein unsichtbares Band. Erdverbundenheit und Geburt, Schmerz und Trost – in den Szenen verschmelzen die weiblich codierten Motive zu einem bildgewaltigen Sog.

Trauer als theatraler Prozess Und noch etwas ist auffällig: Mario Banushi steht in allen drei Arbeiten seiner Trilogie selbst auf der Bühne. Seine Position changiert dabei zwischen der eines passiven Beobachters, der hin und wieder die Requisiten an ihren Platz trägt, und der des eigentlichen Protagonisten, in dem die Fäden der Performance zusammenlaufen. So wohnt er in „Goodbye, Lindita“ beispielsweise dem ersten Teil der Inszenierung aus dem Publikum bei, bis er sich schließlich erhebt, die Bühne betritt und die verstorbene Lindita in seine Arme schließt. Das Kraftwerk seiner Kunst ist die Verletzlichkeit, derer sich der junge Künstler dabei aussetzt: Es ist eine Selbstoffenbarung, die sich nicht darin erschöpft, um die eigene Erfahrung zu kreisen, sondern der es gelingt, für ebendiese eine künstlerische Form zu entwickeln, in der das Eigene zu etwas Größerem wird. Zu etwas, das über ihn hinausweist. Mit einer besonderen Sensibilität für die Visualisierung von Emotionen macht Banushi die Begegnung mit dem Tod zur Grundlage seiner eigenen Bildsprache: Zwischen leuchtenden Haushaltsgeräten, übersinnlichen Erscheinungen und rituellen Waschungen passiert etwas zutiefst Menschliches: Trauer. Den Tod zu begreifen – ihn zu bewältigen, Schmerz und Trost als Teil unseres Lebens zu erleben –, das ist eine Aufgabe, mit der sich jeder Mensch früher oder später konfrontiert sieht. Und es ist eine Aufgabe – das zeigt der Regisseur mit seinen Arbeiten –, die ins Theater gehört. Denn immer dann, wenn Scham und Überforderung den Menschen dazu verleiten, seine Augen zu verschließen, ist das Theater da. Es ist da, um das Leben – und den Tod – in sich aufzunehmen. Mario Banushi hat mit seiner Trilogie an genau diese Qualität des Theaters erinnert: Als ein körperliches Ritual baute er seine Trauer zu einem theatralen Prozess um, der als Aufführung wiederholbar wird. Und der in seiner Wiederholung Trost spendet. Oder anders: Er hat das europäische Theater an den Tod erinnert. T

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BONDI BEACH Komödie von Rebekka Kricheldorf INSZENIERUNG Malte Kreutzfeldt 21.9.2024 | Antoniushaus

IPHIGENIES RACHE (UA) Soloperformance von und mit Lilly-Marie Vogler

INSZENIERUNG Nils Strunk 5.10.2024 | Haidplatz

WAS IHR WOLLT Komödie von William Shakespeare INSZENIERUNG Moritz Nikolaus Koch 19.10.2024 | Bismarckplatz

MOBY DICK Schauspiel nach dem Roman von Herman Melville

INSZENIERUNG Anaïs Durand-Mauptit

17.11.2024 | Haidplatz

WIR WASSERBÄREN Schauspiel von Till Wiebel

INSZENIERUNG Antje Thoms

14.12.2024 | Haidplatz

DREI SCHWESTERN Tragikomödie von Anton Tschechow INSZENIERUNG Christina Rast 25.1.2025 | Antoniushaus

WIR SIND AUCH NUR EIN VOLK Schauspiel nach den Drehbüchern von Jurek Becker INSZENIERUNG Antje Thoms 22.3.2025 | Antoniushaus

CONNI SCHEIẞT AUF ALLES (UA) Schauspiel von Hannah Haberberger

INSZENIERUNG Rachel Müller

29.3.2025 | Haidplatz

PARZIVAL Schauspiel von Lukas Bärfuss

INSZENIERUNG Yvonne Kespohl

3.5.2025 | Antoniushaus

SCHAUSPIELDIREKTORIN Antje Thoms


Akteure Nachruf

CHRISTOF NEL

Der Zugewandte Eine Erinnerung an den Regisseur Christof Nel und die Zeit mit dessen Gruppe Von Burghart Klaussner

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Meine Arbeit mit Christof Nel begann mit einem Schuss. Nel probte in Köln „Kasimir und Karoline“, hatte den Text um ein Rilke-Gedicht über Einsamkeit erweitert, das ich sprach, um danach unmittelbar – als Schießbudenbesitzer – einen Schuss abzufeuern, eigenmächtig, aber dramaturgisch geschickt und ganz im Sinne der Aufführung. Von da an verband uns ein Interesse aneinander. Die Gruppe um Christof Nel bildete sich in Köln während der Intendanz von Hansgünther Heyme im Jahr 1974. Sie bestand aus der Ehefrau Rotraud de Neve als weiblicher Protagonistin, Alexander Wagner, Gerd Kunath, Roland Schäfer, Angelika

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Foto die arge lola

Christof Nel, Theater- und Opernregisseur


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1944–2024

Thomas, Rolf Mautz, Christiane Lemm und mir in wechselnden Konstellationen. Eine Art Truppe, kein Bündnis, die mit Nel ab Mitte der 1970er durch die großen ­Theater der alten Bundesrepublik zog. Kennengelernt hatte ich ihn als jungen Schauspieler, mit der Bierflasche in der Hand als Riesenbaby des Trollkönigs Otto Sander, in Peter Steins legendärem „Peer Gynt“ an der Berliner Schaubühne und bald darauf, 1971, in „Märzstürme“ von Frank-Patrick Steckel, Wolfgang Schwiedrzik und Nel als Ko-Regisseure und Autoren. Diese Inszenierung nach einem Roman des in der DDR lebenden Kommunisten Otto Gotsche war der Versuch einer politischen Formulierung von Theater an der Schaubühne am Halleschen Ufer, als kollektive Arbeit wohl auch ein wichtiger Teil der Sozialisation von Christof Nel. Es war auch der Versuch, direkt Politisches mit Literatur und Avantgardetheater zu verbinden. Sicher eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Gruppe, auch wenn er an politische Ambitionen dieser Art dann nicht mehr anknüpfte. Er warf sich auf die anspruchsvolle Theaterliteratur, Horvaths OktoberfestVolksstück, den „Hofmeister“ von Brecht nach Lenz, inszenierte die deutsche Erstaufführung von Heiner Müllers „Mauser“ und die Uraufführung von Thomas Braschs „Rotter“. Mit dem Höhepunkt von „Antigone“ in Frankfurt am Main, eine Inszenierung, die dann beim Berliner Theatertreffen skandalisiert wurde wegen der harten Gegenüberstellung der humanistischen Idee der Antigone zu dem pöbelhaften Primitivvolk des Chors, der als Karnevalisten verkleidet war, darunter ich, und erzählte obszöne, übel frauenfeindliche Witze, worauf das Publikum in der Freien Volksbühne ausflippte. Deren Intendant, Kurt Hübner, rief aus seiner Loge in den Saal, das Publikum solle Ruhe geben und sich erst mal die Aufführung bis zum Ende anschauen – und tatsächlich konnte er die Leute beruhigen. „Rotter“, in Stuttgart 1977, war wohl Nels größter Erfolg und ein wesentlicher

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Akteure Nachruf

Baustein seiner Karriere. Die führte dann die damals sogenannte Gruppe um Nel nach Köln, wo Jürgen Flimm gerade Intendant geworden war, zu der Inszenierung von Müllers „Mauser“ als einem Abend in zwei Teilen: dem literarischen Text Müllers und einem Projekt über Revolution und Tod, das aus einem zweiwöchigen Seminar des Ensembles mit Nel und dem Dramaturgen Urs Troller entwickelt war – durchaus mit verstiegenem hochelitären Anspruch. Die letzte Phase seiner Schauspiel­ regie, bevor er ins Musiktheater wechselte, war eine Reihe von Arbeiten am Schauspielhaus Hamburg, der nicht immer Glück und Erfolg beschieden war. Nel war ein sehr sensibler Mann, was ihn mir sehr sympathisch machte, auf den gelegentlich auch eingedroschen wurde, nicht nur vonseiten der Kritik, sondern auch im Theaterbetrieb selbst. Das war für ihn sicher nur schwer zu verkraften. Vielleicht war damit auch sein für die Regiearbeit so wichtiger Impuls der Erforschung von literarischen Texten an ein Ende gekommen. Die letzte Arbeit, bei der ich mitwirkte, war in Hamburg ein großer Abend über Wolfgang Neuss, diesem für die Bundesrepublik bedeutenden, heute leider fast vergessenen Kabarettisten und Ruhestörer, unter dem Titel „Der starke Hans“. Der Intendant setzte diese Aufführung nach der Premiere ab. Ein grandioser Schlusspunkt in Hamburg gelang ihm allerdings 1994 mit dem Rainald-Goetz-Monolog „Katarakt“, gespielt von Peter Brombacher. Christof Nel war ein Regisseur, der mit seinen Schauspieler:innen in größter Zugewandtheit arbeitete in einer Zeit, als noch der militärische Stil der fordernden Ansage üblich war. Zugewandtheit in tiefer, beeindruckender Ernsthaftigkeit. Christof Nel starb am 6. August 2024 im Alter von 80 Jahren in Stuttgart. T

SPIEL ZEIT 2024/25 RHAPSODY URAUFFÜHRUNG AM 24.10.24 REGIE: AZERET KOUA DIE WELT IST RUND VON GERTRUDE STEIN KINDER- UND FAMILIENSTÜCK PREMIERE AM 29.11.24 REGIE: KERSTIN LENHART OASE VON ROBERT MAXIMILIAN RAUSCH URAUFFÜHRUNG AM 19.12.24 REGIE: SIMON JENSEN GUTEN MORGEN, ZUKUNFT URAUFFÜHRUNG AM 30.01.25 REGIE: MUSA KOHLSCHMIDT TROTZ TEENPARK URAUFFÜHRUNG AM 06.03.25 REGIE: KERSTIN LENHART HERSCHT 07769 VON LÁSZLÓ KRASZNAHORKAI THEATERAUSTAUSCH JENA-BUDAPEST PREMIERE AM 03.04.25 REGIE: DANIELE SZEREDY DIE GESETZLOSE NACH ANNA NORTH URAUFFÜHRUNG AM 08.05.25 REGIE: ANNE SOPHIE KAPSNER CORRECTIV: LASS DICH ÜBERRASCHEN, BALD IST ES GESCHEHEN URAUFFÜHRUNG AM 05.06.25 REGIE: AZERET KOUA LASZLOS HERZ VON PETER NEUGSCHWENTNER SOMMERSPEKTAKEL URAUFFÜHRUNG AM 02.07.25 REGIE: JOSEF BÄCKER UND LUKAS PERGANDE

THEATERHAUS JENA SCHILLERGÄSSCHEN 1, 07745 JENA TELEFON: +49 3641 8869-0 INFO@THEATERHAUS-JENA.DE WWW.THEATERHAUS-JENA.DE


Stück Gespräch

Die Regisseurin Nicola Hümpel und der Autor Maximiliam Steinbeis

Das Dilemma der Demokratie Autor Maximilian Steinbeis, Regisseurin Nicola Hümpel und Ko-Autor/Dramaturg Andreas Hillger im Gespräch über „Ein Volksbürger“ in der Bundespressekonferenz Von Thomas Irmer

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ten würde, wenn man das in den deutschen Verfassungskontext überträgt. Aus diesem Was-wäre-wenn-Text entstand dann für das Theater ein von Helge Schmidt zuerst in Hamburg inszenierter ­Solo-Abend, der dann aber in die Corona-Zeit rutschte. Damit war die Dramatisierbarkeit von diesem Text in der Welt, und so bin ich jetzt hier dazu gekommen. Vieles in dem Stück, das als Farce bezeichnet wird, wirkt so eins zu eins aus dem Politikbetrieb, dass man den Eindruck einer Realsatire gewinnt. War das die Absicht? AH Dieses Eins-zu-eins in den Texten des Volksbürgers hat auch damit zu tun, dass wir ein recht abstraktes Material erst mal aufknacken mussten, während Max Steinbeis darauf achtete, dass

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Foto Oliver Proske

Maximilian Steinbeis, Sie sind Jurist und Journalist, betreiben den Verfassungsblog. Das bereits 2020 entstandene Stück „Ein Volkskanzler“ basiert auf einem ursprünglich in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Artikel von Ihnen. Jetzt, in dieser Situation nach den Wahlen im Osten, ist es für eine mit Fabian Hinrichs prominent besetzte Aufführung in der Bundespressekonferenz als „Ein Volksbürger“ weiterentwickelt worden. Was ist der Hintergrund? MS In dem Artikel damals wurde durchgespielt, was passieren würde, wenn im Bundestag eine autoritär-populistische Mehrheit entstünde. Der Hintergrund war, dass wir uns im Verfassungsblog ab 2010 mit Ungarn, Polen und anderen Ländern beschäftigt haben, um zu untersuchen, mit welchen Strategien der autoritäre Populismus arbeitet. Uns hat interessiert, was es bedeu-


Stück Ein Volksbürger alles möglichst präzise beschrieben und nachvollziehbar sein soll. Es ging eben nicht um Überhöhung, sondern eher darum, die Zeit der letzten Monate mitzuschreiben. Manchmal waren wir fassungslos, dass Sätze aus unserem Stück in den Sommerinterviews der Politiker auftauchten, dann wieder kam Fabian Hinrichs mit einem Markus-Söder-Interview und wollte unbedingt fünf Sätze daraus verwenden. Das Farcehafte entsteht also aus dieser Mitschrift der Gegenwart. MS Eine der Fragen, mit denen wir uns beim Verfassungsblog intensiv beschäftigen, ist die Frage, was der Bund machen kann, wenn ein einzelnes Bundesland, wie vielleicht jetzt Thüringen, in den Autoritarismus abkippt. Das ist wenig erforscht. Wenn das Land die Eskalationsdynamik bis zum Letzten treibt, ist dagegen mit rechtlichen Mitteln wohl nicht viel zu machen. NH Was das Stück erzählen kann, gleicht dem letzten Satz von Max Steinbeis’ Buch „Die verwundbare Demokratie. Wie wir unsere Verfassung schützen können“, in dem er schreibt: „Die Verfassung schützt nicht uns, sondern wir müssen die Verfassung schützen.“ Das ist der Subtext des Stückes und dessen Aufführung, zu verstehen, dass wir die Politik schützen müssen. Diverse Figuren in dem Stück versuchen, politisch zu agieren, nach bestimmten ­Ritualen und Mustern, die wir aus Bundespressekonferenzen kennen – diese Strategien sollen erkennbar werden mit der Frage: Funktioniert unsere bürokratische Demokratie noch in dieser Komplexität? Wenn das so ein Kipppunkt ist, warum findet dann „Ein Volksbürger“ nicht im Bundesrat statt? MS Der Bundesrat ist nicht der entscheidende Ort. Es kommt auf die Gesellschaft an, nicht nur auf den Staat. NH Es geht um die Hybris dieser Figur des Volksbürgers, der ja eigentlich nur auf Landesebene agieren kann, aber gleich in die Hauptstadt geht, um dort großspurige Pressekonferenzen abzuhalten. Damit versucht er, die Medien in seinem Sinne zu manipulieren. Dass ihm dies nur bedingt gelingt, zeigt unser Stück – gleich zu Beginn die Begegnung mit dem Spitzenjournalist Theo Koll. Obwohl der Volksbürger die Bundespressekonferenz nicht als das respektiert, wofür sie eigentlich da ist? AH Er sprengt den Rahmen für diesen Ort, den beinahe jeder zumindest als Bild kennt. Als Location ist es aber nicht nur das, sondern auch die Stelle, wo verschiedene politische Ebenen mit der medialen Öffentlichkeit zusammenkommen. Es ist sozusagen die Einheit von realem und gesellschaftlichem Raum für dieses Stück. War es denn schwer, die Bundespressekonferenz für die Inszenierung zu kriegen? NH Ja. Denn frei nach Hanns Joachim Friedrichs gilt immer noch: Der Journalismus macht sich mit keiner Sache gemein – und deshalb ist die BPK eigentlich tabu für solche Spiele. Der Vorstand hat uns – wohl auch aus Anlass des 75. Jubiläums dieser journalistischen Vereinigung in diesem Herbst – die Genehmigung erteilt. Eine Zielstellung unserer Inszenierung ist ja auch, junge Leute damit zu erreichen, sie dafür zu interessieren und ihnen diese Mechanismen verständlich zu machen.

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Es geht um die Hybris des Volksbürgers, der ja eigentlich nur auf Landesebene agieren kann, aber gleich in die Hauptstadt geht, um dort großspurige Pressekonferenzen abzuhalten.

In dem Stück läuft ein Zeitstrahl aus der Vergangenheit in die Zukunft, also von durchaus bekannten Affären in eine spekulative Handlung. NH Das Zurück zu Geschichten wie dem Dieselskandal bietet erst mal die realistische Anlage des Ganzen, da der so schockierend still und leise wegrauschte. Mit den lauten Diskussionen um Asylpolitik und innere Sicherheit passiert hingegen jetzt praktisch jeden Tag etwas Neues, das diese Inszenierung beeinflusst. AH Wir nehmen ja auch die echte Uhr der BPK mit ins Spiel, also zunächst mit ihrer Echtzeit, und wir enden etwa ein Jahr später. Das Zurückdrehen der Zeit im Stück als Rückblende soll eben die eingefahrene Routine und das diplomatische Wegbügeln von Affären zeigen. Jetzt ist mit der Besetzung von Fabian Hinrichs schon eine Entscheidung gefallen für eine charismatische, sehr autonome, vielleicht auch sogar anarchistische Persönlichkeit als Hauptfigur. Mit einem etwas blasseren Typ wäre es ein anderes Stück mit einer anderen Aussage. NH Ich habe über verschiedene Besetzungsvarianten nachgedacht. Als Fabian Hinrichs unsere Anfrage bekam und dann das Konzept las, ist er sofort auf diesen Stoff eingestiegen. Er hatte als studierter Jurist und politisch denkender Mensch absolut Lust ­darauf, das zu spielen. Er hat sich dann selbst sehr eingebracht, seine Texte mitentwickelt und diese Figur mit seinem eigenen Sound zum Schillern gebracht. MS Ich habe mir noch keine Minute darüber den Kopf zerbrochen, was da inhaltlich mit einem weniger charismatischen Schauspieler besser sein oder anders wirken soll. Der „Volksbürger“ scheint wirklich in diesem Augenblick jetzt und heute seinen Moment zu haben. Was wird in einem Jahr aus dem Stück geworden sein? NH Ich fürchte, da wird es von vielen Entwicklungen überholt sein, an die man es anpassen müsste. AH Es war jetzt schon so, dass uns die Wirklichkeit der politischen Entwicklungen immer wieder eingeholt hat. Allein die Diskussion der Migrationspolitik hat sich während der Probenarbeit regelrecht radikalisiert. Für diese Inszenierung leben wir natürlich auch von dem authentischen Ort. MS Es ist kein Lehr- und kein Warnstück, sondern wir zeigen das Dilemma, das der Demokratie innewohnt. T „Ein Volksbürger“ in der Bundespressekonferenz in Berlin ist im Oktober in der arte Mediathek zu sehen.

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Stück Maximilian Steinbeis

Theater der Zeit

Stück Ein Volksbürger Politische Farce Von Maximilian Steinbeis Unter Mitarbeit von Fabian Hinrichs, Andreas Hillger und Nicola Hümpel Die juristischen Inhalte basieren auf den Recherchen des Verfassungsblogs. Das Urteil wurde verfasst von Anna-Mira Brandau.

Die Personen Dominik Arndt Dr. Rieger-Fock Pál Berkóvics Konrad Sauer Prof. Hansen Martina Grossi

Parteigründer und Ministerpräsident Regierungssprecherin Bundesregierung NGO-Vertreter „Pro Human“ Landrat Mittellandkreis Bundesbeauftragter Moderatorin

Clara Wohlleben Patric Singer Lukas Specht Peter Hampson

Journalistin Journalist Journalist Journalist

Senatsvorsitzende am Bundesverfassungsgericht Stenografin Personenschützer Und Theo Koll Uraufführung am 27. September 2024, Saal der Bundespressekonferenz Berlin Stand vom 12. September 2024

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Stück Ein Volksbürger

D © Alle Rechte bei den Autoren Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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Der Saal der Bundespressekonferenz, Journalistinnen und Journalisten sind im Publikum verteilt. Über der Szene hängt eine DigitalUhr, die Real-Zeit anzeigt. Auf der (vom Publikum aus gesehen) rechten Seite des Podiums sitzt während aller Pressekonferenzen eine Stenografin, links begrenzt die Glaswand zum Atrium den Bühnenraum. Hinter dem Podium links öffnet sich eine Tür für die Teilnehmer und die Moderatorin der Pressekonferenzen. Für die Video-Einspielungen ist ein großer Bildschirm im Raum platziert. Der Ministerpräsident wird bei seinen Auftritten von einem stummen Personenschützer begleitet.

I Erdrutsch nach oben 27./28./29. September

MARTINA GROSSI Guten Abend meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlichen willkommen in der Bundespressekonferenz. Ich sehe, das Interesse ist riesengroß, was auch kein Wunder ist nach dieser spektakulären Entwicklung im Freistaat. Leider muss ich Sie nun aber doch noch um einen Augenblick Geduld bitten, weil unser Gast erst etwas später als geplant hier eintreffen wird … aber was ist schon normal heute Abend? Die Stimmauszählung läuft natürlich noch, aber das Wesentliche ist doch klar, das ist Fakt jetzt, es wird einen Regierungswechsel geben. Sie haben die aktuellen Zahlen sicher auf dem Handy, aber für alle Fälle haben wir auch Monitore aufstellen lassen, damit wir hier nichts verpassen. Jetzt bitte ich, wie gesagt, noch um ein bisschen Geduld, er kommt gleich, hoffe ich, kann nicht mehr lang dauern … Ah jetzt bekomme ich ein Zeichen. Ich schalte rüber zu meinem Kollegen Theo Koll. THEO KOLL (im Video, vor der Treppe zum Saal der Bundespressekonferenz) Guten Abend und herzlich willkommen, verehrte Zuschauerinnen, verehrte Zuschauer, an diesem in mehrfacher Hinsicht außerge­ wöhnlichen Wahlabend. Denn eigentlich haben diese Tage eine vertraute Dramaturgie: Bei einer Landtagswahl äußern sich die jeweiligen Spitzenkandidaten am Abend der Wahl vor Ort, in ihrem Bundesland – und deshalb sind natürlich auch heute die meisten Berichterstatter in die Hauptstadt des Freistaats gereist. Hier in Berlin passiert – zumindest an Landtags-Wahlabenden – normalerweise nicht allzu viel, abgesehen von ersten Kommentaren aus den Parteizentralen. Und dieser Ort hier, die Bundespressekonferenz

spielt an Wahlsonntagen überhaupt keine Rolle – so zentral der Verein der Hauptstadtjournalisten und Journalistinnen – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Bundestag und Bundeskanzleramt gelegen – auch ansonsten für die Politikvermittlung ist. Dass sich jetzt aber der Wahlsieger der Demokratischen Allianz hier angesagt hat, das ist doppelt erstaunlich: Erstens, weil damit der Wahlgewinner – nach einem solchen Erdrutschsieg – nicht in seinem Freistaat feiert, sondern sofort nach Berlin reist. Und zweitens hat der Chef der Demokratischen Allianz während des gesamten Wahlkampfs uns Journalisten gezielt gemieden und eilt jetzt noch am Wahlabend ausgerechnet hierher, in die Herzkammer des Hauptstadtjournalismus. Warum das so ist und was er nun vorhat, dazu wird er uns hoffentlich gleich Rede und Antwort stehen. Und ich bekomme ein Zeichen, der Mann, der heute für ein politisches Beben gesorgt hat, kommt gerade an – und, wie wir es schon aus dem Wahlkampf kennen, kameragerecht bescheiden – mit dem Fahrrad … DOMINIK ARNDT (tritt ins Kamerabild) So. Hallo erst mal. Dominik Arndt. Freut mich. THEO KOLL Ja, freut uns auch. Ähm, nicht zuletzt, weil Sie uns Journalisten in den vergangenen Wochen ja gezielt gemieden haben. Und jetzt kommen Sie noch am Wahlabend in die BPK. Herr Arndt, erleben wir da gerade schon einen Haltungs- oder Rollenwechsel? DOMINIK ARNDT Rollenwechsel. Ich wechsle keine Rolle. Nehmen Sie’s bitte nicht persönlich, aber ich find es schwer zu verstehen, nach diesem Wahlergebnis, dass es da offenbar immer noch so einen Eindruck gibt, als würde ich hier eine Rolle spielen: Ich spiele hier keine Rolle. Ich spiele überhaupt nicht, und schon gar keine Rolle. Sehen Sie, Herr Koll, nicht wahr? Sehen Sie, die Menschen in meinem Land sind keine Idioten. Viele haben mich gewählt, viele haben mich nicht gewählt, aber so wie ich das wahrnehme, haben fast alle jetzt was gemeinsam, jetzt heute an diesem Abend, ein gemeinsames Gefühl, das ist total stark, da ist Aufgeregtheit drin, da ist auch Sorge drin, total verständlich, alles neu, alles unsicher, aber da ist vor allem Befreiung drin. Die Menschen und das ganze Land, die sind befreit worden – heute Abend von dieser Lähmung befreit worden ... aus der quälenden Lähmung. Und klar, das war jetzt schon ein Erfolg, auch ein persönlicher Erfolg, und ich genieß das auch. Das macht schon großen Spaß hier heute. Aber das war auch harte Arbeit. Allein so eine Parteigründung (lacht), das macht unglaublich viel Arbeit – das ist ja wie mit dem Kinderkriegen – wenn man das vorher gewusst hätte – also, wenn man das verantwortlich angeht. THEO KOLL Herr Arndt, Sie haben in Ihrem Freistaat aus dem Stand einen Erdrutschsieg

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Stück Maximilian Steinbeis eingefahren. Nicht weniger ungewöhnlich ist es, dass ein Landtags-Wahlgewinner noch am Wahlabend nach Berlin eilt. Haben Sie jetzt Ambitionen auch auf Bundesebene? DOMINIK ARNDT Ambitionen, noch so ein Wort, damit kann ich nichts anfangen. Ich mach das, was ich mache, nicht weil ich damit irgendwo anders hinwill, sondern weil ich genau da sein will, wo ich bin. Aber ich versteh schon, Herr Koll, wie Sie das meinen. Und ich mein: klar! Natürlich sind die Inhalte, für die die Demokratische Allianz und ich steht / stehen, nicht begrenzt auf den Freistaat. Abgesehen davon, dass das, wofür die Demokratische Allianz steht, als einzige Partei, in ganz Deutschland, das ist natürlich nicht. Die Probleme, die wir anpacken sind natürlich nicht lokal begrenzt, sondern in ganz Deutschland zu finden. Ich meine, wir ­haben doch alle noch gezittert, dass die Rechtsextremen hier unglaublich abräumen und wer hat das verhindert? Wir, niemand anderes, gottseidank ist es nicht dazu gekommen. Keine andere Partei war dazu in der Lage. Also, es ist also kein Strohfeuer, Herr Koll, was wir jetzt und hier gerade erleben, deswegen bin ich jetzt hier in Berlin – der Ort ist natürlich nicht zufällig gewählt. Ich bin jetzt DA. Wir sind jetzt da DA! THEO KOLL Herr Arndt, nochmal zur Klarstellung: Sie wollen Ihre Partei jetzt also auch auf Bundesebene etablieren? DOMINIK ARNDT Ja. Aber wissen Sie was, das ist jetzt heute nicht der Tag dafür, da reden wir noch mal wann anders drüber, heute hat erstmal der Freistaat gewählt, Herr Koll, und das kann man glaube ich erstmal so stehen lassen. Jetzt wartet da drin noch der eine oder andere Kollege von Ihnen auf mich. Kommen Sie mit? (läuft die Treppe zum Saal hinauf) THEO KOLL Das war Dominik Arndt, Parteigründer, Vorsitzender und Spitzenkandidat der Demokratischen Allianz, DA, die heute im Freistaat einen erdrutschartigen Wahlsieg verbuchen kann. Mehr dazu live aus dem Saal der Bundespressekonferenz. (Video aus) MARTINA GROSSI (Live im Saal) Meine Damen und Herren, noch einmal … (herzlich willkommen zur Pressekonferenz) DOMINIK ARNDT (betritt den Saal, geht ins Publikum) Hallo! Ich komme gleich hoch zu Ihnen, begrüß hier nur mal kurz die Leute. Hallo! Freut mich! Ich bin Dominik Arndt. Freut mich! Nein, im Ernst, ich freu mich echt, hier zu sein! Das überrascht Sie jetzt vielleicht, Sie haben ja nicht immer nur nette Dinge über mich geschrieben, aber das werden Sie feststellen, wenn wir uns besser kennen: Ich kann eine Menge ab und halt eine Menge aus, und den Journalisten hab ich noch nicht getroffen, der mich wirklich treffen kann. Also, ich will hier sein und mit Ihnen heute hier ins Gespräch kommen, Klartext und

