B. K. Tragelehn
Roter Stern in den Wolken 2
B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2
Albrecht Dürer, Roter Stern in den Wolken; Skizze auf der Rückseite des Gemäldes HL Hieronymus in der Wildnis, ca 1497/98; 23,2 x 17,4 cm, Leihgabe im Fitzwilliam Museum, Cambridge
B. K. Tragelehn
Roter Stern in den Wolken 2 Aufsätze und Reden Gespräche und Gedichte
EIN LESEBUCH Herausgegeben von Gerhard Ahrens
Recherchen 145
Abbildungsnachweis: S. 10 Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, WBA Ms 1100 © Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur; S. 17 Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv, Fotoarchiv 07/026, Foto: unbekannt; S. 19 © Ruth Berlau/Hilda Hoffmann; S. 33 © Ute Eichel; S. 39 oben © Thomas Aurin, unten Günther Ludvik; S. 50 Akademie der Künste, Berlin, B. K. Tragelehn-Archiv 0222_001; S. 55 © FDJ-Arbeitsgemeinschaft Photographie der Hochschule für Ökonomie Berlin; S. 71 © Sibyll Wahrig; S. 79 © Kristina Eriksson; S. 93 © Klaus Marschke; S. 97, 101, 105, 108 © HL Böhme; S. 227 © Heinz Behling; S. 240 © Lore Bermbach/Archiv Theatermuseum Düsseldorf
B. K. Tragelehn Roter Stern in den Wolken 2 Recherchen 145 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Korrektur: Harald Müller, Sybill Schulte Gestaltung: Sibyll Wahrig Umschlagabbildung: Thomas Leuner Printed in Germany ISBN 978-3-95749-199-2 (print) ISBN 978-3-95749-254-8 (ePDF) ISBN 978-3-95749-255-5 (EPUB)
Inhalt
Prolog: Antwort auf eine Umfrage
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Ahoi B und B
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Der Ausweg Die Verschollenen Bild oder Bau? Götter der Neuzeit (1981)
18 19 20 28
Ein Epilog zu Brechts Galilei
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Eines Tages, spät, in der Zukunft
38
Josef B. ist ein Neger
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Sechs Punkte zur Frage der Dialektik in Inge und Heiner Müllers Stück Die Korrektur
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Der deutsche Blick (1981)
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Aus dem Korrekturmodell
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Nachtrab/Vortrab
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Lehnitzer Elegie (1957) Die Leiche im Keller Eine römische Geschichte (1974) Eine ältere römische Geschichte (1974) Der Resozimus im Abendlicht oder Ein Veteran erzählt
59 59 74 74 74
Nabolevcij Vopros (1956)
121
Deutschland, Deutschland über alles
121
Winterreise (1978)
134
Deutschland Ortlos
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Alte Stücke, neues Buch
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Der Stasispitzel H.M.
139
Der Zyniker H.M.
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Liebesgedichte Verlustanzeige Campo Vacchino (1986) Der Augenblick der Wahrheit (1989) Die Losungen des Jahres 1989 Ende der Reise (1990) Einrichtung einer Idylle (1991) Die Aufgabe Allemagne neuf Zéro Die Heimkehr Zonengrenze Schriftstellerstreit (1970) Schriftstellerstreit (1995)
144 154 156 156 156 157 157 157 163 163 163 164 164
Inhalt
Hochzeitscarmen Der Vorsitzende Schriftsteller
164 175
Einen Umbogen machen
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Aufklärung Der getreue Eckart
178 178
Merian 1–3
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Übersetzen fürs Theater
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Immer wartet im Text etwas auf seine Befreiung
191
Paris – Berlin oder Baudelaire mal drei
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Leben des John Donne
212
Theater und Film
215
Einmal Fernsehen und nie wieder
218
L’automne Prussien. Vier Ansichten (1973)
231
Zauber und Arbeit
232
Der alte Panzer
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Still Leben (1968) 12.4.69: 33 Jahre alt 12.4.71: 35 Jahre alt 12.4.90: Das Leben ein Traum LEBENS LAUF (2007)
242 243 243 244 244
Epilog: Denk-Zettel
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Biographie/Bibliographie
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EDITORIAL „Roter Stern in den Wolken“ steht unter einem Bild von Dürer und über einem Text von T. zu „Prag 68“: Das war mein erster Satz Zum Geleit des ersten Bandes mit dem Dürer-Titel, dem nun ein zweiter folgt, und ein dritter schon droht. Wieder ist das Buch ein Omnibus, vollgestopft mit unterschiedlichen Texten zu unterschiedlichen Gegenständen, gefasst in verschiedene Formen. Die Ausweitung des Begriffes Omnibus auf das Verkehrsmittel Buch stammt aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, Hochzeit der Raubdrucke. Der Gedanke der gedrängten Mischung geht aber auch weiter zurück – eine Notiz unter dem Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes hatte es bereits vermerkt –, nämlich auf Hanns Eisler: Mitte der fünfziger Jahre hatte die Akademie der Künste ihm vorgeschlagen, seine Gesänge für die Publikation übersichtlich einzuteilen in Lieder, Kantaten, Chöre usw. Aber er ging anders vor und rührte alles durcheinander. Man war immer wieder überrascht, aus einem Widerspruch in den anderen gestürzt, unmögliche Assoziationen wurden möglich. Seine Vorgehensweise schien exemplarisch, und es erschien auch jetzt besser, seinem Beispiel zu folgen, statt nach Gegenständen, nach Formen, oder nach der Chronologie zu ordnen, wie die Philologen es tun. T.s auffällige Bevorzugung der Dialogform freilich geht noch weiter zurück, unmittelbar auf Brecht. Der ging in seinen letzten Berliner Jahren so vor: er ließ Gespräche aufzeichnen und arbeitete den Text dann aus. Schon während der Jahre des Exils hatte er den Plan gehabt, eine Diderot-Gesellschaft zu gründen, und länger schon war er Diderots Vorgehen, in Dialogform zu schreiben, gefolgt, hinaus über seine Arbeit als Stückeschreiber. T. (und vor und neben ihm Heiner Müller) sind dem nachgegangen. Gerhard Ahrens
PROLOG: ANTWORT AUF EINE UMFRAGE Die Frage war: Theater im Glück? Meine Antwort (zum 60. Geburtstag der Monatsschrift Theater der Zeit, 2006) hat die Frage umgekehrt: Glück im Theater? Das ist das Spiel. Schiller hat es zu den Menschenrechten gezählt: Der Mensch spielt nur, wenn er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dass Glück im Leben selten ist, weiß man. Dass das Theater nicht exterritorial ist, weiß man auch. Aber ein Privileg des Theaters ist die Möglichkeit des Glücks. Privilegien gibt es nicht umsonst, man muss sie sich verdienen. Je strenger die Regeln sind, desto befreiender ist das Spiel. Es ist wahr, das Spielen hat eine Neigung, auszuarten in Arbeit. Dann ist zu beachten, dass die Grenze nicht beachtet wird. Einen beruhigenden Zustand der Freiheit kann es nicht geben. Es gibt nur immer wieder Befreiung. Die Scheißrealität muss fest ins Auge gefasst und – das ist das Ziel – überwältigt werden. O du schöne und schreckliche Welt! Es lebe das Versinken im Spiel und das Auftauchen aus dem Spiel. Und das Glück, das die Zeit vergisst und die Realität unmöglich macht. Spielerisch.
AHOI B UND B Dieser Aufsatz war Beitrag zu einem Buch zur Ausstellung der Akademie der Künste: Benjamin und Brecht – Denken in Extremen, herausgegeben von Erdmut Wizisla, Bln. 2017, S. 173ff. Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende. Benjamin, Passagen-Fragment, 1935 Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel setzen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. Brecht, Buckower Elegien, 1953
Wenn man ins Theater am Schiffbauerdamm geht, das in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Spielort des Berliner Ensembles von Bertolt Brecht und zuletzt von Heiner Müller gewesen ist, kann man über einer der Proszeniumslogen des ersten Ranges noch den preußischen Adler sehen, der die kaiserliche Hofloge bezeichnet hat. Brecht
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PROLOG: ANTWORT AUF EINE UMFRAGE
ließ ihn, als er wieder einzog, rot auskreuzen. Auch diese Korrektur kann man noch sehn. Aber auch – und das ist sogar augenfälliger – den Deckel über der Mittelloge des ersten Ranges, eine Art Schild, eingebaut, um die nach dem deutschen Zusammenbruch neu aufgesetzten Häupter zu schützen vor der Spucke aus dem zweiten Rang: Schild und Schwert der Partei, oder, mit Brechts Wort, der Arbeitermonarchie. Die Schwerter, realiter Pistolen, waren im Vorraum der Loge öffentlichem Blick entzogen. Das Wort Arbeitermonarchie wurde früher gefunden als die Worte Schild und Schwert. Im Sommer 1938 hinter der dänischen Grenze im Exil, geflohen aus Deutschland, hat Brecht es gebraucht für die sog. Sowjetunion im Gespräch mit Walter Benjamin. Auch ein Flüchtling. Der schrieb auf, worüber sie sprachen. Die Wortfindung ist mehr als ein Jahrzehnt älter als die Gründung der Theatercompagnie und mehr als anderthalb Jahrzehnte älter als der Wiedereinzug in die Stätte alten Erfolges, nach einer Flucht, die Brecht von Dänemark weitergeführt hat rund um den Erdball – während sein Freund Benjamin, wie Brecht im Gedicht schreibt, auf der Flucht an eine unüberschreitbare Grenze getrieben… eine überschreitbare überschritt. Benjamins Hinterlassenschaft war verstreut. Dem Weltlauf hat er versucht zu trotzen und einen sicheren Platz für sie zu finden: in Jerusalem, New York, Paris, bei Scholem, bei Wiesengrund, bei Bataille. Tatsächlich ist sie nach vielen Bemühungen, zu guter Letzt von Reemtsma, wunderbarerweise wieder versammelt in Berlin. Und sie kann sich als explosiv erweisen jeden Orts und jeder Zeit. Wenn der Augenblick der Vergangenheit auf den gegenwärtigen Augenblick trifft, kann der so folgsam scheinende Lauf der Geschichte explodieren. Benjamin: Ekrasit, d. i. Gegenwart. Hoffnung auf Wind, ja Sturm. Die Aufzeichnungen aus Svendborg bekam ich erst sehr spät zu lesen. Brocken Benjamins hatte ich, Schuljunge in Dresden, in Zeitschriften der DDR gefunden. Eine erste Werkauswahl, zwei Bände, Preis 48 DM West, habe ich Ende der fünfziger Jahre für 52 Ostmark in der Stalinallee gekauft, nach einem Antrag von Herbert Jhering, damals Sekretär der Sektion Darstellende Kunst in der Deutschen Akademie der Künste, von der ich, auf Brechts Vorschlag, ein Stipendium bezog. Aber erst mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende, zehn Jahre, nachdem auch Brecht gestorben war, wurden die Aufzeichnungen 1966 in Frankfurt am Main endlich gedruckt. Da war die Grenze der DDR seit fünf Jahren geschlossen, auch für Bücher, und niemand genehmigte mir mehr einen Import. Aber ein Student, der Tag für Tag von Westberlin nach Ostberlin kam, um sich Theaterproben anzusehn, brachte mir jedesmal, verborgen in einer Tasche im Mantelsaum, ein Buch mit. Auch dieses Bändchen der Edition Suhrkamp.
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Ahoi B und B
Im Jahre 1966 war in der DDR die Empfangsbereitschaft groß für die Lektüre. Zehn Jahre früher, gerade zwanzig Jahre alt, waren wir, meine Freunde und ich, der Meinung, dass wir, wenn wir erst alt sind, im Kommunismus leben werden. Werch ein Illtum! Nicht nur manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern. In unserem jugendlichen Übermut fielen wir auf die Schnauze: Die für lange Zeit letzte Realisierung von Brechts Theaterkonzept für das neue Deutschland, die wissenschaftliche Erzeugung von Skandalen, gelang uns 1961: die Uraufführung von Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande. Die Folge waren zweieinhalb Jahre Berufsverbot, Fortsetzung einer zwölfjährigen Tradition in beiden deutschen Staaten. Aber Hoffnung und Enttäuschung hatten und haben es an sich zu wechseln. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts gab es gerade eben wieder Hoffnung: im Westen hatte die Studentenbewegung begonnen und im Süden, bei den Tschechen, ging es zu auf den Prager Frühling. Was haben wir gelacht über Benjamins Beschreibung von Brechts Spiel: Er stellt sich, schreibt Benjamin, listig und verdrückt vor den Sessel, in dem ich sitze, hin – er macht den Staat nach – und sagt, mit einem scheelen Seitenblick auf, vorgestellten, Mandanten: Ich weiß, ich soll verschwinden. Schallendes Gelächter. Ebenso wie bei einer unserer Lieblingsstellen aus Brechts Leben des Galilei. Die erste Niederschrift des Stücks war in das selbe Jahr gefallen wie die Gespräche: 1938. Wenn der Papst im Sterben liegt und Galilei und seine Schüler darauf anstoßen, haben wir, dreißig Jahre später, ihren Jubelruf auf Frau Sartis Einspruch Und Seine Heiligkeit ist noch nicht einmal tot! jubelnd wiederholt: Nahezu! Nahezu! bei jedem der greisen Zaren, die jetzt Generalsekretär genannt wurden. Jedesmal folgte die Enttäuschung: der Papst ist tot, es lebe der Papst. Der XX. Parteitag in Moskau hatte nicht mehr gebracht als Tauwetter, und nicht etwa die absolutistische Struktur zerstört. Marx wusste, dass der Mensch kein Abstraktum ist, sondern das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, die er in seiner Geschichte durchlaufen hat, ja er spricht von der Tradition toter Geschlechter, die wie ein Alp auf den Hirnen der Lebenden lastet. Dennoch hat auch er dem drängenden Wunsch nach Veränderung während der eigenen Lebenszeit nachgegeben. Man muss wohl sehr alt werden, um den Unterschied zwischen Geschichtszeit und Lebenszeit wirklich für wahr zu nehmen. Marx‘ Prognosen, so sparsam er damit war, griffen zu kurz. Und in einem Punkt widerspricht Benjamin ihm ausdrücklich: Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Not-
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bremse. Im Buch gedruckt erscheinen die drei Sätze als eine Notierung unter vielen anderen, die Benjamin in seiner winzig kleinen Schrift aufgeschrieben hat. Diese drei aber stehen, wie ich im Berliner Archiv gesehen habe, in normal großer Schrift auf einem Extrazettel. Einen Tag nach Brechts Staatsschauspiel in jenem Jahr 38 ist es gewesen, dass Brecht das Wort Arbeitermonarchie geprägt hat. Es hatte die Qualität einer Röntgenaufnahme. Alles war zu sehn! Das Bild war, durch die Moskauer Prozesse entwickelt, sichtbar geworden. Der Begriff war die Diagnose. Warum unterschlägt der allgemeine Sprachgebrauch die fabelhafte Parallelität zwischen dem Ablauf der klassischen europäischen Revolution, der französischen, und der russischen hundertdreißg Jahre später?
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Nur Heiner Müller hat die russische Revolution, in einer Nebenbemerkung, eine Travestie der französischen genannt. Die Bolschewiki in der Rolle der Jakobiner; nach Robespierres Tod ein Directoire, nach Lenins Tod eines mit Sinowjev, Kamenjev, Stalin; schließlich der neue Kaiser in Frankreich, ein Korse, Buonaparte, und der neue Zar in Russland, ein Georgier, Dschugaschwili. Voraussetzung, geschuldet der Not von Interventions- und Bürgerkrieg, war eine rigide Disziplinierung gewesen – von Rosa Luxemburg sofort kritisiert, noch zu Lenins Lebenszeit. Diese Disziplinierung hat Stalin nach Lenins Tod weitergetrieben in eine Konterrevolution. Aus Lenins Denken wurde der Leninismus, den es zu Lenins Lebenszeit nicht gab. Aus Marx‘ Denken war schon früher der Marxismus geworden. Selbst Grundbegriffe führten jetzt in die Irre. Seit Jahrtausenden schon, seit die Menschheit, der Arbeitsteilung gehorchend in Klassen gespalten war, die einander entgegen standen, hat sie so oder so oder so geträumt von einer Wiederkehr der Gemeinschaft: den Traum vom Kommunismus. Seit Marx wurde die Erforschung konkreter Voraussetzungen für die Realisierung solchen Traums Gegenstand des Denkens. Das hat man Marxismus genannt. Und Marx sagte, in elegantem Französisch, dass er jedenfalls kein Marxist sei: Tout ce que je sais c’est que je ne suis pas Marxiste. Das erinnert mich an Brechts Antwort, als sich ihm im Theater nach einer Probe ein Mann mit den Worten vorstellte: Ich bin ein Brechtverehrer. Brecht sagte: Ich nicht. Ein Genosse der kommunistischen Partei konnte gerügt werden, wenn er vom Kommunistischen Manifest sprach. Er hatte das Entscheidende vergessen. Es heißt richtig: Manifest der kommunistischen Partei. Kein Gedanke, dass damals, noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit dem Wort Partei keine Organisation gemeint war, sondern eine Haltung. Was man vielleicht als soetwas wie eine Organisation hatte ansehen können, nannte sich damals Bund. In Russland war aus dem Kommunismus ein Antikommunismus geworden. Lenins Idee einer Rettung, seine letzte: die NÖP (Neue Ökonomische Politik) – wurde mehr als ein halbes Jahrhundert später am anderen Ende des eurasischen Kontinents aufgenommen von Teng: Vorwärts zum Aufbau des Kapitalismus unter Führung der kommunistischen Partei. Benjamin verglich, bei den Gesprächen mit Brecht in Svendborg, einen solchen Organismus mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fisches oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee zutage befördert werden. Einer meiner Standardwitze in der DDR war der Vorschlag, dem Politbüro der SED einen Franz-JosefStrauß-Preis für Antikommunismus zu verleihen.
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Marx‘ und Lenins Denken, Kritik, war verschandelt worden zu Ideologie. Die war Dogma. Brecht nannte das Murxismus. Ein Grundsatz der Vorhaben Brechts bei der Rückkehr nach Deutschland forderte hundert Jahre Ideologiezertrümmerung. Der Zweck der Ideologisierung war Legitimation der absolutistischen Herrschaft. Die Aristokratie hieß jetzt Nomenklatura. Wer sich nicht fügte, wurde liquidiert. Die Übernahme des Wortes Liquidation aus dem Sprachbereich des auf Maximalprofit zielenden Wirtschaftens ist beredt genug. Der sog. Sozialismus in einem Land musste sich einmauern und die eigene Bevölkerung kolonisieren. Brecht zu Benjamin: Es kann keine sozialistische Wirtschaft in einem Lande geben. Armee und politische Polizei waren wieder die Hauptsäulen; die Bürokratie war verdoppelt in die des Staates und die der Partei; sogar die Leibeigenschaft war wieder eingeführt worden unter dem Namen Gulag; der Generalsekretär der Partei war der neue Zar. Und als der, halb geheim, Freundschaft schloss von woschd zu woschd, gebrauchte man einen gespaltenen Becher, parteitreu und treudeutsch, um auf die Reichskanzlei des großdeutschen Führers, zur Feier des Freundschaftsbandes, das vom Kreml des großrussischen Führers dort hin sich schlang, eine Blume als Reimwort zu finden: Akelei. Horrid laughter. Als der Begriff Arbeitermonarchie neu war, wäre er als Segel brauchbar gewesen. Aber beide, B und B, haben noch gezögert, ihn zu gebrauchen. Brechts Vorsicht spricht von gerechtfertigtem Verdacht, der skeptische Betrachtung fordert, aber wartet noch auf den Beweis: dann müsste man das Regime bekämpfen – und zwar öffentlich. Zum Zeitpunkt des Paktes von Hitler und Stalin – Frage: konnte er als Beweis gelten oder war er eine schlaue Taktik: über diese Frage lief die Diskussion – war Brecht schon auf der Flucht vor dem Krieg der Deutschen durch Schweden, durch Finnland und so schnell wie möglich durch Russland. Nach dem wortbrüchigen Überfall Deutschlands war er auf einem Schiff mitten im Pazifik. Und Stalin war jetzt Alliierter. Hoffnung auf Rückkehr war an den Sieg der Alliierten über Großdeutschland geknüpft. Aber Benjamin, noch in Frankreich, war nach dem Pakt grundsätzlich geworden und schrieb Thesen Über den Begriff der Geschichte. Es wurde sein letzter Text. In der VIII. These spricht er von dem Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen. Brecht, als der Text ihn schließlich erreichte im fernen Kalifornien, urteilte nach der ersten Lektüre, er sei klar und entwirrend. Und weiter: man denkt mit Schrecken daran, wie klein die Anzahl derer ist, die bereit sind, so was wenigstens misszuverstehen.
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Inzwischen hatte nach dem Vertragsbruch der Reichskanzlei der Kreml die Internationale durch eine Nationalhymne ersetzt und die alten militärischen Rangabzeichen hervorgeholt für den Vaterländischen Krieg gegen die deutschen Okkupanten. Die Austreibung des Teufels durch Beelzebub gelang. Großrussland hatte die Hauptlast des Krieges gegen Großdeutschland getragen und die größten Verluste zu beklagen, 30 Millionen Tote. Und Stalin war ein großer Sieger. Wie alles auf der Welt haben auch Imperien zwei Seiten. Napoleons Bajonetten folgte der Code Civil, und ohne Unterstützung durch Stalins Imperium ist der weltweite Ansatz zur Entkolonialisierung kaum zu denken, die Randgebiete Großrusslands freilich ausgenommen. Benjamin hatte schon in den zwanziger Jahren, in einem Goethe und Napoleon überschriebenen Kapitel seines Goetheartikels für die russische Enzyklopädie, darauf hingewiesen, dass der Minister in Sachsen-Weimar, bei allen Allotria, die er sorgfältig in seinem Walpurgissack verbarg, sich die soziale Emanzipierung der Bourgeoisie nur vorstellen konnte unter der politischen Form der Despotie. Das war Goethes Haltung zu Napoleon. Zuhause in Sachsen-Weimar hatte Goethe mit Schüler und Freund Karl August zweifellos Glück. Aber ebenso zweifellos war dieses Verhältnis durchzuhalten nur möglich in einem lebenslänglichen Balanceakt. Goethes Haltung war zweihundert Jahre später noch der Grund unter dem Klassizismus von Peter Hacks, während der Romantiker Heiner Müller der Devise Benjamins folgte: Immer radikal, niemals konsequent. Gemeinsam war B und B, wie auch Heiner Müller, Marx‘ Devise De omnibus dubitandum. Wo aber lag die Differenz? Brecht war ein guter Bibelkenner. Und er hasste alles Pfäffische. Gelegentlich schoss er übers Ziel. Am deutlichsten mit dem Vorwurf gegen Benjamins Kafka-Aufsatz, er leiste dem jüdischen Faschismus Vorschub. Als aus Marx‘ Denken der Marxismus wurde, sind Wurzeln gekappt worden. Aller Geist war zuerst religiös. Auch das Fest des Theaterspielens hat Zeit gebraucht, die kultische Herkunft abzustreifen. Hoch der Materialismus! Aber dass Marx die Wirklichkeit des Geistes nicht wahrgenommen hätte, ist Unsinn. Der Geist ist nicht unwirklich. Er ist so wirklich wie das Fleisch, oder Erde und Wasser und Feuer. Opium des Volkes? Und Klage und Anklage! Die Sätze vor dem Opium: Religion ist in einem Ausdruck des wirklichen Elends und in einem Protestation gegen das wirkliche Elend. Religion ist Seufzer der bedrängten Kreatur, ist das Gemüt einer herzlosen Welt, der Geist geistloser Zustände. Aber doch Geist! Von Marx‘ Sätzen ist immer nur der letzte zitiert worden, der vom Opium. Das hat die Kirche ausgeteilt. Und die neue Kirche hat Marx‘ Satz als Knüppel gebraucht, als
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Schlagwort. Und ein Opiumderivat verteilt. Im Marxismus ist die Marx‘sche Säkularisation verunglückt. Brecht, in den USA politisch verfolgt, war eilig zurückgekehrt nach Europa, in die Schweiz. Nach Trizonesien durfte er nicht einreisen und so gelangte er über Österreich und die Tschechoslowakei in die SBZ. Sowjetische Besatzungszone? Begriffe sind verdreckt und zerrissen als Segel nicht zu brauchen. Großrussland nannte sich Sowjetunion. Man sagt heute noch so! Weiß man aber noch, was das russische Wort sowjet heißt? Die Räte der Pariser Kommune 1871 kehrten wieder in Petersburg 1905 und 1917, in Deutschland 1918. Für eine zu kurze Zeit. Notiz aus Gesprächen mit Brecht bei der Vorbereitung der Uraufführung seines Kommune-Stückes: Das Gehirn der Bevölkerung arbeitet in vollem Licht. Als aber Russland sich seinen neuen Namen gab, 1922, war er schon nicht mehr wahr. Auch später, bei Vasallen wie der DDR, wurde die Behörde jeder Gemeinde und jedes Stadtbezirks bis hinauf zur Staatsspitze mit dem Wort Rat benannt. Aber Räte hatten wir allenfalls in den letzten Monaten mit den Runden Tischen. Freilich gab es immer auch realistische Begriffsbildung. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes wurde der Bezirksfürscht genannt, auch in seinem Apparat. Natürlich nicht im Dienst. Aber beim Bier. Wenn man auf den Gedanken kam, die Reihenfolge im Personenverzeichnis eines Theaterstückes aus elisabethanisch-jakobäischer Zeit zu vergleichen mit dem Verzeichnis der Reihenfolge der Auftritte auf der Tribüne über einer Massendemonstration in Moskau oder Berlin, konnte man Übereinstimmung feststellen. Exakte Rangfolge, einundderselbe Absolutismus. Als Jan Kott den Welterfolg seines Buches Shakespeare unser Zeitgenosse erklären wollte – in einem Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe – schrieb er, dass es eben an der Zeit war und dass jeder es hätte schreiben können – jeder aus Osteuropa. Unter den produktiven Auseinandersetzungen wie unter den unvereinbaren Auffassungen von B und B muss es Grund gegeben haben für die Beharrlichkeit ihrer Beziehung, eine Beharrlichkeit über alle Warnungen und Einwendungen von Freunden hinweg. Hannah Arendt hat diese Beziehung einzigartig genannt. Und sie ist es gewesen, die, scharfsichtig, Benjamins Denken dichterisch genannt hat. Nur beiläufig? Nur vage umschreibend? Für beiläufige Leser, unvertraut mit ihrem Denken, mag es so scheinen. Vielen (und mir auch) scheinen jedoch Äußerungen von Dichtern über Dichtungen und Dichter immer wieder schlüssiger, eindringlicher, treffender, ja – wahrer als die der Wissenschaft. An diesem Eindruck muss etwas dran sein. Und wahrscheinlich ist es eben einfach so. Ich erinnere mich an Brechts Verweis für mich jungen
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Spund: Über Kunst können Sie überhaupt nicht anders schreiben als künstlerisch. Da wäre Grund gefunden unter diesem Bund. Aber gab es mehr? Als Benjamin über die Politurkolik der deutschen Emigranten in Moskau sagte, dass mit diesen Leuten eben kein Staat zu machen ist, sagt Brecht: Oder nur ein Staat und kein Gemeinwesen. Und dann: Sie sind Feinde der Produktion. Was sagt er da? Grübelnd darüber, fällt mir eine Situation ein, als Zwanzigjähriger wahrgenommen und in der Erinnerung bewahrt, lange ohne Verständnis: Im Sommer 1956, in den Theaterferien, wollte ich mit jungen Schauspielern Brechts Mann ist Mann probieren; ich hatte Brecht eine Fassung geschickt und ein paar Zeichnungen, die Achim Freyer gemacht hatte; es war bei meinem letzten Besuch in Buckow, im Frühsommer 56, und Brecht fand, ich sollte mit dem Inszenieren noch ein bisschen warten. Kindliche Arroganz ließ mich intransigent auf meiner Absicht bestehen. Brecht geriet in die größte Verlegenheit und trat von einem Bein aufs andere, als müsse er dringend auf die Toilette. Ohne weiteres hätte er mir das Unternehmen verbieten können. Aber dazu war er außerstande. Es war ihm unmöglich, Produktivität zu unterdrücken. Das ist, begriff ich viel später, eine kostbare und sehr seltene Haltung. Seine eigene Produktivität und seine Vorstellung von Produktivität beruhten auf einer eigentümlichen Energie. Antwort auf die stets wiederkehrende Frage Wie war er denn so? führte mich zu der schroffen Antwort: Wie Gulliver unter den Zwergen. Er hat aufgepasst, dass er nicht jemanden tottritt. Das erklärt seine Höflichkeit. Die war so anmutig und heiter wie zeremoniell, konnte jedoch die enorme Energie, die er ausstrahlte, nicht verbergen. Müdigkeit, wie sie im Jahr vor seinem Tod unübersehbar war, hat sie nicht auslöschen, nicht einmal verringern können. Auch in Benjamins Aufzeichnungen, so viele Jahre zuvor, findet sich eine Stelle, wo er diese Energie wahrnimmt. Bei einer Debatte über die Frage, ob Brechts Kinderlieder in den projektierten Band Gedichte im Exil aufgenommen werden sollen, trug Benjamin Bedenken vor. Dann kam, notiert Benjamin, immer noch als Begründung für die Aufnahme der Kinderlieder, … etwas anderes zur Geltung. Und resümiert: Während er sprach, fühlte ich eine Gewalt auf mich wirken, die der des Faschismus gewachsen ist; ich will sagen eine Gewalt, die in nicht minder tiefen Tiefen der Geschichte entspringt als die faschistische. Es war ein sehr merkwürdiges, mir neues Gefühl. Den Begriff der Produktivität hatte Brecht von Marx. Aber er hat ihn anders gebraucht als die Partei. Es war sein lebenslanges Interesse an der Rätebewegung, das dem Gebrauch unterlag. Und lebenslang dauerte auch sein Interesse – die
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späten Gespräche mit Hermann Duncker bezeugen es – zu verstehen, was die bisherigen Versuche mit Räten scheitern ließ. Schon Lessings kategorischer Imperativ Wir müssen müssen Freunde sein meinte, Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, eine Freundschaft nicht der Identität, sondern eine Freundschaft von Nicht-Identitäten. Man setzt sich zusammen, um sich auseinanderzusetzen. Das ist produktiv. Eine Assoziation freier Individuen besteht aus Leuten, die sich unterscheiden, jeder tut seins. Gleichmacherei ist Sache des Kapitalismus: Alles muss sich rechnen. Alle und jeder und alles und jedes unterliegt gefühlloser Zahlung. Das Denken einer Assoziation freier Individuen unterliegt der Beziehung von B und B. Kafka am nächsten war Brecht als er das Stück Im Dickicht der Städte schrieb am Anfang der zwanziger Jahre, als er von Kafka noch nichts gelesen hatte, so früh. Benjamins spätere, genaue Definition von Kafkas Beschreibungen: Gesten ohne Bezugssystem trifft auch für Brechts frühes Stück zu. Dass Brechtadepten in der DDR versucht haben, dem Stück interpretatorisch ein System zu unterlegen, ist eine Karikatur des Schadens, den die Ersatzreligion Philosophie Brecht, wie vor ihm auch schon Schiller, eingetragen hat. Auch in Svendborg sprachen B und B über Kafka. Einige Formulierungen Brechts zeigen spontane Einsicht: Was aus der Tscheka werden kann, sieht man an der Gestapo. Werden kann? Es war schon geworden. Mit Recht hat Heiner Müller, was Brecht anlangt, von der Vergeblichkeit der Kafkadebatte gesprochen. Zweifellos gab es Begriffe Benjamins, die für Brecht nicht assimilierbar waren. Seltsamerweise gehörte dazu auch der Begriff der Aura. Und letztlich fand auch ein Begriff wie der des Eingedenkens bei ihm kein Echo. Diese Segel waren für Brecht nicht zu handhaben. Widerspruch kam auch von anderer Seite. Benjamin zu dem Begriff Eingedenken: Aus Horkheimers brieflichem Einwand, dass das vergangene Unrecht geschehen und abgeschlossen sei, die Erschlagenen wirklich erschlagen, und aus dem daraus folgenden Vorwurf, dass seine Aussage letzten Endes theologisch sei – hier scheinen sich Einwände der Freunde, die von der einen Seite an Benjamin zogen, mit denen, die von der anderen zogen zu berühren – , folgert Benjamin: Ja, es sei wahr, dass kein Engel die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen kann. Aber: Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen. Der Grund: Marx habe in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das sei gut so. Aber dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft müsse sein
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echtes, messianisches Gesicht wiedergegeben werden, gegen den sog. Fortschritt in einer linear vorgestellten Zeit, leer und homogen: in Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der seine revolutionäre Chance nicht mit sich führte. Sie will nur als eine spezifische definiert sein, nämlich als Chance einer ganz neuen Lösung im Angesicht einer ganz neuen Aufgabe. Neu beginnen! Diesen Namen gab sich Ende der zwanziger Jahre eine Gruppe, die sich von der KPD trennte. Karl Kraus hatte formuliert: Ursprung ist das Ziel. Nicht etwa Umkehr! Kraus‘ Begriff des Ursprungs wurde gerne missverstanden als Aufforderung umzukehren. Aber nicht von B und B. Sie haben beide über Kraus geschrieben, über eine Autorität, Benjamin zitiert Brechts Satz über Kraus: Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand. Zum ersten Mal habe ich von Kraus gehört in Buckow beim Frühstück: Brecht unterhielt sich mit Eisler und spielte vor, wie Kraus in der Hauspostille las, das Büchlein mit beiden Händen dicht vor den kurzsichtigen Augen, deren Bewegung den Verszeilen folgt. Kraus hatte gesagt: Man kann es nicht ändern, es hat Kraft. Und Brecht war nach dreißig Jahren noch stolz auf Kraus‘ Urteil. Benjamin führt die Vorstellung des Neubeginns zu der kühnen Formel: Jede Sekunde sei die kleine Pforte, durch die der Messias treten kann. Ein Messias, der nicht am Ende einer Entwicklung auftritt. Er bricht die Geschichte ab. Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte, sondern dessen so oft missglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung. Die Hoffnung und die Enttäuschung – ihr beständiger Wechsel ist es gewesen, was wir von unseren Lehrern geerbt haben. Als nach vierzig Brecht und Benjamin in Svendborg, Oktober 1938.
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Ahoi B und B
Jahren DDR die Geduld aufgebraucht war, ist noch einmal Hoffnung aufgeflammt. Es wehte frischer Wind, ja ein Sturm kam auf. Aber an brauchbaren Segeln hat es gemangelt. Und so folgte wieder Enttäuschung und dem Aufruhr am Ende des Jahres 89 im nächsten Jahr die Wiederherstellung der Ordnung durch den netten Nachbarn von nebenan: Aufgemacht wurde das Tor für die Zukunft, Spalier stand die Menge Närrischer Weise jedoch trat die Vergangenheit ein. Dennoch, um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben. Die Lehre ist, dass die Leere unausstehlich ist. Ein Schluss steht aus. Es muss ein guter da sein, muss muss muss!
DER AUSWEG in memoriam Walter Benjamin Schritt für Schritt übern Berg. Schwer Die Aktentasche voll mit Sprengstoff, Thesen Über den Begriff der Geschichte. Verfolgt von den Übeln der Furcht und der Hoffnung Und von ihrem Wechsel. Leben auf der Flucht. Wie Marx Hegel hat er Marx Vom Kopf auf die Füße gestellt. Revolutionen Sind nicht Lokomotiven, nein, Griff nach der Bremse Im Zug, in dem die Menschheit reist. Halt! Endlich das blinde Weiterso zu Ende. Lessing: Wir müssen, müssen Freunde sein. Produziert miteinander, gemeinsam auch Mit der Abkunft und mit der Zukunft auf Der Erde, aus der ihr kommt, in die ihr geht. Immer radikal, niemals konsequent. Jenseits des Berges die Schranke Unüberschreitbar im Augenblick. Schrankenlos Der Weg in die Erde, überschreitbar immer. Vorwärts und nicht vergessen: Jetzt und hier In jedem Augenblick der Sprengstoff.
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Ahoi B und B
DIE VERSCHOLLENEN Zwei Freunde auf einer Steinbank Fremdkörper from Bavaria Germany Warten. Statt I sagns Ei hier, statt Ei sagns Egg Statt Egg sagns Koaner, und statt Koaner Nobaddi. Das Haus vor dem sie sitzen heißt Aurora Aber die Sonne geht ab in das Meer Pacific Um wieder aufzutreten muss sie erst Rund um die Erde und über den Berg. Warten.
Brecht und Feuchtwanger vor seiner Villa Aurora in Kalifornien.
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Bild oder Bau?
BILD ODER BAU? Dies ist ein Abschnitt aus dem Büchlein Chorfantasie, einer Art Programmschrift, Montage aus Notaten, Briefen, Gesprächen etc., die 2015 in dem Berliner Verlag Vorwerk 8 erschienen ist. Einige andere Abschnitte waren schon im ersten Band Roter Stern enthalten, S. 248 ff.
Worum geht es? Es ist einmal mehr der einzige Walter Benjamin gewesen, der es schon früh und mit großer Genauigkeit aufgefasst und festgehalten hat: 1931 in einer Studie zu Brecht mit dem Titel Was ist das epische Theater? Sie beginnt so: Worum es heute im Theater geht, läßt sich genauer mit Beziehung auf die Bühne als auf das Drama bestimmen. Es geht um die Verschüttung von Orchestra. Der Abgrund, der die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet, der Abgrund, dessen Schweigen im Schauspiel die Erhabenheit, dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, dieser Abgrund, der unter allen Elementen der Bühne die Spuren ihres sakralen Ursprungs am unverwischbarsten trägt, ist funktionslos geworden. Die Veränderung in der Sache hat sich, noch ohne Einsicht in den darunter liegenden Grund, angekündigt mit einer Änderung der Formulierung des Begriffes von ihr. Brecht spricht schon am Anfang der zwanziger Jahre nicht mehr von Bühnenbild, sondern von Bühnenbau. Freund Neher ist der Bühnenbauer. Vor dem Bild wird an einer der vier Seiten des Raums der Vorhang weggezogen. Im Bild findet eine Handlung statt und verlangt vom Betrachter, dass er sich einläßt darauf. Das ist eine dehnbare Formulierung, und sie konnte und kann, praktisch wie reflexiv, sehr verschieden ausgelegt werden. Aber die Betrachter bleiben jedenfalls Objekt, auch wenn sie imaginativ ins Bild hineingezogen werden, per Identifikation. Die Trennung dauert. Der Bau aber will die Trennung übergreifen und alle umfassen. Gehandelt wird in ihm, dem einschließenden Bau, und alle in ihm Versammelten, Gastgeber wie Gäste, sind Teil der Handlung. So ist sie eine viel komplexere. Und sie kann politisch genannt werden, wenn man im Auge behält, dass die Absicht dieser Politik die Abschaffung der Politik ist: Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht (Marx). Etymologie: Es ist noch nicht lange her, dass die Worte politisch und
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schlau die selbe Bedeutung hatten. Irgendwann wird man vielleicht, hoffentlich, die Schlauheit nicht mehr brauchen. Machiavell kann verabschiedet werden. Die Architektur des Theaters gibt dem Verkehr zwischen Schauspielern und Zuschauern Regeln vor. Der Guckkasten ist ein Bilderrahmen. Ich habe gern außerhalb inszeniert, nicht im Theater, sondern in anderen Räumen, was auch immer deren eigentliche oder ursprüngliche Bestimmung war. Die Möglichkeiten, Schauspieler und Zuschauer in ein und demselben Raum miteinander handeln zu lassen, sind größer. Aber auch in den Theaterbauten habe ich jede Möglichkeit genutzt, um der konventionellen Vorgabe, von der Architektur festgelegt, der Inszenierung vorgegeben, mich nicht zu unterwerfen, ihr nicht gehorsam zu folgen, sondern sie zu stören, zu durchbrechen, wenigstens abzuwandeln, mich ihr so oder so oder so zu entziehen. Im Nachhinein sehe ich, nicht ohne Erstaunen, doch jetzt des unterliegenden Wunsches bewusst, dass meine Arbeiten auf verschiedene Weise immer wieder darauf hinausgelaufen sind, Orchestra zu verschütten. Von den griechischen Arenen sind einige stehengeblieben und heute Touristenattraktion. Die Arenen des alten englischen Theaters sind nur in wenigen ungenauen Abbildungen und in Bauverträgen und -rechnungen überliefert und werden heute mühsam historistisch rekonstruiert. Theaterbau, wie wir ihn immer noch gewohnt sind, geht zurück auf die Zeit, als der französische Hof Europa kulturell dominiert hat. Die Modifizierungen seit dem 19. Jahrhundert, genährt von einer dem positivistischen Denken aus der Naturwissenschaft geschuldeten Vorstellung von Illusion, haben streng an der Trennung von Bild und Betrachter festgehalten. Zu Beginn des 20. gipfelte sie in Aufführungen wie Max Reinhardts berühmtem Sommernachtstraum. Der auf der Bühne versprühte Tannenduft, Vervollständigung der Illusion von Wald, war das, was die Rampe überschreitend sich im Zuschauerraum verbreitet hat. Brecht hat so erfahren, dass kein Beleuchter noch die Heide selber an Shakespeares Verse heranreicht. Reinhardt hat aber in dem von Poelzig umgebauten Zirkus Schumann, dem Großen Schauspielhaus, auch schon in die Gegenrichtung experimentiert. Von den Wiederaufbauten nach dem zweiten Krieg behielten die frühesten – z. B. das Schauspielhaus in Dresden, noch in den vierziger Jahren wiederhergestellt – ihre alte Struktur. Optische Modernisierung hat sie nur deutlicher gemacht; leider ist die in Dresden durch eine historistische Rekonstruktion modifiziert worden. Tatsächlich haben die alten Theaterbauten mit dem Rund ihrer Ränge mehr Gemeinschaft hergestellt als die neuen Arenen. Die Bauten in der Folge des sog. Wirtschafts-
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wunders, riesig und unwirtlich, halten, auf dem Grund einer restaurativen Gesinnung, demonstrativ fest am Gegenüber, an der Trennung von Bild und Betrachter. Schon ihr äußerer Anblick ist deprimierend. Als ich über den riesigen menschenleeren Gustav-Gründgens-Platz in Düsseldorf mit Freund Loepelmann auf das Theater zuging, sagte er in seinem Berliner Tonfall: Sieht aus wie ne aufjewickelte Klosettpapierrolle. Unter dem sozialdemokratischen Gesichtspunkt Demokratie kennt keine Ränge hat der Architekt ein riesiges Breitwandkino gebaut, einen Ort zum Bilderbetrachten. Die Plattitüde sagt nur: als Objekte sind alle gleich. Das war das, was die Politurkolik für zeitgemäß und repräsentativ hielt. Den Grundriss der Bühne und den Grundriss des Zuschauerraums, zwei Papiere aus unterschiedlichen Abteilungen des Theaters, benutzt zu unterschiedlichen Zwecken, aber beide im selben Maßstab, hatte ich mir geben lassen und sie an der Wand aneinandergeheftet. Auf einen Blick war zu sehn: die beiden Räume haben nichts miteinander zu tun. Der Raum der Bühne hat keinen Zusammenhang mit dem Raum der Zuschauer. Er liegt nur gegenüber. Aber am Arsch, auf der Hofgartenseite des Gebäudes, war das Kleine Haus angefügt worden. Als nicht repräsentativ hat es den Architekten nicht interessiert. Der Technische Direktor des Theaters hat die Gelegenheit ergriffen und das Haus gemäß Gegenwart und Zukunft eingerichtet. Es ist eine absolute Ausnahme, dass statt eines ahnungslosen Architekten ein Theater eingerichtet wird von jemandem, der von Theater etwas versteht. Das war Ehle sen., den Gustav Gründgens nach Düsseldorf mitgebracht hatte aus dem alten Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Ehles Sohn, den ich aus der Arbeit kenne, war der Nachfolger des Seniors als Technischer Direktor. Der Raum hat die Form eines U. In seiner Rundung ist eine Tribüne, sehr steil, fest installiert. Wo der Buchstabe offen ist, schließt den Raum eine rohe Ziegelwand. Der Raum ist hoch, seine Wände sind grau, ebenso das Gestühl. Brecht: Jede Farbe ist mir recht. Hauptsache sie ist grau. Nichts lenkt ab von der Sache, um die es geht: Erzählung – Benjamin: Sagen lassen sich die Leute nichts, erzählen lassen sie sich alles. So kommen sie dazu, selber zu erzählen. Eine Geschichte zu erzählen heißt, ihrer mächtig zu sein. Dahinter oder darunter steckt der Wunsch geschichtsmächtig, d.h. der eigenen Geschichte mächtig zu werden, der des Individuums wie der der Gattung. Alle (die, die vorbereitet sind durch ihre Proben und die, die unvorbereitet kommen, außer durch ihr Menschenleben) feiern gemeinsam ein Fest, ein Theaterfest. Der Raum dieses Hauses kennt Orchestra nicht. Seine Konzentration gilt allen, schließt alle zusammen zur Gemeinschaft, ohne Bar-
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riere. Nicht aber ohne Differenz. Die ist gerade der Gegenstand der Handlung, von der nicht bestimmt wird, sondern in der jeder Beteiligte bestimmt: seine Haltung, seine Stellung. Das ist, im Theater festlich vorweggenommen, eine Association, worin, nach Marx, die freie Entwicklung jedes einzelnen Bedingung der freien Entwicklung aller ist. Die obenstehende Abbildung zeigt das Theater, wie es aussah für Müllers Macbeth-Version. Den instruktiven Aufriss hat damals in Düsseldorf ein Bühnenbildassistent gezeichnet, dessen Namen ich leider nicht mehr weiß und auch, ich hab es versucht, nicht mehr in Erfahrung bringen konnte. Für Müllers Schlacht sah das Theater nicht viel anders aus. Die vierte kleine Tribüne, rechts hinten, fiel weg, und an der Stelle lag ein Haufen Gerümpel, wie man ihn auf Dachböden oder in Kellern sieht. Aus ihm bedienten sich die Darsteller (die aus den Reihen der Zuschauer kamen, wo sie zu den Schlägen eines einsam auf der leeren Spielfläche stehenden Metronoms zwanzig Minuten lang einen Chor aus Blutsätzen deutscher Volksmärchen intoniert hatten), um mit diesen Gegenständen nun, mit Brecht zu reden, ihren Erzählungen Umgebungen zu bauen. In Müllers Medea-Version aber war nur das eine Hubpodium Spielfläche und auf dem anderen war eine Gegentribüne aufgebaut. Denn schon beim Kartenverkauf war das Publikum aufgeteilt worden: auf der einen Tribüne saßen die Frauen, auf der anderen die Männer, und
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unter ihnen saßen zwei Schauspieler, eine Frau und ein Mann: Medea und Jason. Die Geschlechterrollen waren aufs Spiel gesetzt: für alle. Man kann dieses Theater aber auch rückverwandeln. Das habe ich auch getan. Wenn man ein Hubpodest versenkt und mit Stuhlreihen besetzt und das andere hochfährt, hat man eine Rampe, und wenn man von links und von rechts eine Wand in den Raum klappt und von oben eine Portalbrücke herunterfährt, ist schon ein Guckkasten fertig. Aber das ist nicht mehr das Original. Es ist ein Zitat. Zwischen der Arbeit an Müllers Schlacht und der an seiner MacbethVersion war ich, dem Bedürfnis folgend, zur Abwechslung etwas ganz anderes zu machen, auf Oscar Wildes Importance of Being Earnest gekommen, in Deutschland bekannt unter dem Titel Bunbury. Das ist eine der großen Komödien der Weltliteratur. Ihre Dialoge und Monologe sind wie Rossinis Duette und Arien Champagner. Auf dem Theater aber ist Wildes Musik immer wieder versickert im Milieu aus Meublement und Teppich. Also weg damit. Im ersten Akt vier Stühle, im zweiten eine Gartenbank, im dritten drei Ledersessel, immer in einer Reihe frontal zum Publikum, in jedem Akt ein großer Photoprospekt als Hintergrund – Salon, Wiese mit Cottage, Bibliothek – und das Bühnenportal ein weißes Passepartout: Es konnte schrankenlos von der Rampe ins Parkett gesungen werden. Erst nach der Premiere bekam ich eine alte englische Tonaufnahme, eine Produktion der BBC kurz nach Kriegsende, mit Gielgud und Dame Evans. Vor dem Mikrophon, ohne erstickendes Interieur konnten sie die Musik, in dem schnellen englischen Tempo, wunderbar entfalten. Bei Umbesetzungsproben (die Darstellerin der Cecily bekam ein Kind) konnte ich die Musik unserer Aufführung noch einmal kontrollieren an der englischen Aufnahme. Tatsächlich war auf dieser Bühne diese Musik auch in deutscher Sprache zustandezubringen gewesen. Sogar das englische Tempo war nahezu erreicht. Ein gegenwärtiges Bild zitiert eine vergangene Form. Diese historische Form erscheint, weil sie hergestellt ist, nicht mehr vertraut, sondern fremd. Das Gegenüber, die Betonung der Trennung kann so polemischen Charakter annehmen und als Kritik funktionieren. Das Bild der Reichen und Prominenten, als lügnerisch dokumentarisches Illustriertenphoto sehnsüchtig staunend konsumiert, erscheint so unwirklich schön und witzig und elegant, dass die Hochglanzbilder davor verblassen. In Bayern nennt man ein derartiges Verfahren, solche Manipulation der Manipulation, hinterfotzig. Oder Hamlet 1989 in München. Die Aufführung begann, während die Zuschauer hereinkamen und ihre Plätze einnahmen. Die Bühne war offen, aber dunkel, die Rampe gesperrt von zwei patrouillierenden
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Bewaffneten, Francisco und Bernardo, die die Terrasse von Helsingör bewachen. Das war eine Denunziation der konventionellen Barriere. Und über der Spielfläche hing ein Streifen Packpapier, mit Goldfarbe angestrichen, eine Spiegelung der goldenen Rangbrüstung im Saal. Das energischste und deutlichste Beispiel aber, wie man in einem konventionellen Neubau dennoch radikal vorgehen kann, war die Inszenierung von Shakespeares Maß für Maß im Stuttgarter Schauspielhaus. Es hat den üblichen Guckkasten, aber es hat keinen Rang, wie dann auch die Kammerspiele des Schauspielhauses Bochum, wo die Aufführung weitergespielt wurde. Das ergab die Möglichkeit, im üblichen Bau die übliche Ordnung umzufunktionieren. Axel Manthey klebte einen signalgelben, einen Meter breiten Streifen auf die Täfelung des Saales rund um alle Zuschauer, der weiterlief über die Bühnenportale und rund um die ganze Bühne. Diese Grenzziehung schloss alle zusammen, Schauspieler und Zuschauer – eben so, wie eine Grenze ein Gemeinwesen umschließt, das Gemeinwesen, um dessen krisenhafte Verfassung die Handlung sich dreht, Shakespeares Vienna. Erzählt wird die Geschichte eines Zweikampfs. Diese Geschichte ist oft verfehlt worden, weil die beiden Kontrahenten nur am Anfang und am Ende, in der ersten und in der letzten Szene aufeinandertreffen. Der Regent setzt in der Krise den möglichen Rivalen als seinen Vertreter ein und verschwindet, eine Reise vorgebend. Tatsächlich aber beobachtet er, versteckt in einer Mönchskutte, seinen Gegner und wartet darauf, dass der einen Fehler macht. Als der Fehler gemacht worden ist, zieht er aus der Deckung, im Untergrund, eine Gegeninszenierung auf. Die Zuschauer sahen sich dabei in der Rolle von Gliedern dieses Gemeinwesens. Die Einzelteile der Bevölkerung saßen auf dem ihnen zugewiesenen Platz mit der Eintrittskarte als Ausweis. Sie selber waren die Personage des Stücks. Die Huren, der Zuhälter, die Madame, die jungen Herren, die Reporter usw. traten auf aus ihren Reihen. Ellbogen, der württembergische Polizist, laut schimpfend im Landesidiom, kam herein von draußen, wo 1979 die gepanzerten Fahrzeuge der Polizei im Park vor dem Theater patrouillierten, um in der Krise den benachbarten Landtag zu beschützen vor der Roten Armee, obwohl die doch nur Fraktionsstärke hatte. Die Vorstände aber hatten hinter dem Bühnenportal links und rechts einen nicht einsehbaren Rückzugsort – und die siebente Zuschauerreihe war beim Einlaß leer geblieben. Sie ist – von der Hinterwand der Bühne und der Hinterwand des Zuschauerraums gleich weit entfernt – Mitte des Raums. Bei den Proben ist dort der Platz des Regisseurs. Von dort aus beherrscht er das Theater. Diese Konstellation bekommt das Publikum gewöhnlich nicht zu sehn. Wenn es sie aber vor Augen hat, ist ihre Funktion unmit-
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telbar einsichtig. Und die Schauspieler sind mobilisiert, weil sie ihre Erfahrungen damit haben. Diese leerstehende Reihe war der Platz von Herzog Vincentio. Er stand dort mit seinem Assistenten Escalus und bestellte Angelo, den jungen Rivalen, auf die Bühne, um ihm die Inszenierung zu übertragen. Er entkleidete sich der Macht. D.h. er zog sich aus, und der Assistent trug Kleider und Krone auf die Bühne zu dem überraschten Rivalen. Der Macht entblößt steht er nackt da. Die Mönchskutte, die ihm die Rolle eines Harun al Raschid ermöglicht, erhält er von einem Abt in der zehnten Reihe. Der Schauspieler Peter Brombacher achtete sehr darauf, dass zwischen der zweiten und der letzten Szene sein Gesicht unter der Mönchskapuze nicht zu sehen war. Vor dem Schlussakt als Staatsakt, Staatstheater im Wortsinn, gab es auch einen rotsamtenen Theatervorhang, der sich hob zu den Klängen einer Hymne. (Der Idealtyp Hymne wurde dargestellt von der Olympiahymne 1932.) Man sah vor einer gefältelten Dekorationswand mit der großen Aufschrift Maß für Maß eine Art Präsidium mit einer Reihe von Stühlen, die Rampe war verziert mit einer Blumendekoration. Das Bild hätte einen Parteitag im Westen ebenso bedient wie einen im Osten. Ich habe mich damals gesträubt, eine Bemerkung von Günther Rühle zu akzeptieren, dass meine Erfahrungen mit dem Resozismus darin ihren Niederschlag gefunden hätten. Aber er hatte recht. Die absolutistischständische Struktur, entstanden in Rußland als Restauration des Zarismus durch Stalins Konterrevolution, war auch in der Variation, in Dependancen wie der DDR, nicht zu verkennen gewesen. In der Zwangspause nach (nicht dem ersten) Berufsverbot, bei dem Versuch, eine freie Theatergruppe zu organisieren, letztlich vergeblich, und bei anderer Arbeit, die Zwangspause zu füllen, hatte sich für mich eine tastende Denkbewegung ergeben, darauf gerichtet, die Intention, die ein Handwerkszeug ist, ein Hebel für die praktische Arbeit, in dieser Werkzeugfunktion zu bestärken. Meiner ersten Inszenierung im Westen ging u.a. meine Ausgabe der Brechtschen Lehrstücke für Reclam Leipzig voraus. Das war eine sehr hilfreiche Arbeit, denn sie lenkte das Denken in die Richtung, die von Benjamins Formel Verschüttung von Orchestra bezeichnet ist. Voraus ging auch ein Seminar mit Studenten des Regieinstituts der Ernst-Busch-Schule, gemeinsam mit dem Dramaturgen Bernd Böhmel. Wir entwarfen eine Aufführung von Tschechows Stück Die Möwe, und gingen der Möglichkeit nach, das Stück aufzuführen als Reflexion über die Theaterarbeit in einer Stagnationszeit; ein Projekt für die erwünschte Arbeit eines fringe theatre im Keller des Staatlichen Kunsthandels in der Karl-Marx-Allee in Berlin. Die Wände
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Bild oder Bau?
des Kellers sollten rundum mit Birkenwald-Phototapete beklebt werden. Die Zuschauer hätten auf Gartenmöbeln in diesem Birkenwaldraum gesessen und sich im ersten Akt, gemeinsam mit der Personage des Stücks, das Erstlingswerk des Sohnes der Starschauspielerin, Stück im Stück, angesehen. Am Schluß, für den letzten Besuch der verzweifelten Nachwuchsschauspielerin und für den Schuß des jungen Stückeschreibers auf sich selber, hätte sich das Stück zurückgezogen in eine Ecke des Raumes, nur erleuchtet von einer einsamen Petroleumlampe. Von den Arbeiten am Berliner Ensemble, gemeinsam mit Schleef, die der Zwangspause vorangegangen waren, bestanden die ersten beiden, Strittmatters Katzgraben und Wedekinds Frühlings Erwachen, auf dem Gegenüber von Bühne und Parkett. In der dritten, Strindbergs Fräulein Julie, haben wir am Ende den Rahmen gesprengt. Julie zog sich an der Rampe aus bis aufs Hemd und balancierte von Reihe zu Reihe über die Köpfe der Zuschauer hinweg, von deren Händen gestützt, um durch eine der hinteren Parkettlogen zu entschwinden. Es ist eine Erfahrung der Theaterpraxis, dass immer das Gegenteil auch richtig ist. Man darf keinen Plan haben. Man braucht auch keinen. Wie Brecht gedichtet hat: Ja mach nur einen Plan / Sei nur ein großes Licht / Und mach dann noch nen zweiten Plan / Gehen tun sie beide nicht. Man braucht eine Richtung. Die Richtung gibt der Instinkt an. In Benjamins Notizen zu seiner Passagenarbeit findet sich ein Gedankengang (an Haschisch-Erfahrungen anknüpfend und im Zusammenhang sprachphilosophischer Überlegungen zum Begriff der Ähnlichkeit), der darauf hinausläuft, dass jede Wahrheit evident auf ihr Gegenteil hin weist – und die Wahrheit wird ein Lebendiges, sie lebt nur in dem Rhythmus, in dem Satz und Gegensatz sich verschieben, um sich zu denken. Also kein Dogma Chor, kein Dogma die Rampe weg. Die Unzahl der möglichen Varianten des Vorgehens entspricht der Verschiedenheit der Gegenstände und den Unterschieden von Zeit und Ort. Ich habe nie auch nur versucht, in der Arbeit eine Idee zu verwirklichen. Immer ist alles aus dem Gegenstand entwickelt worden, im gespannten Verhältnis zu Zeit und Ort. Ein solches Verfahren kann wohl realistisch genannt werden. Werke im Zusammenhang ihrer Zeit zu erfassen, ist nicht Selbstzweck, kein Ziel. Ziel ist, in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen. Aber zu unserer Zeit gehört, dass der Graben zwischen Bühne und Parkett, zwischen Schauspieler und Zuschauer zum Sumpf geworden ist. Um mit Benjamin auch zu schließen: In diesem Sumpfe ist die Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß zu Hause.
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Ein Epilog zu Brechts Galilei
GÖTTER DER NEUZEIT (1981) Zu Worms vor dem Kaiser der ungehorsame Knecht Greift in die Brust nach dem neuen Gott: Hier stehe ich und kann nicht anders. In Tenochtitlan Greift des Kaisers anderer Knecht nach dem anderen neuen Gott: Gold Steht dort und kann nicht anders: Zweihunderttausend Azteken ein Vorschuß O früher Morgen des Beginnens
EIN EPILOG ZU BRECHTS GALILEI Der Dramaturg Stefan Schnabel und T. holten sich 1997, während der Proben im Berliner Ensemble zur Inszenierung von Galilei zu Brechts 100. Geburtstag, Auskünfte von dem Philosophen Klaus Heinrich. Ausschnitte des Gesprächs standen im Programmheft der Aufführung. Noch zwei Anmerkungen: 1. Heinrichs Eingangsfrage nach der genauen Quelle Brechts konnten Schnabel und T. nicht sofort beantworten. Brecht übernahm den Text der Inschriften auf den Deckenbalken von Montaignes Bibliothek tatsächlich aus dem 8. Band von Montaignes Gesammelten Schriften, historisch-krit. Ausgabe mit Einleitungen und Anmerkungen unter Zugrundelegung der Übertragung von Johann Joachim Bode, herausgegeben von Otto Flake und Wilhelm Weigand, München/Leipzig 1911, S. 261–271, die 1938 in Dänemark in seiner Bibliothek standen. 2. Auskünfte T.s zu Textfassung und Inszenierung standen zuerst im Jahrbuch der Internationalen Brecht-Gesellschaft 2001, und sind, präzisiert, wieder abgedruckt im ersten Band Roter Stern, Recherchen 35, Bln. 2006, S. 76ff. Dort steht auch T.s Version des Sonetts von Giordano Bruno, von dem hier auf S. 33 die Rede ist und das in der Laudation auf S. 44 zitiert wird.
H. Ich war überrascht, als Sie mir diese Schlußszene schickten. Stammt sie aus der Zeit von Brechts letzter Galilei-Fassung von 1955? T. Nein. Es ist ein Bruchstück der ersten Niederschrift 1938. Brecht hat kurz vor seinem Tod die Episode aus der Schublade gegraben, und sie ist gedruckt worden im letzten Heft der Versuche. Das hat er noch selber zusammengestellt, aber erschienen ist es erst nach seinem Tod. H. Hatte sich Brecht in Dänemark die Bodesche Ausgabe von Montaigne beschafft, in der die Deckeninschriften aus der Bibliothek abgedruckt sind? T. Ich weiß nicht, ob ‘38 die Bände in seiner Bibliothek standen. H. Mich hat beunruhigt, dass ausgerechnet die zwei Inschriften, die jetzt den Schluß des Stückes tragen – die über die Menschenschatten und Bewundernswert ist das Gute, also die 37. und die 14. Inschrift – , so mit ihren Quellen verfahren, als hätte Montaigne sie für Brecht verfertigt und an seinem Balken angebracht. Immerhin machen sie das Stück noch
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Ein Epilog zu Brechts Galilei
widersprüchlicher und könnten das Ganze umdirigieren. Die 37.: Gott hat den Menschen gleich einem Schatten geschaffen, wer soll diesen richten, wenn die Sonne untergegangen ist? Das heißt Prediger, VII, 1: Fecit Deus hominem similem umbrae de qua post solis occasum quis judicabit? Und Essais, II, 12: Dieu a fait l’homme semblable à l’hombre, de laquelle qui jugera, quand par éloignement de la lumiere elle sera évanouie? Wenn Brecht das damals so ausgesucht hat, ist er eigentlich schon davon überzeugt, daß die Galileische Physik die Ethik außer Kraft setzt. Wenn die Sonne gleich Gott untergegangen ist, wer soll dann den Menschen richten? Es gibt keine Instanz mehr für ein Schattengericht. Dabei waren die Schatten immer schon die Toten – für Lebende ist noch keine Ethik erdacht, auch der große Empiriker Galilei wird keine erdenken. Nun steht aber im Buch Prediger das, was Brecht sich ausgesucht hat, so nicht drin. Dort steht nur: Wer kann wissen, was dem Menschen im Leben gut ist für die wenigen Tage seines nichtigen Daseins, die er verbringt wie ein Schatten? Denn wer sagt dem Menschen, was nach ihm sein wird unter der Sonne? – so in der Übersetzung der Zwingli-Bibel. – Brecht muß das Buch Prediger übrigens früh gekannt haben, die WindGleichnisse, die er als junger Mann schon hat – Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind –, sind ja alles Paraphrasen. Da ist es immer der Wind, der durch alles hindurchweht – alles ist nutzlos, Spreu im Wind. Es gibt keine ethische oder juridische Implikation, nur die Einsicht, die sich darein fügt, die des Weisen. Dagegen werden dann hundertundeins kleine Freuden gesetzt. Aber mehr ist da nicht. Weisheit ist hier gleich Resignation, und die wird Salomo in den Mund gelegt, weil er der Weise unter den Weisen war. Ich habe mir auch noch einmal das 12. Hauptstück, im 2. Band der Essais, angeguckt, aber da kommt der Satz vom Deckenbalken auch nicht vor. Vielleicht hat Montaigne ihn für seine Bibliothek erfunden, vielleicht ist er einem Kommentar zur Vulgata-Fassung gefolgt, der juridische Tonfall des lateinischen Textes legt das nahe – jedenfalls, Brecht greift das heraus und kuckt da nun bestimmt nicht nach, so viel ist klar, und sagt: Was passiert, wenn deine Theorie das Licht aus der Welt nimmt? Sind dann die Schatten – wir – ohne Instanz? Wo ist die Kompetenz, über Schatten zu richten, wenn das Licht nicht mehr da ist? Indem Galilei den Untergang der Sonne leugnet, läßt er die Sonne untergehn. Das hätte man – mit dieser Pointe – Galilei auch im Prozeß entgegenhalten können. Nun schlägt es an sein Trommelfell bei einer Lektüre, bei der er noch gar nicht so genau weiß, wonach er eigentlich sucht. Das finde ich genial von Brecht. Die Montaignesche Inschrift ist wie aus einem Lehrbuch des Rechts: Der erste Satz das Faktum, der gleichsam objektive Tatbestand: Wie
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Ein Epilog zu Brechts Galilei
einen Schatten hat Gott den Menschen erschaffen – und dann gleich die quaestio iuris, mit prozessualem Anspruch: Wer kann ihn – den Schatten – richten, wenn die Sonne untergegangen ist? Als ich das las, erschrak ich: Da ist noch mal der ganze Prozeß drin, nun aber nicht als der Prozeß, der Galilei gemacht wird, sondern als der Prozeß, den er – Brecht? Galilei? – selber anstrengt. Das steckt beinahe in jedem von Brechts Stücken. Es gibt nur zwei, die nicht eine juridische Form haben, Baal und Trommeln in der Nacht. Es ist sonst immer eine juristische, oft advokatische Verhandlung. Schon das Dickicht ist mit Rechtsfiguren durchsetzt. Das hat den unmittelbar einsehbaren Grund, daß Brecht dem Schicksalsprozeß, den die Tragödiendichtung noch in Rechtsform hat, nun seinerseits den Prozeß macht. Er strengt einen Prozeß an gegen die alte Rechtsform des Schicksalsprozesses. Und da er jedesmal, auch in Leben des Galilei, neu angestrengt werden muß, kommen auch jedesmal diese juridischen Formeln. Der Ausgang des Prozesses ist offen. Die 14. Bewundernswert ist das Gute. Das sagt Platon im Kratylos. Ich würde was drum geben zu wissen, ob Brecht sich den Kratylos angeguckt hat. Kratylos ist ja der albernste der platonischen Dialoge. Er ist ein Spiel mit Worten, an die Sokrates anfangs zu glauben scheint. Und nachher führt er alles ad absurdum. Es ist der Versuch, die ganze Sprache auf die Ähnlichkeit mit den Dingen zu durchforsten und auf diese Weise ein großes, phantastisches etymologisches Lexikon aus ihr zu machen. Und da heißt es natürlich an dieser Stelle nicht, daß das Gute bewundernswert sei, sondern es geht um die thon, das Gute. Jetzt macht Sokrates eine phantastische Erfindung und sagt: Das Gute ist aus zwei Wörtern zusammengesetzt, einerseits aus agaston: das, was bewundert wird, und andererseits thoon: das, was schnell ist. Und der Gedanke dabei – wenn man es einen Gedanken nennen darf – ist: Alles, was sich verändert, ist in einer schnellen Bewegung begriffen. Nun gibt es aber manches, das diese schnelle Bewegung hindert. Bewundernswert ist nur das, was nicht behindert ist in der schnellen Bewegung. Darum nennt man das Gute das, was das Bewundernswerte in der schnellen Bewegung ist. Das ist ein die Moral aus der heraklitischen Bewegungsphilosophie ziehendes kalauerndes Etymologisieren. Und das setzt sich Montaigne, der den Kratylos sicher gekannt hat, an den Balken seiner Bibliothek und dreht es um in eine vage Philosophie des Guten: Bewundernswert ist das Gute. Wenn Brecht im Kratylos nachgeguckt hätte, hätte er eigentlich sagen müssen: Das trifft ja ganz ausgezeichnet auf Galilei zu. Hier sind die Bewegungen, und sie lassen sich durch nichts aufhalten, und das ist gut. Dann kriegt das aber beim alten Galilei eine Umkehrung, die nichts mehr vom Kratylos hat: Hier ist das Gute wieder das
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Ein Epilog zu Brechts Galilei
Gute. Auch wenn wir nicht wissen, was das Gute ist. Wenn das so ist, dreht es das ganze Stück mit um, weil sich bei diesem großen Positivisten Galilei nichts auf Moral beziehen kann. Das Gute ist eine Kategorie, die nie auch nur am Rande in irgendeiner Form in seinem Denken aufgetaucht ist. Aber damit endet das Stück. Das würde eine fundamentale Kritik an allem Vorherstehenden bedeuten. Und dann dieses unglaublich großartige Lauter! S. Galilei nimmt den Satz Bewundernswert ist das Gute nicht in den Mund, er sagt nur: Lauter! H. Er kann ihn eigentlich auch nicht sagen, es gibt keine Ableitung für ihn. T. Das Merkwürdige ist – das gilt für Galilei, und gilt auch für Brecht: ihre Schwierigkeit mit Moralkategorien, so, dass man sich wundert, wenn das an so einer Stelle auftaucht – aber vielleicht ist es auch naheliegend. Wenn ich zurückdenke an die letzte Lebenszeit von Brecht… Damals haben wir natürlich nicht gedacht, dass er so bald stirbt. Er war achtundfünfzig. Kein Alter. Bei einer großen Ausstrahlung von Energie, fast Aggressivität – so stark, dass man den Eindruck hatte: ein Gulliver, der sich unter Zwergen bewegt, vorsichtig, damit er nicht jemanden tottritt – und zugleich eine starke Müdigkeit. Auf den letzten Photos von Gerda Goedhart ist das zu sehn. Ein Entschwinden. Offenbar ein Gefühl von Sterben. Er hat ja lebenslang diese Herzkrankheit gehabt, und weil das Herz wieder angegriffen war, lagen Todesgedanken nahe. Es gibt ja auch dieses Gedicht, das direkt davon spricht: Als ich im weißen Krankenzimmer der Charité … Und was uns auch beschäftigt, sind sehr merkwürdige, ja denkwürdige Parallelitäten. Bei Brecht das Hervorholen dieses Bruchstücks von 1938 für sein letztes Buch. Dann von Benn ein spätes Gedicht, in dem es heißt Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,/woher das Sanfte und das Gute kommt,/weiß es auch heute nicht und muß nun gehen. Und eine Geschichte, die Heiner Müller in den letzten Lebensjahren mehrmals in Gesprächen erzählt hat, die Geschichte eines kleinen dicken jüdischen Sportjournalisten, der davongekommen war auf einem Schiff in Richtung USA. Aber das Schiff wird von einem deutschen UBoot torpediert. Er hat einen Platz im Rettungsboot, und das Boot war voll. Es war da aber noch eine Mutter mit einem Kind, und er hat sich stumm nach hinten fallenlassen ins Wasser, so dass Platz war für sie. Die Parallelität eines Gedankens am Ende von sehr verschiedenen Leben: dem von Benn, dem von Brecht, dem von Müller. H. Sie spielen das ganze Stück auf das Lauter! zu? T. Bierbichler hat damit Schwierigkeiten. Wunderbar war, wie die beiden Schauspieler den Text zum ersten Mal vorgelesen haben. Ohne Aus-
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druck. Aber es ist nicht leicht, das festzuhalten. Wir haben da noch keine Lösung. Die Intention beim Herstellen der Textfassung war: es als Epilog zu spielen, nach der letzten Szene, abgetrennt von ihr. S. Es ist schwer vorstellbar, für diesen Text eine Situation zu finden. Er sperrt sich gegen Theater. H. Vielleicht sollte man dem Schauspieler sagen: Wenn ein alter Mann, der schwerhörig wird – mein Vater ist fünfundneunzig geworden, und sein einziges Gebrechen war die enorme Schwerhörigkeit, die hat ihm aber eine große Erleichterung bedeutet: Ich muss nicht alles hören. Wenn er Lauter! sagte, dann bedeutete das von vornherein eine Auswahl. Also an der Stelle hat er etwas aufgeschnappt, mitgekriegt, was er doch wirklich hören wollte. Dieses Lauter! bedeutet: Noch mal. Das ist wichtig für mich. T. Da gibts ein ganz praktisches Problem. Durch die zunehmende Blindheit ist Galileis Gehör geschärft. Das spielt für die Konspiration vorher eine Rolle, wenn Andrea ihn besucht und er ihm sein Manuskript übergibt, damit er es über die Grenze bringt. Galilei sieht sehr schlecht, aber er hört sehr gut. H. Dann für Lauter! zwei Interpretationen: Ich will sehen. Das wäre die eine Interpretation. Und die andere: Das ist so unerhört, dass ich das, was ich höre, nicht höre, nicht hören kann. Das eine ist: Ich will sehen. Das andere: Es ist unerhört. S. Wie deuten Sie Galileis Blindheit? Ist Galilei, der die Sonne des Stücks ist, um die sich alles dreht, durch die Sonne geblendet worden? Ist es die Selbstblendung, Selbstbestrafung eines Ödipus? H. Galilei wird ja wirklich blind. Galileis Lebensdaten liegen vollständig offen. Die Zeitgenossen haben natürlich gedacht, daß er durch die Sonnenbeobachtung blind geworden ist. Einem Kind sagt man: Wenn du zuviel in die Sonne guckst… Wenn Sie sagen: ödipal – dann heißt das: die Wahrheit sehen ist das, was blendet, und die Wahrheit ist die Blöße der Mutter. Jetzt sind wir bei einer anderen, der Diana-Aktaion-Geschichte von Giordano Bruno. Da wird damit gespielt, dass Diana, die Aktaion nackt beim Bade sieht, die Wahrheit ist. Daraufhin wird Aktaion von seinen eigenen Hunden zerrissen. Das Geblendet- und Zerrissenwerden und in einer anderen Existenzform Wiederauferstehen ist für Bruno das Schicksal des Intellektuellen. Das ist die äußerste Kontraposition zu dem, was der Mathematiker und Physiker Galileo Galilei von Anfang an macht. Statt der genauen Beobachtung das ekstatische Sich-Zerreißenlassen von der Wahrheit. So sehr Giordano Bruno spotten konnte und so sehr er im Aschermittwochsmahl ein veritabler Journalismusvorläufer ist, so sehr ist er andererseits ein Emphatiker. Bruno meint, daß diese
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Galilei-Darsteller und Regisseur 1997 auf einer Probe im Berliner Ensemble.
Emphase des Untergehens und der Wiederauferstehung einen erst wirklich zum Intellektuellen macht. Er sagt an dieser Stelle der Heroischen Leidenschaften, die ich mehrfach zitiert habe: das blinde und gemeine Leben hört in dem Augenblick auf, in dem man diese Zerreißungserfahrung durch die eigenen Gedanken hat. In dem Augenblick, in dem man die Wahrheit sehen will, wird man zerrissen von den Hunden – und die sind die eigenen Gedanken. Die Hunde sind dann nicht mehr – das ist entscheidend – die Hunde der Wahrheit. Das sagt jemand, der Domini-
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kaner-Pater ist: domini canes, Hunde des Herrn. So versteht das Volk diesen Orden. Im Augenblick der Zerreißung, heißt es bei Bruno, beginnt der Heros a vivere intellettualmente, intellektuell zu leben. Das ist die erste mir bekannte Aufladung des Intellektualitätsbegriffs, wie wir ihn bis heute haben. T. Galilei ist ein Stück unseres Jahrhunderts. An Hand des GalileiStoffs über die Probleme Brechts. Die Zerreißung des Intellektuellen ist eine Erfahrung von Brecht gewesen. S. Galilei geht im Verlauf seines Lebens, im Verlauf des Stücks den Weg zu Bruno. Wenn Galilei in der dritten Szene mit Hilfe des Fernrohrs in den Himmel fährt, die Erde vom Mond aus beschreibt, wird der neuzeitliche Wissenschaftler zum Auge Gottes, das die Welt im Blick, im Griff zu haben glaubt. Deshalb wird es im Gespräch mit Sagredo zum Problem: wo ist Gott, wenn Galilei schon droben ist? In dieser Szene fällt auch zum ersten Mal der Name seines Antipoden Giordano Bruno. Die Zerreißungserfahrung kann Galilei erst nach seinem Absturz machen, nach der Erfahrung des schwarzen Lochs, dem Eingesperrtsein durch die Inquisition, in der letzten Szene. Die Herausgabe des Manuskripts der Discorsi an Andrea ist Galileis Zerreißprobe. Alle Vernunftgründe sprechen dagegen, es herauszugeben. Galileis Schuldgefühle, sein Komfort, seine Eitelkeit und Ruhmsucht – das sind die Hunde, die ihn zerreißen. H. Ich habe mir das auf der Folie des Lauter! überlegt. Ich würde Galilei in dieser Szene tatsächlich als eine Collage, ein Nebeneinander nicht zu vereinbarender Regungen, als dissoziierte Person sehen. Dann ist das Lauter! der einzige, kleine, nachhaltige Ruf danach, diese Dissoziation zu beenden. T. Wir haben versucht, die Rede Galileis an Andrea in der letzten Szene so disparat wie möglich zu halten, eine Montage aus den überlieferten Fassungen. H. Wenn der Untertitel des Stücks heißt: Auskünfte über B.B., dann ist das die einzige realistische Möglichkeit. Das Lauter! ist dann wie ein Hilferuf, aus dieser Dissoziation herauszukommen, und kein Lauter!, damit die Welt es hört. Wenn das Unvereinbare in der letzten Szene gespielt wird, dann ist der Epilog: der Schrei nach dem Vereinbaren. … T. Es gab eine Diskussion mit Bierbichler über das Alter, als wir den Epilog zum ersten Mal probiert haben. Die junge Schauspielerin Mira Partecke, die Virginia spielt, hatte mit dem Text keine Schwierigkeiten. Und ich habe mich an meine erste Lektüre des Epilogs erinnert. Ich hab ihn mit Heiner Müller zusammen gelesen, Heft 15 der Versuche, 1957,
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als das erschien. Wir waren fasziniert. Es erschien uns damals als eine Quintessenz des ganzen Stücks. H. So erscheint es mir auch. T. Als junger Mensch hab ich kein Problem gehabt damit. Und Bierbichler meinte: als junger Mensch hätte er auch keins gehabt. Da hätte er überhaupt nur was gelernt, wenn er belehrt wurde. Aber irgendwann wurde ihm das über, und er hat selber angefangen zu belehren. Und jetzt würde er das hassen. Also: Der Epilog erscheint ihm zu lehrhaft, als eine Ausstellung von Weisheit. H. Aber das ist doch nicht der Fall. Eine Ausstellung von Weisheit würde in der Tat eine falsche Quintessenz ergeben. Aber Galilei hält das, was er sich vorlesen lässt, teils für Gemeinplätze, teils für Unsinn, teils für ganz bemerkenswert. Er will eigentlich auf etwas Anderes hinaus, etwas, das nicht nur bemerkenswert ist und nicht nur seiner Kommentare bedarf. Gehen wir es doch mal durch: Virginia fragt Soll ich dir vorlesen? und Galilei sagt Ja, von dem Franzosen, der nicht an das Denken glaubt. Aber nur, was angestrichen ist. Das finde ich sehr schön. Es ist wirklich ein neues Denken. Was mich an Montaigne immer fasziniert hat: daß dieser Mann zweihundert Jahre vor Newton und mit ganz anderem Akzent den gleichen Satz gesagt hat: Ich lehre nicht, ich beobachte. Wenn Galilei aus dem Fall eines Körpers auf ein Gesetz schließen kann, das dem Anspruch nach für alle gilt, dann weil im Einzelnen tatsächlich gesetzlich das Generelle drinsteckt. Das Besondere ist für Galilei etwas, das man als Störfall beseitigen muß. Bei Montaigne heißt es dagegen, daß wir aus unserem Leben nicht weniger Belehrung ziehen können als aus dem Leben Julius Caesars. In jeder einzelnen Person steckt die ganze Menschheit drin, aber nicht als das Allgemeine, sondern in einer einmaligen Besonderung. S. Über die Geschichte der Gattung erzählt das Leben des Galilei einiges. H. Zuerst kommen die Beispiele des alten Denkens. Da ist Galilei noch der Montaigne-Gegner. Die 52. Inschrift: Ich begreife nicht – das ist für Montaigne eine Quintessenz, für Galilei ein Anfang. Und die 13. Das kann sein und nicht sein. – Galilei: Gut, wenn Gründe gegeben werden – das heißt: Um Gotteswillen, daß das nicht ein Simultané wird! Die 5. Es ist nicht so und nicht so; vielmehr auf keine Weise von beiden – bedeutet: es geht nicht in dem nicht so und nicht so auf, das ist klar, und ist aber dort, wo Montaigne es sich anbringen läßt, natürlich völlig anders gemeint. Es geht wieder in die gleiche Richtung wie das Ich begreife nicht. Es ist wieder ein Zitat existentiellen Zweifels, und für Galilei ist es ein: Wenn weiter gesucht wird. Dann darf man so etwas als
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Übergang stehenlassen, dann kann man die Bedingungen, unter denen es wieder ganz anders sein könnte, suchen. Die 21. Wer da weiß, weiß noch nicht, wie man weiß – Galilei: Das ist sehr gut, wieder. Das finde ich nun ganz phantastisch: Aber es schmeckt alles nach Kapitulation. Die 10. Was ist Himmel und Erde und Meer, mit all ihrem Umfang, gegen die Summe der Summen des nie zu ermessenden Ganzen? – das ist nicht nur Montaigne, das hätte auch Giordano Bruno sagen können als Argument dafür, daß man mit einer zählenden, messenden und rechnenden Methode gar nicht erst anfangen sollte. Man kommt so nie in die Nähe, auch so etwas zu denken wie das nie zu ermessende Ganze. Tatsächlich erhebt Galilei sofort Einspruch: Man muß aber anfangen. Schreib’s dazu. Die 2. Die Neugierde hat er ihnen verliehen, damit er sie quäle – das zielt auf das, was Giordano Bruno fruchtbar gemacht hätte, wenn er es bei sich in seiner Bibliothek gehabt hätte, nämlich die Zerreißungen. Das Quälen ist nicht das Ende, sondern die Bedingung des Intellekts. Aber Galilei sagt schlicht: Unsinn. Damit wehrt er natürlich sehr viel mehr ab: die Neugier ist also nicht etwas, das Qualen bereitet. Wenn er Unsinn sagt – ich verneine nichts, ohne daß ich nicht schon ein Stück weit das Verneinte meine –, dann ist hier das erste Mal ein Treffer erzielt. T. Es ist so sehr Brecht. H. Die 15. Der Mensch ist zu brüchig. Jetzt schwenkt Galilei mit diesem Negativ von Unsinn im Grunde auf die Montaigne-Linie ein. Es ist das erste Mal, daß er selber eine Kapitulation bringt: Nicht brüchig genug. Darüber ist er sich – würde ich denken – ein wenig böse. Die 20. Sei weise mit Maß, daß du nicht verderbest – da sagt er einfach nur: Weiter. Hier nichts moralisch Formalistisches! Die 42. Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge. Jetzt kommt tatsächlich wieder ganz und gar Brecht: Das ist vielleicht auch falsch. Wer verwirrt die Meinungen? Aber für Galilei ist jetzt die Frage Wer verwirrt die Meinungen? ganz ernst an dieser Stelle. Unter Umständen er, der sie in die Welt gesetzt hat? Und darauf will er nicht ertappt werden: Soll ich das aufschreiben? – Nein. Jetzt kommt der Satz des Terenz, die 19. Ich bin ein Mensch: mir ist nichts Menschliches fremd. Jetzt kann Galilei wieder, genauso wie bei Nicht brüchig genug, sagen: Gut. Dies ist eine der Lieblingssentenzen von Montaigne, die er immer in irgendeiner Form wieder bringt, paraphrasiert. Sie geht durch von den kurzen frühen Essais bis zu den spätesten, den jegliches damals übliche Maß sprengenden Beobachtungen. Wenn Galileo jetzt sagt: Gut – und da ja alles unter diesen Denksprüchen steht, ist er auch mit seinem Denken schon ein Stück weit dort gelandet und ist nicht mehr nur
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bei der sentimentalen Plattitüde: Ich habe das alles auch durchgemacht –, dann ist das die Vorbereitung der Korrektur an seinem Denken. Die 37. Wie einen Schatten hat Gott die Welt erschaffen. Wer kann ihn richten, wenn die Sonne untergegangen ist? – Galilei schweigt. Das trifft ihn im Innersten. Wenn die Sonne genommen ist, die nicht die reale Sonne, sondern die Gottessonne ist – wer soll dann die Schatten richten? Keine Instanz, keine Ethik, keine Moral. Das habe ich – wenn ich mit der Umfunktionierung der einen Sonne die andere Sonne beseitigt haben sollte – und nichts an ihre Stelle gesetzt –, das habe ich gemacht. Dieses Schweigen des Galilei ist schwer zu bringen. Es darf nicht zerknirscht-bigott erscheinen, so als ob es die Aufklärung außer Kraft setzen will, es muß ein Problem im Inneren der Aufklärung selbst markieren – das Problem tabufreien Forschens und seiner nicht miterforschten Folgen für Menschenrecht. Habe ich vielleicht den Menschen unsichtbar gemacht? – das ist für Galilei die mögliche, gefährliche Quintessenz seines ganzen Tuns. Während die Inschriften vorher ein ihn selber kribbelig machender Denksport sind, ist er jetzt sehr nachdenklich geworden. Dann kommt – wie sagt man das heute? – die Wende. Zuerst, nach dem Todesmotiv der Schatten, die Binsenwahrheit, die seine Situation ausdrückt: die 17. Den letzten Tag sollst du nicht fürchten und nicht ersehnen. – Galilei: Erst war das erste schwer, jetzt ist es das zweite – hier ist ihm die Montaignesche Denkweise bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn das gesagt wird, muß Zeit sein, damit die Zuschauer, die es nicht nachlesen können, es auf sich anwenden können. Dann kommt das, was fast nur dahingesagt wird, die 14. Bewundernswert ist das Gute. Und dann dieses Lauter! Das steht nun auf dem Hintergrund der Schatten, dieser quasi juridischen Formel, des Befürchtens und Ersehnens. Es ist eine Vereinbarkeitsformel, und niemand weiß, ob Galilei noch etwas zu vereinbaren gelingt. Das darf der Zuschauer auch nicht erfahren. Die erste Fassung des Stücks fällt in die Zeit der Zertrümmerung des Atoms, die zweite, zusammen mit Laughton, in die Zeit des Debuts der Bombe. Also, jeder weiß, daß es das ist, was eigentlich gelingen müßte. Und wiederum sagt jeder: Das werden auch wir nicht erfahren – wie Galilei. Noch einmal: die 14. Bewundernswert ist das Gute – und jetzt die fünf Wörter, die am schwersten zu sagen sind in dem ganzen Stück. Für den Darsteller des Galilei das Lauter! und für das Mädchen die Wiederholung: Bewundernswert ist das Gute. Da liegt das schwerste Problem in der notierten Musik: wie spiele ich die Wiederholung? Wenn ich von irgendeinem Pianisten Schumann höre, der in jedem Fitzelchen mit der
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Wiederholung arbeitet, dann ist das der erste Gradmesser: hat er sich damit auseinandergesetzt, wie spiele ich die Wiederholung? Dann ist die ganze Last der Welt dem Mädchen Virginia aufgebürdet.
