TdZ 12/2023 – Kinder- und Jugendtheater. Yair Sherman: Theater und Israel

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Theater der Zeit Kinder- und Jugendtheater

Mit

Hannah Biedermann Jenny Erpenbeck Jon Fosse Winnie Karnofka Arthur Köstler Signa Köstler Thomas Oberender Grete Pagan Marie Schleef

Dezember 2023 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Yair Sherman

Theater und Israel


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Foto Ida Zenner

Theater der Zeit Editorial

„Bääätsch- Zunge raus!“ von und mit Luise Audersch, Clara Fritsche und Julia Sontag im Theater der Jungen Welt in Leipzig

Was für eine Art von Theater es nach dem Krieg in Israel geben könnte, haben wir den Regisseur Yair Sherman (auf dem Titel) am Ende eines längeren Video­ gesprächs gefragt. Eskapistische Komö­ dien, Stücke für Trost und Trauer oder Patriotisches und Politisches? Man müsse erstmal herausfinden, was genau die Men­ schen fühlen und wie das zu verarbeiten ist, so Sherman in seiner Wohnung in Tel Aviv. Noch Wochen nach dem Angriff vom 7. Oktober stehen alle unter Schock. Sher­ man war gleich nach der Premiere seiner Inszenierung von Shakespeares „Winter­ märchen“ am Theater Freiburg nach Israel zurückgekehrt. Die Kinder- und Jugendtheater ver­ ändern sich. Sie werden offener, machen mehrsprachige Angebote und führen schon die Jüngsten in Projekte ein. Der Test für Kinderstücke, so die Regisseurin und Autorin Hannah Biedermann, die seit längerem zu den gefragten Größen der Szene gehört, sei bekanntlich, wenn sie auch für Erwachsene gut funktionieren. TdZ-Redakteur Stefan Keim hat Bieder­ mann für den Schwerpunkt dieser Aus­ gabe interviewt, zu dem ein Report über das Programm des Theaters der Jungen Welt in Leipzig gehört (übrigens eines der ältesten Kinder- und Jugendtheater

Theater der Zeit 12 / 2023

Deutschlands) sowie eine Einschätzung der Arbeit des Jungen Ensembles Stuttgart nach einem Jahr unter der Leitung von Grete Pagan. Außerdem ein Gastbeitrag vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in Frankfurt am Main, alles auf den Seiten 10 bis 25. Ein neuer Text von Jon Fosse, der am 10. Dezember in Stockholm den No­ belpreis für Literatur entgegennimmt, ist der bislang im Theater nicht aufgeführte ­Monolog „So ist das“. Wer will, kann darin die vielen Vernetzungen zu anderen seiner Werke erkunden, schlägt Fosse im kurzen Begleitgespräch zum Stück vor. In der Silvesternacht vor dreißig Jah­ ren starb der österreichische Dramatiker Werner Schwab. Seine besondere Litera­ turleistung, das Volksstück in der Folge Horváths auf den Kopf zu stellen – oder es mit den Mitteln der Groteske zu radi­ kalisieren, ist immer noch von Interesse und Theaterreiz. TdZ-Redakteur Michael Helbing hat zu diesem Anlass in Nürn­ berg eines von Schwabs weniger gespiel­ ten S ­tücken untersucht, „Übergewicht, unwich­ tig: Unform“, das Rieke Süßkow dort am Staatstheater inszenierte. Weitere aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de. T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema Kinder- und Jugendtheater 12 Bericht Theatrale Schwarmintelligenz Wie das Theater der Jungen Welt in Leipzig mit seiner Intendantin Winnie Karnofka sein Angebot erweitert Von Lara Wenzel

16 Bericht Die Stadtmusiktiere träumen vom Frieden Das Junge Ensemble Stuttgart begeistert mit zukunftsweisenden ästhetischen Konzepten Kinder und Jugendliche fürs Theater Von Elisabeth Maier

18 Gespräch Angenehm unbequem Hannah Biedermann, eine der prägenden Regisseurinnen des Kinder- und Jugendtheaters, im Gespräch Von Stefan Keim

22 Gastbeitrag Kurznachrichten aus der Welt für junges Publikum Ein Gastbeitrag von „darstellende künste & junges publikum“ im Kinder- und Jugendtheaterzentrum Frankfurt am Main Von Nikola Schellmann und Julia Kizhukandayil Theaterregisseur Yair Shermann

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/kinder-und-jugendtheater

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Theater der Zeit 12 / 2023

Foto links oben Britt Schilling, unten Isaiah Fainberg, rechts picture alliance / Westend61 | Arman Zhenikeyev

„Das Wintermärchen“ von William Shakespeare in der Regie von Yair Sherman am Theater Freiburg


Inhalt 12 / 2023

Akteure 26 Kunstinsert Das unheimliche 13. Jahr Die emotive Installation von SIGNA am Schauspielhaus Hamburg Von Peter Helling

32 Porträt Ich weiß keine Antwort Der israelisch-amerikanische Regisseur Yair Sherman über seine ShakespeareInszenierung in Freiburg und die Situation in Israel im Gespräch mit Elisabeth Maier und Thomas Irmer

36 Nachruf Der Kind gebliebene Zweifler und Spieler Jörg Jannings, Spezialist für Theatertexte im Hörspiel Von Matthias Thalheim

Stück 37 Stückgespräch Alle Bilder zusammen Eine Korrespondenz mit Jon Fosse über seinen Monolog „So ist das“ von Thomas Irmer

Diskurs & Analyse

39 Stück So ist das Von Jon Fosse

52 Inszenierung Die Bühne kaut und verdaut Rieke Süßkows Inszenierung „Übergewichtig, unwichtig: Unform“ am Staatstheater Nürnberg dreißig Jahre nach dem Tod von Werner Schwab Von Michael Helbeing

54 Serie Warum wir das Theater brauchen #09 Reaktion als Emanzipation Von Marie Schleef

Magazin 4 Bericht Stabilisiert und auf Tour im ländlichen Raum Von Tom Mustroph

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Report 58 Neustart Auftakt mit Dellen

Von Thomas Irmer, Stefan Keim, Elisabeth Maier und Michael Helbing

8 Kolumne Der Erbesbär Von Jenny Erpenbeck

Der Neustart am Deutschen Theater Berlin lässt noch keine Richtung erkennen Von Thomas Irmer

72 Bücher Luftschloss und Trutzburg

62 Coburg Etikettenschwindel

74 Bericht Vielfalt durch Begrenzung

Von Hans-Dieter Schütt

Das Globe Coburg eröffnet mit Shakespeare, ist aber kein Shakespeare-Theater Von Michael Helbing

Von Tom Mustroph

64 München Kongolesische Skelette und eine Holzpuppe im Identitätsdschungel

Im Gespräch mit Michael Helbing

76 Was macht das Theater, Jens Neundorff?

Das internationale Münchner Spielart Theaterfestival mit Produktionen, die politisch und ästhetisch herausstechen Von Sabine Leucht

66 Georgien Jetzt ist alles politisch Ein Showcase in Tbilisi erzählt von der Zerrissenheit Georgiens Von Christoph Leibold

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1 Editorial 70 Verlags-Ankündigungen 75 Autor:innen & Impressum 75 Vorschau

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Magazin Bericht

Stabilisiert und auf Tour im ländlichen Raum Das Theater am Rand im Oderbruch erweitert seine Horizonte Von Tom Mustroph

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Die Zeiten werden turbulenter, aber der Ideenreichtum nimmt zu. Das Theater am Rand arbeitet mittlerweile mit neuen Regisseur:innen und schickte die aktuelle Neuproduktion „Rudimentär | Die Marmeladenesser“ auch von der Oder in den ländlichen Raum Sachsen-Anhalts. „Für uns ist es wichtig, jüngere und neue Leute zu holen und neue Kooperationen einzugehen“, sagt Almut Undisz, Geschäftsführerin des Theaters am Rand. Die alten Heroen Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern sind mit eigenen Produktionen zwar noch immer am Haus. Aber nach internen Konflikten, die sich mit dem Streit um die Vergabe des Bundesverdienstkreuzes an die beiden entzündeten (TdZ 1/22), gehen sie künstlerisch getrennte Wege. Sich anderen Akteuren zu öffnen, macht für das Theater also Sinn. Den Anfang machte der Berliner Regisseur Benjamin Zock. Im Doppelabend „Rudimentär | Die Marmeladenesser“ erkundet er das häusliche wie das gesellschaftliche

Elend und operiert mit zahlreichen Gegensatzpaaren. Schon die Autoren selbst liefern einen starken Kontrast. August Stramm war Kriegsfreiwilliger und kam 1915 in den Weiten des heutigen Belarus um. Hans Henny Jahnn ging hingegen als Kriegsdienstgegner nach Norwegen. Ihre Texte sind komplementär zueinander. Stramms „Rudimentär“ malt b ­ itterböse den nicht gelingenden Suizid eines Berliner Unterschichtspärchens aus. Denn das Gas, das das Leben nehmen soll, ist wegen mangelnder Abschlagszahlungen längst abgestellt. Jahnns „Marmeladenesser“ hingegen versammeln sich in der provinziellen Wohnstube einer sich nach Liebe sehnenden Witwe. Die beköstigt mit ihrem süßen Fruchtbrei gleich drei Männergestalten. Der eine ist ein frühreifer Zyniker mit Hang zur – damals noch vielversprechenden – kommunistischen Weltbewegung. Der zweite ist Anhänger einer neuen Weltreligion, die dem Kapitalismus und dem Abendland gleichermaßen entsagt

Theater der Zeit 12 / 2023

Foto Julia Runge

Die Einakter „Rudimentär | Die Marmeladenesser“ in der Regie von Benjamin Zock


Magazin Bericht und Hoffnung schöpft in einem Zurück-zurNatur und zu den als naturwüchsig angesehenen Gemeinschaften anderer Kontinente. Der dritte schließlich ist vor allem an der Befriedigung seiner Libido interessiert. Die Erzählung, erstmals für das Theater bearbeitet, entpuppt sich trotz Jahnns zuweilen archaischer Sprache als ein verblüffend aktuelles Diskursstück mit einem ideologischen Spektrum von reaktionären Europagegnern über Antikolonialisten, Antikapitalisten und radikalen Hedonisten bis hin zu religiösen Schwärmern. Leider schlägt das Ensemble keine ­großen Funken aus der Vorlage. „Rudimentär“ bleibt ein berlinerndes Milieustück. „Die Marmeladenesser“ erschöpfen sich weit­gehend im Beziehen ihrer Positionen. (Allerdings war die Vorstellung in San­ger­hausen, die Basis dieser Kritik ist, vom erkrankungsbedingten Ausfall eines Schauspie­lers beeinträchtigt.) Bemerkenswert ist der Abstecher nach Sachsen-­Anhalt. Vier unterschiedliche Sta-

tionen gab es, neben Sangerhausen unter anderem noch das Autokino Zempow. Die Initiative dazu kam von Zock. Er hatte vor drei Jahren mit Schüler:innen des GeschwisterScholl-Gymnasiums in Sangerhausen die Geschichte der Fahne von Kriwoj Rog theatral bearbeitet – eine historische Ge­ schichte über Arbeitersolidarität zwischen dem Mansfelder Land und dieser einst sowje­tischen Stadt, die heute als Krywyj Rih zur Ukraine gehört und auch Geburtsort des heutigen ukrainischen Präsidenten ist. Zock hat ein Händchen für lokale Themen mit Ausstrahlung. Die aktuelle Produktion zeigte er auch als Live-Film-Dreh auf der großen Leinwand des Autokinos Zempow. Noch so ein neuer Weg, den das Theater am Rand mitbestreitet. Mit dem Societaetstheater Dresden ­werden ohnehin Produktionen ausgetauscht. Wirtschaftlich steht das Haus mit jetzt acht Festangestellten auf breiteren Füßen. „Wir konnten Leute fest anstellen, die länger

Bemerkenswert ist der Abstecher nach Sachsen-­ Anhalt. Vier unterschiedliche Stationen gab es.

schon auf Honorarbasis gearbeitet haben, um ihnen jetzt mehr Sicherheit und auch die entsprechenden Sozialleistungen zu ermöglichen“, sagt Undisz. Auch ein Theaterjugendklub ist im Aufbau. Das Theater am Rand wächst also weiter über den Rand ­hinaus. T

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Magazin Kritiken

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin:

Demokratie oder Weltall

„Die Orestie“ von Aischylos – Regie Martin Nimz, Bühne Emilia Schmucker, Kostüme Michaela Barth, Chöre/Musik Matthias Flake

A

m Ende spielen ein paar der Erinnyen „Nothing else matters“ von Metallica instrumental mit E-Gitarren. Über ihnen thront Athene und hinter ihr ist der blau schimmernde Erdball in einer riesigen Projektion zu sehen, bis er im Videotrick immer kleiner wird und schließlich ganz im Weltall verschwindet. Am Anfang von Aischylos’ Trilogie steht die Nachricht vom Sieg der Griechen über Troja, vielleicht die früheste Schilderung einer Signalübertragung durch Feuerzeichen. Dieser Bogen vom Krieg in Troja hin zum Verschwinden des Planeten ist die große Klammer, die Regisseur M ­ artin Nimz für den vierstündigen Abend in der Übertragung von Walter Jens setzt. Die Bühne von Emilia Schmucker ist eine Treppe zum Palast, davor ein langer Steg über den Orchestergraben bis ins ­Parkett hinein. Die Kostüme für den Chor, der sich vor allem aus Studierenden der Rostocker Hochschule für Musik und Theater zusammensetzt, sind graue Anzüge mit einer Art schwarzen Schärpe um die Hüften. Insofern keine Antikenfolklore, sondern dezente Modernität. Zudem schafft das eine Atmosphäre, in der dann wenige große Zeichen wirklich zur Geltung kommen wie etwa das blutrot über der ganzen Bühne leuchtende

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„Aus großer Zeit – Die Kempowski-Saga Teil 1“ von Walter Kempowski in der Regie von Volker Schmalöer

Kleines Theater Bad Godesberg:

Furcht und Verunsicherung des Bürgertums „Aus großer Zeit – Die KempowskiSaga Teil 1“ von Walter Kempowski – Regie Volker Schmalöer, Bühne und Kostüme Lisa Moro

E

in Mann mit Schnauzbart, Brille und ­Pullunder steht auf der Bühne. Er begrüßt das Publikum. „Herzlich willkommen“, sagt er mit leiser Stimme. „Mein Name ist Walter Kempowski.“ Als Erzähler führt Janosch Roloff als Wiedergänger des vor ­ 16 Jahren verstorbenen Schriftstellers durch ereignisreiche Jahrzehnte, vom Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts bis in die Nazidiktatur. Kempowski hat sich in seinen Romanen „Aus großer Zeit“ und „Schöne Aussicht“ an der Geschichte seiner eigenen Familie orientiert. Seine „Deutsche Chronik“, veröffentlichte er zwischen 1971 und 1984. Das Kleine Theater Bad Godesberg unternimmt nun einen auf vier Jahre angelegten Versuch, Kempowskis neunbändigen Romanzyklus wiederzubeleben. Der ständige Rollenwechsel des neunköpfigen Ensembles verlangt viel Konzentration vom Publikum. Dennoch wirkt die Aufführung nicht überfordernd, wer aufpasst, kommt mit. Axel Schneider hat Kempowskis „Deutsche Chronik“ vor der Pandemie für das Altonaer Theater in Hamburg bearbeitet. Diese Fassung verwendet nun das Kleine Theater Bad Godesberg, eine private Bühne mit hundertsechzig Plätzen. Ein Theater, das einen großen Teil seines Etats an der Kasse einspielen muss, mit viel Ambition und Tradition. Volker Schmalöers Inszenierung zeigt Präzisionsarbeit. Das ebenso disziplinierte wie spielfreudige Ensemble bringt nicht nur punktgenau die vielen Charaktere zum Leben, es entsteht auch ein eleganter Fluss. Kempowski durchschreitet die Geschichte seiner Familie, erzählt manchmal ein Detail, das erst viel später passieren wird, hält sich mit Kommentaren zurück. Auch der reale Walter Kempowski hat Szenen und Texte collagiert, nicht viel erklärt, sondern Assoziationsräume geschaffen. Das gelingt nun auch der Bühnenfassung. Man kann viel lernen von diesem Walter Kempowski, der zwar mit Ironie aber ohne Wut auf die deutsche Geschichte und die seiner Familie blickt. Er zeigt Menschen voller Schwächen, und es geht nicht darum, dass man sie hassen oder lieben soll. Sie sind einfach so wie sie sind. Das Kleine Theater Bad Godesberg bietet eine vielschichtige, feinfühlige und oft überraschend witzige Aufführung, wie man sie an Stadttheatern heute nur noch selten sieht. // Stefan Keim

Theater der Zeit 12 / 2023

Fotos links oben Silke Winkler, unten Patric Prager – die Prager Botschaft, rechts oben Thomas Decker, unten Joachim Dette

„Die Orestie“ von Aischylos in der Regie Martin Nimz

Netz, mit dem Agamemnon im Bad für seine Ermordung zu Fall gebracht wird. Es könnte auch der blutige Himmel über dem Ganzen sein – was sich aber in dieser Zeichenhaftigkeit nicht aufdrängt. Die schauspielerische Gestaltung der Figuren ist auf ein Maß zwischen Psychologie und Expressivität geeicht, die diese enorme Geschichte von Familientotschlag und Schuldraserei mit geradezu präziser Zurückhaltung und Konzentration darstellt. Die Klytaimestra von Julia Keiling ist kraftvoll und zugleich sensibel verzweifelt, auch das eine Signatur der Inszenierung. Und so ist auch Maximilian Gehrlingers Orest, der in der Vision der ihn verfolgenden Erinnyen einmal aus dem Zurückhaltungsspiel ausbrechen darf, wohl die gelungene Darstellung dessen, was der Regisseur gestalten will. // Thomas Irmer


Magazin Kritiken

Die Stückentwicklung „Barbie or not to be“ in der Regie von Peter Staatsmann

Zimmertheater Rottweil:

Barbie im Irrgarten der Theatergeister „Barbie or not to be“ von Peter Staats­ mann (UA) – Regie Peter Staatsmann, Bühne und Kostüme Katharina Piriwe, Musik Dorin Grama

ihrer Liebe verzweifelt und den Suizid im Wasser wählt. Lukas Kientzler als ungestümer Hamlet und Regisseur Sebastian, der sein Publikum mit einer ernsthaften Theatersprache erreichen will, gelingen großartige Momente, wenn er von einer vielfältigen, toleranten Gesellschaft träumt. Doch die Sätze, die er aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ zitieren muss, bleiben zu isoliert im Raum stehen: „Ich war Hamlet, ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA“. Der zeitlose Text aus dem Jahr 1979 mag zwar das große Menschheitsdrama auf den Punkt bringen. Den Bezug zur kommerziellen Konstruktion der Barbiepuppe bleibt die Inszenierung schuldig. In „Barbie or not to be“ streift das Rottweiler Ensemble die Frage nach der weiblichen Identität. Barbie verliert aber im Irrgarten der Theatergeister den Tritt. Der Diskurs, zum Beispiel über antifeministische Tendenzen des aktuellen Barbie-Hypes, geht unter. Damit hat Staatsmann eine große Chance vertan. // Elisabeth Maier

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er Titel liegt voll im Trend. Barbie, die superschlanke Puppe aus den USA, hat Generationen von Mädchen geprägt. 2023 kam Greta Gerwigs „Barbie“-Filmhit auf den Markt. „Barbie or not to be“ nennt der Regisseur Peter Staatsmann, Intendant des Zimmertheaters in Rottweil, seine neue Stückentwicklung. Die weibliche Kultfigur aus der Spielzeugfabrik mit Shakespeares jungem Helden Hamlet zu verknüpfen, das klingt richtig spannend. Das Bühnenbild ist ein echter Hingucker. Mit rosa Plüsch, weißen Wolken und einer übergroßen Barbie-Imitation hat Katharina Piriwe einen Raum geschaffen, der die Schweinwelt der Puppen in eine mutige Farbkomposition übersetzt. Krass im Gegensatz dazu hat der Berliner Maler Ruprecht Dreher ein Hintergrundgemälde geschaffen, das die wirre Welt des Dänenprinzen Hamlet repräsentiert: „Die Zeit ist aus den Fugen.“ Wenn Mailin Klinger in der Rolle der Schauspielerin Tina klug über Rollenklischees und falsche Frauenbilder nachdenkt, trifft das ins Mark. Auf dem rosaroten Plüschteppich lässt sie sehr genau spüren, wie Mädchen von Kindesbeinen an in ein unterdrücktes Leben gezwängt werden. Valentina Sadiku als ihre Kollegin Gina fühlt sich tief in das Seelenleben von Hamlets Geliebter Ophelia hinein, die an

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„Die Hundekot-Attacke“ von Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller und Anna K. Seidel sowie Hannah Bau­ mann, Regie Walter Bart

Theaterhaus Jena:

Des Dackels Kern „Die Hundekot-Attacke“ von Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller und Anna K. Seidel sowie Hannah Baumann – Regie Walter Bart, Kostüm Carolin Pflüger, Choreografie Edoardo Cino

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echs Schauspieler gleichsam als Zauberlehrlinge: Die Geister, die sie riefen … Es waren jene aus der Staatsoper Hannover, wo zu Jahresbeginn ein renommierter Choreograf und Ballettchef einer ebensolchen Tanzkritikerin Exkremente seines Dackels ins Gesicht schmierte, weil sie ihn wiederholt deutlich verrissen hatte. Das Theaterhaus Jena spielt den skandalösen Vorfall nicht nach. Vielmehr spielt es mit ihm und noch mehr mit dem Nachdenken darüber: und zwar auf eine — wie von diesem Haus im Grunde zu erwarten – ganz unerwartete Art und Weise. Sie treten zur Lesung an. Sechs Stühle, sechs Mikrofone, dahinter eine Leinwand. Da scheint was schief gelaufen zu sein. Leon Pfannenmüller erklärt uns die Lage: „Wir haben sechs Wochen geprobt. Und es war schwierig. Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen“. Stattdessen werde man aus dem dazu stattgefundenen E-Mail-Verkehr vortragen. Noch meint man, dies könnte einen Prolog bedeuten, der uns zur Szene hinführt. Doch kommt es genau andersherum. Szenisch und vor allem tänzerisch wird uns ein Epilog mit mehreren Bildern aus der „Hundekot-Attacke“ hinausführen. Bis dahin: minimalistisches Theater in Sitzreihe. Sehr, sehr lustig und kurzweilig! Im Stil einer autofiktionalen Dokumentation haben sie sich gleichsam in ein Paralleluniversum transferiert. Walter Bart inszeniert dieses eine Inszenierung unterlaufende Spiel mit Dichtung und Wahrheit, in deren Zwischenraum sich des Dackels Kern offenbart: Theaterselbstkritik. „Die Hundekot-­ Attacke“ ist ein reflektierter und reflektierender Abend, nach dem aber noch immer Anna K. Seidels skeptische Frage nackt und verlassen auf leerer Bühne steht: „Können wir etwas grundlegend Falsches richtig darstellen?“ Sie scheitern daran lustvoll, auf der Höhe ihrer Kunst. // Michael Helbing

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Der Erbesbär Von Jenny Erpenbeck

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on oben bis unten ist er in Erbsenstroh eingewickelt, der Erbsbär. Manche geben ihm ein „e“ extra, damit der Name sich besser aussprechen lässt, dann ist er ein „Erbesbär“. In einer kleinen thüringischen Stadt also tritt der Erbesbär in doppelter Besetzung auf – alljährlich im Oktober zur Kirmes, „Kirmse“ heißt das hier. Die zwei jungen Männer werden ab sieben Uhr in der Frühe eingewickelt, von Fuß bis Kopf, auch das Gesicht muss verdeckt sein. Wenn das Wickeln fertig ist, sind sie zwei riesige Ungetüme in einem Pelz aus Stroh, in wilde Tiere verwandelt. Und wie wilde Tiere wird jeder von ihnen von einem Bärenführer an einer Kette durch den Ort geführt. Der Bärenführer aber schlägt, um ihre Ankunft anzuzeigen, auf einen blechernen Topfdeckel, der den Bären am Hintern festgebunden ist. Und dann öffnen sich in diesem Ort plötzlich Fenster in Häusern, die an allen anderen Tagen des Jahres verschlossen scheinen. Der Erbesbär macht die Menschen, die im Dorf leben, für die Dauer eines Blasmusikständchens sichtbar. Manche Dörfler kommen auch heraus auf die Straße und begleiten die Erbesbären und die Ortskombo ein kürzeres oder längeres Stück. Die Bärenführer sammeln in jedem Haus Geld ein, viel muss es nicht sein, Hauptsache, es klingelt in der Blechbüchse. Gesammelt wird für das fortgesetzte Besäufnis am zweiten und letzten Kirmesabend, dem Samstag. Frauen, die dem Erbesbären Geld gegeben haben, dürfen eine Runde mit ihm tanzen. Am längsten steht der Zug auf der Kreuzung, die früher einmal ein großer, nicht asphaltierter Platz und das Zentrum des Dorfes war, in traumwandlerischem Beharren stehen sie dort der Neuzeit im Weg, als hätten sie alle Jahrhunderte vor der Erfindung des Autos noch in dunkler Erinnerung. Die Autos müssen anhalten und Zoll entrichten. Später zieht der Haufe weiter, von Haus zu Haus, hier und da gibt es ein Schnapsbuffet. Irgendwo im Stroh hat auch ein Bär seinen Mund, durch den er mit Rausch angefüllt wird, damit die Verwandlung von Mensch in Tier vollends gelingt. Schon am Abend davor, am Freitag, hat die Kirmes begonnen, da sind die Kirmesburschen in die Festhalle einmarschiert: schwarzer Anzug, schwarzer Zylinder, weißes Hemd und gelber Schlips. Sind zu einer Marschmusik-Endlosschleife in Schlangenlinien um alle Biertische gezogen, dann wurden die Neuaufnahmen begrüßt, ab 16 darf

man dabei sein, allerdings nur als Mann. Dann wurde Abschied genommen von den Verstorbenen mit einer Schweigeminute. Dann getanzt. Was macht eigentlich so ein Kirmesbursche das Jahr über, wenn keine Kirmes ist? Na, die streichen zum Beispiel die Bänke im Dorf neu an, sagt meine Thüringer Freundin. Am zweiten, am Samstagabend, haben die Mädchen ihre schönsten Kleider angezogen. Es wird viel getrunken, mehr noch als am Abend davor. Am Samstagabend wird die Kirmes zu Grabe getragen, buchstäblich. Eine Prozession der Kirmesburschen mit dem Sarg auf den Schultern betritt die Festhalle, im Sarg liegt einer der Burschen und spielt den Toten. Später sitzen die Gelbbeschlipsten und Beschwipsten auf der Bühne, während der Festredner an kleine Missgeschicke des letzten Jahres erinnert. Gemeinsam gelacht soll werden und gemeinsam getrauert. Ich kann, aber will mir nicht vorstellen, dass die grölende Freude bei anderer Gelegenheit leicht in grölenden Hass umschlagen könnte. Ich sehe eine junge Frau in ihrem schönsten Kleid, die den ganzen Abend nicht zum Tanz aufgefordert wird. Das Kleid ist aus rosa­farbenem Tüll und hat eine große Schleife auf dem Rücken. Sehe sie in Trauer und Ernst einsam bleiben inmitten des Trubels. Ich sehe einen Jungen, der als Kirmesbursche debütiert, zwischen Stolz, Scham und Rausch sind seine Wangen rot vor Auf­ regung. Ich sehe Theater, das mitten im Leben stattfindet und mitten im Leben gebraucht wird. Zur Entgrenzung, zur Zusammen­ rottung, zu Trost und Verzweiflung. Nicht umsonst wird der Erbesbär, der das wilde Tier im Menschen sichtbar macht, an einer Kette geführt. Zum einen, weil er nichts sieht und auf seinem Weg von Haus zu Haus immer betrunkener wird, zum anderen, weil er sonst womöglich die Leute anfällt. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schriftstellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

Theater der Zeit 12 / 2023

Foto links Laurent Denimal, Fotos rechts Sophiensæle Anna Carina Schoeters, Casino Zug Ingo Höhn, TD Berlin Jos Schmid, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Radialsystem Dieter Hartwig, Kaserne Basel Flavio Leone

Magazin Kolumne


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präsentiert Theater Casino Zug Der Held von Rossinis weltberühmter Oper ist nicht nur der beste Barbier der Stadt, sondern auch Spielmacher, Intrigenspinner und Tau­ sendsassa. Eine hervorragende Geschichte für Nikolaus Habjan, um seine Klappmaulpuppen in Szene zu setzen. Am 13.01.24, 19:00 Uhr ist die Inszenierung des Theater Basel im Theater Casino Zug zu sehen. theatercasino.ch 13.01.

Stef Van Looveren

Sophiensæle Berlin „WERDEN“ von Magda Korsinsky

Saisonstart 23/24: Zum Start der Leitung von Jens Hillje und Andrea Niederbuchner zeigen die Sophiensæle vom künstlerische Perspekti­ ven von u.a. Stef Van Looveren, Isabel Lewis, Coco Fusco, Leyla Yenirce, Simone Dede Ayivi und Hendrik Quast. 07.–17.12.

