Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen

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Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit von Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier



Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen


Für meine Großeltern, Rimma Wasiljewna Woropajewa und Anatolij Andrejewitsch Woropajew, die dank den Proben ihres Jazz-Orchesters an einem Frühlingstag 1945 am Leben blieben

Mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität ­Berlin e. V. Zugleich Phil. Diss. Freie Universität Berlin, D188 Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit von Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier Recherchen 152 © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ­ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, ­Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

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Layout: Tabea Feuerstein Konzeption der Reihengestaltung: Agnes Wartner Umschlagabbildung: Inszenierungsfoto von Krankenzimmer Nr. 6 am Deutschen Theater Berlin. © Arno Declair Printed in Germany ISBN 978-3-95749-238-8 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-285-2 (ePDF) ISBN 978-3-95749-286-9 (EPUB)


Recherchen 152

Viktoria Volkova Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen Probenarbeit von Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier


Probe an der renommierten Moskauer Theaterhochschule GITIS, 1940

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Inhalt

Einleitung 1 Über die »Genealogie« der Probe 1.1 Zum Verhältnis von Performance und Probe sowie zur Methodik der Probenanalyse 1.2 Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation im Probenprozess 2 Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse 2.1 Der Begriff des performativen Raums 2.2 Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess 2.3 Zur zeitlichen Dimension der Probe 2.4 Die Probe als ritueller Raum: Was verbirgt sich hinter der Intimität von Theaterproben?

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3 Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen: Grenzauflösung zwischen Kunst und Alltagspraktiken 3.1 Zur Begründung einer Ästhetik der Herausforderung 103 3.2 Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen 107 3.3 Zur performativen Kunst des theatralen Probens als 116 Ausprägung einer Ästhetik der Herausforderung 4 Probenästhetische Perspektive: Der Stellenwert der Improvisation für die Konstituierung der Aufführung 4.1 Empirische Erfahrung: Der Einfluss der sozialen Interaktion auf den Improvisationszustand der Spielenden im Produktionsprozess 4.2 Der Bezug der Improvisation auf die Emotionsebene im rituellen Prozess der Proben

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5 Soziale Emotionen in den Probenprozessen 5.1 Interaktionsrituale in den Probensituationen 153 5.2 Zum Begriff der sozialen Emotion 243 5.3 Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien 245 im Regietheater 5.4 Zur Forschungsmethode der Emotionen im Regietheater 281 der Gegenwart an Beispielen der drei besuchten Berliner Theaterhäuser

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Das Einblenden der sozialen Emotionen

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7 Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen 7.1 Zum Begriff der Kunstfigur 297 7.2 Die Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale 310 Emotionen in den Probenprozessen am DT, am BE und an der SchaubĂźhne Schlusswort Anhang Danksagung Zur Autorin

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Einleitung Warum empirische Studien über theatrale Probenprozesse?

Menschliche Verhaltensweisen, wie sie in verschiedenen Lebenssituationen vorkommen, stellen ein Geflecht aus sozio-kulturellen sowie sozio-emotionalen Normen und Werten dar. Ein warmherziges oder verräterisches, liebevolles oder zurückweisendes Verhalten ist ­häufig auf eine bestimmte Gefühlslage des Menschen zurückzuführen. Auf einer Urlaubsreise entdeckt ein angesehener, betagter Schrift­ steller in sich ihm bis jetzt unbekannte erotische Gefühle für einen 14-jährigen Jungen, den er sich lediglich aus der Ferne zu beobachten traut. Die Unmöglichkeit, das lange gesuchte ästhetische Ideal seiner künstlerischen Phantasie beobachten zu können, endet für den Mann tödlich.1 Oder ein anderes Beispiel: Eine Lehrerin, die wegen einer Liebesaffäre mit einem Schüler gekündigt und aus der Stadt gewiesen wurde, muss zu ihrer jüngeren Schwester ziehen und deren Mann ertragen, zu dem sie von Anfang an eine Antipathie verspürt. Mit ihrem Schwager unter einem Dach zu leben, fällt ihr von Tag zu Tag schwerer, weil er einem anderen sozialen Milieu als ihre Schwester und sie entstammt. Zwar ist er zügellos, ordinär, oft auch brutal, aber körperlich attraktiv, familienorientiert und treu, steht mit beiden Beinen im Leben und ist daher auch imstande, selbstständig für den Unterhalt seiner schwangeren Frau zu sorgen. Nach dem nächsten Gewaltakt des Hausherren an seiner Frau versucht die ehemalige Lehrerin ihre Schwester davon zu überzeugen, den Mann zu verlassen und ganz von vorne anzufangen. Die jüngere Schwester appelliert aber an die Gefühle, die sie zu ihrem Ehemann empfindet, und wehrt sich gegen die Versuche der älteren Schwester, sie aus ihrer Familie herauszuziehen. Die alleinstehende ehemalige Lehrerin ist zwar ratlos und empört über das Verhalten ihrer jüngeren Schwester, muss die Umstände aber so hinnehmen, um überhaupt noch ein Dach über dem Kopf zu haben.2 Fälle wie diese sind uns aus der Weltliteratur bestens bekannt. Zahllose Romane, Dramen, Gedichte, Stücke usw. klären uns darüber auf, welchen Stellenwert Gefühle im Leben eines Menschen haben und wie mit diesen umgegangen wird. Eine solche Aufklärungsleistung kann selbstverständlich auch das Theater bewerkstelligen. Sowohl während als auch nach einer Aufführung können wir den Ursachen und Auswirkungen eines inszenierten zwischenmenschlichen

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Problemkomplexes gedanklich auf den Grund gehen. Der emotionale Kern des – im buchstäblichen Sinn – gespielten (und das heißt auch: fremden, dem Zuschauer nicht selbst zugehörigen) Problems ist in der Regel relativ leicht nachvollziehbar. Nicht selten zeigen wir uns dabei darüber verwundert, wie simpel eigentlich zu lösen ist, worum die Darsteller auf der Bühne so heftig streiten. Etwas komplexer gestaltet sich indes die Analyse von Gefühlen im Bereich der alltäglichen Lebenspraxis. Bekanntlich vermögen sich manche Gefühle wie Liebe oder Eifersucht lediglich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu entwickeln. Es ist durchaus möglich, dass jemandem nicht unmittelbar bewusst ist, tiefere Gefühle für eine andere Person zu empfinden. Aber wie kann man ein Gefühlsproblem eines vertrauten Menschen, eines Patienten oder einer Versuchsperson richtig nachvollziehen, wenn man sich – figurativ ausgedrückt – in die Person nicht hineinversetzen kann? Die Gefühlslage eines anderen Menschen ist üblicherweise auf Basis von Mimik, Gestik, Körper­ haltung bzw. aufgrund von seinen persönlichen Formulierungen sichtbar, die aber auch nur sehr begrenzt zum Ausdruck kommen und ­keineswegs ein Gesamtbild der Gefühlswelt darstellen. Darüber hinaus werden komplexe Gefühle wie Liebe, Neid, Stolz, Eifersucht etc. stets nur über einen bestimmten Zeitraum hervorgebracht, sodass man ­diesen nur in ihrer Entstehung nachgehen könnte. Und die Verfolgung der »Entstehung« sollte womöglich auch den Einbruch in die Privatsphäre der Versuchsperson mitbegreifen, denn wie sonst könnte der Entstehungsprozess einer Emotion beobachtet werden3? Allein aus ethischen Gründen wäre eine vollständige Analyse alltäglicher emotionaler Zustände nicht durchsetzbar. Wäre dies allerdings auch dann der Fall, wenn sich der Analyseprozess an einem Modell des Lebens orientierte? Und vor allem: Was genau wäre als elementare Analyseeinheit eines solchen »Lebensmodells« zu identifizieren? Eine Antwort auf diese Fragen findet sich erstaunlicherweise in der Theaterforschung. So schlägt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer grundlegenden Studie Ästhetik des Performativen vor, eine theatrale Aufführung sowohl als das Leben selbst als auch als sein Modell zu begreifen – als das Leben selbst, insofern sie die Lebenszeit der an ihr Beteiligten, von Akteuren und Zuschauern, real verbraucht und ihnen Gelegenheit gibt, sich ständig neu hervorzubringen; als ein Modell des Lebens, insofern sie diese Prozesse in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieht, so daß die Aufmerksamkeit

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der an ihr Beteiligten sich auf sie richtet und sie so ihrer gewahr werden. Es ist unser Leben, das in der Aufführung in Erscheinung tritt, gegenwärtig geht und vergeht.4 Ausgeklammert bleibt allerdings oft die Tatsache, dass eine Theateraufführung das Resultat eines Probenprozesses darstellt, der sich über Wochen oder sogar Monate ziehen kann. Wenn eine theatrale Aufführung zum Modell des Lebens erhoben werden kann, als was wäre dann der Probenprozess zu begreifen? Ist er ein Grundriss des Lebens­ modells? Ein Modellentwurf? Literaturforscher greifen häufig auf frühere Fassungen und Entwürfe eines literarischen Werkes zurück, um präzisere und eindeutigere Antworten auf ihre Forschungsfragen zu erhalten. In der vorliegenden Studie werde ich mich zeitgenössischen Probenprozessen im Regietheater zuwenden. Auf diesem Weg werde ich nicht nur die Entstehungsbedingungen einer Aufführung beleuchten, sondern zugleich der Frage nachgehen, mit welchen Mitteln in ästhetischen Kontexten Emotionen dargestellt bzw. konstituiert werden. Leitend ist für mich in diesem Zusammenhang die folgende Annahme: Die von einer Kunstfigur in einer fiktiven Situation erlebte Emotion (Liebe, Neid, Verachtung etc.) muss sich auf die eine oder andere Weise im Prozess des Probens konstituieren. Aus diesem Grund werde ich mich in meiner Analyse auf die Frage konzentrieren, was genau im Probenprozess vollzogen wird, um die späteren Zuschauer glauben zu lassen, dass die Kunstfigur tatsächlich verliebt ist, jemanden verachtet oder beneidet. Es lohnt sich daher, theatrale Proben im Hinblick auf die Entfaltung von Emotionen zu beobachten. Deswegen untersuche ich Probenprozesse, die als Modellentwürfe des Lebens zu fassen sind.

Forschungsstand

Die theaterwissenschaftliche Untersuchung der theatralen Probenpraxis erweist sich als ausgesprochen problematisch. Schließlich finden Theaterproben gewöhnlich hinter verschlossenen Türen statt. Externen Beobachtern wird dieser Handlungsraum meist nur äußerst begrenzt zugänglich gemacht. Dieser Umstand gilt insbesondere für große Theaterhäuser. Vor allem berühmte Regisseure lassen sich zudem nur höchst ungern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich theatrale Probenprozesse aufgrund ihrer Flüchtigkeit unmöglich in ihrer vollen Materialität doku-

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mentieren lassen. Nicht zuletzt deshalb weist der Forschungsstand zur theatralen Probenpraxis große Lücken auf. Zwar wurden diese in den vergangenen zehn bis 15 Jahren sukzessive gefüllt, doch geschah dies insgesamt nur in einem ausgesprochen spärlichen Maß. Bis heute ungelöst sind die enormen methodologischen Probleme, denen sich eine empirische Untersuchung theatraler Probenprozesse angesichts der genannten Zugangs- und Dokumentationsprobleme unweigerlich gegenübersieht. Erste Versuche einer empirischen Probenanalyse hat es in der deutschsprachigen theaterwissenschaftlichen Forschung – wenn auch nur vereinzelt – schon vor den 2000er Jahren gegeben. So präsentierte Claudia Dickhoff mit ihrer 1984 erschienenen Dissertation Probenarbeit, Dokumentation und Analyse eines künstlerischen Prozesses: dargestellt am Beispiel der Münchner Inszenierung von Niccoló Machiavellis »Mandragola« eine Studie, die sich sowohl auf qualitativem als auch auf quantitativem Weg mit der szenischen Präsenz und Interaktion der Figuren (nicht der sie darstellenden Schauspieler!) sowie der inneren und äußeren Struktur der Bühnenhandlung auseinandersetzt. Darüber hinaus enthält Dickhoffs Arbeit eine vergleichende Untersuchung von Text und Aufführungsform. Bereits die ersten Zeilen des ersten (»chronologisch-deskriptiven«) Teils machen deutlich, dass Dickhoffs Dissertation die »ungewöhnliche[n] Arbeitsbedingungen« eines eigens »für das Projekt der Münchner Theaterwissenschaft gegründeten Schauspiel-Ensembles«5 behandelt. Nach einigen weiteren Sätzen über das gegenseitige Kennenlernen der am Projekt beteiligten Wissenschaftler und Künstler sowie über den Verlauf der zweiwöchigen Leseproben und Gespräche offenbart Dickhoff den Lesern ihrer insgesamt siebenseitigen Beschreibung des Probenverlaufs eine Tatsache, welche die methodische Grundlage für eine sehr eng ausgerichtete und – aus heutiger theaterwissenschaftlicher Sicht – weniger relevante6 Probenanalyse, als sie vor dreißig Jahren noch gelten konnte, aufweist. Sie schreibt nämlich: »Am 24.9. nehmen die wissenschaftlichen Beobachter ihre Plätze oben auf der schalldichten [!], verspiegelten [!] Tribüne ein, wo sie von nun an – für die Personen im Probenraum unsichtbar – den Probenprozeß mitverfolgen werden.«7 Die wissenschaftlichen und künstlerischen Wege gehen also nach den vorherigen gemeinsamen Tischgesprächen, Leseproben und technischen Vorbereitungen komplett auseinander, sodass die Schauspieler während ihrer Proben die am Inszenierungsprozess nicht direkt beteiligten Theaterwissenschaftler nicht zu Gesicht bekommen können und die Wissenschaftler ihrerseits die Darsteller von oben wie

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in einem Aquarium beobachten müssen.8 Die Ebene der körperlichen Präsenz, räumlichen Nähe und des damit verbundenen wirkungsvollen Energieaustausches wird durch diese beiderseitige Absonderung folglich von Anfang an getilgt. Durch diese Maßnahme wird die konkrete Probenanalyse ferner auf vereinzelte quantitative und qualitative Aspekte beschränkt. So wird etwa einerseits die Szenenanzahl, die Dauer der Bühnenpräsenz, die Anzahl der Auftritte und der Begegnungen, das Maß der szenischen Entfernung oder der Interaktionsanteil der Charaktere in Augenschein genommen; andererseits wird sich z. B. auf die Beziehungen der Personen im Dramentext und der Inszenierung, die Untersuchung der Handlungsstruktur, die Handlung im dramatischen Text oder die Handlungsführung und Szenenkomposition in der Aufführungsform konzentriert.9 Allerdings: Was an ­Dickhoffs Probenstudie als ein Vorteil erachtet werden kann, ist der in der deutschen Theaterwissenschaft so selten in Betracht gezogene experimentelle Aspekt der gemeinsamen (!) Arbeit zwischen Wissenschaftlern und Künstlern. Allein die Tatsache, dass die Theatermacher mit den Wissenschaftlern zu diesem Forschungszweck zusammentrafen, ist schon als Experiment zu verstehen. Meistens lassen die Künstler so gut wie keine »Dritten« hinter die Kulissen. (Und die erstaunliche Tatsache, dass dieses Projekt bereits vor über dreißig Jahren vorgenommen wurde, macht die in ihm beschriebene theaterwissenschaftliche bzw. -praktische Veranstaltung allein durch ihren Bestand noch exklusiver.) Solche miteinander verwobenen akademisch-künstlerischen Probenexperimente sind eher seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und eher im angelsächsischen Raum aufzufinden – genauer: in Australien, wo die professionelle künstlerische Probenpraxis überaus erfolgreich in das akademische Feld integriert werden konnte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem die am Department for Performance Studies der University of Sydney lehrende Theaterwissenschaftlerin Gay McAuley. Sie organisiert für ihre Studenten die sogenannten »page-to-stage«-Projekte, in denen eingeladene professionelle Theaterakteure und Studierende innerhalb von drei­wöchigen Workshops gemeinsame Aufführungen hervorbringen. Über ihre theaterwissenschaftlich-pädagogische Praxis schreibt McAuley in dem Artikel »Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of ­Meaning«: The study of the rehearsal process is a central element in teaching and research in performance studies at the University of ­Sydney and it developed from work that began when I was teaching

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t­heatre in the Department of French before the performance studies programme was introduced. For students of French literature, a play is a book to be read, so, in an attempt to demonstrate to students that the meaning of a play is not to be found simply in the words on the page, I organized a number of what we c­ alled ›page-to-stage‹ projects. Students enrolled in these courses spent a three-week semester break observing professional actors in rehearsal, working to create a performance with a text that the students had previously studied in class. The experience provid­ ­ed vivid insights into the dynamically shifting and contingent nature of theatrical meaning-making, revealing to the students how meaning in the theatre is constructed by actors together with other artists and craftspeople, how the text functions within this multilayered process, and how the same words can come to bear radically different meanings in different performance versions. It occurred to me, as I watched highly skilled and experienced the­atre practitioners rehearsing plays by Corneille, Racine and Genet, that this way of working also had a great deal to offer students in departments of theatre studies. In such departments, students often spend a considerable amount of time and energy putting on plays and making their own performances, but the result is that, all too often, the only experience of rehearsal they have is what they and their peers have been able to produce. In developing performance studies as an academic discipline at the University of ­Sydney, my concern has been first and foremost with the work practices of professional artists, and the observation and analysis of the rehearsal process is a foundational element in the research training provided by the department and my own work.10 Solch eine jährliche Zusammenkunft von Berufsschauspielern und Theaterstudierenden mit dem Ziel einer kollektiven Analyse der Hervorbringung eines Probenprozesses sowie der gemeinsamen Reali­ sierung einer Inszenierung ist im deutschsprachigen Raum immer noch Zukunftsmusik. Zwei- oder dreitägige Workshops, die Schauspieler und Theaterstudierende zum Zweck des Erfahrungsaustausches unter ein Dach bringen, finden in manchen Einrichtungen wohl hin und wieder statt. Die Dimension der von McAuley organisierten Projektwochen haben diese Formate hierzulande indes noch nicht erreicht. Über den Förderhintergrund und Verlauf ihres Universitätsprojektes macht McAuley noch weitere Angaben:

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The Department of Performance Studies funds one project a year in which professional actors rehearse in facilities provided by the university and permit students to observe their process. These projects are part of the practical training provided for honors students preparing to undertake participant observation in professional theatre companies. They are recorded, usually using two cameras and making a live edit, and a team of three students takes responsibility for the documentation of each day’s work. Two are responsible for image and sound while the third writes a log detailing time, tape references and a brief indication of the activities involved. This log is a crucial element in making the documentation accessible to users after the event.11 Wie aus diesem Zitat folgt, verfolgen McAuleys akademisch-künstlerische Projekte den Zweck, leistungsstarke Studenten auf die teilnehmende Beobachtung (»participant observation«) von Probenprozessen in professionellen Theatern vorzubereiten. Ein derart leichter Zutritt zum sozialen Feld der professionellen theatralen Probenpraxis ist für das zeitgenössische europäische Theater sehr wünschenswert, oft aber leider utopisch. Immerhin handelt es sich selbst bei der empirischen Untersuchung von Inszenierungsprozessen um einen ausgesprochen jungen Forschungsbereich.12 Entsprechend problematisch gestaltet sich die empirische Probenforschung – insbesondere im deutschsprachigen Raum. Davon zeugt nicht zuletzt die Zahl der hier erschienenen Studien, welche – im Vergleich mit dem anglo-amerikanischen Sprachraum – bescheiden bleibt. Der Grundstein für das weitaus größere Spektrum des angelsächsischen Probendiskurses wurde bereits in den 1990er Jahren gelegt. Allerdings beschränkt sich die Aufmerksamkeit der meisten Probenforscher seither entweder auf die Arbeitsmethoden einzelner Regisseure (auf die Theorie, Historiographie oder Notizen »interner«, d. h. zum Theaterbetrieb gehöriger Beobachter) oder aber auf die Analyse bestimmter Inszenierungsprozesse.13 Einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der theatralen Probenpraxis im deutschsprachigen Raum leistete die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke mit ihrer 2012 veröffentlichten Habilitationsschrift Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Anhand von Anekdoten, die von Schauspielern und Theatermachern überliefert wurden, beleuchtet Matzke das »Verhältnis von Theater und Arbeit im Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart«14. Zur Methodologie der empirischen Untersuchung von Probenprozessen schreibt Matzke: »Die wenigen methodischen Aus-

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einandersetzungen in der Theaterwissenschaft mit der Probenpraxis lassen sich in einen aufführungsanalytischen, ethnologischen und literaturhistorischen Zugang differenzieren.«15 In ihrer Arbeit weist Matzke auf drei weitere Publikationen hin, die im Kontext der Probenforschung vor einigen Jahren entstanden sind.16 Der Theaterforscher Hajo Kurzenberger rückt in seinem Buch Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper. Probengemeinschaften. Theatrale Kreativität »die Herstellungs- und Rezeptionsvorgänge vor, während und nach der Aufführung: die Interaktionen der Probe, der Theaterorganisation, der Gruppen- und Ensemblebildung«17 in den Fokus. In Anlehnung an Kurzenberger untersuche ich den Probenprozess in den nachstehenden Kapiteln als einen sozialen Gruppenprozess, dessen Verlauf »von [seiner] Struktur, vom Status und der Funktion [seiner] Mitglieder, vor allem aber von […] der Anzahl der Beteiligten [abhängig ist]«.18 Die empirische Untersuchung von theatralen Probepraktiken ist in der Regel äußerst rar: Zumeist kann/darf dem Probenprozess nicht in seiner vollen Länge beigewohnt werden, weswegen die Forscher nur noch einzelne Aspekte der Probenpraxis fokussieren bzw. diese in kleineren Arbeiten thematisieren. Auch Matzke hat über die Aspekte der Probenforschung nur ansatzweise geschrieben, bevor ihre wertvolle Habilitationsschrift erschien. So berichtete sie während der internationalen Tagung Regie heute – Soziale Dimensionen des Inszenierens an der Zürcher Hochschule der Künste im November 2011 in ihrem Referat »Konzepte proben – Probenprozesse in postdramatischen Theaterformen« (welches ein Jahr später in der Publikationsreihe ­subTexte veröffentlicht wurde) über die Herausforderungen der empirischen Probenforschung. In ihrem Konferenzbeitrag problematisierte Matzke zum einen die verschiedenen Formen des theatralen Probens, die mit dem postdramatischen Diskurs in Erscheinung traten; zum anderen diagnostizierte sie fehlende »Methoden zur Probenbeobachtung«19. Vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Zugangs- und Dokumentationsprobleme ist auch Sabine Krügers probenanalytische Studie über die Inszenierungspraktiken der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus zu erwähnen. Krügers Feststellung, dass »der Gegenstand der Proben noch keinen Platz im allgemeinen akademischen Diskurs eingenommen hat«20, bekräftigt die Ausgangsthese der vorliegenden Dissertation, wonach die empirische Untersuchung von Probenprozessen ein noch sehr junges und nur wenig entwickeltes Unterfangen darstellt. Auch Krüger kann die Gründe nicht übergehen, die dafür verantwortlich sind, dass der Probenprozess von der Theater-

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wissenschaft bislang noch nicht adäquat erforscht worden ist. Neben der »Instabilität und Kurzlebigkeit von (westlichen) Theatergruppen«21, der »Transformation der Probensituation« durch die »(handelnde) Präsenz des Forschers«22 und dem »von den beteiligten Künstlern selbst nicht erwünschte[n] Zutritt hinter die Kulissen des Theaters für externe Beobachter«23 hebt Krüger eine weitere Hürde für die empirische Probenforschung hervor: die »Motivation, die ›Authentizität‹ des Probenprozesses zu erhalten, indem Aufzeichnung und Dokumentation des künstlerischen Geschehens ausschließlich durch interne, an der Inszenierung beteiligte Künstler und Dramaturgen vollzogen [werden]«.24 Um diesen Punkt zu bekräftigen, führt Krüger das Beispiel des Projekts »Inszenierungsdokumentation« an der Akademie der Künste in Berlin sowie ein Zitat Peter Ullrichs aus dem Vorwort über die Dokumentationsmethodik dieses Projekts an: Die Dokumentation wird von den am Inszenierungsprozeß Beteiligten selbst hergestellt. Also keine Dokumentation ›von außen‹ durch Wissenschaftler, Journalisten, Studenten usw., sondern ›von innen‹, durch Dramaturgen, Regieassistenten, Regisseure. Das sichert Authentizität in der Darstellung.25 Solch eine Direktive würde in einem seltenen »externen« Probenbeobachter, der – folgt man der Logik der Dokumentationsmethodik – wohl aus Versehen dennoch in die Proben gelangen konnte, Verständnis hervorrufen. Denn die Begründung, warum die P ­ robendokumentation so einseitig bleiben und dadurch so »empowered and restricted in ­unique ways«26 dargeboten werden soll, geht aus diesem Appell nicht hervor bzw. bleibt sehr vage. Im Gegenteil erweitert ein externer Blick auf die Proben den Horizont der theoretischen Reflexionen über das Fach. Hingegen umfasst das Herangehen der ausschließlich »­internen« Beobachter an die Probe meistens nicht mehr als Interviews mit dem Regisseur und manchmal auch mit weiteren beteiligten Künstlern, wobei diese Interviews dazu noch vor oder/und nach dem unmittelbaren Proben stattfinden, bereits einige Zeit vorausgeplant und so in die »Tagesordnung« des Regisseurs gut integriert sind. Die Beschreibungen des monatelangen Probenverlaufs selbst, die täglichen Fixierungen der dort stattfindenden Geschehnisse sowie das Erstellen eines gleichwertigen verwertbaren Materials seitens der »Internen« sind des öfteren kein Thema. Eine weitere bekannte australische Theaterprobenforscherin, Kate Rossmanith, weist auf diese Lücke im Vorgehen der Theaterangehörigen eindeutig hin:

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Rehearsal accounts by practitioners about their own work come in the form of interviews, short articles where actors or directors re­flect on particular rehearsal processes, practitioners writing about their specific working approach, and lengthy casebooks where directors and actors document the daily work of rehearsal through­out a specific process. Overall, while this material offers insights into the usually private sphere of rehearsal, it does not necessarily extend into examining or describing the minutiae of what actually occurs over the weeks and even months of a p ­ rocess.27 Dieser Sachverhalt wirft Licht auf den Stellenwert des Materials der vorliegenden Probenuntersuchung: Als Regiehospitantin bei den drei angesehenen Regisseuren Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier gelang es mir, den Ablauf der Probenprozesse mit den dort stattgefundenen Gesprächsverläufen (teilweise auch mit Videokamera) aufzuzeichnen und vieles davon in Tabellen zu überführen. Diese Aufzeichnungen, Transkriptionen und Tabellen können hiermit nicht nur für meine eigene, sondern auch für weitere Feldforschungen verwertbar sein. Es ist also ersichtlich, dass die Probenpraxis eine spannende Forschungsdomäne ist und dass viele ihrer Aspekte – um das Wort »Neuland« zu vermeiden – noch einer umfassenden Erforschung bedürfen.

Von der Soziologie der Probe zur Soziologie der Emotionen: ­methodische Überlegungen

Warum ist die Frage nach der Entstehungsweise und Struktur einer Emotion relevant? Bis heute können Forscher verschiedenster Disziplinen, von Philosophen bis zu Neurowissenschaftlern, nicht eindeutig auf die Frage antworten, was eine Emotion ist, wodurch sie sich von einem Gefühl unterscheidet, was genau ihre Entstehungsbedingungen sind usw. Diese Unschlüssigkeit ist durchaus erklärlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Antworten auf diese Fragen von dem Ziel, der gewählten Methode sowie dem Material der jeweiligen Untersuchung abhängen. Für fast jegliche Art von Probenforschung – ausgenommen vielleicht nur der historische Probendiskurs, dessen Hauptmethode die Arbeit mit überlieferten Dokumenten, Anekdoten und anderen Artefakten ausmacht28 – ist zugleich auch ein Probenbesuch erforderlich. Vor und hauptsächlich nach dem Besuch von drei gesamten Proben-

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prozessen an großen Berliner Häusern – dem Deutschen Theater (DT), dem Berliner Ensemble (BE) und der Schaubühne am Lehniner Platz – wurde mir klar, dass eine wissenschaftliche Analyse von theatralen Probenprozessen die Hinzuziehung einer empirischen Forschungsmethode erfordert. Eine empirische Herangehensweise an den Probenprozess ermöglicht mir einerseits eine genauere Auseinandersetzung mit dem sozialen Aspekt der Probe (eine heutzutage vernachlässigte Domäne) und andererseits die Auslotung des soziologischen Aspektes der Emotionsforschung. Dass der soziale Aspekt der Probe sehr wenig erforscht ist, hat seinen Grund wohl in der Mystifizierung und im Flüchtigkeitscharakter der Probe. Der Ausdruck der »Mystifizierung« der Probe ruht meines Erachtens auf der Annahme derjenigen Forscher, die den Zugang zur Probe nicht als Hindernis erleben müssen. Dies sind meistens solche Probenforscher, die entweder selbst mehrere Jahre im Theaterbetrieb tätig waren oder bereits eng mit Theatermachern zusammenarbeiten: Für sie existieren tatsächlich keine Zugangshürden, sodass der Zutritt zur Probe keine außergewöhnliche, sondern eher eine selbstverständliche Angelegenheit ist. Ein Blick auf den professionellen Hintergrund solcher Forscher genügt, um zu begreifen, warum sie jegliche »Mystifizierung« der Probe als ein künstlich geschaffenes Problem ansehen und diese »Mystifizierung« überhaupt in Frage stellen. Ich hingegen musste auf meinem Weg auf die Hinterbühne viele Hürden überwinden: Eine permanente Stelle im Theaterbetrieb habe ich nämlich nicht und als Theaterwissenschaftlerin hat man keinen Vorrang vor den unzähligen Probeninteressenten, die sich für die selten ausgeschriebenen Regiehospitanzstellen an großen Berliner Häusern bewerben. (Des öfteren sind diese Stellen überhaupt nicht ausgeschrieben.) Es ist also kein Mythos, dass der Probenprozess in der Regel nur ausgesprochen begrenzt zugänglich ist. Allerdings will ich damit nicht sagen, dass die Probe mit einem Zauberritual mit magischen Sprüchen gleichgesetzt werden soll (obgleich es sich hier natürlich immer auch um einen rituellen Prozess handelt!): Selbstverständlich ist die Probe einerseits ein alltäglicher, gewöhnlicher Arbeitsprozess zwischen professionellen Künstlern, die unter gewissen – dem Theater eigenen – Gesetzen und Bedingungen miteinander über Jahre und Jahrzehnte hindurch interagieren. Es sind nicht nur bestimmte rituelle Prozesse und Praktiken, die man in den Proben miterleben kann; es sind auch (für Theaterleute) alltägliche Beziehungen, Arbeitskonstellationen, Interaktionen, Aktionen, die einen »normalen« Probentag ausmachen. Mein Vorschlag lautet nun, die Anknüpfungspunkte für die Methodik meiner nachstehenden

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­ nalysen gerade in solchen Alltagspraktiken der Künstler aufzuspüA ren. Die Alltagssituationen innerhalb des Probenprozesses verdienen meines Erachtens eine weitaus stärkere Aufmerksamkeit. So erkläre ich die Alltagssituation der Probe im Folgenden zur Einheit der vorliegenden Probenanalyse und nenne diese Alltagssituation fortan eine Probensituation. Die Herausgliederung der Situation im Kontext der Probenarbeit scheint nicht zufällig zu sein. Der Philosoph und Kunsttheoretiker Gerald Raunig macht in mehreren Schriften auf Hegels Theorie der Situation aufmerksam, die in dessen Vorlesungen zur Ästhetik entfaltet wurde.29 Raunig vermerkt, dass Hegel die Funktion der Kunst darin sieht, »Raum für die Kollision von Differenzen zu schaffen«30 und als Mechanismus zur Schaffung eines solchen Raums die Öffnung des allgemeinen Weltzustandes31 vorschlägt. Laut Hegel ist dieser »geöffnete (Dritte) Raum«32 zwischen der Einfühlung und dem allgemeinen Zustand gerade die Situation. Und so ist es »die Besonderheit des Zustandes, dessen Bestimmtheit jene Differenz und Spannung hervorbringt, die erst das auslösende Moment für die Handlung darstellt«33. Oder um mit Hegel selbst zu sprechen: Die Situation im allgemeinen ist einerseits der Zustand überhaupt, zur Bestimmtheit partikularisiert, und in dieser Bestimmtheit zugleich das Anregende für die bestimmte Äußerung des Inhalts, welcher sich durch die künstlerische Darstellung ins Dasein herauszukehren hat. Vornehmlich von diesem letzteren Standpunkte aus bietet die Situation ein weites Feld der Betrachtung dar, indem es von jeher die wichtigste Seite der Kunst gewesen ist, interessante Situationen zu finden […].34 Die wichtigste Aufgabe der Kunst sieht Hegel also in der »Erzeugung einer Situation als ›Mittelstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung‹«35. Deswegen bedarf es der Künstler, also konkreter Personen, die konkrete Aktionen durchführen und auf diese Weise eine Situation »und damit eine Möglichkeitsbedingung für das […] Betätigen all dessen [schaffen], was im allgemeinen Weltzustande noch unentwickelt verborgen liegt«.36 Und auch die Künstler selbst spüren (sei es bewusst oder unbewusst), dass der Drehund Angelpunkt ihrer Aktionen die Schaffung einer Situation sein soll. So widmete der Regisseur Thomas Ostermeier eine Vorlesung über sein eigenes Kunstschaffen im September 2014 in London der Frage

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nach der Identifikation und Ergründung der theatralen Situation. Die lateinische Phrase Totus mundus agit histrionem, die zu ­Shakespeares Zeiten über den Pforten des Globe Theatres hing, deutete er darin ­folgendermaßen: The somewhat ›official‹ version, ›All the world’s a stage‹, suggests that we are acting in our lives like characters of a play on stage. But the sentence also implies that we are driven to act by the situations that we are confronted with [hervorgehoben von mir, V. V.] in our life. Totus mundus agit histrionem can also be translated as totus – all, mundus – world, agit can also be an active word, and histrionem is not the story, as some might think, but it means ›actor‹. The sentence might therefore not only be read as ›the whole world acts like an actor‹, but also ›the whole world acts the actor‹ – the whole world forces the actor to act. And by extension: we are forced by the world to act like an actor. We are constantly forced to pretend to be somebody else. We are driven to change identities, to put on a mask, in order to find out, through playing, who we are and who the other might be.37 Ostermeier berichtete, dass man als Schauspieler während der Proben oft mit der Frage »Was spiele ich in diesem Moment als Figur?« (»What am I playing as a character at the moment?«) konfrontiert sei. Er als Regisseur müsse mit seinen Schauspielern oft ganz »banale«38 Wahrheiten während der Proben (wieder) entdecken, wie etwa solche, die sich darauf beziehen, dass ein probender Schauspieler nicht umhin kann, eine theatrale Situation anders als wahrhaft zu spielen: When you discuss with the actors how to play a certain scene, you will not need to talk about how you can, in this very moment, be truthful to the situation, or to the character. Instead, you can talk about what you are playing in this moment, as a character. The actor will be playing a character who is playing a situation. […] For an actor in a rehearsal space who has to find his or her way into the dramatic situation, and who feels blocked and restrained by the pressure to be truthful to this situation, it will be an act of liberation when the director is able to reassure them: do not even think about being truthful to the situation. Just play the moment the character is playing. This means that there is no more right or wrong. As a result, anything you do as an actor, even very bad acting, cannot be but truthful, because it is, for

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instance, Iago who is simply playing the role of Othello’s best friend. The very fact of not successfully, of not entirely ›truthfully‹ acting, ­therefore might even become the very beauty of portraying Iago […].39 Das Wichtigste für den Schauspieler beim Proben einer theatralen Situation sei laut Ostermeier das Gefühl des Unerwarteten bzw. das der Überraschung, das die Schauspieler – im Gegensatz zu den literarischen Figuren – nicht so einfach und selbstverständlich erzielen können, weil die Akteure über den Ausgang der Szene bereits im Vorfeld der Proben Bescheid wissen. Im Gegenteil hat die Figur in der Literatur keine Ahnung davon, was mit ihr als Nächstes passieren wird. Oft habe man in den Proben mit einer doppelten oder sogar dreifachen theatralen Situation zu tun: We should keep a sense of the surprise that something really works out well, rather than just expecting it as a given. It seems almost banal to state that none of the characters in a play have lived through the situation they are confronted with before; they do not know what is going to happen next. Still, this needs to be explicitly mentioned, and I have to constantly remind actors of this fact. Too often do we make decisions or arrive at certain ways of playing a scene because of our knowledge of the play as a whole. The character, however, does not know the scene; the character only ever makes an attempt to adapt to the situation, and to respond to the problem he or she is confronted with. […] I believe that if we saw a Richard Gloucester on stage in front of us who was completely convincing, he would be very boring from the start. We should see him having problems being Richard himself – problems being somebody else. This doubled theatrical situation […] helps me to approach and understand how to stage [­Shakespeare’s] plays. The double, or sometimes even triple, theatrical situation suggests an answer to many of the questions I have raised, about who we are or could be: we are multiple ›I‹s who try to adapt to the situations we are confronted with by playing, by pretending to be somebody else.40 Eine in der Literatur gegebene Situation mit darstellerischen Mitteln in einer theatralen – und d. h.: neu entdeckten – Situation herzustellen, ist also die wichtigste, um nicht zu sagen: die Schlüsselaufgabe der probenden Künstler.

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Rund um die Erzeugung einer Situation dreht sich auch die Lehre der Schauspielkunst von Konstantin Stanislawski.41 In seinen bekanntesten Werken Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im ­schöpferischen Prozess des Erlebens (Teil 1) und Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns (Teil 2) beschreibt Stanislawski, wie die Schauspielstudenten von ihrem fingierten Lehrer Torzow die »Umstände« erläutert bekamen und anhand dieser Vorgaben Situationen auf der Studiobühne erzeugen mussten, die danach zusammen mit dem Lehrer auf Fehler hin analysiert wurden. Genau auf solch eine Analyse der erzeugten Situationen während des Studienprozesses an einer Schauspielschule geht Stanislawski in den genannten Werken ein.42 Die darin gegebenen Beispiele zur Beschäftigung mit der Situation als maßgeblicher Analyseeinheit waren für mich ein entscheidender Anstoß, um auch in meiner Studie die Probensituation ins Zentrum zu rücken und zur wichtigsten Einheit meiner Analyse zu erheben. In einem nächsten Schritt galt es, die Kriterien zu bestimmen, anhand derer die einzelnen Situationen der in der vorliegenden Arbeit erörterten Probenprozesse herauszuheben waren. Praktisch jede Aufführung im Regietheater wird auf der Basis (mindestens) eines literarischen Werkes inszeniert. Das heißt, dass schon im Vorfeld der Proben mehr oder weniger klar ist, welche Themen und Probleme das zu inszenierende Stück behandeln wird. In jedem Fall nehmen die beteiligten Akteure zuallererst das entsprechende Buch aus dem Regal und lesen den Inhalt des literarischen Werkes. Erst unmittelbar während des Probenprozesses selbst entstehen dann Ereignisse bzw. erzeugen die Künstler Situationen, die das eine oder andere in der literarischen Vorlage bereits vorgegebene Thema auf je spezifische Weise wiedergeben oder herstellen. Gerade diese Situationen, die nur während des gemeinsamen Probenvorgangs entstehen bzw. erzeugt werden, machen das vorgegebene literarische Problem oder Thema auf der Bühne überhaupt erst sichtbar. Und gerade diese Situationen werden von den Künstlern fortwährend – von einem Probentag auf den anderen (aber jedes Mal auf eine neue Weise) – wiederholt. Folglich werden gerade diese Probensituationen den Kern meiner Analyse bilden. Leitend wird für mich in diesem Zusammenhang die folgende Frage sein: Wie genau entstehen solche Situationen während der Proben? Die Antwort auf diese Frage sollte meines Erachtens im ereignishaften Charakter einer jeden Aufführung gesucht werden.43 So ist ein jeder Probentag für diejenigen, die an ihm teilnehmen können, selbst bereits ein besonderes Ereignis. Dieses besteht seinerseits aus

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weiteren »kleinen« Ereignissen – und damit auch aus weiteren Interaktionen, Handlungen, Empfindungen –, die sämtliche Probentage prägen. Angesichts dessen werde ich die emotionalen Ereignisse, die in den sozialen Interaktionen der Probenbeteiligten auftreten und in die Bühnenfassung der späteren Theateraufführung eingehen, als soziale Emotionen bezeichnen. Soziale Emotionen stellen zugleich auch die Mechanismen dar, nach denen sich eine Kunstfigur konstituiert, denn aus den gemeinsamen Ereignissen – sprich: aus gemeinsam erlebten Vorgängen, aus Gesprächen, Witzen, Stress und Anstrengungen, aus Auflockerungen und Gelächter sowie überhaupt aus der Einstellung auf einer »emotionalen Wellenlänge« bzw. aus dem Wunsch heraus, etwas gemeinsam zu verstehen – ergeben sich für jeden Schauspieler eben jene Voraussetzungen, an denen er sich bei der Konstituierung seiner Kunstfigur orientiert. Für meine Probenanalysen werde ich im Folgenden von einem breiteren Methodenmix Gebrauch machen. Dieser umfasst: 1.  die empirische Beschreibung und Dokumentation der g ­ esamten Probenprozesse mittels detaillierter Probennotizen und V ­ ideoauf­zeichnungen, 2.  Gespräche, die ich als Probenmitglied mit sämtlichen ­Proben­­teilnehmern führen konnte, 3.  Interviews mit den Schauspielern, 4.  den Rückgriff auf Performativitäts-, Emotions-, Improvisations-, Ritual-, Raum-, Zeit- und Intermedialitätstheorien sowie 5.  die Analyse von Probenpraxen, wie sie z. B. in theoretischen Schriften (Lang, Engel, Diderot, Lessing, Goethe), Anekdoten (Goethe, Schiller), Tagebüchern (Wachtangow, Brecht) oder den Schauspiel­ lehren von Stanislawski und Čechov zu finden sind. Auf dieser methodischen Grundlage werfe ich die Frage danach auf, was genau ein theatraler Probenprozess unter emotions-, ritual- und performativitätstheoretischen wie auch theaterwissenschaftlichen und soziologischen Gesichtspunkten ist. Ziel meiner Untersuchung ist also einerseits, die theaterwissenschaftliche Forschungsmethodik des Theaterprobenprozesses auszubauen. Warum sind Probenprozesse für die Öffentlichkeit zumeist unzugänglich? Was sind die Kriterien, nach denen sich ein Probenprozess zusammensetzt? Mit welchen ästhetischen Kategorien wird bei der Probenuntersuchung operiert? Meines Erachtens ist für die Theaterwissenschaft eine sich auf die Emotions-

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forschung beziehende Methode der Probenforschung relevant. Aus diesem Grund verfolge ich andererseits, wie die Emotionen der Kunstfiguren innerhalb der sozialen Interaktionen zwischen den Künstlern am Beispiel eines »Modellentwurfs des Lebens« – des theatralen Probenprozesses – entstehen.44 Welche emotionalen Ereignisse werden im Prozess der Zusammensetzung einer Probe buchstäblich in Szene gesetzt? Wie entwickeln sich die Beziehungen zwischen den Kunstfiguren durch die sozialen Interaktionen der Künstler? Zum einen gehe ich sowohl als Probenbeobachterin als auch als Probenbeteiligte empirisch vor. Die unmittelbare Teilnahme als Regiehospitantin ermöglichte mir, einen engen Kontakt mit den Künstlern zu knüpfen und sie bei Bedarf zu interviewen. Zum anderen werde ich die Performativitätstheorien aufgreifen, die die kunstwissenschaftliche Forschung seit den 1990er Jahren maßgeblich bestimmen. Mit dem »performative turn«, der sich vom Logozentrismus des »linguistic turn« absetzte, »verlagerte sich [das kunstwissenschaftliche Interesse] nun stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und herausbilden«.45 Den Probenprozess betrachte ich demnach vor allem vor dem Hintergrund seines performativen Charakters. Um der Komplexität dieses facettenreichen Handlungsraums auf den Grund zu gehen, werde ich mich in den folgenden Kapiteln auf eine Vielzahl von Theorieansätzen beziehen. Dies betrifft etwa die Aufführungs- bzw. Performancetheorien, anhand derer in erster Linie das grundlegende Verhältnis zwischen Aufführung, Performance und Probe bestimmt wird. Aufgrund von diesem Verhältnis wird für die Analyse die Struktur des Probenprozesses zum Vorschein gebracht. Mit Hilfe der Performativitätstheorien wird eine Annäherung an den Prozess der Zusammensetzung einer Probe möglich. Die Theorien der Ritualität, der Grenzüberschreitung, der Raumästhetik und der Intermedialität sind für die vorliegende Studie deswegen von großer Relevanz, weil anhand dieser Theorien zum einen der Transformations-, zum anderen der Flüchtigkeitscharakter und die erschwerte Dokumentierbarkeit des Probenprozesses hervorgehoben werden. Die verwendeten Probentheorien ermöglichen mir auf der einen Seite, die auf die Proben bezogenen Schlüsselbegriffe zu revidieren. Auf der anderen Seite knüpft ein Blick in die Geschichte der Probentheorien und Schauspielmethoden an das Analyseverfahren des Regietheaters an, den Prozess seines Werdegangs sowie weitere im Regietheater verlaufende Prozesse in den Fokus der Betrachtung zu nehmen. Rezipiert werden darüber hinaus die Improvisations- sowie

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die Emotionstheorien. Mit deren Hilfe ­werden die tiefe Verbindung und Wechselwirkung der schauspielerischen Improvisation und emotionalen Ereignisse im Probenprozess deutlich gemacht.

Verlauf der Untersuchung

Die vorliegende Forschungsarbeit besteht aus einer Einleitung, sieben Kapiteln und einem Schlusswort. In den ersten vier Kapiteln werden die theoretischen und praktischen Zusammenhänge ausgelotet, die der Konstituierung eines Probenprozesses zugrunde liegen. Die ­Kapitel fünf bis sieben sind dem Phänomen der sozialen Emotionen sowie ihrer Funktion gewidmet, als Mechanismen der Konstituierung von Kunstfiguren im Probenprozess zu dienen. Der Stellenwert der ersten vier Kapitel wird nach den Kriterien und Begriffen ermessen, die sich für die theaterwissenschaftliche Methodik der Probenuntersuchung sowie für die Zusammensetzung eines Probenprozesses als relevant erweisen. In Kapitel eins gehe ich der »Genealogie« der Probe auf den Grund und spezifiziere in einem ersten Schritt das Verhältnis der Probe zur Performance bzw. Aufführung: Eine Performance richte sich, wie Marvin Carlson mit Recht bemerkt46, immer auf jemanden und schließt damit stets einen Performer und einen Zuschauer ein. Eine Probe (ich verwende dafür häufiger den Begriff Probenprozess) sei nach der Definition von Annemarie Matzke eine Serie von Aufführungen47. Vor dem Hintergrund der von Carlson artikulierten Präsenz sowohl des Performers als auch des Zuschauers liegt die Betonung in Matzkes Definition der Probe auf Aufführungen. Denn in den Proben wird permanent etwas von jemandem vor jemandem aufgeführt. (Die Akteure führen z. B. Szenen vor dem Regisseur und/oder vor anderen Akteuren auf. Oder der Regisseur selbst führt vor einem Akteur etwas auf, um ihm durch Anschauung den Dreh- und Angelpunkt der Szene zu erläutern usw.) Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Notwendigkeit nicht nur einer Performer-, sondern auch einer Beobachterpräsenz in den Proben. Unter einem Beobachter wird nicht nur der »ideale Zuschauer« – der Regisseur – verstanden, sondern auch eine Person, die protokolliert und mit ihrem externen, fremden Blick eine Leerstelle füllt, die eine Performance aufgrund ihres Flüchtigkeitscharakters immerzu aufweist. Hans-Friedrich Bormann und Gabriele Brandstetter führen aus, dass »[d]ie Rede von der Performance eine Leerstelle, einen Verlust [markiert]«48. Der externe Blick befragt den

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Wert der Performance »nach dem Abstand zwischen Präsentation und Wahrnehmung, der sich in den Dokumenten und Erinnerungstexten der Beobachter artikuliert«49. Außerdem werden in Kapitel eins die zu analysierenden Einheiten eines Probenprozesses identifiziert. Im Zuge dessen gehe ich auf die Struktur eines Probenprozesses ein. An jedem Probentag ereignen sich Situationen, aus denen sich der gesamte, monatelange Probenprozess zusammensetzt. So hebe ich auf eine ­Probensituation als diejenige Analyseeinheit ab, die ihrerseits im Format einer Aufführungssituation vollzogen wird und aus Handlungssituationen besteht. Eine Probensituation definiere ich als einen Standort, der vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Ereignisse in sich fasst, sodass diese Ereignisse für die Erarbeitung der Inszenierungsstrategien und Bühnenkonstellationen berücksichtigt werden können. Kurze, einmalige Aufführungen, auf die theatrale Proben als Modus und Format angewiesen sind, heißen Aufführungssituationen. Sie werden von den Beteiligten – Performern und Beobachtern – im Prozess des Probens gemeinsam erlebt. An dieser Stelle tritt die kleinste Einheit der Probenuntersuchung – die Handlung – ins Blickfeld. Mit den Handlungen werden die Situationen hervorgebracht. So werden an einem bestimmten Ort zu einer gegebenen Zeit in einer ereignishaften Art und Weise Handlungen durchgeführt, die das Ziel haben, eine theatrale Vorstellung zu materialisieren. Vor diesem Hintergrund erläutere ich in Kapitel 1.2 in Rekurs auf die von mir besuchten DT-Proben zu Dimiter Gotscheffs Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 das Verhältnis zwischen der Proben-, Aufführungs- und Handlungssituation. In Kapitel zwei wende ich mich den konstitutiven Elementen des theatralen Probenprozesses zu. Performative Räume, die Arbeit mit der literarischen Vorlage, der Umgang mit der Zeit, die Ritualität des Probens – all dies sind maßgebliche Kriterien, nach denen ein Probenprozess gestaltet wird. In Anlehnung an die Theorien der Raumästhetik bzw. an die Aufführungs-, Wahrnehmungs- und Performativitätstheorien gehe ich davon aus, dass performative Räume als ein Zusammenspiel von Handlungsvollzügen zwischen Performer und Beobachter zu begreifen sind, die einerseits stets aus kinästhetischen, multisensorischen, transtemporalen sowie dynamisch ästhetischen Vorgängen bestehen und andererseits immerzu einen architektonisch-geometrischen Raum füllen, in dem eben dieses komplexe Zusammenspiel stattfindet (vgl. Kapitel 2.1). Die Erläuterung eines weiteren Kriteriums – die Bearbeitung der literarischen Vorlage im Probenprozess – bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Bühne und Text sowie auf die Einwirkung dieses Verhältnisses auf die materielle

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Hervorbringung der A ­ ufführung. Anhand der Arbeitsweisen mit den entsprechenden Textvorlagen während der Proben für die Inszenierungen Endstation Sehnsucht am Berliner Ensemble (Regie: Thomas Langhoff) sowie Krankenzimmer Nr. 6 am Deutschen Theater (Regie: Dimiter Gotscheff) beleuchte ich die Beziehungen der Schauspieler und der von ihnen verkörperten Figuren zu den jeweiligen Texten der genannten Stücke. Im Zuge dessen treten freilich gewisse Unterschiede in den Blick: So vollzog sich die Wechselwirkung zwischen Bühne und Text in Langhoffs Inszenierung weitaus anders als im Fall Gotscheffs. Während des Probenverlaufs gab es zahlreiche »psychologische« Besprechungen, da sich die Akteure auf den psychologischen Zustand der von ihnen verkörperten Figuren konzentrieren und deren Handlungen mithin genau so fixieren mussten, wie es die psychologische Situation der betreffenden Szenen erforderte. In den Proben zur Gotscheff-Inszenierung entwickelten die Akteure jedes Mal eine spezifische Beziehung zum Text, die von ihnen explizit artikuliert wurde. Auf diese Weise wurde die Textvorlage in den Rang einer autonomen Einheit erhoben, die von den dargestellten Kunstfiguren gänzlich unabhängig war und insofern – um einen Ausdruck des Co-Regisseurs Ivan Panteleev aufzugreifen – nur noch als bloße »Metapher« in Anspruch genommen werden konnte (vgl. ­Kapitel 2.2). Die zeitliche Dimension der Probe – das dritte konstitutive Probenelement – lässt sich im Anschluss an den von Hans-Thies Lehmann eingeführten Begriff der geteilten Zeit ermessen, d. h., sie lässt sich als eine »offene[.] Prozessualität« verstehen, »die weder Anfang noch Mitte noch Ende hat«50. Auf den Probenprozess angewendet, zeige ich am Beispiel einiger Probensituationen am BE und DT, wie die Zeit »geteilt« wird. Genauer: Ich lege dar, in welchem Verhältnis der äußere Zeit-Rahmen (die von der Theaterleitung bis zum Premierentermin gesetzte Zeitspanne) und der innere Zeit-Rahmen (die von den beteiligten Künstlern selbst bestimmte Zeit, die im Lauf ihrer gemeinsamen Suche nach den Elementen der Aufführungskonzeption entsteht und u. a. durch den wechselseitigen Austausch von Erfahrungen vertieft werden kann) zueinander stehen. Anhand der Probensituationen wird das Z ­ eitdehnungsvermögen des inneren Zeitrahmens beschrieben. (Der Begriff Zeitdehnung ist mehrdeutig: Er bezieht sich zum einem auf den Einsatz von medialen, aber auch schauspielerischen Techniken in bestimmten Szenen; zum anderen zielt er auf die Wahrnehmungswirkung sowohl der Schauspieler als auch der Beobachter ab – vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.3.) Über eine Zeitdehnung unterläuft der innere Zeitrahmen die Grenzen der Probenbedingungen. Eine Zeitdehnung

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ist ein Vorgang, der direkt mit dem Ausgang einer Probensituation verbunden ist: Der innere Zeitrahmen wird ausgedehnt, damit eine Probensituation, die sich maßgeblich um die Suche nach spezifischen künstlerischen Entscheidungen dreht, bis zum gesetzten Premierentermin einen erfolgreichen Ausgang finden kann. Die zeitliche Dimension eines Probenprozesses wird also in Bezug auf die Verhältnisse der erwähnten zeitlichen Kategorien ermessen. Ein weiteres relevantes Kriterium der Probenkonstituierung bezieht sich auf die Identifizierung von Theater und Ritual. Wie die Ritualforscher Ursula Rao und Klaus-Peter Köpping belegen, können »beide Handlungsdomänen des Performativen« »andere Wirklichkeiten aufzeigen«51. Als »Handlungsdomäne des Performativen« hebt das Theater, und um so mehr ein theatraler Probenprozess, auf die Wirkung des Performativen ab, Transformationen der Wirklichkeit vorzunehmen. Unter Transformationen begreift Erika Fischer-Lichte »­Übergänge von einem Zustand in einen anderen«52. Es ist die transformative Kraft des Performativen, die aufgrund des Übergangs der ­Teilnehmer von einem Zustand in den anderen die Wirklichkeit anders wahrnehmbar macht, insofern sie diese Wirklichkeit – in der zitierten Ausdrucksweise von Köpping und Rao – »anders aufzeigt«. Die Beteiligten werden in einen liminalen Zustand53 versetzt, wie der Ritualforscher Victor Turner bemerkt. Eine solche »Schwellenerfahrung«, wie sie Turner und später auch Fischer-Lichte für die Spezifität der Theatersituation ausmachen, stellt das Schlüsselkonzept jeder theatralen Probe dar. Sich während der Probe in einem Schwellenzustand zu befinden, heißt zugleich, bei der Suche nach bestimmten künstlerischen Entscheidungen ungeschützt etwaigen inneren wie äußeren Transformationen ausgesetzt zu sein. Im Zuge dessen wird indes mitnichten jede gefundene Entscheidung mit Erfolg gekrönt. »Gelingen oder Scheitern?« ist die Frage, die jeden Probentag begleitet. Wie genau sich dieses Changieren zwischen Erfolg und Misserfolg konkret gestaltet, werde ich auf der Grundlage einiger ausgewählter Probensituationen zu illustrieren versuchen. Ein besonderes Augenmerk lege ich in diesem Zusammenhang auf die sich innerhalb des Probenprozesses einstellenden Transformationsvorgänge bzw. Grenzüberschreitungen. In Kapitel drei wird eine wichtige, von mir eingeführte ästhetische Kategorie – die Ästhetik der Herausforderung – erläutert. Mit dieser Kategorie hebe ich auf den Unterschied zwischen einem Probenprozess und einer »fertigen« Aufführung ab. Anhand von Probensituationen aus den Schaubühne-Proben zu Der Tod in Venedig in Regie von Thomas Ostermeier (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3) sowie aufgrund der in

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Kapitel zwei angeführten Fallbeispiele zur rituellen Dimension der Probe werde ich herausstellen, dass die Ästhetik der Herausforderung eine komplexe Konstellation von rituellen, vertrauten und intermedialen Verhältnissen repräsentiert. Diese Verhältnisse haben einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmungen der Beteiligten sowie die Grenzauflösung zwischen Realem und Fiktivem. Die Kategorie der Ästhetik der Herausforderung markiert den Unterschied zwischen einer Probe und einer fertigen Aufführung. Die ästhetische Erfahrung einer Theaterprobe – mit Erika Fischer-Lichte verstanden als »die Erfahrung der Schwelle, des Prozesses der Verwandlung«54 – begreift die Herausforderung als eine selbstreferenzielle Kategorie (ein geschlossener und vertrauter Prozess des Probens, der hinter verschlossenen Türen verläuft, richtet sich auf den unmittelbaren Prozess der performativen Hervorbringung der Aufführung). Demgegenüber richtet sich die Herausforderung einer fertigen Produktion nur auf den Zuschauer (durch die bereits entworfenen Verhaltens- und Spielweisen, das szenische Geschehen etc.). Echtzeit- und partizipative Tendenzen, auf die ich in den Kapiteln 3.2 und 3.3 eingehe, sind wichtige Eigenschaften einer Ästhetik der Herausforderung. Echtzeit-Tendenzen sind Einschübe von Ereignissen, die in realer Zeit in den Proben entstehen und in dem Zustand, in dem sie darin erschienen, in die Bühnenfassung – und zwar auch in realer Zeit – eingehen. Eine Situation soll also während einer fertigen Aufführung zwischen den Akteuren und Zuschauern eben so verlaufen, als fände sie innerhalb einer Probe zwischen allen Beteiligten statt (vgl. dazu Kapitel 3.3). Mit dem Begriff der partizipativen Tendenz beziehe ich mich auf eine Grenzverschiebung zwischen den Künsten und Alltagspraktiken, wie sie sich seit den 1990er Jahren in den Künsten verzeichnen lässt. Künstler nehmen verstärkt an »nicht-künstlerischen« Aktivitäten teil, während Nicht-Künstler zunehmend Zutritt zu »rein« künstlerischen Bereichen bekommen (berührt wird durch diese Entwicklung u. a. das Problem, was als »künstlerisch« und was als »nicht-künstlerisch« zu verstehen ist). In Bezug auf die Kunst des theatralen Probens sind es die raren Hospitantenstellen, öffentliche Proben, Workshops und Lesungen, die die für gewöhnlich geschlossenen Probenprozesse ein wenig »nach außen« öffnen. In Kapitel vier wird der Stellenwert der Improvisation für die ­Entstehung der Aufführung festgelegt. Auf Basis der von Konstantin Stanislawski und Keith Johnstone beschriebenen Stimulierungsmethoden des Unbewussten der probenden Schauspieler führe ich in Anlehnung an den russischen Improvisationsforscher Andrej Tolšin

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den Begriff des Improvisationszustands ein. Der Improvisationszustand ist ein veränderter Zustand des Bewusstseins, durch den es einem Schauspieler möglich wird, Handlungen, die unbewusst entstehen, bewusst in Szene zu setzen. Zur genaueren Erläuterung dieses Aspekts stütze ich mich in Kapitel 4.1 im Wesentlichen auf eigene Notizen, Protokolle und Videoaufnahmen. Soziale Interaktionen zwischen dem Regisseur, den Schauspielern sowie sämtlichen Probenbeteiligten durchdringen den gesamten Produktionsvorgang: Vorschläge, Bemerkungen, spontane Ideen oder ungeplante Vorfälle können den Verlauf der Proben in eine andere Richtung lenken (beispielsweise können sie die ursprünglichen Intentionen des Regisseurs bei der Gestaltung einiger Szenen beeinflussen). Anhand von Beispielen aus der Schauspielgeschichte und aus den von mir besuchten Proben wird in diesem Kapitel gezeigt, dass der Schwellenzustand sowohl »von außen« – durch soziale Interaktionen – als auch »von innen« – also durch Impulse, schöpferisches Wahrnehmen, Assoziationen etc. – erlangt werden kann. In Kapitel 4.2 analysiere ich den Bezug bzw. den Einfluss der Improvisation auf die Emotionsebene im rituellen Prozess der Proben. Die Improvisationskunst des Schauspielers tritt als Voraussetzung für den performativen Einsatz seines Körpers in den spontan entstehenden Probensituationen auf. Mit performativen Handlungen werden Emotionen zum Ausdruck gebracht. Emile Durkheims Theorie der kollektiven Efferveszenz55, mit der er die starke, sozial geteilte affektive Erregung der Teilnehmer kollektiver Rituale beschrieb, wurde 1967 von Erving ­Goffman weiterentwickelt. Goffmans These, dass alle Interaktionen (auch diejenigen zwischen zwei Teilnehmern in einer kleinen Gruppe) ritueller Herkunft sind56, entwickelte Randall Collins später zur Theorie der Interaktionsrituale (interaction ritual chains57), die ­postuliert, dass nicht nur kollektive, sondern auch individuelle Emotionen bedeutende Funktionen für Gruppen und Gemeinschaften aufweisen. Da Theaterprobenprozesse eben solche rituellen Prozesse sind und auf die Aufrechterhaltung ihres rituellen Symbols – der gemeinsamen, vertrauten Suche nach den Komponenten der Aufführung – fokussieren, werden Emotionen, die im Wahrnehmungs- und Verkörperungsprozess der Kunstfigur unausweichlich zum Ausdruck kommen, in Improvisationsausprägungen – Folgen sozialer ritueller Interaktionen – aufgespürt. In den ersten vier Kapiteln des vorliegenden Buches werden Theorien und Methoden diskutiert, die es der Theaterwissenschaft ermöglichen, eine Probenpraxis anders als nur aufführungsanalytisch und literaturhistorisch zu untersuchen. Die Beobachterpräsenz lässt

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rituelle, intermediale sowie partizipative Tendenzen in den Fokus der Untersuchungsmethodologie der Probenpraxis rücken. Kapitel fünf ist den sozialen Emotionen in den Probenprozessen gewidmet. Dabei werden die Interaktionsrituale in den Probensituationen in den Fokus gerückt. Es werden konkrete Probensituationen am DT, BE und der Schaubühne herausgestellt. Dabei wird das Augenmerk insbesondere auf die Interaktionen der Künstler gelenkt. ­Randall ­Collins’ Theorie der Interaktionsrituale besagt, dass Interaktionen stets einen rituellen Charakter haben58. Das bedeutet, dass den Interaktionsritualen der Künstler in den Proben eine die Wirklichkeit transformierende Kraft des Performativen zugrunde liegt. Ausgehend von Gesprächen, Improvisationen, Bewegungen und Handlungen werden Schritt für Schritt Szenen einer Aufführung gestaltet. Das Ziel all dieser ritualisierten Aktivitäten besteht darin, spezifische emotionale Ereignisse ins Leben zu rufen. Diese emotionalen Ereignisse, die durch kollektive Handlungen entstehen, werden in der Soziologie soziale Emotionen genannt. Emotionsforscher wie Robert A. Thamm, Jan E. Stets und Jonathan H. Turner heben in diesem Zusammenhang zahlreiche Klassifizierungen von Emotionen hervor. Je nach Klassifikation und struktureller Besonderheit (heutzutage sind insgesamt ca. 72 strukturelle Merkmale bekannt59) werden die jeweiligen Emotionen entsprechend betitelt. Was die Interaktionsrituale in den drei von mir beobachteten Probenprozessen betrifft, so habe ich die darin zum Vorschein gekommenen Emotionen als Liebe, Verachtung, Eifersucht und Stolz klassifiziert. Diese Betitelung erfolgte auf der Grundlage der Beziehungen, Probleme und Themen, die in den Werken der inszenierten Autoren (Anton Čechovs Krankenzimmer Nr. 6, Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht, Thomas Manns Der Tod in Venedig) aufzufinden sind. Hinzuzufügen ist, dass die Art und Weise, wie die Klassifizierung von Emotionen in der vorliegenden Studie zustande gekommen ist, nicht nur methodologisch, sondern auch historisch bedingt ist. Die Versuche, Emotionen für Schauspielmethoden zu klassifizieren und ihre Funktion für die Gestaltung der Rollenfigur zu bestimmen, w ­ eisen zurück ins 18. Jahrhundert, als das Regietheater etabliert wurde. Neben Theatertheoretikern wie Franciscus Lang, Denis Diderot, ­Gotthold ­Ephraim Lessing oder Johann Jakob Engel, die einen wesentlichen Beitrag zur Emotionsforschung im Theater geleistet haben, setzten sich auch Theaterpraktiker wie Johann Wolfgang von Goethe und F ­ riedrich Schiller mit den Emotionen in der Schauspielkunst auseinander. Im 20. Jahrhundert wurden die in der bürgerlichen Schauspielkunst aufgestellten Postulate über die affektive Wahrnehmung vor allem

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von Konstantin Stanislawski, Michail Čechov, Jewgeni ­Wachtangow, ­Wsewolod ­Meyerhold und Bertolt Brecht weiterentwickelt, revidiert und perfektioniert. Die von mir vertretene These, mit welchen Mitteln Emotionen im Theater des 21. Jahrhunderts erforscht werden können, formuliere ich anhand der sechs ermittelten Komponenten des von mir herangezogenen Emotionsmodells. Im Zentrum stehen dabei die physiologischen Veränderungen und performativen Handlungen der Schauspieler, die konkrete Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler, die intentionalen Objekte und das subjektive Erleben der Darsteller sowie die mit diesem Erleben verbundene Gedankeninhalte, die aus den beobachteten Interaktionsprozessen oder geführten Interviews zum Vorschein gebracht werden können. In Kapitel sechs werden die sozialen Emotionen Liebe, Verachtung, Eifersucht und Stolz tabellarisch entfaltet. Anknüpfend an die damit einhergehenden Emotionsbeschreibungen werden in Kapitel sieben einige Arten des Aufbaus von Kunstfiguren vorgestellt. Aspekte wie die »Überaufgabe« (in der Ausdrucksweise von Stanislawski, die bei der Analyse des Werks gefundene Idee), die Arbeitsweise des Regisseurs, die Art der Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern sowie der Einsatz des Stegreifspiels der Darsteller sind dabei entscheidend. So werden in Rekurs auf die in Kapitel sechs präsentierten Emotionsbeschreibungen die Konstituierungsprozesse der Kunstfiguren der drei von mir beobachteten Probenprozesse wiedergegeben. Die Kapitel fünf bis sieben bilden insofern den analytischen Kern der vorliegenden ­Dissertation.

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Die Grundlage dieses Beispiels bildet die Erzählung Der Tod in Venedig von ­Thomas Mann. Dieses Beispiel fußt auf dem Stück Endstation Sehnsucht von Tennessee ­Williams. Es sei denn, es würde für diese Zwecke eine spezielle voraussetzungsreiche Langzeitstudie durchgeführt, für die Fachforscher aus mehreren Disziplinen – von der Soziologie bis zu Hirnforschung und Neurowissenschaften – hinzugezogen werden sollten. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 359. Claudia Dickhoff: Probenarbeit, Dokumentation und Analyse eines künstlerischen Prozesses: dargestellt am Beispiel der Münchner Inszenierung von Niccoló Machiavellis »Mandragola«, München 1984, S. 16. Weniger relevante, weil die heutige Theaterwissenschaft bei der Probenforschung vor allem von einer »aktiven« Beobachtung einer Probe ausgeht. (Es wird vorausgesetzt, dass der Beobachter bei Bedarf in Kontakt mit den Theaterschaffenden treten kann, was automatisch seine Teilnahme am Probenprozess begreift. Allein seine körperliche Präsenz im Probenraum begreift eine teilnehmende Beobachtung.) Eine teilnehmende Beobachtung eines Probenprozesses ermöglicht nämlich den Einsatz von solchen Kategorien, die erst in den 1990er Jahren entwickelt wurden. Dickhoffs Studie hingegen fokussiert zum größten Teil nur quantitative Aspekte der Probe, den Umgang mit dem Dramentext bzw. die Beschreibung der Handlungsstruktur, was vor über drei Jahrzehnten aufgrund der damals vorhandenen Theorien noch als ein durchaus relevantes Vorhaben galt. Ebd., S. 16f. [Einfügungen von mir, V. V.] Die Methode der teilnahmslosen Beobachtung ist in der empirischen Sozialforschung zwar nicht unüblich, aber eine Probenanalyse lässt sich – wie sich seit dem »performative turn« (siehe Anmerkung 43) in den Künsten beobachten lässt – nur dann adäquat durchführen, wenn der Beobachter zumindest im Proberaum präsent ist und für alle Teilnehmer sichtbar ist. Aber in Dickhoffs Fallstudie geht es um ein gut durch- und vorgeplantes Projekt zwischen den Künstlern und Wissenschaftlern, das auch gerade die extra dafür ausgearbeitete Vorgehensweise voraussah, die die »Absonderung« der einen Teilnehmer von den anderen einschloss. Vor über dreißig Jahren waren Theaterprobenbesuche u. a. durch Hospitanten oder andere externe Beobachter eine sehr selten vorkommende Praxis. Heutzutage wäre solch eine Vorgehensweise mit »­Absonderung« bei einer Probenuntersuchung eher nur zu ganz eng gesteckten Forschungszielen möglich, denn meistens sitzen heute die »Dritten« zusammen mit den Theatermachern im Proberaum und beobachten den Probenvorgang, ohne dass sich die Theatermacher vor ihnen extra »verspiegeln« lassen, wie es in Dickhoffs Studie der Fall war. Vgl. Dickhoff, S. 1–3. Gay McAuley: »Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of Meaning«, in: Theatre Research International, Volume 33, No. 3, 2008, S. 276–288, S. 277f. [Hervorhebungen von mir, V. V.] Ebd., S. 287, Anm. 3. Vgl. Gay McAuley: »The Emerging Field of Rehearsal Studies«, in: About Performance, No. 6, 2006, S. 7–13. Um nur die wichtigsten Studien auf diesem Gebiet zu nennen: Shomit Mitter: ­Systems of Rehearsal. Stanislavsky, Brecht, Grotowski, and Brook, London/New York 1992; Alison Oddey: Devising Theatre. A Practical and Theoretical H ­ andbook, London 1994; Mark Bly (Hg.): The Production Notebooks. Theatre in Process. ­ Volume 1, New York 1996; Thomas A. Kelly: The Back Stage Guide to Stage Management. Traditional and New Methods for Running a Show from First Rehearsal to Last Performance, New York 1999; Tiffany Stern: Rehearsal from Shakespeare to Sheridan, Oxford 2000; John Perry: The Rehearsal Handbook for Actors and D ­ irectors. A Practical Guide, Wiltshire 2001; Kate Rossmanith: Making Theatre-Making. Rehearsal Practice and Cultural Production, Doctoral Thesis, Department of Performance Studies, University of Sydney, 2003; Jen Harvie, Andy Lavender (Hg.): Making Contemporary Theatre. International Rehearsal Processes, Manchester/New York 2010; Alex Mermikides, Jackie Smart (Hg.): Devising in Process, Hampshire 2010; Gay


Endnoten

McAuley (Hg.): About Performance. Rehearsal and Performance Making Process, Sydney 2006; Gay McAuley: Not Magic but Work, Manchester University Press 2012. 14 Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 27. 15 Ebd., S. 106. In der vorliegenden empirischen Studie werden soziologische Methoden der Emotionsforschung mit den Methoden der Ritual-, Improvisations- und Performativitätsforschung kombiniert. Nähere Ausführungen dazu finden sich im Abschnitt Methodische Überlegungen dieser Einleitung. 16 Melanie Hinz, Jens Roselt (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin 2011; Jen Harvie, Andy Lavender: Making Contemporary Theatre, Manchester/New York 2010; Thomas Oberender: Leben auf Probe. Wie die Bühne zur Welt wird, München 2009. 17 Hajo Kurzenberger: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper. Probengemeinschaften. Theatrale Kreativität, Bielefeld 2009, Klappentext. 18 Ebd., S. 22. 19 Annemarie Matzke: »Konzepte proben – Probenprozesse in postdramatischen Theaterformen«, in: Hajo Kurzenberger, Stephan Müller, Anton Rey (Hg.): ­Wirkungsmaschine Schauspieler – Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 42–52, S. 44. 20 Sabine Krüger: Monster unterm Bett – Das IMPERIUM von La Fura dels Baus. Ein analytischer Blick auf künstlerische Inszenierungsverfahren und intime Probenprozesse, online veröffentlichte Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin 2014, S. 18. www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000096096 [letzter Abruf: 19.6.2018.] 21 Ebd. 22 Ebd., S. 18 u. 19. 23 Ebd., S. 22. 24 Ebd., S. 19f. 25 Peter Ullrich: »Vorwort: ›Was ist das: Inszenierungsdokumentation?‹«, in: ­Theaterarbeit dokumentiert. Bestandsverzeichnis Inszenierungsdokumentationen, Hrsg.: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin 1999, S. 7–14, S. 8, zit. nach Krüger: Monster unterm Bett, S. 20. 26 James Clifford: »Introduction: Partial Truths«, in: James Clifford and George E. Marcus (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/ Los Angeles/London 1986, S. 1–26, S. 9. 27 Kate Rossmanith: Making Theatre-Making. Rehearsal Practice and Cultural ­Production. Doctoral Thesis. Department of Performance Studies, University of Sydney, 2003, S. 16. 28 Vgl. dazu abermals Matzke: Arbeit am Theater. 29 Vgl. z. B. Gerald Raunig: Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien 1999, insbes. S. 11–15 und 119–121; ders.: Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands, Wien 2000, darin vor allem Kapitel 16: »Vom Grenz-Wall zum Intervall. Hegels Situation, Theorie der Grenze und Politik der Differenz«, S. 99–107. 30 Gerald Raunig: »Spacing the Lines. Konflikt statt Harmonie. Differenz statt Identität. Struktur statt Hilfe«, in: Stella Rollig, Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, Wien 2002, S. 118–127, S. 121. 31 Vgl. ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Georg W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Band 1, Frankfurt/M. 1986, S. 260f., zit. nach Raunig: »Spacing the Lines«, S. 121. 35 Ebd., S. 261, zit. nach Raunig: »Spacing the Lines«, S. 121f. 36 Raunig: »Spacing the Lines«, S. 122. 37 Peter M. Boenisch, Thomas Ostermeier (Hg.): The Theatre of Thomas Ostermeier, London/New York 2016, S. 190. [Andere Hervorhebungen im Original.] 38 Dieses und das vorangehende Zitat basieren auf meinen persönlichen Notizen zu Ostermeiers Vortrag am 26.9.2014 während des internationalen Symposiums Reinventing Directors’ Theatre at the Schaubühne Berlin an der Royal Central School of Speech and Drama in London. 39 Boenisch, Ostermeier: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 188. [Hervorhebungen im Original.]

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Einleitung

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Ebd., S. 188f. Vgl. dazu Kapitel 5.1 sowie Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Teil 1: »Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens«, Westberlin 1984; ders.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Teil 2: »Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns«, Westberlin 1984. 42 Vgl. Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines ­Schülers, Teil 1 und Teil 2. Im ersten Teil dieses Klassikers werden die Lernprozesse der zwei ersten Studienjahre beschrieben. Torzows Schüler handeln auf der Studiobühne anhand der von ihm gegebenen Umstände. Er analysiert zusammen mit seinen Schülern, wie sie auf der Bühne agiert haben. Im zweiten Teil werden die ersten professionellen Proben, an denen Torzows Studenten teilnahmen, und die während dieser Proben erzeugten Situationen beschrieben. 43 Max Herrmann begreift die Aufführung nicht als ein fertiges Werk, sondern als ein Ereignis. Die Aufführung vollzieht sich demnach als ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis. Vgl. dazu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 53. 44 Es ist nachvollziehbar, dass eine Emotionsanalyse am Beispiel des Alltagslebens eines realen Menschen aus vielen – z. B. (forschungs-)ethischen und zeitlichen – Gründen undenkbar ist: Wer würde sich schon gerne einer permanenten Beobachtung von außen unterziehen bzw. seinen Alltag über Jahre hindurch in ein »Forschungslabor« verwandeln lassen? Ein alternatives Forschungsmaterial für solch eine Fallstudie könnten eventuell die sogenannten reality game shows wie Big Brother bieten. In diesen jahrelang dauernden, live ausgestrahlten reality shows willigen die Teilnehmer (gegen Entgelt) ein, so gut wie keinen (oder nur sehr begrenzten) Kontakt mit der Außenwelt zu halten, rund um die Uhr ­videoüberwacht zu werden und dadurch dauerhaft wie unter einer Lupe zu leben. Aber Fälle, in denen Privatpersonen Massenmedien oder Forscher über Jahre in ihr Alltagsleben hineingelassen hätten, entziehen sich zumindest meiner Kenntnis. 45 Erika Fischer-Lichte: »Vom ›Text‹ zur ›Performance‹. Der ›performative turn‹ in den Kulturwissenschaften«, in: Kunstform International: Kunst ohne Werk, Bd. 152 (Oktober–Dezember 2000), S. 61–63, S. 61. 46 Vgl. Marvin Carlson: Performance. A Critical Introduction, London/New York 1996, S. 6. 47 Matzke: Arbeit am Theater, S. 105. 48 Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter: »An der Schwelle. Performance als Forschungslabor«, in: Hanne Seitz (Hg.): Schreiben auf Wasser. P ­ erformative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Bonn 1999, S. 45–55, S. 46. 49 Ebd., S. 50. 50 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 327. 51 Klaus-Peter Köpping, Ursula Rao: Einleitung »Die ›performative Wende‹: Leben – Ritual – Theater«, in: dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster/­Hamburg/ London 2000, S. 1–31, S. 11. 52 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 113. 53 Vgl. Victor Turner: The Ritual Process – Structure and Anti-Structure, London 1969, S. 95f. 54 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 349. 55 Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Frankfurt a. M. 2001. 56 Vgl. Erving Goffman: Interaktionsrituale: über Verhalten in direkter Kommunikation (1967), Frankfurt a. M. 1991. 57 Vgl. Randall Collins: Interaction Ritual Chains, Princeton NJ 2004. 58 Vgl. ebd., S. 15, S. 44–46. 59 Vgl. Robert A. Thamm: »The Classification of Emotions«, in: Jan E. Stets, ­Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 11–37, S. 34.

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Über die »Genealogie«1 der Probe

1.1 Zum Verhältnis von Performance und Probe sowie zur ­Methodik der Probenanalyse

Bevor theatrale Probenprozesse in den Fokus meiner Betrachtung rücken, sollte zunächst deren Verhältnis zum Performance-Begriff geklärt werden. Bereits Ende der 1950er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts schlug der amerikanische Ethnologe Milton Singer vor, wertorientierte kulturelle Aufführungen aller Art (Hochzeiten, Spiele, Festivals, Tänze, Konzerte, Rituale, Sportwettbewerbe etc.) als ­cultural performances zu verstehen2. Wie Sandra Umathum unter Verweis auf Singer festhält, handelt es sich hierbei stets um »Aufführungen, in denen eine Kultur ihr Selbstbild und Selbstverständnis vor sich selbst und vor anderen öffentlich präsentiert – oder auch reflektiert, in Frage stellt und transformiert«3. Heutzutage geht man von einer ausgesprochen umfangreichen Reichweite des Performance-Begriffs aus. Richard Schechner konstatierte etwa, dass »sich Performance in alle Richtungen verbreitet hat«4. Entsprechend wurden die Performance Studies in den 1970er Jahren »als ein interdisziplinäres Forschungsfeld proklamiert[.]«5. Der amerikanische Medienwissenschaftler Jon McKenzie sieht im Performance-Begriff sogar »einen der Schlüsselbegriffe des 21. Jahrhunderts« und »erhebt Performance […] zum heraufziehenden Paradigma unseres kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens«6. Er geht von der »Doppelbedeutung des Wortes ›Performance‹« – nämlich: »Aufführung und Ausführung/Leistung«7 – aus und weist im Zuge dessen nicht nur darauf hin, dass sich Performance in allen Lebenssparten als Wirkungs- und sogar Manipulationsmodus8 entwickelt hat, sondern er problematisiert diesen Begriff darüber hinaus als eine maßgebliche »onto-historical formation of power and knowledge«9 des 20. und 21. Jahrhunderts: »[…] performance will be to the twentieth and twenty-first centuries what discipline was to the eighteenth and nineteenth, that is, an onto-historical formation of power and knowledge.«10 Eine Performance im Sinne einer Aufführung impliziert immer einen Ausführenden und einen Zuschauer. Meines Erachtens bezieht sich die Reichweite des Performance-Begriffs definitiv auch auf das Material meiner Untersuchung, d. h. auf Probenprozesse im Regietheater, insofern ein Probenprozess nichts anderes als eine Reihe von Aufführungen fasst. Zu betonen ist, dass jede dieser Aufführungen stets

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1  Über die »Genealogie« der Probe

anders »performt« bzw. aufgeführt wird und von daher unwiederholbar ist. Bestätigt wird diese Sichtweise durch Annemarie Matzkes grundlegende Studien über die Diskursgeschichte der Probe. In ihrer (bereits in der obigen Einleitung ausführlich diskutierten) Habilitationsschrift definiert Matzke einen Probenprozess als eine »Serie von Aufführungen«11. In Rekurs auf Marvin Carlson ist »[performance] always for someone, some audience that recognizes and validates it as performance«12. Als »Serien von Aufführungen« (und nicht nur als deren Ergebnisse, sprich: als fertige Produktionen) sind Probenprozesse also auch auf Beobachter angewiesen – sei dies der forschende Blick des Regisseurs (»der ideale Zuschauerblick«13) oder aber derjenige einer Person, die protokolliert, dokumentiert, filmt oder Notizen über den Probenverlauf macht. Zugleich findet solch eine Notwendigkeit der Dokumentation den Nachweis auch bei Matzke, die auf eine »besondere Medialität [der Proben] als Aufführung«14 abhebt und andere Probenforscher auffordert, je nach Ziel der vorgenommenen Untersuchung »eigene Methoden für die Analyse der Arbeit am Theater in den Probenprozessen zu finden«15. Wenn »die Leerstelle der immer bereits vergangenen Aufführung […] ein zentrales Thema der Theaterwissenschaft«16 ist, dann wird die Vorgehensweise für die Analyse einer »Serie von Aufführungen« (und manche Probenprozesse dauern monatelang und enthalten demzufolge hunderte von Aufführungsserien) zu einem weitaus komplizierteren Problem. Auch die Theaterforscher Gabriele Brandstetter und Hans-Friedrich Bormann problematisieren die Leerstelle, die eine Performance aufgrund ihrer Vergänglichkeit und Flüchtigkeit aufweist. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Materialität einer Performance adäquat zu erfassen, schlagen Brandstetter und Bormann vor, die Vorgehensweise für die Performance-Analyse in den »Vorentscheidungen« zu suchen: Die Rede von der Performance markiert eine Leerstelle, einen Verlust. Zum verfügbaren Gegenstand […] wird sie uns nur um den Preis ihres Verschwindens […]. In Analogie zur experimentellen Physik des 20. Jahrhunderts wäre zu berücksichtigen, daß die Versuchsergebnisse und die daraus gewonnenen Erkenntnisse von Vorentscheidungen abhängen: von der Beobachterposition und dem jeweiligen Instrumentarium.17 Wenn eine Beobachterposition laut Brandstetter und Bormann ein elementarer Bestandteil von Vorentscheidungen ist, dann steht die

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1.1  Zum Verhältnis von Performance und Probe

Instanz des Beobachters nicht nur für das Publikum, das während des Verlaufs einer Performance unmittelbar anwesend ist, sondern auch für diejenigen Zuschauer, die während der Vorbereitungsphase anwesend sind und den Herstellungsprozess einer Aufführung mitbestimmen. Die Beobachterposition für den theatralen Probenprozess im zeitgenössischen Regietheater zu reflektieren, umfasst von daher einen elementaren Schritt für die Analyse von Probenprozessen. Über das Thema der Anwesenheit von Zuschauern in Probenprozessen ist eine historische Übersicht Annemarie Matzkes aufschlussreich. Interessanterweise wurde bereits im Barocktheater »die Ausgrenzung der Zuschauer mit einer möglichen Gefährdung des Probenprozesses [legitimiert]«18. Für die vorliegende Untersuchung ist indes eine andere Beobachtung Matzkes grundlegend: Ihr zufolge darf nämlich als gesichert gelten, dass »zum theatralen Produzieren konstitutiv die Zuschauerposition [gehört]«19 und mit dem Auftreten der »neuen, technischen Probleme« im Barocktheater, die mit der Ausgrenzung der Beobachter aus den Proben verbunden waren, »[d]er Regisseur zum Stellvertreter des Zuschauers erklärt [wird]«20. Bleiben wir aber bei der These, wonach der Zuschauerblick wesentlich zum Probenprozess gehört (diese These ist für das Regietheater allgemein gültig): Zum einen gilt sie, weil »der Schauspieler sich beim Darstellen [nicht sieht]« und »ihm der Zuschauerblick durch den Regisseur [gespiegelt wird]«, wodurch er schließlich »auf den ›blinden Fleck‹ im eigenen Sehen«21 verwiesen wird. Zum anderen handelt es sich bei der Beobachterposition in einem Probenprozess um das Aufbewahren der Erinnerung durch Artefakte, »ohne die […] unser Blick für ein Ereignis [blind wäre]«22. Überdies setzt die Präsenz des Beobachters Energien und Möglichkeiten in Gang, die ohne ihn undenkbar wären bzw. ohne die eine Theaterprobe eine ihrer wichtigsten Besonderheiten – ihre Intimität23 – verlieren würde. Die Frage Was wird in den Proben beobachtet? ist für die Methodologie der Analyse von Probenprozessen genauso grundlegend wie die festgestellte Notwendigkeit der Beobachterpräsenz. Wie bereits aus der vorläufigen, aber bei Weitem noch nicht vollständigen Definition des Probenbegriffs hervorgeht, der zufolge die Probe als eine Serie von Aufführungen zu verstehen sei, besitzt die vorliegende Untersuchung einerseits einen aufführungsanalytischen Charakter. Warum wird die Analyse nun ausgerechnet auf der Basis von Probenprozessen durchgeführt? Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Weil eine Aufführung – als wesentlichster Bestandteil und Modus der Probe – »das menschliche Leben selbst und zugleich […] sein Modell«24 ist. Da ein

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1  Über die »Genealogie« der Probe

»Lebensmodell« per definitionem vielschichtig ist, rücken in den Fokus meiner Betrachtung nicht nur die Interaktionsprozesse der Künstler während des unmittelbaren Bühnenvorgangs (wobei solche Interaktionen einer der wichtigsten Aspekte meiner Analyse sind), sondern auch soziale Fragen und Probleme, durch welche die Probenprozesse nicht weniger als durch Interaktionen geprägt werden. In den Proben habe ich beobachtet und notiert, worüber der Regisseur mit sämtlichen Beteiligten im Laufe des Probentages gesprochen hat. Das Ziel meiner Beobachtungen bestand dabei nicht nur in der Fixierung der Interaktionsinhalte, sondern gleichermaßen in der Dokumentation der damit verbundenen Konnotationen (etwa die Stimmung des Regisseurs oder die Beziehungen zwischen den Beteiligten). Sämtliche Ereignisse, die im Hintergrund des unmittelbaren Bühnengeschehens – parallel, davor oder danach – stattfanden (vertrauliche Gespräche, Bemerkungen, gesprächsbegleitende Intonationen, Reaktionen auf den Probenvorgang, Assoziationen, aber auch meine persönliche Involvierung in den Probenprozess als Beobachterin usw.) – habe ich schriftlich fixiert. Bei der Fixierung der beobachteten Sachverhalte berücksichtigte ich aber auch ein Problem, das in jeder Dokumentation aufzutauchen vermag, nämlich das Problem der Objektivität. Denn jede Beschreibung und Dokumentierung bleibt immer subjektiv – selbst dann, wenn die Daten stenographiert würden (was bei meinen Notizen nicht der Fall war). Trotzdem versuchte ich die Geschehnisse, die während der Probenprozesse an drei großen Berliner Theatern stattfanden, möglichst objektiv und breit zu beleuchten.25 Wie bereits erwähnt, sind es andererseits auch soziale Probleme, die die Probenprozesse begleiten und bestimmen. Genau an diesem Punkt führe ich meine Untersuchung auch vor dem Hintergrund eines soziologischen Standpunkts durch. Es ist nicht zu übersehen, dass jede künstlerische Praxis (und theatrale Proben gelten zweifellos als solch eine Praxis) aufs Engste mit sozialen Situationen zusammenhängt, dass sie sich mit diesen auseinandersetzt und von diesen sogar abhängt. Was genau treibt einen theatralen Probenprozess sodann an und voran? Einen Probenprozess als einen Gruppenprozess zu verstehen, in dem die Entscheidungen, die die Künstler treffen, meist auf »einfachen«, alltäglichen Situationen basieren, heißt die andere Seite der Medaille, sozusagen die Rückseite der Proben zu problematisieren – ein Aspekt, der in wissenschaftlichen Kontexten zumeist keine Berücksichtigung findet, insofern dort in der Regel lediglich »rein« künstlerische Vorgänge im Zentrum stehen. Solche »einfachen« sozialen Situationen in den Proben zu fixieren – vor allem diese her-

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

auszuheben und von den »rein künstlerischen« abzutrennen –, stellt eine besondere Herausforderung dar. Denn die Grenze zwischen »rein Künstlerischem« und »Alltäglichem« konnte noch niemals gesetzt werden26. So analysiere ich die beobachteten und aufgeschriebenen Situationen, die in den Proben stattfanden, im Hinblick auf ihren spezifischen Einfluss auf den Probenprozess. Was genau ist vor diesem Hintergrund als der Gegenstand dieses Einflusses anzusehen? Meines Erachtens ist jeder Arbeitsmoment eines künstlerischen Prozesses durch emotionale Faktoren (Beziehungen, Reaktionen, Blicke, Assoziationen, Bemerkungen, Ausrufe, Kommentare etc.) geprägt, die den konkreten Arbeitsablauf vorantreiben (oder auch unterbrechen oder gar stoppen). Dementsprechend rückt das Verhältnis zwischen den emotionalen Ereignissen und den von den Künstlern getroffenen Entscheidungen in den Fokus meiner Betrachtungen (im analytischen Teil der vorliegenden Studie – vgl. Kapitel fünf bis sieben – wird dieses Verhältnis mit sozialen Emotionen in Verbindung gesetzt), durch die eben jene szenischen Handlungen festgelegt wurden, die später den gesamten Aufführungstext kreierten und in ihrem ursprünglichen (oder auch veränderten) Zustand in die »Endfassung« eingingen. An dieser Stelle ist erneut die Rolle des Beobachters hervorzuheben, weil die Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen den emotionalen Ereignissen und den Entscheidungen der Künstler in den Proben ohne den distanzierten Blick eines »fremden« Beobachters eine Leerstelle bzw. Lücke im Inszenierungsprozess aufweist. Bormann und Brandstetter schlagen vor, den Wert der Performance »nach dem Abstand zwischen Präsentation und Wahrnehmung [zu befragen], der sich in den Dokumenten und Erinnerungstexten der Beobachter artikuliert«27. Ist dies auch für die Wertschätzung eines Inszenierungsprozesses relevant? Sind die Begriffe Inszenierungsprozess und Probenprozess identisch? Wie kann ein Probenprozess analysierbar sein, wenn er sich über Wochen oder gar Monate hinzieht? Neben diesen Fragen gilt es zu bestimmen, welche Einheiten in einem Probenprozess für eine empirische Analyse herangezogen werden können.