EINES TAGES, SPÄT, IN DER ZUKUNFT Nina Peters befragte T. im Mai 2007 nach einer Probe zu seiner Inszenierung von Becketts Das letzte Band. Das Gespräch wurde im Programmheft abgedruckt. Premiere war in Neuhardenberg in der Kirche. Das Licht beim Einlass war dort reflektiert von dem Schinckelschen Sternenhimmel an der Decke, was bei der Wiederaufnahme in der Berliner Schaubühne am Kurfürstendamm nicht hergestellt werden konnte. Eine andere Veränderung hat T. in einem Nachtrag notiert. Du hast nicht Jugend und du hast nicht Alter Nur sozusagen den Nachmittagsschlaf Der beides träumt… Shakespeare, Maß für Maß
Nina Peters legt das Aufnahmegerät auf den Tisch, das kurz blinkt, dann fiept und rückwärts zählt. P. Das Aufnahmegerät funktioniert nicht. T. Unsere Aufführung wird auch ohne Tonband auskommen. Bei uns darf der Videorecorder nicht ausfallen – bei uns sieht der alte Knochen Krapp den jungen Mann auf dem Bildschirm. Nina Peters schreibt jetzt mit. P. Mit einem Videorecorder ist das Stück noch nicht umgesetzt worden, oder? Steckt darin ein Konzept, eine bestimmte Deutung? T. O nein. Kein Konzept. Keine Deutung. Der Text ist der Text. Er ist simpel und braucht keine Erklärung. Es ist ein furchtbares Bedürfnis des deutschen Theaters, immer alles zu erklären. Aber da ist nichts – T. überlegt: Vielleicht macht sich der Zuschauer etwas! Er sieht den alten Kopf und den jungen Kopf miteinander streiten, und er macht was draus. Für sich. P. Wie sehen denn die Proben aus zwischen Bierbichler und Ihnen? Er ist ja ein Schauspieler, der keinen Regisseur zu brauchen scheint. T. Proben mit ihm waren immer kürzer als Proben mit anderen. Wir verständigen uns schnell. Bierbichler spielt – und unterbricht sich und denkt nach. Das ist, wenn Sie so wollen, wie ein Blick von außen. Wie vom Regisseur. Der Schauspieler braucht den Zuschauer, und der Regisseur ist dessen Vorposten. Aber dann braucht Bierbichler auch wieder mehr Zeit. Die Entwicklung ist mit der Premiere nicht zu Ende. Und zu seinen Eigenarten gehört die Bodenständigkeit, am Wochenende muss er zu Hause sein in Ambach. Dieses Verhaftetsein in einer Realität produ-
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Jung und Alt: auf der Bühne J. Bierbichler als Krapp, 2007. Und im Leben: T. 2016 mit seinem Porträtkopf, einer Bronze von K.H. Schamal, 1960.
ziert Freiheit. So hat er Grund, seinen jeweiligen Gegenstand auf die Probe zu stellen. P. Über Bierbichler haben Sie gesagt, er spiele in der Vorstellung nicht anders als auf der Probe. T. Ja, immer. Auch in der Vorstellung… Eine Vorstellung, wenn sie gut ist, ist eine Folge von Tests, denen ein Text unterworfen wird. Dabei kann der Zuschauer Entdeckungen machen.
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P. Welche werden das sein bei Becketts Letztem Band? T. Weiß ich vorher nicht. Aber gleich bei Probenbeginn ist etwas deutlich geworden, was ich nur geahnt hatte: wie viel Slapstick in dem Stück steckt. Becketts irische Bodenständigkeit bekommt es mit Bierbichlers bayerischer Bodenständigkeit zu tun. Karl Valentin hat die formale Präzision der Comedy mit erschreckendem Realismus verbunden, wie Beckett Formalität mit erschreckendem Realismus verbindet. P. Entwickeln Sie angesichts des Alters Humor? T. Ich hoffe doch, dass wir immer welchen gehabt haben. Dass wir beide nicht jünger geworden sind seit wir das erste Mal zusammen gearbeitet haben, vor dreißig Jahren, ist ein Grund mehr, dass wir uns lustig machen über uns. Lacht. Mit Shakespeare zu reden: Gott weiß, dann müssen Fehler schwachen Alters/Her halten zur Posse. Opa ärgern! Das ist ein schönes Spiel. Und ist es auch noch, wenn man selber Opa ist. P. Mit 70 Jahren inszenieren Sie zum ersten Mal Beckett. Warum erst jetzt? T. Zufall. Und Geschichte. Die greifen ineinander. Beckett war für mich immer da, seit den fünfziger Jahren, und der Rang war immer unstrittig. Aber die Stücke in der DDR zu machen war erst nicht interessant, da war anderes interessanter, und später, als es interessant gewesen wäre, war es unmöglich. Neunzehnhundertachtundfünfzig, auf einem Festival in Karlsbad, hab ich mich mit Grotowski gestritten über Beckett. Damals hatte ich gerade Heiner Müller kennengelernt und wollte Müller inszenieren. Aber ich bin schnell eingeholt worden. Nur drei Jahre später, nach der Uraufführung von Müllers Umsiedlerin war einer der Vorwürfe: Ein Beckett des Ostens. P. Und warum Das letzte Band? T. Wegen Bierbichler. Und dann hatte ich immer eine Vorliebe für die englisch geschriebenen Stücke Becketts, ganz subjektiv. Oder – eigentlich ist es immer noch eine Auswirkung von Lessings 17. Literaturbrief, der Wendung vom französischen zum englischen Geschmack in der deutschen Literatur und im deutschen Theater. Becketts zweite Sprache ist nicht die erste und die Figuren haben keine Kindheit, weil Beckett in der Kindheit keine französische Sprache hatte. Ham und Wladimir sind Spielfiguren, Winnie und Krapp Menschen mit altem Dreck unter ihren Fingernägeln. P. Was ist das für ein Dreck? T. Jeder muss seinen wegräumen. P. Ein alter Mann lauscht darauf, was er vor dreißig Jahren gesagt hat. In der Gegenwart ist er ein grauer Geist aus einer farbigen Vergangenheit. Im japanischen No-Theater kommen die Toten nicht zur Ruhe,
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weil sie eine Geschichte nicht zu Ende gebracht haben. Gilt das auch für Krapp? T. Eines Tages, spät, in der Zukunft. Das ist der erste Satz. Der Zeitpfeil zeigt nach vorn. Es ist die Gegenwart, die gespenstisch wird im Auge der Zukunft. Was war wichtig? Was war unwichtig? Was war richtig? Was war falsch? Und so weiter… Krapps Gedanken hängen wieder und wieder an den Frauen. An den Augen der Frauen… Und er ist ungeduldig mit seinen geistigen Höhenflügen, er verhöhnt sie. Und spult weiter… Aber er entscheidet nichts. Er sagt: Vielleicht hatte er recht. Entscheidungen sind Sache des Zuschauers. Ein Nachtrag: Die Prophezeiung, dass Bierbichler dann auch wieder mehr Zeit braucht, war realistisch. Seine Ausgangsidee bei Probenbeginn, die Verwandlung des jungen Mannes in den alten zu zeigen – folgte dem ersten Satz Becketts. Beckett hat, nach eigener Aussage, den Text nicht mit diesem Satz begonnen, sondern hat ihn erst vorangestellt, als ihm während des Schreibens auffiel, dass die Tonbandaufzeichnung vor dreißig oder vierzig Jahren noch nicht erfunden worden war. Während der Proben hatten wir die Verwandlung schon reduziert. Und an die Wand hinter dem Podium mit Tisch und Stuhl haben wir groß geschrieben, weiß auf schwarzen Grund, Becketts ersten Satz: Eines Tages, spät, in der Zukunft. In Neuhardenberg spielte Bierbichler noch mit Schnurrbart und roter Nase etc. In Berlin trat er auf als Bierbichler und stülpte sich beim Auftritt nur eine weiße wirre Perücke auf den Kopf, das war alles. Und es genügte. Ein simples Zeichen.
JOSEF B. IST EIN NEGER Diese Laudation wurde vorgetragen zur Verleihung des von der Preußischen Seehandlung gestifteten Theaterpreises Berlin an Josef Bierbichler, am 18. Mai 2008 im Haus der Berliner Festspiele.
Meine Aufgabe ist eine Lobrede auf Bierbichler. Bierbichler zu loben ist leicht – denkt man. Ihn so zu loben, dass das Lob ihm gewachsen ist, dass es ihm gerecht wird, ist nicht so leicht. Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück. Wenn ich anfange, und sage: Der Schauspieler Josef Bierbichler – stocke ich schon. Der Schauspieler, das ist ein Wort, das an dem Delinquenten abprallt. Es erscheint merkwürdig unangemessen. Und wenn ich die Impressionen nachschmecken würde, die Schauspiel-Rezensenten vor die schmatzen-
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den Frühstücksmäuler zu hängen pflegen, hätte ich mich schon verirrt. Ein Schauspieler ist heute (im Betrieb des Betriebs) ein Spezialist. Und Bierbichler ist alles Mögliche, aber eins ist er nicht, er ist kein Spezialist. Die Perversion, aus einem Luxus einen Beruf zu machen, macht er nicht mit. Mit allen Kenntnissen und Fähigkeiten eines professionals verweigert er die gesellschaftliche Rolle des professionals. Er verweigert Ablenkung, Erbauung und Erhebung, er verweigert Trost. Dahinter steht die Tradition des Vorstadtbrettls, abseitig. Im heimischen Bayern war das der Ort von Karl Valentin. Und es war das Startloch des bösen Brecht. Dieses Theater ist dürr, arm, aggressiv, ein Theater der Neger gegen das Theater der Sklavenhalter. Ein erstes Ruhmesblatt hat der Delinquent sich gepflückt (es ist schon einige Jahrzehnte her) in der Zusammenarbeit mit Herbert Achternbusch, den Heiner Müller damals den Klassiker des antikolonialistischen Befreiungskampfes in der BRD genannt hat. Komme ich mit den englischen Wörtern actor und player dem Delinquenten näher? The actor, der Handelnde, diesem Begriff entspricht die Definition Brechts, über deren verblüffende Dürftigkeit der junge Max Frisch gestaunt hat: Ein Schauspieler, sagte Brecht zögernd, das ist wahrscheinlich ein Mensch, der etwas mit besonderem Nachdruck tut, zum Beispiel ein Glas Wasser austrinken oder so. Jemand der wirklich, der tatsächlich handelt, im gegenwärtigen Augenblick handelt, ein actor: damit ist das Unverstellte Bierbichlers bezeichnet, und zwar jenseits der konventionellen Alternative von Verwandlungskünstler und Selbstdarsteller. Und der Begriff player schließt das Gefährliche und das Gefährdete ein, das Risiko allen Spielens, das auszuschließen der Delinquent sich hütet. Wenn ich mich mit den englischen Begriffen der Eigenart des Delinquenten um einen Schritt genähert habe, wird deutlich, dass unter ihr ein Grund liegen muss. Der liegt tiefer als Gesinnungen oder Meinungen reichen; keinesfalls werden wir belehrt oder agitiert; nur zu gut weiß der Delinquent: Überzeugen ist unfruchtbar. Der Grund reicht bis in die vergrabene Utopie einer Aufhebung der Arbeitsteilung. Bei meiner Münchner Hamletinszenierung (Bierbichler spielte die Erscheinung des alten Königs und den ersten Totengräber) habe ich die Proben mit ihm nach dem Stand der Heuernte disponiert. Bierbichler hat morgens Holz gehackt, mittags Heu geerntet und abends Theater gespielt. Kommt da etwa das berühmte und berüchtigte Gespenst zurück aus dem Untergrund? Um es in einem Satz grade heraus zu sagen: Josef Bierbichler ist ein Neger. Dem Aufschrei beim Mord an dreitausend New Yorkern entspricht kein Wimperzucken beim Mord an dreihunderttausend Negern. Terror ist nicht nötig, gewöhnlicher Hunger genügt. Und im Ernstfall kann
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Hunger auch mit Bomben gestillt werden. Weiß ich was ein Mensch ist? Weiß ich wer das weiß? Ich weiß nicht, was ein Mensch ist. Ich kenne nur seinen Preis. Die Reichen und die Armen führen Krieg, und der Delinquent stellt die Frage: was für die Neger bleibt, oder: wo die Neger bleiben. Die Frage schwebt ihm nicht vor, rein geistig. Sondern sie hängt über uns allen, ein Damoklesschwert. Dass der Delinquent diese Frage stellt, immer wieder, ist, man muss es zugeben, ungewöhnlich. In dem Krieg von Reich und Arm war die Losung der Kommunisten: Keiner oder alle. Darüber lächelt man heute. Die Antwort Hitlers: Für alle reicht es nicht ist heute ein Gemeinplatz und schreit nach einer Widerlegung mit der schwachen Stimme der Hungernden aller Kontinente. Das Kapital hat einen Horror vor der Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; zwanzig Prozent, es wird lebhaft; fünfzig Prozent, positiv wagehalsig; für hundert Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; dreihundert Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Diese Sätze, einhundertfünfzig Jahre alt, von dem britischen Gewerkschafter Thomas Joseph Dunning, aus seiner Schrift Trade Unions and Strikes, überliefert als Zitat in einer Fußnote des Kapitals von Marx, sind nur zu gegenwärtig. Seit sich der Kapitalismus keinen Raketen mehr gegenüber sieht, ist er wieder kühn, lebhaft, waghalsig usw. Nichts mehr steht ihm im Weg, eine politische Opposition gibt es nicht, jeder kann frei wählen zwischen ein und demselben. Der kleine Mann (die heimische Form des Negers) steht vor der Gewalt der so genannten Sachzwänge wie Brechts Schweyk vor Scharführer Bullinger: Schiffen Sie grün oder schiffen Sie gelb? – Ich schiffe wie Sie befehlen. – Antwort korrekt. Sich auf die Seite der Neger zu schlagen ist nichts, was in eine Gewissheit führt – von Sicherheit oder Geborgenheit zu schweigen. Vor zehn Jahren (zu Brechts hundertstem Geburtstag, als sogar die bayerische Staatsregierung dabei war, ihn zum Repräsentanten zu degradieren) hat Bierbichler, noch im alten Berliner Ensemble, Brechts Tragödie gespielt: Galilei. Mehr noch als ein Selbstporträt ist Brechts Stück eine Selbstdenunziation; Brecht hat sich (in den Jahren des doppelten Schreckens, den Dreißigern) die Hexenmaske Bucharins aufgesetzt; so, wie er später (zu sehen auf dem Schnappschuss von einer Weihnachtsfeier in Kalifornien) den Schnauzbart des neuen Papstes vorgehängt hat; schon die Stückeschreiber sind Spieler ihrer Figuren. Das Stück sollte die Illusionen über die neue Zeit zerstören. Zugleich wird die neue Zeit als sol-
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che behauptet. Die neue Zeit war die nach 1917. In dieser zerreißenden Konstellation war Galilei Brecht, Brecht Galilei. Die nächste Generation der Neger hat die Zerrissenheit geerbt. Bierbichler hat sie sich und uns gezeigt. Nach der Premiere habe ich ihm dazu (als kleine Danksagung) ein paar Verse aufgeschrieben: DAS URBILD NACH BRUNO Die Meute los gelassen hetzt zur Jagd Auf ungewisser Fährte. Aktäon wagt Ihr folgend sich ins finstere Dickicht heute Dringt bis zum Ufer vor und sieht im Fluss Göttlich im Sonnenlicht den Wellen Kuss Die Schönheit. Und der Jäger wird zur Beute: In einen Hirsch verwandelt wird er jetzt Von seinen eigenen Hunden totgehetzt. Er sieht die Schönheit. Und zahlt mit dem Leben. Diese Geschichte will ein Gleichnis geben: Ich wars der meine eigenen Gedanken Zur Jagd hetzt. Ihre Meute meuternd Schranken Durch brechend hat mit unbarmherzigen Bissen Sich auf mein Herz gestürzt. Und es zerrissen. Um den Delinquenten mit noch einem Begriff zu belegen: Josef Bierbichler ist ein Erzähler, Teil eines Kollektivs, das sich erhebt und der Erzählung seine Personen leiht. (Denken Sie an den denkwürdigen Versuch in der Volksbühne am Luxemburgplatz, die Geschichte von Philoktet und Odysseus und Neoptolemus zu erzählen.) Nachdenken ist dabei die Grundhaltung. Dem Nachdenken wird das Material ausgesetzt. Versuchsreihen werden durchgespielt. Schon dadurch, dass er sein Herkommen nicht verleugnet und seine bayerische Diktion nicht unterdrückt, unterwirft er ja die Worte, die er dem Dichter nachspricht, einem Test. Der Schauspieler muss eine Sache zeigen, und er muss sich zeigen. Er zeigt die Sache natürlich, indem er sich zeigt, und er zeigt sich, indem er die Sache zeigt. Obwohl dies zusammenfällt, darf es doch nicht so zusammenfallen, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Aufgaben verschwindet. Das sagt Brecht. Und Benjamin schließt an: Mit anderen Worten: der Schauspieler soll sich die Möglichkeit vorbehalten, mit Kunst aus der Rolle zu fallen. Er soll es sich, im gegebenen Moment, nicht nehmen lassen, den (über seinen Part) Nachdenkenden vorzumachen. Bierbichler probiert etwas so und er probiert es so, und die Pausen des Nachdenkens teilt er mit dem Publikum. So kann er sich korrigie-
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ren, und er tut das auch mitten in der Aufführung. Das sind die Augenblicke der Freiheit. Das Publikum kann sich selber in einen Erzähler verwandeln, Fortsetzung der Versuchsreihe. Immer probieren, das heißt: alles was einem begegnet auf die Probe stellen. Einen Text, eine Figur, ein Stück; und die anderen Beteiligten, das Theater; das Publikum, die Gesellschaft; nicht zuletzt sich selbst. Warum habe ich eigentlich immer wieder gesagt: der Delinquent? Zuckerbrot und Peitsche haben eine Aufgabe. Preise sollen den Preisträger erschießen. Dazu gehören aber zwei. Ich bin sicher, dass Bierbichler nicht umfällt.
SECHS PUNKTE ZUR FRAGE DER DIALEKTIK IN INGE UND HEINER MÜLLERS STÜCK DIE KORREKTUR Das Stück Die Korrektur wurde 1957 geschrieben nach einer Materialsammlung der Autoren auf der Großbaustelle des Kombinats Schwarze Pumpe in der sächsischen Lausitz. Als es 1958 in der Monatsschrift Neue deutsche Literatur (5/1958, S. 21f.) gedruckt wurde, forderte eine kritische Vorbemerkung der Redaktion die Leser zur Diskussion auf. Nichtsdestotrotz ist T.s Aufsatz, der dieser Aufforderung folgte, nicht gedruckt worden. Ziel der Aufforderung war wohl schon, Unterstützung und Ergänzung der kritischen Vorbehalte zu bekommen. Diese Erwartung erfüllte der Aufsatz nun gerade nicht. T., 60 Jahre später: Was die Redaktion einklagte, hielt ich nicht nur für theoretisch falsch, was es war und ist, sondern damals auch für praxisfern, realitätsfern. Gerade das war es aber nicht. Die Redaktion behauptete das gängige Verfahren in der Arbeitermonarchie (mit Brecht zu reden): es wurde von oben nach unten entschieden, administriert.
Ich halte das Stück Die Korrektur von Inge und Heiner Müller für ein bedeutendes Stück wegen seines wichtigen zeitgenössischen Themas (NDL) wegen seiner Parteilichkeit wegen seiner genauen Beobachtung wegen seiner tiefen Analyse wegen seiner Fabelführung wegen seiner Sprache. Die NDL stellt dieses Stück zur Diskussion. Sie fügt ihrem Abdruck in einer redaktionellen Vorbemerkung kritische Worte zu, die mir nicht stichhaltig erscheinen: 1. Uns scheint, dass die Autoren sich allzu sehr darauf konzentrieren, die der Wirklichkeit innewohnenden Widersprüche herauszukehren, deren Lösung jedoch allzu summarisch, allzu skizzenhaft, allzu unkonkret behandeln. Während die Mängel, die den Verhältnissen und den Men-
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schen noch anhaften, anschaulich und plastisch vorgeführt werden, sind die Prozesse der Wandlung, der Entwicklung, des Wachstums übersprungen. Sie werden postuliert, aber nicht gezeigt. Die Kräfte, durch welche sie hervorgerufen und gefördert werden, sind zu wenig erkennbar. Das ist, meines Erachtens, eine undialektische, mechanistische Auffassung. Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Erscheinungen wird als numerisches gesehen, statt als dialektisches, d.h. die Gegensätze werden isoliert gesehen. Die bewegenden Kräfte werden als von außerhalb des Prozesses wirkend angenommen. Aber Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer Selbstbewegung, in ihrem lebendigen Sein ist die Erkenntnis derselben als Einheit von Gegensätzen (Lenin). Wenn die Stückeschreiber sich also darauf konzentrieren, die der Wirklichkeit innewohnenden Widersprüche herauszukehren (NDL), so zeigen sie eben damit die Prozesse der Wandlung, der Entwicklung, des Wachstums (NDL): Entwicklung ist Kampf der Gegensätze (Lenin). Und das Stück hält doch die Wirklichkeit nicht an, gibt Zustandsschilderungen1, sondern führt sie vor in ihrer Eigenbewegung: d.h. es werden nicht falsche, alte, schädliche Haltungen und richtige, neue, nützliche Haltungen bloß konstatiert, im Gegenteil: sie werden vorgeführt eben in einem erbitterten Kampf. Und die in Richtung Sozialismus bewegenden Kräfte sind eben eine Seite des Gegensatzes. Es ist weder in der Realität noch im Stück so, dass positive und negative Erscheinungen nebeneinander bestehen, ihr Verhältnis nur zahlenmäßig ausdrückbar ist, und die Partei dann von außen, von oben, etwa administrativ, eingreift und dieses Verhältnis ändert (das ist die Konsequenz der Darstellung der NDL), sondern so, dass Altes und Neues, dieses organisiert von der Partei, miteinander kämpfen und so die Entwicklung fortgeführt wird. Wenn die Stückeschreiber sich also darauf konzentrierten, die der Wirklichkeit innewohnenden Widersprüche herauszukehren (NDL), so zeigten sie eben damit die bewegenden Kräfte, die Teil, Seite dieses Wiederspruchs sind. Es ist auch nicht so, dass Phasen des Kampfes ausgelassen sind2. Dazu Punkt 2 und 3. 2. Wo ist die innere Auseinandersetzung, an deren Ende Bremer seine sektiererische, undisziplinierte Haltung als falsch erkennt und überwindet? (NDL) 1
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Auch die Erzählungen zwischen den Szenen sind nicht Schilderungen, sondern sie geben Haltungen (Haltungen zu etwas), also Bestandteile einer widersprüchlichen Einheit. Und zwar so, dass der Zuschauer in die Lage versetzt wird, den Gegensatz zu montieren. (Das freilich nur bei richtiger Darstellung.) Das könnte eventuell noch gemeint sein.
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Im Allgemeinen führt realistisches Theater keine inneren Auseinandersetzungen vor, da sie lediglich äußere Widersprüche spiegeln. Die führt es allerdings vor. D.h. das Theater zeigt Handlungen zwischen Menschen und nicht im Menschen. Es gibt Ausnahmefälle, wo infolge besonderer Umstände, wie der Isolierung eines Individuums, innere Ausein andersetzungen den Handlungsablauf bestimmen, z.B. in Brechts Lehrstück Die Ausnahme und die Regel, wo der Kaufmann in der Wüste allein seinem Klassenfeind gegenübersteht, oder in Bechers Trauerspiel Winterschlacht, wo der junge Hörder in der faschistischen Wehrmacht allein seine Zweifel austragen muss. In solchen Fällen muss deutlich gezeigt werden, dass es sich um innere Vorgänge, DenkVorgänge handelt, die für das Publikum zur Einsichtnahme nach außen projiziert werden3. Das alles ist hier unnötig : Bremer ist nicht allein. 3. Welchen Argumenten oder Überlegungen folgt er4? (NDL) Die Redaktion der NDL scheint eine ganze Szene des Stücks, das sie doch gedruckt hat, nicht gelesen zu haben: die Hauptszene, mit demselben Titel wie das Stück: Die Korrektur. Dort stehen alle Argumente, denen Bremer folgt, als er seine sektiererische, undisziplinierte Haltung als falsch erkennt und überwindet (NDL). 4. Der Schluß erscheint abrupt und ungenügend motiviert5. (NDL) Auch hier liegt, meines Erachtens, eine undialektische Auffassung vor. Bremer versteht die Welt nicht mehr und lernt eben da sie verstehn. Der Umschlag erfolgt plötzlich. Entwicklungen haben es so an sich, dass sie abrupt sichtbar werden: als Sprünge. Die Verwandlung einer Erscheinung in eine andere durch einen Sprung – das eben ist der Prozess der Ablösung des Alten durch das Neue (Mao Tse-tung). Also abrupt muss der Schluss sein. Aber genügend motiviert muß er auch sein. Wie kann eine sprunghafte Veränderung motiviert werden? D.h. wie kann man die Quantitätshäufung zeigen, deren Charakteristikum es doch gerade ist, erst als Sprung in eine neue Qualität sichtbar zu werden? Man muss ihre Ursachen zeigen: Bremer empfängt Stoss auf Stoss, aber seine Haltung wird immer härter – bis sie abrupt umschlägt. Die Ratschläge des Sekretärs für seine neue Arbeit, die Normenschaukelei (Drohungen und 3
Das geschah bei der Winterschlacht nur in der Testfassung und Inszenierung von Brecht.
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Bremer
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Nach dem Voranstehenden zu schließen, ist mit unmotivierter Schluss die geänderte Haltung Bremers gemeint. Ich kann mich also im Folgenden ausschließlich darauf beziehen, obwohl das allein keineswegs den Schluss des Stücks ausmacht.
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schließlich Prügel der Arbeiter), das abgerutschte Fundament (Unschuld des Ingenieurs und Schuld der Arbeiter), als Schlußstein (Die Korrektur) die Diskussion, die die Partei mit ihm führt: das alles erschüttert seinen Standpunkt. Die Verhärtung seiner Haltung zeigt ihre Erschütterung.6 5. Man muss vor einer Fetischisierung der Knappheit warnen. Sie darf nicht zur Dürre werden. Übermäßige „Verdichtung“ kann bis zur Verflüchtigung des Inhalts führen, (NDL). Die Frage, ob das Stück gewinnen würde, wenn es einiges ausführlicher (idiotensicher) sagte, möchte ich verneinen. Gelegentlich wird zwar behauptet, dass für (oder vielmehr gegen) gewisse Teile des Publikums Sicherheiten eingebaut werden müssen. Aber wie steht es damit? Theater und Stückeschreiber drücken sich aus, das Publikum gewinnt Eindrücke. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Theater und Stückeschreiber können nur die Eindrücke vermitteln, die das Publikum ihnen bei sich gestattet. Die Alltagsvorstellung, dass die Kunst jedermann jederzeit beeindrucken kann (oder können muss), ist nicht richtig. Sie kann zum Beispiel die Klassen nicht einen, jedenfalls nicht zu gleichem Vorteil (Brecht). Teile des Kleinbürgertums, die uns noch abwartend oder sogar feindlich gegenüber stehen, werden nicht gewonnen durch Theater, sondern durch höhere Steuern auf ihrem Geschäft und niedrigeren Butterpreis. Und das neue Publikum der Arbeiter und Bauern? Es ist zu sehen, dass mit Stücken wie diesem eine neue Stufe der Beziehungen zwischen Publikum und Theater betreten wird: das Publikum sieht sich selbst, seine alltäglichen Kämpfe auf der Bühne. Die Darstellung dieser Kämpfe greift bis an ihre Wurzel: Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste , das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung, (Lenin). Um das zu verstehen, braucht dieses Publikum nicht unbedingt eine gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung; Brecht hat bereits vor 1933 auf den raschen Selbstverständigungsprozess von Arbeitern im Theater hingewiesen. Die Verfremdung kann, wenn das Publikum seine gesellschaftliche Praxis bewusst produziert, sich weitgehend diesem Publikum implizieren. Dieser Vorgang deutet sich an in Notizen Brechts vom Sommer 1955: (1) Wir haben in früheren Schriften das Theater als ein Kollektiv von Erzählern behandelt, die sich erhoben haben, die jeweilige Erzählung zu verkörpern, d.h. ihre Perso6
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Über Darstellung von Widersprüchen, Entwicklungen, Sprüngen usw. kann man nachlesen in Brechts Schrift Die Dialektik auf dem Theater.
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nen zu leihen oder ihre Bühnenbauten aufzurichten. Das wollen wir festhalten. (2) Wir haben auch bezeichnet, worauf diese Erzähler ausgehn: auf den Spaß, den es ihren Publikum bereitet, menschliches Verhalten und seine Folgen kritisch zu betrachten. Der Unterschied, der in diesem Punkt gelegentlich zwischen Komödie und Tragödie gemacht wurde, fällt weg. (3) Damit, auf spielerische Weise, das Besondere der vom Theater vorgebrauchten Verhaltensweisen und Situationen herauskommt und kritisiert werden kann, dichtet das Publikum im Geist andere Verhaltenweisen und Situationen hinzu und hält sie, der Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten. Somit verwandelt sich das Publikum selber in einen Erzähler. Das ist zu verstehn unter diesem Aspekt: Es handelt sich heute (und in den Stücken von heute) nicht mehr um die sehr weiten (überall auftretenden) und zugleich sehr engen (auf eine Frontlinie bezogenen) Probleme vergangener Kampflagen. Die Frage Kapitalismus oder Sozialismus ist soweit entschieden, dass wir den Sozialismus aufbauen. Der Kampf ist beileibe nicht zu Ende, er ist in eine neue Phase getreten. In dieser Phase werden die darzustellenden Probleme enger und spezieller, nämlich überall anders und in besonderer, unterschiedlicher Weise auftretend, zugleich aber auch viel weiter, nämlich alles umfassend. In dieser Phase erlaubt die Konkretheit mehr Verallgemeinerung als jede Verallgemeinerung. 6. Die schlechte Sprache verrät das schlechte Denken, dessen unmittelbare Wirklichkeit (Marx) sie ist. Es gibt auch bei uns noch Fehler und Mängel und Es gibt auch bei uns noch Wiedersprüche: das wird nur zu häufig synonym gebraucht und verrät den heimlichen konservativen Wunsch nach Ruhe und Ordnung, über dem das öffentliche progressive Bekenntnis zum Fortschritt, zum Fortschreiten Sache der Lippe bleibt, die damit nichts riskiert. Viele Menschen wollen nicht zugeben, dass es noch Widersprüche in einer sozialistischen Gesellschaft gibt, was dazu führt, dass sie angesichts solcher Widersprüche ängstlich und hilflos werden. Sie verstehen nicht, dass die sozialistischen Gesellschaft gerade durch den unaufhörlichen Prozess der richtigen der richtigen Behandlung und Lösung von Widersprüchen einiger und stärker wird. Aus diesem Grunde müssen wir unserem Volke, in erster Linie unseren Kadern, die Dinge erklären, um ihnen zu helfen, die Widersprüche einer sozialistischen Gesellschaft zu verstehen und zu lernen, wie solche Widersprüche richtig zu behandeln sind. (Mao Tse-tung) Der Redaktion der NDL so die Dinge zu erklären ist die Absicht dieser Notizen.
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DER DEUTSCHE BLICK (1981) Hegel in Berlin Blickt über die Schulter Und hofft er wird nicht verstanden: Berichtet Heine.
AUS DEM KORREKTURMODELL Anfang 1958 wurde das Stück vom Rundfunk produziert und das Hörspiel von Arbeitern auf der Großbaustelle Schwarze Pumpe diskutiert. Das Berliner Maxim Gorki Theater stellte es in einer Voraufführung zur Diskussion. Nach einem Verbot durch die Berliner Bezirksleitung der SED ist der Sendetermin im Rundfunk und sind die Vorstellungen im Theater abgesetzt worden. In der Sommerpause schrieben die Autoren eine zweite Fassung, die im Herbst 1958 wieder in der NDL gedruckt, vom Rundfunk gesendet und im Theater vorgestellt wurde. 1959 inszenierte T. das Stück an der Studentenbühne der Hopla (Hochschule für Planökonomie), von der Aufführung wurde ein Modellbuch hergestellt. Das Manuskript lag 1961 druckfertig im Henschelverlag und ist nach T.s Uraufführung von Heiner Müllers nächstem Stück Der Umsiedlerin von der Staatssicherheit konfisziert worden. Vorabdrucke in der Zeitschrift Volkskunst wurden vor der Auslieferung aus den Heften herausgerissen.
STÜCKWAHL Das Stück Die Korrektur, eine Moralität, hat eine in unserer dramatischen Literatur lange vernachlässigte Funktion, die Auseinandersetzung mit den Kämpfen um höhere Arbeitsproduktivität: Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung (Lenin). Es erzählt, wie sich eine neue Einstellung zur Arbeit und zum arbeitenden Kollektiv herausbildet: Die sozialistische Arbeitsmoral ist das Herzstück der gesamten moralischen Beziehungen der Gesellschaft (Walter Ulbricht).
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Besondere Vorteile des Stücks waren die inhaltliche Beziehung zum Ökonomiestudium der Darsteller und die Darstellung von für sie Bekanntem, einige waren Arbeiter vor dem Studium, andere haben ein praktisches Jahr absolviert usw., schließlich ihre Erfahrung mit Stücken dieser Art nach einer voraufgegangenen, mißglückten, Aufführung des Lohndrücker von Müller. UNSERE FASSUNG Wir studierten sorgfältig beide Fassungen und die Diskussionen, die der Neufassung vorausgegangen waren. Diese Diskussionen waren etwas ganz Neues. Der Daumen des unbekannten Arbeiters, über den die Kritiker peilten, konnte verschwinden: Die Arbeiter mischten sich selber ein. Sie hatten nicht Vorurteile über die Form, sondern Urteile über den Inhalt. Sie sagten nicht wie die Kritiker : Man darf nicht so viele kleine Szenen schreiben oder Das sind keine Charaktere oder Der Dialog ist zu verknappt, sondern: Die Partei ist bei uns nicht nur der Sekretär oder Die Auseinandersetzung in der Brigade wird zu wenig gezeigt oder Es ist falsch, dass Bremer als Brigadier abgesetzt wird. Für unsere Aufführung wurde noch weiter am Text gearbeitet. Ein Beispiel: Die Expositionsszenen 1a und 1b der zweiten Fassung schienen uns schon vor Probenbeginn problematisch: sie hatten keine Handlung. Im Radio mochte das gehen, aber auf der Bühne? Den Gedanken, die besondere Form noch zu betonen und Parteisekretär-Bauleiter, Parteisekretär-Ingenieur nebeneinander frontal an die Rampe zu stellen und den Text aufsagen zu lassen, verwarfen wir wieder; das hieß vor der Schwierigkeit ausweichen. Die beiden Gespräche gaben die pure Exposition, das, was man wissen muß, um das Folgende zu verstehen. Es waren keine realen Gespräche, sondern es war ein Tennisspiel mit Argumenten, Replikwechsel gleich Ballwechsel: ping-pong, ping-pong. Das Tempo war unreal, der Dialog raste los wie ein Spielzeugauto, das aufgezogen auf den Boden gesetzt wird. Die Argumentation war zu vollständig, als dass ein Einzelner sie hätte vorbringen können; es sprach die Partei, nicht ein bestimmter Parteisekretär, d.h. es entstanden auch keine realen Figuren. Usw. Zuerst mußte eine reale Situation gefunden werden. Auf der Suche nach einem Ort, an dem beide Gespräche stattfinden konnten, kamen wir auf die Kantine. Den Gedanken, das Zimmer des Parteisekretärs zu zeigen, wo er nacheinander den Bauleiter und den jungen Ingenieur empfängt, verwarfen wir, weil der Parteisekretär in ein falsches Licht geraten wäre; unser Parteisekretär war kein Bürokrat. Die Baustelle als Ort verwarfen wir, weil dort nicht beide Gespräche in
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einen realen Zusammenhang zu bringen waren, oder jedenfalls nicht ohne Umständlichkeit. Die Szene in der Kantine, unsere Fassung, zeigt den Parteisekretär bei der Arbeit: auch das Mittagessen muß benutzt werden, hier sind einmal täglich alle beisammen. Sie zeigt, dass auch der Parteisekretär Fehler macht; so wird deutlicher, dass auch er bei der Diskussion mit Bremer (in der 5. Szene) sich korrigiert. Wo in der zweiten Fassung nur Widersprüche verwässert waren, stellten wir den Text der ersten wieder her; das betraf nur Dialogstellen, nicht die Fabel. Besonders die Ausarbeitung der Kämpfe in der Brigade, die Neufassung der Diskussion mit Bremer, die jetzt nicht mehr nur der Parteisekretär führt, der neue Schluss, nach dem Bremer Brigadier bleibt, hielten wir für Verbesserungen. Jedoch erschien uns der Wegfall der Vorgeschichte Bremers als Verlust, und wir würden die Eingangsszene der ersten Fassung als mögliche Variante ansehen. UNSERE DEKORATION Die Stücke waren zu realistisch, um ohne reale Schauplätze auszukommen (Korrektur Berlin) und zu poetisch, um einen illusionistischen Schauplatz zu ertragen (Lohndrücker Berlin). Wir folgten den Leipzigern und legten fest, dass die Schauplätze markiert sein sollten: der Schauplatz des Ganzen, die Großbaustelle, durch einen Hintergrund fürs Ganze, die der einzelnen Szenen durch plastische Elemente, so wenige wie möglich (Kriterium: nur was mitspielt), die aber so echt wie möglich. Der Hintergrund sollte keinesfalls Kommentarcharakter haben, die Moral, auf die freilich gezielt war, sollte sich doch ganz aus der Sache ergeben. Wir dachten zuerst an etwas Dokumentarisches und wählten ein Foto. Zur Aufführung sah die Bühne so aus: Als Grundbau drei schmutziggraue Planen, hinten und an den Seiten aufgehangen an vier Pfählen. Sie waren transportabel und verstellbar in Breite und Höhe, um sie den verschiedenen Bühnen anzupassen, auf denen wir spielen mußten. Hinten in dem Rechteck hing ein weißes Rollbild, auf dem mit schwarzer Farbe in der Art einer Tuschzeichnung ein Stück Bauplatz aufgemalt war, eine Ausschachtung für ein Fundament. Das reine Weiß des Bildgrundes, die Leichtigkeit und Zartheit des Materials (Linnen) und die elegante Flüchtigkeit der Zeichnung standen in schönem Gegensatz zu dem Schmutzgrau und der Zerschlissenheit der Planen, die aus schwerem Stoff (Hader) waren. Die Herstellung der großen Photographie hatte technische Schwierigkeiten bereitet, und als sie dann doch noch fertig wurde, entsprach sie nicht unseren Erwartungen. Sie wirkte nicht schön. Das Rollbild entstand in der Nacht vor der Premiere auf dem ersten bes-
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ten Stück Stoff. Fünf Minuten vor Beginn der Vorstellung hing es zum erstenmal in der Dekoration. Es gefiel uns, aber wir fanden es noch zu eintönig, und der Maler lief nach einem Farbtopf: eine kleine rote Fahne im Hintergrund, ein Farbfleck, wenige Zentimeter groß, war der Punkt aufs i. Es war die einzige starke Farbe in unserer ganzen Vorstellung, ausgenommen das gleiche Rot der Tischdecke in der Parteileitung, und war so von besonderer Wirkung. Wir hatten gelernt: Gegenstände, deren Poesie nicht allgemein anerkannt ist (so wird alles, was zusammenhängt mit Technik, Industrie, Produktion als alltäglich und prosaisch angesehen), müssen poetisch behandelt werden. Das ist dann eine Schule des Sehens. (Umgekehrt sollte alles, woran das Odium falscher Poesie haftet, so sachlich wie möglich dargestellt werden und so dieses Odium zerstört und die Poesie wiederhergestellt.) Zur Markierung der Bauplatzszenen benutzten wir für den Bauplatz A (die Szenen 2, 3 und 4) einen Stapel Zementsäcke. Echte Papiersäcke lagen mit Sägespänen gefüllt auf einer dünnen Platte mit Griffen, damit sie leicht transportierbar waren. Und ein Betonrohr aus Pappe, das uns das Berliner Ensemble schenkte; es war sehr gut gemacht, ganz leicht und ganz echt aussehend. Für den Bauplatz B (die Szenen 4 und 7) einen Bretterstapel, nur aus der Vorderfront bestehend. Für die Innenraummöbel standen uns nur die Seminartische und -stühle unserer Schule zur Verfügung. Sie waren aber gut geeignet, nämlich hell und modern, wie die Möbel in unseren Kantinen oder Parteizimmern sind, und zugleich sah man an ihnen die Spuren des täglichen Gebrauchs; sie sahen also ganz echt aus. Jedoch waren sie ziemlich klein, weil viele Tische in einen Seminarraum passen müssen. Das war für die Bühne sowohl praktisch, sie waren leicht transportierbar, als auch schön, sie sahen zwar echt aus, aber nicht zu echt. Im 1. Bild, der Kantine, lagen Wachstuchdecken darauf und zwar nur an der dem Publikum zugewandten Seite über die Tischkante hängend. In der Parteisitzung war die Tischplatte mit rotem Fahnentuch bespannt. Zur Kostümierung: Wir gaben den Darstellern der Betonarbeiter nicht die weiße Maurerkleidung, die sie in Wirklichkeit meist tragen. Wir wollten sie nicht als Spezialisten zeigen, denn die Geschichten, die das Stück erzählt, passieren nicht nur unter Maurern. Aber natürlich stilisierten wir nicht, etwa auf den Arbeiter, im Gegenteil. Wir achteten streng darauf, daß die Kleidung gebraucht aussah und daß sie individuelle Merkmale aufwies. Die Maurerkleidung wurde nie vermißt, auch nicht von dem Fachpublikum im Klubhaus der Berliner Bauarbeiter und auf der Großbaustelle in Schwedt.
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EIN PARTEISEKRETÄR BEI DER ARBEIT Beschreibung der 1. Szene Ort und Zeit: die Kantine beim Mittagessen, angedeutet durch drei wachstuchgedeckte Tische in einer Reihe. Der Parteisekretär balanciert seinen Suppenteller die Reihe entlang, setzt sich an den linken Tisch, spießt seinen dicken Gegenüber auf den Suppenlöffel und sagt: Du bist Bauleiter im Abschnitt 6. Der Dicke frißt ausgiebig, er ist so mit seinem Schnitzel beschäftigt, daß er nicht einmal aufsieht. Mit Mühe bringt er zwischen Gabel, Fleisch und Zunge ein Na und? heraus. Der Parteisekretär nimmt keine Rücksicht auf das Schnitzel: Dort arbeitet die Brigade Sense, hat den höchsten Lohn und arbeitet schlecht. Der Dicke kann von dem Schnitzel nicht lassen und bleibt (wieder nicht ohne Mühe!) bei: Na und? Der Sekretär, von Berufs wegen zäh, läßt nicht locker: Warum? Der Dicke entschließt sich (im Interesse des Schnitzelessens!) zu einem kleinen Zugeständnis: Sie betrügen, sagt er. Es zeigt sich, daß die Partei die Hand nimmt, wenn man ihr den Finger gibt: der Sekretär fragt wieder Warum?. Und jetzt muß das Schnitzelessen schon unterbrochen werden für sieben Worte (aber der Satz wird nur als Abschluß der Diskussion gesagt: alles für das Schnitzel!): Sie betrügen alle, wenn der Brigadier mitmacht. Endlich ist dem Sekretär das Fell seines Gegenüber um ein weniges zu dick, und er hebt seine Stimme zu einem jetzt heftigen Warum?! Es ist das letzte. Der Dicke, tief gekränkt, legt Messer und Gabel fort, sieht ihn mit der unschuldigen Miene eines zweimonatigen Babys groß an und sagt klagend: Ich kann nichts machen, solange ich nichts in der Hand habe, daß ich ihnen auf die Finger schlagen kann, – Du meinst also, wenn du ihnen auf die Finger schlägst, mit denen sie arbeiten, arbeiten sie besser, sagt der Sekretär und schüttelt den Kopf. Schadenfroh grinsend setzt er hinzu: Gut, daß du nichts in der Hand hast. Der Dicke will die Debatte endgültig schließen und stimmt mit nach oben gerichtetem Blick das fromme Lied von den objektiven Schwierigkeiten an (vor und nach der Arie klopft er zeremoniell mit Messer- und Gabelgriff auf die Tischplatte): Die Leute haben Wartezeit, Verdienstausfall, die Ingenieure machen nichts ohne Rückendeckung, die Zeichnungen verspäten sich, die Brigaden müssen warten. Tatsächlich entsteht eine Pause: Der Sekretär denkt nach. (Auch Parteisekretäre müssen nachdenken, ehe sie Vorschläge machen.) Nach einer Weile fragt er: Sind die Ingenieure bei den Produktionsberatungen dabei? Der Dicke, wieder ganz beim Schnitzel, wehrt diese Frage ab wie eine lästige Fliege: Selten und auch dann nicht alle. (Als ob der das nicht weiß!) Der Sekretär versinkt wieder in finsteres Brüten. Dann sieht er sich um, steht auf und balanciert die unbe-
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rührte Suppe in Richtung Nebentisch, wo die junge Intelligenz sitzt. Aber auf halbem Wege kehrt er um und stellt noch schnell die Kernfrage: Habt ihr den Arbeitern erklärt, was sie hier aufbauen und warum und wen sie betrügen? Er fragt das etwas zu schnell und routiniert, denn er verspricht sich nicht viel davon – bei dem! Der Bauleiter, wieder gestört, als er sich schon in Sicherheit glaubte und sich dieser dämlichen Frage gegenüber nun ganz und gar im Recht fühlend, fuchtelt mit der Gabel und fängt an zu schimpfen: Soll ich ihnen die Zeitung vorkaun? Aber dann entschließt er sich, den lästigen Frager endgültig abzuschütteln: er wird etwas tun, ja, er wird administrieren: Die Brigade Sense kriegt einen andern Brigadier. Er ist neu hier. Er heißt Bremer. Er wird mit ihnen Schlitten fahren. Der Sekretär holt tief Luft zu einer Erwiderung, aber eh er was gesagt hat, merkt er, daß er die Schnauze schon voll hat (auch Parteisekretäre sind Menschen!), und er sagt nur: Er soll mit ihnen arbeiten. Er geht zum Nebentisch, stellt vorsichtig die Suppe ab, setzt sich in Positur, durchbohrt den jungen Ingenieur mit dem Fin-
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ger und sagt drohend: Die Arbeiter schimpfen auf die Ingenieure! Der Ingenieur muß lachen: Ja, die Polstersessel und die Wartezeiten. Der Sekretär schiebt die Polstermöbel beiseite und erklärt, daß ihn die Wartezeiten interessieren. Da der Ingenieur zu einer längeren Erklärung ausholt, fängt er endlich an, die Suppe in sich hineinzuschaufeln, aber ohne dabei ein Auge von dem Ingenieur zu wenden (er steckt trotzdem den Löffel nicht daneben, offenbar hat er Übung). Das Material können wir nicht machen, sagt der Ingenieur, die Intelligenz ist keine Zementfabrik. Mit den Zeichnungen ist das so: Normalerweise wird alles erst projektiert und dann gebaut. Projektierung auf Raten ist neu für die meisten Ingenieure. Also arbeiten sie nur mit Rückendeckung. Und die kriegen sie, von Berlin. Pointiert setzt der Sekretär dagegen: Die Arbeiter werden sie ihnen nehmen, hier, in den Produktionsberatungen. Und damit ist er bei dem Punkt, der ihn interessiert: Warum nehmen die Ingenieure nicht an den Produktionsberatungen teil? – Arbeiter als Aufsichtsräte, das ist auch neu, für die alte Intelligenz, sagt der junge Ingenieur. Der Sekretär überlegt wieder. Dann sagt er: Verlegt die Produktionsberatungen in die Ingenieursbaracken. Da haben sie ihre Polstersessel und sitzen fest. Beide lachen. (Das ist ein Vorschlag!) Schon ist der Sekretär am nächsten Tisch. Anmerkungen zu Ein Parteisekretär bei der Arbeit Arrangement Auf das Arrangement brachte uns Heiner Müller. Er erzählte, daß Horst Schönemann in einer Senftenberger Aufführung des Klettwitzer Berichts einen Hörsaal dargestellt habe, lediglich durch drei Stühle, indem er sie schräg hintereinander stellte. So brachten wir unsere Kantine zustande durch drei Tische in einer Reihe. Wir hatten erst versucht, mit zweien auszukommen, da der Text ja nur zwei verlangt, einen für den Bauleiter, einen für den Ingenieur. Aber eine Reihe ist es eben erst von dreien an; auf das Einfachste kommt man immer zuletzt. Natürlich mußte nun auch am dritten Tisch noch jemand sitzen und der Parteisekretär mußte auch da noch hingehn; wir legten das Black out auf den Moment, wo er sich setzt. Auf den Gang zum dritten Tisch kam regelmäßig ein Lacher. Über das Komische in der 1. Szene Eine Kritikerin, die sonst sehr genau beschrieben hatte, hatte das Komische in dieser Szene nicht verdaut. Es kommt bei ihr etwas hilflos in einem Nebensatz vor: Der Sekretär geht von Tisch zu Tisch mit etwas
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komischer Hast zwar. Sie hielt es anscheinend für unerlaubt, etwa das Prinzip der Parteilichkeit verletzend, einen Parteisekretär komisch zu zeigen. Ja, da sie uns höflicherweise einen derartigen politischen Fehler nicht zutraun wollte, hielt sie die Komik lieber für unfreiwillig. Sie war freiwillig. Die Kritikerin hatte nicht gemerkt, daß das Lachen des neuen Publikums ein neues Lachen war. Eigentlich freilich war es ein sehr altes; Hegel redet über die Komik, die es hervorruft, in seinen Vorlesungen zur Ästhetik; er definierte ihr Wesen als die Unverletzbarkeit des komischen Subjekts; man muß, sagte er, in dieser Rücksicht sehr wohl unterscheiden, ob die handelnden Personen auch für sich komisch sind oder nur für den Zuschauer. Nur im ersteren Falle zählte er sie zur wahrhaften Komik, die er wieder nur beim Aristophanes fand. Von dem heißt es bei ihm: ohne ihn gelesen zu haben, lasse sich kaum wissen, wie sauwohl dem Menschen sein kann. Dem komischen Individuum, sagt Hegel über die Komödien des Aristophanes, ist es in dem Ernst seines Zweckes und Willens selber nicht ernst; so daß dieser Ernst immer für das Subjekt selbst seine eigene Zerstörung mit sich führt ... Natürlich rührt bei uns heute die Unverletzbarkeit oder Sicherheit des komischen Subjekts nicht mehr daher. Es ist eine Negation der Negation vorangegangen: sicher – nicht sicher – nicht nicht sicher, oder: Sicherheit – Unsicherheit – Sicherheit der Unsicherheit. Die moderne Komödie, über die Hegel schreibt, nämlich die bürgerliche, wendet sich, stellt er fest, gegen das bloß Prosaisch-Lächerliche, ja selbst gegen das Herbe und Widrige, den Individuen ist es mit ihren Zwecken bittrer Ernst und so können sie nicht mitlachen, wenn sie sich am Ende um ihre Zwecke geprellt sehen, sie werden ausgelacht. Und sie verdienen es. (Das ist so bei dem größten Vertreter der bürgerlichen Komödie, Molière, und spätere Apologeten kehrten den Spieß nur um: da lachte die herrschende Klasse über die dummen Tölpel der Unterklasse.) Im sozialistischen Kollektiv ist die belachenswerte Torheit und Einseitigkeit des Individuums, um bei Hegelschen Worten zu bleiben, änderbar. Das Lachen der Zuschauer ist da kein negatives Auslachen, sondern positive Kritik; so kann das Individuum leicht mitlachen, sein Lachen ist Selbstkritik; Kritik und Selbstkritik sind das Bewegungsprinzip der sozialistischen Gesellschaft. Das Individuum hat in ihr die Sicherheit der Unsicherheit, die Sicherheit nämlich, daß alles Törichte, Unfertige, Einseitige, an sich oder andern, durch kollektive Kritik verändert werden kann. So ist in der Komödie der sozialistischen Gesellschaft die klassische und die moderne aufgehoben in dem Dreisinn von vernichten, bewahren, auf eine höhere Stufe heben.
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Nachtrab/Vortrab
NACHTRAB/VORTRAB Anderthalb Jahrzehnte später noch ein Versuch mit dem Stück Die Korrektur, 1973 im bat auf dem Prenzlauer Berg, mit Studenten der Ostberliner Schauspielschule.
Als wir (Schleef und ich) anfingen mit den Studenten das Stück zu probieren – es war die erste Leseprobe, alle saßen um einen langen Tisch – wußten wir nicht, wem wir den Part des alten Bremer (der Protagonist?) antragen sollen. Es ergab sich spontan, ohne Plan oder Konzept oder wie man das nennt, eine überraschende Lösung: alle sprachen den Text Bremers im Chor. Daraus ergab sich das Weitere. Dreizehn Jahre waren vergangen seit meinen beiden ersten Versionen mit der Studentenbühne der Hopla 1959 und 60. Damals ging die Arbeit in Richtung des nächsten Stückes von Müller, der Umsiedlerin, mit dem wir dann auch weitergearbeitet haben. Nun also ein anderer und neuer Ansatz. Das Ergebnis: die Darsteller saßen in ihren privaten Sachen, ohne Kostümierung, auf zehn Stühlen in einer Reihe, in Front gegen die Zuschauer. Der Text – ich habe ihn immer ein Wortballett genannt – wurde nach vorn gesprochen, nicht zueinander. Und auch die wenigen Gesten, Sich-die-Hand-Geben oder Zum-Telefonhörer-Greifen, wurden nach vorn gespielt und nicht zueinander, und ohne Requisiten. Für die Erzählungen von Franz K. und Heinz B. löste sich der Darsteller aus der Reihe und rückte mit seinem Stuhl vor, um nach seiner Erzählung in die Reihe zurück zu rücken. Jeder hatte seine Rolle, aber Bremer, ein in die Produktion strafversetzter Partei- oder Staatsfunktionär, alter Kommunist, wurde, wie es sich auf der ersten Leseprobe ergeben hatte, von allen im Chor gesprochen. Die jungen Leute, Anfang zwanzig, waren Kinder gewesen 1957, zu der Zeit, als die Geschichten aufgesammelt und aufgeschrieben wurden. Der Chor, das gemeinsame Nachsprechen von dem, was Bremer sagt, war ein Versuch dieser Jungen, den Alten zu verstehen. Der Chor hatte also einen realen Grund. Und ging dem Publikum voran. Der Knackpunkt ist das Verhältnis des Chors zum Publikum. Aus den parallelen Proben zu Herakles 5 ergab sich dann, ganz pragmatisch, eine Überlegung, wie wir diese Version noch weiter treiben könnten. Das Rundumsitzen der Zuschauer um den Scheißhaufen des Augiasstalls brachte uns auf den Gedanken, diese Sitzordnung auch für Die Korrektur anzunehmen. Die Spieler hätten nicht den Zuschauern gegenüber, sondern rundum in der ersten Reihe gesessen und im Chor gesprochen aus der Reihe der Zuschauer heraus. Und für die Erzählungen wären die Einzelnen in die Mitte der Runde gerückt. Wir kamen nicht mehr dazu, das auszuprobieren.
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Die Arbeit konnte nicht vorgestellt werden, denn Herakles 5, an dem parallel gearbeitet wurde, weil die beiden Stücke an einem Abend gezeigt werden sollten, wurde verboten.
LEHNITZER ELEGIE (1957) für Heiner Müller
Im Arbeitszimmer Gelächter: die 27. Lösung Zäher Krieg mit der Wirklichkeit Ihr herauszureissen Erkenntnis Durchs offen stehende Fenster weht Wind Bewegt den an die Wand gehefteten Zeitungsausschnitt Foto der Maske des toten Lehrers.
DIE LEICHE IM KELLER Interview des ostberliner Theaterkritikers Dieter Kranz mit Heiner Müller und B. K. Tragelehn über den Umsiedlerin-Skandal 1961, gesendet am 28.05.1990 auf Radio DDR II. Eine gekürzte Fassung des Gesprächs wurde abgedruckt in der Wochenzeitung Sonntag. Ein Exemplar des Stücktextes, in Nachtarbeit von Inge Müller abgeschrieben, hatte Klaus Völker, damals noch Student in Westberlin, über die Grenze in Sicherheit gebracht. In der DDR waren alle Texte gesucht und beschlagnahmt worden. Eine vollständige Tonaufzeichnung der Uraufführung lag seit 1961 separiert im Archiv des DDR-Rundfunks. Kranz wollte sie für die Sendung benutzen. Aber sie war spurlos verschwunden. T. sagt, er habe gehofft, dass ein Fan des Dichters sie geklaut habe, und sie irgendwann wieder zum Vorschein kommen würde. Nach fast sechzig Jahren ist die Hoffnung aber wohl vergeblich.
K. Wer etwas Neues aufbauen will, muss sich klar werden über die Sünden der Vergangenheit. Das DDR-Theater hat Leichen im Keller. Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande, uraufgeführt vor knapp dreißig Jahren, Premiere am Samstag, dem 30. September 1961, kein professionelles Theater hatte die Inszenierung gewagt, sondern eine Studentenbühne, die der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, und der Regisseur war B. K. Tragelehn. Herr Tragelehn, die Aufführung hat nicht mehr erlebt als die Premiere? T. Nur die. Der Knatsch ging los schon in der Nacht drauf. Und übers Wochenende mussten alle Beteiligten – mich ausgenommen, weil ich nicht da war, ich war nach Hause gefahren, wir waren alle etwas erschöpft, die Generalprobe hatte früh um drei geendet, die letzten Tage hatten wir durchgearbeitet, ich war also am Sonntag nicht da – aber die
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Die Leiche im Keller
Studenten wurden alle eingeschlossen und mussten in Klausur Stellungsnahmen schreiben. K. Blenden wir erstmal zurück. Wie kam es dazu, daß dieser Text an diesem Ort seine Uraufführung erlebt hat, wann haben Sie ihn geschrieben, Heiner Müller, und welche Schwierigkeiten gab es, Texte dieser Art damals auf die Bühne zu bringen? M. Es gab einen Vertrag mit dem Deutschen Theater über das Stück. Und es gab eine Erlaubnis des Deutschen Theaters – wofür die dann auch bestraft wurden – zu dieser Aufführung in Karlshorst. Ich habe angefangen zu schreiben – ich glaube 56. Aber es blieb liegen wegen anderer Sachen. Es gibt Mappen mit allen möglichen Ansätzen. Für mich war dann sehr wichtig Katzgraben von Strittmatter. Ich weiß nicht genau, wann das rausgekommen ist – T. Frühjahr 53. K. So früh schon. M. Das war der erste Versuch, die DDR mit Blankversen zu garnieren. Der ist dem Strittmatter so passiert, und das war dann wichtig. Es war der Punkt, an dem ich darauf kam, das in Versen zu schreiben – hauptsächlich. Geschrieben ist es eigentlich während der Probenzeit. Die Premiere war der erste Durchlauf, soviel ich weiß. Eine Szene fehlte. K. Also diese Fassung des Stücks ist tatsächlich erst 61 entstanden? M. Im Lauf der Proben, ja. Aber die haben viel länger gedauert, glaub ich. T. Wir haben sehr lange probiert, ja. Der Beginn war – man muß vielleicht etwas ausholen, denn es gab eine Vorgeschichte. An dieser Studentenbühne hatte Steffi Spira den Lohndrücker inszeniert. Damit gastierte die Truppe in Schwerin, da war ein Laientheater-Kongress. Die Aufführung wurde kritisiert und sie sollte überarbeitet werden – das war sachlich und keine behördliche Schikane – aber Steffi wollte das nicht oder konnte das nicht. Die Aufführung war zwar unzulänglich, aber natürlich war es eine Pioniertat von ihr, das zu machen damals. Bei der Gelegenheit bin ich, über Heiner, zu dieser Studentenbühne gestoßen, und hab Die Korrektur inszeniert. Die ist mit zwei Besetzungen, und in zwei Fassungen, lange gespielt worden, auch in der Republik, wir haben damit Gastspielreisen gemacht. Und wir haben Beschreibungen angefertigt. Es sollte ein Modellbuch erscheinen, bei Henschel, um das Versprechen, das die Gruppe auf dem Kongreß in Schwerin gegeben hatte, einzulösen. Das Buch war fertig und sollte gerade in Druck. Wegen Umsiedlerin ist es dann nicht erschienen. Der Vorteil dieser Truppe, auch oder gerade gegenüber Berufstheatern damals, war, daß das Leute waren, die sich irgendwo draußen, in einer Realität, die ja noch neu war, schon Wind hatten um die Nase wehen lassen. Das heißt, sie hatten Erfahrungen, die Schauspieler
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nicht hatten. Deshalb bot sich das an, etwas Neues dort auszuprobieren. Und es ist auch einer der Gründe, warum es durchging. Denn an ästhetischen Kenntnissen hatten die Studenten nur die einfache Maxime: Realismus ist gut. Die hatten sie eingebleut gekriegt. Die Realität kannten sie. Dass da nicht gelogen wurde, merkten sie. Die Tendenz war nach ihren Begriffen auch richtig. Also hat keiner irgendwie Verdacht geschöpft. K. Und hatten Sie das Gefühl, der DDR-Kulturpolitik Konterbande unterzujubeln? M. Im Gegenteil. Eher nein. T. Also – man muß sagen ja und nein. M. Ja, wir fanden das aber richtig, das zu machen, es in dem Moment zu machen, es so zu machen. T. Es war immer leichter, zum Beispiel schon in den Diskussionen über Lohndrücker oder Korrektur, mit Wirtschaftsfunktionären zu reden, einfach weil die an der Realität näher dran waren, und doch auch gelegentlich das Gefühl hatten, daß etwas, das auf die Realität eingeht, ihnen nützlich sein könnte. Bei Kulturfunktionären, viel weiter weg, war das weniger entwickelt. K. Was hat Sie, Heiner Müller, daran interessiert, sich in einem Theaterstück mit den großen Umwälzungen auf dem Lande, also mit der Kollektivierung und den sich daraus ergebenden Problemen zu beschäftigen? M. Ich hab eine Zeitlang, nach dem Krieg, als ich zurückkam, um irgendeine Arbeit zu haben ehe die Schule wieder anfing, in Waren im Landratsamt gearbeitet. Niemand wusste, womit sie mich da beschäftigen sollten, aber ich saß da immer, und wenn dann Bauern kamen mit ihren Problemen, zu dem Abteilungsleiter, dessen Abteilung ich zugeteilt war, hab ich die reden hören, und hab mir auch was aufgeschrieben. Das ist alles verloren, aber diese Tonfälle sind, glaub ich, im Text. Ich war damals auch oft auf dem Land, also ich kannte das alles irgendwie. Das heißt aber nicht, daß was davon direkt erzählt oder verwendet wurde. Das auslösende Moment war diese Geschichte von der Seghers, die auch Die Umsiedlerin heißt. Das war wie ein Kristallisationspunkt. Oder wie ein Magnet, um den herum ich meine Eisenfeilspäne sammeln konnte. Ohne die Geschichte hätte ich wahrscheinlich das Stück nicht schreiben können. Es war überhaupt sehr wichtig damals, was die Seghers geschrieben hat, diese simple, fast fibelhafte Form. Ein Versuch, das Neue hier herauszufinden und zu unterscheiden vom Überkommenen, vom Alten. Das war damals sehr wichtig, diese Strickstrumpferzählweise, damit ist sie auf sehr viele Dinge gekommen, später wurde das flacher. Aber ohne diese Geschichte hätte ich wahrscheinlich das Stück nicht so schreiben können. Und ohne Katzgraben auch nicht.
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T. Das Eisenfeilspänebild beschreibt gut, wie das Stück gewachsen ist. Der Kern war die Szene in der Küche Beutlers, wo nebenan Frau Niet in der Abstellkammer wohnt. Das war die erste Szene, die geschrieben war. Und es sind dann die Szenen davor und danach, rückwärts und vorwärts, sozusagen wie bei einem Baum die Ringe, darumherum gewachsen. Interessanterweise war das bei Katzgraben ähnlich. Strittmatter hatte für eine Laiengruppe eine Szene über den Zigarrentausch zwischen Großbauer und Mittelbauer geschrieben, die war der Kern. Und dann sind – mit Brecht zusammen, Strittmatter ist in Buckow gewesen und hat als Gast von Brecht daran weitergeschrieben – die Szenen wie die Kreise einer Baumscheibe drumrumgewachsen. Bei der Aufführung von Umsiedlerin ist es so gewesen: die erste Szene, die Bodenreform, spät geschrieben, aber noch probiert, war dann weggelassen worden, weil noch eine Gegenszene geplant war: die Grenzsteine, die mit einem Handwagen und einer Quetschkommode ausgefahren werden am Anfang sollten mit einem Leiterwagen oder Lastwagen und Blasorchester wieder eingesammelt werden am Ende. Und weil diese letzte Szene nicht da war, haben wir die erste nicht gespielt, was sicher ein Fehler war für das Gefüge des Ganzen. Wir haben praktisch Jahre probiert. Die Proben begannen im Herbst 59 und wurden im Frühjahr 60, als die Vollkollektivierungskampagne war, unterbrochen. Das ganze Stoffkonvolut hat sich noch mal bewegt. Und im Herbst hab ich wieder angefangen. Immer zweimal die Woche, drei Stunden jeweils. 1961, in zwei großen Schüben, im Frühsommer und nochmal vor der Premiere, jeweils vier Wochen lang, haben wir jeden Tag probiert, und wirklich den ganzen Tag. M. Das ist, glaub ich, wieder ein Beispiel für den Einbruch der Zeit in das Spiel gewesen – wir haben im Zusammenhang mit Hamlet schon darüber gesprochen – , für das, was der Carl Schmitt damit meint, also was bei Hamlet für Shakespeare der Thronwechsel war, von den Tudors zu den Stuarts, dieser Einschnitt, das war in diesem Arbeitsprozess die Kollektivierung. Das ist was Merkwürdiges. Lebendiges Theater ist eigentlich auf so was angewiesen. Danach gabs die absolute Trennung von Kunst und Politik. Entweder Trennung oder Vergewaltigung von Kunst durch Politik. Da war nix mehr. Das war eigentlich der letzte Moment von lebendigem Theater in der DDR: 1961. K. Man hat Ihnen später, in der DDR-Theatergeschichtsschreibung, in dem Buch Theater in der Zeitenwende, vorgeworfen, Sie hätten alle Widersprüche verabsolutiert. Das war ein gängiger Vorwurf. M. Ja, ich erinnere mich. Der Helmut Baierl sagte mir damals Ja, du verewigst die Rauheit des Klassenkampfes und die Bauern reden wie SALeute – was sicher richtig war, die warn ja auch fast alle in der SA –
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wobei … Es ist auch wieder Quatsch. Ich erinnere mich an eine andre Sache: der Hans Bunge schleppte mich damals zu Hanns Eisler, weil er versuchte, irgendwelche Schutzpatrone für mich zu finden, weil es doch eine sehr prekäre Situation war. Der Eisler hat das gelesen und hat zu mir gesagt: Müller, ich hätte das Stück auch verboten, und zwar wegen Schönfärberei. (Gelächter.) K. Kommen wir also auf die Vorgänge nach der Uraufführung. Inzwischen war die Mauer gebaut worden, und das verändert die Situation total. T. Natürlich hat niemand geglaubt, dass der Dialog Fondrak-Niet Man hat schon Pferde kotzen sehn aus Politik nicht erst danach geschrieben worden ist, Sätze wie Kinder machen auf dem Grenzstrich ist Ausfuhr und verboten, Einfuhr wird auch bestraft. Das hat sicher bei der Affäre eine Rolle gespielt, daß kurz zuvor die Grenze geschlossen worden war. Es gab ein Moment von Hysterie in der Stimmung, besonders bei der FDJ. Aber vielleicht muß man doch noch was sagen – wo ich vorhin gesagt habe Ja und Nein, auf die Frage, ob wir uns der Subversion bewußt waren. Die eine Seite ist, daß zugrunde lag die klassische kommunistische Vorstellung der Art und Weise, wie Kunst zum Leben gehört. Das hat eine Riesenrolle gespielt für die Produktion, für den Zusammenhang von Schreiben und Theater, und dafür, mit Laien zu arbeiten. Dafür mit diesen Laien zu arbeiten. Friedrich Engels Vorstellung, daß der Künstler kein Spezialist ist, sondern ein Mensch, der unter anderem auch Theater spielt. Das ist die eine Seite. Auf der andern Seite kann ich nicht leugnen das Moment von Lust, das ich gehabt habe daran, Sachen zu sagen – von denen ich natürlich wusste, dass man sie in der DDR nicht sagt. Das kann ich überhaupt nicht leugnen. Das ist ein sehr tiefgehendes Lustgefühl gewesen, Sätze wie: Kennst du Bautzen, ein Vorort von Sibirien? Oder bis zu solchen Sachen, aus denen wir ja sozusagen selber nicht gelernt haben – wenn einer dem andern sagt: Der Kommunismus hat nen Vordereingang und nen Hintereingang, Antwort: Pass auf, daß du die nicht verwechselst etwa/Und kriechst ihm ins Gebiss statt in den Hintern. Das Merkwürdige ist – ich hab das neulich schon mal erzählt, weil mich wer gefragt hat, ist mir die Erinnerung aufgegangen – : es gibt sozusagen ein Modell für die Lust und für die Angst, die ich gehabt habe. Ich bin als Junge, als Sechs- oder Siebenjähriger – ich war grade in die Schule gekommen, und ich hatte einen Schulfreund, dessen Vater war Hausmeister in einer SA-Kaserne, die wohnten da auch, im Souterrain. Mit dem hab ich im Hof der Kaserne gespielt, und da war eine Mauer nach der Straße draußen. Und draußen ging ein Polizist vorbei. Polizisten waren damals noch wirkliche Respektspersonen, und wir haben ihn mit Dreck beworfen über die Mauer. Der hat furcht-
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bar geschimpft, und wir waren hinter der Mauer und haben den mit Dreck beschmissen. Das war ein ungeheures Wonnegefühl. Der hat sich dann vorne beschwert bei der SA. Die Wachleute, die hatten wie die Kettenhunde bei der Wehrmacht diese Schilder an einer Kette über der Brust, und die kamen hinter auf den Hof. Meinen Freund kannten sie und holten den und führten den weg. Da hab ich panische Angst gehabt und bin durch die Kaserne durch und raus gerannt. Das Lustgefühl hat sich wiederholt bei den Proben zur Umsiedlerin, und die Angst hat sich wiederholt bei der Affäre danach. Ganz unmittelbar. Die Premiere war am Samstagabend, Sonntag war ich zu Hause und hatte mich ausgeschlafen, und am Montag wollte ich eine Vorstellung von Leonce und Lena ansehen, das war ja eine Studententheaterwoche innerhalb der Berliner Festtage. In der Straßenbahn hatte ich Frau Nahke getroffen, Eva Nahke, eine Literaturwissenschaftlerin, die mir was erklärt hat über die Aristophanes-Rezeption in der Umsiedlerin. Wir waren also ins Gespräch vertieft, als wir die Auffahrt hochgingen. Da hab ich nur aus dem Augenwinkel bemerkt, das ist mir erst hinterher bewusst geworden, sie hatten vorne am Eingang einen hingestellt, den Darsteller von Otto Sieber Eierschieber, der stand da in der klassischen Spitzelhaltung mit dem Blick über die Schulter. Der hat dann Bescheid gesagt: Jetzt kommt er. Und wie ich zu der Treppe an dem Eingang kam, hatte sich eine Gruppe der Darsteller aufgebaut, in der Mitte der Darsteller des karrieristischen Bürgermeisters Beutler, völlig in der Haltung Beutlers mit eingestemmten Armen, überwacht von dem 2. Sekretär der Parteiorganisation, der an der Seite stand, und die verweigerten mir den Zutritt. Und als ich widersprach, griff der Sekretär sofort ein. Und es gab damals, auf der Treppe an dem Montagabend, schon die Sprachregelung: konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch. Also, ich hab da kehrtgemacht. Ich mußte weg. Ich hatte kein Geld für eine Taxe, und ich bin gerannt. Dann bremste plötzlich ein Auto neben mir, der Leiter der Bühne stieg aus und verlangte von mir: Die Schlüssel – ich hatte da im Internat geschlafen die letzten Probenwochen. Ich bin dann nach Pankow mit der S-Bahn und hab auf dem Kissingenplatz im Gebüsch gestanden, weil Heiner und Inge nicht zu Hause waren. Und als sie kamen, nach einer halben Stunde, bin ich dramatisch aus dem Gebüsch gestürzt, die Hosen voll sozusagen, und hab diese Geschichte berichtet. K. Kam das für Sie überraschend damals, Heiner Müller? M. Schon, jaja. K. Diese Vorwürfe, konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch, das waren ja harte Geschütze, die eine Existenz vernichten konnten.
