Charly HÜBNER (backstage)

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backstage

HUBNER


Er kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig, er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und seinen plebejischen Realitätssinn wie selbstverständlich mit dem Grotesken kurzschließen: Schauspieler Charly Hübner, Gastwirtssohn aus Feldberg-Carwitz, Jahrgang 1972. Er arbeitete an Theatern in Frankfurt am Main, Zürich, Köln, ist seit Jahren engagiert am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. In Film und Fernsehen wurde er zu einem der begehrtesten Darsteller, sein Kommissar Bukow in Polizeiruf 110 schrieb deutsche TV-Geschichte. Er singt, er schreibt, er drehte den Dokumentarfilm Wildes Herz über die Punkgruppe Feine Sahne Fischfilet. Und: Der erste ­ Spielfilm des Regisseurs Hübner steht vor der Premiere. In Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt erzählt er seine mecklenburgische Herkunft, sein schauspielerisches Werden, seine Sicht auf Kunst und Welt. Hübner ist im Spiel ein Ambivalenzen-Artist: König und Kumpel, Prunkperson und Prolet, Banker und Bauer, Bulle und Bastard. Ein Luftgeist mit Schwergewicht. Er versucht nicht leichtfertig den Himmel und kann doch mit seinem Gesicht aus allen Wolken fallen. Er liebt die Breitseite, da ist viel Platz für die Kehrseite. Die Regisseurin ­Karin Beier sagt: „Charly ist wahnsinnig geerdet. Man merkt, dass er keinen verquasten Kopf zwischen sich und dem hat, was er tut.“


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HÜBNER



Hans-Dieter Schütt

HUBNER backstage

Mit Texten von Charly Hübner, Tobias Rempe, Heinz Strunk, Christian Tschirner

Theater der Zeit


You know me, evil eye You know me, prepare to die You know me, the graveyard kiss Devil’s grip, the Iron Fist. LEMMY KILMISTER Die Stille liebt den Möwenschrei. MARTIN WALSER Mr. Welles, sagte ich, sehe ich Sie spielen, schaue ich einem Fleischer bei der Arbeit zu. Er antwortete mit einem Lächeln: Soso … aber das Schlachtvieh bin ich selber. PETER BOGDANOVICH


Die Zeit rast, und das kleine Licht des Lebens juckelt wie ein Vor­ ortzug unaufhaltbar dahin … manches hat sich, wie Käfer und Spinnen, bedingungslos in den Gängen der kleinen Bimmel­ bahn eingenistet … Neben der unbestreitbaren Herrlichkeit der paradiesischen Natur des Mecklenburger Südens und der Erfah­ rung eines ideologischen und seelischen Heimatverlustes durch das Ende der DDR sind es zarte und grobe, kurze und lange ­Anekdoten und vor allem Texte, Musik, Filme und Räusche, die den Lack der Waggonwände und die Luft in den Gängen ge­ stalten und beleben. Da tönen grelle Pionierlieder gegen den einjährigen Leserausch von Dostojewskis Schuld und Sühne, Der Idiot und Die Brüder Karamasow. Charles Bukowski betrach­ tet andächtig grinsend Goyas Maja. Bruce Willis und Sylvester Stallone beschweren sich, weil Samuel Beckett sie in einen Kokon eingesponnen hat, damit er mit Stanley Kubrick in ­ Ruhe Schach spielen kann, während Tschechow und Catherine ­Deneuve amüsiert Champagner schlürfen und den unerbitt­ lichen Humor-Kaskaden von Monty Python lauschen. Der zersplitterte Billardqueue, die hysterische Trophäe des ersten harten Haschischrauschs in einer Amsterdamer Nach­ wendenacht, tanzt zu den Moritaten des großen Tom Waits, und ­Marlon Brando irrt als Don Corleone verloren über die Rampe der Berliner Volksbühne, wo Frank Castorfs Dämonen sich küssen und schlagen, saufen und sich langweilen und zu Gustav Mahler Tango tanzen. CHARLY HÜBNER Motörhead oder warum ich James Last dankbar sein sollte



Buddha ist böse und Baal ein Baby Von Hans-Dieter Schütt

1. Wir entscheiden uns für Leichte Mädchen. Sie sind süß und rund. Zum Anbeißen. So, wie man es an etwas anrüchigen­ Orten erwartet. Im Areal von Fischhallen und Fast Food, das den Blick auf die Elbe versperrt, wirken sie doppelt fein. Hinter uns, ein paar Steintreppen hoch, der Stadtparkmüll, vor uns diese beton- und blechgraue Hafenhandelsstimmung, und da inmit­ ten des Geruchs von Arbeit und Wasser, fast wie ein Teil einer Fabrikhalle oder eines Schiffsdecks, das „Schmidtchen“, eines der besten Cafés von Hamburg. Die Kellnerin: „Sind Sie nicht so ein Schauspieler?“ Charly Hübner: „Hm.“ Die Kellnerin: „Und was machen Sie dann hier?“ Charly Hübner: „Auch Schauspieler müssen ja mal was essen.“ Pause. Sie ist überzeugt und nimmt unsere Bestellung auf: zwei Leichte Mädchen, diese sehr besonderen Himbeertörtchen. 2. Wir reden hier und auch noch in einer anderen „Schmidtchen“Filiale, in Othmarschen. Wir reden, noch zwei Leichte Mädchen bitte, in Hamburg, schlendern Wochen später um den Bokeler See, unweit von Wacken, wo Hübner dreht: Er spielt die Haupt­ rolle in einem Film über das legendäre Musikfestival, er ist in seinem Metal-Element. An einem weiteren Tag treffen wir uns in der Kulturfirma „stück-werke“, auf der Fleetinsel im Herzen Hamburgs. Hübner liest bei Regisseur und Produzent Wolfgang Stockmann Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl als

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Hörbuch ein, Uwe Johnsons großen Roman. Ungekürzt. Wie schon Das dritte Buch über Achim – das RedaktionsNetzwerk Deutschland schrieb: „Äußerste Präzision, dabei aber mit dem Sinn fürs leicht ironische Augenzwinkern, das überall in dem ­Roman mitschwingt, ein akustischer Hochgenuss.“ Hübner verdrängt Raum, nicht um seiner selbst willen, son­ dern wegen der Luft, in die seine Gestalten hineinwachsen mögen. Luft für alles Menschenmögliche, Raum, darin sich Licht fängt und Staub; Raum, in dem nichts erfunden wirkt am Spiel, auch wenn es reine Fantasie ist. Logisch, dass dieser Nordmensch eines Tages zu Johnson finden musste. Zu den Kieseln, die eine Welt körnig machen. Kiesel aus Sprache, auf der man mit festen Beinen steht, aber auf Messers Schneide. Jedes Komma ein Grat; wo man stocken möchte, ist die Melodie ganz nahe. Ich sehe Hübner hinterm Kabinenglas des Studios, er liest, von Wolfgang Stockmann glänzend unmerklich ge­ lenkt. Er geht neugierig über Eis. Niemals drauflos. Das Eis ist dünn, die Haut dieser Sprache noch dünner. Im Hübner-Ton hat die Johnson-Gegend sich gleichsam gefunden. 3. Er kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig, er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und seinen plebejischen Realitätssinn wie selbstverständlich mit dem Grotesken kurzschließen: Charly Hübner, Gastwirtssohn aus Feldberg-Carwitz, Jahrgang 1972. Theater hat er wie manisch gespielt, Frankfurt am Main, Zürich, Köln, Einsatz ist alles; Fernsehen schien ihn dann noch mani­ scher zu machen. So mählich wie unaufhaltsam sind Filme zum Hauptrollengebiet geworden, Theater wurde infolgedessen zum mehr und mehr wählerischen Part dieser künstlerischen Biografie. Seit Jahren am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Er singt (mercy seat – winterreise, eine Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave, mit dem Ensemble Resonanz, Kalle ­Kalima, Carlos Bica und Max Andrzejewski). Er schreibt (Charly Hübner über Motörhead – oder warum ich James Last dankbar

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sein sollte, ein Buch in der Reihe KiWi-Musikbibliothek, erschie­ nen im ­Verlag Kiepenheuer & Witsch). Er drehte den Dokumen­ tarfilm Wildes Herz über die Punkgruppe Feine Sahne Fischfilet. Und wenn dieses Buch erscheint, befindet sich sein erster Spiel­ film Sophia, der Tod und ich, nach dem Roman von Thees Uhl­ mann, auf der Schluss-Strecke zum Kinostart. Ein Unermüdlicher? Eher einer, der sich für die natürliche Ermüd­barkeit lohnendste Gelegenheiten sucht. Wenn über die Magie in einer Schauspielergeneration zu ur­teilen ist – Hübner steht zuvorderst und belächelt den inter­ pretatorischen Fleiß, den er rundum auslöst. Der Ton – im ­Gespräch, im Beruf – ist fest. Absichtslos ernst. Der Ton kennt sich aus. Er weiß mehr, als er sagt. Er stammt nicht vom ­Verwöhnten. Er stellt sich gern unbeholfener, als er ist, weil er sicher sein will, dass er nicht klüger tönt, als er sein kann. Einen „Wuchtschauspieler“ nennt Peter Kümmel in der ZEIT ­diesen Komödianten, „der dem Geist des Hardrock, der genuss­ vollen Selbstverbrennung, sein Künstlerleben verdankt“. Seine Kunst: Höhenflüge im Höllentief. Noch eine Schleife Verloren­ heit, noch eine Prise Verzweiflung, noch einen Humpen Witz. Am liebsten spielt Hübner wohl an jenem Schnittpunkt, wo die Spannung zwischen Eingelöstem und Ersehntem am unerträg­ lichsten ist. Jenseits all der Kulturtechniken, mit der wir ein­ ander abdämpfen und abrichten. 4. In schöner Freiheit ist er begeistert, er geht in jedem unserer Gespräche durch die neuere deutsche Theatergeschichte wie durch eine jederzeit geöffnete Galerie; da hat einer gesehen und gelesen, hat Mengen gelesen und gesehen, hat Bilder vieler Aufführungen mitgenommen, nun hängen sie, dicht an dicht, an den Wänden seiner Erinnerungsräume. Er schaut zur Garde der Barden auf, bestaunt Kollegenschaft von gestern und heute so, wie andere einen Joint rauchen. Schwärmen ist schön: als sei es ihm, dem längst Erfolgreichen, nach wie vor ein Traum, unerreichbar: Schauspieler zu werden.

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Der Schauspieler redet nicht drauflos, aber die Worte gehen nach vorn, haben Lust auf Angespitztes, ich erfahre die Biogra­ fie eines Denkens, wahrscheinlich ist seit seinem ersten eige­ nen Buch der Sinn wacher geworden für die Beziehungen ­zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort. Noch sein Sprudeln weiß, es wird verschriftlicht, und ein Gespräch darf aufreizend springen, umkehren, galoppieren, stehen bleiben, ins Seitwärts weichen, ist keine (Auto-)Biografie, die auf Fest­ schreibung aus ist; wir treffen uns in einer Werkstatt, in der pro­ biert wird; Unterhaltung besteht auf ihrem Recht aufs Vorläu­ fige, aufs Fragment, auf das, was morgen schon korrigiert werden könnte. Wiederkehrend in den Gesprächen der Satz: Ja, darüber sprechen wir oft auch zu Hause. Der Beruf als Lebensstoff. Die Profession als Dauerzustand, der ins Private reicht. So entsteht Quicklebendigkeit in dem, was man tut. Und miteinander aus­ tauscht. Hübner ist verheiratet mit Lina Beckmann. Eine große Schauspielerin, die auf sehr eigene Weise nach Bitterstoffen im Fleisch von Komödien sucht, nach dem Witz in allem, was zum Weinen ist. Bleib bei mir, sagte sie ganz leise und stark und einfach in die Kamera einer TV-Talkshow, urplötzlich ge­ fragt nach der größten Bitte an ihren Mann. 5. Auf Anhieb vom Aufklärer Winckelmann auf Hübner hinzuden­ ken, scheint unangemessen. Und doch … Als ich vor Jahren für ein Buch Gespräche mit dem Schauspieler Klaus Löwitsch führ­ te, schrieb mir der Filmregisseur Egon Günther, und es ist einer der schönsten Texte über Schauspieler: „… wie Winckelmann glaube ich, dass der Erschütterung, die von geglückten griechi­ schen Statuen ausgeht und empfunden wird, jene ,edle Einfalt und stille Größe‘, aller guten Darstellung zugrunde liegt, und dass es den antiken Bildhauern um diesen einzigen, gewisser­ maßen zusammenfassenden Augenblick innerhalb von Bewe­ gung ging – in dem alles in Balance, deshalb gut, schön und wahr ist. Vielleicht ist Spiel nichts anderes als die Suche nach

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Balance, Suche nach diesem einzigen Moment irrelevanter ­Länge, und Suche ist die Hauptsache, Verfehlung lässlich und sie ist also die wahre Eigenart des Lebens, das seine schäbigen Störungen schickt.“ Darum geht es: um Selbsterkenntnis, die der Körper aus­ spricht, darum also, da zu sein in jenem Maß, das einem ge­ bührt. Inmitten dieser überall grassierenden ordinären Über­ prüfbarkeit der Dinge auf ihre Verwertbarkeit. Auf betörende Weise löst dieser Spieler Hübner sein Befinden in Bewegung auf, in sehr gemessen wirkende Bewegungen des ganz ge­ wöhnlichen Stehens und Gehens, aber plötzlich oder ganz selbstredend sind es Bewegungen des Herzens. Das Herz kann stehen, und du denkst nicht an den Tod, es ist Leben. Wo andere ihre Lebensgefühle performen, da latscht und lungert, da leibt und seelt er Existenz herbei. Er ist gern gärtne­ risch fürs Unverblümte. Sein Körper ist gemacht fürs stämmig Offensichtliche, aber wir erahnen das Verborgene. Einige sei­ ner Gestalten zündeln am Klischee: sogenannte einfache Men­ schen. Plötzlich die Erleuchtung: Einfache Menschen erzählen die kompliziertesten Verhältnisse. Etwa der Karl Schmidt im Film Magical Mystery von Arne Feldhusen, nach Sven Regener. Berührendes Porträt eines Einfältigen. Ein zarter Stier. Lang­ haarige Kraft eines Schwachen. Dessen Eingliederung in die Gesellschaft im Klartext bedeutet, wie Hübner selber sagt, „ihm eine Diele in die Seele einziehen, da soll er gefälligst drauf stehen – wo er doch endlich tänzeln möchte“. Er ist ein Schauspieler, der keinem Autor und keinem Regis­ seur eine Lehre erlaubt, die aus seinen Figuren zu ziehen wäre. Ein Ambivalenzen-Artist: König und Kumpel, Prunkperson und Prolet, Banker und Bauer, Bulle und Bastard. Ein Luftgeist mit Schwergewicht. Er versucht nicht leichtfertig den Himmel und kann doch mit seinem Gesicht aus allen Wolken fallen. Er liebt die Breitseite, da ist viel Platz für die Kehrseite. Er kann auch sie spielen, die gallerten, galligen, schwammigen, abgefederten Typen, die eisig ihren großen, erfolgreichen Schnitt machen; das freilich können viele, er aber vermag das Entscheidende zu

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zeigen: dass der große, erfolgreiche Schnitt ein Schnitt durch die Seelenhauptschlagader ist. Die Regisseurin Karin Beier sagt: „Charly ist wahnsinnig geerdet, das merkt man sofort. Man merkt, dass er keinen verquasten Kopf zwischen sich und dem hat, was er tut.“ 6. Sein Kommissar Alexander Bukow im Polizeiruf 110 schrieb ­Fernsehgeschichte. Weil man diesen liebenswerten Undurch­ sichtigen, diesen Hart- wie Weichgesottenen sah – und weiter­ sah. Denn da schlug sich, im Anhauch, aus Rostock ein Bogen ins Ruchlose einer ganz anderen Welt. Einer Welt von Filmen viel­ leicht französischen Zuschnitts, alter Krimischule, in deren ­Geschichten jedes Herz ein blutendes wird, sobald man ihm zu nahekommt. Gewiss, nicht so unerreichbar genial wie das Muster von Melville oder Malle: Eine Zigarette drückt sich g ­ lühend in die Haut der Nacht, die schreit vor Schmerz ein Chanson, und von den Autoscheiben rinnt weiter und wieder das Regenwasser. Aber dennoch war der klassische Gangsterfilm gleichsam zu einem Abstecher nach Ostdeutschland aufgebrochen. Denn auch das biedere Rostock hat Vorhänge, mit denen sich die nackte Wahrheit vor den Zugriffen jener ordnenden, langweilig domi­ nanten Ethik schützt, die mit ihren Sirenen Tatorte umheult. Während der Mörder geduldig darauf wartet, ein Mythos zu werden. Er ist es immer schon. Die Geschichten um Hübners Kommissar erzählten, wie der Ehrenkodex zwischen Polizisten und Gangstern sehr verschwommene Austausch­geschäfte betreibt. 7. Charly Hübner in bislang zwei Inszenierungen von Frank Castorf, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: wie Buddha und Baal; Buddha ist böse und Baal ein Baby. Manchmal herrlich maßlos im Verrat am Feinen. Und manchmal bietet der Darsteller stur eine irritierende Eindeutigkeit an, wie frohlockend festge­ schraubt – aber kein Felsbrocken ändert seinen Standpunkt, nur weil wir Lust auf eine andere Aussicht haben.

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Der haarige Affe von Eugene O’Neill und Der Geheimagent von Joseph Conrad. Es ist, als säße das Leben am Tisch und fräße mit Appetit seine eigenen Herzstücke. Hübner erzählt Amokläufe des Begehrens, spielt abgekämpfte Selbstausgräber, die das Grauen in sich entdecken. Spielen heißt, man treibt einander unzählige Philosophie-Nadeln ins Fleisch, bis das Fleisch auf­ hört, sich gegen die Wunden zu wehren. Des Schauspielers ­Tapsigkeit ist wie jener seidene Faden, daran ein Leben hängt, ein Faden, der so gern der Anfang einer Zündschnur wäre. Seine räudigsten Rollen haben Fühlung zu den Rissen der Welt. Die Finsternis, das ist ein Leben, wo es zum Schwersten wird, sich in die Stimmgabel des Seins einzuschwingen und seinen eigenen Ton zu erwischen. Solchem Ton ist Charly Hübner auf der Spur.

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I. „Durch Umständlichkeit zum Wesen der Dinge“

HANS-DIETER SCHÜTT: Charly Hübner, wozu spielen? CHARLY HÜBNER: Schön. Schön was? Dass die einfachste Frage gleich zu Beginn kommt. Is’ wie die Frage: Was ist Kunst? Erfolgreich vom Weg abzukommen. Hm. Klingt gut, ist wahrscheinlich aber falsch. Wie heißt das geflügelte Wort? Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten kommen, werden ­Fragen warten. Wozu spielen … Vielleicht so: Im Spiel kann man das Leben an­ genehm vereinfachen. Stimmt das denn? Man kann auf der Bühne vieles von dem weglassen, was einen sonst ziemlich plagt. Es tut beim Spielen nicht mehr wirklich weh, was ansonsten schmerzt.

Spiel? Weglassen, was plagt

Das Leben. Ich würde präziser sagen: die landläufige Realität. Spielend lässt man das Öde weg, dafür bringt man anderes auf den Punkt.

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Was? Wesentliches, im besten Falle. Schillernd, wenn möglich. Was ja auch so furchtbar peinigt, ist all das, was auf digitaler ­Ebene tagtäglich über uns kommt. Ja. Aber das kommt nicht, das wird geschüttet. Du steigst in die S-Bahn und guckst Fernsehen, das ist eine ständig laufende Schleife dröger, an dir herumfressender Bilder, immer, überall. Du wirst, wenn du nicht aufpasst, fortwährend zerstreut. Das ist in grässlicher Art auch eine Art Klimawandel, in seiner Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen.

Die Lüge übt Herrschaft aus

Fake News. Die sind inzwischen eine eigene Welt, die uns umzingelt, uns bedrängt und uns die Luft abdrückt. Die Lüge übt eine ganz eigene Herrschaft aus. Das macht unsicher und ratlos und misstrauisch. Es gibt ein böses Spiel mit der Welt, das ist leider kein Spiel – aber es gibt eben dieses Spiel in der Welt, und das hat was mit Freiheit zu tun, mit schöner Verantwortungslosig­ keit. Wie sie von Kindern ausgeht. Wir stehen am Spielfeld­ rand und geben ungefragt Kommentare ab. Wir nehmen uns heraus, ständig zu rufen: „He, Leute, das stimmt doch alles nicht! Hier stimmt doch überhaupt nichts!“ Und keiner kann uns was. Gib dem Menschen eine Maske, und er sagt die Wahrheit. Im Spiel darfst du lügen, ohne dass es gleich eine Schelle gibt oder ein Krieg ausgelöst wird. Mit dem Problem schlage ich mich rum: dem Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit, von Realität und Fantasie. Ich bin interessiert – und verwirrt. Das Künstlerthema. Na ja (lacht), vielleicht ist das bei mir auch nur die soziale Mit­ gift, ich komme aus der Gastronomie und vom flachen Lande, von den einsamen Landstrichen, also auch vom Alkohol – aus einer Welt, da gehören Betäubungsstrategien zum Standard.

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Wo nicht? Anders kommst du nicht durch die Erträglichkeit. Wozu spielen … Weil einem die echte Welt also zu viel ist. Oder zu wenig. Oft ist sie gar nüscht. Im Spiel fallen die Moral­ fesseln. Ich bin kein Mörder, darf mir aber den Mörder auf den Leib holen; ich bin auf der Bühne jemand, auch wenn ich nur so tu, als wär ich dieser Jemand. „Spielkinder“ nannte Jürgen Holtz die Schauspieler. Glücksmomente­ sammler. Davongekommene. Tänzer auf dem Hochseil zwischen Spaß und Schrecken.

„Spielkinder“ (Jürgen Holtz)

Es ist eine leidige Erfahrung: Immer sollst du der Welt entsprechen, immer sollst du etwas Erlerntes für das Eigene halten. ­Andauernd und möglichst erfolgreich soll man so tun, als wär man der und der. Is’ man nicht. Eindeutig definierbare Menschen sind langweilig. Gibt es sie denn? Ist man die und der? Ist man nicht eher ein Wechselbalg? Es ist doch erstaunlich, wie viele Meinungen in einem einzigen Menschen Platz haben. Sobald ich eine Mei­ nung heftig vertrete, mobilisiere ich in mir sofort auch das Gegenteil.

Man ist immer Wechselbalg

Öffentliche Auskunft tendiert dazu, allgemein zu bleiben. Technisch schwierig für mich! Zu viele Details bedrängen! Gegen das Allgemeine ist Kunst ein Gegenmittel. Ist man verantwortlich für das, was man spielt, was man schreibt? Es ist nicht wichtig, was ich spiele oder schreibe. Es ist nicht wichtig, was ich will. Entscheidend ist die Wirkung. Die können Sie nicht beeinflussen. Man nennt das Aura.

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Das sagen Sie, von außen. Ich sag, ’ne Nummer kleiner: Ich kann nüscht dafür (lacht).

Suche nach dem, was unerledigt ist

Aus der mechanischen Physik ist die schöne Auskunft bekannt, etwas habe Spiel. Das bedeutet: Bewegung ist möglich. Was dich bewegt, damit kannst du spielen. Was aber erledigt ist, das bringt keine Bewegung mehr zustande, da gibt’s keine Bewegtheit mehr in dir. Also musst du nach dem suchen, was noch offen, was noch unerledigt ist. Her mit allem, was die ­Dinge bunter, grauer, dunkler, heller macht. Auch dazu sagen manche: Lüge. Nö, es ist Ermöglichung. Gehen Sie auf die Bühne, weil Sie ein Ziel vor Augen sehen? Eher gehe ich da hoch, weil ich keines vor Augen habe. Aber doch eins sehen will. Das treibt an. Sie spielen nicht, weil Sie Einsichten haben, sondern weil Sie uneinsichtig sind? Uneinsichtig … Kann man so sagen. Unerzogen. Darüber hat schon Feeling B in der DDR gesungen: „Wir wollen immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne.“ Ein Reiseführer durch alle Zeiten ist das, auch durchs Heute. Bei der Erziehung lernt man, sich auf was anderes zu konzentrieren als auf sich selbst. Am Ende kommt hauptsächlich raus, dass man von dir sagen kann, du seist „gut erzogen“. Aber ist denn dies das Ding, um das es geht im Leben?

Reiseführer Feeling B

Die Lüge soll lächeln, der Schein soll glänzen, die Wunden tragen schicke Pflaster. Und das Elend singt die lustigsten Lieder. Auch fragwürdig – mindestens. Allerdings: Man kann die Welt letztlich nicht überwinden. Erstens: Natürlich nicht! Zweitens: Doch! Mit Fantasie.

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So lernt man aber auch den Verlust kennen. Unser treuester Begleiter. Was schützt davor? Nur das Spiel mit diesem ganzen Zeug, gegen dieses ganze Zeug. Vladimir Nabokov schreibt vom Jungen, der aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt. Der Tag dieses Berichts, so der Schriftsteller, sei aber nicht jener Tag, an dem die Literatur in die Welt kam. Sie kam in die Welt, als ein Junge aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt – und es war gelogen. Sich auszudrücken, das hat die Menschheit mit Kreidebrocken gelernt, die nicht aus den Läden von MacPaper stammen. ­Spielen heißt, aus dem Sichtbaren in etwas Unsichtbares ge­ langen zu wollen. Ist das nicht ein schönes Schlusswort für unser Gespräch? Tschüs, Herr Schütt. Netter Versuch. Vergessen Sie’s. Beschreiben Sie Ihr anfängliches Berufsgemüt, etwa am Theater am Turm in Frankfurt am Main, Ende der neunziger Jahre. Arbeit bei Tom Kühnel und Robert Schuster. Das war ein großes, offenes Heranreden ans mögliche Wesen einer Aufführung. Ich redete als Schauspieler bei den Proben mit, aber für eine vor­ dere Stimme hatte ich zunächst viel zu viel Respekt – vor dem, was ich vom Theater wusste und kannte. Und ich kannte und wusste ’ne Menge, das kann ich schon so sagen.

Jetzt schon das Schlusswort?

Tom Kühnel, Robert Schuster

Ein Widerspruch. Stimmt. Gelesen hab ich wie blöde. Aber dieses Wissen, diese Kenntnis machten mich nicht unbedingt sicherer, im Gegenteil, der Respekt hemmte mich. Und was war’s, das Sie sicher machte? Am Anfang nicht viel. Eigentlich null. Ich spürte, auf der Bühne

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Traum von junger Truppe

Das Theater am Turm

funktioniert bei mir ein gewisser Bauernwitz, und über eine Art Grundmasse verfügte ich auch. Aber ein Vorkommnis war ich ganz und gar nicht. Natürlich hatte ich Brecht und Stanislawski gelesen. Schweres Gepäck, das würde mir Kraft geben, dachte ich, es war aber Gepäck, das lastete auch, es war das Gepäck, das ich vergessen musste beim Spiel. Kannst auf den Wiesen nicht Heu wenden mit dem Buch in der Hand. Und: Zu meinem Empfinden gehörte ein tiefer Zweifel, ob das alles überhaupt Sinn macht und ich darin glücklich werde. Im Kopf umzingelt von den Größen des deutschen Theaters. Herr Peymann, Herr Langhoff, auch diese Typen um Castorf, und dann gab es noch Flimm und Baumbauer. Hamburg, Köln, München – Galaxien sonst wo. Aber an der Schauspielschule war es anregend kon­ kret und ermutigend geworden: Ostermeier, von Treskow, der verrückte Kühnel, der analytische Schuster. Ehrgeizige, tolle Jungs. Wär doch schön, sich mit denen zusammenzutun und gemeinsam was auszuhecken. Viel besser, als auf die Anfrage aus der Intendanz des Deutschen Theaters zu warten. Nicht, dass ich die Sehnsucht nach dorthin leugnete, aber woher sollte ich den Mumm nehmen, darauf zu hoffen. Das Theater am Turm in Frankfurt wurde die große weite Spielwiese. Wir waren dort eine richtig gute Truppe. Tom Kühnel und Robert Schuster, die anfangs noch als Regieduo inszenierten, Bernd Stegemann als Dramaturg, im Ensemble waren Christian Tschirner, Jenny Schily, Felix Goeser, Bettina Schneider, Eckhard Winkhaus, dazu Christian Weise und Suse Wächter als Puppen­ spieler, Jan Pappelbaum baute die Bühnen. Zuvor das Schauspiel Frankfurt. Ja, dort hatte Intendant Peter Eschberg den Mut, eine ganze Truppe zu engagieren, ein Riesenvertrauensvorschuss. Aber es war uns bewusst, dass diese gesamte Konstellation nicht lange halten würde, die Energien drängten naturgemäß auf den Markt, der Markt machte jedem und jeder seine verlockenden Angebote …

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Das Theaterleben als Konkurrenzbetrieb. Vom Sport her kannte ich den Wettkampfgedanken, du musst mithalten, du musst durchhalten, auch dagegenhalten. Musst stark sein. Musst gucken, was läuft. Andererseits war mein Nar­ zissmus sehr begrenzt. Ja, klar, ich hatte ein Empfinden dafür, wer ich in etwa bin, was mir gefällt, was mir guttut, aber nie war ich auch nur in Ansätzen überzeugt, das Maß der Dinge zu sein. Welcher Dinge auch immer. Am Anfang meiner Theater­ zeit dachte ich, mach dein Ding, kümmer dich nicht ums Drum­ rum, aber ich weiß noch, wir probten Tschechow, und mich drängte es zu fragen, rund um die Figur, ich warf irgendwie ­Steine ins Wasser und die Kreise interessierten mich, die sich immer weiter zogen, ich spürte meine Aufwändigkeit, ich ­merkte, wie umständlich ich auf andere wirken musste. Mich beschäftigte das: Warum hatte Tschechow Bock, genau so zu schreiben, wie er schrieb? Warum sind die Sätze so und so ge­ baut? Warum nicht so wie bei Dostojewski, der ein Serienautor war. Jede Zeile brachte Kopeken. Wieso diese Hysterie bei Schiller, diese Atemlosigkeit bei Kleist? Ja, ich bin durch Umständlichkeit zu den Dingen gekommen, somit auch zu etwas größerer Sicherheit, mit der Zeit. Zugleich kommst du ja durch Umständlichkeit leicht ins Hinterher­ traben, du bist der Stolperer, wo alle schon rennen. Seltsamer­ weise wirkst du begriffsstutzig, wo du doch gerade was begrei­ fen willst. Da half Sten Nadolnys Buch über die Entdeckung der Langsamkeit sehr.

Ich stolperte, wo alle schon rannten

Kommt einer zu sich, rütteln ihn die anderen: Komm endlich zu dir! Lina sagt … Ihre Frau Lina Beckmann. Lina sagt: Mach es nicht so kompliziert! Stimmt wahrscheinlich, aber ich kann’s nicht anders. Es muss so sein, wie es ist – um­ ständlich eben. Es gibt doch ständig Fragen, wenn du in den Tag

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hineinstiefelst. Welche Stimme hast du am heutigen Probenoder Vorstellungstag, wie sehr quietschen die Gelenke. Es ist wie im Sport, die Muskeln müssen warm sein, wenn du das Parkett oder den Rasen oder die Laufstrecke betrittst. Wie ­ kriegst du das heute alles hin? Worum es geht, sind diese ersten Peitschenhiebe auf den Brummkreisel. Wenn der dann in Schwung ist, dreht er sich von allein. Aber wie kommt er in Schwung? Von unterwegs kam ich vor kurzem zu einer Geheimagent-Vorstellung am Schauspielhaus. Auf der Autobahn nach Hamburg plötzlich ein Unfallstau. Hitze. In mir stieg die Ner­ vosität, dann die Müdigkeit hoch. Die nahm ich mit ins Schau­ spielhaus. Dann war auch noch der Souffleur krank, Corona. An solchen Vorstellungstagen – und das zudem bei einem ­Castorf-Marathon – kannst du dir nur aufmunternd aufs Gemüt klopfen und sagen: Tja, fang irgendwo und irgendwie an. Ich hörte an diesem Abend die Texte wie neu, ich hörte mich wie einen Fremden, aber das Erstaunliche war: Alles ergab doch einen Sound. Sound. Wichtiges Wort? Es geht um Abläufe, klar, aber entscheidend ist der Sound. Der erst macht dich. Der erst macht die Truppe. Der erst macht die Aufführung.

Boxen war mein Goethe

Als Peter Handke seinen Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht schrieb, ging er jeden Morgen, bevor er sich vors weiße Papier setzte, für eine Stunde in den Wald bei Paris, Goethe lesen oder was Griechisches. Ich hab’s nur ’ne Nummer profaner, zum Beispiel beim Polizeiruf ließ ich meinen Bukow vorm jeweiligen Drehtag boxen. Das ­Boxen war mein Goethe. Dieses Sportmotiv … Ein muffliger Typ, dieser Bukow, nicht sehr sozial, das mit dem Boxen treibt die Figur. Ich frage mich bei jeder Figur, welcher Sport zu ihr passt.

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Joseph Conrads Geheimagent? Der macht gar nichts, der sitzt und grübelt. Jetzt eine so grobe wie halbseidene These: Leute Ihrer Statur, Kurt Böwe, Thomas Thieme, Peter Kurth, Ulrich Wildgruber, Josef ­Bierbichler, bleiben spielend gern, wie sie sind. Gewicht, Ver­drän­ gungsmasse genügt, auf den ersten Blick. Der Verwandlung bedarf es nicht. Na ja, weiß nicht … Verwandlung ist doch der größte Spaß!

Bukow in Polizeiruf 110: Kommissar sucht Kraft­ probe

Ich sag doch: grob, halbseiden. Wolfgang Dehler fällt mir noch ein, Dieter Pfaff, Josef Ostendorf, Dietrich Körner, aus fernen ­Leipziger Tagen der legendäre Hans-Joachim Hegewald … Der sein, der man ist … Ich sehe da die Gefahr, dass du irgend­ wann nur noch bei dir landest – also bei dem, was als Du gilt,

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also der eindeutig Definierbare – und das war’s dann? Es ist schwierig für mich, auf solche Art wiedererkennbar sein zu ­sollen oder zu müssen, also routiniert die Sprüche zu liefern, wie man es erwartet, wie ich sie nun mal drauf hab – das ist schwierig bis niederschmetternd. Ich strecke Fühler aus. Nach vielen Seiten. Das passiert quasi von allein.

Über zehn Jahre Kommissar!

Da verliert man leicht die Balance und die Übersicht. Unsinn. Dagegen wehrt sich ein innerer Ordnungsdrang. Ord­ nung gewissermaßen als Notwehr. Also: Das Grundprinzip der Verwandlung hat mich schon sehr interessiert. Immer schon. Verwandlung, nicht Verstellung, das muss man ja auch erst mal begreifen. Das Wichtigste mit den Jahren war die Erfahrung: Jede Arbeit sagt dir, wie sie’s will. Hermann Beyer sagte immer: Wir treffen uns in der Mitte, die Figur und ich. Beim Film merkte ich: Du musst nicht in die Kamera reinspielen, die holt sich, was sie braucht – aber auf der Bühne musst du schon was mehr ­reingeben in den Saal. Film ist also noch mal was ganz anderes. Besonders extrem war das natürlich beim Bukow, man lebt ja gewissermaßen zusammen, über so einen langen Zeitraum. Über zehn Jahre Kommissar! Dann Schluss! Ein Mann Mitte vierzig, kein Krawattenträger, natürlich nicht, kann schon nicht mehr richtig rennen, wenn er einen Flüchtigen verfolgt. Ich wollte nicht, dass er ein alternder Kommissar wird, wie so viele andere, ich wusste nicht mehr, wohin dieser Typ sich noch entwickeln sollte. Soll er doch nach Hause gehen oder nach Sibirien fahren oder …

Der Clown bleibt „Carsti“

Herr Hübner, jeder Schauspieler ist ein Clown. Nicht nur wir – alle. Aber was auch immer ich spiele, ich bleibe der „Carsti“. Das ist Ihr Vorname: Carsten. Ja.

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Wie wurde daraus Charly? Das ist der krasse Gegensatz von Elternhaus und Schule. Mud­ dern sagte „Carsti“, Mitschüler „Charly“. Charly, wie immer es gemeint sein mochte, nahm ich als Adel: Charlie Brown, Charlie Chaplin. Wenn man in dieser Linie einmal Charly ist und also Hochstapelei betreibt, will man nie wieder zurück zu Carsten. Und später sagten auch die Eltern Charly. Ein Wort fiel schon: Präsenz! O Gott: Ausdruck, Präsenz! Das klingt, als wenn du gegen ­Marmor klickst. An so was darf ich gar nicht denken, wenn ich morgens in den Spiegel gucke (lacht).

... als wenn du gegen Marmor klickst

Jürgen Holtz schrieb, er wolle als Schauspieler auch mal „das Schwein sein, das in die Steckdose guckt und sagt: ‚Komm raus, du feige Sau!‘“ Herrlich! Aber manchmal sagt der Regisseur nur: „Guck die Wand an, mehr ist nicht nötig.“ So war das bei dem Haus­ meister in der Fernsehserie Hausen. Alles reduziert bis zum Gehtnichtmehr. Wände anstarren, die spielen die Hauptrolle, nicht du. Der du doch als Hausmeister ein Typ bist, der das Rechthabenmüssen und Besserwissen geradezu erfunden hat. Aber irgendein unbekanntes Außen, das dich bedrängt, ist stärker. Spiel den Druck, der auf dir lastet! Aber tu nichts! Da stehste und glotzt (lacht). Hausen war eine Horrorserie bei Sky, neben Ihnen spielen Lilith Stangenberg, Tristan Göbel und Alexander Scheer. Hausmeister Jaschek Grundmann überwacht das Haus mit ­Kameras. Die Heizungsrohre sind alle verstopft, und überall drückt eine geheimnisvolle Flüssigkeit durch die Wände. Klebri­ ger Schleim. Das Gebäude, in dem wir drehten, war einsturz­ gefährdet, es lag im Norden Berlins, in Buch. Abgesicherte Teile des Hauses, es war das ehemalige Regierungskrankenhaus der DDR, hatte man extra für uns abgesperrt. Es gab kein Internet da, das steigerte ein Gefühl von Isolation und Untergang. Die

Der Horror bei „Hausen“

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Hausmeister in Hausen: TV-Gewölbe des Grauens Manchmal holst du die Lucie raus

Dreharbeiten brachten die Dealer der Gegend gegen uns auf, wir störten ihre Kreise an diesem Unort. Diesem Jaschek Grund­ mann drückt sich ein Außen auf, das er nicht beherrscht. Selt­ sam, wie du dieses Empfinden mitnimmst. Gruselig. Schön. Also: Manchmal gar nichts machen beim Spiel, aber manchmal holst du eben die Lucie raus wie John Ford im Western. Das ist dann die alte Bergsteiger-Regel beim Abstieg: Spring ins Geröll – oder meide es! In Neustrelitz, in meiner Anfängerzeit, wohnte ich eine Weile bei einem sehr erfahrenen Schauspielerehepaar, Dieter Unruh und Bettina Mahr. Sie waren genau das, was man leichtfertig Provinzgrößen nennt, ohne zu erfassen, dass Provinz das Wesen der Welt ist. Ja, das kleine Stückchen Erde, auf dem ich stehe und stolpere, ist mein Schlüssel zum Kosmos. Einen anderen

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hab ich nicht. Spätabends, nach Vorstellungen, fuhren Unruh und ich mit dem Trabant nach Haus, das lag abseits, in einer Straßenkurve am Wald, wir wechselten uns am Steuer ab, einer hatte in der Kantine getrunken, einer fuhr. Ich hatte in irgend­ einer Inszenierung eine kleine Rolle, ich gab ordentlich Gas auf der Bühne, ich dampfte und drückte, und nie habe ich den Satz vergessen, den Dieter Unruh auf einer unserer Heimfahrten sagte, karg, knapp, aber deutlich: „Du, schrei immer erst, wenn’s Grund zum Schreien gibt.“ Das saß, das sitzt immer noch. Bilde eine gewisse Tiefe aus, erst daraus erwächst dem Eisberg die Spitze. Unser Beruf ist: Ausdruck. Da ist aber immer etwas drunter, und genau das gibt die Befehle, genau das ist zuständig für das Gewicht, mit dem du gehst und stehst.