Ballhaus Naunynstraße, Berlin „Wie ich werde, wie ich sein will“ ist eine neue Tanzreihe über selbstbestimmte Schwarzer Weiblich*keiten von drei Choreo­ grafinnen am Ballhaus Naunynstraße, von Lois Alexander (01.-05.12.), Magda Korsinsky (15.–19.12.) und Fernanda Santana (Feb. 2024).

Radialsystem, Berlin

„Der Barbier von Sevillia“ Inszenierung: Nikolaus Habjan

TD Berlin

Julian Mantaj spielt den Stürmer, Leonard Meschter den Mittelfeldspieler.

Theater Konstanz „zwei herren von real madrid“ von Leo Meier ist ein wunderbar komisches, streckenweise absurdes Stück, witzig und melancholisch zugleich. Um im Fußballjargon zu schreiben: ein echter Volltreffer der Gegenwartsdramatik. Es inszeniert Elke Hartmann. theaterkonstanz.de 09.12. (Premiere)

Theater der Zeit 12 / 2023

Ohne ihn gäbe es die moderne Pantomime nicht: Pierrot. Erfunden hat den stummen Träumer Jean-Gaspard Deburau, der beste Schauspieler seiner Zeit, ein Aufsteiger aus dem Nichts, der einen Menschen tötete. Doch aus Pierrot, dem große weißen Mann des europäischen Theaters, ist ein alter Clown geworden. Ein Stück über Glanz und Ver­ derben auf der Bühne, in der europäischen Geschichte und in uns. 07. bis 09.12.

Jubiläum: Im Dezem­ ber feiern NICO AND THE NAVIGATORS ihre 25-jährige Ensemble­geschichte mit Premiere, ARPerformance, ARAusstellung und Party. Das gesamte Programm: radialsystem.de 14. bis 17.12.

„Cold“ von Fatima Moumouni & Laurin Buser

Kaserne Basel

OLD WHITE CLOWNS. Max Merker mit Emma Murray und Téné Ouelgo

Die neue wohltemperierte Spoken Word-Show der beiden Salzburger Stier Preisträger*innen: «Cold» von Fatima Moumouni & Laurin Buser, Infos und Tickets: kaserne-basel.ch 07.12. (Premiere)

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Foto Ida Zenner

Thema Das neue Kinderund Jugendtheater

„Bääätsch- Zunge raus!“ von und mit Luise Audersch, Clara Fritsche und Julia Sontag im Theater der Jungen Welt in Leipzig

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Auch in diesem Bereich von Theater verändert sich derzeit viel: neue Formate und Arbeitsweisen, Medienwandel, Publikumserweiterung und Inklusion sind die wichtigsten Stichworte. Für den Schwerpunkt stellt TdZ-Baden-Württemberg-­ Redakteurin Elisabeth Maier das Junge Ensemble Stuttgart mit seiner Arbeit unter neuer Leitung vor, in Leipzig hat Lara Wenzel das Theater der Jungen Welt immer wieder besucht und Stefan Keim, TdZ-Redakteur für Nordrhein-Westfalen, spricht mit der Regisseurin und Autorin Hannah Biedermann über die Bedeutung von offenen Grenzen für diese Sparte. Die anstehenden Aufgaben beschreiben Nikola Schellmann und Julia Kizhukandayil vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in Frankfurt am Main, wo zusammen mit der ASSITEJ seit 2022 die Arbeit unter dem Label „darstellende künste & junges publikum“ gebündelt wird.

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Links „Bääätsch – Zunge raus!“ von und mit Luise Audersch, Clara Fritsche und Julia Sontag, Mitte Julia Sontag in der interaktiven Zoomperformance „Und morgen streiken die Wale“ von Thomas Arzt in der Regie von Johanna Zielinski

Theatrale Schwarmintelligenz Wie das Theater der Jungen Welt in Leipzig mit seiner Intendantin Winnie Karnofka sein Angebot erweitert Von Lara Wenzel

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Foto links Ida Zenner, mitte und rechts Tom Schulze

Thema Kinder- und Jugendtheater

Winnie Karnofka, Intendantin vom Theater der Jungen Welt

„Ticket gegen Kohle“ hieß es vor 77 Jahren an der Tür des Theaters der Jungen Welt (TdJW). Um das Haus während der Eröffnungsinszenierung „Emil und die Detek­ tive“ zu beheizen, zahlten die Kinder ihren Eintritt mit dem wertvollen Brennstoff. Seit 1946 zog das älteste Kinder- und Jugendtheater mehrfach an neue Spielorte, Indentant:innen kamen und gingen und auch der „Emil“ verjüngte sich immer wieder. So tritt Pony Hütchen in der Neubearbeitung von Julia Brettschneider nun mutig, frech und eigenständig auf die Bühne. Zur Geschichte des Hauses gehört, dass es sich weiterentwickle und „young at heart“ bleibe, meint Winnie Karnofka. Seit der Spielzeit 2020/21 leitet die Intendantin das Theater am Lindenauer Markt in Leipzig, das seine Kraft seit jeher daraus zieht, dass es eigenständig für Kinder und Jugendliche produziert. Auf Jürgen Zielinski zu folgen, der das Haus 18 Jahre lang leitete und seine Strahlkraft über die Stadtgrenzen hinaus pflegte, war keine leichte Aufgabe. Nachdem ­ Karnofka bereits sieben Jahre als Dramaturgin am TdJW gearbeitet hatte, wusste sie, was sie anders machen wollte.

Theater der Zeit 12 / 2023

Mit dem Wechsel der Intendanz sollte sich das Haus von einer Hero-Führungskultur, mit leuchtendem Steuermann an der Spitze, zu einer theatralen Schwarmintelligenz entwickeln. Für diese Veränderung gab es kein Lehrbuch. Viel musste ausprobiert werden und nicht alle brachen in Jubel aus, als sie von ihren neuen Mitbestimmungsfeldern hörten. Wie man ein Theater gut leitet, bleibt für Karnofka eine offene Frage. „Ich bin sehr forsch in diese Arbeit gestartet und dachte, ich öffne jetzt unser Theater für Mitbestimmung und Partizipation. Dann musste ich merken, dass es auch da Grenzen gibt und auf lange Sicht Rahmen­ bedingungen geschaffen werden müssen,

Partizipieren und eigene Ideen einbringen soll auch das Publikum. Dafür gibt es den Club Mitmischen, in dem gemeinsam Aufführungen besucht und diskutiert werden. 13


Das Liveschlagzeug in „Und morgen streiken die Wale“ von Thomas Arzt in der Regie von Johanna Zielinski

in denen Mitbestimmung überhaupt gelingen kann.“ Manchmal sei auch eine HeroFührungsfigur gebraucht, stellte sie in den letzten Jahren fest. Während der Pandemie trugen die neuen Teilhabeprozesse Früchte. Nach Wochen der Spielpause tobte sich das Ensemble in den kollektiven Produk-

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tionen „Bääätsch – Zunge raus!“ und „Dazwischen“ kreativ aus. Partizipieren und eigene Ideen einbringen soll auch das Publikum. Dafür gibt es den Club Mitmischen, in dem gemeinsam Aufführungen besucht und diskutiert werden, oder Kooperationsklassen, die Inszenierungen begleiten.

In glücklicher Synergie zwischen Publikums- und Ensemblebeteiligung entstand die Idee für „Bluten“. „Könnt ihr mal was zu Menstruation machen?“, fragte eine Schülerin das Theater. Den Wunsch griff Schauspielerin Josephine Schumann auf, die nun mit ihren Kolleginnen eine wilde Bühne von der Menarche – der ersten Blutung – bis zur Menopause gestaltet. Im April feiert das Projekt mit Lai:innen und Expert:innen des Alltags Premiere. Vom hohen Maß der Publikumsbeteiligung und der Community-Arbeit kann das sogenannteErwachsenen-Theater noch etwas lernen. Während der Corona-Pandemie interessierten sich plötzlich mehr Häuser für die Strategien, die im TdJW schon lang angewendet wurden. Die vielfältigen Theaterclubs kämpften darum, Schüler:innen, die für den Unterricht viel vor dem Bildschirm saßen, weiter für ihre Angebote zu begeistern. Dennoch konnten sich alle Clubs im Digitalen halten, erinnert sich die Intendantin. „So anstrengend diese Zeit auch war, sie hat uns dazu gebracht, den Kopf aufzumachen.“ Mit interaktiven Zoomperformances wie dem Umwelt-­Adventure „Und morgen streiken die Wale“, bei dem das Publikum über den Verlauf entschied, und Telefontheater hielten sie Kontakt. Während die Türen geschlossen blieben, arbeitete das Team daran, das Theater zugänglicher zu machen. Seit 2020 begleiten zwei Referentinnen für Inklusion und Barrierefreiheit die Produktionen des Hauses. Im Zusammenwirken von künstlerischen Prozessen und dem Abbau struktureller Hürden öffnen sich im Tanzstück „Es war zweimal“ neue Dimensionen. Ganz ohne Worte begeben sich die Tänzer:innen Denis Cvetković und Sofiia Stasiv auf ein Weltraumabenteuer. Tastend erkunden sie den unbekannten Untergrund, der sie mal zum Tanzen bringt, dann wieder schmatzend festhält und Hände und Füße an Ort und Stelle fixiert. In der entspannten Performance von Regisseurin Sara Angius breitet sich eine ruhige, träumerische Stimmung im Publikum aus. Niemand muss in der Aufführung für Allerkleinste still auf dem Platz bleiben. Es darf gesprochen und der Saal verlassen werden. Die live Audiodeskription, die für Menschen

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Fotos Tom Schulze

Thema Kinder- und Jugendtheater


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Auch die Klassiker wie Schillers „Räuber“ bekommen am Haus einen frischen, patriarchatskritischen Dreh.

mit Sehbehinderung visuelle Vorgänge zugänglich macht, übersetzt die Gesten und Spiele der Tänzer:innen in sprachliche Bilder. Über die Aufführung legt sich für das gesamte Publikum eine neue Bedeutungsebene. Im Abgleichen und Nachvollziehen einer anderen Perspektive könne man auch lernen, Tanz zu deuten, erklärt Karnofka. Mit dem Tanztheater konnte die Intendantin eine neue Sparte im Kinder- und Jugendtheater etablieren. Doch auch die Klassiker wie Schillers „Räuber“ bekommen am Haus einen frischen, patriarchatskritischen Dreh. Während die Brüder Karl und Franz ihren Macht- und Mordfantasien nachhängen, geistert Emilie, die ältere Schwester, über die Bühne. Geführt von zwei Puppenspielerinnen ist die Frau aus Stoffbahnen an­ wesend und abwesend zugleich. Konsultiert wird sie nur, wenn die verirrten Männer sich an ihrer Schulter ausheulen müssen. Am Ende kann sie den Reigen aus Morden und Suiziden, der zum Abschluss seine Schleifen zieht, nicht stoppen. Ihre Emanzipation liegt im stillen Abschied von den männlichen Befindlichkeiten. Klare Worte findet die Musikerin Wencke ­Wollny, die den Familienclinch in zeitgenössische ­Texte übersetzt. Sie entschlüsselt die Zurückweisung, die Franz von seinem Vater erfahren hat, und reagiert mit Abscheu auf die Vergewaltigungs­ geschichten des Räubers Spiegelberg. Die moderne Adaption von Regisseurin Carmen Schwarz öffnet die Konflikte für das jugendliche Publikum und verbindet Diskussionen um Freiheit und Geltung mit der patriarchalen Familie. Die Problemstellungen der Klassiker werden im Spielplan um Themen ergänzt, die dem Publikum unter den Nägeln brennen. Karnofka sieht im Theater einen Diskursort: „Hier muss es möglich sein, über bestimmte Themen in der ganzen

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Meinungsdiversität, die vorhanden ist, zu reden“. Das heißt, mit Inszenierungen herauszufordern und darüber zu diskutieren, in welcher Gesellschaft wir gerade leben. „Wo wollen wir hin? Wie wollen wir die Zukunft gestalten? Wo müssen wir als ­Gesellschaft aus dem Knick kommen?“ Im Theater muss über diese Fragen gesprochen werden, findet die Intendantin. Das heißt, Räume für die Debatte zu öffnen, die vorher geschlossen wurden. Seitdem Gendern in den Schulen Sachsens vom Kultusministerium untersagt wurde, wenden sich mehr Lehrer:innen an das Theater, um Queerness und Diversität zu verhandeln. Produktionen wie „Sexualkunde für das neue Jahrtausend“ über das erste Mal und schwules Begehren oder der Queer Club für queere Menschen und Allies bieten für Jugendliche Raum, über sich nachzudenken und das eigene Gender zu performen. Zum Theater der Zukunft gehört für Karnofka die größere Diversität in der Zusammenarbeit von Profis und Lai:innenen auf der Bühne, die gemeinsam andere Geschichten und gesellschaftliche Perspektiven im Theater erzählen können. Unter dem Spielzeitmotto „Zurück in die Zukunft“ denkt das Team über die Erneuerung des Theaters nach. Dazu gehört auch die Frage, wie eine nachhaltige Inszenierung aussehen könnte. Im klimaneutralen Stück „Die Erfindung des Sitzens“, die im Februar Premiere feiert, experimentieren die Theatermacher:innen mit Pilzmyzelen statt Schaumstoff und bitten die Mitarbeiter:innen, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu kommen. Nachhaltigkeit heißt für das TdJW aber auch, in langfristige Prozesse einzutreten und die Verbindung mit der Stadtgesellschaft zu stärken. „Was ist ein relevantes Theater? Das müssen wir gemeinsam aushandeln.“ Bis zur Spielzeit 2024/25 wird Winnie Karnofka diesen Fragen mit dem Team des TdJW weiter nachgehen, dann übernimmt eine neue Leitung dieses geschätzte Kinder- und ­Jugendtheater. T

IN-SIDE SENSE COOPERATIVA MAURA MORALES

IERE

PREM

Forum Freies Theater Düsseldorf

TANZ

fft-duesseldorf.de

© Peter van Heesen

30. Internationales Theaterfestival für junges Publikum Rhein-Main

4.3.2024 ➜ 20.2.– www.starke-stuecke.net


Die Intendantin Grete Pagan verantwortet das neue Konzept am Theater Junges Ensemble Stuttgart

Die Stadtmusiktiere träumen vom Frieden Das Junge Ensemble Stuttgart begeistert mit zukunftsweisenden ästhetischen Konzepten Kinder und Jugendliche fürs Theater Von Elisabeth Maier

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Die Bühne ist eine riesige Rennbahn mit Kurven. In dem abschüssigen Raum bewegen sich die Spielerinnen und Spieler. Im urbanen Tanztheater „Aus der Kurve fliegen“, das Grete Pagan inszeniert hat, überwinden sie Ängste. In der Bewegung zur Techno-Musik sprengen sie eigene Grenzen. Sie bäumen sich auf gegen den Stillstand. Die Saiten der E-Gitarre vibrieren. Trommelklänge bestimmen den Takt. Das Licht bricht. Knapp ist die Sprache, die Sätze sind aufs wesentliche reduziert. Dann kämpfen zwei der Akteure miteinander, als gehe es ums Überleben. Das spannende ästhetische Konzept Grete Pagans, die seit September 2022 Intendantin des Jungen Ensembles Stuttgart ist, hat es in der Kategorie „Inszenierung für ein junges Publikum“ auf die Liste der Nominierungen für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST geschafft. Damit setzt Pagan, die in Hamburg Musik- und Theaterregie studiert hat, die Tradition des JES fort, künstlerisch innovatives und anspruchsvolles Theater für die junge Generation zu machen. Sie hat die Stuttgarter Bühne über ein Praktikum kennengelernt. Die langjährige Intendantin Brigitte Dethier, die inzwischen als freie Regisseurin an großen Bühnen in Deutschland und der Schweiz arbeitet, ist glücklich, dass so die Kontinuität des Hauses gewahrt bleibt. Zum Abschied vom JES, das sie 2004 gegründet hat, um „eine zeitgemäße Struktur für das Kinder- und Jugendtheater zu schaffen“, stand die studierte Schauspielerin Dethier noch einmal selbst auf der Bühne – als demente Großmutter in Milan Gathers Stück „Oma Monika – was war?“ gewann sie 2022 den Mülheimer KinderStückepreis. Für den Faust 2023 ist auch die letzte Inszenierung der ehemaligen JESIntendanz nominiert. Für den Bühnenraum des internationalen Projekts „Hotel Europa“ in einem abrissreifen Gemeindesaal im Stuttgarter Arbeiter- und Gewerbestadtteil Wangen ist Bühnenbildner Philipp Nicolai in der Kategorie „Raum“ nominiert worden. Die zukunftsweisende Arbeit des Hauses feiert auch bundesweit Erfolge. Das JES ist eine eigenständige Bühne, wird aber von Stadt und Land gefördert. In dem Theater unter dem Tagblatt-Turm in der Stuttgarter Innenstadt arbeitet

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Foto Julia Sang Nguyen, Foto rechts Andreas Etter

Thema Kinder- und Jugendtheater


Thema Kinder- und Jugendtheater ­ rete Pagan mit einem festen Ensemble. G Theaterpädagog:innen, die Projekte an Schulen und mit Laien realisieren, sind ein wichtiger Baustein des Konzepts. Im Foyer, das mit kunterbunten Bildern und farbigen Möbeln kindgerecht ausgestattet ist, tummeln sich fast jeden Morgen Schulklassen. An der Bar holen sich die Jungs und Mädchen Limo. Wasser steht für alle kostenlos bereit. Mädchen, die zusammen kichern, räkeln sich auf den Kissen. Ins Theater zu gehen, das ist für die Schülerinnen ein besonderes Erlebnis. Ein breit gefächertes Publikum anzusprechen, das ist dem Team des JES wichtig. Das schlägt sich auch in den künstlerischen Formaten nieder. „Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die daheim kaum mit dem Theater in Berührung kommen“, sagt Grete Pagan. Gerade diese Zielgruppe will die Regisseurin mit ästhetischen Mitteln erreichen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. „In der Produktion ‚Aus der Kurve fliegen‘ sind viele der Jugendlichen im Publikum erst mal verunsichert, sie melden sich dann auch selbst zu Wort.“ Die griffigen Songtexte rütteln das junge Publikum auf, sie handeln von Liebe und von Einsamkeit. Besonders berührend aber sind die Augenblicke, in denen die Sprache versagt. Mit ihrem feinen Gespür für gesellschaftliche Diskurse gelingt es Grete Pagan, schwierige Themen künstlerisch leicht zu vermitteln. Dass Gewalt niemals eine Lösung sein darf, kommt in „Aus der Kurve fliegen“ schön zum Tragen. „Die Vielfalt der Gesellschaft“ soll sich nach Grete Pagans Worten in den Produktionen des JES wiederfinden. Das Kinderund Jugendtheater möchte die Jungen und Mädchen nicht nur mit innovativen künstlerischen Formaten herausfordern. „Es geht darum, die Themen aufzugreifen, die sie bewegen“, ist Grete Pagan überzeugt. Da denkt die Künstlerin an die Angst vor der Klimakatastrophe ebenso wie an die Suche queerer Jugendlicher nach ihrer ­sexuellen Identität. Mit ihrem stellvertretenden künstlerischen Leiter, dem Regisseur und Theaterpädagogen Frederic Lilje, will sie gesellschaftliche Debatten auch auf der Bühne weiterdenken. Dass sie mit einem Ensemble arbeiten darf, das sich ganz auf das Kinder- und

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Jugendtheater konzentriert, ist für Grete ­Pagan die große Chance des Jungen Ensembles Stuttgart. Ein erfahrener Schauspieler wie Gerd Ritter, der seit Jahrzehnten Theater für die junge Generation macht, sei da ebenso wichtig wie die jungen Künstler:innen. Wie gut alle miteinander harmonieren, ist im Musiktheater „Die Bremer Stadtmusiktiere“ zu spüren, das Sascha Flocken nach der Märchenvorlage der Brüder Grimm in Szene gesetzt hat. Kindgerecht übertragen die Spieler:innen den Stoff auf die Lebenswelt der Schul­ kinder. Gemeinsam gründen Hund, Esel, Katze und Hahn eine Band, die zuvor trostloses Leben zum Abenteuer macht. Wenn Lola Merz Robinson, Maximilian Schaible und Estelle Robinson gemeinsam die Bühne rocken, ist das einfach schön. So wird der Traum vom friedlichen Miteinander auf der Bühne wahr. Die Vielfalt der Stadtgesellschaft soll sich in den Spielplänen niederschlagen, ist Grete Pagan überzeugt. Deshalb ist Inklusion für das JES ein wichtiges Thema. „Wir möchten ein barrierefreies Theater werden“, sagt Grete Pagan. Dabei weiß die Intendantin nur zu genau, dass das ein weiter Weg ist. In der Produktion „Unsere große neue Welt“, die die Theaterchefin inszeniert hat, erleben Kinder mit und ohne Behinderung eine abenteuerliche Wimmelwelt – die gehörlose Schauspielerin Pamela Mayer steht mit den anderen Ensemblemitgliedern auf der Bühne. Gemeinsam wühlen sie in Mülltonnen, entdecken die Schönheit der Welt selbst in einem Schuh. Wichtig ist es Grete Pagan, die Kinder mit Behinderung in ihrer Individualität wahrzunehmen. Da plädiert sie für einen sensiblen Sprachgebrauch: „Der Begriff ‚Taub‘ schließt verschiedene Identitäten und Lebensrealitäten wie gehörlos, schwerhörig, CI-tragend sowie spätertaubt ein“. Eine Sprache zu finden, die allen gerecht wird, ist für Grete Pagan das Ziel. Durch die internationale Vereinigung für das Kinder- und Jugendtheater, in der Szene als ASSITEJ bekannt, ist das JES weltweit vernetzt. Diesen Kurs möchten Grete Pagan und ihr Team fortsetzen. Beim Kinder- und Jugendtheaterfestival Schöne Aussicht, das alle zwei Jahre in Stuttgart stattfindet, zeigen Gruppen aus vielen

Kontinenten ihre Vielfalt. 2024 findet das Festival vom 8. bis 15. Juni statt und stellt sich die Frage: „Wie gehen wir mit der Ungewissheit um?“ In Zeiten von Kriegen und Flucht ist dieser internationale Austausch dem JES-Team wichtiger denn je. Aber auch im Spielplan hat die multikulturelle Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Vom Leben zwischen zwei Welten handelt Aglaja Veteranyis Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“, den die Autorin 1999 geschrieben hat. Da denken zwei Schwestern aus einer Artistenfamilie über ihre entwurzelte Jugend nach. Klug erzählt Regisseurin Yeşim Nela Keim Schaub die Geschichte der Zirkuskinder, die sich nach einer Heimat sehnen. Die zehnjährige Schülerin Nela Awokou steht da gemeinsam mit der Schauspielerin Estelle Schmidlin auf der Bühne. Was es bedeutet, in einer fremden Sprache nach Halt zu suchen, zeigen die Spieler:innen in dem jugendgerechten Stück schön, doch zugleich mit allen Widersprüchen. Denn die Vielfalt der Kulturen ist noch lange nicht erreicht. T

„Aus der Kurve fliegen“, Urbanes Tanztheater mit Verdolmetschung in deutsche Gebärdensprache, womit Intendantin Grete Pagan für den Theaterpreis FAUST 2023 in der Kategorie „Theater für junges Publikum“ nominiert ist

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Thema Kinder- und Jugendtheater

„Grusel“ Konzept von pulk fiktion, Regie Hannah Biedermann und Norman Grotegut

Foto links Birgit Hupfeld, rechts Ursula Kaufmann

Angenehm unbequem Hannah Biedermann, eine der prägenden Regisseurinnen des Kinder- und Jugendtheaters, im Gespräch Von Stefan Keim

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Thema Kinder- und Jugendtheater Einzeln führen die vier Performer:innen ihr Publikum in den Saal. Man sitzt auf einem Stuhl mit Platz um sich herum, trägt einen Kopfhörer, aus dem Musik und Stimmen kommen. „Grusel“ heißt das neue Stück von Hannah Biedermann, eine Koproduktion des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters mit ihrem eigenen Label pulk fiktion. Wer sich traut, schließt die Augen. Dann fragt jemand: „Möchtest du einmal einer Hexe die Hand geben?“ Dann fühlt man etwas Kaltes, Glitschiges, Knochiges. Theater für alle Sinne, aber auch eine ­Reflextion der Angst. Das ist typisch für Hannah Biedermann. Sie verbindet ein – hier im wahrsten Sinne des Wortes – zupackendes Theater mit Diskursen. Wovor haben wir eigentlich Angst? Und warum? Die Fragen werden gestellt. Sogar die Nachrichten brechen kurz ein in die Aufführung. Außerdem ist „Grusel“ Theater, das sich explizit an Menschen mit Seh­ beeinträchtigungen wendet. Das Stück funktioniert auch perfekt als Live-Hörspiel.

unserem neuen Stück „Grusel“ bin ich eine Zweitbesetzung und könnte einen Part übernehmen. Für den Beruf der Regisseurin ist das hilfreich, mal wieder die Seiten zu wechseln. Aber ich würde mich eher als Performerin sehen, weniger als Schauspielerin.

Es geht um die Begriffe Macht und Handeln. Wie schaltet man sich in die Welt ein? Warum?

Wunderst du dich wirklich, dass ein Stück über Hannah Arendt im Jugendtheater selten gebucht wird? Da fragen sich doch bestimmt einige, ob das funktionieren kann. HB: Es ist ab 13 Jahren, wir haben es aber schon vor Zwölfjährigen gespielt, auch vor einem Publikum, das nicht an Theater gewöhnt ist. Es ist schon eine Herausforderung. Es geht um die Begriffe Macht und Handeln. Wie schaltet man sich in die Welt ein und warum? Mit den Gedanken von Hannah Arendt. Ganz kon-

kret gibt es ein rohes Ei auf der Bühne, das ich dem Publikum zur Verfügung stelle, um sich einzuschalten. Manchmal traut sich keiner, es anzufassen. Manchmal wird es im Publikum rumgereicht. Es hat schon jemand das Ei aufgeschlagen und getrunken. Und wenn das Ei geworfen wird, gibt es verschiedene Varianten, wie das Stück weitergeht. Es geht darum, ob man bereit ist, in die Öffentlichkeit zu gehen und sich einzuschalten. Wir holen alle rein in diesen philosophischen Diskurs.

Hannah Biedermann, vierzig Jahre alt, ist ausgebildete Schauspielerin. Aber bekannt wurde sie als Regisseurin im Kinder- und Jugendtheater, die keine Scheu vor komplexen Themen und Ästhetiken hat. Sie fordert ihr Publikum, gleich welchen Alters, nimmt es ernst, arbeitet für Stadt- und Staatstheater und mit ihrer Gruppe pulk fiktion in der Freien Szene. Der Tabori Förderpreis war nur eine von mehreren Auszeichnungen, die sie bisher bekommen hat. Wir treffen uns im Café Vreiheit in Köln-Mülheim. Hannah, wenn man dich googelt, kommt als erster Satz „Hannah Biedermann ist eine deutsche Theaterschauspielerin“. Hannah Biedermann: Ach, wirklich? Ich google mich nicht so oft. Trifft das denn zu? Spielst du noch? HB: Selten. Bei pulk fiktion haben wir das Stück „Denken ohne Geländer – Hannah Arendt im Selbstversuch“. Das ist ein etwas sperriger Abend. Ich spiel ihn gern, aber er wird eher selten gebucht. Nächsten Januar gibt es in Mülheim an der Ruhr mal wieder eine Aufführung. Ich bin dort allein auf der Bühne, mit einem – ich sag’ mal – leicht mitspielendem Techniker. Bei

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Hannah Biedermann in der Urauffürhung von „Schwester“ von Jon Fosse in der Regie von Claus Overkamp am Theater Marabu in Bonn 2012

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Thema Kinder- und Jugendtheater uns mit historischen Beispielen von den Suffragetten über Che Guevara bis zur RAF, reenacten die Reden und schauen, ob die jungen Menschen mit dieser Wut etwas anfangen können. Das Stück ist ein Plädoyer für die Bühne, für das Sprechen, auch und besonders für andere.