1.2 Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und ­Aufführungssituation im Probenprozess

Ein Probenprozess lässt sich nicht analysieren, ohne auf seine Struktur einzugehen. Die Auseinandersetzung mit dieser Struktur erfordert das Heranziehen jener Methoden, die allein vom Ziel der jeweils

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1  Über die »Genealogie« der Probe

vorgenommenen Untersuchung abhängen. In Bezug auf die Frage, wie genau sich ein Probenprozess gestaltet (oder wäre es richtiger zu sagen: wie er gestaltet wird?), spielen außerdem Faktoren wie die theatrale Tradition, die »Handschrift« des Regisseurs oder sogar der Standort der Aufführung eine große Rolle. Prinzipiell gilt allerdings, dass ein jeder Probenprozess in einzelne Probentage eingeteilt ist, die sich auf die gesamte Probenzeit (mehrere Wochen oder gar Monate) erstrecken. (Zunächst einmal müsste auf die begrifflichen Hinweise aufmerksam gemacht werden, die auf den ersten Blick trivial erscheinen könnten, aber tatsächlich einen erforderlichen Übergang zur Differenzierung zwischen den Schlüsselbegriffen markieren.) So wird das, was während der Probentage geschieht, im üblichen Sprachgebrauch schlichtweg als proben bezeichnet: Es wurde geprobt, heißt es etwa. Am Ende des Probenprozesses steht gewöhnlich die Aufführung, von der retrospektiv gesagt wird, dass sie aufgeführt wurde. Oder aber man spricht von einer Inszenierung, die dementsprechend inszeniert wurde. Eine präzise Differenzierung zwischen Probe, Inszenierung und Aufführung lässt sich in Anschluss an Matzke vornehmen. In Anlehnung an Fischer-Lichte bezeichnet sie die Inszenierung als eine »Erzeugungsstrategie«28, die stets auf die Aufführung ziele, während der Begriff des Probens weiter gefasst sei. Er »umschließt alle Formen von Interaktion, Techniken wie auch Herangehensweisen des Vorbereitungsprozesses«29. Was die Entstehungsgeschichte des Inszenierungsbegriffs betrifft, so weisen sowohl Fischer-Lichte als auch Matzke darauf hin, dass der Begriff mise en scène (in Szene setzen)30 im Zusammenhang mit der »Ausdifferenzierung des Berufsfelds Regisseur«31 bzw. mit dem »Aufstieg [des Regisseurs] vom Arrangeur zum Künstler«32 aufgekommen sei. Der Begriff der Inszenierung wird dementsprechend folgendermaßen definiert: […] als […] Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien, nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll, wodurch zum einen die materiellen Elemente als gegenwärtige, in ihrem phänomenalen Sein in Erscheinung treten können, und zum anderen eine Situation geschaffen wird, die Frei- und Spielräume für nicht-geplante, nicht-inszenierte Handlungen, Verhaltensweisen und Ereignisse eröffnet.33 Eine Inszenierung ist also ein Prozess des In-Szene-Setzens von denjenigen erarbeiteten Strategien, die in einer Situation in Erscheinung

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

traten, wobei eben diese Situation selbst wiederum im Laufe eines Probeprozesses zum Vorschein gekommen ist. Eine Situation taucht immer unvermittelt auf: Sie kommt plötzlich, unerwartet, ungeplant zum Vorschein. Infolgedessen ist man dazu gezwungen, sie spontan zu steuern. In diesem Zusammenhang verweist Matzke darauf, dass »­Proben […] immer auch Inszenieren [ist] […], denn es ist auch Organisieren, Vorbereiten, Überprüfen, Wiederholen«34. Wie ich auf der vorherigen Seite bereits geschrieben habe, betont Matzke, dass der Begriff des Probens weiter gefasst ist als der der Inszenierung oder der der Aufführung. An der Gegenüberstellung der Verben proben und inszenieren zeigt Matzke, dass »der erste Begriff alle Teilnehmenden umfasst«, während »sich der zweite Begriff auf eine Außenposition mit der Funktion [bezieht], die verschiedenen szenischen Elemente in ein Verhältnis zu setzen und Darstellungsstrategien zu erarbeiten«35. Aber auf welche Weise sich der Prozess der Hervorbringung der »­Materialität der Aufführung« vollzieht, wird nur aus den Situationen klar, die man im Laufe des Probens miterlebt hat (selbstverständlich nur dann, wenn man dabei persönlich anwesend war). Eine Situation, die in den Proben (genauer gesagt: an einem Probentag) stattfindet, ist immer jene Einheit, mit der die Ereignisse oder Anekdoten beschrieben werden, die dann das Untersuchungsmaterial der Probenforscher ausmachen. Erika Fischer-Lichte schreibt diesbezüglich: »Es ist die Inszenierung, welche eine Situation entwirft, in der sich etwas ereignen kann.«36 Wenn es um die Entstehung einer Situation geht, in der die Materialität der Aufführung zustande kommt, richte ich meine Aufmerksamkeit in der vorliegenden empirischen Studie nicht alleine auf das Inszenieren (also auf »eine Außenposition mit der Funktion, die verschiedenen szenischen Elemente in ein Verhältnis zu setzen und Darstellungsstrategien zu erarbeiten«), sondern vielmehr auf das Proben (d. h. auf »alle Formen von Interaktion, Techniken wie auch Herangehensweisen des Vorbereitungsprozesses«, auf das »Organisieren, Vorbereiten, Überprüfen, Wiederholen« bzw. auf den »Kontext, in dem [der Inszenierungsprozess] stattfindet«37). Denn eine Situation, in der etwas geschieht, das später in die Aufführung eingeht, entsteht zum einen immer an einem Probentag, nicht an einem »Inszenierungstag«. Zum anderen ereignet sie sich nicht nur während des unmittelbaren künstlerischen Prozesses, in dem etwas in Szene gesetzt wird. Die Situation kann ihren Ausgangspunkt nicht nur im Proberaum, sondern bereits in der Werkstatt des Theaters, in der Garderobe, in der Kantine, sogar auf der Straße besitzen. Das soll heißen: Es ist nicht nur der Prozess des In-Szene-Setzens, sondern tatsächlich der Hinter-

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1  Über die »Genealogie« der Probe

grund bzw. »Kontext«38 (wie Matzke schreibt), der die Spezifität eines jeden ­Probenprozesses auszeichnet. Aus diesem Grund bestimmte ich eine Probensituation im Folgenden als die maßgebliche Analyseeinheit eines jeden Probenprozesses. Eine Probensituation umfasst stets einen Standort, in dem bestimmte Ereignisse zum Vorschein kommen, die entweder bereits irgendwann stattgefunden oder begonnen haben und deren Inhalte deswegen bekannt sind, sodass man diese Ereignisse für die Erarbeitung der Inszenierungsstrategien und Bühnenkonstellationen einsetzen kann; oder aber es handelt sich um Ereignisse, die sich auf die Gegenwart oder sogar auf die Zukunft beziehen und die man in Diskussionen bzw. Interaktionen zu weiteren Handlungen im fortgesetzten Prozess des Probens nutzen kann. An dieser Stelle tritt zum einen wieder das Problem einer näheren Bestimmung auf, nämlich die Frage, was genau unter einem Probenprozess zu verstehen ist. Zum anderen ist es für meine weiteren Ausführungen notwendig, den Begriff der Handlung detaillierter zu erörtern, insofern jede Probensituation stets eine besondere Handlungssituation (genauer: mehrere Handlungssituationen) in sich fasst, denn selbst dann, wenn ein Gegenstand oder Sachverhalt nur besprochen oder beobachtet wird, macht dies bereits eine komplexe Handlung aus. Bis heute gibt es keine einheitliche Definition des Probenprozesses. Dieser Umstand ist möglicherweise auf die Vielzahl von zum Einsatz kommenden Methoden zurückzuführen, die in der einen oder anderen Probenstudie verwendet werden. Da ich im gesamten Verlauf meiner Untersuchung mehrere Dimensionen des Probenprozesses betrachten werde (u. a. die performative, zeitlich-räumliche, literarische, rituelle, improvisatorische, intermediale, emotionale Dimension etc.), wird der Probenbegriff von mir fortwährend erweitert. In diesem Kapitel lässt mich der vorläufige Forschungsstand den Begriff des Probenprozesses (eine festgelegte Anzahl von Probentagen) in Anlehnung an Hajo Kurzenberger in erster Linie als einen Gruppenprozess definieren, der »von [seiner] Struktur, vom Status und der Funktion [seiner] Mitglieder, vor allem aber von […] der Anzahl der Beteiligten [abhängig ist]«39. Und da sich in jedem Gruppenprozess hierarchische Strukturen feststellen lassen, unterteilen sich die Mitglieder des Theaterprobenprozesses in interne (Schauspieler, Regie-, Dramaturgie- und Bühnenbildteam) und externe Beteiligte (z. B. Hospitanten, Eltern von minderjährigen Schauspielern, Kameraleute, »professionelle Zuschauer und Impulsgeber, Wirkungskontrolleure und Szenenvisionäre«40 etc.). Es ist das Verhältnis zwischen diesen internen und externen Gruppenmitgliedern, das alle möglichen Dar-

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

stellungs- bzw. Wahrnehmungsvariationen in den Fokus meiner empirischen Untersuchung rückt. Als Standort dieses Verhältnisses werden Handlungssituationen und die Art des In-die-Welt-Setzens dieser Handlungssituationen begriffen. Mein Augenmerk wird sowohl auf die Darstellungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten der internen Mitglieder gerichtet, die diese Handlungen unmittelbar vollziehen, als auch auf die Wahrnehmung der externen Beteiligten, die diese Handlungsprozesse in der Spontaneität der Spielsituation miterleben, beobachten, verfolgen, aber auch ableiten können. Die Grundlage der Überlegungen zu den Handlungssituationen bildet ein Fallbeispiel während der Proben zu Gotscheffs Krankenzimmer Nr. 6 nach der gleichnamigen Erzählung von Anton Čechov. Die Proben zu Krankenzimmer Nr. 6 dauerten sieben Wochen. Als wissenschaftliche Beobachterin hatte ich die Möglichkeit, diesen Prozess täglich zu verfolgen.41 In dem Protokollheft, das ich während der Proben stets zur Hand hatte, gibt es am 15. Probentag (an dem die erste Szenenprobe stattfand) Notizen über den Eintritt der ­Figuren in den Raum. Bevor ich auf diesen Aspekt ausführlicher eingehe, möchte ich im Folgenden – u. a. in Rekurs auf den Originaltext der Čechov’schen Erzählung – zunächst näher auf die Figurenkonstellationen zu sprechen kommen und auf welche Weise bzw. inwieweit diese zum Zeitpunkt des 15. Probentags gestaltet wurden. In Gotscheffs Inszenierung gab es insgesamt acht Figuren. Nur zwei von ihnen hatten konkrete Namen; andere sprachen nur ihre Texte, wurden aber selbst nie beim Namen genannt. In Čechovs Originaltext geht es um die Insassen einer psychiatrischen Anstalt, die irgendwo in der russischen Provinz liegt. Im Krankenzimmer sitzen fünf männliche Patienten, von denen Čechov nur zwei beim Namen nennt (Ivan Dmitrič, Jude Mojsejka) und detailliert beschreibt. Die drei anderen Charaktere werden vom Autor der Erzählung nur grob skizziert und bilden den Hintergrund des Krankenzimmers. Gotscheff führt auch weibliche Gestalten (verkörpert von Almut Zilcher und Katrin Wichmann) in das Innere der Psychiatrie ein. Sie tragen allerdings ebenfalls keine Namen. Allein durch ihre Geschichten, die sie ins Leere hinein erzählen – bald über den abgeholzten Kirschgarten, bald über die unerwiderte Liebe –, kommt man ihrem Dasein auf den Grund: Langsam begreift man, wenn man ihren traurigen privaten Geschichten zuhört, warum sie Patientinnen dieser Klinik sind. Dieselbe hüllenlose Erzählweise gilt auch für die drei männlichen Patienten (Harald Baumgartner, Andreas Döhler, Wolfram Koch), die gleichermaßen namenlos bleiben. Zusammen mit einem Musiker (Philipp Haagen), der die

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Bühne immer wieder mit einer Tuba betritt, prägen also die Texte von fünf Anstaltsinsassen den »performativen Teppich«42 der Produktion. Das Sujet der Erzählung dreht sich aber um die Figur des Doktor Ragin (Samuel Finzi), des lebensmüden ­Chefarztes der Klinik, der eines Tages ein echtes Interesse an Gesprächen mit einem seiner Patienten (Wolfram Koch) entwickelt. Er macht tägliche Visiten im Krankenzimmer des Geisteskranken und führt mit Ivan Dmitrič stundenlange philosophische Gespräche, weil er die Sprech- und Ausdrucksweise des Kranken logisch und originell findet. Diese Unterhaltungen werden schnell zum »Lebenselixier« des Arztes. Bald geht aber im Krankenhaus das Gerücht um, dass der Arzt selbst einer Therapie bedürfe, da er zu lange und zu engagiert am Schicksal des psychisch Kranken Anteil genommen habe. Der Doktor wird mithin zum Patienten in der eigenen Klinik und vom Krankenhauspersonal genauso minderwertig und grob behandelt wie alle anderen Patienten zuvor unter dessen eigener Leitung. Schließlich stirbt er an einem Schlaganfall. Die einzige Figur, die das rücksichtslose und gleichgültige Personal des Krankenhauses symbolisiert, ist – sowohl bei Čechov als auch bei ­Gotscheff – der ­Wärter Nikita. Der stumpfsinnige, grobe Mann mit recht dicken Fäusten aus der Čechov-Erzählung wird in der DT-Interpretation von der Darstellerin (!) Margit B ­ endokat verkörpert. Bendokats Nikita wird in Gotscheffs Inszenierung als einzige Person beim Namen genannt43, hat zwei mädchenhafte Zöpfchen, kichert gemein und gluckst vor Lachen an peinlichsten Stellen; er »steht als einziger an der Schwelle zur Außenwelt«44 und fühlt sich deswegen zu allem berechtigt, sogar zu dem, was ihm der Doktor (der Arzt im Stück wird immer als »Doktor« bezeichnet) nicht erlaubt hat. Von seiner »Schwellenposition« aus führt er das Publikum ins ­Narrativ des ­Krankenhauses ein. Er entscheidet auch, ob der Doktor seinen P ­ atienten Bier spendieren darf oder nicht.45 Soweit zur Rohfassung des Stücks am 15. Probentag. Nachdem die ersten Umrisse der entstehenden Produktion skizziert wurden, greife ich die Notiz im Protokollheft auf, die die Handlungssituation der Beteiligten am Probenprozess enthüllt und hiermit Darstellungsund Wahrnehmungsmöglichkeiten des V ­ erhältnisses zwischen Bühne (Schauspieler) und Publikum (das ganze Regieteam und ich als Hospitantin) in den Vordergrund rückt. Die Notiz über den Eintritt der Figuren in den Bühnenraum beschreibt vier Versionen, die Dimiter Gotscheff mit den Schauspielern besprach und übte: »Wie kommen wir in den Raum? Ob wir zuerst in die Position gehen und danach kommt Licht? Das frage ich mich noch …«46 Mit diesen Worten bezog sich Gotscheff auf die erste

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

Zusammen­ fassung, die er als Version des gerade gesehenen Eintritts bezeichnet hat (kurz vor der Pause probierten die Schauspieler, wie sie ihre Ausgangspositionen im leeren Raum einnehmen könnten).47 Die zweite Version entstand spontan, und zwar wie folgt: ­Gotscheff schickte Samuel Finzi, Almut Zilcher, Wolfram Koch, Katrin ­Wichmann, Andreas Döhler und Harald Baumgartner auf die Hinterbühne und sagte, dass Finzi als Arzt für seine Patienten eine Therapiestunde durchführen solle. Währenddessen sollte er etwas auf Russisch sagen48 und von der Hinterbühne aus zusammen mit den anderen Akteuren langsam auf die Vorderbühne kommen. Finzi machte einen Schritt nach vorne und begann spontan seine »Morgengymnastik« mit den Kranken. Zunächst erklärte er diesen (auf Russisch) auf eine enthusiastisch-fröhliche, humorvolle Art und Weise, sie sollten ihm folgen bzw. seine ­Übungen nachahmen. Die Übungen begann er mit dem »­Langlaufen« (mit Schritten nach links und rechts), indem er die Schrittfolge anzählte. Die nächste Übung bestand in einer Atmungsgymnastik. Beim lauten Ausatmen sollten die Kranken im Takt die Hände in der Luft zwei Mal schwingen. Dann kamen wieder die Langlaufschritte. Der Doktor und die Kranken stellten sich danach auf alle Viere und krochen in dieser Position, wie »wilde Tiere«49 brüllend, nach vorne. Im Anschluss daran sollten sie beim Händeschwingen das Lachen üben, sodass alle fünf Patienten nun das fröhliche, ungezwungene, »natürliche« Gelächter des Doktors nachahmten und am Schluss – abermals während des lauten Ausatmens – »Choroscho!« (russ.: »Gut!«) ausriefen. Als alle sechs bereits am vorderen Bühnenrand standen, schrie der Regisseur plötzlich: »Und jetzt langsam – Positionen!« Alle stürzten zu ihren Ausgangspositionen. Um die dritte Version der Anfangsszene zu kommentieren, rief der Regisseur alle Schauspieler wieder zu sich. Laut dieser Variante sollte Margit Bendokat mit dem Stuhl auf die Vorderbühne treten, dort auf der linken Seite Platz nehmen, wobei der weitere Bühnenraum noch leer bleiben sollte. Sie sollte ihren Text sprechen, die Tür würde aufgehen und der Doktor mit den Patienten auftreten. Die Übungen sollten wieder auf Russisch formuliert werden, die Maschinerie rückte langsam von oben nach unten und nach einer Weile sollte Samuel Finzi den Text über die Psychiatrie sprechen.50 Danach wurde auch diese Variante auf der Bühne geprobt. Im Anschluss artikulierte Gotscheff die vierte und letzte Version des Auftritts, der zufolge sich Margit Bendokat auf den auf der Bühne stehenden Stuhl setzen und man für den russischen Kommentar der T ­ herapiestunde eine deutsche Übertitelung einbauen sollte. Aus diesen vier Versionen musste im Laufe der Proben eine

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ausgewählt werden. Letztendlich fiel die Entscheidung auf die zweite Version (­­mit einigen Änderungen). Im ­Folgenden möchte ich einer Handlungssituation auf den Grund gehen, die zur Entstehung dieser Version einen maßgeblichen Beitrag geleistet hat. Um der Entstehung der Anfangsszene auf den Grund zu gehen, greife ich mein Gespräch mit dem Schauspieler Samuel Finzi auf, das noch während der ca. zweiwöchigen Leseproben stattfand. An einem großen Tisch im Ballhaus Rixdorf 51 versammelten sich täglich alle Beteiligten und teilten miteinander ihre jeweiligen Lebens- und ­Bühnenerfahrungen, die von ihnen dabei empfundenen Emotionen wie auch die von ihnen ehemals oder aktuell verspürten Empfindungen und Assoziationen über Čechovs Schreibkunst. Auch über einzelne Anekdoten aus Čechovs Biographie oder gewisse Fakten über sein Liebesleben wurde sich ausgetauscht. All diese Gespräche zirkulierten quasi in der Luft. Der Zufall wollte es, dass ich Samuel Finzi als Sitznachbarn hatte, weshalb wir unsere Eindrücke ab und zu kurz miteinander austauschen konnten. Da Finzi ein sehr geselliger und humorvoller Mensch ist, der neben seiner bulgarischen Muttersprache auch Deutsch und Russisch in Wort und Schrift beherrscht, konnten wir uns sehr freundlich unterhalten (bemerkenswerterweise nur auf Deutsch). Während der Pause sah er einmal auf dem Tisch mein Buch mit dem russischen Originaltext liegen; er nahm es zur Hand und begann, interessiert darin zu lesen. Ich saß in jenem Moment neben ihm, sodass wir leicht ins Gespräch einsteigen konnten. Er drückte seine Freude darüber aus, dass jemand den Originaltext in die Proben mitgenommen hatte. Ich stimmte ihm zu, dass der Originaltext in den Proben tatsächlich von großem Nutzen sein müsse, und zwar gerade dann, wenn es um die Suche nach präzisen Übersetzungen oder Kommentaren gehe. Vor der Pause wurde in der damals aktuellen Textfassung gelesen und über Figurenkonstellationen diskutiert, sodass ich im Gespräch mit Samuel Finzi das Thema der Biographie des von ihm verkörperten Doktor Ragin aufgriff. Ich fragte ihn, ob er wisse, warum der Doktor die abonnierte medizinische Zeitschrift Wratsch (russ.: »der Arzt«) immer vom Ende an zu lesen begann. Finzi wusste dies nicht, war aber auf die Antwort gespannt. Ich verwies ihn auf einen Kommentar in meinem Buch, der besagte, dass die russische Zeitschrift Wratsch aus der damaligen Zeit die letzten Seiten für das Feuilleton einräumte, sodass der Doktor seinen Tag mit unterhaltenden Texten und nicht mit den wissenschaftlichen Artikeln zur Medizin begann. Finzi griff sofort zu meinem Buch und las den Kommentar selbst. Er war sehr erfreut, über die von ihm verkörperte

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

Figur mehr Details erfahren und die »Schnittstelle« seiner Kunstfigur gesehen zu haben sowie den persönlichen Vorlieben des Doktors auf die Spur gekommen zu sein. Unser Gespräch ging weiter, denn ich sprach ein anderes Thema an, über das ich noch am Vorabend nachgedacht hatte. Beim Lesen des Originaltextes fielen mir nämlich die Präsens-Verbalformen in dem Textabschnitt auf, in dem der Doktor mit Ivan Dmitrič über die Unmöglichkeit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus spricht. Im russischen Text klingen die Worte des Doktors durch den Indikativ-Gebrauch bestimmter, direkter und klarer als in der deutschen Textversion, in der diese Stelle durch den Konjunktiv übersetzt wurde. Beim Lesen des russischen Textes entsteht der Eindruck, als würde Doktor Ragin auf keinen Fall daran zweifeln, dass im Falle von Ivan Dmitričs Flucht aus dem Krankenhaus ausgerechnet das stattfinden wird, was er ihm gerade prophezeit: »[…] Samoe lučšee v vašem polpženii – bežat' ots'uda. No, k s­ ožaleni'u, eto bespolezno. Vas zaderžat.«52 Die deutsche Übersetzung hingegen enthält verbale Konjunktiv-Formen, die einerseits gut zum ­temporal-modalen Ausdruck einer Als-ob-Situation passen, andererseits aber dem russischen Text nachstehen: »Das Beste in Ihrer Lage wäre, von hier zu fliehen. Nur ist das leider nutzlos. Man würde Sie aufgreifen […].«53 So teilte ich mit Samuel Finzi meine Überlegungen darüber, dass der Indikativ-Gebrauch an jener Stelle vielleicht auch der deutschen Übersetzung mehr Überzeugungskraft verleihen könnte. Auf seinem Gesicht war eine große Interessiertheit wahrzunehmen und Finzi griff wieder zum Buch und las den betreffenden Abschnitt auf Russisch vor. Ohne zu zögern, sagte er, es klinge auf Russisch viel besser als auf Deutsch und wenn es nach ihm ginge, würde er das ganze Stück auf Russisch spielen. Auf die Stelle im Text würde er aber wirklich Rücksicht nehmen. Die Szene erreichte ihren Höhepunkt, als ich bemerkte, dass der Regisseur die ganze Zeit am anderen Tischende saß und unserem Gespräch zuhörte. Und gerade in jenem Moment unterbrach er uns und stimmte Finzi zu, dass er das Stück ebenfalls am liebsten auf Russisch spielen würde. Solch ein Ausgang des Gesprächs war nicht zu erwarten gewesen. Wie sich herausstellte, hörte Gotscheff Finzi und mir zu. Etwas später bekräftigte er noch einmal seine Zustimmung: Die zweite Episode während der Proben, als er denselben Wunsch äußerte, erfolgte nach der Anschauung des gleichnamigen Films des russischen Regisseurs Karen Schachnasarow.54 Gotscheff sagte, dass es sehr schade sei, dass unsere Inszenierung nicht auf Russisch gespielt werden könne.

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Es ist durchaus möglich, dass Gotscheff auch ohne die oben beschriebenen Vorfälle auf die Idee gekommen wäre, einige russische Phrasen in den »performativen Teppich« seiner Inszenierung einzuflechten. In einem Gespräch mit den Dramaturgen des ­Deutschen Theaters äußerte sich Gotscheff einmal so über »das R ­ ­ ussische« Čechovs: »Tschechow ist besonders großartig auf Russisch, das ist ungeheuer musikalisch geschrieben, du hörst ständig Musik bei seinen Worten, oder die Worte selbst sind eine Musik: ein Abgesang.«55 Generell ist es in der Theaterwelt bekanntermaßen sehr verbreitet, Passagen aus dem Originaltext in die Inszenierung einfließen zu lassen (Hans-Thies Lehmann spricht in diesem Zusammenhang von einem »Prinzip der Polyglossie«56). Zweifelsohne aber wirkten die ­beiden geschilderten Episoden entweder bewusst oder unbewusst auf den Regisseur, weshalb sie ihn dazu veranlassen konnten, das Stück mit der Therapiestunde in russischer Sprache eröffnen zu lassen. Die Stichhaltigkeit dieser Sichtweise könnte durch eine Beobachtung unterstrichen werden, die ich am Tag der ersten Szenenprobe während der sogenannten Aufwärmphase in meinem Protokollheft festhalten konnte: Immer dann, wenn Samuel Finzi spontan Russisch zu sprechen begann, improvisierten andere Darsteller gleich mit. Sie wurden von Finzis Verhalten also gewissermaßen angesteckt. Nach einer Weile schickte der Regisseur alle Darsteller zur hinteren Wand der Probebühne und ließ Finzi »den Raum eröffnen«57 und zwar mit der ­Therapiestunde und einem russischen Kommentar. Dabei handelte es sich um die oben beschriebene zweite Version der Anfangsszene, die später auch in die Endfassung der Aufführung übernommen wurde. Die von Finzi verwendete und im buchstäblichen Sinne des Wortes in Szene gesetzte Darstellungs- und Wahrnehmungsvariante lässt sich mithilfe eines Probeverfahrens erklären, das von Anton Čechovs Neffen, dem berühmten Schauspieler, Schauspieltheoretiker und Regisseur Michail Čechov, entwickelt wurde. Von Interesse ist dieses Verfahren vor allem deshalb, weil es dem Aspekt der Atmosphäre eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, die während der Proben durch die regelmäßigen Begegnungen zwischen allen Beteiligten geschaffen wird. Nur durch das gemeinsame Erschaffen und Erleben von bestimmten Atmosphäremomenten können die Schauspieler neue Impulse für die Verkörperung ihrer Kunstfiguren aufnehmen, um auf diesem Wege schließlich ihr individuelles wie auch kollektives Darstellungspotenzial auszuschöpfen:

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

Schon bei der ersten Berührung mit Stück und Rolle, also noch vor Beginn der Bühnenproben, ergreift eine allgemeine Atmosphäre von Ihrer Seele Besitz. Sie erleben das als eine Art Zukunftsvision für Ihre Bühnenschöpfung im Ganzen. […] Oft beginnt die schöpferische Arbeit eines Schriftstellers, Dichters oder Komponisten mit dem Wunsch, einer ihn plötzlich überkommenden Atmosphäre Gestalt zu verleihen. Vielleicht gibt es in dieser Atmosphäre noch gar keine klar umrissenen Themen oder Gestaltelemente, und trotzdem weiß der Künstler, daß in der Tiefe seines Unterbewußtseins die Arbeit bereits begonnen hat. Nur allmählich erscheinen die Gestalten eine nach der anderen, verschwinden wieder, um erneut aufzutauchen, verändern sich, agieren, suchen und finden einander. Eine Intrige wird gesponnen, ein Motiv kristallisiert sich heraus, ein Plan wird entworfen und Einzelheiten zeichnen sich ab. So entsteht aus einer allgemeinen Atmosphäre allmählich ein komplexes Ganzes. Wenn Sie dieses erste Werkstadium, die Lebendigkeit der allgemeinen Atmosphäre, zu gering schätzen […], werden Sie eine Menge verlieren. Wie das Samenkorn die künftige Pflanze unsichtbar in sich einschließt, schließt auch die Atmosphäre Ihre ganze künftige Bühnenschöpfung unsichtbar in sich ein.58 So scheint auch Samuel Finzi von der Atmosphäre »angesteckt« worden zu sein, die durch die russische Textvorlage, den gezeigten Film sowie das Gespräch mit einer Russischmuttersprachlerin hervorgerufen wurde. Dementsprechend übertrug er auch die von ihm in dieser spezifischen Atmosphäre aufgespürten Darstellungsmöglichkeiten zunächst auf die Anfangsszene und im Anschluss daran ebenfalls auf die Szene mit Ivan Dmitrič über dessen Flucht aus der Anstalt sowie auf jene Szene, in der Finzi den Morgen des Arztes beschreibt. Auch der Philosoph Gernot Böhme, der Mitte der 1990er Jahre den Begriff der Atmosphäre aus ästhetischer Sicht weiterentwickelte und die Atmosphäre als »gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen«59 bezeichnete, verweist beim »Machen von Atmosphären«60 auf die Ebene des Unbewussten. Bei der Erschaffung von Atmosphären, so schreibt Böhme, gehe es um »das weitverbreitete und in vielen Berufen spezifizierte Wissen« und auch darum, […] daß mit diesem Wissen eine bedeutende Macht gegeben ist. Diese Macht bedient sich weder physischer Gewalt noch befehlender Rede. Sie greift bei der Befindlichkeit des Menschen an,

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sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert die Emotionen. Diese Macht tritt nicht als solche auf, sie greift an beim Unbewußten. Obgleich sie im Bereich des Sinnlichen operiert, ist sie doch unsichtbarer und schwerer faßbar als jede andere Gewalt. Die Politik bedient sich ihrer ebenso wie die Wirtschaft, sie wurde traditionell schon immer von religiösen Gemeinschaften eingesetzt und hat heute ihr unbegrenztes Feld, wo immer die Kulturindustrie Leben inszeniert und Erleben präformiert.61 Wendet man diese Erläuterungen auf die oben geschilderte Gesprächssituation zwischen Finzi und mir an, darf davon ausgegangen werden, dass die atmosphärische »Macht« unserer Unterhaltung einen erheblichen Einfluss auf Finzis Sinne und sein Emotionsvokabular genommen hat. Die von mir postulierte Wirksamkeit des äußeren, atmosphärischen Einflusses in der beschriebenen Handlungssituation kann durch eine weitere Beobachtung Michail Čechovs bekräftigt werden, die sich auf den Aspekt der Improvisation richtet. In einer Passage über das Vermögen, sich noch für die feinste Impression zu öffnen, die von den beteiligten Akteuren ausgeht, heißt es: Ein künstlerisches Kollektiv besteht aus Individuen. Es darf sich nicht in eine Masse verwandeln, in der die Einzelpersönlichkeit absorbiert wird. […] Ohne sentimental oder übertrieben empfindsam zu werden, strengt sich jedes Gruppenmitglied innerlich an, sich seinen Partnern zu öffnen. Das bedeutet die Bereitschaft, jederzeit und von jedem auch die feinste Regung zu empfangen und die Fähigkeit, im Einklang damit zu reagieren.62 Genau das ist gemeint, wenn ich davon berichte, dass Samuel Finzi, das interne Mitglied unseres Probenprozesses, auf die von mir als externem Mitglied artikulierten Ideen interessiert reagierte. Er schien diese »Regung« empfangen zu haben, um ihre Wirkung anschließend über das Zusammenspiel von Sinnen, Emotionen und Verkörperungstechniken in sein Spiel zu integrieren, wodurch schließlich viel Potenzial für seine Darstellungsmöglichkeiten in den oben erwähnten Szenen aufgedeckt werden konnte. Mit Sabine Schouten, die den Begriff der Atmosphäre gerade unter Rekurs auf Böhme untersuchte, ließe sich des Weiteren behaupten, dass Finzis »[a]tmosphärische Wahrnehmung« als »ein rein körperlicher Vorgang, ein leibliches Ergriffensein«

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1.2  Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation

vor sich ging und sie insofern primär als »ein Zwischenzustand« erlebt wurde, »der sich zwischen Objekt und Subjekt, in der Synthese aus Dingekstasen und affektivem Betroffensein manifestiert«.63 Im vorangegangenen Text schilderte ich bereits die vielen Handlungen, die von den Probenbeteiligten an jenem Probentag ausgeführt wurden. Im Zuge dessen ging ich auf die Umstände ein, die diesen Handlungen zugrunde lagen, diese begleiteten und am Ende jene Handlungssituationen ins Leben riefen, aus denen eine konkrete Szene zusammengesetzt wurde. Die Handlungssituationen mit der erwähnten DVD und dem russischen Originaltext, dem darauf folgenden Gespräch mit dem Schauspieler Finzi und dem spontanen Kommentar des Regisseurs Gotscheff schufen spezifische Atmosphären im Probenraum und gestalteten Schritt für Schritt die gesamte Probensituation. Eine Probensituation enthält daher mehrere Handlungssituationen, die innerhalb eines Probentags (oder auch mehrerer Probentage) zum Vorschein kommen. Relevant ist in diesem Zusammenhang auch der Aufführungscharakter der in der Probe hervorgebrachten Handlungen: Die Probe selbst ist jener Ort, an dem etwas (das Können, das Darstellungspotenzial, gewisse Erfahrungen usw.) vor- bzw. aufgeführt wird, wobei mit diesem Aufführungsaspekt wiederum die Relation »Performer – Zuschauer« in den Vordergrund rückt. In ihrer Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte der Probe hebt Annemarie Matzke den besonderen Aufführungsbedarf hervor, auf den die Schauspieler gerade während des Probenprozesses angewiesen sind, insofern die Probe eben jenen Ort zur Verfügung stellt, an dem die darstellerischen Leistungen im buchstäblichen Sinne auf die Probe gestellt werden können: In der Probe wird also eine spezifische darstellerische Leistung bewertet. Die Probe ist in diesem Sinne zuerst eine Form des Vorspielens […], in dem der Schauspieler seine darstellerischen Qualitäten präsentiert. Dabei ist die Probe immer auf einen Zuschauer ausgerichtet, der diese Bewertung vornimmt. Da der Schauspieler kein Werk vorlegen kann, ist die Aufführung seiner Fähigkeiten notwendig. Anders als der Handwerker hat er kein Produkt, aus dem sein Können ersichtlich wäre. Insofern bedarf es für die Probe seines Könnens einer besonderen Aufführungssituation, die zugleich Prüfung ist.64 Eine Aufführungssituation ist also das Format, in dem eine Probe stattfindet. Sie ist zugleich auch der Modus, in dem in der Probe gehandelt

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wird. Mehr noch: Es sind nicht nur die Schauspieler (obwohl sie natürlich die Hauptpersonen im Bühnengeschehen sind), die eine Aufführungssituation als Modus erzeugen. Im Rahmen einer Probensituation sind sämtliche Mitwirkenden in eine Aufführungssituation65 involviert, in der sie spontan auf gewisse Umstände reagieren müssen. Wenn die Probenmitglieder täglich zur Probe gehen, sind sie sich bewusst, dass sie gerade einen Ort betreten, der für das Aufführen gedacht ist. Und jedes Aufführen ist immer auf eine Situation – eine Konstellation von Umständen – angewiesen, die sich dadurch auszeichnet, dass man etwas macht, auf irgendeine Art und Weise handelt. Die Aspekte Proben-, Aufführungs- und Handlungssituation bilden insofern den elementaren Kreislauf eines jeden Probenprozesses. Die Handlungssituation, das konstitutive Element der Probensituation (die immer im Format der Aufführungssituation verläuft und diese zugleich auch als Modus versteht), richtet sich immer auf Handlungen aus, die ihrerseits die Handlungssituation performativ hervorbringen. Aus den Handlungen wird das konstituiert, was als »Bühnentext« oder »szenisches Geschehen« bezeichnet wird. Handlungen richten sich aber auf dasjenige, was der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann als »Performance Text«66 bezeichnet. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass all jene performativen und textuellen Faktoren, die Lehmann lediglich im Hinblick auf die fertige Theateraufführung thematisiert, im Probenprozess wurzeln. Denn es ist die Probe, die jenen Handlungsraum zur Verfügung stellt, in dem die spezifische Ausrichtung eines Performance-Textes ausgehandelt wird. Im Folgenden möchte ich mich der Frage widmen, wie die flüchtige Materialität einer Aufführung im Laufe des Probenprozesses hervorgebracht wird.

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Endnoten

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Annemarie Matzke beruft sich in ihrer grundlegenden Studie, die einer Diskursgeschichte der Probe gewidmet ist, auf den Ausdruck von Josette Féral, welchen die französische Forscherin für ein Analysemodell von Inszenierungsprozessen vorschlägt. In ihrer Habilitationsschrift übersetzt Matzke Férals Ansatz aus der Schrift »Pour une étude génétique de la mise en scène« folgendermaßen: »Es geht also darum, eine Genealogie des Werks einzuführen, um die Arbeit des Künstlers zu erhellen« (vgl. Matzke 2012, S. 106, Anmerkung 45). Im Titel zu diesem Kapitel verwende ich den Ausdruck Genealogie in Bezug auf die Probenprozesse. 2 Vgl. Milton Singer (Hg.): Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, S. 13f. 3 Sandra Umathum: »Performance«, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 231–234, S. 234. 4 Richard Schechner zit. nach Sandra Umathum in: ebd. Schechner selbst schreibt über die Breite des Performance-Begriffs: »Performance must be construed as a ›broad spectrum‹ or ›continuum‹ of human actions ranging from ritual, play, sports, popular entertainments, the performing arts (theatre, dance, music), and everyday life performances to the enactment of social, professional, gender, race, and class roles, and on to healing (from shamanism to surgery), the media, and the internet. Before performance studies, Western thinkers believed they knew exactly what was and what was not ›performance‹. But in fact, there is no historically or culturally fixable limit to what is or is not ›performance‹.« (Richard Schechner: Performance Studies: An Introduction, ­London/New York 2013, S. 2.) 5 Fischer-Lichte: Performativität, S. 49. 6 Vgl. Jon McKenzie: Perform, or Else: From Discipline to Performance, London 2001, S. 18f, zit. nach Sandra Umathum in: »Performance«, S. 234. 7 Fischer-Lichte: Performativität, S. 52. 8 An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass in angelsächsischen Ländern bis heute noch ein enger Theaterbegriff vorherrscht, der »lediglich das literarische Schauspieltheater« bezeichnet (ebd., S. 49). Der Performance-Begriff wurde dort »in Abgrenzung von der Theaterwissenschaft entwickelt« und hatte als seinen Gegenstand »Aufführungen/Performances, wie sie vor allem von Performance-Künstlern und als Rituale in verschiedenen Kulturen hervorgebracht« wurden (ebd., S. 49). Die deutsche Theaterwissenschaft hingegen geht von einem weiteren Theaterbegriff aus. In der These von Max Herrmann, Theaterwissenschaft sei als »Wissenschaft von Aufführungen und nicht von Texten« (ebd., S. 49) zu verstehen, verbirgt sich der Hauptunterschied in der Bedeutung zwischen der deutschen und der angelsächsischen wissenschaftlichen Tradition. Die These, dass sich Performance in allen Lebenssparten verbreitet habe, lässt sich also nicht anders verstehen, als dass die Mehrheit der zeitgenössischen Ereignisse – seien sie politischer, ökonomischer, religiöser, sportlicher, kultureller oder sozialer Art – »performt« bzw. aufgeführt werden. Der Gedanke von der Theatralität – d. h.: der »Inszeniertheit und demonstrative[n] Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten« (ebd., S. 29) – des alltäglichen Lebens, bezieht sich einerseits auf die Anfang des 20. Jahrhunderts formulierten Thesen von Nikolai Evreinov über die Theatralisierung des Lebens (vgl. dazu seinen Aufsatz Teatralizacija žizni [»Theatralisierung des Lebens«] in der Petersburger Wochenzeitung Protiv tečenija, Nr. 2, 1911, sowie die Beiträge zu Evreinovs Theatralitätskonzept, die von Erika Fischer-Lichte in den Anmerkungen 42, 43 und 47 ihrer Monographie Performativität auf S. 190f. aufgezählt wurden). Andererseits war es der Soziologe Erving Goffman, der, wie FischerLichte konstatiert, »offensichtlich auch ohne Kenntnis von Evreinovs Schriften« (Fischer-Lichte, Performativität, S. 28) 1959 eine Gesellschaftsstudie über die Selbstdarstellung im Alltagsleben verfasste (vgl. Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959). McKenzie unterstreicht mit seinem Begriff der Performance (wobei auch dieser Begriff definitiv die Eigenschaften von dem Begriff der Theatralität, wie er in der deutschen Tradition verstanden wird, beibehalten hat) scheinbar auch die Manipulationsverfahren, die die Ausführenden einer Performance verwenden. Er hebt somit auf den oben genannten Aspekt der »formation of power and knowledge« ab, wobei er diesen darüber

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hinaus kühn auf die Idee einer »New World Order« anwendet, sprich: »an order in which disorder is put to work, where bodies perform both physically and digitally« (Jon McKenzie: Perform, or Else: From Discipline to Performance, London 2001, S. 189, zit. nach Fischer-Lichte, Performativität, S. 52). McKenzie setzt sich somit kritisch mit den politischen Manipulationsabsichten weltweiter Organisationsstrukturen auseinander; auch scheint er in und mit dieser Manipulationspolitik Verfahren zu entlarven, mit denen »an order in which disorder is put to work« operiert. Zentral ist in seinem Zitat das Wort perform, das »tun, handeln, leisten, ausführen« bedeutet. Für meine Ausführungen, die sich auf theatrale Proben beziehen, wird auf das abgeleitete Wort performativ eingegangen. Meine Ausführungen in Bezug auf die Proben sind aber in keiner Hinsicht mit McKenzies Auseinandersetzung mit politischen Strukturen verbunden, sondern gehen eher von dem »ungeahnte[n] Maße« (Fischer-Lichte, Performativität, S. 52) aus, das der Medienwissenschaftler mit seinem erwähnten Werk dem interdisziplinären Forschungsfeld Performance Studies gegeben hat. 9 Jon McKenzie: Perform, or Else. From Discipline to Performance, London 2001, S. 18. 10 Ebd. [Hervorhebung im Original.] 11 Matzke: Arbeit am Theater, S. 105. 12 Carlson: Performance. A Critical Introduction, S. 6. 13 Matzke: Arbeit am Theater, S. 256. 14 Ebd., S. 105. 15 Ebd., S. 106. 16 Ebd., S. 105. 17 Bormann/Brandstetter: »An der Schwelle«, S. 46. 18 Matzke: Arbeit am Theater, S. 256. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 257. 22 Bormann/Brandstetter: »An der Schwelle«, S. 46. 23 Zur »Intimität« der Theaterprobe siehe unten Kapitel 2.4. 24 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 360. 25 Ich war Probenmitglied und hatte die Möglichkeit, mit allen anderen Mitgliedern zu kommunizieren. Zwischen den meisten Beteiligten und mir entstand ein vertrautes Verhältnis, oft kam es zu einer zwangslosen, freundlichen, emotionalen Kommunikation. Die Probennotizen sind zwar aus meiner persönlichen Perspektive geschrieben; zugleich umfassen sie aber ein breiteres Kommunikations-, Ereignis- und Wahrnehmungsspektrum der Geschehnisse. Ein verbreiteter Kritikpunkt an soziologische Feldstudien bezieht sich bekanntlich auf die Veränderung der Lebensbedingungen durch die Präsenz des Beobachters (darauf macht auch Sabine Krüger in ihrer Studie über die Proben der Theatergruppe La Fura dels Baus aufmerksam). Aber indem ich die Beschreibungen aus meinen Probennotizen benutze und/oder die Interaktionen der Künstler wiedergebe, reflektiere ich dabei auch über meine eigene Präsenz im Raum, um »die Subjektivität, die der Forschung zugrunde liegt, offen zu legen und als elementaren Bestandteil der Analyse zu integrieren. […] Es findet zwar eine Veränderung der Gegebenheiten statt, indem ein Forscher das zu beobachtende Umfeld betritt; diese Veränderung ist unumgänglich. Doch so lange die Transformation anhand einer ausführlichen Selbstdarstellung innerhalb des Feldes deutlich gemacht und die Position des Forschers klar hervorgehoben und kontextualisiert wird, verliert die Feldstudie nicht an Signifikanz.« (Sabine Krüger: Monster unterm Bett – Das IMPERIUM von La Fura dels Baus. Ein analytischer Blick auf künstlerische Inszenierungsverfahren und intime Probenprozesse, online veröffentlichte Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin 2014, S. 22. www.diss.fu-­ berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000096096 [letzter Abruf: 19.6.2018]) 26 Obwohl viele Theoretiker durchaus den Versuch unternommen haben, eine solche Grenze zu setzen, konnte dieser Versuch in der Rückschau oft als kurzsichtig, verkürzt oder ideologisch motiviert zurückgewiesen werden. 27 Bormann/Brandstetter: »An der Schwelle«, S. 50. 28 Matzke: Arbeit am Theater, S. 102. Vgl. auch Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 325.

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Endnoten

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Vgl. Matzke: Arbeit am Theater, S. 102. Vgl. zu diesem Begriff auch August Lewald: »In die Szene setzen«, in: C ­ hristopher Balme, Klaus Lazarowicz (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 306–311, S. 306f. 31 Matzke: Arbeit am Theater, S. 101. 32 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 320. 33 Ebd., S. 327. 34 Matzke: Arbeit am Theater, S. 102. 35 Ebd. 36 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 328. 37 Matzke: Arbeit am Theater, S. 102. 38 Ebd. 39 Hajo Kurzenberger: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper. Probengemeinschaften. Theatrale Kreativität, Bielefeld 2009, S. 22. 40 Ebd., S. 191. 41 Zu diesen Proben wurde ich nicht zuletzt deswegen eingeladen (ich würde sagen: »zugelassen«), weil ich Russischmuttersprachlerin bin. Offenbar weil Gotscheff der Bezug zur russischen Originalfassung bei sämtlichen seiner Čechov-Inszenierungen stets ausgesprochen wichtig war, teilte mir der für das Stück verantwortliche Dramaturg drei Monate vor dem Probenbeginn in einem persönlichen Gespräch mit, dass es für die Produktion durchaus vorteilhaft wäre, den Probenprozess durch eine Russischmuttersprachlerin beobachten zu lassen. 42 Unter einem »performativen Teppich« verstand Gotscheff jene künstlerischen Mittel, die die Übergänge von einer Szene zur anderen markieren. Dazu gehören z. B. Phrasen und Texte, die die Figuren im Hintergrund vor sich hin sprachen (also nicht ihre »Haupttexte« während der Szenen, in denen sie ihre individuellen Geschichten erzählten). Zahlreiche Bewegungen und die diese Bewegungen begleitenden Aktionen der Figuren im leeren Raum sowie die von Philipp Haagen gespielte Musik, die den Übergängen von einer Szene zu der anderen diente, waren ebenfalls Teil des »performativen Teppichs«. Der »performative Teppich« sollte in den Zuschauern die Illusion einer immerwährenden Aktivität der Figuren auf der Bühne auslösen. Gotscheff ging davon aus, dass die Zuschauer diese Illusion wahrnehmen sollten, weil die Bühnensituation auch gleichzeitig andere Realitäten beinhaltete, nämlich die des Arztes sowie des Wärters Nikita. Somit waren es nur die Probenbeteiligten, die wussten, dass der »Teppich« dazu diente, die Bestandteile der Inszenierung miteinander zu verweben und hiermit die Übergänge zwischen den Szenen auszufüllen. 43 Andere Patienten werden in der Inszenierung an keiner Stelle mit Namen angesprochen. Auch Doktor Ragin wird von den Kranken nur als »Doktor« benannt. 44 Aus dem Gespräch Dimiter Gotscheffs mit den Schauspielern (Meine Probennotizen vom 7.1.2010). 45 Finzi: »Jetzt … Könnten wir vielleicht jetzt ein Bier haben … Für alle!« Bendokat: »Für alle?! Nee …« (Stücktext, DT-Fassung vom 23.2.2010, S. 24.) 46 Aus dem Gespräch Dimiter Gotscheffs mit den Schauspielern während der ersten Szenenprobe am 26.1.2010 (meine Probennotizen). Die originale Wortfolge ist beibehalten; das kursiv gesetzte Wort repräsentiert eine Wortbetonung Gotscheffs. 47 Harald Baumgartner zog im Sitzen die Schuhe aus, stellte diese vor sich und fing an, seine Schuhe nachdenklich anzufassen und zu mustern. Katrin Wichmann saß in einem Hochzeitskleid auf eine puppenhafte Weise, die Beine ausgestreckt, den Oberkörper aufgerichtet, und starrte unbeweglich in den Zuschauerraum. Wolfram Koch saß auf der linken Seite der Hinterbühne auf dem Boden und drehte dem Zuschauerraum den Rücken zu. Über seinen Schultern hing ein Pelzmantel herab. Almut Zilcher lag im linken vorderen Bühnenbereich im üppigen schwarz-lilafarbenen Tutu unter einem ganz nah zu ihr gerückten Scheinwerfer. Andreas Döhler war der Einzige, der sich im Hintergrund in kleinen Schritten nach links und nach rechts bewegte. 48 Samuel Finzi ist Schauspieler bulgarischer Herkunft und wohnt seit den 1990er Jahren in Deutschland. In den Proben konnte ich feststellen, dass er praktisch akzentfrei neben Deutsch auch Russisch beherrscht.

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1  Über die »Genealogie« der Probe

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So hat Samuel Finzi diese Übung beim ersten Probieren auf der Bühne selbst formuliert. 50 Meine Probennotizen vom 26.1.2010. 51 Bis Anfang Februar 2010 wurden die Proben im Ballhaus Rixdorf im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg durchgeführt. Das weiß gestrichene Studio von 450 Quadratmetern Grundfläche und sechs Metern Höhe wurde schon im Vormonat mit der notwendigen Ausrüstung ausgestattet: Die »Maschinerie« (sich drehende Scheinwerfer) war das einzige in dieser Inszenierung verwendete Bühnenbild. 52 Anton Čechov: Rasskazy, povesti, Novosibirsk 2009, S. 129. Die genaue Übersetzung dieser Phrase lautet: »Das Beste in Ihrer Lage ist, von hier zu fliehen. Nur ist es leider nutzlos. Man wird Sie aufgreifen.« 53 DT-Textfassung vom 13.1.2010, S. 14. 54 In die Proben habe ich eine DVD mit dem damals neu erschienenen Film mitgebracht. Wie sich später herausstellte, hatte Gotscheff von diesem Film bereits gehört: Er hatte ihn mit deutschen Übertiteln sogar in der russischen Botschaft in Berlin bestellt. Aber ich brachte die DVD zufälligerweise noch früher mit in die Proben, sodass sich alle während der Pause den Anfang und das Ende dieses russischen Films anschauen konnten. 55 Zit. nach Bettina Schültke, Peter Staatsmann: Das Schweigen des Theaters – der Regisseur Dimiter Gotscheff, Berlin 2008, S. 17. 56 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 268. Dieses Prinzip findet sich beispielsweise in fast allen Inszenierungen Frank Castorfs wieder, denen ein russischsprachiger Text zugrunde lag. U. a. in seinen Volksbühne-Produktionen Nach Moskau! Nach Moskau! und Der Spieler sprechen die Figuren ganze Texte auf Russisch. In Jürgen Goschs DT-Inszenierungen kann man Russisch stellenweise in Onkel Wanja und in Die Möwe hören. Dimiter Gotscheff ließ in seinem Iwanow die Figuren einige Phrasen auf Russisch sprechen. 57 Meine Probennotizen vom 27.1.2010. 58 Michail Čechov: Die Kunst des Schauspielers, Stuttgart 1990, S. 37f. 59 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995, S. 34. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 39. 62 Čechov: Die Kunst des Schauspielers, S 111f. [Hervorhebungen im Original.] 63 Sabine Schouten: »Der Begriff der Atmosphäre als Instrument der theaterästhetischen Analyse«, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis (= Recherchen 17), Berlin 2004, S. 56–65, S. 59. 64 Matzke: Arbeit am Theater, S. 96. 65 Unter einer Aufführungssituation verstehe ich ein konkretes, einmaliges Ereignis, auf das theatrale Proben als Modus und Format angewiesen sind. Das, was ich in meinen Überlegungen unter einer Aufführungssituation begreife, steht in direktem Zusammenhang mit dem Aufführungsbegriff, den Erika FischerLichte in Anlehnung an Max Herrmanns Schriften zwischen 1910 und 1931 herbeigeführt hat. (Max Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914; ders.: »Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts«, Vortrag vom 27. Juni 1920, in: Helmar Klier, Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, Darmstadt 1981, S. 15–24; ders.: »Das theatralische Raumerlebnis«, in: Hermann Noack (Hg.): Sonderabdruck aus Vierter Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beilageheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Band 25, Stuttgart 1931, S. 152–163.) Dieser Aufführungsbegriff fußt auf der Ereignishaftigkeit als Hauptmerkmal der Aufführung. Fischer-Lichte führt aus, dass es bei Herrmann die fertige Aufführung selbst ist, in der »es zu einer einmaligen, unwiederholbaren, meist nur bedingt beeinfluß- und kontrollierbaren Konstellation [kommt], aus der heraus etwas geschieht, das sich so nur dieses eine Mal ereignen kann – wie es eben unvermeidlich ist, wenn eine Gruppe von Akteuren mit einer Zahl von Besuchern mit unterschiedlichen Gestimmtheiten, Launen, Wünschen, Vorstellungen, Kenntnissen etc. zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort konfrontiert werden« (Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 53f.). Da ich in meiner Studie hingegen den Aufführungsbegriff

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Endnoten

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mit Blick auf den Probenprozess für essenziell erachte bzw. entsprechend oft mit den Begriffen Probe, Inszenierung, Aufführung operiere, könnte es zu Missverständnissen führen, was genau unter Aufführung an einer bestimmten Textstelle gemeint wird. Deswegen führe ich den Begriff der Aufführungssituation ein, um auf das Format, in dem die Proben stets verlaufen, und auf den Modus, in dem in den Proben agiert wird, hinzuweisen. Wenn Max Herrmann in seinem Aufsatz »Das theatralische Raumerlebnis« die vier wichtigsten Faktoren aufzählt, die »in der theatralischen Leistung und in allen ihren einzelnen Elementen […] schöpferisch beteiligt [sind]« bzw. deren »Raumerlebnisse […] für die Gestaltung der Gesamtaufführung wesentlich [sind]«, nennt er neben dem dramatischen Dichter, dem Schauspieler und dem Publikum auch den »Regisseur mit seinen Gehilfen«. (Vgl. in: Max Herrmann: »Das theatralische Raumerlebnis«, S. 152–163, S. 153 u. 154.) Das ist ein direkter Hinweis Herrmanns darauf, dass es die Vorphase der fertigen Aufführung ist, und zwar der Probenprozess, in dem der Regisseur überhaupt tätig ist, in dem er »alles Raumerleben unter einen Hut zu bringen« sucht. (Vgl. ebd., S. 161.) Die Hauptfunktion des Regisseurs in Erschaffung der Aufführung sieht Herrmann zum einen darin, dass der Regisseur »das Raumerlebnis des Schauspielers befördert«, denn »das Wesentlichste der theatralischen Raumerlebnisse, das eigentlich Schöpferische bleibt das Raumerlebnis des Schauspielers«. Zum anderen soll der Regisseur der »dichterisch-theatralische[n] Urleistung des Dramatikers […] mit seinem eigenen Raumerlebnis verstärkend, übertragend, realisierend nacharbeite[n]«. (Vgl. ebd., S. 162.) Der Regisseur ist demzufolge das Verbindungsglied zwischen drei weiteren von Herrmann genannten Faktoren: dem dramatischen Dichter, dem Schauspieler und dem Publikum. Auf die direkte Unterstützung des Publikums durch den Regisseur legt Herrmann einen starken Akzent: »[D]er Regisseur [hat seinen Platz] bei den Proben normalerweise […] im Zuschauerraum […] und [trifft seine räumlichen Anordnungen] nicht vom Schauspieler aus […].« (Vgl. ebd., S. 161f. [Hervorhebung von mir, V. V.]) Durch die zitierten Stellen ist ersichtlich (und für meine Verwendung des Aufführungsbegriffs in dieser Studie relevant), dass Herrmann mit der Aufführung (oder – nach seinem eigenen Ausdruck – der »Gesamtaufführung«) nicht nur die fertige Produktion meint, sondern auch diejenigen komplexen ästhetisch-schöpferischen Vorgänge, die zwar bei der Erzeugung der Aufführung ausgeklammert bleiben, aber in diesen Erzeugungsprozess nach einer ungeschriebenen Regel gehören: Damit sind die Probenprozesse gemeint. In den Proben ereignet sich das Aufgeführte zwischen den Akteuren auf der einen Seite und dem Regisseur (mit seinen zahlreichen »Gehilfen«) auf der anderen. Nach dem Ende der Proben, d. h. mit dem ersten Tag der Premiere, tritt anstelle des Regisseurs das Publikum: Ab diesem Moment ereignet sich die Aufführung zwischen Akteuren und Zuschauern. Dabei bleibt das Format des Ereignisses grundsätzlich dasselbe. Folglich soll betont werden, dass in meiner Verwendungsweise des Begriffs Aufführungssituation auf die Proben die von Fischer-Lichte herausgestellten allgemeinen Eigenschaften einer Aufführung (Ereignishaftigkeit, das Zusammenkommen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, die Vorführung von etwas durch jemanden vor jemandem) sowie die von Herrmann berücksichtigte Zugehörigkeit des Probenprozesses in die »Gesamtaufführung« (wenn der Regisseur zum wesentlichsten Bindeglied zwischen allen herausgegliederten Faktoren gehoben wird) enthalten sind. Diesen Begriff gebraucht Lehmann in Rekurs auf die in den Performance Studies in den Vordergrund getretene »gesamte Situation der Aufführung«. Als Bestandteile einer Aufführungssituation, die sich laut Lehmann im postdramatischen Theater verändert hat, stellt er die bereits etablierten Ebenen des linguistischen Textes (»der schriftlich und/oder mündlich dem Theater vorgegebene Text«), des Inszenierungstextes und des Performance Textes heraus. Mit Blick auf das postdramatische Theater hebt er hervor, dass es sich dabei nicht allein um eine neue Art von Text der Inszenierung handle (»mit Spielern, ihren ›paralinguistischen‹ Ergänzungen, Reduktionen oder Deformationen des linguistischen Materials; mit Kostümen, Licht, Raum, eigener Zeitlichkeit usw.«). Es ist zugleich »die Art der Beziehung des Spiels zu den Zuschauern, die zeitliche und räumliche Situierung, Ort und Funktion des Theatervorgangs im sozialen Feld,

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1  Über die »Genealogie« der Probe

die den ›Performance Text‹ ausmachen«. Der Performance Text »wird mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozess als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information«. Sämtliche Zitate stammen aus Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 145f. Das »soziale Feld«, von dem Lehmann spricht, bezieht sich demzufolge nicht nur auf die Relation Spiel vs. Zuschauer (während der Aufführung), sondern es erstreckt sich ebenfalls auf die interpersonalen Beziehungen zwischen den Schauspielern und dem Regisseur bzw. allen am Probenprozess beteiligten Personen – und damit also auch auf die Beziehungen der internen und externen Mitwirkenden untereinander sowie alle Verhältnisse, die in den Probenprozessen entstehen und den Performance Text mitkreieren.

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2 Zur Zusammensetzung theatraler ­Probenprozesse 2.1

Der Begriff des performativen Raums

Wie ich bereits zu Beginn des vorangegangenen Kapitels angedeutet habe, ist das Verb to perform bzw. sein Derivat performativ sowohl für die Auseinandersetzung mit theatralen Probenprozessen als auch für die Beantwortung der Frage, auf welche Weise sich die flüchtige, vergängliche Materialität einer Aufführung konstituiert, von größter Relevanz. Das englische Verb to perform wird ins Deutsche durch die Verben »tun, handeln, vollziehen, ausführen, leisten«1 übertragen. Die Ableitung performativ wird üblicherweise zum einen mit der Sprechakttheorie von John L. Austin assoziiert, mit der er 1955 den performativen Grundzug der menschlichen Sprache als erster Philosoph explizit zum Ausdruck gebracht hat. Wie Erika Fischer-Lichte vermerkt, leitete Austin den Ausdruck performativ »vom Verb ›to perform‹, ›vollziehen‹ ab: ›man ›vollzieht‹ Handlungen‹«.2 Zum anderen kommt der Ausdruck performativ 1988 in der Theorie der performativen Akte von Judith Butler vor (in Anlehnung an Austin), worunter sie vor allem all jene körperlichen Handlungen versteht, die an der Konstituierung von (Geschlechts-)Identitäten beteiligt sind. Butler erläutert »den Prozess der performativen Erzeugung von Identität als einen Prozess von Verkörperung (embodiment)« und »vergleicht die Verkörperungsbedingungen mit denen einer Theateraufführung«.3 Beide Wissenschaftler stellen also den Vollzug von Handlungen ins Zentrum ihrer Theorien. Laut Fischer-Lichte ist die Postulierung einer engen Beziehung zwischen Performativität und Aufführung (performance) für beide Autoren offensichtlich und nicht weiter erklärungsbedürftig.4 Relevant ist in diesem Zusammenhang Fischer-Lichtes These, »Performativität […] manifestiere und realisiere sich im Aufführungscharakter performativer Handlungen«.5 Diese These weitet sie im Hinblick auf Max Herrmanns Aufführungsbegriff aus (auf den ich im vorherigen Kapitel einging),6 um hervorzuheben, dass es sich bei einer Aufführung um ein Ereignis, um einen ästhetischen Vorgang handelt, der Performer und Zuschauer gleichermaßen involviert. Ein Bewusstsein für den spezifischen Verlauf eines ästhetischen Prozesses lässt sich indes nur durch die Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungsprozessen generieren, die innerhalb einer performativen Praxis vor allem die leiblichen Erfahrungszustände der beteiligten Handlungssubjekte betreffen.

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

Meine Rolle als unmittelbar am Probenprozess beteiligte Beobachterin ist vor diesem Hintergrund von besonderer Bedeutung. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst Fischer-Lichtes allgemeinen Hinweis zu berücksichtigen, »dass es sich bei Wahrnehmung um einen nicht vollständig steuer- und kontrollierbaren Prozess handelt«7 – eine Eigenschaft, die gleichermaßen für jeden performativen Prozess gilt. Denn der Wahrnehmungsprozess verläuft zwischen zwei Ordnungen: »der Ordnung der Präsenz, die sich auf die spezifische Phänomenalität aller wahrgenommenen Erscheinungen bezieht«, und »der Ordnung der Repräsentation, welche die Erscheinungen in ihrer Zeichenhaftigkeit berücksichtigt«.8 Das »Umspringen zwischen diesen beiden Ordnungen«9 steht also nicht in der Macht des wahrnehmenden Subjekts und entzieht sich daher seiner Kontrolle. Diese Feststellung ist meines Erachtens für die Analyse von Probenprozessen insofern relevant, als »bei der Wahrnehmung das wahrnehmende Subjekt und das wahrgenommene Objekt auf eine Weise aufeinandertreffen«, in der jedes der beiden Elemente »das andere bestimmt und sich von ihm bestimmen lässt«.10 Dieser Sachverhalt korrespondiert meines Erachtens mit der Kategorie der Teilhabe, die ein wichtiges Element für die Beschreibung von Wahrnehmungsvorgängen darstellt. In der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts wird sie einerseits auf der Ebene der Kommunion (bei der Wahrnehmungssubjekt und -objekt ineinander verschränkt sind) und andererseits auf der Ebene der Inszenierungspraxis (wo Teilhabe im Sinn von Teilnahme bzw. Partizipation zu verstehen ist) diskutiert. Insbesondere Maurice Merleau-Ponty weist auf eine »bestimmte Weise des Zur-Welt-Seins« hin, »die sich von einem Punkte des Raumes her uns anbietet und die unser Leib annimmt und übernimmt, wenn er dessen fähig ist: Empfindung ist buchstäblich eine Kommunion«.11 Im Fall der Proben vollzieht sich die »Kommunion« etwa folgenderweise: »Die Wahrnehmung der Performance findet auf der Schwelle statt: Der Beobachter-Körper markiert diesen unüberbrückbaren Zwischenraum.«12 Daher nimmt er an dem Ereignis des Probens sinnlich – also über das Hören, Sehen, Riechen, Spüren, Tasten – und damit immer auch leiblich teil. In diesem Sinn erfolgt die Teilhabe an der Schwelle tatsächlich als eine Kommunion. Durch die Teilhabe der Schwelle erfolgt die ästhetische Konstituierung des Zur-Welt-Seins. Solch eine individuelle Wahrnehmung wird in den Artefakten gespeichert. Laut den Beobachtungen von Bormann und Brandstetter »spiegeln und speichern [die Artefakte] eine individuelle Wahrnehmung, bis die Erfahrung, vielleicht, durch eine Lektüre an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit erneut in Gang gesetzt wird«.13 Die wichtigste

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2.1  Der Begriff des performativen Raums

Funktion des »Beobachter-Körpers als Konstruktion« der Performance besteht so »in der sicht- oder lesbaren Anwendung jener Strategien, der Schwelle durch ihre Überschreibung habhaft zu werden«14, was aufseiten des Schauspielers, also des Vollstreckers der Performance, indes nie dessen Ziel und Aufgabe sein kann. Was die Position des Performers anbetrifft, so erzeugt er die Schwelle – »diesen unüberbrückbaren Zwischenraum« – sowohl durch die Verkörperungsprozesse als auch durch seine Sinneserfahrung. Daraus wird ersichtlich, dass die Wahrnehmung einer Performance ausgesprochen facettenreich ist. In all ihren Ausprägungen – sei es seitens der Performer oder der heterogenen Beobachter wie etwa des Regisseurs, des Dramaturgs, der Hospitanten, Journalisten, Wissenschaftler in den Proben oder der Zuschauer während einer Aufführung – prägt die Wahrnehmung sämtlicher Beteiligten die Performance/Aufführung an sich. Auch der Begriff der Distanz ist für meine Ausführungen insofern bedeutend, als dass er nicht nur die raumzeitliche Entfernung (auch durch Medien) kennzeichnet, sondern zudem »auf den Bereich der Abgrenzung und Individuation verweist, der durch die Reflexion über ein Außen Wahrnehmung von sich selbst möglich macht«.15 Über die »leibliche und räumliche Form des sozialen Handelns, in der die Spannung zwischen Intimität und Kommunikation immer neu ausagiert wird«16 – d. h. über das menschliche Vermögen der Distanzierung –, erfolgt zum einen (seitens des Beobachters) das innere Abspielen des Gesehenen, durch das diesem bestimmte Inhalte verliehen werden, die nur über solche Distanzebenen zu sammeln und zu speichern sind. Zum anderen sind es die Erinnerungs- und Empfindungsprozesse des Performers, die ihm eine subjektive Einschätzung seines szenischen Agierens ermöglichen und ihn hiermit auf eventuelle Veränderungen in der Ausarbeitung seiner Kunstfigur hinweisen. Aber auch die Übertragung der leiblich-räumlichen Empfindung des Performers aus den gespeicherten Erinnerungen auf die aktuelle Präsenz des individuellen Probierens (in einem abgesonderten Raum) macht die Kategorie der Distanzierung für die Analyse sinnlich-räumlicher Beziehungen besonders attraktiv. Die These, dass »das simultane Ineinander von Teilhabe und Distanz die Vollzugsformen der Wahrnehmung«17 sind, zieht die ­ Grundannahme nach sich, dass das Zusammenspiel dieser Kategorien sowohl vom Beobachter als auch vom Performer her jeweils zur Zirkulation von Wahrnehmungen führt. Aus diesem Grund sollte auch immer von einer durch zentrifugale und zentripetale Verfahren im Raum hervorgerufenen Wechselwirkung der Konstellation »Performer–­

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

Beobachter« gesprochen werden. Der Theaterwissenschaftler Jens Roselt, der diese Begriffe in seinem Aufsatz Wo die Gefühle wohnen – Zur Performativität von Räumen im Zusammenhang mit dem »Wechselspiel zwischen der Aufmerksamkeit bzw. Wahrnehmungsweise der Zuschauer und dem schauspielerischen Handeln«18 einführt, begreift zentrifugale und zentripetale Verfahren als räumliche Kategorien, durch die die räumliche Situation selbst bestimmt werde.19 Als »zentripetal«20 bzw. »zentrifugal«21 wird zum einen nicht nur das schauspielerische Handeln bezeichnet, sondern zum anderen auch zugleich die Wahrnehmungsweise der Zuschauer. Und die Wechselwirkung zwischen diesen zentripetalen bzw. zentrifugalen Verfahren, die in Schauspielräumen stattfindet – selbstverständlich aber auch (wenn nicht sogar vor allem!) in Probensituationen zustande kommt –, lässt Energien im geometrischen Raum zirkulieren, wodurch performative Räume erschaffen ­werden: Nicht zuletzt ist damit auch ein energetischer Prozess benannt, der in zentripetaler Attraktion (Einfühlung) und zentrifugaler Repulsion (Ausfühlung) die Performativität von Aufführungen kennzeichnet. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer kommt gewissermaßen nie zur Ruhe, sondern kreist auch dann im Raum, wenn gerade keine tatsächlichen Bewegungen stattfinden.22 Performative Räume sind daher nicht nur jene Energien, die durch Bewegung, Körperhaltung und andere »materielle« Ausprägungen des schauspielerischen Handelns entstehen, die von den Zuschauern wahrgenommen werden und auf solche Weise zirkulieren. Sie repräsentieren vielmehr auch die während dieser Zirkulation von Wahrnehmungsweisen zwischen dem Performer und Beobachter entstandene Beziehung und somit gerade jenen ästhetischen Vorgang, jene Aktivität, die das Ereignishafte jeder Aufführung ausmacht. Ich möchte mein Augenmerk nun auf die Praktiken richten, die durch diese »zentripetale Attraktion« bzw. »zentrifugale Repulsion« hervorgerufen werden. In jeder Probensituation sind es vor allem die Handlungsvollzüge, die den geometrischen Raum »aufladen« bzw. ihm durch die in Bewegung gesetzten Energien erst einen Sinn verleihen und insofern den Aufführungscharakter der Geschehnisse im architektonischen Raum prägen. Hinsichtlich der Frage, was eigentlich ein Raum ist, knüpfen meine Überlegungen unmittelbar an Michel de Certeaus Die Kunst des Handelns an. De Certeau versteht unter Raum »ein[en] Ort, mit

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2.1  Der Begriff des performativen Raums

dem man etwas macht«23. Ein Raum, so schreibt er weiter, »wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen v­erändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben«24. Jeder Kontext bezieht sich auf irgendein Ereignis (dessen ­Schatten er eigentlich ist) bzw. beinhaltet eine Geschichte. Wenn an einem Ort mehrere Geschichten umherkreisen, so verbinden diese sich letztendlich miteinander und prägen so den Raum, da sie »Durchquerungen des Raumes«25 sind (zwischen Ort und Raum macht de ­Certeau mithin einen deutlichen Unterschied). Dieser Überlegung folgend kann man behaupten, dass gerade diese »Durchquerungen« den Raum mit Inhalten der Geschichten aufladen und ihn dadurch praktisch ins Leben rufen. Aber die Frage, wie genau dies zustande kommt, könnte in diesem Zusammenhang wiederum nur in Bezug auf den Menschen selbst bzw. auf seine Wahrnehmungstätigkeit ausgelotet werden. In Anlehnung an die vom amerikanischen Kognitionswissenschaftler Ulric Neisser 1976 eingeführte Wahrnehmungstheorie griff die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen eingerichtete Arbeitsgruppe Wahrnehmung das von Neisser ausgearbeitete Wahrnehmungskonzept des perceptual cycle (Wahrnehmungszyklus) auf.26 Auch die raumkonstituierenden Energien lassen sich demnach mithilfe der von Neisser proklamierten Wahrnehmungstheorie erklären: Der Wahrnehmungszyklus ist dadurch gekennzeichnet, dass er alle Sinne einbezieht und aus dem Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewegung hervorgeht. Der Zyklus […] weist zusätzlich darauf hin, dass in jede aktuelle Wahrnehmung vergangene Erfahrungen einfließen und jede aktuelle Wahrnehmung zugleich vorwegnimmt, antizipatorischen Charakters ist. Für einen performativen Raumbegriff erscheint eine kinästhetische, multisensorische und transtemporale Wahrnehmung als Handlungsvollzug damit gleichermaßen zentral.27 Die Wahrnehmung lässt sich also als ein kinästhetischer, multisensorischer und transtemporaler Handlungsvollzug bestimmen. Den Ort, an dem man sich befindet, füllt man somit mit den »subjektiv-sinnlichen Qualitäten«28 seiner ausgeführten Handlungsvollzüge auf, wodurch er in einen Raum transformiert wird. Diese Überlegung korrespondiert ihrerseits mit der von Martina Löw vorgeschlagenen Methode der ­ Syntheseleistung. Der Vorgang der Raumkonstitution impliziert demnach, dass »über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

­ rinnerungsprozesse […] Güter und Menschen zu Räumen zusamE mengefasst [werden]«29. U. a. in Rekurs auf Michel Foucaults Theorie der Heterotopien30 führt Löw aus, dass Menschen […] also […] die Konstitution von Räumen in Worte fassen, überdenken, diskutieren und steuernd darauf Einfluß nehmen [können]. Auch für die Konstitution von Räumen gilt demnach, was zum Beispiel für die empirische Forschung ganz wesentlich ist, daß Menschen in der Lage sind, zu verstehen und zu erklären, wie sie Räume schaffen.31 Die These der Arbeitsgruppe Wahrnehmung, der zufolge Wahrnehmung als ein kinästhetischer, multisensorischer und transtemporaler Handlungsvollzug zu begreifen sei, sowie Roselts Ausführungen über zentrifugale bzw. zentripetale Verfahren bestimmen die Bedingungen der Entstehung von performativen Räumen. Performative Räume sind daher ein Zusammenspiel von kinästhetischen, multisensorischen und transtemporalen Handlungsvollzügen, die sich zwischen Performer und Beobachter ereignen und den architektonisch-geometrischen Raum füllen, in dem dieses Zusammenspiel geschieht. Auf eine Probensituation angewendet – also auf jenen Standort, der heterogene Ereignisse für den Zweck weiterer »Bearbeitung« heranzieht – bedeutet das, dass performative Räume ein wichtiger Aspekt sind, durch den die flüchtige Materialität einer Aufführung im Verlauf des Probenprozesses hervorgebracht wird.

2.2 Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen ­Probenprozess

Ein weiterer Aspekt, der zwecks der Auseinandersetzung mit der Konstituierung von Probenprozessen anzuführen ist, ist mit der literarischen Vorlage verknüpft. Die Praktiken des Theaters haben mehrmals die Erkenntnis zum Vorschein gebracht, »daß zwischen Text und Szene nie ein harmonisches Verhältnis, vielmehr stets Konflikt herrschte«32. Dieser Konflikt drückt sich in der Art und Weise der Übertragung der dramaturgischen Narration auf die Bühne aus. Ein klassisches Beispiel dafür stellt die ständige Auseinandersetzung zwischen dem Leiter und Regisseur des Moskauer Künstlertheaters Konstantin Stanislawski und dem Schriftsteller Anton Čechov dar. In den Proben herrschte stets Uneinigkeit zwischen dem auf naturalistische Bühneninterpreta-

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2.2  Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess

tionen orientierten Regisseur und dem Autor, der in seinen Theaterstücken auf ganz andere Ästhetiken hinauswollte als den Effekt der »erstarrten« Wirklichkeit, den Stanislawski in manchen Szenen etwa durch echtes Hundegebell oder Grillenzirpen zu erreichen versuchte.33 Natalia Ginzburg beschreibt in ihrem Buch über Čechov, wie ironisch dieser auf Stanislawskis Bühnennaturalismus zu reagieren pflegte: »Das ist, als würdet ihr auf einem gemalten Porträt eine echte Nase anbringen.«34 Dieser bildhafte Kommentar könnte eigentlich für jede szenische Übertragung des Čechov’schen Textes im Rahmen des Literaturtheaters gelten. Čechov selbst entwickelte hingegen in seinen Theaterstücken (mit Blick auf die zu erkundenden Möglichkeiten des Theaters) komplexe Strukturen im Text, die mit den Konventionen und szenischen Mitteln der damaligen Zeit einfach nicht umsetzbar waren. Wie Theresia Birkenhauer in ihrer Arbeit über das Theater als Schauplatz der Sprache schreibt, wurde in Čechovs Dramen das Verhältnis von Theater und Literatur durch die Aufführungskonventionen des Literaturtheaters verstellt.35 Erst mit der Auflösung eines strikten Dramenkanons öffnen sich die Grenzen des Logos nach außen, sodass es »Atem, Rhythmus, das Jetzt der fleischlichen Präsenz des Körpers« sind, die das Bühnengeschehen prägen und über »Öffnung und Zerstreuung des Logos« zu »eine[r] spezifisch theatrale[n], ›magische[n]‹ Übertragung und Verbindung mittels Sprache« führen.36 In der postmodernen Tradition sind Schreibweisen entstanden, »die nicht ohne die theatrale Praxis zu lesen sind«37. Aufgrund dieser Schreibweisen haben viele Aufführungspraktiken das Theater als eine ästhetische Form entdeckt, die von der Sprache »in einer bestimmten Weise organisiert, transformiert und bearbeitet [wird]«38. Zugleich hat die in dieser Hinsicht erfolgte Transformation der Bühne eine Form von Literatur ins Leben gerufen, »die ohne das Theater nicht denkbar ist, konstitutiv durch es geformt ist und es seinerseits formt«39. Im Folgenden werde ich auf »das Theater als literarische Praxis«40 eingehen, um zu zeigen, in welchem Maße die Räumlichkeit des Theaters durch Einsatz literarischer Vorlagen transformierbar wird, welche Möglichkeiten sich für die Bühne dadurch eröffnen sowie welche neuen Bedeutungen dem literarischen Text durch die Bühnenerfahrungen verliehen werden. Die Proben sind dafür erneut der beste Ort, um der wechselseitigen Transformation von Theater und Literatur auf den Grund zu gehen. Eine der notwendigen Voraussetzungen einer geglückten – d. h. einer längere Zeit in Erinnerung bleibenden – Aufführung ist die Art und Weise, mit der der Regisseur im Rahmen eines Theaterprojekts

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

an die Arbeit geht. Im Laufe ihres künstlerischen Lebens entwickeln Regisseure in ihrer Zusammenarbeit mit oft wechselnden Generationen von Schauspielern eine ihnen eigene Arbeitsweise, die meist als die besondere »Handschrift« des Regisseurs bezeichnet wird. Auch sind es nicht zuletzt die Bedingungen des Konsum- und Konkurrenzmarktes, die den Zuschauer heutzutage immer häufiger dazu bewegen, »in einen Regisseur« und nicht etwa »in ein Stück« zu gehen. Aber abgesehen von solchen pragmatischen Erwägungen lässt sich kaum bestreiten, dass die Deutung eines Stücks oft aufs Engste mit dem besonderen Arbeitsstil bzw. künstlerischen Konzept eines bestimmten Regisseurs zusammenhängt. Für jeden Regisseur, der während des repetitiven Probenvorgangs nach geeigneten szenischen und dramatischen Konzepten sucht, spielt die literarische Textvorlage zweifelsohne eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund werde ich nun auf die spezifischen Arbeitsweisen zweier namhafter Regisseure eingehen und mich dabei insbesondere auf ihren Umgang mit dem literarischen Text konzentrieren. Am Beispiel der von mir besuchten Proben am Berliner Ensemble zu Endstation Sehnsucht in der Fassung von Thomas Langhoff und zur bereits mehrmals erwähnten DT-Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 in Regie von Dimiter Gotscheff werde ich der Wechselwirkung von Bühne und Text im zeitgenössischen Regietheater auf die Spur gehen. Thomas Langhoff (1938–2012) war ein Regisseur, der in seinem langen künstlerischen Leben zahlreiche Theaterabende inszeniert hat und mit verschiedensten Spielweisen bestens vertraut war sowie deren Potenziale in seinen Produktionen strategisch einzusetzen vermochte. Während der Proben zu Endstation Sehnsucht im Frühjahr 2011 konnte ich die Beobachtung machen, dass sich Langhoff bei seinen Regieanweisungen an den Gesetzen des realistischen und ansatzweise auch des epischen Spiels orientierte.41 Bühnenmittel wie Dekorationen, Musik, Kostüme, Schminke etc. wurden diesem Regiekonzept entsprechend ausgewählt und angepasst. Das Berliner Ensemble ist für die Inszenierungen von Klassikern berühmt, die im Geiste von Brechts Konzept des »mitdenkenden Schauspielers und aktivierbaren Zuschauers«42 aufgeführt werden (selbstverständlich ist dieses Konzept seit den Brecht’schen Zeiten weiterentwickelt worden). Das Stück rief positive Resonanz hervor und blieb lange Zeit auf dem Spielplan des Theaters. Die literarische Vorlage des Stücks, die deutsche Übersetzung des Originaltextes von Helmar Harald Fischer, wurde schon lange vor dem Probenbeginn ausgewählt. Darüber hinaus war die zugrunde gelegte Übersetzung die einzige Textvorlage, die im Lauf des ­ gesamten,

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2.2  Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess

ca. zweieinhalb Monate andauernden Probenprozesses verwendet bzw. nur an wenigen Stellen modifiziert wurde.43 Es herrschte vollständige Treue zur Textvorlage. Aus dem Rollentext wurde kaum etwas gestrichen. Auch die aus Tennessee Williams’ Originaltext ins Deutsche übersetzten Regieanweisungen wurden beibehalten. Dem Inhalt einiger Anweisungen wurde im Rahmen des Probenprozesses gefolgt. So fächerte sich z. B. Blanche DuBois am Anfang der fünften Szene mit einem Blatt Papier Luft zu, während sie noch einmal den Brief durchlas, den sie gerade geschrieben hatte. Plötzlich brach sie in schallendes Gelächter aus. Diese zeilengenaue Regieanweisung, die auch bei Tennessee Williams im Text steht, wurde von der Darstellerin von Blanche DuBois auch auf Anweisung von Thomas Langhoff ins Spiel übertragen. Obwohl die Bühnenmöglichkeiten in dieser Produktion einen viel geringeren Einfluss auf den Text ausübten als der Text auf die Bühne, gab es doch einige Ansätze, die jenseits der Literaturvorlage aufkeimten und die Wechselwirkung von Text und Bühne verstärkten. So z. B., als am 20. Januar 2011 die vierte Szene diskutiert wurde: An diesem Tag schlug Thomas Langhoff den Schauspielern vor, dass ein junger Schauspieler, der im Stück gleich vier Figuren darstellte, am Anfang der Szene »etwas Schönes mit dem Saxophon vorspielen sollte«44. In den Diskussionsrunden vor und nach den Proben wurde gewöhnlich über verschiedene Angelegenheiten gesprochen; so erwähnte jemand im Gespräch, dass dieser junge Schauspieler Saxophon spielen könne. Vom zwölften Probentag an begann die vierte Szene mit der »Radioansage«, die Folgendes beinhaltete: In schwarzem Anzug und Hut, mit einem Saxophon in den Händen, trat der junge Schauspieler an den Bühnenrand, wo sich bereits ein Mikrophon befand. Als Radiomoderator begrüßte er die noch verschlafene Stadt New Orleans mit einer längeren, aus dem Stegreif erdachten Ansage, die immer mit den Worten »Guten Morgen, Amerika! Guten Morgen, New Orleans!« begann. Da der Text der Ansage jedes Mal improvisiert wurde, kann das Zitat jenen Text nicht wiedergeben, den die Zuschauer jeweils zu hören bekamen. Im Anschluss spielte er Satin Doll von Duke Ellington, womit ein Übergang zur Sprechszene geschaffen wurde. Aber eine Woche vor der Premiere, während der ersten Hauptprobe, wurde festgestellt, dass Satin Doll einen Rhythmus aufweist, der das Durcheinander des vergangenen Poker-Abends mit dem anschließenden Gewaltakt nicht adäquat wiedergeben könne. Retrospektiv macht diese Episode deutlich, dass die Radioansage zusammen mit der live gespielten Jazz-Musik in erster Linie einen Ver-

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fremdungseffekt beim Publikum erzielen sollte. Bis zur vierten Szene »durften« die Zuschauer dem Bühnenvorgang nur zuschauen, ohne dabei etwas szenisch mitzubestimmen. Plötzlich wurden sie nun als »New Orleans« angesprochen – und das in einer Art und Weise, wie heutige Radiomoderatoren ihre Hörerschaft begrüßen. Durch dieses Vorgehen wurden sie – wohl in der besten Tradition des Brecht’schen Theaters – der Illusion des Theaters beraubt.45 Dies war wohl die größte Abweichung von der Textvorlage, die aus den Proben in die Endfassung der Produktion übernommen wurde. Zugleich gibt diese Szene ein überaus instruktives Beispiel dafür, wie das Bühnengeschehen den fertigen Text des Stücks während, vor und nach der Probe bereichern kann. Es gab noch einige weitere Faktoren, die in dieser realistisch-episch konzipierten Produktion das Zusammenspiel von Text und Bühne befruchten sollten. Zu nennen wäre zum einen der Careless Love Blues, der von professionellen Musikern während des Übergangs zur sechsten Szene gespielt wurde. In den Proben erklang an dieser Stelle zunächst die Aufnahme einer Melodie. Der Regisseur wies derweil allerdings des Öfteren darauf hin, dass später live gespielte Musik eingesetzt werden solle. Und so kamen ungefähr zwei Wochen vor der Premiere fünf Musiker in die Proben, die für diesen Übergang Banjo, Trompete und Klarinette spielten, begleitet von einem Blues-Gesang. Die Figuren der Musiker waren nirgendwo in der originalen Besetzungsvorlage fixiert. Und trotzdem hat man sie als Elemente der Unterhaltung (für den Übergang zur sechsten Szene) wie auch des Kommentars (nach der »Vergewaltigungsszene« für den Übergang zur letzten Szene) eingesetzt. Ihre körperliche Präsenz auf der Bühne wirkte viel aussagekräftiger als eine nur aus der Ferne ertönende Blues-Aufzeichnung. Die Musiker fungierten mithin also als Augenzeugen des fiktiven Geschehens, als anwesende Kommentatoren der Bühnenpräsenz, zugleich aber auch als Vermittler einer anderen Realität an die Zuschauer. Ein weiteres Beispiel geht auf Robert Gallinowski zurück, der dem Regisseur am 41. Probentag (zwei Wochen vor der Premiere) vorschlug, die erwähnten Musiker bei der Eröffnung der siebten Szene (Blanches Geburtstag) zu begleiten. Diese Idee wurde sofort aufgegriffen: Gallinowski saß zunächst neben den Musikern am Schlagzeug, um sich nach der Bühnendrehung, die den Übergang zur Geburtstagsszene markierte, wieder in seiner Rolle des Stanley Kowalski mitten auf der Bühne mit Anika Mauer (Stella) und der Blanche-Darstellerin wieder zu finden. Dieser zwar textlose, aber bildhafte Kommentar wurde ganz treffend eingesetzt, wenn man ihn von der Ebene der

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2.2  Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess

zwei ­Bühnenrealitäten aus betrachtet – der des inneren und der des äußeren ­Geschehens. Die Art und Weise, wie Stanley Kowalski in der Anschlussszene Blanche behandelte, wurde gerade in diesem kurzen musikalischen Monolog mit Schlagzeugeinsatz angedeutet: Stanley kehrte nämlich von diesem Moment an die ganze Situation in seine Richtung um, womit Blanches Niedergang seinen Anfang nahm. Diese Umkehrung wurde durch Gallinowskis Vorschlag nunmehr auch musikalisch wiedergegeben und somit auf einer Ebene repräsentiert, welche die innere Realität des inszenierten Vorgangs quasi wie einen Schnitt sichtbar machte. Aus den angeführten Fallbeispielen geht Folgendes hervor: Wenn der Prozess des Probens von einer literarischen Vorlage ausgeht, deren Form kaum an das theatrale Ereignis angepasst werden kann, so lässt sich die Wechselwirkung zwischen Bühne und Text nicht in gleichem Verhältnis vollziehen. Die Elemente eines Rollentextes vermögen nicht immer mit genauso vielen Handlungsvollzügen begleitet zu werden. Insofern ist es das Narrative, das im Verhältnis zum ­Performativen auf der Bühne die Oberhand behält. Die ästhetische Qualität der Aufführung geht dabei jedoch in keiner Hinsicht verloren: Ob die Zuschauer das Innenleben der dargestellten Figur in den dramatischen Umständen der gegebenen Als-ob-Situation miterleben (was laut Bernd Stegemann der realistischen Schauspielweise entspricht) oder ob es »nur noch die eine Situation [gibt], die zwischen den Performern und den Zuschauenden entsteht« und in der »die Rolle des Zuschauers mehr in den Fokus der theatralischen Situation [rückt]«46 (womit nach S ­ tegemann eine performative Spielweise gegeben wäre) – immer sind die Zuschauer sinnlich ins Bühnengeschehnis involviert. In der Langhoff-Inszenierung wurde mit historischer Genauigkeit eine dramatische Situation wiederhergestellt, die sich in den 1950er Jahren in den USA ereignete. Die von den Schauspielern dargestellten Figuren sollten »wahrheitsgetreu« bleiben, weshalb es während der Proben so viele Besprechungen einzelner Textstellen gab. Die Arbeitsweise des Regisseurs erinnerte manchmal an die eines Lektors: Ihm ging es offensichtlich um eine möglichst realitätsnahe Darstellung, deswegen nahm er praktisch jede Textzeile der Figuren genauestens unter die Lupe, um sie anschließend oft mit langen Erläuterungen zu versehen. Die live gespielte Blues-Musik bzw. der Einsatz der Musiker (die zum Teil auch als Beobachter in Szene gesetzt wurden) lässt zum einen an einen Brecht’schen Verfremdungseffekt denken – ein Spielverfahren, bei dem der Schauspieler (hier: der das Saxophon spielende Schauspieler) aus seiner Rolle heraustritt, um die fiktive Bühnenrealität zu

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

v­ erlassen und sich von einer anderen Wirklichkeit aus an das Publikum zu wenden. Zum anderen erinnert diese dramaturgische Maßnahme an den besonderen Stellenwert, den musikalische Einlagen in Brechts Stücken bekanntermaßen besessen haben. In Bezug auf Langhoffs persönlichen Arbeitsstil lässt sich mithin festhalten: Neben den ebenso zahlreichen wie langen Diskussionsrunden wurde auf realistische Schauspielweisen und Bühnenbilder zurückgegriffen, die durch den Einsatz weiterer künstlerisch-musikalischer Elemente in vielerlei Hinsicht an die Brecht’sche Theatertradition anknüpften. Sowohl für den Regisseur als auch für die Schauspieler spielte die im Lauf des gesamten Probenprozesses nur wenig veränderte literarische Vorlage die Rolle eines »Wegweisers«. Von besonderem Interesse ist auch die Art und Weise, wie ­Dimiter Gotscheff und sein Co-Regisseur Ivan Panteleev die literarische Vorlage in den Proben zu Krankenzimmer Nr. 6 verwendeten. Wie ich in meinen obigen Ausführungen festhielt, entstanden im Laufe der Proben zu diesem Stück neun Textfassungen. Dabei ging das Probenteam nicht von der Textfassung aus, die vom Dramaturgen in der Vorphase der Proben gebilligt wurde. Vielmehr ging man von dem (in Čechovs ­Erzählung virtuos geschilderten47) geschlossenen Raum aus, in dem sich die Insassen befanden. Gefüllt werden sollte dieser Raum mit etwas, das in ihm von den Darstellern gemeinsam und schrittweise entdeckt werden sollte. Schon bei dem ersten Treffen sagte Gotscheff, dass er für die Textfassung der fertigen Inszenierung seinen alten Freund und guten Kollegen Ivan Panteleev einbinden wolle, da dieser sich im Čechov-Vokabular sehr gut auskenne und er sein »Čechov-Abc«48 einfach hervorragend finde. Dieses »Čechov-Abc« enthält Zitate aus vielen von Čechovs Werken und ist so umfangreich, dass man daraus alleine schon eine zweistündige Aufführung hätte machen können. In einem Interview mit dem Magazin Theater der Zeit, das in Gotscheffs Inszenierung aufgrund der Verwendung diverser Zitate aus verschiedenen Čechov-Stücken »starke Collage-Züge« ausmachte,49 sagte Panteleev, er »habe keine einzige Figur aus Tschechows Stücken in seine Erzählung umgesiedelt«: Und überhaupt ist »Krankenzimmer« bei uns nur als Metapher zu lesen. Wenn ich Fragmente aus Ranewskaja und Arkadina in eine Figur einbaue, ist es am Ende trotzdem weder Arkadina noch Ranewskaja, sondern eine autonome Figur, die der Schauspielerin Almut Zilcher gehört. Ich habe mich viel und sehr intensiv mit Tschechows Texten beschäftigt, und trotz meiner großen Liebe

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2.2  Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess

und tiefen Achtung vor diesen Texten, oder gerade aus diesem Grund, verhalte ich mich sehr autonom ihnen gegenüber.50 Panteleev fügte hinzu, dass neben dem Ausgangspunkt der Inszenierung – Čechovs Erzählung Krankenzimmer Nr. 6 – nur »­ Körper, Raum, unser gemeinsames Unwissen, Angst, Wut und ­Begeisterung«51 im Spiel gewesen seien, als es darum ging, die von Gotscheff gewünschten dramaturgischen Elemente (»Arien, Stille, Atem, keine Dialoge, alleinstehende Körper, Schweigen, Gewisper und Gemurmel, Textfetzen«52) zu materialisieren: »Es ging darum, eine Textlandschaft zu schaffen, wo die Figuren weit voneinander stehen – ein mageres, kahles Land, ein großes, dem Wind ausgesetztes nacktes Plateau«53. Wie sich diese »Textlandschaft« zum Raumentwurf (leere Guckkastenbühne mit herabhängender Maschinerie von oben und sich drehenden Scheinwerfern) ins Verhältnis setzte, möchte ich nun anhand einer Probensituation veranschaulichen, die das dynamische Zusammenspiel von Text und Bühne meines Erachtens sehr gut illustrieren kann. Am 17. Probentag fand im Ballhaus Rixdorf die dritte Bühnenprobe statt. Geprobt wurde die erste Szene. Nach der im vorausgegangenen Kapitel beschriebenen »Therapiestunde«, die den Raum eröffnete, sollten sich alle Figuren in diesem Raum bewegen und ihn mit ihren Texten »füllen«. Während sich die Darsteller chaotisch im Raum bewegten, kommentierte der Regisseur den Vorgang: Gotscheff: »Was wir brauchen, ist ein bewegender Einklang mit dem Raum. (An Andreas Döhler) Es raschelt etwas von einer Vision. (An alle) Wieso stellt ihr denn die Frage so einfach nicht in den Raum wie Wolfram [Koch]?«54 Baumgartner: (etwas zögernd) »Naja, weil ich irgendwie Angst vor diesem Text habe.« Gotscheff: »Das Ereignis, Leute, ist der Mensch. Ihr sprecht Fetzen von Biographien. Jeder spricht, guckt, bewegt sich, ohne große Amplituden zu machen. Das ist mehr als ein Krankenhaus! Das ist ein Raum, wo ›Fetzen‹ von Menschen, Texten, einzelnen Schicksalen herumkreisen.« Zilcher: »Mein Text ist sehr zerfetzt, fragmentarisch. Er führt zum Verrücktwerden. Weiß nicht, wie man das zusammenführen kann […].« Gotscheff: »Ja, ich habe mir auch notiert, wie ihr aufeinander hört. Die Kommunikation zwischen euch mit Drang ist mir ­überflüssig.

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Durch minimale Darstellung kann man diesen Raum füllen. Das ist aber keine Kommentarebene. Ihr stellt die Beziehung zur eigenen Figur her. Es ist die Geste, die die Luft regt. Das ist, wenn zum Beispiel du, Katrin [Wichmann], deinen Text sprichst und auf deine Stelle dann zurückgehst.« Finzi: »Wir versuchen jetzt die Figuren, die psychologischen ­Charaktere anzudeuten.« Zilcher: »Ich verstehe zum Beispiel nicht, ob ich eine Figur spiele oder nicht.« Gotscheff: »Wenn man unter den Scheinwerfer kommt, kann man dort länger bleiben. So ist auch der ›Teppich‹ länger, und das ist ein Ritual für mich. Der Text ist viel kräftiger als die Darstellung. ›Schmale Begegnung‹ von Form und Text im Raum müssen wir nun finden. (Nach einer ca. einminütigen Pause und unerwartetem Emotionsausbruch Gotscheffs in Form eines unartikulierbaren Geschreis) Ich möchte nur diese Beziehung zum Čechov-Raum herstellen!« Brack (Bühnenbildnerin): »Aber Wolfram sitzt mit dem Rücken zum Publikum schon 20 Minuten lang!« Gotscheff: »Wolfram zeigt seine Fresse erst, wenn der Arzt zu ihm kommt und (sehr laut) DAS IST RICHTIG! Weniger Gestalt, mehr Text. (Nach einer kurzen Pause) Ich habe doch auch meinen Traum […], dieser Raum, wo die ›Insekten‹, die Menschen da rascheln […]. Der Text ist ein Anachronismus und deswegen kostbar. Der Text ist auch ein ›Insekt‹ […].«55 Diese Gesprächsnotizen geben wieder, wie uneindeutig die Beziehung zwischen literarischem Text auf der einen sowie Regisseur, Schauspielern und anderen Teammitgliedern auf der anderen Seite war. Sie weisen ebenfalls darauf hin, dass die für die Realisierung der betreffenden Inszenierung maßgebende Kommunikation stattfand, während sich die Schauspieler im leeren Probenraum bewegten. Auf diese Weise konstituierte sich schließlich das Bühnengeschehen, wobei zugleich auch die literarische Vorlage – mehrere Zitate aus verschiedenen Texten Čechovs – einer permanenten Modifikation unterzogen wurde. Sowohl auf der literarischen als auch auf der Aufführungsebene war der Entstehungsprozess wesentlich dem gemeinsamen Urteil der Ensemblemitglieder unterstellt. Dem Regisseur Gotscheff kam im Zuge dessen jedoch offensichtlich eine entscheidende Rolle zu. Seine Vision des Textes als ein »kräftigerer« und »kostbarer Anachronismus«, als ein »raschelndes Insekt«, als eine Kraft, die »weitere Räume eröffnet« – all dies mussten die Schauspieler selbstverständlich zunächst

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2.2  Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess

einmal jeweils für sich selbst interpretieren. Und gerade auf deren Deutungen sind anscheinend die Missverständnisse während der ersten szenischen Darstellung zurückzuführen. Aber da die meisten beteiligten Schauspieler mit Dimiter Gotscheff bereits seit Jahrzehnten zusammenarbeiteten, konnten sie sich im Lauf der Jahre all jene »Reibungstechniken« aneignen, die am Anfang eines jeden Probenprozesses mit ihm aufzutreten pflegten. In der Endfassung sah der »performative Teppich« der ersten Szene folgendermaßen aus: Alle Insassen der Klinik bewegten sich chaotisch auf der leeren Bühne, stammelten einige nicht miteinander verbundene Phrasen über ihre Biographien (in der Ausdrucksweise von Gotscheff »Fetzen ihrer Schicksale«) vor sich hin und nahmen langsam ihre Ausgangspositionen ein. Dann folgten einzelne Auftritte von jedem Kranken. Ihre Texte – eine bunte Zusammensetzung aus unterschiedlichen Čechov-Werken56 – machten den ersten, »pathologischen« Teil der gesamten Inszenierung aus. So konnte man beispielsweise in der Biographie der von Almut Zilcher verkörperten Figur deutliche Hinweise auf die Gutsbesitzerin Ranjewskaja heraushören, deren Kirschgarten gnadenlos abgeholzt worden war. Plötzlich tauchte auch Arkadina aus Die Möwe auf, deren Sohn sich erschossen hatte. Sie flatterte in einem voluminösen Ballettröckchen in Kreisbewegungen von einem Bühnenende zum anderen umher, drehte sich dabei exaltiert um, lachte und sprang mädchenhaft auf. Ein anderer Patient (Andreas Döhler) berichtete auf stockende Weise über die Ereignisse, die er einst auf der Sträflingsinsel Sachalin miterleben musste.57 In einer Linie bewegte er sich auf der Hinterbühne langsam und in kleinen Schritten nach links und nach rechts. Harald Baumgartner deutete mit seinem Text zwar tatsächlich eine Gestalt aus der Erzählung Krankenzimmer Nr. 6 an, in die aber ebenfalls mehrere Čechov-Texte einflossen. Gekleidet in einen zerknitterten, eine Nummer zu großen schwarzen Frack, schleppte er sich schlaff zu seiner Ausgangsposition, setzte sich geistesabwesend auf den Boden, die linke Rückenseite dem Zuschauerraum zugewandt, und streckte die Beine aus. Katrin Wichmann, in ein weißes Brautkleid gekleidet und mit einem Schleier aus Tüll über dem Gesicht, berichtete davon, dass sie in ihren 29 Lebensjahren noch nie eine Liebesaffäre gehabt hätte – ein Sachverhalt, über den sich auch Ognjow aus der Erzählung Veročka beklagt. Auf der Bühnenfläche suchte sie dauernd nach einer Person, der sie ihr Herz ausschütten konnte. Wolfram Koch verkörperte Ivan Dmitrič, die einzige einheitliche Figur aus der Erzählung Krankenzimmer Nr. 6, die mit ihren »Biographie-Fetzen« um sich »warf«. Er trug einen schlicht geschnittenen

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

braunen Anzug und lief in Kreisen um einen Punkt herum. Der Text dieses »performativen Teppichs« lautete: Döhler: »Im Gefängnis von Aleksandrovsk wurden am 3. Mai 1890 1279 Personen aus dem Kessel verpflegt: In die Kessel kamen 13 ½ Pud Fleisch.« Baumgartner: »Stanislaw zweiter Klasse.« Zilcher: »Formen, wir brauchen neue Formen. Theater von heute – das ist für mich Routine und Konvention.« Koch: »Guten Morgen. Am nächsten Morgen wachte ich voller Entsetzen auf, mit kaltem Schweiß auf der Stirn und zitternd. Ich war sicher, dass man mich jeden Augenblick verhaften könne.« Wichmann: »Das ist doch nicht normal.« Bendokat: »Ruhe! Ruhe!« Koch: »Warum werde ich hier festgehalten? Mann, tut das weh!« Zilcher: »Und nicht wieder piff-paff machen.«58 Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die Untersuchung der Probensituationen an beiden großen Berliner Theaterhäusern erbrachte die Erkenntnis, dass die Potenziale der literarischen Vorlage weitere Dimensionen des Bühnengeschehens zu eröffnen vermögen. Der Text vermag zwar nicht immer eine direkte Kommunikation zwischen dem Spieler und dem Zuschauer herzustellen, aber er provoziert den Spieler zur Einfühlung in seine Gestalt, was seinerseits auch eine einfühlende Zuschauerhaltung erzeugt. Die ästhetische Wirkung richtet sich im Moment des Spiels vom Schauspieler zum Zuschauer, lässt aber den Beobachter das soziale Geschehen der Bühnenkonstellationen (sowohl im Moment des Vollzugs als auch im Nachhinein) emotional, gedanklich und sinnlich (d. h. immer auch: leiblich!) nachvollziehen. Eine dramatische Situation59, in der sich eine Figur befindet und anhand welcher der Beobachter über diese etwas erfahren kann bzw. ein Mitgefühl zu ihr entwickelt, ist – mit Stegemann gesprochen – für das realistische Schauspiel typisch. Die Dialektik der dramatischen Situation – also die Entfaltung des Konflikts der Figur(en) – wird in den Probenprozessen schrittweise aufgebaut. Der Autortext bzw. die für das Theatergeschehen adaptierte Rollentextfassung bilden dabei die Grundlage für die Diskussion der Künstler über die innere geistige Entwicklung der Figuren, über die Einfühlung in den Konflikt der dramatischen Situation. Im epischen Theater entsteht die hinzutretende »Situation der Vorführung […] zwischen dem Spielenden und dem Zuschauenden«60. Diese Situation der Vorführung verdoppelt sogar

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

die Möglichkeiten des Textes, wobei der Schauspieler während seiner Verfremdung – also des unmittelbaren Austritts aus der Rolle – einer Textpassage weitere Interpretationen gibt bzw. über sie urteilt oder reflektiert. Gleichzeitig multipliziert die Situation der Vorführung die Möglichkeiten des Darstellers, der durch sein Spielen eben jene »zweite Realität« herzustellen vermag, in der seine Figur realistisch zu agieren pflegt.61 Am Beispiel der Entfaltung der Textebene in den Proben zur Gotscheff-Inszenierung wurde zu zeigen versucht, dass durch eine besondere Beziehung der Performer zum Text Situationen entstehen, in denen das Agieren der Performer und des Regisseurs zur performativen Hervorbringung von gemeinsam gefundenen Entscheidungen führt. Diese Entscheidungen heben den Text in den Rang einer autonomen Materie, die im Raum kreist und Eingang in die zeitliche Dimension des Bühnengeschehens findet. Im nächsten Schritt möchte ich nun erhellen, wie Zeiten in den Proben miteinander verflochten werden.