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ohne Floskeln, direkt und auf Augenhöhe. Deswegen bin ich jetzt hier bei Ihnen, auch wenn ich natürlich gern mit meinen Parteifreunden, Wählerinnen und Wählern jetzt feiern würde. Aber hier, vor Ihnen, hier beginnt mein Auftrag. Eben hier und jetzt. Ich bin heute zu Ihnen gekommen um Ihnen ja um Ihnen einen neuen Anfang anzubieten Wenn ich mich in diesem Raum umsehe, erkenne ich hier die ganze Vielfalt, die ganze Breite, die sich eben auch in der DA findet: Ansichten, Erwartungen, Lebensläufe – ein Spiegel der Gesellschaft, so zersplittert wie ihr Verein aber uns ist es ja offenbar gelungen, eine Einheit zu formen aus dieser Vielfalt – nicht, indem wir die Risse zugeschmiert haben mit falscher Harmonie, sondern wir haben sie als Herausforderung begriffen, die Risse – und wir haben danach gesucht, was wir alle teilen und nicht nach dem, was uns immer trennt. Und darum sind wir auch Vieles – wir sind sozial, wir sind demokratisch, wir sind alternativ, wir sind liberal – und ja, wir sind auch national, aber das hat für mich nichts mit rechts zu tun oder links oder oben und unten, sondern mit der Mitte, einfach nur mit einer Leidenschaft für unser Land. Also, was wir geschafft haben: Die Zwietracht in eine Einheit zu binden, das ist der Erfolg – und wir wissen ja, wer sonst hier stünde. Sie merken ja, wenn ich jetzt so vor Ihnen stehe – wir sind authentisch. Ich trage hier keine Berufspolitikeridentität vor mir her, wie eine Monstranz. Das ist vielleicht neu und ungewohnt für sie – aber ich bin einfach ich – ich bin mit mir selbst identisch. Wenn ich morgens in den Spiegel gucke, dann seh ich da jemand, der bin ich und der will ich auch sein. Und wenn das Volk seine Regierung anschaut, dann will es da jemand sehen, wo es sagen kann: Ja, da kann ich mich mit identifizieren. Das bin ich und das will ich auch sein. Und das ist es, was uns letztlich unterscheidet von den alten Parteien, den großen – naja so groß sind sie ja auch nicht mehr. Dass wir wirklich, wirklich etwas verändern wollen in diesem Land, das ist es, was uns letztlich unterscheidet. Und genau das wollte ich auch dem Kanzler erklären, als er mir vorhin auf der Fahrt hierher zu meinem Wahlsieg netterweise gratulieren wollte – aber was ist passiert? Wir wurden dreimal durch Funklöcher getrennt! Und das ist doch mehr als ein Symptom, meine Damen und Herren – das ist ein Symbol! Die Bundesregierung erreicht ihre wichtigsten Partner nicht mehr in den Ländern, weil das Netz nicht stabil ist, weil das System nicht stabil ist! Und das müssen wir ändern, um im wahrsten Sinne des Wortes den Anschluss

nicht zu verlieren. Das muss sich ändern! Es mag Ihnen seltsam vorkommen, dass ich in so einem Moment über Funklöcher rede, aber genau damit fängts ja an, das kennt ja jeder, leider – genau da müssen wir ansetzen. Und zwar nicht in Wochen oder Monaten, sondern jetzt! MARTINA GROSSI Entschuldigen Sie, Herr Arndt, bitte nehmen sie doch Platz hier bei mir auf dem Podium. DOMINIK ARNDT (geht nach oben aufs Podium) So, jetzt kommen wir mal zum offiziellen Teil. Ich biete allen Partnern, allen Parteien die Allianz an! Wir könnten nach derzeitigem Stand zwar wahrscheinlich allein regieren, aber wir wollen möglichst alle mitnehmen bei den anstehenden Veränderungen. Und wenn sie mal recherchieren, sehen sie ja, dass unsere Kandidaten aus allen Teilen der Bevölkerung, aus allen Regionen des Landes kommen – und wirklich ganz, ganz viel abdecken, ein breites, umfassendes Spektrum. Um im Bilde zu bleiben, Breitband bis in die entlegensten Ecken. Das ist ganz viel Vielfalt bei uns, aber damit sie nicht verwirrt sind, bitte ich Sie auf kurzem Dienstweg sozusagen, Ihre Fragen künftig am besten direkt mit mir zu besprechen! Verstehen Sie mich nicht falsch – ich geb’ ihnen hier jetzt nicht meine private Handynummer, das wäre in bisschen too much, aber ich bin wirklich an einem Gespräch mit Ihnen interessiert. Also maximale Offenheit von meiner Seite aus. Mir geht’s auch darum verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen – ehrlich gesagt auch in ihrem eigenen Interesse. Also kurz gesagt ich stehe ihnen zur Verfügung, nur eben jetzt gerade nicht, das werden sie ja verstehen – ich habe heut Nacht noch’n wahren Marathon vor mir, 10.000 Gespräche. Ich verspreche Ihnen, beim nächsten Mal werden wir ausreichend Zeit haben für alle Probleme, alle Fragen, die sie sicher haben. Wir können alles diskutieren und dazu lade ich Sie – ja, jetzt schon herzlich ein! In diesem Sinne… (ab) MARTINA GROSSI Gut, das war jetzt … eigentlich nicht so besprochen. Da hätten wir jetzt schon gleich noch ein paar Fragen miteinander besprechen können. Aber dann ist es eben so. Ich schließe dann hier die Pressekonferenz und wünsche ihnen noch einen schönen Abend. (ab)

II Erste Ermahnung Der Tag danach, 28./29./30. September

MARTINA GROSSI (tritt mit Regierungssprecherin auf) Einen guten Tag, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserer heutigen Pressekonferenz, die wir kurzfristig anberaumt haben.

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Stück Ein Volksbürger Nach dem gestrigen Termin mit dem designierten Ministerpräsidenten sind ja viele Fragen offengeblieben, vor allem auch zu den Auswirkungen des Wahlergebnisses auf die Bundespolitik. Deshalb haben wir im Vorstand beschlossen, die Regierungssprecherin zu bitten, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Frau Dr. Rieger-Fock. Bitte! DR. RIEGER-FOCK Ja, auch von mir ein herz­ liches Willkommen … Das Kabinett hat sich heute Morgen in einer Sondersitzung mit dem anstehenden Regierungswechsel im Freistaat beschäftigt. Bereits zuvor hatte der Kanzler – wie Sie ja wissen – dem designierten Ministerpräsidenten zu seinem Wahlsieg gratuliert und seine Gesprächsbereitschaft bekundet. Die Bundesregierung ist sich einig, dass die Verluste der bisherigen Regierungsparteien im Freistaat – die ja auch, da brauchen wir gar nicht drum rumreden, die Berliner Koalition betreffen – keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Zusammenarbeit haben dürfen und werden. Im Bundesrat verschieben sich die bisherigen Mehrheitsverhältnisse nur marginal, und wir hoffen und erwarten und gehen auch davon aus, dass sich an der konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern generell nichts ändern wird. Gleichwohl ist sich die Bundesregierung sehr wohl der Gefahr bewusst, die von einer weiteren Stärkung der extremen Ränder und der Aushöhlung der Mitte ausgehen könnte. An die Allianz, in der sich ja auch viele Akteure aus dem demokratischen Spektrum wiederfinden, richtet sich daher die Erwartung, dass sie auch künftig ein konstruktives Miteinander gestattet ... oder vielmehr gestaltet. MARTINA GROSSI Vielen Dank, Frau Regierungssprecherin! Ich sehe diverse Rückfragen, vielleicht zunächst die Kollegin hier vorn, Frau Wohlleben … CLARA WOHLLEBEN Sie haben das sehr diplomatisch formuliert, die Regierung ist hörbar bemüht, die Wogen zu glätten – aber ist der Flurschaden nicht doch immens? Fürchtet der Bund nach diesem Überraschungserfolg, den eine bislang vollkommen unbekannte und mit heißer Nadel gestrickte Allianz errungen hat, nicht einen drohenden Flächenbrand? DR. RIEGER-FOCK Davon kann keine Rede sein. Um das Ergebnis zu beurteilen, müssen wir einerseits die spezifischen Bedingungen vor Ort betrachten: Dass es der Allianz im Vorfeld gelungen ist, einige charismatische Köpfe von anderen Parteien abzuwerben, das hat dort die Kräfte verschoben. Zugleich spiegelt sich in den ländlichen Regionen des Freistaats der Unmut über einige Entscheidungen auf europäischer Ebene besonders stark, was den Wahlkampf ebenfalls beeinflusst hat. Wir müssen jetzt abwarten, wie sich die großen Versprechen zu den realen Bedingungen verhalten.

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Und das wird sicher auch in anderen Bundesländern mit Interesse beobachtet. CLARA WOHLLEBEN Nachfrage! MODERATION Ja, bitte! CLARA WOHLLEBEN Der Wahlsieger hat gestern ja explizit die mangelnde Kommunikation mit dem Bund beklagt. Wie kommentieren sie diesen Vorwurf? DR. RIEGER-FOCK Nun, Sie haben ja selbst gehört, dass Herr Arndt dieses Problem eher technisch beschreibt. Und diese Situation ist seit Langem allgemein bekannt, an ihrer Verbesserung arbeiten die zuständigen Stellen – beispielsweise die Bundesnetzagentur – seit Jahren mit Hochdruck. Natürlich gibt es da auch Verwerfungen, ein Gefälle aber daraus eine vorsätzliche Vernachlässigung einzelner Regionen durch den Bund abzuleiten, könnte man schon … böswillig nennen. Wir wollen es mal der Enttäuschung zuschreiben, dass ein atmosphärisch so wichtiges und gutes Gespräch im entscheidenden Moment von Äußerlichkeiten gestört worden ist. Da hat man gewonnen und die Leitung bricht zusammen. Da ärgert man sich schon mal, das ist doch menschlich. Dennoch haben wir der neuen Regierung auch in dieser Sache jegliche Unterstützung zugesagt MARTINA GROSSI Ich sehe da eine Wortmeldung. Herr Kollege … Specht! LUKAS SPECHT Bei seinem denkwürdigen Auftritt hat der designierte Ministerpräsident gestern ja nicht nur alle Medien zum direkten Dialog eingeladen, sondern auch die Tür aufgestoßen für alle möglichen politischen Partner. Was rät denn die Bundesregierung den Parteien vor Ort? Juniorpartnerschaft – oder starke Opposition? DR. RIEGER-FOCK Das ist nicht Sache der Bundesregierung, das müssen die Parteien – auch die Vertreter der bisherigen Koalition – im Freistaat schon intern klären. Aber Sie können sicher davon ausgehen, die Allianz ist schließlich demokratisch gewählt, das Angebot für eine sachbezogene Zusammenarbeit ist also auch im Sinne der Bevölkerung ernst zu nehmen. MARTINA GROSSI Weitere Fragen? Ja, Herr Singer? PATRIC SINGER Singer, „Blick online“ – Der künftige Ministerpräsident hat ja im Wahlkampf vor allem Forderungen formuliert, Freistaat zuerst … Stellt denn auch der Bund Bedingungen für die Zusammenarbeit? Immerhin sind in der Allianz ja nicht nur demokratische Kräfte vertreten. DR. RIEGER-FOCK Die Frage habe ich eigentlich bereits beantwortet: Wir hoffen und erwarten, dass sich die neue Regierung ihrer Verantwortung in unserem föderalen System bewusst ist, und dass sie die teilweise überzogenen Versprechen aus dem Wahlkampf nun mit Augenmaß für die Bedürfnisse und Möglichkeiten der

gesamten Gesellschaft anpasst. Ob und wie das geschieht, wird sich von Fall zu Fall entscheiden. Aber Sie können sicher sein, dass dazu demnächst gute Gespräche im Kanzleramt geführt werden. MARTINA GROSSI Gut, da ich keine weiteren Wortmeldungen sehe, danke ich ihnen – und Ihnen, Frau Dr. Rieger-Fock. Die Pressekonferenz ist hiermit beendet, noch einen schönen Nachmittag! (mit Regierungssprecherin ab)

III Freistaat first

Sechs Wochen später, 14. November MARTINA GROSSI (tritt gemeinsam mit Dominik Arndt auf) Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, guten Tag Herr Ministerpräsident. Bei Ihrem letzten Besuch in unserer Runde waren Sie ja noch ganz im Rausch Ihres Wahlsieges, inzwischen haben Sie ein arbeitsfähiges Kabinett und erste Vorhaben dazu übergebe ich Ihnen nun (das Wort …) DOMINIK ARNDT Genau! Vielen Dank! Wie Sie wissen – viele von Ihnen haben ja schon davon berichtet, gleich in der ersten Sitzung haben wir ein wirklich umfassendes Paket von Maßnahmen beschließen können, wo wir uns nämlich ganz genau angeschaut haben welche Felder bisher von der Politik vernachlässigt wurden. Und das fängt bei ganz einfachen grundsätzlichen Dingen an. Wir müssen mehr miteinander reden – und zwar in derselben Sprache und über die gleichen Fragen – aber das funktioniert natürlich nicht, wenn man immer nur einen Balken hat. Wir brauchen einfach stabile und schnelle Kommunikationswege. Das fängt im Kleinen an – Es fängt ja eigentlich alles immer im Kleinen an: Beschleunigung von Genehmigungsverfahren – das dauert ewig hier bei uns – von der Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare kennt ja jeder. Wir müssen die Wege von Netzanbietern priorisieren – also eigentlich Elektrifizierung ähm Digitalisierung des ganzen Landes als Basis für einen Dialog, der auch gelingt – Bildung! Da haben wir ja gigantischen Nachholbedarf. Aber gottlob ist Bildung ja noch Ländersache. Und da müssen wir ran. Eine qualifizierte Jugend ist auch ein Standortvorteil für den Mittelstand, für das Handwerk, für das ganze Land. Dass wir da in einem Wettbewerb stehen um Nachwuchs, um die Fachkräfte, ist klar und deswegen schaffen wir Anreize für Pädagogen – das kennen wir ja schon aus dem medizinischen Bereich. Jeder erinnert sich doch noch an die Appelle vom Gesundheitsminister, wie er verzweifelt um Nachwuchs wirbt. Die Verzweif-

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Stück Maximilian Steinbeis lung, die überlassen wir gerne anderen, aber wir machen das gründlicher und besser: Das wird eine umfassende Ausbildungsoffensive – ganz besonders auch in den ländlichen Regionen. Wir müssen verdammt nochmal die Landflucht stoppen, denn eins ist doch klar: Die Leute wollen doch gar nicht weg aus ihren schönen, alten Dörfern und Gemeinden. Die wollen doch bleiben. Man muss ihnen doch nur einen guten Grund zum Bleiben geben. Und das sag ich immer wieder, der Schlüssel dafür ist Digitalisierung, Digitalisierung, Digitalisierung! Es kann nicht sein, dass ich wegen jeder Kleinigkeit, dass ich überhaupt noch aufs Amt gehen muss. Die Ukraine ist uns um Jahrzehnte voraus, wenn es um die Digitalisierung geht – das Baltikum um Lichtjahre. Und gut, aber bei uns geht man noch aufs Amt, und wenn man dann auf dem Amt ist, dann gibt’s keinen Ansprechpartner. Aber man muss doch einen Ansprechpartner finden. Und zwar nicht morgen oder nächste Woche, sondern sofort. Also, Sie sehen, das sind erstmal ganz kleinteilige Aufgaben, die Mühen der Ebene, aber da fängt es eben an, die fordern eben auch Investitionen, aber das Geld ist ja da. Es ist da. Es wird nur an den völlig falschen Stellen ausgegeben – an den völlig falschen – und deshalb brauchen wir kein Sondervermögen oder solche Tricks, wir müssen nur umschichten, statt alles über einen Kamm scheren – umschichten. Wie das im Detail aussehen soll, erfahren sie dann demnächst, momentan arbeiten die Ministerien auf Hochtouren – da wird der Finger auf jeden Posten gelegt, jeder Stein wird umgedreht und es ist ja klar, dass wir am Ende natürlich auch an einigen Stellen sparen müssen. Und das sage ich ganz deutlich: Wir werden sparen. Wir werden Sie – wir werden das Geld der Bürger achten, respektieren und deswegen werden wir auf deutsch gesagt knallhart sparen müssen, um woanders auch stärker investieren zu können. Dass wir dabei vertrauensvoll mit den Gemeinden und Städten zusammenarbeiten, versteht sich von selbst. Selbstverständlich er-

warte ich da auch eine Unterstützung vom Bund, das kann ja keine Einbahnstraße sein. Sonst wird’s zur Sackgasse. Also, ich fasse nochmal zusammen: Digitalisierung, Bildung, Infrastruktur – das sind die Säulen, auf denen wir unsere Politik aufbauen werden. Sie wollen ja heute immer ein gutes Wording, sie brauchen ja eine Überschrift. Ich sag Ihnen mal eine. „Freistaat First“. MARTINA GROSSI Danke, da sind jetzt ganz viele Themen angesprochen worden, da gibt es sicher im Einzelnen noch viele Fragen. Ja bitte! Peter Hampson Peter Hampson, „American News“ – Sie haben die Städte und Gemeinden sowie den Bund erwähnt, also gewissermaßen die untere und die obere Ebene. Aber wie verhält es sich mit den anderen Ländern, also mit Ihren direkten Partnern? For Example, wenn Sie gezielt Lehrkräfte abwerben wollen, dann fehlen die doch am Ende anderswo. DOMINIK ARNDT Ja – Wettbewerb. Das ist ja das, was wir vermissen in unserem Land, den Sportsgeist. PETER HAMPSON Ah, interesting! Free market, Geld schießt Tore MARTINA GROSSI Ich sehe! Herr Singer, Sie hatten sich gemeldet … PATRIC SINGER Sie sprachen vorhin von Bürgernähe, vor Ort, sofort … gibt es da schon konkrete Beispiele, für welche Bereiche das gelten soll? DOMINIK ARNDT Für alle, Herr Singer, für alle! Wir haben einen unglaublichen Bearbeitungsstau in diesem Land, von der Baugenehmigung bis zum Personalausweis, vom sogenannten Bürgergeld bis zum Steuerbescheid. Also wenn sie sich einfach mal die Justiz alleine anschauen, das sind ja Zustände, die ja selbst für Angeklagte, selbst für Straftäter in keinster Weise zumutbar sind. Ein verzögerter Prozessbeginn, ein aufgeschobenes Urteil verhindern mit der Strafe doch auch jeden Neuanfang. Keine Sorge, ich bemühe hier jetzt nicht die abgenutzten Vokabeln von Ruck oder Wumms oder Turbo, Justizturbo, aber …

PATRIC SINGER Nachfrage: Aber alle diese Notlagen haben doch Ursachen, die Sie nicht von heute auf morgen beseitigen können. Und auch in den Behörden herrscht doch Personalmangel. DOMINIK ARNDT Ja, was soll ich ihnen da jetzt sagen, es herrscht Personalmangel, ja. Sollen wir jetzt die Hände in den Schoß legen, wie es jahrelang geschehen ist? Wir fangen einfach an, Punkt! MARTINA GROSSI Weitere Fragen? Ja, bitte, Frau Wohlleben? CLARA WOHLLEBEN Kann es sein, dass sich Ihre Sparmaßnahmen bereits jetzt auf den Vollzug des Ausländerrechts erstrecken? Ich habe hier zunehmend Hinweise darauf, dass da bei Ihren Ausländerbehörden ein Kurswechsel stattfindet. DOMINIK ARNDT Erstmal finde ich es gut, dass Sie das hier anbringen – uns hilft jede Fehlermeldung, um das System stabiler zu machen. Aber es ist ja klar, dass ich nicht jeden Einzelfall kenne. Ich denke, am besten wäre es, wenn sie sich an die zuständigen Behörden wenden. Aber halten Sie meine Leute nicht von der Arbeit ab … CLARA WOHLLEBEN Noch einmal zum Verständnis: Sie meinen also, das seien bloße Einzelfälle. DOMINIK ARNDT Ja, natürlich! Wenn es sich um ein generelles Problem handeln würde, wüsste ich ja davon. CLARA WOHLLEBEN Dann gestatten Sie, dass ich Ihnen einen vielleicht besonders eklatanten Einzelfall zur Kenntnis bringe: Der Ukrainer Boris A. … DOMINIK ARNDT Ich glaube, korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege – es steht Ihnen doch nur eine Nachfrage zu. Richtig? Oder? MARTINA GROSSI Richtig! DOMINIK ARNDT Und die habe ich ja schon beantwortet. Ja, Frau Moderatorin, ich sehe keine weiteren Fragen. Übrigens, wie Sie ja wissen, finden Sie in unserem Presseportal einen wunderbaren Downloadbereich mit allen Daten und Fakten zur Migrationskrise, die Sie brauchen,

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IV Passive Abschiebung

Eine Woche später, 21. November MARTINA GROSSI (tritt mit Pál Berkovics auf) Einen guten Tag wünsche ich, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Pressekonferenz zur Lage im Freistaat hat bei Ihnen ja ein kontroverses Echo provoziert, vor allem zum aktuellen Bearbeitungsstand von ausländerrechtlichen Verfahren gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen. Wir sind daher der Bitte von Pro Human nachgekommen und wollen der Menschenrechts-Organisation hier die Möglichkeit geben, ihre aktuelle Studie vorzustellen. Ich begrüße dazu ganz herzlich Herrn Berkóvics als Sprecher dieser NGO. PÁL BERKÓVICS Guten Tag und vielen Dank für die Einladung! Lassen Sie mich zunächst … etwas zu unseren eigenen Grenzen sagen: Pro Human finanziert sich als unabhängige Arbeitsgemeinschaft ausschließlich durch Spenden und ist wesentlich auf den Einsatz von Ehrenamtlichen angewiesen. Daher können wir mit unseren aktuellen Ergebnissen auch keinen Anspruch auf flächendeckende Vollständigkeit erheben. Besonders in den ländlichen Regionen gibt es blinde Flecken. Sicher ist aber, dass es sich bei dem inzwischen einschlägig bekannten Schicksal des Boris A. keineswegs um einen Einzelfall handelt. Noch einmal zur Erinnerung: Der Ukrainer genießt als Kriegsflüchtling in Deutschland das Recht auf vorübergehenden Schutz. Um aber auch den damit verbundenen Anspruch auf Bürgergeld, Wohnraum und gesundheitliche Versorgung einlösen zu können,

benötigt er einen Aufenthaltstitel. Und der wird ihm im Freistaat schlicht und systematisch verweigert. Als Grund wird immer wieder „chronische Überlastung der Kapazitäten“ angegeben, was sich im nächsten Schritt dann auch bei der Beschwerdestelle fortsetzt. Herr Boris A. ist derzeit in einer Notunterkunft untergebracht, muss diese aber zugunsten von anderen Flüchtlingen räumen, die unter das Asylbewerber­leis­ tungs­­gesetz fallen. Also droht ihm nun Obdachlosigkeit – von der fehlenden Grundsicherung ganz zu schweigen. Und das ist, wie wir anhand von immerhin 30 dokumentierten Fallbeispielen nachweisen können, eben nicht die Ausnahme – sondern es betrifft Familien mit Kindern, ­alleinstehende Frauen und Männer, Akademiker und andere Berufsgruppen. – Das sind jetzt Menschen aus der Ukraine – wie sich die Situation für Schutz- und Asyl­suchende aus anderen Ethnien und Regionen darstellt, können Sie sich sicher denken. Wir sprechen hier auch nicht über unstrittige Abschiebungsverfahren nach Dublin III oder verurteilte Straftäter. Fakt ist, dass wir eine Art Verschleppungstaktik bei der Erfüllung der humanitären Pflichten beobachten, die sich auch in der Reaktion auf etwaige Beschwerden äußert: Die Antragsteller werden aufgefordert, ihr Glück – und ich zitiere die Gedächtnisprotokolle an dieser Stelle wörtlich – „Ihr Glück“ woanders zu versuchen, weil im Freistaat die Kapazitäten auf absehbare Zeit erschöpft seien. Dass solche Auskünfte nur mündlich und unter vier Augen erteilt werden, versteht sich von selbst. All unsere Versuche, als Zeugen an solchen Dialogen teilzunehmen, wurden mit Hinweis auf die Vertraulichkeit und den Datenschutz verhindert. Auch auf schriftliche Nachfragen gibt es keine Antwort. Von Transparenz kann also keine Rede sein, auch regional ist das Vorgehen – zumindest in den Oberzentren und in den kleineren Städten des Freistaates vergleichbar. Wir widersprechen also der Behauptung des Ministerpräsidenten

ausdrücklich, dass es sich um bedauerliche Einzelfälle handelt. Die Ergebnisse unserer Studie stellen wir Ihnen gern zur Verfügung. MARTINA GROSSI Vielen Dank für diese Zustandsbeschreibung! Gibt es Fragen an Herrn Berkóvics? Bitte! CLARA WOHLLEBEN Ja, vielen Dank auch von meiner Seite! Was Sie da schildern, deckt sich ja mit meinen Recherchen, die der Ministerpräsident neulich so radikal abgebügelt hat. Nur noch mal zum Verständnis: Sie sagen, dass das Vorgehen System hat – und nicht nur eine momentane Folge von Umstrukturierungen innerhalb der Ämter ist? PÁL BERKÓVICS Wenn man der offiziellen Auskunft glauben will, ist es natürlich nur vorübergehend – wobei der Begriff der „absehbaren Zeit“ ja auch schon sehr dehnbar erscheint. Aber da die Aussagen in allen Fällen nahezu deckungsgleich sind, muss man dahinter wohl eine Methode vermuten, die auch mit einheitlichen Sprachregelungen arbeitet. Da wird sozusagen eine Mauer hochgezogen, ein Schutzwall aus Behauptungen. Und dahinter versteckt man seine absichtliche Untätigkeit. Den betroffenen Menschen wird das Leben so schwer wie möglich gemacht, damit sie sich freiwillig einen anderen Aufenthaltsort suchen. Wir nennen das „passive Abschiebung.“ PATRIC SINGER Passive Abschiebung? Können Sie das … MARTINA GROSSI Moment, bitte halten Sie sich an die Regeln! Sie können gern fragen – aber erst nach einer ordnungsgemäßen Wortmeldung, sonst bricht hier Chaos aus! Also bitte! PATRIC SINGEREntschuldigung, vielen Dank! Also passive Abschiebung – können Sie das noch mal konkretisieren? Wohin sollen die Betroffenen denn damit bewegt werden? PÁL BERKÓVICS Nun, im besten Fall in ein anderes Land, zumindest aber in ein anderes Bundesland, wo sie bekommen, was ihnen rechtlich zusteht. Wenn Sie sich die aktuelle Entwicklung

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Stück Maximilian Steinbeis anschauen, sehen Sie ja, dass dieses Prinzip Vorbilder hat. Sie erinnern sich sicherlich noch, wie in der Migrationskrise 2015 Polen und Ungarn, also Kaczyń ski und Orban mit ihrer Blockadepolitik fast das europäische Asylsystem zum Zusammenbruch gebracht hätten. Was jetzt gerade im Freistaat passiert, ist nicht so sehr anders. Damit schafft der Ministerpräsident einfach Fakten und macht geflüchtete Menschen zum Spielball von regionalem Egoismus. Dabei wäre es doch nötig, sich der Debatte über einen Lastenausgleich zu stellen. Diese Verweigerung kann man moralisch bewerten, wie man will, und es ist sicher so, dass viele Menschen das gut und richtig finden, aber es ist und bleibt ein Rechtsbruch! MARTINA GROSSI Ich habe noch eine Wortmeldung von einem ausländischen Kollegen Herr Handsome! Peter Hampson Peter Hampson, „American News“: Congratulations, für Ihre Lobbyarbeit für illegale Refugees … Aber sie sagen ja selbst, viele Deutsche finden das ok. Fordern Sie dennoch, dass die Bundesregierung gegen diesen Common Sense eingreift? PÁL BERKÓVICS Ich danke Ihnen für diese Frage! Zunächst möchte ich aber den Begriff des Illegalen generell zurückweisen. Es gibt Menschen mit oder ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, aber keiner von ihnen tut etwas Illegales einfach nur dadurch, dass er oder sie hier ist. Im Gegenteil: Viele von ihnen haben sogar einen Rechtsanspruch! Und wenn hier etwas illegal ist, dann die Praxis ihnen diesen Anspruch einfach zu verweigern. Diese Rechtslage gilt auch im Freistaat, nur die gängige Praxis widerspricht ihr halt. Und was Ihre Einschätzung der möglichen Konsequenzen betrifft, so gebe ich Ihnen natürlich recht: Jeder Kritiker läuft Gefahr, dass er das System stabilisiert, weil er auf einen Missstand hinweist, den viele Menschen insgeheim befürworten. Aber was wäre die Alternative? Schweigen?