Schrei nur, wenn es Grund gibt

Eben fiel der Begriff Provinz. Vielleicht versteht man es nur dort, wo alles niedrig erscheint, die Träume hoch zu hängen. Provinz kann das Ende sein, aber es ist doch das wahre Labor fürs Leben? Ich habe das in Neustrelitz erlebt, später auch am TAT in Frank­ furt: Es kommt darauf an, dass in einem Theater ein Wille wirkt, in solchen Momenten erwacht ein Haus. Und dann passiert eben etwas, das man „Ensemble“ nennt.

Plötzlich passiert’s: ein Ensemble

Charly Hübner, wie entsteht eine Gestalt? Im besten Sinne hat es was vom Flohmarkt. Die Proben, das ist ein wunderschöner Sonntag mit vielen lockenden Buden, am Ende ist so vieles zusammengekommen und gesammelt wor­ den, wir gehen umher und suchen aus, na, was soll das nun für eine Wohnung werden, die wir uns einrichten wollen. Und plötzlich sind es nur noch zehn Tage bis zur Premiere, dann wer­ den gemeinsam schnelle Entscheidungen getroffen. Erst hast du wochenlang draufgepackt bei den Proben, immer mehr, dann entdeckst du, was du alles weglassen kannst. Erst Prunk, dann Askese. So ist es bei Karin Henkel, bei Karin Beier.

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Und Frank Castorf? Ist für mich Jazz. Du klinkst dich in etwas ein, mit einem eigenen Ton, den du erst mal finden, dann behaupten, auch mal wieder zurücknehmen musst. Sei wach für deinen Part. Bis in die Füße hinein geht das: Wann öffnet sich für dich der Spalt in der Tür, zack, rein! Behaupte dich. Frank lässt dich ziemlich allein, er vertraut dir auf eine fast gefährliche Weise (lacht) – weil er weiß, du vertraust auch ihm. Vieles bleibt ungesagt. Das läuft einfach, wie die legendären unterirdischen Flüsse, das hat seine ganz eigene Kartografie. Ziemlich lange undurchschaubar.

Frank Castorf: Wildnis, nicht Zoo

Die spürbare Steuerung durch Regie kommt in Schüben? Frank fasst in Abständen seine Wahrnehmungen zusammen: Ja, ganz gut, nee, langweilig; doch, doch, kann man so machen … Was bei ihm immer heißt: Man könnte es auch ganz anders ­machen, aber so, wie du’s machst, kann man’s eben auch machen, na, dann mach mal. Es klingt oft wie ein müdes: Na, wirst schon sehen, was du davon hast – es ist gewiefte Kontrolle und doch immer auch leidenschaftliches Dabeisein, das vor allem, du darfst dich sicher fühlen. Wenn du dir selber was zutraust. Wild­ nis, nicht Zoo. Sicherheit in der Kunst … Danach hatten Sie mich vorhin schon gefragt. Na ja, eigentlich ist das Blödsinn: Sicherheit in der Kunst. Du darfst dich nur in einem sicher fühlen – im Wagnis. Klingt jetzt auch wie ein Kli­ schee, ich weiß. Als sei das Wagnis die pure Freude. Ist es nicht? Nö. Beim Yank im Haarigen Affen las ich Monate vor den Proben das Stück, und ich habe von Anfang an überlegt, richtig unter Qualen und Versagensängsten, Mann, wie komme ich bei die­ sem Kohleschipper auf See in so eine Einfalt hinein, ein Kerl ist das, der nicht nur ungebildet ist, sondern auch unfähig zu Bil­ dung. So ein Trumm, so ein Gorilla, der einem Gorilla aber na­ türlich nicht wirklich die Kraft reichen kann, so eine schwere,

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mächtige Langsamkeit hat der, er ist eine von den sehr speziel­ len Figuren, sozial ungeformt. Getto, unterste Ebene. Der aber lieber stirbt, als sich weiter verachten zu lassen. Der kennt keine Zwischenstufen. Die Art kenn ich von Rostocker Hooligans. Wenn du denen als Schauspieler was von Zwischenstufen flüs­ terst, dann fragen die barsch und bullig zurück: Junge, was für Zwischenstufen? Aber wie macht man das so, dass es dich als Zuschauer reinzieht … Sie haben beim Haarigen Affen gesagt: „Ich durfte Rimbaud sprechen.“ Rimbaud schüttelte mich, in die Hybris, in die Wut, ins Schäu­ mende hinein. Ich wollte Mäßigung, fand aber Beben.

Szene Der haarige Affe, Regie: Frank Castorf, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 2018

Mäßigung? Beben!

Etwas zu dürfen: Demut, Dank? Ja. Du gehst ins Dunkle des Kampfes, des Lebens hinein. Damit spielen, als wär’s. So wie wir’s vorhin besprochen haben.

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Hinein „in den Dreck der Ungleichheit“, wie Volker Braun über Rimbaud schreibt. Der haarige Affe war Ihre erste Arbeit mit ­Castorf. Frank zieht durch, was allem den Boden der Ordnung wegzieht. An der Übersicht ist das Beste: sie zu verlieren. Nicht so spielen, als ergäbe sich eins aus dem anderen. Nichts in ein Nacheinander bringen, was auch übereinander geht? Man kann spielend jede Haltung einnehmen, aber man sollte davon ausgehen, dass man sich von ihr auch wieder verabschie­ den kann. Schon nach Sekunden. Immer kann der Mensch anders handeln, als er gerade handelt? Wäre das nicht so, wie sollte man dann an widerspruchsvolle Entwicklung, an Überraschung von Lebensprozessen glauben? Mut und Feigheit, Sehkraft und Blindheit, Güte und Gewalt­ tätigkeit, Liebe und Hass, Kraft und Ohnmacht – das bildet Klumpen, die von Situation zu Situation in anderer Rezeptur ­geknetet sein können. Als Schauspieler summiere ich Möglich­ keiten, wie man sich in ausgedachten Lagen verhält. Oft ist es bei Castorf so: Frag nicht nach Handlung; halt nicht dagegen, auch wenn’s nervt und dich früh ermüdet; halt einfach aus. Die Monologe ziehen lange Bahnen durch den Dämmer. Gib nicht auf. Gib dich hin. Immer erfahren wir erst durch Entzug, was fehlt. Das meint? Versunkene Welten, versoffenes Geld. Vertane Liebe sowieso. Bei Castorf steckt alles drin, was sich unter europäischer Kultur fassen lässt. Das ist also ’ne ganz pralle Kiste. Du wirst ange­ zogen und ausgekotzt. Vollgepumpt und leergesogen. Mahl­ strom und Fleischwolf. Es gibt diese zwei großen Kräfte, die die Welt in Bewegung halten: Liebe und Geld – oder Sex und ­Nahrung, wie ein Verhaltensforscher jüngst festhielt. Und mir scheint, im Kern geht es Frank, bei allen offenbaren Extremen

Mahlstrom, Fleischwolf

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und Nacktheiten und allem Dröhnen, um tiefen Humanismus. Liebe oder Geld? Liebe! Und das ist ein Theater, dem ich ein Ganztagsprogramm wünsche, alle Türen offen, bis nachts, man kann rausgehen und reinkommen und natürlich Bier trinken. So verliert der Ort seine Isolation, er wird Anschlussgebiet. Theater hätte somit Anschluss an den Zug des Lebens, an die Vermischung der Dinge, ans Chaos des Alltags.

Liebe oder Geld?

Nach Der haarige Affe kam – erneut bei Castorf und am Schauspielhaus – besagter Geheimagent von Joseph Conrad. Das ist erst mal die undramatischste Rolle, die man sich vor­ stellen kann. Aber er wird in ein Drama geschubst, das ihn ver­ schlingt. Sehr defensiv. Nicht sehr fleißig, der Mann. Der lebt nicht, der tropft. Da sitz ich mit Josef Ostendorf an der Rampe, wir reden und reden, einundzwanzig Seiten Text. Ich merke bei den Aufführungen ganz schnell, wie Josef gerade drauf ist, wie er heute gestimmt ist, und ihm geht’s ähnlich mit mir, wir ­tasten und scannen uns ab, es gibt ein inneres und ein äußeres Tempo. Die beeinflussen einander. Die sind nie gleich. Mal ­sitzen wir da eine ganze Stunde, mal vierzig Minuten. Als Spieler haben Sie sozusagen Ihr jeweils tagesaktuelles Gemüt auf der Zunge? Oder eben nicht? Du merkst sofort, in welchem Maße du den anderen heute mit Pausen schonen musst oder mit Schnelligkeit kommen darfst. Dem geht es mit dir genauso. Dabei merkst du, wie lebendig so eine Szene ist. Das braucht eine große Freiheit bei der Arbeit, ein ganz anderes Selbstbewusstsein als beim gewöhnlichen Schauspiel. Gewöhnliches Schauspiel? Das ist, wenn man den Beruf ernst nimmt, sowieso ein Widerspruch in sich. Gewöhnliches Schau­ spiel ist keins. Du musst dich bei Frank von Anfang an selber als etwas Besonderes sehen, auch wenn du dich scheiße fühlst. Man ist es also wert, ohne Vorbedingung in so was wie Kunst überführt zu werden, so, wie man eben ist. Pur. Ohne dass

Sieh dich als was Besonderes

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schon vorher eine Form gefunden wird, in die dann eine Persön­ lichkeit hineingepresst werden kann. Es geht nicht darum, die Psychologie einer Figur gewissermaßen am Schreibtisch ding­ fest zu machen und dann den Menschen da reinzustopfen. So nur entstehen Bühnensituationen, in denen wir umherirren … Die Zuschauer auch. Wir alle versuchen gleichzeitig, die Situation zu beherrschen. Beschleunigung oder Verlangsamung spielen da eine ganz ­entscheidende Rolle. Da kann die Castorf-Bühne wie eine Zen­ trifuge sein, alles wird immer schneller und chaotischer, aber dann kommt ein Punkt, wo es sehr artifiziell wird und man das Ganze durchaus mal mit Kunst verwechseln kann (lacht). Chaos hin und her. Er arrangiert doch aber, sorgt für Struktur. Er arrangiert dich, klar, nur enthält er dir den Text vor (lacht). Aber irgendwann, sagte Marc Hosemann, irgendwann wäh­ rend der Aufführungen verstehst du, was er da zusammenge­ schraubt hat. Karin Beier, Karin Henkel, Jürgen Gosch

Mit Power phlegmatisch: Der Geheimagent, Regie: Frank Castorf, Deutsches Schauspiel­ haus Hamburg 2021

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Karin Beier, Karin Henkel, Frank Castorf – Regie ist Instinkt, der überzeugt, egal, wie viele Worte man dafür aufwendet. War das bei Jürgen Gosch auch so? Unbedingt! Jürgen Gosch, wie ich ihn kennenlernte, brauchte nur sehr wenige Worte. Seine Regie sagte dir hauptsächlich: Du selbst bist verantwortlich für das, was du tust. Und so mische ich mich mit Eindrücken über die Figur ein, mit dem, was die Regie sucht und evoziert, und die Figur mischt sich in mein ­Leben ein, schleicht sich hinein, bemächtigt sich meiner. Und danach ist jeder wieder allein. Erst danach? Stimmt, nicht erst danach. Es geht ja immer, in jeder Situation jeder Geschichte, um das Alleinsein. Letzten Endes. Oder um die Einsamkeit. Darum, wie schwer es ist, das zu unterscheiden. Es war vor fast zwanzig Jahren, ich spielte in der Serie Der Dicke



In Not zu sein, ist das Los aller Leute

mit, ach, Dieter Pfaff, Gott hab ihn selig. Es war pure Fernseh­ ware, scheinbar nichts Aufregendes, ich hatte eine völlig unbe­ deutende Rolle, ich war der Obdachlose Harry Simon – und doch empfand ich das als Schlüsselerlebnis: diese Einsamkeit des Mannes, der wohnt allein, lebt vom Verkauf der Obdachlosen­ zeitung, ich erzähl mit dieser Figur von jemandem, der in Not ist, und mir war plötzlich, als habe mich eine Erleuchtung ge­ troffen: In Not zu sein, das ist das Los aller Leute. In irgendeiner Not mit dem Alleinsein oder der Einsamkeit ist jeder? In Robert Seethalers Buch Der letzte Satz über Gustav Mahler heißt es: „Es gibt keine Hilfe, dachte Mahler. Und es gibt keinen Trost, man ist alleine in dieser Welt.“ Aber dann steht da auch, dass in der Trostlosigkeit auch so etwas wie Glück liegen kann, ein Glück der Erleichterung. Nur vorübergehend, aber immer­ hin.

Ein Schatten mahnt uns

Der Satz, irgendwie seien wir doch alle Eingesperrte, Betrogene, Verdammte gar, ist Kitsch. Aber irgendetwas gibt es dort, unter der Straße unserer Sicherheit. Eine Mahnung, eine Drohung, ein Schatten Gorkis oder Dostojewskis, der uns daran erinnert, dass wir so unerreichbar weit von den Losern nicht sind. Dort genau siedelt Castorf, siedelt Karin Henkel. Und Gosch. Auch Karin Beier. Herr Hübner, wir sprachen über Ordnung. Als Notwehr. Ja. Sind Sie ein Ordnungsfreak? Wieso plötzlich diese Frage? Darf ich ehrlich sein? Nein. Wenn wir uns zu Gesprächen verabreden, spüre ich: Sie achten Ihren Terminkalender, aber Sie vergöttern ihn nicht, und Sie bringen ihn nicht in die Gefahr, dass er zum Terroristen gegen Sie

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wird. Sie sind vielbeschäftigt, aber kein Gejagter. Trotz genauer Absprachen die Grundhaltung: Es kommt, wie’s kommt. Im Rennen mit Ihren Terminen sind Sie ein Sprintsieger. Na ja. Ich bin im Clinch mit meinem Kalender immer der beste Zweite (lacht). Ich bin ein Mensch, den man leicht verwickeln und ins Vibrieren bringen kann. Wieder die Statur: Ihre spricht dagegen. Wir waren uns doch einig: Statur ist nicht alles.

Mit Lina Beckmann (l.) und Angelika Richter in Schuld und Sühne, Regie Karin Henkel, Deutsches Schauspiel­ haus Hamburg 2015

In Ihren Termin-Mails kommen einander ähnelnde Sätze vor: „Tut mir leid, aber hier ist gerade wieder mal total was los … Hier ist eben immer was los … Ich komme noch nicht dazu, meinen Kalender zu ordnen … Also, hier ist einiges los, ich bin der Kreisel, und die Peitsche knallt, oder bin ich die Peitsche – was ist besser …“ Wann ist denn ein Tag ein guter Tag?

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Heute war ich dort, wo ich noch nie war

Ich möchte eigentlich am Abend eines jeden Tages sagen kön­ nen: Heute war ich mit mir, meiner Fantasie, meiner Energie, meiner Sehnsucht dort, wo ich noch nie gewesen bin, und heute habe ich mit meinen Augen oder meiner Einbildungskraft ge­ sehen, was ich noch nie gesehen habe. Das ist möglich. Ohne Fahr­karte. Ohne Reisebüro. Ohne realen Ortswechsel. In Ihrem Beruf ja. In jedem Leben. Nur eben: bei jedem Menschen anders. Stimmt es, Sie hatten mal eine Art Aktenordner, mit einem Fragekatalog zur inneren, zur seelischen Ordnung? So hochtrabend, wie’s bei Ihnen klingt, war’s nicht. Frankfurt hat mir als jungem Schauspieler zugesetzt, diese radikale IchGesellschaft. Mein Körper vertrug das nicht. Ich kam nach Frankfurt und wusste nicht, was Small Talk ist. Wir waren ­intuitiv als Gruppe ans Theater gegangen, das war wie ein vor­ auseilender Schutz. Aber ich hatte trotzdem meine Schwierig­ keiten. Ich kam aus meiner ganz anderen Sozialisation, ein biss­ chen ideologisiert, ein bisschen nach dem Großen und Ganzen fragend, ein bisschen zurückhaltend, mehr als ein bisschen an Einordnung gewöhnt.

Red nicht über die Welt, red über dich

All das, von dem Sie gesagt hatten: Raus hier! Was einem angehört, wird man nicht los, auch wenn man’s fort­ würfe. Die Westler guckten, halb mitleidig, halb genervt: Was hat er denn? Und da traf ich auf eine Ärztin mit japanischem Hintergrund, die sagte: Red nicht über die Welt, bevor du nicht über dich selber ein bisschen mehr Klarheit hast – stell dir ­Fragen, an dich selbst. Interessant fand ich, dass sie sagte: Ich bin Heilerin, nicht Ärztin, und wenn du wiederkommst, habe ich schlecht gearbeitet. Diesen Ordner gibt es nicht mehr, aber die Beschäftigung mit ungelösten Fragen, die ist geblieben, das ist mir zur Gewohnheit geworden, wie Haarewaschen. Und was drückt gegenwärtig besonders?

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Die Zeit. Aktivität in so viele Richtungen ist möglich. Ich merke, es läuft einiges rund, aber Vorsicht! Also: Ich entwickle einen Sinn fürs Innehalten. Um was zu tun? Um über die Phasen nachzudenken, die ich bislang gelebt habe. In jüngster Zeit sind fünf Menschen gestorben, die irgendwie zu meinem Leben gehörten. Sind unerwartet gestorben. Sofort ­bewertest du dein Leben anders. Du merkst: Es wird Kasse ­gemacht. So war das auch bei Vaters Tod. Dieses Erschrecken, dieses Hochblicken: Moment mal, was war das denn! Du inter­ essierst dich plötzlich für Zwischenstände. Für den Zwischen­ stopp wie bei der Formel Eins: Was ist mit deinen Reifen? Haben Sie noch genügend Griff? Prüf den Tank. Gibt’s noch mehr Welt als nur immer Monaco?

Der Gedanke an den Tod

Wie sehen Sie Ihr Naturell? Ich war als Kind ein Zappelphilipp. Das hat sich gelegt? Geduld, Geduld. Sie wuchs mit den Jahren. Herkunft lässt sich auf Dauer nicht leugnen. Auf dem Lande weiß man, dass man niemals stärker als das Wetter ist, und vom Wetter hängt viel ab, Ernte oder Missernte. Immer fällt der Natur was ein, um dir Arbeit zu machen, um dich zu prüfen, um deine Geduld zu trainieren.

Mit den Jahren wuchs Geduld

Sie sagten, Sie strecken Fühler aus. Tentakel, so wie eine Qualle. Qualle? Jetzt sind Sie aber nicht sehr charmant sich selbst gegenüber. Wieso? In der Ostsee soll es eine Qualle geben, die hat Tentakel, mehrere Meter lang. Manchmal komme ich mir auch so vor: ein Wesen mit Tentakeln, die überall sich verglühen. Aber klar, es gibt Momente, da sind die Tentakel eingezogen, es gibt sie dann gar nicht.

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Und Sie sind dann keine Qualle mehr. (Lacht) Stimmt. Dann bin ich eher ein glotzender Bison (lacht wieder). Stehe auf einer Wiese und malme Gras. Gras malmen ist Arbeit. Es gibt Rollen, da bau ich was, und es gibt Rollen, da bau ich gar nichts. Arbeitsverweigerung. Exakt. Gras malmen. Was denken Sie über Virtuosität? Ich habe dazu ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite betreibt man als Schauspieler Selbstbeobachtung: Was kann der Körper? Zu welchen Höhen turnt er sich hinauf? Wie artis­ tisch ist man?

Was kann der Körper?

Kontrollieren und Kontrolle vergessen

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Das schafft doch Genuss, Befriedigung. Man ist sozusagen Herr der Lage, man steuert, wie es jeder Leistungssportler tun muss. Man formt, man turnt. Virtuosität, das ist ja ein bisschen so, als sei einem nicht mehr nur das ­Essen wichtig, sondern auch das Besteck. Andererseits gibt es den Sog, den die Figur ausübt, du bist spielend Teil eines Ener­ giefeldes, das über dich bestimmt, dem du dich fügst, dein ­Körper ist in einem fordernden Sinne Diener. Als Kind hatte ich einen wiederkehrenden Albtraum. Wir waren in Oberhof in Urlaub, in diesem Thüringer Winterkurort, im Hotel „Panora­ ma“, das ist gebaut wie ’ne Sprungschanze, und im Traum stehe ich auf dem Dach und springe hinunter, auf Skiern, ich springe so, wie man sich in den Anlauf einer Schanze abstößt. Immer wieder dieser Traum und die Angst, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verliere. Schauspiel ist Körper- und Geistkon­ trolle, zugleich muss man Kontrolle vergessen. Grenzstellen­ arbeit. Um die Grenze wissen und sie vergessen. Ich versuche, auf den Punkt hin leer zu sein, simpel zu bleiben, mich nicht zu verzetteln.


Thomas Bernhard: „Immer an der Grenze der Verrücktheit / niemals diese Grenze überschreiten / aber immer an der Grenze der Verrücktheit / verlassen wir diesen Grenzbereich / sind wir tot.“ Ja. Heißt Virtuosität: Man muss seine Tricks kennen? Meine Agentin sagt, du hast einen Werkzeugkasten, und die Frage ist, ob du zwölf oder nur zwei Schraubenzieher drin hast. Im Laufe der Jahre füllt sich dieser Werkzeugkasten … Wir mach­ ten Faust II in Frankfurt, Regie führte Tom Kühnel, gemeinsam mit Bill Forsythe, dessen Ballett-Compagnie war einbezogen. Forsythe war nicht an Literatur, an Goethe interessiert, er wollte Bilder bauen. Ich gab den Lykeus, „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. In Erinnerung ist mir geblieben, wie Forsythe über den Körper sprach. Im Tanztheater kannst du Tempo und Körperzentrum ganz anders steuern als im Schauspiel. Bill inte­ ressierte der Körper. Und Sprache, unser Heiligtum? Nee, sagte Bill, konzentrier dich auf den Ellenbogen, erzähl es vom Ellen­ bogen her. Klingt ein bisschen absurd, aber ich habe begriffen, dass es möglich ist. Interessant, was Sie sagen. BE-Legende Ekkehard Schall erzählte: „Ich fieberte nach gestischem Übersprung. Das ging so weit, dass ich mir ausspann, die nächste Rolle nur mit der Stimme, mit einem Vokal, die übernächste vielleicht nur mit den Händen zu spielen. Wie wär’s, mal eine Rolle nur mit dem Rücken zum Publikum zu spielen? Das hat der große Albert Bassermann mal so gemacht, Mitte der zwanziger Jahre, die Weigel hat es uns erzählt. Es war Ibsens Stützen der Gesellschaft. Ein Mann, den das Schicksal fortwährend peitscht. Man peitscht nicht Gesichter, man peitscht Rücken – das erhob Bassermann zu seiner gestalterischen Idee. Er spielte mit dem Rücken zum Publikum, der Rücken tanzte, krümmte sich, reckte sich, wurde weiche Masse oder harte Mauer. Das Publikum war erschüttert. Das Gesicht Bassermanns aber blieb ganz privat, man sah es ja nicht, die Weigel war entsetzt, dass er ihr sogar mitten im Spiel zuzwinkerte – während

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Elftes Gebot, erstes Gebot

sein Rücken auf bestechende Weise schwere Tragödie spielte. So was durchfuhr mich wie ein Blitz. Es musste also möglich sein, den kleinen Finger einer Hand zum Hamlet zu erheben?“ Auch Gosch kümmerte sich null um die Überbetonung von Sprache, wichtig war: Was du tust, darf nicht langweilig sein. Das ist sozusagen das elfte Gebot, auf der Bühne ist es das erste Gebot. Sie sprachen im Zusammenhang mit Jürgen Gosch vom Instinkt des Schauspielers. Bedeutet das: nicht denken? Für mich als Schauspieler heißt das: nicht auf dem falschen Feld herumzudenken. Wir erzählen mit unseren Geschichten Wahr­ heit: Erstens kommt es anders, zweitens, als man denkt. Damit so ’ne Geschichte aber wahrhaftig wird, braucht es auch die ­andere Wahrheit: Erstens kommt es anders, zweitens, weil man denkt. Das bedeutet für den Regisseur was anderes als für mich, einen Schauspieler. Andrei Tarkowski hat gesagt, er teile seinen Schauspielern nie mit, worum es im Ganzen bei einem Film ­gehe. Wichtig ist nur immer die Szene, die gerade gedreht wird? Es wäre doch Quatsch, mit Frank Castorf oder Matti Geschon­ neck über Dramaturgie reden zu wollen, das haben sie im Blick, dazu brauchen die so einen Flachland-Erwin wie mich nicht.

Peter Palitzsch, Peter Stein

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Das ist kokett! Fakt ist, dass ich mich schnell langweile, etwa in den Pausen bei Dreharbeiten. Ich kann schweigen, aber manchmal ist das falsch. Wir haben uns damals in Frankfurt die Mitbestimmungs­ protokolle der Palitzsch-Zeit reingezogen, bei Stein an der Schau­ bühne gab es das ja auch. Ist schon wichtig, der eigenen ­Intuition eine Stimme zu geben. Manchmal ist es gut, wenn Schauspieler was sagen, aber manchmal nicht. Es gibt Momente, da muss ich lange nachdenken, was ich sage, und es gibt ­Momente, da muss ich lange nachdenken, ob ich überhaupt was sage. Ich bin ein Grummler.


Wie bitte? Lina zum Beispiel kommt total aus dem Instinkt. Erste Probe, und schon hat sie, meistens jedenfalls, eine ernstzunehmende, eine tragende Setzung. Das ist toll, weil es trotz der weiteren Proben, auf denen naturgemäß vieles hinzukommen wird, doch meist Bestand hat. Bei mir ist das ganz anders. Ich grüble rum, beschäftige mich mit dem Autor, mit allen möglichen Fragen, da kommt kein Tempo auf bei mir, kein Tempo, keine frühe Ent­ scheidung für den Zugriff, das nervt mich, aber ich kann nicht anders. Ich sagte ja: die Umständlichkeit. Lina hat eine ganz an­ dere Wahrnehmungsökonomie als ich. Sie ist ein Spielkind, wie Jürgen Holtz das formuliert hat. Beim Schiff der Träume in Ham­ burg stieg sie aus terminlichen Gründen etwas später in die Arbeit ein. Bei ihrer ersten Probe als Servicekraft des Schiffes …

Mit Julia Wieninger und Lina Beckmann (r.) in Schiff der Träume, Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 2015 Das Spielkind Lina Beckmann

Lina Beckmann war grandios in dieser Inszenierung von Karin ­Beier, sie vibrierte, wieselte, stolperte durch dieses Europäische

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Requiem ganz aus Flüchtlings- und anderen Krisen – ausgerüstet mit einer rührend komischen Sprachstörung, die aus ihrem Namen Astrid „Arschtritt“ machte. Sie spielte erschütterndes ­ ­Ungelenk, war mit patschigem Tollmut eine Arsch- und Seelengetretene. Eine Gedemütigte des bürgerlich kalten Arroganz­ miefes, der von der Passagierkaste des Schiffes ausging. Einmal trat sie an die Rampe und weinte, tief herzeinschneidend, das ­Unglück ihrer Nichtigkeit in den Saal. Und bei dieser besagten ersten Probe sollte sie bloß mal, gewis­ sermaßen um sich aufzuwärmen, den Speiseplan für die Passa­ giere vorlesen. Die Probe war im Grunde beendet. Wir lagen flach, und Lina war ohne sichtbare Mühe in ihrem Element. Da war alles schon angelegt. Als habe sie Proben gar nicht mehr nötig. Mich fasziniert das. Ich komme eher aus den Problemen, sie dagegen aus ganz natürlichen Spielzusammenhängen, ihre Geschwister sind ja ebenfalls Schauspieler. Mein Unter- und Hintergrund ist diese ganz andere, diese sehr spezielle nicht­ fiktionale Welt, beim Denken eine Zeitlupenwelt. Mein Weg zur Kunst war nicht vorgezeichnet, die Kunst wurde mir, glückli­ cherweise, zum zufälligen Superfluchtweg.

Wichtig ist der schwächste Punkt

Was ist das Wichtigste, wenn Sie sich einer Rolle nähern? Mich inständig um deren schwächsten Punkt zu kümmern. Den herausarbeiten. Diese kleinste Größe, die hat mich immer inte­ ressiert. Weil man an dieser Schnittstelle all die Schwierigkeiten kennenlernt, die eine Figur bedrängen. Sie stehen hinter jeder Entscheidung, die die Figur für sich selber trifft? Als Spieler ja. Die Figur kann für Zuschauer lächerlich sein, kann mörderisch sein, kann feige sein und moralisch elend – aber wenn ich die Kritik an den Reaktionen der Figur gleich mitspiele, dann müsste man sich als Zuschauer fragen: War­ um handelt der Typ denn weiter so, wie er handelt, er weiß doch offenbar längst, wie kritisierenswert er ist? Nein, nein, ich bin ihr Hüter.

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Im Leben ist es die Geschichte, die ein Urteil über den Menschen fällt. In der Dramatik ist es die Story, die zu einem Urteil über die Figuren führt. Ja. Aber der Schauspieler hat nicht das Recht, seine Gestalt dar­ stellerisch bloßzustellen. Waren Sie ein rebellischer Schüler? Ich empfand mich als normal, nicht als rebellisch. Normal heißt: natürliche Reaktionen zu haben. Ja. Ich empfand es zum Beispiel als sehr natürlich, zum Beispiel beim feierlichen Auftakt der Oberschulzeit, in der Aula der Schule, kein FDJ-Hemd zu tragen. Feierlich sollten wir uns klei­ den? Kein Problem: Jeans und T-Shirt. Wir waren vier, die sich zu dieser Kleiderordnung entschlossen. Es folgte umgehend die Vorladung zum Direktor. Uns wurde sehr deutlich ans Herz ge­ legt, bei der nächsten feierlichen Veranstaltung das FDJ-Hemd zu tragen. Na gut. Und was geschah, bei einer weiteren schuli­ schen Feier, etwa acht Wochen vor dem Mauerfall? Wir trauten unseren Augen nicht: Zwei Mädchen stellten sich vors Audito­ rium, zogen die blaue Bluse aus und sagten, das sei ihr letzter Tag in der FDJ gewesen. He, was war das denn! Ein Blitz schlug ein. Dass so was möglich war und kein großer Bestrafungsham­ mer mehr niederrauschte …

Zwei Mädchen zogen ihre blaue Bluse aus

Litten Sie am Kollektivismus in der DDR? Gelitten habe ich nicht – aber unter cool hatte ich Teenie mir schon was anderes vorgestellt. Heute sehe ich überall Uniformierte. Die gleichen Anzüge, die gleichen gesunden Salate mittags am Rewe-Imbiss. Ja. Meine Erfahrung im Westen war: Alle predigten dauernd ihre unverwechselbare Individualität und delegierten den Kol­ lektivismus an den Osten. Kollektiv war gleichgesetzt mit tota­ litär. Aber möglicherweise liegt doch in diesem schrankenlosen, oft genug nur eingebildeten Individualismus von heute eine

Ist kollektiv totalitär?

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viel größere, eben auch ungeheure Konformität. Im Schatten der kollektiven Strukturen der DDR konnte man durchaus das Ich trainieren.

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Laudatio für Charly Hübner. Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Ringes 2016

Der Zehnkämpfer Von Christian Tschirner

Wir suchen Bei Tag am Horizont nach einem Segel SOEREN VOIMA

Vor fast zwanzig Jahren standen wir schon einmal gemeinsam auf dieser Bühne hier in Bensheim. Charly als Kreon, ich selbst als Antigone. Das war im Rahmen der „Woche junger Schau­ spieler“. Von einem Gertrud-Eysoldt-Ring hatten wir, bevor wir nach Bensheim kamen, ehrlich gesagt, noch nie gehört. Er­ staunt erfuhren wir nun, dass es im Kosmos einer Kunst, in der wir beide Anfänger waren, eine offenbar Lichtjahre entfernte Galaxie gibt, in der – wie die Lichtschwerter bei den Jedirittern – magische Ringe verliehen werden. Für uns Anlass zu Witzen. Und natürlich zu der Wette, wer von uns es zuerst schaffen ­würde, diesen Ritterschlag zu erhalten. Lieber Charly, dir ist es gelungen! In der Begründung der Jury steht eine ganze Reihe sehr ­guter Gründe dafür: Authentizität, Leichtigkeit und Virtuosität, Lust an Brüchen, Ein- und Ausbrüchen, Humor und Melancholie, Klugheit und Kraft, Zärtlichkeit, Sanftheit und Grobheit, Präzi­ sion und Lust an Entgrenzung, spielerische Gelassenheit – all

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diese Eigenschaften beschreiben die überwältigende Band­ breite deiner Schauspielkunst, und man könnte die Beschrei­ bung mühelos noch ein paar Minuten fortsetzen. Warum nicht, es ist ja eine Lobrede. Andererseits sage ich den meisten hier, zumindest denen, die das Glück hatten, dich auf der Bühne zu sehen oder gar mit dir zu arbeiten, vermutlich nichts Neues. Und es gehört auch zu den tragischen Tatsachen nicht nur unseres Metiers, dass wir auf der Höhe des Erfolgs mit Lob geradezu erschlagen werden, während dann, wenn wir Lob am dringendsten bräuchten – in den Momenten der Unsicherheit, des Scheiterns, der Krise –, mit Sicherheit auf uns eingeprügelt wird. Unsicherheit, Scheitern, Krise begleiteten von Anfang an deine Arbeit auf der Bühne. Und ich möchte sagen, zu deinen größten künstlerischen Fähigkeiten gehört es, dich verunsi­ chern zu lassen, ohne dich zu verlieren, gehört es, zu scheitern, ohne daran zu zerbrechen. In meiner ersten Erinnerung an dich stehst du in schlabbe­ rigen Khaki-Hosen und T-Shirt neben einer Bank auf der Pro­be­ bühne „Wolfgang Heinz“ in Berlin-Schöneweide. Es ist das ­Szenenvorspiel zweier Mitstudenten, bei dem du offenbar ir­ gendwie als Stichwortgeber fungierst. Das Stück hab ich ver­ gessen. Die Mitstudenten auch. An dich erinnere ich mich sehr gut. Obwohl fast ohne Text, neben der Bank stehend, zogst du während dieses Vorspiels meine ganze Aufmerksamkeit auf dich. Diese unglaubliche Bühnenpräsenz – eines der Gottes­ geschenke, die man Talent nennt – machte dich an unserer Schauspiel-Kaderschmiede zu einem der vielversprechendsten und begehrtesten Studenten. Als ich dann das erste Mal mit dir probierte – immer noch auf der Schauspielschule –, beeindruckten mich deine Zähig­ keit, dein Arbeitswille, deine Unermüdlichkeit. Der Kerl hat die Ausdauer und die Kraft eines Pferdes, dachte ich, und wusste damals noch nicht, dass ich es mit einem echten Zehnkämpfer zu tun hatte, einem Leistungssportler, der direkt von der Aschenbahn auf die Bühnenbretter gesprungen war.

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Auf unseren gemeinsamen Gastspielen bemerkte ich immer wieder etwas Verblüffendes: Während ich mich sozusagen noch auf der Suche nach der Garderobe befand, warst du schon mit dem Kantinenpächter per du, hattest mit dem Intendanten über die heutigen Zuschauerzahlen und die Auslastung im All­ gemeinen gesprochen, wusstest, wo die Technik den Fernseher zum Fußballgucken stehen hat und welche Kneipe der Beleuch­ tungsmeister besonders empfiehlt. Deine Offenheit, auf Men­ schen zuzugehen und im Gespräch mit ihnen – gleich welcher Herkunft oder Schicht – irgendwie den genau richtigen Ton zu treffen, habe ich immer bewundert. In ihr steckte schon damals eine Lebenserfahrung, die nicht auf ein bestimmtes Milieu, eine bestimmte Bildung, eine bestimmte Gehaltsklasse beschränkt, sondern aus einem sehr breiten gesellschaftlichen Spektrum gespeist war: von der tiefsten ostdeutschen Provinz, der depri­ mierendsten Nachwendetrostlosigkeit und der Hysterie eines gerade wiedervereinigten Berlin, von den sturköpfigen mecklen­ burgischen LPG-Bauern, der plötzlich führungs- und arbeitslosen ostdeutschen Arbeiterklasse, von den jugendlichen Neonazis, den geschäftstüchtigen vietnamesischen Zigarettenhändlern, den Westberliner Salonkommunisten und Spaßrevolutionären, den Ecstasy-Freaks aus der Techno-Szene, den DDR-Nostal­gi­kern von Prenzlauer Berg, den Charlottenburger Klugscheißern … Du hattest schon damals nicht nur sehr viel gesehen und erlebt, sondern du hattest die Fähigkeit, das Gesehene und Er­ lebte aufzusaugen. Ich erinnere mich an Gespräche in unserer Rummelsburger Probenkantine – einer Kneipe, die vor allem von Taxifahrern, Prostituierten, Zuhältern und, damals noch, iri­ schen Bauarbeitern frequentiert wurde –, bei denen es mir vor Verblüffung und Fremdheit die Sprache verschlug, während du, gewissermaßen auf Knopfdruck, in die richtige Tonlage schalten und den Gesprächspartnern so die erstaunlichsten und zum Teil erschreckendsten Geständnisse entlocken konntest. Dabei spielte es übrigens nicht die geringste Rolle, dass dein Englisch damals hundsmiserabel war. Dieser Mensch, dachte ich, kann wirklich – wie es biblisch so schön heißt – in Zungen reden.