2.3

Zur zeitlichen Dimension der Probe

Die Dimension der Zeit für die empirische Untersuchung des Probenprozesses heranzuziehen, erfordert eine Herangehensweise, die sich wesentlich von der Erforschung des Verhältnisses zwischen Raum und Text unterscheidet. Die materielle und ideelle Fassbarkeit des Textes sowie die sich auf das menschliche Darstellungs- und Wahrnehmungspotenzial beziehende performative Hervorbringung von Räumen haben bei der Untersuchung der Probenprozesse zentrifugale bzw. zentripetale Bewegungen der künstlerischen Kräfte aufgewiesen (vgl. Kapitel 2.1). Zieht man die zeitliche Dimension für die Analyse des Probenprozesses heran, so lässt sich feststellen, dass die Zeit im Grunde genommen immer schon gegeben ist. Es ist lediglich die Art und Weise des Umgangs, nach der sich die Zeit ermessen lässt. Bei dem Probenprozess, der von Anfang an durch seine Spontaneität gekennzeichnet ist, geht es darum, die Zeit als Bindeglied zwischen dem Unvorhergesehenen und der Ausgangssituation darzustellen. Laut Michel de Certeau ist das Unvorhergesehene »[e]ine andere Gestalt der Verschiebung der Planungen zu dem, was sie nicht bestimmen«62. Ein Probenprozess ist im Grunde genommen ein Zusammentreffen von Menschen, die gemeinsam auf etwas warten – ein Ereignis, das ihre künstlerische Tätigkeit für die nächsten Wochen oder gar Monate bestimmen wird. Die Momente, wenn dieses Etwas kommt,

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

sind untrennbar mit den nicht programmierten Zeiteinbrüchen verknüpft, auf die bei der gemeinsamen Lösungssuche in den Proben gewartet wird. Bei de Certeau heißt es diesbezüglich: Das Versagen oder Scheitern der Vernunft ist genau der blinde Punkt, der einem Zugang zu einer anderen Dimension verschafft, zu der eines Denkens, das sich am Differenten als seiner ­unfaßbaren Notwendigkeit artikuliert. Das Symbolische ist untrennbar mit dem Scheitern verbunden. Die Alltagspraktiken, die von einer günstigen Gelegenheit abhängig sind, das heißt von Zeiteinbrüchen, […] [weisen] [e]ine permanente Praktik des ­Denkens [auf].63 Die theatrale Probehandlung gehört gerade zu solchen Alltagspraktiken. Hinzu kommt, dass die permanente Praxis eines gemeinsamen Denkens innerhalb des Probenprozesses das Moment einer geteilten Zeit nach sich zieht.64 Hans-Thies Lehmann bezieht dieses Motiv der geteilten Zeit auf die Aufführung selbst und dabei vor allem auf das Verhältnis zwischen dem szenischen Vorgang und der Zeit, die das Publikum während des szenischen Geschehens erlebt: »[D]er szenische Vorgang ist von der Zeit des Publikums nicht abzulösen«65. Mit der geteilten Zeit des Bühnengeschehens und des Publikums werde eine »offene Prozessualität« gewonnen, »die strukturell weder Anfang noch Mitte noch Ende hat«.66 Wie genau lässt sich der Aspekt der geteilten Zeit nun aber auf eine Probensituation übertragen? Welchen Stellenwert besitzt der Zeitrahmen? Wie lässt er sich ermessen? In welchem Verhältnis steht der Ausgang einer Probensituation in Bezug auf die geteilte Zeit der Akteure und restlichen Probenmitglieder? Um auf diese Fragen adäquate Antworten geben zu können, möchte ich erneut auf einige Fallbeispiele zurückgreifen, die ich während der von mir besuchten Proben beobachten durfte. Im Zuge dessen werde ich zwischen dem äußeren und dem inneren Zeitrahmen eines Probenprozesses unterscheiden: Der äußere Zeitrahmen wird im Theaterbetrieb normalerweise von der Theaterleitung festgesetzt. Es handelt sich hier um die bis zur Premiere zur Verfügung gestellte Probenzeit, die für gewöhnlich in Wochen oder Monaten gemessen wird. Der innere Zeitrahmen wird in den Proben von den Beteiligten selbst bestimmt. Er entsteht während der gemeinsamen Suche nach den Elementen der Aufführungskonzeption und kann für manche Szenen über mehrere Tage oder sogar Wochen ausgedehnt und vertieft werden (etwa durch Erinnerungen jeglicher

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

Art, Assoziationen, Erfahrungsaustausch, Augenzeugenberichte, Diskussionen über Bücher, Filme, Lieder, Spiele usw.). In Endstation Sehnsucht gibt es eine Szene, in der Blanche am frühen Abend zu Hause entspannt im Sessel sitzt und auf Mitch wartet, der sie bald abholen kommt, um zusammen mit ihr in der Stadt auszugehen. Draußen zieht ein Gewitter auf, es beginnt zu regnen. Gerade in diesem Moment erscheint an der Türschwelle ein attraktiver junger Mann, der für eine Zeitung kassiert. Blanche führt mit ihm einen zwanglosen Dialog. Diese Szene ist von Anfang an als eine »Zeitdehnung«67 konzipiert: Der Zeitpunkt, den die Figur erlebt, spielt sich in einem verlangsamten Tempo ab, wobei die Ereignisse, die außerhalb des von der Figur erlebten Zeitpunkts stattfinden, in normalem Tempo verlaufen.68 Geschaffen werden auf diese Weise zwei Realitäten: auf der einen Seite die des Regengusses, der auf die Blechdächer von New Orleans trommelt, und auf der anderen Seite die der morbiden, phantasmagorischen Traumrealität, in der die für jegliche Zeiteinbrüche offene Blanche DuBois verweilt. Just in dieser Situation ereignet sich denn auch ein Zeiteinbruch: Ein junger Mann tritt plötzlich aus der feuchten Luft hervor und steht somit nun da wie eine stumme Metapher für Blanches unrealisierte Träume. Genauso unerwartet, wie er erschienen ist, löste er sich im Anschluss an sein Gespräch mit Blanche wieder in Luft auf. In den BE-Proben wurde diese Szene nicht so beharrlich einstudiert, wie man es erwarten könnte. Innerhalb der neunwöchigen Probenzeit wurde sie lediglich fünf oder sechs Mal durchgespielt (nicht mitgezählt sind hier die Durchläufe des gesamten Stücks während der Haupt- und Generalproben). Während der gesamten Probendauer wurde zudem nur drei Mal über die Szene diskutiert. Die erste Besprechung fand am 13. Probentag statt. Der Auftritt des jungen Mannes fällt im Regiebuch auf das Ende der fünften Szene. Vor diesem Auftritt sagte Thomas Langhoff zu seinen Schauspielern: »Jetzt kommt eine seltsame Szene. Spielt sie jetzt einfach durch, dann schauen wir.«69 Von der Hinterbühne aus rannte der junge Mann auf die Vorderbühne, wo Blanche im Sessel lag und sich mit einem Blatt Papier Luft zufächerte. Der Regieassistent ließ einen langsamen Blues einspielen. Als der Darsteller des jungen Mannes hinter der auf der Probebühne aufgebauten Wendeltreppe hervortrat und nach wenigen Sekunden nur noch zwei Meter vor der verwunderten Blanche-Darstellerin entfernt stand, kommentierte der Regisseur dies mit den Worten: »Das ist gut so. Das ist keine Realität. Das ist ein Traum, du bist wie ihre Traumvision.«70 Blanche sprach den jungen Mann an. Während ihrer seltsamen Unter-

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haltung demonstrierte die vom jungen Schauspieler verkörperte Figur ein deutlich erkennbares Interesse an seiner Gesprächspartnerin: Er trat ihr nicht so schüchtern, verklemmt und mit gesunkenem Blick gegenüber, wie er es in den vorherigen Proben getan hatte, sondern mit weit geöffneten Augen. Selbstsicher und entschlossen stand er vor der zauberhaften Dame, die ihn langsam in ihren Bann zu ziehen schien. Er hat sich weder gewehrt noch hat er ihr nachgegeben. Er stand einfach vor ihr und ließ sich von den regnerischen Stunden in New Orleans erzählen, »wenn eine Stunde nicht bloß eine Stunde […], sondern ein kleines Stück Ewigkeit [ist]«.71 Dann ließ er sich »einmal nur, ganz sanft, auf [s]einen Mund«72 küssen, wobei er dies ohne große Verwunderung akzeptierte – es schien ganz so, als wäre ihm etwas Ähnliches schon häufig passiert. Im nächsten Augenblick löste er sich ebenso geschwind auf, wie er zuvor erschienen war. Nach dem ersten Durchlauf dieser Szene legte der Regisseur eine Pause ein. Währenddessen erklang im Hintergrund immer wieder Blues- und Jazz-Musik (Saxophon, Klavier), was eine Atmosphäre der 1950er Jahre im Proberaum erzeugte. Langhoff wollte für die Szene eine Gewitteratmosphäre schaffen, aber er wusste noch nicht, mit welchen Mitteln sich dieser Wunsch am besten umsetzen ließ: Kurz vor dem Schauer wird der Himmel dunkel, die Luft besonders schwül, alles bleibt unbeweglich, als würde die ganze Zeit für eine Weile erstarren, die Natur wartet auf die Entladung. Regen hat man im Theater immer mit den Erbsen im Eimer gemacht. Aber überhaupt Regen im Theater zu machen ist furchtbar. Etwas soll mit dem Blitz gemacht werden. Blitz schafft man mit dem Licht im Horizont.73 An jenem Tag wurde diese Szene weder weiter besprochen noch geprobt. Erst nach drei Tagen wurde sie wieder aufgegriffen. Ausnahmsweise handelte es sich um eine Abendprobe, die sofort mit einer Diskussion über den Auftritt des jungen Mannes begonnen wurde. Die Blanche-Darstellerin sowie die Darsteller von Mitch und dem jungen Mann saßen im Halbkreis auf der Vorderbühne und hörten dem Regisseur zu: Es ist generationsmäßig schwierig vergleichbar, ein junger Mann heute und in den 50er-Jahren. Damals konnte man keine Porno-Filme schauen, heute ist es wohl gang und gäbe. Er ­ bemerkt sofort eine merkwürdige Atmosphäre im Haus: eine vom

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

Lampion beleuchtete Stimmung, eine wunderbare Frau. Eine intimere Atmosphäre, als wir sie jetzt haben, kann man nicht schaffen. (An den Darsteller des jungen Mannes) Du musst nicht viel machen. Das ist wie eine Paralyse für ihn. Natürlich genießt er das, aber er weiß noch nicht, ob es stattgefunden hat oder noch nicht.74 Was genau »stattgefunden hat oder nicht«, ließ Langhoff in seiner Äußerung offen. Es darf jedoch vermutet werden, dass er die KussSzene im Sinn hatte. Während des anschließenden Szenenverlaufs wirkte der junge Mann von Blanches Worten jedenfalls tatsächlich wie hypnotisiert: Die überwiegende Statik auf der Bühne; der leise Blues im Hintergrund; Blanches langsamer, zärtlicher Redefluss, vergleichbar mit dem gutmütigen, warmen Ton einer zufrieden schnurrenden Katze; der blaue, sich langsam im Raum verbreitende Rauch einer angezündeten Zigarette – das alles schien die anwesenden Beobachter die reale Zeit vergessen zu lassen. (Ich selbst saß in diesem Moment neben der Bühnenbildhospitantin und dem Regieassistenten, ein paar Meter links von uns entfernt saß der Regisseur. Alle drei beobachteten das Bühnengeschehen genauso regungslos wie ich – offenbar deshalb, weil die besondere Spannung dieser Szene spürbar in der Luft schwebte.) Erst als Blanche den jungen Kassierer nach ihrem langsamen, sanften Kuss wieder gehen ließ und er hinter der Treppe verschwand, erwachten alle Beteiligten schlagartig – ungefähr so, als würden sie plötzlich vom Zustand der Hypnose in den Wachzustand übergehen. Langhoff sprach erneut von der Gewitteratmosphäre, da der junge Mann in den Regen lief, derweil der Regieassistent eine andere Blues-Melodie einspielte, womit der Übergang zur Besprechung der nächsten Szene markiert wurde. Erst einen Monat später, am 23. Februar 2011, wurde der Auftritt des jungen Mannes abermals geprobt und (kurz) gemeinsam ­diskutiert. Diesmal fand die Probe auf der Hauptbühne statt, und es war die Blanche-Darstellerin, die die Diskussionsrunde eröffnete: »Immer wenn ich ›Honiglamm‹ sage, muss ich an Honigwaffeln ­ denken!« ­ Langhoff griff diese Assoziation sofort auf und fragte: »­Übrigens, ist es aus der Bibel? Lamm Gottes?«75 Er stieg zur Blanche-Darstellerin auf die Bühne, wo er das Gespräch mit ihr außer Hörweite fortsetzte, weshalb mir die Anfertigung weiterer Konversationsnotizen ­leider nicht möglich war. Nach einer Weile nahm er seinen Platz im Zuschauerraum jedoch wieder ein, um die Szene letztmalig mit den folgenden Worten zu kommentieren: »Ein ganz lieber

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Kerl, ­dieser Mitch. Aber so sexy ist er nicht, na ja, man weiß es noch nicht. Der ist nicht so p ­ hantasievoll, und ich brauche eine kleine Sünde. [Gemeint war hier der plötzlich erschienene junge Mann.] So, komm mal her!« Irgendwann wurde während einer technischen Probe entschieden, die Erscheinung des jungen Mannes durch dessen Schatten zu markieren. So lief der Darsteller des jungen Mannes auf der Hinterbühne vor einem Projektor hinter einem weißen Vorhang, sodass man nur seinen Schatten erkennen konnte (die Blanche-Darstellerin saß derweil im Sessel auf der Vorderbühne). Auf diese Weise wurde der Unterschied zwischen zwei Realitäten und Zeitlichkeiten gekennzeichnet. Der Entzug der körperlichen Präsenz auf der einen Seite (der Schatten des jungen Mannes im Hintergrund) sowie die Virulenz einer gewissen Statik (sein Erstarren in Gegenwart der unbekannten Frau) und das verlangsamte Sprechtempo Blanches auf der anderen Seite haben damit die Zeitdehnung auf der Bühne hervorgehoben und somit auch den inneren Zeitrahmen bewegt. Der innere Zeitrahmen der Proben lässt sich dementsprechend durch den Einbruch der Ereignisse ermessen, die während der gemeinsamen Suche nach adäquaten künstlerischen Entscheidungen zum Vorschein kommen. Die geteilte Zeit sämtlicher Mitwirkenden (sowohl die der internen als auch die der externen Beteiligten) an einem Probentag ist – um erneut mit Lehmann zu sprechen – genau jene »offene Prozessualität, die strukturell weder Anfang noch Mitte noch Ende hat«, denn die Entscheidungen, die an einem bestimmten Probentag getroffen werden, können in der Regel erst einige Tage oder sogar Wochen später szenisch umgesetzt werden (oder aber die einst entdeckten, aber verschobenen oder gar vergessenen Ansätze werden wieder aufgegriffen und sofort in die Inszenierung eingebaut). Es könnte zudem durchaus Probentage geben, an denen niemandem eine gute Idee einfällt, sodass schließlich überhaupt keine gemeinsamen künstlerischen Entscheidungen getroffen werden können. Oft hat eine Person (oder gar alle Beteiligten) erst mit dem nahenden Premierentermin einen ausgezeichneten Einfall. Die geteilte Zeit steht demnach sozusagen zwischen dem inneren und dem äußeren Rahmen der Proben; zugleich verbindet sie diese Rahmen miteinander. Eine weitere Frage, die sich in Bezug auf die zeitliche Dimension des Probenprozesses stellt, betrifft die Art und Weise, wie sich die Zeit im Verlauf des Probens bewegt. Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich im Folgenden auf einige Probensituationen eingehen, die während der Vorbereitungen des Stücks Krankenzimmer Nr. 6 entstanden und

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

dabei behilflich sind, die innere zeitliche Bewegung des Probenprozesses nachvollziehbar zu machen. Der äußere Zeitrahmen dieser Probensituationen lässt sich in drei Phasen unterteilen: Die erste Phase (zwei Wochen) bestand aus den Leseproben. In der zweiten Phase (knapp zwei Wochen) wurde auf den Probebühnen des Ballhauses Rixdorf und des Deutschen Theaters geprobt. Die dritte Phase (ca. drei Wochen) setzte sich aus den Proben zusammen, die auf der DT-Hauptbühne bis zur Premiere stattfanden. Besonders intensiv war der innere Zeitrahmen in den ersten zwei Phasen ausgeprägt. Dies waren jene Phasen, in denen zahlreiche Ideen kursierten, die auf individuellen Erfahrungen aufbauten, aus dem Stegreif vorgetragen wurden, aus der simultanen Präsenz der Akteure entstanden oder aus persönlichen Gesprächen hervorgingen. Die Proben dauerten bereits knapp eine Woche an, als der Regisseur eine Phrase äußerte, die ich als den Ausgangspunkt der Dehnung des inneren Zeitrahmens begreife. Am sechsten Probentag sagte G ­ otscheff: »Wir brauchen einen größeren Zeitraum, bevor ihr anfangt.«76 In der Tat hatten die Schauspieler und der Regisseur ausgiebige Diskussionen geführt, einander diverse Textstellen vorgelesen sowie zahlreiche Erinnerungen und Erfahrungen ausgetauscht, bis sie endlich bei der zweiten Probenphase – beim szenischen Proben – anlangten. Die erste Probensituation – eine der Schlüsselsituationen, auf die ich mich konzentrieren möchte – zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Probenprozess, besonders in seiner ersten Hälfte. Im Zentrum stand hier das bereits erwähnte »Čechov-Abc« bzw. das von Ivan Panteleev erstellte Lexikon, in dem in alphabetischer Reihenfolge etliche Phrasen aus verschiedenen Čechov-Texten versammelt sind (vgl. Abb. 1.1–1.3). Von Anfang an war Dimiter Gotscheff fest entschlossen, dieses »­Alphabet« in seine Inszenierung einzubetten, sodass Panteleevs Zitatsammlung so manches szenische Geschehen vorbestimmt hatte. Noch bevor das »Čechov-Abc« in die Fassung des Rollentexts übernommen wurde,77 stand es im Zentrum diverser Diskussionen. Man las sich einzelne Čechov-Zitate in Rollen oder im Chor vor, verstellte dabei die Sprechstimme und modulierte dabei mitunter die Lautstärke der gesprochenen Wörter. Allein das Vorlesen der einzelnen Textausschnitte wirkte sehr expressiv. Als der ersten Textfassung am folgenden Tag Teile des »Čechov-Abc« beigefügt wurden und man daraus im Chor, der Reihe nach oder in Gruppen vorlas, begannen sich die ersten Umrisse der Beziehungen zwischen den szenischen Figuren ­herauszubilden. Nach dem zweiten Durchlesen sagte Gotscheff:

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

Abbildungen 1.1–1.3: Kopie des »Čechov-Abc«, zusammengestellt vom Co-Regisseur Ivan ­Panteleev. Quelle: DT-Textfassung, Januar 2010

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

»Für Andreas [Döhler] ist es eine Therapie mit dem ›Alphabet‹-Lesen.«78 In der Tat mag es so gewesen sein, denn Döhler war der Einzige, der jeden neuen Satz immer etwas langsamer als die anderen Akteure zu lesen begann, womit er die synchrone Melodik der ihm vorangegangenen Vorleser erheblich aus dem Rhythmus brachte. Diesen rhythmischen Bruch hat Gotscheff später als einen wichtigen szenischen Griff in die Szene mit dem Čechov-Alphabet übernommen. »Die Worte von Čechov sind ein Material. Damit soll man leben, damit soll man auch spielen können. Seine Texte sind ein Alphabet für alle«,79 sagte der Regisseur am Vortag der von mir soeben als »Ausgangspunkt« diagnostizierten Dehnung des inneren Zeitrahmens. Was dieser Ausgangspunkt alles beinhaltete, lässt sich anhand des am nächsten Tag stattgefundenen Probenverlaufs illustrieren. Gotscheff brachte an diesem Tag eine Zeitung zur Probe mit, aus der er vor Probenbeginn einen Artikel über Čechov und dessen literarisches Erbe vorlas. Im Zuge dessen machte er die Akteure darauf aufmerksam, dass »Čechov transzendent und kühl ist, dass er seinen Figuren keine Ausrede für das Unglück, keine strukturelle Gewalt und keine dramatischen Eklats anheimstellt. Čechov’sche Menschen sind einsam, aber begehen keinen Selbstmord. Sie wissen, aber tun nichts […].«80 Anschließend wurden die zitierten Passagen des Zeitungsartikels gemeinsam diskutiert, um danach langsam in die Besprechung der Figuren aus der Čechov’schen Erzählung überzugehen. Schnell haben die Künstler damit begonnen, zusammenhängende Episoden aus ihrem privaten Leben zu erzählen. Z. B. offenbarte Gotscheff, wie er vor ca. dreißig Jahren in der Psychiatrie war und dort jeden Tag darauf wartete, dass es neun Uhr wurde, denn dann konnte er endlich die Geschichten der Kranken hören, die sie einander immer nur nachts erzählten. Was das Vorlesen des »Čechov-Alphabets« selbst anbetrifft, so ist mir aufgefallen, dass alle Beteiligten dabei ein besonderes Vergnügen hatten. Einmal hatte ich sogar den Eindruck, als ob sie darauf gewartet hätten, das »Abc« endlich wieder zusammen rezitieren zu können. ­Tatsächlich wurden alle Akteure viel vergnügter, wenn es zu einer Alphabetlesung kam. Der Schauspieler Wolfram Koch gestand einmal: »Es gab gestern beim Lesen eine Sekunde, bei ›M‹ – ›Moskau‹, als alle plötzlich auf einen Punkt gekommen sind. Wir alle waren uns einig.«81 Es war den Akteuren anzusehen, dass sie beim Lesen Spaß hatten. Auch ich als Beobachterin empfand ein Freudegefühl, als ich die Schauspieler beim Skandieren quasi »in Fahrt kommen« und dadurch immer lauter und fröhlicher vorlesen sah:

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

M – Moskau - Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau. - Aus Moskau? Sie sind aus Moskau?! - Ja, aus Moskau. - Olga! Olga! Oberstleutnant Werschinin ist, wie sich herausstellt, aus Moskau. - Sie sind aus Moskau? - Ja. Ich bin in Moskau zur Schule gegangen und habe in Moskau meinen Dienst angetreten. […] - Ja! So schnell wie möglich nach Moskau! - Stell dir vor, Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau. - Ja, ich bin aus Moskau!82 Der Schauspieler Andreas Döhler war indes der Einzige, der mit dem »Čechov-Abc« Schwierigkeiten hatte. Am Ende der ersten »Alphabet«Probe sagte er zu Gotscheff, er wisse nicht, warum und wie er das lesen solle, er brauche seine Regieanweisungen. Darauf sagte G ­ otscheff: »Alle Regieanweisungen sind im Text. Finde sie. Und stelle sie mit deinen eigenen Mitteln dar.«83 Bei der nächsten Probe dachte sich Döhler vor und während des »Abc«-Lesens selbst aus, was genau er zu jedem Buchstaben sagen würde. Dieser Vorstoß traf aufseiten des Regisseurs zunächst auf Missbilligung; später wurde er jedoch akzeptiert und für die Endfassung berücksichtigt. Was hinsichtlich des »Čechov-Abc« besonders hervorzuheben ist, ist die bereits erwähnte Tatsache, dass dieses wie ein »Lexikon« aufgebaut ist: Zitate aus Čechovs Werken werden hier mit Schlagworten versehen in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet. Das Prinzip der alphabetischen Reihenfolge korrespondiert meines Erachtens mit dem Prinzip des ursprünglichen russischen Alphabets. (Von der Existenz der altslawischen bzw. altrussischen Schrift lange vor der Christianisierung zeugen diverse historiographische, archäologische und kul­ turologische Studien.84) Diese Schrift hieß Asbuka85 – ein Begriff, der von den beiden ersten Wortteilen dieser Schrift (»Az‘‘« für »Mensch« und »Bogi« für »Götter«) abgeleitet wurde und kaum ins Deutsche zu übersetzen ist. Die Asbuka-Schrift enthielt 49 Wörter (bzw. Gestalten), die sowohl senkrecht als auch waagerecht oder diagonal als zusammenhängende Sätze (Postulate) gelesen werden konnten86. Diese Postulate sind es, die dem Ausdruck Binsenweisheit oder (wörtlich: »Alphabetenwahrheit«) azbučnye istiny zugrunde liegen. Ich gehe deshalb auf diesen Sachverhalt ein, weil sich zwischen der Verwendung des

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

Abbildung 2: Altrussische Schrift Asbuka. Quelle: http://www.alfaiomega.org/bukvitsa. Letzter Zugriff: 19.6.2018

»Čechov-Abc« für die Gotscheff-Inszenierung und der Struktur der altrussischen Schrift eine Analogie feststellen lässt: Beide Phänomene – die altrussische Alphabetschrift und das »Čechov-Abc« – basieren auf einem semiotischen Prinzip der Entschlüsselung. Verfahrensmäßig beziehen sich also die Entschlüsselung der zahlreichen Čechov’schen Texte sowie die Verkörperung dieser Texte durch die Darsteller in der DT-Inszenierung auf die Dekodierung der Asbuka-Postulate (vgl. die Abb. 1.1, 1.2, 1.3 und 2). Allerdings muss ich zugeben, dass die Strukturgleichheit zwischen der russischen Asbuka-Schrift und dem »ČechovAbc« auf meiner persönlichen Assoziation als Probenbeobachterin fußt: Erst im Anschluss an diese Proben bin ich zufällig wieder auf die ­Asbuka-Schrift gestoßen, wobei mir sofort das »Čechov-Abc« einfiel, an dem die DT-Künstler vor kurzem gearbeitet hatten. Hätte sich dieser Zufall noch während der Proben ereignet, hätte ich diese Assoziation unbedingt mit den Künstlern geteilt. Dabei bin ich mir sicher, dass dieser Vergleich unter den Schauspielern und dem Regisseur Unterstützung gefunden hätte, denn sie waren offen für jegliche Diskussion, was ich im persönlichen Gespräch mit ihnen häufig erleben durfte. Ivan Panteleev, der sein »Čechov-Abc« seit Jahren führt, äußerte sich über die Čechov-Texte aus diesem »Lexikon« in einem Interview mit der Zeitschrift Theater der Zeit folgendermaßen:

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

Ich habe mich viel und sehr intensiv mit Tschechows Texten beschäftigt, und trotz meiner großen Liebe und tiefen Achtung vor diesen Texten, oder gerade aus diesem Grund, verhalte ich mich sehr autonom ihnen gegenüber. Ich denke und arbeite diese Texte unabhängig von Stücken, Erzählungen, Figuren und Handlungen. Ich lasse sie frei in meinem Gehirn laufen und zu Frischfutter für meine Phantasie werden.87 Viele Zitate aus Čechovs Werken sind für etliche Menschen (insbesondere für diejenigen, die die Krankenzimmer-Nr.-6-Inszenierung am Deutschen Theater erarbeiteten) auf der einen Seite autonome Texte, eine Offenbarung, eine Wahrheit, die keine Nachweise erforderlich macht. Auch die Binsenweisheiten – die sich beim Lesen der altrussischen Wortgestalten ergeben – bauen auf demselben Verfahren auf. Es sind Postulate, die nicht nachgewiesen werden müssen. Die Autonomie der Asbuka-Postulate und der Texte des »Čechov-Abc« sowie die Strukturgleichheit der beiden Phänomene sind die Kriterien, die ein anschauliches Beispiel davon gewesen wären, dass in den Proben unterschiedliche zeitliche Epochen aufeinanderzutreffen vermögen: So ginge es dabei gerade um den Verfahrensvergleich zwischen der Asbuka (aus der Urzeit) und dem »Čechov-Abc« (das als zeitgenössisches Lexikon angeordnet ist mit Zitaten aus dem späten 19. bis ­frühen 20. Jahrhundert). Um ein weiteres Beispiel für die Dehnung des inneren Zeitrahmens anzuführen und meine Ausführungen über die zeitliche Dimension des Probenprozesses zusammenfassend zu verallgemeinern, möchte ich nun auf eine Spielszene zu sprechen kommen, die in der zweiten Probenphase – d. h. während der Bühnenproben – improvisierend entstand. Am 21. Probentag warf einer der Künstler nach dem Ende einer Pause folgende Frage in den Raum: »Was würde man machen, wenn man für drei Stunden im freien Raum eingesperrt würde?«88 Diese Frage übte eine geradezu magische Wirkung auf die Darsteller aus. Wie auf Kommando begaben sich alle Akteure in den Probenraum im Ballhaus Rixdorf, um dort ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Zuerst tanzte Katrin Wichmann mit Andreas Döhler einen Walzer, Almut Zilcher kletterte auf Wolfram Kochs Rücken und mimte dabei offenbar eine »Indianerin«. Dann löste sich Döhler aus dem Walzer, um nun ein »Gespann« mit Wolfram Koch zu bilden, während Almut Zilcher auf den beiden Männern stand und sie anspornte. Als nächstes konnte ich ein »Bock-Spiel« zwischen Zilcher und Wichmann beobachten, bei dem beide aufeinanderprallten. Plötzlich erinnerte

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2.3  Zur zeitlichen Dimension der Probe

sich Andreas Döhler an das folgende Kinderspiel: Ein Spielleiter wendet den Mitspielern seinen Rücken zu und macht zehn bis 15 Schritte nach vorne, sodass die Mitspieler hinter ihm bleiben. Zwischen ihm und den Mitspielern entsteht mithin eine größere Distanz. Von diesem Abstand aus beginnt der Spielleiter damit, ebenso laut wie schnell bis zehn zu zählen. Die Aufgabe der Mitspieler besteht darin, möglichst schnell den Spielleiter zu erreichen, ohne dass dieser sie mit seinem Blick trifft. In jedem Augenblick kann der Spielleiter das Zählen abbrechen, sich wenden und schauen, wer sich bewegt. Wer vom Blick des Spielleiters getroffen wird, wird unmittelbar nach hinten geschickt.89 Dieses Kinderspiel lieferte schließlich die Grundlage für die Szene Alltag eines Arztes. Während Samuel Finzi am Bühnenrand direkt vor dem Zuschauerraum stand und den Monolog über den Alltag eines Arztes vorsagte, schlichen die Patienten von der Hinterbühne leise und unauffällig zu ihm. Zweimal drehte sich der Arzt um, woraufhin alle Patienten sofort auf ihren Positionen verharrten. Einige von ihnen wurden wieder zur hinteren Bühnenwand an ihre Ausgangspositionen zurückgeschickt. Langsam, aber sicher erreichten sie schließlich den Arzt und legten ihre Arme auf seine Schultern. Beim zweiten Probenversuch dieser Szene schlug Wolfram Koch vor, dass er in seiner Rolle des Ivan Dmitrič den Arzt als Erster anfassen solle, da Koch im Zuge des Spiels die Frage Warum bin ich hier festgehalten? in den Raum werfen sollte, um sodann seinen weiteren Rollentext vorzutragen. Die Dehnung des inneren Zeitrahmens erfolgte hier auf der Basis einer Kindheitserinnerung, die Eingang in den geschlossenen Raum des Probenprozesses fand und zum Ausgangspunkt einer wirkungsvollen szenischen Entscheidung wurde. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die beschriebenen Fallbeispiele führen vor Augen, dass der innere Zeitrahmen in Probenprozessen als ein einschränkender Faktor zu betrachten ist. Gleichzeitig ließe sich der innere Zeitrahmen mit einem Vakuum vergleichen, dessen Funktion darin besteht, »gefüllt« zu werden. Im vorliegenden Kontext ist es das gesamte Probenteam, das den inneren Zeitrahmen der Aufführung bestimmt bzw. mit Inhalt »füllt«. Der innere Zeitrahmen steht dabei stets in engem Verhältnis mit den performativen Handlungen der Beteiligten – es gleicht gewissermaßen dem Verhältnis, das ein Luftballon zur Luft besitzt, mit der er aufgeblasen wurde. Zu bedenken ist indes, dass der äußere Zeitrahmen oft mit dem inneren Zeitrahmen in Konflikt steht; schließlich hat er durch seine objektiven Beschränkungen einen maßgeblichen Einfluss auf die zeitlichen Spielräume künstlerischer Entscheidungsfindungsprozesse. Nicht selten kommt

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

es vor, dass gewisse Entscheidungen aufgrund des äußeren Zeitrahmens nicht mehr zu ändern sind. Vor diesem Hintergrund ist es ausgerechnet der innere Zeitrahmen, der ausgedehnt werden kann bzw. der dazu beiträgt, durch die »Ausdehnung« einen günstigen Ausgang der Probensituation zu finden, mit dem alle Beteiligten zufrieden sind. In der fertigen Produktion sind die Prozesse und Entscheidungen, die während des ausgedehnten inneren Zeitrahmens verliefen bzw. getroffen wurden, kaum zu sehen. Man muss unbedingt selbst bei den Proben dabei sein, um diese transformativen Vorgänge zusammen mit den Künstlern wahrnehmen und nachvollziehen zu können. Zeiteinbrüche (wie im Fall des spontan entstandenen Kinderspiels), das Heranziehen früherer Epochen und überhaupt die gesamte Bewegung des inneren Zeitrahmens der Proben prägen die zeitliche Dimension des Probenprozesses. Schließlich wird in den Proben viel experimentiert, wobei es freilich zu berücksichtigen gilt, dass die Resultate dieses tentativen Vorgehens mitnichten in jedem Fall als »gelungen« betrachtet werden können. Gerade deshalb sehen die meisten Theatermacher externe Beobachter in ihren Proben so ungern. Im folgenden Abschnitt werde ich diesem Aspekt näher auf den Grund gehen.

2.4 Die Probe als ritueller Raum: Was verbirgt sich hinter der ­Intimität von Theaterproben?

Am 7. Januar 2010 fand im kleinen DT-Konferenzraum das allererste Zusammentreffen der Mitwirkenden am Probenprozess zu Krankenzimmer Nr. 6 statt. Gotscheff eröffnete die »Sitzung« mit einer langen Pause, in der er langsam eine Zigarette rauchte und seinen Blick starr auf die Tischoberfläche fixierte. Dass er auf diese Art und Weise fast jede weitere Probe beginnen wird, war damals wohl nur denjenigen klar, die mit Gotscheff schon zusammengearbeitet hatten. Auf den Gesichtern der (noch) nicht eingeweihten Mitarbeiter zeichnete sich ein Ausdruck der Verwirrung ab. Gotscheff selbst unterbrach sein ausdrucksvolles Schweigen schließlich mit einer Frage an Samuel Finzi, der in mehreren seiner früheren Inszenierungen mitspielte. Auch die anderen Anwesenden konnten sich nun am Gespräch beteiligen. Dabei kam es zu einem interessanten Meinungsaustausch zwischen den Darstellern und dem Regisseur: Die Künstler äußerten sich zu der Frage, wie sie sich die Arbeit mit dem Čechov’schen Text vorstellen, gaben an, wo sie die größten Hürden der russischen Originalfassung

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2.4  Die Probe als ritueller Raum

sahen, und besprachen, wie sie ihre Figuren im Raum des ins Deutsche übersetzten Textes positionieren sollen. Nach einer Weile ergriff Gotscheff erneut das Wort. Er berichtete von seiner Vorstellung, dass sich die Wachsfiguren im Madame-Tussauds-Kabinett mit Einbruch der Nacht zu bewegen begännen und dass diese Vorstellung auch für den Umgang mit den Čechov’schen Figuren leitend sein solle. Des Weiteren führte er aus, dass die Begegnung mit Čechovs Texten für ihn immer ein Ritual gewesen sei.90 Mit dieser Bemerkung nahm Gotscheff vorweg, dass der bevorstehende Probenprozess eine rituelle Dimension annehmen würde. Die Frage, was genau für Gotscheff an einer Probe »rituell« sein soll und mit welchen Kategorien dieser »rituelle« Charakter bei ihm in den Proben ermessen wird, blieb jedoch in diesem Zusammenhang insbesondere für mich noch offen. Auf den ersten Blick scheint eine jede Theaterprobe tatsächlich eine deutliche Ähnlichkeit mit einem Ritual aufzuweisen. Die Ritualforscher Ursula Rao und Klaus-Peter Köpping schreiben etwa: Bereits auf der formalen Ebene teilen Ritual und Theater eine große Zahl von Komponenten, die die Behauptung einer mehr als nur analogen Ähnlichkeit dieser zwei Handlungsdomänen des Performativen nahezulegen scheinen. […] Beide Genres kennen Inszenierung, Skriptvorlagen […], Improvisation […], Einstudierung, in beiden können Teilnehmer wie Zuschauer ihre Rollen verändern, und beide können […] andere Wirklichkeiten [auf]zeigen. […] [W]as beim Theater das Proben ist, [macht] im Ritual die Repetitivität aus.91 Sicherlich hatte Dimiter Gotscheff nicht nur die Aspekte einer formalen Repetitivität und analogen Ähnlichkeit im Sinn, als er die Begegnung mit Čechovs Texten mit dem Ritual verglich. Wäre das der Fall gewesen, hätte er nie zuvor in Interviews gesagt, seine Heimat wäre die Probe.92 Indem Rao und Köpping Theater und Ritual als »Handlungsdomänen des Performativen« bezeichnen, heben sie wohl auf die Wirkung des Performativen ab, Transformationen der Wirklichkeit vorzunehmen. Und in der Tat: »[D]er Übergang von einem Zustand in einen anderen« bzw. »von einer Identität in eine andere«93 liegt dem Theater ebenso sehr zugrunde wie dem Ritual. Die Probe als »Heimat« zu bezeichnen, bedeutet insofern, sie als einen Ort zu identifizieren, an dem »andere Wirklichkeiten aufgezeigt« bzw. die in ihm befindlichen Akteure in »andere Wirklichkeiten« überführt werden. Mein Hauptaugenmerk richtet sich im Folgenden daher auf die transformative Kraft

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

des Performativen94, deren Wirkung viele Fragen zur rituellen Dimension des Probenprozesses aufzuklären vermag. Warum sehen es viele Schauspieler nicht gern, wenn sie beim Proben von einer dritten Person beobachtet werden? Warum dürfen nur wenige Interessenten einen Blick auf den Probenprozess werfen? Was ist es, das so intim hinter den Kulissen bleibt und das nur »Eingeweihte« sehen dürfen? Diese und viele andere Fragen lassen sich im Hinblick auf die »potentielle Kraft von Ritualen, Transformationen der Wirklichkeitswahrnehmung vorzunehmen«95, klären. Was ist es also, das einen Theaterprobenprozess rituelle Formen annehmen lässt? Mit Köpping und Rao, die ihren Standpunkt von den Ritualforschern Mary Douglas und Victor Turner bezogen haben, gilt es zunächst festzuhalten, dass im Mittelpunkt eines jeden Rituals der menschliche Körper steht: [D]e[r] natürlich[e] Körper« [wird] im Ritual erzeugt, präsentiert und in den gesellschaftlichen Kontext integriert […]. Der Körper zeigt sich in seiner Begrenztheit als vortreffliches Medium zur Darstellung und Einschreibung der Idee der Gemeinschaft. Gleichzeitig veranschaulicht die Körpermetapher aber auch die Probleme bei der Erzeugung einer (sozialen) Einheit, weil der Körper die Durchlässigkeit von Grenzen, ihre potentielle ­Offenheit und Verletzlichkeit vorführt. An Körperöffnungen – zu denen auch die Haut und andere Sinnesorgane zu zählen sind – tritt das Innere nach außen (durch Ausscheidungen oder durch das Aufzeigen von inneren Zuständen wie Emotionen auf der Oberfläche), und die Außenwelt dringt in das Innere ein (durch Sinneseindrücke, Nahrungsaufnahme oder Eindringen von Krankheitsursachen […]).96 Die Offenheit des Körpers, die die Schauspieler in den Probenprozessen in vielfältiger, insbesondere improvisatorischer Form vorführen,97 trägt zum In-Erscheinung-Treten ihrer inneren Zustände, vor allem ihrer Emotionen, bei. Die meisten Schauspieler sind auf (externe wie interne) Impulse angewiesen, die sie zur Öffnung des Körpers stimulieren – nicht zuletzt deshalb geht die Öffnung des Körpers unweigerlich mit einer Steigerung der Aufnahmefähigkeit der Sinne einher. Über eine Sensibilisierung der Sinne werden die Schauspieler dazu in die Lage versetzt, sich besser in ihre jeweiligen Kunstfiguren hineinzuversetzen; auch wird ihnen die Kontaktaufnahme mit den Zuschauern erleichtert. Laut Köpping und Rao gilt es darüber hinaus zu

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2.4  Die Probe als ritueller Raum

berücksichtigen, dass »[d]ie Oberfläche des Körpers […] genau jener Ort [ist], an dem Rituale die Ambivalenzen und Ambiguitäten gesellschaftlich relevanter Grenzziehungen festmachen können«98. Genau solche Grenzziehungen finden in den Proben statt, und zwar sowohl während der Probe einer Szene als auch danach, wenn die Ergebnisse einer Probensituation miteinander diskutiert und mit dem Regisseur vertieft werden. Der Körper ist für äußere Reize (Reaktionen und Repliken der Mitspielenden, Regieanweisungen, Musikeinsatz, Gespräche, Witze, Gelächter, Streit usw.) geöffnet, die Sinne sind geschärft. Und letzten Endes – nach solchen vielfältigen Wahrnehmungsprozessen wie monatelangen Interaktionen mit den Kollegen, dem Beobachten bzw. Beobachtetwerden, der Vorführung, dem Spielen – steht es im kognitiven Ermessen des Akteurs selbst, wo er die Grenze zwischen seinen eigenen inneren Zuständen und den inneren Zuständen der von ihm verkörperten Figur zieht, welche Emotionen er seinem Charakter zukommen lässt und auf welche Weise er diese stimuliert. Vor diesem Hintergrund hat der Akteur das letzte Wort auch in der Frage, wie er den einen oder anderen inneren Zustand seiner Kunstfigur konkret zu verkörpern gedenkt. Bei den Grenzziehungen im gerade beschriebenen Sinn handelt es sich um emotionale Zustände und mentale Prozesse, die sich im Inneren des Körpers der Schauspieler ereignen. Es sind die Prozesse, die einem direkten Zugriff ohne spezielle medizinisch-neurologische Instrumente (z. B. MRT-Scans) entzogen sind und u. a. auch aus ethischen (noch in der Einleitung angesprochenen) Gründen nicht gänzlich rekonstruiert werden sollten. So kommt es, dass die spezifischen Eigenschaften des Probenprozesses es erforderlich machen, den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit durch das Mittel der teilnehmenden Beobachtung zu untersuchen. Im Zuge dessen konnte ich feststellen, dass sich der schauspielerische Körper zumeist nur auf der Basis der Unvorhersehbarkeit nach außen hin zu öffnen vermag. Diese Unvorhersehbarkeit kann die verschiedensten, oft auch unwiederholbaren Entstehungsgründe haben. Aber die Tatsache, dass viele Schauspieler ihren Körper durch spezielle Maßnahmen auf die Probe »einstellen« (viele machen z. B. Trainingsübungen, singen sich warm etc.), damit ihr Körper bei längeren physischen Anstrengungen nicht versagt, gehört zum Probenalltag vieler Berufsschauspieler. Darüber hinaus wird von solchen Vorbereitungen erwartet, dass sich der Körper für eine sensiblere schöpferische Wahrnehmung öffnet. Ein Faktor, der den Prozess der somatischen »Einstellung« besonders begünstigt, ist z. B. die im Probenprozess entstehende Arbeitsatmosphäre. Gleiches

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

gilt für die Diskussions- und Interaktionsmomente vor, während und nach einer Probenhandlung sowie die persönliche Konzentrationsweise und Haltung jedes einzelnen Darstellers.99 Diesbezüglich erwies sich eine Begebenheit als äußerst bedeutsam, die ich am 33. Probentag für das Stück Krankenzimmer Nr. 6 beobachten konnte: Nachdem der Regisseur im Anschluss an eine Szenenprobe zu einer Pause aufgerufen hatte, legte der Schauspieler Samuel Finzi seine Rolle des Arztes nicht ab, sondern er setzte sein Spiel individuell fort. Während die anderen Ensemblemitglieder mit alltäglichen Handlungen beschäftigt waren, hielt Finzi seinen Rollentext in der Hand. Indem er währenddessen mit einem imaginären Gesprächspartner interagierte, unternahm er offenbar den Versuch, seinen Text auswendig zu lernen. Der große Lärm während der Pause brachte Finzi nicht davon ab, die Verkörperung seiner Figur jetzt und nur für sich konzentriert einzustudieren. Jetzt und für sich war es ihm gelungen, um sich herum einen Zwischenraum zu schaffen, in dem die Wirklichkeit mental, emotional und performativ transformiert und gewissermaßen in ein ebenso unsichtbares wie autonomes Zeitkontinuum verwandelt wurde. So erscheint die »im Ritual [erzeugte] Offenheit des Körpers, die es im normalen Leben zu begrenzen gilt, als jene Potenzialität, die Menschen auf eine Transformation hin zu öffnen vermag«100. Es wirkte wie ein Ritual im Ritual, als Finzi die erwähnte Szenenprobe für sich alleine fortsetzte: Die Intensität der auf der Bühne zuvor vollzogenen Handlungen (die Manifestation eines ersten Rituals) wirkte so auf sein Perzeptionssystem101 ein, dass er offenbar auf eine konsequente Fortsetzung der vorherigen kollektiven Handlung angewiesen war. Im zweiten Ritual, welches der Schauspieler für sich allein vollzog, wurde somit – mit Köpping und Rao gesprochen – »das reflexive Bewußtsein zu einem Spiel mit den Perzeptionsstrukturen angeregt. Damit […] befähigt[e] die rituelle Darstellung […] d[en]Beteiligten […] zu einer Veränderung der Wahrnehmung«102. Dieser Prozess der Wahrnehmungsveränderung fand auch deswegen statt, weil sich der Schauspieler in einem Zustand befand, den Victor ­Turner in Rekurs auf Arnold van Genneps Werk Les rites de passage mit dem Begriff der Liminalität zu bestimmen versuchte. Kennzeichnend für diesen Zustand ist die temporäre Virulenz einer Zwischenexistenz »betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial«103. Fischer-Lichte hebt den Kerngedanken der Ritualtheorie von van Gennep hervor: Ein jedes Ritual ist als ein Übergangsritual zu betrachten.104 Übergangsriten werden von van Gennep in drei Phasen gegliedert: (i) die Trennungsphase, (ii) die Schwellen- bzw. Trans-

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2.4  Die Probe als ritueller Raum

formationsphase und (iii) die Inkorporationsphase. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die von Turner weiter spezifizierte Schwellen- bzw. Liminalitätsphase: Während Samuel Finzi in der Pause mit einer Skriptvorlage in der Hand, umgeben von seinen umhereilenden Kollegen, seine Kunstfigur absolut konzentriert und in sich gekehrt körperlich artikulierte, versetzte er sich – mit Fischer-Lichte gesprochen – in einen »Zustand ›zwischen‹ allen möglichen Bereichen […], der [dem Transformierenden] völlig neue, zum Teil auch verstörende Erfahrungen ermöglicht[e]«105. Finzi überschritt mithin eine Grenze, die sich nur in einem liminalen Zustand überschreiten lässt. Um was für eine Grenze handelte es sich dabei? Es gilt zu berücksichtigen, dass »die Veränderungen, zu denen die Schwellenphase führt […], den gesellschaftlichen Status derer [betreffen], die sich dem Ritual unterziehen«106. Mit Blick auf Samuel Finzi bedeutet dies, dass er in der Zeit seines auf sich selbst bezogenen Probierens der Einzige war, der in der von ihm verkörperten Gestalt verweilte, während alle anderen ihre alltäglichen sozialen Rollen wieder aufnahmen. Auf diese Weise veränderte bzw. transformierte er für einen begrenzten Zeitraum seinen Status: Während die anderen Schauspieler nicht mehr die Rollen ihrer Kunstfiguren spielten, sondern wieder in ihre alltäglichen Rollenmuster verfielen, verweilte Samuel Finzi nach wie vor in der Rolle des Doktor Ragin. Um der Intimität der Probe noch weiter auf den Grund zu gehen und neben der Schwellenphase einen zusätzlichen wichtigen Aspekt herauszuarbeiten, möchte ich nun auf ein Beispiel aus der alltäglichen religiösen Praxis indischer Hindus zu sprechen kommen (ich folge diesbezüglich einer einschlägigen Arbeit Raos und Köppings107). Kennzeichnend für diese Praxis ist die Überzeugung, in einem hinduistischen Tempel allein schon durch den Blick auf eine göttliche Statue in direkten Kontakt mit der angebeteten Gottheit treten zu können. Es ist dies ein Kontakt (darshan genannt), der dem Gläubigen allein »vom Gott oder der Göttin gewährt wird«108. Im Moment der unmittelbaren visuellen Interaktion zwischen der Gottheit und dem Gläubigen entsteht eine gewisse »intimacy between them, which confers benefits by allowing worshippers to ›drink‹ divine power with their eyes, a power that carries with it – at least potentially – an extraordinary and revelatory ›point of view‹«.109 Eine solche Intimität bzw. Vertrautheit entsteht auch während des individuellen Probemoments, wenn der Akteur alleine oder in Gegenwart einiger weniger Vertrauenspersonen in einem geschlossenen Raum verbleibt. Dieser Moment ist deswegen so intim, weil »[j]eder Übergang, jeder Weg über eine ›Schwelle‹ […] einen

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

Zustand der Instabilität [schafft], aus dem Unvorhergesehenes entstehen kann, der das Risiko des Scheiterns birgt, aber ebenso die Chance einer geglückten Transformation«110. Hätte Samuel Finzi gewusst, dass er während seines ebenso individuellen wie intimen Probemoments von jemandem beobachtet oder gar gefilmt wird, hätte dies vielfältige Reaktionsweisen hervorrufen können. Finzi hätte etwa einen Wutausbruch kriegen oder seinen selbstbezogenen Probevorgang irritiert abbrechen können. Völlige Gleichgültigkeit wäre indes ebenfalls denkbar: Die Reaktion, die sich aus dem verstohlenen Blickkontakt zwischen dem Akteur und den ihn umgebenden Außenstehenden ergibt, ist schließlich ebenso unkalkulierbar wie »das Risiko des Scheiterns« oder »die Chance einer geglückten Transformation«. Denn dem Akteur selbst bleibt es immer verborgen, ob er auf solch einen verstohlenen Blickaustausch oder »extraordinary and revelatory ›point of view‹« gefasst sein kann oder nicht. Der Blick, wie Fischer-Lichte unter Rekurs auf den Kunsthistoriker Hans Belting vermerkt, kann »ausdrücklich als Akt bezeichnet«111 werden: Die Beziehung, die der Blick zwischen zwei Subjekten herstellt, ist ambivalent. In ihr ist keines der beiden den jeweils anderen anblickenden Subjekte nur Subjekt oder nur Objekt. Während der andere zum Objekt wird, wenn ich ihn ansehe, kann er im Blick grundsätzlich nicht zum Objekt werden. Allerdings gilt, dass der Blick dem anblickenden Subjekt agency verleiht, während er dem(selben) angeblickten Subjekt agency entzieht. […] Zugleich gilt, dass der Blick sowohl die Distanz zum Angeblickten aufhebt als auch ihn auf Distanz hält. Der Blick konstituiert so eine spezifische soziale Wirklichkeit, die von Ambivalenz gekennzeichnet ist. Er erweist sich daher als ein performatives Phänomen par excellence.112 Der Blick als performatives Phänomen verweist demnach also immer auf seine Funktion, ein Akt zu sein. Es fragt sich zugleich: Ein Akt wovon? Wie Fischer-Lichtes Äußerung bereits andeutet, ist der Blick als ein Akt der Konstituierung der spezifischen sozialen Wirklichkeit zu begreifen. Aber was fixiert der Blick? Was ist das Produkt seiner Fixierung? Christoph Wulf greift das Thema der »Entdeckung« des Blicks in Bezug auf das Verhältnis von »Bild, Blick und Körper«113 auf. Laut Wulf sind es Bilder, die vom Blick erzeugt werden. Bilder erweisen sich daher als »Haltepunkt« des menschlichen Blicks. Wie Wulf weiter ausführt, besitzen Bilder

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2.4  Die Probe als ritueller Raum

[…] einen das menschliche Verhalten bestimmenden Charakter. In jedem Fall sind Bilder Produkte der menschlichen Phantasie, die im Vegetativen des menschlichen Körpers wurzelt und die in hohem Maße performativ ist. Hans Belting denkt in eine ähnliche Richtung, wenn er den Körper als den ›Ort der Bilder‹ bestimmt.114 Der Körper als »der Ort der Bilder« des angeblickten (und wie bei Samuel Finzi probenden) Schauspielers erscheint dementsprechend in dem Moment, in dem sich das Verhältnis zwischen Blick und Körper herstellt, höchst ungeschützt, empfindlich, anfechtbar. Im und mit dem liminalen Zustand, in dem sich der Spieler befindet, tritt also die Schutzlosigkeit des Körpers – als des »Orts der Bilder« – in Erscheinung. Um welche Bilder handelt es sich in diesem Zusammenhang? Handelt es sich um Bilder, die glücken oder missglücken können? Auf welche Weise werden sie hervorgebracht? Im Moment der unmittelbaren performativen Hervorbringung, d. h. während der individuellen Probehandlung, bleibt diese Art und Weise der Hervorbringung von Bildern dem Akteur selbst noch ungewiss. So ist es in solch einer liminalen Situation höchst unvorhersehbar, ob der Akteur darauf gefasst bzw. dazu in der Lage ist, die äußeren und inneren Bilder als Produkt seiner Phantasie zur Schau zu stellen bzw. sie der Öffentlichkeit anzuvertrauen, solange er selbst mit dem Produkt seines Imaginären unvertraut ist. Der Außenstehende bleibt für den Probenvorgang solange »harmlos«, bis er die probenden Akteure mit nicht vorgeplanten, nicht erwünschten (wie z. B. Beobachtung) oder gar mit den in diesem geschlossenen Gruppenprozess verbotenen Situationen (wie z. B. Videoaufzeichnung) dazu herausfordert, durch die Grenzziehung als mentale[n] und performative[n] Akt […] die Ordnung auf das Außeralltägliche hin [zu öffnen] […], während sie [die Grenzziehung – Anmerkung von mir, V. V.] zugleich dem Außeralltäglichen eine andere ›agency‹ ermöglicht.115 So ermöglicht diese »agency« des Außeralltäglichen die Entstehung solcher Situationen, die einerseits zur Bildung von neuen ästhetischen Kategorien führen. Aber andererseits kann »das Wissen über die Unabgeschlossenheit von Grenzen in die soziale Struktur integriert sein«116. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb ich das Moment der Grenzüberschreitung innerhalb von Probenprozessen (als geschlossenen Gruppenprozessen) zum einen als wesentliches Element für die Genese neuer Ästhetiken betrachte. Zum anderen zeichnet sich jegli-

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

che Grenzüberschreitung im Probenprozess als wichtiges Bildungselement des sozialen Gruppenprozesses Probe aus. Im nächsten Kapitel werde ich einer Form der Grenzüberschreitung bzw. -auflösung auf den Grund gehen, die in ihrem In-Erscheinung-Treten selbst immerzu als eine bedeutende ästhetische Kategorie fungiert. Diese Kategorie werde ich im Zuge dessen als Ästhetik der Herausforderung bezeichnen.

1 Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 53. 2 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 31. 3 Ebd., S. 38f. 4 Vgl. ebd., S. 41. 5 Ebd. 6 Siehe dazu Kapitel 1, Fußnote 65. 7 Fischer-Lichte: Performativität, S. 102. 8 Ebd., S. 101. 9 Ebd., S. 102. 10 Ebd. 11 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 249. 12 Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter: »An der Schwelle. Performance als Forschungslabor«, in: Hanne Seitz (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Bonn 1999, S. 45–55, S. 50. 13 Bormann/Brandstetter: »An der Schwelle«, S. 53. Als Artefakte fungieren in meinem Fall die in den Probenprozessen angefertigten Probennotizen und Videoaufzeichnungen. 14 Ebd., S. 54. 15 Arbeitsgruppe Wahrnehmung: »Wahrnehmung und Performativität«, in: Erika Fischer-Lichte, Christoph Wulf (Hg.): Praktiken des Performativen. Paragrana, Band 13, Heft 1, 2004, S. 15–80, S. 20. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 21. 18 Jens Roselt: »Wo die Gefühle wohnen – Zur Performativität von Räumen«, in: Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis (= Recherchen 17), Berlin 2004, S. 66–76, S. 75, Anm. 10. 19 Vgl. ebd., S. 75. 20 Wobei beim zentripetalen Handeln »Mimik, Gestik, Körperhaltung, Bewegung, Stimme und Sprache […] stets aufeinander bezogen [sind], […] sich gegenseitig [bestätigen] und […] so auf die Figur [konzentriert sind]«. (Vgl. ebd., S. 74.) 21 Für die zentrifugale Schauspielart ist entscheidend, dass sie aus dem »Gewahrwerden von Differenzen« bei der »Wahrnehmung der darstellerischen Mittel wie Sprache, Stimme oder Körper« besteht. Es geht hier also nicht um die »Konzentration auf innere Vorgänge, sondern um die Dissoziation einzelner Elemente, zu denen auch der Körper gehört«. (Vgl. ebd., S. 72f.) 22 Ebd., S. 75. 23 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 215. 26 Vgl. Arbeitsgruppe Wahrnehmung: »Wahrnehmung und Performativität«, S. 74, Anm. 44. Ausführlicher über den Wahrnehmungszyklus siehe in: Ulric Neisser: Kognition und Wirklichkeit: Prinzipien und Implikationen der kognitiven Psychologie, Stuttgart 1979, S. 26–29. 27 Ebd., S. 27f. 28 Jens Roselt: »Raum«, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 260–276, S. 266. 29 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2002, S. 159. 30 In seinem Vortrag Andere Räume von 1967 macht Foucault die Beobachtung, dass verschiedene Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten Orte schufen,

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Endnoten

die außerhalb des jeweiligen alltäglichen Gebrauchs blieben, in denen aber »andere Räume« entstehen konnten. Diese Orte nennt Foucault »wirkliche Orte« und bezeichnet sie im Gegensatz zu den nicht-wirklichen Orten, den Utopien, als Heterotopien. So nennt Foucault das Theater, das Kino und den Garten als Beispiele von Heterotopien, die »an einem Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen [vermögen]« (Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck: Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991, S. 34–46, S. 42.). »Museen und Bibliotheken sind Heterotopien, in denen die Zeit nicht aufhört, sich auf den Gipfel ihrer selber zu stapeln und zu drängen […]« (ebd., S. 43). Zwar findet Löw den Foucault’schen Begriff der Heterotopien »irreführend, weil er ein räumliches Phänomen als topisch bezeichnet und somit nicht konsequent zwischen Orten und Räumen unterscheidet« (Löw: Raumsoziologie, S. 165), jedoch verweist sie auf das Vermögen der Räume, im Foucault’schen Sinn »als Illusions- oder Kompensationsräume institutionalisiert« (ebd.) zu werden. Eine Technodiskothek – eine institutionalisierte Erholungsstätte –, die »bei den Besucherinnen und Besuchern den Anschein erweckt, virtuelle Welt zu sein«, bezeichnet Löw in Anlehnung an Foucault ebenfalls als »heterotop, und zwar in direkter Abhängigkeit zu den Räumen des Alltags« (ebd.). Löw erkennt zwar die These an, dass Räume im Handeln konstituiert werden, doch präzisiert sie, dass »mit der Institutionalisierung räumlicher (An)Ordnungen […] bereits auch die entgegengesetzte Perspektive eingenommen worden [ist]«, weil »gesellschaftliche Institutionen [bestehen bleiben], selbst wenn gesellschaftliche Teilgruppen sie nicht reproduzieren« (ebd., S. 166.). Löw will dabei auf die bestehende Wechselwirkung zwischen der Konstitution von Raum im Handeln und den gesellschaftlichen Strukturen hinweisen (vgl. ebd.). 31 Löw: Raumsoziologie, S. 162. 32 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 261. 33 Dieser Konflikt verdeutlicht, dass die Erkenntnis über den grundlegenden Konflikt zwischen Szene und Text nicht erst mit der postmodernen Theatertradition explizit wurde, wie Lehmanns Ausführungen nahelegen, sondern bereits in früheren Epochen virulent war. 34 Natalia Ginzburg: Anton Čechov: ein Leben, Berlin 1990, S. 73. 35 Vgl. Theresia Birkenhauer: Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur: Maeterlinck, Čechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2005, S. 29. 36 Sämtliche Zitate aus Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 262. 37 Birkenhauer: Schauplatz der Sprache, S. 34. 38 Ebd., S. 35. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Der Theaterwissenschaftler und Dramaturg Bernd Stegemann klassifiziert das Schauspielen in drei Formen: das realistische (das sich auf eine dramatische Situation bezieht), das epische (wenn der Spieler aus seiner Figur heraustritt und ein Verhältnis zu dieser Figur und zu den Zuschauern etabliert) und das performative Schauspielen (in welchem lediglich die Situation zwischen Performern und ins Spiel involvierten Zuschauern im Zentrum steht). Vgl. Bernd Stegemann: »Drei Formen des Schauspielens«, in: Anton Rey, Hajo Kurzenberger, Stephan Müller (Hg.): Wirkungsmaschine Schauspieler. Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 102–109. 42 Hermann Beil, der Dramaturg der Inszenierung Endstation Sehnsucht, bestätigte im Interview mit Günter Erbe, dass »Brechts Forderung an die Schauspieler und Zuschauer nach wie vor gültig [ist]. […] Es gibt den mitdenkenden Schauspieler und es gibt den mitdenkenden Zuschauer.« (Vgl. in: Hermann Beil, Günter Erbe: »Brecht spielen. Hermann Beil im Gespräch mit Günter Erbe«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23–24/2006, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 6. Juni 2006, S. 3–6, S. 4.) Auch die seit 2005 am BE laufende Peymann-Inszenierung Mutter Courage und ihre Kinder hält Beil für einen guten Beweis der Tragfähigkeit Brecht’sche Dramen: »Der Regisseur Claus Peymann inszenierte nicht gegen das Stück […], sondern er inszenierte mit der Energie und mit der Phantasie des Stücks. Ich halte ›Mutter Courage‹ für ein Menschheitsdrama wie ›Antigone‹ oder ›Nathan der Weise‹.« (Vgl. ebd., S. 5.)

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

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Auf die Anzahl der Textfassungen – der modifizierten Rollentexte – möchte ich besonders abheben. Im Vergleich zu Endstation Sehnsucht, dessen Rollentext bereits vor Beginn der Probenzeit existierte und auch im Probenverlauf kaum geändert wurde, sind aus den Proben zur Gotscheff-Inszenierung am Deutschen Theater neun Textfassungen hervorgegangen. Dieser Unterschied ist für die unten folgende Analyse grundlegend. 44 Meine Probennotizen vom 20.1.2011. 45 Da in den Probenprozessen nur die Mitwirkenden als Zuschauer fungierten, möchte ich an dieser Stelle die Reaktion des Publikums während der Premiere zu dieser »Radioansage« nicht vorenthalten: Nach der Ansprache bzw. dem Jazz-Spiel haben die Zuschauer applaudiert – als wären sie tatsächlich als die erwachenden Radiohörer von New Orleans angesprochen worden – und somit ihr erstes »bemerkbares« Zeichen der Feedback-Schleife gegeben. (Unter einer Feedback-Schleife wird in der Theaterwissenschaft der permanente und selbstbezügliche Austausch von Wahrnehmungen, Reaktionen, Impulsen etc. zwischen den auf der Bühne agierenden Schauspielern und den sie wahrnehmenden Zuschauern verstanden. Die Feedback-Schleife zeichnet sich durch einen nicht vollständig planbaren und vorhersehbaren Ablauf aus, von dem seinerseits jede Aufführung gesteuert wird. Vgl. dazu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 58ff.) 46 Stegemann, »Drei Formen des Schauspielens«, S. 105. 47 Krankenzimmer Nr. 6 ist kein Theaterstück mit einem vorgegebenen Rollentext, wie es Der Kirschgarten oder Die Möwe sind. Es handelt sich hier um eine – im kompositorischen Sinn – nichtdramatische Erzählung. Die deutsche Übertragung des Textes stammt vom berühmten Čechov-Übersetzer Peter Urban. 48 Ivan Panteleev führt seit Jahren ein Heft, in dem Zitate aus fast allen Werken Čechov in alphabetischer Reihenfolge festgehalten sind. 49 Gunnar Decker: »Arien, Stille, Atem. Der Autor und Regisseur Ivan Panteleev im Gespräch mit Gunnar Decker«, in: Theater der Zeit, Heft 4, April 2010, S. 56. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Koch: »Einen wunderschönen guten Morgen. Was wollen Sie von mir? Wo ist da die Logik?« (Textfassung vom 22.1.2010, S. 3.) 55 Meine Probennotizen vom 28.1.2010. 56 Die besagte Collage aus Čechov-Werken enthielt Texte aus den Stücken Die Möwe, Der Kirschgarten, den Erzählungen Krankenzimmer Nr.6 und Veročka sowie dem Reisebericht Die Insel Sachalin. 57 Bemerkenswert ist diesbezüglich, was Ivan Panteleev in seinem Interview mit Theater der Zeit über das Verhältnis zwischen Text und Bühne sagte: »Also wichtig war, wie man den Text behandelt und was er mit dem Schauspieler macht, wo man einen Schnitt macht und wie tief. Zum Beispiel die Texte aus Sachalin. Es ist eine komplett andere Sprache, auf die Tschechow dort zurückgreift.« (zit. nach Decker: »Arien, Stille, Atem«, S. 56.) 58 Endfassung vom 23.2.2010, S. 4. 59 Stegemann hebt hervor, dass »[e]ine dramatische Situation sich nicht dadurch aus[zeichnet], dass es sich um besonders ›dramatische‹ Probleme handelt. Das Wesen der dramatischen Situation besteht in einer dialektischen Verbindung der an ihr Beteiligten: Sie sind innerhalb der Situation aneinander gebunden und zugleich durch einen Konflikt voneinander getrennt. Die Dialektik der Situation besteht darin, dass die Bindung wächst, je größer der Konflikt ist, und die Bindung den Konflikt überhaupt erst provoziert. Durch die Situationen werden die an ihnen Beteiligten zwangsläufig in einen Prozess von Agieren und Reagieren verwickelt, in dem ihre Motive, Eigenarten und Gefühle schrittweise präsent werden.« (Vgl. Stegemann, »Drei Formen des Schauspielens«, S. 104.) 60 Stegemann: »Drei Formen des Schauspielens«, S. 105. 61 Vgl. ebd., S.103. 62 de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 355. 63 Ebd., S. 356f. [Hervorhebungen im Original.]

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Endnoten

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Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 327. Ebd., S. 329. Ebd., S. 327. Der Anfang der Aufführung vermag heute zeitlich nicht mehr markiert zu sein: Die Zuschauer kommen von der Straße ins Theater, betreten mit ihren Alltagsgedanken und -gesprächen den Zuschauerraum; die Akteure mögen schon auf die Bühne getreten sein und teilen hiermit mit den eintretenden Gästen ein gemeinsames Zeitkontinuum. Das Bühnenagieren selbst kann auf den direkten spontanen Kontakt mit dem Publikum angewiesen sein, und so weiß man nie, wann genau die Aufführung ihre Mitte respektive ihr Ende erreichen wird bzw. erreicht hat. Das Konzept der geteilten Zeit wirft mithin ein Licht auf den Umstand, dass der schließende Rahmen der Theaterfiktion außer Kraft gesetzt werden kann bzw. wird (vgl. ebd.). 67 Der Begriff Zeitdehnung ist mehrdeutig. Ich beziehe ihn zum einen auf den Einsatz von medialen, aber auch schauspielerischen Techniken. Zum anderen zielt eine Zeitdehnung auf die Sinnes- und Wahrnehmungswirkung sowohl der Schauspieler als auch der Beobachter ab. 68 Auch die Verfilmungen dieser Szene in A Streetcar Named Desire (Regie: Elia Kazan, 1951) und A Streetcar Named Desire (Regie: Glenn Jordan, 1995) zeugen davon, dass der Effekt der Zeitdehnung von Grund auf intendiert wurde. 69 Meine Probennotizen vom 21.1.2011. 70 Ebd. 71 BE-Textfassung, Endstation Sehnsucht, S. 60. 72 Ebd., S. 61. 73 Meine Probennotizen vom 21.1.2011. 74 Meine Probennotizen vom 24.1.2011. 75 Meine Probennotizen vom 23.2.2011. 76 Meine Probennotizen vom 15.1.2010. 77 Die erste Textfassung (7.1.2010) enthielt die deutsche Übersetzung des Originals von Peter Urban. Die zweite Fassung (13.1.2010) war schon ein Rollentext, dem das »Čechov-Abc« hinzugefügt wurde. 78 Meine Probennotizen vom 13.1.2010. 79 Meine Probennotizen vom 14.1.2010. 80 Meine Probennotizen vom 18.1.2010. (Diesen Satz habe ich beim Vorlesen aus einer Zeitung aufgeschrieben. Die Angaben zum Namen der Zeitung und zum Titel des Artikels stehen mir leider nicht zur Verfügung.) 81 Meine Probennotizen vom 20.1.2010. 82 Textfassung vom 13.1.2010, S. 19f. 83 Meine Probennotizen vom 18.1.2010. 84 Vgl. in: Mavro Orbini: Regno de gli Slavi, Pesaro 1601, Nachdr. [d. Ausg.] München 1985; Michail Vasiljevič Lomonosov: Drevn’aja Rossijskaja istorija ot nachala rossijskogo naroda do končiny velikogo kn’az’a Jaroslava Pervogo ili do 1054 goda, Teil 1, Moskva 1766, Nachdr. Gesammelte Werke, Bd. 6, Moskva 1952; Vasilij Nikitič Tatiščev: Istorija Rossijskaja s samych drewnejšich wremen, Teil 1, Moskva 1768, Nachdr. Moskva 2003; Jegor Ivanovič Classen: Drevnejšaja istorija slav’an i slav’ano-russov do r’ur’ikovskogo vremeni, Moskva 1854, Nachdr. Moskva 2005; Boris Aleksandrovič Rybakov: Drevn’aja Rus’. Skazanija. Byliny. Letopisi, Moskva 1963, ders.: Jazyčestvo drevnej Rusi, Moskva 1987; Valerij Alekseevič Čudinov: Zagadki slav’anskoj pis’mennosti. Gipoteza o suščestvovanii drevnego »pisʹma IKS«, Moskva 2012. 85 Siehe Abbildung 2. Genau auf diese Schrift stützte sich auch Lew Tolstoi in seiner pädagogischen Lehre bzw. in der Schulschrift Novaja Asbuka (»Neue Asbuka«), die er im Unterricht in der von ihm gegründeten Schule für Bauernkinder auf seinem Landgut Jassnaja Poljana verwendete. Vgl. in: Lev Tolstoj: Novaja Asbuka Grafa L. N. Tolstago, Moskva 1875. 86 Z. B. erste Zeile waagerecht: As Boga Wedajet Glagol’a Dobro, čto Est’ Žizn’ [Der Mensch kennt den Gott, spricht das Gute, was das Leben selbst ist]. ­Diagonal von oben links nach unten rechts: As Ves’ma Mudr Ustoi Tvor’a Rodovye vo ­Vremeni [Der Mensch ist sehr weise und schafft dadurch Grundsätze für weitere Generationen]. 87 Zit. nach Decker, »Arien, Stille, Atem«, S. 56. 88 Meine Probennotizen vom 2.2.2010.

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2  Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse

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Ein ähnliches Kinderspiel gibt es auch in Russland. Dort trägt es einen Titel, der von der russischen Redewendung »Tiše edeš‘ – dal’še budeš‘.« (dt.: »Immer langsam voran.«) abgeleitet ist. Wie dieses Spiel im Deutschen genannt wird, konnte mir in den Proben jedoch niemand sagen. 90 Meine Probennotizen vom 7.1.2010. 91 Klaus-Peter Köpping, Ursula Rao: Einleitung »Die ›performative Wende‹: Leben – Ritual – Theater«, in: dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und ­Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster/Hamburg/ London 2000, S. 1–31, S. 11. 92 Bettina Schültke, Peter Staatsmann: Das Schweigen des Theaters – der Regisseur Dimiter Gotscheff, Berlin 2008, S. 80. 93 Fischer-Lichte: Performativität, S. 113. 94 Vgl. dazu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen sowie dies.: Performativität. 95 Köpping/Rao: »Die ›performative Wende‹«, S. 10. 96 Klaus-Peter Köpping, Ursula Rao: »Zwischenräume«, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): Ritualität und Grenze, Tübingen/Basel 2003, S. 235–250, S. 237. 97 Über den besonderen Stellenwert der Improvisation im Probenprozess vgl. Kapitel 4. 98 Köpping/Rao: »Zwischenräume«, S. 237. 99 Obwohl die persönliche Einstellung meist auf Kommunikation zwischen allen Beteiligten angewiesen ist, gehört das Vermögen des Schauspielers, sich schnell auf das kollektive Gefühl dieses geschlossenen Gruppenprozesses einzustellen, zu seinen wichtigsten professionellen Fähigkeiten. 100 Köpping/Rao: »Zwischenräume«, S. 237f. 101 Diese Handlungen wirkten sicherlich nicht ausschließlich auf Finzis Wahrnehmungssystem ein. Es spricht nichts dagegen, dass auch kognitive Faktoren eine Rolle für sein Verhalten gespielt haben – z. B. die in der vorherigen Probe gewonnene Erkenntnis, an der einen oder anderen Stelle des eigenen Rollentextes noch einen gewissen Nachholbedarf zu haben. 102 Köpping/Rao: »Die ›performative Wende‹«, S. 10f. 103 Victor Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969, S. 95. 104 »Van Gennep weist nach, dass Rituale vor allem als Übergangsrituale vollzogen werden. Ihre Funktion besteht darin, Individuen und gesellschaftlichen Gruppen bei Statusveränderungen, in Lebenskrisen [...] oder jahreszeitlichen Zyklen einen sicheren Übergang von einem Zustand in den anderen zu garantieren. Mit dem Übergangsritual, wie van Gennep es nennt, wird also immer eine Transformation des betreffenden Individuums oder der Gemeinschaft vollzogen.« (Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Ritualität und Grenze«, in: dies u. a. (Hg.): Ritualität und Grenze, Tübingen/Basel 2003, S. 11–30, S. 16f.) 105 Ebd., S. 17. 106 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 306. 107 Vgl. Köpping/Rao: »Zwischenräume«. 108 Ebd., S. 245. [Hervorhebungen im Original.] 109 Lawrence A. Babb: »Glancing: Visual Interaction in Hinduism«, in: Journal of Anthropological Research 37, 1981, S. 387–401, S. 388, zit. nach Köpping/Rao: »Zwischenräume«, S. 245. 110 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 310. 111 Fischer-Lichte: Performativität, S. 149. 112 Ebd. [Hervorhebungen im Original.] 113 Christoph Wulf: »Zur Performativität von Bild und Imagination«, in: ders., Jörg Zirfas (Hg.): Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 35–49, S. 35. 114 Ebd., S. 39. (Vgl. auch in: Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 12.) 115 Köpping/Rao: »Zwischenräume«, S. 238. 116 Ebd.

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3 Ästhetik der Herausforderung in ­theatralen Probenräumen: Grenzauflösung ­zwischen Kunst und Alltagspraktiken 3.1

Zur Begründung einer Ästhetik der Herausforderung

Für die Beschreibung des Probenprozesses ist der Begriff des Events bedeutsam, und zwar, wie Klaus-Peter Köpping und Ursula Rao in Anlehnung an Richard Bauman feststellen, vor allem mit Blick auf »die jedem Ereignis innewohnende Offenheit« sowie die Tatsache, »daß die Struktur eines Ereignisses nicht im Vorfeld geklärt ist, sondern erst im Diskurs selber entsteht«1. Oder um mit Bauman selbst zu sprechen: Every performance will have a unique and emergent aspect, depending on the distinctive circumstances at play within it. Events in these terms are not frozen, predetermined molds for performance but are themselves situated social accomplishments in which structures and conventions may provide precedents and guidelines for the range of alternatives possible, but the possibility of alternatives, the competencies and goals of the participants, and the emergent unfolding of the event make for variability.2 Eine Verbindung zwischen »Ereignis« (Event) und »Strukturen« ziehen auch Rao und Köpping, wenn sie in Rekurs auf Marshall Sahlins schreiben: Sahlins spricht hier von ›performativen Strukturen‹ […]. Für performative Strukturen gilt […], dass die Unvorhersehbarkeit und Veränderbarkeit der sozialen Welt in den Erwartungshorizont aufgenommen ist, so dass Ereignisse ständig zum Anlass für die Neu- und Umformulierung struktureller Vorgaben werden.3 Aus gutem Grund kann man Probenprozesse als soziale Gruppenprozesse4 bezeichnen, die eine performative Struktur aufweisen. Es ist nie vorhersehbar, wie sich die sozialen Verhältnisse im Probenverlauf entwickeln werden. Diese Unvorhersehbarkeit ist eine grundlegende Eigenschaft des Performativen,5 weshalb im Vorfeld eines Probenprozesses niemals bekannt ist, wie sich dessen performative Struktur gestalten wird. Worüber wird man in den Proben diskutieren? Was

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

wird dort geschehen? Wie werden sich die Teilnehmer zueinander verhalten? Einerseits hängt die performative Struktur des Probenprozesses von der »Handschrift« des Regisseurs ab; andererseits verändert sie sich im Lauf der Proben durch die sozialen Interaktionen ihrer einzelnen Elemente (d. h. durch das Miteinander der am Probenprozess beteiligten Personen, die mit ihrer Präsenz »Spielräume für Experimente und Innovationen«6 eröffnen). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb sich die Definition von Theater, die einst von Max Herrmann formuliert wurde, auch auf die Theaterprobe übertragen lässt. Im Herrmann’schen Sinn ist Theater »eine[.] nach eigenen Gesetzen lebende[.] Eigenkunst sozialen Charakters«7, ein »soziales Spiel, das ursprünglich ein Spiel aller für alle war«8 und, wie Theaterwissenschaftler Matthias Warstat diese These Herrmanns weiterführt, »ein soziales Spiel, in dem sich eine überpersönliche Macht manifestier[t]«9. Wenn Theater nach Herrmann ein »soziales Spiel« ist, dann lässt sich eine Theaterprobe als ein Spiel von sozialen Interaktionen begreifen, die ihrerseits miteinander »interagieren«. Soziale Interaktionen interagieren miteinander und verfügen demzufolge über eine Macht, die in der Tat überpersönlich und dazu in der Lage ist, die jeweiligen Strukturen des Probenprozesses zu konstituieren. Diese Konstituierung der performativen Struktur macht auch die Intimität der Theaterprobe aus. Auf den intimen Charakter der Probe, dieses sozialen Gruppenprozesses, weist in erster Linie die Tatsache hin, dass sie aus Interaktionen besteht, deren Ablauf, Inhalt und Form nicht außerhalb des Probenraums getragen werden dürfen. Die Ambivalenz des Problems der Grenzüberschreitung im Probenprozess trägt darüber hinaus aber auch zur Herausbildung »neuer Ästhetiken« bei. Welche Ästhetiken könnten das im Falle der Proben sein? Das zeitgenössische Theater fängt langsam und nicht ohne eine gewisse Scheu und Unsicherheit damit an, Gelegenheiten zu einem Zugang zu Arbeitsbereichen zu schaffen, die über Jahrzehnte nur einem ausgewählten Personenkreis offenstanden. Durch das Angebot von öffentlichen Gruppenführungen, die Organisation von Workshops, die Ausschreibung von Hospitantenstellen und die Gewährung von einer begrenzten Zahl von Probenbesuchen fordert das Theater die Öffentlichkeit zu unbegrenzten, zufälligen oder – im Gegenteil – absichtlichen Handlungen heraus, die zur Bildung einer neuen Ästhetik – einer Ästhetik der Herausforderung – führen, die sowohl vonseiten des Theaters als auch vonseiten der Öffentlichkeit geprägt wird. Ihren Ausgangspunkt findet diese neue Ästhetik darin, dass durch die bislang unübliche Öffnung der geschlossenen Probenprozesse

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3.1  Zur Begründung einer Ästhetik der Herausforderung

für externe Besucher und Beobachter Situationen geschaffen werden, die »sich dem Zugriff der überlieferten ästhetischen Theorien [entziehen]«10. Seinerzeit erwies es sich als unmöglich, Marina Abramovićs Performance Lips of Thomas mit den damals etablierten Theorien begrifflich zu fassen. Es waren die Theorien des Performativen, die später dazu beitrugen, Abramovićs Performance zu »verstehen«. Die Performance begrifflich zu erklären war seinerzeit in der Tat eine große Leistung der Theaterwissenschaft. Aber wie kann man die Triebkraft eines P ­robenprozesses »verstehen«? Was macht diese »Kraft« aus? Worum geht es dabei? Meines Erachtens ruht die innere Triebkraft des theatralen Probenprozesses auf der Selbstprovokation der probenden Künstler. Mit anderen Worten: Die Künstler suchen hinter verschlossenen Türen Wege, einander anzustacheln, anzukurbeln, schlicht – einander herauszufordern, um auf innovative, interessante, schöpferische Ideen zu kommen und diese dann in die Inszenierung einzubetten. So problematisiere ich für die vorliegende Studie die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Herausforderungen eines Theaterprobenprozesses. Auf welche Weise kann nun eine Herausforderung, Modus operandi des theatralen Probenprozesses, für die Auslotung des Probenprozesses problematisiert bzw. ästhetisiert werden? Welche Ästhetiken entstehen im Zusammenhang mit der Herausforderung? Die Theorie der Ästhetik des Performativen hat sich unterdessen nicht nur in Bezug auf die Analyse von Aufführungen bzw. Performances als ausgesprochen instruktiv erwiesen; sie ist ebenfalls dabei behilflich, den ästhetischen Implikationen vieler weiterer Handlungskontexte systematisch auf den Grund zu gehen. Im Fall der Theaterprobe gelangt man zu dem Schluss, dass jeder Probenprozess, von innen und von außen gesehen, auf besonderen Herausforderungen basiert: Der Regisseur wählt das Stück aus und fordert seine Schauspieler dazu auf, die entsprechenden Charaktere zu verkörpern. Die Schauspieler befinden sich von diesem Augenblick an in einem langwierigen und mühseligen Arbeitsprozess, in dem nicht nur ihre Einbildungskraft, sondern zugleich ihre Körper dazu aufgefordert werden, Aspekte ihrer Innenwelt nach außen zu tragen. Regie und Dramaturgie stehen derweil vor der Aufgabe, über die spezifische Form des endgültigen Aufführungstextes zu entscheiden. Begleitet wird all dies durch die technischen und handwerklichen Interventionen der Ton- und Lichttechniker wie auch der Bühnen- und Kostümbildner. Wie genau das Stück abzulaufen hat und der Bühnenraum zu gestalten ist, welche Beleuchtungsmöglichkeiten bestehen, welche Ideen technisch nicht umsetzbar sind – all diese Fragen fordern das gesamte Team dazu heraus, sich voll und ganz

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

auf die nur von ihnen abhängigen technischen Abläufe ein- (oder um-) zustellen.11 Auch aufseiten der externen Teammitglieder kommt es des Öfteren zu Herausforderungen, wie eine Episode während der Proben am Deutschen Theater zeigt: Als russischsprachige Regiehospitantin mit – objektiv gesehen – fundierten Čechov-Kenntnissen fühlte ich mich der Aufgabe gewachsen und manchmal sogar dazu verpflichtet, dem Regisseur so manche Hintergrundinformation mitzuteilen.12 Eine weitere, größere Herausforderung bestand darin, dass ich als externes Teammitglied – eine feldforschende Regiehospitantin – die Kamera immer bereithielt und die Schauspieler und andere Mitarbeiter verunsicherte, indem ich sie bei wichtigen technischen Arbeitsabläufen (die als liminale Handlungsvollzüge zu fassen sind) filmte. Diese Tätigkeit führte ich indes nach einer vorherigen Absprache mit dem Regisseur durch, der mir gegenüber keinerlei Filmverbote aussprach. Dennoch hielten ein Techniker und ein Mitglied des Regieteams aus unerklärlichen, nur ihnen bekannten Gründen es für »nicht gerade fair«, den Probenprozess filmen zu dürfen. Die Herausforderung bestand in dieser Situation offensichtlich darin, dass der Probenprozess von einer externen Person technisch aufgezeichnet wurde. Es war mithin der von mir verkörperte »Eingriff von Außen«, der mich zu einer Problematisierung und Überprüfung der als »geschlossen« gedachten Probenprozesse brachte. Und was wäre geschehen, wenn es keine »externen« Mitglieder in den Proben gegeben hätte (was sonst durchaus oft an Theatern passiert)? Werden die Parameter, Kriterien und Kategorien, mit denen im Probenprozess operiert wird, heute, im 21. Jahrhundert, noch zeitgemäß eingesetzt? Warum darf die Alltagssituation des geschlossenen Probenprozesses nicht aus dem Rahmen fallen bzw. sich nur auf die in diesem Gruppenprozess zulässigen Herausforderungen beschränken? Inwieweit könnten (willkürliche wie unwillkürliche) Herausforderungen vonseiten der Öffentlichkeit für professionelle Theatermacher beim Inszenieren hilfreich sein? Einerseits würden bei der Präsenz der Außenstehenden in den Proben (mit all ihren denkbaren Fragen und Bemerkungen) andere »kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen«13 eröffnet (dies war etwa in der geschilderten Episode über den Textabschnitt zum Thema Unsterblichkeit der Fall). Andererseits lässt sich auf die Ansätze Wsewolod Meyerholds rekurrieren, der während der Ausarbeitung seiner Schauspiellehre über die Biomechanik sagte: »Der Schauspieler muß sein Material – den Körper – so trainieren, daß er die von außen (vom Schauspieler bzw. vom Regisseur) aufgetragenen Aufgaben augenblicklich ausführen kann.«14 Laut Meyerhold können die Schauspieler

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3.2  Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen

ihre Kunst nur dann vervollkommnen, wenn sie ihre Körper solchen herausfordernden Bedingungen unterwerfen, wobei sich hinzufügen ließe, dass dies gerade auch dann gilt, wenn sie sich (wie im Fall der Kamera) gerade in einem liminalen Zustand befinden. Fischer-Lichte hält diesbezüglich fest: [D]er menschliche Körper [erscheint] bei Meyerhold und anderen Avantgardisten wie eine unendlich perfektionierbare Maschine, die durch klug kalkulierte Eingriffe ihres Konstrukteurs so weit optimiert werden kann, daß ihre Störanfälligkeit signifikant abnimmt und ein reibungsloser Ablauf garantiert ist. [Hier] haben wir es mit dem Phantasma einer vollkommenen Beherrschbarkeit des Körpers zu tun. Es gibt kein Leib-Sein, sondern nur ein fast allmächtiges Subjekt, das nicht durch seinen Körper bedingt und bestimmt ist, vielmehr frei über ihn wie über ein beliebig formbares Material verfügen kann.15 Im Hinblick auf die Wahrnehmung der internen wie externen Probenbeteiligten, die in die Herausforderungen des Probenprozesses involviert sind, scheint die Begründung einer Ästhetik der Herausforderung sowohl für die weitere Entwicklung schauspielerischer Methoden als auch für die Methodologie der Theaterwissenschaft Grenzen zu öffnen. Im Folgenden gilt es, näher auf die Eigenschaften einzugehen, die die von mir postulierte Ästhetik der Herausforderung auszeichnen. Dazu möchte ich mich in einem ersten Schritt auf die Echtzeit-Tendenzen des Probens konzentrieren.

3.2 Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen

Probenprozesse verlaufen in realer Zeit und konstituieren sich aus den Handlungen der an ihnen beteiligten Personen. Für die vorliegende Untersuchung ist es von Belang, dass diese Handlungen zum einen simultan ausgeführt werden. Zum anderen beziehen sie sich auf fiktive Situationen, die innerhalb des Bühnenraums entstehen. Es sind nicht nur die Schauspieler, die durch die Verkörperungen ihrer Bühnenfiguren die Situationen ins Leben rufen, die im Bereich des Imaginären eingebettet sind; vielmehr ist es das gesamte Probenteam, das auf die Entstehung dieser Situationen Einfluss nehmen kann – vom Regisseur bis zum Bühnentechniker. Im medien- und theaterwissenschaftlichen Diskurs wird das Theater oft als ein Ort charakterisiert, der durch

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

einen besonderen Medieneinsatz Perspektiven auf die Welt eröffnet und inszeniert.16 Die Welt des Theaters projiziert demnach Situationen an der Schwelle zwischen Realem und Fiktivem. Das Theater als Ort, an dem fiktive Situationen entstehen, beginnt aber nicht erst mit der Aufführung – es beginnt bereits im Probenraum. Hier werden verschiedene Techniken und Methoden ausgetestet, um eine imaginäre bzw. fiktive Situation für eine reale Zeitdauer (die für das Stück zur Verfügung stehende Probenzeit) und bis zu einem festgelegten Zeitpunkt (den Tag der Premiere) darzustellen. Diese Techniken und Methoden stehen unter dem Einfluss der vielen multimedialen Möglichkeiten, die im zeitgenössischen Theater in großem Ausmaß zum Einsatz kommen. Dass theatrale Techniken und Verfahren in einem reziproken Verhältnis mit den im Theater verwendeten Medien stehen, ist auf dessen hypermediale Grundstruktur zurückzuführen.17 Dieses reziproke Verhältnis lässt sich mit Doris Kolesch als intermedial18 verstehen. Die Virulenz einer »Übergängigkeit und Interaktion zwischen Medien und Kunstformen«19, wie Kolesch sie für das Phänomen der Intermedialität voraussetzt, ist auch für Chiel Kattenbelt prägend, für den der Begriff der Intermedialität stets mit einem »Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung (Interaktion)«20 einhergeht. U. a. grenzt er den Begriff der Multimedialität (»ein Nebeneinander mehrerer Medien in ein und demselben Objekt«21) von dem der Transmedialität, (»den Übergang von einem Medium zu einem anderen (Medienwechsel)«22) ab. ­Insofern diese begriffliche Differenzierung den Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen Medien und Kunstformen rückt, erweist sie sich für die nachstehenden Analysen über die intermedialen Aspekte des ­Probenprozesses als ausgesprochen hilfreich. Theatrale Probenprozesse, die auf der einen Seite von Eingeweihten häufig nicht mehr als Alltagspraktiken angesehen werden, ­produzieren auf der anderen Seite fiktive Ereignisse und bringen dabei Interaktionsformen zwischen verschiedensten Medien zum Vorschein. Die Interaktion zwischen Alltag und Kunst in Theaterproben ermöglicht es, wesentliche Facetten von Intermedialität zu veranschaulichen. Intermedialität wird »als Differenz-Form des Dazwischen« begriffen, die »auf Figurationen von Übergängen, Zwischenräumen und ­Grenzen [abhebt]«23. Als Probenbeobachterin konnte ich in etlichen Probensituationen Grenzverschiebungen zwischen Realem und Fiktivem ­wahrnehmen. An dieser Stelle scheint die Tatsache von Belang zu sein, dass das Probenmaterial aus dem dritten Probenprozess, auf das ich im Folgenden zurückgreifen werde, deutlich später als der endgültige

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3.2  Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen

Arbeitsplan dieser Dissertation entstanden ist: Während meines dritten Probenbesuchs war nämlich bereits der Punkt Echtzeit-Tendenzen in Probenprozessen für die Arbeit eingeplant. (Diese Tatsache bekräftigt meine These, dass in der theatralen Welt – zumindest was die deutsche Bühnenlandschaft anbelangt – immer weitere Schritte in Richtung einer Grenzverwischung zwischen den »rein« künstlerischen und »rein« alltäglichen Situationen gemacht werden.) Meine deduktiven Überlegungen angesichts des Einsatzes von Echtzeit-Tendenzen in den Probenprozessen wurden unmittelbar während dieses dritten Probenbesuchs bestätigt. Das bedeutet, dass ich in den dritten Probenprozess mit der festen Überzeugung ging, dort zahlreiche intermediale Eingriffe erleben zu dürfen, die ihrerseits auch die Grundlage für die Echtzeit-Einsätze bilden. Nicht ohne eine gewisse Freude, die ein Feldforscher bei ähnlichen erfolgreichen Prognosen nur empfinden kann, stellte ich fest, dass sich diese deduktive Herangehensweise (vom Arbeitsplan zum Probenprozess) an das Forschungsproblem für meine Studie als wertvoller erwies, als wenn ich vom Probenprozess zum Arbeitsplan des Dissertationsvorhabens ausgegangen wäre. Auf der Suche nach einem dritten Probenprozess, den es für die vorliegende Studie zu besuchen galt, ging ich nicht vom Repertoire des Theaters, sondern vom Arbeitsstil des Regisseurs aus. Darüber hinaus war es mir wichtig, die Arbeit eines Regisseurs beobachten zu können, der einer jüngeren Generation als Langhoff und Gotscheff angehört und dennoch für das heutige deutsche Theater prägend ist. (Mit diesem Fokus bezweckte ich u. a. einen Überblick über die Tendenzen, die im deutschen Regietheater der vergangenen fünf Jahre unter verschiedenen Regiegenerationen vorherrschen.) Dank eines glücklichen Zufalls gelangte ich in die Proben eines Regisseurs, der seit über einem Jahrzehnt nicht nur die deutsche Theatergeschichte erfolgreich weiterschreibt, sondern auch in europäischen Maßstäben die Richtlinien und Tendenzen des Theaters bestimmt. Treue zum Autortext bei der dramaturgischen Bearbeitung für die Bühne, ein expressives realistisch-symbolisches und zugleich praktisch-funktionales Bühnenkonzept sowie die Tendenz zum Videoeinsatz (sowohl zur »Einspielung von vorproduzierten Filmen« als auch zur »Live-Produktion von Bildern«24) – das sind die typischsten Kriterien, durch die sich die Theaterproduktionen des Regisseurs Thomas Ostermeier auszeichnen. Das waren auch die Kriterien, nach denen ich mich richtete, um die Probenarbeit dieses Regisseurs für meine empirische Studie auszuwählen. Was das Kriterium Text (literarische Vorlage) anbelangt, so war meine Verwunderung (aus nachvollziehbaren Gründen) zunächst

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

­ usgesprochen groß, als mich der Regieassistent in einem Vorgespräch a davon in Kenntnis setzte, dass die Hauptfiguren der zu inszenierenden Erzählung aus Thomas Manns Der Tod in Venedig keinen Text sprechen würden, sondern nur der Erzähler eine »Textrolle« bekommen und die Handlung hauptsächlich choreographisch und live-musikalisch wiedergegeben werden sollte. Erst die Proben selbst haben offenbart, dass der vom Erzähler vorgelesene Text, die vom Haupthelden Gustav von Aschenbach gesungenen Kindertotenlieder Gustav Mahlers, das live gespielte Klavier sowie zahlreiche Live-Video-Einschübe dazu dienten, das innere Drama des alternden Schriftstellers Gustav von Aschenbach zu illustrieren. Was die »Echtzeit des gefilmten Geschehens«25 auf dem Bildschirm betrifft, der auf der Bühne positioniert wurde, so gilt es sich vor Augen zu führen, dass es für Ostermeier vollkommen »­natürlich«26 ist, Videosequenzen und andere Medien in seine Inszenierungen einzubauen. Dies war auch in den Proben zu Der Tod in Venedig der Fall. Dort spielte der große Bildschirm mit dem live übertragenen Gesichtsausdruck der Figuren die Rolle eines Vermittlers zwischen der inneren Welt Aschenbachs und der »Wahrnehmung des verdoppelten Geschehens«27 der Zuschauer. Und da das Live-Filmen ein gewöhnlicher Bestandteil der damaligen Proben war, entstanden an manchen Probentagen Situationen, in denen das Filmen – neben der Kommunikation der Darsteller und sonstigen üblichen Handlungen (wie z. B. dem Kellner-Training, choreographischen Aufwärmübungen, Kleiderwechsel usw.) – den Probenverlauf und an manchen Stellen sogar das ­Bühnengeschehen prägte. Mein Augenmerk liegt im Folgenden folglich auf den Interaktionen zwischen den in der Produktion verwendeten Medien sowie den Alltagssituationen und theatralisierten Fiktionen. Am siebten von insgesamt 18 Probentagen (nachdem die ca. anderthalbstündige choreographische Probe beendet wurde und sämtliche Schauspieler zur Probe erschienen) kündigte der Regisseur vor dem Probenbeginn an, dass er an diesem Tag die Anfangsszene einstudieren möchte. Er bat die Schauspieler, den Pianisten, den Choreographen und den Kameramann auf die Bühne und instruierte sie, die Vorbereitung auf den Auftritt der Schauspieler in der ersten Szene zu präsentieren. Kay Bartholomäus Schulze (der Erzähler) sprach einige selbst ausgewählte Textstellen aus dem Thomas-Mann-Buch ins Mikrophon; Felix Römer (der Kellner) bewegte sich, als ob er eine Mahlzeit an den Tisch servierte; Josef Bierbichler (Gustav von Aschenbach) sang das Mahler-Lied Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n, während Timo Kreuser (Pianist) den Sänger am Flügel begleitete; Maximilian

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3.2  Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen

Ostermann (Tadzio) saß im grünen Polstersessel und spielte auf seinem iPhone; der Choreograph Mikel Aristegui übte mit den Tänzerinnen Marcela Giesche, Martina Borroni und Rosabel Huguet (Tadzios Schwestern) choreographische Szenen ein; Sabine Hollweck (Gouvernante) wechselte mithilfe der Garderobiere ins Gouvernantenkleid; der Kameramann (Guillaume Cailleau) ging von einem Schauspieler zum anderen, um deren Aktionen in Großaufnahme zu filmen. Nach einer Regieanweisung verließen alle Akteure ihre Positionen nach dem Ende der zweiten von Aschenbach gesungenen Strophe und der Umbau begann: Man rollte drei große venezianische Fenster auf die Bühne und richtete die restlichen Bühnenelemente (Esstische, Stühle und eine rollbare Treppe) ein. Beim ersten Probenversuch der Anfangsszene gab es nur zwei Regieanweisungen: Josef Bierbichler sollte sein Sakko auf der Bühne wechseln und Mikel Aristegui ihm dabei behilflich sein. Es gab im Anschluss noch drei Probenversuche dieser Szene. Vor dem letzten Versuch sagte der Regisseur: »Wir inszenieren einen zusammenwachsenden Raum«,28 womit er den gerade erwähnten großen Umbau der Bühnenbilder meinte bzw. den Übergang zur nächsten Szene intendierte. Als alle Bühnenelemente auf der Bühne waren, der Pianist die letzten Akkorde spielte und der Raum währenddessen »zusammenwuchs«, markierte das den Übergang zur nächsten Szene, die bereits eine theatralisierte Situation aus dem Leben Aschenbachs darstellte und so auf einer anderen – fiktiven – Ebene gespielt wurde. So ungezwungen, leicht und elegant entstand der Anfang der gesamten Inszenierung. Ursprünglich nur als ein vom Regisseur vorgeschlagener Szenenentwurf wahrgenommen, erwiesen sich die (zugleich auch live gefilmten) Alltagshandlungen der Darsteller später als gut geeignete Übergänge zur theatralen Fiktion. Die Wahrnehmungsperspektiven eröffneten Folgendes: Der Regisseur schien zunächst selbst nur auszuprobieren, ob seine Idee der inszenierten alltäglichen Probensituation unmittelbar im Bühnenraum gut aussehen würde und ob sie in die Inszenierung zu integrieren ist. Da dem ersten Probenversuch der Anfangsszene sofort der zweite, dritte und vierte folgten, war daraus ersichtlich, dass Ostermeier darüber eher positiv entschieden hatte, was sich auch bestätigte, als die Premiere stattfand und eben diese Einführungsszene Bestandteil davon war.29 Die Darstellerperspektive offenbart, dass die Schauspieler von Anfang an dieser Idee des Regisseurs Folge leisteten und entsprechend ihre üblichen Handlungen ausübten, ohne bei Ostermeier nachzufragen, warum sie all dies tun sollten. Da die ganze Inszenierung sogar auf der Webseite der Schaubühne als eine »Versuchsanordnung«30 bezeichnet wird, liegt es

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

offenbar am Format der Inszenierung, warum die Spieler keine Fragen stellten, um den Alltagshandlungen, die extra für diese Szene theatralisiert wurden, auf den Grund zu gehen. Von der Beobachterperspektive aus sah das Aufkeimen der Einführungsszene31 als ein Versuch des Regisseurs aus, neue Impulse in die Inszenierung einzubringen. Mir war dabei nicht klar, ob diese Neuerung fest ins Stück integriert werden sollte oder ob die Szene nur als ein Probiermoment wahrzunehmen war, das nicht unbedingt in die Inszenierung übernommen würde. Aber mit jedem neuen Probenversuch des Anfangs gelangte ich zu der Überzeugung, dass die Szene die Züge ihrer ursprünglichen ­Fassung (vielleicht mit einigen kleinen Änderungen) bis zum Ende beibehalten würde. Was aber die Integrierung der sogenannten Unterbrechungsszene ins Bühnengeschehen anbetrifft, so deutete bereits von Anfang an alles darauf hin, dass diese bis zur Premiere aufrechterhalten würde. Am neunten Probentag (dem vorletzten Probentag in Berlin), nachdem viele Szenen intensiv geprobt wurden, legte der Regisseur eine zehnminütige Pause ein und sagte dabei, er hätte noch eine Idee.32 Nach der Pause machte er folgende Ansage: »Wir brauchen solch einen Moment, wenn alle so stehen wie jetzt, wenn alles anhält, und zwar in dem Moment, wenn das Spiel um die Tasche33 vorgeht. (An Kay ­Bartholomäus Schulze) Du sagst ›Stopp‹, setzt dich an den Tisch. Und diejenigen, die nicht auf der Bühne sind, müssen auftreten – du, Mikel [Aristegui], zum Beispiel. Und dann gehen wir noch einmal zurück vor den Auftritt von Tadzio. (An Kay Bartholomäus Schulze) Sag: ›Komm, wir gehen noch einmal mit Tadzio.‹«34 Im Anschluss an diese Ansage begann man eine neue Sequenz zu proben. Als Tadzio von den Schwestern entdeckt wurde, trat Kay Bartholomäus Schulze mit dem ­Thomas-Mann-Buch in der Hand auf und sagte: Halt! Wir machen eine Pause, ich lese euch etwas aus dem Text, was wir nicht genommen haben: »Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl, nur die Schönheit ist göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum Geiste […]. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.«35 Jetzt können wir mit »Tadzio« weitermachen.36 Dann sollte die Wiederholung der unterbrochenen Vorszene folgen. Aber wegen zwei aufeinanderfolgender Vorfälle – zuerst stürzte Sabine

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3.2  Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen

Hollweck (Gouvernante) beim Abgang; einige Minuten später stolperte auch Rosabel Huguet (Tadzios Schwester) – musste die Probe beendet werden. Am folgenden Tag (dem letzten Probentag in Berlin) wurde zur »Unterbrechungsszene« noch ein Moment hinzugefügt. Als Kay Bartholomäus Schulze den Text vorzulesen begann, setzten sich alle Schauspieler im Halbkreis um ihn herum und hörten ihm zu. Nachdem er mit dem Vorlesen fertig war, holte Felix Römer, für alle unerwartet, eine Zeitung hervor, die er von zu Hause mitgebracht hatte, faltete sie auf und sagte: »Aber ich habe auch was für dich gefunden. Thomas Mann schreibt an seinen Bruder Heinrich 1914: ›››Der Tod in Venedig‹ war halb gebildet und falsch‹«.37 Römers Aktion war nicht geplant, weshalb zunächst eine Gesprächspause eintrat, die Josef Bierbichler mit den Worten »Na dann spielen wir mal weiter« unterbrach, was für allgemeines Gelächter sorgte. Im Laufe weiterer Proben, die schon in Rennes fortgesetzt wurden, zielte Thomas Ostermeier darauf ab, dass das durch Römer erzeugte Unterbrechungsmoment möglichst wahrhaftig blieb und auf die Zuschauer so einwirkte, als handelte es sich wirklich um einen ungeplanten Abbruch der Inszenierung. Dafür gab er manchen Darstellern die Anweisung, möglichst peinlich und verblüfft in den Zuschauerraum zu sehen und sich nicht zu bequem in den Halbkreis zu setzen. Das Saallicht sollte währenddessen eingeschaltet werden. Die Kameramänner filmten einige Darsteller, live aufgenommene Bilder wurden auf dem großen Bildschirm gezeigt. Am ersten Probentag in Rennes kam es zu einer spontanen Besprechung dieser Sequenz, weil die Darsteller die Wirkung und den Stellenwert dieser Abbruchsszene untereinander klären wollten. Beim ersten Probenversuch, nachdem Kay Bartholomäus Schulze den gesamten Textausschnitt vorgelesen hatte, sagte der Regisseur, es sei extrem wichtig, was Schulze gerade lese. Dessen Auftritt sei nicht wie ein »Jetzt kommt doch mal her« zu verstehen, sondern er müsse »so« gestaltet werden,38 woraufhin Ostermeier auf die Bühne eilte und die Weise demonstrierte, wie Schulze mit einem besorgten Gesichtsausdruck auftreten und im Zuschauer den Eindruck eines ungeplanten Ausgangs dieser Szene erwecken sollte. Nach dem zweiten Probenversuch, als Felix Römer aus dem Zeitungsartikel über Thomas Mann vorgelesen hatte, kicherten alle Beteiligten – wie geplant – wegen des Inhalts der gerade vorgelesenen Zeilen. Im Anschluss daran entstand folgende ­Diskussion: Giesche: »Und wissen wir, dass jetzt diese Unterbrechungsszene kommt? Denn ich weiß, dass sie jetzt kommt, und ich setze mich schon so hin und entspanne mich.«

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

Ostermeier: »Ja, es ist das Problem jedes Schauspielers, dass er immer alles so machen muss, als machte er das zum ersten Mal, weil der Regisseur es von ihm verlangt.« Schulze: »Und mache ich das wie ein Regisseur oder spielerisch?« Ostermeier: »Der Text an sich ist sehr spielerisch.« Giesche: »Ich würde es mehr ›confused‹ tun, als wären wir eine Gruppe von Schülern.« Ostermeier: »Ihr habt am Anfang eine Szene, wenn ihr euch zusammen trefft. Der eine macht das, der andere – das. Und nach acht Minuten szenischer Narration kommt plötzlich einer von euch, der einen seltsamen Text vorliest, dem ihr in dieser Situation zuhört. Das ist die Situation. Den Text habt ihr gestrichen, aber er ist wichtig und deswegen wird er vorgelesen. (An Felix Römer) Diese Szene ist ein gemeinsamer Versuch, dieser Gruppe von Leuten ein Verständnis davon zu geben, was hier vorgeht.« Porras: »Klären wir das für uns oder für die Zuschauer?« Römer: »Es ist wie eine Leseprobe.« Ostermeier: »Genau.« Römer: »Der Punkt, wenn wir alle zusammenkommen, um etwas abzuklären, was wir während des szenischen Probens nicht abklären konnten.« Porras: »Die Szene ist also wie eine Vorstellung oder wie eine Probensituation.« Ostermeier: »Nein, wir versuchen etwas gemeinsam zu verstehen. […] Es geht nicht darum, dass jeder von euch etwas dazu beiträgt (ihr tragt ja sowieso dazu durch euer Auftreten, eure Präsenz bei). Es geht darum, zusammenzukommen, um über eine Situation zu entscheiden.« […] Porras: »Soll es eine Begründung dafür geben, warum Felix seinen Text vorliest?« Ostermeier: »Es ist wie ein Mosaikboden: Da habe ich das (­Ostermeier nimmt etwas aus seiner Hosentasche heraus), dann das. […] Einerseits – die Begierde für einen 14-jährigen Jungen und als Alternative bietet er Schönheit und Form, das Platonische, an.«39 Aus der Diskussion wird ersichtlich, dass die »Unterbrechungsszene« ein Versuch war, eine fiktive, gespielte Situation aus dem Zusammenhang zu reißen und ihr mehr Echtzeit zu verleihen, damit die Jetzt-­ Situation mit der Als-ob-Situation kontrastiert werden kann und der

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3.2  Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen

Autortext sowohl unter den Spielenden als auch zwischen Darstellern und Zuschauern eine stärkere Verbindung herstellt. Während des Probens der »Unterbrechungsszene« wurden die darin vorkommenden intermedialen Verhältnisse von diversen Faktoren geprägt: einerseits von den alltäglichen Interaktionen der Schauspieler und anderen Mitwirkenden, dem Einsatz der Medien, andererseits von den Wahrnehmungsperspektiven der Darsteller und Beobachter sowie dem immerzu forschenden Blick des Regisseurs. Es waren die Interaktionen zwischen den probenden Künstlern – und nicht etwa nur die einzelnen Künstlerindividuen –, die miteinander interagierten; sie waren es, die die Szene ausmachten, die den Zuschauer (ebenso wie den Schauspieler) aus dem fiktiven Raum des Theaters rissen und – für die Dauer dieser Szene – in eine reale Wirklichkeit, sprich: den Zuschauersaal der Schaubühne, versetzten. Im Zuschauer sollte der Eindruck erweckt werden, als säße er in einer Probe, als wäre der Probenprozess noch nicht beendet. Er sollte für bare Münze nehmen, dass gerade in dem Moment, in dem um Licht im Zuschauerraum gebeten wird – also in der echten Zeit – etwas passiert, das vielleicht die gesamte Aufführung in eine Richtung lenken könnte, durch die die fertige Produktion an diesem Abend nicht in der gedachten Fassung gespielt wird. Dieser Echtzeit-Ansatz, den man in den Proben entdeckte, markiert nicht nur die Grenzüberschreitung zwischen dem Fiktiven und Realen bzw. dem Alltäglichen und Künstlerischen; er hebt ebenfalls auf die Wahrnehmung der Grenzüberschreitung ab, d. h. auf die Beobachtung, dass eine Probensituation in eine Bühnenfassung übertragen wurde. Man wollte den Zuschauer herausfordern, ihn gewissermaßen an die Schwelle zwischen Probe und fertiger Vorstellung setzen. Genau dieses Ziel wurde verfolgt, als die live gefilmte Einführungsszene erdacht wurde. Der Zuschauer sollte sich stets in Unruhe befinden und mit Fragen wie diesen beschäftigen: Warum ziehen sich die Schauspieler auf der Bühne und nicht in der Garderobe um? Handelt es sich hier um eine fertige Produktion oder soll durch diese Maßnahme gezeigt werden, dass die Proben noch nicht beendet sind? Warum werden gerade diese Choreographien geprobt? Warum unterbricht der umhergehende Kameramann die (vermeintlich?) Probenden und sich Umziehenden, indem er sie in Großaufnahme auf dem Bildschirm zeigt? Auch diese Wechselwirkung von medialen und künstlerischen Strategien, die im vorangegangenen Text als »Interaktion zwischen Medien und Kunstformen« bezeichnet wurde, ist eine Ausprägung der theatralen Herausforderung, die auf die Probenzeit zurückgeht, letztlich aber auf einen Wahrnehmungswechsel abzielt, der erst in der Zukunft – im

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

vollen Zuschauerraum – stattfindet. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Herausforderung, die aus einer theatralen Probensituation hervorgeht, als eine ästhetische Kategorie begreifen. Im Folgenden gilt es, weitere Merkmale der ästhetischen Kategorie der Herausforderung zu erhellen.