MARTINA GROSSI Ich denke, das ist an dieser Stelle ein gutes Schlusswort. Herr Berkóvics, haben Sie vielen Dank für Ihre Ausführungen. Meine Damen und Herren, auf bald! PÁL BERKÓVICS Ich danke Ihnen, dass ich hier sein durfte. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag! (beide ab)

V Kein schöner Land

Eine Woche später, 28. November Martina Grossi (tritt mit Ministerpräsident und Landrat auf) Ich begrüße sie alle recht herzlich zur heutigen Pressekonferenz. Nachdem vor wenigen Tagen die viel beachtete Studie von Pro Human präsentiert worden ist, hat uns der Ministerpräsident des Freistaats gebeten, seine Sicht auf die beschriebene Lage an gleicher Stelle darstellen zu können. Diesem Wunsch sind wir als Bundespressekonferenz gern nachgekommen. Außerdem begrüße ich an seiner Seite den Landrat des Mittellandkreises, Herrn Sauer. Bitte, Sie haben das Wort! DOMINIK ARNDT Ja. Pro Human also. Das klingt ja erstmal gut, guter Name, gute Absicht … ich meine wer wollte das nicht unterschreiben? Also, ich könnte jetzt natürlich sagen, dass die vorgelegte Studie nur einige Ausnahmen umfasst, aus denen eine Regel konstruiert werden soll. Ich könnte sagen, ja, der Verweis auf die Überlastung der Ämter vor Ort ist eben kein Beleg für böse Absicht, sondern einfach ein ehrlicher Umgang mit den Problemen, die sich über Jahre ja angestaut haben. Ich könnte Sie daran erinnern, dass wir unsere Prioritäten ja ganz offen kommuniziert haben, von vornherein. Die Digitalisierungs-Offensive, die Förderung von Ausbildung, Handwerk das schafft ja auch Raum für „neue“ Bürger. Das könnte ich alles sagen – das wäre auch richtig, aber das will ich nicht! Stattdessen habe ich Ihnen jemanden mitgebracht –

einen Kronzeugen gewissermaßen, der die Lage auf dem flachen Land – oder, von Ihnen aus gesehen, hinter den sieben Bergen ganz genau kennt. Herr Sauer, ja Konrad, erzähl mal. KONRAD SAUER Ja, puh, ich begrüße Sie auch recht herzlich hier in Berlin, tja, wo soll ich ­anfangen? Ja … es geht ja wohl speziell um Ausländer, um die Flüchtlinge, Geflüchtete, die Geflohenen, die bei uns im Mittellandkreis auf­ genommen worden sind, näch. Da muss man natürlich jetzt aber auch natürlich differenzieren: Einerseits gibt es da die Asylbewerber aus afrikanischen Ländern, oft unbegleitete junge Männer, ziemlich anspruchsvoll, muss man leider dazu sagen – natürlich sehr auffällig im ländlichen Raum, aber doch relativ isoliert in den ehemaligen Kasernen. Sie müssen wissen, dass diese Umwidmung der alten riesigen Baracken – also ja, wir hatten uns eigentlich eine etwas andere Perspektive für das Gelände erhofft: Wohnungen, Gewerbe, vielleicht ein Ferien-Resort, näch. Naja, aber als uns die Asylbewerber vom Bund in Scharen zugewiesen wurden, lag eine solche Nutzung, wie wir es jetzt tun – nun einmal nahe. Ja, was soll man da machen? Alternativlos! Wissen Sie, wie das Programm für die Erstverteilung von Asylsuchenden abgekürzt wird? E-A-S-Y, Easy! Lustig, nä? Ja, die Beamten im Bamf lachen wahrscheinlich immer noch, aber die Anwohner? Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben wirklich nichts gegen Ausländer, die Gemeinde hat Jahrzehnte lang gut mit den Soldaten, ja sogar von den Soldaten gelebt. Ja, aber militärische Besatzung, Befehl und Gehorsam ist eben etwas anderes als eine Community von jungen Arbeitslosen, die eigentlich vielleicht sogar voreinander – oder auch nur auch nur ein besseres Leben gesucht haben. Kann man ja auch verstehen, näch. Aber die hocken jetzt unter deutschen Kiefern beieinander und warten bei uns im Mittellandkreis … Ja, und die einzigen Arbeitsplätze, die dadurch entstanden sind, bietet der Wachschutz – da ist nix. Die Kirchgemeinde kümmert sich, ja, auch ein paar professionelle Betreuer

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lassen fühlen, zurückgesetzt, perspektivlos, muss man sich doch kümmern. Und das machen wir ja jetzt auch. Und dass es da zwangsläufig auf unserer Agenda Punkte gibt, die weiter unten landen, das liegt ja in der Natur der Sache. CLARA WOHLLEBEN Entschuldigung, würden Sie bitte meine Wortmeldung. MARTINA GROSSI Die habe ich gesehen, aber wir sollten zunächst den Ministerpräsidenten … (ausreden lassen …) DOMINIK ARNDT Nein, lassen Sie nur! Ist ok – Ich habe mir die Stelle gemerkt, an der ich unterbrochen wurde. MARTINA GROSSI Gut, dann bitte! CLARA WOHLLEBEN Ja, also … ich wollte fragen: Selbst wenn das alles so ist, verschieben Sie dann nicht das Problem nur nach dem Sankt-Florians-Prinzip? Not in my backyard, soll sich doch der Nachbar darum kümmern! Läuft es darauf hinaus? Ich habe hier einen ganzen Haufen Verwaltungsgerichtsentscheidungen recherchiert, wo Ihre Behörden verurteilt werden, und jeden Tag werden es mehr – und immer noch passiert hier gar nichts. Das liegt für Sie in der Natur der Sache? Das ist für Sie Rechtstaatlichkeit? Wollen Sie das so? DOMINIK ARNDT Also, ehrlich gesagt sind das juristische Probleme und das sollen auch Juristen lösen. Politisch – und ich fänds gut, wenn wir hier bei der Politik bleiben würden, denn ich trag ja hier politische Verantwortung – da kann ich ihnen nur sagen, dass ich von meinen Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat außerordentlich viel Zuspruch erfahre – vorläufig noch hinter vorgehaltener Hand, aber das muss ja nicht so bleiben. Die vorgehaltene Hand meine ich. Falls der Bund nicht erfreut ist und Sie vielleicht auch nicht, ja, dann ist das so, dann muss ich das in Kauf nehmen. Aber nur als Anmerkung: Dem Bund würde auf europäischer Ebene etwas mehr Rückgrat gut zu Gesicht stehen – also Sie wissen, was ich m ­ eine. Also „Not in my backyard“ um in Ihrem Wording zu bleiben. Wissen Sie, was ich nicht in Ordnung

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kümmern. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen – aber ich lade Sie ganz herzlich ein, sich ein Bild zu machen. Kommen Sie zu uns in den Mittellandkreis und machen Sie sich selbst ein Bild. Ja, es ist eigentlich wirklich schön bei uns. DOMINIK ARNDT Vielen Dank, lieber Konrad, oder Herr Sauer … ich glaube, das gibt die Gemengelage leider ganz gut wieder. Haben Sie Fragen – oder wollen Sie, Frau …? MARTINA GROSSI Ja, selbstverständlich! Deshalb bin ich ja hier! Meine Damen und Herren? Hier drüben bitte. LUKAS SPECHT Ja, Herr Landrat, Sie haben das ja sehr emotional geschildert – aber … ist diese Art der Beschreibung nicht auch typisch für die tatsächliche Situation? Ist diese Überforderung, diese angebliche Masse an Geflüchteten nicht auch eher eine gefühlte Größe? KONRAD SAUER Na hören Sie mal? Wenn Sie ein Dorf mit 2000 Einwohnern und daneben eine Unterkunft mit 100 Flüchtlingen haben, dann sind das nur fünf Prozent – aber die fallen viel mehr auf als 5000 Ausländer in einer Stadt mit 100 000 Menschen. Nennen Sie das gefühlt? DOMINIK ARNDT Konrad lass mich mal! In den Dörfern, wenn da globale Konflikte plötzlich vor den Haustüren landen, dann ist doch ganz anders als hier in der Großstadt. Da sind ja gewachsene Strukturen auf dem Dorf. Das ist ein Kulturschock für die Menschen! Ein echter Kulturschock! Das müssen Sie doch sehen! Und man hat ja unsere Bürgermeister und unsere Landräte ganz allein gelassen – mit diesen Problemen. Das wollte keiner hören? KONRAD SAUER Genau – und wenn man die Zuteilungen einfach hingenommen hat, dann konnte man als Politiker nicht mehr auf die Straße! Bespuckt bin ich worden, die Reifen haben sie mir zerstochen DOMINIK ARNDT Ja – das ist doch nicht gefühlt! Das sind doch Verwerfungen, vor denen man unser Land doch schützen muss. Man muss sich kümmern: Um diejenigen, die sich allein ge-

Uraufführung

– aber sonst lebt man bestenfalls nebeneinanderher. Das ist eine echte Herausforderung für die Politik, da kommt man als Landrat schnell an seine Grenzen. Denn dafür ist man ja nicht gewählt worden, das kann man ja niemandem erklären – dass man mit Fremden solidarisch sein soll, wenn man selbst auf Almosen angewiesen ist. Für das neue Spritzenhaus ist kein Geld da, die Duschen beim Fußballverein sind kaputt, aber das Flüchtlingsheim! Da wird nicht differenziert, da wird gnadenlos aufgerechnet. Und jetzt noch die PutinOpfer, nicht in der gleichen Gemeinde, aber in der Kreisstadt. Ja, die fallen erst mal nicht so auf, die lassen sich leichter übersehen, aber wenn dann ein Ukrainer mit seinem SUV an der Tafel vorfährt und sich das Essen abholt – das muss man erstmal aushalten, näch da fragt man sich schon – da sagt man sich, da denkt man schon … also da ist schon viel Neid im Spiel. Ja, und wenn dann eine echte Alternative auftaucht: Sie sehen doch, wie viel Prozent die Allianz bei den Wahlen geholt hat! Absolute Mehrheit – und eben nicht mit rechten Parolen, mit dumpfen Sprüchen und leeren Versprechen. Sondern ehrlich und zugewandt, wie unser Ministerpräsident, ein echter Volksbürger! Ja, dass er sich, dass wir uns erst mal um die kümmern, die schon da sind, und nicht unbegrenzt neue Kontingente aufnehmen, ist doch konsequent: Nur wenn die Eingliederung der jetzt schon Anwesenden gelingt, profitieren künftig auch Ankömmlinge von den Erfahrungen. Ja, das kann nur Schritt für Schritt gehen, das darf man nicht überstürzen. Und wer sich in die Gemeinschaft nicht einfügen will, der findet bestimmt einen Ort, der besser zu ihm passt – eine Multikulti-Metropole, eine quirlige Großstadt, Berlin, Hamburg. Da zieht es ja auch unsere Jugend hin, das ist zwar eine Tragödie, das muss man aber dann eben akzeptieren. Aber wer bei uns bleiben will, der soll auch einen Grund dafür finden: Freiwillige Feuerwehr, Fußball, Fanfarenzug, das mag wie ein Klischee klingen, aber das ist auch Heimat! Ja, und damit die nicht abhandenkommt, müssen wir uns


Stück Maximilian Steinbeis finde? Sie kritisieren mich hier wegen der Rechtstaatsgeschichten und so weiter, aber wovon sie hier überhaupt nicht reden, ist, dass es hier ja auch um den Schutz von Menschen geht. Wer bei uns im Freistaat einen Gottesstaat ausrufen möchte oder widerlichste, antisemitische Aktionen fährt, der wird bei uns mit aller Härte bestraft und auch remi … äh zurückgeführt. Und was hier gerade an den Hochschulen los ist, also das versteht bei mir im Freistaat keiner Freie Rede gut und schön, ja, Versammlungsfreiheit gut und schön, auf jeden Fall – aber, Freunde, es gibt doch auch Grenzen. Universitäten sind Orte vom offenen Diskurs und Meinungsfreiheit, und wenn die von eifernden Antisemiten okkupiert werden, dann schadet das letztendlich nicht nur der Meinungsfreiheit, sondern auch der Wissenschaftsfreiheit, und letztlich dem ganzen Wissenschaftsstandort – das werde ich nicht dulden. Das können sie mitschreiben: „Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz“ – bei uns im Freistaat! CLARA WOHLLEBEN Lassen Sie uns nochmal beim Ausländerrecht bleiben. Und beim dem Thema Rechtsstaatlichkeit. Wie gesagt, da gibt es jetzt immer mehr Verwaltungsgerichts-Anordnungen, was ist denn jetzt mit denen? Und dann gibt es jetzt im Fall von Boris A auch eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. – Pause – Beeindruckt Sie das gar nicht? DOMINIK ARNDT Ich glaube, Sie haben Ihr Kontingent ausgeschöpft. Grenzen sind wichtig, finden Sie nicht auch, Frau Moderatorin? MARTINA GROSSI Gibt es noch Fragen an den Landrat? PATRIC SINGER Ja, hier! MARTINA GROSSI Bitte! PATRIC SINGER Sie haben ja neben der Lage im Mittellandkreis auch Ihre persönliche Situation kurz anklingen lassen. Zerstochene Reifen, körperliche Gewalt, Donnerwetter! Hat sich das denn unter der neuen Regierung geändert? Dominik Arndt Ja, Konrad, sag doch mal, wie es dir jetzt geht. KONRAD SAUER Das ist nun ja, natürlich gibt es auch immer wieder Anfeindungen, diesmal von der anderen Seite. Aber das ist eine Minderheit, ein paar Autonome, Zugereiste insgesamt ist die Zufriedenheit schon gewachsen. Deshalb bin ich ja auch zur Allianz gewechselt, auf halber Strecke vor den nächsten Kommunalwahlen. Und jetzt hoffe ich natürlich, dass wir bis dahin auch eine neue Nutzung für das Kasernengelände DOMINIK ARNDT Konrad, lass mal bitte – das tut hier nichts zur Sache, Konrad, ich glaube das führt jetzt hier zu weit! Ich glaube es gerät hier gerade ein bisschen aus dem Blick, was bei uns im Freistaat für eine unglaubliche Umwälzung stattfindet – im positiven Sinne. Machen

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Sie sich das mal klar. Ist ja noch gar nicht so lange her, noch vor ein paar Wochen hatten – seien Sie ehrlich, was hatten Sie für Bilder im Kopf, wenn vom Freistaat die Rede war: geschlossene Gaststätten, wachsende Bäume in Regenrinnen, Nazis, kein ÖPNV, Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Nazis, einfach Perspektivlosigkeit. Oder? Seien Sie ehrlich – Aber jetzt wächst hier richtig was heran bei uns in kürzester Zeit – eine neue Generation in Politik, in Verwaltung, in der Wirtschaft, ganz wichtig – ganz ehrlich, aus ganz Deutschland kommen jetzt junge, leistungsbereite Menschen zu uns, weil sie hier große Chancen sehen. Wir haben im öffentlichen Dienst eine riesige Pensionierungswelle. Noch vor einem Jahr hatten wir teilweise wirklich Schwierigkeiten, für die pensionierten Richter und Staatsanwälte an manchen Standorten bei uns im Land geeignete Nachfolger zu finden. Jetzt können wir sie uns aussuchen und das tun wir auch. So, vielen Dank – ich denke wir machen an dieser Stelle Schluss. Auf Wiedersehen! (ab) MARTINA GROSSI Vielen Dank … Herr Landrat! Kommen Sie? (mit Landrat ab)

VI Exekutiver Ungehorsam Drei Monate später, 22. Februar

MARTINA GROSSI (tritt mit Regierungssprecherin auf) Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann fangen wir an mit dieser Regierungspressekonferenz. Herzlich willkommen im Saal Frau Dr. Rieger-Fock. Heute geht es um den bevorstehenden Staatsbesuch des britischen Premierministers Sir Keir Starmer. Und zur Kabinettssitzung heute morgen können wir sicherlich auch noch ein paar Fragen loswerden, nicht wahr, Frau Regierungssprecherin? Gut, bitte, Sie haben das Wort. DR. RIEGER-FOCK Danke, Frau Grossi. Ja, auch von mir herzlich willkommen, ich kann Ihnen berichten, dass der Premier am Samstag, 9 Uhr mitteleuropäischer Zeit, in Schönefeld landen und anschließend vom Bundespräsidenten auf Schloss Bellevue zu einem leichten Lunch empfangen wird. Am Nachmittag finden dann Gespräche auf Arbeitsebene statt. Dabei sollen insbesondere verteidigungs- und wirtschaftspolitische Aspekte der deutschbritischen Zusammenarbeit erörtert werden. Am Sonntag wird der Premier dann nach Süddeutschland weiterreisen und nach einem Empfang mit der bayerischen Staatsregierung das Schloss Neuschwanstein besuchen. Zum krönenden Abschluss nimmt Keir Starmer an der Eröffnung der Münchner Opernfestspiele teil. Der Premierminister wird von einer hochrangigen Dele-

gation von Wirtschaftsvertretern begleitet. Die Rückreise ist für Montag morgen geplant. Über die Ergebnisse der Gespräche werden wir Sie selbstverständlich zeitnah informieren. MARTINA GROSSI Gut, gibt es Fragen dazu? PATRIC SINGER Ja, hier bitte. Die britische Regierung hat angekündigt, den harten Kurs in der Migrationspolitik fortzusetzen, ich sag nur: Ruanda. Und gleichzeitig will Starmer eine vorsichtige Annäherung an die EU. Wird das auch Thema sein, und wie positioniert sich die Bundesregierung in dieser Konstellation? DR. RIEGER-FOCK Ja, vielen Dank für diese Frage, die mir die Gelegenheit gibt, noch einmal zu bekräftigen, dass wir migrationspolitisch große Chancen in einer vertieften Zusammen­ arbeit mit der britischen Regierung sehen, zumal was die hoch leistungsfähige britische Grenzüberwachungstechnologie betrifft. Wobei ich aber auch unterstreichen will, dass wir selbstverständlich auch schon gegenüber der vorherigen Regierung stets die Position vertreten haben, dass völkerrechtliche Verpflichtungen etwa aus der Europäischen Menschenrechtskonvention oder aus der Genfer Flüchtlingskonvention stets zu respektieren und gegebenenfalls auch gerichtlich durchzusetzen sind. MARTINA GROSSI Ja bitte, Herr Hampson! PETER HAMPSON Peter Hampson, „American News“. Ahm, right, okay, Völkerrecht. Wie beurteilen Sie dann die amerikanischen Methoden zur Migration? DR. RIEGER-FOCK Falls Sie die Grenze zu Mexiko meinen, so sehen wir das natürlich kritisch, aber haben Verständnis für die schwierige Situation, die sich aus dem direkten Landweg ergibt. Das ist ja mit dem Verhältnis zu unseren Nachbarn nicht vergleichbar. PETER HAMPSON Well, Sehen Sie Anlass, an der Rule of Law in Ihrem Bündnispartner Großbritannien zu zweifeln? Wenn die Briten jetzt ihre refugees schon auf dem Festland abfangen wollen – wird Deutschland dann nicht Ruanda? Ist das ein Problem? DR. RIEGER-FOCK Nein, im Gegenteil, wir haben auch der Vorgängerregierung gegenüber stets zum Ausdruck gebracht, dass wir nicht den geringsten Zweifel haben an der Rechtsstaatlichkeit ihrer Maßnahmen und ihrem unbedingten Willen, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen … Und wenn alle Länder das tun, wie in Dublin III eindeutig geregelt, dann kommen ja die meisten Flüchtlinge gar nicht bis zu uns und davon profitiert dann theoretisch auch Großbritannien. CLARA WOHLLEBEN Aber wenn sich die anderen nicht daran halten? Wie wollen Sie denn einer ausländischen Regierung was von Rechtstreue erzählen, wenn Sie die nicht mal im eigenen Land durchgesetzt kriegen?

Theater der Zeit 10 / 2024


Stück Ein Volksbürger DR. RIEGER-FOCK Also, erlauben Sie mal. Ich weiß jetzt wirklich nicht … CLARA WOHLLEBEN Das liegt doch auf der Hand. Es gibt mittlerweile mehrere oberverwaltungsgerichtliche Entscheidungen/Urteile, die den Freistaat verpflichten, Anträge auf Aufenthaltsgenehmigungen positiv zu bescheiden. Zwei Verfahren im Aufenthaltsrecht und eins im Staatsbürgerschaftsrecht, und dazu noch jede Menge Entscheidungen in erster Instanz sowie einstweilige Anordnungen. Und die werden einfach missachtet und ignoriert! MARTINA GROSSI Frage, bitte! CLARA WOHLLEBEN Ja, hier ist meine Frage: Wie lange wollen Sie uns noch erzählen, dass dieser Zustand mit dem Grundgesetz vereinbar ist? DR. RIEGER-FOCK Danke für die Frage, Frau Wohlleben, und selbstverständlich will ich versuchen, sie zu beantworten. Wir sehen diese Problematik natürlich und nehmen sie sehr sehr ernst. Das Grundgesetz und das Rechtsstaatsprinzip sind natürlich nicht verhandelbar. Umso wichtiger ist es, im Dialog mit der Regierung des Freistaats für diese Probleme eine konstruktive Lösung zu finden. CLARA WOHLLEBEN Nachfrage: Was tun Sie denn, wenn dieser Dialog scheitert? Es ist ja jetzt nicht so, dass der Freistaat vor Eifer brennt, für diese Probleme, wie Sie sagen, eine konstruktive Lösung zu finden, das ist ja gerade das Problem, oder nicht? Also noch mal, was tut die Bundesregierung, um verfassungsmäßige Verhältnisse im Freistaat herzustellen? DR. RIEGER-FOCK Danke auch für Ihre Nachfrage, aber ich glaube, ich muss mich da wiederholen. Wir beobachten diese Vorgänge mit großer, ich will nicht sagen Sorge, aber doch mit großem Bewusstsein unserer Verantwortung, und gerade deshalb suchen wir das Gespräch und appellieren an die Landesregierung, ihren bundesrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, und bieten dabei im Rahmen unserer verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten auch unsere Hilfe an. MARTINA GROSSI Herr Specht und dann Herr Singer bitte! LUKAS SPECHT Ja, weil Sie Hilfe sagen, heißt das, dass sie offen dafür sind, die Umverteilung von Migrant*innen zu verhandeln? Das ist doch genau das, was die Demokratische Allianz selbst will? DR. RIEGER-FOCK Noch einmal: Wir suchen das Gespräch, und das gilt selbstverständlich auch für die anderen Bundesländer, mit denen wir ohnehin in fortlaufendem Meinungsaustausch auch über die Reform des Verteilungsschlüssels stehen, insofern … PATRIC SINGER Haben denn schon Gespräche mit der Regierung des Freistaats stattgefunden? DR. RIEGER-FOCK Dazu kann ich Ihnen im Augenblick nichts sagen.

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PATRIC SINGER Nochmal, haben jetzt Gespräche stattgefunden oder nicht? DR. RIEGER-FOCK Wie gesagt, ich kann dazu im Augenblick keine Angaben machen. PATRIC SINGER Wieso, weil Sie’s nicht wissen? Oder weil Sie es nicht zugeben wollen? Martina Grossi Gibt es noch andere Wortmeldungen? LUKAS SPECHT Ja, Ich versuch’s mal so rum: Was haben Sie dem Freistaat angeboten? Dr. Rieger-Fock Ich bitte um Verständnis, aber Sie können es noch dreimal versuchen. Dazu werde ich mich nicht äußern. LUKAS SPECHT Ist die Bundesregierung erpressbar? DR. RIEGER-FOCK Das weise ich entschieden zurück. LUKAS SPECHT Darf ich noch mal? MARTINA GROSSI Herr Specht, sie haben Ihr Kontingent bereits ausgeschöpft. LUKAS SPECHT Also entschuldigen Sie, es geht hier um Menschen, ja? In diesen Verfahren geht es um Menschen, es geht um Menschenrechte. Was sagen Sie den Menschen, die da für ihre Rechte kämpfen, für ihr Recht, hier im Land bleiben zu können und eine sichere Existenz haben zu können, was sagen Sie denen, die vor Gericht geklagt haben und Recht bekommen haben und trotzdem mit leeren Händen da stehen – jetzt? Was sagen Sie denen? CLARA WOHLLEBEN Sagen Sie, sagt Ihnen Artikel 84 Grundgesetz etwas? DR. RIEGER-FOCK Also, ich weiß jetzt nicht, was das jetzt mit der Sache zu tun hat, Artikel 84. CLARA WOHLLEBEN Stop – mal bitte… Okay, also, ich glaub es reicht jetzt mal. (Geste zur Stenografin) STENOGRAPHIN Wieso, was ist jetzt los? CLARA WOHLLEBEN Ich glaub, wir müssen das hier jetzt mal stoppen! STENOGRAPHIN Okay? Okay! (hält mit einer Geste die Uhr an) CLARA WOHLLEBEN Es war einmal, in einer anderen Zeit, im Jahr des Herrn 2012 eine Landesregierung, die wurde von einem Verwaltungsgericht verurteilt, sogenannte Luftreinhaltepläne aufzustellen. Die Städte Europas waren voller Feinstaub und das war gesundheitsschädlich und lag an den vielen Dieselautos, die herumfuhren, und in der Landeshauptstadt, da war die Luft besonders schlecht, und deshalb hätte die Staatsregierung ein Dieselfahrverbot verhängen müssen, dazu war sie europarechtlich verpflichtet. Tat sie aber nicht. Machte sie einfach nicht. Der Ministerpräsident, Markus Söder hieß er und war von der CSU, sagte, sein Land sei ein Autoland. Er bekenne sich ausdrücklich zum Auto, nicht nur als Wirtschaftsfaktor, sondern auch als Ausdruck individueller Mobilität, sagte der Ministerpräsident Markus

Söder. Wir wollen keine Fahrverbote, sagte der Ministerpräsident Markus Söder, sechs Jahre, nachdem die Landesregierung genau dazu verurteilt worden war vom Verwaltungsgericht München, und dann auch noch vom Oberverwaltungsgericht München, und diese Urteile waren rechtskräftig und ziemlich glasklar, da gab es gar nichts dran zu deuteln. Die Staatsregierung war verurteilt worden, aber sie ignorierte diese Urteile einfach. Was passierte dann? Wenn eine Privatperson verurteilt wird von einem Gericht und nicht tut, was sie tun muss, dann kommt der Gerichtsvollzieher. Dann kommt der Staat und exekutiert das Urteil. Aber wenn es der Staat selber ist, der verurteilt wird, die Regierung, die Exekutive, wer vollstreckt dann die Strafe? Das Gericht kann Zwangsgelder verhängen gegen die Staatsregierung. Ein paar Tausend Euro. Die zahlt die Staatsregierung … an wen? An sich selbst. Linke Tasche, rechte Tasche. Kann das Gericht aber die Regierung, die seine Urteile ignoriert, in Beugehaft nehmen? Das haben sich die Richter vom Oberverwaltungsgericht München auch gefragt. Sie haben diese Frage sogar dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, ob das Europarecht es hergibt, die verantwortlichen Minister oder sogar den Ministerpräsident Söder selbst in Zwangshaft zu nehmen, bis sie endlich tun, wozu sie verurteilt sind. Leider nein, antwortete der EuGH, so dass die bayerische Justiz schließlich 2020 den Fall für erledigt erklärte. Und so gibt es bis heute kein Dieselfahrverbot in der Landeshauptstadt München, dafür aber einen saftigen Präzedenzfall für etwas, das es in einem Rechtsstaat eigentlich nicht geben darf. STENOGRAPHIN Und was ist das? CLARA WOHLLEBEN Exekutiver Ungehorsam. Die Exekutive kündigt der Judikative den Gehorsam auf. STENOGRAPHIN Aber dann bricht doch das ganze System zusammen? CLARA WOHLLEBEN Genau! STENOGRAPHIN Und dagegen kann man gar nichts machen? CLARA WOHLLEBEN Doch! ... Artikel 84 Grundgesetz ... Dreh mal die Zeit zurück. STENOGRAPHIN Okay. (dreht mit einer Geste die Uhr zurück und lässt die Zeit weiterlaufen) CLARA WOHLLEBEN Was tun Sie denn, wenn dieser Dialog scheitert? Es ist ja jetzt nicht so, dass der Freistaat vor Eifer brennt, für diese Probleme, wie Sie sagen, eine konstruktive Lösung zu finden, das ist ja gerade das Problem, oder nicht? Also noch mal, was tut die Bundesregierung, um verfassungsmäßige Verhältnisse im Freistaat herzustellen? DR. RIEGER-FOCK Die Bundesregierung übt die Aufsicht darüber aus, dass die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Recht gemäß aus-

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Stück Maximilian Steinbeis führen. Das Aufenthaltsgesetz ist ein Bundes­ gesetz, das Staatsangehörigkeitsgesetz ist ein Bundesgesetz, und wenn eine Landesregierung diese Gesetze nicht mehr oder nur noch mangelhaft umsetzt, dann kann die Bundesregierung dagegen aktiv werden. Das können Sie in ­Artikel 84 Grundgesetz Absatz drei nachschlagen, da steht das alles. Wenn die Landesregierung nicht kooperiert, dann können wir einen Bundesbeauftragten entsenden, der erst einmal aufklärt, welche Mängel es bei der Umsetzung von Bundesrecht im Freistaat überhaupt gibt. Und das werden wir jetzt tun. Vielen Dank. (mit Martina Grossi ab) Die Journalisten springen hektisch auf, verlassen den Saal, telefonieren im Foyer hinter der Glaswand etc.

