Theater der Zeit 11/2024 - Amerikanisches Theater

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Theater der Zeit Mit Noah Haidle Julia Mounsey Peter Mills Weiss Richard Sennett Robert Wilson Lola Arias Noam Brusilovsky Abena Freund Benjamin Freund Johannes Kirsten Lacaton & Vassal FX Mayr

November 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Amerikanisches Theater


The whole Truth about Lies Radialsystem 12. —— 15. Dezember 2024

www.navigators.de


Foto Lucie Jansch

Theater der Zeit Editorial

„Moby Dick“ von Herman Melville am Düsseldorfer Schauspielhaus. Regie, Bühne und Licht: Robert Wilson

Die Nachricht von den Kürzungen durch die Stadt Dresden für HELLERAU – Euro­päisches Zentrum der Künste schlug wie ein Blitz ein. Gerade hatten wir in der letzten Ausgabe über die von Kulturstaatsministerin Claudia Roth verkündete Streichung der Förderung für das Bündnis internationaler Produktionshäuser berichtet, zu dem HELLERAU gehört. Intendantin Carena Schlewitt schrieb, nach einem Anruf lange nach Redaktionsschluss, eine ausführliche Darstellung dessen, was diese Doppelkürzung für ihr Haus und die Geschichte der Freien Szene insbesondere im Osten Deutschlands bedeutet. Zu lesen gleich auf den ersten Seiten dieses Heftes. Sehr viel länger geplant und vorbereitet war natürlich der Schwerpunkt zum amerikanischen Theater anlässlich der Präsidentschaftswahlen in den USA am 5. November. Was die Dramaturgin, Kuratorin und Künstlerin Theresa Buchheister in ihrem Porträt des New Yorker Performanceduos Julia Mounsey und P ­ eter Mills Weiss nebenher erzählt, sind die geradezu aussichtslos verschärften ökonomischen Bedingungen für eine einst als New Yorker Avantgarde bewunderte Off-Off-Szene. Auch in Brooklyn, lange Zeit der Ausweichraum für die aus Manhattan verdrängten kleinen Theater mit

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Anspruch, geht mittlerweile nichts mehr. So ist es nicht überraschend, dass das Titelbild nicht aus einem der bekannte­ ren Theaterorte in New York stammt, sondern aus einem Shop am Anleger der Staten ­Island Ferry, die bekanntlich an der Statue of Liberty mit ihrer Fackel der Freiheit (oder ist es doch ein Schwert wie bei­ Kafka?) vorbeischippert. Es dürfte nicht allzu schwerfallen, beide Artikel miteinander in Beziehung zu setzen. Zum Amerika-Schwerpunkt gehören außerdem die Doppelbesprechung der ­ Adaptionen von Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ in München und Graz sowie der Vorabdruck des Vorworts zu Judith Malinas „The Piscator Notebook“, das ­ erstmals auf Deutsch erscheint und somit auch an die früher einmal sehr engen Wechselbeziehungen zwischen amerika­ nischem und deutschem Theater erinnern soll. Vielleicht wird es ja auch wieder ­anders? Ein kleines Jubiläum begehen wir mit der 50. Ausgabe von Double, dem Maga­ zin für Puppen-, Figuren- und Objekt­ theater, das seit 2004 im Verlag Theater der Zeit erscheint. Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

„Das beste aller möglichen Leben“ von Noah Haidle am Hans Otto Theater Potsdam. Regie Fanny Brunner

14 Essay Das Ende des Theaters, wie es auch in New York nie vorbei ist Das gefeierte Performanceduo Peter Mills Weiss und Julia Mounsey spielt mit Clowns und Comedians gegen den Druck von Kommerz und starren Budgets Von Theresa Buchheister

18 Interview Der genetische Code Amerikas Robert Wilson über seine Inszenierung von „Moby Dick“ als Mythos Im Gespräch mit Volker Gebhart

22 Interview Von Spülbecken und unbekannten Universen Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten ­Island, New York

Der amerikanische Dramatiker Noah Haidle, Autor philosophischer Stücke mit abgründigem Humor Im Gespräch mit Stefan Keim

25 Essay Was ist Theater? Richard Sennetts mäandernder Großessay „Der darstellende Mensch“ verbindet Urbanistik und Theaterarchitektur mit Performance-Theorien und politischen Problemen von Öffentlichkeit Von Thomas Irmer

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Theater der Zeit 11 / 2024

Fotos oben links Thomas M. Jauk, unten links Walter Wlodarczyk, rechts Lauree Thomas

Thema Amerikanisches Theater


Inhalt 11 / 2024

Akteure 28 Kunstinsert Die performative Baustelle Wie die Pritzker-Preis-Architekten Lacaton & Vassal Kampnagel verwandeln Von Peter Helling

34 Porträt Sprachmusik in fieberträumenden Bildern Der Regisseur FX Mayr übersetzt die Sprachkunst von Gegenwartsstücken in farbgewaltige Theaterwelten Von Elisabeth Maier

Stück

Diskurs & Analyse 58 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Hoffnung schaffen Von Johannes Kirsten

38 Kleine Kosmen Matthias van den Höfel über sein Stück „Drinnen“ und Sprache als Möglichkeitsraum im Gespräch mit Rebecca Preuß

41 „Drinnen“

61 Serie: Post-Ost Frühlingstheater

Von Matthias van den Höfel

Von Abena und Benjamin Freund

Magazin

Report

4 Bericht Totkürzungen drohen

64 Oslo Befreites Leben

Von Carena Schlewitt

Die argentinische Autor-Regisseurin Lola Arias erhielt den International Ibsen Award 2024 in Oslo

6 Bericht Überraschende Berufungen Von Stefan Keim

Von Thomas Irmer

66 Vorpommern Schieflage in schöner Landschaft In Mecklenburg-Vorpommern gibt es ein UNESCO-Welterbe-Theater in der Landeshauptstadt und viele Probleme in der Peripherie Von Juliane Voigt

8 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Nathalie Eckstein, Stefan Keim, Lara Wenzel und Thomas Irmer

10 Kolumne Mein Nachruf auf Aviva Ronnefeld

70 Doppelkritik Sweet Dreams?

Von Noam Brusilovsky

Zwei Adaptionen von Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ stehen zum Saisonauftakt auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater: Am Münchner Volkstheater hat Katharina Stoll inszeniert, Ewelina Marciniak am Schauspielhaus Graz. Ein Dialog Von Anne Fritsch und Hermann Götz

76 Vorabdruck Zwei Leben in einem Buch Von Anna Opel

78 Bücher Wie hältst du’s mit Israel? Von Lara Wenzel

80 Was macht das Theater, Danai Chatzipetrou? Im Gespräch mit Stefan Keim

Same SAME

1 Editorial 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

but different

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: Double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater (Jubiläumsausgabe Nr. 50)

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Reenactment im Figurentheater

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Magazin Bericht

Ein Lagebericht zum Produktionsund Gastspielhaus HELLERAU, eine Bühne der Landeshauptstadt Dresden Von Carena Schlewitt

Wenn die angekündigten Kürzungen der Landeshauptstadt Dresden und die Einstel­ lung der Förderung des Bündnisses der internationalen Produktionshäuser wie an­ge­ kündigt ab 2025 eintreten, kann HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste in Dres­ den seine derzeitige Arbeit nicht mehr fort­ setzen und das Profil des internationalen Ko-Produktions- und Gastspielhauses für ­ zeitgenössische Musik und Performing Arts würde sich grundständig ändern. Die Arbeit des Hauses mit der regionalen Szene, mit internationalen Companies weltweit, mit Festivals und Themenschwerpunkten, mit einem international aufgestellten Residenz­ programm und mit neuen Formaten für Kin­ der und Jugendliche sowie verschiedene Stadtgesellschaften könnte so nicht mehr stattfinden. Auch der Fokus der Zusammen­ arbeit mit den Künstler:innen der mittel-ost­ europäischen Nachbarländer müsste einge­ stellt werden. HELLERAU, wie es ist, gäbe es dann nicht mehr. Das berühmte Tischtuch, an dem man immer einen Zipfel zu einer Ecke zieht, oder der Gürtel, der (mal wieder) enger geschnallt werden muss – beides wäre dann gar nicht mehr vorhanden. Die Ursachen für diese neue Situation liegen nicht nur in den derzeitigen Krisen unserer Zeit und den schwierigen Haushaltslagen von Kommu­ nen, Länder und Bund. Eine kurze historischstrukturelle Betrachtung.

Rückblick Freie Künste in der DDR

„Join“, mit Choreografie von Ioannis Mandafounis. Tänzer:innen der DFDC und der Palucca Hochschule für Tanz Dresden. Eine Produktion der Dresden Frankfurt Dance Company in Kooperation mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste

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Die Freien Darstellenden Künste in Sachsen konnten sich politisch – anders als in der Bundesrepublik – erst mit dem Fall der Mauer ab 1989 entwickeln. Eine politische Legitimation freier Gruppen gab es in der DDR nicht. Die freie Theatergruppe zinno­ ber in Ostberlin hat rückblickend exempla­ risch alle Stufen unabhängiger Arbeit bis hin zum Verbot durchlebt. In den Transforma­ tionsjahren nach 1989 gab es allerdings wirtschaftlich, gesellschaftlich und auch kulturpolitisch zunächst andere Schwer­ punkte als die Entwicklung der Freien Sze­ ne. Erst in den letzten Jahren ist das Be­ wusstsein für das Potenzial dieser zweiten Theatersäule langsam auch hier kulturpoli­ tisch gewachsen – sowohl im Freistaat Sachsen als auch in einigen Kommunen. In

der direkten Reaktion auf diese Entwick­ lung, aber auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der Region Sachsen, seiner Städte, seiner Kunsthochschulen, war auch das Interesse von Künstler:innen größer ge­ worden, hier ihren Lebens- und Arbeits­ schwerpunkt aufzubauen, was seit den poli­ tischen Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere mit der jüngsten sächsischen Landtagswahl und mit dem Erstarken der AfD wieder zurückgeht. Abwanderung findet wie in anderen gesellschaftlichen ­Bereichen auch in der Kunst statt. Was heißt das für ein Bundesland wie Sachsen, das eine sehr reiche, über Jahrhunderte ent­ standene Kunst- und Kulturlandschaft be­ sitzt? Gerade die traditionell gewachsene Kunst und Kultur braucht ein zeitgenössi­ sches Pendant, sie braucht einen Inkubator der Freien Künste für die nächsten 10, 20, 50 Jahre.

Die Freie Szene gibt es nicht mehr Der Begriff Freie Szene wandelt sich zu den Freien Darstellenden Künsten. Diese Wand­ lung hat mit der Anerkennung professionel­ ler künstlerischer Arbeit und mit dem Spek­ trum der verschiedenen Genres Theater, Tanz, Performance sowie ihrer interdiszipli­ nären Verbindungen zu tun. Darüber hinaus sind in den letzten Jahrzehnten auch Struk­ turen entstanden, innerhalb derer die Freien Darstellenden Künste professionell wach­ sen konnten. Es geht nicht mehr um einzel­ ne alternative Theatermodelle, die oft als nischig betrachtet und kulturpolitisch mit den Amateurtheatern in einem Atemzug ge­ nannt wurden. Die Explosion der Freien Darstellenden Künste seit den 1990er Jah­ ren hat viele Ursachen – Globalisierung, Internationalisierung, Digitalisierung, Ver­ netzung, die Veränderung der deutschen Gesellschaft hin zu einer Einwanderungs­ gesellschaft, die Wandlung des Publikums, aber auch neue Ausbildungsinstitute in den Künsten, die Suche nach künstlerischen Formaten im Umgang mit dem Material der Gegenwart – abseits von Theatertexten, auch die Suche nach anderen Kommunika­ tionsformen mit dem Publikum etc. etc. Die Freien Darstellenden Künste haben über Jahrzehnte ihr eigenes, neues Publikum ge­

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Foto Stephan Floss

Totkürzungen drohen


Magazin Bericht funden und aufgebaut – Teile des Publikums sind auch Grenzgänger:innen zwischen Re­ pertoirehäusern, Clubs, Galerien und den Freien Orten und Festivals. Die Geschwindigkeit der Entwicklung der Freien Darstellenden Künste wurde je nach Region und Kommune durch Förderins­ trumente und Maßnahmen aufgefangen. Orientierung boten die Länder, welche ohne (deutsches) Stadtheatersystem ausschließ­ lich mit Theater-, Tanz-, Musikhäusern und Company-/Produktionsmodellen arbeiten. Nun stehen viele Kommunen und Länder vor der Frage, wie sie die Stadt- und Staatstheater weiter am Leben erhalten können und wie sie gleichzeitig die Strukturen der Freien Darstel­ lenden Künste so qualifizieren und festigen können, dass die vielen K ­ ünstler:innen, Grup­ pen, Companies, ihr Arbeitsumfeld und darü­ ber hinaus auch die inzwischen selbstver­ ständlichen und notwendigen internationalen Kooperationen grundständig gesichert sind. (Die Zeiten der großzügigen CoronaHilfen, die vielen einzigartig geholfen ha­ ben, sind vorbei. Der Absturz jetzt erfolgt durch die prekären öffentlichen Haushalte und angekündigte Sparmaßnahmen – na­ türlich zuerst für die Freien Künstler:innen – aus schwindelerregender Höhe. Wenn man die Corona-Hilfen teilweise über diese ­Jahre hätte strecken können, wäre man in einer besseren Situation. Aber hier waren ­Haushaltsgesetze und Abrechnungen nach Haushaltsjahren wichtiger und Nachhaltig­ keit nicht umsetzbar.

HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, prekäres Beispiel für Strukturfragen in den Freien Darstellenden Künsten Das Festspielhaus Hellerau wurde 1911 als Bildungsanstalt für Rhythmik im Zuge der Errichtung der Gartenstadt Hellerau am Rande Dresdens von Heinrich Tessenow er­ baut. Die europäische Avantgarde hat sich hier die Klinke in die Hand gegeben, um die­ sen Utopie beladenen Ort aus nächster Nähe zu erleben. Adolphe Appia, der einen offenen Bühnenraum entwickelte, Alexan­ der von Salzmann, der mit seiner Lichtkunst einen übergroßen immersiven Raum schaff­ te, und Émile Jaques-Dalcroze, der mit seiner

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Rhythmikschule erste Grundsteine für den modernen Tanz legte, den seine Schülerin­ nen Mary Wigman und Gret Palucca später in eigenen Schulen entwickeln sollten. Die ­Blütezeit des Experiments dauerte nur we­ nige Jahre. Verschiedene Gründe – private Schicksale, finanzielle Probleme und schließ­ lich auch der Ausbruch des Ersten Welt­ kriegs – führten zum Ende des Festspiel­ hauses mit dem ursprünglich intendierten Profil. Nach verschiedenen Zwischennutzun­ gen wurde das Festspielhaus-Areal umge­ baut und ab 1938 als Polizeischule der ­Waffen-SS genutzt. Von 1945 bis 1992 war die Rote Armee auf dem Areal stationiert. Bereits 1990 hat eine Gruppe von Künstler:innen und Kulturakteur:innen aus Dresden und darüber hinaus einen Förder­ verein für die Europäische Werkstatt der Künste Hellerau e. V. gegründet. Mit dem Abzug der Roten Armee begann ab 1992 eine neue bewegte Nutzungsgeschichte des Areals als Arbeitsort und Künstler:in­ nenwerkstatt für Freie Künstler:innen mit je unterschiedlichen Trägerschaften, künstle­ rischen Profilen, die auch zum Teil abhängig von wechselnden kulturpolitischen Subven­ tionsinteressen waren. Seit 2004 ist HELLERAU – Europäi­ sches Zentrum der Künste eine Bühne der Landeshauptstadt Dresden, die die Trägerin der Institution ist und diese 2009 mit einem Ganzjahresbetrieb beauftragt hat. Die Lan­ deshauptstadt trägt die Personal- und Lie­ genschaftskosten, sie hat zusammen mit dem Freistaat Sachsen und dem Bund im­ mer wieder etappenweise die Instandset­ zung der Gebäude auf dem Areal finanziert, das bei Weitem noch nicht fertiggestellt ist. Und es gibt einen jährlichen Zuschuss der Landeshauptstadt, der entscheidend ist für die tagtägliche Arbeit und das Programm in HELLERAU. Zum heutigen Zeitpunkt lässt sich zusammenfassen, dass der städtische Zuschuss bereits in den letzten Jahren durch fehlenden Inflationsausgleich und Kostensteigerungen gesunken ist, aber auch effektiv durch verschiedene Haus­ haltssperren und Budgetvorgaben. Wie funktioniert unter diesen Bedin­ gungen die Programmgestaltung oder bes­ ser „Möglichmachung“ eines Spielzeit­ programms? Matching der Mittel ist das Zauberwort für die Freien Darstellenden

Künste und zaubern ist die richtige Tätig­ keitsbeschreibung, denn hier sind viele Re­ geln zu beachten – als städtische Institu­ tion, aber auch in der Zusammenführung oder im Auseinanderhalten bestimmter För­ dermittel nach ihren jeweiligen Regularien. HELLERAU hat in den letzten Jahren sein Programm wesentlich mit Drittmitteln ge­ staltet, im Jahr 30 bis 40 Anträge gestellt – von klein bis groß – und diese auch verwal­ tet. Die Mitgliedschaft im Bündnis der internationalen Produktionshäuser konnte einen Großteil der Arbeit und Projekte konti­ nuierlich ermöglichen. Hinzu kommt, dass auch die Freien Künstler:innen und Compa­ nies ihre Projektförderungen mitbringen und wiederum von HELLERAU kleine KoProduktionsbeiträge, Residenzmöglichkeiten, Technik- und Kommunikationsunterstüt­ zung erhalten. Das Fazit der Arbeitsweise eines Produktionshauses wie HELLERAU ist: Ohne Drittmittel gibt es quasi kein Pro­ gramm. Die mittlerweile stark reduzierten städtischen Zuschüsse werden für den Be­ trieb und für Eigenmittel in den Drittmittel­ projekten benötigt. Ein Risiko, mit dem die Institution allein gelassen ist und für das sie die Verantwortung übernimmt gegenüber den Künstler:innen, dem Publikum – aber auch der Politik. Zu dem oben genannten bereits abge­ schmolzenen städtischen Zuschussbetrag in den letzten Jahren kommt nun die neue Ankündigung der Kürzung des städtischen Zuschusses um 500.000 Euro und der Ein­ stellung der Förderung des Bündnisses der internationalen Produktionshäuser, dessen Mitglied HELLERAU ist, in Höhe von 600.000 Euro, in Summe 1,1 Millionen Euro. Das Risiko der Programmfinanzierung, auf das ich Jahr für Jahr hingewiesen habe, hat sich nun in eine Bedrohung der Institution verwandelt und damit in eine reale Bedro­ hung der Arbeit von Freien Künstler:innen regional, national, international. HELLERAU als größtes freies Ko-Produktions- und Gastspielhaus in Ostdeutschland erfährt gerade eine massive Infragestellung, die – mit Blick auf den Anfang dieser kurzen Dar­ stellung – nicht nur aktuell-politisch ein fragwürdiges Zeichen sendet, sondern auch mit Blick auf die Postwendegeschichte Freier Theaterkunst den Weg nach zurück buchstabieren würde. T

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Nicolas Stemann, der neue Intendant des Schauspielhaus Bochum

Überraschende Berufungen Düsseldorf und Bochum besetzen die Intendantenposten mit völlig verschiedenen Konzepten neu Von Stefan Keim

Andreas Karlaganis, der neue Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses

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Nicolas Stemann und Andreas Karlaganis – unterschiedlicher hätten die Entscheidungen, wer die Schauspielhäuser in Bochum und Düsseldorf übernehmen soll, nicht ausfal­ len können. Ein profilierter Regisseur und ein Theatermanager, ein kantiger Typ und ein gut vernetzter und offener Dramaturg, der bisher überregional nicht besonders aufgefallen ist. Beide haben schwierige Jobs und treten in große Fußstapfen. Die Krise der öffentli­ chen Finanzen hat gerade erst begonnen, der Kampf ums Geld wird hart und heftig. Ste­ mann folgt auf Johan Simons, der ein Jahr verlängert und nun bis 2027 in Bochum In­ tendant bleiben wird. Schon jetzt ist es eine Zeit der großen künstlerischen Erfolge für das Schauspielhaus mit einer Menge Einladun­ gen zu internationalen Festspielen und auch zum Berliner Theatertreffen. Während Düs­ seldorf gerade vor allem beim Kartenverkauf extrem gut dasteht, einen perfekt austa­rierten Spielplan mit vielen Handschriften bietet und intellektuelles Niveau ohne abzu­ he­ben. Über 250 000 Karten wurden in der vergangenen Saison verkauft, das ist die bes­ te Besucher:innenauslastung seit 35 Jahren. Nicolas Stemann erscheint rein künst­ lerisch betrachtet für Bochum eine logische Wahl. Als er Ko-Intendant in Zürich war, ha­ ben die beiden großen Häuser kooperiert und Inszenierungen ausgetauscht. Das ist eine Strategie für die Zukunft, weil es immer schwieriger wird, ein großes Publikum zu er­ reichen, und der finanzielle Spielraum enger wird. Stemann hat eine starke Theaterspra­ che und einen engen Kontakt zu Elfriede Je­ linek. Er inszeniert oft Uraufführungen ihrer Stücke, korrespondiert mit der Autorin, steht manchmal selbst auf der Bühne und bringt aktuelle, gerade eben geschickte Texte mit in die Aufführung ein. Schneller kann ein sich politisch verstehendes Theater nicht auf die Gegenwart reagieren. Natürlich werden solche Aufführungen auch in Bochum ihr Publikum finden. In Zü­ rich fällt Stemanns Bilanz allerdings ge­ mischt aus. Er hat es – zusammen mit Benja­ min von Blomberg, der in Bochum nicht mehr als Duopartner dabei ist – für ein neu­ es, jüngeres Publikum geöffnet. Doch das bringt nicht viel Geld in die Kassen, vor allem weil der bürgerliche Teil der Zuschauer­ schaft wegblieb und sich über zu viel „Woke­ ness“ aufregte.

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Foto links oben Gina Folly, unten Landeshauptstadt Düsseldorf/David Young

Magazin Bericht


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„Ich bin gespannt darauf“, sagte Ste­ mann bei der Bekanntgabe seiner Ernen­ nung, „die Setzungen, die wir in Zürich ge­ macht haben, an einem Ort weiterentwickeln zu können, der sich derart mit seinem Thea­ ter identifiziert.“ Das klingt ziemlich blauäu­ gig, wenn man einen genaueren Blick auf das Bochumer Schauspiel wirft. Es hat zwar ein tolles Ensemble, einen charismatischen Intendanten und große Erfolge. Aber die Identifikation des Publikums mit seinem Haus ist nicht mehr so wie früher. Viele Vor­ stellungen sind schlecht besucht, beson­ ders die experimentelleren Formen werden nur sehr schwach angenommen. Anders ausgedrückt: Wenn Stemann einfach sein Züricher Konzept in Bochum weiterführen sollte, könnte er das Theater an die Wand fahren. Denn im Ruhrgebiet findet er eher weniger Menschen, die sich auf Internatio­ nalität und neue Perspektiven freuen, als in Zürich. Das zeigen auch die Probleme, die das Schauspiel Dortmund nebenan in der gerade begonnenen Spielzeit hat.

Düsseldorfer Linie Auch in Düsseldorf träumen Stadt und Landesregierung immer wieder von Inter­ nationalität. Das Schauspielhaus ist das einzige halbe Staatstheater in NRW. ­An­dreas Karlaganis – bisher stellvertreten­ der Intendant am Wiener Burgtheater unter der schnell zu Ende gegangenen Leitung von Martin Kušej – soll gut vernetzt sein. Doch große Teile des Düsseldorfer Publi­ kums sind nicht von radikaler Neugier ge­ prägt. Bevor Wilfried Schulz das Haus übernahm, hat der Schwede Staffan Valde­ mar Holm als Intendant versagt. Auch weil er falsch beraten wurde. In unserem ersten Gespräch nach seinem Antritt 2011 glaubte er noch, er sei der Erste, der internationales Theater nach NRW brächte. Und war ganz überrascht, dass sich kaum jemand für die von ihm zum Start eingeladenen Gastspie­ le interessierte. Die Inszenierungen Robert Wilsons laufen großartig am Rhein, doch das ist eine eingeführte Kunstsprache, die wenig mit den heutigen internationalen Trends zu tun hat. Sie brauchen viel Ver­ mittlung. Außerdem gibt es ja auch noch das Forum Freies Theater und das tanz­ haus nrw.

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In Bochum gab es immer regieführende Intendanten, meistens waren die Chefs auch die prägenden Künstler an ihrem Haus. Düs­ seldorf hat eine andere Tradition, hier fuhr man zuletzt gut mit dem Dramaturgen Wil­ fried Schulz. Andreas Karlaganis hat eine sympathische Ausstrahlung, bezeichnet sich selbst als „guten Nörgler“, mag – wie Stemann – Elfriede Jelinek und erzählte in einem ersten Interview mit der Rheinischen Post, dass er als Kind Zirkusdirektor werden wollte und bis heute zirzensische Formen möge. Das kann in Düsseldorf großen Erfolg haben, Jérôme Savary hat hier inszeniert, das große Haus verträgt Spektakel. Aller­ dings hat der zeitgenössische Zirkus bereits beim Düsseldorf Festival eine langjährige Heimat. Es wird also eine Herausforderung, sich in die bestehenden Angebote einzu­ finden. Schwierig ist es, an so einem großen Haus eine klare Handschrift zu entwickeln. Das ist auch Wilfried Schulz nicht gelungen. Aber vielleicht ist das gar nicht mehr die Auf­ gabe eines Stadttheaters der Zukunft, weil sich für solche Kriterien eigentlich nur noch Kritiker:innen interessieren. Offen, kritisch, mutig, unterhaltsam muss es sein, Schichten ohne große Vorbildung erreichen und die anspruchsvollen Abonnent:innen nicht ver­ schrecken. Das ist schon eine gewaltige Aufgabe. Und vielleicht ist es gut, wenn der Intendant selbst nicht in erster Linie an die eigene künstlerische Selbstverwirklichung denkt. Künstler oder Manager – es ist span­ nend, dass die großen Bühnen in NRW ­beide Konzepte parallel ausprobieren. Was die Städte – und in Düsseldorf auch das Land – anscheinend nicht wollten, sind Lei­ tungsteams. Hier stehen Kapitäne auf der Brücke, und so wird es bleiben. Zeigt sich da konservatives Denken? Oder die Erkennt­ nis, dass es nicht mehr die Zeit für Risiken und Spielereien ist, wenn es um den Fort­ bestand der Theaterlandschaft geht, wie wir sie h ­ eute kennen? Jede Leitung muss sich mit Reformideen beschäftigen, die Zeit der großen Tanker und der selbstverständlichen Förderungen ist vorbei. Da braucht es wache und bewegliche Geister, Teamplayer mit dem Mut, Entscheidungen zu treffen und alte Gewissheiten infrage zu stellen. T

Oktober

Januar

9., 11. & 12.10.2024

Taylor Mac & Matt Ray Bark of Millions

19. & 20.10.2024

Anne Teresa De Keersmaeker, Radouan Mriziga / Rosas, A7LA5 Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione 13. – 16.11.2024

Thorsten Lensing Verrückt nach Trost 26. & 27.11.2024

Philippe Quesne / Vivarium Studio Der Garten der Lüste

3. – 5.12.2024

Lucinda Childs Dance Company Dance

7. & 8.12.2024

Lucinda Childs Dance Company Four New Works

16. – 18.1.2025

Ohad Naharin, Batsheva Dance Company MOMO

23. – 25.1.2025

Trisha Brown Dance Company, Noé Soulier

Glacial Decoy / In the Fall / Working Title


Magazin Kritiken

Schaubühne am Lehniner Platz

Das Theater als Zauberkiste „Glaube, Geld, Krieg und Liebe“ von Robert Lepage – Regie Robert Lepage, Bühne Robert Lepage, Ulla Willis, Kostüme: Vanessa Sampaio Borgmann, Video Félix Fradet-Faguy, Sound Stefan Pinkernell

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ie sehen 80 Jahre deutscher Ge­ schichte aus, betrachtet durch die Linse von Zufall und Glück? Was bedeutet Schicksal in den langen Jahren des zerrüt­ teten 20. Jahrhunderts? Robert Lepage hat erstmals in Deutschland inszeniert und an der Schaubühne einen Abend entwickelt, in dem jede Szene aus dem Dunkeln aufsteigt und dahin wieder verschwindet. „Glaube, Geld, Krieg und Liebe“ heißt der Abend in vier Akten. Jeder Akt ist mit dem Trumpf eines Kartenspiels verknüpft. Einen Text gab es nicht, Grundlage waren Improvisationen über diese Themen anhand des Kartenspiels. Über der Bühne schwebt ein Gerüst mit vier Bildschirmen, die zu Be­ ginn klassische, blaue Rückseiten ebenjenes Kartenspiels zeigen, darüber ebenfalls vier Lautsprecher. Der Rest der Bühne ist leer und wird es oft – bis auf etwas Mobiliar – bleiben. Mit dieser Bühne (Robert Lepage, Ulla Willis) präsentiert der kanadische Regis­ seur das Theater als eine Zauberkiste und zeigt das Magische im Minimalismus. Die Bildschirme sind drehbar, können alles zeigen, eine Rückwand im Restaurant oder die Aussicht aus dem Zelt in Kundus genauso wie das Kamerabild einer Live-­ Kamera über den Casinotischen oder fast schon interaktiv zum Spielautomaten werden.