3.3 Zur performativen Kunst des theatralen Probens als ­Ausprägung einer Ästhetik der Herausforderung

Die im vorangegangenen Text skizzierten Entstehungsmerkmale einer Ästhetik der Herausforderung lassen sich mit einem »radikale[n] Performanzkonzept«40 in Verbindung setzen. Die »Radikalität« eines solchen Konzepts besteht im Vergleich zu einem »schwachen« bzw. »starken« Performanzkonzept41 darin, dass mit diesem die Grenzen von dichotomischen Theorien und Systemen aufgewiesen werden können: Die mit dem Performativen verknüpfte Seite eines jeden Systems setzt Dynamiken in Gang, die das dichotomische Schema als Ganzes destabilisieren.42 »In den Existenz- und Gelingensbedingungen jedes Systems […] ist also etwas angelegt, das mit dem System in Widerstreit liegt, die Grenzen dieses Systems überschreitet und das System selbst damit auflöst.«43 Im Fall des sozialen Gruppenprozesses »Probe im Regietheater« ist dieses Etwas, »das mit dem System in Widerstreit liegt«, zum einen die Geschlossenheit der Proben. Der Beruf des Schauspielers schließt erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten ein, über die der normale Alltagsmensch in der Regel nicht verfügt. Eine der wesentlichsten Kompetenzen eines Schauspielers besteht in der Fähigkeit, sich der Beobachtung durch »Dritte« auszusetzen, und zwar unter verschiedensten Bedingungen, darunter nicht selten solchen, die im Alltag als peinlich betrachtet werden.44 Der geschlossene Charakter der Probe (sprich: ihre Isoliertheit von der Außenwelt) verhindert indes einerseits eine Überprüfung der Spielfähigkeiten der Darsteller in Anwesenheit Dritter (also Externer); andererseits steht er der Möglichkeit entgegen, den »allmächtigen« Regisseur während des künstlerischen Prozesses herauszufordern (beispielsweise durch das Stellen von Fragen oder den Einwurf von Publikumskommentaren während des Probenvorgangs). Theaterleute sind sich dieses Sachverhalts zweifelsohne bewusst, weshalb sie auch nie ernsthaft über die Möglichkeit eines massenhaften Zutritts zu ihren Proben diskutieren. Die wenigen Einblicke, die das Regietheater (noch oder schon?) gewährt, beschränken sich auf seltenen Hospitantenstellen bzw. seltene öffentliche Proben, bei denen

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3.3  Zur performativen Kunst des theatralen Probens

die Besucher indes nur wie gewöhnliche Zuschauer einer Aufführung behandelt werden: Meistens wird ihnen ein Probendurchlauf ohne jegliche Regieanweisung präsentiert. Im Rahmen dessen könnte es allenfalls im Anschluss an den Durchlauf zu einer Diskussion über die Inszenierung kommen, nie aber währenddessen.45 So kommt es, dass die Basis für eine ästhetische Herausforderung des Regietheaters durch eine den Probenprozess mitkonstituierende Öffentlichkeit auch im 21. Jahrhundert nicht vorhanden ist.46 (Selbst Hospitanten sind in der Lage, den künstlerischen Prozess nur aufgrund ihrer zeitlich begrenzten Teamzugehörigkeit mehr oder weniger stark zu beeinflussen. Siehe z. B. das Fallbeispiel über »die Unsterblichkeit« in Gotscheffs Proben, Kapitel 3.1, Anm. 12.) Die Geschlossenheit der Proben wird hingegen oft als Voraussetzung für (nicht selten auch künstlich) forcierte Herausforderungen genutzt, die sich die Beteiligten innerhalb ihrer Gruppenprozesse und der Probenzeit erlauben. Dies betrifft z. B.: die Änderung des Autortexts; die Verwendung diverser Schauspieltechniken, um in bestimmten Szenen innovativer agieren zu können; die Provokation von Konflikten, um neue Energien spüren zu können und/oder zuzulassen; die mehrmalige Wiederholung ein und derselben Szene bzw. Sequenz zum Zweck körperlicher und geistiger Ertüchtigung der Schauspieler usw. Ein weiterer Aspekt, der durch die Orientierung an einem radikalen Konzept des Performativen in Bezug auf den Probenprozess kenntlich wird, umfasst die partizipativen Tendenzen, die sich seit einigen Jahrzehnten in vielen Künsten abzeichnen und auch die Kunst der Probe nicht unberührt lassen.47 Das Moment der partizipativen Tendenz liegt im Widerstreit mit der Geschlossenheit der Probe, denn die Probe bedarf der Partizipation, insofern sie auf eine Herausforderung angewiesen ist – und zwar nicht nur von Personen, die bereits miteinander vertraut sind. Schließlich setzt diese Herausforderung während des künstlerischen Prozesses Dynamiken in Gang, durch die vielversprechende Ergebnisse hervorgebracht werden können. Und die Probe sucht gerade solch eine Herausforderung: Aktuell tut sie dies zwar zumeist noch hinter verschlossenen Türen, doch öffnet sie sich durch Hospitantenstellen und die Ermöglichung von öffentlichen Proben und Workshops zugleich immer mehr für die Öffentlichkeit. Echtzeit-Tendenzen, wie ich sie im vorangegangenen Abschnitt am Beispiel der Anfangs- bzw. Unterbrechungsszene zu Der Tod in Venedig geschildert habe, deuten mithin auffallend stark auf den Versuch einer Annäherung an das Publikum hin: Das Umkleiden vor den Zuschauern, das Spielen mit dem iPhone, das Einüben von

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

­ anzbewegungen und dem Servieren von Essen in der Anfangsszene T war als letzte Phase der Probe vor dem Vorstellungsbeginn intendiert und so auch in die Aufführung eingebaut; die Abbruchsszene wiederum war als eine gemeinsame Leseprobe gedacht, um zusammen mit den Zuschauern über eine Situation zu entscheiden. Auch der mediale Einsatz (hauptsächlich des Live-Films) trug nicht zuletzt durch die ständige Präsenz von Kameraleuten zum Vermittlungscharakter zwischen Bühnenge­schehen und Zuschauerwahrnehmung bei: Zuschauer konnten dadurch jede kleinste mimische Änderung der Spieler sehen, als gäbe es zwischen dem Zuschauersaal und der Bühne gar keinen Abstand. Durch die spezifischen Wahrnehmungen aller Beteiligten entstand eine ästhetische Erfahrung, die immer eine Schwellenerfahrung darstellte und »die bereits selbst als eine Transformation erlebt [wurde]«48. Probenprozesse sind von Anfang an Transformationsprozesse, die auf ästhetische Erfahrungen ihrer Mitglieder abheben: Die Veränderungen auf der Probebühne ereignen sich erst nach der »affektiven […] Veränderung«49 der Involvierten. So sind es die Geschlossenheit der Proben sowie die partizipativen wie auch Echtzeit-Tendenzen, die den Kern einer dem Phänomen der Theaterprobe zugrunde liegenden Ästhetik der Herausforderung bilden. Die Erfahrung einer Herausforderung, der ständige Bedarf einer Herausforderung sowie das Hervorrufen einer Herausforderung – all dies sind die entscheidenden Triebkräfte, die eine Probe herbeiführen, modifizieren und transformieren, ihr eine Form verleihen. Die Herausforderung, »[d]ieses formschaffende und formenverändernde Potential des Vollzugs«50 einer Theaterprobe, markiert also eine Schnittstelle, an der, sich am radikalen Konzept des Performativen orientierend, »das Neue in die Welt [dieses besonderen sozialen Prozesses] kommt«51.

Zum Begriff der Ästhetik der Herausforderung

Anhand der im Kapitel 3 geschilderten Fallbeispiele bestimme ich das Konzept einer Ästhetik der Herausforderung als eine der Theaterprobe zugrunde liegende ästhetische Kategorie, die eine theatrale Probe von einer fertigen Theaterproduktion unterscheidet. Im Zentrum dieser ästhetischen Kategorie steht eine komplexe Konstellation aus rituellen und intermedialen Verhältnissen, die einen bestimmenden Einfluss auf die jeweiligen Wahrnehmungen der Probenbeteiligten ausüben sowie die Grenzauflösung zwischen dem Realen und Fiktiven beim P ­ roben determinieren. Die maßgeblichen Charakteristika

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3.3  Zur performativen Kunst des theatralen Probens

dieser ­ästhetischen Kategorie – die Geschlossenheit der Probe, ihre Ritualität und Intimität sowie die im vorherigen Kapitel diskutierten partizipativen Tendenzen und Echtzeit-Tendenzen – lassen die Ästhetik der Herausforderung vor allem deshalb als ein komplexes Phänomen erscheinen, weil sämtliche ihrer Eigenschaften die vielseitigen Wechselwirkungen zwischen diversen Wahrnehmungsprozessen als Dreh- und Angelpunkt haben. Die Wahrnehmung eines monatelangen Theaterprobenprozesses unterscheidet sich von der Wahrnehmung einer fertigen zweistündigen Aufführung, und die Antwort auf die Frage nach dem »Warum« dieses Sachverhalts liegt in der Art und Weise begründet, wie die ästhetischen Erfahrungen im Kontext der Probe bzw. Aufführung jeweils fungieren. Während in der ästhetischen Erfahrung – verstanden als Schwellenerfahrung eines Transformationsprozesses52 – einer Theaterprobe der Aspekt der Herausforderung als eine selbstreferenzielle Kategorie begriffen werden kann, richtet sich die Herausforderung einer fertigen Aufführung ausschließlich auf den Zuschauer. Die Herausforderung eines Probenprozesses ist deshalb selbstreferenziell, weil Personen, die bereits miteinander bekannt sind, hinter verschlossenen Türen daran arbeiten, sich selbst herauszufordern. Im Zentrum steht hier der Versuch, unter dem Eindruck einer fortwährenden Möglichkeit des Scheiterns auf kreative Ideen zu kommen, die sich für die weitere Arbeit an der Inszenierung u. a. in Bezug auf die späteren Zuschauer als erfolgversprechend und wirkungsvoll erweisen könnten. Die Interaktionen, die sich dabei in realer Zeit ereignen, besitzen für die Beteiligten insofern einen besonderen Stellenwert, als dass durch sie so manches szenische Geschehen künstlerisch fortgesetzt oder weiterentwickelt wird (man denke diesbezüglich erneut an das Beispiel der Einführungs- und Unterbrechungsszene in Der Tod in Venedig). Die Interaktionen zwischen den technischen Medien und den künstlerischen Formen sind dadurch geprägt, dass durch sie intermediale Verhältnisse ins Leben gerufen werden und zwar zwischen dem, was Schauspieler auf der Bühne körperlich performen, und der Art und Weise, wie sie mit technischen Medien in Kontakt treten. Die Art und Weise, wie sich dieses intermediale Verhältnis während des Probens etabliert, erweist sich ebenfalls als intim und birgt das Risiko des Scheiterns in sich, sodass es für die Beteiligten abermals hochgradig herausfordernd wird.53 Die seltenen Versuche der Regietheater, die Türen des Probenraums für die Öffentlichkeit ein Stück weit zu öffnen54, zeugen von der Suche nach ästhetischen Herausforderungen, die über die des geschlossenen Probenraums deutlich hinausreichen. Aber auch diese Herausforderungen, die ihre

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3  Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen

Ausprägungen in dem finden, was ich mit dem Konzept der partizipativen Tendenz zu fassen versucht habe, sind selbstreferenziell, insofern sie auf die Optimierungsbedingungen des Probenprozesses abzielen. Schließlich geht es hier primär darum, die möglichen Reaktionen der externen (d. h. am Erfolg der Aufführung nur indirekt interessierten) Beobachter möglichst frühzeitig zu registrieren, um auf diesem Weg noch genügend Zeit für eine Modifikation der Inszenierung bis zum festgelegten Probentermin zu gewinnen. Aus diesem Grund ist ein Probenprozess im Regietheater ein geschlossener sozialer Gruppenprozess, der zum einen von selbstreferenziellen Herausforderungen vorangetrieben wird, die die besondere Struktur des Probenvorgangs bestimmen. Zum anderen sind es die ästhetischen Erfahrungen der Beteiligten, die den theatralen Probenprozess als eine Schwelle bzw. einen Prozess der Verwandlung erlebbar werden lassen: Die Wahrnehmung eines langen Transformationsprozesses während des Probenprozesses und somit die zunehmende Gewährung einer Grenzüberschreitung, die dort häufiger als im alltäglichen Leben vorkommt, lässt den Probenprozess als ein Leben en miniature erscheinen. Der Probenprozess deckt sich insofern weitgehend mit den grundlegenden Eigenschaften einer Aufführung, über die Erika Fischer-Lichte treffend vermerkt, dass diese »sowohl als das Leben selbst als auch als sein Modell«55 begriffen werden könne.56 Ein Probenprozess, verstanden als Serie von Aufführungen57, verdient meines Erachtens mit Recht die Definition des Modellentwurfs des Lebens bzw. des Lebens en miniature: Im Gegensatz zur fertigen Inszenierung, die lediglich das wiedergibt, was zu einem früheren Zeitpunkt vollständig durchgeplant und sorgfältig vorbereitet worden ist, zeichnet sich der Probenprozess durch eine ausgeprägte Spontaneität verschiedenster Handlungsweisen aus, d. h. durch nicht planbare, unvorhersehbare (oft aber durch Herausforderungen entstandene) Ereignisse, wie sie auch im wirklichen Leben zum Vorschein kommen. Gerade deshalb ist ein theatraler Probenprozess einer Untersuchung wert: Wer nach den Bedingungen Ausschau hält, die zur Konstitution einer theatralen Aufführung beitragen, geht immer auch den Bedingungen eines Lebens en miniature58 auf den Grund. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Kontext die bereits erwähnte Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, die während des Probenprozesses durch die Spontaneität der ausgeführten Handlungen forciert wird. Diesem probenprägenden Phänomen ist das nächste Kapitel gewidmet.

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1

Klaus-Peter Köpping, Ursula Rao: »Die ›performative Wende‹: Leben – Ritual – ­Theater«, in: dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster/Hamburg/London 2000, S. 1–31, S. 2. 2 Richard Bauman: Story, Performance, and Event. Contextual Studies of Oral ­Narrative, Cambridge Studies in Oral and Literate Culture: 10, Cambridge 1986, S. 4. 3 Köpping/Rao, »Zwischenräume«, S. 238. 4 An dieser Stelle lässt sich ein Bogen zu Kapitel 4.2 spannen, in dem ich Probenprozesse als Gruppenprozesse problematisieren werde. Die US-amerikanische Soziologin Erika Summers-Effler, die bedeutende Emotionsstudien am Beispiel kleiner Gruppen durchgeführt hat, postuliert, dass eine jede Gruppe als eine Art Netzwerk oder System via Interaktionen funktioniert: »Groups are a particular type of network, and, like the self, groups are systems that are grounded in the interaction order […]« (Erika Summers-Effler: »Ritual theory«, in: Jan E. Stets, Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 135–154, S. 148.) Diese Entdeckung von Summers-Efflers ist durchaus auch auf theatrale Probenprozesse anzuwenden. Detaillierter dazu siehe Kapitel 4.2. 5 Vgl. dazu ausführlich Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, ­Bielefeld 2012, S. 75–85. 6 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 306. 7 Max Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 4. [Hervorhebung von mir, V. V.] 8 Vgl. ebd., S. 504. 9 Matthias Warstat: »Ritual«, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 274–278, S. 275. 10 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 17. 11 So kam es in den Proben für Krankenzimmer Nr. 6 zu einem Streit zwischen dem Regisseur und dem Beleuchter: Gotscheff wollte, dass in der Schlussszene das Licht ganz ausgeht, sodass es im gesamten Theaterraum stockdunkel wird. Aus technischen Gründen konnte das Licht auf der Hinterbühne hinter der automatisch schließenden Tür jedoch nicht ausgeschaltet werden, weshalb ein Lichtstreifen aus dem kleinen Türspalt auf die Bühne fiel. 12 Um ein Beispiel zu geben: Eine meiner »Interventionen« in den Regieprozess führte dazu, die deutsche Übersetzung eines Dialogs zwischen Doktor Ragin und seinem Patienten Ivan Dmitrič über die Frage nach der möglichen Unsterblichkeit des zukünftigen Menschen anhand des russischen Originaltextes zu präzisieren. In der bisherigen Regiefassung war vom »Leben nach dem Tod« die Rede, während im russischen Text die Unsterblichkeit thematisiert wurde. Die deutsche Übersetzung enthielt zwar auch das Wort »Unsterblichkeit«. Jedoch entging dem Regisseur eine von seiner Regieassistentin vorgenommene Textänderung, durch die der Begriff »Unsterblichkeit« zugunsten der Phrase »Leben nach dem Tod« ersetzt wurde. Indem ich den Regisseur auf diesen Sachverhalt aufmerksam machte, wollte ich ihn primär auf eine aus inhaltlicher Sicht ebenso inkonsequente wie tiefgreifende Änderung hinweisen. So erzählte ich ihm, dass zu Čechovs Zeiten die philosophische Lehre des Biokosmisten Nikolai Fjodorow über die menschliche Unsterblichkeit und Eroberung des Weltalls weit verbreitet war und diese Lehre viele Literaten wie Fjodor Dostojewski, Leo Tolstoi, Wladimir Solowjow, Afanassi Fet, Nikolai Strachow sowie Wissenschaftler wie Konstantin Ziolkowski beeinflusst hat. Auch Čechov rekurriert in seiner Erzählung Krankenzimmer Nr. 6 auf Dostojewski, der Fjodorows Lehre unterstützte. In dem oben genannten Dialog zwischen Doktor Ragin und Ivan Dmitrič bettet Čechov folgenden Gedanken ein: »Und die Unsterblichkeit? – Ach, hören Sie auf! – Sie glauben nicht, nun, aber ich glaube. Bei Dostoevskij oder bei Voltaire sagte jemand, dass, wenn es keinen Gott gäbe, die Menschen ihn erfinden würden. Und ich glaube zutiefst, dass, wenn es die Unsterblichkeit nicht gibt, sie früher oder später ein großer menschlicher Geist erfinden wird.« (Vgl. Anton Čechov: Krankenzimmer Nr. 6, Deutsch von Peter Urban, DT-Arbeitsfassung, Januar 2010, S. 28. Vgl. auch Anton Čechov: Krankenzimmer Nr. 6 in: Peter Urban (Hg.) Krankenzimmer Nr. 6/ Erzählung eines Unbekannten, übersetzt von Ada Knipper, Gerhard Dick, Zürich 1976, S. 39.) Gotscheff bedankte sich bei mir für diesen Hinweis und sagte, dass er einige Tage zuvor bereits selbst von

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diesem Sachverhalt gehört hätte und er diesen mit Blick auf seine Inszenierung für wichtig hielte. (Tatsächlich sprach ich einige Tage vor meinem Gespräch mit Gotscheff auch schon mit Samuel Finzi und Wolfram Koch über dieses Thema, wovon Gotscheff vermutlich wusste.) Er entschied sodann, dass auf der Bühne tatsächlich von Unsterblichkeit die Rede sein solle. 13 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 306. 14 Vsevolod E. Meyerhold: »Der Schauspieler der Zukunft und die ­Biomechanik«, in: Rosemarie Tietze (Hg.): Vsevolod Meyerhold. Theaterarbeit 1917–1930, ­München 1974, S. 72–76, S. 73. 15 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 137. 16 Vgl. Kati Röttger: »Intermedialität als Bedingung von Theater: methodische Überlegungen«, in: Henry Schoenmakers u. a. (Hg.): Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, ­Bielefeld 2008, S. 117–124, S. 122. 17 Der Medienwissenschaftler Chiel Kattenbelt bezeichnet das Theater als ein »Hypermedium«, und zwar aufgrund »der Möglichkeit des Theaters, alle Medien in sich aufzunehmen […], ohne die Spezifität der in sich aufgenommenen Medien durch seine eigene zu beeinträchtigen […]« (Chiel Kattenbelt: »Multi-, Trans- und Intermedialität: Drei unterschiedliche Perspektiven auf die Beziehungen zwischen den Medien«, in: Henry Schoenmakers u. a. (Hg.): Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008, S. 125–132, S. 127. 18 Vgl. Doris Kolesch: »Intermedialität«, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): ­Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 159–161, S. 159. Vgl. auch Irina O. Rajewsky: »Intermediality, Intertextuality, and Remediation: A Literary Perspective on Intermediality«, in: Intermédialités – Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, Nr. 6, 2005, S. 43–64, S. 44. 19 Kolesch: »Intermedialität«, S. 159. 20 Kattenbelt: »Multi-, Trans- und Intermedialität«, S. 129. 21 Ebd., S. 125. 22 Ebd., S. 125f. 23 Kolesch: »Intermedialität«, S. 161. 24 Thomas Oberender: »Mehr Jetzt auf der Bühne. Sehen heißt entscheiden: über verschiedene Video-Wirkungen auf der Bühne, den doppelten Blick mit der Kamera und die unterschiedlichen Strategien von Matthias Hartmann und Frank Castorf«, in: Theater heute 4, 2004, S. 20–26, S. 22. 25 Ebd. 26 Darüber spricht Ostermeier in einem Interview auf dem internationalen Kongress CULT de Jornalismo 2012, São Paulo, Brasilien: »This is a question people ask me quite often, if it’s strange to have video or other media on stage. For me it’s just natural, you know, it’s just… When Shakespeare was working, there was no set design, there was just the stage. And then later set design was invented. So I think, all the media which we have nowadays like video, music, dance […] you can use […]«. Siehe das Interview unter: www.youtube.com/watch?v=3aZdEalHJPE. [letzter Zugriff am 19.6.2018] 27 Oberender, »Mehr Jetzt auf der Bühne«, S. 26. 28 Meine Probennotizen vom 9.10.2012. 29 Da es sich bereits um den siebten Probentag handelte, standen in Berlin nur noch wenige weitere Probentage zur Verfügung, um das Konzept für die gesamte Aufführung zu entwickeln. Dem Team stand zudem noch eine Probenfortsetzung mit den französischen Kollegen in Rennes bevor (die Inszenierung entstand in Koproduktion mit dem Théâtre National de Bretagne). Man könnte deshalb annehmen, dass Ostermeier aus Zeitdruck beabsichtigte, einen finalen Entwurf der Gesamtaufführung bereits in Rennes zu haben. 30 Siehe: www.schaubuehne.de/de/produktionen/der-tod-in-venedigkindertotenlieder.html/m=318 [letzter Zugriff am 19.6.2018]. 31 Ursprünglich sah der Anfang so aus, dass Josef Bierbichler das oben erwähnte Kindertotenlied sang und Timo Kreuser ihn dabei auf dem Flügel begleitete. Im Anschluss begann die Umbauszene. 32 Meine Probennotizen vom 11.10.2012. 33 Es geht um die Szene, in der Tadzio allein vom Strand (wo er seine Tasche vergessen hatte) ins Hotel kommt. Er hört, dass er von den Schwestern und der

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Endnoten

Gouvernante gesucht wird, und nimmt diese Situation spielerisch wahr, indem er sich hinter dem gedeckten Tisch versteckt. Dann wird Tadzio von den Schwestern entdeckt, die nun auch ihrerseits mit ihm spielen wollen. Sie schleichen zu ihm und erschrecken ihn, während er sich hinter dem Tisch versteckt. Als der Junge erschrickt, lachen die Schwestern; sie reißen ihm im selben Moment die Tasche aus der Hand und werfen sie sich zu. Genau das war gemeint, als der Regisseur von einem »Spiel um die Tasche« sprach. 34 Meine Probennotizen vom 11.10.2012. 35 Thomas Mann: Meistererzählungen, Zürich 2008, S. 303–305. 36 Meine Probennotizen vom 11.10.2012. 37 Meine Probennotizen vom 12.10.2012. 38 Meine Probennotizen vom 1.11.2012. 39 Ebd. 40 Sybille Krämer, Marco Stahlhut: »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: Erika Fischer-Lichte, Christoph Wulf (Hg.): Theorien des Performativen (= Paragrana, Bd. 10, Heft 1, 2001), S. 35–64, S. 55f. 41 Das »schwache« Konzept des Performativen bezieht sich allgemein auf »die Handlungs- und Gebrauchsdimension der Rede«. Das »starke Performanzkonzept« verweist auf die Kraft des Performativen, mithilfe von Worten dasjenige handelnd zu vollziehen, was von ihnen bezeichnet wird: »Weltzustände werden durch Sprache nicht nur repräsentiert, viemehr konstituiert und verändert.« Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd., S. 56. 43 Ebd. 44 Mit derartigen Kompetenzen haben wir offenbar auch dann zu tun, wenn von einem Schauspieler im Meyerhold’schen Sinne wie von einer unendlich perfektionierbaren Maschine gesprochen wird, deren Störanfälligkeit signifikant abnehme (vgl. Kapitel 3.1, Anm. 15 bzw. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performa­ tiven, S. 137.), sobald diese – sowohl leiblich als auch geistig – immer wieder vor neue Aufgaben und Herausforderungen gestellt werde. 45 Schließlich würde der Aspekt des Performativen in diesem Fall wirksam werden, und zwar in einem »radikalen« Sinn, insofern der Probenvorgang durch die Publikumsinterventionen in eine Richtung gelenkt werden könnte, die weder der Regisseur noch der Dramaturg je vorherbestimmt hatten. 46 Selbst solche Arbeitsweisen, wie sie bei der Theatergruppe Angelus Novus zwischen den 1970er und -90er Jahren üblich waren, fanden keinen nachhaltigen Nachklang bei all jenen Regisseuren, die heute an großen Theaterhäusern tätig sind. Denn im Gegensatz zu den »gewöhnlichen« Probenprozessen an institutionalisierten Theatern »[fanden] die Inszenierungen und Workshops von Josef Szeiler […] mit dem Publikum statt: improvisierend erarbeitetes Sprechen und Lesen, einfache intensive Körperpräsenz der Spieler in einer Situation, in der es den Unterschied zwischen Bühne und Zuschauerraum nicht gibt. Bei den Aufführungen, die als eine öffentliche Fortsetzung der Probe verstanden werden (im Prinzip sind auch schon die Proben selbst öffentlich), kann das Publikum nach eigenem Ermessen kommen und gehen. […] Für die Spieler stellt die ›Aktion‹ des Sprechens, Lesens, Improvisierens ohne Handlung, Rolle und Drama eine Herausforderung dar. Sie genießen bei diesem Arrangement nicht den Schutz der Bühne, sind von allen Seiten, auch im Rücken, den Blicken, der Dekonzentration, vielleicht auch der Störung und Aggression durch ungeduldige oder verärgerte Besucher ausgesetzt.« (Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 221f.) 47 Kunstwissenschaftler beobachten mit Blick auf sämtliche Kunstbereiche eine zunehmende Tendenz zur Grenzüberschreitung. Unter Verweis auf die Interventionskunst oder die community art ist etwa vom »Aufbrechen und Ausdehnen von (sozialen) Grenzlinien« die Rede (Gerald Raunig: »Spacing the lines. Konflikt statt Harmonie. Differenz statt Identität. Struktur statt Hilfe.«, in: Stella Rollig, Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, Wien 2002, S. 118–127, S. 121). Viele im Zusammenhang mit der Öffnung der Grenzen von Kunst stehende Begriffe beziehen sich zum einen auf philosophische ­Kunsttheorien, z. B. auf Hegels Theorie der Situation, der zufolge die Funktion der Kunst vor allem darin besteht, »Raum für die Kollision von Differenzen zu schaffen« (ebd., S. 121); Erwähnung finden auch die in Kapitel 2 bereits aufge-

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griffene Foucault’sche Theorie der Heterotopien sowie Benjamins Hinweis auf die »organisierende Funktion der Kunst« anhand der politischen Kunstpraktiken Sergej Tretjakows und Bertolt Brechts (vgl. ebd., S. 122). Zum anderen zeugt u. a. die Interventionskunst von einem künstlerischen Bedürfnis nach Grenzüberschreitungen. (Der Begriff »Intervention« verweist in diesem Zusammenhang auf das Eindringen der Kunst ins soziale Leben bzw. umgekehrt des sozialen Lebens in die Kunst. So ist auch eine Theaterprobe – wie ich sie zumindest in den von mir besuchten Berliner Theatern erlebt habe – eine [sich immer weiter nach außen öffnende] Landschaft, in der Alltagssituationen oft die Grenzen der fiktiven theatralen Situationen aufbrechen und in diese übergehen.) 48 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 332. 49 Ebd., S. 342. 50 Krämer/Stahlhut: »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, S. 57. Ein Aspekt, den Krämer und Stahlhut unter allgemeinen, systematischen Gesichtspunkten für den Aspekt der Performanz herausstellen, kann gleichermaßen für die Theaterprobe herangezogen werden. 51 Ebd. [Ergänzung in eckigen Klammern von mir, V. V.] 52 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 349. 53 Allein die von mir besuchten Probenprozesse stellen genügend Beispiele für die Etablierung von intermedialen Verhältnissen zur Verfügung. Am Deutschen Theater stiftete die Auseinandersetzung der Schauspieler mit der Maschinerie ein solches Verhältnis: In mehreren Szenen mussten die Spieler mit der sich drehenden sowie nach oben und unten fahrenden Maschinerie in Kontakt treten. Die Art und Weise, wie sie sich dabei verhielten, war immer mit Stresssituationen – und somit stets mit Herausforderungen – verbunden. Der Probenprozess am Berliner Ensemble war der längste der von mir beobachteten. Selbstverständlich gab es auch dort Momente des vertrauten Umgangs mit technischen Medien. Allein die sich drehende Bühne sorgte für viel »Unruhe« (etwa als sich die Hauptdarstellerin auf ihr den Fuß verrenkte), aber auch Reflexionen. Die Bewegung verlangte den Spielern nicht nur eine besondere Konzentration und Selbstbeherrschung ab; sie markierte darüber hinaus oft den Übergang von einer Szene zur anderen und somit immer auch die innere (wie äußere!) Umstellung der Darsteller von einer Zeit auf die andere bzw. von einem räumlichen und psychologischen Zustand auf den anderen. Die intermedialen Verhältnisse, die in den Schaubühne-Proben zwischen der filmenden Videokamera und den Spielern entstanden und auf die ich im obigen Text bereits einging, basieren ebenfalls auf selbstreferenziellen Herausforderungen, insofern diese zunächst nur auf der Basis eines Versuchs bzw. Experiments entstanden. Meines Erachtens ließe sich allenfalls behaupten, dass sich die Einsicht in den künstlerischen Wert dieser intermedialen Verhältnisse erst dann durchsetzen konnte, nachdem sich der Regisseur und die Schauspieler davon überzeugen konnten. 54 Es geht vor allem um die Ausschreibung von Hospitantenstellen, die Organisation von Probenbesuchen für Freundeskreismitglieder, die Veranstaltung von öffentlichen Proben, Regie- oder theaterpädagogischen Workshops und szenischen Lesungen. 55 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 359. 56 Über diesen Zusammenhang wurde in der Einleitung schon ausführlich gesprochen. 57 Vgl. Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 105. 58 Ein anschauliches Beispiel wäre in diesem Zusammenhang Catalunya en Miniatura, ein Miniaturpark in Barcelona, der maßstabgerecht eine kompakte, aber präzise Übersicht über die spanische Provinz Katalonien mit all ihren Sehenswürdigkeiten und Ortschaften bietet. In einem ähnlichen Verhältnis steht die Theaterprobe als ein Leben en miniature zum Leben selbst: Die künstlerischen Vorgänge, aus denen sich während der Proben eine Aufführung – also ein fremdes Leben, das auf Brettern demonstriert werden soll – zusammensetzt, stellen nur eine komprimierte und zeitlich überschaubare Version derjenigen Vorgänge dar, die in einem wirklichen Menschenleben jahrzehntelang ablaufen. Daher wird die Theaterprobe als ein Leben en miniature zu einem mehrdimensionalen, bis heute noch wenig ausgeloteten Forschungsobjekt.

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4 Probenästhetische Perspektive: Der Stellenwert der Improvisation für die Konstituierung der Aufführung 4.1 Empirische Erfahrung: Der Einfluss der sozialen ­Interaktion auf den Improvisationszustand der Spielenden im ­Produktionsprozess

Christel Weiler weist darauf hin, dass der Begriff der Improvisation »im allgemeinen Sprachgebrauch verschiedene Formen des Handelns« beschreibt, »die im weitesten Sinne unvorbereitet vollzogen werden«.1 Auch die Etymologie des Wortes deutet auf den spontanen Charakter des Phänomens hin. So bedeutet das Lateinische ex improvisio im Deutschen so viel wie »aus dem Stegreif«. In der Theatergeschichte wird das Phänomen der Improvisation auf verschiedenen Ebenen diskutiert. Auf den Bühnen der Commedia dell’arte wurde die Improvisation als eine spontane und situationsbedingte Spielweise (­all’improvviso) verwendet. Demgegenüber haben die Gesetze des bürgerlichen Theaters die Improvisation als Bühnenaktion gänzlich unterbunden, weil sie eine Abweichung vom damals über alle Maßen geschätzten dramatischen Text geführt hätte. Das psychologisch-realistische Regiekonzept des 20. Jahrhunderts schätzte die Improvisation hingegen als probates Mittel zur Entwicklung von Rollenfiguren. Diese Wertschätzung äußerte sich hauptsächlich in den Proben, trat aber auch mit Rücksicht auf die Aufrechterhaltung der Bühnengestalt2 in der fertigen Produktion in Erscheinung. Im gegenwärtigen Theater fand das Phänomen der Improvisation eine weitaus breitere Verwendung. Die Improvisation wird an den Schauspielschulen als elementare Kunstfertigkeit und Schauspielmethode unterrichtet. Theaterpädagogen fördern die Verbreitung der Improvisationsfähigkeit, indem sie offene Workshops für den schauspielerischen Nachwuchs veranstalten. »­[A]ls Element innerhalb von Aufführungen dient sie häufig der intendierten Irritation des Publikums und als eigenes Genre, dem sog[enannten] Improvisationstheater, gewinnt sie zunehmend an Popularität.«3 Im Folgenden konzentriert sich meine A ­ ufmerksamkeit indes auf die Sonderstellung der Improvisation im theatralen Produktionsprozess. Im Zuge dessen möchte ich aufdecken, weshalb die Improvisation im Probenprozess zu Recht als eine eigene Art von Improvisation klassifiziert werden kann.

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Viele Improvisationsforscher haben den besonderen Stellenwert der mentalen Zustände hervorgehoben, in denen Improvisierende verweilen. Auch meine Beobachtungen als Theaterprobenforscherin bestätigen, dass die Spezifik der Improvisation im Produktionsprozess stets auf einen besonderen psychischen Zustand der Agierenden bezogen ist. Deshalb werde ich im nachstehenden Text einerseits auf den Improvisationszustand4 der probenden Spieler eingehen. Andererseits richtet sich mein Augenmerk auf die Art und Weise, wie der Kontakt zwischen den Spielenden durch das Mittel der Improvisation gewissermaßen aufrechterhalten werden kann. Diese besondere Fähigkeit der Probenimprovisation wurde nicht nur in zahlreichen Schauspielmethodiken der führenden Regisseure und Theaterschaffenden des 20. Jahrhunderts nachgewiesen, sondern sie repräsentiert bis heute einen maßgeblichen Aspekt improvisationswissenschaftlicher Reflexionen. Die konkrete Auslotung der Probenimprovisation beginne ich mit dem Begriff des Improvisationszustands. Der Reformator des Regietheaters des 20. Jahrhunderts Konstantin Stanislawski beschreibt im Kapitel »Anpassung und andere Elemente, Eigenschaften, Fähigkeiten und Begabungen des Schauspielers« seines weltberühmten Werks Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens eine Episode, in der ein Schauspielstudent und eine Schauspielstudentin vom Regisseur dazu aufgefordert wurden, eine Szene vor anderen Studenten zu spielen. Die Studentin war darauf nicht vorbereitet, sie fühlte sich unwohl und versuchte mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln – wenn auch unbewusst –, der Vorspielsituation aus dem Weg zu gehen. Mit den Worten Stanislawskis, [hat uns] Wjunzow dreiste, deutliche, äußere Anpassungen gezeigt, und die Weljaminowa brachte jetzt die feineren, eleganteren, innerlichen. Sie hat mir geduldig auf alle möglichen Arten zugeredet, hat mich zu rühren versucht, hat ihre Verlegenheit und sogar ihre Tränen gut ausgenutzt. Wo es angängig war, hat sie kokettiert, um ihr Ziel zu erreichen und die Aufgabe zu erfüllen. Sie hat alle Augenblicke ihre Anpassungen verändert, um mir jede Nuance ihres Erlebens zu vermitteln und mich zur Aufnahme zu bewegen. War eine Anpassung nicht am Platze oder hatte sie an Wirksamkeit eingebüßt, versuchte sie es mit einer zweiten, einer dritten, in der Hoffnung, endlich auf die überzeugende zu stoßen, die in das Herz des Objekts eindringt.5

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4.1  Empirische Erfahrung

Aus der Schilderung Stanislawskis geht hervor, dass seine Schülerin versuchte, sich in jedem Moment an die unbehagliche Situation auf der Bühne anzupassen. Sie variierte ihre Anpassungen entsprechend der sich augenblicklich ändernden Bühnensituation. Ohne sich darüber bewusst zu sein, dass sie alles tat, um der Situation so schnell wie möglich zu entkommen, redete sie auf den Regisseur und ihre Mitspieler ein: Sie beklagte sich darüber, dass die vorgegebene Szene zu langweilig sei, dass sie nicht wisse, was sie sagen solle usw. Permanent wollte sie ihre Umwelt wissen lassen, wie unbehaglich sie sich fühlt und dass ihr Ziel ist, die für sie überaus peinliche Situation so schnell wie möglich zu beenden. Stanislawskis Buch hebt in diesem Zusammenhang mit besonderem Nachdruck hervor, dass es gerade das unbewusste Anliegen der Studentin war, das sie zwang, solche heterogenen Anpassungen aufzusuchen. Ihre Anpassungen machten ihre Bühnenpräsenz unwiderstehlich lebendig; sie waren für die Zuschauenden atemberaubend, weil jede neue Anpassung jedes Mal unerwartet war und das Publikum deswegen in Atem gehalten wurde. Stanislawski stellt mit dieser Episode ein Verfahren zur Erzeugung eines Improvisationszustands auf der Bühne vor: Der Regisseur versetzt seine Studentin absichtlich in eine prekäre Situation und schickt sie dabei auf eine selbstständige Suche nach diversen schauspielerischen Handlungsweisen, die in jener Studiensituation effektiv wirken könnten. Stanislawski geht dabei von der unbewussten Natur des Zustands des Spielers aus, wenngleich dieser Zustand vom Schauspieler bewusst geschaffen werden kann und soll. Laut Stanislawski gelingt dies durch die ständige intuitive Suche nach neuen, »frischen« Anpassungen: Wie hell leuchten die unbewußten Anpassungen auf den Brettern! Wie reißen sie die Partner mit, die in Wechselbeziehung stehen, wie prägen sie sich dem Gedächtnis der Zuschauer ein! Ihre Wirkung liegt in ihrer überraschenden, kühnen und wagemutigen Anwendung.6 Für den Weg des Schauspielers in den Zustand der Improvisation betonte Stanislawski insbesondere die Kraft der Überraschung: Während man dem Spiel des Schauspielers, seinen Taten und Handlungen auf der Bühne folgt, erwartet man, daß er an der bestimmten wichtigen Stelle der Rolle seinen Text laut, deutlich und ernsthaft bringt. Und statt dessen spricht er ihn plötzlich, ganz unerwartet, beiläufig, lustig, kaum hörbar und ­vermittelt

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4  Probenästhetische Perspektive

damit die Originalität seines Gefühls. Das Überraschende besticht und überwältigt derartig, daß diese Auffassung der betreffenden Stelle als die einzig mögliche erscheint.7 Um in »bewusste Anpassungen« Leben einzuhauchen, empfiehlt Stanislawski den Einsatz von Psychotechniken, deren Funktion u. a. darin besteht, das Unbewusste zu erschließen: »[S]ogar eine winzige Dosis Unbewußtheit [verleiht] der Gefühlswiedergabe auf der Bühne Leben und Zauber.«8 Die Spaltung in zwei Handlungsebenen – eine, in der bewusst beobachtet wird, sowie eine, in der Handlungen unbewusst vollzogen werden – steht auch in der Arbeit des britischen Theaterpädagogen und Improvisationspraktikers Keith Johnstone im Vordergrund. Johnstone beschäftigt sich darin u. a. mit einer Episode, die in Stanislawskis Werk beschrieben wird. »Kostja, ein Schauspielschüler, will sich für eine Rolle schminken, doch er ist mit nichts zufrieden. Um die Schminke zu entfernen, fettet er sich das Gesicht ein, und dann, ganz unerwartet …«9 Alle Farben flossen ineinander wie auf einem naßgewordenen Aquarell … Dadurch erhielt mein Gesicht einen graugrünlich-gelblichen Ton, der ausgezeichnet zu meinem Anzug paßte … Es war kaum zu erkennen, wo die Nase, die Augen und die Lippen waren … Dann verschmierte ich die Abschminke über meinen Backen- und Schnurrbart und schließlich über die ganze ­Perücke … Die Haare verwickelten sich und ballten sich zu Klumpen zusammen … Dann wischte ich mit klopfendem Herzen, wie im Fieber, die Brauen vollständig weg, stäubte mir ein paar Pudertupfen ins Gesicht … bestrich meine Hände mit grünlicher, die Innenflächen der Hände mit grellroter Farbe … zupfte den Anzug zurecht und zerdrückte die Krawatte. Alles das tat ich rasch und sicher, denn nun wußte ich endlich … wen ich darstellte und wie er aussah.10 Das Ergebnis der von Stanislawski beschriebenen Szene schildert Johnstone folgenderweise: »Er [der Schauspieler] zeigt sich dem Regisseur (Torzow), stellt sich ihm als ›der Kritikaster‹ vor. Er ist überrascht, als er merkt, daß sein Körper Dinge macht, die er nicht geplant hatte. […] Dann spielte er mit dem Regisseur eine Szene und behielt dabei diese merkwürdige Figur, zu der er geworden war, ohne Schwierigkeit bei.«11 An einer anderen von Johnstone zitierten Passage seines Werks

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4.1  Empirische Erfahrung

geht Stanislawski auf den inneren Zustand des handelnden Spielers ein: Im Grunde war ich mein eigener Zuschauer, während der andere Teil meines Wesens das mir fremde Leben des Kritikasters führte. Aber kann ich denn wirklich behaupten, daß dieses Leben mir fremd gewesen sei? Schließlich und endlich war der ­Kritikaster aus mir selbst genommen. Ich hatte mich gleichsam in zwei Hälften aufgespalten. Die eine Hälfte lebte das Leben des Schauspielers, während die andere sie dabei wie ein Zuschauer betrachtete.12 Johnstones ausführlicher Rekurs auf die wohl berühmteste Schauspiellehre des 20. Jahrhunderts richtet sich auf die Funktion des Improvisationszustands, unbewusste Handlungen bewusst in Szene zu setzen. Eine Parallele zum »leichten Trancezustand« zieht J­ ohnstone, indem er einen Vorfall aus den Proben eines anderen berühmten russischen Theaterregisseurs und »Lieblingsschüler[s] von Stanislawski«13, ­Jewgeni Wachtangow, anführt: Wachtangow bestimmte die Bühne als Zirkus, wo die Masken als Clowns vorspielen sollten. Sie sollten Dinge machen, die die Zuschauer dazu bringen würden, »stürmisch zu applaudieren, auf die Bühne zu stürzen, euch zu umarmen und zu küssen! Oder daß sie zumindest auf dem Boden liegen vor Lachen. Los, fangt an! […]«.14 Den zahlreichen Regieanweisungen und dem ersten Versuch der Darsteller, »draufloszuspielen«, folgte die kühle Bemerkung Wachtangows, dass die Schauspieler das Wesentliche der Masken nicht getroffen und bloß ein paar Übungen vor dem Publikum gemacht hätten. In Bezug auf die Fortsetzung der Szene – als Wachtangow wegging und die Darsteller »zu echten Masken, zu Tartaglia und Pantalone«15 wurden – wird Johnstone auf den »gefesselten« und »hingerissenen« Zustand der Schauspieler aufmerksam. In diesem Zustand verweilend, bemerkten die Improvisierenden noch nicht einmal, wie lange die von ihnen vorgespielte Szene andauerte. An diesen Aspekt anschließend, weist Johnstone darauf hin, dass Wachtangow seine Spieler dazu aufgefordert habe, spontan zu agieren: »Dadurch entsteht ein leichter Trancezustand, in dem die Schauspieler das Gefühl haben, sie würden von einer anderen Kraft gelenkt. Sie ›wissen‹, was sie tun werden, ­während sie normalerweise ›entscheiden‹, was sie tun werden.«16

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4  Probenästhetische Perspektive

Alle oben geschilderten Episoden aus der Geschichte der Schauspielkunst zeugen davon, dass der Zustand der Improvisation – insbesondere in der Phase des Produktionsprozesses – gerade jenes Element zur Verfügung stellt, welches das gemeinsame Agieren während des Probenprozesses maßgeblich bestimmt und vorantreibt. Mit Blick auf die Improvisation im Probenprozess erweisen sich vor allem Gerhard Eberts empirische Studien über die modellierende Funktion der Improvisation als grundlegend. In Anlehnung an Ebert ließe sich behaupten, dass eben der Improvisationszustand stets auch einen modellierenden Effekt nach sich zieht:17 Im Laufe der Handlung entsteht er einerseits permanent und unbewusst, während er vom Handelnden andererseits bewusst in eine bestimmte Richtung geleitet wird. Der Improvisationszustand geht insofern mit einem Bewusstseinszustand einher, durch den der Agierende in zwei »Hälften« gespalten wird: Die eine Hälfte vollzieht unbewusst eine Handlung, während die andere die vollzogene Handlung wahrnimmt sowie bewusst beobachtet und/oder kontrolliert. Im zweiten Kapitel bin ich bereits auf die Offenheit des Körpers eingegangen, die der Schauspieler aufgrund der Transformation zu erreichen vermag, die in seinem Bewusstsein zustande kommt und im Zuge dessen seine Wirklichkeitswahrnehmung verändert. In diesem Zusammenhang berichtete ich ausführlich von einer Episode, in welcher der Schauspieler Samuel Finzi die Probe während einer Pause für sich selbst fortsetzte und in der Folge in den Modus einer Schwellenerfahrung eintrat. Was nun die von Stanislawski, ­Johnstone und Gortschakow geschilderten Improvisationszustände betrifft, so lässt sich folgende These formulieren: Auch hier haben wir es mit einer Schwellenerfahrung zu tun, d. h. mit einem »Zustand der Instabilität, aus dem Unvorhergesehenes entstehen kann«18. Dieser Zustand kann im theatralen Produktionsprozess auf verschiedene Art und Weise herbeigeführt werden. Die Erfahrung zeigt, dass es keine fixen Mechanismen gibt, die einen Schauspieler in einen Geisteszustand zu versetzen vermögen, aus dem er während des gesamten Probentags aus dem Stegreif heraus agieren könnte. An einen schöpferischen ­Prozess kann man schließlich nicht nur handwerklich herangehen. Oder anders gesagt: Aufgrund der individuellen Herangehensweise aller beteiligten Akteure an den Probenprozess greifen schematische Vorgaben jeglicher Art unweigerlich ins Leere. Auch die Wege, die zum liminalen Zustand19 führen, sind stets persönlichkeitsbezogen. Das bestätigen auch weitere Fallbeispiele aus den drei von mir beobachteten ­Probenprozessen. Am zweiten Bühnenprobentag für das Stück Krankenzimmer Nr. 6

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4.1  Empirische Erfahrung

wurde auf improvisatorischem Wege intensiv nach einer Lösung für das Problem gesucht, mit welchen Mitteln sich die Beziehungen zwischen den Bühnenfiguren künstlerisch adäquat darstellen lassen. Dimiter Gotscheff ließ Samuel Finzi und Katrin Wichmann die Szene der Liebeserklärung erstmals vorspielen. Die volle Aufmerksamkeit des Regisseurs und der anderen Teammitglieder war auf beide Schauspieler gerichtet, die sich im großen, leeren Raum auf der Vorderbühne befanden. Das Bühnenbild zeigte, wie in den vorherigen Kapiteln beschrieben, lediglich die »Maschinerie«, d. h. die von oben herabhängenden, sich drehenden Scheinwerfer. Wichmann stellte sich unter einen der sie grell beleuchtenden Scheinwerfer. Kurz bevor die Wiedergabe ihres Textes beginnen sollte, gab der Regisseur der Darstellerin die Anweisung, die Melodie eines ihr bekannten russischen Liedes erklingen zu lassen und im Anschluss daran »romantisch« zu seufzen. Die Art und Weise, wie der Text extemporiert und die Regieanweisung befolgt werden sollten, war völlig der Darstellerin überlassen. Der Vortrag des Textes sollte von der Schauspielerin (zwar mit Rücksicht auf die bereits vom Regisseur gegebenen Anweisungen) körperlich weitgehend improvisiert vonstattengehen. Wichmann entschied sich für die Darstellung einer aufgeregten Liebeserklärung, als sie folgenden Text aus Čechovs Erzählung Veročka vortrug: Ein richtig romantischer Abend mit Mondschein, Stille und allen Honneurs. Wissen Sie was? Ich lebe nun schon 29 Jahre auf der Welt und hatte noch nie im Leben eine Liebesaffäre. In meinem ganzen Leben keine einzige Liebesgeschichte, deshalb kenne ich Dinge wie Rendezvous, Seufzeralleen und Küssereien nur vom Hörensagen. Das ist nicht normal. In der Stadt, wenn du in einem Zimmer sitzt, bemerkst du diese Wissenslücke gar nicht, aber hier, an der frischen Luft, da spürt man sie stark. Es ist geradezu unangenehm. Ich liebe Sie! Vom ersten Tag unserer Bekanntschaft haben Sie mir gefallen durch Ihren originellen Geist, Ihre guten klugen Augen, Ihre Aufgaben und Lebensziele. Ich liebe Sie leidenschaftlich, wahnsinnig und tief. Manchmal wenn ich im Sommer aus dem Garten ins Haus gekommen bin und im Flur Ihre Pelerine gesehen oder von fern Ihre Stimme gehört habe, ist mir heiß und kalt geworden in der Vorsehung des Glücks. Selbst über Ihre harmlosesten Scherze muss ich lachen, in jeder Ziffer in Ihren Heften habe ich etwas Sinnvolles und Grandioses gesehen. Und Ihr Knotenstock er­scheint mir schöner als jeder Baum. Für mich kann es kein

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4  Probenästhetische Perspektive

größeres Glück geben als Sie zu sehen, Ihnen zu folgen und sei es sofort wohin Sie wollen, Ihre Ehefrau und Gehilfin zu werden. Wenn Sie jetzt von mir gingen, würde ich sterben vor Sehnsucht. […]20 Der Text ist sehr bewegend und emotional aufgeladen. Man kann sich gut vorstellen, dass im wirklichen Leben jemand, der so etwas aussprechen würde, dabei überaus starke Emotionen empfinden würde. G ­ leiches gilt für den (oder die) Empfänger dieses Bekenntnisses. Entsprechend sollte die emotionale Atmosphäre dieser Szene auf der Bühne wiedergegeben werden. Aus diesem Grund ließ Katrin Wichmann ihre Figur beim ersten Probenversuch mit einer starken, fast neurotischen Aufgeregtheit sprechen. Beim ersten Probenversuch war es der Darstellerin anzusehen, dass sie ausgesprochen aufgeregt war (obwohl in solch stark improvisierten Situationen nicht mit ­hundertprozentiger Sicherheit behauptet werden kann, ob hier die persönliche Aufgeregtheit des Darstellers oder aber dessen individuelle Vorstellung der von ihm verkörperten Figur sichtbar in Erscheinung tritt). Sie sprach mit einem breiten Lächeln im Gesicht sowie derart schwungvoll, dass der Eindruck entstehen konnte, nicht etwa nur eine gespielte, sondern im Gegenteil eine tatsächliche romantische Liebeserklärung vernehmen zu können. Jeder Satz wurde von einem neurotischen Auflachen begleitet. Der Scheinwerfer beleuchtete W ­ ichmanns Gesicht intensiv; genauer gesagt, wurde es geradezu geblendet, weil die Schauspielerin direkt unter dem Scheinwerfer stand. Nach einem weiteren neurotischen Auflachen Wichmanns warf Gotscheff ihr von seinem Regieplatz aus ein geniertes Lachen zu, womit er offenbar zum Ausdruck bringen wollte, dass Wichmann im Großen und Ganzen in der von ihr gezeigten Manier fortfahren könnte, aber (dabei stand der Regisseur auf und ging auf die Darstellerin zu) sie sollte aufpassen, »nicht in die Karikatur zu gehen«: Gotscheff: (auf Wichmann zulaufend): »Katrin, pass auf, dass du nicht in die Karikatur gehst!« Wichmann: (lächelnd, verwundert, aber zugleich sehr respektvoll und freundlich): »Nööö!« Gotscheff: »Es ist was sehr Kostbares. Es ist wie diese …« (Überlegungspause) Wichmann: (hört ihm zu und hebt dabei unbewusst den langen Rock des Brautkleids, das sie trägt, sodass schwarze Stiefel an ihren Füßen entblößt werden)

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4.1  Empirische Erfahrung

Panteleev: (aus dem Zuschauerbereich): »Katrin, das ist gut, was du gerade machst!« Wichmann: (nimmt die Phrase wahr, lächelt kurz, konzentriert sich aber weiter auf die Regieanweisungen) Gotscheff: (nachdem er Ivan Panteleevs Bemerkung auch wahrgenommen und sich kurz in dessen Richtung umgedreht hat) »Weißt du, es ist jetzt noch das Gewöhnliche.« (Überlegungspause) »Es ist nicht schlecht [anscheinend meinte er, dieses G ­ eständnis soll keine negative Konnotation haben – V. V.], aber es ist viel mehr beweglicher. Mehr Zeit und such oder sucht ihr beide (zeigt auf Samuel Finzi) – das weiß ich noch nicht – wie diese … (­Überlegungspause) [Situation – V. V.] herauskommt. Es ist noch (hebt seinen Arm und fixiert ihn etwas schräg, als wollte er einen ­seiner Lieblingsausdrücke (und dieser lautet ›angekippt‹) verwenden. Berührt Wichmann an der Schulter. Überlegungspause) ­Versuch!« (geht zu seinem Sitz). Wichmann: »Ja.« (Nickt, schaut auf den Boden, schnappt Luft vor der bevorstehenden Szene. Kurze Pause. Schaut zur Decke, seufzt noch einmal auf. Kurze Pause. Seufzt auf, hebt den Rock ihres Kostüms wieder hoch, sodass nur der Ansatz der schwarzen Stiefel sichtbar wird. Dann beginnt sie den Text zu sprechen.)21 In dieser Probensituation schien die Schauspielerin ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie sie ihren nächsten Improvisationsversuch »modellieren« könnte. Dieselbe Szene begann sie beim zweiten Probenversuch mit einem tiefen Seufzen. Dieses Mal sprach sie langsamer. Sie wirkte so, als schäme sie sich für ihre Worte. Zugleich strahlte sie aber die Überzeugung aus, dass ihr Geständnis ein helles, tiefes Gefühl (sprich: romantische Liebe) freisetzt und von daher etwas Ehrwürdiges darstellt. Ihr Bühnenpartner, Samuel Finzi, hörte ihr derweil mit einer nur scheinbar ernsten Miene zu. Er musterte sie als »Arzt« so, als wäre seine Patientin ein schwieriger medizinischer Fall. Gleichzeitig erweckte er den Eindruck, es als seine Pflicht anzusehen, seiner Patientin zuzuhören. Während Wichmann sprach, bewegte er seinen Körper zunächst langsam auf sie zu, um bald von ihr zurückzuweichen. Mitten in ihrem Bekenntnis rollte er plötzlich sein rechtes Hosenbein hoch, um dann, auf die Schulter seiner Patientin gestützt, eine seiner alten Sandalen auszuziehen. Die Patientin hörte auf zu sprechen und sah den Arzt an, während dieser seine Sandale musterte. Sie nahm ihm die Sandale aus der Hand und presste sich diese an ihr Herz. Der Arzt musterte jetzt seine Socken und bewegte eine große Zehe. Er machte

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4  Probenästhetische Perspektive

eine unentschiedene, zögernde Handbewegung, die darauf hindeutete, dass er seine Sandale möglicherweise zurücknehmen wollte. Als er den faszinierten Gesichtsausdruck der die Sandale ebenso liebevoll wie unverwandt betrachtenden Patientin sah, machte er nur eine resignierte Handbewegung, womit er andeutete, dass alle Versuche, die Sandale zurückzubekommen, nutzlos wären. Eine Weile stand er barfuß da und lächelte dem Publikum zu, als wäre nichts passiert. Währenddessen versteckte er den nackten Fuß hinter dem anderen. Plötzlich richtete die Patientin ihren Blick auf den Arzt und äußerte nahezu stumm den Wunsch, ihm die Sandale anzuziehen. Ohne lange zu überlegen, streckte er sein Bein aus und ließ sich die Sandale wieder anziehen. Alle Anwesenden schauten dieser Szene wie gefesselt und in absoluter Stille zu – offenbar deshalb, weil in diesen Momenten alles Mögliche passieren konnte und niemand (noch nicht einmal die Spielenden selbst) wusste, wie die Szene ausgehen würde. Diese Probenepisode veranschaulichte, wie eine Bühnenimprovisation entstehen kann. Das Beobachtete lässt mich annehmen, dass der Zustand, in dem sich beide Akteure in jenem Moment befanden, ein Improvisationszustand war: ein spezifisches Befinden, ein liminaler Zustand, eine Erfahrung »auf der Schwelle« zwischen wirklicher und imaginärer Welt; zugleich handelte es sich aber um ein Befinden, in dem die Aufmerksamkeit, die Perzeption bzw. alle Sinnesorgane der Ausführenden gleichsam von innen wie von außen kontrollierbar waren. Das führt mich zu der Annahme, dass es fünf Faktoren waren, die die Schauspielerin in den Improvisationszustand versetzten: 1.  die Einbildungskraft der Darstellerin; 2.  die lockere und ungezwungene Art der Regieanweisung inmitten des Probenprozesses; 3.  die daran anschließende Empfindsamkeit der Schauspielerin; 4.  der lebendige, authentische Kontakt mit dem Bühnenpartner; 5.  die grelle Beleuchtung, die auf die Sinne wirkt. Durch welche Faktoren Samuel Finzi in den Improvisationszustand versetzt wurde, ist schwieriger festzustellen. Er improvisierte nämlich ständig, sobald er die Bühne betrat. Meine Beobachtungen deuten jedoch darauf hin, dass es für Finzi von größter Wichtigkeit war, zunächst sämtliche Handlungsmöglichkeiten auf der Bühne auszuprobieren, um zu verstehen, welcher Gestus für die von ihm zu verkörpernde Figur charakteristisch wäre.22

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4.1  Empirische Erfahrung

Wie eine kollektive Improvisation im Probenprozess entsteht, veranschaulicht eine Szene, die am 37. Probentag auf der Hauptbühne des DT stattfand. An diesem Tag wurde die Szene einer sogenannten Musiktherapie geprobt. Kurz zuvor beendeten die Darsteller der Anstaltsinsassen ihre »Übungen« zum »Čechov-Abc«. Diese Übungen bestanden darin, dass zu jedem Buchstaben des Čechov-Alphabets kurze Texte, Sätze oder einzelne Wörter aus dem Œuvre Čechovs in den Raum gebrüllt wurden. Nach dieser Prozedur trat ein Tuba-Spieler auf die Bühne und spielte eine Melodie. Die Patienten mussten sich im Takt auf der Bühne frei bewegen. Wie genau sie sich bewegen sollten, wurde erst im Lauf des improvisierten Bühnengeschehens abgeklärt. Es gab an jenem Tag insgesamt vier Probenversuche dieser Episode, dazwischen fanden Besprechungen mit dem Regisseur statt. Jeder Versuch brachte völlig neue Elemente in die Therapie-Szene hinein. Der Übergang vom dritten zum vierten Versuch wurde durch ein schroffes »Stopp!« Gotscheffs inmitten des »Improvisationstanzes« unterbrochen. Anscheinend war Gotscheff selbst auf der Suche nach einer geeigneten Skizze für diese Szene, in die er nach jedem einzelnen Probenversuch seine Korrekturen einzutragen pflegte. Nach seinem ebenso lauten wie ruppigen Stopp-Ruf sagte er, dass die Patienten in einer Reihe stehen bleiben sollten, ohne ungeordnet im Raum herumzulaufen, wie sie es bis jetzt gemacht hatten. In dieser Position sollte jeder Akteur sein eigenes Bewegungsmuster finden. Margit Bendokat, die den Wärter Nikita spielte, rief beim vierten Probenversuch anstatt »eins, zwei, drei« nur noch »eins« aus, was die Wirkung eines Kommandos erzeugte. Die Musik ertönte, Bendokat fing an bis eins zu zählen, die Patienten setzten sich langsam in Bewegung. Der Regisseur schickte Bendokat auf die Hinterbühne. Der Tuba-Spieler und der Arzt blieben vorne in der Mitte stehen. Die Kranken fingen an, ihre Bewegungen zu »suchen«. Almut Zilcher drehte sich nach links und nach rechts und mit ihr auch ihr voluminöses Ballettröckchen. Katrin Wichmann hielt ihre Arme puppenartig vor der Brust, kreiste den Körper und starrte in den Zuschauerraum. Harald Baumgartner trat linkisch von einem Fuß auf den anderen, drehte sich und machte mit den Armen planschende Bewegungen. Andreas Döhler blieb eine Weile bewegungslos stehen und starrte nur in den Saal, dann begann er sich im Takt hinzuhocken. Wolfram Koch trat in schnellerem Tempo von einem Fuß auf den anderen, hielt mithilfe seiner Arme die Balance und drehte sich dabei so, als wäre er ein aufgezogenes Spielzeug. Die Tuba-Klänge donnerten auf der Bühne, die Spieler bewegten sich beharrlich weiter, ihr Tempo im Einklang mit der Musik stets beschleunigend. Inmitten dieses

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4  Probenästhetische Perspektive

Vorgangs rief Gotscheff aus dem Saal: »Weigert! Schreit auch! Schreit ›Zwei!‹ ›Margit, schnell ›Eins!‹ Ihr – ›Zwei!‹«23 Die Akteure nahmen diese Aufforderungen unmittelbar auf und fingen damit an, laut vor sich hin zu schreien, während sie sich weiterhin in ihren Posen bewegten. Je lauter der Regisseur sie mit seinen Anweisungen »anspornte«, desto lauter schrien auch die Patienten und umso schneller führten sie ihre Bewegungen aus. Darüber hinaus drehte sich die Maschinerie und blendete die Improvisierenden. Als der Musiker langsam von der Bühne wegging, drehten sich die Patienten fortwährend weiter. Sie blieben erst stehen, als Gotscheff »Bravo!« rief. Lediglich Harald Baumgartner reagierte nicht und fuhr fort, sich zu drehen, während er zugleich andauernd die Zahl »zwei« ausrief. Erst als der Regisseur ihn beim Namen ansprach und wieder ein »Bravo!« äußerte, reagierte der Schauspieler. Diese Reaktion bestand aus einem lauten »Zwei«-Ruf und einer krampfhaften Körperbewegung, was einige Anwesende im Saal zum Lachen brachte. Der gesamte Bühnenvorgang sah tatsächlich nach einem massenhaften Trancezustand aus. (Von einem derartigen Trancezustand schrieb auch Keith Johnstone in seinem oben zitierten Buch Improvisation und Theater.) (Vgl. Kapitel 4.1, Anm. 16.) Die gongschlagartig und monoton ausgerufene »Eins« der sich auf der Hinterbühne befindlichen Margit Bendokat, die sich drehenden und die Darsteller blendenden Scheinwerfer, die wie Militärkommandos wirkenden Rufe des Regisseurs, die eine immergleiche Melodie spielende Tuba sowie dieselben sich stets wiederholenden Bewegungen und Wörter – all diese Faktoren geben sich als Ursachen des entstandenen Improvisationszustands zu erkennen. Grundsätzlich lässt sich über den gesamten von Gotscheff geleiteten Probenprozess festhalten, dass darin jede Szene aus den von den Akteuren improvisierten »Entdeckungen« entstand und aus diesen improvisierten Szenen dann schließlich die Aufführung Kranken­ zimmer Nr. 6 zusammengesetzt wurde. Gotscheff ließ seinen Schauspielern während der Genese seiner Inszenierung viele Freiheiten. Mitunter genügte allein die Phrase »Seid ihr da mutig in der Stille?!«24, um die Schauspieler dazu zu bewegen, die Bühne zu betreten, um dort sodann sofort mit einer spontanen Darbietung zu beginnen. Oft besprach sich der Regisseur mit seinen Schauspielern während der Proben in einem Halbkreis, der niemandem sonst (auch mir nicht) offenstand. Derartige Unterbrechungen konnten an solchen Stellen des Probenverlaufs vorkommen, an denen man sie kaum erwartete. Gotscheff hatte zu jedem seiner Darsteller einen überaus vertrauten Kontakt aufgebaut (nicht von ungefähr ist in der Theaterszene oft von

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4.1  Empirische Erfahrung

der »Gotscheff-­Familie« die Rede, zu deren Kernmitgliedern bekanntlich Almut Zilcher, Margit Bendokat, Samuel Finzi und Wolfram Koch zählen). Gotscheffs Regiekonzept sowie sein Regiestil stellten in Bezug auf das Improvisationspotenzial der Darsteller mithin die wohl maßgeblichsten Einflussfaktoren bereit. Welche Rolle dabei der sozialen Interaktion mit ihrem vertraulichen Charakter zukam, ist nach den geschilderten Beispielen von den Gotscheff-Proben nicht mehr zu übersehen. Die psychologisch-realistische Regiekonzeption Thomas Langhoffs in den Proben zu Endstation Sehnsucht bewirkte demgegenüber Improvisationsausprägungen, die sich wesentlich von denjenigen der ­Gotscheff-Proben unterscheiden (in Letzteren wurden, wie gezeigt, ganze Szenen alleine auf der Basis von Schauspielerimprovisationen kreiert). Während der Proben im BE wurde tagaus, tagein intensiv über den psychologischen Zustand der zu verkörpernden Figuren diskutiert. Die auf Assoziationen und Logik beruhenden Überlegungen des Regisseurs und der Schauspieler gaben Letzteren wesentliche Impulse für die Verkörperung ihrer Rollen. Jede Bewegung, jede Intonation hatte in den langen Diskussionsrunden ihren Ursprung. Oft wurde ein und dieselbe Szene im Lauf des zweimonatigen Produktionsprozesses mehrmals besprochen. Ein Improvisationsverhalten, wie es sich oft in den DT-Proben erleben ließ, konnte ich im BE so gut wie nie beobachten. Erwähnenswert sind in Bezug auf die von Langhoff geleiteten Proben indessen zwei Episoden, die interessanterweise in einer Situation entstanden, als die Akteure in ihrem Agieren auf der Bühne vom Regisseur für einen längeren Zeitraum gerade nicht unterbrochen wurden: Am elften Probentag wurde nach der Mittagspause die dritte Szene geprobt. Am Vorabend wurde für die »Gewaltszene« (in der Stanley Kowalski auf seine Frau einschlägt), welche Teil der dritten Szene war, erstmals nach geeigneten »Methoden« für das Klatschen von Stanleys Schlag gesucht. Es wurde entschieden, dass ein junger Schauspieler, der einen der Poker-Kumpel von Stanley spielte, unbemerkt mit beiden Händen klatschen sollte, woraufhin die Stella-Darstellerin Anika Mauer auf den Boden stürzen sollte. So kam es nach der Pause des elften Probentags zu einer spontanen Pantomime zwischen dem Poker-Kumpel-Darsteller und Robert Gallinowski. Es wurde abgesprochen, dass Anika Mauer hinter Gallinowski gehen sollte, sodass im Zuschauerraum nicht zu sehen war, auf welche Weise das Klatschgeräusch erzeugt wurde. Kaum bewegte sich Mauer in Richtung Hinterbühne, näherte sich ihr Gallinowski mit einer drohenden

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4  Probenästhetische Perspektive

und angriffsbereiten Körperhaltung. Gerade in diesem Moment ging der Poker-Kumpel-Darsteller zwei Schritte auf Gallinowski zu. Wie in Zeitlupe deutete er mimisch an, für eine Gegenoffensive bereit zu sein, um Gallinowski dann am Hemd zu packen. Gallinowski nahm den Handlungsimpuls seines Kollegen offenbar unmittelbar auf: Zwischen den beiden Pokerhelden entstand spontan eine Art Zeitraffer-Schlägerei. Bemerkenswert ist, dass zwischen dem Pausenschluss und dem Anfang dieser Episode keine Regieanweisungen erteilt wurden. Dieser Umstand könnte dazu beigetragen haben, dass sich die Schauspieler auf der Bühne frei bewegen konnten, ohne von den oft eingeworfenen Bemerkungen aus dem Zuschauerraum abgelenkt zu werden. Beide Akteure gaben sich der Handlungssituation offenbar völlig hin, wobei der eine auf den Handlungsimpuls des anderen spontan reagieren konnte. Auf diese Weise entstand eine mitreißende Improvisationsszene, die jedoch nicht in die Endfassung übernommen wurde. Eine ebenso spontane Szene beobachtete ich am 26. Probentag, als die elfte Szene des Stücks zum ersten Mal gespielt wurde. Die Probe, der eine kurze Regieanweisung voranging, die sich auf eine Szene zwischen den Figuren von Stella und ihrer Nachbarin Eunice bezog, hatte erst begonnen. Aber anstatt der Szene zwischen Stella und Eunice wurde die sogenannte Fang-Szene geprobt, in der Blanche von der Krankenschwester gefangen und abgeholt werden sollte. Der erste Versuch hatte sich offenbar nicht nur mir als Beobachterin eingeprägt: Die Blanche-Darstellerin hatte alle Zuschauenden mit ihrem konvulsiven, unbeschreiblich markerschütternden Geschrei regelrecht paralysiert. Während des Bühnengeschehens konnte ich die Reaktionen des zuschauenden Regisseurs und weiterer anwesender Mitglieder beobachten. Auf den erstarrten Gesichtern ließ sich eine gewisse Unsicherheit darüber ablesen, ob es die Realperson X war, die sich bei den Fangversuchen durch ihre Kollegin offensichtlich äußerst unwohl fühlte, oder die von X verkörperte (sprich: irreale) Theaterfigur. Tatsächlich wehrte sich die Blanche-Darstellerin derart authentisch gegen den Zugriff der Krankenschwester-Darstellerin, dass diese sie sogar an den Beinen über die ganze Probenbühne ziehen musste, nachdem die Blanche-Darstellerin auf den Boden gestürzt war, laut zu Schreien begonnen und wild mit ihren Armen um sich geschlagen hatte. Nach dem Szenenschluss herrschte im Probenraum für einige Sekunden vollkommene Stille. Niemand wagte es, etwas zu sagen, und der einzige Kommentar des Regisseurs war im Anschluss: »Das war ein guter Griff!« Diese improvisierte und effektvolle Verkörperung ging schließlich in die Endversion der Inszenierung ein.Der äußere zeitliche Rah-

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4.1  Empirische Erfahrung

men des Produktionsprozesses zu Der Tod in Venedig wurde von Anfang an auf drei Wochen beschränkt – eine äußerst knappe Zeit für eine Produktion, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es sich um eine Koproduktion mit dem Théâtre National de Bretagne handelte (vgl. Kapitel 3.2, Anm. 29). Diese limitierte Produktionszeit stellte in erster Linie für den Regisseur eine enorme Herausforderung dar. Schließlich lag es in seiner Verantwortung, die beteiligten Akteure so zu mobilisieren und zu organisieren, dass sie trotz des objektiven äußeren Zeitdrucks für künstlerische Experimente offen blieben. Einige choreographische Vorproben wurden von Mikel Aristegui bereits ein paar Wochen vor dem offiziellen Probenbeginn durchgeführt, sodass manche Tanzentwürfe schon am ersten Probentag einsatzbereit waren. Auch in der ca. zwanzigminütigen »Eröffnungsrede« zum ersten Probentag skizzierte Thomas Ostermeier bereits schrittweise die Gesamtstruktur des Stücks. Es lag jetzt an der Einsatzbereitschaft der Schauspieler, des Musikers, der Video- und Tontechniker, der Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner sowie der Kameramänner, wie und womit sie diesen Entwurf, den Anweisungen des Regisseurs folgend, »füllen« werden. Den Schauspielern wurde dabei der Status einer mitexperimentierenden Gruppe zugewiesen, die hinsichtlich der Verkörperung ihrer Improvisationsideen zwar frei waren, aber aufgrund des eng abgesteckten äußeren Zeitplans auf häufige Regieanweisungen angewiesen blieben. In der Tat gründeten ihre Improvisationen – ganz anders als bei den Gotscheff-Proben, wo zahlreiche Szenen ausschließlich von den Schauspielern improvisatorisch erschaffen wurden – stets auf spontanen, aber dennoch immer begründeten Vorschlägen des Regisseurs. So wurde beispielsweise der choreographische Auftritt von Tadzios Schwestern bereits vor den Proben inszeniert und drei Mal im Lauf der zwei ersten Probentage aufgeführt. Bei jeder Vorführung fügten die Tänzerinnen ihrem Auftritt einige choreographische Elemente hinzu – oder aber sie tilgten einzelne Aspekte ihrer Performance. Sie stürzten, Schabernack treibend und schreiend, in luftigen Matrosenkleidern barfuß auf die Bühne, sprangen über und umeinander herum, ahmten die Bewegungen von Krebsen nach, neckten und stießen einander. Bereits am zweiten Probentag sagte der Regisseur, dass diese Choreographie gekürzt werden solle. Am vierten Probentag wurde sie folgendermaßen »modelliert«: Ostermeier: (nach dem ersten Versuch des Schwestern-Auftritts): »In your first version one day you ›grasped the sun‹. Try to do it now.«25 (Darauf folgt ein zweiter Probenversuch)

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4  Probenästhetische Perspektive

»Could you do the spacing, just for me now? You should keep the subject. Martina [Martina Borroni] should not go alone to the audience. What is important for me is, why does this play start. Maybe you, R ­ osabel [Rosabel Huguet], leave the scarf on the steps, and then you fight for the right to have it.« Felix Römer (Kellner) tritt mit dem Tablett ein, wenn Rosabel Huguet den Schal von der Treppe nimmt. Die Tänzerin stützt sich mit beiden Armen auf zwei ihrer Partnerinnen, diese geben ihr den Schwung und sie springt dicht hinter Felix Römer, während er gerade an ihnen vorbeigeht. Dann ist die zweite Schwester (Marcela Giesche) an der Reihe zu springen. »And you should be closer to Felix when Marcela jumps for the second time.«26 Im Anschluss an diese Szene zählte Ostermeier noch einige Punkte auf, die in die Choreographie integriert werden sollten: »1) Martina’s step should be directed to Felix, 2) The jump of Marcela doesn’t make sense anymore, but keep it at first.«27 Wie ich bereits andeutete, war es für diese Proben elementar, dass der Regisseur für die Verwendung eines bestimmten theatralen Elements stets eine adäquate Begründung lieferte. Um abermals meine These über den Einfluss der sozialen Interaktion auf den spezifischen Improvisationszustand der Schauspieler zu bekräftigen, möchte ich nun einen weiteren Vorfall schildern, der sich während der Probenfortsetzung in Rennes ereignete. Am zweiten Probentag in Frankreich wurde über die im ersten Kapitel bereits beschriebene »Unterbrechungsszene« heftig diskutiert. Alle Spieler standen auf der Bühne, der Regisseur und der Regieassistent saßen in der ersten Reihe unten im Saal. Felix Römer las aus einem Zeitungsartikel über einen Brief Thomas Manns an dessen Bruder Heinrich vor. Es wurde zunächst darüber diskutiert und danach ausprobiert, ob Römer diesen Auszug gleich ins Französische übersetzen solle. Da er die französische Sprache nicht beherrschte, wurde der Kameramann darum gebeten, dies zu tun. Bevor der Kameramann den nun übersetzten Brief vorzulesen begann, sollte Felix Römer jedoch davon berichten, dass Manns Brief zwei Jahre nach dem Verfassen von Der Tod in Venedig geschrieben worden sei. Aus irgendeinem Grund – anscheinend in Vorahnung der daran anschließenden Live-Übersetzung des Textes durch den Kameramann – bemerkte der ohnehin recht impulsive Schauspieler zunächst nicht, dass er anstatt »nach dem Verfassen« immer wieder »vor dem Verfassen« sagte. Nachdem Ostermeier schließlich aus der ersten Reihe etwas lauter das Wort »nach« rief, verlor Felix Römer die

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4.1  Empirische Erfahrung

Kontrolle über sich selbst. Ich habe in diesem Moment aufgehört mitzuschreiben, weil ich selber nicht wusste, ob der Zustand, in den der Schauspieler geriet, von ihm nur »gespielt« oder ob er wirklich dermaßen neurotisch war. Nachdem Römer äußerst laut »Was, ›DANACH‹ ?« schrie, schien er einen Wutanfall zu bekommen. Er rannte auf der Bühne herum und schrie plötzlich überlaut Sätze aus, die von seiner Unzufriedenheit mit den Unterbrechungen des Regisseurs zeugten. Das Einzige, was ich notieren konnte, war Römers Satz, der zwar nichts mit seinem Ärger über den Zwischenruf des Regisseurs zu tun hatte, sondern besagte, dass der Schauspieler die Dinge anders sehe, wenn es um die Frage gehe, wie und wann das Besteck vor dem Familienauftritt serviert werden solle. Sein Gesicht wurde purpurrot. Römer schien niemanden um sich herum mehr richtig wahrzunehmen, nicht einmal den ihn filmenden Regieassistenten, der in seiner unmittelbaren Nähe stand. Später, beim Mittagessen, erfuhr ich vom Regieassistenten und der Dramaturgin, die mit Felix Römer schon seit Langem zusammenarbeiten, dass solche Ausfälle bei ihm während der Proben durchaus vorkommen könnten, diese aber immer nur »gespielt« und nicht »natürlich« seien. Aber es soll an dieser Stelle betont werden, dass bei weitem nicht jeder Schauspieler über den Mut oder gar die Fähigkeit verfügt, sein Verhältnis zum Bühnengeschehen auf solch spielerische Weise an den Tag zu bringen bzw. sein Innerstes vor aller Augen zu entblößen. Um derartige Aktionen völlig selbstlos vorzuführen, muss man sich in solch einen Zustand zu versetzen wissen. In diesem Fall waren es vor allem die Unstimmigkeiten zwischen dem Regisseur und dem Schauspieler, die zu solchen Szenen führten. Römers Improvisationszustand lässt sich insofern immer auch als das Ergebnis der mitunter schroffen Interaktionen zwischen ihm und seinem Regisseur interpretieren. Der empfindsame Schauspieler war gerade in Schwung, als er über den Brief Thomas Manns berichtete. Der Schauspieler war anscheinend im Begriff, diese Sätze mit besonders viel Elan zu sprechen (schließlich war es Römer selbst, der den Brief gefunden hatte), als er plötzlich vom Regisseur einmal, dann ein zweites und noch ein drittes Mal an dieser Stelle unterbrochen wurde, was ihn zu empören schien. Diesen Elan wollte Felix Römer allem Anschein nach nicht mehr unterdrücken: Er intensivierte den inneren Zustand, in dem er ohnehin war, und leitete so diese Szene in eine ungeplante, unvorhergesehene Richtung. Die angeführten Fallbeispiele lassen mich schlussfolgern, dass der Improvisationszustand der Schauspieler insbesondere für die Erschaffung der Schlüsselszenen einer Inszenierung eine maßgebliche

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4  Probenästhetische Perspektive

Grundbedingung darstellt. Die Art und Weise, wie solch ein Schwellenzustand erlangt werden kann, ist indes sehr personenbezogen und situationsbedingt. Den besonderen Stellenwert der Improvisation für die Genese einer Theaterinszenierung akzentuierte u. a. der Improvisationsforscher Gerhard Ebert in Rekurs auf Jerzy Grotowski: In der Relation zum Partner also ist das improvisatorische Element des Bühnenhandelns aufbewahrt, an einer für die Schauspielkunst lebenswichtigen Stelle. […] Grotowski als ein genauer Beobachter und Registrator schauspielerischer Prozesse [beschreibt] diese »lebenswichtige Stelle« so: ›Kontakt ist eines der wesentlichen Elemente […]. Kontakt heißt nicht stieren, sondern sehen […]. Kontakt kann mich zwingen, meine Spielweise zu ändern […]. Auf diese Weise sollen Sie während der Vorstellung im Rahmen der fixierten Partitur (Text und Aktion sind genauestens festgelegt) immer in Kontakt mit Ihrem Partner stehen. Ist Ihr Partner ein guter Schauspieler, dann wird er sich immer an die gleiche Spielanlage halten. Er wird nichts dem Zufall überlassen, keine Details ändern. Aber innerhalb der Partitur werden in Sekundenbruchteilen Veränderungen stattfinden, so daß sich seine Spielweise jedesmal leicht verändert; […] Immer sagt er »Guten Morgen«, aber jedes Mal eine Nuance anders. Das müssen Sie aufnehmen, nicht mit dem Verstand, sondern mit Augen und Ohren. Sie selbst geben immer die gleiche Antwort – »Guten Morgen« –, aber wenn Sie wirklich zugehört haben, wird es jeden Tag ein bißchen anders klingen. Handlung und Ton bleiben sich gleich, aber der Kontakt überträgt sich so blitzschnell, daß er unmöglich einer rationalen Analyse unterzogen werden kann.28 Die kontaktsichernde Funktion des Improvisationszustands, die anhand der genannten Beispiele aus drei unterschiedlichen Theaterhäusern geschildert wurde, ist sowohl für den Probenprozess als auch für die fertige Inszenierung von Belang. Für den Probenprozess besteht die kontaktsichernde Funktion der schauspielerischen Improvisation »in der Relation zum Partner«, und zwar darin, dass der Schauspieler »gegenüber seinem Partner wach und offen bleibt« bzw. »daß er den Handlungsimpuls von ihm jeden Abend neu bezieht. Denn der Handlungsimpuls, der zum Wort führt, wird zwar bewußt probiert, […] muß aber während der Vorstellung trotz dieser Fixiertheit […] nach wie vor spontan, elementar hergestellt werden, muß entstehen.«29 Die kontaktsichernde Funktion der Improvisation ist in einer fertigen Insze-

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4.1  Empirische Erfahrung

nierung für den Schauspieler deswegen wichtig, weil er sich dadurch den »›Spielraum‹ schafft, innerhalb der fixierten Handlungslinie unauffällig improvisieren zu können«30. Wichtig für meine Ausführungen ist, dass die beschriebenen Probenbeispiele im Einklang mit den Improvisationspraktiken der »Theatergiganten« sind, welche die Improvisation als eine eigenständige Form der Schauspielkunst und -ausbildung wertschätzten und in den von ihnen gegründeten Schauspielschulen in den Lehrplan aufnahmen. So meinte Stanislawskis Schüler Wsewolod Meyerhold, der Vorteil des Schauspielers bestehe darin, dass er durch individuelle improvisatorische schöpferische Mittel Einfluss auf das Publikum ausüben kann, »sonst wäre es unmöglich, 300 Mal zu spielen«.31 Nach Meyerhold sei die Improvisation der Schlüssel zur permanenten Erneuerung der Aufführung (und der Rolle). Sie werde über schöpferische Mittel erzielt, die bei jedem Schauspieler individuell und unwiederholbar seien. Diese schöpferischen Mittel arbeitete M ­ eyerhold zeitlebens aus.32 Michail Čechov erhob die Improvisation, wie in Kapitel 2 bereits erwähnt, sogar zu einem eigenen Probenverfahren. Im Kern stehen Michail Čechov und Wsewolod Meyerhold hinsichtlich der besonderen Leistung der Improvisation auf einer Linie: Beide Theaterschaffenden sehen die Improvisation als einen Weg des Schauspielers zur Unabhängigkeit innerhalb seiner Rolle. In jedem Moment seiner Bühnenpräsenz »fühlt sich der improvisierende Schauspieler schon bedeutend freier. Und wenn er ein und dieselbe Rolle noch sooft gespielt hat – er findet bei jedem Auftritt doch immer wieder neue Spielnuancen.«33 Auch der dritte große Schüler Stanislawskis, Jewgeni Wachtangow, hielt die Improvisationskunst des Schauspielers für das wichtigste Element der Schauspielerausbildung. Die kreative Selbständigkeit des Schauspielers war nach Wachtangow eine der Eigenschaften, die für die schöpferische Improvisation erforderlich war. Der freie Improvisationsprozess vermag sowohl das schöpferische als auch das persönliche Potenzial des Schauspielers ans Licht zu bringen. Jeder Akteur solle daher unbedingt ein Improvisator sein. Nur wer über diese ­Fähigkeit verfügt, besitzt laut Wachtangow ein wahres schauspielerisches Talent.34 Aus probenästhetischer Perspektive ist die Improvisation, so hoffe ich gezeigt zu haben, als Modus des schauspielerischen Handelns über vertrauliche soziale Interaktionen zu erreichen. Die modellierende Funktion der Improvisation, die Gerhard Ebert für die Gestaltung der Rolle durch den Schauspieler in der Relation zum Bühnenpartner im Probenprozess erforscht hat, repräsentiert eine bedeutende Domäne

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4  Probenästhetische Perspektive

für die Analyse der Improvisation als Modus des schauspielerischen Handelns. Die Analyse der Improvisation sieht die Theaterforscherin Christel Weiler mit »eine[r] Reihe interessanter methodologischer Fragen« konfrontiert, »die sich aus der Spannung zwischen der Singularität eines darstellerischen Aktes und seiner möglichen Wiederholbarkeit ergeben«.35 Weiter führt Weiler aus: »Eine Theorie der I[mprovisation] als Theorie schauspielerischen Handelns im Kontext der Erforschung der performativen Dimension des Theaters steht noch aus.«36 Tatsächlich lässt sich kaum bestreiten, dass die nicht wiederholbare Wiederholbarkeit37 der Theateraufführung (aufgrund des ereignishaften und insofern unverfügbaren Flüchtigkeitscharakters der Letzteren) die Erforschung der schauspielerischen Improvisation unmöglich macht. Dass aber der zeitlich begrenzte Produktionsprozess38 eine alternative Perspektive für die Erforschung der Improvisation als Ereignis bietet, habe ich oben an mehreren Beispielen gezeigt. Der Weg dahin führte über die vertraulichen sozialen Interaktionen, die erstens die Herstellung intersubjektiver, oftmals überaus vertrauter Beziehungen bewirkten und die zweitens das Entstehen von produktiven Arbeitsatmosphären ermöglichten. Die beiden letzteren Faktoren trugen ihrerseits zum Entstehen ereignishafter improvisierter Vorfälle bei, aus denen sich die jeweiligen Inszenierungen konstituierten.

4.2 Der Bezug der Improvisation auf die Emotionsebene im ­rituellen Prozess der Proben

Die rituelle Dimension der Theaterprobenprozesse mit ihrem vertrauten, fast intimen Charakter, ihren emotionalen Arbeitsatmosphären, der Herstellung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Intakthaltung ritueller Symboliken, der gemeinsamen Suche nach den Komponenten der Aufführung – all diese Probedimensionen eröffnen weite Perspektiven für die Emotionsforschung, wobei Letztere in der Geschichte der Schauspielmethoden seit der Etablierung des Regietheaters eine zentrale Stellung einnimmt (vgl. dazu ausführlich Kapitel 5). Die Sozialität der Emotionen vom Standpunkt der rituellen Aktionen geschlossener Gruppen aus zu betrachten, ist meines Erachtens insbesondere für die Theaterwissenschaft, die Emotionssoziologie und die Schauspielmethoden von besonderer Relevanz. Meine These ist, dass alle Emotionen, die im Prozess des Probens unmittelbar zum Ausdruck kommen – ob sie nun von individuellen Akteuren ausgehen oder in gemeinsamen Aktionen auftreten –, als kollektive Emotionen

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4.2  Der Bezug der Improvisation auf die Emotionsebene

zu gelten haben. Darüber hinaus vertrete ich die Auffassung, dass die Funktion dieser sozialen Emotionen in der Gestaltung der Kunstfiguren besteht. Um meine Ausführungen in eine soziologi­sche Richtung zu leiten, greife ich im Folgenden zum einen die soziologischen Emotionstheorien von Emile Durkheim, Erving Goffman,­­ ­ Randall ­Collins und ihren Nachfolgern auf. Zum anderen spanne ich die ­Brücke zu den performativen Ausprägungen, die im Improvisationsvermögen der Schauspieler wurzeln und der Inszenierung ihre Struktur im Probenprozess verleihen. Der Soziologe Emile Durkheim hat bereits 1912 in seiner eth­ nologischen Arbeit Die elementaren Formen des religiösen Lebens den Begriff der kollektiven Efferveszenz (collective effervescence) eingeführt.39 Unter diesem Begriff versteht Durkheim kollektive affektive Erregungen bzw. kohärente Wohlgefühle, die von Personen während der Durchführung ritueller Handlungen empfunden werden und im Zuge dessen Momente der Kohäsion, Integration und Solidarität ermöglichen. Die Ebene der kollektiven Efferveszenz trägt nicht nur zur Hervorbringung von grundlegenden Wertvorstellungen, zur Herstellung von kollektiven Identitäten und zur Entstehung eines kollektiven Bewusstseins bei, sondern sie leistet zudem »eine physiologische ›Verankerung‹ dieser Werte […] im subjektiven und phänomenalen Erleben der Akteure«.40 1967 entwickelte Erving Goffman Durkheims These weiter, indem er sie nicht nur auf religiöse, sondern auf sämtliche Interaktionsformen anwendete, auch auf solche, die im Alltag zwischen zwei Gesprächspartnern stattfinden, wobei auch er auf den rituellen Charakter aller Interaktionen hinwies. Für Goffman ist eine Emotion »the form of moral compulsion«, die im Interaktionsritual zur geistigen Verpflichtung auffordert, die Interaktion intakt zu halten (»moral obligation to preserve interaction«).41 Die Mechanismen, wie ein Interaktionsritual herbeigeführt werden kann, hat später unter Rekurs auf Goffman Randall Collins spezifiziert. Die räumliche Nähe der (mindestens zwei) Teilnehmer des Interaktionsrituals schafft die maßgebliche Bedingung für den Einstieg in die gemeinsame Aktion. Diese Aktion führt ihrerseits zum gemeinsamen (kollektiven) Bewusstsein für die Realisierung des rituellen Potenzials, zur kollektiven Wahrnehmung und transitorischen Emotion, wobei die zwei letzteren interpersönliche Beziehungen zwischen den Beteiligten ermöglichen.42 Theodore D. Kemper bemerkt, dass Collins, wie einst Durkheim, zur Überzeugung kam, dass die Verankerung von Werten und Überzeugungen im Interaktionsvorgang auf affektiv-physiologischem Weg ­verläuft:

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4  Probenästhetische Perspektive

[…] members begin to resonate in tune with each other’s emotion­al frequency, so that there is not only a cognitive commonality but also a physiological entrainment. Each member becomes more and more attuned to the rhythms of talk and action of the other members.43 Diese Fokussierung auf die emotional-physisch-psychische Resonanz wird im Weiteren auch meinen Ausführungen über den Konstituierungsprozess der Kunstfigur zugrunde liegen (vgl. Kapitel 7.2). Gemeinsame aktive Teilnahme und leibliche Rhythmisierung führen nach Collins einerseits zur Gruppensolidarität (»group solidarity makes individuals feel a desire to defend and honor the group«44) und andererseits zur individuellen emotionalen Energie (»emotional energy«) (»energy, not just for physical activity […], but above all for taking the initiative in social interaction, putting enthusiasm into it, taking the lead in setting the level of emotional entrainment«45). Das Konzept der emotionalen Energie ist für Collins für die Idee der Interaktionsrituale insofern grundlegend, als er die emotionale Energie (bzw. deren Ausmaß) als Bindeglied zwischen einzelnen Interaktionen bezeichnet und sie als Gelingensbedingung jeglicher Interaktion hervorhebt46: Emotional energy also facilitates further interaction rituals, in part because persons with high EE have the enthusiasm to set off a new emotional stimulus and pump up other people […]; in part because persons with high EE have the energy to make strong efforts to reassemble the group, or to collect a new group. And finally, when people have membership symbols pumped up with significance from past IRs, they possess cognitive devices for reminding themselves of past rituals, and also a repertoire of emblems and emblematic actions that they can use as a visible focus of attention or a shared activity to get an interaction focused again. This is how a single IR becomes an IR chain.47 Was nun die Thesen der genannten Soziologen mit den von mir durchgeführten Beobachtungen verbindet, ist das empirische Ergebnis von Collins’ Nachfolgerin Erika Summers-Efflers, zu dem sie anhand einer ethnologischen Studie in kleineren Gruppen gekommen ist. Summers-Effler führt aus, dass es die gemeinsam geteilte Unsicherheit über den Ausgang einer Interaktion ist (»shared uncertainty about interaction outcomes«), welche die kollektive Wahrnehmung und Auf-

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4.2  Der Bezug der Improvisation auf die Emotionsebene

merksamkeit intensiviert, »as participants must pay careful attention to the changing context to be able to negotiate the unfolding interaction«.48 Zentral ist hier die Unsicherheit, weil sie auf der Unvorhersehbarkeit der Interaktionsrituale beruht und demzufolge auch spontane Reaktionen der Agierenden in sich fasst. Im Unvorhersagbaren wurzelt die »Gefährlichkeit« der liminalen Situationen für die Beteiligten. Eben das macht rituelle Prozesse (in unserem Fall: Probenprozesse) für die Öffentlichkeit so gut wie unzugänglich (allerdings nur selten bzw. unter bestimmten Bedingungen erreichbar). Spontaneität – sowohl seitens des Ereignisses als auch seitens der Involvierten – liegt also jeglicher Unvorhersehbarkeit zugrunde. Mit Blick auf die Theaterprobe bedeutet dies: Das Spontaneitätsniveau der Schauspieler bezieht sich auf das Vokabular ihres Improvisationsvermögens und ihrer Improvisationserfahrung. Die Improvisation als eine besondere Form des Bühnenagierens schließt vor allem spontane, situationsbedingte Verkörperungen ein (von diesem Aspekt zeugte etwa die oben geschilderte Szene mit der Sandale zwischen Katrin Wichmann und Samuel Finzi, aber auch die Szene mit der pantomimischen »Gewaltszene« oder die »Fang-Szene«). Die Verkörperungsbedingungen tragen einerseits einen situativen, andererseits einen ereignishaften Charakter. Meines Erachtens sind die Verkörperungsbedingungen, von denen Judith Butler in ihrem Aufsatz »Performative Acts and Gender C ­ onstitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory« spricht,49 nicht nur auf die von ihr postulierten performativen Akte (performative acts)50 zu beschränken: Das Repertoire des Verkörperungsprozesses ist viel größer als die Sphäre der von Butler erörterten körperlichen performativen Handlungen. Butler postuliert zwar, dass körperliche Handlungen nicht nur einem konkreten Individuum zugehören, sondern immer als eine kollektive Handlung zu betrachten sind: »As a given temporal duration within the entire performance, ›acts‹ are a shared experience and ›collective action.‹«51 Zwar trifft dieses Postulat auch auf die Verkörperungsbedingungen in theatralen Proben zu, ist aber meines Erachtens für diese bei Weitem nicht ausreichend. Das Repertoire des Verkörperungsprozesses einer Kunstfigur beim Probieren hat darüber hinaus einen situations- und ereignishaften Charakter und bezieht sich auf den von Max Herrmann postulierten Aufführungsbegriff, der »zuvörderst die Aktivitäten und dynamische[n] Prozesse«,52 in welche die Beteiligten verwickelt sind, fokussiert (vgl. dazu abermals Kapitel 1.2, Anm. 65 oben.) Eine dezidiert empirische Methode in Bezug auf den rituellen Gruppenprozess des theatralen Probens, Herrmanns Aufführungs­

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4  Probenästhetische Perspektive

theorie sowie die soziologischen Emotionstheorien Durkheims, Goffmans, Collins’ und Summers-Efflers führten mich zu der ­ Annahme, dass der Prozess der Verkörperung einer Kunstfigur auf einem mehrstufigen kognitiv-affektiv-physiologischen Weg vonstattengeht, wobei die empirische Vorgehensweise es erlaubt, diesen Prozess vor allem in seiner Dynamik, nicht in seiner Statik, zu beobachten. Fünf Aspekte lassen sich in diesem Zusammenhang zusammenfassend hervorheben: 1.  In jeder Probensituation vollziehen die Beteiligten »mit unterschiedlichen Gestimmtheiten, Launen, Wünschen, Vorstellungen, Kenntnissen etc. zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort«53 Handlungen und Interaktionen, die von einem Probentag zum anderen – aufgrund des festen Standorts des Geschehens, des festgesetzten Ziels der Veranstaltung und des repetitiven ­Charakters der Handlungen – zu einer Art Ritual werden. 2.  Die Interaktionsrituale der Teilnehmer führen zu einem kollektiven Bewusstsein und zu kollektiven Wahrnehmungen. 3.  Die räumliche Nähe und die Verfolgung eines gemeinsamen Ziels – die Suche nach den Komponenten einer theatralen Aufführung – erzeugen in den Beteiligten kollektive Emotionen. Diese ­Emotionen stellen sie gewissermaßen auf dieselbe emotionale Frequenz ein. Ermöglicht wird auf diese Weise sogar eine gemeinsame ­physiologisch-motorische Anteilnahme (was erstens mit Butlers »collective action« korrespondiert und zweitens nach ­Collins sogar über langsamere Abspielung der Video- und Audioaufzeichnungen festzustellen ist54). 4.  Emotionale Energien stimulieren das Interesse an weiteren Interaktionen, die in der Zukunft stattfinden. 5.  Das Unvorhersehbare eines jeden Interaktionsrituals steigert die emotionale Energie eines jeden Beteiligten und aktiviert dessen Improvisationspotenzial im unmittelbaren Prozess des »re-enactments«. Erst nach Erfüllung dieser Bedingungen werden performative Handlungen in den Prozess der Verkörperung einer Kunstfigur eingesetzt. Daraus wird ersichtlich, dass die Verkörperungsbedingungen, die laut Butler bei der Konstituierung einer Identität (und damit auch bei der Konstituierung der Kunstfigur) zwischen zwei Polen verlaufen, aus theaterwissenschaftlicher, ritualtheoretischer und emotionssoziologischer Perspektive mindestens verfünffacht werden. Die Improvisation

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4.2  Der Bezug der Improvisation auf die Emotionsebene

dient durch die Aktivierung emotionaler Energien der Durchführung und dem Erreichen des rituellen Ziels und leistet somit einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt der sozialen Gruppe.55

1

Christel Weiler: »Improvisation«, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 144–146, S. 144. 2 Gemeint ist das improvisatorische Verhalten der Spieler innerhalb von Aufführungen. Bei jeder neuen Aufführung findet der spielende Schauspieler immer neue Intonationen, Tonalitäten, Zäsuren, Gesten, mimische Ausdrücke u. ä. im Rahmen seiner bereits »fertigen« Rolle, um so seine Bühnengestalt in Kontakt mit anderen Bühnengestalten permanent weiterzuentwickeln, ohne diese jedoch gänzlich zu verändern. So wird durch das Improvisieren in der »fertigen« Inszenierung zum einen das Interesse zur eigenen Kunstfigur aufrechterhalten, zum anderen wird vom »Kurs« nicht abgewichen, den der Regisseur in den Proben genommen hat, bzw. die in den Proben entdeckten Eigenschaften der Figur werden aufrechterhalten. 3 Weiler: »Improvisation«, S. 145f. 4 In seiner Dissertationsschrift erforscht Andrej Tolšin die Improvisation im Ausbildungsprozess des Schauspielers und geht u. a. auf psychologische Eigenarten des Zustands ein, den er als Improvisationsbefinden (rus. »improvisazionnoe samočuvstvie«) oder Improvisationszustand bezeichnet. Vgl. Andrej Tolšin: Improvisazija v prozesse vospitanija aktëra, unveröffentlichte Dissertationsschrift, Sankt Petersburg 2001; vgl. hier insbes. das Kapitel »Psichologičeskie osobennosti improvizacionnogo samočuvstvija«, S. 65–74. Vgl. auch ders.: Improvizacija v obučenii aktëra, veröffentlichte Dissertationsschrift Sankt Petersburg 2014; vgl. hier das Kapitel »Psichologičeskaja priroda improvizacii«, S. 38–43. 5 Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Teil 1, Westberlin 1984, S. 252. 6 Ebd., S. 253. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Keith Johnstone: Improvisation und Theater, Berlin 2008, S. 250. 10 Konstantin Sergeevič Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns, Teil 2, Westberlin 1984, S. 179. Vgl. auch Johnstone, Improvisation und Theater, S. 250. 11 Johnstone: Improvisation und Theater, S. 250f. 12 Stanislawski: Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns, Teil 2, S. 183. Vgl. zwei letzte Sätze auch in Johnstone: Improvisation und Theater, S. 251. 13 Johnstone: Improvisation und Theater, S. 251. 14 Nikolai Gorchakov: The Vakhtangov School of Stage Art, Moscow 1959, zit. nach Johnstone, Improvisation und Theater, S. 251. 15 Johnstone: Improvisation und Theater, S. 252. 16 Ebd., S. 253. 17 Für Ebert verweist die Idee einer modellierenden Improvisation in den Probenprozessen auf die Fähigkeit des Schauspielers, »die beredten Vorgänge eines Stückes, die die Fabel ausmachen, mit seinem Partner und unter Obhut des Regisseurs zu improvisieren, über wiederholtes Improvisieren das Handeln auf der Bühne materiell immer konkreter und geistig immer tiefer und reicher zu erschließen bzw. zu fixieren und gleichzeitig der vom Autor vorgegebenen Handlungslinie anzunähern, d.h. allmählich zum fixierten Handeln zu kommen.« (Gerhard Ebert: Improvisation und Schauspielkunst: Über die Kreativität des Schauspielers, Berlin 1993, S. 32.) 18 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 310.