VII König und Demokrat Am gleichen Tag, 22. Februar

DOMINIK ARNDT (tritt auf, sieht sich um) Ach so, die Kollegen von der Presse sind noch gar nicht da, die kommen gleich – ist ja auch schön, dann sind wir mal unter uns – sind wahrscheinlich alle draußen und geben ihre Eilmeldungen durch – naja – die machen ja auch nur ihren Job … alle ganz aufgeregt, uuuhhh … Eilmeldungen ... Ist doch ganz schön haben sie alle was zu berichten Gucken alle. Lesen alle. Aufgeregt. So lieben die das. Kennen nichts Schöneres. So ist das halt. Ist ihr Job. Machen alle nur ihren Job. Was würden Sie jetzt an meiner Stelle machen – mal ganz unter uns – off the record? Würden Sie das jetzt einfach so akzeptieren, dass da ein Bundesbeauftragter mich quasi observiert? Die Zeiten sind doch zum Glück vorbei, oder? Ich bin ja kein Pudel tut mir leid. Und ganz ehrlich, selbst wenn ich das – selbst, wenn ich das wollte, ich kann das gar nicht. Ich kann gar kein Pudel sein! Wissen Sie, wer nicht nur seinen Job macht? Ich. Ich bin vom Volk gewählt. Ich hab hier nicht einfach nur einen Job zu erledigen, schau nicht nur in die Gesetze rein, was ich machen soll und was ich nicht machen soll, und das mach ich dann und das unterlass ich dann, und mehr kann keiner von mir verlangen. Nö. Ich mach hier nicht nur meinen Job. Ich hab’ keinen Job, ich hab, tut mir leid, wenn ich das so sagen muss, aber ich hab Macht. Ich bin vom Volk gewählt. Ja, ist so! Und wenn die mir da jetzt so einen Bundesbeauftragten schicken, warum soll ich das einfach akzeptieren? Wie soll ich das meinen Leuten erklären? Die haben mich gewählt. Die haben nicht irgend so einen Pudel von der Bundes­ regierung gewählt. Die haben mir die Macht übertragen. Und ich soll die jetzt abtreten, nur

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weil die Bundesregierung sich das anders vorstellt, wie das bei uns zu laufen hat? Tut mir leid, aber selbst, selbst wenn ich das wollte: das kann ich gar nicht. Ich bin vom Volk eingesetzt. Ich kann nicht einfach sagen, oh, meinen Job macht jetzt ein Pudel, ich geh dann mal, werdet ihr halt jetzt von einem Pudel regiert. Sagt Ihnen der Name Otto Braun noch was? Der war Ministerpräsident in einem deutschen Bundesland – in einem Freistaat, Preußen. Und das hat der Reichsregierung hier in Berlin nicht gepasst. Der war auch vom Volk gewählt. Weinliebhaber, Sozialdemokrat, der auch als König bezeichnet wurde – eigentlich sehr schön: König und Demokrat – gefällt mir gut – vielleicht gar kein Gegensatz. Also haben sie da einen Reichskommissar eingesetzt, und, zack, war der Ministerpräsident Otto Braun abgesetzt und der Reichskommissar hat an seiner Stelle regiert. Der war zwar nicht vom Volk gewählt, aber das durften die, das stand im Gesetz, (lacht) der machte nur seinen Job. Das war der sogenannte Preußenschlag. Lange her. Das war im Jahr 1932. Und der Kanzler, der sich das ausgedacht hatte, das war ein gewisser Franz von Papen, und der, dem der Herr von Papen damit den Weg an die Macht geebnet hat, (lacht) da können Sie jeden Historiker fragen, das war Adolf Hitler. Ja! Das war so. (die Journalisten sind nach und nach in den Saal zurückgekehrt und haben ihre Plätze wieder eingenommen) Ach, da sind sie ja wieder – ich habe hier gerade mal etwas vom Preußenschlag berichtet. Das war der Anfang vom Ende der Weimarer Demokratie, dieser Preußenschlag. Müssen sie ja eigentlich wissen. CLARA WOHLLEBEN Entschuldigung, da hätte ich eine Frage: Preußenschlag. Das war doch ein Putsch, ein verfassungswidriger Putsch, von einer autoritären Reichsregierung auf der einen Seite gegen eine demokratische, gesetzestreue Landesverwaltung auf der anderen. Das jetzt hier ist genau umgekehrt. Die Bundesregierung verteidigt Gesetz und Verfassung gegen eine autoritäre, verfassungswidrige Landesverwaltung. Wieso ist das bitteschön vergleichbar? DOMINIK ARNDT Aus welcher Ecke kommt denn diese Frage? CLARA WOHLLEBEN Hier! Und ich mach’s auch gern noch deutlicher: Was machen Sie denn, wenn es zum Äußersten kommt? Wenn man Ihnen ihr Amt entzieht? DOMINIK ARNDT Wie gesagt, ich kann mich nur wiederholen, ich bin kein Pudel, und ich red’ auch nicht mit Pudeln. CLARA WOHLLEBEN Der Bundesbeauftragte ist für Sie also ein Pudel? Und Sie reden nicht mit Pudeln? Das heißt, Sie lassen ihn gar nicht erst durch die Tür? DOMINIK ARNDT Also, erstens haben Sie mir immer noch nicht gesagt von welchem Medium

sie sind – aber wurscht. Ich weiß nur gerade nicht, ob Sie diejenige sind, die hier entscheidet, was demokratisch ist und was nicht, was verfassungskonform und was verfassungswidrig ist. Wer hat Sie denn ermächtigt, die Rollen hier zu verteilen? Ähmm – Ich glaub, ich muss jetzt hier mal richtig ausholen – gerade hier in Berlin. Hier liegt offenbar ein grundlegender Irrtum vor. Hier sind offenbar alle der Meinung, dass die Bundesländer nicht mehr als Verwaltungsprovinzen des Bundes sind. Die einfach so’n Bundesgesetz vorgesetzt bekommen und dann müssen sie das umsetzen. Ich versteh das ja, das ist ja auch so’n bisschen im Grundgesetz angelegt, aber trotzdem können wir uns damit doch nicht einfach abfinden. Also als Frage: Ist der Freistaat hier ein Freistaat? Was meinen Sie eigentlich, wenn vom Regierungschef eines Freistaats die Rede ist? Ist der Ministerpräsident dann für sie bloß ein Behördenleiter? Ein Befehlsempfänger? Spüren Sie das überhaupt noch, dass es da einen Unterschied geben muss zwischen Politik und Verwaltung? LUKAS SPECHT Aber … äh ... was ist denn dann die Alternative? Das heißt ja in letzter Konsequenz, dass Sie den Rechtsstaat … was heißt das denn, was gilt denn dann jetzt? DOMINIK ARNDT Ja, hab ich doch gesagt. Es wird viel Bewegung geben.

VIII Fakten schaffen

Vier Monate später, 16. Juni Martina Grossi (tritt mit Regierungssprecherin und Prof. Hansen auf) Liebe Kolleginnen und Kollegen. Herzlich willkommen zur heutigen Pressekonferenz. Dazu begrüße ich als Gast den Beauftragten der Bundesregierung Herrn Professor Hansen. Er wird uns den Bericht zur Umsetzung von Ausländerrecht und Staatsangehörigkeitsrecht im Freistaat vorstellen. Zunächst aber übergebe ich das Wort an die Regierungssprecherin Frau Dr. Rieger-Fock. Bitte! DR. RIEGER-FOCK Guten Morgen auch von mir, und gestatten Sie mir, bevor ich an Herrn Professor Hansen übergebe einige Worte vorab: Ich möchte im Namen der Bundesregierung Herrn Professor Hansen Dank und Hochachtung aussprechen für die schwere Aufgabe, die er auf unsere Bitte hin übernommen hat. Nach seiner Zeit am Bundesverfassungsgericht wollte er wieder an die Universität um zu lehren, hat sich dann aber erneut in den Dienst der Bundesrepublik nehmen lassen. Das ist nicht selbstverständlich und verdient große Anerkennung. Und ich möchte vorab auch betonen, worum es uns bei dem Auftrag an ihn gegangen ist. Professor Hansen sollte überhaupt erst einmal eine

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Stück Ein Volksbürger solide Faktengrundlage schaffen, auf der die Bundesregierung dann ihrer Pflicht nachkommen kann. Wir hatten Anlass zu der Annahme, dass die Verfahren im Bereich des Ausländerund Staatsbürgerschaftsrechts im Freistaat nicht immer ordnungsgemäß verlaufen. Sie alle kennen ja die Vorwürfe dazu. Diesen Hinweisen müssen wir nachgehen, das ist unsere Pflicht als Bundesregierung. Nun zu den Ergebnissen. Bitte, Herr Professor Hansen. PROF. HANSEN Ja, herzlichen Dank! Wie Frau Regierungssprecherin bereits erwähnt hat, bestand meine Aufgabe in der Ermittlung, ob und in welchem Umfang die Praxis der Umsetzung von Bundesrecht im Freistaat im Bereich des Ausländer- und Staatsbürgerschaftsrechts von geltendem Recht abgewichen ist und weiterhin abweicht. Ich habe mich dabei auf drei konkrete Felder fokussiert, nämlich die Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnissen nach den Paragraphen 7 und 9 Aufenthaltsgesetz, die Antragseinbürgerung nach Paragraph 8 fortfolgende des Staatsangehörigkeitsgesetzes sowie die Erbringung von Leistungen an die nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigten Personen … also im Wesentlichen Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge. Das sind Bundesgesetze, die von Landesbehörden umgesetzt werden, und nach Artikel 84 Grundgesetz kann, oder eigentlich: muss die Bundesregierung die Aufsicht darüberführen, dass diese Umsetzung nach geltendem Recht geschieht, und wenn das wie hier nicht oder nicht immer der Fall ist … PATRIC SINGER Sind – Sie – gescheitert?!! MARTINA GROSSI Herr Kollege, ein bisschen Ordnung bitte. Wir haben jetzt erst das Statement und danach können Sie fragen PATRIC SINGER Ist die Bundesregierung gescheitert mit ihrem Putschversuch? Martina Grossi So, ich bitte sie jetzt nochmal, wir haben eine Ordnung hier, von der ich ausgehe, dass Sie sie kennen. Sie melden sich bitte ordnungsgemäß, damit ich das hier aufnehmen kann! PROF. HANSEN Wenn Sie erlauben, ich kann dazu schon kurz Stellung nehmen. MARTINA GROSSI Bitte. PROF. HANSEN Es ist soeben das Wort Putschversuch gefallen. Ich weise das strikt von mir, das ist sachlich und juristisch vollkommen verfehlt, hier geht es um einen ganz normalen Fall von Verwaltungsaufsicht … PATRIC SINGER Ganz normaler Fall? Können Sie mir sagen, wie oft es das schon gab in der Bundesrepublik, so einen „ganz“ normalen Fall? PROF. HANSEN Die Frage ist vollkommen berechtigt, das gab es in der Form noch nicht in der Bundesrepublik, das ist in gewisser Weise Neuland, gleichwohl ist die Bundesaufsicht

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über die Länderverwaltung bei Umsetzung von Bundesrecht ein integraler Bestandteil PATRIC SINGER Ein Putschversuch! MARTINA GROSSI Moment. PROF. HANSEN Nein, kein Putschversuch, das weise ich von mir. Der Vergleich mit Otto Braun und dem Preußenschlag und all das, das ist voll-kommen unangebracht. Nochmal, ich bin nicht als Bundeskommissar in den Freistaat geschickt worden, der hier irgendwie die Regierung übernehmen soll oder etwas in der Art, sondern … mein Auftrag war, den Fakten auf den Grund zu gehen, damit die Bundesregierung erst mal eine Grundlage hat, auf der sie agieren kann. Das war und ist mein Auftrag! Und in diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, dass ich an der Erfüllung meines Auftrags systematisch gehindert worden bin, weil ich keinen Zutritt erhalten habe im Innenministerium des Freistaats … PATRIC SINGER Sie haben Sie nicht reingelassen! So sieht’s doch aus. Sie haben geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht! Sind mussten wieder abziehen Herr Bundesbeauftragter – mit leeren Händen. So siehts doch aus. MARTINA GROSSI So, nein, jetzt reicht es, das war keine Frage, sondern ein Gegenstatement. Und, wie Sie wissen, steht Ihnen das an dieser Stelle nicht zu, ich darf Sie zum allerletzten Mal daran erinnern, dass Sie ein Mitglied der Bundespressekonferenz sind! PATRIC SINGER Ja, genau! Ich bin hier Mitglied der BPK und ich habe das Recht hier Fragen zu stellen. Und Sie haben kein Recht Fragen zu unterdrücken, die Ihnen nicht passen. MARTINA GROSSI Herr Singer, ich unterdrücke hier gar nichts, ich leite hier die Sitzung und ich bin zuständig für einen ordnungsgemäßen Ablauf. Wenn Sie damit ein Problem haben, können wir das gerne später unter vier Augen besprechen. Ich sehe keine weiteren Fragen, damit ist die Konferenz beendet. PATRIC SINGER Ich hätt’ schon noch ein paar Fragen, und ich glaub, andere im Raum hier auch! Nix da beendet! Sie können das doch nicht einfach abwürgen jetzt! Sie haben doch die Pressekonferenz anberaumt, dann muss Herr Hansen jetzt doch auch Rede und Antwort stehen. Oder? Hab’ ich Recht? PETER HAMPSON Exactly, ich dachte wir sind hier in Berlin im Haus der Bundespressekonferenz mit euren berühmten Regeln. MARTINA GROSSI Gut, ich sehe allgemeine Zustimmung, dann machen wir die Runde nochmal auf – und Sie, Herr Singer, bitte halten Sie sich etwas zurück! Ich sehe eine Wortmeldung … Bitteschön, Frau Wohlleben! CLARA WOHLLEBEN Okay, Frage an Herrn Professor Hansen: Haben Sie Ihren Bericht jetzt auf belastbaren Fakten gegründet, also nach

gründlicher Einsicht in die Akten? Oder ist das auch wieder nur auf Basis von unseren Medienberichten und unbestätigten Gerüchten? PROF. HANSEN Ja, danke für die Frage, die mir Gelegenheit gibt, das noch mal unmissverständlich zu sagen: Mir ist der Zugang zu den Akten verwehrt worden! Ich muss das mal so hart sagen, weil das ist echt skandalös, das ist eigentlich unvorstellbar in unserem Rechtstaat, aber mir ist systematisch, umfassend und planmäßig der Zugang zu den Akten verwehrt worden! Das muss man sich mal vorstellen. Ich komm da im Auftrag der Bundesregierung und werd nicht mal reingelassen! Meine schriftliche Bitte um detaillierte Auskunft wird einfach nicht beantwortet! Wir haben dann die Zustimmung des Bundesrats erwirkt, dass ich auch in nachgeordneten Behörden ermitteln darf, das war mühsam genug, die sehen das ja auch nicht gerne, wenn der Bund da bei den Ländern Beauftragte reinschickt, aber die haben die Zustimmung selbstverständlich erteilt! Aber dann beim Landesverwaltungsamt, bei den Ausländer- und Einbürgerungsbehörden überall das gleiche Spiel! Ich bin nicht reingelassen worden! Tür war zu, Landespolizei davor, die haben nicht mal auf meine Fragen geantwortet, die haben mich total abblitzen lassen! Ich stand da wie ein… wie ein begossener Pudel! So weit sind wir hier schon! Ich mein, das ist doch unvorstellbar! DR. RIEGER-FOCK Danke, Herr Professor Hansen, aber ich denke doch, dass wir jetzt … PATRIC SINGER Ja, und was machen Sie jetzt? Was passiert jetzt? Wie geht das jetzt weiter? MARTINA GROSSI Nochmal Herr Singer bitte halten Sie sich zurück! PROF. HANSEN Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Wir wollen – also die Bundesregierung – will das jetzt festgestellt haben. Die Bundesregierung wird den Antrag stellen, dass der Bundesrat die Verletzung von Bundesrecht durch den Freistaat feststellt. Das ist das im Grundgesetz vorgesehene Verfahren. Und die Bundesregierung ist sehr zuversichtlich, dass sich der Bundesrat unserer Einschätzung anschließen wird. PATRIC SINGER Und dann, was passiert dann? DR. RIEGER-FOCK Dann kann und wird vermutlich der Freistaat von seinem Recht Gebrauch machen, gegen diesen Beschluss des Bundesrats vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Dafür hat der Freistaat einen Monat Zeit. Dann prüft Karlsruhe den Vorgang, und wir bekommen eine klare und unmissverständliche Grundlage dazu, was hier die Rechtslage ist: Einen festen und belastbaren Grund für alles weitere. PETER HAMPSON Und dann ist für sie alles wieder ok? DR. RIEGER-FOCK Genau. Dann ist alles wieder in Ordnung. Was wir jetzt brauchen, ist nur ein bisschen Geduld. Das dauert halt in einem Rechtsstaat manchmal, aber das ist ja auch in

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Stück Maximilian Steinbeis Ordnung so. Dann haben wir eine klare Ansage aus Karlsruhe, und dann kommt das alles in Ordnung. Also bitte etwas Geduld! MARTINA GROSSI Danke Frau Dr. Rieger Fock, Herr Prof. Hansen – ich sehe gerade, die Zeit ist tatsächlich schon weit vorgeschritten. Wir müssen den Saal jetzt freimachen, in einer Viertelstunde beginnt hier die Vorstellung des Bundeslagebildes „Häusliche Gewalt“. (ab mit Regierungssprecherin und Prof. Hansen)

IX Recht sprechen

Zwei Monate später, 12. August STENOGRAFIN Bitte erheben Sie sich. Bitte nehmen sie Platz! RICHTERIN (im Video) Ich eröffne die heutige Sitzung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung im Verfahren über den Antrag des Freistaats zur Festzustellung, ob der gemeinsame Beschluss der Bundesregierung und des Bundesrates vom 28. April 2025, wonach der Freistaat seine in Art. 83 Grundgesetz ­normierte Pflicht zur Ausführung der Bundesgesetze verletzt hat, verfassungswidrig ist. Antragsteller ist der Freistaat, Antragsgegnerin ist die Bundesregierung. Es handelt sich um das Verfahren 4 BV2 aus 2025. Wir kommen zur Urteilsverkündung: Im Namen des Volkes. Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. August 2024 hat das Bundesverfassungs­ gericht, Zweiter Senat, für Recht erkannt: Der Antrag wird zurückgewiesen. Bitte setzen sie sich. Die Entscheidung des Gerichts geht auf folgende, wesentliche Gründe zurück: 1. Art. 83 GG garantiert den Ländern das Recht, die Gesetze des Bundes als eigene Angelegenheiten auszuführen. Soweit die Länder zur Ausführung der Bundesgesetze berechtigt sind, so korrespondiert diese Berechtigung mit der ebenfalls aus Art 83 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Pflicht, die Ausführung recht- und zweckmäßig zu gestalten. 2. Art. 84 Abs. 3 GG normiert das Recht der Bundesregierung Aufsicht über die Ausführung der Bundesgesetze auszuüben. Zu diesem ­Zwecke kann die Bundesregierung Beauftragte in die obersten Landesbehörden entsenden. 3. Aus der Pflicht zur recht- und zweckmäßigen Ausführung der Bundesgesetze (aus Art. 83 GG) und dem Prinzip der Bundestreue folgt die Pflicht der Länder, bei der Ausübung der ­Bundesaufsicht zu kooperieren. Diese Kooperationsverpflichtung umfasst insbesondere die Bereitstellung der zur Ausübung der Bundesaufsicht notwendigen Informationen. 4. Dieser Verpflichtung ist der Freistaat durch seine Weigerung, dem Beauftragten der Bun-

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desregierung in den Landesbehörden Aufenthalt und Information zu gewähren, in keiner mit den Anforderungen der Art. 83 GG und dem Prinzip der Bundestreue entsprechender Weise nachgekommen. 5. Der Beschluss der Bundesregierung und des Bundesrates war somit rechtmäßig und hat den Freistaat nicht in seinen Rechten aus Art. 83 GG verletzt. DOMINIK ARNDT (im Saal, schaltet Video ab) Was wir jetzt brauchen, ist nur „ein bisschen Geduld“. Erinnern Sie sich? Das waren die Worte der Regierungssprecherin. Geduld, und dann kommt alles in Ordnung. Die sitzen ja scheinbar alle zusammen, Bundespolizei, Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesinnenministerium, Bundespräsidialamt – also ich stell mir das so vor, die sitzen jetzt da alle und zerbrechen sich die Köpfe, wie sie da wieder rauskommen. Wir haben Geduld. Alle Geduld der Welt. Sollen Sie sich die Zeit nehmen. Machen Sie bloß keine Fehler! Können Sie gerne als Warnung verstehen. Machen Sie bloß keine Fehler. Wir warten auf Sie. Kommen Sie nur. Wir werden Ihnen einen adäquaten Empfang bereiten. Wir bleiben DA!

X Bundeszwang

Am gleichen Tag, 12. August MARTINA GROSSI (betritt mit Regierungssprecherin das Podium) Meine Damen und Herren – bitte setzen sie sich – nach der letzten Pressekonferenz möchte ich Sie generell noch einmal darum bitten, dass sich alle hier im Raum an die Regeln unseres Vereins halten! In diesem Sinne begrüße ich … DR. RIEGER-FOCK Ja, herzlichen Dank. Ich kann Ihnen berichten, dass das Bundeskabinett heute in einer Krisensitzung über die Situation im Freistaat beraten hat, und über die, ja, wie soll ich sagen? Diesen doch sehr bemerkenswerten, mehr noch: diesen einzigartigen Fall. Das gab es ja noch nie, dass ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts derart missachtet wurde. Aber in diesem Fall müssen wir feststellen, dass wir keinerlei Bereitschaft sehen – seitens des Freistaats, also genauer gesagt seitens der Regierung des Freistaats. Und das erfüllt uns mit großer Sorge! Größter Sorge! Doch das Grundgesetz sieht in so einem Fall Maßnahmen vor. Und diese Maßnahmen ergreifen wir jetzt. Nämlich … also, wie Sie wissen, gibt es im Artikel 37 Grundgesetz etwas, das bisher noch nie angewandt wurde, das hat den etwas martialischen Namen „Bundeszwang“. Klingt nach extremen Szenarien aber im Wesentlichen heißt das in diesem Fall, dass die Bundesregierung

die Umsetzung von Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht jetzt an sich ziehen wird. Damit beenden wir den rechtswidrigen Zustand, damit da wieder Recht und Ordnung einkehrt. Lassen Sie mich auch hinzufügen, dass wir diese Eskalation sehr bedauern. MARTINA GROSSI Danke, Frau Dr. RiegerFock. Gibt es Fragen dazu? Ja, bitte, hier vorne. Clara Wohlleben Danke. Ja, interessant, Bundeszwang also, wer hätte das gedacht. Aber Sie sagen, die Bundesregierung zieht diese Verfahren an sich, und ich frage mich, oder ich frage Sie, wie das eigentlich gehen soll, wenn Sie die Akten gar nicht haben. Die haben Sie doch immer noch nicht, oder? Sie haben keinen Zugang zu den Behörden im Freistaat, richtig? Wie wollen Sie einen Bescheid erlassen, wenn Sie die Akten gar nicht haben? DR. RIEGER-FOCK Ja, vielen Dank für die Frage. Das ist richtig, wir brauchen natürlich die Akten, und die werden wir jetzt bekommen, dafür haben wir ja jetzt die Grundlage. CLARA WOHLLEBEN Also, das nennt man im Verwaltungsrecht, ich bin keine Juristin, aber ich hab mir sagen lassen, das nennt man Ersatzvornahme? Ist das richtig? DR. RIEGER-FOCK Ja, genau. Ersatzvornahme. Ganz normaler, ordnungsgemäßer Vorgang. Wenn eine Behörde ihren Pflichten nicht nachkommt, kann die Aufsichtsbehörde das an sich ziehen und an deren Stelle den Bescheid erlassen. Im Grunde ist das nichts anderes, als das, was wir jetzt machen. CLARA WOHLLEBEN Schon, aber nochmal: wie kommen Sie an die Akten? Wie muss man sich das genau vorstellen? DR. RIEGER-FOCK Der Freistaat ist verpflichtet, uns den Zugang zu den Akten zu gewähren. CLARA WOHLLEBEN Aber das macht er doch nicht. Das ist doch schon die ganze Zeit so jetzt, das ist ja genau das Problem seit ­Monaten jetzt, das machen die nicht. Und Sie erzählen uns hier immer noch was von Ersatzvornahme und Verwaltungszeugs? Ver­ zeihung, aber das find ich jetzt schon bisschen … DR. RIEGER-FOCK Das ist richtig, das ist der Gegenstand des Konflikts, den wir haben. Aber jetzt haben wir endlich die verfassungsrechtliche Grundlage, dass wir diesen Zugang zu den Akten, wie soll ich sagen … CLARA WOHLLEBEN erzwingen können? DR. RIEGER-FOCK Ja, genau. Erzwingen können. Deshalb heißt es ja Bundeszwang. CLARA WOHLLEBEN Ja, aber Moment, wie geht das denn, heißt das jetzt. MARTINA GROSSI Also, entschuldigen Sie, das find ich jetzt nicht in Ordnung, bitte jetzt hier keine Privatgespräche zwischen Ihnen beiden, ich hab hier noch andere Wortmeldungen, bitte der Reihe nach, ja? Also, hier hinten links.

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Stück Ein Volksbürger PATRIC SINGER Ja, also, wow! Einfach nur wow! Vor ein paar Wochen haben Sie uns hier noch erzählen wollen, alles total in Ordnung, von wegen Putschversuch, von wegen Reichskommissar, und jetzt kommen Sie mit Bundeszwang? Meine Frage an Sie, Frau Regierungssprecherin: Was ist eigentlich gefährlicher für die Demokratie, ein Land mit seinen eigenen Vorstellungen zu Ausländerrecht und Ausländerpolitik, oder eine Bundesregierung, die alles an sich zieht und Zwang ausübt und gewaltsam gegen politische Gegner vorgeht? Ernst gemeinte Frage. DR. RIEGER-FOCK Also, diese Wortwahl mache ich mir selbstverständlich nicht zu eigen, aber ich muss Sie da um Geduld bitten. Weiterhin um Geduld. Das ist eine sehr ernste Situation natürlich jetzt, aber einstweilen sind wir weiter bemüht um eine friedliche Lösung, von Gewalt ist keine Rede im Augenblick, und es liegt an der Regierung des Freistaats, auf den Pfad der Rechtstreue zurückzukehren und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu respektieren, eine Selbstverständlichkeit eigentlich, sollte man meinen. Es ist nicht so, dass wir da gleich die Bundespolizei ausrücken lassen, das sind totale Extremszenarien, also bitte Geduld. PATRIC SINGER Die Bundespolizei? Sie bringen hier die Bundespolizei ins Spiel? DR. RIEGER-FOCK Moment, ich habe doch gesagt … PATRIC SINGER Polizei ist immer noch Ländersache! DR. RIEGER-FOCK Ja, das stimmt, aber … MARTINA GROSSI Moment, das läuft jetzt alles durcheinander, bisschen Disziplin bitte alle! Ja? (Große Unruhe, die Moderatorin und die Regierungssprecherin verlassen den Saal.)

XI Alles in Ordnung Ein Jahr danach, 27./28./29. September

MARTINA GROSSI (betritt mit der Regierungssprecherin und dem Bundesbeauftragten das Podium. Hinter ihnen treten der Personenschützer und der Landrat auf.) Ruhe bitte! Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beauftragte der Bundesregierung hat uns um die Gelegenheit gebeten, eine kurze Erklärung zur Krise im Freistaat abzugeben. Wir haben diesem Antrag stattgegeben. Bitte! PROF. HANSEN Ja, meine Damen und Herren, in Kürze: Die Situation vor Ort stellt sich aktuell wie folgt dar: Wir haben die Bundespolizei angewiesen, die Demonstrationen der Allianz-An-

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hänger in den Städten des Freistaates sofort möglichst gewaltfrei zu beenden und ihre Kollegen von der Landespolizei zur Abgabe ihrer Waffen aufzufordern. Die Ministerien sind von unseren Einheiten besetzt, … die zuständigen Minister ihres Amtes enthoben, … Pause … der Notstand ist ausgerufen und gilt bis auf Weiteres. Vereinzelt regt sich noch Widerstand, insgesamt aber ist die Lage unter Kontrolle … Von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, wie sie von einigen ihrer Kollegen behauptet wurden, kann keine Rede sein. Vor solchen Fake News kann ich nur dringend warnen, sie heizen die Lage im Land weiter an. Leider ist es nicht gelungen, den Ministerpräsidenten an der Flucht zu hindern, sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Die sogenannte Demokratische Allianz befindet sich in Auflösung. Von einigen ihrer Anhänger gibt es aber einen offenen Brief. Bitte Herr Landrat, Sie haben das Wort! KONRAD SAUER Wir, die Unterzeichnenden, erklären hiermit unseren sofortigen Austritt aus der Allianz und appellieren an alle verbliebenen Mitglieder, Ihre Haltung zu dieser politischen Bewegung angesichts der aktuellen Krise ebenfalls zu überdenken. Wir bekennen, dass wir uns in unserem Engagement für die gegenwärtige Regierung des Freistaates getäuscht haben und diesen Fehler bereuen. Der Konfrontationskurs gegen die Bundesrepublik, den der Ministerpräsident sehenden Auges eingeschlagen hat, fügt unserem Land unabsehbaren Schaden zu und muss dringend korrigiert werden. Wir wollen uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass ein konstruktiver Dialog über die anstehenden Probleme geführt werden kann, und fordern alle Bürgerinnen und Bürger des Freistaats auf, sich an diesem Austausch zu beteiligen. DR. RIEGER-FOCK Lassen Sie mich im Namen der Bundesregierung noch etwas hinzufügen: Auch die Mitglieder des Kabinetts bedauern die aktuelle Eskalation außerordentlich und hoffen, dass der Freistaat aus eigenen Kräften schnellstmöglich zu Ruhe und Ordnung zurückkehren kann. Dafür wird der Bund alles in seiner Macht Stehende tun, auch die anderen Länder haben bereits ihre volle Unterstützung zugesichert. Gleichwohl müssen wir bereits jetzt – bevor wir den Blick nach vorn auf die anstehenden Neuwahlen richten – die vollumfängliche juristische Aufarbeitung der Affäre ankündigen. Dazu werden wir Ihnen zu gegebener Zeit Rede und Antwort stehen.