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M. Das war auch die Absicht dabei. Der schönste Vorwurf, und der hat das ein bisschen ausgeglichen, war dann im Schriftstellerverband. Da war eine Versammlung, wo es eigentlich darum ging, mich hinzurichten, jedenfalls ideologisch. Jeder hatte die Aufgabe, mitzuteilen, wie abscheulich dieses Stück ist. Da sprach Siegfried Wagner, unter anderen. Der Leiter der Abteilung Kultur im ZK der SED. Ja, und konterrevolutionär, das war ja noch nix, der schlimmste Vorwurf war, und das hat mich doch etwas getröstet: ein Beckett des Ostens. Das war das absolut Teuflischste. Kurella aber war eigentlich der Beste. Der hielt eine lange Rede, sprach darüber, daß Talente eben oft überschätzt werden, und auch daß sie sehr zerbrechlich sind, erzählte lange Geschichten von Romain Rolland, über den Unterschied von Talent und Begabung, und kam dann zum Schluss: Das Stück kolportiert alle RIAS-Lügen über die DDR, und das Stück ist zynisch bis in die letzte Silbe, dann der große Schluss: Ich habe in meinem Leben nur zwei wirkliche Zyniker kennengelernt – lange Pause, alle warteten auf die Namen – und dann sagte er: Radek und Bucharin. (M und T kichern.) Da fühlte ich mich einerseits geschmeichelt – ich wusste schon alles über Radek und Bucharin – und andrerseits wusste ich, jetzt muß ich irgendwie reagieren. Da hab ich das Dümmste gemacht, was man in so einer Situation machen kann, aber es war richtig. Ich dachte sofort an Ferdinand: Ich verwerfe dich ein deutscher Jüngling, und hab mit der Haltung von Ferdinand gesagt: Ich bin kein Zyniker. Worauf Kurella zu Tode erschrak, und sagte: Das hab ich auch nicht gesagt. (M und T kichern wieder.) Das war so eine Episode dieser Verhandlung. Geplant war natürlich unsre Verhaftung, das hab ich später gehört. Der Zentralrat der FDJ wollte uns beide verhaften lassen, als konterrevolutionäre Elemente. Die mußten aber die Partei fragen. Paul Verner war gerade in Moskau, und Paul Verner, und das fand ich interessant, hat gesagt: Für Ideologie wird nicht verhaftet. Und deswegen gab es keine Verhaftung, also mußte man anders damit umgehn. T. Das hatte einen einfachen Grund. Verner saß an der Quelle. In dem Herbst war der XXII. Parteitag der KPdSU, ein paar Wochen später, der die Linie des XX. noch mal bestätigt hat, die Entstalinisierung. Und Verner war schon in Moskau, und wusste, dass man das jetzt vielleicht doch nicht machen sollte. K. Verner war Politbüromitglied und Erster Sekretär der Berliner Bezirksleitung – diese Schriftstellerverbandsdebatte, wenn man das so nennen darf, war also die erste Auswirkung, die Sie erfuhren als Autor, Heiner Müller. Wie ging es bei Ihnen weiter, Herr Tragelehn? T. Ich war im Engagement am Theater der Bergarbeiter in Senftenberg, ich hatte das gerade erst angetreten in dem Sommer. Ich hatte vier
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Wochen Urlaub, um in Berlin die Endproben zu machen. Damals war ich Parteimitglied und in Senftenberg bin ich aus der Partei ausgeschlossen worden, und habe dann eine Weile im Tagebau gearbeitet, in Klettwitz. K. Der Parteiausschluss hat auch die Beendigung des Engagement-Verhältnisses bedeutet? T. Ja ja, ich bin sofort fristlos entlassen worden. K. Und da gabs keine Möglichkeiten, juristisch dagegen Einspruch zu erheben? T. Damals nicht. Es war anders als zwanzig Jahre später bei Verdonnerungen, wo es schon Solidarität gab und so weiter. Damals stand man da wie Gott im Hemd allein. Der Kurella hat übrigens seine Abneigung bewahrt. Es ist ja tatsächlich zwölf Jahre lang, von der Premiere Umsiedlerin 1961 bis zu der Premiere Zement 1973, der Inszenierung von Ruth Berghaus, keines der großen Stücke von Heiner in der DDR gespielt worden. Eine Bearbeitung wie Ödipus, Übersetzungen wie Wie es Euch gefällt und Don Juan, ein Libretto wie Lanzelot, ein Schwank wie Weiberkomödie: das ist gespielt worden. Aber keins von den großen Stücken. Und im Vorfeld dieser Aufführung im Berliner Ensemble eröffnete der alte Kurella, der war damals neunzig oder so, das Parteilehrjahr. Übrigens durchaus imponierend, er hat eine Stunde lang, stehend, frei gesprochen. Und hinterher gab es noch ein Gespräch in einer kleineren Runde, und er fragte, was das Theater so macht, und die Berghaus sagte: Zement, und er: Ah, Gladkow, interessant. Wer hat das gemacht fürs Theater? Sie: Heiner Müller. Der hat ein solches Gesicht gezogen, der Kurella – schwere Bedenken in ein Kopfwiegen und einen Blick gelegt. Aber er war damals schon weg vom oberen Fenster. Auch bei dieser Aufführung hat es ja noch einige Auseinandersetzungen gegeben. Aber es ging dann halt doch durch. M. Zement war auch verboten. Es war verboten, und die Berghaus hat es auf sich genommen. Es war so: Ich war im Ministerium zu einem Gespräch, da saßen zwei der ewigen Kulturbürokraten, Namen sind da wirklich uninteressant, und der eine sagte zu mir: In einer Partei, wie du sie beschreibst, möchte ich nicht drin sein. Und der andre sagt ihm: Dann mußt du austreten. Der flog dann aber kurz drauf aus dem Ministerium. (M und T kichern.) Danach kam ein Brief an die Berghaus, daß das Stück, so wie es geschrieben ist, nicht gespielt werden kann. Es gibt keine Genehmigung, und es muss ein Jahr verschoben werden, damit Müller umschreiben kann. Inzwischen hatte aber die Berghaus einen klugen Schachzug gemacht. Es gab ein Parteiaktiv bei der Inszenierung, und als Honecker grade wieder mal Ergebenheitsadressen sammelte, aus irgendwelchen innerparteilichen Machtgründen, richtete das Parteiaktiv
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Zement auch eine Grußadresse an Erich Honecker, und berichtete über die revolutionäre Arbeit an diesem Projekt, sodaß der Brief des Ministeriums mit dem Verbot gleichzeitig mit dem Dankschreiben von Honecker am schwarzen Brett hing. Das balancierte sich dann so aus, dass die Berghaus zum Minister gehen konnte, das war damals Hoffmann, und der fragte sie: Kannst du als Kommunistin verantworten, das Stück so wie es ist, zu inszenieren? Und sie sagte: Ja, wenn ich das nicht kann, dann weiß ich nicht, wozu ich noch da bin am BE. Das kann ich. Das hätte damals wahrscheinlich niemand so gesagt auf diese Frage. Das war also durchaus ihr Verdienst, daß es überhaupt stattfand. K. Wenn man Sie beide jetzt darüber reden hört, mit viel Lachen und mit den anekdotischen Garnierungen, könnte man den Eindruck gewinnen, daß das doch, ja, leicht wegzustecken war. Sie haben ja jetzt auch einen Zeitsprung gemacht von zwölf Jahren, von Umsiedlerin zu Zement. Aber die zwölf Jahre waren doch wohl ziemlich hart. M. Eine Episode, die ich wichtig finde, würde ich doch noch gerne erzählen. Ich mußte nach meinem Ausschluß aus dem Schriftstellerverband meinen Mitgliedsausweis abgeben. Bei Otto Braun, der war damals Sekretär des Schriftstellerverbands. Sie kennen den Namen. Das war der einzige deutsche Teilnehmer, ein Komminternmann, am Langen Marsch. Und von ihm stammt angeblich, wie ich vor ein paar Monaten im Spiegel las, auch die Idee zu dem Langen Marsch. Das hat er dem Mao vorgeschlagen nach dieser verlorenen großen Schlacht. Und das find ich interessant, im historischen Zusammenhang, was aus Leuten wird; der war auch mit Kurella befreundet natürlich; und der nahm meinen Ausweis entgegen. Er war sehr freundlich, aber auch prinzipiell, und sagte: Wenn du von mir einen Rat willst – ich weiß, du hast das Beste gewollt, aber dein Stück, es ist Schund – wenn du von mir einen Rat willst: Nimm es und verbrenn es. Wenn du von mir noch einen Rat willst: Geh dahin, wo du gefehlt hast, in den Bereich, gegen den du dich versündigt hast, zu einer MTS oder LPG. Und noch etwas: Zwei Jahre wird kein Hund von dir ein Stück Brot nehmen, zwei Jahre lang wird kein Hund dir ein Stück Brot geben. Machs gut. Das war so die Tradition, und es dauerte auch wirklich zwei Jahre. Zwei Jahre durfte der Name nicht vorkommen, das war wie ein Kirchenbann. Das war immer so. Und nach genau zwei Jahren kam Heinz Nahke zu mir oder rief mich an: Kannste nich ma schreim hier fürs Forum. Da ist doch die Kulturkonferenz un da kommt der Hager. (Kichern) Und da schrieb ich ein unsägliches Poem für das Forum und danach wurde zwar noch nicht der Name genannt, aber es wurde von Hager ein wichtiges Gedicht eines jungen Autors erwähnt, das im Forum abgedruckt war, und da mußten alle wieder umlernen. Im
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Henschelverlag gab es große Identitätskrisen, weil die plötzlich erfuhren in der Parteiversammlung, daß Müller wieder existiert oder so; einige verstanden das gar nicht, denn das ist doch ein Feind und so. Es war sehr schwierig für viele Leute. Aber es hat noch einen andern Aspekt. Ich glaub, daß dieses Verbot, diese ganze Affäre, ziemlich ruinös war für das DDR-Theater, und es war eigentlich das Ende von realistischer Gegenwartsdramatik. Aber andrerseits war es gut für mich, einfach zwei Jahre Ruhe zu haben. Es wurde verhindert die Korruption und der Verschleiß durch Erfolg. Wenn ich mal überlege – für Brecht war 33 ein Glücksfall. Da wurde eine Entwicklung gewaltsam abgebrochen, die von Dreigroschenoper über Mahagonny – nee, das war umgekehrt – zu Happy End ging. T. Na. M. Gut, er hat auch andres geschrieben. Trotzdem, es ist immer eine Gefahr der Verflachung, wenn du ganz eng an ein Theater gebunden bist und erfolgreich bist über lange Zeit – T. (lachend) Wie ist Shakespeare der Gefahr entgangen? M. Da waren andre Bedingungen. K. Bei Umsiedlerin seh ich die Gefahr nicht. M. Nee, überhaupt nicht. Ich meine nur, wenn ich danach weiter gespielt worden wäre, oder wenn die Theater was von mir gewollt hätten – solche Sachen kann man nicht ohne weiteres wiederholen, und dann verbraucht man sich schnell. Und es war für mich wichtig, diese Zeit des Zurückgeworfenseins auf mich selber. K. Wovon haben Sie gelebt in der Zeit? M. Von Schulden hauptsächlich. Und von einem Hörspiel, das ich unter Pseudonym verfaßt hab, weil ich jemanden kannte im Funk. Der hat das so gedreht, daß mein Name nicht vorkam. K. Wie ging Ihre Entwicklung weiter, Herr Tragelehn? Sie haben angedeutet, daß Sie aus Senftenberg in den Tagebau mußten. T. Ich sollte von der Arbeiterklasse umerzogen werden. Aber für die war ich der Idiot, den sie in den Arsch getreten hatten, und der trotzdem dafür ist. Mit aller Freundlichkeit. Meine Kollegen waren sehr freundliche und angenehme Leute. Und wir haben ja auch noch ein bißchen Gewinn draus gezogen. Der einzige Text, der später noch dazugekommen ist, ist in der zweiten Dorfstraßenszene die Auseinandersetzung von Flint und Fondrak, und da hat der Fondrak einen Satz gekriegt, den ich auf Kippe nachts in der Bude beim Warten, wo man dann viel blödelt, zuerst gehört habe. Der hieß: Zeig mir ein Mauseloch, ich fick die Welt. Das könnte zur Not als Vers durchgehn, es sind zehn Silben, die man alternierend betonen kann, aber Heiner hat durch eine winzig kleine
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Änderung einen wunderschönen, leicht fliegenden Vers draus gemacht: Zeig mir ein Mausloch und ich fick die Welt. Den hat Fondrak gekriegt. M. Also ohne die Parteistrafe für Klaus wäre eben diese Zeile nie entstanden. (Gelächter.) So hat das auch sein Gutes gehabt, für mich jedenfalls. Für ihn war das sicher strapaziöser als für mich. T. Ja. Nein. Das war schon auch interessant, da zu arbeiten. Also ich möchte das überhaupt nicht missen, im Nachhinein gesagt. Das Schmerzlichste vielleicht – das muß ich schon sagen – : ich habe zwanzig Jahre, sage und schreibe zwanzig Jahre, von der Uraufführung von Umsiedlerin bis zur Uraufführung von Quartett, in Bochum, kein Stück von Heiner gemacht. Weil immer – schon bei den Intendanten, die ja schon darauf eingestellt waren, auf Vorsicht – die Bedenken kamen. Daß die Namen wieder zusammen erscheinen, das langte schon. Dann hab ich natürlich ein beträchtliches Nachholbedürfnis gehabt, und hab in der Bundesrepublik eine ganze Reihe Stücke von Heiner inszeniert. Und dann – das ist das Verdienst von Wolfram, es war in fünfzehn Jahren die einzige Arbeit, die in der DDR für mich möglich war – hab ich 1985 in Dresden Umsiedlerin nochmal inszeniert. K. Vorangegangen war die Aufführung der Volksbühne Berlin, unter der Intendanz von Benno Besson, in der Regie von Fritz Marquardt, da aber unter dem Titel Die Bauern. Heiner Müller, wie war das zu dieser Zeit? Gabs da noch Bedenken, lastete noch der alte Bannfluch auf dem Text, hatte die Umbenennung damit zu tun? M. Es war ja alle Manuskripte von damals beschlagnahmt – K. Von wem beschlagnahmt? M. Von der Staatssicherheit eingezogen. Bei mir war ein damals amtierender Abteilungsleiter des Ministeriums, mit dem Justitiar des Ministeriums, bei mir zu Hause. Die wollten alle Papiere, die mit dem Projekt zu tun hatten, kassieren für den Tresor. Wir haben das dann in der Nacht noch mal abgeschrieben. Dann hab ich zwei Tage später was hingebracht ins Ministerium, so Einiges, auch Notizen und Vorarbeiten. Und später hörte ich dann, ein paar Jahre später, von diesem Abteilungsleiter – der war dann inzwischen auch schon bestraft worden, weil er ein Stück von mir inszenieren wollte – : bei einer Betriebsfeier, zur Verabschiedung eines Theaterministers, erinnerten sie sich alle an ihre Parteistrafen im Zusammenhang mit der Affäre Umsiedlerin, und es fiel ihnen ein, daß sie das Manuskript ja noch im Tresor haben. Sie haben sich daraus die schlimmsten Stellen vorgelesen, und dann sagte der Minister: Ach, wißt ihr was – verbrennts. Und dann haben sies verbrannt. Das war so die Haltung zu diesen Dingen. Wenn ich nicht noch ein Manuskript gehabt hätte, wärs vielleicht wirklich weg gewesen. Dann hab ich Jahre später
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auf das Manuskript einen andern Titel geschrieben, Die Bauern, und hab es so in Umlauf gebracht. Dann hat der Marquardt die Aufführung gemacht, aber die Bedingung der Bezirksleitung der Partei war: Nicht der alte Titel, und die Begründung war rührend: Die Partei demütigt sich nicht. Deshalb haben sie nach dem neuen Titel gegriffen. Das ist natürlich ein schlechter Titel. Und das hat sich auch ausgewirkt auf die Aufnahme. Kein Mensch will ein Stück sehn, das Die Bauern heißt. K. Dann also Ihre Dresdner Aufführung. Das muß für Sie doch eine besondere Genugtuung gewesen sein, dieses Stück, nach dieser Vorgeschichte, doch noch einmal zu inszenieren. Und nun unwidersprochen und mit großem Erfolg. T. Ja, ja. Es war auch schön, daß wir es in ganz Deutschland gespielt haben. Wir waren damit auf Gastspielreise in Düsseldorf, Köln, Hamburg, und hier in der DDR noch in Leipzig und in Berlin. Ich habe auch gerne in Dresden inszeniert, der Heiner schreibt ja sächsisch, wie Goethe hessisch und Hölderlin schwäbisch. Der Dialekt ist ein Mittel, das die Poesie nicht wegdrückt, sondern steigert. Das kriegt ein großes Pathos. Und ist eine Möglichkeit, den Schauspielern die Lüge zu verwehren. Man kann im Dialekt nicht lügen. M. Jedenfalls schwerer als in der Hochsprache. T. Schwerer, ja ja. Gefährlich wird es, wenn man anfängt, Effekte draus ziehn zu wollen. Aber das kann man auch verhindern. Es ist natürlich ein anderes Stück geworden. Obwohl auch manches ähnlich war, manche Gruppierungen waren halt wieder so wie bei der Uraufführung. Aber es ist schon ein anderes Stück nach fünfundzwanzig Jahren. Natürlich ist ein Moment – davon ist dann auch kontrovers die Rede gewesen, gelegentlich – natürlich ist ein Moment von Abbildung drin in der Aufführung. Aber es ist nie eigentlich eine objektive Abbildung. Es ist eher sowas wie – Traumbilder. Wie wenn ein Schwamm, mit Erinnerungen vollgesogen, ausgedrückt wird. Ein subjektiv gefärbtes Bild, leuchtend wie Traumbilder leuchten. Aus einer fernen, verdämmernden Vergangenheit hebt sich ein leuchtendes Bild heraus. Im Arbeitsprozeß war das schwierig. Eine Figur wie Flint zum Beispiel, festzustellen wie der geht und steht und redet – das war so, wie wenn Wissenschaftler einen Dinosaurier rekonstruieren müssen aus archäologischen Funden. Oder ihn erfinden. Weil natürlich kein Mensch in der DDR mehr weiß, was ein Kommunist ist, wie ein Kommunist geht oder steht oder redet. Kommunisten gibt es nicht. Lange ausgestorben. Das gehört zu dem, was heute schon Leuten, die nicht dabeigewesen sind, die das nicht erlebt haben, sehr schwer fällt zu verstehn – und selbst die, die es erlebt haben, viele jedenfalls, an denen ist es vorbeigezogen, ohne daß sie es wirklich erfaßt haben. Es ist ja in der
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DDR über Jahre eine antikommunistische Politik gemacht worden, nicht wahr. Ich habe vergeblich vorgeschlagen, die Parteiführung mit einem Franz-Josef-Strauss-Preis für Antikommunismus auszuzeichnen. Kommunistische Vorstellungen zu rekonstruieren – das ist ein absolutes Kunststück, ein abenteuerliches Unternehmen und das Ergebnis ist eher surreal, als in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes realistisch. K. Lassen Sie uns noch einmal zurückkommen auf die Einwände gegen die Aufführung damals. Konterrevolutionär, antikommunistisch, antihumanistisch, ist das denn irgendwie belegt worden? Sie haben außer allgemeinen Schimpfereien nichts kolportiert. War da nicht mehr? M. Da gabs nichts zu belegen. In der ganzen Geschichte der DDR-Kulturpolitik gab es nie konkrete Argumente. Es gab immer nur Unbehagen. Ein dumpfes Unbehagen. Und es gab Situationen. Es ging immer um die Situation und nicht um die Sache, hier auch. Die Situation war die Grenze. Die Aufführung war im Oktober, glaub ich – T. Am 30. September. M. – ja, ja, am 30. September und die Mauer war da seit August. Da lasen sich und hörten sich bestimmte Texte ganz aktuell, ganz besonders provokatorisch an, die lange vorher geschrieben waren. Die wurden aber nie benannt. Das war immer so, bei allen Stücken. Die eigentlichen Punkte wurden nie benannt, es waren allgemeine Vorwürfe, ich kann mich nicht erinnern an ein einziges konkretes Argument. Bei der Sache im Schriftstellerverband kam vorher der Wolfgang Piens zu mir, der war damals Chefdramaturg am Deutschen Theater. Der sagte mir, er hätte den
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Parteiauftrag von der Kulturabteilung, das Referat zu halten. Sein Auftrag war, nachzuweisen, daß das Stück – es ging da um das Stück, nicht um die Aufführung, es war ja der Schriftstellerverband – daß das Stück sowohl subjektiv als auch objektiv konterrevolutionär sei. Er müßte das machen, aber er würde nur beweisen, daß es subjektiv konterrev – T. Objektiv! M. – entschuldige, objektiv konterrevolutionär. Jetzt krieg ich es schon nicht mehr auf die Reihe. T. (laut lachend) Die Formeln! M. Objektiv kann jedem passieren, das ist Dummheit, und wird nicht unbedingt mit dem Tode bestraft, aber subjektiv heißt böse Absicht, ist klar. Und er hat dann also nachgewiesen, daß es objektiv konterrevolutionär ist. Dann ging es noch um das Problem – der Piens sagte mir, der Hacks würde dafür sprechen, für das Stück, das wäre aber nicht gut, und man müsste sehn, daß der Hacks sich zurückhält und nicht so ganz dafür spricht. Das haben wir auch besprochen mit Hacks, und er hat das sehr gut gemacht. Er hatte überhaupt eine sehr gute Haltung damals in der Sache. Er hat darüber gesprochen, wie großartig der Dialog ist und alles mögliche, und was für ein Talent – aber die Fabel! und daß das Ganze ein bißchen was Mürrisches hätte. Das war so seine Art, sich einigermaßen bedeckt zu halten. Und das war wichtig, denn wenn er ganz dafür gesprochen hätte, was er eigentlich wollte, wäre das sofort gefährlich geworden. T. Plattform. M. Dann war es eine Plattform. Na ja. So in dem Stil lief das alles. Es gab nie wirkliche Argumente. Ich erinnere mich, der Pollatschek, damals ein großer Theaterkritiker, der erwähnte als besonders schlimm und schweren Fehler und Vergehen gegen den Realismus, daß da ein Bürgermeister eingesetzt wird. Und das stimmt doch garnicht, die sind ja immer gewählt worden. Solche Geschichten. Völlig absurde Debatten. Es ging um die Situation, und die Situation war einmal die Mauer und dann eine Ausstellung junger Künstler in der Akademie, die auch verboten worden war, dann ein Programm der Pfeffermühle, die gabs da schon – ja, das Kabarettprogramm in Leipzig – , und da sah man sofort eine Verschwörung. Es war reine Paranoia. Es ging nie um die Sachen selbst. Lesen konnten sie nie – hm, das hat man auch nicht erwartet. T. Jegliche Vernunft ist geschwunden unter der Angst. Die Argumentationen waren absurd. Es war immer eine reine Defensiv-Politik, eine Politik des Bewahrens von Besitzständen. Paranoisch im Grunde, eine Form von Wahnsinn. Im Berliner Ensemble in der Kantine, schon ziemlich besoffen, hat mir Konrad Naumann, Politbüromitglied und
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Bezirkssekretär – der hatte von Ruth Berghaus den Fall Tragelehn dargestellt gekriegt – hat sich schwer über mich gelehnt und gesagt: Was wir jetzt brauchen ist Parteidisziplin, sonst haut uns die internationale Großbourgeoisie in die Pfanne. Das ist ein absolut charakteristischer Satz – M. Was ja auch eingetreten ist. (Gelächter.) Aber das ist wieder eine andere Geschichte – T. Ja, ja. Aber auch deswegen eingetreten. K. Ich kann mir schwer vorstellen, wie die Situation eines Schriftstellers ist, wenn ihm ein Manuskript und sämtliche Materialien, die dazu gehören, konfisziert werden. M. Im Grunde hats mich nicht wirklich überrascht. Die Überraschung lag vielleicht viel früher – oder es gab gar keine. Ich hab die ersten Jahre sehr bewusst erlebt, weil mein Vater Funktionär war, SPD-Funktionär zuerst, dann SED, in Mecklenburg, später in Sachsen. Ich kannte den Terrorapparat, auch den sowjetischen, aus dieser Erfahrung. Es war nichts überraschend daran für mich. Das war vielleicht der Punkt. Ich erinnere mich an eine Anekdote am Rande, das können wir auch rausschneiden, aber die ist ganz charakteristisch. Mein Vater erzählte mir: er wurde kurz vor der Vereinigung der beiden Parteien – die eine sowjetisch befohlene Zwangsvereinigung war, das war klar, Grotewohl war erst dagegen und hatte einen ganzen Katalog mit Bedingungen und ist dann umgefallen in Berlin, oder er ist umgefallen worden, und in der Provinz standen sie noch zu Grotewohls Programm, weil der Postweg sehr lang war damals – und mein Vater als Kreisvorsitzender der SPD dort in Mecklenburg wurde zur NKWD bestellt. Da saß ein Major und sagte: Nun, Genosse Müller, du gegen Vereinigung. Und er sagte: Ich nicht gegen Vereinigung, aber Bedingungen und so, Katalog Grotewohl. Und er wieder: Nu, du gegen Vereinigung. Morgen Versammlung, du sprechen für Vereinigung. Er: Ich nicht sprechen für Vereinigung, der: Du sprechen für Vereinigung. Dann ließ er eine Akte bringen, und da war eine Aussage drin von der Sekretärin meines Vaters, er war auch noch stellvertretender Landrat, und von seinem Chauffeur, und die sagten aus, daß er zusammen mit seinem Stellvertreter eine faschistische Widerstandsgruppe gebildet hatte und daß sie in einem Keller in der Altstadt Waffen gelagert hätten. Der Major sagte dann den schlichten Satz: Nu, Genosse Müller, du sprechen für Vereinigung und ich vergessen Papier. Und mein Vater sagte verständlicherweise: Ich sprechen für Vereinigung. (Gelächter.) Und dann sagte der Major: Nix sprechen für Vereinigung, du feurig sprechen für Vereinigung. (Alles unter Gelächter und Gekicher.) Und da kommt dann die Ästhetik ins Spiel. Das war die Rolle der Kunst. Und darauf reduzierte sichs dann allmählich.
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EINE RÖMISCHE GESCHICHTE (1974) Alessandro Bassano, römischer Dichter Zeitlebens leidend unter unbelohnter Arbeitsmühe Ließ, heißt es, nach seinem Tod Einem Kardinal ein Gedicht übergeben Gewidmet Dem Genius des Vaterlandes Und in hundert Kanzonen schildernd Das Leben der Jungfrau Maria. Im letzten Gesang Kehrt Maria zurück auf die Erde als Helena Strahlend vom Liebesleid derer die um sie kämpften und starben Jesus der die Welt gerade verlassen wollte Kehrt um Mit einem Ständer wie ein Weihnachtsbaum. Bei der Lektüre des gottlosen Gesanges Traf, heißt es, den Kardinal der Schlag. Der ranghöhere Kardinal Sekretierte das Werk des neuen Dante Den eine Zeitung als armen Narren bezeichnete Für immer.
EINE ÄLTERE RÖMISCHE GESCHICHTE (1974) Burrus war ein Lehrer Neros. Nero ließ ihn vergiften, besuchte den Sterbenden Und erkundigte sich nach seinem Befinden. Mir geht es gut Antwortete Burrus Und kehrte sich zur Wand.
DER RESOZIMUS IM ABENDLICHT ODER EIN VETERAN ERZÄHLT Dieser Dialog hatte als Vorlage das Protokoll einer Befragung durch Holger Teschke am 6.6.2012 in Berlin. Ihr Gegenstand war T.s Inszenierung von Heiner Müllers Stück Die Umsiedlerin 1985 in Dresden und ihre Vor- und Nachgeschichte. Ihr Anlass war das Jubiläum des Dresdener Schauspielhauses, das vor hundert Jahren eröffnet worden war. In der Festschrift wurde 2013 ein Ausschnitt gedruckt. Danach hat T. den Text ausgearbeitet. Er ist literarische Form geworden, aber Dialog geblieben. Die Sätze halten fest am Duktus gesprochener Sprache, und die Linie von Diderot zu Brecht wird verlängert, wie auch schon von Heiner Müller. Mit dem Gesprächspartner ist der Text abgestimmt worden, und er wurde von beiden auch öffentlich vorgetragen an einem der Müllermontage, die die Internationale
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Heiner Müller Gesellschaft monatlich im Literaturforum im Brechthaus in Berlin veranstaltet hat. Der Gesprächspartner Holger Teschke, Jahrgang 1958, arbeitet als Schriftsteller, Übersetzer, Dramaturg und Regisseur in Berlin und New York. Erstdruck 2014 (in kleiner Auflage) als Bd. 14 der Edition Ornament im quartus-Verlag Jena, hrsg. von J. F. Dwars, mit Zeichnungen von Strawalde, und mit einem Anhang von 26 Gedichten T.s. Im Athemholen sind zweyerlei Gnaden: Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich preßt, Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt. Goethe, West-Östlicher Diwan
H.T. Deine Uraufführung des Stücks Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande von Heiner Müller, 1961 in Berlin, liegt länger zurück als ein halbes Jahrhundert. Und deine zweite Inszenierung des Stücks 1985 in Dresden – es war die einzige Arbeit, die du in ihren letzten anderthalb Jahrzehnten wieder in der DDR gemacht hast – ist auch schon älter als ein Vierteljahrhundert. T. Ich bin ja jetzt auch ein alter Knacker. H.T. Du bist ein altes Zirkuspferd. T. Ich ernenne dich hiermit zum Veterinär. H.T. Zu was?! T. Na das wird doch ein Beitrag zu der Reihe Ein Veteran erzählt. H.T. Mach mirs nicht schwer. T. Wie du mir, so ich dir. H.T. O.k. T. Oder k.o. H.T. Du bist geborener Dresdner – T. O Gott. H.T. – und bist in Dresden auch aufgewachsen – T. Eine Dresdner Kindheit und Jugend! Aber Gottseidank mit Auslauf. Ich war jedes Jahr auf dem Dorf, monatelang. Und als ich in die Schule kam immer noch die ganzen Sommerferien. Ein winziges Dorf mitten in Sachsen, nur neun Höfe, Spernsdorf, in der Nähe von Rochlitz. Da hab ich meine Sprachwurzeln. Dieselben wie Heiner Müller in Eppendorf und Bräunsdorf und Frankenberg. Ich höre noch, wie die alten Leute auf der Lehde gesagt haben S woard bahle rain, das hieß Es wird bald regnen. Da weiß heute kaum noch jemand, dass das Sächsisch ist. Radio und Fernsehen haben das Ihre getan. Wenn die so weitermachen, kann bald niemand mehr Deutsch. Müller schreibt sächsisch wie Hölderlin schwäbisch und Goethe hessisch Ach neische / Du Schmerzensreische. H.T. Wann bist du weg aus Dresden?
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T. Nach dem Angriff am 13. Februar 45 waren wir ausgebombt und haben zwei Jahre auf dem Dorf gewohnt, ein paar Kilometer östlich von Dresden Richtung Königsbrück: Ottendorf-Okrilla, genannt Ochsendorf-Gorilla. Dann wieder in Dresden, in der Residenzstadt. Das ist sie heute noch: Biedenkopfsteinpflaster, darauf die Dienerschaft wandelt/ Ewige Residenz! Dresden, sei mir gegrüßt. Dresden wahrt Kontinuität: Mach deinen Diener bleibt Kernsatz der Dresdner Erziehung. Ob August/Albert, Mu, Mo oder Mi: wer auch regiert, dabei bleibts. Aus der Residenzstadt bin ich beizeiten geflohn, die Kunststadt hat mir den Ausweg gezeigt. Da war ich neunzehn. H.T. Von August und Albert hab ich schon gehört, aber wer sind umshimmelswillen Mu und Mo und Mi? T. In der Nazizeit ist König Mu der Spitzname des Gauleiters Mutschmann gewesen. Mo ist der Bezirkssekretär Modrow und Mi der Ministerpräsident Milbradt. Alles Ersatzkönige. Der letzte richtige, als er nach seiner Abschaffung privat durchs Land gefahren ist, hat aus dem Zugfenster zur jubelnden Dienerschaft auf dem Bahnsteig in der Landessprache gesprochen: Ihr seid mer scheene Rebubbligahner. H.T. Die Residenzstadt und du – dein Lehrer Brecht und dein Freund Müller, und die Doppelstadt Berlin, Ost und West, müssen doch gutes Gegengift gewesen sein? T. Das kann man sagen. Brecht habe ich noch ein Jahr lang erlebt, 55/56. Die Doppelstadt noch sechs Jahre. H.T. Du warst Brechts letzter Meisterschüler an der Akademie der Künste. T. Praktisch war ich Regieassistent im Berliner Ensemble, mit dem Stipendium der Akademie. Mit meinen neunzehn Jahren hab ich alles aufgesogen wie ein Schwamm, gierig. Müller hab ich kennengelernt ein Jahr nach Brechts Tod. Der Lohndrücker war gedruckt worden. Müller hatte das Stück geschrieben, das Brecht nicht schreiben konnte, nach einer Materialsammlung, die für Brecht gemacht worden war. Käthe Rülickes Hans Garbe erzählt, ein Bio-Interview in der Tradition von Brechts Freund Tretjakow. Aber Bio-Interview durfte es damals nicht heißen, das galt als Proletkult, und die SED sah in ihrer Kulturpolitik von Anfang an auf bürgerliche Reputation, eine sozialdemokratische Tradition. Nach der Lektüre von Lohndrücker wußte ich, wo es weitergeht nach Brechts Tod. Heiner war sieben Jahre älter als ich, und Brecht, der auch für ihn ein großer Eindruck gewesen ist, hatte er schon sortiert für sich. Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat, hat er später geschrieben. Müller hat mich davor bewahrt, ein Sektierer zu werden – etwa die Anbetung der Parabelform mitzuma-
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chen, die Kern von Wekwerths Erbepflege geworden ist am Berliner Ensemble. H.T. Du bist aus Dresden geflohen, sagst du. Aber nach der Uraufführung von Müllers Umsiedlerin 1961 in Berlin, in deiner Inszenierung mit der Studentenbühne der Hopla, Hochschule für Planökonomie – als die Aufführung sofort verboten wurde, hast du, hab ich gehört, ein Dresden-Déjàvu gehabt. Stimmt das? T. In der Nacht nach der Premierenvorstellung am 30. September, einem Samstag – das war die Eröffnung einer Studententheaterwoche innerhalb der jährlichen Ostberliner Festtage, und in dem Jahr fanden die sechs Wochen nach dem Mauerbau statt – gabs eine Festivität, das heißt ein Besäufnis. So am Rande bekamen wir mit, dass irgendwas anrollt. Wir waren zum Beifall nicht auf die Bühne gegangen, denn ein paar Kontrollversuche und Auseinandersetzungen hatte es vorher schon gegeben; der Apparat war nur nicht gründlich gewesen, abgelenkt durch August den Dreizehnten. Also kannte keiner unsre Gesichter und am Nebentisch gab es den besten Witz: Könnse ja gleich die Bautzner Jefänknisfestspiele aufmachen! Da haben wir noch gelacht. Am Montagabend – ich hatte endlich ausgeschlafen nach den Endproben – wollte ich mir Büchners Leonce und Lena ansehen. Auf der Eingangstreppe stand ein Trupp meiner Darsteller. Ich wollte gleich einen Protestbrief übergeben, wegen der telefonischen Absage der Diskussion über Die Umsiedlerin, die am Sonntag hätte stattfinden sollen. Aber sie waren aufgestellt, um mir den Zutritt zu verweigern. An der Seite stand der Sekretär der Parteiorganisation der Hochschule und überwachte den Vorgang. Sie waren schon durch die Mangel gedreht worden, Tag und Nacht. Es gab einen Wortwechsel, und es war klar, dass das Urteil gesprochen und die Sprachregelung ausgegeben war: Stück und Aufführung sind konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch. Ich hatte eine Panik und bin davongestürzt. Viel später ist mir eingefallen, dass ich schon mal in der Situation war, als Schuljunge in Dresden. Wir wohnten damals in der Johannstadt, in der Nähe der Trinitatiskirche, und der Vater eines Schulkameraden war Hausmeister in der SAKaserne Gerok- Ecke Stephanienstraße. Die Familie wohnte da auch, im Souterrain, und wir haben manchmal auf dem Hof gespielt. Das war ein großer Exerzierplatz. Draußen, hinter der Mauer zur Stephanienstraße, ging ein Biddel lang, so wie sie damals, und im Westen noch lange, ausgesehn haben, grüneingewickelt, mit Tschako und Schulterriemen. Ein Biddel war damals für Kinder eine Autoritätsfigur. Den haben wir mit Dreck beworfen über die Mauer, und er tat uns den Gefallen und hat geschimpft und gefuchtelt. Haben wir gelacht. Aber dann kam die
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Wache von der SA, zwei Mann hoch, der Biddel hatte sich beschwert, und sie führten meinen Freund ab – den kannten sie, weil er da wohnte –, und ich bin in Panik davongestürzt. Beide Male entsprach die Tiefe der Panik der Wonne der Subversion. H.T. Die Geschichte des Skandals von 1961 – für dich Parteiausschluß und fristlose Entlassung vom Theater in Senftenberg, wo du gerade engagiert worden warst und Erziehung in der Produktion, wie das hieß, dort in der Lausitz, im Braunkohlentagebau Klettwitz – die Geschichte ist gut dokumentiert: in Büchern, in Filmen, in Gesprächen – sogar in Gedichten! Du hast ja danach die Klettwitzer Elegien geschrieben. Nach einer Fürbitte Paul Dessaus beim Kulturminister hast du dann ab 1964 wieder Theater machen dürfen. Gerade mal zehn Jahre, bis die DDR endgültig keine Arbeit mehr für dich hatte – nach deinen Inszenierungen im Berliner Ensemble der Berghaus-Zeit, zuletzt 1975 Fräulein Julie von Strindberg. T. Von da an hab ich in der ehemaligen BRD gearbeitet. Die Einladung Gerhard Wolframs nach Dresden war eine überraschende Ausnahme. H.T. Wieso ehemalige BRD? T. Die alte BRD gibt es genausowenig noch wie die DDR. Im Westen haben sie nur länger gebraucht, um das mitzukriegen. Die stehn zu sehr auf der Leitung. H.T. Und wie kam die Einladung zustande? T. Zufällig. Meine Frau bekam erst spät eine Reisegenehmigung, meine Kinder nie. Im Sommer hab ich in Ostberlin die Miete abgewohnt, Urlaub haben wir selten gemacht. Aber im Frühling, wenn ich nicht gerade irgendwo im Westen Probe hatte, bin ich mit meiner Frau nach Weimar gefahren zu den Shakespeare-Tagen, im April ist das Ilmtal so schön frühlingsgrün. Einmal, schon in den Achtzigern, gastierte da das Deutsche Theater und wir trafen in der Kellerbar des Hotels Elephant den Intendanten Gerhard Wolfram. Volker Braun saß noch dabei, der hatte nichts mit den Shakespearetagen zu tun, sondern eine Lesung in Weimar. Wolfram kannte ich aus der Zeit der ersten Berliner Lohndrücker-Inszenierung am Gorki-Theater, da war er Dramaturg. Kurz zuvor hatte ich, nach zwanzig Jahren Pause, wieder ein Stück von Müller inszeniert: die Uraufführung von Quartett in Bochum. Wolfram fragte mich Willst du das nicht auch bei mir machen? und ich hab sofort Ja gesagt. 14 Tage später traf ich in Frankfurt am Main im Theaterrestaurant Volker Braun, der nichts mit dem Theater zu tun, aber grade eine Lesung in Frankfurt hatte, und er sagte Weißt du schon das Neuste? Wolfram ist nicht mehr Intendant des Deutschen Theaters. Wolfram
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T. vor dem Dresdener Schauspielhaus nach der Generalprobe seiner Umsiedlerin-Inszenierung, 1984.
meldete sich aber ein oder zwei Jahre später aus Dresden, wohin er mit Horst Schönemann verbannt worden war, und schlug mir erst Shakespeares Kaufmann von Venedig vor, Hoppe wollte den Shylock spielen, eine große Besetzung. Ich habe gezögert. Warum dieses Stück in der DDR? Da schlug Wolfram Die Umsiedlerin vor. Und da konnte ich nur Ja sagen – trotz Bedenken, was an Querelen auf mich zukommen könnte. Aber Wolfram hat alles sehr geschickt abgesichert und mir – na, so die Hälfte wird es sein, hinterher erzählt, als Anekdote. Einiges fand sich später auch in den Stasi-Akten des Dramaturgen. Das war Bernd Böhmel, einer der wenigen, an den Fingern einer Hand abzuzählen, die diesen Lessingschen Titel verdienen. Mit dem wollte ich schon lange zusammenarbeiten, und er wohnte in Dresden. H.T. Wie arbeitest du mit dem Dramaturgen zusammen? T. Böhmel war eine Ausnahme. Was ich brauche beim Probieren ist ein Vertrauter. Meist ist das der Bühnenbildner gewesen oder ein Schauspieler in stückführender Rolle. Die Bühnenbildner sind dann alle Regisseur geworden, das sind die Folgen. Inszenieren, das ist ein dauernder Wechsel von Nähe und Distanz zum Stück und zu den Schauspielern. Und bei der Nähe, dem Sich-hinein-begeben, ist wichtig, dass eine Kontrolle da ist, die einem hilft, sich nicht zu verwickeln und wie-
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der Abstand herzustellen. Da war Böhmel großartig. Wenn man die Kontrolle hinter sich weiß, kann man sich gehen lassen, sich den Impulsen überlassen, ohne Sorge, sich im Dickicht zu verlaufen. H.T. Und warum ist es nicht früher zu einer Zusammenarbeit gekommen? T. Weil er gesperrt war, wie ich nach der Umsiedlerin-Uraufführung, ein Berufsverbot. Das Normale in beiden Deutschländern. Ich hab da zum ersten Mal den gängigen DDR-Mechanismus mitgekriegt: Verträge, die das Theater schließen wollte, gingen erst zur Stasi. Der Vertrag von Böhmel kam mit Sperrvermerk zurück und die Verwaltungsleiterin weigerte sich zu unterschreiben. Da hat Wolfram unterschrieben. Das war die Verantwortung des staatlichen Leiters, eine späte DDR-Errungenschaft. Der staatliche Leiter musste den Kopf hinhalten. Das war nicht üblich, aber Wolfram hat es gemacht. Der Präzedenzfall war Ruth Berghaus mit der Uraufführung von Müllers Zement, 1974 am BE. Das war ein politisches Kunststück! Es war das erste Mal, dreizehn Jahre nach der Uraufführung von Umsiedlerin, dass eines der großen Stücke von Müller in der DDR gespielt wurde. H.T. Schreckliche Pausen – für Müller wie für dich. T. Tja. In den gerade mal zehn Jahren, von denen du gesprochen hast, waren noch mehr Pausen. Z.B. nach Wie es Euch gefällt, Shakespeare von Müller übersetzt. Wegen Hippieunwesen und Pornographie! Die Formeln waren immer gigantisch. Als ich mit Schleef Die Korrektur und Herakles 5 probiert habe, mit Schauspielschülern, in Ostberlin, 1973, mussten die Proben abgebrochen werden. Dasselbe passierte, als wir im BE angefangen hatten, Braschs Lovely Rita zu probieren. Und später, als ich in Frankfurt am Main Die Schlacht und Herakles 5 probiert habe, 1981, bin ich zusammen mit der vom Ensemble gewählten Direktorin und dem Chefdisponenten rausgeflogen wegen Sympathisantentum! Formel West. Die dreiköpfige Direktion wurde gekippt und die Mitbestimmungsverfassung des Theaters, die Palitzsch in Frankfurt durchgesetzt hatte, liquidiert. Übrigens, dieser Begriff, Liquidation, entstammt ja dem Reich des auf Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaftens, und da ist er alltäglich, auch heute. Dass er einen Siegeszug angetreten hat durch linke Bereiche, theoretisch und praktisch, ist sehr aufschlußreich. Da war das linke Mekka schon lange zurückgekippt in Zarismus, Brecht hat, Ende der dreißiger Jahre, die Sowjetunion eine Arbeitermonarchie genannt. Ein Feudalsystem. Das aber ehrgeizig modernisiert hat – nur war die Modernisierung eine Militarisierung statt einer Ökonomisierung, eben feudalabsolutistisch. Eigentlich ein Konzept von Trotzki, ganz früh, dass Stalin gestohlen hat. Lenins NÖP-
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Konzeption, seine letzte Erfindung, hat erst Teng wieder aufgenommen, mehr als ein halbes Jahrhundert später. Der Aufbau des Kapitalismus unter Führung der kommunistischen Partei funktioniert offenbar in China irgendwie. Benjamins staunenden Vergleich der Arbeitermonarchie mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fischs oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee zutage gefördert werden, könnte man auch für diesen Organismus verwenden. Aber man kann eben den Kapitalismus nicht überspringen. Jedenfalls ist Voraussetzung für Kommunismus die kapitalistische Globalisierung. H.T. Zurück nach Frankfurt – T. – oder grade nicht zurück. Müllers Schlacht, die in Frankfurt schon weit probiert war, hab ich dann in Düsseldorf gemacht. Herakles 5 mit Heini Giskes in der Hauptrolle, auch sehr weit probiert, erst in München mit Michel König. Die Uraufführung von Quartett mit Libgart Schwarz und Fritz Schediwy, in Frankfurt geplant, konnte erst 1982 in Bochum stattfinden. Quartett war für mich endlich wieder ein Stück von Müller, nach sage und schreibe zwanzig Jahren. Danach hab ich dann viele gemacht. Die Theaterarbeit war immer wieder ein Seiltanzkunststück. Und zwar mit beschränkter Sicht. Ich kannte Kafkas Notiz noch nicht, aus dem Zürauer Zettelkasten: Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt st, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden. H.T. Viel Unterschied zwischen Ost und West hast du offenbar nicht erfahren? T. Die Pausen waren im Westen, zugegeben, kürzer. Ich will auch den Unterschied nicht kleinreden zwischen Demokratie und Diktatur. Diktaturen wie zu der Zeit bei den Freunden der BRD in Chile und Südafrika und Spanien und und und. Oder eben bei den DDR-Freunden in der neozaristischen Union und ihren Angebinden. Aber Herr Oberbürgermeister Wallmann in Frankfurt, dessen Ponem als Penatencremereklame von allen Anschlägen geglänzt hat zur Wahl, oder sein Mann fürs Grobe, der Stadtdirektor Brück, Vorsitzender der Deutsch-Südafrikanischen Gesellschaft, das edle Antlitz von Schmissen geschmückt – porträtiert hat diese Leute schon George Grosz – , das waren auch keine besseren Demokraten als die in der Demokratischen Republik. Beihilfe hat Genosse Hilmar Hoffmann geleistet, der für die SPD die Stellung als Kulturdezernent halten musste. Er ist, egal was er dabei gedacht hat, seinem Parteiauftrag gefolgt, wie es auch in der SED Brauch war. H.T. Die Kontinuität deiner Arbeit – T. Nein! Ich hab kaum je kontinuierlich arbeiten können. Mit einer Gruppe etwas entwickeln über längere Zeit, die Kontinuität einigerma-
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ßen gesichert, nicht im Osten, nicht im Westen. Die Jahre in Düsseldorf und Bochum, wo ich abwechselnd gearbeitet habe Anfang der 80er, waren angenehm, ja. Am glücklichsten waren die drei Jahre bei Baumbauer in München, 1984 bis 86. Eigentlich waren die Bedingungen mit dem Antritt von Kohl zu seiner politisch-moralischen Wende schon vorbei. Aber es gibt eben auch glückliche Zufälle. Und am Residenztheater wurde damals, eben auf Grund von ein paar Zufällen, etwas nachvollzogen, was anderswo zehn, fünfzehn und mehr Jahre zuvor passiert war. Baumbauer engagierte als Chefdramaturg Burkhardt Mauer, der in Bremens großer Zeit in den Sechzigern, unter Kurt Hübner, mit den Regisseuren Zadek, Grüber, Stein, Faßbinder, Minks, auch schon Chefdramaturg gewesen war. Die Zeitschrift Theater heute wurde damals Bremen heute genannt. In München inszenierten Achternbusch und Kroetz, Ingmar Bergmann, Zadek, Grüber, Minks, Ari Zinger. Ich konnte auch ein paar Schauspieler mitbringen. Wichtig für mich war vor allem Peter Brombacher, Bierbichler war eh in der Nähe, Altmann und Krähkamp, Peter Kremer, später Jürgen Holtz. Mit dem Wiener Bühnenbildner Hans Hoffer hab ich die Arbeit an Moliere fortgesetzt, die in Frankfurt begann. Die Kostümbildnerin Kazuko Watanabe hatte in Frankfurt angefangen auch die Bühne zu baun, bei Herakles 5, und mit ihr hab ich dann in Bochum und Düsseldorf und München weiter Müller gemacht. Aber schon nach drei Jahren war in München alles wieder vorbei. Baumbauer wurde natürlich nicht verlängert. Das Mündchen Maier – der bayerische Kultusminister damals, Hans Maier, hieß das Münchner Mündchen – und seine Politurkolik ist anders genauso gewesen wie in der DDR. H.T. Hast du den mal kennengelernt? T. Nee. Aber er war mal im Theater, zu einer Jubiläumsvorstellung des Brandnerkaspar, eine wunderbare Lokalposse. In der hatte Bierbichler debütiert, Jahre vorher. Die Aufführung lief und lief. Nach der Vorstellung war ein Empfang und der Minister hatte sich was zum Essen geholt vom Buffet und suchte einen Platz, es war voll. Bei Basti, Bierbichlers Gardrober, war einer frei. Der Minister sagte: Ist es erlaubt? Basti: Wanns saan muss. Der Minister, in seiner unnachahmlichen Art, sprach darauf den denkwürdigen Satz: Ich bin doch auch nur ein Mönsch. Mensch klang bei ihm immer wie Mönch. Und Basti sagte: Joa. Aber was für oaner. Die Geschichte ist noch lange erzählt worden. H.T. Und nun kamst du also aus der glücklichen Münchner Situation – du hast damals am Bayerischen Staatsschauspiel auch Müller inszeniert, den Philoktet, Herakles 5, die Hamlet-Übersetzung –, kamst wieder in den Osten –
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T. Ach was! Der Unterschied zwischen der CSU und der SED war nicht groß, beide stramm antikommunistisch! Und IMs hatte auch die CSU in unseren Vorstellungen sitzen – ob die Clowns nicht falschen Text sagen –, am nächsten Vormittag bekam der Intendant eine Abmahnung des Ministeriums auf den Tisch. Rückgrat muss ein Intendant haben in München wie in Dresden. Wir haben das Schreiben auf der Bühne verbuddelt. Die Totengräber im Hamlet spielten Bierbichler und sein Gardrober Basti, Sebastian Eder aus Bad Tölz. Die gaben das Clownspaar ab, und sie haben das Schreiben beim Begräbnis Ophelias ausgegraben und vorgelesen. Und gefragt: San das mir? Es gab sogar eine Landtagsdebatte deswegen, und beide Parteien hatten, wie sich sofort gezeigt hat, von der Sache keine Ahnung. Ihre Reden waren todernst und hochkomisch. Im Flieger nach Berlin dachte ich: Wieso machst du dieses Stück, Die Umsiedlerin, jetzt im Osten? Man müßte es im Westen machen! Ich hätte das nicht begründen können, wenn mich jemand gefragt hätte, es war ganz instinktiv, und ich hab es auch gleich wieder vergessen. H.T. Du hattest später Grund, dich daran zu erinnern – aber dazu kommen wir noch. Wie war es, zurückzukommen nach Dresden, in die Stadt der Kindheit, in die Residenzstadt, aus der du geflohen bist? T. Ich bin wieder eingetaucht in den Sprachraum, aus dem ich kam. Und aus dem das Stück kommt. Und – also, es gibt ja Dresden und Dresden. In Fickpieschen z.B., ausgesprochen Figgbieschn, redet man nicht fuhrnähm wie die Dienerschaft und nicht vornehm, worum die Herrschaft sich bemüht, sondern Tacheles – Pieschen ist ein Stadtteil an der Elbe mit einem Wirtschaftshafen, und da redet man wie man in Hafenvierteln redet. H.T. Aber das Sächsische hat doch auch, wenn ich mich nicht irre, einen gemütlichen Zug – T. Du irrst dich nicht, es gibt Sächsisch und Sächsisch. Wir sind nicht der gängigen Melodie gefolgt, Sing mei Sachse sing, der Spießerhymne, dem Sicheinrichten in den Verhältnissen. Wir sind der sächsischen Neigung zur Niedrigkeit gefolgt. Unten gegen Oben. Sächsisch kann sehr ordinär sein. Bei Klaus Heinrich heißt es Lachen kommt von unten herauf – wenn nicht, wirkt es aufgesetzt und flach. In anderen Dialekten schlägt sich natürlich der Klassengegensatz auch nieder, wenn du dir die Paveier anhörst, hast du dasselbe auf Kölsch. Das Phänomen hat mit dem Autor zu tun, mit dem Stück und seiner Entstehung, und mit dem, was an dem Stück neu ist in der deutschen Literatur. Ein Schritt in der deutschen Sprache, jedenfalls in der Sprache der Literatur, vorbereitet von Hauptmann, entschieden von Brecht, gipfelnd in Müllers Gesängen.
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Müller sprach einfach vom Zwang des Materials. Aus dem Gedächtnis zitiert: Dass Bauern in Versen reden, zwingt dazu, die Hochsprache zu zerbrechen und die Verbindung zu den Dialekten oder zum Jargon zu suchen. Strittmatters Komödie Katzgraben, die Brecht 1953 uraufgeführt hatte, spielte eine Rolle dabei, und noch mehr Brechts Notierungen von der Arbeit mit Strittmatter und von der mit den Schauspielern. Ich hatte seit dem Herbst 55 – da war ich Assistent bei den Wiederaufnahmeproben – ein dickes Konvolut von Typoskripten behalten, und Heiner kannte die Notate also auch. Als er was draus drucken lassen wollte in der Jungen Kunst, wo er eine Zeitlang Redakteur war, gab es in Wekwerths BE und im Brechtarchiv einen Riesenaufruhr, weil ich diese Notate hatte. Das BE hatte in der DDR immer eine Art Festungsmentalität, die Mentalität der belagerten Festung, verständlicherweise. Aber ohne Brecht nahm sie zeitgenössische Form an, die Farbe der Umgebung. Der gängige Geheimhaltungswahn schlug zu. H.T. Ist der Abdruck untersagt worden? T. Nein, aber kontrolliert. Der Schwiegersohn von Brechts Feind Abusch durfte die Auswahl treffen. Auch Katzgraben war ja schon ein Versstück. Bei der Arbeit am Text in Buckow hatte Strittmatter Brecht einen halben Akt gebracht in merkwürdigem Rhythmus, und Brecht identifizierte den als Jamben. Das Leben auf dem Lande hat eine Affinität zum Blankvers, zu seiner Feudalität. Aus meiner Kindheit weiß ich noch, wie Bauern reden. Der Ruf des Bauern nach seinem Knecht oder nach seiner Frau – August! und Frau! – das ist ein Echo vom Ruf des Feudalherrn nach der Gefolgschaft. Der Mensch ist ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, die er in seiner Geschichte durchlaufen hat. Der Bauer ist ein Landbesitzer, ja. Aber genauso gehört er dem Land. Er ist das Land – wie der König von Preußen Preußen ist. Und Frau und Kind und Gesinde und Hund und Pferd gehören ihm, also dem Land. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bestimmen Tageslauf und Wochenlauf und Jahreslauf. Und das Wetter natürlich! Wenn nach dem Vorspiel die erste Szene losgeht, tritt Ketzer am Morgen vor die Tür seiner Kate und sieht in den Himmel. Und wenn der Großbauer mit dem Bürgermeister und dem Solleintreiber kommt, ist Ketzers Gruß die Frage Wirds regnen heute, Treiber? Da ist mit einer Geste und drei Worten eine Welt etabliert. H.T. Und das Verhältnis von Umsiedlerin zu Katzgraben? T. Die Bauweise des Vorläufers folgte der Fibel, dem Lehrbuch. Querschnitte horizontal: zeitlich, im Jahresrhythmus der bäuerlichen Wirtschaft – und vertikal: soziologisch, durch die Schichtung Großbauer, Mittelbauer, Kleinbauer. Drei Akte lang sind die Familientische
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Mittelpunkt, im vierten die Theke als Versammlungsort der Oberhäupter, und dann im fünften auf der neuen Straße der Traktor. Der ist Angelpunkt beider Stücke, im älteren als Resultat, jedenfalls ein Etappensieg, im jüngeren als Motor des Fortgangs. H.T. Und der Grund für diese Bauweise, das Erzählen nach der Fibel? T. Der Wunsch, ein Beispiel zu geben, einen beispielhaften Verlauf. H.T. Und bei Umsiedlerin? T. Die Hoffnung, dass der konkrete Fall mehr Verallgemeinerung ermöglicht als jede Verallgemeinerung. Katzgraben war ein comic strip ideologischer Bilder. Die Neuruppiner Bilderbögen sind ja Vorläufer der komischen Streifen gewesen. Übrigens ist auch Katzgraben 1953 gleich sehr angegriffen worden, Brecht: Die DDR ist ein merkwürdiges Land. Wenn man ihr was schenken will, sträubt sie sich mit Händen und Füßen. Wenn sies dann genommen hat, ist sie sehr dankbar. H.T. Brecht sah es gelassen. T. Nicht gelassen. Er hat gekämpft. Aber er war nicht so ungeduldig wie wir. Natürlich kriegt man mit fortschreitendem Alter irgendwann mit, dass alles was neu ist und ungewohnt, und nicht nur in den Künsten, Zeit braucht, um sich durchzusetzen. Unter allen Verhältnissen. Aber in einer Gesellschaft, die proklamiert, dass sie selber das Neue und Andere ist, zu vertrauen darauf oder wenigstens zu hoffen, dass auch in den Künsten das Neue und Andere willkommen sei – es ist naiv. H.T. Irrtum, sprach der Igel und stieg von der Bürste – zurück ins Dresdner Theater. T. Da ging es natürlich erst mal um ganz praktische Dinge. Für die Riesenbesetzung, mehr als vierzig Rollen, musste ich mir viele Aufführungen ansehn und hatte viele Gespräche mit Schauspielern. Es gab damals in Dresden fabelhafte Inszenierungen: Wolfgang Engels Aufführung von Hebbels Nibelungen, ganz an die Geschichte der Stadt geknüpft, die Bühne war ein Luftschutzbunker; oder Horst Schönemanns Aufführung von Kipphardts Bruder Eichmann mit dem großartigen Peter Hölzel. Ich war in einer Vorstellung vor Schülern, und Hölzel zeigte Eichmann, schockierend, als netten Nachbarn von nebenan. Die Vorstellung endete in einer betroffenen Stille, die lange gedauert hat – bis sie sich in heftigem Beifall löste. H.T. Darüber hast du auch ein Gedicht geschrieben. T. Ja, über den wunderbaren Peter Hölzel, der dann so früh gestorben ist. Das Ensemble war damals ohne jeden Zweifel eins der besten in Deutschland, auch im Vergleich mit den Münchner Kammerspielen oder dem Deutschen Theater in Berlin. H.T. Du konntest alles aus dem Ensemble besetzen?
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T. Fast alles. Das Ensemble war nicht nur gut, sondern auch groß. Die konnten damals noch ein kleines Stück für das zweite Haus in Neustadt probieren und spielen. Und die zwei Stars, Hoppe und Groth, hatten Filmurlaub. Heute geht das Geld in die Präsentation von Events und in name dropping. Kein Theater kann heute das Stück noch aus dem eignen Ensemble besetzen. Ich hab mir ja alle Produktionen der beiden letzten Jahrzehnte angesehen – H.T. Wieviele waren das? T. Fünf. Cottbus, Schwerin, Berlin, Chemnitz, Radebeul. H.T. Immerhin. T. Alle haben viel gestrichen. Um die Vorstellung nicht zu lang werden zu lassen, um die Zahl der Rollen zu reduzieren, um Platz für Erklärungen zu haben, und so weiter – einfach aus der Angst, dass die Leute das Stück nicht mehr verstehn. In Schwerin wurden historische Tondokumente eingespielt zwischen den Szenen, ich erinnre mich an eine Rede Wilhelm Piecks zur Bodenreform. Sie hatte mehr Pathos als dem Stücktext abgewonnen wurde. In Chemnitz war man die Straße der Panzer nachgegangen, die Wolokolamsker Chaussee als Prolog. Zwei Frauen in russischer Uniform standen in einem Ausschnitt des Vorhangs, gerahmt, und rezitierten die Verse. Sie haben das gut gemacht, leicht und schnell, man konnte nachdenken beim Zuhören und wurde nicht abgelenkt durch Interpretation. Aber für das Stück ist der Kommentar ganz überflüssig. Das Verständnis erleichtern wollen, das Werk dem Publikum nahebringen, es ihm erklären: alles unnötig. Die Welt, die gezeigt wird, ist in sich schlüssig und braucht keine Erklärung. Wenn sie fremd erscheint – umso besser. Das ist ihr Vorzug! Das ist das, was interessant ist dran. Wenn sie in ihrer Eigenart zu sehen ist, wie sollte sie wohl anders als fremd erscheinen, so, wie wir heute leben. H.T. Du redest vom Interesse heute, und es ist wieder Zeit vergangen. Die Ereignisse sind lange her, die Bodenreform fast siebzig Jahre, die Ankunft der ersten Traktoren über sechzig, die Kollektivierung über fünfzig – T. Interesse ist immer gegenwärtig. Und schlechtes Theater will die Ereignisse nahebringen, gutes Theater entfernt sie. Bei der Uraufführung war es das Alter der Darsteller, das Distanz erzeugt hat. Die waren ja alle blutjung, Anfang zwanzig, auch die, die die älteren Leute spielten, Leute, die verletzt waren oder kaputt. Diese Darstellung hat sie nicht preisgegeben, nicht bloßgestellt. In Dresden hat die Distanz der Geschichte die Distanz des Alters ersetzt. Die DDR war, anders als heute das Cliché behauptet, zu verschiedenen Zeiten verschieden. Zum Zeitpunkt der Uraufführung war man in die Vorgänge noch involviert,
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sie lagen nicht weit zurück, die Kollektivierung ein Jahr. Und die Schließung der Grenze, notwendig geworden auch wegen der massenhaften Flucht von Bauern nach der Kollektivierung, sogar nur ein paar Wochen. Die jugendliche Haltung – die der Studenten-Schauspieler und meine, auch Heiners, wir waren ja damals nicht viel älter als die Studenten – diese jugendliche Haltung war: Wir lösen das. Wir lösen diese Probleme. Wir haben uns sicher gefühlt in dieser Hoffnung. Der zeitliche Abstand in Dresden warf die Frage auf, was denn nun gelöst worden ist. Dass nichts gelöst war, oder auch nur geklärt, in der langen Weile, die dann Stagnationsperiode genannt worden ist, hat eine andere Art komischer Distanz erzeugt, weniger optimistisch. Im Rückblick auf die alten Hoffnungen elegisch. Aber Distanz. Und Distanz ist die Bedingung der Freiheit für die Zuschauer. H.T. Hast du denn auch irgendwas übernehmen können aus der alten Inszenierung? T. Viel sogar. Aber es hat sich verwandelt. Natürlich war die Vorgehensweise die gleiche, ’85 wie ’61, die Methode – wenn auch sicher modifiziert durch einiges an Erfahrung und durch das Spezifische der Umstände. Da ist erst einmal der Raum, der Theaterraum, den man vorfindet. Das Audimax der Hopla in Karlshorst war ein Neubau, ein typischer DDR-Kulturhausbau. Der Saal rechteckig, mit einer kleinen Empore, die Vorbühne ziemlich tief und so breit wie der ganze Saal, dagegen der Bühnenausschnitt, das Portal, relativ klein, und die Bühne nicht sehr tief, auch nicht sehr hoch, mit Soffitten, die die Beleuchtung abdeckten. Die hab ich umgelegt, dass die Lampen zu sehen waren. Vom Saal zur Vorbühne waren links und rechts Treppen. Wenn jemand ausgezeichnet wurde, ging er hoch und nahm seine Medaille und seine Urkunde und die Blumen und kam wieder runter. Die hab ich abgedeckt mit Kulissenwänden. So hatten wir sozusagen zwei Portale, die Vorbühne ein Portal mit diesen Wänden und die Bühne ihr Portal mit der Brücke drüber. Daraus ergab sich in Karlshort das Relief als Prinzip für die Gruppierungen. Die große und tiefe Bühne in Dresden dagegen hat die volle Plastik ermöglicht. In Karlshorst lief Flint auf seinem Weg zur Kreisstadt pantomimisch auf der Vorbühne, im Profil, in Dresden zog er mit seinem Prosamonolog große Kreise auf der tiefen Bühne, immer rundrum, wie ein Meerschwein in der Lauftrommel. Eins, das laut schimpft. H.T. Noch ein Beispiel? T. Günter Kurze spielte den politischen Flüchtling: Der Bürgermeister des Nachbardorfs, auf der Flucht, sucht Schutz bei Beutler in der Küche und wird ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Er hatte eine große
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Auftrittsarie. Wenn die Tür hinter ihm zu ist und er erstmal in Sicherheit, lehnt er sich dran, mit schlotternden Knien, und haucht: Ich bin auf der Durchreise, wankt einen langen Gang nach vorne zur Rampe, stützt seine Erschöpfung am Portal, und singt dabei seine tragikomische Arie. H.T. Man erzählt, dass du die in einer Vorstellung in Dresden mal selber gesungen hast – T. Markiert, markiert! Kurze war krank, und nur eine seiner beiden Rollen konnte umbesetzt werden. Ich war grade in Dresden und hab die Szene durchgestanden, zur Sicherheit mit dem Buch in der Hand. Bei der Uraufführung war die Szene einfach die komische Vernichtung eines Gegners gewesen. Sozusagen vorbildlich. Aber auch, wenn ein Problem im Stück vorbildlich gelöst wird, sehen die Zensoren nur, dass es veröffentlicht wird. Der Skandal war die öffentliche Verhandlung, Probleme gehören hinter verschlossene Sitzungstüren. Veröffentlicht werden Beschlüsse. H.T. Resultat: fünfzehn Jahre Pause für das Stück. T. Du sagst es. Nach fünfzehn Jahren war der andere Titel, Die Bauern, und die Behauptung Neufassung, obwohl nichts geändert war, Bedingung für die Aufführung an Bessons Volksbühne in der Regie von Fritz Marquardt – weil die Partei sich nicht demütigt. Der Satz ist tatsächlich gefallen. Es war fast rührend. Ich habe als Bauernregel aufgeschrieben: Das ist die Regel im Lande/Fällt Regen auf den Mist/ Ändert sich der Titel/Und es bleibt wie es ist. H.T. In Dresden ist dann wieder der alte Titel verwendet worden. T. Ohne Diskussion, ja. H.T. Wie das? T. Jede Kampagne hat ihre Zeit. Dann setzt sowas ein wie Erschöpfung, denn es ist ja, wie das Brechtgedicht sagt, anstrengend böse zu sein – oder es ist wohl doch eher ein Unter-den-Teppich-kehren, und natürlich verbunden mit Eiertänzen. Im Erstdruck, im zweiten oder dritten Band der Versuche-Reihe im Westberliner Rotbuchverlag, stand als Titel über dem Stücktext Die Bauern, aber auf dem Einband stand der alte Titel, und Fotos von der Uraufführung waren abgedruckt. Und in der vorzüglichen Neubrandenburger Puppentheateraufführung, ein Jahr vor Dresden, ist der alte Titel vorsichtig als Untertitel verwendet worden. H.T. Das sind doch alles irrsinnige Vorgänge. T. O, es gibt historische Präzedenzfälle. Veronese ist wegen seines Abendmahls von 1573 von der Inquisition befragt worden. Das Bild zeigt wirkliches Leben. Das Essen auf dem Tisch, Narren, Hunde, die sich kratzen und nach den Pasteten schnappen auf dem Tisch – die Pietätlosigkeit hat den Vorwurf der Ketzerei nahegelegt. Veronese entzog
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sich durch eine schlichte Umbenennung des Bildes. Es hieß danach Gastmahl im Hause Levi. H.T. Die Geschichte lehrt, sagt Hegel, aber sie hat keine Schüler. T. Nur zu wahr. H.T. Wer hat in Dresden die Titelrolle gespielt? T. Helga Werner – die das sehr gut gemacht hat. Aber ich habe da etwas nicht deutlich genug gemacht. H.T. Nämlich? T. Die Schwangerschaft. Sie hätte einen dickeren Bauch kriegen müssen, ich war zu diskret. Das Zeichen ist wichtig. H.T. Literaturwissenschaftler oder Dramaturgen fragen immer, warum das Stück Die Umsiedlerin heißt – und die Heldin hat kaum Text. T. Frau Niet trägt ihren Bauch durch das ganze Stück. Sie ist immer dabei – aber einsilbig, fast stumm. Erst gegen Ende des Stücks fängt der Stein an zu reden. Sie ist sowas wie ein Maßstab. Das ist ein Gedanke, der weit zurückreicht in der kommunistischen Bewegung, er findet sich schon bei Fourier, und zehn Jahre später hat Marx ihn aufgenommen in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: die weibliche Emanzipation als Maß der allgemeinen. Das stand schon im Programmheft der Uraufführung. Aber die Partei hat Marx immer für ein Schwein gehalten und sein Kind mit Lenchen Demuth verschwiegen. H.T. Bei Müller ist dieser Emanzipationsgedanke ein Motiv, das sich durch das ganze Werk zieht – was ja nicht heißt, dass die Germanisten das merken. T. Mir hätte das Gewicht, das das Bild der Schwangeren hat, klar sein müssen. Müller war – ich zögere zu sagen begeistert – er war enthusiasmiert von Gustave Courbets berühmtem Bild der nackten Schwangeren. Ein Skandalbild seinerzeit. Wir waren, vor Jahren, zusammen bei einer Ausstellungseröffnung von Ronald Paris gewesen, Paris hatte damals eine Variante des Motivs gemalt als ein gegenwärtiges Bild der Zukunft. Müller hat nichts erklärt, das hat er kaum je. Aber wie er geredet hat, hat sich mir eingeprägt. H.T. Was hast du noch für Fehler gemacht? T. Wie bitte? Weißt du nicht, dass ich eitel bin? Das Gespräch fängt an, von o.k. nach k.o. zu rutschen! Aber du hast recht, ich habe noch ein Versäumnis auf dem Kerbholz. Ich habe einen Einfall von Fritz Marquardt nicht geklaut, den ich hätte klauen sollen. Bei Fritz hat Jürgen Gosch den Landrat gespielt. Ich glaube, das war das letzte Mal, dass er als Schauspieler gearbeitet hat. Er fing damals gerade an zu inszenieren. Das hat ihm sehr geholfen bei der Rolle. Der Landrat ist ja eine deus-exmachina-Figur. Es ist die Regie des Landrats, die den Komödienschluss
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möglich macht. Aber der Landrat hat auch eine Vergangenheit. Er gehört zu der Generation, die aus dem Zuchthaus oder aus dem KZ ins Amt gekommen ist, und Marquardt hatte ihm ein verletztes Gesicht gegeben, verbrannt oder zerschlagen, große plastische Narben im Gesicht. Das war so gut, dass ich es hätte übernehmen müssen. Weiß der Teufel, warum ich es nicht getan habe. Rolf Dietrich war gut, aber die Figur ist nicht leicht zu spielen, und die Narben hätten ihm geholfen. Ein einfaches Zeichen. Nicht leicht ist die Figur, weil sie wenig Individualität hat, sie besteht aus ihrer Funktion, Funktionär funktioniert. Das hats ja auch gegeben, bis zuletzt, siehe Landolf Scherzers schönes Porträt des Meininger Sekretärs Der Erste. H.T. Und das war alles? T. Du bist unausstehlich. Nein, das war nicht alles. Von Gewicht war noch die Unausgeführtheit der Albtraumepisode am Ende des Vorspiels, der Bodenreformszene. Diese Episode ist ein Traumbild, Albtraumbild – und zugleich eine wahnsinnige Slapsticknummer: Flint – mit seinem Fahrrad, mit der roten Fahne, die der Bauer fallen lässt, um seinen Grenzstein entgegenzunehmen, mit dem Transparent, das der andere Bauer fallen lässt, um den seinen zu nehmen, mit dem Stapel Schillerundgoethe aus der Schlossbibliothek, gerettet vorm Verfeuern – und immer lässt er einen Gegenstand fallen, während er dabei ist, den vorher gefallenen aufzuheben. Und dazu steigen ihm noch die beiden Wiedergänger auf den Buckel, Friedrich der Große und Adolf Hitler. Auch dieses Zeichen war ein bisschen zu lakonisch, zu flüchtig, nicht genug ausgebeult, nicht genug plastisch. Zwei Kinder waren detailgetreu hergerichtet als Alter Fritz und als Adolf. Also irritierend kleine Ausgaben – aber sonst ganz echt. Man hätte es mehr ausspielen müssen. Z.B. hätte Hitler, während der Alte Fritz schon den Flint besteigt, erst mal zur Rampe schreiten und seine Dresdner mit dem deutschen Gruß beglücken können. Et cetera. Naja. Schön ist, sich das heute vorzustellen. Da würde einer der Dresdner Nazistaatsanwälte das Kind vor Gericht bringen wegen Zeigens verfassungsfeindlicher Gesten – was er seinen Nazifreunden nicht antun will. Und um das Kind zu retten, müsste extra das Kunstprivileg aufgefahren werden, Kunst gilt ja als unzurechnungsfähig, gesetzlich. H.T. Hübsche Idee für eine Posse. Aber zur Sache: die anderen Hauptrollen neben Frau Niet. T. Fondrak war Hans Jörn Weber. Den kannte ich von früher. Der hatte fünfzehn Jahre vorher, das war 1970, bei der ersten Aufführung meiner Übersetzung von Romeo und Julia in Magdeburg auf die Schnelle den Romeo übernommen, von Jaeckie Schwarz, der bei Shakespeare und mir immer aussteigt –
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H.T. Bist du außer eitel auch nachtragend? T. Natürlich bin ich nachtragend. Nichts wird vergessen. Fondrak ist wie Romeo eine Tenorpartie. Und Romeo ist ein tönender Phallus. Am Anfang hängt er Rosaline nach, lyrisch, aber sobald er vor Julia steht, schmettert er. Auch bei der Uraufführung hatte ich schon einen Tenor für den Fondrak, Karl Heinz Möller. Der hatte einen österreichischen Vater und hat nach der Erfahrung von 1961 versucht, illegal rauszukommen aus der DDR, wurde erwischt und hat gesessen. Später war er Oberspielleiter in Zeitz. Eine typische Tenorkarriere durch Nacht zum Licht. Weber, älter als Möller, hat mehr von dem dunklen Grund der Figur gezeigt, Fondrak war ja im Krieg gewesen. Aber Impetus war beide Male der Absprung ins hohe C! Es gab in der DDR immer eine Vorstellung von Freiheit. Dann nicht mehr. Es gibt einen Satz bei Jünger über einen Grad von Unterdrückung, wo der Zugriff so komplex ist, dass er als Freiheit empfunden wird und Schwindelgefühle erzeugt. Heute glauben ja die meisten, dass sie endlich frei sind. Es ist zum Totlachen. H.T. Horrid laughter. Da hast du ja auch ein Gedicht drüber geschrieben. T. Nach einem Buch, das mir Heiner empfohlen hatte, Rufins Das Reich und die neuen Barbaren. Charakteristischerweise kam keine der Aufführungen nach 1990 mit der Fondrakfigur zurande. Es war nicht Schuld der Regisseure oder der Schauspieler, alle haben sich angestrengt. Zu sehr angestrengt. Alle haben immer etwas gemacht. Aber Fondrak macht nichts. Weber lag auf dem Rücken im Heu, und die Freiheit stieg aus seinem Mund wie eine Fontäne. Wenn man einen Ball raufgeworfen hätte, hätte er drauf getanzt. Eigentlich eine Ejakulation. H.T. Wenn Fondrak der Held ist und der Parteisekretär ein Clown, waren da Angriffe nicht doch vorhersehbar? T. Ein Missverständnis. Heute meint im alltäglichen Sprachgebrauch der Begriff Clown den dummen August aus dem Zirkus. Aber der ist bloß ein Überbleibsel. Die Tradition der Figur ist reich an Varianten, die Bandbreite der Figur ist groß. Held ist auch kein Begriff, den ich für Fondrak gebrauchen würde. Man könnte sagen, dass beide Clowns sind, Fondrak wie Flint, Gegenfiguren. Clownsrolle und Tenorpartie aber schließen einander nicht aus. Flint ist ein Weißclown. Eine zarte Figur, nicht ohne tragische Züge. Du erinnerst dich vielleicht an diesen französischen Film mit Barrault. Wie hieß der? H.T. Meinst du Die Kinder des Olymp von Marcel Carné? Nach dem Drehbuch von Jacques Prevert? T. Genau, genau. Die Tradition des mimus albus steht hinter dem Weißclown – keineswegs glanzlos. H.T. Und Beutler?