Du gibst also die Kontrolle über den Verlauf der Aufführung an das Publikum ab? HB: Ja, und auch Leute, die bisher nichts von Hannah Arendt wussten, haben danach hoffentlich etwas mitbekommen. Die Ermächtigung zum Handeln und zum eigenständigen Denken ist ein zentrales Thema für dich, oder? HB: Das ist aus meiner Sicht dem Kinder- und Jugendtheater immanent. Es gibt ein Gefälle zwischen Kindern und Erwachsenen, Regeln, die auch sinnvoll sind, Fürsorgepflicht zum Beispiel, die aber Kinder im Alltag unmündig machen. Da finde ich es sinnvoll – übrigens auch für Erwachsene –, Theater zu machen, das sagt: Wir sind alle Teil einer Gesellschaft. Und die Gesellschaft ist die, die wir daraus machen. Im Theater kann man Kindern einmal die Autorität geben, wirklich etwas

Eigentlich sagen alle, gutes Kindertheater sollte auch für Erwachsene funktionieren. 20

zu entscheiden. Sie können sich als Mitgestalter:innen begreifen. Du machst gerade am Jungen Theater Basel ein neues Stück mit dem Titel „Um Kopf und Kragen“. In der Ankündigung steht der Satz „Wir werden es riskieren, uns um Kopf und Kragen zu reden. Versprochen!“ Findest du die Rede weiterhin so mächtig? Glaubst du in Zeiten des Aktivismus an den Diskurs der Worte? HB: Ja, aber es bleibt nicht beim Reden. Es geht auch um die Frage, wie man sich Gehör verschafft und sich gegenüber Aktivismus und Slogans verhält. Ich entwickle hier zum ersten Mal ein professionelles Theaterstück mit jungen Lai:innenen. Wir haben volle acht Wochen Probenzeit, die Mitwirkenden sind von Schule und Studium freigestellt. Ich hab’ mich gefragt, was ich nur mit ihnen, nicht mit Erwachsenen machen kann. Dann hab’ ich ein Interview mit einer Aktivistin gehört, in dem sie sich zum zivilen Ungehorsam bekennt. Nun machen bei dem Stück sechs weiblich gelesene Personen mit, die eine Distanz zur Letzten Generation oder zum Schwarzen Block haben. Deshalb beschäftigen wir

Einer deiner größten Erfolge war die „Konferenz der wesentlichen Dinge – ein Gesellschaftsspiel“. Das Stück lief auf vielen Festivals. Hier – aber keinesfalls nur hier – hast du die Erwachsenenperspektive einbezogen. Ist das typisch für dich? HB: Eigentlich sagen alle Kindertheatermacher:innen in meinem Umfeld, dass gutes Kindertheater auch für Erwachsene funktionieren sollte. Aber ich beobachte dennoch, dass die Aufführungen oft un­ terkomplex sind. Vielleicht verhandele ich die Erwachsenenperspektive etwas expliziter. Ich verstehe überhaupt Jugendtheater nicht einschränkend. Ich suche auch immer Themen, die mich beschäftigen, und nicht die, von denen ich vermute, dass sie das junge Publikum umtreiben. Da entsteht ein Dialog. Kinder müssen schon das Gefühl haben, dass sie gemeint sind, dass es für sie gemacht ist. Aber sie haben ja in unserer Welt auch ständig mit Erwachsenen zu tun, das spiegelt sich auch in den

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Foto Christian Herrmann, Archivfoto, Library of Congress via Getty Images

Hannah Biedermann in „Denken ohne Geländer – Hannah Arendt im Selbstversuch“ in der Regie von Eva von Schweinitz

Du inszenierst an vielen verschiedenen Theatern, aber auch regelmäßig mit der eigenen Gruppe pulk fiktion. Gibt es da einen grundlegenden Unterschied in der Arbeitsweise? HB: Ja, schon. Weil wir selbst produzieren, geht die Arbeit schon früher los, weil wir die Förderanträge schreiben müssen. Das ist einerseits lästig, anderseits gärt die inhaltliche Auseinandersetzung länger. Außerdem begleiten wir uns bei pulk fiktion gegenseitig schon lange. Da ist natürlich ein großes Vertrauensverhältnis entstanden. Wir nennen uns dennoch bewusst nicht Kollektiv. Bei uns wird nicht alles bis ins Letzte diskutiert, sondern es gibt Aufgabenverteilungen. Wenn ich Regie führe, steht es mir zu, bestimmte Entscheidungen zu treffen, ich habe aber auch die Verantwortung. Aber die Spieler:innen bringen eine Menge selbst mit, Krisen gehen immer alle an.


Thema Kinder- und Jugendtheater Stücken. Ich finde es sehr wichtig, dass Kinder sehen, wie sich Erwachsene infrage stellen. Wir sind alle nicht fertig, wissen vielleicht in manchen Bereichen mehr, haben aber auch unsere Unsicherheiten. ­ Da können wir uns begegnen.

also auch mit Lai:innen. Teilweise ärgere ich mich sehr, wenn ich sehe, dass oft Regisseur:innen aus dem Abendspielplan ins Junge Theater geholt werden, weil man sich neue Impulse verspricht. Aber andersrum funktioniert das nicht.

Du arbeitest bisher fast ausschließlich im Bereich Kinder- und Jugendtheater. Und ich frage mich, warum das so ist. HB: Ich mich auch. Ich würde gerne mehr im Abendspielplan arbeiten. Für die Bürgerbühne am Düsseldorfer Schauspielhaus habe ich schon inszeniert. Dahinter steckt ein bisschen der Gedanke „wenn jemand mit Kindern kann, kann sie auch mit Lai:innen“. Und am Dortmunder Schauspiel mache ich demnächst bei Julia Wissert eine Stückentwicklung im Studio, mit dem Ensemble und mit dem Sprechchor,

Musst du Intendantin werden, um diese Vorurteile zu pulverisieren? HB: Ich hab’ mich schon mal beworben und bin auch in der Vorauswahl überraschend weit gekommen. Ich mache ja Theater für alle. Eine Schauspielerin, die sonst nicht im Jugendtheater arbeitet, hat mir mal erzählt, wie krass sie das fi ­ ndet, dass wir schon bei den Proben Schulklassen einladen. Dahinter steckt der Gedanke, dass wir nicht mehr acht Jahre alt sind und ein Korrektiv brauchen. Diese Idee könnte man ja erweitern. Andere

Erwachsene sind ja auch nicht wie ich. Der Abendspielplan könnte gewinnen, wenn die Arbeit durchlässiger würde. Haltung und Verständlichkeit haben nichts damit zu tun, zu einfach oder unkünstlerisch zu sein. Im Gegenteil. Das Theater muss meiner Meinung nach angenehm unbequem sein. Und den Dialog mit dem Publikum wirklich ernst meinen. T

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STREITEN?

SCHAUBURG – THEATER FÜR JUNGES PUBLIKUM SPIELZEIT 2023/2024

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mehr TADAA statt to do Zentrum der Kultur für Junges Publikum Köln und NRW comedia-koeln.de


Thema Kinder- und Jugendtheater Pling. Das Handy klingelt: Push-Nachricht zu bevorstehenden Kürzungen im Kulturbetrieb. Kürzungen der Freiwilligendienste. Kürzungen in der Kulturellen Bildung.

Kurznachrichten aus der Welt für junges Publikum Von Nikola Schellmann und Julia Kizhukandayil

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Theater für junges Publikum findet nicht im luftleeren Raum statt: Theater und freie Produktionen sind verstärkt mit größeren Mittelkürzungen für Kunst und Kulturelle Bildung konfrontiert. Das trifft einen Bereich, der bereits zuvor unterfinanziert war, nun werden die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen auch nach über drei Jahren Pandemie nicht ernst genommen. Wie positioniert sich Theater für ­ junges Publikum also für die Rechte von Kindern und Jugendlichen? Wie kann es ihnen Zugänge zu künstlerischen Erfahrungen öffnen, Beteiligung ermöglichen und Impulse für gesellschaftliche und politische Diskussionen geben? Wie kann es dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche Diversität, Teilhabe, Identitäten und Ungleichheiten selbst- und diskriminierungskritisch, respektvoll und ohne Angst vor Fehlern miteinander verhandeln? Da haben wir gleich mal im ersten Absatz eine ganze Menge Begriffe reingeworfen. Das können wir gut: Begriffe irgendwohin werfen. Wir schreiben aus der Perspektive von weißen Personen, die im Kontext von ASSITEJ e.V. und KJTZ Netzwerkarbeit (oh, Pling Pling, das Netzwerk meldet sich) für Künstler:innen und Akteur:innen der Darstellenden Künste für und mit jungem Publikum machen. Wir möchten Menschen in Austausch bringen, Diskursformate anbieten, Strukturen hinterfragen und Veranstaltungen öffnen möchten für Personen und Perspektiven, die dort bisher wenig oder nicht wahrnehmbar oder vertreten waren. Pling. Rechte Angriffe auf die Kultur und auf Kulturakteur:innen. Die Zeiten, in denen Diversität und Inklusion ein Nice-to-Have oder eine schöne Errungenschaft auf Festivals waren, sind vorbei. Zu viele Diskurse verschieben sich bereits viel zu stark in proble-

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Illustration Johanna Benz- graphicrecording.cool

Pling. Politische Bildung soll im kommenden Jahr auch Kürzungen erfahren.


Thema Kinder- und Jugendtheater matische Richtungen: Räume werden eingeschränkt, künstlerische Auseinandersetzungen zu diversen Themen sind nicht (mehr) erlebbar. Mit gravierenden Folgen, denn so verschließen wir Kindern und Jugendlichen wichtige Erfahrungsräume und beeinträchtigen sie in ihrer Entwicklung als autonome und selbstbewusste Personen. Pling. Sparten oder Spielstätten sollen zusammengestrichen oder geschlossen werden. Oft sind es jene für junges Publikum. Das junge Publikum, das jeden Morgen (überwiegend in Gruppenzusammenhän­ gen) in unsere Theatervorstellungen strömt, bringt die unterschiedlichsten Lebensrealitäten mit. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Orte der Kulturellen Bildung, an denen sie Kunst erfahren, kennenlernen und machen können. Die Darstellenden Künste für junges Publikum können Orte sein für Repräsentation ihrer Lebenswelten, für Multiperspektivität und Vielstimmigkeit im Publikum sowie auf und hinter der Bühne. Und sie müssen diese Orte auch bleiben. Mittelkürzungen – und damit der Verlust solcher Räume – dürfen das nicht gefährden. Pling Pling Pling. Unsere Social Media-­Posts der letzten Wochen, die auf Daten­erhe­bun­ gen zur wirtschaftlichen Situa­ tion Freier Kinder- und Jugendtheatermacher:innen beruhen, erzeugen in Social Media mehr Traffic als diskursive Fragen. Voll gut, dass konkrete alarmierende Zahlen zu Nettoeinkünften und einstelliger prozentualer

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öffentlicher Förderung von Projekten Aufmerksamkeit generieren. Aber die Bedrohung von Lebensrealitäten lässt sich nicht in Zahlen abbilden. Es ist ein Riesenspagat zwischen dem Anspruch, gute Kunst zum Gesprächs­ ­ thema zu machen (zum Beispiel durch Austauschveranstaltungen, Festivals, Fach­ tage oder Ähnlichem) und dabei aber auch die Strukturen anzuschauen, in denen diese Kunst entsteht. Denn viele Theatermacher:innen müssen sich um diese Strukturen kaum Gedanken machen, weil sie mittendrin sind und weil ihnen das auch nicht abgesprochen wird. Und sobald eine Erweiterung etablierter, mächtiger Perspektiven passiert, geht damit Arbeit einher. Auch wenn das klingt wie die 752. Messenger-Nachricht – Pling Pling Pling Pling – zu diesem Thema: Wir müssen lernen, ehrlich zu uns selbst und zu unseren Projekten zu sein und zu fragen: Warum mache ich das? Warum will ich Perspektiven einbeziehen? Und wie rede ich eigentlich, wenn niemand zuhört? Wer profitiert davon, wenn Projekte inklusiv, divers, partizipativ, intersektional sein sollen? Ich selbst, für mein Selbstbild oder das Selbstbild einer Institution? Der Weg zu einer machtkritischen Aus­ einandersetzung mit Diversität beginnt mit der Frage nach eigenen Privilegien: Wenn weiße Theatermacher:innen sich von ihrem Absolutheitsanspruch ver­ abschieden, haben Theatermacher:innen mit Marginalisierungserfahrungen die Deu­tungshoheit über ihre Identität. Eben jene, die sich zuvor immer wieder erklären mussten und denen doch nie zugehört wurde – und die im System Theater immer wieder Gewalt und Verletzungen erfahren haben. Es ist wichtig, vieles zu verlernen, neu auszuhandeln und das wird nicht ohne externe Hilfe von Expert:innen möglich sein. Wenn wir dazu nicht bereit sind – und wenn in Arbeits- oder Reproduktionsprozessen einzelne Personen Gewalt erfahren, brauchen wir auch nicht von institutionellem Wandel zu sprechen. Weder für junges Publikum, für erwachsenes Publikum,** noch für diejenigen, die für das Publikum arbeiten.

Der Weg zu einer machtkritischen Aus­einandersetzung mit Diversität beginnt mit der Frage nach eigenen Privilegien.

Es geht nicht darum, dass man diese ganzen Diskurs-Vokabeln erstmal lernen muss. Es geht darum, aufrichtig zu fragen, ob ernsthafte Bereitschaft besteht, Machtpositionen zu hinterfragen und abzugeben. Pli… Denn das Handy kann ich ausschalten. Die Welt nicht. Was wir brauchen, sind gemeinsame, diskriminierungssensible, intersektionale Begegnungen, die auf Dialog und auf respektvolles Aushandeln von Unterschieden setzen. Ohne Diskriminierungen zu reproduzieren, ohne negative Emotionen hervorzurufen – sondern die das Gegenteil ermöglichen: Verständnis für und Empathie mit unterschiedlichen Lebensrealitäten junger Menschen. Und Theater kann und sollte ein Ort für solche Begegnungen sein. Das Handy klingelt nicht mehr, es leuchtet jetzt auf. T

Ein Gastbeitrag von „darstellende künste & junges publikum“ im Kinder- und Jugendtheaterzentrum Frankfurt am Main

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/kinder-und-jugendtheater

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Das NPN wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Tänzer*innen / Performer*innen Ü 60 gesucht für Performance-Projekt im öffentlichen Raum im Rahmen von

Mit ausgewählten performativen Inszenierungen, einer multimedialen Ausstellung und diskursiven Formaten blicken wir zurück auf Interventionen im privaten und öffentlichen urbanen Raum. Gleichzeitig richten wir den Blick nach vorn. Details auf angiehiesl-rolandkaiser.de Gefördert und unterstützt durch


Theater der Zeit

Akteure

Foto Britt Schilling

Martin Müller-Reisinger „Das Wintermärchen“ von William Shakespeare in der Regie von Yair Sherman am Theater Freiburg

Kunstinsert Die emotive Installation von SIGNA am Schauspielhaus Hamburg Porträt Der israelisch-amerikanische Regisseur Yair Sherman über seine Shakespeare-Inszenierung in Freiburg und die Situation in Israel

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Fotos Erich Goldmann

Das unheimliche 13. Jahr Die emotive Installation von SIGNA am Schauspielhaus Hamburg Von Peter Helling

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Links: Daniel Hoevels und Mareike Wenzel als das Elternpaar Michael und Gilda in SIGNAS „Das 13. Jahr“. Dieses Stück simuliert das Paralleluniversum einer Dorfgemeinschaft in komplett immersiver Form, auf dem Foto rechts oben Andreas Schneider, unten Amanda Babaei Vieira

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Fotos Erich Goldmann

Szenen aus „Das 13. Jahr“ Eine Performance-Installation von SIGNA, in der Regie von Signa Köstler, hier Arthur Köstler und Josef Ostendorf, unten Luisa Taraz, rechts Benita Martins

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SIGNA – Signa und Arthur Köstler – bei der Verleihung des Nestroy-Theaterpreises 2016 im Ronacher in Wien.

Das Performance-Kollektiv SIGNA besteht im Kern aus der dänischen Performanceund Installationskünstlerin Signa Köstler und ihrem aus Österreich stammenden Partner, dem Medien-Performancekünstler Arthur Köstler. Sie erforschen immer wieder neue Möglichkeiten des immersiven Theaters, zuletzt mit „Das 13. Jahr“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

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Es ist eine Reise in die eigene Kindheit, es ist übergriffig, manipulativ, es ist verstörend und toxisch, aggressiv, verführerisch, sollte mit mehreren Trigger-Warnungen versehen werden, und es ist im allerbesten Sinn: Theater. Ein Theater ohne Zuschauer und Zuschauerinnen, eines, in dem die vierte Wand zu einer hauchdünnen Folie wird zwischen Ensemble und Publikum. SIGNA hat wieder zugeschlagen. Und wer schon immer Scheu vor Mitmachtheater hatte, wird hier bestätigt. Man kann das Konzept albern finden, man kann wie durch einen 3D-Horrorfilm wandern. Oder man beginnt, sich zu erinnern. Beginnt, Muster der eigenen Kindheit freizulegen, Vergessenes, Verschüttetes. Das Erstaunliche am dänisch-österreichischen Kollektiv um Signa und Arthur Köstler: Dieses ungeheuer aufwendige und akribisch durchdachte Konzept mit seiner performativen Eins-zu-Eins-Betreuung verwandelt einen. Man geht nicht als Betrachter durch eine Zauberwelt, sondern ist mit dem eigenen Körper, der eigenen Lebenserfahrung dabei. Wenn man sich einlässt. Und der Autor dieser Kritik möchte das. Damit ist es eine doppelte Position. „Das 13. Jahr“, auf einem ehemaligen Industrie-Gelände in Hamburg. Nachdem man alle Handys und Aufnahmegeräte abgegeben hat – zwei Kritikerinnen mit Schreibblock werden verpflichtet, so zu tun, als kritzelten sie in Schulhefte –, sitzt man in einem nüchternen Warteraum. Stimmung: aufgeregt, nervös, bei SIGNA weiß man ja nie. Vorne auf einer Tafel sieht man das Video einer nebligen Wald- und Berglandschaft. Drei grau gekleidete Performer:innen betreten den Raum, stellen sich als Mitglieder von „Lethe-Simulationswelten“ vor – merke: Lethe ist die mythologische Personifikation des Vergessens – und heißen das Publikum freundlich-sachlich willkommen. Dann folgen Sicherheitshinweise. Etwa, dass es überall in der Installation Alarmknöpfe gibt für den Fall, dass es einem zu viel wird. Außerdem hält einer der Drei ein Stück Plastikkäse hoch, eine andere einen Kanten trockenes Brot: Beides, Plastikkäse und echtes Brot, sei in dieser Welt gleichermaßen „echt“. Und man wird gebeten, nicht „mitzuspielen“, etwa mit imitierter Kinderstimme, sondern „mitzufühlen“. Wir, die rund vierzig Zuschauer und Zuschauerinnen, werden jetzt aufgefordert, uns gedanklich in unser 13. Lebensjahr zurückzuversetzen, uns vorzustellen, wir säßen in einem Bus ins Ferienlager. Der Bus bleibt in der Vorstellung irgendwann hoch oben im Nebel stehen. Der Busfahrer sei verschwunden, und wir sollen hinaus gehen in den Nebel, den Weg suchen. Dann wird man aus dem Raum geführt, taucht in eine Welt ein, die man als Abbild unserer Gesellschaft lesen kann, einen Angstraum. Der Weg führt durch einen L-förmigen Gang in eine Halle, ein nebelverhangenes Dorf, zehn kleine Hütten. Ringsum, auf Stoffbahnen, die Projektion eben des Bergpanoramas, das wir gerade

SIGNA hat wieder zugeschlagen und wirft einen listig auf die eigenen Zweifel am „Mitmachtheater“ zurück. Theater der Zeit 12 / 2023

Fotos linls unten Manfred Werner (Tsui) cc-by-sa4.0, links oben Erich Goldmann

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Akteure Kunstinsert auf dem Video gesehen haben. Windgeräusche, kalter, nasser Geruch. Und in den Hütten kauern, liegen, stehen: Puppen. Lebensgroß. Oder sind es Menschen mit Masken? Eine lehnt gegen eine Scheibe, man sieht, dass sie leicht beschlagen ist. Da atmet wer hinter der Maske. Ziemlich unheimlich und ziemlich: Geisterbahn. Der Kritiker räumt ein, dass er an diesem Punkt der Performance leichten Spott empfindet. Auf dem Dorfplatz mischt sich plötzlich das Publikum mit dem Ensemble, jetzt ohne Masken: Man wird am Arm in eine der Hütten gezogen. Ein Mann und eine Frau, mit gedämpfter Stimme, tränenverschmiertem Gesicht, sagen, sie würden sich jetzt um uns kümmern, wir seien schließlich rettungslos in diesem Nebeldorf verloren. Sie seien jetzt unsere Eltern, wir: ihre „Notkinder“, im 13. Jahr, zwölf Jahre alt. Und so findet man sich schließlich auf zehn Quadratmetern wieder, eng an eng, zusammen mit drei anderen Zuschauerinnen. Die Gastfamilie besteht aus Mutter, Vater und zwei Töchtern, eine davon als schwer atmende Puppe im Hinterzimmer. Sie, sagen die Eltern, hätte das tödliche Nebelfieber. Und genau das holten wir uns auch, wenn wir versuchten, von hier wegzulaufen. Das Elternpaar Michael und Gilda, gespielt von Daniel Hoevels und Mareike Wenzel, bittet uns freundlich aber bestimmt, sich umzuziehen, die alten Kleider seien voller Nebel. Wir verwandeln uns auch optisch in Kinder. Beigefarbene Kleidung, einfache Schuhe. Sitzen, stehen ratlos herum. Werden aufgefordert, Kartoffeln und Rüben für eine warme Suppe zu schnippeln. Und: bloß nicht lachen, immer der bange Blick nach draußen. Von dort kommen unheimliche Geräusche, Wind, Tiere. Ein Bellen. Ein Mensch schreit. „Dicht halten“, „ducken“, „Klappe halten“, zischen Michael und Gilda beim kleinsten Mucks. Am Eingang zur Hütte übrigens: besagter Alarmknopf, der Kritiker ist nicht gewillt, ihn zu drücken, sondern weiterzumachen, er stellt sich als „Peter“ vor. Wahrheitsgemäß. Was nun passiert, ist eine äußerst unangenehme Verschiebung. Immer wieder unternimmt Gastmutter Gilda kleine Ausflüge in andere Hütten. Der Kritiker, nunmehr in der Behauptung „zwölf Jahre alt“, sitzt allein mit dem Vater Michael in der winzigen Küche aus braunen Möbeln, schmierigem Geschirr, einer kleinen Kochplatte und Spüle. Ein Gespräch beginnt tastend – wie man hier wieder wegkomme, wie lange sie hier schon so lebten. Und Michael verrät, vielleicht drei Jahre, sie hätten es vergessen. Er baut Nähe auf, fragt den Kritiker nach der eigenen Kindheit, nach Geschwistern. Ob er einsam sei. Daniel Hoevels spielt einen latenten Übergriff, so täuschend lebhaft und echt, dass in diesem Moment die Verwandlung gelingt. Man findet sich in der Position eines Kindes wieder, dessen Hand von einem fremden Erwachsenen gehalten wird, dem sogar ein Schluck Schnaps angeboten wird, der Gedanke: „Darf man das, mit zwölf?“ Grundsätzlich soll man ja nicht mitspielen, aber man ertappt sich dabei, sich zu bewegen, ähnlich zu sprechen wie mit zwölf. Und plötzlich wird klar: Dieses Kind ist immer noch tief in uns, der Körper meint sich zu erinnern. Vorsicht: An dieser Stelle könnte die Performance bedrohlich für Menschen werden, die als Kinder wirklich einen Übergriff erlebt haben. Das ungeheuer Kluge dieses Abends und dieses fulminanten Ensembles, das sich aus SIGNA-Spieler:innen und Schauspielhaus-Ensemble wie Josef Ostendorf, Sachiko Hara

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Man geht nicht als Betrachter durch eine Zauberwelt, sondern ist mit dem eigenen Körper, der eigenen Lebenserfahrung dabei.

und Lars Rudolph zusammensetzt: Indem wir, als Erwachsene, uns selbst als Kinder zusehen, sind wir in der Lage, übergriffige Verhaltensmuster zu durchschauen. Wir sind Teil eines Films, steuern aber mit. Brillant. Verstörend. Dass hier für jede Hütte – in jeder „wohnen“ ja vier Zuschauer und Zuschauerinnen als „Notkinder“ – ein eigenes Drehbuch geschrieben wurde, ist geradezu unglaublich gut gemacht. Über dem Dorf thront, kaum zu erkennen, eine Regiekabine, ein Cockpit, von dem aus alles technisch gesteuert wird. Aber SIGNA verschleiert geschickt, wie die Performances genau funktionieren. Die Spieler:innen müssen maximal flexibel auf das Publikum reagieren. Was genau die Bedrohung ist, vor der hier alle Angst haben, bleibt unklar. Immer wieder wird die Performance durch einen lauten Ton unterbrochen, grelles Licht springt in der Hütte an. Man wird aus Lautsprechern unterrichtet, dass es spät am Nachmittag ist, langsam die Nacht kommt. Nach nächtlichen Geisterbeschwörungen, nach Gewitter, Geschrei und Wolfsgeheul dämmert ein neuer Morgen in dieser perfekten Illusion. Und merkwürdigerweise ist dann ein bisschen die Luft raus. Denn nun heißt es, es käme tatsächlich ein echter Geist. Auch ein rauschhaftes Dorffest, bei dem das Böse gebannt werden soll, kann das nicht verhindern. Die konkrete Bedrohung ist weniger bedrohlich als das Diffuse des ersten Teils, auch wenn das Finale eines Horrorschockers ­würdig ist. Nachdem die Nebelwelt wieder eingefroren ist, man sich umgezogen hat, verlässt der Kritiker seine Gastfamilie – jetzt wieder mit Maske. Sitzt im Warteraum vom Anfang, sechs Stunden ­später, erschöpft. Aber auch hier lässt SIGNA nicht locker, ganz Horrorfilm-geschult: Plötzlich platzen zwei der Nebel-Dörflinge durch die Tür, schauen sich verwundert um, die Ebenen vermischen sich maximal. Danach steht man wieder draußen. Hat sein Handy wieder, seine Jacke an. Und ertappt sich noch Tage später bei dem Gedanken, was wohl die Familie von Michael und ­Gilda gerade macht, Kartoffeln schnippeln? Französisch-Vokabeln pauken? Ein Lied summen? SIGNA hat wieder zugeschlagen und wirft einen listig auf die eigenen Zweifel am „Mitmachtheater“ zurück. Es geht ja um uns. Und um Selbstermächtigung. T

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Akteure Porträt

Der israelisch-amerikanische Regisseur Yair Sherman

Ich weiß keine Antwort Der israelisch-amerikanische Regisseur Yair Sherman über seine Shakespeare-Inszenierung in Freiburg und die Situation in Israel im Gespräch mit Elisabeth Maier und Thomas Irmer

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Nach der Premiere von „Das Wintermärchen“ in Freiburg sind Sie nach Israel zurückgekehrt. Wie ist die Situation für Sie zuhause in Tel Aviv? Sind Sie unmittelbar vom Krieg betroffen? Yair Sherman: Absolut. In vielerlei Hinsicht. Hamas-Raketen werden auch auf Tel Aviv geschossen. Jeden Tag, manchmal mehr als nur einmal, gibt es einen Alarm. Egal, wo wir gerade sind, müssen wir uns dann sofort in den nächstgelegenen Bunker begeben.

Foto links Isaiah Fainberg, rechts Britt Schilling

Können Sie unter diesen Umständen arbeiten? YS: Im Moment sind alle Theater geschlossen und wir wissen nicht, wann sie wieder öffnen. In den meisten Theatern finden noch Proben statt, aber es gibt keine Vorstellungen. Aus Sicherheitsgründen, aber nicht nur deshalb. Viele Leute sind tief verletzt und verstört – physisch, emotional und finanziell. Viele werden in die Armee einberufen und lassen ihr Zuhause, ihre Angehörigen und Tagesgeschäfte zurück. Schauspieler:innen und andere, die im Theater arbeiten, werden einberufen. Sie alle fehlen jetzt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Leute jetzt ins Theater gehen würden. Vielleicht später. Alle sind in einem tiefen, tiefen Trauma. Das fühlst du sofort. Als ich nach Israel zurückkam, war es nicht mehr das Land, das ich für die Arbeit in Freiburg verlassen hatte. Du fühlst das auf der Straße, in den Gesichtern der Menschen, überall, wo du hinkommst. Es gibt diese Bilder von den Geiseln an Hauswänden, die uns mehr als alles andere daran erinnern, dass wir sie zurück nach Hause bringen müssen. Es gibt überall in der Stadt freiwillige Helfer:innen und das ganze Land übt Solidarität. Ich habe meinen Schrank ausgeräumt, Kleidung aussortiert, auch Decken und Bettwäsche. Spiele für Kinder. Morgen kommt ein Freund mit dem Auto und wir bringen diese Sachen zu einer der Sammelstellen, wo sie für Menschen in Not angenommen werden.

Ich kann, so voller Trauer, über den Krieg gar nicht direkt sprechen. Das, was passiert ist, ist ein solches Desaster, so brutal und schockierend.