XII Geschichte schreiben THEO KOLL (Video) Die Lage in der Landeshauptstadt ist momentan unübersichtlich, aber offenbar unter Kontrolle der Bundespolizei.

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Auch in den Kreisstädten und in kleineren Gemeinden hat der Bund die Verwaltung kommissarisch übernommen, es sollen zahlreiche Akten beschlagnahmt und Büros versiegelt worden sein. Wie wir hören, hat der Landtagspräsident alle Bürger zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Die Gerüchte, dass sich einige militante Mitglieder der DA bewaffnet und in ihrer Parteizentrale verschanzt haben, konnten bisher nicht bestätigt werden. Vom Ministerpräsidenten fehlt allerdings weiterhin jede Spur, es gibt erste unbestätigte Meldungen, er habe sich ins Ausland abgesetzt. Dem Vernehmen nach soll der Generalbundesanwalt die Fahndung an sich gezogen haben, genauere Informationen aber stehen dazu noch aus. Wie die Bundesregierung in einer ersten Erklärung mitgeteilt hat, wird mit ... DOMINIK ARNDT (Übertragung wird gestört, ein Handy-Video überlagert die Nachrichtensendung) Meine lieben Bürger und Bürgerinnen des Freistaats, vor drei Tagen erfuhr ich, dass ich auf Anordnung der Bundesregierung festgesetzt werden sollte. Ich weiß es noch ganz genau. Es war nach Mitternacht, ich glaube die Uhr schlug zehn nach eins. Und ich saß noch über den Akten, so wie ich es häufig nachts noch tue. Um mich herum waren nur noch wenige Vertraute und trotz aller Anstrengung, Übernächtigung, die sich auch in den letzten zwei Jahren aufgebaut hat, waren wir immer erfüllt von Demut, für dieses Land unsere Pflicht tuen zu dürfen, so auch in dieser Nacht. Als ich erfuhr, dass eine deutsche Behörde angeordnet hat, dass ich, Dominik Arndt, mit absoluter Mehrheit gewählter Ministerpräsident des Freistaates, oberster Repräsentant dieses Landes, als ich das also an meinem Schreibtisch sitzend erfuhr, nachts, da kam mir das zunächst einmal irreal vor, ganz unwirklich und falsch. Das fühlte ich ganz tief, es war falsch, denn, was hatte ich getan? Ich hatte nur meine Pflicht erfüllt in den letzten Jahren, ich habe nur das getan, wofür ich gewählt wurde. Das kann nicht rechts-

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widrig sein, das kann nicht falsch sein, und ich hatte nicht erwartet, dass sie mir ein Bundesverdienstkreuz überreichen, aber dass sie mich ans Kreuz nageln. Das ist, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, traurig. Ist das also ein trauriger Tag? Wissen Sie was? Ich bin Vater von fünf Kindern – ich musste völlig überstürzt meine Kinder, mein Haus, meine Frau, meine Freunde, meinen Hund völlig unvermittelt und überstürzt zurücklassen. Auch meinen Garten. Und das ist traurig, schrecklich und auch nicht fair. Und dennoch ist es auch nicht nur traurig, sondern es ist auch ein großer Tag. Es ist auch ein Anfang. Als ich vor 12 Monaten gewählt wurde, war mir schon klar, dass es nicht leicht werden würde. Uns allen war klar, dass wir auf viel Widerstand stoßen würden. Und wenn man sich die Geschichte der Aufklärung in Europa, die Geschichte der Befreiung von der Fremdbestimmung ganz genau anschaut, dann

sieht man 3 Punkte: 1. Oft fließt Blut. Ich hoffe, ich hoffe, dass es hier nicht so weit kommt. 2. Man muss erst sterben, um auferstehen zu können. Ich stehe gerade in der Fremde und zwei Dinge erfüllen in diesem Moment mein Gemüt, je öfter ich darüber nachdenke. Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Das moralische Gesetz, und eben nicht das zwischen irgendwelchen Aktendeckeln. Punkt. Von hier und heute geht eine neue Epoche aus und ihr könnt sagen, ihr wart dabei. Sagte Goethe bei einer Schlacht bei der Schlacht von Jena. Und wissen Sie auch, was Brecht gesagt hat? Nach dem Aufstand des 17. Juni ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands in der Stalinallee Flugblätter verteilen, auf denen zu lesen war, dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe und es nur durch verdoppelte Arbeit zurückerobern könne. Und Brecht schreibt: Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes? Das Volk auflösen? In was? In Salzsäure? Und ich schwöre ihnen, irgendwann wird dieser Moment in den Geschichtsbüchern als ein großer Augenblick in der langen und blutigen Reise zum Licht wiederzufinden sein. Es hat jetzt etwas begonnen, das nicht mehr zu stoppen ist, das merk ich allein an den Spendengeldern seit meiner Verhaftung – viermal so viel wie in normalen Zeiten. Es hat etwas begonnen, da ist etwas in Gang gesetzt worden, eine riesige Umwälzung, eine Revolution – gewissermaßen. Ich bin es nicht, der sich da bewegt, ich bin mir die ganze Zeit treu geblieben. Ich bin mit mir identisch. Ich steh hier fest und alles um mich herum ist in Bewegung und die Revolution nimmt seinen

Lauf, über die Hügel und Berge unseres schönen Freistaats hinaus, hinaus – Nessun dorma, nessun dorma. Keiner schlafe, Keiner schlafe. Das Morgenrot sieht mich als Sieger. Als Sieger. Ich bin DA – Wir sind DA. (Video aus, realsurrealer Showdown.)

– ENDE –

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Theater der Zeit

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Diskurs & Analyse

Ab Oktober gibt es eine neue Serie bei Theater der Zeit: Dramaturgie der Zeitenwende

Serie Schlaglichter #08: Svenja Plannerer: subject to subjectivity Neue Serie Dramaturgie der Zeitenwende: Zwischen Illusion und Ideologie

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #08

Schlaglichter # 08 subject to subjectivity Von Svenja Plannerer

Mit unserer Open-Call-Reihe „Schlaglichter“ laden wir ­ Studierende und Berufsein­ steiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskur­ siven Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbstbestimmten Raum bieten.

Svenja Plannerer, geboren 1996, ist Psychologin, Autorin, Kulturjournalistin und sehr neugierig. Ihre letzten Abenteuer führten sie zur Buchbinderei und zur koreanischen Sprache, die sie gerade versucht zu lernen. Kritiken schreibt sie seit 2019, nachdem eine Regiehospitanz das Feuer für das Theater neu in ihr entfachte. Sie hat u. a. die Mülheimer Theatertage 2022 und 2024 sowie Radikal jung 2024 journalistisch begleitet und schreibt seit 2023 für nachtkritik.de.

Wie und wo schreibt man eigentlich Theater­ kritiken? Wie glamourös oder unglamourös ist es wirklich?

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #08 alles steht auf ANALYSE warum diese handgeste? warum stehen die da so? warum tragen die das, singen das, war das gerade pc, oder nicht (damit gebe ich aber auch auf, dass ich einfach nur unterhalten werden darf) und dann zu hause gedanken umtexten das gesehene entschlüsseln (aber nicht entmystifizieren) hä = entzieht sich geschickt jeglicher interpretation dafür hat man im ernst geld ausgegeben? = das konzept der regie geht nicht auf das war ungefähr so spannend wie gras beim wachsen zusehen = stiftet zum nachdenken an krass gut/richtig scheiße = hier wird sich aufgegeilt am eigenen vokabular, wow, was für eine großartige metapher, eine simile, oxymorons über oxymorons, vergleiche? pah! die sind was für anfänger:innen! bonuspunkte für obskure referenzen zu popkultur, literatur, film, mehr theater EIN EIGENES KUNSTWERK (wenn eine:r so seine kritik geschrieben hat, dann merkt man das auch beim lesen, diese selbstgefälligkeit springt aus den zwischenzeilen wie ein schachtelteufel aus der box) (und ja, manchmal, vielleicht auch oft, tappe ich in dieselbe falle)

Foto AI: ChatGPT - Bild Generator - einfach Bilder generieren

manchmal ist es aber auch eben nur ein job, wort an wort gereiht wer kann, schläft noch mal ’ne nacht drüber, alle anderen powern durch und geben dann hoffentlich pünktlich zur deadline ab, ist vielleicht nicht das nächste magnum opus, aber passabel genug wie kommt man dazu? das weiß ich auch nicht so genau, einfach irgendwann damit angefangen und nicht mehr aufgehört reinkommen, fuß in die tür, ist eigentlich nicht mal so schwer, solange man bisschen gut schreiben kann und etwas eigeninitiative zeigt und der nachwuchs bricht anscheinend eh grad weg, daher freuen sich die redaktionen über frisches blut, das man ausbeu-, äh, in die reihen initiieren kann (und sobald du mal den fuß drin hast, kennt man schnell jemanden, der jemanden kennt und so weiter, und dann gibts den ersten auftrag und irgendwann den zehnten und so) (was für eine unbefriedigende antwort, sehr undramatisch für dieses berufsfeld, bei dem man an wichtigtuerische barettes, schals, brillen mit dünnem rahmen, aschenbecher voller kippen und leere weinflaschen denkt) (dabei ist das schreiben sehr unglamourös, im schlafanzug am küchentisch oder eher noch im bett, wer’s an den schreibtisch schafft, ist schon krass drauf, würd ich mal behaupten)

als ich angefangen habe damit, war alles, was ich wollte, meiner begeisterung ausdruck zu verleihen

kostümbildnerin, vielleicht die soufflage, bloß nicht zu nah ran! das theater und ich dürfen keine freunde sein KRITISCHE DISTANZ WAHREN, MENSCH warum eigentlich, ich kann doch ein stück von meinen freund:innen sehen und es trotzdem schlecht finden ist das nicht ein zeichen einer stabilen freund:innenschaft, wenn man sich ehrliche kritik geben kann? ist natürlich am ende nicht ganz vermeidbar, dass man sich kennenlernt, die blase ist klein (und ist halt gelegentlich doch von vorteil, wenn man connections hat, sorry) man muss nur darauf achten, dass man sie nicht zum platzen bringt, sonst implodiert die karriere gleich mit, y’know das ist dann nicht so offensichtlich, ich glaube, da gäb es einfach immer weniger aufträge, bis es irgendwann keine mehr gibt aufträge, aha, apropos, kann man denn überhaupt …… davon leben? ha, ja, schön wär’s ich versteh eh nicht, warum alle denken, kritiker:in zu sein wär so, weißte wir können uns jetzt darüber streiten, was theater und kritik wollen, können, bewegen oder nicht als ich angefangen habe damit, war alles, was ich wollte, meiner begeisterung ausdruck zu verleihen ich wollte nie menschen davon überzeugen, einen abend aufgrund meiner texte zu be-/verurteilen (schon gar nicht in einer sprache, die eine eigene ausgabe von königs erläuterungen bräuchte) ich will ANSTIFTEN dazu, sich eine eigene meinung zu bilden dazu, vielleicht mit jemandem über das gesehene zu streiten (wer mag, darf stattdessen auch ANGEREGT DISKUTIEREN) aber vor allem dazu, WAHRNEHMUNG zu LERNEN, zu ÜBEN, zu LIEBEN T

feierst du dann wenigstens wilde partys nach den premieren? hm, schwierig, ich soll ja unbefangen sein, und was, wenn ich dann auf der afterparty die regie sehr sympathisch finde, oder die

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #01

Was ist los? Auftakt neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Von Thomas Irmer

s war eine Rede von Olaf Scholz, am 27. Februar 2022 vor dem Bundestag, drei Tage nach der russischen Totalinvasion in der U ­ kraine, die den Begriff der Zeitenwende für diesen Moment ins allgemeine Bewusstsein hob. In seiner politischen wie historischen Dimension breit erörtert, wurde „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres und bis heute zum Banner der Mahnung für ein neues Verantwortungsbewusstsein im politischen Handeln. Der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau Rüdiger Fritsch schrieb noch im selben Jahr ein ganzes Buch mit dem Titel „Zeiten­ wende“, und der viel gebrauchte Begriff musste nicht einmal durch ­mediale Abnutzung unschärfer werden, um seine Dringlichkeit für die gesamte Weltordnung zu behalten. Der 7. Oktober 2023 ist das zweite historische Datum dieser neuen Epoche, von der wir bislang nur den Beginn genau kennen und gern wüssten, was sie bedeutet. Gewiss ist indes: dass es hauptsächlich um Frieden geht. Denn es wird immer deutlicher, wie umfassend die Veränderungen sind, mit Auswirkungen in allen Bereichen, nicht nur in den Großsphären von Politik und Wirtschaft, in denen mit Bünd-

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Foto Jean Rebiffé – Own work, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48468499

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #01 nisstrategien beispielsweise auch neue Fragen der Energiepolitik und somit das globale Thema der Klimakatastrophe verbunden sind. Krieg und Klima, um es verkürzt zu sagen, werden gesamte Länder wirtschaftlich neu ordnen und damit ganz existenziell auch die Kultur betreffen, ihre ökonomische Basis und was auf dieser möglich ist bzw. gebraucht wird. Wie wird sich da die Zeitenwende in ihrer Wucht und all ihren Verästelungen auswirken? Oder anders: Wie wird sich die notwendige Teilnahme daran in dieser dritten Großsphäre zeigen? Selbstverständlich geht es hier um das Theater, im deutschsprachigen Raum: was es will, was es soll, was es kann – und vielleicht nicht kann. Allein die letzten zweieinhalb Jahre, nehmen wir also den Beginn der Zeitenwende dafür, haben gezeigt, wie brüchig manche Gewissheit geworden ist – und wie polarisiert die Diskussionen dazu oft laufen. Russlands Krieg und deutsche Aufrüstung – Pazifismus um jeden Preis oder für den Frieden berechtigt neu gedacht? Israel/Palästina – Staatsdoktrin achten oder postkoloniale Diskurse samt problematischer BDS-Frage? Umgang mit rechts – kämpferische Abgrenzung oder Entpolarisierung? Deutschland Ost/West – wer hört da wem noch zu und was setzt sich in der nächsten Generation bei diesem Thema fort? (siehe aktuelle TdZ-Serie) Klima-Angst – ja, aber wie? Und das ist nur der leuchtende Anfang einer langen Liste, deren Themen in den Theatern meist ganz oben stehen, sich dann aber doch nur im Begleitprogramm der Diskussionsabende finden lassen, mit einem dafür eingefleischten Publikum. Es könnte, es müsste wirkungsvoller, schillernder, mitreißender sein. Was fehlt da? Dazu laden wir leitende Dramaturg:innen, Autor:innen und alle anderen Theatermacher:innen, die allerjüngsten wie die allererfahrensten, zur Diskussion ein. Sicher, Zeitenwenden sind keine Programmidee, die man auskundschaftet und dann theatermäßig umsetzt. Die letzte Zeitenwende war jene von 1989, das Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion, für Putin somit auch die Ursache der jetzigen. Die Theater in Ost- wie Westdeutschland reagierten ratlos oder gar nicht. Im Westen sollte alles schön weitergehen; im Osten rang man, eben noch als mutige Speerspitze des Umbruchs bejubelt, ums ausbleibende Publikum. Beides war nicht falsch. Nur eben nicht ganz auf der Höhe der Zeit. T

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Zwischen Illusion und Ideologie Von Jörg Bochow

Ende Januar 2022 haben wir als künstlerische Leitung des Staatsschauspiels Dresden mit dem Wachtangow-Theater in Moskau eine Kooperationsvereinbarung abgeschlossen über eine gemeinsame Produktion von Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“. Junge Schauspieler:innen aus Moskau und Dresden sollten gemeinsam und zweisprachig, geleitet von einem ebenfalls gemischten künstlerischen Team unter der Regie von Josua Rösing, über heutige Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen künstlerisch arbeiten. Das Goethe-Institut in Moskau hatte diese Ko-Produktion gefördert. Mit dem Beginn des Angriffskriegs russischer Truppen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hatte sich alles geändert. Wir haben in einer Videokonferenz gemeinsam mit den russischen Kolleg:innen und dem Goethe-Institut das Projekt abgesagt, allerdings noch in der Hoffnung, später wieder einmal über eine Kooperation sprechen zu können. Mittlerweile ist Rimas Tuminas nicht mehr Intendant des Wachtangow-Theaters, er ist nach Litauen zurückgekehrt, das Theater ist von Westeuropa abgeschottet, ein Austausch findet nicht mehr statt. Im Januar 2022 waren wir fest davon überzeugt, trotz der Restriktionen in Russland, Brücken schlagen zu können und uns den schmerzhaften Erfahrungen des nazideutschen Vernichtungskriegs gegen die Völker in der Sowjetunion und auch dem Terror der Stalinzeit künstlerisch widmen zu können in diesem russisch-deutschen Theaterprojekt. Waren wir blind für die Wirklichkeit? Haben wir nicht aufmerksam genug verfolgt, in welche Richtung sich die Ideologie Putins und die Konflikte entwickelten? Unsere Illusionen, unsere Unkenntnis war zumindest nicht viel größer als die der deutschen Politiker:innen, auch wenn es heute die meisten schon immer besser gewusst zu haben glauben. Seitdem geht nicht nur dieser Krieg ins dritte Jahr, die Teilung Europas mit einer neuen, umkämpften Grenze scheint über Jahrzehnte manifestiert zu sein. Es ist wie ein Orwell’scher Alptraum nach Jahrzehnten der Illusionen über das „Ende der Geschichte“ nach 1989 oder die Frieden gleichsam erzwingende ökonomische Globalisierung im neoliberalen Zeitalter. Während die deutschen Theater sich auf die Suche gemacht hatten nach Erzählungen, die einer immer ausdifferenzierteren modernen Gesellschaft im 21. Jahrhundert gerecht werden sollten und bestimmt waren von aktuellen Diskursen um Migration

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #01 lation aus unbesetzten Stühlen mit den Porträts aller als Geiseln festgehaltenen oder ermordeten Jüd:innen auf dem Theaterplatz in Dresden und einer Lesung von Klemperers „LTI“ in der Neuen Synagoge am 9. November 2023. Wir haben „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“ von Maya Arad Yasur als zweiten Teil zu unserer Inszenierung von Izzeldin Abuelaishs „Ich werde nicht hassen“ hinzugefügt.

Jörg Bochow, Chefdramaturg und stellvertretender Intendant am Staatsschauspiel Dresden

und Postmigration, Postkolonialismus, Rassismus und kultureller Aneignung, Feminismus und Gendervielfalt, Digitalität und KI, hat uns nun eine Geopolitik eingeholt, die uns in die überwunden geglaubte Geschichte zerrt, in der Territorien kriegerisch besetzt und ganze Ethnien vertrieben werden. Dennoch kreiert der Begriff der „Zeitenwende“ eine neue Illusion. Zum einen ist er rein eurozentristisch formuliert – Menschen in Kabul, Bagdad oder Damaskus werden wahrscheinlich ganz andere Ereignisse als „Zeitenwende“ betrachten, sie haben andere Kriege erleben müssen. Zum anderen blendet die Fixierung auf ein oder zwei Ereignisse aus, welche langfristigen Ursachen zu ihnen geführt haben. Begriffe wie „Zeitenwende“ schaffen, auch wenn sie eine Erfahrung bündeln, tendenziell neue ideologische Verblendungen, neue Fixierungen auf die eigene Erzählung, die die anderen Erfahrungen und Perspektiven ausblendet. Dies gilt umso mehr für den langfristigen Nahostkonflikt. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 stellt den größten antisemitisch motivierten Mord an Jüd:innen nach dem Holocaust dar und ist damit ein Einschnitt in der Geschichte. Als Theater haben wir darauf, wie viele andere, reagiert. Nicht nur mit einer Stellungnahme auf der Webseite, sondern auch mit einer Instal-

In viel stärkerem Ausmaß als bei Putins Angriff auf die Ukraine sind wir beim neuen Nahostkrieg als Theater in Zwänge gekommen zu klären, wie wir uns verhalten. 62

In viel stärkerem Ausmaß als beim Angriff von Putins Truppen auf die Ukraine sind wir beim neuen Nahostkrieg als Theater in Zwänge gekommen zu klären, wie wir uns verhalten. Sowohl von innen als auch von außen. Die Öffnung für postkoloniale Diskurse wirft dabei viel grundsätzlichere Fragen auf als die Haltung zum BDS allein, es geht um eine gesamte postkoloniale Perspektive, in der Israel als Kolonialmacht betrachtet wird. Achille Mbembe, um dessen Positionen es beispielhaft beim Streit zwischen Politik und Kulturschaffenden ging, hat wie viele andere Vertreter:innen postkolonialer Theorien den Apartheidbegriff auf Israel übertragen. Im Dezember 2023 hat Südafrika offiziell Klage beim IGH in Den Haag eingereicht und Israel des Völkermords, des Genozids bezichtigt. In einer Auseinandersetzung mit Künstler:innen aus Litauen, die an unserem Theater inszenierten, kulminierte der Konflikt um eine Positionierung innerhalb der Inszenierung, die zunächst nichts mit dem Thema zu tun hatte. Unsere Haltung, dass in einem Stück über Gewalt gegen Frauen, über Vergewaltigung, nicht einseitig auf den Gaza-Krieg verwiesen werden kann, ohne die Gewaltexzesse vom 7. Oktober mit zu nennen, wurde als Zensur aufgefasst, als einseitige Fixierung auf den „deutschen Schuldkomplex“ und der vorgeblich daraus resultierenden Haltung. Dieser Konflikt konnte auch durch mehrfache Gespräche nicht beigelegt werden, er blieb als Riss zwischen uns und dem Team, auch als Konflikt zwischen Ensemble und Team und innerhalb des Ensembles. Hier wurden die Konfliktlinien deutlich, die sich aus den unterschiedlichen Geschichtsbildern und Geschichtstheorien zwangsläufig ergeben. Als deutsche Theatermacher:innen müssen wir die Verantwortung, wie wir die unterschiedlichen Perspektiven auf den Nahostkrieg auf der Bühne zur Sprache bringen, immer wieder neu austragen, zumal der Konflikt weiter eskaliert. Die Politik wird uns da wenig helfen, das Abverlangen formaler Bekenntnisse von Künstler:innen löst kein Problem. Was aus unserer Perspektive antisemitisch ist oder so verstanden werden kann, wird von jenen, die Israel als Apartheidstaat bezeichnen und des Genozids an der arabischen Bevölkerung in Israel bezichtigen, nicht geteilt. Dieser Konflikt bleibt und wird uns in der Zusammenarbeit mit internationalen Gäst:innen auch weiterhin begleiten. Ein dritter Komplex zum Thema „Zeitenwende“ steht uns in Dresden mit der anstehenden Landtagswahl unmittelbar vor ­Augen: Wahlplakate überall, mal mit wohlmeinend-nichtssagenden Sprüchen vieler demokratischer Parteien, etwas wie „weil es um Sachsen geht“ oder „richtig wichtig“, mal mit den aggressiven Losungen von AfD bis Freie Sachsen: „Abschieben, Abschieben, Abschieben“ oder „Freistaat statt Kalifat“. Sehr wahrscheinlich

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Foto Sebastian Hoppe

Unsere Situation


Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #01 wird die gesichert rechtsextreme sächsische AfD stärkste Fraktion im sächsischen Landtag. Die Demokratie und mit ihr die Kunstfreiheit stehen in vielen Regionen Deutschlands ebenfalls vor einer „Zeitenwende“. Düstere Zeiten also und umso stärker das Bedürfnis vieler Zuschauer:innen nach Unterhaltung, nach Ablenkung von den Nachrichten über Krieg, Zerstörung und Katastrophen. Unsere Stücke, die Krieg und Klimakrise künstlerisch thematisieren wie die Uraufführungen „Ajax“ oder „Das Wasser“ finden entsprechend nur ein begrenztes, wenn auch sehr engagiertes Publikum, ebenso Gegenwartsstücke wie „Judith Shakespeare – Rape and Revenge“. Diese Tendenz ist von der Pandemie bestärkt worden, es droht die Gefahr, dass wir wie im Multiplexkino in immer kleineren Sälen Aufführungen vor einem sich immer mehr ausdifferenzierenden Publikum zeigen werden. Um dem zu entgehen und einen Austausch vieler und sehr unterschiedlich sozialisierter Menschen im Theater zu ermöglichen, versuchen wir u. a., bekannte Stoffe wie die „Dreigroschenoper“ mit den aktuellen lokalen und globalen Konflikten, die wir als zentral empfinden, zu verbinden. Den Konflikt zwischen Peachum und Macheath haben wir dabei in dieser Inszenierung von Volker Lösch umformuliert zum Kampf um die politische Macht im Konflikt zwischen einer Art Reichsbürger (Macheath) und dem Chef der Partei „Perspektive für Deutschland“ (Peachum). Das funktioniert gut mit einem großen Publikum, wirft aber die Frage auf, wen erreichen wir damit? Wie können wir einen Theaterabend machen, der sich klar gegen rechte und rassistische Thesen wendet und dennoch jene erreicht, die aus Protest oder mangels einer für sie anderen Perspektive und trotz aller Enthüllungen immer weiter populistischen Bewegungen folgen? (siehe TdZ 04/2024) In unserem Bemühen, Haltung zu zeigen, laufen wir oft sehr schnell Gefahr, selbst einfache Botschaften zu verbreiten. Das trifft auch auf die Theaterabende zu, die erfolgreich sind. Um positive Signale für eine offene, diverse Gesellschaft zu senden oder Rechte und Rassist:innen bloßzustellen, werden wir oft selbst ideologisch oder produzieren Botschaften, die schnell ins Wunschdenken kippen und einfache, aber eventuell wirkungslose Solidarisierungen erzeugen. Ständig gefordert, uns politisch zu engagieren, verlieren wir teilweise das Potenzial, fremd und distanziert auf die Verhältnisse zu schauen und Widersprüche als Widersprüche zu zeigen, Kunst zu machen, die sich nicht auf einen Zweck reduzieren lässt. Die Vorsicht, bedenklichen Positionen Raum auf der Bühne zu geben, führt auch zu Vermeidungsstrategien, zur Eindimensionalität. Vor Kurzem sagte mir eine erfahrene und sehr angesehene Regisseurin, dass sie keine Komödien mehr inszeniert – irgendjemand fühlt sich dabei immer bloßgestellt, auf ein Klischee reduziert, eine Zuschreibung kann reproduziert werden etc. Die Kunstfreiheit ist nicht nur von rechtsaußen bedroht, wir nehmen sie uns zum Teil selbst. Aber es geht auch anders. Als wir vor ein paar Jahren am Hamburger Schauspielhaus das noch nicht übersetzte „Disgraced“ von Ayad Akhtar in die Hände bekamen, waren sich weder Verlag noch wir in der Dramaturgie sicher, ob man ein Stück mit Haltungen, die religiöse und rassis-

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tische Vorurteile in dieser Art benennen, in Deutschland spielen kann. Letztlich sagte Karin Beier: „Jetzt haben wir so lange über das Stück kontrovers diskutiert, jetzt machen wir es.“ „Geächtet“ wurde daraufhin überall im deutschsprachigen Raum sehr erfolgreich gespielt. Es ist unsere Verantwortung, das Theater als Ort kontroverser Kunsterfahrung zu behaupten. Das geht nur, wenn wir in der Kunst Perspektiven, die nicht die unseren sind, aufnehmen, reflektieren und ins Spiel bringen. Das kann bedeuten, dass Dramaturgien mit erkennbaren Figuren ein Comeback erfahren, weil damit Widersprüche als konkrete Konflikte zwischen (fiktionalen) Menschen gezeigt werden können, ohne dass eine Figurenhaltung gleich als Haltung der Autor:innen oder Theatermacher:innen gelesen wird. Konkret heißt das z. B. für uns in Dresden, Stücke zu finden oder in Auftrag zu geben, in denen die politischen Risse in den lokalen Familien und Freundeskreisen verhandelt werden. Es geht dabei nicht so sehr oder nicht nur um eine Bestandsaufnahme des Status quo. Theater ist nur dann auf der Höhe der Zeit, wenn es ihr auch voraus ist. Andres Veiel hatte beispielsweise nach der Finanzkrise von 2008 und der aktuellen Klimakrise an Stücken über zukünftige Krisenszenarios gearbeitet. Hätten wir Putins Reden seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 aufmerksamer verfolgt, wären wir vielleicht nicht so lange einer Illusion verhaftet geblieben, der schwelende Konflikt bzw. der schon andauernde Krieg im Donbass ließe sich einhegen.

