TdZ 10/2023 – Theater in Slowenien / Karin Beier: Antike als große Geste

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Theater der Zeit Theater in Slowenien

Mit

Alexander Eisenach Burghart Klaußner Maciej Nowak Alja Predan Petra Vidali Yannic Han Biao Federer Lena Gorelik Marisa Wendt Leonie Lorena Wyss

Oktober 2023 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Karin Beier

Antike als große Geste


PREMIEREN OPER

2023 – 24

Mo

30.10.23

LE NOZZE DI FIGARO Wolfgang Amadeus Mozart

Evgeny Titov, Stefano Montanari

Sa

23.12.23

DIE FLEDERMAUS Johann Strauß

Barrie Kosky, Vladimir Jurowski

So

4.2.24

PIQUE DAME Pjotr I. Tschaikowski

Benedict Andrews, Aziz Shokhakimov

So

10.3.24

DIE PASSAGIERIN Mieczysław Weinberg

Tobias Kratzer, Vladimir Jurowski

Mi

24.4.24

LUCREZIA / DER MOND Ottorino Respighi / Carl Orff

Tamara Trunova, Azim Karimov

Mo

20.5.24

TOSCA Giacomo Puccini

Kornél Mundruczó, Andrea Battistoni

Fr

28.6.24

LE GRAND MACABRE György Ligeti

Krzysztof Warlikowski, Kent Nagano

Di

9.7.24

PELLÉAS ET MÉLISANDE Claude Debussy

Jetske Mijnssen, Mirga Gražinytė-Tyla

Bayerische Staatsoper

Infos / Tickets tickets@staatsoper.de

T +49(0)89.21 85 1920 staatsoper.de


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schauspIelhaus Uraufführung

VO N e I N e M F raueN zIMMer Bürgerliches Trauerspiel von Christiane Karoline Schlegel Regie: ANNE LENK

Österreichische Erstaufführung in Kooperation mit dem steirischen herbst

s O NNe / luFT von Elfriede Jelinek Regie: EMRE AKAL

sch au sp Ie lh au sg r az

BÜ hN eNBeschIMp FuN g

(Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?) von Sivan Ben Yishai Regie: SCHIRIN KHODADADIAN

schW aBgasse 9 4 Eine Hommage an Werner Schwab Regie: DAVID BÖSCH Österreichische Erstaufführung

D e r N eB el VON DYB e r N

Drama von Maria Lazar Regie: JOHANNA WEHNER

prIMa FacI e Ein Kreuzverhör von Suzie Miller Regie: ANNE BADER

Eine Mini-Serie nach Ovid Regie: ANNA-ELISABETH FRICK

Eine innenpolitische Abrechnung in 5 Folgen vom Institut für Medien, Politik und Theater Regie: FELIX HAFNER

Lustspiel von Georg Büchner, Rebekka David & Ensemble Regie: REBEKKA DAVID

Posse mit Gesang von Johann Nestroy Regie: ULRIKE ARNOLD

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D e r zerrI sseN e

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Uraufführung

DIe parTY Ein kulinarischer Ritt durch die Nacht nach dem Roman von Ulrike Haidacher

Uraufführung

2 8 M I l l Ia r DeN von Paula Kläy & Guido Wertheimer Regie: BASIL ZECCHINEL

s e h r s ch Ö N uN D sehr TOT Eine musikalische Séance von Rebekka David, Gina Henkel & Ensemble Regie: REBEKKA DAVID

In Kooperation mit dem DRAMA FORUM Graz

D r a Ma | T I s c h Shared Reading-Reihe

s c h a u l a u Fe N Einmalige Abende von und mit dem Ensemble

KONsOle

carMIl l a

Eine steirische Vampirkomödie nach Sheridan Le Fanu Regie: LUISE VOIGT

Koproduktion mit der Oper Graz

De r B Ür g e r a ls eDelM aN N Ballettkomödie von Molière und Jean-Baptiste Lully Regie: MATTHIAS RIPPERT

e I N e I N szeNIeruN g von Ewelina Marciniak

Österreichische Erstaufführung

F lI N T rI D g e / D e r Me Ns c h e r s c h e I N T IM h OlODecK Mixed-Reality-Installation von F. WIESEL nach Max Frisch: »Der Mensch erscheint im Holozän«

D I gI T h a l Ia Festival für virtuelle Theaterformen Graz Kuratiert von F. WIESEL

www.schauspielhaus-graz.com


Foto Franziska Götzen

Theater der Zeit Editorial

„Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“ nach Texten von Antonin Artaud in der Regie von Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr Mülheim.

Am 18. Oktober öffnet die Frankfurter Buchmesse ihre Tore, Gastland ist in diesem Jahr Slowenien. Zu den Höhepunkten des Programms jenseits der Bücher gehört der Auftritt der slowenischen Band Laibach in der Frankfurter Jahrhunderthalle am 19. Oktober. Laibach war einst Teil einer Untergrundkunstbewegung mit dem deutschen Namen Neue Slowenische Kunst, kurz NSK, die auch wesentlich zur Entwicklung der Performance-Szene in dieser jugoslawischen Teilrepublik und darüber hinaus beitrug. Später gehörte beispielsweise die Berliner Volksbühne zu den assoziierten Mitgliedern. Einen Schwerpunkt Slowenien, kuratiert von der Dramaturgin und einstigen Leiterin des slowenischen Theatertreffens Alja Predan, gibt es auf den Seiten 12 bis 26 bzw. noch erweitert im Online-Dossier zu Slowenien auf tdz.de. Karin Beier empfing zum Gespräch nur wenige Tage vor der ersten Premiere ihres Antikenzyklus „Anthropolis“, an dem sie insgesamt zwei Jahre geprobt hat. Für unseren Fotografen Nikolaus Stein ließ sie die lebensgroße Tierplastik einer Kuh, zentrales Symbol des Fünfteilers um

Theater der Zeit 10 / 2023

die Stadt Theben, in das Foyer des Deutschen Schauspielhaus Hamburg legen – siehe Titelbild. Lesen Sie das Gespräch auf den Seiten 28 bis 33. Der lange Sommer der Festivals endete mit dem Kunstfest Weimar, das Thüringen-Redakteur Michael Helbing bilanziert, und dem Sommerfestival auf Kampnagel Hamburg, von dem Peter Helling berichtet. (S. 64–69) Diese großen Festivals sind nicht nur Publikumsmagnete, sie belegen damit außerdem, wie das Theater auch im internationalen Bereich zu einer Normalität nach Corona zurückgefunden hat. Im letzten Jahr sah das noch anders aus. Ein anderes, weniger bekanntes Mehrsparten-Festival ist das Lausitz Festival, dessen temporäre Spielorte sich durch die östlichen Teile Brandenburgs und Sachsens ziehen. In Weißwasser, früher ein wichtiger Ort der Glasindustrie, wurde dafür ein Areal auf bemerkenswerte Weise erschlossen. Eine Bilddokumentation als Kunstinsert, erläutert von Tom Mustroph, auf den Seiten 34 bis 39. Der Retzhofer Dramapreis zählt seit nun schon zwanzig Jahren zu den wichtigsten Nachwuchswettbewerben für szenisches Schreiben. Das Schloss Retzhof in der Steiermark war der Start für die ­Karrieren von Gerhild Steinbuch, Ewald Palmetshofer, Ferdinand Schmalz und Thomas Perle. Die Arbeiten der diesjährigen Preisträger:innen – Leonie Lorena Wyss, Yannic Han Biao Federer und in der Kategorie für junges Publikum: Lena ­Gorelik, Marisa Wendt – werden im Stückabdruck vorgestellt. (S. 40–58) Aktuelle Kritiken und Dossiers zu den Themen des Heftes wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Ensemble von „Knitting Peace“ von Cirkus Cirkör aus Schweden, Inszenierung von Tilde Björfors

Thema Theater in Slowenien 14 Essay Vom toten Huhn bis zu den Millennials Ein Überblick des Theaters in Slowenien heute Von Alja Predan

20 Essay Mateja Koležniks „Kinder“ Der Auftritt der jüngsten Regiegeneration in Slowenien Von Petra Vidali

Weitere Texte zum Thema finden Sie im Dossier Theater in Slowenien unter tdz.de Theaterregisseurin Karin Beier

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Theater der Zeit 10 / 2023

Fotos links oben Karolina Henke, unten Nikolaus Stein, rechts oben links AWK Engel Albustin, rechts: Wolfang Rappel, unten links Werner Hahn, rechts Wolfgang Rappel

Theater der Zeit


Inhalt 10 / 2023

Akteure 28 Gespräch Theater braucht die große Geste Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhaus Hamburg und Regisseurin des Antiken-Zyklus „Anthropolis“ Im Gespräch mit Peter Helling und Thomas Irmer

34 Kunstinsert „Die Glaswanne darf nie kaltlaufen“ Wie die einstigen Osram-Werke im sächsischen Weißwasser zum Kunstort wurden Von Tom Mustroph

Diskurs & Analyse 60 Serie Warum wir das Theater brauchen #07 Theater als Raumschiff Von Alexander Eisenach

Stück 40 Stücke Retzhofer Dramapreis 42 „SagdochmalLuca“ Von Lena Gorelik

46 „Drive in“

Von Yannic Han Biao Federer

50 „Emily weint doch nie “ Von Marisa Wendt

Report

54 „Muttertier“

Von Leonie Lorena Wyss

64 Weimar Existenzfragen in Weimar Ein Kunstfest mit Wilson und Walser, Koohestani und Suleiman Von Michael Helbing

68 Hamburg Urbanes Fieber Das Internationale Sommerfestival in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel Von Peter Helling

70 Mülheim an der Ruhr Anfang und Abschied in Mülheim Das Theater an der Ruhr erfindet sich mit einem großen „Rausch“Projekt neu und erinnert ergreifend an die verstorbene Schauspielerin Simone Thoma Von Stefan Keim

Magazin 6 Bericht Erzählungen über die Unmöglichkeit Von Tom Mustroph

8 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Stefan Keim, Theresa Luise Gindlstrasser, Thomas Irmer und Nathalie Eckstein

10 Kolumne Bist du’s noch oder spielst du schon? Von Burghart Klaußner

76 Buch Schwarz. Deutsch. Aktivistisch Von Friedrike Felbeck

78 Bericht Eine Reise nach Würfeln gewinnt Von Thomas Irmer

80 Was macht das Theater, Maciej Nowak? Im Gespräch mit Thomas Irmer

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: ixypsilonzett – Theater für junges Publikum

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3 Editorial 74 Verlags-Ankündigungen 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

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Magazin Bericht

Erzählungen über die Unmöglichkeit Das Karlsruher Atoll-Festival präsentierte einige von Europas schönsten Programmen des Zeit­genössischen Zirkus Von Tom Mustroph

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hin zur Realisierung begleitet werden. Circusnext operiert Europa-weit mit insgesamt 28 Partnern. „Der große Reiz für Gruppen gerade in Deutschland besteht in den vielen Möglichkeiten des Netzwerks, an einem neuen Stück zu arbeiten. Es gibt Residenzen und Mentoringprogramme. Vor allem werden Veranstalter auf einen aufmerksam“, erzählt Bernd Belschner, künstlerischer CoLeiter vom Tollhaus wie auch vom Festival. Generell zeigten sich Belschner und sein Team gegenüber Theater der Zeit optimistisch über die stetige Entwicklung des neuen Zirkus in Deutschland, die sich in mehr Projektanträgen, mehr Produktionen und gestiegener Qualität der Projekte selbst äußere. Sorgen bereitet ihnen indes, dass auf absehbare Zeit die öffentlichen Zuschüsse für neuen Zirkus eher nicht weiter steigen werden, die Kosten aber zunehmen. Der etwa 240.000 Euro umfassende Etat des Festivals wurde aus einem Drittel aus öffentlicher Förderung bestritten. Das zweite Drittel kommt von privaten Sponsoren, das letzte Drittel durch Eintrittsgelder. Da hilft ein fünfhundert Personen fassender Saal. Er will aber auch gefüllt werden, durch ein Publikum, das während der acht Jahre Festival mitwuchs und immer offener für Experimente wurde. Vom Theaterpreis des Bundes für das Berliner Chamäleon erhofft sich Belschner einen Impuls auch in der Theaterlandschaft allgemein. In der Kategorie der Freien Produktionshäuser ist mit dem Leipziger Lofft ein zweites Haus, das Produktionsmöglichkeiten für Zeitgenössischen Zirkus schafft, zum Theater des Bundes gekürt worden. Nur in der Kategorie der Stadttheater klafft noch eine Lücke, was die programmatische Öffnung zum Zeitgenössischen Zirkus betrifft. T

Foto Karolina Henke

„Knitting Peace“ von Cirkus Cirkör (Schweden), Inszenierung von Tilde Björfors

Der Zeitgenössische Zirkus wächst. Er gewinnt an Qualität und auch an Anerkennung. Das Berliner Chamäleon wurde kürzlich mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. Und beim nun schon zum achten Mal ausgetragenen Festival Atoll in Karlsruhe war trotz der Fußballkonkurrenz des Südwestderbys zwischen dem Karlsruher SC und dem 1. FC Kaiserslautern der mehr als fünfhundert Personen fassende Saal des Tollhaus dicht besetzt. Auf die Bühne hatte die belgische Compagnie Circumstances ein eigenwilliges Akrobatik-Instrument installiert. Fünf Wände mit fünf Türen bildeten eine verwinkelte zweistöckige Struktur. Sie spuckte in immer neuen Konstellationen vier Akrobaten aus. Der komplette Reiz der Konstruktion entfaltete sich aber erst, als die zentrale Wand um ihre Mittelachse gedreht wurde. Sie rotierte, einem riesigen Schaufelrad gleich, lud die Künstler auf, ließ sie hinuntergleiten. Und auf dem Höhepunkt der Show „Exit“ hielten die vier Männer nur dank Positionierung und Körperbeherrschung die gigantische Platte in einem waagerechten Schwebezustand. Wenn Zirkus bedeutet, das Unmögliche zu versuchen und die Schwerkraft zu überwinden, so besteht die Kunst des neuen oder Zeitgenössischen Zirkus darin, Erzählungen zu kreieren über den Versuch, das Unmögliche zu erreichen. Dafür gab es beim Atoll-Festival viele Beispiele. Das Schweizer Clownduo „Very Little Circus“ erzeugte mit sehr einfachen Mitteln und skurrilem Humor die Illusion eines ganz großen Zirkusuniversums. Die ebenfalls aus der Schweiz kommende Compagnie Roikkuva erschuf in „Empire of Fools“ mit einer Vielzahl an Musikinstrumenten, Akrobatik und Jonglage sowie der wohl kleinsten – und manuell betriebenen! – Drehbühne der Welt einen poetischen Raum, in dem das Publikum ein von Minute zu Minute immer feiner werdendes Sensorium für das Erspüren der Schönheit von Vergeblichkeiten herausbildete. Wes Peden ließ in „Rollercoaster“ mit aufblasbaren Elementen, einer dynamischen Lichtshow und durch die Luft fliegenden Bällen, Reifen und Keulen die rasanten Fahrgeschäfte der alten Jahrmärkte wiederauferstehen. 14 größere Produktionen umfasste das Festival. Programmfenster gab es für Work in Progress-Präsentationen neuer Projekte, die im Rahmen der Netzwerke Zirkus On und circusnext entstehen. Bei Zirkus On werden deutschlandweit jedes Jahr drei Projektideen ausgewählt, die zwei Jahre lang bis

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DIE HUNDEKOTATTACKE

Ein Stück über Finsternis, Schönheit und Vergebung, basierend auf einer wahren Begebenheit. Ab 27. Oktober 2023 · Regie: Walter Bart · In Kooperation mit Wunderbaum.


Magazin Kritiken

Fast Faust

Torsten Kindermann, Ruben Philipp, Video Florian Schaumberger

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argarete Faust ist Professorin für Gender Studies. Ihre Studierenden sind von ihr begeistert, aber sie bekommt eine Menge gemeiner Hassmails. Die Gesellschaft ist nach rechts gerückt, da entsteht Druck von vielen Seiten. In Frau Faust wächst die Sehnsucht nach Entspannung und erotischen Erlebnissen. Auftritt Mephisto, hier sieht er die Chance für einen Pakt. Seele gegen Genuss. „Neues Deutsches Theater – under construction“ heißt das Motto, das die neuen Intendantinnen des Essener Schauspiels – Selen Kara und Christina Zintl – über ihre erste Spielzeit gestellt haben. Zu Beginn greifen sie zurück auf das Symbolstück des alten deutschen Theaters, den „Faust“. Fatma Aydemir hat Goethes Drama feministisch überschrieben und in die Gegenwart geholt. Gretchen gibt es nicht mehr – so ein naives junges Ding, das gerettet werden muss, erscheint der Autorin nicht mehr zeitgemäß. Aber sie hat eine ähnliche Figur namens Karim erfunden. Hier verschmelzen Schüler und Margarete auf originelle Weise. Karim möchte gern Doktorand bei Professorin Faust werden und hat Angst vor einer Abschiebung. Weil sie ihn scharf findet, macht sie ihm Versprechungen und entkleidet sich vor ihm. Ein Übergriff, ein #MeToo-Fall. Fatma

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„Malina“ von Ingeborg Bachmann in einer Bühnenfassung von Claudia Bauer und Matthias Seier am Volkstheater Wien

Volkstheater Wien:

Komplexes WeltIch-Verhältnis am Telefon „Malina“ von Ingeborg Bachmann in einer Fassung von Claudia Bauer und Matthias Seier – Regie Claudia Bauer, Bühne Patricia Talacko, Kostüm Andreas Auerbach, Gesangs-kompositionen, Soundscapes & Musikalische Leitung Peer Baierlein, Soundscapes Igor Gross

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it blonder Perücke, gemustertem Hemd und opulentem Rock kunstvoll zu einer Ingeborg Bachmann zwischen Sekretärin und Kaiserin zurechtgemacht, eröffnet die Schauspielerin Bettina Lieder den Theaterabend vor einem geschlossenen roten Vorhang stehend. Sie stellt die Figuren vor: Neben dem Ich gibt’s den Ivan – er ist das zukünftige Love Interest der Protagonistin –, seine zwei Kinder und den titelgebenden „Malina“. 1971 veröffentlicht, bekommt dieser Roman in einer Fassung von Regisseurin Claudia Bauer und Dramaturg Matthias Seier zur Spielzeiteröffnung am Volkstheater Wien die ganz große Bühne. Abgesehen von einer Handvoll Zitate aus der Literaturkritik in Reaktion auf „Malina“, ist hier aus dem Text Bachmanns zu hören, zweieinviertel Stunden lang. So sehr der Prolog zuerst die Figuren, den Ort und die Zeit der Handlung als dingfest-machbare Identitäten fixiert, so schnell ist es damit auch schon wieder vorbei – Vorhang auf für das „Ungarngassenland“, wo Zeiten, Realitäten, Albträume, Telefongespräche und Briefe in brüchigen Beziehungen zueinanderstehen und Bauer das eine Ich in viele auffächert. Mithin gibt es hier nicht nur einen Doppelgänger Malina, der dem Ich als Mitbewohner und oder als ein in die Außenwelt projizierter Persönlichkeitsanteil gegenübersteht, sondern Malina und Ich werden zu einem Chor der insgesamt sieben Alter Egos. Das Ensemble wechselt einander ab und trotzt dem Staffellauf individuelle Momente des kunstfertigen Sprechens ab, dann wieder vereinen sie die Stimmen, immer präzise artikuliert die Laute, es wird zur Melodie, sie singen, schief, atemlos, zur LiveMusik von Igor Gross, von Alexander Znamenskiy dirigiert. Bald verhüllt von Nebel, dienen die drei Holzkuben, von der Bühnenbildnerin Patricia Talacko wie beleidigt voneinander abgewandt, doch nah an nah platziert, doch vor allem als Projektionsflächen. Unverhältnismäßig auch die Diskrepanz zwischen dem sonst leeren schwarzen Bühnenschlund und der klaustrophobischen Enge innerhalb der Kuben. Das unruhige 70er Jahre Tapeten-Interieur entzieht sich trotz der voyeuristischen Live-Kamera-Bilder dem verstehenwollenden Blick. Lauter Horror und Irrwitz gleichzeitig. // Theresa Luise Gindlstrasser

Theater der Zeit 10 / 2023

Foto links oben Birgit Hupfeld, unten Marcel Urlaub/Volkstheater, rechts oben Luna Zscharnt, unten Gianmarco Bresadola

Aydemir schreibt der Doktormutter Faust hier einen Monolog, der ein bisschen klischeefeministisch klingt: „Mein Körper ist ein Text …“ Aber das Stück kriegt eine große inhaltliche Spannung. Karim zeigt Margarete Faust an, die Professorin landet im Kerker. Genau das hat die rechte Regierung gebraucht, um eine verhasste Gegnerin loszuwerden. Aber hat Karim nicht irgendwie auch recht? „Doktormutter Faust“ ist ein überzeugendes, eigenständiges Werk, eine ver„Doktormutter Faust“ von Fatma Aydemir frei nach ständliche und pointierte Neuerzählung der J.W. von Goethe in der Regie von Selen Kara am SchauGeschichte, angereichert von selbstreflexispiel Essen ven Momenten, die nicht zu sehr in den Vordergrund geraten. Selen Kara inszeniert den Schauspiel Essen: Text konzentriert und fokussiert auf einer fast leeren Drehbühne. Der ganz große Wurf ist diese Eröffnungspremiere noch nicht, da bleibt noch ein bisschen Luft nach oben, „Doktormutter Faust“ von Fatma was Spielenergie und Bilderfantasie angeht. Aydemir (UA) – Regie Selen Kara, Doch ein guter Start für ein anspruchsvolles Projekt ist die Uraufführung von „DoktormutBühne Lydia Merkel, Kostüme ter Faust“ auf jeden Fall. // Stefan Keim Anna Maria Schories, Musik


Magazin Kritiken

Das französisch-deutsche Ensemble von „Extinction“ mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal in der Regie von Julien Gosselin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz:

Im Salon und nach dem Rave „Extinction“ mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal – Adaption und Regie Julien Gosselin, Bühne Lisetta Buccellato, Kostüme Caroline Tavernier, Musik Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde, Video Jérémie Bernaert, Pierre Martin Oriol

steht und in alpenländischen Trachtenkostümen wie im Heimatfilm der 1950er erscheint. Der Text der österreichischen Literatur setzt hier aus. Um mit großer Kraft im dritten Teil zurückzukehren. Rosa Lembeck sitzt auf einem Stuhl, nun in der Rolle des FranzJosef Murau mit einem von Gosselin aus Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“ destillierten vierzig-minütigen Monolog. Die Eltern mit Bruder gerade bei einem Autounfall umgekommen, hat diese Frau Murau sich längst der verhassten Herkunft entzogen und trägt nun – mit bohrenden Fragen statt mit Bernhards Furor – ihre Familiengeschichte vor. Die Stimme wird an manchen Stellen brüchig, die Arme fahren wie von Ratlosigkeit oder Selbstverteidigung geführt immer wieder in die Luft. Berührend und beeindruckend. Julien Gosselin hat auf jeden Fall das Format fürs große Format, das die Volksbühne braucht. Und den Mut für diese disparaten Formen innerhalb eines fünfstündigen Abends. // Thomas Irmer

J

ulien Gosselin ist ein Sampling-Künstler, der in großen Strukturen arbeitet. Es geht mit einem vierzigminütigen Rave auf der großen Bühne los. Bummbumm, bis einer gefilmten jungen Frau gesagt wird, sie solle mal in Wolfsegg anrufen. Folgt ein völlig anderes Format: In feinen Schwarzweiß-Filmbildern besichtigt eine Kamera Tote in einem Salon. Schließlich beginnt – Sommer 1913 – in dem Salon hinter einer breiten Wand ein live gefilmtes Bühnengeschehen, in dem Albertine und Florestan sich für den Maskenball in Schnitzlers „Traumnovelle“ ausgehbereit machen. Gespielt wird von einem großartigen deutsch-französischen Ensemble wie auf einem Filmset, verschiedene Werke Schnitzlers kombiniert. Gosselin nimmt diesen Anlauf, um alles in der donnernden Apokalypse des Ersten Weltkriegs untergehen zu lassen, die wie der Rave am Anfang akustisch über die Zuschauer fegt (Sounddesign Julien Feryn). Worauf die Salongesellschaft wiederaufer-

Theater der Zeit 10 / 2023

„Wolf“ von Saša Stanišić in der Regie von Clara Weyde am Theater Magdeburg

Theater Magdeburg:

Sich dem Übergroßen stellen „Wolf“ von Saša Stanišić in einer Fassung von Clara Weyde und Bastian Losché (UA) – Regie Clara Weyde, Bühne Katharina Philipp, Kostüm Clemens Leander, Musik Thomas Leboeg

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er Wolf ist zurück. Jedenfalls im Mehrbettzimmer im Ferienlager, in das Kemi (Philipp Kronenberg) gegen seinen Willen von Mutter gesteckt wurde – in den Wald nach Brandenburg. Nicht noch ein Stück über Wald, könnte man denken, hat das Thema doch gerade, naheliegenderweise, im Theater Konjunktur. Doch es geht um etwas Anderes in Saša Stanišićs erfolgreichem Kinderbuch, mit dessen Text die Leitung des Schauspiels am Theater Magdeburg (Clara Weyde, Clemens Leander und Bastian Lomsché) die Spielzeit eröffnet. Das Ferienlager ist auf der Bühne, einem flachen Pool, gefüllt mit Wasser, schnell aufgebaut. Ein paar Holzscheite bilden ein Feuer, zwei Bänke, das reicht. Das Bühnenelement des Wassers zeigt das Ausgeliefertsein der Figuren. Nicht aber an die Natur – sondern aneinander. Denn, das wird hier deutlich: Der Mensch ist dem Menschen Wolf. Kemi, der Bäume nur als Schrank super findet und sich eigentlich nur über gute Bücher und ETFs unterhalten möchte, ist ein Klugscheißer. Er redet zu viel, er beschwert sich, er weiß alles besser. Er wäre das Mobbingopfer der Gruppe, wie er selbst sagt, wenn da nicht Jörg (Lorenz Krieger) wäre. Was Kemi klarstellt: Es gibt nichts Eigentliches, das ein Kind zum Opfer macht. Es sind die anderen, die ihn „andersiger“, wie es im Text heißt, machen. Überhaupt – der Text ist klug, witzig, sprachlich spielerisch. Im Wort „Dickicht“ glaubt Kemi schon, die Zecken mit den Zungen schnalzen zu hören. Als dann nachts der Wolf ins Zimmer kommt, sieht man nur seine Augen. Leuchtend und orange. Es bleibt unklar, ob Kemi träumt oder ob er wirklich da ist, doch Jörg scheint ihn auch gesehen zu haben. Der Wolf ist das Übergroße, das Problem, das zu groß für ein Kind ist. Das, das allein nicht zu bewältigen ist, der Klimawandel, das Mobbing. Angesprochen auf das Mobbing in der Gruppe reagieren die Teamer dementsprechend auch mit Überforderung. Eine Lösung muss her. // Nathalie Eckstein

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Bist du’s noch oder spielst du schon? Von Burghart Klaußner

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r hieß Alexander Wagner und schon damals kannten ihn nur die Eingeweihten. Unter diesen gab es wieder zwei Abteilungen. Die einen schätzten ihn als Geschichtenerzähler und zuweilen anstrengenden Trinker, die anderen verblüffte, ja begeisterte er durch sein einzigartiges Talent des Spielens auf der Theaterbühne. Eines verband beide Gruppen. Axel, wie er allgemein nur genannt wurde, ließ die Übergänge zwischen Alltag und Kunst verschwinden. Das Überschreiten der Schwelle gelang ihm völlig unbemerkt. Es war unheimlich. Er konnte als begeisterter Koch, der aber selber nur trank, nicht aß – vom Herd aus also – übergangslos zur Kari­ kierung eines Schauspielers, der ihm missfiel, und von da aus wieder zur Beschreibung eines elegant gelungenen Fußballtores übergehen, ohne dass dieses Berichten zerstreut oder willkürlich oder gar erzwungen erschienen wäre. Im Gegenteil. Seine Kunst bewies die oft übersehene Tatsache der Immanenz aller Dinge. „Was redsdn so gschwoin daher?“, hätte er selbst gesagt, „alles hängt eben mit allem zusammen!“ Alexander Wagner war nämlich Österreicher. Genauer gesagt Salzburger, noch genauer Jenischer, das heißt „Halbzigeuner“, wie man damals sagte. Ein, auch in den späteren Jahren, die vom starken Lebensgenuss gekennzeichnet waren, blendend aussehender, immer mit Sakko und Weste gekleideter, feingliedriger Mann, der auf Frauen einen außerordent­ lichen Eindruck machte. Auf Männer auch. Denn wer ein Gespür für das Poetische in Menschengestalt hatte, für die Möglichkeit der Existenz im Geistigen, ja für die ­Aussicht auf Unsterblichkeit im Künstlertum, musste ihm verfallen. Dabei war Wagner keineswegs etwa nur liebenswürdig. Er war ein gnadenloser Beschreiber von Unzulänglichkeiten und liebte, in seiner Jugend als Schlosserlehrling mit dem Kollegen Thomas Bernhard aus der Kaufmannsbranche befreundet, mit diesem das Monströse, Begriffesprengende, Katastrophische. Doch auf der Bühne, in seinem eigentlichen Element, geschah die Verschmelzung von Alltag und Kunst auf nochmal ganz eigene Weise. Sein Spiel war jederzeit so konkret und tatsächlich, dass man nicht zu sagen gewusst hätte, bist du’s noch oder spielst du schon? Noch die kompliziertesten HölderlinVerse klangen aus Alexander Wagners Mund wie Äußerungen eines Zeitgenossen. Dabei verfiel er keinesfalls der Trivialität, oder zog die Sprache hinab in ein Kumpeldeutsch. Im

Gegenteil. Seine Kunst ließ das Komplizierte einfach klingen, ohne es seiner Eigenart zu berauben. Nur mit Staunen und Bewunderung war das zu verfolgen und stand im Gegensatz zu vielen anderen Angängen, die das Besondere durch das Eigene ersetzten und sich damit brüsteten und hervortaten. Was wunder, dass Wagner alles Manierierte nicht etwa als Virtuosität, sondern als Wichtigtuerei erkannte, die sich vor allem für sich selbst, wenig jedoch um Inhalte scherte. Nichts war ihm verhasster als das Großsprecherische. Jeder Ton eines Kollegen – und meistens waren es Männer – der unglaubwürdig und inhaltslos daherkam, wurde in seinen Erzählungen der Folgezeit einem allgemeinen Gelächter preisgegeben. Geschah es aber während der Probe, stellte Wagner das Spielen-Sein ein. Er ver­ kümmerte unter den Lächerlichkeiten der Eitelkeit oder Dummheit, duckte sich weg und kam wie ein Boxer erst wieder aus der Deckung, wenn sich der Sturm des Tönens gelegt hatte. Dann waren seine leisen Antworten von großer Treffsicherheit und Menschlichkeit. Er besaß eine enorme Liebe zu den Schwachen, den Abgestellten und Verlorenen. Das hatte ihn zu Stärke erzogen. Zu Unduldsamkeit. Plötzlich konnte er vom Tisch aufstehen, um, wie einmal in Frankfurt geschehen, der Nebenrunde, die von Fassbinder angeführt, sich über andere verächtlich machte, ein „Wie redet ihr denn über Menschen?“ entgegenzubrüllen und mit dem Brüllen so lange nicht aufzuhören, bis die Truppe das Lokal verlassen hatte. ­Natürlich half ihm dabei der Alkohol. Und als er schließlich nichts anderes mehr zu sich nahm, verfiel sein Körper vollends und starb doch nicht. So musste sein Herz, als alle Organe erschöpft waren, ab­ gestellt werden, anders hätte der Mann ­keine Ruhe gegeben. Über viele Jahre verging kein Tag, an dem ich nicht wenigstens einmal an ihn dachte. Es war wohl seine Seele, eine Künstlerseele, die mich verfolgte und bis heute fasziniert, weil sie ohne seinen Körper auszukommen schien. Von Otto Sander bekam ich einmal auf meine Frage, von wem hast du am meisten gelernt, die spontane Antwort: „Von Alexander Wagner.“ T Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schriftstellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

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Foto links Thomas Rabsch, Fotos rechts Kaserne Basel: Joseph Kasau, Theater Casion Zug: Dorothée Thébert Filliger, Theater Konstanz: Ilja Mess, Ballhaus Naunynstraße: Zé de Paiva

Magazin Kolumne


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präsentiert Ballhaus Naunynstraße, Berlin „Unconventional Signs – neue postmigrantisch Theatertexte“ hieß die Schreibwerkstatt am Ballhaus Naunynstraße, in der eine ganze Reihe hoch aktueller, politischer Dramen entstanden ist. 27. bis 30.10.