­Torens Bühnenbild ist ein riesiger Tunnel, der in ein schwarzes Loch mündet. Der scheint Leontes zu verschlingen, nachdem er sich in einen Tyrannen verwandelt hat. Der Angriff der Hamas fand am 7. Oktober statt, noch mitten in den Proben. Kam dann die Wirklichkeit des Kriegs in die Inszenierung? YS: Immer, wenn ich an einem Stück arbeite, beziehe ich mein eigenes Leben mit ein – ob bewusst oder unbewusst. Ich wuchs an einem Ort auf, wo es immer Krieg gab, immer Gefahr,

Der Dramatiker Joshua Sobol sagte (im deutschen Fernsehen), dass er gegen die Schließung der Theater sei. Die Menschen sollten einen Ort haben, wo sie sich in einer Weise austauschen können, die ihnen nur das Theater ermöglicht. Was denken Sie? YS: Ich schätze Joshua Sobol, ich habe mit ihm früher gearbeitet. Ich bewundere sein Werk und ich lese auch seine jour­ nalistischen Beiträge. Davon habe ich allerdings nichts gehört und vielleicht fehlt mir der Zusammenhang dieser Aussage. Eines der stärksten Bilder, die ich gesehen habe, war das von der Bühne des Jerusalem Theaters voller Kisten mit Nahrungsmitteln und anderen Sachen für Menschen in Not. Das war sehr traurig und schockierend, aber wenn die Zeit kommt, werden die Kisten durch Schauspieler:innen ersetzt. Ganz ehrlich, ich weiß nicht einmal, was für ein Text jetzt aufgeführt werden sollte – und warum. Ich kann, so voller Trauer, über den Krieg gar nicht direkt sprechen. Das, was passiert ist, ist ein solches Desaster, so brutal und ­schockierend. Ich will keine Illustration zu dem liefern, was wir gerade durchmachen. Es nimmt einem die Luft zum Atmen. In Ihrer Freiburger Inszenierung des „Wintermärchens“ – einem der späten Stücke Shakespeares aus dem Jahre 1611 – war sehr beeindruckend zu sehen, dass die Realität des Krieges ohne direkte Bezugnahme reflektiert wurde. Der Blickfang in Roni ­

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Szenen aus „Das Wintermärchen“ von William Shakespeare in der Regie von Yair Sherman am Theater Freiburg.

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immer Tod. Vielleicht führt mich das zu meinen Entscheidungen. Und es wirkt sich auf das Material aus, das ich mir aussuche, und wie ich das inszeniere. Wenn ich inszeniere, bin ich immer wieder überrascht, wie das Leben auf das Stück trifft, das ich gerade mache. Auch wenn ich alles vor dem Probenprozess plane, bleibt immer noch genügend Spielraum für das Unerwartete. Und dieses Unerwartete beeinflusst meine Arbeit. Die Szene, in der die Königin Hermione vor Gericht steht, weil ihr Mann sie des Ehebruchs beschuldigt, wollte­ich unbedingt sehr brutal zeigen. Es war schon nach dem

7. Oktober, als wir daran arbeiteten. Als ich sah, wie die Schauspielerin Mareike Kriegel aus ihrer Versenkung stieg, mit einer Maske und Blut am ganzen Körper, wurde mir klar, das war keine Imagination. Das war von der Wirklichkeit inspiriert. Das lässt sich als ein klares Statement gegen den Krieg lesen, denn man begreift die Folgen einer Schlacht für den Menschen. Im „Wintermärchen“ vollzieht Leontes eine sehr plötzliche Wendung. Am Anfang sehen wir ihn als einen freundlichen Herrscher, aber dann wird er völlig unerwartet zu einem Tyrannen. Kann man das überhaupt verstehen? YS: Als wir mit den Proben begannen, haben alle Schauspieler:innen gefragt, wie sich dieser Moment erklären lässt, in dem Leontes zum Tyrannen wird. Plötzlich hat er diesen Eifersuchtsanfall. Shakespeare liefert uns keinen Grund dafür, er überlässt das unserer Interpretation. Als Regisseur muss man aber eine Begründung liefern. In diesem Fall wollte ich jedoch nicht den kleinsten Hinweis geben. Das ist so, wie wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wird. Nach dem 7. Oktober sah ich im Fernsehen die Familien in ihren Häusern, die doch für sie der

Thieß Brammer, Marlene Hanhörster, Michael Witte und Anja Schweitzer in „Das Wintermärchen“

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Foto Britt Schilling

Sie werden nie irgendeine Rechtfertigung von Gewalt bei mir finden. Krieg kennt keine Sieger. Ich meine, wenn die Geiseln befreit sind, ist in der Sache was erreicht, und Israel wird sich entscheiden müssen, welche Zukunft es für seine Kinder will.


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sicherste Ort auf Erden sein sollten. Nach dem Angriff der Hamas wachten sie in dem schlimmsten Alptraum auf, den man sich vorstellen kann. Warum haben Sie dieses Stück gewählt? In Deutschland wird es eher selten gespielt. YS: „Das Wintermärchen“ hat mich schon seit langem beschäftigt. Ich habe es vermacht bekommen. Ein Regiekollege, der auch mal mein Lehrer war, sollte das Stück vor Jahren inszenieren. Aber aus irgendeinem Grund war er dazu nicht in der Lage. Das Theater bot mir dann an, die Regie zu übernehmen, aber die Produktion kam nie zustande. Danach habe ich es anderen Theatern in Israel vorgeschlagen, was zu nichts führte. Aber es interessierte mich immer mehr. Der Teil der Tragödie darin ist brillant. Ihr Spannungsbogen sehr gut geschrieben. Aber dann gibt es diese Idylle nach dem Zeitsprung, die ich nie verstanden habe. Als ich erfuhr, dass es eines von den letzten Stücken Shakes­peares ist, bekam ich eine Ahnung, warum er das so geschrieben hat. Ich stellte mir Shakespeare als einen alten Schriftsteller vor, der sich mit dem Thema der Versöhnung beschäftigt. Wenn du im Leben an einem Punkt ankommst, an dem du ­bestimmte Dinge in der Vergangenheit bereust, dann hast du ja keine Möglichkeit, die Uhr zurückzudrehen. Er könnte also Versöhnung in seiner Kunst gestaltet haben, wie er es auch in seinem anderen Spätstück „Der Sturm“ tat. Für die Produktion haben Sie ein ganzes Team israelischer Künstler:innen mitgebracht. Neben dem Bühnenbildner Roni Toren für die ausdrucksstarken Kostüme Polina Adamov und für die Musik Avi Benjamin. YS: Ich bin wenig ohne die anderen, mit denen ich arbeite. Wir arbeiten seit Jahren zusammen und haben eine gemeinsame Sprache entwickelt. Wir haben viele Sachen in Israel zusammen gemacht und vor Corona sogar einmal eine Produktion in der chinesischen Hauptstadt Beijing. . Peter Carp, der Intendant, hat uns das Engagement als Team in Freiburg ermöglicht. Gerade nach dem Ausbruch des Kriegs hat er uns alle sehr bei der Arbeit unterstützt. Sogar meine Vermieterin in Freiburg war eine große Hilfe. Was bedeutet diese Arbeit für die israelisch-deutschen Theaterbeziehungen? YS: Ob wir es mögen oder nicht, Deutschland und Israel hängen eng miteinander zusammen. In guten wie in schlechten Zeiten. Es ist wunderbar, als Jude, als Israeli zurückzukommen und sich gemocht und akzeptiert zu fühlen. Ich hoffe, dass zwischen den beiden Ländern in den Künsten und auf anderen Gebieten etwas gedeiht. Die Hälfte meiner Familie ist rumänisch und meine Großeltern überlebten den Holocaust, ich selbst war aber nie in dem Narrativ gefangen, die Wunde offen zu halten. In Freiburg sah ich dieses Denkmal der Synagoge …

YS: Bei dem Anblick dachte ich, das ist, was im „Wintermärchen“ steckt. Ich frage mich oft, wie man nach den schlimmsten Verbrechen vergeben kann, wie man weitermacht. Ich dachte, ich kann nicht vergessen, aber ich kann vergeben. Die Zeit arbeitet, das ist uns eigen. Sie heilt Wunden. Es bleibt immer etwas zurück, eine Narbe, aber es war eine Art Abschluss, als ich dort in Freiburg stand. Haben Sie etwas von der heftigen Debatte in Deutschland mitbekommen, ob die Theater und die Kultur insgesamt eindeutig Solidarität mit Israel zeigen? Diese Frage scheint jetzt in den ­Meinungskampf über diesen Krieg überzugehen. YS: Das habe ich in Deutschland nicht so genau mitbekommen, aber das geht ja in der ganzen Welt um diese Frage. Solidarität mit Israel in dieser schrecklichen Zeit heißt nicht, dass man Unschuldigen auf der anderen Seite nicht helfen kann. Viel problematischer finde ich die Bilder von Demonstrationen weltweit, auf denen zu Antisemitismus, Gewalt und zur Unterstützung von Terrororganisationen wie der Hamas angestachelt wird. Das scheint jetzt aber genau die Trennlinie zu sein, in jedem Land und allen Kulturen. YS: Sie werden nie irgendeine Rechtfertigung von Gewalt bei mir finden. Krieg kennt keine Sieger. Ich meine, wenn die Geiseln befreit sind, ist in der Sache was erreicht, und Israel wird sich entscheiden müssen, welche Zukunft es für seine Kinder will. Ich war immer für eine friedliche Lösung, gleiche Rechte und gegen die Besetzung durch Siedler. Dieses Töten und die Zerstörungen auf beiden Seiten, das schmerzt mich so sehr. Was wäre denn bei alledem für das Theater in Israel wichtig? YS: Darüber denke ich jeden Tag nach – und habe keine Antwort. Erwartbar wäre in dieser Situation Patriotismus, in allen Künsten. YS: Interessanter Punkt. Israelis haben in dieser schreck­ lichen Zeit zu einer unglaublichen Solidarität des Miteinanders gefunden. Diese Nation hat ihre Stärke, und die steht im Gegensatz zu unserer schwachen und weiter schwächer werdenden Regierung. Der Graben zwischen den Bürger:innen Israels und ihrer politischen Führung ist so gravierend wie nie. Ich hoffe auf eine neue politische Führung, die eine politische Lösung und Frieden erreicht. Ein Stück darüber kenne ich nicht … T

… das ja gleich vor dem Theater steht und mit einem Modell der zerstörten Alten Synagoge auch an die deportierten Jüdinnen und Juden erinnert.

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Akteure Nachruf

Nachruf auf Jörg Jannings, Spezialist für Theatertexte im Hörspiel Von Matthias Thalheim

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Dass Jörg Jannings als Knabe hin und wieder auf dem Schoß des Generalfeldmarschalls Hermann Göring saß, davon hat er nur selten und wenigen berichtet, womöglich schauderte ihn diese Vorstellung selber sehr. Dass sein berühmter Onkel Emil Jannings, der als erster Schauspieler 1929 eine goldene Oscar-Statuette nach Deutschland brachte, ihn – seinen kleinen Neffen Jörg – ob eigener Kinderlosigkeit sehr liebte und viel Zeit mit ihm verbrachte – davon erzählte der Hörspielregisseur Jannings in reiferen Jahren bei Gelegenheit. Dann konnte die Rede auch auf Spritztouren im Automobil in die Schorfheide kommen, nach „Carinhall“ – Görings Jagdresidenz und Kunstdepot, wobei Jörg sich als Vorschulkind viel mehr von den an Görings Seite laufenden jungen Löwen begeistern ließ als von den gigantischen Modelleisenbahn-Platten, die der Reichsjägermeister in Dachgeschoss und Souterrain seines elftausend Quadratmetern Wohnfläche umfassenden Anwesens vorführte. Mit diesen Kindheitsepisoden im Nacken beginnt der im Berliner Westend 1930 geborene Jörg Jannings nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine künstlerische Laufbahn zunächst als Darstellereleve am Tiroler Landestheater Innsbruck, während sein Onkel am Wolfgangsee bis 1950 seine letzten trüben Lebensjahre unter einem von den Alliierten verhängten Auftrittsverbot verbringt. Nach Assistenzen bei der Bavaria in München geht Jörg Jannings 1953 nach Berlin ins DEFA-Dokumentarfilmstudio, wo er den niederländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens kennenlernt. Ende 1957 beginnt Jannings in der Kufsteinerstraße 69 seine Radioarbeit beim RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), erlernt beim damaligen Oberspielleiter Hanns Korngiebel das Hörspielhandwerk und begleitet von 1960 bis 1968 als Tonregisseur die Sendereihe „Mit dem RIAS ins Theater“. Das waren vom Kritikergenie Friedrich Luft im Flüsterton erläuterte Tonmitschnitte West-Berliner Theatervorstellungen. Ab 1962 arbeitet er hauptsächlich als Hörspielregisseur und wird 1963 Korngiebels Nachfolger als Abteilungsleiter und und und …

Tage und Nächte, Tächte und Nage im Spörstiel-Siduo, die idiotische Radiomühle 52 Programmwochen pro Jahr – dieser Auslaufrille wollte Jannings, der Kind gebliebene Zweifler und Spieler, keineswegs erliegen. Seit seinen makabren Kindheitsbekanntschaften, seit dem Staksen durch den verharschten Schlamm-Drüber-Schnee lässt ihn das Grübeln über diesen abgründigen Humanismus, mit deutscher Klassiker-Bordüre bestickt, nicht los. Dass die schrecklichsten Gräueltaten jene Ehren-Rezitatoren von Rilkes „Cornet“ verübten, die Massenmorde mit der Klavieretüde am Morgen … Es ist der in Budapest geborene Autor und Charismatiker George Tabori, mit dem gemeinsam Jörg Jannings ein schwankendes Halteseil von der Bühnenrampe über Parkett und Rang ins Hörspielstudio zu den Radiohörern dies- und jenseits der Mauer spannt: Hörspiele wie „Weißmann und Rotgesicht“ (1978, auch Prix Italia), „Mein Kampf“ (1988) oder „Mutters Courage“ (1979) hat der UKW-Rundfunk in Jannings’ Inszenierungen mit den großartigen Protagonisten per RIAS in den deutscher Äther verschickt. Als eine Rettungsleine für die von Krieg, Nazigehabe und Kleingeist zerschundenen Seelen in nord-, ost- oder süddeutschen Nächten. Die Stimmen von Branko Samarovski, Brigitte Röttgers, Hermann Lause, Leslie Malton, Detlef Jacobsen, Ulrich Wildgruber und Tabori himself. Als hätte ein in Gärung geratener Weinballon seinen Pfropfen nicht mehr dulden wollen. Das mag nun Jahre her sein, und es gäbe anderes noch zu berichten – wie Jannings sich um den aus Ost-Berlin in USArmy-Uniform geflohenen Komponisten Klaus Buhlert kümmert, um Hörspiele von Thomas Brasch, Irina Liebmann, von Katja Lange-Müller oder nach dem Mauerfall von Volker Braun und Christoph Hein. Aber für dieses Dutzend Tabori-Hörspiele – vor allem dieser Stunden erhellenden Trosts wegen, gebührt Ihnen, lieber stieseliger Jörg Jannings ein besonders überragender Da capo!-Beifall, den ein Radio­regisseur ja nie zu hören kriegt. Jörg Jannings starb am 20. Oktober in Berlin. T

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Der Kind gebliebene Zweifler und Spieler

JÖRG JANNINGS


Foto picture alliance / Westend61 | Arman Zhenikeyev

Stück Gespräch

Alle Bilder zusammen Eine Korrespondenz mit Jon Fosse über seinen Monolog „So ist das“ Von Thomas Irmer

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Stück Gespräch Noch einmal Glückwunsch zum Nobelpreis an dieser Stelle. Haben Sie sich denn schon von dieser „Glückskatastrophe“ erholt, wie Sie es nannten, mit ein bisschen Abstand, aber der nun heran­ nahenden Preisrede am 10. Dezember in Stockholm? Jon Fosse: Drei Wochen nach der Verkündung habe ich im­ mer noch jeden Tag zehn Interviewanfragen, dazu Einladungen zu diesem und jenem in Norwegen und verschiedenen Ländern. Der Druck ist ziemlich groß, aber in gewisser Weise war ich all diese Anfragen und Einladungen in den Jahren gewohnt, als ich als ­Stückeschreiber auf dem Höhepunkt stand. Diese Zeit hat mich eines gelehrt, nämlich „Nein“ zu sagen. In einer Situation wie die­ ser ein sehr nützliches Wort.

Maler sind auch die Protagonisten Ihres in den letzten Jahren entstandenen siebenteiligen Romanzyklus, der dritte Band dieser Heptalogie liegt in der deutschen Übersetzung kurz vor der Ver­ öffentlichung. Der norwegische Landschaftsmaler Lars Hertervig stand indes vor über zwanzig Jahren im Zentrum des Romans „Melancholie“. Was macht gerade Maler so interessant? JF: Vielleicht ist „So ist das“ ein Echo der Heptalogie, zu­ mindest in gewisser Weise. Ja, so lange ich mich erinnern kann, hatte ich immer eine Faszination für Ölfarben auf Leinwand. Und in zwei Phasen meines Lebens habe ich auch selbst mal ge­ malt, einmal als Teenager und dann mit Anfang dreißig. Für mich ist das wie mit den Autoren, es gibt Phasen, in denen ich mich mit diesem oder jenem Maler intensiv beschäftige. Lars Herter­ vig war einer der Maler, der mich viele Jahre verfolgt hat. Später

Beckett war in all den Jahren immer nahe, er und Georg Trakl. Und der norwegische Autor Tarjei Vesaas. Alle drei haben mein Schreiben auf ganz verschiedene Weise beeinflusst. 38

Jon Fosse. Weitere Stücke, Texte und Interviews finden Sie unter tdz.de/person/jon-fosse

dann hat mich Mark Rothko am meisten fasziniert. Wenn es auf Reisen Gelegenheit gibt, seine Bilder zu sehen, schaue ich sie mir an. Sollten Inszenierungen die Malerei dieses Künstlers in „So ist das“ auf der Bühne zeigen? JF: Nein. Für eine Inszenierung dieses Monologs sollte man den Regieanweisungen folgen. In dieser Hinsicht ist es wie bei ­Beckett. In dem Monolog geht es sehr existentiell um die Beziehung zwi­ schen Kunst und Religion. Der Maler hat seine Kunst als eine Art Glaubenssuche verstanden, die zu keinem Ende kommt. Heißt das, die Kunst kann keine wahre Transzendenz erreichen und die Religion im Gegenzug keine wirkliche künstlerische Erfüllung? Ist es das, was ihn so unzufrieden zurücklässt? JF: Ich bin mir nicht sicher, ob er so unzufrieden mit Kunst und Religion oder mit der Beziehung zwischen diesen beiden ist, so wie er das vorzugeben scheint. In der Erzähltheorie gibt es den Begriff des unzuverlässigen Erzählers, und ein solcher unreliable narrator scheint mir hier der Fall. In einem früheren Interview für Theater der Zeit deuteten Sie an, dass vielleicht alle Stücke und Prosawerke am Ende vielleicht ein­ mal ein einziger riesiger Text wären. Inzwischen haben wir sehr viel mehr Figuren und Geschichten, mit denen man die Unter­ suchung eines solchen in seinen Einzelteilen immer wieder anders verbundenen Werks unternehmen könnte. In „Ich ist ein ande­ rer“, dem zweiten Band der Heptalogie (Rowohlt 2022), sagt der Maler Asle: „zu guter Letzt hängen sämtliche Bilder, die ich ge­ malt habe, zusammen und bilden ein Bild, denke ich, denn es ist, als ob es irgendwo in mir ein Bild gäbe, mein innerstes Bild, das ich immer wieder hervorzumalen versuche …“. Gibt es so etwas wie einen totalen Zusammenhang Ihrer gesamten Literatur? JF: Sicher, in einem bestimmten Umfang. Die Heptalogie be­ zieht sich auf sehr viel, was ich zuvor geschrieben habe, sowohl in Stücken als auch in Prosa. T

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Foto Tom A. Kolstad/Det norske samlaget CC BY SA 4.0

Wenn man den Monolog „So ist das“ liest, kommt einem ein Vergleich wieder in den Sinn, mit dem Ihre Stücke früher oft besprochen wurden. Bei diesem Text scheint jedoch der Bezug zu Beckett gerechtfertigt, insbesondere die Parallelen zwischen dem alten Maler und dem alternden Schriftsteller Krapp in „Das letzte Band“. Was beide verbindet, ist diese Rückschau auf die eigene künstlerische Arbeit, in einer Art selbstbewuss­ ten Verzweiflung. Können Sie mit solchen Parallelen etwas an­ fangen? JF: Für mich ist diese Ähnlichkeit nicht offensichtlich. Es ist ein alter Mann, der auf sein Leben zurückblickt, Punkt. Wenn es da Ähnlichkeiten gibt, warum nicht. Beckett war in all den Jah­ ren immer nahe, er und Georg Trakl. Und der norwegische Autor ­Tarjei Vesaas. Alle drei haben mein Schreiben auf ganz verschie­ dene Weise beeinflusst. Der größte Einfluss jedoch ist ohne Zwei­ fel Martin Heidegger.


Theater der Zeit

Stück „So ist das“ Monolog Slik var det

Jon Fosse

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

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Stück Jon Fosse Ein Bett. Daran gelehnt ein Gehstock. Am Fuß­ ende des Bettes steht ein Rollator, am Kopfende ein Rollstuhl. Ein älterer Mann liegt im Bett auf dem Rücken und schaut vor sich hin. Er sagt

E © Jon Fosse, 2020; Abdruckgenehmigung via Winje Agency Copyright © der deutschen Übersetzung sowie deutschsprachige Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2021 Aufführungsrechte international: Colombine Teaterförlag, Stockholm Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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Ja ziemlich kurze Pause ja dann na dann na dann wieder ein Tag Kurze Pause Wieder ein Tag ziemlich kurze Pause wieder ein Tag wieder ein Tag ziemlich kurze Pause ja wieder ein Tag Pause. Legt sich auf die Seite und schaut vor sich hin. Schließt die Augen, fast murmelnd Wieder ein Tag Pause Fragend Ein Tag wofür Und warum bin ich so früh aufgewacht Dabei ist schlafen so gut Schlafen ist das Schönste Und dann bricht ab. Kurze Pause. Er öffnet die Augen Schlafen einfach schlafen schlafen schlafen schlafen Pause Aber früher da hatte ich eine Hoffnung ziemlich kurze Pause ja ja hatte ich ja eine Hoffnung ziemlich kurze Pause fragend aber jetzt ja hab ich jetzt irgendwelche Hoffnungen Kurze Pause Jedenfalls hätte ich gern welche ziemlich kurze Pause ja wenigstens das ich hab nicht aufgegeben absolut nicht Fragend Aber irgendwelche Hoffnungen Ziemlich kurze Pause Hab ich Hoffnungen Ziemlich kurze Pause Nein nein vielleicht nicht oder

ziemlich kurze Pause ob ich ja wenn ich eine Hoffnung habe ja dann die dass ich mich nicht an mich selbst gewöhnen kann Soviel ist sicher Aber was soll das bedeuten ziemlich kurze Pause sich an sich selbst gewöhnen Fragend Denn was kann ich schon tun Kurze Pause Nichts Absolut überhaupt nichts Ziemlich kurze Pause Oder fast nichts ziemlich kurze Pause und was ist das Leben wohl ja ziemlich kurze Pause ja das Leben kurze Pause ja das ist wohl nur ziemlich kurze Pause dass ich lebe ja ziemlich kurze Pause und es ist wohl ja das Gegenteil des Todes ziemlich kurze Pause was auch immer das heißen soll ja tot zu sein ziemlich kurze Pause aber es heißt wohl ziemlich kurze Pause für immer weg zu sein für immer oder vielleicht nur für eine Zeit ziemlich kurze Pause und dann wiederzukommen ziemlich kurze Pause ja zum Leben kurze Pause auferstanden im Fleische also echt so was Fast böse Ha versucht sich aufzusetzen denn dann bei der Auferstehung soll angeblich dieses Fleisch dieser jämmerliche Körper von den Toten auferstehen Ha ha ha ziemlich kurze Pause ich sage ha hörst du das

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Stück „So ist das“ hört das wer hört wer dass ich ha sage Kurze Pause Nein niemand natürlich nicht wer denn auch Ich bin allein Immer alleine ziemlich kurze Pause ja außer wenn sie bricht ab. Pause Ich bin allein Ich liege hier allein Niemand sonst ist hier niemand hört mich ziemlich kurze Pause oder bin ich es vielleicht als junger Mann der auferstehen wird ja von den Toten auferstehen ha ha ha ja als ob das irgendwie so viel besser wäre nein Kurze Pause Lauter Nein Ziemlich kurze Pause Nein nein nein Pause Ich bricht ab. Pause Aber das kann wohl nicht gemeint sein mit Auferstehung im Fleische ziemlich kurze Pause ja dass der Körper ja der verwest ist oder verbrannt wurde in diesem Krematorium da ziemlich kurze Pause ja oder wie das heißt weiß ich nicht mehr ziemlich kurze Pause nicht mal das weiß ich mehr nicht mal wo mein Körper verbrannt werden soll weiß ich mehr Ziemlich kurze Pause Nein das ergibt keinen Sinn Ziemlich kurze Pause Fragend Ergibt Sinn Was meine ich jetzt damit Fast mit lauter Stimme Als ob es einen Sinn gäbe Zuallererst muss man kapieren dass es einen Sinn nur gibt in dem oder dem Zusammenhang

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und dass es keinen größeren keinen großen Sinn gibt Aber dass es einen Sinn an sich gibt ziemlich kurze Pause ja dass einer so viel begreift so unbegreiflich viel ziemlich kurze Pause ja was ja was bedeutet jetzt das ziemlich kurze Pause ja dass ein Gemälde so viel bedeuten kann so unbegreiflich viel ziemlich kurze Pause beinahe begeistert und die Musik ja Bach die Goldberg-Variationen die Matthäus-Passion Ziemlich kurze Pause Ja das so was gibt es ja auch ziemlich kurze Pause und dann ja dann kann man vielleicht denken ja ja denken das ist ein Teil von ja von einem großen ziemlich kurze Pause ja einem Sinn ziemlich kurze Pause ja dass das vielleicht ja irgendwie ziemlich kurze Pause ein Sinn ist von dem auch ich ich armseliger Kerl ein Teil bin ziemlich kurze Pause ja einfach weil ich das erleben kann das miterlebe oder wie man das sagen soll ja da drin sein kann ja in diesem Sinn ja wie bricht ab fragend in einem Sinn sein kurze Pause aber wenn keiner hinsieht keiner hinhört gibt es dann noch ja die Musik ja Bach ja gibt es dann Bach noch ziemlich kurze Pause ja natürlich gibt es ihn

Was denke ich denn da Kurze Pause Ja auch wenn niemand Bachs Musik spielt gibt es sie trotzdem Kurze Pause So kann man ja nicht denken wie ich eben aber einen Gedanken einen Gedanken denken kann man das so nicht nennen kurze Pause nein natürlich nicht Kurze Pause Ich hab nie denken können Pause. Er schließt die Augen, setzt sich mühsam auf, es gelingt ihm, dann hievt er die Füße über die Bettkante, sitzt da und schaut vor sich hin. Pause Dann werd ich mal ja wie immer mein Vater Unser beten Ziemlich kurze Pause Aber warum eigentlich ja warum ziemlich kurze Pause warum soll ich das Vater Unser beten schon wieder diese Wörter runterleiern Warum sitze ich hier jeden Morgen wieder und bete das Vater Unser Pause Vielleicht weil ja weil ja weil es nicht bricht ab nicht gibt ziemlich kurze Pause was nicht gibt was ist das für ein sinnloses Gerede bricht ab nicht gibt was nicht gibt Pause Pater noster Pause Vater Unser Pause Vielleicht weil bricht ab weil Pause fragend weil Entschlossen Ja weil Ziemlich kurze Pause Weil Weil ja weil Pause

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Stück Jon Fosse Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden Pause Fragend Zu Erde Zu Asche ziemlich kurze Pause ja zu Asche ziemlich kurze Pause aber ziemlich kurze Pause was aber ziemlich kurze Pause aber ich bin ja nicht so viel mehr als Asche kichert etwas ja trotz allem Und was Ziemlich kurze Pause ja was ich jetzt bin ja das kann ja nicht ganz weg sein verschwinden ja zu Asche werden Kurze Pause Aber genau das wird passieren Kurze Pause Zu Asche werden Kurze Pause Licht werden Pause Wind werden Geist werden Lange Pause Und jetzt kann der Geist vielleicht mal versuchen auf die Beine zu kommen Kichert etwas Ja vielleicht Nimmt den Stock, stellt ihn sich zwischen die Beine, lehnt das Kinn auf die Hände, die den Stockgriff halten, blickt vor sich hin

Ja dann Pause Bald werde ich sterben Pause Von nichts und zu nichts Pause Am liebsten bald Hebt jäh den Kopf, blickt vor sich hin Aber ich will nicht sterben Denn ich weiß nicht was das bedeutet und darum will ich nicht sterben kurze Pause vielleicht ist es so ziemlich kurze Pause oder ziemlich kurze Pause ja vielleicht aber nein ziemlich kurze Pause ich lebe und ich will leben ziemlich kurze Pause schon ja trotz allem ziemlich kurze Pause schon Kurze Pause Ja schon ziemlich kurze Pause na ja na ja na ja Pause. Stemmt sich hoch und bleibt auf den Stock gestützt stehen Na ja Na gut abgemacht Ziemlich kurze Pause Und dann hätten wir das auch heute wieder hätten wir das Geht ein paar steife Schritte Bisschen in Gang kommen ziemlich kurze Pause bisschen hin und her gehen so wie man das jetzt eben so schafft

bisschen hin und her kurze Pause und das geht ja gut das dann kann ich also ja sagen wenn sie fragt ob ich heute bisschen gegangen bin Ja kann ich sagen Äfft nach Bist du heute bisschen gegangen fragt sie Ja klar antworte ich Ist doch klar antworte ich Äfft nach Sehr schön sagt sie Ziemlich kurze Pause Das mache ich nämlich immer ja sagen dass ich bisschen gegangen bin ziemlich kurze Pause nur ist das nicht immer wahr ziemlich kurze Pause Manchmal lüge ich bisschen Ziemlich kurze Pause Ja muss ich zugeben ziemlich kurze Pause aber heute kann ich es sagen ja dass ich bisschen gegangen bin mit gutem Gewissen kann ich das sagen Und das ist gut So ja so muss man gehen kurze Pause so ja kurze Pause so soll das sein kurze Pause so muss man das tun kurze Pause so ja Bleibt stehen. Kurze Pause Und das tut gut

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Anna Till/situation productions KREISEN 01. – 03.12.