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T. Der ist schon wieder näher dran am dummen August. Aber wie ihn Rudi Donath gespielt hat, wurde er eine bedrohliche Figur. Durch die Zeit war der Figur Bedrohlichkeit zugewachsen. Bei der Uraufführung war Beutler sehr komisch. Damals dachten wir noch, sowas kriegen wir schon hin, politisch, und haben uns einfach lustig gemacht über den Karrierismus. Aber inzwischen gab es eine Inflation. Die Karrieristen dominierten. H.T. Aber hat Beutler, der Melker, der nicht wieder in den Kuhstall will, nicht noch sowas wie Unschuld? T. Den Melkerdaumen nehm ich mit ins Grab/Den Krüppel, das weiß er. Er streckt sich einfach nach der Decke, ja. Die große Arie am Ende der Küchenszene, wenn ihn die Frau gefragt hat: Warum kriechst du dem Flüchtling in den Hintern, stieg dann aus einem bedrohlichen Summen, einem Celloton, hinauf zu stählerner Kommandohöhe bei seinem Angriff auf Senkpiel in der ersten Kneipenszene: Also du bist ein Staatsfeind/Und weil der Frieden eins mit unserm Staats ist/Bist du ein Friedensfeind. Und weil die Kinder/Den Frieden brauchen vor der Muttermilch/Bist du ein Kinderschlächter – da spricht er schon mit der Stimme Wyschinskis. Wyschinski war der Ankläger bei den Moskauer Prozessen der dreißiger Jahre. Das deutsche Pendant war Roland Freisler, der Ankläger am Volksgerichtshof, bekannt von den Filmaufnahmen aus den Prozessen nach dem 20. Juli, dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 44. Ich hatte den Tonfall noch im Ohr von meinem Ausschlussverfahren nach der Uraufführung. Da hatte Karl Holàn, später Intendant der Berliner Volksbühne, die Freislerrolle des Brüllers. Stinkende Frechheit abgrundtief – und so weiter. Das war seine Stimme, die ich in den Klettwitzer Elegien zitiert habe. H.T. Beutler fängt an als Kreatur der Großbauern. T. Das sind die überkommenen Machtverhältnisse im Dorf, ganz natürlich, das Normale. Da ist er ein Virtuose, wie sein Umgang mit dem alten Gefährten Ketzer, oder der mit dem Bürgermeister-Kumpel vom Nachbardorf zeigt. Wenn er sich umorientiert, und wird rot wie die Sünde in der Heiligen Schrift, ist er ein Anfänger und übertreibt. Die nächste Generation, wenn die neue Ordnung dann das Normale ist, hats gelernt von der Pike auf. Ich hatte das exemplarisch vor Augen. Meine Frau hat lange bei Radio Berlin International gearbeitet, dem Auslandssender der DDR, wie im Westen die Deutsche Welle. Der war ziemlich spät aufgebaut worden, mit vielen Westemigranten, gestandenen Leuten mit politischer Erfahrung. Natürlich auch mit Ausländern. Ich habe darauf gesehen immer in Abständen, mal bei einem Betriebsvergnügen, mal, wenn ich im Funk woanders zu tun hatte. Mit den Abständen sieht
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In der Uraufführung durch die FDJ-Studentenbühne der HOPLA in Berlin-Karlshorst ist der Bürgermeister Beutler dabei „rot zu werden wie die Sünde in der Heiligen Schrift“: Günter Schlepps und Monika Heiland.
man deutlicher, und von Gelegenheit zu Gelegenheit fiel mir auf, wie sich das änderte, als die DDR-Kader nachrückten. Ausgesucht und
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befördert wurden die Karrieristen. Und in anderen Bereichen war es nicht anders. Im Stück ist Siegfried, der FDJodler, wenn er uns im Nachspiel, nach zehn Jahren, wieder vor Augen kommt in der Agitationsbrigade bei der Vollkollektivierung, ein Musterexemplar. Zusammengesetzt aus tönenden Phrasen: Mach dich frei/Zerbrich die Ketten, die dein Eigentum/Dir anlegt, reiß die Binde von den Augen/Und geh mit uns in eine lichte Zukunft. Tönende Phrasen und bürokratische Amtssprache: Der Kollege Rammler/Hat seiner Perspektive durch die Flucht sich/Entzogen. Thomas Förster, der den Siegfried gab, hat das vorzüglich gespielt. Den Jungfunktionär hat er dann fortgeführt in Westberlin in meiner Germania-Inszenierung, als Profalla oder Hinze des DDR-Präsidenten, 1990 zum Anschlussdatum. H.T. Und die Großbauern? T. Horst Krause und Joachim Zschocke waren ein wunderbares Großbauernpaar. Krause, der Rammler gespielt hat, hat ja inzwischen Karriere gemacht bei Film und Fernsehen. Aber wirklich gut. Übrigens sehe ich heute keinen Krimi mehr im Fernsehen ohne Schauspieler, die ich irgendwann mal auf der Bühne hatte. Und Zschocke hat im Epilog wirklich die Tragödie gespielt: die Flüche auf die untreue Gefolgschaft, den Hund und die Frau, von biblischer Größe. Schluchzend: In meinem Stall steht kein Stück Vieh, das nicht/Von mir wär – das ist natürlich wahnsinnig komisch, und zugleich tragisch. Ein Jammer, dass er nie den Lear gespielt hat! Das Einzige, was die beiden Herrn nicht konnten, war die Symmetrie der Molière’schen Betrunkenheitsszene, wenn die besoffenen Großbauern nach Hause torkeln von der Versammlung mit dem Landrat. Für die Laien bei der Uraufführung war es kein Problem, dieses Ballett zu tanzen. Diese Schwierigkeit hatte ich auch schon bei dem Zigarrentausch von Großbauer und Mittelbauer in Strittmatters Katzgraben am BE. Die beiden Assistenten haben das aus dem Hut vorgespielt, die Schauspieler konntens nicht. Die Professionalität verlangt irgendeine unsinnige Unterfütterung. H.T. Stichwort Tiere auf der Bühne: Ketzers sterbendes Pferd, dann Treibers Hund, für die Agitatoren als Einziger gefährlich als Verteidiger des Hofs. Der Arbeiter setzt ihn außer Gefecht mit der mitgebrachten Wurst. Dann das Pferd in der Versammlung, weil der Bürgermeister gesagt hat Alles was Beine hat – wie seid ihr damit umgegangen? T. Ketzers Pferd und Treibers Hofhund gehören zur Personage und wurden von Schauspielern gespielt. Den Hofhund von Treiber hat Koerbl gespielt, der Ketzer gespielt hat, das war der Witz. Aber das Pferd in der Versammlung ist ein Witz der Bauern. Sie verarschen den Bürgermeister – und ein Witz ist da nur ein wirkliches Pferd, Fremdkör-
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per in der Versammlung und Fremdkörper auf der Bühne. Ein unkontrollierbares Element, eins jenseits der Sprache. Müllers Sprache hält das aus, die Obrigkeit nicht. Das Pferd war der einzige Konflikt mit dem Intendanten. Wolfram fand den Witz blöd – auch, weil es wirklich schwierig wurde mit der Beschaffung und dem Transport und der Unterbringung und der Versorgung des Pferds. Das echte Pferd war wichtig, gerade, weil am Anfang ein Schauspieler Ketzers Pferd spielt. Kube hat das ganz fabelhaft gemacht. Er hatte einen Pferdekopf auf und wurde am Zaum geführt. Der Kopf war sehr gut gemacht. Die Kleider, die er als Senkpiel trug – die andre Rolle, die er im Stück gespielt hat – Hemd und Weste und Hose, musste er gar nicht wechseln für das Pferd. Was er gespielt hat, hat genügt. Wenn Ketzer es absticht, hebt das Pferd den großen Kopf, prustet und fällt um. Und Kube hat noch, ganz exakt, einen Augenblick mit den Hufen gestrampelt. Die Hufe gabs nicht. Aber man sah sie. Kube hat genau das gemacht, was man zeigen nennt, episches Theater. Und das war kein Verlust an Emotionalität, alles Quatsch, was darüber theoretisiert worden ist, Brecht hätte es gefallen. Kube war auch als Senkpiel sehr gut. Der Ton der Renitenz bis zur Provokation war schnell zu treffen zu der Zeit – na, eigentlich immer. Justus Fritsche hatte es schwerer. Der hat den Kreissekretär mit dem Motorrad auf der Landstraße gespielt. SED auf Zündapp, wie der politische Flüchtling sagt. Es war schwierig für Fritsche, den Grundgestus dieser Obrigkeit zu treffen. Der war anders gewesen in der Frühzeit, der Zeit vor fünfunddreißig Jahren, anders als in dieser Endphase, die ja schon angebrochen war, wo die Funktionäre schon unsicher waren. Ein Zufall kam uns zu Hilfe: Gysi war angesagt im Theater zu einem sogenannten Forum – der alte Gysi, damals schon lange nicht mehr Kulturminister, sondern Staatssekretär für Kirchenfragen – zu einem Forum am bildungsfreien Vormittag. Dieser Begriff sagt zwar das Gegenteil von dem, was er meint, aber das hat keinen gestört. Natürlich bin ich hingegangen. Ich kam etwas zu spät, es hatte schon angefangen, und Gysi wurde gesagt, wer das ist. Er hat neugierig geguckt, mein Fall war dem Amte wohl bekannt. Das Forum nahm seinen gewöhnlichen Verlauf, Regierung und Bevölkerung im Gespräch, beflissene Fragen betont freimütig und tückische Fragen ganz unschuldig gestellt, die Antworten von Gysi witzig. Er war eine Ausnahme und vermied die üblichen Phrasen. Zum Beispiel erzählte er, wie er den alten, von Honecker abgesetzten und gedemütigten Ulbricht getroffen hatte bei einem Spaziergang im Park. Ulbricht saß auf einer Bank, und als er Gysi sah, sagte er, mit einer knappen Handbewegung: Kommaher. Erzähl mir ma was Gudes. Gysis witzige Antwort, wegen der er die Anekdote zum Besten gab, er war durch-
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aus eitel, hab ich vergessen. Aber der Grundgestus für den Kreissekretär war gefunden. Das knappe pragmatische Kommando mit der Handbewegung dazu. Das war der Sekretär. H.T. Schöne Geschichte. Koerbl war der einzige Gast? T. Nein. Marie Gruber als Schmulka hatte auch einen Gastvertrag. Und Rosemann war Gast, wurde aber engagiert in der Folge. Der spielte den Wirt. Die Theke hatte ich sehr hoch bauen lassen, erstmal aus ganz pragmatischen Gründen, weil sie weit hinten stand. Die Umsiedlerin sah davor klein aus – wenn sie warten muss auf das Bier für den Liebsten, bis Flint den Wirt anpfeift. Und Krüger, hinter der hohen Theke, stand über seiner Wirtschaft leuchtend wie ein Vollmond. Aber für seine große zweiteilige Arie, das Klagelied des Kleingewerbetreibenden im sozialistischen Deutschland, stand er, wie es dem Sänger zukommt, vorn in der Mitte, direkt am Souffleurkasten. Und da findet auch, nach der Arie, die Demütigung vor dem Kneipenpublikum statt. Die Traktoristen lassen ihn die Geldscheine schmecken, die er vorgibt, so zu verachten. H.T. Und Marie Gruber? T. Die Schmulka hatte in Berlin, in der Volksbühne, Walfriede Schmitt als groteske Dorfsexbombe gespielt. Sie hat das bravourös gemacht, aber es war kein freundliches Bild der Figur. Richtig fand ich es nicht. Das war Fritz mit seiner protestantischen Moral. Das Potiphar und Joseph-Bild von Siegfried und Schmulka am Heuhaufen auf der Wiese, sie nackt und er im Blauhemd mit dem Bücherstapel, war von klassischer Schönheit. Und Marie Gruber und Thomas Förster waren rührend komisch. Übrigens war Janina Hartwig, die die Rolle übernommen hat für die Tournee im Westen, auch sehr gut. H.T. Hab ich das richtig verstanden – die Gäste durften nicht mit bei dem Gastspiel in der BRD? T. So ist es. Ein Wermutstropfen. Die Kleinlichkeit dieser Funktionäre, ihre Popligkeit: Wenn wir die schon fahren lassen müssen – gerade war das Kulturabkommen geschlossen worden, und Beschluss ist Beschluss – dann wenigstens diese kleine Rache. Die alte deutsche Beamtentugend, die auf eine Vorschrift zeigt und damit demonstriert, wer die Macht hat. Übrigens ist bei der Reise dann keiner abhanden gekommen. Man hat hinterher Witze gemacht über die Enttäuschung der Behörde, dass alle wieder da sind: Ich habe das Vertrauen, das die Genossen in mich gesetzt haben, schändlich missbraucht und bin zurückgekommen. H.T. Witzemachen war eine Existenzform in der DDR. T. Ja. Obwohl es einem auch vergehen konnte. Trotzdem haben wir auch neben der Arbeit allerlei Allotria getrieben. Ich hatte in Leipzig Freund Czechowski besucht, den Dichter, 1984, als grade 35. Jahrestag
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Das Potiphar und Joseph-Bild: Schmulka und der FDJodler Siegfried auf der Wiese (M. Gruber und T. Förster).
war. Wir zogen durch Leipzig und haben Honeckers Textverschleifungen nachgemacht. Fünfereicheheutscheratscheplik, das hieß: fünfunddreißig Jahre Deutsche Demokratische Republik. Wahrscheinlich hat man uns für Verrückte gehalten, oder für besoffen. Auch die Namen haben wir zermanscht: Eschocker, Schatzratzvotzener – Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender, und Maschocker, Volksillungssister – Margot Honecker, Volksbildungsminister. Diese Sprachspielereien haben wir in Dresden weiter betrieben: Maruber, Schaulerin – Marie Gruber, Schau-
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spielerin, Koerbl mit meinem Namen: Drall(e)hn, Reschisser – Tragelehn, Regisseur, das zweite e in meinem Namen als ganz schwache Silbe, fast nicht vorhanden, und doch mit dem Dehnungs-h. Kinderspiele. Aber als Spiel mit der Sprache hatten sie auch wieder zu tun mit der Arbeit. Und der Gegenstand, mit dem gespielt wurde, war eh klar: Mit der Muh, mit der Mäh, mit der DeDeRr-tätä. Eine historische Errungenschaft der DDR: Sie war der erste deutsche Staat, der zwar autoritär, aber keine Autorität war. Schon die Kinder haben ihn verscheißert. H.T. Und Koerbl? T. Koerbl war, Koerbl ist Autor. Ich hatte mit seiner Frau über das Bühnenbild schon geredet, als ich ihn in Leipzig traf. Ich war da zur Woche der zeitgenössischen Dramatik, ich wollte, ehe ich in Dresden antrat, nachsehn, was es inzwischen so gab im DDR-Theater. Es waren immerhin schon zehn Jahre vergangen seit meiner letzten Premiere in Ostberlin. In Leipzig hab ich Koerbl überredet, den Ketzer zu spielen. Er hat danach weitergearbeitet als Schauspieler. Bei Müller hat er im Hamlet den Horatio gespielt im Ostberlin der Wendezeit, bei mir in Westberlin mehrere Rollen in Germania Tod in Berlin, Premiere zum Anschlussdatum. Und dann hat Müller ihn ans BE engagiert, und dort hat er vorm Ende noch den alten Kardinal bei mir gespielt, im Galilei zu Brechts hundertstem Geburtstag. In Dresden war er ein bisschen ein Fremdkörper im Ensemble. Aber das war gut für die Rolle. Und es ließ sich balancieren, es wurde nicht zum Problem. Die Szene ist ja im Stück auch ein Fremdkörper. Eine Tragödie als Ausgangspunkt einer Komödie. Ich erinnere mich daran, wie ich die Szene zuerst gelesen habe. Das war schon nicht mehr in Lehnitz in der Siedlung im Walde, sondern in Berlin in Pankow am Kissingenplatz. Wir saßen am Tisch, und Heiner überreichte mir die fertige Szene, eine Reinschrift in einer extra Mappe, er war ganz stolz. Und ich war hin. Über die Szene hatten wir nie gesprochen vorher. H.T. Erinnerst du dich an mehr aus der Entstehungszeit? T. Kern des Stücks ist die Szene in Beutlers Küche, wie sie bei der Seghers erzählt ist, in den Friedensgeschichten. Die Szene war schon geschrieben, in Prosa, als wir uns kennenlernten 1957. Aber natürlich ist sie dann noch sehr verändert worden, es ist viel dazugekommen. Von Seghers’ Erzählung sprach Müller immer als dem Magneten, um den er seine Eisenfeilspäne sammeln konnte. Gewachsen ist das Stück in Ringen, Wachstumsringen, wie man sie an einer Baumscheibe sieht. Die Rinde – das Vorspiel und das Nachspiel: Bodenreform 1946 und Vollkollektivierung 1960 – ist zuletzt geschrieben, im Sommer ’61. Die Geschichte selber umfasst nur wenige Tage. Sie beginnt mit der Ketzertragödie – kurz bevor die Traktoren kommen, die die Tragödie überflüs-
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sig gemacht hätten. Zur Komposition der Musik, zu ihrer Struktur, gehört, wie die Nachrichten durchs Dorf sickern, Todesnachricht und Ankunftstermin, die Dorfstraße als Rinnsal, der Dorfkrug als Sammelbecken. Das Ganze ist ein Gewebe vieler vieler vieler Motive, die sich alle aufeinander beziehn. Ich hab dazu immer gesagt, später, es ist komponiert wie eine Sinfonie von Mahler. Es gab viel Material, Erinnerungen von Müller aus der Nachkriegszeit, Material, irgendwann notiert, als noch ganz unklar war, was draus werden wird. Nach Kriegsende hatte Müller in Waren im Landratsamt gearbeitet und zugehört, wenn die Bauern kamen und sich beschwerten. Was er draus gemacht hat, erstmal – na, es ist sowas wie in einem Handbuch oder Lehrbuch für den Agitator, eine Darstellung wie man mit den Bauern reden müsste, richtig reden und nicht, wie üblich, falsch. Wie man Überzeugungsarbeit leistet. Ich hab es erst im Archiv gelesen nach seinem Tod. Davon ist natürlich nichts direkt in den Text eingegangen. Aber von vielen Stellen im Stück kenn ich die Quelle, weil er davon erzählt hat. Ich/Hätt auch gern Kommunismus, die Idee/Ist gut. Wenn nur die Menschen besser wärn: Sätze von Rammler, die stammten von Heiners Zahnarzt. Die Sätze waren 1961 viel komischer als 1985. Nicht dass Krause was falsch gemacht hätte, sondern historisch. Beim Sprudeln einer anderen Quelle warn wir beide am Ort, der Bühne des Gorki Theaters. Bei den Proben zu Lohndrücker gab es unter den Bühnenarbeitern einen Witzbold, der den Regisseur gerne hochnahm. Der Regisseur war Mäde, Hans Dieter Mäde, der dann eine große Karriere gemacht hat, er war Intendant erst in Karl-Marx-Stadt, dann in Dresden und der Liebling von Ulbricht, zuletzt lange Generaldirektor der DEFA. Das Gorki Theater war ja in den Fünfzigern die Kaderschmiede für Theater, Film und Fernsehen, das, was man heute Karrieresprungbrett nennt. Den Mäde hat der Bühnenarbeiter immer gefrotzelt, er sagte: Den? Den schlachsch ungeschpitzt inn Boden, ich bin siem ma vorbeschtraft wegen schwerer Körperverletzung, zwei ma mit dödlichem Ausgang. Den schlachsch ungeschpitzt inn Boden. Mäde hatte dann immer ein leicht irres Lächeln im Gesicht, und die Augen irrten hin und her – weil ja die Arbeiterklasse sprach. Den Text hat Heiner einem der beiden Traktoristen gegeben für den Streit im Dorfkrug. Keim der Nachtszene mit dem Traktoristen waren Verse aus einem Gedicht von Riegel: Schön ist der Mond über Polen/Einen Genickschuss lang – der Dichter Werner Riegel, der früh gestorben ist, war ein Freund von Peter Rühmkorf. In Lehnitz, noch in Lehnitz in der Thälmannsiedlung, in seinem kleinen Arbeitszimmer, hatte Heiner die getippten Blätter aus dünnem Durchschlagpapier – die alte Schreibmaschine war übrigens von Friedrich Wolf, sie hatte Macken, alle kleinen t-s standen hoch in der Zeile, Wolfs Witwe,
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die zwei Häuser weiter wohnte, hatte ihm die Maschine geschenkt – , die getippten Blätter hatte er an die Wand geheftet, untereinander. Wenn man zurücktrat, konnte man den Szenenablauf überblicken, wenn man herantrat, konnte man die einzelne Replik lesen. Wir haben immer wieder alles hin und her gewälzt, stundenlang. Wir vergaßen die Zeit. Inge beschrieb uns, wie in Abständen unser Lachen zu hören war nebenan. H.T. Und du hast ein Gedicht drüber geschrieben, die Lehnitzer Elegie. In dem Duett von Fondrak und Flint in der zweiten Dorfstraßenszene, soll ein Vers von dir sein – wird kolportiert. T. Ich war nicht mal die Quelle, nur Überbringer des Wassers der Quelle. Die Pointe ist, dass ich den Satz, den du meinst, gehört habe im Tagebau, nachts auf Kippe beim Warten in der Bude auf den nächsten Zug mit Abraum. Da sitzt man bei einem müden Licht und döst und erzählt Witze und blödelt. Einer fing an, das Vaterunser aufzusagen und merkte tiefsinnig an: Den Quatsch merkt man sich – und Witze vergisst man. Oder auch andersherum: ein Satz in der Kinodiskussion der beiden FDJodler, Heinz und Siegfried: Glaubst du Filme? wurde nochmal beglaubigt von der Realität. Auf einer Fahrradtour über Land war einer auf Dreharbeiten der DEFA gestoßen und redete von seiner Enttäuschung, dass Filme gar nicht wahr sind. Und nachts in der Bude ist auch der Spruch rezitiert worden: Zeig mir ein Mauseloch, ich fick die Welt. Zehn Silben, die man alternierend betonen kann, das hätte schon als Blankvers durchgehen können. Heiner hat einen wunderschönen, fliegend leichten Vers draus gemacht durch zwei winzige Änderungen: Zeig mir ein Mausloch und ich fick die Welt. Den hat dann Fondrak gekriegt. Um Fondrak ein Mal zu widersprechen: Wasser in Wein verwandeln, das kann eben doch nicht jeder. Müller konnte. H.T. Der Vers war also bei der Uraufführung noch nicht da. T. Ein kleines bisschen mehr. Das Duett von Flint und Fondrak ist die einzige Szene, die in der Uraufführung noch gefehlt hat. Oder: die noch nicht geschrieben war. Denn das Vorspiel, die Bodenreformszene, hatte ich zwar probiert, hab sie aber in der Vorstellung weggelassen, und zwar, weil damals noch eine Gegenszene vorgesehen war, als Abschluss. Die Grenzsteine, die am Anfang mit dem Handwägelchen und der Musik einer Quetschkommode ausgefahren worden sind, sollten mit einem Leiterwagen und der Musik einer Blaskapelle am Schluss wieder eingesammelt werden. Das ist natürlich überflüssig, und sie ist nicht geschrieben worden. Das Duett von Fondrak und Flint dagegen ist lange überlegt gewesen – war aber eben im September ’61 noch nicht da. Es ist dann so etwas wie das utopische Herzstück geworden. Ein historischer Augenblick, leider ohne Folgen. Der Anarchist und der Parteifunktionär haben
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H.J. Weber und P. Hölzel beim Duett Fondrak-Flint.
einen Augenblick – na, nicht gerade von Gemeinsamkeit, aber sie reden miteinander. Die Utopie in dem Duett ist die einzige wirkliche Hoffnung, Novalis: Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Kennst du das schöne Gedicht über den magischen Zirkel am Ende des Ofterdingen-Romans? H.T. Ich kenn es. T. Sags. Weil ich es so gerne höre. H.T. Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen Mehr als die Tiefgelehrten wissen Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt wird zurückbegeben Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden gatten Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten Dann fliegt von Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. T. Sehr schön. H.T. Ich kenn es von Heiner Müller. T. Das hab ich mir gedacht. H.T. Bühne und Kostüme waren von Gabriele Koerbl.
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T. Ich hatte schon lange mit ihr arbeiten wollen. In Potsdam hatte ich sehr schöne Arbeiten von ihr gesehn. Aber ich bekam sie nicht aus der DDR raus. Dresden war endlich die Gelegenheit. Aber es wurde schwierig. H.T. Warum? T. Wenn eine Produktionsgenossenschaft entsteht – und ich hab fast immer geschafft, dass eine entsteht – dann muss man dazugehören, und das heißt Anwesenheit, Dabeisein. Mitmachen ist entscheidend. Gabriele wurde krank und war nicht da. Und wenn sie mal da war, wusste sie nicht Bescheid und gehörte nicht dazu. Ein paar Informationen tun es da nicht, man muss mitschwimmen im Strom. Wenn Wirbel entstehn, das macht nichts. Aber nicht drin sein, das geht nicht. Sie wurde auch unleidlich. H.T. Was habt ihr gemacht? T. Wenn so eine Genossenschaft entstanden ist und funktioniert, dann kann man erstaunlich viel auffangen, Krankheiten oder andere Ausfälle. Für die Kostüme haben wir eine Zeitungsannonce aufgegeben und Altkleider gesammelt. Wir haben eine junge Frau als Helferin engagiert, Marlies Lichtenthal. Die war ganz vorzüglich, einfach praktisch, man musste ihr nichts erklären. Sie sortierte die gesammelten Sachen in einem Raum neben der Probebühne, und wir haben uns bedient. So wurden die Kostüme auf der Probe entwickelt mit der Figur. Es war dasselbe Verfahren wie bei der Uraufführung. Ich hab das überhaupt immer in die Richtung gebogen. Ideal lief das in der Zusammenarbeit mit Ilona Freyer, bei Wie es Euch gefällt in Babelsberg mit den Studenten der Filmhochschule. Ilona saß mit einer Nähmaschine in einem Raum neben der Probebühne, und aus allem möglichen Alltagszeug wurden Phantasiekostüme entwickelt für den Hof und für das Arkadien in den Ardennen. Oder bei Müllers Schlacht in Düsseldorf. Freund Loepelmann hatte einen Autounfall und fiel aus, und seine Frau, Erika Landertinger, die die Kostüme machen sollte, musste ihn pflegen und fiel auch aus. Aber zusammen mit dem hervorragenden Chef der Kostümabteilung, Herrn Zemma – den hatte Gründgens aus Berlin mitgebracht vom alten Staatstheater am Gendarmenmarkt, er ging leider gerade in Pension, als ich ’87 wieder nach Düsseldorf kam – hab ich das ohne Götz und Erika hingekriegt. Also: Alles geht, wenn man elisabethanische Verhältnisse herstellt. Mit Kazuko Watanabe war es auch wieder so eine ideale Zusammenarbeit wie mit Ilona Freyer. H.T. Und was hat die Koerbl gemacht? T. Gabriele Koerbl lebte damals auf einem alten Gehöft im Oderbruch. Sie hatte angefangen, hauptsächlich zu malen. Übrigens sind ihre
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späten Bilder, vor ihrem frühen Tod, hinreißend – und ganz unbekannt. Aus dem Oderbruch kam ein wichtiger Beitrag: altes Holz. Eine alte Schuppentür, eine alte Schubkarre. Wunderbares, altes, silbergraues Holz. Ich hab eine weiße Probenwand genommen und die echte alte Schuppentür einfach reinsetzen lassen – die Ketzerkate. Als Schindeln hab ich ein paar von den grauen Brettern lose annageln lassen über der Tür, die riss Ketzer ab und schmiss sie nach dem Solleintreiber. Die riesige Bühnenfläche hat es erlaubt, einzelne Elemente, den Herd, den Tisch, die Eingangstür bei Beutler, als Zitate zu präsentieren: Aus der Realität herausgeschnittene einzelne Elemente sind auf die Bühnenfläche zitiert. Und weil die Bühne so groß ist, blieben dazwischen lange Wege, das Ganze hatte Luft. Die Einzelteile sparsam, knapp, aber ganz real. Der Heuhaufen in den drei Szenen auf der Wiese, das war echtes Heu und wurde auf der Bühne zum Zeichen. Zwei Vorstellungen lang konnte man es im Parkett auch riechen. Nach vieren musste es erneuert werden. H.T. Das Haus kanntest du ja von früher. T. Aber ja. Das erste Mal war ich da als Kind im Weihnachtsmärchen, noch während des Krieges: Das tapfere Schneiderlein mit Alfons Mühlhofer als Schneider und Kottenkamp als König. Der hatte die Krone schief auf dem Kopf wie bei Benjamin im Barockdramabuch. Der Schneider musste in der Theaterfassung nicht ein Einhorn, schwer darstellbar, sondern einen Bären erlegen. Den Bären spielte der Sohn des Kassenchefs der Staatsbühnen, ein junger Schauspieler, Herr Schmieder. Schmieders wohnten bei uns im Haus in der Johannstadt zweiter Stock rechts. Das Schauspielhaus ist dann gleich nach dem Krieg wieder aufgebaut worden, innen modern, aber in den alten Proportionen. Ein fabelhafter Bau mit einer wirklichen Raumbeziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern – nicht so ein Monstrum wie viele Neubauten in Ost und West. Das Holz des weiten Bühnenbodens war in Dresden nicht, wie im Westen und heute überall, grau zugestrichen, sondern naturbelassen und durch langen Gebrauch gealtert. Und der Rundhorizont war gemauert, und oben war er gewölbt, ein Kuppelhorizont. Bei Licht von vorn kann man nicht sehn, dass da viele kleine Löcher drin sind mit Lampen. Aber aus dem Dunkel leuchtete der schönste Sternenhimmel. Man sah ins All. Die Prägnanz konnte keine Projektion erreichen, bei den Gastspielen. Bei der Arbeit an der Uraufführung hatte ich formuliert: Das Leben auf dem Lande steht für das Leben im Lande, und gemeint war das politisch und aktuell. In Dresden, zwanzig Jahre später, war klar, dass es mehr ist: Das Dorf ist die Welt. Die Dorfgemeinschaft steht für die Menschengemeinschaft. Unter ihr die Erde und über ihr der Himmel. Erde und Himmel, in ihrer Verbindung und ihrem Gegensatz, sind gattungsge-
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schichtlich vielleicht das älteste Modell der Wahrnehmung und Strukturierung von Raum. H.T. Bist du auch in deiner Schulzeit im Schauspielhaus gewesen? T. In den Oberschuljahren sehr oft. Ich bekam Karten über den Jugendring der FDJ. Für eine Mark oft die teuersten Plätze, die nicht verkauft waren. Die Karten holte man ab im Wintergarten der Mutschmann-Villa am Großen Garten. In der Villa saß jetzt die FDJ. Das war in der Zeit, als Martin Hellberg Intendant war. Sein alter Freund Alfons Mühlhofer war ein wunderbarer Schauspieler, unvergesslich. Ich habe ihn in vielen Shakespeare-Rollen und als Mephisto gesehen, als Riccaut und und und. H.T. Mit den Schauspielern in Dresden hattest du offenbar keine Probleme – wie im Berliner Ensemble bei der Neuinszenierung von Katzgraben 1973. Schon Brecht hatte ja mit den Schauspielern Probleme, und du dann noch mehr. T. Ich sehe noch Gillmann – der hat den Mittelbauern gegeben bei der Wiederaufnahme im Herbst ’55. Der ging vor der Probe mit seinem Dackel an der Leine über die Bühne von der Hofseite zur Garderobe durch die Dekoration der Großbauernstube. Da hing ein Spruch an der Wand: Gott gibt die Kuh/Doch nicht den Strick dazu, Gillmann mit seiner Quäkstimme: Gott gibt die Kuh/Doch nicht das Stück dazu. Brecht hatte auch Schwierigkeiten, ja – aber kein Vergleich! Ihn haben sie es nicht so merken lassen. Als ich im BE wieder anfing – mit Katzgraben, weil Umsiedlerin noch nicht wieder ging, vor allem natürlich mit mir nicht ging – war ich für die Schauspieler ein No-name. Ich hatte meine Mühe mit ihrer Berliner Luxussituation. Unkündbar auf dem Karrieregipfel, darüber gabs nur noch den Westen. In Ostberlin waren alle Gelegenheiten zum Geldverdienen, Film, Funk, Fernsehen, Synchron beinander. Auto und Datsche und Segelboot und Reitpferd, und dazu die Angst, den Ruhm des weltberühmten Theaters mit dem sozialistischen Mist zu beschädigen – nein, in Dresden war es ganz anders. Da hat die soziale Sicherheit von Schauspielern in der DDR eine positive Rolle gespielt. Sie hatten keine Angst. Ein Riesenstück, vier Stunden mit Pause, und nur vierstündige Proben, nicht wie im Westen fünfstündige, von einer winzigen Probebühne auf die riesige Bühne: Da wären im Westen die Schauspieler vor der Premiere mit offenen Nervenenden rumgelaufen und hätten psychotherapeutische Behandlung gebraucht. Das war in Dresden unnötig. Man machte einfach seine Arbeit. Ich hatte Renate Ziemer mitgebracht aus Berlin. Sie schrieb meine Anmerkungen auf und gab nach Durchläufen den Schauspielern die Kritik schriftlich, so, wie ich es bei Brecht gemacht habe. Es ist tatsächlich
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Die Nachtszene mit dem Traktor.
das einzige Mal gewesen, dass es mir gelungen ist, das so zu organisieren. Sie war später jahrelang die Sekretärin von Müller. H.T. Also keine Konflikte mehr. T. Müller als Autor war inzwischen berühmt genug, ich als Regisseur auch. Und unfruchtbare Diskussionen wurden vermieden, auch indem wir, nicht ohne Wonne, uns in die Musik dieser Oper gestürzt haben. Und die Musik ist eben sächsisch! Wir haben im Sächsischen gebadet. Hölzel kam eines Tages in die Kantine, er war mit seiner Tochter ins Theater gefahren, und fragte: Was isn das: Inderni? Wir kamen nicht drauf – natürlich dachten damals alle an eine Zusammensetzung mit Inter-, an Intertank und Intershop. Aber Hölzel hatte das Auto gewaschen, und als er unterwegs die Scheibe abwischte, fragt die Tochter: Sch denge, du hasds Audo gewaschn, Babba? Und er sagt: Inderni. Übersetzt für Fischköppe und für Bayern: Innen doch nicht. Haben wir gelacht. H.T. Ich bin aus Bergen – zwar nicht aus Norwegen, aber auf Rügen. Jetzt erkläre mir Fischkopp das Sächsische. T. Ja, in der DDR gab es Sachsen, Hauptstädter und Fischköppe. Nach dreizehn Sommerhalbjahren auf der Insel Ösel vor der Rigaer Bucht bin ich jetzt auch ein halber Fischkopp. Also: Der sächsische Dialekt ist zu oft, fast immer, als Mittel benutzt worden. Ein fauler Irrtum – zu denken, wenn man was auf Sächsisch sagt, ist es schon komisch. Wenn man nach drei Minuten noch hinhört, gähnt man schon. Komisch
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sein zu wollen ist immer ein Fehler, komisch ist nur Ernsthaftigkeit. Und der Dialekt – ein Beispiel von Goethe hab ich ja schon zitiert, aber Goethe hat sich auch dezidiert geäußert dazu: dass man sich das nicht nehmen lassen soll: Der Bär brummt aus seiner Höhle, in der er geboren ist. Die Mundart ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele Atem schöpft. Natürlich – als der Bayer Bierbichler in der Vorstellung war, hat er manches nicht verstanden, wie ich manches nicht verstehe, wenn bayerisch geredet wird in einer Inszenierung von Achternbusch oder von Kroetz. Aber die Musik ist auch für Ausländer wahrnehmbar. Heiner Müller hat Robert Wilson in die Vorstellung geführt, und der fand den sound enorm. Andererseits war da aber auch eine Gegenständlichkeit, Abbildung. Heiners Mutter, die er auch irgendwann mitgenommen hatte, sagte von Hölzels Flint: Wie Babba. Der Ansatz bei der Arbeit, der Ausgangspunkt war simpel. Brecht ließ Schauspieler, wenn sie nicht den einfachen direkten realen Ton fanden, in ihrem Dialekt reden. Das half ihnen. Es mobilisiert auch die Erinnerung. Und es hat, vor allem, auch eine politische Implikation. Im Dialekt ist es schwerer zu lügen, schönzufärben. Müller hat natürlich hochdeutsch geschrieben, aber seine sprachlichen Wurzeln sind, wie gesagt, sächsisch. Und die sächsische Aussprache steigert das Pathos ungemein. H.T. Ein hochdeutscher Text wird im Dialekt gesprochen – : Mundart und Pathos? T. Na – eigentlich würde ich gerne Jargon sagen. H.T. Jargon und Pathos? T. Ich würde gerne Jargon sagen im Sinne Kafkas. Der Jargon, sagt Kafka, hat keine Grammatiken. Liebhaber versuchen Grammatiken zu schreiben, aber der Jargon wird immerfort gesprochen, er kommt nicht zur Ruhe. Das Volk lässt ihn den Grammatikern nicht. Er besteht nur aus Fremdwörtern. H.T. Fremdwörter? T. Ja, Fremdwörter. Fremd ist auf Erden die Sprache Gottes. Ich zitiere – na, wenigstens beinahe – Scholem. Nicht Werner, den im deutschen KZ erschlagenen Kommunisten, sondern seinen Bruder Gerhard, der beizeiten, zehn Jahre vor Hitler, nach Palästina ausgewandert ist und dann Gershom hieß. Aber natürlich sind das Gedanken für die happy few. Für die, die noch oder wieder einen Begriff von Kommunismus haben, der wetterfest und wandelbar ist: Poesie – als Vorschein einer vernünftigen Organisation des Stoffwechsels von Mensch und Natur, gemeinschaftlicher Produktion freier Individuen, Differenz steht nicht mehr unter Strafe. Poesie – als Essenz der Sprache, eine Essenz, aus ihrem Kern gewonnen, den Namen.
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H.T. Fremdwörter, Sprache Gottes, Namen – T. Jaa! Namen. Ganz einfach die Substantive, Namen der Dinge. Wie Adam die Dinge benannt hat. Praktisch geht das auch wieder auf Brecht zurück. Er hatte auf einer Galilei-Probe – zufällig hab ich grade meine alten Notizen wiedergefunden aus dem Winter ’55/’56 – zu einem Schauspieler gesagt Man hat im Deutschen ein schönes Mädchen gesehn. Ausschließende Betonung, also ein schönes Mädchen, ist unnötig, oder sehr selten nötig. Und wenn du dir alte Aufnahmen anhörst von großen Schauspielern, wirst du bemerken, dass sie von Gegenstand zu Gegenstand denken. Dazwischen Parlando. Das reduziert die Zahl der Betonungen beträchtlich. Die Unsitte ist ja, den Text dem Hörer zu erklären. Mit dem Ergebnis, dass er ihn nicht versteht. Denn er ist, wenn er erklärt werden muss, offenbar schwer verständlich. Das nennt man Interpretation. Das Von-Name-zu-Name-Denken heißt, den Text Vom-Blatt-Singen, Note für Note sozusagen. Tatsächlich ist mir das erst – auch mit der Hilfe von Böhmel – bei den Proben in Dresden ganz klar geworden, diskursiv formulierbar, also transportabel geworden. H.T. Da sind doch aber auch norddeutsche Namen, wie Senkpiel. Und die Umgesiedelten aus dem Osten sprechen auch nicht sächsisch, Marjellche klackert mits Jelbe vons Ej. T. Das hat Junge auch gesagt, Friedrich Wilhelm Junge. Der hat Kupka gespielt, der aus Astprejßen weg ist. Dass der Gesichtspunkt auftauchte, war zu erwarten. Der Begriff Richtigkeit der Abbildung war ja Kern der herrschenden Realismusauffassung. Die war abgezogen aus Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. Das Buch hab ich schon in meiner Schulzeit nicht leiden können, instinktiv. Und bei allem Respekt vor Lenin: Es ist fürs Philosophieren nicht günstig, wenn es dazu dient, die Parteiopposition zu prügeln. Junge hat probiert, ostpreußisch zu reden, und ich hatte kein gutes Gefühl dabei, mochte aber auch seine Bemühung nicht einfach unterdrücken. Ich habe immer versucht, das, was Schauspieler versuchen, einzubeziehn. Alle Beiträge zu integrieren ist das Ideal, aber natürlich gibt es auch den simplen Fall, wo der Brecht zu sagen pflegte: Das ist ein Einfall. Vergessen Sie ihn. H.T. Wie gings aus? T. Wir habens balanciert. Das Astprejßisch wurde zitiert dort, wo es eine Rolle spielt. Treue des Details, aber kein Versuch, ein vollständiges Bild herzustellen, eine richtige Abbildung. Das läuft nur auf Illusion hinaus, und Illusion ist Täuschung. Auch bei anderen Figuren. Wenn Simoneit in der Einwohnerversammlung über die Traktoren räsoniert, ob er seinen Anteil am Volkseigentum einfach für sich nimmt, war sein
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Kupkas Heiratsantrag: F.W. Junge und in der Titelrolle H. Werner.
Umsiedler-R ein ausgespielter Effekt: Was wirrd? Errnst wirrds. Ergebnis ein Lacher. H.T. Und Junges Kupka? T. Kupka ist ein Trabant, und zieht mit großen gleichmäßigen Schritten Kreise um seinen Star, Frau Niet. Bei dem Heiratsantrag am Ende – Frau Niet, wolln Sie Frau Kupka heißen? Kupka/Bin ich – , wenn er die Mütze abnimmt und aus dem Bauern mit der Mütze, als der er durch das Stück geht, der Bauer mit der Glatze wird, beugt er vor und sagt, was Bier angeht/Wenn Sie vielleicht da Misstraun haben aus/Schlimmer Erfahrung, Bier trink ich so viel/Wie mein Kopf Haare hat und der hat so viel, und zieht die Mütze. Da war das Tolle, dass das Bild zugleich ganz zart war und ganz eindeutig: Er hat den bloßen Kopf vorgezeigt als wärs sein bloßer Penis. H.T. Aber – gehört es nicht zu den Fähigkeiten des Dramatikers, jeder seiner Figuren eigene Sprache, Figurensprache zu verleihn? T. Es ist immer die Stimme des Stückeschreibers, der die Figur zitiert. Die großen Dramatiker sind große Schauspieler. In den großen Theaterzeiten, bei Griechen und Engländern und Franzosen, haben die Stückeschreiber, die griechischen Tragiker und Shakespeare und Molière, selber auf der Bühne gestanden. Und aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass Brecht ein großer Schauspieler war. Er hat sehr viel vorgesprochen und sehr wenig vorgespielt, aber wenn er vorgespielt hat, war
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es ein Ereignis. Müller hat diese Fähigkeit eher verborgen – bis sie dann doch plötzlich aufblitzte. Dem Schreiben unterliegt sie immer. H.T. Bleibt noch die Frage, wie das Sächsische im Westen gewirkt hat, als ihr überraschenderweise in Düsseldorf und Hamburg und Köln spielen durftet. T. Kein Problem. H.T. Und deine Überlegung bei der Reise in umgekehrter Richtung ist dir auch wieder eingefallen? T. Ja, ich hab mich wieder dran erinnert. Aber natürlich hab ich erstmal Ängste gehabt, nicht wegen des Sächsischen, sondern die für die Zeitläufte üblichen: Die wissen doch überhaupt nicht, worum es geht – et cetera. Und natürlich hatte der Instinkt recht. Die erste Regung, die der Nase nach, war richtig. Es war das reine Theaterglück. Als ob man Wie es Euch gefällt von Shakespeare spielt. Ein Arkadien! Fast jeder hat, ganz egal, welche Partei er wählt, in einem Winkel seines Herzens den Gedanken, wenn auch unterdrückt, weggeschoben, vergessen, dass es noch ein anderes Leben geben müsste als das, was er lebt. Ein Leben jenseits des Geldes. Und wenn die richtige Musik gemacht wird im Theater, dann steigt das hoch in der Gemeinschaft, unhinderbar, als Theaterglück. Die plötzliche, unerwartete und überraschende Faszination ist Erinnerung an die Zukunft. Das Andere unserer selbst, man kann es sich auf einmal vorstellen. H.T. Und der Stoff? Deine Ängste, auch wenn sich herausgestellt hat, dass sie unbegründet waren, waren ja nicht aus der Luft gegriffen. Man nennt diese Stücke doch immer die DDR-Stücke oder auch Produktionsstücke – T. – und verfehlt sie damit! Der Stoff ist der Stoff. Der ist Voraussetzung. Das, aber nur das. Das wusste schon Schiller: Darin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form vertilgt. Dass die Uraufführung so polemisch gewirkt hat, das hatten wir nicht vorausgesehn, wir hatten das beste Gewissen der Welt! Die subversive Wonne allerdings war verräterisch. Bei gelegentlichen Debatten über die Frage des Genres – Komödie, Historie, Volksstück, Lustspiel – hat Heiner Müller das Stück eine Enzyklopädie des Stalinismus genannt, damals. Heute ist es Musik! Aber vielleicht ist diese Freiheit der Musik, diese Musik der Freiheit schon damals das eigentliche Skandalon gewesen. H.T. Du sagst immer wieder Musik Musik Musik. Was genau meinst du damit? T. Das Singen des Sängers? Der Denkdichter Schiller hat das formuliert, bezogen auf Homers Schilderzählung in der Ilias, in seinem Gedicht über Die vier Weltalter:
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Und wie der erfindende Sohn des Zeus Auf des Schildes einfachem Runde Die Erde, das Meer und den Sternenkreis Gebildet mit göttlicher Kunde So drückt er ein Bild des unendlichen All In des Augenblicks flüchtig verrauschenden Schall. Flüchtig verrauschend ist die Musik eine ausdauernd wirkende gewaltlose Gewalt. Es war Müllers Freund Wolfgang Heise, der, in anderem Zusammenhang, auf die Schillerverse hingewiesen hat. Die Musik versetzt die Zuschauer in die Rolle von Göttern. Ihr Gelächter ist ein homerisches, unauslöschlich. Hegel hat vom unauslöschlichen Göttergelächter gesprochen. Nach der Uraufführung hat eine Zuschauerin, Genossin, zur Verantwortung gezogen von ihrer Partei, weil sie nicht protestiert hatte, geantwortet, dass sie ja immer hätte pfeifen wollen, aber immer hätte lachen müssen. Und da kann man nicht pfeifen. Ich gestehe, ich bin ein Lachfreund, ein philogelos, wie schon Platon ihn liquidieren wollte. An dem Tag, als Heiner Müller begraben wurde, fand vor dem Begräbnis eine Matinee statt im Berliner Ensemble. Alle haben nochmal seine Texte gelesen, todtraurig. Ich war der Einzige, der die Zuhörer mit Fondrak zum Lachen gebracht hat. Da bin ich stolz drauf. Eine Nebenbei-Bemerkung Walter Benjamins: dass es fürs Denken keinen besseren Start gibt, als das Lachen. Und dass die Erschütterung des Zwerchfells dem Gedanken gewöhnlich bessere Chancen bietet, als die der Seele. H.T. Pathos und Lachen? T. Gerade bei der Uraufführung. Das Lachen war erschütternd. Man kann auch sagen, es ergreift uns. Das wurde schlecht verdaut. Für uns war das Ergebnis eine Befreiung, ja. Aber der Rückstoß stopfte uns das Lachen in den Hals zurück. Erstmal. Denn ich denke, dass es unverlierbar war. Eben unauslöschlich. Wiederkehrend. Der Rückstoß war zu unserer Zeit, jedenfalls in der Regel, nicht mehr tödlich wie in den Jahren zuvor. Der Bann war gebrochen. H.T. Mhm. T. Du kennst das Märchen – wie Kohle und Bohne und Strohhalm auf Wanderschaft sind – und sie kommen an einen Bach. Da legt sich Strohhalm über den Bach, und Kohle läuft drüber. Strohhalm brennt durch und zerreißt und wird weggetrieben, Kohle verzischt im Wasser. Am Ufer lacht Bohne sich kaputt. Da kommt ein Schneider und näht ihr den Bauch wieder zusammen, und seitdem haben die Bohnen eine schwarze Naht. Ich auch. Daran erkennt man mich, und ich werde immer mal wieder verboten. Aber ich lache auch immer wieder. Bei Klaus Heinrich heißt das: Katastrophen auslachen.
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H.T. Mhm. Aber wie geht die Musik zusammen mit dem Reichtum des Stückes an Stoff? T. Ja, ja, das Stück ist sehr stoffreich. Darauf ist die Musik angewiesen. Im Westen, mit dem Abstand zum Stoff, den das Publikum dort a priori hatte, hat sich sofort gezeigt, wozu der Stoff da ist. Die Sprache ist eine unerhörte Musik, und die verbrennt den Stoff. Die Fülle des Stoffs ist das reiche Material der Musik. Kein Missverständnis! Verbrennung produziert Licht und Wärme. Energie! Diese Verbrennung ist keine Vernichtung, im Gegenteil, es ist eine Befreiung. Ein Triumph über die Realität! Davor, vor dieser Musik von strahlender Heiterkeit, war die Realität wirklich unmöglich – wenn man es, wie Müller gesagt hat, als Aufgabe der Kunst ansieht, die Realität unmöglich zu machen. In der Musik der Sprache kann sich der Triebgrund verbinden, verbünden mit dem Gattungsziel. Übrigens war der Stoff für die Verbrennung schwer zu rekonstruieren. Das ist aber die Voraussetzung. Nichts war schwerer herauszufinden in Dresden! Auch für den großartigen Schauspieler Peter Hölzel war nichts schwerer, als rauszufinden: Was ist das, ein Kommunist? Wie spricht, geht, steht, wie räuspert und spuckt er? Das gab es ja nicht mehr in der DDR. Die wenigen, die Hitler und Stalin überlebt hatten, waren auf den Stühlen der Macht mit den Jahren zu Gespenstern geworden. Das haben wir dann auch gespielt, in der Schlussszene, wenn Flint als Veteran beim Agitieren für die Kollektivierung mitgeht, ordensbehangen, zehn Jahre älter. Da hab ich den Vorfall mit dem greisen Hindenburg nachgebaut, der sich, tattrig tapernd hinter die Front der Ehrenkompanie verirrt hat. Das ist filmisch überliefert, und wir haben es benutzt für die Gruppierung der Schlussszene. Der alte Flint, der am Stock geht, als Irrläufer. H.T. Ein Endbild. Die Kritiken im Westen waren enthusiastisch. T. Nicht wegen des Endbilds. Günther Rühle, der damals Feuilletonchef der FAZ war, sagte mir, und wahrscheinlich hatte er recht, dass ich antäisch Kraft aus dem heimischen Boden gezogen hätte. Die Hymne in der FAZ hat Sibylle Wirsing geschrieben. Peter Hölzel war, als sie mit ihm geredet hat, ganz verlegen wegen ihres Lobs. In der DDR hat Fritz Dieckmann über die Aufführung geschrieben, in Sinn und Form. Da war der letzte Satz: Caspar David Friedrich, hörte ich einen Zuschauer nach der Vorstellung sagen. Das fand ich zwar sofort richtig, habe aber trotzdem, begriffsstutzig, lange gebraucht, um zu verstehen, was er meint: das Abendlicht bei Friedrich. Man nimmt am besten Abschied, wenn man noch nicht weiß, dass es ein Abschied ist. Ein Endbild? Ja, das Detail, aber das Ganze ein Traumbild. Das Traumbild unserer Jugend. Zitat, zwei Sätze von Benjamin, notiert in seinem Passagenkonvolut:
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Die Jugenderfahrung einer Generation hat viel gemein mit der Traumerfahrung. Ihre geschichtliche Erfahrung ist Traumgestalt. Was bleibt, ist die Freiheit der Musik. Wie bei Shakespeare. Peter Brook hatte in Vorträgen, die dann zu dem berühmten Buch The Empty Space wurden, gesagt, es sei ein infuriating fact, was etwa heißt, es könne einen rasend machen, dass Shakespeare noch immer our model sei, und in einem Interview wollte Ralph Berry ihn zur Korrektur dieser Klassikerschändung bewegen. Aber Brook widerrief nicht. Das phenomenon sei für ihn very simple: Was wir heute immer unter Autorschaft verstehn, sagt er, ist personal expression – und eben das bekommt man von Shakespeare nicht. Da redet das Leben selber – und jedermann kann sich das dann zurechtlegen, so oder so. Mir fallen, außer Umsiedlerin, wenig Stücke ein aus dem letzten Jahrhundert, von denen man das auch sagen kann. H.T. War dir das, dieses Shakespearerisieren, schon bewusst zur Zeit der Uraufführung? T. Diese Eigenart hab ich schon wahrgenommen, als der Text noch in Arbeit war. Das steht in der kurzen Bemerkung, die ich, ungefähr ein Jahr vor der Uraufführung, für den Vorabdruck einer Szene im Sonntag geschrieben habe. Der Sonntag war der Vorläufer der heutigen Wochenzeitung Freitag, oder richtiger, der Freitag ist der Appendix des Sonntag. In dem, was ich da schrieb, stand das schon drin. Die Seite im Sonntag hat gleich Folgen gehabt. Hacks schrieb seinen Aufsatz Über den Vers in Müllers Umsiedlerin-Fragment, und die Redaktion von Theater der Zeit hat ihn zwar gedruckt, aber sich distanziert mit der Vorbemerkung, sie sei vom Wert der Szene nicht überzeugt. Die Kulturabteilung des ZK verlangte besorgt, das Stück zu lesen, und Müller sagte ihnen: Wenn es fertig ist. Aber es wurde nicht fertig, ich hab auf der Generalprobe nachts um drei noch Text eingeflickt. Von der Anklagerede gegen Müller im Schriftstellerverband ist ein Tonbandmitschnitt erhalten, da kam meine Bemerkung auch drin vor. Die Rede hielt der Leiter der Kulturabteilung des ZK, das war unser Lieblingsnazi. Der arme Mann hieß Siegfried Wagner, was blieb ihm also walter ulbricht. Ich komme vor mit der Ungeheuerlichkeit, den neuen Shakespeare zu proklamieren, der so lange dringend gesucht wurde – da spielt er an auf den Titel von Kipphardts Erfolgsstück, das das Deutsche Theater gespielt hatte. Bei mir stand, dass die überkommenen Formen nicht parodistisch verwendet werden, wie von Brecht in der Johanna, oder als Travestie im Ui, sondern wirklich aufgehoben, der Begriff als Zitat in Anführungsstrichen. Er hat mir die tatsächlich angekreidet! Er hielt sie wahrscheinlich für ironisch. Er erkannte nicht das Zitat, er hat nicht Hegel und nicht Marx gelesen. Das waren die Marxisten in der DDR. Aber schon Marx hatte ja
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mitgeteilt, in elegantem Französisch, er jedenfalls sei kein Marxist. Marx‘ Denken wie Freuds Denken ist Methode, nicht Dogma. Die verhilft uns dazu, herauszufinden was ist, und verhilft uns dazu rauszufinden, was zu tun wäre, damits nicht so bleibt. Ob der dialektische und historische Materialismus oder the diabolical and hysterical maternalism, beides sind keine bequemen Gebrauchsanweisungen. Man muss selber denken. Fertig ist nichts. H.T. Und wie bist du in der DDR zu dieser entschiedenen Auffassung gekommen? T. Neigung gegen den Strich. Um nicht zu sagen, gegen die Linie – die die Partei gezogen hat. Und Anstöße: Bei meinem letzten Besuch bei Brecht in Buckow, im Frühsommer ’56, alle dachten er rekonvalesziert, niemand dachte an ein Ende, wir saßen in Brechts Arbeitszimmer im Gärtnerhaus, die Weigel steckte den Kopf rein und sagte: Bert, du musst dich hinlegen, er hat brav gehorcht und hat mich in den Garten geschickt, aber er achtete drauf, dass ich was zu lesen hatte, und gab mir Engels’ Darstellung des Ausgangs der klassischen deutschen Philosophie mit, das lag da rum, das Feuerbach-Buch. Ich saß im Grünen und las. Angestrichen waren nicht, wie ich es gewohnt war, wie wir in der Schule gelernt hatten, die Ergebnisse, Feststellungen, Schlussfolgerungen, nicht das, was man schwarz auf weiß getrost nach Hause tragen kann, sondern die Beispiele und ihre Analyse. Eine Lehrstunde im Garten. Klassiker lehren Lernen. H.T. Da hast du auch ein kleines Gedicht geschrieben, einen BrechtEpitaph. T. Da war ich zwanzig. Es gab auch früher schon Anstöße. Ich musste die Schule wechseln, 1953, von Striesen nach Reick. Der Direktor der Schule in Reick war ein alter Kommunist, Herr Lorenz, er war Dorfschullehrer in der Lausitz gewesen, ein Trumm, groß und breit, mit viel Humor, wenn jemand einen Schwachsinn sagte, ging er pantomimisch die Wand hoch. Wenn er den Ersten Weltkrieg unterrichtete, machte er uns den Unterschied der preußischen und der österreichischen Kommandos vor. Aber das erste, das mir auffiel, als ich neu war in Reick: Ein Schüler hatte Bemerkungen gemacht über das Stalinbild auf dem Umschlag der Urania, einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift. Der Sieger über Hitler aber war unantastbar, der Schulverweis unausweichlich. Üblich war in solchen Fällen eine hochpathetische Verfluchung. Er erledigte das kurz und sachlich, ohne jeden Wischinskyton. Im letzten, dem vierten Schuljahr, hatten wir Lorenz als Geschichtslehrer. Vorher Herrn Voigt, der in Rezitationsabenden auftrat und an der Volkshochschule unterrichtete, Sprecherziehung, ein
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Künstler. Als Lehrer war er aber konventionell. Er ließ uns Zettelarbeiten schreiben, wo Wissen abgefragt wurde. Da war ich nicht sehr gut. Bei Lorenz war das anders. Er fragte mal was, mündlich, fragte aber nicht einfach Kenntnisse ab, sondern unterhielt sich mit einem und gab eine Zensur. Dann ließ er, überraschend, eine Arbeit schreiben: Die Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929. Der Stoff war durchgenommen worden, alle Fakten bekannt, aber Zusammenhänge herstellen und Folgerungen ziehen musste man selber. Was für ein Einbruch! Es hagelte Vieren und Fünfen! Drei Einsen gabs, eine für mich. Darauf bin ich heute noch stolz. H.T. Es gab die DDR und die DDR – wie? T. So ist es. Leute wie Brecht und Lorenz haben auch dazugehört. H.T. Es war doch aber immer wieder die offizielle Forderung, neue Stücke zu schreiben, Stücke über die neue, veränderte und sich weiter verändernde Wirklichkeit. Und was Brecht nicht mehr konnte – andere, Müller voran, sind ja doch genau dieser Forderung nachgekommen – T. Ja, ja, ja. Im Februar ’56 war der XX. Parteitag der KPdSU mit Chrustschows Rede über Stalins Verbrechen, das hat große Hoffnungen ausgelöst. Brechts Formulierung war: der erste Schritt von der totalen Verweltanschaulichung des Marxismus zur totalen Verweltlichung. Wen hör ich da? Brechts Freund Korsch. Aber natürlich war Chrustschows Analyse, wenn man das Wort Analyse überhaupt gebrauchen kann dafür, flach. Nur moralistisch. Nicht verwunderlich nach jahrzehntelangem Theorieverfall. Die Ansätze zu der Reformation, die so dringend nötig war, längst überfällig, blieben ganz halbherzig. Die Strukturen wurden nicht verändert. Und es gab massive Rückschläge. Der ungarische Aufstand im Herbst – da kamen die alten Ängste wieder, die immer als Rechtfertigung gedient haben. Und die reichten weit zurück. Die Toten nach der Niederschlagung der Kommune in Paris 1871, in Petersburg der Blutsonntag 1905, die Morde in Berlin an Luxemburg und Liebknecht und nicht nur an ihnen, die Morde in München nach der Räterepublik, die unzähligen Opfer der braunen Pest, und und und. In Russland war der rote Terror erstmal die Antwort gewesen auf weißen Terror. Was dann draus wurde in der Restauration, wie sich die alte Angst gemischt hat mit der neuen Angst, wenn von dem neuen Zaren Einheit und Reinheit erzwungen wurde durch Säuberungen – horrible. Aber die offizielle Aufforderung, von der du sprichst, ist nicht unsinnig gewesen, einerseits. Andererseits gab es keine Vorstellung, wie Kunst und Leben produktiv zusammenkommen. Die Wunschvorstellung war ganz naiv, dass ein Genie ihnen zu Hilfe kommt, ihren Sozialismus schönredet, und alle sind dafür. Ulbricht träumte von einem dritten Teil des Faust. Auf freiem
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Grund mit freiem Volke stehn. Dass die Szene, die er so gerne zitiert hat, auch komisch ist, dass die klirrenden Spaten, die der blinde Faust bei der Aufbauarbeit glaubt, ihm das Grab graben, das hat er nicht mitgekriegt. Was produktiv gewesen wäre auf dem Bitterfelder Weg: Transport von Erfahrung, die Herstellung von Halbfabrikaten, Vorformen, die Material bereitstellen – gerade das wurde behindert. Gestalten statt beschreiben war der Auftrag. Das war schon so vor ’33, im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, und nach ’49 ist es immer schlimmer geworden. Wenn Lotte dazwischenrief: Erzählungen, Walter, insistierte er eigensinnig: Romane, Romane, Romane. Es gab dann natürlich die beflissenen Schreiber, die den Mist lieferten, der verlangt wurde. Und wenn der eigne Mist nicht gelangt hat, wurde welcher importiert aus den Bruderländern. Aber Lohndrücker war geschrieben nach eben so einem viel zu seltenen Halbfabrikat – das hatten wir ja schon erwähnt. Ein Signal. Und bei allen Widerreden, die es da auch gleich gegeben hat, war das doch nicht zu ignorieren gewesen – einfach, weils nichts gab außer wirkungslosem Mist. H.T. Aber es gab ja gleich mehr Stücke. Nicht nur von Müller, sondern auch von Hacks, von Hartmut Lange – T. Ja, es folgte eins dem andern. Für die Behörde war das eine Flutkatastrophe. Der Lohndrücker war die erste Welle, Die Umsiedlerin war der Tsunami. Aber erst nach mehr als zehn Jahren, nach Verboten und Kampagnen, hat der Damm gehalten. H.T. Gab es keine Solidarität unter den Künstlern? T. Es gab keine Front, das wär damals auch nicht sinnvoll gewesen. Zu den Anstößen für die Dramatiker hatte Brechts Auftritt auf dem Schriftstellerkongress gehört. Nicht die Rede vor dem Plenum meine ich, sondern die Diskussion in der Sektion Dramatik. Organisiert hatte die Heiner Müller, der damals Verbandsangestellter war. Brecht war äußerst polemisch, sehr kämpferisch. Aber ein halbes Jahr später war er weg. H.T. Ist das gedruckt? T. Die Diskussion? Ich glaube nicht. Aber ich war dabei. Wir sind hingegangen mit Brecht. H.T. Und was hat das im BE für Folgen gehabt? T. Keine. Brecht starb, Besson wurde rausgedrängt, das Sagen hatte Wekwerth, und die Parabel wurde das Dogma. Der Beitrag des BE war, nach vier Jahren, Baierls Stück Frau Flinz, 1960. Da wird in einer Parabel nachgewiesen, alles ist gut. Das war der Widerruf von Brechts Politikbegriff. Mutter Courages Himmelfahrt hat Hans Mayer das Stück genannt. Die Umsiedlerin, ein Jahr später, war die Gegenposition. Brechts Programm, die wissenschaftliche Erzeugung von Skandalen, wurde da zum letzten Mal wirklich erfüllt. Mayer, bei dem in Leipzig dieser Satz von
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Brecht gefallen ist, war dabei in Karlshorst. Er hat einen sehr schönen Brief an Müller geschrieben. H.T. Damals war doch auch Palitzsch noch da? T. Bei Frau Flinz? Ja. Ich wollte, fünfundzwanzig Jahre später, in einem Westberliner Hotel, drüber reden mit ihm. Aber er wollte nicht. Er hat gesagt, dass er sich nicht erinnert. H.T. Und Hacks? T. Hacks’ Freundschaft mit Müller war natürlich immer mit Rivalität gemischt. Aber am Anfang war das durchaus ein edler Wettstreit. Die Sorgen und die Macht war eine Antwort auf Lohndrücker. In den Fünfzigern bis weit in die Sechziger war Hacks ja der Berühmtere. Sein Debüt in der DDR war die wunderbare Übersetzung und Bearbeitung von Synges Playboy of the Western World fürs BE, Der Held der westlichen Welt, noch zu Brechts Lebzeiten. Hacks hat Müller sehr unterstützt. Und bei den Auseinandersetzungen nach der Uraufführung von Umsiedlerin hat er sich als Einziger – als fast der Einzige, solidarisch verhalten. Aber Moritz Tassow ist dann ein Gegenentwurf zu Umsiedlerin. Hacks und Besson, der Tassow an der Volksbühne uraufgeführt hat, waren beide in der einen Vorstellung gewesen in Karlshorst. Sie haben die Geschichte in Fabelhaft genommen und das Verhältnis der beiden Helden verkehrt. Bei uns war Fondrak die Tenorpartie und Flint der Weißclown. In Tassow ist die Konstellation Clown und Tenor umgedreht. Boshaft wie ich bin, hab ich ein Epigramm geschrieben über St. Peter und St. Benno: Wo ist die Fabel, die alles bewertet? die Fabel! die Fabel!/Heiliger Bertolt, wie dumm. So kanns natürlich nicht gehn./Wir drehn es um, der Tenor wird zum Klohn, der Parteiklohn wird heldisch/Umgekehrt gehts. Ach wie schlau. Aber auch Schlauheit nützt nichts. Auch Tassow ist abgesetzt worden, immerhin erst nach mehreren Vorstellungen und nach öffentlicher Debatte – naja, gesteuerter Debatte. Später sind, wenn der Druck zu groß war, Notventile gezogen worden. Weg mit Schaden, Ausbürgerung oder Arbeitsurlaub. In einem der letzten Gedichte hat Heiner sich erinnert an das Schreibglück der fünfziger Jahre /Als man aufgehoben war im Blankvers… H.T. Er hat Die Umsiedlerin abwechselnd sein bestes Stück und sein liebstes Stück genannt. T. Wie groß auch die Energie ist – wenn keine Möglichkeit der Realisierung besteht, werden Stücke nicht geschrieben. H.T. Dein eigenes Stück aus dieser Zeit – T. – ist Fragment geblieben. Es hieß damals Der Bau, nach einem Vorschlag von Müller. Er hat den Titel später für ein eignes Stück verwendet. Das Fragment ist liegengeblieben und vergessen worden. Ich hab kein Stück mehr geschrieben. Erst in den neunziger Jahren, als ich, nach einer
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Anfrage der NDL, die Blätter unter anderen Papierstößen vorgezogen hatte und sie es mit einem Kommentar von Freund Dieckmann gedruckt hatten, hab ich dann, weil die Reaktionen, jedenfalls für den Abdruck eines Fragments in einer Zeitschrift, ungewöhnlich lebhaft waren, noch etwas nachgetragen, Lücken geschlossen, aber auch die historische Differenz markiert. Das ist unter dem doppeldeutigen Titel Die Aufgabe erschienen. Damals, um 1960, hätte die DDR eine große Dramatik haben können. Aber die Legitimations-Ideologen waren Feinde der Produktion. So hat Brecht sie genannt. Herr Mittenentzwei hat noch in den Neunzigern, im Nachwort zu einer Ausgabe von Lohndrücker und Umsiedlerin in der DDR-Bibliothek von Faber und Faber in Leipzig, gefragt wo denn das Positive bleibt. Man glaubt es nicht, ein Leben in ewiger Blindheit und Taubheit. Einer, der nichts sieht und nichts hört. Das Stück ist, himmelherrgott, ein freudiger Gesang! Natürlich kann auch eine Tragödie ein freudiger Gesang sein, das wusste schon Hölderlin: Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen/Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus: das hat er bei seiner Beschäftigung mit Sophokles geschrieben. Nur Politurcholeriker überrascht das. Wenn so einer sagt Po-si-tiv, sage ich immer Arsch-du-hoch. Wenn der freudige Gesang an den Verhältnissen scheitert, bleiben Satire und Elegie. Für eine Weile. Oder Schweigen. H.T. Zuletzt gab es aber auch in der DDR Anerkennung. T. Die kam zu spät. Und es war ganz und gar keine Einsicht, es war bloße Ermüdung. Erst nach dem westdeutschen Büchner-Preis hat Müller den ostdeutschen Nationalpreis gekriegt, da war die Reaktion vieler Preisträger schon: Das Geld ist ja ganz schön – aber die Schande! Ganz zuletzt bin ich auch noch hofiert worden. Im Sommer ’89 wurde ich eingeladen zur Werkstattwoche des jungen Theaters in Gera, in eine Gruppe von Beratern. Ich hatte keine Proben mehr in Düsseldorf in der letzten Woche der Spielzeit, und neugierig bin ich hingefahren. Das Wetter war furchtbar schwül. Es gab ein paar Gewitter, aber hinterher war es genauso schwül wir vorher. Das Wetter entsprach der politischen Atmosphäre. Die Funktionäre standen hilflos mit dem Rücken an der Wand. Sie wurden wütend angegangen und konnten nur sagen Is ja gut, is ja gut. Es gab aber keinerlei konstruktive Vorstellung. Nur Aufregung. Wieder in Berlin, hab ich mit Heiner darüber geredet. Wir saßen auf dem Balkon in dem Hochhaus in Friedrichsfelde, wo er damals gewohnt hat, hoch oben, und guckten über Berlin, und Heiner sagte Wenn die BRD jetzt happ macht, ist die DDR weg. Gleich drauf wars soweit. Aber ein paar Jahre zuvor … Bei der Dresdner Premiere ist der Theaterkritiker des Zentralorgans –
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H.T. – der von der Zeitung Neues Deutschland? T. – ja, das war damals Gerhart Ebert. Der ist dagewesen und hat auch geschrieben. Aber der letzte, der aus der Zeit der Uraufführung übrig war in der Kulturabteilung des ZK, der kleine Henschel, rief in der Redaktion an und untersagte den Abdruck. Dann bekam das Ensemble den Hans Otto-Preis für die Aufführung, und mein Name durfte dabei nicht vorkommen. Und nach der überraschenden Möglichkeit, die Aufführung in der BRD zu zeigen, und nachdem sie auch noch in Leipzig zur Werkstattwoche des DDR-Theaters gezeigt wurde, folgte schließlich, sozusagen als Krönung, eine Vorstellung in der Hauptstadt, also in Ostberlin, als die DDR sich zuguterletzt eine Gegenveranstaltung zu den Westberliner Theatertreffen geleistet hat. Beim Empfang des Kulturministers in der Staatsoper stand, als ich da reinkam, der kleine Henschel hinter der Tür, hat sich auf mich gestürzt und meinen Arm geschwenkt wie einen Pumpenschwengel. H.T. Köstlich. T. Es kommt noch besser. Punkt auf dem i war, dass ich vierzehn Tage später Hilmar Hoffmann traf, bei einer Premiere in Frankfurt am Main, und auch er, der mich fristlos entlassen hatte, hat meinen Arm geschwenkt wie einen Pumpenschwengel, und sagte: Machen Sie doch wiedermal was in Frankfurt, machen Sie was von Heiner Müller. Die Welt ist klein. Und leider sieht sie sich sehr ähnlich. H.T. Was denkst du heute, wenn du an die DDR denkst? T. Nous avons, vouz avez, nuseweg – wie der Berliner sagt. Hugenottentradition. H.T. Wir haben, ihr habt, und perdu – wie der Europäer versteht. T. Ich denke, man muss dem Unrechtsstaat dankbar sein, dass in ihm so ein Stück geschrieben werden konnte. Allgemeinverbindliche Auffassung ist ja, dass die DDR ein Unrechtsstaat war von der ersten bis zur letzten Stunde. Die Sprachregelung bedarf keiner ordre de mufti, einer schreibt die Dummheiten vom andern ab. Plagiatoren vom Minister bis zum Volontär. Ein Stachel, der eh nur zum Dagegen-Löken auffordern würde, ist ganz überflüssig. Achtundsechzig hieß das repressive Toleranz. Du kannst mir natürlich mich als Gegenargument anführen, aber ich löke nur aus Gewohnheit weiter, auch ohne Stachel. Ein Stachel findet sich schon noch, im Nachhinein. Allgemeines Schweigen. Meist belebt durch schadenfrohes Gekicher. Seltener ist es betreten. H.T. Bist du fähig zu Hass? T. Im Verachten bin ich besser. Aber Respekt kann ich auch haben. Vor einem halben Jahrhundert, in der Zeit, als ich nicht rauskonnte aus der DDR, hab ich im Westfernsehen eine Bundestagsrede des alten Gut-
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tenberg verfolgt, gegen Brandts Ostverträge. Ich war in jedem Punkt anderer Meinung. Ich konnte nicht billigen, was der alte Guttenberg sagt, aber ich konnte ihn gut verstehn. Die Rede war großartig, ein leidenschaftliches Plädoyer. Die Weisheit sagt, dass der Apfel nicht weit vom Pferd fällt. Erstaunlicherweise ist es nicht so. Merde allüberall. Aber Befreiungsversuche – und die DDR ist, jedenfalls im Ansatz, einer gewesen – Befreiungsversuche haben letztlich produktive Folgen für die Künste, auch wenn die Umstände noch so unleidlich sind und der Ausgang noch so unglücklich. Marx hatte ja vorausgesagt, dass die Dummheit noch schreckliche Tragödien aufführen wird. Der eiserne Vorhang ist im Theater wohlbekannt. Er stört immer. Ständig Ärger mit der Feuerpolizei. Der Vorhang, heißt es, sei undurchlässig, entweder brennt die Bühne, oder es brennt der Zuschauerraum. Irrtum. Die Intelligenz mag begrenzt sein, aber die Dummheit ist grenzenlos. Die Welt ist ein großer Viehstall, der nicht so leicht gereinigt werden kann wie der des Augias. Während gefegt wird, bleiben die Ochsen drin und produzieren immer neuen Mist. Diese zwei Sätze hat Heinrich Heine geschrieben. H.T. Zeitlos. T. Naja. Aber das Ende war versöhnlich. 1990, als wir den KortnerPreis bekamen, Schleef und ich, hat Müller bei der Verleihungszeremonie im Schiller-Theater in seinem Statement einen Satz zitiert aus einem Brief, den die Parteigruppe des Berliner Ensembles nach der Uraufführung der Umsiedlerin ans ZK geschrieben hatte: Die Regie ist verbrecherisch. Er hat ihn zitiert zur Begründung für das, was er die Notwendigkeit krimineller Energie beim Theaterspielen genannt hat. In der dritten Reihe saß da ein Rentner. Es war der letzte Kulturminister der DDR, Hans-Joachim Hoffmann. Er hat mir gratuliert, und ich war gerührt. Ende im Abendlicht. H.T. Wie nennen wir das Gespräch? T. Der Resozismus im Abendlicht. H.T. Resozismus? T. Die Verdichtung ist von Enzensberger. Die hat mir immer sehr gefallen. Der Wortbandwurm real existierender Sozialismus war ja schon die euphemistische Umschreibung der bevorstehenden Niederlage. Ein schlechter Hegelianismus! Was existiert, ist vernünftig? Wie man immerfort sieht, kann es auch sehr unvernünftig sein. H.T. Aus dem Spiegel gesprochen die Schlussformel: Ich danke dir für das Gespräch. T. Moment. Noch eine Coda. Ich muss noch das rührende Ende verderben. Bei der Premiere in Dresden sind Heiner und ich auf die Bühne und haben uns verbeugt. Ich kam von hinter der Bühne und Heiner aus
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dem Zuschauerraum. Und dann waren wir die Ersten an der Theke in der noch leeren Kantine. Er sagte: Ich bin tief gerührt, und gab mir die Hand. Ich sagte: Weiterrühern. Dann haben wir die Getränke geordert. ANMERKUNG VON T. Antwort auf die Frage nach meinem Verhältnis zur Rechtschreibung: Meine Sekretärin, eine Berlinerin, wollte rühern gleich nicht schreiben. Ja, hochdeutsch gibt es das nicht, aber das Sächsische unterscheidet zwischen rühren, wenn Tränen erpresst werden und (gebildet wie eiern oder reihern) rühern, wenn die Suppe umgerühert wird. Das ermöglicht die ironische Intonation von Rührendem. Zur Zeichensetzung: Sie fixiert in erster Linie das Pulsieren der Gedanken in der Lautform der Rede, und erst in zweiter die Bestimmungen der Grammatik.
NACHFRAGE A. Du hast als Motto vor den Dialog ein Goethezitat aus dem WestOestlichen Divan gesetzt, einen der Talismane aus dem Buch des Sängers, die Verse über den Atem – T. Das ist Zimzum. A. Das ist was? T. Das ist hebräisch. A. Und was heißt es? T. Tja. Kontraktion – die der Emanation vorangeht. Darunter liegt der realistische Gedanke, dass man sich konzentrieren muss, wenn man produzieren will. Auch der liebe Gott musste sich konzentrieren, als er die Welt geschaffen hat. A. Du lieber Gott. T. Daraus entstanden ist eine Vorstellung von Bewegung, Wachstum, Entwicklung, im Wechsel von Kontraktion und Expansion. Eine Frühform von dialektischem Materialismus. A. Ich weiß von nichts. T. Wer weiß das schon. Habermas hat zur Zeit der Studentenrevolte fünfundfünzig Seiten über Dialektischen Idealismus im Übergang zum Materialismus geschrieben, geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraktion Gottes – ehe er aus der Cabbalisterey sozialdemokratisch umgekehrt ist zu mäßiger und mäßigender Vernünftigkeit. Schelling hat übrigens nie kabbalistische Originalschriften gelesen, obwohl er sehr gut Hebräisch konnte, sein Vater war Orientalist, und obwohl ihm in der Münchener Bibliothek die alten Bücher und Manuskripte vor der Nase gelegen haben. In die Vorgeschichte gehört auch Friedrich Heinrich Jacobi. Der hat versucht, Lessing anzubohren, brieflich. Der ging aber nicht drauf ein. Kaum war Lessing tot, hat Jacobi ein Enthüllungsbuch veröffentlicht. Also ein ganz modernes Vorgehen. Das hatte großen Erfolg und ist mehrmals nachgedruckt worden. Darin hat er Lessing als Spinozisten entlarvt. Das meinte damals Atheist,
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war also eine Denunziation. Gegen Goethe hat es diesen Vorwurf auch immer wieder gegeben. Die Atemverse sind eines seiner Delikte, da ist die Identität von Gott und Materie offensichtlich. Marx schließt an Hegel und Feuerbach an, ja, die Quellen und Bestandteile, wie es bei Lenin heißt. Und das ist dann in die Schulung eingegangen. Aber davor gibt es eben schon eine lange Geschichte. Die war oft auch zufällig, sprang über Lücken, historische, biographische und bibliographische. Es ist keine Tradition. Tradition unterliegt in der Tiefe, genährt von den Wünschen, die seit der Teilung der menschlichen Gesellschaft in Klassen oft unterdrückt und oft verdrängt worden sind, aber nie verloren gegangen. Goethes Verse fallen mir immer ein im Bett, vorm Einschlafen. Und manchmal sag ich sie auch auf. A. Ein atheistisches Nachtgebet? T. C’est la vie.
NABOLEVCIJ VOPROS (1956) Ich pflanzte nicht Unkraut, ich pflanzte Blumen. Aber mit den Blumen wächst das Unkraut. Die Wurzeln sind ineinander verflochten Die Stengel sind ineinander verrankt Täglich wachsen Die duftenden Blüten und die stinkenden Blätter. Jäte ich das Unkraut, verletze ich die Blumen. Gieße ich die Blumen, pflege ich das Unkraut. Was tun? Da mir keine Lösung einfällt, frage ich dich.
DEUTSCHLAND, DEUTSCHLAND ÜBER ALLES Alle folgenden Texte beziehen sich auf die Germania-Stücke Heiner Müllers.
GERMANIA HIC ET NUNC Dieses Interview vor der Premiere von T.s Inszenierung des ersten der Germania-Stücke, Germania Tod in Berlin in der Westberliner Freien Volksbühne, erschien in der Deutschen Volkszeitung. Stefan Schnabel, der fragt, hatte bei den Proben hospitiert. (Seine Proben-Aufzeichnungen, überschrieben Totenreich Deutschland, sind 1993 in der TheaterZeitSchrift 33/34, S. 45ff. abgedruckt worden.)
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S. Ihre Inszenierung von Müllers Stück Germania Tod in Berlin hat drei Tage vor der deutschen Wiedervereinigung Premiere in Westberlin. Warum dieses Stück? Warum dieses Stück jetzt und hier? T. In Berlin, weil es ein Berlinstück ist. Jetzt, weil es jetzt vielleicht nützlich sein kann. Es ist jetzt so etwas wie ein Kommentar zum Anschluss der DDR an die BRD. Oder eine Begleitmusik. Aber es gibt natürlich mehr Gründe. Erstmal – ich wollte es schon immer machen. Fertig wurde es im Sommer ’70 oder ’71. Heiner Müller kam aus dem Urlaub in Bulgarien zurück und hatte Angst beim Fliegen, weil er das einzige Exemplar bei sich hatte. Angefangen, daran zu schreiben hatte er schon in den fünfziger Jahren. An ein Datum kann ich mich erinnern: Die zweite Szene, die am 7. Oktober 1949, dem Gründungstag der DDR, spielt, ist geschrieben im Winter ’61/’62. Ich musste mich damals, nach der Uraufführung der Umsiedlerin, in einem Braunkohletagebau in der Niederlausitz bewähren, und war an einem Februarwochenende zu Hause in Berlin. Da hat Heiner mir die Szene gezeigt, und wir haben dann an der Fabel stundenlang gebastelt. Damals sollte das Stück noch eine zusammenhängend erzählte Geschichte haben. Danach ist dann eine andere Form entstanden. Ein roter Faden ist noch da, Spur einer durchgehenden Handlung, eine Liebesgeschichte, die vom 7. Oktober 1949 bis zum 17. Juni 1953 reicht, also die ersten vier Jahre der DDR. Dazugekommen ist die deutsche Vergangenheit und steht daneben und entgegen: die halbe Revolution von ’18/’19, Stalingrad und die Nibelungen, Friedrich von Preußen und sein Müller in Potsdam, Arminius und sein Bruder an der Weser. Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Weil sie niemals ordentlich begraben worden ist, kehrt sie wieder. Die DDR ist ein Versuch gewesen, diese Vergangenheit zu begraben. Sie war der von vielen Seiten behinderte und in sich unzulängliche Versuch, zu einem anderen Deutschland zu kommen. S. Was war die Intention als das Stück geschrieben wurde? T. Vor zwanzig Jahren war das Stück polemisch, eine strenge Warnung vor dem Scheitern. Das, woran der Versuch jetzt gescheitert ist, stellt das Stück dar an den ersten vier Jahren der DDR. Die Schwierigkeiten, die Fehler, alles, was in die lange Weile der Stagnation geführt hat und zu dem traurigen Ende. Als es neu war, konnte man es in der DDR nicht mal jemandem zeigen. Nur wenigen Leuten, handverlesen. An eine Aufführung war nicht zu denken. Das war das Problem. Es war und blieb in der DDR eine Frage der Produktionsbedingungen: Nichts ist einem erlaubt, man muß es sich selber erlauben/Dann geht es entweder durch oder man wartet sich tot. Es kam die Zeit, wo ich überhaupt nicht mehr arbeiten konnte in der DDR. Und schließlich, eine überraschende Aus-
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nahme, kam es zur Umsiedlerin in Dresden. Es ist die einzige geblieben. Danach sollte Germania kommen, aber das zog sich hin. Und jetzt bin ich froh, dass ich in den letzten Monaten, Wochen, Tagen der DDR mit diesem Stück beschäftigt bin – nun ausgerechnet in Westberlin. S. Worin bestehen die Schwierigkeiten und die Fehler, die zur Aufgabe des Experimentes DDR geführt haben? Und zu der Annexion, die jetzt stattfindet? T. Ich will das nicht diskursiv formulieren. Ich kann nicht vorweg sagen, vor der Premiere, was die Aufführung hoffentlich zeigt. Aber die Arbeit ist jetzt eine andere. Am Ende der DDR, nach dem Scheitern, kann man anders zurückblicken, ohne aktuelle Polemik, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Frontverlauf des Kalten Krieges und so weiter. Wenn es so läuft wie ich möchte, dann singen wir das schöne, traurige Volkslied von der DDR. Die Gründe, warum ein Versuch, wie die DDR einer war, unternommen wurde, sind ja nicht verschwunden. Die DDR gibt auf. Und die Aufgabe bleibt. Die Situation ist schwierig, ja. Die Aufgabe ist nicht zu erfüllen, ja. Deshalb ist sie nur umso dringlicher. Das Scheitern verpflichtet uns, die Gründe zu untersuchen – um andere Versuche möglich zu machen. Irgendwann. S. Aber hat sich Ihr Blick auf Germania Tod in Berlin durch den Herbst ’89 und durch das, was seitdem in der DDR und mit der DDR passiert, verändert? T. Entschieden ja. Und nein. Natürlich überlegt man, wie gesagt, ob die Situation für ein Stück günstig ist oder nicht, man überlegt, ob es in einer bestimmten Situation etwas tun kann. Ich denke, es kann. Aber die Vorgänge sollen selber reden, Urteile sollen nicht auf der Bühne gefällt werden, ihr Ort ist bei den Zuschauern. Darin hat sich jedenfalls mein Standpunkt nicht geändert. S. Alexander Kluges Film Abschied von gestern beginnt mit dem Satz: Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage. Soll uns von gestern ein Abgrund trennen? Geht es jetzt in Deutschland darum, reinen Tisch zu machen? T. Es gibt die klassische, und d.h. bei ihm die brauchbare, Formulierung von Brecht: Die Geschichte macht vielleicht einen reinen Tisch, aber sie scheut den leeren. S. Was heißt das? T. Die Sieger zielen auf eine Annihilation. Es soll nicht gewesen sein. Der Siegestaumel im Vereinnahmungsprozess einerseits, und andererseits der Schock und die ihm folgende Lähmung und Erstarrung, beides ist etwas, das blind macht. Erinnerungslos und erfahrungsblind. Um wieder handlungsfähig zu werden, muss das, was erlebt wurde, muss aus
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dem Erlebten Erfahrung werden. Die Aufführung soll dazu beitragen. Denn die Erfahrung wird noch gebraucht werden. S. Worin werden die zukünftigen Kämpfe auf den Bühnen der DDRTheater bestehen müssen? T. Es wird keine DDR-Theater mehr geben. Es wird keine DDR mehr geben. Aber natürlich gibt es eine Menge Leute, die da, je nach Alter verschieden weit zurückreichend, einiges erlebt haben. Das soll ausgestrichen werden. Keinesfalls soll es Erfahrung werden dürfen. Der Siegestaumel ist töricht, und die Forcierung des Tempos kommt aus Angst. Ich meine nicht nur die vordergründigen Ängste der in der Bundesrepublik regierenden Parteien, dass sie das schnell machen müssen, damit sie die Wahlen noch gewinnen. Ich meine eine tiefer liegende Angst. Die soll aufgefangen werden mit Geld. Die Schuld wächst. Und es fehlt eine Vorstellung von Zukunft. Der Wohlstand der Westrepublik, ein relativer Wohlstand, weil es der Wohlstand eines Teils ist, beruhte und beruht ja darauf, dass die Wirtschaftsform und das politische System millionenfachen Hunger produziert in der Welt. Und dass die ökologische Katastrophe schon anfängt. Eine grundsätzliche Veränderung in den wirtschaftlich entwickelten Ländern, und zwar in nicht zu langer Zeit, ist nötig zum Überleben der Menschheit. Davon gibt es keine Vorstellung. Die Vorstellungen gehen nicht hinaus über das, was man Schönheitsreparatur nennt, die Beruhigung der Wähler. Das Stück kann etwas dazu tun, dass der gescheiterte Sozialismusversuch wenigstens so weit verarbeitet wird, dass der lähmende Schock nach der Niederlage überwunden und die Fähigkeit zu handeln wiedergewonnen wird. Irgendwann. Schnell wird das nicht gehn. Aber man muss schnell damit anfangen. Und trotzdem gründlich sein.
DIE NATION BEERDIGEN Gekürzt hat dieser Text als Einladung gedient zu einem Symposion, das die Internationale Heiner Müller Gesellschaft gemeinsam mit der Rosa Luxemburg Stiftung am 9. November 2002 im Jüdischen Museum in Berlin veranstaltet hat. T. schrieb ihn mit Stefan Schnabel, mit dem er das Symposion organisiert hatte. Die Devise, die der Titel formuliert, ist einem Gespräch Müllers mit dem Westberliner Philosophen Klaus Heinrich entnommen. Es ist 2007 im Stroemfeld Verlag Basel und Frankfurt/M. gedruckt worden, mit einem Gespräch über das Gespräch, das der Soziologe Peter Kammerer mit Klaus Heinrich auf dem Symposion geführt hat. T.s Eröffnungsrede zum Symposion, überschrieben Der schiefe Segen, kann man in Bd. 1 dieses Buchs (Recherchen 35, Bln. 2006) auf S.93ff. nachlesen.
Im Berliner Ensemble treten zwei Totengräber vor den Vorhang und sehen sich das ruhmreiche Theater an: die goldenen Operettenengel und
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den roten Samt, den preußischen Adler über der Hofloge im Proszenium – Brecht hat ihn kreuzweise rot durchstreichen lassen – und auch das unvermeidliche Schutzschild, angeordnet über der Mittelloge der Arbeitermonarchie. Zufrieden stellen sie fest, dass sie am rechten Ort sind: Das Mausoleum des deutschen Sozialismus. Hier liegt er begraben. Das Stück, dessen Aufführung mit dieser Szene und diesen beiden Sätzen beginnt, heißt Germania 3 Gespenster am Toten Mann, und es arbeitet an der Beerdigung der Nation. Die DDR sollte die Nation in die sozialistische Zukunft führen, nach der Lüge des Nationalsozialismus die wahre Wahrheit. Dass der Versuch scheitern musste, war Folge der Preisgabe des Internationalismus. Voraussetzung war, der Not gehorchend, die rigide Disziplinierung, noch zu Lenins Zeit, von Rosa Luxemburg sofort kritisiert. Diese Disziplinierung hat, nach dem Tod Lenins, in eine Konterrevolution geführt. Das Denken von Marx und Engels (und auch das von Lenin) wurde verwandelt in eine Lehre, deren einziger Zweck die Legitimation absolutistischer Herrschaft war. Wer sich nicht fügte, wurde liquidiert. (Die Übernahme des Wortes Liquidation aus dem Bereich des auf Maximalprofit zielenden Wirtschaftens ist beredt.) Der sog. Sozialismus in einem Land musste sich einmauern und die eigene Bevölkerung kolonisieren. Der Generalsekretär der kommunistischen Partei war der neue Zar. Als der, halb geheim, Freundschaft von Woschd zu Woschd schloss, gebrauchte man einen gespaltenen Becher, parteitreu und treudeutsch, um auf die Reichskanzlei des großdeutschen Führers, zur Feier des Freundschaftsbandes, das vom Kreml des großrussischen Führers dort hin sich schlang, eine Blume als Reimwort zu finden: Akelei. Horrid laughter. Nach dem Vertragsbruch der Reichskanzlei hat der Kreml die Internationale durch eine Nationalhymne ersetzt und die alten Rangabzeichen hervorgeholt für den Vaterländischen Krieg gegen die deutschen Okkupanten. Die Austreibung des Teufels durch Beelzebub gelang, und die ostdeutsche Losung wurde: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. (Da war die schon lange keine Räteunion mehr.) Aber auch die Sieger der Geschichte sterben. In Germania Tod in Berlin, eine Szene eröffnend, dieser Kneipendialog: –Stalin ist tot. –Lang hats gedauert. Hoffnungen, die sich daran gehängt haben, wurden schnell enttäuscht. Es blieb bei einem Personalwechsel. Und als nichts Einschneidenderes geschah als eine halbherzige Liberalisierung, Tauwetter, trat Ermüdung ein. Die euphemistische Bezeichnung Stagnation aber war steigerungsfähig, real existierender Sozialismus wurde der im unbewussten Gefühl der Unzulänglichkeit selbst gewählte Name für die
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lange Weile der Niederlage. Nach der endlichen Rückführung in die kapitalistische Realität ist die Losung: Vom Resozismus lernen heißt untergehen lernen. Nächster Untergang wird der der Nationen sein: in der globalen Wirtschaft. Nach deutschem Recht ist es aber immer noch eine Blutgrenze, die die Körper der Nation von der Menschheit trennt. Täter und Opfer der anachronistischen Grenze sind gefährliche Wiedergänger und die Beerdigung eine naheliegende Aufgabe. Das Grab würde den glücklichen Satz möglich machen: Ich war ein Deutscher. Denn der Rückfall in Nationalismus, gegen die unvermeidliche Globalisierung, entbindet Barbarei. Der angstvoll anachronistische Aufstand des Nationalen, sein Todeskampf, ist es, der das wirklich Besondere, das aus dem wirklich besonderen Boden wächst und zu kultivieren wäre, wirklich in den Boden stampft. Übernächster Untergang soll der des egoistischen Wirtschaftens sein. Ein vernünftiger Wunsch: Die Menschheit regelt ihren Stoffwechsel mit der Natur in Gemeinschaft, in einem Bund. Beerdigung der Nation ist Voraussetzung einer Perspektive für die Gattung.
ERINNERUNG AN EINEN WENDETALK Christoph Rüter hat in seinem Film Cameos mit Heiner Müller dankenswerterweise eine Situation überliefert, in der Müller, der bei einer Fernseh-Talkshow neben Minister Schäuble und Altkanzler Schmidt zu sitzen kam, an den Begriffen der deutschen Nation und des deutschen Nationalbewusstseins bohrt, wie es der Zahnarzt bei der Wurzelbehandlung tut. Deutsch sein heißt D-Mark haben ist die Definition, auf der er anlangt. Da ist bei Leutnant Schmidt die Schmerzgrenze erreicht, und sein Geduldsfaden reißt. Er folgt, während Gevatter Schäuble an seiner Seite sich vornehm zurückhält, der alten Gewohnheit, schneidig anzugreifen. Die Rechte behält sich Knockoutschläge vor, die Linke macht wie stets die Drecksarbeit. Müller schweigt. Er hat gesät und muss/kann warten. Aus Schmidts Sprechwerkzeug entwich, ohne jede Bemühung der obligatorischen Zigarette, dieser Qualm: Die Nation ist (wörtlich): eine seelische – vom Urgrund her – seelische Notwendigkeit. Da waren wir, das Millionenpublikum der deutschen Television, wieder am Urgrund des deutschen Seins: im Blut und auf dem Boden der Nation vom Schwarzwald bis zur Waterkant und von der Maas bis an die Memel.