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„Hamlet/Ophelia“ nach William Shakespeare in der Essener Inszenierung von Selen Kara

Schauspiel Essen

Ophelia will nicht sterben „Hamlet/Ophelia“ nach William Shakespeare – Regie Selen Kara, Bühne Lydia Merkel, Kostüme Anna Maria Schories, Musik Thorsten Kindermann

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as „Opfer Ophelia“, naiv liebend, un­ schuldig dem Wahn verfallen und im Wasser sterbend – diese Rollendeutung ist auf deutschen Bühnen längst ausgestor­ ben. Selen Kara versucht nun am Schauspiel ­Essen eine Erzählung auf Augenhöhe. Ophelia bekommt mehr Text. Gleich zu Beginn steht die Schauspielerin Beritan Balcı auf einer breiten, düsteren Treppe und erzählt die Vorgeschichte des Stückes. Dann über­ nimmt sie auch die Texte von Hamlets Vater, der seinem Sohn als Geist erscheint und ihn auffordert, Rache zu nehmen. Außerdem wirkt Ophelia überhaupt nicht verliebt, im Gegen­ teil, sie nimmt bewusst die Rollen ein, die Va­ ter, Königin und Geliebter von ihr erwarten. Diese Frau hat ein klares Ziel: Sie will Hamlet heiraten, zum Königsmord anstacheln und selbst Queen werden. Wahrscheinlich hat sie alle Staffeln „Game of Thrones“ gesehen und gelernt, dass nur die Raffinierten überleben. Auf ihr Ende als Wasserleiche hat diese Ophelia erst recht keine Lust. Wenn es im Stück dazu kommt, verkündet sie dem Publi­ kum, dass sie einfach nicht stirbt. Und wenn diese Handlung bedeutet, sich gegen Gott aufzulehnen, dann ist das eben so. Ophelia klettert von der Bühne und verlässt den Saal durch die Parketttür. Aber Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Handlung hat das nicht. Ihr Tod wird auf der Bühne verkündet, Hamlet (der charismatische Christopher Heis­ ler) und Laertes duellieren sich. Das ist kein Fechtduell, sie schlammcatchen im Wasser direkt an der Bühnenrampe. Die ersten beiden Reihen haben Plastikponchos bekommen, da­ mit die Publikumsklamotten nichts abkriegen. Das Ende wird dann nur erzählt und wirkt et­ was kraftlos. Hat Ophelias Abgang doch noch etwas bewirkt? Der Rest ist Schweigen. Wie schon in ihrer Eröffnungsinszenie­ rung von Fatma Aydemirs „Doktormutter Faust“ inszeniert Selen Kara einen Klassiker aus feministischer Perspektive, doch ohne in den Platitüden des Empowerments zu ver­ sinken. Ophelia ist zwar selbstbestimmt und stark, aber keinesfalls eine sympathische ­Figur. Durch ihren Machtdrang führt sie die anderen ins Verderben, und als ihr eigener Tod naht, macht sie nicht mehr mit. Es würde nicht verwundern, wenn sie bald an der ­Seite des Siegers Fortinbras auftaucht. Das wäre Stoff für ein Sequel von „Hamlet/ Ophelia“. Nur ohne Hamlet. // Stefan Keim

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Fotos links oben Gianmarco Bresadola, unten Nils Heck, rechts oben und unten Gianmarco Bresadola

Bastian Reiber, Damir Avdic und Alina Vimbai Strähler in „Glaube, Geld, Krieg und Liebe“ an der Schaubühne Berlin

Aus der schwarz verhangenen Hinterbühne schiebt die Technik präzise realistische Re­ quisiten auf die Bühne, minimalistisch und absolut ausreichend, um mit etwas Theater­ magie einen Zug, einen Innenraum wie ein Restaurant, das Setting einer Selbsthilfe­ gruppe für Spielsüchtige oder einen Imbiss entstehen zu lassen, in dem wiederum ver­ knüpfte Begegnungen geschehen können, die am Ende des ersten und zweiten Teiles sogar dazu führen können, dass die Theater­ magie Zeit und Raum auszulösen vermag. In der Zusammenarbeit zwischen Le­ page und dem grandiosen Ensemble der Schaubühne (die sieben Schauspieler:innen spielen in über 60 Rollen) ist ein Abend ent­ standen, in dem sich vor allem Themen wie Macht, Rassismus und Abhängigkeit durch die Geschichte Deutschlands ziehen. Thea­ ter stellt sich als Theater aus, als die Zauber­ kiste, die es ist, gleichzeitig fließt der Abend dahin wie eine Netflix-Serie. Lepage leuch­ tet die Szenen nur als Korridore, als helle Flure, in denen es in der Dunkelheit (deut­ scher) Geschichte kurz hell wird. Das alles greift emotional kaum, dafür sind die Ge­ schichten zu lose, zu skizzenhaft, gelingt je­ doch technisch perfekt. // Nathalie Eckstein


Magazin Kritiken

„Kleinstadtnovelle“ von Ronald M. Schernikau am Theater Magdeburg. Regie Florian Fischer

Theater Magdeburg

Freiheit im Schlafzimmerdunst „Kleinstadtnovelle“ von Ronald M. Schernikau – Regie Florian Fischer, Bühne Sina Manthey; Kostüme, Video Cornelius Reitmayr; Musik Romain Frequency, Dramaturgie Bastian Lomsché

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s wirkt wie eine queere Utopie: Ver­ schlungene Gliedmaßen zwischen Sei­ denbettwäsche, unendliche Zärtlichkeit und Lust am Performen von Männlichkeit, Weiblichkeit und allem dazwischen. Am Ende der Inszenierung von Ronald Scher­ nikaus „Kleinstadtnovelle“ bleibt vor allem ein Gefühl hedonistischer Freiheit, das die Achtziger in Westberlin prägte. Dass es für den schwulen Kommunist nicht reichte, sich einzurichten, ohne die Gesellschaft, in der er lebte, zu verändern, verblasst an diesem sinnlichen Abend im Theater Magdeburg. Zum zweiten Mal inszeniert Florian Fi­ scher den Text eines Magdeburger Autors am Theater der sachsen-anhaltinischen Lan­ deshauptstadt. Während „Gas“ von Georg Kaiser in der Tradition des Expressionismus bildgewaltig auf der großen Bühne wirkte, entfalten sich die Zeilen des damals 19-jähri­ gen Autors nun in intimer Runde. Verteilt in Sitzgruppen taucht das Publikum in die schwulenfeindliche Szenerie einer west­ deutschen Kleinstadt ein, in der Protagonist b. seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern macht. Der noch vor seinem Ab­ schluss am Lehrter Gymnasium veröffent­ lichte Text Schernikaus erzählt eine anti­ faschistische Coming-out-Geschichte, in dessen Erzählperspektive die Schauspie­ ler:innen Anton Andreew, Nora Buzalka und

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Lorenz Krieger zu Beginn abwechselnd schlüpfen. Mit schmalem Oberlippenbart – „der pu­ bertäre flaum, der erfolg hat“ – langem, locki­ gem Haar und divenhaftem Gestus soll beson­ ders Krieger an Schernikau erinnern, dessen Figur sich immer wieder mit dem Schüler b. vermischt. Selbstbewusst und kokett vergnügt sich der schwule Gymnasiast mit Klassenka­ merad Leif im seidenbezogenen Bühnenbett. Aber die in Umkleidekabinen antrainierte „sys­ tematische glücksvernichtung“, die aus der „Kleinstadtnovelle“ zitiert wird, wo Männer er­ zogen werden, „die schwule ticken und frauen vergewaltigen“, ist stärker als Leifs Lust. Vor der konservativen Stadtgemeinschaft behaup­ tet er, b. habe ihn verführt. Für den Konformi­ tätsdruck in der westdeutschen Gemeinde muss dann das Publikum herhalten. Zwischen einigen bezaubernden Insze­ nierungseinfällen, wie einer Murmelbahn, die einmal um das Publikum läuft, und riesigen Rauchringen im Kunstnebel, zerfasert der Abend in der zweiten Hälfte zusehends. Dem politischen Gehalt von „Kleinstadtnovelle“ und den biografischen Bezügen zu Scherni­ kau, einem lautstarken Kommunisten, wird dies jedoch nicht gerecht. // Lara Wenzel

„Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen, für die Bühne bearbeitet von Maik Priebe (UA)

Theater Orchester Neubrandenburg Neustrelitz

Wendeblues in Rückblenden

„Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen, für die Bühne bearbeitet von Maik Priebe (UA) – Inszenierung Maik Priebe, Bühnen- und Kostümbild Susanne Maier-Staufen, Musik Ludwig Peter Müller, Video Daniel Wolff

„A

us unseren Feuern“ ist der Name einer selbstgebastelten Bombe im gleichnamigen Roman, mit der Hobby­ sprengtüftler Karsten das stillgelegte Leip­ ziger Zentralstadion in die Luft jagen woll­ te. Karsten und seine Freunde Thomas und Heiko sind 1985 geboren und geraten in den nuller Jahren in den ostdeutschen Abstieg, den der Autor mit vielen Details der einzel­ nen Arbeitsmilieus erzählt. Der Schlacht­ betrieb von Thomas’ Vater wird in die In­ solvenz getrieben und tief taucht man in die Arbeitswelten von Heiko ein, der zusammen mit seinen Ausbildern als Billigarbeiter nach Frankfurt am Main geschickt , dann in Leip­ zig Pizzabote wird, schließlich in einem klei­ nen Bestattungsunternehmen anheuert, das ihn nach einem Vertrag mit einem Internet­ bestatter kreuz und quer durch die ganze Bundesrepublik hetzt. Maik Priebe hat eine bühnentaugliche Fassung für sechs Schauspieler:innen in etwa viermal so viel Rollen entwickelt, die mit den vielen Rollenwechseln schon die Spielweise in kleinen Szenen definieren und mit einfachen Mitteln wie Perücken und Schnellwechselkostümen rasch auf den Punkt kommen müssen. Die Bühne von Susanne Maier-Staufen ist ein riesiger ­ Stadtplan von Leipzig mit einer leichten Er­ höhung in der Mitte als Podest mit Boden­ klappen – ein Grab –, das Publikum sitzt in Neubrandenburg um dieses Karree herum. Erik Born gestaltet einen herben Heiko, dem die Jungenhaftigkeit schon früh ver­ loren gegangen zu sein scheint, auch wenn er in den Beziehungen mit Jana, Juliane und Mandy (jeweils Lisa Scheibner) verschiede­ ne Arten von ungelenker Schüchternheit zeigt. Der Zweite im Bunde ist Robert Will als Thomas, der sich eine Reichsbürgersicht der deutschen Dinge zulegt. Karsten ist in der Darstellung von Jacob Keller der ruhige, fast nerdige Spezialist , der aus Amerika ent­ täuscht zurückkehrt, um nun „Aus unseren Feuern“ für diese Niedergeschlagenen end­ lich zu zünden. Dem scheidenden Schauspieldirektor Maik Priebe gelingt es, die große Geschich­ te von unten zu zeigen, in den bitteren Ge­ schichten der Verwundung. // Thomas Irmer

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

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Mein Nachruf auf Aviva Ronnefeld Von Noam Brusilovsky

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Das deutsche Wort „Nachruf“ existiert in meiner Muttersprache nicht. Auf Hebräisch gibt es „Grabrede“ und „Traueranzeige“ – „Nachruf“ lässt sich aber nicht adäquat übersetzen. Was bedeutet es, einer gelieb­ ten Person nachzurufen? Geht es darum, die Biografie einer verstorbenen Person in der Öffentlichkeit zu würdigen, oder geht es darum, ihr wortwörtlich nachzurufen und vergeblich zu versuchen, sie nach ihrem Ab­ gang verbal und laut wieder zu erreichen? Meine gute Freundin, die Künstlerin Aviva Ronnefeld, starb viel zu früh im Alter von 66 Jahren an einem schönen Sommer­ tag im August. Vor einem Jahr erhielt sie die Diagnose Glioblastom. Als ich auf Wikipedia recherchierte, was das genau bedeutet, musste ich mit Erschrecken feststellen: Hirntumor, bei dem die Überlebenszeit bei wenigen Monaten bis zu einem Jahr liege. „Aviva“, habe ich sofort zu ihr gesagt, „du darfst nicht vor April sterben – Pessach sol­ len wir noch zusammen feiern!“ Auch, wenn wir es nicht wahrhaben wollten, wussten wir alle, die Aviva liebten, dass die Zeit mit ihr knapp ist. Von nun an galt es, ihr schöne Momente zu schenken, an die wir uns später selbst erinnern können, und alles von ihr festzuhalten, was noch fest­ zuhalten war. Aviva war eine begabte Gärt­ nerin und sie nannte ihren Schrebergarten „Garten Eden“. Als wir dort in einer großen Runde saßen, ackerte sie stundenlang in ihrem Garten, schnitt Blumen und erntete Gemüse und Obst. Währenddessen haben wir unendlich viele Fotos von ihr mit unseren Handys gemacht und sie posierte für uns und lächelte uns an. Wir wollten sie – so ba­ nal wie es klingt – festhalten und ich gehe davon aus, dass es ihr bewusst war, und dass sie ebenfalls in unserer Erinnerung bleiben wollte. Aviva wollte auch, dass ihr Werk in Er­ innerung bleibt. Seit ihrer Diagnose konnte sie nicht mehr malen und widmete sich stattdessen der Arbeit am eigenen Catalo­ gue raisonné. Zusammen mit ihrem Partner Pierre und ihrer Freundin Corinna wurden sämtliche Bilder, Zeichnungen und Objekte aus allen Schränken und Schubladen her­ ausgekramt. Es wurden Kisten geöffnet, Fotos gesichtet, Dias durchleuchtet, Ver­ kaufslisten vergangener Ausstellungen sor­ tiert und Aufzeichnungen, Tagebücher und Ordner durchforstet, um nach und nach ­dieses riesige Puzzle des eigenen Lebens­ werks zusammenzusetzen. 2364 Kunstwerke

konnten in einem dicken Werkverzeichnis dokumentiert werden. „Die Bilder sind wie meine Kinder“, sagte sie. Kinder hatte Aviva nicht, obwohl sie Mutter werden wollte. Trotzdem war sie Mutter und Mentorin für viele Künstler:innen und Denker:innen, die sie ständig umgaben. Auf jedem Fest in ihrer Kreuzberger Woh­ nung traf man alte und junge Leute, denn Aviva faszinierte Menschen aller Art. Sie ­interessierte sich wahrhaftig für die künstle­ rische Arbeit ihrer engen Menschen und wusste, ihr auch kritisch gegenüberzuste­ hen (und dies auch klar zu äußern). Wichtig war ihr vor allem der Austausch und trotz ihrer Bescheidenheit scheute sich keine ­intellektuellen Diskussionen (am liebsten mit Weißweinschorle in der einen Hand und ­Zigarette in der anderen). Zwei Tage vor ihrem Tod saß ich an ihrem Bett im Hospiz. Sie konnte nicht mehr sprechen. Sie gab mir ihre Hand und ich habe ihr alles gesagt, was ich in dem Mo­ ment sagen konnte: „Du bist schön und schlau. Du bist eine gute Freundin und eine große Künstlerin. Ich liebe dich und danke dir für alles.“ Ihr flossen die Tränen und ich konnte mich nicht zusammenreißen und musste vor ihr weinen. Als ich schließlich ging, wusste ich, ich werde sie nie wieder sehen. Ich habe eine Freundin verloren, von der ich lernen durfte, was es bedeutet, Künstler zu sein. Die Kunst Aviva Ronnefelds lag nicht nur darin, Bilder zu malen, sondern in der ­Fähigkeit, das Leben selbst als Kunstwerk zu begreifen. Sie verstand es, selbst in der Tri­ vialität Schönheit und große Menschlichkeit zu finden, und wenn diese nicht vorhanden waren, wusste sie, für sie zu sorgen. Ich rufe Aviva nach und nach und nach und hoffe, das Echo meines Nachrufs er­ reicht sie nun, in welchem Garten Eden auch immer sie sich gerade befindet. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Regisseurin Marie Schleef, die Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsky, monat­ lich im Wechsel.

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Foto links Lea Hopp; Heimathafen Neukölln Verena Eidel, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Sophiensæle Gedvile· Tamošiū naite·, Villa Elisabeth Piet Truhlar, Junge Marie Valentina Verdesca/TM

Magazin Kolumne


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präsentiert Junge Marie In Philippe Heules Jugendstück „I want to belong (and sing a song)“ bringen fünf junge Spieler:innen Kategorien ins Wanken. Mit Karaoke und Chor, Drag und Naturalismus, Performance und Kammerspiel. 5. bis 6.11. Kurtheater Baden, 12.11. Theater Casino Zug

Heimathafen Neukölln, Berlin Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. MADRE® erzählt von Menschen, die sich selbst eine Familie suchen, abseits von Verwandtschaftsverhältnissen. Hier wird Familiengeschichte neu geschrieben! 14.11. und 15.11.

FFT Düsseldorf Judith Malina, Ikone des politischen Theaters in New York, hinterließ ihre „Notizen zu Piscator“, die nun auf Deutsch erscheinen. Das Werk umfasst ihre Seminarmitschriften, beleuchtet Piscators Biografie und seinen prägenden Einfluss auf das US-amerikanische Theater. 15.11. (Buchpremiere)

Villa Elisabeth, Berlin Die Spoken Word Performance von NICO AND THE NAVIGATORS verknüpft die „Kafka-Fragmente“ von György Kurtág mit Kafkas „Brief an den Vater“. Infos & Tickets: navigators.de 21. bis 23.11.

„The Melancholic Melody of the New Economy“ von Ariel William Orah

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Die IT-Branche ist Berlins Vorzeigeindustrie, die Angestellten kommen aus der halben Welt: Hier wird die Zukunft entworfen. Für wen? Am Ballhaus Naunynstraße treten ihre Protagonist:innen auf die Bühne – ein dramatischer Einblick! 27.11. bis 30.11.

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„POST.KAFKA“ von NICO AND THE NAVIGATORS

Sophiensæle Berlin Angelehnt an das Matrix-Universum beschäftigt sich das Dokumentartheater-Kollektiv Markus&Markus in ihrem neuen Stück „Matrix Reinsurance“ mit der berechneten Welt der Rückversicherungen. Hier werden Gefahren kalkuliert, Risiken abgewogen, Realitäten konstruiert. 7.11. bis 10.11.

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Thema Amerikanisches Theater New York City, bekannt für seine pulsierende Theaterszene, ist ein wichtiger Bestandteil der Theaterlandschaft der Vereinigten Staaten

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Foto picture alliance / Anadolu | Selcuk Acar

Am 5. November heißt es in den USA: Trump oder Harris. Eine Schicksalsund Zukunftswahl für die ganze Welt. In der Theaterwelt sind die USA, ab Mitte des 20. Jahrhunderts wichtiger Impulsgeber für das europäische Theater, längst nicht mehr führend und selbst die immer kreative New Yorker Avantgarde ist für die deutsche Szene kein Magnet mehr, während der Broadway brummt nach Corona und Krise. Trotzdem lohnt ein Blick in die schwächer gewordenen Wechselbeziehungen. Die amerikanische Theaterkünstlerin und Dramaturgin Theresa Buchheister stellt das aufregende New Yorker Performanceduo Peter Mills Weiss und Julia Mounsey vor, Robert Wilson erklärt, warum er mit „Moby Dick“ ein Schlüsselwerk der amerikanischen Kultur inszeniert, und TdZ-Redakteur Stefan Keim spricht mit Noah Haidle, dem aktuell präsentesten amerikanischen Dramatiker auf deutschen Bühnen. Enjoy the show!

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Thema Amerikanisches Theater

Alex Tatarsky in „The Future Is For/Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, mit einem augenzwinkernden siebenminütigen Monolog vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, in dem die Erschöpfung der Lady Liberty verkörpert wird

Das Ende des Theaters, wie es auch in New York nie vorbei ist Foto Walter Wlodarczyk

Das gefeierte Performanceduo Peter Mills Weiss und Julia Mounsey spielt mit Clowns und Comedians gegen den Druck von Kommerz und starren Budgets Von Theresa Buchheister

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Thema Amerikanisches Theater Peter setzt sich Ohrstöpsel ein und lässt einen sehr leisen Partyknaller platzen. Er liest seine Grabrede von einem Blatt Papier vor: PETER Ich möchte über Nostalgie sprechen. Nostalgie ist eine Droge. Sie macht die Vergangenheit leichter erträglich. Du nimmst die Vergangenheit, du schleifst sie ab. Du machst daraus Möbel. Du machst daraus etwas, das du an die Wand hängen kannst. Ich möchte über Performance sprechen. Performance ist eine Droge. Sie macht Menschen leichter erträglich. Du nimmst das Selbst, du schleifst Teile davon ab. Und du wirst real. Du wirst es wert, in Erinnerung zu bleiben. Und ich möchte über Trauer sprechen. Aber Trauer ist schwer zu besprechen. Das ist eine Grabrede. (aus „Open Mic Night“ von Peter Mills Weiss und Julia Mounsey – aufgeführt am JACK in Brooklyn (2023), Under the Radar bei Mabou Mines (2024), Williamstown Festival (2024)) Jede Aufführung ist sowohl eine Hochzeit ALS AUCH eine Beerdigung. Ein Zusammenkommen. Ein Hineingleiten in die Erinnerung. Vor Freund:innen und einigen seltsamen Fremden und Menschen, die vielleicht denken, sie kennen sich. Wie das Theater werden die Unternehmen für Hochzeiten und Beerdigungen wahrscheinlich ewig bestehen, tief verwurzelt in Traditionen, aber doch sich mit der Zeit verändernd, wenn auch langsamer, als es eigentlich logisch wäre. Z. B.: Warum sprechen Priester immer noch über Frauen als Eigentum? Warum sind queere Hochzeiten so geschlechtergeprägt? Warum trägt man Schwarz auf einer Beerdigung, wenn man keine schwarzen Klamotten besitzt? Warum besteht man darauf, dass Theater für alle gleichermaßen verständlich sein muss, in der Hoffnung, dass dann mehr Leute zahlen, um das „Kunstwerk“ zu genießen und ihm zuzustimmen? Warum gibt man so viel Geld für das Bühnenbild aus, nur weil das in der 501(c)(3)-Steuerbefreiungsverordnung für nonprofit orga-

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nizations so vorgesehen ist, obwohl die Menschen, die das Bühnenbild bauen, ihre Miete nicht bezahlen können? In unseren Köpfen und Herzen akzeptieren wir, dass nichts ewig unverändert bleibt. Und doch sind wir traurig über diesen Wandel. Wir trauern um Dinge, die einmal waren. Wir stemmen uns dagegen und setzen uns die rosarote Brille auf. Wir halten an Traditionen fest, einfach „deshalb“. Dennoch schreiten wir unausweichlich voran. Die Arbeit von Peter Mills Weiss und Julia Mounsey, in Zusammenarbeit mit Kate McGee (ihre Lichtdesignerin und „Hot Take“-Expertin), ist beispielhaft für das amerikanische Theater im Moment. Während es noch im Kontrast zu den vielen Stücken steht, die noch nicht bemerkt haben, dass sie eigentlich tot sind, als Zombies über den Broadway und OffBroadway schlurfen, ebnet es einen neuen Weg und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Kürzlich hat das Playwrights Horizons Theater in Manhattans 42nd Street bemerkenswerterweise einer kleineren Bühne Platz für schräge Ein-Personen-Stücke gegeben, die nicht auf einer konventionellen Erzählstruktur basieren. Und am Broadway öffnete sich das Publikum (und dieses seine Geldbörsen) für den Komiker Cole Escola und sein bewusst nicht-extravagantes Bühnenbild für „Oh Mary!“. Wer Peter und Julia seit der Vor-Pandemie-Zeit verfolgt hat, ist nicht mehr überrascht, dass einschlägige Institutionen nun auf sie aufmerksam werden. Ihre Arbeiten sind noch so unaufwendig, dass sie sich auch auf Gastspielen unter schwierigen Tourneebedingungen entfalten können, und so komplex und aufregend, dass Howard Fishman vom New Yorker schrieb: „... wenn du nach Wiederbelebung suchst, wenn du willst, dass dein erschöpfter Geist aufwacht, wenn du ein bisschen ausflippen möchtest ...“, dann schau dir ihre Arbeit an (in diesem Fall ihre erste Zusammenarbeit bei „50/50 Old School Animation“). Um zu verstehen, wohin sie sich bewegen, fragt man sich vielleicht, wie diese menschlichen Stars zusammenkamen, um ihre unverwechselbaren Meisterwerke zu schaffen? Ihr Zusammentreffen ist Teil der gesamten Stimmung der New Yorker Kunstszene im Moment – sie zogen

Ihre Arbeiten sind noch so unaufwendig, dass sie sich auch auf Gastspielen unter schwierigen Tourneebedingungen entfalten können. in die Stadt als große Fans von Richard Foreman und The Wooster Group, die neben anderen die experimentelle Szene der letzten 50 Jahre geprägt haben, und versuchten nach dem mit Bravour absolvierten Uni-Abschluss mit anderen Leuten einfach Sachen zu machen. Sie wollten herausfinden, wie ihre Ideale des nicht-hierarchischen Arbeitens tatsächlich umgesetzt werden könnten. Indem sie inmitten dieses Kampfes bei gut finanzierten Autor-Regisseur:innen ein Praktikum nach dem anderen machten, lösten sie sich davon und begannen, „nicht-theatralische“ Arbeiten (Gedichte und Geschichten) in kürzeren Formen bei monatlichen Salons ab circa 2013 zu präsentieren. Während Kate und Peter sich schon aus dem College kannten und im Studium bereits zusammengearbeitet hatten, veränderte sich das Gewebe ihrer Arbeiten, als ihre Interessen zunehmend durch Komiker:innen, Techniker:innen, Musiker:innen und Dichter:innen angeregt wurden. So lebten sie ihre zwanziger Jahre aus.

Gruppen-Gründungen Im Jahr 2015 schufen Kate und Peter ihre letzte Show mit ihrer noch auf dem College gegründeten Gruppe Grandma, bei der Julia als Dramaturgin mitwirkte („Make People, Parts 1 and 2“, aufgeführt im La Mama). Es war, als könnten sie einen Blick in die Zukunft werfen und erahnen, dass, noch während die eine Sache zu Ende ging, eine andere schon begann. Als Grandma zu Grabe getragen wurde, beschlossen Peter und Julia, es zusammen zu versuchen und einige Teile von Lesungen zu verbinden, die bei ihren Salons stattgefunden hatten. Peter behauptet: „Nur ich mochte dieses Ding, das Julia gemacht hatte ... na ja, und Ryan Downey natürlich“, und mit diesem Stück begannen sie, sich neu aufzubauen,

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Oben: Die Produktion „1-800-3592113591“ der CHILD performance company Unten: „50/50 Old School Animation“ von Peter Mills Weiss und Julia Mounsey

und präsentierten schließlich kleine Inszenierungen bei SalOn!, Little Theatre und New Skin//Old Ceremony. Vielleicht war es diese Art des Zusammenkommens und der Entwicklung von Arbeiten, die eher einem Open-Mic für Komiker:innen ähneln, bei dem diese vor einem Publikum von Kolleg:innen Bits t­esten (ein Aspekt des Schaffens, den P ­ eter als „den wichtigsten“ ansieht), dass sie dazu übergingen, regelmäßig Komiker:innen in ihren Inszenierungen zu besetzen. Diese medienübergreifende Zusammen­arbeit erzeugte die aufregendsten Aufführungen im New York der letzten zehn Jahre – von den DIY-Musikvenues in „Title:Point“ über die explosive MultiAlles-Ästhetik von „CHILD“ bis hin zu den schmutzigen Clownexzessen an noblen Veranstaltungsorten wie dem Whitney Museum mit Alex Tatarsky. Das Publikum erweitert seinen Horizont, indem es gezwungen wird, etwas anderes aufzunehmen, als es erwartet hat. Künstler:innen brechen aus den engen Schubladen aus,

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die Förderorganisationen und Universitäten erschaffen haben, um eine fade kommerzielle Kunstmaschine mit der Not von Künstler:innen in der Studentenschuldenfalle zu füttern. Nachdem sie über viele Jahre hinweg Stücke langsam zusammengesetzt hatten, schufen Peter und Julia „50/50 Old School Animation“, in dem sie die atemberaubende Komikerin Mo Fry Pasic besetzten. Die Show erhielt großartige Kritiken und Nachbesprechungen wie – „Wow, ich bin wirklich aufgewühlt“ und „Ich habe mich noch nie so gefühlt“ und „Ich weiß nicht, ob ich dabei hätte lachen sollen“. Es öffnete die Tür zu Aufträgen, Festivals und Tourneen, nachdem diese Inszenierung zunächst von Alec Duffys Theater JACK in Brooklyn entdeckt worden war und dann in den Programmen von SoHo Rep und dem wichtigen Theaterfestival Under the Radar lief. Ein Teil ihrer Anziehungskraft war die Form, die eher einem Stand-up-Special und zugleich einem minimalistischen Tanzstück glich. Eine verblüffende Kreativität in Form und Inhalt auf der Bühne. All dies geschah kurz vor der Pandemie, doch ihre Zusammenarbeit setzte sich fort und führte 2021 zu einer vollständigen Aufführung von „While You Were Partying“ bei SoHo Rep, zwei Monate nach der offiziellen Wiedereröffnung der Theater bis kurz vor der erneuten Schließung vieler Theater aufgrund der Omikron-Variante.

MUTTER Meintest du es ernst? BRIAN Ja. MUTTER Du willst dich wirklich umbringen? BRIAN Ja. MUTTER Schau mich an. [Die Schauspieler:innen blicken nach draußen.] MUTTER Und lüg mich nicht an. Bist du dir sicher? BRIAN Ja. [Pause.] MUTTER Nun gut. Wenn das wirklich das ist, was du willst, dann kannst du es tun. „While You Were Partying“ hatte den brillanten Komiker Brian Fiddyment mit im Cast und war bedeutsam für das kreative Team in zwei wichtigen Bereichen – Mittelzuteilung und Triggerwarnungen. Kate McGee schrieb auf ihrer Substack ausführlich darüber, wie ihre Gruppe gegen starre Budgetvorschriften vorging, als sie versprach, eine überzeugende Show zu schaffen, dafür aber den beteiligten Künstler:innen mehr zu zahlen und am Budget für die Ausstattung zu sparen. Es ist kaum zu glauben, wie viele Institutionen in den USA Aufträge vergeben und Budgets ­haben, die scheinbar keinerlei Flexibilität zulassen,

Aus der vorletzten Szene von „While You Were Partying“: MUTTER Räum dein Chaos auf, bitte. [Brian steht wieder auf. Er hebt das, was von der Wasserflasche übrig ist, auf und legt es auf den Tisch. Er benutzt Seiten des Skripts, um seinen Kot vom Boden aufzuwischen.] [Er setzt sich auf seinen Stuhl. Er starrt auf den Tisch.] [Pause.] MUTTER Brian. Erinnerst du dich, was du gerade gesagt hast? BRIAN JA! [Sofort:] MUTTER GENUG. Ich habe genug gesagt. Du bist fertig. BRIAN ... Okay. Okay. MUTTER Was hast du gesagt? BRIAN Ich habe gesagt, dass ich mich umbringen will, mehrmals.

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Foto links oben Walter Wlodarczyk, unten Maria Baranova, mitte Walter Wlodarczyk

Thema Amerikanisches Theater


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(seit 2014 ein privates Ballettstudio), der Gentrifizierung von Brooklyn und den drastischen Mietsteigerungen zurückverfolgt werden kann. Hier sei nur gesagt, dass all dies in dem sprichwörtlichen Eintopf mitköchelt. Zur weiterführenden Lektüre sei Oriana Leckerts „Brooklyn Spaces“ aus dem Jahr 2015 empfohlen. Fast keiner der darin beschriebenen Orte für Theater und Kunst existiert heute noch. Die Hoffnung aufrechtzuerhalten wäre also leichter, wenn vor allem die Mieten (sowohl für Wohnraum als auch Gewerbeflächen) niedriger wären, die Einwanderungs- und Arbeitsbestimmungen für Talente aus dem Ausland nicht so schwierig und zeitaufwendig wären und Identität wiederum nicht so stark und einschränkend zum Thema gemacht würde. Diese Dinge müssen gesagt werden, bis sie sich ändern. Das letzte Zitat bringt uns noch einmal zurück zu „50/50 Old School Animation“. Es ist eine Regieanweisung und ein einziger gesprochener Satz als Aufforderung, die Krise mit einem theatralen Akt zu interpretieren, statt anderes zu replizieren, und an das Publikum, neue Strukturen zu akzeptieren. (Julia greift das Mikrofon mit einer Hand und stellt es zur Seite, sodass nichts mehr zwischen dem Publikum und ihrem Körper ist.) (Sie tritt auf ein großes graues X auf dem Boden, das sich unter dem Mikrofon versteckt hat.) (Sie steht still und schaut das Publikum lange an.) (Sie fletscht die Zähne und starrt geradeaus.) (Sie hebt ihre Arme ganz langsam zu ihrem Gesicht.) (Sie zieht vorsichtig ihre falschen Zähne heraus und zeigt dem Publikum ihr echtes Lächeln.) (Sie steht sehr still da und hält ihre Zähne.) (Nach einer Weile steckt sie ihre Zähne wieder ein.) JULIA Okay. Jetzt ist es Zeit für die Vorstellung. (Julia verlässt die Bühne.) T

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Bilder deiner grossen Liebe Wolfgang Herrndorf

Übersetzung Thomas Irmer

Das Künstlerduo Peter Mills Weiss und Julia Mounsey www.tobs.ch

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Fotos © Hilde van Mas

egal, wie negativ die Auswirkungen auf Künstler:innen und ihre Projekte dabei sind. Weitverbreitet gibt es auch großen Widerstand gegen Triggerwarnungen mit der Begründung, dass sie Spoiler oder zu „woke“ sind. Kate sagte mir kürzlich, dass sie (als Gruppe) „sehr für Offenlegung“ seien, aber „wenn dein Stück ohne eine Inhaltswarnung nicht auskommt, ist es wahrscheinlich kein besonders gutes Stück“. Sie wollen außerdem, dass das Publikum so reagieren kann, wie es will – selbst wenn das bedeutet, die Aufführung zu verlassen. Viele Theater und Institutionen wollten den Anschein erwecken, positive Veränderungen herbeizuführen. Einige taten es tatsächlich, und andere überlebten dafür nicht lange genug – in einer Zeit, in der die kulturelle Krise auf ihren Höhepunkt zusteuert. Denn das größte Problem für kleine Theater in New York sind die Mieten. Ein längerer Essay könnte erörtern, wie dieser aktuelle Moment der Krise bis zu den Anfängen des 21. Jahrhunderts, den Anschlägen von 9/11, dem wirtschaftlichen Crash von 2008, dem Rücktritt von Richard ­Foreman und dem Verlust seiner Spielstätte The Ontological in der St. Mark’s Church


Thema Amerikanisches Theater

Der genetische Code Amerikas Robert Wilson über seine Inszenierung von Melvilles „Moby Dick“ als Mythos Von Volker Gebhart

Rosa Enskat als Kapitän Ahab in „Moby Dick“ von Herman Melville am Düsseldorfer Schauspielhaus. Regie, Bühne und Licht: Robert Wilson, mit Songs von Anna Calvi

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Thema Amerikanisches Theater

Foto Lucie Jansch

Während die Zuschauer:innen im Parkett noch ihre Plätze suchen, springt ihnen aus dem Wasser bereits ein riesiger Wal entgegen. Der Himmel hat sich pechschwarz verdunkelt, die See ist unruhig. Kontinuierlich brechen, ja krachen Wellen herunter. Darüber liegt der Schrei von Möwen. Der Wal, der hier zu Klängen von Sturm auf hoher See an die Leinwand des Schauspielhauses Düsseldorf projiziert wird, ist ein besonderer, es ist ein amerikanischer Mythos: „Moby Dick“. Der Regisseur Robert Wilson hat sich in seiner jüngsten Inszenierung den großen amerikanischen Roman von Herman Melville aus dem Jahr 1851 vorgenommen. Im Telefongespräch mit Volker Gebhart erläutert Robert Wilson vom Watermill Center in Long Island, New York, aus, wieso er sich für dieses überbordende und vielschichtige Werk entschieden hat, das eine so wichtige Rolle im amerikanischen Bewusstsein einnimmt. Der Künstler berichtet, weshalb er für seine Fassung der Geschichte um die Schiffscrew von Kapitän Ahab und seine obsessive Jagd auf den Albino-Wal die Erzählperspektive verändert hat. Wilson reflektiert, welche Rolle seine Herkunft aus Texas für die Sichtweise spielt und wieso ihn Marlene Dietrich in seiner Arbeitsweise noch immer beeinflusst.

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Wie hat sich die Idee entwickelt, diesen großen amerikanischen Roman zu inszenieren? RW: Nicolas Bos, ein Freund von mir, der in Frankreich lebt, und seit Langem meine Arbeit verfolgt, hat diesen Vorschlag gemacht. Mein erster Eindruck war, es geht hier um so viel Text, so viele Wörter. Dabei ist Herman Melvilles Roman auch sehr malerisch. Dann habe ich mich genauer durchgearbeitet und festgestellt, dass es sich um eine universelle Geschichte handelt. Das hat mich sehr interessiert. Meine Arbeiten sind sehr bildhaft und visuell. Das ist einer der Gründe, warum ich über Grenzen hinweg erfolgreich sein konnte – im Fernen Osten, im Mittleren Osten, in Russland, Nordamerika, Lateinamerika und in ganz Europa. Was war Ihre Herangehensweise für die Produktion? RW: Ich denke oft darüber nach, woraus unsere Körper bestehen: Haut, Fleisch

Melvilles Roman ist ein klassischer Mythos, der uns zurückführt zur Bibel. Ich wollte Melville nicht wiederholen, sondern die Geschichte auf meine Weise reflektieren. und Knochen. Unter der Oberfläche, wo sich das Fleisch und das Skelett befinden, ist das Mysteriöse. Auf der Ebene der Haut erscheint der Körper reizvoll und erkennbar. Ich habe also überlegt, wie ich diese Geschichte erzählen kann. Mir ist dann bewusst geworden, dass sich Kapitän Ahab und der Junge, der in der Geschichte kaum vorkommt, sehr ähnlich sind. Ich habe mich also gefragt, wie würde es sein, diese Erfahrung auf dem Schiff mit seinen Augen zu sehen. Ich bin immer sehr neugierig, wie Kinder Dinge wahrnehmen. Können Sie hierzu ein Beispiel anführen? RW: Vor einigen Jahren war ich bei einer Matisse-Ausstellung im Guggenheim Museum. Dort gab es die Skulptur einer Frau in Bronze. Ein Mann mit seiner Tochter, vielleicht drei Jahre alt, sah sich die Arbeit an. „Papa, Papa, schau: Sie hat keine Schuhe an!“ Die Frau war nackt, aber das Mädchen hatte eine ganz andere, spezifischere Beobachtung als die, die wir Erwachsenen gemacht hätten. Ich hatte ursprünglich als Lehrer auch mit Kindern gearbeitet. Zu der Zeit arbeitete ich auch mit Daniel Stern vom Psychologie-Institut der Columbia University zusammen, der Studien zu Müttern mit Babys durchführte. Es war faszinierend zu sehen, wie ein Baby in einem Moment schrie, und eine Sekunde später war das auf einmal wieder vorbei. So schnell können sie Emotionen auflösen. Dafür brauchen wir Erwachsenen sehr viel länger. Ich habe also darüber nachgedacht, wie schnell sich die Gedanken und die Haltung dieses Jungen verändern könnte und welche verschiedenen Facetten seine Persönlichkeit ich mir vorstellen konnte. Das war für mich ein erster Ansatz, mit dem diese Arbeit begann. Ich habe dann überlegt, wie wir durch die Perspektive des Jungen eine ganz neue Sichtweise eröffnen können.