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4  Probenästhetische Perspektive

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In meiner Studie verwende ich die Begriffe Improvisationszustand und liminaler Zustand oft synonym. Diesbezüglich möchte ich betonen, dass der Begriff der Liminalität bereits bei Arnold van Gennep und Victor Turner ein ausgesprochen breites Verwendungsspektrum hatte, weshalb ich mich dazu befugt sehe, diesen Begriff für das Phänomen der Probenimprovisation in Anspruch zu nehmen. Wie meine Ausführungen zur rituellen Dimension der Theaterprobe in Kapitel 2 nahelegen, ist es durchaus legitim, dem Zustand der Improvisation einen liminalen Charakter zuzuerkennen. 20 DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 11. Originale Rechtschreibung und Zeichensetzung der DT-Textfassung beibehalten. 21 Transkribiert auf Basis meines Probenvideos vom 27.1.2010. 22 Am achten Probentag sagte Samuel Finzi zu Andreas Döhler, der nicht wusste, wie er seinen Charakter spielen sollte: »Wichtig ist nicht der Inhalt, sondern Gestus. Versuch nicht daran zu denken, was du sagst, sondern einfach Gesten zu machen.« (Meine Probennotizen vom 18.1.2010.) Dieser Ratschlag führt mich zu der Annahme, dass Finzis charakteristischer Übergang in den Modus der Improvisation primär auf spezifische Handlungsimpulse angewiesen ist. 23 Transkribiert auf Basis meines Probenvideos vom 19.2.2010. Der Regisseur intendierte mit diesen Ausrufen die Defensive der Patienten gegen die Willkür des Krankenhausregimes. 24 Meine Probennotiz vom ersten Bühnenprobentag (26.1.2010). 25 Mit einem international zusammengesetzten Ensemble, wie es in den Proben zu Der Tod in Venedig der Fall war, spricht Ostermeier oft auch Englisch. Der eingeladene Choreograph und die zwei durch Casting ausgewählten Tänzerinnen kamen aus Spanien bzw. Italien. 26 Meine Probennotizen vom 5.10.2012. 27 Ebd. 28 Jerzy Grotowski: Das arme Theater, Velber bei Hannover 1968, S. 208, zit. nach Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, S. 32f. 29 Ebert: Improvisation und Schauspielkunst, S. 32. 30 Ebd., S. 33. 31 Vsevolod Mejerchold: »Zapisi neustanowlennogo liza po biomechanike-technike szeničeskich dviženij«, 1918//RGALI, F. 998, Liste 1, Dok. 789, zit. nach Tolšin: Improvizacija v obučenii aktëra, 2014, S. 31. [Übersetzung von mir, V. V.] 32 Vgl. in: Tolšin: Improvizacija v obučenii aktëra, 2014, S. 31. [Übersetzung von mir, V. V.] 33 Michail A. Čechov: Die Kunst des Schauspielers, Stuttgart 1990, S. 105. 34 Vgl. »Konspekty lekzij E. B. Vachtangowa w studenčeskoj dramatičeskoj studii, sostavlennye učenikami (1914)« // Vachtangov. Zapiski. Pis‘ma. Stat‘i. in: Nadežda Vachtangova u. a. (Hg.), Moskva 1939, S. 276–286, S. 276, zit. nach Tolšin, Improvizacija v obučenii aktëra, 2014, S. 32. [Übersetzung von mir, V. V.] 35 Weiler: »Improvisation«, S. 146. 36 Ebd. 37 Die Frage nach der wirklichen Möglichkeit einer Wiederholung wurde von den Philosophen bereits früher aufgegriffen. An dieser Stelle wären z. B. die Lebensbeobachtungen von Sören Kierkegaard von Interesse. In seiner Abhandlung Die Wiederholung kommt er zum Schluss, dass »[d]as einzige, das sich wiederholte, die Unmöglichkeit einer Wiederholung [war]. […] Meine Entdeckung war nicht bedeutend, indes sie war sonderbar; denn ich hatte entdeckt, daß die Wiederholung gar nicht vorhanden war, und dessen hatte ich mich vergewissert, indem ich dies auf alle nur mögliche Weise wiederholt bekam.« (Vgl. Sören Kierkegaard: »Die Wiederholung«, in: Emmanuel Hirsch (Hg.): Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke, Abt. 5/6, Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden: 1843, Gütersloh 1998, S. 1–97, S. 44f.) Vor diesem phänomenologischen Hintergrund lässt sich die These bestätigen, dass auch eine Theateraufführung nie im Detail wiederholt werden kann: Jedes Mal wird dabei etwas anders gehen, als am Abend zuvor. 38 Der Produktionsprozess ist allein aufgrund seiner zeitlichen Begrenztheit bereits so fixiert, wie er innerhalb der ihm eingeräumten Zeitspanne verlaufen ist: Er ist nicht mehr zu ändern. Vor dem Hintergrund der fertigen Inszenierung (die Monate oder gar Jahre hindurch im Spielplan bleiben kann bzw. in der die

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Endnoten

Spielenden zueinander »wach und offen bleiben« bzw. die Handlungsimpulse von den Bühnenpartnern »jeden Abend neu bezieh[en]« (Vgl. Ebert, Improvisation und Schauspielkunst, S. 32.) und dadurch permanent Spielraum fürs Improvisieren erzeugen) verfügt der Probenprozess über »die Singularität eines darstellerischen Aktes« (Vgl. Weiler: »Improvisation«, S. 146.) und hat deswegen Vorrang vor der fertigen Inszenierung in Fragen nach der Analyse des improvisatorischen Handelns der Schauspieler. 39 Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), ­Frankfurt a. M. 2001; vgl. Chris Shilling, Philip A. Mellor, »Durkheim, morality and modernity: collective effervescence, homo duplex and the sources of moral act«, in: British Journal of Sociology, 49 (2) 1998, S. 193–209, zit. nach Christian von Scheve: »Die soziale Konstitution und Funktion von Emotion: Akteur, Gruppe, normative Ordnung«, in: Manfred Prenzel, Christoph Wulf (Hg.): Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt: Emotionen, 14 (2) 2011, S. 207–222. 40 Christian von Scheve: »Die soziale Konstitution und Funktion von Emotion: Akteur, Gruppe, normative Ordnung«, in: Prenzel/Wulf (Hg.): Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt: Emotionen, 14 (2) 2011, S. 207–222, S. 213. 41 Erika Summers-Effler: »Ritual Theory«, in: Jan E. Stets, Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 135–154, S. 138. 42 Vgl. ebd. 43 Theodore D. Kemper: »Social Models in the Explanation of Emotions«, in: Michael Lewis (Hg.): Handbook of Emotions, New York 2000, S. 45–58, S. 48. 44 Collins: Interaction Ritual Chains, S. 109. Weiter weist Collins darauf hin, dass dieses Solidaritätsgefühl auf die für diese Gruppe typischen »Symbole«, »heiligen Objekte« (»sacred objects«) gerichtet ist. Alle Gruppenmitglieder zeigen gegenüber diesen Symbolen Respekt auf bzw. schützen diese Symbole: »This solidarity feeling is typically focused on symbols, sacred objects […]. One shows respect for the group by participating in rituals venerating these symbolic objects; […] Members of the ritual group are under especially strong pressure to continue to respect its sacred symbols. If they do not, the loyal group members feel shock and outrage: their righteousness turns automatically into righteous anger.« (Vgl. ebd.) Demzufolge würden die bereits gefundenen bzw. die gesuchten Komponenten einer Inszenierung als solche »Symbole« für die Beteiligten an einem Probenprozess fungieren. 45 Ebd., S. 107. 46 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine gleichartige Beobachtung der weltbekannten US-amerikanischen Improvisationspädagogin Viola Spolin. Spolin hat beobachtet, dass Gruppenmitglieder »eine große Kreativität [entwickeln], wenn freie und gesunde Energien ohne Zwang in die Theaterarbeit einfließen. Das künstlerische Niveau der Gruppe wird steigen, denn die Probleme des Schauspielens sind kumulativer Natur: durch jedes neue Erlebnis werden alle vertieft und bereichert zugleich.« (Vgl. in: Viola Spolin: Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater, Paderborn 1983, S. 26.) Beide Wissenschaftler, Viola Spolin und Randall Collins, sind sich in einer Angelegenheit einig: Es ist das steigende künstlerische Niveau der Gruppe (bei Spolin) bzw. die steigende emotionale Energie (bei Collins), die als wichtigste Voraussetzung eines jeden neuen Erlebnisses bzw. einer geglückten Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern fungieren. 47 Collins: Interaction Ritual Chains, S. 146. [Hervorhebungen im Original.] 48 Summers-Effler: »Ritual Theory«, S. 139. 49 Judith Butler: »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, in: Sue-Ellen Case (Hg.): Performing Feminisms: Feminist Critical Theory and Theatre, Baltimore/London 1990, S. 270–282. Vgl. dazu auch Fischer-Lichte: »Die Bedingungen, unter denen der Prozeß der Verkörperung jeweils vollzogen wird, sind nun weder ausschließlich in die Macht und Verfügungsgewalt des Individuums gestellt – es kann nicht völlig frei wählen, welche Möglichkeiten es verkörpern […] will –, noch sind sie komplett von der Gesellschaft determiniert […].« (Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 38.) 50 Den Begriff performative acts bezieht Butler vor allem auf körperliche Handlungen: »[…] gender is instituted through the stylization of the body and, hence,

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4  Probenästhetische Perspektive

must be understood as the mundane way in which bodily gestures, movements, and enactments of various kinds constitute the illusion of an abiding gendered self. […] the appearance of substance is precisely that, a constructed identity, a performative accomplishment which the mundane social audience […] come to believe and to perform in the mode of belief.« Vgl. Butler: »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, S. 270f. [Hervorhebung im Original.] Vgl. dazu auch Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 38–41. 51 Butler: »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory«, S. 276. 52 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 54. 53 Ebd., S. 53f. 54 »Synchronized gestures occur within time segments as rapid as 21 milliseconds (0, 02 seconds), but humans are capable of overtly reacting to a stimulus only in 0,4 or 0,5 seconds […]. Only slow playback of film frames reveals these p ­ atterns; indeed, people in conversation can synchronize their gestures in half of a film frame (42 ms). Other synchronized behaviors, such as brain waves, or voice pitch range […] are not even noticeable without specialized instruments. How, then, are people able to synchronize? The implication is that they have fallen into the same rhythm, so that they can anticipate where the next ›beat‹ will fall.« (Collins: Interaction Ritual Chains, S. 77.) 55 Die Gruppe bleibt erhalten, falls die kollektive Emotion positiv ausgeht bzw. die gemeinsame Aktion kollektiv wird. Die Probe der Szene der Musiktherapie auf der Hauptbühne des Deutschen Theaters, auf die ich zu Beginn dieses Kapitels einging, illustriert das Paradebeispiel einer geglückten kollektiven Emotion, die über kollektive Improvisation buchstäblich in Szene gesetzt wurde. Die Verkörperung sämtlicher Kunstfiguren in jener Szene realisierte sich auf kognitiv-affektiv-leiblichem Weg: über Interaktionen mit dem Regisseur, über musikalische Einwirkungen auf die Sinne der Darsteller (Tuba-Musik, Kommando-Rufe des Regisseurs und die Aufzählrhythmen der Schauspielerin auf der Hinterbühne) sowie über gemeinsame Tanzhandlungen.

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5 Soziale Emotionen in den ­Probenprozessen 5.1

Interaktionsrituale in den Probensituationen

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich den Probenprozess als ein Geschehen dargestellt, das sich aus vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen zusammensetzt. Diese Ereignisse stellen die maßgeblichen Elemente einer Inszenierung bereit. Entscheidend ist, dass diese Elemente im Lauf des hochgradig repetitiven Probenprozesses sukzessiv modifiziert und verfeinert werden, um schließlich in die Endfassung der Aufführung einzugehen. Wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits vermerkt wurde, bestimme ich die Probensituation als die elementare Analyseeinheit eines Probenprozesses. Was genau unter einer Probensituation zu verstehen ist, hat meines Erachtens Konstantin Stanislawski im ersten Teil seines Werks Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens – wenn auch nur indirekt – verdeutlicht. Jeder, der mit diesem in Form eines Tagebuchs verfassten Werk vertraut ist, weiß, dass der Regisseur Torzow seinen Schauspielschülern im gesamten Studienjahr immer wieder dieselben Etüden vorzulegen pflegt, um anhand dieser Übungen neue Begriffe und Psychotechniken einführen zu können, die er mit seinen Schülern anschließend gemeinsam durcharbeiten kann. Während dieses Zeitraums schafft der Regisseur für seine Studierenden mithin etliche Studiensituationen,1 die für die Schüler zwar einerseits nicht unbekannt sind, aber andererseits immer wieder unvorhersehbare Herausforderungen provozieren. In diesen Studiensituationen sollen die Studenten (oft auch anhand eigener Fehler) lernen, die im Schauspielunterricht stets entstehenden Herausforderungen bewältigen. Offensichtlich bereitet Torzow (der bekanntlich als Prototyp von Stanislawski selbst gilt) seine Schüler mit diesen Maßnahmen darauf vor, dass sie später als professionelle Schauspieler an jedem Probentag auch immer wieder mit den Szenen konfrontiert werden, die aufgrund der Probenereignisse, -kommunikationen und -(wechsel-)beziehungen modifiziert und weiterentwickelt werden. Die Studenten sollen schon im Unterricht lernen, dass die Konfrontation mit diesen Ereignissen während der Proben immer spontan und völlig unerwartet beginnt, dass die Aufmerksamkeit der Teilnehmer dabei quasi »ertappt« wird und dass sie als Schauspieler für diesen Vorgang des Zustandekommens einer Szene in erster Linie verantwortlich sind.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Sie als Schauspieler sollen auf diesen Vorgang direkt Einfluss nehmen. Mit anderen Worten: Torzow bereitet seine Schüler auf Probensituationen vor. Eine Probensituation kann – genauso wie eine Studiensituation – an einem Proben- oder Studientag unter gewissen Bedingungen beginnen, danach für eine Weile »in Vergessenheit geraten« und an einem anderen Proben- oder Studientag plötzlich mit neuer Intensität und anderen Qualitäten wieder auftauchen. In Stanislawskis Werk greifen die Schüler im ersten Studienjahr z. B. die Etüde einer »Geldverbrennung« immer wieder auf. Über die Umstände, unter denen der Regisseur Torzow diese Etüde vorbrachte, heißt es: […] Ich erzähle Ihnen jetzt eine erschütternde Tragödie, die Sie hoffentlich die Zuschauer vergessen läßt. Sie spielt ebenfalls in Maloletkowas Wohnung. Sie hat inzwischen Naswanow geheiratet, der als Kassierer bei irgendeinem Amt arbeitet. Sie haben ein entzückendes Baby. Die Mutter ist hinausgegangen, um das Kind zu baden, der Vater ordnet seine Akten und zählt das Geld nach – wohlbemerkt: Es sind Dienstpapiere und amtliche Gelder. Er war am Abend durch Dienstwege aufgehalten worden und hatte es nicht mehr geschafft, sie im Amt abzugeben. Ein Haufen abgegriffener, schmutziger Geldscheine liegt auf dem Tisch. Vor Naswanow steht Maloletkowas jüngerer Bruder, er ist bucklig, schwachsinnig – ein Halbidiot. Er sieht zu, wie Naswanow die bunten Papierstreifen – die Banderolen – von den Geldbündeln abreißt und in den Kamin wirft, wo sie in hellen Flammen rasch verbrennen. Dem Schwachsinnigen gefällt dieses lustig aufflackernde Feuer. Das Geld ist gezählt. Es sind über zehntausend Rubel. Da der Mann mit seiner Arbeit fertig ist, ruft ihn die Maloletkowa zu sich ins Nebenzimmer, damit er das Kind bewundere, das sie dort badet. Naswanow geht weg, der Idiot wirft, so wie er es gesehen hat, weiterhin Papierchen ins Feuer. Und weil keine Banderolen mehr da sind, wirft er die Geldscheine hinein. – Die brennen ja noch lustiger als die bunten Streifen! Hingerissen von diesem Spiel, hat der Idiot das ganze Geld ins Feuer geworfen und die Rechnungen und die übrigen Papiere dazu – den ganzen staatlichen Besitz. Naswanow kommt zurück, als der letzte Stoß Feuer fängt. Als er begreift, was los ist, stürzt er außer sich auf den Buckligen zu und stößt ihn heftig vom Tisch zurück. Der Idiot fällt hin und

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

schlägt mit der Schläfe auf das Kamingitter. Wie ein Irrsinniger reißt Naswanow das letzte, schon halb verbrannte Bündel aus der Glut und stößt einen verzweifelten Schrei aus. Die Frau kommt herbeigelaufen und erblickt den vor dem Kamin liegenden Bruder. Sie versucht ihn aufzurichten, es gelingt ihr aber nicht. Als sie das Blut auf seinem Gesicht sieht, befiehlt sie ihrem Mann Wasser zu holen. Aber Naswanow starrt verständnislos vor sich hin, er ist gelähmt vor Entsetzen. Da stützt die Frau selber nach Wasser, und sofort ertönt aus dem Nebenzimmer ihr Schrei – ihr Kind, ihr geliebtes, entzückendes Baby ist in der Badewanne ertrunken. Wenn Sie diese Tragödie nicht vom schwarzen Loch des Zuschauerraums ablenkt, dann sind ihre Herzen aus Stein.2 Mithilfe dieser Etüde arbeiteten die Schüler während des gesamten ersten Studienjahrs diverse Aspekte der schauspielerischen Psychound Körpertechnik durch. Diese Aspekte bezogen sich etwa auf die Förderung der szenischen Aufmerksamkeit, die Fähigkeit zur Muskelentspannung, die Sensibilisierung für Momente der Wahrhaftigkeit oder die Rolle des Unbewussten für das Agieren auf der Bühne. Immer wieder wurde diese Etüde aufgegriffen: bald im Vorfeld eines neuen Themas, bald als dessen Fortsetzung und Erweiterung. Auch bildeten sie die Grundlage für lebhafte Diskussionen über die Fehler, die die Studenten während ihrer zahlreichen Übungswiederholungen begingen. Oft gaben sie den Schülern zudem Anlass zu Fragen an ihren Lehrer. Während des Vollzugs dieser (aber auch anderer) Etüde(n) richteten der Regisseur und sein Assistent in der Regel etliche Kommentare und Fragen an die Schüler, sodass der Prozess des Bühnenspiels immer wieder unterbrochen und die Aufmerksamkeit auf den Interaktionsprozess selbst gerichtet wurde. Die Interaktionen über die gespielten Etüden fanden mit großer Regelmäßigkeit statt: Kein Studientag verging ohne intensive Diskussionen über den Ablauf und die Ergebnisse der vollzogenen Übungseinheiten. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Interaktionen besaßen zum einerseits einen dezidiert rituellen Charakter; andererseits bildeten sie insofern den wohl wichtigsten Inhalt des Schauspielstudiums, als in dessen Verlauf keine einzige physische oder geistige Handlung der Schüler jemals ohne eine bestimmte vertrauliche3 Interaktion begleitet wurde. Schematisch könnte man die in Stanislawskis Werk geschilderten Studiensituationen folgendermaßen darstellen:

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

1.  Anfang der Etüde – Unterbrechung – Interaktion – spontane Trainingsübung – Interaktion – Wiederholung der unterbrochenen Etüde; 2.  Interaktion – Wiederaufnahme einer bekannten Etüde – Unter­ brechung – Interaktion – neue Trainingsübung oder eine andere Aufgabe – Interaktion – Wiederaufnahme der unterbrochenen Etüde; 3.  ein unvorteilhafter Auftritt der Studierenden – Interaktion – ­Aufgriff einer anderen Etüde – Interaktion – Wiederaufnahme der beiden Stellen usw. Was sämtliche Studiensituationen eint, sind die diese sowie den ganzen Studienverlauf prägenden Interaktionen. Genauso wie die in ­Stanislawskis Werk beschriebenen Studiensituationen waren auch die Probensituationen in den von mir besuchten Probenprozessen strukturiert: Während eine Szene auf der Bühne gespielt wurde, konnte der Regisseur diese unterbrechen, seinen Kommentar dazu abgeben, auf die Bühne steigen, dort mit den Schauspielern diskutieren, dann die Szene sogar abbrechen, um anschließend über eine andere Szene zu sprechen und die unterbrochene Szene erst einige Tage später wieder aufzunehmen. Eine Szene konnte aber auch im Vorfeld des Bühnenspiels diskutiert, danach gespielt, dann kurz unterbrochen und anschließend fortgesetzt werden. Bedeutsam ist an dieser schematischen Beschreibung des Probenverlaufs der repetitive und rituelle Charakter der Interaktionen der Künstler. Warum alle Interaktionen im Probenprozess rituell sind, habe ich ansatzweise bereits im vorangegangenen Kapitel unter Rückgriff auf einige einschlägige Emotionstheorien angedeutet. Diese Ausführungen möchte ich nun in Rekurs auf Randall Collins’ emotionssoziologische Überlegungen vertiefen. Collins ist für meine Studie insofern grundlegend, als er die Mechanismen auslotet, vermittels derer dauerhafte Emotionen in Interaktionsprozessen zu entstehen vermögen. Der Schlüsselbegriff seiner Emotionstheorie ist der der emotionalen Energie (emotional energy): E[motional] E[nergy] gives energy, not just for physical activity (such as the demonstrative outbursts at moments of acute joy), but above all for taking the initiative in social interaction, putting enthusiasm into it, taking the lead in setting the level of emotion­al entrainment. Similarly, sadness or depression is a motivational force when it is a long-term mood, reducing the level of activity, not only bringing physical listlessness and withdrawal (at its

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

extreme, the avoidance of being awake), but making social interaction passive, foot-dragging, perfunctory. Emotional energy, in I[nteraction] R[itual] theory, is carried across situations by symbols that have been charged up by emotional situations. Thus E[motional] E[nergy] is a central part of the arousal of symbols that humans use to talk and to think with.4 Nach der Beschreibung von Turner und Stets entsteht der Eindruck, als würde die emotionale Energie, dieser für Collins’ Theorie grundlegende Begriff, wie ein vor allen Augen versteckter Motor in einer jeden sozialen Interaktion in einer jeden Lebenssituation wirken: Collins’ […] theory is about longer term emotional energy that builds up and is sustained across situations rather than the more transient emotions such as joy, embarrassment, fear, and anger that arise in a particular situation. The theory is less about immediate emotional arousal than about the more enduring emotions that give people high or low levels of energy in diverse situations, that keep their enthusiasm up or bring it down, and that make them initiate or fail to instigate interactions.5 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch Collins die besondere Rolle der Situation hervorhebt, um zu zeigen, dass sie die Einheit ist, in der emotionale Energien in Erscheinung treten. Es sind nicht die transitorischen Emotionen »in a particular situation«, sondern die langfristigen Emotionen »in diverse situations«, die über eine unbestimmte Zeitdauer den Enthusiasmus der Menschen tragen und diese weiter miteinander interagieren und/oder vergangene Interaktionen ins Gedächtnis rufen lassen. Langfristige Emotionen sind an andauernde Lebenssituationen gebunden. Im Folgenden möchte ich Collins’ Theorie in drei Schritten für die Erforschung von Probensituationen fruchtbar machen. In einem ersten Schritt sollen die von Collins als wesentlich erachteten Komponenten eines Interaktionsrituals herausgestellt werden. Danach arbeite ich die Kriterien heraus, nach denen die Komponenten der Interaktionsrituale in den Probensituationen herausgegliedert werden können. Im dritten Schritt wende ich mich schließlich anhand meiner zahlreichen Probennotizen und -aufnahmen solchen Probensituationen zu, in denen besondere emotionale Ereignisse zum Vorschein kommen.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

5.1.1

Randall Collins’ Komponenten der I­ nteraktionsrituale

Randall Collins teilt den gesamten Prozess der Interaktionsrituale in zwei Blöcke ein: einerseits in die Bestandteile (»ingredients«) und andererseits in die Ergebnisse (»outcomes«) von Ritualen. Im ersten Block gliedert er vier Komponenten von Interaktionsritualen heraus: 1) den Aspekt der körperlichen Ko-Präsenz (»co-presence of bodies«), 2) die Ausgrenzung von Fremden (»barriers to outsiders«), 3) den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus (»mutual focus of attention«) sowie 4) geteilte Stimmungslagen (»shared mood«). Hinter dieser Struktur steht die Überzeugung, dass gemeinsam vollzogene Handlungen einen prägenden Einfluss auf die kollektive Aufmerksamkeit von Akteuren ausüben, wobei transitorische (d. h. kurzfristige) Emotionen für die im Zuge dessen aufkommenden geteilten Stimmungslagen tonangebend sind. Zwischen dem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und der geteilten Stimmung der Beteiligten entsteht mithin ein reziprokes Verhältnis. Wie in Kapitel 4.2, Anm. 43 bereits bemerkt wurde, bauen die Teilnehmer eines Rituals eine Resonanzbeziehung auf, durch die ihre Handlungen eine leiblich-affektive Rhythmisierung erfahren. Diese Rhythmisierung intensiviert die ohnehin zunehmende Wechselwirkung zwischen geteilter Aufmerksamkeit und geteilter Stimmungslage. Der erste Block (Bestandteile der Rituale) ist mit dem zweiten Block über das Motiv der kollektiven Efferveszenz verbunden. Leiblich-affektive Rhythmisierung und kollektive Efferveszenz gelten hier als Variablen bzw. Hauptmechanismen, über welche die Rituale erfolgen. So ermöglichen diese Mechanismen vier (dem zweiten Block zugehörige) Ergebnisse der Rituale: 1) Gruppensolidarität (»group solidarity«), 2) gestiegene emotionale Energie jedes einzelnen Beteiligten (»enhanced emotional energy for individuals«), 3) die die sozialen Verhältnisse markierenden Symbole (als sakrale Objekte) (»symbols marking social relationship (as sacred objects)«) sowie 4) Ärger über etwaige Angriffe auf diese Symbole (»righteous anger for violations of respect for symbols«). Soziale Verhältnisse werden durch gestiegene Gruppensolidarität und emotionale Energie zur sakralen Kategorie erhoben. Dadurch steigt auch die Bereitschaft der Beteiligten, das sakrale Symbol der Gruppe vor äußeren Angriffen zu schützen. Das von Collins ausgearbeitete Modell der Interaktionsrituale lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen:

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Abbildung 3: Das Modell der Interaktionsrituale nach Randall Collins. Quelle: Turner/ Stets: The ­Sociology of Emotions, S. 79.

Collins’ Modell der Interaktionsrituale ist auf verschiedene soziale Gruppenprozesse übertragbar. Im Folgenden schlage ich vor, dieses Modell ebenfalls auf die Interaktionsrituale der theatralen Probenprozesse anzuwenden. Zu diesem Zweck werde ich im dritten Schritt die elementaren Einheiten des Probenprozesses – die Probensituationen – herausgliedern. Aber noch vor der Lektüre der Probenprotokolle sollen diejenigen Kriterien deutlich markiert werden, die nun im Schritt zwei in Anlehnung an Collins für die Komponenten der Interaktionsrituale der Probensituationen spezifiziert werden. 5.1.2 Zu den Kriterien, nach denen die Komponenten der ­Interaktionsrituale in den Probensituationen identifiziert ­werden können

Die wörtliche und oft auch videodokumentierte Wiedergabe der Interaktionen und des Vorgehens in den Probensituationen an drei Berliner Theatern wird die Art und Weise illustrieren, wie die kollektiv-affektive

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Erregung (kollektive Efferveszenz) und leiblich-affektive Rhythmisierung auf die Gruppensolidarität, auf die gestiegene emotionale Energie jedes einzelnen Beteiligten und auf die rituellen Symbole des Probenteams eingewirkt haben. Das erste Kriterium ist das der kollektiv-affektiven Erregung (­kollektiven Efferveszenz) des Probenteams. Es lässt sich als ein kohärentes Wohlgefühl der Probenden beschreiben, das normalerweise deren leiblich-affektiver Rhythmisierung vorangeht, denn die Schauspieler müssen sich zunächst in der Gesellschaft ihrer Kollegen wohl und unbefangen fühlen. Erst beim Empfinden dieses gemeinsamen Wohlgefühls bzw. nach der Verankerung des individuellen Verständnisses jedes einzelnen Spielers darüber, dass man hier und jetzt mit diesen Menschen nicht umsonst weilt und dass man dieser Menschengruppe durch seine Tätigkeit Nutzen bringt, entsteht in jedem probenden Schauspieler – und d. h. kollektiv – geistige (sich im kollektiven Unterbewusstsein eingenistete) Verpflichtung, die Ritualität ihrer Interaktionen im gesamten Probenprozess zu bewahren. Das zweite Kriterium ist das der leiblich-affektiven Rhythmisierung des Probenteams. Diese ist am besten anhand der Videos zu beobachten. Die Videoaufzeichnungen (in denen die Bewegungen und Handlungen der Schauspieler bei Bedarf in einem verlangsamten Tempo abgespielt werden können) ermöglichen es, den Prozess der Szenenprobe zu verfolgen und zwar im Detail, wie sich die Teilnehmer im Szenenverlauf nicht nur emotional (wenn z. B. beim Proben ein lachender Schauspieler die anderen zum Mitlachen bringt u. ä.), sondern auch physisch (wenn alle Teilnehmer aufgrund einer positiv emotionalen Vorarbeit während der Szene zu tanzen beginnen, ein Kinderspiel aufgreifen o. ä.) auf ein und dieselbe »Frequenz« einstellen. Aber selbst wenn ich einige Szenen an manchen Probentagen nicht filmen durfte, besteht für mich als Beobachterin die Möglichkeit, die betreffenden Szenen anhand der verankerten Protokolle im eigenen Gedächtnis wiederzubeleben bzw. als eine visuelle Reihe abspielen zu lassen. Das Gedächtnis (sowohl das emotionale als auch das visuelle) spielt hiermit – neben der Videokamera – die Rolle eines aktivierbaren Speichers: Was vom Probenbeobachter in den Proben einmal gesehen/miterlebt wurde, ist in seinem Gedächtnis zugleich abgespeichert bzw. kann bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen sowie geschildert bzw. zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden. Anhand dieser zwei Kriterien wurden in Anlehnung an Collins folgende drei eingangs in diesem Unterkapitel genannte Komponenten der Interaktionsrituale in den Probenprozessen an drei von mir besuchten Berliner Thea-

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

tern identifiziert: Gruppensolidarität, emotionale Energie und rituelle ­Symbole des Probenteams. Die erfolgreichen Versuche der Schauspieler und der Regisseure, trotz mancher Unstimmigkeiten im Probenprozess zu einer gemeinsamen künstlerischen Entscheidung zu kommen, die Einigkeit bei allen Beteiligten stiftet, zeugen in Bezug auf die theatralen Probenprozesse von der Gruppensolidarität des Probenteams. Um bei der Definition der Gruppensolidärität eines theatralen Probenteams präziser zu sein, könnte im Vorfeld der Angaben mit detaillierten und illustrierenden Schilderungen der Probensituationen eine folgende auf eigenen Probenbeobachtungen basierende Überlegung angeführt werden. Um Gruppensolidarität eines Probenteams geht es beispielsweise dann, wenn ein (oder mehrere) Darsteller beim Spielen der einen oder anderen mise-en-scéne mit den Intentionen des Regisseur anfänglich nicht einverstanden ist, aber nach dem Aufgreifen von gemeinsamen, konsolidierenden Aktivitäten (sei es eine Diskussion, ein treffender Witz, eine illustrierende Bewegung bzw. Handlung eines weiteren Probenmitglieds o. ä.) eine beiderseitig passende künstlerische Entscheidung getroffen wird. Die emotionale Energie des Probenteams – die Schlüsselkomponente jeder sozialen Interaktion – wird am treffendsten durch den Impetus geschildert, mit dem jeder einzelne Beteiligte beim kollektiven Kreieren der Szene eigene Initiative für Interaktionen und Handlungen übernimmt. Die persönliche Initiative jedes einzelnen Darstellers, neue Ideen und Vorschläge mit den Mitspielern zu teilen, über diese Ideen zu diskutieren, Aktivitäten der Gruppe zu bestimmen (z. B. ein Kinderspiel zu initiieren, ein Musikinstrument zu spielen, einen Zeitungsartikel vorzulesen usw.), gilt als innere Triebkraft der Interaktionsrituale in Theaterproben. Als Beispiel für die zum Einsatz gekommenen Symbole gelten die wirklichkeitstransformierenden (performativen) Sätze und Handlungen6 der Beteiligten, die den Probenvorgang tagtäglich veränderten. Diese performativen Sätze und Handlungen werden im Unterkapitel 5.1.3 wiedergegeben. 5.1.3 Probensituationen am Deutschen Theater Berlin, dem Berliner Ensemble und an der Schaubühne am Lehniner Platz

Probensituationen illustrieren emotionale Ereignisse, aus denen einzelne Szenen des gesamten Stücks gestaltet werden. Die alltäglichen

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Interaktionen der Künstler weisen einen repetitiven und insofern immer auch einen rituellen Charakter auf. Die notwendige Repetitivität der Interaktionsvorgänge geht unter ständig wandelnden – und deswegen so riskanten – Umständen vonstatten. Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits erörtert wurde, markiert die Probensituation einen Standort, an dem Ereignisse herangezogen werden, die entweder irgendwann bereits stattgefunden oder aber schon begonnen haben und deren Inhalte den Probenden insofern zugänglich sind, sodass man diese Ereignisse für die Erarbeitung der Inszenierungsstrategien und Bühnenkonstellationen einsetzen kann. Es können durchaus Ereignisse sein, die sich auf die Gegenwart oder Zukunft beziehen und die in der Folge von Diskussionen zu weiteren Handlungen für den Probenprozess verwendet werden können. Bei meiner Suche nach einer adäquaten Klassifikation der von mir beobachteten Probensituationen orientierte ich mich an den emotionalen Ereignissen, die sich mir während meiner Feldforschung boten. Ich habe die beobachteten emotionalen Ereignisse als Liebe, Verachtung, Stolz und Eifersucht markiert. Dabei bezog ich mich u. a. auf die Theorie der somatischen Marker (»somatic marker hypothesis«), die von dem Neurologen und Emotionsforscher Antonio Damasio eingeführt wurde.7 Damasios langjährigen Laboruntersuchungen zufolge markieren Individuen ihre emotionalen Reaktionen mithilfe der Sprache auf symbolischem Weg: Individuen benennen ihre Gefühle immer als etwas. Auf diese Weise werden körperlichen Reaktionen bzw. den Wahrnehmungen von Situationen und Ereignissen gewissermaßen »Etiketten« angeheftet. Um mit Damasio selbst zu sprechen, geschieht solches »Etikettieren« folgendermaßen: Wenn wir an die primären Emotionen denken [bei Damasio sind es Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung und Ekel – V. V.], fällt uns die Erörterung des Problems leichter, aber wir dürfen darüber nicht vergessen, dass es zahlreiche andere Verhaltensweisen gibt, die mit dem Etikett »Emotion« versehen worden sind. Dazu gehören die sogenannten sekundären oder sozialen Emotionen: Verlegenheit, Eifersucht, Schuld, Stolz und andere.8 Das Gehirn empfängt Signale aus dem Körper und registriert diese in den sogenannten »Gehirnkarten«, und zwar als das, was man ­Emotion nennt. Aber nicht alle Emotionen entstehen unmittelbar im ­Körper. Damasio bezeichnet die Bildung komplexerer Emotionen als »Als-ob-Körperschleife«:

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Interessanterweise liegen nicht allen Gefühlen echte Reaktionen des Körpers auf äußere Reize zu Grunde. Manchmal werden solche Veränderungen auch nur in den Gehirnkarten simuliert. Ich nenne das die »Als-ob-Körperschleife«. Wenn wir zum Beispiel Mitleid mit einem Kranken empfinden, dann vollziehen wir dessen Schmerzen zu einem gewissen Grad innerlich nach.9 Die »Als-ob-Körperschleife« erlaubt einer Person, ein Gefühl nicht unbedingt körperlich zu empfinden, sondern die Markierungen bzw. »Etiketten« von bereits zuvor erlebten Emotionen auf andere ­Situationen zu übertragen: »[…] a person who thinks about relationships that he or she has labeled ›love‹ is likely to reexperience in somewhat diluted form the same physiological reaction as when the object of love is actually present.«10 Damasio führt aus: Es ist, »als ob« der Körper sich verändern würde, was aber nicht der Fall ist. Der Mechanismus der »Als-ob-Körperschleife« umgeht den Körper im engeren Sinn teilweise oder vollständig, wobei ich die Auffassung vertrete, dass die Umgehung des Körpers Zeit und Energie spart – was unter bestimmten Umständen durchaus hilfreich sein kann. Die »Als-ob«-Mechanismen sind nicht nur wichtig für Emotion und Gefühl, sondern auch für eine Klasse von kognitiven Prozessen, die man als »innere Simulation« bezeichnen könnte.11 Die »Etiketten«, die wir an unsere emotionalen Erfahrungen anhängen, sind darüber hinaus zum Teil auch kulturell vorgegeben: Ungeachtet der Tatsache, dass die emotionalen Mechanismen einem gewissen Maß an biologischer Vorprogrammierung unterliegen, haben Entwicklung und Kultur wesentlichen Anteil am Endprodukt. Aller Wahrscheinlichkeit nach nimmt der Einfluss von Entwicklung und Kultur auf die vorprogrammierten Mechanismen folgende Formen an: Erstens, sie prägen das, was nachher den angemessenen Auslöser einer gegebenen Emotion darstellt; zweitens, sie prägen einige Aspekte des emotionalen Ausdrucks; und drittens, sie prägen die Kognition und das Verhalten, die auf die Manifestation einer Emotion folgen.12 Diese von Kultur geprägten »Etiketten« und Marker, mit denen wir unsere emotionalen Erfahrungen versehen, ermöglichen uns zugleich

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

das Nachempfinden unserer eigenen Emotionen in ähnlichen Situationen oder das Mitempfinden von den Emotionen anderer Menschen: Dabei tun wir so, als ob wir in diesen Situationen etwas empfänden, das wir einmal schon empfunden haben: Thus, culture provides labels and markers for emotional experiences while at the same time the use of the cultural symbols allows individuals to experience emotions ›as if‹ they were once again in the situation that generated the physiological reactions that generated those emotions.13 So sind komplexe Emotionen wie Liebe, Stolz, Eifersucht etc. nicht nur auf die körperlichen Reaktionen des Individuums, sondern auch – und vor allem – auf soziale Erfahrungen und Ereignisse zurückzuführen, in die das Individuum verwickelt ist. Entsprechend bezeichne ich das komplexe Phänomen des emotionalen Ereignisses als eine soziale Emotion14 und widme diesem im weiteren Verlauf des Textes ein eigenes Unterkapitel. Emotionale Ereignisse der drei Probenprozesse habe ich in die Probensituationen gruppiert: Die Struktur einer jeden Probensituation besteht also aus den in den Proben vonstattengehenden emotionalen Ereignissen. Die Gliederung jeglicher Inszenierung in Szenen erlaubt es, die emotionalen Ereignisse entsprechend einer bestimmten Probensituation zu systematisieren. So entstanden in Dimiter Gotscheffs Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 Szenen wie »Liebeserklärung« (Liebe), »Mann, tut das weh!«, »Sie hören von mir kein Wort mehr« (Verachtung), »Aufstand« (»Der Doktor ist gekommen!«) (Verachtung), »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden«, »Das Abc« (Stolz).15 In Thomas Langhoffs Endstation Sehnsucht gab es Szenen wie »Bekanntschaft bei den Kowalskis«, »Ausgehen in die Stadt«, »Unterhaltung bei den Kowalskis« (Liebe), »Überlebender der Steinzeit«, »Steinbock – der Bock!«, »Er ist unerträglich grob«, »Papageien-Witz« (Verachtung), »der Kampf um Stella« (Eifersucht).16 In Thomas Ostermeiers Aufführung Der Tod in Venedig entstanden Szenen wie »Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio«, »Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken«, »Aschenbachs Traum« (Lied: »Ich bin der Welt abhanden gekommen«), »In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum« (Liebe).17 Alle diese Szenen entstanden während der langen Probensituationen. Die Art und Weise, wie die Probensituationen im Laufe der Probenzeit geschaffen wurden, habe ich in meinem Notizheft festgehalten.

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Im Folgenden wird die Struktur der Probensituationen gezeigt. Dabei werde ich neben dem Datum und Ort der Probe auch noch die entsprechende Textstelle angeben. Den Kern einer Probensituation bilden zum größten Teil die Schilderungen des Szenenverlaufs und zitierte Interaktionen der probenden Künstler, aber auch die Aussagen, die mir die Schauspieler in manch einem Interview anvertraut haben. Da aber die meisten Beschreibungen des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Kunstschaffenden im Kapitel 6 (Tabelle) in voller Länge angeführt werden, wird in diesem Schritt auf wiederholte Schilderungen verzichtet. Es werden im Weiteren die genauen Textstellen der Tabelle im Kapitel 6 genannt, an die sich der Leser beim Schaffen eines Bildes darüber, was eine Probensituation darstellt, orientieren soll. Die Schilderungen der Interaktionen und des Szenenverlaufs werden hier, im Schritt drei, angeführt. Jedoch wird für jede der vier sozialen Emotionen (Liebe, Verachtung, Eifersucht, Stolz) im Folgenden je nur ein Beispiel aus jeder Inszenierung genommen, um so womöglich unnötige Wiederholungen in Probenprotokollen und in der Tabelle zu vermeiden. Die Emotionen Liebe und Verachtung, die in der vorliegenden Untersuchung am häufigsten vorkommen, werden an Szenen aus zwei verschiedenen Inszenierungen berücksichtigt.

DEUTSCHES THEATER BERLIN

Erste Probensituation Katrin Wichmann – Samuel Finzi, Szene: »Liebeserklärung« (Liebe) 18.1.2010, 8. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf Gotscheff (nachdem er einen Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel über Anton Čechov vorgelesen hat): »Man sieht nur das Lächeln von Čechov. Margit [Bendokat] muss einen Punkt haben – die Einzige, die den Stuhl haben muss. Entweder ist es ein Ruhepunkt oder ein unruhiger Punkt. Alle Räume von Katrin [Wichmann] sind poetischer Natur.« 19.1.2010, 9. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf Der Co-Regisseur Ivan Panteleev und Katrin Wichmann lesen Auszüge aus Čechovs Erzählung Die Braut vor. Wichmann: »Vielleicht soll ich meinen Text mit Gesang und Tanz sprechen?« Gotscheff: »Ja!«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Gotscheff arbeitet inzwischen mit Margit Bendokat, Harald ­Baumgartner und Andreas Döhler. Danach liest Katrin Wichmann ihren Text vor (selbstbewusst, ­eifrig, sicher): »Ich möchte leben! Leben, leben! Ich will Frieden, Ruhe, ich will Wärme, dieses Meer da! Oh, wie gern möchte ich auch Ihnen diese leidenschaftliche Gier nach dem Leben einflößen! Ein lebendiger Mensch muss sich aufregen und in Verzweiflung geraten, wenn er sieht, wie er selbst zugrunde geht und wie ringsum andere zugrunde gehen.« Gotscheff: »Katrin, lies das naiv!« 18 21.1.2010, 11. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf Zunächst wurden die Szenen mit Harald Baumgartner und die Szene »Das Čechov-Abc« durchgearbeitet. Erst dann kam Katrin Wichmann an die Reihe. Sie las einen neuen Text, den sogenannten Text der Liebeserklärung vor. Während Wichmann vorlas, sagte Gotscheff: »Lies schneller!« Wichmann las schneller, während Samuel Finzi und Wolfram Koch zu ihr rutschten und sie bewundernd anstarrten. 25.1.2010, 14. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf Allgemeine Besprechung. Gotscheff gibt allen Schauspielern Regieanweisungen, während sie zum ersten Mal ihre Ausgangspositionen im Raum einnehmen. Gotscheff (an Wichmann): »Katrin, du hast eine Mädchenstimme. Du bleibst mehr unter deiner Glocke. Das Ganze kommt bei dir aus der Naivität.« Fortsetzung der Leseprobe. Während Wichmann ihren Text »Ich möchte leben« vorliest, sagt ihr Gotscheff: »Mit mehr Druck!« Wichmann liest weiter »mit mehr Druck« vor, dabei sagt ihr Gotscheff: »Katrin, nicht in Form von einem Dialog, sondern bleib bei dir!« Gotscheff unterbricht sie oft, während sie vorliest. Bald sagt er einwilligend »Schön, schön«, bald unterbricht er sie wieder und macht ihr etwas mimisch und gestisch vor. 27.1.2010, 16. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Vor der Probe spricht Gotscheff mit den Schauspielern im vertrauten Kreis und liest ihnen einen Auszug von Kasimir Malewitsch vor. Dann lässt der Regisseur Samuel Finzi »den Raum eröffnen«: »Sancho19, eröffne den Raum!«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Danach geht Gotscheff zu Katrin Wichmann, die vor dem Schuh hockt. Er zieht sie hoch und ab diesem Moment steht sie, ihr Gesicht dem Saal zugewandt, und spricht ihren Text »Ich möchte leben« leise in den Saal. Gotscheff macht dabei schwingende Handbewegungen, als wollte er dem von ihr gesprochenen Text mehr Naivität und Leichtigkeit verleihen.20 28.1.2010, 17. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Innerhalb von 36 Minuten21 spielen die Darsteller die Szenen (wie sie in der damaligen Textfassung existierten), ohne ein einziges Mal vom Regisseur unterbrochen zu werden. Die Szene »­Liebeserklärung« ­verlief so: Katrin Wichmann, gekleidet in ein Hochzeitskleid, mit einem luftigen zweiteiligen Brautschleier auf dem Kopf (der eine Teil des Schleiers verdeckt ihr Gesicht) geht von einem Bühnenende zum anderen, ein russisches Lied (Warjag) vor sich hin summend. Sie lächelt dabei, richtet immerzu ihren Schleier auf dem Kopf und schaut Doktor Ragin anbiedernd an. Der Doktor steht auf der Vorderbühne und schaut ihr interessiert zu, weil er anscheinend noch nicht versteht, was der Gesang und ihr Anlächeln bedeuten sollen. Wichmann beendet das Lied und geht auf den Doktor zu, dabei macht sie einen lauten »romantischen« Seufzer. Dann spricht sie den Text der Liebeserklärung (siehe Kapitel 4.1, Anm. 20). Während sie den Text spricht, macht sie den Eindruck einer Frau, deren Herz voller Sehnsucht ist. Sie wirkt, als suche sie nach jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten kann und der aus ihrer Sicht eine passende Partie für sie sein könnte. Sie macht keinen irrsinnigen Eindruck (wobei die Handlung in einer Irrenanstalt spielt), sondern scheint nur einsam und unglücklich zu sein. Wichmann spricht den Text selbstbewusst, mit Würde und einem bestimmten Maß an Verlegenheit (ab und zu lacht sie verlegen auf und senkt den Blick), weil der Text an sich sehr aufrichtig ist. Körperlich macht sie nicht viel: Sie steht rechts vom Doktor und schwingt bei besonders emotionalen Textstellen mit den Armen. Auf den Doktor schaut sie nur ab und zu. 2.2.2010, 21. Probentag, DT-Probebühne Nachdem Gotscheff eine Pause eingelegt hat, geht Katrin Wichmann auf ihn zu und erklärt ihm, ihr scheine, dass sie zu viele »kluge« Worte nach Helfen Sie mir! sagen würde. Wichmann: »Ich werde nach Ich möchte leben, leben nichts mehr sagen. Da ist schon alles drin. Ich fühle, dass ich hier nichts mehr sagen soll. Ihr Gefühl ist ohnehin stark.«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Gotscheff erwidert, er finde nicht, es sei zu viel Text. Er versucht Wichmann zu überzeugen. 8.2.2010, 26. Probentag, DT-Probebühne Nach einigen Probenversuchen und einer langen Diskussion über den Einfluss der Patienten auf den Doktor: Gotscheff (an alle Schauspieler): »Es entsteht ein neues Bewusstsein über sich selbst und über die eigene Lage. Es entstand jetzt eine merkwürdige Einfachheit von euch allen, was mir sehr gut gefallen hat. Wenn ihr auf den Arzt nicht so viel Druck macht, dann hat der Arzt mehr Material für sich. (an Katrin Wichmann): Wenn zum Beispiel du, Katrin, nicht mit der ›Atemlosigkeit‹22 erzählst, dann hat nicht nur Doktor, sondern wir alle mehr Material. (an alle) Was sich öffnet – von jedem von euch –, ist die existentielle Einfachheit.« 16.2.2010, 34. Probentag, DT-Hauptbühne23 (Samuel Finzi und Wolfram Koch waren an diesem Probentag ­abwesend.) Vor der Szene mit Wichmanns »Liebeserklärung« wurde die Szene mit der hinunterfahrenden Maschinerie gespielt (alle Insassen der ­Psychiatrie sprachen ihre Texte bruchstückhaft vor sich hin, als würden sie auf diese Weise miteinander kommunizieren). Der Regisseur rief den Spielenden nur ab und zu ermunternde Worte zu (»Sehr gut, Almut!«, »Bravo, Harald!«, »Sehr gut, Katrin!«), ohne sie völlig zu unterbrechen. Für den fehlenden Wolfram Koch schrie Gotscheff an der ­entsprechenden Stelle »Mann, tut das weh!«. Ohne Unterbrechung folgte der Text von Harald Baumgartner. Nach Baumgartners Text erhob sich Katrin Wichmann von ihrer Ausgangsposition und sprach Almut Zilcher mit einigen Sätzen an, die einen Übergang zu ihrem Text der Liebeserklärung markierten. Als Wichmann schweigsam zur ­Vorderbühne ging, sagte ihr Gotscheff vom Saal aus: »So, jetzt rauf du, Katrin!« Wichmann schritt unsicher zur Vorderbühne, heimlich und schüchtern auf Margit Bendokat (der Wärter Nikita) schauend, die auf der linken Seite der Vorderbühne auf einer Kiste saß. In diesem Moment sagte Gotscheff zu Bendokat: »Etwas von Margit.« (Er ahmte dabei ein böses »Gewieher« nach.) »Hey, Mensch, wink ihr ein bisschen.« (Wie ein Bösewicht und Schurke lachte Bendokat und winkte Wichmann zu, als ob sie sie zu sich riefe.) Auf der Vorderbühne rechts begann Wichmann das russische Lied Warjag (Pleščut cholodnye volny) zu singen. Sie imitierte die rus-

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sischen Worte nur, in Wirklichkeit gab sie nicht existierende Worte – weder russische noch deutsche – von sich. Während einer Mikropause, nachdem Wichmann die erste Strophe gesungen hatte, die mit dem symbolischen Abspielen der Musik durch »la-la-la-la« endete, imitierte Gotscheff für Bendokat ihr bösartiges Lachen. Bendokat ahmte ihn nach. Dann sang Wichmann die zweite Strophe des Lieds. Kaum hatte sie den letzten Satz gesungen, senkte sie den Kopf, als hätte sie etwas Falsches gemacht. Es entstand eine kurze Pause. In dieser Mikropause sagte ihr Gotscheff aus dem Saal: »Katrin, du singst wunderbar, aber wenn du Margit hörst […]« [Er sprach zu leise, sodass seine Worte nicht mehr hörbar waren. Aber seine schwingende Hand zeugte davon, dass er Wichmann eine andere Stelle auf der Bühne zeigte, auf die sie wohl gehen sollte, sobald sie Margit Bendokats Kichern wahrnahm.] Nach einer kurzen Weile wurde die Szene der Liebeserklärung wiederholt. Gotscheff fragte Wichmann, ob sie die Szene von Anfang an beginnen möchte. Wichmann stand schon in ihrer Position bereit und sagte leise »Ja«. Gotscheff wandte sich an Bendokat: »Margit!«, und sie, links auf der Vorderbühne auf der Kiste sitzend, begann wieder frech zu kichern und mit beiden Beinen wie ein kleines Mädchen gegen die Kiste zu schlagen. Katrin Wichmann sang die erste Strophe und als sie beim »la-la-la-la-la« war, schrie Gotscheff plötzlich: »Margit!« und ahmte ein wildes, spöttisches Lachen nach, sodass Bendokat dieses Lachen sofort von ihm übernahm. Gleichzeitig flüsterte der Regisseur Wichmann zu: »Ja, du bist gut, Katrin! Du bist gut!« Am anderen Bühnenende stand Wichmanns Figur mit gesenktem Blick, beschwertem Atem und kurz davor, in Tränen auszubrechen. Man sah ihr aber an, dass sie sich anstrengen musste, ihre Emotionen zu unterdrücken. Als Bendokats Wärter Nikita zu lachen aufhörte, setzte Wichmanns Figur das russische Lied mit neuer Kraft fort. Aber mitten im Singen versagte ihre Stimme wegen der zu hohen Töne, sodass sie das Lied kurz unterbrechen und sich räuspern musste. Im nächsten Augenblick sang sie die Strophe trotzdem bis zum Ende, veränderte aber ein wenig deren Melodie, senkte, all dies nachvollziehend, den Blick und hörte mit dem Singen komplett auf. Bendokats Wärter Nikita kicherte und äffte ihren Gesang gemein nach. Im nächsten Moment entstand eine Mikropause. Gotscheff flüsterte Andreas Döhler etwas zu, der hinter Katrin Wichmann auf der Hinterbühne weiterhin vom einen Fuß auf den anderen trat und der ganzen Szene mitleidig zusah. (Almut Zilcher stand mittig und schaute Katrin Wichmann ebenfalls zu, aber eher mit einem bewundernden Gesichtsausdruck. Harald Baumgartner stand weiter hinter Zilcher und schaute dem Geschehen nicht zu.) Sobald Döhler

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etwas zu sagen versuchte, unterbrach ihn Gotscheff mit einem lauten »Ok, halt!«. Der Regisseur rannte zum Bühnenrand zu Wichmann, flüsterte ihr etwas zu und schwang dabei mit den Armen, so als würde er ihr bedeuten, dass sie weiter »kämpfen« sollte. Wichmann begann sofort damit, ihren Text der Liebeserklärung zu sprechen. Nach ihrem Satz Wissen Sie was, ich hatte noch nie im Leben eine Liebesaffäre begann der Wärter Nikita sie gemein auszulachen und frech zu kichern: »Olle Jungfrau!« In diesem Moment brach Andreas Döhler, unerwartet für alle, in Wut aus: »Halt das Maul! Ruhe!« Bendokat wurde still. Wichmann fuhr fort zu sprechen. Jetzt klang sie viel sicherer. Almut Zilchers Figur hörte ihr mit buchstäblich geöffnetem Mund voller Bewunderung zu. ­Nachdem Wichmann den Text beendete, applaudierte Zilcher und sagte: »Das ist gut! Bravo! Sie haben wirklich Talent, Sie sollen zum Theater gehen! Gut!«24 Im Anschluss an die Szene fand eine Besprechung auf der Bühne statt: Bendokat (an Gotscheff): »Wie weit ist es, dass ich stören kann? Durch diese Störung (sie zeigt auf die Beine) muss sie [Katrin Wichmann] ja ihre Konzentration [anstrengen].« Döhler: »Es ist total schön, das würde ich einsetzen [meint Bendokats Störung mit dem klopfenden Bein]. Man freut sich noch einmal auf die Chance, das Lied zu hören.« Wichmann: »Mitko25, soll ich mal versuchen, dass wenn ich anfange, dann Harald, dass ich dann wieder das gleich sage, dass ich noch nie eine Liebesaffäre hatte? Das war doch ganz gut.« Gotscheff: »Ja, ja, ja! Versuch es. Du kannst versuchen, was du willst. Katrin, wo stehst du jetzt? Harald, wie war der Übergang?« Überlegungspause. Wichmann: »Kam Harald zu mir oder danach?« Regieassistentin: »Nein, es gab den Text: Almut: ›Piff-paff‹, worauf Katrin sagte: ›Ich dachte immer, eine Schauspielerin ist über alles erhaben.‹ Dann kam wieder Almut und Katrin kam dann zu ihrem Text.« Wichmann: »Ja. Dann lassen wir es noch einmal machen.« Gotscheff: »Ja.« Wichmann setzte sich zwischen Andreas Döhler (der auf der Hinterbühne stand) und Harald Baumgartner (der mittig saß). Nach ihrer Phrase »Ich dachte immer, eine Schauspielerin ist über alles erhaben«, die sie an Almut Zilcher richtete, begann sie ihren Text zunächst in der Bühnenmitte zu sprechen. Dabei sagte ihr Gotscheff: »Katrin, geh zu Andreas.« Wichmann gehorchte, ging auf die Hinterbühne und rich-

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tete die ersten drei Sätze ihres Textes an Andreas Döhler. Dann ging sie zurück zur Bühnenmitte und setzte den Text dort fort. Nach »Das ist gerade zu unangenehm« ging sie zur Mitte der Vorderbühne. Margit Bendokats Figur begann erneut zu kichern. Darauf folgte diese Interaktion: Gotscheff: »Margit, nicht jetzt. Zuerst sagt Katrin ›zu unangenehm‹, dann geht sie nach vorne, singt und dann kannst du lachen.« Bendokat: »Erst singt?« Gotscheff: »Ja. Katrin, sehr gut. Noch einmal.« Wichmann: »Also ›Hier spürt man es sehr stark‹.« Gotscheff: »Das zu Andreas.« Wichmann: »Alles zu Andreas?« Gotscheff: »Nein, nein!« Wichmann: »Zuerst zu Andreas und dann dort.« Noch während ihres Gesprächs mit Gotscheff ging Wichmann zu Döhler und begann schon beim Gehen ihn mit ihrem Text anzusprechen. Dann bewegte sie sich zur Bühnenmitte, von wo sie alle anwesenden Schauspieler ansprach. Nach der Textstelle »In der Stadt, wenn du in einem Zimmer sitzt, dann bemerkst du diese Wissenslücke nicht. Aber hier – hier spürt man sie stark! Das ist geradezu unangenehm« sagte Almut Zilcher für alle unerwartet: »Im Zimmer sitzen und die Rolle lernen würde mir auch besser gefallen.« Wichmann ging auf die Vorderbühne und sang die erste Strophe des Lieds. Wie geplant, ahmte Margit Bendokat ihr »la-la-la« nach. Darauf sang Wichmann gleich die zweite Strophe. Bendokat begann mit dem Bein gegen die Kiste, auf der sie saß, zu klopfen und die Singende dadurch zu stören. Dabei musste Wichmann drei Mal einen Satz singen, sang ihn aber doch bis zum Ende, worauf sie gleich ihren Text (ab »Ich liebe Sie«) weitersprach. Bei »Und Ihr Knotenstock erscheint mir schöner als jeder Baum« grölte Bendokat wie für die »Störung« zuvor abgesprochen. Nach dem Textschluss applaudierte Almut Zilcher mit Bewunderung: »Bravo, bravo! Sie sind wirklich talentiert! Sie sollen zum Theater gehen!« 23.2.2010, 40. Probentag, DT-Hauptbühne Bei der Phrase »Ich liebe ihn schon seit sechs Jahren« steht Katrin Wichmann auf, schaut mit weit geöffneten Augen Samuel Finzi an. Wichmann steht auf der Hinterbühne, Finzi sitzt auf der Vorderbühne links. Beim Sprechen hilft sich Wichmann mit den Händen. Gotscheff unterbricht sie, läuft zu ihr auf die Bühne, sagt etwas zu ihr, läuft zurück. Aus dem Saal ruft er: »Geh nach vorne!«

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Die Szene der Liebeserklärung wurde erst während des ersten Durchlaufs wiederholt. Sie wurde nicht mehr getrennt von den anderen Szenen geprobt. Aus den Probenschilderungen ist ersichtlich, dass eine große Gruppensolidarität der Künstler die Hauptkomponente beim Herstellen der Interaktionsrituale der ersten Probensituation am DT war. Selbst im ersten Probenstadium, während der Leseproben (am 18.1., 19.1., 21.1. und 25.1.2010), zeigten die Schauspieler eine besonders große Solidarität miteinander sogar in jenen Szenen, in denen nicht alle Beteiligten mitspielen mussten. Vgl. z. B. am 21.1.2010 den Vorfall, als Wolfram Koch und Samuel Finzi, ohne sich vorher verabredet zu haben, die vorlesende Katrin Wichmann umringten, von beiden Seiten zu ihr heranrutschten und sie musterten. Das parallele Zusammenrutschen illustriert die leiblich-affektive Rhythmisierung der beiden Akteure. Fälle wie dieser trugen zum inneren Zusammenhalt der Gruppe bei. Kollektive Efferveszenz, die sich in erster Linie durch die räumliche Nähe der Schauspieler und des Regisseurs am runden Tisch während der wochenlangen Leseproben ausdrückte, trug zum immer festeren Zusammenhalt der Künstlergruppe bei. Dies ließ sich auch während der Bühnenproben – in der zweiten (intensivsten) Probenphase – gut verfolgen. Am 27.1.2010, dem ersten Bühnenprobentag, traten die beteiligten Schauspieler erstmals auf der Probebühne auf, was den Einstieg in die gemeinsame Aktion markierte. Die räumliche Nähe der Schauspieler Katrin Wichmann und Samuel Finzi in der Szene »Liebeserklärung« an jenem Tag bildete den Kern der Vorgehensweise, die der Regisseur Dimiter Gotscheff an folgenden Probentagen intensiv entwickelte. Und zwar wies er bereits am nächsten Probentag (dem 28.1.2010), an dem die Szene »Liebeserklärung« weitergeprobt wurde, darauf hin, dass in dieser Szene alle Figuren (nicht nur die von Wichmann und Finzi) »einen bewegenden Einklang« brauchen. In diesem Moment begannen alle Figuren sich in diesem geschlossenen Raum intensiver an der Dynamik der Szene der »Liebeserklärung« (die eigentlich ursprünglich nur zwischen den Figuren von Wichmann und Finzi geplant worden war) zu beteiligen. So bemerkte der Regisseur bereits am 8.2.2010 nach mehreren Probenversuchen dieser Szene »eine merkwürdige Einfachheit von euch allen«. An diesem Tag wurde es (dem Regisseur und den Darstellern selbst) durch die räumliche Nähe der Akteure und ihre während des Bühnenprobens gesteigerte emotionale Energie spürbar, dass »wir alle [hervorgehoben von mir, V. V.] mehr Material« für die Szene haben. So waren beim

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nächsten Aufgreifen dieser Szene am 16.2.2010 bereits alle beteiligten Darsteller in sie involviert. Der Einklang, den der Regisseur am Anfang so lange gesucht hat und in dem die Akteure in diesem Probenstadium spielten, erzeugte beim Proben der Szene zunächst einmal eine hohe emotionale Energie jedes einzelnen Schauspielers (die die Kommunikation zwischen ihnen ungezwungen und leicht machte), dann ein kollektives Bewusstsein über die dominierende Emotion der Szene, was in der Folge zu einer kollektiven Efferveszenz führte. Zweite Probensituation Wolfram Koch – Samuel Finzi, Szene: »Mann, tut das weh!«, »Sie hören von mir kein Wort mehr« (Verachtung) 12.1.2010 (3. Probentag, Ballhaus Rixdorf) bis inkl. 14.1.2010 (5. Probentag, Ballhaus Rixdorf) An diesen Probentagen wurde die Szene kein einziges Mal vorgelesen oder geprobt, weil die Textfassungen (mit den betreffenden ­Passagen dieser Szene) drei Mal geändert wurden. 18.1.2010, 8. Probentag, Leseprobe und Diskussion im Ballhaus ­Rixdorf Wolfram Kochs Text erschien in der sechsten (vollständigen) ­Textfassung bereits als Monolog, aber immer noch mit einzelnen unterbrechenden Phrasen und Geräuschen von anderen Beteiligten: Koch (mit viel Zeit, während ihm der Arzt zuhört; man sieht nur ­seinen Rücken): »Nicht lieben … Töten müsste man mich. Hier begann für mich ein neues Leben. Mann, tut das weh! Ich habe alles verloren. Alles! Ich bin schon immer ein Unglück für die Menschen gewesen, die Menschen ein Unglück für mich! Fort von den Menschen! Nur weiter fortgehen. Mann, tut das weh! Aber wohin? Unter jedem Stuhl, in jeder Ritze sitzt ein Mörder, schaut mir in die Augen und will mich töten! Schlag zu, du Mörder! Schlag zu, ehe ich mich selbst umbringe. Mann, tut das weh! Sie schlagen, schlagen auf mich ein und können mich doch nicht erschlagen! Schlag nicht auf die Brust. Sie haben mir die Brust zerfleischt. Mein Gott … Was werde ich da … Ich beruhige mich wieder. Mich zogen immer die Menschen an, doch wegen meines reizbaren Charakters und meines Argwohns kam ich niemandem näher und hatte nie Freunde. (Harald Baumgartner macht ein Geräusch.) Die Menschen, ganz egal ob hier bei uns oder sonst wo … Ich begreife sie nicht. Mann, tut das weh! Ihre grobe Unwissenheit und [ihr] schläf-

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riges, animalisches Leben finde ich abscheulich, ab-ab-abscheulich (Zilcher: »Abholzen!«) und ekelhaft. Die überwiegende Mehrheit jener Intelligenz, wie ich sie kenne, sucht überhaupt nichts, tut nichts, liest nichts. (mit vielen Pausen) Wenn man einen hört, so bringt ihn seine Frau zur Verzweiflung, sein Zuhause bringt ihn zur Verzweiflung, sein Landgut bringt ihn zur Verzweiflung, seine Pferde bringen ihn zur Verzweiflung. Aber sagen Sie mir, warum bringt er es im Leben zu überhaupt nichts Höherem? Warum? (Baumgartner: »Welches Datum haben wir heute?«) Warum bringen ihn seine Kinder zur Verzweiflung, bringt ihn seine Frau zur Verzweiflung? Und warum bringt er Frau und Kinder zur Verzweiflung?« Baumgartner: »Haben Sie Lessing gelesen?« Koch: »Wo ist da die Logik?«26 Der Dialog Sie hören von mir kein Wort mehr! wurde in dieser Fassung dem Haupttext zugeordnet: Koch: »Herrschaften wie Sie und Ihr Gehilfe Nikita haben mit der Zukunft nichts zu tun, aber Sie können versichert sein, mein Herr, bessere Zeiten werden anbrechen! Warten Sie, wenn in ferner Zukunft Gefängnisse und Irrenhäuser ihre Existenz beenden, wird es weder vergitterte Fenster noch Kittel geben. Natürlich wird so eine Zeit früher oder später anbrechen. Meinetwegen drücke ich mich banal aus, lachen Sie nur, aber es wird einmal ein neues Morgenrot des Lebens erstrahlen, die Gerechtigkeit wird triumphieren und auf unserer Straße wird ein Fest sein! Ich werde es nicht mehr erleben, ich werde verreckt sein, aber dafür erleben es irgendjemandes Urenkel. Ich grüße sie aus ganzer Seele und freue, freue mich für sie! Vorwärts! Gott mit euch, Freunde! Von hier aus, hinter diesen Gittern segne ich euch! Es lebe die Gerechtigkeit! Ich freue mich!« Finzi: »Ich sehe keinen besonderen Grund, sich zu freuen. Gefängnisse und Irrenhäuser wird es nicht mehr geben, und die Gerechtigkeit, wie Sie sich auszudrücken belieben, wird triumphieren, aber es wird sich doch das Wesen der Dinge nicht ändern, die Naturgesetze bleiben bestehen. Die Menschen werden erkranken, altern und sterben wie bisher. Welch großartiges Morgenrot Ihr Leben auch erhellen mag, trotzdem wird man am Ende Ihren Sarg zunageln und in die Grube werfen.« Koch: »Und die Unsterblichkeit?« Finzi: »Ach, hören Sie auf!« Koch: »Sie glauben nicht, nun, aber ich glaube. Bei Dostojewski oder bei Voltaire sagte jemand, dass, wenn es keinen Gott gäbe, die Menschen ihn erfinden würden. Und ich glaube zutiefst, dass, wenn es

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die Unsterblichkeit nicht gibt, sie früher oder später der große menschliche Geist erfinden wird.« Finzi: »Es ist schön, dass Sie glauben. Mit so einem Glauben kann man in Freuden leben, selbst wenn man in eine Mauer eingemauert ist. Sie sind ein denkender und in das Wesen eindringender Mensch. Sie können in jeder Umgebung die Ruhe in sich selbst finden. Freies und tiefes Denken, das nach Erkenntnis des Lebens strebt, und völlige Verachtung der dummen Eitelkeit der Welt – das sind die zwei höchsten Güter, die der Mensch je gekannt hat. Und über sie können Sie ­verfügen, auch wenn Sie hinter drei Gittern säßen. Diogenes lebte in einer Tonne und war doch glücklicher als alle Herrscher dieser Erde.« Koch: »Ihr Diogenes war ein Holzkopf. Was erzählen Sie mir von Diogenes und von was für einer Erkenntnis? Gehen Sie, predigen Sie diese Philosophie in Griechenland, wo es warm ist und nach Pomeranzen duftet, hier passt sie nicht zum Klima. Dort kann man in seiner Tonne liegen und Apfelsinen und Oliven essen. Hätte er in Russland leben müssen, hätte er nicht erst im Dezember, sondern schon im Mai nach einem Zimmer verlangt. Gekrümmt hätte er sich vor Kälte. Diogenes … Unsinn! Ich liebe das Leben, liebe es leidenschaftlich! Ich leide an Verfolgungswahn, einer ständigen qualvollen Angst, aber es gibt Augenblicke, da erfasst mich ein Lebenshunger, und ich fürchte, den Verstand zu verlieren. Ich will schrecklich gern leben, schrecklich gern! Wenn ich träume, besuchen mich Erscheinungen. Zu mir kommen Menschen, ich höre Stimmen, Musik, und mir ist, als ginge ich im Wald spazieren, am Meeresufer, und es verlangt mich schrecklich nach lautem Treiben, nach Sorgen. Sagen Sie mir, was gibt es draußen Neues? Was?« Finzi: »Wollen Sie etwas aus der Stadt wissen, oder allgemein?« Koch: »Nun, erzählen Sie mir zuerst von der Stadt und dann allgemein.« Finzi: »Ja nun? In der Stadt ist es quälend langweilig. Niemand, dem man ein Wort sagen, niemand, dem man zuhören wollte. Neue Gesichter – keine. Allem Anschein nach zu urteilen, gibt es in unseren Hauptstädten keinen geistigen Stillstand, es gibt Bewegung, also müssen dort auch echte Menschen leben, aber aus irgendeinem Grunde schickt man uns von dort jedes Mal Leute, die man lieber gar nicht gesehen hätte. Eine unglückselige Stadt!« Finzi (nachdem Wolfram Koch ihm den Rücken zugewendet hat): »Was haben Sie?« Koch: »Sie werden kein Wort mehr von mir hören! Lassen Sie mich!«

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Finzi: »Wieso denn?« Koch: »Ich sage Ihnen: Lassen Sie mich! Was zum Teufel soll das?« Finzi: »Was für ein angenehmer junger Mann! Die ganze Zeit, seit ich hier lebe, ist das, wie mir scheint, der erste, mit dem man reden kann. Er hat ein Urteil und interessiert sich genau für das Nötige. Könnten Sie hier vielleicht ein wenig aufräumen, Nikita. Ein schrecklich strenger Geruch!« Bendokat: »Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!«27 25.1.2010, 14. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Gotscheff (liest einen Textauszug von Kasimir Malewitsch vor): »Der menschliche Schädel stellt die Unendlichkeit für die Bewegung der Vorstellung dar. Er gleicht der Unendlichkeit des Weltalls, kennt wie sie keine Decke, keinen Boden und bietet Raum für einen Projektionsapparat, der leuchtende Punkte als Sterne im Raum erscheinen lässt. Wie groß das Vorgestellte sein mag, es findet Platz im Schädel, genau wie im Weltall, obwohl der Raum des Schädels von einer knöchernen Wand umschlossen ist. Was bedeutet dann aber Raum, Größe, Gewicht, wenn alles zusammen in einem kleinen Behälter Platz ­findet?«28 Koch: »Machen wir etwa eine Sprachoper?« Finzi: »Für mich ist etwas ›Greifbares‹ wichtig. Dadurch entsteht für mich die persönliche Situation der Figur.« Koch: »Ja, ich meine auch, dass man Biographien bauen soll. Zum Beispiel, jetzt sind diese zwei Leute da. Das sind für ihn [für Kochs Figur Ivan Dmitrič] zwei verkleidete Polizisten. So kommt er zum ­Verfolgungswahn.« 1.2.2010, 20. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Die Bühnenprobe beginnt. Jeder nimmt seine Ausgangsposition ein. Der Doktor ist vorne, die Patienten bleiben hinter ihm stehen. Der »Teppich«29 beginnt. Alle Insassen sprechen ihre Texte vor sich hin. Gotscheff (für Margit Bendokat, die heute abwesend ist): »RUUHE! RUHE! (an Wolfram Koch) Wolfram, jetzt vielleicht ›Warum werde ich hier festgehalten?‹ Aber frag ihn nicht, sag nur so!« Almut Zilcher spricht ihren Text. Gotscheff: »Almut, bleib unter deiner Glocke! Du gehst nur Richtung Publikum, aber die Glocke bleibt über dir.« Zilcher: »Aber aus diesen Fetzen soll irgendwie das Ganze entstehen, weißt du?« Gotscheff: »Jaa, aber das ist gerade die Schwierigkeit, und das ver-

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suchen wir schon seit zwei Wochen! Das ist die Schönheit. (an ­Wolfram Koch, der in seiner Ausgangsposition sitzt, den Rücken dem Saal zugewandt) Wolfram, bei dir muss man mehr Fleisch sehen.« Koch zieht den Kittel aus und bleibt in einem ärmellosen Unterhemd stehen.30 5.2.2010, 24. Probentag, Bühnenprobe, DT-Probebühne Gotscheff: »Wer was in der konkreten Szene macht, wird spontan entschieden. Ich muss sehen, wer wem was zuschickt. (Überlegungspause) Ich muss sehen. Erst dann kann ich sagen.« Baumgartner: »In der zweiten Hälfte müssen die Texte eindeutiger sein, mehr Qualität haben. In der ersten Hälfte schwatzt einer von einem Orden, die andere – von der unerfüllten Liebe, also alle sprechen von den Unerfüllbarkeiten.« Gotscheff (unterbricht Harald Baumgartner): »In der zweiten [Hälfte] muss es schon kein Spiel sein!« Baumgartner: »Ja!« Döhler: »Der intellektuelle Punkt ist eigentlich Wolfram, der unsere Schicksale aufflackert.«31 9.2.2010, 28. Probentag, DT-Probebühne Gotscheff (an Wolfram Koch): »Bei ›Seine Frau bringt ihn zur Verzweiflung, seine Kinder bringen ihn zur Verzweiflung‹ hast du ja so eine gute Sequenz entwickelt. Ein Perpetuum mobile.«32 10.2.2010, 29. Probentag, DT-Hauptbühne Gotscheff (an Wolfram Koch, kurz nachdem Koch den Text »Mann, tut das weh!« zu sprechen begonnen hat): »Wolfram, nimm dir Zeit!« Koch fängt erneut an. Er vergisst oft den Text.33 19.2.2010, 37. Probentag, DT-Hauptbühne Wolfram Koch sitzt in seiner Ausgangsposition (auf der Hinterbühne, den Rücken dem Saal zugewandt), dreht von Zeit zu Zeit den Kopf und schaut auf den Arzt, während Samuel Finzi den Monolog Alltag eines Arztes vorträgt. Nach den letzten Worten des Arztes, ohne dass eine Pause entsteht, setzt Koch sofort »Mann, tut das weh!« ein. Er spricht den Text in seiner Position, ohne sich dem Saal zuzuwenden. Der Arzt und die Patienten schauen auf den Sprechenden. Der Arzt geht langsam zu ihm. Bei den Worten »Unter jedem Stuhl, in jeder Ritze« unterbricht ihn Gotscheff und steigt auf die Bühne. Dort wendet er sich an alle Schauspieler auf einmal, aber so leise, dass man seinen

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Wunsch nur nach Almut Zilchers Frage verstehen kann. Ihre Frage war: »Also nicht ganz erstarren?« Katrin Wichmann zeigt er, wie sie ihren Schleier heben soll; Almut Zilcher sagt »Tag und Nacht Kopfschmerzen«; Harald Baumgartner, Andreas Döhler und Wolfram Koch gibt der Regisseur ebenfalls Anweisungen (nicht hörbar). Dann sagt er plötzlich in einer hörbaren Lautstärke: »Es findet nicht statt, was ich mir versprochen habe, nämlich, dass die Scheinwerfer sich drehen.« Nach einer Weile spricht Finzi seinen Text noch einmal, die gerade erteilten Regieanweisungen berücksichtigend. Während Finzi spricht, steht Wolfram Koch von seiner Ausgangsposition aus auf, wendet sich dem Arzt und dem Saal zu, starrt den sprechenden Arzt an. Er wartet, bis der Arzt seinen Text beendet hat, und als das passiert, setzt er sofort (als wäre es die Reaktion auf den gerade gesprochenen Text) mit »Mann, tut das weh!« ein. Der Arzt dreht sich zu seinem Patienten um und geht langsam zu ihm, ihn musternd. Katrin Wichmann schaut den Sprechenden auch an, indem sie ihren Kopf zu ihm dreht (bleibt aber weiter in ihrer Ausgangsposition sitzen). Es ist offensichtlich, dass Wolfram Koch den Text an den Arzt adressiert, aber bei dem Satz »Wegen meines reizbaren Charakters« unterbricht ihn Gotscheff und schreit: »Bleib bei dir, Wolfram! Nicht zu Sancho!« Weiter spricht Koch den Text in den Saal. Während er spricht, geht der Arzt um ihm rum und mustert seinen aufgeregten Patienten. Mit dem letzten Satz (»Wo ist da die Logik?«) bemerkt der Sprechende den Arzt, der schon neben ihm steht, und springt von ihm weg. Dabei macht er eine Bewegung mit dem Zeigefinger, als hätte er ihn beim Spionieren ertappt. Aus dieser Bewegung beginnt sein Text: »Aushorchen und ausspionieren? Hm? Weiß Bescheid! Können Sie woanders! Sie haben hier nichts verloren! Weiß seit gestern schon, warum Sie gekommen sind.« Dabei entfernt sich der Patient vom Arzt und positioniert sich so, als wäre der Arzt gefährlich, ansteckend o. ä. Wolfram Koch läuft um die in ihrer Ausgangsposition sitzende Katrin Wichmann herum und auf die Vorderbühne. Der Arzt folgt ihm mit der Frage: »Sie nehmen also an, ich sei ein Spion?«, worauf der Patient auf eine kühne, fast entlarvende Weise antwortet: »Jaa! Das nehme ich an. Der gekommen ist, mich auszuhorchen. Das tun Sie hier gar nicht!« Während der Arzt spricht, geht der Patient musternd um ihn herum, die Hände in die Hosentaschen steckend, meidet aber jegliche Annäherung an den »Spion«. Während der Arzt sagt: »Aber hätten Sie es vor Gericht oder im Gefängnis nicht schlechter als hier?«, wendet sich der Patient dem Saal zu, schaut in den Saal, hält die Hand vor den Mund und wird nachdenklich. Bei den Worten des Arztes »Wovor haben Sie Angst?« wendet der Kranke dem Arzt verachtend den Rücken zu und

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sagt: »Sie werden von mir kein Wort mehr hören. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.« Dann entsteht eine Pause. Finzi berührt Koch an der linken Schulter leicht, worauf sich Letzterer unerwartet rasch umdreht und auf den Arzt mit der Hand fuchtelnd zeigt. Der Arzt erschrickt und schreit vor Erstaunen kurz auf. Danach läuft Koch langsam auf die Hinterbühne und schaut sich sicherheitshalber immerzu um, ob der Spion ihm folgt, ihm zuschaut o. ä. Auf die Frage des Arztes »Was haben Sie denn?« reagiert er mit verachtendem Schweigen. Gotscheff unterbricht die Szene und ruft alle zu sich. Er erklärt den Schauspielern, dass sie sich Wolfram Koch annähern sollen, während er seinen Text »Mann, tut das weh!« sprechen wird. Bei dem nächsten Probenversuch wendet Wolfram Koch sein Gesicht dem Saal zu und setzt mit seinem Text unmittelbar nach Finzis letztem Wort ein, sodass keinerlei Pause zwischen ihren Texten entsteht. Während Koch spricht, drehen alle Insassen und der Arzt ihre Körper langsam zu ihm und bewegen sich auf ihn zu. Sie hören dem Sprechenden mit Interesse zu, mustern und umkreisen ihn in einem langsamen Tempo. Sie bleiben hinter Koch stehen. Finzi bleibt vor ihm links stehen. Koch richtet seinen Text in den Saal. Wenn er »seine Frau bringt ihn zur Verzweiflung, seine Kinder bringen ihn zur Verzweiflung, sein Haus bringt ihn zur Verzweiflung« spricht, schreit ihm Gotscheff aus dem Saal zu: »Nimm dir Zeit!« Koch verlangsamt sein Sprechtempo. Nach dem letzten Satz »Wo ist da die Logik?«, den Koch immer in den Saal richtet, macht er keine Pause mehr, streckt seinen rechten Arm mit dem Zeigefinger aus und sagt zu Finzi, der links neben ihm steht: »Aushorchen und ausspionieren können Sie woanders.« Der Dialog zwischen Koch und Finzi findet zunächst auf der Hinterbühne statt. Nach zwei Sätzen geht Koch schweigsam auf die Vorderbühne, Finzi folgt ihm, die Insassen bleiben alle zusammen auf der Hinterbühne stehen. Gotscheff spricht die hinten gebliebenen Schauspieler aus dem Saal an: »Öffnet den Raum, öffnet den Raum! Kommt nach vorne! Wollt ihr Wolfram ein bisschen folgen?« Dann sagt der Regisseur: »Noch einmal, Wolfram.« Die Szene Aushorchen und ausspionieren können Sie woanders wird wiederholt. Gotscheff sagt, dass Finzi sich auf die andere Seite der Bühne stellen soll. Finzi geht nach rechts. Koch schreitet schweigsam nach vorne auf die Vorderbühne. Finzi folgt ihm in kleineren Schritten und spricht seinen Text schon beim Gehen. Alle anderen Patienten sehen Koch zu und bewegen sich langsam in seine Richtung, bleiben in drei Metern Entfernung stehen, machen einen Halbkreis, bleiben so stehen und hören dem Gespräch der beiden zu. Nach Finzis Frage »Wovor haben Sie Angst?« dreht ihm Koch sei-

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nen Rücken zu und kreuzt die Hände vor der Brust: »Sie werden kein Wort mehr von mir hören.« Darauf Gotscheff: »Wolfram, wunderbar, nur die Hände offen lassen. Einfach umdrehen.« Sofort wiederholen beide Schauspieler dieselbe Episode. Finzi: »Wovor haben Sie Angst?« Koch will sich umdrehen, aber Gotscheff sagt: »Schau ihn erstmal an.« Beide wiederholen die Episode noch einmal, Koch schaut Finzi an, dann dreht er sich um, sodass seine linke Seite dem Saal und sein Rücken dem Arzt zugewandt sind. In dieser Position sagt er: »Sie werden kein Wort mehr von mir hören.« Darauf Gotscheff: »Wolfram, dreh dich völlig um.« Die Szene wird mit den Neuerungen wiederholt. Der Doktor fasst den ­Patienten an der Schulter an, der Patient dreht sich schroff um und bleibt in einer Abwehrhaltung stehen, der Doktor erschrickt, schreit auf und macht einen Schritt zurück. Nach einer kurzen Pause fragt der Doktor Ivan Dmitrič: »Welchen Monat haben wir?«, worauf Ivan Dmitrič sofort »März« antwortet. Dann läuft der Patient zur hinteren Wand auf die Hinterbühne, den Arzt nicht aus dem Blick lassend. Nach einer ­dreiminütigen Besprechung mit dem Regisseur wird die Probe f­ortgesetzt, und zwar vom Ende der Szene zwischen Koch und Finzi an, in welcher der Patient sich umdreht und dem Arzt den Rücken zuwendet. Die Episode wird genauso wie beim letzten Mal wiederholt.34 23.2.2010, 40. Probentag, Diskussion im DT-Konferenzzimmer, dann Bühnenprobe auf der DT- Hauptbühne Konferenzzimmer: Koch (an Dimiter Gotscheff über die Szene »Warum werde ich hier festgehalten?«): »Ich stimme dir völlig zu: Man muss es souverän spielen, ihn sozusagen in die Zwänge bringen. So Mann gegen Mann.« DT-Hauptbühne: (während der Szene Warum werde ich hier festgehalten?) Gotscheff (an Wolfram Koch): »Nicht wegschauen! (nach einer Weile zu den anderen Schauspielern) Keiner wiederholt Wolframs Worte! Nur er. (an Wolfram Koch) Wolfram, kannst du es Sancho sagen?«35 Die Schauspieler tragen heute die an ihren Ohren befestigten Mikrophone. Vor dem Beginn der Szene Mann, tut das weh! sucht Gotscheff nach einer besseren Position für die Schauspieler auf der Bühne. Er selbst sitzt im Saal und sagt mit lauter Stimme, wer an welche Stelle gehen soll. Laut Gotscheffs neuer Verteilung sollen Zilcher, Wichmann und Baumgartner auf der linken Seite, Koch hinten mittig, Döh-

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ler hinter Koch rechts und Finzi drei Meter vor Koch, ihm zugewandt, stehen. Koch beginnt seinen Text nicht von Anfang an zu sprechen: »[…] Die Mehrheit jeder Intelligenz, wie ich sie kenne, tut nichts, liest nichts […]«. Gotscheff unterbricht ihn: »Entschuldigung; Wolfram. Mach den Anfang, damit wir diese Änderung vom Text sehen.« Koch beginnt jetzt den Text von Anfang an. Finzi geht ein bisschen nach rechts, um Koch nicht im Weg zu stehen, weil er seinen Text in den Saal spricht. Finzi steht sogar etwas weiter weg von Koch, sodass, als Koch zu ihm »Aushorchen und ausspionieren« sagt, Gotscheff vom Saal aus ruft, Finzi solle sich näher zu Koch stellen. Finzi: »Das wollte ich ja.« Dann sagt er (an Gotscheff): »Ich mache das am Ende [von Kochs Text].« Gotscheff: »Ok, versuch’s.« So wird es dann auch gemacht. Der Anfang des Dialogs findet hinten mittig statt. Nach »Ob Arzt oder Spion, der gekommen ist, um mich auszuhorchen. Das tut sich gleich« schreitet Koch sicher nach vorne. Finzi, verwundert, eine Brille mit runden Gläsern auf der Nase, folgt ihm in kleinen Schritten und sagt: »Das ist eine seltsame Phantasie.« Der Dialog wird auf der Vorderbühne fortgesetzt. Nach Finzis unschuldiger Frage »Wovor haben Sie Angst?« schaut ihn Koch voller Verachtung an, dreht sich von ihm weg und sagt: »Sie werden von mir kein Wort mehr hören.« Finzi darauf: »Warum? Was haben Sie?« Koch: »Lassen Sie mich. Zum Teufel!« Finzi fasst Koch an der Schulter an, Koch dreht sich schroff um und schwenkt den Arm in Richtung des Arztes, als würde er sich gegen ihn wehren. Vor Schreck schreit der Arzt auf. Nach einer kurzen Weile fragt er: »Welchen Monat haben wir?« Darauf der Patient, den Doktor weiter unverwandten Blicks ansehend: »März.« Von dieser Position aus, den Arzt weiter anschauend, flieht der Insasse zurück auf die Hinterbühne. Danach unterbricht Gotscheff die Probe: »Stopp. (kurze Pause) Es ist zu laut.« [Gotscheff bezog sich offenbar auf die Tatsache, dass die Schauspieler mit Mikrophonen ausgestattet waren.] Techniker: »Ja, das wissen wir.« Gotscheff: »Ist da nichts mehr zu ändern?« Koch: »Wahrscheinlich kommt es von mir? Unbewusst, wenn man weit weg ist, dann spricht man so, aber jetzt ist es einfach drin.« Gotscheff ruft alle Schauspieler nach vorne: »Für jeden von euch gilt, dass die Bewegung nach innen geht und nicht nach außen.« [Gemeint war wohl die Energiebewegung, während der jeder seinen Text sprach.] Die Szene wurde noch einmal, und zwar vom Text des Arztes an, wiederholt. Wolfram Koch trug kein Mikrophon mehr. »Mann, tut das weh!«, sprach er dieses Mal leise und ohne die übliche Überanstrengung aus, so als wäre er müde. Kurz danach unterbrach ihn Gotscheff: »Nur sollst du ›Mann, tut das weh!‹ absetzen!« Dabei machte er vor, wie dieser Satz gesprochen werden sollte. Er dehnte das erste Wort

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aus und sprach es in einer geringen Lautstärke aus. Koch fing den Text von vorn an und berücksichtigte diese Regieanweisung. Ab jetzt sprach er seinen Text von der Mitte der Hinterbühne. Bei »Warum bringt er es im Leben zu nichts Höherem? Warum?« rief Gotscheff aus dem Saal: »Schön, gut!« Der Dialog zwischen dem Arzt und dem Patienten verlief wie oben beschrieben. Eine kleine Änderung gab es erst gegen Ende des Dialogs. Nach Finzis »Wovor haben Sie Angst?« schaute ihn Koch, wie schon bei früheren Versuchen, verächtlich an und antwortete dem Doktor – nunmehr ohne sich zunächst umzudrehen: »Sie werden von mir kein Wort mehr hören.« Dann erst drehte er sich um. Der Arzt legte ihm langsam die Hand auf die Schulter: Der Patient reagierte nicht. Darauf Gotscheff leise aus dem Saal: »Noch einmal.« Finzi berührte noch einmal Kochs Schulter. Koch drehte sich schroff um und schwenkte den Arm drohend in Richtung Finzi. Darauf sagte Gotscheff »Wolfram, einen Moment« und stieg auf die Bühne. Dort diskutierte er mit den Darstellern über die Art und Weise, wie sich Koch bei der Berührung des Arztes umdrehen sollte. Zuerst probten Gotscheff und Finzi. Finzi fasste ihn an der Schulter an, Gotscheff drehte sich langsam um, hob den Arm, als wollte er den Arm in Richtung Finzi schwenken, und zog dabei eine drohende Grimasse. Dann drehte sich Gotscheff zu Koch und zuckte fragend die Achseln, als wäre er selber nicht sicher, ob das, was er soeben vorgeschlagen hatte, stimmt. Dann schlug Koch wieder diejenige Variante vor, in der er den Doktor mit seiner Bewegung eher schroff als langsam erschreckt. Gotscheff, Finzi und Koch diskutierten leise auf der Bühne. Dann probten sie zu Dritt auf der Vorderbühne das Ende des Dialogs zwischen dem Arzt und dem Insassen. Auf Finzis Frage »Welchen Monat haben wir?« machte Koch zunächst drei Schritte nach hinten, als würde er vor ihm davonlaufen, und von diesem Abstand aus sagte er mit lauter Stimme: »März.« Dann wiederholte er es noch einmal: »März.« Nach einer weiteren kurzen Besprechung wurde die Probe vom Ende des Dialogs an fortgesetzt. Ivan Dmitrič drehte sich weg vom Arzt, wandte dem Saal den Rücken zu und sagte: »Lassen Sie mich. Zum Teufel!« Nach der Berührung des Arztes drehte er sich sofort sehr schroff und drohend um, sogleich stellte der erschrockene Arzt die Frage: »Welchen Monat haben wir?« Ivan Dmitrič schaute sich misstrauisch um, lief nach hinten, ohne etwas zu antworten. Dabei flüsterte Gotscheff aus dem Saal: »März.« Katrin Wichmann und Almut Zilcher flüsterten Ivan Dmitrič auch »März« zu. Von der Hinterbühne aus schrie Koch überlaut: »MÄRZ!«36 Bis zur Premiere, die drei Tage später stattfand, wurde an dieser Szene fast nichts mehr geändert. Nur ganz am Ende, nachdem Wolf-

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ram Koch von allen »März« zugeflüstert wurde, schrie er »Mann, tut das weh!« statt »März«.37 Da es vor den Bühnenproben (am 1.2.2010) nur eine Leseprobe (am 25.1.2010) gegeben hatte, weswegen die Schauspieler ihre Positionen im Raum und die Beziehungen zwischen ihren Figuren nur noch imaginär annehmen bzw. intuitiv aufbauen konnten, fingen die Darsteller bereits am ersten Bühnenprobentag an, die Figurenbeziehungen selbst in der Mono-Szene von Wolfram Koch »Mann, tut das weh!« herzustellen, in der sich die Rollentexte (in diesem Fall der sogenannte Teppich) nicht aufeinander bezogen, sondern jeder Rollentext selbstreferenziell war. (Vgl. am 1.2.2010 Gotscheff an Koch: »Aber frag ihn nicht, sag nur so!« oder Gotscheff an Zilcher: »Almut, bleib unter deiner ›Glocke‹! Du gehst nur Richtung Publikum, aber die ›Glocke‹ bleibt über dir.«) Dieses unsichtbare Fadenziehen von einer Figur zu der anderen, dieses kollektive innere Erlangen, die Figuren untereinander wenigstens mittels des Ansprechens durch (eigentlich inkohärente) Rollentexte zu verbinden, ist durch eine bereits an den Vortagen erzielte hohe kollektive Efferveszenz zu erklären. Auch der hohe Pegel an emotionaler Energie der Schauspieler wird durch die häufiger auftretenden Impulse verraten, ihre Rollentexte an die Kollegen zu adressieren. (Vgl. am 19.2.2010 vor allem Wolfram Koch. Beim Vortragen seines Monologs »Mann, tut das weh!« wird Koch von Gotscheff unterbrochen: »Bleib bei dir, Wolfram! Nicht zu Sancho!«) Selbst wenn (oder gerade weil) es in der Szene »Mann, tut das weh!« um die soziale Emotion der Verachtung ging, blieben die Teammitglieder dermaßen solidarisch miteinander, dass sie sogar am Probentag (23.2.2010), an dem diese Szene zum letzten Mal separat von den anderen geprobt wurde, einen starken Energieaustausch – der hier laut dem Vorhaben des Regisseurs überflüssig war – nur noch nach dem Eingriff des Regisseurs unter Kontrolle bringen konnten. (Vgl. am 23.2.2010 Gotscheff an alle: »Für jeden von euch gilt, dass die Bewegung nach innen geht und nicht nach außen.«) Die Herausforderung bestand für die Schauspieler gerade darin, die Inkohärenz, simultane Entfremdung und Abkapselung ihrer Figuren zu zeigen, während die Beteiligten selber im Gegenteil kohärent und miteinander höchst solidarisch waren bzw. sprudelnde emotionale Energie ausstrahlten. Vor diesem Hintergrund fiel ihnen der anknüpfende Dialog zwischen Koch und Finzi »Sie hören von mir kein Wort mehr!« definitiv leichter, weil sie ihre Energien nicht mehr zurückhalten mussten, sondern bereits aneinander richten konnten. Am 19. und 23.2.2010, als jener Dialog erst- und letztmalig geprobt wurde, hat der

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Regisseur mit den Schauspielern über die Szene einige Male in einer unhörbaren Lautstärke diskret im Halbkreis auf der Bühne diskutiert, was von einer Bereitschaft des Künstlerteams zeugt, ihre vertrautesten Gespräche – sprich rituelle Symbole der Gruppe – vor fremden Ohren dann und wann zu schützen. Dritte Probensituation Insassen – Samuel Finzi, Szene: »Aufstand« (»Der Doktor ist gekommen!«), (Verachtung) 12.1.2010, zweite Textfassung; 18.1.2010, sechste Textfassung Weder wurde über diese Szene bis zum 3.2.2010 öffentlich diskutiert, noch wurde sie bis dahin geprobt. 3.2.2010, 22. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«. Koch: »Der Doktor ist gekommen!« (Alle flüsternd: »Der Doktor!«) Döhler: »Meine Herren, gratuliere, der Doktor beehrt uns mit ­seiner Visite!« Zilcher: »Der verdammte Widerling!« Koch: »Schlagt ihn tot!« Zilcher: »Nein, Totschlagen ist zu wenig!« Döhler: »Ersäuft ihn in der Latrine!« Bendokat: »RUHE! Ruhe!« Finzi: »Weshalb?« Koch: »Weshalb?« Wichmann: »Dieb! Scharlatan! Henker!« Finzi: »Beruhigen Sie sich. Ich versichere Ihnen, ich habe nie etwas gestohlen, im Übrigen übertreiben Sie vermutlich stark. Ich sehe, dass Sie mir böse sind. Beruhigen Sie sich bitte, wenn Sie können, und sagen Sie mir bitte: Weshalb sind Sie mir böse?« Koch: »Weshalb! Und weshalb halten Sie mich hier fest?« Finzi: »Deshalb, weil Sie krank sind.« Koch: »Jawohl, ich bin krank. Aber Dutzende, Hunderte von Wahnsinnigen gehen in Freiheit spazieren, weil Sie in Ihrer Ignoranz unfähig sind, sie von den Gesunden zu unterscheiden. Sie, der Feldscher, der Verwalter und all Ihr Krankenhausgesindel stehen, in moralischer

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Beziehung, unermesslich viel niedriger als jeder von uns. Warum also sitzen wir und nicht Sie? Wo ist da die Logik?« Bendokat: »Ruhe!« Finzi: »Moral und Logik haben hier nichts zu suchen. Alles hängt von einem Zufall ab. Wer eingesperrt ist, der sitzt, und wer nicht eingesperrt ist, der geht spazieren, das ist alles. Das haben wir schon geklärt.« (langes Schweigen) Bendokat: »Euer Hochwohlgeboren, ist es nicht so weit für Ihr Bier?« Finzi (schreit): »Nein, es ist noch nicht so weit. Es ist noch nicht die Zeit, ich warte noch. Ich warte.« (langes Schweigen) Finzi (sanft): »Nikita, jetzt! Könnten wir vielleicht jetzt ein Bier haben? Für alle!«38 Diskussion: Gotscheff: »Ich suche eine Art Ritual.«39 (Siehe weitere Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.) 8.2.2010, 26. Probentag, Bühnenprobe, DT-Probebühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«. Präzisierung zum Satz von Dimiter Gotscheff: Gotscheff (an alle): »›Die Glocke‹40 aus dem ersten Teil hat sich ein bisschen geöffnet: Da ist schon ein anderes Bewusstsein.« 11.2.2010, 30. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«41. 23.2.2010, 40. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«.