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Diese Fähigkeit ist in einem Theater, das Gefahr läuft, reines Zielgruppenprogramm für eine intellektuelle Mittelschicht zu sein, besonders – fast hätte ich gesagt wichtig, wichtig ist es vielleicht auch, vor allem aber ist es wohltuend. Dass auf der Bühne glaubhaft mit dem Sprachgestus unterschiedlichster Schichten gespielt wird – dem berühmten sozialen Gestus –, bereitet Genuss. Den allgemeinen Verlust dieses Gestus emp­ finde ich als Verarmung. Nach der Schauspielschule gingen wir gemeinsam mit den Regisseuren Tom Kühnel und Robert Schuster als hoffnungs­ volle und natürlich präpotente Truppe ans Schauspielhaus Frankfurt. Zu Peter Eschberg. Wir wussten natürlich alles besser. Und wollten natürlich alles ganz anders machen. Und wir machten auch vieles ganz anders. Dort, in Frankfurt, erlebtest du allerdings auch den vermut­ lich härtesten Moment, den ein Schauspieler erleben kann. Du wurdest umbesetzt. Und nicht von irgendeinem Regisseur, ­irgendeiner Regisseurin, das wäre halb so wild gewesen, die meisten hatten in unseren Augen ohnehin keine Ahnung. Nein, von UNSEREN eigenen Regisseuren. Sie trauten dir die Bewäl­ tigung einer großen Rolle plötzlich nicht mehr zu. Ich erinnere mich sehr gut an diesen schmerzhaften Moment und auch an die verheerenden Folgen, die diese Entscheidung für lange Zeit auf dein Selbstbewusstsein als Mensch und deine Unbefangen­ heit auf der Bühne hatte. Eine dieser Krisen. Vielleicht die größte. Ich erinnere mich übrigens auch sehr gut an den Moment, in dem du – ungefähr zwei Jahre später und nun schon am Frank­ furter TAT – deine Fähigkeit, eine Hauptrolle zu schultern, ge­ radezu lässig demonstriertest. Die Proben waren turbulent ver­ laufen, die Kollegen waren verunsichert, das Konzept ging nicht auf. Die Premiere wurde von dir nicht nur zusammengehalten, du warst das eigentliche Ereignis dieser Aufführung, dem wir staunend beiwohnten. Die Krise war vorbei; du hattest sie ­genutzt. Übrigens nicht nur für das Theater. In dieser Zeit entstand auch dein berühmter Bewerbungskrimi für die Filmagenturen,

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in dem du selbst Regie führtest und alle Rollen, sechs oder acht, ich weiß es nicht mehr genau, selbst spieltest. Heute klingt das nicht ungewöhnlich, damals war das wirklich innovativ. Der Film hat, wie ich hörte, Maßstäbe gesetzt und wird von deiner Agentur bis heute Schauspielabsolventen als besonders gelun­ genes Bewerbungsvideo gezeigt … Ja, und mit diesem Film begann das, was die Jury deine „Bewegung zwischen Film, Fernsehen und Theater“ nennt. Das heißt: Zunächst fiel deine Entscheidung ganz klar zu­ gunsten von Film und Fernsehen. Die interessanteren Rollen wurden dir zwar inzwischen vom Theater angeboten, aber, ich erinnere mich an unser Gespräch: Du brauchtest Geld, nicht für dich, sondern Geld für deine Familie. Mit interessanten Rollen kann man als junger Schauspieler in Frankfurt zwar le­ ben, darüber hinaus ist nicht viel möglich. Deine Filmkarriere begann also als reiner Geldjob, dem du die Theaterleiden­ schaft vorübergehend opfern musstest. Und du knietest dich in diesen Job mit der gleichen Ausdauer, Zähigkeit und Arbeitslust, mit der du bisher Theater gespielt hattest; auch hier konnte dich keine noch so misslungene Produktion, kein noch so deprimierendes Drehbuch entmutigen. Ein Zehn­ kämpfer. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch die Filmrollen größer und anspruchsvoller wurden. Die Geldprobleme traten in den Hintergrund, und – Gott sei Dank – deine Leidenschaft für die Bühne war ungebrochen. Vom Drehen – das kann ich allerdings nur vermuten – hast du etwas ins Theater mitgebracht, was ich früher so nicht wahr­ genommen habe: eine geradezu akribische Vorbereitung auf die Probenarbeit. Diese Vorbereitung auf das Stück, auf deine Rolle bedeutet auch, dass du einen sehr scharfen Sinn für ihre Ökonomie, für ihre Entwicklung im Verlauf des Stückes und, ­darüber hinaus, für das Stück als Ganzes entwickeln kannst. Dass diese Genauigkeit zusammengeht mit einer ungebroche­ nen Lust am Ausprobieren, Improvisieren, am Sich-Ausliefern, ist jedes Mal beglückend zu erleben.

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Lieber Charly, in ihrer Begründung hebt die Jury zwei deiner Theaterrollen hervor: Den Ermittlungsrichter Porfirij Petro­ witsch in Karin Henkels Inszenierung Schuld und Sühne – und den Onkel Wanja in Karin Beiers gleichnamiger Tschechow-­ Inszenierung. Diese Hervorhebung freut mich besonders, da ich deine Suche, deine Unsicherheit und deinen Kampf mit und in diesen Rollen miterlebt habe. Beides waren für dich keine leich­ ten Arbeiten. Und die Suche nach dem richtigen Ausdruck der Figuren ist für dich nicht abgeschlossen; immer wieder gibt es Punkte der Unzufriedenheit, des Haderns, des Fragens. Ich weiß nicht, wie es dir mit deinen Filmrollen geht, die ja zwangsläufig irgendwann für alle Ewigkeit auf Zelluloid oder Festplatte gebannt sind – aber dass du deine Arbeit auf der Bühne nie als abgeschlossen begreifst, dass du um den immer neuen, lebendigen Moment ringst, in einem nie bewältigten und nie zu vollendenden Prozess, das beweist mir, wie tief dein Verständnis von Schauspielkunst im Theater wurzelt. Ich weiß, wie oft und wie sehr du mit dem Theater als ­solchem haderst. Und wie schwierig es inzwischen für dich ist, dein Leben zwischen Film, Fernsehen und Theater zu koor­ dinieren. Dennoch: Ich wünsche dir, und ich wünsche es vor ­allem auch dem Theater, dass du auch in Zukunft auf der ­Bühne zu sehen sein wirst …

CHRISTIAN TSCHIRNER, geboren 1969 in Lutherstadt Wittenberg. Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ ­Berlin. Schauspieler u. a. am Schauspielhaus und am TAT Frankfurt am Main. Regie am TAT, am Neuen Theater Halle, am Stuttgarter Schauspielhaus, am Bochumer Schauspielhaus, am Nationaltheater Mannheim, am Staatstheater Braunschweig, am Schauspiel Hannover. ­Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, seit 2019 leitender Dramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin. Zusammen mit den Regisseuren Tom Kühnel und Robert Schuster gründete er das ­Autorenkollektiv Soeren Voima. Unter diesem Pseudonym schreibt er auch eigene Stücke.

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II. „ … ist sie immer noch da, die gute alte Gänsehaut“

HANS-DIETER SCHÜTT: Sie sind mit Leib und Seele ein Mann des Heavy Metal. Noch immer. Forever young? CHARLY HÜBNER: Ich steh schnell in Flammen, und Dinge gibt es, da geht das Feuer nicht aus. Heavy Metal ist so ein Feuer. Ist Jugend. Die ich mitgenommen habe, ohne dieses melancho­ lische Beharren … … das ja irgendwann peinlich wird. Ja. Wenn man mit siebzig noch immer vorgaukelt, man passe in die engsten Jeans. Aber! Aber? Ich spüre nach wie vor: Metal erzählt mich. Ich kann nur für mich antworten. Metal, das ist Seelenwanderung. Diese Heiser­ keit, diese müden Knochen, du bist entseelt auf dieser Welt, kriegst dein Wesen nicht gebündelt. Lass sie doch hämisch krähen! Mein Lieblingszitat über Musik stammt von Rilke: Musik liest dich irgendwo auf und setzt dich an einer anderen Stelle ab. Oder setzt dich aus. An der unwirtlichsten Weltstelle: bei dir sel­ ber. Fernreise mit fliegendem Teppich. Lemmy Kilmister: „There is music that fucks you away from the first second and then you’re addicted for the rest of your life.“

Rilke und Heavy Metal

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„Wenn du glaubst, du bist zu alt für Rock’n’Roll – dann bist du es auch“, schrieb dieser Kilmister. Er hat recht, aber ich fühle mich halt nicht zu alt. Wenn ich Lem­ my und die anderen höre, ist sie immer noch da, die gute alte Gänsehaut. Der Sportler sagt, man müsse auf seinen Körper hö­ ren – und der Musikfan sagt, man müsse auch darauf hören, was der Körper hören will.

Motörhead, immer wieder

Die Gänsehaut, wo ist sie am stärksten? Bei Motörhead? Overkill von 1979 – da ging nichts drüber. Es war so krude, aber auch so breit gefächert. Es war der große Sprung, das Album hat ein neues Spektrum aufgemacht – da kam der Rock ins Rollen. Man brauchte danach eigentlich nichts mehr von Motörhead. So eine Vollendung schon mit der ersten Plat­ te!? Wie ging das?! Der lange Rest würde doch nur noch Spaß an der Freude sein. Dann kamen Bomber und Ace of Spades, mit diesem Album ging die neue Tür auf und Desperados betraten den von Hippies zerkifften Raum. Ace of Spades, das ist eine Platte, wie sie jede große Band zumindest einmal in ihrer ­ Geschichte machen muss. Es war Motörheads Schwarzes ­ ­Album, ihr Highway to Hell. Es brachte alles auf den Punkt, was die Gruppe bis dato war. Einar Schleef sagte, von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen gehe eine besondere Faszination aus. Auch von einem vibrierenden Konzertpublikum? Na klar. Einander völlig fremde Menschen, die sich bei einem Rockkonzert zur Gemeinschaft verbinden, das hat für mich in den besten Momenten sogar was Heiliges. Messe, Weihe, Rausch. Kollektivität der besonderen Art. Sich als Rudeltier zu empfinden, hat eben nicht nur eine elende Seite. Gegen jedes Missverständnis: Ich brauche keine Ersatz­ religion, und Musik ist doch für nichts bloß ein Ersatz, das wäre Herabwürdigung, Musik ist was sehr Eigenes. Ich will keinen Gottesdienst. Was ich ersehne: mit Musik eine coole Zeit zu haben.

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Sie hören als Jugendlicher Paranoid von Black Sabbath und ­vergessen alles um sich herum: „Wieder knallt es mich durchs Lärmuniversum, und unter Schütteln, Hopsen und Zucken fliege ich frei zu den Sternen oder was weiß ich wohin.“ Dieses Lärm­ universum taucht immer wieder auf in Ihrem Buch über Motörhead, etwa wenn Sie über AC/DC schreiben: „Die strudelnden Soli aus den Zappelfingern von Angus Young, Bon Scotts Gekreische und die mächtige, schützende Wand des Klangs schossen mich wie durch einen Druckschlauch auf die andere Seite des Lärm­ universums.“ In der Bibliothek unseres Ortes las ich wie versunken, ich graste auch die Schallplatten ab. Aber da war leider nichts, was mich aus den Angeln hob. Nicht mal die Beatles. Aber AC/DC, heraus­ gegeben von Amiga, das war’s! Highway to Hell. Für mich Freiflug zum Himmel.

Freiflug zum Himmel

Ein Himmel über welcher Welt? Das Wohnzimmer daheim, Schrankwand und Clubsessel. Und all diese Schlagerparaden. Die Beatles … Ein bisschen erschrocken war ich, wie Sie die abtun im Buch. Ich bekenne, wie ungerecht das ist. Ich brauchte aber zu Puber­ tätszeiten nicht die musikalische Kompliziertheit, mir half nur – das Lärmuniversum. Als Dammbruch. Wie war denn meine Pubertät (lacht)? Was zeichnete sich da ab? Ich würde mich mit großen Hoffnungen in den Sport ­stürzen, ich spürte in mir einen wachsenden Ehrgeiz, vielleicht wollte ich mich mit Lust gegen das Einfach-so-Dahinleben ­wehren. Ich war angespannt, ich war ein brummiger Typ gewor­ den. Und da meldete sich – wie auf Bestellung – das rettende Gegengewicht. Ich hörte Metal, ich hörte Punk.

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Schrill. Jung und düster. Motörhead: „Spaß, Quatsch und Freiheit.“ Volle Dröhnung. Am Ende stand mehr als Spaß. Ja, vor allem bei Motörhead selbst. Am Schluss ist Lemmy ver­ loren, haltlos, nackt und traurig. Der Abgesang von Lemmy Kil­ mister ist Blues. Etwa I Don’t Believe a Word. Oder Till the End. Ein Ende im Blues. Nee, falsch. Im Blues endet man nicht, man vollendet sich.

Blues ist Vollendung

Sie waren Leistungssportler. Ich wär’s gern geworden, ja. Handball, Leichtathletik. Hundert­ meterlauf, Weitsprung. Aber ich musste aufhören. Das Herz war zu groß. Die Pumpe ging zu schnell hoch. Ich war infarktgefähr­ det. Das lag am schnellen Körperwachstum. Die hundert Meter? Einmal schaffte ich 10,9 Sekunden. Gern hätte ich auch Musik gemacht, aber: Zur wirklich ernsten Angelegenheit wurde mir der Journalismus. Auch ein Leben als Dolmetscher konnte ich mir vorstellen. Journalismus? Wollten Sie Sportreporter werden? Kriegsreporter. Ich wollte der Wirklichkeit auf die Spur kommen (lacht). Ich lache jetzt, aber es war ernst gemeint. Ich wollte nicht, dass in meinem Leben alles vorhersehbar bleibt. Reporter sein, das ist romantisches Weltempfinden? Na ja, manchmal überkommt dich die Kernfrage: Büro oder Antarktis. Ihre Antwort? Antarktis.

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Büro geht auch – vorausgesetzt, man hat dort das Zeug zu einem Kafka. Das hatte nur Kafka selbst. Als Junge bin ich übrigens einige Male nachts in den Wald bei Feldberg gegangen. Einer, der aus­ zog, das Fürchten zu lernen. Was mich am meisten überraschte: Der Wald ist nachts heller, als man denkt. Und lauter auch. Und die Vögel singen nicht, sie brüllen (lacht). Vor welchen Tieren haben Sie Angst? Schlangen. Weil Sie Kafka erwähnten: Von ihm bleibt die Erfahrung, dass ein Gefühl von Sinn sich nur dann einstellt, wenn man einer Leidenschaft folgt – die aber eben auch Möglichkeiten der Verzweiflung, der tiefen Furcht in sich birgt. Deshalb Kriegsreporter: das Wahrheitsthema. Wie steht Wahr­ heit zur Wirklichkeit? Wie entsteht Wahrhaftigkeit in der Kunst? Nur durch Widerspiegelung? Wegen dieser Fragen mag ich Wal­ ter Kempowski und Uwe Johnson. Diese spröde, sture Art, Poe­ sie mit präzisester Realitätsbeschreibung zu verbinden. Wie krieg ich die Zeit gefangen? Das ist die Johnson- und die Kem­ powski-Frage.

Uwe Johnson

Bei Motörheads I Don’t Believe a World, vom 1996er Album Over­ night Sensation, nennen Sie Kilmisters Wimmern „das Mantra eines erschöpften Weisen, der nicht mehr weiterweiß und in stupender Agonie für immer dahindriftet, und so driften auch wir über den Strahl der Zeiten, für die ich jegliches Gefühl verloren habe“. Ist doch so, oder? Über dieses Gefühl jedenfalls bin ich im Buch auf die Idee jener Szene gekommen, in der Kilmister und Sa­ muel Beckett gemeinsam im Ruderboot über den Breiten Luzin fahren. Das passt, Kilmister und Beckett? Der eine so radikal drin in der Droge, der andere so radikal drin

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in der Komik des Grauens, beide sind tapfer trotzige Abenteurer der Leere. Das passt! „Beschreibung des Widerspruchs, den man empfindet, wenn die erlebte Wirklichkeit sich ganz anders darstellt als die erwartete Idee davon.“ Motörhead. Und Rammstein, Tom Waits. Trocken, laut, schnell, kompromiss­ los. Druck machen mit einer Dröhnung. Beckett ist da immer mit im Boot.

Beckett im Boot

Wenn man summiert, was Sie zu Metal gesagt und geschrieben haben, kommt ein einprägsamer Wortschatz zutage: dreckig, ironisch, selbstsicher, glücklich, stumpf, grimmig, rabiat, aggressiv, spöttisch, manchmal auch total humorlos, anklagend. Jeder Mensch sucht nach etwas, das ihm die Welt auf Abstand hält. Das kann Rex Gildo genauso wie der Punk, Heiner Müller genauso wie Modern Talking. Würden alle Menschen gleich sein, würde einer genügen. Die Welt wäre friedlich, aber vermutlich tot. Dieses Scharfe, Schroffe, Überwältigende – das ist nicht gerade heimelig. Nee, ganz und gar nicht. Aber plötzlich bekommst du Sehnsucht danach. Also ich jedenfalls, ich bekam Sehnsucht danach. Ich begriff, ich bin ein Speedy, ohne das Zeug nehmen zu müssen. Du willst nichts begreifen, du willst alles erfahren. Und das Ge­ fühl, dass du bei dieser Musik ’ne Erfahrung machst, das ist über all die Jahre geblieben.

Speedy ohne Speed

Erfahrung. Was wollen Sie erfahren? Das Dunkle. Mein Ding bei Musik ist nicht die warme, weiche Hand, die dich sucht. Was mich bei Metal mitreißt, ist diese Arroganz, um alles Geklemmte, alles Gedämpfte auszublen­ den. Bei Motörhead war das am radikalsten von allen. Lemmy Kilmister hat das bis zu seinem Siebzigsten durchgezogen. Bis

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zu seinem Tod. The other side of the world. Da stellt sich einer mit seinem ganzen Körper für eine These zur Verfügung: Es geht um Cash – bezahl bar, was du lebst. Lemmy ist der Mensch, der in keiner Lage so tun kann, als sei er nicht bei sich selbst. Der Körper erzählt: Ich habe Sehnsucht, ich stinke, ich verfalle, ich verwittere, keiner mag mich, es gewinnen immer die anderen – he, das ist doch Scheiße, und dann geh’n die Lautstärken hoch, und es brummt, und du jagst durch ein ganz andres Universum …

Lemmy K.: Bezahl bar, was du lebst

Das Lärmuniversum. … und der Planet mit den sogenannten Spießern driftet ab. Sterne, Sterne, Sterne, schreit der Mensch, aber verreckt werden muss unten, wo keinem ein Gestirn aufgeht. Ein Chaos mit Möglichkeiten ist dieser Lemmy, der gestorben, aber nicht tot ist. Exzessiv bleibt dieses Erbe, überall, wo das Saubere, Geschmackvolle, Gemäßigte befragt, attackiert wer­ den soll. Grölender Golem, maßlos im herrlichen Verrat am Feinen. Schmiert den Leuten lauten Schmutz ums Hirn. Völlige Verausgabung für die Dialektik von König und Kreatur, Mensch und Maschine, Mann und Monster. Völlige Verausgabung, ja. Und das Gemüt hängen lassen wie einen ausgewrungenen Lappen. Wie sagten Sie vorhin? Nicht die Hand suchen, die wärmt? Eine Metapher. Die Familie natürlich ausgenommen. Na klar, keine Frage! Aber: Ich bin spröde, Lina dagegen hat ein Riesenherz. Sie hat viel mehr Zugang zu den weichen Übergängen, die das Leben auch so hat und die es so sehr braucht.

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Diese Liebeserklärung lassen wir unbedingt stehen. Gern. Und ausgerechnet sie trifft auf so ’nen klippigen Mecklen­ burger wie mich. Um ein bisschen Barock bemühe ich mich, ge­ wiss (lacht), aber das Innere ist und bleibt das Schroffe. Da sind wir wieder bei Motörhead und Mahler. Motörhead – und Gustav Mahler? Mahler ist auch einer meiner Paten. Die Aufnahmen mit dem Dirigat von Klaus Tennstedt, die Londoner Symphoniker, die höre ich oft und manisch. Der hat Sinn für die Brüche, die Ein­ brüche, die Wegbrüche in der, na ja, sagen wir: Seelenbewe­ gung der Musik.

Tennstedt spielt Mahler

Was weiß ein Fremder?

Tennstedt statt Karajan? Karajan ist berühmt, ist riesig, Tennstedt ist atemberaubend. Karajans Mahler galoppiert mir zu sehr auf gerader Strecke. Kraft, Energie hat er, ja, aber für mich ist da zu viel Vorwärts­ drang. Karajan lässt die Lipizzaner durch die Arena tanzen. Aber wenn schon Pferde, dann ist Mahlers Musik das Pferd, das seitwärts ausbricht, immer wieder. Gefährdetes, gefährli­ ches Leben. Mahler ist ein gieriger Musiker, ein Getriebener, nicht seltsam, mehr noch: einsam. Einsamst. Letztlich, und das schon ganz am Anfang: Die Erschütterung der Mutter über die Wahrheit dieses Sohnes. Junge, du bist ja nur Musik,­ Musik, Musik. Junge, leb! Versuch’s! Es gelingt ihm nicht. Er kann hilfesuchend aufsehen, aber aus dem Himmel rutschen ihm nur immer Töne ins Hirn, ins Herz, unter die Haut. Musik ist Leben! Wirklich? Ja. Was wissen die anderen, was weiß ein Fremder? Vertrau dich der Musik an. Vielleicht kann sie ­etwas, das du selber nicht kannst. Und? Schon bist du ein ­Gesteigerter. Ich merke schon: Statt sich mit mir zu unterhalten, möchten Sie jetzt lieber Mahlers 3. Sinfonie hören. Wir sprachen von Seethalers Buch über den Komponisten. Ge­ nau dieses Buch würde ich gern verfilmen.

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Hübner-Zitat aus einem Programmheft, es geht um die Besessenheit: „… wie bei Mahler zum Beispiel, dass sich einer so verliert, dass er jeden Sommer in diese komischen Alpen düst, immer schwimmen, immer Bergwandern, immer komponieren. Schubert war ja auch so drauf, immer komponieren, in den kleinsten Stuben, trotz Krankheit. Diese Hyperaktivität an Produktion. Wenn du besessen bist von etwas, dann hast du kein Leid. Dann fällst du vielleicht mal um. Aber dann stehst du auch wieder auf und machst weiter. Du spürst, dass etwas zu Tode geritten werden muss.“ Sind Sie ein Besessener? Ich will was kapieren, neugierig bin ich, das ist so in meinem Wesen drin. Das zieht dich natürlich rein ins Gewühl. Rundum interessante Reize, das Meer ist weit und überall sind neue Ufer. Kann sein, dass der Körper dich stoppt. „He, wir haben viel zu wenig Mann an Bord – wir haben nur vier Ruderer, brauchen aber sechzehn.“ Nicht umsonst heißt es, man sei mit Talent – geschlagen. Für ­Musik können wir jetzt andere Worte nehmen. Sprache oder Spiel, Schreiben oder Lesen. Man muss es aushalten, sich zum Rätsel zu werden.

Das Rätsel ums Talent

Wie wird man sich denn selber zum Rätsel? Mein Eindruck: Indem man sich so wenig wie möglich belügt. Indem man auf die Wahrheit von Geschichten hört. Von ge­ sungenen, geschriebenen, gespielten, gemalten, komponierten ­Geschichten, in denen es nicht geradlinig zugeht, sondern in denen was aus dem Ruder läuft. Das sagt sich leicht. Mittelmaß rettet. Ohne ein bisschen Mittelmaß kommt kein Leben aus, das stimmt. Ich bin der Letzte, der das bestreitet. Und klar kann man auch ein guter mittelmäßiger Unternehmer sein, der hat seine irdischen Güter, fertig ist der Lack. Das sage ich nicht zynisch, aber ich sag’s auch ohne jede Sehnsucht. Die Option entstand einfach nicht bei mir, da konnte ich machen, was ich wollte.

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Sie haben es gar nicht erst versucht. Ich weiß bei solchen Leuten nicht, wie viele ihrer vielen Pfenni­ ge sie irgendwann wirklich noch in Lebensfreude investieren. Mittelmaß rettet. In Ihrem musikalischen Projekt mercy seat – winterreise mit dem Ensemble Resonanz koppeln Sie Nick Cave mit Franz Schubert und Wilhelm Müller. Das ist ein Abend über die Traurigkeit, die von großen Sehnsüchten ausgeht. In Caves Wild Roses bringt ein Mann seine Geliebte um, auch Müller durchlebt eine tragische Liebesgeschichte. Im Mai, wo die Bäume sprießen. Wir haben die Schubert- und die CaveSchraube zusammen noch etwas fester angezogen. Eine Zeile heißt „All beauty must die …“ Da kommt natürlich der Gedanke auf, wie lebensrettend es sein kann, als graue Maus zu leben, alles ist dadurch unaufgeregter, du hast nicht diese Hotspots von Glücklichsein und dann wieder diese krassen depressiven Schluchten.

Nick Cave, Franz Schubert

Wieder: das Künstlerthema. Mahler! Ja, dieser Geist der Überforderung und die absolute Hingabe. Der einen an Orte bringt, wo man eigentlich nichts verloren hat. Aber eigentlich doch, sonst würde man da ja nicht hinwollen. Aber es ist kalt da draußen und auch einsam, man wünscht sich eigentlich ab und zu mal eine gute Flasche Wein … Sie sind ein Musikstöberer. Wir hören viel Musik daheim. Im Lockdown haben wir uns das gesamte Miles-Davis-Œuvre reingezogen, immer wieder von vorne. Ich wurde immer glücklicher dabei. Kürzlich bin ich auf einen Australier gestoßen, C. W. Stoneking, ein Tasmanier, eigentlich eine Art Troubadour, ganz in Weiß, wie ein Schiffs­ junge oben im Mastkorb, die Gitarre mit Blechkörper, das ­Mikrofon ein altes sowjetisches Modell, aber so berührend das Ganze, er spielt abgehangenen Blues. Wie entdeckten Sie ihn?

Linke Seite: Probe zu mercy seat – eine Seance, mit dem Ensemble Resonanz 2020

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Das ist nicht die Frage, Google und YouTube toppen jeden ­Kolumbus. Die Frage scheint zu sein, warum will man etwas entdecken. Nach meinem Buch über Motörhead hing ich im Tunnel und wusste nicht, wie ich wieder rauskomme. Nach Monaten und Monaten Lärmuniversum. Es brauchte einen seelischen Anschluss. Das war mit dem, was mir vertraut war, nicht möglich, außer Miles Davis. Und da tauchte dieser C. W. Stoneking auf, wie ein Matrose vom ande­ ren Ende der Welt, er schuf die Brücke. Auch seelisch. Rammsteins böse Lieder

Die weiche Hand, nun doch … Sie haben mal Christian „Flake“ ­Lorenz von Rammstein zitiert: Ein böses System braucht böse ­Lieder. Ja. Und damit kriegst du eine Nähe zu all dem Rest, den der ­Kapitalismus wegwirft. Aber wenn man genau hinhört und ­hinsieht, gerade auch bei Rammstein, dann kommen solche Wahrheiten doch auch ungeheuer humorvoll rüber. Ist Theater für Sie auch Metal? Im besten Sinne ja. Es ist der Spiegel dessen, wie man die Welt erlebt. Das ist überhaupt nicht lustig, aber genau da setzt sich der Witz rein, die Lakonie, die Weisheit, die drübersteht über all dem Schlamm, in dem du steckst und ruderst. Sie sind erfolgreich, Sie stecken nicht im Schlamm und Sie rudern nicht. So? Da wär ich mir nicht so sicher. Jeder ist auf seine Weise ver­ wickelt und verwackelt.

Deibel, Gott

Und ruft nach Gott. Und lässt sich deshalb mit dem Deibel ein. Wenn man Gott und Deibel aus der Kunst nimmt, bleibt wenig übrig. Stimmt. Jeder hat seine Musik, die ihn mit Gott und Deibel ver­

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bindet. Für mich trifft Heavy Metal zum Beispiel eben auch auf Gustav Mahler zu. Trauermarsch, 5. Sinfonie, Erster Satz. Was sind das für achtzehn Minuten! Dieses Getriebene, diese Heftig­ keit der Verzweiflung. In diesem Falle aber auch Humorlosigkeit. Das stimmt allerdings. Doch die Energie, das Tempo, die sind da. Das ist Motörhead, das ist Speed. Und da spüre ich mich eben mehr, als wenn ich mich von irgendwas und irgendwem zukleis­ tern lasse. Aber letztlich steht alles, was Ton und Stimme hat, gemeinsam im Raum. Jeder hat seinen musikalischen und sons­ tigen Mikrokosmos. Mir ist eben manches zu unschuldig. Ich lass mich lieber durchschütteln. Und Heavy Metal schüttelt dich ja wirklich, wenn du dich drauf einlässt, das ist wirklich nicht nett.

Einfalt ist Charakter: als Karl Schmidt im Film Magical Mystery, Regie: Arne Feldhusen, 2017

Da sind wir wieder bei den wunderbaren Möglichkeiten der Schauspielerei. Mal so, mal so! Ich sag ja: Schön, wenn’s dir ins Fleisch geht. Der Karl Schmidt im Film Magical Mystery, das ist mit allen Fasern eine tranig

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bis trotzig isolierte Gegenwelt zu diesen Halligalli-Typen da draußen. Da merk ich beim Arbeiten, wie mich das wickelt, wie das reinwächst, das macht schon was mit dir. So, wie ich es beim Hausmeister in Hausen merkte: Die Dreharbeiten im permanenten Schummer und in der Nässe dieses gammligen ­Hauses lassen eine Kälte einziehen, die du nicht so einfach rauskriegst, auch wenn du später längst wieder im Hellen rumläufst. Sie erwähnten den Sport. Was ist davon geblieben? Hatten wir schon: der Sandsack. Nur? Na ja, und natürlich die Schläge dagegen (lacht).

Sandsack und Saporoshez

Waren Sie ein braver Sonntags-Carsten? Sonntage mit Eltern ­können die Hölle sein. Als Kind war ich natürlich ein glücklicher Sonntags-Carsten. Der Unfriede kam erst später. Sonntag! Da wurde die Familie rituell. Eltern und die drei Kinder quetschten sich zum Ausflug in den engen gelben Saporoshez, der Vater nannte das Auto TaigaWanze. Dieses Autofahren mit den Eltern am Wochenende, ­dieses mobile Gefängnis an den Rapsfeldern entlang, in den ­Ohren die westdeutsche Hitparade aus dem Radio, das setzte Keime für einen dringenden Aufbruch oder Ausbruch. Ihre Eltern kommen aus sehr verschiedenen sozialen Welten. Die Mutter war Enkelin zweier Mecklenburger Bauernfamilien, der Vater: bürgerlich, Apothekersohn aus dem Erzgebirge. Zwei Menschen, sie werden das, was du deine Eltern nennst. Mutter war das familiäre Nesthäkchen, die Familie lebte wie eine ­Dynastie im Dorf, fester Kern, fester Halt. Und dann kommt er, der Fremde, wie ein Italiener scheint er, der Sachse, und das, was so gar nicht zusammenzupassen scheint, kommt zusam­ men. Und dann gibt es diese lebenslange Arbeit am Zusam­ menhalt: Liebe, Gewöhnung, Konflikt, Kraft, Müdigkeit, Liebe,

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Mutter mit Söhnen, Carsten rechts

Fürsorge … Ein gottgleiches Rätsel: Wie überhaupt kommen Menschen zueinander? Wie finden sich Paare? Welche Zeit er­ halten sie und welche Räume öffnen sich ihnen für wirkliche Gemeinsamkeit? Du verpasst an einem Morgen eine Straßen­ bahn, vielleicht verpasst du damit einen Schicksalspunkt. Mir fällt Manfred Krug ein, sein Lied Der Tag beginnt: Er sitzt am Morgen in der Straßenbahn neben einer jungen Frau, träumt vom Gespräch und von mehr, will sie ansprechen. „Doch als die Bahn anrollte / War alles, was ich sagen wollte, / Was ich mir vorgenommen / Unter die Räder gekommen. / Und sie sah mich nicht an. / Sie las den Roman.“ Gelesen habe ich in Ihrem Motörhead-Buch vom fünfjährigen Carsten, der im Kindergarten auf einen Stuhl steigt, angetan mit Fellweste und Sheriffstern, und den anderen Kindern „wild brabbelnd“ vom Geschehen draußen auf dem Hühnerhof berichtet. (Lacht) Meine erste Bühne.

Die erste Bühne

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… als man noch unbekümmert Sheriff spielte

Stark finde ich, wie Sie Ihren jugendlichen Speed-Konsum beschreiben: „Als spätes DDR-Kind ist Speed mir erst untergekommen, als die wenigen, aber entscheidenden Plätze im Rauschministerium meines Hirns bereits an das Trio Nikotin, Koffein und Alkohol vergeben waren.“ Speed war nur kurz zu Besuch – war quasi chancenlos gegen die anderen drei Sirenen. Was hörte man so, als DDR-Jugendlicher Ihres musikalisch etwas härteren Schlages?

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AC/DC, Slayer, Ramones, Sex Pistols, Dead Kennedys, Die Toten Hosen. Aber auch DDR-Punk, Die Skeptiker, Feeling B die ande­ ren. Das Metal-Herz – wie gehemmt, wie vorsichtig musste es im ­Osten schlagen? Wir galten als Freaks, wir wurden belächelt, wie wir da auf lächer­ lich wirkende Weise zu einer krass nervigen Musik tanzten. Wenn Dorfdisco war, brachten wir unsere Metallica-Kassetten mit, ga­ ben sie dem DJ, und irgendwann kriegten wir dann unsere halbe Stunde: sieben, acht lustige Jungs allein auf der Tanzfläche.

Tanzfläche für Freaks

Für Nichteingeweihte klingen die Namen dieser Bands wie Begriffe aus einem Atlas fernster Sternenwelten. So geht es mir mit allem, was die Weiten des Funks, Souls und HipHops so in sich tragen – ferne Ozeane der Unterhaltung. Die Oma eines Freundes brachte manchmal, je nach Wunsch und Möglichkeit, das Hardrock-Magazin Metal Hammer von ihren Westbesuchen mit. Sie sagte am Kiosk immer: „Und noch einen Metallhammer bitte.“ Dort entdeckten wir all die langhaarigen und stacheligen Gitarrenritter. Bis die Mauer weg war. Wie haben Sie den Abend des 9. November 1989 erlebt? Versoffen und verpennt. Ich war im Karnevalsklub des Dorfes, bei der Generalprobe für den 11. 11. Die lief super. Das Bier ­danach auch. Der Abend wurde lang, keiner kam auf die Idee, Fernsehen zu gucken. Nur wenige Mitschüler waren am anderen Morgen zum Unterricht erschienen. Die anderen hatten sich schon mal in Richtung Westen aufgemacht. In der Bahn, mit der ich zur Schule fuhr, saßen zwei Trinker, stadtbekannt. Die unterhielten sich laut, dass sie heute nach Westberlin fahren würden. Na, dachte ich, noch so früh und schon so besoffen.

Mauerfall? Karneval!

Zeitungen, Büros, Ämter und Schulen. Überall hing ein Foto von Honecker. Das war ein Bote der Ewigkeit, nicht wegzudenken.

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Und plötzlich war der weg. Unglaublich. Und das ist lebenslang nur schwer zu toppen, wenn du als Siebzehnjähriger unerwar­ tet in so offener Landschaft stehst. Dorf, Elternhaus, die ganze Ordnung um dich rum – da sagst du dir nur: Raus hier!, und die Welt antwortet einladend: Na, komm! Ost-Berlin, da wollte ich immer hin, und nun kam plötzlich sogar noch West-Berlin dazu. Sie selber mussten 1989 noch zur Musterung. Ich hatte zum Termin ein bisschen gesoffen. Ich fiel auf. Bei den Liegestützen sackte ich mit Absicht zusammen. Ich war schon beim ersten Anblick ein disziplinarischer Fall, also haben die mich fürs Frühjahr 1990 noch mal hinbestellt. Aber davor hat mich die Weltgeschichte gerettet. Und jetzt kommt von Ihnen bestimmt der Satz: „Harald hatte zum Glück den Schlagbaum aufgemacht.“ Dem Harald bin ich sehr, sehr dankbar. Oberstleutnant Harald Jäger, Grenzposten Bornholmer Straße – eine Ihrer erfolgreichsten Fernsehrollen. Wie war das, als dieser Harald Jäger bei den Vorbereitungen zum Film das erste Mal vor Ihnen stand? Der stand nicht allein vor mir.

„Bornholmer Straße“

Wie? Wer denn noch? Mein Vater und mein Onkel zum Beispiel. Die sah ich immer vor mir, als ich in Bornholmer Straße spielte. Männer aus dieser ­Generation, die ich von daheim kannte. Harald erzählte, ich ­hörte ihm zu und war – schon von seiner sächsischen Stimm­ lage her – voll drin im Sound der DDR, meiner DDR, Diese Leute kannte ich, Idealisten und Soldaten der Idee. An die Grenze in Berlin hinkommandiert, weil sie Berlinfremde waren. Sachsen und Thüringer. Ortsfremde, abgestellt, um das „Eigene“ zu schützen. Es hat nach dem Mauerfall …

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Das klingt immer ein bisschen wie Schneefall, also wie was Sanftes. Stimmt denn das? Sie wollen darauf hinaus, dass die Mauer nicht von allein zu­ sammenfiel, sondern gestürmt wurde. Ja, Sturm – das wird den Menschen und ihrem Mut gerechter.

Mit Vater unterwegs, Carsten links („na ja, nach Punk sieht das noch nicht wirklich aus“)

Gemeint sind die Bewegungen zuvor, auf den Straßen. Da kommen wir zu dem, was ich sagen wollte. Es hat nach dem Mauerfall unablässig Debatten gegeben, wie das Wunder nur geschehen konnte, wieso es keine Gewalt gab, wieso diese – außer der nordkoreanischen – entzündbarste Grenze der Welt sich derart friedlich öffnete. Politologen, Militärexperten, sons­ tige Klugköppe analysieren sich noch immer schwitzend und grübelnd bis in ihre verdiente Pension hinein. Dabei gibt es einen einzigen Satz, der alles erklärt.

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Die Spannung steigt. Warum fiel die Mauer? Weil Harald die Grenze aufgemacht hat.

Haralds Satz für die Welt

Weil Harald die Grenze aufgemacht hat. Klingt sehr banal. Es geht nicht banaler, es geht aber auch nicht größer. Das Große ist ganz banal: Ein einzelner Mensch sagt: Jetzt! Weltgeschichte kennt viele gewaltige Reden. Aber sie kennt auch gewaltige zwei Worte: „Wir fluten!“ Haralds Worte. Er hat diese Worte gesagt, und Sie spielen es, als begriffe er’s gar nicht so richtig. Er sagt es unter Schmerzen! Etwas zu tun und es in dem Moment auch noch zu begreifen, das ist in bestimmten Situa­ tionen zu viel verlangt. Harald hatte einen Impuls – und Punkt. Aus purer Verzweiflung heraus. Ihm krümmte sich der Magen zusammen. Er konnte es selber nicht erklären, und es hätte kei­ nen Sinn gehabt, ihn zu quälen. Frag den Tausendfüßler, wie er das macht, dass er gehen kann – sofort würde er stolpern und sich die Füße verknoten. Wüssten die Vögel was von Ornithologie, könnten sie nicht mehr singen. Harald sagte uns: „Ich sah die vielen Leute an der Grenze, und da dachte ich: Hoch den Schlagbaum!“ So’n Satz verbietet mir als Schauspieler jedes Pathos, jedes dramatische „Ich tu’s!“ Zwei Worte, zwölf Ausrufezeichen? Nee, unmöglich. Bloß keine Groß­ aufnahme! Eigentlich weiß ich noch immer nicht, wie wir das filmisch gelöst haben. Es hat irgendwie funktioniert. Ich denke noch heute manchmal an Harald: Es wird, wenn man die Zeit­ geschichte verfolgt, in einem fort theoretisiert, konzipiert, stra­ tegisch und taktisch überlegt, aber dann folgt ein einziger Mensch seinem Empfinden, und Welten stürzen um. In der Szene, da Jäger den Befehl zur Öffnung des Schlagbaums gibt, sieht man nur Ihren Rücken. Das Gesicht kann man sich doch ausmalen. Sollte ich die Augen

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weit aufreißen, sollte der Mund offen stehen? Nee, dann lieber der Rücken. Der steht in dem Moment für die gebeugte, gequäl­ te Seele, sozusagen. Herbst, Winter ’89, das waren Zeiten, da hing einem schnell die Zunge aus dem Hals. Wie ein Schlitten, der von einem Viertausender hoch oben ins Tal gejagt wird auf unbekannter Piste, und nur die Mutigen greifen ein in die wilde Fahrt – alle anderen schauen staunend, bangend, was passiert, und die auf dem Schlitten versuchen nur, sich festzuhalten und nicht in die Tiefe zu stürzen. Und Ihre Eltern? Am 9. November? Sie saßen sprachlos vorm Fernseher. Tief ­getroffen, ungläubig. Is’ ja auch irre, ich hab’s angedeutet: Du wachst auf und dein Staat ist weg, sang- und klanglos, die ­Geschichte aber zuckt nur mit den Schultern: Was soll’s, es ist, wie es ist. Das musst du erst mal verkraften.