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AXEL BÄSES GERMANIA-BÜHNE Axel Bäse, mit dem T. schon in Düsseldorf zusammengearbeitet hatte, entwarf für die Aufführung an der Westberliner Volksbühne 1990 den Raum.
Das Berlinstück in Berlin warf die Frage auf, wie man in Berlin Berlin erkennt. Davor aber war zu erkennen: Was ist eine Stadt? Etwa im Gegensatz zum Leben auf dem Lande in der Dresdner Umsiedlerin. Da war das Land eine große leere Fläche, überwölbt von einem großen weiten Himmel – an einem Kuppelhorizont dargestellt mit Wolken am Tag und Sternen bei Nacht. Erde und Himmel in ihrer Verbindung und ihrem Gegensatz sind gattungsgeschichtlich das älteste Modell der Wahrnehmung und Strukturierung von Raum. Eine Stadt aber ist eine große Fläche, auf der der Blick verstellt ist von Häuserwänden. Es gibt Durchblicke in Straßenfluchten oder in Durchfahrten zu den Höfen. Die Stadt ist weiblich. Mit Leibesöffnungen, in die etwas hineingeht und aus denen etwas herauskommt. Axel Bäse hat in die Öffnung des Bühnenportals eine graue Wand gesetzt, das Oktogon des Zuschauerraums fortsetzend und schließend. Die Wand, mit einem Winkel Teil des Oktogons, hatte vier Öffnungen, eine Art Tore, zwei links und zwei rechts vom Winkel. Und unter ihr kam aus der Tiefe des Bühnenhauses wie eine lange Zunge die Spielfläche hervor, ein Podest, das mit einem Drittel vor der Wand lag und über die Rampe hinaus in den Zuschauerraum ragte. Zu zwei Dritteln aber lag es hinter ihr, den Augen der Zuschauer fast ganz verborgen. Die Tiefe des Bühnenraumes war nur einsehbar durch die Tor-Öffnungen, und zwar in verschiedener Perspektive und verschieden tief, je nach dem Sichtwinkel, den der Sitzplatz hat: Durchblicke. Auf der linken Seite vor dem Portal ragte die Wand seitlich über die Spielfläche hinaus und hing da sozusagen im Leeren. Mit ihr hing die vierte Öffnung über der Leere. Die Öffnung blieb den ganzen Abend mit einem schwarzen Vorhang verschlossen, erst für die beiden letzten Szenen wurde er geöffnet. Ein dunkles Loch: Tod in Berlin. Von den hinteren Zuschauerreihen aus erschien die Wand mit ihren Durchblicken zudem als ein Ganzes, als eine Art Vexierbild, in dem das Brandenburger Tor zu entdecken war, Wahrzeichen Berlins. Die Wand war Bild, sie stand den Zuschauern gegenüber, und zugleich war sie als Teil des Oktogons Teil ihres Raumes, des Zuschauerraums. Im Nachtstück (der einzigen Szene, die den Wechsel zwischen den Szenen der älteren und den Szenen der jüngeren Geschichte, eine Abfolge wie die der Strophen eines Liedes, unterbricht) stellt sich
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die Finsternis (völlige Verdunkelung von Zuschauersaal und Bühne) als gemeinsamer Handlungsraum aller Versammelten dar. Im Dunkel hört man zwei Stimmen aus der Menge sprechen, eine Frauenstimme und eine Männerstimme. Sie erzählen, was sie in dem Dunkel sehen. (Das war ein Gegenentwurf zur Version der Bochumer Aufführung, einer bloßen Verdoppelung: Zur Rezitation des Textes trat eins zu eins die Illustration des Textes durch einen Tanz. Ein exemplarisch dummer Regieeinfall und durch den vorzüglichen Tänzer nicht zu retten.)
TOD IN BERLIN 1 Die beiden letzten Szenen des Stücks haben ihm den Namen gegeben: Tod in Berlin. Der Text der ersten besteht aus den beiden Terzetten eines Berlin-Sonetts von Georg Heym, geschrieben 1911, die Müller zitiert: Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein. Die Toten schaun den roten Untergang Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein. Sie sitzen strickend an der Wand entlang Mützen aus Ruß dem nackten Schläfenbein Zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang. Die Bühne war leer wie fast immer. In dieser Szene aber stand der vierte Durchgang durch die Wand – ganz links, dort, wo sie über das Podest ins Leere ragt, der eine Durchgang, oder in diesem Fall richtiger: die eine Öffnung, die während des ganzen Stückes mit einem schwarzen Vorhang verschlossen geblieben war – jetzt offen. Aus diesem schwarzen Loch hört man ein Klavier. Es begleitet den Gesang zweier junger Frauen in schwarzem Kleid, die links an die Wand gelehnt stehen. Heyms Verse hat Friedrich Goldmann vertont. Die Szene war beleuchtet von einem einzigen, langsam stärker werdenden Scheinwerfer, der über der Mitte der Spielfläche langsam heruntergelassen wurde und erst sehr weit unten anhielt. Keine Frage, die Szene ist schwierig. Ausgangspunkt unseres Nachdenkens über die Schwierigkeit war eine Lessing’sche Streitschrift: Wie die Alten den Tod gebildet, von 1769. Pastor Herder hat ein paar Jahre später Lessings Polemik relativiert. Aber den ikonographischen Darstellungen des Todes als Gerippe (Todesbild des christlichen Mittelalters) antike Bilder entgegenzuhalten, ist ein Schritt ins Freie gewesen.
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Anderthalb Jahrhunderte später geht es – am Ende der Einbahnstraße – zum Planetarium: Wenn man, hat Benjamin dort geschrieben, die Lehre der Antike in aller Kürze, auf einem Bein fußend, auszusprechen hätte, der Satz müsste lauten: Denen allein wird die Erde gehören, die aus den Kräften des Kosmos leben. …Antiker Umgang mit dem Kosmos vollzog sich…in der Gemeinschaft: im Rausch als der Erfahrung, in welcher wir allein des Allernächsten und des Allerfernsten, und nie des einen ohne des andern, uns versichern. Benjamin denkt Rausch und nüchterne Disziplin zusammen: Der Menschheit als Spezies…organisiert in der Technik sich eine Physis, in welcher ihr Kontakt mit dem Kosmos sich neu und anders bildet. Die Erde aber ist der Grund. Und der Grund ist weiblich: Dem der hineingeht ist der Ausgang Eingang/Dem der hinausgeht ist der Eingang Ausgang/Ob Eingang oder Ausgang, es ist eins. Die beiden rätselhaften Frauenfiguren im aufdämmernden Licht und die schwebende Melodie von Goldmanns Komposition der Heym’schen Verse waren Bild und Klang des weiblichen Grundes von Kommen und Gehen.
TOD IN BERLIN 2 Ich kannte Müllers Germania-Projekt seit seinen Anfängen in den fünfziger Jahren. Fertig wurde das erste Stück Anfang der Siebziger. Seine letzte Szene habe ich stets, weil sie mich an Bertoluccis Film Ultimo tango a Parigi erinnerte, Der letzte Tango von Berlin genannt. Und ich war überzeugt, dass es eine Szene mit Handlung ist, nicht nur Rhetorik oder Referat. Die Aufführungen des Stücks, die ich gesehen hatte, in München, in Bochum, in Ostberlin, haben mich davon nicht abbringen können, sondern haben mich bestärkt. Die Bochumer Variante, sich an Reagans Berliner Aufruf anzuhängen, indem sie Hilses Krankenhausbett aus der Charité an die Mauer rückte, war indiskutabel. Fritz Marquardts Lösung in Ostberlin war eindrucksvoll durch das historische Foto der toten Rosa Luxemburg, aufgenommen, als sie nach Wochen aus dem Landwehrkanal gezogen worden war. Das Foto war riesig vergrößert und grob gerastert. Die Lösung setzte ganz auf die Wirkung dieses Bildes, handlungslos kommentiert von der Rhetorik. Gerhart Hauptmanns braver alter Hilse aus dem schlesischen Weberaufstand ist jetzt ein alter Bauarbeiter beim Aufbau der Stalinallee in Berlin. Nachdem er am 17. Juni 1953 von Halbstarken wegen seiner Bravheit zum Arbeiterdenkmal umgearbeitet wurde, liegt er in der Charité. Und was diagnostiziert man? Krebs. Als der junge Bauarbeiter
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Germania blickt von ihrem Hügel über den Rhein in Richtung des Erbfeindes Frankreich: eine Ansichtskarte.
und seine Freundin ihn besuchen, liegt er schon isoliert auf einer Bahre. Der Sterbende halluziniert: Er sieht das Mädchen als Wiederkehr Rosa Luxemburgs: Er erhebt sich und tanzt mit ihr einen Tango. Der Junge hält sich die Hände vors Gesicht. Der Alte vögelt sein Mädchen und stirbt im Paradies. Wir bekommen eine eigentümliche Pietà zu sehn. Dem Jungen fallen die Hände von den Augen.
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Bei den Proben passierte etwas Seltsames. Wir benutzten die Bandaufnahme eines Herztones. Und als Brombacher, Rois und Patton die Szene durchgingen, endete der Ton überraschenderweise genau am Ende von Hilses Text, ohne dass der Zeitpunkt technisch fixiert gewesen wäre. Und nicht nur ein Mal, sondern bei jedem Durchgang wieder. Immer setzte der Herzton an der richtigen Stelle aus. Es war unheimlich. Ich habe mich nicht getraut, über die Andeutung hinauszugehen und eine Darstellung des Vollzuges auch nur vorzuschlagen. Aber vielleicht war die Andeutung deutlicher als eine Ausdeutung? Ich habe damals nicht über meine Hemmschwelle steigen können. Und noch heute, dreißig Jahre später, kann ich mich nicht entscheiden, was ich besser finde: die Andeutung, die es dem Betrachter überlässt weiterzudenken (gut!) oder die Handlung, die Zuspruch oder Widerspruch provoziert, d.h. eine Entscheidung abfordert (auch gut!).
DER LEISE GOLEM Das letzte Germania-Stück, Germania 3 Gespenster am toten Mann, ist eine raffinierte Collage aus überlieferten Texten, fremden und eigenen. Es hat mich, als ich es in Müllers letztem Arbeitszimmer, ein Stockwerk über Brigitte Mayers Atelier, gelesen habe – das war noch vor der Krebsdiagnose, vor der Operation in München und vor der letzten Amerikareise – zwar sofort sehr beeindruckt, aber voll zu würdigen wusste ich es nach der ersten, ja sehr schnellen Lektüre nicht. Hinreißend – und etwas ganz Neues – fand ich sofort die Frankenberg-Szene mit dem Sohn des Bürgermeisters: das Portrait of the Artist as a Young Man. Probleme hatte ich mit der Figur Stalins, während ich Hitler gut getroffen fand. Ich empfahl Heiner die Lektüre der Erinnerungen von Konstantin Simonow. Aus der Sicht meiner Generation heißt das Buch, deutsch im Verlag Volk und Welt erschienen. Simonow beschreibt den Eindruck, den er selbst, bei den Sitzungen der Stalinpreis-Kommission, von Stalin hatte, und er referiert die Erinnerungen der Generäle, die während des Krieges Tag für Tag mit Stalin gearbeitet haben. Auf meinen Einwand hatte Müller überlegt, ob Vers das Richtige sei für die Stalin-Darstellung, Grabbe habe bei Napoleon auch mit dem Vers aufgehört. Ich habe ihm, instinktiv und ohne eine Begründung beibringen zu können, widersprochen. Und es ist ja dann auch beim Vers geblieben. Ich finde Verse immer noch richtig, kann aber immer noch keine schlüssige Begründung geben. Als ich nach seinem
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Tod von Brigitte eine Ablichtung der Fahnen des Erstdrucks bekam – die Korrektur war seine letzte Arbeit gewesen – und den Text wiederlas, sah ich, dass er etwas länger geworden war. Einwand hatte ich keinen mehr. Aus der Simonow-Lektüre hatte sich mir ein Bild hergestellt: Stalin, ein leiser Golem. Ich weiß nicht, ob Müller das Buch gelesen hat. Aber in dem Text, wie er jetzt ist, finde ich das Bild wieder: den leisen Golem.
GERMANIA ITERUM ITERUMQUE Der Text erschien zuerst im Herbst 2015 in der Berliner Zeitschrift Abwärts.
1990, nach der Premiere von Heiner Müllers Stück Germania Tod in Berlin in der Westberliner Volksbühne, drei Tage vor dem Anschluss der DDR an die BRD, haben wir bei der Premierenfeier im Foyer uns angehört, wie der große Qualtinger die Sätze vorliest, die der deutsche Führer über den Anschluss meiner Heimat an das Deutsche Reich – diese markig herausgeschrienen Worte fielen 1938 in die Menge auf dem Wiener Heldenplatz – schon in seinem Buch Mein Kampf, ein Dutzend Jahre früher, sich vorgeschrieben hatte. Er hatte gesehen: … es liegen die Eier des Kolumbus zu Hundertausenden herum – nur die Kolumbusse sind eben seltener zu treffen. Da beschloss er, Kolumbus zu werden und entdeckte: … Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, Wolf zur Wölfin und so weiter, das ist nur natürlich. Schlussfolgerung: … gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich! Qualtingers Wiedergabe war zugleich authentisch lebendig und eine Mortifikation. Haben wir gelacht! Die Parallele von Anschluss und Anschluss war erschütternd. Politiker aber, reifer als wir, waren gerührt. In ihren zwölf Schuljahren hatten sie, es stand in ihrem Stammbuch, gelernt, dass gleiches Blut in ein gemeinsames Reich gehört. Zwar ging es jetzt nicht mehr um das Blut, sondern um den Markt. Aber war da ein Unterschied? Iwo. Heute, im deutschen Europa, liefern die Besitzlosen ihr Blut in Gestalt von Geld auf den Konten der Besitzenden ab. Das europäische Reich des Mittelalters, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte nach langem Siechtum am 6. August 1806 geendet, Kaiser Franz II. legte die deutsche Kaiserkrone nieder und erklärte sein Amt für erloschen. Der Erbe der französischen Revolution, Kaiser Napoleon, triumphierte als ihr Liquidator und ihr Vollstrecker, Europa ist französisch. Der Sieg in den Freiheitskriegen führte dann in eine europäische Restauration, und der hoffnungsvolle Name Freiheits-
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kriege klang wie Hohn. Der Wiener Kongress, der folgte, hat lange gedauert. Aber die neun Monate unseliger Schwangerschaft endeten nicht mit einer Geburt, im Gegenteil. Die politischen Veränderungen, die die Revolution und Napoleon in Europa bewirkt hatten, wurden abgetrieben. Eine katholische Abtreibung, o heilige Allianz, ist ein Wunder noch heute. Die politische Landkarte Deutschlands blieb Flickenteppich, den dynastischen Interessen folgend, und in der Jahrhundertmitte endeten neue Versuche zu Revolutionen in Niederlagen. Erst nach noch einem Krieg und noch einem Sieg über Frankreich kam es in Deutschland zur Bismarck’schen Einigung von oben: Im Spiegelsaal von Versailles wurde ein zweites deutsches Reich gegründet. Die sog. kleindeutsche Lösung umfasste die Länder des Norddeutschen Bundes und Baden, Bayern und Württemberg. Der König von Preußen wurde deutscher Kaiser, Berlin die neue Hauptstadt. Oesterreich war immer noch groß, ein Vielvölkerstaat, der sich über ganz Südosteuropa erstreckte und regiert wurde von seinem winzigen deutschen Teil; die Hauptstadt blieb Wien. Die wirtschaftliche Prosperität im zweiten Reich führte zu einer Aggressivität, die zur Kriegsursache wurde, das Attentat in Sarajewo auf den oesterreichischen Thronfolger war der Anlass. Deutschland und Oesterreich wie ihre Gegner stolperten in den ersten großen Krieg des Industriezeitalters. Das Ziel Deutschlands war ein deutsches Europa. Gleich nach Kriegsbeginn formulierte des Kaisers Kanzler in einer Denkschrift das allgemeine Ziel des Krieges: Sicherung des deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Dazu müsste Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht mehr entstehen, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nicht-russischen Vasallenvölker gebrochen wird; England, damals noch ein Weltreich, sollte das aushalten – hat er sich gedacht. Dieser schöne Krieg ging den Deutschen 1918 verloren. Sie wollten ihn unbedingt wiederhaben, und schon nach zwei Jahrzehnten war es so weit. Das dritte Reich, Großdeutschland nach dem Anschluss des Südens, ein Volk ein Reich ein Führer, hat es geschafft, 1940, nachdem der Erbfeind ein drittes Mal geschlagen wurde, triumphal. Die Deutschen sind endlich glücklich, so glücklich, wie ich sie nie wieder gesehen habe. Damals war ich vier Jahre alt und hatte einen Eindruck fürs Leben. Blumen, Blumen, Blumen. Die genagelten Stiefel der heimkehrenden Truppe stapften durch ein Meer. Als ein Jahr später nicht nur Tschechien, Polen, Frankreich und die Beneluxstaaten, sondern auch Norwegen und Dänemark und der ganze Balkan besetzt waren, konnte
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stolz verkündet werden, dass die Hakenkreuzflagge vom Nordkap bis zur Akropolis weht, Europa war deutsch. Die Expansion hat schnell in einer Insolvenz geendet. Aber wie hat der deutsche Aar sich aus der Pleite erhoben! Die alte BRD – die zweite kleindeutsche Lösung: ein gesundgeschrumpftes Deutschland, fit wie ein Turnschuh – hat es endlich, nach dem Anschluss des Ostens, noch einmal geschafft: Europa, ein viertes Reich! Ein Vierteljahrhundert nach der sog. Wiedervereinigung ist Europa wieder deutsch, ja, die Griechen sehen schon wieder die Hakenkreuzfahne auf der Akropolis. Ach, wie ungerecht. Ohne Hakenkreuz und Stukas und U-Boote und Panzer, ohne die Helden Mölders und Prien und Guderian ist es doch viel besser gegangen! Germania in der bescheidenen Rolle der Kindergartentante, lieb und streng und gerecht; alternativlos Friede, Freude, Eierkuchen… Auch Juden, Schwule, Zigeuner können jetzt geduldet werden – wenn sie brav sind. Von kleinen Zwischenfällen muss man absehn. Die Synagogen werden bewacht! Einfach ein Posten davor, das ist ein bewährtes Verfahren. Ja, es ist schön, durch Europa zu fahren ohne Grenzkontrollen! Zwar sind Rückfälle, wie Bomben auf Stadt und Festung Belgerad möglich... Wenn das deutsche Europa nicht gerade am Hindukusch verteidigt wird und ein kleiner deutscher Oberst, um in den Generalsrang zu rücken, nur seinen Beruf als Mörder auszuüben braucht und einhunderteinundvierzig Eingeborene, Männer und Frauen und Greise und Kinder, die gerade dabei sind, vom Überfluss der Eindringlinge etwas für sich abzuzweigen, verbrennen lässt… Oder wenn ein paar tausend Flüchtlinge als Wasserleichen vor der Südgrenze treiben…
WINTERREISE (1978) Frankfurt Berlin im Fluge Eine Stunde zentimeterweise Schwarz weiß Winter Winter Winter Grau grau grau Deutschland Über alles unter mir Zerrissene Karte Zwei Teile ein Anblick
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DEUTSCHLAND ORTLOS Gedruckt als Rezension in der Zeitschrift Theater der Zeit 11/2011, war dieser Text gedacht als Hinweis auf die Arbeit von geschätzten Kollegen. Die Aufführung, von der er spricht, wurde gezeigt bei einem Symposion zum Kleistjahr 2011, das die Sächsische Akademie der Künste veranstaltet hat, und an dem T. teilnahm.
Die Brunnenoper zeigt im Societaetstheater Dresden-Neustadt Heinrich von Kleist spielt Michael Kohlhaas. Vorlage für diese erstaunliche Produktion ist eine Szene aus Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Im Stück ist die Szene mit dieser Überschrift so etwas wie die Notierung eines Traums: Skizze eines Traumbildes ohne ein Wort zu sprechenden Textes, und in den Aufführungen des Stückes war das fast immer Anregung zu freien Assoziationen; ein Mal nur, in einer Aufführung des Berliner Maxim GorkiTheaters, ist Müllers Skizze ausgeführt worden. Hier nun wird die Skizze ausgefaltet in zwölf Sequenzen. Regie und Dramaturgie, Annette Jahns und Klaudia Ruschkowski, haben, mit wenigen Textzitaten aus Kleists Stücken, Erzählungen, Briefen, Müllers Grundriss aufgefächert in eine musikalisch-tänzerische Struktur, eine Folge von Traumschüben. Die Geschichte Kohlhaas’, wie Kleist sie erzählt hat, und die Geschichte von Kleists Leben, wie sie in Dokumenten, Briefen und Erinnerungen, überliefert ist, sind ineinander verschlungen. Die Träume erscheinen im Theater als ein Relief, herausgetrieben aus dem Grund einer Stagnationsperiode – einer Zeit, deren Opfer Kleist geworden ist wie früher und später andere zu Opfern ebensolcher Zeiten geworden sind. Marx über Deutschland: Wir befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung. Herzstück der Veranstaltung ist ein Schubertlied. Dessen Text hat anderthalb Jahrzehnte nach Kleists Tod Wilhelm Müller geschrieben: Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh’ ich wieder aus… Text und Musik verschließen das Traumpaket mit dem fesselnden, für Kleist nicht lösbaren Knoten. Noch einmal anderthalb Jahrzehnte danach hat Marx den Begriff Entfremdung geprägt. Gisela Storch-Pestalozza hat die Optik der Träume, ihre phantastische Seite und ihre reale Seite in Gegensatz und Zusammenhang, formuliert und fixiert. Die Trennung der Elemente (Musik, Tanz, Pantomime, Gesang, Text der Zitate, Raum und Licht und Kostüm und Maske) durch die Regie Anette Jahns ist eine Erinnerung an Brechts Diktum und Müllers Folgerung: Zusammen sehen kann man nur, was getrennt präsentiert wird, und es ist eine Erinnerung an erste wirkliche Folgen in den älteren Arbeiten Robert Wilsons. Die Elemente der Darstellung
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bleiben selbstständig, sind aber nicht isoliert, sie hängen zusammen, sind aber nicht verschmolzen. Wenn es angesichts einer so vorzüglichen Arbeit erlaubt ist, einen Vorschlag zu machen, dann wäre es der, den Ablauf der Schübe deutlicher zu unterbrechen und durch diese Ausstellung der Montage den Rhythmus der Erzählung zu betonen – was dem Team, mit der Erfahrung der Publikumsbegegnung, sicher leicht fallen wird. Eine italienische Kollegin, Marta Maria Marangoni, agiert mit zwei deutschen Darstellern, Agnes Ponizil und Jan F. Kurth. Ihrer Ausbildung nach sind alle drei nicht Schauspieler, sondern Musiker, Sänger, Tänzer. Das ist ein Grund, warum sie die wenigen Sätze Text so vorzüglich sprechen. Tatsächlich zitieren sie. Sie interpretieren ihre Texte nicht, sie sagen sie einfach, und jeder Zuhörer kann dabei selber denken. Es wird ihm nichts vorweggenommen. Das Schubertlied singt Agnes Ponizil schlicht und schön, und ihr Vortrag entfaltet so die ganze dem Lied innewohnende gewaltlose Gewalt, ohne den beliebten interpretatorischen Druck. Dabei sah Frau Ponizil dem einzigen authentischen Porträt Kleists beängstigend ähnlich. Der ungewöhnlichen Produktion entspricht eine ungewöhnliche Genese. Von den drei Darstellern hatte eine, die Italienerin, teilgenommen an einem Workshop mit Müllers Lohndrücker-Text, den die Internationale Heiner-Müller-Gesellschaft unter der Leitung von Matthias Langhoff in Berlin und Neapel durchgeführt hat. Danach hat sie noch an einem zweiten Workshop der Gesellschaft bei der Biennale in Venedig teilgenommen, den Annette Jahns geleitet hat, Gegenstand war Müllers Quartett-Text. Dort ist die Idee zu dieser Produktion entstanden. Realisiert wurde sie dann in Dresden, wo Annette Jahns zu Hause ist und die Brunnenoper gegründet hat und leitet. Die Genese der Produktion kann noch immer ungewöhnlich genannt werden, aber ihre Tendenz reicht lange zurück, länger als ein halbes Jahrhundert: die Tendenz, der hierarchischen Struktur der Stadt- und Staatstheater eine beweglichere, offenere, billigere entgegenzusetzen, die nicht mehr angewiesen ist auf repräsentative Rahmung. Der Begriff der Theatertruppe lebt auf – eine Produktionsgenossenschaft, ein Team, ein Kollektiv. Brechts Berliner Ensemble, Steins Schaubühne, Zadeks Wandertruppe haben in diese Richtung gewiesen. Roberto Ciulis Mülheimer Unternehmung und (ihr folgend) das Theaterhaus Jena setzten sie um in eine neue Betriebsstruktur. Heute ist die Dresdner Brunnenoper kein ganz einsames Experiment mehr. Deutschland ortlos war der Titel von Heiner Müllers Kleistpreisrede im November 1990, nach dem Wiedervereinigung genannten Anschluss
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der DDR an die BRD. Ortlos Kleist, ortlos Müller, das Leben ein Traum. Ich sehe das Traumtheater im November 2011, als das Kleistjahr sich dem Ende zuneigt. Was erfährt der deutsche Zuschauer heute aus den Träumen des Theaters? Kleist hats versucht. So und so. Das gelang und das nicht. Und wir lernen Sterben in Deutschland ist leicht, leben in Deutschland ist schwer.
ALTE STÜCKE, NEUES BUCH Diese Rezension eines Buches der DDR-Bibliothek des Verlages Faber & Faber in Leipzig: Heiner Müller, Der Lohndrücker/Die Umsiedlerin, erschien in der Tageszeitung Neues Deutschland am 19.12.1995.
In einer Zeit, in der der Transport von Erfahrung stockt, eine Buchreihe zu machen, die Erfahrung in Fluss zu bringen sucht, ist ein guter Zweck. Die Bücher, schön anzusehen und angenehm in der Hand liegend, sind gute Mittel zu gutem Zweck. Zur Typographie: weniger Apartheit, mehr Sachlichkeit wäre angebracht. Lohndrücker, in knapper Prosa geschrieben, ist gut lesbar, aber bei Umsiedlerin tilgt das Druckbild den Rhythmus des Wechsels von Prosa und Vers, weil es die Verse nicht untereinander setzt, sondern sie nur mit Schrägstrichen voneinander trennt. Und anzumahnen ist gründliche Korrektur: Eine Stichprobe hat auf drei Seiten, 174 bis 176, zwei sinnstörende Fehler zutage gefördert. Geärgert hat mich das Nachwort von Werner Mittenzwei, das DDR-Clichés reiht: vom Mangel an positiven Figuren – da haben wir wieder das Pfefferkuchenwort, mit Gottfried Keller zu reden – Positiv? Arschduhoch! – bis zum puren Ablauf der Widersprüche, ohne das Ziel, die Lösung hervorzuheben und zu dem, was es bei Müller nicht gibt, dem Licht in der Finsternis. Aus dem Nähkästchen kann ich mitteilen: Aufführungen eines Müller-Stücks werden gut, wenn auf den Proben strahlende Heiterkeit herrscht. Sie erzeugt Freiheit für die Leute im Saal. Bei der Auswahl für die Reihe ist nicht viel falsch zu machen. Aus dem Verkehr gezogene Erfahrung wieder in Umlauf zu bringen, ist nicht unbedingt daran gebunden, dass es sich um große Kunst handelt, und das Sortieren (in jeder Hinsicht) ist nützliche Folge statt brauchbarer Ausgangspunkt. Dieser Band aber ist darin eine Ausnahme, denn die beiden Theaterstücke stehen in einer langen Galerie großer Frühwerke. Auch eine schöne Reihe: Götz und Urfaust, Räuber und Millerin, Danton, Sonnenaufgang (wiederentdeckt von Schleef), die Urlulu (wieder-
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entdeckt von Zadek) – und so weiter. Was die Folgen dieser Jugendstreiche für ihre Urheber angeht, dass nämlich die Realität den Realismus plättet, ist eine deutsche Tradition. Über die Situation seines unmittelbaren Vorgängers hat Müller nachgedacht: Fatzer plus minus Keuner hieß sein Aufsatz über Brecht. Und mit einem Satz darin geht er weiter zurück, zu Goethes Entscheidung gegen die hungernden Weber in Apolda für die Jamben der Iphigenie. Er nennt sie paradigmatisch. Verluste in den Niederlagen ferner Vergangenheit sind heute offen sichtlich. Aber hat der Einblick in die vergangene Suche nach Auswegen Müller helfen können? Oder gibt es Verluste in seinen Stücken nach dem einundsechziger Skandal der Umsiedlerin-Uraufführung? Wer weiß. Es ist zu früh zum Sortieren. Man irrt sich schnell. Zement war das erste der großen Stücke, das wieder aufgeführt werden durfte, zwölf lange Jahre nach Umsiedlerin. Das war ein politischer Zaubertrick, der Intendantin und Regisseurin Ruth Berghaus zu danken. Ich war damals der Meinung, dass Müller es zu spät geschrieben habe. Anderthalb Jahrzehnte, ehe er es schrieb, hatte er mir die Vorlage, Gladkows Roman, zu lesen gegeben und mir schon die parallelen Geschichten aus der Antike erzählt, die jetzt sein Kern sind. Ich habe Müller aufgezogen und das Stück seinen Wilhelm Tell genannt; Hanns Eisler hatte nach der Umsiedlerin-Affäre Witze gerissen und zu Müller gesagt: Ein österreichischer Tyrann wird in der Schweiz ermordet – solche Stücke müssen Sie in Deutschland schreiben, Müller. Aber noch einmal zwei Jahrzehnte später, 1994, in Thomas Heises Aufführung, fehlte auf den Stimmen der Darsteller die Gewichtigkeit der Beteuerung, die die Sieger der Geschichte dem Text aufdrücken zu müssen glaubten, um es durch die Zensur zu bringen. Der Text erschien schlank und verjüngt. Wir werden noch mehr solche Überraschungen erleben. Da stehen nun, einmal mehr in der deutschen Literatur, fremde und fordernde Gebilde in der Landschaft. Wie umgehen damit? Der Lohndrücker war, in der Inszenierung des Autors, zuletzt im Deutschen Theater zu sehn. Das war in der Endzeit der DDR. Die seitdem ständig angemahnte Vergangenheitsbewältigung hat die Aufführung nicht geleistet. Denn es war und ist nichts zu bewältigen. Mit der Vergangenheit, die war wie sie war, keine Anstrengung wird sie ändern, muss man leben. In der Gegenwart. Das tat die Aufführung. Und Umsiedlerin, vor zehn Jahren, auf einem Dresdener Gastspiel in Düsseldorf, Hamburg und Köln, traf in der Sekurität der ehemaligen BRD auf die zugeschütteten und vergessenen Wünsche nach einem Leben jenseits der Warenwelt und erzeugte ein seltsames Theaterglück durchaus subversiven Charakters. Die Stücke sind lebendig genug, um zu anderer Zeit an anderem Ort anders zu arbeiten.
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Und die Zukunft des Sortierens? Die gegenwärtige FeuilletonKampagne gegen die DDR-Literatur (einer von vielen guten Gründen für die Buchreihe) ist von großer Komik. Wer weiß nicht, dass der größere Teil einer Literatur mittelmäßig bis schlecht ist? Der ganze Unterschied: Diese Art DDR-Literatur war offensichtlich Scheiße, und diese Art BRD-Literatur war und ist geschickt lackierte Scheiße. Was aber an Erfahrung, manchmal unfreiwillig gegen alberne Kunstanstrengung, auf dem Bitterfelder Weg der Literatur zugewandert ist, wird noch gebraucht werden. Wussten sie am Ende noch, dass sie einmal begonnen hatten mit einer Aufgabe? Die Spur im Gedächtnis war zugeschüttet. Sie hatten sich eingemauert. Sie waren belagert. So lebten sie hin, die Belagerung dauerte, es schien das Normale zu sein. Schließlich gaben sie auf. Am Ende standen sie zusammen mit den Siegern im Freien. Vor der Aufgabe. Ich zitiere aus Silas Haslams Geschichte des Landes Uqbar von 1874. Auf die Spur dieses Buches führt den Interessierten die erste der sieben Erzählungen des Bandes Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, 1941, von Jorge Luis Borges.
DER STASISPITZEL H.M. Nachdem Heiner Müller in der Presse angegriffen worden war wegen seiner Stasikontakte, befragte Peter Laudenbach Lothar Trolle und T. für die taz. Die aber hat das Interview wegen der Kritik an ihrer Redaktion nicht gedruckt. Also erschien es in der Berliner Zeitung und in der Hamburger Aktion.
Laudenbach Heiner Müller hat gesagt, dass die Staatssicherheit den Kontakt zu kritischen Künstlern suchte. Wollten sich Stasimitarbeiter auch mit Ihnen unterhalten? Tragelehn: Trolle und ich waren in einer anderen Lage als Müller, weniger exponiert. Einmal hatte ich das Vergnügen. Nachdem Schleef 1976 im Westen geblieben war und ich, vorgeladen in die Keibelstraße zur Klärung eines Sachverhalts, polizeilich verhört worden war, klingelten eines Tages zwei Herren bei mir zu Hause. Es war interessant, ihr Verhalten zu beobachten. Ich könnte das nachspielen wie eine Theaterszene. Es hat mich als Regisseur interessiert. Und so eine Art Interesse hat Müller auch gehabt. Laudenbach Das klingt nicht so, als könnten die Presseattacken Sie beeindrucken. Tragelehn: O, es ist interessant, was da für ein Schwachsinn hochschwappt. Die Unfähigkeit, einen nicht von Clichés bestimmten Gedan-
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ken zu denken, hat etwas Erschütterndes. Aber ich habe keine Lust, Rechtfertigungsreden zu halten. Das wäre absurd. Trolle Ich muss mich doch nicht verteidigen, weil ich in der DDR gelebt und geschrieben habe. Tragelehn Eine Dame von einer Hamburger Zeitung stellt sich in einer Berliner Theaterkantine vor mit der Bemerkung Ich bin die Frau, die den Müller am Haken hat. Das muss man nicht kommentieren. Wenn, ein anderer Fall, die Chefradakteurin der taz eine halbe Seite Schwachsinn schreibt, erinnre ich mich daran, dass zwei Tage zuvor in der taz stand, dass der Ostberliner Künstlerklub Die Möwe nach dem Stück von Ibsen benannt war. Laudenbach Ausrutscher können jeder Zeitung passieren. Tragelehn Richtig, und was ist das? Der Weltuntergang durch schwarze Magie. Laudenbach Durch was?! Tragelehn Mit Karl Kraus zu reden. Na? Die Druckerschwärze! Die Angabe ist nicht korrigiert worden, und wahrscheinlich glaubt die Redaktion immer noch, dass das Stück von Ibsen ist. Wenns um was geht, dann sollten die besser den Mund halten und stattdessen die Schularbeiten nachholen. Erdmann-Ziegler nur hat die Haltung zu Müller korrigiert in der taz. Die ganze Situation erinnert mich an den Skandal von 1961, nach der Uraufführung der Umsiedlerin. In solchen Lagen sieht man, dass es nur wenig Leute mit geistiger Unabhängigkeit gibt. Damals zum Beispiel Hans Mayer, heute zum Beispiel Günther Rühle. Der hat mit seinem ersten Kommentar klargestellt, wie unsinnig die Polemiken sind, wenn man das Werk Müllers kennt. Als ich 1990 Germania Tod in Berlin inszeniert habe, wurde mir deutlich, dass in dem zwanzig Jahre alten Stück – Handlungskern sind die ersten Jahre der DDR – ihre ganze Geschichte steckt. Da steht schon alles, weshalb sie nach vierzig Jahren untergegangen ist. Laudenbach So gesehen werden die Manöver, Müller auf seine Stasikontakte zu reduzieren ohne sein Werk wahrzunehmen, zum Versuch, das Bewusstsein von DDR-Geschichte, das Müllers Texte formulieren, zu verdrängen. Tragelehn Das seh ich auch so. Es gehört zu der allgemeinen Bestrebung, der nach einer Annihilation. Die DDR soll nicht gewesen sein. Was aber Müller angeht, werden dem, der ihn liest, Skandalgeschichten im Hals stecken bleiben. Dann laufen eben einige Leute einige Zeit mit einem dicken Hals herum. Laudenbach Müller wird in der Zeit unterstellt, er hätte sich als IM konspirativ verhalten. Hat seine Umgebung von diesen Gesprächen gewusst?
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Tragelehn Natürlich hat man drüber geredet. Aber beiläufig. Meist mit Witzen. Stasi war alltägliches Nebenbei. Aber niemand hat sich mit einem Megaphon auf die Straße gestellt, damit man es Jahre später in Hamburg noch hören kann. Bei Schwierigkeiten, Näherung des Ernstfalls, hab ich Heiner angerufen, damit er vielleicht irgendwo interveniert. Was hab ich gedacht? Vielleicht, dass er Konrad Wolf anruft, und der redet mit seinem Bruder. Diskutiert haben wir sowas natürlich nicht am Telefon. Laudenbach Können Sie ein Beispiel nennen, Trolle? Trolle Ich hatte mal Schwierigkeiten mit der Sozialversicherung, weil ich einige Zeit weniger als Dreitausend verdient hab im Jahr. Die Gefahr war, dass man einen Arbeitsplatz zugewiesen bekommt. Das Problem hatten viele junge, missliebige Künstler. Tragelehn feixt Du warst einfach asozial, gibs zu. Trolle Da hab ich Heiner um Hilfe gebeten, und er hat sich mit irgendjemandem unterhalten, und mir ist nichts passiert. Laudenbach Dachten Sie, dass er mit der Staatssicherheit gesprochen hat? Trolle Hab ich ihn nicht gefragt, und war mir auch egal. Alles derselbe Ekel, Stasi oder Partei oder Bürokratie, die gleiche Preislage. In solchen Situationen war absolut hilfreich, dass Heiner sich mit den Leuten unterhalten hat. Ich kann ihm das nicht vorwerfen. Ich könnte ihm nur vorwerfen, wenn er sich nicht mit ihnen unterhalten hätte. Laudenbach Sie haben 1983 bis 1987 mit Uwe Kolbe und Bernd Wagner die illegale Literaturzeitschrift Mikado herausgegeben. Hatte Müller zur Untergrundliteratur ein gutes Verhältnis? Trolle Natürlich. Er hat viele Leute aus der Szene unterstützt. Auch den Lyriker Schulze. Laudenbach In der taz wird Müller ein Zuträger der Stasi genannt, die Zeit behauptet, er hätte sich von der Stasi für operative Aufträge benutzen lassen. Können Sie sich vorstellen, dass Müller, wenn er mit Ihnen oder anderen Künstlern der halblegalen Kunstszene umging, Stasiaufträge erfüllte? Trolle Nein. Die Spekulationen über Stasipräsente sind grotesk. Die werden eine Flasche Cognac getrunken haben, und das wars. Laudenbach Müller begründet seine Stasikontakte mit der Hoffnung, dadurch die politische Entwicklung in der DDR beeinflussen zu können. Das klingt, als würde ein Intellektueller die eigenen Einflussmöglichkeiten im Umgang mit der Macht überschätzen. Tragelehn Na ja. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich nach Schleefs Abgang verhört wurde, würde ich sagen, es stimmt, man hat das Bedürfnis zu erklären, was sie falsch sehen. Es ist ein Problem, wenn man sich
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selber Gedanken gemacht hat, den Impuls zu unterdrücken, die Gedanken von anderen korrigieren zu wollen. Z. B. ihre Verschwörungstheorien zu entkräften. Ich habe darauf nur den Standardsatz aller Polizisten der Welt gehört, der steht in jedem Krimi: Für uns gibt es keine Zufälle. Sinnlos. Trolle Ich erinnere mich an einen Besuch bei Müller in Lichtenberg. Sein Nachbar war ein hoher Funktionär, der kam unangemeldet zu einem Gespräch in Müllers Wohnung. Es war eine etwas groteske Situation. Natürlich kann der von der Stasi geschickt worden sein. Laudenbach Trotz aller Kritik waren Sie oder Müller der DDR gegenüber immer loyal. Finden Sie das heute problematisch? Tragelehn Nein. Natürlich kann man sagen, dass wir den Fehler gemacht haben, nicht früh genug zu sehn, dass man dieses absolutistische Staatsgebilde zerstören muss. Entscheidend war, dass die Alternative keine Alternative war. In der Bundesrepublik gab es erst Ende der sechziger Jahre eine Hoffnung. Die Studentenbewegung war eine Zivilisierung der Bundesrepublik. Aber seit einem Jahrzehnt rollt das ja wieder zurück. Trolle Mag sein, dass uns der Gedanke, dieses System zu zerstören, früher hätte kommen müssen. Andererseits sind wir seit dreißig Jahren damit beschäftigt, mit künstlerischen Mitteln diese Strukturen auszuhöhlen und das Vakuum zu besetzen. Tragelehn Es ist ja ein Problem, das älter ist als die DDR. In den Gesprächen zwischen Brecht und Benjamin im dänischen Exil überlegt Brecht auch schon, ob es irgendwann nötig werden könnte, die Position loyaler Kritik zu verlassen. Und loyale Kritik heißt ja nicht Nettigkeit. Brechts Beispiel ist die Kritik von Marx und Engels an der deutschen Sozialdemokratie. Wer die kennt, weiß, was ich meine. Da knallts! Aber es ist sogar im Nachhinein eine schwierige Frage. Gegen jeden, der die DDR angriff, hab ich sie verteidigt, und jeden, der die DDR verteidigte oder lobte, hab ich angegriffen. Im Osten wie im Westen. Widersprechen ist immer richtig. Erstmal. Trolle Ein Problem ist, dass unsere Position, in der DDR die DDR zu kritisieren, von den Medien heute unterdrückt wird. Tragelehn Müller war spätestens seit 1961 missliebig beim Apparat. Als er 1971 Germania Tod in Berlin fertiggeschrieben hatte, durfte man das niemandem auch nur zeigen. Die Reaktion wäre zu dieser Zeit wahrscheinlich katastrophal ausgefallen. Nach dem Umsiedlerin-Skandal 1961 bis zur Uraufführung von Zement 1973 wurde in der DDR keines der großen Stücke Müllers gespielt. Und auch später gab es um jede Inszenierung Eiertänze. Erst in den achtziger Jahren kam der Ruhm. Zähneknirschend. Der Nationalpreis der DDR war 1986 nur die Antwort auf den
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Büchner-Preis, den Müller ’85 bekam. In Anwesenheit des Bundespräsidenten! Da hat die DDR gesagt, das ist aber mein Puppenlappen. Laudenbach Werfen Sie sich vor, zu viele Kompromisse gemacht zu haben? Trolle Radikal ist man nur im Schreiben. Eigentlich gab es immer zwei mögliche Positionen, entweder geh ich in den Westen, oder ich bleib hier und schreibe radikaler. Laudenbach Müllers Position war, dass er im Westen nichts schreiben kann. Tragelehn Jeder Schriftsteller hat eine Grunderfahrung, über die er schreibt. Die ist bei Müller komplex durch die Biographie. Durch die Familie hat er den NS anders erfahren als andere seiner Generation. Damit hängt der Versuch zusammen, Deutschland zu verändern, in diesem Drittel, in der DDR. Davor kann man nicht weglaufen. Der Dramatiker muss mitspielen. Ein Epiker wie Uwe Johnson, für den die DDR auch eine Grunderfahrung gewesen ist, war in einer anderen Lage. New York, oder die Themsemündung, das ist für den Epiker ein idealer Ort für den Blick auf die DDR oder auf Deutschland. Trolle Ein Dramatiker braucht eine andere Nähe zu den Figuren und Stoffen als ein Epiker. Tragelehn Im Drama ereignet sich der Krieg in der Gegenwart, und der Ausgang ist offen. Im Theater wird die Realität aufs Spiel gesetzt. Im Wortsinn. Wenn es funktioniert, ist das ein experimenteller Vorgang, bei dem man nicht vorher weiß, wie er ausgeht. Laudenbach Denken Sie, dass Müllers Stücke in beiden Teilen des Landes auf verschiedene Weise funktionieren? Tragelehn Ich habe gezögert, die Stücke, die in der DDR spielen, in der Bundesrepublik zu inszenieren. Nachdem ich zehn Jahre nur im Westen gearbeitet hatte, bin ich nach Dresden gefahren, um noch einmal Umsiedlerin zu machen. Da dachte ich plötzlich, es wäre eigentlich toll im Westen. Wir konnten dann überraschenderweise mit der Dresdner Aufführung auch im Westen gastieren. Und es hat funktioniert! Das Stück erinnerte die Zuschauer an den Gedanken, dass vielleicht doch etwas anderes möglich wäre, als das, was ist. Fast jeder träumt irgendwann davon. Was man schon verdrängt und vergessen hatte, kommt im Theater wieder hoch. Laudenbach Die frühen Stücke in den alten Bundesländern zu zeigen, würde voraussetzen, dass sich das Publikum dort für die DDRGeschichte interessiert. Tragelehn Nein. Wichtiger als Interesse für den Stoff, oder etwa Kenntnisse, sind die eigenen Träume und Wünsche. Da gibts in Brechts Mahagonny den schönen Satz Aber etwas fehlt. Das ist die Formel für eine
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Liebesgedichte
elementare Erfahrung. Das ist es, was die Mehrzahl der Leute, unabhängig von irgendeinem politischen Bewusstsein oder einer politischen Position, empfindet. Und da muss man anknüpfen.
DER ZYNIKER H.M. Diese Sätze, geschrieben am zehnten Todestag Heiner Müllers, sind eine Erstveröffentlichung.
Ein Jahrzehnt nach seinem Tod ist es an der Zeit, endlich zuzugeben, dass Heiner Müller ein Zyniker war. Das deutsche Feuilleton hat das schon immer gewusst. Es hat aber von Zynismus keinen Begriff. Hilfe kommt aus Amerika, von Ambrose Bierce: Ein Zyniker ist ein Schuft, dessen fehlerhafte Wahrnehmung die Dinge sieht, wie sie sind, statt, wie sie sein sollten. Hierher rührt die skythische Gepflogenheit, dem Zyniker die Augen auszureißen, um seine Wahrnehmung zu verbessern. Die DDR hat sich redlich bemüht, und die BRD hat sich ihren Bemühungen angeschlossen. Schließlich hat, mit vereinten Kräften, Deutschland es geschafft – und im Eifer mehr mitgerissen. Wie Brecht an der DDR ist Müller am neuen Deutschland gestorben. Kein überraschendes Ende für deutsche Dichter. Den Überlebenden, wenn ihnen von der Gabe des Empfindens etwas geblieben ist, zerreißt es das Herz. 30.12.2005
LIEBESGEDICHTE Diese Gedichtfolge hat der Maler und Graphiker Felix Martin Furtwängler 2016 zu einem Künstlerbuch mit viel Originalgraphik (farbige Kunststoffschnitte) gemacht. Erdmut Wizisla schrieb ein Vorwort.
Mann und Frau für C.
Rascher die Gespräche. Arbeit Wechselt mit Spiel und zwischen Laken Spielen wir weiter, und die Zeit Verrinnt nicht, sondern wie ein Haken Hält jedes Jetzt Vergangenheit. 13.07.1960
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Liebesgedichte
Die Nacht für J. H.
Ich glücklich Nacht Nacht voller Helle Das enge Zimmer weites Lager Ort Glücklicher Stunden Dunkel im Fenster Bleib Licht der Lampe Lass brennen Suchende Lippen Zungen o süßer Speichel Ein Gürtel hielt uns auf Dann stürzten wir ineinander Wie viele verschiedne Umarmungen Meine Küsse wieviele in ihrem Mund Die Räder reißen mir Unter den Füßen den Boden weg im Fenster Landschaft Glanz Grün Vorbei ich seh nicht hör nicht Stein Geworfen über die Ebene Weiter weg von ihr weiter weg von mir Ich spür nichts nur Mein Blick in ihrem meine Haut auf ihrer Ich seh in mich in mir sie Vergiss was verloren Lass verloren Gieß kaltes Wasser über dich Geh weg von hier weg Von ihr Glück schien Wie tausend Sonnen Stunden Unendlich Gespräche Küsse Unendlich sie lachte sie weinte sie Erzählte sie fragte sie antwortete Glück schien wie tausend Sonnen Wenn du Asche bist fühlt Die Asche noch Glück ich Altere die Nacht nicht ich Werde in ihr Gott Üben den Beruf alle Heil von Schlägen Gefängnis Bomben
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Liebesgedichte
Halten die Leiber Nicht vor der Zeit Schlingt uns Erde Zwei in eins Brennt der Blitz friedlich Liegen wir so Immer Eins Bewegung und Ruhe Eh Liebe Maß hält Fährt die Sonne mit schwarzem Gespann Treibt die Erde Weizen aus Gerste Steigen die Ströme zurück zur Quelle Verdorren die Fische im leeren Bett Nacht kurze lange Nacht Am anderen Ufer Erinnerung bleibt an die Zukunft Morgen blanker Himmel kalter Luft Strom der uns auflädt Überm See gegen Mittag Dunst 13. Juni 1963
Rat für J. H.
Zueinander voneinander Führt die Zeit. Sei gescheit: Nimm das was die Stunde gibt Trau dem Leben Es wird geben Was du liebst und was dich liebt. Keine Reue. Alles Neue Bringt ein neuer Augenblick. 1963
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Liebesgedichte
An R., wenn sie zu Bett geht Komm, Madame, komm. Die Ruhe an mir schreit. Bis ich in Arbeit lieg mit Dir lieg ich in Arbeit. Gegner vorm Gegner, oft, sind müd gesetzt Vom Warten statt vom Kämpfen. Darum jetzt Den Gürtel weg. Wie der Äquator, glühend, hält Umzirkelnd fest er eine schönere Welt. Weg mit der Baskenmütze: zeige mir Das haarige Diadem, das wächst aus Dir. Weg mit den Bechern, die den Busen decken: so Nagle fest des Narren gieriges Aug. Und wo Du selbst Dich öffnest, sag, endlich, von Dir: Jetzt ist es Bett-Zeit. Komm zu mir. Weg die Hose, die ich neidisch ansah Weil sie so reglos ist so nah Das Hemd, das fallend Schönheit mir enthüllt Wie von der Blumenwiese sich der Schatten stiehlt Weg jetzt auch die Schuhe und mit sicherem Schritt In die Wohnung der Liebe: dieses weiche Bett; Gekleidet in Weiß, wie Himmels Engel sind Wenn sie zu Menschen gehen. In Dir Engel find Ich einen Himmel, alt- und neues Paradeis Umfangend; wenn auch böse Geister gehn in Weiß Ist mir der Unterschied leicht einzusehn: Sie lassen mein Haar, Du lässt mein Fleisch aufstehn. Ermächtige meine Hände, lass freien Lauf Ihnen vor, hinter, zwischen, ab und auf! Ihr Hügel, Täler, Höhlen, Wälder, Seen Auf euch, durch euch, in euch will ich gehn: Du mein Sibirien, mein Neuland! Mein Staat, am sichersten mit einem Mann bemannt! Du, die verwandeln kann, wie eine Fee Den Pol in Glut und Afrika in Schnee: Mein Mein von Widerspruch! Mein Weltsystem! Entfalten Dich ist Glück und gehn In Dich ist Freiheit! Weg das Tuch: Nackte Nacktheit! Auf schlag Dich Zauberbuch. 20.11.1968
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Liebesgedichte
Die Babelsberger Elegien für R. A.
Du setztest dich neben mich immer Ich setzte mich neben dich immer Du fragtest mich dies ich fragte dich das Ich zeigte dir das du zeigtest mir dies Dann wurdest du krank meine Tage lang Dann merkte ich ich liebe dich Die Liebe die alte die neue Im Dunkel im Regen Sekunden Über dem Stein über dem Wasser Zart zart fliegend sweet sweet Als du dich strittest für unsere Arbeit Sah ich dich an von der Seite und dachte Dieses Gesicht wenn es das nicht gäbe Oder ein anderes Aug Meer Haar Land Eintauchen und verbrannt Wie langsam o wie schnell Welt Himmel Dunkel hell Aug Meer tief grün hinter Den Horizont in sich gemauert schirrt Schwert- und Haifisch an wirbt Wale Schändet Spur falscher Raserei Den Sand das Meerbett mit Gebein Dass der erbleicht dass Geier Schrein vor Bedauern nicht genug Ist das nicht reichen aus Die drohenden Spuren aufzuhalten Die Tollheit die der Tollheit folgt In diesem Zimmer Stuhl Schrank Bett Ach geh hol was zu trinken Living is easy with eyes closed Misunderstanding all you see Let me take you down / ‘cos I’m going to
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Liebesgedichte
Strawberry fields / nothing is real Strawberry fields for ever Eines Tages kommen gehen eines Tages Kommen nicht sichtbar nicht sichtbar Gehen Nicht hörbar Kommen Gehen nicht hörbar Fühlbar Kommen und Gehen 1968/69
Treffen in M für R. A.
Reise nach M der Zug braucht Totgeschlagene drei Stunden ich Schlief wachte auf bei Einfahrt Ach hier stehn auch Häuser Leute Sehn aus rechteckigen Fenstern Aus dem Bahnhof tretend der Regen Wunderte mich nicht Ich wartete Und du kamst auch Wir sahen Einen Film ein Museum den Fluss Den Dom von dem die Teufel fliehen (Ich konnte mich beherrschen Nahm die Mütze ab obwohl ich fror Und sehnte mich nach der Hölle): Am Abend war Romeo und Julia Ein Drama von Shakespeare 10.2.1970
ABC grand dieu! pour quoi suis-je moi. Stendhal
Augen zu und weg mit dem Tag. Seine zwei Gesichter dunkel nah fern strahlend. Der Blick in den Spiegel der fremde Blick zurück.
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Liebesgedichte
Vorhang auf Vorhang zu. Heute will C. kommen. Ich kann nicht warten. Ich muss warten. Ich warte. Es klingelt an der Tür. Ich hatte nicht mehr mit ihr gerechnet. Ihr Mann war zu Hause geblieben und deshalb konnte sie erst später weg. Wir standen in der Tür und fielen uns um die Hälse. Die Tür trat ich mit dem Fuß zu wir küssten uns zwei Münder die suchten und fanden und weiter suchten. Wir zitterten. Die Zungen kämpften miteinander. Haben wir uns losgelassen als wir weitergingen durch den Flur und durch die Zimmertür ins Zimmer ich weiß es nicht. Wir rissen uns die Kleider weg jeder sich und jeder dem andern wir fielen auf die Liege und sie setzte sich auf und kniete über dem Fleisch das aufrecht stand zwischen meinen Beinen und spießte sich auf stöhnend es ging schnell wir schrien und fielen übereinander. Wenig gesprochen getrunken geraucht dann stieg wieder das Fleisch auf zwischen meinen Beinen und wieder fielen wir übereinander ineinander. Dann sagte sie: Immer wenn ich daran denke wie ich bei dir war erinnere ich mich wie ich mit dem Kopf an dieser Wand liege schräg den Kopf schräg du stößt mich durch die Wand. Dann muss sie gehen weil der Mann wartet. Ich möchte einmal eine ganze Nacht bleiben können bei dir. Ich weiß dass sie das gesagt hat. Sie schläft mit mir. Ich schlafe mit ihr. Seit fünf Jahren. Mehr weiß ich nicht. Wer ist sie. Wer bin ich. Umarmung Tür zu. Die Wohnung schweigt. Die zwei Gesichter des Tages. Arbeiten die Gedanken beieinander halten sitzenbleiben und nicht aufstehn und hin und her rennen hinter den Gedanken her die weglaufen. Alle halben Stunden zum Telefon gehen und sie anrufen sie ist nicht da: B. Ich weiß nicht wer sie ist ich weiß nicht wer bin ich ich weiß nicht was ich will ich weiß nicht was will sie: B. Arbeiten sitzenbleiben und nicht aufstehen und hin und her laufen hinter den Gedanken die weg rennen. Liebe ich C. Liebe ich B. Liebe ich A. A ist meine Frau. Was ist Liebe. Als jemand uns fragte ob wir verheiratet wären B und ich wurde ich rot. Wie lange bin ich nicht rot geworden. Es ist unwillkürlich. Aber ist es ein Zeichen nach dem man sich richten kann ich weiß es nicht. B vermeidet neuerdings mit mir allein zu sein. Jemand ist da oder es kommt jemand. Sie hat Angst. Wovor. Ich habe Angst. Wovor. Die zwei Gesichter des Tages. Ich weiß dass ich zu ihr gesagt habe ich hätte Angst. Das ist das was ich weiß von dem was ich zu ihr gesagt habe oder was sie zu mir gesagt hat. Ich habe im Ohr den Klang ihrer Stimme. Aber was hat die Stimme gesagt. So betrunken kann ich nicht gewesen sein. Ich lächle wenn ich an sie denke und nicht daran denke dass ich an sie denke. B ist dreißig Jahre alt. Sie ist schön. Die Fältchen um ihre
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Liebesgedichte
Augen sind Lachfalten das Doppelkinn ist klein und weich. Sie hat an jedem ihrer Füße nur vier Zehen. Sie erzählt dass sie mit siebzehn Jahren von ihrem linken Fuß den kleinen Zeh und von ihrem rechten Fuß den kleinen Zeh abgeschnitten hat mit einem Messer weil sie einen Arzt liebte. Ich bin vierzig Jahre alt. Ich stecke mein Fleisch in die verschiedenen Öffnungen verschiedener Frauen und langweile mich auf verschiedene Weise. Ich arbeite nicht. Ich träume. Ich träume besitzlose Unordnung. Und ich gehe im Abstand von einer halben Stunde zum Telefon. Sie ist nicht da: B. MIT ZÄHNEN BEWAFFNETE KIEFER WAS SIND SIE ANDERES ALS ZANGEN DER MAGEN EIN KOLBENZYLINDER DIE ADERN DIE ARTERIEN DAS GANZE GEFÄß-SYSTEM SIND HYDRAULISCHE SCHLÄUCHE DAS HERZ EINE SPRUNGFEDER DIE EINGEWEIDE SIND FILTER SIEBE DIE LUNGE EIN BLASEBALG WAS SIND DIE MUSKELN STRÄNGE WAS DIE AUGENHÖHLEN ROLLEN UND SO WEITER DER MENSCH. Ich bin mit A verheiratet seit fünfzehn Jahren. Wir haben uns getrennt. Sie kommt gelegentlich und ich erschrecke und wir reden nebeneinander sitzend über eine sehr große Entfernung hinweg. Die zwei Gesichter des Tages. A ist eine Ordnung. Die Ordnung ist weg. Ich habe fünfzehn Jahre lang versucht die Ordnung zu zerbrechen und fünfzehn Jahre lang mich in der Ordnung gehalten. Wenn die Ordnung weg war war die Ordnung weg und ich wollte die Ordnung wieder haben. Das Fehlen der Ordnung war ein Schmerz körperlos aber wie ein körperlicher Schmerz. Und der körperlose aber wie körperliche Schmerz war immer an der selben Stelle nicht des Körpers denn er war körperlos wenn auch wie körperlich und nahm mit jedem Mal zu so dass die Erinnerung an die vorangegangenen Schmerzen sich addierte zu dem gegenwärtigen Schmerz: unkörperlich aber wie körperlich an der selben Stelle immer unmöglich zu bezeichnen wo. Der gegenwärtige Schmerz ist weniger schmerzhaft als der kommende Schmerz. Das ist eine Rechnung. Meine Frau weinte und sagte ich sei ihr König und ich sagte ich sei Republikaner und sie sagte sie sei für die Republik nicht geboren. Aber der König dankt ab. Das weiß ich. Weiß ich das. Die zwei Gesichter des Tages. ABC. BERG UND TAL KÜHLER SCHNEE HERZLIEB SCHEIDEN UND DAS TUT WEH. Die Arbeit die Gedanken beieinander halten sitzenbleiben und nicht aufstehn und hin und her laufen rennen hinter den Gedanken her die weg rennen laufen. Die Gänge zum Telefon. Rückwärts gehn. Auf dem Kopf gehn. Auf dem Kopf stehn. Rückwärts stehn. Wirklich ich weiß nicht was mich traurig macht. Es
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Liebesgedichte
langweilt mich. Ihr sagt es langweilt euch. Doch wie ich es mir einfing zuzog dazu kam aus welchem Stoff gemacht es ist woraus geboren: ich weiß es nicht. Rückwärts stehn. 1975
Geometrie der Liebe für A.W.
Liebe und Liebe wie Linie und Linie Schräg zu im Winkel sich berühren Deine und meine genau parallel Endlos zwar nie zusammenführen 1975
Ein Abend in Deutschland für I.L.
Weil der Himmel durchsichtig war gegen Abend über Der besonderen politischen Einheit West-Berlin Und die Äste schwarz vor ihm und die Luft mild Fuhren wir anstatt ins Kino hinaus an die Havel zur Grenze Der DDR. Und ich der ich von dort bin stand hier Mit dir die du von hier bist Arm in Arm unter Der Brücke die immer noch Brücke der Einheit heißt Dämmerung fiel und wir starrten ins schwarze Wasser Darunter und in den hellen Himmel darüber: eins. Leuchtend in der Dunkelheit über dem alten Laub In dem du kauertest am Abhang dein weißer Arsch Meine Pisse schlug auf die Steine unter der Brücke Das ließen wir hinter uns: einen Scheißhaufen Einen Pissfleck und Zigarrenasche. Und stiegen wieder Die Treppe hinauf zur Straße meine Hand unter Deinem Kleid zwischen deinen Schenkeln und fuhren Zurück in die Stadt die besondere politische Einheit: So lang ich bleiben darf bei dir, so kurz. Meine Hand auf dem Fahrersitz zwei Finger in dir Laster überholten uns du fuhrst fast Schritt
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Liebesgedichte
Eine Hand am Steuer in meiner Hose die andere Hand Du überschwemmtest meine Hand ich salbte mich ein Ich überschwemmte deine Hand du salbtest dich ein: So sind wir unverwundbar. Aber auch auf Unser Blatt wird ein Einäugiger schießen. 30.3.1978
Berliner Elegie für I.L.
Nahe wohnen auf Getrenntesten Bergen O Spreeathen Kein unschuldig Wasser Nicht Fittige weg über Nicht Nägel durch unter O wieviel Blut 1978
PRINTEMPS ALLEMAND 1978 für I.L.
Vom Eis befreit Strom und Bäche Frühling lässt sein blaues Band Mein Fleisch dein Fleisch Mein Kopf dein Kopf Glücklich ohne Besinnung Geschichte Grenze Minus fünf Minuten S-Bahn Warten Stimme blind Tastend durch Draht Besuch und Umarmung Die Mauern stehn sprachlos Im Wind klirren die Fahnen Narren hoffen Dass es nicht ist wie es bleibt Lachen läuft aus mir ich schreie
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Fleisch wo ist dein Fleisch Kopf wo ist dein Kopf verstecke Für zu wenig Stunden mich in Schlaf Gedanken los der letzte der erste Ach mein liebes Fleisch Ach mein lieber Kopf Mann und Frau 2 für C.
Die Liebe die alte die neue Herzschlag der die Zeit skandiert Den Vers 13.7.1985
ANMERKUNGEN: DIE NACHT: Das Gedicht gebraucht als Vorlage Properz’ 15. Elegie des 2. Buches, nach einer Interlinearversion von Peter Witzmann. Zu Strophe 3 vgl. Catulls Carmen 8. AN R.: Adaption von John Donnes Elegie XIX. Die dritte Strophe zitiert Gòngora. DIE BABELSBERGER ELEGIEN: Babelsberg ist ein östlicher Vorort von Potsdam, damals an der Grenze zu West-Berlin. T. unterrichtete dort von 1967–70 an der Schauspielabteilung der Deutschen Hochschule für Filmkunst. Die vierte Elegie adaptiert eine Stelle aus Gòngoras Soledades. Die fünfte zitiert ein Lied der Beatles. ABC: Motto ist der Schlusssatz des 28. Kapitels im zweiten Teil von Stendhals Roman Le Rouge et le Noir, dt. Großer Gott! warum bin ich ich. Zwei Zitate: das erste aus Baglivi, Praxis Medica (1696), das zweite der Refrain einer alten deutschen Ballade: Der Wirtin Töchterlein. Die Schlusszeilen benutzen die ersten Verse von Shakespeares Kaufmann von Venedig. EIN ABEND IN DEUTSCHLAND: Die Brücke der Einheit ist die Glienicker Brücke über die Havel zwischen Berlin und Potsdam. Sie wurde so genannt in den fünfziger Jahren, als der Kampf um die Einheit Deutschlands in der DDR Staatsdoktrin war, das dauerte bis Ende der sechziger. Die Brücke war kein Grenzübergang für Deutsche, sondern dem Gebrauch der alliierten Besatzungen vorbehalten. Über diese Brücke (dadurch wurde sie berühmt) fanden Gefangenen-Austausch-Aktionen von Spionen etc. statt. Der Begriff besondere politische Einheit war die offizielle Formulierung der Auffassung von SU und DDR vom völkerrechtlichen Status West-Berlins, als sozusagen drittem Teil Deutschlands. Der Schluss des Gedichtes spielt an auf das Nibelungenlied. Der Einäugige ist Hagen, der, offenbar aufgrund einer Assoziation zu Wotan, seit dem 19. Jahrhundert so dargestellt wird. BERLINER ELEGIE: Das Gedicht ist eine Montage von Zeilen aus Hölderlins Patmos-Hymne und einem Lied Berliner Arbeiter. Getrennteste Berge: die Berliner Stadtteile Kreuzberg und Prenzlauer Berg. PRINTEMPS ALLEMAND 1978: Zitate deutscher Klassiker, aus Goethes Faust I, Mörickes Er ist’s, Hölderlins Hälfte des Lebens, Müllers Rezension von Thomas Braschs Buch Kargo.
VERLUSTANZEIGE Der Text erschien (mit dem ungenauen Titel Fehlanzeige) in der Monatsschrift Theater der Zeit 12/2009, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall 1989.
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Die Menschheit braucht ein neues Wozu. Nietzsche
Ich muss es nicht erklären, aber klären. Für mich. Die Frage ist: Warum habe ich seit über zehn Jahren (mit wenigen Ausnahmen) nicht mehr Theater gemacht? Grund ist die schmerzliche Empfindung eines Defizits. Die Gegenwart ist prosaisch. Wo ist die Poesie? Vor zwei Jahren stand in der Zeitschrift Sinn und Form ein Aufsatz mit dem Titel Pathosallergie und Ironiekonjunktur, der sich mit dem Defizit beschäftigt hat. Ein Wunder, dass es bemerkt worden ist. Freund Kleinschmidt hat es vollbracht. Aber wurde seine Wahrnehmung wahrgenommen? Kaum. Das mag auch daran liegen, dass er sich im geistesgeschichtlichen Bereich aufhält und den Blick auf den Grund der Geschichte scheut. Vor zwanzig Jahren waren die Chöre des Herbstes 1989 von unterschiedlicher Musikalität. Als es noch gefährlich war, auf die Straße zu gehen, hat der Ruf Wir sind das Volk, erst trotzig, dann jubelnd, Selbstbewusstsein bekundet. Er hatte Pathos. Als die Schwäche des Staates (Herrschaft aufrechtzuerhalten und Aufruhr niederzuschlagen oder, wie man das nennt, Ordnung herzustellen) offenkundig wurde, war es nicht mehr gefährlich. Gleich klang die Musik anders. Sie klang lärmend oder/und kläglich. Aus dem Chor Wir sind ein Volk lösten sich schnell Solisten mit der Melodie vom lieben guten Weihnachtsmann. Der zweite deutsche Staat ist eingesprungen und hat Ordnung hergestellt. Der Raum für Pathos ist seitdem geschlossen. Die Gegenwart von Ironie ist die schäbige, die sich aus der Niederlage davonstiehlt und auf die Seite der Sieger schlägt, um zu verstehen zu geben, sie sei nicht mehr so dämlich wie vordem. Das ist ihre Konjunktur, von der Kleinschmidts Aufsatz spricht. Grund von Pathos war und ist der Anspruch der Leute, ihre Geschichte nicht bewusstlos zu erleiden, sondern sie bei Bewusstsein selber zu machen. Selbstbewusstsein, wenn es denn entsteht, wird geduckt. Als die französische Revolution mit einem Kaiser endete, zerriss Beethoven die Widmung seiner dritten Sinfonie. Für Grabbe hörte bei Napoleon der Vers im Drama auf. Heine sprach vom Ende der Kunstperiode. Und als die russische Revolution mit einem Zaren endete, sprach Brecht von einer Arbeitermonarchie. Benjamin, der das Gespräch aufgeschrieben hat, verglich diesen Organismus mit den grotesken Naturspielen, die in Gestalt eines gehörnten Fisches oder anderer Ungeheuer aus der Tiefsee zutage gefördert werden. Die Generation unserer Lehrer konnte sich noch wundern. Die Kommunisten, die nicht Hitler und nicht Stalin hatten umbringen können, kamen nach Deutschland zurück aus
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dem Exil oder aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern. In der SBZ, dann in der DDR, wurden sie die Lehrer, ja die Väter einer vaterlosen Generation. Hoffnung und Enttäuschung, Enttäuschung und Hoffnung in wiederkehrendem Wechsel, die schon ihr Leben begleitet hatten, das wars, was sie den Kindern vererbten, uns, meiner Generation. DDR und BRD: Wenn man ein Paar Schuhe hat, und der eine ist weg, und man hat nur noch den andern, dann nützen einem alle beide nichts. Ob DDR, ob BRD, ich bleibe ein weißer Rabe, der auf keiner schwarzen Liste fehlt. 03.10.10
CAMPO VACCHINO (1986) Wir sollen jetzt ein Forum haben Hör ich und gehe hin und sehe Es ist menschenleer. Versteinert Steh ich und seh versteinert stehn Die Idee, daß lebendige Leiber Ein Forum haben.
DER AUGENBLICK DER WAHRHEIT (1989) Der aufgestiegen ist aus der Menge, was sieht er Vom Hochsitz der Tribüne Den Rücken des Neuen Tieres. Sein Lächeln erstarrt Eine Weile noch winkt er Schon beginnt er zu zittern und jetzt Befiehlt er zu schießen.
DIE LOSUNGEN DES JAHRES 1989 Eben hat er noch um sich geschlagen der Staat Obwohl versprochen war und er immer gewusst hat Er soll verschwinden, wuchert und wuchert er bis Wir sind das Volk Er beim Wort genommen und endlich enteignet sogleich
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Die Aufgabe
Wir sind ein Volk Über die eigene Grenze springt. Und wie bereits Stalin gesagt hat: Die Honecker kommen und gehen Denn alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei Ich bin Volker
ENDE DER REISE (1990) Tod, alter Kapitän, die Anker lichte Dies Land hier langweilt uns, o Tod, auf Fahrt Uns leuchtet unser Herz, du kennst es, auch Wo schwarzes Meer sich schwarzem Himmel paart. Schenk uns dein Gift ein, wir ziehn Kraft daraus. Neues zu finden, wollen wir das unbekannte Reich Abtauchen bis zum Grund. Ob Himmel oder Hölle ist uns gleich.
EINRICHTUNG EINER IDYLLE (1991) Zwei Stühle kaufen Und sich dazwischen setzen Schreiben in Einklang mit der Natur Dem eigenen ruhiggestellten Arsch Hässlicher Fleck in idealer Landschaft Lorbeer wirft seinen Schatten voraus Wenn Spitzel fragen Mitteilen lassen Ich bin nicht da
DIE AUFGABE Jakob Hayner spricht mit B.K. Tragelehn über seine Bücher Chorfantasie und 13x Heiner Müller. Beide sind 2016, zu T.s 80. Geburtstag erschienen. Eine Kurzfassung des Gesprächs erschien in der Jungle World.
H. Das kleinere Ihrer beiden neuen Bücher heißt Chorfantasie. Bei diesem Titel denkt man an Beethoven, an opus 80. Seine Chorfantasie hat
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Die Aufgabe
eine utopische Dimension, in der letzten Textzeile heißt es: Es lohnt dem Menschen Göttergunst. Warum haben Sie den Titel entlehnt? T. Es lag nahe. Utopie erscheint heute wieder phantastisch – so sehr das Modell, das ich versucht habe zu formulieren, aus der Reflexion praktischer Erfahrung sich nährt. Die liegt zurück. Und jetzt, in einer Restaurationszeit, geht das Theater in eine andere Richtung: bloße, unreflektierte Abbildung von Wirklichkeit. Ein bisschen wie mitgeschnitten. Kann sein, dass das jetzt nötig ist. Neue Stücke von Gewicht gibt es nicht. Die Theater produzieren, oft nach Romanen oder auch nach Filmen, Events, die auf den Augenblickserfolg zielen. Statt auf Wirkung. Der Stoff wird nicht verdichtet zu Erfahrung. Erfahrung zu transportieren wäre die Aufgabe. Diesem Transport winkt, wenn er gelingt, Göttergunst. Die überkommene Vorstellung vom Drama als dem Gipfel einer Literatur war noch da bei Benjamin. Als er gegen Ende der Weimarer Republik über Brecht schrieb, hat er als das Neue bei Brecht natürlich die Stücke angesehen. Die Vorstellung war auch nach dem Krieg noch der Standard – in den ersten zwei Jahrzehnten, in der DDR. Benjamin aber hat schon gewusst – damals, so früh – dass das Neue deutlicher noch an der Bühne zu zeigen ist als am Drama, nämlich an der Verschüttung von Orchestra. Das betrifft den Chor. Der ist älter als das Drama. Theater entstand, als Protagonisten aus dem Kreis des Chores traten. Der Chor ist nicht, wie man sich das heute so denkt, irgendeine ästhetische Form unter anderen, beliebig wählbar. Der Chor ist eine historisch bedingte Form. Er ist die Form des Clans, einer Gesellschaft, die sich noch nicht gespalten hat in Klassen. Ein voller Kreis. Jeder hört jeden und jeder sieht jeden. Der Rhythmus stellt Übereinstimmung her. Beteiligt sind alle, es gibt keine bloßen Zuschauer. In der antiken Tragödie ist der Kreis schon halbiert, eben durch die Orchestra, und der Chor ist eine Rolle. Aber die Sehnsucht nach seiner Wiederherstellung ist geblieben, durch alle Klassengesellschaften. Das ist natürlich eine kommunistische Vorstellung. H. Die Wiederherstellung des Chores meint aber nicht die Wiedererrichtung des Kultes. Die Wiederherstellung ist revolutionär in Benjamins Vorstellung. Jedoch zitiert er den Satz Ursprung ist das Ziel von Karl Kraus. Wie ist das zu verstehn? T. Vor meinem Büchlein steht als Motto das Rätselgedicht Zwei Läufer von Kraus, auch mit dem Wort Ursprung. Und bei Benjamin steht das Zitat – nicht aus dem Gedicht, sondern aus einem Stück, den Letzten Tagen der Menschheit – vor der vierzehnten seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte, der über den Begriff Revolution. Mit Ursprung ist nicht gemeint Umkehr. Gemeint ist Neubeginn. Die Orchestra ist die
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Die Aufgabe
Grube, in der die kultischen Reste überdauert haben als Erhabenheit und Rausch. Das Theater ohne Publikum, auf das Brechts Lehrstücke zielen, meint ja nicht leere Säle, es meint eine Beteiligung des Publikums, der Leute, die am Abend kommen und dann, beteiligt, eben nicht mehr nur Publikum sind. In seinem ersten Lehrstück, 1929, ist die Menge eine Rolle. Die Menge ist beteiligt und steht dem gelernten Chor gegenüber. Das ist natürlich zu denken jenseits des modischen Mitmachtheaters, wo das Publikum auf alberne Weise animiert wird. H. Das Publikum muss sich vielleicht auch gar nicht verbal zum Stück verhalten. Es gibt ja auch geistige Teilhabe. Entscheidend ist doch, dass das Publikum sich in einer Rolle findet. Das erfordert eine Haltung. Die muss sich gar nicht sofort artikulieren, sondern kann auch der Grund von Reflexion sein. T. Jedenfalls geht es nicht um Einfühlung. Nicht die Einheit von Zuschauern und Bühnenhandlung, oder von Publikum und Held, ist Ziel. Das war, und ist, sehr beliebt. War es auch bei den sich fälschlich, lügenhaft, kommunistisch nennenden Parteien, in ihren Wünschen oder Weisungen ans Theater. Und auch das, was heute Mode ist, fingierte Authentizität, ist politische Lüge. H. Volker Braun hat gesagt, dass man auf der Bühne nicht die Lösung der Widersprüche vorführen dürfe, sondern ihre Lösbarkeit. Geht es um die Darstellung der Widersprüchlichkeit der Welt in aller Schärfe? T. Gelöst werden Widersprüche nicht im Theater, im Spiel, sondern im Leben. Von den Leuten, von den Besuchern, vom Publikum – wie immer man die nennen will. Das ist die Aufgabe, und um die geht es. Dazu, zu diesem Zweck, auf dieses Ziel gerichtet, das gemeinsame Fest mit verteilten Rollen. Übrigens: Lösung, gelöst, das ist eine Begrifflichkeit, die der Denkbewegung gehört, und also im Grunde nicht das meint, worauf es hinaus soll. Die wirklichen Widersprüche produzieren wirkliche Bewegung. Dazu ist Denken nötig, aber dann wirkliches Handeln. Das Denken kann freilich hilfreich sein dabei. H. Sie gehen aus von Brecht und von Benjamin – T. Ich gehe aus von Realität. Mit Hilfe von B und B. H. Sie waren Brechts letzter Meisterschüler. T. Ein Jahr lang, 56 starb er. 54 mit dem Gastspiel in Paris zum Festival Theater der Nationen hatte der Weltruhm eingesetzt. Das LondonGastspiel gleich nach seinem Tod hat ihn besiegelt. In der DDR ist Brecht ein Fremdkörper gewesen. Ihre Kulturpolitik war im Grunde sozialdemokratisch. Gegen die, wie es hieß, reaktionäre Losung: Die Kunst den Kennern stand die, wie es hieß, fortschrittliche Losung: Die Kunst dem Volke. Der kommunistische Vorschlag, den kleinen Kreis der
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Kenner zu einem großen Kreis zu machen, von Brecht, galt als sektiererisch. Heiliggesprochen wurde Brecht erst nach seinem Tod. Das Berliner Ensemble wurde Museum für eine lange Zeit. Der Stil – Rupfen am Boden, helles Licht und halbe Gardine – breitete sich aus wie eine Seuche. Die Methode wurde vergessen. Benjamin hab ich früh gelesen, noch in meiner Schulzeit. Im ersten Jahrgang von Sinn und Form, 1949, stand Benjamins Baudelaire-Aufsatz. Auch große Teile der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, in der Emigration erschienen, waren da nachgedruckt. Heute weiß kaum noch jemand, dass Benjamin in der DDR so früh wahrgenommen wurde. Auch andere Aufsätze von ihm standen in anderen Zeitschriften, wie Aufbau und NDL. Brecht war in die deutsche Literatur zurückgekehrt mit einem Brecht-Sonderheft von Sinn und Form, da war auch ein Aufsatz von Benjamin drin. Die zweibändige BenjaminWerkausgabe bei Suhrkamp ist erst zehn Jahre nach dem Krieg erschienen. Ich hab sie über die Akademie bestellt, bekam sie im regulären innerdeutschen Handel zum Kurs von eins zu eins, und abgeholt hab ich sie in der Karl-Marx-Buchhandlung in der Stalinallee. Und schon in Dresden hatte ich mir in der Sächsischen Landesbibliothek die frühen Stücke von Brecht bestellt, über die Fernleihe, und mir Kafka ausgeliehen. H. Sie haben eingangs gesprochen von der Formulierung eines Modells. Könnte man auch Programmschrift sagen? T. Eine heikle Frage. Natürlich könnte man. Und man wird. Der Begriff Programmschrift legt straffe und strenge Organisation nahe. Die Leute, die zu Marx‘ Schrift Kommunistisches Manifest sagten, wurden kritisiert, weil sie doch das Entscheidende unterschlügen: die Partei – die bekanntlich, wie es in Fürnbergs Lied heißt, immer recht hatte. Es heißt Manifest der Kommunistischen Partei, ja, aber mit dem Begriff Partei war, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch keine Organisation gemeint, sondern schlicht Parteinahme. Die harsche Kritik im 20. Jahrhundert kam von der Nomenklatura, der Aristokratie des Neozarismus, nach Stalins Konterrevolution. Brecht hat seine Programmschrift Organon genannt – wie er die eigene Edition seiner Schriften Versuche genannt hat. Da übersetzt er das alte französische Wort essaier, das versuchen, probieren, ertasten, auch kosten meint. Bacon und Montaigne, beide von Brecht geschätzt und gebraucht, sprechen von ihren Schriften als Essais, einer Montage heterogener Elemente: Dialog, Diatribe, Brief, Exempel, Memorabilie, Anekdote usw. Die Montage will Unmittelbarkeit, sie zielt auf Gegenwart. Erfahrungstransport ist ihre Absicht. Die wissenschaftliche Feststellung wird
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gemieden zugunsten der Bewegung. Brecht hat zu mir gesagt – mit einem Satz, den das Brecht-Cliché gewiss nicht ihm zuordnen würde –: Über Kunst können Sie überhaupt nicht anders schreiben als künstlerisch. Ich lese Ihnen mal noch ein paar Sätze von Montaigne vor: Ich kann meinen Gegenstand nicht festhalten. Undeutlich und taumelnd, in der naturgegebenen Trunkenheit bewegt er sich vor mir. Ich fasse ihn, wie er eben ist, im Augenblick, da er mich interessiert. Ich zeichne die Bewegung und nicht den Stand … Eine Aufnahme verschiedener und wandelbarer Ereignisse und unentschiedener, auch entgegengesetzter Meinungen. H. Sie wollen nicht hinaus auf Ergebnisse als Vorbilder, sondern auf eine Methode. Eigentlich ist das ein Verhalten. Und es zielt auf ein Verhalten. T. Kann man sagen. H. Noch ein Buch über Ihre Theaterarbeit ist erschienen, ein großes. Es heißt 13 x Heiner Müller und dokumentiert alle Ihre Müller-Inszenierungen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit und Freundschaft mit ihm? T. Es begann mit dem Lohndrücker, dem ersten Stück von ihm, das gedruckt wurde. Ich hab das gelesen in der NDL im Frühjahr 57. Der beständigen Forderung nach Gestaltung der neuen Wirklichkeit entsprach damals ein Haufen Mist. Da war das Stück ein mobilisierender Paukenschlag. Müller konnte, nach Brecht, einen Schritt weitergehen. Es ist ja geschrieben nach einer Materialsammlung, die für Brecht gemacht wurde. Brecht war nicht zurechtgekommen mit dem Stoff. Sein Stück blieb Fragment. Er war, was die DDR-Realität anging, sehr neugierig. Bei meinem ersten Besuch in Buckow, Hanns Eisler war auch gerade dort, wir saßen auf einer Bank am Seeufer, und ich wurde gefragt, was die Leute in Dresden so machen und reden und denken. Ich hab ein bisschen was erzählt, aber gab allzuschnell meiner Neigung zur Spekulation nach und sagte, der Kapitalismus habe das Eigeninteresse so entwickelt bei den Leuten, dass sie bald erkennen müssten, dass der Sozialismus gut für sie sei. Eine naive Spekulation. Die beiden Herren haben sich sofort abgewandt, unisono, sozusagen ein stummer Chor, gelangweilt. Das war lehrreich. Müller hab ich kennengelernt im Spätsommer 57, als er wiederkam von der Großbaustelle des Braunkohlenkombinats Schwarze Pumpe in der Lausitz. Aus dem, was er dort mit seiner Frau, Inge Müller, an Material gesammelt hatte, entstand sein zweites Stück: Die Korrektur. Das hab ich mit der FDJ-Studentenbühne der Hopla, Hochschule für Planökonomie, inszeniert. Brechts intensivste Beschäftigung mit DDR-Realität war die Entwicklung der Komödie Katzgraben mit Erwin Strittmatter gewesen. Die
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kam ‘53 raus und im Herbst 55 war ich Assistent bei Wiederaufnahmeproben. Das Stück und Brechts Notate von der Arbeit daran – ich hatte noch ein Konvolut von den Proben, gedruckt worden ist das erst später – , haben einigen Einfluss gehabt auf Müllers nächstes Stück. Das war Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande. Der Text entstand während der Probenzeit – wieder mit der FDJ-Studentenbühne. Wir haben zweieinhalb Jahre probiert, mit einer Unterbrechung im Frühjahr 60 wegen der Vollkollektivierungskampagne. Sie hat die ganze Stoffmasse nochmal bewegt. Die Uraufführung 1961 galt dann als konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch. Der Skandal ist nach der sogenannten Wende ausführlich beschrieben worden. In einem Buch von Matthias Braun, einem Film von Gabriele Conrad, einer Dokumentation von Marianne Streisand, auch in Müllers Krieg ohne Schlacht und in Gesprächen mit Müller und mit mir. Erst sollten wir verhaftet werden, aber der XXII. Parteitag der russischen Partei, der die Linie des XX., Entstalinisierung, noch einmal bestätigt hat, stand ins Haus. Aus Moskau hieß es: Für Ideologie wird nicht mehr verhaftet. Müller flog aus dem Schriftstellerverband und ich aus der Partei. Müller ist zwölf Jahre lang überhaupt nicht gespielt worden, nur Übersetzungen und Bearbeitungen. Ich konnte erst im Westen wieder Stücke von ihm inszenieren. Das erste war, nach zwanzig Jahren Pause, die Uraufführung von Quartett. Die Hoffnung auf eine Reformation nach dem XX. Parteitag war gründlich enttäuscht worden. Die Strukturen blieben. Brechts Begriff Arbeitermonarchie für das russische Imperium nach Stalins Konterrevolution, stammt noch aus Svendborg, aus den dreißiger Jahren. Die russische Revolution hat mit einem Zaren geendet, wie die französische mit einem Kaiser. Die neuen Stücke in der DDR Ende der fünfziger Jahre – außer von Müller auch von Peter Hacks, von Hartmut Lange usw. – wurden von den Behörden nur als Störung empfunden, eine Flutwelle nach der anderen. Die Umsiedlerin war 1961 der Tsunami. Die große neue Dramatik, die die DDR hätte haben können, fand ein schnelles Ende. Noch zwei drei Nachzügler – und aus. H. Ab 1979 haben Sie auch im Westen gearbeitet und auch dort hatten Sie politische Probleme, Behinderung Ihrer Arbeit. Wie war das? T. Spiegelbildlich. Ein Freund-Feind-Denken. Bist du für den Sozialismus: Ja oder nein? Bist du für die FDGO – was immer meint: für den Kapitalismus – : ja oder nein? Nur die Urteilsformel klang milder, Sympathisantentum statt Konterrevolution. H. Den Schwierigkeiten zum Trotz, über die Zwangspausen hinweg – es ist aber doch im Theater einiges zustandegekommen.