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Thema Amerikanisches Theater

Gerade „Moby Dick“ erscheint auf besondere Weise im amerikanischen Bewusstsein verankert. RW: Ja, es ist eine sehr amerikanische, gleichzeitig jedoch eine universelle Geschichte. Egal, ob du in Deutschland oder China lebst, kannst du einen Bezug herstellen. Auch im Unterbewusstsein ist dieser vorhanden. Es ist eine Geschichte, die wir kennen, ein globaler Mythos. Ich komme aus Texas und meine Sichtweise ist damit auf gewisse Weise sehr amerikanisch. Die Landschaft aus Texas zieht sich durch mein gesamtes Werk.

Gregory Peck ist gut, aber was mich am meisten an dem Film interessiert hat, waren die Statist:innen. Das Close-up von ihren Gesichtern. 20

Wie lässt sich das Konzept Landschaft auf eine Geschichte übertragen, die auf hoher See spielt? RW: Ich sehe meine Arbeiten als eine Art Landschaft, die Raum zur Reflektion schafft. Eine texanische Landschaft bedeutet für mich sehr viel Raum und Zeit zum Reflektieren und zum Träumen. Ich erlebe Theater oftmals als sehr eingeengt und finde dann keinen Raum für Reflexion. Welche Szene war für Sie in dieser Arbeit entscheidend? RW: In der „Moby Dick“-Inszenierung gefällt mir besonders die Szene, in der Ahab auf der einen Seite der Bühne zu sehen ist und der Junge auf der anderen. Sie bewegen sich langsam aufeinander zu und umarmen sich. In meiner Vorstellung sind diese beiden verschiedenen Menschen einer. Eins und eins ergeben hier nicht zwei. Zwei entspricht einem Menschen. Das war ein Schlüssel für mich, auf das Stück auf einfache Weise zu schauen. Ich möchte auf Ihre Gedanken zum Körper zurückkommen. Wie schaffen Sie die Verbindung von Einfachheit und Lesbarkeit mit Komplexität bis hin zum Mysteriösen? RW: Ich hatte eine großartige Lehrerin: Sibyl Moholy-Nagy. Sie war verheiratet mit dem Bauhaus-Architekten László Moholy-Nagy. Sie unterrichtete Geschichte der Architektur in einer Klasse, die über fünf Jahre lief. In der Mitte des dritten Jahres sagte sie: „Studenten, ihr habt drei Minuten, eine Stadt zu entwerfen: fertig, los!“ Aber wie gestaltet man eine Stadt in drei Minuten? Man muss schnell über das Ganze nachdenken: Was ist eine Stadt, dann lässt sich das als Idee zeichnen und beschreiben in so kurzer Zeit. Das war der beste Unterricht, den ich je hatte – und ich werde sie nie vergessen. Wie haben Sie mit der enormen Fülle von Herman Melvilles Roman gearbeitet? RW: Der Roman ist sehr facettenreich. Ich war fasziniert davon, wie Melville von einer Figur zur nächsten wechselt. Das Schiff ist wie ein Gefängnis von Charakteren, das die Geschichte selbst schreibt. Ich habe hier eine Parallele entdeckt zwischen

der Fähigkeit von Kindern, die ihre Emotionen so schnell verändern können, und der Herangehensweise von Melville, wie er seine Geschichte anfeuert, in dem er durch das Repertoire seiner Figuren geht und die Abschnitte arrangiert. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, die Ereignisse durch die Augen des Jungen zu betrachten. In ihrer Inszenierung zeigen Sie Szenen aus John Hustons Film „Moby Dick“ aus dem Jahr 1956 mit Gregory Peck in der Hauptrolle. Sie waren 15 Jahre alt, als dieser Film herauskam. Gab es da eine Erinnerung? RW: Ich habe den Film erst später gesehen. Und Gregory Peck ist gut, aber was mich am meisten interessiert hat, waren die Statist:innen. Das Close-up von ihren Gesichtern, denn was sie dort am Set erlebten, war so real. Sie waren keine Schauspieler:innen und haben nichts gespielt, sie waren einfach Zeug:innen. Ich habe immer gesagt, im Theater sehe ich mir gerne die Menschen an. Das ist das, was interessant ist. In meinen frühen Werken habe ich auch mit Leuten gearbeitet, die keine Performer:innen waren. Mir ist auch aufgefallen, dass Gregory Peck in den Filmausschnitten, die Sie ausgewählt haben, gar nicht zu sehen ist. RW: (Lacht) Das ist richtig. Er ist okay, aber die kleine Dame mit dem Bart war interessanter. Sehr berührend. Sie haben einmal davon gesprochen, dass Sie für Ihre Arbeitsweise von Marlene Dietrich gelernt haben. RW: Ich habe viele ihrer Konzerte in Paris erlebt. Diese waren produziert von Pierre Cardin, der auch bei meiner ersten größeren Arbeit in Paris involviert war. Marlene Dietrichs Auftritte waren Abend für Abend fast identisch. Sie waren geschliffen wie ein Diamant: perfekt im Timing mit ihren Gesten und den Bewegungen. Gleichzeitig war darin eine große Freiheit spürbar. Man wusste nicht genau, was im nächsten Augenblick passieren würde. Es war Marlene Dietrichs Art, auf den Moment abgestimmt zu sein. Schließlich hatte ich, ich war 27 Jahre alt, die Courage, Sie zum Abendessen zu bit-

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Fotos Lucie Jansch

Der Schriftsteller Nathaniel Philbrick stellt in seinem Werk „Why Read Moby-Dick“ fest: „In den Seiten von ‚Moby-Dick‘ ist nichts weniger als der genetische Code Amerikas enthalten: alle Versprechungen, Probleme, Konflikte und Ideale, die zum Ausbruch einer Revolution 1775 als auch zu einem Civil War 1861 beigetragen haben […]. Jedes Mal, wenn eine neue Krise dieses Land erfasst, gewinnt auch ‚MobyDick‘ neu an Bedeutung.“ RW: Diese Geschichte hat ganz sicher einen Bezug zur Gegenwart. Es gab ihre Relevanz vielleicht schon vor Hunderten von Jahren und diese wird es auch in der Zukunft geben. Es geht um die Natur des Menschen, hier besteht ein direkter Zusammenhang mit unserer globalen Krise. Wir müssen diese Geschichten wieder entdecken, dieses Wissen neu sichtbar machen. Melvilles Roman ist ein klassischer Mythos, der uns zurückführt zur Bibel, in der die gleiche Geschichte erzählt wird. Dabei habe ich nicht versucht, zu wiederholen, was Melville geschrieben hat, sondern diese Geschichte, die im Lauf der Zeit immer wieder erzählt wurde, auf meine Weise zu reflektieren.


Thema Amerikanisches Theater ten. Sie sagte „mit Freude“ zu. Ich hatte also ein Date mit Marlene Dietrich und wir aßen zusammen. Ein älterer Herr kam an den Tisch und sagte zu ihr, sie sei so kühl, wenn sie auftrete. Sie entgegnete ihm, er habe nicht auf ihre Stimme gehört. Sie drehte sich zu mir und erklärte, die Schwierigkeit bestehe darin, die Stimme und das Gesicht zusammenzubringen. Sie war eiskalt mit ihren Bewegungen, die auf gewisse Weise mechanisch und präzise waren. Aber ihre Stimme war sehr heiß und sexy. Dieser Rat, dass es schwierig ist, die Stimme und das Gesicht zusammenzubringen, hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Jahre später habe ich „Der Ring des Nibelungen“ von Wagner u. a. in Paris inszeniert. Ich hatte eine Sängerin für die Rolle der Brunhilde engagiert, die ich in Bayreuth gesehen hatte. Sie sagte, „Du mochtest meine Performance nicht, richtig?“ Ich sagte: „Nein, das stimmt.“ Ich erklärte ihr, ihre Stimme sei wie Feuer und ihre Bewegungen waren genauso. Wenn ihre Bewegungen aber eiskalt wären und ihre Stimme wie Feuer bliebe, dann würde ihr das viel Kraft verleihen. Sie probierte es – und es funktionierte: Diese Kombination, die ich von Marlene Dietrich gelernt habe, verlieh ihr große Wirkung auf der Bühne. Marlene Dietrich hat also Freiheit in ihrer künstlerischen Arbeit durch Disziplin erreicht? RW: Wir denken manchmal, zu improvisieren bedeutet, frei zu sein. Marlene Dietrichs Performance in ihren Konzerten war so perfekt vom Timing, dass es mechanisch wurde, und in diesem Übergang zum Mechanischen findest du die Freiheit. Dann musst du nicht mehr darüber nachdenken, was du machst. Ich kannte eine berühmte Balletttänzerin und fragte sie einmal, was ihre Rolle in einer bestimmten Inszenierung sei. Sie sagte: „Ich kann es dir nicht erklären, aber wenn ich in der Performance bin, dann weiß ich, was ich tue.“ Das Wissen war in dem Muskel, der Verstand ist ein Muskel. T Szenen aus „Moby Dick“ von Herman Melville am Düsseldorfer Schauspielhaus

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Thema Amerikanisches Theater 90 Jahre im Leben einer Frau erzählt Noah Haidle im Stück „Birthday Candles“. Ein Stück über mehrere Generationen hinweg mit zwölf Rollen, einem Goldfisch und 90 Geburtstagskuchen. Der 45-jährige Autor aus Michigan ist ein Meister der schwarzen, philosophischen Komödien und abgründigen Pointen. Vor allem in Deutschland wird er oft gespielt, seitdem er 2009 mit „Mr. Marmalade“ großen Erfolg hatte. Am Deutschen Theater in Berlin spielt Corinna Harfouch die Hauptrolle in „Birthday Candles“, am Hans Otto Theater Potsdam hatte gerade sein Stück „Die beste aller möglichen Welten“ Premiere. Haidles Stücke sind meist nicht offen politisch, ­haben jedoch oft satirische Untertöne.

„Das beste aller möglichen Leben“ von Noah Haidle am Hans Otto Theater Potsdam. Regie Fanny Brunner, vorn Guido Lambrecht als Christopher, dahinter Katja Zinsmeister und Jon-Kaare Koppe

Von Spülbecken und unbekannten Universen Der amerikanische Dramatiker Noah Haidle, Autor philosophischer Stücke mit abgründigem Humor, im Gespräch mit Stefan Keim 22

In Ihrem am Theater Oberhausen uraufgeführten Stück „Kissyface“ sehe ich einige politische Verweise. Da gibt es einen Schuldirektor namens Overstreet, dessen Verhalten sehr an Donald Trump erinnert. Oder war das ein Eingriff der Regisseurin Kathrin Mädler? NH: Der Eindruck stimmt schon. Der Schulleiter ist eine Parodie dieses Vollidioten. Ich hoffe, mein Land ist nicht verrückt genug, ihn zum zweiten Mal ins Weiße Haus zu wählen. Klopf auf Holz. Und auf Stahl, auf Beton, auf Sand, auf was auch immer. Der Schwerpunkt Ihrer Stücke liegt auf der Kombination des Alltagslebens mit großen

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Foto Thomas M. Jauk

Noah Haidle, ich habe Sie vor zehn Jahren einmal gefragt, wie politisch Ihre Stücke sind. Sie haben geantwortet, dass Sie sich überhaupt nicht mit Politik beschäftigen. Hat sich das geändert? Noah Haidle: Was? Ist das schon zehn Jahre her? Ugh! Ich glaube Ihnen mal, dass ich das gesagt habe. Im Augenblick kann ich mich kaum daran erinnern, was ich gestern zum Mittagessen hatte. Ich glaube, es war ein Sandwich, aber ich bin mir nicht sicher. Sagen wir mal zur Politik in meinen Stücken: Die Dinge haben sich nicht radikal geändert, aber sie ändern sich. Ich versuche, die sich von Tag zu Tag entwickelnde Welt mit einer außerzeitlichen Welt imaginärer Landschaften zu verbinden.


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Thema Ensemble heute philosophischen und religiösen Fragen. Oft bezeichnen wir Kritiker sie als schwarze Komödien. Ist das okay? NH: Ich wäre so gern ein Autor hoher Tragödien, Gerichtsdramen, Schlafzimmerpossen, Versepen oder autobiografischer Monologe. Aber immer, wenn ich ein Stück schreibe, kommt so etwas heraus, wie Sie es gerade beschrieben haben. Die Verbindung von Alltagsleben mit den großen Fragen. Also finde ich mich mit der Einordnung als „schwarze Komödien“ ab. Doch mein nächstes Stück wird ganz bestimmt eine hohe Tragödie, ein autobiografischer Monolog und so weiter. Ich lese diese Texte aber auch als Porträts der amerikanischen Gesellschaft. Oder zumindest großer Teile davon. Wie hat sich die Gesellschaft verändert unter den Präsidenten Obama, Trump und Biden? Welchen Effekt hat das auf Ihr Schreiben? NH: Ich fühle mich nicht wirklich qualifiziert, um den sozialen Wandel in meinem Land in den vergangenen 16 Jahren zu analysieren. Aber ich habe vor dreieinhalb Jahren einen Sohn bekommen. Seit seiner Geburt habe ich das Gefühl, ich schreibe auch, um mich ihm zu erklären, wer ich bin und woran ich glaube. Ich versuche, ihm die Welt zu erklären, die er erben wird. Sie leben ja nicht in New York wie die meisten amerikanischen Theaterleute, die ich kenne. Was bestimmt das Umfeld in der sogenannten Provinz? NH: Meine Familie und ich leben in der Berkshire Mountains in Massachusetts. Ich habe zehn Jahre in New York gewohnt, auch einige Zeit in Detroit, aber ich werde älter und fühle den unerbittlichen Sog der Natur. Ich bin ein Verehrer von Ralph Waldo Emerson und stimme mit ihm überein, dass wir „in den Wäldern zu Vernunft und Vertrauen zurückfinden. Dort fühle ich, dass nichts mein Leben vergiften kann – keine Schande, kein Unglück, nichts, was die Natur nicht wiederherstellen kann.“ Was für eine Rolle spielt das Theater in den USA? Kann es die Menschen beeinflussen? Vielleicht sogar ihr Wahlverhalten?

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NH: Ach, da gibt es keine empirischen Werte, welchen Effekt Theater auf die Gemüter oder das Wahlverhalten hat. Ich glaube an Percy Shelleys Beschreibung, dass der Nutzen der Poesie darin liegt, den Umfang der Imagination zu vergrößern. Jede authentische Kunst, Theater oder etwas anderes, steigert das Bewusstsein des Universums in Richtung des Guten.

Spielplan und Spielorte auf madeingermany-stuttgart.de

Ihr Stück „Birthday Candle“ läuft gerade in Berlin und Klagenfurt, es war auch ein großer Erfolg auf dem Broadway. Eine Frau sucht nach dem Sinn des Lebens, über fast ein Jahrhundert hinweg – steht das im Zentrum Ihres Schreibens? NH: Na ja, ein Autor ist immer der am wenigsten objektive Kommentator seines eigenen Werkes. Ich würde es so ausdrücken: Das Zentrum meines Schreibens ist der anhaltende ernsthafte Versuch, Szenarien zu entwickeln, in denen die menschliche Seele im Kampf gegen die Rückfälle durch ein unbekanntes Universum ihren Ruhm finden kann. Klingt das richtig? Ich habe gerade Ihr neues Stück „Spirit and the Dust“ gelesen, das noch auf seine Uraufführung wartet. Da wechseln die Menschen, Zeiten und Dialoge, aber die Küche, in der alles spielt, bleibt immer dieselbe. Ist die Küche eine Art Zuflucht vor den Rückfällen durch ein unbekanntes Universum? NH: Sie sind der erste Kritiker, der mich auf „Spirit and the Dust“ anspricht, und damit der Erste, der ein Muster in meinem aktuellen Werk erkennt. Ich nutze nun diese Gelegenheit, um hier das große künstlerische Projekt meines Lebens anzukündigen. (Bitte Trommelwirbel) „Spirit and the Dust“ ist das dritte Stück eines größeren Zyklus, den ich „Die Spül­ beckenstücke“ nenne. Sie haben alle dieselbe Besetzung – drei Frauen, drei Männer – und alle spielen in einer Küche. Das erste Stück aus diesem Zyklus ist „Alles muss glänzen“ und hatte 2013 in Hannover Uraufführung. Das zweite ist das erwähnte „Birthday Candles“. Kennen Sie den Begriff „Küchennaturalismus“? So nennt man alle Stücke, die vorgeben, auf der Bühne echtes Leben abzubilden. In diesen Küchen funktioniert das Spül-

Alicia Agustín

26.10. - 15.12.2024 Kunstverein Hildesheim kunstverein-hildesheim.de Kehrwiederturm Am Kehrwieder 2, 31134 Hildesheim Gefördert durch:


Thema Amerikanisches Theater Michigan, schreibe ich eigentlich, Ort der Handlung: meine Fantasie.

becken immer. Ich finde das lächerlich, meine „Spülbeckenstücke“ sind ein ganz unsubtiler Mittelfinger, den ich der vorherrschenden Theatertradition in den USA entgegenstrecke. Wie groß wird denn dieser Zyklus? NH: Insgesamt wird es neun Stücke geben. Das vierte und fünfte habe ich schon weitgehend ausgearbeitet, ein paar Notizen für das sechste und siebte. Ich fange gerade an, über das achte und neunte nachzudenken. Ich muss erst noch ein paar Lebenserfahrungen machen, Todesfälle, Geburten und so etwas. Mein Ziel ist es, einmal den ganzen Zyklus zusammen aufzuführen, mit derselben Besetzung im selben Bühnenbild. Die Charaktere wandern auch von einem Stück ins andere. Ich erwarte, dass die „Spülbeckenstücke“ die größte imaginative Landschaft werden, die ich in meinem Leben erschaffe. Mal schauen, ob ich es auch hinkriege. Und wie so oft spielen die Stücke – zumindest die bisher bekannten – in Grand

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Rapids, Michigan, Ihrer Geburtsstadt. ­Warum ist sie bis heute so präsent? NH: Ebenso wie ich hohe Tragödien oder Versepen schreiben möchte, würde ich auch wirklich gern ein Stück schreiben, das in einem U-Boot, in einem Operationssaal, einem Raumschiff oder auf dem Fußboden im Gebäude der Vereinten Nationen spielt. Irgendwo, nur nicht in Grand Rapids, Michigan. Aber da ist meine Fantasie entstanden, da lebt sie immer noch und wird es immer tun. Wenn ich die Bühnenanweisung schreibe, Ort der Handlung: eine Küche in Grand Rapids,

Ich hoffe, mein Land ist nicht verrückt genug, diesen Vollidioten zum zweiten Mal ins Weiße Haus zu wählen. Klopf auf Holz, auf Stahl, auf Beton, auf Sand, auf was auch immer.

Noah Haidle, geboren 1978 in Grand Rapids, Michigan, gehört zu den weltweit meistgespielten US-amerikanischen Dramatikern der Gegenwart. Sein neuestes Stück „Spirit and the Dust“ wird im kommenden Jahr deutsch erstaufgeführt.

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Foto oben links Thomas M. Jauk, unten Max Zerrahn, rechts Thomas Struth

Katja Zinsmeister und Jon-Kaare Koppe in „Das beste aller möglichen Leben“ von Noah Haidle am Hans Otto Theater Potsdam

Sie haben auch für Film, Fernsehen und Streamingdienste gearbeitet. Aber Sie schreiben mehr Theaterstücke als Dreh­ bücher. Ich nehme an, bei Netflix oder Apple TV verdient man ein bisschen mehr. Warum bleiben Sie so loyal zur Bühne? NH: Ein bisschen mehr? Unmengen mehr! Negativerweise für mein Bankkonto liebe ich es so viel mehr, Stücke zu schreiben als Drehbücher. Klar, das ist ungefähr dieselbe Kunstform, aber in der Praxis so verschieden wie Poesie und Prosa. Und ich folge strikt der Weisheit des MythologieExperten Joseph Campbell, wie man ein gutes Leben führt: „Folge deiner Glückseligkeit!“ Meine Glückseligkeit ist es, Stücke zu schreiben. So einfach ist das. Ein Teil der Glückseligkeit, so Campbell, ist es, dass du nicht daran denken kannst, damit Geld zu verdienen. Es ist dieselbe Lektion, die Arjuna auf sehr harte Weise in der Bhagavad Gita, einer der zentralen Schriften des Hinduismus, lernt. Wir haben das Recht zu arbeiten, aber kein Recht auf eine Belohnung. Die Arbeit ist ihr eigener Lohn. T


Thema Amerikanisches Theater

Was ist Theater? Richard Sennetts mäandernder Großessay „Der darstellende Mensch“ verbindet Urbanistik und Theaterarchitektur mit Performance-Theorien und politischen Problemen von Öffentlichkeit Von Thomas Irmer

Der US-amerikanisch-britische Soziologe Richard Sennett

Erwartungsgemäß taucht Donald Trump – neben seinem britischen Cousin Boris Johnson – schon auf der ersten Seite auf. Sie sind „geschickte Darsteller“, deren „bösartige Darbietungen“ als Trigger in Richard Sennetts Vorwort von „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“

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kurz angesprochen werden. Wer sich nun eine Analyse dieser Demagogen mit dem Instrumentarium der Theaterwissenschaft erhofft hat, kann das Buch gleich wieder zuklappen. Und es dann noch einmal mit einem anderen Interesse aufschlagen. Wie ha-

ben sich Formen der Darstellung von Gesellschaft entwickelt und wie wurden die konkreten Räume dafür geschaffen und organisiert? Was steht hinter ihren Veränderungen? Richard Sennett, der wohl bekannteste Soziologe der USA, ist ein Experte für

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40 Jahre Gegenwart

THEATER

TANZ

PERFORMANCE

MUSIK

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die Stadt als konzentriertes gesellschaftliches Gebilde, für das Leben und die Arbeit in ihr, und wie sich das alles im Wandel der Zeiten in der Architektur manifestiert. Öffentlichkeit als Raum der Gesellschaft, „Der flexible Mensch“ (1998) über die neuen Arbeitswelten und „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (2005), in der auch Politik zur Ware wird, waren und sind seine Themen. Seine Sachbuchbestseller brachten akademische Forschung in aktuelle Debatten, wurden damit Öffentlichkeit. Das Theater im engeren Sinn, also Schauspiel und Musiktheater in entsprechend organisierten Institutionen, gehörte bislang nicht zum Feld von Sennetts Untersuchungen. In einem ersten Künstler­leben war er aber an der berühmten ­ Juilliard School in New York ausgebildeter Cellist am Anfang einer Musikerkarriere, die er wegen einer misslungenen Handoperation aufgeben musste. Sennett war also einmal selbst, das ist für dieses auch autobiografisch basierte Buch wichtig, Performer – oder auch wie in der deutschen Über­ setzung häufig: Darbietender. Das ermöglicht Sennett einen stereoskopischen Blick in diesem mit persönlichen Erinnerungen durchsetzten Essay. Einerseits war er abseits der klassischen Musikausbildung Anfang der 1960er auch „Klangkünstler für experimentelle Tanzgruppen“, andererseits erklärt er wie aus einer Weltraumperspektive die historische Entwicklung von Darstellung der Gesellschaft in ihrer jeweils eigenen Kultur, die er neben dem Erzählen und dem Abbilden als eine der drei wesentlichen Arten der „Präsenz der Kunst in der Gesellschaft“ auffasst. Die große Linie geht dabei vom antiken Theater der Gemeinschaft und der griechischen Agora als einen Ort, an dem sich alle bei verschiedenen Verrichtungen in einem für soziale Zwecke umbauten Platz sehen und erleben können – und eben nicht allein dabei politische Entscheidungen verhandeln –, bis zum von Andrea Palladio entworfenen, 1585 vollendeten Teatro Olimpico in Vicenza, das als erster freistehender und geschlossener Theaterbau in Europa gilt und damit fortan den Raum des Theaters definiert hat als einge-

kapselt in der städtischen Öffentlichkeit. Was sich darin von nun an vor allem im Zuschauerbereich abspielen kann, interessiert den Soziologen und Urbanisten weit mehr als das, was auf der Bühne stattfindet. Dem auf Sextreffen erpichten adligen Publikum in den mit Vorhängen versehenen Logen der etwa 100 Jahre später eröffneten Comédie-Française in Paris gilt Sennetts Blick wie heute Society-Reporter:innen dem verruchten Berghain, während nicht nur die Publikumssoziologie des Elisabethanischen Theaters Jahrzehnte zuvor trotz vielfacher Shakespeare-Bezüge Sennetts eindeutig zu kurz und für die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters jener Zeit auch allzu ungenau ausfällt. Doch damit sei das Buch abermals nicht zugeklappt. Sennett schafft es, eine Evolution von Performance in der Stadt zu erzählen. Was aus der Antike im Freien der Landschaft in einen abgeschlossenen Raum kam und im bürgerlichen, mithin Industriezeitalter verfeinert wurde, wollte und will heute danach wieder ausbrechen und sich mit den vielfältigen Manifestationen auf der Straße, also wieder mit dem öffentlichen Raum verbinden. Der ist heute gleichzeitig in den endlosen Sphären des Internets erweitert oder findet mit Miniauftritten bei TikTok als Geburt von geistigen Einzellerkulturen statt. Solche Untiefen lässt Sennett wohlwissend und nicht ganz auf der Höhe der Zeit aus, doch sein Buch ist trotzdem ein großer Bogen in all das hinein, ein großer Wurf. Und damit wären wir wieder im Polittheater wie auch im politischen Theater heute angekommen: seinen bösartigen wie auch großartigen Darbietungen. Die Frage, die nicht nur Trump heißt oder anderswo mit Sennetts Format erzählt werden muss T

Richard Sennett: „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“, übersetzt von Michael Bischoff, H ­ anser Berlin 2024, 284 S., € 32

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Foto Marcella Ruiz Cruz

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„Sonne/Luft“ von Elfriede Jelinek am Schauspiel Stuttgart. Regie FX Mayr

Kunstinsert Wie die Pritzker-Preis-Architekten Lacaton & Vassal Kampnagel verwandeln Porträt Der Regisseur FX Mayr übersetzt die Sprachkunst von Gegenwartsstücken in farbgewaltige Theaterwelten

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Die performative Baustelle Wie die Pritzker-Preis-Architekten Lacaton & Vassal Kampnagel in Hamburg verwandeln Von Peter Helling

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Fotos Lacaton & Vassal

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Die Entwürfe der Generalsanierung von Kampnagel der Architekten Lacaton & Vassal

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„Wenn Lacaton & Vassal für etwas Spezialist:innen sind, dann eben dafür, Räume zu schaffen, die möglichst viel Freiheit garantieren, und das passt natürlich perfekt zu Kampnagel“, sagt Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard. Freiheit, das sind auch die quietschenden Tribünen und abblätternden Fassaden, die rostigen Kranen, die Graffiti und wuchernden Büsche im Garten. Das Architekturduo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal aus Paris wird die Hamburger Kulturfabrik Kampnagel ab 2026 so grundlegend verwandeln, dass diese Freiheit der Räume erhalten bleibt. Als in den achtziger Jahren die leeren Fabrikhallen – die Fabrik Nagel & Kaemp hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts Schiffs- und Hafenkrane gebaut – zunächst vom Deutschen Schauspielhaus als Interimsspielstätte genutzt, später von freien Künstler:innen besetzt und performativ erobert wurden, galt die Devise: raus aus den bürgerlichen Kulturtempeln, rein ins Undefinierte, Freie, Offene. Und dieses Luftig-Spontane wird jetzt neu gedacht. Die Intendantin formuliert es so: „Wie bringt man das jetzt von den 40 Jahren Provisorium in die nächsten 40 Jahre, aber ohne zuzubauen?“

Lacaton & Vassal sind ein 1987 von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal in Bordeaux gegrün­ detes Architekturbüro mit einer mehrfach prämierten Spezialisierung auf vorhandene Baustrukturen und Nachhaltigkeit.

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Kampnagel soll ab 2026 in einen Prozess der Umwandlung gehen. Lacaton & Vassal, die 2021 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurden, sind spezialisiert darauf, vorhandene Strukturen subtil neu zu erfinden. Ohne Abrissbirne, dafür mit einem Höchstmaß an Sensibilität für Geschichte und DNA eines Ortes. „Keep, repair, add“ lautet ihr Leitmotiv, kurz: so wenig graue Energie wie möglich zu vernichten. Kampnagel wird auch nicht nur saniert, sondern es entstehen sukzessive neue Gebäudeteile. Die international anerkannte Spiel- und Produktionsstätte für Freies Theater wird zur „performativen Baustelle“. Amelie Deuflhard erklärt: „Wir wollen durchgängig weiterspielen auf dem Gelände, mit deutlich reduzierten Kapazitäten, gleichzeitig wollen wir die Baustelle künstlerisch beleuchten, mit Walks, mit Performances.“ Und Jonas Zipf, Kaufmännischer Geschäftsführer der Kulturfabrik, ergänzt: „Das ist kein Bauprojekt, das an einem Tag eröffnet wird, sondern wir denken hier in Phasen, bespielen das Gelände weiter, machen den ganzen Bauprozess anfassbar, erlebbar.“ Im September 2026 geht es los, der Prozess soll bis Sommer 2029 gehen. Der Bund unterstützt das Projekt mit 60 Millionen Euro, die Stadt Hamburg trägt den Rest der sich insgesamt auf 168 Millionen Euro belaufenden Kosten. Aus 16 500 m2 Nutzfläche werden 23 500 m2, 50 Prozent mehr. Den Anfang macht der Bereich vor der fast „ikonischen“ Fassade von Kampnagel: Die Piazza wird entsiegelt, begrünt, aus dem ehemaligen Kassenbereich wird ein Restaurant, die Bistrobar Peacetanbul bleibt, wird aber zum luftigen Eingangsbereich, bevor man das eigentliche Foyer betritt. Das soll in Zukunft ab Mittag täglich geöffnet sein, mit einer Dependance der Hamburger ­Bücherhallen. Und hier, neun Meter über den Köpfen, wird die größte bauliche Veränderung stattfinden. Das Foyer wird überbaut.

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Foto oben links Lacaton & Vassal, unten picture alliance/dpa | Christian Charisius

Prozess der Umwandlung


Akteure Kunstinsert Die K7 – ein 140 Meter langer schwebender Riegel Lacaton & Vassal erklärten bei einer Pressekonferenz, sie wollen den „Spirit“ des Ortes bewahren. „Kampnagel ist umgeben von einer dicht besiedelten Nachbarschaft, es gibt also keine freie F ­ läche zu bebauen, daher die Idee: Die K7 über das Foyer zu b ­ auen – auch der Garten soll ja erhalten bleiben.“ „We want to intervene with maximum care!“ Die K7, ein 140 Meter langer Riegel mit zwei Stockwerken, wird auf Stelzen über den Foyer-Bereich gesetzt: zusätzliche 4200 m2 mit Probenräumen, mit Logistik, mit einer Dachterrasse, die als Kino oder Bühne bespielbar wird. Hier, sagt Amelie Deuflhard, entsteht sozusagen eine neue Halle: unter freiem Himmel. „Das wird dazu führen, dass wir mit das tollste, transparenteste Probenareal haben, was man in Europa so finden kann.“ Das Ziel von Lacaton & Vassal sei es, Logistik, Technik, Lagerung nach oben zu versetzen, um das Erdgeschoss für Performance und Begegnung frei zu machen.

Kampnagel als Modellbetrieb, künstlerisch, optisch, klimatisch Kampnagel will die Flexibilität seiner Hallen bewahren. Und noch weitergehen. Die Kulturfabrik soll zum Modellbetrieb werden. Zunächst energetisch. Klimatische Pufferzonen sollen nach Bedarf, eben nicht automatisiert, für bis zu sechs Grad kühlere Räume im Sommer sorgen. Es soll Klimaneutralität entstehen mittels Photovoltaik auf den Dächern, einer Energiegenossenschaft mit Kultureinrichtungen in der Nachbarschaft. Kampnagel soll sogar zum Produzenten für erneuerbare Energie werden. Modellbetrieb auch optisch: Transparenz ist das Zauberwort. „In der Halle K6 werden die Fenster geöffnet, dadurch kommt Tageslicht herein – eine natürliche Belüftung wird ermöglicht. Das werden helle, durchscheinende, transparente Fabrikhallen sein, die wir alle nie gesehen haben. Ich selbst hasse das, den ganzen Tag in dunklen Räumen zu verbringen“, sagt Amelie Deuflhard. Modellbetrieb auch künstlerisch: Durch eine mobile Wandsituation, durch eine Tribüne in der K6, die wie eine riesige Ziehharmonika zusammengeschoben werden kann, entsteht ein Ort für Stehkonzerte für bis zu 2500 Menschen und für raumgreifende Inszenierungen. Das ermöglicht neue Möglichkeiten des Erzählens, eine andere Dimension. „Auf Kampnagel hatten wir das früher auch, als wir diese Sonnenuntergangskonzerte gemacht haben. Jetzt könnte man das hier von der K6 aus machen.

Lacaton & Vassal, die 2021 mit dem PritzkerPreis ausgezeichnet wurden, sind spezialisiert darauf, vorhandene Strukturen subtil neu zu erfinden. Ohne Abrissbirne, dafür mit einem Höchstmaß an Sensibilität für Geschichte und DNA eines Ortes.