Highlights Dezember

Highlights Dezember

the guts company Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee 02. – 03.12.

Dresden Frankfurt Dance Company & Ioannis Mandafounis À la carte 08. – 10. & 13. – 17.12.

Katja Erfurth Wandeln 15. – 17.12.


Stück „So ist das“ sich bisschen bewegen Wird einem irgendwie bisschen leichter zumute dann ja Hauptsache ein paar Schritte Kurze Pause Aber es lässt sich nicht leugnen ich bin sehr starr und steif ja ein alter Sack ziemlich kurze Pause ein Greis Schaut vor sich hin. Kurze Pause So ist das eben Aber das Vater Unser Ja ich bete immer das Vater Unser ja bevor ich auf die Beine komme ziemlich kurze Pause ja aber heute bricht ab, deutet mit dem Stock auf die Bettkante heute eben nicht Sonst bete ich immer das Vater Unser während ich da auf der Bettkante sitze aber heute nicht Und warum nicht heute ziemlich kurze Pause wahrscheinlich weil weil ich über das da nachgedacht hab ziemlich kurze Pause über das im Fleische Auferstehen Ziemlich kurze Pause Aber wer hat eigentlich gesagt dass das so gehen muss ja dass das Fleisch auferstehen wird unser Herr Jesus Christus hat das nicht gesagt sicher nicht ziemlich kurze Pause ja so kann man das sagen Unser Herr Jesus Christus Ziemlich kurze Pause Aber wer hat es dann gesagt Wer hat sich das ausgedacht Nein wer weiß Er ziemlich kurze Pause

THEATER

PERFORMANCE

er unser Herr Jesus Christus hat gesagt ziemlich kurze Pause ja er hat gesagt mein Reich ist nicht von dieser Welt ziemlich kurze Pause Ja also nicht von dieser ja fleischlichen Welt ziemlich kurze Pause und er hat gesagt ja das Reich Gottes ist in euch ziemlich kurze Pause, hebt den Stock in die Luft und darum ist etwas in mir drin das nicht von dieser Welt ist und darum nicht zu Asche wird ziemlich kurze Pause Nein zu Erde ziemlich kurze Pause nein nicht zu Asche wird kurze Pause aus Erde bist du gemacht zu Erde sollst du werden ziemlich kurze Pause ja sehr wahr ja zu Erde sollst du werden ziemlich kurze Pause ja zu Asche und Erde ziemlich kurze Pause aber selbst wenn das noch so wahr ist ist es doch unwahr ziemlich kurze Pause ja vielleicht jedenfalls kurze Pause denn in mir drin tief in mir drin ist etwas das nicht von dieser Welt ist und darum verschwindet es auch nicht in dieser Welt ziemlich kurze Pause ja so ist das damit

TANZ

Warum ist alles so verdammt ungerecht verteilt?

MUSIK

ziemlich kurze Pause und Bach die Goldberg-Variationen die Matthäus-Passion ja die haben ziemlich kurze Pause ja das hat vielleicht mit etwas ganz Ähnlichem zu tun ziemlich kurze Pause Denn die Musik ja die ist zugleich von dieser Welt und auch wieder nicht ziemlich kurze Pause vielleicht Pause, lässt den Stock sinken, stützt sich wieder darauf und Hauptsache wenn sie kommt dass sie da nicht nach meinen Kindern fragt ziemlich kurze Pause aber das tut sie natürlich immer tut sie das ziemlich kurze Pause aber von denen von meinen Kindern höre ich nie was und darum weiß ich auch nicht ziemlich kurze Pause ja natürlich nicht ziemlich kurze Pause wie es denen geht kurze Pause so ist das nämlich ziemlich kurze Pause ich habe mehrere Kinder und höre nie was von denen Kurze Pause Schon bisschen seltsam ja dass die nie bricht ab. Kurze Pause Wahrscheinlich war ich ein schlechter Vater Ziemlich kurze Pause

THEATERRAMPE.DE


Stück Jon Fosse Ja ist wohl so ziemlich kurze Pause und ein noch schlechterer Ehemann einer mit dem es nicht auszuhalten war dreimal war ich verheiratet und dreimal bin ich geschieden ziemlich kurze Pause weil keine von den Frauen es mit mir ausgehalten hat ziemlich kurze Pause sie haben gesagt ja dass ich nie mit ihnen zusammen war nicht wirklich nicht ernsthaft dass ich immer nur in meiner Welt war ziemlich kurze Pause immer so beschäftigt mit den Gemälden an denen ich gearbeitet hab ziemlich kurze Pause nie hab ich was anderes gesehen als die Gemälde kurze Pause also hatten sie wohl recht wenn sie das gesagt haben ziemlich kurze Pause Ja hatten sie wohl Kurze Pause Und immer muss sie nach meinen Kindern fragen Will sie mich damit quälen Weil sie mir nichts Gutes wünscht Ziemlich kurze Pause Um die Wahrheit zu sagen wünscht sie mir wahrscheinlich alles Schlechte Ziemlich kurze Pause Fragend Ist das Bosheit die da zu mir kommt Ziemlich kurze Pause Vielleicht vielleicht nicht Ziemlich kurze Pause Fragend Wird die die da zu mir kommt mein Tod sein Kurze Pause Und sie kommt wohl bald ziemlich kurze Pause denn sie kommt immer jeden Tag kurze Pause ja sie ist ein Engel wie man so sagt Kurze Pause Fragend Ein Engel Ziemlich kurze Pause Fragend Ein guter Engel

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Ein böser Engel Kichert etwas. Kurze Pause Sie hat große Brüste Ziemlich kurze Pause Und bald kommt sie kurze Pause ja ein Engel mit großen Brüsten ziemlich kurze Pause in Ordnung soweit kurze Pause aber sie muss doch merken dass ich nicht gern ja nach meinen Kindern gefragt werde trotzdem fragt sie immer wieder nach ihnen Ziemlich kurze Pause Äfft nach Wie gehts deinen Kindern fragt sie Gehts deinen Kindern gut fragt sie ziemlich kurze Pause kann sie das nicht mal lassen warum muss sie immer über meine Kinder reden nach ihnen fragen Das ist doch bricht ab. Wedelt mit dem Stock vor sich, als wollte er etwas oder jemanden verjagen, er schwankt, fällt fast hin Aber nein ziemlich kurze Pause nein das geht nicht Und dann ziemlich kurze Pause fragt sie nach meinen Frauen oder ziemlich kurze Pause doch schon auch nach denen Pause Nein nein ziemlich kurze Pause nein das geht nicht So kann man nicht leben Geht langsam zum Rollator, stützt eine Hand darauf, lehnt den Stock ans Bett, wo der zuvor gestanden hatte Fast murmelnd Immer dasselbe ziemlich kurze Pause ja ich würd ja gern ja ja wollen mal sehen Setzt sich auf die Sitzfläche des Rollators So ja Schon besser Ging ja ganz gut das Hätte eigentlich nicht besser gehen können das ist

bricht ab, ziemlich kurze Pause. Bewegt sich langsam voran So ja So ist es besser ja so ja so soll das gehen jetzt geht es voran so ja geh du einfach weiter so ja immer so einfach gehen nicht denken geh schon Mann geh einfach geh Bleibt stehen. Wendet den Rollator So ja So macht man das Das war schon mal ganz gut Geht weiter. Pause Ich hab mein Leben vergeudet mit diesen Bildern mit diesen Malereien ja das ist die Wahrheit ziemlich kurze Pause so war das ziemlich kurze Pause jahraus jahrein hab ich mit diesem Gemale verbracht ziemlich kurze Pause mit diesen Malereien mit sonst nichts immer nur damit und stimmt schon Kinder und irgendwelche Frauen waren mir da nicht so wichtig ziemlich kurze Pause ist aber auch wirklich schlimm ziemlich kurze Pause ja als ob diese Malereien da bricht ab, ziemlich kurze Pause und darum weil ich mich immer nur um mein Gemale ge­ kümmert habe jedenfalls haben sie das gesagt darum haben sie mich verlassen ziemlich kurze Pause eine nach der anderen ziemlich kurze Pause aber stimmt das auch ziemlich kurze Pause fragend war das so kurze Pause aber es spielt keine Rolle weil es eben so war ja sie sind gegangen eine nach der anderen Kurze Pause Und die Kinder

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ziemlich kurze Pause ja die haben nicht groß mit mir geredet als sie größer wurden stimmt schon schon wahr und das lag ja wirklich daran dass ich immer nur gemalt habe Gemälde für Gemälde gemalt habe ziemlich kurze Pause Tag für Tag Woche für Woche Monat für Monat ziemlich kurze Pause Jahr für Jahr ziemlich kurze Pause aber jetzt fragend jetzt ziemlich kurze Pause jetzt kann und will ich nicht mehr malen ziemlich kurze Pause meine Hände sind zu zittrig die Augen zu schlecht ziemlich kurze Pause und die Gedanken auch was das angeht ziemlich kurze Pause ja wirklich ja ziemlich kurze Pause und die Bilder die ich gemalt hab all die Bilder die ich gemalt hab wo sind die jetzt ziemlich kurze Pause ja da kann ich fragen wie ich will denn das weiß niemand ziemlich kurze Pause natürlich weiß das niemand ich hab die Bilder gemalt und hab die Bilder verkauft ziemlich kurze Pause aber von ein paar Bildern weiß ich wo sie sind denn die sind im Museum in sehr guten Museen ziemlich kurze Pause in Sammlungen sehr guten Sammlungen ziemlich kurze Pause ja ich sollte nicht so ziemlich kurze Pause so angeben so angeben ziemlich kurze Pause aber was hat das groß zu bedeuten ziemlich kurze Pause nichts nichts rein gar nichts kurze Pause

aber kommt sie nicht bald mal ziemlich kurze Pause nein das ist ja völlig verrückt dass ich jetzt ungeduldig auf sie warte schüttelt den Kopf, ziemlich kurze Pause ja sie ziemlich kurze Pause die da ziemlich kurze Pause ja die immer nach meinen Kindern fragt Ziemlich kurze Pause Nur um mich zu ärgern macht sie das ziemlich kurze Pause weil was schert es sie wie es meinen Kindern geht Versteht sich doch von selbst dass sie das nichts schert Kurze Pause Aber über irgendwas muss man wohl reden ziemlich kurze Pause und es ist nicht immer leicht ein Thema zu finden also fragt sie wahrscheinlich darum immer jedes Mal wenn sie hier ist jedes einzelne Mal nach meinen Kindern Äfft nach Wie gehts deinen Kindern Gehts deinen Kindern gut Ziemlich kurze Pause Immer dieselbe Leier Mal für Mal Tag für Tag Woche für Woche Monat für Monat ziemlich kurze Pause Jahr für Jahr Kurze Pause Und dann fragt sie nach meinen Enkeln kurze Pause und ich antworte nie schweige fragend denn habe ich Enkel oder hab ich keine ziemlich kurze Pause hat mir jedenfalls niemand was drüber erzählt kann ja auch egal sein völlig egal ist mir gleich ziemlich kurze Pause entweder hab ich Enkel oder nicht ist auch egal ziemlich kurze Pause völlig egal

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Theater der Zeit 12 / 2023


Stück Jon Fosse ja kann mir völlig egal sein Beugt sich etwas von der Sitzfläche des Rolla­ tors nach vorn, bleibt stehen, schaut vor sich hin. Pause. Blickt auf Jetzt müsste sie eigentlich bald mal kommen Kurze Pause Ja vielleicht jedenfalls Wahrscheinlich kommt sie Ziemlich kurze Pause Dürfte ziemlich bald hier sein Ziemlich kurze Pause Aber was hab ich nur Warum jammer ich wegen ihr rum Sie kommt wenn sie kommt Und sie kommt wann sie kommt Ziemlich kurze Pause Ich freue mich ja nicht gerade darauf dass sie kommt ziemlich kurze Pause und mit ihrem Gerede anfängt ziemlich kurze Pause das natürlich überhaupt nichts zu bedeuten hat nein natürlich nicht überhaupt nichts ganz und gar nichts nichts gar nichts nichts rein gar nichts Pause Und dann fragt sie mich ja auch nach den Müttern meiner Kinder Etwas stolz Aber dann antworte ich nie Dann schweige ich einfach Pause Ja erst nach der einen dann nach der zweiten und dann nach der dritten Kurze Pause Aber von mir kommt kein Wort über die Frauen

mit denen ich verheiratet gewesen bin Etwas erregt Und warum fragt sie mich nach den Müttern meiner Kinder Nach meinen Ehen Meinen so genannten Ehen Was gehen die sie an Pause Niemand hält es mit mir aus So einfach ist das Niemand Ziemlich kurze Pause Also bin ich allein gewesen Immer wieder allein Ziemlich kurze Pause Und allein ja bin ich seitdem geblieben Kurze Pause Kann ja auch egal sein Ziemlich kurze Pause Aber in all den Jahren ja da hab ich ja meine Bilder gehabt ja meine Malereien ich war ja falls man das so sagen kann mit den Farben zusammen ziemlich kurze Pause ich und bricht ab, kurze Pause ja ich und ziemlich kurze Pause irgendwas ziemlich kurze Pause und dann bin ich auf die Idee gekommen ja dass ich ein gläubiger Christ sein wollte Und auf eine Weise auf meine eigene Weise kann ich vielleicht sagen war ich das auch Pause Ich bin zur Messe gegangen Und das hat mir gutgetan

nachdenklich ja ja hat es ziemlich kurze Pause aber ja ja dann haben meine Beine nicht mehr gewollt das war ein Schlag ja ziemlich kurze Pause aber ziemlich kurze Pause aber ja aber was aber und aber Ziemlich kurze Pause Immer nur aber ziemlich kurze Pause aber aber jetzt muss sie eigentlich ja bald kommen Kurze Pause Aber wie denke ich eigentlich ziemlich kurze Pause stell dir vor so zu denken Äfft sich selbst nach Jetzt muss sie bald kommen ziemlich kurze Pause ja als ob ich mich irgendwie freuen würde dass sie kommt Aber das hab ich mich nie Kurze Pause Aber warum bricht ab aber warum soll ich dann bricht ab soll ich was Laut Nichts Nichts auf der Welt Nichts rein gar nichts Geht, so schnell er kann Rein gar nichts

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Stück „So ist das“ nichts rein gar nichts Pause Äfft nach Nein ich kann das nicht mehr Ich komme um wenn wir uns nicht scheiden lassen Kurze Pause Äfft nach Ich will allein leben Kurze Pause Du bist immer nur in deiner eigenen Welt Kurze Pause Du bist immer nur in deiner eigenen Welt du sitzt immer nur vor diesen Bildern Ich halte das nicht mehr aus Ziemlich kurze Pause Und deine Kinder ziemlich kurze Pause sind dir deine Kinder überhaupt wichtig Kurze Pause Du gehst nie mal raus Du machst immer nur an diesen Bildern rum an diesen ja diesen diesen Malereien da Du hast kein Selbstbewusstsein Ich halte dich nicht mehr aus Wenn wir uns nicht scheiden lassen werde ich noch krank dann sterbe ich Bleibt stehen, steht da, auf den Rollator gestützt Und meine Mutter ziemlich kurze Pause die hat mich nie ertragen ziemlich kurze Pause oder vielleicht als sie alt war vielleicht hat sie mich da ertragen ziemlich kurze Pause ein bisschen ziemlich kurze Pause oder vielleicht war ich es der sie nicht ertragen hat ziemlich kurze Pause

und so vergingen die Jahre eins nach dem anderen leiernd die Jahre vergehen es vergehen die Jahre die Jahre vergehen eins nach dem anderen ziemlich kurze Pause und dann ja bald ist das Leben vorbei ziemlich kurze Pause das war also das Leben Ziemlich kurze Pause A heap of broken images Kurze Pause Corpus Christi Pause Dummes Geschwätz Kurze Pause A heap of broken images Kurze Pause Corpus Chrsti ziemlich kurze Pause ja du ich ziemlich kurze Pause kann das wohl sagen Ziemlich kurze Pause Und immer dasselbe Pause Äfft nach Ich halte das nicht mehr aus mit dir Ich halte dich nicht aus Du riechst nicht gut Keine Ahnung was ich in dir gesehen hab Allein dein Anblick macht mich ganz krank Ich halte das nicht mehr aus Kurze Pause Lauter so Zeug Immer wieder dasselbe immer wieder und jetzt

ziemlich kurze Pause äfft sich selbst nach kommt sie nicht bald das war also das Leben kommt sie nicht bald Resigniert Was ein Geschwätz Was für ein Trottel ich bin und immer gewesen nichts sonst nur das nur ein Trottel Entschlossen Verdammte Scheiße Pause Äfft nach Und deine Kinder wie gehts denen Ziemlich kurze Pause Und wie gehts deinen Enkeln Kurze Pause Ich bin dir nie wirklich wichtig gewesen ziemlich kurze Pause und nicht mal deine eigenen Kinder sind dir wichtig ziemlich kurze Pause ja schon wahr und warum sollte dann ich ihnen wichtig sein Kurze Pause Äfft nach Wie gehts deinen Kindern kurze Pause wahrscheinlich weiß sie jedes Mal nicht mehr wonach sie mich fragen soll worüber sie reden soll ziemlich kurze Pause und ich bricht ab, richtet sich auf frag ich sie nach was nein ich hab kein Recht

Bewerben und Studieren

Demnächst

Zeitgenössische Theaterformen | Film | Performancepraktiken

01., 12., 13. Dezember 2023 | ADK »MY HEAD IS FULL OF FOG« Biographisches Projekt ukrainische Schauspielklasse Regie: Stas Zhyrkov Eine Kooperation mit dem SPOKEN ARTS FESTIVAL Stuttgart

Bewerbungsfrist 31.01.2024 Schauspiel (B.A.)

06. – 09.12.2023 | ADK »FREIBADEN (AT)« EIN KOLLEKTIVES EINTAUCHEN Stückentwicklung | 3. Studienjahr Schauspiel

Regie (B.A.) Dramaturgie (M.A.) www.adk-bw.de

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Änderungen vorbehalten


Stück Jon Fosse das zu tun Ich sage nichts zu ihr Ja Guten Tag sage ich Guten Tag dir sage ich Danke sage ich wenn sie geht Danke für die Hilfe Danke Und tschüss sage ich Und sie sagt tschüss Pause. Geht weiter Und meine Bilder die Malereien hab ich für fast nichts weggeben aber jetzt ja jetzt bringen sie ziemlich viel Geld ein ziemlich kurze Pause und hängen in den besten Sammlungen ziemlich kurze Pause und ich bin wohl ja ein so genannter großer Künstler Nachdrücklich Ha ha ha Kurze Pause Aber jetzt hab ich schon so lang nicht mehr malen wollen oder können ist das weil ich nicht mehr malen kann Kurze Pause Ich sehe so schlecht Meine Hand ist so zittrig Ziemlich kurze Pause Und ich will nicht schlecht malen schlechte Bilder malen Ziemlich kurze Pause

Und gehen kann ich auch fast nicht mehr ziemlich kurze Pause denn meine Beine wollen mich nicht mehr tragen Pause. Hängt geradezu aus dem Rollator raus, schiebt ihn zum Rollstuhl hinüber, hält neben dem Rollstuhl an Jaja So ist das So war das Pause Es ist ziemlich kurze Pause als ob Gott mich verlassen hätte Ach nein Gott hat mich nicht verlassen Gott hat mich nie verlassen Und ich Gott auch nie Kurze Pause Aber wie kann ich so was sagen So was kann man nicht sagen kurze Pause und heut hab ich sogar vergessen mein Vater Unser zu beten Ziemlich kurze Pause Aus Erde bist du gemacht zu Erde sollst du werden ziemlich kurze Pause zu Asche und Erde Ziemlich kurze Pause Ja so Genau so ziemlich kurze Pause aber jetzt wollen wir mal sehen ziemlich kurze Pause ja jetzt werden wir sehen Hievt sich mühsam vom Rollator in den Roll­ stuhl, plumpst schwer auf den Sitz. Pause So ja Das hat gut geklappt ja besser als seit Langem Ziemlich kurze Pause

Und jetzt sitze ich besser Jetzt geht es mir gut Ziemlich kurze Pause Und das hat ja gut geklappt Ziemlich kurze Pause Oder jedenfalls besser als meistens Ziemlich kurze Pause Aber es hat geklappt wie immer gerade so eben ziemlich kurze Pause so ist das jetzt damit ziemlich kurze Pause es wäre fast ja wie immer schief gegangen ziemlich kurze Pause aber es hat geklappt ziemlich kurze Pause und jetzt kommt sie wohl bald ziemlich kurze Pause und warum soll sie bald kommen ist es jetzt etwa so dass ich auf sie warte ziemlich kurze Pause oh nein durchaus nicht Ich warte nicht auf sie Äfft nach Du musst aufpassen nicht stürzen nicht am Boden liegen bleiben Ziemlich kurze Pause Ja das sagt sie immer und immer wieder Äfft nach Wie gehts mit deinen Beinen Ziemlich kurze Pause Und dann sagt sie Äfft nach Dass du bloß nicht stürzt und am Boden liegen bleibst Ziemlich kurze Pause Das sagt sie

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Stück „So ist das“ jedes einzelne Mal wenn sie hier ist sagt sie das Kurze Pause Und genau das will sie ziemlich kurze Pause ja das ich das tue ja stürze und am Boden liegen bleibe das ist ihr größter Wunsch dass ich da liegen bleibe ziemlich kurze Pause und da sterbe Ziemlich kurze Pause Aber was sie möchte spielt ja keine Rolle was sie will und nicht will Kurze Pause Und heute hab ich das Vater Unser vergessen Das bete ich sonst immer Als erstes jeden Morgen wenn ich es geschafft habe mich an der Bettkante aufzusetzen dann bete ich mein Vater Unser ziemlich kurze Pause aber heute nicht ziemlich kurze Pause heute hab ich vergessen mein Vater Unser zu beten Pause. Rollt ein bisschen herum Aber ich kann mein Vater Unser ja immer noch beten Ziemlich kurze Pause Obwohl nein Das wird falsch Fragend Wird das nicht falsch Beinahe mit lauter Stimme Ja klar wird das falsch Ziemlich kurze Pause Und das bisschen Glauben das ich hatte ja das ist weg ziemlich kurze Pause völlig weg

ziemlich kurze Pause warum dann noch das Vater Unser beten kurze Pause ja wer weiß ziemlich kurze Pause aus alter Gewohnheit vielleicht ziemlich kurze Pause oder es gibt eigentlich keinen Grund ziemlich kurze Pause nur wofür gibt es einen Grund ziemlich kurze Pause ja wer weiß kurze Pause kann man wohl sagen kann man sagen hält den Rollstuhl an, faltet die Hände im Schoß. Lange Pause Vater unser Der du bist im Himmel Geheiligt werde dein Name Dein Reich komme Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden Unser tägliches Brot gib uns heute Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern Und führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns von dem Bösen Pause Amen Pause. Löst die Hände voneinander und rollt hin und her, als wollte er etwas oder jemandem entkommen, hält inne Corpus Christi Rollt weiter hin und her Gib uns Frieden Rollt hin und her Dona nobis pacem Rollt hin und her

Puppe50 War war? Was ist? Was wird? Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin Im Sommer 2022 beging der Studiengang Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin seinen 50. Geburtstag. Das Buch zum Jubiläum fragt, ganz im Sinne des Festes: Was war? Was ist? Was wird? Ein Innehalten nach fünf Jahrzehnten Ausbildung, eine Bestandsaufnahme in Wort und Bild.

Gib uns Frieden Rollt hin und her, dann zum Bett, versucht, sich aus dem Rollstuhl ins Bett zu hieven, rutscht aber irgendwie ab und landet auf dem Boden, den Rücken zum Bett. Pause. Versucht, wieder ins Bett zu kommen, schafft es nicht. Er bleibt auf dem Boden sitzen, den Rücken ans Bett ge­ lehnt, mit gespreizten Beinen Gehe hin in Frieden Legt die Hände in den Schoß, über dem Hosen­ schlitz. Blickt auf, vor sich hin, wie ins Nichts. Zögernd Pater noster Pause qui es in cælis seufzt, schüttelt den Kopf sanctificetur nomen tuum adveniat regnum tuum dein Reich komme fiat voluntas tua dein Wille geschehe sicut in cælo et in terra wie im Himmel so auf Erden Pause. Rasch Panem nostrum cotidianum da nobis hodie et dimitte nobis debita nostra sicut et nos dimittimus debitoribus nostris et ne nos inducas in tentationem sed libera nos a malo Pause. Öffnet die gefalteten Hände, stützt die Handflächen auf den Boden Adveniat regnum tuum Dein Reich komme Beugt den Kopf und schließt die Augen. Pause. Blickt wieder auf, vor sich hin. Schließt die Au­ gen wieder, beugt den Kopf, bleibt so sitzen, mit gebeugtem Kopf, und unter seinem Hosenbo­ den hervor läuft Urin Licht aus, Dunkel

– ENDE –

Buchpremiere am 14.12. in der HfS Ernst Busch Berlin

pen on sO i h al likat Auc s-Pub h es tlic Acc erhäl

Ein Kooper ationsprojekt mit Theater de r Zeit

t im hein Ersc mber Deze

Mit Beiträgen u. a. von Thomas Oberender, Kathi Loch, Gerd Taube, Markus Joss, Katja Kollmann, Robert Schuster, Andrea Tralles-Barck, John von Düffel, Mathias Becker, Enikő Mária Szász, Cecilia De la Jara und Rimini Protokoll. Herausgegeben von Jörg Lehmann


– NIEDER

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Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Foto Konrad Fersterer

„Übergewicht unwichtig, Unform“ von Werner Schwab in der Regie von Rieke Süßkow am Staatstheater Nürnberg

Inszenierung Rieke Süßkows Inszenierung „Übergewichtig, unwichtig: Unform“ am Staatstheater Nürnberg dreißig Jahre nach dem Tod von Werner Schwab Serie Warum wir das Theater brauchen #09. Marie Schleef über Reaktion als Emanzipation

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Diskurs & Analyse Inszenierung

Die Bühne kaut und verdaut Rieke Süßkows Inszenierung „Übergewichtig, unwichtig: Unform“ am Staatstheater Nürnberg dreißig Jahre nach dem Tod von Werner Schwab

So geht das doch nicht, mag man noch denken. Und dann: geht es doch. Obwohl die Schießbudenfiguren selbst, die sie uns im Nürnberger Schauspielhaus vorstellen, nur sehr wenig gehen in diesen siebzig Minuten. Eher verschieben sie sich untereinander und bewegen sich ansonsten auf der Stelle. Wo sie sich befinden sollen, wird uns brühwarm zugetragen: im „Gastzimmer einer Wirtschaft“. Tatsächlich befinden sie sich aber in einer Jahrmarktsbude, die uns ein Panoptikum kahlköpfiger mechanischer (Sex-) Puppen in Reihe und in Latex präsentiert: eine Wirtin und sechs Stammgäste sowie das schöne Paar. Die Mechanik quietscht, die Gelenke knarzen, jede Bewegung federt nach. Nach Hieben fallen die Figuren nach hinten aufs Trampolin und springen zurück. Lauter Stehaufmännchen. Sie leben im Automaten, ihr Leben verläuft mithin automatisch. Da hat jemand eine Form gefunden, die eine Distanz schafft und eine Künstlichkeit. Nur, dass beide längst im Schwabischen zu Hause sind: in Werner Schwabs vielfach beschriebener singulärer Sprache als Motor aller seiner sechzehn Dramen. Es ist zum Beispiel die Distanz einer Figur, die nicht „ich“ sagen kann, sondern von „meiner Person“ spricht, die auch sonst nicht redet, wie ihr der Schnabel wuchs, sondern grotesk bildungshubernd ihre Bildungsferne überspielt oder zu kompensieren sucht. Das knüpft

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an Ödön von Horváths „Bildungsjargon“ an. Dessen Volksstücke gelten als eine Bezugsgröße in Schwabs Dramen. Eine andere: Antonin Artauds Theater der Grausamkeit. Zurück zum schäbigen Wirtshaus, wo „Übergewichtig, unwichtig: Unform“ (1991) handelt, das zweite von drei bis vier „Fäkaliendramen“ Schwabs. Sowas bräuchte es doch für dieses Stück, so mit Theke, Tischen und Stühlen, mit Jukebox und Spielautomat. Es bräuchte eine Gastronomie als Gastroenterologie, wo das Leben als Magen-Darm-Problem gilt, als bloßer Verdauungsvorgang. Bier und Wurst werden ebenso verschlungen wie menschliche Beziehungen. Es bräuchte den vorgetäuschten Naturalismus des Ortes und den ebensolchen Realismus eines Volksstücks: „jene Form, die mir am widerlichsten war“, wie Schwab einmal auf die alten Hanswurstiaden zielte. Es bräuchte die Fassade des Lustspiels, worin es sich dann selbst zerstört, worin volkstümlich heiter die Sprache aufplatzt, bevor das Blut spritzt, das also von seinen zunehmend radikaleren irritierenden Momenten lebt – und stirbt. Doch so funktioniert es in Nürnberg nicht, obschon es funktioniert. Und obschon sie Schwab im Programmheft entsprechend zitieren lassen: „Es soll“, so der Dramatiker über seine Stücke, „hinten und vorne nicht stimmen und der Zuschauer muss sich auf die Schenkel schlagen