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26.2.2010, Generalprobe, DT-Hauptbühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«. Da die Gruppensolidarität und emotionale Energie jedes einzelnen Akteurs zum Zeitpunkt der ersten Bühnenprobe der Szene »Aufstand« (3.2.2010) durch intensives kollektives Bühnenproben anderer Szenen bereits sehr intensiv war, ist auch eine deutlich bemerkbare leiblich-affektive Rhythmisierung der involvierten Künstler völlig nachvollziehbar. Bereits bei diesem ersten Bühnenprobenversuch der Szene ist sowohl in der Szenenbeschreibung (Vgl. Tabelle am 3.2.2010, 3. Spalte: »Die Insassen springen auf, bilden eine Linie und schreien ihre Sätze boshaft und voller Verachtung aus.«) als auch während der Diskussion die Weise zu sehen (Vgl. Tabelle am 3.2.2010, 4. Spalte, Wolfram Koch: »Plötzlich ist da eine andere Realität: Zuerst war Musik und dann plötzlich ein Auftakt von allen – pa-pa-pa.« Er zeigt, wie alle auf einmal aufgestanden waren.), wie rhythmisch und simultan die Schauspieler in der Szene handeln, ohne sich vorher verabredet zu haben. Am nächsten Bühnenprobentag der Szene »Aufstand« (8.2.2010) haben sich die Künstler schon vor der Bühnenprobe darüber geeinigt, die Texte der Insassen »an der Peripherie« zu sprechen, wobei der Arzt vorne stehenbleiben sollte. Auf diese Weise sollte die Simultanität ihrer Handlungen etwas reduziert werden, weil diese Szene durch eine andere »Hermetik« geprägt wurde bzw. in dieser Szene »eine andere Autonomie« gezeigt werden sollte (Vgl. Tabelle am 8.2.2010, 4. Spalte). Nach dem ersten und einzigen Probenversuch an jenem Tag sprechen Gotscheff, Koch, Wichmann, Zilcher und Finzi jeder aus seinem eigenem Szenengefühl und einigen sich während der Diskussion darüber, dass die Kranken in dieser Szene weniger Druck auf den Arzt ausüben sollen. Ein identisches Gefühl äußerten Samuel Finzi und Almut Zilcher, als sie die Aktivität der Kranken mit einem Perpetuum mobile verglichen (vgl. ebd.) und auf dessen zyklischen Ablauf hindeuteten (vgl. ebd.: »Bald flammen sie auf, bald gehen sie runter«). Dieses Konzept (des Perpetuum mobile) haben die Künstler am nächsten Probentag, dem 11.2.2010, bei drei ersten Probenversuchen fortgesetzt und ab dem vierten weiter verfeinert, wobei sie die Lautstärke, in der sie ihre Texte vortrugen, vom Flüstern bis zum überlauten Schreien entwickelten (vgl. ebd., 3. Spalte, vierter Probenversuch). Dieselbe Vorgehensweise (der langsame Übergang der Insassen vom Flüstern zum Schreien) wurde ab nun fest verankert und auch beim nächsten Pro-

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benversuch dieser Szene (am 23.2.2010) sowie bei der Generalprobe am 26.2.2010 wiederholt. Sie wurde ab dem unterbrochenen dritten Probenversuch am 11.2.2010 verfolgt, nachdem die Künstler zunächst einmal etwas auf der Vorderbühne vertraut besprochen (vgl. am 11.2.2010, 3. Spalte, dritter Probenversuch) und damit ihre rituellen Symbole – also Sätze, die die vertraute Diskussion ausmachten – geschützt haben. Das Ergebnis der vertrauten Diskussion (der Übergang der Insassen vom Flüstern zum Geschrei) konnte unmittelbar auf der Bühne erst beim vierten Probenversuch an demselben Tag (11.2.2010), wie oben erwähnt, gesehen werden. Häufige Diskussionen und lebhafter Meinungsaustausch sind Ausprägungen einer großen kollektiven Efferveszenz der Künstlergruppe: Von einem Probentag zum anderen äußerten sich die involvierten Darsteller immer offener über ihre eigene Gefühlslage bezüglich der Abläufe zwischen ihren Figuren in der Szene. Vierte Probensituation Andreas Döhler, Szene: »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden …«, »Abc« (Stolz) 13.1.2010, 4. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Szene »Abc« Samuel Finzi liest als Erster vor, die anderen steigen danach ein: (Samuel Finzi nennt Buchstaben, Andreas Döhler reagiert.) »A – achtzehn – Mascha ist heute schlecht gelaunt. Sie hat mit achtzehn Jahren geheiratet. B – Bedürfnis – Wenn du hören könntest, dann würde ich vielleicht gar nicht mit dir reden. Ich habe das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, (aber meine Frau versteht mich nicht.) C – Chekhov – Anton Pavlovich Chekhov, 29.1.1860–15.7.1904 Russian short-story writer, playwright and physician, considered to be one of the greatest short-story writers in the history of world literature. Chekhov practiced as a doctor throughout most of his literary career: ›Medicine is my lawful wife‹, he once said, ›and literature is my mistress.‹ D – Dienst – Morgen ist Freitag, da haben wir keinen Dienst, aber ich komme trotzdem. Ein bisschen was zu tun, zu Hause ist langweilig. E – erscheint – Das, was uns gerade ernst, bedeutsam, so sehr wichtig erscheint, – mit der Zeit wird es vergessen werden oder wird unwichtig erscheinen. F – Form – Die Hauptsache in jedem Leben ist seine Form. Was

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seine Form verliert, stirbt ab. G – Garten – Der alte Garten am Haus Prozorov. Eine lange Tannenallee, an deren Ende der Fluss zu sehen ist. Jenseits des Flusses – Wald. Rechts – die Terrasse des Hauses; hier auf einem Tisch – Flaschen und Gläser; man sieht, dass soeben Champagner getrunken worden ist. H – Haarausfall – Bei Haarausfall zwei Unzen Naphtalin auf eine halbe Flasche Spiritus auflösen und täglich anwenden. I – ich – Heute Nacht bin ich um zehn Jahre gealtert. J – Jugend – Trotzdem schade, dass die Jugend vorbei ist. K – Kind – Wenn dieses Kind mir gehörte, würde ich es in der Pfanne braten und aufessen. L – Liebe – Nikolai Lwowitsch, sprechen Sie nicht von der Liebe! Bitte! M – Moskau – - Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau. - Aus Moskau? Sie sind aus Moskau? - Ja, aus Moskau. - Olga! Olga! Komm doch! Oberstleutnant Werschinin ist, wie sich herausstellt, aus Moskau. - Sie sind aus Moskau? - Ja, ich bin in Moskau zur Schule gegangen und habe in Moskau meinen Dienst angetreten. - Alexander Ignatjewitsch, Sie sind aus Moskau? Ist das eine Überraschung! - Schnell! Das Haus verkaufen, mit allem hier Schluss machen und nach Moskau ziehen! - Ja! So schnell wie möglich nach Moskau! - Stell dir vor, Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau! - Ja. Ich bin aus Moskau! N – Natascha – (Natascha geht mit einer Kerze über die Bühne, aus der Tür rechts zur Tür links, schweigend. Mascha setzt sich auf.) O – Offiziere – Vielleicht ist es anderswo nicht so, aber in unserer Stadt sind die anständigsten, die vornehmsten und gebildetsten Leute die Offiziere. P – Pause – - Merkwürdig. Sie sind allein hier. - Ja. (Pause) Leben Sie wohl.«42 (Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Stolz«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.)

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14.1.2010, 5. Probentag, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Szene »Abc« (Siehe Textfassung vom 13.1.2010 oben.) Diskussion: Gotscheff: »Es soll das Bild entstehen, wie sie im Raum ­vegetieren.« Döhler: »Gibt es Figuren? Gibt es zwischenmenschliche Beziehungen? Ich begreife es nicht.« Gotscheff: »Die Worte von Čechov sind ein Material, ein ›Raumgefängnis‹. Die Čechov’sche Materie, die unter uns seit zweihundert Jahren herumkreist. Damit zu leben und damit zu spielen. Seine Texte sind ein Alphabet für alle.«43 18.1.2010, 8. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Döhler (beim »Abc«-Lesen): »Ich weiß nicht, warum und wie ich das lese. Ich brauche Regieanweisungen.« Gotscheff: »Alle Regieanweisungen sind im Text. Finde sie. Und stelle sie mit deinen eigenen Mitteln dar.« Finzi (nachdem Andreas Döhler sich wieder dazu äußerte, dass er nicht begreift, wie und was er spielen soll): »Wichtig ist nicht der Inhalt, sondern Gestus. Versuch nicht daran zu denken, was du sagst, sondern einfach Gesten zu machen.«44 19.1.2010, 9. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Vor und während dem »Abc«-Vorlesen dachte sich Andreas Döhler selbst aus, was er zu jedem Buchstaben sagte.45 27.1.2010, 16. Probentag, Bühnenprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Die siebente Textfassung (vom 22.1.2010): Döhler: »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden, werde ich sie nicht nehmen. Ich bin ein freier Mensch. Und alles, was ihr, die Reichen wie die Bettler, so hoch und teuer schätzt, hat über mich nicht die geringste Gewalt, wie eine Flaumfeder, die durch die Luft schwebt. Ich komme ohne euch aus, ich kann an euch vorbeigehen, ich bin stark und stolz. Die Menschheit geht der höchsten Wahrheit entgegen, dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist, und ich bin in den ersten Reihen. Und ich werde ankommen. Ich werde ankommen, oder anderen den Weg zeigen, wie man hinkommt. Sei gegrüßt, du neues Leben!« Danach folgt das »Abc«, in das alle mit einstimmen: Finzi: »A!« Döhler: »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden, ich werde sie nicht nehmen.«

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Finzi: »B!« Döhler: »Bettler! Und alles, was ihr, die Reichen wie die Bettler, so hoch und teuer schätzt, hat über mich nicht die geringste Gewalt, wie eine Flaumfeder, die durch die Luft schwebt.« Finzi: »C!« Alle: »Čechov!« Finzi: »D!« Alle: »Dienst! Morgen ist Dienst!« Döhler: »Die Menschheit geht der höchsten Wahrheit entgegen, dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist, und ich bin in den ersten Reihen.« Finzi: »E!« Döhler: »E – das nur auf Erden möglich ist!« Alle: »Essen, trinken, schlafen.« Finzi: »F!« Döhler: »Flaumfeder! Wie eine Flaumfeder, die durch die Luft schwebt!« Finzi: »G!« Döhler: »Glück! Dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist!« Finzi: »H!« Alle: »Haarausfall! Bei Haarausfall zwei Unzen Naphtalin auf eine halbe Flasche Spiritus auflösen und täglich anwenden. Das müssen wir uns aufschreiben!« Finzi: »I!« Döhler: »Ich bin in den ersten Reihen!« Finzi: »L!« Alle: »Liebe! Bitte sprechen Sie nicht von der Liebe!« Finzi: »M!« Alle: »Moskau! - Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau. - Aus Moskau? Sie sind aus Moskau? - Ja, ich bin aus Moskau. - Olga! Olga! Komm doch! Oberstleutnant Werschinin ist, wie sich herausstellt, aus Moskau! - Sie sind aus Moskau? - Ja, ich bin aus Moskau. - Ist das eine Überraschung! - So schnell wie möglich nach Moskau! - Stell dir vor, Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau!« Finzi: »N!«

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Alle: »Nach Moskau!« Finzi: »O!« Alle: »Oi, oi, oi!« Finzi: »P!« Alle: »Pause!«46 Beim »Abc« ruft Finzi einen Buchstaben aus, Döhler wiederholt ihn, und erst nach Döhler wiederholen diesen Buchstaben die anderen »Patienten«. Döhler drängt sich auf die Vorderbühne und versucht als Erster, vor dem Publikum seine Position einzunehmen. Gotscheff (schreit): »Andreas, NEIN!« Nach zehn Minuten, nachdem die Szene beendet wurde, wird Andreas Döhler wieder von dem Regisseur konfrontiert. Döhler: »Ja, ja, ich weiß, du kommandierst und ich gucke.« (Vorher sagte ihm Gotscheff einmal an jenem Tag: »He, was machst du? Ich kommandiere und du guckst.«) Gotscheff (nach der Konfrontation Döhlers mit Gotscheff): »Ist es der Widerspruch von euch allen oder nur von Andreas?« Koch (auf dem Boden sitzend, sich an die Wand lehnend und das Bein nervös schüttelnd): »Wir müssen im Raum gucken, wie es ist.«47 28.1.2010, 17. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Andreas Döhler kommt zum rechten Bühnenrand und spricht seinen Text von dort aus in den Saal. Während er spricht, verlassen alle anderen ihre Ausgangspositionen, sehen den Sprechenden an (manche mit Bewunderung, manche mit Interesse und Anteilnahme, dies aber, ohne den Blick von ihm abzuwenden) und bewegen sich langsam auf ihn zu. Während Döhler seinen Text bis zum Ende spricht, umkreisen ihn die anderen. Gegen Ende seines Textes stehen alle auf einer Linie mit Döhler und schauen schweigsam und träumerisch in den Saal bzw. in die Ferne. Dann applaudiert Samuel Finzi. Gotscheff bedankt sich bei allen Schauspielern für die knapp 35-minütige, kein einziges Mal unterbrochene Probe, während der alle Schauspieler ihre Texte sprechen konnten.48 Diskussion nach der Bühnenprobe49: Gotscheff: »Was wir brauchen, ist ein bewegender Einklang. (an Döhler) Es raschelt etwas von einer Vision. (Frage an alle) Wieso stellt ihr doch die Frage so einfach nicht in den Raum wie Wolfram?« Baumgartner: »Naja, weil ich irgendwie Angst vor diesem Text habe.« Gotscheff: »Das Ereignis, Leute, ist der Mensch. Es sind ›­Fetzen‹ von Biographien. Jeder spricht, guckt, ohne große Amplitude zu

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machen. Es ist mehr als ein Krankenhaus! Es ist ein Raum, in dem ›­Fetzen‹ von Menschen, Texten, einzelnen Schicksalen herumkreisen.« Zilcher: »Mein Text ist sehr zerfetzt, fragmentarisch. Er führt zum Verrücktwerden. Weiß nicht, wie man das zusammenführen kann.« Gotscheff: »Ja, ich habe mir notiert, wie ihr aufeinander hört. Die Kommunikation zwischen euch mit Drang ist mir überflüssig! Durch minimale Darstellung kann man diesen Raum füllen. Es ist keine Kommentarebene. Die Beziehung zur eigenen Figur ist wichtig. Zum Beispiel die Geste, die regt50. Zum Beispiel wenn du, Katrin, deinen Text sprichst und auf deine Stelle zurückgehst.« Finzi: »Wir versuchen jetzt die psychologischen Charaktere der Figuren anzudeuten.« Zilcher: »Ich verstehe nicht, ob ich eine Figur spiele oder nicht.« Koch: [Notiz fehlt, weil ich nicht verstehen konnte, was gesagt wurde.] Gotscheff: »Wenn man unter den Scheinwerfer kommt, kann man dort länger bleiben. So ist auch der ›Teppich‹ [vgl. Kapitel 1.2, Anm. 42] länger, und das ist ein Ritual für mich. Der Text ist viel kräftiger als die Darstellung. Die ›schmale Begegnung‹ von Form und Text im Raum müssen wir finden. (Er schweigt und zieht an einer Zigarette. Plötzlich tobt er: Er schreit etwas vor sich hin, was nicht verständlich ist. Alle A ­ nwesenden werden mucksmäuschenstill.) Ich möchte nur diese Beziehung zum Čechov-Raum herstellen! Wolfram zeigt seine Fresse erst, wenn der Arzt zu ihm kommt! (Die Bühnenbildnerin Katrin Brack sagt, dass Wolfram Koch zwanzig Minuten mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Der Co-Regisseur Ivan Panteleev war im Begriff, etwas zu sagen, aber Gotscheff unterbricht ihn schroff. An Panteleev) Halt die Klappe! Wolfram wird mit dem Rücken zum Saal sitzen und das (überlaut) IST RICHTIG! Weniger Gestalt, mehr Text. (Pause) Ich habe doch auch meinen Traum: diesen Raum, in dem die ›Insekten‹, die Menschen da rascheln. Der Text ist ein Anachronismus und deswegen kostbar. Der Text ist auch ein ›Insekt‹.« (In diesem Moment gingen manche Schauspieler – Wichmann, Bendokat, Döhler – Richtung Garderobe, um sich umzuziehen. Kurz darauf verließen sie die Probe. Zwischen Andreas Döhler und dem Regisseur ist es an diesem Tag zu Konfrontationen gekommen.) Die Entscheidung ist an diesem Probentag gefallen: »›Die Begegnung‹ von Schauspielern und Figuren muss kommen.«51 10.2.2010, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne Es gab wieder Differenzen zwischen Andreas Döhler und Dimiter Gotscheff. Gotscheff hat viel geschrien.

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Döhler: »Ich verstehe nicht, wie ich spielen soll.« Gotscheff: »Ihr habt doch genug Freiheit gehabt!« (Döhler geht auf der Bühne auf und ab. Es entsteht eine Pause. Finzi erklärt Döhler auf der Bühne, was Gotscheff sehen will.)52 16.2.2010, 34. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne Samuel Finzi und Wolfram Koch waren an diesem Tag abwesend. Andreas Döhler beginnt seinen Text in der Ausgangsposition zu sprechen. Während er ihn vorträgt, geht er zum Bühnenrand (ohne irgendwelche emotionalen Regungen zu zeigen) und bleibt dort stehen. Langsam ziehen auch die anderen Insassen zum Bühnenrand. Sie nähern sich ihm und schauen, über den Sprechenden hinwegsehend, in die Ferne. Sie bleiben auf einer Linie mit Döhler stehen und sehen in den Saal. Döhler beendet seinen Text. Gotscheff flüstert aus dem Saal: »Texte.« Die anderen Patienten fangen an, ihre Texte leise in den Saal zu sprechen. Gotscheff unterbricht die Szene, indem er etwas vor sich hin schreit. Die Schauspieler gehen nach hinten. In diesem Moment fragt ihn Margit Bendokat: »Und Andreas soll ich nicht stören?« Gotscheff: »Nein. Aber wenn die anderen so langsam zu Andreas nach vorne kommen, Margit, da kannst du aufstehen und auf deinen …« Bendokat: »Zum anderen Stuhl gehen?« Gotscheff: »Nee, nee.« Bendokat: »Hier rum?« (auf der Vorderbühne links vor dem Stuhl) Gotscheff: »Ja!« Andreas Döhler steht vorne und hört dem Gespräch zu. Bendokat geht auf Döhler zu und sagt etwas zu ihm, das diejenigen, die in der ersten Reihe sitzen und ihnen zuhören, zum Lachen bringt. Döhler (halb verwundert, halb spielerisch empört): »Margit!« (Seine folgenden Worte waren zu leise, um von mir bzw. der Kamera vernommen zu werden.)53 19.2.2010, 37. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne Erster Probenversuch: Andreas Döhler spricht seinen Text, während er sich Richtung Bühnenrand bewegt. Er geht einige Schritte, artikuliert den Text ruhig und ausgeglichen und sieht dabei in den Zuschauerraum. Die anderen Patienten schauen ihn zunächst an und gehen langsam zum Bühnenrand, wo Döhler bereits steht und von wo er seinen Text weiter ruhig und stolz

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vorträgt. Sie stehen auf einer Linie mit Döhler. Der Arzt bleibt währenddessen unbeweglich stehen und hört Döhler ebenfalls zu. Er steht mit dem Rücken zum Saal zwei Schritte vom Bühnenrand entfernt. Als alle in einer Linie stehen, geht der Arzt um sie herum und bleibt am Bühnenrand links von allen stehen. Er hört zuerst Andreas Döhler, dann den anderen (dem »Teppich«, vgl. Kapitel 1.2, Anm. 42) zu. Zweiter Probenversuch: Am Anfang der Szene macht Döhler schleichend Schritte (dabei hebt er die Beine übertrieben hoch); dabei schaut er ab und zu um sich, als machte er etwas Heimliches oder als würde er verfolgt. Er bewegt sich auf diese Weise zum Bühnenrand. Dabei sagt er kein Wort. Er reibt sich die Hände. Gotscheff unterbricht ihn kurz mit »Andreas!«, woraufhin dieser erschrickt und fragt: »Was?« Dimiter Gotscheff: »Du hattest am Anfang ein Lachen« (ahmt ihn nach). Döhler beginnt die Szene erneut mit demselben »schleichenden« Gang und mit einem neurotischen, krampfhaften Lachen. Als er an Katrin Wichmann und Almut Zilcher vorbeigeht, mustern sie ihn von Kopf bis Fuß: Wichmann mit einem breiten Lächeln, Zilcher macht eine Tanzbewegung hinter seinem Rücken. Erst als Döhler an den Bühnenrand gelangt, spricht er seinen Text in den Saal. Er redet deutlich, mit Pausen und einem triumphierenden Lächeln (was überzeugend wirkt und den Eindruck eines unabhängigen, stolzen Menschen erweckt), als wollte er, dass der Sinn seines Textes in jeden Zuhörer eindringt. Die anderen Insassen gehen langsam zu ihm und bleiben auf einer Linie mit Döhler auf der Vorderbühne stehen. Sie schauen ebenfalls mit einem stolzen, unabhängigen, erhabenen Gesichtsausdruck in den Saal. Gleich nach Döhlers Text sprechen sie im Chor ihre Sätze (den »Teppich«, vgl. Kapitel 1.2, Anm. 42).54 23.2.2010, 40. Probentag, Diskussion, DT-Konferenzzimmer Gotscheff: »Andreas, da du ein anderes Verhältnis zum Arzt hast als die anderen, lässt du deinen Text ›in der Luft schweben‹.« Bühnenprobe, DT-Hauptbühne: Beim »Abc« steht Döhler alleine am Bühnenrand. Er wird intensiv beleuchtet. Er wirkt verwirrt, sogar aufgeregt und artikuliert krampfhaft seine eigenen Buchstaben, die nicht mit denen übereinstimmen, die Samuel Finzi nennt. Gotscheff (nach einer Weile): »Das ist ein Widerstand gegen diese Maschinerie.«55

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Den Text spricht Andreas Döhler bereits in seiner Ausgangsposition bzw. beim Gehen zum Bühnenrand. Sein Gang ist jetzt »normal«: Beim Gehen hebt er die Knie nicht mehr so hoch. Er spricht genauso deutlich, ruhig, ausgeglichen, stolz. Er macht nach wie vor kurze Pausen zwischen den Sätzen. Nach seinem Text beginnt der »Teppich«, der Chor der Insassen. Auch Döhler nimmt daran teil: Er spricht ein paar Phrasen aus seinem gerade gesprochenen Text. Triumphierend lächelnd, kreuzt er die Arme vor der Brust und schaut in den Saal. Der Arzt klatscht in die Hände und ruft zum »Abc« auf. (Die Szene »Abc« knüpft jetzt direkt an den »Teppich« an.) Alle Kranken rennen Hals über Kopf zur Bühnenmitte. Nur Döhler bleibt stolz auf der Stelle stehen. Während die anderen Kranken Sätze zu je einem Buchstaben herausschreien, spricht Döhler am Bühnenrand die Sätze aus seinem Text. Er bleibt die ganze Zeit alleine stehen. Die Szene »Abc« wird an diesem Tag noch vier Mal geprobt. Es wird an Details gefeilt (die Reihenfolge der Sprechenden, das Takt-Halten der Bewegungen usw.), aber im Großen und Ganzen bleibt sie so wie beschrieben: Döhler steht stolz am Bühnenrand, abgegrenzt von den anderen, während die anderen zur Mitte stürmen, und artikuliert seine eigenen Sätze zu jedem Buchstaben, den der Arzt nennt.56 Diese Szene wurde genauso auch zwei Tage später bei der Premiere gespielt. Die Szene »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden …« bzw. »Abc« ist die einzige Szene der Aufführung, die einerseits (bereits nach der dritten Leseprobe, ab dem 19.1.2010) aus Andreas Döhlers ursprünglichem Unverständnis von seiner Spielweise und andererseits aus einer Konfrontation zwischen dem Schauspieler und dem Regisseur Dimiter Gotscheff entstand. Dabei soll sofort unterstrichen werden, dass sowohl das »Unverständnis« als auch die »Konfrontation« keinesfalls vom Fehlen eines kohärenten Wohlgefühls (der kollektiven Efferveszenz) beim Proben dieser Szene zeugen. Im Gegenteil war die Gruppensolidarität unter den Schauspielern in den Momenten des »Unverständnisses« oder der Konfrontation Döhlers mit dem Regisseur so groß, dass die anderen Spieler (vor allem diejenigen, die mit dem Regisseur Gotscheff schon lange gearbeitet hatten und seinen Regiestil kannten) Döhler mehrmals zur Seite standen und ihm zur rechten Zeit die Hand reichten, um die Atmosphäre lockerer zu gestalten. (Vgl. Tabelle am 10.2.2010, Spalte 4, Finzi und Döhler; am 16.2.2010, Spalte 4 Bendokat und Döhler; am 19.2.2010 Spalte 4, G ­ otscheff und Döhler.) Solche »Einschübe« der Gruppensolidarität und gestiegener emotio-

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naler Energie einzelner Mitglieder der sogenannten Gotscheff-Familie (siehe dazu Unterkapitel 4.1, S. 124) haben zur Aufrechterhaltung einer großen kollektiven Efferveszenz beim ­Proben dieser widerständigen Szene beigetragen. Besonders deutlich ist es ab der Probenphase auf der DT-Hauptbühne, ab dem 10.2.2010, zu sehen, als Samuel Finzi mit Andreas Döhler nach einer Probenunterbrechung persönlich auf dem Bühnenrand sprach. Das ist die einzige Szene, in der die rituellen Symbole, also die in den Diskussionen verwendeten Sätze, oft ungeschützt (für die anwesende Öffentlichkeit hörbar) blieben: Zum einen nahmen sowohl der Schauspieler als auch der Regisseur kein Blatt vor den Mund, wenn es um das Verständnis des Bühnengeschehens ging. Zum anderen aber gab es Momente der Vertrautheit unter den Mitspielern, wenn es darum ging, ein entstandenes Un- oder Missverständnis zu entschärfen, wobei sich die Mitglieder der »Gotscheff-Familie« mit Andreas Döhler nach mancher Szenenunterbrechung am Bühnenrande leise unterhielten, sodass zwischen ihm und dem Regisseur keine weiteren Konfrontationen mehr folgten. Was die leiblich-affektive Rhythmisierung anbetrifft, so war diese an den ersten drei Probentagen (am 13., 14. und 18.1.2010) unter allen Insassen (inklusive der Figur Andreas Döhlers) zu sehen, indem sie die Sätze zu jedem vom Arzt genannten Buchstaben im Chor vorlasen. Es blieb so, bis Andreas Döhler während der Leseprobe am 19.1.2010 begann, die bereits gelernten Sätze lauter, als die anderen es taten, herauszuschreien. Nochmals wurde diese Szene am 27.1.2010 bereits mit der Erweiterung des Rollentextes um »Auch wenn sie mir zweihunderttausend geben würden …« gespielt. Ausgerechnet in dieser Situation hat sich der Widerspruch zwischen der Figur Döhlers und der Krankenhausordnung angedeutet, was sich automatisch in der Abweichung von der vorgezeichneten leiblich-affektiven Rhythmisierung der Mitspieler ausdrückte. So stand zum 16.2.2010 bereits fest, dass Döhlers Widerstand »die anderen sogar kurz wach macht« (vgl. Gotscheff am 16.2.2010 Spalte 7). Und am Ende der Proben, am 23.2.2010, formulierte der Regisseur eindeutig, dass Döhler »ein ganz anderes Verhältnis zum Arzt hat als die anderen« (vgl. Gotscheff am 23.2.2010 Spalte 7), was seine abweichende leiblich-affektive Rhythmisierung von der der anderen Darsteller bekräftigte. Diese abweichende leiblich-affektive Rhythmisierung von Döhlers Figur prägte die gesamte Szene.

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

DAS BERLINER ENSEMBLE

Erste Probensituation Blanche – Mitch, dritte Szene: »Bekanntschaft bei den Kowalskis«, Ende der fünften Szene: »Ausgehen in die Stadt«, sechste Szene: »Unterhaltung bei den Kowalskis zu Hause« (Liebe) 10.1.2011, 6. Probentag, allgemeine Diskussion, BE-Probebühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler« und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews). 17.1.2011, 9. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne In Szene 3 (»Pokerabend«) lernen Blanche und Mitch einander kennen: Steve: »Ach, lass doch den Mädchen ihre Musik!« (Stanley kommt, geht zum Radio und schaltet es aus. Beim Anblick von Blanche im Lehnstuhl bleibt er plötzlich stehen. Sie erwidert seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann geht er wieder ab.) Mitch: »Ich muss mal aufs Klo.« Steve: »Mitch ist jetzt fickerig, die Hosen voller Dollars. Zu Hause kommt alles ins Sparschwein.« Blanche (sanft): »Hallo! Für kleine Jungs ist gerade besetzt.« Mitch: »Wir trinken viel Bier.« Blanche: »Bier kann ich nicht ausstehen.« Mitch: »Aber das tut gut bei dieser Hitze.« Blanche: »Ach, das glaube ich nicht; mir wird davon nur noch heißer. Haben Sie vielleicht Zigaretten?« (Sie hat sich den dunkelroten Satinmorgenrock angezogen.) Mitch: »Klar.« Blanche: »Ein hübsches Etui. Silber?« Mitch: »Ja. Ja. Lesen Sie mal das Eingravierte!« Blanche: »Oh, hat es eine Gravur? Ich kann gar nichts sehen. (Er zündet ein Streichholz an und kommt noch näher.) Oh! (Liest mit gespielter Mühe) ›Doch wenn es Gottes Wille ist, ich werde umso mehr dich lieben – nach dem Tod!‹ Aber das ist doch aus meinem Lieblingssonett von Mrs. Browning!« Mitch: »Sie kennen es?« Blanche: »Selbstverständlich!«

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Mitch: »Zu dieser Gravur gehört auch eine Geschichte.« Blanche: »Bestimmt eine Liebesgeschichte.« Mitch: »Eine ziemlich traurige.« Blanche: »Oh.« Mitch: »Das Mädchen ist nicht mehr am Leben.« Blanche (mit tief empfundenem Mitgefühl): »Oh!« Mitch: »Sie wusste, sie würde bald sterben, als sie es mir schenkte. Ein außergewöhnliches Mädchen, sehr lieb – sehr!« Blanche: »Sie muss sie geliebt haben. Kranke Menschen sind tiefer Gefühle fähig.« Mitch: »Ja, das stimmt.« Blanche: »Kummer trägt zur Aufrichtigkeit bei, glaube ich.« Mitch: »Ich glaube, da haben Sie Recht.« Blanche: »Natürlich habe ich Recht. Zeigen Sie mir jemanden, der nie gewusst hat, was Kummer ist, und ich zeige Ihnen, wie nischsagend … Hören Sie sich das an! Meine Zunge ist ein bisschen schwer! Daran seid ihr Jungs schuld. Zwei ist die Grenze. Oder drei! (Sie lacht.) Heute Abend hatte ich drei.« Stanley: »Mitch!« Mitch: »Lasst mich aus. Ich unterhalte mich mit Miss …« Blanche: »DuBois.« Mitch: »Miss DuBois?« Blanche: »Ein französischer Name. ›Bois‹ bedeutet ›Wald‹, und ›Blanche‹ heißt ›weiß‹, beides zusammen also ›weißer Wald‹. Wie ein Obstgarten im Frühling! So können Sie es sich merken.« Mitch: »Sie sind Französin?« Blanche: »Wir sind französischer Abstammung. Unsere ersten amerikanischen Vorfahren waren französische Hugenotten.« Mitch: »Sie sind aber doch Stellas Schwester?« Blanche: »Ja, Stella ist meine geliebte kleine Schwester. Ich nenn’ sie so, obwohl sie ein bisschen älter ist als ich. Aber nur ein bisschen. Weniger als ein Jahr. Würden Sie etwas für mich tun?« Mitch: »Klar. Was?« Blanche: »Diesen entzückend bunten kleinen Papierlampion habe ich in einem chinesischen Geschäft auf der Bourbon gekauft. Hängen Sie ihn über die Glühbirne! Sind Sie so nett?« Mitch: »Mit Vergnügen.« Blanche: »Ich kann nackte Glühbirnen nicht ertragen, genau so wenig wie rüde Bemerkungen oder ordinäres Benehmen.« Mitch (befestigt den Lampion): »Sie halten uns wahrscheinlich für einen ziemlich rohen Haufen.«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Blanche: »Ich bin durchaus anpassungsfähig.« Mitch: »Das ist natürlich immer gut. Und Sie sind bei Stanley und Stella zu Besuch?« Blanche: »Stella ging es in letzter Zeit nicht so gut, und ich bin hier, um ihr eine Weile zu helfen. Sie ist ziemlich am Ende.« Mitch: »Sind Sie denn nicht …?« Blanche: »Verheiratet? Nein, nein. Ich bin eine alte Jungfer und Lehrerin!« Mitch: »Lehrerin vielleicht, aber eine alte Jungfer sicher nicht.« Blanche: »Vielen Dank, mein Herr! Wie galant von Ihnen!« Mitch: »Sie sind also von Beruf Lehrerin?« Blanche: »Ja. Ähm, ja.« Stanley (brüllt): »Mitch!« Mitch: »Komm schon!« Blanche: »Ich unterrichte am Gymnasium. In Laurel.« Mitch: »Was unterrichten Sie? Welches Fach?« Blanche: »Ich versuche, den Teenies und Drugstore-Romeos ­Respekt vor Hawthorne, Whitman und Poe beizubringen!« Mitch: »Ich nehme an, da interessieren sich einige für ganz andere Dinge.« Blanche: »Wie Recht Sie damit haben! Was den meisten von ihnen besonders am Herzen liegt, ist jedenfalls nicht ihr literarisches Erbe! Aber sie sind ganz lieb. Und im Frühling ist es rührend mit anzusehen, wie sie zum ersten Mal die Liebe entdecken. Als hätte noch nie einer was davon geahnt! (Die Badezimmertür öffnet sich, und Stella kommt heraus. Blanche redet weiter mit Mitch.) Oh! Bist du fertig? Warte – ich mach das Radio an.« (Sie dreht den Knopf am Radio, und es erklingt die Melodie »Wien, Wien, nur du allein«. Blanche dreht sich zur Walzermusik mit träumerischen Gesten. Mitch ist entzückt und will es ihr linkisch nachtun wie ein Tanzbär. Stanley stiefelt wütend auf das kleine Radio zu und reißt es vom Tisch. Mit lautem Fluchen wirft er das Gerät zum Fenster hinaus.) […]57 (Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/ oder Interviews] und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews].)

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

18.1.2011, 10. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«. 24.1.2011, 15. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Das Ende der fünften Szene und der Übergang zur sechsten Szene ­werden geprobt. Ende der fünften Szene (»Abschied vom jungen Kassierer«): (Er starrt sie einen Augenblick an. Sie öffnet ihm die Tür und wirft ihm eine Kusshand zu, als er verwirrt die Stufen hinuntergeht. Sie steht noch eine Weile verträumt da, nachdem er sich entfernt hatte. Dann kommt Mitch mit einer Rose um die Ecke.) Blanche (fröhlich): »Sieh mal, wer da kommt! Mein Rosenkavalier! Erst verbeugen. Und jetzt die Blumen! Ahhh – Merciii!«58 (Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, ­Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »­Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler« und Spalte 6 »­Subjektives Erleben des Darstellers [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews].) 25.1.2011, 16. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Der Text der sechsten Szene: Es ist etwa zwei Uhr nachts am selben Abend. Das Haus ist von außen zu sehen. Blanche und Mitch treten auf. Blanches Stimme und Verhalten zeigen deutlich Erschöpfungssymptome, wie nur eine Neurasthenikerin sie kennt. Mitch lässt sich kaum etwas anmerken, ist aber deprimiert. Wahrscheinlich waren sie in dem Vergnügungspark am Lake Pontchartain, denn Mitch trägt, verkehrt herum, eine Gipsstatue von Mae West bei sich, wie man sie als Preis an Schießbuden oder bei Glücksspielen auf dem Jahrmarkt gewinnen kann. Mitch (schwerfällig): »Ich fürchte, Sie haben diesen Abend nicht besonders genossen, Blanche.« Blanche: »Ich hab Ihnen den Abend verdorben!« Mitch: »Nein, das nicht, aber ich hatte dauernd das Gefühl, dass ich Ihnen nicht viel zu bieten hatte an Unterhaltung.« Blanche: »Es ist mir einfach nicht gelungen, der Situation gerecht zu werden. Das war alles. Aber zehn Punkte für den guten Willen und das Bemühen! – Ich habe mich bemüht.« 200


5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Mitch: »Warum haben Sie sich bemüht, wenn Ihnen gar nicht danach war, Blanche?« Blanche: »Ich bin nur dem Gesetz gefolgt.« Mitch: »Welchem Gesetz denn? Blanche: »Dem, das besagt, dass die Dame den Herrn zu unterhalten hat – die einzige Chance! Schauen Sie mal, ob Sie meinen Eingangsschlüssel in dieser Tasche zu fassen kriegen. Wenn ich so müde bin, habe ich zwei linke Hände.« Mitch (wühlt in ihrer Handtasche): »Der hier?« Blanche: »Nein, Mitch, das ist der Schlüssel zu meinem Koffer, den ich bald packen muss.« Mitch: »Heißt das, Sie reisen bald wieder ab?« Blanche: »Ich habe die Gastfreundschaft hier bereits ­überstrapaziert.« Mitch: »Der hier?« Blanche: »Phantastisch! Mitch, ich werfe noch einen letzten Blick in den Himmel. (Sie lehnt sich an die Verandabrüstung. Er schließt die Tür auf und steht unbeholfen hinter ihr.) Ich suche die Pleiaden, die ­sieben Schwestern, aber die Mädels haben heute Nacht wohl keinen Ausgang. O, haben sie doch, da sind sie ja! Alle zusammen. Ich nehme an, Sie wollen jetzt gehen? (Er tritt vom einen Fuß auf den anderen und hustet ein bisschen.)« Mitch: »Darf ich – äh – Ihnen einen Gute-Nacht-Kuss geben?« Blanche: »Warum fragen Sie mich immer, ob Sie dürfen?« Mitch: »Ich weiß ja nicht, ob Sie wollen oder nicht.« Blanche: »Warum zweifeln Sie denn andauernd?« Mitch: »An dem Abend, als wir am See geparkt haben und ich Sie küsste, da – …« Blanche: »Mitch. Gegen den Kuss hatte ich nichts. Er hat mir gut gefallen. Ich fühlte mich sogar geschmeichelt, dass Sie mich – begehren! Aber Sie wissen genauso gut wie ich, Mitch, dass ein Mädchen, das ganz allein auf der Welt ist, seine Gefühle fest unter Kontrolle behalten muss, sonst ist es verloren!« Mitch (sehr ernst): »Verloren?« Blanche: »Wahrscheinlich sind Sie Mädchen gewohnt, die gerne verloren sind. Solche, die sofort verloren sind, bei der ersten ­Verabredung!« Mitch: »Ich möchte, dass Sie genauso sind, wie Sie sind, weil bei all meiner – Erfahrung – hab ich noch nie jemanden gekannt wie Sie. (Blanche sieht ihn sehr ernst an; dann bricht sie in schallendes Gelächter aus, hält sich aber schnell den Mund zu.) Lachen Sie mich aus?«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Blanche: »Nein, Mitch. Der Herr und die Herrin des Hauses sind noch nicht zurück, bleiben Sie auf einen Nightcap. Das Licht lassen wir aus, ja?« Mitch: »Sie wollen noch was trinken?« Blanche: »Sie sollen was trinken! Den ganzen Abend waren Sie so ernst und bemüht, und ich genauso; wir waren beide ernst und bemüht, aber jetzt, für diese paar letzten gemeinsamen Augenblicke in unserem Leben: joie de vivre! Wir benehmen uns wie richtige Bohémiens. Wir tun so, als säßen wir in einem kleinen Künstlercafe am linken Seineufer in Paris. (Sie zündet einen Kerzenstumpf an und steckt ihn in eine Flasche.) Voulez-vous coucher avec moi ce soir? Vous ne comprenez pas? Ah, quelle dommage! Das heißt, da hab ich noch mal Glück gehabt. Ich hab was Alkoholisches gefunden! Reicht gerade für zwei Schluck ohne Zugabe, Mitch.« Mitch (schwerfällig): »Ja, schön.« (Sie kommt mit den Getränken und der Kerze ins Schlafzimmer.) Blanche: »Setzen Sie sich! Warum ziehen Sie nicht Ihr Jackett aus und machen sich den Kragen auf!« Mitch: »Ich lasse es lieber an.« Blanche: »Nein. Ich will, dass Sie es bequem haben.« Mitch: »Ich geniere mich, weil ich so schwitze. Das Hemd klebt mir am Körper.« Blanche: »Schwitzen ist gesund. Wenn die Menschen nicht schwitzen würden, wären sie innerhalb von fünf Minuten tot. (Sie nimmt ihm das Jackett ab.) Das ist ein schönes Jackett.« Mitch: »Ein Mann mit starker Figur muss aufpassen bei dem, was er anzieht, damit er nicht zu plump wirkt. Blanche: »Sie sind nicht zu schwer.« Mitch: »Finden Sie nicht?« Blanche: »Sie sind nicht der schmächtige Typ. Sie haben einen starken Knochenbau und eine eindrucksvolle Statur.« Mitch: »Danke. Letzte Weihnachten wurde mir die Mitgliedschaft im New Orleans Fitness-Club geschenkt.« Blanche: »Oh, toll.« Mitch: »Das war das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich mach da Gewichtheben, ich schwimme, und ich halte mich fit. Als ich da angefangen habe, war mein Bauch schon schlaff, aber jetzt ist mein Bauch fest. So fest, dass ein Mann mich in den Bauch boxen kann, und es macht mir nichts aus. Boxen Sie mal! Na los! Sehen Sie?« (Sie stupst ihn ein bisschen.) Blanche: »Meine Güte.« (Sie fährt sich an der Brust.)

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Mitch: »Darf ich Sie hochheben?« Blanche: »Samson! Na gut, heben Sie mich hoch! (Er kommt hinter sie, legt ihr beide Hände um die Taille und hebt sie mühelos vom Boden.) Und?« Mitch: »Sie sind leicht wie eine Feder.« (Er setzt sie wieder ab.) Mitch: »Wo sind Stanley und Stella heute Abend?« Blanche: »Sie sind ausgegangen.« Mitch: »Wir sollten auch mal alle zusammen ausgehen.« Blanche: »Nein. Das wäre keine gute Idee.« Mitch: »Warum nicht?« Blanche: »Sie sind ein alter Freund von Stanley?« Mitch: »Wir waren zusammen beim Militär.« Blanche: »Dann hat er bestimmt keine Geheimnisse vor Ihnen.« Mitch: »Nein.« Blanche: »Hat er mit Ihnen über mich gesprochen?« Mitch: »Ach – nicht besonders viel.« Blanche: »So wie Sie das sagen, hört es sich aber so an.« Mitch: »Nein, er hat nicht viel gesagt.« Blanche: »Aber was hat er gesagt?« Mitch: »Warum wollen Sie das wissen?« Blanche: »Na ja …« Mitch: »Kommen Sie nicht klar mit ihm?« Blanche: »Was glauben Sie?« Mitch: »Ich glaube, er versteht Sie nicht.« Blanche: »Wenn Stella nicht schwanger wäre, würde ich es hier nicht aushalten.« Mitch: »Er ist nicht … nett zu Ihnen?« […] Mitch: »Blanche!« Blanche: »Ja, Mitch?« Mitch: »Darf ich Sie etwas fragen?« Blanche: »Ja. Was?« Mitch: »Wie alt sind Sie?« (Sie macht eine nervöse Geste.) Blanche: »Warum wollen Sie das wissen?« Mitch: »Ich habe mit meiner Mutter über Sie gesprochen, und sie fragte mich ›Wie alt ist Blanche?‹. Und ich konnte es ihr nicht sagen.« Blanche: »Sie haben mit Ihrer Mutter über mich gesprochen?« Mitch: »Ja.« Blanche: »Warum?«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Mitch: »Ich habe meiner Mutter erzählt, wie reizend Sie sind, und dass ich Sie mag.« Blanche: »Haben Sie das ernst gemeint?« Mitch: »Das wissen Sie doch.« Blanche: »Warum wollte Ihre Mutter mein Alter wissen?« Mitch: »Sie ist krank.« Blanche: »Das tut mir aber leid. Ist es schlimm?« Mitch: »Sie hat nicht mehr lange zu leben. Vielleicht noch ein paar Monate.« Blanche: »Oh.« Mitch: »Sie macht sich Sorgen, weil ich noch nicht verheiratet bin.« Blanche: »Oh.« Mitch: »Sie möchte mich gerne verheiratet sehen, bevor sie …« (Seine Stimme klingt heiser, er räuspert sich zweimal und fährt sich mit den Händen immer wieder in die Taschen.) Blanche: »Sie lieben sie sehr, nicht wahr?« Mitch: »Ja.« Blanche: »Ich glaube, Sie sind tiefer Gefühle fähig. Sie werden einsam sein, wenn sie Sie verlässt, nicht wahr? (Mitch räuspert sich und nickt.) Ich weiß, was das heißt.« Mitch: »Einsam zu sein?« Blanche: »Ich habe auch jemanden geliebt und habe den Menschen, den ich geliebt habe, verloren.« Mitch: »Tot? Ein Mann?« Blanche: »Ein Junge war er, noch ein Junge, und ich war ein sehr junges Mädchen. […] Aber das wusste ich damals nicht. Ich begriff alles erst später, nachdem wir geheiratet hatten, vor allem weggelaufen und wieder zurückgekommen waren. […] Beim Betreten eines Zimmers, in dem ich niemanden vermutete – doch entgegen meiner Vermutung befanden sich zwei Personen darin: der Junge, den ich geheiratet habe, und ein älterer Mann, der schon seit Jahren sein Freund war […] Dann hörte ich Stimmen, die riefen – ›Allan! Allan! Der Junge von den Greys!‹ Er hatte sich den Revolver in den Mund gesteckt und abgedrückt […]. Und da ging das Licht, das auf die Welt gefallen war, wieder aus, und seitdem hat kein Licht auch nur für einen Moment stärker geleuchtet als – diese Küchenkerze.« (Mitch steht unbeholfen auf und bewegt sich auf sie zu. Mitch steht neben ihr.) Mitch (nimmt sie langsam in die Arme): »Du brauchst jemanden. Und ich brauche auch jemanden. Glaubst du, es ist möglich – du und ich, Blanche?«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

(Sie starrt ihn einen Augenblick lang mit verlorenem Blick an. Dann schmiegt sie sich leise weinend in seine Arme. Schluchzend macht sie den Versuch zu sprechen, bringt aber kein Wort heraus. Er küsst sie auf die Stirn, auf die Augen und schließlich auf den Mund. Sie atmet tief ein und aus und schluchzt erleichtert dazu.) Blanche: »Manchmal ist Gott da – ganz schnell!«59 (Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews] und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews].) 27.01.2011, 18. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Die sechste Szene wird geprobt. Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/ oder Interviews) und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews). 23.2.2011, 41. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews) und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews). 4.3.2011, 49. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Da die Blanche-Darstellerin, der Mitch-Darsteller und der Regisseur Thomas Langhoff einander von früheren Zusammenarbeiten gut kannten, bildeten sie auch während des dreimonatigen Probenprozesses zu Endstation Sehnsucht ein festes Tandem, was besonders während der ziemlich häufigen Diskussionen bzw. Regieanweisungen mitten im Spielprozess zu beobachten war. Aus dieser kurzen Einführung in die erste Probensituation am BE und der Vorgeschichte der Verhältnisse der Probenbeteiligten versteht es sich von selbst, dass die kollektive Efferveszenz zwischen den drei Künstlern sehr groß war bzw. kohärente Wohlgefühle zwischen ihnen schon lange vor dem Probenbeginn da waren. Daraus folgt, dass die zwei Schauspieler und der Regisseur sich nicht auf ein und dieselbe »Frequenz« einstellen mussten, sondern dass sie auf dieser »Frequenz« bereits vorher durch ihre Vorarbeit gewesen sind. Der Regisseur hatte die Hauptdarsteller persönlich ausgewählt und so durch seine Wahl eine höchst kohärente Kommunikation und ein Solidaritätsgefühl zwischen ihnen gesichert. Des Öfteren konnte man vom Regisseur die Anekdote hören, wie er die Blanche-Darstellerin (ob während des Bühnenspiels, davor oder danach) nicht als Schauspielerin X, sondern als Blanche DuBois anspricht und ihr seine Kommentare mitteilt. (Vgl. Tabelle am 10.1.2011, Spalte 4, Langhoff; 18.1.2011, Spalte 4, Langhoff; 25.1.2011, Spalte 4, Langhoff; 23.2.2011, Spalte 4, Langhoff.) Nicht selten griff auch die Hauptdarstellerin diese vom Regisseur vorgeschlagene Art und Weise, die Figuren anzusprechen, auf und äußerte sich als Blanche mitten in der mise-en-scène zur gespielten Situation. (Vgl. Tabelle am 25.1.2011, Spalte 7, Blanche-Darstellerin; 27.1.2011, Spalte 6, Blanche-Darstellerin.) So drückte sich die leiblich-affektive Rhythmisierung zwischen dem Regisseur und der Hauptdarstellerin aus. (Vgl. dazu die Textstelle, als die Blanche-Darstellerin die Worte des Regisseurs aufgriff und ihre Gedanken an diese anknüpfte: Langhoff: »Du warst die ganze Zeit zart zu ihm.« Blanche-Darstellerin (als Fortsetzung von Langhoffs Worten): »Du musst doch ein bisschen locker sein! Einen Heiratsantrag macht man doch nicht jeden Tag!« Tabelle am 25.1.2011, Spalte 7.) Der Mitch-Darsteller hat sich während des Probenvorgangs zwar etwas seltener zum Bühnengeschehen geäußert, aber die zahlreichen Regieanweisungen und die stetige Konversation zwischen dem Regisseur und der Hauptdarstellerin sehr lebhaft wahrgenommen (z. B. durch das Mitlachen, Lächeln, den mimischen Ausdruck) und in Übereinstimmung mit den Regieanweisungen und der Interaktion zwischen ihnen drei seine Kunstfigur verkörpert. Das höchste Maß an individuel-

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ler emotionaler Energie legte zwar der Regisseur Langhoff an den Tag, während er seine Kommentare und Anweisungen sehr oft nicht nur vor oder nach der aufgeführten Szene, sondern auch mitten im Spiel verteilte. In den Proben fragte ich mich häufig, warum der Regisseur so intensiv und immer wieder mit den Schauspielern Konversationen führt oder mal gar das Spiel unterbricht und auf die Bühne steigt, um seine Anweisungen unmittelbar auf einer Ebene mit den Schauspielern zu verteilen. Und erst im Nachhinein wurde mir ersichtlich, dass durch solche Herangehensweise, die beinahe rituelle Züge annahm, Thomas Langhoff die Gruppensolidarität unter den Schauspielern herbeiführte. Und tatsächlich spielten die Interaktionen über die psychologischen Zustände der Figuren für die involvierten Darsteller eine große Rolle: Sie halfen den Darstellern dabei, sich in jeder mise-en-scène eine transitorische Emotion aufzugreifen und diese Emotion für die miseen-scène zu verankern. (Wie es Langhoff z. B. in der dritten Szene am 18.1.2011 an die Blanche-Darstellerin artikulierte: »Das ist für dich überraschend, dass hier ein Mensch hohe Literatur in die Zigarettenbox eingravieren lässt.« Ab diesem Zeitpunkt hat die Blanche-Darstellerin an dieser Textstelle ein Gefühl positiver Überraschtheit gezeigt bzw. die Zuneigung – sprich transitorische Emotion – ihrer Figur zu der von Mitch durch das Berühren seiner Hand jedes Mal demonstriert, wenn sie die Gravur auf dem Etui musterte.) Die Bereitschaft, die rituellen Symbole der Gruppe (Sätze und Handlungen der beteiligten Künstler) vor »äußeren Angriffen« zu schützen, zeigte vor allem die Blanche-Darstellerin, als sie mir erstens jegliche Interviews absagte und es zweitens auch nach der Premiere für unmöglich hielt, auf die von ihr gespielten Rolle in einem Interview einzugehen. Zweite Probensituation Blanche vs. Stanley: vierte Szene (»Überlebender der Steinzeit«), fünfte Szene (»Steinbock – der Bock!«), sechste Szene (»Er ist unerträglich grob«); Stanley vs. Blanche: fünfte Szene (»Kennst du jemanden mit Namen Shaw?«), achte Szene (»Papageien-Witz«) (Verachtung) 25.1.2011, 16. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne In der sechsten Szene beklagt sich Blanche bei Mitch über Stanleys Verhalten: Blanche: »Er ist unerträglich grob. Ich habe hier keine Privatsphäre. Er stolziert nachts in seiner Unterwäsche durch die Wohnung. Und ich muss ihn bitten, die Badezimmertür zu schließen. Sie fragen

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

mich wahrscheinlich, warum ich nicht ausziehe. Ja, das will ich Ihnen ganz offen sagen. Ein Lehrerinnengehalt reicht kaum zum Lebensunterhalt. Deshalb muss ich den Mann meiner Schwester ertragen. Und er muss mich ertragen. Er hat Ihnen bestimmt erzählt, wie sehr er mich hasst. […]«60 Langhoff: »Dummer Punkt, aber sie insistiert darauf, dass Mitch ihr sagt, was Stanley von ihr denkt.« Langhoff erzählt von einer Inszenierung, in der eine Schauspielerin über ihren Mann klagte, er wische mit demselben Lappen das Geschirr und den Tisch ab. So betrachte auch Blanche Stanleys Verhalten als permanente Provokation gegen sie. Blanche-Darstellerin (während des Szenenverlaufs, boshaft, gereizt): »Er ist wirklich wie ein Schwein: Er frisst wie ein Schwein, er spricht wie ein Schwein! Ja, weil ich nicht genug Geld habe, muss ich hier mit diesem ordinären Menschen, mit diesem Tier, Untermenschen bleiben …« 29.1.2011, 20. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Textauszug aus der vierten Szene: Blanche: »Darf ich ganz offen reden?« Stella: »Ja, klar. Nur zu. So offen, wie du willst.« (Man hört draußen einen Zug näherkommen. Sie schweigen, bis der Lärm wieder abnimmt. Beide sind im Schlafzimmer. Bei dem Lärm des Zuges ist nicht zu hören, dass Stanley von draußen hereinkommt. Er bleibt stehen, wo ihn die Frauen nicht sehen können, ein paar Päckchen im Arm, und lauscht der folgenden Unterhaltung. […]) Blanche: »Also, verzeih mir bitte, aber – er ist ordinär!« Stella: »Ja, ich nehme an, das stimmt.« Blanche: »Nimmst du an! Du wirst doch nicht derart unsere Kinderstube vergessen haben, Stella, dass du annehmen kannst, er hätte auch nur im geringsten etwas von einem Gentleman! Keinen Funken! Nichts! Du hasst mich jetzt sicher, weil ich das sage?« Stella (kalt): »Weiter, Blanche, sprich dich aus.« Blanche: »Er benimmt sich wie ein Tier, hat das Verhalten eines Tieres! Isst wie ein Tier, bewegt sich wie ein Tier, redet wie ein Tier! Er hat wirklich etwas – Unmenschliches –, etwas, das noch nicht ganz ins Stadium des Menschseins getreten ist! Ja, etwas Affenartiges, so wie auf den Abbildungen in anthropologischen Untersuchungen! Tausende und Abertausende von Jahren sind spurlos an ihm vorübergegangen, und da haben wir ihn nun – Stanley Kowalski – Überlebender der Steinzeit! Bringt aus dem Dschungel das blutige Fleisch seiner Beute nach

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Hause. Und da bist du – gerade du – und wartest auf ihn. Vielleicht schlägt er dich, vielleicht grunzt er aber auch nur und küsst dich. Das heißt, falls man das Küssen schon erfunden hat. Nacht bricht herein, und die anderen Affen versammeln sich vor seiner Höhle! Alle grunzen wie er, und saufen und schlingen und spielen sich auf! Sein Pokerabend! Eine Affenparty! Mein Gott! Vielleicht sind wir weit davon entfernt, ein Ebenbild Gottes zu sein, aber, Stella – liebe Schwester – ein bisschen Fortschritt hat es doch bereits gegeben! So etwas wie Kunst – wie Poesie und Musik – so etwas wie Erleuchtung ist doch in die Welt gekommen! Bei manchen Menschen gibt es zu zarteren Empfindungen doch Ansätze! Und das müssen wir auf unsere Fahne schreiben! Bitte bleib nicht bei den Unmenschen!« (Draußen fährt wieder ein Zug vorbei. Stanley zögert, er leckt sich die Lippen. Plötzlich dreht er sich um und geht verstohlen durch die Tür wieder hinaus. Die Frauen ahnen von seiner Anwesenheit immer noch nichts. Nachdem der Zug vorbeigefahren ist, ruft Stanley durch die geschlossene Tür.) Stanley: »Hallo! Hallo, Stella!« Stella (die Blanche mit ernstem Gesicht zugehört hat): »Stanley!« (Stella ist schon zur Wohnungstür gegangen. Mit seinen Päckchen im Arm kommt Stanley lässig herein.) Stanley: »Blanche wieder da?« Stella: »Ja, sie ist wieder da.« (Stella hat ihn stürmisch mit beiden Armen umfangen, vollständig im Blickfeld von Blanche. Stanley lacht und drückt ihren Kopf an sich. Über ihren Kopf hinweg grinst er Blanche durch die Vorhänge hindurch an. […])«61 Vorbereitungsgespräch auf der Bühne: Langhoff: »Shep Huntleigh kauft uns ein Geschäft, egal was – Unterwäsche. Hauptsache, du musst weg von diesem Untermenschen.« (Blanche-Darstellerin nickt.) Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »X, und du nimmst lieber eine andere Perücke.«62 Textauszug aus der fünften Szene: (Stanley kommt um die Ecke in seinem rot-grün-seidenen Bowlinghemd und poltert in die Küche. Blanche quittiert sein Auftreten mit nervösen Gesten. Er reißt eine Kommodenschublade auf, knallt sie wieder zu und wirft seine Schuhe in die Ecke. Bei jedem Geräusch zuckt Blanche ein wenig zusammen. Schließlich spricht sie weiter.)

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Blanche: »Unter welchem Zeichen bist du geboren?« Stanley (während er sich umzieht): »Zeichen?« Blanche: »Sternzeichen. Ich wette, du bist Widder. Widder sind stark und dynamisch. Krach ist für sie das Schönste! Liebend gern stoßen sie alles in der Gegend rum.« Stella: »Stanley ist fünf Minuten nach Weihnachten geboren.« Blanche: »Steinbock – also, der Bock!« Stanley: »Unter welchem Zeichen bist du geboren?« Blanche: »Oh, mein Geburtstag ist nächsten Monat, am 15. September. Also Virgo.« Stanley: »Was ist Virgo?« Blanche: »Virgo ist die Jungfrau.« Stanley (verächtlich): »Häh! (Er kommt etwas näher, während er seine Krawatte bindet.) Sag mal, kennst du vielleicht jemanden mit Namen Shaw?« (Ihr Gesicht verrät einen gewissen Schock. Sie greift nach ihrem Eau de Cologne und benetzt ihr Taschentuch, während sie vorsichtig antwortet.) Blanche: »Jeder kennt wohl jemanden mit Namen Shaw!« Stanley: »Also dieser Jemand mit Namen Shaw ist überzeugt, er hat dich in Laurel kennen gelernt, aber ich schätze, er muss dich mit jemand anders verwechselt haben, denn diese andere ist jemand, die er in einem gewissen Hotel Flamingo getroffen hat.« Blanche: »Ich fürchte, er muss mich tatsächlich mit ›dieser anderen‹ verwechselt haben, das Hotel Flamingo gehört zu einer Art von Etablissement, in dem ich mich niemals sehen lassen würde.« Stanley: »Aber du kennst es?« Blanche: »Ja, ich habe es gesehen und – gerochen.« Stanley: »Du musst ganz schön nah rangekommen sein, wenn du es riechen konntest.« Blanche: »Der Geruch von billigem Parfüm reicht meilenweit.« Stanley: »Und das Zeug, dass du benutzt, ist teuer?« Blanche: »25 Dollar die Unze! Und ich hab kaum noch was. Kleiner Hinweis, falls du dich an meinen Geburtstag erinnern willst.« (Sie spricht leichthin, doch in der Stimme schwingt Angst mit.) Stanley: »Shaw muss dich verwechselt haben. Aber er geht in Laurel dauernd ein und aus und kann das nachprüfen und jeden Irrtum beseitigen. (Er wendet sich ab und geht zum Vorhang. Blanche schließt wie ohnmächtig die Augen. Ihre Hand zittert, als sie ihr Taschentuch wieder an die Stirn führt.) (zu Stella): Ich warte auf dich in den Vier Assen!« Stella: »Hey! Verdiene ich keinen Kuss?«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Stanley: »Nicht in Gegenwart deiner Schwester.«63 Vorbereitungsgespräch auf der Bühne: Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »Irritationen durch seine unkultivierte Art – die sind immer da, deswegen versucht sie ein ­Versöhnungsgespräch. Dass es die böse Absicht von ihm war, sagt sie ihm nicht.« (Robert Gallinowski schlägt vor, zuerst Krach in der Garderobe zu machen, bevor Blanche über Sternzeichen spricht.) Nach einiger Zeit, während der Besprechung einer anderen Szene: Gallinowski: »Blanche verzichtet auch im Gespräch mit Mitch auf ein gemeinsames Ausgehen zu viert, weil sie nicht weiß, wie es emotional ausgeht.«64 31.1.2011, 21. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Textauszug aus der achten Szene: Blanche: »[…] Diese alte Jungfer hatte einen Papagei, der immerzu obszöne Flüche von sich gab und mehr ordinäre Ausdrücke kannte als Mr. Kowalski!« […] Blanche: […] ([…] Stanley schenkt der Geschichte gar keine Aufmerksamkeit, sondern langt über den Tisch, um mit seiner Gabel das letzte Kotelett aufzuspießen, das er mit den Fingern verzehrt.) »Offenbar fand Mr. Kowalski das gar nicht lustig.« Stella: »Mr. Kowalski ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich wie ein Schwein zu benehmen, als an etwas anderes denken zu können.« Stanley: »Du sagst es, Baby.« Stella: »Dein Gesicht und deine Hände sind ekelhaft fettig. Geh dich waschen und hilf mir dann den Tisch abräumen.« (Er schleudert einen Teller auf den Fußboden.) Stanley: »So räume ich den Tisch ab! (Er packt sie am Arm.) Und du sprich nie wieder so mit mir! ›Schwein‹, ›Polacke‹, ›ekelhaft‹, ›­ordinär‹, ›fettig‹! Das habe ich mir von dir und deiner Schwester lange genug anhören müssen! Was glaubt ihr beide eigentlich, wer ihr seid? Ein Königinnenpaar? Denkt daran, was Huey Long gesagt hat – ›Jeder Mann ist ein König‹! Und ich bin hier der König, also denkt daran! (Er ­schleudert eine Tasse mitsamt der Untertasse auf den Fußboden.) Bei mir ist abgeräumt! Soll ich auch bei euch abräumen? […]« […] Stanley: »Mensch, da ist aber eine Hitze aus dem Badezimmer!« Blanche: »Ich habe mich bereits dreimal entschuldigt. Ich nehme

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

heiße Bäder meiner Nerven wegen. Hydrotherapie nennt man das. Als gesunder Polacke, der gar keine Nerven hat, weißt du natürlich nicht, was Angstzustände sind!« Stanley: »Ich bin kein Polacke! Die Einwohner Polens heißen Polen, nicht Polacken. Ich bin aber ein hundertprozentiger A ­ merikaner, geboren und aufgewachsen im größten Land der Erde und auch v­ erdammt stolz darauf. Also nenn mich nie wieder einen Polacken!![…]«65 Besprechung während der Probe: Langhoff: »X, das machst du wunderbar! Sowohl der Schmerz als auch die rührende Haltung ist dabei. Die Katastrophe ist da. Das Spiel eines anderen Spiels.« Blanche-Darstellerin: »Ich glaube, sie [Blanche] hat überhaupt nichts [an ihrem eigenen Geburtstag] gegessen. Außerdem finde ich es gar nicht so schlecht, wenn wir lachen, denn das reizt ihn noch mehr. Sie wissen beide das, was ich nicht weiß, nämlich, dass Mitch nicht kommt, weil er [Stanley] über mich unanständige Sachen erzählt hat.« Langhoff: »Dass er die Scheiße mit Mitch gemacht hat, hat ihn besonders geärgert. Deswegen schreit er: ›Was wollt ihr hier, dumme Weiber? Männerfreundschaft ist viel wertvoller als all die Liebeleien!‹« Blanche-Darstellerin: »Ich nehme meine Schwester immer als eine Beraterin mit, Männer bleiben raus.« Beim Probenversuch, wenn es zur mis-en-scène über Huey Long kommt, beginnen Anika Mauer und Blanche-Darstellerin zu lachen. Blanche-Darstellerin: »Ich glaube, sie ist schon immer gegen solche Sachen gewesen. Plötzlich ist Huey Long wieder zurück.« Langhoff: »Na von mir aus spielt auch lachend.« Nach dem zweiten Probenversuch: Langhoff: »Was ich nicht ganz gut finde, ist, dass alle drei rauchen. (an Robert Gallinowski) Er kämpft noch um sie. Sobald diese Ziege hier weg ist, ist alles wieder in Ordnung. Solange die Leute noch Lust miteinander im Bett haben, kann man alles noch retten.«66 3.2.2011, 24. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Vor der Probe zur achten Szene: Gallinowski: »Huey Long sieht wie ein Durchschnittsamerikaner aus, hat faschistische Gesten, auch Stanley hat solche Ansichten. Der Kommentator in einer Sendung hat ihn so genannt. Leute wie Huey Long hatten sich auf Leute wie Stanley gestützt, also auf arme ­Schichten.«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Erster Probenversuch: Robert Gallinowski unterbricht plötzlich seinen Text und schlägt vor, ohne Requisite, die auf dem Tisch liegt, zu proben. Er möchte zuerst technische Momente ausprobieren. Gallinowski: »Er ist gereizt wie ein Stier. Die Schnauze voll.« Fortsetzung der Probe. Mauer (an Thomas Langhoff): »Ich weiß nicht, wie ich mich mit Stanley draußen benehmen soll.« Langhoff (als läse er Stellas Gedanken über Stanley): »Du hast dich zwar nicht gut benommen, aber komm trotzdem rein.« Stella lacht mit Blanche über den Witz. Langhoff: »Ihr könnt absolut ineinander sprechen. Hinten würde ich nicht so romantisch spielen, mehr realistisch. (an Blanche-Darstellerin) Sie will ihre tiefe Enttäuschung überspielen.« Blanche-Darstellerin: »Ich denke mir als Blanche, dass es nicht Stanley, sondern Mitch ist. Sie kocht vor Wut. Sie hat natürlich auch Angst, körperliche Angst vor Stanley. Letztendlich meint sie: ›Ich bleib, es reicht.‹ Das ist die Spannung: ›Ich komme nicht dahinten!‹« Nachdem Stanley den Teller auf den Fußboden geschleudert hat: Langhoff: »Du hast mich als ordinär kennengelernt, d. h., ich habe mich nicht geändert. Und du sollst es jetzt als normal empfinden. Es war jetzt normal für mich.« Gallinowski (nach dem Satz »Die Einwohner Polens heißen Polen«): »Ich weiß noch nicht, wie ich auf sie [Blanche] zugehe: Ob ich das gleich mache oder zuerst Leergänge mache.« Blanche-Darstellerin: »Sie ist wirklich verzweifelt, sie tigert rum. Ich bleibe hier stehen. Warum spielt ihr mir hier was vor?« Langhoff: »Ich glaube, dass sie ein bisschen weniger gereizt ist.« Blanche-Darstellerin: »Das erste Mal, dass sie überhaupt schreit.« Langhoff: »Ja, vielleicht siehst du es gut so, aber das heißt nicht, dass Williams es so sieht. Sie setzt sich doch nicht auf sein Niveau herab. Sie bewahrt die Haltung, und das treibt ihn beinahe in den Wahnsinn. Sie sind nicht auf dem gleichen Niveau.« Blanche-Darstellerin (locker): »Ich habe nur meiner Nerven wegen geschrien!« (lächelt, alle lachen)67 9.2.2011, 29. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Bühnendiskussion während der vierten Szene: Nach Stellas Satz »Er hat in unserer Hochzeitsnacht alle Glühbirnen mit dem Absatz von meinem Schuh zerdeppert«: Langhoff (für Blanche): »Ich bin entsetzt. Ich bin eine DuBois. Ich

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

hätte es nicht ausgehalten. Du bist aber keine DuBois.« Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Und du lächelst!« (ahmt nach, wie die vor Glück betäubte Stella es machen würde) Er hätte dich gestern vor fünf Leuten fast zu Tode geschlagen! Und du drückst ein Auge zu?!« Nach Blanches Satz »Ich gehe lieber auf den Strich«: Langhoff: »Mir scheint es besser zu klingen, wie es im Original ist. Es ist vielleicht irrationaler als ›Ich gehe lieber auf den Strich‹. ›Ich werde auf den Strich gehen‹ ist zu rational.« Blanche-Darstellerin: »Er ist ein brutales Schwein. Wie kann ich mit diesem Mann zusammen unter einem Dach wohnen, nur zwischen diesem dünnen Vorhang?! Es ist widerlich, dass er die Tür in der Toilette nicht zumacht!« Mauer: »Wir machen die Tür auch nicht zu, weil unsere Kinder noch zu klein sind.« Langhoff: »Na, da unsere schon längst groß sind, machen wir die Tür immer zu.« Beim nächsten Probenversuch: Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Du benimmst dich wie ein vierzehnjähriges Mädchen, das zum ersten Mal Sex hat. Du lebst doch mit einem Schläger!« Mauer: »Die Verhaltensweise ist ›Ja, ja‹. Es gibt vieles, was in dieser Szene nicht geschrieben ist.« Langhoff: »Ja, es gibt in der Szene vieles, was nicht geschrieben ist.« Blanche-Darstellerin: »Aber, wie Eunice68 sagt, war er schon bei der Polizei, als er dich letztes Mal geschlagen hat.«69 12.2.2011, 32. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Langhoff (über den Anfang der achten Szene): »Hier spielt sich eine Tragödie ab.« Blanche-Darstellerin (über das Ende der Szene): »Es ist doof, wenn man nicht sieht, wie sie reagiert. (über Blanche und Hydrotherapie) Ich nehme ja öfters Bäder. Ich hatte mal einen Freund, der war Hydrotherapeut.« (Gelächter) Langhoff: »Jetzt schmeißt sie ihn mit all den Argumenten rum. Sie hat es jetzt satt. Die Situation ist aus der Bude gelaufen.« Mauer: »Ich verstehe den Weg dahin nicht. Der Zug ist abgefahren. Das ist die einzige Geschichte, die sie von Blanche erzählt. Will sie [Stella] das Emotionale ganz tilgen?« Langhoff: »Nein, auf keinen Fall!«70

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

24.2.2011, 42. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Vor der Probe der sechsten Szene: Blanche-Darstellerin (an die Souffleuse): »Manchmal soll man schon den Text ändern. Er schreibt doch so [Leerstelle in der Probenaufzeichnung, weil ich das Wort nicht verstehen konnte], man kann das ja nicht Wort für Wort sprechen.« Blanche-Darstellerin (nach dem ersten Probenversuch der sechsten Szene an Langhoff): »Aber ich glaube, sie muss es viel aufgeregter sagen: ›Er stolziert in der Unterwäsche.‹ Dieser Kerl beschäftigt sie immer in ihren Gedanken.« Langhoff: »Ist die Stunde der Wahrheit für sie.« Blanche-Darstellerin: »Oder es ist so, dass ich es gar nicht erzählen will, aber dass es so von selber rein gerät.« Blanche-Darstellerin (beim nächsten Probenversuch): »Ich muss immer an den Text denken, sonst sage ich das alles nicht druckreif! Ich muss ja eine bestimmte Freiheit haben.«71 4.3.2011, 49. Probentag, erster Durchlauf, BE-Hauptbühne In der vierten Szene wirft Blanche den Zehn-Dollar-Schein, den ihr Stella gibt, zuerst verächtlich auf ihr Klappbett. Nach »Ich gehe auf den Strich« greift sie aber nach dem Geld und schmeißt es genauso verächtlich in ihre Handtasche, weil sie versteht, dass sie darauf angewiesen ist.72 Die geschilderte Probensituation besteht, wie angeführt, nicht aus einer, sondern aus einigen Szenen, in denen die soziale Emotion »Verachtung« von zwei Figuren (von der Figur Blanche DuBois und Stanley Kowalski) gegenseitig aufgeführt wurde. Da sich die Emotion »Verachtung« im gesamten Stück von Szene zu Szene wie ein roter Faden zieht, geht es jetzt darum, diese in ihren zahlreichen Ausprägungen bzw. in ihrer Entwicklung zu zeigen. Um solch eine starke negative Emotion, wie Verachtung eine ist, (in diesem Fall sogar eine beiderseitige Verachtung) demonstrieren zu können, müssen die agierenden Mitspieler bei Diskussionen wie bei den Bühnenproben kollektive affektive Erregungen empfinden, die bei ihnen – im Gegensatz zur negativen aufgeführten Emotion der Kunstfiguren – positive Wohlgefühle der Solidarität bzw. Wohlgefühle der gemeinsamen Reflexion über die von ihren Kunstfiguren erlebten Emotion »Verachtung« hervorrufen sollen. Zwischen den zwei Hauptdarstellern bzw. zwischen ihnen und dem Regisseur waren gerade solche harmonischen Beziehungen zu beobachten, die zweifelsohne von großer kollektiven Efferveszenz

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

während mehrerer Probenversuche zeugen. Es genügt allein nur einige Probenepisoden zu nennen, die bei Diskussionen oder bei Proben von mise-en-scène mit vorgegebenen verächtlichen Ausprägungen zwischen den Figuren von den Darstellern zwar lächelnd, scherzend oder gar lachend performt wurden. (Vgl. z. B. Tabelle am 25.1.2011, Spalte 6: Blanche-Darstellerin über die Figur von Stanley Kowalski und allgemeines freundliches Gelächter über ihre improvisierte Verachtung; 31.1.2011, Spalte 4: Blanche-Darstellerin und Stella-Darstellerin fangen mitten im Spiel an, über die gesellschaftlich-politischen Ansichten der Figur von Stanley zu lachen; 24.2.2011, Spalte 4: Blanche-Darstellerin lächelt selbstironisch über ihren Kummer, ihren verächtlichen Rollentext über die Figur von Stanley in spontanen, nicht druckreifen Ausdrücken vortragen zu können.) An manchen Probentagen gerieten die Schauspieler derart in Fahrt, dass sie diese zugleich ansteckende Emotion, die ihre Figuren zu empfinden vermögen, mit Einschüben von eigenen Worten ausdrückten. Dies konnte durchaus auch im Anschluss an eine Regieanweisung stattfinden. Das hat zumeist die Blanche-Darstellerin gemacht, aber an einem späteren Probentag auch Robert Gallinowski, der Stanley-Darsteller. Auf diese Weise drückte sich die leiblich-affektive Rhythmisierung des Probenteams aus. (Vgl. dazu Tabelle am 25.1.2011, Spalte 7: Blanche-Darstellerin geriet im Szenenverlauf in Fahrt, während sie eigene Worte an den Rollentext anknüpfte; 3.2.2011, Spalte 4 unten: Blanche-Darstellerin knüpft an die Regieanweisung ein umgestaltetes Zitat aus ihrem Rollentext an und Robert Gallinowski artikuliert die Gefühlslage seiner Figur auf ähnliche Art; 9.2.2011, Spalte 4: der Regisseur und die Hauptdarstellerin knüpfen beim Kommentieren an den Rollentext Blanches dauernd in der Ich-Form, also als Blanche, an; 12.2.2011, Spalte 4: Auf der Kommentarebene vermischt die Blanche-Darstellerin absichtlich ihren Rollentext mit eigenen, spontanen Einfällen.) Aus diesen Schilderungen folgt, dass die Blanche-Darstellerin und der Regisseur jene zwei Probenmitglieder waren, deren individuelle emotionale Energie den gesamten Probenprozess gestalteten: Sie waren es meistens, die den Probenprozess mit ihren Kommentaren unterbrochen oder mit ihren persönlichen Texteinschüben bereichert haben. Jedoch hat das die Gruppensolidarität nicht geschwächt: Jeder Schauspieler äußerte sich zum Probenverlauf, seinem Rollentext etc. so oft, wie es der Rang seiner Rollenfigur im Probenverlauf erforderte. Eine völlige Absage von Interviews seitens der Blanche-Darstellerin zum einen und solche detaillierten, an mehreren Probentagen gegebenen Interviews von Robert Gallinowski zum anderen bilden

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

einen für sich sprechenden Nachweis des unterschiedlichen Schutzgrades von rituellen Symbolen der Künstler (also von Sätzen und Handlungen während ihrer sozialen Interaktionen). Für die Blanche-Darstellerin sind Proben »heilig, finden in einem geschütztem Raum statt und sind nur für die am Prozess Beteiligten nachvollziehbar«, wie sie es in ihrer schriftlichen Antwort auf meine Anfrage formuliert hat. Da die Proben für diese Schauspielerin »heilig sind«, hat sie folglich versucht, durch ihren Verzicht auf jegliche Kommunikation außerhalb des Probenraums die während der Proben gesprochenen Sätze, also die rituellen Symbole der Gruppe, vor dem Angriff von »Fremden« (mich als Probenforscherin) zu schützen. Solch ein hoher Schutzgrad von rituellen Symbolen bei dieser Schauspielerin erklärt sich einerseits durch ihre Ansichten bezüglich der Proben im Allgemeinen (sie sind für sie »heilig«). Zum anderen kann dieser durch ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thomas Langhoff und ihre aus dieser Arbeit hervorgegangenen, beiderseitig wertschätzenden interpersönlichen Beziehungen erklärt werden. Diese vertraulichen Beziehungen spiegelten sich in häufigen Interaktionen der beiden Künstler während des gesamten Probenprozesses wider. Gerade diese in den Interaktionen widergespiegelten vertraulichen Beziehungen mit dem Regisseur wollte die Schauspielerin unbedingt vor den Angriffen von »Fremden« schützen. Im Gegensatz dazu, hatte der Schauspieler Robert Gallinowski mit dem Regisseur Langhoff vorher nicht zusammengearbeitet. Er überließ Langhoff die Initiative in der Kommunikation zwischen ihnen, äußerte sich zu seiner Kunstfigur oder zum Szenenverlauf nur selten bzw. aus Notwendigkeit, etwas Grundsätzliches für sich (und für die anderen) abzuklären. In diesen Proben gab es für ihn nichts, was unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Die Proben waren für Robert Gallinowski nicht »heilig«. Ihm ging es zunächst einmal um die Lösung bühnentechnischer Fragen, dann um eine assoziative Annäherung an seine Figur und letztendlich um die Anpassung an den Bühnenpartner. Sein Schutzgrad von rituellen Symbolen der Gruppe war nicht so hoch wie der bei seiner Bühnenpartnerin, der Blanche-Darstellerin, deswegen ließ er sich für die vorliegende Studie vorbehaltlos interviewen. Dritte Probensituation Blanche vs. Stella, vierte Szene: »Der Kampf um Stella« (Eifersucht) Textauszug aus der vierten Szene: Früh am nächsten Morgen. Man hört einen Wirrwarr von Straßenlauten, der an Chorgesang erinnert.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Stella liegt noch im Schlafzimmer. Ihr Gesicht im Morgenlicht ist heiter. Eine Hand liegt auf ihrem Bauch, von der Schwangerschaft schon leicht gewölbt, in der herunterhängenden anderen baumelt ein buntes ComicHeft. Ihre Augen und Lippen haben die fast narkotische Gelassenheit fernöstlicher Götzenbilder. Der Tisch ist voller Frühstücksreste und Überbleibsel der vergangenen Nacht, und auf der Schwelle zum Badezimmer liegt Stanleys bunter Pyjama. Die Eingangstür steht nahezu offen, es ist ein strahlender Sommertag. In der Tür steht Blanche. Sie hat eine schlaflose Nacht hinter sich, und ihr Erscheinungsbild ist der reinste Kontrast zu Stella. Nervös presst sie die geballte Faust an den Mund und wirft erst einen Blick durch die Tür, bevor sie eintritt. Blanche: »Stella?« Stella (rührt sich träge): »Hmmm?« (Blanche stößt einen klagenden Schrei aus und rennt ins Schlafzimmer, wo sie sich in einem Anfall von hysterischer Zärtlichkeit neben Stella aufs Bett wirft.) Blanche: »Baby, meine kleine Schwester!« Stella (weicht vor ihr zurück): »Blanche, was ist denn los mit dir?« (Blanche erhebt sich langsam wieder, steht neben dem Bett und schaut auf ihre Schwester herab, die Faust an den Mund gepresst.) Blanche: »Er ist weg?« Stella: »Stan? Ja.« Blanche: »Wie konntest du letzte Nacht zurückkommen? Und du hast auch noch mit ihm geschlafen!« (Stella steht ruhig und gelassen auf.) Stella: »Blanche, du machst viel zu viel Theater deswegen.« Blanche: »Ach ja?« Stella: »Ja, Blanche. Es war bei weitem nicht so ernst, wie du es, offenbar, nimmst. Er war sanft wie ein Lamm, als ich wieder bei ihm war, und er schämt sich wirklich sehr.« Blanche: »Und damit – damit ist alles wieder gut?« Stella: »Nein, es ist nie gut, wenn jemand sich so schrecklich benimmt, aber es kommt eben vor. Stanley hat schon immer was zerdeppert. In unserer Hochzeitsnacht zum Beispiel – kaum, dass wir hier reinkamen – zog er mir einen Schuh aus und zerdepperte im Handumdrehen die Glühbirnen damit.« Blanche: »Er hat – was gemacht?« Stella: »Mit dem Absatz von meinem Schuh hat er sämtliche Glühbirnen zerdeppert.« (Sie lacht.) Blanche: »Und du – du hast ihn gelassen?« Stella: »Ich war irgendwie – fasziniert.« (Sie hält einen Augenblick inne.) 218


5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Blanche: »Du behandelst das alles so sachlich, Stella?« Stella: »Was soll ich denn sonst machen? Er hat das Radio zur Reparatur gebracht.« Blanche: »Und du stehst da und lächelst!« Stella: »Was willst du, was soll ich tun?« Blanche: »Reiß dich zusammen und sieh den Tatsachen ins Auge.« Stella: »Und die wären, deiner Meinung nach?« Blanche: »Meiner Meinung nach? Du bist mit einem Irren verheiratet!« Stella: »Nein!« Blanche: »Doch, bist du, du steckst noch mehr in der Klemme als ich! Nur, dass du dir das nicht klar machst. Ich werde etwas unternehmen. Mich in den Griff kriegen und mir ein neues Leben aufbauen!« Stella: »Ja?« Blanche: »Aber du hast aufgegeben. Und das ist nicht richtig, du bist ja nicht alt! Du kannst noch raus.« Stella: »Ich stecke nicht in irgendetwas, aus dem ich raus will.« Blanche (ungläubig): »Was – Stella?« Stella: »Ich habe gesagt, ich stecke nicht in irgendetwas, aus dem herauszukommen ich Sehnsucht hätte. Sieh dir dieses Chaos hier an! Es macht ihm nun mal Spaß, so wie mir Kino. Man muss sich in seinen Neigungen tolerieren.« Blanche (Stella dreht sich zu ihr um): »Ist das chinesische Philosophie, was du da kultivierst?« Stella: »Was?« Blanche: »Als wenn nichts Besonderes passiert wäre!« (Stella lacht unbestimmt) Blanche: »Wenn ich bloß einen klaren Gedanken fassen könnte! Wir müssen unbedingt zu Geld kommen, das ist der einzige Weg!« Stella: »Ich denke mal, zu Geld zu kommen, ist immer gut.« Blanche: »Ich glaube, ich habe eine Idee. Kannst du dich an Shep Huntleigh erinnern? (Stella schüttelt den Kopf.) Natürlich erinnerst du dich an ihn. Mit dem war ich doch auf dem College zusammen.« Stella: »Und?« Blanche: »Letzten Winter habe ich ihn wiedergetroffen. Ich war die Weihnachtsfeier über in Miami. Ja. Ich hab ihn getroffen – per Zufall, am Heiligabend, kurz bevor es dunkel wurde. Er wollte gerade in seinen Wagen steigen – Cadillac Cabrio; bestimmt so lang wie ein Häuserblock! Ihm gehören in ganz Texas die Ölquellen. Das Geld sprudelt ihm buchstäblich in die Tasche.« Stella: »Nicht schlecht.«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Blanche: »Und er könnte es tun, er könnte es mit Sicherheit tun!« Stella: »Was tun, Blanche?« Blanche: »Ja, uns – ein Geschäft einrichten!« Stella: »Was für ein Geschäft?« Blanche: »Ach, ein – irgendein Geschäft! Das kostet ihn die Hälfte von dem, was seine Frau beim Pferderennen rausschmeißt.« Stella: »Er ist verheiratet?« Blanche: »Süße, wäre ich hier, wenn der Mann nicht verheiratet wäre? (Stella lacht ein bisschen. Plötzlich springt Blanche auf und geht zum Telefon. Mit schriller Stimme.) Telegrammaufnahme, bitte? – Vermittlung! Telegrammaufnahme!« Stella: »Du sollst zuerst die Null wählen.« Blanche (legt den Hörer auf): »Ach nein, ich muss zuerst den Text aufschreiben. ›Lieber Shep! Ich bitte …‹ Nein, mit Direktbitten erreicht man heute überhaupt nichts. Aber mir wird schon was einfallen. Mir muss was einfallen! Hier! (Sie klappt ihr Portemonnaie auf.) Fünfundsechzig mickrige Cent!« Stella (geht zur Kommode): »Stanley gibt mir kein regelrechtes Haushaltsgeld, er zahlt die Rechnungen gern selber, aber heute Morgen hat er mir zwanzig Dollar gegeben, um die Wogen zu glätten. Du nimmst zehn, Blanche.« Blanche: »Nein, danke – ich werde auf den Strich gehen!« Stella: »Red keinen Unsinn! Wie kommt es, dass du so knapp bei der Kasse bist?« Blanche: »Geld verschwindet einfach – es verschwindet unter der Hand. (Sie reibt sich die Stirn.) Stella, ich kann nicht mit ihm zusammenleben! Du schon, er ist dein Mann. Aber wie soll ich hier mit ihm wohnen, nach dem, was letzte Nacht passiert ist, nur mit diesem Vorhang zwischen uns?« Stella: »Blanche, du hast ihn gestern von seiner schlimmsten Seite gesehen.« Blanche: »Im Gegenteil! Ich habe ihn von seiner besten Seite gesehen! Was so ein Mann zu bieten hat, ist animalische Kraft, und davon hat er eine eindrucksvolle Vorstellung gegeben! Die einzige Möglichkeit, mit so einem Mann zusammenzuleben, ist – mit ihm zu schlafen – aber das ist dein Job, nicht meiner!« Stella: »Ruh dich erstmal ein bisschen aus, dann stellst du fest, es wird schon alles werden. Und du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen, solange du hier bist. Ich meine – was Geld angeht.« Blanche: »Ich muss für uns beide überlegen, damit wir beide – hier rauskommen!«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Stella: »Du nimmst an, ich stecke in etwas drin, aus dem ich raus will?« Blanche: »Ich nehme einfach an, dass du dich noch gut genug an Belle Rêve erinnern kannst.« Stella: »Da nimmst du entschieden zu viel an.« Blanche: »Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.« Stella: »Ich sag dazu überhaupt nichts mehr!« Blanche: »Na schön, dann eben nicht!« Stella: »Aber es kann etwas geschehen zwischen Mann und Frau im Dunkeln – demgegenüber erscheint alles andere – unwichtig.« (Pause) Blanche: »Was du meinst, ist animalisches Verlangen einfach – brutales Begehren, Sehnsucht – wie der Name der Endstation dieser alten Klapperkiste.« Stella: »Findest du nicht, dass dein überlegenes Auftreten ein bisschen fehl am Platz ist?« Blanche: »Ich bin und fühle mich nicht überlegen, Stella. Es ist nur so. So sehe ich es jedenfalls. Mit einem solchen Mann kann man mal ausgehen – einmal – zweimal – wenn einen der Teufel reitet, vielleicht dreimal. Aber mit ihm leben? Ein Kind von ihm haben?« Stella: »Ich hab dir gesagt, ich liebe ihn.« Blanche: »Dann zittere ich um dich! Ich zittere einfach um dich!« Stella: »Dann zittere eben, wenn du unbedingt zittern musst! 73 […]« 10.1.2011, 6. Probentag, Diskussion, BE-Probebühne Blanche-Darstellerin: »Wenn zwei Frauen zusammen sind, da kommt für diese Zeit ihr altes Leben, ihre alte Welt zurück. Von Anfang an ist zwischen zwei Schwestern die Freude, zusammen zu sein.« Langhoff: »Der Konflikt zwischen den Schwestern ist aber fast gleich da. Sie haben zwei verschiedene Lebenswege gewählt.« Mauer: »Dieses Konstrukt ›Du hast mich immer so gut bedient‹, ›Ich habe dich so gut bedient‹ – darüber muss man noch nachdenken.« Gallinowski (spricht für Stella): »Ich habe das geschafft, was du im Leben noch nie hattest: Ich habe einen Mann, der einen Job hat, eine Familie, bald ein Kind.« Langhoff: »Das sind Brüche zwischen den Schwestern.«74 19.1.2011, 11. Probentag, Diskussion nach der Probe, BE-Probebühne Langhoff: »Es rührt ja wirklich an ihre Moralbegriffe.« Blanche-Darstellerin: »Ich finde es total langweilig, wenn ich nur

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

eine hysterische Frau spiele. Es muss ja etwas passieren zwischen den beiden.« Langhoff: »Ja, sicher.« (an Anika Mauer) »Ein gewisses Schamgefühl ist ja da. (Wenn sie über ›zu viel Theater‹ spricht.) Und tjaa … es ist ein schwaches Argument von Stella: Einer geht mal ins Kino, der andere haut gerne seine Frau. Du willst dieses Gespräch nicht. Du gehst immer weg, und sie geht dir hinterher.« Blanche-Darstellerin: »Ich habe eine Theorie über Blanche entwickelt, nämlich, dass sie immer Futter zum Theaterspiel hat, immer auf Gewalt panisch reagiert und dass sie schon mal mit einigen Männern zu ihnen nach Hause gegangen ist, weil sie nirgendwo übernachten konnte und mit sich bezahlen musste. […] Ich möchte, dass Blanche sie ein bisschen in die Vergangenheit zieht und dass sie es beinahe schafft, und da plötzlich erscheint er wieder. Da ist wieder alles verloren.« Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »Ja, meine Schwester, du machst einen Schritt zurück.« Blanche-Darstellerin: »Blanche redet indirekt auch von ihrer eigenen Not.« Der Regisseur und die Schauspieler pflegen ein überaus vertrauensvolles Verhältnis. Jeder drückt seine Meinung offen aus, fast immer ist der Regisseur einverstanden. Er vertieft sich zwar gleich in seine Überlegungen, aber meistens stimmt er allen Darstellern zu. Die Blanche-Darstellerin kann z. B. durchaus die Szene unterbrechen und sich zu etwas äußern. Mit geradezu hundertprozentiger Sicherheit wäre der Regisseur mit ihr einverstanden (»Ja, absolut! », »Aber natürlich!« usw.)75 20.1.2011, 12. Probentag, Diskussion, Bühnenprobe, BE-Probebühne Diskussion über die vierte Szene: Langhoff: »Ich möchte euch jetzt erzählen, was ich über diese Szene denke. Das ist eine Entscheidungsszene. Das ist ein Kampf um Stella. Blanche ist keine moralisierende Tante. Das, was sie Stella vermitteln will, ist: ›Das ist ein Urmensch. Und du machst einen Schritt zurück zur Urwelt. Du kannst machen, was du willst, aber wozu wurde denn all die Kultur geschaffen? Du liegst mit Mickey-Mouse-Comics im Bett!‹ Und Stanley hört diesem Kampf zu. Blanche ist ein Phantasiewesen. Über Stella. Sie war DuBois, wurde Kowalski – wird also immer schwächer. (an Blanche-Darstellerin) X, du bist überhaupt nicht zickig.« Blanche-Darstellerin: »Ich glaube, sie hat die ganze Nacht überhaupt nicht geschlafen, und jetzt denkt sie: ›Was soll ich jetzt mit diesem Mann hier überhaupt anfangen?‹«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Langhoff: »Es soll ein Comic-Heft sein, nicht ein Comic-Buch.« (Blanche-Darstellerin und Anika Mauer besprechen das vertraulich auf der Bühne.) Langhoff: »X, du machst dir Sorgen um ihr Kind.« Blanche-Darstellerin: »Ja, ich mache mir Sorgen um sie, darum, wie es ihr körperlich geht.« Langhoff: »Du vernichtest die Fortschritte der Menschheit, meine junge Schwester! Der entscheidende Kampf um sie beginnt.« Blanche-Darstellerin (unterbricht Langhoff): »Und es steht 1:0. Du bist ja ein ordinäres Flittchen geworden!« (Die Anwesenden lächeln.) Langhoff (an Anika Mauer): »Bleib aber etwas länger im Bett. (an alle) Es ist immer Gewinn und Verlust. Alles im Leben hat Gewinn und Verlust. (Langhoff geht auf die Bühne. Wieder an Anika Mauer) Hier im Bett hat er sich wie ein Lamm benommen. Und er hat sogar das Radio zur Reparatur gebracht! Also du übertreibst ein bisschen.« Im Probenverlauf: Blanche-Darstellerin: »Ich habe die ganze Nacht gar nicht geschlafen, bin hierher gekommen. Und dir ist natürlich egal, wie es mir geht. Dass geschlagen zu werden als etwas Normales genommen wird, weil die Versöhnung dann so schön ist – das will sie ihr erklären, dass es unmöglich ist.« Langhoff: »Ja, richtig, gut. Mein armes, vergewaltigtes Schwesterchen. (an Anika Mauer) Eigentlich versteht sie, dass sie schon in der Klemme ist. (an Blanche-Darstellerin) Wir sollen uns männerunabhängig unterhalten. Lieber kein Mann als Kowalski! (an Anika Mauer) Blanche, du siehst immer alles in größeren Dimensionen. (­allgemein) Diese Schlüsselszene ist von innen zu finden, nicht von außen. (­an Anika Mauer) Das Buddhistische kommt ein bisschen rüber. (an Blanche-Darstellerin) Jetzt merkst du, sie hat es freiwillig gemacht. (an Requisiteure) Es ist völlig richtig, dass das Bett in der Mitte steht, denn es geht schließlich darum. Aber wozu denn diese Dinge da? [gemeint waren die ›Windmaschinen‹] (an Blanche-Darstellerin) Von nun an müssen wir von hier abhauen. Ich muss sie jetzt davon rausziehen. Das ist meine Verantwortung als ältere Schwester. (an den Darsteller des jungen ­Kassierers) Es wäre schön, wenn L. hier etwas Schönes spielte. ›Good morning, New Orleans!‹ (an Blanche-Darstellerin) X, ich glaube, du sollst eine Erkenntnis spielen.« Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Nein, du liebst ihn nicht, das ist ein rein animalisches Begehren, das hat – um Gottes ­Willen – nichts mit der Liebe zu tun. Du bist gestern zusammenge-

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

schlagen worden! Entschuldigung, dass ich mich um dich kümmere!« Langhoff: »Und ich übernehme die Verantwortung der älteren Schwester und helfe dir. Ich komme schon raus.« Blanche-Darstellerin (an Anika Mauer): »Bist du jetzt irrsinnig? Kriegst du noch irgend etwas mit? Wie oft passiert das?« Mauer: »Na, so ein Mal im Jahr.« Blanche-Darstellerin: »Was?! Von wegen – ein Mal im Jahr! Das muss bestimmt viel öfter passiert sein!« Langhoff (wohl an Anika Mauer): »Das ist chinesische Philosophie, Yin und Yang, alles ist in Bewegung. Da ist alles in Ordnung.« Blanche-Darstellerin (über Blanche): »Aber das ist doch etwas von ihrem Charakter. Sie meint: ›Ich finde es echt schade, wenn Shep Huntleigh weg ist.‹ Sie meint immer alles über Umwege. Das Schlimmste für sie ist, dass sie diese Nacht mit diesem gewalttätigen Mann unter einem Dach verbracht hat.« Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »Sie versteht, dass es ein Macho-Standpunkt ist, wenn Stella über Mann und Frau im Dunkeln spricht. Der Kern deiner Rede ist: ›Man kann mit ihm ein, zwei, drei Mal im Leben ausgehen, aber mit ihm leben?!‹ (an Anika Mauer) Ja, er ist ordinär, manchmal, aber ein sehr amerikanischer, sehr bewusster Bürger.« Nach der Probenpause: Blanche-Darstellerin: »Wenn ich in einer Klemme stecke, steckst du noch mehr in der Klemme als ich!« (setzt sich auf die Bettkante.) Langhoff (über Stella): »Natürlich ist sie innerlich aufgeregt, obwohl sie es äußerlich nicht zeigt.« (Blanche-Darstellerin greift die Handtasche und läuft damit auf und ab. Anika Mauer zündet eine Zigarette an.) Langhoff: »Jetzt ist ein wichtiger Moment der Szene: Ein völlig vernichtendes Wort ist gefallen – ›ordinär‹.«76 21.1.2011, 13. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Während der Bühnenprobe: Langhoff (an Blanche-Darstellerin und Anika Mauer): »Du hast doch mit ihm geschlafen! (Während Stella sagt: ›Blanche, was ist das für ein Theater?‹) Vielleicht sucht sie dabei ihren Slip. (für Stella) Es ist ­vielleicht nicht so ernst, wie du es nimmst.« Langhoff (wenn Blanche voller Verachtung vor Stanleys und Stellas Ehebett geht): »Ach, ihr Schweine!« (an Blanche-Darstellerin und Anika Mauer) »Das Opfer sitzt da und lächelt!«

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Mauer: »Welches Chaos meint sie denn – die Schlägerei oder den Pokerabend?« Langhoff: »Das ist der Pokerabend.« Blanche-Darstellerin: »Stella steckt ihr den Fünf-Dollar-Schein in die Tasche. Dann prüfe ich im Original nach – nichts desgleichen!« […] Langhoff: »Und du leb dann weiter mit deinem Zuhälter!« Blanche-Darstellerin: »Wie komme ich an ›ordinär‹ ran?« (Wenn sie sagt »Entschuldigung, aber er ist ordinär!«) Langhoff (als Stella wie ein aufgeschrecktes, gejagtes Tier auf dem Sessel sitzt und in diesen verkriecht, mit gedämpfter Stimme sprechend): »Da beginnt sie endlich mal langsam in sich hineinzuhören, als ­plötzlich – steht er wieder da: ›Hallo, Stella!‹ Und jetzt ist sie ­verloren.«77 22.1.2011, 14. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Übergang von der vierten zur fünften Szene: Die Blanche-Darstellerin schlägt vor, den Satz »Das müssen wir uns auf unsere Fahne schreiben!« auf Französisch zu sagen. »Dann zittere, wenn du zittern musst!«, sagt Anika Mauer zornig. Blanche-Darstellerin: »Ich will nicht die ganze Zeit nur ihr ins Gesicht sprechen. ›Poesie, Musik‹ sage ich doch in den Saal.«78 5.2.2011, 26. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne Langhoff (an Anika Mauer): »Das ist ein absolut guter Macho-Typ.« (an Blanche-Darstellerin) »Das alles darf nicht kleinbürgerlich sein, eher großbürgerlich. Sie versteht nicht, wieso eine DuBois diesen Polen geheiratet hat.« Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Du bist richtig ­ordinär, nachlässig geworden, lässt dich gehen! Und das alles hier ist widerlich.«79 9.2.2011, 29. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Nach Stellas Phrase »Er hat in unserer Hochzeitsnacht alle Glühbirnen mit dem Absatz von meinem Schuh zerdeppert«: Langhoff (für Blanche): »Ich bin entsetzt. Ich bin eine DuBois. Ich hätte es nicht ausgehalten. Du bist aber keine DuBois.« Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Und du lächelst!« (ahmt nach, wie die vor Glück betäubte Stella es machen würde) Er hätte dich gestern vor fünf Leuten fast zu Tode geschlagen! Und du drückst ein Auge zu?!«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Blanche-Darstellerin: »Ich würde lieber sagen: ›Ich gehe lieber auf den Strich.‹« Langhoff: »Mir scheint es besser zu klingen, wie es im Original ist. Es ist vielleicht irrationaler als ›Ich gehe lieber auf den Strich.‹ ›Ich werde auf den Strich gehen‹ ist zu rational.« […] Langhoff: »Aber diese Frau hat reiche Bilder, sie unterrichtet doch die englische Literatur. Sie ist in der Geschichte drin.« […] Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Du benimmst dich wie ein vierzehnjähriges Mädchen, das zum ersten Mal Sex hat. Du lebst doch mit einem Schläger!« […]80 16.2.2011, 35. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Blanche-Darstellerin (an Anika Mauer): »Wenn unsere Eltern dich so sehen würden, dann wären sie noch schneller … Ich glaube, das ist nicht ihre [Stellas] Wahl. Deswegen hat sie diese Argumentation, denn sie hat nichts mehr zu sagen. Da steckt noch was drin.« Mauer: »Das ist nicht ihr Haushaltsgeld, das ist ihr Geld. Sie sagt doch ›um die Wogen zu glätten‹.« Blanche-Darstellerin: »Ja, so oft kann er sie doch nicht schlagen, sonst wäre er schon arm, denn sonst müsste er ihr doch nach jeder seiner Schlägereien Geld geben. (zu ›Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.‹) Das ist ja nur eine erotische Neigung, ist ja keine Beziehung.« (Es wird entschieden, dass Stanley ihr statt eines Zehn-Dollar-Scheins einen Zwanzig-Dollar-Schein gibt.) Blanche-Darstellerin (über Blanche): »Sie weiß genau, was sie sagt. Das ist eine Spitze. ›Nein, ich gehe auf den Strich‹ heißt ›Ich verdiene Mein Geld selber‹. Ich muss dann nicht schlau werden wie du, wie man das Geld von ihm kriegt.«81 28.2.2011, 45. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Langhoff (steigt auf die Bühne zu den Schauspielern, an Blanche-Darstellerin): »X, nicht so schnell denken bei deinem Monolog. Ich lese einen französischen Roman vor dem Einschlafen und meine Schwester (!) liest ›Asterix und Obelix‹!« Die Blanche-Darstellerin (als Blanche) schüttelt dabei den Kopf und dreht die Augen. Mauer (ist einverstanden): »Tja, ist lustig.«82

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Die Solidarität der Gruppe über die inneren psychologisch-emotionalen Vorgänge der Kunstfiguren dieser Szene war bereits während der ersten Diskussion der Künstler über diese Szene zu beobachten und zwar lange vor der ersten Bühnenprobe, die neun Tage später stattfand. (Vgl. dazu Tabelle am 10.1.2011, Spalte 4: Alle drei Hauptdarsteller und der Regisseur äußern sich zur Szene.) Die größte emotionale Energie strahlten der Regisseur Thomas Langhoff und die Blanche-Darstellerin aus, denn sie waren es, die sich zu den Gefühlslagen und Beziehungen der beiden Schwestern im Laufe des gesamten Probenprozesses am häufigsten äußerten. Bereits bei der zweiten Bühnenprobe dieser Szene am 20.1.2011 hat sie der Regisseur als »Entscheidungsszene« bestimmt und als »Kampf um Stella« benannt, was lebhafte Interaktionen der Künstler an jenem und folgenden Probentagen hervorrief. Ausgerechnet während jener offenen, andauernden und emotionalen Diskussionen war die leiblich-affektive Rhythmisierung bemerkbar. Die Rhythmisierung könnte im Falle dieser Szene jedoch eher als eine nur affektive bezeichnet werden, weil die Schauspielerinnen körperlich nicht simultan handelten, sondern nur emotional und gefühlsvoll ihre Äußerungen an die Kommentare und Anweisungen des Regisseurs anknüpften. Gerade darin war eine bestimmte Rhythmisierung erkennbar. Bereits an dem Probentag, als die allererste Diskussion stattfand und sich jeder der drei Hauptdarsteller inklusive Regisseur zur Szene äußerte, zeichnete sich ein fester innerer Zusammenhalt der Gruppe zu den darzustellenden psychologischen Problemen des Stücks. Dieser innere Zusammenhalt, diese Kohäsion und Solidarität der Gruppe blieben bis zum letzten Probentag hindurch beibehalten oder haben sich im Laufe der Proben sogar intensiviert (wie aus zahlreichen Diskussionen ersichtlich ist). So markiert das Zusammenbringen der Szene »Der Kampf um Stella« eine wirklich große kollektive Efferveszenz. Und das sogar ungeachtet der im Stück vorhandenen Probleme, der mit diesen Problemen verbundenen Diskussionen der Künstler und der negativen Emotion Eifersucht, die die Hauptfigur zu ihrer Schwester Stella empfindet.