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #01 Um auf der „Höhe der Zeit“ zu sein, brauchen wir andererseits ein Theater, das keine Angst vor historischer Komplexität hat und die ideologischen Zuschreibungen infrage stellt. In Westdeutschland wird man immer noch ungläubig betrachtet, wenn man aus dem Osten kommt und sagt, dass man eine glückliche Kindheit hatte. Im Osten ist der Opfermythos weitverbreitet und wir vergessen gern, dass wir sehr schnell und trotz aller Warnung vor dem Zusammenbruch der Wirtschaft die D-Mark haben wollten und es nicht nur eine „feindliche Übernahme“ durch den Westen gegeben hat. Die Stereotype vom „Leben in der Diktatur“ und vom „Osten als Erfindung des Westens“ wirken als SchwarzWeiß-Bilder fort und gewinnen sogar an Bedeutung. Die Reflexe werden schnell erzeugt, die Gräben neu gezogen. Derzeit proben wir Lessings „Nathan der Weise“. Lessing lässt sein Modellstück über aufklärerische Vernunft und Toleranz in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge spielen. Krieg, Hinrichtungen und Pogrom stehen am Beginn dieser Jerusalem-Fiktion, in der exemplarische Vertreter:innen der drei monotheistischen Weltreligionen aufeinandertreffen. Gebannt wird der Horror des

Hauptförderer:

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Geschehens durch Lessings Sprache und die märchenhafte Auflösung der Konflikte. Durch die Form des „dramatischen Gedichts“ wird die dargestellte Gewalt poetisch im dialektischen Sinn „aufgehoben“, durch das Vernunftkonzept des Bibliothekars von Wolfenbüttel werden Aporien zwischen den scheinbar unvereinbaren Perspektiven aufgelöst und auf einen allgemein menschlichen Nenner gebracht. Sehr bewusst kehrt Lessing die damals herrschenden Rollenklischees um, aufgeklärt und vernünftig sind der Jude Nathan, ebenso der Muslim Saladin und seine Schwester Sittah, während die christlichen Personen (Tempelherr, Patriarch, Daja) unreflektiert und vorurteilsbeladen oder zumindest opportunistisch erscheinen (Klosterbruder). Aber auch Lessing kann den rassistischen Vorurteilen seiner Zeit, wie sie sich auch in den Schriften Voltaires und Kants finden, nicht entraten, wenn er den Derwisch Al-Hafi von den „schmutzigen Mohren“ sprechen lässt und damit selbst rassistische Vorurteile perpetuiert.

Jenseits moralischer Affirmation Die eurozentristische Perspektive des aufklärerischen und emanzipatorischen Konzepts eines universellen Humanismus ist es, die heute in den Blickwinkel der Auseinandersetzungen um das Erbe der Aufklärung geraten ist und zu vehementen Debatten führt. Dass diese nicht rein akademisch sind, sondern auch in die aktuelle Politik und das Alltagsleben eingreifen, zeigen die Konflikte und Debatten seit dem 7. Oktober 2023. Lessings aufgeklärtes Toleranzgebot, das er exemplarisch in seinem unheldischen Helden Nathan verkörpert, steht damit als Handlungsoption wie eine Utopie da, die selbst in die Kritik geraten ist und neu befragt werden muss. Ob sie einen Weg beschreiben kann zwischen einem rigorosen Universalismus, der im Verdacht steht, die Idee der allgemeinen Menschenrechte als Machtinstrument zu missbrauchen, und einem Kulturrelativismus, der Unrechtsregime als religiös und kulturell bedingt zu akzeptieren bereit ist und damit jegliche Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen ablehnt? Angesichts ideologisch verhärteter Positionen innerhalb unserer Gesellschaft und im Bereich internationaler Kriege und Konflikte erscheint utopisch, was doch die Grundvoraussetzung friedlichen Zusammenlebens ist: der ergebnisoffene Dialog. Mehrfach gelingt es den Figuren im Stück und vor allem Nathan, andere in der Begegnung und im Gespräch umzustimmen. Nicht so sehr im harmonisierenden Ausgang und nicht allein in der Ringparabel liegt die utopische Anmutung des Stückes – es ist die Struktur des Gesprächs selbst, die uns heute irreal und doch erstrebenswert erscheint. Theater in der „Zeitenwende“ ist für mich ein Theater der Konflikte jenseits moralischer Affirmation und ideologischer Zuschreibungen. Es ist ein Theater, das multiperspektivisch ausgerichtet ist, das scheinbare Gewissheiten infrage stellt, das kontroverse und auch unangenehme Positionen verhandelt. Das Ausweichen vor den Konflikten, wie es die PRAbteilungen vieler demokratischer Parteien bei der Ausrichtung ihrer Kampagnen im aktuellen Wahlkampf vormachen, ist kein gangbarer Weg. T

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Theater der Zeit

Foto Candy Welz

Report

„Das Hotel im Karussell“, Konzept und Regie Rumpel Pumpel Theater im Rahmen vom Kunstfest Weimar

Weimar Endspiele beim Weimarer Kunstfest 2024, das dabei eine Landtagswahl fest im Blick hatte Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale sucht mit einer wilden Inszenierung von Kirill Serebrennikov und einer beeindruckenden Sandra-Hüller-Show nach Wegen in die Zukunft Slowakei Eine Kultur­ministerin aus der ultrarechten Szene verstört die Slowakische Republik

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Report Weimar

Vor dem Untergang Endspiele beim Weimarer Kunstfest 2024, das dabei eine Landtagswahl fest im Blick hatte Von Michael Helbing

„Bevor wir kippen“ eine musikalische Performance mit und von Schorsch Kamerun. Die Veranstaltung ist Teil der Reihe „ DIE KUNST, VIELE ZU BLEIBEN. Bundesweite Foren für Kunst, Freiheit und Demokratie“ des Fonds Darstellende Künste in Kooperation mit dem Goethe-Institut und dem Kunstfest Weimar 2024

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Report Weimar

Fotos Kunstfest Weimar, Candy Welz

Beim beklemmenden Schlussbild hält das steile Halbrund der 12 000 Zuschauer:innen den Atem an.

Zu sagen, dieses dem Zeitgenössischen aller Sparten verpflichtete Kunstfest habe diesmal, bei 22 Ur- und Erstaufführungen und insgesamt 48 Projekten, theaterseitig mit einer verstaubten Inszenierung begonnen, wäre irreführend, aber nicht gelogen. Denn eine Staubwolke explodiert auf der Bühne, als ein Stapel lange ungelesener Bücher auf den Tisch knallt, darunter Hermann Hesses „Erinnerung an Hans“, woraus wir hören: „Jeder Mensch ist Mittelpunkt der Welt … und jedes Menschen Lebenstag ist der End- und Höhepunkt der Weltgeschichte.“ Auf und unterm Tisch stäubt zudem ein Häuflein Tonerde vor sich hin, woraus sie, nachdem Wasser angeschleppt wurde, Menschlein nach ihrem Bilde formen, um sie oft wieder platt zu hauen. Zwischendrin staubtrockene Wortwechsel: „Haben Sie irgendeine Ahnung, warum es nicht regnet?“ – „Nein, das wird wohl von Gott gewollt sein.“ Das stammt, wie alles hier, von Navid Kermani. In dieser Szene taucht sein Klima-Text aus Madagaskar auf, soeben erschienen in „In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika“. Ansonsten finden Texte aus „Dein Name“ von 2011 und „Das Alphabet bis S“ von 2023 Verwendung in dieser „szenischen Reflektion einer ungreifbaren Welt“. Darin kommt auch sonst einiges zusammen. Auf der Bühne: Reportagen, Romanszenen, Interviews, aus Kontexten gerissen und in neue gestellt, universell gemacht, nicht beliebig. Hinter der Bühne: Schriftsteller Kermani, der zwischen Abitur und Studium bei Roberto Ciulli am Mülheimer Theater an der Ruhr hospitierte, um nun, Jahrzehnte später, unter dessen Regiehänden zum nachträglichen Autor eines universellen Literaturtheaters zweiter Ordnung zu werden. Dieses Theater aus und über Literatur erlebte, bevor es in diesem Oktober im Kleist Forum Frankfurt/Oder gastiert sowie 2025 im Stadttheater Fürth, bei den Théâtres de la Ville in Luxemburg sowie erst nach

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den Ruhrfestspielen Recklinghausen womöglich auch in Mülheim selbst, seine Uraufführung in Weimar, wo Rolf C. Hemke nach zwölf Jahren als Dramaturg und Kurator bei Ciulli 2019 das Kunstfest übernommen hatte. Gleichsam zum fragmentierten Endspiel, das eine poetischphilosophische Form findet, aber nicht zum erzählerischen Kern, treffen sich Legenden: Ciulli selbst, soeben 90 geworden, mit zerbrechlicher Stimme und verhaltenem Spiel, und die ihn mit gestähltem Theaterorgan allzu deutlich überragende Eva Mattes, demnächst 70. Wie Philemon und Baucis, die nicht recht wissen, ob sie letztlich im Olymp oder im Hades strandeten, transzendieren sie mit Mitteln der Wiederholung und des Perspektivwechsels alles Irdische. Sie gurrt, er faucht. Sie kann auch Mann, er Frau sein. Beide stehen zugleich am Anfang wie am Ende, wie Kinder Gottes und Eltern der Menschheit; eine lange Reihe verschiedenster Kinderstühle begrenzt die Spielfläche nach hinten hin. „S wie Schädel“, der Titel des Stückes, das aus Stückchen besteht, verweist auf eine koloniale anthropologische Sammlung bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: 5 500 Schädel, darunter jene von Widerständlern, die 1900 in Moshi (Tansania) gehängt wurden, bevor man den Leichen die Köpfe abschlug. Nachfahr:innen kämpfen bis heute um Rückgabe, um sie bei den anderen Überresten begraben zu können, auf dass die Toten endlich Ruhe fänden. Das ist kein großartiger Abend geworden (ein großer sowieso nicht); dafür gefällt er sich zu sehr darin, eine universelle Rat- und Illusionslosigkeit zu artikulieren. Aber er gibt eine Stimmung vor für ein Festival, das dann zweieinhalb Wochen lang den Staub der Geschichte gehörig aufwirbelt, die untot und bisweilen kopflos durch die Gegenwart geistert. „Wofür wir kämpfen“, hat Hemke

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Oben: Szene aus „S wie Schädel“, von Navid Kermani, Regie Roberto Ciulli; Unten: „VACA“ von Guillermo Calderón in eigener Regie im Rahmen vom Kunstfest Weimar

das 35. Kunstfest, das sechste unter seiner Verantwortung, übertitelt, das ihm zufolge „Gegendarstellungen zu den Narrativen von extrem rechts“ versammelt. Schließlich fällt in des Festivals Mitte eine Landtagswahl, die dann Rechtsextreme erstmals nach 1945 in Deutschland auf Platz eins hievt. „Wir bauen auf die Demokratie in unserem Lande“, ruft Hemke noch am Vorabend trotzig, bevor eine sogenannte Wahlerinnerungsgala namens „Come As You Are“ beginnt. Schorsch

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Kamerun, der sie erdachte, musste sie komplett umbauen und neu zusammenstoppeln, nachdem Sandra Hüller, der eine tragende Rolle zugekommen wäre, „aus persönlichen Gründen“ kurzfristig absagte. Puppenspieler René Marik und Dichter Max Czollek sind u. a. dabei, via Video wiederum Eva Mattes, mit Erich Kästner, sowie der Schlagzeuger von The Police Stewart Copeland, dessen Oper „Electric Saint“ 2021 beim Kunstfest herauskam und der dort soeben mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera aufgetreten war. Die Gala hangelt sich bekenntnishaft an großen linksliberalen Linien entlang. Und Kamerun, der ansonsten fast täglich auf dem Theaterplatz seine Überprüfungs-Cabaret genannte Performance „Bevor wir kippen“ präsentiert, ruft nun auf ebendiesem, per Video ins Nationaltheater übertragen, er freue sich „über alles, was ich nicht verstehe. Ich liebe deine Fremdheit in unserer Verwandtschaft“. Keine 24 Stunden später artikuliert sich recht lieblos deutlich wachsendes Unverständnis: teils im Wahlergebnis, teils über dasselbe. Den Untergang bedeutet das alles längst nicht. Doch er zeichnet sich am Horizont insofern ab, als „S wie Schädel“ nicht das einzige Endspiel bleibt. In einem anderen, ebenfalls für zwei Personen und noch deutlicher Beckett erinnernd, hängen Rettungswesten an Wänden eines leeren Raumes, die ungenutzt bleiben. Das unterstreicht die hier vorgetragene Gewissheit, „dass es irgendwann sowieso vorbei ist mit uns“. Und die Fixierung aufs bloße Überleben sei doch menschenverachtend. „Das nackte gute Leben 2.0“ nennt sich das Stück von Lydia Ziemke und dem Berliner Kollektiv Suite42, das laut Untertitel zwei ausgediente Helden auf die Suche nach einer möglichen Zukunft schickt: Roland Bonjour und Stefan Stern als traurige, wütende und panische Clowns in einem, so der Text, Familienbunker, wie er 1962 auf der Hannover Messe präsentiert wurde. Versuche auszubrechen, sich gegenseitig fortzuschicken (etwa mit Ratschlägen des Polonius an Laertes aus „Hamlet“) scheitern zuverlässig; dann verkrampft sich alles im Körper. Wiederholt unterbricht derweil dröhnender Sound, der ihnen Schmerzen im Mund verursacht, das Spiel. Zu zweit besetzen sie in einer Slapsticknummer den einen Stuhl. „Jetzt will ich sitzen, wo gelacht wird … Mein Platz ist, wo über euch gelacht wird“, heißt es dann mit Sklavenhaltersohn Debuisson aus Heiner Müllers „Der Auftrag“. Und mit bluttriefenden Mäulern versuchen sie, sich im Doppelsuizid gegenseitig zu erwürgen. Tragikomisch ausbalanciert, wird daraus der dichteste und dringlichste Theaterbeitrag zum Kunstfest: als deutschsprachige Erstaufführung einer deutschsprachigen Produktion, die 2023 in Beirut herauskam. Suite42 arbeitet dort, begleitet von widrigen Umständen, mit der Theatergruppe Zoukak zusammen, woraus 2019 bereits „Das nackte gute Leben“ am Schauspielhaus Hamburg resultierte, ebenfalls in einem Bunker verortet. Sozusagen komplementär dazu präsentiert das Kunstfest eine chilenische Uraufführung in Deutschland: Guillermo Calderóns Medien- und Gesellschaftssatire „Vaca“, die danach zum Noorderzon Festival in Groningen weiterreiste und erst im Januar lokal Premiere beim Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile feiern wird. Festivalleiterin Carmen Romero Quero, zugleich Calderóns

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Foto oben: Thomas Müller, unten Kunstfest Weimar, Candy Welz

Report Weimar


Report Weimar Guillermo Calderón inszeniert für seine absurde Geschichte um eine gestohlene und kranke Kuh ein Talkshow-Studio in einem neuen Kulturkanal.

Produzentin, erhielt jetzt eine der Goethe-Medaillen, die das Goethe-Institut jährlich in Weimar vergibt, woraus eine langjährige Partnerschaft mit dem Kunstfest resultiert. Calderón inszeniert für seine absurde Geschichte um eine gestohlene und kranke Kuh ein Talkshow-Studio in einem neuen Kulturkanal. Auf Drehsesseln nehmen Luis Cerda, Camila Brito und Francisca Lewin Platz, die mit Perücken und Helmen zwischen Figuren sowie Erzählungen und Dialogen hin und her wechseln. Im Kern sind sie drei Pizzakuriere auf dem Motorrad. Ein solches liegt zunächst verdeckt in ihrer Mitte und könnte auch die Kuh markieren, die sie in prekärer Lage auszuschlachten gedenken, während auch andere Leute erpresserisch Anspruch auf das Tier erheben. Die Codes und Metaphern des Stückes erscheinen sehr auf Chile gemünzt, wo sich alle Politik propagandistisch um Angst und Kriminalität dreht und sich die Bevölkerung ansonsten von Telenovelas berieseln lässt; Teatro a Mil versucht, sie vom Fernseher weg und auf die Straße zu locken, indem es Theater gleichsam vor ihre Türen bringt. „Vaca“ mündet in einer revolutionär-terroristischen „Roten Armee Vietnam“ mit der Botschaft: „Bleibt sitzen. Glotzt fern.“ Hemke sah im Januar eine Arbeitsprobe in Santiago und lud die noch unfertige Produktion ein; Calderón, der wiederholt in Deutschland arbeitet und das hiesige politische Klima kennt, dachte fortan den Ort der Uraufführung für sein Stück mit, das zeigen soll, „wie Menschen zu Faschisten werden, ohne es zu bemerken“. Thomas Oberender als Jurychef der Goethe-Medaille spricht später in Weimar von „Brecht auf Drogen“ und fühlt sich an „Fatzer“ erinnert. Das Stück verfehlt aber hier jegliche Wirkung, die über ein ab und zu immerhin befreiendes Lachen hinausgeht. Von vornherein auf Lachen angelegt, aber mit dem Hintersinn, vom Umgang mit Befremdlichem und Unverstandenem zu erzählen, ist ein Stück des Rumpel Pumpel Theaters, welches Kunstfest und Thüringer Theaterverband auf die Straße sowie an 13 Orte auf dem Lande schickt, ko-produziert vom Lofft Leipzig. Ersonnen und ersponnen am Oldenburgischen Staatstheater, 2018 am Schauspielhaus Bochum mithilfe eines alten Marktwagens als mobiler Bühne umgesetzt, beglaubigten Lisa Jopt, Pirmin Sedlmeir und Johannes Lange seitdem das Stadttheater als „die böseste Gang“ auf der Straße. Ohne den Wagen, aber mit altem Kinderkarussell, und ohne Lisa Jopt, die sich als GDBA-Präsidentin gerade mit dem Bühnenverein herumschlägt, macht auch die dritte Arbeit des Rumpel Pumpel Theaters dessen Namen alle Ehre: eine nach allen Regeln der Straßenkunst durchgeknallte Räuberpistole mit kruder Dra-

maturgie, gnadenlosen Wortspielen und rauer Akustik. Meisterdiebin Lassie Jason (Anne Mieke Eigner) ernennt sich darin zur Rummelkönigin und klaut, im Land des Grafen Adelmann zu Bad Reiniger, ein Karussell, das sich als altes, einst von einem harmlosen Vampir mit Goofy-Visage verfluchtes Luxushotel entpuppt, woraus er tödlich vertrieben wurde. Schon wieder ein Untoter, schon wieder ruhelos durch die Gegenwart wabernde verdrängte Vergangenheit. Dazu stellt Baru Madiljins Choreografie fürs Tjimur Dance Theatre aus Sandimen die richtige Frage: „Bulabulay mun?“ („Wie geht es dir?“) Fremd in den Mitteln, zugleich seltsam vertraut geht zeitgenössisches Tanztheater weit zurück zu alten Traditionen und beschwört ein kollektives Trauma herauf: den blutigen „Mudan-Zwischenfall“ von 1871 in der Bayao-Bucht. Gefördert vom Kulturministerium Taiwans sowie Taipehs Berliner Vertretung konnte das Kunstfest diesmal gleich sechs Produktionen der dortigen Performanceszene einladen (anders als 2019 unbehelligt von obskuren Unterhändlern, die chinesische Förderung annoncierten, falls Taiwan außen vor bliebe). Dazu gehörte auch „Sounding Light“ vom Cloud Gate Dance Theatre, nur Tage später in Dresden-Hellerau zu Gast. Darin dauert ein Tag 60 Minuten, in denen Tänzer zurück zur Natur finden, gleichsam Vögel oder Insekten werden und ihre Körper dabei zu Musikinstrumenten machen. Was im Kontext des Festivals auch als Eskapismus missverstanden werden könnte, bedeutet vielmehr Verfremdung des Menschen in der Welt zum Zwecke der Entfremdung. T

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Spielzeit 2024 / 2025 Kristof Magnusson Apokalypse Miau ab 13.09.2024 Regie: Mille Maria Dalsgaard

Heinrich Mann Untertan. Eine deutsche Revue ab 21.02.2025 Regie: Mareike Mikat

Karsten Dusse Achtsam morden ab 20.09.2024 Regie: Dietmar Rahnefeld

William Shakespeare Der Sturm. How to kill daddy ab 14.03.2025 Regie: Katharina Brankatschk

Svenja Viola Bungarten Die Zweite Sonne ab 08.11.2024 Regie: Naemi Friedmann*

Marie Dilasser Deutschsprachige Erstaufführung Penthesile:a:s ab 17.04.2025 Regie: Sandra Hüller & Tom Schneider

*Kooperation mit der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin

Anne Carson | nach Euripides Bakkhai ab 08.11.2024 Regie: Basil Zecchinel* Kooperation mit der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin

Revue Silvester im Theater 2024 am 31.12.2024 Regie: Mareike Mikat Gerhart Hauptmann Schauspielstudio-Inszenierung Die Weber ab 07.02.2025 Regie: Max Radestock

Svenja Viola Bungarten Uraufführung Sibylle ab 09.05.2025 Regie: Mareike Mikat Dietmar Jacobs & Moritz Netenjakob Kalter weißer Mann ab 07.06.2025 Regie: Dietmar Rahnefeld August Strindberg + Fräulein Julie in Arbeit ab Frühjahr 2025 Regie: Mille Maria Dalsgaard & Babett Grube

Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig

www.buehnen-halle.de Theater der Zeit 10 / 2024


Report Ruhrtriennale

Sandra Hüller in „I want absolute beauty“, Regie Ivo van Hove, Choreografie: (LA)HORDE: Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel

Foto Jan Versweyveld

Die explosive Kraft der Fantasie Die Ruhrtriennale sucht mit einer wilden Inszenierung von Kirill Serebrennikov und einer beeindruckenden Sandra-Hüller-Show nach Wegen in die Zukunft Von Stefan Keim

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Report Ruhrtriennale

Foto

Industriestandorte des Ruhrgebiets verlangen künstlerische Maßlosigkeit und Mut. Gleichzeitig sollte das Festival nie die Bodenhaftung verlieren und seine Grundlage im Blick behalten, eine Region, die von Arbeit und ihrem Verlust geprägt worden ist. Der international enorm erfolgreiche Belgier Ivo van Hove soll nach den ideologiesatten Knäckebrotjahren unter Barbara Frey neben künstlerischem Hochniveau auch wieder ein bisschen Glamour in den Pott bringen. Das ist ihm mit seiner Eröffnungsinszenierung triumphal gelungen. Die Bühne in der riesigen Bochumer Jahrhunderthalle ist voller Erde. Die Schauspielerin Sandra Hüller tritt auf, mit Jeans und hellblonder Perücke. Sie singt Songs des britischen Independent-Rockstars PJ Harvey, während sie über den Boden streicht. In den ersten Songs dieses Abends geht es ums Wachsen. „I want absolute beauty“ – ich will absolute Schönheit – heißt das Stück. 26 Songs von PJ Harvey hat Ivo van Hove zusammengestellt, düstere Todesvisionen, rockige Ekstasen, zarte Balladen. Es geht um Krieg und Gewalt, um Sex und Selbstbefreiung. Ein Tanzensemble begleitet Sandra Hüller, choreografiert vom französischen Kollektiv (LA)HORDE. Die Schauspielerin singt fast ohne Pause anderthalb Stunden, tanzt mit, verkörpert die Songs mit beeindruckender Intensität. Filmeinspielungen und Live-Videos, eine hervorragende Band und perfektes Lichtdesign sorgen für eine überwältigende Show. Aber es ist auch Theater, das sich mit sperrigen und schwierigen Themen beschäftigt – und am Ende eine versöhnliche Botschaft formuliert: Nehmt das Leben einfach, wie es kommt. Schon vor Beginn der Ruhrtriennale waren alle Karten ausverkauft, ebenso die Zusatzvorstellungen. Jeden Abend gab es riesigen Jubel, weil Ivo van Hove hier auch ein Publikum abholt, das an große Konzertevents gewöhnt ist. „I want absolute beauty“ ist eine perfekte Mischung aus Popkultur und Kreation, einem Begriff, den Gründungsintendant Gérard Mortier für die Ruhrtriennale geprägt hat. Theater, das eine Wirkung über die enge Bubble hinaus entfaltet, ein sinnliches Erlebnis, das sich auch den düsteren Momenten stellt. Klar, es ist eine Blockbuster-Aufführung, zumindest Off-Broadway-tauglich. Doch genau so etwas braucht das Theater gerade, um nicht in den Nischen der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden. Die Begeisterung für „I want absolute beauty“ hat aber auch mit der zweiten großen Premiere der Ruhrtriennale zu tun. Denn die steht für ein anderes Kunstverständnis, geht kompromisslos aufs Ganze, wagt weit über vier Stunden lang eine Explosion der

„Longing for tomorrow“ – dieses Motto könnte gerade auf jedes Festival passen. Überall geht es um die Sehnsucht nach dem Morgen, um konkrete Auswege und künstlerische Visionen. Man könnte viel Geld für Werbeagenturen sparen, indem sich alle Festivals unter dem Motto „Zukunft ist gut für uns alle“ vereinen. Und doch ist es ein bisschen anders, wenn es um die Ruhrtriennale geht. Denn die überlebensgroßen Hallen und ehemaligen

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Schon vor Beginn der Ruhrtriennale waren alle Karten ausverkauft, ebenso die Zusatzvorstellungen.

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Report Ruhrtriennale Serebrennikov verantwortlich – ist im Kern einfach und unendlich wandelbar. Teppiche und Tücher fliegen, es gibt eine Menge Requisiten, manche sind für die Handlung völlig überflüssig, aber sie sorgen für eine Atmosphäre der Opulenz. Außerdem war Parajanovs Vater Antiquitätenhändler.

Ivo van Hove und PJ Harvey

Fantasie und setzt damit einem im Westen weitgehend vergessenen Filmregisseur ein Denkmal – Sergei Parajanov. In Georgien geboren, in Armenien gestorben, lange Zeit in der Ukraine lebend. Zu seinen Lebzeiten, 1924 bis 1990, war das alles Sowjetunion. Parajanov liebte die Legenden der vielen unterschiedlichen Völker und verfilmte sie auf völlig unterschiedliche Weise. Deshalb nennt Kirill Serebrennikov seine Hommage an Parajanov auch „Legende“. Die Filme sind zum Teil völlig entfesselt, mit einer ruppigen Handkamera gedreht, lebendig, grob, unvorhersehbar. Und dann wieder geprägt von stillen, langen Einstellungen, fast ohne Handlung. Parajanov hat die Grenzen der Filmkunst ausgereizt, Godard, Fellini und Antonioni haben ihn verehrt. Natürlich hatte das überhaupt nichts mit den Anforderungen des sozialistischen Realismus zu tun. Deshalb galt der Regisseur als Rebell, wurde mit absurden Vorwürfen angeklagt, war lange in Arbeitslagern, und wenn er frei gelassen wurde, blieb er arbeitslos. Die Ähnlichkeiten zur Biografie Kirill Serebrennikovs liegen auf der Hand. Dennoch werden sie im Bühnenstück „Legende“ niemals direkt angesprochen. Das ist eine von vielen Qualitäten des Abends, so wird er auch in der intensiven Beschreibung des Leidens im Lager niemals weinerlich. Serebrennikov und dem überragenden Ensemble des Hamburger Thalia Theater – ergänzt mit fantastischen Darstellenden aus Russland – gelingt es, den Geist Parajanovs zu erfassen und auf die Bühne zu bringen. Gleich zu Beginn ist die Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord erfüllt vom Klang der Kuhglocken und anderer bäuerlicher Instrumente – wie bei vielen Soundtracks in den Filmen Parajanovs. Das Bühnenbild – auch dafür wie für die Kostüme ist

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Zehn Legenden sind es, ihr Zusammenhang ist nicht immer leicht zu verstehen. Da gibt es die bäuerlichen Geschichten und biografische Sequenzen. Aber auch eine irre Variante der Sturmszene aus Shakespeares „König Lear“. Parajanov hatte wohl mal eine Lear-Verfilmung geplant, aber dieses Detail braucht man gar nicht zu wissen. Die Aufführung entfaltet eine unglaubliche Kraft, von der man sich am besten einfach mitreißen lässt. Am „Baum der Wünsche“ steht ein blondgelockter Sänger mit Bodybuilderfigur, der Leonard Cohens „Hallelujah“ singt. Um ihn herum scharen sich Menschen, die mit ihren Wünschen und Träumen kommen. Aber sie wollen jetzt die Erfüllung, werden immer aggressiver, reißen dem Jüngling die Kleider vom Leib, zerfetzen schließlich seinen Körper, bis ein Skelett hängen bleibt. Das Festivalmotto „Longing for tomorrow“ erfährt hier seinen grotesk-gruseligen Gegenentwurf. Eine Frau fällt auf im Kreis der gierigen Bande. „Ich will meine Jugend zurück“ sagt sie, wiederholt diesen Satz, immer mit einer anderen Betonung. Es ist die Schauspielerin Karin Neuhäuser, die das Herz in diesem Ensemble der Theatervulkane ist. In den stillen Momenten bleibt sie ganz bei sich, eine

Der Regisseur Kirill Serebrennikov

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Fotos oben Jan Versweyveld, unten Kirill & Friends

Legende Parajanov


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Am Ende des Abends steht eine Solidaritäts­bekundung mit allen politischen Gefangenen der Welt.