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Das bietet schon künstlerische Dimensionen, bei denen man eine Gänsehaut bekommt.“ Der Umbau von Kampnagel wird in der internationalen Tanz- und Theaterszene diskutiert, sagt Amelie Deuflhard. „Als Sasha Waltz das gehört hat, war sie fassungslos: Warum kann Berlin das nicht? So was gibt es nirgendwo! Das wird auch architektonisch ausstrahlen.“

„Die Seele der Säle“ Und: Modellbetrieb – das bezieht sich auch auf die schrittweise Erneuerung der Belegschaft, sagt Jonas Zipf. Denn 20 bis 30 Mitarbeitende mehr werden statt der bisher 150 nötig sein, um die Räume technisch zu versorgen. „Wer A sagt, muss auch B sagen“, sagt Jonas Zipf mit Blick auf die Kulturbehörde der Stadt. „Und trotzdem das Freie, was da drin ist, das Wilde nicht zu verlieren, das ist der Balanceakt! Wir sind heute Staatstheater, aber auch das größte freie Haus.“ Es gehe auch um die „Seele der Säle“, meint Amelie Deuflhard augenzwinkernd. Vor allem ein Saal wird seine Seele wohl wiedererhalten: die K1, die heute eher wie ein kümmerliches Provisorium wirkt. Zurzeit betritt man durch eine Nebentür einen Saal, der ein Schattendasein führt: hoch wie ein Kirchenschiff, mit Tonnengewölbe und Oberlichtern, ein Lagerraum, noch. Amelie Deuflhard wünscht sich hier eine Halle für immersive Theaterprojekte wie die der Gruppe Nesterval aus Wien – und einen Ausstellungsraum der Extraklasse. Für Avantgarde von morgen, für Installationen, „bigger than life“. „Think big“, das sei, sagt Deuflhard, noch nie ihr Problem gewesen. Schon damals nicht, als sie den ehemaligen Palast der Republik in Berlin vor seinem Abriss zu einem Ort der Kunst gemacht hat. Die performative Baustelle Kampnagel wird eine ähnliche Freiheit und Flexibilität erzeugen. So die Vision. Kampnagel wird von Lacaton & Vassal zu einem Zukunftsraum gemacht – auf keinen Fall zu einer „Eventbude“ verkommen, verspricht Jonas Zipf. Maximal 3500 Zuschauer:innen sollen sich hier gleichzeitig aufhalten. Direkt neben dem Kampnagel-Garten, der ein wilder, kreativer Ort bleibt, entsteht ein Residenzhaus für bis zu 26 Künstler:innen. „Kampnagel wird dadurch noch viel mehr als Haus der künstlerischen Forschung, als Produktionsort aufgewertet.“ Und gleich hier verläuft der Osterbekkanal. Amelie Deuflhard lächelt, das hier sei ihr Lieblingsprojekt. Hier ist ein Bootsanleger für Fähren geplant. Das Temporäre dieses Ortes soll verstetigt werden – sogar die kleine Wagenburg mit den sechs Menschen, die Kampnagel vor 42 Jahren besetzt, als Kunstort gerettet hatten und heute bei Kampnagel arbeiten, bleibt. Ein dauerhaftes Provisorium, ein Biotop, dessen Energie ausstrahlen wird, so viel ist sicher. Wenn man das Wort Freiheit ernst nimmt. Eine performative Baustelle wird Kampnagel auch nach dem Umbau bleiben. Freiheit heißt hier immer auch: Denkraum. T

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Akteure Porträt

Szenen aus „Sonne/Luft“ von Elfriede Jelinek am Schauspiel Stuttgart. Regie FX Mayr

Sprachmusik in fieberträumenden Bildern Der Regisseur FX Mayr übersetzt die Sprachkunst von Gegenwartsstücken in farbgewaltige Theaterwelten Von Elisabeth Maier

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Sprache und Melodie liegen für den Regisseur FX Mayr nah beieinander. Die Musikalität von Elfriede Jelineks Poesie fasziniert ihn ebenso wie die Sprachkunst, die er in der neuen Dramatik immer wieder entdeckt. Dafür große, farbgewaltige Bilder zu finden, ist die Stärke des 38-Jährigen. Viele seiner Arbeiten hat er mit seinem Lebenspartner, dem Bühnen- und Kostümbildner Korbinian Schmidt realisiert. Dieser eindrucksvolle, vom Bild her gedachte Ansatz hebt FX Mayr, der sich kurz „FX“ nennt, von den Kolleg:innen seiner Regiegeneration ab. Die Faszination seiner Arbeiten liegt in der ­Radikalität, mit der er Sprache und Bildende Kunst verbindet. Da habe ihn die dramatische Kunst von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard geprägt, sagt der gebürtige Österreicher, der in St. Johann im Pongau aufgewachsen ist. Diese Bergwelt ist eng und von riesigen Felswänden umgeben. Erinnerungen an den harten Alltag der Salzbergwerkarbeiter kleben in den Gassen. ­ Wenige offene Menschen hat Mayr damals in seinem Umfeld erlebt. Der engen Welt seines Heimatdorfs ist er mit dem Studium

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Fotos Marcella Ruiz Cruz

Akteure Porträt der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen und dem ­Regiestudium an der Züricher Hochschule der Künste (ZHdK) entflohen. Heute genießt es der Regisseur, dessen Arbeiten an vielen großen Häusern in Deutschland zu sehen sind, dann und wann heimzukommen und einen selbst gebackenen Ribiselkuchen – der enthält rote Johannisbeeren – zu genießen. Mit dem studierten Bühnenbildner und Regisseur Korbinian Schmidt lebt er im Sommer in der Theaterstadt Salzburg in einer Wohngemeinschaft am idyllischen Leopoldskroner Weiher mit Blick auf das Schloss, in dem einst Max Reinhardt lebte. Da schwimmt er morgens gerne im Almkanal in dem hellblauen, eisigen Wasser, der das Wasser direkt von den Bergen bringt. „Manchmal sitzen wir abends am Klapptisch am See und reden über dies und das.“ Mal vom Theater abzuschalten und andere Menschen zu treffen, das findet er heute einfach schön. Die Liebe zur großen Literatur der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek durfte er in der letzten Spielzeit am Stuttgarter Kammertheater ausleben. Hier hat er das Zeitstück „Sonne/Luft“ in Szene gesetzt. Die erste Fassung von „Sonne/Luft/Asche“ kam 2022 in der Regie von Nicolas Stemann in Zürich zur Uraufführung. Die Literatin ergründet in der Textfläche aus der Sicht von Sonne und Luft die Wurzeln der Klimakatastrophe. Das tut sie, ohne dass dieser Begriff zur Sprache kommt. Ihr Stück wird viel gespielt. Mayr sieht darin vor allem die zeitlose Botschaft. In Jelineks gewaltbewohnter Sprache schlägt die Natur gnadenlos zurück. „Es gibt so viel in diesen Textflächen zu entdecken“, schwärmt Mayr von Jelineks Sprachkunst. Rhythmus, Sprachmelodie und Inhalt – das verwebt er zu einem Ganzen. Diese Vielstimmigkeit dem Publikum in griffigen Bildern zu vermitteln, ist Mayr und Schmidt nicht zuletzt mit den opulenten Kostümen gelungen. Mit dem Stuttgarter Ensemble lotete er das Spannungsfeld zwischen Wortkunst und fieberträumenden Bildern aus. „Ich bin die Mutter, aus deren Hand ganze Länder den Tod empfangen“, sagt die Sonne. Die Schauspielerin Katharina Hauter trägt ein Kostüm, dessen grelle Orangefarbe Aggression spiegelt. Der Künstler Korbinian Schmidt reflektiert Elfriede Jelineks Sprachkraft in Farben und Bildern. Kunstvoll gearbeitete Kitschblumen sind Farbtupfer in der schrecklichen Welt. Sie sterben in der globalen Zerstörungswut. Die Kunst, Jelineks Sprachgewalt in ein schlüssiges, aufgeheiztes Farbkonzept zu packen, macht diese Inszenierung am Staatstheater Stuttgart so unverwechselbar. Da geht Korbinian Schmidt immer wieder neue, ungewöhnliche Wege. In der Stuttgarter Inszenierung gelingt ihm der Spagat, die märchenhaft anmutenden Kostüme von einem Moment zum nächsten in dystopische Monster zu verwandeln. Sein Gespür für Atmosphäre verleiht den Regiearbeiten von FX Mayr Tiefe. Neue Dramatik reizt ihn besonders. Die vielfältigen Formen und die Themen der neuen Generation auf die Bühne zu bringen, fordert ihn jedes Mal auf eine ganz eigene Weise heraus. Dabei liest er die Texte ganz genau, will zunächst ihren Ton, ihre besonderen Qualitäten erfassen. Er geht in die Tiefe, hakt nach – und bleibt auch mal ratlos. „Es geht nicht darum, der Sprache einen Regiestil aufzuzwingen“, sagt er. Deshalb sind die Ansätze, die er für seine Inszenierungen wählt, auch ganz unterschiedlich.

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Neue Dramatik reizt ihn besonders. Die vielfältigen Formen und die Themen der neuen Generation auf die Bühne zu bringen, fordert ihn jedes Mal auf eine ganz eigene Weise heraus.

Da beweist Mayr „einen ganz besonderen Instinkt“, so der Dramaturg Tobias Schuster während der langjährigen Zusammenarbeit am Wiener Schauspielhaus. Er lasse sich auf die Texte ein, finde in der Arbeit mit den Schauspieler:innen großartige Bilder. Schuster, der heute als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen arbeitet, verfolgt die Arbeit des Regisseurs schon seit Langem. Schon bei dessen erster größerer Arbeit mit dem Autor:innentrio Busch/Fehr/Koch im Rahmen des Stücklabors Basel am Theater Luzern war Schuster vom beherzten Zugriff Mayrs fasziniert. „Essen, Zahlen, Sterben“ kam 2017 in der Schweiz auf die Bühne. Schuster hat in seiner Zeit als Dramaturg am Wiener Schauspielhaus viel mit FX Mayr gearbeitet, brachte 2018 u.  a. die Uraufführung von Enis Macis „Autos“ auf die Bühne.

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Akteure Porträt

Szenen aus „Als die Götter Menschen waren“ von Amir Gudarzi am National Theater Mannheim. Regie FX Mayr

Dem iranisch-österreichischen Autor geht es darum, das soziale Gefälle zu zeigen. Diese Zeitreise setzt Regisseur FX Mayr stark in Szene. Die Akteur:innen der Götter sind in Krähenkostüme gekleidet, die Korbinian Schmidt geschaffen hat. Die verstörenden Bilder, die Mayr mit dem Ensemble entwickelt hat, nehmen dem Text seine intellektuelle Schwere. Dass seine Inszenierung zu dem bedeutenden Festival der neuen Dramatik am Deutschen Theater in Berlin eingeladen war, freut Mayr sehr. Zur Eröffnung der Intendanz von Iris Laufenberg hat er am DT „Der geflügelte Froschgott. Eine Neuberechnung der Unsterblichkeit“ von Ingrid Lausund zur Uraufführung gebracht. Neue Dramatik zu fördern, und das am besten im engen Austausch mit den Autor:innen, ist für Mayr eine besonders schöne Aufgabe. Da stellte sich der Regisseur jedoch eine Spur zu bescheiden in den Dienst der Sprache. Wie fruchtbar diese Zusammenarbeit sein kann, hat er bei seiner jüngsten Arbeit mit Nele Stuhler am Residenztheater München erlebt. Das Stück mit dem wahrscheinlich längsten Titel aller Zeiten hat das Publikum schon beim Lesen des Programmhefts gefordert: „Und oder oder oder und und beziehungsweise und oder beziehungsweise oder und beziehungsweise einfach und“ hat selbstverständlich auch das Marketing herausgefordert. Auf der Eintrittskarte für den Marstall in München war deshalb nur ein knappes „Und“ zu lesen.

Fotos links Maximilian Borchardt, rechts Marcella Ruiz Cruz

Wie unterschiedlich FX Mayrs Zugriff auf neue Texte ist, zeigen seine jüngeren Arbeiten. Mit der Produktion von „Als die Götter Menschen waren“ des Hausautors Amir Gudarzis war das Nationaltheater Mannheim 2024 zu den Autor:innentheatertagen in Berlin eingeladen. Hier legte FX Mayr den Fokus ganz auf die Dialoge und die Motivation der Figuren, stieg in die Diskurse ein, die der Autor im Stück angelegt hat. „Amir Gudarzi geht intellektuell an den Stoff heran“, sagt FX Mayr. Der Regisseur hielt sich mit sinnlichen Bildern zurück. Ihm ist es wichtig, die Autor:innen kennenzulernen, mit denen er arbeitet. In der Großstadt Berlin kämpft ein Paketbote im Stück ums Überleben. Er liefert Mobiltelefone, Knieschienen und Socken aus, „alles aus China“. Treppe um Treppe rennt der Exil-Kurde hinauf und herunter. Unter der Last bricht der junge Mann zusammen. Die Dystopie ist vom Mythos inspiriert. Damit die Götter selbst nicht arbeiten müssen, lassen sie ihre Ebenbilder für sich schuften. Gudarzi lässt in der Dramaturgie Raum und Zeit hinter sich. Aus dem Lautsprecher dröhnt der Techno-Sound der Schweizer Bassistin Martina Berther. Und die Botschaft ist so einfach wie klar. Die Reichen kaufen, die armen Leute schuften.

Er inszenierte jüngst Nele Stuhlers Stück „Und oder oder oder und und beziehungsweise und oder beziehungsweise oder und beziehungsweise einfach und“. 36

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Akteure Porträt Das Abenteuer Sprache, auf das die Spieler:innen Robert Dölle, Mirjam Schröder und Pia Händler das Publikum bei der Uraufführung mitnahmen, war grandios. Das Trio legte die Beziehungsgeflechte offen, die sich in der Wortpartitur entfalten. In Korbinian Schmidts schrill überzogenen Endzeitkostümen verhandeln sie kleine Alltagsprobleme wie auch die ganz großen Lebensfragen. Von der Frage, ob es ein gemeinsames Frühstück gibt oder nicht, geht es direkt zu den entscheidenden existenziellen Problemen: „Krieg oder nicht Krieg“. Dieses Projekt haben Stuhler und Mayr gemeinsam entwickelt. Das Projekt hat das Residenztheater mit der ersten Stückwerkstatt der Mülheimer ­ Theatertage und mit der Kulturinitiative uniT Graz realisiert. Dass die Arbeit an der Wortpartitur für ihn nicht immer einfach war, obwohl er „die Musikalität von Stuhlers Wortpartitur ganz besonders schätzt“, räumt FX Mayr ein. Doch er mag nachhaltige Zusammenarbeit wie die mit dieser Autorin, vertraut da einfach auf den Prozess. Diese Gelassenheit bringt die jeweilige Persönlichkeit der Autor:innen schön auf den Punkt. „Wenn man ihnen genügend Zeit lässt, werden sich die Dinge fügen.“ T

Der Regiesseur FX Mayr

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Foto By Siebbi - Twinkle Twinkle (15.11.2018), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74942010

Stück Matthias van den Höfel

Kleine Kosmen Matthias van den Höfel über sein Stück „Drinnen“ und Sprache als Möglichkeitsraum im Gespräch mit Rebecca Preuß

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Stück „Drinnen“ David ist eine stumme Rolle. Im Paratext steht: „In welchem Ausmaß David sich verhält (ob er sich überhaupt für uns erkennbar verhält), liegt im Ermessen der Inszenierung.“ Welcher Reiz liegt darin, die Gestaltung der zentralen Figur der Regie und dem Ensemble zu überlassen? Matthias van den Höfel: Ich glaube, was mich generell am Schreiben für die Bühne interessiert, ist, Herausforderungen zu stellen. Dilemmata aufzubauen, zu denen man sich irgendwie verhalten muss, die nicht eindeutig auflösbar sind, sondern zu denen man Positionen beziehen muss. Das ist auch in diesem Fall so. Bei der szenischen Lesung, die es von „Drinnen“ gab, wurde David nicht durch einen Menschen besetzt und auch in der Inszenierung in München wird er das wahrscheinlich nicht. Ich bin immer gespannt, welche Lösungen Leute finden. „Drinnen“ kommt in seiner Sprache nahezu alltäglich daher. Die Sprache soll bewusst „nicht groß, oft wie nebenbei“ sein. Welche Überlegungen haben den Klang des Textes geformt? MvdH: Theatertexte sind häufig voll von Figuren, die sehr offensiv für sich selbst eintreten und die alle Register der Sprache ziehen, um ihr Ziel zu erreichen. Mich interessiert in meinem Schreiben, welche Sprache Figuren zur Verfügung steht, welche Sprache sie sich erlauben, mit welcher Sprache sie aufgewachsen sind und wie sie sich zutrauen, damit umzugehen. Die Figuren, die in diesem Stück auftreten, sind alle keine, die sonderlich offensiv für sich eintreten. Auch im Alltag merkt man ja häufig, wie Menschen aufgewachsen sind. Ob sie z. B. in einer Familie aufgewachsen sind, in der sie ermutigt wurden, ihre Wünsche und Ängste zu artikulieren, oder eben in einer Familie, in der sie dann eher einen auf den Deckel oder hauptsächlich Schweigen und Unverständnis bekommen haben. Sie holen das Thema Care-Arbeit für Menschen mit Behinderung aus der politischen und gesellschaftlichen Debatte auf die Bühne. Welchen Beitrag kann das Theater leisten? Woher kam Ihr Bedürfnis, daraus Theaterstoff zu machen? MvdH: Welchen Beitrag das Theater leisten kann, ist eine sehr große Frage. Es kann dabei helfen, zu überlegen, welche Beziehungen und welche Konflikte irgendwie bühnentauglich sind. Man würde denken, so eine Pflegesituation – ob mit Angehörigen oder wenn man beruflich in der Pflege ist – ist erst mal nicht besonders bühnentauglich. Aber da kommen sehr viele klassische Themen der Theater- und Dramengeschichte zusammen. Verantwortung, Pflicht, auch so was wie Ehre, obwohl wir die heute ja als Leitbegriff aussortiert haben. Selbstbild: Was erlaubt man sich selbst, wo gesteht man es sich zu, seinen eigenen Bedürfnissen zu folgen, wo tritt man einen Schritt zurück, wegen anderer oder wegen wahrgenommener Pflichten? Die Idee für diese Konstellation trage ich schon ziemlich lange mit mir rum, bestimmt seit 15 Jahren. Ich habe in unterschiedlichen Kontexten versucht, das umzusetzen, mal als Kurztext, mal eher so ein bisschen essayistisch. Als ich angefangen habe, Bühnentexte zu schreiben, habe ich gemerkt, dass das eine Möglichkeit ist, unparteiischer schreiben zu können und auch dilemmalastiger. Ein Weg, nicht

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Man würde denken, so eine Pflegesituation – ob mit Angehörigen oder wenn man beruflich in der Pflege ist – ist nicht besonders ­ bühnentauglich. Aber da kommen sehr viele klassische Themen des Theaters zusammen.

eindeutig auflösbare Situationen, Konflikte und Probleme in Textform zu bringen. Es mag sein, dass andere Menschen das anders wahrnehmen, aber ich würde behaupten, dass es keine klaren Sympathieoder Antipathieträger in dem Stück gibt. Bühnentexte können Situationen schaffen, zu denen man sich irgendwie verhalten muss. Die „Draußen“-Szenen sind durch eine stilisierte Sprache geprägt. Inwiefern steht diese poetische Form auch inhaltlich in Kontrast zu den „Drinnen“-Szenen? MvdH: Ich glaube, wenn man die „Drinnen“-Szenen ohne die „Draußen“-Szenen liest, vielleicht mit der Ausnahme der ein, zwei Hybridszenen, die es gibt, wird das auch noch als Stück funktionieren. Dann kommt es von der Machart her dem ziemlich nah, was man Well-made Play nennt. Es gibt eine begrenzte Figurenkonstellation auf engem Raum, alles ist irgendwie miteinander verzahnt. Die „Draußen“-Szenen bilden dazu insofern einen Kontrast, als dass die „Drinnen“-Szenen ein sehr überschaubarer Kosmos sind, wie es häufig in Pflegesituationen ist, wie es häufig bei Menschen mit Beeinträchtigungen ist. Zu Hause, das ist der Raum, wo man sich so einrichten kann, wie man es braucht. Da hat man weitgehende Kontrolle über das, was passiert. Und sobald man diesen Raum verlässt, ob man körperlich oder sensorisch beeinträchtigt ist, passieren unerwartet Dinge. Auf einmal steht man vor Herausforderungen, die Welt kann mehr oder weniger ungehindert auf einen einströmen. Das ist, was ich mit den „Draußen“-Szenen versuche. Ich glaube, dass sich dadurch, was in diesen „Draußen“-Szenen passiert, auch der Subtext von dem, was drinnen passiert, verändert oder zumindest anders gelesen werden kann. „Drinnen“ und „Draußen“ sind nicht unbedingt Orte unter einem Dach oder freiem Himmel. Wie wird innen und außen im Text verhandelt? Wie verhalten sich die Figuren dazu? MvdH: Vielleicht ist das, was in den „Drinnen“-Szenen passiert, der Anstoß dafür, was sich in den „Draußen“-Szenen in der Wahrnehmung verändert. Dass die Welt als feindlicher wahr­ genommen wird, weil in diesem geschützten „Drinnen“-Bereich Sachen ins Ungleichgewicht geraten. Oder es ist vielmehr so, dass man von draußen Sachen mitnimmt und mit sich herumträgt, mit denen man dann in seinem kleinen Kosmos irgendwie umgehen

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Stück Matthias van den Höfel muss. Ich hoffe, dass man den Text in beide Richtungen lesen kann, je nachdem, welche Ebene man als die Primäre oder als die Entscheidendere versteht. Ich denke, innen und außen sind unterschiedliche Komfortzonen. Das Drinnen hat den Charakter des Alltäglichen, aber damit auch des Beherrschbaren und Vorhersehbaren und das Draußen ist das Gegenteil. Reginas Sprache z. B. löst sich im Draußen, wird dort viel feinfühliger. Sie ist drinnen häufig sehr klar, mitunter auch sehr herrisch. Wenn sie mit David alleine draußen ist und andere Eindrücke bekommt, zeigt sich eine viel einfühlsa­ mere Seite von ihr. Das Draußen ist schwerer zu kontrollieren, aber d. h. nicht unbedingt, dass es schlecht ist.

Die Beziehungsdynamiken der Figuren im Stück sind feinfühlig beobachtet. Der Text gibt Einblick in die Perspektiven verschiedener Menschen, die mit der Care-Arbeit befasst sind. Allein Davids Sicht bleibt unergründlich. Auf welchen Wegen haben Sie sich der sensiblen Thematik im Laufe der Recherche genähert? MvdH: Zum einen habe ich vor vielen Jahren Zivildienst in der Integrationshilfe und der häuslichen Pflege gemacht. Zum anderen bin ich selber mit einem Familienmitglied mit körperlichen und auch geistigen Einschränkungen aufgewachsen und habe darüber auch im Kontakt mit anderen Familien einiges beobachten können. Wir haben heute häufig Texte, in denen Figuren etwas für sich reklamieren oder in denen ein Chor, eine Ansammlung von Sprechenden ein Thema beansprucht und auf die Agenda setzt. Dieses Familienmitglied, von dem ich gesprochen habe, könnte sich gar nicht zu seiner gesellschaftlichen Situation verhalten. Es könnte dazu in dem Sinne keine kritische Position beziehen, zumindest nicht auf dem Niveau, in dem das häufig in gesellschaftlichen ­Diskursen gefordert wird. Mich hat die Frage angetrieben, wie wir über und mit Menschen sprechen, die für ihre eigenen Belange nicht eintreten können. Wenn man sich für Menschen einsetzen will, die das nicht selbst können, was macht man? Man möchte sie nicht bevormunden, manchmal muss man allerdings Entscheidungen für sie treffen. Da sind wir wieder bei der Situation des Dilemmas. Das Stück stellt letzten Endes eher Fragen, als Antworten vorzuschreiben. T

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Matthias van den Höfel, geboren 1987, wuchs im Ruhrgebiet auf, lebt heute wieder dort und ist Vater einer Tochter. Für „Wind von Norden“ erhielt er 2019 den Hauptpreis des Autorenwettbewerbs der Nibelungenfestspiele. Die Erstfassung von „Drinnen“ erhielt beim Retzhofer Dramapreis 2021 eine lobende Erwähnung durch die Jury. Für „Drinnen“ wurde er außerdem mit dem Münchner Förderpreis 2023 ausgezeichnet. Das Stück wird am 23. November an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt.

Foto Lauree Thomas

Welche Rolle spielt der Chor in Ihrer Fantasie des Stückes? MvdH: In der Entstehungsphase des Stückes hatte ich einmal das Glück, den Text im Rahmen eines Workshops mit einem kleinen Ensemble zu lesen. Da haben wir ausprobiert, wie man diese chorischen Teile gestalten könnte, und ich habe gemerkt, dass so ein Staffelstabchor, in dem eine Person nach der anderen spricht, nah aneinander angeschlossen, einen sehr guten Sound ergibt, der genau das nachvollzieht, was ich über die Welt gesagt habe. Es passiert immer noch etwas. Man kann noch etwas sehen und noch etwas wahrnehmen. Der Chor fungiert als erzählerische und nachvollziehende Instanz, mit einer Mischung aus Introspektionen, gesprochener Regieanweisung und Weltbeschreibung. Was der Chor leistet, ließe sich mit anderen Mitteln nur schwer darstellen.

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Theater der Zeit

Stück Drinnen Von Matthias van den Höfel

Uraufführung 23.11.2024 an den Münchner Kammerspielen

Figuren Figuren David (35) Regina (58), seine Mutter Lena (20), eine FSJlerin Michael (55), Reginas Freund Olli (28), Davids Pfleger vielleicht ein Chor

Anmerkungen Die kursiv gesetzten Passagen in den Draußen-Szenen verwenden den /, um die Weitergabe des Sprechens zwischen mehreren Sprecher:innen anzuzeigen. Wie bei einer Wechselpsalmodie: freier Rhythmus innerhalb des Verses, schneller Anschluss beim Verswechsel. David ist eine stumme Rolle. In welchem Ausmaß David sich darüber hinaus verhält (ob er sich überhaupt für uns erkennbar verhält), liegt im Ermessen der Inszenierung. Draußen bezeichnet nicht unbedingt einen Ort unter freiem Himmel. Die Sprache: nicht groß, oft wie nebenbei.

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Stück Matthias van den Höfel

Szene 1 Draußen David Regina

D

schau mal wie schön sich das alles bewegt

da lachst du ich seh doch, wie du lachst brauchst gar nicht so zu schauen die gucken alle so ernst, die leute wie die da rumsitzen wie die hier rumlaufen so als dürften die sich bloß nicht freuen

wirklich gut, dass wir hergefahren sind, oder? dass wir jetzt hier sitzen können guck dir das an die bäume im wind die ähren na gut, die leute auch

ich weiß ja ich weiß, du magst die leute wenn sie nicht so nahe kommen, mag ich sie auch wie da unten bunte punkte in der landschaft noch mal so richtig sommer, hmm? nicht mehr lange, dann wirds wieder kühler dann können wir wieder deine decke auspacken dann schwitzen wir nicht mehr so ist doch auch schön, oder? bald herbst, bald winter und dann wieder frühling und irgendwann der nächste sommer ich mag das deine stirn ist ja ganz nass da spiegelt sich die sonne hier, trink mal was hab extra ein paar eiswürfel reingetan tut gut, oder jetzt ist der wind abgeflaut jetzt steht die hitze um uns merkst du das die felder glühen richtig

©2023 DREI MASKEN VERLAG GmbH München Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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brennt das auch so auf deinem gesicht warte, ich tupf dir kurz die stirn ab

bald schwillt der wind wieder an / nimmt wieder zu trägt hitze / aus reginas gesicht und treibt / die wolken vor sich her die ziehen / über den klaren blauen himmel / und regina schaut zu david der schaut gebannt / in die ferne regina folgt seinem blick / folgt ihm zu den wolken den kindern auf der wiese zur fernen autobahn / sie sieht was er sieht sie freut sich mit ihm / über das rauschen der ähren der autos den gesang der vögel / und regina lehnt sich zurück gibt der sonne / noch ein wenig mehr fläche auf ihrer haut / riecht in den sommer streckt sich in die weite wie schön die sind diese wolken, oder? wo ziehen die wohl hin?

wir sollten bald los sollten bald zurück nach hause

wird sonst zu spät, weißt du sollst doch nicht zu spät ins bett morgen kommt doch die neue bin mal gespannt, was du von der hältst

wird bestimmt schön oder?

Szene 2 Drinnen Regina ist auf der Bühne. Olli kommt herein. R O

R O R

O

Wie wars War gut Hab die beiden zwischendurch auch alleine gelassen Die kommen zurecht Was, wie lange Nach dem Mittagessen Hab ihr alles erklärt Hatte ja noch andere Termine Ach so Ich hatte gedacht Na ja Du wärest die ganze Zeit dabei Dachte ich Nee Chefin meinte, brauch ich nicht Aber die kommen zurecht

Lena und David kommen herein. Lena schiebt den Rollstuhl noch sehr vorsichtig und ohne Routine. O R L

Oder, Dave, ihr kommt zurecht, oder? Hallo, mein Schatz Wie ist es mit Lena Ach, wir hatten Spaß, oder, David? Er muss aber mal zur Toilette, glaube ich

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Stück „Drinnen“

R

Die war da hinten, oder? Ich mach das schon Mein Schatz, du siehst ein bisschen Unruhig aus Ich kümmer mich mal um ihn Olli kann dir ja noch sagen Was du sonst noch wissen musst Okay, Olli?

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Regina geht mit David ab. O L O L

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O Und? Ist okay Muss mich erst mal dran gewöhnen Klar Machst du aber gut Danke – Boah, was für eine Wohnung Was meinst du Voll ungemütlich, oder Meinst du Ey, da gibts echt schlimmere Schlimmere gibts bestimmt, aber Das kann man doch auch irgendwie schöner machen Muss doch nicht aussehen wie im Krankenhaus, oder Du, das ist hier echt noch upper class Also, gibt ja auch Leute, die haben nicht so viel Geld Hat die Geld, echt? Der Michael verdient ganz gut, glaub ich Michael ist Das ist aber nicht der Vater, oder Nee, das ist Reginas Partner Der Vater ist Johannes Und der hat sich irgendwann verpisst, oder wie Nicht so laut Sorry Also der hat sich verpisst? Die sind schon voll lange auseinander Der ruft manchmal an Also, wenn er weiß, dass ich hier bin Der ist in Ordnung Aber haut ab und lässt die alleine sitzen, oder wie? Ist glaub ich kompliziert Na ja, nicht mein Problem David mag dich Echt jetzt Ja, total Der freut sich glaub ich immer, wenn mal wer Neues kommt Und dann noch Na ja Hmm? Ne junge hübsche Frau Findet der natürlich gut Echt, ist der so drauf Ist halt auch ein Mann

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Ja, sicher Passt – Aber mal ernsthaft Wenn die Geld haben Dann siehts hier erst recht scheiße aus Also die, wo ich gestern war Die hatte wenigstens Geschmack – Wie lange machst du das schon Hab mit 17 die Ausbildung gemacht Also jetzt bald 12 Jahre Krass Findest du Ja Und du Hab letztes Jahr Abi gemacht War dann in Australien Nächstes Jahr dann Studium Was denn Medizin Echt? Respekt, Ja, na ja Und dann bist du jetzt hier als Vorbereitung? Wollte halt mal gucken Hilft ja bestimmt, mal so Erfahrungen sammeln und so Will ja auch Geld sparen für eine Wohnung Wohn ja noch bei meinen Eltern Werd ja auch kein Bafög kriegen und so Warum nicht Tja Meine Eltern verdienen zu viel Haha Nice, hätte ich auch gern

Regina kommt zurück. R O R L

R

L R L

Und Alles klar soweit Die kriegt das hin Schön Dann sehen wir uns morgen um neun Ja Ähm, haben Sie vielleicht Eine Telefonnummer für mich Also, falls ich mal zu spät komme oder so Hmm Okay Steht hier auf dem Zettel Danke Gut Dann Bis morgen Ja, bis morgen!