Theater der Zeit 12 / 2023

Foto Konrad Fersterer

von Michael Helbing


Diskurs & Analyse Inszenierung

„Übergewicht unwichtig, Unform“ in der Regie von Rieke Süßkow, Kostüme Sabrina Bosshard, Bühne Mirjam Stängl

vor Lachen und dann plötzlich die darunterliegenden Grausamkeiten entdecken“. Aufs Schenkelklopfen verzichten sie in Nürnberg weitgehend. Was zu lachen gibt es trotzdem. Sie spielen Schwabs posthum dritterfolgreichstes Fäkaliendrama. „Die Präsidentinnen“, die tief ins Klo und die Kloake greifen, führen diese Hitliste an. Das Stück für drei Schauspielerinnen von 1990 ist fast immer auf einem Spielplan zu finden, mit Abstand gefolgt von „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ (1991). Für „Übergewichtig, unwichtig: Unform“ vermerkt der Verlag die fünfte Inszenierung in vierzehn Jahren: Nürnberg folgt auf Stuttgart, Zürich, Dortmund und zuletzt München. Schwab, ein Kind aus der Grazer Gosse, leuchtete drei Jahre lang exzessiv und exzentrisch als (aus-)brennender Stern am Theaterhimmel, um in der Silvesternacht 1993 schließlich einsam

Das Tröpfeln oder Plätschern, das man beim Einlass zu vernehmen meint, entpuppt sich als Schmatzen. Eine Bühne kaut und verdaut. Theater der Zeit 12 / 2023

zu verglühen. Eine Alkoholvergiftung, hieß es. Da hatten sieben seiner Stücke noch keine Bühne gesehen. Nach drei (weiteren) Jahren werde er vergessen sein, prophezeite ein damals einflussreicher Kritiker. Inzwischen wäre Schwab 65 Jahre alt. Gespielt wird er bis heute. Einige seiner Stücke sind explosiv geblieben, da sie, mit dem Philosophen Ernst Cassirer zu sprechen, auf die dünne Kruste Zivilisation über einem Vulkan zielen. „Über­ gewichtig, unwichtig: Unform“ gehört dazu. Das Stück schaut in den Abgrund, in den alles vertilgenden Schlund. Und so hat Mirjam Stängl ihre Bühne für Nürnberg entworfen: Ein Schlitz oder Spalt im schwarzen Vorhang hinterm Proszenium öffnet und schließt sich zum Maul. Das Tröpfeln oder Plätschern, das man beim Einlass zu vernehmen meint, entpuppt (sic!) sich als Schmatzen. Eine Bühne kaut und verdaut. Schwabs erster von drei Akten eines, laut Untertitel, europäischen Abendmahls gipfelt in Vergewaltigung und Kannibalismus; das schöne Paar von außerhalb, das bei ihm stumm und abseits sitzt – und in Nürnberg zunächst in einem Wir-hier-unten-die-daoben-Bild ein Stockwerk drüber steht -– wird geschändet und verspeist. Als ihre eigenen Wiedergänger verspeisen sie ihrerseits im dritten Akt, der ihnen endlich auch mal das Wort erteilt, gleichsam die „primitiven“ Stammgäste: Menschenmaterial für ein denkbares Filmprojekt. Im Rieke Süßkows Inszenierung ist das Pärchen anfangs weniger stumm als vielmehr unsichtbar. Nachdem sich das Bild weitet, die Perspektive verändert, erkennen wir sie als Geräuschemacher. In Abendgarderobe stehen sie an ihrer Tafel und geben vor Mikrofonen mit Obst und Gemüse den Ton an: wenn sich unter ihnen die einfältige Fotzi eine Wurst zwischen die Beine schiebt oder Hasi so ausgiebig wie vergeblich an ihrem impotenten Schweindi herumrubbelt. Das führt alles also auch akustisch zur, einen anderen Stücktitel Schwabs bemühend, Eskalation ordinär. Noch schaut die Oberschicht anders aus. Dem Volk darunter hat Kostümbildnerin Sabrina Bosshard den Unterleib von Sexpuppen weiblichen wie auch männlichen Geschlechts umgeschnallt. Deren Beinstümpfe reichen bis zu den Waden der Spieler in ihren roten Strumpfhosen und rosa Strumpfmasken. Im dritten Akt, inszeniert wie ein zweiter Anlauf, sieht das Pärchen dann genauso aus. Außerdem haben die insgesamt neun Schauspieler, bei denen das eigene Geschlecht mit dem ihrer Figur ohnehin durcheinandergeraten kann, inzwischen in ihren Rollen durchgewechselt. Mit ihnen hat Rieke Süßkow offenkundig präzise an der Farbgebung ihres mikrofonverstärkten Sprechens gearbeitet. Und zwar derart, dass sich die Gewalt in der Sprache mit nahezu nonchalanter Brutalität entfaltet, während alle Stammtischphilosophie zur stets unterlaufenen Menschenwürde so dahinplätschert. Süßkow erzählt uns mit dieser Form etwas von in ihrer Welt gefangenen Menschen. Ein Ausbruch ist weder vorgesehen noch abzusehen. Nicht anders verhält es sich allerdings zwangsläufig mit dieser Inszenierung, die sich in ihrer Idee gefangen nehmen lässt. Um es mit dem Mann vom schönen Paar zu sagen: „Es ist eine selten geile Show, aber es übertreibt sich langsam“. Gleichwohl lässt sich sagen: Dieses Stück geht zwar eigentlich anders. Doch so geht es auch. T

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #09

Reaktion als Emanzipation Von Marie Schleef

In unserer TdZ-Serie schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesell­schaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen

# 09

Bisher erschienen Nora Schlocker Anne Lenk René Heinersdorff Jonny Hoff Jette Steckel Yi-Wei Keng Alexander Eisenach Jonas Zipf

Marie Schleef inszeniert vor allem Texte von Autorinnen* abseits des gängigen Theaterkanons. Ihre Arbeit ist geprägt von einem Interesse am Vergessenen, Verdrängten und Unsichtbaren. Schleefs Inszenierungen waren bisher an der Volksbühne und dem Ballhaus Ost in Berlin, dem Kosmos Theater in Wien, dem Schauspiel Köln und dem Schauspiel Hamburg zu sehen.

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Foto Henrik Lietmann

Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #09 Ich sitze gerne in meinen eigenen Premieren. Nicht weil ich eine abgebrühte Regisseurin bin, wie mir bereits von einem Kritiker unterstellt wurde, sondern weil ich mich im Beisein des Publikums von einem Stück und einem Probenprozess, einer gemeinsam verbrachten Zeit, verabschieden möchte. Die Premiere ist gleichzeitig Anfang und Ende. Sie ist ein Schwellenmoment. Mir fällt es schwer, in großen Gesten als kollektives Wir zu sprechen. Die Frage zu beantworten, warum wir das Theater brauchen. Aus diesem Grund spreche ich lieber für mich und warum ich das Theater brauche. Also zurück zur Premiere: Genau genommen, zu meiner letzten Premiere am Schauspiel Köln, der deutschsprachigen Erstaufführung von „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-Joo, im Oktober 2023. Zu genau dem Moment, in dem ich wieder einmal gespürt habe, warum ich das mache, was ich mache, und warum ich das Theater brauche, um weiterzumachen. Der 2016 erschienene, oben genannte Roman, der in trockener, nüchterner und faktischer Sprache das gewöhnliche Leben einer durchschnittlichen Südkoreanerin beschreibt, löste eine regelrechte Kontroverse in seinem Ursprungs- sowie Nachbarland Japan aus. Mittlerweile wurde er in zahlreiche Sprachen übersetzt und weltweit millionenfach verkauft. Verdientermaßen gehört er mittlerweile zu den international bekannten südkoreanischen Bestsellern und Cho Nam-Joo zu den etablierten südkoreanischen Autor:innen ihrer Zeit. Der Roman wurde zum Sprachrohr einer neu entfachten feministischen Bewegung. Das gewöhnliche Leben seiner Protagonistin Kim Jiyoung wurde zum internationalen Resonanzraum, sie selbst zur weltweiten Identifikationsfigur. Gefesselt in den Tentakeln der strukturellen, sexistischen Diskriminierung, dem (Neben)Produkt einer patriarchalen Gesellschaft, wird ihr Leben schlussendlich zu einem verinnerlichten Kampf. Ein Kampf, den sie vor allem mit sich selber ausmachen muss, bis sie sich schlussendlich in Therapie begibt. Premieren sind für mich Aneinanderreihungen von Momenten kompletter Anspannung und höchster Konzentration. Jedes Mal nehme ich mir erneut vor, mein eigenes Stück aus der Distanz zu betrachten, mit frischen Augen draufzuschauen, es zum ersten Mal zu erleben. Doch mein lauter Herzschlag und die Antizipation, das Wissen, was als Nächstes kommt, stellen sich in den Weg der Wertungsfreiheit. Und so versuche ich wenigstens voll und ganz im Moment zu sein, für die Schauspieler:innen, die Performer:innen da zu sein, Offenheit auszustrahlen, Aufmerksamkeit zu geben, zuzuhören. Hinter mir sitzen zwei Frauen* im Alter zwischen fünfzig und sechzig. Warum sie genau heute ins Theater gegangen sind, ist mir nicht bekannt. Ob sie ein Abonnement abgeschlossen haben, oder mit einer der Frauen* auf der Bühne befreundet sind, oder ob sie einfach gerne gemeinsam ins Theater gehen, erfahren werde ich es nicht. Ich möchte mir allerdings erträumen, dass sie mit großer Begeisterung den Roman gelesen haben und nun unbedingt die Theateradaption sehen wollen. Doch am Ende bleiben dies stets Projektionen meinerseits. Wunschgedanken an ein Publikum. Ich denke gerne an mein Publikum. Ein Publikum, das neugierig ist, das offen für Neues ist. Ein Publikum, das mit mir gemein-

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Ich denke gerne an mein Publikum. Ein Publikum, das neugierig ist, das offen für Neues ist. Ein Publikum, das mit mir gemeinsam das Unsichtbare und Unbekannte ausgraben möchte.

sam das Unsichtbare und Unbekannte ausgraben möchte. Wie wir seit der 2016 veröffentlichten Studie zu „Frauen in Kultur und Medien“ von Gabriele Schulz und Olaf Zimmermann wissen, besteht das deutschsprachige Theaterpublikum statistisch gesehen aus über sechzig Prozent Frauen*. An diesem Abend sind sie auch hier stark vertreten. Seitdem ich angefangen habe, Theater zu machen, ist mir diese Schieflage aufgefallen. Sei es im Studium, beim Lesen von Theatertexten, beim Schauen von Stücken. Während vor der Bühne überwiegend Frauen* sitzen, dreht es sich auf und hinter der Bühne vermehrt um Männer, Autoren, Regisseure, Protagonisten, Helden, Genies, sowie den Blick auf andere aus eben genau dieser männlichen Sicht. Denn das Schema des deutschsprachigen Stadttheaters folgt konsequenterweise auch dem simplen Prinzip der Partizipation und Teilhabe: Ist es nicht vertreten, ist es nicht sichtbar und erfahrbar. Schmunzelt denke ich an einen Comic der New York Times, in dem eine ganze Reihe männlich gelesener Personen in Anzügen hinter einem großen Tisch sitzen und eine weiblich gelesene Person im Jobinterview auffordern zu beschreiben, was sie dem Unternehmen beisteuern könnte. An diesem Abend im Schauspiel Köln, geht es aber nicht um einen Mann im Anzug, Willi Loman, Jedermann, Hamlet dem Prinzen von Dänemark, oder Thor dem nordischen Gott, sondern um Kim Jiyoung, um Erika Musterfrau, um Jane Doe, um Jedefrau, um die zwei Frauen* hinter mir. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, bejahen, bestätigen und bejubeln sie den Text in Form empörter „ha“, „ja, ja“, oder „genau“ Ausrufe. Es ist wie ein Dauerkommentar, der aus einer tiefen Einfühlung mit dem Geschehen sowie der Darstellung auf der Bühne zu kommen scheint. Das gibt mir als Regisseurin Kraft, bestätigt die Motivation meiner Textauswahl, befeuert mein Interesse weiterzumachen, mich auf die Suche nach weiteren, bisher noch nicht auf deutschsprachigen Bühnen gespielten, Texten zu machen. Für diese Momente drängelt sich mein Herzschlag in den Hintergrund und ich genieße die Reaktionen, fühle mich in meiner Arbeit bestätigt und gehört. Nach der Premiere teilen mehrere Teamkolleginnen sowie Zuschauende ähnliche Beobachtungen. Von Frauen*, die ihren Partner:innen immer wieder als Bestätigungs-, beziehungsweise Aufmerksamkeitsgeste auf den Schenkel geklopft haben, und von Männern, die immer wieder Tränen wegwischen mussten – ein irgendwie seltenes Bild in unserer Gesellschaft. Der Saal fühlte sich wach an. Es wurde sogar ziemlich viel gelacht. Ein älterer Herr kommt nach der Vorstellung voller Empörung zu mir, verärgert, dass immer wieder „an diesen traurigen Stellen gelacht wurde.“ Doch ich erkläre es mir als eine Art Entladung von Emotionen, die

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bei der Bearbeitung harter Stoffe oftmals notwendig wird. Das Lachen als Ausdruck von Verwirrung und Abwehr, als Reaktion auf Fassungslosigkeit. Für mich formt das tiefe Seufzen, kurze Aufatmen, spontane auf den Schenkel klopfen, laute Lachen und das unkontrollierte Ausrufen eine kollektive Rezeptionsgeste, die ich im Kontext dieser Stoffe als Emanzipationsgeste lese. Sie sind leise, aber keineswegs passiv. Für mich sind es Momente, wo ein Publikum zeigt, wie notwendig dieser Austausch und diese Darstellung auf der Bühne ist. Dass diese Stoffe ihre Berechtigung, ja sogar Notwendigkeit haben. Gerade als Frauen* sind wir trainiert, um die Ecke zu denken, uns in Charaktere einzufühlen, die mit unserer Lebensrealität nicht so viel zu tun haben. Wir sind es gewohnt, Einfühlung im Derivat zu finden, doch die direkte Einfühlung provoziert rohe Emotionen. Und denkt man diesen Gedanken intersektional weiter, wird der Resonanzraum sogar noch größer. Das Theater birgt ein unglaubliches Potenzial in sich, das es auszuschöpfen gilt, um unsere diverse Gesellschaft auch als solche abzubilden. In ihrer kürzlich charmant gehaltenen Hamburger Poetik­ vorlesung beschreibt die Schauspielerin Julia Riedler, dass „Kunst [Empathie] schafft“. Kunst ermöglicht uns, den Blickwinkel zu wechseln, Einblicke in eine andere Welt, eine andere Sicht­ weise, eine andere Lebenserfahrung zu erhaschen. Das Theater erhält seine Besonderheit in der kollektiven Rezeptionsform, initiiert durch das Live-Element. Denn die Schauspieler:innen bzw. Performer:innen nehmen die Stimmung des Publikums auf und spiegeln diese zurück, reagieren darauf. Sie atmen zusammen, denn das Theater lebt im Hier und Jetzt. Gerade in diesen Zeiten ist Empathie besonders wichtig. Das gegenseitige Zuhören, das g­emeinsame Atmen, wird existenziell essenziell. Theater ist ein Appell an unsere Menschlichkeit, die wir gerade jetzt nicht verlieren dürfen. Warum wir das Theater brauchen, ist für mich somit gleichsam die Frage zu stellen, warum wir einander brauchen. T

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Theater der Zeit

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Foto Bobo Mkhitar via Royal District Theatre

„Phädra im Flammen“ von Nino Haratischwili in eigener Regie

Berlin Der Neustart am Deutschen Theater lässt noch keine Richtung erkennen Coburg Das Globe Coburg eröffnet mit Shakespeare, ist aber kein Shakespeare-Theater München Das internationale Münchner Spielart Theaterfestival mit Produktionen, die politisch und ästhetisch herausstechen Georgien Ein Showcase in Tbilisi erzählt von der Zerrissenheit Georgiens

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Auftakt mit Dellen Der Neustart am Deutschen Theater Berlin lässt noch keine Richtung erkennen Von Thomas Irmer

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rechts, unten, und unten rechts Thomas Aurin

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Foto oben links Armin Smailovic,

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1 „Der Auftrag / Psyche 17“ von Heiner Müller / Elemawusi Agbédjidji in der Regie von Jan-Christoph Gockel 2 „Baracke“ von Rainald Goetz in der Regie von Claudia Bossard 3 „Weltall Erde Mensch“ von Alexander Eisenach und ­Ensemble, in seiner Regie 4 „Prima Facie“ von Suzie Miller in der Regie von András Dömötör aus dem Englischen von Anne Rabe

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Es ist die 141. Spielzeit dieses Theaters, und die erste mit einer Intendantin. Iris Laufenberg folgt auf Ulrich Khuon, der das Theater 14 Jahre lang mit dem breitesten Spielplan aller Hauptstadttheater positioniert hatte. Nun ist die erste Premierenserie über die drei DT-Bühnen gegangen und die Eindrücke können etwas sortiert werden. Was gar nicht so leicht ist, denn die Amplitude zwischen Hochinteressant! und Was war das denn jetzt? ist verwirrend groß. Manchmal sogar innerhalb eines Abends. Eröffnet wurde mit „Weltall Erde Mensch“, laut Untertitel einer „unwahrscheinlichen Reise von Alexander Eisenach und Ensemble“. Wahrscheinlich war der Plan, hier das neu gemischte Ensemble in einer vierstündigen Uraufführung mit philosophisch diskursivem Anspruch auftreten zu lassen. Das ist gründlich schief gegangen. Schon die Anleihe des Titels bei dem DDR-Jugend­ weihe-Buch, in dem die Zukunft der sozialistischen Menschheit mit populärwissenschaftlichen, für die 1950er und 60er Jahre­ typischen technikoptimistischen Artikeln ausgemalt wurde, ist in der Rückschau auf den Abend schon der erste Fehlgriff. Jedoch einer ohne große Folgen, denn das zehnköpfige Ensemble steht erstmal nur mit seltsamen Kunststoffhaarschöpfen auf dem Kopf und dem Buch in der Hand für eine Plauder-Ouvertüre an der Rampe. Dann hebt das Raumschiff Theater ab, als das der Autor-Regisseur Eisenach seinen Wirkungsort auf diesen Seiten beschrieben hat (TdZ 10/23), aber nicht in die unendlichen Weiten des Weltraums, sondern in eine aus Stanislaw Lem und Joanna Russ lose gesampelte Collage, mit der immer wieder festzustellen ist, dass man auch in tausend Jahren mit den großen Fragen – etwa der nach der Frau in der ­Gesellschaft – noch nicht fertig sein wird. Die Bühne von ­Daniel Wollenzin zeigt zwischendurch ein konstruktivistisches Gebilde oder einen Sprungturm ins Nichts, und so drängt sich vor allem ein alter Gedanke auf: Science-Fiction auf dem Theater, das ist ganz schwer, wenn nicht völlig unmöglich. Schauspielerisch glänzen in diesen verunglückten Retro-Utopien vor allem Anja Schneider und die mit Iris Laufenberg aus Graz gekommene Julia Gräfner als Superwoman, von der noch die Rede sein muss. Khuon eröffnete seinerzeit mit der Uraufführung von Lukas Bärfuss’ „Öl“, wo die Fragen der westlichen Zivilisation etwas übersichtlicher und – als Geste – auch verbindlicher verhandelt wurden. Am Eröffnungswochenende dann die zweite Premiere mit Suzie Millers Monologstück „Prima Facie“ als deutschsprachige Erstaufführung, bevor es dann in dieser Spielzeit noch auf vielen Bühnen zu sehen sein wird. Es ist das Debatten-Problemstück der Stunde über eine Anwältin im Fach Me-Too-Fälle, die erfolgreich Täter aus Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen herauspaukt und nun selbst Opfer einer Vergewaltigung durch einen Kollegen wird. Und neben der demütigenden Pein schließlich in der juristischen Behandlung ihres Falls die andere Seite als die eigene erlebt. Zuschauer:innen sollen genau diesen Weg von der Bewunderung für die lebensfrohe Topjuristin hin zu ihrer empörenden Hilflosigkeit im eigenen System in rund hundert Minuten gehen. Und Tessa dabei möglichst nicht als hilfloses Opfer empfinden, sondern sich mit der Frage auseinandersetzen, was da geändert werden müsste. Um gefühlte Uneindeutigkeiten, die etliche reale Fälle wie etwa die von Jörg Kachelmann, Julian Assange oder

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Oben: Szene aus „Baracke“, unten, Szene aus „Der Auftrag / Psyche 17“

zuletzt auf andere Weise Till Lindemann zu beladenen Streitgeschichten gemacht haben, geht es Suzie Miller dabei nicht – Tessas Vergewaltigung ist unstrittig und das Thema, wie sie das ganze Danach erlebt und zum Publikum hin reflektiert. Mercy Dorcas Otieno spielt das in der Regie von András Dömötör für fast jeden Moment dieser über zwei Jahre berichtenden Erzählung mit der größtmöglichen Einfühlung für den jeweiligen Moment. Die Bühne zeigt fast nichts außer ein paar Bürostühle, die Kostüme (beides von Moira Gilliéron) erzählen mit, wo sich Tessa in ihrer Geschichte gerade befindet. Die wirkungsvollste Regiezutat ist die Musik von Tamás Matkó, die den langen Monolog gliedert und vor allem einen tollen swingenden Anfangsauftritt für Otieno ermöglicht. Als afro-österreichische Schauspielerin in dem nun diverseren DT-Ensemble gibt sie der Figur zusätzlich die Lesart eines besonders rasanten Aufstiegs als Anwältin mit. Der Coup des Anfangsreigens ist zweifellos die Uraufführung von Rainald Goetz’ Stück „Baracke“, das nach „Reich des Todes“ zu einer Dramen-Trilogie im Projekt „Schlucht“ über die sogenannten Nullerjahre gehört (später einmal wahrscheinlich wegen der entsprechenden Buchumschläge als Blaue Serie erinnert). Für Goetz geht es um die „Weltfinsternis“ jener Jahre, die er auf der internationalen Ebene mit dem Foltergefängnis Abu Ghraib und

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national mit den NSU-Morden ausbrechen sieht. Letzteres geht in „Baracke“ mit ein, indirekt und auf seltsamen Wegen. Denn in erster Linie ist „Baracke“ ein Stück, wie so vieles bei Goetz, über Gegenwartskunst, das in einem Museum für Gegenwartskunst spielt und von dort aus viele andere Schauplätze findet und herbeispricht. Für diese Verschachtelungsdramaturgie, die im Kern den Terror der Kleinfamilie als Keimzelle für weitaus Schlimmeres wachsen lässt, hat Claudia Bossard so überraschende wie zum großen Teil auch überzeugende Lösungen gefunden. Es geht um Goetz-Kunst als solche, wenn Mareike Beykirch (zuvor Maxim Gorki Theater und Residenztheater München) erstmal alle Titel von Goetz’ Werken wie einen kleinen Monolog aufsagt, und es geht um Goetz-Deutschland, wenn diese Bea als Teil des NSUTrios mit Ramin und Uwe mehr oder weniger kenntlich wird. Der Kunstausstellungsraum wird so immer wieder benutzt und verfremdet als Szenenausstellungsraum. Mit Beas Herkunft aus dem thüringischen Krölpa wird zwar ein realer Ort angesprochen, der aber schon in Goetz’ Roman „Johan Holtrop“ nicht das echte Krölpa bezeichnet, und so geht sehr viel holterdipolter und zuweilen auch kabarett-lustig durch deutsche Familien-Faschismen, die in der letzten Szene in dem Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch ihren Biedermeier-Ursprung und zugleich verdorbenen Nachwende­humus zeigen – in diesem Unstück mit Zeitgeist und hinreißender Sprachextravaganz (s. „Das Wummern im Innern“ auf tdz.de). Die These von der Familie als Terrorzelle hat der Autor übrigens gleich nach der Premiere in einem begleitenden DT-Talk (sehr schön auch im Video) in seiner mit fast siebzig Jahren immer noch hibbeligen Art des Vortrags im roten AdidasAnzug zurückgenommen. Bossard und ihrem Team (Bühne Elisabeth Weiß, Kostüme Andy Besuch, Sound und Video Annalena Fröhlich) wird man indes diese kühne Uraufführung im damit gewachsenen Goetz-Kosmos anrechnen, die im Vergleich zu den anderen DT-Premieren wie ein UFO wirkt. Ein schräger Hit, und man muss ja wie bei „Prima facie“ nicht alles gleich verstehen, um etwas so auch zu erleben oder als „Weltfinsternis“ zu reflektieren. Fast dreißig Produktionen hat die neue Intendanz von den Vorgängern übernommen. Das ist ein beachtliches Volumen, praktisch der Umfang aller Premieren in einer Spielzeit. Darunter drei Klassiker-Interpretationen von Anne Lenk, Jossi Wielers gerade mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnete Jelinek-Uraufführung „Angabe der Person“ und Samuel Finzis Solonummer „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ aus dem Jahr 2008. Wer das alte DT erleben will, muss nichts entbehren – es existiert als ausgedehnte Parallelwelt zu den neuen Angeboten, zu denen einige Übernahmen aus Graz gehören. Da gibt es Ionescos „Die kahle Sängerin“ in der Regie von Anita Vulesica, die selbst mal zum DT-Ensemble gehörte und nun komisch verdrehte Sachen mit einer Verwandtschaft zu Herbert Fritsch auf die Bühne bringt. Der Klassiker des Absurden endet in einer überlangen Gesangsnummer und auf der Bühne von Henrike Engel gibt es – ähnlich wie bei Eisenach – eine Treppe ins Nichts. Von größerem Gewicht ist die Neufassung von Jan-Christoph Gockels Heiner-Müller-Deutung von „Der Auftrag“, die ab 2016

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Foto oben Thomas Aurin, unten Armin Smailovic

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Fast dreißig Produktionen hat die neue Intendanz von den Vorgängern übernommen. Das ist ein beachtliches Volumen, praktisch der Umfang aller Premieren in einer Spielzeit. Wer das alte DT erleben will, muss nichts entbehren.