SCHAUBÜHNE AM LEHNINER PLATZ

Erste Probensituation »Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio […]« (Liebe)

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

»Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio. Er sah, er traf ihn überall: in den unteren Räumen des Hotels, auf den kühlenden Wasserfahrten zur Stadt und von dort zurück, im Gepränge des Platzes selbst und oft noch zwischenein auf Wegen und Stegen, wenn der Zufall ein Übriges tat. Hauptsächlich aber und mit der glücklichsten Regelmäßigkeit bot ihm der Vormittag am Strande ausgedehnte Gelegenheit, der holden Erscheinung Andacht und Studium zu widmen. Ja, diese Gebundenheit des Glücks, diese täglich gleichmäßig wieder anbrechende Gunst der Umstände war es so recht, was ihn mit Zufriedenheit und Lebensfreude erfüllte, was ihm den Aufenthalt teuer machte und seinen Sonnentag so gefällig hinhaltend sich an den anderen reihen ließ. Er war früh auf, wie sonst wohl bei pochendem Arbeitsdrange, und vor den Meisten am Strand, wenn die Sonne noch milde war und das Meer weiß blendend in Morgenträumen lag. Drei Stunden oder vier waren dann sein, in denen die Sonne zur Höhe stieg und furchtbare Macht gewann, in denen das Meer tiefer und tiefer blaute und in denen er Tadzio sehen durfte. Er sah ihn kommen, von links, am Rande des Meeres daher, sah ihn von rückwärts zwischen den Hütten hervortreten oder fand auch wohl plötzlich, und nicht ohne ein frohes Erschrecken, daß er sein Kommen versäumen und daß er schon da war, schon in dem blau und weißen Badeanzug, der jetzt am Strand seine einzige Kleidung war, sein gewohntes Treiben in Sonne und Sand wieder aufgenommen hatte, – dies lieblich nichtige, müßig unstete Leben, das Spiel war und Ruhe, ein Schlendern, Waten, Graben, Haschen, Lagern und Schwimmen, bewacht, berufen von den Frauen, die mit Kopfstimmen seinen Namen ertönen ließen: ›Tadziu! Tadziu!‹ und zu denen er mit eifrigem Gebärdenspiel gelaufen kam, ihnen zu zeigen, was er gefunden. Aschenbach verstand nicht ein Wort von dem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben Rede zur Musik, eine übermütige Sonne goß verschwenderischen Glanz über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.«83 2.10.2012, 2. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Erster Probenversuch: Schulze: »[…] seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.« Der Kellner öffnet den Wein und schenkt ein. Die Schwestern und die Gouvernante treten ohne Tadzio auf und setzen sich an den Tisch. Eine Weile später kommt Tadzio die Treppe herunter und schließt sich ruhig der Familie an.

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Ostermeier (an Sabine Hollweck): »Sabine, verzeih ihm das. Die Schwestern machen schu-schu. Ok, dann probieren wir die Variante, wenn alle zusammenkommen. So tief protestantisch sind sie, fast klösterlich.« Zweiter Probenversuch: Schulze: »[…] seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.« Auftritt der ganzen Familie mit Tadzio. Ostermeier: »Aber jetzt finde ich, dass es besser ist, wenn sie getrennt kommen. Da ist mehr Spannung. (an Max Ostermann) Was denkst du?« Ostermann: »Ja, denn Aschenbach sieht sich um: ›Wo ist er denn?‹« Ostermeier (an den Pianisten Timo Kreuser): »Versuch’s bitte dann nicht mehr so dramatisch.« Bierbichler: »Weniger Melancholie.« Ostermeier: »Nimm mal so – dramatisch hoch.« Blickkontakt Aschenbach – Tadzio in Großaufnahme.84 4.10.2012, 3. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Erster Probenversuch: Auftritt Familie. Zuerst tritt die Gouvernante, dann Tadzio und nach ihm die drei Schwestern auf. Schulze: »[…] seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.« Bierbichler (am servierten Tisch ungeduldig auf Tadzio wartend): »Logischer ist, dass du [Tadzio] nach ihnen [der Familie] kommst.« Ostermeier: »Machen wir noch einmal den ganzen Auftritt. Martina, wenn Felix eingeschenkt hat, dann trittst du auf.« Zweiter Probenversuch: Der Kellner schenkt Wein ein. Auftritt Familie ohne Tadzio. Aschenbach sieht ihrem Auftritt zu. Großaufnahme seines Gesichtes und dessen Ausstrahlung auf den Bildschirm. Der Kellner bringt der Gouvernante die Speisekarte. Bierbichler: »Zuerst kommt die Suppe.« Der Kellner spricht mit der Familie, Tadzio erscheint auf der Treppe und steigt diese hinunter. Ostermeier: »Max, du guckst.« (an Bierbichler) »Senkst du den Blick zuerst?« Bierbichler: »Ja.« Ostermeier (an Max Ostermann): »Erst wenn er den Blick senkt, schaust du ihn noch eine kurze Weile an und dann gehst du. Also ein bisschen warten.«

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Bierbichler: »Genießen.« (lächelt) Ostermeier (an Max Ostermann): »Dich fasziniert, dass du auf ihn so eine Wirkung hast. Das macht dir Spaß.«85 5.10.2012, 4. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Erster Probenversuch: Familienauftritt ohne Tadzio. Aschenbach wartet auf Tadzios Erscheinung. Der Kellner verteilt die Speisekarten unter den Schwestern und der Gouvernante und geht ab. Aschenbach isst die Suppe und blickt jedes Mal auf die Treppe in Erwartung Tadzios. Klang: hohe Klaviertöne, Geräusche, die fließendem Wasser ähneln. Tadzio erscheint lächelnd, hält kurz an und läuft zur Familie. Aschenbach senkt den Blick. Ostermeier: »Jetzt müssen wir für euch [die Familie] die Situation am Tisch ausdenken.« Auf dem Bildschirm erscheint zuerst Tadzios Blick, dann Aschenbach in Großaufnahme. Bierbichler: »Er lächelt nach meinem Blick.« Zweiter Probenversuch: Video: Aschenbach löffelt die Suppe und sieht gespannt auf die Treppe, ob Tadzio kommt. Nach seinem vierten Löffel kommt Tadzio und hält auf der Treppe. Kamerawechsel. Blick Tadzio – Aschenbach. Aschenbach senkt den Blick. Kamerawechsel. Tadzio lächelt schadenfroh und läuft zum Familientisch. Tadzio setzt sich an den Tisch. Ostermeier (an Max Ostermann, wenn er schon am Tisch sitzt und auf dem Bildschirm gezeigt wird): »Das Gesicht, bitte, in beide Hände nehmen.« Beim nächsten Versuch wird alles genauso wiederholt, aber ohne Unterbrechungen und Kommentare dazwischen.86 6.10.2012, 5. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Die Gouvernante bestellt das Essen beim Kellner. Der Kellner geht ab. Klangeinsatz – Geräusche, die fließendem Wasser ähneln. Ostermeier (an Timo Kreuser): »Da ist diese Spannung, Erregung von ihm.« Bierbichler: »Erster Löffel.« (Nimmt den ersten Löffel Suppe in den Mund.) »Zweiter Löffel.« (Nimmt den zweiten Suppenlöffel in den Mund.) Auf der Treppe erscheint Tadzio, erstarrt, blickt auf Aschenbach. Kamerawechsel auf Aschenbach. Er senkt den Blick. Kamerawechsel auf Tadzio. Er lächelt boshaft und läuft zur Familie. Der Kellner schiebt ihm den Stuhl heran. Klangeinsatz. Übergang zur nächsten Sequenz.87

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

8.10.2012, 6. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Bierbichler: »Wann wird die Kamera eingeschaltet? Ist es vom Text abhängig?« Kameramann: »Nein. Wenn die Kamera feststeht.« Ostermeier: »Nee, Moment, Moment. Kamera kommt, bevor der Text kommt.« Bierbichler: »Lass Kay den ganzen Text lesen.« Bei »täglich gleichmäßig« filmt die Kamera den Kellner, der auf dem Tisch das Besteck serviert. Kurz darauf setzt sich Aschenbach an den Tisch. Kamerawechsel auf Aschenbachs Tisch. Aschenbach bittet, ihm die Speisekarte zu bringen. Der Kellner geht ab. Bei der Phrase des Erzählers »Tadziu! Tadziu« treten die Schwestern und die Gouvernante auf. Gleich bringt ihnen der Kellner die Speisekarte. Aschenbach sitzt an seinem Tisch und wartet auf Tadzios Erscheinen.88 9.10.2012, 7. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Bierbichler: »Aber wenn die Kamera vor mir steht, dann steht sie auf meiner Achse. Ich gehe doch zur Treppe. Assoziativ ist es schlimm, dass er [der Kameramann] da vor mir steht. Ich muss doch später aufstehen.« Ostermeier: »Aber er geht später ab.« Bierbichler: »Kommt zuerst Wein und dann Suppe? Braucht man überhaupt eine Speisekarte?« Ostermeier: »Ja, können wir machen.« Bierbichler: »Aber ich muss auch gucken, dass ich rechtzeitig zu löffeln beginne.« Ostermeier: »Du hast Zeit. Zuerst kommt der Wein, dann die Suppe.« Erster Probenversuch: Bei »viel, fast beständig« wird Aschenbach in Großaufnahme auf den Bildschirm projiziert. Aschenbach wartet ungeduldig auf Tadzios Auftritt. Bierbichler (an Felix Römer): »Ich werde es jetzt nicht auf meine Persönlichkeit übertragen oder deine österreichische Schwanenseele89 zurückführen, aber zuerst werden die Gäste bedient, die gerade eine Bestellung gemacht haben, und nicht der Nachbartisch gedeckt, der leer ist.« (leises Gelächter) Römer (schweigt zuerst): »Ja.« Ostermeier: »Ok, machen wir es noch einmal.« Zweiter Probenversuch: Beim zweiten Versuch stimmt das Timing wieder nicht. Alle sitzen still und ratlos, auch Ostermeier.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Ostermeier: »Gibt es Vorschläge für den weiteren Vorgang?« Ostermeier fragt Römer aus, wie er den Tisch deckt bzw. klärt ab, warum das Timing nicht stimmt. Römer: »Ich mache zwei Runden: Messer – Gabel.« Ostermeier: »Wir machen jetzt eine Runde weg.« Dritter Probenversuch: Bei »viel, fast beständig« tritt der Kellner mit der Karaffe auf und schenkt Wasser ein. Er geht ab und bringt dann die Suppe für ­Aschenbach. Gespannte Klaviermusik. Der Kellner bringt das Tablett mit Gläsern und Servietten. Während der Kellner die Stühle richtet, tritt die Familie auf. Kamerawechsel auf Aschenbach. Die Familie bestellt die Speisekarte. Aschenbach löffelt die Suppe, nach jedem Löffel auf die Treppe blickend. Tadzio erscheint. Aschenbachs Gesicht erstarrt, sein Mund ist halb geöffnet, er starrt und lächelt Tadzio an. – Kamerawechsel. Tadzio blickt auf Aschenbach. Kamerawechsel auf Aschenbach, der den Blick senkt. Kamerawechsel auf Tadzio, der triumphierend lächelt. Unterbrechung. Vierter Probenversuch: Bierbichler: »Mit Leon [Klose, 2. Besetzung von Tadzio] bin ich verabredet, dass ich den dritten Löffel mache, dann tritt er auf.« Der Erzähler liest entweder zu schnell oder zu langsam. Bei »Folie und Hintergrund« tritt Tadzio auf. Kamerablende auf Tadzio. Blickaustausch zwischen Aschenbach und Tadzio.90 10.10.2012, 8. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Bei »viel, fast beständig« tritt der Kellner auf und schenkt Aschenbach Wein ein. Der Kameramann befestigt die Kamera vor Aschenbach. Der Kellner bringt Aschenbach die Suppe, dann richtet er die Gläser am anderen Tisch, danach die Stühle. Die Familie tritt auf. Der Kellner rutscht der Gouvernante den Stuhl heran. Nach »Folie und Hintergrund« ertönt der Klang. Es entsteht eine Pause. Alle sehen einander an. Ein anderer Klang ertönt. Kamerawechsel auf Aschenbach. Er löffelt dreimal. Nach dem dritten Löffel erscheint Tadzio auf der Treppe. Großaufnahme Aschenbach: Er sieht Tadzio eine Weile an, lächelt ihm dabei zu und senkt verwirrt den Blick. Kamerawechsel auf Tadzio: Er lächelt triumphierend und läuft zum Tisch, wo seine Familie auf ihn wartet. Ostermeier (an Leon Klose): »In Großaufnahme guckst du ihn mit Verwunderung an.«91 11.10.2012, 9. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Bei »viel, fast beständig« tritt der Kellner mit dem Tablett auf und stellt

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

Gläser auf Aschenbachs Tisch. Dann bringt er Wein in einer Karaffe für Aschenbach. Danach bringt der Kellner Gläser und stellt sie auf den anderen Tisch. Kamerablende auf den Esstisch, während dort die Hand des Kellners das Besteck auflegt. Für das weitere Vorgehen siehe meine Beschreibung vom 10.10.2012.92 12.10.2012, 10. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf Erster Probenversuch: Aschenbach geht zu seinem Tisch. Familienauftritt. Der Kellner bringt die Gläser und geht ab. Ostermeier: »Jetzt bringst du die Suppe, Felix.« Der Kellner bringt Aschenbach die Suppe. Ostermeier: »Du bringst ihm die Suppe und nimmst die Bestellung, ok?« Bierbichler: »Was wolltest du denn machen?« Ostermeier: »Ich wollte, dass du dich erst rübersetzt, wenn sie kommen. Denn du siehst: ›Aha, sie sind da‹ und gehst hin.« Bierbichler: »Also logisch ist, dass ich erst nach deren Auftritt zum Tisch gehe. Und mir wird’s gleich serviert. (nachdenklich) Also Vollpension. (Gelächter) Ok, dann machen wir das mal so. Was ist jetzt nun? Tadzios Auftritt?« Ostermeier: »Ja.« Tadzio kommt nach dem dritten Löffel. Bierbichler: »Äh, du kommst erst nach dem fünften Löffel. Wir haben es jetzt anders gemacht.« Zweiter Probenversuch: Bierbichler zählt die Löffel laut und biegt dabei die Finger. Tadzio läuft auf die Treppe und bleibt dort stehen. Ostermeier (an Max Ostermann): »Max, Lächeln anhalten. (an die Darstellerinnen) Und gleich viel Gespräch am Tisch. (an Max Ostermann) Max, die Mädchen ignorieren.« Ostermann: »Ignorieren?« Ostermeier: »Ja, nur so sitzen.« Kamerawechsel auf Tadzio. Tadzio stützt das Kinn mit der Hand. Inzwischen bringt der Kellner die Melone für Aschenbach. Ostermeier: »Achtung, Max, hier kommt die Melone. Der Biss.« Großaufnahme: Tadzio hält den Blick auf Aschenbach an. Gleich Kamerablende. Ostermeier: »Ab und zu lächeln, Max. Du merkst, dass er dich anschaut und das macht dir Spaß. Ab da hast du eine Macht über ihn und das macht dir Spaß. Zum ersten Mal hast du Macht über einen

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Erwachsenen. Das ist ein Geheimnis, deine Schwestern wissen das alles nicht.« Bierbichler muss die Probe verlassen, weil er ansonsten einen Flug verpasst.93 1.11.2012, 11. Probentag, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes, Frankreich Zwei Kameraleute fahren die Kamera und stellen sie vor Aschenbach. Bierbichler: »Es war so: Ich stehe auf und die Kamera verschwindet.« Ostermeier: »Ja, so wär’ s besser. Wir haben dem ganzen Schnitt solch eine Logik gegeben.« (bei »Folie und Hintergrund«) »Und zusammen warten – wollte sagen auf Godot – aber auf Tadzio.« »Entschuldigung, aber ich muss wieder unterbrechen. Es wurde gebetet, als gesagt wurde, dass in San Marco gebetet wird.« »Da ist es! Warum wartet ihr auf den Text mit der Ansage? (an Benjamin Krieg) Bitte die Achsen rausfahren, damit die wichtigen Blicke zu sehen sind.« »›Über den Betpult gebeugt‹ – und als sie dabei gebetet haben, war es so schön gewesen. Und ich möchte es zurückbekommen.«94 2.11.2012, 12. Probentag, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes Erster Probenversuch: Zwei Kameraleute treten auf und befestigen die Kamera vor Aschenbachs Tisch. Bei »viel, fast beständig« erfolgt die Großaufnahme von Aschenbach. Bei »Studium zu widmen« tritt Tadzio auf, Aschenbach erstarrt an seinem Tisch und sieht ihn dauernd an. Ostermeier: »Girls, Jaschu wird nach Tadzio schreien. This is a friend from the beach. Das wird später Mikel [Aristegui] sein. (an Josef Bierbichler) Mein hoffnungsloser Regievorschlag, dass er dich Zeitlang beobachtet, du merkst es, er erschrickt und haut ab.« Zweiter Probenversuch: Aschenbach sitzt nachdenklich im Sessel. Tadzio tritt hinter dem Vorhang hervor, betrachtet Aschenbach, Aschenbach bemerkt ihn, Tadzio verschwindet. Aschenbach lächelt erfreut und ein bisschen verwundert.95 Dritter Probenversuch: Es wird ein neuer, zusätzlicher Textabschnitt vorgelesen: »Es war am folgenden Morgen, dass er im Begriff war das Hotel zu verlassen, von der Freitreppe aus gewahrte, wie Tadzio, schon

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

unterwegs zum Meere – und zwar allein –, sich eben der Strandsperre näherte. Der Wunsch, der einfache Gedanke, die Gelegenheit zu nutzen und mit ihm, der ihm unwissentlich soviel Erhebung und Bewegung bereitet, leichte heitere Bekanntschaft zu machen, ihn anzureden, sich seiner Antwort, seines Blickes zu erfreuen, lag nahe und drängte sich auf. Der Schöne ging schlendernd, er war einzuholen und Aschenbach beschleunigte seine Schritte. Er erreichte ihn auf dem Brettersteig hinter den Hütten, er will ihm die Hand aufs Haupt, auf die Schulter legen und irgendein Wort, eine freundliche französische Phrase schwebt ihm auf den Lippen: Da fühlt er, dass sein Herz vielleicht auch vom schnellen Gang, wie ein Hammer schlägt, dass er so knapp bei Atem, nur gepresst und bebend wird sprechen können; zögert, er sucht sich zu beherrschen, er fürchtet plötzlich, schon zu lange dicht hinter dem Schönen zu gehen, fürchtet sein Aufmerksamwerden, sein fragendes Umschauen, nimmt noch einen Anlauf, versagt, verzichtet und geht gesenkten Hauptes vorüber. »Zu spät!« dachte er in diesem Augenblick. Zu spät! Jedoch war es zu spät? Dieser Schritt, den zu tun er versäumt, er hätte sehr möglicherweise zum Guten, Leichten und Frohen, zu heilsamer Ernüchterung geführt. Allein es war wohl an dem, daß der Alternde die Ernüchterung nicht wollte, daß der Rausch zu teuer war. Wer begreift die tiefe Instinktwerdung von Zucht und Zügellosigkeit, worin es beruht! Denn heilsame Ernüchterung nicht wollen zu können, ist Zügellosigkeit. Aschenbach war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt; der Geschmack, die geistige Verfassung seiner Jahre, Selbstachtung, Reife und späte Einfachheit machten ihn nicht geneigt, Beweggründe zu zergliedern und zu entscheiden, ob er aus Gewissen, ob aus Liederlichkeit und Schwäche sein Vorhaben nicht ausgeführt habe. Er war verwirrt, er fürchtete, dass irgend jemand, wenn auch der Strandwächter nur, seinen Lauf, seine Niederlage beobachtet haben möchte, fürchtete sehr die Lächerlichkeit.«96 Klangeinsatz bei »am folgenden Morgen«, der Kellner bringt ein Tablett mit Gläsern. Aschenbach sitzt im Sessel. Ostermeier (bei »er wollte ihm die Hand aufs Haupt«): »Sepp, ich möchte dir einen Vorschlag machen: Wenn Kay diesen neuen Text liest, guckst du kurz, bevor Tadzio erscheint, wo Tadzio ist.« Beim vierten Versuch steht Aschenbach auf und schaut heimlich hinter den Vorhang hervor. Ostermeier: »Sepp, es wäre gut, wenn du die Angst vor der Entdeckung zeigst.« Ostermeier geht auf die Bühne und zeigt, dass Aschenbach sich umsehen soll.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Fünfter Probenversuch: Aschenbach steht auf, geht zum Tisch, schaut sich dort um. Dann geht er zu seinem Tisch zurück, setzt sich. Die Kamera steht vor ihm. Großaufnahme von Aschenbach: Er wartet auf die Familie und, sobald die Familie auftritt, ist er verwirrt, weil Tadzio nicht dabei ist. Ostermeier: »Sepp, trink einen Schluck Wasser und mach so, dass dir ein Tropfen Wasser aus dem Munde runterrinnt.« Bierbichler macht ein verwundertes Gesicht, sagt aber nichts. Beim nächsten Versuch folgt er der Anweisung recht plump. Ostermeier: »Ok, Sepp, ich habe verstanden, dass dir der Regievorschlag nicht gefallen hat. (an Benjamin Krieg) Warum hast du jetzt umgeschnitten?« [Als Aschenbach in Großaufnahme war und auf die Familie »wartete«, wurde auf den Familientisch umgeschnitten.] Krieg: »Ich habe nicht gewusst, dass es jetzt so ist.« Ostermeier: »Also beim Blick Aschenbachs bitte nicht umschneiden.« Sechster Probenversuch: Nach »fürchtete sehr die Lächerlichkeit« nimmt Aschenbach fünf Löffel in aller Ruhe zu sich. Tadzio tritt auf. Ostermeier: »Leon, kannst du ihn ein bisschen länger anschauen. (an Bierbichler) Sepp, kannst du, bevor du den Blick senkst und nachdem du lächelst, aus Scham vor seiner Familie den Kopf nach rechts senken?« Beim siebenten Versuch wird dies so gemacht.97 6.11.2012, 15. Probentag, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes. Nach der Szene »Entdeckung von Tadzio« erfolgt der Kamerawechsel auf den Tisch. Der Kellner bringt das Tablett mit Gläsern, der Erzähler liest den Text laut. Aschenbach geht besorgt herum, auf die Familie wartend, setzt sich an den Tisch. Kamerawechsel auf Aschenbach. Die Familie kommt ohne Tadzio. Der Kellner bringt Aschenbach die Suppe. Die Familie macht eine Bestellung. Aschenbach macht den fünften Löffel, Tadzio erscheint. Die Szene wird zwei Mal wiederholt (bis Ende der Szene »Zeitlupe«).98 Zweite Probensituation »Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken […]« (Liebe) »Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken; er verfolgte ihn, er

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

stellte ihm nach. Sonntags zum Beispiel erschienen die Polen niemals am Strande; er erriet, daß sie die Messe in San Marco besuchten, er eilte dorthin, und aus der Glut des Platzes in die goldene Dämmerung des Heiligtums eintretend, fand er den Entbehrten, über ein Betpult gebeugt beim Gottesdienst. Dann stand er im Hintergrund, auf zerklüftetem Mosaikboden, inmitten knienden, murmelnden, kreuzschlagenden Volkes, und die gedrungene Pracht des morgenländischen Tempels lastete üppig auf seinen Sinnen. Vorn wandelte, hantierte und sang der schwergeschmückte Priester, Weihrauch quoll auf, er umnebelte die kraftlosen Flämmchen der Altarkerzen, und in den dumpfsüßen Opferduft schien sich leise ein anderer zu mischen: der Geruch der erkrankten Stadt. Aber durch Dunst und Gefunkel sah Aschenbach, wie der Schöne dort vorn den Kopf wandte, ihn suchte und ihn erblickte. Wenn dann die Menge durch die geöffneten Portale hinausströmte auf den leuchtenden, von Tauben wimmelnden Platz, verbarg sich der Betörte in der Vorhalle, er versteckte sich, er legte sich auf die Lauer. Er sah die Polen die Kirche verlassen, sah, wie die Geschwister sich auf zeremoniöse Art von der Mutter verabschiedeten und wie diese sich heimkehrend zur Piazetta wandte; er stellte fest, daß der Schöne, die klösterlichen Schwestern und die Gouvernante den Weg zur Rechten durch das Tor des Uhrturms und in die Merceria einschlugen, und nachdem er sie einigen Vorsprung hatte gewinnen lassen, folgte er ihnen, folgte ihnen verstohlen auf ihrem Spaziergang durch Venedig. Er mußte stehen bleiben, wenn sie sich verweilten, mußte in Garküchen und Höfe flüchten, um die Umkehrenden vorüber zu lassen; er verlor sie, suchte erhitzt und erschöpft nach ihnen über Brücken und in schmutzigen Sackgassen und erduldete Minuten tödlicher Pein, wenn er sie plötzlich in enger Passage, wo kein Ausweichen möglich war, sich entgegenkommen sah. Haupt und Herz waren ihm trunken, und seine Schritte folgten den Weisungen des Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter seine Füße zu treten. So wußte und wollte denn der Verwirrte nichts anderes mehr, als den Gegenstand, der ihn entzündete, ohne Unterlaß zu verfolgen, von ihm zu träumen. Einsamkeit, Fremde und das Glück eines späten und tiefen Rausches ermutigten ihn, sich auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten durchgehen zu lassen, wie es denn vorgekommen war, daß er, spät abends von Venedig heimkehrend, an des Schönen Zimmertür Halt gemacht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die Angel der Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen vermocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage ertappt und betroffen zu werden.«99

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

2., 4., 5., 6., 8., 10. und 11.10.2012, Bühnenproben, Ballhaus Rixdorf 5., 7., 8. und 9.11.2012, Bühnenproben, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«. Dritte Probensituation »Aschenbachs Traum« (Lied: »Ich bin der Welt abhanden g ­ ekommen«) (Liebe) »Ich bin der Welt abhanden gekommen, Mit der ich sonst viel Zeit verdorben, Sie hat so lange nichts von mir vernommen, Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben! Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, Ob sie mich für gestorben hält, Ich kann auch gar nichts sagen dagegen, Denn wirklich bin ich gestorben der Welt. Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, Und ruh’ in einem stillen Gebiet! Ich leb’ allein in meinem Himmel, In meinem Lieben, in meinem Lied!«100 1., 4., 5., 10. und 11.10.2012, Diskussion und Bühnenproben, Ballhaus Rixdorf 6., 7., 8. und 9.11.2012, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«. Vierte Probensituation »In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum« (Liebe) »In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum. Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach dem, was

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

­ ommen wollte. Nacht herrschte und seine Sinne lauschten; denn von k weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm. Er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend, was kam: ›Der fremde Gott!‹ Da erkannte er Bergland, ähnlich dem um sein Sommerhaus. Und in zerrissenem Licht, von bewaldeter Höhe, zwischen Stämmen und moosigen Felstrümmern wälzte er sich und stürzte wirbelnd herab: Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine tobende Rotte. Weiber hielten züngelnde Schlangen in der Mitte des Leibes erfaßt oder trugen schreiend ihre Brüste in beiden Händen. Männer, Hörner über den Stirnen, schlugen wütend auf Pauken, während glatte Knaben mit umlaubten Stäben Böcke stachelten, an deren Hörner sie sich klammerten und von deren Sprüngen sie sich jauchzend schleifen ließen. Der Lärm, das Geheul, vervielfacht von hallender Bergwand, wuchs, nahm überhand, schwoll zu hinreißendem Wahnsinn. Dünste bedrängten den Sinn, der beizende Ruch der Böcke, Witterung keuchender Leiber und ein Hauch wie von faulenden Wassern, dazu ein anderer noch, vertraut: nach Wunden und umlaufender Krankheit. Das obszöne Symbol, riesig, aus dem Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie zügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und ächzend, stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun und dem fremden Gotte gehörig. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges.«101 4., 6., 10. und 11.10.2012, Bühnenproben, Ballhaus Rixdorf 2., 5., 6., 7., 8. und 9.11.2012, Bühnenproben, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«. Es gibt drei Gründe, warum hier, am Ende des Protokolls der vier beschriebenen Probensituationen der Schaubühnen-Inszenierung, nur eine und zwar eine alle vier Probensituationen verallgemeinernde Analyse kommen wird. Erstens beziehen sich die vier geschilderten Situationen auf ein und dieselbe soziale Emotion, nämlich auf die soziale Emotion »Liebe« (und zwar Aschenbachs Liebe zu Tadzio). Zweitens wurden alle vier Probensituationen aufgrund eines eingeschränkten Probenzeitraums innerhalb von insgesamt nur zwei Wochen (in ­Berlin

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

und Rennes) und als Folge oft an ein und demselben Probentag und zwar eine nach der anderen geprobt. Oft wurden sie voneinander nur durch die Ansage des Regisseurs getrennt, im Prinzip bedeutete dies aber die Fortsetzung der begonnenen Probe. Drittens enden die ­Proben beim Regisseur Thomas Ostermeier nie an dem Tag der Premiere, sondern werden auch nach der Premiere wiederaufgenommen und dies solange die Inszenierung auf dem Spielplan steht. Das soll heißen, dass die Änderungen der Inszenierung von einer Vorstellung zur anderen vorgenommen werden. (Als externer Probenbeobachter weiß man also nur, wie die Inszenierung bis zur Premiere geprobt wird und nicht danach. Auch ich als Probenbeobachterin, die dem Probenprozess nur bis zur Premiere beiwohnte, habe gesehen, dass die vier Szenen Teile eines Ganzen waren – also voneinander untrennbar – und deswegen für die folgende Analyse verallgemeinert werden können.) Aus diesen drei Gründen versuche ich nun, die vier geschilderten Probensituationen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und diese auf die Kriterien der kollektiven Efferveszenz bzw. der leiblich-affektiven Rhythmisierung und auf die Komponenten der Gruppensolidarität, der individuellen emotionalen Energie und ritueller Symbole des Teams zu analysieren. Am Anfang der Proben (vom 1. bis ca. 6.10.2012) konnte das höchste Maß an individueller emotionaler Energie beim Regisseur Ostermeier identifiziert werden. Die Gruppe war nämlich heterogen: Sie bestand sowohl aus via Casting ausgewählten Jugendlichen für die Rolle des Tadzio als auch aus den Berufstänzerinnen für die Rollen der Schwestern sowie aus festen Ensemblemitgliedern und eingeladenen professionellen Schauspielern. Deswegen war es von Anfang an die ­Aufgabe des Regisseurs, die Reihen zu schließen bzw. aus solchen ungleichen Einzelmitgliedern ein Team zu bilden. Auch der eingeladene Schauspieler Josef Bierbichler hat (im Vergleich zu den anderen Künstlern) seine emotionale Energie oft gezeigt. (Vgl. dazu Tabelle, Probensituation eins am 4., 8., 9.10.2012; Probensituation zwei am 2., 4., 6., 8.10.2012; Probensituation vier am 6.10.2012.) In der zweiten Hälfte der Proben in Berlin (ab ca. 6./8.10.2012) haben sich alle Probenmitglieder bereits aneinander gewöhnt. Jedoch war es immer noch meistens der Regisseur selbst (und ab und zu Bierbichler), der inmitten des Probenprozesses die Initiative zur sozialen Interaktion übernahm. Trotzdem kann man sagen, dass solch eine heterogene Gruppe von Anfang an große Solidarität zeigte: Der Regisseur Ostermeier und der Schauspieler Bierbichler versuchten oft die ganz jungen Schauspieler (die beiden Darsteller des 14-jährigen Knaben Tadzio aus den beiden Besetzungen)

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5.1  Interaktionsrituale in den Probensituationen

zu motivieren. Mittels freundlicher, virtuoser Ansprachen konnten sie die Jungen ins Spiel mit den anderen ­Künstlern involvieren, wobei die Jugendlichen ihrerseits großes Interesse und Anteilnahme zeigten. Für die Tänzerinnen war es eine einzigartige Gelegenheit, unter der Leitung eines Choreographen auf der einen und eines weltberühmten Theaterregisseurs auf der anderen Seite zu arbeiten, deswegen haben sie jede Regieanweisung, auch jene, die sich auf andere Probenmitglieder bezogen, inspiriert wahrgenommen und ihre Freude an der Mitarbeit durch (Mit-)Lächeln/(Mit-)Lachen oder andere eindeutige Zeichen der Zufriedenheit gezeigt. Insbesondere die drei Tänzerinnen waren diejenigen im Team, die eine leiblich-affektive Rhythmisierung an den Tag legen konnten. Sie waren nämlich die einzigen Probenbeteiligten, die die Möglichkeit hatten, beim Proben der nur auf sie bezogenen choreographischen Szenen ihre körperlichen Handlungen gleichzeitig, symmetrisch, in schnellem Tempo und ununterbrochen durchzuführen. An ihren körperlichen Handlungen, die sie im choreographischen Probenprozess emotional ausführten, konnte man den Rhythmus sehen und zwar selbst dann, wenn sie vom Choreographen bereits nach dem Ausüben dieser Handlungen korrigiert bzw. von ihm dazu aufgefordert wurden, Änderungen im Tanz- und Bewegungsmuster vorzunehmen. Was am Bewegungsmuster geändert werden musste, zeigte der Choreograph mithilfe der Körper der Tänzerinnen selbst, wobei er dieses Bewegungsmuster mithilfe ihrer Körper praktisch formte (z. B. durch das Aufstellen der Füße und Fixieren der Arme der Tänzerinnen in die erforderlichen Positionen, durch das Formen des Biegens ihrer Oberkörper usw.). Erst nach seinen Korrekturen folgte ein Durchlauf vor Augen des Regisseurs. Während solcher Durchläufe wurden die Tänzerinnen kaum von jemandem unterbrochen, so konnten sie die vorgemerkten Bewegungen ungestört und im Einklang miteinander vollziehen. Deswegen konnte bei ihnen dabei auch eine so große leiblich-affektive Rhythmisierung beobachtet werden. Der Schutz der rituellen Symbole drückte sich nicht während des Probenprozesses selbst, sondern erst vier Jahre danach aus: Der Regisseur selbst wollte die Schilderungen der Geschehnisse und Zitate der Künstler ausführlich aus den Proben zu Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder durchsehen, bevor er sein Einverständnis zur Veröffentlichung gab. Momente der kollektiven Efferveszenz gab es während des gesamten Probenprozesses sehr oft. Es genügt, allein das Proben des Auftritts von Tadzio zu nennen, als nicht nur die ganze Familie auf ihn wartet, sondern auch Aschenbach, die Suppe nervös löffelnd und dauernd auf die Treppe aufblickend, Spannung in die Situation bringt (siehe dazu

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Tabelle, Probensituation eins, Spalte 3 und 4 vom 2.10. bis 6.11.2012). In diese Szene waren sämtliche Probenbeteiligten involviert, deswegen interagierte jeder mit jedem unausweichlich bei jeder Probe der Szene: Die Schwestern unterhielten sich miteinander, der Kellner mit der Gouvernante, die Videotechniker fokussierten mit der Kamera bald die Löffel Aschenbachs, bald den triumphierenden Blick Tadzios über den verlegenen Aschenbach. Der Erzähler musste immer auf den rechtzeitigen Einsatz des von ihm gesprochenen Textes aufpassen. Der Regisseur beteiligte sich gar an jedem auf der Bühne stattfindenden Moment, sei es die genaue Angabe der Anzahl von Suppenlöffeln, die Aschenbach zu sich nahm, das Kommentieren von Tadzios Emotionen im Moment seines Anschauens von Aschenbach oder das Antreiben der Videotechniker, den Umschnitt schneller zu machen. Vom ersten bis zum letzten Probentag dieser Szene waren in der Gruppe kollektive affektive Erregungen und kohärente Wohlgefühle zu beobachten, die sich in der genauen Ausführung der Anweisungen des Regisseurs und der positiven Reaktion auf diese Anweisungen ausdrückte. Am Ende des dritten Schritts gilt es nun zu schlussfolgern: Durch den ereignishaften und rituellen Charakter der Interaktionen, die das ganze System jeglicher Proben prägten, stieg die emotionale Energie jedes einzelnen Beteiligten. Mit dem Begriff der emotionalen Energie bezieht sich Randall Collins auf langfristige Emotionen – das anhaltende Energieniveau, das die Betroffenen eine längere Zeit lang motiviert, sich in verschiedenen Situationen auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Die emotionale Energie der Probenbeteiligten an den drei Theatern war sehr stark, wie aus den geschilderten Probensituationen zu sehen ist: Tagaus, tagein wurden die Beteiligten immer mehr in den Probenvorgang involviert. Die wirkliche Probenarbeit endete nicht mit dem Feierabend: Sie wurde mental, emotional und technisch auch hinterher selbstständig fortgesetzt. Die Mitglieder bauten durch diverse Aktionen (gemeinsame Mittagspausen, Textdiskussionen usw.) eine emotionale Verbindung zueinander auf. Die Art, wie die im Zuge dessen erzeugten emotionalen Energien die die Inszenierungen gestaltenden Ereignisse beeinflussten, wird im nächsten Abschnitt untersucht. Dort wird darüber hinaus die Vorgehensweise bestimmt, durch die sich die Mechanismen einer Kunstfigur im Probenprozess gestalten. Zudem gehe ich darauf ein, wie die emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren hergestellt werden. Zugleich befasse ich mich mit den Kriterien zur Herstellung der Komponenten der sozialen Emotionen in den Interaktionsritualen.

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5.2  Zum Begriff der sozialen Emotion

5.2

Zum Begriff der sozialen Emotion

Emotionsforscher wie Robert A. Thamm, Theodore D. Kemper, ­Jonathan H. Turner sprechen von zahlreichen Klassifizierungen von Emotionen. Heutzutage sind insgesamt ca. 72 strukturelle Merkmale von Emotionen bekannt.102 Die Emotionsforscher mussten feststellen, dass jeder Versuch, Emotionen zu klassifizieren oder sie nach verschiedenen Merkmalen zu gruppieren, vorläufig und unvollendet bleiben würde: »The scheme outlined is obviously incomplete and pre­ liminary, but, then again, every classification system is incomplete. In order to explain anything, one must omit the pretense of explaining everything.«103 Auch ein einheitlicher Emotionsbegriff existiert nicht. Je nach Klassifikation und strukturellen Merkmalen werden Emotionen entsprechend bezeichnet: »What remains is the process of uncovering the best fit of emotion term or label for each of them.«104 Es gibt somit keine einheitlichen Kriterien, nach denen Emotionen benannt werden können. Vielmehr spielt hier die jeweilige wissenschaftliche Ausrichtung eine große Rolle. In Kapitel 4 habe ich angekündigt, den Begriff der sozialen Emotion für die Erforschung der von mir beobachteten sozialen Gruppenprozesse fruchtbar zu machen. Probenprozesse sind soziale Prozesse, die durch kollektive emotionale Ereignisse gestaltet werden. Ziel dieser kollektiven emotionalen Ereignisse (hier: der Probenprozesse) ist es, emotionale, wirkungsvolle Beziehungen zwischen den Kunstfiguren herzustellen. Dementsprechend werde ich den Mechanismus der Gestaltung einer Kunstfigur im Probenprozess als soziale Emotion kennzeichnen. Im Folgenden gilt es, diesen Terminus für die vorliegende Studie zu erschließen. In Kapitel 5.1.3 habe ich herausgestellt, was soziale Emotionen für theatrale Probenprozesse bedeuten. Soziale Emotionen sind komplexe Phänomene, die sich auf emotionale Ereignisse in Probensituationen beziehen. Diese Ereignisse sind spontan (sie entstehen im Lauf der Interaktionen und des Bühnenagierens), improvisationsbedingt bzw. improvisationsoffen (die Beteiligten befinden sich in einem Schwellenzustand und fordern ihr eigenes schöpferisches Potenzial heraus) und emotional (Energien zirkulieren im Probenraum und prägen die Interaktionen selbst). Die emotionale Energie der Interaktionsbeteiligten – die langfristige emotionale Aufladung, das Energieniveau – beeinflusst das Verhalten der Beteiligten, deren Beziehungen zueinander wie auch zum Geschehen bzw. zu den Situationen. In der Folge wirkt sich die emotionale Energie auch auf die Ereignisse der Probensi­

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

tuationen selbst aus. Alle Ereignisse, die ich anhand der Interaktionen der Künstler in Kapitel 5.1.3 geschildert habe, sind Folgen der emotionalen Transformationen, Folgen der emotionalen Einstellung des Probenteams. Entsprechend begreife ich unter sozialen Emotionen emotionale, transformierbare Ereignisse, die sich auf eine Lebenssituation (im Probenprozess: auf eine Probensituation) beziehen, zeitlich unbegrenzt bleiben sowie die Beteiligten physisch, mental und emotional in die jeweilige Situation involvieren und dadurch die Beteiligten ein Verhältnis zu dieser Situation bilden lassen. Für die sozialen Emotionen einer Probensituation gilt darüber hinaus, dass zwischen den Kunstfiguren im Lauf der Proben Beziehungen entstehen, die wiederum auf die emotionalen Ereignisse im Probenvorgang zurückzuführen sind. Das Problem der Benennung der sozialen Emotionen in den dargestellten Probensituationen lässt sich meines Erachtens dank den den inszenierten Werken zugrunde liegenden Problemen und den von den Künstlern gefundenen Bühnenentscheidungen lösen. In den Probensituationen an den drei von mir besuchten Berliner Theaterhäusern geht es um soziale Emotionen wie Liebe, Stolz, Eifersucht oder Verachtung. Diese sozialen Emotionen habe ich deshalb so bezeichnet, weil ich die Interaktionen der Künstler, ihre Beziehungen und Wechselwirkungen, ihre Behandlung der Textfassungen und viele weitere Begebenheiten in den beobachteten Probenprozessen berücksichtigt habe. Eine Analyse der sozialen Emotionen ließe sich nur dann als weitreichend bezeichnen, wenn sie anhand von Fallbeispielen aus verschiedenen, voneinander unabhängigen Theatern und Regisseuren dokumentiert und bekräftigt würde. Aus diesem Grund lege ich mit dieser Studie eine komparative Analyse von drei Probenprozessen vor. Meine Beobachterperspektive ließ mich die sozialen Emotionen dieser Prozesse so klassifizieren, wie die emotionalen Ereignisse der Probensituationen es verlangten. Jegliche Klassifikation von Emotionen ist indes nicht nur methodologisch, sondern auch historisch bedingt. Die Geschichte der Schauspielkunst kennt zahlreiche Versuche, Emotionen für methodologische Zwecke zu klassifizieren, bzw. sie kennt diverse Beispiele für die Verwendung von Emotionen zur Entwicklung etwaiger Regie- und Schauspielmethoden. Diese historische Erfahrung für die weitere Entwicklung der Regie- und Schauspielmethoden, der Probenkunst und der Soziologie der Emotionen zu untersuchen, gilt als Desiderat zeitgenössischer theaterwissenschaftlicher Forschung sowie der Soziologie der Emotionen. Im nächsten Abschnitt wird der Geschichte der Emotionsforschung im Theater von der Position der Schauspielerausbildung und der Probengestaltung her nachgegangen.

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5.3  Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im Regietheater

Es wird erschlossen, wie ein historischer Überblick über die Emotionsforschung im Theater für die Soziologie der Emotionen von Nutzen ist. Es eröffnen sich auf diesem Weg wertvolle Perspektiven der Emotionsforschung für das Theater des 21. Jahrhunderts.

5.3 Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im ­Regietheater

Die Versuche, Emotionen für die Schauspielmethoden zu klassifizieren und ihre Funktion für die Gestaltung der Rollenfigur zu bestimmen, gehen bis ins 18. Jahrhundert zurück. 1727 verfasste der Jesuitenpater Franciscus Lang eine Abhandlung über die Schauspielkunst mit dem Titel Dissertatio de actione scenica. Die Schauspielkunst begreift er darin als »schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen«105. Ein wesentlicher Teil seines Werks befasst sich mit der »Beherrschung des Körpers selbst« bzw. mit »[den] Bewegungen und Stellungen, […] [der] Veränderung der Stimme, welche sie nach den Gesetzen der Kunst und Natur vereint, so daß sie den Zuschauern Genuß verschafft und daher wirksamer zum Affekt führt«106. Erörtert werden in diesem Zusammenhang etliche Regeln für einen »kunstvollen« Einsatz der Körperglieder, Gesten und Gebärden. Um z. B. Trauer auf der Bühne »richtig« darzustellen, solle der Schauspieler »mehr agieren als sprechen«107. Es werden ihm Körperpositionen und -bewegungen empfohlen, die den Affekt der Trauer »am besten« auszudrücken erlauben: In heftigem Schmerz oder in der Trauer ist es nicht unangebracht, ja es verdient sogar Lob und erweckt Wohlgefallen, wenn man, entweder mit beiden vorgeschlagenen Händen oder indem der Kopf in den Armen verborgen wird, gelegentlich das ganze Gesicht eine Zeitlang völlig verdeckt und sich dabei an eine Kulisse lehnt; oder man kann auch in dieser Stellung einige Worte, welche die Zuhörer nicht zu verstehen brauchen, in den Ellenbogen oder in den Busen flüstern, doch gerade aus diesem Flüstern, das mehr als die Worte selbst besagt, wird die Gewalt des Schmerzes offenbar.108 Ein guter Schauspieler soll also in der »Anwendung angemessener paralinguistischer und kinesischer – mimischer, gestischer und proxemischer – Zeichen«109 so gut geübt sein, dass er diese einstudierten

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

Zeichen auf der Bühne zum Ausdruck des einen oder anderen Affekts geschickt verwenden kann, um so auf die Sinne des Zuschauers einzuwirken und in diesem selbst etwaige Affekte auszulösen. Lang selbst bestätigt und legitimiert die Anwendung der körperlichen Zeichen: »Es ist nämlich leichter, etwas durch ein Zeichen anzudeuten, als es mit Worten auszusprechen, weil hier der Geist mehr leisten muß als dort.«110 Lang gibt dem Spiel – und somit der Gebärde, der Geste und der Körperhaltung – Vorrang vor der Rede: Ein Grundsatz ist folgender: das Spiel soll der Rede vorangehen. […] Dafür ein Beispiel. Einer begehrt von einem anderen, was dieser nicht gewähren will oder kann: so lasse dieser die Ablehnung zuerst durch seine Gebärden erkennen, ehe er sie mit Worten ausdrückt, und ebenso in anderen Fällen.111 Paralinguistische Zeichen sind somit im Verhältnis zu linguistischen Zeichen primär (dieser Sachverhalt trifft übrigens auch aus heutiger Sicht zu112): Der pragmatische Sinn einer Handlung wird oft nicht durch sprachliche, sondern durch mimische, gestische, intonatorische, räumliche oder andere Ausdrucksmittel hervorgebracht. Den »Affekten« selbst widmet Lang nur vier kurze Seiten seiner Schrift. Er behandelt zum größten Teil den Affekt der Trauer. Bei den Affekten der Freude, der Liebe, der Sehnsucht und »ähnlichen Affekten« identifiziert er »Redseligkeit, Heiterkeit, Küsse« und »leichte Bewegungen«, »wozu es keiner besonderen Kunst bedarf«113. Den Affekt des Zorns unterteilt Lang in »gewöhnlichen Zorn« und in den Zorn, der »das Maß überschreitet und in Raserei ausrastet«.114 Im letzteren Fall »hält sich freilich auch die Darstellung an kein Maß. […] Dennoch möge der kluge Schauspieler sich so betragen, daß er bei allem, insbesondere, wenn er vornehme Personen darstellt, die Schicklichkeit nicht vergesse, ohne welche die Bühne ein Narrenhaus, kein Schauplatz der Klugheit wäre.«115 Als »Schauplatz der Klugheit« hatte die Barockbühne die Aufgabe, nicht »die Illusion eines tatsächlichen Geschehens hervorzurufen, sondern […] dem Zuschauer eine exemplarische Figur zu präsentieren«116. Aber was galt zur damaligen Zeit als schauspielerisches »Exempel«? Nach welchen Kriterien bildeten sich die Schauspieler aus? Soweit die bisherigen Studien über das Theater des 18. Jahrhunderts belegen, ist Langs in Latein verfasste Abhandlung über die Schauspielkunst »keinem der damaligen Berufsschauspieler bekannt gewesen«117. Der Theaterhistoriker Wilfried Passow führt aus, dass »die aus der Praxis und für die Praxis des Schultheaters geschriebene Schrift

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5.3  Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im Regietheater

für das Berufstheater wirkungslos [blieb]«118. Dass die Dissertatio »die Bühnenpraxis des Jesuitenordens zu reformieren suchte«119, bestätigt auch der Übersetzer von Langs Schrift ins Deutsche, Alexander Rudin, im Nachwort zu seiner Übersetzung. Im Jesuitenkolleg existierte nämlich die Praxis theatraler Darbietungen (z. B. Herbstspiele, Deklamationen, Promulgationsstücke), welche die Schüler der Jesuitenkirche im Lauf des Schuljahrs betreiben sollten.120 Deswegen richtet Pater Franciscus Lang seine Schauspiellehre, wie er selbst berichtet, hauptsächlich »einer gebildeten Jugend zu Gefallen«121, womit er wohl die Schüler des Jesuitenkollegs meinte. Neben den Schultheatern, die meistens im kirchlichen Milieu existierten, gab es auch Wandertruppen, die die Basis der sogenannten Laienbühnen bildeten: Deutsches Theater spielten neben den erwähnten Schultheatern die Wanderbühnen. Ein Zusammenwirken von Autoren und Darstellern […] gab es in Deutschland nur bei den Laienbühnen; Langs Dissertatio ist ein Zeugnis dafür. Den frühen deutschen Wandertruppen waren die Stücke, soweit vorhanden, lediglich eine Spielgrundlage. Daß es einen Sinn zu begreifen und zu vermitteln gab, […] dürfte wohl keinem deutschen Prinzipale und Schauspieler bewußt gewesen sein. Es ging ihnen nicht darum, eine Rolle der Dichtung […] angemessen darzustellen, und so bedurfte es auch keiner »Personenregie«.122 Und so ist hiermit eine Andeutung auf die Frage gegeben, wie sich die Schauspieler im frühen 18. Jahrhundert ausbildeten. »[D]as bestimmte Element des Theaters [war] das Spielen aus dem Stegreif.«123 Wie ­Passow weiter erörtert, »[waren] die Schauspieler die alleinigen ­Herren der Bühne«.124 Dabei lehnt sich Passow an die Quellenstudien von Sybille Maurer-Schmoock und die Memoiren des zeitgenössischen Schauspielers Johann Heinrich Müller an. Maurer-Schmoock erkennt, dass neben dem virtuosen Einsatz improvisatorischer Praktiken (des Stegreifspiels) »zum Gelingen des Ganzen eine geradezu atmosphärische Kontaktsensibilität der Mitspieler untereinander erforderlich [war]«.125 Über die Kunst des Stegreifspiels schreibt Johann Heinrich Müller gegen Ende der 1770er Jahre auf Basis eigener Erfahrungen: […] eine Kunst, […] die ungemein viel zum richtigen Gebärdenspiele beiträgt, Gegenwart des Geistes, Aufmerksamkeit verlangt und einen wahren, nicht deklamatorischen, sondern aus der

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Natur gehobenen Vortrag bewirkt. […] [Diese] Kunst [ist] nicht so leicht, als sie zu sein scheint, und […] rastlose Mühe, Studium und Übungen fordert.126 Woraus diese Übungen des Stegreifspiels bestanden, ist laut Passow nicht überliefert. Dene Barnett identifiziert indes in der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts ein »zeichenhaftes Verhalten auf Seiten der Bühne«127, worüber er in seiner grundlegenden Studie The Art of Gesture: The Practices and Principles of 18th Century Acting von 1987 schreibt. Barnett hat dieses zeichenhafte Verhalten durch die Schauspieler mit Blick auf die Körpersprache, »wie sie von Schauspielern und Sängern sowohl in der Tragödie als auch in der ernsten Oper des 18. Jahrhunderts benutzt wurde, sowie die Quellen, die der historiographischen Forschung im Hinblick auf diese Sprache zugrundeliegen«128, eingehend studiert. Barnett diagnostiziert im Zuge dessen eine enge Verbindung zwischen der Kunst der Gebärde und der klassischen Rhetorik129: Die Quellen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts lassen erkennen, daß die von Schauspielern eingesetzte Kunst der Gebärde der der Redner sehr nahe kam. […] Ob im Gerichtssaal, im Parlament, ob zu feierlichen Anlässen in Universitäten, ob im Salon oder auf dem Schlachtfeld, ob auf der Kanzel oder der Bühne: ohne Rhetorik, ohne den die Rede akkompagnierenden Gestus war öffentliches Leben undenkbar.130 Wie genau sich die Beherrschung der Kunst der Gebärde vollzog, analysierte Barnett im Verhältnis zwischen der Schauspielkunst und den bildenden Künsten, indem er die Schauspielbücher, Schriften der Priester und Prediger einerseits und Gemälde und Plastiken andererseits studierte und detailliert verglich: Schauspieler, Sänger und Redner (einschließlich der Kanzelredner) wurden dazu angehalten, Figuren auf Gemälden, Stichen oder auch Plastiken, als Vorbilder guten Stils in Gestik, Körperund Ausdruckshaltung zu sammeln, zu studieren, zu skizzieren und nachzuahmen. Insbesondere zeitgenössischen Berichten ist zu entnehmen, daß Schauspieler und Sänger gelegentlich eine bestimmte Haltung oder eine Geste aus einem Gemälde oder einer Plastik zum Vorbild nahmen, studierten und übten, um sie in ihre eigene Darstellung auf der Bühne ein[zu]beziehen.131

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Daraus ist für die Schauspielerausbildung zu schließen, dass sich die Schauspieler die Kunst des zeichenhaften Verhaltens (die die Kunst der Gebärden und der Körperhaltung auf der Bühne einbezog) ausschließlich über die Selbstausbildung aneignen konnten. Im frühen 18. Jahrhundert waren die am weitesten verbreiteten theatralen »Verbände« in Deutschland die Wandertruppen – die Vertreter des bürgerlichen Volkstheaters (die aber auch oft an Hoftheatern132 gastierten) – und Schulbühnen (Ordenstheatern). Während bei ersteren das Stegreifspiel als überwiegende Spieltechnik galt und deswegen keine Notwendigkeit für eine »leitende« Instanz bestand (die heute durch den Regisseur vertreten ist), standen die Schüler eines Jesuitentheaters, was auch Langs Schrift zu entnehmen ist, unter der Leitung der sogenannten Choragen. Vom Choragen wurden die Fähigkeiten eines »Dichters und Lateiners«, eines »vorzüglichen Moralisten«, eines »ausgezeichneten Schauspielers« sowie »eine lebhafte Phantasie oder Vorstellungskraft«133 erwartet. Es lässt sich annehmen, dass das Schultheater des frühen 18. Jahrhunderts im Vergleich zu den Wanderbühnen über ein viel geregelteres »Theatersystem« verfügte und provisorisch sogar als Vorstufe des Regietheaters zu bezeichnen wäre. Es steht fest, dass Langs Vorschriften an die Schauspieler und an die »Choragen«, seine Lehre über die Affekte und über den akribischen Körpereinsatz der Darsteller nur in den regelbefolgenden Schul-, Ordens- und Hoftheatern (für die diese Abhandlung eigentlich konzipiert wurde) verwendet werden konnten. Die in improvisatorischen Techniken geübten Wanderspieler hätten »mit einem deutlichen Übergewicht zugunsten der regeldurchbrechenden Gestik«134 die geregelte Lang’sche Schauspiellehre nicht akzeptiert, weil ihre Aufführungen ausschließlich durch ihre eigene Improvisationsfähigkeit bedingt waren und von keinem »Regisseur« abhingen.135 Erst später, im Vorfeld der allmählichen Etablierung des deutschen Nationaltheaters in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,136 zeichnen sich Tendenzen ab, die eine gründliche Reform der Schauspieltechniken und Schauspielkunst im Allgemeinen verlangen. Die Schauspieler blieben nach wie vor der Selbstausbildung überlassen, aber die Zeit der Aufklärung hat für die Verbreitung und Popularisierung der fortschrittlichen Affektenlehre, Schriften über die »Zustände der Seele«, Gebärden, Gesten, Bewegungen auf der Bühne gesorgt, sodass die Schauspieler sich nach und nach an die Regeln des Theaters der Aufklärung zu halten begannen. Ein wichtiger Wendepunkt, der die deutschen Schauspieler zur Reformierung ihrer Schauspieltechniken bewog, hängt mit der scharfen Kritik Gotthold Ephraim Lessings am »französierenden« Theater

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zusammen. Lessing kritisierte vor allem den Theaterreformer Johann Christoph Gottsched, der das deutsche Theater nach französischem Vorbild aufbauen wollte: […] er ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben,137 welches selbst die größte Harlekinade war, die jemals gespielt worden; kurz, er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines neuen sein. Und was für eines neuen? Eines französierenden, ohne zu untersuchen, ob dieses französierende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei oder nicht.138 Vor allem der Spielplan sollte durch eine Verringerung des Anteils von französischen bzw. »französierenden« Stücken verändert werden. Im Gegenzug waren Lessing Stücke »nach dem Geschmack der Deutschen«139 sehr willkommen. Daneben entstand eine gesetzmäßige Notwendigkeit, auch die Schauspielkunst grundlegend zu verändern. Solche Initiativen gingen vor allem von den Schauspielern selbst aus. So gründete der berühmte deutsche Schauspieler Conrad Ekhof mit den Mitgliedern der Schönemannschen Gesellschaft 1753 die erste deutsche Schauspielerakademie in Schwerin (die aber nur ein Jahr lang bestand). Die Schauspielkunst selbst bestimmte Ekhof wie folgt: »Die Schauspielkunst ist: durch Kunst der Natur nachahmen, und ihr so nahe kommen, daß Wahrscheinlichkeiten für Wahrheiten angenommen werden müssen oder geschehene Dinge so natürlich wieder vorstellen, als wenn sie jetzt erst geschehen.«140 Ähnliche Forderungen an die zu verbessernde Schauspielkunst stellte auch Lessing. Insbesondere in der Hamburgischen Dramaturgie, der in 104 Stücke eingeteilten theoretischen Lehre über die Schauspielkunst, behandelt er die zur damaligen Zeit bestehenden Probleme der zu entwickelnden Schauspielkunst in Deutschland. Drehpunkte dieser Schrift sind einerseits seine Beobachtungen der gespielten Stücke, die dort von den Schauspielern eingesetzten Ausdrucksmittel sowie die Einwirkung der Spieler auf die Zuschauer. Andererseits ist es seine theoretische Auseinandersetzung mit den bereits bestehenden (und überwiegend französischen) Schriften über die theatrale Kunst sowie mit den zu etablierenden allgemeinen Regeln der Schauspielkunst, »deren [er selbst] kaum zwei oder drei [wüßte]«141. Ausgerechnet diese kritische Auseinandersetzung mit den französischen Aufklärern bildet die Grundlage für eine Akzentverschiebung von den in der französischen Diskussion postulierten Vorstellungen von »Leidenschaften« und

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»­Empfindungen« eines Schauspielers auf »die Zustände der Seele«, für die deutsche Gelehrte der Aufklärung (von Conrad Ekhof bis Johann Jakob Engel) in ihren Überlegungen zur Schauspielkunst plädierten. Während die französische Affektlehre die Leidenschaften und Empfindungen, wie Fischer-Lichte zu Recht vermerkt, »als überpersönliche Kräfte hypostasier[en], […] weist der Begriff des ›Zustandes‹ oder der ›Beschaffenheit‹ der Seele eher auf die Einheit der einzelnen Person hin, welche diese Leidenschaften empfindet – sie sind als Modifikationen ihrer Seele bestimmt«142. Der Schauspieler wird demzufolge als einziger Verantwortlicher für die körperliche Hervorbringung der »Modifikationen der Seele« und somit der Emotionen erklärt. Im dritten Stück der Hamburgischen Dramaturgie formuliert Lessing zur Anleitung für die theatrale Darstellung von Emotionen ein »Gesetz«143, das auf eine Wechselwirkung zwischen der Beobachtung und Nachahmung, dem Ausdruck durch »körperliche Veränderungen« und den »Modifikationen der Seele« hinweist. Als Folge dieser Wechselwirkung gelangt der Schauspieler zu einer Art von Empfindung144 […], die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben.145 Auch diese Art Empfindung (die Lessing der »ursprünglichen Empfindung«146 gegenüberstellt) kann in den Körper des Schauspielers zurückwirken, also »körperliche Veränderungen« in ihm hervorrufen, die dem Zuschauer sichtbar werden. Der Schauspieler, der »lange genug nichts als nachgeäffet hat«, sammelt sich durch die Beobachtung »eine Menge kleiner Regeln, nach denen er selbst zu handeln anfängt«147. Wenn solch ein Schauspieler z. B. die allergröbsten Äußerungen des Zornes, einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat, und getreu nachzumachen weiß – den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den rauhen bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne usw. – wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches

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wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte.148 So führt Lessing anhand solcher Schilderungen und Beispiele die »Grundsätze von der Empfindung überhaupt«149 ein: »die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, [werden] hinwiederum durch diese körperlichen Veränderungen bewirket«150. Nach dem Schema Körperliche Veränderungen – Modifikationen der Seele – Empfindung – Rückwirkung in den Körper soll Lessing zufolge also jeder Schauspieler handeln, der nicht »von ursprünglicher ­Empfindung« ist. Ein weiteres Problem, das Lessing beschäftigt, ist die Ausarbeitung der allgemeinen theatralen Zeichen der Schau­ spielkunst. Bereits im Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und ­Poesie bezeichnet er die Schönheit und die Wahrheit als Hauptkriterien, nach denen sich die bildenden Künste bzw. die Dichtung ausrichten sollen.151 Fischer-Lichte führt dazu in ihrer Semiotik des Theaters aus: Denn wenn die Kunst Körper nachahmt, ist nach Lessing »die Schönheit ihr höchstes Gesetz«, wenn sie aber Handlungen als Gegenstände ihrer Nachahmungen auswählt, ist »Wahrheit und Ausdruck … ihr erstes Gesetz«.152 Für die Schauspielkunst haben nach Lessing »die Bestimmungen beider Kunstgattungen Gültigkeit«: »Das Ideal der Schauspielkunst stellen für ihn also kinesische (und paralinguistische) Zeichen dar, die sowohl vollkommen wahr als auch vollkommen schön sind.«153 Als wichtigste Aufgabe einer zu etablierenden Schauspielkunst sieht Lessing die Ausarbeitung und Ausbildung der »natürlichen kinesischen Sprache« der Schauspieler: Aber »in der Form, in der er sich ihrer auf der Bühne bedienen muß, [kann er sie (d. h.: die Sprache)] nicht in der Wirklichkeit auffinden«.154 Die Frage, auf welche Weise sich die Schauspieler das Wissen über die »wahrhaften« und »schönen« Zeichen erwerben sollen, lässt Lessing offen. Nach der Analyse weiterer Lessing’scher Schriften kommt Fischer-Lichte allerdings zu dem Schluss, dass es für Lessing »durchaus möglich [ist], aus den beobachtbaren

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5.3  Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im Regietheater

›besonderen Arten‹, in denen sich in der empirischen Wirklichkeit die unterschiedlichen Fähigkeiten, Gesinnungen und Leidenschaften ausdrücken, eine ›allgemeine Art zusammenzusetzen‹, in der sie auf das ›allervollkommenste‹ ausgedrückt werden«155. Die einzige unbestrittene Beziehung zwischen den »wahrhaften« Zeichen (die den vom Schauspieler ausgeführten Gesten analog sind) und den inneren Vorgängen des Schauspielers besteht, wie Fischer-Lichte ausführt, in ihrer Ähnlichkeit: Da die Gesten, welche der Schauspieler ausführt, nur natürliche Zeichen sein sollen, folgt, daß die Gesten zu den Begriffen, die sie ausdrücken, ebenfalls eine Beziehung der Ähnlichkeit haben müssen. Auf diese Ähnlichkeit spielt bereits Diderot an, wenn er von der »Bildhaftigkeit« der gestischen Sprache der Taubstummen spricht. Kinesische Zeichen können also nicht nur inneren Zuständen der Seele, sondern auch Begriffen analog sein. Auch in diesem Fall besteht ihre »Wahrheit« in der größtmöglichen Ähnlichkeit.156 Die Schönheit der ausgeführten Gesten kann nach Lessing nur durch ständige Übung erzielt werden. Aber auf konkretere Richtlinien für diese Leistung kommt Lessing nicht zu sprechen. Er formuliert lediglich – wenn auch nicht ohne Bedauern und ohne Verdruss –, dass es keine allgemeinen Regeln gibt, nach denen sich die Schauspieler bei der Übung richten könnten: Allgemeines Geschwätze darüber hat man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präzision abgefaßte Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besonderen Falle zu bestimmen sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei.157 Eine genauere und systematischere Klassifikation der Gesten und der ihnen entsprechenden inneren Zustände der Seele sowie eine präzisere Formulierung der Methoden der Hervorbringung dieser Gesten wurde erst zwei Jahrzehnte später nach Lessing von Johann Jakob Engel in seiner Schrift Ideen zu einer Mimik158 vorgebracht. Engel unterteilt die Gesten in erster Linie nach ihrer Funktion: in die bedeutenden und in die hinweisenden.159 Die hinweisenden Gebärden soll der Schauspieler nur einsetzen, wenn er den Text »richtig« verstanden hat: Er soll »mit seinen Bewegungen nur die wichtigern Stellen unterstützen,

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soll die auffallendsten Bewegungen, wie die Erhebung des Fingers, das weiteste Ausgreifen der Hand, usw. nur für die bedeutendsten Gedanken sparen«160. Die bedeutenden Gebärden stehen im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Engel unterteilt sie in malende und ausdrückende Gebärden. Malende Gesten sind »vor allem geeignet, den menschlichen Körper und Handlungen nachzuahmen. Ihre Bedeutungen kommen ihnen kraft ihrer Ähnlichkeit mit dem nachgeahmten Gegenstand zu.«161 »Die Bewegungen der Thiere, als z. B. eines stolzen sich brüstenden Rosses, sind schon nachahmbarer, wie uns das die Knaben in ihren Spielen zeigen; aber am allernachahmbarsten sind die Gestalten und Veränderungen menschlicher Körper.«162 In ausdrückenden Gesten gliedert Engel drei Typen (physiologische, absichtliche und analoge) von Gebärden heraus und unterstreicht ihre enge Verbindung mit den inneren Zuständen der Seele, weil nur durch eine Beziehung zwischen dem Körper und der Seele innere Zustände und Leidenschaften sichtbar würden: »Der Sitz des Gebehrdenspiels ist nicht dieses und jenes Glied, dieser oder jener Theil des Körpers insonderheit. Die Seele hat über alle Muskeln desselben Gewalt, und wirkt, bei vielen ihrer Bewegungen und Leidenschaften, in alle.«163 Mit den physiologischen Gebärden begreift Engel alle »unwillkürlichen Erscheinungen, die zwar freilich physische Wirkungen der innern Gemüthsbewegungen sind, die wir aber in der That nur als Zeichen begreifen; als Zeichen, welche die Natur durch geheimnisvolle Bande mit den innern Leidenschaften verknüpft hat.«164 Dies betrifft etwa Tränen, das Erröten oder das Erblassen. Diese unwillkürlichen Gebärden »wird man daher vom Schauspieler nicht erwarten können«165. Im Gegenteil: Der Unterschied der absichtlichen Gebärden besteht gerade darin, dass sie willkürlich hervorgebracht werden, »um den Trieb der Seele zu befriedigen – nicht jedoch, um diesen Trieb selbst auszudrücken«166: […] es sind freiwillige äußere Handlungen, aus welchen die Bewegungen, Triebe und Leidenschaften der Seele, zu deren Befriedigung sie als ein Mittel dienen, ersichtlich sind. Dahin gehören z. B. das Hinneigen gegen den zu beachtenden Gegenstand, der feste angreifende Stand des Zorns, die ausgestreckten Arme der Liebe, die vorgeschlagenen Hände der Furcht und des ­Schreckens.167 Wahre »Triebe und Leidenschaften der Seele« sind daher nur aus dem gestischen Ausdruck ersichtlich. Der Ausdruck selbst ist die »unwillkürliche Folge«168 der wahren Triebe des Menschen.

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5.3  Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im Regietheater

Abbildung 4: Klassifikation der Zustände der menschlichen Seele nach J. J. Engel. Quelle: Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 165

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Die analogen Gebärden haben ihren Grund »theils […] in dem Triebe der Seele, unsinnliche Ideen auf sinnliche zurückzuführen […]; theils haben sie ihren Grund in dem natürlichen Einfluß der Ideen auf einander, in der Communication […] zwischen den beiden Regionen der klaren und der dunklen Ideen, die einander wechselseitig zu lenken und zu modificiren pflegen.«169 Solche Gebärden »sind nachahmend; nicht das Objekt des Denkens, aber die Fassung, die Wirkungen, die Veränderungen der Seele malend […]«.170 Die Methoden, die Engel den Schauspielern als angemessene Studienmuster zur besseren bzw. vollkommeneren Ausübung von Gesten auf der Bühne empfiehlt, beziehen sich nicht auf die Empfindungen (denn »[w]ahre Empfindungen bemächtigen sich des ganzen Herzens zu leicht, und hemmen oder verfälschen alsdann den Ausdruck, den sie, der Absicht nach, nur verstärken sollten«171), sondern auf die Beobachtung. Und zwar nicht auf die Beobachtung in der Natur (weil die Natur »schwächt oder übertreibt«172), sondern auf die Beobachtung »de[r] Mensch[en] ohne Sitten«: »Der Pöbel, das Kind, der Wilde, kurz der Mensch ohne Sitten, ist der wahre Gegenstand, an dem man den Ausdruck der Leidenschaften studieren muß, so lange man noch nicht auf seine Schönheit, sondern bloß auf seine Kraft, seine Richtigkeit sieht.«173 So fordert auch Engel (wie Lessing) von den Schauspielern die »Wahrheit« und »Schönheit« der theatralischen Zeichen auf der Bühne. Die Art und Weise, wie der Schauspieler diese wahre und schöne Hervorbringung der ausdrückenden Gesten erzielen und durchsetzen soll, zeigt einerseits Fischer-Lichte in der nach Engels Klassifikation der Zustände der menschlichen Seele zusammengestellten Tabelle (S. 255). (Zu betonen ist, dass Engel sich auf das in der Aufklärung fest verankerte Postulat der Analogiebildung stützte, und zwar insofern, als »die körperlichen Veränderungen« laut seinen Darlegungen mit den »seelischen Modifikationen analog verlaufen«.174) Andererseits stellt Engel eine detaillierte Beschreibung der menschlichen Seelenzustände zusammen. In dieser Klassifikation entspricht jedem einfachen Seelenzustand ein körperlicher Ausdruck auf der Bühne. So gehört z. B. die Freude als Zustand der Seele nach Engels Klassifikation den »angenehmen Affekten des Anschauens über sich selbst« zu (Abb. 4). Die Seele »[schließt] dem willkommenen Besuch angenehmer Ideen gleichsam alle Zugänge auf […]«.175 Analog zu diesem seelischen Zustand werden nach Engel folgende Gebärden hervorgebracht:

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Das Gesicht ist in allen seinen Theilen offen und frei, die Stirne heiter und ausgeglättet; das Haupt schwillt sanft aus den Schultern empor; in dem sprechenden Auge sieht man den ganzen Rand des Lichvollern Apfels; […] der Körper ist von den Händen unbedeckt, der Gang sich hebend und munter; Leichtigkeit, Geschmeidigkeit, Gebundenheit, mit Einem Worte: Grazie herrscht in den Bewegungen aller Glieder.176

Abbildung 5: Die Freude. Quelle: Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 236

Weiterhin soll der Schauspieler über die Fähigkeit verfügen, zu unterscheiden, ob es z. B. um die Freude über »die Feinheit der Art, wie man seine Absichten erreicht hat«, geht: Dann »spielt auch da noch um Lippen und Wangen ein flüchtiges Lächeln; zugleich verengt sich das eine Auge, der Blick wird geschärft, der Gang ist schleichend«177:

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Abbildung 6: Die Freude über die Feinheit der Art, wie man seine Absichten erreicht hat. Quelle: Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 251

Ist es aber Freude an der eigenen Schönheit, »ist es Anstand, Leichtigkeit, Grazie der Bewegungen, die man an sich bewundert: so erhält sich die lächelnde, süße Mine des Vergnügens, das Schöne, Muntre, Reizvolle des Spiels; man hüpft, trillert, singt.«178 Um solche feinen Unterschiede in den seelischen Vorgängen zunächst identifizieren zu können und sie dann auf der Bühne zu realisieren, soll der Schauspieler erstens bereits über entsprechende psychologische Kenntnisse verfügen und zweitens ständig an der Vervollkommnung der ausdrückenden Gesten bzw. des Zeichenrepertoires arbeiten. Jeder Schauspieler soll auch imstande sein, komplexere (zusammengesetzte) Zustände der Seele (auf die Engel kraft des Fehlens »einer adäquaten Wissenschaftssprache«179 zur damaligen Zeit nicht eingehen konnte) wahr, schön und vollkommen auf der Bühne auszudrücken. So zeugt auch Engels Schrift von der Notwendigkeit des Selbststudiums, dem der Schauspieler außerhalb des Theaters wohl seine ganze Zeit widmen musste, um sich mit solch einem schwierigen und äußerst wenig

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erforschten Studiengegenstand (die psychologischen Zustände des Menschen) vertraut zu machen. Fünf Jahre nach der Veröffentlichung von Engels Ideen beginnt mit der Ernennung Johann Wolfgang von Goethes zum Leiter des Weimarer Hoftheaters 1791 eine neue Geschichte des deutschen Theaters. Goethe wird als Reformator des Theaters in Deutschland, als einer der »Erfinder des probenintensiven Regietheaters«180 und Grundsteinleger der Schauspielerausbildung gerühmt. Im Folgenden gilt es, auf die Goethe zugeschriebenen Attribute konsequent einzugehen. In welchen Sparten des Theaters war Goethe Reformator? Annemarie Matzke lotet in ihrer mehrmals erwähnten Habilitationsschrift den Prozess der Herausbildung des professionellen künstlerischen Theaters (unter Goethes Leitung) aus dem Laientheater (unter dem die künstlerische Praxis der Wandertruppen begriffen wird) aus. Diesem Herausbildungsprozess widmet sie ein ganzes Kapitel ihrer Untersuchung. Die Institutionalisierung des Theaters, die Einbettung des Schauspielers, der Theatermitarbeiter und der Theaterkunst als Ganzes in das Regel-, Arbeits-, Wirtschafts- und Rechtssystem181 sind daher Meilensteine für die Formierung des Berufstheaters in Deutschland. Der Begriff des Dilettantismus, der von Goethe und Schiller in Opposition zum professionellen Theater eingeführt wurde, eröffnet Perspektiven auf die von beiden Klassikern Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts reformierten Bereiche der Theaterpraxis. Wenn man die von Matzke identifizierten Eigenschaften eines Dilettanten verallgemeinert, dann zeichnet dieser sich dadurch aus, dass er die Probe dazu nutzt, um seine künstlerischen Fähigkeiten zu erweitern und zu verbessern, während der professionelle Schauspieler, dem die »erwerbsmäßige Ausübung künstlerischen Tuns«182 durch die Theaterleitung erlaubt ist, seine künstlerischen Leistungen im ständigen, anstrengenden Studium vor der Probe (also auch im Alltag) vervollkommnet und die Probe selbst nur als eine notwendige Zusammenführung von sämtlichen Szenen, Elementen, Techniken und Auftritten ansieht.183 »Planbarkeit und Steuerung«184 sind daher die wichtigsten Kriterien des professionellen Theaters. Und der Dilettant ist jemand, der diese Planbarkeit und Steuerung des künstlerischen Prozesses behindert, sei es »die Praxis des Extemporierens – der Schauspieler erfindet, arrangiert oder verändert seine Darstellung (und seinen Text) je nach Reaktionen des Publikums«185, oder aber indem er seine Wahrnehmung der Probe und des künstlerischen Schaffens als die eines Spiels begreift.186 Der professionelle Schauspieler nutzt für seine Ausbildung nicht die Probe, in der normalerweise nur das »Zusammenflicken« der Bestandteile

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eines Stücks stattfinden soll, sondern er nutzt jeden freien Moment seines gewöhnlichen Lebens, um seine beruflichen Fertigkeiten auszubilden. Diese und viele andere Anweisungen und Vorschriften verankert Goethe in seiner 1803 erschienenen Schrift Regeln für Schauspieler, die ihn zum Grundsteinleger der Schauspielerausbildung zu erheben vermochte. Die Entstehungsgeschichte dieser Postulate geht auf den sogenannten Schauspielerunterricht zurück, über den Goethe Folgendes berichtet: Es meldeten sich, mit entschiedener Neigung für die Bühne, zwei junge Männer, die sich Wolff und Grüner nannten […]. Nach einiger Prüfung fand ich bald daß beide dem Theater zur besonderen Zierde gereichen würden und daß, bei unserer schon wohlbestellten Bühne, ein paar frische Subjekte von diesem Wert sich schnell heranbilden würden. Ich beschloß sie fest zu halten, und weil ich eben Zeit hatte, auch einer heitern Ruhe genoß, begann ich mit ihnen gründliche Didaskalien, indem ich auch mir die Kunst aus ihren einfachsten Elementen entwickelte und an den Fortschritten beider Lehrlinge mich nach und nach emporstudierte, so daß ich selbst klärer über ein Geschäft ward, dem ich mich bisher instinktmäßig hingegeben hatte. Die Grammatik, die ich mir ausbildete, verfolgte ich nachher mit mehreren jungen Schauspielern, einiges davon ist schriftlich übrig geblieben.187 In diesem Auszug bekennt Goethe seine zuvor nur »instinktmäßige« Beschäftigung mit dem Problem der Schauspielerausbildung. Einiges, was »davon […] schriftlich übrig geblieben [ist]«, ist später in die Regeln für Schauspieler eingegangen: »Die Regeln werden von Goethe diktiert und von beiden Schauspielern individuell mitgeschrieben. Aus diesen Mitschriften entsteht die spätere Form, die erst posthum veröffentlicht wird, als festes Regelwerk durch Paragraphen gegliedert.«188 Daraus ist zu schließen, dass die Regeln ursprünglich nicht geplant waren, sondern aus einer spontanen (also dilettantischen!) künstlerischen Praxis heraus entstanden, an der sich Goethe zum Teil selbst als Schauspiellehrling beteiligte (»indem ich auch mir die Kunst aus ihren einfachsten Elementen entwickelte und an den Fortschritten beider Lehrlinge mich nach und nach emporstudierte«). Aber es ist durchaus erklärbar, dass Goethe für seine »Experimentierbühne«189 ein entsprechendes »Schauspielausbildungsprogramm« ausarbeiten ließ (vermag dieses auch relativ kurz verfasst und sachlich zusammengestellt zu sein): Solch eine Praxis erwies sich im Lauf der weiteren

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Geschichte der Schauspielerausbildung als äußerst produktiv. Denn knapp anderthalb Jahrhunderte später erarbeitete auch Konstantin Stanislawski sein Schauspielersystem erst dann, als die ersten Studios des Moskauer Künstlertheaters gegründet worden waren. In Regeln für Schauspieler190 formuliert Goethe exakte Anweisungen (an manchen Stellen sogar mit konkreten Beispielen aus der Praxis) über solch verschiedene Sparten wie Dialekt und Aussprache, Rezitation und Deklamation, Rhythmus, Körperhaltung und Gebärdenspiel, Stellung und Gruppierung auf der Bühne sowie das Betragen des Schauspielers während der Probe und dessen Haltung im gewöhnlichen Leben. Im vorliegenden Kapitel interessiert mich indes in erster Linie Goethes Verhalten zu den Emotionen auf der Bühne, zu der Rolle, die er ihnen in seinen Regeln zuschreibt. So vermeide man z. B. beim Auswendiglernen »alle Leidenschaft, alle Deklamation, alles Spiel der Einbildungskraft; dagegen bemühe man sich nur, richtig zu lesen und darnach genau zu lernen […]«.191 Goethe plädiert hier dafür, dass in das rein technische Vorbereiten einer Rolle – das Auswendiglernen – keine individuellen Empfindungen investiert werden sollen. Er teilt daher die textuelle Vorbereitung der Rolle in die technische und in die künstlerische Vorbereitung ein. Die technische Vorbereitung des Textes – das Auswendiglernen – soll frei von jeglichen Gefühlen bleiben, während sich der Schauspieler bei der künstlerischen Vorbereitung seiner Textrolle »mit der Empfindung und dem Gefühl«, »mit Energie und dem lebendigsten Ausdruck«192 befassen soll. Die künstlerische Vorbereitung des Rollentextes bezieht Goethe auf die Rezitation (den »Vortrag, wie er […] zwischen der kalten ruhigen und der höchst aufgeregten Sprache in der Mitte liegt«193) und die Deklamation (»gesteigerte[.] Rezitation«194). Für das richtige Hervorbringen der zu rezitierenden Stellen fordert Goethe, […] daß man auf [sie] zwar den angemessenen Ausdruck lege und sie mit der Empfindung und dem Gefühl vortrage, welche das Gedicht durch seinen Inhalt dem Leser einflößt, jedoch soll dieses mit Mäßigung und ohne jene leidenschaftliche Selbstentäußerung geschehen, die bei der Deklamation erfordert wird. Der Rezitierende folgt zwar mit der Stimme den Ideen des Dichters und dem Eindruck der durch den sanften oder schrecklichen, angenehmen oder unangenehmen Gegenstand auf ihn gemacht wird; er legt auf das Schauerliche den schauerlichen, auf das Zärtliche den zärtlichen, auf das Feierliche den feierlichen Ton, aber dieses sind bloß Folgen und Wirkungen des Eindrucks welchen

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der Gegenstand auf den Rezitierenden macht; er ändert dadurch seinen eigentümlichen Charakter nicht, er verleugnet sein Naturell, seine Individualität dadurch nicht, und ist mit einem Fortepiano zu vergleichen, auf welchem ich in seinem natürlichen durch die Bauart erhaltenen Tone spiele. Die Passage, welche ich vortrage, zwingt mich durch ihre Komposition zwar das forte oder piano, dolce oder furioso zu beobachten, dieses geschieht aber, ohne daß ich mich der Mutation bediene, welche das Instrument besitzt, sondern es ist bloß der Übergang der Seele in die Finger, welche durch ihr Nachgeben, stärkeres oder schwächeres Aufdrücken und Berühren der Tasten, den Geist der Komposition in die Passage legen und dadurch die Empfindungen erregen, welche durch ihren Inhalt hervorgebracht werden können.195 Bei der künstlerischen Vorbereitung auf die Rezitation soll der Schauspieler also auch dazu imstande sein, den Inhalt des Werks »richtig« auszulegen, was seinerseits eine bereits vorhandene gute Ausbildung oder mindestens ein gutes Selbstbildungsvermögen voraussetzt. Durch eine »richtige« Deutung des Textsinns einerseits und durch eine geübte, zwar mit Eindruck eingesetzte und trotzdem mäßige Vortragsart andererseits, die Goethe mit dem Aufdrücken und Berühren der Tasten auf einem Fortepiano vergleicht, kann der Schauspieler auf den Zuschauer künstlerisch einwirken, sodass bei ihm Empfindungen erregt werden. Ein ganz anderes künstlerisches Vorbereitungsverfahren schreibt Goethe der Deklamation zu. Verglichen wieder mit dem FortepianoSpieler, der sich dieses Mal »der Dämpfung und aller Mutationen [bedient], welche das Instrument besitzt«196, soll der Deklamierende dazu in der Lage sein, alle ihm zugänglichen Emotionsausprägungen auf die darzustellende Figur zu übertragen. Hier fällt erstmalig der Ausdruck sich versetzen, der solche Schauspielfertigkeiten bzw. Verkörperungsfähigkeiten voraussetzt, wie sie erst im 20. Jahrhundert unter Stanislawski in den Studios des Moskauer Künstlertheaters systematisch ausgearbeitet und praktiziert werden sollten. In der ersten Person schreibt Goethe, dass der Schauspieler sich bei der Deklamation in den emotionalen Zustand der Figur versetzen solle, wobei er dies nicht durch seine eigenen »Leidenschaften« veranschaulichen, sondern nur so tun solle, als ob er diesen emotionalen Zustand der Literaturfigur mitempfinden würde. Darin bestünde die Kunst der Deklamation:

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Hier muß ich meinen angebornen Charakter verlassen, mein Naturell verleugnen und mich ganz in die Lage und Stimmung desjenigen versetzen, dessen Rolle ich deklamiere. Die Worte welche ich ausspreche müssen mit Energie und dem lebendigsten Ausdruck hervorgebracht werden, so daß ich jede leidenschaftliche Regung als wirklich gegenwärtig mit zu empfinden scheine.197 So schreibt Goethe dem Schauspieler vor, vor der Phase des Sich-indie-Rolle-Versetzens seinen »angebornen Charakter [zu] verlassen« bzw. sein »Naturell [zu] verleugnen«, was sich mit den Schauspielverfahren des 20. Jahrhunderts bereits überlappt,198 aber aufgrund des Fehlens eines entsprechenden wissenschaftlichen Begriffssystems bzw. adäquaten Trainingsvokabulars konnten dazu damals noch keine konkreten Verfahren empfohlen werden. Eine weitere Sparte des Schauspieltrainings, in der auf Emotionen geachtet werden soll, ist das Gebärdenspiel, über das in den Paragraphen 63 bis 65 der Regeln berichtet wird. Auch Goethe geht es dabei – wie Lessing und Engel – um die Auswahl der »schönen und richtigen Gebärden«199. Um bei der individuellen Übung »von der Deklamation nicht hingerissen« zu werden, »stelle [man] sich vor einen Spiegel und spreche dasjenige, was man zu deklamieren hat nur leise, oder vielmehr gar nicht, sondern denke sich nur die Worte«.200 Die Stimme wird mithin als ein starkes Wirkungsmittel dargestellt, das nicht nur auf den Zuschauer, sondern auch auf den Spieler selbst – und zwar während seiner Vorbereitungsphase – einen großen Einfluss auszuüben vermag. Unter dem Vorbehalt, dass die Stimme nicht eingesetzt wird, wird dem Akteur beim Training der Deklamation der Spiegel als ein Hilfsmedium für die Selektion der Gesten empfohlen. Der Spieler wählt dann die richtigen Gebärden – so die Annahme Goethes – mit kühlem Verstand aus, ohne sich durch interne (Gefühle) und externe (der Klang der Stimme) Störungsfaktoren abzulenken. Eine weitere Anweisung zur richtigen Auswahl der »passendsten Gesten« formuliert Goethe in Paragraph 65, in dem von der Pantomime die Rede ist. Der Schauspieler, insbesondere der Anfänger, soll versuchen, »seine Rolle, ohne sie zu rezitieren, einem andern bloß durch Pantomime verständlich zu machen«201. Pantomime sei somit neben der Selbstkorrektur vor dem Spiegel eines der wichtigsten Trainingsverfahren für den Schauspieler,202 das er beim »Haustraining« gebrauchen kann. In der öffentlichen Probe hingegen »sollte man sich nichts erlauben was nicht im Stücke vorkommen darf«203. Diese Aussage findet sich in Paragraph 68 der

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»Regeln«, d. h. in einem von lediglich sieben weiteren Paragraphen, in denen sich Goethe über die Probe äußert. Diese Paragraphen erinnern eher an die Verhaltensregeln oder sogar an die Sicherheitsmaßnahmen im Theatergebäude während der Proben und beziehen sich zum größten Teil auf das Kostüm und die Requisite, die die Schauspieler beim Probieren nicht hindern sollen, »die gehörigen Gebärden zu machen«: §.66. Um eine leichtere und anständigere Bewegung der Füße zu erwerben, probiere man niemals in Stiefeln. §.67. Der Schauspieler, besonders der jüngere, der Liebhaberund andere leichte Rollen zu spielen hat, halte sich auf dem Theater ein Paar ­Pantoffeln, in denen er probiert und er wird sehr bald die guten ­Folgen davon bemerken. […] §.69. Die Frauenzimmer sollten ihre kleinen Beutel bei Seite legen. §.70. Kein Schauspieler sollte im Mantel probieren, sondern die Hände und Arme wie im Stücke frei haben. Denn der Mantel hindert ihn, nicht allein die gehörigen Gebärden zu machen, sondern zwingt ihn auch falsche anzunehmen, die er denn bei der Vorstellung ­unwillkürlich wiederholt.204 Aus diesen kurzen »Warnungen« hinsichtlich des Verhaltens während des Probens wird ersichtlich, dass die Probe am Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts tatsächlich keine »Funktion der Übung der theatralen Darstellung«205 besessen hat bzw. kein Standort des gemeinsamen kreativen Denkens und schöpferischen Handelns war. In der heutigen Terminologie würde man eine derartige Probenpraxis als eine Voraufführung bezeichnen, die aber ohne Zuschauer und unter strengster Disziplin durchgeführt wird. Goethe schreibt in seinen kargen Anmerkungen zur Theaterprobe praktisch nur über technische Angelegenheiten und verankert keine »Regieanweisungen« im heutigen Wortsinn. Gerade Regieanweisungen waren von Goethes Seite deswegen nicht denkbar, weil Goethe nicht Regisseur, sondern Direktor war und ihm als höherem Gesetz nicht die Funktion eines Regisseurs –

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also nicht das Vorantreiben des künstlerischen Prozesses im heutigen Sinn –, sondern eine »ordnungsstiftende Funktion im Probenszenario«206 zukam. Zwei weitere Goethe untergeordnete Positionen waren die von Friedrich Schiller und die des Regisseurs. Wie Matzke ausführt, »vermittelt [Schiller] zwischen Goethe und den Schauspielern« – »[ü]ber Vorträge erläutert er den historischen Kontext, erklärt Rollenkonzeptionen«.207 Und unmittelbar während der Proben verläuft die Kommunikation zwischen Schiller, Goethe und den Schauspielern über den Regisseur – den Vermittler, dessen Amt an den Hoftheatern keine künstlerische Funktion, sondern eine »überwachende« und »disziplinierende Position« hatte.208 So fragmentarisch sich Goethe mit dem Problem der emotionalen Wiedergabe und der Bedeutsamkeit der Probenfunktion auseinandersetzt (was aufgrund der erwähnten Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten des damaligen Bürgertheaters und der seinerzeit noch fehlenden wissenschaftlichen Grundlage zur Erforschung der menschlichen Psyche durchaus nachvollziehbar ist), so systematisch geht ein Jahrhundert später Stanislawski an das Problem der Verfahren, der Kontrolle, des Erlebens und des Verkörperns von Emotionen auf der Bühne heran. Stanislawskis »System« mit seinem engen Bezug auf die emotionale Sphäre im naturalistisch-realistischen Theater (eine Herangehensweise, für die Stanislawski später von seinen berühmtesten Schülern kritisiert wurde209) ist nur in Opposition zu den Emotionslehren und Postulaten seiner Schüler und Mitwirkenden zu betrachten: Stanislawskis Schauspiellehre war für viele nicht nur »Wiege« ihres künstlerischen Werdegangs (das bleibt unbestritten), sondern auch häufig der Grund dafür, ihre eigenen »Schauspielsysteme« zu schaffen, welche später nicht weniger populär als das von Stanislawski wurden.210 Worin der Unterschied zwischen Stanislawskis »System« und »Methoden« seiner berühmten Schüler lag, illustriert das Streitgespräch zwischen Stanislawski und Michail Čechov in einem Berliner Café am Kurfürstendamm 1928. (Čechov war seit 1928 im ausländischen Exil; im selben Jahr besuchte Stanislawski seinen Sohn in Badenweiler und traf Max Reinhardt in Berlin.) Wie Čechov in seinen Memoiren Leben und Begegnungen schreibt, ginge es den beiden Künstlern grundsätzlich um eine Frage, die – bei näherer Betrachtung – Theaterschaffende seit jeher zu beschäftigen pflegt, nämlich: »Sollen persönliche, unverarbeitete Gefühle des Schauspielers ausgeschlossen oder in die künstlerische Arbeit einbezogen werden?«211 Stanislawski (der Čechov selbst zu diesem Gespräch über sein entstehendes »System« einlud) bediente sich des Zentralbegriffs seiner Terminologie, den er ursprünglich – in Anleh-

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nung an den französischen experimentellen Psychologen Théodule Ribot – das affektive Gedächtnis nannte und später in das Gedächtnis für Empfindungen bzw. emotionales Gedächtnis212 umbenannte. Beim emotionalen Gedächtnis geht es um »die Reproduktion, den Abruf von Empfindungen und Erlebnissen aus der persönlich-biographischen Sphäre des Schauspielers anhand der szenischen Situation der Rolle«213. In Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens wird Stanislawski später im Zentralkapitel unter dem Titel Emotionales Gedächtnis ein Beispiel anführen, das schon Ribot in seinem Werk Affektives Gedächtnis vorgebracht hatte: Zwei Reisende waren auf einem Felsen von der Flut überrascht worden. Sie konnten sich retten und beschrieben später ihre Eindrücke. Der eine hatte jede seiner Handlungen behalten: wie, wohin, warum er gegangen, wo er abgestiegen war, wie er den Fuß gesetzt hatte, wie er gesprungen war. Der andere wußte davon fast gar nichts, sondern besann sich nur auf die Empfindungen, die er damals hatte: erst Begeisterung, dann Aufhorchen, Erschrecken, Hoffen, Zweifel, und schließlich war er in einen Zustand der Panik geraten. Diese Empfindungen sind es nun, die das emotionale Gedächtnis bewahrt.214 Was die konkreten Methoden der Aktivierung des emotionalen Gedächtnisses der Schauspieler anbelangt, so suchte Stanislawski ­dieses stets mittelbar anzuregen, indem er [die Schauspieler] dazu anhielt, sich so logisch zu verhalten, wie es die von ihnen dargestellte Gestalt im entsprechenden Falle getan hätte. Dabei tauchen dann die Erinnerungen an frühere Erlebnisse ganz reflexmäßig auf, weil ja das psychische und das physische Element des Schaffensprozesses untrennbar miteinander verbunden sind.215 Um konkrete, das emotionale Gedächtnis anregende Mittel zu nennen, greifen wir wieder zur Originalschrift. Als wesentlichen Impulsgeber für das emotionale Gedächtnis bezeichnet Stanislawski »die äußere Umgebung auf der Bühne und die Stimmung, die sie auflöst«216. Nach einigen Passagen mit weiteren Beispielen führt er aus, dass sich […] die Schauspieler [einerseits] die Arrangements217 im Hinblick auf die zu erlebende Stimmung, auf die auszuführende

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Tätigkeit, auf ihre Aufgaben [suchen]; andererseits schaffen Stimmung, Aufgabe, Tätigkeit von sich aus die geeigneten Arrangements für uns. Sie gehören also auch zu den Auslösern unseres emotionalen Gedächtnisses.218 Den »umgekehrten Weg« – »vom Gefühl zum Auslöser«219 – schlägt Stanislawski auch als eine der Möglichkeiten vor, das emotionale Gedächtnis bei der Gestaltung der Rollenfigur zu verwenden. Dabei führt er zuerst ein Beispiel aus seiner eigenen Schauspielerfahrung an, als er den Monolog über den Menschen aus der Rolle des Satin von Maxim Gorkis Nachtasyl vortragen musste – eine Herausforderung, die er erst bei der vierten Aufführung meisterte. Für seine Schüler analysiert er die Ereignisse, die dem Abend dieser Aufführung vorausgingen. Er kommt zu dem Schluss, dass ihn diese Ereignisse von seinen Gedanken an den Monolog in dem Maß ablenken konnten, dass ihn »an diesem Abend der Erfolg nicht interessierte, daß [er] vor dem Auftritt nicht darum bangte, daß [er] nicht an die Zuschauer dachte, daß [ihm] der Ausgang der Vorstellung und ebenso [s]eines Spiels gleichgültig war«220. Stanislawski schlussfolgert, dass man nicht an das Gefühl denken [soll], sondern sich nur um seine Quellen kümmern, um die Bedingungen, die das Erleben ausgelöst haben. Sie sind der Boden, der begossen und gedüngt werden muß, auf dem das Gefühl wachsen kann. Die Natur erschafft indessen das neue Gefühl, das dem früheren entspricht. Darum beginnen Sie niemals mit dem Resultat. Es ergibt sich nicht von selbst, sondern ist die logische Folge des Vorausgegangenen.221 Auch beim Treffen mit Michail Čechov in Berlin suchte Stanislawski Čechov darin zu überzeugen, »daß die Konzentration auf Erinnerungen an das persönliche, private Leben den Schauspieler in die lebendigkreative Stimmung versetzt, die er auf der Bühne braucht«222. Čechov hingegen war tief davon überzeugt, dass »der Schauspieler um so besser seine Gestalten [erschafft], je weniger er sein persönliches Erleben ins Spiel bringt«223. Čechov setzte auf das Imaginative des Schauspielers, auf das Vermögen, die darzustellende Gestalt zunächst »in der Phantasie« zu erschauen. Deswegen soll der Schauspieler zunächst sich selbst vergessen und sich [z. B.] von Othello in dessen Milieu ein Bild machen. Imaginativ beobachtet er Othello – nicht sich selbst […] – sozusagen von außen und empfindet dadurch das-

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selbe wie Othello. In diesem Falle sind seine Gefühle rein und transformiert und verstricken ihn nicht mehr im Persönlichen.224 Zwei ganz unterschiedliche Herangehensweisen an die Arbeit des Schauspielers an der Rolle – die Auslösung persönlicher »affektiver Erinnerungen« einerseits sowie die imaginative Beobachtung der darzustellenden Figur andererseits – wurden in einem nur skizzenweise notierten Gespräch verankert, das aber das Wesentliche der Schauspiellehrwerke widerspiegelte, die erst Jahrzehnte später herausgebracht wurden und die Lehrpläne der Schauspielschulen bis in das 21. Jahrhundert hinein bestimmen. Stanislawski ging es in seinem grundlegenden Werk um die Entwicklung eines allgemein gebräuchlichen Schauspielsystems. An seinem »System«, wie er es selbst nannte, arbeitete er sein ganzes Leben lang und baute es bis zu seinem Tod immer wieder aus. Der Begriff Stanislawski-System hat sich zwar tief in der Schauspielgeschichte eingebürgert, bedeutet »allerdings nicht ein geschlossenes System, sondern eine progressiv sich entwickelnde Arbeitsmethode, die auf die innere Wahrhaftigkeit der Darstellung zielte und neben der ›Logik der Gefühle‹ eine ›Logik der Handlung‹ forderte«225. Nicht zuletzt war diese sich ständig entwickelnde Arbeitsmethode Grund für den Streit und die Missverständnisse zwischen dem Regisseur und den Schauspielern während der Proben. Michail Čechov berichtet über Stanislawskis Strenge im Lauf der Proben zu Nikolai Gogols Revisor, bei dem Čechov die Rolle des Chlestakow spielte: Es gab viele Proben, und die meisten davon waren eine Quälerei. Stanislavskij war ein anspruchsvoller Regisseur. Bisweilen übersah er den Unterschied zwischen Regiearbeit und Unterricht und behandelte die Schauspieler wie schlechte Schüler. […] Eine Schwierigkeit bei der Arbeit mit Stanislavskij bestand noch darin, daß er bei der Entwicklung seines »Systems« dieses ständig änderte und dabei vergaß, was er erst gestern gesagt hatte. »Welcher Idiot hat euch denn das erzählt?«, sagte er manchmal in seinem Unmut darüber, was er uns noch tags zuvor selber beigebracht hatte.226 Diesem Bericht zufolge gab es für Stanislawski tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem Unterricht mit den Schauspielschülern und den Proben mit professionellen (oft sehr angesehenen) Bühnenkünstlern. Er entwickelte sein »System« permanent weiter, was natürlich die Praxis des Spielens und Probierens sehr erschwerte, weitere

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unzählige Fragen und Präzisierungen erforderlich machte und in der Folge seine Schüler zur Schaffung ihrer eigenen konkreteren »Methoden« und Arbeitsweisen aufforderte (um nicht zu sagen: zwang). Was Stanislawski beispielsweise über den Einsatz der Gesten beim Spiel nur theoretisch formuliert,227 sondert Čechov in seinem Werk Die Kunst des Schauspielers in eine einzelne Probenanweisung heraus, betitelt sie als Psychologische Gebärde und versieht diese mit detaillierten Beschreibungen, Anwendungsbeispielen, Skizzen und entsprechenden Übungen. Die psychologische Gebärde ist ein Probeverfahren, das dem Schauspieler als Hilfsmittel bei der Vorbereitung auf die Rolle dienen kann. Was die psychologische Gebärde eigentlich ist, schildert Čechov anhand von Beispielen aus dem Alltag: Im Alltag machen wir von den allgemeinen Gebärden keinen Gebrauch, es sei denn in Zuständen außergewöhnlicher Erregung oder, wenn wir ein besonderes Sprechpathos brauchen. […] Und doch leben alle diese Gebärden in jedem von uns als die Urbilder unserer physischen Alltagsgestik. Sie stehen hinter ihnen (wie hinter den Worten unserer Sprache) und verleihen ihnen Sinn, Kraft und Ausdruck. In ihnen gebärdet sich unsichtbar unsere Seele. Das sind PSYCHOLOGISCHE GEBÄRDEN.228 Der Schauspieler kann das Verfahren der psychologischen Gebärde sowohl für die gesamte Rolle als auch für Einzelmomente in der Rolle, für einzelne Szenen, für die »Atmosphärenpartituren« und für die Sprache anwenden.229 Čechov unterstreicht aber deutlich, dass die psychologische Gebärde ausschließlich beim (Selbst-)Probieren zu verwenden ist und in der fertigen Produktion sich dem Zuschauer nicht offenbaren darf: [Die PG] hat ihren Zweck erfüllt, sobald sie das für eine bestimmte Gestalt von Ihnen gefragte Fühlen und Wollen aktiviert hat. Die Gebärden, die Sie für das Spiel auf der Bühne brauchen, müssen für die von Ihnen dargestellte Person charakteristisch sein und der Epoche, dem Stil des Autors und der Inszenierung usw. entsprechen. Die PG ist ein Vorbereitungsverfahren und muß dem Publikum verborgen bleiben.230 Stanislawskis »System« hingegen enthält im zweiten Teil seines Werks Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns im Kapitel Selbstbeherrschung und Vollendung einer-