Theater Konstanz In „State of the Union“ von Kultautor Nick Hornby treffen sich Luise (Anna Eger), vielbeschäftigte Ärztin, und Tom (Patrick O. Beck), arbeitsloser Musikkritiker, einmal pro Woche vor ihrer Ehetherapie im Pub, um schonungs- und hemmungslos zu diskutieren. In schnellen, geistreichen, witzigen Dialogen werden die Abgründe und komischen Seiten einer Ehekrise in zehn Sitzungen beleuchtet. Regie: Abdullah Kenan Karaca. theaterkonstanz.de 20.10. (Premiere)

„Giselle…“

Theater Casino Zug Das Meisterwerk des romantischen Balletts in der Regie von François Gremaud, voller Liebe und Enthusiasmus erzählt, getanzt und verkörpert von Samantha van Wissen, ehemaliger Solistin von Anne Teresa de Keersmaeker. Die Produktion der 2b companey wurde 2022 zum Schweizer Theater­ treffen eingeladen. theatercasino.ch 3.11.

Neuer Job?

„Auf dem Mars sieht die Welt so aus“

Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Berlin Musikalische Lesung: Maximilian Hecker präsentiert seinen Debütroman LOTTEWELT und stellt daneben neue Songs aus seinem neuen Album NEVERHEART vor. An seiner Seite: Mark Waschke. 2.11. (Buchpremiere)

GROUP50:50 «Ecosystem»

Mark Waschke und Maximilian Hecker

Kaserne Basel In der Performance «R.I.P. - Rest in Peace» zelebriert Anan Fries die Beerdigung für einen ausgestorbenen Vogel. Mit dem Musiktheater «Ecosystem» holt Group50:50 die Stimmen der größten indigenen Gemeinschaft im Regenwald zum Thema Klimapolitik auf die Bühne. kaserne-basel.ch 12. bis 14.10. (R.I.P.), 18. bis 22.10. (Ecosystem)

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Foto Miha Fras

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Thema Slowenien Slowenien, eines der kleinsten Länder Europas, hat eine lebendige und vielfältige Theaterszene. Neben den Zentren Ljubljana und Maribor gibt es eine Reihe von Stadttheatern, eine freie Szene aller Sparten und ungewöhnliche PerformanceExperimente . Die bekannteste Regisseurin, Mateja Koležnik, arbeitet mittlerweile fast nur noch im Ausland, bleibt aber eine zentrale Figur in den aktuellen Entwicklungen. Im Oktober ist Slowenien Gastland der Frank­ furter Buchmesse. Aus diesem Anlass haben wir drei slowenische Autorinnen und Expertinnen eingeladen, ihr Theaterland vorzustellen. Was denkt die jüngere Generation? Welche maßgeb­ lichen Inszenierungen gab es? Wie sieht es mit der slowenischen Dramatik aus? Folgend ein Überblicksartikel von Alja Predan, Petra Vidali über die Regiegeneration nach Mateja Koležnik und – exklusiv im TdZ-Online-Dossier Theater in Slowenien – Zala Dobovšek über neue post­ dramatische Texte.

Performance im Weltraum: „Gravitacija Nić Noordung“ (Gravitation Null Biomechanik Noordung – Abschiedsprozess). Inszenierung der Attraktion Dragan Živadinov, Sternenstadt Moskau, 17.8.1999. Performer:innen Dragan Živadinov, Dejan Pevć ević, Mateja Rebolj, Marko Mlać nik, Gregor Luštek, Damjana Černe, Romana Šalehar

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Thema Theater in Slowenien

„noch ohne titel“ von Simona Semenić, Regie Tomi Janežić, Slovensko mladinsko gledališče 2018/19. Auf dem Foto Anja Novak, Blaž Šef

Vom toten Huhn bis zu den Millennials Foto Žiga Koritnik/SMG

Ein Überblick des Theaters in Slowenien heute Von Alja Predan

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Thema Theater in Slowenien

Fundament Das slowenische Theater war seit seinen Anfängen eine der Grundlagen für die Entwicklung der nationalen Identität. Darüber hinaus war es bis ins dritte Jahrtausend eng mit der Sprache und der heimischen Dramatik verbunden. Für den Durchschnittseuropäer ist Slowenien eine Art „Bonsai-Land“, denn es ist sowohl bevölkerungs- als auch flächenmäßig eines der kleinsten Länder Europas. Doch im Bereich der Darstellenden Künste weist es eine mit anderen europäischen Metropolen vergleichbare Vielfalt und Fülle auf.

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Natürlich ist Slowenisch als archaischste slawische Sprache, die sich unter anderem mit der seltenen grammatikalischen Dualform rühmt und nur von zwei Millionen Einwohner:innen gesprochen wird, ebenfalls eines der Hindernisse, dass das slowenische Theater über die Landesgrenzen hinaus (noch) nicht sichtbarer geworden ist. Bereits zur Zeit des jugoslawischen Staates galt das slowenische Theater als besonderes Phänomen, in dem große Durchbrüche geschahen. Zwei Beispiele sind besonders hervorzuheben. Ende der 1960er richtete sich die Generation der damals aufstrebenden Theatermacher:innen provokativ gegen die Strömung des literarischen Theaters und kündigte im Geiste der Artaud’schen Prinzipien die performative Wende an. Der Regisseur und Drama­ tiker Dušan Jovanović (1939–2020) been­dete 1969 das Neo-Avantgarde-­Happening „Pupilija, papa Pupilo pa Pupilčki“ (Pupilia, Papa Pupilo und die Pupilchen) mit der rituellen Schlachtung eines Huhns vor den Augen der Zuschauer:innen. Kritiker:innen und Publikum waren empört, das Event wurde zu einem Skandal und folglich zu einer jugoslawischen Attraktion. Der Tod dieses weißen Industriehuhns war im Wesentlichen der metaphorische Tod des literarischen Theaters und die Wende zur Retheatralisierung. Die zweite extreme Performance bleibt bis heute auf globaler Ebene unübertroffen. Der eigensinnige Wegbereiter des Theaters, der Regisseur, Autor und Erfinder des Retrogarde-Begriffs und Weltraumforscher Dragan Živadinov (geboren1960) inszenierte nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Staats Jugoslawien im Jahr 1999 das erste Stück im Weltraum. Das Projekt „Gravitacija nič Biomehanika Noordung – obred poslavljanja“ (Gravitation Null Biomechanik Noordung – Abschiedsprozess) wurde teilweise in Schwerelosigkeit im Kosmonautentrainingszentrum in der russischen „Sternenstadt“ Star City in Moskau aufgeführt. Eine Rakete mit Schauspieler:innen wurde in die Schwerelosigkeit befördert und das eingespielte kosmische „Ballett“ der Schauspieler:innen live im Internet übertragen.

Bereits zur Zeit des jugoslawischen Staates galt das slowenische Theater als besonderes Phänomen, in dem große Durchbrüche geschahen.

Veränderungen Nach 1991 erlebte das slowenische Theater einen weiteren Aufschwung. Die Produktionen der Freien Szene nahmen zu und es wurden neue Theaterhäuser eröffnet. Heute gibt es drei Nationaltheater, zwei Staatsopern, zwei nationale Ballettbühnen, sieben Stadttheater, das Slowenische Theater in Triest (Slovensko stalno gledališč e) als Theater der slowenischen Minderheit in Italien sowie zwei städtische Puppentheater. Dabei handelt es sich um Einrichtungen mit etablierten Räumlichkeiten sowie meist beständigen Ensembles und einer stabilen öffentlichen finanziellen Förderung. Daneben gibt es noch eine Vielzahl sogenannter unabhängiger Produzent:innen, die mit öffentlichen (staatlichen oder lokalen) Fördergeldern für Programme alle zwei oder vier Jahre oder jährliche Projekte finanziert werden. Die Projekte reichen von modernem Tanz und Zeitgenössischen Zirkus, von Performance, Puppen- und Kindertheater bis hin zum klassischen Drama, post-dramatischen Formen, theaterunähnlichen oder postliterarischen Produktionen. Ein kleiner Teil der Produzent:innen hat eigene Räumlichkeiten, die als Produktionszentren fungieren, während die meisten von ihnen die Räume anmieten oder sich zu Koproduktionen zusammenschließen. In der Freien Szene gibt es keine festen Ensembles und alle Schauspieler:innen werden auf Projektbasis engagiert. Unabhängige Produktionen erhalten wesentlich weniger öffentliche Fördergelder als die Theaterhäuser, sodass ihre Aufführungen aus Sicht der Besetzung und Produktion bescheidener sind. Die Kluft vertiefte sich in der Corona-Zeit noch mehr und die Folgen sind bis heute sichtbar.

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Slovensko mladinsko gledališče (Slowenisches Jugendtheater) Unter den Theaterhäusern ist das Slowe­ nische Jugendtheater (Slovensko mladinsko gledališče) in Ljubljana besonders hervorzuheben. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und verfolgte ursprünglich das Ziel, Theaterstücke für Kinder und Jugendliche aufzuführen. Seine Ausrichtung änderte sich jedoch in den späten 1970er Jahren, als der bereits erwähnte charismatische Dušan Jovanović die künstlerische Leitung übernahm, woraufhin es sich zu einem sozial engagierten Theater profilierte. Mit seinem kritischen und provokativen Ansatz sowie den innovativen Inszenierungsmethoden gelang es, das Zielpublikum bewusst auf alle Altersgruppen zu erweitern. Man könnte es in etwa mit dem Berliner Maxim Gorki Theater vergleichen. Bereits zu Zeiten Jugoslawiens wurden im Mladinsko gleda­lišč e zahlreiche sehr kritische, manchmal subversive, politische Stücke inszeniert, wie z. B. die „Missa in a-minor“(Messe in a-Moll) (Regie Ljubiša Ristić, geboren 1947) oder der „Klassenfeind“ (Regie Vito Taufer, geboren 1959). Im Mladinsko gledališče begannen ihre berufliche Laufbahn unter an­ deren auch Tomaž Pandur (1963–2016), Dragan Živadinov (geboren 1960) und Tomi Janežič (geboren 1972), um nur einige aufzuzählen. Außerdem realisierten dort nach dem Zerfall Jugoslawiens und dem Wechsel der künstlerischen Leitung die Regisseure Janez Janša (geboren 1964) und Oliver Frljić (geboren 1976) ihre viel beachteten Projekte. Beide leben und arbeiten heute in Berlin. In all seinen ästhetischen und sozialen Aspekten ist das Theater Mladinsko gledališče bis heute das engagierteste und spannendste Theater in Slowenien geblieben. Žiga Divjak (geboren 1992), ein Mitglied der jüngsten Generation der Regisseur:innen, schuf ebenfalls einige herausragende Beispiele für das dokumentarische Theater über die Geflüchtetenthematik. Die oben beschriebene Entliterarisierung Ende der 1960er Jahre hatte unvorhersehbare, weitreichende Folgen. Zum einen wurde das slowenische Theater von Jahrzehnt zu Jahrzehnt regieorientierter, zum anderen schwand die Begeisterung

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der ersten beiden Nachkriegsgenerationen für die slowenische Dramatik immer mehr, sodass letztere heute – abgesehen von wenigen Ausnahmen – quasi den Projekten zeitgenössischer Autor:innen beziehungsweise dem Devised Theater, oder anders gesagt, dem transliterarischen Inszenierungsmodell gewichen ist.

Regisseur:innengenerationen „Theater mit dem Regisseur als Ko-­Autor“ ist eine Floskel, die in Slowenien die Position der Regie innerhalb des kreativen Prozesses und darüber hinaus bezeichnet und definiert. Was ist damit gemeint? Das Repertoire der meisten Theater ist längst nicht mehr die Vision der Künstlerischen Leiter:innen mit Blick auf die Entwicklung des Ensembles und die Akzeptanz des Publikums, sondern eine Sammlung der Wünsche der Regisseur:innen, deren Vorschläge die Arbeit der Künstlerischen Leiter:innen erleichtern und die Besetzungen und damit

das künstlerische Gesamtbild der Theaterhäuser beeinflussen. Nach der Corona-Zeit erweiterte sich dieser Einfluss auf die Produktionsebene. Schließlich ist es nichts Ungewöhnliches, dass die Regisseur:innen ebenso die Arbeitsbedingungen und die Termine für die Proben bestimmen. Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verzeichnet die slowenische Theaterwissenschaft fünf ausgeprägte Regiegenerationen. Es ist wohl überflüssig, etwas über die ersten beiden Nachkriegsgenerationen zu schreiben, da die meisten der großen Repräsentanten bereits verstorben sind. Die einzige Ausnahme ist der legendäre Mile Korun (geboren 1928), der als erster Autor in die bis dahin unantastbaren slowenischen klassischen Dramen eingriff und bereits 1968 – noch vor Luca Ronconi und Peter Stein – mit seiner ausgeprägten Autoreninterpretation der „Orestie“ die anthologisch-modernistische Grundlage für die semantische und ästhetische Autonomie einer Inszenierung legte.

„Solo“, Autorenprojekt. Regie Nina Rajić Kranjac, Slovensko mladinsko gledališč e, Maska Ljubljana 2020/21. Im Bild Nataša Keser, Benjamin Krnetić, Nina Rajić Kranjac

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Foto Nada Žgank/SMG

Thema Theater in Slowenien


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20. – 22.10. Zur nächsten Generation gehören der bereits verstorbene Tomaž Pandur, der seine internationale Karriere erfolgreich im gesamten spanischsprachigen Raum verfolgte, der Regisseur Janez Pipan (geboren 1956), der in den Jahren seiner Künstlerischen Leitung (1994–2008) das Nationaltheater in Ljubljana als führendes slowenisches und regionales Theater etablierte, und natürlich Mateja Koležnik (geboren 1962), die dem deutschen Theaterpublikum bestens bekannt ist. Sie ist sicherlich die Regisseurin mit der erfolgreichsten und bedeutendsten internationalen Karriere. Leider war sie aus verschiedenen Gründen in den letzten sieben Jahren nicht mehr im slowenischen Theater zu sehen. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies bald ändern wird. Danach betrat die vierte, am Anfang der 1970er Jahre geborene Generation die Szene: Jernej Lorenci (geboren 1973), der sich ebenfalls fest in der europäischen Theaterszene vor allem mit „Ilias“ und ­ „Verrückte Lokomotive“ etablierte, Sebas-

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tijan Horvat (geboren 1971), der in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens tätig ist, und Tomi Janežič, der in Norwegen und teil­ weise auch in Russland relativ gut bekannt ist. Interessanterweise hat noch keiner dieser drei renommiertesten slowenischen Regisseure der mittleren Generation jemals ein großes Theaterhaus geleitet, aber alle sind als Pädagogen an der slowenischen Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen (AGRFT) angestellt, die die einzige nationale Einrichtung mit einem Ausbildungsprogramm in allen vier Bereichen ist.

Nach Mateja Koležnik Ihnen folgen unaufhaltsam junge Regisseure und immer mehr Regisseurinnen. War doch dieser Beruf bis Ende des vergangenen Jahrtausends, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Domäne der Männer, so übernehmen heute vor allem die Frauen die Führungsrolle. Für diese Feminisierung gibt es mehrere Gründe. Sicherlich hat der emanzipatorische Geist des Feminismus die jungen Menschen dazu befähigt, führende Positionen einzunehmen, und ebenso das damit einhergehende Risiko und die Verantwortung zu übernehmen. Es stimmt aber auch, was man allgemein beobachtet, dass die Feminisierung in den Berufsparten hauptsächlich in Bereichen stattfindet, die im Vergleich zu anderen, lukrativeren Berufen finanziell weniger attraktiv sind. Das slowenische Theaterfestival Borštnikovo srečanje (Borštnik-Treffen), das dem Berliner Theatertreffen ähnelt, ist ein sehr genauer Indikator für diese Situation. Die Analyse der letzten fünf Jahre, wobei das Corona-Jahr 2020 nicht berücksichtigt wurde, zeigt, dass der Hauptpreis zweimal für Produktionen der mittleren Regie­ ge­ neration und dreimal an weibliche Millennials vergeben wurde. Dazu gehören als einziger männlicher Regisseur Žiga Divjak sowie die Regisseurinnen Tjaša Č rnigoj (ge­boren 1988), Nina Rajić Kranjac (geboren 1991), Maša Pelko (geboren 1992), Mojca Madon (geboren 1994) und die vielversprechende und frisch diplomierte Živa Bizovičar (geboren1998). Rajić Kranjac gewann zweimal bei diesem Festival auch Regiepreise und Žiga Divjak

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Thema Theater in Slowenien und Mojca Madon (Jahr 2023) jeweils einen Preis für die beste Regie. Živa Bizovič ar bekam darüber hinaus den diesjährigen Preis für die umfassende Bearbeitung des Inszenierungsmaterials sowie den Hauptpreis des Festivals Teden slovenske drame (Slowenische Theaterwoche) 2023 verliehen.

Transliteracy Die Slowenische Theaterwoche ist das zweitwichtigste nationale Festival. Jedes Jahr gibt es dort eine Auswahl der besten Inszenierungen zu sehen, die auf slowenischen Dramentexten basieren. Das sind in letzter Zeit ungefähr so viele, wie es Aufführungen nach ausländischen Textvorlagen gibt, und das Verhältnis ändert sich immer mehr zugunsten der slowenischen Texte. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Theater und Schauspielgruppen jetzt mehr slowenische Stücke aufführen, vielmehr verschwinden diese von Jahr zu Jahr immer mehr aus dem Repertoire. An ihre Stelle treten Projekte zeitgenössischer Autor:innen, Dramatisierungen, Adaptionen von Prosa und anderer literarischer Werke oder Gestaltungskonzepte, bei denen der Text im Laufe des Entwicklungsprozesses entsteht. Das Theater und die heimische Dramatik im klassischen Sinne des Wortes entfernen sich in Slowenien immer mehr voneinander. Das Theater durchläuft derzeit einen Wandel und entwickelt sich zu einer Form, die nicht mehr auf dem Drama, sondern auf verschiedenen postliterarischen Vorlagen basiert. Ein Rückblick auf die letzten fünf Jahre zeigt, dass 2019 insgesamt elf Produktionen mit einer klassischen slowenischen Vorlage und nur vier mit einer transliterarischen Vorlage ins Festivalproramm aufgenommen wurden, während sich 2023 das Verhältnis mit neun zu drei zugunsten der transliterarischen Praktiken änderte. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, die gewiss die Frage nach der Aktualität der heimischen klassischen und zeitgenössischen Dramatik aufwerfen. Zugleich drängt sich mit dem Generationenwechsel automatisch der Gedanke auf, dass diese Texte viel mehr Rechercheaufwand erfordern, wenn die jungen Menschen in einen entsprechenden Dialog mit ihnen treten

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sollen. Interessant ist zudem, dass trotz des pädagogischen Studienprogramms für Szenisches Schreiben an der AGRFT und zahlreicher Workshops dieser Art der Generationendialog zwischen Regisseur:in und Autor:in im slowenischen Theater nie wirklich zum Leben erwachte. Eine Ausnahme bildet das Tandem aus dem Regisseur Žiga Divjak und der hervorragenden Bühnenautorin Katarina Morano (geboren 1988), die bisher eine Reihe erstklassiger Inszenierungen schufen, die in der Regel bei beiden wichtigsten Festivals in Slowenien immer ausgezeichnet wurden. Von den älteren Dramatiker:innen ist lediglich Matjaž Zupančič (geboren 1959), der bei seinen Stücken meist selbst Regie führt, weiterhin sehr aktiv. Bei der mittleren Generation hebt sich Simona Semenič (geboren 1972) ab, die eine spezifische Art hat, Theatertexte zu schreiben, für die jedoch ihre Generation der Regisseur:innen weder die Motivation noch den passenden theatralischen Code fand. Semenič ist eine herausragende Dramatikerin, deren Theaterstücke oft in andere Sprachen übersetzt und sogar außerhalb Sloweniens aufgeführt werden. Generell kann man jedoch die ­Aussage wagen, dass im zeitgenössischen slowenischen Theater der:die Dramatike­r:in als Subjekt fragwürdig geworden ist, da die Autor:innenschaft zunehmend kollektiv wird. Natürlich bleibt die Hoffnung, dass dies – wie alles im Theater – eine Variable ist und das slowenische Theaterstück wieder auf den Bühnen erblüht.

Qualität des Theaters und des Repertoires stark positioniert. Der Hauptgrund und das Problem liegen im Fehlen einer kontinuierlichen Kulturpolitik. Die aktuelle Kulturministerin ist in der 32-Jährigen Geschichte des unabhängigen Sloweniens nun schon der:die 17. Kulturminister:in im Amt. Sta­ tistisch gesehen bedeutet dies, dass die Minister:innen im Durchschnitt nicht einmal zwei Jahre im Amt geblieben sind. Tatsächlich schafften in dieser Zeit nur zwei von ihnen die gesamte vierjährige Amtszeit. Die Kulturpolitik riskierte also bisher kaum Korrekturen, Veränderungen und Reformen. In der Theaterwelt verbesserte sich die Situation bei der unabhängigen Szene, auch wenn diese noch weit vom erwarteten Optimum entfernt ist, während der Zustand in den öffentlichen Einrichtungen (Theatern) eigentlich in der Vergangenheit steckengeblieben ist. Das bedeutet, dass die Finanzierung nach einem bestimmten Automatismus erfolgt, unabhängig von der Qualität der Produktion. Die Amtszeit der Führungskräfte, die formell auf fünf Jahre begrenzt ist, wird in den meisten Fällen von der Politik auf unbestimmte Zeit verlängert, weil ein Zustand der „Stagnation“ allen zusagt. Große nationale Ensembles mit wirklich herausragendem schauspielerischem Potenzial sind daher künstlerisch viel berechenbarer und weniger ehrgeizig als kleinere Kollektive, die einen sichtbaren Durchbruch anstreben.

Kulturpolitik

Ein weiteres Problem, dem das slowenische Theater gegenübersteht, ergibt sich in Slowenien aus der Begrenztheit des Raums und der geringen Bevölkerungszahl. Geht man davon aus, dass sich ein Promille der Bevölkerung auf die eine oder andere Weise mit dem Theater beschäftigt, sind das in Slowenien etwa zweitausend Menschen. Da ist es wohl nicht schwer zu ver­stehen, dass ein solcher Kreis sehr geschlossen, verflochten und unter anderem über Freund:innenschaften, Arbeitsverhältnisse, Verwandtschaft beziehungsweise Interessen verbunden ist. In Slowenien kennen sich praktisch alle, die irgendwie mit dem Theater zu tun haben, mehr oder weniger gut. So sind Interessenkonflikte sowie das

Anhand der Festivalpreise in den letzten Jahren lässt sich erkennen, dass die Nationaltheater und die größeren Stadttheater sowohl in der Qualität als auch in der Ambition des Repertoires nachgelassen haben. Hingegen haben sich das bereits erwähnte Theater Mladinsko gledališče, das sich mit dem unabhängigen Produktionshaus Maska verbunden hat, mit dem sie zusammen dreimal den „Grand Prix“ beim BorštnikTreffen gewannen, und das Prešeren-Theater Kranj, das allein im Jahr 2023 zwei Hauptpreise erhielt, trotz eines sehr kleinen Ensembles mit seit vielen Jahren sehr ambitioniertem Programm in Bezug auf die

„Sandkastensyndrom“

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Thema Theater in Slowenien Risiko der Vetternwirtschaft und des Protektionismus oft unvermeidbar. Zwangsausschlüsse aus verschiedenen Jurys oder Gremien sind eine ständige Praxis und die Zusammensetzung der Festivaljurys oder die Auswahl der Programmgestalter bei den Festivals sind komplexe Aufgaben, weil die meisten Akteur:innen auch direkt an der Produktion beteiligt sind. Zudem verschärft sich das Problem dadurch, dass die Wahrnehmung der Vetternwirtschaft und Interessenkonflikte von einer moralisch fragwürdigen Praxis zu einer Gepflogenheit wird, die von niemanden mehr hinterfragt wird. Die Verflechtung des Familien- und Gesellschaftslebens hat schon oft die Grenzen des guten Geschmacks überschritten.

Transregionalität Es gibt jedoch auch etwas sehr Positives im slowenischen „Theatertopf“: die Inte­ gration. Obwohl Jugoslawien als politisches Gefüge 1991 in mehrere ethnische

Staaten zerfiel und sich das Staatssystem auf dem gesamten Gebiet veränderte, ist der kulturelle Raum der Region weiterhin zugänglich und interessant geblieben. Trotz der verschiedenen Sprachen, die im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens gesprochen werden, ist bei den Generationen vor den Millennials die Grundverständigung in der eigenen Sprache immer noch möglich, was für die theaterbezogene Arbeit sehr wichtig ist. Die Regionen übergreifende Mobilität der Theaterschaffenden innerhalb der ex-jugoslawischen Länder nahm zunächst verständlicherweise ab, doch mit der Zeit wurden gerade die kulturellen Verbindungen als Erstes wiederhergestellt. So gastieren slowenische Produktionen regelmäßig auf den Festivals Bitef in Belgrad und gewannen in den letzten Jahren die Hauptpreise, Sterijino pozorje in Novi Sad, Mess in Sarajevo und Mot in Skopje. Insbesondere unter den Regisseur:innen findet ein intensiver Austausch statt, aber natürlich ist die wirtschaftliche Lage in

den Ländern des Westbalkans recht unterschiedlich, sodass viel mehr Menschen in Slowenien Arbeit suchen als umgekehrt. Es ist erwähnenswert, dass drei bedeutende Schauspielhäuser in Slowenien, das Nationaltheater Drama SNG Maribor, das Theater Mladinsko gledališče sowie das unabhängige Mini teater, seit vielen Jahren von künstlerischen Leiter:innen aus Nordmazedonien, Serbien beziehungs­ weise Kroatien geleitet werden. Auch wenn das Phänomen nicht auf Gegen­ seitigkeit beruht, so ist das slowenische Theater doch traditionell sehr integrativ und offen, und zwar nicht nur für den krea­ tiven Zustrom aus den ex-jugoslawischen Regionen, sondern auch darüber hinaus. Wie so oft in der Weltgeschichte hat es sich am Beispiel des Balkans erneut gezeigt, dass gerade Kultur und Kunst in der Lage sind, die politische Starrheit zu überwinden und die künstlerischen Bande zwischen den Völkern zu leben und zu bewahren. T Aus dem Slowenischen von Jana Veber

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Jean Paul GAULTIER


Thema Theater in Slowenien

„Rose Bernd“ von Uroš Hoč evar/SLG Celje, Regie Mateja Koležnik, Slovensko ljudsko gledališč e Celje 2015/16. Ensemble: Liza Marijina, Barbara Medvešč ek, Tanja Potoč nik, Manca Ogorevc, Pia Zemljič, Damjan M. Trbovc, David Čeh

Foto Uroš Hočevar/SLG Celje

Mateja Koležniks „Kinder“ Der Auftritt der jüngsten Regiegeneration in Slowenien Von Petra Vidali

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Thema Theater in Slowenien Mateja Koležniks letzte Premiere im slowenischen Theater fand am 15. September 2016 statt. Die jüngste Generation der heute anerkannten Regisseur:innen (Živa Bizovičar, Mojca Madon) hatte damals ihr Studium begonnen oder war noch nicht einmal so weit. Nina Rajić Kranjac und Žiga Divjak waren zu der Zeit dabei, ihr Debüt in einem institutionellen Theater zu geben. In kurzer Zeit eroberten sie verschiedene Arten öffentlicher Theaterinstitutionen und gewannen alle Preise bei den wichtigsten Festivals. Was verbindet ihre unterschiedlichen, jedoch ausgeprägten und konsequenten Regie-Poetiken mit denen anderer junger Regisseur:innen? Der einzige gemeinsame Nenner ist ein eklektischer, postdramatischer Ansatz. Doch es scheint ausgerechnet diese sehr allgemeine Einordnung zu sein, die sie später am meisten von Mateja Koležniks Einfluss entfernt. Mateja Koležnik sagt, der postdramatische Ansatz sei für sie nie relevant gewesen. Als Regisseurin zeichnet sie sich durch ihre Fähigkeit aus, den Originaltext und die inszenierungsbezogenen Absichten der Autor:innen nur minimal zu verändern. „Ich vermeide es, entweder zu arrogant oder zu bescheiden mit dem Text umzugehen, freue mich allerdings, wenn ich aus Worten, die älter, weiser und stärker sind als ich, etwas schaffe, das erneut erleuchtet. Vielleicht bin ich manchmal zu ängstlich, um meine Absichten zu Ende zu führen. Wenn ich es jedoch schaffe, alle Fäden zu verbinden, dann kann auch ein Wunder geschehen, das nur im Theater möglich ist“, sagte sie in einem Interview für die Zeitung Delo. In den letzten Jahren nahm und nimmt sie fast keine zeitgenössische Dramatik in Angriff und mit sogenannten Autor:innenprojekten, die das slowenische Theater seit mehr als einem Jahrzehnt prägen, hat sie sich noch nie befasst. Autorenprojekte wiederum sind u. a. der Ausgangspunkt und das zentrale Genre von Žiga Divjak. „Č lovek, ki je gledal svet“ (Der Mensch, der die Welt betrachtete), womit dich Divjak erstmals am institutionellen Theater vorstellte, (2017, Slovensko mladinsko gledališče), deutete bereits auf seine grundlegenden Inszenierungsprinzipien

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und Themen hin. Das Projekt des Autors ging aus dem Gefühl hervor, dass das Ende der Welt durch eine Umweltkatastrophe in den Mikrokosmen aller Menschen, ohne Stimme und ohne einen festen Platz in der Welt allgegenwärtig ist. Zu den erzählten Ausschnitten aus dem Leben der Arbeiter:innen am Rande des Überlebens fügten die jungen Schauspieler:innen in dieser Aufführung ihre eigenen Erfahrungen als prekäre Künstler:innen am Rande des Überlebens hinzu und warfen so ihre Fragen nach dem Sinn des künstlerischen Schaffens in einer solchen und über eine solche Welt auf. Nach zwei weiteren Projekten, die ebenfalls die Situation der Erniedrigten und Beleidigten thematisierten, folgten die sowohl im slowenischen als auch im internationalen Raum auf Anhieb erfolgreichen Inszenierungen „6“ und „Gejm“ (The Game) (2018 und 2020, beide Aufführungen: Slovensko Mladinsko gledališč e und Maska Ljubljana). Die Migrationsfrage prägte in dieser Zeit alle Bereiche der slowenischen Kunst und Divjaks ­Inszenierungen hoben sich mit einer dokumentarischen Authentizität und Inszenierungssensibilität ab. In der Vorstellung „6“ rekonstruierte er in monatelanger Recherche und Materialsammlung die Ereignisse, die zu Sloweniens schändlichstem geflüchtetenfeindlichem Ereignis führten, als die Eltern slowenischer Kinder und die Pädagog:innen die Unterbringung von sechs Geflüchteten unter 15 Jahren in einem Schulheim verhinderten. Er konzi­ pierte die Inszenierung als dokumentarisches Theater, das den Inhalt (Amtshandlungen, E-Mails usw.) verbatim ohne herausragende Bühneneffekte hervorhebt. Die auf Stühlen sich gegenübersitzenden Schauspieler:innen leihen ihre Stimme den reellen Akteur:innen dieser Geschichte, im Hintergrund ist ein Video mit den Gesichtern von sechs Kindern zu sehen. Während Divjak in der Inszenierung „6“ die Brutalität und Psychopathologie der Feindseligkeit sowie die schwindenden Möglichkeiten eines sozialen Dialogs zwischen gewöhnlichen Bürger:innen um­reißt, hinterfragt er in „The Game“ die Verantwortung des Staates und seine Grenzpolitik für das Leben und das

Der einzige gemeinsame Nenner ist ein eklektischer, postdramatischer Ansatz. Doch es scheint ausgerechnet diese sehr allgemeine Einordnung zu sein, die sie später am meisten von Mateja Koležniks Einfluss entfernt.