Der Schock der Eltern

Man hat doch nie den notwendigen Bildungs- und Gefühlsstand für so eine harte Wende. Du lebst inmitten der Dinge, wie sollst du gleichzeitig was ­wissen über das, was du lebst –alles verwickelt, verstrickt und versunken. Du drehst dich doch nicht um wie ein Archivar und fängst an, zu ordnen – wo alles rundum von neuen, aufregen­ den Zielen posaunt. Irgendwann sind auch Sie das erste Mal in den Westen gegangen? Knapp eine Woche nach dem Mauerfall, übrigens in der Born­ holmer Straße, wo unser Film spielt. Ehrlich gesagt, war ich ent­ täuscht. Nichts Knallbuntes, nichts Glitzerndes.

Las Vegas? Wedding!

Wedding. Wedding, genau, aber das war doch nicht der erzählte Westen. Wo waren denn die Leuchtreklamen, überhaupt der Hauch von Las Vegas oder so. Wir sind dann zum Ku’damm, und da sah ich

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natürlich den Unterschied zu Feldberg-Carwitz. Mit meinem ­Begrüßungsgeld bin ich zu einer Losbude. Und schon war’s weg. Im Gegenteil. Ich hab gewonnen, hatte plötzlich doppelt so viel Kohle wie vorher und konnte mich einkleiden: echte Jeans, nicht mehr diese Ost-Dinger von VEB Jugendmode. Es gibt in Ihrem Buch einen Satz, der mit klarem Willen nicht zum Punkt findet, gleichsam end-, also atemlos fängt er jene Stimmung ein, in der sich der Song Motorhead in Ihr Mecklenburger Gemüt wühlte. Ich muss diesen Satz jetzt vorlesen. Halt ich aus.

Köpfe groß wie Kürbisse

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„Umso beeindruckender ist für mich der immer wieder berichtete Report, dass seit den Tagen, in denen dieser Song als Ausdruck eines wilden Lebenswandels im Kopf des obersten ‚Motorhead‘ Ian Fraser ‚Lemmy‘ Kilmister wie ein nebenbei erzählter Witz für seine damalige Space-Rock-Band Hawkwind aufgeploppt war, selbiger für den Rest seiner Lebenszeit jenes Speed täglich konsumierte, bis ins hohe Rentenalter – was bei ihm als solches nicht galt, da er nicht in Rente ging, bevor er für immer ging –, er es aber, wie vertraute ehemalige Mitarbeiter berichten, immer nur gegessen hat, nicht geschnieft oder sonst was, nein: immer nur gegessen, in all den Zeiten seiner wilden Lebensreise, während er den Song Motorhead mit seiner Band Motörhead immer wieder zum Besten und zum Bersten gab und damit uns, der wild gewordenen Rasselbande von Anhängern, uns bleichende, schief grinsende Kasperköpfinnen und Kasperköpfe dazu brachte, wie verstrahlte Bienen und Wespen, Hummeln und Hornissen um unsere eigene Achse zu fliegen, immer schneller werdend, bis sich unsere Köpfe zu riesigen, sanft schimmernden Kürbislampions aufblähten, die wie an Halloween von innen zart leuchteten und nach außen grimmig grinsten – ein kollektiver doppelter Speed-Rausch also, angetrieben von Herrn Kilmister und seinen Motörhead-­ Genossen, der genau in dem Moment, in welchem unsere Kürbis-


Kopf-Lampions zu fliegen begannen, ernüchternd endete, da diese Band Motörhead diesen Hawkwind-Song Motorhead ­ schlicht und schnöde ausklingen ließ und wir nun, allein gelassen im Speed-Strahl, wie ein schwarzes Loch implodierten und von da an süchtig darauf warteten, wieder aufs Neue in die Mangel ­genommen zu werden, damit unsere nun wirklich sehr laschen und ausgetrockneten und hohlwangigen Gesichter im orange­ farbenen Himmel des ewigen Sonnenunterganges an der fernen Westküste Kaliforniens, der Wahlheimat dieses Mister Kilmister, wieder erleuchtet würden und erneu zu fliegen begännen …“ (Lacht.) Was denken Sie, wenn man zu Ihnen sagt: Ah, ein Ossi? Mecklenburger bin ich, alles andere ist Medien-Kategorie. Mecklenburg ist kaum eine Gegend der Elementarkräfte. Kein erloschener Vulkan, kein hoher Gipfel. Hier begegnest du einer Landschaft, die Verständnis hat für die innere Stimme des Menschen, die dich begleitet, die mit sicheren Händen die Abende in den Morgen hinüberführt. Unterschreib ich. Dort weiß jeder viel von den Schönheiten des Gemäßigten, ein jeder weiß, dass der Raps seine Zeit braucht zum Wachsen. Ein Land ohne dämonische Spannung. Oder gerade umgekehrt – stille Wasser sind ja bekanntlich nicht flach. Ich stelle mir das so kindlich vor: Früher war da der Fürst, und da waren die Bauern. Reiche Bauern, arme Bauern. Es gab auf den Feldern und im Stall nicht diesen guten Ton der Bürger­ stube, es störte kein eigenes, also auch kein verwirrtes Bewusst­ sein jenseits von Gott und Herzog. Bewusstsein brauchte der Bauer für das Wesentliche: Man las das Wetter, man wusste, was die Tiere brauchen, die Befehle kamen von oben und Punkt. Gott musste nur zur rechten Zeit Regenstrahl oder Sonnen­ strahl sein, und schon hatte er gewonnen.

Gott war der Regen- oder Sonnenstrahl

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Ihr Leben auf dem Lande. Gehörte die Kirche dazu? In unserer Familie nicht. Erst als der Staat bebte und bröselte, kriegte der Sonntag plötzlich einen neuen rituellen Aspekt: Unser Vater ging mit uns doch tatsächlich – in die Kirche. Wir Kinder guckten uns überrascht an: He, was war das denn! Na ja, wir sind mitgegangen. Unbekannte Lieder, unbekann­ tes Auf­ stehen und Wiederhinsetzen. Aha, das also war Gottesdienst. Wir grübelten: Was war nur in unseren Vater gefahren. Kam da etwas Verdrängtes bei ihm zum Vorschein? Ja, ist zu vermuten. Suche nach Halt. Erinnerung an etwas Bei­ seitegeschobenes. Ein Besinnungsversuch. Als er schon gestor­ ben war, kam raus, er, der Genosse, war nie ausgetreten aus der Kirche. Vater war einer der Ersten in der jungen DDR, die der SED beigetreten sind.

Genosse und Kirche

Es erübrigt sich die Frage, ob Sie religiös erzogen wurden. Wurde ich nicht. Aber heißt das, in Ihrem Denken und Fühlen sei nichts Religiöses? Ist doch aufregend, sich zu etwas in Beziehung zu setzen, das nicht zu erfassen, nicht zu begreifen ist.

Ist Gott die große Story?

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Wie emanzipiert sich der Mensch von Gott? Herr Schütt, das sind Fragen, die studiert der eine oder die an­ dere lebenslang. Ist Gott Weg? Ist Gott Lösung? Und dann auch Erlösung? Ist Gott man selbst? Oder ist Gott nur eine große poli­ tische Story, um im Chaos Struktur zu schaffen? Mein Eindruck: Gott ist alles zusammen, und weil das aber zu abstrakt daher­ kommt, musste die machthabende patriarchalische Welt eine Papa-Figur erfinden, die uns sagt, wo es langgeht. Und wie jeder Teenager sich in gewisser Weise vom Papa verabschiedet, emanzipiert, so kann man sich also auch vom Papa Gott lösen – während man sich von dem Ganzen als solches nicht emanzi­ pieren kann. Warum? Da das Ganze als solches auch ich bin!


Und das käme ja dann eher einer Spaltung gleich als einer ­Lösung. Also kann die Emanzipation von Gott immer nur ein Wandel in Gott sein, und das ist dann schon die Aura der Schau­ spielerei – die Verwandlerei. Also ist Gott ein einziges großes Theater (lacht). Na ja – wie gesagt, manche studieren über das Leben hinaus zu dieser Frage. Herr Hübner, was ist das: ein Dorf? Kirche unbedingt. Dann Rathaus, Bäcker, Schuster, Kaufhalle, zwei Fleischer, Schule und Kindergarten. Man kann sagen: Andere fühlten sich in der DDR umzingelt von einer Mauer, einer Grenze. Sie waren in Ihrer Kindheit und Jugend umzingelt von Wasser, Wald und Wiesen. Ein Paradies. Unser soziales Netzwerk hieß: draußen. Nahezu ganztägig, bis zum Sonnenuntergang. Das Kesselmoor, die Stille, die Seen, etwa der Zansen oder der Breite Luzin. Das Versteckspielen im Hühnerhof oder in einer ausgehöhlten Eiche. Kletterübungen auf sämtlichen Bäumen. Wir wirbelten den Staub auf den ­Feldern auf, bewarfen uns mit Kartoffeln, mitunter auch mit Steinen, die wir für Kartoffeln hielten. Oder auch mal in voller Absicht mit ihnen verwechselten. In den Ferien schaufelte ich als Junge Korn oder habe in der Melioration gearbeitet, hab ­geholfen bei der Säuberung der Kanäle vom Schlamm und von Bisamratten. Bis zur Hüfte stand man im Wasser. So sparte ich mir den Kassettenrekorder zusammen, um Heavy Metal zu ­hören.

Das soziale Netzwerk hieß: draußen

Bisamratten? Die bevölkerten den Grund der Kanäle. Eine sprang mich an. Ich stand starr. Ein Bauer riss sie mir mit präzisem Schaufelruck von der Latzhose, sie flog weit aufs Feld. Regelmäßig wurde im Ort geschlachtet, Schwein oder Lamm. Ich habe immer gesagt, das ist hart, wenn du als Kind siehst, wie ein Tier zum Gegenstand wird.

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Im Buch Motörhead schreiben Sie: „Leute ohne Deibelsblut ­kommen fixer unters Rad der Zeiten, un sie haben keen Humor.“ Das lassen Sie den Teufel sagen, mit dem Sie im mecklenbur­ gischen Hullerbusch ins Gespräch kommen, schnell und reibungslos, als seien Sie verwandte Seelen. Sind wir. Verwandte Seelen. Was ist das: Deibelsblut? Spielerisch sein! Das sein, worüber wir reden. Über Stränge schlagen. Sich nicht immer verstellen vor sich selber. Mal aus­ reizen die Dinge, auch wenn Warnschilder stehen. Aber klar: Spielerisch sein, das ist bei uns in Mecklenburg keine automati­ sche Beigabe in der Wiege.

Deibelsblut

Wenige Deibel in der Familie. Einer meiner Großväter hatte dieses Deibelsblut, die Eltern auf ihre Weise auch. Gab es überhaupt stärkere musische Wurzeln in der Familie? Ein Großvater war Apotheker, der trug Stöckchen, wollte hinein ins größtmögliche Bürgertum, der andere Großvater war Bauer, ein Kommunist. Musische Wurzeln … na ja, eine meiner Groß­ mütter war Tänzerin, sie arbeitete sogar mit Gret Palucca ­zusammen. Und mein Vater war in seinem Herzen, wie man so schön sagt, eine „Rampensau“. Also eigentlich auch: Deibelsblut. Er gründete im Dorf den Karnevalsverein, hielt sehr gern Bütten­ reden – ist ja eigentlich ein Unding: Fasching in Mecklenburg! Er hatte große Sehnsucht, sich zu zeigen, indem er andere unter­ hielt. Es ist immer die Frage, ob das Leben dir bei diesem Wunsch entgegengeht oder ob es sich dir entgegenstellt. Wie stark bist du oder wie ohnmächtig, wenn die Sehnsüchte kommen? DT-Schauspieler Christian Grashof erzählte: „Mein Vater war ein Filou, ein Hochstapler. Er war Kraftfahrer bei der Stadt, entsorgte

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die Fäkalien. Sonntags kämmte er sich die Haare mit Zucker­ wasser, eine stundenlange Arbeit am Mittelscheitel, er steckte sich zwei Zigarren oder drei, vier Zigaretten ins Täschchen am ­Revers – es war der alte Anzug seines Vaters – und lachte. ­Rauchend ging er durch Löbaus Hauptstraße, und gern fragte er möglichst laut in den Sonntag hinein: ,Parlez-vous français?‘ Mehr französisch konnte er nicht. ,Guten Tag, gnädige Frau!‘ – solcherart Grüße verteilte der Fäkalienfahrer im Vorüber­ gehen.“ Schöne, traurige Geschichte. Welche Rollen erfindest du dir? In welchen Spielplan klinkst du dich ein? Warum ist die Geschichte traurig? Weil dies die am weitesten verbreitete, die undankbarste Hauptrolle in der Welt ist: der unfreiwillige Kleindarsteller.

Lob der Kleinen

Kleindarsteller sind Sinnbildner. Sie erzählen das Theater auf besondere Weise. Das Kleindarstellerschicksal, würde Thomas Bernhard sagen …, hatte nicht auch jeder von ihnen an das unbestreitbare Talent geglaubt, daran, dass er gewiss bald zum Höhenflug ansetzen würde? Vielleicht besitzt ein Mensch dieses Talent wirklich, aber in einem bestimmten Moment seines Lebens, da sich für ihn viel hätte fügen können und müssen – just da hat ihn ein entscheidender Anruf nicht erreicht; ausgerechnet da hat ihn ein wichtiger Mensch nicht gesehen; und unglücklicherweise da ist ihm eine Strähne Glück aus der Stirn gefegt worden. Wer ins Theater geht und Hamlet sieht, der höre genau hin, wenn zu Beginn, vor dem Schloss von Helsingör, der Wachsoldat Francisco in die Mitternacht hinein bibbert: „’s ist bitter kalt / Und mir ist schlimm zumut!“ Mehr sagt er nicht. Aber vergessen wir mal Hamlet und denken fünf Akte lang nur an diesen einen dänischen Soldaten. Dem schlimm zumute ist, und keinen rührt’s. Ja, wie vielen geht’s so.

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Wie? Zweitbesetzung zu sein und darüber alt zu werden. Ziehst in Schlachten, die nicht die deinen sind. Bist Rand und darfst nie Vordergrund sein. Wenn die Textbücher verteilt werden, be­ kommst du nur ein mäßig beschriebenes Blatt. Musst auf der großen Existenzbühne stumm hinten stehen, obwohl auch du am liebsten an die Rampe rennen würdest. Musst aber ge­ pflockt stehen bleiben wie so’n Baum. Das ist nicht wirklich lus­ tig. So wird’s im Leben zur gefährlichen Grundregel: Spiel dich nach vorn! Rede dich nach vorn! Drängel dich nach vorn! Wie reagierte Ihr Vater aufs Deibelsblut in Carsten? So etwa drei Wochen vor seinem Tod kam raus: Er fand gut, was ich so trieb. Aber er war bis dahin still geblieben, keine Gefühls­ übertreibung, kein Lob. In der „Deutschen Reihe“ auf der Berli­ nale lief Autopiloten, ein Film von Bastian Günther, ich spielte einen Vertreter für Badewannenlifte, ich zeigte meinem Vater den Katalog, er knurrte leise, und es sollte wohl ein lauter Jubel­ gesang sein: „Junge, ich bin stolz auf dich.“ Ich denke, er hätte so was am liebsten selber gelebt: ein Leben, in dem man seine Fantasie nicht unterdrücken muss; ein Leben unbeengt, un­ dienerisch. Es ist ihm nicht gelungen, so sah er wohl in einer Mischung aus still getragenem Neid und ebenso still gefühltem Stolz auf seinen Sohn.

„Junge, ich bin stolz auf dich“

Und Ihre Mutter? Sie nahm mich lange nicht ernst. „Mach was Kluges!“, lautete ihre Mahnung angesichts meines Komödiantentums. Einmal sahen meine Eltern Antigone in Frankfurt, wir spielten vor ausverkauf­ tem Haus, hinterher bekannten beide, so schlagermäßig: „Wir ha­ ben alle geklatscht.“ Da klang Erstaunen, ja Ungläubigkeit mit. Schauspieler und ihre Eltern als Publikum! Der erwähnte Christian Grashof begann seine Laufbahn am Theater in Karl-MarxStadt. Die Eltern erleben ihn in Kabale und Liebe. Die Mutter seufzte hinterher sehr besorgt: „Junge, du hast ja mächtig ge-

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schwitzt! Du, sag doch deinem Direktor, das nächste Mal soll das ein anderer machen, denn du schaffst das nicht, du machst dich ja fertig. Ich seh das doch!“ Oder die Eltern von Friedo Solter, ebenfalls DT, sie gehen extra ins Theater, um endlich mal ihren Sohn auf der Bühne zu sehen. Im dritten Akt irgendeiner Aufführung fragt die Mutter flüsternd den Vater: „Wann kommt denn endlich der Friedo?“ Die Antwort, zischend: „Er spielt doch schon die ganze Zeit!“ Die Mutter erwidert: „Nicht wahr, ich habe auch schon die ganze Zeit gedacht, das könnte er sein.“ – Noch mal zum ­Teufel in Ihrem Buch: Er ist „knochig und knorrig und gemütlich“. Der Teufel ist sechs Meter groß, hat lange rotschwarze Rasta­ zöpfe und Krallen. Bei mir um die Ecke, auf dem Lande, gibt’s den Teufelsstein. Eine hilfreiche Adresse. Der Teufel ist der reiz­ vollste Reiseführer auf Erden, er kommt aus uns und kennt

Platzkonzert mit Carsten – „lange vor Motörhead“

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unsere Untiefen. Die sind die Hölle. Du weißt nie genau, wohin der dich führt. Für mich war er im Buch der Trick, um Lemmy wieder lebendig zu machen. Für ein fiktives Interview. Aber beim Festival im norddeutschen Wacken hatten Sie Lemmy Kilmister schon mal live erlebt. Krass! Lemmy, der Gandalf des Rock ‘n’ Roll! Es hieß, er sitze in seiner Garderobe und lese Krieg und Frieden. Tolstoi und dann raus und Ace of Spades – trocken und groß! Ace of Spades: „Wenn du gerne spielst, ich sage dir, dann bin ich dein Mann. Mal gewinnt man, mal verliert man, mir ist das alles gleich. Das Vergnügen ist das Spielen, ganz gleich, was du sagst. Ich bin nicht so gierig wie du, die einzige Karte die ich brauche ist: das Pik-As. Das Pik-As.“ Genau. Nach einer halben Stunde kam in Wacken leider der ehrliche, wahrhaftige, harte, traurige Schluss des Konzerts. Abbruch. Lemmy war sehr krank, und er verabschiedete sich von den Fans: „Sorry, guys, I have to stop now, before I’m ­dying.“

Ace of Spades

Sie arbeiten derzeit mit an einem mehrteiligen TV-Filmprojekt The Legend of Wacken. Sie sind Hauptdarsteller und arbeiteten am Drehbuch mit. Wacken ist inzwischen eines der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt und eines der Open-Air-Ereignisse Deutschlands. Meh­ rere Autoren schrieben für diesen Film Geschichten, wahre und erfundene. Dieses Festival in Schleswig-Holstein, das es seit 1990 gibt, war der Versuch einer Alternative auf Zeit – zum ge­ sellschaftlichen Beton der Endachtziger. Was war diese Zeit? Für die Westdeutschen? CDU, Helmut Kohl, Wiedervereinigung. Bausparvertrag und wohldosierte mittelständische Sinnlichkeit – die bestand aus Karneval und Betriebsfeiern als wahrer Aus­ druck von Heimat. Wir erzählen im Film von Jugendlichen, die

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lieber UK Subs, AC/DC, Accept oder Manowar hörten, als in die CDU einzutreten. Wie berührt Sie dieser aufgeladene Begriff Heimat? Die Heimat ist zu Hause am schönsten (lacht). Sie hat was mit Geborgenheit zu tun, das suche und finde ich nicht in politi­ schen Konstellationen. Die nerven und belästigen eher. Weil das Ganze überall verbunden ist mit Kampfbegriffen und diesem elenden Rechthabenwollen auf allen Seiten, und eben auch mit reaktionären Denkweisen bis hin zur sehr brutalen Rechtsradi­ kalität. Ein Satz von Ihnen: „Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es Menschen gibt, die sich völkisch verankern.“ Was die einen offen macht, macht anderen Angst. Lebensent­ würfe stehen immer auch im Clinch miteinander. Wichtig ist, dass das nicht gewalttätig geschieht. Die Realität sieht leider anders aus. Hat die Wende die Neonazis rübergespült? Vom Westen in den Osten? Nee, die waren schon lange da. Die standen in Neustrelitz vor den Discos, Mitte der achtziger Jahre, und haben Reinheitsgebot gespielt. Sie haben’s am eigenen Leib erfahren? In Neustrelitz, da bin ich ab 1989 zur Schule gegangen. In einem Jugendclub bin ich sofort aufgefallen, die ungescheitelten lan­ gen Haare, die Jeansjacke, da wurde es schon zum Abenteuer, ein Bier zu bestellen. Das war Spießrutenlauf. Die Neonazis ­haben ohne Vorwarnung draufgedroschen. Du merktest sofort: Hier wird Gelände besetzt, Vorsicht, hier wird gnadenlos aus­ sortiert. Gnadenlos hieß: mit Gewalt.

Neonazis, Neustrelitz

Neustrelitz. Das war auch Ihr Theater-Erweckungserlebnis. Wir hingen nur rum, ich war 11. Klasse. Die Erfolgsinszenierung damals am Theater war Romeo und Julia, plötzlich kamen diese

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Der Sound des Theaters

Schauspieler in unser Blickfeld, sie trugen venezianische Mas­ ken, ein ganz anderer, fremder Sound streifte uns. Diese Leute hatten lange Mäntel an, sie lachten und tranken und freuten sich über ihre Ideen: nicht lange überlegen – machen! Das gefiel uns. Diese Leute schmissen mit Büchern nur so um sich, und da flog eben auch mal ein Stefan Heym vorbei und so ’ne Sachen. Wir saßen in der Kantine von denen und bemalten Kassen­ zettel, die dort in Massen rumlagen, mit Bleistift. Spontane Skizzen, Comic-Szenen. Der Wirt sagte: Macht doch mal ’ne Aus­ stellung! Die Kantinenwände wurden umgehend zur schönsten Galerie. Wie viele Bücher gab es daheim? Lesen war nicht so angesagt. Mein Vater war ein Freund der Unterhaltungskunst, er liebte Schlager, Musicals, Operetten. Die leichte Muse half wahrscheinlich vielen Leuten, die Düster­ nis des erlebten Krieges aus den Seelen zu vertreiben. Die ­Therapien dieser Generation hießen Schweigen oder überbor­ dende Aufbau-Euphorie. Auf jeden Fall galt für Menschen nach jener furchtbarsten Katastrophe die Parole, die man immer auch im zitternden Vorfeld schlimmer Zeiten hört: Hoppla, wir leben noch! Die Drohung und die Folgen irgendeines Overkills. Sehen Sie! Wie Motörhead. Genau. Vergleichen Sie das wirklich miteinander? Der eine mag den Kitsch, der andere Kilmister. Der steht als Monolith wie der Operettenbuffo. Beides ist auf seine Weise Totalopposition gegen die Wirklichkeit? Ja. Sie fragten nach Büchern. Nach dem Mauerfall, es war ­Abiturzeit, fiel mir ein Literaturkanon in die Hände, aufgestellt von Marcel Reich-Ranicki, es war eine Buchreihe, darunter auch Thomas Mann, Klaus Mann – der Vater funktionierte bei mir ­damals überhaupt nicht, der Sohn sehr wohl, Der Wendepunkt

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brodelte. Das war wie eine Brandung. Vor allem aber gab es in diesem Kanon einen Autor, dessen Namen ich noch nie gehört hatte: Uwe Johnson, Jahrestage. Das las ich, das ließ mich nicht mehr los, später dann auch Mutmaßungen über Jakob, Das ­dritte Buch über Achim. Ich traf auf Mecklenburg, ich traf auf dieses Spröde, das war mir so nah, aber es war bei Johnson auf eine Weise Literatur geworden, die ich zugleich als etwas total Fremdes wahrnahm. Ich glaube, ich las das erste Mal etwas, bei dem ich fühlte: Wenn du liest, geht es nicht darum, was zu ­greifen, sondern ergriffen zu werden, weiß der Deibel, wovon. Das also war ich, ein Abiturient in Wendezeiten: Ich las Uwe Johnson und Stefan Heym. Was noch? Von Heinrich Böll Der ­Engel schwieg, von Hermann Hesse Der Steppenwolf. Sie trugen lange Haare damals. Und ob! Bettelhippie-Look. In Prag schenkte mir ein Mann Ro­ sen, er hatte mich von hinten gesehen und dachte, ich sei eine Frau. Also: lange Haare und Kopftücher. Oder Cowboyhut. Den hatte ich mir nach der Maueröffnung auf meiner ersten Türkei­ reise gekauft. Wunderbar, wenn man sich angstfrei bewegen kann. Da erst fängt doch nichtentfremdetes Leben an. Wenn du mit allem, was dich so unvollkommen macht, ungehemmt umge­ hen kannst, ohne Scheu. Herrlich, wenn man sich selber nicht mehr peinlich ist. Einmal, September war’s, ging ich mit mei­ nem langen Mantel durch Feldberg zum Handballtraining, der Sohn des Gärtners sah mich und sagte: Du, Charly, Fasching ist im Februar. Mantel und Hut – das war meine Ansage an die Welt, meine Absage an sie.

In Mantel und Hut gegen die Welt

Fred Düren, Legende am DT, fauchte als junger Schauspieler mit wehendem roten Kunstledermantel durch Ludwigslust. Na also! Stil hat Tradition (lacht) … Nee, nee, Hübner und Düren, das ist: Staubkorn gegen Universum.

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In Werner Herzogs Film Herz aus Glas wollen vier Männer ans Ende der Welt, um zu sehen, ob dort wirklich ein Abgrund ist: „Ja, und dann brechen sie auf, pathetisch und sinnlos, in einem viel zu kleinen Boot.“ Das kleine Boot war bei mir das besagte Landestheater in ­Neustrelitz. Dort lauerte der Zufall auf mich. Ich saß, zufällig, in der Generalprobe von Nikolai Erdmans Stück Der Selbstmörder, Regie: Thomas Bischoff, und ich war überwältigt. Was war das denn? Marc Hetterle, Sylvana Krappatsch, Henry Meyer – tolle Schauspieler. Total schräg, was die machten. Das war mein ­erstes bewusstes Theatererlebnis. Kumpels hatten mir gesagt, komm doch mal her, mach mit, das ist eine coole Truppe. Sozu­ sagen die Laientheater- und Jugendklub-Phase. Nach dem ­Abitur bin ich dann Regieassistent dort gewesen – und spielte selber mit. Aber völlig irrwitzig war für mich die Vorstellung, so ein Bühnendasein könnte ein Beruf sein.

Thomas Bischoff

Ein Freund von Ihnen rezitierte eines Tages einen Monolog aus Hamlet – im Amphitheater von Ephesos. Das muss malerisch ­gewesen sein. Malerisch? Das hat mich schwer beeindruckt. Mein Freund wollte Schauspieler werden. Er schwärmte ununterbrochen vom Theater. Und dann haute er diesen Shakespeare raus – he, dachte ich, was ist das denn! Das Amphitheater muss an die 25 000 Plätze gehabt haben. Er rezitierte laut, das war eine Art Test: Wie ist die Akustik auf so einem Platz der klassischen Welt­ kultur? Rundum Touristen, die haben applaudiert. Ich staunte, ich war begeistert.

Hamlets Schrei in Ephesos

1990, Ephesos. Auf in den Westen! Wir sind damals, im Sommer, in die Türkei gefahren. Über Prag, wo das berühmte Bierlokal U Fleku zum Transit-Treffpunt rei­ sender Ostler geworden war. Die kamen von überallher. Knödel, Bier und Schweinebraten, so wurde Freiheit buchstabiert. Schwejks legendäre Kneipe war unsere eigentliche Grenz­ station zwischen Ost und West. Da trafen sich die Cliquen. Die

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Schleusenkammer sozusagen. Und: zwei Tage Tankstation. Dann ging’s weiter. Balkan, Türkei, überallhin Richtung Süden und Südosten. Ich hörte also meinen Kumpel mit seinem ­Hamlet-Urschrei und spürte so was wie ein Erweckungssignal. Das wurde immer lauter. Coole Truppe Neustrelitz – was hieß das im Zusammenhang mit Thomas Bischoff? Den Kern der Sache überblickte ich damals natürlich nicht. Nördlich von Berlin gelegene Theater waren eine Zeit lang ­Sammelpunkte junger Theaterleute, sie suchten nach ihrem Studium einen gemeinsamen Raum für ein bisschen Extra­ vaganz und ungestörte Gruppendynamik. Anklam, Parchim, Greifswald. Dafür stehen bekannte Namen von Regisseuren: Adolf Dresen, Jürgen Gosch, Leander Haußmann, Frank Castorf. Es gab so eine ansteckende Lust an einer besonderen Atmo­ sphäre zwischen den Leuten.

Anklam, Parchim, Route 66

Castorf hat später gesagt: „Anklam war meine Route 66. Genau genommen ist die ganze Welt Anklam.“ So war das auch in Neustrelitz. Stark, wie Bischoff das Theater, na ja, das kann man so sagen: entnaturalisierte. Alles scheinbar Natürliche, Profane war ausgetrieben, Betonungen wurden gegen den Strich gesprochen. Also: weg von der sogenannten Normalität! Theater ist doch aber letztlich auch – Normalität. Es besteht ebenfalls aus Verabredungen. Stimmt, und Verabredungen bremsen immer auch. Aber wenn schon Verabredungen, dann lieber im Theater. Da lache ich mehr. Wenn ich das Unmögliche darstellen kann, wird das ­Leben erträglicher. Welches Leben? Ein Leben, das einem das Erlebnis offener Momente verweigert. Arbeiten, ohne dass es Folgen hat? Das darf man heutzutage

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gar nicht laut sagen: dass einem die Effizienz kein Kriterium ist. Das klingt äußerst fahrlässig in dieser Zeit, in der dauernd Rech­ nungen aufgemacht werden. Das Theater lebt davon, dass es Eintrittskarten verkauft. Aber im Grunde habe ich als Schauspieler nichts zu verkaufen, sondern nur was zu verschenken. Hat Jürgen Holtz so schön ­gesagt. Wir schenken den Leuten Ideen, wie man die Welt auch betrachten kann, und wir schenken Atmosphären. Bevor das ­Soziale uns prägt, was immer so hervorgehoben wird, gesche­ hen Schwingungen zwischen den Menschen. Die berühren und formen uns genauso. Wenn man ins Theater geht und nach der Vorstellung wieder rauskommt: Man hat nichts davon. Aber man hat sich selber. Thomas Bischoff, um den es leider still geworden ist, war ein ­Regisseur, hinter dessen Namen man Ausrufezeichen setzte. Mir gefielen diese ausgestellten Fehler beim Sprechen von Thea­ ter­texten. Es war eine ganz eigene Form, sich den Kunstkanon an­ zueignen. Selbstbewusst dilettantisch. Da fühlte ich mich wohl.

Das „Ost“ auf dem Dach

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Sie betonten Mecklenburg. Ost und West, ist das für Sie auch immer noch: Ost gegen West? Das „Ost“ auf dem Dach der Volksbühne war für mich ein wich­ tiges Wahrzeichen Berlins. Schmutz, Wodka, Sturköpfigkeit, produktivste Faulheit, der Blitz in der Nacht, der Sand im Ge­ triebe, der Fehler im System. Aber mit der Ideologisierung von Ost und West und den Unterschieden kann ich nichts anfangen. Auf wessen Seite bist du? Sag mir, wo du stehst! Blankes Elend, solche Fragen! Das hatte sich ja nach dem Guillaume-Skandal in Bonn noch mal verstärkt: Bekenn Farbe! Sei wachsam! Das ist die Mitgift einer Generation, in der Revolution und Gegenrevo­ lution, Gut und Böse, Wahr und Falsch, Freund und Feind, Sieg und Niederlage zwei mit Gewalt besetzte Alternativen waren.


Die alles wollten und ins Nichts führten. Und die in ihrer Absolutheit für Jüngere beizeiten abgewirt­ schaftet haben. Für mich auch. Ost-West, das ist Geopolitik. Ich bin kein Geopolitiker, in diese Richtung will ich also auch gegen­ wärtig nicht dauernd posaunen, ich sei aus dem Osten. Aber! Aber – und noch mal: Ich bin Mecklenburger, das macht die sonst so abstrakte Debatte sehr konkret. Wie halten sich bei Ihnen Fern- und Heimweh die Waage? Bin ich daheim, will ich raus, bin ich draußen, will ich zurück. „Es gibt noch eine Welt woanders.“ Brechts Coriolan. Und in dem Zusammenhang: Die Zug-Metapher hat es Ihnen angetan. Sie zieht sich durch Ihr Buch. „Die Zeit rast und das kleine Licht des Lebens juckelt wie ein Vorortzug unaufhaltbar dahin.“ Bimmelbahn „Leben“ … Wir sind auf Gleise gesetzt, die freie Wildbahn gibt’s nicht wirklich. Das macht die Träume von Freiheit so spannend. So spannend, aber auch so relativ. Wir kommen in Fahrt oder nicht. Auch Ab­ stellgleise gibt’s, Gras zwischen den Schwellen. Wer stellt die Weichen? Wir selber? Oder wer? Achtung, Zugdurchfahrt – an dir rauscht was vorbei, das hat mit Ferne, mit weiter Welt zu tun, und du selber stehst klein und starr als Punkt am Bahn­ steig, ein Punkt, den der Fahrtwind wegpusten kann. Manchmal verstehen wir nur Bahnhof … Sie sehen, rund um den Zug lässt sich herrlich fabulieren.

Wer stellt die Weichen?

„Kurz vor dem Speisewagen meines kleinen Lebenszuges haben sich ein paar Desperados eingenistet, die den Gang komplett versperren. Man muss über sie steigen, um weiterzukommen, und jeder Versuch wird lachend und johlend kommentiert. Diese knurrende Rasselbande ist die Band Motörhead.“ Wieder ein Buchzitat.

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Ich sag ja: Lebenszug gleich Bummelzug (lacht). Mal sehen, wo’s mich noch hinführt. Hamburg ist nicht Endstation? Nein. Es kommt ja bei solchen Entschlüssen für einen Lebensort vieles zusammen: Familie, Kraft, Zufall, die momentane Sehn­ sucht, auch der Druck und die Auftragslage. Mal sehen. Ich find’s schon gut, fort zu sein, bis einem das bislang Eigene fremd wird. Bis man den, der man daheim war, nicht mehr ohne Wei­ teres versteht. Woran denken Sie? Vielleicht Barcelona, Marseille, Buenos Aires. Wo ich die deut­ sche Sprache nicht habe – so wird sie einem wieder schön. Klar kann man das auch anders sehen: Überall ist nichts, aber ­daheim ist das noch am ehesten zu ertragen. So wird man zum kosmopolitischen Patrioten (lacht). Jetzt spricht der Schauspieler, der im Film Asterix und der Zau­ bertrank den Obelix synchronisiert hat. Herrlich! Es gibt Kunst, in der Heldentum noch erträglich und aufbauend ist.

Feine Sahne Fischfilet

Obelix, das Musterbild des Patrioten, im Kampf gegen Rom. Er ist so was wie der Weißclown in der französischen Clownerie. Aber ich denke jetzt eher an Jan „Monchi“ Gorkow von Feine Sahne Fischfilet. Die hab ich mal die nördlichsten Gallier ge­ nannt. „Monchi“ steht fest auf vorpommerschem Boden. Der geht da nicht weg. Das wilde Herz schlägt für den Ort, an dem man alt werden möchte. Aber, um das zu bekräftigen: Heimat ist für Sie kein Idyll. Auch diese Klinge ist zweischneidig. Das Heimelige im Wort Heimat ist das totale Idyll, und das Idyllische kann Heimat ­werden, wie meine Frau, ihr Sohn, meine Geschwister, meine

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Arbeitsfamilien und die großen Stillen im Süden Mecklenburgs. Aber das, was Heimat als geografische und politische Herkunft meinen will, ist kein Idyll, ganz und gar nicht. Der schöne, feste Boden hat Risse. Die Leute im Osten merken, wie man ihnen übelnimmt, dass sie letzten Endes doch nicht nur Kopien der Westdeutschen sein wollen. Das Bewusstsein dafür ist bei den Ostdeutschen erst langsam wieder wach geworden. Erst lang­ sam spürte man: Man traf wieder auf die alte Rechthaberei. Diesmal bestand sie in der Heiligsprechung einer erfolgsorien­ tierten Kapitalgesellschaft. Mehr und mehr ist so auch die Wut wach geworden. Und die aufzunehmen und zu benutzen, das ist rechter Politik auf bedrohliche, gespenstische Weise gelungen.

Dreharbeiten zu Wildes Herz, 2017

Deshalb hat Sie Feine Sahne Fischfilet interessiert? Wegen des Mutes zur Gegenwehr? In erster Linie wegen der Energie, sich nichts gefallen zu lassen.

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Eintauchen ins kühle Mecklenburg. Dreharbeiten zu Wildes Herz, 2017: Jan „Monchi“ Gorkow (l.), Regisseur Charly Hübner (2. v. r.), Martin Farkas (r.)

Feine Sahne Fischfilet, die Vorpommersche Punkband, über die Sie den Dokumentarfilm Wildes Herz drehten. Ein heftig dröhnender Antifa-Trupp. Ein biografischer Kreis, der sich schließt: Denn da sind Ihre eigenen Auseinandersetzungen mit Rechtsradikalen in Neustrelitz, da ist Ihre musikalische Nähe zum „Lärmuniversum“, und da ist Ihre vom ermatteten Zustand des Theaters genährte Sehnsucht nach Härte und Kraft. Die Gruppe singt in Richtung Polizei: „Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein, und danach schicken wir euch nach Bayern, denn die Ostsee soll frei von ­Bullen sein.“ Kein Wunder, dass der Landesverfassungsschutz hellwach wurde. Das soll er ja wohl immer sein, oder? Die Rede ging offiziell von „Vorpommerns gefährlichster Band“, von „rhetorischer Gewalttätigkeit“.