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T. Schon. Und Carsten und Gerhard Ahrens ist eine sehr gute Dokumentation gelungen, auch die Gestaltung des Buchs von René Rempter ist imposant. Ich bin zufrieden. H. Inwieweit kann diese Tradition, Brecht und Benjamin, für die Gegenwart noch verbindlich sein? T. Tradition? Es geht um Neubeginn, immer wieder. Es kann Erfahrung transportiert werden. Und Erfahrung kann genutzt werden. Wie – das wird jetzt bestimmt. H. Was für einen Titel schreiben wir über das Gespräch? T. Ich denke: Die Aufgabe – das ist schön doppeldeutig.
ALLEMAGNE NEUF ZÉRO Vergangenheit die Stufen hinunter Ohne Geländer ins Leere Zeit Ist Geld gegenwärtig gezählt in DM Zwischen der abgelehnten Reform Und dem aufgestockten Nachtragshaushalt Hängt die Zukunft am Fleischerhaken Paris, 13.10.1990
DIE HEIMKEHR Vom Flughafen durch die Hauptstadt Drei Millionen Tote hier herrscht Leben Die Waren wimmeln das Haupt Fixiert im Spiegel der Schlag trifft den Spiegel Glas splittert die Hoffnung wird Stein Arrival the last twist of the knife Berlin, 16.10.1990
ZONENGRENZE Ja, ich gebe es zu, die Intelligenz mag begrenzt sei Aber die Dummheit, sie ist ganz gewiss grenzenlos.
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SCHRIFTSTELLERSTREIT 1970 Nestbeschmutzer nennen Nestbeschmutzer Nestbeschmutzer Schmutzer Schmutzer Reiniger Reiniger Reiniger Schmutzer Schmutzer Reiniger Schmutzer Reiniger Schmutzer Reiniger Schmutzer Reiniger Reiniger Reiniger Schmutzer Schmutzer Reiniger Reiniger Reiniger und noch einmal und so weiter Und preisen sich ein und schließen sich aus und so weiter Das Nest heißt Moskau in seiner Pyramide rotiert der Ausgestopfte Vergebens Die Geschichte steht still und so weiter und so weiter Anmerkung: Das Gedicht wurde geschrieben nach der Lektüre eines Fischer-Taschenbuches mit den Protokollen einer Debatte im russischen Schriftstellerverband.
SCHRIFTSTELLERSTREIT 1995 Rote Socken nennen Stasispitzel Kalte Krieger Kalte Krieger nennen Rote Socken Stasispitzel Spitzel Krieger Socken Socken Krieger Spitzel Und so weiter. Und wer sagt zu allen: Ihr Penner Verschlaft die Geschichte und die Geschichten
HOCHZEITSCARMEN Das vereinigte PEN-Zentrum Deutschland debattiert über Poesie Auf der Alster Schwimmt ein Qualster Auf der Elbe Schwimmt dasselbe Rühmkorf, Über das Volksvermögen, S. 64
Ob die deutsche Hymne von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben ersetzt werden solle durch eine von Bertolt Brecht, das war die Frage. K. von der Alster, Schreiber für eine Monatsschrift, die sagt, dass sie sich der Sprachkritik von Karl Kraus verpflichtet fühlt, beschließt den Vornamen des Autors, dessen Gedicht er empfiehlt, Bertolt Brecht, mit einem holden d und würde auch dem Namen Kraus, fürchtet man, ohne zu zögern das branchenübliche e anhängen. Dass er den Text des
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Gedichtes, das er empfiehlt, falsch zitiert, ist zu entschuldigen, denn er hatte als Bürger von Deutschland West schon ein Oberhaupt, das ebenfalls kein deutsches Gedicht richtig zitieren konnte und aus dieser Unfähigkeit eine Anthologie deutscher Gedichte gemacht hat. Mit dem Deutschlandlied hatte das Haupt nur eine Schwierigkeit: nicht weiterzusingen, wenn es zu Ende war, denn es war bei der SA gewesen. C. von der Lippe – man kann sicher sein, dass er als Professor für deutsche Literatur von der Sache nichts versteht, und man kann ihm ansehen, dass er für das PEN-Zentrum Bundesrepublik Deutschland als letzter Präservativ vor der Hochzeit schwere Belastungen zu ertragen hatte – redet lange, ohne etwas zu sagen, weil er vor einer eigenen Meinungsäußerung wissen müsste, was die anderen meinen. Dann wird das deutsche Geographielehrbuch aufgeschlagen, und da schneidet das Gedicht von Brecht schlecht ab, denn im Buch stand über den Rhein immer schon: Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze. H. von der Saar ist es, der Brecht vom Lech nachträglich das Dichten beibringen will. Dass schon einmal, siebenundvierzig Jahre früher, ein H. von der Saar, nicht PEN-, sondern FDJ-Mitglied, Brecht das Dichten beibringen wollte, wird er nicht gewusst haben. Sein Unternehmen war vorbildlos, eine sog. freie Meinungsäußerung. Die an der Elbe versammelten Hühner, zahlreiche kleine Vögel, fallen nicht etwa von der Stange, nein, sie freuen sich herzlich an dem Versuch, dem großen Vogel ein Ei zu zerdeppern. Die Saar muss beim Reich bleiben, und H. muss nicht französisch dichten, es genügt die Vorführung, dass er es deutsch nicht kann. X oder Y von der Wien, der Vertreter des PEN-Zentrums Österreich, schließt sich an, eine eben sechzigjährige Gewohnheit, und zwar mit dem Vorschlag des Textes der Kaiserhymne, dösaschmää. W. von der Pleiße, als DDR-Kind ein Brechtkenner, weiß nach der Wende zum Erwachsenwerden, dass Brecht ein Dichter für Kinder ist. Der letzte Generalsekretär des Zentrums BRD, S. von keinem deutschen Fluss, schließt die Debatte, präservativlos alternativlos, mit dem Vorschlag eines Rückziehers – im rosa Oktober Achtundneunzig ein Zeichen blendender sozialdemokratischer Geistesgegenwart – : Und tatsächlich fließt die Alster rückwärts. Die Elbe indes, aus Polen und Tschechien kommend, fließt am Saal der neuen Ahnungslosen vorbei unaufhaltsam nach Westen: Westward ho! Erstaunlicherweise ist das Ergebnis, das hinten rauskommt, wenn man von Kohl gebläht ist, dennoch das richtige. Dieses neue Deutschland hat die Hymne verdient, die es hat. Und sein PEN-Zentrum klopft sich auf die Schulter, weil es über Poesie debattiert hat. Freund Hein, übernehmen Sie.
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ANMERKUNGEN: Ein Hochzeitscarmen ist ein Lied zur Hochzeit, ein sog. Ephitalamium, meist chorisch vorgetragen. Zur Vorgeschichte – und um den Unterschied anzudeuten zwischen den beiden deutschen Zentren, die sich im Oktober 1998 in Dresden vereinigt haben – : Auf der Berliner Tagung im April 1998 lautete der Text des Antrags von T. von der Spree, vor der Hochzeit letzter Präservativ des Deutschen PEN-Zentrums Ost: Es noch einmal zu wiederholen, scheint angesichts der Situation im Land vergeblich; wir tun es trotzdem und werden es, wenn nötig, bis zum zweihundertsten Geburtstag Brechts wiederholen: Wenn denn eine National-Hymne gebraucht wird, ist sein Text (unter den Kinderliedern gedruckt) der, auf den die vernünftigen Deutschen sich einigen könnten, zumal er auf die schöne Melodie von Joseph Haydn gesungen werden kann, weil Brecht ihn auf diese Melodie geschrieben hat. Der Text von Fallersleben, dem durch unsere Geschichte scheußliche Bedeutung zugewachsen ist und an dessen Ende den alten Krachern immer der Anfang des Horst-Wessel-Liedes in der Kehle steckt, kann dann da hingelegt werden, wo er hingehört: auf den Abtritt der Geschichte. Der Antrag wurde nach dem Vereinigungsbeschluss Ost zurückgestellt, weil er Sache des gemeinsamen deutschen Zentrums sei. In Dresden war er nicht mehr aufzutreiben. Christoph Hein wurde der erste Präsident des vereinigten Zentrums. Der Text wurde geschrieben in der Nacht nach der Dresdener Tagung; gedruckt wurde er in der Zeitschrift Sklavenaufstand, Nr. 54/55, Nov./Dez. 1998. Fünfzehn Jahre später:
NACHFRAGEN ZUR VORGESCHICHTE A. Ich denke, dass ich mich nicht täusche, wenn ich der zornigen Reaktion auf die Hymnendiskussion beim Vereinigungsparteitag entnehme, dass lange schwelender Ärger vorausging. Oder? T. Kein persönlicher Ärger, nur das geschichtliche Ärgernis. A. Kannst du das trennen? T. Ich kann drüber lachen. Zur Vorbereitung dessen, was du witzig Vereinigungsparteitag genannt hast, fanden in Dresden Lesungen statt, immer ein Writer aus dem Westpen zusammen mit einem aus dem Ostpen, in der Bibliothek vom World Trade Center – A. Umshimmelswillen! T. Ach! Dresden ist zwar heute pegide, meschugge war es leider nie, aber zu imperialem Auftreten langts in Sachsen nicht. Also waren Attentate nicht zu fürchten. A. Mit wem zusammen hast du gelesen? T. Mit Wolfgang Hilbig. Der wohnte in Berlin gleich bei mir um die Ecke. Dass er im Westpen war und ich im Ostpen, spielte keine Rolle unter uns. Das hatte sich eben so ergeben. Als wir nach dem Stand der Vereinigungsvorbereitungen gefragt wurden, hab ich fürs Publikum Witze gemacht. Theatererfahrung. Wenn man lachen muss, kann man jedenfalls nicht pfeifen. Ich hab gesagt: Das ist ganz einfach, Günter Grass heiratet Christa Wolf, Schorlemmer spendet den Segen und schlägt den Ehevertrag in Wittenberg an die Kirchentüre. Da hat sich die Presse draufgestürzt. Am nächsten Tag stands in allen Zeitungen.
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A. Ich erinnere mich wieder. Aber davor hat es doch sehr lange gedauert. Ganze acht Jahre! Die bekanntermaßen heikle Vereinigung der beiden Berliner Akademien zum Beispiel hat nur drei gebraucht. T. Bei den Akademien ging es um viele Beschäftigte, um Grundstücke und Gebäude, um die Sammlungen und Archive usw. Die mussten. Wir mussten nicht. Das war der Boden unter der Eigenständigkeit des Ostpen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Hermlin, unserem Ehrenpräsidenten. Wir hatten, Anfang der neunziger Jahre, eine Sitzung bei ihm zu Hause in Pankow. Ich wollte pünktlich sein und ging beizeiten los. Eine Viertelstunde blieben wir allein und waren uns einig, dass der Ostpen eine Gelegenheit bietet, noch eine Weile in den deutschen Einheitssuppentopf zu spucken. Mit dem Alten konnt ich drüber reden. Die anderen, fast alle, waren damit beschäftigt, den Rücken irgendwie an die Wand zu kriegen. Verständlicherweise. A. Es herrschte Defätismus? T. Mein Gott, ja, Depression! Ich erinnre mich an eine Jahrestagung Anfang der Neunziger in dem CDU-Gebäude hinterm Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Da hatte das Gespräch Löcher. Pausen. Schweigen. Sozusagen Löcher in der Erdkruste – wie unter den Pfützen in Büchners Danton. Eine allgemeine Kopfhängerei! Es war – wie wenn eine Dampfwalze über die Wiese gerollt ist. Alle Grashalme müssen einzeln wieder aufgerichtet werden. A. Sisyphusarbeit. T. Tja. Als ich vorgeschlagen habe, auch Kollegen aus dem Westen zuzuwählen, war die Reaktion: Umgotteswillen, was wird der Westpen dazu sagen! Ich fand, dass uns das wurscht sein kann. Im BRD-Pen war es ja so, dass Leute, die keine bürgerliche Reputation hatten, wie Robert Kurz oder wie Klaus Theweleit zum Beispiel, nicht in Betracht gezogen worden sind. Übrigens hat, als ich mich mit dem Vorschlag durchgesetzt hatte, der Westpen das erst mal gar nicht gar nicht bemerkt. A. Du warst schnell im Vorstand, glaub ich. T. Da war Freund Dieckmann dran schuld. Ich wurde Vizepräsident, und war das jahrelang. Dann musste ich, ein Jahr vor der Vereinigung, als Präsident amtieren, weil Dieter Schlenstedt einen Infarkt hatte. Dieter war sehr gut gewesen für die Position. Als Literaturwissenschaftler war er kein Konkurrent für andere Schreiber. Schreiber sind ja von Haus aus unternander wie Hund und Katze dickefreund oder spinnefeind. Vorher, in der DDR, waren die Wissenschaftler geteilt in die Apparatschiks, die reglementierten, und die Hilfreichen, die durch Gutachten, Vor- oder Nachworte, Rezensionen, durch Stellungnahmen in Debatten, schriftlichen und mündlichen, Literatur verteidigt haben. Von solcher
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Tätigkeit rührte Dieters Reputation. Und als Professor hatte er auch die nötige Fähigkeit zur Repräsentation erworben. Mich hatte Dieckmann in den Vorstand lanciert als Regisseur. Kennengelernt hatten wir uns im Theater, im Berliner Ensemble der Berghaus-Ära, Anfang der Siebziger. Er war da Dramaturg. Unvergesslich, wie er im Hochsommer mit dem Fahrrad auf dem Hof des Theaters vorfuhr, einen Tropenhelm auf dem Kopf. Der war ein Erbstück. A. Ein was? T. Ein Staatsgeschenk. Sein Vater war lange Jahre Volkskammerpräsident und Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei in der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland. Das hieß so. Aber so war der bildungsbürgerliche Habitus von Fritz DDR-kompatibel. Legitimiert. Friedrich Dieckmann war – und er ist – ungeheuer vielseitig. Er hat über Literatur, Musik, Philosophie, Theater, Malerei, Architektur geschrieben. Damals war gerade sein großes Buch über Karl von Appen, den Chefbühnenbildner des BE, erschienen. Fritz hat dann immer die DDR-Beiträge für die Prager Quadrinale der Bühnenbildner kuratiert. Trotzdem war 89/ 90 auch für ihn eine Befreiung. Ganz konkret. Er konnte jetzt mit seiner Schnelligkeit und seiner Vielseitigkeit ungehemmt publizieren, und er war an vielen Debatten beteiligt, saß in Redaktionsbeiräten, Kuratorien, Jurys und so weiter. Er war also auch Kulturpolitiker. Aber als solcher eine Ausnahme, entgegen der gängigen Politurkolik gestern, heute und morgen. A. Und was heißt, dass er dich in den PEN-Vorstand lanciert hat als Regisseur? T. Naja. Er wird sich gedacht haben, dass ich, der in beiden Deutschländern sich ein bisschen auskannte – ich hatte ja mehr als zehn Jahre, mit einer Ausnahme, nur in Theatern der alten BRD gearbeitet – brauchbar wäre bei der Inszenierung des fälligen Übergangs. Das war nicht ganz falsch gedacht, glaub ich. A. Und was war dein Regiekonzept? T. Umgotteswillen, du kennst mich doch! Im Theater hab ich auch keine Konzepte gehabt. Aber eine Nase für die Richtung. Erstmal hab ich mir Verstärkung organisiert. Unter den Neuzugewählten aus der alten BRD war auch mein Verleger KD Wolff. Der hatte eine Vergangenheit mit politischer Erfahrung aus der Zeit der Studentenbewegung in Freiburg und Frankfurt. Er war der letzte Bundesvorsitzende des SDS gewesen, und er wurde jetzt sozusagen mein Wirklicher Geheimer Rat. A. Aber ihr wolltet ja erst mal, hast du gesagt, eure Selbstständigkeit behalten.
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T. Ja, ja, aber doch nicht als Selbstzweck. Wir wollten, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unsere Sache bleibt, und wir nicht, wie allgemein üblich, unter westdeutsche Vormundschaft gestellt werden. Das haben wir auch ganz gut hingekriegt. A. Waren viele Leichen im Keller? T. Nein. Der Ostpen hieß sehr lange Deutsches Pen-Zentrum Ost und West. Der Kampf um die Einheit Deutschlands war ja lange Staatsdoktrin gewesen in der DDR. Gespalten worden ist der PEN vom Westen, und zwar schon früh. Nach dieser Abspaltung, also lange vor der Umbenennung in DDR-PEN, blieben hauptsächlich so Repräsentationsfunktionen übrig. Der Staat bezog sich auf den PEN oder spannte ihn ein z.B. im Kampf um den Weltfrieden. Und der Verein war eine ziemlich elitäre Institution, weshalb ich mich früher auch nicht für ihn interessiert habe – und sowieso hat es mich als Schreiber in der DDR gar nicht gegeben. Es ist ja nichts gedruckt worden wegen meines schlechten politischen Rufs aus dem Theater. Das Elitäre war entstanden durch die Zweidrittelmehrheit bei den Zuwahlen. Die hat aber eben auch bewirkt, dass kaum Propagandaschreiber zugewählt wurden. Und hat später auch dazu geführt – und das ist wirklich erstaunlich – dass niemals jemand ausgeschlossen worden ist. Was ja das allgemein übliche Verfahren war, wenn jemand in den Westen abging, wie Sarah Kirsch und Günther Kunert und und und, oder wenn er, wie Biermann, ausgebürgert wurde. Auch Biermann ist nicht ausgeschlossen worden. A. Das ist tatsächlich verblüffend. Was habt ihr also gemacht? Was war zu bewältigen? T. Es gab ein paar Mitglieder, mit denen wir Probleme hatten. Einige sind ganz von selber ausgetreten. Sofort, als er abgewählt worden war, z. B. der langjährige Präsident Kamnitzer, den ich nie kennengelernt habe. Auch Hermann Kant – er hatte in der DDR eine zwiespältige Rolle gespielt, manchmal geholfen und manchmal gnadenlos die Parteilinie durchgezogen. Die Ausschlüsse aus dem Schriftstellerverband, dessen Vorsitzender er war, waren unvergessen. Oder Hacks – was ich bedauert habe. Obwohl sein Aufsatz in der Weltbühne, der die Ausbürgerung Biermanns begrüßte, mir und nicht nur mir natürlich missfallen hatte. Später hat er mal einen seiner Adlaten zu mir geschickt mit dem Vorschlag, ein drittes deutsches PEN-Zentrum zu gründen. Witzig wie stets. Einige haben wir überredet auszutreten, z.B. Höpcke. Sein Artikel im Zentralorgan zu Biermanns Verstoßung war auch unvergessen. In den PEN war er gewählt worden als Verbündeter – nachdem er sich als Bücherminister meist, nicht ungeschickt, anständig verhalten hatte –, als Verbündeter für die Abschaffung der Zensur, das übliche Druckgeneh-
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migungsverfahren. Das ist dann ja auch ganz zuletzt noch abgeschafft worden. Aber natürlich war seine Funktion lange mit diesem Verfahren identisch gewesen. Für ihn war die Mitgliedschaft eine Prestigesache, und es war schwierig, ihn zu bewegen. Dabei lag es in seinem Interesse, die Debatte loszuwerden – den ständigen Vorwurf, Zensurminister gewesen zu sein – , denn er war weiter politisch aktiv, in Thüringen. Er hatte ein Einsehen und trat aus. A. Und was habt ihr sonst noch getrieben? T. Wir haben in Berlin fleißig Veranstaltungen gemacht. Natürlich welche zur Situation. Aber nicht nur, sondern – was für den PEN eher ungewöhnlich ist – auch literarische Veranstaltungen, Lesungen. Daneben wurde natürlich immer auch die zentrale Aufgabe, Beistand und Hilfe für bedrängte Kollegen, verfolgt. Ich erinnere mich an einen aus Kuba emigrierten Kollegen, den wir betreut haben – A. Die Veranstaltungen zur Situation – T. Na, zum Beispiel eine Reihe Gespräche zur Selbstaufklärung. Gegenstand war das PEN-Zentrum selber, seine Geschichte. Und seine Mitglieder und deren Geschichte. Das war der Mittelpunkt. Aber es ging dabei auch immer um den Kontext, den Geschichtsverlauf überhaupt und um literarische Entwicklungen in ihrem Verhältnis dazu. Es gab dabei auch kuriose Situationen. Z.B. bei einem Podiumsgespräch im Plenarsaal der DDR-Akademie, jetzt wieder das Gebäude der KaiserWilhelm-Gesellschaft. Dieckmann moderierte. Unter den Diskutanten waren Robert Kurz, neu zugewählt, und das alte Mitglied Hartmut Lange, der nach seinem Abgang über Jugoslawien in Westberlin lebte. Er war in der DDR der junge Mann von Hacks gewesen. Hacks hat damals, Anfang der sechziger Jahre, nach dem Verlust Langes, ein großes Gedicht geschrieben, Die Elbe, eins seiner besten. Lange hat lebhaft teilgenommen an den neuen PEN-Aktivitäten. Zu seiner Eigenart als Schriftsteller gehört, dass er schreibt auf dem Grund einer Weltanschauung. Er war Marxist. Und eines Tages, mitten in einer Fernsehdiskussion über Trotzki, merkte er, dass ihn das alles nicht mehr interessiert. Also brauchte er ein anderes Denksystem. Und er wurde Nihilist. Nicht so vage und modisch wie üblich, sondern ganz philosophisch-systematisch. Und nun gerieten der Neomarxist Kurz und er aneinander. In einer Heftigkeit sondergleichen. Ein uralter Philosophenstreit! Sie wurden laut, sie rissen einander das Mikrophon weg oder warfen es sich zu. Dieckmann als Moderator war hilflos. Erst Heiner Müller – er kam später, weil er noch im BE zu tun gehabt hatte – gelang es, mit ein paar Witzen die Wogen zu glätten. Für einige Zeit wurde im Ostpen zur Redensart: über Kurz oder Lange.
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A. Von Kurz war doch gerade ein neues Buch erschienen – T. Ja ja. Darin gab es den Begriff nachholende Modernisierung für die russische und die folgende resozistische Entwicklung in der DDR. Kurz’ Begriff war hilfreich bei dem Versuch zu verstehen, was geschichtlich vorgegangen war und wie es geendet hatte. Und warum es so geendet hatte. Begriffsklärung war ja eine wichtige erste Etappe in der Diskussion. Blickwinkel und Ergebnisse unserer Überlegungen waren natürlich unterschiedlich, und es war auch nicht beabsichtigt, eine einheitliche Meinung herzustellen. Aber das Bedürfnis, ein deutliches Bild zu gewinnen, war groß und allgemein. Dass diese Diskussionen ihre Schwierigkeiten hatten, war nicht überraschend. Und dann manchmal doch. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung am Majakowskiring in Pankow. Ich moserte über Henrik Keysch, den langjährigen Chefredakteur der Neuen Deutschen Literatur, der Zeitschrift des Deutschen Schriftstellerverbandes. Er war schon ausgetreten. Aber es ging um ältere Großkonflikte, wie die um Heiner Müllers Stücke, auch um Brecht, um Strittmatter ... Und um Keyschs Rolle darin. Auf meine Schimpfrede – ich habe einfach den alten Ärger abgeladen – hat Hermlin reagiert. Nicht polemisch, er hat nur zwei Sätze zu Keyschs Biographie gesagt. Nach Frankreich emigriert als ganz junger Mann, war Keysch geschnappt worden und schon unterwegs auf dem Abtransport nach Deutschland. Er konnte aus dem Zug springen und ist angeschossen durch die Loire geschwommen. Dann war er bei der Resistance. Ich hatte Keysch Anfang der Neunziger nochmal ganz zufällig getroffen beim Geburtstag eines alten Freundes, der in Pankow neben ihm wohnte. An dem Abend hatte ich kaum mit ihm geredet, aber wir, meine Frau und ich, haben da auch Keyschs Frau kennengelernt, eine hinreißende alte Jüdin. Meine Frau hat sich lange mit ihr unterhalten, und wir haben sie ein paar Wochen später an einem Vormittag besucht. Sie schabte gerade Möhren, auf ihrem Unterarm sah man die Auschwitznummer. Keysch war einkaufen und kam nach einer halben Stunde. Er war jetzt entspannt, müde und milde, nicht so wie früher, und ich hab natürlich nicht angefangen, über die Auseinandersetzungen der Vergangenheit zu reden. An diese Begegnung hab ich bei dem Disput im PEN, in der Erinnerung des Ärgers versunken, nicht gedacht. In der Sache hatten die Differenzen von damals und die jüngere Begegnung nichts miteinander zu tun. Dennoch ist hier ein Punkt berührt, der die Debatten über Personen schwierig und kompliziert machte. Diese Leute kamen nach dem Krieg aus der Emigration, aus dem Zuchthaus oder aus dem KZ. In der DDR sind sie nach Hause gekommen. Sie waren am Ziel. Und standen den Deutschen gegenüber. Für wenige hatten sie
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Autorität, und für viele waren sie Feind. Und natürlich waren sie das, was man rechthaberisch nennt. Wie nicht. A. Was, würdest du sagen, war das Hauptproblem? T. Die Diskussionen unter uns waren eigentlich immer sachlich und durchaus gründlich, selten heftig und manchmal sogar witzig. Das Problem waren die Verallgemeinerungen durch die Medien im Westwind. Da ist der Bereich Kultur der Politik gefolgt. Absicht war die Annihilation. Die DDR soll nicht gewesen sein. Moralische Pauschalurteile waren die Regel. Jeglicher Sinn fürs Konkrete und Spezifische, und jeder Sinn für Geschichte hat gefehlt. Schlagworte wie der Unrechtsstaat haben die Medien dominiert. Einer schrieb die Dummheiten vom anderen ab oder sagte sie nach. A. Was für eine Rolle hat denn die virulente Stasijagd gespielt? T. Virulenz ist ein treffender Begriff, denn das Phänomen ist wiederkehrend. Wenn es mal anders kommt – auch eine durch Wiederkehr ehrwürdige deutsche Redewendung – verwandeln sich die Gejagten in Jäger. Nicht alle, aber einige. Und weiß Gott gab es welche, die Grund genug hatten. Aber dann gibt es eben auch die Menge der Nutznießer, die ihren Spaß haben wollen und Geld verdienen und sich dabei als gute Menschen fühlen. Unschuldige Knaben aus der anderen Hälfte können als Motiv nur ihren Vornamen anführen, den des Schutzheiligen der Jagd. Die Kenntnisnahme etlicher Akten hat mir schnell beigebracht, dass ein Großteil der Mitteilungen an die Polizei nur zu dem üblichen hässlichen Klatsch gehört. Der hat sich in beiden Landeshälften nichts genommen. Denn immer ist da wer, der dem Chef oder der Zeitung oder auch nur dem Kollegen was über den Kollegen steckt. Und natürlich meine ich damit nicht die Whistleblower, die die kriminellen Aktivitäten der Oberen enthüllen. Dass der Klatsch an die politische Polizei geht, ist verwerflich. Verantwortlich ist die Politik. Zuerst die Politik, die das so einrichtet. Aber auch die gab es auf beiden Seiten. Bei dem Blick auf das alles ist charakteristisch die Dämonisierung. Und ebenso charakteristisch ist die Reaktion auf Kritik an der Dämonisierung. Hannah Arendts Darstellung von Eichmann z.B., in ihrem Prozessbericht, hat damals heftigen Widerspruch hervorgerufen. Angesichts der Dimension des Mordapparates der Shoah war die Dämonisierung, so hilflos und sachlich unhaltbar sie war, noch halbwegs verständlich oder entschuldbar. Was die Stasi anlangt, ist sie einfach albern. Arendts durchdringender Blick sah die Bürokratie und ihre triviale Lächerlichkeit. Sie ist das eigentlich Entsetzliche. Jede Geheimpolizei besteht aus Verbrechen, Dummheit und Lächerlichkeit. Lies Hans das Viereck. A. Was soll ich lesen?!
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T. John le Carré, A Perfect Spy. A. Ah ja. Und wie ging es dann auf die Vereinigung zu? T. Wir hatten ziemlich lange gutnachbarliche Beziehungen gehabt. Nach ein paar Jahren waren wir im Präsidium, und zwar durchaus im Konsens mit den Mitgliedern, jedenfalls ihrer Überzahl, der Meinung, dass wir eine Vereinigung, dem politischen Vorangang folgend, ins Auge fassen sollten. Aber eben selbstbestimmt und nicht fremdbestimmt. Also mal versuchsweise einen Stein ins Wasser werfen und zusehn, was er für Kreise zieht. A. Na, das hat er ja dann auch getan. T. Ich komm gleich dazu. Es ergab sich eine Gelegenheit, als das Präsidium West in Berlin tagte, im LCB am Wannsee. Ich traf da nach längerer Zeit alte Freunde und Bekannte wieder, z.B. Heinz Czechowski und Günter de Bruyn. Den einen kannte ich noch aus Dresden, erste Hälfte der fünfziger Jahre, den andern aus Berlin, aus der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren des Schriftstellerverbandes, zweite Hälfte der Fünfziger. Wir fielen uns erstmal um den Hals und freuten uns. Präsident West war damals Gert Heidenreich, von Haus aus Schauspieler. Er schrieb Stücke, und ich war ja Theaterregisseur neben dem Schreiben. Also erstmal Friede, Freude, Eierkuchen. Aber als dann was an die Öffentlichkeit drang, gab es, wie zu erwarten, einen Aufschrei. Genährt von Ressentiment, und ohne Kenntnisse. Es waren ja noch genug kalte Krieger zugange. Das Präsidium West wurde abgewählt. Die Reaktion darauf war dann wieder eine Gegenbewegung. Vor allem Klaus Staeck spielte dabei eine Rolle als Organisator. Es gab bald viele sogenannte Doppelmitgliedschaften. Mitglieder des Westpen wurden auch Mitglieder des Ostpen. So entstand auch ein Druck von unten in Richtung der Vereinigung. Nach Dieter Schlenstedts Erkrankung blieben die Verhandlungen an mir hängen, mit dem Generalsekretär Joochen Laabs an meiner Seite. Ich war behindert durch die Arbeit am Theater. Im Herbst ’97 hab ich am BE Galilei inszeniert für Brechts hundertsten Geburtstag im Februar ’98. Und dann habe ich ein paar Monate in Wiepersdorf gearbeitet, auf Bettina von Arnims Schloss. Dort, an historischem Ort, haben auch gemeinsame Präsidiumssitzungen zur Vorbereitung stattgefunden. Die Verhandlungen waren immer noch überschattet von der allgemeinen Stasidebatte. Übrig waren zwei Fälle. Einmal Hans Marquardt, der langjährige Leiter des Reclam-Verlags, der jetzt als Rentner auf Rügen lebte, in einem Haus am Bodden. Es genügt ein Blick auf den Verlag, einmal auf sein Personal, die Zusammensetzung des Lektorats, zum Beispiel mit Jürgen Teller, einem Bloch-Schüler, der in der DDR einiges zu erdulden gehabt hat, und noch etlichen andern, vor allem aber ein Blick auf das, was Mar-
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quardt durchgesetzt hat an Literatur, um die Vorwürfe unsinnig zu finden. Kennengelernt habe ich Marquardt erst im PEN, und er hat mir sofort sehr gefallen. Er war ein Spieler. Was meinem Theatersinn natürlich entsprach. Mit der Stasi hat er geredet. Wie jeder staatliche Leiter hatte er regelmäßig Besuch, ohne Geheimhaltung. Aber er hat sie, wie auch die Literaturbehörden, ausgespielt. Bei unserer letzten Jahrestagung haben wir als letzte öffentliche Veranstaltung in Berlin, im alten Audimax der Humboldt-Uni, eine Bilanz des Reclam-Verlags vorgestellt, Erinnerungen und Lesung von Beispielen. Die Medien haben das mit Stillschweigen übergangen. Marquardt selber war nicht dabei. Er war alt und krank, und die Sache hat ihn so malträtiert, dass er ausgetreten ist, um seine Ruhe zu haben. Ich habe das sehr bedauert, ich hätte das gerne durchgekämpft. Der andere Fall betraf Erich Köhler, keineswegs ein konformistischer Schreiber in der DDR. Den kannte ich lange. Meine zweite Arbeit nach den mehr als zwei Jahren Berufsverbot nach der Uraufführung von Müllers Umsiedlerin war eine Inszenierung in Parchim. Dort war Fritz Marquardt Chefdramaturg und machte auch seine ersten Inszenierungen, darunter das erste Stück von Köhler. Später hat er dann auch in Berlin an der Volksbühne ein Stück von Köhler gemacht. Beide, Köhler und Marquardt, kamen aus dem Landproletariat. Das waren wirkliche Eisenschädel. Für Köhler, der auch sehr schöne Prosa geschrieben hat, war die PEN-Mitgliedschaft so etwas wie der Aufstieg vom Underdog zur Intelligenzia, etwas, was ihm die DDR ermöglicht hatte. Er lebte in einem niederlausitzer Dorf, war LPG-Mitglied, und seine literarischen Einkünfte liefen über die LPG. Anlässlich eines ostberliner Projekts zu einem selbstbestimmten Buch mit Erzählungen hatte er, in seinem Mistrauen gegen die Stadtliteraten, über einen Besuch bei Klaus Schlesinger der Stasi berichtet. Schlesinger – auch ihn hatte der Ostpen nach seinem Abgang nach Westberlin nicht ausgeschlossen, und er arbeitete jetzt wieder bei uns mit – war überhaupt nicht interessiert an einer Verfolgung der Angelegenheit. Schorlemmer forderte nachdrücklich christliche Reue von Köhler. Die wollte der verständlicherweise nicht zeigen. Genügt hätte eine kurze Erklärung, dass er einen Fehler gemacht und sich geirrt hat. Aber dazu war er angesichts der allgemeinen Lage nach der Okkupation und ihren Folgen auch nicht bereit. Wir haben ihn nicht ausgeschlossen. Bei einem der letzten gemeinsamen Präsidiumsgespräche vor der Vereinigung, in Wiepersdorf, sagte der Generalsekretär des Westpen, Johanno Strasser, den charakteristischen Satz – ganz im Sinne sozialdemokratischer Tradition, Schröder war gerade Bundeskanzler geworden –: Opfer müssen eben gebracht werden. Da war er bei mir richtig. Ich kannte noch die Namen der Pries-
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ter Noske und Zörgiebel. Aber von diesen Querelen abgesehn, verliefen die Verhandlungen zügig. Ich habe noch die Weichen gestellt, dass in Dresden ein Schreiber aus dem Osten Präsident wird. Ich bin zu Christoph Hein auf die Datsche gefahren, kurz vor Stettin, und hab ihn überredet. Und vor dem Dresdner Kongress haben wir noch einen Polterabend veranstaltet in Pankow, im ehemaligen Haus des Schrift steller verbandes. Das war, bei schönstem Wetter in der alten Villa mit ihrem großen Garten, ein voller Erfolg. Vom Westpen war auch die langjährige Geschäftsführerin Frau Setzer zu Gast. Sie staunte über den Gemeinschaftsgeist an dem Abend, mit Konzert und Lesung und Essen und Tanz. Eine Zigeunerkapelle spielte. Natürlich kam auch die Frage auf, ob man noch Zigeuner sagen darf, aber eher nebenbei; eine Haltung als Lenau-Verehrer war klar. Ich war von Wiepersdorf in die Stadt gekommen und hatte auch ein paar internationale Gäste mit, aus Afrika und aus Amerika, die gerade in Wiepersdorf arbeiteten, und die sich auch sehr wohl gefühlt haben. Das Gemeinschaftsgefühl, über das Frau Setzer so staunte, hatte als Grund, dass wir gemacht hatten, was wir wollten, ganz einfach. Spuren sind geblieben. Wir treffen uns immer noch ein paar Mal im Jahr zu einer Art Stammtisch in einem Restaurant auf einem Spreedampfer im Treptower Hafen. Und auch da kommen Gäste, wenn der internationale PEN gerade in Deutschland tagt, oder aus Leipzig kommt oft der Leiter des Literaturinstituts für junge Schriftsteller, auch ein DDR-Relikt, der Österreicher Josef Haslinger, der lange auch Präsident des deutschen Zentrums war, und fährt dann mit dem Nachtzug wieder zurück nach Leipzig. Ein Stammgast aber ist Walter Kaufmann, ein Berliner Junge aus dem Scheunenviertel, Jude, als Kind aus Deutschland geflohn, lange in Australien lebend, zur See gefahren, dann um 1960 nach Deutschland zurückgekehrt, in die DDR. Er ist jetzt weit über neunzig und schreibt und schreibt. In der Zeitung lesen wir stückweise seine Erinnerungen an die Leute, denen er im Lauf seines langen Lebens allüberall begegnet ist. Und ich bin ja auch schon über achtzig. A. Und siehst zurück auf die Geschichte. T. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. A. Wisch dir die Augen und mach weiter.
DER VORSITZENDE SCHRIFTSTELLER Wenn seine rechte Wange ihn juckt, fasst er mit seiner linken Hand übern Kopf weg und kratzt. Nähmlich der Stil ist der Mann.
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EINEN UMBOGEN MACHEN Antwort auf eine Umfrage von Renatus Deckert, Beitrag für seine Sammlung von Antworten mit dem Titel Das erste Buch, 2007 als Suhrkamp-TB 2864 erschienen.
Mein allererstes Buch (oder Büchlein, oder eher Heft) kam in der DDR nicht zustande: ein Poesiealbum, geplant noch unter der HerausgeberÄgide von Bernd Jentzsch (vor seinem Wegbleiben nach der Biermann-Ausbürgerung), und weiterverfolgt unter der von Richard Pietraß. Das war eine sehr wünschbare Art von Publikation. Die Hefte sahen schön aus, kosteten nur 90 Pfg. und waren auch am Zeitungskiosk zu erwerben. Jentzsch hatte mit Geschick allerlei durchsetzen können, und Pietraß versuchte das fortzusetzen. Aber es wurde nichts draus. Kein Argument und kein Kompromissvorschlag konnte das Heft mit meinen Gedichten retten. Dabei war schon vorsichtig ausgewählt worden! Der Cheflektor hieß Leberwanz. D. h. er hieß Lewerenz, und ich nannte ihn Leberwanz. Der Verlagsleiter hieß Qualleck. D. h. er hieß Chowanetz, und ich nannte ihn Qualleck. Nach dem Umbruch (erst dann – oder: noch dann) wurde von ihnen die Herstellung des Heftes gestoppt. Im Börsenblatt des Buchhandels (das auch in der DDR so hieß) ließ der Verlag Neues Leben eine Anzeige drucken: Der Autor des Poesiealbums soundsoviel heißt nicht B. K. Tragelehn, sondern Ludwig Uhland. Ich habe mich über das Neue Leben beschwert. Herr Höpke, der Bücherminister, lud mich zum Gespräch und ließ meine Gedichte nach Leipzig weiterreichen, zum Reclamverlag. Der war unter der Ägide von Hans Marquardt immer wieder zuständig für Problemfälle. Und tatsächlich haben Marquardt und seine geschickt ausgewählten Mitarbeiter allerhand Unmögliches möglich gemacht. Aber nun schlug, vor jeder weiteren denkbaren Komplikation, der deutsche demokratische Alltag zu. Der jährliche Planungstermin war verstrichen, und eine Aufnahme in den Plan im nächsten Jahr hätte eine Publikation erst im übernächsten möglich gemacht. Ich saß aber schon in Frankfurt am Main im Theater, weil die Theater der DDR mir keine Arbeit mehr geben wolltensollten. Und ich hatte die Schnauze voll. Auch in Zeitschriften oder Anthologien war von mir so gut wie nichts erschienen. Den besonderen Stein des Anstoßes, die Klettwitzer Elegien (noch in den sechziger Jahren geschrieben, nachdem ich wegen der Uraufführung von Heiner Müllers Lustspiel Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande ein halbes Jahr in einem Braunkohletagebau in der Lausitz arbeiten musste, eine übliche Erziehungsmaßnahme) hatte Bernd Jentzsch schon drucken las-
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sen. Der gab inzwischen, zusammen mit Helmut Heißenbüttel, eine Literaturzeitschrift heraus. In Stuttgart. Ein erstes Buch rückte in Frankfurt in Reichweite. Ich lernte K. D. Wolff kennen. Die Television hatte ihn mir schon gezeigt: Ich sah ihn, rittlings auf einer Mauerkrone sitzend, eine Tröte in der Hand, durch die er Losungen schmetterte, vor der amerikanischen Botschaft in Sofia, während der Weltjugendfestspiele, bei einer verbotenen Demonstration gegen den Vietnamkrieg. In einem resozistischen Land wurde nicht demonstriert, wenn man wollte, sondern nur, wenn man sollte. Aber Wolff und seine Genossen hielten sich nicht dran. Das war schon ein paar Jahre her. Doch Wolff blieb Wolff. Er hatte inzwischen den Verlag Roter Stern gegründet, der mit Wahnsinnsunternehmungen wie der Herausgabe der faksimilierten Handschriften Hölderlins begann. Nun lief es also hinaus auf ein Buch mit allen Gedichten aus fünfundzwanzig Jahren, eine erste Sammlung. Als Titel wählte ich ein Wort, das für Bundesbürger ausländisch klang. (Das Land jenseits der Elbe, aus dem ich kam, war für ihre übergroße Mehrheit eine ferne Steppe. Unvergesslich die Frage junger Leute in Stuttgart, als ich nach meiner ersten Inszenierung im Westen nach Hause fuhr in die DDR: Und wann bist du wieder in Deutschland? Es waren Studenten, durchaus nicht ungebildet, und sie fragten ganz ohne Polemik, unschuldig.) Der Titel lautete: Nöspl. Das Wort erwies sich als geeignet für Gesellschaftsspiele. Ein Mädchen in Frankfurt am Main riet eine Automarke, ein Wiener Philosoph den Namen eines Dorfes in Westfalen, eine Schauspielerin in Westfalen einen Wassergott. Die Lösung: Nöspl war die Abkürzung für Neues ökonomisches System der Planung und Leitung in der DDR, eine Reformkonzeption noch unter Walter Ulbricht, in Angriff genommen von Erich Apel, der sich 1965 erschoss. Da wurde noch gefragt: Vormittag oder Nachmittag? Aber Günther Mittag war es, der sie im Auftrag Honeckers abgewickelt hat. Helmut Heißenbüttel, der das Buch für die Süddeutsche Zeitung besprach, definierte Nöspl als ein Dada-Wort. Auf diese Rezension stieß ich ganz zufällig in der Luft. Ich hatte in Zürich über die Leitung des Theaters am Neumarkt verhandelt, vergeblich, und flog nach Hause. Im Flugzeug las ich die Süddeutsche. Und kurz vorm Landeanflug auf Berlin war ich beim Feuilleton angelangt. Ich habe mich über Heißenbüttels Aufsatz sehr gefreut. Es tut mir heute noch leid, dass ich ihm nicht gleich geschrieben habe. Ich hätte ihn gern kennengelernt. Aber irgendwie hatte das Theater mich damals mit Beschlag belegt – und im Theater kommt man zu nichts anderem als zu Theater. Die Literatur musste nebenherlaufen.
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Vorsichtig war die Sammlung nicht. Heiner Müller erschrak und sagte, dass er wiedereinmal das Gefühl hätte, mich beschützen zu müssen. Es ist wahr, wegen der Gedichte über die Grenze wäre ich rechtsförmig zu belangen gewesen. Aber was solls! Wenn sie wollten, konnten sie das immer. Die einschlägigen Paragraphen waren aus Gummi. Ich habe Glück gehabt. Wahrscheinlich wollten sie kein Aufsehn. Von den Exemplaren, die ich an Freunde in der DDR verschickt habe (nicht etwa aus dem Westen, sondern von einem Ostberliner Postamt), ist kein einziges beim Empfänger angekommen. Immer wieder ist es nicht zu umgehen, um irgendwo, wo immer, anzukommen, einen Umbogen zu machen. So heißt der Umweg im Sächsischen, in dem ich aufgewachsen bin. ANMERKUNG: Inzwischen ist 2017, zu einem Jubiläum der Heftreihe Poesiealbum, eines mit Gedichten T.s erschienen, die Nr. 333. Die Grafik darin ist von ihm selbst, die Auswahl hat H.D. Schütt besorgt.
AUFKLÄRUNG Der Tag an welchem Kant abschied War klar und wolkenlos wie wenige dort Eine kleine Wolke im Zenit Sonst blauer Himmel. Man erzählt Es habe ein Soldat, auf der Schmiedebrücke Umstehende aufmerksam gemacht darauf: Kant flieht zum Himmel.
DER GETREUE ECKART Graf Schlabrendorf aus Preußen Einsiedler in der Hauptstadt der Revolution Amtlos Staatsmann/Heimatfremd Bürger/Begütert arm Hört spricht Hofft harrt Und erscheint in deutschen Träumen: Einmal wenn Ihr mich wirklich braucht Komme ich. Jetzt bin ich nichts nutz Niemand versteht meine Sprache.
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MERIAN 1–3 Diese drei kleinen Aufsätze – kann man sagen Feuilletonplauderein? – wurden für die Zeitschrift Merian geschrieben, die in Hamburg erscheint. T. erinnert sich: 1961 schnitt die Mauer mich ab von Zigarren, Kino und Taschenbüchern. Nach fünf Jahren ergab sich für den Zugang zu Büchern eine Gelegenheit. Ein junger Mann, der in Westberlin studiert hatte und den ich kennenlernte, weil er oft das Berliner Ensemble besuchte, war nach dem Studium Redakteur bei Merian geworden. Ich schrieb für die Zeitschrift diese kleinen Texte. Für mein Honorar bestellte er, mit Verlagsrabatt, die Bücher, die ich brauchte: Enzensbergers Kursbücher, Korsch, Trotzki und und. Er schickte sie nach Westberlin an einen Studenten, der Tag für Tag über die Grenze kam, um im Deutschen Theater Bessons Proben zu besuchen. In einer Tasche, im Mantelsaum nicht leicht zu entdecken, brachte er jedesmal ein Buch mit.
1 Dresdener Jugend Auf dem Neustädter Bahnhof in Dresden angekommen, fahre ich mit der Straßenbahn nach Blasewitz. Dort wohnen meine Eltern. Ich fahre über den Platz der Einheit, früher Albertplatz, und über die Brücke der Einheit, früher Albertbrücke, über den Sachsenplatz und dann die Gerokstraße hinaus. Auf halbem Wege, in der Johannstadt, wo wir vorm Angriff gewohnt haben – man teilt in Dresden die Zeit in die vor und die nach dem Angriff; der Angriff, das ist die Zerstörung der Stadt am 13. und 14. Februar 1945 –, in der Johannstadt also, an der Ruine der Trinitatiskirche, ist eine Haltestelle. Dort liegt, inzwischen fast eingeschlossen von wucherndem Unkraut und Gebüsch, ein schwarzgrauer Steinbrocken, etwa einen Meter hoch. Als Kind bin ich auf den hinaufgeklettert. Jedes Mal, solange die Straßenbahn hält und die Leute einund aussteigen, starre ich aus dem Fenster. Neugierig oder eher altgierig? Ich sehe ihn mir genau an, erkenne die Stufe auf halber Höhe, die es mir möglich gemacht hat, raufzuklettern auf den Stein, und staune, wie klein der große Fels der Kinderjahre geworden ist. Ich habe mich nie entschließen können auszusteigen. Ich bin in Dresden geboren und in Dresden aufgewachsen. Neunzehn Jahre, von 1936 bis 1955, war ich Dresdener. Jetzt lebe ich in Berlin. Aber ich fahre noch oft nach Dresden, drei Stunden mit dem D-Zug, und bleibe ein paar Tage. Ich gehe im Großen Garten, im Waldpark, an der Elbe spazieren, fahre nach Moritzburg, Pillnitz, Meißen oder in die Sächsische Schweiz, sehe mir die Bilder in der Gemäldegalerie an … Und fühle mich zu Hause zu Besuch. In Dresden zu leben und zu arbeiten, kann ich mir nicht vorstellen. Dresden ist für mich ein Ort zum Müßiggehen und zum Nachdenken. Ein Ort der Stille. Was die Kontemplation befördert, sind nicht die Leute – oder nur indirekt, indem sie so sind, dass ich ihnen aus dem Wege gehe. Es ist auch nicht die Landschaft oder die Architektur, wie harmonisch sie auch sein mögen. Oder allenfalls indirekt, als das, woran und worum das Eigentliche sichtbar wird.
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Das Eigentliche ist die Luft, eine unbeschreiblich klare, noch in der Sommerhitze und noch bei trübem Wetter durchsichtige Atmosphäre, die ich anderswo nicht finde. Wenn ich überlege, was aufzuschreiben ist unter einem Titel wie Dresdener Jugend, dann ist es ein ferner Blick, der auf Dresden fällt, ein Blick in zeitliche und in räumliche Ferne. Die Zahlen, 12 Jahre und 300 Kilometer, geben die Entfernung nicht an. Berlin, die Weltstadt, nein, die Stadt zweier, damals, 1955, als ich nach Berlin kam, noch ineinander verschränkter Welten, Berlin, die Stadt der Arbeiter, Berlin, die Stadt der Politik, Berlin, 1955, als Brecht noch lebte, die Stadt des Theaters: Berlin war ein Ort der Freiheit. In Berlin konnte getan werden, wovon man in Dresden träumte, wie eben Gefangene von der Freiheit träumen. Denn das ist das erste, was dem fernen Blick an Dresden auffällt: dass es ein Gefängnis war, mit all der schlimmen Wirkung von Gefängnissen, den Angstträumen und den Verkrüppelungen. Dass es aber zugleich das Werkzeug gab zum Ausbruch, das ist das zweite. Die Satire ist die einzig rechtmäßige Form der Heimatkunst schrieb Walter Benjamin in einem Aufsatz über den Wiener Karl Kraus. Tatsächlich ist es schwer, über seine Heimatstadt, mag sie Wien heißen oder Dresden, nicht satirisch zu schreiben. Dresden, die Residenzstadt, die bürgerliche Stadt, die unpolitische Stadt, die Stadt der Kleinbürger, das vor allem, denn sogar die Arbeiter haben in Dresden keine Mütze, sondern einen Hut auf, Dresden ist eine Stadt festgefügter Ordnung, mit einem Wort: eine Stadt der Tradition. In die soll man sich einfügen, einen ordentlichen (auch: anständigen) Beruf erlernen, als strenger Anhänger der Monogamie – welches Wort Karl Kraus übersetzt hat mit Einheirat – eine Familie gründen, alt werden und sterben. Seitensprünge aus einem so ausgerichteten Leben werden verurteilt. Was sollen die Leute dazu sagen! Kleinere Seitensprünge, sozusagen Hüpfer, werden geduldet, wenn sie vor den Leuten verborgen werden. Nicht, dass sie verborgen sind, ist wichtig, sondern, das sie verborgen werden. Das zeigt den Leuten, dass man sie respektiert, und dann sind sie zufrieden. Als erstes aber bekommt der Held des bürgerlichen Dresdener Erziehungsromans einen Satz zu hören, aus dem alle die anderen Sätze folgen, die er noch zu hören bekommen wird. Dieser Satz lautet: Mach deinen Diener! So wird beizeiten das Rückgrat zurechtgebogen. In der Schule bemühen sich hervorragende Lehrkräfte – ein Zwerg mit wackelndem Riesenkopf, ein Fragezeichen mit Tropfen an der Nasenspitze –, Menschen zu erziehen nach ihrem Bilde. Ein Geschlecht von Krüppeln zieht ein Geschlecht von Krüppeln heran.
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Ja, aber. Das schöne Dresden hat seinen Kleinbürgerkindern auch etwas mitgegeben, um ihre Buckel zu kompensieren: die schönen Künste. Dresdens Bürger bewundern Raffaels Sixtinische Madonna, bevorzugen, wenn sie ins Theater gehen, die Oper, und da wieder die Opern von Wagner und Strauss. Das ist Tradition. Das erhält die Ordnung. Aber man kann eine Galerie nicht nur mit Sixtinischen Madonnen vollhängen, und ausschließlich Strauss und Wagner ergeben noch keinen Spielplan. Die Dresdener wären freilich zufrieden, nur ihren Wagner und ihren Strauss zu hören. Aber Mozarts Don Giovanni gibt es auch: Öffne dich! Nein. Bereue! Nein! Allerdings wird der Held vernichtet. Aber dazu muss die Hölle bemüht werden! Und was ist die Vernichtung Giovannis durch die Hölle gegen die Vernichtung der den Beschluss Bejubelnden durch Mozart! Und eine nichts Böses ahnende Kirchenbehörde ließ zu, dass Bach gespielt wird – das Magnificat zum Beispiel: Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles! Und darauf das wohlige Wiegen zur Expropriation der Expropriateure: Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes. Ich habe nie begriffen, wie dieser Bach einem tiefen Kerker entgehen konnte. Für die zarten jungen Seelen war derlei natürlich, vom Standpunkt der Dresdener natürlich, reines Gift! Das verstehst du noch nicht, sagte man. Ich erinnere mich, wie irgendeine ältere Person, wahrscheinlich ein Musiklehrer, mir die Stufenleiter des Verstehens erklärt hat: In der Jugend schwärmt man für Wagner, wenn man reifer wird, versteht man auch Strauss, und wenn man alt ist und abgeklärt und weise, dann liebt man Mozart. Diese Theorie war tückisch, weil sie als Naturgesetz verkleidet auftrat. Man war abgestempelt als unnatürlich, als entartet. Ich erinnere mich auch, wie ein gewisser Zuchardt, ein schlechter Schriftsteller, der in der Nazizeit mit einigen Stücken Erfolg am Dresdener Staatstheater hatte und jetzt Leiter der zentralen Schülerbücherei war, mir Brechts Dreigroschenroman vorenthalten wollte mit dem Bemerken, das sei ja wohl keine Lektüre für die Jugend. Ich bekam das Buch natürlich doch. Überhaupt war Brecht damals für uns der große neue Mann und noch nicht der Klassiker, als der er zu früh begraben wurde. Am Dresdener Theater wurde er damals, wie auch anderswo, kaum gespielt. Aber ich las alles, was nach und nach gedruckt wurde. Und die frühen Stücke bekam ich in der Landesbibliothek über die Fernleihe von einer freundlichen Frau, die glücklicherweise so wenig Dresdener Ordnungssinn besaß, dass sie sich nicht an meinem jugendlichen Alter und nicht einmal an meiner gepflegt schlechten Schrift auf den Leihzetteln stieß. Ich bekam auch Kafka zu lesen. Und Existenzialisten.
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Dann gab es in Dresden ein Gastspiel des Berliner Ensembles mit Mutter Courage. Ich stand eine Nacht lang, vom Samstag zum Sonntag, an der Kasse nach Karten an und zählte bis zur Vorstellung in der nächsten Woche die Tage. Am Abend ging ich zeitig ins Große Haus (das ehemalige Schauspielhaus, noch in den vierziger Jahren wiederhergestellt, beherbergt jetzt Oper und Schauspiel) und zählte die Minuten bis zum Beginn. Dann begann es. Es war einzigartig. Die Schauspieler bewegten sich und sprachen mit der größten Natürlichkeit, die Spielorte waren sparsam angedeutet, sodass die Phantasie die Andeutungen vervollständigen konnte, die Requisiten aber waren mit großer Sorgfalt ausgesucht und ganz echt. Ich hatte vorher die Theaterarbeit, das schön gedruckte Buch über die Aufführungen des Ensembles, das in einem Dresdener Verlag erschienen war, gründlich studiert, aber der intensive Realismus der Aufführung war dennoch eine Überraschung. Ich wurde auf der Stelle Brechtianer, und es gelang mir auch, nachdem ich vom Abitur wegen eines Spickversuches ausgeschlossen worden war und ein Jahr lang allerlei Gelegenheitsarbeit verrichtet hatte, mich von Brecht aus Dresden befreien zu lassen. Ein Jahr lang, bis zu seinem zu frühen Tod, durfte ich bei ihm lernen, was das ist, Theater. Bertolt Brecht war es auch, durch den wir die neue Zeit verstehen lernten, die begonnen hatte und die uns zuerst so fremd war wie sie Dresden fremd war. Inzwischen ändert sie auch diese Stadt und ihre Menschen. 2 Auf dem Prenzlauer Berg Der Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg grenzt nach Norden an Pankow, nach Nordosten an Weißensee, nach Südosten an Friedrichshain, nach Südwesten an den Bezirk Mitte und nach Westen an die Mauer: die Schwedter und die Norweger Straße entlang, ein und einen halben Kilometer von der Eberswalder bis zur Bornholmer Straße. Jenseits liegt der Bezirk Wedding. Pankow und Weißensee haben schon den Charakter von Vororten, mit vielem Grün und mit vielen Einzelhäusern statt der Häuserzeilen. Friedrichshain wäre als Bezirk vergleichbar, aber da dort mehr zerstört war, stehen dort auch mehr Neubauten. Die Stadtmitte ist die Stadtmitte, wie überall in den Städten der Welt, viel ist zerstört, Reste stehen um den Alexanderplatz und das Rathaus. Und der Wedding? Der rote Wedding ist nicht mehr rot – und Ausland. Vom Fernsehturm am Alexanderplatz kann man das alles übersehen mit einem Blick, vom Turmcafé in zweihundert Metern Höhe oder von der noch höher gelegenen Aussichtsplattform. Man übersieht es auch auf dem Stadtplan, wo die Häusermassen der verschiedenen Bezirke eingetragen sind in verschiedenen Farben und die Staatsgrenze mit einem roten Strich und violetter Schraffur.
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Den Stadtplan zu lesen, ist ein eigenes Vergnügen: Man verliert sich in den Quadraten, Rechtecken, Dreiecken, Rhomben und merkwürdigen Bögen, die den Straßenverlauf aufs Papier zeichnen. In der wirklichen steinernen Stadt kann man das nur, wenn man als Fremder in sie tritt, aus dem Bahnhof heraus, zum ersten Mal. Da geht man zögernd und unsicher einige Schritte, biegt um die erste Ecke, und der einzige Fixpunkt, der Bahnhof, ist aus den Augen und gleich darauf auch aus dem Sinn. Jetzt beginnt das Abenteuer. Man verliert sich in die fremde Stadt, in das Gewirr ihrer Straßen, von denen man nicht weiß, wohin sie einen führen werden. Man irrt durch ein Labyrinth, zu dem keine Ariadne einen Faden liefert und in dem hinter jeder Ecke der Minotaurus lauert. Dieses erste und unwiederbringliche Abenteuer halbwegs zu vergegenwärtigen, gelingt nur beim Lesen des Stadtplans: Auf dem Papier werden die vertrauten Straßen, durch deren Häuserschluchten man hundertmal gegangen ist, wieder fremd. Im Maßstab 1:25 000 geschrumpft sind sie wieder unbekannt, und was ihr Verlauf zeichnet, wird zur Graphik, wie jene des alten Chinesen, der nach dem letzten Strich den Pinsel aus der Hand gelegt hat und hineingetreten ist in sein Bild und der Welt verloren war. Von der Stadtmitte her, von drei Toren aus – dem Schönhauser, dem Prenzlauer und dem Königstor – führen, strahlenförmig auseinanderstrebenden, drei Alleen durch den Bezirk, die Schönhauser, die Prenzlauer und die Greifswalder. Die Schönhauser – der Berliner sagt nie Allee zu seinen Alleen, außer zur Karl-Marx-Allee, ehemals Stalinallee, die wieder nur die Allee heißt – , die Schönhauser also hat zwischen Dimitroffstraße und Wisbyer Straße Boulevardcharakter: Geschäft reiht sich an Geschäft, dazwischen Bars, Cafés, viele mit einem Vorbau auf die Straße hinaus, Restaurants und Kinos. Und in der Schönhauser ist bequem zu flanieren auch bei schlechtem Wetter. Die U-Bahn, die hier durch den Bezirk hindurch nach Pankow fährt, wird zwischen den Stationen Senefelder Platz und Dimitroffstraße zur Hochbahn, die über dem Mittelstreifen fährt. Darunter ist man vor Regen oder Schnee geschützt. Die Berliner sagen zur Hochbahn in der Schönhauser Magistratsschirm. Nicht nur deshalb ist es angenehmer, hier einkaufen zu gehen als etwa in der vornehmeren Karl-Marx-Allee im Stadtbezirk Friedrichshain. Hier, wo fast nur Altbauten stehen und die wenigen Neubauten, da sie nur Lücken füllen, sich einfügen ins alte Ensemble, ist alles eng beisammen, und die Anstrengung des weiten Fußmarsches durch die Badeanstalt – so nennt der Berliner Volksmund die gekachelten Häuser der ehemaligen Stalinallee – entfällt. Am Eingang zur Prenzlauer Allee ist ein altes Kaufhaus stehengeblieben. Nach dem Krieg wurde es der Sitz des Zentralkomitees der
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KPD, nur ein paar Schritte entfernt vom Liebknechthaus am Bülowplatz, jetzt Rosa-Luxemburg-Platz im Bezirk Mitte, wo 1929 die Schüsse des Blut-Mai gefallen sind. Jetzt beherbergt es das Institut für Marxismus-Leninismus. Weiter hinaus steht links, gleich um die Ecke von der Prenzlauer Alle, in der Belforter Straße, ein kleines, aus einem Kino umgebautes Theater: das bat, Berliner Arbeiter-Theater. Leider wird es kaum bespielt, obwohl das Berliner Theaterleben mit seinen ach so berühmten Instituten ganz gut die Pionierarbeit einer jungen Truppe brauchen könnte, zur Regeneration. Zweimal im Jahr spielen im bat einige Tage lang die Studenten der Hochschule für Musik und die Studenten der Schauspielschule Schöneweide ihre Studioinszenierungen. Noch weiter, die Prenzlauer hinaus, nach Nordosten, weg vom Zentrum, vorbei an der hässlichen Immanuelkirche und hinaus über die große Querverbindung, die Dimitroffstraße, liegt das Verwaltungszentrum des Stadtbezirks Prenzlauer Berg: der Rat des Stadtbezirks, untergebracht in altväterischen Verwaltungsgebäuden mit langen, düsteren, linoleumbelegten Korridoren. Im Osten reicht der Bezirk bis über die Leninallee mit einem Zipfel zwischen den Bezirken Weißensee und Friedrichshain an den Bezirk Lichtenberg heran: mit dem Gelände des Städtischen Vieh- und Schlachthofs. Das Bahngelände des S-Bahn-Rings ist hier erweitert zum Entladebahnhof. Die nähere Umgebung wird versorgt, außer natürlich mit Frischfleisch, mit Gestank. Das ganze weitläufige Gelände steht voller schmaler, endlos langer – man möchte sagen: Schuppen, wenn sie nicht massiv gebaut wären, aus roten Backsteinen, versehen mit allerlei Gründerzeitzierrat, der den rohen und nützlichen Zweck der Gebäude vergeblich zu kaschieren sucht. Die Straßen auf dem eigentlichen Prenzlauer Berg, dem Anstieg nördlich von der Wilhelm-Pieck-Straße und der Jostystraße – und besonders die kurze Hügelstraße zwischen Prenzlauer und Greifswalder Allee, die so heißt wie der ganze Bezirk und die links und rechts flankiert wird von den Mauern der Friedhöfe des Marienklosters und der Gemeinden St. Nicolai und St. Georg, über deren Krone die Spitzen der Grabtafeln und Grabmäler hinausragen und marmorne Engel mit Palmwedeln dem Spaziergänger memento mori zuwinken – , diese Straßen haben, besonders für den ersten Blick, der sie von einer Ecke aus trifft, etwas Pariserisches, und zwar zu jeder Jahreszeit, besonders aber im Winter. Auf Schritt und Tritt sieht man, um die Ecke biegend vor sich ein Bild, das Utrillo gemalt haben könnte; im Winter mit jenem unverkennbaren Weiß, das Becher bedichtet hat. Freilich, Bistros gibt es hier nicht, und auch die alten Berliner Eckkneipen sterben nach und
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nach aus und werden ersetzt durch Speiselokale und Cafés ohne Charakter. Zu den Schönheiten des Bezirks aber zählen seine grünen Plätze, die sich, wenn man durch das nicht enden wollende Gewirr der meist schmalen Straßen flaniert, plötzlich vor einem auftun: der Kollwitzplatz, der Helmholtzplatz, der Humannplatz, der Arnimplatz; und es gehört dazu das nachts im Schein der Bogenlampen glühende Frühjahrsgrün der Alleebäume. Wo aber ist in diesem Straßengewirr die Mitte? Jene Mitte des Labyrinths, in der der Minotaurus haust? Da wäre der ehemalige Wasserturm im Hügelgeviert zwischen Diedenhofer, Belforter, Kolmar- und Immanuelkirchstraße, ein mächtiger runder Bau aus gelben Backsteinen, wieder mit jenen schönen häßlichen Verzierungen, die für die Industriebauten des neunzehnten Jahrhunderts so typisch sind. Dieser Turm, heute friedlich bewohnt, hat eine finstere Vergangenheit. Nach 1933 benutzte ihn die SA für Verhöre und Folterungen. Zwölf Jahre hat es gedauert, bis Theseus diesen Minotaurus getötet hat. 3 Übern Harz Im Norden die Ebene, im Süden das Hochgebirge, dazwischen die sanften Mittelgebirge: das Elbsandsteingebirge pittoresk, das Erzgebirge melancholisch, der Thüringer Wald lieblich. Außer Ebene, Hoch-und Mittelgebirge gibt es den Harz. Der südliche Teil zwar hat den Charakter der anderen Mittelgebirge, aber der Nordharz ist etwas Besonderes. Kommt man von Norden her – sagen wir von Halberstadt nach Thale – steigt der Fels, zerschnitten von den Wassern, unvermittelt und schroff aus der Ebene. Aber das ist kein weicher Sandstein wie ihn die Elbe zwischen Schandau und Rathen zu witzigen Plastiken zersägt hat, sondern das ist harter Granit. Die Witterung ist rauh, die Erde arm, der Regen reichlich. Naturkatastrophen waren die Regel – bis eine Talsperre gebaut wurde. Unzugänglich und abweisend schien der Harz den Bewohnern der Ebene. Im Herbst waren die Berge wolkenverhangen, im Winter lagen sie schneebedeckt, und selbst in sanfteren Jahreszeiten schreckten Klippen und Schluchten und dunkler Urwald. So wurde in der Phantasie der Harz zu einem Bild von Natur selber: drohend und verheißend. Unübersehbar ist die Zahl der aufs Hexenwesen verweisenden Namen: Hexentanzplatz, Hexenmoor, Hexenwiese, Hexentaufstein, Hexenkanzel, Hexenteich, Hexenwaschbecken. Die Orgien der Hexen und Teufel, ob Phantasie oder Praxis, waren gemeinschaftliche Erinnerung der Gleichheit vorgeschichtlicher Zeit. Die rohen Zustände produzieren das
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naive Bild natürlicher Zustände: Lust, in jeder Klassengesellschaft verpönt als dem Herrschaftsprinzip und der Arbeitsmoral feindlich, knüpfte sich listig an alte heidnische Bräuche. Der Verdrängung durch die christliche Religion, die in der Kirche so schnell zu einer Herrschaftslehre verkommen war, widerstanden sie zäh. Weltliche und geistliche Herrschaft hatten schließlich allen Grund, gegen das Hexenwesen vorzugehen: Es war zuinnerst rebellisch. Sie taten es mit inbrünstiger Brutalität. Im Schloss zu Wernigerode, heute Feudalmuseum, ist eine metallene Maske zu sehen: Du sollst des Teufels Antlitz tragen hieß die Formel, mit der die glühende Maske der verstockten Hexe aufs Gesicht gedrückt wurde. 1589 wurden im reichsunmittelbaren Frauenstift zu Quedlinburg 133 Hexen an einem Tag verbrannt. Als in Deutschland die letzte Hexe verbrannt wurde, war Goethe 26 Jahre alt. Man schätzt die Opfer der Hexenprozesse im Laufe von drei Jahrhunderten auf zwei bis drei Millionen. Ob es noch Hexen gibt? Ich mag Hexen. Weil ich Hexen mag, begegne ich Hexen. Das schönste Kompliment, das sie mir machen können, ist, dass sie mich für den Teufel halten. Und was ist eine Hexe? Das ist die Definition, die ein gewisser Heinrich Carl Schütze in einer 1757 in Wernigerode erschienenen Vernunft- und schriftmäßigen Abhandlung von Aberglauben referiert: Eine Hexe ist eine solche Person, die mit dem Teuffel, der ihr in sichtbarer Gestalt erschienen ist, ein Bündniss, auch wohl gar vermittelst einer Unterschrifft mit ihrem eignen Blut gemacht hat. Er glaubt auch, dass sich der Teuffel mit einer solchen Weibsperson bisweilen fleischlich vermische. Wenn der arge Geist solches nicht eher thue, so thue er es in der Walpurgis Nacht auf dem Brocken oder Bocksberge. Daselbst mache er sich lustig, esse, trincke und tanze mit ihnen. Diese Definition ist alt. Heute sage ich: Hexen sind Frauen, deren Natur etwas verspricht von dem Zustand, in dem die Leute nicht mehr käufliche Waren produzieren, sondern sich selbst, den Menschen. Vom Bodetal zum Hexentanzplatz führt seit drei Jahren eine Seilbahn: die Personenschwebebahn Thale. Sechsundzwanzig farbige Kabinen für je vier Personen schweben in vier Minuten über eine Strecke von 720 Metern und überwinden einen Höhenunterschied von 250 Metern. Über eine Million Menschen reitet auf diese neumodische Weise Sommer für Sommer zum Hexentanzplatz. Trotz meiner Abneigung gegen das Laufen und meiner noch größeren gegen das Laufen bergan, sehe ich die Bahn mit gemischten Gefühlen. Aber die Autostraße ist schon Natur geworden, zweite Natur, und es wird nicht lange dauern, bis die Bahn es auch geworden ist. Die Phantasie aber kapituliert nicht vor der Technik. In Berlin auf dem Prenzlauer Berg ritt neulich an einem hellen Mittag in
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der Christburger Straße, kurz vor der Ecke zur verkehrsreichen Greifswalder Straße, ein kleines blondes Mädchen, vier oder fünf Jahre alt, auf einem Stock und rief: Ich bin eine liebe Hexe! Ich bin eine liebe Hexe! Ich bin eine liebe Hexe …
ÜBERSETZEN FÜRS THEATER Irgendwann Anfang der siebziger Jahre war T. gebeten worden, für das Mitteilungsblatt des Schriftstellerverbandes einen Bericht zu schreiben über eine Tagung der Berliner Übersetzer. Er sagt über diese Erfahrung: Ich lieferte meinen Aufsatz ab – und dann gings los. Der Generalsekretär des Verbandes, Herr Doktor Henninger, hat ihn sich vorgeknöpft. Er rief nicht etwa selber an, er ließ anrufen. Mehrmals. Ich sollte dieses ändern und jenes streichen. Das Wort deutsch kam zu oft vor. Gerade war doch die DDR anerkannt worden von so vielen Staaten! Aber sie hatte eben nur die deutsche Sprache und keine andere. Es war absurd. Allerdings muß ich zugeben, dass es tückisch gewesen ist von mir, die Zitate auszusuchen, die ich ausgesucht habe. Alle unangenehm, aber alle schwer angreifbar. Es ist dann etwas gedruckt worden. Ich habe keinen Beleg mehr. Man könnte das Gedruckte in einem Archiv suchen und mit dem Typoskript vergleichen. Aber wozu der Aufwand, man erführe nur, was man weiß: sie hatten Angst, und ihre Gehilfen waren dumm und brutal. Andererseits – es war mir damals nicht klar, geschweige, dass ich es so gemeint hätte, aber heute kann ich es sehn. Ich muss zugeben, dass es, zwar verschleiert und schwer zu fassen, so etwas wie eine Kriegserklärung gewesen ist, und die Reaktion darauf, so dumm sie war, nicht verwunderlich. Die Referenten, die eingangs erwähnt werden, waren Maik Hamburger, Übersetzer aus dem Englischen (z.T. gemeinsam mit dem Regisseur Adolf Dresen) und Dramaturg am Deutschen Theater Berlin; Wolfgang Schuch, Leiter des Bühnenvertriebs im Henschel-Verlag; und Thomas Reschke, Übersetzer aus dem Russischen.
Die Tagung der Übersetzer-Sektion zur Frage der Übersetzung von Bühnenstücken (am 20.2. in der Möwe, dem Berliner Theater-Club) wurde eingeleitet von drei kleinen Referaten der Kollegen Hamburger, Schuch und Reschke. Die einander sowohl ergänzenden als widersprechenden Referate setzten vor die Diskussion einen Ausgangspunkt. Als ihre Drehpunkte ergaben sich der Begriff der Theaterspezifik und, das eine Genre übergreifend, ein historischer Begriff von Übersetzung. Anknüpfend an Referate und Diskussion notiere ich einige Überlegungen: Der Begriff der Theaterspezifik zielt nicht auf eine besondere Art zu übersetzen, sondern auf die Beachtung der besonderen, eben theaterspezifischen, Eigenart des Originalwerks. Die freilich ist nicht zu reproduzieren ohne einen Begriff von Theater. Ein klassisches Volkstheater wie andere europäische Völker hat das deutsche nicht gehabt, die Idee der bürgerlichen Nationalbühne blieb Traum. Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind, heißt es in Lessings Hamburgischer Dramaturgie; und Goethe schrieb 1813, mit der Erfahrung als Direktor des Weimarischen Hoftheaters, daß es gar kein deutsches Theater geben werde noch geben könne:
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Das Theater ist in dem modernen bürgerlichen Leben, wo durch Religion, Gesetze, Sittlichkeit, Sitte, Gewohnheit, Verschämtheit und so fort der Mensch in sehr enge Grenzen eingeschränkt ist, eine merkwürdige und gewissermaßen sonderbare Anstalt. Zu allen Zeiten hat sich das Theater emanzipiert, sobald es nur konnte, und nie war seine Freiheit oder Frechheit von langer Dauer. Es hat drei Hauptgegener, die es immer einzuschränken suchen: die Polizei, die Religion und einen durch höhere sittliche Ansichten gereinigten Geschmack. Die gerichtliche Polizei machte den Persönlichkeiten und Zoten auf dem Theater bald ein Ende. Wenn auch negativ, faßt Goethes Darstellung doch den Zusammenhang der Möglichkeit des Theaterspiels vor der Menge mit der Freisetzung individueller Kräfte in der Gesellschaft. Solche Freisetzung war Sache der bürgerlichen, war sie erst etabliert, nicht. Das ist Sache einer Assoziation, worin, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. 1951 schloß Brecht eine Rede auf dem Deutschen Kulturkongreß in Leipzig mit dem Satz: Die Losung der Klassik gilt noch immer: Wir werden ein nationales Theater haben oder keines … Erst für ihn, einen sozialistischen Nationalautor, war das Theater Ausgangspunkt seiner Arbeit, und auch er mußte dieses Theater erst sich herstellen. Ein etabliertes Volkstheaters, wie es das des englischen Nationalabsolutismus war, eines, das ein Autor wie Shakespeare vorfand, eines, das ihn sich bildete, entwickelt sich erst. Weil das Theater in Deutschland kaum je mehr gewesen ist als ein verlängerter Arm der Literatur, und ein schwacher dazu, ist das Erste, was heute und hier gebraucht wird, auch vom Übersetzer, das Bewusstsein von Theater als einer körperlichen Kunst. Goethe, in jenem Aufsatz, schrieb, daß leider die Freunde der Bühne genötigt waren, diese der höhern Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben. Sie behaupteten, das Theater könne lehren und bessern und also dem Staat und der Gesellschaft unmittelbar nutzen, die dramatische Kunst wurde hingedrängt nach dem Sittlichen, Anständigen, Gebilligten, und wenigstens scheinbar Guten. Was Goethe 1813 negativ formuliert, und ohne Hoffnung, findet sich, als ein Programm, 1948 bei Brecht: Das Theater, schreibt er im Kleinen Organon, benötige keinen anderen Ausweis als den Spaß, diesen freilich unbedingt. Keineswegs könnte man es in einen höheren Stand erheben, wenn man es z. B. zu einem Markt der Moral machte … Nicht einmal zu lehren sollte ihm zugemutet werden, jedenfalls nichts Nützlicheres, als wie man sich genußvoll bewegt, in körperlicher oder geistiger Hinsicht. Nicht zufällig, entnimmt man diesem Programm, ist es Brecht gewesen, der zur Bezeichnung des Besonderen
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der Sprache des Theaterstücks einen Begriff zur Verfügung gestellt hat: den Begriff gestisch. Er erklärt ihn an einem Beispiel: Der Satz der Bibel, ‚Reiße das Auge aus, das dich ärgert, hat einen Gestus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da‚ ‚das dich ärgert‘ eigentlich noch einen anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung.Rein gestisch ausgedrückt heißt der Satz (und Luther, der ‚dem Volk aufs Maul sah‘ formt ihn auch so): ‚Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus!‘ Man sieht wohl auf den ersten Blick, daß diese Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist. Der erste Satz enthält eine Annahme, und das Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall voll ausgedrückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat. Neue Übersetzungen, die diesem Begriff von Theatersprache sich unterstellen, haben nun, durch Abweichung vom Gewohnten, Fragen provoziert. Die Sprache der überkommenen dramatischen Literatur – von Lessing bis Hofmannsthal – hat ein Erwartungsschema gesetzt, das nicht mehr erfüllt wird. Schauspieler, und ihnen folgend die Zuschauer im Theater, kommen damit schnell zurecht. Wer nur liest, wer den Bereich des körperlichen Ausdrucks nur sich vorstellen muss, hat es schwerer, gegen seine Lesegewohnheit, Irritationen zu überwinden. Es ist auch die Frage gestellt worden, was es überhaupt nötig oder möglich mache, Stücke, die in klassischen Übersetzungen vorliegen, wie die Shakespeares in der von August Wilhelm Schlegel, neu zu übersetzen. Die Antwort: Schlegels Shakespeare-Übersetzung – entstanden im Prozeß der Herausbildung der bürgerlichen Nationalliteratur, neben Voss’ Homer, Hölderlins Sophokles und Wielands Horaz die klassische Übersetzungsleistung in diesem Prozeß, ermöglicht durch die Entwicklung der deutschen Literatursprache von Klopstock bis Goethe und Schiller, und die Durchsetzung des Blankverses im deutschen Drama von Nathan über Carlos und Iphigenie bis Wallenstein –, diese Übersetzung hat ihren historischen Ort in der bürgerlichen Gesellschaft, und, im Gegensatz zu Originalwerken, beginnt sie zu veralten und abzusterben. Neuübersetzungsversuche bürgerlicher Zeit haben nie einen wesentlichen Schritt über Schlegel hinaus tun können; fast alles war und ist Verschlimmbesserung; bis hinab zu jenem Hans Rothe, den die Kritik Paul Rillas für unsere Theater unmöglich gemacht hat. Aber noch ist Brechts Begriff des Gestischen zu richten gegen den sogenannter Sprechbarkeit, wie Rothe sie exemplarisch vertritt. Dieses, auch hier und heute noch auftauchende Feuilletonwort bezeichnet den Einbruch nivellierenden Jargons in die Sprache des Theaterstücks. Das Geschnatter des Boulevards, Konversation, hat nichts gemein mit der Sprache der klassischen bürgerlichen noch
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mit der der sozialistischen Stücke. Die neuen Übersetzungen entstehen im Prozeß der Herausbildung einer sozialistischen Nationalliteratur; und da das Theater nicht mehr nur der verlängerte Arm der Literatur sein will, entstehen diese Übersetzungen im Prozeß der Herausbildung eines sozialistischen Nationaltheaters. Das ist es, was den Übersetzer zu Neuerungen drängt. Sie werden möglich durch die Sprache Brechts als Stückeschreiber (er übernimmt das englische Wort playwright) wie seine Arbeit als Theaterneuerer, und durch die Entwicklung eines sozialistischen Versdramas in der DDR, durch Heiner Müller und Peter Hacks. Was den Gegenstand hier zu begreifen sucht, ist nichts anderes als ein historischer Begriff von Übersetzung. Dieser meint allerdings eine besondere Art zu übersetzen: besonders je nach historischem Ort, besonders je nach Stand eines Aneignungs-prozesses. Denn die Einbürgerung eines fremden Autors in die eigene Literatur vollzieht sich, wie alles, in Widersprüchen, die miteinander kämpfen und einander ablösen. Goethe schon hat einen historischen Begriff von Übersetzung entwickelt; seine Sätze, in den Noten und Abhandlungen zum Diwan, überschrieben Übersetzungen, sind noch immer das Beste, was dazu gesagt worden ist: Es gibt dreyerlei Arten Übersetzung. Die erste macht uns in unserm eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt; eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste. Denn indem die Prosa alle Eigenthümlichkeiten einer jeden Dichtkunst völlig aufhebt und selbst den poetischen Enthusiasmus auf eine allgemeine Wasser-Ebene niederzieht, so leistet sie für den Anfang den größten Dienst... Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich im reinsten Wortverstand die parodistische nennen... Weil man aber weder im Vollkommenen noch Unvollkommenen lange verharren kann, sondern eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen muß, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an Stelle des andern gelten solle. Diese Art erlitt anfangs den größten Widerstand; denn der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, giebt mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heran bilden muß... Hier hat Brechts Vorschlag, den kleinen Kreis der Kenner zu einem großen zu machen, seine Ansatzstelle. Er ist gerichtet gegen die alte sozialdemokratische Losung Die Kunst dem Volke. Denn wir brauchen kein Bildungstheater, sondern, wie Brecht gesagt hat, ein Umbildungstheater.