Lena geht ab. R O

Und, was meinst du Die ist fit, die schafft das Die kommen auch echt gut klar Also David und sie David mag sie echt gern

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R O R O R

Hmm Der war sehr aufgekratzt So Veränderungen und so Weißt du ja Hmm Ja Aber ich vertrau dir da Wenn du sagst, dass das passt Auf jeden Fall – Also heute Abend brauch ich nicht zu kommen? Nee, mach ich schon Michael kommt auch früh Kriegen wir hin Krass, dann hab ich ja schon Feierabend Hast du dir mal verdient Kann schon sein Dann bis morgen Bis morgen, Olli

Szene 3 Drinnen Regina und Michael sind auf der Bühne. M Ich muss dir Ich muss dir gleich was erzählen R Hmm? Sag M Gleich Nachher In Ruhe Wie war es bei euch R Die Neue war da Gefällt mir nicht M Warum R Ist noch ganz jung Ist noch so ein Mädchen irgendwie Also, auch hübsch und so Ich weiß nicht Hab kein gutes Gefühl M Weil sie eine Frau ist? R Warum M Na ja Bei der letzten, da warst du Da hattest du auch kein gutes Gefühl R Die hatte auch gar keine Ahnung M Der letzte Typ, wie heißt der Der hatte doch auch keine Ahnung R Aber der war gut für David M Meinst du R Weiß ich Hab ich doch gemerkt Der hat sich Mühe gegeben – Was war denn jetzt M Was meinst du R Du wolltest mir was erzählen M Ja genau Also – Mein Chef hat mir heute ein Angebot gemacht

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Stück Matthias van den Höfel R

Oh Was denn M Da wird eine neue Fabrik aufgemacht Man hört David aus dem Nebenzimmer. R

Ich komme, mein Schatz

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Regina geht ab. Regina kommt zurück. R

M R M R

M R R M

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Ich habs ja gesagt David muss doch nachmittags Genug trinken, der ist total Also, der ist richtig ausgetrocknet Ich hab ihr das doch gesagt David muss trinken David muss nachmittags viel trinken Weil er ja morgens nicht will Vor dem Mittagessen, dann muss er So oft zur Toilette Ich hab ihr das wirklich Ausdrücklich gesagt Die kriegt das schon hin Das war doch heute der erste Tag Aber an sowas denkt man doch Das ist doch wichtig Die hat ja gerade erst angefangen Ich ruf da morgen mal an Es muss doch jemanden geben Der mehr Ahnung hat Wir können doch froh sein Dass überhaupt jemand kommt Na, lieber mach ichs alleine Erzähl doch jetzt mal – Mein Chef hat mir heute was angeboten Die bauen irgendwie eine neue Fabrik auf In Peru Und da hat er Da hat er mich gefragt Da hat er mir gesagt, dass er gern wollen würde Dass ich dabei bin So zur Überwachung, zur Beratung Um da zu kontrollieren und auch ein bisschen zu leiten Und ich sprech ja Spanisch und Ja, ich kenn mich mit den Sachen ja auch aus Und deshalb wär ich da sein Wunschkandidat Hat er gesagt Oh Okay Wann wär das denn Bald Also Ich müsste in vier Wochen hin Für zwei Wochen Erst mal Vorbereitung Und dann gehts los Eigentlich kurz danach Und dann den ganzen Herbst

M

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M

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R

M

Bis in den Winter – Drei, vier Monate bestimmt Vielleicht mehr Wie schön Richtig schön Findest du Endlich sieht er das mal, dass du Also, du kannst ja richtig was Und machst immer nur Na ja Ich hab gesagt Ich muss gucken Hab gesagt: Danke, das ist Also, das ist ein tolles Angebot Und ich hab aber gesagt Ich muss gucken, mit dir Und mit David Das kriegen wir schon hin Das kriege ich schon hin Ja? Ja Na ja Doch Das geht schon Und dann kommen wir Kommen dich mal besuchen Findet David bestimmt auch toll Waren doch schon Auf Korsika mit ihm Und auf La Gomera Das geht Ja wenn Na ja, wenn du meinst Und Peru Das ist doch auch Direkt am Meer, oder? Ja, direkt am Meer Also, die Fabrik natürlich nicht Aber man ist schnell da Da braucht man nicht lange Du Mach das Fänds schöner, wenn du Also, wenn du mitkommen würdest Nicht nur mal zu Besuch Ja Aber das geht nicht Weißt du doch Ja Weiß ich – Und wenn David Also, für ein paar Monate Das wird der doch David kommt nicht in eine Einrichtung Nicht für immer, nicht für ein paar Monate Das geht nicht, das weißt du Solange ich lebe Kommt David nicht in eine Einrichtung – Ich sag ja nur Hab ich ja

Schon mal gesagt R Nein M – Und wenn David mitkommt R Wie soll das gehen Eine Woche, das schaffe ich Zwei vielleicht Aber ich kann nicht Alles alleine, monatelang Und wenn er mal zum Arzt muss – M Da gibts Also, da gibts auch Pflegedienste Die können Englisch Einer kann sogar Deutsch, angeblich R Das weißt du alles schon – Weißt ja schon ganz schön viel Dafür, dass du dir eigentlich so unsicher bist M Ja – Hab halt gleich geguckt R Ja M Entschuldige Dass ich mich darüber so freue Heißt ja auch was Dass er ausgerechnet mich fragt R Ja, weil du Spanisch sprichst M Ja Danke R – Tut mir leid Bin so angespannt wegen der Neuen M Schon okay – Kommt Olli gleich R Hab ihm freigegeben M Schade R Warum M Dachte, wir hätten heute Noch etwas Zeit für uns R Haben wir doch M Ja

Szene 4 Draußen David Regina schau mal, die bäume wie die leuchten heute siehst du wie schön das heute ist die sonne, die vögel komm, trink mal was ich setz mich kurz in peru wird es jetzt bald frühling aber ich glaube, da ist es immer warm ist das besser, dann müssen wir nicht frieren aber deine decke, die könnten wir trotzdem mit-

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Stück „Drinnen“ nehmen decken braucht man doch immer, oder ich versteh doch gar kein spanisch und du auch nicht was lachen die denn so können die nicht mal also, die sind doch nicht allein sind doch nicht allein hier im park da sticht ein lautes lachen regina ins ohr durchs ohr gleich in den kopf in die stirn / sie drückt ihre augenbrauen zusammen drückt das lachen aus dem kopf aus den augen / sie schaut zu david der schaut gebannt / nach irgendwo regina folgt seinem blick folgt ihm nach oben / da ist nur der himmel ein paar bäume da sind / kleine wolken regina schaut noch mal da schaut david / nicht mehr nach oben schaut nach vorne / regina folgt seinem blick zu den autos dort hinten zu den spielenden hunden / david mag autos weiß regina david mag spielende hunde

jetzt kommen sie auch noch hierher muss das sein, lasst uns doch mal hier in ruhe sitzen da ist doch platz genug da hinten da ist doch auch noch eine bank über die wiese laufen drei junge frauen mädchen eigentlich noch / laufen zur bank gleich neben der von david und regina / kaum erwachsen sie gehen bestimmt noch zur schule / und als müsse die ganze welt es wissen ruft die eine plötzlich BOAH DU WARST SO BETRUNKEN GESTERN / NEE VOLL NICHT ruft die andere ihr lachen sticht regina ins ohr / JA DOCH ruft die erste und die dritte JA VOLL JA KLAR / und regina drückt die augenbrauen zusammen drückt das lachen das kreischen aus ihrer stirn / und einer der jungs da hinten auf der wiese / der schießt den fußball rüber zu den mädchen trifft eine fast / ihr kreischen reißt an reginas kiefer ihren schläfen ihrer kopfhaut komm komm lass uns gehen das ist das halte ich nicht aus das brauche ich jetzt wirklich nicht HOLT EUCH EUREN BALL DOCH SELBER brüllt eins der mädchen und die anderen lachen schrill / JETZT SCHIESS brüllt einer der jungs zurück SEI DOCH KEIN MÄDCHEN / FICK DICH brüllt das mädchen läuft an tritt unbeholfen gegen den ball die anderen lachen / und regina durchschaut sie verachtet sie weil sie mädchen spielt um den jungs zu gefallen / ver-

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achtet sie weil sie wie zufällig mit ihren haaren spielt / HEY DER STEHT SO KRASS AUF DICH ruft eine der anderen ihre stimme kippt ins lachen / EY ICH HAB NEN FREUND sagt die die mädchen spielt / JA KLAR DESHALB BIST DU AUCH MIT IHM SCHWIMMEN GEGANGEN GESTERN ruft die andere / NA UND LASS MICH ruft die erste / und dann kommt der ball zurück und sie kreischen wieder

david folgt seinem blick und er geht in die wolken / und regina setzt sich und lässt ihren atem gehen und schaut zum himmel und schaut nirgendwohin

hey hey!

warte so

sagt mal könnt ihr mal könnt ihr mal leiser sein

schau, jetzt sitzt du besser

siehst du, mein liebling manchmal muss man nur da muss man nur was sagen da muss man nur mal

das ist ja furchtbar dieses gekreische geht doch geht doch wenigstens woanders hin

und die mädchen schauen sie verwirrt an schauen / als hätte sie ein regenschauer überrascht ihnen die frisur die kleidung durchnässt / und sie glotzen und fummeln an ihren haaren herum und kauen auf ihren kaugummis / und dann sagt eine HEY GEHTS IHNEN GUT HABEN SIE EIN PROBLEM / und die anderen lachen vorsichtig

Szene 5 Drinnen Olli bereitet David für den Tag vor. O

ja ja das hab ich ihr seid mein problem ich will hier in ruhe mit meinem sohn sitzen okay der ist der braucht ruhe und ich ja ich brauche auch ruhe und euer gekreische was soll denn das

und die mädchen glotzen und eine sagt DAS IST EIN PARK DER IST FÜR ALLE DA

ja der ist für alle da und nicht nur für euch und hier ist platz genug also seid leise oder geht woanders hin und die mädchen schauen sich an GEH DU DOCH WOANDERS HIN hört sie

eine murmeln / und dann nimmt eine andere den ball in die hand / sagt KOMMT LASST MAL RÜBERGEHEN / und dann gehen sie und reiben mit ihren schuhen beim gehen über das gras / und regina atmet aus lässt mit ihrem blick die mädchen los / streckt sich schaut zu

So Mein Lieber Sollst ja schick sein Oh Moment – So, jetzt Dein Lieblingshemd heute Alles gut? – Sehr schön Sitzt alles Hemd sitzt Dave sitzt Ich hab auch schon einen sitzen – War Spaß Weißt du, oder Klar weißt du das

Lena kommt herein. O

Ach guck mal Guten Morgen! Mit eigenem Schlüssel heute L Morgen Hi David – Keiner da? O Daves Mama ist noch im Bad Ich glaube, Michael ist auch da L Volles Haus O Hmm Alles okay? L Ja Klar Warum O Du guckst so L – O War nicht gut gestern Abend? L Nee, schon okay Weiß nicht Komischer Typ

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Stück Matthias van den Höfel O L

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L O L O L O L O

Also mein Angebot steht Du ich Wein Bier Ja, ist klar – Ich glaub, du bist mir echt zu alt Autsch Dave, pass gut auf Die Lena teilt aus heute lacht verhalten Aber guck, sie kann noch lachen Wie bist du denn drauf heute Voll aufgedreht Weißt du, was ich ab Montag hab Urlaub? Urlaub! Hast du mir gestern schon gesagt Kann man gar nicht oft genug sagen Urlaub Urlaub Urlaub Shit, schon so spät Muss los

Olli geht ab. Regina fängt an, David umzuziehen. L R L R L R

L R L

Regina kommt auf die Bühne.

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Ah, da bist du ja Morgen Der David hat gleich einen Termin Da beim Friseur, da muss mal Na ja, siehst du ja Ohje, und ich zieh dir dein Lieblingshemd an Na toll, Dave Ich hol ihm gleich ein anderes Ich mach schon

Regina geht ins Nebenzimmer. O

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Aber nicht wieder so eine Sparfrisur wie letztes Mal Einmal mit der Maschine drüber Krieg ich auch hin und ist billiger Wir machen da schon was Schönes Passend zum Lieblingshemd, hmm?

Regina bringt ein T-Shirt und einen alten Pullover. O So, bis später, Dave Bis heute Abend, Regina

R

Ich mach das schon Sie müssen doch auch gleich los Dauert ja nicht lang Okay So Der muss eh in die Wäsche Soll er jetzt mit so einem dreckigen Pulli raus Siehst du, David Manche Leute, die denken Weil sie jeden Morgen eine halbe Stunde Vorm Spiegel brauchen Sollten das alle anderen auch so machen Der fühlt sich schon ganz komisch an Ich hol ihm einen anderen, ja? Schämst du dich für David Hä, was? Nein Aber der ist doch dreckig hier Ich guck mal Das hat David jetzt schon Wirklich genug gestresst Der Pulli bleibt jetzt dran Hier, was ist mit dem Ich wasch den auch später Tja, David Manchmal redet man gegen eine Wand

Michael kommt im Schlafanzug auf die Bühne. M Morgen Oh, hi Ich bin Michael L Lena M Tut mir leid, ich Ich dachte, Olli wäre noch Der kennt mich ja schon so lacht Musst du nicht los? R Tja, irgendwie ist es gerade Sehr wichtig, dass David Toll angezogen ist, wenn er Zum Friseur geht M Na ja, danach wird er ja wieder Mehrere Tage ganz furchtbar aussehen Also, man lebt nur einmal, hmm?

L

lacht Wenn der Friseur so schlimm ist Dann probieren wir vielleicht mal einen anderen aus R Okay, vergesst es Zieht ihm an, was ihr wollt Ich muss los – Tut mir leid Das ist jetzt irgendwie wieder So hektisch geworden – Hab einen guten Flug, ja? Ruf mich an, wenn du da bist M Mach ich R Auch mitten in der Nacht M Mach ich Sie gibt Michael einen Kuss und geht ab. M Hmm Kaffee? L Danke, hatte schon – Wo fliegen Sie hin? M Peru Heute Mittag gehts los L Ach ja, hat Olli erzählt Will ich auch mal hin War nur in Australien bis jetzt Sonst nur Europa M Australien War ich auch mal Vor dreißig Jahren oder so Voll schön da, oder? Ja War echt schön damals – Ist manchmal etwas schwierig, oder? Was Regina L Hmm Ja M Muss immer alles genau richtig sein Lena hat David einen anderen Pullover geholt und zieht ihn noch mal um.

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Im Rahmen der Nippon Performance Nights Vol. 10 fft-duesseldorf.de

© Kenske Miyanosw

『釈迦ヶ池再訪』筒井 潤

Premiere


Stück „Drinnen“ M Na gut Nicht so ernst nehmen L – Und wie lange sind Sie dann in Peru Voll lange, oder? M Was der Olli alles erzählt Erst mal nur zwei Wochen Alles vorbereiten L Ach so

Szene 6 Drinnen

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Lena und David sind auf der Bühne.

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Tja, David Und jetzt Sind eigentlich mit allem fertig – Ist das okay Wenn ich mal ein bisschen Handy spiele – Warte Guck mal Kennst du das? Spiel ich immer, wenn mir langweilig ist Also, ist eigentlich voll doof – Sorry War nicht so gemeint Ist nicht langweilig mit dir Ich weiß halt nur nicht mehr, was wir Jetzt noch tun könnten

Lena sitzt neben David und spielt ein Spiel auf ihrem Smartphone. Irgendwann kommt Olli rein, Lena steckt schnell das Smartphone weg. O L O

Nabend! Bist voll früh Ging schnell heute Die erste hatte Verstopfungen Kackt dann erst bei der Abendpflege Der andere ist ins Kino

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Macht dann auch die Abendpflege Und Lena zockt Handy, oder wie? Ey Dave, pass auf Das ist noch gefährlicher als Fernsehen Darf er nicht, oder wie Doch klar Aber du drehst dann immer so auf Hmm, Dave? Kriegst dann immer schlechte Laune Wenns vorbei ist Oh Sorry, wusste ich nicht Alles gut Ist ja nix Schlimmes Ich war halt Wir waren halt fertig mit allem – Also irgendwie sieht die Frisur so aus wie vorher Ja Waren nicht beim Friseur Also, waren da, aber der Typ Voll das Arschloch Ja, der ist komisch Ja Sind dann zu einem anderen Aber der macht nur mit Termin Machen wir nächste Woche Oh, das fand die Mama bestimmt nicht toll Oder, Dave? Ja, hat sich kurz aufgeregt Whatever Der schneidet eh scheiße Hab ich ja schon gesagt Würds ja selbst machen Will Regina ja nicht Alles okay? Bin müde Ja, ganzer Tag ist hart Ja, bei dir doch auch Hab ja wenigstens mittags frei Hab ich morgen Kann ich mal richtig essen –

Immersive Sounds 01.11.

She She Pop

Highlights November

Mauern 08. – 10.11.

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Bin morgen bei dem einen Da labert mich die Frau immer voll Die ist ja nett und so Aber die redet Und redet Ich weiß nicht, wie der Mann das aushält Die redet bestimmt nicht mit dem Ist das der mit dem Schlaganfall Da beim Rathaus irgendwo Ja genau Ja, das ist krass da Die dreht halt voll durch Weil er nix mehr sagt – Aber machen viele Musst du mit klarkommen Dave, deine Mama kann das auch Oder? Da lacht er Weißt genau, wovon ich spreche, oder, Dave? Mit mir redet die ja nicht so viel Nee Sei froh Die kaut einem echt das Ohr ab Du redest aber auch voll viel mit der Ja, klar, ist ja mein Job Aber wenn die manchmal anfängt Also, ich kenn alle ihre Freundinnen Die macht dies die macht das Ich weiß auch so Sachen von ihr und Michael Das ist schon übel Da schalt ich immer auf Durchzug Soll sie zum Psychologen gehen oder so

Olli schneidet David die Fußnägel. Lena sitzt herum. L O L

Boah, diese Rumsitzerei, das macht mich echt fertig Sei doch froh Besser als den ganzen Tag arbeiten Ja Nee Keine Ahnung

Yasmeen Godder Company & Dikla Shout Aloud 23. & 24.11.

Alice Ripoll & Companhia Suave ZONA FRANCA 29. & 30.11.


Stück Matthias van den Höfel

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Ich denk dann immer Eigentlich müsste ich was tun Also mit David oder mit anderen Da sitz ich dann so rum, wenn alles fertig ist Haben eingekauft Gegessen haben wir auch Sind beim Arzt gewesen Und dann? Ja, ist doch gut Ja aber Soll ich dann doof rumsitzen Wenn nix zu tun ist Ist doch okay Hab schon überlegt, David was vorzulesen Mach doch Was denn Harry Potter Mag David Harry Potter? Keine Ahnung, wer mag das denn nicht Hmm

Sie schweigen. O L O

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Regina telefoniert mit Davids Vater. R

Ja, aber vielleicht findet er Harry Potter auch doof Ausprobieren Ja

Sie schweigen. L

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Der eine, wo ich gestern zur Vertretung war Da hab ich zwei Stunden Handy gespielt Und der hat Computer gespielt Und dafür krieg ich Geld Ja Ist halt so Wenn er zocken will, will er zocken Und dafür bin ich dann da Ist halt sein Leben Stell dir vor, der hat schlecht gefrühstückt Kriegt dann Durchfall Oder kriegt keine Luft mehr Und dann ist keiner da Ja

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Ist halt sein Leben Ist ein scheiß Leben Ist halt so

Szene 7 Drinnen

Sie schweigen. L

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Ja, weiß ich auch. // Ja, ich werde / Nein, ich werde David nicht in irgendeine / Jetzt hör doch mal auf, mich immer zu unterbrechen! // Ja. // Du weißt, was ich davon halte. / Auf keinen Fall. /// Ja, da hast du recht, es regt mich auf, du siehst David wie oft? Vielleicht fünf sechsmal im Jahr, und dann spielst du dich so auf? // Du bist nie da, aber wegziehen, das ist jetzt auf einmal das große Problem? / Ja genau. Weil du / Jetzt lass mich doch mal ausreden! // Ja, es ist in Südamerika. Und nein, es ist nur für ein paar Monate. // Dann komm doch her und dann besprechen wir / Wenn du mich noch einmal unterbrichst, leg ich auf. / Ja. / Ja. / Oh, warte mal.

Lena kommt mit David auf die Bühne. R

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Da kommt gerade die Neue mit David Die war Oh nein Die war beim Friseur mit ihm Oha Hallo Hallo mein Schatz Oha, wie siehst du denn aus Ganz okay, oder? Ja Na ja –

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Trägt man das heute so? Ich dachte halt wie wärs mal Also, wie wärs mal mit was Mit dem er nicht so aussieht Wie so ein Versicherungsverkäufer Oder ein Chemielehrer oder so Hmm Ja, sehr Wie sagt man denn heute Fesch Hip Lässig Ja David Sehr fesch siehst du aus Und das neue Hemd hast du ihm Aber damit war er nicht beim Friseur, oder Nee, waren zwischendurch hier Kurz die Sachen gewechselt Kurz noch mal alle Haare weggemacht Aber die kriegt man doch nicht einfach so Also, das juckt doch bestimmt noch Oder, mein Liebling Muss ich dich gleich mal duschen Telefonier grad Dein Vater – Viele Grüße, sagt der So, kann ich noch was machen Moment

Sie geht ein wenig weg, telefoniert weiter. R

So, bin wieder richtig da. / Ja entschuldige mal; als müsste ich nie warten, wenn deine Frau oder wer auch immer // Ist halt so. Okay? / Also, noch mal: Wenn dir das auf einmal so wahnsinnig ist, dann komm her, dann / Unterbrich mich nicht! Komm her, und wir reden in Ruhe, und dann können wir /

Regina schmeißt das Telefon wütend auf das Sofa. L

Alles gut?


Stück „Drinnen“

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Lena geht ab. R

Hmm Was schaust du so? Warst doch grad noch so fröhlich – Was hast du, mein Liebling? Keine Angst, wir bleiben hier Kein Peru Ich setz mir halt manchmal Sachen in den Kopf – Hier, trink mal was – Und dann ziehen wir mal das Hemd aus, hmm? Wird sonst so knitterig Gibt ja gleich schon Abendessen Soll ja auch nicht dreckig werden – Na komm Ach komm, David, musst schon Hilf doch mal mit – Was ist denn mit dir? Bist ja bockig wie dein Vater gerade! Hilf mit, David! Arm hoch! – Ja, selber schuld! Soll das kaputt gehen, oder was? So Das wars Keine Hemden mehr Nur noch T-Shirts Das tue ich mir nicht mehr an

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Tut mir leid, mein Liebling Hmm? David? Tut mir leid Bin nur so gereizt Hat ja nichts mit dir zu tun – Komm, wenn du magst, dann zieh ich dir das Hemd Morgen wieder an, ja? Ist ja noch sauber – Und gleich schauen wir fern Einfach so, okay? Hmm? Was hast du denn?

Szene 8 Draußen David Regina schau mal, da vorne da ist ein tisch frei extra für uns, hmm? dürften wir bitte einmal ja, ach so oh, danke

siehst du, gibt auch nette leute ich mags hier warum sind wir nicht schon früher mal hergekommen

so, einmal die jacke genau, du schwitzt ja richtig ist auch wirklich gerade viel zu warm für die jacke für den herbst hmm, hat immer noch nicht geschrieben müsste längst in sao paolo sein

Von Majestäten, Machos und Muschis – ein weibliches Manifest

Elizabeth – I’m not a Bitch Milva Stark & Gornaya

Inserat TdZ 186x54_Saison 24.indd 6

Fr 29.11.24 Premiere Sa 30.11.24 So 01.12.24 Mi 04.12.24 Do 05.12.24 Schlachthaus Theater Bern | www.schlachthaus.ch

Koproduktion

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Regina geht wütend ab, kommt kurz darauf zurück.

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Klar Will dich auch nicht Will dich nicht vollquatschen Hast ja noch zu tun Ja Morgen dann wieder um acht? Halb neun reicht Okay Dann bis morgen Machs gut, David!

Uraufführung

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– Ja Klar David, dein Vater, der hat ja Weißt du ja Der hat so die Angewohnheit, mir ins Wort zu fallen Fällt sowieso anderen gern ins Wort Er ist ja wichtiger als die anderen Hat ja mehr zu sagen Hat er Probleme damit, dass Sie vielleicht Auch nach Peru gehen mit David? Das wäre ja auch überhaupt kein Unterschied für ihn Sähe er David halt mal für vier Monate nicht Statt für zwei oder drei, wie sonst Aber herkommen, um das zu klären Das ist ihm dann doch zu viel? Hmm Tja So ist er halt – Also Na ja Klappt ja eh nicht Was Dass David mitkommt Warum Und wenn Johannes nicht mitmacht erst recht nicht Warum solls nicht klappen Ist doch verrückt Wir haben hier doch alles Hier funktioniert alles Hier kennt David alles Hier weiß ich, wo wir Hilfe kriegen David fände das bestimmt auch spannend Meinst du Er ist immer schon durcheinander, wenn wir Also, wenn wir in den Urlaub fahren Meine Schwester besuchen Wenn er bei Johannes war Hmm – Ich muss mal los Ja

Foto © Basil Huwyler

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14.10.24 13:21


Stück Matthias van den Höfel weißt du, wo das ist? das ist in brasilien, das kennst du doch da kommen die ganzen tollen fußballer her müsste doch bald schon bald geht doch der flieger nach deutschland schon für mich einen kaffee ja, ganz einfach, einfach schwarz na gut, ein bisschen zucker für david hier ein wasser hmm nein, ach was, eine limonade zitrone, mit strohhalm bitte danke da schiebt sich eine frau an regina vorbei / schiebt sich über ihren arm ihre haut / drückt ihre schulter zur seite regina / blickt auf aber kein blick kommt zurück / regina schaut energischer der blick der frau bleibt / bei dem mädchen das sie auf dem arm trägt sie / lacht und redet mit einer anderen frau die hat / ein baby vor die brust gebunden und hat einen / kleinen jungen an der hand der an ihr zerrt / reginas blick bleibt in der luft hängen / darum schaut sie zu david der schaut gebannt / irgendwo nach vorn regina folgt seinem blick aber / da ist nur die theke das schild mit den preisen die kellnerin / regina fragt sich was er sieht fragt sich ob / ihm die kellnerin gefällt die geschwungene schrift auf dem preisschild das licht in der kuchentheke / was schaust du fragt regina und schaut auf seine augen schaut auf sein hemd das hat er / gestern mit lena neu gekauft

war doch so schön ruhig gerade da hinten ist doch auch noch platz geht doch nach da hinten ah, da kommt deine limonade oh, schau mal, wie klein mein kaffee ist bestell ich besser gleich den nächsten oder? die frauen mit den kindern richten sich ein am tisch neben david und regina / verrutschen die stühle ruckeln die bank zurecht legen ihre jacken ab ihre taschen ihre kinder / rutschen näher und näher an regina heran fast spürt sie / die wärme ihrer schultern fast riecht sie / die süße ihres haarsprays und der junge ruft MAMA ICH MUSS ZUM KLO / er zerrt an seiner mutter aber die ist noch ganz / eingewoben ins netz ihres müttergesprächs sie sagt / ICH FINDE DAS AUCH EINE KRASSE HERAUSFORDERUNG die ganze welt soll es hören / soll sich umdrehen und sich recken und fragen: ja was denn was beschäftigt dich / und die andere frau weiß bescheid sie sagt JA / ICH HÄTTE DAS AUCH NIEMALS GEDACHT

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DAS IST SCHON HEFTIG / MAN WÜRDE DAS JA GAR NICHT DENKEN und die welt soll einstimmen und rufen: wie empörend / und die empörung drückt sich durch den raum drückt / reginas augenlider nach unten zerdrückt / den nächsten ihrer blicke der schon bereit war von ihr / über die schulter zu den frauen geworfen zu werden

wieder zur anderen gedreht / DASS DIE LEUTE AUCH IMMER DIE KINDER ANFASSEN WOLLEN ruft sie und klagt die welt an und lässt die welt richten / und david schaut nach irgendwo regina folgt seinem blick / verliert ihn am beschlagenen fenster an dem der schweiß ihrer schläfen kondensiert

jetzt fängt auch noch das baby an zu schreien hörst du, da gehts los

könnte ja auch einfach mal besser auf ihr kind aufpassen also

immer noch nichts das flugzeug müsste doch bald schon abfliegen ach mann, jetzt haltet doch mal die klappe

gehört sich ja heute wohl nicht mehr

entschuldige, mein liebling hier, trink noch, ist wenigstens die limonade gut? da / kommt das kleine mädchen angekrabbelt / hat den weg gefunden vom arm der mutter zu reginas schuh / und tapst und tastet schaut auf und erstarrt / und regina hat sich ein stück hinuntergebeugt schwebt mit ihrem gesicht über dem des mädchens versucht ein lächeln / und das mädchen verzieht das gesicht schaut zum schuh mit wackelndem kopf / tatscht auf dem schuh herum schaut wieder nach oben

da dreht sich die mutter wieder um dreht die welt auf regina hin richtet sie auf regina aus / ruft ICH WEISS JA NICHT WIE DAS BEI IHNEN FRÜHER WAR / ABER ICH FINDE DAS SEHR ÜBERGRIFFIG VON IHNEN SIE KÖNNTEN / SICH JA AUCH EINFACH MAL ENTSCHULDIGEN DIE KLEINE WEINT JA IMMER NOCH / ABER NEIN SIE BRUMMELN LIEBER VOR SICH HIN DAS IST MEIN KIND / DA MUSS ICH MIR GAR NICHTS SAGEN LASSEN ERST RECHT NICHT VON IHNEN ich sage nur dass sie doch ich meine da kümmern sie sich nicht drum was ihre tochter ich meine ja nur dass sie

na du magst du meinen schuh fass den lieber nicht an der ist da ganz dreckig wer weiß wo ich da wieder reingetreten bin und vorsichtig führt sie die hand des mädchens zurück auf den boden und das mädchen sucht neu das gleichgewicht reißt die augen auf schaut regina an / starrt einen moment lang dann verziehen sich / ganz langsam unaufhaltsam urkräftig ihre gesichtszüge / dann staut sich ein schrei an sammelt gewalt / ein verstörtes kreischen ein entsetztes brüllen / dann kommt schon der griff der mutter routiniert ist das mädchen auf ihrem arm / presst jetzt die augen zusammen schreit jetzt ganz hemmungslos / DIE LÄSST SICH NICHT GERNE VON FREMDEN ANFASSEN ruft die mutter regina entgegen und die ganze welt soll es hören ich wollte ja nur ganz vorsichtig

ich sage ja nur also meine schuhe die sind dreckig also und die frau das café die welt blickt sie an starrt sie an lässt kurz das atmen sein nein nein, ist ja gut und regina zieht mit bebender hand einen geldschein aus dem portemonnaie / legt ihn auf den tisch steht wankend auf schiebt david / auf die tür zu durch die tür hindurch auf die straße zieht ihm / erst draußen seine jacke an da sieht sie erst / wie bleich david geworden ist was hast du, mein liebling das war nicht schön, ich weiß manche menschen sind halt so komm, wir gehen nach hause wir gehen schnell nach hause warte, du hast da ein bisschen spucke im mundwinkel ich mach das schnell weg

also meine schuhe sind ja die sind ja dreckig darum dachte ich aber die mutter hat nie zugehört hat sich schon

Theater der Zeit 11 / 2024


Stück „Drinnen“

Szene 9 Drinnen

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Regina und Michael sind auf der Bühne.

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R Schön, dass du wieder da bist M Ja Find ich auch R Hast mir gefehlt M Du mir auch R – Hab David schon Wieder angeschrien heute M Was Warum R Ach irgendwie – Ich bin so Unausgeglichen irgendwie Gibt immer Stress beim Ausziehen Beim Umziehen Diese blöden Hemden M Kann doch mal passieren R Hab ihm richtig den Arm Also Ich glaube, ich habe ihm wehgetan Ist jetzt schon das zweite Mal M Du bist gestresst Du musst auch mal auf dich selbst achtgeben R Ja Muss ich wohl – Vielleicht hat Lena ja auch recht M Womit R Dass David vielleicht Naja, dass das eigentlich nicht gut ist Er ist schon so alt Lebt immer noch bei mir M Hat sie das gesagt R Ja So in der Art M Du weißt doch viel besser, was gut für David ist R Ja Sollte so sein, oder M Was meinst du R Hab das Gefühl in letzter Zeit Ich würd ihn nicht mehr so richtig verstehen M Ach Quatsch R Weißt du schon, wann du Also Wann du zurückfliegst M Nächste Woche R So schnell schon M Ja – Du, ich weiß nicht, ob ich Also, ob das in drei Monaten

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Theater der Zeit 11 / 2024

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– Das läuft alles sehr langsam da Ja Hast du schon am Telefon erzählt Tut mir leid Soll ichs abgeben? Nein, hör auf Ich komm einfach häufiger rüber, hmm? Hab ja mit Johannes gesprochen – Hab auch schon mit zwei Einrichtungen gesprochen Was Wirklich? Eine hat sogar einen Platz Irgendwann im Herbst Wollte da mal vorbeifahren mit David Irgendwann die nächsten Tage Willst du das denn Tja, was soll ich sonst machen Du bist nicht da, für Monate Mit David ist was anders Vorgestern im Café, da hab ich so ein kleines Kind – Habs zum Weinen gebracht – Na ja – Was ist denn los Ich weiß nicht Du Ich bleib hier Auf gar keinen Fall Doch Du gehst da hin Du machst das Erst sperre ich David ein, und dann noch dich? Du sperrst David doch nicht ein Ja Dachte ich auch immer Aber was kennt David denn Außer diese Wohnung Außer mich Schau doch erst mal, wie die Einrichtung ist Ja Und dann kannst du nach Peru kommen So lange du willst Das wäre doch toll R Ja Denk auch mal an dich Hmm?

Szene 10 Drinnen

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Lena betritt die Wohnung. L O R

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Hallo Hi Hallo Lena David hat nicht gut geschlafen, glaub ich Also lieber ruhig heute Krieg ich schon hin Ihr macht das schon Bin noch mal im Bad

Regina geht ab.

David, Regina und Olli sind auf der Bühne. Die Schlafmütze Hmm? Dave ist wieder eingepennt Kann ich nen Kaffee Ja, nimm ruhig Ist genug da Alles gut?

– Ist schon schwierig Hatte nie eine Fernbeziehung – Hole wohl meine Jugend nach Hattest doch auch mal eine, oder? Hattest du erzählt Was jetzt Eine Fernbeziehung Oh ja, das war scheiße Also so richtig scheiße Kann ich nicht empfehlen Ja Sorry Was? Hätt ich nicht sagen sollen Ist bestimmt schwierig Ist er gut angekommen? Ja – Bin ja keine sechzehn mehr Aber fühlt sich gerade so an Mit sechzehn, da war ich immer so ungeduldig Und mit zwanzig und danach Eigentlich, bis David kam Ich hab immer gedacht: Ich brauche alles sofort Wär ich zwanzig, wär ich jetzt wahrscheinlich Auch in Peru Tja Und jetzt Ja Aber so funktionierts halt nicht Werden alle älter Ja – Oh schau mal, da wird jemand wach Ey, guten Morgen, du Schlafmütze Hey, mein Liebling Hast du schlecht geschlafen letzte Nacht? Selbst Dave wird nicht jünger

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Hab ich was verpasst Die ist komisch heute Michael ist ja wieder weg Macht ihr schon zu schaffen, glaub ich Ah Aber Hauptsache, David schläft Hmm? Du schläfst ja immer noch, Großer Hat geschnarcht heute Nacht

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Stück Matthias van den Höfel L O L

Hat er bei mir auch schon Letzte Woche, als ich abends hier war Echt Ist mir nie aufgefallen Wollte selber schlafen Ging aber nicht bei dem Lärm Hmm, Großer? Hast du einen ganzen Wald abgesägt

Lena beugt sich zu David hinunter, richtet seine Kleidung, dann fährt sie auf. L O L O L

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Iiih! Was Boah David, nicht schon wieder Was denn Hat meine Haare in den Mund genommen Aua! Geht ja gut los, der Tag Hat dich halt zum Fressen gern Wow, krasser Spruch – Hab die Zusage bekommen Kann bald anfangen Krass Glückwunsch Ja, voll gut Freut mich für dich Wirst du bestimmt echt gut machen Danke Kann mir das voll gut vorstellen Du vor einer Klasse Lauter Leute, die anderen gern den Hintern abwischen Und du dann so: Hi, ich bin der Olli Und heute erzähle ich euch mal Welches Klopapier so gar nicht geht Boah Dave, die Lena ist wieder drauf heute Nein, ernsthaft Passt voll gut Hmm Danke

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Olli geht mit David ab. R

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Ah, hier Ich müsste eigentlich schon längst auf dem

So, ich muss jetzt echt Hab ich alles? – Okay, ihr wisst ja Ihr kennt euch ja aus Drei Uhr bin ich wieder da Machs gut, mein Liebling

Voll durch Tut mir voll leid Hmm Weiß sie das schon? Was Dass du gehst Muss die Chefin ihr sagen

Szene 11 Drinnen Lena ist alleine auf der Bühne. Olli kommt dazu.

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Regina geht ab.

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Olli kommt mit David zurück.