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Wo Gewalt unterdrückt wird, ist sie am gefährlichsten. Deshalb gibt’s die Kunst. Das ist doch ein ganz altes Ding, ein jahrhun­ dertealtes Ding: Kultur gegen das Staatliche. Kunst darf Gewalt thematisieren; Politik muss Gewalt verhindern. Es spielte in unseren Gesprächen bereits eine Rolle: Ihre Eltern haben die Wende nicht gut überstanden. Ich hab ja den 9. November 1989 beschrieben – der Zusam­ menbruch der DDR ist über sie gekommen wie ein Schicksals­ schlag, das muss man schon so sagen. Es ist manchmal lebens­ entscheidend, ob man ein paar Jahre früher oder später geboren wird. Wie viel Kraft bleibt für einen Neuanfang? Wie viel Energie ist noch da für den neuen Lernstoff in der Schule des Lebens? Die keine Ferien kennt. Leider. Mein Vater hat sich noch einmal gestrafft und nach dem Ende der DDR alles in die Gastronomie geworfen. Obwohl er überhaupt keine Ahnung von den neuen wirtschaftlichen Ver­ hältnissen hatte. Er kriegte ein Darlehen, das machte hoffungs­ voll, aber er dachte und fühlte nicht sehr profitabel. Nach sechs Jahren musste er Insolvenz anmelden. Er war Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Geschichte habe ich inzwischen oft erzählen müssen. Wahr­ scheinlich zu oft. Du merkst sofort, wie die Schablonen der Neu­ gier rattern. Wir fuhren nach der Premiere des Films Das Leben der Anderen im Auto nach Hause. Ich spiele einen Stasi-Offizier, es gibt im Film Bilder von den Überwachungsmethoden, und plötzlich sagte mein Vater: „Solche Kameras hatten wir nicht.“ Meine Mutter auf dem Rücksitz nestelte nervös an der Fenster­ kurbel herum. Über das, was er da sagte, hatte er niemals offen mit uns gesprochen. Ein Jahr danach starb er.

Dieser Satz des Vaters

Nichts geahnt, nichts gewusst?

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Das Puzzle ergab einen IM

Ich? In den neunziger Jahren verfolgten wir gespannt diverse Stasi-Outings, und mein Bruder und ich hatten nach und nach den Eindruck, dass es verwunderlich wäre, wenn der Vater nicht auch IM gewesen sei. Die Puzzleteile fügten sich nur langsam. Eines Tages war er mit uns Kindern in den Stadtpark gegangen. Wir steuerten auf die große Wiese zu, die ist von allen Seiten einsehbar. Warum? Das hatte er doch bisher nie gemacht. Mit­ ten auf dieser Wiese hat er uns daran erinnert, dass er ja öfters auf Dienstreise gehe, und bei den Leuten, für die er das tue, kön­ ne er jetzt für immer arbeiten. Allerdings sei er dann nur noch an den Wochenenden daheim, aber es gäbe mehr Geld, und wir bekämen ein Auto. Natürlich wunderten wir uns, dass er uns das alles nicht zuhause im Wohnzimmer, sondern im Freien, auf einem gut einsehbaren Rasenstück mitteilte. Viel später erst war uns klar, dass er über die Aussichten einer Stasi-Laufbahn sprach. In einem Interview haben Sie gesagt, erstmals im Herbst 1989 den Begriff Stasi gehört zu haben. Nicht zu fassen, aber es ist wahr. Ich nahm an einer Demonstra­ tion teil, das Wort stand auf einem Transparent, ich musste mir das von einem Kumpel erklären lassen, der etwas älter war als ich. Natürlich kannte ich die Firma, Mielkes Club oder Horchund-Guck hieß das bei uns im Dorf. Aber Stasi? Sagte mir nüscht. Auch die offizielle Variante nicht: Ministerium für Staatssicherheit. Haben Sie Ihren Vater verurteilt? In grundlegender Ablehnung konnte man sich doch schnell ei­ nig werden: So was wie er macht man nicht. Aber ich wollte nicht moralisch, mit so ’ner Überlegenheitspose rangehen, ich wollte verstehen. Mitte der fünfziger Jahre war er angeworben worden. Er gehörte damals zu jenen, die sich in Ahrenshoop in der Nähe des Kulturministers Johannes R. Becher „umhörten“. Die Stasi kann ich ablehnen, ich kann sie furchtbar finden, klar – aber welches Recht habe ich als Nachgeborener, undifferenziert

„Ich wollte verstehen“

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über die Motive eines Menschen zu urteilen? Pauschale Ver­ dammnis ist keine Gesprächsform. Im Hotel, in dem meine El­ tern früher arbeiteten, hatten Leute wie Wolf Biermann, EvaMaria Hagen, Christa Wolf gewohnt. Herberge und Stasi-Beob­ achtungsstation, so würde ich das bezeichnen. Natürlich hatte ich davon damals keine Ahnung, ich war sieben, acht Jahre alt. Die Ahnungslosigkeit blieb, lange. Leute gingen in den Westen, oder es hieß, sie seien abgeschoben worden. Ich verstand so­ wieso nur immer Bahnhof. Verträumt. Vertüddelt. Viele Dinge musste ich mit mir alleine ausma­ chen. Worüber geredet wurde, war der Dorfalltag: nicht viel los; eine Geburt bei den einen, ein Todesfall bei den anderen; na ja, und die Kirschbäume blühten in diesem einen Jahr ­später als sonst.

Dorfalltag

Wenn der Krankenwagen draußen mit Sirene vorbeifuhr, schauten sich die Alten in der Kneipe um und stellten beruhigt fest: alle noch da. Ja, genau so. Der Volkspolizist, das war für den Jungen, der Cars­ ten hieß, der Freund und Helfer. Im Dorf kam der auf mich und meinen Bruder zu und sagte: Na, ihr zwei beide. Und ging wei­ ter. Der gute Mann, der ein bisschen aufpasste. Im Frühjahr 1989 änderte sich das. Da war ich beim Pfingsttreffen der FDJ als Delegierter des Deutschen Turn- und Sportbunds in Ost-Berlin. Da habe ich die Mauer und die bewaffneten Grenztruppen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Finster dreinblickende Leute, die verhinderten, dass wir nach drüben gehen konnten. Was wir doch aber gern gemacht hätten. Diese Realität fühlte sich unangenehm an. Ein Gespräch mit Ihrem Vater kam nicht zustande. Nein. Geweint hat er. Der Film Das Leben der Anderen hatte ihm irgendwie die Zunge gelöst. Dann wieder Schweigen. Das war die Reaktion auf die allgemeine Stimmung.

Das Schweigen

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Allgemeine Stimmung? Er bekam doch mit, was öffentliche Geständnisse für Folgen hatten. Wer sich outete, war sozial erledigt. Angst öffnet keine Seelen. Du wirst ganz schnell fertiggemacht. Die Jahre nach der deutschen Einheit waren Auf- und Abrechnungsjahre. Verständlich, dass vor allem im Osten gekehrt wurde. Na klar, logisch. Aber es gab in den Diskussionen einen Ton, eine bestimmte Art, da wusstest du genau, dass ein Gespräch nicht mehr möglich ist. Du gibst was zu, und plötzlich blickst du nur noch in lauter unschuldige Gesichter. Alles ist Un­ schuld, nur du bist es nicht. Das schafft Schweigen, Scham, Ratlosigkeit. Wieso das väterliche Geständnis anlässlich des Films? Ein innerer Drang? Katharsis durch den Film? Unbedachtheit? Plötzlich sieht er auf der Leinwand den eigenen Sohn, der da in so einem ganz anderen Leben rumspielt, das ihm selber doch auch gefallen hätte. – Staatssicherheit! – Ich bin heilfroh, sol­ chen Zwängen nicht ausgesetzt gewesen zu sein. Er ist nicht aus ursächlich bösen Motiven da hineingeraten – man muss sich das vergegenwärtigen: Da wächst ein Mensch im Nazireich auf, er sieht um sich herum ein immer stärkeres Aufstampfen und Muskelrollen und Stiefelknallen, und er ist so ein schmäch­ tiger Junge, dem die Kraft- und Siegerposen überhaupt nicht gelingen. Er kriegt keinen Anschluss, er bleibt überall draußen – wird Außenseiter, bleibt Außenseiter. Dann ist die Kriegsschei­ ße eines Tages vorbei, er ist nicht mal fünfundzwanzig, und der neue junge Staat sagt: Auf dich bauen wir, dich brauchen wir! Endlich bekommt ein Leben Vorschuss, endlich kriegst du Prä­ senz. Dieser neue Staat machte ihm Hoffnung, und also war er bereit, etwas für ihn zu tun. Er wollte Anerkennung, und auch der Staat kämpfte um Anerkennung. Da trafen sich also zwei – zur Anerkennungsgesinnungsgemeinschaft. Und Feinde gab es

Katharsis durch einen Film?

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ja wirklich. Und dann war man so fokussiert, so vernagelt, dass man sich immer mehr Feinde erfand. Das ist uns von den westdeutschen Achtundsechzigern über­ liefert worden: knallharte Fragen an die Väter. Wie knallhart fragend wurden Sie denn unmittelbar nach diesem Abend der Filmpremiere? Knallhart war in der Sache nicht mein Ding. Ich hab versucht, mich zu erklären. Vater, hab ich ihm gesagt, was soll sein, du bleibst unser Vater. Mehr nicht. Ich hab gehofft, er erzählt. Der Wille zur Erzählung aber braucht Zeit. Die gab es nicht mehr. Fast alles blieb im Dunkel. Sie haben den Tod Ihres Vaters als einschneidend bezeichnet. Wobei fehlte und fehlt er Ihnen? Plötzlich, als keine Antworten mehr möglich waren, häuften sich die Fragen. Verrückt, oder? Aber ich glaube, das ist bei jeder Generation so. Es gibt die Weitergabe, und es gibt das Defizit. Da setzt doch auch der Sinn der Kunst ein. Reinleuchten in die Kluft zwischen Soll und Haben, Sein und Schein. Nichts über­ tünchen. Ich finde, es ist spannender, sich auseinanderzusetzen, als nur immer das Einigende zu betonen und drüberzuwischen über das, was Streit auslöst. Mann, was diese Generation der 1920 bis 1930 Geborenen so alles erlebt hat, erleben musste, ­gelernt hat, wieder vergessen musste, das ist doch ein uner­ messlicher Erzählstoff. Man kann nichts wiedergutmachen, aber man kann zukünftig weniger falsch machen. Deshalb: Gespräch. Die Menschen damals, im jungen 20. Jahr­ hundert, die wollten ein Leben und bekamen den Krieg. Die ge­ rieten an Fronten, zwischen Fronten. Selten ein Ruheplatz hin­ ter den Fronten. Wie oft standen die Menschen an einem Punkt, der Ende und Anfang gleichzeitig war. Kaum einer wusste, was

Krieg statt Leben

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ist Aufbruch, was Zusammenbruch. Die banalen Fragen waren mit einem Mal die ganz großen Fragen: Woher bekommen wir Kartoffeln, woher Kohlen? Der Blick aufs Düstere schafft die eigenen Sorgen nicht ab, aber er relativiert. Mein Vater musste schon als Dreizehnjähriger durch Sachsen ziehen, hin zu Ver­ wandten, dort hat er gearbeitet, um etwas beizutragen für den Familienunterhalt. Er hat Tagebuch geschrieben. Unmittelbar nach dem Krieg. In diesen Eintragungen geht es um Hungern, Frieren und Wandern. Ich als Dreizehnjähriger hatte da ganz andere Lebensthemen: Mädchen und Musik. Da lag ein Tagebuch

Hat er Ihnen das Tagebuch gegeben? Nee, das lag da so rum. Es gibt das geflügelte Wort von der „Gnade der späten Geburt“, es stammt vom Publizisten Günter Gaus. Helmut Kohls Redenschreiber hat es ihm geklaut. Wär ich zwei, drei Jahre früher geboren worden, hätte ich zur Wende gedient, mit der Kalaschnikow in den Händen. Ein Regis­ seur, mit dem ich oft zusammengearbeitet habe, stand im ­Oktober 1989 als NVA-Soldat auf der Straße in Dresden, wäh­ rend seine Mutter als Demonstrantin an ihm vorbeiging. In so eine furchtbare Lage bin ich nicht gekommen. Von bestimmten Themen und Zwangslagen bin ich verschont worden. Ich weiß nicht mal, ob ich die seelische Struktur zum Dissidenten gehabt und mich in der DDR in der Künstlerpose hätte verstecken ­­können. Die Generation etwa meines Vaters, die musste folgen. Wir konnten folgen, mussten aber nicht.

Beispiel Jürgen Fuchs

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So ein Glück hat nicht jede Generation. Man weiß nie, wie lange es dauert, dieses Glück. Ich habe die „Vernehmungsprotokolle“ von Jürgen Fuchs ge­ lesen, Stasi-Knast 1976/77, nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Da wird ein Mensch bei der Verhaftung nicht nur aus


dem Auto geholt, sondern aus seinem Leben gerissen. Fuchs hatte in Jena Psychologie studiert, er erschrickt bei dem Gedan­ ken, dass seine Vernehmer, wären sie nur etwas jünger, seine Kommilitonen hätten sein können. Von Mielke zum Studium geschickt. Wo wird Seelenkunde zur Manipulationstechnik? Wie wird psychologisches Instrumentarium zur Folter? Man beginnt gemeinsam einen Lebensabschnitt und steht sich ­ plötzlich feindlich gegenüber, der eine mächtig, der andere ohnmächtig. Wo sitzt die Spinne, die dich fangen will? Wie ­unsichtbar ist das Netz, das auf dich wartet? Das meint Opfer wie Täter. Wann habe ich im gesellschaftlichen Gefüge aufgehört, genau zu prüfen, den inneren Einwänden zu folgen, auch wenn die Überzeugung auf dem Spiel stand; wann habe ich aufgegeben, fremde Einflüsterungen als solche zu empfinden; wann habe ich nachgelassen, Verunsicherungen ernst zu nehmen; wann habe ich begonnen, unter Verweis aufs Große und Ganze eigene Beschädigungsspuren und solche am Großen und Ganzen hässlich schönzureden? Das Netz, die Verstrickung … täusche sich niemand über die ­Gefahren im scheinbar Alltäglichen, Profanen, Undramatischen. In Dantons Tod hilft der eine Bürger einem anderen Bürger über eine Pfütze, denn „die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine ­immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. – Man muss mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen.“

Wo sitzt die Spinne?

Der Dialog im „Danton“

Es ist interessant, dass die zwei Bürger in genau dieser Szene über das Theater reden. Und dessen aufstörenden Möglichkeiten beschwören: „Haben Sie das neue Stück gesehen? Ein babylonischer Thurm! Ein Gewirr von Gewölben, Treppchen, Gängen und das Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt. Man schwindelt bey jedem Tritt … Aber gehn Sie ins Theater, ich rat es Ihnen!“ Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt? Heute? Von ­wegen.

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Als Mensch eine glatte Eins plus Von Heinz Strunk

Alles Geheime steht im Gesicht. BOTHO STRAUSS

Ich habe Charly kennengelernt, bevor er berühmt wurde, es muss 2009 gewesen sein, als ihn der Regisseur Lars Jessen für die Rolle des Bernd Würmer in dem Kurzfilm Jürgen vorschlug, der dann 2017, in der neunzigminütigen Fassung (was lange währt, wird endlich gut), mit der Goldenen Kamera als bester Fernsehfilm bedacht wurde. Der Jürgen-Kosmos lag bereits in Form von Kurzhörspielen vor, besagten Bernd Würmer hatte ich mit einer sehr speziellen nuschelnd-feuchten Aussprache ver­ sehen, und um diese möglichst genau zu treffen, hatte Charly sich Taschentücher oder so was in die Backen gestopft. Unge­ wöhnlich genaue Vorbereitung, dachte ich, und war einiger­ maßen beeindruckt. Ich möchte bei der Gelegenheit mal ein paar wohlgehütete breaking news, hot gossips, cheesy secrets preisgeben: Besitzt jemand Schauspieltalent, so kann sie oder er einen Text derart überzeugend (mimisch & gestisch unterstützt) aufsagen, dass man meinen könnte, sie/er hätte ihn verstanden. Was aber oft nicht der Fall ist. Serienschauspieler zum Beispiel wissen meist nichts weiter über die Handlung der jeweiligen Folge zu be­ richten – weil sie sich ausschließlich mit ihren Parts beschäf­ tigen und deren Text lernen, sich aber für das große, banale Ganze (zu Recht) nicht weiter interessieren. Dieses, nennen wir es mal: Gebrauchsschauspiel ist Kunsthandwerk, so, wie man

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Musiker, die lediglich ihr Instrument und ein paar Gelegenhei­ ten beherrschen, auch Mugger nennt; ein gewaltiger Unter­ schied zur Schauspielkunst. Das Publikum glaubt, dass alle Schauspieler sich intensiv mit ihrer Rolle beschäftigen, sie emotional und intellektuell durchdringen, wenn nötig dreißig Kilo zu- oder abnehmen, sich zu einhundert Prozent mit der Rolle identifizieren und et­ was Originäres, ein Kunstwerk schaffen. In dem Zusammen­ hang aber: Telegenität ist ebenso wenig erlernbar wie Präsenz auf einer Theaterbühne. Charly ist einer der wenigen Schau­ spieler, die ihr Handwerk (sowieso) zu einhundert Prozent be­ herrschen, aber die so herausragend talentiert sind, dass sie ALLES spielen könnten. Charly ist ein KÜNSTLER. Ich wiederhol es, wo ich nur kann und wann immer ich ge­ beten werde: Er kommt aus diesem Hardcore-Meck-Pomm-Mi­ lieu, der Vater Kneipenwirt, aber heute ist er der beste Schau­ spieler Deutschlands, ein klarer Geist, sagenhaft gebildet, und, jetzt pass auf, kommt noch was: auch als Mensch eine glatte Eins plus. Nächstes Top secret, und wer es nicht mal miterlebt hat, glaubt es kaum: Theaterproben öffnen dem Wahnsinn Tür und Tor; Nervenzusammenbrüche, Brüllerei, Hysterie, Verzweif­ lung, Paranoia sind an der irren Tagesordnung, insbesondere die Endproben: ein einziges Psychokarussell. Nachdem wir mit Studio Braun am Thalia Theater zwei deprimierend mittelmä­ ßige Arbeiten abgeliefert hatten (Sommernachtstraum/Fraktus), hatte ich mein Theaterengagement für beendet erklärt. Bis Karin Beier Ende 2015 das Gespräch mit uns suchte. Deut­ sches Schauspielhaus Hamburg. Ich willigte nur unter zwei Bedingungen ein: Erstens, wir inszenieren zunächst den Goldenen Handschuh und danach Coolhaze, und danach Feierabend. Zweitens: Charly spielt je­ weils die Hauptrolle. Es war ein Traum. Charly hat die Produk­ tionen kraft seiner Persönlichkeit zusammengehalten, er strahlte eine derartige Ruhe, Zuversicht, Professionalität, Freundlichkeit aus, dass es weder beim Ensemble noch bei Stu­

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dio Braun (als gleichberechtigtem dreiköpfigen Regieteam) zu irgendwelchen Aussetzern gekommen ist. Ich behaupte, dass wir das einzig und allein Charly zu verdanken haben. Ein echtes Vorbild. Ich weiß gar nicht, wo der Mann das alles hernimmt. Und jetzt schreibt er frecherweise noch, ich fürchte, dass auch in dieser Richtung einiges zu erwarten ist. Mir bleiben dann, als letzte Trutzburg, nur noch Saxofon und Flöte, da dürfte er mir den Rang so schnell nicht ablaufen. So, bevor es richtig peinlich wird, mach ich Schluss. Mein bescheidener Wunsch wäre, dass Charly und mir reichlich Gelegenheit geboten wird, viele bedeutende Werke (darunter machen wir es nicht) zu er­ schaffen; Seite an Seite gehen wir den Weg in die KÜNSTLERI­ SCHE LEBENSENDPARTNERSCHAFT.

HEINZ STRUNK, geboren 1962 in Bevensen. Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, Gründungsmitglied der Regiekollektive Studio Braun und Fraktus. Sein Buch Fleisch ist mein Gemüse war Vorlage eines preisgekrönten Hörspiels, eines Theaterstücks und eines Kinofilms. Auch nachfolgende Bücher wurden Bestseller, so auch sein jüngster Roman Ein Sommer in Niendorf. Unter dem Titel Der zurück in sein Haus gestopfte Jäger gab er ein vielbeachtetes Botho-Strauß-­Brevier heraus. Für Der goldene Handschuh wurde er für den Leipziger Buchpreis nominiert. Die Uraufführung der Theaterversion fand im November 2017 in Deutschen Schauspielhaus Hamburg statt; die Verfilmung von Fatih Akin feierte 2019 auf der Berlinale ihre Premiere.

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III. „Straßenköter wissen viel vom Leben“ HANS-DIETER SCHÜTT: … und eines Tages also war der Mecklenburger Hübner nach Berlin gekommen. Schauspielschule. CHARLY HÜBNER: Von Berlin war ich begeistert. Frank Castorf an der Volksbühne, Andrea Breth an der Schaubühne, Thomas Langhoff am Deutschen Theater, Albert Hetterle noch am GorkiTheater, am Schiller-Theater der ganze westdeutsche Überbau, das nahm mich mit, das nahm mich ein, das war mein neues Metal-Universum. Peter Zadeks Kirschgarten sah ich in Berlin und fragte mich, warum ich diese Leute wieder und wieder se­ hen möchte, welche Kräfte da auf mich wirkten, wie die das nur machten, die Angela Winkler, der Ulrich Wildgruber, der spillrige Hermann Lause. Oder diese wunderbaren Marthaler-Menschen in Murx den Europäer! an der Volksbühne. Lauter Missratene, die nicht wissen wollen, ob sie vor oder nach der Apokalypse leben.

Begeistert von Berlin

Die tanzten ganz langsam den Apocalypso – in einem Vakuum der verrücktesten Bewegungszwänge und Körperverdrehtheiten. Christoph Marthaler rührt nicht an den Schlaf der Welt, sein Theater ist der Schlaf. Es ist der Schlaf der Vernunft, und der ­gebiert nicht Monster, wie es landläufig heißt, der gebiert den viel schlimmeren Traum, der davon handelt, dass das böse ­Erwachen gar nicht mehr stattfindet. Es findet sehr wohl statt, dann nämlich, wenn die vermeintliche Vernunft ans Tagwerk geht und wir uns wieder mal die Augen reiben müssen.

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Einer öffnet eine Feuerofentür, und aus den Tiefen von Glut und Asche hörst du den Chor: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Fühlten Sie sich auf der Schauspielschule unter ihresgleichen? Vom Geist und Gefühl her? Na klar. Es war der Ort, die Zeit, die mich durchweg beglückte – ich war dort, wo ich hatte sein ­wollen – in der Theaterwelt. Die Wirklichkeit verschwand, und der Theaterfilter wurde zur Wahrheit (lacht).

... bis die New Yorker Türme fielen

Die Jahre in Frankfurt am Schauspielhaus und am TAT – die Hingabe ans Theater trug Sie. Bis die New Yorker Türme fielen. Plötzlich fragte ich mich, was sie sollen, diese traurigen Strindberg-Liturgien, mit denen wir uns in Frankfurt beschäftigten, Meister Olof und Der Vater. Draußen brüllt die Welt und wir graben uns in katholische Tiefen? Fabulieren vom Ändern der Welt, des Systems und ­ draußen, in New York, wird die Welt wirklich geändert? Der Sinn meines Handelns entschwand. Nach wie vor: Wir waren dort eine richtig gute Truppe. Aber ich fürchtete ein Versacken in schwermütiger Innerlichkeit; die geht ja von einer bestimmten westdeutschen Seelenarbeit aus, am Ende bist du alkoholkrank und schwer verschuldet (lacht). Der Botho-Strauß-Typus. Naja! Vielleicht! Vielleicht auch nicht – ich suchte und war ­unerfahren. Ich ging da ganz praktisch ran: Wohin jetzt? Aha, es gibt Agenturen für Schauspieler, dort nahm man gern zur Kenntnis, der Hübner, der hat keine Probleme mit seinem Bauch, das erleichtert manche Besetzung. So begann ich fürs Fern­ sehen zu spielen. Ich wurde unabhängiger, zog nach Hamburg und konnte in Ruhe älter werden (lacht). Die Statistik sagt: über vierzig Stücke in dieser Frankfurter Zeit. Ja, sehr intensiv war das. Man kann sich berauschen an Sinn oder dem, was man dafür hält. Aber letztlich entsteht Atem­ losigkeit, das ist kein Leben mehr. Ich wollte Herr über die

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­ igenen Termine sein. Die Atemlosigkeit war das eine, eine ge­ e wisse Lethargie das andere. Vielleicht war das eine Situation wie zu Endzeiten der DDR. In Heiner Müllers Hamlet/Hamletmaschine zerreißt der Autor sein Foto, ihm geht der Text verloren, ihm geht der Stoff aus. Dieses dauernde Denken in hohen Ansprüchen lief sich irgend­ wie leer, diese Existenz immer mit Botschaft und Mission und Kulturauftrag, was war da nur los? Premiere volles Haus, aber dann werden’s von Abend zu Abend immer weniger Leute. Mich verließ die Energie. Ich bekam keinen Schub mehr für dieses

Als Kreon (l.), mit Christian Tschirner (Antigone) in Antigone, Regie: Tom Kühnel, Robert Schuster, Theater am Turm Frankfurt am Main 1999

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Die Anfänge? „Ich guckte verzweifelt in den Spiegel“

­ efühl, ich müsse unbedingt auf die Bühne, und dort oben wer­ G de Wesentliches verhandelt. So kam ich unter die Fernsehleute. Klingt logisch und trotzdem wie Abstieg. Theater ist was anderes als Film und Fernsehen, da muss man gar nicht viel herumtheoretisieren. Fernsehen ist wie Lagerfeuer und Bier. Ich habe gegen beides nichts. Nichts gegen Büchsenbier

Auch nichts gegen Büchsenbier. Nö. Aber dieser Weg ins Fernsehen … Ich sag ja: Ich ging nicht hin, ich rutschte rein. Aber ich nahm doch mein Handwerkszeug mit, und auch in einem sogenann­ ten Massenmedium kann man ehrenvoll bleiben, wenn man

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sein Unterscheidungsvermögen nicht ausschaltet. Ich holte Luft, die Situation war nicht dramatisch, ich war also auf den Filmdreh gekommen, aber gleichzeitig blieben meine Theater­ antennen doch draußen. Mein Blick ging immer auch in andere große Städte, Köln, Hamburg und so – ich nehm immer gern Kontakt zum Horizont auf (lacht). Dann der späte Jürgen Gosch, Onkel Wanja, Kirschgarten in Zürich, Auf der Greifswalder Straße am Deutschen Theater. Regie, die mir nicht ins Gesicht sprang mit ihren Einfällen, aber sie war doch da, als Sog, als Geheimnis, als Lage in den Lüften. Ich hab Gosch einen Brief geschrieben ans Schauspielhaus Hamburg, tiefbewegt, wie ein Fan: So stelle ich mir das Theater der Zukunft vor, ich träumte gewissermaßen drauflos, dem Briefpapier war sozusagen nichts peinlich, es ging auf die Reise wie Fanpost, man hört bekanntlich nie wieder was von solchen Briefen. Aber unvermittelt, wie nebenbei, es war 2007, sprach mich Goschs Bühnenbildner an, Johannes Schütz, du, der Jürgen macht was in Zürich, er hätte dich gern dabei, du hast ihm doch einen Brief geschrieben. Is’ ja irre. Hier und jetzt, Roland Schimmelpfennig. Aha. Ein Gespräch fand statt. Das Stück habe zwei männliche Hauptrollen, die andere habe Wolfgang Michael. Wolfgang Michael? Schweißausbruch. Die Frauen? Corinna Harfouch, Dörte Lyssewski, Christine Schorn. Wieder Schweißausbruch. Da mittendrin ich? Die Schweißaus­ brüche wollten nicht enden.

Der Brief an Jürgen Gosch

Sie spielten wieder Theater. Glück! Glück? Ich hatte Suppe zu essen. Vierzig Seiten Stücktext waren schon vorbei, ich aß noch immer Suppe. Nicht spielen, nur ­essen. Suppe, sonst nichts zwischen den Zähnen. Herr Gosch, machen Sie auch Figurenarbeit? Er sah hoch – toll, er hatte mich also bemerkt! – und sagte, darüber müsse er nachdenken. Und ging weg. Und wie weiter? Wie weiter? Ich stand da und nix weiter. Aber sechs Stunden später, zur Abendprobe, trat er auf mich zu und sagte: Nein.

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Inzwischen sind Sie heimisch im Film wie auf der Bühne und ­setzen da wie dort ein Maß. Kann man sagen: Film „ist“, Theater dagegen bleibt ein „als ob“? Im Kino wollen wir sozusagen mit gefilmter Wirklichkeit be­ logen werden – wir nehmen das Fantastischste als real und greifen nach der Hand der liebsten Menschen, weil etwas so schön, so schrecklich, so berührend, so beängstigend ist. Nur scheinbar, klar. Aber wir sind im Kino Illusionäre, wir wollen hinein ins Bezau­ bernde oder Grässliche, ins Finstere oder schön Helle. Kino ­vernichtet Abstände. Wir zucken zusammen, wir leiden mit, als spiele sich alles wirklich ab. Im Kino versinken wir gern im ­Sessel, bei gutem Theater sitzen wir eher gespannt vorn auf der Sesselkante.

Der Weg ins Fernsehen

Rechte Seite: Als Martin in Hier und Jetzt, Regie: Jürgen Gosch, Schauspiel­ haus Zürich 2008

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Sie sprachen davon, ins Fernsehgeschäft „reingerutscht“ zu sein. Der Anfang war ein Nebenrollenschicksal. Wenn ich mich auf dem Bildschirm sah, da fand ich mich, wie man halt Leute findet, die im Film Horsti oder Udo heißen und die man gemeinhin als Dödel bezeichnet. Gemeinhin – und ­gemein. Wenn’s in den Filmen um Frauen ging, war ich bei den Döspaddels und Dummbüttels zu finden. Meist liebenswert, aber trotzdem nur Udo oder Horsti. Ich dachte bestürzt: Was, wenn ich nicht wieder rauskomme aus dieser Nebenrollen-­ Falle? Mein Hirn tänzelte, aber ich wurde nach meinem Körper besetzt, ich war der Klotz. Ich will da nichts schönreden, aber ich bekam es vor der Kamera wirklich mit der Angst. Was sollte ich denn da spielen! Würde ich in einer Serie landen und dort unter­ gehen? Ich guckte verzweifelt in den Spiegel. Sah man schon den Stempel auf meiner Stirn: Hier kommt Horsti!? Ich kann mich an das dämonische Märchen Krabat erinnern, mit David Kross, Daniel Brühl und Christian Redl. Den Film sah ich, da waren Sie als Schauspieler schon, na ja, sagen wir ruhig: ein B ­ egriff. Nee, war ich nicht.


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Sie liefen mit anderen durch den Bildhintergrund, ein schmutziges Gesicht, eine abgerissene Erscheinung, wie die Übrigen auch. Ein derber, grober Bursche für die Gesindeszenen. Derb und grob, ja. Und ich dachte, na, wann hat er seine größere, individuell ausgerichtete Szene? Aber Sie liefen nur weiter durch den Hintergrund, gewissermaßen in der Herde. Wir verbrachten einen ganzen Herbst in den rumänischen Kar­ paten. Drei Hauptrollen, der Rest, ja, der lief im Hintergrund und musste wochenlang Säcke tragen. Es war bitterkalt, wir trugen Sandalen. Es dauerte nicht lange, und du hast wie barfuß im Frost gestanden. „Polizeiruf“

Das Nebenrollenschicksal ging zu Ende … 2010 kam der erwähnte Kommissar Bukow im Polizeiruf 110. Bitte nicht Bukooooh, das muss Bukoff heißen; wir müssen rus­ sisch bleiben. Pardon, wie konnte mir das passieren … Bukow wie Tschechow, sagen Sie im Film. Oder wie Fuck off, das sage ich auch im Film … Zur Vorbereitung der Arbeit gehörte ein Gespräch mit dem erfolgreichsten Dro­ genfahnder Europas, hier in Hamburg, am Steindamm. Man kann sich vorstellen, wie lange es dauerte und wie viele Prüfund Kontrollpunkte es gab, ehe wir dort vorsprechen durften. Der Mann saß mir gegenüber, Sechstagebart, sehr einsilbig, neben ihm der Vorgesetzte, der das Gespräch eigentlich führte. Im Grunde die Konstellation, wie sie im Film Uwe Preuss und ich spielten. Was ich nicht vergesse: Ausgerechnet zum 40. Ge­ burtstag des Polizisten, so erzählte er uns, kam es zu einer Raz­ zia – sehr unpassend, denn daheim waren schon die ersten Par­ tygäste eingetroffen. Er aber musste zum Einsatz. Seiner Frau hat er eine SMS geschickt: „Bin im Puff, Süße!“ Das war immer der Verabredungstext, wenn er wieder mal unvorhergesehen nicht nach Hause kommen konnte.

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Ordnungshüters Anleihe aus der Welt, die er bekämpft. Na ja, in den Puff zu gehen, ist ja nun kein Delikt … Einen Satz von ihm habe ich mir gemerkt: Einen Job wie den seinen könne erfolgreich nur derjenige machen, der so tickt wie seine Gegner; man müsse stets so drauf sein wie jene, die man jagt. Grob ge­ sagt: Deine Seele muss mit einem Fuß auf der anderen Seite stehen. Das finde ich aufregend. Der Mensch als Getriebener, der auf dem Grenzstreifen lebt von Loyalität und Kriminalität, von Treue und Verrat, von Tugend und Verbrechen. Er ist doch das Spannendste: dieser Nebel, hinter denen Gesetzesschutz und Gesetzesbruch dann eine schlierige Kumpanei aushandeln. Das zu leugnen, hat ja den Kriminalfilm veröden lassen. Zur langweiligen Festschreibung des Guten und Gerechten auf der Ermittlerseite – und des von vornherein Schäbigen auf der Ge­ jagtenseite. Steiler Gedanke: Gangster zu fangen, ohne selber einen ruchlosen Nerv zu haben, geht nicht. Das ist ein philosophischer Gedanke, er steht nicht im Gesetz­ buch. Geh ins Dunkle, wo die Finsteren sich unsichtbar machen. Das Klassikerzitat. Die im Dunkeln sieht man nicht. Also geh hin, um sie zu erkennen. Zwölf Jahre und 24 Fälle: Kriminalhauptkommissar Alexander (Sascha) Bukow in Rostock. Einsatz seit Frühjahr 2010, an der Seite von Anneke Kim Sarnau, Kriminalhauptkommissarin Katrin ­König, LKA. Keiner von uns hieß die letzte Folge, der Titel des ­ersten Films: Einer von uns. Das offenbart einen Weg der Ent­ fernung, der Entfremdung. Bukow, der Zwielichtige. Neben dem jeweiligen Kriminalfall soll Katrin König gleichzeitig gegen ihren Kollegen Bukow ermitteln. Ein Dialog aus dem ersten Film: „‚Es geht um Kriminalhauptkommissar Bukow. Ich habe von Berlin den Auftrag, ihn zu beobachten.‘ – ‚Interne Ermittlungen? Gegen

Kollegin Katrin König

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Sascha?‘ – ‚Ja, es ist irgendeine Geschichte in Berlin, viel weiß ich noch nicht.‘ – ‚Da werden viele Sachen erzählt, die nicht wahr sind, Frau König.‘“ Wahr ist, dass Bukow ein Zwielichtiger ist. Und es bis zum Schluss bleibt. Wenn ich über ihn nachdenke, fällt mir wieder Ihr Wort von der Umständlichkeit ein. Umständlichkeit ist für mich Interesse. Was ist das für ein ­Leben? Dieser Bukow. Mich interessierte, wie ein Mensch den inneren Dämon packen will, aber es nicht wirklich schafft. Ich finde, es ist in gewissem Grade das Problem jedes Menschen. Bukow säuft abends, aber keinen Wein, eher Bier. Kein Gourmet. Welche Temperatur hat der Mann? Knabbert manchmal an den Fingernägeln, und an seiner Seite hat er so ’ne Bio-Tante, Kom­ missarin König, wie spricht dieser Bukow und wann und war­ um, und weiß er überhaupt, wohin er gehört … Das ist dann die Suche.

Der innere Dämon

Nun könnte man sagen, das geht jedem Schauspieler, jeder Schauspielerin so. Könnte man sagen. So wie man sagen könnte: Jeder lebt. Aber jeder eben anders. Alle sogenannte Normalität im Spiel muss die der jeweiligen Figur sein: Wie geht der? Wie hört der zu? Wie sitzt der? Wie isst er?

Rechte Seite: Aufgeladene Nähe: mit Anneke Kim Sarnau in Polizeiruf 110

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Klaus Löwitschs TV-Detektiv Peter Strohm war von der Anlage her einer der letzten Helden des Diffusen, also der Verführbarkeit des Fahnders durch kriminellen Kitzel; in US-Filmen retteten Robert De Niro und Al Pacino jene Romantik des moralischen Verderbens, die nicht danach fragte, ob sie Außenseiter oder Kommissare ­ergriff. Und Werner Herzog und John Cage entwarfen mit Bad Lieutenant das schlangenkühl schillernde Bild des gefallenen ­Engels im Polizeiauftrag … So sehe ich Ihren Bukow. Nichts für Sie: diese landläufige luschige Saubermännlichkeit eines Kommissars … … der nur immer der Supersittenwächter sein darf. Nö. Gott sei Dank konnten wir mit unserem Polizeiruf eine Alternative ver­ suchen.


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Rostock und Kokain?