Schicksal der Menschen auf der Flucht. Der Text beruht auf den in der Datenbank des Border Violence Monitoring Networks gesammelten Zeug:innenaussagen. Auf die friedliche Präsentation wahrer Geschichten, in denen sich die Beschreibungen der Gewaltszenen wiederholen, folgt der Abwurf der Artefakte der Gewalt: ein verlorener Schuh, ein kaputtes Telefon, ein verbranntes Kleidungsstück. Der Effekt geht aus der durchdachten Reduktion auf den gerade sprechenden Menschen sowie die sich steigernde Wiederholung ein und desselben Textes hervor, die das Publikum vielleicht auf ähnliche Weise wie die Migrant:innen in dem Teufelskreis erschöpft, in dem sie gefangen sind. Der Regisseur setzte die Reihe der Krisen und des ausgebrannten Menschen mit „Vroč ina“ (Fieber) (2021, Slovensko mladinsko gledališče, steirischer herbst ’21 und Maska Ljubljana) fort, einem „Thriller über die globale Erwärmung“, in dem die Schauspieler:innen Fakten und Daten über die alarmierende Klimasituation skandieren und mit ihren eigenen Körpern schmerzhaft demonstrieren. Im darauffolgenden Theaterstück „Krize“ (Krisen) (2022, Slovensko mladinsko gledališce, ˇ Maska Ljubljana, Bitef Belgrad und Zadruga Domino Zagreb) rennen sieben mit dem Gepäck des modernen Jedermanns beladene Schauspieler:innen über eine Stunde lang wortlos auf der Stelle. Das Laufen auf der Stelle bis zum totalen Kollaps ist ähnlich wie das Fließband, das Divjak mehrmals in seinen Aufführungen verwendete, eine präzise kinetische Wahl für unser Stadium des Kapitalismus – ein Wettrennen, bei dem wir uns nicht von der

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Oben: „The Game“, Autorenprojekt. Regie Žiga Divjak, Slovensko mladinsko gledališče, Maska Ljubljana 2019/20. Primož Bezjak, Vito Weiss. Unten: „Sexualkunde II: Sexspiele“ von Tjaša Črnigoj, Lina Akif, Tijana Todorović, Barbara Kapelj. Regie Tjaša Črnigoj, Slovensko mladinsko gledališč e, Maska Ljubljana, Mesto žensk 2022/23. Lina Akif

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Stelle rühren bzw. uns nur auf den Tod zu bewegen. Die Singularität der Körper erlangt den Zustand der Allgemeinheit durch die aufgezeichnete Erzählung über die Geschichte des Kapitalismus aus Jason Hickels Buch „Weniger ist mehr: Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind“, das bereits in „Fieber“ eine der Quellen war. Auch wenn die Pointe der Inszenierung in „Fieber“ und „Krisen“ fast an der Grenze zum Didaktischen zu liegen scheint, bewahren die sinnlichen Erregungen Divjaks Engagement davor, ins Moralische abzugleiten. „Es ist wichtig, die Probleme der anderen als unsere eigenen zu empfinden“, sagt der Regisseur. Und in der Tat kann die extreme menschliche Erschöpfung auf der Bühne die Zuschauer:innen nicht kaltlassen. Die körperliche Anstrengung der Schauspieler:innen soll – auf aristotelische Weise – auch das Publikum erschüttern und beunruhigen. Parallel zu seinem explizit gesellschaftskritischen Theater, das die aktuellsten Probleme direkt hinterfragt, entwickelte der Regisseur eine zweite Linie von Inszenierungen, die bereits in „Der Mensch, der die Welt betrachtete“ präsent war. Seine ständige dramaturgische Mitarbeiterin, die Filmregisseurin Katarina Morano (geboren 1988), die es bereits bei seinen ersten Projekten verstand, die Geschichten sensibel zu erzählen, entwickelte sich nach und nach zu einer unabhängigen Autorin. Für das Drama „Sedem dni“ (Sieben Tage) (2019, Mestno gledališče ljubljansko) trug sie gemeinsam mit dem Regisseur Verantwortung, während „Usedline“ (Ablagerungen) (2022, Mestno gledališče ljubljansko) und „Kako je padlo drevo“ (Wie der Baum fiel) (2022, SNG Drama Ljubljana) ihre eigenen Werke sind. In allen Stücken spricht/sprechen sie über Momente, die bei den Angehörigen verschiedener Generationen „das Fass langsam zum Überlaufen bringen“. Die Momente der Erkenntnis, des Zusammenbruchs oder der Versöhnung gehören vorwiegend in den Privatbereich, in Partner- oder Elternbeziehungen. Einige dieser Momente reichen ebenso in die Makroebene hinein, die die Privatsphäre bedingt,

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Foto oben Matej Povše/SMG, unten Nada Žgank/SMG

Thema Theater in Slowenien


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zum Beispiel durch die Unfähigkeit, eine Wohnung zu mieten oder eine regelmäßige Arbeit zu finden. Diese speziellen Augenblicke werden jedoch nie zu verinnerlichten, kollektiven, gesellschaftlichen Orten. „Sieben Tage“, „Ablagerungen“ und „Wie der Baum fiel“ sind wie eine komplexe Komposition für Orchester und Solisten inszeniert. So wie Motive nach den Regeln der musikalischen Kompositionen erscheinen und wieder verschwinden, variieren und sich wenden, folgt auch die Regie dem Prinzip aus der Klangwelt. Die orchestralen Teile gehen in die Dialoge der einzelnen Abschnitte über und dazwischen stechen die Soloeinlagen hervor. Jede:r Schauspieler:in bekommt einige Soloauftritte und wirklich jeder ist ein Meisterwerk für sich. Oft scheinen es Soloparts in Jazzmanier zu sein, aber natürlich liegen nur eine scheinbare Natürlichkeit und Improvisation vor. In „Wie der Baum fiel“ wird dieses Regieprinzip sogar wortwörtlich umgesetzt, indem die Schauspieler:innen am Schlagzeug sitzen und mit einem Trommelwirbel die dramatischen Crescendi hervorheben. Beide Richtungen von Divjaks Theater sind thematisch und aus Sicht der Inszenierung miteinander verbunden. In ­ beiden Fällen entsteht der Effekt durch eine bewusste Knappheit der bühnen­ bildnerischen Mittel, dennoch ermöglichen die Texte mehrere dramaturgische Ebenen und vielfältigere Register. In dem Drama und der Inszenierung „Wie der Baum fiel“ ist der auslösende Moment ein Tschechow’sches Motiv: die Absicht eines privaten Bauherrn, auf einer Grünfläche inmitten einer alten Wohnsiedlung ein Mehrfamilienhaus für reiche Menschen zu bauen. In der Mitte dieses Grundstücks und im Mittelpunkt des Dramas steht ein Baum. Der Gemeinschaftsbaum, in dessen Schatten sich die Lebensgeschichten der

Die Worte „Umwelt “, „Ökologie“ oder „Klimawandel“ werden in der Aufführung nicht ein Mal erwähnt, doch die Wut ist am Ende kathartisch.

Protagonisten entfalten, wird zu einem realen und symbolischen Punkt des Widerstands – Widerstand gegen die Gentrifizierung, Widerstand gegen die Gewalt, Widerstand gegen das Kapital, Widerstand gegen die Sinnlosigkeit des Lebens, das sie führen, und Widerstand gegen die Ohnmacht, sich all dem zu widersetzen. Die Worte „Umwelt“, „Ökologie“ oder „Klima­wandel“ werden in diesem Drama und der Aufführung nicht ein einziges Mal erwähnt, doch die Wut ist am Ende wohl kathartischer oder sogar mobilisierender als beispielsweise in „Fieber“. Nina Rajić Kranjac deutete bereits in ihrer Diplominszenierung „1981“ nach dem Drama von Simona Semenič (2014, Slowenische Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen) einen überlegten und effektiven Einsatz aller Ausdrucksmittel des zeitgenössischen Theaters bei der Vermittlung des Themas dieses Theaterstücks an. Auf die Inszenierung, in der die Realität von Zeit und Raum verankert war, indem sie die jugoslawische und die slowenische Realität, die Werte und das Kapital, eine illusorische Vergangenheit und eine perspektivlose Gegenwart gegenüberstellte, folgte eine völlig andere Wahl für ihre Masterarbeit, nämlich das sufistische Werk „Konferenz der Vögel“ (2015, Gledališč e Glej), adaptiert von Jean-Claude Carrière. Die inspirierte Vorstellung des jungen Teams zeigte, wie tief ein kreatives Kollektiv in ein Theaterstück eingreifen kann, wenn die Bedingungen stimmen. Als Gast im Residenzprogramm des Theaters arbeitete sie ein Jahr lang mit dem enthusiastischen Ensemble an der Inszenierung. Mit ihrem Regiedebüt „Svetovalec“ (Der Berater) (2016, Mestno gledališč e ljubljansko) auf einer professionellen Bühne zeigte Nina Rajić Kranjac vor allem, dass sie sich wenig um Autoritäten schert. Bei diesem Stück geht es eher um ein Projekt der Autorin nach den Motiven des Theaterstücks als um die Inszenierung eines Bühnenwerks, wobei das Drama das Erstlingswerk des Vaters der slowenischen Theaterregie Mile Korun (geboren 1928) war. Wer es wagt, Mile Korun so kompromisslos zu übertrumpfen, ist in der Tat mutig. Doch Mut ohne Gefühl ist nichts wert. Nina Rajić Kranjac erschuf – Hand

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Thema Theater in Slowenien

aufs Herz – aus einem ziemlich statischen Text eine geladene, attraktive und witzige Aufführung. Ein weiterer Durchbruch von Nina Rajic´ Kranjac war die dynamische, jedoch textgetreue Inszenierung von Tadeusz Słobodzianeks „Unsere Klasse“ (2018, Prešernovo gledališče Kranj). Die Regisseurin verstand es bei diesem komplexen Text über das Böse, das sich in den Herkunftsgemeinschaften und nicht im äußeren Feind verbirgt, ihr außer­ gewöhnliches Gespür für das Ineinandergreifen der Bedeutungsebenen und das Enthüllen von Zusammenhängen sowie unerwartete ­Akzente an den Tag zu legen. An einigen Stellen unterbrach sie

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die Bühnensituationen und Atmosphäre mit blitzschnellen und effektiven Wechseln, die zu einem ihrer Markenzeichen geworden sind; an anderen Stellen ließ sie auf unsichtbare Weise scheinbar ungleichartige Elemente verschmelzen. ­ „Unsere Klasse“ mit dem Thema der Gewalt eines Pogroms im Zweiten Weltkriegs auf polnischem Boden erhielt eine Bühnenfortsetzung von gleicher Präzision mit dem Theaterstück „Grmač e“ von Dane Zajc (2019, Drama SNG Maribor), einem slowenischen, poetischen Drama, das die Zerstörung einer Sippe beziehungsweise einer gesamten Gemeinschaft thematisiert, sowie ein Jahr später mit der Inszenierung der modernen Tra-

gödie „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad (2020, SNG Drama Ljubljana). Erneut nutzte die Regisseurin verschiedene Inszenierungs­ stile und -verfahren sowie unvorhergesehene Wege zur Erschließung der Themen, um universelle Fragen über die Auswirkungen des Krieges auf den psychosozialen Zustand der Gesellschaft aufzuwerfen. Auf die großen Dramen und Produktionen über Krieg und Gewalt folgte ein völliger Richtungswechsel und es entstand das Autorenprojekt „Solo“ (2021, Slovensko mladinsko gledališč e und Maska Ljubljana). „Ich brauchte eine Veränderung, eine neue Einsicht, wie ich die Dinge in Angriff nehmen könnte. Schließlich

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Foto Peter Uhan/SNG Drama Ljubljana

„Wie der Baum fiel“ von Katarina Morano. Regie Žiga Divjak, SNG Drama Ljubljana 2022/23. Nina Ivanišin, Gregor Zorc, Tina Vrbnjak, Timon Šturbej, Maruša Majer, Uroš Fürst, Silva Čušin, Iztok Drabik Jug, Janez Škof


Thema Theater in Slowenien wollte ich ebenso die Inhalte, in die ich mich vertieft habe, wechseln. Insbesondere die Themen der Zerstörung, der Gewalt und des Kriegs, mit denen ich mich in den letzten Jahren viel beschäftigt hatte, erreichten einen Punkt, an dem ich darüber nichts Neues mehr entdecken konnte. Ich musste ebenso überdenken, warum sie mir so wichtig waren, dass ich mich sozusagen zu Beginn meiner kreativen Laufbahn mit ihnen beschäftigt hatte.“, sagte die Regisseurin in einem Interview für die Zeitung Dnevnik. „Vielleicht gleicht es am ehesten einer Art Spielplatz, auf dem jeder von uns spielen kann, was er will, und gleichzeitig denken wir darüber nach, warum gerade das für uns wichtig ist. So entsteht eine lustige Mischung aus persönlichen und autobiografischen Momenten, metathea­ tralischen Inhalten, Auszügen und Monologen aus klassischen Theaterstücken und noch mehr.“, erklärte sie. Der Kritiker

Primož Jesenko beschrieb „Solo“ als einen wütenden, nicht jedoch verzweifelten Aufschrei einer Generation, die die eingelaufenen Verfahren des Systems, dessen Teil sie werden soll, ablehnt. „Das erklärt all die Schimpfwörter, die heftige Ablehnung und die Verleugnung bedeutender Namen der in- und ausländischen Szene, einschließlich Peter Stein. Den Akteur:innen platzt der Kragen und sie durchbrechen das höfliche Beharren beim Theater des vergangenen Jahrhunderts, denn sie wollen weiter.“ Trotz der pessimistischen Bedenken über den Sinn des Theaters gelingt es diesem karnevalesken Ereignis, wie die Kritikerin Zala Dobovšek schrieb, „ein kollektives Bündnis über die Notwendigkeit der Kunst zu entfachen.“ In „Solo“ machte sich die Regisseurin, die sich in dieser Inszenierung außerdem als außerordentliche Performerin präsentierte, unter anderem über den aktuellen

In „Solo“ machte sich die Regisseurin als außerordentliche Performerin über das Theater zur Lösung sozialer Probleme lustig.

Ansatz des Theaters zur Lösung sozialer Probleme lustig. In der Inszenierung „In­ terne Studie. New Constructive Ethics“ nach einem Text von Iwan Wyrypaew (2022, Prešernovo gledališč e Kranj) wird die Frage nach der Zerstörung des Planeten zudem auf wortwörtlicher Ebene gestellt und die Antwort macht keine Hoffnung. Selbst wenn eine Lösung theoretisch möglich wäre, können wir nicht damit rechnen, dass unsere Spezies sie in die Praxis umzusetzen vermag. Bei der Premiere

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Regie: Jacob Höhne, Linda Glanz, Lily Kuhlmann, Rosa Rieck, Marten Straßenberg, Josephine Witt


Thema Theater in Slowenien Beide Regisseurinnen ver­ bindet eine extrem hohe Anspruchshaltung gegenüber den Schauspieler:innen und natürlich dem Publikum.

sowie der Wiederholung beim BorštnikTreffen (2023) folgte dem Applaus ein ­ wei­ terer Akt. Die Theatergruppe pflanzte – „Damit wir nicht nur reden, sondern auch handeln!“ – einen Baum im Innenhof. Žiga Divjak und Nina Rajić Kranjac, Kolleg:in und Rival:in, setzen sich mit der Beziehung zwischen Theater und Gesellschaft auf unterschiedliche, oft diametral entgegengesetzte Weise auseinander. Während bei dem einen Regisseur die Bäume fallen, fangen sie bei der anderen gerade an, Wurzeln zu schlagen. Das Theater beider Künstler:innen ist jedoch auf komplexe und verbindende Weise in die aktuelle Zeit eingebettet. Um es mit den Worten von Mateja Koležnik zu sagen: „Theater muss in die aktuelle Zeit eingebunden sein. Wenn wir ein gemeinsames Feld artikulieren wollen, ist es notwendig, aus dem Rahmen des pathologischen Narzissmus in dem Sinn, was denke ich, was fühle ich, wo bin ich und so weiter, herauszutreten. Meiner Meinung nach sind wir verpflichtet, einen großen Plan vorzulegen und unsere Mitschuld daran zu erkennen, dass die Welt so ist, wie sie ist.“ Das zeitgenössische slowenische, sogar das junge slowenische Theater, ist überwiegend ein armes Theater. Es wäre schwierig, von einer direkten Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen den Produktionsbedingungen und den Poetiken der Regisseur:innen zu sprechen, dennoch sind wahrscheinlich einige Entscheidungen weniger autonom, als sie es zu sein scheinen. In ihren Inszenierungen erkundet Mateja Koležnik gern die Möglichkeiten der Nutzung des Bühnenraums und beweglicher Bühnenbilder. Dass sie nahezu ständig in Deutschland gastiert, ist unter anderem auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie solche Inszenierungen

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auf slowenischen Bühnen aufgrund technischer und finanzieller Beschränkungen nicht mehr umsetzen konnte. Das Theater von Žiga Divjak hingegen ist meist ein bescheidenes Theater. In D ­ ivjaks typischen Inszenierungen gibt es auf der Bühne einige Stühle und ein Minimum an realistischen Requisiten. Sein Theater spricht auf allen Ebenen, einschließlich des Bühnenbilds, über und für diejenigen, die nichts oder wenig haben. Anders ist es bei den Theaterinszenierungen von Nina Rajić Kranjac. Bei den meisten ihrer Produktionen forderte und erhielt sie beneidenswerte Produktionsbedingungen – zum Beispiel ziemlich große Teams und relativ komplexe szenische Aufbauten. Das gilt für ihre Produktionen an nationalen Theatern ebenso wie in der freien Szene, für ihre Inszenierungen klassischer Stücke und für ihre Autorenprojekte des Devised Theaters. Beim Runden Tisch des Verbands der Theaterkünstler Sloweniens auf dem Borštnik-Treffen 2021 formulierte Nina Rajić Kranjac – fast so radikal wie Milo Rau in seinem Manifest, als er die künstlerische Leitung des NTGent übernommen hatte – klare Forderungen für die Arbeit in öffentlichen Einrichtungen. Sie forderte einen Dialog zwischen der künstlerischen Leitung und den Regisseur:innen; sie forderte, dass die Regisseur:innen ihre Wünsche so klar wie möglich äußern und dafür zur Rechenschaft gezogen werden; sie forderte, dass die Regisseur:innen den vollen Einblick in das Budget der Produktion haben. Sie forderte, dass die Regisseur:innen verpflichtet sein müssen, in jede Produktion mindestens sieben prekäre Kunstschaffende einzubeziehen. (Warum sieben? „Das ist eine Märchenzahl.“) Sie forderte ein breiteres, interdisziplinäres Team aus zum Beispiel Psycholog:innen, Anthropolog:innen, Journalist:innen und einer internationalen Besetzung mit „mindestens einem großen Star“. Jede Aufführung sei im nationalen Fernsehen, in den einschlägigen Zeitungen und lokalen Medien anzukündigen und habe Kritiken zu erhalten, die nicht dreitausend Zeichen kurz, sondern achttausend Zeichen lang seien. Einmal im Jahr sei ein Magazin herauszugeben, in dem alle Kritiken zu allen Aufführungen veröf-

fentlicht werden. Das Kulturbudget habe mindestens zwei Komma fünf Prozent des slowenischen Bruttoinlandprodukts zu betragen, derzeit erreicht es kaum zwei Prozent. Ihre Gesprächspartner:innen wandten ein, dass Slowenien unter diesen Bedingungen nur drei Aufführungen pro Jahr produzieren könne. Nina Rajić Kranjac entgegnete daraufhin, dass das Manifest „ein Weg, um das Theater zu einem wichtigen Teil der Gesellschaft zu machen“ sei, was zurzeit nicht zutreffe. Mateja Koležnik denkt genauso: „Was uns alle im Theater unglücklich macht, ist die Tatsache, dass das Theater in diesem Moment gesellschaftlich so irrelevant ist. Es scheint fast egal zu sein, was wir tun. Es ist erschreckend, mit welcher Leichtigkeit dieses Land die Kunst aufs Nebengleis verdrängt hat und es nicht das Gefühl hat, dass es sie braucht“, sagte sie in einem Interview für die Zeitung Večer. Nicht zuletzt verbindet die beiden Regisseurinnen neben der Komplexität ­ der Produktionen auch eine extrem hohe ­Anspruchshaltung gegenüber den Schauspieler:innen und natürlich dem Publikum, obgleich Mateja Koležniks Aufführungen in der Regel zeitlich recht konzentriert sind, während Nina Rajić Kranjacs Präsentationen rekordverdächtig lang sind, zwischen hundertachtzig und dreihundert Minuten. Sie glaubt, dass wir auf diese Weise durch die Aufführung „zu einer Veränderung kommen, sodass in dieser Zeit tatsächlich etwas mit uns geschieht“. T Aus dem Slowenischen von Jana Veber

Weitere Texte zum Thema finden Sie im Dossier Theater in Slowenien unter tdz.de

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Theater der Zeit

Akteure

Foto Nikolaus Stein

Lina Beckmann in „Anthropolis I“ von Roland Schimmelpfennig nach Euripides in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Gespräch Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhaus Hamburg und Regisseurin des Antiken-Zyklus „Anthropolis“ Kunstinsert Wie die einstigen Osram-Werke im sächsischen Weißwasser zum Kunstort wurden

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Foto Nikolaus Stein

Theater braucht die große Geste Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhaus Hamburg und Regisseurin des Antiken-Zyklus „Anthropolis“, im Gespräch mit Peter Helling und Thomas Irmer

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Akteure Porträt War es richtig, das Irrationale aus unserem Gesellschaftsentwurf und aus der Politik aus­ zuklammern? War es richtig, sich die Natur so zu unterwerfen? War es richtig, die Götter zu töten? Das sind die Hauptthemen, die sich durch diese fünf Stücke ziehen.

„Anthropolis“ ist für Sie schon das zweite Antikenprojekt in Ihrer Laufbahn, nach „Die Rasenden“ in Ihrer Hamburger Auftakt­ spielzeit 2013/14. Woher kommt das große Interesse an der Antike? Karin Beier: Die antiken Mythen faszinieren mich immer wieder aufs Neue, weil in ihnen eigentlich schon (fast) alles verhandelt wird, was uns auch heute noch an existentiellen Fragen umtreibt. Was kann man wissen, was muss man glauben, woher sollen wir wissen, was richtig ist und was falsch, was wahr ist und was nicht – das sind Grundfragen jeder Gesellschaft, die ganz einfach klingen, die wir aber immer wieder neu diskutieren müssen. So einen Fragenkatalog haben wir in den Prolog vor „Anthropolis“ gesetzt. Wir wollten noch einmal ganz zurück zum Anfang und uns mit den Gründungsmythen unserer Zivilisation auseinandersetzen, die von Urbanisierung und den damit verbundenen Gewaltakten erzählen. Momentan stecken wir in solch großen Superkrisen, wie sie ähnlich damals die Athener erlebt haben müssen, um die Tragödie zu erfinden: der Clash von Natur und Kultur, drohende Vernichtungskriege, Herrschafts- und Machtkrisen, Religions- versus Aufklärungsbewegungen – all das wird exemplarisch in den Geschichten um die Stadt Theben verhandelt.

Mehmet Ateş çi und Karin Beier bei den Proben von „Anthropolis I“ von Roland Schimmelpfennig nach Euripides in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

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Theben ist eine der ältesten Städte Griechenlands und als Schau­ platz von Ödipus und Antigone ein Knotenpunkt der Mythologie. KB: Alles beginnt ja mit der Geschichte von Europa, einer phönizischen Königstochter, die vom griechischen Göttervater Zeus in Gestalt eines Stieres entführt wird. Ihr Bruder Kadmos sucht sie jahrelang, bis ihm das Orakel sagt, er solle die Suche aufgeben und stattdessen eine Kuh so lange hetzen, bis sie zusammenbricht. Dort solle er eine Stadt gründen. Kadmos hetzt die Kuh zu Tode, doch befindet sich an diesem Ort auch eine Quelle, die von einem Drachen bewacht wird. Kadmos tötet also auch den Drachen und sät dessen Zähne aus. Daraus erwächst eine Armee von Männern, die sich sofort gegenseitig umbringen, bis nur noch fünf davon übrigbleiben. Und mit diesen fünf Männern gründet Kadmos die Stadt Theben. Schon der erste Schritt der Urbanisierung basiert also auf Gewalt. Gewalt gegen Tiere, Gewalt untereinander, Gewalt gegen Tierwesen, wie es ja auch die Sphinx eines ist. Doch später tötet Ödipus dieses Zwitterwesen nicht mit Waffen, sondern einfach mit zwei Worten: der Mensch, – indem er das Rätsel löst, das ihm die Sphinx gestellt hat. Das ist doch großartig in metaphorischer Hinsicht! Ödipus tötet mit seinem Wissen, mit seinem Verstand. Und das bringt uns zu dem Kern, der uns an diesen Gründungsmythen interessiert: Ob der

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Fotos Nikolaus Stein

Oben: Mehmet Ateş çi und Lina Beckmann in Proben von „Anthropolis I“. Unten: Ernst Stötzner und Michael Wittenborn und auf dem Pferd Kristof Van Boven in „Anthropolis I“ in der Regie von Karin Beier


Akteure Porträt Weg, den wir als vernunftbegabte, wissenschaftsorientierte Welt gewählt haben, auch der richtige ist? War es richtig, das Irrationale aus unserem Gesellschaftsentwurf und aus der Politik auszuklammern? War es richtig, sich die Natur so zu unterwerfen? War es richtig, die Götter zu töten? Das sind die Hauptthemen, die sich durch diese fünf Stücke ziehen, „Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, „Iokaste“ und „Antigone“. Zu Beginn gibt es einen Prolog, den der Autor Roland Schimmelpfennig neu geschrieben hat, wie auch „Laios“ und „Iokaste“. Die anderen Tragödien hat er in seine sehr karge, manchmal auch härtere, moderne Sprache übertragen, die aber durchaus einen leichten Rhythmus hat und sehr poetisch ist. Schimmelpfennigs Antike ist archaisch, aber dann werden immer mal wieder Fabriken, Kraftwerke oder ähnliches erwähnt. KB: Die Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides entstanden in einer Zeit, die sehr viel mit unserer zu tun hat. Es herrschte Demokratie, und der Mensch wurde zum absoluten Zentrum erklärt. Gleichzeitig gab es andere Kräfte, die mahnten: Obacht, der Mensch will über sein Ziel hinaus. Es ist nicht richtig, die Götter und die Natur zu missachten. Das ist Hybris. Dieser Glaube an die Omnipotenz des Menschen erinnert mich an unsere heutige Zeit, und das zeigt doch, wie unfassbar modern diese Stoffe sind. Gleichzeitig schockiert mich das ein bisschen und ich frage mich, was ist denn in den letzten zweitausendvierhundert Jahren passiert?

verfolgen, wo ist wer falsch abgebogen, wo trägt jemand die Last des anderen fort? Wo gibt es Wiederholungen der immer gleichen Fehler? Diese griechischen Helden sind keine, mit denen man sich ununterbrochen identifizieren möchte, sie können alle auch sehr unangenehm sein. Ödipus ist unangenehm, ­Antigone ebenso, Kreon, Pentheus, Dionysos – sie sind einfach alle extrem sperrig. Ich hoffe, dass das Publikum mit unserem Zugriff auf diese alten Helden sinnlich einsteigt und gleichzeitig immer ­wieder sagt: Stop! Das Ganze scheint eine Geste des Theaters selbst zu sein: Wir kön­ nen und wollen ganz groß, auch in der Top-Besetzung mit Lina Beck­ mann, Lilith Stangenberg, Ernst Stötzner und Devid Striesow. Gerade wird ja wieder viel von der Krise des Theaters geredet, mit dem Publi­ kum, den Finanzen und überhaupt – ist die Geste so gemeint? KB: Bei allem Schrecklichen und Dunklen sind diese Tragödien ja auch eine Feier, eine große Zusammenkunft von vielen Menschen über einen längeren Zeitraum, auf eine Art und Weise, die sich irgendwo zwischen Sinnlichkeit und Erkenntnis bewegt. So stelle ich mir die alten Dionysien von Athen vor, ein fünftägiges Fest, bei dem die Tragödiendichter im Wettstreit gegeneinander angetreten sind. Mit diesem Fest hat man den Dionysoskult in die Polis, in die Stadt geholt – allerdings in einer gezähmten und kontrollierten Variante. Aber auch die war durchaus kräftig und sinn-

Sie nennen das Projekt „Anthropolis“ also „Menschenstadt“. Was bedeutet die Entführung der Europa durch einen Gott in Tier­ gestalt für den Ursprung der Zivilisation? KB: Für mich war ganz wichtig: Wie greife ich dieses „Göttliche“? Es hat mir dann geholfen, den Begriff des Göttlichen möglichst weit zu fassen, als „das Absolute“ zum Beispiel. Aber ich tue mich schwer damit, dass es in den Mythen eben ein Orakel gibt, nichts zu machen, fertig. Für mich muss immer ein anderer Weg möglich sein und den suche ich. Ich finde es schwer, damit umzugehen, dass es Dinge gibt wie den Klimawandel, von dem man sagen muss, da kannst du dich auf den Kopf stellen, spielt alles keine Rolle. Der ist unverrückbar. Dafür steht für mich dieses Orakel, das Göttliche, dass es etwas gibt, das ich akzeptieren muss. Erlaubt Ihnen das Erzählen dieser Mythen als Serie, Mechanis­ men des Menschlichen deutlicher zu machen? Also analog zu Net­ flix-Serien: mit einer gewissen Erschöpfung beim Binge-Watching Grundlegendes sichtbar zu machen? KB: Ja, auf jeden Fall. Es gibt allerdings unterschiedliche Schwerpunkte in den Stücken. „Anthropolis“ hatten wir – anders als bei „Die Rasenden“ – nie so konzipiert, dass man alles an einem Abend sehen soll, wobei wir jetzt an vier Wochenenden für die Binge-Watcher:innen alle Stücke hintereinander zeigen werden. Die ursprüngliche Idee war tatsächlich: Wir erzählen fünf Folgen. Und das kam einfach aus dem Impuls heraus: Das finden wir toll, jeden Freitagabend 19:30 Uhr: Bähm! (lacht) Jedes dieser Stücke funktioniert für sich allein, aber für die Zuschauer:innen, die das Ganze sehen, ist es in besonderer Weise erhellend zu