Regina kommt zurück. Jetzt schreibt mir auch noch dein Vater Wieder richtig gutes Timing, hmm? Was schreibt er denn Was soll er schon schreiben Wo ist denn meine Tasche Wo ist die blöde Tasche Äh War Dave schon Zähneputzen? Riechst nicht so, Dave Nein Ich glaub nicht Oder Dann gehen wir mal eben

Weg sein – Boah, dieses Arschloch Was denn Hab ihm geschrieben Wann wir uns diese Einrichtung anschauen Da schreibt er: Das geht nicht Da will ich dabei sein Da kann ich nicht Tja, das ist dann doch sein Problem, oder? Schön wärs Soll er halt vorbeikommen, wenns ihm so wichtig ist

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So, bin da Ging nicht schneller Ist schon okay Wo ist Dave Nebenan Warum Brauchte mal Abstand Hä Wieso Weil – Boah, ich weiß echt nicht Vergiss es Komm ich schon selbst mit klar Ey jetzt sag – David hat mir an den Arsch gefasst Was Also nicht so aus Versehen So richtig Ach Quatsch

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Doch Ey das macht der nicht Doch Hat er aber Kann er doch gar nicht Boah, warst du dabei oder ich? Schrei doch nicht so Was ist denn los mit dir Was mit mir los ist Ach fick dich Hey Fick dich sowas von Olli, immer alles gut, hmm? Geh weg Hä Jetzt beruhig dich erst mal Boah, ich war ruhig, bis du gekommen bist So Noch mal langsam – Bin halt grad mit David nach Hause gekommen Beug mich runter hol was aus der Tasche Packt er mir an den Arsch Ich denk erst: Meint der nicht so Aber dann grinst er so Also, guckt halt so Denk mir: Ey, der weiß ganz genau, was abgeht Musste ich erst mal Luft holen – Okay Hab Dave zwar noch nie grinsen gesehen Aber wird dann wohl so gewesen sein Sonst fällt dir nichts ein, oder wie Was soll mir da einfallen Und dann sperrst du David da ins Zimmer? Wie lange ist der da jetzt schon? Wann hab ich dich angerufen? Dreiviertel Stunde? Ja Was? Ey spinnst du? War ja gucken zwischendurch Ja trotzdem Ey denkst du auch mal dran, was das mit Dave macht? Klar Was ist das wichtigste? Dave Um wen dreht sich alles? Dave Dave Dave Dave Ey was für ein beschissener Spitzname

Olli geht über die Bühne und holt David aus dem Nebenzimmer. L O L O L

Boah Was Was soll das denn jetzt Alles gut, Dave? Du, die Lena ist sauer auf dich Alter

Theater der Zeit 11 / 2024


Stück „Drinnen“ O

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Weißt du warum? Nein? Dachte ich mir Willst du mir was sagen? Dann sags und zieh nicht so nen Scheiß ab Ja, ich will dir was sagen Guck mal, ich will dir sagen Das da Das ist unsere Verantwortung Hmm? Klar? Der da ist unsere Verantwortung Der kann nicht ohne uns Du sperrst ihn in ein Zimmer, weil er irgendwie Na weil seine Hände irgendwann Irgendwohin gekommen sind Wo du dir denkst: Iiih, geh weg – Passiert Passiert – Was meinst du denn, wie der sich fühlt Wenn ich ihm den Arsch wasche Hmm? – Denkt der dann: Oh scheiße Ich werde grad sexuell belästigt? – Oder denkt der sich: Oh geil Da fasst mal jemand meinen Arsch an? – Guck Der denkt sich wahrscheinlich gar nichts Der denkt: Ist halt so Der denkt: Muss ja auch mal gewaschen werden Son Arsch wird ja dreckig Son Arsch fängt ja auch an zu stinken Der denkt: Ach ja, heute ist Arschwaschtag Da muss Olli mir halt den Arsch waschen – Sprache verschlagen? Ja, du verschlägst mir echt die Sprache Checkst du das nicht? Nee, du checkst das nicht rzählst du dann bestimmt auch auf der Berufsschule y Mädels, macht euch nix draus Da gibts halt so alte Säcke Die kriegen halt nen Ständer, wenn ihr die wickelt Und wenn euch mal wer an den Arsch grapscht Immer dran denken: Dem gehts viel schlechter als euch Ist dann halt so Gehört zum Job Einfach lächeln und weitermachen Sind ja auch nur Männer Also Noch mal Ja, versteh ich voll Ist unangenehm Tut mir auch leid Tut mir ehrlich leid Aber geht doch um die Perspektive Oder? Wo gehts denn da bitte um die scheiß Perspektive? Obwohl: Ja, geht um die Perspektive Es geht um deine scheiß Perspektive, Olli

Theater der Zeit 11 / 2024

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Ey, du passt so gut in diesen kaputten Job Alles runterschlucken Immer weitermachen Jetzt komm mal runter Immer nur schlucken und weiter gehts Guck dir Regina an Dann siehst du, was dabei rauskommt Ey, nicht vor David Gehts noch Nee, geht nicht mehr Geht echt nicht mehr, Olli Ey, du musst echt mal klarkommen Olli, ganz ehrlich, bleib doch bitte in der Pflege hier kannst du schön einen auf Kumpel machen Schön den besten Freund spielen Wirst halt dafür bezahlt, aber egal Du, ich glaube Du musst dir echt mal Gedanken machen Also, ob das hier das richtige für dich ist Da brauch ich mir keine Gedanken machen Das ist nicht das richtige für mich Tja dann Sprich mit der Chefin Mach was anderes Bist ja noch jung Hast ja gute Noten Wirst ja Ärztin, läuft ja bei dir Wow

Lena steht noch einen Moment lang da, dann geht sie ab.

Szene 12 Drinnen/Draußen David Regina da sitzen drei freundinnen mit regina und david am esstisch im wohnzimmer / die öligen teller stehen noch neben den weingläsern der geruch von röstzwiebeln / hängt noch im raum durchzieht das schwere schweigen / da sitzen sie und schauen zu regina schauen auf ihre teller beobachten die lichtbrechungen im weinglas / regina kennt die blicke kennt die freundinnen noch aus der zeit vor david / kennt jede geste jedes lachen kennt ihr gähnen ihr ohrenkneten / und regina schaut zu david der schaut gebannt / zum fenster regina folgt seinem blick aber da ist nur / die schwarze nacht und dort hinten die straßenlaterne mit ihrem kalten licht tut mir leid will jetzt gar nicht so die stimmung drücken tut mir auch leid dass wir heute hier sein müssen ging nicht anders gibt nicht genug personal

war keiner frei seit lena weg ist

was hab ich mich erst aufgeregt einfach weg nichts mehr gehört nichts mehr gesehen nicht mal mehr mit mir gesprochen hat sie

na ja wusste ich ja eigentlich von anfang an wusste ich ja direkt

bin so wütend gewesen zuerst hab david angeschrien hab die chefin angerufen hab die angeschrien hab zu david gesagt musste das denn sein das hab ich gesagt aber gut spielt ja keine rolle mehr so ist das halt und mit einem mal löst sich die spannung / und als hätten sie nur auf ein zeichen gewartet lachen sie los / lachen die spannung weg lachen in reginas zögerndes sprechen / und regina zieht ihre schultern hoch duckt sich weg vor dem / ungewohnten widerhall ihrer wohnung deren unordnung ihr / im rücken brennt deren ungeputzte küche ihr / in der schläfe klebt / und eine der freundinnen sagt TJA DAVID WAS MACHST DU AUCH FÜR SACHEN / und eine andere sagt kokett BIST HALT AUCH NUR EIN MANN ODER / und die dritte schaut scheu über den tisch und sagt behutsam JETZT LASST IHN DOCH MAL / ihr blick trifft kurz den von regina und weicht ihm schnell aus / und regina schaut zu david der schaut immer noch / zum nachtschwarzen fenster da ist nur die kalte laterne da ist / das spiegelbild des wohnzimmerschranks der bilder an der wand und da / ein kleiner farbfleck in der ecke des fensters nie bemerkt nie wichtig gewesen / muss beim anstreichen passiert sein denkt sich regina aber / wie lange ist das her seit wie vielen jahren ist die farbe schon auf der wand hat es euch denn geschmeckt also ich hatte ja nur noch na ja ich bin ja nicht zum einkaufen gekommen war ja keine zeit dafür musste mich ja um david kümmern die leeren weinflaschen die hatte / michael gekauft als er noch hier war und nicht bloß eine stimme im telefon und fürs putzen hatte ich ja auch nicht so richtig zeit wie das aussieht hier

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Stück Matthias van den Höfel

Szene 13 Drinnen

ich mag gar nicht hinsehen nur noch vierzehn tage denkt sie / dann mit michael in peru dann ohne david ohne diese wohnung ohne das alles hier wenigstens für ein paar wochen also alles etwas improvisiert etwas spontan und chaotisch tut mir leid IST DOCH OKAY sagt die eine IST DOCH GUT DASS WIR MAL HIER SIND / und die andere nickt und sagt JA WIR SIND SO SELTEN HIER IST DOCH SCHÖN HIER / und die dritte lacht und sagt MEINE PUTZFRAU HAT URLAUB BEI MIR SIEHTS NOCH VIEL SCHLIMMER AUS und plötzlich / dreht das gespräch ab wallt auf dreht sich um putzfrauen um parkett um laminat / um bodenfliesen den neuen wintergarten um urlaub / UND BALD PERU WIE VERRÜCKT ruft auf einmal eine regina ins gesicht und regina lächelt sanft und regina reibt sich die wange reibt die stelle wo der ruf sie getroffen hat ja, bald peru schon verrückt, oder aber auch sehr schön das wird bestimmt sehr schön ich geh noch mal wein holen hört regina sich sagen sie steht auf geht in die küche hört / dem brummen des kühlschranks zu hört / das lachen durch die tür denkt an peru und hasst den klang dieses wortes / findet kaum kraft den kühlschrank zu öffnen / sie geht zurück und schenkt wein nach und findet keinen weg mehr hinein ins gespräch ihrer freundinnen / sitzt bloß noch da rückt irgendwann wieder näher zu david der schaut / immer noch gebannt zum fenster zur schwarzen nacht zum farbfleck / schaut zum sich spiegelnden wohnzimmerschrank zu den sich spiegelnden bildern / und regina folgt den spuren seines blicks und sieht nicht was er sieht schau mal, die erbsen sind noch genug da willst du noch hmm magst die doch sonst isst du doch am liebsten hast doch kaum getrunken nimm doch noch hier hab doch extra limonade gekauft na komm trink bitte trink

Olli bereitet David für den Tag vor. O

Michael betritt die Bühne. O M

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So mein Lieber Ich glaube, wir sind soweit Oder, Dave? Noch schnell die Jacke Wo ist denn die Jacke? – Wo hast du schon wieder deine Jacke hingelegt? – Da lachst du Aber es ist echt ziemlich kalt draußen Glaub mir

Ach was Gibts ja nicht Hi! Ach, hallo Olli Ähm Ist Regina gar nicht Ich dachte, sie hätte frei heute Ist zum Einkaufen Kommt bestimmt gleich Hey Dave, guck mal, wer da ist! – Überraschungsbesuch? Ja, sie klang am Telefon so Irgendwas stimmt nicht Irgendwas wegen Lena Ohje, Dave Michael hat das böse L-Wort gesagt Was? Ach, nur Spaß – Lange nicht gesehen, wie gehts? Ja, schön dich zu Ach na ja, wie solls gehen Wie gehts denn Regina Also, du siehst sie ja Siehst sie ja häufiger als ich gerade Ist schon schwierig, glaub ich Und das mit Lena ist halt scheiße Aber hey, so ist das Manchmal passts, manchmal nicht Ja, das ist wahrscheinlich so Ich meine, nächste Woche Da zieht Dave ja schon um Krass, oder, Dave? Nächste Woche ziehst du um! Ich glaube, du freust dich Endlich mal ohne Mama Die paar Wochen wirst du schon aushalten Oder, David? Wieso die paar Wochen? Ist doch nur bis Dezember Hmm? Nee Das ist jetzt schon für immer, dachte ich Was

Ist das erste, was ich höre Ich dachte, das wäre Ich dachte, Regina kommt dann Mit nach Peru So richtig Oder so M Ach was Weiß ich ja gar nichts von O Vielleicht auch ne Überraschung? M Hmm O Na gut Müssen jetzt auch mal Ab zur Physio, Dave Tja, also Wenn wir uns nicht mehr sehen Alles Gute weiterhin in Peru O

Olli geht mit David ab. Michael wartet, vertreibt sich die Zeit. Regina betritt die Bühne. R M R M R

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Was machst du denn hier Wollte dich überraschen Ach so Hey Alles gut Ja Alles super Brauchen sie dich doch nicht in Peru Hab ein paar Tage freigenommen Wollte dich sehen Das ist lieb Hmm – Okay? Was ist Dachte, du Na ja Dachte, du würdest dich freuen Entschuldige Kommt jetzt halt so plötzlich Ja Hätte ich Vorher Bescheid sagen sollen? Ich wundere mich nur Hattest so wenig Zeit Warst immer so müde am Telefon Und jetzt bist du auf einmal hier Tut mir leid Ist echt viel Arbeit Wohl doch nicht so viel, wenn du Jetzt einfach mal hier sein kannst Ja Was soll ich denn Verstehe ich jetzt nicht Nein, ich finde das richtig toll Dass du die Zeit findest Also, wenns bei dir passt Finde ich toll, dass du Jetzt herkommst Ich meine Ich sollte mich ja eigentlich Nicht wundern Du kommst und gehst ja eh wie du willst Was ist denn jetzt los

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Stück „Drinnen“ R

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Dafür bin ich ja da Für dich dazusein Ist ja egal, obs grad Bei mir passt Geht ja darum Obs bei dir passt Na gut, dann Kann auch wieder gehen Okay Was Geh Nein Ja doch Geh Regina – Olli hat gesagt, David würde Umziehen nächste Woche Ja Also so richtig Für immer Was der Olli alles so sagt Redet gern, der Olli Redet mit allen gern Außer mit mir Also hast du einen Platz für David Nicht nur so ein Kurzzeitding Ja Und das sagst du mir nicht Warum Ähm Weil das doch auch was mit mir Also, ich wohne doch auch Mit David seit Jahren Ach ja Entschuldige Mein Fehler Hab ich wieder nicht Genug an dich gedacht Darum gehts doch gar nicht – Also, nächste Woche? Ja, nächste Woche Und Ja, und dann Und dann? Oh nein, was mach ich denn dann Hat mein Leben ja keinen Sinn mehr Weiß ich ja gar nicht Wohin mit meiner Zeit Regina Vielleicht wollte ich dich Ja auch überraschen Aber dann hab ich mir gedacht Wäre bestimmt komisch Dann steh ich auf einmal da In Peru und du Bist wichtig und hast Gar keine Zeit für mich So ein Quatsch Und dann hab ich gedacht Was soll ich denn in Peru Viel zu heiß Verstehe kein Wort Du hast keine Zeit Dann fahr ich lieber nach Irland

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Was willst du in Irland Was will ich in Peru Was willst DU in Peru Ich arbeite da? Kannst du auch hier Kann ich auch in Irland – Kann sich ja keiner vorstellen Dass Regina einfach mal was macht Was keinen Sinn ergibt – Weißt du, alle erzählen Du sperrst David ein Der braucht mal sein eigenes Leben – Keiner sagt Hey Regina, du sperrst dich Doch selber ein Du brauchst mal dein eigenes Leben – Immer nur: Regina, achte mal auf dich Du musst auch mal auf dich achten Aber bitte nicht nur Und bitte nicht zuviel – Wäre ja sonst egoistisch von mir M Ich glaube, ich gehe wirklich mal R Ja Mach das Ich freue mich auch schon Wenn ich einfach gehen kann M – Und R Ja? M Was wird mit Uns R – Machs gut Viel Spaß in Peru Überarbeite dich nicht Du musst auch mal Auf dich achtgeben

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Olli steht unsicher herum. R O

Szene 14 Drinnen Regina sitzt auf dem Sofa. Olli kommt mit David herein. O

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So, da sind wir wieder – Alles gut? Sag mal, Olli – Warum hast du mir das eigentlich Nicht selbst gesagt Also, dass du aufhörst – Warum musste ich das Von deiner Chefin hören Hmm Ich dachte

Das spielt keine große Rolle Wie lange bist du jetzt hier Acht Jahre? Ja Kommt hin, glaube ich Liegt das an mir, Olli Ich weiß jetzt nicht, was Sie hören wollen – Hab deine Chefin angerufen Kannst morgen woanders hin Habt ja eh grad wenig Leute Aber Dave hat doch noch Den Termin beim Arzt Mach ich schon selber Okay Na gut Du kannst dann gehen, Olli Jetzt schon?

R

Machs gut, Olli Ja Danke Ähm Na gut, mein Lieber Dir auch alles Gute Kommt jetzt etwas plötzlich, hmm? Wollte eigentlich morgen noch mit dir Na egal Du machst das schon Hab einen schönen Umzug, hmm? Alles Gute in der Neuen Einrichtung, da gefällts dir bestimmt – Ich leg den Schlüssel hier vorne hin Okay Danke

Olli geht zögernd ab. Regina bleibt auf dem Sofa sitzen, ohne sich umzusehen.

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Stück Matthias van den Höfel

Szene 15 Draußen

na komm versuch noch mal die jacke die brauchst du doch es ist doch kalt draußen da wars da wars, oder hast du gehört hat da nicht

David Regina

und regina dreht sich zu david sammelt ihren mut schaut ihm / in die augen und david schaut zurück schaut immer noch gebannt / ihr entgegen

nein

gleich kommt das Taxi dann hupt er bestimmt

nein, wohl doch nicht kein auto da was denk ich denn david ist das alles denn kann ich denn kannst du denn

na dann mein liebling lass uns mal ach warte deine jacke stehe wohl auch etwas neben mir hmm?

hmm

wenn du nur also wenigstens manchmal wenigstens wenn du es tut mir leid

was ist? was hast du? magst du nicht? du brauchst aber doch deine jacke

und dann tritt regina / einen schritt zur seite dann noch einen und noch einen / und davids blick bleibt da wo er ist folgt ihr nicht / geht an ihr vorbei durch den raum zur wand regina / folgt seinem blick da ist nur die schäbige weiße tapete / mit ihren flecken ihren kleinen löchern ihren immer gleichen / schattenwürfen und regina sieht nicht was er sieht / und sie folgt seinem blick zurück zu seinen augen seinem gesicht / da liegt es unbewegt so als wenn / heute nur irgendein tag wäre und nicht dieser

ich weiß doch selbst nicht mehr

wo bleibt er denn zu spät na klar na so langsam wird es zeit wir sollen doch nicht so spät kommen nicht so spät du sollst dann doch schon dort zu abend essen

ich

ich will doch nur wenn du doch nur wenn ich doch

und regina geht zu ihm hin / legt ihm die jacke über die beine / nimmt seine hand in ihre / streicht ihm mit der anderen / eine wimper von der wange und in diesem moment / hört sie von draußen ein hupen / und sie legt ihren kopf an davids stirn

– ENDE –

du brauchst deine jacke

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Theater der Zeit

Foto Bartek Warzecha

Diskurs & Analyse

„Mothers – A Song For Wartime“ von Marta Górnicka am Maxim Gorki Theater

Serie Dramaturgie der Zeitenwende: Johannes Kirsten „Hoffnung schaffen“ Serie Post-Ost: Abena und Benjamin Freund „Frühlingstheater“

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Hoffnung schaffen Das Berliner Maxim Gorki Theater arbeitet an den Bruchlinien verschiedener Zeitenwenden Von Johannes Kirsten

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Zeitenwende. Der Duden sagt: das Ende einer Epoche oder Ära und der Beginn einer neuen Zeit. Befinden wir uns in einer neuen Zeit? Wann macht man eine Zeitenwende, die ein anderes Denken hervorgebracht haben könnte, fest? Gibt es hier in diesem Land überhaupt ein anderes Denken nach dem 7. Oktober 2023, nach dem 24. Februar 2022, nach der Gewalt in Belarus 2020, nach dem Beginn des Krieges in Syrien, nach … nach … Ich sehe es nicht wirklich. Was sich permanent verändert, sind die Opferzahlen in den andauernden Kriegen. Sie steigen und steigen. Man möchte verzweifeln. Und trotzdem beschäftigen uns die neuen und alten Bruchlinien, die sich durch unser Land, Europa und die Welt ziehen. Wir setzen uns mit der sich immer schneller verändernden Wirklichkeit auseinander, versuchen mal analytisch, mal eher intuitiv zu sein, arbeiten an und mit neuen Texten, suchen in alten eine Verbindung ins Heute. Immer geht es darum, Theater in einer Stadt für diese Stadt und all ihre Menschen zu machen, ihnen Geschichten über die Welt zu erzählen, sie zum Nachdenken, zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Oft lässt dieses gemeinsame Tun uns ein Stück besser die Welt verstehen, auch wenn vieles unverständlich bleibt. Und oft bewahrt gerade dieses gemeinsame Handeln und Sich-über-die-Gegenwart-Verständigen, der allabendliche Austausch mit dem Publikum, einen davor, komplett zu verzweifeln. Das Gorki hat vielleicht im Verlaufe der Jahre eine besondere Sensibilität für die verschiedensten Bruchlinien und Zeitenwenden entwickelt. Das liegt sicherlich zuallererst an den Menschen, die hier direkt oder im weiteren Umfeld arbeiten, die Verbindungen in Gegenden der Welt oder der Gesellschaft haben und damit Wissen und Erfahrungen einbringen, die sonst in der Erzählung der Mehrheitsgesellschaft fehlen. Das STUDIO Я verstand sich von Anfang an als conflict zones arts asylum. In der Schreibwerkstatt „Krieg im Frieden“ entstand 2017/18 das Stück „Timetraveller’s Guide to Donbas“ von Anastasiia Kosodii. Die ukrainische Dramatikerin setzte sich in einer Zeit, in der hier niemand davon sprach, mit dem seit 2014 andauernden Krieg im Donbas auseinander. Der 24. Februar 2022 war trotz allem ein Schock. „Wir suchen nach Worten im Krieg. Worten, die uns helfen, aus diesem Abgrund wieder herauszukommen. Worten der Wahrheit, die wir mit unseren Freunden und Kollegen im Osten Europas teilen.“ Für den 26. Februar luden wir ein, mit einer Reihe namhafter Autor:innen auf den Schock dieses ungeheuerlichen Überfalls zu reagieren und Texte belarussischer, ukrainischer und auch russischer Autor:innen zu lesen. Tief erschüttert hat mich der Auftritt des ehrwürdigen Osteuropa-Historikers Karl Schlögel. Er stand auf der Bühne und rief mit bebender Stimme: „Ruhm den Helden in den Straßen von Kiew.“ Das Pathos zeigte die ganze Hilflosigkeit im Angesicht des Geschehens. Seine Erschütterung war unsere Erschütterung. Schlögel las dann den Epilog aus Artur Klinaus Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“. Der letzte Satz des Buches lautet: „Wer in den Strom der Revolution eingetreten ist, für den gibt es kein Zurück.“ Ich glaube auch, dass es

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Foto Esra Rotthoff

Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #02


Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #02 kein Zurück mehr gibt. Alle durchaus verständlichen Wünsche, an einen Zustand vor dem 24. Februar anzuknüpfen, halte ich für eine Illusion. Das Gleiche gilt vermutlich auch für den 7. Oktober. Das Theater reagiert zwangsläufig langsam auf laufende Ereignisse. Die Produktionsabläufe brauchen Zeit. Aber manchmal fließt die Gegenwart unmittelbar in laufende Arbeiten ein. Im Februar 2022 probten wir mit Oliver Frljić gerade „Dantons Tod/ Iphigenie“. Nach dem 24. Februar wurde der Abend zum ersten Teil einer Kriegstrilogie und zu einer großen Meditation über Krieg und Gewalt. Für den in Jugoslawien im heutigen Bosnien geborenen Oliver Frljić waren im Angesicht des Krieges in der ­Ukraine die eigenen Erlebnisse während des Krieges in Jugoslawien wieder gegenwärtig. Brechts „Mutter Courage“ war der zweite Teil, „Schlachten“ nach Heiner Müller der dritte Teil der Trilogie. Künstler:innen und Geschichten aus dem ehemaligen Jugoslawien spielen am Gorki immer wieder eine Rolle, vor allem in den verschiedenen Ausgaben des Herbstsalons. Nach dem 24. Februar 2022 wurde vom ersten Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen. Unsere Freund:innen und Kolleg:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien wunderten sich darüber. Was war das denn bei uns in den 1990er Jahren? Könnte oder müsste man nicht auch hier aus der Perspektive der Menschen im ehemaligen Jugoslawien von einer Zeitenwende sprechen? Das Vergessen ist groß. Die Konzeption des gesamten 6. Berliner Herbstsalons „kreiste im Herbst 2023 um die Fragen: Was hat der blutige Zerfall Jugoslawiens mit dem Heute zu tun? Wie kann man von all dem erzählen? Stand der Oktober mit Gastspielen, Ausstellungen und einem Filmprogramm im Zeichen der Präsentation von Positionen aus dem ehemaligen Jugoslawien, so richteten wir im November mit den zwei Koproduktionspremieren „Mothers – A Song for War­ time“ von Marta Górnicka und „Fucking Truffaut“ der armenischukrainischen Regisseurin Roza Sarkisian den Blick gen Osten. Das Verbindungsglied bildeten szenische Lesungen der Schreibwerkstatt „While history writes itself“. Zusammen mit Anastasiia Kosodii und Sasha Marianna Salzmann konzipierten wir eine Werkstatt, die dieses Mal Autor:innen aus sieben Ländern aus dem postjugoslawischen und postsowjetischen Raum vereinte. Wie ist ein Schreiben fürs Theater im Angesicht der grausamen Realität möglich? Welche Form eignet sich, um von dem jähen Verlust der Gewissheiten zu erzählen? Ist ein dialogisches Schreiben überhaupt noch ein Weg, den Realitäten beizukommen, oder öffnet eine überformte, ins Poem ausgreifende Sprache viel mehr Möglichkeiten des Ausdrucks? Der Prozess war intensiv, hochinteressant, aber auch schmerzhaft. Der Krieg in Jugoslawien liegt 30 Jahre zurück. Die kroatische Autorin Ivana Sajko hat sich immer wieder damit auseinandergesetzt. Aber es ist ein Unterschied, ob man mit einem Abstand von inzwischen 30 Jahren auf diesen Krieg schaut oder ob, wie im Falle der Ukrainer:innen, der Krieg momentane Realität ist und tagtäglich Raketen und Drohnen fliegen, das Sterben anhält. Sie können und wollen nicht reflektierend und distanziert darüber sprechen. Wie kommt man trotzdem in einen Austausch? Wie akzeptiert man die Situation des jeweiligen anderen? Die

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Frage kam auf, ob nicht die Kunst über allem stehen müsse. Ich möchte das eigentlich aus vollstem Herzen bejahen, aber vielleicht geht das im Moment nicht – vielleicht hat alles seine Zeit und wir müssen darauf hinarbeiten, dass wir wieder nur über Kunst sprechen können. Oder ist vielleicht genau jetzt, „wenn es am untröstlichsten ist, genau die richtige Zeit für Würde und Schönheit“, wie Mely Kiyak sagt? Bei den Thementagen der Berliner Festspiele „Reflexe & Reflexionen. Der 7. Oktober, der Gaza-Krieg und die Debatte in Deutschland“ sagten die Kurator:innen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrer kurzen Eröffnungsrede, dass dies kein Safe Space sei, dass Dinge gesagt werden können, ja vielleicht sogar müssen, die konträr zur eigenen Meinung stehen, vielleicht sogar verletzend sein können. Das müsste doch auch der Anspruch an uns und an unsere Kunst- und Theaterräume sein, dass wir unterschiedlichen Positionen diskursiv-künstlerisch Raum geben, Widersprüche bearbeiten, aushalten, uns streiten und wieder zusammenkommen. Wir haben die Freiheit, in unserer Kunst widersprüchliche Meinungen aufeinandertreffen zu lassen, Wahrheiten nebeneinander zu stellen. Das sichert uns die Kunstfreiheit zu, die es zu verteidigen gilt. Wie spricht man? Wie bleibt man menschlich? Wie bewahrt man sich seinen Humanismus? Das fragt Maya Arad Yasurs Stück „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“, das auch wir zeigten. Eine sich anschließende Diskussion mit Jouanna Hassoun, Maya Arad Yasur, Sasha Marianna Salz-

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #02 In viel stärkerem Ausmaß als bei Putins Angriff auf die Ukraine sind wir beim neuen Nahostkrieg als Theater in Zwänge gekommen zu klären, wie wir uns verhalten.

mann und Marina Frenk wurde von Deniz Utlu feinfühlig geleitet. Nichts, was das Stück fragt, hat an Gültigkeit verloren. Die Situation ist inzwischen eine ganz andere als im Moment der Entstehung des Stückes kurz nach dem 7. Oktober. Die Opferzahlen steigen. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie man noch humanistisch bleibt. Der grausame Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 fiel genau in die Zeit des 6. Berliner Herbstsalons. Wir wollten die alten Bruchlinien und Zeitenwenden verstehen. Plötzlich kam eine neue hinzu und hatte Auswirkungen auch auf uns. Zwei Wochen später sollte Yael Ronens Komödie über den Nahostkonflikt „The Situation“ wieder gezeigt werden. Auf Bitten aus der Produktion sagten wir diese Vorstellung ab. Wir wollten Zeit gewinnen, um zu überlegen, wie und ob überhaupt dieses Stück, in dem u. a. Israelis und Palästinenser:innen gemeinsam auf der Bühne stehen, wieder spielbar ist. Yael Ronen schrieb in ihrer Mitteilung: „Es heißt, Komödie ist Tragödie plus Zeit. Wir brauchen Zeit.“ Wird es jemals wieder eine Zeit für diese Komödie geben? Jetzt, am 9. November, jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Der Krieg in der Ukraine ist in seinem dritten Jahr. Das Sterben ist immens. Hierzulande schwindet die Unterstützung für die Ukraine. Die AfD und das BSW gewinnen Stimmen mit einer in Teilen Pro-Putin’schen, im Falle der AfD auch rechtsradikalen Haltung. Rassistische und migrationsfeindliche Inhalte sind bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineingesickert. Eine Brandmauer sehe ich nicht wirklich. Zum Feiern ist mir nicht zumute. Marta Górnickas „Mothers – A Song for Wartime“ hat im Sommer dreimal vor ­insgesamt 6000 Leuten gespielt, die jedes Mal mit Standing Ovations die 21 ukrainischen, polnischen und belarussischen Frauen verschiedener Generationen, die von ihren Erlebnissen erzählen, feierten. Hier in Berlin hält sich das Interesse in Grenzen. Die Leute wollen immer weniger mit dem Leid der Welt konfrontiert werden. Auch ein so wunderbares wie eigenartiges Stück wie ­„Fucking Truffaut“ von Roza Sarkisian hat es inzwischen schwer. Es stellt sehr unpathetisch und mit bitterbösem Humor die Frage, ob und wie wir als Theaterleute überhaupt neue Narrative des Kriegsdiskurses erforschen und entdecken können. Für Roza Sarkisian hat die Zeitenwende viel früher als am 24. Februar 2022 begonnen. Aber wann? Schon mit dem Beginn des Krieges im Donbas 2014? Schon 1992, als sie und ihre Familie vor den Bomben aus Karabach ins ukrainische Charkiv flohen oder doch erst Ende 2023, als nach dem kurzen Krieg Aserbaidschans gegen Karabach sämtliche armenischen Bewohner:innen der Region vertrieben wurden? Roza Sarkisian wird davon in einer neuen Produktion im Rahmen eines Festivals zum Gedenken

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an den Genozid an den Armenier:innen vor dann 110 Jahren Ende April 2025 erzählen. Erste Gedanken zu diesem Text mache ich mir auf der Autostrada¸ Wolności (der Autobahn der Freiheit – auf Polnisch klingt es besser), die von Berlin nach Warschau führt. Es ist der 5. Oktober. Am 7. Oktober wäre die DDR 75 geworden und nun jährt sich der Terroranschlag der Hamas zum ersten Mal. Ich habe elf Stunden Fahrt nach Vilnius vor mir. Viel Zeit zum Nachdenken. In Vilnius treffe ich meine Frau, die bei ihrer Familie in Minsk war. Ich überhole Lastwagen aus Kasachstan, Kirgisien, Georgien und immer wieder Busse und Lastwagen aus der Ukraine. Lastwagen aus Russland und Belarus fehlen nahezu. Für mich ist nach wie vor 1989 die große Zeitenwende. Meine Generation im gesamten Osten Europas wurde infiziert vom Virus der Revolution und der Freiheit. Für uns war es eine Explosion von Welt. Ich habe das Reden vom Ende der Geschichte nie verstanden. Ich empfand es eher als einen Beginn der Geschichte. Warum hat sich alles 1989 in Bewegung gesetzt und warum sind wir jetzt da, wo wir sind? An diesem 9. November zeigen wir am Gorki den Film „Im Glanze dieses Glückes“. Er ist Anfang 1990 gedreht worden und geht bis zur ersten und einzigen freien Volkskammerwahl am 18. März 1990. Ein Team aus ost- und westdeutschen Filmemacher:innen hatte sich vorgenommen, den vielleicht zehnjährigen Prozess hin zur deutschen Wiedervereinigung zu begleiten. Es kam anders. Im Film ist eine Kundgebung auf dem Leipziger Augustusplatz zu sehen. Tausende rufen „Helmut, Helmut!“ und wählen am 18. März die Parteien, die einen schnellen Weg zur D-Mark versprechen. Die Bilder zeigen Jugendliche mit einer Deutschlandfahne, auf der „Deutschland einig Vaterland“ steht. Deutschland ist dick umrandet. Die ehemaligen Gebiete im Osten sind auch zu sehen. Es ist klar, wohin die Reise geht. Als es brenzlig in der Menge wird und man erste Hitlergrüße sieht, bricht die Kamera ab. Alles ist sofort wieder da, ja war nie weg, weder im Osten noch im Westen. Das hat Cem Kaya gerade in seinem ­Projekt „Pop, Pein, Paragraphen“ bei uns gezeigt, das sich im 75. Jahr des Grundgesetzes anhand des Falles Cemal Kemal Altun mit der unrühmlichen deutschen Asylgesetzgebung auseinandersetzt und Kontinuitäten rassistischer und rechtsradikaler Gewalt in Westdeutschland aufzeigt. Es beginnt eben nicht alles erst 1990, sondern es gibt eine bis ins Heute reichende traurige Kontinuität. Ich verstehe die Enttäuschung nach 1990 im Osten, teile sie zum Teil sogar. Der Umbruch hat viele Menschen arg gebeutelt. Bei allem Verständnis für die Härten der Transformation habe ich kein Verständnis dafür, dass man eine in Teilen rechtsradikal und rassistische Partei wählt. Noch kurz vor der polnischen Grenze auf der Autostrada¸ ­Wolnoś ci höre ich im Deutschlandfunk einen Kommentar von Ofer Waldman zu Israel, Gaza, Libanon anlässlich des bevorstehenden Jahrestags des 7. Oktobers. Sasha Marianna Salzmann und er hatten im Gorki ihr mich tief berührendes Buch „Gleichzeit“ präsentiert, in dem sie uns an ihrem Nachdenken über die Welt nach dem 7. Oktober teilhaben ließen. Seinen Kommentar endete Ofer mit den Worten „Hoffnung hat man nicht. Hoffnung schafft man.“ T

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Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost

Frühlingstheater Von Abena und Benjamin Freund

Im Superwahljahr 2024 mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg (am 1. und 22. September) laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser neuen Serie meldet sich die Gene­ration Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Als Reaktion auf eine Recherche der Investigativ-Plattform Correctiv wurden im Frühjahr 2024 im ganzen Land Anti-RechtsDemonstrationen veranstaltet. In Massen zieht es die deutsche Bevölkerung auf die Straßen, um Haltung gegen rechtsextreme Abschiebefantasien zu zeigen. Während aus der Recherche sogar ein Bühnenstück entsteht, geht ein Gute-Laune-Song auf TikTok viral. Die Geschwister Abena und Benjamin blicken aus Schwarzer Perspektive auf die Zeit zurück und träumen im Wahljahr von einer anderen Zukunft. A: Ich habe während dieser Zeit mitbekommen, dass die Demos bei von Rassismus betroffenen Menschen gemischte Gefühle ausgelöst haben. Auch wir beide sind Schwarz und in Thüringen aufgewachsen. Ich bin zum Studieren dortgeblieben, du wohnst mittlerweile in Berlin. Wie hast du die Zeit der Demos als Person of Color in der Großstadt wahrgenommen? B: Es war ermüdend. Generell haben viele Demos in Berlin die Aura einer zu groß geratenen Party oder Werbekampagne. Man kann es der Stadt nicht mal übel nehmen. Das ist der Deal, den man eingeht, wenn einen die Metropole aus der Provinz hervorlockt. Woche für Woche jagt ein Event das nächste. Das ist aufregend. D. h. aber auch, dass nach dem Klimaprotest ein Megakonzert stattfindet, und neben dem sympathischen Kunstflohmarkt hält nebenan vielleicht irgendein weißer Typ mit Dreadlocks ein Pappschild mit krudem Spruch in die Luft. Auf Anti-Rechts-Demos finden diese Dinge dann gleichzeitig statt. Bei mir entstand nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche der Eindruck, dass viele Leute bei den Straßenzügen nicht mehr zwischen den Anlässen unterscheiden: Hauptsache groß, Hauptsache laut, Hauptsache Action. „Wofür gehe ich eigentlich noch mal auf die Straße? Ach egal, dreht den Bass auf und let’s go!“ Antirassismus so auszuleben ist ein Privileg, das nur weiße Personen haben können. Man hat Spaß und tut nebenbei etwas für die gute Sache. Man ist immer mit dabei, aber nie betroffen. Man zeigt sich schockiert oder abgeklärt, wenn die Medien über Rassismusvorfälle berichten, und verschließt aber die Augen vor der Diskriminierung im nahen Umfeld. Mich macht das als Schwarze Person müde. Noch mehr ärgert es mich, wenn sich vermeintlich aufgeklärte Menschen zurücklehnen und sich über „das, was da im Osten abgeht“ amüsieren und davon distanzieren. Mit dem Finger auf die anderen zeigen, statt in die Selbstreflexion zu gehen, das liebe ich ja. Aber im Ernst: Wenn das das neue universelle Zeichen gegen Rassismus ist, dann kann ich darauf verzichten.