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IMMER WARTET IM TEXT ETWAS AUF SEINE BEFREIUNG Sebastian Kirschs Befragung des Übersetzers T. hat, in einer schnellen ersten Fassung, in der Monatsschrift Theater der Zeit 4/2011 gestanden. Für dieses Buch wurde das Gespräch ausgearbeitet. Zum Thema vgl. auch T.s Buch Der fröhliche Sisyphos/Der Übersetzer, das Übersetzen, die Übersetzung, Recherchen 84, Berlin 2011. Die Buchreihe, die T. und seine Frau beim Stroemfeld-Verlag in Frankfurt/M. seit 2001 herausgeben, heißt Alt Englisches Theater Neu. Bisher sind acht Bände erschienen.
K. Du übersetzt seit mehr als fünfzig Jahren – Stücke von Shakespeare und von Zeitgenossen Shakespeares, mit Ursula Ludvik Komödien von Molière –, und ebensolange reflektierst du, was das heißt, übersetzen. Du hast auch viele Gedichte übersetzt, von Williams, von Auden z.B., aber hier reden wir vom Übersetzen fürs Theater. Und das ist verflochten mit deiner Arbeit als Regisseur – was man den Texten anmerkt, ihrer Körperlichkeit, dem Gehalt an Gesten. Wie hast du angefangen? T. Unschuldig. Der Grund war das Ungenügen, das ich empfand an den vorhandenen deutschen Versionen. Das erste Shakespearestück, das ich inszeniert habe, war Maß für Maß. Also die Geschichte eines Kampfes um die Staatsspitze. Stalin, nach seiner Konterrevolution der neue Zar, hatte gelehrt, wie man oben bleibt und potentielle Rivalen beizeiten ausschaltet – genauso exemplarisch wie Herzog Vincentio. Vincentio allerdings unblutig, also sozusagen vorbildlich. Aber auch er immer auf dem Grund der Macht über Leben und Tod. K. Du redest von einer Spiegelung der Struktur der Gesellschaft? T. Genau. Ich konnte das sehn, weil ich betroffen war. Das Modewort Betroffenheit gewinnt Sinn. Nicht etwa, dass ich wirklich Durchblick gehabt hätte damals! Das war noch in den sechziger Jahren. Genau hinzusehn, um Durchsicht zu erlangen, darum gings. Konkrete Betroffenheit ist Ursprung eines Blickes, der Neues wahrnimmt. Apropos neuer Blick. Als Ende der sechziger Jahre von Jan Kotts epochemachendem Buch Shakespeare unser Zeitgenosse eine zweite deutsche Auflage erschien, schrieb er ein Vorwort, in dem er den Welterfolg damit erklärt, dass es an der Zeit gewesen sei, das zu schreiben, und dass jeder andere das auch gekonnt hätte. Allerdings nur jeder aus Osteuropa. K. Ich glaube, ich verstehe. T. Ich habe Maß für Maß ja zweimal gemacht, ‘66 und ’79, in Ost und West. In Eisenach und in Stuttgart. Zum Beispiel war bei der Aufführung in Eisenach die Dialektfärbung der Prosa der Unterklasse – der von Adolf Arsch/Pompejus Bum und der des Polizisten Ellbogen/Elbow – aus der Hauptstadt der DDR, also berliner Jargon. Und in Stuttgart wurde geschwäbelt. Das sind schon politische Entscheidungen. Und ich
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habe einmal für und einmal gegen den Herzog votiert – natürlich nicht durch sympathische oder unsympathische Darstellung der Figur. Jede Figur muss behauptet werden wie sie ist. Nein, durch den Blick auf die Auswirkung ihres Handelns. Shakespeares Ambivalenz ist ja enorm, man kann ein Stück so lesen und man kann es so lesen, man kann es so zeigen und man kann es so zeigen. Entgegengesetzt. Vincentio als idealer Herrscher, ein Vorbild – oder Vincentio als Produzent von Friedhofsruhe. Gegenwärtige Betroffenheit war produktiv in beiden Deutschländern. Sie war und ist keine Festlegung, in keiner Weise. Sie bewirkt nur, dass mit dem alten Text gegenwärtige Probleme verhandelt werden im Theater, verhandelt mit dem Publikum. Eine simple Voraussetzung ist allerdings, dass man dabei das Gefühl haben muss, zu wissen was da steht bei Shakespeare. Die Übersetzungen aber widersprachen einander. Das war der Grund für den unschuldigen Anfang. Mit den zwei Bänden des großen Langenscheidt, mit Alexander Schmidts Shakespeare-Wörterbuch und später mit dem OED – ich hatte Glück, ein Mitarbeiter des OED arbeitete beim Auslandssender der DDR, von dem hab ich die Bände bekommen – , damit hab ich angefangen zu übersetzen. K. Der überlieferte Standard war immer noch Schlegel-Tieck. T. Ja, Shakespeare als dritter deutscher Klassiker. Auch schon antiquarisch. Aber Schlegel, und zwar Schlegel allein, war der große Übersetzer, der, der wirklich einen Standard gesetzt hat. Schlegel kommt noch aus dem 18. Jahrhundert. Nach Lessings Signal von 1759, dem 17. Literaturbrief, gab es das erste Übersetzungsunternehmen, von Wieland, ab ’61, in Prosa. Das hat auf die deutsche Literatur und auf die deutsche Sprache überhaupt große Wirkung gehabt. Die ersten Stücke Goethes, Lenz’, Schillers, wurden geschrieben mit diesem Eindruck im Kopf. Goethe hat zu Eckermann gesagt Wielanden … verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil. Heute merkt niemand mehr, dass es Wörter gibt, die aus Wielands Shakespeare ins Deutsche gekommen sind, z.B. aus Tempest das Wort Luftgeist. Dann gab es auch schon bald das erste deutsche Stück in Blankversen, Nathan der Weise, wieder von dem Pionier Lessing. Die nächsten waren von Schiller und von Goethe, Karlos und Iphigenie, erst in Prosa geschrieben, dann versifiziert. Wenig später hat Schlegel angefangen, Shakespeare zu übersetzen. In deutsche Blankverse. Er hat etwa die Hälfte der Stücke geschafft. K. Blankverse fürs Theater waren damals ungewöhnlich. T. So ist es. Eine Neuerung für deutsche Theater. Zur gleichen Zeit gab es, auch in Versen, die ersten Übersetzungsversuche eines Voss‘schen Juniors für Goethes Weimarer Bühne. Der junge Mann war in Weimar Gymnasiallehrer, und später hat er den Vater dazu bewegt, auch mitzu-
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machen. Die Vossischen Übersetzungen sind heute wieder interessant. Nicht fürs Theater, aber für Übersetzer. Allgemeine kulturelle Wirkungsmacht gewinnt aber erst dreißig Jahre später Ludwig Tiecks Gesamtausgabe. Seine Tochter Dorothea und Wolf Baudissin hatten die andere Hälfte der Stücke übersetzt und versucht, den Standard von Schlegel zu halten. Was schon nicht mehr gelang. Der Schlegel-Tieck ist neben SchillerundGoethe das Prunkstück des bürgerlichen Bücherschranks und der Stadt- und Staatstheater geworden. Und nach der deutschen Einigung – statt durch eine Revolution durch einen Krieg gegen Frankreich – endet es im Theater bei Wildenbruchs wilhelminischem Pathos. Was Shakespeare auf Deutsch anlangt, gab es daneben und danach immerzu Verschlimmbesserungen – Schopenhauers Wortfindung auf die Shakespeareübersetzungen angewendet. K. Siehst du eine Parallele zwischen der Geschichte des ShakespeareÜbersetzens und der des Theaters? Hat nicht das 19. Jahrhundert etwas hervorgebracht, was man als Einfühlungsübersetzungen bezeichnen könnte? und wir mit denen spätestens seit dem Bruchpunkt Brecht Probleme haben? T. Ich weiß nicht. Die Formel ist, glaub ich, zu schnell, zu kurzschlüssig. Sie vereinfacht. Theater und Literatur sind in Deutschland spät und mühsam zusammengekommen. Du kennst den kleinen Aufsatz von Goethe, der natürlich zu seinen Lebzeiten weggesteckt blieb in dem, was er seinen Walpurgissack genannt hat. Den hab ich, schon aus Bosheit, immer wieder gerne zitiert. Da dekretiert er, mit der Erfahrung als Theaterdirektor, dass es deutsches Theater eigentlich gar nicht gebe und gar nicht geben könne. Später wurde in der Literatur erstmal der Naturalismus aufgeboten gegen Wildenbruch. Kaiser Wilhelm nannte den Naturalismus Rinnsteinkunst, und Brahm machte damit neues Theater. Und dann gab es, zur Jahrhundertwende, so etwas wie eine Besinnung auf die große literarische Tradition. In sehr verschiedener Weise: Karl Kraus, George und sein Kreis, Borchardt und Hofmannsthal. Sie greifen den literarischen Verfall an und den Sprachverfall überhaupt. Kraus schneidend polemisch. Den Naturalismus haben sie allerdings verachtet und als Teil des Verfalls angesehen. K. Kraus nicht. T. Du hast recht. Aber dass Gerhart Hauptmann aus seinem Heimatdialekt und dann auch aus dem Jargon der neuen Reichshauptstadt grandiose Theatermusiken komponiert hat, und nicht etwa nur den Alltag nachgestottert, das ist erst mehr als hundert Jahre später theaterwirklich geworden – etwa in Schleefs Frankfurter Inszenierung von Vor Sonnenaufgang. Rudolf Borchardt, von seinem nationalkonservativen Standort
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aus, hat wirkliche Einsicht in die Geschichte der deutschen Sprache gewonnen. Nationale Existenz, sagt er, besitze man nur durch das Quantum an Nation, das in der Sprache zu äußern ist, und aus ihr heraus lebendig entnommen und ausgeteilt werden kann. Er beklagt, 1927 in einer Rede an der Münchner Universität, die mit Schöpferische Restauration überschrieben ist, das tragische Schicksal der deutschen Sprache, weil die Schriftsprache ein künstliches Erzeugnis war und geblieben ist, das gelehrt und erlernt werden musste und keine Wurzel hat, während das gesprochene Wort seit dreihundert Jahren abdorrt und nicht mehr in die Literatur aufsteigt. Das ist so seit Luthers Redaktion seiner Bibelübersetzung. Es gab dann immer mal wieder Versuche, Ansätze, bei Lenz, beim jungen Goethe, besonders energisch bei dem Frühkommunisten Büchner. Aber folgenlos. Büchner blieb ja ganz unbekannt, bis ins nächste Jahrhundert. Am Rande gab es Hebel im alemannischen und Voß im plattdeutschen Sprachraum, bei denen der Dialekt in die Schriftsprache gewirkt hat. Aber erst im nächsten Jahrhundert, nach dem ersten Weltkrieg, mit Brecht, haben gesprochene Sprache und literarische Form wirklich zueinander gefunden. Ein historischer Schritt. Er ist auch wahrgenommen worden. Brechts Terzinen aus Mahagonny hat Karl Kraus bewundert und ins Programm seiner Lesungen aufgenommen. Seit Brechts Sprache hat auch die Shakespeareübersetzung wieder Boden unter den Füßen. Aber realisiert hat sich das erst nach dem zweiten Krieg. In der DDR. Brechts Theater und die neuen Versstücke von Hacks, Lange, Heiner Müller waren der Grund. Literatur und Theater sind auch in Deutschland endlich zusammengetroffen – wenn auch gleich wieder getrennt worden durch die Politurkolik. Verbote, Verbote, Verbote. K. Politurkolik – Kulturpolitik. Das Wortspiel bindet an Goethes Begriff der Politur die Koliken, wie sie die kulturpolitischen Muskelspiele begleitet haben – schön. Und Müllers Shakespeareübersetzungen – T. – haben zum ersten Mal nach Schlegel wieder einen Standard gesetzt. K. Weder Germanistik noch Anglistik, und schon gar nicht die Theaterwissenschaft haben diese Entwicklung untersucht, oder? T. Das kann man ein Desiderat nennen, wie die Gelehrten sagen. Oder ein Desaster, wie man im Theater sagt. Vor hundert Jahren, 1911, hat aus dem Georgekreis der noch junge Friedrich Gundolf eine Geschichte der deutschen Bemühungen um Shakespeare geschrieben, und sein Buch Shakespeare und der deutsche Geist ist immer noch der einzige Versuch einer zusammenhängenden Darstellung. Aber den Stand der Übersetzungsbemühungen von damals verrät sein Versuch, die deutschen Fassungen Schlegels, Baudissins und Dorothea Tiecks zu revidieren, eine heillose Unternehmung! Karl Kraus hat sie vernichtet.
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K. Könntest du noch etwas sagen zu der widersprüchlichen Entwicklung in der DDR? Heute erscheint das ja immer als ein und dieselbe Soße. T. Ich könnte. Und nicht ohne Unlust kann ich. Also: Der emanzipatorische Ansatz hat sich, gegen alle Unterdrückungsmaßnahmen, lange lebendig gehalten. Reste hielten sich sogar noch in dem Aufruhr ’89, konnten ihn aber natürlich nicht bestimmen. Am Anfang war er vehement. Die nach dem Krieg aus dem KZ, aus Zuchthäusern und aus westlicher Emigration in Ämter gekommen sind, haben einiges bewirkt. Entschieden haben allerdings letztlich die, die aus Russland wiederkamen, die die harte Schule des neuen Zarenreichs überlebt hatten. Sie waren die Statthalter der Übermacht. Aber es hat die energische Entnazifizierung in Justiz und Polizei, Erziehung und Bildung gegeben, und, damit zusammenhängend, eine große soziale Mobilität. Der Wiederaufbau und die Notwendigkeit, die industrielle Disproportion im geteilten Deutschland halbwegs auszugleichen, hatte Initiative nötig. Und die war nicht zu administrieren. Leute zogen in den Wald, fällten Bäume, bauten Baracken und dann ein Stahlwerk oder eine Talsperre oder eine Erdölraffinerie. Am Anfang war auch die Übernahme von Methoden nachholender Modernisierung aus Russland nicht sinnlos. Noch in den fünfziger Jahren begann dann eine Reform. Nötig, ja – aber problematisch genug, denn damit begann auch, in der streng hierarchischen Struktur dieser absolutistischen Arbeitermonarchie – schon 1938 Brechts Begriff für Russland –, der Aufstieg der Jasager. Ein großer Teil der zweiten Generation wurde verschlungen von der Karriere. Versuche zu weitergehenden Reformen, nach der Absicherung durch den Mauerbau, endeten in dem Zweikampf von Ulbricht und seinem Filius Honecker. Hintergrund war Chrustschows Sturz und Breshnews Inthronisierung, der Beginn von dem, was später euphemistisch Stagnationsperiode genannt worden ist. In der CSSR – unter den Satelliten das andere Land mit einer entwickelten Ökonomie – mündeten die Reformversuche 1968 in den Prager Frühling. Nach dem Einmarsch war klar, es gibt keine Veränderung von der Peripherie des Imperiums aus. Schließlich war der viel zu späte Versuch der Zentrale zu einem Umbau, Perestroika, auch für die DDR der Schritt in den Untergang und die Heimkehr ins gute Alte des Nachbarstaates. Ende des Exkurses. K. Der Exkurs zeigt den Grund, auf dem sich deine Arbeit bewegt hat. Was waren die Auswirkungen auf das Übersetzen? Gab es direkte Auswirkungen? T. Indirekte. Das Verbot oder die lange verspätete Zulassung der neuen Stücke konnte ihre Wirkung auf das Übersetzen nicht verhindern, auch wenn sie nicht nur auf dem Theater nicht gezeigt, sondern auch nicht
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gedruckt wurden. Wir kannten sie. Anstoß oder Anlass war ja fast immer das Theater. Eine der ersten Unternehmungen war ein Hamlet, den Maik Hamburger mit dem Regisseur Adolf Dresen übersetzt hat. 1964, zu Shakespeares 400. Geburtstag, hat Dresen das Stück in Greifwald inszeniert. Gleich gabs Querelen. Die Intention hinter den neuen Übersetzungen und hinter ihrer Inszenierung war die gleiche wie die hinter den neuen Stücken. Gegenpol zu dieser Aufführung war Mädes Hamlet in Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz. Hans Dieter Mäde, damals dort Generalintendant, dann in Dresden, später lange Jahre DEFA-Chef, war der Liebling von Ulbricht. Er kam aus der Schule von Valentin, Lang und Gaillard, und vertrat, was damals die Gorkische Position genannt wurde. Die hatte mit Gorki so viel zu tun wie der Maximus-Lenismus mit Marx und Lenin. Wir haben uns immer lustig gemacht, Müller und ich, wie in Mädes Nachtasyl-Inzsenierung der Satz Der Mensch – wie stolz das klingt mit ergriffenem Bibber gesprochen wurde, Gorki als Wiederkehr Wildenbruchs. Müllers Kurzfassung: Mensch, wie das klingt. K. Zur Sache – die Übersetzung. T. Jaa – indirekte Auswirkung. Es gab in der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren schon einen Shakespeareübersetzer, einen älteren Herrn in Schwerin, Rudolf Schaller, der ganz in der Tradition der Verschlimmbesserungen weitermachte. Aber die größte DDR der Welt hatte mit ihm ihren eigenen Shakespeareübersetzer. Der hat aus Konkurrenzgründen mitgemischt bei der kulturpolitischen Schlacht gegen Dresen. Was ihn nicht hinderte, nur ein paar Jahre drauf, als er die Reisemündigkeit erreicht hatte, durch die andere deutsche Hälfte zu fahren und sich mit den dort einschlägigen Reden zu verkaufen. Oder , ein anderes Beispiel, zehn Jahre später, als ich für das Weimarer Theater Merchant of Venice übersetzt hatte – die Premiere war während der jährlichen Shakespearetage, und die Übersetzung wurde im Vorstand der Shakespearegesellschaft, die ja der Veranstalter war, diskutiert. Der Weimarer Intendant war Vorstandsmitglied und der Direktor der Zentralbibliothek der deutschen Klassik, Dr. Hans Henning, war Vizepräsident. Sein Einwand war: Shylock, na gut, das versteht sich – aber das alle jetzt jüdeln! Das ist nicht einmal wirklich antisemitisch gewesen, er wollte nur vorsichtshalber etwas gesagt haben gegen einen Text, unter dem der belastete Name stand. Der Berliner Anglistikprofessor Anselm Schlösser, auch im Vorstand, konnte das abbiegen. Der war ein Theaterfan. Er sah sich meine Aufführungen im BE wieder und wieder an, und saß immer gut sichtbar in der Mitte der ersten Reihe, weil er schwerhörig war. Er hat auch sonst viel getan für die neuen Übersetzungen, Absicherung durch Gutachten
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und sowas. Oder, ein anderer Zwischenfall, als ich einen Bericht schreiben sollte für das Mitteilungsblatt des Schriftstellerverbandes über eine Tagung der berliner Übersetzer zur Frage der Übersetzung von Bühnenstücken, nahm sich der Generalsekretär des Gesamtverbandes, Herr Doktor Henninger, meinen Bericht zur Brust und ließ immer wieder anrufen – er rief durchaus nicht selber an – , dass ich dies ändern und jenes streichen soll. Da hatte ich auch die Goethestelle zitiert, von der schon die Rede war, über die Unmöglichkeit des Theaters, durchaus tückisch, Goethe war als Nationalheros schwer anzugreifen. Und ich hatte die neuen Versstücke als Maßstab bestimmt. Naja. Auf solchen Schauplätzen spielte sich das ab. Albern. K. Und was war der Anteil der Übersetzung bei den Versuchen, die Intention, von der du sprichst, im Theater umzusetzen? T. Anteile. Viele. Plural. Der neue Zugang zu den überlieferten Texten hat einen ganzen Berg abgetragen von Dingen, die vorher übersehen wurden, oder als veraltet abgetan. Die Vorurteile in den Übersetzungen und ihr Zusammenhang mit späteren Theaterkonventionen wurden einsehbar. Ein Beispiel: Wie hartnäckig hat sich der Begriff Balkonszene, aus dem 19. Jahrhundert, gehalten für das nächtliche Duett von Romeo und Julia nach dem Fest bei Capulets! Wenn Romeo den Balkon erreichen kann, und der Dialog würde intim, wär das Stück sehr viel kürzer – wenn man dem Handlungsziel der Figuren folgt und nicht der Konvention. Beim Gesang dieses Duetts muss eine große Entfernung überbrückt werden, so ist es geschrieben. Und was ist die Mauer zum Garten der Capulets, über die Romeo steigen muss? Im Globe wird Romeo im Parterre aufgetreten sein, unter den Zuschauern. Die Mauer, über die er klettert, war dann die Rampe. Wenn Mercutio und Benvolio nach ihm suchen, stehn sie auch bei den Zuschauern unten, und er hat sich versteckt hinter einer Säule auf der Bühne. Sie rufen nach ihm und hänseln ihn. Und wenn sie aufgeben und sagen, dass sie jetzt schlafen gehn, dann ist das für die Zuschauer um sie herum eine Aufforderung, auch zu gehn: Hier passiert nichts mehr, der Protagonist ist verlorengegangen. Aber das Publikum hat ja gesehen, dass er sich nur versteckt hat. Julia erscheint dann weit oben im Fenster des Turms; das Globe hatte hinter der Spielfläche einen Turm. Die Aufgabe für die beiden Schauspieler war Heimlichkeit. Leise singen, und mit dem Gesang dennoch die Entfernung überbrücken. K. Aber du meinst keine historistische Rekonstruktion – da gibt es ja jetzt auch eine Mode. T. Um Gotteswillen, nein! Es finden sich nur in allen älteren Verdeutschungen Bühnenanweisungen zur Örtlichkeit und zu Handlungen, die
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es in den Erstdrucken nicht gibt. Zusätze, dem gesprochenen Text abgezogen und also überflüssig, diktiert von späterer Bühnenkonvention und das Original verzerrend. Die sehr seltenen Anweisungen in Erstdrucken sind zwar Beschreibungen, wie tatsächlich gespielt worden ist. Die gabs, wenn – Ausnahmefall – Mitschriften der Vorstellung in Druck gegeben wurden, redigiert für den Leser. Also Raubdrucke, und nicht die von der Truppe verkauften Manuskripte des Theatergebrauchs, wie üblich. Diese Ausnahmen sind natürlich heute sehr informativ – aber um Historismus geht es nicht. Die Eigenheit der Stücke, ihre eigentümliche Formung, war interessanterweise gegenwärtig brauchbar. Sie hat die ganz gegenwärtigen Intentionen genährt. Es fängt schon an mit den überlieferten Personenverzeichnissen. Die sind vom Regenten über die Standespersonen bis zu den Plebejern streng hierarchisch geordnet. Was du treffend Spiegelung von Struktur genannt hast, wird darin sehr deutlich. K. Der frühe Absolutismus auf der Insel und der realsozialistisch genannte im Osten. T. Ja, ja. Der etwas spätere französische Absolutismus war Vorbild für ganz Europa geworden und war es lange geblieben. Nach 1789 sind seine Köpfe gerollt. In Russland, einundeinviertel Jahrhundert später, wurde erschossen statt geköpft, aber die russische Revolution hat mit einem Zaren geendet wie die französische mit einem Kaiser. Dieses neozaristische Russland hat eine Zeit lang das Muster für halb Europa abgegeben, wie lange vorher Frankreich für ganz Europa. In der DDR hieß der 1.Sekretär der Bezirksleitung allgemein der Bezirksfürst. Nach dem Dienst auch im Apparat. Im Dienst galt natürlich die Rangordnung. Die Reihenfolge der Auftritte auf der Tribüne oder der Erwähnung in den Zeitungen am nächsten Tag war genau festgelegt. Wie die Abfolge im alten englischen Personenverzeichnis. Sag ich als alter Ossi dem jungen Wessi. K. Der junge Wessi bedankt sich beim alten Ossi. Erzähl weiter. T. Da ist nicht mehr viel zu erzählen. Der Mensch ist ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, die er in seiner Geschichte durchlaufen hat. Und diese Vergangenheit ist sehr überlebensfähig. Sie lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden, heißt es bei Marx. Wenn man jung ist, denkt man nicht in langen Zeiträumen. Auch Marx hat sich in den Zeiträumen gewaltig vertan. Seine Hoffnung ist seinem Denken – und seinen Kenntnissen! – davongerannt. Eigentlich wusste er, dass keine Produktionsweise abtritt, eh sie nicht alles, was an Produktivität in ihr steckt, herausgearbeitet hat. Und dann – die Strukturspiegelung ist nur die eine Seite der Sache, die gegenwärtige. Oder die der jüngeren Ver-
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gangenheit, der diese Chance der Wahrnehmung zugehört hat. Die andere Seite reicht weit zurück in die deutsche Geschichte. K. Du meinst das, was du mit dem Borchardt-Zitat angedeutet hast – die Geschichte der deutschen Sprache nach Luther? T. Als Beispiel ist mir ein Satz des Genossen Matthäus im Ohr. Der hieß bei Luther zuerst: Sehet zu, daß ihr nicht verachtet jemand von diesen Kleinen, 1522, in der ersten Version der Übersetzung. Und nach der letzten Redaktion, 1545: Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Eine Geste weniger. Die des Sich-Hinunterbeugens zu diesen Kleinen fällt weg. Die Wortstellung im Satz ist Standard geworden in der deutschen Schriftsprache. Und die Tendenz zu solcher Gliederung, die der Ordnung von oben herab, hat sich weiter verstärkt. Hypotaxe statt Parataxe. Borchardt hat in seiner Rede wirklich einen Punkt getroffen. Und seine Übersetzungen, die der Provenzalen und Dantes, sind grandios. Problematisch auch. Aber anregend. Brecht hat er nicht wahrgenommen. Bei Brecht kommt es zwar zu keiner präzisen Begrifflichkeit für diese Entwicklung – aber seine praktischen Reflexionen begreifen sie ein, sozusagen parataktisch statt hypotaktisch, sein Begriff des Gestus z. B. trifft das sprachhistorische Phänomen ganz konkret. Absolutistische Zentralisierung tilgt das Besondere, Spezifische. Wirkliche Gemeinsamkeit befreit es, Differenz steht dann nicht mehr unter Strafe. Dass Kommunismus Gleichmacherei bedeute, ist ja ein antikommunistisches Cliché. Der große Gleichmacher ist der Kapitalismus! Alles muss sich rechnen. K. Borchardt dreht sich im Grabe um, wenn er hört, in welchen Zusammenhang du ihn ziehst. T. Weiß ich nicht. Und wenn. Es geht nicht um Gesinnung oder Meinung. K. Und Intention? T. Die wird verbraucht in der Arbeit. K. Also zurück ins Theater. T. Richtig. Versuche, den eigentümlichen Bau der alten englischen Stücke wieder zu gebrauchen, hat es schon früh gegeben. Und sie sind auch reflektiert worden. Shaw hat nach einer Aufführung der Elizabethan Stage Society geschrieben, dass es genauestes Abwägen erfordere zu erkennen, wie viel Hilfe die Vorstellungskraft benötigt, und: am besten arbeitet man ohne Bühnenbild bei Der Sturm und bei Ein Mittsommernachtstraum, weil selbst das beste, das man bekommen kann, nur die von der Poesie geschaffene Illusion zerstört. Geschrieben 1897, nach einer Inszenierung von William Poels. In Deutschland hat der große Zauberkünstler Max Reinhardt den Sommernachtstraum mit einem echten
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Wald ausgestattet. Auf der Bühne versprühter Tannenduft hat die Illusion vervollständigt. Da konnte Brecht lernen, dass kein Beleuchter noch die Heide selber an Shakespeares Verse heranreicht. Zugleich hat Reinhardt im Zirkus Schumann, den Poelzig ihm zum Großen Schauspielhaus umgebaut hatte, mit einer von Zuschauern umschlossenen Manege experimentiert, also in der Gegenrichtung. K. Da ist aber doch ein Zusammenhang zwischen Illusion und Einfühlung. T. Sicher. Da ist der Zusammenhang ziemlich direkt. Aber zur Übersetzung ist er indirekt, vermittelt. Und immer mitzudenken ist die recta intentio und ihr geschichtlicher Grund. Im Städel in Frankfurt kann man jetzt gerade Bilder von Botticelli beisammen sehn, die sonst verstreut hängen. Und da fällt Botticellis besonderes Verhältnis auf zu der großen Neuerung seiner Zeit, der Perspektive. Seine Kollegen schwelgen darin. Sie unterwerfen sich der eben eroberten Neuerung. Er nicht. Das verleiht seinen Bildern, denkt man, etwas Theatermäßiges, Theaterhaftes. Und man überlegt und denkt darüber nach, was das ist. Der Betrachter wird nicht in die Perspektive hineingezogen. Sie ist da, aber der Betrachter behält ihr gegenüber seine eigene. Der Eindruck des Theaterhaften, Theatermäßigen kommt mir aus der Erinnerung an das elisabethanischjakobäische Theater, das auf seine Weise denselben widersprüchlichen Effekt organisiert. Aber diese seine Eigenart musste erst entdeckt, wahrgenommen werden, und daran hatten die neuen Übersetzungen Anteil. Die Beobachtung berührt vieles rundum. Wenn Müller gesagt hat, Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat, dann ist mitzudenken, dass solche Kritik angefangen hat zu Brechts Lebzeiten. Mit seinen Freunden Korsch und Benjamin. Korschs Anwendung von Marx‘ Denken auf Marx‘ Denken geht bis an die Grenze einer Sprengung. Benjamin hat sie überschritten. Bei ihm steht es nicht mehr unter der Herrschaft der Zentralperspektive. Dieser Renaissanceerfindung. Ich höre den Einspruch: Was soll denn das heißen, die Perspektive wird erfunden. Es gibt sie doch! I wo. Es sieht bloß so aus, weil es so gedacht wird. K. Sehr spekulativ. Es gibt eine objektive und eine subjektive Perspektive. Die eine ist wie sie ist, die andre kann man wechseln. T. Zugegeben. Bin ich ein Spekulant? Ich bin ein Spieler. Wir sind im Theater. K. Eine wesentliche Qualität oder Eigenart des alten englischen Theaters, von dem wir reden – und die hängt, glaub ich, mit der Frage der Perspektive zusammen – ist doch der Eindruck eines chorischen Geflechts, den es einem vermittelt – wie man das zuletzt in Jürgen Goschs Shakespeareinszenierungen sehen konnte.
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T. Wie wahr. Die Geschichte Macbeth‘, in der Müllerschen Bearbeitung, hab ich ja auch schon von einem Chor erzählen lassen. Da waren die Hexen der Chor. Die Lesart ging ganz gegen die moralistische Überlieferung der Geschichte. In der chorischen Form drückt sich aber auch die Binnenstruktur der alten Theater ab. Es gab keinen Regisseur, man wusste noch, wo die Mitte ist, und brauchte keine Führung durch die Perspektive. Es gibt da den alten Witz über die Entstehung des Regisseurberufs, den ich immer gern erzählt hab: Ein Schauspieler schickt den anderen von der Bühne, damit er nachsieht, ob er in der Mitte steht. Und der ist nicht wiedergekommen. Ob sie damals im offenen Globe gespielt haben, oder im geschlossenen Blackfriars, oder bei Hof, oder in weiß Gott was für Wirtshäusern auf Tourneen über Land oder auch auf dem Kontinent, bei uns in Deutschland waren sie ja auch – die Aufführung wurde den Umständen angepasst, und zwar gemeinsam angepasst. Auch der Text des Stückeschreibers, der ja zur Truppe gehörte, war nicht sakrosankt. Weil er kollektive Erzählung war. Brecht ist auf diesen Punkt, kollektives Erzählen, wieder zurückgekommen ein Jahr vor seinem Tod, in einem Ansatz zur Korrektur der Programmschrift, die er vor dem berliner Neustart in Zürich geschrieben hatte, dem Kleinen Organon. Er hatte den Punkt schon Ende der zwanziger Jahre berührt mit dem ersten, dem Badener Lehrstück, und wieder mit der Antigone in Chur. Außer dem Lehrstückkonzept, das die erste Umsetzung in Baden-Baden, 1929, am entschiedensten behauptet hat, haben mich zwei Inszenierungen immer besonders interessiert: eben diese Antigone – das Modellbuch ist 1948 in Westberlin gedruckt worden, wunderschöne graue Fotos auf dem Nachkriegspapier – und Mann ist Mann mit Lorre am Gendarmenmarkt, 1932, von der mir im BE gleich Fotos in die Hände fielen, ’55, als ich zu Brecht kam. Das ist eine Ausrichtung auf Gemeinschaftlichkeit hin – deren Form der volle Kreis ist, in dem jeder jeden hört und sieht. Die uralte Trennung durch den Abgrund der Orchestra wird aufgehoben. K. Müller hat eine Parallele gezogen zwischen dem London der Shakespearezeit und dem New York der siebziger Jahre mit Andy Warhol und seiner Factory. T. Das ist der Neid. Der auf die Gemeinsamkeit, auf die Art von Zusammenarbeit. Wie ich sie bei Brecht erlebt hatte eine kurze Zeit. Und dann mit dem Studententheater und mit Müller. Solche Gemeinschaften herzustellen, ist auch später versucht worden, immer wieder, und manchmal ist es auch gelungen. Aber Kontinuität haben die Umstände verhindert. Im Osten wie im Westen.
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K. Die Buchreihe mit den von dir übersetzten alten englischen Stücken, die du zusammen mit deiner Frau herausgibst, hat einen Schwerpunkt bei Shakespeare, stellt aber auch Stückeschreiber vor, die immer nur als sein Umfeld behandelt worden sind: Ford, Webster, Jonson, Middleton usw. Grundsatz: Man muss sie gleich behandeln, damit die Unterschiede erkennbar werden. T. Ein zeitgenössisches Stück, der Volpone von Ben Jonson, Shakespeares Kollege am Globe, war sogar das erste, von dem ich etwas übersetzt habe, noch vor Maß für Maß. Ende ’63, als Dresen seinen Hamlet für das folgende Shakespeare-Jahr vorbereitet hat, lud er mich ein, danach Volpone zu machen, und die Einladung ist vom Intendanten sofort storniert worden. Es bedurfte einer Intervention von Paul Dessau beim Kulturminister, dass ich als Regisseur wieder zugelassen wurde – nach einem halben Jahr in der Braunkohle und zwei Jahren Berufsverbot wegen der Uraufführung von Müllers Umsiedlerin 1961. Als das endlich geklärt war, war keine Zeit mehr, das Stück zu übersetzen, der Probenbeginn stand ins Haus. Ich habe die Übersetzung von Gelbcke benutzt, aus dem 19. Jahrhundert, und sie überarbeitet. Ein paar Abschnitte – die Exposition, den großen Monolog von Mosca und Teile des Schlusses – hab ich neu übersetzt. Das Textbuch ging verloren, erst im Nachlass von Heiner Müller wurde ein Exemplar wiedergefunden, und ich habe mich, dreißig Jahre später, für die Buchausgabe nochmal drangesetzt. Das wird Band 12. K. Und die Unterschiede, die die Gleichbehandlung sichtbar macht? T. Erstmal war Shakespeare ja auch weg vom Fenster. Die anderen Stückeschreiber sowieso. Sie sind nur ein bisschen später wieder sichtbar geworden, und zuerst in der Literatur. Im Theater eigentlich erst im letzten Jahrhundert. Und in Deutschland immer später als in England. Im 19. Jahrhundert waren sie Kuriosa, eine Liebhaberangelegenheit, interessant, aber eben, allgemeines Urteil, schwächer als Shakespeare. Mag sein. Aber vor allem anders. In dieser Art Umgang, unter diesem Blickwinkel verblassten die Unterschiede. Dann gab es Bearbeitungen. Volpone z. B. wurde in Deutschland lange gespielt in einer von Stefan Zweig, in Prosa. Für Zweig war Jonson nur ein Rohstoff. Vom Original war kaum was übrig. In der DDR entstand dann die Bearbeitung von Elisabeth Hauptmann, mit ein paar Liedern von Brecht. Besson hat das in Wien inszeniert, in Berlin nur beinahe. Es gab eine Woche lang Proben mit Kaiser als Volpone und Düren als Mosca. Im Globe stand das Stück neben den großen Shakespearetragödien. Es beginnt als Komödie und endet als Tragödie. Solange Volpone zu seiner Bereicherung betrügt, ist er erfolgreich, aber als er es zum Vergnügen tut, purem Genuss, geht
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er unter. Richard Burbage, der Darsteller der großen Tragödienfiguren Shakespeares, hat auch den Volpone gespielt. Die Bearbeitung Hauptmanns liquidiert die Tragödie. K. Die Unterschiede. T. Ein weites Feld. K. Ja, es sind mehrere Fragen. Die erste: Was hat Shakespeare so herausgehoben, warum wurde er früher wiederentdeckt, und warum dominiert er auch heute noch? T. Zum Besten, was über Shakespeare gesagt wurde, gehört Ted Hughes‘ Darstellung dessen, was ihm bei der Arbeit an einer Anthologie Shakespearescher Textstellen auffiel. Später hat er ein ganzes Buch darüber geschrieben: Shakespeare and the Goddes of Complete Being , 1992 in London erschienen. Auf Deutsch gibt es das immer noch nicht. Die frühere Äußerung hat aber den unvergleichlichen Impetus der Entdeckung, die den Autor selber noch überrascht. Sie steht, nicht gut übersetzt, deutsch in einem Band mit Essays von Hughes, und ist da kaum bemerkt worden. Meine Frau hat sie neu übersetzt, und jetzt steht sie im siebenten Band der Buchreihe, dem Maß für Maß-Band. Ich les dir mal einen Abschnitt aus Hughes‘ Einleitung vor: Trotz ihrer elisabethanischen Krause ist Shakespeares Sprache auf irgendeine Weise näher am vitalen Leben des Englischen, immer noch, als sonst irgend etwas seit dem Geschriebenes. Ein Grund dafür ist die Entfaltung der poetischen Instinkte der gesprochenen Sprache. Selbst die berühmte Zangenbewegung, mit der er einen Gedanken umfaßt mit einem lateinischen Wort von der einen Seite und einem angelsächsischen von der andern, ist ein angeborenes Kunststück der englischen Zunge. Der Geruch wilder, hausgemachter Poesie, den er durch eine phänomenal komplizierte und intellektualisierte Sprache imstand ist zu verbreiten, und der das Werk fast jedes andern Dichters gekünstelt erscheinen läßt, kommt ebenfalls aus einem umgangssprachlichen Instinkt. Es ist der Instinkt, Latinismen falsch zu gebrauchen – aber auf eine höchst inspirierte Weise. Es ist eigentlich eine simple Wortspielerei, unbewußt, aber präzis. Ein geläufiges Beispiel ist das berüchtigte aggravate. Im üblichen Gebrauch heißt es reizen, über das Erträgliche hinaus – was nicht nur eine Joycesche Verschmelzung von ärgern, erzürnen, übertreiben ist, sondern ein viel tiefer reichender Kurzschluß mit dem konkreten angelsächsischen gr-Kern von growl, grind, eager, grief, grate/grollen, wetzen, gierig, Gram, knirschen etc. Das Wort nimmt durch diesen verdrehten Mißbrauch im englischen eine viel mächtigere Bedeutung an, als bei seinem präzisen Gebrauch im lateinischen Sinn. Shakespeare tut soetwas ganz beiläufig dauernd, und wie ich meine, ist es das mehr als alles
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andere, was seine Sprache riechen läßt, als sei sie eben erfunden worden für eine furchtbar drängende Aufgabe in einer Krisensituation, einfach eine Improvisation im Augenblick, mit den Worten, die gerade herumliegen – und das ist genau das, was wirkliches Reden tut. Das Gemeinte ist nicht so sehr genau umrissen als überwältigend suggeriert, durch inspirierte Signale von Wortanfängen und –endungen, oberhalb und unterhalb der Genauigkeit, und durch den eigentümlich ausdrucksvollen Unterschwall eines musikalischen Fast-Stimmengewirrs, wie ein Gedränge von Geistern. Der Gedanke wird mitgeteilt, aber wir bekommen auch einen musikalischen und imaginativen Schock, und die Befriedigung daraus ist unergründlich. Genau so, wie in wirklicher Rede das, was gesagt wird, nicht annähernd so wichtig ist, wie der Austausch animalischer Musik in Stimme und Ausdruck. Weil er darin ein Meister ist, ist Shakespeares Sprache nicht so sehr obsolet als futuristisch: sie erfreut sich eines Zustandes umfassender und dennoch unmittelbarer Ausdruckskraft, zu der wir hoffentlich früher oder später auch gelangen, zurück oder vorwärts – ohne die nebensächlichen Archaismen. In der langen Note, die dann den von ihm ausgewählten Shakespearestellen folgt, zeigt er, wie Shakespeares Sprache aufsteigt aus dem Riss in der Epoche. Und das, was der Dichter Hughes beschreibt, nah am Gegenstand, nah an der Sprache der Dichtung, ist durchaus kompatibel mit der Darstellung der Geschichte in der Wissenschaft. Der durch den Historiker Robert Weimann zum Beispiel. K. Das ist der britische Pragmatismus, der verallgemeinernde ideologische Konstruktionen meidet. T. Der charakteristische Pragmatismus ist ein Grund, sicher. Aber es ist, spezifischer, der Blick des Poeten. Der beharrt auf der Wahrnehmung des Einzelnen, Besonderen, und erfasst im Kleinen das Große eher oder besser als die Zentralperspektive der Wissenschaft, die eine Illusion von Überblick verschafft. Ein anderer Dichter, T.S. Eliot, hat in seinen Elizabethan Essayss – 1934 gesammelt in Band 24 der Faber Library, dem Vorbild der Bibliothek Suhrkamp, aber leider in der Werkausgabe von Suhrkamp nicht enthalten – Eliot hat die Unterschiede, auf die du hinaus willst, am besten beschrieben. Seine Aufsätze über Middleton, Webster, Marlowe, Jonson, stehen deshalb deutsch im jeweiligen Band unserer Buchreihe. Er hat sie so einleuchtend genau beschrieben wie später Hughes die Einzigartigkeit Shakespeares. Zu der Eliot übrigens auch schon einiges Treffende gesagt hat. K. Warum steht der Hughes-Text in dem Maß für Maß-Band? T. In ihren letzten Lebensjahren war die große Zeit der Gloriana vorbei. Die Balance, die sie so erfolgreich gehalten hatte, fing an zu
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wackeln. Und bei Shakespears Stücken folgen auf die sogenannten problem plays, zu denen Maß für Maß gehört – problem plays, so hat die Literaturwissenschaft sie genannt – folgen die großen Tragödien. Eine frühe Tragödie wie Romeo und Julia, über die wir vorhin gesprochen haben, endet mit der Versöhnung der feindlichen Häuser unter der Zentralgewalt des Fürsten. Ein solcher Schluss wäre bei den späteren Tragödien ganz unmöglich. Maß für Maß ist der Drehpunkt gewesen in der Entwicklung. Dazu der Text von Hughes. Da ist im Stück diese Szene, in der sich der Puritaner in ein Tier verwandelt, in ein Monster. In Shakespeares Text steht zwischen den Versen, auf einer Zeile für sich, ein einsames Ha! Die Wissenschaft sagt, das sei eine konventionelle Notierung. Aber es ist die Notierung einer emphatischen Reaktion. Es ist, mit einem Wort, ein tierischer Brunftschrei. Ich habe versagt, und habe die Angelo-Darsteller, nicht Schmidt in Eisenach und nicht Voß in Stuttgart, dazu bewegen können, das zu machen. Auch ein Desiderat. Oder ein Desaster. Gezeigt wird die Verwandlung des Puritaners in ein Monster. Im Film wäre das die Stelle für die Trickaufnahme, wo die Haare aus der Haut sprießen, die Hände zu Klauen und die Zähne lang und spitz werden. Das ist mir damals nicht eingefallen als anregendes Beispiel. K. Und Christopher Marlowe? Der ja älter ist? T. Das täuscht. Die Geburtsdaten liegen nur ein paar Wochen auseinander. Aber Marlowe hat früh angefangen zu schreiben und zu übersetzen, auch fürs Theater zu schreiben, schon als Student. Man studierte damals zeitig, er war fünfzehn, als er nach Cambridge kam. Und dann starb er früh. Er wurde umgebracht zu der Zeit, als Shakespeare zu schreiben anfing. Shakespeare war schon fast dreißig als er seine ersten Stücke schrieb. Marlowes Stücke waren, neben denen Kyds, der Beginn der Hochzeit des Theaters, die auch die Hochzeit der Queen war. Sein letztes Stück, Das Massaker von Paris, das ich übersetzt und mit Ekkehard Schall als Guise, Käthe Reichel als Katharina von Medici und Jürgen Holtz als König Charles im Rundfunk gemacht habe, sollte der Start sein für eine Elisabethaner-Reihe. Aber es wurde gleich auf Eis gelegt und erst fünf Jahre später gesendet in der DDR. K. Und Marlowes Verhältnis zu Shakespeare? T. In Shakespeares Anfängen kann man noch Einflüsse von Marlowe finden. Aber die eigentlichen Fortsetzer von Marlowes Posaunenton sind Jonson und Chapman. Der eigene Ton des Verses ist sowas wie ein Fingerabdruck. Der schnelle und nervöse Vers Websters, hochmusikalisch, der ruhige und konzentrierte Vers Middletons, der irgendwie ‚objektiv‘ wirkt – und so weiter. Das wird durch Beschreibung nicht
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völlig deutlich. Und Eliot ist ein sehr guter Beschreiber! Man braucht Beispiele, auch Eliot braucht Bespiele. Man muss es nachlesen. Und zwar laut – wenn man das kann. K. Du spottest über die Gepflogenheiten der Philologen zwischen rauen und glatten Blankversen zu unterscheiden. Wenn ich recht verstehe, zielst du darauf, dass es den glatten Vers als Norm, von der sich Ausnahmen abheben, gar nicht gibt. Es ist vielmehr genau umgekehrt: eigentlich gibt es nur Ausnahmen, und die Regel überwölbt den Vers, aber sie lässt sich nicht positivieren. T. Das metrische Schema sind elf oder zwölf alternierend betonte Silben. Wenn man das strikt einhält, entsteht ein tödlicher Klapperatismus, ein Leiern. Aber andererseits darf auch nicht der Grundrhythmus verlorengehn im Ohr des Hörers. Der Reiz von Versen besteht in der Reibung zwischen dem Versschema und den Gesten der Sätze. In diesem Widerspruch lebt der Vers. Bei Wissenschaftlern gibt es ein Bedürfnis, sich an Regeln, an Gesetzmäßigkeiten zu klammern. Sie scheuen die Bewegung im lebendigen Widerspruch. Freund Mickels Formel war: Vers ist die Interferenz von Metrum und Satz. Der Dichter Karl Mickel hat an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Metrik und Verssprechen unterrichtet und der gute Ruf der Busch-Schule hat auch auf solcherart Unterricht beruht. Übrigens ist die Übersetzung der Prosa oft schwieriger als die der Verse. K. Ach was. T. Ja, eine andere, aber vielleicht größere Schwierigkeit. Ob die Handlung des Stücks in Rom, in Ägypten oder in Griechenland abläuft, ob das Stück in Verona oder in Venedig spielt. die Prosa bohrt immer wieder, besonders in komischen Szenen, ein Loch aus der vergangenen Handlung in die Gegenwart der Theatervorstellung. Also ins damalige London. Die Übersetzung muss also drei Zeiten ausbalancieren: die der Handlung, die der Entstehung, und ihre eigene Gegenwart. Ganz simpel ist das die Frage, ob man einen Witz oder ein Wortspiel noch versteht, oder eine alltägliche Redewendung von damals. Wörtliche Wiedergabe wäre unsinnig. Aber wie ersetzt man? Das Problem ist oft verdeckt worden durch Poetisierungen. Und natürlich auch durch Abmilderungen. Die Alten waren oft zu prosaisch, drastisch für spätere Zeitläufte. Und oft wird beim Ersetzen der Rhythmus missachtet. Nicht einfach nur der Satzrhythmus, sondern der Rhythmus der Gesten. Oft wird die Übersetzung zu lang, weil sie etwas erklären will. Der Rhythmus ist es, der über die Genauigkeit entscheidet. Und manchmal scheitert man, wenn gesellschaftliche Konventionen die Handlung dominieren, wie in Much Ado About Nothing zum Beispiel. Da bin ich
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gescheitert und hab aufgegeben. Es gibt kein Äquivalent. Und zwar in der deutschen Gesellschaft, geschichtlich. Und das heißt, es gibt auch keins in der deutschen Sprache. K. Ich staune. T. Ich hab auch gestaunt. Erstaunen ist eine wiederkehrende Reaktion bei dieser Tätigkeit, übersetzen. Nach der Lektüre von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen wurden mir andere Übersetzungen antiker Stücke verdächtig, und irgendwann hab ich meinen Kindheitsfreund Peter Witzmann, der Altphilologie studiert hatte, gebeten: mach mir doch mal eine Interlinearversion von der ersten Szene des Prometheus, vom Anfang der Tragödie von Aischylos. Als ich bekam, was ich wollte, hab ich mich geradezu erschrocken. Nichts von edler Einfalt und stiller Größe, von der Formelhaftigkeit und Glätte der deutschen Texte! Es war wild und bunt und orientalisch. Ich hab versucht, das wiederzugeben in den Versmaßen der Urschrift. So hieß das traditionell. Und ich bin kläglich gescheitert. Dann bin ich damit zu Heiner Müller. Der hat sich drauf gestürzt. Seine Zusammenarbeit mit Witzmann ist weitergegangen bis zuletzt. Anfang der neunziger Jahre kamen noch Die Perser, und im Nachlass findet man Teile der Orestie. Sein deutscher Prometheus-Text ist vers libre. K. Muss man nicht auch die Form kopieren? T. Kein Mensch muss müssen. Der Wunsch nach dem perfekten Abbild ist naiv. Und die unselige Abbildtheorie ist eine positivistische Abirrung von Marx‘ Denken. Übersetzung ist Metamorphose. In Deutschland war der Blankvers gängig nach der Einbürgerung durch Lessing, Goethe und Schiller. Auch die Episteln von Horaz, ihre Eleganz und Urbanität, sind in Wielands Blankversen besser aufgehoben als in Voss‘ Hexametern. Und die Alexandrinerkomödien von Molière habe ich mit Ursula Ludvik in Prosa übersetzt. Im deutschen Barocktrauerspiel, schnell verdrängt, war der Alexandriner Standard. Französischer Einfluss. Der junge Goethe schreibt in den Mitschuldigen auch noch Alexandriner, aber er benutzt Füllungsfreiheiten und andere Unregelmäßigkeiten und tendiert damit schon zum Knittelvers. Im Deutschen sind die Alexandriner, mit dem Einschnitt in der Mitte des Verses und dem Endreim, nicht nur starr. Schlimmer: es klingen zwei Verse wie vier, von denen jeder zweite reimt. Es entsteht ein schreckliches Geleire, und die Reime knallen. Französisch ist der Alexandriner schnell und leicht und beweglich, prosanah, die Reime beiläufig. K. Du schreibst, was Shakespeare anlangt, in seiner Sprache liege die Möglichkeit, die juckende Narbe – die immer noch spürbare Spaltung
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von gesprochenem und geschriebenem Deutsch – nicht nur zu kratzen, sondern mit seiner Sprache die unsere zu bewegen. T. Eine Chance. Metamorphose entsteht aus dem Spiel. In Schillers These, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, steckt so einiges. Die Erfahrung lehrt, dass Spielen nur Spaß macht, wenn es ernst genommen wird. Und stillschweigend gehört dazu die Annahme, dass man aufhört, wenn es zu ernst wird. Sicher gibt es Bremsen. Aber Bremsen, die völlig sicher sind, gibt es nicht. Im Spiel steckt immer die Chance des Gewinns und die Gefahr des Scheiterns. K. Du sprichst auch von der Gewalt der Sprache – und sagst gewaltlose Gewalt. T. Der Stimme des Autors kommt nicht systematische, sondern konstruktive Gewalt zu. Sie trampelt die Widersprüche nicht gewaltsam platt. Sie vermittelt sie auch nicht. Sie zitiert sie. Zum Tanz. Während die Vermittlung ihnen ihre Eigenheit nicht belässt, sondern sie, gewaltsam, aufhebt in der sogenannten höheren Einheit des Systems, ist die Konstruktion ein Appell an den Gang der Gattung, an die Arbeit der Menschwerdung des Menschen. Jahrtausendaufgabe. K. Und die gegenwärtige Situation? T. Die Theater wollen jetzt keine Stücke, nur Stoff. Und produzieren wollen sie events. Wenn sie doch Stücke machen und nicht Romane oder Filme, dann brauchen sie die auch nur als Stoff. Deshalb gibt es auch keine neuen Stücke von Rang. Oder kaum welche. Bestenfalls Halbfabrikate. Verdichtung, um Erfahrung zu transportieren, fällt aus. Solche Phasen sind in der Theatergeschichte schon vorgekommen. K. Und für die Übersetzungen heißt das? T. Die Theater ziehn solche vor, die bequem sind für ihre Bedürfnisse. Die keinen Anspruch erheben. Sprache interessiert nicht. K. Und deine Übersetzungen? Oder die von Müller? T. Werden seltener gespielt. Oder auch verhackstückt. Eben als Stoff benutzt. K. Die herrschende Meinung ist ja, dass der Markt es schon richten wird. T. Ein Aberglaube. Immer wieder fällt er das Urteil, dass Scheiße schmeckt, weil so viel Fliegen sich nicht irren können. Ich denke, dass Übersetzungen länger leben, als die Umstände ihrer Entstehung dauern, aber irgendwann verlangt das Original wieder eine neue Übersetzung. Man kann noch nicht wissen, wie die aussehen wird. K. Immer wartet im Text etwas auf seine Befreiung, schreibst du. T. Diese Befreiung ist die immerwährende Aufgabe – fürs Theaterspielen wie fürs Übersetzen.
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PARIS – BERLIN ODER BAUDELAIRE MAL DREI in memoriam Maximilian Barck Der Berliner Kunstverein Maldoror – der Name kommt von Lautréamonts bronzenem Blutegel – wurde noch in der DDR gegründet und hat den Aufruhr und seine Beendigung durch den Anschluss an den Nachbarstaat überlebt. 1992 wurde er unter dem neuen Namen Herzattacke ins Charlottenburger Vereinsregister eingetragen. Seit den achtziger Jahren hat er Künstlerbücher produziert und Bände eines Periodikums mit dem Vereinsnamen als Titel, alle mit viel Originalgraphik. Spiritus rector der Unternehmung war Maximilian Barck, der 2013 allzu früh gestorben ist. Er war der Sohn des Romanisten Karl-Heinz Barck, und Maximilian Barcks Sohn Malte Barck führte den Verein und die Publikationen fort. T.s Text war 2017 ein Beitrag zur Jubiläumsnummer der Herzattacke.
Auf Baudelaire bin ich Anfang der fünfziger Jahre gestoßen, noch in meiner Schulzeit. Ich habe mich mehr für die Literatur interessiert als für die Schule und las den Aufsatz von Walter Benjamin Über einige Motive bei Baudelaire. Gedruckt im Januar 1940, im letzten noch in Europa erschienenen Heft der Zeitschrift für Sozialforschung, war er neun Jahre später, die DDR war gerade im Entstehen, für mich zu lesen im vierten Heft des ersten Jahrgangs der Zeitschrift Sinn und Form, die von Wiegler und Becher gegründet und von Huchel geleitet wurde. Seither haben Gedichte Baudelaires mich begleitet. Nicht erst 1955, als ich aus der sächsischen Residenzstadt Dresden mit ihrer immerwährenden Dienerschaft und wechselnden Herrschaft in die spannende und gespannte Situation des Zwillingsberlin der Nachkriegszeit kam, las ich mehrere, sehr verschiedene deutsche Übersetzungen von Baudelaires Gedichten, und auch die Übersetzung von Carlo Schmidt, in einem Taschenbuch aus Westberlin, das ich von Heiner Müller bekam. Sie missfiel mir besonders. Ich habe sofort versucht, es besser zu machen. Aber nie ist es mir gelungen, Baudelaire zu übersetzen. Immer lief es hinaus auf eine Expropriation. Es gibt Dichter, die man übersetzt, und Dichter, die man beklaut. Der Text von dort und damals sagt heute und hier etwas anderes. Aus der Folge der Wörter tritt etwas heraus, das anders ist als das, was die Wortfolge intendiert hatte, oder was zuerst sich an sie geknüpft hat an Gedanken und Gefühlen. Nun werden die makellosen Verse Baudelaires, ihre vollendete Geschlossenheit, von gegenwärtigem Interesse schnöde zerrissen. Unregelmäßige, verschieden lange Verse werden durch die Reime noch zusammengehalten, alltägliche und weniger feine Wörter werden den gewählteren und feineren vorgezogen. Nicht etwa, weil mich das, was bei Baudelaire geschrieben steht, nicht oder zu wenig interessiert hätte, nein, weil es mich unmittelbar interessiert hat. Und ich denke, dass ich dabei nur einem allgemeinen, einem objektiven Interesse gefolgt bin.
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T. S. Eliot hat solchen Umgang auf eine Formel gebracht: Unreife Dichter imitieren, reife Dichter stehlen. Schlechte Dichter entwerten, was sie nehmen, und gute Dichter machen daraus etwas besseres, oder schließlich etwas anderes. Ich will mit dem Zitat nicht sagen, dass ich Baudelaire verbessert hätte, Gott bewahre. Eliots schließlich spricht von einer Zeitfolge. Das Diebesgut vom lebenden Nachbarn müsste verbessert werden, wenn der Akt des Stehlens einen Sinn haben soll. Älteres hat sich schon ganz von selber verändert. Unter meinen Adaptionen (mit der Zeit sind mehr zusammengekommen) ist eine, die des Gedichtes Le Jeu aus den Tableaux Parisiens, in der ich Baudelaires Paris auf das Berlin meiner Gegenwart projiziert habe: 1960; und es dann den Gang der Geschichte habe mitgehen lassen: 1980 – als ich nach fünfzehn Jahren wieder von Berlin nach Berlin durch die Mauer durfte – stockend in der Wiederholung Einunddesselben; schließlich ein drittes Mal, als die Mauer gefallen war: 1990, reduziert auf einen bitteren Kern. So sind die Motti der ersten beiden Gedichte nachkriegsberliner Pidgin-English, das des dritten aber der alte neue Teutschton.
LE JEU BERLIN-OUEST 1960 How do you do Mitn Jummischuh. Die Stühle welk, im Polster Huren Mit Schlafzimmerblick, aufgebraucht Die Gesichter gemalt, am Ohr Spuren Von Gold, das ab und an ins Lampenlicht taucht Der grün bespannte Tisch, darum Gesichter, ohne Mund Bleich, zahnlos Die Finger tastend auf dem Taschengrund Verkrümmt und schweißig, groß An grauer Decke Kronen, daraus Lichter Fahl und übergroß gespiegelt, ruhn Auf den Faltenstirnen halb verrückter Dichter Die hier Mäzenenpfennige vertun: Das ist das schwarze Bild, das ich im Traum Vor meinem Auge sah. O Hellsichtigkeit!
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Und dann sah ich mich selber stehen (müde, stumm und kaum Erkennbar in der Ecke) sehr frostig, aber voller Neid Neid auf die zähen Sünden dieser Leute Der müden Huren muntren Totentanz Die hier zu Markte tragen ihre Beute Von gestern: faule Ehre, abgeschabten Glanz. Und da erschrak ich sehr, dass ich beneidet Die Blinden, läufig vorm Gericht. Ich weiß: solang sie können, ziehn sie vor Den Schmerz dem Tod, die Hölle dem Nichts.
LE JEU BERLIN-OUEST 1980 Sleep well In your Bettgestell Die Stühle welk im Polster Huren ich selber
müde
frostig Beute Von gestern Die Blinden läufig vorm Gericht
DAS BERLINER SPIEL 1990 Deutschland erwache! Neue Stühle frische Huren Einigkeit und Recht und Freiheit Welk. Ich unsichtbar. Die Blinden läufig Aus der Nachkriegszeit In die Vorkriegszeit. Und kein Gericht.
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Ich war zwar nur ein einziges Mal in Paris, und nur wenige Tage, jedoch hat Baudelaire und seine Wirkung mehr Besuche kompensiert. Meine Kinder können getrost Gutzkows Satz nachsprechen: Mein guter Vater war in Paris gewesen – den auch Walter Benjamin, der mir die erste Bekanntschaft vermittelte, gern zitiert hat. Ostern 2017
LEBEN DES JOHN DONNE Vor einem halben Jahrhundert hatten T. wie auch sein Freund Karl Mickel Gedichte von Donne adaptiert (siehe hier auf S. 147 das Gedicht An R.). Die Idee einer gemeinsamen Publikation (mit diesem Text als Einleitung) scheiterte in der DDR an einem Puritanismus, den die beiden Klassiker, auf die man sich ständig berief, lächerlich gefunden hätten.
Es gibt aus dem Jahr 1591 ein Jugendbildnis von Donne. Es zeigt einen jungen Mann mit leuchtenden großen Augen und einem kleinen fest geschlossenen Mund, gekleidet ist er in ein reich besticktes Wams. Die rechte Hand umfasst den Schwertgriff so fest, dass die Knöchel hervortreten. Über dem Wappen steht ein spanischer Spruch: Antes muerto que mudado. Deutsch: Bevor ich sterbe, wie werde ich mich ändern. Der Spruch sollte sich bewahrheiten: Donnes Leben wie seine Person steckten voller Widersprüche. Er war ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher und ein spöttischer Skeptiker, Weltmann und einsamer Grübler, Höfling und Satiriker des Hofs, Dichter und Soldat, Jurist und Theologe, eleganter Lebemann und liebevoller Familienvater, zuweilen reich und zuweilen arm. Als das Bild entstand, war er achtzehn Jahre alt und hatte in Oxford und Cambridge Jura studiert. Drei Jahre später, 1594, wurde er volljährig und verfügte über ein Vermögen von 3000 Pfund. Das ist nach heutigem Wert fast eine halbe Million. Aber nach nicht ganz zehn Jahren war davon nichts mehr übrig. Ein Zeitgenosse, Sir Richard Baker, der sich seinen alten Bekannten nennt, sagt von ihm: Herr John Donne wohnte, als er Oxford verlassen hatte, in den Inns of Court, lebte nicht ausschweifend aber sehr fein, verkehrte viel bei Damen, ging oft ins Theater und schrieb viele geistreiche Verse. Tatsächlich stammt der größte Teil seiner Gedichte – Lieder, Elegien und Satiren – aus der Zeit zwischen seinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr. Sie wurden erst nach seinem Tod gedruckt, waren aber in Abschriften weit verbreitet. Und mit ihnen sein Ruhm. Donne verkehrte im Mermaid-Club, wo er die
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Stückeschreiber Marlowe, Jonson, Shakespeare, den Bühnenbildner Inigo Jones und den Lyriker Michael Drayton traf. Wenn er ins Theater ging, sah er die Uraufführungen von Romeo und Julia, Sommernachtstraum, Volpone. Von den Damen, bei denen er verkehrte, wissen wir freilich nichts, und nur seine Verse zeugen von den Liebschaften. Zeitgeschmack war eine tändelnde Schäferdichtung, konventionell und blutarm, ohne Erlebnisgrund. Donnes Gedichte aber, wie die Goethes Bruchstücke einer Konfession, stellen sich ausdrücklich in Gegensatz zu jenen, die keine Geliebte haben als ihre Muse. Nicht zuletzt um seine Finanzen wieder aufzubessern, aber auch zur Entwöhnung von dem kitzligen Schmerz des Liebens und Geliebtwerdens, beteiligte er sich an einigen der abenteuerlichen Unternehmungen jener Jahre: Er machte 1596 unter der Führung Essex’ den Zug gegen Spanien mit, der zur Einnahme und Plünderung von Cadiz führte, und 1597 die sogenannte Inselreise, die mit der Eroberung einiger Azoreninseln und der Kaperung einiger spanischer Schiffe ohne großen Erfolg geendet hat. Aber der junge Donne lernte auf diesen ‚Geschäftsreisen‘ zwei andere junge Leute kennen, den Sohn und den Stiefsohn von Sir Thomas Egerton, Generalstaatsanwalt und Lord Siegelbewahrer. Er wurde empfohlen, und Egerton machte ihn zu seinem Sekretär. Das war für einen jungen Mann von Talent eine vielversprechende Stellung, zumal Egerton in Donne mehr einen Freund sah als einen Untergebenen. Donne, erklärte er, sei passender einem König zu dienen, als einem Untertan. Donne wohnte im Palast des Lord Siegelbewahrers, York-House, und gewann Einblick ins Getriebe der Innen- und Außenpolitik. Aus nächster Nähe war er Zeuge eines Ereignisses, das wie kein anderes das nationalabsolutistische England erschüttert hat: des Halsprozesses gegen Essex, der im Februar 1601 gegen Queen Elizabeth, seine ehemalige Geliebte, geputscht hatte. So lag eine große politische Karriere vor dem jungen Donne. Aber im Haus des Lord Siegelbewahrers, dessen Frau gestorben war, führte ein sechzehnjähriges Mädchen den Haushalt: Anne More, die Tochter von Sir George More, Kanzler des Hosenbandordens und Gouverneur des Towers. Donne gewann ihre Liebe und heiratete sie heimlich am 5. Dezember 1601. Sein Freund Christopher Brooke vertrat den Brautvater, dessen Bruder Samuel, ein angehender Geistlicher, traute sie. Dann kehrte Anne, zunächst, ins Haus des Vaters zurück. Als der, adelsstolz und borniert, durch einen Brief Donnes von der Heirat erfuhr, tobte er wie ein Romanvater gegen den Verführer der Tochter, dem er nicht zu Unrecht vorwarf, schon mehr Frauen verführt zu haben und einer verderbten Religion anzuhängen. Denn Donne ent-
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stammte einer katholischen Familie. More wollte die Ehe auf jeden Fall trennen, erwirkte bei seinem Schwager die Entlassung des Sekretärs und ließ ihn und seine Helfer gefangensetzen. John Donne – Anne Donne – Undone schrieb er aus der Haft an seine junge Frau. Er selbst konnte bald seine Freiheit wiedererlangen, aber die Freunde mussten zu seinem und natürlich ihrem Leidwesen länger sitzen. Nur allmählich gelang es Donne, der vor allem die Damen des Kreises für sich und seine romantische Liebesheirat zu gewinnen wusste, den Groll Sir Mores zu besänftigen. Als nach einem langen und kostspieligen Prozess der geistliche Gerichtshof des Erzbischofs von Canterbury die Ehe für gültig erklärt hatte, gab schließlich auch der Vater dem Paar seinen Segen; wenn auch zunächst weiter nichts. So begann eine schwere Zeit für Donne. Die politische Laufbahn war versperrt, er war ohne Mittel, und er war abhängig von aristokratischen Mäzenen. Melancholie ergriff ihn, er fühlte sich nutzlos und sehnte sich nach Tätigkeit: Wenn ich Schiffbruch erleiden muß, schrieb er, so will ich es auf einem Meer tun, wo meine Ohnmacht entschuldbar wäre, nicht auf einem düsteren See voll Unkraut, wo ich nicht einmal versuchen könnte, mich durch Schwimmen zu retten. Deshalb möchte ich gern etwas tun … denn niemandem zu gehören heißt, nichts zu sein. Die größten Männer sind im besten Fall nur große Warzen und Auswüchse, Männer von Geist und angenehmer Unterhaltung nur schmückende Male, wenn sie dem Körper der Welt nicht so einverleibt sind, dass sie etwas beitragen zur Erhaltung des Ganzen. Donnes Ehe war glücklich, aber bedrückt von Not, zudem kinderreich. Zwölf Kinder gebar Anne, sieben überlebten sie, als sie 1617, dreiunddreißig Jahre alt, starb. Donne heiratete nicht wieder und sorgte liebevoll für die Kinder, von denen das älteste, die fünfzehnjährige Constanze, dem Vater den Haushalt geführt hat bis zu seinem Tod. Versuche, ein Staatsamt zu bekommen, waren immer wieder fehlgeschlagen. Also entschloss sich Donne, gedrängt von König James, für die geistliche Laufbahn. Im Januar 1615 wurde er vom Bischof von London ordiniert. Einer katholischen Familie entstammend, wurde Donne Priester der anglikanischen Kirche! Aber gerade seine Herkunft hatte ihn gelehrt, einerseits gegen Intoleranz und Fanatismus immun zu bleiben – Sie wissen, schrieb er einem Freund, ich habe das Wort Religion nie mit Fesseln oder Banden verschnürt – und andererseits der Leidenssucht im christlichen Glauben, wie er ihn kennengelernt hatte bei seinen verfolgten katholischen Verwandten, zu misstrauen – wir sind nicht in diese Welt gesandt, um zu leiden, sondern um zu handeln und die Aufgaben zu erfüllen, die unsere verschiedenen Berufe von uns verlangen. 1621 wurde er zum Dekan der St. Paulskirche gewählt. Das war ein ehrenvol-
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les und ein einträgliches Amt. Donne war bald der berühmteste Kanzelredner Englands; und neue Ämter und Ehren fielen ihm zu. Sein Ende ist vielleicht das Merkwürdigste an Donnes merkwürdigem Leben. Krank kam er von einem Besuch bei einer seiner verheirateten Töchter zurück nach London und hielt am 12. Februar 1631 seine letzte Predigt vor König Charles in Whitehall. Ihr Gegenstand war der Tod. Alle hatten das Gefühl, dass Donne seine eigene Grabrede hielt. In der Tat kehrte er in sein Haus zurück, um das Bett nicht mehr zu verlassen. Als Das Duell mit dem Tod wurde die Predigt gedruckt.Nun aber kommt das Merkwürdigste. Auf den Rat seines Arztes Dr. Fox ließ er sich wie ein Toter in ein Leichtuch hüllen und so, auf dem Bett liegend, mit einer Urne zu seinen Füßen, malen. Dieses Bild ließ er neben sein Bett stellen und wartete so auf den Tod. Der trat ein am 31. März 1631, nachdem Donne vorher von allen Abschied genommen, die Augen geschlossen und Hände und Körper in die Lage der Toten gebracht hatte. Es liegt etwas Theatralisches in diesem Tod. Aber auch ein Bedürfnis, wie in jedem Augenblick des Lebens auch in diesem letzten Herr seiner selbst und Herr der Umstände zu sein. Es ist derselbe Charakter, der sich schon in dem Jugendbildnis ausgeprägt hatte, das, bei aller Lebensenergie, in dem spanischen Motto Antes muerto que mudado den Tod fest ins Auge fasst.
THEATER UND FILM Diese Überlegungen anlässlich des Courage-Films von Palitzsch und Wekwerth erschienen 1961 als Rezension in der Wochenzeitung Sonntag. Die Redaktion hatte darauf bestanden, dass die propagandistische Wirkung im Friedenskampf unterstützt werden müsse, was sie, nachdem der Autor nachgegeben hatte, nicht hinderte, in der nächsten Nummer einen Leserbrief abzudrucken, der zu Recht meinte, ein Rezensent solle zu seinem Gegenstand nur eine Meinung haben. Der opportunistische Teil der Rezensionsfassung ist hier weggelassen, die knappe Polemik wiederhergestellt.
Es war auf der kleinen Probebühne im Hinterhaus des Schiffbauerdammtheaters, und es liegt schon ein paar Jahre zurück. Die Rolle des Bauern in den letzten Szenen der Courage wird umbesetzt, entweder für das London Gastspiel oder weil jemand krank geworden war, ich weiß es nicht mehr. Zu der zweiten Szene des Bauern, in der die Courage Katrins Begräbnis bezahlt und das Beileid der Bauernfamilie entgegennimmt, kommt die Weigel auf die Probe, energischen Schrittes, mit scharfer Stimme jemandem eine Anweisung zurufend, kurz: jeder Zoll ein Intendant. Dann steigt sie über die kleine Rampe, schiebt die Brille auf die Stirn, und vor unseren Augen schrumpft sie zusammen zu der
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kleinen Greisin, die schlecht hört und schlecht sieht, vor unseren Ohren schrumpft ihre Stimme zusammen, und mit kleinen unsicheren Schritten geht sie den weiten Gang, um für die tote Tochter, den Stein, der zu reden begonnen hatte, und der sofort zum Schweigen gebracht, aber doch noch gehört worden war, eine Plane zu holen zum Zudecken. Ein bleibender Eindruck. Was da eine große Schauspielerin auf einer kleinen Probe macht, ist interessant in vieler Hinsicht. Hier interessiert, wie unter den besonderen Umständen nicht der Vorstellung, sondern der Probe besonders deutlich eine Besonderheit des Theaters einsehbar wird: Der Bühnenschauspieler stellt einen anderen dem Zuschauer dar. Er zitiert. Die Deutlichkeit geht einher mit dem Verzicht auf Täuschung. Es gibt keine Illusion. Dieser Akt, einer zitiert das Verhalten eines anderen, ist das Herz des theatralischen Kunstwerks. Im Film ist es anders: Der Filmschauspieler stellt sich selbst einer Apparatur dar. In Walter Benjamins berühmtem Röntgenbild des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit heißt es dazu: Definitiv wird die Leistung des Bühnenschauspielers dem Publikum durch diesen selbst in eigener Person präsentiert; dagegen wird die Kunstleistung des Filmdarstellers dem Publikum durch eine Apparatur präsentiert. Und weiter: Die Apparatur, die die Leistung des Filmdarstellers vor das Publikum bringt, ist nicht gehalten, diese Leistung als Totalität zu respektieren. Sie nimmt unter Führung des Kameramanns laufend zu dieser Leistung Stellung. Die Folge der Stellungnahmen, die der Cutter aus dem ihm gelieferten Material komponiert, bildet den fertig montierten Film. Er umfasst eine gewisse Anzahl von Bewegungsmomenten, die als solche der Kamera erkannt werden müssen. Noch weiter: Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Und schließlich: Dem Film kommt es viel weniger darauf an, dass der Darsteller dem Publikum einen anderen, als dass er der Apparatur sich selbst darstellt. Was Brecht einen theatralischen Gedanken nennt: Was die Weigel macht, wenn ihr als Courage der redliche Sohn erschossen wird, der berühmte stumme Schrei, oder was Laughton macht, wenn er als Galilei vom Widerruf zurückkommt, die Hände in den Taschen, ein infantiles Grinsen um den Mund, was sich zusammenschließt bei den großen Schauspielern zu einer ganzen reichen Textur von Erfindungen – dieses Phänomen, Herzstück der Leistung des Bühnenschauspielers, fällt im Film weg. Das Zitieren ist eine gegenwärtige Stellungnahme, und die theatralischen Gedanken sind hervorragende Punkte der Stellungnahme. Diese Stellungnahme – die, wie immer sie ausfällt, auch politisch ist – besorgt im Film die Apparatur. Ihre Blickwechsel können im
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Einigsten den Widerspruch, im Feindlichsten die Übereinstimmung zeigen. Die Eigenheit des Ausschnitts, der sich dem Auge des Theaterbesuchers bietet, ist, dass sich in ihm etwas begibt. Die Eigenheit des Ausschnitts, der sich dem Auge des Kinobesuchers bietet, ist, dass er selbst sich begibt. Ort des theatralischen Kunstwerks ist die Bühne, die Bretter, die die Welt bedeuten. Ort des Filmkunstwerks ist die Apparatur, die bewegliche, die sich begibt, wohin sie will. Ihr Feld ist die Welt. Oder: Im Theater ist die Welt mit dem Publikum verabredet, die Schauspieler schleppen sie zum Rendezvous auf die Bühne und stellen sie aus. Diese Verabredung ist eine gesellschaftliche Konvention, und die Bühne ist als Verabredungsplatz nie aus dem Sinn des Publikums, sogar wenn sie seinen Augen verborgen wird durch Verkleidung mit echtem Rasen oder sonstwie. Im Kino bereist das Publikum die Welt, der gedankenschnellen Montage der Augenblicke folgend. Der Courage-Film gibt zu diesen Überlegungen Anlass als ein Etwas, das zwischen den skizzierten Fronten sich bewegen will. Die Gründe für das Unternehmen mögen die besten sein. Die Absicht, die wichtige Aufführung eines wichtigen Stücks noch mehr Zuschauern zugänglich zu machen als in den vierhundert ausverkauften Vorstellungen in zwölf Jahren, muss man gutheißen. Die politische Bedeutung kann kaum überschätzt werden. Weil zu hoffen ist, dass Ähnliches wieder unternommen wird, richtet sich die Aufmerksamkeit auf Grundsätzliches, auf die Methode. Im Programmheft wird der Film bezeichnet als Dokumentarverfilmung nach der Aufführung des Berliner Ensembles. Die Formulierung ist nicht nur schlechtes Deutsch. Es handelt sich tatsächlich nicht um eine Dokumentation der Aufführung durch den Film. Es handelt sich um einen Zwitter. Die nackte Bühne mit dem weißen Rundhorizont kann beim Theaterzuschauer die Illusion flacher Landschaft mit Himmel erzeugen. Eine poetische Reaktion im Gemüt des Zuschauers ist nötig, damit diese Illusion zustande kommt, heißt es in Brechts Modellbuch. Für den Film ist eine solche Frage gegenstandslos. Das Objekt seiner Apparatur wäre eine flache Landschaft mit Himmel, und die ist wie sie ist, weder illusionistisch noch nicht-illusionistisch. In diesem Courage-Film wird nun die Bühne behandelt wie die Natur, obwohl es natürlich möglich wäre, sie zu zeigen in ihrer realen Funktion. Also unnatürlich. Das hieße, den Partner zu zeigen, das Publikum. Aber die Bühne wird eben nicht gezeigt als das Besondere, Künstliche, Unnatürliche, das ihre Funktion ihr verleiht, und so erscheint sie als eine zweite Welt, in sich geschlossen. Sie wird unreal und bedeutet etwas, statt etwas zu sein. Die große nackte
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Fläche, die nicht mehr Bühne ist, will die nicht auszumessende Wüstenei symbolisieren, die der Krieg hinterlässt. Und nicht, wie im Theater, kommt ein Urteil zustande vermittels der poetischen Regung, also einer Aktivität des Zuschauers. Es fällt auf, dass das Publikum in der Kinovorstellung weniger aktiv und lebendig reagiert als im Theater (sofort bemerkbar an dem niedrigeren Lachspiegel). Das heißt: Es wird eine Frage der Wirkung, auch der politischen. Und das wirft die Frage auf nach einer tatsächlichen Dokumentation von Theater – gegenwärtig wichtig, um seine Wirkung zu verbreitern, langfristig wichtig, um große und prägende Leistungen des an Ort und Zeit gebundenen Theaters aufzubewahren. Die Frage kann nicht wichtig genug genommen werden.
EINMAL FERNSEHEN UND NIE WIEDER Gespräch mit dem Medienforscher Thomas Beutelschmidt, am 16.02.04, nach dem Fund der (tonlosen) Aufzeichnung einer Sendung des Deutschen Fernsehfunks von 1960: Die Fahne von Kriwoi Rog von Inge und Heiner Müller nach Otto Gotsches Roman, inszeniert von T.