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4 FEBRUAR 2024

in Graz in Kombination mit Teilen von Büchners „Dantons Tod“ zu sehen war. Teils als Grand-Guignol-Puppenspiel (von Raphael Muff und Michael Pietsch), vor allem aber in den Müller-Texten mit der famosen Julia Gräfner (als revolutionsmüdem Debuisson), Florian Köhler als Galloudec und Komi Mizrajim Togbonou als sehr kämpferischer Sasportas. In der Berliner Fassung ist im ersten Teil eine nachvollziehbar präzise Auslegung des Stücks für den globalen Süden entstanden, der bei Müller noch „Dritte Welt“ hieß – die Passagen zu einer solchen Auffassung der drei Welten sind dementsprechend gestrichen wie auch einige seiner Sexualmetaphern und selbstverständlich alles, was heute als rassistisch tabu gilt. In der Substanz des Stücks ist Gockel mit seinen Zutaten wie den Skullies von Claude Bwendua, die als spinnenfingrige Totenfiguren immer wieder die Szene durchziehen, etwas mit Müller gelungen, das beeindruckt. Doch dann gibt es einen zweiten, extra für Berlin geschriebenen und inszenierten Teil, der das Ganze irgendwie in fast eine Unbeholfenheit wegkippen lässt. Sicher, Korrespondenz-Stücke zu Müller zu schreiben, kann eine reizvolle Sache sein. Der togolesische Autor Elemawusi Agbédjidji hat mit „Psyche 17“ die Herausforderung angenommen und lässt statt Müllers Mann im Fahrstuhl, der in Peru auf einer Dorfstraße aussteigt und dort in vermeintliche Gefahr gerät, eine Frau Fahrstuhl fahren und allerlei über den Kolonialismus der Zukunft vermuten. Denn „Psyche 17“ ist ein Asteroid, der vielleicht ganz und gar nur aus wertvollen Bodenschätzen besteht – auch hier eine Verkehrung von Müller, bei dem es ja um den Export revolutionärer Energien ging. Zwar haben hier Gräfner und vor allem der singende Togbonou noch einmal großartige Auftritte, aber der Asteroidenabsturz ist letztlich ein Materialkasten voll dem, was man alles zu Müllers Stück von heute aus mit durchaus gerechtfertigten Diversitätsansprüchen ergänzen könnte. Iris Laufenberg wird das Autor:innenentheaterfestival fortsetzen, das einst Khuon nach Berlin mitbrachte. Da wird sich also noch einiges an Gegenwartstexten an ihrem DT-Konzept reiben können – auch damit es noch schärfere Konturen bekommt für eine neue Ära dieses Theaters mit seiner so komplexen Biografie (siehe S. 72). T

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Etikettenschwindel Das Globe Coburg eröffnet mit Shakespeare, ist aber kein Shakespeare-Theater Von Michael Helbing

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Auf und hinter der Bühne sind, während der Einlass läuft, gelb behelmte Blaumänner unterwegs. Einer kehrt stoisch von links nach rechts und wieder zurück. Solcher Anfang kündet vom Ende: dem einer dreijährigen Baustelle. Plötzlich: Licht aus, Spot an. Insgesamt bald drei Handwerker starren in Scheinwerfer und erstarren vor Publikum. Es sind Schauspieler, zwei Frauen darunter, die bald darauf als Tölpel und Trunkenbolde auftreten werden. „Hallo“, stottert einer. „Schön, dass Sie alle da sind im – Globe.“ Verlegenheits­ pause. Dann plumpst nur noch ein Wort heraus: „Shakespeare!“ Nun also beginnt „Was ihr wollt“ – und zwar, textlich jedenfalls, mit König Lear in stürmischer Heide sowie mit Shakespeares „Der Sturm“. Der Narr, eine omnipräsent queere Randerscheinung (Nils Svenja Thomas) als Zentralfigur, die hier nicht allein der Gräfin Olivia angehört, sondern als Zeremonienmeister, Strandbarkeeper und Bühnenmusiker am Synthesizer all das kommentiert, was die Inszenierung nicht zu erspielen vermag, stellt den Schiffbruch vor Illyrien gleichmal in den Zusammenhang eines größeren Menschheitsdramas. Es wird dann aber doch „Was ihr wollt“ daraus: achtbar in der Form, um zeitgemäße Frische bemüht in den Verkleidungs- und (Geschlechter-)Rollentauschspielchen, in denen Subjekte der Liebe mit Objekten der Begierde leicht zu verwechseln sind, mit einem routinierten Ensemble, in dem niemand abfällt oder heraussticht. Sie zeigen uns das letzte jener Shakespeare-Stücke, in denen Komödie ebenso draufsteht wie drinsteckt. Mit dem Ort, dem

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Foto links Rainer Brabec

Hausansicht vom Globe Coburg


Report Mülheim Report an der Coburg Ruhr diese Eröffnungsinszenierung von Jana Vetten gilt, verhält es sich anders: Globe steht drauf, steckt aber nicht drin. Es handelt sich um „Deutschlands außergewöhnlichste Interimsspielstätte“, da hat der Oberbürgermeister im oberfränkischen Coburg schon recht. Andere Theater beziehen, wenn der Stammsitz saniert werden muss (oder müsste), vielleicht eine Mehrzweckhalle, soweit vorhanden und vakant. Diese Stadt baut sich dafür extra eine hinein in ein Quartier, das am alten Güterbahnhof insgesamt neu entwickelt werden soll. Es handelt sich aber auch um Etikettenschwindel. Das Landestheater eröffnet seine neue Heimstatt für vielleicht zehn Jahre, womöglich sehr viel länger mit dreimal Shakespeare; die Oper zog mit Verdis „Macbeth“ nach, das Ballett mit Prokofjews „Romeo und Julia“. Mit einem Theater, das Traditionen des elisabethanischen Zeitalters aufnimmt, hat das Haus aber wenig zu schaffen. Die Fassade – Holzlamellen an Stahlkonstruktion – täuscht einen Rundbau vor, drinnen geht es eckig zu. Vor allem wollte oder konnte der Dreispartenbetrieb vom klassischen Guckkastenprinzip nicht lassen, von einer Bühne mit Drehteller und zum Orchestergraben versenkbarer Vorbühne erst recht nicht. Nur ein Schnürboden fehlt. Ansonsten ist alles wie immer und überall in dieser „einzigartigen Multifunktionshalle“, wie der milliardenschwere Fahrzeugteile-Hersteller Michael Stoschek (Brose Fahrzeugteile) den Ort nennt, um den er lange kämpfte, mal mit der Stadt, oft genug auch gegen sie. Wiederholt aus Kostengründen totgesagt, kam das Projekt schließlich doch noch voran. Stoschek holte die anderen beiden Großunternehmen Coburgs ins Boot; man gründete die Globe GmbH und spendierte drei Millionen Euro für die Planung. Das Dreifache zahlte die Stadt am Ende für die Umsetzung, inklusive Außenanlagen, die erst 2024 fertig werden; zehn Millionen legte Bayern drauf. Somit verfügt das Landestheater über eine Ausweichspielstätte kaum ohne Einbußen bei den Zuschauerplätzen; ein Schlauch von drei Nebengebäuden für zweihundert Mitarbeiter inklusive. Alles in Holzbauweise und auch sonst nachhaltig. Denn das soll Bestand haben, wenn man eines fernen Tages wieder auszieht. Dieses Globe taugt etwa hervorragend zum Konzertsaal und wurde entsprechend eröffnet: Beethovens Neunte. Nicht nur GMD Daniel Carter, ein Australier, lobte den Akustiker Jürgen Reinhold, der zuvor chronische Klangdefizite der Oper Sydney beheben konnte. 18 Meter hoch, 36 Meter im Durchmesser – das blieb von der Idee, die zwei Architekturstudenten der örtlichen Hochschule 2016 als Seminararbeit entwickelten. Isabell Stengel und Anders Macht, sie zuvor Ausstattungsassistentin, er Theatermaler, ließen sich vom Rondell zwischen Landestheater und Stadtschloss inspirieren, wo sie ihr Globe verorteten, sowie von der Verbindungslinie nach London: Albert von Sachsen-Coburg und Gotha ehelichte einst die künftige Queen Victoria. Der Entwurf eines temporären Baus, dessen Module sich ab- und andernorts wieder hätten zusammenbauen lassen, gewann den Hochschulpreis Holzbau. Kein Gedanke an Realisierung. In Wellenbewegungen diskutierte die Stadt dennoch darüber. Unternehmer Stoschek forcierte den Vorgang. Die damaligen Bachelor-Studenten hatten weder Kapazitäten frei noch Logistik zur Hand, selbst weiterzuarbeiten. Sie traten die Rechte ab und

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wurden entgegen den Absprachen nie mehr eingebunden. Ein Generalplaner übernahm, Karl-Heinz Glodschei, musste die Ausführung aber auch abgeben, des EU-Vergaberechts wegen. „Einige Details wurden nicht umgesetzt“, bedauert er heute. Das Globe Coburg ist somit in jeder Hinsicht ein Holz und Beton gewordener Kompromiss: zwischen unterschiedlichen Interessen, Kostengrenzen, Nutzungskonzepten. Wäre es nach dem studentischen Entwurf gegangen, stünde man jetzt hinter dem Eingang sofort im Theatersaal, in den die Bühne weit hineinragte, beinahe vollständig umgeben von Zuschauern. Nichts davon hat sich realisiert. Nur eine Informationstafel erinnert im unteren Foyer an die ursprüngliche Idee, bevor man gleichsam erst einmal „gegen eine Wand rennt“, wie Isabell Stengel jetzt verschiedentlich zu Protokoll gab. Wer sehen will, wie licht und luftig ein modernes Globe Theater sein kann, fährt lieber nach Schwäbisch Hall, wo ein solches 2019 übrigens auch mit „Was ihr wollt“ eröffnete und sich das Dach zur Freiluftbühne öffnen lässt. Mehr Globe-Atmosphäre verströmt auch das Theater in Itzehoe. Coburg ist derweil glücklich und zugleich besorgt. Denn bekanntlich hält nichts so lange wie ein Provisorium. Einige unkten schon, das Landestheater von 1840 werde nie wieder öffnen. Dreihundertsechzig Millionen Euro soll, so der grob geschätzte Rahmen, die längst überfällige, wiederholt verschobene und vor allem städtischerseits bislang nicht durchfinanzierte Sanierung kosten. Zwei Drittel trüge zwar Bayern als Eigentümer, eines aber Coburg, wo man noch hofft, die Staatsbauverwaltung werde Günstigeres ermitteln. Aktuell läuft eine Online-Petition: „Sanierung jetzt! Kein Ausstieg aus dem Staatsvertrag!“. T

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Kongolesische Skelette und eine Holzpuppe im Identitätsdschungel Das internationale Münchner Spielart Theaterfestival mit Produktionen, die politisch und ästhetisch herausstechen Von Sabine Leucht

Hier hängen Stoffbahnen von der Decke, dort riecht es nach Bier, wenige Räume weiter tanzt eine Wolke aus Papierfliegern sacht auf und ab. Die dazugehörige Performance, in der Pankaj Tiwaris Kindheitstraum vom Fliegen mit der Flugscham privilegierter Europäer kollidiert, habe ich dank des Starkregens am letzten Spielart-Wochenende verpasst. Dabei war die von Boyzie Cekwana zusammengestellte Reihe „Nothing to Declare“ besonders auf die Gunst des Wettergottes angewiesen, denn zwischen den Hallen auf dem Münchner Kreativquartier gibt es keinen Unterschlupf und keinen Ort, an dem man sacken lassen kann, was einem gerade streng protokollarisch über den Aufstand gegen Südafrikas Native Beer Act von 1908 erzählt oder über die (Ohn-)Macht der Bergbauarbeiter:innen im selben Land vorgetanzt worden ist. Allenfalls kann man sich im PATHOS Theater in eine „Bisetka“ setzen und mit einem Künstler der Gruppe fachbetrieb rita grechen die besondere Form der Öffentlichkeit simulieren, die in Armenien durch spontane Schachduelle entsteht. Es ist ein unfassbar kleinteiliger Irrgarten glokaler junger Kunst, der das 15. Spielart-Festival beschließt. Die bewusst skizzenhaft angelegten Lectures, Kürzestperformances und Installationen offenbaren das Spielart-Dilemma in a nutshell! Allein am letzten der 16 Festivaltage hält das Programm 21 Optionen bereit. Wer soll das alles sehen, geschweige denn verdauen, zumal der von der Stadt München und der BMW Group finanzierten internationalen Biennale diesmal ein Zentrum fehlt? Nicht nur, aber auch im rein kulinarisch-rekreativen Sinne. Mehr als 37 Produktionen an mehr als 16 Spielorten hatte Festivalleiterin Sophie Becker angekündigt. Die Vagheit der unrunden Zahlen spricht für eine neue Dimension der Unübersichtlichkeit, nachvollziehbar resultierend aus dem Bewusstsein,

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dass man der wachsenden Komplexität der Welt nur mit multizentrischen Blicken beikommt, weshalb sich Becker auch mit Ko-­Kurator:innen umgeben hat. Andererseits kann ein Festival allein nie alle Diskurse abbilden. Und aktuelle Krisen entgehen ihm bei einem zweijährigen Planungsvorlauf und der langsamen Reaktionsgeschwindigkeit des Theaters ohnehin. Wobei Theater bei Spielart nahezu alles sein kann – vom Spieleabende bis zum Ausrollen eines roten Teppichs vor dem Bürgeramt. Sein Hauptasyl fand das Thema „Einwanderungsland Deutsch­ land“ im aufblasbaren Double des New Yorker Guggenheim-Museums auf dem zentralen Platz vor dem Nationaltheater. Sonderprogramm 2: GGGNHM, betreut vom charmanten Wiener Kollektiv God’s Entertainment. Unterstützt von der Bundeskulturstiftung und ko-kuratiert von der in München wie Taipeh aktiven Dramaturgin Betty Yi-Chun Chan widmete sich Sonderprogramm 3 unter dem Titel „When Memories Meet“ dem Theater im pazifischen Raum und konnte damit noch am ehesten eine Bündelung der Eindrücke erreichen. Ko-Kuratorin Eva Neklyaeva schaute nach Osteuropa, vor allem auf die Ukraine und Belarus. Und daneben fand noch diverses Anderes statt, vom massenkompatiblen Wrestling-Spektakel Gut gegen Böse bis zur lokalen Tanz-Uraufführung. Diesen Rest als Hauptprogramm zu bezeichnen, tut man sich auch als Rezipientin schwer. Die Durchquerung des SpielartDschungels gleicht 2023 mehr denn je einem Abenteuerritt durch dichtes Unterholz. Einiges übersieht man, einige Begegnungen sind flüchtig. Und man weiß nie, hinter welchem Gebüsch die Sensation lauert. Um sie zu finden, braucht man sehr viel Zeit – weshalb das Festival auch sehr viel elitärer ist, als es sich selbst eingesteht. Freier Eintritt zu vielen Veranstaltungen hin oder her.

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Foto Tiu Makkonen

„The Making of Pinocchio“ (Glasgow) in der Künstlerische Leitung von Rosana Cade


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Aber es gab sie auch diesmal, die Highligths – und mindestens einen Maßstäbe verrückenden Abend: In „The Making of Pinocchio“ verknüpfen Rosana Cade und Ivor MacAskill aus Glasgow ihre Beziehung, die durch Ivors Transition unversehens von lesbisch zu straight mutierte, mit der Story des Holzbuben, der ein echter Junge werden will und sich dabei selbst zum Esel macht. Das entzückende Paar agiert mit grellem Humor und feiner Selbstironie und legt mit ausgeklügelter Live-Film-Technik den Vorgang der Illusionserzeugung offen. Was genau sie mit abstruser Körperkomik und allerlei in verschiedene Ösen gesteckten Stecken machen, begreift man oft erst auf dem Bildschirm. Die Wärme des Ganzen und dass die zwei Leben wie Theater als Identitätsbaukästen verstehen, begreift man sofort. Eine lustvolle Herangehensweise an einen ungleich härteren Stoff findet die kongolesisch-deutsch-schweizer Group 50:50 in „The ghosts are returning“: Die für den FAUST-Theaterpreis 2023 nominierte Musiktheaterproduktion hat es sich zur Aufgabe gemacht, sieben Skeletten, die 1952 für wissenschaftliche Zwecke im Kongo exhumiert und nach Genf gebracht wurden, wieder zurückzubringen. Mit der Erinnerung an einen verstorbenen Freund und individuellen Vorstellungen der Musiker/Performer von der letzten Ruhe startet ihre Reise, die nicht bei den eigenen Positionen verharrt. Auf mehreren Flatscreens holen sie ihre Gespräche mit den Mbuti auf die Bühne und lassen in bisweilen allzu ausschweifenden musikalischen Nummern Stilrichtungen wie Jazz, Klassik und Ndombolo miteinander verschmelzen. Eine enorme Wachheit gegenüber kolonialen Kontinuitäten und den Fallstricken der Restitution charakterisiert diesen Abend, der den Mut aufbringt, sich immer wieder auch selbst in Frage zu stellen (siehe auch TdZ 9/23).

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Die womöglich vielschichtigste Produktion des Festivals ist Ming Wongs „Rhapsody in Yellow – A Lecture Performance with Two Pianos“. Der in Berlin lebende Künstler kommt aus Singapur und nähert sich den als Ping-Pong-Diplomatie bekannt gewordenen Annäherungsbewegungen zwischen China und den USA mit einer atemberaubenden Collage aus Sport-, Spiel- und Konzertfilmen, Musical- und TV-Szenen wie denen vom bahnbrechenden Beijing-Besuch von Henry Kissinger 1971. Danach liefern sich die zwei Pianisten Ben Kim und Mark Taratushkin ein eigenes Ping Pong und lassen George Gershwins „Rhapsody in Blue“ und das, während der chinesischen Kulturrevolution entstandene „Yellow River Piano Concerto“ zu einer einzigen musikalischen Großmachtphantasie ineinanderfließen. Derlei Verbindungen zwischen Ost und West aufzuspüren, steht hinter dem Programmschwerpunkt „When Memories Meet“. Dass das nicht heißen muss, auf tradierte Techniken zu verzichten, beweist The Party Theater Group in „White Storyteller“: Die Produktion aus Taiwan verbindet Erzähltheater mit traditionellem Puppenspiel und eine Vater-Sohn-Geschichte mit der großen Geschichte des Weißen Terrors, dem die taiwanesische Bevölkerung unter Chiang Kai-sheks Kuomintang bis weit in die achtziger Jahre hinein ausgesetzt war. Ja, gerade die Gastspiele aus Asien ziehen immer wieder Privatrecherchen nach sich. Die weißen Flecken, die Wissenslücken sind einfach zu groß. Aber was hier in einer Kulisse aus Papiermöbeln – eine übliche taoistische Grabbeigabe – gespielt wird, überbrückt kulturelle Gräben mühelos. Weil es an allgemeine menschliche Erfahrungen rührt – und die zwei überdrehten Puppenspieler verdammt lustig sind. Theater aus Taiwan ist beim diesjährigen Spielart-Festival auch deshalb verstärkt vertreten, weil die ganze Welt erwartet, dass Taiwan demnächst von China geschluckt wird. Die Erzählhaltung in den Gastspielen ist oft sehr direkt – hier soll die Öffentlichkeit hinschauen! – verglichen etwa mit dem aufgrund der Zensur extrem metaphorischen „Who killed the elephant“ aus Hongkong. Aber auch hier, im leicht hermetischen, bilderreich Bizarren, das zur privaten Entschlüsselung einlädt, hat das Festival ein paar Preziosen zu bieten. Mallika Tanejas mit energetischem Furor das Publikum zum Mitspieler machende Hommage an ihre Mutter „Do you know this song“ zum Beispiel – oder „Doom“ von Teresa Vittucci und Colin Self. Man kapiert nicht viel von dem, was die beiden da tun. (Mit üppiger Nacktheit nach dem Ursprung von allem fahnden? Als Dunkelelfe böse raunen? Die Spannung rapide abfallen lassen?) Aber es macht Spaß, es zu versuchen. Und da ist dann noch Dmytro Levytskyis Hör- und BlätterPerformance „Fotografien der Sitschowych-Strilziw-Straße“, die einen hinter die Bilder blicken lässt, die Levytskyi im Winter 2022/23 von besagter Straße in Kyjiw gemacht hat: Von Häusern nach dem Stromausfall, Menschen, die zwischen den russischen Angriffen auf Märkten und in Clubs eine Art Alltag aufrechterhalten. Keine spektakulären klassischen Kriegsfotos sind das, aber gerade die Leerstellen, die sie lassen, verleihen ihnen immense Aktualität. Auch wenn die Fantasie des einsam lauschenden Fotobuchbetrachter sich selbst mit einbringen muss. T

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Report Georgien

„Phädra im Flammen“ von Nino Haratischwili in eigener Regie als Teil vom Tbilisi International Festival of Theater

Fotos Bobo Mkhitar via Royal District Theatre

Jetzt ist alles politisch Ein Showcase in Tbilisi erzählt von der Zerrissenheit Georgiens Von Christoph Leibold

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Report Georgien Das größte Drama in Georgien spielt sich derzeit wohl auf der politischen Bühne ab. Die Kaukasus-Republik bezeichnet sich gern als „Balkon Europas“. Seit langem bemüht sich das Land daher um den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Derzeit allerdings hat man – angesichts des zunehmend russlandfreundlichen Kurses der Regierung – eher den Eindruck, Georgien rücke wieder weiter weg von Europa. Diese Entwicklung war auch bestimmendes Thema beim Tbilisi International Festival of Theatre, das im Herbst in der georgischen Hauptstadt stattfand. Das machte auch Theaterregisseur Data Tavadze bei seiner Eröffnungsrede des Georgian Showcase deutlich, in dem sich die Theaterszene des Landes ausländischen Gästen präsentierte. „Georgiens Kultur ist in Gefahr!“, so Tavadze, der auch einem deutschen Publikum dank Gastinszenierungen unter anderem in Berlin und Frankfurt am Main bekannt ist. Die mit Russland sympathisierende Regierung Georgiens strebt nicht nur ein Amtsenthebungsverfahren gegen die eigene, weiterhin EU-freundliche Staatspräsidentin an. Auch unliebsame Museumschefs, Theaterintendanten und andere Kunstschaffende in leitenden Positionen wichtiger Kultureinrichtungen wurden zuletzt reihenweise durch linientreue Funktionäre ersetzt. Das Theaterfestival von Tbilisi selbst ist dem ideologischen Umbau vorerst noch entgangen. Weite Teile des Programms stellten daher so etwas wie den Versuch dar, der regierungskritischen Zivilgesellschaft eine Stimme zu geben. Ist man in Tbilisi unterwegs, sieht man an allen Ecken und Enden EU-Flaggen neben der georgischen, und vor allem die ukrainische Fahne an Häuserfassaden wehen oder auf Mauern gesprayt, daneben „Fuck Russia“Graffitis oder Putin-Karikaturen mit Hitlerschnauzbart. Die Mehrheit der georgischen Bevölkerung stehe zu hundert Prozent hinter der Ukraine, erklärt Data Tavadze. Anders als die Regierungspartei Georgischer Traum, deren starker Mann im Hintergrund, der milliardenschwere Oligarch Bidsina Ivanischwili, sich das Geschäft mit Russland nicht kaputt machen lassen wolle. Das erkläre die autokratische Linie der Regierung. Dabei wurde Ivanischwilis Partei 2012 ursprünglich als erklärt pro-europäische politische Kraft an die Macht gewählt. Aber die Parteilinie damals, mutmaßt Tavadze, sei nur Taktik gewesen, inzwischen zeige die Partei ihr wahres Gesicht und kämpfe mit allen Mittel um den Erhalt ihrer Macht. Interessanterweise begegnen einem auch beim Georgian Showcase auf der Bühne immer wieder Herrscher, die an der Macht kleben. King Lear zum Beispiel. Shakespeares Tragödie um den König, der nicht loslassen will, hat David Doiashvili inszeniert, einer der wenigen Staatstheaterleiter, die noch nicht entlassen wurden. Ein Altmeister, offenbar so renommiert, dass sich die Regierung nicht traut, ihn anzutasten. In Doiashvilis Inszenierung ist die Bühne die meiste Zeit in blaues Licht getaucht, auch Lears Hofstaat trägt Uniformen in Blau. Kein Zufall: Blau ist die Parteifarbe des Georgischen Traums. Hört man sich nach der Vorstellung beim Publikum um, erklären viele, das Stück lasse sich aber auch ohne solche aktuellen Anspielungen auf die Lage der Nation beziehen. Vor allem die berühmte Passage über den Irren, der den Blinden führt, die Shakespeare den geblendeten

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Das Theaterfestival von Tbilisi selbst ist dem ideologischen Umbau vorerst noch entgangen. Weite Teile des Programms stellten daher so etwas wie den Versuch dar, der regierungskritischen Zivilgesellschaft eine Stimme zu geben.

Grafen Gloucester zum wahnsinnig gewordenen Lear sagen lässt, ­empfinden viele Zuschauer:innen als treffende Beschreibung der Beziehung zwischen der georgischen Regierung und weiten Teilen der Bevölkerung. Auch Theseus in Nino Haratischwilis „Phädra in Flammen“ ist ein skrupelloser Machtmensch, der nicht vom Thron weichen will. Vor allem aber erzählt die georgische, in Deutschland lebende Autorin in ihrer Antiken-Umdeutung von einer verbotenen, weil lesbischen Liebe. Phädra verliebt sich bei Haratischwili nicht, wie es die griechische Sage berichtet, in ihren Stiefsohn, sondern in Persea, ihre Schwiegertochter in spe. Das Stück wurde im vergangenen Mai von Regisseurin Nanouk Leopold bei den Ruhrfestspielen als Ko-Produktion mit dem Berliner Ensemble uraufgeführt. In Tbilisi hat es die Autorin selbst inszeniert – dort, wo sie es auch geschrieben hat, während eines Aufenthalts im Sommer 2021, als die

Ensemble von „Phädra im Flammen“

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Fotos Bobo Mkhitar via Royal District Theatre

oder als religiöse Rechte mit brutaler Gewalt gegen eine Demonstration der Queer-Community mobilmachte. Ein Mensch kam dabei ums Leben. In der verbotenen Liebe zwischen Phädra und Persea drückt sich bei Haratischwili das Aufbegehren gegen ein repressives System aus. Phädras Widerstandsgeist allerdings glimmt zu Beginn der Handlung nur auf Sparflamme. Es braucht die unbedingte Leidenschaft der eine Generation jüngeren Persea, um das Feuer in Phädra zu entfachen. Haratischwilis Inszenierung war eines der must-sees des Festivals. Eindringliches Schauspielertheater auf weitgehend leerer Bühne, über der schräg ein riesiger Spiegel hängt. So verfolgt das Publikum die Handlung nicht nur frontal, sondern im Spiegel auch von oben. Bis gegen Ende der Vorstellung der Spiegel in die Senkrechte klappt und sich die überwiegend jungen Zuschauer:innen selber darin sehen. Auf euch, könnte das bedeuten, auf die Jungen kommt es an. Auf euren Mut. So wie es erst die Hingabe Perseas ist, die die ältere Phädra ausbrechen lässt aus ihrem falschen Leben. Es sei tatsächlich so, dass die jungen Menschen in Georgien gerade am radikalsten seien, erklärt Data Tavadze: „Ich setze große Hoffnungen in diese Generation, die die Diktatur nicht mehr erlebt hat und sich von der Regierung nun auch nicht verbieten lassen will, so zu leben, wie sie es möchte“. Tavadze ist nicht nur Teil der erweiterten Festivalleitung beim Tbilisi International Festival of Theatre. Er gehört auch dem Leitungsteam des Royal District Theatre im Herzen der Altstadt von Tbilisian, der wohl wichtigsten Bühne der Freien Szene im Land. Freies Theater – in Georgien ist das nicht nur eine Frage der Organisationsform, sondern in Zeiten der zunehmenden staatlichen Übergriffigkeit auch eine der politischen Unabhängigkeit. „Es ist enorm wichtig, Orte zu haben, wo noch Kunst- und Meinungsfreiheit herrscht“, sagt Misha Charkviani, Mitbegründer eines Freie-Szene-Kollektivs mit dem vielsagenden Namen Open Space, das vor ein paar Jahren in einem verfallenden Gebäude am Stadtrand von Tbilisi Quartier bezogen hat. Der Weg zur technisch bestens ausgestatteten Werkstattbühne führt vorbei an Schutthalden, hinein in marode Gemäuer und hinauf in den vierten Stock durch ein unbeleuchtetes Treppenhaus. Mehr Subkulturanmutung geht nicht. „Unlove“, die Produktion, mit der sich Open Space beim Georgian Showcase präsentierte, hielt leider nicht ganz, was der aufregende Spielort versprach. Das Stück über die (Un-)Möglichkeit von Liebe in instabilen Zeiten erwies sich als etwas verstiegene Performance mit offensivem Videoeinsatz, massiven Klanggewittern und einem unter emotionalem Hochdruck agierenden Ensemble. Künstlerisch konnte das nur bedingt überzeugen. Jederzeit spürbar aber: die enorme Dringlichkeit, die diese Truppe antreibt. „In unserem kollabierenden Staat ist auch unsere Liebe zusammengebrochen“, heißt es einmal in „Unlove“. In Georgien ist gerade alles politisch. Auch die Liebe. Und das Theater sowieso. „Theater, das in Georgien momentan nicht politisch ist, ist schlichtweg tot“, konstatiert Misha Charkviani von Open Space. „Entweder bist du politisch oder du machst dich zum Megaphon des Georgischen Traums, der in Wahrheit ein russischer Traum ist.“ T

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Report Georgien Nino Haratischwilis Inszenierung war eines der must-sees des Festivals. Eindringliches Schauspielertheater auf weitgehend leerer Bühne, über der schräg ein riesiger Spiegel hängt.