Unbeugsame, ein Kontinent der Emotionen. Fast jeder hat im Laufe des Abends mal den Regisseur Parajanov gespielt, am Ende ist es Karin Neuhäuser, die zeigt, wie er auch im Lager und in der Einsamkeit nie seinen poetischen Zauber verliert. Und wenn sie eine Diva am Ende ihrer Karriere spielt, ist ihr verzweifelter Kampf um den Erhalt der glamourösen Fassade Tragödie, Hommage und Abgesang auf das klassische Theater, ein atemraubender Boulevard der Dämmerung. Am Ende des Abends steht eine Solidaritätsbekundung mit allen politischen Gefangenen dieser Welt. Die Aufführung läuft weiter am Hamburger Thalia Theater. Doch so überbordend wie bei der Ruhrtriennale wird man sie nicht mehr erleben können. Denn da war noch der Trinity Cathedral Chor aus Georgien dabei, ein überwältigendes Männergesangsensemble, das immer wieder die Szene eroberte und für Gänsehautmomente sorgte. So etwas kann dann doch nur ein internationales Festival leisten, bei dem der Chor auch noch einen unvergesslichen Konzertauftritt hatte – in der Turbinenhalle direkt neben der Bochumer Jahrhunderthalle. Darin hat die Künstlerin Berlinde De Bruyckere ihre Installation „City of Refuge IV“ gebaut. Die historischen Maschinen sind von rostigen Zäunen umgeben. Über den Köpfen des Publikums schweben gesichtslose Erzengel, von Stoffen umhüllt. Ob sie eine tröstliche oder gruselige Atmosphäre verbreiten, liegt ganz bei den Betrachtenden. Bei der Biennale in Venedig standen die Figuren in der Basilika San Giorgio Maggiore gegenüber vom Dogenpalast. Berlinde De Bruyckere sucht nach starken Orten, um sie mit ihren dunklen Engeln neu zu definieren, und hat in der Bochumer Turbinenhalle einen solchen Platz gefunden. Im Zusammenhang mit den verschiedenen Konzerten bekommt auch die Installation immer neue Impulse. Für große, düstere Bilder steht auch der Regisseur Romeo Castellucci. Bei der Ruhrtriennale zeigte er als Deutschlandpremiere „Bérénice“ von Jean Racine als komprimierten Monolog für den Schauspielstar Isabelle Huppert. Es geht um eine historische jüdische Prinzessin, die im ersten Jahrhundert nach Christus den werdenden römischen Kaiser Titus liebt. Doch der Senat will keine Fremde auf dem Thron, deshalb verstößt Titus sie. Isabelle Huppert zeigt eine große Menge an Trauerfacetten, schauspielerisch überragend. Und doch läuft der Abend ins Leere, weil ihr der Widerpart fehlt. Romeo Castellucci stellt ihr nur zwei extrem magere Tänzer zur Seite, die Titus und einen weiteren, hier eher bedeutungslosen Mann verkörpern, die beide in Bérénice verliebt sind. Wie oft bei Castellucci gibt es wummernde Soundeffekte, alles ist perfekt einstudiert, aber auch kitschig, eine künstlerische Selbstbefriedigung.

17.10.2024 – 23.3.2025 Di. bis So. 11–17 Uhr Galeriestr. 4a (Hofgartenarkaden) BU

deutschestheatermuseum.de Theater der Zeit 10 / 2024


Report Ruhrtriennale

„Legende“ von Kirill Serebrennikov. Übersetzt von Irina Bondas. Regie, Bühne, Kostüme Kirill Serebrennikov

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wendung in einer deutschsprachigen Rezension gern am Pressecounter an.“ Diese seltsame Verkrampftheit deutet auf ein Problem des Festivals jenseits des Programms hin.

Causa van Hove Gegen Intendant Ivo van Hove gibt es aus der Zeit, in der er das Internationaal Theater Amsterdam (ITA) leitete – bis September 2023 – Anschuldigungen. Anonyme Berichte erzählen von Mobbing und Einschüchterungen, auch von hochrangigen Mitarbeitenden. Es gibt keine direkten Vorwürfe gegen van Hove, doch während der Ruhrtriennale hat das ITA auch die Zusammenarbeit mit ihm als Regisseur und künstlerischer Berater beendet. Der sonst so zugängliche van Hove bleibt hier bei Nachfragen zugeknöpft und vorsichtig. Auch die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker hat mit Mobbingvorwürfen zu kämpfen, die sich allerdings direkt

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Foto Frol Podlesnyi

Politisch wirksam will dagegen das britische Musiktheaterstück „The Faggots and their Friends between Revolutions“ sein. Faggot ist ein englisches Schimpfwort für Schwule, die Aufführung will es umdefinieren. Auf der Basis eines queeren Romans aus den Siebzigern erzählen Regisseur Ted Huffman und Komponist Philip Venables von einem Volk der Faggots, bei dem alles toll läuft und das sich auch mit Frauen gut versteht. Nur mit den Cis-Männern nicht, die alles kaputt machen, machtgierig und gewalttätig sind. Inhaltlich bleibt die Aufführung dürftige Schwarz-Weiß-Malerei, sehr brav und eindimensional. Musikalisch hat sie großen Reiz in der Verknüpfung verschiedener Stile vom Barock bis in die HipHopGegenwart. Vor der Premiere wurde an die Journalist:innen ein Zettel verteilt, in der die Ruhrtriennale den Begriff Faggot erläutert und weiters schreibt: „Wir bitten um eine diskriminierungssensible Verwendung des Begriffs. Sprechen Sie uns bei Fragen zur Ver-


Report Ruhrtriennale an sie und ihren Umgang mit den Tänzer:innen richten. Bei der Ruhrtriennale setzte De Keersmaeker mit ihrem Ensemble Rosas die Beschäftigung mit bildender Kunst in Museumsräumen fort. Vor der Premiere antwortete sie auf die Frage, ob man sich den Tänzer:innen nähern darf, das sei schon möglich, aber von den Kunstwerken müsse man Abstand halten. Kunstwerke zu zerstören, das ginge gar nicht, bei Tänzer:innen sei das nicht so schlimm. Eigentlich ein netter Witz, aber im Zusammenhang mit den Anschuldigungen hat er einen Beigeschmack. Dennoch ist die Aufführung „Y“ im Essener Museum Folkwang sehr gelungen. Es beginnt mit einem Bild von Édouard Manet von 1877, das einen Sänger in der Rolle des Hamlet zeigt. Erst kopieren die Tänzer:innen die Haltung, ein Fuß nach vorn, Hand am Degen, dann werden sie freier, durchtanzen die Räume und ziehen das rundherum stehende Publikum mit. In einem anderen Raum steht ein Tänzer auf dem Kopf vor einer Caspar David Friedrich nachempfundenen Berglandschaft. Nebenan lässt sich eine Kollegin vom Bild eines Granatenwurfs zu wilder Ekstase anregen. Ein spannendes Wechselspiel zwischen Kunst und Körpern. Insgesamt ist die Ruhrtriennale unter Leitung von Ivo van Hove auf einem guten Weg. „Legende“ ist ein nicht so leicht zu

Insgesamt ist die Ruhrtriennale unter Leitung von Ivo van Hove auf einem guten Weg.

übertreffendes Theaterspektakel mit Tiefgang und „I want absolute beauty“ Startheater in seiner besten Form. Hier und da knirscht es noch intern, man spürt den Druck, bloß nicht wieder in Skandale verwickelt zu werden, wie es unter der Leitung von Stefanie Carp geschehen ist. Wobei es in ihren zwei Festivalausgaben viele anregende und spannende Aufführungen gab. Etwas mehr politischen Biss kann die Ruhrtriennale durchaus wieder entwickeln. Aber es ist auch erlaubt, gerade in schweren Zeiten sich mal eher für Kunst und Schönheit zu interessieren. T

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Frankfurt (Oder)

Theater– und Literatur– festival


Die slowakische Kulturministerin Martina Šimkovičová

Die völkische Säuberung Eine Kulturministerin aus der ultrarechten Szene verstört die Slowakische Republik Von Michal Hvorecky

Die slowakische Kulturministerin Martina Šimkovičová ist eine Neofaschistin, sie glaubt an die weiße Vorherrschaft, mag die politische Korrektheit und den Feminismus nicht und glaubt, dass Liberalismus zum Niedergang der westlichen Zivilisation geführt hat. Nachdem die einst populäre Fernsehmoderatorin 2015 von einem Privatsender wegen rassistischer Hetze entlassen worden war, startete sie eine neue Karriere als Szenestar der neuen Rechten. Im Netz konnte sie ihr völkisch-nationales Gedankengut frei präsentieren, ihre YouTube-Botschaften erreichten immer mehr Follower: „LGBTQ-Ideologie“ als Grund für den Niedergang Europas und das Aussterben der „weißen Rasse“, Kreml-Propaganda über Maidan und Selensky, Impfgegnerschaft, lauter Anti-Amerikanismus, Aufrufe zum NATO-Austritt. 2023 setzte die Slowakische Nationalpartei, zusammen mit weiteren ähnlich obskuren Online-Stars aus dem ultrarechten Spektrum, Šimkovičová auf ihre Wahlliste als schwache und korrupte Partei – in der Hoffnung, so den Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen. Šimkovičová ist ein Symptom des gesamteuropäischen, des globalen Problems. Wie es der österreichische Reporter Martin Pollack klar formulierte: „Was derzeit an kulturpolitischem Kahlschlag in der Slowakei passiert, geschieht gegen uns alle, es geht uns alle an. Er wirkt sich auf uns alle aus.“ Die slowakische Kulturministerin hat auch zahlreiche Anhänger:innen im Ausland. Die deutsche AfD unterstützt sie als „Kämpferin gegen Wokeness“, gegen „Kulturrelativismus und Multikulturalismus“. Maximilian Krah (AfD) glaubt, dass „die mutige Frau“ den Linken die Kulturinstitutionen wegnimmt und als einzige europäische rechte Politikerin „die Kultur zurück zur Normalität bringt“, so schrieb er auf X. Die Weltanschauung der slowakischen Ministerin hat zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem Kulturprogramm der AfD, die eine grundsätzliche Neuausrichtung der Kulturpolitik mit dem Ziel der Verteidigung der deutschen Identität fordert: „Die aktuelle Reduktion kultureller Identität auf eine Schuld- und Schamkultur“ soll durch positive Bezugspunkte nationaler kultureller Identität korrigiert werden, um die „aktive Aneignung kultureller Traditionen und identitätsstiftender Werte wieder in den Vordergrund zu rücken“.

Entlassung trotz Rekordzahlen

Im August 2024 forderten Zehntausende auf dem Platz des Widerstands in Bratislava den Rücktritt der Kulturministerin

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In der neuen „Säuberungswelle“ im Kulturbereich hatte die Kulturministerin im August den Generaldirektor des renommierten Slowakischen Nationaltheaters (SND) Matej Drlička und die langjährige Chefin der Nationalgalerie Alexandra Kusá entlassen. Sie warf den beiden finanzielles Missmanagement und „politischen Aktivismus“ vor. Beide sollen den Ruf ihrer Einrichtungen beschädigt haben. Das frisch sanierte Gebäude der Nationalgalerie am Donauufer mit seiner umfangreichen Sammlung von der mitteleuropäischen Gotik bis zur Gegenwartskunst verzeichnete 2023 mehr als 134 000 Besucher:innen. Auch das Nationaltheater weist nach schwierigen CoronaJahren neue Rekordzahlen auf. Das Publikum liebt die Aufführungen der drei Ensembles (Schauspiel, Oper, Ballett). Die Aus-

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Foto oben: By Matica slovenská - Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=147010985, unten: picture alliance / CTK | Vaclav Salek

Report Slowakei


Report Slowakei lastung lag in der letzten Spielzeit bei 90 Prozent. Matej Drlička genoss hohes internationales Ansehen. Seine Entlassung erfolgte nur wenige Tage, nachdem er von der französischen Kultur­ ministerin Rachida Dati mit dem französischen Orden für Kunst und Literatur im Rang eines Ritters ausgezeichnet worden war. Drlička, ursprünglich Klarinettist, trat u. a. an der Bayerischen Staatsoper in München und an der Pariser Oper auf. Später wurde er zu einem führenden Kulturmanager. Mehrere Jahre lang leitete Drlička das SND, eine Institution mit fast 800 Mitarbeiter:innen, und machte es zu einem Mehrspartenhaus des 21. Jahrhunderts, das sich durch Meinungsvielfalt und künstlerische Vielfalt auszeichnet. In ihrer Mitteilung an die Medien behauptete Martina Šimkovičová, Drlička habe den Ruf des Theaters „schwer beschädigt“, weil er die Verantwortlichen für einen Kristalllüster, der während einer Aufführung von Antonín Dvoř áks Oper „Die Teufelskäthe“ im Juni 2024 auf die Bühne stürzte, nicht entlassen hat. Drlička antwortete, dass gegen einen Mitarbeiter wegen des Vorfalls, bei dem niemand verletzt wurde, ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden sei. Die Ministerin behauptete auch, dass Drlička „die Position des Generaldirektors einer nationalen Kultureinrichtung mit politischem Aktivismus verwechselt und wiederholt Politik in die Aktivitäten des SND eingebracht hat“. Das Ministerium äußerte wiederholt Unzufriedenheit mit seinem Management und erinnerte an verschiedene Beschwerden von Solisten und einigen Mitgliedern des Opern- und Ballettensembles des SND: Drlička soll mehrmals ausländische Künstler:innen, die er durch die Zusammenarbeit mit einer internationalen Agentur engagiert hatte, einheimischen Opernsänger:innen vorgezogen haben. Der Exdirektor warf dem Ministerium dagegen vor, dass es keine sinnvolle Kommunikation zur Lösung der Probleme gab. In einem anonymen Brief haben sich Mitarbeiter:innen der Oper vermutlich an die Ministerin gewandt. Darin werfen sie Drlička u. a. ein toxisches Arbeitsklima und Korruption vor. Der zeigte sich überrascht und wies alle Vorwürfe zurück. Im August 2024 forderten Zehntausende auf dem Platz des Widerstands in Bratislava den Rücktritt der Kulturministerin Šimkovič ová, die seit Oktober 2023 im Amt ist. Sie hat von Anfang an deutlich gemacht, dass es im Land ihrer Meinung nach „nur eine rein slowakische, und keine andere Kultur“ geben soll. Für den „Gender-Wahn“ und eine „LGBTQ-Agenda“ solle es künftig keine öffentlichen Fördermittel geben. Die Führungen mehrerer anderer staatlicher Kultureinrichtungen – des Kinderkulturzentrums Bibiana, der Nationalbibliothek in Martin und der Kunsthalle Bratislava – waren schon im Frühjahr ausgewechselt worden. Das Bibiana leitet seit zwei Monaten Šimkovičovás Nachbarin und enge Freundin aus Kittsee, die vorher bei einer IT-Firma und als Yogalehrerin gearbeitet hatte. Der neue Chef der Nationalgalerie, ein Investmentmanager und Experte für esoterische „Selbstmassage“, was auch immer das heißen soll, musste beim ersten Treffen mit den Mitarbeiter:innen zugeben, er habe „keine Ahnung von Kunst“. Sein erstes Vorhaben: einen sehr hohen Mast für die blau-weiß-rote Nationalflagge vor dem Haupteingang zu bauen. Die Empörung war groß.

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Michal Hvorecky: Aus Protest haben 186 000 Slowak:innen eine Online-Petition unterzeichnet, die ich gemeinsam mit drei Kolleg:innen initiiert habe. Die Demonstration wurde organisiert von der Initiative Otvorená kultúra (Offene Kultur), in der sich rund 300 Einrichtungen im ganzen Land zusammengeschlossen haben. Auch viel Polizei war vor Ort, weil es sich um den ersten großen Protest handelte, der seit dem versuchten Attentat eines Einzeltäters auf den Premierminister Fico am 15. Mai stattgefunden hat. Die rechtspopulistische Regierung bezeichnet das Attentat als einen gezielten Angriff der skrupellosen Opposition und verunglimpft jede Kritik als „progressivistische Hetze“, die zu weiteren Gewalttaten führen soll. Die Öffentlichkeit ließ sich davon nicht einschüchtern, fast 10 000 Menschen sind gekommen. Eine Schauspielerin, die gerade in der männlichen Hauptrolle einer Inszenierung von Thomas Bernhards „Theatermacher“ Erfolge feiert, hat unter Beifall einen Aufruf der unabhängigen Kulturschaffenden verlesen, ein klares und glaubwürdiges Bekenntnis zu einer demokratischen, offenen, inklusiven Gesellschaft. Aus Protest haben außerdem rund 186 000 Slowak:innen eine Online-Petition unterzeichnet, die ich gemeinsam mit drei Kolleg:innen initiiert habe. Sie fordert den Rücktritt der Kulturministerin – es ist schon der zweite solche Aufruf, nachdem der erste, im letzten Winter von der „Offenen Kultur“ lanciert, von Šimkovičová ignoriert und als „Fake“ bezeichnet wurde. Doch die letzte Entlassungswelle könnte der Kulturministerin nun gefährlich werden. In allen Umfragen stürzt die SNS ab. Weitere Proteste und sogar Streiks im Kulturbetrieb sind zum Saisonstart geplant. Jahrzehntelang war vor allem der Operngesang der kulturelle Exportartikel der Slowakei – Peter Dvorský, Edita Gruberová, Lucia Popp, Pavol Breslik, zuletzt Slávka Zámeč níková. Doch die gegenwärtige Szene ist facettenreicher, bunter, vielfältiger und höchstaktuell, regional unterschiedlich und so solidarisch wie noch nie. Das Schauspielhaus Wien bereitet gerade eine Koproduktion mit dem Slowakischen Nationaltheater vor. Der nomadisierende Text von Mazlum Nergiz über das unstillbare Verlangen nach Leben und Freiheit zwischen zwei Flussufern wird von der renommierten deutschen Regisseurin Christiane Pohle einstudiert und am 30. November urauf­ geführt. Falls es noch möglich sein wird … Viele Solidaritätsbekundungen kamen aus dem Ausland. Der Schweizer Autor und Theaterregisseur Milo Rau und die Leitung der Wiener Festwochen halten die aktuellen Entlassungen für „völlig unverantwortlich, im Inhalt und in der Konsequenz undemokratisch, in der Form für respektlos und unprofessionell und daher eines Mitgliedstaats der Europäischen Union für völlig unwürdig“. Vielen Dank, Milo Rau und alle anderen, dass Sie sich für die freie, vielfältige und unabhängige slowakische Kultur einsetzen. Ď akujeme! T

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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Werkschau Gottfried Pilz

Gottfried Pilz zählt zu den renommiertesten Bühnen- und Kostümbildnern des Musiktheaters. Seine feinsinnigen, beeindruckenden Arbeiten entwickelte er durch das intensive Studium von Libretto und Partitur – im Lauf der Jahre mit einer zunehmend abstrakten und minimalistischen Bildsprache. Er arbeitete u. a. mit den Regisseuren John Dew, Götz Friedrich, Günter Krämer, Stefan Herheim und George Tabori zusammen. In der reich bebilderten Publikation sind großformatige Fotografien, Zeichnungen, Figurinen und Bühnenbildmodelle zu sehen. Es ist ein konzentrierter Ausschnitt mit 15 Projekten aus 50 Schaffensjahren einschließlich Regiearbeiten. Besonderer Bestandteil der Ausgabe sind die Camera-obscura-Aufnahmen der Fotografin Karen Stuke.

„Celan“, Staatstheater Mainz, 2003

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Intendanz-Generationen auf Kampnagel, 2022, v. l. n. r. Amelie Deuflhard (2007 bis heute), András Siebold (Leitung Sommerfestival 2013 bis heute), Mücke Quinckhardt (1985–1990), Res Bosshart (1994–2001), ­Hannah Hurtzig (1985–1990), Dieter Jaenicke (Leitung Sommerfestival 1985–1990), Hans Man in’t Veld (1990–1995) – es fehlt: Gordana Vnuk (2001–2007)

Kampnagel Hamburg. 40 Jahre Widerspruch Workbook zum Jubiläum »Never demolish. Always transform, with and for the inhabitants« Dieses Credo beschreibt die Herangehensweise des Architekturduos Lacaton & Vassal an den größten Transformations­prozess des Kampnagel-Geländes, seitdem die ehemalige Kranfabrik 1982 zum Kunstgelände wurde. Genau an dieser Schnittstelle zwischen den letzten 40 Jahren, dem aktuellen „State of the Art“ und den kommenden 40 Jahren ist das vorliegende Buch entstanden. Es beschreibt die Geschichte eines Fabrikgeländes, das in den 1980er Jahren durch das Schauspielhaus und Teile der Freien Szene Hamburgs umgenutzt wurde. Heute ist Kampnagel eines der wichtigsten Produktionszentren für internationalen Tanz und Performing Arts in Europa und hat sich auf den Weg gemacht, auch baulich eines der modernsten zu werden. Seit 2020 ist Kampnagel eines der vier Staatstheater Hamburgs und das mit zumindest dem impliziten Auftrag, ein neues Modell von Staatstheater zu entwerfen. Kampnagel ist traditionell ein Haus mit international-avantgardistischem Programm, agilen Produk-

tionsstrukturen und flachen Hierarchien, lokal wie international hochgradig vernetzt. Aktuell wird hier eine Institution erprobt, die auf­ Basis des Freiheitsstrebens der Anfänge eine Vision für die Zukunft entwickelt. Nicht umsonst trägt dieses Buch den Titel „Vierzig Jahre Widerspruch“: Kampnagel hat sich in seiner Geschichte niemals im Affirmativen angesiedelt, sondern immer versucht, Gegenwart zu hinterfragen – künstlerisch, gesellschaftlich und politisch. Kampnagel ist damit zu einem Ort geworden, von dem Haltung und Stellungnahme erwartet wird – auch zu Krisen der Gegenwart. Unsere Künstler*innen sind Spezialist*innen für die Welten und für die Gesellschaften, in denen sie leben. Aus dem Editorial von Amelie Deuflhard Kampnagel Hamburg. 40 Jahre Widerspruch Workbook zum Jubiläum Herausgegeben von Amelie Deuflhard 300 S., 30 € (Broschur oder E-Book)

Fotos unten links © Karen Stuke, Berlin/www.theaterfoto.com, oben Mitte Peter Hönnemann, rechts unten Tom Dombrowski, rechs oben Birgit Hupfeld

Gottfried Pilz Bühne Kostüme Regie Kerstin Schröder (Hg.) 160 S., 26 € (Hardcover oder E-Book)


Henning Fülle ist Dramaturg, Kulturforscher und Hochschullehrer an der Kunsthochschule Karlsruhe, Universität Hildesheim und UdK Berlin. Bei Theater der Zeit erschien 2016 „Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft 1960–2010“.

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Wir haben es einfach gemacht! Reisen in internationale Theaterwelten Herausgegeben von Siegmar Schröder und Henning Fülle

Geschichten und Biografisches aus 40 Jahren Theaterlabor Bielefeld

Theater der Zeit

Das Theaterlabor Bielefeld, gegründet 1983 von Siegmar Schröder gemeinsam mit Studierenden, ist ein prägnantes Beispiel für die Entwicklungen, die seit den 1980ern zu einer Modernisierung des deutschen Theaters und in Folge zur Konstituierung des Freien Theaters als „Zweiter Säule“ der Theaterlandschaft führen sollten. Ein Ensemble, das kollektiv und egalitär die Gegenstände und Themen seiner künstlerischen Arbeit selbst bestimmte und schließlich eine Institution bildete, die Bestand hat und inzwischen von einer nachgewachsenen Generation übernommen wurde. Die Entwicklung dieser Theaterkunst aus der Kraft der Selbstermächtigung wird von Siegmar Schröder und Henning Fülle in Berichten und Interviews, Gesprächen und Erinnerungen nachgezeichnet und in den Kontext der künstlerischen und institutionellen Aufbrüche der westdeutschen Theaterlandschaft seit den 1970er Jahren eingebettet. Mit Interviews und Texten von Eugenio Barba, Yoshi Oida, Leo Bassi, Margaret Pikes, Horacio Czertok, Nullo Facchini, ­Robert Jakobson, u.v.m.

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Wir haben es einfach gemacht! Reisen in internationale Theaterwelten Siegmar Schröder und Henning Fülle (Hg.) 320 Seiten, 25 € (Paperback oder E-Book)

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Siegmar Schröder ist Theatermacher. 1983 gründete er das Theaterlabor Bielefeld und leitete es bis 2019. In der Zeit hat er ca. 90 Autorenproduktionen, davon zahlreiche internationale Koproduktionen, zehn internationale Theaterfestivals, die Internationale Schule für Theateranthropologie (ISTA) und viele Tourneen umgesetzt. Seit 2019 macht er vermehrt Netzwerkarbeit (flausen+) und Soloprojekte.

Wir haben es einfach gemacht!

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40 Jahre Theaterlabor Bielefeld

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Theaterlabor/Dah Teatar, Missing People – Die Macht der Erinnerung, 2014

„Der Ring des Nibelungen. Die After­ hour der Geschichte“ von Necati Öziri. Regie Julia Wissert am Theater Dortmund, 2024

Die neue Regie-Generation Sie inszenieren an großen Theatern, ihre Arbeiten werden zu großen Festivals eingeladen, sie leiten sogar Häuser – und sie sind jung! Das im deutschsprachigen Raum viel diskutierte Regietheater hat eine neue Generation an Theatermacher:innen hervorgebracht, die etwas mehr als zwanzig Jahre nach dem Theater der Zeit Arbeitsbuch „Werk-Stück“ (2003) erstmals in dieser Zusammenstellung porträtiert werden will. In Inhalt und Darstellung disparat, eigensinnig und ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit. Das Arbeitsbuch 2024 stellt die Personen und Arbeiten der neuen Regie-Generation vor. Wir fragen: Welche Themen treiben sie um? Welche Haltungen haben sie? Wie arbeiten sie? Wie sehen sie ihre Zukunft? Und wem gehört sie? Zwanzig Porträts: Lucia Bihler, Claudia Bossard, Alexander Eisenach, Jan-Christoph Gockel, Julien Gosselin, Sapir Heller, Florentina Holzinger, Heinrich Horwitz, Elsa-Sophie Jach, Pınar Karabulut, Ewelina Marciniak, Antú Romero Nunes, Bonn Park, Christopher Rüping, Marie Schleef, Rieke Süßkow, Luise Voigt, Wilke Weermann, Julia Wissert, Stas Zhyrkov

Arbeitsbuch 2024 Werk-Stück II. Die neue Regie-Generation Herausgegeben von Nathalie Eckstein 140 S., 24,50 € (Paperback oder E-Book)

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Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partner:innen organisieren. ­Eintritt frei für TdZ-Abonnent:innen (abo-vertrieb@tdz.de) 8.10. 40 Jahre Theaterlabor Bielefeld, Einar & Bert Berlin 5.11. Notizen zu Piscator, FFT Düsseldorf 5.12. Scène 24. Neue französischsprachige Theaterstücke, Hans Otto Theater Potsdam 12.12. Teresa Kovacs: Theater der Leere, Einar & Bert Berlin 13.12. Matthias Rothe: Tropen des Kollektiven, Literaturforum im Brecht-Haus Berlin

Bücher in Vorbereitung Judith Malina: Notizen zu Piscator Annette Menting: Schauspielhaus Chemnitz Teresa Kovacs: Theater der Leere Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck Die künstlerische Arbeit am Theater ist unmittelbar kooperativ und immer auch Arbeit an ihrer eigenen Form. Theatermacher:innen in der Weimarer Republik haben dies voraussetzend versucht, im mitlaufenden Verweis auf ihr Tun eine bessere, nicht ­kapitalistische Gesellschaft real und imaginativ vorwegzunehmen. Wieso endete dieser Versuch in einem Lob der großen Produktion statt in einer Befreiung von ihr? Oder in einer naiven Verwendung rassistischer Stereotypen? Tropen des Kollektiven beantwortet diese Fragen, indem es ein solches Scheitern von Utopie am Beispiel des Epischen Theaters – der PiscatorBühne, der Truppe 31, der VersucheGruppe, zu der Bertolt Brecht gehörte – nachvollzieht. Weil das Buch nach dem Verwertungsregime künstlerischer Arbeit schlechthin fragt, gelten die Antworten, die es gibt, nicht nur für die TheaterAvantgarde.