Die Geschwister Abena und Benjamin Freund

Theater der Zeit 11 / 2024

A: Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich die Demo in Erfurt mit ambivalenten Gefühlen verlassen habe. Einerseits war ich froh darüber, dass sich so viele Leute in so kurzer Zeit auf dem Erfurter Domplatz versammelt hatten, um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus

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Foto privat

A: Bist du in Berlin zu einer der Demos gegangen? B: Nein, die Bilder der springenden Partymeute auf Social ­Media haben mir gereicht. Ich weiß aber, dass du zu der Zeit in Thüringen allein zu einer Demo gegangen bist. Das fand ich ­damals schon stark. Wie war es am Ende vor Ort für dich?


Diskurs & Analyse Serie: Post-Ost Zunächst bleibt abzuwarten, inwiefern sich die Kulturpolitik im Osten verändert.

zu setzen. Andererseits vermischte sich die Hoffnung mit eher unangenehmen Gefühlen. Die weiße Mehrheitsgesellschaft klatschte und jubelte bei jedem Redebeitrag von anderen weißen Personen, die sich gegen Faschismus äußerten. Als das Mikrofon zu People of Color wanderte, veränderten sich die Themen. Auf einmal ging es sehr konkret um weiße Vorherrschaft, etwa in Form von Neokolonialismus oder Polizeigewalt. Das Publikum war davon sichtlich überfordert. Ich habe gemerkt, dass sie nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollten. Die Menge, die vorher noch so laut gewesen war, verstummte, während ich als einzige Person of Color an der Stelle, an der ich stand, applaudierte. Mir wurde schnell klar: Wirklich wohl fühle ich mich hier nicht. Denn für wen sind diese Demos eigentlich gedacht und auf wen richtet sich der Fokus? Auslöser für die AntiRechts-Demos ist ja die Correctiv-Recherche gewesen, die sogar als Theaterstück inszeniert wurde. Wie empfindest du die Übersetzung einer solchen Aufdeckung in den künstlerischen Kontext? B: Das Theaterstück ist als Ko-Produktion des Berliner Ensembles und des Volkstheaters Wien entstanden. Es wurde u. a. auch am Deutschen Nationaltheater in Weimar in Thüringen aufgeführt und man kann es heute noch auf YouTube sehen. Versteh mich nicht falsch, es ist wichtig, dass es Recherchen gibt, die uns im besten Fall als Gesellschaft voranbringen. Und auch das Theater ist eine kluge Form, um Missstände künstlerisch zu vermitteln. Wenn ich mir aber vergegenwärtige, dass ein überwiegend weißer Teil des Publikums extra ins Theater gehen muss, um sich vorspielen zu lassen, welche rassistischen „Untergrundpläne“ in Deutschland geschmiedet werden, dann frage ich mich schon: „Schaut ihr denn im Alltag so sehr weg, dass ihr so etwas nicht im Bereich des Möglichen verortet habt?“ Du und ich können Dutzende Situationen aufzählen, in denen wir uns mehr Unterstützung von unserem Umfeld bei rassistischen Vorfällen gewünscht hätten. Oft wurden dann diskriminierende Kommentare relativiert mit: „Ach, der oder die meint das doch nicht so.“ „Gut, dann setz dich bitte ins Theater und glaub dem Schauspiel mehr als mir“, möchte ich da seit diesem Frühjahr entgegnen. Mir geht es nicht um die Inszenierung des Stückes oder die jüngste öffentliche Kritik an der Correctiv-Recherche. Ich finde es vor allem interessant, wie solche Ereignisse von einigen Leuten wahrgenommen werden, die sich in ein solches Theaterstück setzen. Wie die Demo ist das Theater erst mal ein aufregendes Event, das man nicht verpassen sollte. A: Bei mir kamen ähnliche Gedanken auf, als das Lied „Für immer Frühling“ der Popsängerin Soffie auf TikTok viral ging und zu einer Art Protesthymne der Demos wurde. Sie selbst hat das Lied nicht mit dieser Intention verfasst, doch auf Social Media versicherten ihr viele Leute, „Für immer Frühling“ sei der Song, den Deutschland jetzt brauche. Ein Szenario, in dem immer Frieden herrscht und es allen gut geht, ist natürlich schön, aber meines

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­ rachtens ein sehr schwammiges Statement gegen so konkrete AbE schiebefantasien, die in People of Color ganz konkrete Ängste entfachen. Die freudige Stimmung im Musikvideo zu dem Song mag sich aus weißer Perspektive richtig anfühlen. Aber als Schwarze Frau in Thüringen habe ich mit realen Bedrohungen zu kämpfen und daher weniger das Bedürfnis, gut gelaunt über eine Demo zu hüpfen. Denkst du, es ist möglich, als Ally Kunst zu schaffen, die nicht die eigene privilegierte Position in den Fokus rückt, sondern den Blick auf der Perspektive der Betroffenen beibehält? B: Ich würde es mir sehr wünschen. Ich denke, das funktioniert aber nur mit Demut. Verbündete müssen sich dafür selbst hinten anstellen und Betroffenen zuhören. Dafür muss ich mir als weiße Person aber zunächst bewusst darüber sein, dass ich gewisse Privilegien genieße, die andere Menschen nicht haben. Wenn diese Reflexion nicht stattfindet, kommt am Ende nichts anderes als „Frühlingstheater“ raus. Neben diesem „Frühlingstheater“ waren in diesem Jahr vor allem die Wahlergebnisse im Osten Deutschlands erdrückend. Was wünschst du dir und anderen von Rassismus betroffenen Personen, die in Ostdeutschland leben? A: An erster Stelle wünsche ich mir natürlich Sicherheit im Alltag. Ich merke, wie rassistische Anfeindungen aktuell immer salonfähiger werden und in die Mitte der Gesellschaft rücken. Eine rechtspopulistische Partei nehmen du und ich als Betroffene nur als Symptom wahr. Das Problem der weißen Mehrheitsgesellschaft ist, dass sie jene Parteien oft als Kern der Problematik wahrnimmt. Darüber hinaus wünsche ich mir grundsätzlich mehr Sichtbarkeit für People of Color in den ostdeutschen Bundesländern, da unsere Stimmen in den Diskussionen über den aktuellen Rechtsruck im Land häufig nicht gehört werden. Kunst und Kultur können hierfür ein hilfreiches Mittel sein. Was glaubst du denn, welche Art von Liedern, Theaterstücken und Demos es wirklich braucht? B: Man sollte realistisch bleiben. Zunächst bleibt abzuwarten, inwiefern sich die Kulturpolitik im Osten nach den Wahlen verändert. Wenn ich es mir jedoch wünschen könnte, dann würden wir in Zukunft mehr Kunst von Menschen wahrnehmen und fördern, die direkt von Rassismus betroffen sind. Der Berliner Rapper Apsilon teilt z. B. seine Lebensrealität mit einer gefühlvollen Brachialität. Er rappt über die Gastarbeiter:innengeschichte seiner Familie, Rassismus auf den Straßen und seine Sicht auf den Kapitalismus. Es braucht mehr Aufmerksamkeit für diese Perspektiven, egal, ob auf der Theater- oder Konzertbühne. Natürlich steht es allen Menschen offen, welche Kultur sie konsumieren. Doch es braucht mehr Verständnis dafür, dass wir uns als Gesellschaft nur vorwärtsbewegen können, wenn diese Stimmen in Entscheidungspositionen gehört werden. Sei es als Künstler:innen bei Kulturveranstaltungen oder bei der Organisation und Durchführung von Demos. A: Wenn sich weiße Künstler:innen gegen Rechtsextremismus positionieren, ist das absolut richtig und wichtig. Allerdings ­ bin ich auch der Meinung, dass die Geschichten von People of ­Color hierbei an erster Stelle stehen sollten. Denn, wie du schon angedeutet hast, jene künstlerischen Stimmen, die sich Gehör ­ ­verschaffen wollen, gibt es in Deutschland genügend. T

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Theater der Zeit

Foto Rikke Løe Hovdal

Report

Lola Arias erhält den Internationalen Ibsen-Preis 2024

Oslo International Ibsen Award für Lola Arias Mecklenburg-Vorpommern Ein UNESCO-Welterbe-Theater in der Landeshauptstadt und viele Probleme in der Peripherie Doppelkritik Zwei Adaptionen von Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ stehen zum Saisonauftakt auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater

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Report Oslo

Lola Arias (2. v. l.) bei der Preisverleihung zusammen mit der internationalen Jury

Befreites Leben Die argentinische Autor-Regisseurin Lola Arias erhielt den International Ibsen Award 2024 in Oslo Von Thomas Irmer

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Sechs Personen, fünf Frauen und ein trans Mann, stehen auf der Bühne in Galakleidung. Sie zählen „Los Días Afuera“, die Tage, die sie draußen sind. Denn alle waren in Argentinien im Gefängnis wegen Drogen, Diebstahl und anderen mit Armut verbundenen Delikten. Nun zählen sie nach den Tagen im Knast in die andere Richtung: wie lange sie es draußen geschafft haben, ohne wieder straffällig zu werden. Denn das ist, obwohl sie nun hier wie vorher schon in ­A vignon, Barcelona und Hamburg viele Tage damit sogar auf Bühnen vorangekommen sind, doch nicht ganz auszuschließen.

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Report Oslo Mit dem Erzählen der einzelnen Schicksale – eine junge Mutter, die ihr Kind nicht mehr sieht, Delfino mit seinem Fortkommen von der Straße – entsteht eine kraftvolle musikalische Revue, live gesungen von den Protagonist:innen und begleitet von der mit Arias schon lange verbundenen Multi-Instrumentalistin und Komponistin Inés Copertino: Musik als Befreiungstraum und ­befreites Leben.

Lola Arias bekannte, wie Swetlana Alexijewitsch eine „Autorin des Ohrs“ zu sein, die eine Geschichte akribisch im Wie des Gesagten formt und festhält, auch wenn sie erst mal kaum druckreif erzählt wird.

„life pieces“ „Los Días Afuera“, das im Rahmen der Preisverleihung im Nationaltheater Oslo gezeigt wurde, war für Arias die bislang schwierigste Produktion einer Reihe von Arbeiten, in denen Menschen mit ihren eigenen Geschichten auf der Bühne stehen. Das sei ja kein Theater, weil sie nicht mit echten Schauspieler:innen arbeite, hatte sie sich im Laufe ihrer Karriere öfter mal anhören müssen. Und sie sei auch keine richtige Autorin, weil sie ja nur die Geschichten von anderen aufschreibe. Es schien, als würde sie in ihrer Dankesrede auf diese Art von Kritik noch einmal antworten wollen. Lola Arias bekannte, wie Swetlana Alexijewitsch eine „Autorin des Ohrs“ zu sein, die eine Geschichte akribisch im Wie des Gesagten formt und festhält, auch wenn sie erst mal kaum druckreif erzählt wird. Und als Regisseurin komme es ihr bei der Arbeit vor allem auf das Zuschauen an. Mit bislang 108 Protagonist:innen hat sie schon gearbeitet, u. a. für „Mother Tongue“, ein Stück über Reproduktion und Adoption, das wegen der unterschiedlichen Gesetzeslage in ­ Spanien, Deutschland und Italien in verschiedenen Versionen mit jeweils anderen Beteiligten entwickelt wurde. Ihre Stücke nennt sie „life pieces“, eine Weiterentwicklung von dokumentarischem Theater, die in dieser Form sicher nicht einmalig, aber in der speziellen Lola-Arias-Sensibilität und M ­ usikalität für die jeweiligen sozialen Hintergründe eben doch etwas ganz Besonderes ist.

Foto links Rikke Løe Hovdal, rechts Eugenia Kais

Erst die zweite Frau Das hat die international besetzte Jury unter der Leitung von Ingrid Lorentzen, Intendantin des Norwegischen Nationalballetts, gut erkannt. Mit Lola Arias erhält in der Chronik des seit 2008 vergebenen International Ibsen Award nach Ariane Mnouchkine (2009) zum zweiten Mal eine Künstlerin diesen Preis. Noch wichtiger dürfte für die auch Nobelpreis des Theaters genannte Auszeichnung und ihre noch junge Geschichte aber sein, dass damit eine Theaterform des Dokumentarischen gewürdigt wird, die seit über 20 Jahren weltweit im freien und unabhängigen Theater entstanden ist und durch die vielfältigen Kooperationsformen von Festivals und der mit ihnen verbundenen Institutionen möglich wurde. Auch deshalb ist die Preisvergabe an Lola Arias, die in Deutschland mehrere Stücke am Berliner Maxim Gorki Theater mit internationaler Ausstrahlung realisierte, ganz auf der Höhe der Zeit. T Lola Arias’ „Los Días Afuera“, uraufgeführt in Avignon 2024, beim International Ibsen Award in Oslo

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Report Mecklenburg-Vorpommern

Schieflage in schöner Landschaft In Mecklenburg-Vorpommern gibt es ein UNESCO-Welterbe-Theater in der Landeshauptstadt und viele Probleme in der Peripherie Von Juliane Voigt

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Die Sorgen der kleinen Leute, was gehen die einen Theaterdirektor an? Es ist doch bei Weitem interessanter, darüber zu debattieren, wie Schillers Theater zu interpretieren ist, als mal genauer hinzusehen, was für ein Sozialdrama sich nebenan abspielt. So gesehen auf der Bühne des Greifswalder Theaters, genauer ­gesagt auf der Bühne des Ersatztheaters Kaisersaal, wo gerade Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ Premiere hatte. Der Kosmos einer ­Berliner Mietskaserne, in dem alle aneinander vorbeireden und jeder versucht, in dem sozialen Gebäude möglichst nicht noch eine ­Etage tiefer zu rasseln. Seit zwei Jahren ist das große Haus in Greifswald für eine Generalsanierung geschlossen. Nach mehr als 100 Jahren war das vielleicht wirklich mal dran, aber besser ein heruntergekommenes Theater als keins, denken jetzt auch viele, die die Schließung eigentlich wollten. Denn bis es die Interimsspielstätte Kaisersaal gab, hat es ein Jahr gar kein Theater gegeben. Schauspieldirektorin Uta Koschel aber verbietet sich und dem Ensemble weiteres Gemurre. „Wir gucken nach vorne, machen Theater, es nützt nichts, immer wieder aufzuzählen, was nicht geht“, sagt sie. Lutz Jesse aber, seit mehr als 40 Jahren hier Schauspieler – ein Auslaufmodell in der Branche –, bleibt der Abschied nicht im Kostüm stecken. Ja, sie haben gemüffelt, die Duschen im Keller, und die

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Foto Silke Winkler

„Cyrano de Bergerac“ im Schweriner Schlosshof 2019, Regie Alejandro Quintana


Report Mecklenburg-Vorpommern Das Mecklenburgische Staatstheater vermeldet Erfolge auch in der internationalen Wahrnehmung, lädt Stars ein und kooperierte für Florentina Holzingers „Sancta“ sogar mit den Wiener Festwochen.

Ungleiche Bedingungen im Flächenland Wie es den Theatern geht, welche Akzeptanz sie in der Bevölkerung, bei den Bürger:innen der Städte und Landkreise haben, hängt stark vom politischen Willen ab. Greifswald hat z. B. einen theaterinteressierten Oberbürgermeister. Kaum eine Premiere, die Stefan Fassbinder (Bündnis 90/Die Grünen) sich entgehen lässt. Er ist aber nur ein Teil des Aufsichtsrats des Theaters Vorpommern. Der andere, Alexander Badrow (CDU), ist der Stralsunder Bürgermeister. Dessen Welt ist das Theater jetzt nicht so. Saniert wurde das Stralsunder Theater unter dem Vorgängerbürger­meister. Die Stadt hat damals das Krankenhaus verkauft und mit 16 Millionen Euro aus dem Erlös das 100 Jahre alte Stadttheater für die nächsten 100 Jahre auf Vordermann gebracht. So wie es jetzt läuft, wird allerdings befürchtet, dass spätestens im Jahr 2028 mindestens eine Sparte wegfallen wird. Und die Häuser mehr und mehr für Gastspiele freigehalten werden. Denn Grundlage der jetzigen Finanzierung ist der Theaterpakt des Landes, mit einer jährlichen Dynamisierung von 2,5 Prozent. Diese in Zeiten niedriger Infla-

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Drehbühne hat gequietscht und auf der Bühne standen Eimer, um Regenwasser aufzufangen, das durchs Dach tropfte, aber es war doch sein Theater, sagt er und kann die Tränen nicht zurückhalten: Er wird auf dieser Bühne nie mehr spielen. Denn saniert wird hier gerade gar nichts, schon gar nicht general. Nie war ein Theater so nutzlos umbauter Raum. Manchmal gehen Menschen mit Klemmmappen, Bauhelmen und spitzen Stiften hinein, wo 100 Jahre lang getobt, geschwitzt, gerannt und herumgebrüllt wurde, geliebt, gehasst, gemordet, geweint und gebuht und geklatscht. Dann wird wieder zugeschlossen. Verwaltung, Gewerke und Sparten sind wahllos auf die Stadt verteilt. Seit einem Jahr navigiert der große Dampfer Theater Vorpommern, zu welchem neben den Stadttheatern Greifswald und Stralsund auch das kleine fürstliche Schauspielhaus in Putbus auf der Insel Rügen gehört, sogar ohne Kapitän auf der Brücke, nachdem der letzte Intendant hingeworfen hatte, wahrscheinlich ohne die Folgen dieser einsamen Entscheidung zu überblicken. Denn die Geschicke des Theaters werden jetzt nur noch von Excel-Tabellen gelenkt, es gibt einen Geschäftsführer, der zugibt, sich für Theater mäßig zu interessieren und gerade Alleinherrscher eines Betriebs ist, der hauptsächlich Künstler:innen beschäftigt. Eine Intendanz ist ausgeschrieben, wird aber schon seit einem Jahr nicht besetzt. Das gibt zu denken!

SCHACHT von Falk Rößler Regie: Milan Pešl

SCHACHT:LICHT [DER BERG], Uraufführung: 15. November im Apollo-Theater Siegen SCHACHT:FINSTERNIS [DIE ZWERGE], Uraufführung: 16. November im Bruchwerk Theater

apollosiegen.de ⁄ schacht Ein Projekt vom

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Gefördert durch

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Gewitzte Anklamer Für Rostock ist immerhin ein Theaterneubau herausgesprungen (siehe TdZ 05/2022). Denn das Volkstheater ist seit mehr als 70 Jahren ein Provisorium. Von einer Trutzburg der Demokratie und Kultur kann beim besten Willen keine Rede sein. Der ­tausendfach umgebaute und den komplexen Bedarfen eines Stadttheaters angepasste Tanzsaal macht den Eindruck, dass die Wände nur noch stehen, weil Schauspieler:innen dagegen lehnen und die Bühne quasi direkt von den Musiker:innen im Orchestergraben balanciert wird. Wenn hier, geplant ist 2028, alles raus ist, zerfällt es wahrscheinlich von alleine zu Staub. Um das neue Theater haben sich jahrzehntelang mehrere Bürgerschaften gestritten. Mal war es politisch von der Stadt gewollt, mal nicht. Am Ende war es die Ministerpräsidentin, die von Schwerin aus den 208 Millionen Euro teuren Bau mit 51 Millionen vom Land durchsetzte. Danach wurde nicht mehr gestritten. Jetzt wird in exponierter Lage mit Wasserblick gerade die Baugrube ausgehoben. Aber wie geht es den Theatern auf der anderen Seite des Bindestrichlands? Da lohnt sich vielleicht ein historischer Exkurs: Am 10. März 1637 starb der letzte pommersche Herzog Bogislaw XIV. – ein Tunichtgut und Trunkenbold. Und mit ihm das einst einflussreiche pommersche Greifengeschlecht, denn er hinterließ trotz Verehelichung keine Nachkommen. Pommern, ein Land,

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Oben: das Volkstheater Rostock, die Häuser des Theater Vorpommern: Stralsund, Greifswald und Putbus

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Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2551728, Unukorno - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10715722

tionsraten vereinbarte Steigerung reicht jedoch nach Ansicht der Theater nicht mehr aus, um die Kostensteigerungen abzufangen. Der Theaterpakt endet sowieso 2028. Auf die Frage, was danach kommt, gibt es keine Auskunft aus Schwerin. Apropos: Blicken wir nach Westen. Das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin ist sozusagen Welterbe, denn das Schloss-Ensemble steht neuerdings auf der begehrten UNESCOWelterbe-Liste. Trotzdem, auch dieses Theater gehört in das düstere Reich von Graf Zahl. 2017 hatten die Schlossfestspiele noch 30 000 Zuschauer:innen. 2024 waren es 10 000. Darüber ist auch das Theater unzufrieden, aber in Schwerin wird die Sommertheaterbühne natürlich trotzdem nicht verkauft. Denn zu den eifrigen Theaterbesucher:innen des Sechs-Sparten-Hauses (vier plus die plattdeutsche Fritz-Reuter-Bühne und Junges Staatstheater Parchim) gehört die Ministerpräsidentin, die nach der Tagespolitik gern vom Schloss ins Schauspielhaus hinübereilt. Lästerzungen könnten jetzt ausrufen, sie halte sich da so was wie ein Hoftheater. Aber nichts da – Manuela Schwesig geht einfach gern ins Theater. Das Mecklenburger Staatstheater ist komplett in Landeshoheit. Das war ihre Idee. Nicht zuletzt war 2016 damit auch die von ihrem Vorgänger Erwin Sellering geplante Fusion der Landestheater vom Tisch. Schwerin und Rostock wären da zusammen ein zwangsfusioniertes Landestheater West geworden. Das Mecklenburgische Staatstheater vermeldet seitdem Erfolge, auch in der internationalen Wahrnehmung, lädt Stars ein, kooperierte für ­Florentina Holzingers „Sancta“ sogar mit den Wiener Fest­ wochen, und für Festakte der Landesregierung gibt es eine hausinterne Staatskapelle. Mit knapp 25 Millionen Euro pro Jahr wird das Mecklenburgische Staatstheater vom Land bezuschusst.

Fotos von oben nach unten: MyRobotron - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41315553, Klugschnacker - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4054624, User:Axt -

Report Mecklenburg-Vorpommern


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das in Danzig begann und in Ahrenshoop endete und sich wie ein Schmetterling links und rechts der Oder aufspann, hatte von da an keine politische Führung mehr. Viele sagen in Vorpommern hinter vorgehaltener Hand, dass das der Grund ist, wieso es einfach nicht läuft. Jahrhundertelang hatte keiner auf diesen Landstrich und seine Menschen aufgepasst. Wer auch immer gerade das Sagen hatte, plünderte und rekrutierte. Kaum jemand hat hier seitdem je nennenswert investiert. Sind es historische Animositäten, die ins Jahr 2024 leuchten? Jahr für Jahr hat diesen Hickhack der Mächte, zwischen denen die Region zerrieben wurde, die Vorpommersche Landesbühne Anklam unter ihrem Gründungsintendanten Wolfgang Bordel (gestorben 2022) mit dem Stück „Die Peene brennt“ auf die Bühne gebracht. Freilich Freilicht! Das Anklamer Haus ist die Winterbühne, denn im Sommer bis in den Herbst wird flächendeckend entlang der Ostseeküste Komödie, Kabarett und Musical gespielt. Mit der Theaterakademie Zinnowitz ist ausgerechnet die abgelegenste Bühne des Landes jene mit dem frischesten Geist und jüngsten Bühnenpersonal. Die Eleven aus vier Ausbildungsjahren und das hauseigene Ensemble spielen in der „Vineta“-Saga auf der Freilichtbühne Zinnowitz, in der Blechbüchse, in Wolgast, in Heringsdorf, in Barth und in Anklam. Aus dem Land fließen knapp zwei Millionen Euro in die Vereinskasse, denn so ist das Theaterkombinat organisiert. Die Leute verdienen wenig. Aber alle das Gleiche. Sonst gäbe es das Anklamer Theater schon seit 1990 nicht mehr, damals sollte es sofort abgewickelt werden. Denn gar nicht weit weg winken schon die Türme der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg. Und gleich dahinter das beschauliche Residenzstädtchen Neustrelitz. In beiden Städten gibt es Theater. Zusammen sind sie die fusionierte Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg/ Neustrelitz. Der aktuelle Theaterdirektor Maik Priebe hat vor einem Jahr sehr ambitioniert angefangen, inzwischen aber seinen Rückzug angekündigt. Seinen Spielplan, zu dem er auch gern bekannte Stars in das Mecklenburgische Hinterland holte, fanden Eiferer zu radauig in der ruhigen Seenplatte. Es ist schade, dass er so früh aufgegeben hat. Bis zum Ende der Spielzeit fährt Priebe noch auf, was in anderen Theatern längst weggespart wurde. Mit Uraufführungen, in denen er Romane für die Bühne bearbeitet und inszeniert. Stoffe mit Relevanz wie gerade die Romanadaption von Domenico Müllensiefens „Aus unseren Feuern“. 1,6 Millionen Einwohner:innen hat Mecklenburg-Vorpommern, Tendenz immer noch fallend. 75 Prozent von ihnen sagen, dass sie es wichtig finden, dass Theater öffentlich gefördert werden. 75 Prozent geben zu, dass sie sehr selten ins Theater gehen. 10 Prozent waren noch nie im Theater. Pro Kopf gesehen gibt es vielleicht das eine oder andere Theater in Mecklenburg-Vorpommern zu viel. Aber pro Kopf gesehen kann es in diesem Bundesland gar nicht zu viele solche Angebote geben, wie Stadttheater sie bieten. Und abgesehen mal von der politischen Aufgabe, die Theater erfüllen müssen, ernähren sie Künstler:innen und ihre Familien. Jede Gesellschaft hat die Aufgabe, den Künstler:innen etwas vom großen gesellschaftlichen Kuchen abzugeben. Vorpommern hat inzwischen übrigens einen Staatssekretär, er ist der lange Arm der Landesregierung in die Region dahinten im Osten. Ein Kulturstaatssekretär des Landes sozusagen. Voila, Bogislaw hätte einen drauf getrunken! T Theater der Zeit 11 / 2024

AKHE (RUS) Company Portmanteau (FIN) D. Migac & J. Maksymov (CZE) fraen (DEU) Kommuna Lux (UKR) kraut_produktion (CHE) Lauro (ITA/FRA/DEU) 14 lieux/Martin Messier (CAN) Müller&Müller (CHE/DEU/FRA) Oligor y Microscopía (MEX/ESP) Spitfire Company (CZE) Tanga Elektra (DEU) Tof Théâtre (BEL) Transiteatret-Bergen (NOR)

Tickets unter 0331 73042626 www.unidram.de • www.t-werk.de


Report München Graz

Ruth Bohsung und Liv Stapelfeldt in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ nach dem Roman von Ottessa Moshfegh am Münchner Volkstheater. Regie Katharina Stoll

Zwei Adaptionen von Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ stehen zum Saisonauftakt auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater: Am Münchner Volkstheater hat Katharina Stoll inszeniert, Ewelina Marciniak am Schauspielhaus Graz. Ein Dialog Von Anne Fritsch und Hermann Götz

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Fotos Gabriela Neeb

Sweet Dreams?


Report München Graz Anne Fritsch: Die Idee klingt durchaus verlockend. Einfach mal Winterschlaf halten, sich für ein paar Monate der Außenwelt komplett entziehen, all den schlechten Nachrichten, den beruflichen und privaten Anforderungen, dem Stress. Stattdessen: durchschlafen. Die namenlose Protagonistin in Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ aus dem Jahr 2018 tut im New York um die Jahrtausendwende genau das. Zunächst versucht sie, aus freien Stücken möglichst viel von Tag und Nacht zu verschlafen, doch weil der Mensch für gewöhnlich eben keinen Winterschlaf hält, befriedigt sie ihr natürlicher Schlaf-Wach-Rhythmus nicht. Sie wendet sich an die obskure Psychiaterin Dr. Tuttle, die ihre Aufgabe darin sieht, möglichst großzügig Psychopharmaka an ihre Patientin zu verteilen. Eine erste Adaption fürs Theater gab es schon 2020 in der Regie von Yana Ross am Schauspielhaus Zürich – wie steigt Ewelina ­Marciniak in der österreichischen Erstaufführung in Graz in die Geschichte ein?

Die Szene erzählt von Lust, aber auch von albtraumhafter Halluzination. Und sie verschränkt verschiedene über das Buch verteilte Absätze zu und mit Hunden miteinander.

Hermann Götz: Ein erotischer Hundetraum eröffnet Marciniaks Inszenierung in Graz. In tiefes Rot getaucht wälzt sich Luiza Monteiro als „Sie“ in einem Bodentanz des Begehrens mit einem von Dominik Puhl hingebungsvoll gespielten Hund über die Bühne. Die Szene erzählt von Lust, aber auch von albtraumhafter Halluzination. Und sie verschränkt verschiedene über das Buch verteilte Absätze zu und mit Hunden miteinander. So werden gleich einer Ouvertüre Motive der Romanvorlage aufgegriffen und in ein Bild gegossen. Dieser Auftakt führt auch in die dramatische Methode des Abends ein. Denn die Inszenierung collagiert Romanausschnitte – oft nur Fetzen von Gedanken und Gesprächen – in gänzlich neuer Abfolge zu einer Erzählung, die dann doch deutlich von jener der Vorlage abweicht. Das hat damit zu tun, dass „Sie“, Ottessa Moshfeghs Ich-Erzählerin, hier auf der Bühne nicht mehr allein Sprachrohr ihrer Geschichte ist. Der Text wird szenisch aufgeteilt – und damit auch die Perspektive darauf. In der Grazer Bühnenfassung von Małgorzata Czerwień erleidet „Sie“, was im Roman mit kaltschnäuziger Stimme erzählt wird. Eine fortschreitende Entwicklung des Geschehens, wie im Buch beschrieben, ist hingegen mehr zu erahnen als nachzuvollziehen. Wie wird dieser Text in München für die Bühne des Volkstheaters auf- und zubereitet? Anne Fritsch: Wie es scheint, zumindest in Teilen komplett anders. Von erotischen Hundeträumen jedenfalls keine Spur, auch wenn es tatsächlich eine spielerische Annäherung zwischen der Protagonistin, die Liv Stapelfeldt beeindruckend körperlich spielt, und einer zum Leben erwachenden Pudelstatue in der Kunst­ galerie, in der „Sie“ jobbt, gibt. Die ist aber weniger erotisch als herzzerreißend komisch. Für Katharina Stolls Inszenierung haben Wicke Naujoks und Anna Wörl einen strahlend weißen Kubus entworfen, eine Projektionsfläche oder eben besagte Kunstgalerie. Wie ein Alien, das zufällig hier gelandet ist, liegt Liv Stapelfeldt zu Beginn mit ihrer Bettdecke im leeren Raum; verloren, aus Raum und Zeit gefallen. Sie wirkt fehl am Platz, in dieser cleanen Welt ist sie mit ihrem Whoopi-Goldberg-T-Shirt, Radlerhosen

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Szenen aus „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ am Münchner Volkstheater. Regie Katharina Stoll

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Report München Graz und M ­ arge-Simpson-Frisur eine Außenseiterin. Sie verachtet, was sie sieht und was sie umgibt (und was sie irgendwie auch wieder liebt): diese artifizielle Kunstwelt ebenso wie ihre bulimische Freundin Reva, ihren (Ex-)Freund Trevor und ihre verstorbenen Eltern, in deren Leben Platz für vieles war, nicht aber für ihre Tochter. Ihre Anspannung wird zunehmend körperlich, sie tigert herum, stalkt ihren Ex mit immer psychotischeren Anrufen, tanzt auf Drogen beziehungsweise Medikamenten wild durchs Stroboskoplicht und bricht wiederholt zusammen, lallt „Mir geht es nicht so gut“ und wird bewusstlos. Eine großartige Performance! Und tatsächlich besteht hier auch die Möglichkeit, dass alles, was um sie herum geschieht, lediglich Halluzinationen ihres berauschten Hirns sind. So hat beispielsweise die Psychiaterin, die Pia AmofaAntwi spielt, erstaunlich große Ähnlichkeiten zu Whoopi Goldberg, singt sogar einmal deren „Sister Act“-Song „I will follow him“. Wie realistisch ist das Szenario in Graz?