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Akteure Porträt lich gedacht. Ich mag so etwas ja ganz gerne. Ich habe ein bisschen Angst davor, dass das alles too much ist. Wir machen opulentes Theater, und ich hoffe sehr, dass uns diese Mischung aus so einer Feier, die ja auch mit Rausch zu tun hat, einer Zusammenkunft der Stadtgesellschaft und Denkanstößen gelingt. Natürlich immer mit dem Ziel, eine Diskussion anzuregen. Theater braucht das, so gebündelt kraftvoll und lustvoll aufzutreten. Ich glaube, dass unsere Marathon-Wochenenden mit „Eventcharakter“ – das Wort mag ich allerdings nicht allzu sehr –, sich am besten verkaufen, weil die Zuschauer:innen sich sagen werden: „Das ist etwas ganz Anderes, ich will sehen, wie ich das durchhalte, darauf lasse ich mich ein“. Wie haben Sie die letzten zwei Jahre geprobt, parallel, Stück für Stück? KB: Ich kann nicht parallel proben, ich habe die fünf Teile nacheinander geprobt. Wir haben den Probenplan im Vorfeld sehr genau strukturiert, denn zwischen dem einen und dem anderen Stück braucht mein Kopf auch Luft. Das heißt, ich hatte immer sechs bis acht Wochen dazwischen Vorbereitungszeit, was für mich schon etwas knapp ist. Als Erstes ging es um die beiden Stücke, die Roland Schimmelpfennig neu geschrieben hat, das waren „Laios“ und „Iokaste“. Die anderen Stücke gab’s ja schon. Das Deutsche Schauspielhaus, die größte Sprechbühne im Land, ist ja auch ein Resonanzraum dafür, was gerade in der Gesell­ schaft passiert. Tritt die Antike am stärksten mit uns in Resonanz in einer Zeit, in der wir wirklich von Krisen umgeben sind? Es gibt den russischen Angriffskrieg, die Klimakrise, wir haben mög­

licherweise auch eine Krise der Demokratie. Ruft diese Zeit nach diesen Stoffen? KB: Ja! Diese Stoffe sind so unfassbar aktuell! So erlebe ich Theater: Ich muss die Nähe zur Gegenwart nicht noch extra betonen, mich würde es eher stören, wir so eins zu eins unsere Krisensituation herstellen. Ich mag es, meine Verknüpfungen selbst herzustellen. Ich mag es, wenn das Publikum seinen eigenen Link schafft zu den Dingen, die gerade passieren – die Krise ist ja allgegenwärtig. Ich glaube, die Zuschauer:innen haben Spaß daran, diese Lücken zu füllen. Das ist ihre Denkarbeit. Ich mag es nicht, von oben herab belehrt zu werden oder wenn ich denke, dass sich das Theater über die Zuschauer:innen erhebt. Das müssen wir immer gemeinsam finden. Dafür bietet sich die griechische Mythologie so wahnsinnig gut an, weil sie so sperrig ist und Varianten, Möglichkeiten zeigt. Lesen Sie während der Proben noch weiter? KB: Sie meinen, Sekundärliteratur? Nein, das geht auch gar nicht, dafür hat der Tag zu wenig Stunden. Nach den Sommerferien lag die Inszenierung „Dionysos“ seit über einem Jahr auf Halde. Ich hatte gar kein Textbuch mehr, ich habe sie alle weggeworfen. Ich schaue auf das, was ich gemacht habe, und dann sehe ich auf einmal: „Hä? Das ist doch völliger Quatsch. Das ist unlogisch oder falsch oder gefällt mir nicht: weg damit!“. Wo man vorher im Tunnel steckte, ist jetzt durch den größeren Abstand natürlich ein frischerer Blick möglich. Sie beginnen gerade Ihre elfte Spielzeit als Regie-führende ­Intendantin. Das ist ja ein Modell, das so langsam zu ver­

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schwinden scheint, wenn man auf die vielen Team-Berufungen der letzten Jahre schaut. Macht das noch Spaß, so beides zu haben? KB: Auch das geht nur im Team, anders wäre beides gar nicht möglich. Wer das Theater in den künstlerischen Prozessen im Auge hat, wird es auch gut leiten können. Was ich persönlich sehr schätze, ist der Kontakt zu den bühnennahen Gewerken. Das ist mir sehr wichtig. Man spürt das Theater anders, als wenn man die meiste Zeit in der vierten Etage am Schreibtisch sitzt. Natürlich bin ich als Intendantin in einer privilegierten ­Situation. Aber als Regisseurin kämpfe und schwitze ich mit den anderen zusammen. Sie haben dem Grenzen gesetzt, als sie sagten, es gibt auch ein ­Privat- und Familienleben, um fünf ist für mich Schluss. Das war im familienfeindlichen Theaterbetrieb damals etwas sehr Beson­ deres. KB: Das hatte mit meinem Kind zu tun. In Köln, als meine Tochter noch ganz klein war, habe ich gesagt: Ich muss jetzt gehen. Und alle haben das mitgetragen. Noch in der Generation vor mir war es verpönt, Kinder zu haben, wenn man am Theater gearbeitet hat. Es gab Intendanten, die haben einen vor die Wahl gestellt: Entweder Kind oder Theater. Dabei ist das Quatsch, im Gegenteil, es kann sehr befreiend sein, in ein Außerhalb des Theaters zu pendeln. In skandinavischen Ländern ist im Theaterbetrieb die Zeit für die Familie viel besser abgesichert. KB: Das hat sich auch hier stark verändert. Elternzeit wird in Anspruch genommen, auch vermehrt von Männern, Ruhezeiten werden viel kontrollierter eingehalten, gewerkschaftliche Bestimmungen greifen. Dürfen wir Sie zum Schluss fragen, ob Sie Ihre Bemerkung über die Rolle der Kritik, die eine sehr erregte Diskussion auslöste, ­bedauern oder ob die ganze Sache im Nachhinein vielleicht doch etwas Sinnvolles hatte? KB: Ich sprach vor kurzem mit einem Ihrer Kollegen, der mich dafür kritisierte, dass ich das nicht revidiert habe. Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Aber vielleicht hat er recht, und ich hätte das ins rechte Licht rücken müssen, wie diese salopp gemeinte Bemerkung aus einem launigen Interview herausgepickt und schwarz auf weiß gedruckt eine andere Bedeutung bekommen hatte. Gemeint war, dass von der Kritik immer etwas an einem haften bleibt. Wir müssen damit leben, dass Kritiker:innen unsere Arbeit manchmal schlecht finden – und Kritiker:innen müssen eben damit leben, dass wir sie dafür nicht immer mögen. T

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Die ehemalige Osram-Werke in Weißwasser

„Die Glaswanne darf nie kaltlaufen“ Wie die einstigen Osram-Werke im sächsischen Weißwasser zum Kunstort wurden Fotos Tom Mustroph

Von Tom Mustroph

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Fotos Tom Mustroph

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Weißwasser ist eine alte Glasmacherstadt in der Oberlausitz, nahe an der Grenze zu Polen. Wie noch vor dreißig Jahren mit der Kraft der Lungen aus höllisch erhitzter Glasmasse Kelche geblasen wurden, kann man in einem Film im Glasmuseum Weißwasser sehen. Männer mit dicken Wangen halten da sehr behutsam lange Pfeifen. An deren anderem Ende wächst eine transparente Blase aus Glas in dem Maße, in dem sie Luft aus ihrem Munde entweichen lassen. Physische Kraft und viel Gefühl für das fragile Material vereinen sich zu einer ganz besonderen Kunstform. Mittlerweile sind diese Fertigkeiten hier nicht mehr gefragt. Der Mauerfall führte weitgehend zur Einstellung der Produktion. Nur zwei Standorte von einst einem Dutzend sind noch zum Teil in Betrieb. In der ehemaligen „Aktienhütte“ stellt seit 1996 das österreichische Unternehmen Stölzle Trinkgefäße aus Kristallglas her. In einem Teil der Hallen der früheren Osram-Fabrik, später VEB Spezialglaswerk Einheit, erzeugt die Firma Telux den Grundstoff Glasgemenge und fertigt Spezialgläser für die Industrie an. Auf einem anderen Teil des Geländes hat sich im Jahr 2017 das Soziokulturelle Zentrum (SKZ) Telux angesiedelt. „Wir waren bereits 2003 und 2005 mit einer großen Jahresabschlussveranstaltung hier. Und da haben wir gesehen, wie gut sich die Räumlichkeiten für uns anbieten“, erzählt Sebastian Krüger, studierter Sinologe, danach Industriedesigner und jetzt Leiter des SKZ. Im Laufe der letzten sechs Jahre hat sein Team Veranstaltungs- und Workshop-Räume in die alten Hallen gebaut. Die „Hafenstube“ – Häfen wurden die runden Bottiche genannt, in denen das Glas einst erhitzt wurde – sorgt für Speis und Trank. An den großen Disco-Wochenenden kommen schon einmal achthunderd bis neunhundert junge Menschen aus der Region und tanzen durch die Nacht, versichert Krüger. In zwei der Hallen zog in diesem Sommer das Lausitz Festival. Stefan Puchers auf zwei Personen und eine Hilfskraft reduzierte Inszenierung des „Kaufmanns von Venedig“ und das MusikTanzTheater „Gletscher“ der französischen Choreografin Margaux Marielle-Tréhoüart und des israelischen Komponisten Haggai Cohen-Milo wurden gezeigt. Bei beiden Arbeiten spielte der spektakuläre Aufführungsort eine Hauptrolle. Puchers Szenograf Lugh Amber Wittig ließ die alten Glasöfen mit rötlichem Licht wieder aufleuchten. Shylock, der jüdische Geldverleiher, mutierte, mit Arbeitsoverall angetan und in der einstigen Schaltzentrale der Öfen platziert, zum Schichtleiter des verlassenen Werks. Bewegte man sich in die benachbarte Danner-Halle, einen riesigen Innenraum mit mehr als tausendzweihundert qm Grundfläche und etwa zwanzig Meter Höhe, in der „Gletscher“ stattfand, konnte man noch auf alte Gläser aus DDR-Produktion stoßen: Langstielige Trinkgefäße wie auch rot eingefärbte Glaskolben für Rotlichtbestrahlungslampen stapeln sich in staubigen Schränken. In den alten Umkleideräumen befinden sich drei Jahrzehnte nach dem letzten Schichtende noch immer Arbeitsklamotten. ShylockDarsteller Samuel Weiss fand sogar einen alten, silbern glänzenden Schutzanzug gegen die höllische Hitze aus den Öfen. Der Anzug kommt natürlich auf der Bühne zum Einsatz. Selbst ein paar geschmolzene und wieder erstarrte Glasreste findet man in einigen

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Fotos links oben und im Hintergrund Tom Mustroph

Akteure Kunstinsert


Akteure Kunstinsert Öfen. Fällt ein Sonnenstrahl darauf, wird das Licht in vielen Farben gebrochen. Die alte Industrieanlage wirkt wie eine Märchenwelt, in die jetzt teils entzaubernd, teils neuen Zauber erzeugend die darstellende Kunst fährt. Desillusionierend ist, dass sich in den Hallen jetzt bestenfalls einige Hundert Festivalbesucher:innen tummeln, während früher zweitausend Menschen im Vier-Schicht-System Bildröhren für Fernsehgeräte, Glühbirnen, Glaskolben und Glasplatten für Scheinwerfer herstellten. „Damals war das Motto, dass die Glaswanne nie kaltlaufen darf. Denn dann ist im wahrsten Sinne der Ofen aus und viel Energie muss reingesteckt werden, um sie wieder anzuheizen“, erzählt Krüger, der selbst aus der Region stammt.

Die Einwohnerschaft sank aufgrund der Betriebsschließungen von etwa siebenund­ dreißigtausend Personen im Jahr 1987 auf ­fünfzehntausend in 2022, Tendenz weiter fallend. Es gingen vor allem die Jungen und Mobilen. Mit ihnen fehlen auch halbe Jahrgänge von Kindern und Jugendlichen, die bei den fort­gezogenen Eltern woanders aufwachsen.

Ein Ökosystem aus Kunst und Kultur

auf allen Ebenen – egal, ob die aus der Lausitz stammen oder aus Hamburg oder Peru. Zugleich ermöglicht das Festival der Lausitz, vielfältige Kulturveranstaltungen im Hochkultursektor zu erleben. Und auch wir als Ort profitieren aufgrund der Aufmerksamkeit, die das Festival erfährt.“ In den früheren Industrieanlagen hat sich mittlerweile ein regelrechtes Ökosystem aus Kunst, Kultur, Design und Handwerk etabliert. Einen großen Anteil daran hat das SKZ. Es betreibt selbst Innovationswerkstätten mit 3D-Druckern, CNC-Fräsen und Laser-Schnittgeräten, mit denen sogar Aufträge für die Industrie realisiert werden. Man darf also auf Synergie-Effekte hoffen, wenn etwa Bühnenelemente für Theateraufführungen gleich nebenan gefertigt werden. Auch ein Studio-Ofen für das alte Glasbläserhandwerk ist geplant. Gegen Ufos hat der technisch ambitionierte Projektemacher Krüger ohnehin nichts. Er führt zu einer silbern glänzenden Halbkugel auf dem Gelände, die selbst ein wenig wie ein Ufo wirkt. Auf das Festival bezogen meint er: „Es ist auch schön, dass nur hier und da mal ein Highlight-Ufo landet. Denn wenn Ufos jeden Tag am Himmel stünden, würde doch keiner mehr hochgucken.“ Als Landeplatz für weitere Kulturvehikel, die sich vielleicht auch mal länger vertäuen, sind alten Hallen aus den Zeiten von Osram prächtig geeignet. Und auch die Region kann es verändern. „Oft liegen die Probleme darin begründet, dass die Menschen vor Ort das selbsterfüllende Orakel spielen. Sie wollen keine Veränderung, also bekommen sie keine Veränderung. Und wenn sie keine Veränderung bekommen, fühlen sie sich darin bestätigt, dass hier eh nichts Neues passiert“, beschreibt Krüger eine Mentalitätsfalle nicht nur in der Oberlausitz. Die Telux-Hallen mit ihren Machern haben das Zeug zu einem Motor, der sogar die Trägheit des sich im Abgehängtsein-Suhlens überwindet. Natürlich, die Glaswanne muss erst einmal wieder richtig angeheizt werden. Aber das Potenzial für einen guten neuen Betrieb ist einfach da, mit Kunst, mit Digitalprojekten, mit Handwerk. T

Die ersten Glashütten gab es bereits 1872 in Weißwasser. Die Ortschaft zählte damals siebenhundertsechzig Einwohner. Erst die Anbindung an die Eisenbahnlinie Berlin Görlitz im Jahr 1867 sowie die immensen Lagerstätten von Glassand als Roh- und Braunkohle als Heizmaterial machten das Heidedorf für die Industrialisierung interessant. „Zuerst kam die Bahnstation, dann die Glashütten und rings um die Hütten entstanden die ersten Wohnungen für die Arbeiter. Das erklärt auch, warum es in Weißwasser kein richtiges Zentrum gibt“, leitet Christine Lehmann, Leiterin des Glasmuseums, den städtebaulich eher tristen Anblick des Ortes her. Der wird noch dadurch verstärkt, dass Weißwasser eine jene berüchtigten schrumpfenden Städte ist. Die Einwohnerschaft sank aufgrund der Betriebsschließungen von etwa siebenunddreißigtausend Personen im Jahr 1987 auf fünfzehntausend in 2022, Tendenz weiter fallend. Es gingen vor allem die Jungen und Mobilen. Mit ihnen fehlen auch halbe Jahrgänge von Kindern und Jugendlichen, die bei den fortgezogenen Eltern woanders aufwachsen. Mit Rückholprogrammen wollen die Bürgermeister:innen des Städtedreiecks Weißwasser, Spremberg und Hoyerswerda sie wieder anlocken. Laut ihrem Aufruf fehlen sechzigtausned Fachkräfte in der Region. Wohnungen sind wegen des früheren Wegzugs mal nicht das Problem. Damit die Gegend attraktiver wird, braucht es eben auch Kultur. Kultur wie das SKZ mit Krüger anbietet, der selbst nach 13 Jahren unter anderem in China wiederkam. Kultur auch wie die vom Lausitz Festival. Von außen, von aus Berlin für ein paar Stunden angereisten Journalist:innen, wird der Event gern als ein Ufo kritisiert, das kurz landet, dann aber wieder weiterzieht. In der lokalen Bevölkerung ist die Aufnahme viel freudiger. „Anfangs herrschte schon Skepsis, ob das vielleicht nicht nur eine einmalige Aktion ist. Inzwischen gehen viele Leute aber gern hin, auch ich selbst“, versichert Museumschefin Lehmann. Auch Krüger beobachtete eine positive Entwicklung: „Die Befürchtung, dass hier nur ein Ufo landet, gab es vor Jahren, zu Beginn des Lausitz Festivals, auch innerhalb der hiesigen Kulturszene. Inzwischen haben wir aufgrund der Erfahrungen der letzten vier Jahre einen ganz anderen Blick darauf und schätzen vor allem den Kontakt zwischen Kulturschaffenden und Ermöglichenden

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Theater der Zeit

Retzhofer Dramapreis 2023


Fotos linke Seite C.Stadler/Bwag, rechte Seite oben links AWK Engel Albustin, rechts Wolfang Rappel, unten links Werner Hahn, rechts Wolfgang Rappel

Yannic Han Biao Federer

Lena Gorelik

Marisa Wendt Leonie Lorena Wyss

Den Retzhofer Dramapreis gibt es seit 2003. Er wird biennal vergeben und war eine der ersten Ausschreibungen, in der Arbeitsprozess und Wettbewerb verbunden werden. Viele der Sieger:innen und Teilnehmer:innen haben sich im Theaterbetrieb nachhaltig etablieren können. Zu nennen sind: Ewald Palmetshofer, Ferdinand Schmalz, Miroslava Svolikova, Gerhild Steinbuch, Lisa Wentz, u.v.m. Somit hat sich der Preis als wichtige Förderposition in der deutschsprachigen Theaterlandschaft etabliert. Im Spätherbst 2023 wird die nächste Ausschreibung veröffentlicht. Weitere Infos: www.dramaforum.at

Die feierliche Preisverleihung findet jeweils im Schloss Retzhof (linke Seite) statt, das für den Dramapreis namensgebend wurde.

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Weitere Texte zum Thema finden Sie im Dossier Retzhofer Theaterpreis 2023 unter tdz.de

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Stück Lena Gorelik

Nachdem

SagdochmalLuca

Ein Stück für junge Menschen Lena Gorelik

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich hab gar nicht alles gesehen. Hätte ich auch gar nicht gekonnt. Ich kam noch aus der Dusche, und da lief das Wasser, und das war so laut, da hört man echt nix. Aus der Dusche, was da grad in der Garderobe passiert, da hört man eigentlich nichts. Außer wenn jemand so schreit. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Du hättest da auch geschrien. Du hättest noch viel krasser geschrien. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich sag ja nur. Ich hab nichts gesehen. Und ich weiß nicht, ob du was gesehen hast.

(Auszug)

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich hab alles gesehen. Ich hab echt alles gesehen.

STÜCKBESCHREIBUNG

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich glaub ja, dass niemand von euch was gesehen hat. Hier werden echt nur Gerüchte verbreitet.

Krass, ey: Luca hat auf jemanden eingeschlagen. In der Garderobe. Mit einer Metallstange, echt. Und der hat dann geblutet. Das ist die Geschichte. Oder das ist sie eben nicht. Was ist denn eigentlich genau passiert? Alle wissen alles, niemand weiß irgendetwas, aber alle haben etwas zu sagen. Angebliche Zeug:innen verbinden Gesehenes mit Gedachtem, vergrößern Details oder lassen sie weg, erinnern sich oder meinen, sich zu erinnern. So prallen Erzählungen aufeinander, in deren Zentrum Luca steht. Und Luca erzählt nichts. Dieses Stück wird von Rowohlt Theater Verlag vertreten.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich hab alles gesehen, echt! Ich hab den Schlag gesehen. Wie Luca sich runter gebeugt hat. Voll ruhig. Hat sich runter gebeugt, diese Stange aufgehoben, und: Bumms. Das war so krass. Man hat den Aufprall gehört. Und dann noch mal. Und die Bank so entzwei. Wie in einem James Bond oder so. Und dann stand Luca da einfach. Also der stand da nicht lange, der hat dann ja auch Taschentücher rausgeholt und dem Luis das Blut abgewischt. Und dann plötzlich so krass zärtlich irgendwie. Also als hätte der gar nichts getan.

Das vollständige Stück finden Sie unter tdz.de/dramatik

Lena Gorelik, geb. 1981 in St. Petersburg. Mit ihrem Debütroman „Meine weißen Nächte“ (2004) wurde sie als Romanautorin bekannt, sie hat seitdem mehrere preisgekrönte Romane veröffentlicht. 2020 feierte die von ihr dramatisierte Fassung ihres Romans „Mehr schwarz als lila“ am Residenztheater in München Premiere. Das Kindertheaterstück „Als die Welt lernte, rückwärts zu gehen“ wurde für den Deutschen Kindertheaterpreis 2022 und die Mülheimer Theatertage nominiert. Lena Gorelik erhielt den Retzhofer Dramapreis für junges Publikum 2023.

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IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Vielleicht hat Luca ja auch gar nichts getan. Wissen wir das, dass es Luca war? Wissen wir das ganz sicher? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Also, was jetzt – auf die Bank eingeschlagen? Gar nicht auf den Luis? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Also als ich kam, da war Luca schon voll dabei, Luis das Blut weg zu wischen, da hat Luca IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Klar habe ich es gesehen, ich war als Erster da. Ich hab den Luis schreien gehört und, also da wusste ich natürlich noch nicht, dass es Luis ist, der

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Stück „SagdochmalLuca“ schreit, jedenfalls habe ich den Schrei gehört und bin sofort IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Aber dann kannst du doch gar nichts gesehen haben. Wenn du erst hin bist, als Luis schon schrie, ich meine, dann kannst du doch gar nicht

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Den Text kann Luca echt auswendig. Als hätte Luca den einstudiert. Klingt voll … textsicher eben. LUCA schaut sich ein YouTube-Video an.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Genau, den Schlag!

YOUTUBE-STIMME Ich möchte bitte nicht als Junge bezeichnet werden. Wenn Sie meine Bitte ignorieren, dann ist das Diskriminierung gegenüber nicht binären Menschen.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Jedenfalls hat Luca ihm nur das Blut weg gewischt, aber Luca hat nichts gesagt, Luca hat nur

LUCA Ich möchte bitte nicht als Junge bezeichnet werden. Wenn Sie meine Bitte ignorieren, dann ist das Diskriminierung gegenüber nicht binären Menschen.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Der sagt nie viel, der Luca.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Also ich hab jetzt nicht gesehen, wie Luca zugeschlagen hat, ich war schon draußen. Weil ich noch los musste, wegen der Hausis für Mathe. Und den Schrei, den hab ich auch draußen noch gehört. Und dann bin ich sofort umgedreht. Also ich war schon fast raus aus der Sporthalle und hab den Schrei trotzdem gehört.

IRGENDJEMAND Nicht der!

AUS

DER

KLASSE

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das stimmt doch gar nicht. Luca sagt voll oft was, im Unterricht und auch so. Und immer so geradeaus, also Luca ist echt nicht auf den Mund gefallen. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Vor allem, wenn’s darum geht, dass er so nicht genannt werden will, also der. Das sagt er ständig. Und laut. Den Lehrern und allen anderen auch. Und die meisten Lehrer achten da ja auch voll drauf. Das muss man schon sagen, dass die das gut machen, dass sie sich alle Mühe geben, das hat auch Luca selbst schon mal gesagt. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Außer Herr Meindl, der nicht. Der hat auch schon mal gesagt, dass Luca sich nicht so aufspielen soll. HERR MEINDL Vielleicht jetzt einer mal von den Jungs. Luca, was ist denn mit dir? LUCA Ich möchte bitte nicht als Junge bezeichnet werden. Wenn Sie meine Bitte ignorieren, dann ist das Diskriminierung gegenüber nicht binären Personen. HERR MEINDL Wenn du dich jetzt auch so wortgewandt zum Thema meines Unterrichts äußern könntest. Hast du den Text gelesen, den ich aufgegeben habe? LUCA Nein.

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Hört den Schrei, dreht sich um, rennt Richtung Schrei. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Also, wenn man’s genau nimmt, IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Nimm’s halt nicht so genau, Digger. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Muss man ja ganz wo anders anfangen. Also eigentlich geht es ja gar nicht um die Garderobe. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Na, wenn jemand blutet, dann geht’s schon darum. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Eigentlich muss man da anfangen, wo Luis und Luca sich gestritten haben. Letzte Woche schon. Beim Ausflug. Und da ging’s ja um was ganz anderes, es ging darum, was da im Wald war, und dass Alessia IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das musst du doch jetzt nicht erzählen, das ist doch scheißegal, was beim Ausflug war, das hat doch damit nichts zu tun, Digger. Vielleicht war Luca auch einfach sauer, wegen dem, was vorher war, bei Frau Ludvig. Vielleicht hatte Luca einfach schlechte Laune. Und hat einfach zugeschlagen. Einfach ausgetickt.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Lass mich doch jetzt mal erzählen, Mann. Ich glaub nämlich schon, dass das, was auf dem Ausflug war, was damit zu tun hatte. Und ich glaub, dass du das nicht hören willst, weil du dich so gern aufspielen möchtest, weil du als Erster in der Garderobe IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Frau Ludvig hat nämlich in Deutsch, also wir sollten mit Zuschreibungen arbeiten. GeschlechterKlischees aufschreiben. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das war so unterkomplex. So eine Aufgabe für IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und du, du bist natürlich, also du denkst natürlich super komplex und IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE zumindest denk ich nicht in Stereotypen.

Na,

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Es denkt doch heute eh keiner mehr so, dass alle Frauen oder alle Männer. Ich fand die Aufgabe einfach scheiße, du nicht, oder was? Wir sind doch nicht mehr in der Fünften. Und selbst meine kleine Schwester, selbst die würde nie aufteilen in Mädchen und Jungs, also was denkt die von uns, die Ludvig. Hallo, ich bin Feminist. Schon immer bin ich Feminist. FRAU LUDVIG Vielleicht sammeln wir erst einmal alle Zuschreibungen, die euch einfallen. Ich weiß, das wird jetzt erst einmal eine Ansammlung an Klischees, aber vielleicht können wir dann darüber sprechen, wie Klischees, wie Stereotype entstehen, und was diese Rollenbilder für eine Auswirkung auf unsere Gesellschaft haben. Wir fangen jetzt einfach mit dem Sammeln an. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Aber wenn wir diese Klischees aufschreiben, über Mädchen und Jungs, dann ist es doch, als würden wir sie verstärken, als würden wir IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich zum Beispiel, ich denke gar nicht über so was nach. Also über Jungs und Mädchen. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Außer über Alessia. Über die denkst du schon nach.

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Stück Lena Gorelik IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE So lustig, Alter. Und so erwachsen, echt. FRAU LUDVIG Wir greifen das alles noch auf. Das ist ein wichtiger Gedanke, dass man Klischees möglicherweise verstärkt, indem man sie wiederholt, das wollen wir auf jeden Fall noch aufgreifen. Wollt ihr euch jetzt erst mal in Gruppen aufteilen? Und so, dass vielleicht immer eine oder einer mitschreibt und die anderen diktieren? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich schreib sicher nicht, das kann eh keiner lesen, meine Sauklaue. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich schreibe. Und Luis, der diktiert. Gell, Luis? LUIS Ich schreib nichts. Ich hab, meine Hand tut weh, vom letzten Baseball-Training. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Armer Luis! Frau Ludvig, darf ich Luis vielleicht zum Arzt begleiten? Seine Hand tut weh, vom letzten Baseball-Training! IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und da ist Luca dann einfach raus. So seelenruhig. Luca beugt sich zum Rucksack, macht den Reißverschluss auf. Packt Schreibblock und Mäppchen ein. Zieht den Reißverschluss wieder zu, steht auf, wirft den Rucksack über die Schulter und geht. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Viel langsamer noch. Das war wie so in Zeitlupe irgendwie. Luca kommt zurück, um noch einmal auf die Tür zuzugehen. Viel langsamer noch. Wie so in Zeitlupe irgendwie. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das war eigentlich total unfair, weil Frau Ludvig neu war. Die ist ja Referendarin. Die wusste das nicht, das mit Luca. FRAU LUDVIG Ähm Hallo? Hallo, wo willst du denn hin? Was soll denn das? Hallo? Entschuldige, wie heißt du noch mal? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das ist Luca.

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FRAU LUDVIG Luca? Luca, wo willst du denn hin? Luca, du kannst doch nicht einfach mitten im Unterricht die Klasse verlassen! IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Luca ist kein Junge und kein Mädchen. Das heißt, diese Aufgabe, die Sie uns gegeben haben, diese Aufteilung auf zwei Geschlechter, das ist diskriminierend für Luca. Der ist nämlich nicht binär. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Digger, nicht der!

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Nein, dass du in der Pause mit Luca geredet hast. Du warst doch mit mir, wir standen doch Sie stehen beieinander, Energy-Drinks in der Hand. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und dann hat Luis gefragt, ob wir ein paar Bälle werfen. LUIS Kommt ihr mit, ein paar Bälle werfen? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Klar.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Meine ich ja, Luca. Luca ist nicht binär.

Sie zischen ab, ein paar Bälle werfen.

FRAU LUDVIG Oh. Das wusste ich nicht. Das. Das tut mir total leid. Wirklich. Ich meinte das nicht so, ich wollte ja nur. Ich wollte nicht. Ich gehe ihm mal hinterher. Also Luca. Ich entschuldige mich bei Luca. Luca?

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich war die ganze Pause mit dir zusammen. Du hast nicht mit Luca geredet, sage ich dir.

Frau Ludvig eilt Luca hinterher.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Hatten wir Bio? Das war doch ein Dienstag?

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Die ist Luca sofort hinterher. Das war total gut, ich meine, sie wusste es ja nicht, und dass sie sich sofort entschuldigt, also dass sie nicht so was sagt, wie: Was ist denn los mit dir, sondern, dass es ihr sofort leid tut, das war doch gut. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Frau Ludvig, Sie sind so schnell hinterher, Sie haben doch die Tür richtig zugeschlagen. So richtig mit Karacho. Frau Ludvig kommt zurück, schlägt die Tür so richtig mit Karacho zu. FRAU LUDVIG So? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich hab dann Luca in der Pause gefragt, was die so geredet haben. Also was Frau Ludvig gesagt hat. Und Luca sagte, dass das Gespräch voll okay war, und dass sie sich entschuldigt hat. Luca sagte, sie war echt okay. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das stimmt doch gar nicht. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Was? Dass Luca sie okay fand? Woher willst denn du das wissen?

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Dann war dann später. Also schon nach der Pause. Auf dem Weg zu Bio.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Du lügst doch wie gedruckt, Alter. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich sag ja nur. Mit Frau Ludvig war da nichts. Also wegen Frau Ludvig. Luca war voll gechillt. Auch in Sport. Super gechillt. Hat noch Quatsch gemacht, hinter dem Rücken von Herr Frosch. Luca hat eh keine Aggressionen. Finde ich. FRAU LUDVIG Ich bin so froh. Dass ich Luca nicht durcheinander gebracht hab, das hat mir wirklich leid getan. Das hatte ich nicht mitgedacht bei der Unterrichtsvorbereitung, das hätte mir wirklich nicht passieren dürfen. Andererseits, jemand hätte mich auch vorwarnen sollen, aus dem Kollegium, dass man mich einfach mal informiert, dass da ein Schüler ist, oder eine Schülerin, ich meine, eine Person, die sich als non-binär bezeichnet. Das muss ich doch wissen, wenn ich eine Klasse IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Frau Ludvig, chillen Sie mal. Wirklich. Das hat Luca schon lang wieder vergessen. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das hat Luca schon lang wieder vergessen, als Luca

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Stück „SagdochmalLuca“ dann nachher beschloss, die Garderobe auseinander zu nehmen, und Luis die Nase zu brechen! Da war Luca schon lang wo anders mit den Gedanken! IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Also wie du das sagst! IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Wie denn? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Als wüsstest du, was passiert ist. Du hast doch gar nichts gesehen!

Eine Geschichte IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Im Zug war noch alles voll in Ordnung. Also an dem Ausflugstag. Da saßen Luca und Luis auch noch nebeneinander und haben gezockt. Und gelacht haben die auch. Luca und Luis sitzen nebeneinander und zocken. Und lachen tun sie auch. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und sie waren auch voll zufrieden, so zu zweit. Die kennen sich ja auch schon ewig. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ja, die waren ja auch schon IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Jetzt Ruhe, Mann. Lass mich doch mal erzählen. Das ist jetzt meine Geschichte. Ich hab die zwei auch noch im Zug gefragt, weil wir Karten gespielt haben Hey, Luis, wollt ihr mit uns Karten? LUIS Nee, grad nicht. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und Luca, du hast auch noch was gesagt. LUCA Nächste Runde vielleicht. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Also da war echt noch alles in Ordnung. Und dann auf dieser blöden Wanderung sind sie auch noch nebeneinander her gelaufen, und alles war voll okay, und dann ist Alessia mit denen gelaufen, und sie haben gelacht Luca, Luis und Alessia laufen nebeneinander her.