Ich hörte, zunächst sei was klassisch Britisches geplant. Hübner Barnaby-like … Undenkbar. Der Schriftsteller Roberto Saviano, ein unerbitt­ licher, mutiger Rechercheur in Sachen organisierter Kriminali­ tät, hat geschrieben, Rostock sei einer der ganz großen euro­ päischen Umschlagplätze für Kokain. Rostock?! Denkt man doch gar nicht, oder? Aber wo so was stattfindet, werden Rech­ nungen auf böseste Art beglichen, man darf sich da keine Illu­ sionen machen. Diese schöne Stadt hat ihr ganz eigenes fins­ teres, unheimliches Gesicht. Und damit meine ich nicht nur die furchteinflößende Ultraszene von Hansa. Man braucht bloß an Rostock-Lichtenhagen zu denken, wo Anfang der Neunziger Brandsätze gegen Häuser für Asylbewerber flogen. Im wahrsten Sinne des Wortes entlud sich da brennender Hass. Unterm All­ tag schwelt es. Der Polizeiruf wechselte also von Schwerin nach Rostock, weil Kriminalität dort ganz andere Dimensionen hat. Mit Anneke Kim Sarnau hatten Sie bislang nicht zusammen­ gearbeitet. Wir kannten uns von einem Filmdreh, bei dem wir uns schätzen lernten. Es wurde dann ein ganz gemächliches Kennenlernen. Irgendwann gingen wir zusammen durch Rostock-Evershagen, wo unser Fall spielte, und Skinheads mit Bulldoggen kamen uns entgegen. Ich dachte an die Neonazis in Neustrelitz und sagte: Anneke, das geht nicht, mir kommen Typen entgegen, vor denen ich als Zivilist in gewisser Weise einknicke, und jetzt soll ich ­jemanden spielen, der die aufs Kreuz legt, das ist doch unglaub­ würdig. Das dürfen wir nicht, das steht uns nicht zu. Eine intellektuelle Reaktion. Überhaupt nicht! Eine kreatürliche Reaktion. Mich hat das be­ schäftigt. Es gibt die Anekdote vom berühmten Rolf Ludwig, der dem Alkohol etwas zu viel zugesprochen hatte, am Deutschen Theater, und vor einer Vorstellung kam die Warnung: Rolf, du musst im 3. Akt

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einen total Nüchternen spielen. Ja, antwortete Ludwig, spielen!, nicht sein. Sehr lustig, ich bewunderte Rolf Ludwig sehr … Dass dieses ­Räudige, dieses Angeschmutzte, dieses Aufgeraute von Bukow und König letztlich reibungslos zur Aufführung kam, das ver­ dankten wir einigen Zufällen. Als eine Redakteurin ausschied, so etwa zehn Tage vor Drehbeginn, war der Kahn führungslos. Jetzt abbrechen? Anruf in der Chefetage: Was tun? Ich sagte: Beim Theater würde einfach weitergemacht, schließlich müsse der Lappen hochgehen. Das ist die richtige Haltung, sagte der Chef, und also gingen wir an die Arbeit. Von dem Moment gab es für eine Weile keine Einschränkung mehr von oben, wir konn­ ten ungestört unseren Punk machen. Wir drehten die Pille, der Sender schluckte. Die Quote beförderte das Gesundgefühl aller. Sozusagen, ja. Öffentlich-rechtliches Fernsehen: Du musst dich positionieren, am besten politisch korrekt. Das ist mitunter auf eine unangenehme Art anstrengend. Ich habe aber kein Recht, mich zu beschweren, und ich tu’s auch nicht. Aber es ist wahr: Im deutschen Fernsehen gibt es wenig Mut zu jener Hyperrealität, bei der man willig einer Fiktion folgt, einer räumlichen wie zeitlichen, auch darstellerischen ­Fiktion.

Was ist mutiges Fernsehen?

Beim Kinofilm ist das anders. Ja. Da gibt es andere Kameraausschnitte, andere Tempi, im Kino akzeptiert man die fremde Welt, die Exotik, das Übersteigerte. Deshalb ist meine Neugier beim Kinofilm oft größer. Um über diesen Umweg wieder zum Theater zu gelangen: Was Fern­ sehen vom Kino trennt, das ist so ähnlich für mich wie das, was ich über Jürgen Gosch sage: Bei den Proben war alles freizügig, ohne Zwänge, scheinbar ohne jede Form, es herrschte ein sehr realer Ton.

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Bei seinen letzten Inszenierungen probte das Ensemble in Kostüm – aber noch immer in privaten Turnschuhen. Er hat dafür gesorgt, dass jede Situation was Hyperreales ­bekam. Man wusste gar nicht recht, wie, darin bestand seine große Kunst. War es beim Bukow wichtig, dass Sie einer aus dem Osten sind? Im Prinzip nein, im Detail ja. Den Bukow haben Sie als Straßenköter bezeichnet. Als sympathischen Straßenköter. Ich finde Straßenköter grund­ sätzlich sympathisch, auch dort, wo sie drohen, bissig zu ­werden. Sie wissen viel vom Leben. Sie sind stark, listig, ken­ nen sich aus in der Gosse, stehen im Regen so fest wie in der Sonne. Sie können wegbeißen und die Zähne zusammen­ beißen. Sie können Wolf sein und ganz lieb. „Straßenköter“ wie der Polizist Bukow sind allen voraus, die noch nie darüber nachgedacht haben, dass man alle Geschichten von Leuten auf der angeblichen richtigen Seite auch als Geschichten von Gescheiterten erzählen kann. Feeling B sang: „Du wirst den Gipfel nie erreichen. Da die Ebene endlos ist.“ Ja, jeder könnte seine eigene, erfolgreich Geschichte auch als Verlierer­ geschichte erzählen. Als Geschichte eines fremdgesteuerten Menschen.

Für immer Sommer 90

Mit Regisseur Jan Georg Schütte drehten Sie 2020 den Fernsehfilm Für immer Sommer 90, eine Art Roadmovie. Eine Notlösung, weil ein anderes Projekt von Corona durch­ kreuzt wurde. Also wieder mal ein Beweis, dass Not und Lösung glückhaft zusammenkommen können. Es ging uns in dieser Geschichte darum, Bewegung und Beharren in jener sogenannten Wendezeit zu verbinden: Die einen ver­ ließen den Osten – und atmeten und starteten durch; andere verließen den Osten auch – aber gerieten rasch außer Atem und

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stolperten. Dritte blieben, wo eben noch DDR gewesen war, und entweder hatten sie ein bisschen Erfolg, oder sie scheiterten im heimischen Osten, ausgerechnet dort, wo sie sich doch so sicher fühlten. Der Film ist interessant, weil er – im Grunde – mit Ihnen zu tun hat: Mecklenburg, Karriere im neuen Deutschland, und schauspielerisch: Wie stehen durchgestaltete Fiktion und Unmittelbarkeit des Szenischen zueinander? Sie spielen im Film einen Banker, fast drei Jahrzehnte sind nach der Wiedervereinigung vergangen. Ein Erfolgstyp ist das, gewachsen an und in dreißig Jahren ­neuem Deutschland. Einer, der jede Beziehung zur alten ost­ deutschen Heimat verloren hat. Den kloppt so schnell nichts mehr aus seiner neudeutschen Dynamik. Scheinbar. Aber vom Verdacht einer Vergewaltigung getroffen, es war 1990 bei einer Party, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, fährt der Mann nervös zurück, zu den Leuten von damals, nach Mecklen­ burg, dorthin, wo seine Teenie-Vergangenheit begraben liegt. Ist sie denn wirklich begraben? Gibt’s das überhaupt: Gräber für Vergangenheit?

Rückkehr in den Osten

Jan Georg Schütte ist ein Regisseur der Improvisationen. Es gab im Drehbuch … … an dem Sie mitgeschrieben haben. Die Szenen bauten dramaturgisch aufeinander auf, waren aber so angelegt, dass ich und ebenso die anderen nicht wussten, was beim Dreh, im Dialog auf uns zukommt. Wir gingen sozusa­ gen spontan aufeinander zu: So, nun macht was aus der Situa­ tion! Obwohl ich Mitautor war, musste ich daher an bestimm­ ten Momenten der Vorbesprechungen aussteigen, denn ich war ja auch Spieler, und das Prinzip der szenischen Überraschung und Spontaneität galt auch für mich. Wegen Corona gab es fast nur Zweierszenen. Ich habe das genossen und fand zum Bei­ spiel großartig, dass ich nicht alle vom Darstellerteam kannte oder wir vorher nicht miteinander geredet haben. Um uns dia­

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logmäßig nicht zu verschleißen. Schütte achtete zum Beispiel darauf, dass Peter Schneider und ich … Sie spielen entscheidende Szenen miteinander. Ja … dass wir uns vor dem Dreh nicht über den Weg liefen und miteinander rumquatschen konnten, Schütte wollte unsere ­Begegnung unverbraucht. So was bringt gerade beim Improvi­ sieren schöne, offene Momente.

Offene Momente

Es geht bei der Improvisation darum, eine Dramaturgie auszutricksen … Ja, sie zu umgehen, sie geradezu auszuknipsen. Ziel ist der ­Moment, der Menschen spontan ins Gespräch bringt – und ­damit in den Konflikt. Gespräch heißt immer auch: Auf ins Miss­ verständnis! In Gesprächen ist einer immer stärker, der andere schwächer. Im besten Fall ist das ein Wechselverhältnis. Und was passiert, wenn wir das nicht nur aus der professionellen Vorbereitung heraus spielen, sondern uns dem spontanen Hin und Her von Aktion und Reaktion aussetzen. Spannung ohne Plot. Story ohne Aufputschmittel. Schüttes Kopf hab ich mal mit dem Schaltplan von Londons Hauptbahnhof verglichen. Er entscheidet, welchem Schauspie­ ler er wann welches Signal wofür gibt. Und ich selber habe auch eine Idee, was in einer Szene sein könnte, welche Kolleginnen oder Kollegen mir begegnen. Ich nehme mir auch für jeden, mit dem ich in der Szene aufeinandertreffe, was vor. Und dann geh ich da so rein. Neugierig. Bang. Das ist dann wie im Leben. Oder eben wie in der Schaltzentrale vom Londoner Hauptbahnhof. Die Reise kann beginnen. Die Weichen klacken. Manchmal quietschen auch Bremsen oder man landet auf einem falschen Gleis. Ihr Banker ist sympathisch, aber auch glatt – und er wirkt zwielichtig … Zwielichtig, ja. Man kann auch zeitgemäß sagen: ein Mann, der

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sich am Ehrgeiz verkühlt hat. Der Frost, der im Geschäft nötig ist, hat ihn feurig gemacht. Das bittere Schicksal der Moderne: Kinder, Freunde – bloß nicht! Behauptet er. Das Lächeln dabei hat hohe Krampfqualität. So einer wird angerufen von den Stimmen seiner Vergangenheit und ist plötzlich erschüttert.

Der Frost, der feurig macht

Dieser Banker muss den verfluchten Verdacht des Vergewaltigers ausräumen, er besucht die alten Freundschaften, die erkalteten flüchtigen Lieben, das alles kalkulierend kurz, er braucht ganz einfach und schnell Zeugen für seine Unschuld, ein Wochenende muss genügen, denn am Montag steht in Malmö eine wichtiger Geschäftstermin an. Er hat Geld, er hat Einfluss, er kann mit dem „großen Besteck“ renommierter Anwälte drohen. Und er droht auch. Aber dann geht’s mit dem Tesla immer tiefer hinein in jenes Mecklenburg, dem er sich doch längst entfremdete, und an einem bestimmten Punkt fährt er an den Straßenrand, tauscht das weiße Hemd unterm teuren Anzug mit einem einfachen dunklen T-Shirt. Fährt zur nächsten Begegnung, verbirgt den feinen Pinkel. Textile Taktik? Ja und nein. Er zieht sich ganz am Ende aus und geht in einem der Seen schnaufend baden. Erfrischung. Als sei eine Rückkehr eingeleitet nach Mecklenburg – nicht wirklich, er bleibt Banker weit weg, aber er ist doch ins Nachdenken gekommen, was das Eigentliche sein könnte im Leben.

Das Bad im See

Schwimmen im See. Sie mögen es? Sehr. Man hat das Gefühl, man löse sich auf zwischen Himmel und Wasser. Schwerelosigkeit ist nicht mehr nur eine Fantasie. Du bewegst dich, weil du dich über Wasser halten musst, aber es hat nichts von dem Gefühl, sich gegen irgendwas wehren zu müssen. Bei Uwe Johnson lese ich: „Beim Gehen an der See ge­ rieten wir ins Wasser.“

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Ihr Säulenheiliger … Wenn ich so reich wäre, als hätte ich damit auch alle Lust auf Arbeit aufgekauft, dann würde ich nur Uwe Johnson lesen.

Komma im Adelsstand

Und dann? Was heißt: und dann … Johnson lesen heißt: sich dessen Zeit­ maß einverleiben. Jede Seite eine Stunde. Das dauert. Das wird ihm gerecht. Nicht schneller. Zeit vergeht nicht, die geht in dich rein. Ich gehörte zu denen, die an der Schauspielschule das ­große Glück hatten, einen Dichter als Diktionslehrer zu haben: Karl Mickel. Er erhob uns jedes Komma in den Adel. Daran denke ich, wenn ich Johnson lese. Johnson lesen! Nicht zeigen wollen: Ich hab’s verstanden. Heiner Müller las eigene Texte mit tonlosem Desinteresse. Tonlos, Desinteresse – die zwei völlig falschen Worte, aber sie drücken exakt aus, was gemeint ist. Nur nicht schauspielerisch, also um Himmels willen nicht auf Wirkung denken!, das war auch Goschs Regieanweisung. Noch mal zum Banker im Film: Er schwimmt hinaus in den See, wird aber natürlich zurückkehren in den Anzug, in den Tesla, ins Geld. Aber im Gemüt arbeitet fortan was anderes. Da bin ich mir fast sicher. Da lauert irgendwas auf seine Stunde. Wer weiß, was, und wer weiß, wann. Was da lauert – es könnte ein Erschrecken sein? Zumindest eine Frage, ein Zweifel: als gereifter, wissender Mensch von der Welt gehen? Wie Goethe schrieb? Ab wann ist die Welt rund? Ich sehe alles nur halb. Goethe schrieb auch: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Und bei Thomas Brasch steht: „Wer sind wir eigentlich noch. / Wollen wir gehen. / Was wollen wir finden. / Welchen Namen hat dieses Loch, / in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.“ Ja. Was wird aus den Träumen …Vielleicht ist schon das Streben

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ein Fehler. Und wenn, wonach. Ich sehe Tschechows Onkel Wan­ ja arbeiten und weinen. Kann ein Mensch die Richtung seines Lebens ungebrochen verfolgen und sich dennoch wandeln? Das „ungebrochen“ ist der Punkt. Was heißt das überhaupt, ein Mensch wandelt, verwandelt sich? In welcher Hinsicht verän­ dert sich einer? Die Wolken ändern sich ständig, bleiben doch aber Wolken. Vielleicht kann man sich nicht ändern, was man aber kann: sich erweitern, sich ergänzen, sich morphen.

Onkel Wanja, Regie: Karin Beier, Deutsches Schauspiel­ haus Hamburg 2015

Brecht: „Dauerten wir unendlich / So wandelte sich alles / Da wir aber endlich sind / Bleibt vieles beim alten.“ Der Film von Schütte erzählt uns was über das Wesen von Erinne­ rung. Zurückblicken erscheint wie ein Blitz. Da kommt ein Mo­ ment, ja, man war da und da und dort und dort und so und so. Und schon ist alles wieder weg. Erinnerung und also auch das Er­

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Nichts, worauf man sich setzen kann

zählen von Erinnertem – das ist nichts, worauf man sich setzen kann. Der Blitz hat eine große Deutlichkeit, aber Sekunden später ist alles wieder weg. Haltbarkeit ist kein Kriterium für Erinnerung. Aufbruch und Zusammenbruch, das sind immer zwei Begriffe für eine Sache, die gleichzeitig geschieht. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Wir sind hochentwickelte Wesen? Viren können sich wahnsinnsschnell anpassen, Menschen nicht unbedingt. So was wollten wir erzählen. Wir Menschen sind langsam. Das ist aber auch ein Glück, deshalb bleiben wir angeschlossen an alle Vergangenheiten, eben auch zum Beispiel an dieses uralte Ephesos, wo mein Freund den Hamlet-Monolog in den Welt­ raum schoss. Der Maler Anselm Kiefer sagt. „Wir tragen in uns die Atome vom Strand von Ostia, Atome der Steine von der Wüste Gobi, Atome der Knochen von Dinosauriern – aber auch von Martin Luther, von Einstein, von Opfern und Tätern der Jahrhunderte … Ich fühle mich mit Menschen und Steinen verbunden, die schon lange vor mir waren und lange nach mir sein werden.“ Sophokles und Shakespeare liegen in der Luft, wir können das spüren und aufnehmen. Das ist das eine, aber denken wir wieder an 1989/90: Diese Um­ stellung war für viele ein Schock, eine totale Überforderung. Ich hab es ja gesehen bei meinem Vater: Zinsen, Darlehen, das lock­ te, bis einem die Sinne schwanden, und später dann kamen kalt die Rechnungen. Wer nicht schnell genug begriff, blieb auf der Strecke. Interview-Zitat Hübner: „Mielke war der Härteste. Die anderen waren alle alt und besoffen.“ Besoffen? Ideologie macht besoffen. Und dann gab es diese Reform-Hoff­ nung. Die hatte Stimmen: Christa Wolf, Stefan Heym, Bärbel Bohley, Friedrich Schorlemmer, andere. Dritter Weg, von mir aus auch vierter und fünfter Weg. Aber gewählt wurde der erst­ beste Weg.

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Sie kritisieren das? Ich kritisiere das, ja, aber nicht die Menschen, die was greifbar Besseres wollten. Ja, was zum Greifen wollten sie, wollten wir alle doch. Endlich was Handfestes außer der Reihe. Dieser lange disziplinierten Reihe, in der man sich andauernd anzustellen hatte. Ostalgie? Auf gar keinen Fall! Aber da landet dann die Debatte, um sie schnell zu beenden: Finde einen Begriff, um das nicht Geord­ nete zu katalogisieren, und ab in die Box damit. Und somit geht auch alles flöten, was bedenkenswert sein könnte. Aber im Grau sind mehr Farben als im reinen Schwarz oder Weiß. Erinnert man an etwas Gutes aus der DDR, hagelt es Verdächtigungen, man verharmlose das System. Die Gleichstellung der Geschlech­ ter, die Polikliniken, he, das waren doch Fakten, die man sich hätte ansehen können. Skandinavische Länder haben das Bil­ dungssystem des Ostens studiert, der deutsche Westen hat’s vom Tisch gewischt. Gute DDR-Trainer gingen ins Ausland, weil man sie hier stigmatisiert hat. Ich denke zum Beispiel an den Dokumentarfilm Die Kinder von Golzow … … von Winfried und Barbara Junge. Sozusagen die Biografie einer Schulklasse aus dem Oderbruch, über Jahrzehnte hinweg. Da gibt es viel Enttäuschung auf den Lebenswegen, na klar, aber im Gedächtnis bleibt auch sehr starkes Selbstbewusstsein. Eines der Mädchen ist erwachsen und sagt in die Kamera: „Ich bin Melkerin!“ Wie stolz die das sagt!

Buntes Grau

Die Melkerin aus Golzow

Eine Zeit immerhin, da Menschen ihrer Arbeit nicht nachstellten wie Bettler, sondern ihr nachgingen, indem sie auch aus ihr hervorgingen. Eine schöne Idee. „Arbeiterlich“ nannte der Soziologe Wolfgang Engler die Gesellschaft. Volker Braun schrieb: „Diese Leute sind und bleiben ein Personal für die Literatur. Man wird noch Jahrhunderte über sie lachen – und tiefernst nachdenken.“

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Eine herrschende wie angeherrschte Klasse, die umsorgt lebte und zugleich frech sorgenlos. Man kann über Langeweile reden, über Schönfärberei, über ­Bevormundung und so weiter, aber dieser Stolz der Melkerin, der gehört doch unbedingt dazu, wenn man ein reales Bild vom Osten haben will. Interview-Zitat Charly Hübner: „In Neustrelitz gab es im Herbst 1989 auch Gebete in der Kirche. Tolle Stimmung. Alle formu­lierten Wünsche, das, was sie sich von der Zukunft erhofften. Einmal ging ein stadtbekannter Trinker nach vorn und sagte: ,Ich wünsche mir, dass ich das mit dem Alkohol hinkriege.‘ Da ging ein ganzes Land baden, und der hoffte, mit dem Saufen aufzuhören.“ Die Umbrüche der Geschichte, plötzlich runtergebrochen auf das einzelne Leben. Das erzählt den tiefen Sinn von Weltpolitik. Weltpolitik! Das Volk, so heißt es bei Brecht, vergleicht die Käsepreise. Die großen Ideen müssen zur Prüfung durchs Leben der soge­ nannten Kleinen. Das Glück hängt an Utopien, aber schon die Kraft, fortan nicht mehr zu saufen, kann Erfüllung einer Utopie sein. Wer vor lauter großen Träumen die scheinbar kleinen ­Träume vergisst, denkt weit vorbei am Menschsein.

Theater in Hamburg

Herr Hübner, Ihre künstlerischen Prioritäten wurden mit dem Film andere, aber Sie sind zurückgekehrt, spielen nun seit Jahren am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, sind derzeit im Repertoire in zwei Hauptrollen zu sehen, die Spielzeit 2022/23 kündigte aber keine neue Rolle an. Das hat logistische Gründe. Nach wie vor: Film, Fernsehen. Und dazu die Großzügigkeit des Theaters, mir das zu erlauben. Außerdem schreiben Sie. Noch immer ungeheures Neuland. Suchst das einzig mögliche Wort und findest das drittbeste. Das geht mir fortlaufend so. Einer sagte zu mir: Du kannst so gut Geschichten erzählen.

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Glaubte ich nicht, glaube ich heute noch nicht. Aber der Satz hat mir Mut gemacht. Was ist schön am Schreiben? Du willst, dass sich das Tolle wiederholt: dass du deinen Gedan­ ken folgst und plötzlich in den Worten etwas zum Ausdruck kommt, dass du vorher, bevor du geschrieben hast, nicht wuss­ test. Also schreibst du weiter.

Vom Glück des Schreibens

Schreiben Sie zum Spaß? Oder weil es sein muss? Ist das für Sie wie die Frage, warum man atmet? Nee, atmen muss man, schreiben nicht – auch wenn man denkt, man muss es tun. Logisch, dass ein Schauspieler wie Joachim Meyerhoff zum Schreiben finden musste. Bei diesem Erzähl­ drang kein Wunder. Wenn die Seele so was braucht, wird sie Wege finden. Bei mir kam der Impuls eher von außen, fürs ­Motörhead-Buch wie vorher für die Doku über Monchi. Ich will mich nicht kleiner machen als nötig (lacht), aber ist doch gut, wenn einer zum Bauernjungen kommt und ihn stößt: Nu mach mal! Und damit mehr gemeint ist als die Kontrolle, ob die ­Kartoffeln dies Jahr gut sind oder nicht. Ich muss zugeben, ich nickte am Computer immer ein bisschen weg. Ein Zeichen war das: Es sollte nicht sein. Anderer Computer, andere Tastatur, plötzlich ging es besser. Ich merkte, die alles festhaltende Schrift ist etwas, was mich anzieht. Ich muss an Uwe Johnson denken, der hatte seine Jahrestage geschafft, zweitausend Seiten!, Sieg­ fried Unseld von Suhrkamp riet ihm zur wohlverdienten Pause nach dieser homerischen Leistung, nach diesem Berg von Werk. Jetzt Pause? Johnson, der Schreibblockaden allererster Güte hinter sich hatte, schüttelte den Kopf, nein, nein, zwar feiere er gern den Moment, aber er habe ein neues Konzept, und er schreibe das in den nächsten Monaten runter, nur den Vor­ schuss brauche er und dann gehe es los. Da hatte einer eine Welt geschaffen und ging sofort ran an die nächste. Sog und Leidenschaft, einzig das tun, was drängt. Dieser Hüne in der schwarzen Lederjacke. Fährt mit wehenden Fahnen nach Eng­

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land, um dann nur noch rüberzuschauen nach Mecklenburg. Schreibend. Fährt wieder auf die englische Insel, nach Sheer­ ness, und stirbt. Man schreibt, weil man etwas Bestimmtes will. Das ist zum großen Teil eine Überlegung, die erst hinterher stattfindet. Die Frage nach dem Warum ist für den Schreiben­ den nicht nötig. Ach, wer weiß schon, was Sinn macht. „Die Ros ist ohn Warum. Sie blühet, weil sie blühet.“ Es gibt fürs Schreiben Anlässe, die Lösung der Welträtsels ist keiner. Schreiben Sie Tagebuch? Ich schreibe vieles in irgendwelche Notiz- und Tagebücher rein. Ich bin dabei total ehrlich, glaube ich – was zur Folge hat, dass ich manches gar nicht wiederlesen will. Schreiben geht schnel­ ler, als das Herz mitunter zulassen will. Im Tagebuch habe ich mich manches gefragt, was ich erst drei Jahre später laut sagte (lacht). So spiegelt es, wie stabil oder wechselhaft man über die Jahre denkt und fühlt. Sinn, Suche, Drang: Ich weiß, dass Julius Cäsar eine Ihrer Sehnsuchtsrollen ist. Und Macbeth. Die zwei Premieren der neuen Spielzeit in Hamburg. Wie gesagt: ohne Sie. Na und? Macbeth, ja … Da mordet sich einer in die Macht eines Tyrannen hinein, um die eigene Endlichkeit zu verleugnen.

Cäsar und Macbeth

Unmerklich läuft er ab, dieser Aufstieg abgrundwärts. Man muss bloß die Gespräche mit dem eigenen Gewissen aus­ schlagen. Macbeth sagt: „Das Leben ist ein Schatten und der wandert, / ein armer Spieler nur, der seine Stunde / auf einer Bühne auf- und abgeht und sich quält, / und dann ist er verscholln.“ Wahrhaftiger geht’s nicht. Aber muss man sich das von einem Mörder sagen lassen?

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Ja, man glaubt’s ihm eher als vielen Moralisten und Missiona­ ren. So was schafft nur Shakespeare. Theater über den Irrwitz eines verflucht ewigen Sieges – des Menschen über sein eigenes Vorwarnsystem. Mit diesem Versagen wird nicht jeder zum Mörder, aber jeder tötet – eigene Sehnsüchte und Widerstandskräfte. Was mich aber am Macbeth interessiert: Da steht einer mit ganzer Wucht an der Front, mit seinem großen, schweren Schwert, er kehrt völlig übermüdet heim, geheimnisvolle Frauen unterwegs ­träufeln ihm ins Ohr, jetzt stehe nichts mehr dem Aufstieg im Wege – aber nee, auf den Thron steigt ein anderer. Sigmund Freud schlief zu Shakespeares Zeiten noch im Weltall, aber es gibt eine Theorie, nach der Lady Macbeth nur ein Hirngespinst von Macbeth ist. Übrigens: Das muss diesen wuchtigen Schwert­ träger ins Zittern gebracht haben, dass er plötzlich mit so einem blöden, banalen Messer tötete, der hatte da was in der Hand, das gar nicht zu ihm gehört. Dieses ungemäße Messer sagt ihm, dass da was schiefläuft mit dem Leben. Das Messer ist nicht standesgemäß. Schwerter sind Kultur, das Küchenmesser aber ist ein Küchenmesser.

Ein banales, blödes Messer

Haben Sie Goschs Macbeth am Düsseldorfer Schauspielhaus gesehen? Na klar! So blutig, so nackt, so verroht, so unertragbar, so nie­ derdrückend, so hoffnungslos. Das war fleischfressende Vorzeit. Ja, das war eine Erzählung darüber, dass die Erde noch nicht gültig bewohnbar sein will, sie probiert den Menschen erst mal aus. Jeder Mord will der letzte sein, und ist doch immer nur der neue erste in einer Kettenreaktion von Auslöschung zu Auslöschung. Blut schwappt über Menschen, die Schlächter und Clowns sind; wenn Banquo als Gespenst erscheint, wird übers Blut nur Mehl gekippt. Stark! Die Hexen pissen und setzen ihre Kot-Zeichen in diese Welt. Sieben Männer, allesamt Könner, sozusagen im Sandkasten.

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Sie agieren, nehmen dann in der ersten Reihe Platz, wo sie plötzlich so faszinierend uninteressant sind wie wir alle, und dann kehren sie in jeweils anderer Gestalt auf die Bühne zurück. Für mich war die poetischste Szene: wenn die sieben Männer den Saal verlassen, nackt, und dann wieder reinkommen mit großen frühlingsgrünen Ästen, und so spielen sie den Wald, jene Soldatentarnung, die gegen Macbeth vorrücken wird. Da stehen sie minutenlang, imitieren Vogelstimmen, lassen das Gezweig erzittern, als seien Gefiederte darin gelandet. Stehen, sind Wald, gehen wieder raus. Schon bei der Premiere flohen Zuschauer in Scharen. Geht es bitte kunsthandwerksvoller, ohne grobe Wahrheit? Macbeth in Düsseldorf am Rhein sollte also bitte nicht so roh sein??? (Lacht) – Nein, letztendlich hat das Theater alles richtig gemacht, wenn es einen Nerv trifft. Beim Schreiben sind Sie allein, beim Drehen aber – das meint auch den Regisseur Hübner – ist man umzingelt von Arbeits­ teilung. Ein Apparat lenkt dich, kesselt dich ein, aber er schützt dich auch. Man kann sich konzentrieren, vieles wird einem abge­ nommen. Ja, das macht das Fokussieren leichter. Ich habe aller­ dings gemerkt, ich will das alles gar nicht immer und ungefragt, ich will nicht für jede Stimmungslage, für jede Temperatur eine Assistenz. Wie ist das zu verstehen? Ich will sagen, ich bin gewissermaßen zweigeteilt: Einerseits ist da eine Lust an der Virtuosität (guckt mal, was ich kann!), und dafür brauche ich bitte einen geschützten Raum und das beste Service, aber andererseits möchte ich diese „Auflösung“ allen Kunstsinns in etwas, das man durchaus mit banaler Wirklich­ keit verwechseln kann. Und manches Mal entsteht aus den brü­ chigen Momenten eines Drehtages eine Idee, die eine Szene

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erst zur Szene werden lässt, die man auch beim dritten An­ schauen noch toll findet. Jetzt, bei den Dreharbeiten für Sophia, der Tod und ich, war ich mir als Regisseur mit Kameramann Mar­ tin Farkas schnell einig: Wenn wir vor einem geplanten Take zu viel proben, geht vielleicht was von der möglichen Lebendigkeit der Situationen verloren. Wenn wir dagegen sofort drehen, be­ kommst du eine ganz andere Ahnung davon, ob eine Szene was taugt oder nicht. Wie verändert der Regisseur Hübner den Schauspieler Hübner? Der Regisseur Hübner ist ja noch ein Neuling. Grundschule. Regisseur wollten Sie ursprünglich nie werden? Als ich neunzehn war, wollte ich den Ödipus machen, alle Stücke, bis hin zu Ödipus auf Kolonos. Aber irgendwie hatte ich Angst vor Regie, ich fürchtete, zu sehr von irgendwelcher Gnade ab­ hängig zu sein, von diesen zufälligen Anrufen: Willst du bei mir inszenieren? Wie schon gesagt, so groß war mein Selbstbe­ wusstsein nicht, aber ich spürte, dass ich mit Schauspielerei schneller reinkomme in den Betrieb. Jetzt habe ich mich aus der Schauspielerei heraus an die Regie gewagt, aber damit nicht gegen Schauspielerei gewendet. Mir war das Spielen nicht etwa zu wenig. Tja, wie ist das? Du bist in einem Haus und lernst plötzlich einen anderen Raum kennen. Das Hirn marschiert an­ ders los.

Spielen, schreiben. Und Regie!

Es gibt die Tyrannei der Regie. Gibt es auch die Tyrannei der Schauspieler gegenüber der Regie? Gibt’s. Sowohl indirekt als auch direkt. Das Ringen um Freiheit oder Erkenntnis oder Setzung kann auch tyrannisch werden – ist aber der uninteressantere Weg, weil Tyrannei mit Enge ver­ bunden ist, unsere Arbeit aber Weite braucht. Hat Sie je die Abhängigkeit geplagt, der Sie als Schauspieler ausgesetzt sind? Als Anfänger in Frankfurt machte mir das schwer zu schaffen.

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Die Angst des Anfängers

Eher Sechser als Neuner

Er kann furchtbar sein, dieser Blick in den Schaukasten. Jeder ­Besetzungszettel eine neue Geburtsurkunde. Die Hauptrollen stehen oben, und womöglich musst du mit den müden Augen immer weiter nach unten wandern. Gleich zu ­Anfang war ich am Schauspiel Frankfurt als Peer Gynt besetzt, aber wir verfransten uns und waren als Truppe unsicher; ich gab die Rolle ab, besser: musste sie aufgeben und stürzte gefühlt ins Bodenlose. Eschberg, der bürgerliche Österreicher, war selber Schauspieler, er ahnte wohl, dass ich in frühe Verzweiflung ­abstürzen könnte. Also bekam ich sofort eine neue nächste ­große Rolle. Damit rettete er mir wirklich alles! Das ist allein sein Verdienst auf immer! Herr Hübner: das Alter … Nanu?! Ich spüre sehr wohl, dass es auf mich zukommt. Oder schon da ist. Man muss sich aller Erfahrung nach schneller ­damit beschäftigen, als einem lieb ist. Was wird dabei mein Part sein? Endlich mal der reife Herr? Oder weiterhin dieser komi­ sche Metal-Erwin? Hat man noch ’ne Rakete im Arsch oder bleibt man irgendwo hängen? Im Fußball würde man sagen: Ich bin eher der Sechser, nicht der Neuner. Es gibt einen Stoff und es gibt meinen Körper – Regie muss das zusammenbringen. Unter diesem Aspekt schau ich mich um. Inzwischen fünfzig. Wie gehe ich auf jüngere Regisseure zu, wie sehen die mich? Es fühlt sich auf jeden Fall falsch an, immer so weiterzumachen, wie sich bisher alles so ergeben hat. Das ist leicht gesagt, ich weiß. Die Frage auf dem Theater ist, wie erzähl ich die brüchige Welt? An der Burg doch sicher anders als im Ruhrgebiet oder eben in so einer Stadt wie Hamburg. Die schlimmsten Modewörter sind: die Identität, das Ich. Behindert ständiges Rollenspiel die Identität? Meine Identität ist, dass ich in meiner Arbeit frei von Identität bin. Das ist natürlich nur der Versuch eines Bonmots (lacht). Ich denke, dass dies mich in den Beruf gelockt hat. Journalismus wäre klares Bekenntnis gewesen. Aber als Schauspieler habe ich

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diese seltsame Schalte im Gehirn: Ich bin alle. Mein Freund brüll­ te sich durchs Amphitheater von Ephesos und war Hamlet. Der junge Klaus Maria Brandauer probte den Hamlet in Hamburg und ging im schwarzen Anzug todtraurig durch die Straßen. Freunde sprachen ihn an, er sagte, Trauer ja, mein Vater ist gestorben. Ja, ich bin auch mal mit geschlossenen Augen durch Neustre­ litz getapert, weil ich einen Monolog eines Blinden spielen wollte – ich glaube von Wedekind. Es gibt das Buch Please kill me über den Ursprung des Punk in New York. Auf einem Foto ist auch ein junger, unscheinbarer Typ zu sehen, manche nen­ nen ihn Al ­Pacino, damals ein Stammgast der Szene. Das hab ich so k­ omisch formuliert, um deutlich zu machen, da stehen David Bowie, Patti Smith, Lou Reed und andere Größen, und neben i­hnen dieser eher normale Typ, der sich an deren Ha­ cken klemmt, und wir wissen heute, es gibt ein paar Filme mit ihm, die werden Geltung haben, so lange Menschen ins Kino gehen. Das Foto entstand, da hatte er bereits den Paten ge­ dreht. Er neben den Pop- und Punk-Ikonen: ein blasser Bursche auf B ­ einen, nichts Markantes. Man ist dieser Bursche, diese Unschuld, muss aber bereit sein, per Besetzung ein Charakter zu werden (lacht). Ja, das ist der Schauspieler: Erst auf der Büh­ ne, erst vor der Kamera erhält er, wodurch auch immer und mit ­welchem Ausdruck auch immer – Kontur. Das gehört zu den Dingen, die man nicht wirklich erklären kann.

„Ich bin alle“

Al Pacino

Wir redeten über Film, auch wegen dieser einen Frage: Woran ­leidet das Theater? Das Theater spielt. Vielleicht ist dies sein Leiden. Ja, es atmet schnell, sehr schnell, es muss in Trab bleiben. Am Theater zerlegen wir unser Leben allzu oft in Scheindebatten. Es gibt so ein bürgerliches Selbstbewusstsein, das übt sich fort­ während in Verharmlosung und Selbsterhalt.

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Hart formuliert. Was heißt das? Vielleicht bin ich ungerecht. Ich spiele ja Theater, sehr gern so­ gar, aber ich habe das Zutrauen verloren in diese Klammer eines Spielbetriebes, der läuft und läuft, und er muss dich logi­ scherweise verplanen und verbrauchen. Diese Ebene der Welt­ betrachtung hat sich mir irgendwie verschoben. Das Bedürf­ nis, die Fenster aufzustoßen und irgendeine Klarheit, irgendein ­größeres Gerechtfertigtsein zu spüren, dafür finde ich am Theater zu wenig Platz. Ich stelle mich da nicht abseits, ich bin logischerweise Teil des Problems. Aber wer weiß, ob es diesen Platz überhaupt noch gibt. Aber er fehlt mir wahrscheinlich mehr, als ich zugeben möchte. Auch wenn’s vielleicht eine Illu­ sion ist.

Karin Henkel: „echt dunkel“

Zumindest ist es Erinnerung an Maßstäbe. Ja, und das hat natürlich mit den Partnern und Partnerinnen zu tun. Wir sprachen über Frank Castorf, Karin Beier und Jürgen Gosch, und da ist auch Karin Henkel. Karin will als Regisseurin ins Dunkle, ins total Abgründige, ja, sie ist echt dunkel. Sie drückt Stücken einen Glühstab in den Organismus. Martialisch. Eher mutig. Das ist manchmal wirklich eine Art Folter, ja, es tut weh, und das will diese Regisseurin: weh tun. Das ist ­wieder der Rammstein-Moment, die Welt ist im Großen ein unbequemer, nicht schonender Ort, auch die Leistungsgesell­ schaft nicht, ­warum sollen wir das hinnehmen? Und so kommt so ein Spielkind wie Lina und wird mit Karin Henkel das ­Monster Richard. Das passt nicht zusammen? Doch, das ist die Auseinandersetzung, die Reibung, und zwar nicht nur mit Mitteln der Arbeit, sondern in der Arbeit, aber das, was auf der Bühne abläuft, stimmt am Ende hundertprozentig. Über die Figur, die man spielt, kommt Karin einem sehr, sehr nah.

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Wie verträgt sich der Wunsch nach Klarheit mit dem Auftrag der Kunst, Verstörung auszulösen? Verstörung auslösen zu wollen, hat für mich was mit Verant­ wortung zu tun. Verführen, manipulieren, aufklären, bevor­ munden, anziehen, abstoßen, bekräftigen, verwirren, das liegt alles so dicht beieinander, wenn man sich anmaßt, öffentlich zu werden. Das ist aber die Chance und das Einzigartige des Thea­ ters. Und durch die Verstörung schaffe ich im besten Fall eine Art von Klarheit – ich kläre auf, durch einen kathartischen Weg, der an sich das Theatererlebnis ist, in all seiner sinnlichen und intellektuellen Kraft. So hat es mich in der Zeit nach dem Ende der DDR gepackt, als der Skandal um den Scheinintendanten Gregorij H. von Leitis 1991 am Neustrelitzer Theater direkt in der Inszenierung von Gogols Revisor verarbeitet wurde ... Ein Hochstapler. … und die Inszenierung jene eben beschriebene doppelte ­Realität schuf, die Hyperrealität, die das Leben, die Wirklichkeit spiegelte, obwohl dieses Leben noch real weiterlief … Aber ich habe kein Recht, nostalgisch zu werden. Bin ich auch nicht. Erinnerung aber ist ein Recht. Ja, und ich erinnere mich wieder an diese ganze große Welt im Mikroskopischen, diese großartigen Sinnesmomente, die zum Beispiel Jürgen Gosch gelangen. Wider sind wir bei ihm. In sei­ nen Proben war Einfalt plötzlich kein abschätziges Wort mehr. Er hatte zwei starke Worte der Bewertung: toll oder doof. Manchmal beides zugleich, toll – und doof. Er erinnerte mich an den klassischen Mecklenburger Kutscher. Der sitzt auf seinem Kutschbock, und die Zügel zwischen seinen Händen hängen durch, ganz locker, er lässt laufen, nur selten zieht er mal straff. Vieles auf so einer Probe findet einfach statt, wie Leben eben auch stattfindet. Mal sehen, wie und wohin sich das bewegt. Es gibt eine Situation, du handelst, wie es der Moment erfordert und wie du in dem Moment drauf bist, und dann werden wir sehen. Laufen lassen. So kommst du von dem einen Moment in

Kutschers Zügel

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den anderen. Neuer Moment, neue Situation, neue Geschichte. Immer schön laufen lassen die Pferde und mit dir selber ins ­Risiko gehen. Und ruhig bleiben, wenn Sachen schiefgehen. Gosch jagte dem Erfolg nicht hinterher. Er schuf Erfahrungs­ abende mit heiliger Lakonie und bitterer Wut. Er hatte mit Lust verlernt, die Dinge durchleuchten zu wollen.