Anne Fritsch: Die eine zentrale Intention lässt sich in München nicht so leicht herausfiltern, wohl aber eine enorme Lust am Absurden. Denn eines ist die Inszenierung von Katharina Stoll definitiv nicht: psychologisch realistisch. Zwar treten auch hier die Eltern immer wieder auf und sind als mögliche (Mit-)Ursache für die Weltflucht der Protagonistin durchaus präsent. Allerdings spielen Pia Amofa-Antwi und Alexandros Koutsoulis sie als Plastik-Zombies in Glitzergewändern, die über die Bühne ruckeln und

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Fotos Lex Karelly

Szenen aus „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ von Ottessa Moshfegh am Schauspielhaus Graz. Regie Ewelina Marciniak

Hermann Götz: Sehr. Ewelina Marciniak bemüht sich um einen psychologischen Realismus, der dem Buch – in dieser Tiefenschärfe – fehlt. In dem Sinne ist die albtraumhafte Eröffnungsszene Ouvertüre zu einer Dramatisierung, die dann eine ganz andere Richtung einschlägt. Die in München scheinbar effektvoll in Szene gesetzten Entgleisungen der drogenbedingt Schlafwandelnden werden in Graz – vom Intro abgesehen – nur angedeutet. Vielmehr scheint es der Regie darum zu gehen, Gründe für das Winterschlafbedürfnis der Protagonistin aus der Romanvorlage herauszufiltern und daraus eine kritische Gegenwartsdiagnose zu basteln: Die nervige Freundin Reva (Anna Klimovitskaya), die in ihrem Selbstoptimierungswahn die neoliberale Idee auf Absätzen über die Bühne stöckeln lässt, die esoterisch verirrte Therapeutin (Anke Stedingk), die alkoholkranke Mutter (Olivia Grigolli), zu der eine Beziehung wenn überhaupt nur kompliziert sein kann, der schwächelnde Vater (Mario Lopatta), die in ihrer Versessenheit auf original originelle Perspektiven zynisch abgehobene Galeristin (Marielle Layher) und ihr selbstgewisser Lieblingskünstler (nochmals Mario Lopatta), der Anwalt (Thomas Kramer), der auf Hausverkauf drängt, um sich zu bereichern … sie alle bilden das grandios verkörpertes Karikaturenkabinett einer fehlgeleiten Zeit, aus der „Sie“ auszubrechen versucht. Zugleich werden so aktuelle Diskurse dramatisch aufgeschäumt. „Sie“ ist in Graz nicht die selbstbewusst redselige Zynikerin, die das Leben verweigert (samt der Privilegien, um die sie beneidet wird), sondern stilles Opfer der Verhältnisse. Wenn auch nicht der materiellen. – Lässt sich eine zentrale Intention der Münchner Inszenierung beschreiben?


Report München Graz ihr eigenes Ableben inszenieren, als wären sie allein auf der Welt, um ihrer Tochter Schuldgefühle zu hinterlassen. Und tatsächlich lässt Stoll in den einzelnen Szenen ziemlich in der Schwebe, ob wir hier gerade einem schlafwandelnden (Alb-)Traum oder einer realen Begebenheit beiwohnen. Die Grenze zwischen Sein und Schein, Erleben und Träumen verschwimmt hier zu einem fluiden Ganzen. Die einzelnen Szenen setzen sich zusammen zum Bild einer Welt, die schwer zu greifen ist. Aus dem Röhrenfernseher, der vorne an der Rampe steht, dringen bedrohliche Nachrichtenfetzen in diesen Kokon, der steril sein will gegenüber Einflüssen von außen, aber dennoch permanent von ihnen infiltriert wird. Ob das nun die zentrale Intention ist, weiß ich nicht genau: Aber die Inszenierung zeichnet ein intensives Bild einer überfordernden und bedrohlichen Welt, in der alles auf „Sie“ einströmt und sie leer saugt. Ihr Bedürfnis nach einem Reset, einer Auszeit, kann man sehr gut nachfühlen. Wer würde nicht gerne mal für eine gewisse Zeit die Außenwelt anhalten? Oder wie „Sie“ einmal über den ersehnten Schlaf sagt: „Es gibt nichts zu erledigen, nichts zu kompensieren, weil da einfach nichts ist. Es ist ein wunderbares Gefühl, fast wie Glück.“ In jedem Fall habe ich dem bestens aufgelegten Ensemble in München sehr gerne bei seinem wilden Treiben zugesehen, nur die Elternszenen waren mir ein bisschen zu aufgesetzt. Ging Ihnen das in Graz ähnlich oder war der Abend eher mühsam? Hermann Götz: Der Abend war schön, zugleich aber dahingehend stimmig, dass er selbst eine beinahe sedierende Wirkung entfaltet. Dazu passt auch das überdimensionale Designersofa, das die ­Bühne von Natalia Mleczak dominiert. Das über weite Strecken ruhige Tempo der Inszenierung und ihrer von Mikołaj Karczewski eingerichteten Choreografie wird durch die Präsenz eines sphärisch wallenden Klangteppichs verstärkt (Musik Jan Duszyń ski), unterbrochen nur von einigen – teils beeindruckenden – musikalischen Live-Einlagen. Vor allem die berückend schöne Schlussszene, in der Luiza Monteiro live am Klavier begleitet ein entschleunigtes Britney-Spears-Cover haucht, macht glücklich wie geschmolzene Schokolade – oder das von unserer Protagonistin ersehnte Nichts im Schlaf. Anne Fritsch: In München steht am Ende das Erwachen und die schrittweise Rückkehr in die Außenwelt. Liv Stapelfeldt klettert aus ihrem selbstgewählten Gefängniskubus, sitzt oben auf der ­Seitenwand. Auch wenn die Tragödien da draußen kein Ende nehmen und mit den Anschlägen von 9/11 nochmals näher an „Sie“ herangerückt sind, fühlt es sich an wie ein Neuanfang. So ruhig war es bis dahin nie auf der Bühne. Möglicherweise ist nun ein Schlafen ohne Hilfsmittel möglich und vielleicht sogar ein innerer Frieden mit dem Wachsein. Sieht also so aus, als kämen beide Inszenierungen, so unterschiedlich sie auch sind, zu einem ­versöhnlichen Ende. T

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„Es gibt nichts zu erledigen, nichts zu kompensieren, weil da einfach nichts ist. Es ist ein wunderbares Gefühl, fast wie Glück.“

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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Werkschau Gottfried Pilz

Der kürzlich verstorbene Gottfried Pilz zählt zu den renommiertesten Bühnen- und Kos­ tümbildnern des Musiktheaters. Seine fein­ sinnigen, beeindruckenden Arbeiten ent­ wickelte er durch das intensive Studium von Libretto und Partitur – im Lauf der Jahre mit einer zunehmend abstrakten und minima­ listischen Bildsprache. Er arbeitete u. a. mit den Regisseuren John Dew, Götz Friedrich, Günter Krämer, Stefan Herheim und George Tabori zusammen. In der reich bebilderten Publikation sind großformatige Fotografien, Zeichnungen, Figurinen und Bühnenbild­ modelle zu sehen. Es ist ein konzentrierter Ausschnitt mit 15 Projekten aus 50 Schaf­ fensjahren einschließlich Regiearbeiten. Be­ sonderer Bestandteil der Ausgabe sind die Camera-obscura-Aufnahmen der Fotografin Karen Stuke.

„Celan“, Staatstheater Mainz, 2003

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Intendanz-Generationen auf Kampnagel, 2022, v. l. n. r. Amelie Deuflhard (2007 bis heute), András Siebold (Leitung Sommerfestival 2013 bis heute), Mücke Quinckhardt (1985–1990), Res Bosshart (1994–2001), ­Hannah Hurtzig (1985–1990), Dieter Jaenicke (Leitung Sommerfestival 1985–1990), Hans Man in’t Veld (1990–1995) – es fehlt: Gordana Vnuk (2001–2007)

Kampnagel Hamburg. 40 Jahre Widerspruch »Never demolish. Always transform, with and for the inhabitants« Dieses Credo beschreibt die Herangehens­ weise des Architekturduos Lacaton & Vassal an den größten Transformations­prozess des Kampnagel-Geländes, seitdem die ehemali­ ge Kranfabrik 1982 zum Kunstgelände wurde. Genau an dieser Schnittstelle zwischen den letzten 40 Jahren, dem aktuellen „State of the Art“ und den kommenden 40 Jahren ist das vorliegende Buch entstanden. Es beschreibt die Geschichte eines Fabrikgeländes, das in den 1980er Jahren durch das Schauspiel­ haus und Teile der Freien Szene Hamburgs umgenutzt wurde. Heute ist Kampnagel eines der wichtigsten Produktionszentren für inter­ nationalen Tanz und Performing Arts in Euro­ pa und hat sich auf den Weg gemacht, auch baulich eines der modernsten zu werden. Seit 2020 ist Kampnagel eines der vier Staats­ theater Hamburgs und das mit zumindest dem impliziten Auftrag, ein neues Modell von Staatstheater zu entwerfen. Kampnagel ist traditionell ein Haus mit international-avant­ gardistischem Programm, agilen Produk­

tionsstrukturen und flachen Hierarchien, lokal wie international hochgradig vernetzt. Aktu­ ell wird hier eine Institution erprobt, die auf­ Basis des Freiheitsstrebens der Anfänge eine Vision für die Zukunft entwickelt. Nicht umsonst trägt dieses Buch den Titel „Vierzig Jahre Widerspruch“: Kampna­ gel hat sich in seiner Geschichte niemals im Affirmativen angesiedelt, sondern immer ver­ sucht, Gegenwart zu hinterfragen – künstle­ risch, gesellschaftlich und politisch. Kamp­ nagel ist damit zu einem Ort geworden, von dem Haltung und Stellungnahme erwartet wird – auch zu Krisen der Gegenwart. Unsere Künstler*innen sind Spezialist*innen für die Welten und für die Gesellschaften, in denen sie leben. Aus dem Editorial von Amelie Deuflhard Kampnagel Hamburg. 40 Jahre Widerspruch Workbook zum Jubiläum Herausgegeben von Amelie Deuflhard 300 S., 30 € (Broschur oder E-Book)

Fotos unten links © Karen Stuke, Berlin/www.theaterfoto.com, oben Mitte Peter Hönnemann, rechts unten Tom Dombrowski, rechs oben Birgit Hupfeld

Gottfried Pilz Bühne Kostüme Regie Kerstin Schröder (Hg.) 160 S., 26 € (Hardcover oder E-Book)


Henning Fülle ist Dramaturg, Kulturforscher und Hochschullehrer an der Kunsthochschule Karlsruhe, Universität Hildesheim und UdK Berlin. Bei Theater der Zeit erschien 2016 „Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft 1960–2010“.

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Wir haben es einfach gemacht! Reisen in internationale Theaterwelten Herausgegeben von Siegmar Schröder und Henning Fülle

Geschichten und Biografisches aus 40 Jahren Theaterlabor Bielefeld

Theater der Zeit

Das Theaterlabor Bielefeld, gegründet 1983 von Siegmar Schröder gemeinsam mit Stu­ dierenden, ist ein prägnantes Beispiel für die Entwicklungen, die seit den 1980ern zu einer Modernisierung des deutschen Theaters und in Folge zur Konstituierung des Freien Theaters als „Zweiter Säule“ der Theaterlandschaft führen sollten. Ein Ensemble, das kollektiv und egalitär die Gegenstände und Themen seiner künstleri­ schen Arbeit selbst bestimmte und schließ­ lich eine Institution bildete, die Bestand hat und inzwischen von einer nachgewachse­ nen Generation übernommen wurde. Die Entwicklung dieser Theaterkunst aus der Kraft der Selbstermächtigung wird von Siegmar Schröder und Henning Fülle in Be­ richten und Interviews, Gesprächen und Er­ innerungen nachgezeichnet und in den Kon­ text der künstlerischen und institutionellen Aufbrüche der westdeutschen Theaterland­ schaft seit den 1970er Jahren eingebettet. Mit Interviews und Texten von Euge­ nio Barba, Yoshi Oida, Leo Bassi, Margaret Pikes, Horacio Czertok, Nullo Facchini, ­Robert Jakobson, u.v.m.

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Wir haben es einfach gemacht! Reisen in internationale Theaterwelten Siegmar Schröder und Henning Fülle (Hg.) 320 Seiten, 25 € (Paperback oder E-Book)

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Siegmar Schröder ist Theatermacher. 1983 gründete er das Theaterlabor Bielefeld und leitete es bis 2019. In der Zeit hat er ca. 90 Autorenproduktionen, davon zahlreiche internationale Koproduktionen, zehn internationale Theaterfestivals, die Internationale Schule für Theateranthropologie (ISTA) und viele Tourneen umgesetzt. Seit 2019 macht er vermehrt Netzwerkarbeit (flausen+) und Soloprojekte.

Wir haben es einfach gemacht!

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40 Jahre Theaterlabor Bielefeld

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Theaterlabor/Dah Teatar, Missing People – Die Macht der Erinnerung, 2014

„Der Ring des Nibelungen. Die After­ hour der Geschichte“ von Necati Öziri. Regie Julia Wissert am Theater Dortmund, 2024

Die neue Regie-Generation Sie inszenieren an großen Theatern, ihre Arbeiten werden zu großen Festivals ein­ geladen, sie leiten sogar Häuser – und sie sind jung! Das im deutschsprachigen Raum viel diskutierte Regietheater hat eine neue Generation an Theatermacher:innen hervor­ gebracht, die etwas mehr als zwanzig Jah­ re nach dem Theater der Zeit Arbeitsbuch „Werk-Stück“ (2003) erstmals in dieser Zu­ sammenstellung porträtiert werden will. In Inhalt und Darstellung disparat, eigensinnig und ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit. Das Arbeitsbuch 2024 stellt die Perso­ nen und Arbeiten der neuen Regie-Genera­ tion vor. Wir fragen: Welche Themen treiben sie um? Welche Haltungen haben sie? Wie arbeiten sie? Wie sehen sie ihre Zukunft? Und wem gehört sie? Zwanzig Porträts: Lucia Bihler, Claudia Bossard, Alexander Eisenach, Jan-Christoph Gockel, Julien Gosselin, Sapir Heller, Florent­ ina Holzinger, Heinrich Horwitz, Elsa-Sophie Jach, Pınar Karabulut, Ewelina Marciniak, Antú Romero Nunes, Bonn Park, Christopher Rüping, Marie Schleef, Rieke Süßkow, Luise Voigt, Wilke Weermann, Julia Wissert, Stas Zhyrkov

Arbeitsbuch 2024 Werk-Stück II. Die neue Regie-Generation Herausgegeben von Nathalie Eckstein 140 S., 24,50 € (Paperback oder E-Book)

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Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partner:innen organisieren. ­Eintritt frei für TdZ-Abonnent:innen (abo-vertrieb@tdz.de) 15.11. Notizen zu Piscator, FFT Düsseldorf 5.12. Scène 24. Neue französischsprachige Theaterstücke, Hans Otto Theater Potsdam 12.12. Teresa Kovacs: Theater der Leere, Einar & Bert Berlin 13.12. Matthias Rothe: Tropen des Kollektiven, Literaturforum im Brecht-Haus Berlin

Bücher in Vorbereitung Annette Menting: Schauspielhaus Chemnitz Teresa Kovacs: Theater der Leere Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

Zwei Leben in einem Buch Judith Malinas legendäres „The Piscator Notebook“ erscheint erstmals auf Deutsch Von Anna Opel

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Als ich mich im Februar 2022 auf den Weg nach New York machte, mitten im Winter – die Theater öffneten nach der Corona-­ Epidemie gerade wieder ihre Türen –, fand ich, vermittelt durch Beate Hein Bennetts Netzwerk, bald Zugang zu Freunden und Gefährtinnen des Living Theatre. Der Spirit war noch da. In den Überzeugungen der Personen, die mit Judith Malina zusammengearbeitet hatten. In den Anekdoten und Berichten. In den letzten Jahren entwickelte das Living Theatre immer konsequenter partizipative Formate. Es bot Workshops zu brennenden Fragen an, es lebte Theater als soziale Skulptur, als Anleitung, hier und

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Fotos Anna Opel

Ansichten des Original-Notebooks von Judith Malina


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jetzt zu sprechen, den Zirkel der Gewalt durch Straßenaktionen zu durchbrechen. Auf der Suche nach ihrem Erbe traf ich in New York Malinas Wegbegleiterinnen aus den 70er und 80er Jahren. Richard Schechner erzählte mir, wie er sie mit einem Megafon von der Straße aus interviewt hatte, nachdem ihr Theater von der Steuerbehörde geschlossen worden war. Die Dramaturgin Anne Cattaneo betrachtete das Living Theatre vor allem als Experiment und erzählte von den guten Netzwerken der Exilanten. Ich traf junge Schauspieler, die sich in den letzten Jahren mit Malina und dem Living Theatre verbunden hatten. Am Abend, als die Notizen im Martin E. Segal Center ihre Premiere feierten, sei sie mit Malina im Taxi nach Hause gefahren, erzählte eine Schauspielerin. „Jetzt mache ich Piscator berühmt, habe diese gesagt. Fasziniert erzählte sie von Judith Malinas unerschöpflicher Energie. Sie sei bei Veranstaltungen aufgestanden: „Ich habe dazu etwas zu sagen. Sich konstruktiv einmischen, niemals aufhören. Immer weiter lieben, weiter arbeiten. Unstoppable. Acht Jahre nach Malinas Tod war das Andenken an die Gründerin des Living Theatre lebendig. Nicht alle, mit denen ich gesprochen habe, sind Fans, aber alle sprachen von ihr mit großem Respekt und Faszination. Aus Lektüren in der Bibliothek, aus Anekdoten und Begegnungen entstand das Bild einer Künstlerin, die charismatisch und nahbar gewesen sein muss. Mensch unter Menschen. Meine Kollegin Beate Hein Bennett hatte Judith Malina in den 80er Jahren nach einem Vortrag angesprochen. Die kleine, energische und exzentrisch gekleidete Person habe sie an Else Lasker-Schüler erinnert, die deutsch-jüdische Dichterin, zu der sie gerade in Jerusalem geforscht hatte. Sie kannte Porträts. Beate schlug Malina vor, Lasker-Schülers Fragment Ichund­ Ich zu inszenieren, eine individuelle und historische Auseinandersetzung mit Gut und Böse. Gesagt getan. Beate wurde die Dramaturgin der Produktion. Entstanden ist eine in New York und Berlin überaus erfolgreiche Theaterarbeit und eine lange Freundschaft. Beate berichtete, wie sie viel später mit Judith Malina zusammen an der Übersetzung der Notizen gearbeitet hatte.

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Malina wohnte zu dieser Zeit schon im Actor’s Home in New Jersey. Ihr Deutsch sei zwar aus einer anderen Zeit, aber noch sehr lebendig gewesen, erzählte Beate. Die beiden sprachen deutsch. Wenn Freunde zu Besuch kamen, habe man irgendwo in einem verborgenen Winkel des Gartens gemeinsam ein Joint durchgezogen. Bis heute ist Beate Hein mit der Living Theatre Crowd in Kontakt: Lois Kagan Mingus, Ilion Troya. Den im Marz 2024 verstorbenen langjährigen Weggefährten Tom Walker, hatte sie mir im Februar 2022 vorgestellt. Tom erklärte sich bereit, mich durchs East Village zu führen und mir Arbeitsorte der Truppe zu zeigen. Als wir uns Ende Februar 2022 ausgerechnet vor dem legendären ukrainischen Restaurant Veselka trafen, hatte Russland die Ukraine gerade überfallen. Die schrecklichen ersten Tage des Angriffskriegs. Krieg und Frieden. Piscators Thema, Malinas Thema. Während Tom Walker mich durchs Village führte, auch unser Thema. Wir stemmten uns gegen den Februarwind und die Kälte. Die Spielstätte in der Clinton Street beherbergte nun das Caveat, eine Art Variete. Wir sahen uns um. Tom, sichtlich berührt von den Erinnerungen, schlug der Geschäftsführerin vor, er könne hier bei Gelegenheit über die Arbeit des Living Theatre sprechen, erntete nur höfliches Interesse. Judith Malina habe in der Wohnung obendrüber gewohnt, erzählte er mir, als wir wieder draußen waren und auf dem Weg zum Catholic Worker, einer Anlaufstelle für die Ärmsten der Straße. Beeindruckt von Malinas Charisma, habe der Sohn des iranischen Hausbesitzers 2012 den Dokumentarfilm Love and Politics gedreht, weiß Tom, ein letztes filmisches Porträt der greisen Künstlerin. Im selben Jahr sind die Notizen zu Piscator erschienen. Die Recherche in New York führte mich in verschiedene Abteilungen der New York Public Library, jener ehrwürdigen Institution im Herzen von Manhattan. In der Dorot Jewish Division hörte ich das biografische Interview, das Judith Malina im Januar 1993 der damaligen Studentin und heutigen Professorin für Dramatik Cindy Rosenthal im Auftrag der William E. Wiener Oral History Library of the

Krieg und Frieden. Piscators Thema, Malinas Thema.

American Jewish Committee gegeben hatte. Ein ganzes Leben, mit großer Klarheit erzählt. Wie ihr Vater, ein Rabbi, nach seiner Flucht aus Kiel im Jahr 1929 alles getan habe, die amerikanische Öffentlichkeit über den Nazi-Terror aufzuklären. Wie sie aus der Tatsache, dass sie selbst verschont worden war, den Auftrag ableitete, sich dem Pazifismus zu verschreiben. Von Piscators dringlicher Botschaft, für die sie offen und empfänglich war. Als ich in meiner Unterkunft im Online-Katalog der New York Public Library stöberte, stieß ich auf das Piscator Note­ book, bestellte es und machte einen Termin im Lesesaal. Am Tresen der stillen Abteilung wurde mir einige Tage später freundlich eine Schachtel ausgehändigt, die ich mit an meinen Platz nehmen durfte. Das Original-Notebook! Ich betrachtete es, las, fotografierte, fuhr andächtig mit den Fingern darüber. T (Aus dem Vorwort)

Judith Malina: Notizen zu Piscator, hrsg. von Anna Opel, Verlag Theater der Zeit, Berlin, 236 S., € 25 erscheint am 15. November 2024

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Magazin Bücher

Wie hältst du’s mit Israel? Ein Sammelband untersucht Antisemitismus im Kunstbetrieb Von Lara Wenzel

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Vor 200 Jahren ließ sich der Jude Heinrich Heine protestantisch taufen, um so eine Ein­ trittskarte in die europäische Kultur zu er­ halten. Heute ist es die „sogenannte Israel­ kritik“, schreibt Esther Slevogt, die jüdischen und israelischen Künstler:innen Einlass in den Kunstbetrieb gewähren soll. In chrono­ logischer Reihenfolge zeichnet die Chefre­ dakteurin von nachtkritik das antisemitische Versagen der deutschsprachigen Theater­ szene nach dem 7. Oktober auf. Öffentliche Stellungnahmen kamen nur zögerlich, wie die vom deutschen Bühnenverein, der seine Solidarität mit der deutschen Staatsräson begründete. Aber überschwängliche Zei­ chen, wie das Heraushängen einer UkraineFahne nach dem Einfall Russlands, vermiss­ te Slevogt schmerzlich. Dass die Theaterszene der Gewalt der Hamas gegen die größte jüdische Gemeinde der Welt wenig Aufmerksamkeit schenkte – ja, sie sogar zum antikolonialen Widerstand verklärte –, war bei Weitem kein Einzelfall. Im von Matthias Naumann herausgegebenen Sammelband „Judenhass im Kunstbetrieb“ eröffnet sich eine aufschlussreiche Chro­ nik des Antisemitismus in allen Sparten der Kunst. Wann das alles angefangen hat, kön­ nen die zehn Autor:innen, die in ihren Texten über Literatur, bildende Kunst oder Comics schreiben, nicht sagen. Nicht erst seit der documenta 15, nicht erst seit der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die Antisemitismus zu einer Frage der Kunstfreiheit machte, und auch nicht seit dem NS, denn davor stellte Richard Wagner bereits die „Judenfrage“. Seit dem 7. Oktober ist der abstrakte Anti­ semitismus und der konkrete Judenhass wieder lauter und bedrohlicher geworden. Er trägt zum Ausschluss von jüdischen und israelischen Künstler:innen bei und befeuert den antisemitischen Verschwörungswahn. Alexander H. Schwan, der sich als Wis­ senschaftler mit der von Juden und Jüdinnen geprägten Tanzmoderne auseinandersetzt, attestiert seiner Disziplin: Der „jüdische Charakter der Tanzmoderne wird bis heute in der Forschung weitgehend ignoriert“. Wäh­ rend die Bedeutung der Tanzpionier:innen, die in den 1930er Jahren in Europa verfolgt wurden und nach Israel flohen, vernachläs­ sigt wird, verbreite sich die Erzählung, „dass jüdische Tanzkünstler*innen, die moderne Bewegungskunst aus Europa in den Nahen Osten exportiert haben und damit gleichzei­ tig die lokalen palästinensischen Tanztradi­ tionen verdrängt hätten“.

In dieser Verschwörungserzählung zeigt sich ein manichäisches Weltbild, das nur Gut gegen Böse, Unterdrücker gegen Unter­ drückte kennt. Palästinenser:innen werden mit der Opferposition identifiziert, während Israel als übermächtiger westlicher Akteur erscheint. Gruppen wie die Hamas wirken so, als hätten sie keine eigene Handlungsmacht und würden nur auf den Aggressor Israel reagieren. Ihre eigenen, vernichtungsantise­ mitischen Ziele, die vom iranischen Regime unterstützt werden, bleiben unsichtbar. Aus dieser dekolonialen und antirassistischen Perspektive solidarisierten sich viele Künst­ ler:innen mit Gaza gegen den als übermäch­ tig imaginierten Akteur Israel, ohne darin ihren eigenen Antisemitismus zu erkennen. Neben Beispielen von antizionistischen Boykottlisten und künstlerisch verpackten Intifada-Rufen berichtet Slevogt auch von einem Lichtblick im antisemitischen Dunst, der Stellungnahme des Maxim Gorki Thea­ ters. In ihr gelang es, die Welle des Antisemi­ tismus zu verurteilen, ohne die künstlerische Position mit der Kriegslogik in eins zu setzen: „Der Krieg verlangt nach der einfachen Ein­ teilung in Freund und Feind. Er wird die Pro­ bleme nicht lösen. Er lebt von der Eskalation. Jetzt ruft die Hamas dazu auf, jüdische Ein­ richtungen in Deutschland zu attackieren. Das stellt uns an die Seite aller jüdischen Menschen in Deutschland. Theater lebt von der Vielstimmigkeit. Von der Auseinander­ setzung, vom Streit. Mit den großen Verein­ fachern aber kann es wenig anfangen.“ T Judenhass im Kunstbetrieb. Hg. von Matthias Naumann, Neofelis Verlag 2024, 214 S., € 18 Anzeige

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Theater der Zeit 11 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 11 / 2024 Noam Brusilovsky, Regisseur und Hörspielmacher, Berlin Theresa Buchheister, Kuratorin und Regisseurin, Lawrence, Kansas/New York Abena Freund, Freie Redakteurin und Medienkulturstudentin, Thüringen Benjamin Freund, Redakteur und Kulturjournalist, Berlin Anne Fritsch, Kritikerin, München Volker Gebhart, Autor, Düsseldorf Hermann Götz, Theaterkritiker, Graz Peter Helling, Kritiker und Redakteur, Hamburg Johannes Kirsten, Dramaturg, Berlin Rebecca Preuß, Studierende, Passau Carena Schlewitt, Intendantin HELLERAU, Dresden Juliane Voigt, Kritikerin und Autorin, Stralsund Lara Wenzel, Kritikerin, Leipzig

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises.

Vorschau 12 / 2024

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© an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 11, November 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 07.10.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit tdz.de

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Dezember 2024 Finanz-, Haushalts-, Sparkrise: In einigen Bundesländern wie auch in der Hauptstadt kommen die Theater ans Limit ihrer Produktions­ fähigkeit. Was wird passieren in dieser erstmals so dramatischen Situation? Ein Schwerpunkt mit Perspektiven auf die Krise und ihre Folgen.

Theater der Zeit 11 / 2024

Außerdem die Wiederentdeckung eines DDR-Klassikers für die Bühne: Brigitte Reimanns Romanfragment „Franziska Linkerhand“ aus dem Jahr 1974 am Berliner Maxim Gorki Theater und in Cottbus.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Wie sind Sie praktisch gleich nach Ihrer Ankunft in Bochum Ensemblesprecherin ge­ worden? Danau Chatzipetrou: Einige Kolleg:innen haben mich vorgeschlagen. Mein erster Impuls war: Ich muss mich zwingen, nein zu sagen. Ich engagiere mich einfach gern, hatte mich aber schon gemeldet, um bei einer Gruppe mitzumachen, in der es um die Einstellung einer Antidiskriminierungsbeauftragten geht. Außerdem arbeite ich privat in einem Verein von migrantischen, jüdischen und BIPoC Kunstschaffenden. Aber die Kolleg:innen haben mir erklärt, warum sie sich mich in dieser Position gut vorstellen können, und dann hab ich ziemlich schnell nachgegeben. Wie viel zusätzliche Arbeit bedeutet der Job als Ensemblesprecherin eigentlich? DC: Das ist unterschiedlich. Das Wesentliche ist die Organisation der Ensembleversammlungen mit vielen Themen, die wir in eine Ordnung bringen müssen. Außerdem sind wir das Kommunikationsrohr zwischen Leitung und Ensemble. Wenn wir in den Pausen mitbekommen, dass die Kolleg:innen irgendetwas stört, sehen wir das auch als unsere Aufgabe, rauszufinden, woran es liegt und eine Lösung zu finden. Oft gibt es Gerüchte im Theater, irgendjemand hat irgendwas gehört, und dann entsteht Unruhe.

Die 30-jährige Schauspielerin ist in der zweiten Saison am Schauspielhaus Bochum fest angestellt. Gleich in drei Inszenierungen von Intendant Johan Simons – „Die Brüder Karamasow“, „Die kahle Sängerin“, „Die Schutzbefoh­ lenen – was danach geschah (2024)“ – ist sie als fulminantes Energiezentrum aufgefallen. Außerdem – und das ist ungewöhnlich – wurde sie nach weni­ gen Monaten gleich zu einer von drei Ensemble­sprecher:innen gewählt.

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Die gab es wahrscheinlich, als die Stadt Bo­ chum einen Nachfolger von Johan Simons, einen neuen Intendanten gesucht hat und Sie gerade dazu kamen? Können Sie als junge Frau mit solchen Themen unbefange­ ner umgehen? DC: Das ist ein spannendes Thema. Auf der einen Seite brauche ich die Erfahrungen der Kolleg:innen, auf der anderen Seite denke ich mir manchmal, die Naivität des Nichtwissens tut gut, weil man radikaler sein kann und noch daran glaubt, dass man Dinge verändern und durchsetzen kann. Gleich als ich hier anfing, ging es um die Frage, ob wir eine Sprecherziehung haben sollten. Die einen wollten das gerne, die anderen sagten, haben wir schon mal versucht, wird nicht klappen. Und seit dieser Spielzeit haben wir einmal die Woche Sprecherzie-

hung, freiwillig, wer mitmachen will, kann sich melden. Auch weil der Kollege Stefan Hunstein sich dahintergeklemmt und das organisiert hat. Haben Sie im Alltagsbetrieb eine besondere Stellung als Ensemblesprecherin? DC: Nein, ich bin immer noch Teil des Ensembles und dankbar für die Ratschläge der erfahrenen Kolleg:innen. Wir helfen uns immer gegenseitig. Das funktioniert, weil wir einfach das Ensemble sind, das wir sind. Wir halten zusammen. Gab es denn schon eine Krise als besondere Herausforderung? DC: Es gab nun zum ersten Mal seit dem Start von Johan Simons einen etwas größeren Umbau im Ensemble. Einige gehen an andere Häuser, andere haben aus privaten Gründen aufgehört. Das führte zu Unsicherheiten. Da kam ich als unerfahrene Kollegin dazu und habe mit den anderen beiden Ensemblesprecher:innen Lukas von der Lühe und Jing Xiang entschieden, dass die Leitung informiert werden muss. Ich dachte: Es müsste doch eigentlich eine Feierstimmung herrschen. Wir sind Teil der letzten Intendanz­jahre von Johan Simons, das sehe ich als Teil der Theatergeschichte. Johan hat das direkt verstanden und sich bei uns bedankt. Und innerhalb von einer Woche gab es eine Sitzung mit dem gesamten Team, in der er erzählt hat, was er noch alles vorhat, neue Projekte, neue Impulse. Und die Unsicherheit hat sich sofort gelegt. Das war so eine tolle Erfahrung für uns als Ensemble­ sprecher:innen. Offenheit und Kommunikation können zum Erfolg führen. T

Foto p_l_zzo photography

Was macht das Theater, Danai Chatzipetrou?

Theater der Zeit 11 / 2024



NOVEMB

ZEMB E D S I B ER

ER

NORDWIND FESTIVAL NEW ALLIES 04.-15.12.24

SIDI LARBI CHERKAOUI NOMAD ELLE SOFE SARA VÁSTÁDUS EANA – THE ANSWER IS LAND RYKENA / JÜNGST TRANSFIGURED HARALD BEHARIE BATTY BWOY AFIA YEBO YES! u.v.m.

TANZ

URSINA TOSSI GESPENSTER MONIQUE SMITH-MCDOWELL A PLACE CALLED HOME JOSEP CABALLERO GARCIA DISPARADE FAMILIES SASHA WALTZ & GUESTS / STEFAN KAEGI (RIMINI PROTOKOLL) SPIEGELNEURONEN

PERFORMANCE

TIANZHUO CHEN & SIKO SETYANTO OCEAN CAGE [IN]OPERABILITIES DIE WELLEN

LESUNGEN

JULIANE LÖFFLER

»MISSBRAUCH, MACHT & MEDIEN – WAS #METOO IN DEUTSCHLAND VERÄNDERT HAT«

BENET LEHMANN

»ESTHERS SPUREN. DIE GESCHICHTE DER SHOAH-ÜBERLEBENDEN ESTHER BEJARANO UND DER KAMPF GEGEN RECHTSEXTREMISMUS«

ANDERE FORMATE

[K]ALEIDOSKOP-APP ZWANGSARBEIT UND WIDERSTAND

APP ZUR AUFBEREITUNG DER GELÄNDEGESCHICHTE KAMPNAGELS HEY LISTEN AUDIODESKRIPTIONS-SPEZIAL

KAMPNAGEL HAMBURG, TICKETS: KAMPNAGEL.DE / 040 270 949 49


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