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IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und lachen müsst ihr.

LUIS Und der Salat da sieht aus, als hätten sie ihn schon vor drei Tagen

LUCA Worüber denn? Wir können doch nicht einfach so draufloslachen, nur weil du das sagst.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und dann taucht halt plötzlich Alessia auf, da aus dem Wald und sieht voll verheult aus und dann alle Mädchen natürlich um sie herum, wie so Straßenhunde, die endlich was zu fressen kriegen, und so „Alessia, Alessia, was ist passiert? Was hat er mit dir gemacht?“. Und dann ist Luca natürlich wieder der, also der Kerl, der dem Mädchen was antut,

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ja, worüber ihr auch immer bei dem Ausflug gelacht habt. Oder erzähl halt einen Witz, Mann. Den mit Putin und Trump im Flugzeug. LUCA Ja, der ist gut. Kennen den nicht alle schon? Also: Sitzen Putin und Trump im Flugzeug, und das Flugzeug kommt in Turbulenzen, und der Pilot sagt: IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ja, der ist gut, den kenne ich! LUIS Wir haben doch gar nicht gelacht. LUCA Lass doch. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Klappe, beide. Das ist meine Geschichte. Jedenfalls, dann kamen wir da oben an, und dann habe ich euch, also die zwei, Luca und Luis, nicht mehr so genau gesehen, aber ich weiß genau, dass Luca und Alessia später verschwunden waren, und Luis, der saß dann alleine auf so einem Baumstamm, und hat halt seinen Wrap, oder was das war, gegessen, LUIS War ein Börek, Digger. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ist doch völlig egal, was du dir reingezogen hast, Alter. Ist meine Geschichte, die ich erzähle, und für meine Geschichte ist es so scheißegal, was du gegessen hast.

IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Luca ist kein Kerl! Echt, jetzt! IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Das ist wieder so ein Vorurteil, dass die Mädchen; so reden wir nicht! Nicht mit dieser Pieps-Stimme, hast du dich eigentlich selbst schon mal reden gehört? IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Alessia, heul doch mal! So wie du da beim Ausflug geheult hast. ALESSIA Heul doch selber. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und dann kommt eben Luca aus dem Wald, und sobald Luis Luca sieht, steht er sofort auf und Luis steht sofort auf, IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Und da wusste ich natürlich gleich, das geht nicht gut aus. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Na klar wusstest du das!

Luis isst Börek. LUIS Nee, nicht egal, weil das der Gute war, der von Alibaba. Bin extra früher los, um mir noch einen zu holen. Die von Döner King schmecken immer so alt und kosten auch noch fast ’nen Euro mehr. Voll die Abzocke ist das. IRGENDJEMAND AUS DER KLASSE Ich hab da auch schon mal eine Maus gesehen. Beim Döner King. Die zischte so quer durch den Raum, und der Typ, der den Döner verkauft, der sieht sie und sagt nichts, als wäre das voll normal, dass da Mäuse durch die Gegend rennen.

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Stück Yannic Han Biao Federer

I McDonald’s

Drive in Yannic Han Biao Federer (Auszug)

STÜCKBESCHREIBUNG Eine McDonald’s-Filiale in der Nacht, sie hat längst geschlossen, Agus und Mariola wischen Böden und Maschinen, als ein Mann auftaucht, der essen will, bald auch eine Frau, und die Polizei, es ist ja Sperrstunde. Mehr und mehr Menschen wanken herbei, eine Katze erzählt von der Gier, die nicht vergehen will, außerdem gibt es Ärger mit DHL, und ein Mann im Bürohemd erfindet sich einen Geliebten. Das vollständige Stück finden Sie unter tdz.de/dramatik

EMCEE Eine Mcdonald’s-Filiale in der Nacht, der bekannte Schriftzug leuchtet vom Dach auf den leeren Parkplatz, zwischen den Mülltonnen fiepen Ratten, abseits eine dickliche Katze, gestreiftes Fell. Sie sitzt am begrünten Begrenzungsstreifen des Drive-in und beobachtet die Nagetiere, sie tut teilnahmslos, stellt aber doch die Ohren auf, wenn sich die erhoffte Beute unter den Containern hervorwagt. Innen zwei Angestellte in Uniform, ihre Bewegungen routiniert, aber müde. Mariola wischt die Böden, Agus schraubt einen Rührarm von der Eismaschine, säubert sie mit einem fleckigen Lappen. Mariola nimmt den Stoffbezug von der Halterung, wäscht ihn im Eimer, drückt ihn in die Lappenpresse, wirft ihn platschend vor sich hin, um ihn wieder in das Moppgestänge zu spannen. Agus hebt einen schwarzen Müllsack aus der Halterung, stößt die Tür zum Parkplatz auf, die Ratten huschen davon, die Katze duckt sich ins Gras, er wuchtet … na komm Kätzchen, willst du dich nicht ein bisschen ins Gras ducken? Nein? Na gut. Also, er wuchtet den Sack in eine der Tonnen, geht zurück, die Tür schlägt hinter ihm ins Schloss. Im Dunkeln zeichnet sich eine Gestalt ab, sie tritt auf den Parkplatz, zögerlich erst, dann entschlossener, ein Mann im karierten Tweedsakko, hellblaues Hemd, Lesebrille auf der Nasenspitze. Langsam tritt er näher, bis er an der verschlossenen Glastür der Filiale angekommen ist, ein dumpfes Geräusch, wie er gegen die Tür prallt, er fasst nach dem Türgriff, zieht daran, vergeblich. Eine Weile steht er da, blickt hinein, beobachtet Mariola, die ungerührt ihren Achterschlag über die Böden zieht. Dann wirft er seine Hand gegen die Scheibe. MARIOLA schrickt auf. Ruft. Geschlossen! Wir haben geschlossen!

Yannic Han Biao Federer ist freier Autor aus Köln, er wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt erschien sein Roman „Tao“ im Suhrkamp Verlag, außerdem Radioessays und Rezensionen auf SWR2, WDR3 und im DLF. Von der Jury des Retzhofer Dramapreises wurde „Drive in“ lobend erwähnt.

EMCEE Der Mann schlägt noch einmal an die Scheibe, energischer jetzt. MARIOLA

Sperrstunde! Geschlossen!

MANN Ich will … essen. Ich will essen. Essen. Jetzt. MARIOLA Herrgott nochmal, geschlossen! Es ist geschlossen! AGUS

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Lass ihn. Ist betrunken.

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Stück „Drive in“ EMCEE Der Mann bleibt unschlüssig vor der Tür stehen, halbherzig schlägt er nochmals gegen das Glas, dann geht er umher, ziellos erst, bald ist er aber am Drive-in, untersucht das dortige Fenster, kann es tatsächlich einen Spalt weit öffnen, er steckt seinen Arm hindurch, den anderen auch, er versucht, sich in die Öffnung zu zwängen, hineinzuschlüpfen, die aber viel zu schmal für ihn ist, er sieht aus wie jemand, der überzeugt ist, über akrobatische Verrenkungskünste zu verfügen, ohne dass dies der Fall wäre, am Ende bleibt ein Arm und sein Kopf im Innenraum stecken.

AGUS Hey! Hey! Moment! Das ist meins! Das wollte ich – , das war mein –.

MANN Essen! Ich möchte jetzt essen! Essen! Fleisch!

EMCEE Er isst und schnauft, hat Soße im Gesicht, plötzlich Blaulicht, Motorengeräusche, ein haltender Wagen, eine Autotür, eine zweite, von rechts treten auf: Sven und Svenja. Beide in dunkler Polizeiuniform mit eingearbeiteten Reflektoren, an ihren Gürteln sieht man Pistole, Pfefferspray, Taser, Schlagstock, sie nähern sich dem Mann am Drive-in, der selbstvergessen kaut und stöhnt.

MARIOLA SVENJA

EMCEE Er springt hinzu, versucht, dem Mann die Tüte zu entreißen, plötzlich überall Pommes Frites, Chicken Nuggets, zwei Burger, die sich halb aus ihrem Papier lösen. Der Mann, noch immer im Fenster klemmend, schaufelt mit dem einen Arm gierig alles zu sich heran und in den Mund, der andere Arm zappelt sinnlos im Freien, Agus wankt zurück.

MANN

Ich möchte essen.

AGUS Es ist Sperrstunde! Wir dürfen, wir dürfen Ihnen nichts MANN Ich will aber. Essen. Fleisch. Jetzt. Hunger!

SVENJA leise ins Funkgerät Neckar Null Zwo Vierzig an der Bundesstraße Neun, der McDonald’s hier hat noch Betrieb.

AGUS Es ist geschlossen! Zu! Finito! Sperrstunde! Ich darf Ihnen nix verkaufen!

SVEN Hallo! Polizei! Zurücktreten bitte! … Hallo! Polizei!

MANN

MANN

Hunger!

EMCEE Sven tippt den Mann an, der nicht reagiert, greift nach dem freien Arm, jetzt bewegt er sich, beginnt sich zu wehren, will die fremde Hand abschütteln und zugleich ins Innere des Drive-in-Schalters kriechen, Sven lässt nicht los, zerrt an ihm, Svenja eilt herbei, hilft, der Mann tritt um sich, aber gemeinsam ziehen sie ihn aus dem Schalter, er fällt zu Boden, kriecht sofort zur Wand, kauert sich dort zusammen, guckt zu Sven und Svenja, hektisch kauend.

AGUS

Geschlossen!

SVEN

MARIOLA Agus, vielleicht hat er ja wirklich Hunger. Vielleicht hat er ja wirklich Hunger, Agus. Agus? AGUS

Es ist geschlossen!

MARIOLA

Agus, vielleicht hat er ja wirklich

EMCEE Mariola sieht sich um, entdeckt eine ordentlich verschlossene Papiertüte mit Mcdonald’s-Emblem, greift nach ihr und gibt sie dem Mann. MARIOLA

Ich glaub, dem geht’s zu gut.

SVENJA zu Mariola und Agus. Einmal aufmachen bitte.

MARIOLA

Der hatte Hunger, irgendwie, und

SVEN Ich sag’s noch mal, wir haben Sperrstunde. Sie müssten längst geschlossen haben.

SVEN

Ja, wir haben ja geschlossen.

Der isst aber noch.

EMCEE Der Mann blickt auf, steckt sich das Chicken Nugget in den Mund. Grinst. Kaut aber nicht, lässt es in der Backentasche quellen. Zeig mal her. Haha, igitt. SVENJA ßen Sie?

mit Notizblock und Stift. Wie hei-

EMCEE Mariola eingeschüchtert, ein bisschen erschrocken, wie jemand, dem Unrecht widerfährt, schon wieder. MARIOLA

Mariola. Mariola Czermak.

SVENJA

Wie schreibt man das?

MARIOLA

Marta Anton Richard

SVENJA Nein, nein, der Nachname. Ach, ich brauche sowieso Ihre Papiere. MARIOLA SVENJA

MARIOLA und AGUS das Fenster öffnend, nacheinander. Guten Abend!

Wir haben ihm nichts verkauft, er

AGUS Der ist eingebrochen. Hier. Hat irgendwie das Fenster aufgedrückt und

MARIOLA SVEN Guten Abend, Polizei, würden Sie bitte einmal zurücktreten?

MARIOLA eilt hinzu. Vielleicht … hat er ja wirklich Hunger.

Ich habe Hunger! Ich will essen!

Der isst aber noch.

Was, was soll das, was, oh Gott. MARIOLA

AGUS schreckt auf, eilt zum Schalter. Hey! Was soll das!

Der isst aber …

EMCEE Moment, Moment, erst ich. Svenja zum Mann blickend, der das Interesse verloren hat, er betrachtet ein Chicken Nugget, das er irgendwie in seiner Hand versteckt gehalten haben muss. Er riecht daran, leckt daran, beguckt es wieder, verträumt. SVENJA

AGUS

Ja, wir haben längst zu.

AGUS

Moment. Sucht ihre Papiere. Und Sie sind?

Ich bin der Restaurantleiter.

Hier!

EMCEE Der Mann betrachtet die Tüte in seinen Händen, überrascht, fast ungläubig.

Theater der Zeit 10 / 2023

SVEN Es ist Sperrstunde. Seit zehn Uhr ist Sperrstunde.

SVENJA   Und ihr Name? AGUS

Agus.

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Stück Yannic Han Biao Federer SVENJA AGUS

Und weiter?

Nur Agus.

SVENJA

Nur ist der Nachname?

AGUS Nein, ich habe keinen Nachnamen. Ich heiße Agus. SVENJA (Pause) Okay, geben Sie mir mal Ihre Ausweispapiere, bitte. FRAU Ich möchte. Ich will. Ich möchte essen. Sofort. Essen. Viel. Essen. Mehr Essen. Viel mehr Essen. EMCEE Plötzlich steht sie da, mitten auf dem Parkplatz. Keiner hat sie bemerkt. Ich auch nicht. Die Katze auch nicht, sie hebt ihre Ohren aus dem Gras, lugt über die Halme, bleibt aber größtenteils versteckt. Die Frau trägt Hosenanzug und lächelt griesgrämig und herausfordernd und hungrig, sehr sehr hungrig. SVEN Gute Frau, es ist Sperrstunde. Sie können hier nicht mehr essen. FRAU Ich möchte essen. Sofort. Sofort essen. Essen will ich, essen muss ich, essen kann ich. SVEN

Ich rede mit Ihnen!

FRAU Ich möchte jetzt essen. Richtig viel will ich essen. Fleisch und Tier will ich essen. Und Eier. Ja. Eier auch. Und Eis. Und Apfeltaschen. Haben Sie Apfeltaschen. Geben Sie Apfeltaschen. Ich möchte Apfeltaschen. Her mit den Apfeltaschen. Ich hab Hunger. So einen Hunger hab ich. Huuunger hab ich. SVEN Kann ja sein, aber es ist Sperrstunde. Und treten Sie bitte etwas FRAU

Hunger!

SVEN Zurücktreten, bitte, ein wenig Abstand hält man schon, ja? MANN

Ich auch! Hunger! Ich habe Hunger!

FRAU

Hunger! Durst! Ich habe Hunger!

SVENJA Hören Sie, Sie gehen jetzt bitte nach Hause. Es gibt hier wirklich nichts mehr für Sie, ja? FRAU

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SVENJA Okay. Na gut. Dann machen wir jetzt eben … Wie heißen Sie? Wie ist ihr Name?

Hunger.

FRAU Sie kennen mich. Sie wissen wer ich bin. Sie wissen, dass ich esse. Dass ich immer esse. Dass ich Hunger habe. Immer Hunger. Immerimmer Hungerhunger! SVENJA Wie bitte? Was …? Wissen … Wissen Sie, wo Sie sind? FRAU jetzt flüsternd und zischend. Schon wieder so ne dämliche Frage. Also wirklich, ziemlich dumme Fragen von Ihrer Seite. Von welchem Verein sind Sie denn. Also unglaublich. SVENJA Wo kommen Sie gerade her? Wo wohnen Sie? FRAU Aber, aber bitte. Schon wieder so ne doofe Frage. Hunger. Hunger, heiße ich. Hunger habe ich. Ich habe Hunger. Einen Heißhunger hab ich. Einen Scheißhunger hab ich. Scheißhunger. EMCEE Svenja macht einen Schritt zurück, sieht zu Sven, der zaghaft den Kopf schüttelt, dann die Schultern hebt und ein wenig auch die Arme. Sich wieder fassend, ins Funkgerät sprechend … SVENJA

Ja, Zentrale …

EMCEE Halt, halt, nicht so schnell, also, sich wieder fassend mit polizistinnenhafter Stimme, die jetzt aber etwas aufgesetzt wirkt. (Pause) So, jetzt. (Pause) Svenja! Bitte! SVENJA Ja, Zentrale, Neckar Null Zwo Vierzig, immer noch am McDonald’s Bundesstraße 9, wir haben hier zwei

gesagt! Hunger doch! Hunger auch! Hunger aber! Ein Hungerhaber! Ein Immerhunger­ haber! SVENJA

Hey! Ruhig bleiben, ja?

FRAU Jeder esse, was er kann, nur nicht seinen Nebenmann! Ha! Haha! MANN Ich habe auch Hunger! Ich habe Hunger! FRAU Und da sind wir ganz genau, auch nicht seine Nebenfrau! SVEN Hallo, Zentrale, hier Neckar Null Zwo Vierzig, kommen. FRAU Und hat er sie doch gegessen, ZÄHNEPUTZEN NICHT VERGESSEN! EMCEE Sven linst auf das Display, dreht an einem Regler, Fiepen, Tuten, eine verwaschene Stimme, dann nichts mehr. Svenja zieht ihr Handy aus der Tasche, wählt, hält es sich ans Ohr. Unter den Mülltonnen haben sich Ratten hervorgewagt, die Katze pirscht sich an, duckt sich, als Svenja kurz zu ihr hinüberblickt. SVENJA

Geht auch keiner ran.

SVEN Scheiß Digitalfunk. Oder es ist die Zentrale. SVENJA AGUS

Okay, Herr Nur –

Agus. Ich heiße Agus.

SVENJA Ja, dann Herr Agus, können Sie der Frau bitte etwas zu essen geben? SVEN

Svenja!

EMCEE Sie zögert, guckt zur Frau, zum Mann, wendet sich ab, geht zwei Schritte, spricht leiser jetzt, aber immer noch hörbar.

MANN

Ich auch! Hunger!

AGUS

Aber, wir haben doch Sperrstunde?

SVENJA Wir haben hier zwei renitente Personen, etwas desorientiert, wir bräuchten hier noch … Hallo, Zentrale? Zentrale, hallo? Neckar Null Zwo Vierzig an Zentrale, bitte ­ kommen! … Kannst du mal funken? Mein Gerät ist irgendwie …

SVENJA zu Sven. Na, die soll jetzt halt was essen, und dann bringen wir sie …

FRAU mit dem Fuß gegen die Wand tretend. Hunger! Hab ich gesagt! Unverschämt! Dass ich Hunger hab! Hab ich gesagt! Hab ich doch

SVENJA

MARIOLA Aber, aber, aber. Es ist alles aus. Wir haben schon sauber gemacht. Wir haben Feierabend. Wir dürfen nichts mehr rausgeben.

MARIOLA

Okay, Frau … Frau… Czermak.

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Stück „Drive in“ SVENJA

Frau Schermann.

MARIOLA

Czermak.

SVENJA Ja, sag ich doch, Schermann, Sie hören mir jetzt mal zu, das war, das war kein Vorschlag, sondern eine Ansage, sonst sprechen wir mal über das Bußgeld, das ich Ihnen aufbrummen kann, Verstoß gegen die Sperrstunde, ja? Verstanden? MARIOLA SVENJA

Aber wir haben doch Nein? … Also doch, na siehste.

Gut. Dann machenSe mal los jetzt und der Frau was zu essen. Loslos. MANN

Hunger! Ich auch! Hunger! Hunger!

MARIOLA FRAU

(Pause) Was darf’s denn sein?

Apfeltaschen. Alle Apfeltaschen. Ich

will Apfeltaschen. Und Fleischburger. Fleisch im Burger. Und Käse. Und Apfeltaschen. MANN

von einem Bein aufs andere tretend,

AGUS

Ja!

EMCEE Dann, im Kommandoton, als stünde ein Heer von Köchen hinter ihm. Zwei Mal Fritten, vier Cheeseburger! AGUS

Zwei Mal Fritten, vier Cheeseburger!

EMCEE Jetzt eilt er in die Küche, als müsste er eiligst dem eigenen Befehl entsprechen, zwischen den Geräten sieht man ihn hantieren. SVEN Und zwei Chickenburger! Svenja dreht sich nach ihm um und hebt verständnislos die Hände oder schüttelt den Kopf oder schaut nur auf und wieder weg oder reibt sich kurz und unauffällig die Stirn oder sie reagiert überhaupt nicht. Sven antwortet entsprechend, zuckt nur leicht mit einer Schulter oder beiden Schultern oder zieht sie mit Handflächen und Augenbrauen in die Höhe oder antwortet nur mit stummem Blick oder er tut, als bemerkte er Svenjas Reaktion nicht, oder er bemerkt sie tatsächlich nicht. AGUS … zwei Mal Fritten, … vier Cheeseburger, … zwei Chicken.

vielleicht sogar springend und klatschend oder aufgeregt im Kreis rennend. Hunger! Hunger! Alles! Hunger! Essen! Essen! SVENJA

Machen Sie einfach was, ein paar

Burger und Fritten. MANN

Hunger! Hunger!

EMCEE

Mariola nickt, geht hinüber zur Frit-

teuse.

SVEN zur Frau. Jetzt verraten Sie uns doch mal Ihren Namen. FRAU ungeduldig zum Schalter hin. Oh Gott, ist das alles dümmlich hier. Können wir das jetzt lassen? Ich heiße Hunger, hab ich gesagt. Heiße Hunger. Heißhunger. SVEN Und bitte, einen Schritt zurück bitte, bitte, einen Schritt, Danke, ja.

SVENJA Jetzt beruhigen Sie sich bitte, kommen Sie mal her, setzten Sie sich hin. Hält ihn fest, er gehorcht. Wie ist Ihr Name? MANN Hunger. Ich bin der Hunger. Ich heiße Hunger! Heißhunger! Lacht kreischend. Springt auf, neue ekstatische Turnübungen, die zunehmend auch andere Körper auf der Bühne einbeziehen, sie anrempeln oder als Hindernis nutzen. Hunger! Heiß! Ich! Heiß! Hunger! Als er sich umwendet, sieht er, wie Mariola der Frau eine Tüte Pommes frites reicht, er stürmt auf sie zu, ein Handgemenge entsteht. SVENJA Hey! Sie kriegen doch auch welche! Hey! Hallo! FRAU

Hunger.

EMCEE Die Pommes Frites landen auf dem Boden, der Mann stürzt sich auf sie, stopft sie sich kichernd in den Mund, Mariola reicht der Frau eine zweite Packung, die sie empfängt wie eine Hostie. FRAU murmelnd, während die anderen schon weitersprechen. Jeder esse, was er kann, nur nicht seinen Nebenmann, und da sind wir ganz genau, auch nicht seine Nebenfrau, und hat er sie doch gegessen, Zähneputzen nicht vergessen. SVENJA zum Mann. Was soll das denn, was machen Sie denn? SVEN

Ich glaub, dem geht’s zu gut.

[…]

MARIOLA EMCEE

Agus?

Sie dreht an den Schaltern, gießt fri-

sches Öl aus einem Eimer, dann hievt sie einen Sack Pommes Frites aus dem Schrank. MARIOLA EMCEE

Agus, machst du Burger?

Sie reißt ihn auf, schüttelt seinen In-

halt in die Metallkörbe.

FRAU Hunger! Und Durst! Auch Durst! Sofort! SVEN Und was zu trinken bitte, hier, Herr Nur, hier, bitte etwas zu trinken, Wasser oder so, nein Cola, mit Zucker. AGUS

Ich heiße Agus! Nur Agus!

SVEN Ja, sag ich doch. Zur Frau. Bitte. Wo wohnen Sie denn?

MANN

Hunger!

MANN auf einem Bein springend, vielleicht auch Rad schlagend, ein Mal oder drei Mal, keinesfalls zwei Mal. Hunger! Hunger! Hunger! Hunger! Hunger!

EMCEE

Agus steht noch immer am Drive-in,

FRAU

MARIOLA

Agus?

In Oberursel, wohne ich. In Oberursel.

starrt den Mann an, die Frau, er schreckt auf. Ja!, ruft er.

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Kichert.

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Stück Marisa Wendt Hallo. Also:

„Emily weint doch nie“ Marisa Wendt (Auszug)

STÜCKBESCHREIBUNG Emily ist neu in der Schulklasse und stellt sich den Mitschüler:innen vor. Sie ist eine witzige, kluge, eine unterhaltsame Erzählerin, aber sie ist auch in einem entscheidenden Punkt sehr besonders: Emily kann keine Gefühle empfinden. Das stellt ihre Umwelt vor wesentlich größere Herausforderungen als sie selbst – und die Zuschauer:innen vor die Frage, wie sich richtiges und falsches Handeln eigentlich jenseits von Gefühlen definiert. Dieses Stück wird von Drei Masken Verlag vertreten. Das vollständige Stück finden Sie unter tdz.de/dramatik

Marisa Wendt studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in Leipzig. Sie arbeitet als Autorin, Dramaturgin und Regisseurin mit Schwerpunkt auf zeitlosen gesellschaftlichen Themen, interdisziplinären Arbeitsweisen und dem poetischen Umgang mit Sprache. Marisa Wendt erhielt den Retzhofer Dramapreis für junges Publikum 2023.

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Ich heiße Emily. Ich bin neu hier. Mein größtes Hobby ist: bauen. Ich baue Maschinen. Im Moment baue ich eine Maschine, die meinem Vater die Schultern massieren kann. Mein Vater arbeitet nämlich am Computer und hat immer Projekte, und wenn er gerade ein Projekt hat, dann arbeitet er manchmal zehn Stunden am Tag, und am ersten Zehnstundentag merkt er noch nichts, aber ab dem zweiten Zehnstundentag tun ihm immer die Schultern weh. Deshalb ist mein Projekt eine Schulternmassiermaschine für meinen Vater, und daran baue ich gerade. Außerdem habe ich einen Hund. Der heißt Edhund, wie Edmund, nur mit H, weil er ja ein Hund ist und kein Mund. Edhund ist im Moment leider nur vorgestellt. Ein Fantasiehund. Wir sind nämlich ein paar Mal umgezogen, in letzter Zeit, und das mögen Hunde nicht, das ist nicht artgerecht. Papa sagt immer: Emily – sagt er – Emily, wenn wir einmal angekommen sind, richtig angekommen, dann darfst du einen echten Hund haben, und den kannst du dann meinetwegen Edhund nennen, meinetwegen auch Lumpi, ist mir total egal – Hauptsache, das mit dem Gassigehen bleibt am Ende nicht an mir hängen. Und jetzt muss ich also warten, bis wir so richtig angekommen sind und ich mit dem echten Edhund Gassi gehen darf, und bis dahin stelle ich mir Edhund einfach vor. So kann ich das auch schonmal üben, das Hundhaben. Wollt ihr noch mehr wissen, über mich? Also: Am liebsten esse ich Tom Yam Gung-Suppe, das ist thailändisch und extra scharf, und ich mag duschen lieber als baden. Mein bestes Fach in der Schule ist Mathe und mein bester Sport ist Bodenturnen. Außerdem habe ich keine Gefühle. Und meine Lieblingsfarbe ist Rot. Darf ich mich dann jetzt endlich hinsetzen? Meine Beine sind schon ein bisschen kürzer als eben noch, weil ich so lange draufgestanden hab. Ihr schaut so.

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Stück „Emily weint doch nie“ Warum schaut ihr denn so? Stimmt was nicht mit meiner Lieblingsfarbe? Oder – schaut ihr wegen der extrascharfen Suppe so? Mögt ihr kein scharfes Essen? Natürlich, klar, logisch. Kinder mögen scharfes Essen ja fast immer nicht so gerne. Da bin ich wohl eine Ausnahme. Vielleicht mag ich Tom Yam Gung auch, weil ich mal in Thailand gewohnt habe, zwei Jahre lang, deshalb ... Oder vielleicht auch, weil ich ja nichts fühle. Das heißt, ich fühle auch keine Schmerzen. Und „scharf“, das ist ja kein Geschmack. „Scharf“, das ist ein Schmerz. Habt ihr das gewusst? Süß und salzig und sauer und so, das sind Geschmacksreize, aber Scharf ist ein Schmerzreiz. Und der macht mir nichts aus, weil ich ja keine Gefühle habe. Also auch keine Schmerzen. Sehr praktisch. Ihr schaut immer noch so. Findet ihr den Namen Edhund doof? Oder findet ihr vorgestellte Hunde insgesamt doof? Oder hab ich irgendwas Komisches an der Nase? Na gut. Na gut. Ich geb auf. Na gut, ich tu nicht länger so dumm. Ihr könnt jetzt aufhören mit dem Soschauen. Ich hab’s schon verstanden. Ihr findet es komisch, dass ich keine Gefühle habe. Das hab ich natürlich schon vorhin kapiert. Als ihr das erste Mal so geschaut habt. Ja, Gefühle hab ich vielleicht keine, aber einen Kopf zum Denken, den hab ich. Ich bin nicht dumm, wisst ihr? Ihr aber wohl auch nicht, so sieht’s wohl aus. Euch kann man nichts vormachen. Euch kann man nichts unterjubeln. Das hab ich nämlich gerade versucht. Zuge­ geben. Ich wollte euch was unterjubeln. Ich hab gedacht, wenn ich das einfach so ­nebenbei sage – ja hallo, ich heiße Emily, ich mag Hunde und ich baue gerade eine Schulternmassiermaschine für meinen Vater und ich esse gerne thailändische Suppe und ich habe keine Gefühle und meine Lieblingsfarbe ist Rot – dass ihr euch dann vielleicht gar nicht dafür interessiert, dass ich nichts fühle, sondern vielleicht doch lieber für meine Schulternmassiermaschine. Für die hat sich leider schon ziemlich lange niemand mehr interessiert. Und deshalb baue ich

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da schon ziemlich lange dran. Weil das ein Soloprojekt ist, wie die ganzen Soloprojekte von meinem Vater. Soloprojekt heißt: An dem Projekt arbeitet nur eine einzige Person, in diesem Fall: Ich. Und das dauert dann, lange. Weil niemand mir hilft, die richtigen Schrauben zu finden. Weil niemand meinen Schulternmassiermaschinen-Prototypen testen will. Weil alle immer nur denken, Emily, die ist komisch. Emily, die ist nie traurig, wenn was kaputtgeht, und die ist nie ängstlich, wenn jemand sagt, na warte, du kannst was erleben! (Bei dem Satz habe ich sogar mal nicht verstanden, dass man da ängstlich sein muss und nicht fröhlich, aber das ist eine andere Geschichte, und zwar keine schöne.) Und fröhlich bin ich aber nie. Nicht, wenn ich eine gute Note kriege. Oder wenn ich Geburtstag habe. Und das finden alle komisch, und deshalb will auch niemand Maschinen mit mir bauen und auch sonst nichts. Die Ärztin hat gesagt, die Anderen fühlen sich von mir bedroht aber das ist Quatsch. Ich bedrohe doch niemanden. Wie soll das denn aussehen? Mit Knurren und Kläffen etwa? So? Quatsch. Quatsch, Quatsch, drei Mal Quatsch. Ich knurre doch niemanden an. Edhund knurrt manchmal – aber davor kann ja auch niemand Angst haben, schließlich ist Edhund ja nur vorgestellt und außerdem sehr brav und gut erzogen. Das hab ich der Ärztin gesagt, und sie wollte gerade auch was sagen, da hat Papa mich angetippt, so: Das ist nicht wie bei Hunden, Emily. Das ist mehr so wie bei Bären. Bären haben nämlich keine Muskeln im Gesicht. (Habt ihr das gewusst?) Bären können nicht fröhlich oder traurig oder böse gucken. Bären sehen immer gleich aus. Und das macht sie so gefährlich. Einem Bären kannst du nämlich nicht ansehen, ob er dich mag oder nicht und ob er angreifen will oder nicht und ob er gute Laune hat oder mit der falschen Tatze zuerst aufgestanden ist.