B. Sie sind fest mit dem Theater verbunden. Was halten Sie von dem Medium Fernsehen? T. Ach du lieber Gott. Da hab ich lange nicht drüber nachgedacht. Ich sehe mir heute noch gerne Krimis an, und Dokumentaraufnahmen. Dokumentationen sogar leidenschaftlich gern. Und obwohl ich natürlich lieber gute Dokumentarfilme sehe, von Böttcher, von Fechner, von Koepp, von Heise, sehe ich mir historische Aufnahmen nicht nur an, wenn ich sie noch nicht kenne, sondern auch nochmal, und auch dann, wenn, was die Aufbereitung und Kommentierung angeht, dabei Müll aus dem Knopploch quillt. Die Bilder sind Material, Stoff für meine Arbeit, schreiben wie inszenieren. Aber eigene Arbeit im Fernsehen – was das betrifft, hat diese Produktion damals mein Interesse abgekühlt. Es war eine abschreckende Erfahrung. In der DDR entsprach der potenziellen Zuschauermenge beim Fernsehen die potenzielle Ängstlichkeit der Kontrolle, grundsätzlich. Ein Problem, das mit der Zeit immer nur größer wurde. Und andere Probleme kamen dazu. B. Was hatte das DDR-Fernsehen in diesen frühen Jahren für ein Renommee? Wie standen Ende der 50er Jahre die Intellektuellen dazu? T. Es gab eine gewisse Neugier. Woran ich mich genauer erinnere: Ende ’54, noch in Dresden, hab ich eine Produktion gesehn, die Palitzsch und Weber im Fernsehn gemacht hatten, mit Schauspielern des Berliner
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Ensembles. Der Tag des großen Gelehrten Wu mit Wolf Kaiser in der Titelrolle. Eine Geschichte nach alten chinesischen Volksstücken, von Brecht bearbeitet. Das haben sie erst im Fernsehen gemacht, und danach am BE. Da war das dann meine erste Assistenz am BE – ich war ’55/’56, Brechts letztes Lebensjahr, Akademieschüler von Brecht. Aber die Fernsehproduktion hatte ich noch in Dresden gesehn. Wir hatten zu Hause keinen Fernseher. Es gab damals noch nicht viele. Ich habe, ehe ich nach Berlin kam, bei der Post gejobbt und war auch ein paar Wochen Nachtwächter. Im Kulturraum des Amtes stand ein Apparat, und wenn der Nachtdienst anfing, lief das Programm noch, und ich hab da reingeguckt. Natürlich war so eine Sendung die Ausnahme. Wie auch im Rundfunk die Sendungen, die Brecht initiiert hatte, die Reihe Stunde der Akademie, Ausnahmen waren. Da sind schon Formen aufgetaucht, die erst jetzt bei Kluge wiederkehren, zum Beispiel, dass bei Gesprächen mit Ausländern der deutsche Text nicht über den fremdsprachigen gelegt wird und ihn zudeckt, sondern dass der Dolmetscher die dritte Person im Gespräch ist. Und anderes der Art. Brecht hatte ja sowas wie eine Medientheorie schon vor ’33. Davon hatte ich einiges gelesen. Es gibt auch einen Zusammenhang zu Benjamin. Dessen Abhandlung über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit hab ich aber erst später gelesen, in Berlin. Damit hing die Neugier zusammen – darauf, was mit den technischen Medien, Rundfunk, Film, Fernsehen, möglich ist. Übrigens gab es schon vor ’33 Rundfunkarbeiten von Brecht, und tatsächlich ist davon einiges erhalten geblieben, zum Beispiel Die heilige Johanna der Schlachthöfe mit Neher, Kortner, Lorre, Weigel, Busch. Es gab zwölf Schallplatten, auf denen das aufgezeichnet war, und elf sind erhalten. Es gab die Filmarbeit mit Slatan Dudow an Kuhle Wampe, und es gab den Ärger mit dem Dreigroschenfilm und Brechts Analyse davon: der Prozess um den Film, dargestellt als soziologisches Experiment. In der DDR war Brecht ein Außenseiter. Das BE war so etwas wie eine kommunistische Festung in antikommunistischem Feindesland. Die technischen Medien, ältere wie der Rundfunk und neue wie das Fernsehen, sind in der DDR ganz konventionell verwendet worden, nur die Ausrichtung der Propaganda war speziell, und ausgerichtet wurde sehr streng. Die Ausrichtung war Bestandteil der Konvention. Was nun die Gotsche-Bearbeitung betrifft: Die kam zustande, nachdem ich mit den Studenten an der Hochschule für Ökonomie in BerlinKarlshorst, mit denen ich später die Uraufführung von Umsiedlerin gemacht habe, Die Korrektur von Müller inszeniert hatte. Die Aufführung ging, ein Jahr nach der Uraufführung im Gorki Theater, zurück auf die erste, die unkastrierte Textfassung, und sie ist viel und an verschiede-
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nen Orten gespielt worden. Sie war erfolgreich, und deshalb interessierte sich auch das Fernsehen dafür. Aber dann ist es doch zurückgezuckt. Göhler vom Fernsehfunk – früher Dramaturg am Gorki Theater – es sind ja damals viele vom Gorki zum Fernsehen – kam extra nach Karlshorst in die Hochschule, um uns das zu erklären. Die Redewendung für solche Situationen war: Man muss das unseren Menschen erklären. Stück und Aufführung nahmen Realität wahr, und davor hatte das Fernsehen Schiss. Das war der wirkliche Grund. Der Ersatzvorschlag an Müller und mich war, den Gotsche zu machen. B. War es damals für Sie eine Auszeichnung, für den Fernsehfunk zu arbeiten? T. Nein. Natürlich waren wir daran interessiert, dass die KorrekturAufführung im Fernsehen gezeigt wird, und dass daraus nichts wurde, war eine Enttäuschung. Die Fahne von Kriwoi Rog war vor allem eine Möglichkeit, ein bißchen Geld zu verdienen. B. Hatte der Film nicht ein besseres Renommee als das Fernsehen? Gab es Kontakte zu Regisseuren, die dann beim Film gearbeitet haben? T. Am BE Erich Engel. Der war ein bekannter Filmregisseur, schon früher. Er hatte schon ganz früh, noch in München, mit Brecht zusammen einen kleinen Film mit Karl Valentin gemacht, Die Mysterien eines Frisiersalons. Den kannte ich damals noch nicht. Engel hatte auch bei der DEFA schon ein paar Filme gemacht, noch in den vierziger Jahren, und dann, nach einer politischen Pause, Ende der Fünfziger wieder. Engel war nach Brechts Tod mein Meister – normalerweise war diese Meisterschülerausbildung zweijährig, ich bekam ein Jahr dazu, weil Brecht mittendrin gestorben war. Zum Fernsehen ist später vom BE Lothar Bellag gegangen, der mit Benito Wogatzki die Meister Falk-Filme gemacht hat, mit Wolf Kaiser in der Hauptrolle. Und vorher natürlich Egon Monk, der im Westen wieder zum Fernsehen ist, und Sachen wie Bauern, Bomben, Bonzen gemacht hat, nach Falladas Roman. Das war wirklich Fernsehen aus der Brechttradition. Von Müller gibt es übrigens auch ein paar Filmentwürfe – die aber nie realisiert worden sind. Da war eine Verbindung aus der Zeit der Aufführung von Lohndrücker und Korrektur zu diesen Leuten vom Gorki Theater, die dann zur DEFA oder zum Fernsehfunk gingen. Mit dem Dramaturgen Klaus Wischnewski gab es z.B. das Projekt, einen Film über eine besonders schlechte LPG zu machen. Der ist natürlich dann nicht gemacht worden. Müller hat aber einen Berg Material aufgeschrieben, das sehr interessant ist. Das liegt im Archiv, im Müller-Archiv der Akademie B. Sie haben von Monk im Westen gesprochen. Das DDR-Fernsehen hatte mit seiner Inszenierung von Brechts Die Gewehre der Frau Carrar
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früh eine auf Film aufgezeichnete Aufführung des BE ausgestrahlt. Waren Sie da involviert? T. Nein, das muss so ’52 gewesen sein. Da bin ich noch zur Schule gegangen. B. Hat man beim Theater über die Bühneninszenierung für das Fernsehen gesprochen, die doch eine ganz eigene Umsetzung des Stoffes war? T. Nicht zu der Zeit. Damals war das BE ja nicht wie später ein Museum, wo pro Jahr ein Bild restauriert wird, in den ersten Jahren gab es immer eine Menge Premieren. Nach Brechts Tod kam das Thema wieder auf mit der Frage, wie man seine Inszenierungen fixieren kann. Von der Mutter und von Katzgraben wurden Aufzeichnungen gemacht. Filmaufzeichnungen, nicht Fernsehaufzeichnungen. Und das alte Projekt eines Courage-Films, das 1950 an der Unmöglichkeit einer Zusammenarbeit mit Staudte gescheitert war, verwandelte sich in diese Dokumentarverfilmung, so wurde das genannt. In dem Wortungetüm wird die Zwitterstellung deutlich. Ich habe damals im Sonntag drüber geschrieben, ich fand das eine unglückliche Unternehmung. Das Spezifische des Theaters fiel aus, wurde nicht gezeigt, nicht wiedergegeben. Aber ein Film ist es auch nicht geworden. Später, Ende der Sechziger, als ich einige Zeit in Babelsberg an der Filmhochschule unterrichtet habe, in der Schauspielabteilung, gab es Überlegungen zu sowas: wie man Theater im Film oder im Fernsehen wiedergeben kann, und zwar als Theater wiedergeben. Überlegungen anhand einer Shakespeare’schen Clownsszene zum Beispiel. Der erste Auftritt des Clowns im Stück ist oft eine Solonummer. Der Clown spielt mit dem Publikum. Da liegt es nahe, im Bild das Publikum auch zu zeigen. Ich hatte mit Glatzeder den ersten Auftritt von Lanz mit seinem Hund Crab in Shakespeares Zwei Gentlemen probiert. Aber bis zu Aufnahmen ist es nicht gekommen, es ist bei Fotos und bei Überlegungen geblieben Der Blick grundsätzlich von oben, also die Kamera hoch und der Schauspieler als ganze Figur im Bild, Bildhintergrund ist dann der Bühnenboden. So bleiben die Figuren plastisch, sie haben um sich Raum. Die Überlegungen waren auch angeregt durch das westdeutsche Fernsehen und seine vielen Theateraufzeichnungen. Im Osten war das die einzige Möglichkeit, diese Aufführungen zu sehn. Ich bin ja fünfzehn Jahre, von ’61 bis ’76, nicht rausgekommen aus der DDR. Aufführungen aus der Zeit, von Kortner, Zadek, Grüber, Noelte, Stein kenne ich nur aus dem Fernsehen. Damals wurde noch Aufwand betrieben. Bei Kleiner Mann, was nun, nach dem Roman von Fallada, hat Zadek im Theater während der Vorstellung gedreht und hat im Atelier gedreht, und dann ein paar Wochen gesessen und geschnitten. Heute unvorstellbar. Das wird jetzt in drei Tagen erle-
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digt. Es wird verfernseht. Die Kameras fahren vor der ersten Zuschauerreihe hin und her, und was man zu sehn bekommt, ist die amerikanische Einstellung: Figuren vom Knie aufwärts, also flach statt plastisch, Bild statt Raum, Kino statt Theater. Innerlichkeit statt Körperlichkeit. B. Nun aber zu Die Fahne von Kriwoi Rog. Welche Bedeutung hatte diese Geschichte in der damaligen Zeit als Literatur und als Mythos? T. Erst einmal – es gab da Traditionen, die zurückgehen auf die Zeit vor ’33, und die sich erhalten haben über die Exilzeit hinweg. Die eine Richtung, vor ’33 organisiert im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, war ganz von der KPD dominiert. Die andere, auch verbunden mit den Organisationen der Arbeiterbewegung, und auch mit der KPD, aber doch selbstständig, unabhängig, gruppierte sich um den Malik-Verlag Wieland Herzfeldes, um Piscators Theater am Nollendorfplatz und um Brecht und seinen Arbeitskreis. Man könnte sagen, dass in dieser Produktion diese zwei Richtungen aufeinandertrafen. Gotsche gehört in die erste Tradition. Er war inzwischen ein hoher Funktionär, Sekretär von Ulbricht. Wir bezogen uns auf die andre. 1960 war Linie der Kulturpolitik der sogenannte Bitterfelder Weg. Die Forderung von Partei und Staat, die neue Realität zu gestalten war schon ein alter Hut, und im Grunde wussten alle, dass das, was der Forderung zu entsprechen suchte, Schrott war. Den Erfolg von Lohndrücker, als das Stück im Mai ’57 gedruckt worden war, machte der Eindruck aus, ganz allgemein, daß das zum ersten Mal anders war. Zugleich gab es natürlich auch schwere Bedenken, weil eben tatsächlich Realität zur Geltung kam. Wie sehr der Schock des 17. Juni 1953 Grund des Stückes ist, war aber damals dem Autor selber nicht klar. Und als sich dann so etwas wie eine Richtung entwickelte, als mehrere Stücke von mehreren Autoren da waren, fällte Ulbricht ein Verdikt über das sogenannte didaktische Lehrtheater – unklar, ob der Pleonasmus ironisch gemeint oder mangelnder Kenntnis geschuldet war. Der Bitterfelder Weg war ja ein Versuch, die Forderungen in einer Kampagne zu organisieren und dabei alles unter Kontrolle zu halten. Der übliche Voluntarismus. Alles sollte gleich wie von einem neuen Tolstoi oder Shakespeare sein. Der Wunschtraum war richtig große Kunst. Und die überzeugt dann alle, den Sozialismus gut zu finden. Eine maßlose Überschätzung der Wirkung von Kunst, die Hand in Hand ging mit einem Mangel an Respekt für das einzelne Kunstwerk und für den einzelnen Künstler. Die alte Debatte aus dem Bund vor ’33: Gestalten statt berichten kam dabei wieder hoch. Aber gerade die Aufzeichnungen von Biographien, die Memoiren und Tagebücher, die Reportagen, eben die Berichtsformen, kleine Formen wären nützlich gewesen. Da wurde Stoff gewonnen für die Literatur. Große Literatur
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hat immer Vorformen gehabt, kein Shakespeare ohne den Chronisten Holinshed und ohne den Berg an Renaissancenovellen aus Italien und Spanien und Frankreich. Das Kunst-machen-Wollen hatte verderbliche Auswirkungen. Da trat schnell der älteste Kitsch als Fortschritt auf. Man kann das gut sehn an Neutschs Roman Spur der Steine. Der transportiert ja viel Realität, ich hab den Vorabdruck in der Zeitung, im Forum, begierig gelesen. Aber das Romanhafte, die Liebesgeschichte, weicht das auf. Auch bei dem berühmten Film mit demselben Titel. Auf der anderen Seite Müllers Stück nach Neutsch mit anderem Titel, von Kafka: Der Bau. In dem Film ist die große Stelle am Anfang, wie die Brigade losmarschiert und den Volkspolizisten in den Teich wirft. Mit Recht hat Thomas Heise, film- und theatererfahren, das in seine Inszenierung von Bau am BE übernommen. Aber das sogenannte Menschliche, das Romanhafte, das Verhältnis, das der Parteisekretär mit der Ingenieurin hat und so weiter, sind Literatur, lügenhaft. Im Roman romanhaft und im Film Füllem. Da stimmt kein Tonfall. Was sich sozialistischer Realismus genannt hat, war ja auch die letzte Zuflucht von sehr alten Vorstellungen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, eigentlich ganz sozialdemokratischen, wie das Gute, Wahre, Schöne oder Durch Nacht zum Licht oder Die Kunst dem Volke. Sogenannte fortschrittliche Losungen standen gegen sogenannte reaktionäre, wie Kunst für Kenner. Der kommunistische Vorschlag, aus dem kleinen Kreis der Kenner einen großen Kreis zu machen, von Brecht, galt als sektiererisch. Leute wie Girnus, oder auch Ulbricht, waren groß geworden mit dem Reclamheft unterm Arm, und was sie wollten, waren Goldschnittausgaben. Goldschnitt für alle ist eine gute Übersetzung für den Begriff sozialistischer Realismus. Dagegen Brecht in einem seiner wenigen Rundfunk-Interviews: Was wir haben, ist ein Bildungstheater. Wir brauchen aber, meiner Meinung nach, ein Umbildungstheater. B. Und wie passt das Gotsche-Buch in diesen Kontext? T. Ende des Exkurses, ja. Das war das Umfeld, der Hintergrund, das war Kontext. Gotsche war das, was man einen Arbeiterschriftsteller nannte. Beruflich natürlich längst nicht mehr Arbeiter, sondern Parteifunktionär. Aber ebenso natürlich kannte er sich aus in Stoffbereichen, wo Leute mit einem bürgerlichen Umfeld sich nicht auskannten. B. Ist Otto Gotsche als Autor ernst genommen worden? T. Gotsche den Funktionär ernst zu nehmen war, denke ich, jeder gut beraten. Als Schriftsteller hat ihn kaum jemand ernst genommen. Aber natürlich nicht darüber geredet, oder nur, wenn man sich gut kannte, jedenfalls nicht öffentlich. Als ich den Roman gelesen habe, fand ich, dass er schlecht geschrieben ist. Aber obwohl schlecht geschrieben,
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kommen doch Figuren, Situationen, Handlung zustande. Und eben aus einem Bereich, den Literaten nicht kannten damals. Jedenfalls nicht viele – wie heute wieder. B. Haben Sie bei diesem Projekt mit Gotsche gearbeitet? T. Ich bin ihm nicht mal begegnet. Wir hatten einen Termin mit ihm, im ZK, Heiner und ich. Aber das war schon während der Proben, und ich bin deswegen nicht mitgegangen. Müller hat erzählt, dass er immer zusammengezuckt ist, in den langen Gängen in dem alten Reichsbankgebäude, jetzt ist es das Außenamt, wenn die Wachen, die da alle paar Meter standen, die Hacken zusammengeschlagen haben, als er vorbeiging. Bei Gotsche stand dann die Tür zu Ulbrichts Arbeitszimmer offen, man konnte reinsehn. Gotsche hatte den Text gelesen und hatte kaum Einwände. Ein kleiner Einwand war ganz interessant: Brosowski, die Hauptfigur, sagte bei uns im Juni 1941, als Deutschland Russland überfiel: Stalin bricht Hitler das Genick. Das war ein Satz von Thälmann, viel zitiert, und der musste bei Thälmann bleiben. Man könnte meinen, dass sie interessiert gewesen wären, dass das gezeigt wird als allgemeine Meinung unter Kommunisten. Aber nein, wenn das jedermann sagt, ist es kein Heldensockel mehr. B. Aber mit dem Ganzen war Gotsche einverstanden? T. Sonst war er einverstanden. B. Was für eine Konzeption hatten Sie denn mit dem Gotsche-Stück im Fernsehen? Hat Müller und Sie das Fernsehen als Massenmedium gereizt? Wollten Sie das austesten? T. Konzeption? Das war viel primitiver. Strategie kann man gar nicht dazu sagen. Zugrunde lagen immer reflexhafte Reaktionen auf die Situation, ganz pragmatisch. Wann immer die Tür einen Spalt aufging, hat man den Fuß reingerammt. Später, mit der Erfahrung der Jahre, wurden die Techniken der Subversion verbessert – wenn ich daran denke, mit welcher Raffinesse die Berghaus Anfang der siebziger Jahre die ZementUraufführung durchgebracht hat zum Beispiel. Nach zwölf Jahren Pause! Nach Umsiedlerin ist zwölf Jahre lang keins der großen Stücke von Müller gespielt worden, nur Bearbeitungen, Übersetzungen und sowas. B. Was hat Müller interessiert an dem, wie Sie sagen, Rohstoff der Romanvorlage? T. Hitler hatte ihm die Kindheit versaut, vom vierten bis zum sechzehnten Lebensjahr. Er hatte Rachebedürfnisse. Sein Vater war im KZ, dann lange arbeitslos, dann hatte er Ortsverbot. Der kleine Junge aus Sachsen kam in Mecklenburg in die Schule als Ausländer – und so weiter. Natürlich ist das eine Ausnahmebiographie unter Deutschen. Die
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Menge war braun. Einige waren neutral. Aber dagegen, mit all den möglichen Folgen, waren wenige. Und der Vater war nicht KPD, sondern SAP. Das war die linke Abspaltung von der SPD, in der auch Willy Brandt drin war, also nicht das alte gemütliche Milieu. Aber auch nicht das kommunistische mit seinen blinden Flecken, denn die Stalinisierung begann ja früh, Mitte der zwanziger Jahre, nach Lenins Tod. Durch die Arbeitslosigkeit hatte der Vater Zeit, sich mit dem Kind zu beschäftigen und Müller hat früh, vor der Schule, lesen gelernt. Und mit beiden Händen schreiben, er war eigentlich Linkshänder. Und er hat früh Sachen gelesen, die andere erst später lesen, er hat sie aus dem Bücherschrank genommen, der Vater war gebildet. Aber da war ein Unterschied, es war nicht der bürgerliche Bücherschrank. Auch die Klassiker standen da, aber der Blick drauf war anders. So schwierig das oft gewesen ist, die Armut und die Fremdheit in Mecklenburg und so weiter, es hat ihm Erfahrungen mitgegeben, die nur wenige gemacht haben. Das gehört auch hier zum Hintergrund. Arbeiter, und wie Arbeiter miteinander umgehen, das ist nichts Fremdes für ihn gewesen. Interessant ist, Müllers Lohndrücker zu vergleichen mit Hacks’ Antwort darauf: Die Sorgen und die Macht. Das spielt in einer Brikettfabrik, und Hacks hat erstaunlich genau beobachtet. Ich kanns beurteilen, ich hab das ja auch kennengelernt, als ich nach der Umsiedlerin-Uraufführung in der Braunkohle war. Hacks, als er in die DDR kam, ist in Betriebe gefahren und hat genau hingesehen. Aber es ist alles von außen gesehen. Sehr sehr genau. So wie Otto Dix malt. Der Fliegenschiss an der Wand ist Siegel der Wahrheit des Ganzen. Genaue Beobachtung – aber der Blick von außen. Nicht bei Müller. Der gehörte dazu. B. Vor dem Szenarium steht von Inge und Heiner Müller. Welchen Anteil hatten in der Arbeit er und welchen sie? T. Was die Zusammenarbeit von Inge und Heiner anlangt, ist so einiges zusammenspekuliert worden, auch ideologisch Gefärbtes, auch beeinflusst von ähnlichen Diskussionen über Brecht und seine Frauen. Das zu diskutieren, ist nun diese Arbeit eher ein ungeeigneter Gegenstand. Am deutlichsten sieht man das literarische Verhältnis, denke ich, wenn man Inges Hörspiel Weiberbrigade vergleicht mit Heiners Stück Weiberkomödie. Inges Eigenstes waren die Gedichte aus den letzten Jahren. Die hat sie versteckt. Wir haben sie erst gelesen als sie tot war. Auch Heiner viele erst dann. Ich habe ja, das steht nicht vor dem Szenarium, sondern nur im Vorspann der Sendung, auch mitgeschrieben an der Fahne. So eine Zusammenarbeit ist einfach praktisch. Ich bin gerade wieder auf die Frage gestoßen. Bei der Buchreihe Alt Englisches Theater Neu, in der ich, zusammen mit meiner Frau, meine Übersetzungen von Shakespeare
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und von Shakespeare-Zeitgenossen herausgebe, waren wir eben beim zweiten Band, Der Wechselbalg, ein Stück, das Thomas Middleton und William Rowley zusammen geschrieben haben. Collaboration war damals verbreitet, einfach weil es schneller geht. Der Bedarf der Londoner Theater war sehr groß. An der Art, so zu produzieren, hat sich nicht viel geändert seit dem 16. Jahrhundert, denk ich. Man bespricht sich über die Anlage, man gliedert den Stoff in Szenen – wir haben einfach Seiten aus Gotsches Roman rausgeschnitten und verteilt –, man schreibt, zeigt sich das Geschriebene, kommentiert und ändert, bespricht sich wieder und ändert wieder, und irgendwann, und zwar schneller, als wenn einer allein arbeitet, ist das Ganze fertig. Wir konnten die Technik der Figuren-Erzählung benutzen, die Müller schon in einer Fassung von Lohndrücker und dann in Korrektur entwickelt hatte. Das kam von Brecht, der es von ganz alten Theaterformen hatte, chinesischen und anderen. Und weiter verwandelt konnte es benutzt werden, um das Besondere, Spezifische, oder das Subjektive zu transportieren. Aber was ich da sage, ist eigentlich schon zu hoch gegriffen. Die Arbeit war eine Gelegenheitsarbeit, eine Nebensache – ganz abgesehen davon, dass auch das Ergebnis, die Sendung nicht gut war, durch die widrigen Umstände. Während ich an das Schreiben eine angenehme Erinnerung habe – ich denke, dass ich eine Menge gelernt habe dabei, ich war ja ganz jung damals, Anfang zwanzig – ist die Erinnerung an die Produktion in Adlershof scheußlich. Das war ein Albtraum. Mit der Besetzung fing es an. Man war abhängig vom Spielplan der Berliner Theater, denn die Sendung am Abend war live. Aufgezeichnet wurde erst während der Sendung. Ich wollte hauptsächlich Schauspieler vom Berliner Ensemble, das BE hatte aber eine Spielplanänderung, kurzfristig, als der Sendetermin schon feststand. Die ganze Besetzung purzelte, und der Probenbeginn hat sich verzögert. Deshalb hatte ich keine Zeit, mitzugehn zu Gotsche. Eine Erfahrung weniger. Es blieb ganz wenig Probenzeit übrig. Grauenhaft. Es gab damals in der DDR noch wenig Schauspieler, die halbwegs glaubhaft Arbeiter spielen konnten. Das war auch einer der Gründe für die Arbeit mit Müllers Stücken an dieser Studentenbühne der Hopla in Karlshorst, mit jungen Leuten, die ihrer Herkunft und Vorbildung nach sich auskannten in solchen Bereichen, anders auch als an anderen Studentenbühnen, zum Beispiel an der der Humboldt-Universität. Im Programmheft der Umsiedlerin-Uraufführung habe ich eine Karikatur aus dem Eulenspiegel abgedruckt, von Behling, die die Lage treffend darstellt: ein Schauspieler, vier Mal in derselben klassikanischen Pose: Standbein Spielbein und die Arme theatralisch ausgebreitet, aber in vier verschiedenen Kostümen: Shakespearezeit, Molierezeit, Goethezeit und
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Behlings Karikatur des Zustands der Schauspielkunst in der DDR (aus der Satirezeitschrift Eulenspiegel) war schon im Programmheft der UA von Müllers Umsiedlerin abgedruckt.
als gegenwärtiger Prolet. Sehr treffend. Dann war damals auch die Technik noch primitiv. Die drei Kameras, englische, fuhren auf drei Füßen, die 1x1x1 Meter auseinanderstanden, näher kam man nicht ran. Die Höhe war auch nicht veränderbar. Die Probenzeit für die Kamerabewegungen war minimal. Es war heillos. B. Ich will nochmal auf das Drehbuch kommen. In dem sind auch Dokumentarfilmsequenzen angegeben. Die kommen aber in der Sen-
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dung nicht vor. Die Filmkopie basiert auf einer kürzeren Fassung als die ursprüngliche – T. Nein! Es gibt keine Fassungen. Es ging immer nur um die Sendezeit. Es musste um soundsoviel gekürzt werden. Das ging so bis zum letzten Augenblick. Anschließend war eine Sportsendung, es war gerade Friedensfahrt. Sport ging immer vor. Die Deutschen mussten ruhig gehalten werden, auch von der SED, mit Ufa-Filmen und mit Radfahren. Also sind während der Sendung noch Szenen rausgeschmissen worden. B. Noch während der Sendung?! T. Ja, ja. Auf Ansage. B. Sind denn die Dokumentarsequenzen, die im Drehbuch stehn, gar nicht ausgesucht worden? T. Ich glaube nicht, dass es dazu noch gekommen ist, nein. B. Können Sie sich erinnern, wie diese Zwischentext-Lösung mit dem Sprecher Hilmar Thate aussah? T. Ich weiß es nicht mehr, und die Tonspur fehlt ja. B. Wie kam der dazu? War er damals schon bekannt? T. Wir kannten ihn vom Gorki Theater, aber damals wird er schon am BE gewesen sein, da hat er den Givola übernommen im Ui. Im Gorki Theater hatte er in Lohndrücker und in Korrektur gespielt. B. Und Sie haben ihn zu diesem Projekt dazugeholt? T. Das ging. Er musste ja am Abend der Sendung nicht da sein. Die Tonaufnahmen der Zwischentexte wurden vorproduziert. B. Mit der Musik von Siegfried Matthus war noch eine Ebene eingebaut. Was hatte die für eine Bedeutung? T. Keine Ahnung mehr. Matthus kannte ich ganz gut. Er war auch Akademieschüler, von Eisler, und er hat auch für die Studentenbühne komponiert. B. Und haben die Fernsehdramaturgen Einfluss genommen? T. Ich erinnere mich nur an einen Krach mit dem Abteilungsleiter. Da ging es um die Striche. B. Genannt wird in den Archivunterlagen Hans Kohlus. T. Kohlus war der stückführende Dramaturg, so hieß das. Zu dem hatten wir ein gutes Verhältnis. Er gehörte zu den wenigen, die uns geholfen haben, später, in der Zeit, als keiner mit uns geredet hat und es uns nicht gut ging, nach Umsiedlerin. Wir kriegten durch Kohlus einen Auftrag, nach alten amerikanischen Kurzgeschichten kleine Fernsehspiele zu entwerfen, das war soundsoviel Geld. Die wurden nicht produziert. Er hat das gemacht, um uns zu helfen. B. Und kannten sie die als Redakteurinnen aufgeführten Sophie Schirmeister und Ilse Rubinstein?
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T. Keine Erinnerung. Ich weiß auch nicht mehr, wie dieser Abteilungsleiter hieß. B. Werner Fehlig? T. Ich glaube ja – ja. War das der ehemalige U-Boot-Kommandant? B. Das kann ich Ihnen nicht sagen. T. Der hatte diesen Habitus. An den Krach erinnere ich mich. Die ordneten einfach an. Fehlig war befehlsgewohnt. B. Und im Drehbuch steht neben Ihnen als Regisseur Helmut Söllig. T. Das war der Mann vom Fernsehen. Der hat die Bildregie gemacht. B. Und wie haben Sie sich mit ihm verständigt? Wie haben Sie beide entschieden, wie das abläuft? T. Wenn ich mit den Schauspielern probiert habe, hat er sich nicht eingemischt. Wir sind die Kameraeinstellungen durchgegangen, und dann ging alles in dieser unbeschreiblich kurzen Zeit vor sich. Da gab es auch Krach. B. Also für die Bildregie war Söllig verantwortlich, die Einstellungsgröße, die Kamera – und Sie haben die Inszenierung gemacht? T. Ungefähr so. B. Sie sagten, dass Sie eigentlich BE-Schauspieler haben wollten. Kannten Sie die Darsteller vom Fernsehen, die dann besetzt wurden? T. Die kannte ich vorher nicht, nein. Walter Richter-Reinick, der den Brosowsksi gab, mehr Kleinbürger als Arbeiter, hat damals ziemlich viel gespielt – also der alte, der Vater. Später hat auch der Sohn viel im Fernsehn gespielt, Dietmar Richter-Reinick. Der war der Regieassistent. Angenehm fand ich unter den Schauspielern den jungen Wolfgang Schust, der den Sohn gespielt hat. Die Mutter Brosowski spielte Lotte Loebinger vom Gorki. Sie war seit dem Wangenheim-Film Kämpfer, im Exil, in der SU gedreht, Spezialistin für proletarische Mütter. Sie ist später immer besser geworden, je älter sie wurde. Zuletzt hab ich sie gesehn, wie sie in meiner Übersetzung von Shakespeares Was Ihr wollt die Clownsrolle gespielt hat, immer noch am Gorki Theater, den Narren Feste als Clochard, Anfang der neunziger Jahre. Wunderbar. Interessant ist eine kleine Episode während der Proben zu dem Gotsche. Da war eine Szene, wo die Brosowskis während des Krieges heimlich Radio Moskau hören. Und der Moskauer Sender sagte zu Beginn seiner Sendungen in deutscher Sprache immer sowas wie Schlagt die Faschisten. Das stand in unserm Text. Die Loebinger war aber dabeigewesen in Moskau. In Wirklichkeit hieß es: Tod den deutschen Okkupanten. Das vergess ich nicht, wie ihre Augen geleuchtet haben, als sie das zitiert hat in einer Probenpause, wir saßen auf der Türschwelle des Probenraums – nicht das Routineleuchten der Heldin vor der Kamera, sondern echt. Wir
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wussten das nicht beim Schreiben, und die historische Genauigkeit wäre in der DDR, im Roman wie im Fernsehen, unmöglich gewesen. B. Welche Lehren haben Sie aus diesem Fernsehengagement gezogen? T. Nie wieder Adlershof. B. Und haben Sie nochmal fürs Fernsehen gearbeitet? T. Nein. Aber als ich im Oktober ’89 meinen Vertrag als Schauspieldirektor in Düsseldorf gelöst hatte und nach Ostberlin zurückkam, hat die Ostberliner Volksbühne meine Münchener Inszenierung von O’Caseys Ende vom Anfang übernommen. Die hatten wir schon überall gespielt, in Westberlin, in Basel, Düsseldorf, Hamburg, und dann war es die letzte Theateraufzeichnung vor der Liquidation von Adlershof, allerdings in dem üblichen 3-Tage-Verfahren. Ich muss dazu noch sagen, dass mein Desinteresse nicht am Medium gelegen hat. Das westdeutsche Fernsehen hatte ja eine Zeit, wo es sehr gut war. Da waren ganz erstaunliche Sachen – wenn ich zum Beispiel an Produktionen von Zadek denke, Rotmord nach dem Toller-Stück von Dorst oder Der Pott von O’Casey. Und der Sternheim, den er gemacht hat. B. Erinnern Sie sich noch an Stücke im DDR Fernsehen, von denen Sie sagen würden, das hat mir gefallen? T. Die letzten zehn, nein, fast fünfzehn Jahre, war ich selten in der DDR. Und auch vorher hab ich nicht viel Ostfernsehen gesehn. Die Polizeiruf-Reihe hat, glaub ich, ziemlich oft Realität transportiert. Aber es gab auch andere Effekte des Fernsehens. Büchner ist wenig gespielt worden in der DDR. Dantons Tod lange gar nicht. Und dann gabs eine Inszenierung des Stücks im Fernsehen, von Fritz Bornemann. Da war absurderweise der Materialist Danton das Verräterschwein und Robespierre der positive Held. Bornemann hatte den Trick gefunden, wie man’s umbiegt. Ich habe dabei verstanden, wie viel Jakobinismus in Lenins Politikkonzept gesteckt hat. Das war nun grade nicht beabsichtigt. Es ging ja immer um die richtige Abbildung. Und was richtig ist, entschied immer die Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten, wie Robert Havemann das Große Haus genannt hat. B. Reaktionen auf Die Fahne von Kriwoi Rog? Gab es welche? T. Minimal. Zwei oder drei Rezensionen, freundlich. Aber das Ganze war ja auch nicht gut. Meine Freunde fanden es schrecklich. Ich auch. B. Haben Sie sieben Jahre später den gleichnamigen DEFA-Film von Kurt Maetzig gesehn? T. Nein. B. Großes Epos. T. Ich hab ja seine Thälmann-Filme gesehn, als sie neu waren. Das waren auch Monumentalgemälde.
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B. Was hatten Sie für ein Gefühl, als Sie das Fernsehspiel nach über vierzig Jahren wiedergesehn haben? T. Keins.
L’AUTOMNE PRUSSIEN. VIER ANSICHTEN (1973) Suum cuique
I Wandel vollzog das was und ob es dreht Kehrt um kehrt ein wie wohl weil man versteht Pulsierend preußisch-deutsch der Pflege wegen Dieses Jahrzehnt zu füllen mit entgegen Den Gegenstand zu zieht Werbung jahrjährlich Die Stadt der Reaktion liegt lag log ehrlich Und immer treu und redlich Industrie Schlösser und Gärten Lernen und Forschen und wie Zukunft erfüllt die sichert der das Leben Zieht durch im Sinne Grund legt staatlich eben Ecke Luxemburgstraße Spitzweggasse abseits Zufällig dort wo wie sonst auch bereits II Wie für das Wirtschaftsleben dieser Reiz Im Wettbewerb zum Zeichen daß der ArbeitsErfolg auf den Geburtstagstisch gezollt Unter Gewinnplan aber über wollt Weniger nicht und mehr Bilanz zu Ehren Des Ach und Krach ein Bildnis fand von deren Plandisziplin die Waren zu gelingen Und ökonomische Gesetze zwingen Die Konsumgüter sich zu übergeben Tritt ein aus an tritt Tritte in das Leben August dreizehnmal Einundzwanzig schlägt Handelnd Zukunft und aufrecht wandelnd prägt III Rechtwinklig Träume an und ab gelegt Zu rasch zu Gast zu Haus zu unbewegt
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Abends Morgens Mittags und so täglich Gelächter Wie es Euch gefällt und pfleglich Mozart unzart Zigarre Kaffee gegen Methusalem-Rum Ruhm schlürf deswegen Zeugt Gehen auf der Stelle siegreich Sieg Übergerundet Sport Spott sportlich stieg Steigt bühnenunten leibhoch über Haupt Das Andere die Schönheit Schein geglaubt Hoffnung Stern fuhr querein und gab den Stab Warten gewartet warten Spiel bergab IV Schnell langsam ruhend angeregt auf ab Aus ein hin her kurz lang süß bitter Grab Wiege gewogen leicht schwer fällt fällt steigt Hinab hinauf aus sich in sich und zeigt Uralt neu immer niemals unbekannt Vertraut stets wie so wie fremd und verwandt Ist nah fern anders gleich wie ferner näher Verwandelt unverwandelbar und zäher Noch als als noch hinwieder also doch Unter und über heiß kalt zu und Loch Weiß schwarz gestanden sitzend Spiegel und Spiegelnd gespiegelt wankend fester Grund
ZAUBER UND ARBEIT Das Gespräch mit Theo Girshausen (am 15. Januar 1989) wurde in der Düsseldorfer Theaterzeitschrift Argo gedruckt. Es hat zum Gegenstand T.s Düsseldorfer Inszenierung von Shakespeares Der Sturm, die im Herbst 1988 Premiere hatte, und ist eine Fortsetzung des Gesprächs über T.s Shakespeare-Inszenierungen, das Girshausen mit ihm geführt hatte für sein Buch B. K. Tragelehn, Theaterarbeiten. Shakespeare Molière (Bln. 1988, Bd.1 der Beiträge zu Theater, Film und Fernsehen aus dem Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin/West), nachzulesen auch im ersten Lesebuch Recherchen 53, Bln. 2006, S. 213ff. Drei Anmerkungen: Carrington war die Hauptfigur einer damals erfolgreichen Fernsehserie, ein amerikanischer Businesman; der Darsteller des Königs und sein Kostüm ließen ihn dieser Figur sehr ähnlich sehen. Kö wird in Düsseldorf die Nobelmeile Königsallee genannt. Müllers Weimarer Rede meint seine Festrede zu den Shakespeare-Tagen im Vorjahr, die im Programmbuch der Aufführung abgedruckt war. Die Aufführung ist übrigens, wie T. im Gespräch ankündigt, ins Kleine Haus übernommen worden und dort noch lange ausverkauft gelaufen.
G. Wie in anderen Inszenierungen von dir wird der Zuschauerraum einbezogen als Spielort. Der Gegensatz der Räume scheint mir aber im
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Sturm deutlicher zu sein als sonst. In die Bühne hinein bewegen sich am Anfang die Schiffbrüchigen aus dem Zuschauerraum. Und Prospero tritt am Schluss zu seinem Epilog heraus vor den Vorhang. Dazwischen aber bildet die Bühne eine eigene Welt, von den Zuschauern deutlich abgegrenzt. Prosperos Insel präsentiert sich als autonomer Kunstraum. T. Als autonomer Kunstraum? Ich hoffe nicht. Oder nur in dem ganz konkreten Sinn, wie das Stück ihn ja festsetzt. Die Bühne ist die Insel. Die sich auf ihr befinden, sind isoliert von der Welt. Und die Welt funktioniert so, wie sie eben funktioniert. Deswegen der andere Raum. Der Raum für ein Experiment, das Arbeit, Wissenschaft, Kunst in eins denkt. D. h. der Raum ist ein Laboratorium. Und der normale übliche Politikverlauf in der Welt, wie er Prospero in Mailand widerfahren ist, kann, unter den Sonderbedingungen dieses Labors, umgekehrt werden. Eine beherrschte Kettenreaktion, sozusagen. Herrschaften aus dem Parkett, aus der Welt der normalen üblichen Verbrecher, werden auf die Bühne geholt, auf die Insel. An der Spitze dieser Carrington von der Kö. Und dann sind sie da eingeschlossen. Wenn das 19. Jahrhundert das Stück eine Romanze genannt hat, könnten wir im 20. es eine politisch-philosophische Parabel nennen. Ihr Gegenstand ist die Macht der Magie und die Magie der Macht, ihr Gebrauch und ihr Missbrauch. Und ihre Utopie ist am Ende des Stücks, Prosperos – des untoten Hamlet, wie Heiner Müller ihn in seiner Weimarer Rede genannt hat – Absage an diese rohe Magie. Dieser Begriff der Magie umfasst beides, Missbrauch und Gebrauch. Dem unterliegt – oder liegt auf – die Alternative, vor der wir in unserm Jahrhundert stehn, so, wie sie die heute vor siebzig Jahren ermordete Rosa Luxemburg formuliert hat: Kommunismus oder Barbarei. Vielleicht siegt die Barbarei, und der ganze große Ball löst sich, wie es im Stück heißt, auf: in Luft, in dünne Luft. Auch die, die Macht wollten, um die Macht von Menschen über Menschen abzuschaffen, haben dieses Versprechen nicht gehalten. Und Prosperos Zerbrechen des Stabs und Versenken des Buchs ist heute noch Utopie wie vor viereinhalb Jahrhunderten, als das Stück geschrieben wurde. Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt, heißt es in Müllers Rede. G. Der Sturm ist nun nicht, wie frühere Stücke Shakespeares, für die Bühne des Volkstheaters geschrieben, sondern für ein Saaltheater. Ein exklusiver Aufführungsort, der vor allem von höfischem Publikum besucht wurde, Trennung von Zuschauerraum und Bühne, Perspektive und dadurch konstituierte klare Ordnung einer autonomen Welt des Spiels. Das spiegelt sich in der Konstruktion des Stücks, seiner dramaturgischen Ordnung und Ökonomie, da herrscht zeitliche Einheit und Symmetrie in den Beziehungen der Figuren, und Elemente der höfi-
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schen Theaterunterhaltung, wie das Maskenspiel, sind einbezogen. Haben solche theaterhistorischen Voraussetzungen, die ja auch etwas mit historischen Bedingungen und gesellschaftlichen Beziehungen zu tun haben, in euren Überlegungen eine Rolle gespielt? T. Eine Rolle gespielt schon. Aber die historischen Befunde sind nicht so eindeutig. Und die Entscheidungen heute fallen aus den Interessen von heute. Das Stück ist offenbar sowohl im Blackfriar’s als im Globe gespielt worden. Und das Publikum war am Anfang des Jahrhunderts noch lange nicht so geschieden, dass man das eine, das im Saal, generell höfisch nennen könnte. Die Zentralperspektive, wie das klassische französische Theater sie kennt, wird sich in England erst in der Restauration durchsetzen, mehr als fünfzig Jahre später. Perspektive hat ja etwas Bedrohliches. Ich denke, dass sie damals so empfunden worden ist – jedenfalls auch so empfunden. Deutlich zu sehn ist das auf den Stichen, die das Programmbuch illustrieren. Die sind von 1604. Und heute empfindet man wieder so. Anfang und Ende der Perspektive. Jedenfalls ist das gut zu gebrauchen für das Stück. Man braucht Abgeschlossenheit, Eingeschlossenheit. Denn diese Leute können ja nicht weg! Prospero ist im Exil, und er ist gefesselt an diese Insel, ganz so wie Robinson an seine. Mit allen Überlebensproblemen. Bis seine Chance kommt. Und die schiffbrüchigen Herrschaften können auch nicht weg, sie sind seine Gefangenen. Die Abgeschlossenheit oder Eingeschlossenheit kann man natürlich so herstellen und anders. In einem Theater mit einer Anordnung des Publikums wie im Globe geht es auch. Oder sogar besser. Man braucht dann vielleicht keine besonderen Maßnahmen. Die Direktheit der Beziehung von Schauspieler und Auditorium, die für Shakespeares Text günstig ist, ist dann leichter. Wir wollen das Stück, wenn es durch die Abonnements gelaufen ist – und Was Ihr wollt auch – im Kleinen Haus weiterspielen, mit der gleichen Raumordnung wie bei Müllers Macbeth nach Shakespeare. Also ein Verfahren wie im Globe, wo ja die Raumordnung auch vorgegeben war und verwendet wurde für alle Stücke. Was dann wegfällt, ist ein Anspruch von Hochkultur, das Moment des Repräsentativen, das die Lebendigkeit der Berührung von Schauspielern und Zuschauern behindert. Denn der Charakter des Breitwandkinos, den unser Großes Haus hat, ist ja verschränkt mit einer unreflektierten Vorstellung von kultureller Repräsentation. Die Bühne Axel Bäses geht von dieser Voraussetzung aus und sucht sich in ihr gegen sie zu behaupten. G. Die Clowns in eurer Aufführung stellen eine Verbindung her zwischen Bühne und Zuschauerraum wie im elisabethanischen Theater. Sie sind in dem späten Stück, scheint mir, stärker als in früheren, eingebun-
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den in Ordnung und Ökonomie des Stücks. Bei euch redet Trinculo die Düsseldorfer hier und heute an. Kann man das nicht die Zurücknahme eines historischen Fortschritts nennen? T. Das geht wieder aus von der Vorstellung eines tiefen Einschnitts in der Entwicklung des Theaters damals, und zwar was Grundformen anlangt, Bühnenkonventionen. Aber es waren Verschiebungen, Gewichtsverlagerungen und kein Einschnitt, quantitative Veränderungen und nicht qualitative. Als wir über die Totengräberszene in Hamlet geredet haben, für das schöne Buch, das du gemacht hast über meine Aufführungen, hab ich zitiert aus den Anweisungen Hamlets an die Schauspieler. Der Satz, den ich jetzt noch mal zitiere, war gestrichen in der Münchner Aufführung – nicht aus irgendwelchen konzeptionellen Gründen, Widersprüche lasse ich gern stehn, sondern einfach, weil der Abend nicht zu lang werden sollte. Der Satz heißt: Lasst die, die bei euch die Clowns spielen, nie mehr sagen als für sie geschrieben ist. Das klingt eindeutig, nicht? Aber in München war da ein ganzer Abschnitt freier Text. Der war dann jedes Mal anders, immer tagesaktuell. Dazu hab ich gesagt – vor dem Hintergrund der Diskussion, ob man das darf in einem Stück von Shakespeare, so aus der Handlung in die Gegenwart sprechen, einer politischen Diskussion, denn es gab ja einen deutlichen Versuch von dem bayerischen Kulturministerium, Zensur auszuüben – ich habe dazu gesagt, dass offenbar die Situation damals so gewesen ist, dass es eine Tradition des Improvisierens gab und die Stückeschreiber ein Interesse hatten, die Figur stärker in den Handlungskontext einzubinden – und unser Interesse, in einer Theatertradition, die Improvisation kaum oder nur für die Proben kennt, geht eben in die entgegengesetzte Richtung. Ob man das Zurücknahme nennen kann? Fortschritt ist jedenfalls nichts Geradliniges – und im Grunde ist wurscht, wie mans nennt. Ich halte fest an dem Clown als Tabuverletzer. Und nehme so eine Tradition auf, die zurückgeht bis zu den Saturnalien, und nachlebt in Fastnacht, Karneval, Fasching. G. Ja, ja, ich weiß. T. An der Stelle, die du meinst, Trinculos erster Auftritt, seine Vorstellung, gibt es übrigens gar keine Differenz zum Text. Bei Shakespeare heißt es England, wo Meyer-Goll sagt Düsseldorf, d.h. in Shakespeares London hat Trinculo über England geredet mit den Londonern. Bei uns könnte man vielleicht in Berlin sagen Deutschland, aber in Düsseldorf schien es uns angemessener zu sagen Düsseldorf. G. Das Stück spielt an einem utopischen Ort: einem Nirgendwo, erfüllt von Mythos und Magie. Und zugleich ist es, aus den Erfahrungen am Anfang des 16. Jahrhunderts, ein höchst realer Ort: die gerade entdeckte
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Neue Welt. Die Faszination, die von ihr ausging, wird im Stück reflektiert, die Hoffnung auf eine Alternative, auf gerechtere, auf natürliche Beziehungen unter den Menschen. Bei euch begegnet Natur merkwürdig gebrochen, eben gebannt in einen Kunstraum. Die Utopie erscheint dadurch relativiert. Ist das ein Verweis auf eine in ihr enthaltene Ambivalenz? T. Aus deinem Insistieren auf dem Begriff Kunstraum höre ich ein Unbehagen heraus, oder? Möglicherweise ist das, jenseits unterschiedlicher Lesarten, eine Irritation durch die Dämpfung, die die Vorgänge des Stücks in der Aufführung erfahren, und zwar durch die Weite des Zuschauerraums gegenüber der Enge des Bühnenausschnitts. Das ist ein bisschen so, als ob man weit ausholt mit dem Hammer, aber schnell noch einen Filz dazwischenschiebt. (Lachen.) Ich weiß, dass da ein Problem ist. Ich denke, dass die Aufführung es im Kleinen Haus, und zwar ohne inhaltliche Änderung, leichter haben wird. Aber ich will deiner Frage nach einer Ambivalenz nicht ausweichen. Ich meine, dass es sich nicht um das handelt, was die Frankfurter Schule Dialektik der Aufklärung genannt hat. Das ist ein Erklärungsnetz, dessen Allgemeinheit, dessen Weite zu viel Konkretes, historisch wie aktuell Konkretes, durch seine Maschen fallen lässt. Dann bleibt nur Fatalismus. Dass die Insel ein utopischer Ort ist, denk ich aber auch nicht. Sie ist Mühsal für Prospero, und sie ist Horror für die Herrschaften. Es ist nicht einmal sicher, dass der Inselhorror wirkt. Die Handlung endet wie ihre Vorgeschichte begonnen hat. Sind die Herrschaften etwa geläutert? Die Bedingungen, unter denen sie weitermachen werden, nach ihrer Rückkehr, werden keine anderen sein. Und vor allem: Es ist nicht nur eine moralische Frage. Was aber heraussteht, wie schon gesagt, ist Prosperos Verwerfung der rohen Magie. Die steht fremd und mahnend am Ende. Sie hält den Schluss offen und hinterlässt eine Aufgabe. Prosperos Epilog reicht sie weiter ins Publikum. Überraschenderweise wäre die Lösung dieser Aufgabe unsere Chance. G. Du siehst in dieser Insel nicht so etwas wie in Wie es Euch gefällt der Ardenner Wald es ist? T. Nein. Aber vielleicht, ich gebe das zu, hat das ebensoviel mit mir zu tun wie mit den Stücken. Als ich Wie es Euch gefällt gemacht habe, habe ich im Ardenner Wald so etwas gesehn, in diesem zauberischen Ort, der das Verwirrspiel der Liebe mit all seiner Produktivität möglich macht – mit all der Ironie der ökonomischen Begründung, dem Einkauf in die damals modernste Wirtschaft, Schafzucht für die Anfänge der Textilindustrie. Und diese Welt hat auch die Kehrseite: den Hunger und die Winterstürme für die exilierten Feudalen. Ambivalenz – wenn du auf
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das Wort bestehst. Im Rückblick kann ich daran nichts Falsches sehn. Im Gegensatz zum Rückblick auf meine erste Maß für Maß-Inszenierung. Das Stück wollte ich unbedingt nochmal machen, weil ich es später anders gesehen habe. Einmal für den Staat und einmal gegen den Staat. Wie würde ich den Wald von Ardenne heute sehn? Ich weiß es nicht. Ich bin auf diesen Punkt gekommen – dass es vielleicht mit mir so viel zu tun hat wie mit dem Stück –, weil mir ein Kollege, der mich lange kennt, nach der Besichtigung von Sturm gesagt hat: Man sieht, wie gerne du wieder in Mailand wärst. Ich habe mich erschrocken, denn ich wusste sofort, dass er recht hat. Ich hab das nicht gedacht bei der Arbeit. Aber es stimmt. G. Hast du Heimweh nach der DDR? T. Tja – Umbau ohne mich? Nein. Aber noch ist es nicht so weit. Andererseits, ob mir nun so ein subjektives Moment bewusst ist oder nicht, ich mache, was ich mache, mit dem Bestreben, es in der Sache zu begründen. Was die Veränderung in der Theaterform angeht, meine ich, dass es da keinen tiefen Einschnitt gegeben hat. Den setzt erst die Restauration, ein halbes Jahrhundert später. Ich meine allerdings, dass die Erschütterung der elisabethanischen Balance tief eingewirkt hat auf Shakespeares Schreiben. Es war wirklich, wie es in Hamlet heißt, Abdruck des Zeitalters. Und das Neue kam herauf, wie es bei Marx heißt, aus allen Poren blut- und schmutztriefend. Dieser Fortschritt – und die Kolonisierung gehörte auch dazu – war in England von sozusagen klassischer Brutalität. Und seine klassische Darstellung hat er gefunden in Marx’ Kapital, in dem Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation. Ich habe mal versucht, diesen Bruch kurz zu beschreiben, ein Abschnitt in einem Aufsatz für Theater der Zeit. Du kennst das. Im Grunde geht es zurück auf Robert Weimann, auf sein erstes Buch Drama und Wirklichkeit in der Shakespeare-Zeit, das Ende der fünfziger Jahre herauskam und seinen Ruhm begründet hat. Ich kann mich gut erinnern, welchen großen Eindruck es uns gemacht hat. Die Kenntnis von, die Einsicht in diese historische Konstellation ist für die Arbeit an einer Figur wie Prospero natürlich nützlich. Das Individuum, der große Einzelne, sozusagen gerade erfunden, ist für eine kurze Zeit nicht mehr der feudalen Beschränkung unterworfen und noch nicht der bürgerlichen. Engels hat von seiner Riesenhaftigkeit gesprochen. Das ist ein Vor-bild. Das hat sich schnell herausgestellt. Und schmerzhaft, einerseits – und es wirkt weiter, andererseits. Die Riesen, bei Marlowe z.B. Faustus und bei Shakespeare z.B. Romeo und Julia, Sieger im Untergang, gehn in den späteren Tragödien Shakespeares anders unter. Hamlet ist kein Sieger, Lear ist kein Sieger. Sie
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zerbrechen. Aber das herzzerreißend gute Ende von Wintermärchen und Sturm – Prospero der untote Hamlet – geht nicht dahinter zurück, sondern – sozusagen nach innen. Und gerade dadurch ins Publikum. Realisiert werden kann dieses Bild vom Menschen, das so schnell und hoch aufgerichtet wurde wie es schnell und schmerzhaft zerbrochen ist – real werden kann es erst in einer Assoziation, wo die freie Entwicklung eines jeden, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, Bedingung der freien Entwicklung aller ist. Zukunftsmusik. G. Die Neue Welt wurde mit brutaler Gewalt in Besitz genommen, sicher, und dieser historische Vorgang ist im Stück enthalten. Prospero ist zwar einerseits Erzieher von Miranda und auch von Ariel – ist diese Rolle deshalb mit einem Kind besetzt? –, aber er ist auch Herrscher. Caliban ist der Knecht, der mit Gewalt zur Knochenarbeit gezwungen wird. Er ist für Prospero bloßes Werkzeug. Ist Caliban nicht der, der den ganzen Humanismus Prosperos, die utopische Perspektive, von vornherein zunichte macht? Sie beruht, man sieht es dem Opfer an, auf Gewalt und Unterdrückung. Was Caliban von Prospero lernen kann, sind nur die Flüche, die sich gegen den Unterdrücker richten. T. Das ist nicht wenig. Der Widerstand braucht die Sprache. Sie wird gelernt vom Unterdrücker und wendet sich gegen ihn. Und die Arielbesetzung – Philipp hat eine ganz außerordentliche Anmut. Die kommt von seiner Unabhängigkeit. Und die haben wir versucht, zu erhalten und nur die absolut notwendigen Verabredungen zu treffen mit ihm. Die Unabhängigkeit, und die Anmut, die daraus kommt, Eigenschaften des Darstellers, Philipps, sind auch Eigenschaften der Figur, Ariels. Das führt einerseits zum Kampf, in der ersten Szene. Prospero muss, in einer Situation, wo es für ihn ums Ganze geht, wo es darum geht, seine einzige Chance wahrzunehmen – da muss er sozusagen die Truppen in Schuss halten, und da ist er nicht fein. Andererseits liebt er Ariel, und der Abschied von Ariel fällt ihm schwer. Erzieher? Erziehung wäre ein zu enger Begriff, ein zu enges Bild für das Verhältnis, denke ich. Zu rationalistisch. Und dann – es ist mir angenehm, dass Philipp den Text nicht interpretiert. Mühe hab ich eher, die Schauspieler davon abzuhalten, den Text zu interpretieren. Dass das als Verlust von Poesie beklagt wird, wirft nur Licht auf den gängigen Poesiebegriff. Das heißt, Begriff kann man gar nicht sagen, weil eben ein Griff nicht stattfindet, sondern nur vage etwas Vertrautes und Angenehmes vermisst. Aber Poesie ist, wenn sie etwas ist, etwas Unverhofftes. Überraschung, Entdeckung – jedenfalls nicht vertrauter Wohlklang. G. Und Caliban?
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Prospero (Michael Altmann) und seine Feinde in seiner Macht.
T. Da ist bei uns ganz am Ende dieser Moment, stumm, wo Prospero und Caliban, Prospero bewaffnet mit Buch und Stab, einander gegenüberstehen Auge in Auge. Und Prospero geht aus dieser Konfrontation in den Epilog, er wendet sich weg und zerbricht den Stab und versenkt das Buch. Da bin jetzt ich es, der sich fragt, ob das nicht schon zu sehr den Charakter der Erklärung hat, Interpretation ist. Aber ob man, was Prosperos Verhältnis zu Caliban angeht, sagen sollte, dass die utopische Perspektive von vornherein zunichte gemacht wird, weiß ich nicht. Es klingt mir zu sehr wie ein nur moralisches, ungeschichtliches Urteil. Prospero ist Humanist und er ist Unterdrücker. Beides. Widersprüche sind nicht widersinnig, es sind Hoffnungen. Caliban lernt wenigstens fluchen. Und es geht Shakespeare und es sollte auch dem Theater nicht um Urteile gehen. Nicht um Antworten, sondern um Fragen. Es geht darum, die Fragen immer genauer zu stellen. Antworten, Urteile sind Sache der Zuschauer. Wenn das dein Urteil ist als Zuschauer, ein Unterdrücker von vornherein – G. In Playing Shakespeare sagt John Barton: Jeder, auch jeder Regisseur, geht aus von seinen Vorurteilen, auch seinen politischen Vorurteilen. T. Sicher. Aber das Wort Vorurteil ist bei Barton neutraler, als du es gebrauchst, es klingt nicht so pejorativ. Brecht hat recht, denke ich, wenn er, Lichtenberg folgend – Brecht kannte die Lichtenbergstelle, weil Benjamin, in einem Aufsatz über Brecht, sie zitiert hat – er sagt, es kommt nicht auf die Meinung an, sondern darauf, was die Meinung macht. Ganz praktisch: Die Meinung oder meinetwegen das Vorurteil
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ist in der Arbeit ein Hebel. Und dann korrigiert die Arbeit die Meinung. Die Frage ist nicht, was ist die Meinung, sondern: Was tut die Meinung? Ich denke, erst darin ist richtig und falsch zu unterscheiden. G. Stichwort tut – tun, Tätigkeit. D. h. zur Rolle der Arbeit im Stück: Prosperos Zauberei ist Arbeit, eine Funktion seiner Souveränität, von Planung und Können. Daneben gibt es Caliban, und damit Arbeit als eine Funktion von Unterdrückung, und schließlich noch Ferdinand und Miranda, Arbeit als eine Funktion von Liebe. T. Das sind alles Teile geschichtlicher Praxis auf dem Weg der Gattung zur Selbstbestimmung. Und das ganze Bündel wird, mit zugespitzter Fragestellung, am Ende dem Zuschauer überreicht.
DER ALTE PANZER T.s Beitrag für die Festschrift zum Jubiläum des Berliner Theatertreffens 2013. Scheiße am Stock is oochn Buckett. Marie Grundmann
TT 50: Das ist, was für ein glücklicher Zufall, kein milliardenschwerer neuer Panzertyp. Es ist die kryptische Bezeichnung eines Jubiläums. Das Berliner Theatertreffen wird 50. Wenn man die jüngste Sprachregelung einer Bundesministerin nützlich gebrauchen will, findet sich hier eine Möglichkeit. Der Theatergott heißt das TT und nicht der TT, und wird also sachlich behandelt, geradezu sächlich. Schon seine Erfindung vor fünfzig Jahren, Götter müssen erfunden werden, hatte einen sachlichen Grund. 1963 wurde die Mauer in Berlin zwei Jahre alt, und langsam begann man wahrzunehmen, dass sie nicht gleich wieder umfällt. Vier Jahre nach seinem Krieg war Deutschland geteilt. Zuerst gründete sich die BRD (am.) und danach die DDR (russ.). In Berlin blieb die Grenze zwischen den Bruchteilen offen. Diese Offenheit wurde weidlich genutzt, von beiden Seiten. Und dreizehn lange Jahre geduldig ungeduldig hatte niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten. Man konnte also auch hier und dort ins Theater gehen, wenn man das wollte. Auf dem Berliner Stadtplan war als ein Punkt zu sehen, wo damals das Zentrum für die ganze Welt gewesen ist: in Ostberlin, an der Spree, am Schiffbauerdamm. Das Theater wurde kurz das Schiff genannt. Auf der anderen Seite gab es allein den herumreisenmüssenden alten Schauspieler im lebensabendverschlingenden Beruf des
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Regisseurs, einen Außenseiter, aus dem Exil zurückgekehrter Jude, der den deutschen Schauspielern das Weiterlügen untersagte. Kortner, unter schlechteren Bedingungen, hat ein paar Jahre länger gebraucht als Brecht, der die sieben Jahre, die ihm blieben, auf seinem Schiff Kapitän war. Eine Theaterstadt ist eine Stadt mit nicht nur einem Theater. Jedes Theater zeigt sein Gesicht, und die Zuschauer haben freie Wahl. Ein Theaterzentrum ist das Zentrum einer Theaterlandschaft, eine Großstadt mit noch anderen Zentralfunktionen. In England war das immer London, in Frankreich Paris, im deutschen Sprachraum ist es lange Wien gewesen. Dann wurde es, vor mehr als hundert Jahren, Berlin. Und 1961 war das vorbei. In der DDR blieb Berlin, Ostberlin, Theaterhauptstadt. Aber die BRD hatte keine. Mal war es diese, mal war es jene Stadt, Theater heute wurde z. B. eine Zeitlang Bremen heute genannt. Die frühe Gründung dieser Zeitschrift war eine erste Gegenmaßnahme gewesen, und solange sie Rischbieter hieß, hat sie die Funktion erfolgreich wahrgenommen. Die zweite Gegenmaßnahme war das Berliner Theatertreffen, das die vitale Funktion als Ersatzzentrum/Zentrumsersatz drei Jahrzehnte lang erfolgreich wahrgenommen hat. Und 1991 war das wieder vorbei. Thomas Bernhard: Nix is. Bleed is. Aus is. Aber seinen Tod um zwanzig Jahre zu überleben – das ist auch was.
STILL LEBEN (1968) Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg.
Nicht wachen nicht schlafen das Herz Petrograd Sierra Maestra Hiroshima Vietnam Stalingrad Auschwitz Yenan Nicht wachen nicht schlafen das Herz 107 862 qkm 10 - 15° ö.L. 50 - 57 n.B. Planquadrat DDR NÖSPL regiert still Tanz am 7. Oktober 17. Juni Aschermittwoch Der lange jahrelange lange Zug derer die fliehn in das gute Alte
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Die Söhne im Stacheldrahtgürtel der Mutter Germania Köpfe verschlossen geöffnet Von Eisen Halte den Kopf frei von dem was war Und kommt Besser bei Tag wie ein Sack im Sessel sitzen Besser bei Nacht wie ein Stein im Bette liegen Kommt Nahrung öffne den Mund Kommt Schlaf schlafe Übermorgen die kannten Kraft und Zartheit Zerbrachen die Masken und zeigten Gesichter Wenn unsere Kinder Unschuldig gehen über das Meer Blut Das liegt zwischen uns und ihnen
12.4.69: 33 JAHRE ALT Wie die Blüten fallen! Gieße das Glas randvoll Und sage nicht, ich wäre jung Mit dreiunddreißig. Sind dreiunddreißig Nicht von Hundert ein Drittel?
12.4.71: 35 JAHRE ALT Guck in den Spiegel fetter Klohn Viel-zerteilter Nie-geheilter Gespeilter Geseilter Gelangweilter Unterm Speck sieht man deine Knochen schon Rückgrat krumm Schädelbein dumm Hinter Rippen gehen Gespenster um Abgewetzter Verletzter Zersetzter Von niemand Geschätzter Ich schätze du bist bald stumm.
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12.4.90: DAS LEBEN EIN TRAUM Gefangen in der Nacht gefangen Kam Hoffnung über uns Doch was geschah Ein Lied so schal ein Wort so frech Von morgen Gespenster von gestern
LEBENS LAUF (2007) nach Daponte und Mozart
1 Unglaublich glaublich, leibhaft vor den Augen Der tote Vater der verführten Tochter. Unser Herr Hans sieht sich das Standbild an Aufrecht, zart rosa Marmor, eine Klitoris Zögert nicht, sondern nimmt das Angebot An und schon öffnet sich der Schoß der Erde Und er fährt ein. Und schreit und schreit und schreit… Ob kleiner oder großer Tod, es nimmt Das Leben seinen Lauf. Gemma budern. 2 Zeig mir ein Mausloch und ich fick die Welt Sprach Volkes Stimme zu mir nachts auf Kippe. Hab ich kapiert, was sie gesagt hat? Hab ich? Ich wusst nicht was ich such, nicht was ich find Doch hab gesucht, und ja, ich hab gefunden Einunddasselbe, sagt des Lebens Lauf: Dem der hineingeht ist der Ausgang Eingang Dem der hinausgeht ist der Eingang Ausgang Ob Eingang oder Ausgang, es ist eins. 3 Bereue! Nein. Nochmal Bereue! Nein. Ein drittes letztes Mal Bereue. Nein!
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Epilog: Denk-Zettel
EPILOG: DENK-ZETTEL Erstdruck 1996 in einer Wochenendnummer der Tageszeitung Neues Deutschland. In der Antwort auf die vierte Frage des ersten Abschnitts wird aus einem frühen Gedicht Heiner Müllers zitiert, in der Antwort auf die dritte Frage des Abschnitts vier eine Zeile aus einem Lied von Brecht.
Weltsicht Für welchen höheren Sinn lebt der Mensch? Keinen höheren. Der Sinn des Lebens ist das Leben. Was finden Sie liebenswert an diesem Jahrhundert? Die viele vergebliche Hoffnung. Sie stehen einer Weltregierung vor: Was würden Sie sofort abschaffen? Die Regierung. Sollen die Leute sich doch selber regieren. Was ist links? Ein Begriff aus der Geschichte. Heute wird Gattungsbewusstsein gebraucht. Es ist nötig, dass die Menschheit erkennt, die Partei ist die Menschheit.
Weltreise Welches ist Ihr liebster Platz auf der Welt? Im Theater (am liebsten bei der Probe), im Wasser, im Bett. Mit welchen drei Begriffen charakterisieren Sie Deutschland? Schwarz Rot Senf. Aber ich hab es auch ohne Senf gefressen. Was ist für Sie Heimat? Die deutsche Sprache. Welches ist das Ziel Ihrer Traumreise? Ein Stern in den Wolken.
Weltschmerz Wovor haben Sie Angst? Vor mir. Wann haben Sie zuletzt geweint? Als H. M. gestorben war. Was trauen Sie der Menschheit nicht mehr zu? Ich traue ihr alles zu. Was empfinden Sie als Verrat? Ich habe keine Norm, nur Geschichten – die ich erzähle oder nicht.
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Epilog: Denk-Zettel
Weltkunst Welcher literarische Held steht Ihnen am nächsten? Warum? Lieber ein Kinoheld: Der Mann, der die Frauen liebte. Welches Kunstwerk haben Sie nie verstanden? Womackas Flakhelfer und sein Mädchen. Oder: Nationalpreisslers Gedichte. Wie beschreiben Sie Lebenskünstler? Negativ: Leute, die den Mantel in den Wind des Zeitgeistes hängen. Positiv: Leute wie das weiche Wasser in Bewegung, das mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Welche Kunst würden Sie gern beherrschen? Klavierspielen.
Weltwunder Worüber wundern Sie sich? Wie begrenzt die Intelligenz und wie grenzenlos die Dummheit ist. Was müsste unbedingt erfunden werden? Mir langt es. Was ist an Ihnen bewundernswert? Manchmal meine Geduld. Apropos Wunder. Was ist ein wunder Punkt bei Ihnen? Früher mein Jähzorn, jetzt meine Müdigkeit.
Weltbürger Welchen Zeitgenossen würden Sie für Verdienste um die Menschheit auszeichnen? Die unbekannte Oma. Finden Sie Marx überholt? Prognose etc. (wie bei uns allen gefärbt von Wünschen): ja. Analyse etc.: nein. Methode: unbedingt brauchbar. Sind Sie für Geburtenkontrolle? Ja. Mit welcher Persönlichkeit der Geschichte würden Sie gern in Briefwechsel treten? Sehr verführerischer Vorschlag – aber besser nicht im Drüben fischen.
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Biographie/Bibliographie
BIOGRAPHIE/BIBLIOGRAPHIE
1936 geboren in Dresden. 1942–1950 Volks- bzw. Grundschule. 1950–1954 Oberschule, ohne Abitur. 1954/55 Gelegenheitsarbeit als Postbote, Nachtwächter, Verladearbeiter etc. 1955–1958 Meisterschüler der Deutschen Akademie der Künste Berlin, Sektion Darstellende Kunst, Lehrer Bertolt Brecht, nach Brechts Tod Erich Engel. 1957 erste Inszenierung: Brechts Lehrstück Die Ausnahme und die Regel am Patentheater des Berliner Ensembles in Wittenberg. Beginn der Arbeit mit Heiner Müller. 1958–1961 Theaterarbeit an der Studentenbühne der Hochschule für Planökonomie in Berlin-Karlshorst: Modell-Aufführung Die Korrektur von Müller, Uraufführung Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande von Müller. Stück und Aufführung galten als konterrevolutionär, antikommunistisch und antihumanistisch: Ausschluss aus der SED nach einem Jahr Mitgliedschaft und fristlose Entlassung aus einem eben angetretenen Engagement am Theater der Bergarbeiter Senftenberg; der Druck des Korrektur-Modellbuchs wird gestoppt, Vorabdrucke in einer Zeitschrift werden herausgerissen. 1960 Ehe mit Christa Grundmann. 1961 Geburt einer Tochter. 1961/62 Kipper und Bandwärter im Braunkohlentagebau Klettwitz in der Niederlausitz. 1964 nach einer Fürsprache des Komponisten Paul Dessau Aufhebung des Berufsverbots und Inszenierungen an mehreren Theatern der DDR. Erste Übersetzungen elisabethanischer Stücke, erste Molière-Übersetzung. 1965 Geburt eines Sohnes. 1967–1969 Lehrer an der Schauspielabteilung der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Eine Inszenierung von Shakespeares Komödie Wie es Euch gefällt wird 1969 nach drei Vorstellungen abgesetzt wegen Hippieunwesens und Pornographie. Wieder Zwangspause der Theaterarbeit und Übersetzung von Stücken der Zeitgenossen Shakespeares für eine Hörspielreihe im Rundfunk; nur ein Stück wird produziert: Christopher Marlowe, Das Massaker von Paris, aber erst nach fünf Jahren gesendet. 1969 Geburt von Zwillingen.
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Biographie/Bibliographie
1973–1976 drei Inszenierungen am Berliner Ensemble, Zusammenarbeit mit Einar Schleef, zuletzt Strindbergs Fräulein Julie, nach neun ausverkauften Vorstellungen abgesetzt. Danach keine Arbeit mehr an Theatern der DDR. Lange Verhandlungen über Arbeitsmöglichkeiten für eine freie Gruppe scheitern. 1977 wird eine erste kleine Gedichtsammlung, ein Heft in der Reihe Poesiealbum, verboten. 1978 Herausgabe der Brechtschen Lehrstücke und der Äußerungen Brechts zum Lehrstück in der bis heute einzigen separaten Ausgabe: Brecht, Die Lehrstücke, bei Reclam Leipzig: RUB 720. 1979 Beginn der Theaterarbeit in der BRD: Stuttgart und Bochum. 1981 fristlose Entlassung bei Schauspiel Frankfurt, zusammen mit dem Chefdisponenten und der vom Ensemble gewählten Direktorin, wegen Sympathiesantentums; gerichtliche Auseinandersetzung, die mit einem Vergleich endet; das Mitbestimmungsmodell, nach dem das Frankfurter Schauspielensemble sich organisiert hatte, wird liquidiert. Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste Bensheim. 1982 Uraufführung Quartett von Heiner Müller in Bochum. Theaterarbeit abwechselnd an den Theatern in Düsseldorf und Bochum. Erste Gedichtsammlung: NÖSPL, Gedichte 1956–1986 erscheint bei Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/M. 1984–1986 fünf Inszenierungen am Bayerischen Staatsschauspiel München. Die Inszenierung von O’Caseys Das Ende vom Anfang wird weitergespielt in Westberlin am Schiller Theater, in der Baseler Komödie, am Schauspielhaus Düsseldorf, am Thalia-Theater Hamburg, zuletzt an der Ost-Berliner Volksbühne am Luxemburg-Platz, sie wird 1990 die letzte Theateraufzeichnung des Deutschen Fernsehfunks Adlershof. 1985 auf Initiative des Intendanten Gerhard Wolfram noch einmal eine Inszenierung in der DDR: Müllers Umsiedlerin in Dresden; in den folgenden Jahren Gastspiele der Inszenierung in Düsseldorf, Hamburg, Köln, Leipzig und Berlin/DDR. 1987 Schauspieldirektor in Düsseldorf. 1988 erscheint bei der Edition Hentrich in Berlin/West: B. K. Tragelehn, Theater Arbeiten, Shakespeare/Molière, hrsg. von Theo Girshausen, als Band 1 der Beiträge zu Theater, Film und Fernsehen aus dem Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität. 1989 im Oktober Vertragslösung in Düsseldorf und Rückkehr nach Berlin/DDR. 1990 Müllers Germania Tod in Berlin in der Freien Volksbühne, Premiere
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Biographie/Bibliographie
zum Anschlussdatum; Fritz-Kortner-Preis gemeinsam mit Einar Schleef. 1991 Mitglied des PEN-Clubs. In diesem Jahr und den folgenden Jahren Inszenierungen in Berlin, Basel und Hamburg. 1996 zweite Auflage, Ergänzung und Fortsetzung der ersten Gedichtsammlung: NÖSPL, Gedichte 1956–1991. 1997 im Dezember Galilei am Berliner Ensemble zum 100. Geburtstag Brechts im Februar 1998. 1997/98: vor der Vereinigung mit dem P.E.N.-Zentrum Bundesrepublik Deutschland ist T., der langjährig Vizepräsident war, amtierender Präsident des Deutschen PEN-Zentrums (Ost). 1998 Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste Dresden. 1999 Künstlerbuch mit Hartwig Ebersbach: Die Geschichte der Reise, Edition Galerie auf Zeit, Berlin. 1999–2017 jedes Sommerhalbjahr in Estland auf der Ostseeinsel Saaremaa vor der Rigaer Bucht. 2000 erscheinen T.s Epigramme 1959–1999 als Nachtrag zum GoetheJahr unter dem Titel Neue Xenien bei Stroemfeld/Roter Stern. 2001 erscheint im Verlag UNARTIG, Aschersleben Das andere Ende der Geschichte, Gedichte 1988–1998. 2002 beginnt der Verlag Stroemfeld/Roter Stern mit der Buchreihe ALT ENGLISCHEN THEATER NEU, hrsg. von C. M. und B. K. Tragelehn, die T.s Übersetzungen von Stücken Shakespeares und seiner Zeitgenossen mit Anmerkungen, Quellenschriften und anderen Materialien drucken. Von der Reihe, die auf 20 Bände angelegt ist, sind bisher neun Bücher erschienen. 2006 erscheint im Verlag Theater der Zeit Berlin als Band 35 der Reihe Recherchen, hrsg. von Gerhard Ahrens ein Lesebuch: Roter Stern in den Wolken mit Aufsätzen, Reden, Gedichten, Gesprächen und einem Theaterstück. 2007 noch einmal Theater. In der Schinkelkirche Neuhardenberg und dann in der Berliner Schaubühne: Becketts Das letzte Band mit Josef Bierbichler. 2011 erscheint, wieder hrsg. von Gerhard Ahrens, als Band 84 der Reihe Recherchen: Der fröhliche Sisyphos. Der Übersetzer, das Übersetzen, die Übersetzung. Im selben Jahr Künstlerbuch mit Strawalde: Ausreisen, Edition Maldoror des Berliner Kunstvereins Herzattacke. 2014 erscheint Der Resozismus im Abendlicht oder Ein Veteran erzählt, Gespräch mit Holger Teschke, mit einem Anhang von 26 Gedichten und mit Zeichnungen von Strawalde, im quartus Verlag Bucha bei Jena.
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Biographie/Bibliographie
2015 erscheint die Montage Chorfantasie im Verlag Vorwerk 8 Berlin. 2016 erscheint im Verlag Theater der Zeit der Großband 13 x Heiner Müller, herausgegeben von Carsten und Gerhard Ahrens in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste Berlin. Im quartus Verlag Die Aufgabe, eine Tragikomödie, mit Quellenanhang und einem Kommentar von Friedrich Dieckmann. Künstlerbuch mit F. M. Furtwängler: Liebesgedichte, mit einem Vorwort von Erdmut Wizisla. 2017 erscheint im Märkischen Verlag Wilhelmshorst zum Jubiläum der Heftreihe Poesiealbum die Nr. 333 B. K. Tragelehn, Grafik vom Autor, Auswahl H. D. Schütt. T. gibt sein Haus in Leisi auf der Insel Saaremaa auf und verbringt die Sommermonate im Oderbruch auf dem Anwesen seines ältesten Sohnes in Letschin. 2018 Künstlerbuch mit Felix Martin Furtwängler: Für EW/Über B und B/Von FMF/Und BKT.
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Das erste und einzige Theaterstück des Regisseurrs B. K. Tragelehn. Geschrieben in beweg gten Zeiten, in denen um Stücke S noch gestritten wurde e: Die Aufgabe. Eine Tragikomödie. Mit Quellenanhang Q ll h un nd Kommentar von Friedrich Dieckmann. Hrsg. und gestaltet vo on Jens-F. Dwars. Die Weiße Reihe, Bd. 9 9, quartus-Verlag Bucha bei Jena 2016, 90 S., EUR 11,90 ISBN: 978-3-943768-64-0 4-0 In einer Lakonik, die die Gewichte der Wirklichkeit mit einem e Stoß in die Höhe stemmt, um sie dort einen Augenblick in der Schwebe zu halten, ehe die Masse krachend auf den Brettterboden aufsschlägt, ist dieser Tex Text wenn nicht das bedeutendsste, so gewiß das realitätshaltigste Stück der DDR-Dramatik … Friedrich Dieckmann, neue deutsche literatur eratur In einer lakonisch gehärteten Sprache sind mit bestürzender Klarheit die Grundwidersprüche dargestellt, an denen das System zerbrechen mußte … H Hans K Krieger i r,, Nürnber Nü b rger ger Nachricht N h i hten Tragelehn hält sich an die Shakespearsche Narrenkomödie und manchmal auch ans groteske Clownsspiel, aber er bleibtt ganz ernsthaft und vermeidet alle Schwankeff ffekt ekte. Manfred Jägerr,, DeutschlandRadio Ein Theatertext von der Sprachgewalt des jungen Brecht.. Nach der Lektüre ist klarr,, w warum das Stück nicht auffgeführ geführt wo orden ist und der Autor als Regisseur und LLyr yriker durchtauchte. Lothar W Wolf olff,, Buchkultur Wien Wien
www.quartus-verlag.de * dwars-jena.de/reihen
Der Titel Chorfantasie dient als Dach über der raffinierten Montage, die der Regisseur B. K. Tragelehn aus Gesprächsprotokollen und Podiumsdiskussionen (hauptsächlich mit Henning Rischbieter), Briefen, Probennotizen, Memorabilien etc. zusammengeschraubt hat. Praktische Erfahrungen werden reflektiert und darin das Denken von Benjamin, Brecht, Heiner Müller fortgeführt. Aus der Denkbewegung im Material – es ist eine Überraschung – entsteht – woher kommts? aus der Ecke der politischen Niederlage – so etwas wie das Bild eines Theaters der Zukunft. Ein Röntgenbild, in dem eine Struktur sichtbar wird, ausgerichtet auf eine Gemeinschaftlichkeit, in der »die Freiheit jedes Einzelnen Bedingung der Freiheit aller ist« (Karl Marx). Wozu wir noch »Zuschauer« und »Schauspieler« sagen – wird es bleiben, was es war, was es ist? Was war der antike Chor? Wer oder was kann das jetzt sein? Was kann er werden? »Das Theater wird seine Funktion nicht finden, solange es sich aus der Teilung in Spieler und Publikum konstituiert.« (Heiner Müller)
B. K. Tragelehn CHORFANTASIE In memoriam Henning Rischbieter 72 Seiten, Broschur 14,00 Euro | 19,00 SFr ISBN 978-3-940384-75-1 erhältlich im gutsortierten Buchhandel oder per Direktbestellung beim Verlag: www.vorwerk8.de
RECHERCHEN 148 Julius Heinicke . Sorge um das Offene 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 140 Thomas Wieck . Regie: Herbert König 139 Florian Evers . Theater der Selektion 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen 131 Vorstellung Europa – Performing Europe Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate
RECHERCHEN 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99
Dirk Baecker . Wozu Theater?
98
Das Melodram . Ein Medienbastard
97
Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals
96
Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater
95
Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche
93
Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation
91
Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
87
Macht Ohnmacht Zufall Essays
84
B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos
83
Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays
82
Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch
81
Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays
79
Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays
76
Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation
75
Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen
74
Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay
72
Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze
71
per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays
70
Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen
67
Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze
66
Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008
65
Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht
64
Theater in Japan Aufsätze
63
Vasco Boenisch . Krise der Kritik?
62
Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?
61
Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays
60
Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze
58
Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater
57
Kleist oder die Ordnung der Welt
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de
RECHERCHEN 56
Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch
55
Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945
54
Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays
52
Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht
49
Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit
48
Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion
46
Sabine Schouten . Sinnliches Spüren
42
Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch
41
Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays
40
Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze
39
Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays
37
Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation
36
Politik der Vorstellung . Theater und Theorie
32
Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze
31
Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen
30
VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze
28
Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze
27
Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze
26
Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze
23
Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen
22
Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“
19
Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk
15
Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze
14
Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR
13
Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef
12
Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays
11
Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen
10
Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze
9
Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht
8
Jost Hermand . Brecht-Aufsätze
7
Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche
6
Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen
4
Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen
3
Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze
1
Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen
Seht der Teiresias sieht In die Sonne die ungerĂźhrt Diese Geschichte bescheint: Wir werden sehen sagt Der Blinde. Und sagt wahr.
ISBN 978-3-95749-199-2
www.theaterderzeit.de