Szenen aus „Phädra im Flammen“ von Nino Haratischwili

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„Max Reinhardt probt Shakespeares Sommernachtstraum“, auf dem Foto Hans-Jochen Menzel und Suse Wächter

Puppenspiel im Anthropozän Von Thomas Oberender 70

Die Puppe ist das Medium, das Menschen, noch bevor sie zu sprechen lernen, geholfen hat, ein zweites Mal zur Welt zu kommen. Noch vor der Sprache und vor der Begegnung mit der Gesellschaft hilft ihm die Puppe bei der Begegnung mit sich selbst. Das frühkindliche „Ich“ bildete sich unter dem Schutz der Puppe, etwas, das wir in den Händen hielten, rochen und fühlten, und uns half, das „Draußen“ und unser Getrenntsein von ihm zu entdecken. Inmitten dieser Entdeckung ließ sie unser eigenes „Ich“ erwachen. Puppen verweisen uns auf uns zurück, ohne uns zurückzuweisen, und das zieht Menschen an. Durch sie wird dieses andere Sein, dieses Sein ohne uns, der Dinge, der Welt neben uns spürbar. In der Puppe geht uns die Welt auf, eben weil sie nichts will, nur ist. Als Menschen wollen wir stets etwas, sind aktiv und von Ideen bewegt, aber im unergründlichen Ausdruck dieses Dings, das nichts zurückweist, können all unsere Gefühle, Gedanken und Probleme stranden. Der Philosoph Thomas Metzinger beschreibt in seinem Buch „Der Egotunnel“ die psychologischen und neurologischen Prozesse, die zum Vorhandensein eines „Egos“ in uns führen, also jenes Akteurs mit einem Ich-Gefühl, der uns als Menschen innerlich bespielt, ohne dass wir dieses Regime von außen „sehen“ können. In medial erzeugten Bildern ist es der „Glitch“, der im Moment der technischen Störung dieses Regime bzw. das Medium selbst sichtbar macht. Das menschliche Denken kennt solche Glitches als Momente psychopathologischer Krisen oder der Ekstase im griechischen Wortsinn des „Aus-sich-heraus-Gehens“. Eine andere Art des „Aus-sich-heraus-Gehens“ ist das Spiel mit der Puppe. Leben, das Leben selbst, ist nicht nur eine Vitalfunktion, sondern auch das Vorhandensein einer aktiven Intelligenz, die in allem, was lebt, wirkt, vom kleinsten Virus bis zum „Gaia-System“ unseres Planeten. Das „Aus-sich-heraus-Gehen“ des Puppenspielenden, ob es ein Kind ist oder Künstler, belebt das tote Ding der Puppe durch dieses Bewohnt-Werden von menschlicher Intelligenz, und doch verändert sich auch diese durch die Begegnung mit dem Objekt, wird intuitiver und weniger von Re-

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Foto Barbara Braun (Jubiläum „Puppe50 - Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin“)

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck


Magazin Vorabdruck flexionen gehemmt. Das Puppenspiel ist also auch ein zweifaches „In-etwas-hinein-Gehen“. Mit der Puppe schafft sich der menschliche Geist testweise einen zweiten Körper und vice versa verändert die Begegnung mit diesem Körper unseren Geist. Das Faszinierende am Puppenspiel ist die Evakuierung unseres Geistes in dieses zauberhafte Ding und dessen mediale Wirkung auf uns. Medien sind, wie Botho Strauß bemerkte, das den Durchschein Verkörpernde. Ein puppenspielendes Kind kann man ansprechen, aber es antwortet als ein anderes Wesen. Es schaut einen an, flüchtig, und lässt dann die Puppe sprechen. Über vieles, was das Kind vielleicht nicht sagen würde, spricht die Puppe. Kinder können durch sie, wie später die Puppenspieler, mehr zum Ausdruck bringen, als sie persönlich auszudrücken vermögen oder willens sind. Dabei hat das Wort „Puppe“ umgangssprachlich viele Dimensionen. Die „Verpuppung“ ist im Leben der Insekten zum Beispiel die Phase des kompletten Umbaus ihres Organismus. Sich als etwas zu „entpuppen“ bedeutet, dass aus der Larve etwas völlig Neues zutage tritt. Dieses sich „Entpuppen“ ist ein wesentlicher Vorgang des Puppenspiels – es gebärt auf offener Bühne ein anderes Leben. Es ist nicht das des Spielers und nicht nur das der Puppe, sondern etwas Drittes, zwischen dem Mensch und Nicht-Menschlichem, Leben und Tod, eine reine Form mit uns in der Mitte. Puppen sind Aliens, die Menschen sich geschaffen haben, um aus sich herauszutreten und in einen anderen Körper zu wechseln, der zugleich ihr Körper wird. Er wird geführt von einem Spieler, der nach vielen Jahren der Praxis und der Verschmelzung mit der Puppe in seinem Spiel nahe an den bewusstlosen Zustand des Virtuosen gelangt, für den Körper und Instrument eins geworden sind. Der britische Soziologe Richard Sennett beschreibt in seinem Buch „Handwerk“ diesen Vorgang als Immersion. Ab einer bestimmten Vertrautheit im Umgang mit diesem Objekt wird das bearbeitete Objekt als Teil des eigenen Körpers empfunden. Sennetts „zehntausend StundenTheorie“ geht von der Beobachtung aus, dass nach rund zehntausend Übungsstunden das Handwerkszeug eines Virtuosen

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ein „Teil“ seines eigenen Körpers geworden ist. Der Umgang mit ihm funktioniert ohne dazwischengeschaltetes Bewusstsein. Virtuose Pianisten oder Pianistinnen sind nicht mehr mit der Technik ihres Spiels beschäftigt, sondern können die Musik „direkt“ spielen und gestalten. Beim Puppenspiel ist dies nicht anders. Es basiert auf dem Eintauchen des Menschlichen ins Nicht-Menschliche, in ein Objekt, das „Teil“ seines Körpers wird. Ohne das Dazwischenfunken reflektierender Gedanken wird der künstlerische Impuls unmittelbar zur Tat – was, Kleist zufolge, die einzigartige Grazie des Puppenspiels hervorbringt. Es ist kein rein zwischenmenschliches Spiel, nichts, das sich wie beim traditionellen Literatur- und Sprechtheater vollständig in der Sphäre des Sozialen auflöst, sondern eine Verbindung zwischen Menschen und Dingen, in dem der Mensch dem Nichtmenschlichen folgt und als Spielender eine Nebenfigur der Puppen wird. Die Philosophie der objektorientierten Ontologie formuliert das Konzept einer „DingMacht“ oder der agency von Objekten, das die amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Bennett mit dem Begriff der „lebhaften Materie“ beschreibt. Angewandt auf das Puppenspiel oder Objekttheater ist dies zunächst die Erfahrung der Gravitation, die auf das Objekt einwirkt. Puppenbauer und Puppenspieler machen mit der agency des Objekts, ähnlich wie Jongleure, eine sehr intensive Erfahrung. Die Puppe hilft uns, dieses unentrinnbare „Ich“, das sie uns zu bilden half, zugleich auch wieder momentweise zu verlassen. Sie ist das Übergangsobjekt nicht nur bei der Reise von der Mutter zum Ich, sondern auch der Reise des „Ich“ in die Welt des Nicht-Menschlichen. Die Puppe ist nie nur ein Medium für das Ego des Menschen, sondern bringt ihre eigene Welt ein. Sie verführt den Menschen, seine Souveränität im Spiel für Momente aufzugeben und einzugehen auf ihre Wirklichkeit. Corona-Viren haben globale Verkehrsströme zum Erliegen gebracht und fast sieben Millionen Menschen das Leben gekostet. Wir leben in einer Multi-Species-Welt. Der Egozentrik des Anthropozäns hat das einen Stoß versetzt und intensivierte unsere Aufmerksamkeit für die Begegnung des

Menschen mit dem Nichtmenschlichen. Dies verändert auch meine Wahrnehmung des Puppenspiels und seines vormodernen Wissens, in dem der Mensch sich noch nicht ins Zentrum der Welt gerückt hat, sondern ihr Alliierter war. Die CharakterTypen und Stilisierung des Puppenspiels weisen weg vom Individuum und brechen den Anthropozentrismus der Bühne auf. Das Puppenspiel ist eine vormoderne Technik im Sinne von techné, also einer „Kunstfertigkeit“ oder eines „Geschicks“, das eigene Ich zu modellieren. Dieses Eintauchen des Geistes in einen anderen Körper und dessen Verbindung mit uns schaltet unser privates Ego im Sinne Sennetts oder Kleists für einen Moment aus und lässt es in der Begegnung mit der Welt der Dinge, der Schwerkraft und einem anderen Regime von Leben zerfließen. In der Puppe entthront sich der Mensch auf wohltuende Weise, und das tut unserem Zeitalter und uns gut. T Auszug aus: „Puppenspiel im Anthropozän. Über die Ding-Macht der Puppe, Stars und Avatare“ (In: „Puppe 50“, ­Theater der Zeit, Berlin 2023)

Puppe50 Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin Herausgegeben von Jörg Lehmann Verlag Theater der Zeit, 200 S., mit zahlr. Abb., ISBN: 978-3-95749-484-9, 22 Euro Mit Beiträgen u. a. von Thomas Oberender, Kathi Loch, Gerd Taube, Markus Joss, Katja Kollmann, Robert Schuster, Andrea Tralles-Barck und Rimini Protokoll.

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Luftschloss und Trutzburg Kunst und Konflikte in sechs Staats­ wesen: Esther Slevogt hat eine ­spannende Geschichte des Deutschen Theaters Berlin geschrieben Von Hans-Dieter Schütt

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Ein eindrückliches Bild: Der Teufel kommt von unten, er entsteigt einer Bodenklappe auf der Bühne. Ein Malocher des Maschinenraums. Von unten auf: Das schillernd Böse hat Wurzeln im Untergrund – und ist im Gespräch mit Gott hoch oben. Dieter Franke als Mephisto im „Faust“ von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz, 1968. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Goethes Theater-Diktum darf als sinnfälliger Auftakt für dieses Buch stehen. Denn es beginnt dort, „wo das Theater die Geheimnisse verbirgt“, die sein Wesen und sein Wirken ausmachen. „Also steigen wir zunächst in die Unterbühne hinab: einen nach Staub und Arbeit riechenden Kosmos der Eisenträger, Hubvorrichtungen und Stromschaltkreise.“ So beginnt Esther Slevogt. Die Drehbühne des Deutschen Theaters: Anfang des 19. Jahrhunderts eine revolutionäre Technik, Berlin ist das „tosende Zentrum der Industrialisierung“. Das Theater wie alle Historie: Bewahrung und Bruch, Festschreibung und Richtungskampf. Slevogt erzählt in acht Kapiteln genau dieses Spannungsfeld. Die Biografie des Deutschen Theaters, von den acht­ziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu den neunziger Jahren des 20. Säkulums: sehr konkret, sehr faktengesättigt, aber auch äußerst gleichniskräftig und spürsinnig für die innere Dramatik von Welt-, Landesund Stadtgeschichte. Dieses stets besondere Haus in Berlin, Schumannstraße 13 a: Luftschloss der Träumer, Lustschloss der Ver-Rückten, Trutzburg der Lustigen wie ­Listigen, Kultstätte für Ketzer und wendige Artisten des Kompromisses. Die Kapitelüberschriften des Buches enthalten Kernworte: Bürgerliche Selbstermächtigung; Weltruhm: Max Reinhardt; Nationalsozialismus; Trümmer; Zwischen den Stühlen der Systeme; Geschlossene Gesellschaft; DDR und Langeweile; Ende der Geschichte. Der Prolog des vergessenen Dichters Julius Wolff zur Eröffnung des Theaters 1883 – „… uns irrt nicht Zweifel, nicht der Zeiten Drohen, / Weil Muth und Hoffnung in uns allen blühn“. Damals eine KaiserreichHoffnung, sie hielt sich über jene „sechs Staatswesen“ (Slevogt), die das DT durchlebte. Besagter Kaiser kündigte seine Loge nach Otto Brahms „Webern“ 1884 –und bei der Premiere des schon erwähnten „Faust I“, 1968, verließ die SED-Spitze das Theater demonstrativ vorzeitig. Immer wieder Reibung mit der Macht. Kunst ist Waffe, wo sie kühn ihre Ohnmacht bewahrt.

Als „Urknall eines neuen Theaterzeitalters“ bezeichnet Slevogt die besagte „Weber“-Premiere, der Kohlgeruch der ArmeLeute-Küche zog provokant von der Bühne in den Zuschauerraum. „Sinnlich, hell“ war dann die Max-Reinhardt-Ära, während der deutsche Kolonialismus in Afrika erste KZ errichtete. Sehr oft sieht die Autorin Größe in Nachbarschaft zu Krisen, Glanz in Nähe von Katastrophen. Am 5. Mai 1933 war in Anwesenheit von Goebbels „Wilhelm Tell“ gespielt worden, statt Rütli-Schwur: der Hitlergruß. Es geschieht Komödiantentum, aber in der Umgegend, in der Prinz-Albrecht-Straße, residiert SS-Chef Himmler. Andererseits sind die Nazi-Jahre im Deutschen Theater eine tapfer tastende, vorsichtig subversive Heinz-Hilpert-Zeit. Hilpert engagiert den Kommunisten Kurt Seeger als Dramaturgen, einen Kommunisten (der bis 1971 am Hause arbeitete). Und dem Intendanten drohen Zwangsarbeit und Volkssturm, weil er positiv über Juden gesprochen hatte, ein Herzinfarkt erlöst ihn. Umschlagmomente interessieren Slevogt besonders. Das Buch beschreibt Konzept und Kunst, und es schillern diese zeitgeschichtlichen Beispiele, die das Faible der Autorin für Recherche und Kolorit belegen. Wirklichkeit und Metapher: Ein Bombenangriff im November 1943 hatte Vorderhäuser in der Schumannstraße weggerissen, das DT als Hinterhof-Haus stand plötzlich im Freien – vertrackte Dialektik: just das Schlimme ermöglichte jenes Schöne, das dem Vorplatz fortan „repräsentative Weitläufigkeit“ gab. Aus einem heißen in den kalten Krieg: Selbst so ein Großer wie Fritz Kortner sah das DT nach 1945 „an der Westgrenze Sowjet-Russlands“. Der „Tagesspiegel“ assistierte: „Laßt die vom Ostsowjet annektierten Theater veröden … Meidet die Pest, wie man die Pest eben meidet …“ Anfang 1961, in einer Beratung bei SED-Chef Ulbricht (wenige Monate vor dem Mauerbau, von dem noch niemand weiß), erfährt der neue Kulturminister Hans Bentzien seltsamerweise von den Schwierigkeiten, größere Mengen Stacheldraht auf dem internationalen Markt zu bekommen. Und Politbüromitglied Günter Schabowski wird im Herbst 1989 ausgebuht, als er auf einem Forum im Theater zur SEDPolitik Stellung nehmen soll. Immer wieder: Theater bricht auf, bricht aus, Realität bricht ein, durch alle Zeiten hindurch: hohe Kunst und die reale bürgerliche Moralheuchelei; später dann das humanistische Ideal und der stalinistische Dogmendruck.

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Foto Jörg Zägel – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14874885

Magazin Bücher An Intendanten zeigt sich auf merklichste Weise der Anprall der Widersprüche und die Energie der Widerstände. Etwa Wolfgang Langhoff. Er war es, der dem ästhetischen Antipoden Brecht nach 1945 die erste künstlerische Heimat für dessen Berliner Ensemble bot. Das war Solidarität, aber auch Überwindung, also Größe. Anfang Oktober 1962 hat Hacks’ Stück „Die Sorgen und die Macht“ Premiere. Im Januar 1963 findet die letzte Vorstellung der LanghoffInszenierung statt. Das Stück über ehrliche und unehrliche Arbeit in einem Braunkohlewerk wird als Angriff aufs Heiligtum, auf Plan und Partei, gewertet. Hacks wird entlassen, es vollzieht sich der größte Theaterskandal der DDR. Siebzehn Jahre leitete der Kommunist Langhoff das DT, am Ende von der eigenen Partei in die Verzweiflung getrieben. Ein beseelter Aufklärer, der (mit „Woyzeck/Astutuli“) an den Punkt kam, die Aufklärbarkeit des Menschen prinzipiell anzuzweifeln. Oder Gerhard Wolfram, ab 1972 zehn Jahre Intendant. „Ich fühlte mich in diesem Land sicher, in diesem Theater sicher, solange du mein Intendant warst. Dann nicht mehr“, sagt der Schauspieler Christian Grashof bei der Trauerfeier für Wolfram, 1991. Und schließlich die Berufung Dieter Manns auf den Intendantenstuhl, ein Sieg des DT-Ensem­ bles – dessen künstlerische Anziehungskraft so legendär war wie sein Abstoßungswille gegen politisch beorderte Eindringlinge. Triste wie brodelnde DDR-Endzeit. Eine Wende schließlich, nicht ohne Wunden, doch Manns Leitung muss als klug, uneitel, konzentriert eingestuft werden. Eine Kunst: das eigene Ethos zu behaupten, es aber nicht als allgemeines Gesetz den anderen aufzudrängen. Die Bretter, die die DDR bedeuteten, waren gemacht aus Doppelbödigkeit: Theater als offenster Ausdruck der geschlossenen Gesellschaft. Die Eintrittskarte fürs Hohe Haus als Reisepass in Gegenwelten. Spannung zwischen Hochkultur der Repräsentation und intelligenter Unterwanderung offizieller Denkmuster. Slevogt gelingt Beweisführung bis in die Endzeit des Systems: Auch die Machtverhältnisse des SED-Staates erforderten und erschufen die Kuppelei von Loyalität und List. Maske zeigen, um Gesicht zu wahren. Gesicht zeigen, um Masken herunterzureißen. Im April 1994 führt Intendant Thomas Langhoff mit Max Reinhardts Sohn Gott-

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Das Deutsche Theater (DT) in Berlin

fried, der in den USA lebt, ein Gespräch auf der Bühne des einst väterlichen Theaters (was beide sagen könnten). Nach 1945 waren Bemühungen der Reinhardt-Familie um die Rückgabe geraubten Eigentums und das Ersuchen nach einem Grab auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee gescheitert. Die DDR war kalt und ab­ weisend geblieben. Slevogt zitiert einen Max-Reinhardt-Satz, der das ethische ­Wesen auch ihres Buches erfasst: „Ich glaube, die Menschheit wäre glücklicher, wenn nicht Einzelne sie immer um jeden Preis beglücken wollten – selbst um den Preis des Glücks“. Dieses Langhoff-Reinhardt-Gespräch, eine denkwürdige Begegnung zweier Söhne, bezeichnet die Autorin als „Schlussbild“, es stehe „exemplarisch für die losen Ende nach 1990 nicht mehr verknüpfbarer Geschichte(n)“. Ein wehmütiger wie nüchterner Satz. Verweisend auf neue alte, alte neue Geschichte(n): stets Vorläufigkeit, stets Brüchigkeit; Erinnerung als letzter Halt. Ein Gedanke vor allem erklärt dieses Deutsche Theater, seine ästhetische Kraft, seinen Charakter, der in jeder Epoche eine Wucht entfaltete, die Traditionen begründete, aber auch Abgrenzung behauptete. Oft, so Esther Slevogt, war die die eigene Geschichte „so übermächtig“, dass Theaters Gegenwart „im Schatten dieser Vergangen-

heit nicht gestaltbar schien“. Übergänge als Erschütterungen. Dann aber, immer wieder, Aufbruch. Für einen einzigen Sinn: Man hat nichts von der Kunst – aber man hat sich selbst. Man hat die Chance, im Profanen das Geheimnis, im Offenliegenden das Dunkle, im Übersichtlichen das Labyrin­ thische zu entdecken. Im Theater zumindest für die Dauer einer Vorstellung. Kostbar ­kurze Zeit. Doch wenn einem diese Kostbarkeit bewusst wird, hat die Welt draußen schon verloren. Das ist der erste Schritt, ihr beizukommen. T

Esther Slevogt: Auf den Brettern die Welt. Das Deutsche Theater Berlin. Ch. Links Verlag, Berlin 2023, 382 S., 25 Euro

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Magazin Bericht

Vielfalt durch Begrenzung Das Festival Theater der Dinge erobert in Berlin neue sowie in Vergessenheit geratene Räume Von Tom Mustroph

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Spielräume sind, anders als der Name es suggeriert, keinesfalls Räume der Offenheit. Vielmehr sind sie – als Spiel im klassischen Sinne der Brettspiele, Sportspiele und Games mit Konsole oder Touchscreen – definiert durch Regeln. Erst diese Begrenzung wiederum schafft Raum für kreative Entscheidungen. Der Zusammenhang von Begrenzung und Kreativität war für Tim Sandweg, den Künstlerischen Leiter der Berliner Schaubude, Ausgangspunkt für das Oberthema „Spielräume“ des traditionsreichen Objekttheaterfestivals Theater der Dinge 2023. Insgesamt 14 Produktionen wurden gezeigt, darunter sieben deutsche Erstaufführungen. Die Bandbreite reichte von der skurrilen französisch-kanadischen Performance mit Klebeband, Besen und Stimme „Scoooootch“ über den Brettspielabend „Eutopia“, bei dem es um das Zusammenleben von Mensch, Tier, Pilz und Pflanze ging, bis zur vor allem aus Flammen und Objekten gestalteten Performance „Z Popela / Aus der Asche“. Bei letzterer faszinierte vor allem die entschleunigte Bewegung, die beim Verbrennen entstand. Ein Projektionslicht wurde auf kleine, brennende Objekte gehalten. Auf der Rückwand erschienen die Silhouetten dieser Objekte, die sich infolge der zehrenden Kraft des Feuers in immer neue Gestalten verwandelten. Zu denen entwarfen die Assoziationsapparate der zuschauenden Augen und Hirne ganz eigene Narrationen. „Z Popela“ hatte auch viele Längen; das Projekt der tschechischen Gruppe Erorr Cult war mehr Versuchsanordnung als abendfüllendes Ereignis. Aber die Grundidee verdient es, weiterverfolgt zu werden. „Eutopia“ der Schweizer Gruppe Trickter-p erinnerte an die kommunikativen Elemente, die Theater ja auch einmal ausmachten – und weiter ausmachen könnten: Mehrere Spielgruppen zu drei bis vier Personen mussten auf einem wabenartigen Spielfeld menschliche, tierische und pflanzliche Gemeinschaften sowie Pilzsysteme so anordnen, dass sie in ein Gleichgewicht ge-

rieten. Sonderaufgaben für einzelne Gruppen wie etwa Wachstumsbegrenzung oder die Forcierung von Strukturbildung sorgten für belebende Dysbalancen. So entstanden auch die Konstellationen, die Dramen gewöhnlich ausmachen: handfeste Konflikte von Interessen und Positionen. Kerninszenierung des Festivals war jedoch „Simple Machines“, ein sehr vergnüglicher Ausblick in die – mögliche – Zukunft der Bewegungskünste. Denn Ugo Dehaes, einst Tänzer bei Anne Teresa De Keersmaeker und Meg Stuart, später selbst lange Jahre Choreograf, ersetzt in seiner neuen Produktion verletzungsanfällige und im Unterhalt teure Tänzer:innen (man denke nur an Verpflegung, Unterkunft und Reisekosten) durch Roboter. Dehaes konstruiert sie selbst, setzt sie zusammen aus mit kleinen Motoren angetriebenen Gelenken. Diese Gelenke verbindet er mit­ einander. So entstehen schlangenartige Gebilde, die sich winden, schlängeln, drehen und verbiegen können. Der zum Roboterbastler mutierte Choreograf lässt sie über Steuerprogramme auch regelrechte Gruppenchoreografien ausführen. Sogar Minimaschinen sind dabei, die über gespannte Saiten streichen und digital gesteuert analogen Klang produzieren. Roboter mit Schwanenhals ließ er Etüden aus dem Ballett „Schwanensee“ tanzen. Primaballerinas aus Fleisch und Blut müssen diese Konkurrenz noch nicht fürchten. Die mechanischen Gestalten bewegten sich noch sehr ungelenk. Aber was im Puppentheater grundsätzlich funktioniert – die Zuschreibung von Gemütszuständen und Charaktereigenschaften auf tote Materie – war auch beim Roboterballett „Simple Machines“ erfolgreich. Theater der Dinge warf die Frage nach der Definition und Konstruktion von Spielräumen noch einmal komplett neu auf. Es war ein Festival der Experimente, nicht unbedingt der Lösungen und perfekten Projekte. Die Konsequenz, mit der Spiel und Raum befragt wurden, überzeugte aber. T

Theater der Zeit 12 / 2023

Foto links Krystof Hluze, rechts picture alliance/EPA-EFE | ALEXANDER HEIMANN

„Z Popela / Aus der Asche“ von Erorr Cult, Performance mit Feuer und Pyrotechnik


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 12/ 2023 Jenny Erpenbeck, Schriftstellerin, Berlin Peter Helling, Hörfunkredakteur und Kritiker, Hamburg Julia Kizhukandayil, Projektleiterin, Frankfurt am Main Sabine Leucht, Kritikerin, München Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Theaterkritiker, München Tom Mustroph, Journalist, Berlin Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Nikola Schellmann, Kuratorin, Frankfurt am Main Marie Schleef, Regisseurin, Berlin Matthias Thalheim, Hörfunkregisseur, Berlin Lara Wenzel, Autorin, Leipzig

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 78. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 06.11.2023 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit

Vorschau Arbeitsbuch Vorschau 1/ 2024

tdz.de Der Schweizer Autor Lukas Bärfuß kuratierte das Symposion „Giftiges Erbe“ an den Münchner Kammerspielen

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Januar 2024 Schwerpunkt „Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ lautete der Titel eines Symposions an den Münchner Kammerspielen in Zusammenarbeit mit Lukas Bärfuss und dem Literaturfest München. Dazu der Schwerpunkt in der Januar-Ausgabe: Vom Umgang mit

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Klassikern, ihren Überschreibungen und sonstigen Bearbeitungen sowie eine Diskussion der immer wieder anders umstrittenen ­Kanonbildung für Spielpläne.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Michael Helbing

Das Land gibt für zwölf Theater- und Orchesterbetriebe ab 2025 weit über hundert Millionen Euro aus. Derzeit sind es 83. Im ersten Jahr legt man drei Prozent mehr für Personalkosten drauf, in den Folgejahren jeweils 2,5 Prozent. JN: Thüringen lässt sich seine Theater etwas kosten, die Tarifsteigerungen können so anteilig aufgefangen werden. In Konstanz ging es gerade um eine vorerst abgewendete Zwanzig-Prozent-Kürzung. In Niedersachsen ist immer wieder von Sparmaßnahmen die Rede, in Sachsen schlagen Bühnen jenseits Dresdens wegen Tarifsteigerungen und Kostenexplosionen Alarm –, in Görlitz, Zittau oder AnnabergBuchholz. Thüringen sollte beispielgebend sein für alle anderen Länder.

Der Musikdramaturg Jens Neundorff von Enzberg ist seit 2021 doppelter Intendant: am großen Staatstheater Meiningen und am kleinen Landestheater Eisenach. Die beiden eigenständigen Häuser kooperieren unterm Dach einer gemeinsamen Kulturstiftung miteinander. Zuvor war der gebürtige Thüringer Dramaturg in Meiningen, danach an der Semperoper Dresden und an der Oper Bonn, schließlich Operndirektor in Braunschweig und seit 2012 Intendant in Regensburg.

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Sie leiten zwei Extreme: In Meiningen das, neben Weimar, etwas kleinere Staatstheater mit vier Sparten, das längst Flächentarif zahlt, in Eisenach ein arg gebeuteltes Landestheater mit eigenem Ballett sowie Kinderund Jugendtheater. JN: Ich führe mit den Technikern in Eisenach ganz andere Gespräche, seitdem sie wissen, dass sie hundert Prozent Tariflohn bekommen werden. Bislang waren es achtzig. Das war mal ein Weg, das Theater überhaupt noch als produzierendes Haus am Leben zu halten. Mehr nicht. Inzwischen ist ein Endpunkt dessen erreicht, mit dieser Art von Bezahlung die Leute noch halten zu können. Momentan kommen wir auch nur durch Entnahmen aus den Rücklagen auf diese achtzig Prozent. Jetzt haben die Stadt Eisenach und der Wartburgkreis die Erhöhung der Zu-

schüsse durchgewunken, ohne Haushaltsvorbehalt. Obendrauf finanzieren sie zwei Stellen im Schauspiel mehr: acht Darsteller anstatt sechs. Leben Thüringens Theater vergleichsweise auf einer Insel der Glückseligen? JN: Die sähe gewiss ganz anders aus. Aber das alles klingt nach einer realistisch planbaren Zukunft. Wie erklären Sie sich das? JN: Ich glaube, dass Minister Hoff einfach einen Plan hatte und geschickte Lösungen fand, so wie die Theaterpauschale im Kommunalen Finanzausgleich, mit der zwanzig Prozent der Ausgaben erstattet werden. Das schuf auf kommunaler Seite Anreize, mitzuziehen. Diese Mittel sind nicht zweckgebunden. Es gibt nur eine juristisch allerdings nicht einklagbare Selbstverpflichtung in den Finanzierungsverträgen, das Geld für die Theater einzusetzen. JN: Da wird es noch Diskussionen geben. Aber erstmal ist der Terminus Theaterpauschale in der Welt. In meinen Gesprächen jedenfalls erfahre ich eine hohe Bereitschaft, sie entsprechend einzusetzen. Die Pauschale bedeutet, Kultur in die Fläche zu bringen, andererseits die Fläche indirekt auch dort zur Finanzierung heranzuziehen, wo es keine Theaterträger gibt. Das ist doch schon mal gut. Ihr Rudolstädter Kollege Steffen Mensching hat als einziger unter Thüringens Intendanten öffentlich eine Strukturreform angemahnt: nicht heute, nicht morgen, aber doch bald, weil die Einwohnerzahlen weiter sinken und also die Steuereinnahmen (TdZ 2/2023). JN: Jetzt gibt es erst einmal insgesamt eine neue Finanzierungsbasis und zumindest insofern veränderte Strukturen. Innerhalb des Zeitraums bis 2032 wird man schauen müssen, wie sich die deutsche Theaterlandschaft generell entwickelt und ob sie in diesen Strukturen noch finanzierbar sein wird. T

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Foto Christina Iberl

Was macht das Theater, Jens Neundorff?

Sie sind gerade voll des Lobes für die p ­ olitisch Verantwortlichen in Thüringen. Weshalb? JN: Wir sind hier extrem weit vorn, was die Absicherung unserer Theaterlandschaft betrifft. Sie reicht jetzt insgesamt bis Ende 2032. Das muss man erstmal so hinkriegen, mit 2,1 Millionen Einwohnern. Dass Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff und die Regierung das zusammen mit den kommunalen Trägern hinbekommen haben, muss man ihnen ganz hoch anrechnen. Ich weiß gar nicht, warum das überregional bislang so wenig wahrgenommen und nicht besser kommuniziert wird.


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ibero amerikanisches theaterfestival Zwölf Uraufführungen von renommierten Gruppen und spannenden Neuentdeckungen aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Chile, Kolumbien, Bolivien, Peru, Kuba, Mexiko und Portugal

3.2.—10.2.2024 www.adelante-festival.de


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