Im Urwald stehen keine Schilder

Sehr schön formuliert. Er war mit der ganzen Kraft seines scheuen Wesens ein zutiefst Verunsicherter. Das kann man ja vielleicht schon weise nennen. Gosch fürchtete Vorgabe, Interpretation, Vorbildung. Vorbil­ dung ist ein Verkehrsschild im Urwald. Verirrt man sich deshalb weniger? Ich mag Vorbildung, ich lese und lese. Aber Leben ent­ steht und entfaltet sich anders … … zumal im Urwald. Wir haben Erfahrung und treten doch jeden Morgen als Neuling ins eigene Leben. Wir wissen, was das ist, ein Tag, und gucken abends doch immer wieder erstaunt aus der Wäsche, was und wie heute alles so passiert ist. Privat, politisch. Planetarisch. Ja, und das ist eben der Punkt. Wie schafft es das Theater wie­ der, mit Welt für Aufregung zu sorgen. Zum Beispiel das besagte Schiff der Träume … Ein Europäisches Requiem, vor Jahren am Schauspielhaus in Hamburg. Aus Fellinis Adria wurde bei Karin Beier, Stefanie Carp und Christian Tschirner der Seeweg in die Ägäis. Ein Kreuz­ fahrtschiff ist letzter Huldigungsort für einen Komponisten und ­Dirigenten, dessen Asche ins Meer versenkt werden soll. Das ­trauernde Orchester: ein Panoptikum sonderbarer Gestalten. Das Schiff als Kollektiv-Gefängnis, in dem Neurosen und alter Hass ausbrechen. Ich spiele – mit Triangel! – den stellvertretenden Orchesterchef. Plötzlich der Irritationsschlag. Fünf Flüchtlinge.

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Aufgefischte. Gespielt von Mitgliedern einer ivorischen Performancetruppe. Sie tanzen, sie grinsen frech, sie greifen „Europa, den depressiven Kontinent“ an – mit Lebenslust. Warum sie zu uns wollen? „Weil wir euch helfen wollen. Wir wollen eure Probleme mit euch teilen, wir lieben eure Probleme!“ Offensive Eindringlinge. Eindringliche. Sie klettern über die Sitzplätze im Parkett, sie verwickeln das Publikum in ein völkergeschichtliches Quiz. Deutsche und Ausländer. Verstehen und Missverstehen mit Händen und Füßen. Voll Herz und voll Galle. Babylonische Sprachverwirrung. Das Ungestüme wildert plötzlich im Regelkreis der bürgerlich Verhemmten, das Unwillkommene bedrängt die Gemüter der Verspießerten. Der Solidaritätsanspruch der Leidenden rüttelt an der Besitzhärte. Karin Beiers Raffinesse: Sie stellt die hölzern bewahrte Anständigkeit, die verschämt tückische Unbarmherzigkeit ihrer „Kulturmenschen“ gegen das erfrischend herausfordernde Europa-Recht der Farbigen. Aber gleichzeitig sprudelt und sprüht das Multikulturelle derart ungebrochen, dass man kaum umhinkommt, es ebenfalls als satirisch gefärbte Unterwanderung eines positiven Klischees zu sehen. Als drohe ein erneut befohlenes allgemeines „Fröhlich sein und singen!“ Es gab bei dieser Inszenierung einige Diskussionen genau zu diesem Punkt. Das Schauspielhaus selber hatte zu jener Zeit Flüchtende aufgenommen, und nun kam der Vorwurf, wir ­würden auf der Bühne mit diesen ja doch ziemlich dämlichen bürgerlichen Künstlertypen einen seltsamen deutschen Selbst­ hass offenbaren. Und die Afrikaner, die auftraten? Absolute welterfahrene Performance-Profis. Auch ein Klischee: tolle ­Tänzer, Muster-Bodys des Frohsinns und der Freude. Das Ganze sozusagen: antirassistischer Rassismus. Andererseits hat niemand ein Rezept, wie etwas gültig auf die Bühne gebracht werden kann. In Überforderungslagen ist jeder Versuch auch Irrtum.

„Positiver Rassismus“

Verharmlosung an bürgerlichem Selbstbewusstsein … Harsch gesagt … Aber es gibt doch das Recht auf Unterhaltung. Sicher. Es ist das Recht, nicht auch noch am Abend, für den man bezahlt hat, mit den eigenen Problemen belästigt zu werden –

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Frauenmörder Honka. Mit Rocko Schamoni (l.), Heinz Strunk, Jacques Palminger (r.) in Der Goldene Handschuh, Regie: Studio Braun, Deutsches Schauspiel­ haus Hamburg 2017

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denen man mal für ein paar Stunden entkommen will. Dieses Recht gibt es. Aber dann kommt Studio Braun mit diesem ­Honka im Goldenen Handschuh. Studio Braun – das Regietrio Heinz Strunk, Rocko Schamoni, Jacques Palminger. Die Hamburger Kneipe „Zum Goldenen Handschuh“ auf St. Pauli: eine Vorhölle und doch auch Heimat für alle armen Teufel. Hier „lebt“ auch Fritz Honka, hier trifft er auf die geschundenen Seelen, die er töten wird, der Frauenmörder, den Sie spielten und von dem Autor Heinz Strunk in seinem Roman schreibt, der die Vorlage war: „Er stellt sich eine andere Welt vor, in der er selbst jung und gesund und sein Atem angenehm ist und er einer nach Rosen duftenden Frau mit reiner Haut, schönem Gebiss, einem makellosen Körper den Himmel auf Erden bereitet. Ein katastrophales Glücksverlangen überfällt ihn.“ Studio Braun verlässt mit seinen Psychorevuen den klassisch gewordenen Theaterkonsens. Den Honka verteidige ich als Figur, sonst bräuchte ich ihn nicht zu spielen. Ein unbedarfter Mann, am Ende aber eine kranke Gestalt, eine völlig zerschlagene, ver­ formte Fresse, dazu das Sächsisch. Der Kommunistensohn aus


Leipzig, der vergewaltigt wird, dem die Schnapsflasche zum ­Sozialhelfer wird, der Rest ist ein langes Requiem aus Gewalt. Er sah für mich auf Fotos zunächst aus wie mein Vater, ein ganz normaler Mensch, dann aber: alles kaputt, ein total zerrüttetes Wesen, der Mann wurde ein Vieh, aus dem fassbaren Menschen wird ein unfassbares Monster, und er bleibt doch ein Mensch, das ist das Allerentsetzlichste. Nöö, sagt der gesunde Hambur­ ger, das ist mir zu haart, will ich nicht sehen! Willkommen in der Realität: Für so was bezahlt man nicht unbedingt eine Theater­ karte. Versteh ich – und spiel das Ganze noch böser.

Das Monster ist ein Mensch

Aber auch mitleidiger. Das ist ja das Böse. Auch Coolhaze geht dieses eigentlich Un­ erträgliche im Leben an: alle Regeln einzuhalten und trotzdem verachtet, gedemütigt zu werden. Coolhaze schießt auf die ab­ solut Richtigen, aber man darf nicht schießen. Wat nu? In dieser Kohlhaas-Revue sieht man Sie als Charles Bronson. Hübner spielt Bronson – eine wahnwitzige Behauptung. Dieser Bronson bleibt natürlich Hübner, auch wenn Hübner alles ver­ sucht, nicht bloß Hübner zu sein (lacht). Ich versuchte den ab­ soluten Minimalisten, die Sprache ganz eng, alles nur mit Bli­ cken, Charly, hieß es bei den Proben, spiel den Charles ganz klein, dieser Coolhaze ist eine verdammt dünne Hose. Okay, aber plötzlich stimmte das zwar alles, sah aber auch klein, also verdammt langweilig aus. Das Kleine groß spielen, das Enge wie eine Prärieweite – wie soll man das hinkriegen, he, was ist das nur für ein Beruf (lacht)!

„Ich und Charles Bronson“?

Manche halten Erbauung und freundliche Illusionen für das Beste am Theater. Diese Leute müssen den Mut haben, manche Aufführungen zu meiden. Ein Mut zur Feigheit. Wahrscheinlich war das in der BRD stärker gesetzt als in der

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DDR, dieses bürgerliche Gen, ins Theater zu gehen, um intelli­ gent unterhalten zu werden. Schon als Heiner Müller in legen­ dären Jahren in Bochum arbeitete, schrieb er von den Leuten, die das wie eine schmückende Brosche trugen: Ich bin ein Abon­ nent! In der DDR hatte die Wahrheit Gewicht. In der Demokratie heben sich die Wahrheiten gern auf. Was ist langweiliger? Theater ist heute der last exit vor Netflix oder die letzte Station vorm Eigentlichen: schön entspannt an der Elbe zu hocken. Was spielen die heute Abend im Theater? Tschechow? Ein alter Hut, da bleiben wir lieber an der Elbe sitzen … Und was spielen sie morgen? XQ92-A von irgend so ’nem jungen Autor, da geht’s um einen, der Probleme mit seinen Eltern hat. Wat? Hab ich selber genug, dafür muss ich nich’ extra ins Theater … So sieht es doch aus. Bitter. Wieder sind wir beim Defizit von Theater. Es ist eine echte Aufgabe, da was Gegensteuerndes zu finden. Etwas gegen die Beruhigungswünsche eines entspannungssüchtigen Publikums. Deshalb fand ich so aufregend, was Karin Beier und Edgar Selge mit Houellebecqs Unterwerfung am Schauspiel­ haus versucht haben. Wie sie Islam und Islamismus, das natio­ nale Eigene und das herandrängende Fremde auf die Bühne warfen. Drei Stunden Philosophie! Komisch und böse, hundert­ tausend Leute haben das gesehen, gut situierte Hamburger fernab des Punk. Und auch Lina und die ganze Truppe: Herrlich, die ziehen Richard III. durch, in einer Art, bei der man draußen sagen würde, kann mal jemand die Eins-eins-null anrufen. Nicht auf dem Theater! Da geht das gnadenlos bis zum Schluss, bis zum Wumm, wumm, wumm eines Maschinengewehrs, mit dem Richard durch sein Kinderzimmer Welt ballert. Sauko­ misch, aber überhaupt nicht lustig. Das Theater muss energisch und aufgewühlt eine Lücke kenntlich machen: zwischen der Erfahrung, in diesem Moment auf unserem Planeten ein banales, gefährdetes Leben führen zu müssen, und den zweifelhaften öffentlichen Erzählungen, die zur Sinn­

Wie heißt das Stück? „XQ92-A“

Linke Seite: Kleist komisch: Coolhaze, Regie: Studio Braun, Deutsches Schauspiel­ haus Hamburg 2021

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Kribbeln tut‘s (noch)

gebung für dieses Leben angeboten werden. Der moralische Pegel ist schwankend und begrenzt geworden; die kapitalen Untaten entziehen sich der Justiz; der forcierte Selbstgenuss ­ höhnt dem Gemeinsinn; Kreditkarten beherrschen den Traum, Glück sei ­käuflich; am Ende gilt überhaupt nur das als Glück, das einen Preis hat. Ich hab schon noch eine Sehnsucht nach Aufregung. Wie es sich entwickelt, das wird sich weisen. Kribbeln tut’s. Theater als eine dauerhafte Arbeitsbeziehung, die wie früher was von einer ver­ schworenen Gang hat – Hamburg hält mich da sehr in Hoff­ nung. Es waren mal königliche Theaterworte: Schauspielerin, Schauspieler. Wieder dieses: Ach, weißt du noch … Aber ich tu’s gern! An dem Punkt waren wir ja schon. Ich kann gar nicht so viele Namen nennen, wie ich möchte. Von Lampe bis Sander, von Boysen und Holtzmann bis Böwe und Körner, von Wittenborn bis Piontek, von Canonica bis Grube-Deister. Pure Willkür diese Auswahl – arme Stammelei vor so viel Fülle. Die große Clever. Oder Jutta Wachowiak. Diese Truppen! Steckel in Bochum, Hetterle am Berliner Gorki-Theater, Schroth in Schwerin. Jürgen Holtz hat mal an den Regierenden Bürgermeister von Berlin geschrieben: Ihr zerstört mit eurer Kultur- und Vertragspolitik die Ensembles! Es ist so viel Alleingang, Müdigkeit, Gleichmut in die Institutio­ nen hineingetragen worden. Die Ästhetik des Dieter Dorn in München war nicht meine, und Andrea Breths psychologischen Rätselspielen an der Schaubühne stand ich Trumm auch etwas ratlos gegenüber, aber doch: bewundernd. Zur Schaubühne sah ich auf, zu den Münchner Kammerspielen, zum Deutschen Theater, zu den Stuttgartern und Bochumern, später zur Volks­ bühne. Der Blick aufs Theater war ein anderer als der Blick heute. Es geht nicht um Nostalgie, um Himmels willen nicht, aber Trauer darf sein. Die Fliehkräfte sind zur Gefahr für die Binde­ kräfte geworden. Wer lässt sich noch wie lange auf wen ein? Natürlich gibt es immer wieder ganz starke Schauspieler und

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Schauspielerinnen, Sandra Hüller, Lina Beckmann, Constanze Becker, ein Talent ist ein Talent ist ein Talent. Aber die Öffentlich­ keit ist dem Theater gegenüber so gedämpft geworden.

Ein Talent ist ein Talent ist ein Talent

Der Begriff Stadttheater wird nicht mehr wörtlich genommen. Vorbei. Vorbei heißt doch aber: Es ist wieder was möglich. Gehen wir hinüber zum Fußball. Der FC Barcelona, das war Stadttheater im besten Sinne. Von der Pike auf lernen und leben alle das glei­ che System. Entwicklung, Förderung! Wer geht über außen, wer hat die Übersicht, wer hat den Torinstinkt, wer ist der Capitano? Der lange geduldige Blick auf den „Kader“. Entwicklung heißt: Du hast mir eine Hauptrolle gegeben, nun spiel ich dir was in der sogenannten zweiten Reihe, die es ja nicht wirklich gibt, wenn man ernsthaft und energisch miteinander arbeitet. Es geht um die organischen Wege an einem Theater. Xavi ist jetzt genau dort Trainer, wo er von Guardiola und Cruyff gelernt hat. Der große Erfolg fehlt ihm. Lernen heißt nicht, Erfolgsgarantien zu erben, das genau sieht man an Xavi. Lernen, das heißt: an einem Zusammenhang be­ teiligt zu sein, der sehr viel mit einem selbst zu tun hat. Ich möchte ans Theater glauben und deshalb ist dies mein großer Teil Sehnsucht fürs Älterwerden: Von der Schauspielschule an wird wieder gezielt ein regionales Bewusstsein – und Selbst­ bewusstsein! – entwickelt. Wenn Theater nicht Lokaltheater ist, entfremdet es sich von sich selber. Regisseure und Stars sind leider Wanderwesen geworden. Herumziehend schmücken sie die Arbeit derer, die nicht von der Stelle kommen dürfen. Und an den Schauspielschulen denken junge Leute: Film ist geil, Fern­ sehen ist geil, sie lernen sich selber gar nicht mehr kennen, sie lernen keinen Werkzeugkasten mehr kennen, sie sind auf Durchzug aus. Wissen Sie, wenn man an ein Theater kommt, dauert es eine Weile, bis die Angst- und Eitelkeitsdämme ­brechen. Es gibt Cliquen, in die kommst du nicht rein, es gibt

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aber die Clique, in die du reinpasst. Auch das braucht Zeit, und gut ist ein Theater, in dem verschiedene Ensembles in Frieden und Konkurrenz arbeiten.

Welttheater war zumeist lokales Theater

Das attische, elisabethanische, klassische spanische Theater, das waren Lokaltheater. Und wurden dadurch Welttheater. Ich hab von den neunziger Jahren geschwärmt, die haben mich geprägt. Was für Wahn­ sinns-Schauspieler! Und heute? Entweder ist es der verbrauchte gelebte Blick auf alles, oder es gibt tatsächlich eine Änderung – was macht heute Spielerinnen und Spieler noch aus? Geht es noch um Handwerk, also um Spieltechniken und Eigenheiten, oder nur noch um dramaturgisch-ästhetische, politisch korrekte Mitreisende? Der Schauspieler ist nicht mehr der Steppenwolf, sondern der ­brave Hund unterm Tisch des allgemeinen Gehorsams. Wenn Sie’s so formulieren, klingt es gleich wieder so, dass ich einlenken möchte, na, so hart meine ich das nicht. Aber doch, so mein’ ich’s, zum Teil. Kollege Fabian Hinrichs hat bei der Ver­ leihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises dieses Fass weit auf­ gemacht und eckte naturgemäß an – bis wohin bist du als Schauspieler der brave Erfüller, ab wann musst du der oder die sein, die eine Sache erst besonders macht, die Aufführung, den Abend? Alles kommt sofort in den Vergleich, auf Rankinglisten, wird eingemeindet in die Märkte, wird weitergereicht, aus­ geschlachtet, relativiert. Der Punk geht weg. Es darf doch aber nicht vergessen werden: Die Anarchie ist unser Ding auf dem Theater, die kostenfreie Hysterie, zu brüllen und zu schweigen. Nichts Digitales kann uns ersetzen, nicht den Körper, der kämpft, nicht die Augen, die andere Augen suchen. Nähe und Schweiß, Fieber und Fleisch. In unserem Zeitalter stammen die meisten unserer Ansichten aus den Medien, also aus dritter oder vierter Hand. Wäre toll, wenn Theater wieder zu Erfahrung aus erster Hand einladen würde.

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Ja, zum direkt geführten Gespräch. Sehr selten hat es in der ­Geschichte den glücklichen Moment gegeben, da sich Theater direkt mit der Demokratie verbunden, sie in die eigenen Hände genommen hat. Zuerst mit der Erfindung des Dialogs durch Aischylos. Die ­Dis­kussion bildete Herz und Seele der griechischen Philosophie, der griechischen Kultur, der griechischen Demokratie. Wahrheit ist, wenn Menschen miteinander streiten. Ereignis­ haftigkeit, das wär’s, was ich mir wieder vom Theater wünsche. Theater wieder als Stadtgespräch. Vieles, was heute auf den Bühnen angenehm, wohlgefällig, ­kulinarisch ist, ist ja irgendwie auch eine Infamie der Verwischung. Das Langweilige zerrt an dir, du brauchst Kraft dagegen.

Kraft gegen das Langweilige

Wofür? Am besten für die Begegnung mit Leuten, die stärker sind als du, die dir Mut machen für Kräfte, die nicht nur immer Abwehr­ kräfte sein wollen. Klar, ’ne tolle geile Rolle, gute Stimmung im Raum und danach Applaus, das ist das eine, es ist schön, und das muss und wird es weiter geben, aber das andere sind Dinge, die du aus der Gesellschaft nimmst und wieder hineingibst, so dass dem Denken, dem Empfinden andere Möglichkeiten er­ schlossen werden. So müsste es sein: dass das Theater wieder viel mehr ein Ort ist, an dem wir ganz existenziell verhandelt werden, uns selber verhandeln. Wie ein Jüngstes Gericht, dem wir uns gern stellen, weil es uns durchrüttelt. Vielleicht bestünde ein anderes Theater darin, dass wieder die­ jenigen zum hauptsächlichen Publikum würden, die man aufrichten muss. Klar, jene, die das Bild der hässlichen Welt unmittelbar betrifft, weil sie Opfer sind, die sitzen nicht in den Theatern, sondern auf den Fußballplätzen.

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„Nachtasyl“

Und fühlen sich wohl im Urschrei für die eigene Mannschaft. Oft muss ich an Gorkis Nachtasyl denken. Ein so drückend gegenwärtiges Stück. Alle Menschen sind einer Kraft ausge­ setzt, die größer ist als sie selbst. Wie’s bei Rammstein heißt: „… das Gleichgewicht wird zum Verlust / lässt dich hart zu ­Boden gehen / und die Welt zählt laut bis zehn.“ Nachtasyl ist ein gutes Beispiel: Alle lieben falsch, spielen falsch, reden falsch. Aber für Momente, die sich einbrennen, sind diese Menschen des falschen Lebens plötzlich im richtigen Theater: Sie schauen sich selber zu, und hinter den Stirnen sieht man gleichsam die Einbildungsblase platzen. In die Leere, die sich in ihnen auftut, taumeln sie alle hinein und suchen einen Halt. Und träumen, dass es einem leid tut. Sie träumen, dass sie fliegen. Und sie fliegen ja wirklich: immer auf die Fresse.

Sanfte Helden aus der DDR

Sie zitieren Rammstein. Sie mögen die Gruppe? Große Liebe! Das ist linker Punk aus Ostdeutschland. Ramm­ stein ist eine Kunstfigur, eine theatralische Behauptung. Dass man sie missverstehen kann, liegt im Risiko dieser Performance, dieser Setzung. Sie spielen mit Tabus, sie kitschen sich ein in mythische und mystische Bilder. Rammstein kommt aus einem Punk, der gegen die dominanten Zustände im Osten entstand. Das sind ganz sanfte Helden aus der DDR. Sanft wie Motörhead (lacht).


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Weiße Landschaft Von Tobias Rempe

Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah? WILHELM MÜLLER

Im Rückblick wenig verwunderlich ging es ganz am Anfang um Mecklenburg, als Charly Hübner im Sommer 2017 überraschend beim Ensemble Resonanz anrief. Es war ein klassischer Cold Call, wir wussten zwar voneinander, aus der engen Verbindung des Ensembles zum Hamburger Schauspielhaus, einen direkten Kontakt aber hatte es noch nicht gegeben. Er habe eine Carte Blanche für die Entwicklung eines Konzertprojektes in Rostock, das die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern dort in den Rah­ men der Feierlichkeiten zum Achthundertsten der Stadt setzen wollten. Ob wir dabei seien. Natürlich wollten wir, aber worum solle es denn gehen? „Weißes Blatt Papier, wir können was ganz Eigenes entwickeln“, war die sehr schöne, aber auch ein biss­ chen gefährlich klingende Antwort. Gefährlich in meinen Ohren, weil auf einem weißen Blatt Papier nicht immer unbedingt schnell – oder überhaupt – Zu­ sammenhängendes entstehen muss. Aber schön, weil das En­ semble bereits zuvor die Erfahrung gemacht und immer wie­ der gesucht hatte, wie in so einer offenen und riskanten Arbeitsweise die Chance wächst, etwas zu entdecken. mercy seat – winterreise und die Zusammenarbeit mit Charly wurden in dieser Hinsicht für uns zu einem Signature-Move und steti­ gen Begleiter, zur – in seinen Worten – „totalen Entwicklung“.

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Mit inzwischen mehr als zwanzig Vorstellungen, einer Studio­ produktion und zahlreichen Seiten- und Folgeprojekten bleibt unsere Zusammenarbeit bis heute in Bewegung und kommt mehr und mehr den organischen Bildern nahe, mit denen Charly sie schon früh beschrieben hat. Als „schöne, garstige Pflanze“, die längst ein Eigenleben entwickelt, oder als rätsel­ haftes Hybrid-Lebewesen: „Hat zwar vier Augen und achtzehn Beine, aber: geiles Tier“. Dabei ging es auf den ersten Metern sehr schnell mit der Entwicklung. Unserem Telefonat im Sommer 2017 folgte ein erstes Treffen in einem Salzburger Hotel. Charly erschien im Friesennerz und kam gleich auf Nick Cave zu sprechen und die Streicher, die er sich in dessen schuld- und zweifelbeladenen Songwelten immer vorgestellt hat. Über Schuld und Verzweif­ lung waren wir dann schnell auch zu Schubert und der Winterreise und der Idee einer Verknüpfung gekommen. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, zu singen, kam als Antwort: „Klar. Mal gucken.“ Singen. Die Frage, ob er das kann und wenn ja, wie, hat uns begleitet und wurde wichtig für das, was mercy seat – winterreise geworden ist. Vieles auf seinem Weg zur Aneignung der Lieder war erstaunlich. Etwa mein starkes Gefühl des Ver­ trauens in ihn, unbegründet eigentlich, ich wusste nichts von Charly Hübner als Sänger. Noch mehr aber erstaunte mich sein eigenes Selbstvertrauen, seine Furchtlosigkeit und die nie nachlassende Neugier, sich aus immer wieder neuen Perspek­ tiven den Schubertschen Melodien zu nähern – und den groß­ artigen Winterreise-Liedtexten von Wilhelm Müller, die schließlich zum Ausgangspunkt seiner Interpretation wurden. Es entstand etwas Einzigartiges. Eine radikal vom Text abge­ leitete Direktheit im Ausdruck, eine Ungeschliffenheit, die ­sicher manchen Puristen herausfordert, aber die Lieder auch von einer gewissen kunstgesanglichen Überspanntheit befreit und sie theatral zugänglich macht. Und die eine ganz eigene, berührende und wiederum äußerst musikalische Schönheit offenbart.

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Die Texte der Lieder von Cave und Schubert waren es auch, aus denen Charly in intensiver, immer wieder sich selbst redigie­ render Auseinandersetzung die Erzählung des Abends heraus­ schnitzte. Aus dem lyrischen Ich der Winterreise und zwei ­Täterfiguren von Nick Cave lässt er einen neuen Protagonisten entstehen. Etwas selbstmitleidig und mit einem trotzigen ­Lonely-wolf-Pathos kommt dieser anfangs daher, dann merkt man irgendwann: Nicht ohne Grund hat die Welt sich von ihm abgewendet, er hat etwas Schlimmes getan. Für die Konfron­ tation mit der eigenen Schuld muss er dann schmerzhafte ­Umwege gehen. Aus diesem Kampf entwickelt sich der ganze Abend. Erzählt wird die Geschichte fast nur durch die Ausdeu­ tung und Verschränkung der ausgewählten Songs, in fantas­ tisch ausgearbeiteten musikalischen Szenen des Komponisten Tobias Schwencke für Streichorchester und Jazz-Trio. Die Art und Weise, wie dabei die Lieder zu Landschaften werden und deren Bewohner und Atmosphären zum Bühnenbild einer neuen Erzählung, das haben wir irgendwann einmal auch als Séance bezeichnet, als Geisterbeschwörung. Dabei blieb die Befragung und Entwicklung des Materials stets politisch. Wilhelm Müllers Texte waren einst verboten, das hatte Charly immer im Kopf, und damit natürlich die Fra­ gen: Was erzählte der damals eigentlich wirklich? Und was sagt er uns heute? Diese Haltung ist dem Ensemble Resonanz sehr nahe, das dem Anspruch folgt, Musik als zeitgenössische Kunst zu präsentieren, auch und gerade das ältere Repertoire. Fragen an die Werke sind die Grundlage solch einer Arbeit. Und Charly fragt nonstop, ist immer an. So erarbeitet er sich seinen eigenen Zugriff, bleibt bei der Sache und findet Worte, Ausdrucksweisen und Projekte ohne die Navigationshilfe etablierter Koordinaten und ästhetischer oder sprachlicher Formeln. Das hat etwas maximal Sympathi­ sches, Uneitles, es spricht und vermittelt sich quer durch jegli­ ches Publikum, vor allem aber gewinnt es Stärke und berührt. Der Ausgang bleibt immer offen bei dieser Arbeitsweise, man ist im Flow oder im Prozess, auf jeden Fall in Bewegung. Wie in

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Charlys eigenen Worten aus dem Elbphilharmonie-Programm­ heft von mercy seat – winterreise im Herbst 2018: „Ich hab hier meinen kleinen Werkzeugkoffer mit schauspielerischen Ges­ ten und so, aber der Rest ist weiße Landschaft.“ TOBIAS REMPE, geboren 1971, aufgewachsen in Nürnberg. Violinstudium. Mitbegründer des Ensemble Resonanz, dem er bis 2007 als Geiger angehörte. Seit 2008 Künstlerischer Manager des Ensembles. Entwickelte mit dem Ensemble u. a. dessen Rolle als Residenzensemble an der Elbphilharmonie Hamburg und die Plattform resonanz.digital. Produzierte mit dem Label resonanzraum records u. a. weihnachtsoratorium und mercy seat. Erster Vorsitzender des Vereins Freie Ensembles und Orchester in Deutschland (FREO).

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IV. „Wir sind einfach nicht an den Ball gekommen“

HANS-DIETER SCHÜTT: Jetzt ein Schnitt in unseren Gesprächen. Oder anders gesagt: Umschaltspiel. CHARLY HÜBNER: Umschaltspiel? Klingt nach Fußball. Genau. Eine Entweder-oder-Frage wie die nach der Entscheidung zwischen den Beatles und den Stones oder beim Berliner zwischen Currywurst und Bulette: Messi oder Ronaldo? Was ich stets mochte, war dieser große Dialog zwischen beiden. Zwei Existenzmodelle. Pure Intuition ist das eine Modell, kräfti­ ge Maschinerie das andere. Natur und Kultur. Die Kreatur und das Organische gegen die Kultur und die Organisation des ­Perfekten. Mir gefiel Messis unbedingte Treue zu Barcelona. Überhaupt Barcelona, zu Zeiten von Pep Guardiola: Es musste sich organisch ergeben, dass ein Tor fällt, es musste ganz natür­ lich zustande kommen. Und es kam zustande, indem man den Ball laufen ließ, indem man ihn also nicht nach vorn drückte, nein, es gelang, den Ball laufen zu lassen und dafür zu sorgen, dass ihn die anderen nicht bekommen. Guardiolas Mannschaft betrieb damals auch nicht diese standardisierten Aufwärm­ übungen vorm Spiel, diese Vorarbeiten für Arbeit, nein, die ­Spieler tänzelten sich gemeinsam mit dem Ball in diese Technik des „one touch“ ein – wie eine Choreografie war das, zwanzig Minuten lang. Das Schwere üben, als wäre es ganz leicht.

Messis Treue zu Barcelona

Wobei natürlich auch Ronaldo ein grandioser Typ ist.

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Unbedingt! Messi – Intuition, Ronaldo – Artistik und Virtuosi­ tät! Der bildet sich fortwährend aus. Üben, üben, üben. Nach jedem Training – weitermachen, Extrarunden, zusätzliche Stun­ den, sprinten, als wolle er zur Leichtathletik wechseln, unersätt­ lich rackern, unersättlich in diesem Drang nach vorn. Deshalb ist Ronaldo auch im „Alter“ noch groß und enorm, während man bei Messi spürt, wie der Körper nachlässt, die Natur verwittert schneller als die Maschine. Kommen wir zum wahren König: Zinedine Zidane. Oh ja. Mich hat fasziniert, wie er lauerte. Das war seine Kunst. Er guckte nicht, er schaute. Als schaute er durch die Dinge hin­ durch. Er sah voraus, er hatte also so eine Art Vorsehung. Kaum Bewegung, dann kam der Ball, zack, trippeln, und weg war der Mann, mit Ball. Sein Lauern war deshalb so genial, weil es ihn nahezu unsichtbar machen konnte. Und dann war er der Blitz, der einschlug. Der WM-Wahnsinn 2006! Zidane durfte, da gelb­ gesperrt, nicht gegen Togo spielen. Hätte Frankreich verloren, hätte sein Fußball-Leben ein Spiel zuvor geendet: Auswechs­ lung in der neunzigsten Minute.

Minetti

Frankreich gewann. In den Katakomben soll er gesessen haben, gegen Togo, vielleicht wie Minetti in der Garderobe. Minetti?

„... till the end“

Ein König, irgendwann ohne Spielfeld … Der uralte Bernhard ­Minetti hat eine Wahn-Situation beschrieben: „Ich ging eines Abends ins Theater, zufällig in meine Garderobe, ich hatte spielfrei – und ertappte mich, wie ich plötzlich drauf wartete, dass draußen mein Stichwort fiele, egal, was auf dem Spielplan stand, dass ich also aufgerufen würde vom Inspizienten. Niemand rief, ich dachte: Ende, Tod.“ Herrlich, so denken nur Könige, die sich ihres Volkes sicher sind, auch wenn es gerade oder schon eine ganze Weile anderen zu­ jubelt. „The one thing you will never lose is the singing in your head. / That will still be with you till the end.“ Motörhead.

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Wie verabschiedet man Könige? Na, jedenfalls nicht, indem man sie in der neunzigsten Minute auswechselt. Was erzählt Ihnen die 110. Minute des WM-Endspiels der Franzosen gegen Italien, am Abend des 9. Juli 2006 im Berliner Olympiastadion? Als Zinedine Zidane zum Kopfstoß gegen den Italiener Marco Materazzi ansetzte? Das französische Fußballwunder muss nach Roter Karte vom Feld. Fremdartiger kann man eine königliche Laufbahn nicht been­ den. Ist doch irre! Zidane hat sich den großen Abgang ver­ masselt, und damit gelang ihm der lebendigste, nachhaltigste Abschied, den man sich vorstellen kann. Es kommt doch sofort was Geheimnisvolles über die Szene, wenn man sie wie Zidane so überstürzt verlassen muss.

Zidanes Kopfstoß

Eine Szene, als verbänden sich Schönheit und Schwärze. Eine Metapher, als ertrüge der Erfolgreichste nichts mehr: nicht mehr den Erfolg, nicht mehr die Welt, nicht mehr den Gegner, nicht mehr sich selber. In jener 110. Minute ein Elf-Sekunden-Dialog zwischen dem ­Franzosen Zinedine Zidane und dem Italiener Marco Materazzi. Ein Dramolett, das Geschichte schrieb. Materazzi zerrt Zidane im Strafraum am Trikot. Zidane: „Wenn du es haben willst, schenke ich’s dir nachher.“ – Materazzi: „Lass mich, du Schwuchtel. Du, mit deiner Nutten-Schwester. Scheiße.“ – Zidane dreht sich um. Materazzi: „Deine Schwester, diese Nutte.“ Zidane geht auf ­Materazzi zu. Materazzi: „Ich spalte dir den Arsch.“ Zwei Sekunden später rammt Zidane seinen Kopf gegen Materazzis Brust. Was ist das für Sie – diese Geschichte? Der Kopfstoß hatte einen sagenhaften Sog. Zidane war wie ein Widder, der sich zu einem Gegner umdreht und den Körper spannt. Der Kopfstoß ist ein Ritual der arabischen Beduinen­

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kultur. Direkt in den Solarplexus hinein. Eine Reaktion auf Ent­ ehrung. Die Beleidigung von Materazzi war so grundsätzlich, eine unfassbare Entwürdigung, dass Zidane seinen Kopf einset­ zen musste. Auch im Sinne klaren Denkens. Das war keine be­ sinnungslose Aktion, das war schon vorm Stoß – Kopfarbeit. Materazzi hatte gewissermaßen das Spielfeld verlassen, und Zidane reagierte im Wissen darum: Das kostet mich die Rote Karte und womöglich den Ruf. Ich bin mit meiner Sympathie immer bei Zidane geblieben. Sind Sie gegen Sieger? Nein, natürlich nicht. Aber diejenigen, die siegen, sind gewöhn­ lich nicht halb so eindrucksvoll wie die, die verloren haben. Wer ein bisschen Erfahrung hat auf den Kampfplätzen dieser Welt …

Ein Mensch wird Kunstfigur

Die man Leben nennt. Ja, der weiß doch zur Genüge, wie sich Sieger aufführen, und der kann nur immer hoffen, wenn er auch mal gewinnt, dass er nicht so dreist aus der Wäsche guckt wie die landläufigen Ge­ winner. Materazzi übrigens verschwand für mich unrühmlich aus diesem Duell. Ästhetisch war die Kopfstoßszene ein toller, beinharter Tanz. Das Unrühmliche plötzlich als Größe. Ich sah den Jungen aus Marseille, der geradezu autistisch mit der Be­ tonwand eines Hauses Fußball spielt. Er hat sich alles selber bei­ gebracht, ich war eine Zeit lang in Marseille, ich hab gesehen, wo er herkam, ich hab die riesige Betonwand, diesen seinen Gegner, diesen seinen Trainer gesehen. In einem Buch von Jo­ seph Conrad gibt es den Satz: „Ich glich jenen Heiligen, deren Persönlichkeit während der Andacht verflüchtigt.“ Der Satz er­ zählt den Übergang, die Verwandlung: Ein Mensch wird Kunst­ figur. Das ist Zidane, das war irgendwie auch Maradona. Unter Umständen ist solche Verehrung irgendwann mit Desillusionierung verbunden. Bei Zidane ging mir das nie so.

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Man spürt: Fußball ist eine Ihrer Leidenschaften. Sie war früher größer. Da ist was erkaltet. Aber ich halte doch weiter an der Raute von Werder Bremen fest. Gott hab sie selig, die kontrollierte Offensive von Otto Rehhagel. Zum Glück gibt es ab und zu geniale Leute mit ’ner Rakete im Hintern. Klopp zum Beispiel. Guardiola, herrlich! Ich glaube, es war 2008, der Trainer von Manchester United war Alex Ferguson. Manchester verlor gegen Barcelona, und Wayne Rooney wurde nach den Gründen der Niederlage gefragt. Da stand dieser gedrungene, stämmige Kämpfer, ein Weltklassefußballer, vor Kamera und Mikrofon und sagte klipp und klar und konsterniert, was da schiefgelaufen war. Sagte entwaffnend schlicht: „Wir sind ein­ fach nicht an den Ball gekommen.“ Dieser Klotz an britischer Klasse und auf der anderen Seite die katalanischen Bürschchen Iniesta und Messi und Eto’o … „Wir sind einfach nicht an den Ball gekommen.“ Das saß, als sei es eine Zeile von Shakespeare.

Der Satz von Wayne Rooney

Sind große Schauspieler Minimalisten? Weiß ich nicht. Zidane war das Thema, bleiben wir bei ihm: Der schwitzte erotisch, der war ein genialer Kopfballer. Diese Ball­ kontrolle unterm Zauber von Pirouetten und Pässen! Eines stimmt freilich: Der brauchte einfach nur da zu sein, schon wur­ den alle um ihn herum – besser. Auf einen Film mit Ihnen möchte ich noch eingehen: 3 Tage in Quiberon von Emily Atef porträtiert Romy Schneider, gespielt von Marie Bäumer. Sie sind der berühmte Fotograf Robert Lebeck, der die Schauspielerin 1981 fotografierte, beim stern-Interview mit Michael Jürgs. Warum ich den Film erwähne: Wenn Sie selbst fotografieren würden, welches wären Ihre bevorzugten Motive? Den Konjunktiv können Sie weglassen. Ich habe eine Zeit lang ziemlich intensiv fotografiert. Am liebsten Landschaften ohne Menschen.