Das macht Bären so gefährlich. Dass man nicht sieht, was sie fühlen. Deshalb haben die Menschen Angst vor dir, hat Papa gesagt und die Ärztin hat genickt. Aber das ist doch auch Quatsch, hab ich gesagt. Bei einem Bären sieht man die Gefühle nicht, weil er keine Muskeln hat. Aber er fühlt ja trotzdem was. Aber ich – ich hab’ Muskeln. Ich fühle aber nichts. Also kann ich auch nicht wütend sein oder mit der falschen Tatze zuerst aufgestanden. Ich bin doch überhaupt nicht gefährlich. Das wissen die Menschen ja nicht, hat die Ärztin gesagt. Aber kann ich es ihnen nicht erklären?, habe ich gefragt. Und die Ärztin und Papa haben sich angeguckt, ziemlich lange und hatten in dem Moment wahrscheinlich irgendwelche Gefühle, aber sie haben ihr Gesicht auch nicht bewegt, wie die Bären, und deshalb habe ich das auch nicht verstanden und dann hat Papa gefragt, was denken Sie? Und die Ärztin hat gesagt: Also Naja Langfristig sollten Sie wirklich über das Medikament nachdenken, von dem wir gesprochen haben Bis dahin Also Versuchen kann man’s ja mal das mit dem Erklären. Zwei Tage später – Stopp! Kommando zurück! Das ist typisch, typisch Emily Nie erzähle ich die Dinge, so wie sie waren, also: Schon so, wie sie waren, aber in der falschen Reihenfolge. Meine Oma hat mal gesagt, für die meisten Menschen ist die Zeit wie ein Fluss, erst kommt die Quelle und dann kommt alles nacheinander, und ich aber beweg’ mich in der Zeit wie in einem See, ich schwimme mal hierhin, mal dorthin, grad wie’s mir gefällt, da kommt ja niemand mehr mit. Und damit ihr nicht Niemand seid und da noch mitkommt erzähle ich das jetzt so, wie es war, also: von vorne.

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Stück Marisa Wendt Das Bärengespräch mit der Ärztin, das ist schon lange her. Das war, bevor ich auf meine letzte Schule gekommen bin zwei Monate später. Das ist aber noch gar nicht der Anfang. Davor war ich noch auf einer anderen Schule auf meiner vorletzten Schule und weil das auch meine erste Schule war, ist das auch der Anfang der Geschichte der Geschichte mit den Schulen der Schulgeschichtenanfang, oder besser: Der Schulwechselgeschichtenanfang, also das war nämlich so: Die vorletzte Schule war die erste Schule, die ich besucht hab in Deutschland nachdem Papa und ich wieder zurückgekommen waren aus Thailand, und die Schule steht in einem Dorf, da leben auch Papas Eltern meine Oma also, und mein Opa. Und Oma und Opa haben ziemlich viel Zeit und ich habe auch viel Zeit und da hat Papa gedacht: Das trifft sich ja gut. Dann können ja alle zusammen Zeit haben, also: Oma und Opa und ich, vor allem, wenn Papa selber mal wieder ein Soloprojekt hat und Schulterschmerzen und wirklich so richtig überhaupt keine Zeit. Also sind wir da hingezogen, in das Dorf, und das war im Winter, und deshalb war überall Schnee. Das war – interessant. In Thailand ist es nämlich zu heiß für Schnee, da gibt es nie Schnee und in Deutschland gibt es zwar auch nicht viel Schnee, nicht mehr, in dem Dorf aber schon, denn das liegt in den Bergen.

Und wir sind in eine Doppelhaushälfte gezogen, ganz nah bei Oma und Opa, und nach einer Woche hatten wir die meisten Möbel gekauft und den richtigen Platz dafür gefunden. Nach einer Woche meinte Papa dann auch: Emily – meinte er, jetzt hast du dich eingelebt jetzt musst du so langsam mal raus in die Schule.

oder aufgeregt und deshalb stand ich dann da alleine, vor meiner neuen Klasse, und hab’ die ganzen neuen Augen gesehen, die mich angeschaut haben, manche mit Neugier, die hatten die Augen weit offen, so, und manche mit Langeweile, die hatten die Augen fast zu, so, und bei manchen konnte ich einfach gar nichts erkennen, aber das war auch okay. Und ich hab gesagt:

Über Schulen hab ich gar nichts gewusst.

Hallo. Also: Ich heiße Emily. Ich bin vor einer Woche hergezogen, aus Thailand, und euer Schnee ist interessant. In Thailand ist es zu heiß für Schnee. Ich mag Tom Yam Gung-Suppe, obwohl die so scharf ist, und meine Lieblingsfarbe ist Rot. Ich bin mit meinem Papa hergezogen und meine Oma und mein Opa, die wohnen auch hier. Später werde ich mal Forscherin, Medizinforscherin, und dann finde ich Heilmittel für alle Krankheiten. Darf ich mich jetzt hinsetzen?

Das klingt vielleicht komisch für euch, dass jemand nichts über Schulen weiß, aber das liegt daran, dass ich in Thailand einen eigenen Lehrer nur für mich hatte, einen Privatlehrer. Der ist immer zu uns gekommen in unser Haus mit dem Dschungelgarten und den Affen und hat mir Mathe erklärt. Und jetzt, in der Schule, da gab es mehrere Lehrer, naja – hauptsächlich Lehrerinnen, und die musste ich teilen und den richtigen Raum sollte ich auch immer finden und still sitzen sollte ich auch (aber immerhin das war gar nicht so schwer, denn still sitzen kann ich wirklich sehr gut). Oma hat mir das alles erklärt, aber das mit den Schneebällen, das hat sie mir nicht erklärt. Vielleicht hätte sie mir das erklären sollen aber vielleicht hätte das auch nichts geändert. Am ersten Schultag hat es dann also geschneit und alles war gut. Ich bin alleine in meine neue Klasse gegangen, ohne Papa, weil ich ja kein Baby mehr bin, hat Papa gesagt, und das war auch okay, denn: Ängstlich kann ich ja nicht sein oder nervös

Und die Lehrerin hat gesagt, danke, Emily, für die tolle Vorstellung, Emily, setz dich doch bitte da drüben hin und schau erstmal bei Luca ins Buch Und Luca war nett zu mir und hat mir einen Stift geliehen und in Mathe konnte ich schon alles und draußen lag Schnee und ich hab gedacht, das kann klappen, das mit mir und der Schule. Das hab ich auch Papa gesagt, abends, als er seinen Computer ausgeschaltet hatte, und Papa hat die Schultern sinken lassen und ein bisschen gegrinst und sich zurückgelehnt in seinem Sessel, so.

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Stück „Emily weint doch nie“ So hatte er schon ganz schön lang nicht mehr gesessen und vorsichtshalber, nur zur Sicherheit, hab ich gefragt: Bist du glücklich, Papa? Und Papa hat auf seinen Schoß geklopft und ich bin draufgekrabbelt und hab mich zusammengerollt wie eine Katze. Papa hat meinen Kopf gestreichelt und gesagt, glücklich nicht, glücklich ist ein komplizierter Begriff, Emily, und verträgt sich nicht so ganz mit Stress, und ich bin ganz schön gestresst, aber zufrieden zufrieden bin ich. Miau, hab ich gesagt, und Papa hat gelacht und gemeint: Vielleicht schaffen wir uns ja eine Katze an, was denkst du? Lieber einen Hund, hab ich gemeint, die sind einfacher zu verstehen. Okay, hat Papa gesagt, solange das mit dem Gassigehen am Ende nicht an mir hängenbleibt. Am zweiten Tag ist der Schnee ein bisschen getaut, weil es wärmer war aber in der Nacht war es wieder kälter, und da ist er dann wieder gefroren. Neu gefrorener Schnee ist genau richtig für Schneebälle, hat Luca mir erklärt, morgens, am dritten Tag. Dass sich in so halb gefrorenem Schnee manchmal ganz gefrorene Eisklumpen verstecken, das hat er mir nicht erklärt, das hat er vergessen. Gemerkt habe ich das selber, später dann in der großen Pause. Ich weiß nichtmal, wer das war, und ich glaube das war nichtmal mit Absicht. Den Schlag gegen die Stirn, den hab ich zuerst

gehört: Batsch! Und direkt auch gespürt: Rumms! – so hart war das, da bin ich gestolpert. Aber schlimm – schlimm war’s nicht, überhaupt nicht schlimm oder schön oder was auch immer er war einfach nur da, der Schlag: Bäm! Und ich hab auch sofort gewusst: Das war wohl ein Schneeball – Und dann hab ich mir an den Kopf gefasst, um zu gucken, ob alles in Ordnung ist und da war dann Blut auf meiner ganzen Hand, überall – und ich hab gedacht: Das ist ja blöd. Ich muss zwar bestimmt nicht direkt sterben, hab ich gedacht, denn das ist medizinisch gesehen sehr unwahrscheinlich, wenn ich noch stehen und denken kann, aber das wird jetzt mal wieder stressig, mit Krankenhaus vielleicht, so stressig, uff! Das macht Papas neue Zufriedenheit bestimmt kaputt. Aber wenn ich jetzt nicht ins Krankenhaus gehe, hab ich gedacht, dann sterb ich vielleicht am Ende doch, und das ist noch stressiger, also nicht für mich, aber für alle Anderen, dann ist Papas Zufriedenheit erst recht kaputt, das geht also auch nicht, da ist Krankenhaus schon besser – und ich hab dann als nächstes gedacht, dass ich das vielleicht mal als Allererstes verbinden sollte, damit ich nicht so viel Blut verliere, weil: Das wäre richtig ungesund, aber wo krieg ich jetzt was zum Verbinden her? Und während ich dann noch drüber nachgedacht hab, in welchen Schulgängen genau die

Schulverbandskästen überhaupt hängen, und meine Gedanken sich dabei immer mehr verstolpert haben, hat plötzlich einer aus meiner Klasse geschrien (ich weiß gar nicht, wo der hergekommen ist, so plötzlich): Hilfe! Emily! Hilfe die Emily die Emily hilfe hilfe hilfe Emily blutet voll, hilfe die Emily und so weiter und so weiter, Und ich hab ihn gefragt: Wo ist denn hier der nächste Verbandskasten? Und meine Stimme war zwar ein bisschen zittrig, aber gesprochen hab ich trotzdem ganz deutlich, und trotzdem hat er immer nur weiter geschrien und war ganz weiß im Gesicht. Da hab ich verstanden: Der kann grad nicht so mit seinen Gefühlen, der hat gerade eins, das ist zu groß für ihn. Das hab ich tausend Mal gesehen früher, bei meiner Mutter. Klar. Keine Zweifel. Und ich hätte ihm sagen können, was man dagegen tun kann, zum Beispiel: in eine Chilischote beißen, damit da ein Schmerzreiz ist, der von dem zu großen Gefühl ablenkt, das funktioniert wirklich aber ich hab schon so komische Blitze gesehen. Und deshalb bin ich stattdessen jemanden suchen gegangen, der nicht schreit. (…)

17. 19. November 2023 Das bundesweite Festival für Zeitgenössischen Zirkus.

Berlin - Bochum – Dortmund – Dresden Hamburg – Hannover - Herne – Karlsruhe Köln - München - Schwerte – Witten

La Nuit du Cirque

Alle Infos auf www.zeitfuerzirkus.de


Stück Leonie Lorena Wyss Is it cold in the water?1 SOPHIE, Oil of Every Pearl’s Un-Insides wir wachsen mit einem Mutterbild auf, bei dem die Frau an ein Stück Würfelzucker erinnert: immer zur Hand und zur Selbstauflösung bereit LASTESIS, Verbrennt eure Angst!

Muttertier

why is water both a noun and a verb? how do we know what tense we’re in? K-MING CHANG, Bestiary

Leonie Lorena Wyss

Das ist also das Schiff, von dem es heißt, es sei unsinkbar RUTH DEWITT BUKATER, Titanic

Fassung vom 29. August 2023

für drei Geschwisterstimmen

(Auszug)

STÜCKBESCHREIBUNG Halbtot aber atmet noch. Am Krankenbett der Mutter geraten die drei Geschwister ins Erzählen der eigenen Kindheit. Oftmals sich selbst überlassen, flüchten sie sich in die fiktive Welt der „Titanic“ – so lange, bis Realität und Fiktion zu verschwimmen drohen. Zwischen Nähe und Abwesenheit, Kindheit und Jetztzeit beleuchtet „Muttertier“ Erwartungshaltungen, die mit Vorstellungen von Muttersein einhergehen. Dieses Stück wird von S. FISCHER Theater & Medien Verlag vertreten. Das vollständige Stück finden Sie unter tdz.de/dramatik

2 WIR WISSEN WAS EISFISCHEN IST ALLE eins zwei drei unsere Köpfe bewegen sich mit im Kreis eins zwei drei sie rührt und rührt und wie lange will sie noch rühren? wie lange bis sie sich ganz eingerührt hat?

Leonie Lorena Wyss, 1997 in Basel geboren, studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Als Autor:in und Dramaturg:in arbeitet Wyss in unterschiedlichen Kollektiven und ist neben dem Schreiben in der politischen Bildungsarbeit tätig. Zuletzt erhielt Leonie Lorena Wyss für das Stück „Blaupause“ den Autor:innenpreis des 40. Heidelberger Stücke­markts sowie den Retzhofer Dramapreis 2023 für das Stück „Muttertier“.

immer weiter Löffel in der Tasse Löffel der eins zwei die Hand die immer weiter die wie von alleine rührt und rührt 1 https://www.youtube.com/watch?v=q0rqR06E1WU (letzter Zugriff 07. April 2023)

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Stück „Muttertier“ und ich ich ich es kribbelt im Kopf so tausend Fliegen die die ganze Zeit umherschwirren die gegen die Gehirnwände prallen die ganze Zeit so peng peng als würden sie den Ausgang nicht finden immer weiter so peng peng peng weiter wie die einfach weiter einfach immer weiter rührt und rührt und

dann zu uns sind das meine? sind das ihre? ich ich ich wir müssen doch wir wollen doch du hast gesagt <morgen> immer so <morgen> sie nimmt einen Schluck vom Strudel Strudel im Mund dann wieder <morgen> und groß mittel klein eine nach der andern

sie schaut auf den Strudel in der Tasse sitzt da im Nachthemd mit den Flecken schaut als würde sie gar nicht schauen als würde sie

schaut mich an und <du verstehst doch>

sie rührt sich nicht kein bisschen schaut uns an schaut durch uns durch schaut an uns vorbei oder

schaut mich an und <morgen>

halloooooo halloooooooo

sie steht auf gibt uns einen Kuss auf die Stirn

die Hand das einzige das

eins Kuss zwei Kuss drei Kuss

schaut mich an und <sei nicht böse>

<ich bin müde ich muss mich hinlegen>

so müde dass sie sicher bis zum Abend wieder schläft überm Kopf tausend Fliegen die so ichhhhh mussss michhhh hinnnnnlegnnnnn umherschwirren die so morgeeeeen morgeeeeen morgeeeeen dreht und dreht und rührt und rührt und <los!> <warte!> <du bist immer so schnell!> <wartet!> eins Fußmatte mit der Katze zwei Schuhhaufen drei Kinderwagen dann Briefkästen und wir stehen im Hof rennen zum Schiff ziehen uns alle nacheinander aufs Schiff

eins zwei wann wann wann gehen wir? aus dem Hals gekratzt die Stimme wie eine tote Fliege aus dem Hals gekratzt sie schaut uns an schaut auf die Hand ist das meine? ist das ihre?

Theater der Zeit 10 / 2023

kalt wo ihr Mund grade noch kalt als sie am Kühlschrank vorbei aus der Küche raus ins Zimmer neben an wo sie Knistern Plastikknistern Tabletten die sie müde ganz müde

<ich bin sie> <warum du?> <du warst das letzte Mal sie> <das stimmt gar nicht> <doch stimmt es du kannst nicht immer bestimmen> <ich bestimm gar nicht> <du bestimmst immer> <dann bin ich sie> <du kannst nicht sie sein Rosa du musst doch Kapitänin sein> <ich will aber nicht immer Kapitänin das ist langweilig> <das ist nicht langweilig du hast den wichtigsten Job ohne dich geht alles unter>

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Stück Leonie Lorena Wyss <aber es geht doch eh alles unter> <ja aber davor musst du ja gegen den Eisberg lenken> <ich will aber nicht immer Kapitänin sein> <dann sind wir halt alle sie>

ist der doof eigentlich ist der eigentlich komplett bescheuert denkt der wir wissen nicht weiß der nicht dass WIR WISSEN WAS EISFISCHEN IST2

wir sind alle sie sie wie sie Plastiksäcke unter uns sie wie sie am Geländer die roten Haare das rote Kleid tosendes Wasser vor ihr vor uns tosendes Wasser eiskalt Strudel Wellen wir müssten nur springen sind kurz davor zu springen halten uns fest am Geländer bis <halt nicht> er der junge er der junge er der grad an Deck gekommen ist und ganz aufgeregt <halt nicht nicht springen geh weg da geh weg da sonst wenn du springst dann spring ich auch dann weißt du wie kalt das mein Vater und ich Eisfischen wir waren Eisfischen mein Vater und weißt du was Eisfischen ist wenn Fisch und Angel wenn Eis und Fisch wenn ich bin da mal eingebrochen es ist wie tausend Stiche man kann nicht mehr atmen nicht mehr denken nicht mehr nix im Eis im Wasser im wenn du springst dann ich auch>

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wir schauen zurück zu ihm zum jungen er wie er da wie er da so doof rumsteht wie er denkt der wir wissen nicht wir wissen genau was Eisfischen ist wir wissen genau wie kalt das Wasser ist wie es eiskalt wie es tosend

<hier> <hier> <nicht loslassen> <nicht loslassen okay> <nicht los> <ICH WERDE DICH NIE VERGESSEN OKAY?> <jetzt schrei doch nicht so> <lass mich> <sollen wir zählen?> <im Film wird auch nicht gezählt> <wir können ja leise zählen> <eins> <zwei> <JETZT>

da vor uns

wir lassen ihn los alle zusammen los tief ins Eiswasser tief nach unten wo er

wir klettern an ihm vorbei zurück aufs Schiff lassen ihn stehen wie er da so <weißt du was Eisfischen> wie er da so <mein Vater und ich> wie er da so <wenn du springst dann ich auch>

<komm zurück!> <komm zurück!> <komm zurück!> <komm zurück!> <komm zurück> <komm zurück>

als ob wir wegen ihm als ob wir wir stellen uns in die Mitte vom Schiff

unsere Stimme ganz rau ganz heiser wie ihre so wie ihre unsere Stimme genau so wie ihre und dann

<und jetzt?> <jetzt das wo wir ihn loslassen> <dann müssen wir aber wieder runter>

losgelassen abgesunken

eins zwei drei

<er ist weg> <geschafft!> <endlich!>

wir springen vom Schiff legen uns im eiskalten Wasser auf den Bauch das Schiff gesunken jetzt schon er vor uns auf der Tür erfroren fast schon er an unserer Hand 2 so aufgebraucht wie Rose in Titanic so wie Rose in „Titanic“ I KNOW WHAT ICE FISHING IS zu ihm der es ihr erklären der ihr wie immer er der ihr was erklären will aber

<und jetzt?> wir liegen auf den Pflastersteinen das Wasser weg die Mülltonnen neben uns <ich kann uns Fischstäbchen machen> <ich hab keinen Hunger> <ich mach trotzdem welche> <warte!> eins Kinderwagen zwei Schuhhaufen drei

Theater der Zeit 10 / 2023


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Fußmatte mit der Katze die Tasse noch immer auf dem Küchentisch steht da und schaut uns an als ob

schauen weiter gradeaus schauen mit ihrem Sei-jetzt-leise-ich-will-schauen-Blick schauen mit ihrem großer-mittlerer-Eisberg-Blick

<du verstehst doch> <sei nicht böse> <morgen>

<und jetzt?>

wir stellen die Tasse in die Spüle wir machen den Fernseher an wir öffnen die Packung mit den Erdnussflips die auf dem Tresen liegt

<und jeeeetzt?>

3 WIE KURZ IST KURZ? KLEIN ich stopf mir alle auf einmal in den Mund drück sie fest in die Backe ein Flips zwei Flips drei Flips vier Flips fünf Flips bis es nicht weiter geht bis

die Böse läuft aufs Schiff

<was jetzt> der große Eisberg schaut mich an <können wir sie wecken?> <sie schläft noch> <aber wann dann?> <sie kommt schon wieder> <aber wir müssen doch das mit dem Wasser> <sie schlä-äft> <laaangweilig es ist doch immer dasselbe Schiff fährt gegen Eisberg Schiff sinkt Schiff fährt gegen Eisberg Schiff sinkt> <shhh> <selber shhh>

<schaut wievüle ich knn> <ich knn vül mhr> <stümmt nücht> <stümmt wohl> <dein Mund is vül größr als meinr> <mnr ist am größtn>

<wann dann?> <Rosa du nervst> <was denn?> <wann gehen wir dann?> <keine Ahnung morgen vielleicht>

links der große Eisberg rechts der mittlere Eisberg

morgen wenn heute ein schlechter Tag war dann ist morgen sicher ein guter immer abwechselnd gut schlecht gut schlecht gut schlecht gut

vor uns sie ganz am Anfang sie wie sie mit der Bösen aufs Schiff geht <die sind so doof dass die da überhaupt drauf gehen> ich schluck runter eins Flips zwei Flips drei Flips <das ist ja im Film die können das nicht wissen> der mittlere Eisberg klingt kalt <trotzdem>

<was wenn nicht?> <was?>

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der große Eisberg schaut mich an

vier Flips

<was wenn wir morgen auch nicht gehen?> <sie muss sich sicher nur kurz ausruhen> <wie kurz ist kurz?>

die Eisberge sind still

das letzte Flips ist Matsch im Mund

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MONOLOG FESTIVAL 9 — 19 NOV 2023

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Stück Leonie Lorena Wyss kurz kurz kurz

<nein es ist spät> <gehen wir ins Hallenbad?> <morgen>

<wie kurz ist kurz?> <weiß ich nicht> <aber> <pssst jetzt kommt das wo sie tanzen das magst du doch oder?> <aber ich will>

morgen morgen morgen morgen vielleicht gehen wir ja ich halte die Nase unter den Spalt <halloooo bist du daa?>

hhhhh

ich stehe auf der mittlere Eisberg schaut mich an <wo gehst du hin?> <ich muss mal>

nichts nur -

<was machst du da?>

ich laufe in den Flur wie beim Schiff links Kabine rechts Kabine links Kabine rechts

da ist es wieder das Muttertier da atmet es wieder da so hhhhh als würde es nicht genug Luft und dann ffffff so schwer so laut so hhhhh und ffffff hhhhh ffffff hhhhh es klopft wie ein Fischschwanz der so klopf klopf als ob es zurück ins Wasser will als ob es so klopf klopf

ich bleibe stehen leise ich muss ganz leise Nase ans Schlüsselloch <halloooo> nochmal ganz leise <halloooooo> und dann <wann gehen wiiiiir?> Nase unter den Spalt dunkel es ist ganz dunkel wie wenn sie abends das Licht ausmacht und <schlaft jetzt> <kannst du noch eine Geschichte? bitte nur noch eine>

da

auf die Bettdecke ganz schwer ganz schwer so hhhhh ffffff lauter immer ffffff hhhhh

der große Eisberg ganz groß vor mir <ich nichts ich dieses dumme Flips das komm da raus das klebt da hinten ich> <sie schläft lass sie> <ich lass sie doch> <komm wir schauen weiter> <ich will aber nicht weiterschauen> <was dann?> <können wir sie wecken?> <sie schläft> <gehen wir morgen ins Hallenbad?> <komm jetzt> der große Eisberg läuft davon ich bleib stehen Flips in der Backe ganz fest in die Backe gedrückt [...]

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Im Osten nichts Neues oder Wer wem den Hintern auswischt 05. – 07.10.2023

Highlights Oktober

Tentative Title: Brasch 06. & 07.10.2023

Ensemble Resonanz & Alexander Schubert Convergence 14.10.2023

any attempt will end in crushed bodies and shattered bones 20. & 21.10.2023

Nadia Beugré

Prophétique (On est déjà né·es) 27. & 28.10.2023

Prophétique, Foto: David Kadoule

Narges Hashempour

Jan Martens/GRIP & Dance On Ensemble


Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

„Weltall Erde Mensch“ in der Regie von Alexander Eisenach eröffnet die erste Spielzeit in der Intedanz von Iris Laufenberg am Deutschen Theater Berlin

Foto Thomas Aurin

Serie Warum wir das Theater brauchen #07. Alexander Eisenach über Theater als Raumschiff

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #07

Theater als Raumschiff Von Alexander Eisenach

In unserer TdZ-Serie schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesell­ schaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen

# 07

Bisher erschienen Nora Schlocker Anne Lenk René Heinersdorff Jonny Hoff Jette Steckel Yi-Wei Keng

Alexander Eisenach, geboren 1984 in Ost-Berlin, ist Regisseur und Autor, zuletzt mit „Weltall Erde Mensch“ am Deutschen Theater Berlin.

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Theater der Zeit 10 / 2023


Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #07 10 Warum brauchen wir Raumschiffe? Warum haben wir überall in den Zentren unserer Städte Raumhäfen gebaut, von denen allabendlich Expeditionen ins Unbekannte starten? Reisen, die die Grenzen der Einheit von Ort, Zeit und Handlung durchbrechen. Reisen, die die Grenzen der Logik sprengen, die uns durch Wurmlöcher viele tausend Jahre in die Vergangenheit katapultieren, in die Zukunft, in abstrakte Welten. 9 Raumschiffe sind Sehnsuchtsorte unserer Imagination. In ihnen verlassen wir das alltägliche Dasein, wir blicken aus der Ferne auf uns, auf die Beziehungen, in denen wir leben, wir blicken auf den Planeten aus der Ferne des Alls. Wir suchen nach Kommunikationsformen mit den fremden Bewohnern, die wir noch nicht oder nicht mehr kennen. Wir bleiben nicht die Menschen, die sich vernünftig und planvoll durch ihr Leben bewegen, wir erleben Lebensformen, die die Grenzen ihres Daseins sprengen, die Konventionen, Erzählmuster und körperliche Grenzen überwinden. 8 Wir sitzen im Cockpit unserer Wahrnehmung und vor unseren ­Augen entstehen Räume einer unheimlichen Doppelnatur. Das Jetzt der individuellen Raumfahrerexistenz synchronisiert sich mit dem Jetzt der extraterrestrischen Realität. Beide Realitäten finden an verschiedenen Orten statt, zu verschiedenen Zeiten, beide gehorchen verschiedenen (Natur-) Gesetzen, sozialen Konventionen und kausalen Zwängen. Gleichzeitig teilen beide Realitäten den exakt gleichen Ort, die exakt gleiche Zeit, gehorchen den exakt gleichen (Natur-) Gesetzen, sozialen Konventionen und kausalen Zwängen. Unser Raumschiff ermöglicht die Reise zwischen diesen beiden Polen des Realen. Es sprengt das Raum-Zeit-Kontinuum und setzt uns und unsere Existenz ins Verhältnis zu allen Möglichkeiten von Existenz.

Foto Claudia Balsters

7 In seinem berühmten Text „Über den Begriff der Geschichte“ bezeichnet Walter Benjamin das „Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“ als die wahrhaft revolutionäre Tat. Der Annahme, Geschichte sei nicht mehr als die Verkettung verschiedener historischer Momente, setzt er das Modell einer erfüllten Jetztzeit entgegen, in der sich die Gegenwart im historischen Moment erkennt. Der „Tigersprung ins Vergangene“ als Möglichkeit eines messianischen Moments, einer Chance, die Gegenwart zu revolutionieren. Geschichte ist demnach etwas, das nur in der Erfahrung erkannt werden kann und keinesfalls in einem abgeschlossenen, ewigen, homogenen und leeren Raum existiert. Jede Gegenwart muss es sich zur Aufgabe machen, sich ihre Vergangenheit abzuringen und sich ins Verhältnis zu dieser zu setzen. 6 Benjamins Sichtweise erinnert an ein Diktum Heiner Müllers, der forderte, man müsse die Toten befragen, damit sie die Zukunft preisgeben, die mit ihnen begraben wurde. Für Müller sind die Toten und ihre Vergangenheit also ein Werkzeug, Veränderung in Gang

Theater der Zeit 10 / 2023

zu setzen. Vergleichbares finden wir bei den russischen Kosmisten am Ende des 19. Jahrhunderts, die gleich die gesamte Menschheit wiederauferstehen lassen wollten. Könnte man nicht die Planeten des Sonnensystems mit den Bewohnern vergangener Jahrhunderte bevölkern? Wahre Solidarität kann nur unter Unsterblichen herrschen. Der Tod trennt die Menschen. Das Privateigentum kann nicht wirklich eliminiert werden, solange jeder Mensch ein eigenes privates Stück Zeit besitzt. Erst in der Ewigkeit werden die Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft eliminiert sein, da die Zeit kollektiviert wird. Es ist nach den Kosmisten logisch, dass eine progressive Gesellschaft nach Unsterblichkeit streben muss. 5 Das Raumschiff Theater produziert eine vertikale Dramaturgie, in der sich Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges überlagern und durchdringen. Die dramatische Erzählung gibt sich nicht damit zufrieden, eine chronologische Kausalkette von Ereignissen abzubilden, sondern bedient sich der Struktur der Überschreibung, der Collage, des Palimpsests. Der Zauber von Müllers Texten liegt genau in dieser vertikalen Überlagerung, in der sich die Nibelungen vor Stalingrad befinden oder Ophelia, Elektra und Ulrike Meinhof in einer Figur zusammenfallen. Es ist dies der Versuch, durch vertikale Verbindungen eine Sprengkraft in Bezug auf die herrschenden Narrative unserer Gegenwart zu erzeugen. Das Raumschiff Theater macht es möglich, Zeitalter und Epochen zu denken, wenn es sich seiner exklusiven Stellung in der Raumzeit bewusst wird. Durch seine konstitutive Doppelnatur beugt es die Raumzeit und macht Undenkbares real. 4 Die Gegenwart einer Landschaft erschöpft sich niemals in ihrer Horizontalität, im weiten Blick über die Felder. Die Gesteinsschichten und Toten unter uns sind das Wesen dieser Landschaft und die Geschichte unserer Jetztzeit. Die Forderung, beispielsweise ein bürgerliches Trauerspiel aus dem 18. Jahrhundert unverändert und wie es heißt „werktreu“ wiederzugeben, entspricht dem reaktionären Geschichtsverständnis desjenigen, der über den Hügeln Verduns den Sonnenuntergang bewundern möchte. Es ist der Wunsch, Konflikte ad acta zu legen, indem man sie als historisch betrachtet. In dieser Sichtweise ist die Gegenwart immer ein erlöster Zustand, der die emanzipatorischen Kämpfe der Vergangenheit überwunden glaubt, beziehungsweise für sich in Anspruch nimmt, die Forderungen dieser Kämpfe eingelöst zu haben. Das Raumschiff Theater glaubt nicht an die Erzählung der Gegenwart als erlöster Zustand. Es glaubt überhaupt nicht an die Gegenwart. Das Jetzt ist ein Standort, von dem es aufbricht. Den Zuschauer zum Raumfahrer zu machen, uns aus seiner beengten Gegenwärtigkeit mit auf eine Expedition in die Raumzeit zu nehmen – dafür brauchen wir das Raumschiff Theater. 3 Auf unserer Expedition begegnen wir der lebendigen Vergangenheit, dem lebendigen Mythos, der lebendigen Zukunft. Sie stehen inmitten unserer Gegenwart, sprechen zu uns, fordern uns heraus.

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #07 Das Theater lässt die Gegenwart nicht in Ruhe. Es glaubt nicht an die Versprechen, mit denen wir die Widersprüche unserer alltäglichen Existenz salben. Das Theater sucht den Bruch in der Erzählung einer Zeit, die sich selbst als Maß aller Dinge wähnt und selbstgenügsam an ihrer Omnipotenz berauscht. Zukunft kann nicht allein aus Gegenwart geboren werden. Erst in der Konstellation unserer Zeit mit der Vergangenheit wird eine mögliche Zukunft sichtbar. 2 Ein Theater, das die Sprengkraft der Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart ignoriert, entspricht einer Kultur des Stillstands und ist nicht mehr als ein Mittel der Beschwichtigung und Belustigung. Ein Herrschaftsinstrument. Einem engagierten Theater, einer engagierten Dramatik muss es immer darum gehen, Zukunft als Möglichkeitshorizont zu erkennen, indem es auch Gegenwart und Vergangenheit als veränderbar erkennt. Dort, wo Vergangenheit abgeschlossen ist und die Toten in ihren Gräbern bleiben, ist auch die Geschichte zum Stillstand gekommen. Die Gegenwart beginnt zu faulen und die Zukunft zeigt sich lediglich noch als Bedrohungshorizont, der den Status einer vermeintlich erlösten Gegenwart bedroht.

