Heiner Goebbels: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater

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WENN VOM BAUM SCHON DIE REDE IST, MUSS MAN IHN NICHT MEHR ZEIGEN Ein Vorwort

Vieles ergibt sich während der Arbeit, die beim Theatermachen vor allem darin besteht, all das wegzulassen, was mich langweilt. Dazu gehören die üblichen illustrativen Verstärkungen und die im Theater wie im Film so selbstverständlichen Verdopplungen von Sichtbarem und Hörbarem. Wenn vom Baum schon die Rede ist, muss man ihn nicht mehr zeigen. Das heißt, es geht mir um das Weglassen dessen, was bereits in einem anderen Medium enthalten ist. Und um das Vertrauen in die beteiligten Künste und Techniken und vor allem in diejenigen, die dort in ihrem Element sind: Bühnenbildner, Toningenieure, Musiker, Darsteller, Techniker und viele andere. Mich interessiert, was kontrapunktische Spannungen erzeugt zwischen oben und unten, zwischen rechts und links, zwischen vorher und nachher; zwischen dem, was zu sehen, und dem, was zu hören ist; zwischen dem, was man zuvor erwartet hat und dem, was dann tatsächlich geschieht; zwischen dem, was man erlebt und dem, was man dazu denken mag; dem, was verstanden werden kann, und dem, was sich diesem Verstehen konstruktiv verweigert. Nach dem Abschluss einer künstlerischen Arbeit ist man vielleicht ein bisschen schlauer. Dann weiß man, was man gemacht hat. Oder man glaubt es zu wissen. So war es zum Beispiel vor gut zehn Jahren keine bewusste Entscheidung, dem Publikum in der ersten halben Stunde von Eraritjaritjaka (2004) alle Elemente – schön nacheinander – quasi vorzustellen, bevor sie gegen Ende des Stücks übereinander herfallen. Alle haben sie zunächst einzeln ihren Auftritt: Zu Beginn mit dem Konzert eines Streichquartetts die Musik; dann der Auftritt des Körpers des Schauspielers; die von diesem Körper getrennte Sprache mit den Worten Canettis; die Spielfläche, die sich – ganz in weiß – selbst entfaltet; das Licht, das macht, was es will; ein erstes Requisit, ein kleines Haus, als Protagonist einer eigenen Szene; dann erst das Bühnenbild – die Fassade eines großen Hauses; schließlich das Medium Theater selbst – in einem langen Monolog; und endlich der Film, der den Schauspieler aus 6


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