Die Legende Lebeck

Schauspielerei ist ein Menschengewerbe. Ja, wir sind ein Geselligkeitsgewerbe, das doch aber hauptsäch­

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lich davon erzählt, wie der Mensch in die Verlorenheit, in die Vergeblichkeit rauscht. Shakespeare, Tschechow, ja, auch Schimmelpfennig und Strunk. Es gibt einen erschütternden Satz von Christoph Ransmayr. Sein Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis beginnt so: „Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand.“ Wir sprachen über das Fotografieren. Mich faszinieren Bilder, in denen das Verwittern Sinnlichkeit hat. Die Erzählung der Moderne! Vielleicht ist es die Erzählung jenes Menschen, der sich entfernt, aus den Zentren, aus den Geräuschen, aus jenen sich überschlagenden Vermutungen, was das alles sein könnte, diese Wirklichkeit … Verlorenheit kann schön sein – wenn sie das Unverwechselbare, Einmalige am Menschen betont. Wenn die Umgebung Einsam­ keit nicht nur herausfordert, sondern auch wirklich zulässt. Ihren Robert Lebeck sah ich und dachte ans Landläufige: Beim Fotoreporter hörst du gewöhnlich den Atem rasseln. Er gehört zu den Jägern. Nicht Lebeck.

Fotos, frei von Pathos

Schnelligkeit plus Ellenbogen. Nicht Lebeck! Er sieht Menschen und erwischt den Moment, da ganz unmerklich er hinzutritt: der Sinn. Nie ist Sinn schon da, er nähert sich. Das hält die Fotos, und sei es in letzter Sekunde, frei von Pathos und von Inszenierung. Sie selber fotografieren gar nicht mehr? Doch (lacht). Ich fotografiere die Unterlagen, die für die Steuer­ abrechnung benötigt werden, und sende sie per Handy an mei­ nen Steuerberater.

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Fotografieren heißt, dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen. Na ja, ich weiß nicht. Wenn Sie sich Ihre Kinderbilder anschauen – diesen Carsten gibt es nicht mehr. Das stimmt, und insofern ist diese Interpretation richtig. Aber ich schau mir die Fotos an, weil es damals schön war. Sich gegen den Tod zu wehren heißt auch, nicht dauernd an ihn zu denken. Ach, wär überhaupt gut, über Dinge nachdenken zu können, bevor man Angst bekommt vor diesen Dingen. Dem Tod zusehen … Alko­ hol zu trinken bedeutet im Grunde: sich ungesund zu verhalten und also auch dem Tod zuzuarbeiten. Aber wir heben die Schnaps­ gläser und sagen: Prosit!, es möge nützen!, und trinken aufs Leben.

Als Fotograf Robert Lebeck: mit Marie Bäumer im Film 3 Tage in Quiberon, Regie: Emily Atef, 2018

Ist das Leben eine Hölle? Nee! Wenn’s ganz schlimm kommt, eine Wüste. Wieso denn Wüste?

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Wüste, das ist immer auch: Oase

Weil man bei Wüste sofort an Oase denkt. Es gibt sie. Klingt wie Zweckoptimismus. Es ist nicht ausgemacht, dass Dinge gut ausgehen. Aber wenn’s nicht gut wird, ist das doch noch nicht das Ende. Manchmal denke ich, Hoffnung kommt aus falscher Einschätzung der wah­ ren Lage (lacht). Aber zum Glück: Nichts ist nur so, wie es scheint, es gibt immer einen anderen Blick aufs Ganze. Der Schmerz tobt durch unser Leben, man entkommt ihm nicht. Aber ich sag ihm auch, he du, ich kann dich im Moment nicht vertreiben oder verhindern, trotzdem gehe ich jetzt erst mal zum Bäcker und hole uns Brötchen. Woher kommt Trost? Schreiben. Spielen. Erinnerung. Die Hand, die dich berührt. War die Reihenfolge der Dinge bewusst oder zufällig? Man kann alles, was man liest, auch umgekehrt lesen. Wie den Nebel: Leben. Also, wie’s grad kommt: die Hand, die dich be­ rührt. Erinnerung. Spielen. Schreiben. Ist es wahr, dass Sie einen Anruf aus Hollywood bekamen? Stimmt. Sie haben abgelehnt. Ja. Terminprobleme.

Anruf aus Hollywood

Klingt arrogant, oder? Ich hatte hier einen Vertrag für einen Fernsehfilm, Über den Tod hinaus. Der Hollywood-Film war übrigens ziemlich erfolgreich. Welcher war’s denn? Is’ doch egal. Bedauern Sie das? Eine so einmalige Chance?

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Wieso einmalig? Mein Telefonanschluss ist nicht gekappt (lacht). Lehren Sie an einer Schauspielschule? Zu früh. Das ist eine Verantwortung, bei der ich an Erfahrungen denke, die ich noch nicht habe. Oder noch nicht entsprechend weitergeben kann. Lehren ist was anderes als tun. Wenn man die Jahre und Erfahrungen, die Erfolge und die Enttäuschungen zusammennimmt: Welches ist nach wie vor Ihr Ideal vom Arbeiten? Dinge zu tun, vor denen ich zugleich Angst habe. Damit Sachen, die man tut, nicht harmlos bleiben. Man fängt bei jeder Ge­ schichte von vorn an. Leben ist Hingabe? Hingabe ja, Preisgabe nein.

Hingabe ohne Preisgabe

Jetzt oder nie! Was halten Sie von dieser Devise? Viel. Das ist auch eine Lehre aus dem Tod meines Vaters: Es war ein ganz schneller Tod, ein blöder Zufall, ein Aortenaneurysma. Er wollte noch so viel, aber irgendwie fehlte ihm jemand an der Seite, der sagt: „Komm, wir machen das jetzt einfach!“ Und an diesen Punkt will ich nicht kommen – dass man immer nur was will, es aber nie tut. Was müsste man jetzt spielen? Sophokles, Shakespeare, Molière! Molière, das weiß ich, beschäftigt Sie seit langer Zeit. Das ist ein Panoptikum der Geilen, Geldgierigen, Garstigen, Gaunernden, Gutseinwollenden, Geliebtwerdenwollenden, Ge­ de­mütigten. Das sind Teilchen eines allesfressenden Getriebes. Brutal, berauscht, besengt. Klingt, als redeten Sie über Motörhead.

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Alles, was hart ist, ist Motörhead. Die Gesellschaft kann ganz schön Scheiße sein, um es zart zu sagen. Wo findet man Charly Hübner, wenn er entspannen möchte? Dort, wo Sie mich hoffentlich nicht finden (lacht). Wir haben da­ rüber gesprochen: etwa im Lärmuniversum, beim Metal. Immer wieder. Immer noch. Im Kern vom Lärmuniversum gibt es eine unglaubliche Stille, im Schrei von Lemmy ein unglaubliches Schweigen. Oder meinen Sie Landschaften? Auch. In Mecklenburger Weiten, auf irischen Felsen – im Steinernen Meer. Bei Wetter und Welt sind die Umschlagpunkte das ­Schöne, aber oft sind sie das, was so schwer fassbar ist. So, wie man mit dem Bewusstsein nie diesen Moment erwischt, an dem man einschläft.

Ebbe und Flut

Konkret? Manchmal stehe ich an der Elbe, schaue hinaus und hinunter und suche nach den Zeichen, wie genau Ebbe in Flut oder Flut in Ebbe umschlägt. Klappt natürlich nicht, man erwischt’s nicht, das Geheimnis, aber ich werde dabei ganz, ganz ruhig. Das könnte schon wie ein Gebet sein: Meine tägliche Elbe gib mir heute! Was ist an Hamburg schön? Heiligengeistfeld und Museumshafen waren die ersten Orte, die mich hier faszinierten. In Hamburg steh ich vor der Sonne, die fällt im Westen ins Wasser, und die Schiffe fahren dahin. Ich bin gern Zaungast, das kannst du in Handelsstädten am besten sein. Die lassen dich in Ruhe, du musst dich nicht ständig für was entscheiden, die bedrängen dich nicht, die sind ganz an­ ders in Bewegung als Hauptstädte. Ganz spontan: Zukunft! Mein Wunsch ist, als Spieler frei zu sein in meinen Entscheidungen.

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Was mich reizt, ist alles von Shakespeare, wie gesagt, der ge­ samte Molière, Goethe weniger. Das sind Stoffe, in denen unse­ re ganze Verwirrung Platz hat, der Krieg, die Nachhaltigkeit, die alten weißen Männer, der hypernervöse Spätkapitalismus, die Wokeness, all die glücklose Politik, und und und. Man weiß gar nicht, wo man ansetzen soll. Shakespeare kriegt’s hin. Aber die Frage für mich: Mit wem möchte man’s machen? Wo sag ich mir: Das mach ich selber! Durch erste Regieschritte lerne ich neu planen …

Molière!

Ist es immer noch so, dass Lina Beckmann und Sie im Restaurant sitzen und sich spielend in Gäste hineinfantasieren, die Ihnen ­besonders auffallen? Ja. Und dann finden wir Geschichten dazu und spielen die. Möglichst unauffällig. Möglichst so, dass wir noch unser Essen bekommen. Sind Sie glücklich? Zu Teilen ja. Heiner Müller lässt eine seiner Gestalten in Der Auftrag sagen: „Ich schäme mich, in dieser Welt glücklich zu sein.“ Ich bin nicht Heiner Müller und keine seiner Figuren. Wiewohl ich weiß, dass jeder Tag ein Glückstag und ein Unglückstag ist. Glücklich ist vielleicht blöd. Ich lebe gern.

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Die Legende von Martin (in neun Kapiteln) Von Charly Hübner

1. ROSWITHA, DIE CHRONISTIN Die Legende erfuhr ich einst von Roswitha, der schnellen, die, wann immer sie konnte, sich Zeit nahm und durch den Ort ­flitzte, eilte, frohlockte, um zu berichten, was war, was ist, was werden wird und was das alles zu bedeuten hatte. Sie war ­Chronistin ohne Feder, ohne Buch, ohne Schreibmaschine. Sie hielt fest, indem sie berichtete – vieles wahr, manches noch mehr. Und Martin lag ihr am Herzen – sein Schicksal, sein ­Wunder, sein Sterben, denn so unglaublich das alles scheinen mag, so lustig, töricht und unvorstellbar, so wurde es doch schließlich furchtbar traurig und das trieb Roswitha um, ließ sie nicht ruhen, die Geschichte von Martin zu berichten, zu erzäh­ len, zu durchleben, bis die Geschichte eine Legende wurde. Und diese Legende geht so: 2. MARTIN, AUF DER RAMPE Martin stand auf der Rampe. Seine Rampe war die überdachte Laderampe der BHG, Bäuerliche Handelsgenossenschaft, ein Ort, an dem man als Privatperson, wenn vorhanden, Baumittel, Baukleidung, Baugeräte, Baustoffe erstehen konnte – also ­Zement, Reifen, Kies, Gummistiefel, Schaufeln, Spaten, Harken, Nägel, Zollstöcke, Wattejacken –, wie gesagt, wenn vorhanden. Das meiste aber war nicht vorhanden, nicht käuflich erwerbbar, denn es war eben Mangelwirtschaft, und Martin, der Herr der mangelnden Waren, nur er wusste aus Mangelware Tausch­ ware zu machen, sagt die Legende, er konnte zaubern, mischen, verhandeln, verwandeln, und er wurde so zum Helden im

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­ charnier zwischen Not und Glück im sogenannten real existie­ S renden Sozialismus jener Zeit, die man auch gern die Achtziger nennt, in Mecklenburg, im fernen, einhundertdreiund… Kilo­ meter nördlich von Berlin, Hauptstadt der DDR. 3. DER PFIFFIGE VATER Und das ging so: Ein Vater kam und brauchte Kies für den Hof. Er wusste ohne nähere Anschauung, dass es Kies nicht gab in der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft, aber er wusste über ­Martin, dass dieser wusste, wie und wo Kies ist und wie und was dem Kies entspräche. In diesem Falle wusste Martin unaus­ gesprochen, dass der Vater Kontakte hatte zum Platzhirsch, der wiederum Kontakte hatte zum Russen, also nicht zu dem einen, sondern zu den Befreiern, die auch Besatzer waren. Also sprach der Vater zum Platzhirsch: „Hast du Reifen oder Sprit?“ („Rus­ sendiesel“ nannte das Volk den Treibstoff, der süßlicher roch als der heimische.) Der Platzhirsch sprach: „Glück für dich – beides da! Plus Butter in Mengen!“ Das freute den Vater, denn er ­wusste, dass beides half, um seiner Not zu helfen. Alsdann mit fünfzig Litern Sprit und vier Reifen Standard für PKW ausge­ stattet, kreuzte der Vater bei Martin, dem coolen, dem Clint Eastwood von Mecklenburg auf und rechnete sich aus, begüns­ tigt zu werden im Tauschen, Verhandeln und Verwandeln der Ware, die keiner hatte, aber alle brauchten. Ein Blick, zwei ­Fragen, drei Antworten, und Martin und der Vater luden Reifen und Sprit aus dem Kofferraum und schaufelten Kies in den ­Anhänger, dem Standard, den alle hatten, außer die, die ihn sich nicht leisten konnten oder noch immer auf ihn warteten. Am Ende ein Handschlag, ein Weinbrand aus Sachsen und fünf Schachteln „Alte Juwel“ (dass Zigaretten so hießen! Juwel!) und der Vater, der Glückliche, der Pfiffige, rollte von dannen und dankte einmal mehr dem Helden, dem coolen Martin, der auf der Rampe stand wie Clint im Western, mit Fluppe im Mund und Schnauzer im Gesicht – lässig, drahtig, undurchschaubar und versoffen. Das war sein Geschäft – das Schaffen von Waren, die fehlten und doch zählten. Ein Gerücht hier, ein Hinweis da,

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und in der Mitte der Platzhirsch, der täglich informierte, was der Russe, nicht der eine, sondern die vielen, am Mittwoch brachte, bringt und bringen würde, und aus dem Gewisper die Kenntnis, dass dies und das und das und jenes kreisten. Und seine Rampe war seine Bühne – hier war er der Entscheider, der sein Mit­ wissen teilte oder schwieg. So war er Legende und Hero zu­ gleich, und keiner wusste nichts über ihn. Dann fiel die DDR und auch der Deal mit dem Russen, der nicht einer war und dann bald gehen musste ohne Zapfenstreich und Pfannekuchen. Und Martin? Er rauchte, soff und schaute. 4. EIN MANN, WIE AUS DEM FERNSEHEN Er stand dann nicht mehr auf der Rampe der Bäuerlichen Han­ delsgenossenschaft, sondern, weil diese geschlossen wurde, an der Kreuzung davor, den Bahnhof im Rücken, den Esel des Städt­ chens im Angesicht. Er rauchte und staunte, und sein Gemüt verschwand im Kommentieren des Fernverkehrs und im Trinken des Weinbrands, dem aus Sachsen, von dem es hieß, er sei wie das Original aus Frankreich – weich und hart. Und eines Tages fuhr in diesen neuen Tagen, die alle neu wirkten, ohne Neues zu bringen, ein Auto vor, wie aus einem Film, lang, leise, schwarz und cool. Eine Fensterscheibe sank lautlos in die Tür, der Chauf­ feur im schwarzen Anzug fragte nach dem Weg zum Bauern M. und war in eifriger Not. Martin, der Held, der trinkende, kannte Bauer M. nur allzu gut. Viel Ware war getauscht worden in all den Jahren vor den Jahren, die jetzt die Jahre waren. Er empfahl folgenden Weg: „Hier rechts, dann geradeaus, bis im nächsten Dorf, Hauptstraße links, da dann geradeaus – halt nein, bis zur zweiten Querung, dann links, dann geradeaus, am Teich wieder links, dann immer Hauptstraße bis ins Dorf, und dort im Unter­ dorf gleich links am Bach.“ Der Chauffeur blieb freundlich, nick­ te dankend und fuhr. Blieb jedoch gleich wieder stehen, fuhr rückwärts, die hintere Scheibe sank runter – ein hohes Tier, ein Mann wie aus dem Fernsehen erschien und fragte: „Wollen Sie uns nicht begleiten – das ist doch auch für den neuen Kunden vertrauenserweckend, wenn Sie teilhaben.“

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Martin staunte, rauchte, raunte, saß im Fond der Limousine und schwebte von dannen zum Bauern M. 5. BAUERN, ÄRZTE, ARBEITER Der Deal saß, der Mann in der Limousine war zufrieden, denn auch dieser Bauer M. hatte keinen Schimmer in der weiten Welt der Zahlendreher und Versicherer und unterschrieb das Besters­ te, was der Mann, der Makler, der Händler, der Versicherer ins Rennen warf. Geld für Ruhe! Erspartes für Sicherheit! Martin staunte und rauchte – Bauer M. dankte, der Mann aus dem Fernsehen, der kein Fernsehmann war, dankte, und auch der Chauffeur dankte, obwohl er nur in der Limousine saß, die dan­ kenswert schien, aber nichts von sich gab. Auf dem Rückweg zur Kreuzung am Bahnhof beim Esel die Frage vom Fernsehmann, der ein Makler war, an Martin, ob er noch andere kannte – Bauern, Ärzte, Arbeiter? Martin kannte alle, jeder braucht mal Kies und Sprit, den süßlichen, und nickte – cool, lässig, geheim­ nisvoll. Der Makler strahlte, seine Zähne strahlten, lachten, glucksten und schlugen ihm, dem Martin, dem Clint Eastwood Mecklenburgs einen Pakt vor – pro Arzt, Bauer und Arbeiter, der sich versichert für alle Zeit, gibt es Punkte, und wenn die Punkte viele sind, so viele, dass sie aussehen wie ein Gemälde von Van Gogh, dann gibt es GeldGeldGeld. Martin, der Tauschheld, nick­ te und schlug ein in den Tauschhandel – Versicherte gegen ­Sicherung, Kontakte gegen Kontrakte. 6. MARTIN, DER HEILIGE Und es flutschte, klappte, sauste! Martin empfahl Bauer B. und Anwalt A., Arzt Z. und Arbeiter X. – alle glaubten der Vorsicht des Mannes aus dem Fernsehen, der ein Makler war und Robert hieß. Alle strahlten vor Glück, ihr Geld zu setzen, um Ruhe zu halten, ein Versprechen über das Leben hinaus, sicher, klug, hilf­ reich und nett. Der Makler, der kein Fernsehmann war, wurde Held, aber Martin, der Kontakter, wurde Hero, wurde Legende. Ohne ihn keine Zukunft, ohne ihn keine schlafvollen Nächte. Das sah auch die Anstalt so, die das Versichern einst zum

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­ eschäft erkor und Geld scheffelte, ohne selbst zu schaffen. G Und als Gipfel der glückseligen Zweieinigkeit des heiligen ­Martin und der seligen Sicherer bekam Martin, der Autodidakt, ein Auto plus Fahrer, Fredo, sein Name, ein Stotterer, da Martin, der Coole, nie fahren lernte in jener Zeit, als Lernen noch Staats­ pakt war. Und so wurden Fredo und Martin in heiliger schwarzer Limousine zum dunklen Schatten der Sorge und beglückten alle sorgenvoll Schlafenden mit Policen, Papieren, Verträgen. Wie die Blues Brothers in Schwarz und Sonnenbrille gondelten sie im deutschen Luxusblech über die Pisten der Dörfer, rauchten, staunten, grinsten. Mächtig wie Helden, dämlich wie Rinder! Keine Frage! Kein Zweifel! Keine Sorge! 7. MAKELNDE MAKLER Nach einem Jahr des Gondelns und des Rauchens, mit Schnau­ zer im Anzug, die Heiligsprechung der fleißigsten und ertrag­ reichsten Makler des neuen alten Einheitslandes – auf dem all­ jährlichen Hohefest, wo Makler und Makler sich makeln, um die geilsten Makler zu sein. Im tiefen Westfalen, fern der Heimat Mecklenburg! Da stehen sie und jubeln, wie einst die Kommu­ nisten, nur eben jetzt als Makleristen, und feiern das Duo aus dem Osten mit Klatschen und Geschrei, als wäre ein Karneval. Dann kippt die ganze Chose, denn der Chor der makelnden Selbstverwirklicher schreit nach ihm, dem Martin. „Er soll spre­ chen! Er soll sprechen! Er soll sprechen!“ Nicht verwunderlich das Ganze – Erfahrung, Tricks und Gaunerei – alles zum Verrat – alles ein Gebrauch, um sicher zu versichern, was nicht zu sichern ist. Martin, der coole, kein Redner, ein Schweiger, soll reden – muss reden, da sonst die gierige Maklermenge ihn häutet, frisst und abserviert –, und da geht er denn nach oben, auf die Bühne im Kongress-Saal, an die Rampe, die sein Schicksal wird. Er schweigt und grummelt dann. Erzählt was von dem Bauer G., der „’ne geile Tochter hat und blöde is’ wie Stahl!“ – Spricht von „… den guten alten Zeiten, als der Platzhirsch wusste, wann der Russe liefert!“ – Schwadroniert von Schachern, Tauschen, Schweigen, von Weinbrand, Osten und der FDJ, „… die ja so

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dämlich war, dass Honni selbst (der Chef der DDR) ’nen Arzt ­rufen musste …“ und so weiter und so fort. Alles stammelnd, einsilbig und nicht konform; kontraform und ungelenk. Pein­ liche Stille, bissige Abwehr, so Roswitha, führten zu der größten Abfuhr, seit das Makeln ruchbar war. Noch am Abend selber, ausgebuht und weggelacht, fuhren Fredo, stotternd, und ­Martin, der Coole, bibbernd heim ins weiche Mecklenburg, um dann am Morgen müde, leer und totgesagt den Weinbrand leer zu schlürfen, der den Horror schleierte. 8. DIMITRI, DER KOMSOMOLZE Dem vermeintlichen Fehler folgte der wahre Fehler. In Sorge, dass all das makelnde Glück von heut auf morgen Sorgen brin­ gen würde, da es nicht mehr zustande kam, begann Fredo, der Stotternde, nach Ausweg zu suchen und fand bei Freund­ Dimitri einen Coup. Dimitri, einst ein Komsomolze in deutschen Gewässern, verbrachte nun die neue Zeit mit Schmuggeln, ­Makeln und Handeln von Ikonen, russischen Votiven, die im fer­ nen Westen, der nun näher war, viele Käufer fanden und somit Ware wurden – jedoch am Staat vorbei. Um all dies güldene ­Gebilde von Ost nach West zu kriegen, von Polen bis nach Ams­ terdam, brauchte es gewiefte Fahrer in der Nacht, die, harmlos wirkend, die teure Ware heimlich in die Keller brachten. Ein ­Teufelsplan mit – Teufel! – viel Geld, und Fredo und Martin wirk­ ten seriös, da Limousine und schwarzer Anzug nun mal immer seriös wirken. Und da der westfälische Makelriese sich vom Ost­ makler Martin wegwendete, aus Scham, Ekel oder Hochsucht, kam Fredos Schnüffeldienst wie ein Geschenk des Himmels auf die Mecklenburger Erde. Sie fuhren, chauffierten, verschleppten das goldene Bild der Orthodoxie von Ost nach West, und immer zahlte der ehemalige große Bruder in bar und schwieg. Die Blues­brothers wurden Blutsbrüder von Dimitri, und im Rausche des Weinbrands und des Wodkas erfuhren sie die wahre Welt hinter den Zahlen, und dass Geld mehr Geld ist, als sie dachten, dass Geld sein kann. Da kam die Gier! Fredo ersann einen Plan, der sie manch Ikone einbehalten ließ, nicht als Pfand, nein, als

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Spiel, um von dem großen Geldberg auch noch einen Happen abzukriegen. Sie wollten allein sein im Gemakel zwischen Ost und West und Geld und Supergeld. Martin staunte, rauchte, nickte – das Makeln war seins, das Tauschen schon immer, was sollte da denn schief gelingen? 9. DER TRAURIGE MANN Allein Dimitri, der alte Komsomolze, empfand dies als Verrat und sprach den Fehler weiter, in die Runde derer, die tatsächlich Leib und Leben messen können. Als diese ruchlosen Düsterfinke vom Verrat des Schweigers und des Stotterers hörten, statuier­ ten sie exemplarisch den Tod Fredos, durch Niederfahrung sei­ ner Seele mit einem Schwertransporter, der sonst alltäglich frisch gefälltes Holz verfährt, von Ost nach West, von Nord nach Süd. Martin, der Coole, im Kern ein Zitterhain, als Zeuge dieses ruchlosen Mordes, schwer geprüft und endgültig erschüttert, erkennt die Ausweglosigkeit des neuen Lebens und bleibt ver­ steckt im Haus der Mutter, die reichlich er beschenkt mit all dem, was das Geschenkgewerbe herzureichen mag. Allein, das stillt den Unfrieden nicht, und voller Angst und Schrecken fin­ det er nur Ausweg in dem Abgasschlauch, den er in der Garage vom Auspuff in den Wagen legt, um so im Koma zu entschwin­ den aus dieser Leere, die sein Leben wurde. Roswitha weinte bitterlich, als sie dies furchtbar graue Ende einst erzählte, und wir, die Hörer, weinten auch, denn Martin war der Coole, ein Kind, offen und entspannt. Doch das Rasen der Welt und der Zeiten machte ihn zum traurigen Mann, der nichts mehr konnte und niemanden kannte, der ihm den Hintersinn hätte schenken können – dass nämlich alles nur ein Irrsinn ist, solange es nicht in dir ist. (2022)

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ROLLENVERZEICHNIS Theater (Auswahl)

Schauspiel Frankfurt am Main DIE WEIBERVOLKS­ VERSAMMLUNG von Aristophanes Regie: Amélie Niermeyer 1996 ZURÜSTUNGEN FÜR DIE UNSTERBLICHKEIT von Peter Handke Regie: Hans Hollmann 1996 LEBEN DES GALILEI von Bertolt Brecht Regie: Peter Eschberg 1997 VIEHJUD LEVI von Thomas Strittmatter Regie: Bettina Grack 1998

FAUST I von Johann Wolfgang Goethe Regie: Tom Kühnel, Robert Schuster 1998 ROMEO UND JULIA von William Shake­ speare Regie: Amélie Niermeyer Benvolio 1998 ANTIGONE von Sophokles Regie: Tom Kühnel, Robert Schuster Kreon 1999 FAUST II von Johann Wolfgang Goethe Regie: William Forsythe, Tom Kühnel Lykeus 1999

Theater am Turm Frankfurt (Main) DEUTSCH FÜR AUSLÄNDER von Soeren Voima Regie: Tom Kühnel, Robert Schuster 1999 DAS KONTINGENT von Soeren Voima Regie: Tom Kühnel, Robert Schuster Verschiedene Rollen 2000 Koproduktion mit der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin EUROPA (ÖDIPUS, PHÖNIZIERINNEN, ANTIGONE) von Soeren Voima nach Sophokles, Euripides Regie: Robert Schuster Kreon 2000

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DIE UNVERNÜNFTIGEN STERBEN AUS von Peter Handke Regie: Christian Tschirner Hermann Quitt 2001

von Bertolt Brecht Regie: Tom Kühnel Slift 2002 Koproduktion mit der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin

DER RING DES ­NIBELUNGEN (ohne Musik) von Richard Wagner Regie: Tom Kühnel Siegfried 2001

DER JASAGER / DER NEINSAGER von Tom Kühnel und Ensemble Regie: Tom Kühnel 2002

DIE ARABISCHE NACHT von Roland Schimmel­ pfennig Regie: Tom Kühnel Voyeur 2001 Koproduktion mit der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin DOGMA nach August Strindberg, Meister Olof und Der Vater Regie: Robert Schuster Rittmeister 2001 DIE HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE

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DER SELBSTMÖRDER von Nikolai Erdman Regie: Tom Kühnel Semjon 2002

Schauspielhaus Zürich DIE RATTE von Justine del Corte Regie: Roland Schim­ melpfennig 2008 HIER UND JETZT von Roland Schimmel­ pfennig Regie: Jürgen Gosch Martin 2008

Berliner Festspiele / Spielzeit Europa DER LAUF ZUM MEER von William Carlos Williams Regie: Thorsten Lensing, Jan Hein Paterson 2009 Salzburger Festspiele / Berliner Ensemble DIE BAKCHEN Regie: Jürgen Gosch Pentheus, Bote 2009 Schauspiel Köln DER KIRSCHGARTEN von Anton Tschechow Regie: Karin Henkel Lopachin 2011 DEMOKRATIE IN ABENDSTUNDEN Eine Kakophonie mit Texten von Joseph Beuys, John Cage, Rainald Goetz u. a. Regie: Karin Beier 2011


HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI von Bertolt Brecht Regie: Herbert Fritsch Puntila 2012

EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT von Eugene O’Neill Regie: Karin Henkel James Tyrone 2016

DER IDIOT von Fjodor Dostojewski Regie: Karin Henkel Rogoschin 2012

DER GOLDENE HAND­ SCHUH von Studio Braun nach Heinz Strunk Regie: Studio Braun Fritz Honka 2017

Deutsches Schauspielhaus Hamburg ONKEL WANJA von Anton Tschechow Regie: Karin Beier Iwan Wojnizki 2015 SCHULD UND SÜHNE von Fjodor Dostojewski Regie: Karin Henkel Porfirij Petrowitsch 2015 SCHIFF DER TRÄUME nach Federico Fellini Regie: Karin Beier Stellv. Orchesterleiter 2015

DER HAARIGE AFFE von Eugene O’Neill Regie: Frank Castorf Yank 2018 DER GEHEIMAGENT von Joseph Conrad Regie: Frank Castorf Adolf Verloc 2021 COOLHAZE von Studio Braun Regie: Studio Braun Michael Coolhaze 2021

Verschiedene Orte MERCY SEAT – WINTER­ REISE Eine Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave Charly Hübner und Ensemble Resonanz 2020/22

Kino (Auswahl) 2004 MÄNNER WIE WIR Regie: Sherry Hormann IM SCHWITZKASTEN Regie: Eoin Moore 2006 DER WILL NUR SPIELEN Regie: Axel Ranisch VIER TÖCHTER Regie: Rainer Kaufmann DAS LEBEN DER ANDEREN Regie: Florian Henckel von Donnersmarck 2007 AUTOPILOTEN Regie: Bastian Günther

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TELL Regie: Mike Eschmann HÄNDE WEG VON MISSISSIPPI Regie: Detlev Buck IN JEDER SEKUNDE Regie: Jan Fehse DIE SONNE, DIE UNS TÄUSCHT – DIE ZITADELLE Regie: Nikita Mikhalkov 2008 KRABAT Regie: Marco Kreuz­ paintner UP! UP! TO THE SKY Regie Hardi Sturm HARDCOVER Regie: Christian Zübert DER ROSA RIESE Regie: Rosa von Praunheim SCHLARAFFENLAND Regie: Sarah-Judith Mettke 1 1/2 RITTER Regie: Til Schweiger

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2009 SAME SAME BUT DIFFERENT Regie: Detlev Buck

2014 BIBI & TINA II Regie: Detlev Buck

DIE GRÄFIN Regie: Julie Delpy

2015 HALBE BRÜDER Regie: Christian Alvart

2011 UNTER NACHBARN Regie: Stefan Rick

JUNGES LICHT Regie: Adolf Winkel­ mann

DER HIMMEL HAT VIER ECKEN Regie: Klaus Wirbitzky

BIBI & TINA III Regie: Detlev Buck

ALS DER WEIHNACHTS­ MANN VOM HIMMEL FIEL Regie: Oliver Dieck­ mann

2017 TIMM THALER ODER DAS VERKAUFTE LACHEN Regie: Andreas Dresen

2013 BANKLADY Regie: Christian Alvart

FÜHLEN SIE SICH MANCHMAL AUSGE­ BRANNT UND LEER? Regie: Lola Randl

ELTERN Rege: Robert Thalheim

MAGICAL MYSTERY Regie: Arne Feldhusen

BIBI & TINA – Der Film Regie: Detlev Buck

2018 3 TAGE IN QUIBERON Regie: Emily Atef

OHNE DICH Regie: Alexander Powelz


2019 LINDENBERG! MACH DEIN DING Regie: Hermine Huntgeburth 2022 RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH Regie: Andreas Dresen DIE STILLEN TRABANTEN Regie: Thomas Stuber MITTAGSSTUNDE Regie: Lars Jessen

DIE ABRECHNUNG Regie: Thorsten Näter NEGER, NEGER, SCHORNSTEINFEGER Regie: Jörg Grünler BLACKOUT – DIE ERINNERUNG IST TÖDLICH Regie: Peter Keglevic DAS DUO Regie: Urs Egger MEINE VERRÜCKTE TÜRKISCHE HOCHZEIT Regie: Stefan Holtz

Fernsehen (Auswahl) 2003 ADELHEID UND IHRE MÖRDER (Folge HAIE UND KLEINE MIETER) Regie: Stefan Bartmann

2006 PASTEWKA – DIE STRATEGIE DER SCHNECKE Regie: Joseph Orr

DIE DUNKLE SEITE Regie: Peter Keglevicz 2008 ÜBER DEN TOD HINAUS Regie: Andreas Senn 2008 – 2012 LADYKRACHER (44 Folgen) 2010 – 2022 POLIZEIRUF 110, NDR Hauptrolle Kriminal­ hauptkommissar Alexander Bukow 2012 HERZVERSAGEN Regie: Dagmar Hirtz 2014 BORNHOLMER STRASSE Regie: Christian Schwochow

EINE FOLGENSCHWERE AFFÄRE Regie: Martin Enlen

DER VERLORENE Regie: Matti Geschonneck

EIN ENGEL NAMENS HANS-DIETER Regie: Hajo Gies

SPUR DER HOFFNUNG Regie: Hannu Salonen

VORSICHT VOR LEUTEN Regie: Arne Feldhusen

2005 KAHLSCHLAG Regie: Patrick Tauss

2007 EINER BLEIBT SITZEN Regie: Tim Trageser

DIE REISE ZUM MITTEL­ PUNKT DER HALLIG Regie: Hermine Huntgeburth

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2017 JÜRGEN – HEUTE WIRD GELEBT Regie: Lars Jessen

2021 KRANITZ – BEI TREN­ NUNG GELD ZURÜCK Regie: Jan Schütte

2018 TATORTREINIGER – EINUNDDREISSIG Regie: Arne Feldhusen

Kino Regie

ANGST IM KOPF Regie: Thomas Stiller

2022 SOPHIA, DER TOD UND ICH

2019 DAS VERHÖR IN DER NACHT Regie: Matti Geschonneck HAUSEN (Serie) Regie: Thomas Stuber TATORT (Gut und Böse) Regie: Jan Schütte 2020 DAS BEGRÄBNIS Regie: Jan Schütte FÜR IMMER SOMMER 90 Regie: Jan Schütte, Lars Jessen UNTERLEUTEN Regie: Matti Geschonneck

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2017 WILDES HERZ

Preise (Auswahl) 2012 Bester Schauspieler beim Fancine festival de cine fantástico de la Universidad de Málaga, Unter Nachbarn Metropolis, Deutscher Regiepreis als bester Schauspieler, Unter Nachbarn 2013 Goldene Kamera als bester Hauptdarsteller, Unter Nachbarn Comedypreis, Ladykracher Bayerischer Fernseh­ preis als bester

Schauspieler „Serien und Reihen“, Polizeiruf 110: Fischerkrieg 2014 Jupiter Award „Bester Darsteller national“, Polizeiruf 110: Zwischen den Welten Darstellerpreis beim Fernsehfilmfestival Baden-Baden, Bornholmer Straße Bambi für „TV-Ereignis“ des Jahres, Bornholmer Straße 2015 Grimme-Preis, Bornholmer Straße Deutscher Comedypreis als bester Schauspieler, Vorsicht vor Leuten 2016 Gertrud-Eysoldt-Ring 2017 Verschiedene Preise des DOK Leipzig, Wildes Herz 2018 Ernst-Lubitsch-Preis „Bester Schauspieler“, Magical Mystery


Goldene Kamera „Bester Fernsehfilm“, Jürgen – Heute wird gelebt Bolzano Filmfestival Bozen, Gilde Filmpreis und VUT Indie Award, Wildes Herz Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares „Heraus­ ragende Darstellung“, Der goldene Handschuh 2019

Roland-Filmpreis, Polizeiruf 110 2020 Goldene Henne in der Kategorie Schauspiel, Unterleuten, Lindenberg! Mach dein Ding

2021 Grimme-Preis und Deutscher Fernsehpreis, Für immer Sommer 90 2022 Grimme-Preis, Polizeiruf 110 Rostock – Sabine Deutscher Hörbuch­ preis, Motörhead oder warum ich James Last dabkbar sein sollte

Text- und Bildnachweis S. 5 Charly Hübner: Motörhead oder warum ich James Last dankbar sein sollte, Kiepenheuer & Witsch 2021 S. 45 – 50 Christian Tschirner: Der Zehnkämpfer, Laudatio zur Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Ringes an Charly Hübner, 2016 Alle anderen Texte sind Originalbeiträge für dieses Buch. S. 6, 60 Gerhard Kühne; S. 23, 113 Christine Schroeder; S. 26 „Hausen“ – eine Sky Originalproduktion © Sky Deutschland / Lago Film GmbH / Reiner Bajo; S. 29, 33 Thomas Aurin; S. 35, 121 Klaus Lefebvre; S. 41, 109 Matthias Horn; S. 63 ©DCM Gordon Timpen; S. 65, 66, 69, 79, 106 privat; S. 89 Peter Hartwig; S. 90 Roman Schauerte; S. 105 Deutsches Theatermuseum München ©Mara Eggert; S. 136 Sinje Hasheider; S. 138 Marcel Urlaub; S. 145 – 152 Heike Blenk; S. 163 ©Peter Hartwig / Rohfilm Factory; S. 182/183 © DCM Stephan Rabold

Seite 182: Regisseur Charly Hübner: Sophia, der Tod und ich, 2022

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Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt führten ihre Gespräche von Mai bis August 2022 in Hamburg und Bokel bei Elmshorn.

Impressum Hans-Dieter Schütt HÜBNER backstage © 2023 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustim­ mung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über­ setzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: Gudrun Hommers Umschlagfoto: Heike Blenk Druck: druckhaus köthen Printed in Germany ISBN 978-3-95749-430-6 (Paperback) ISBN 978-3-95749-458-0 (ePDF) ISBN 978-3-95749-459-7 (EPUB)


Foto Ellen Scherzer

Hans-Dieter Schütt, Jahrgang 1948. Journalist und Publizist, ist Autor von Gesprächsbüchern u. a. mit Dieter Mann, Frank Castorf, Ekkehard Schall, Gert Voss, Ursula Karusseit, Andreas Dresen, Robert Menasse, Claus Peymann, Alfred Hrdlicka. Er schrieb Biografien über Regine Hildebrandt, Kurt Böwe und Günter Gaus. Herausgeber von Heiner Müller – Bilder eines Lebens und aufBruch – Porträt des Berliner Gefängnistheaters. Doku­ mentarfilme (mit Ulrich H. Kasten): Die Langhoffs und Der eiserne Vorhang – Theater in Berlin. Im Verlag Theater der Zeit erschienen Michael Thalheimer – Porträt eines ­Regisseurs, Christian Grashof – Kam, sah und stolperte sowie PETRAS backstage.


Er kommt aus diesem Hardcore-Meck-Pomm-Milieu, der Vater Kneipenwirt, aber heute ist er der beste Schauspieler Deutschlands, ein klarer Geist, sagenhaft gebildet, und dazu menschlich eine glatte Eins plus. HEINZ STRUNK

ISBN 978-3-95749-430-6

www.theaterderzeit.de


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