1 Die Raumhäfen in den Zentren unserer Städte sind Hebelpunkte. Orte, die die Zeit beugen und die Gegenwart aus den Angeln heben. Hier liegt die Zukunft bereits hinter uns und die Ereignisse der Vergangenheit liegen vor uns. Wir erwarten das Vertraute und blicken zurück auf das Unbekannte. Wir erreichen den Hyperspace. Ein Ort, der mehr ist als ein Behälter für Dinge. Mehr als die Stadt, die Gebäude und Menschen und Autos enthält, mehr als die Luft um uns, die erfüllt ist von Partikeln und durchdrungen von Wellen. Ein Ort, der sein eigenes Außerhalb ist, ein Ort, der unser Außerhalb ist. Ein Ort, der ein rätselhaftes Eigenleben zwischen den Zeiten führt. Wir verlieren unseren Zeitsinn und mit ihm die Idee, es handle sich bei Zeit und Raum um Messinstrumente, um die Gegenwart zu beschreiben. 0 Start. Wir sind Teil des lebendigen Organismus der Raumzeit. Wir sind der Fixierung auf unser gegenwärtiges Selbst enthoben. Nicht länger von toten Parametern der Kartierung umgeben. Die vierte Wand unseres Alltags kollabiert. T

Schaubude

Berlin

Dinge Theater der Din ge

9.11.2023

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3.11.

Internationales Festival des zeitgenössischen Figuren– und Objekttheaters

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SEIT 40 JAHREN ZENTRUM FÜR CLOWN, HUMOR & KOMMUNIKATION

Das Herbstprogramm SEMINARE 14./15.10. | Clown – Humor – Komik mit Udo Berenbrinker 18./19.11. | Clown: Step by Step mit Jan Karpawitz ONLINE-SEMINARE 22.10. | Clown Online – Erste Schritte zum Clown 14.11.–19.12. | 6 Wochen Workshop mit Avner Eisenberg AUFFÜHRUNG der Ausbildungsklasse Clown Kompakt 14.10. | 20 Uhr | Kulturzentrum Kreuzlingen Kult-X Hafenstraße 8 | Kreuzlingen

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Theater der Zeit

Report

Foto Jojo Alsberry/Aszure Barton Artists

Ein Tänzer in der Abschlussveranstaltung „AA|AB: BEND“ von Aszure Barton und Ambrose Akinmusire beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel in Hamburg

Weimar Kunstfest Weimar mit Wilson und Walser, Koohestani und Suleiman Hamburg Das Inter­natio­ nale Sommerfestival in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel Mülheim an der Ruhr Das Theater an der Ruhr erfindet sich mit einem großen „Rausch“-Projekt neu

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Report Kunstfest Weimar

Existenzfragen in Weimar Ein Kunstfest mit Wilson und Walser, Koohestani und Suleiman

Maschinengewehrsalven, martialischer Sound, Todesschreie. Ro­ bert Wilson zieht akustisch in den Krieg: „Um alle zu töten, die bekämpfen, wofür wir stehen“, sagt seine Stimme auf Englisch. Einer nach dem anderen, der eben noch auf dem Laufsteg vor schmaler breiter Bühne das Schild eines Protestmarschs hoch­ hielt, fällt stilisiert durchs Holzschwert, das daraus wurde. Das ist, vor blutroter Lichtwand, Akt fünf. Es folgt, vor samtrotem Vorhang: Akt sieben. Auferstehung. Da bleibt eine Lücke, eine Leerstelle.

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„Ubu“ eröffnete das Kunstfest Weimar so gut wie, aber je­ denfalls die Sektion Schauspiel darinnen, als „performative In­ stallation“ nach Alfred Jarrys ursprünglich mal dem Marionet­ tentheater zugeeigneter Groteske, in der das Vulgäre das Edle meuchelt. Nach Lithografie-Serien dazu entwarf Joan Miró 1978 überlebensgroße Marionetten für Joan Baixas’ Truppe La Claca, die damit in Palma auf Francos Diktatur anspielte. Das dortige Kunstmuseum Es Baluard, das Mirós „Ubu“-Bilder hü­ tet, beauftragte Wilson zunächst mit einem Klangstück: „Ubu

Theater der Zeit 10 / 2023

Foto Thomas Müller

Von Michael Helbing


Report Kunstfest Weimar Das Ensemble agiert stumm, die Tonspur liefert ein mit Deutschlandradio produziertes englisch-deutsches Hörspiel: Robert Wilson und Angela Winkler als Papa und Mama Ubu. Optisch ästhetisiert Wilson diese absurde Schreckensherrschaft auf bekannte Art und Weise, zuverlässig gibt der Regisseur den effektsicheren Bühnenmaler. Das Dreckige und Erdige, das Un­ anständige und Prekäre einer Amts- und Machtanmaßung ver­ bannt er ins Akustische: Es jault und quietscht comichaft schrill, es klirrt, scheppert und knallt lautstark. Das klingt nach spaßiger Gewalt und gewaltigem Spaß in der Banalität des Bösen. Der Abend bleibt gleichwohl Konfektionsware nach Wilsons Theatermoden. Er stellt, in bewegungshemmenden Kostümen, enthemmte Usurpatoren aus, denen Versuchungen und Verfüh­ rungen zu niedrigen Beweggründen werden. Dass dies, ob nun bei Jarry oder Wilson, eine „Antikriegsfarce“ sein soll, wie das Kunstfest vorgab, entspringt aber eher dem Reich der Bekennt­ nishaftigkeit, in dem sich dieses Festival zeitgenössischer Künste auch tummelt. Wilson trat schon in früheren Kunstfesten auf, mit einer Licht-Klang-Installation zu Liszts „Via Crucis“ 2012 bei Nike Wagner und einer dreistündigen Lecture Performance als Selbst­ porträt zwei Jahre später bei Christian Holtzhauer. In der fünften von Rolf C. Hemke kuratierten Ausgabe war der zu diesem Zeit­ punkt 81-Jährige einer der jüngeren Akteure, wie man übermütig überspitzen könnte. Günther Uecker, 93, ließ zum Auftakt sein „Steinmal für Buchenwald“ von 1999 rund ums Goethe-Schil­ ler-Standbild auf dem Theaterplatz neu erstehen; solche, die jetzt dabei gewesen, berichten vielfach von einer verstolperten und auseinanderfallenden Eröffnungszeremonie, die einem Uecker demnach so wenig gerecht wurde wie einem Festivalstart. ­Roberto Ciulli, gleichsam Hemkes alter Mentor in Mülheim an der Ruhr, trat in seinen Zwei-Personen-Fassungen von „Peer Gynt“ (2017) und „Der kleine Prinz“ (2000) auf. Ivan Ivanji, 94, stellte den Roman „Der Jude und das Meer“ vor. Juan Allende-Blin, 95, kom­ ponierte Klang und Geräusch zu Texten von Jorge Semprún und Samuel Beckett. Insgesamt: 45 Projekte in zehn Sparten, mit hundertfünf­ zig einzelnen Veranstaltungen binnen 19 Tagen im Spätsommer. Das setzt zumindest in der Fülle auf eine Überwältigungsstrate­ gie. Hemke, dessen Vertrag jüngst bis 2025 verlängert wurde, setzt zudem auf ein Kernensemble wiederkehrender Akteure. Die Überschreibung des Klassikers von Alfred Jarry: „Ubu“ in der Regie von Robert Wilson im Rahmen des Kunstfest Weimar

Sounds the Alarm“ war 2022 auch in Weimar zu hören, mit Repliken dieser Marionetten. Die tauchen in der Performance kurz wieder auf, die Wilson und Charles Chemin danach mit neun Spielern im Es Baluard herausbrachten, als Jarry-Essenz ohne Originaltext, und für die Aina Moroms ansonsten Kostü­ me aus Zeitungspapier schuf. Gewiss dem Budget geschuldet, verweist das zugleich auf Puppen aus Pappmaschee. So ähn­ lich gruppieren sich die Spieler um eine Tafel: ein Hofstaat als Tableau vivant.

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Theresia Walsers dichter und pointierter kurzer Text stellt vor dem Hintergrund des Klimawandels den Menschen subtil, vielschichtig und schillernd mitten hinein in seinen Zwiespalt zwischen Natur- und Kulturwesen.

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Szenen von Robert Wilsons „Ubu“ von Robert Wilsons am Deutschen Nationaltheater

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(Das dezidiert Ostdeutsche, in den Debatten gerade wieder be­ sonders virulent, taucht übrigens personell wie auch inhaltlich allenfalls am Rande auf.) Im Tanz kehrten das Johannesburger Vuyani Dance Theatre, Cocoon Dance aus Bonn und der libanesische Choreograf Ali Chahrour zurück. Thomas Köck, zum dritten Mal dabei, formte aus seinem 2021 in München uraufgeführten Stück „eure paläste sind leer (all we ever wanted)“ ein Libretto für Johannes Maria Stauds neue Oper „missing in cantu“. Steve Karier, auch eine feste Größe, spielte Luc Teichmann: bald sechzig, verunsicherter Versicherungsfritze, in der Hitze der Nacht mit Wasser in Blecheimern in der Tram unterwegs, um am Stadtrand einen platonisch-erotisch geliebten Baum zu gießen. Theresia Walser schrieb Karier ihre „Eschenliebe“ auf den Leib, einen Monolog als „Liebeskomödie für einen Mann und einen Baum“. Vor drei Jahren lieferte sie dem Kunstfest den CoronaMonolog „Endlose Aussicht. Ferien auf dem Seuchendampfer“ zu, gespielt von Judith Rosmair, die diesmal in ihrer VR-Inszenie­ rung „Being Nietzsche“ als des Denkers Schwester auftrat. Walsers dichter und pointierter kurzer Text stellt vor dem Hintergrund des Klimawandels („Trockenheit. Trockenheit. Trocken­ heit.“) den Menschen subtil, vielschichtig und schillernd mitten hinein in seinen Zwiespalt zwischen Natur- und Kulturwesen. Die äußerlich unaufwendige Aufführung (Regie Daliah Kentges) kompensiert Karier mit spielerischem Aufwand im Zwielicht. Er überspielt. Und er pathologisiert seine Figur damit leider auch. Das bekommt Züge eines Psychopathen und hintertreibt das irritierend Selbstverständliche, mit dem eine solche Liebe zu ­ ­behaupten wäre. Zu Hemkes Strategie zählt, wie ja auch andernorts üblich, das kooperierende Premierenfestival. Partner sind finanziell nötig, bei nur neunhunderttausend Euro öffentlich getragener Grund­ ausstattung von Land und Stadt. Hemke wies coram publico dar­ auf hin, dass Wilsons „Ubu“ aus eigener Kraft sowieso nicht und ausschließlich dank spanischer Förderer zu bezahlen war. Mit der klug gebauten Büchner-Überschreibung „Dantons Tod Reloaded“ feierten Amir Reza Koohestani und das Thalia Theater Hamburg ihre zweite Premiere in Weimar; 2021 kam ihre reich­ lich spröde Fluchtgeschichte nach Anna Seghers‘ „Transit“ heraus. Koohestani und Ko-Autorin Mahin Sadri, die als Marion zudem in Videotelefonaten aus dem Iran erscheint, schicken „Dantons Tod“ in eine Theater-im-Theater-Erzählung, deren Schauspieler so hei­ ßen wie ihre Figuren. Die gastieren mit dem Revolutionsdrama im unerwartet bestreikten Paris. Vor hohen drehbaren Spiegeln, die zu Monitoren für Text- und Bildbotschaften werden, reflektie­ ren sie ihre eigene brüchige Rolle in und Haltungen zu Randalen, Revolten, Revolution, zu Solidarität und weiblicher Selbstbestim­ mung zwischen „MeToo“ und „Woman Life Freedom“. Die Bühne wird zur Hinterbühne, zur Künstlergarderobe und gleichsam zum Spiegelkabinett, worin sich Verzerrungen offenbaren: Wie exis­ tenziell sind unsere Debatten tatsächlich? Auf die Spur der „Existenz“ begibt sich laut Titel auch ein auf ganz andere Weise herausragender Beitrag: Wihad Suleimans in einer Schreibwerkstatt am Royal Court Theatre entstandenes

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Fotos Thomas Müller

Report Kunstfest Weimar


Report Kunstfest Weimar Mit der klug gebauten Büchner-Über­schrei­ bung „Dantons Tod Reloaded“ feierten Amir Reza Koohestani und das Thalia Theater Hamburg bereits ihre zweite Premiere in Weimar.

„Schauspiel über das Unfassbare des Krieges“, dessen Urauf­ führung beim Kunstfest zweimal verschoben werden musste; nun fand sie im Juli in Neapel statt, bei einem der Koproduzen­ ten neben Mülheim an der Ruhr und dem TAK in Berlin-Kreuz­ berg. Dieses dramatische Prosalanggedicht für vier Einzelseelen­ kämpfer und Einzelkämpferseelen – zwei Frauen, zwei Männer, jeweils eine(r) Deutsch und Arabisch sprechend, fußt gewiss auf dem ­Syrien-Krieg, landet aber mit seinen individuellen, alsbald

ineinanderfließenden Traumata-Monologen auf einer allgemein­ gültigen Abstraktions- und Reflexionsebene. Lydia Ziemke hat das entsprechend surreal inszeniert, mit einem gewissen Hörspiel­ fokus – die Zuschauer tragen nicht nur der Simultanübersetzun­ gen wegen Kopfhörer. Die dritte Theaterarbeit mit Hörspielebene war Marie Bues’ Antrittsinszenierung fürs Schauspielhaus Wien: „Die vielen Stim­ men meines Bruders“ ist ein autofiktionales Stück von Magdalena Schrefel: „für anwesende und abwesende Stimmen und Körper, für Schauspiel, Puppenspiel, Musik und Sprachaufnahmen.“ Aus­ gehend vom eigenen, als Ko-Autor benannten Bruder im Roll­ stuhl, Valentin Schuster, der mit seltenem Gendefekt zur Welt kam und neben vielen anderen Beeinträchtigungen alsbald die eigene Stimme zu verlieren droht, entsteht ein intelligentes und unsentimentales Spiel der Repräsentation: Wer darf, soll oder muss sogar wann für wen sprechen, auch und gerade auf dem Theater? T

Die deutsche Erstaufführung von Robert Wilsons „Ubu“ lief während des Kunstfest Weimar am Deutschen Nationaltheater

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Report Kampnagel Hamburg

Urbanes Fieber Das Internationale Sommerfestival in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel Von Peter Helling

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Die Basilianerin Carolina Bianchi, weiß gekleidet, zerstößt zu Beginn ihres Abends „The Bride and the Goodnight Cinderel­ la“ eine Schlaftablette, streut sie in einen Drink, trinkt ihn aus. In ihrer Heimat Brasilien heißen die Tabletten übersetzt „Gute Nacht, Aschenputtel“. Sexualstraftäter benutzen sie, um Frauen zu vergewaltigen – und immer wieder werden diese Frauen auch ermordet. Während Bianchi langsam müde wird, liest sie an einem Tisch aus einem eigenen Theatertext vor. Darin geht es um Femizi­ de, um Morde an Frauen, weil sie Frauen sind, und um weibliche Performerinnen, die sich Extremsituationen aussetzen. Von einer redet sie besonders: von Pippa Bacca. Sie wollte 2008 in einem weißen Brautkleid aus Italien nach Jerusalem trampen, um für den Frieden zu demonstrieren. In der Türkei wird sie von einem Autofahrer vergewaltigt und ermordet. Fotos der jungen Frau werden hinter Carolina Bianchi eingeblendet. Es ist eine ­Reise in die Nacht, sie schläft ein. Indem sie die Tablette einnimmt, leiht sie ihren Körper die­ ser Geschichte, diesem Trauma. Ihr Schlaf beglaubigt diese Reise,

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Fotos links, oben und rechts Christophe Raynaud de Lage, unten Alexandre Quentin/Festival d’Avignon

Links, oben und rechts: Szenen aus „Trilogia Cadela Força – Capitulo I: The Bride and the Goodnight Cinderella“, eine Perfor­ mance von Carolina Bianchi (unten)


Report Kampnagel Hamburg

sie ist da, ohne da zu sein. Während die anderen Performer und Performerinnen die Bühne in einen Friedhof ermordeter Frauen, einen nächtlichen Kult-Ort verwandeln, entsteht eine Séance, ein Geistertanz. Und dann wird die bewusstlose Carolina Bianchi von ihrem Kollektiv auf die Motorhaube eines Autos gelegt, ihre Beine werden vorsichtig geöffnet: Eine Frau taucht mit einer EndoskopKamera tief hinein in Carolina Bianchis Vagina. Das Bild wird auf eine Leinwand übertragen. Es ist ein Moment ungeheurer Ver­ letzlichkeit, weil er das Trauma einer Vergewaltigung wiederholt. Und wir, das Publikum, werden zu Voyeuren. Schwer zu ertragen. Der Abend, der beim Festival d’ Avignon gefeiert und viel dis­ kutiert wurde, ist ein Höhepunkt des Sommerfestivals, während in der großen Halle K6 gleich nebenan Florentina Holzingers Büh­ nen-Renner „Ophelia’s got Talent“ von der Berliner Volks­bühne gezeigt wird. Zwei Positionen weiblicher Selbstermächtigung und körperlicher und performativer Extreme. Carolina Bianchi wählt den Weg der totalen Einsamkeit. Den Schlaf. Aus dem sie am Ende wieder geweckt wird. Blinzelnd steht sie zum Applaus am Bühnenrand. So stark waren nicht alle Abende beim Internationalen Som­ merfestival. Eher enttäuschend war der Auftakt mit dem Ballet National de Marseille unter der Leitung des Trios La Horde. Es beginnt mit einer sehr lahmen Szene, in der alte Videospiele wie die von Atari lebendig werden, die Tänzer und Tänzerinnen über die Bühne trippeln wie Spielfiguren. „Age of Content“, also in etwa „Das Zeitalter der (digitalen) Inhalte“, ist ein ermüdendes Wimmel-­Bild zu Philipp Glass’ Minimal Music, ein Zitaten-Rausch der Popkultur der 80er und 90er Jahre. Mit ständigem Verweis auf die TikTok-Welt von heute, zuckenden Leibern, Kopulations­ bewegungen. Da gibt es einen Kampf mit einem ferngesteuerten Auto, der aus einem Endzeitfilm wie „Mad Max“ oder „Termina­

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tor“ stammen könnte. Oder Szenen wie aus „Dirty Dancing“ und „A Chorus Line“, die hier mit breitem Grinsen persifliert und de­ konstruiert werden. Das Ensemble tanzt fantastisch, wirkt beinahe künstlich, wie eine Gruppe hypercooler Avatare. Es ist ein Abge­ sang auf den heterosexuell-männlich geprägten Medienkonsum der letzten Jahrzehnte, eine Kritik an der virtuellen Mediengier heute. Aber es fehlt ein Kern. Aus dieser Leistungsschau wird kein Wurf. Apropos Wurf und Leistung: Bei dieser Festivalausgabe geht es öfters sportlich, laut und energetisch zu, wie bei Miet Warlops Actiontheater „One Song“ vom belgischen Stadttheater NTGent. Oder bei Abenden, die ein Vorgriff auf das Kulturprogramm der Fußball-EM 2024 sind. Humorvoll und augenöffnend ist der An­ satz des australischen Tänzers und Beinahe-Profifußballers Ahilan Ratnamohan, der mit Jugendlichen einen Tanzstil aus Fußball­ Moves entwickelt hat, „Klapping“. Tanz und die oft harte Welt des Fußballs werden hier eins. Was insgesamt zu kurz kommt, sind doppelbödige Performances. Stücke aus dem asiatischen Kultur­ raum etwa. Abgründiges, Codiertes. Vieles wirkt sehr direkt, ein­ fach lesbar. Selbst der Festivalgarten – eine Oase, um nach den Abenden auszuatmen – war weniger zauber- und feenhaft als sonst. Von den mehr als hundertfünfzig Performances, Konzerten, Tanz- und Theaterstücken sind noch mehr zu nennen. Etwa das „Teenage Song Book of Love and Sex“ des Duos Ásrún Magnús­ dóttir und Alexander Roberts: Da haben junge Menschen aus ­Island und Hamburg in kürzester Zeit eine gemeinsame Ebene ge­ funden, haben Songs über ihr Leben geschrieben, über ihre Lust, über die Anstrengung, der oder die zu werden, die man ist. Eine großartige Gruppendynamik, ehrlich und unverstellt. Ein Plus in diesem Jahr: Noch mehr als früher schwärmte das Festival hinaus in die Stadt. Der norwegische Saxofonist Bendik Giske verwandel­ te die Kirche St. Gertrud nahe der Außenalster in einen nebligen Zauberraum, der einem Club der 90er-Jahre glich. Der andro­gyne Musiker sprach kein Wort, ließ aber sein Instrument atmen, hecheln, schreien, kichern. Ein magischer Auftritt. Und natürlich die viel­ fach ausgezeichnete Gruppe Nesterval aus Wien: Die „queere Volkstheater-Guerilla“, wie die Selbstbezeichnung lautet, ver­ wandelte den ehemaligen Kakaospeicher im Hafen – eine zweitau­ send Quadratmeter große Halle – in ein immersives Labyrinth der „Namenlosen“. Darin werden Biografien in der Nazizeit verfolgter queerer Menschen in Hamburgerzählt, Lebenslinien, die stellver­ tretend für queere Lebenskulturen hier und heute stehen könnten. Am Schluss des Festivals noch ein Höhepunkt, eine von fünf Weltpremieren insgesamt. Die kanadische Choreografin Aszure Barton, ihr fulminantes elfköpfiges Ensemble und der Jazz-Trom­ peter Ambrose Akinmusire komponieren einen dunklen, urba­ nen Körperraum. Das Ensemble in schwarzen Hoodies, wie eine Gruppe kreisender Mönche, lässt Bilder von Polizeigewalt aufblit­ zen, eine Leuchtskulptur über der Bühne wirft Lichtsplitter in den Raum. Der Tanz zum rauchigen Live-Sound der Trompete wird zur Beschwörung der menschlichen Gemeinschaft. Zur Feier des urbanen Fiebers, mit dem bangen Blick auf die Krisen von heute. Hier kommt das Internationale Sommerfestival unter der Leitung von András Siebold zu sich. Eine Ausgabe, die laut Kampnagel deutlich mehr Karten verkaufte als in den letzten Jahren. T

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Von Stefan Keim

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oben und unten rechts Franziska Götzen/TAR

Das Theater an der Ruhr erfindet sich mit einem großen „Rausch“-Projekt neu und erinnert ergreifend an die verstorbene Schauspielerin Simone Thoma

Foto oben und unten links Franziska Götzen,

Anfang und Abschied in Mülheim


Report Mülheim an der Ruhr

Oben und unten links: „Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“ nach Texten von Antonin Artaud in der Regie von Roberto Ciulli Oben und unten rechts: „Die Bakchen“ nach Euripides in der Regie von Philipp Preuss

Theater der Zeit 10 / 2023

Vier Premieren, eine Menge Konzerte, Performances, Installatio­ nen. Dazwischen Begegnungen, gemeinsames Essen am Food­ truck. An jedem Spieltag herrscht Festivalatmosphäre im Theater an der Ruhr. Das ist enorm anregend, aber auch anstrengend. Die ganze Saison kann das keine Bühne durchhalten. Deshalb gibt es in Mülheim seit dieser Saison drei Spielinseln, die jeweils einige Wochen dauern. Das Ensemble spielt nicht mehr die gesamte Zeit durch. Wenn Aufführungen gezeigt werden, ist das etwas Beson­ deres, ein Event. Das Theater an der Ruhr erfindet sich neu und stellt die Saison unter das Motto „Rausch“. Ein radikaler und mutiger Schritt. In vielen Städten schleppen sich die Theater in manchen Phasen durch die Spielzeit. Es wird bis zum Anschlag produziert, aber die Aufführungen erreichen zum Teil nur wenig Publikum und werden schnell wieder abgesetzt. Da fragt man sich manchmal, ob sich der Aufwand überhaupt lohnt. Das Theater an der Ruhr hat kein Abosystem und ist deshalb fl ­ exibler als die meisten städtischen Bühnen. So kann es eine Vorreiterrolle übernehmen und ein neues Spielplansystem ausprobieren. „Ich glaube“, sagt der Künstlerische und kaufmännische Geschäftsführer Sven Schlötcke, „dass so unverwechselbare Ge­ samtereignisse entstehen können, thematische Tiefenbohrungen mit unterschiedlichen Kunstformen und Formaten, die viele Per­ spektiven eröffnen und dazu einladen, mit uns auf Entdeckungs­ reisen zu gehen“. Ein jüngeres Publikum kommt nicht mehr von selbst. Es will Erlebnisse. Gleichzeitig hat das Theater den An­ spruch, sich intensiv mit den behandelten Themen zu beschäftigen. Beides funktioniert im neuen System. „Wir versuchen, gemein­ schaftsbildende Ereignisse zu stiften, auch um einen Generations­ wechsel beim Publikum zu erreichen“, sagt Schlötcke, „und um uns wie viele andere auch auf neue Publikumsschichten einlassen“. In den Phasen zwischen den Spielinseln ist das Theater nicht geschlossen. Während der Proben wurden auch früher schon Fachleute eingeladen, das Ensemble veranstaltete Filmabende und Diskussionen – und zu denen wird nun auch das Publikum eingeladen. Es kann den Entstehungsprozess, die Gedankenarbeit mitverfolgen. Schulvorstellungen von Klassikern gibt es weiterhin auch in den Zwischenzeiten, ebenso Gastspiele und internationale Kooperationen wie das Festival Szene: Istanbul. Zwischen Mitte August und Mitte September gab es also die erste Spielinsel. Hausregisseur Philipp Preuss, der zusammen mit Sven Schlötcke und Dramaturg Helmut Schäfer das Leitungsteam in Mülheim bildet, begann mit den „Bakchen“ des Euripides. Bür­ gerinnen und Bürger folgen dem Gott Dionysos, verlassen die Städte, ihre Arbeit, ihre Familien und geben sich dem Rausch hin. Das Bacchanal wird ihr Lebenszweck. Eine Vision eines puren anarchischen Lebens, eine Gesellschaftsordnung ist so nicht mehr möglich. Weshalb die Herrschenden – hier personifiziert durch König Pentheus – den „Bakchen“ den Krieg erklären und die ge­ samte Staatsgewalt aufbieten. Ein perfektes Stück für eine Open-Air-Aufführung. Wenn man sich auf seine Wildheit, die Poesie der Gewalt, die Wucht einer an­ tiken Tragödie einlässt. Das tut Philipp Preuss im Raffelbergpark, der das Theater an der Ruhr – ein ehemaliges Kurhaus – umgibt. Dionysos trägt Hörner auf dem Kopf, einen Schweif am Gesäß,

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Report Mülheim an der Ruhr der bemalte Leib ist nackt. Felix Axel Preißler ähnelt den Darstel­ lungen des Gottes auf alten Gemälden. Albert Bork erscheint als König Pentheus hingegen im dunklen Anzug heutiger Machtha­ ber. Eigentlich könnte er der Held sein, die Stimme der Vernunft und der Demokratie. Aber Pentheus kriegt selbst seine Triebe nicht unter Kontrolle und schleicht sich in die Berge. Bevor er seinen Gegner vernichtet, will er bei den enthemmten Sex­orgien zuschauen, von denen ihm berichtet wird. Er gerät ins Visier der Bakchen, die ihn zerstückeln. Seine eigene Mutter reißt ihm den Kopf ab, weil sie ihn für einen Löwen hält. Während das Ensem­ ble all dies mit roher Theaterlust und überwältigender Energie, teilweise mitten im Publikum, spielt, unterlegt eine Rockband das Geschehen mit wummernden Rhythmen. Die Bässe setzen die Magengegend in Schwingungen. Dann kommt ein harter Break. Ein junger Mann zieht einen weißen Vorhang vor die Szene, begrüßt das Publikum, imitiert den Filmregisseur Werner Herzog, der sich oft mit Naturvölkern und archaischen Bräuchen beschäftigt hat. Nun kommt die MetaEbene zum Stück per Video, mit einer Textcollage aus Werken des Philosophen Michel Foucault. Diese Szene ist zu lang geraten. Doch sie hat einen großartigen Clou. Der von Leonhard Hugger großartig parodierte Pseudo-Werner-Herzog hält den abgeris­ senen Kopf von Pentheus in der Hand. In diesem Kopf befindet sich eine Kamera, und aus der wird das Publikum gefilmt. Wie

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Dagmar Geppert danach die Mutter spielt, die langsam, sehr lang­ sam aus dem Rausch herausfindet und erkennt, dass sie den Kopf ihres eigenen Sohnes in der Hand hält, ist unglaublich. Ein starker Abend mit einem Ensemble, das nicht nur körperlich eine Riesen­ leistung vollbringt, sondern auch – was immer seltener wird – mit den Texten richtig viel anfangen kann, im Rausch Zwischentöne und Glaubwürdigkeit findet. Die zweite Premiere findet im Proberaum des Theaters an der Ruhr statt. Das Publikum versammelt sich vor dem Theater und geht zwanzig Minuten zu einer schäbigen, leerstehenden Fabrik. Einem dieser Unorte, wie es sie im Ruhrgebiet häufig gibt, staubig, einsam und doch mit einem starken Charisma. Hier lassen sich wun­ derbar Horrorfilme drehen. Ein Wächter steht am Eingang. Er pickt sich die Menschen heraus, die eintreten dürfen, eine kleine Macht­ demonstration, der sich das Publikum unterwerfen muss. Auf mit Tannenzweigen übersäten Treppen geht es rauf in den vierten Stock. Dort beginnt ein seltsames Ritual. Elf Menschen stehen auf, schauen sich an, lange geschieht wenig. Musik tönt aus Lautsprechern, erst leise und langsam, dann wird sie schneller. Es kommt Bewegung in die Gruppe, bis schließlich Arme durch die Luft fliegen, Körper beben, sich das Ensemble in eine Art Trance tanzt. Es gibt keine Erklärung, um was für eine Gruppe es sich handelt. Sie ist einfach da. „Bromio – das unzerstörbare Leben“ heißt die Performance von Simone Derai und Marta Ciappina. Sie gehören zum italienischen Kollektiv Anagoor, das regelmäßig am Theater an der Ruhr arbeitet. Es gibt nur einen kurzen Text, Ratschläge für einen Elternteil, wie man mit einem Kind nach einem Todesfall umgehen soll. Alles andere bleibt der Fantasie des Publikums überlassen. Ein geheimnisvolles Stück, das allein­ stehend unbefriedigend sein könnte. Aber im Zusammenhang mit dem „Rausch“-Projekt und den „Bakchen“ wirken die Bilder und die Energie des Ensembles nach. Beim Weg zurück sieht man die Freiluftbühne der „Bakchen“ und fragt sich, ob da gerade eine heutige Spielart so eines Bacchanals stattgefunden hat. Und wie weit einen die Sehnsucht nach Rauschmomenten verändern kann. Um einen Blutrausch geht es in der Performance „Moby Dick. Die Jagd“ nach Herman Melville. Maria Neumann – die seit 1986 in Mülheim engagiert ist – hat sie inszeniert. Und auch Roberto Ciulli ist mit einer neuen Inszenierung dabei, die 89-Jährige Theaterle­ gende, Mitgründer des Theaters an der Ruhr, der schon vor einigen Jahren aus der Leitung ausgeschieden ist. Er beschäftigt sich mit einem Theatermacher, der wie Dionysos keine gesellschaftlichen oder ästhetischen Schranken akzeptieren wollte. Antonin Artaud ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten oder wird höchstens noch mit dem Begriff „Theater der Grausamkeit“ verbunden. Wo­ bei es ihm nicht um eine Grand-Guignol-Show ging, sondern um eine radikal eigene Bühnenwirklichkeit, die nicht am Text klebt, in der alle Elemente einer Aufführung gleichwertig sind. Artaud war ein Urvater der Performancekunst, schwer krank, nahm viele Dro­ gen und Medikamente, verbrachte viele Jahre in der Psychiatrie, die in den dreißiger und vierziger Jahren noch eher ein Irrenhaus war. Ciulli hat in den vergangenen Jahren ein faszinierendes Alters­ werk geschaffen. Sein Stück „Ich, Antonin Artaud – Le Momo“ ist eins seiner besten. „Le Momo“ – das närrische Kind – hat sich Artaud


Report Mülheim an der Ruhr selbst genannt. Ganz leise beginnt es. Der Schauspieler Steffen Reuber sitzt mit einem Dreispitz auf dem Kopf auf einem Felsen und berichtet über die Verbrechen, die Indios in Südamerika von den Kolonisatoren angetan wurden. Reuber spricht präzise und ruhig, lässt unerträgliche Bilder im Kopf entstehen, erinnert an die Bestialität der Christen und das Leiden der Opfer. Mit assoziativen Bildern geht es weiter. Durch einen Lichtwechsel scheint der Fel­ sen ein Gesicht zu bekommen, später spuckt er durch eine Öffnung ­einen jungen Mann mit weißer Perücke aus. Drähte an der ­Decke ­flackern plötzlich grell auf und erinnern an die Stromstöße, mit denen Artaud in der Psychiatrie behandelt wurde. Ausstatte­ rin Elisabeth Strauß hat einen surrealen, assoziationsgeladenen Raum geschaffen, der schon für sich eine Installation ist, ein le­ bendiges Kunstwerk. Bernhard Glose spielt und spricht wie Steffen Reuber mit enormer Konzentration, auch der seltsamste Moment hat eine spielerische Klarheit. Zum Beispiel, wenn Artaud Briefe aus der Psychiatrie schreibt – was er wirklich getan hat, auch an Adolf Hitler – und dabei in unverständliches Gebrabbel verfällt, das teil­ weise an Clownssprache erinnert. Roberto Ciulli führt hier viele typische Elemente seiner Theatersprache zusammen. Und es gibt jemanden, der diesen ohnehin schon packenden Abend unver­ gesslich macht: die verstorbene Schauspielerin Simone Thoma, Ciullis Lebensgefährtin.