Tropen des Kollektiven Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater Von Matthias Rothe

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Theater der Zeit 10 / 2024


Foto Shukhov Tower in Moskau, Foto: Arssenev, lizensiert unter CC-BY-SA-3.0

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„Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich kaum noch dorthin“,1 schreibt Roland Barthes 1965. Das Theater scheint uns seit Langem etwas zu versprechen: Vorführende und Zuschauende sind füreinander anwesend. Hier und jetzt wird etwas gezeigt, das heißt mit dem ganzen Körper vorgeführt und wahrgenommen, etwas, das mit aller Leben zu tun haben könnte. Mit anderen Worten, hier kommen Menschen tatsächlich zusammen, noch in überschaubarer Anzahl, aber bereits anonym genug, um das geteilte ,Eingestimmtsein‘ als Überraschung und Glück, ja beinahe als gemeinschaftliche Kraft zu empfinden. Aber zugleich scheint auf dieses Versprechen nie etwas zu folgen. So legt es auch Barthes nahe. Ein eher ritualisierter Kontakt setzt sich an die Stelle eines Ereignisses. Es bleiben die Routinen einer oft zum Spektakulären tendierenden Darbietung, zufällige und vereinzelte Reaktionen vom Publikum und dann allenfalls die Hoffnung auf den Wein in der Spielpause und das Gespräch mit Freunden danach. Es war die sogenannte erste Avantgarde, die sich nicht mit dem bloßen Versprechen zufriedengeben wollte und das Theater zum Ort einer wirklichen Zusammenkunft erklärte. Dies nachzuvollziehen, am Beispiel der Piscatorbühne, der Truppe 31 und der Versuche-Gruppe (meine Bezeichnung), die ich dem epischen Theater zurechne, ist das Anliegen dieses Buches. Erwin Piscator etwa sprach vom Theater als einer ,Versammlung‘, in der die gesellschaftlichen Ereignisse und Vorgänge, denen die Einzelnen ansonsten nur ausgeliefert sind, zum Gegenstand von Einsicht und Ermächtigung werden sollten. Dazu musste das Theater zuallererst aus seiner kommerziellen (bürgerlichen) Verwünschung erlöst, also entzaubert und in Besitz genommen werden. Die Arbeit der Probe und der Aufführung, die Arbeit aller am Zustandekommen der Vorführung Beteiligten hatte sich sichtbar zu machen, und zwar als die Arbeit für die Gemeinschaft, die sie ,eigentlich‘ immer schon gewesen war, und um ihrer kollektiven Verfassung willen. Künstlerische Arbeit wurde sich ihrer selbst bewusst, reflektierte sich und mach-

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te sich zum Teil dessen, was sie hervorbringt. Walter Fähnders spricht etwa von der performativen Aufhebung des Werkcharakters zugunsten von Kunst als einer sozialen Praxis. Das betraf nicht nur das Theater, sondern war ein Merkmal des europäischen Modernismus und vor allem der künstlerischen Avantgarde schlechthin. Mit der ,Konkreten Poesie‘ etwa trat das dichterische Material in den Vordergrund, in der bildenden Kunst verbarg sich der Arbeitsprozess nicht mehr im Bild, sondern dieses wies dessen Spuren deutlich sichtbar auf. Und indem künstlerische Arbeit sich demonstrativ sichtbar machte, ließ sie sich mit der nicht-künstlerischen Arbeit vergleichen. Diese galt, spätestens seit in der Weimarer Republik Rationalisierung zum Zauberwort wurde und der Taylorismus Einzug hielt, vor allem im Bewusstsein linker Künstler*innen als eine durch den Kapitalismus zugerichtete, hoch arbeitsteilige Lohnarbeit. Sie war zerlegt in Produktionsschritte, denen keine natürliche Bewegung mehr entsprach, war auf Ziele hin ausgerichtet, mit denen die Arbeitenden kaum noch etwas zu tun hatten. Die künstlerische Arbeit musste den Künstler*innen dagegen als all das erscheinen, was Lohnarbeit nicht war: spontan, individuell und variabel. Sie begann immer wieder von vorn, Material und Verfahren kamen große Aufmerksamkeit zu (sie waren alles andere als standardisierte Rohstoffe und Instrumente), wichtiger vielleicht noch: In der künstlerischen Arbeit schien der ganze Arbeitszusammenhang den Arbeitenden verfügbar zu bleiben. Die künstlerische Arbeit konnte sich so zur Utopie aufwerfen, im Theater nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich in Probe und Aufführung kooperativ vollzog. So sollte alle Arbeit werden. Von dieser historischen Situation ausgehend und mit Blick auf Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik, habe ich mit einer einfachen Frage begonnen: Wie kommt es, dass die Besonderheiten der künstlerischen Arbeit in den Blick geraten – jede*r mit dem Theater praktisch Befasste kennt zum Beispiel die heuristischen Verfahren der Probe, das Entdecken und Wiederholen, das Glück der Einsicht,

das sich eher im Dazwischen der Interaktionen wie eine chemische Reaktion vollzieht, gleichzeitig ist oder bleibt die darüber formulierte Utopie die einer Befreiung der industriellen Produktionsmittel und Verfahren, nicht die Befreiung von ihnen? Hätte nicht gerade die Reflexion auf die künstlerische Arbeit die Möglichkeit eröffnen können, den allgegenwärtigen Produktivismus der Zeit zu überwinden? T

1 Barthes, Roland: »J’ai toujours beaucoup aimé le théâtre ...«, in: ders.: Écrits sur le théâtre, Paris 2002, S. 19–22 (19): »J’ai toujours beaucoup aimé le théâtre et pourtant je n’y vais presque plus.« (Übersetzung M. R.).

RECHERCHEN 170 Matthias Rothe Tropen des Kollektiven Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater Paperback mit 250 Seiten 22,00 € (Paperback) Lieferbar ab 30.11.2024

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Magazin Bericht

Die begehbare Kunst der Abnutzung Bühnenbilder von Anna Viebrock in der Thomas-Schütte-Stiftung in Neuss Von Stefan Keim

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Ein Blick auf die Webseite der ThomasSchütte-Stiftung vor der Abfahrt. „Heute demnächst Ende“ steht da. Ich will schon zum Auto rennen und losfahren, da frage ich mich, wieso die Skulpturenhalle in Neuss schon am frühen Nachmittag schließen soll. Und schaue nochmal hin. „HEUTE DEMNÄCHST ENDE“ – komplett groß geschrieben – ist der Titel der Ausstellung. Er passt ja auch perfekt zum Werk der Bühnenbildnerin Anna Viebrock, den hinreißend verschlissenen Räumen, die oft von leicht schlaf­wandlerischen und weltenthobenen Menschen bevölkert werden. Das Wortspiel melankomisch ist zwar ebenso abgenutzt wie Böden, Wände und Möbel in Anna ­Viebrocks Bühnenbildern, aber es trifft die Stimmung oft genau.

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Fotos Anna Viebrock

DAS MANSION AM SÜDPOL (EINE IMMOBILIE); M 1:25, 2012 32 x 66 x 65 cm


Magazin Bericht Thomas Schütte ist ein weltberühmter Künstler, der in diesem Jahr eine Einzelausstellung im noch weltberühmteren New Yorker Museum of Modern Art zeigt. Er hat – wie Anna Viebrock – in den siebziger Jahren an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Das ist eine lockere biografische Verbindung, die nun mit der Ausstellung intensiviert wird. 2016 hat Schütte seine Skulpturenhalle in Neuss eröffnet, in die Betonwände können keine Nägel eingeschlagen werden, klassische Bilder hätten es hier schwer. In der Mitte steht ein dunkler Ziegelbau, eine Art Kapelle, die einen intimeren Raum eröffnet. Auf dem Portal dieser Kapelle steht nun der Schriftzug „HEUTE DEMNÄCHST ENDE“.

Spuren des Gebrauchs Der größte Teil der Ausstellung stammt aus dem Bühnenbild zu Franz Lehárs Operette „Giuditta“ an der Bayerischen Nationaloper in München. Christoph Marthaler hat das Stück aufgebrochen und mit anderen Texten und Musiken collagiert. Sogar die Hits wie „Deine Lippen, sie küssen so heiß“ werden plötzlich abgebrochen, was Proteste des Publikums zur Folge hatte. Es ist aber auch ein seltsames Stück. Hinter den süßen Melodien schlummern brutale Abgründe, einer der beiden Librettisten wurde in Auschwitz ermordet. In München ist die Aufführung nun abgespielt. Normalerweise wäre das Bühnenbild längst vernichtet – kaum noch ein Theater hat ausreichende Lagerräume -, nun lebt es in Neuss weiter, umgestaltet, als begehbare Installation. In der Kapelle liegt das prunkvolle Kleid Giudittas auf einem Stuhl. Andere Sessel sind umgeworfen. Es ist eine rätselhafte Theatersituation. Vielleicht hat hier eine Auseinandersetzung stattgefunden, vielleicht hat Giuditta selbst aus Nervosität das Chaos verursacht und kommt gleich um die Ecke, um sich fürs Ausgehen fertig zu machen. Vor dem Eingang zur Kapelle liegt einer dieser berühmten Bühnenböden, die Anna Viebrock oft entwirft, voller Macken, früher mal schön, jetzt verlebt. Ebenso sehen die Wände aus. Nicht jeder Kratzer ist künstlerische Gestaltung. „Das Bühnenbild wurde ja oft auf- und abgebaut“, erklärt Anna Viebrock. „Dann ist es noch in Container geladen worden. Dadurch hat es noch zusätzlich gelitten. Aber wenn man Bühnenbilder restauriert, wird es meist schlimmer.

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Ich finde, man muss die Spuren des Gebrauchs akzeptieren.“ Doch nicht nur die „Giuditta“ ist in Neuss zu sehen. Um den Kern der Ausstellung herum hat Anna Viebrock eine Menge Modelle aufbauen lassen, für Schauspiel und Oper, die Berliner Volksbühne, die Frankfurter Oper, das Theater Basel, die Festspiele in Bayreuth. Besonders faszinierend sind die extrem hohen Wände für die Oper „Pelléas et Mélisande“ von Claude Debussy. Der untere Teil der Spielfläche ist grün gekachelt wie ein Pool im Schwimmbad. Anna Viebrock deutet an, dass bis hierhin das Wasser steigen und alles überschwemmen könnte. In einer Skulpturenhalle bekommen die Modelle eine andere Bedeutung. Sie sind nun nicht mehr Arbeitsgrundlage für Inszenierungen, sondern Kunstwerke aus eigenem Recht. „Oft werden die Modelle bei Präsentationen in schwarze Kästen gepackt“, erzählt Anna Viebrock. „Dann wirken sie wie Puppenstuben. Hier im Raum haben sie die Aura von Skulpturen.“ Ein Bühnenbild – zur Oper „Pique Dame“ von Peter Tschaikowsky – zeigt sie auf einer Drehscheibe, damit auch die Rückseite des Bühnenbilds zu sehen ist. Die Ausstrahlung der Rückseiten fasziniert die Bühnenbildnerin schon seit langem. Es ist nicht das erste Mal, dass Anna Viebrock ihre Modelle in einer Ausstellung zeigt. Vor sieben Jahren hat sie eine große

In einer Skulpturenhalle bekommen die Modelle eine andere Bedeutung und sind Kunstwerke aus eigenem Recht. Schau in der Fondazione Prada in Venedig zusammen mit dem Filmemacher und Autor Alexander Kluge und dem Fotokünstler Thomas Demand entwickelt. Und es ist wunderbar, dass so Bühnenbilder als Kunstwerke wahrgenommen werden. Vielleicht wäre es eine Idee, auch im Theateralltag Begehungen zu organisieren. Denn ein Bühnenbild vermittelt schon an sich viel von dem, was darin passiert oder passieren könnte. Viele Theater wollen sich ja auch tagsüber öffnen und Besuchern etwas jenseits der Vorstellungen bieten. Da könnten Bühnenbilder – und auch Kostüme – eine zentrale Rolle spielen. Wer die Kunst von Anna Viebrock in körperlicher Nähe erleben möchte, muss nun allerdings nach Neuss fahren, in die Skulpturenhalle. Immerhin bleibt die Ausstellung bis zum 30. März 2025 geöffnet. Dann droht auch dem „Giuditta“-Bühnenbild die Verschrottung. „Wenn jemand was haben will“, sagt Anna Viebrock, „kann er dann kommen und es sich mitnehmen. Sonst landet es ja eh im Müll.“ T

PISQUE DAME, M 1:25, 2017 45 x 88 x 85 cm

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Energie für die Hörspielzukunft Das Berliner Hörspielfestival feierte mit dem Thema „Hokuspokus“ 100 Jahre Hörspiel Von Laura Weinheimer

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Fotos Golo Föllmer

Andreas Ammer & Driftmachine feat. Rumpeln im Rahmen des Berliner Hörspielfestivals

1924 erfand Hans Flesch das erste Hörspiel: „Zauberei auf dem Sender“. Somit war „Hokuspokus“ der naheliegende thematische Rahmen für das diesjährige Jubiläumsfestival. Aber nicht nur um die Geschichte des Hörspiels, sondern auch um die Frage nach seiner Zukunft ging es. In der Eröffnungrede sprach Kathrin Röggla in der gastgebenden Akademie der Künste die Kürzungen im Rundfunk an. Diese Kunstform hat es nicht so leicht wie ihre populäreren Geschwister Literatur und Film, so Jochen Meißner in seinem Beitrag. In dem dreitägigen Programm wird dann schnell wieder klar, was das Hörspiel zu bieten hat: eine Zuflucht. Vielleicht kommt es noch aus Kindertagen, das Lauschen einer Geschichte verursacht diese einzigartige Gefühlsmischung von Neugier und Entspannung. Es gibt äußerlich nichts zu tun, doch im Inneren bewegen sich die Bilder. Das ist kein passiver Vorgang, als Hörer:in ist man gefragt, den Faden nicht zu verlieren oder ihn vielleicht erst einmal zu finden. Von morgens bis spät in die Nacht gab es Workshops, Live-Performances, Austellungen, Führungen, Podiumsgespräche und Netzwerktreffen. Im Zentrum stehen aber vor allem die vier Wettbewerbe, die sich durch unterschiedliche Längenvorgaben auszeichnen. Während in der längsten Kategorie, dem langen brennenden Mikro, eine Fachjury über das Gewinnerstück entscheidet, sind es bei allen anderen drei Wett­ bewerben Publikumsabstimmungen am Tagesende. Der Mikroflitzer ist die kürzeste Hörspielkategorie mit einer maximalen Dauer von 60 Sekunden pro Stück. Für die Einreichung der Audios gab es im Unterschied zu den anderen drei Kategorien nur zwei Wochen Produktionszeit und folgende Vorgaben: Der Satz „Ich kann nicht abschalten“ sollte darin enthalten sein und ein Geräusch, das sich auf die „Erschaffung eines neuen Momentes“ bezieht. Beide Zitate stammen aus Fleschs Hörspiel von 1924. Gewinner des Mikroflitzers ist in diesem Jahr Nic Romm mit „Kassenpatientin“. Darin zu hören ist eine Frau, die an der Kasse arbeitet und dem permanenten Piepen des Preisscanners ausgesetzt ist. Dass Romm dieses Jahr mit zwei Stücken in unterschiedlichen Wettberwerben vertreten war, spricht für die anonyme Auswahl der Wettbewerbs­ teilnehmenden.


Magazin Bericht Das glühende Knopfmikro vereint kategorisch Hörstücke bis maximal fünf Minuten, diesmal stehen zwölf zur Auswahl. Manche entziehen sich gänzlich einer klaren erzählerischen Dramaturgie, sind irritierend bis hin zur akustischen Provokation. Ein Stein, eine Brille oder ein Aal bilden Ausgangspunkte einer akustischen Reise, einmal ist es nur ein „O“. Am Ende gewinnt „Warteschleifenroulette“ von Pit Schaaf das glühende Knopfmikro. Das Stück handelt von einem Mann in der telefonischen Warteschleife, der ungewollt in ein Roulettespiel gerät. In abrupten Wechseln beginnt er mit anderen Wartenden unterschiedliche Gespräche. Das kurze brennende Mikro versammelt Stücke von fünf bis 20 Minuten. Dieses Jahr hat „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist am unglücklichsten im ganzen Land?“ von Sabine Zieser und Andrea Maria Erl den ersten Platz belegt. Die Aufnahmen sind in Zusammenarbeit mit dem Nürnberger Theater Mummpitz entstanden und darin kommen Kinder zu Wort, die „aus einer anderen sozialen Lage“ stammen, sagt Sabine Zieser. Sie beschäftigen sich krea-

tiv mit dem Gefühl des Unglücklichseins. ­Rührend sind zum Teil ihre Antworten, die sich auf ihren Schulalltag beziehen oder ihre Erfahrungen mit Liebe und Freundschaft. Mit dem langen brennenden Mikro stehen die längsten Hörstücke im Wettbewerb, mit einer Dauer von 20 bis maximal 60 Minuten. Der Jurypreis ging dieses Jahr an „Fatzer Versuch #1“ von Anderer Kunstverein e. V., dessen Konzeption und Regie von Ferdinand Klüsener stammt. Innerhalb einer Workshopserie berichten Kinder und Jugendliche über ihre Kriegserfahrungen. Diese Berichte werden mit Teilen aus Brechts „Fatzer“ verbunden. „Wo Fatzer noch die Möglichkeit hat, aus dem Panzer auszusteigen, wird ein syrischer Soldat buchstäblich in einem Panzer festgekettet, um ihn zu zwingen, eine Straße mit spielenden Kindern zu beschießen. Es ist dieser Einbruch des Realen in das Spiel, der hier inszeniert wird. [...] Authentizität und Autotune sind die Pole, zwischen denen sich dieses Stück bewegt“, sagt Juryvorsitzender Jochen Meißner über das ausgezeichnete Stück. Auch wenn hier die Hörspielvielfalt und akustische Leidenschaft intensiv gefeiert

Die Störung ist wichtig als Freiraum künstlerischer Arbeit. Auch in weiteren 100 Jahren Hörspiel.

werden, bleibt die Frage nach der Hörspielzukunft. Mit dem Untergang eines linearen Radioprogramms stünden die störenden Überraschungseffekte eines unerwarteten Hörstücks auf dem Spiel. Aber gerade die Störung sei so wichtig, mahnt man während der Podiumsdiskussion. Denn sie zeuge von Freiräumen, in denen oft der Beginn einer künstlerischer Arbeit steckt. „Am Anfang war das Experiment“, sagte Hans Flesch und mit der unabhängigen Hörspielszene wird die Geschichte des Hörspiels auch in weiteren 100 Jahren wohl nicht enden. T

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SPIELZEIT

2024 2025

PREMIEREN

WIEDERAUFNAHME NORWAY.TODAY VON IGOR BAUERSIMA PRIMA FACIE VON SUZIE MILLER DER GEFLÜGELTE FROSCHGOTT VON INGRID LAUSUND FREMD REPERTOIRE VON MICHEL FRIEDMAN GASTSPIELE LÉLÉ VON SATHYAN RAMESH KINDER- UND JAMES BROWN TRUG JUGENDSTÜCKE LOCKENWICKLER VON YASMINA REZA AHOI! LALE ANDERSEN – LEBEN, LIEBEN, LIEDER ZUM SPIELPLAN 2024/2025 VON RAINER LEWANDOWSKI

kleines theater KAMMERSPIELE Landshut


Magazin Bücher

Fragmente der Düsseldorfer Freien Szene Von Henning Fülle

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Über die ältere Geschichte der freien Theaterszene in Düsseldorf – heute mit dem Forum Freies Theater (FFT) und dem tanzhaus nrw durchaus renommiert – ist wenig bekannt. Dabei hatte schon Anfang der sechziger Jahre Ernest Martin, der aus dem Umfeld des New Yorker Living Theatre nach Deutschland gekommen war, mit seiner Gruppe Die Bühne als Pionier aufsehenerregendes freies Theater produziert. Dessen Würdigung durch Karl Heinz Bonny, der auf eigene Kosten ein Buch herausgegeben hatte (Freies Theater im Westen – Ernest Martins „Die Bühne“, Norderstedt 2018), das 2019 im Düsseldorfer Theatermuseum vorgestellt wurde, brachte Jörg U. Lensing und Jens Prüss auf die Idee zu der vorliegenden Arbeit. Sie führten zahlreiche Interviews mit Protagonist:innen der frühen Düsseldorfer Szene und ließen sie ihre Geschichten erzählen. Das daraus entstandene Buch zeigt allerdings schlagend, wie sehr „Oral History“ der Kontextualisierung und Kommentierung bedarf, um dem Anspruch zu genügen, den Sascha Förster, Leiter des Düsseldorfer Theatermuseums, in seinem Vorwort leider zu Unrecht reklamiert: Die Herausgeber hätten ein „Gedächtnis für die vielen Akteur*innen der Düsseldorfer Darstellenden Künste“ geschaffen. Prüss und Lensing haben die Erzählungen zerstückelt und so versucht, sie im Zeitablauf zu einem Szenario der Entwicklung zu verdichten. Doch so ist nur ein Flickenteppich von anekdotischen Geschichts- und Erinnerungsschnipseln entstanden, mit dem die Akteur:innen von damals, schwach lektoriert, die „alten Geschichten“ ihrer Projekte, Hoffnungen, Illusionen und Konflikte, ihr Gelingen oder Scheitern noch einmal erzählen. Anstelle eines Panoramas des „anderen Theaters“ im Handgemenge mit der Stadt, das der Titel suggeriert, wird vielmehr dessen Einbettung in den Dschungel sichtbar, der mit der – nach heutigen Maßstäben opulent ausgestatteten – Förderung des Strukturwandels in NRW entstanden ist. Damit wurde es zur Hauptqualifikation der Akteur:innen der freien Szene, sich in diesem Gestrüpp erfolgreich zu bewegen: Entscheider:innen und Zugänge kennen, Richtlinien verstehen, Antragskonjunkturen (frühzeitig) erahnen und mit Konzepten („Antragslyrik“) bedienen und so die eigenen Projektschäfchen auch gegen Konkurrenz und Widerstände ins Trockene bringen. Solche Ge-

schichten vom Kampf ums Überleben, die zuweilen auch noch peinliches bis ekliges Kneipengeschwätz von damals wiederkäuen, sind überreichlich „dokumentiert“. Von Kunst und ihrer Vermittlung ist kaum die Rede. Sogar als bloßer Materialsteinbruch für eine – zweifellos äußerst sinnvolle! – systematische Aufarbeitung der Düsseldorfer Entwicklungen ist das Buch kaum brauchbar, da das „Glossar“, das Personen und Institutionen listet und – schon auf den ersten Blick – einige Fehler enthält, keine Rückverweise auf die Seiten zieht, auf denen die Namen und Begriffe im Buch vorkommen. Eine Zeittafel sucht man ebenfalls vergebens und der im Impressum abgedruckte Link zu den Audio-Files der Interviews führt leider nur zu einer leeren Soundcloud-Datei … (Stand Ende August 2024) So bleibt das gut gemeinte Werk leider ein Trauerspiel, das die höchst lebendige Düsseldorfer Szene nicht verdient hat. T Jörg U. Lensing, Jens Prüss (Hrsg.): Die Bretter, die die Stadt bedeuten. 50 Jahre freie darstellende Künste in Düsseldorf, Düsseldorf, Droste Verlag, 2024, 336 S., € 29,90

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Theater der Zeit 10 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Laura Weinheimer (Hospitanz), Rebecca Preuß (Hospitanz) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 10 / 2024 Anna Bertram, Journalistin, Zürich Jörg Bochow, Dramaturg, Dresden Henning Fülle, Dramaturg und Kulturforscher, Berlin Michal Hvorecky, Schriftsteller, Bratislava Burghart Klaußner, Schauspieler und Regisseur, Hamburg Christoph Leibold, Kritiker und Redakteur, München Iwona Nowacka, Übersetzerin, Szczecin Svenja Plannerer, Psychologin und Kritikerin, Nürnberg Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Sophie-Margarete Schuster, Autorin, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 10, Oktober 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.09.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau 11/ 2024 Foto Marcella Ruiz Cruz

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Der Regisseur FX Mayer

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. November 2024 Am 5. November sind Wahlen in den USA, für TdZ Anlass für einen Amerika-Schwerpunkt: Theresa Buchheister berichtet über neue Trends der New Yorker Szene, dazu Regiegespräche und ein Vorabdruck aus Judith Malinas „Notizen zu Piscator“. Außerdem Ottessa Moshfeghs US-Bestseller „My Year of Rest and Relaxation“ auf ­Bühnen in Graz und München.

Theater der Zeit 10 / 2024

Im Porträt: Der österreichische und inzwischen weit und viel reisende Regisseur FX Mayr, ein Experte für neue Texte.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Thomas Irmer

Sie haben der Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, einen Brief geschrieben mit der Frage, wie sich die Streichung der Förderung für die sieben internationalen Produktionshäuser der Freien Szene in Deutschland begründet. Eine Antwort gab es nicht, aber inzwischen haben die betroffenen Institutionen wie das Berliner HAU, Kampnagel Hamburg, der Frankfurter Mousonturm, PACT Zollverein in Essen und Hellerau Europäisches Zentrum der Künste in Dresden sich zu einem Statement-Protest zusammengefunden. Was ist da abgelaufen? AK: Zum zehnten Geburtstag wurden dem Bündnis der „Ankerinstitutionen“ der Freien Szene komplett die Gelder gestrichen und die sowieso nicht sehr üppigen Mittel des Fonds Darstellende Künste halbiert. Es trifft uns also ein doppelter Schlag. Die Freie Szene ist ja ein komplexes Ökosystem, die Finanzierung unserer Projekte kann nur durch eine Vielzahl von Quellen realisiert werden, es arbeiten fast immer mehrere ­Institutionen zusammen. Es geht insgesamt um zehn Millionen Euro, die aus einem kleinen Fördertopf komplett in einem großen Topf für die riesige nationale Stiftung Preußischer Kulturbesitz verschwinden sollen. Was könnte das Motiv gerade in der aktuellen Situation von Ampel-Krise und Nachwahldiskussionen sein? AK: Warum eine „Fortschrittskoalition“ schon heute eine Kulturpolitik betreibt, die man erst morgen von der AfD erwarten würde? Es findet tatsächlich nicht nur kein Fortschritt statt, sondern ein massiver Rückschritt. Ich zögere, das „reaktionär“ zu nennen, ich würde es lieber als „regressiv“ bezeichnen. Man schließt sich der weitverbreiteten Sehnsucht an nach einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat: „Schlösser und Gärten“ statt radikaldemokratische Zukunftslabore.

Alexander Karschnia, Autor, Kurator und Mitbegründer des Berliner Theaterkollektivs andcompany&Co. Er schreibt über und für Theater, von Brecht bis Pollesch, und hat zuletzt das Buch „Exit, Voice, and Loyality“ mit Texten von Albert O. Hirschman herausgegeben. Seine Arbeiten zwischen Wissenschaft, Kunst und Aktivismus umfassen Lecture Performances und Diskursreihen wie „Die Vierte Sache“ an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

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Muss man denn erklären, dass international bekannte Akteure der Szene wie auch wichtige Festival-Ko-Produktionen und damit sehr viel mehr als diese Häuser betroffen sind? Im Kontext der internationalen Szene kann es passieren, dass eine Abschlussarbeit plötzlich in Brüssel auf dem Kunstenfestivaldesarts gezeigt wird, wie es uns mit „little red (play): ‚herstory‘“ passiert ist. Vielleicht wird die Drastik im Auto-Exportweltmeister-Land besser verständlich, wenn

man sagt: Hier wird im kritischen Moment der Transformation die Abteilung für Forschung und Entwicklung gestrichen. Stattdessen findet ein Oldtimer-Rennen statt. Besteht trotzdem die Aussicht, dass etwas korrigiert wird? Die Kürzung bzw. Streichung ist Teil eines Haushaltsplans, der wahrscheinlich auch symbolisch Ländern und Kommunen signalisieren soll, fahrt in der Kultur wieder runter, es kommt noch schlimmer. AK: Genau. Aber die Regierung hat den Gegenwind unterschätzt. Die Petition „An der Freien Kunst zu sparen, kostet zu viel!“ hat über 36.000 Unterstützer:innen gefunden! Da ist einiges in Bewegung gekommen: Das BKM hat zum Austausch eingeladen, im November wird das im parlamentarischen Rahmen verhandelt. Was klar geworden sein sollte: Wer sich mit der Freien Szene anlegt, kriegt es mit den progressiven Teilen der Zivilgesellschaft zu tun. Es geht ja nicht nur um uns Künstler:innen, mit uns sind weite Teile der Gesellschaft unmittelbar verbunden, z. B. Schulen, Bildungs- und andere kommunale Einrichtungen. Die AfD hat das verstanden, Claudia Roth offensichtlich nicht. Mein Mantra seit Monaten: Wer in dieser Situation an den Freien Künsten spart, schwächt die Demokratie! Sie sind mit Ihrer eigenen andcompany&Co., die mit ihren Produktionen auf die genannten Häuser und auch auf deren internationale Arbeit setzt, direkt betroffen. AK: Natürlich! Wir arbeiten lokal fokussiert und sind zugleich international aufgestellt. Die Reichweite unserer Arbeit wird immer noch unterschätzt: Doch internationale Kooperationen werden immer schwieriger. Schon vor Jahren ist „House on Fire“, das Bündnis internationaler Produktionshäuser auf europäischer Ebene, abgeschafft worden. Das war ein harter Schlag. Jede Sonntagsrede über das europäische Projekt beginnt mit dem Eingeständnis, die Vernachlässigung der kulturellen Zusammenarbeit sei der Geburtsfehler der EU. Dann das … Abschottung funktioniert offensichtlich auch ohne sogenannte Rechtspopulist:innen. Das trägt zur allgemeinen Verwirrung bei. Daher beschäftigen wir uns zurzeit mit der mächtigsten politischen Bewegung unserer Zeit, dem „Konfusionismus“. Ist es auch Wahnsinn, so hat es dennoch Methode. T

Theater der Zeit 10 / 2024

Foto I. Helen Jilavu

Was macht das Theater, Alexander Karschnia?


ITZ NOT THE END TÜBINGER TAGE NEUER DRAMATIK Bruch/Stücke - Lesung unfertiger Theatertexte IM OFFICE (UA) von Elisabeth Pape

11.10. ab 12.10.

Von Heute und Morgen erzählen - Podiumsdiskussion 13.10. MEHR MENSCH ALS MEERMENSCH von Peer Mia Ripberger

itz-tübingen.de

ab 18.10.


Premiere am 26. September 2024

The Lobster

Deutsche Erstaufführung nach dem Film von Yorgos Lanthimos und Efthimis Filippou Regie: Lucia Bihler

Premiere am 28. September 2024

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung Deutsche Erstaufführung nach dem Roman von Ottessa Moshfegh Regie: Katharina Stoll

Premiere am 9. Oktober 2024

fünf minuten stille

Uraufführung von Leo Meier von und mit: Jan Meeno Jürgens, Steffen Link, Liv Stapelfeldt und Anne Stein

Premiere am 24. Oktober 2024

Lichtspiel

Uraufführung nach dem Roman von Daniel Kehlmann Regie: Christian Stückl

KARTEN 089.523 46 55 / WWW.MUENCHNER-VOLKSTHEATER.DE

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