Sie starb während der Proben, hat aber ihren Text noch komplett eingesprochen – teils als Audio, teils als Video. ­Simone Thoma ist als Projektion präsent und zeigt noch einmal ihre vielseitige Schauspielkunst. Das präzise Durchdringen von Texten, das Erspüren nicht nur der Gedanken, sondern auch der angedachten Fetzen, des Unvollständigen. Die Elemente eines Textes, die das Publikum zum Mitentwickeln aufrufen. Auch ihre federleichte Komik, ihre poetische Albernheit zeigt Simone Thoma, wenn sie unsichtbare Briefe in die Luft leckend verschließt. Es ist wirklich eine letzte gemeinsame Arbeit von Simone Thoma und Roberto Ciulli, ein Zusammenwirken über den Tod hinaus, wie es theaterhistorisch vielleicht sogar einmalig ist. Beim Schlussapplaus zeigt der Spot einmal einen leeren Stuhl. Aber das stimmt gar nicht. Er ist nicht leer, da ist jemand. Ein einzigartiger, zutiefst bewegender Theaterabend. Die Repertoireaufführung war gut besucht, das Publikum hat sich deutlich verjüngt. Ein Blick in den Park danach zeigt voll besetzte Tische vor dem Foodtruck, gut gelaunte Menschen. Die erste Spielinsel ist gut angenommen worden. So ist das Theater an der Ruhr auf dem Weg in die Zukunft – und nimmt zugleich auf ergreifende Weise Abschied von Simone Thoma. „Ich, Antonin Artaud – Le Momo“ wird übrigens auch in der zweiten Spielinsel im November zu sehen sein. T

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

This is so contemporary! Tino Sehgal Ein Auszug aus dem neuen TdZ-Recherchenband „Der urheberrechtliche Schutz performativer Kunst“ von Moritz Johannes Ott

Moritz Ott fragt danach, ob und wie performative Kunst urheberrechtlich geschützt ist und inwieweit vor diesem Hintergrund szenische Aufführungen in ihrer Gesamtheit neu zu bewerten sind: Liegt der Schlüssel zum urheberrechtlichen Schutz aller Bühnenkunst im Urheberrecht des Regisseurs an seiner Inszenierung? 74

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Foto VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Joseph Beuys: „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet“ (1964, Foto: Manfred Tischer copyright by tischer.org, the estate of Manfred Tischer)


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Auf der 51. Internationalen Kunstausstellung der Biennale von Venedig fand ein originelles und eigentümliches Ereignis statt. Der Berliner Künstler und Diplom-Volkswirt Tino Sehgal präsentierte im deutschen Pavillon seine Arbeit „This is so contemporary“: Die Arbeit bestand darin, dass, sobald ein Besucher den leeren Pavillon betrat, drei uniformierte Museumswärter den Besucher tanzend umkreisten und rhythmisch immer wieder den Titelsatz riefen „This is so contemporary, contemporary, contemporary! Tino Sehgal“. Mit dieser Arbeit schuf Sehgal eine Situation, die weder unter die urheber­ rechtlich geschützte Werkkategorie der bildenden Kunst noch unter die der Litera­ tur im Sinne von § 2 Abs. 1 UrhG zu subsumieren gewesen wäre. Sehgal stellte mit „This is so contemporary“ kein Artefakt her, dessen körperlicher Gegenstand den Besuch des deutschen Pavillons überdauern würde. Der Vollzug der Anweisun­gen von Sehgal diente aber auch nicht der Darstellung einer fiktiven Welt. Vielmehr entwickelte Sehgal mit seiner Arbeit „This is so contemporary“ eine Form von Kunst, die allein in dem Moment Gestalt annimmt, in der man ihr hic et nunc begegnet. […] Das Wesen des urheberrechtlichen Werks, das durch die Legaldefinition bestimmt wird, wird durch zwei Relationen geprägt: 1) durch eine Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, Urheber und Werk bzw. Betrachter und Betrachtetem, und 2) durch eine grundlegende Trennung zwischen dem singulären materiellen Werkstück und dem durch dieses verkörperten Geisteswerk, also zwischen dem Ausdrucksmittel auf der einen Seite sowie der wahrnehmbaren Form und dem geistigen Gehalt auf der anderen Seite. Durch die Synthese dieser Beziehungen wird das Werk zu einem von seinem Urheber ablösbaren, ubiquitären Immaterialgut, dessen Rechtsgegenstand der wiederholten Nutzbarkeit durch Dritte zugänglich wird. Die Wiederholbarkeit ist die grundlegende ­Voraussetzung aller Immaterialgüterrechte. Eine derartige Ausdifferenzierung in Subjekt und Objekt, Urheber und Werk bzw. Betrachter und Betrachtetem wurde in Sehgals Arbeit „This is so contemporary“ nicht ermöglicht. Denn Sehgal ersetzte

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die Schöpfung und Nutzung eines Werkes durch die Herstellung einer räumlich und zeitlich begrenzten Situation, der die Museumsbesucher des deutschen Pavillons nicht unbeteiligt gegenüberstanden, sondern sie bewegten sich in ihr. Die Situ­ ation existierte also nie unabhängig von den jeweiligen Besuchern des deutschen Pavillons, sondern die Subjekte nahmen hieran aktiv teil. Damit ersetzte Sehgal das Objekt durch die Realerfahrung von Körper, Raum und Zeit, in die er die Aufseher und Zuschauer durch seine Anweisungen stellte. Diese Veränderung der Subjekt-Objekt-­ Beziehung ist eng auf die Veränderungen der Nutzungsmöglichkeit bezogen, wie sie das Werk als ablösbares, ubiquitäres Immaterialgut eigentlich voraussetzt. Denn wenn die uniformierten Museumswärter über Monate hinweg während der ganzen Öffnungszeit der Biennale von Venedig immer wieder zu den Besuchern rhythmisch den Satz äußern: „This is so contemporary, contemporary, contemporary! Tino Sehgal“, wird mit diesen Äußerungen kein Immaterialgut wiederholt, sondern der Tatbestand von „This is so contemporary“ jeweils neu geschaffen: „Das ist so gegenwärtig!“ Das Aussprechen dieses Titelsatzes hat die Wirklichkeit verändert. Der Titelsatz sagt nicht nur einfach etwas, sondern er realisiert genau die Handlung, über die er spricht. Das heißt, das Aussprechen des Titelsatzes ist selbstreferenziell insofern, als er das bedeutet, was er tut, und er ist insofern wirklichkeitskonstituierend, als er die soziale Wirklichkeit a­ llererst erzeugt, von der er spricht. Es sind diese beiden eigentümlichen Merkmale, welche performative Äußerungen kennzeichnen. Dann ist „This is so contemporary“ aber nicht als Wiederholung eines vorgegebenen geistigen Gehalts zu begreifen, den die Museumswärter durch Darstellung zur Anschauung bringen. Jener feste und stabile geistige Gehalt, den sie ausdrücken könnten, existiert nicht. Damit sind zwei der entscheidenden Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit von einem Werk und insofern von urheberrechtlichem Schutz überhaupt gesprochen werden kann, bei Sehgals Arbeit „This is so contemporary“ nicht erfüllt:

zum einen der grundlegende Gegensatz von Urheber und Rezipient, den er rela­ tivierte, wenn nicht gar zum Einsturz brachte, zum anderen das Werk, an dessen Stelle Sehgal flüchtige, einmalige und unwiederholbare Geschehnisse setzte. Auf diesen Voraussetzungen beruht jedoch das geltende Urheberrecht. […] Wenn man es aber nicht mehr mit einem Werk zu tun hat, das als autonomes Objekt vorhanden ist, sondern einer zeitlich und räumlich begrenzten Situation, der die Anwesenden nicht unbeteiligt gegenüberstehen, sondern aktiv daran beteiligt sind, Schöpfung und Nutzung ­ also gleichzeitig stattfinden, erscheint es problematisch, Sehgals Arbeit „This is so contemporary“ unter Tatbestandsmerkmale zu subsumieren, die für das geltende Schöpfungsprinzip des Urheberrechtsgesetzes entwickelt wurden. Zumindest fordert die moderne Kunst zu einer Untersuchung heraus. Die urheberrechtliche Problematik dieser Untersuchung ist damit benannt. T Moritz Johannes Ott ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht in Berlin.

Moritz Johannes Ott, Der urheberrechtliche Schutz performativer Kunst. Theater, Aktion, Performance, Theater der Zeit Recherchen, 360 S., 22 €

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Magazin Bücher

Schwarz. Deutsch. Aktivistisch Natasha A. Kelly erzählt ihre Lebensund Ermächtigungsgeschichte Von Friedrike Felbeck

Weitere Buchrezensionen finden Sie unter tdz.de

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Es ist ein unsere gemeinsame Wirklichkeit bereicherndes Buch, das Natasha Kelly vorgelegt hat. In 35 Miniaturen bespielt die Autorin einen Triangel aus Dekolonialismus, Autobiografie und Porträts persönlicher Leitbilder von Frantz Fanon über May Ayim bis zu Tracy Chapman, Arabella Kiesbauer und „Bauer sucht Frau“. Zwischen Tagebuch und Antrittsvorlesung angesiedelt, öffnet sie weit die Türen zu bekannten und unbekannten Schwarzen Pionierinnen. In einem ungewohnt versöhnlichen Ton beschreibt Natasha Kelly, selbsterklärte Vollzeitaktivistin und radikale Schwarze Feministin, wie sie sich selbst ihre Heldinnen erst heranziehen musste. Dabei ist ihr Bericht eines Heranwachsens im Deutschland der 1970er und 80er Jahre frappierend. Eine Historie von Verletzungen, verwehrten Chancen und einem Mangel an geeigneten Vorbildern. Eine Erinnerung gilt Audre Lorde, einer Wegbereiterin für Schwarze Freiheit in Deutschland, deren provokative SelbstLabelung als „Schwarze, Lesbe, Mutter, Kriegerin, Poetin“ vielleicht auch den Titel „Schwarz. Deutsch. Weiblich“ mit modelliert hat. Eine weitere Protagonistin im Universum von Kelly ist die Schriftstellerin Alice Walker („Die Farbe Lila“). Keine Zadie Smith, keine Bernardine Evaristo, deren Romantitel „Mädchen, Frau etc.“ ebenfalls mit Zuschreibungen spielt. Warum? Kelly nimmt für ihren Parcours zahlreiche Abkürzungen in Kauf, manchmal ist ihrer Argumentation nicht leicht zu folgen. Die historischen Beispiele, werden an Punkten ihrer Biografie in einen Zusammenhang gestellt, wo sie notwendig waren, ihre eigenen Theorien und Kämpfe geschärft haben. Das macht die Lektüre sprunghaft. Was bleibt ist ihr leidenschaftliches Plädoyer für einen erweiterten Feminismus, erweitert um Rassismuserfahrungen und Marginalisierung. In ihrer Jugend, schreibt sie, habe sie sich oft gefragt, ob sie eine richtige Frau sei oder jemals werden kann. „Nun bin ich intelligent und schön“, resümiert sie nicht ohne Humor. Ihre künftigen Herausforderungen geben ihr Recht: Als promovierte Kommunikationswissenschaftlerin erhält sie ab Wintersemester 2023/2024 eine Gastprofessur im Fachgebiet „Kulturwissenschaft“ vom Studium Generale der UdK. Das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Düsseldorf haben ihr die Tür aufgehalten und den roten Teppich ausgerollt: Allein

das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen fördert den 2021 gegründeten Black German Arts and Culture e.V. in diesem Jahr mit 49.996 Euro für die Durchführung des Projekts „Die nubische Wasserträgerin – eine transmediale Theaterproduktion“, bestätigt ein Sprecher. Indem sich Kelly die Skulptur der Nubierin als Ausgangspunkt für ihre Performance sucht, wählt sie eine Schlüsselfigur der Düsseldorfer Stadtgeschichte. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Rassismus-Skandal am Düsseldorfer Schauspielhaus Anfang 2021? Eine eigene Inszenierung brach Kelly seinerzeit als Reaktion auf die Vorwürfe eines Ensemblemitglieds hin vorzeitig ab und forderte in einem offenen Brief gemeinsam mit 21 Schwarzen Theatermacher:innen und Theatermacher:innen of Colour „die Schaffung einer unabhängigen, selbstorganisierten Bühne mit einer finanziellen Ausstattung von 600.000 bis 800.00 Euro jährlich und einer mindestens vierjährigen Planungssicherheit.“ Marginalisierte Gruppen brauchen ihren eigenen Ort, so die zuständige Beigeordnete für Kultur und Integration, Miriam Koch. Kelly sei mit einem überzeugenden Konzept an Stadt und Land herangetreten und so unterstützt auch die Stadt Düsseldorf im Rahmen einer Pilotförderung mit bis zu 50.000 € den Auftakt und reicht perspektivisch gleich eine eigene Spielstätte dazu: Die Studiobühne Louise Dumont im Theatermuseum, das – eben noch kurz vor der Schließung – unter der neuen Leitung durch Sascha Förster einen spektakulär staubfreien Aufschwung erfahren hat. Dabei hat der darauffolgende Debatten-Sturm der Stadt sehr gutgetan hat und war in seinem immer größer werdenden Radius der Anfang einer Kette aus Offenlegungen von Macht und Missbrauch an Theatern. Nun ist mit Natasha Kelly und dem Black Germans Arts and Culture e.V. weiter Bewegung in der Sache. T

Natasha A. Kelly, Schwarz. Deutsch. Weiblich, Piper Verlag, München 2023, 304 S., Hardcover 22 €

Theater der Zeit 10 / 2023


IM TAUMEL DES ZORNS 7 EPISODEN – 5 FIGUREN – 1 WAHRE BEGEBENHEIT EPISODE 1 von Peer Mia Ripberger Uraufführung 07. Oktober 2023 EPISODE 2 von Caspar-Maria Russo Regie Magz Barrawasser Uraufführung 18. November 2023 EPISODE 3 von Leonie Lorena Wyss Regie Magdalena Schönfeld Uraufführung 06. Januar 2024

Die Spielzeit 2023/24 folgt einem einzigartigen Vorhaben: Alle Uraufführungen erzählen zusammen eine Geschichte. Beruhend auf einer wahren Begebenheit werden Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, Selbstjustiz und Moral im Angesicht eines drohenden Medizin-Skandals verhandelt. Sieben Teams aus Autor*innen und Regisseur*innen erzählen die Geschichte in jeder Episode weiter.

EPISODE 4

Alle Episoden werden die ganze Spielzeit gezeigt, der Einstieg ist jederzeit möglich.

von Anaïs Clerc Regie Isabella Sedlak Uraufführung 17. Februar 2024 EPISODE 5 von Hannah Zufall Regie Magdalena Schönfeld Uraufführung 23. März 2024 EPISODE 6 von Corinna Huber

Basierend auf einer wahren Geschichte von Peer Mia Ripberger, Corinna Huber & Ensemble Konzept Peer Mia Ripberger Bühne Valentin Baumeister Kostüm Nicola Gördes Musik Konstantin Dupelius, Justus Wilcken Video-Intro Katarina Eckold

Regie Jana Vetten Uraufführung 04. Mai 2024 EPISODE 7 von Peer Mia Ripberger Regie David Moser Uraufführung 08. Juni 2024

itz-tübingen.de


Moderatorin Ute Soldierer, Anke Morawe (Film- und Medienstiftung NRW), Werner Fritsch (nominiert), Preisträger Robert Schoen, Carina Pesch (nominiert), Antje Vauh (nominiert), Gabi Hartel (Juryvorsitzende), Klaus Hahn (DBSV), Dietrich Plückhahn (stellv. Vorsitzender)

Eine Reise nach Würfeln gewinnt Hörspielpreis der Kriegsblinden 2023 für „Entgrenzgänger II“ von Robert Schoen Von Thomas Irmer

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Reiseziele nach dem Zufallsprinzip auswürfeln und sich dann gegen alle Widerstände auf das Abenteuer einlassen, das hat Robert Schoen jetzt schon zum zweiten Mal riskiert. 2020 begab er sich in der Rundfunkgroteske „Entgrenzgänger“ nach Woronesch, nun fiel der Würfelentscheid auf das russische Tscherkessk im Nordkaukasus. Die russische Invasion in der Ukraine hatte aber bereits begonnen, Reisewege wurden kompliziert und unsicher. Schoen findet eine Möglichkeit über das armenische Jerewan und macht sich mit dem Aufnahmegerät auf den Weg. Zuhause in Berlin erkundigt er sich noch bei seiner Reiseversicherung über Details im Todesfall. Auf so etwas ist die natürlich nicht eingestellt. Die Reise nach Tscherkessk ist dann vor allem eine von erstaunlichen Begegnungen mit Menschen in ihren verschiedenen Sprachen und Alltagskulturen, ihrer Musik und manchmal auch ihrem besonderen Witz. Das Hörstück, in dem Robert Schoen selbst spricht und erläutert, ist eine kunstvolle Montage aus Elementen des Reisefeatures, der Dokumentation des eigenen Selbsterfahrungs-Experiments, mit viel Musik und Poesie sowie einer hohen Sensibilität für die Menschen, denen er in diesem Teil Südrusslands begegnet. Auf der Heimreise über Wien entdeckt er dort in einem Antiquariat ein Buch über Abziehbilder. „Abziehbilder gilt es im Hörspiel zu vermeiden“, resümiert Schoen. Für „Entgrenzgänger II – Tscherkesskij Magasin“ (Hessischer Rundfunk) wird Robert Schoen mit dem seit 1952 vergebenen Hörspielpreis der Kriegsblinden bereits zum zweiten Mal (nach „Schicksal, Hauptsache Schicksal“ 2011) ausgezeichnet. Der Absolvent des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft, der in seinen Hörstücken immer wieder mit dem Verhältnis von Improvisation und Kalkül jongliert und wie in diesem Fall auch die Aufnahmen von Alltagsmenschen der Arbeit mit Schauspielern vorzieht, ist so auch selbst ein Grenzgänger der Hörspielkunst. Herauszuheben in der Auswahl mit Produktionen aller ARD-Rundfunksender sowie vom ORF und SRF waren in diesem Jahrgang Helgard Haug mit „All right, good night“ (WDR), Sarah Kilter mit „White Passing“ (rbb) und Björn SC Deigner mit „Die Polizey“ (Deutschlandfunk) als Hörspielvarianten entsprechender Bühnenproduktionen. Diese Stücke belegen die weiterhin enorm

wichtigen Parallelen in der Entwicklung von Hörspiel- und Theaterkunst. In die Endauswahl der letzten Drei gelangten neben dem Gewinnerstück der ­Theaterautor Werner Fritsch mit seinem von ihm selbst mit den verschiedensten Sounds fein inszenierten „Mixing Memory and ­Desire“ (NDR), ein Selbstporträt des Künstlers als Kind in der heimatlichen Oberpfalz zwischen Katholizismus und Jimi Hendrix mit Elementen und Atmosphären des magischen Realismus. Das Hörspiel „K.I.T.A.“ (WDR/Deutschlandfunk Kultur) von Antje Vauh und Carina Pesch ist indes eine Art Mockumentary zum Thema Kinderbetreuung mit Künstlicher ­Intelligenz und Robotern in der Kita, die Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen von KI in einem Bereich stellt, der zu den Kernproblemen der heutigen Gesellschaft gehört. Am Anfang glaubt man, auch wegen des schwäbischen Dialekts der Kindergärtnerin, das ist vielleicht alles real aus Stuttgart nachgestellt, doch der Erziehungs- und Betreuungsdiskurs wird immer komplexer, bis am Ende auch die Eltern über KI-„Impulse“ erzogen werden. Ein Problemstück mit hintergründigem Humor. Dieser insgesamt qualitativ hochstehende Jahrgang hatte die aktuellen und sich weiter erhitzenden Debatten zum öffentlichrechtlichen Rundfunk im Hintergrund. Das „künstlerische Wort“, so werden in vielen Rundfunkanstalten die Abteilungen noch genannt, die auch Hörspiele produzieren, steht unter Druck aufgrund von Einsparungen und schwindenden Sendeplätzen, auch wenn vieles – glücklicherweise – in den Audiotheken zu finden ist. Gleichwohl für ­ die Macher:innen zu existenzbedrohenden Bedingungen. Alle, die eine solche Hörspielkunst auch in der Zukunft erleben wollen, sollten besorgt sein. T

Der Autor ist Mitglied der Jury, die am 4. Mai unter der Leitung der Vorsitzenden Gaby Hartl in Köln tagte.

Theater der Zeit 10 / 2023

Foto links Hojabr Riahi/Film- und Medienstiftung NRW, rechts Flavio Karrer

Magazin Hörspielpreis


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Niels Willberg (Hospitanz) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 10 / 2023 Alexander Eisenach, Regisseur, Berlin Friederike Felbeck, Kritikerin, Düsseldorf Theresa Luise Gindlstrasser, Autorin, Wien Peter Helling, Hörfunkredakteur und Kritiker, Hamburg Burghart Klaußner, Schauspieler und Regisseur, Hamburg Tom Mustroph, Journalist und Kritiker, Berlin Alja Predan, Dramaturgin, Ljubljana Petra Vidali, Kritikerin, Ljubljana

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Fur Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 78. Jahrgang. Heft Nr. 10, Oktober 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 06.09.2023 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und Twitter Twitter theaterderzeit / Facebook theaterderzeit / Instagram theaterderzeit

Vorschau Arbeitsbuch Vorschau 11 / 2023

www.tdz.de Die Direktion von Theater Neumarkt in Zürich: Julia Reichert, Hayat Erdoğ an und Tine Milz

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. November 2023 Schwerpunkt Generation Millenials. Sie haben die Berufsanfängerphase oft schon länger hinter sich, einige sind schon fast reich und berühmt, andere hadern mit den Mühen des Betriebs oder suchen selbstbewusst neue Arbeitsstrukturen. Ein Schwerpunkt mit Porträts und Gesprächen.

Theater der Zeit 10 / 2023

Außerdem: Ein Porträt des Leitungsteams am Neumarkt Theater Zürich, wo Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert als eine der ersten kollektiven Theaterleitungen im deutschsprachigen Theater bereits in die vierte Spielzeit gehen.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Thomas Irmer

Maciej Nowak, geboren 1964, Theaterkritiker, Gründer und Direktor des Nationalen Theaterinstituts in Warschau (2003-13), Direktor des Theaterpädagogischen Zentrums Gdańsk (1992-2002), Intendant des Wybrzeże Teatr in Gdańsk (2000-06) und seit 2015 des Teatr Polski in Poznań. Nowak ist auch als Darsteller in polnischen Filmen und Musikvideos aufgetreten.

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Sie sind Intendant des Teatr Polski in ­Poznań , das viele als Speerspitze des kri­ tischen Theaters in Polen sehen, auch weil es die Themen von Minderheiten auf­ greift. War das Ihr Programm fürs Theater­ machen von Anfang an? MN: Ich bin schwul. Die politische Dimension dessen spürte ich vor 25 Jahren, als ILGA (International Lesbian, Gay, Trans and Intersex Association) gegen die Aufnahme Polens in die EU protestierte, solange die Lebensbedingungen für diese Communities sich nicht normalisieren

würden. Homophobie ist heute weniger verbreitet in der Öffentlichkeit, auch wenn die katholische Kirche andere Ansichten vertritt. Viel problematischer ist die Erosion der Frauenrechte mit dem verhinderten Zugang zu Verhütung und dem Verbot der Abtreibung. Deshalb unterstützen ProChoice-Gruppen und die queeren Communities einander gegenseitig. In Poznań kann ich das queere Potential der Stadt ins Theater bringen. Wir haben ein Stück über die legendäre Dichterin Maria Konopnicka gemacht, die im 19. Jahrhundert mit einer Frau zusammenlebte, und Martin Sperrs „Jagdszenen aus Niederbayern“. Drei Jahre vor der russischen Invasion gründeten Sie ein polnisch-ukrainisches Festival „Nahe Fremde“ ... MN: Der Krieg begann 2014 und seine Folgen waren in Polen viel eher sichtbar als anderswo in Europa. Im Frühjahr 2015 stellte ich mit den beiden Autoren Monika Strze˛ pka und Paweł Demirski für ein Festival in Wrocław ein Liederprogramm zusammen mit dem Titel „Verehrte Damen und Herren, es wird Krieg geben“. Einige haben uns dafür ausgelacht, aber die Fakten waren klar, und dem wollten wir dann in Poznań mit dem Festival Ausdruck verleihen. Schon damals war eine große Zahl von Geflüchteten aus der Ukraine und Belarus im Lande, jetzt sind es über zwei Millionen. Am Teatr Polski entstand auch Jakub Skrzywaneks „Der Tod von Johannes Paul II.“, die umstrittenste Inszenierung der letzten Jahre. Beim Kontakt-Festival in Toruń wollte ein PiS-Politiker die Auf­ führung zunächst verhindern, lieferte sich dann aber nach der Vorstellung mit dem Regisseur ein Duell, bei dem sie einander Artikel aus der Verfassung vorlasen. Dann gaben sie sich die Hand. MN: Dafür machen wir Theater. Diese Inszenierung über den 2005 verstorbenen Papst, die wichtigste Figur der jüngeren polnischen Geschichte, vermag Leute aus allen Teilen der Gesellschaft zusammen zu bringen, die sonst nur miteinander streiten. Es ist wohl das Geheimnis des Theaters, so etwas zu erreichen. T

Theater der Zeit 10 / 2023

Foto Marek Zakrzewski

Was macht das Theater, Maciej Nowak?

Am 15. Oktober wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Die nationalkonserva­ tive Regierung PiS regiert seit acht Jahren. Was erwarten Sie für die Kultur und Theater? MN: Wir müssen auf einen viel längeren Zeitraum schauen, der schon mit dem Wechsel 1989 begann. Damals sagte der stellvertretende Ministerpräsident Leszek Balcerowicz zu Vertretern kreativer Bereiche, dass Wissenschaft und Kultur sich selbst tragen müssten. Ein Jahr später wurde der legendäre Schauspieler Andrzej Łapicki zum Präsidenten des Verbandes der polnischen Bühnenkünstler gewählt und stellte fest: „Uns steht gar nichts zu.“ Damals dachten wir, dass dann eben irgendwelche großartigen Sponsoren aus der Wirtschaft einspringen würden. Es gibt keine Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit, aber eben ein mangelndes Interesse, anspruchsvolle Kunst zu fördern. Schrumpfende Subventionen haben dazu geführt, dass unsere Theater immer weniger neue Produktionen auf die Bühne bringen, weniger Vorstellungen spielen und auch immer weniger Gastspiele im Ausland zeigen oder von dort holen können. Die Talentiertesten, wie Marta Górnicka oder Ewelina Marciniak, arbeiten in Deutschland. Zugleich sind in den letzten Jahren neue Theater gebaut und alte kostspielig renoviert worden, um Standorte aufzuwerten. Aber für das, was in diesen Theatern stattfindet, werden keine solchen spektakulären Summen aufgewendet. Die Bauleute haben gegen die Künstler gewonnen. Es ist einfach, das der katholisch-reaktionären Koalition anzulasten, aber erklärt nicht das schwindende Potenzial unserer Theater.


20.10. — 04.11.2023

Ana Pi THE DIVINE CYPHER © Daniel Nicoalevsky Maria

www.spielart.org

Eine Initiative der Stadt München und der BMW Group


SPIELZEIT 2023.24 PRE MI E RE N

29 SEPT 2023

20 JAN 2024

DIE ZOFEN VON JEAN GENET

DERNACH ZAUBERBERG THOMAS MANN

1 OKT 2023

2 MÄRZ 2024

REGIE: LUCIA BIHLER BÜHNE 1

DAS GROSSE HEFT NACH ÁGOTA KRISTÓF REGIE: RAN CHAI BAR-ZVI BÜHNE 2

27 OKT 2023

WAS IHR WOLLT VON WILLIAM SHAKESPEARE REGIE: CHRISTIAN STÜCKL BÜHNE 1

25 NOV 2023

FABIAN ODER: DER GANG VOR DIE HUNDE NACH ERICH KÄSTNER Mit Gedanken von Arna Aley, Viktor Martinowitsch und Maryna Smilianets REGIE: PHILIPP ARNOLD BÜHNE 1

6 DEZ 2023

HÄNSEL & GRETEL: UA A SWEET ESCAPE VON JULI MAHID CARLY Frei nach dem Märchen der Gebrüder Grimm REGIE: JULI MAHID CARLY BÜHNE 2

REGIE: CLAUDIA BOSSARD BÜHNE 1

MARIA MAGDA

VON SVENJA VIOLA BUNGARTEN REGIE: JESSICA WEISSKIRCHEN BÜHNE 2

15 MÄRZ 2024

EINREGIE: NEUES STÜCK CHRISTIAN STÜCKL BÜHNE 1

11 APRIL 2024

DER BESUCH DER ALTEN DAME VON FRIEDRICH DÜRRENMATT REGIE: SAPIR HELLER BÜHNE 1

16 MAI 2024

DER ZERBROCHNE KRUG VON HEINRICH VON KLEIST REGIE: MATHIAS SPAAN BÜHNE 1

8 JUNI 2024

UA PRANA EXTREM VON JOSHUA GROSS REGIE: PHILIPP ARNOLD BÜHNE 1

18 – 28 APRIL 2024

RADIKAL JUNG DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE

volkstheater

KARTEN 089.5 23 46 55 / WWW.MUENCHNER-VOLKSTHEATER.DE MUENCHNER VOLKSTHEATER. TUMBLINGERSTR. 29


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