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seits beispielreiche und bildhafte Ausführungen darüber, dass »jeder Schauspieler zunächst einmal lernen [muß], seine Gesten so weit im Zaum zu halten, daß nicht sie ihn beherrschen, sondern er sie«231. Andererseits hat Stanislawski nach seinem Tod viele Ansätze bzw. Entwürfe von Übungen und Etüden hinterlassen, die in einen einzelnen Band (dem sogenannten Aufgabenbuch232) eingehen sollten. Die Methodenbeschreibung seines Schülers Michail Čechov sowie die Übungen und Aufgaben, die er in seinem Schauspiellehrbuch formuliert hat, sind überschaubarer und praktisch umsetzbarer als die im »System« von Stanislawski. Aber das bedeutet keineswegs, dass die eine »Methode« richtig und das andere »System« falsch ist. Im Gegenteil: Der Schüler hat nur das überarbeitet, präzisiert, ausgebaut und weiter erforscht, was ihm der Lehrer seinerzeit beigebracht hatte. Und dafür war Čechov Stanislawski stets dankbar. Jeder Schauspieler und Regisseur – sei er noch im Studium oder bereits jahrelang im Beruf – vermag in Stanislawskis umfangreichem Werk Themen und Probleme zu finden, mit denen er in diesem Moment seines Berufslebens konfrontiert wird. Stanislawskis Postulate regen zum permanenten vertieften Denken an. Außerdem regt das »System« Schauspieler und Regisseure immer wieder zur weiteren praktischen Forschung an, weil dieses System (wie oben erwähnt) nicht geschlossen ist, sondern sich in permanenter Entwicklung befindet. Deswegen ist es kein Wunder, dass auf der Grundlage des »Stanislawski-Systems« weitere Schauspiellehren und -arbeitsweisen entstanden sind bzw. auch in Zukunft noch entstehen werden. So gilt das künstlerische Schaffen Jewgeni Wachtangows, eines Schülers Stanislawskis, der sich als Leiters der Ersten und später auch der Dritten Studiobühne233 des MChAT einen Namen machen konnte,234 als ein Paradebeispiel der einzigartigen Entwicklung einer Arbeitsweise, die, ursprünglich aus dem »Stanislawski-System« hervorgegangen, eine eigene Richtung annehmen und auf der Basis dieser Richtung ganze Schauspielergenerationen beeinflussen sollte. Das Phänomen Wachtangow für die Theatergeschichte besteht darin, dass er seine – schon posthum weltbekannt gewordenen – Inszenierungen erst einige Monate vor seinem Tod geschaffen hatte, als er todkrank war und unter unerträglichen Schmerzen litt, und dass er – im Gegensatz zu Stanislawski oder Čechov – keine methodologischen Schriften hinterlassen hat. Sein ganzes Lebenswerk ist ausschließlich in Form von Notizen seiner Schüler, Schauspieler und anderer Zeitgenossen, Probenprotokollen, Briefwechseln und Zeitungsartikeln über seine Inszenierungen überliefert. Sein Schaffen bzw. seine geniale »Begabung als Regisseur kennt man aus seinen Inszenierungen«235, wie Michail Čechov über

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seinen guten Freund Wachtangow begeistert schrieb. Und tatsächlich sind es Wachtangows Inszenierungen, genauer gesagt, die »geniale[.] Art, wie er mit den Schauspielern während des Inszenierungsprozesses zusammenarbeitete«236, die unwiederholbare Beiträge zur Entwicklung der Weltregiekunst geleistet haben. Denn das künstlerische Prinzip Wachtangows bestand darin, »zu jeder Inszenierung, an der er arbeitete, eine einzelne Studiobühne zu schaffen«237, wie sein Schüler und Schauspieler Leonid Schichmatov schreibt. »Eine Studiobühne zu gründen bedeutete den Unterricht so zu organisieren, um die Form der Inszenierung und der Rolle zu ergründen und zu beherrschen.«238 Gerade in der »Gründung der Studiobühne um die Inszenierung herum« bestand Wachtangows wahres Talent als Regisseur. Das ist aus dem Nachlass seiner Zeitgenossen bekannt. Z. B. weist Michail Čechov, der mit Wachtangow viel zusammengearbeitet hatte, mehrmals auf die geniale Fähigkeit Wachtangows hin, »dem Schauspieler zu demonstrieren, worin sich die Wesenszüge einer Rolle abzeichnen«.239 In der erstaunlichen und vollkommenen Kunst des Demonstrierens bestand die Eigenart der Wachtangow’schen Arbeitssprache in den Proben: Dank dieser erstaunlichen Fähigkeit Vachtangovs wurde auf seinen Proben sehr wenig gesprochen. Die ganze Arbeit bestand aus Demonstrationen und Illustrationen zu Figuren. [Dabei gab er keine Gesamtdarstellung der Figur, spielte dem Schauspieler nicht die Rolle vor, sondern zeigte ihm – spielte vielmehr – ein Schema, ein Muster, eine Art Entwurf der Rolle. Bei der Inszenierung von A. Strindbergs Erik XIV. illustrierte er mir auf diese Weise das Muster des Erik für einen ganzen Akt – und das in höchstens zwei Minuten. Nach dieser Demonstration wurde mir der Akt in sämtlichen Einzelheiten klar, obwohl Vachtangov auf diese gar nicht eingegangen war.] Es war ihm völlig klar, daß der Schauspieler, der viel über seine Rolle redet, sich dadurch im Grunde drückt und den Zeitpunkt der eigentlichen Probenarbeit hinauszuzögern sucht. Schauspieler und Regisseure müssen eine besondere Arbeitssprache entwickeln. Sie dürfen während des Arbeitsprozesses nicht miteinander diskutieren. Sie müssen lernen, ihre Gedanken und Gefühle bildlich zu verkörpern und diese Bilder untereinander auszutauschen.240 Gerade in der Fähigkeit, »Gedanken und Gefühle bildlich zu verkörpern und diese Bilder untereinander auszutauschen«, bestand Wachtangows Arbeitssprache, die so schwierig zu protokollieren war. Das

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bestätigt auch sein Schüler Nikolai Gortschakow, der Notizen bei der ersten Diskussion über Wachtangows letzte und weltweit bekannteste Inszenierung von Carlo Gozzis Prinzessin Turandot zu machen suchte: Wenn ich jetzt diese brüchigen Zeilen nachlese und mich daran zu erinnern versuche, was diese in Klammern stehenden Wörter bedeuten, bedauere ich sehr, dass ich damals zu faul war, ­Evgenij Bogrationovičs Gedankenlauf am Abend des ersten Gesprächs über Turandot zu notieren. Aber war es überhaupt machbar? Jeden seinen Gedanken, jedes Wort und jede Vision – seine Phantasie – bekräftigte er gleich mit einer eigenartigen Improvisation, wobei er sich in die Helden von Schiller und Gozzi versetzte, die Verfahren des improvisierten Spiels demonstrierte oder Beispiele aus seiner Arbeit an der Ersten Studiobühne des MChAT ­anführte.241 Über die Form der Inszenierung pflegte Wachtangow zu sagen, dass jedes Stück eine einzigartige, zum bestimmten Zeitpunkt entstandene, durch ein bestimmtes Ensemble aufgeführte und nur diesem Stück eigene Form fordere.242 Die Form der Inszenierung Prinzessin Turandot suchte er »keinesfalls duch psychologische Rechtfertigungen«, sondern nur durch eine »theatrale Rechtfertigung«243. Laut den von seinen Schauspielern überlieferten Notizen sprach Wachtangow über das Recht, die Aufführung als Vorstellung zu spielen. Wir haben ein Recht darauf, weil wir – wenn wir nur wollen – auch reines »Erleben« einsetzen können. Dazu beherrschen wir Methoden und Verfahren der Stanislawski-Schule. Wer imstande ist, die Rolle zu »erleben«, hat auch das Recht, nach einer theatralen Darstellungsform zu suchen.244 Allein in dieser »theatralen und nicht psychologischen Rechtfertigung« der Form liegt der Unterschied zwischen den Herangehensweisen von Stanislawski und Wachtangow. Vermag Wachtangow noch die Terminologie von Stanislawski zu verwenden, leitet er diese in eine ganz andere – »seine« – Richtung: Erstmalig lässt er seine Schauspieler in Turandot die Improvisation spielen. Die Schauspieler sollten nicht die Figuren des Stücks selbst spielen, sondern italienische Akteure der Commedia dell’arte, die diese Rollen verkörpern. Solch eine schwierige, experimentelle Darstellungsidee forderte dementsprechend auch

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eine spezifische Arbeitsmethode, Proben- und Darstellungsweise. Stanislawskis »naturalistischen« Inszenierungen glich sie in keinerlei Zügen, sondern stand eher in Opposition zu ihnen, genauso wie seine Darstellungsmethode der Gefühle auf der Bühne. Das Gefühl entsteht nicht aus »emotionalen Erinnerungen«, wie Stanislawski lehrte. Das Gefühl entsteht nach Wachtangow aus der Handlung. Es sei unmöglich, die Gefühle (Trauer, Freude, Kummer usw.) und ihren äußeren Ausdruck (das Weinen, das Lachen usw.) zu spielen. Das Gefühl auf der Bühne sei also das Resultat der Handlung. Wenn man über das Gefühl als Resultat der Handlung spreche, heißt dies nicht, dass das Gefühl nach der Handlung oder am Ende dieser Handlung entsteht. Das Gefühl entstehe während der Handlung. Der Prozess der Handlung sei also gleichzeitig der Prozess des Fühlens.245 Und Wachtangows eigene Spielart verriet viel über diese Position. Wsewolod Meyerhold fiel die Wachtangow’sche Spielart gleich auf, als er ihn im Ersten MChAT-Studio in Charles Dickens’ Das Heimchen am Herd sah. Damals kannten beide Künstler einander noch nicht persönlich. Wachtangow spielte die Rolle des Tackleton, des bösartigen Spielzeugverkäufers. Bemerkenswert ist, dass auch Michail Čechov an diesem Stück beteiligt war: Er spielte den armen Puppenmacher Caleb Plummer. Aber Meyerhold, der »die naturalistische Auffassung, in der die Dickens’sche Erzählung inszeniert wurde, ablehnte«246, hat nicht die Spielweise von Čechov, sondern nur die von Wachtangow bemerkt und diese positiv eingeschätzt: »Dieser Schauspieler steht näher zu uns als zu Stanislawski. […] Er ist der Einzige, der in dieser Aufführung richtig spielt.«247 Wachtangows Schüler Boris Zachawa bemerkt die Weise, wie sich Meyerhold beim ersten persönlichen Treffen mit Wachtangow (der schon als Regisseur tätig war) über seine Spielart in Heimchen äußerte: »Die Präzision des Spiels, die groteske Eingeschliffenheit der Gestalt, die ausdrucksvolle Plastizität der Bewegungen – das kennzeichnete Wachtangows Darstellungsweise, dadurch stach er im Vergleich zu den anderen Schauspielern heraus.«248 Dieser Äußerung zufolge lässt sich darauf schließen, dass die »ausdrucksvolle Plastizität der Bewegungen«, diese äußere Handlung, gleichzeitig auch die innere Emotion Wachtangow’scher Verkörperung reflektierte. Auch Wachtangows Notizen, in denen er sich über Meyerholds Werk und dessen Talent als Regisseur äußert, sind erhalten geblieben. In seinem Tagebuch schreibt er am 26. März 1921: Ich denke an Meyerhold. Was für ein genialer Regisseur, der Größte von den bisher Gegebenen! Jede seiner Inszenierungen ist

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das neue Theater an sich. Jede seiner Inszenierungen könnte eine ganz eigene Richtung bilden. Definitiv ist Stanislawski als Regisseur kleiner als Meyerhold. Stanislawski hat kein Gesicht. Alle Inszenierungen von Stanislawski sind banal. […] Alle Naturalisten gleichen einander, und die Inszenierung des einen kann man mit der Inszenierung des anderen verwechseln. Meyerhold ist einzigartig. In jenen Stücken, in denen er, die wahre Theatralität spürend, sich nicht auf die Autorität der Bücher stützt, wo er intuitiv und nicht anhand der historischen Rekonstruktion sowie der Rekonstruktion der theatralen Form diese Formen bei sich selbst sucht – ist er mit Stanislawski nicht zu vergleichen – er ist fast genial, ich denke sogar, dass er genial ist. […] Sowohl Nemirowič [Wladimir Iwanovič Nemirowič-Dančenko] als auch Stanislawski kennen, dank ihrer riesengroßen Erfahrung, die Natur des Schauspielers. Meyerhold kennt sie gar nicht. Meyerhold ist nicht imstande, im Schauspieler die gesuchte Emotion, den gewünschten Rhythmus, die nötige Theatralität auszulösen. Das können Nemirowič und Stanislawski. Genauer gesagt, Nemirowič ist nur imstande, sich mit der Psychologie der Rolle und des Stücks auseinanderzusetzen sowie beim Akteur das eine oder das andere Erleben auszulösen. Und Stanislawski, der der Psychologie nicht gerade mächtig ist, baut sie intuitiv auf (manchmal viel erhabener und feiner als Nemirowič). Er ist mit der Natur des Schauspielers aufs Engste vertraut: Er kennt ihn von Kopf bis Fuß, vom Darm bis zur Haut, vom Gedanken bis zum Geist.249 Obgleich Meyerhold nach Wachtangows Einschätzung nicht imstande war, im Schauspieler die nötigen Emotionen auszulösen, schreibt er ihm die Zukunft des Theaters zu: »Alle Theater der nahen Zukunft werden genau so aufgebaut, wie Meyerhold es längst gespürt hatte.«250 Tatsächlich war Meyerhold nicht derjenige Theaterpraktiker, dem ein grundlegender Beitrag zur Emotionsforschung in der Schauspielkunst zugeschrieben wird. Aber Tatsache ist, dass seine Schule – die von ihm erfundene Richtung der »Biomechanik«, die er ursprünglich als Bewegungstraining mit Fokus auf die Präzision der Geste und auf den Rhythmus entdeckte und die er bis zu seinem Tod ebenfalls in Bezug auf den Denkprozess und das Sprechen weiterentwickelte – Grundlage des Schauspiel- und Regietrainings sogar an zeitgenössischen Schauspielschulen ist.251 Meyerhold selbst behauptete, dass es die »Eingeschliffenheit [der Geste]« sei, die »die nötige Reaktion [im Schauspieler] hervorrufen« werde, und dass diese Eingeschliffenheit

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nur aufgrund einer »präzisen Spieltechnik« zu erreichen sei. In einem Referat vom 1. Januar 1925 liefert er dazu ein Beispiel aus seiner eigenen Regiepraxis: Manche Leute beschuldigen uns, uns fehle jegliche Psychologie, und einige von uns sind beunruhigt, haben Angst vor diesem Wort. Soweit wir uns auf die objektive Psychologie stützen, haben wir selbstverständlich Psychologie, aber wir lassen uns nicht von »innerem Erleben« leiten, sondern vom Glauben an die präzise Spieltechnik. Als ich Sinaida Raich die Szene der Stefka aus dem dritten Akt vorspielte, haben manche vielleicht bemerkt, daß mir die Augen feucht wurden, obzwar ich Ihnen versichern kann, daß Stefkas Gefühle mit den meinen auf gar keinen Fall identisch sind. Ich habe einfach beim Zeigen eine Haltung eingenommen, die bei meiner Eingeschliffenheit die nötige Reaktion hervorrufen mußte; die Nervenstränge, die den bewußten Muskel regieren, wurden betroffen, und dieser Muskel, der die Tränen fließen macht, ließ sie denn auch fließen. […] Dank meines Berufs habe ich riesige Erfahrungen, ich habe die Menschen studiert – dabei haben die Schauspieler mir sehr geholfen […] – ich habe mich also trainiert, so daß, was immer ich auch vorzeige, gelingt. Einfach, weil ich durch lange Erfahrung meinen Apparat vorzüglich trainiert habe.252 Für die Notwendigkeit eines raffinierten Trainingssystems für die Schauspieler plädiert er fünf Jahre später auch in einem anderen Referat über Die schöpferische Methode des Meyerhold-Theaters. Hier sondert er bereits drei unterschiedliche Trainingsstufen ab, die sich nicht mehr allein auf Bewegung, Geste und Rhythmus (reine »Biomechanik«) beschränken, sondern auch auf das Training des Denkens und des Sprechens erweitert werden. Das ideale Theater ist für Meyerhold demgemäß eine »wissenschaftliche Forschungsinstitution mit wirklichen Laboratorien«: Ja, anfangs war es nötig, die Muskeln zu straffen, das Knochengerüst richtig einzusetzen, rhythmische Bewegungen zu erlernen, den Kopf in der gewünschten Art zu drehen – und dann kommt der Augenblick, wo wir sagen: ›Und warum gehst du ohne was im Kopf herum, Kollege, warum denkst Du nicht?‹ Das Sprechen muß auf einer dritten Stufe auftauchen: Bewegung – Gedanke – Wort. Zuerst muß akrobatisch oder biomechanisch trainiert

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­ erden, damit der Darsteller in einem gut gelüfteten Raum seine w Muskeln spielen lassen, richtig atmen und ­brüllen lernen kann, mit Emotionen, wie das Kleinkind schreit. Dann schicken wir ihn in den nächsten Raum, wo er bereits einige Ausdrucksmittel beherrschen lernt, wie sie der Schauspieler braucht. Gut, ich gebe Ihnen ein Wort – aber können Sie in dieses Wort Gedanken eindringen lassen? [V]erstehen Sie, Ihr bewußtes Denken aufzubauen, sich der gesamten Situation anzupassen, die Ihnen der dramatische Stoff vorgibt, sind Sie imstande, alle Nuancen zu überblicken? Auch das gehört zum Training. […] Training ist nötig – Training der Bewegung, des Denkens, des Sprechens. Eine Riesenarbeit ist das, der nur ein spezielles Theater gewachsen ist, ein Theater, das als wissenschaftliche Forschungsinstitution gesehen werden muß, mit wirklichen Laboratorien, so eingerichtet, daß diese Arbeit vollbracht werden kann.253 Nach Meyerholds Vorstellung sollten im idealen Theater bzw. im speziellen »Theater-Laboratorium« die auf verschiedenen Trainingsstufen eingeübten Muskeln, Ausdrucksmittel, Reaktions- und Sprechtechniken den Schauspieler von jeglichem Einsatz persönlicher Emotionen während des Spiels befreien. Ohne seine privaten Emotionen ins Spiel zu bringen, wird der Berufsschauspieler zu einer allmächtigen »Maschine«, die ihre Reflexe so gut entwickelt hat, dass sie fähig ist, auf eigenen Wunsch zu erröten, zu erblassen oder zu weinen254 (was gerade für die oben erwähnten Theatertheoretiker wie J. J. Engel Ende des 18. Jahrhunderts noch so gut wie unmöglich schien255). Einer der bedeutendsten deutschen Regisseure des 20. Jahrhunderts, Bertolt Brecht, sah den persönlichen Emotionseinsatz (»ein persönliches Hineingehen«) der Schauspieler gar als eine Gefahr für die innere Entwicklung der geprobten Szene. In verschiedenen ­Jahren ­seiner Regietätigkeit äußerte er sich vorbeugend und gar warnend über die Einbringung privater Emotionen vonseiten der Schauspieler. So beschreibt Brecht in seiner Schrift Über den Beruf des Schauspielers (­zwischen 1935 und 1941) über den Aspekt des Rollenstudiums eine durchaus oft vorkommende Spielart unter den Schauspielern, die sich auf deren Unwillen bezieht, (auf den ersten Blick) einfachste Griffe für ihre Rollen beim »gutgelaunten Techniker« oder bei »exakten C ­ hauffeuren« zu beobachten. Stattdessen »kann dann eine ersatzweise p ­ rivate Steigerung, ein persönliches Hineingehen des Schauspielers diesen selbst, aber niemals die Szene retten«256. Weiter heißt es:

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Das persönliche Hineingehen, die Investierung von privatem Temperament als Ersatz gefährdet beinahe immer die gedankliche Struktur der Szene. Es macht jedes Verhalten nur allzu begreiflich, macht also jedes Staunen darüber unmöglich. Das ist der Grund, warum neuere Dramen oft gut wegkommen, wenn sie von widerspenstigen Schauspielern gespielt werden, die alle ihre Repliken für falsch halten. Ganz selten gelingt es bei Aufführungen in unserer Zeit, jene durchschlagenden Wirkungen zu erreichen, die oft bei Proben entstehen, wenn die Schauspieler unlustig oder müde sind.257 Der Einsatz von privaten Emotionen durch den Schauspieler beraubt somit den Zuschauer (wie den Schauspieler selbst!) jedweden Staunens über das Verhalten der Figuren. Und das Staunen ist für den Schauspieler laut Brecht die einzig mögliche Einstellung, Interesse am Vorgespielten zu erwecken und zu behalten: Seine [des Schauspielers] gestische Einstellung zur Welt des Dichters ist die des Staunens, und diese gestische Einstellung ist es auch, die er auf die Zuschauer übertragen muß. […] Es ist dem Schauspieler erlaubt, die Haltung des Staunens einzunehmen gegenüber dem Getriebe des Stückes, aber auch gegenüber seiner Figur (die er zu spielen hat), ja sogar den Wörtern, die er zu sprechen bekommen hat. Staunend zeigt er das Anvertraute. Gleichsam selber widersprechend spricht er.258 Beim Aufbau seiner Kunstfigur soll der Schauspieler permanent Fragen an sich und an die Umgebung stellen, er soll also in steter Unsicherheit, gar in Zweifel gegenüber seiner Figur verweilen, sich selbst widersprechen usw., denn nur auf solche Weise vermag er über das Gewöhnlichste zu staunen und mit seinem eigenen Staunen auch den Zuschauer »anzustecken«. Solch eine »staunende« Spielweise ist es gerade, die den Eindruck von solchem Spiel »woanders und zu anderer Zeit«259 auszulösen vermag. Diesen Eindruck nennt Brecht den Nachschlag.260 Deswegen rät er dem Schauspieler, dem Zuschauer »die Gelegenheit zu einem Erlebnis«261, nicht zu einer Erkenntnis zu verschaffen: Zwar kann der Schauspieler dadurch »begriffen« werden, daß er, indem er selber Trauer empfindet, Trauer erzeugt, aber dann entlädt er nur die Einbildungskraft des Zuschauers, statt seinen Kennt-

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nissen etwas hinzuzufügen, was mehr ist. Man könnte sagen, der Gefühle Erlebende vermehre doch seine Kenntnis von sich selbst, aber eben das ist nicht gut: Mag er lieber lernen, sich zu vernachlässigen, was seine Gefühle anlangt, und die anderer erfahren! Sogar seine eigenen erfährt er besser, wenn sie ihm lediglich vorgehalten werden wie die eines anderen! Deshalb soll der Schauspieler seine Wirkungen technisch herstellen, das heißt, das zeigen, woran erkannt wird, was nicht unbedingt zusammenfällt mit dem, was sich lediglich […] abspielt. […] So zeigt er zum Beispiel, will er das Erschrecken einer Person zeigen, besser deren Bemühung, diesen Schrecken zu überwinden oder zu verstecken. Ein Schauspieler, der so verfährt, behandelt den Zuschauer, anstatt nur »zu sein«.262 So vermag ein guter Schauspieler seine eigenen Gefühle nur dann zu realisieren (und so Kenntnisse über Gefühle allgemein zu erwerben), wenn er diese beim Spielen vernachlässigt. Auch den Zuschauer würde er dabei nicht im Stich lassen, weil er dadurch seine Imaginationskraft ankurbeln würde. (Denn der Zuschauer würde dann staunend fragen: »Warum machst du es denn so?«, anstatt nur gähnend zu artikulieren »Ach, so meinst du es …«). Und noch profitabler wäre es für den Schauspieler vom professionellen Standpunkt aus, wenn ihm seine eigenen Gefühle »lediglich vorgehalten werden«263, d. h., dass der Schauspieler die Gelegenheit bekommt, diese von der Seite her zu beobachten.264 In diesem Zusammenhang ist es erwähnungswert, dass Brecht als Spielleiter während der Proben seinen Schauspielern vieles selbst vorzumachen pflegte: B. machte viel vor, jedoch nur ganz kleine Stückchen, und er brach mitten drin ab, um nur ja nichts Fertiges zu geben. [Daran gleicht seine Arbeitsweise in den Proben der von Jewgeni Wachtangow, der seinen Schauspielern auch oft nur noch die Skizze der Figur zu demonstrieren pflegte, ohne die ganze Gestalt für den Schauspieler zu verkörpern. – V. V.] Und er ahmte dabei immer den Schauspieler nach, dem er vormachte, freilich ohne sich zu verstellen. Seine Haltung dabei war: Leute dieser Art tun derlei oft in solcher Weise.265 Anstelle von langen Diskussionsrunden bevorzugte Brecht während der Proben einen gleichsam experimentellen Habitus: »Sprechen Sie nicht darüber, machen Sie es!«, »Wozu die Gründe sagen, zeigen

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5.3  Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im Regietheater

Sie den Vorschlag!«266 Die Prozesse des Zeigens/Vormachens und des Beobachtens hielt Brecht also für die wichtigsten in seinen Proben. Zu jedem seiner Stücke überlieferte er seine Kommentare, Erläuterungen, Hinweise und Bemerkungen,267 denn jedes war – wie auch jeder seiner Probenprozesse – mit Meyerhold gesprochen ein Laboratorium per se. Der hier angeführte Überblick über die aus den Emotionstheorien abgeleiteten Grundsätze für die Darstellung von Emotionen hat gezeigt, wie sich die Ansätze, beginnend von den mittelalterlichen Laienbühnen über die Barockbühne und den Umbruch in der Schauspielerausbildung bei Stanislawski bis hin zur deutschen Theateravantgarde in der Mitte des 20. Jahrhunderts, unterschieden bzw. wie diese sich evolutioniert haben. Neben der selbst in den Wandertruppen verwendeten Methode des Studierens der Haltungen und Gesten aus Gemälden haben Theateraufklärer von Lang bis Goethe das Beherrschen der Kunst der Gebärde in der einen oder anderen Form nur durch Selbststudium proklamiert (sei es über die Nachahmung der Natur wie bei Ekhof gewesen, über die Beobachtung der Studienmuster, also der »Menschen ohne Sitten«, wie Engel es vorschlug, oder über Goethes Aufforderung an die ersten Berufsschauspieler in seinem Hoftheater, jeden freien Moment des Lebens zur Erweiterung seines künstlerischen Könnens zu nutzen). Die ersten (bereits erwähnten) wissenschaftlichen Ansätze über die Untersuchung der Emotionen für das Theater gehen von der körperlichen Geste aus zu den »Modifikationen der Seele« (Lessing) oder »Trieben und Leidenschaften der Seele« (Engel). Bei Goethe tritt eher die Disziplin des Schauspielers in den Vordergrund (diesem Ziel dienen Regeln für Schauspieler). Aber an keiner Stelle ist seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Art und Weise zu verfolgen, wie die Schauspieler am Weimarer Hoftheater – z. B. bei der »künstlerischen Vorbereitung« der Textrolle, für die Goethe »die Empfindung und das Gefühl« zuließ und sogar forderte – den äußerlichen Ausdruck dieser Empfindung beim Selbststudium trainieren sollen. (An keiner Stelle, ausgenommen der Fall mit den Lehrlingen, als Goethe, der Leiter einer angesehenen Hofbühne, kurz bevor die Regeln niedergeschrieben worden waren, sich »die Kunst aus ihren einfachsten Elementen entwickelte und an den Fortschritten beider Lehrlinge [si]ch nach und nach emporstudierte«.) Erst mit ­Stanislawskis Theorie (die auf seiner mehrjährigen Praxis basiert) des »emotionalen Gedächtnisses«, die besagt, dass bei der Vorbereitung auf die Rolle persönliche »affektive Erinnerungen« ausgelöst werden sollen, beginnt eine grundlegende und ansatzreiche Phase der Emotions-

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

forschung im Theater. Seine besten Schüler Čechov und ­Wachtangow leiteten aus dem »System« ihre eigenen Lehren ab bzw. jeder von ihnen konnte auf der Basis von diesen ihren Lehren je ein neues – »ihr« – ­Theater spielen bzw. es ihren Nachfolgern überliefern. Imaginative Beobachtung des Verhaltens der Kunstfigur, begleitet von der Suche nach der Psychologischen Geste (PG) der Figur, waren nach Čechov die Methoden, um »das für eine bestimmte Gestalt von Ihnen gefragte Fühlen und Wollen« zu aktivieren. Nicht weit von dieser Ansicht entfernt ist auch die von Wachtangow, der nicht von der »psychologischen Geste«, sondern von der Handlung ausging und glaubte, dass das dargestellte Gefühl auf der Bühne das Resultat einer Handlung wäre. Nicht durch »psychologische Rechtfertigungen«, wie bei Stanislawski, sondern mithilfe der theatralen Rechtfertigungen hat Wachtangow die Form seiner Hauptinszenierung Prinzessin Turandot gefunden. Und die Handlungen, die die Akteure während der Proben meistens aus dem Stegreif entwickelten, schufen gerade jene Gefühle zwischen den Figuren auf der Bühne, die diese letzte Inszenierung Wachtangows zum Ausgangspunkt seiner Schauspiellehre posthum machte. Noch praktischer und vor allem akribischer, als es Čechov und Wachtangow vorschlugen, ging an die »Eingeschliffenheit der Geste« Meyerhold heran. Jede Emotion und jedwede Regung der Seele (auch Tränen, Erblassen und Erröten) kann laut Meyerhold via »eingeschliffene Gestik« erreicht werden, wozu man seinen Körper (seinen »Apparat«) vorzüglich trainieren soll (so die Grundlage des Schauspieltrainings, bekannt als Biomechanik). Anders als die aufgezählten russischen Regisseure verhielt sich Brecht zum Thema Bühnenemotionen. Einen persönlichen Emotionseinsatz (»ein persönliches Hineingehen«) sollte man laut Brecht auf der Bühne um jeden Preis vermeiden, um das Spiel nicht zu verderben, und stattdessen das Anvertraute auf den Brettern staunend zeigen. Wie ich gezeigt habe, war das Thema des Primären von Emotion und Gebärde schon immer ein Dreh- und Angelpunkt jedweder darstellerischen Praxis, die nach einer theoretischen Grundlage suchte. Geschilderte Forschungsansätze über die Emotionen im Theater basieren meistens auf persönlicher Theaterpraxis von deren Autoren. Der vorliegende Ansatz hingegen ruht nicht auf eigener Arbeit als Regisseur, Schauspieler oder Dramaturg, sondern auf teilnehmender wissenschaftlicher Beobachtung, deren Ziel war, eine neuere Untersuchungsmethode der Emotionen auf dem Theatergebiet auszuarbeiten. Die hier vorgeschlagene Methode umfasst nicht nur äußerliche Ausdrücke des Körpers und des Verhaltens der beteiligten Schauspieler. Sie beinhaltet auch interpersönliche psychologische Kombinationen

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5.4  Zur Forschungsmethode der Emotionen im Regietheater der Gegenwart

zwischen den Darstellern und dem Regisseur sowie innere, sonst nur intim und ohne Einweihung der Öffentlichkeit ablaufende Vorgänge wie persönliche Gefühlslage und Gedanken des Spielers gegenüber seiner Kunstfigur. Im folgenden Unterkapitel 5.4 wird die Forschungsmethode der Emotionen auf der Grundlage der drei besuchten Probenprozesse des deutschen Regietheaters der Gegenwart kurz dargelegt, um im Kapitel 6 in vollem Umfang entfaltet und im Kapitel 7 im Detail analysiert zu werden.

5.4 Zur Forschungsmethode der Emotionen im Regietheater der Gegenwart an Beispielen der drei besuchten Berliner ­Theaterhäuser

Jeder Regisseur gibt den Schauspielern seine Vorschriften und Anweisungen, und die Akteure sollen dazu imstande sein, diese Regieanweisungen dank ihrer langjährigen Ausbildung, ihrer erworbenen Kunstfertigkeit, ihrer eingeübten Anpassungsfähigkeit und natürlich dank ihrer persönlichen Begabung professionell einzusetzen. Ob sie dabei ihre persönlichen Gefühle und Empfindungen einsetzen oder diese in Form von »emotionalen Erinnerungen« bzw. unmittelbar im Prozess der Handlung verwenden, bleibt grundsätzlich im Ermessen jedes einzelnen Schauspielers: Jeder entscheidet für sich selbst, was für ihn günstiger ist. (Auch die Geschichte der Schauspielmethoden und -praktiken ist, wie ich schon gezeigt habe, reich genug an verschiedensten Beispielen.) Das, wovon die Probenprozesse an drei der führenden Berliner Theater sowie die Interviews mit den daran beteiligten Schauspielern zeugen, lässt mich eher über das eingeübte Vermögen der deutschen Schauspieler sprechen, ihre ganze Kraft – sowohl physisch als auch mental und emotional – auf die Zusammenarbeit268 an jeder winzigen Bewegung und Geste, an jeder kleinsten mise-en-scène zu konzentrieren und diese mächtige Kraft – verglichen mit einem abisolierten Draht, der nur vorsichtig anzufassen und gekonnt von einem Spezialisten zu behandeln ist – im gemeinsamen Entdeckungs- bzw. Auslotungsprozess der Szene, der Figur und des Raums einzusetzen. An dieser Kraft sparen die Schauspieler nicht, sie schonen sich nicht und öffnen in den Proben alle ihre Kanäle, die diese innere Kraft ausstrahlen. Meines Erachtens war es gerade diese innere Kraft, die Erika Summers-Effler als emotionale Energie – »a positive feeling of enthusiasm, confidence, and a willingness to initiate interaction«269 – bezeichnete. Das, was sich

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

mir in allen drei Probenprozessen offenbart hat, sind nicht (nur) die individuellen Gefühle der Schauspieler, die die szenischen Emotionen auslösten, sondern es war die emotionale Energie – dieser Enthusiasmus, dieses erhabene positive Gefühl der Bereitschaft, sich körperlich, geistig und emotional dem Geschehenen zu öffnen –, die zur Freisetzung der szenischen Emotionen beitrug. Und war das, was ich am Deutschen Theater, Berliner Ensemble und der Schaubühne gesehen und miterlebt habe, in der Terminologie von Stanislawski, ein »Handwerk« statt ein »Prozess des Erlebens«? Vielleicht. Aber angesichts der Probenbedingungen des zeitgenössischen Regietheaters ist es eher als eine positive Antwort zu betrachten. Denn in der manchmal äußerst knappen Probenzeit, bei der zeitlichen und oft auch physischen Überlastung der Schauspieler, ihrer Beteiligung an mehreren Projekten zugleich etc., ist eine solche »handwerkliche« Herangehensweise oft der einzige Weg für sie, ihre berufliche Tätigkeit qualitativ auszuführen. Außerdem fordert dieses »Handwerk« (in der Ausdrucksweise von Stanislawski) einen enormen Energieaufwand, und diese emotionale Energie investieren die Schauspieler in die Entfaltung ihrer Kunstfiguren in vollem Maß. Als Forschungsmethode der Emotionen im zeitgenössischen Regietheater schlage ich vor, jede im Probenprozess verlaufende Etappe der Gestaltung der Kunstfigur auf emotionale, sich dauernd verändernde Ausprägungen Letzterer zu »scannen«. So hatte ich in Kapitel 5.2 vorweggenommen, dass ich die Mechanismen der Gestaltung einer Kunstfigur im Probenprozess sowie die Art und Weise der Herstellung von emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren als soziale Emotionen bezeichnen werde. Dabei habe ich auch angemerkt, dass je nach wissenschaftlicher Ausrichtung zahlreiche Klassifikationen von Emotionen existieren und dass unterschiedliche Forscher je nach Richtung der Untersuchung bis zu 72 Komponenten der Emotionen herausstellen. Heute geht man entsprechend bei einer wissenschaftlichen Untersuchung von einem Mehrkomponentenmodell270 der Emotionen aus. Für die vorliegende Studie sind meines Erachtens sechs Komponenten des Emotionsmodells hervorzuheben, die den sich im Lauf des Probenprozesses ständig ändernden Bedingungen für die Ausprägung von Emotionen gerecht werden: 1.  physiologische Veränderungen des Spielers, falls vorhanden (z. B. Schweißausbruch, Errötung, motorische Unruhe etc.); 2.  performative Handlungen des Spielers (mimischer, gestischer Ausdruck, Körperhaltung etc.);

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5.4  Zur Forschungsmethode der Emotionen im Regietheater der Gegenwart

3.  Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler (es wird empirisch beschrieben, wie sich aus dem ritualisierten Zusammenwirken des Regisseurs und des Spielers die Emotion der Kunstfigur entwickelt); 4.  intentionales Objekt – ein jeweiliger Gegenstand, auf den sich die Emotion der Figur bezieht; 5.  subjektives Erleben des Darstellers (wie es »ist«, in einem bestimmten emotionalen Zustand zu sein – dies wird aus den Interaktionsprozessen oder aus dem Interview erkennbar); 6.  mit diesem Erleben verbundene Gedankeninhalte, die auch aus den Interaktionsprozessen oder Interviews zu erkennen sind. Wie in Kapitel 5.2 schon erwähnt wurde, geht es in der vorliegenden Studie um die sozialen Emotionen Liebe, Stolz, Eifersucht, Verachtung, die kraft der Interaktionen der Künstler, ihrer Beziehungen, Wechselwirkungen, Behandlung der Textfassungen, Improvisationen usw. in den in Kapitel 5.1.2 beschriebenen Probensituationen betitelt wurden. Im nächsten Kapitel wird die Analyse der genannten sozialen Emotionen in den Probensituationen am DT (2010), BE (2011) und der Schaubühne (2012) präsentiert.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

1

Den Begriff Studiensituation verwende ich in Anlehnung an Stanislawski. Zu betonen ist, dass er in enger Beziehung zur russischen Originalfassung des oben genannten Buchs steht. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht eine begriffliche Differenz, die sich zwischen der deutschen Übersetzung und der russischen Originalausgabe feststellen lässt. So wird der Ausdruck »predlagaemye obstojatel’stva« in der deutschen Textfassung als »vorgeschlagene Situationen« übertragen (Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers. Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Teil 1, Westberlin 1984, S. 400). Im russischen Original ist hingegen von »vorgeschlagene[n] Umstände[n]/Bedingungen« die Rede. Als ich den Begriff Studiensituation einführte (bzw. noch früher auf den Begriff der Probensituation einen besonderen Wert legte), meinte ich indes nicht (nur) die Umstände, sondern gerade die Situation an sich. Falls an dieser Stelle die russische Übersetzung des Begriffs Studiensituation für ein besseres Verständnis des Kontextes behilflich wäre, würde ich ihn im Russischen als »učebnaja situacija« (dt.: Studiensituation) fassen, also nicht als »učebnye obstojatel’stva« (dt.: Studienumstände). Nach meinem Verständnis nimmt eine Studiensituation (genauso wie eine Probensituation) sowohl auf die Umstände (die entweder »vorgeschlagen« wurden oder die sich durch die nicht vorgeplanten Verstrickungen bildeten) Bezug als auch auf die Zeit, den Ort, die Wechselwirkung und die Beziehungen zwischen den Beteiligten. Zugleich bezieht sich eine Probensituation auf die vergangenen (für einige Mitglieder bekannte und für die anderen unbekannte), gegenwärtigen (von den Beteiligten auf unterschiedliche Weise bzw. in unterschiedlichem Maß wahrgenommene) und zukünftigen Ereignisse, die innerhalb der gesamten Situation stattfinden, die nicht unbedingt an einen Ort und an eine zeitliche Einheit (d. h. nicht nur an einem Probentag stattfindende Situation) gebunden ist. Eine Studiensituation ist genauso wie eine Probensituation ein Oberbegriff mit allen geschilderten Merkmalen. 2 Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil 1, S. 88f. 3 Eine vertrauliche, intime Interaktion im Schauspielunterricht (oder in den Proben) ist eine Interaktion, deren Inhalt die Schauspieler nicht gerne hinter die Studien- bzw. Probenräume hinaustragen würden. Manche Schauspieler treten gar strikt gegen jegliche Bekanntmachung von derartigen professionellen Interaktionen auf. Der Inhalt solch einer vertrauten Interaktion ist in jedem Studien-/Probenprozess unterschiedlich und bezieht sich auf die rein professionellen Vorgänge eines konkreten Studiums/Probens. Als Gegenstand der Fachdiskussion können z. B. misslungene szenische Handlungen des einen Schauspielers oder – im Gegenteil – vorteilhafte »Entdeckungen« des anderen sein. 4 Collins: Interaction Ritual Chains, S. 107. 5 Jonathan H. Turner, Jan E. Stets: The Sociology of Emotions, Cambridge 2005, S. 74. 6 Diese wirklichkeitskonstituierenden bzw. -transformierenden Sätze und Handlungen sind Ausprägungen des in Kapitel 3 erläuterten Konzepts einer radikalen Performanz. In den Existenz- und Gelingensbedingungen eines jeden Systems ist etwas angelegt, das mit diesem in Widerstreit liegt. Es ist das Performative, das Dynamiken in Gang setzt, die die Grenzen des Systems überschreiten (vgl. Kapitel 3.3, Anm. 43). Aus der Wiedergabe der Probensituationen wird ersichtlich, dass die Interaktionen der Künstler jene dynamische Kraft besaßen, die das System jedes einzelnen Probenprozesses prägten und die dieses System hiermit zugleich zu fixieren, zu ändern und abermals zu fixieren vermochten. 7 Vgl. Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 2009, S. 55f. (The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, New York 1999.) Vgl. auch Turner/Stets: The Sociology of Emotions, S. 95. 8 Damasio: Ich fühle, also bin ich, S. 67f. [Hervorhebungen im Original.] 9 Antonio Damasio im Interview mit Manuela Lenzen in Manuela Lenzen: »Der Emotionator«, in: Gehirn und Geist, Nr. 1, 2007, S. 30–33, S. 31f. 10 Turner/Stets: The Sociology of Emotions, S. 95f. 11 Damasio: Ich fühle, also bin ich, S. 337f. (Beim Verweis auf die »innere Simulation« versieht Damasio seine Aussage mit dem Link zu Vittorio Gallese und

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Endnoten

Alvin Goodman: »Mirror neurons and the simulation theory of mind-reading«, in: Trends in Cognitive Sciences, vol. 2, no. 12, 1998, S. 493–501. In der Theorie der Spiegelneuronen handelt es sich um spezielle Nervenzellen, die in einem Beobachter spiegelbildlich die Aktionen, Gefühle oder Körperzustände des beobachteten Objekts wachrufen. Auf solche Weise werden vom Beobachter äußere wie innere Zustände des Beobachteten simuliert bzw. mitempfunden.) 12 Ebd., S. 75. 13 Turner/Stets: The Sociology of Emotions, S. 96. 14 Vgl. Kapitel 5.2. 15 Titel für die Szenen »Mann, tut das weh!«, »Aufstand« (»Der Doktor ist gekommen!«) und »Das Abc« stammen von den Künstlern selbst. Titel für die Szenen »Liebeserklärung«, »Sie hören von mir kein Wort mehr« und »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden« stammen von mir. 16 Alle Titel der ausgewählten Szenen am BE stammen von mir. 17 Alle Szenentitel der Schaubühnen-Produktion sind von mir der vorhandenen Textvorlage entnommen. 18 DT-Textfassung vom 18.1.2010, S. 10. 19 Dimiter Gotscheff hat den Schauspieler Samuel Finzi in den Proben oft mit diesem Spitznamen angesprochen. 20 Siehe eine detaillierte Beschreibung der Szene »Liebeserklärung« bzw. die Weise, wie sie erstmalig im Probenraum geprobt wurde, im Kapitel 4.1 dieses Bandes. 21 Mein Probenvideo vom 28.1.2010. 22 Bis zu diesem Probentag hat Katrin Wichmann ihren Text »Liebeserklärung« auf eine beschleunigte bzw. aufgeregte Weise gesprochen, als hätte sie Atemnot bekommen. 23 Transkribiert auf Basis meines Probenvideos vom 16.2.2010. 24 Almut Zilchers Figur sprach im Stück Texte von Irina Arkadina aus Die Möwe. In Čechovs Stück ist Arkadina eine berühmte Schauspielerin. Wohl deswegen hat auch Zilchers Figur, die in manchen Monologen die Züge einer Schauspielerin verriet, das Schauspieltalent von Wichmanns Figur in dieser Szene eingeschätzt. Diese »Talent-Einschätzung« war eine Anspielung auf eine Konversation zwischen Irina Arkadina und Nina Saretschnaja aus dem Čechov’schen Stück. In jener Konversation lobt Arkadina das Talent der jungen Amateurschauspielerin Saretschnaja und sagt, sie müsse unbedingt zur Bühne gehen. 25 Dimiter Gotscheff pflegte sich »Mitko« nennen zu lassen. 26 DT-Textfassung vom 18.1.2010, S. 12. Originale Zeichensetzung der DT-Textfassung beibehalten. 27 DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 35ff. 28 Zitiert aus: Kasimir Malewitsch: Suprematismus: die gegenstandslose Welt, Köln 1962, S. 200. 29 Unter »Teppich« werden Texte verstanden, die die Figuren ohne jegliche Reihenfolge, quasi durcheinander vortrugen. Dieses »Aneinander-vorbei-Sprechen« sollte den Hintergrund für die Schicksale der Figuren darstellen. 30 Meine Probennotizen vom 1.2.2010. 31 Meine Probennotizen vom 5.2.2010. Da ich das Wort »aufflackert« akustisch gehört habe, das den Sinn des Satzes verstellt, kann ich nur ahnen, was der Schauspieler in Wirklichkeit gesagt hat. Es mag sein, dass »auffächert« gemeint war. 32 Meine Probennotizen vom 9.2.2010. 33 Meine Probennotizen vom 10.2.2010. 34 Mein Probenvideo vom 19.2.2010. 35 Meine Probennotizen vom 23.2.2010. 36 Mein Probenvideo vom 23.2.2010. 37 Regiebuch zu Krankenzimmer Nr. 6 vom 26.2.2010, Deutsches Theater Berlin. 38 DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 26f. 39 Meine Probennotizen vom 3.2.2010. 40 Gemeint ist der abgesonderte Raum, den jede Figur beim Vortragen ihres Textes um sich herum schaffen sollte, um den Zuschauern ihre Einsamkeit im geschlossenen Raum zu vermitteln. 41 Mein Probenvideo vom 11.2.2010.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

42 Textfassung vom 13.1.2010, S. 19f. 43 Meine Probennotizen vom 14.1.2010. 44 Meine Probennotizen vom 18.1.2010. 45 Meine Probennotizen vom 19.1.2010. 46 DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 15ff. 47 Meine Probennotizen vom 27.1.2010. 48 Mein Probenvideo vom 28.1.2010. 49 Ebd. 50 Originalschreibweise beibehalten. 51 Meine Probennotizen vom 28.1.2010. (Dimiter Gotscheff über das Konzept der in seiner Inszenierung darzustellenden Figuren.) 52 Meine Probennotizen vom 10.2.2010. 53 Mein Probenvideo vom 16.2.2010. 54 Mein Probenvideo vom 19.2.2010. 55 Meine Probennotizen vom 23.2.2010 56 Meine Probenvideos vom 23.2.2010. 57 BE-Textfassung, S. 34–38. 58 Ebd., S. 61f. 59 Ebd., S. 63–72. 60 Ebd., S. 68. 61 Ebd., S. 49ff. 62 Meine Probennotizen vom 29.1.2011. 63 BE-Textfassung, S. 53ff. 64 Meine Probennotizen vom 29.1.2011. 65 BE-Textfassung, S. 83–86. 66 Meine Probennotizen vom 31.1.2011. 67 Meine Probennotizen vom 3.2.2011. 68 Die Nachbarin der Kowalskis. 69 Meine Probennotizen vom 9.2.2011. 70 Meine Probennotizen vom 12.2.2011. 71 Meine Probennotizen vom 24.2.2011. 72 Meine Probennotizen vom 4.3.2011. 73 BE-Textfassung, S. 43–49. 74 Meine Probennotizen vom 10.1.2011. 75 Meine Probennotizen vom 19.1.2011. 76 Meine Probennotizen vom 20.01.2011. 77 Meine Probennotizen vom 21.1.2011. 78 Meine Probennotizen vom 22.1.2011. 79 Meine Probennotizen vom 5.2.2011. 80 Meine Probennotizen vom 9.2.2011. 81 Meine Probennotizen vom 16.2.2011. 82 Meine Probennotizen vom 28.2.2011. 83 Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 4f. 84 Meine Probennotizen vom 2.10.2012. 85 Meine Probennotizen vom 4.10.2012. 86 Meine Probennotizen vom 5.10.2012. 87 Meine Probennotizen vom 6.10.2012. 88 Meine Probennotizen vom 8.10.2012. 89 An dieser Stelle konnte ich das gefallene Wort nicht gut genug heraushören, weil Josef Bierbichler zu weit von mir entfernt saß und zu leise sprach. Aus ­großer Entfernung hörte sich das Wort an wie »Schwanenseele«. 90 Meine Probennotizen vom 9.10.2012. 91 Meine Probennotizen vom 10.10.2012. 92 Meine Probennotizen vom 11.10.2012. 93 Meine Probennotizen vom 12.10.2012. 94 Meine Probennotizen vom 1.11.2012. 95 Meine Probennotizen vom 2.11.2012. 96 Textfassung der Schaubühne vom 4.11.2012, S. 5f. 97 Meine Probennotizen vom 2.11.2012. 98 Meine Probennotizen vom 6.11.2012. 99 Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 6f.

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Endnoten

100 101 102

Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 7. Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 7ff. Vgl. Robert A. Thamm: »The Classification of Emotions«, in: Jan E. Stets, Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 11–37, S. 34. 103 Ebd., S. 34f. 104 Ebd., S. 34. [Hervorhebungen von mir, V. V.] 105 Franciscus Lang: Dissertatio de actione scenica (1727), hg. und übers. von ­Alexander Rudin, München 1975, S. 163. 106 Ebd., S. 164. 107 Ebd., S. 199. 108 Ebd. 109 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Vom »künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen – Theater des Barock und der Aufklärung, Bd. 2, Tübingen 1983, S. 40. 110 Lang: Dissertatio de actione scenica, S. 195. 111 Ebd., S. 194f. 112 So hat der berühmte amerikanische Emotionsforscher Paul Ekman in seiner 20-jährigen Forschung belegt, »daß es universelle Formen des Gesichtsausdrucks für Gefühle gibt« (Paul Ekman: Gesichtsausdruck und Gefühl: 20 Jahre Forschung von Paul Ekman, hg. und übers. von Maria von Salisch, Paderborn 1988, S. 76.). 113 Lang: Dissertatio de actione scenica, S. 200. 114 Ebd., S. 201. 115 Ebd. 116 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 58. [Hervorhebungen von mir, V. V.] 117 Wilfried Passow: »Anmerkungen zur Kunst des Theaters und der Regie im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts«, in: Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 133–146, S. 134. 118 Ebd. 119 Lang: Dissertatio de actione scenica, S. 317. 120 Vgl. ebd., S. 316. 121 Ebd., S. 158. 122 Passow: »Anmerkungen zur Kunst des Theaters und der Regie im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts«, S. 137. [Hervorhebung von mir, V. V.] 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Sybille Maurer-Schmoock: Lessing und die Bühne seiner Zeit, Tübingen, Phil. Diss. 1980, S. 389, zit. nach Passow, »Anmerkungen zur Kunst des Theaters und der Regie im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts«, S. 137. Darauf, dass die allgemeine Atmosphäre des Kontakts zwischen den Spielenden auch heutzutage ein wirksames Element bei den Proben ist, habe ich unter Berufung auf Michail Čechov hingewiesen (vgl. Kapitel 1.2, Anm. 58): »So entsteht aus einer allgemeinen Atmosphäre allmählich ein komplexes Ganzes. Wenn Sie dieses erste Werkstadium, die Lebendigkeit der allgemeinen Atmosphäre, zu gering schätzen, […] werden Sie eine Menge verlieren. Wie das Samenkorn die künftige Pflanze unsichtbar in sich einschließt, schließt auch die Atmosphäre Ihre ganze künftige Bühnenschöpfung unsichtbar in sich ein« (Michail A. Čechov: Die Kunst des Schauspielers, Stuttgart 1990, S. 37f.). 126 Johann Heinrich Friedrich Müller: Theatererinnerungen eines alten Burgschauspielers, hg. von Richard Daunicht, Berlin 1958, S. 38, zit. nach Passow, »Anmerkungen zur Kunst des Theaters und der Regie im deutschen Theater des 18. Jahrhunderts«, S. 137. 127 Dene Barnett: »Die Aufführungspraxis der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts: Ein Bericht«, in: Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, S. 113– 132, S. 127. Über den Einsatz theatraler Zeichen im Barocktheater schreibt auch Erika Fischer-Lichte in ihrer Semiotik des Theaters. 128 Barnett: »Die Aufführungspraxis der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts«, S. 113. 129 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine ähnliche Erkenntnis ­Alexander Rudins, die er im Nachwort zu Franciscus Langs Dissertatio

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

f­ ormuliert: »Die Anweisungen zu bestimmten Gebärden und zur Deklamation stammen aus rhetorischen Lehrbüchern und einem pädagogischen Kompendium des Jesuitenordens. Sie gehen sämtlich zurück auf Ciceros, Quintilians und des Auctor ad Herennium Schriften zur Rhetorik, genauer: auf deren Anleitungen für einen wirkungsvollen, von Mimik und Gestik unterstützten Vortrag. Dieser letzte, pronuntiatio oder actio genannte Abschnitt der traditionell fünfgliedrigen Rhetorenschulung erfuhr seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts eine zunehmend spezialisierte Behandlung, so daß sich besondere Fächer wie Chirologie (Hände- bzw. Fingersprache) und Chironomie (Kunst der ausdrucksvollen Handbewegungen) ausbildeten. Die von Lang herangezogenen Eloquentiae Sacrae et Humanae Parallela Libri XVI (Paris 1619) seines Ordensbruders Nicolas Caussin machen solche Bestrebungen deutlich; Caussin, wie alle Chironomen der antiken Vorbildern, besonders Quintilians Institutio oratoria (95 n. Chr.) verpflichtet, entwickelt eine höchst differenzierte Gebärdensprache, die – einer gestischen Kasuistik gleich – jedem Affekt bestimmte Hand- und Fingerbewegungen zuordnet und deren Ausführung peinlich genau regelt. Welche Akribie dabei entfaltet werden konnte, hat John Bulwer gezeigt, der unter dem Namen Freund der Händeweisheit (Philochirosophus) 1644 in London je einen Band Chirologia und Chironomia veröffentlichte. Das Werk bringt auf fünf Tafeln 120 Darstellungen verschiedener Hand- und Fingerhaltungen, jede mit spezifischer Bedeutung. Wie Caussin stützt Bulwer sich auf Quintilian, und dieses gemeinsamen Gewährsmannes wegen wirken seine »chyrograms« zur Trauer, Bewunderung, Abweisung, Entrüstung und Verachtung als Illustrationen der betreffenden Unterweisungen Langs.« (Lang, Dissertatio de actione scenica, S. 324f.) Auch Fischer-Lichte deutet auf die Verbindung zwischen der schauspielerischen Gebärdenkunst und der antiken Rhetorik hin (vgl. FischerLichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 43, 53 u. 189). 130 Barnett: »Die Aufführungspraxis der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts«, S. 127. 131 Ebd., S. 130. 132 Hoftheater hatten oft kein festes Schauspielerensemble und luden die Wandertruppen ein, um die von den Hofdichtern geschaffenen Werke auf die Hofbühne zu bringen. Ein Paradebeispiel des typischen Wanderlebens stellt das Leben des Schauspielers Conrad Ekhofs (des späteren Begründers der ersten deutschen und de facto auch europäischen Schauspielerakademie) dar. Mit der Schönemannschen Gesellschaft trat er auf zahlreichen deutschen Bühnen auf. Vgl. z. B. in: Heinz Kindermann: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie, Wien 1956, S. 67: »[…] Ekhof, der, wie jeder andere Angehörige der Schauspieler-Wandertruppen, nach kurzer Frist des Bleibens wieder seine Zelte abbrechen und weiterfahren mußte, um in der nächsten Stadt mühsam wieder alles neu aufzurichten; […] der im Plachenwagen inmitten von Dekorationen und kümmerlichen Requisiten und Koffern die holprige Fahrt von Stadt zu Stadt unternahm, bald nach der Ankunft, noch todmüde, straßauf, straßab laufen mußte, um ein Quartier zu finden bei Leuten, die nicht Angst hatten, der Unbehauste von der Komödie werde sie bestehlen oder sonst in den bürgerlich wohlbehüteten Lebensraum einbrechen […].« 133 Lang: Dissertatio de actione scenica, S. 209. 134 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 132. 135 Aber mit den Dichtern, die für die Hoftheater schrieben und nicht selten unmittelbar an den Inszenierungen teilnahmen, mussten wandernde Schauspieler in gewissen künstlerischen Fragen Gemeinsamkeiten finden. 136 Der erste Versuch eines deutschen Nationaltheaters geht auf das Jahr 1767 zurück, als Johann Friedrich Löwen, ein deutscher Intellektueller, Theatertheoretiker und Vertrauter Gotthold Ephraim Lessings und Conrad Ekhofs, das Hamburgische Nationaltheater gründete. Jedoch ging das Theater zwei Jahre später aufgrund der internen Unstimmigkeiten zwischen den Schauspielern und der Theaterleitung ein. Heinz Kindermann schildert die Situation um die Entstehung und Auflösung des ersten deutschen Nationaltheaters so: »So wundert es uns nicht, daß Ekhofs Akademie-Gedanke [gemeint ist Ekhofs Gründung der ersten deutschen Schauspielerakademie 1753] nachher in vielerlei Varianten nachwirkte. Löwen griff die Idee im Zusammenhang mit den

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Propositionen für das Hamburgische Nationaltheater auf. In der um Mitte 1766 erschienenen vorläufigen Nachricht über die 1767 vorzunehmende ›Veränderung des Hamburgischen Theaters‹ wird berichtet, der ›Directeur‹ des künftigen Hamburgischen Nationaltheaters, in diesem Fall ein literarischer Direktor, nämlich Löwen selbst, werde die Schauspieler der Nationalbühne zu einer ›theatralischen Academie‹ zusammenfassen, ihnen dort ›Unterricht‹ erteilen, ›der, wie bereits gesagt, die Bildung des Herzens und des Geschmacks betrifft‹ und überdies ›über kurz von ihm herauszugebende Grundsätze der körperlichen Beredsamkeit und über des Dorat vortrefflichen Essay sur la Déclamation tragique, der nächstens national gemacht werden soll, ordentliche Vorlesungen halten‹. Löwen wandelt damit den kollegialen Akademie-Gedanken in den einer Schauspieler-Hochschule […]. Die Schauspieler ließen sich wohl von ihrem Besten, von Ekhof, zur Not lenken und zur gemeinsamen Aussprache bewegen. Löwens dekretierende Art hingegen lehnten sie als Versuch einer Literarisierung des Theaters ab. Mit völlig anderen Vorzeichen hingegen und mit größtem Erfolg übernahm 1778 Wolfgang Helibert von Dalberg in dem von ihm geleiteten Mannheimer Nationaltheater Ekhofs kollegiale Akademie-Idee.« (Vgl. Heinz Kindermann: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie, Wien 1956, S. 83f.) Hiermit gilt das Mannheimer Nationaltheater als erster geglückter Versuch eines Nationaltheaters in Deutschland. Über die Etablierung des Nationaltheaters in Deutschland siehe auch Rudolf Schlösser: »Vom Hamburger Nationaltheater zur Gothaer Hofbühne, 1767–1779: 13 Jahre aus der Entwicklung eines deutschen Theaterspielplans«, Hamburg 1895, in: Theatergeschichtliche Forschungen, Bd. 13, Nendeln 1978. 137 Lessing spielt hier darauf an, dass Gottsched in einem seiner Ende der 1730er Jahre verfassten Stücke den Harlekin (Hanswurst) von der Bühne verbannte, um damit die Qualität der deutschen Komödie zu verbessern. 138 Gotthold Ephraim Lessing: Literaturkritik, Poetik und Philologie, 17. Literaturbrief, München 1973, S. 71. 139 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 133. 140 Conrad Ekhof: »Journal der Akademie der Schönemannischen Gesellschaft«, in: Heinz Kindermann: Conrad Ekhofs Schauspieler-Akademie, S. 8–41, S. 17. 141 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 101. bis 104. Stück, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, Leipzig 1956, S. 512. 142 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 133f. 143 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 3. Stück, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 267. 144 Nach Lessing ist die Empfindung »etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen äußern Merkmalen urteilen können«. (Vgl. ebd., S. 266.) 145 Ebd., S. 267. 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 267f. 149 Ebd., S. 268. 150 Ebd., S. 267. 151 Vgl. in: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 2003, insbes. S. 16 u. 22. 152 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 136. 153 Ebd., S. 137 u. 145. 154 Ebd., S. 143. 155 Ebd. 156 Ebd., S. 144. 157 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 101. bis 104. Stück, S. 512. 158 Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik (1785–1786), wieder abgedruckt in: Ders.: Ideen zu einer Mimik. Zwei Teile, Darmstadt 1968. 159 Vgl. dazu auch Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 156–177. 160 Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 55. 161 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 158. 162 Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 80f. 163 Ebd., S. 61. 164 Ebd., S. 98f.

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen

165 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 159. 166 Ebd. 167 Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 96f. 168 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 159. 169 Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 97f. 170 Ebd., S. 97. 171 Ebd., S. 105. 172 Ebd., S. 19. 173 Ebd., S. 177. 174 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 164. 175 Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 244. 176 Ebd., S. 245. 177 Ebd., S. 251. 178 Ebd., S. 250f. 179 Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 164. 180 Annemarie Matzke analysiert im fünften Kapitel ihrer Habilitationsschrift die Anfänge der Theaterprobenpraxis um 1800 am Beispiel des Weimarer Hoftheaters (vgl. Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 129–156). Zum »probenintensiven Regietheater« unter der Leitung Goethes beruft sich Matzke auf die Goethe-Forscher Peter Huber und Ekkehard Krippendorff (vgl. ebd., S. 130, Anm. 4). Huber selbst schreibt: »Zwar war Goethe nicht der alleinige Erfinder des probenintensiven Regietheaters – Ansätze existierten dazu bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert in Paris und Wien –, doch trug er maßgeblich zu seiner Verbreitung in Deutschland bei.« (Peter Huber: »Goethes praktische Theaterarbeit«, in: Bernd Witte u. a. (Hg.): Goethe-Handbuch, Bd. 2, Stuttgart 1997, S. 21–42, S. 41.) Weiterhin betont Matzke unter Rekurs auf Krippendorff, dass sich Goethes künstlerische Praxis durch »systematische Probenarbeit« auszeichne (vgl. Matzke: Arbeit am Theater, S. 130). 181 Man denke allein an die Weimarer Theatergesetze aus dem Jahr 1793, die die Schauspieler Goethe zur Unterzeichnung vorlagen. Die in Paragraphen eingeteilten Gebote, Regelungen und Vorschriften an sich selbst (!) sind ein Beispiel bedingungsloser Einwilligung in das entstehende Betriebssystem und die bürokratische Ordnung des neuen Theaters. Matzke erwähnt ähnliche Theatergesetze an den Hoftheatern in Mannheim, Gotha und Hamburg (vgl. Matzke: Arbeit am Theater, S. 149, Anm. 58). 182 Matzke: Arbeit am Theater, S. 131. 183 An dieser Stelle muss der grundlegende Unterschied zwischen der Probe damals und heute erläutert werden. Matzke unterstreicht, dass sich die übliche Probenzeit Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts auf nur drei bis vier Probentage belief. Über den Umstand, dass Goethe die gesamte Probenzeit für das Stück Die Geschwister auf dem Lande sogar auf acht Probentage verteilte (»Allerdings sind in diesen acht Tagen auch Zeiten zum individuellen Textstudium enthalten.« [ebd., S. 130]), führt Matzke aus, dass Goethe zum »probenintensiven Regietheater« neigte. Dabei sind natürlich die Funktionsunterschiede der Probe damals und heute zu betonen: Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts durfte in der Probe nichts vorkommen, was nicht in die Aufführung eingehen sollte. Die repetitive Wiederholung der Proben bezeichnete Schiller als »Zeitverlust« (vgl. Schiller an Goethe am 28.4.1801, in: Emil Staiger (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Frankfurt/M. und Leipzig 2005, S. 917, zit. nach Matzke: Arbeit am Theater, S. 130). Damit wird auch die damalige Tendenz der knappen Probenzeit erklärt. Heutzutage wird die Probe hingegen als eine Stätte für die Ausübung und Vervollkommnung der künstlerischen Arbeit des Schauspielers und für die kreative Zusammenarbeit des gesamten Probenteams begriffen, was zu Goethes Zeiten in Opposition zum professionellen Theater stand und als Hauptmerkmal des Dilettantismus galt. 184 Matzke: Arbeit am Theater, S. 153. 185 Ebd., S. 152. 186 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller: »Fragmente über den Dilettantismus«, in: Johann Wolfgang von Goethe: Weimarer Ausgabe, Weimar 1887–1919, Bd. 47, S. 302, zit. nach Matzke: Arbeit am Theater, S. 132; Johann

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Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller: »Über den Dilettantismus«, in: ­Weimarer Ausgabe, Bd. 1, 47, S. 747, zit. nach Matzke: Arbeit am Theater, S. 131. 187 Johann Wolfgang von Goethe: »Tag- und Jahres-Hefte«, in: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchener Ausgabe, Bd. 14, München 1986, S. 102, zit. nach Matzke: Arbeit am Theater, S. 138. [Hervorhebung von mir, V. V.] 188 Matzke: Arbeit am Theater, S. 139. 189 Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen 1993, S. 143. 190 Johann Wolfgang von Goethe: »Regeln für Schauspieler«, in: Ders.: Ästhetische Schriften 1771–1805, Bd. 18, Frankfurt/M. 1998, S. 857–882. 191 Ebd., S. 864. 192 Ebd., S. 865. 193 Ebd., S. 864. 194 Ebd., S. 865. 195 Ebd. [Hervorhebung im Original] 196 Ebd., S. 866. 197 Ebd., S. 865f. 198 Diese Vorschrift Goethes spannt, wie schon gesagt, eine Brücke zum 20. Jahrhundert, und es finden sich unvermeidliche Parallelen mit Michail Čechovs Probenanweisung über die Schöpferische Individualität in dessen Schauspiellehrbuch Die Kunst des Schauspielers. Čechov weist deutlich darauf hin (indem er sich der wissenschaftlichen Terminologie des 20. Jahrhunderts über das Bewusste und Unbewusste, über das Selbst der schöpferischen Gestalt usw. bedient), dass »die Wünsche, Bedürfnisse und Erlebnisse Ihrer Bühnengestalt […] sämtlich irreal [sind], ganz gleich, wie intensiv sie sind; sie dürfen gar nicht real sein. […] Woher kommen dann diese irrealen, rein imaginativen Gefühle? Sie sind eine Gabe Ihrer schöpferischen Individualität.« (Michail Čechov: Die Kunst des Schauspielers, Stuttgart 1990, S. 123.) Čechov bezeichnet schöpferische Gefühle als Mit-Fühlen. Das Mit-Fühlen »[schafft] die ›Seele‹ der Bühnengestalt mit. Ihr höheres ›ICH‹ fühlt mit der von ihm selbst geschaffenen Bühnengestalt mit. Der Künstler in Ihnen leidet mit Hamlet, beweint Julias tragisches Ende und lacht über Falstaffs Fehltritte. Als freier und an nichts Persönliches gebundener Schöpfer und Beobachter bleibt er jedoch selbst distanziert. Sein Mit-Leiden, sein Mit-Freuen und Mit-Lieben, sein Gelächter und seine Tränen werden dem Zuschauer übermittelt als das Lachen und Weinen, die Liebe, die Schmerzen und Freuden, als die ›Seele‹ der Bühnengestalt. […] Der Schauspieler irrt, wenn er glaubt, seine Rolle mittels persönlicher Gefühle darstellen zu können. Nicht immer macht er sich klar, daß seine persönlichen Gefühle nur über ihn selbst etwas aussagen, niemals über seine Rolle. Nur durch Mitgefühl ist eine fremde Seele zu verstehen. Sogar im Alltag ist Ihnen schon aufgefallen, daß Sie einen anderen Menschen nur dann wirklich verstehen können, wenn Ihr Mitgefühl angesprochen ist. Derselbe Ablauf gilt für die schöpferischen Momente.« (Ebd., S. 124f.) Bemerkenswert ist, dass auch Čechov in seinem eineinhalb Jahrhunderte nach Goethe verfassten Werk den deutschen Klassiker als einen unübertroffenen Meister der psychologischen Selbstbeobachtung erwähnt. Čechov empfiehlt dem Schauspieler bei der Selbstbeobachtung jene Psychologie zu verwenden, die Goethe an sich selbst verwendete. Unter Berufung auf den Philosophen, Anthroposophen und Goethe-Forscher Rudolf Steiner empfiehlt er den Berufsschauspielern, eine psychologische Methodik auszuarbeiten, die schon Goethe verwendete: »Sie können auf eine psychologische Struktur hinarbeiten, wie sie ähnlich auch Goethe eigen war. Wie Rudolf Steiner sagt [Čechov verweist hier auf Steiner, vgl. dazu Rudolf Steiner, Marie Steiner-von Sivers: Sprachgestaltung und Dramatische Kunst: ein Vortragszyklus, gehalten in Dornach vom 5. bis 23. September 1924, Dornach 1981, S. 18f.], besaß Goethe in höchstem Grade die Fähigkeit zur distanzierten, objektiv-unpersönlichen Selbstbeobachtung. Selbst in den stimmungsvollsten Augenblicken seines Lebens gestattete er sich das Vergnügen eines doppelten Bewußtseins. Dieser Fähigkeit verdankte Goethe sein subtiles Verständnis für das menschliche Seelenleben, das sich unter anderem in seinem romantischen Werk widerspiegelt. Diese Fähigkeit leistet einen großen Beitrag für die Emanzipation Ihres schöpferischen ›ICH‹ und

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5  Soziale Emotionen in den Probenprozessen schenkt Ihnen immer öfter Augenblicke der Inspiration.« (Čechov: Die Kunst des Schauspielers, S. 126) 199 Goethe: »Regeln für Schauspieler«, S. 877. 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Dies stimmt mit der Diderot’schen Ausführung überein, die im Brief über die Taubstummen formuliert ist: »[…] daß sich ein großer Teil der Reden […] ohne erhebliche Schwierigkeiten in die Sprache der Gesten übersetzen lassen. Darüberhinaus hat die gestische Sprache den Vorteil, leichter verständlich zu sein als die Wortsprache. […] Dieser Schluß ist nun für die Schauspielkunst insofern von Bedeutung, als im Theater weitgehend Gegenstände behandelt werden, auf die diese Charakteristik zutrifft: Was in den Reden der Personen ausgesagt wird, muß sich zu einem großen Teil ebenso angemessen in Gesten ausdrücken lassen.« (Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 120.) 203 Goethe: »Regeln für Schauspieler«, S. 878. 204 Ebd. 205 Matzke: Arbeit am Theater, S. 142. 206 Ebd., S. 136. 207 Ebd. 208 Ebd., S. 137. 209 Michail Čechov schreibt in seinen Memoiren Folgendes über Stanislawskis »Naturalismus«: »Jene Wahrheit, die er dem russischen Theater eingeimpft hatte, eine Wahrheit, die Publikum und Schauspieler in Rußland so sehr liebten und schätzten, hieß bei Stanislavskij Naturalismus, und, wie mir schien, unterschied er diesen nicht vom Realismus. Der Realismus ist nicht weniger wahr als der Naturalismus, mit einem einzigen Unterschied freilich, daß nämlich jede phantastische Figur, Situation oder Psychologie realistisch sein kann. […] Stanislavskij inszenierte einerseits den ›Blauen Vogel‹, andererseits den ›Panzerzug‹. Für ihn waren durch ihre szenische Wahrheit beide Inszenierungen künstlerisch gleichwertig, wobei er übersah, daß im Vergleich zur lebensvollen Phantastik des ›Blauen Vogels‹ der ›Panzerzug‹ nicht mehr war als eine photographische Reproduktion der Ereignisse zwischen 1918 und 1920. Das war Natur, existierte also unabhängig vom Theater oder der Kunst überhaupt. Das Fehlen einer zeitlichen Perspektive machte diese Ereignisse auf der Szene unkünstlerisch und nahm ihnen das Element des Phantastischen.« (Michail Čechov: Leben und Begegnungen: Autobiographische Schriften, Stuttgart 1992, S. 139f.) Čechov plädierte also nicht für die »photographische Reproduktion der Ereignisse«, die er für »unkünstlerisch« hielt, sondern für den fiktiven Charakter jedes »Naturalismus« auf der Bühne (für dessen Darstellung entsprechende Schauspielmethoden damals noch ausgearbeitet werden mussten). 210 Z. B. zeugt davon die von Wsewolod Meyerhold ausgearbeitete Körperlehre und -sprache, die er als Biomechanik bezeichnete. Ein anderes Beispiel für eine Schauspiellehre ist die »komödiantisch-virtuose Spielform« von Jewgeni Wachtangow, der »neben der Wahrhaftigkeit des Erlebens auf Rhythmik, Gestik, Plastizität des Ausdrucks gesteigerten Wert [legte]«. (Vgl. in: Michail Čechov: Leben und Begegnungen: Autobiographische Schriften, Stuttgart 1992, S. 122, Anm. 161.) Aufgrund des frühen Todes hat Wachtangow es nicht geschafft, seine Arbeitsmethode schriftlich zu überliefern. Aber sein Schüler und Nachfolger Boris Sachawa hat Wachtangows Regie- und Schauspielansätze, die er in den Proben leidenschaftlich verfolgte, weiterentwickelt und auf dieser Grundlage eine Schauspielschule gegründet, die den Namen Wachtangows trug. Heute ist sie unter dem Namen Schtschukin-Schauspielschule am Wachtangow-Theater in Moskau bekannt. Die von Sachawa systematisierte Wachtangow-Methode wird ausschließlich von den Schülern der Schtschukin-Schauspielschule von einer Generation zur anderen überliefert. Michail Čechovs Lehre Die Kunst des Schauspielers ist ein weiteres Beispiel einer Schauspieltheorie von einem Stanislawski-Schüler. Die Struktur dieser Schrift ist überschaubar: Die Abhandlung ist in konkrete, betitelte Probenanweisungen eingegliedert, die ihrerseits praktische Übungen für Schauspielstudierende enthalten. (Dabei ist zu erwähnen, dass auch Stanislawski einige »Übungen und Etüden« zum Unterricht nach dem »System« für den zweiten Teil seines Lehrbuchs vorbereitet hatte. Diese Übun-

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gen stellen aber nur Rohentwürfe dar und hätten später noch ergänzt und überarbeitet werden sollen, was durch Stanislawskis Tod 1938 verhindert wurde.) 211 Čechov: Leben und Begegnungen, S. 141. 212 Vgl. Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen ­Prozess des Erlebens, Teil 1, S. 191. 213 Čechov: Leben und Begegnungen, S. 140, Anm. 200. 214 Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Teil 1, S. 191. 215 Ebd., S. 389, Anm. 36. 216 Ebd., S. 205. 217 »Arrangement« meint in der russischen Originalausgabe »mizanscena« (»mise-en-scène«). 218 Ebd., S. 208. 219 Ebd., S. 209. 220 Ebd., S. 210. 221 Ebd., S. 211. 222 Čechov: Leben und Begegnungen, S. 140. 223 Ebd. [Hervorhebungen im Original] 224 Ebd., S. 141. [Hervorhebungen im Original] 225 Ebd., S. 58, Anm. 75. [Hervorhebungen im Original] 226 Ebd., S. 127f. 227 Im zweiten Teil seines Werks Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns widmet Stanislawski das Kapitel mit dem Titel Selbstbeherrschung und Vollendung der Entwicklung des schauspielerischen Vermögens, seine Gestik zu kontrollieren. »Die disziplinierte Gebärde« kann nur ein selbstbeherrschender Schauspieler vollziehen, der die von ihm darzustellende Figur »nicht durch übertriebene Gestik belastet«, »der alle konvulsiven und krampfhaften Bewegungen meidet« (Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns, Teil 2, S. 195). Stanislawski vergleicht eine übertriebene Gestik des Schauspielers mit Wasser, »mit dem man guten Wein verdünnt«, der dadurch seine Qualität und seinen echten Geschmack einbüßt und zu einer »leicht rosig gefärbte[n] Flüssigkeit« wird (ebd., S. 194). Der Schauspieler solle »nur drei oder vier charakteristische, für seine Rolle typische Bewegungen und Handlungen« finden, um »von sich selbst loszukommen und sich äußerlich nicht in jeder neuen Rolle zu wiederholen« (ebd., S. 195). »[C]harakteristische Bewegungen [identifizieren] den Schauspieler mit der Rolle […], während seine eigenen Bewegungen ihn von der darzustellenden Person distanzieren, ihn in die Sphäre seiner persönlichen, individuellen Empfindungen und Gefühle zurückdrängen« (ebd.). Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich zu sein, dass Stanislawski hier – im Widerstreit mit seiner eigenen Theorie des emotionalen Gedächtnisses – den Schauspieler auffordert, seine individuellen Gefühle zurückzudrängen. Dann präzisiert er jedoch, dass »das Gefühl des Schauspielers mit dem der Rolle übereinstimmen muß« (ebd.). Das bedeutet, dass Stanislawski hiermit auf eine große und ermüdende Arbeit des Schauspielers vor dem Bühnenauftritt, also »daheim und auf den Proben«, hinweist: »Wenn der Schauspieler daheim und auf den Proben das Schicksal seiner Rollengestalt durchlitten und mit ihr geweint hat, muß er sich zunächst wieder fassen und von jeder übermäßigen Erschütterung freimachen, die ihm nur hinderlich sein würde. Denn sobald er auf der Bühne steht, muß er imstande sein, den Zuschauern klar, eindringlich, ausdrucksvoll und verständlich mit Hilfe seines eigenen Gefühls von dem zu berichten, was er zuvor empfunden und durchlebt hat« (ebd., S. 193; Hervorhebung von mir, V. V.) Stanislawski plädiert also für die Kontrolle der eigenen Emotionen beim unmittelbaren Spielen, aber besteht auf dessen Erleben. Er meint aber das Erleben nicht der spontan und zufällig auf der Bühne entstandenen Elemente, sondern das Erleben der vorher künstlerisch ausgewählten und im Prozess des (Selbst-)Probens durchlebten Charakterzüge der Figur. 228 Čechov: Die Kunst des Schauspielers, S. 46. [Hervorhebungen im Original] 229 Vgl. ebd., S. 49–70. 230 Ebd., S. 53. [Hervorhebung im Original] 231 Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess

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des Verkörperns, Teil 2, Westberlin 1984, S. 194. [Hervorhebung von mir, V. V.] Vgl. ebd., S. 454, Anm. zu Übungen und Etüden. Vier Jahre nach Wachtangows Tod wurde 1926 aus der Dritten Studiobühne das Wachtangow-Theater. 234 MChAT (rus. Moskovskij Chudožestvennyj Akademičeskij Teatr) – russische Abkürzung für Moskauer Künstlertheater. 235 Čechov: Die Kunst des Schauspielers, S. 68. 236 Ebd. 237 Vladislav Ivanov: Evgenij Vachtangov. Dokumenty i svidetelstva, gesammelte Dokumente in zwei Bänden, Bd. 2, Moskva 2011, S. 434. [meine Übersetzung, V. V.] 238 Ebd. [meine Übersetzung, V. V.] 239 Einschub aus »Der Weg des Schauspielers«, Moskva 1986, Bd. 1, S. 78–80, in: Čechov: Die Kunst des Schauspielers, S. 66. 240 Ebd., S. 66f. 241 Ivanov: Evgenij Vachtangov, S. 437. [Übersetzung von mir, V. V.] 242 Ebd., S. 438. [Übersetzung von mir, V. V.] 243 Ebd., S. 439. [Übersetzung und Hervorhebung von mir, V. V.] 244 Ebd. [Übersetzung und Hervorhebung von mir, V. V.] 245 Ebd., S. 530. [Übersetzung von mir, V. V.] 246 Ebd., S. 434. [Übersetzung von mir, V. V.] 247 Ebd. [Übersetzung von mir, V. V.] Meyerhold war davon überzeugt, dass Das Heimchen am Herd als eine Phantasie zu spielen war (was weit von der naturalistischen Konzeption der MChAT-Aufführung stand). Und der Einzige, der laut Meyerhold diesem Konzept gemäß spielte, war Wachtangow. Deswegen sagte er, dass nur Wachtangow hier »richtig« spielte. (Vgl. ebd.) 248 Ebd., S. 434. [Übersetzung von mir, V. V.] 249 Ebd., S. 466f. [Übersetzung von mir, V. V.] 250 Ebd., S. 467. [Übersetzung von mir, V. V.] 251 Der Regisseur Thomas Ostermeier war z. B. in ein Biomechanik-Projekt involviert. Noch als Regiestudent inszenierte er 1995 im Rahmen eines Meyerhold-Projekts zur Biomechanik an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch das Stück Die Unbekannte von Alexander Block. 252 Wsewolod Meyerhold: »Der Lehrer Bubus und das Problem einer Spielweise mit Musik. Referat vom 1. Januar 1925«, in: Ders.: Schriften, Zweiter Band 1917– 1939, Berlin 1979, S. 58–89, S. 86f. 253 Wsewolod Meyerhold: »Aus einer Rede während einer Diskussion über Die schöpferische Methode des Meyerhold-Theaters. 25. Dezember 1930«, in: ebd., S. 223–233, S. 233. 254 Meyerhold liefert dabei Beispiele von den Schauspielerinnen Ganako und Tina di Lorenzo, die imstande waren, auf eigenen Wunsch ihre Reflexe meisterhaft zu steuern. (Vgl. Meyerhold, »Der Lehrer Bubus und das Problem einer Spielweise mit Musik. Referat vom 1. Januar 1925«, S. 87.) 255 Vgl. Kapitel 5.3, Anm. 112 u. 113. 256 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 7, Schriften 1: Zum Theater, Frankfurt/M. 1967, S. 397. 257 Ebd., S. 397f. [Hervorhebungen von mir, V. V.] 258 Ebd., S. 394f. [Hervorhebung von mir, V. V.] 259 Ebd., S. 407. 260 Vgl. ebd. 261 Ebd. 262 Ebd., S. 408. [Hervorhebungen von mir, V. V.] 263 Ebd. 264 Über die Relevanz der Kunst des Beobachtens für die Schauspielerausbildung schreibt Brecht in seiner späteren Schrift Neue Technik der Schauspielkunst (1949 bis 1955). Er wirft den Schauspielschulen vor, dass sie »die Beobachtung und die Nachahmung des Beobachteten [vernachlässigen]. […] Es genügt nicht, die Figuren der Dichtungen gut aufzunehmen, sondern man muß als Schauspieler ständig wirkliche Menschen um sich herum und am fernsten Umkreis dazu aufnehmen und verarbeiten. In gewisser Weise verwandelt sich für den Schauspieler seine ganze Umwelt in Theater, und er ist der Zuschauer. Ständig eignet er sich das seiner ›Natur‹ Fremde an, und zwar so, daß es ihm fremd genug bleibt, 232 233

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Endnoten

das heißt so fremd, daß es sein Eigenes behält.« (In: Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 7, Schriften 1: Zum Theater, S. 741.) Brecht ordnet das Vermögen des Beobachtens sogar einer der zehn wichtigsten Vorschriften zu, die den Schauspielerberuf prägen: »Was ihm [dem Schauspieler] über vieles hinweghilft, ist die Kunst des Beobachtens, die er ständig ausübt. Er beobachtet, indem er nachmacht. Und er erfindet für die Beobachteten ein Verhalten für viele Situationen, die er nicht beobachten kann.« (Ebd., S. 743.) 265 Ebd., S. 760. Der Text Die Spielleitung Brechts (S. 759–762) wurde in dieser Fassung von Brecht geschrieben; er wurde von Käthe Rülicke für Theaterarbeit redigiert und ergänzt. 266 Ebd. 267 Siehe dazu z. B. Anmerkungen zu Stücken und Aufführungen 1918–1956, in: ebd., S. 944–1296. 268 Um an dieser Stelle wieder an die deutsche Regietradition anzuknüpfen, lässt sich eine Aussage Brechts über die Wichtigkeit des Zusammenspiels im Inszenierungsprozess zitieren: »Die Rolle kann einzeln erarbeitet werden, aber nicht so, daß sie dann endgültig fixiert ist. Die Hauptarbeit geschieht beim Zusammenspiel. Danach hat sich alles wieder zu ändern.« (Bertolt Brecht: Schriften 3, 1942–1956, in: Werke, Bd. 23, Frankfurt/M. 1993, S. 192). Heutzutage beginnt man in den Proben – in der Brecht’schen Terminologie – gleich mit der »Hauptarbeit«, also mit dem Zusammenspiel der Akteure. Auf solche Weise entstehen während des gemeinsamen Probierens Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen den Figuren, und die Entwicklung dieser Beziehungen wird von Probe zu Probe immer fortgeschrittener. Gerade in der Beobachtung dieses Fortschritts von Figurenbeziehungen bestand mein Ziel als Probenbeobachterin. 269 Erika Summers-Effler: »Ritual Theory«, in: Jan E. Stets, Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 135–154, S. 138. 270 Vgl. in Albert Newen, Alexandra Zinck: »Wir sind, was wir fühlen«, in: Gehirn und Geist, Nr. 6, 2008, S. 40–45, S. 42.

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Das Einblenden der sozialen Emotionen

Aus GrĂźnden der besseren Darstellbarkeit wird dieses Kapitel dem Leser digital zur VerfĂźgung gestellt. Die tabellarischen Ăœbersichten sind abrufbar unter: https://www.theaterderzeit.de/buch/zur_konstituierung_der_kunstfig ur_durch_soziale_emotionen/

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7 Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen 7.1

Zum Begriff der Kunstfigur

Das Ziel des Probenprozesses im Regietheater besteht für jeden einzelnen Schauspieler in der Verkörperung seiner Rolle. Allerdings wäre es genauer zu sagen, dass der Probenprozess sowohl individuelle Ziele der Darstellenden kennt (das Erschaffen von einer Biographie der Figur, das Aufspüren ihrer individuellen Gesten und Handlungen, ihrer Emotionalität, das Erfinden der Verfahren für die Hervorbringung der Handlungen auf der Bühne etc.) als auch allgemeine, kollektive szenisch-darstellerische Aufgaben in ihren vielfältigen Ausprägungen zu lösen hat (wie etwa die Herstellung der interpersonalen Beziehungen zwischen den Figuren, die Erfindung ihrer Handlungen und Bewegungen im Raum, ihr gemeinsames Befinden und körperliches Dasein auf der Bühne usw.). Aber sowohl die individuellen als auch allgemeinen Ziele der Darstellenden drehen sich um die künstlerische Erschaffung der Figuren. Und an dieser Stelle lässt sich klären, was eine Kunstfigur im modernen Regietheater ist. Vor allem muss man hervorheben, dass es mehrere Begriffe gibt, die ein und dieselbe Erscheinung bezeichnen: Figur, Kunstfigur, Rolle, Rollenfigur, Gestalt, Bühnengestalt, dramatis persona, Charakter, ja sogar Stand – alle diese Begriffe drücken das aus, was von den Schauspielern auf der Bühne aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten geschaffen wird, nämlich das Sich-Hineinversetzen in eine andere Person, das Zur-Schau-Stellen der imaginären Charakterzüge bzw. jedes möglichen vorstellbaren Handelns einer anderen Person. In unterschiedlichen historischen Epochen und Theaternationen verwendete man (manchmal simultan, manchmal auch ausschließlich begrenzt) viele der erwähnten Begriffe, die die darzustellende Erscheinung auf der Bühne bezeichneten. So plädierte Denis Diderot dafür, nicht menschliche Charaktere, sondern die Stände auf die Bühne zu bringen, weil, wie Gotthold E ­ phraim Lessing im 86. Stück der Hamburgischen Dramaturgie beschreibt, »es in der menschlichen Natur aufs höchste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gäbe, die großer Züge fähig wären; und daß die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so glücklich bearbeitet werden könnten […].«1 Nach Diderot sollte der bürgerliche Zuschauer sich selbst in den typischen Vertretern seines Standes auf der Bühne wiedererkennen

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7  Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen

­ önnen, denn nur das würde im Zuschauer entsprechende Empfink dungen auslösen, die auf ihn einwirken können und durch die er sich vervollkommnen könnte: Bisher […] ist in der Komödie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufälliges: nun aber muß der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufällige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrigue: man suchte durchgängig die Umstände, in welchen er sich am besten äußert, und verband diese Umstände unter einander. Künftig muß der Stand, müssen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit größerm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig übertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selber sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, daß der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmöglich verkennen. Er muß das, was er hört, notwendig auf sich anwenden.2 Mit diesem Postulat ändert Diderot auch die Aufgabe des Schauspielers, indem er diese verallgemeinert: Der Schauspieler soll weder auf die Einzelheiten der Figur, also eines konkreten darzustellenden Menschen X, Rücksicht nehmen, noch von den gegebenen Umständen seines Helden ausgehen (und diese Umstände könnten auch »­untypisch« für seinen Stand sein), sondern er soll sich an den Normen und Gesetzmäßigkeiten des Standes der darzustellenden Figur orientieren. Der Mensch sollte nun auf der Bühne als »Gattungswesen« dargestellt ­werden: Die Bühne hat daher den Menschen in den Merkmalen darzustellen, die seine Gattung konstituieren, nicht aber in zufälligen Eigenheiten, die vereinzelt bei dem oder jenem auftreten mögen und ihn wohl von anderen zu unterscheiden imstande sind, ohne jedoch für ihn als Gattungswesen von Belang zu sein. Das Wahre der Bühne ist das Wahre des Menschen allgemein, nicht das Wahre der Menschen A, B, C.3 Auf diese Weise sollte nach Diderot die Ähnlichkeit des Helden mit dem bürgerlichen Zuschauer erzielt werden, damit er sich mit dem Helden identifizieren kann und das Theater sein großes Ziel – die Erziehung des Zuschauers – erreicht. Dasselbe Ziel verfolgte in seinen

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7.1  Zum Begriff der Kunstfigur

Theatertheorien auch Lessing. Aber er ging ausgerechnet von jenen Wirkungskonditionen aus, die Diderot so heftig verneinte: Nach Lessing war es der Charakter, der die Ähnlichkeit des Helden mit dem bürgerlichen Zuschauer herstellen konnte. Unter dem Charakter versteht Lessing, wie Erika Fischer-Lichte notiert, einerseits »etwas Wesentliches und Eigentümliches«. Es macht die »Individualität« einer Person aus. Es ist weder »etwas Zufälliges« noch etwas Veränderbares: »die geringste Veränderung scheint uns die Individualität aufzuheben und fremde Personen unterzuschieben«. Der Charakter ist eine von Natur gegebene und feste Größe. In diesem Sinne ist er auch andererseits auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit bezogen: Entsprechend besteht »das Lehrreiche des Theaters« »in der Erkenntnis, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Fakten hervorzubringen pflegen und hervorbringen müssen«. Das erste ist die Voraussetzung des zweiten. Denn nur wenn der Charakter als eine unveränderbare Größe gedacht wird, läßt sich auch eine Gesetzmäßigkeit über die Kollision bestimmter Charaktere mit bestimmten Umständen ableiten.4 Der Charakter ist also nach Lessing eine natürliche Kategorie, die von dem gesellschaftlichen Stand des Helden unabhängig ist.5 Und der Schauspieler soll sich daher jener Kunstgriffe auf der Bühne bedienen, die das Wahre des Charakters der dramatis persona an den Tag bringen. Die Wahrheit des Charakters lässt sich durch Handlungen des Helden erkennen. Wie Fischer-Lichte aus dem 9. Stück der Hamburgischen Dramaturgie zitiert, »ist es wahr, in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern […].«6 Allein in dieser Behauptung, dass die kleinsten Handlungen den Charakter gestalten können, sind die Ansätze ersichtlich, die Stanislawski erst im 20. Jahrhundert (und zwar in den letzten Jahren seiner Regietätigkeit zwischen 1935 und 1938) in seiner berühmten Methode der physischen Handlungen7 entwickelte. Und wie Fischer-Lichte in einer Anmerkung mit Recht vermerkt, »[sehen] sowohl Diderot als auch Lessing den Schauspieler als möglichen Korrektor bzw. Vollender des Dichters«8. Auch diese Behauptung stimmt mit den weiter fortgeschrittenen Methoden (als zu Lessings Zeiten) und den Arbeitsweisen Stanislawskis überein, die dieser in seiner Regiepraxis anwendete:

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7  Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen

In seiner letzten Arbeitsperiode benutzte Stanislawski vorzugsweise den Begriff Handlung, der den Prozeß, den Weg zur Erfüllung der Aufgabe, bedeutete. Was die Mittel anbetrifft (also wie die Handlung ausgeführt wird), so glaubte Stanislawski, sie müßten stets Improvisation oder wenigstens zur Hälfte Improvisation sein. Um das Mittel nicht zu einem Klischee zu machen, empfahl er bei den Proben, nicht die Ausführung der Handlung selbst, sondern die Vorbereitung darauf, den Drang zum Handeln, zu befestigen (nicht das wie, sondern das was). »Trainieren Sie nicht den Schuß selbst, sondern das genaue Zielen, die Vorbereitung zum Schuß; ›schießen‹ werden Sie schon auf der Bühne«, sagte er.9 Der Schauspieler soll also die allgemeine »Linie der Rolle verfolgen«10 bzw. sich die wichtigsten physischen Handlungen, die er dabei ausführt, einprägen. Über die kleinsten Mittel zur Ausführung dieser Handlungen soll der Schauspieler immer selbst – und zwar sowohl bei den Proben als auch während der Aufführung – spontan entscheiden: »[S]ie können jedesmal aus dem Stegreif gespielt werden.«11 Stanislawski verwendete oft den Begriff Rolle, wenn er über die auf der Bühne darzustellende Figur sprach. Allein der Titel des dritten Bandes seiner grundlegenden Schriftenreihe zur Schauspielkunst – Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle – zeugt davon, dass er diesen Begriff gegenüber den vielen anderen bevorzugte. Aber mit Recht muss man sagen, dass es Stanislawski bei der Probenarbeit mit den Schauspielern an ihren Rollen nicht um eine präzisere Auswahl der Begriffe ging (in seinem Werk verwendete er genauso oft die Wörter Gestalt, Rollengestalt, Bühnengestalt), sondern darum, dass die Rolle (Gestalt, Figur, Rollengestalt etc.) »ihre Entwicklung, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft«12 hat, dass der Schauspieler bei der Arbeit an der Rolle »die Anspielungen des Dichters auf die Vergangenheit und die Zukunft der Rolle und des Stückes« heraussucht, dass er »beständig den Traum von der Zukunft vor sich haben [muß]« und dass dieser Traum »alle seine Handlungen auf der Bühne leiten [muß]«.13 Und genau die Methode der physischen Handlungen war es, die Stanislawski in seinen letzten Lebensjahren bzw. letzten Jahren seiner Regietätigkeit ausarbeitete, vervollkommnete und vertiefte, um das Herangehen des Schauspielers an die dynamische Entwicklung14 seiner Rolle zu systematisieren und die Verfahren und Techniken festzustellen und zu verankern. Im Vorwort zu Wassili Toporkows Buch (des Schauspielers am Moskauer Künstlertheater und Nachfolgers von Stanislawski) über die praktische Probenarbeit Stanislawskis schreibt der Theaterwissenschaft-

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7.1  Zum Begriff der Kunstfigur

ler ­Nikolai Tschuschkin, dass es Stanislawskis letzte, unvollendete Regiearbeit am Tartüff von Molière war, bei der er »zum ersten Male ­konsequent die neue Methode der Arbeit des Schauspielers an der Rolle und an dem Schauspiel an[wandte], die die Bezeichnung ›Methode der physischen Handlungen‹ erhielt«.15 Der Sinn dieser praktischen Schauspielmethode besteht darin, »daß man durch richtige Ausführung der physischen Handlungen, durch ihre Logik in die komplizierten, tiefsten Gefühle und Erlebnisse eindringt, die der Schauspieler in sich hervorrufen soll, um eine entsprechende szenische Gestalt zu schaffen«.16 Die Handlung bezeichnet Stanislawski als »das Hauptelement unserer Kunst«.17 Dabei ist die physische Handlung nicht nur »als irgendeine plastische Bewegung, die eine Handlung darstellt, anzusehen«.18 Die physische Handlung als Hauptelement der Schauspielkunst, das das Ausbildungsvokabular jedes Schauspielers ausmacht, ist »eine echte, zweckmäßige Handlung, die unbedingt auf die Erreichung eines Zieles gerichtet ist und sich im Augenblick ihrer Verwirklichung in etwas Psychophysisches verwandelt«.19 Die Arbeit an der Rolle soll der Schauspieler mit dem Schaffen eines »ganz einfache[n] Schema[s] der physischen Handlungen der Rolle« anfangen. »Gehen Sie folgerichtig den Weg dieser Handlungen, und Sie beherrschen schon wenigstens fünfunddreißig Prozent der Rolle.«20 Solche genauen Prozentzahlen nennt Stanislawski nach seiner langen, mehrjährigen Arbeit als Regisseur bzw. als Beobachter und »Korrektor« der künstlerischen Arbeit der Schauspieler an den Gestalten während der Proben. Toporkow hat notiert, was Stanislawski selbst über den Beginn der Arbeit an der Rolle empfiehlt: Es ist unmöglich, die Rolle auf einmal zu beherrschen. […] Es gibt in ihr viel Unklares, Unverständliches und vieles, was schwer zu bewältigen ist. Beginnen Sie daher mit dem, was am offenkundigsten ist, mit dem, wozu man am ehesten Zugang findet und was am leichtesten zu fixieren ist. Suchen Sie die Wahrheit der einfachsten physischen Handlungen, die für Sie augenscheinlich sind. Die Wahrheit der physischen Handlungen führt Sie zum Glauben. Alles weitere geht in das »ich bin« über und mündet dann in die Handlung, in das Schöpfertum.21 So besteht für Stanislawski »wohl der einzig richtige Weg« des Schauspielers zur Rolle und die Herangehensweise des Spielers an die Arbeit an der Rolle in der Suche nach »einer folgerichtigen Handlungs­ linie im Verhalten der handelnden Person«.22 Den Algorithmus der

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künstlerischen Annäherung an die Rolle hat nach einer engen Zusammenarbeit mit Stanislawski Wassili Toporkow hinterlassen. Dieser Algorithmus ist zugleich als eine Definition des Begriffs Rolle (Gestalt, Kunstfigur) nach Stanislawskis Schauspielmethode anzusehen: Die szenische Gestalt ist vor allen Dingen die Gestalt der Handlungen des Menschen. Der Schauspieler ist berufen, im Schauspiel die vom Bühnendichter angegebene Linie der Handlung der von ihm dargestellten Person zu verkörpern. Nachdem er sich über die Episoden des Stückes unterrichtet hat, stellt der Schauspieler für sich die Logik der einzelnen Glieder der zukünftigen allgemeinen ununterbrochenen »Kampf«linie fest. Das ist schon der Anfang der Arbeit an der Rolle. Die Feststellung der »Aufgabe«, der »durchgehenden Handlung«, des »Kernes« der Rolle, all das fällt ihm nicht gleich in den Schoß, sondern ist das Ergebnis langen Suchens und der Lösung anfänglich sehr einfacher, in die Augen springender »Aufgaben« der Rolle. Wenn er dann von einer Episode zur anderen weiterschreitet, gewinnt der Schauspieler allmählich Klarheit über die ganze Linie seines Verhaltens, seines Kampfes und dessen Logik im Verlauf des ganzen Stückes. Diese Linie muß im Bewußtsein des Darstellers ununterbrochen sein. Sie beginnt für den Schauspieler lange vor Beginn des Stückes, endet jenseits der Grenzen des Stückes und wird auch dann nicht unterbrochen, wenn er nicht auf der Bühne steht. Die Verkörperung der Linie soll deutlich und klar sein. Sie soll keine unnötigen Zweifel hervorrufen und im höchsten Maße wahr und organisch sein.23 Für das realistische Theater nach dem »System« Stanislawskis war die physische Handlung eine folgerichtige Ausprägung der Arbeit an der Rolle. Ein Schauspielsystem, das sich auf die Ausbildung des Schauspielers des nicht nur realistischen Theaters orientierte, war die Arbeitsmethode Michail Čechovs (des Schülers von Stanislawski). Čechov hat zwar viel von seinem Lehrer entlehnt, aber im Mittelpunkt der Arbeit an der Kunstfigur stand bei ihm nicht die Handlung (diese hielt er für sekundär), sondern die Arbeit mit der Einbildungskraft, von der der Schauspieler bei der Schaffung der Gestalt ausgehen sollte. Die auf der Kraft der Imagination aufgebaute Richtung seiner Schauspiellehre begründet auch die Tatsache, dass Čechov meistens den Begriff Gestalt (rus. »obraz«) oder Rollengestalt (rus. »obraz roli«) gebrauchte. Davon zeugt vor allem der Titel der fünften Probenanwei-

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7.1  Zum Begriff der Kunstfigur

sung Die ­Verkörperung von Gestalt und Charakter (rus. »Voploščenie obraza i charakternost‘«)24 in seinem Schauspiellehrbuch Die Kunst des Schauspielers (rus. »O technike akt‘ora«). Die Verkörperung der Gestalt war für Čechov erst nach einer langen, produktiven Beobachtung der Gestalt der Rolle in der Phantasie, also mittels der Imagination, möglich. Erst wenn die Gestalt in der Imagination »heranreift«, wird der Körper darauf dementsprechend reflexartig reagieren, um diese Gestalt körperlich auszudrücken. Und die Gestalt, das »Geschöpf der Phantasie«, wird wortwörtlich »verkörpert«: Wenn Sie beim Üben das Leben Ihres Phantasiegeschöpfs konzentriert beobachten, fällt Ihnen auf, daß Ihr Körper unwillkürlich und kaum merklich in Bewegung gerät, als ob er an diesem Imaginationsprozeß teilnähme. Dieselbe leichte Bewegung verspüren Sie auch in Ihren Stimmbändern, während Sie sich den von dieser Gestalt gesprochenen Text anhören. Je besser Sie Ihr Phantasiegebilde sehen und hören können, desto stärker wird die Reaktion Ihres Körpers und Ihrer Stimmbänder. Das zeugt von Ihrem Wunsch, dem Geschöpf der Phantasie Gestalt zu geben [An dieser Stelle sollte eigentlich verkörpern stehen. Siehe meine Erläuterung zu dieser Übersetzung in diesem Kapitel, Anm. 24. – V. V.], und weist Ihnen den Weg zu einer simplen, der Natur des Schauspielers angemessenen Technik der Gestaltgebung.25 Weiter empfiehlt Michail Čechov, mit der »Darstellung [der] Figur [nicht] sofort [zu] beginnen«, sondern »die Gestaltgebung phasenweise in Angriff [zu] nehmen«.26 Das könnte man entweder über die »Frageund Antwort-Technik« machen, indem man der Gestalt, der »darzustellenden Person«, genaue Fragen stellt und diese Person dann dazu veranlasst, einem »die Szene in vielen Varianten ›vorzuspielen‹«.27 Oder man »nehme[.] sich ein Merkmal heraus: eine Handbewegung, eine Gangart, eine Neigung des Kopfes, ein Wort, einen Satz, einen Blick, eine typische Gebärde, einen seelischen Zustand usw. – und studiere[.] es in [der] inneren Vorstellung aufmerksam«.28 Allein aus den geschilderten praktischen Arbeitsweisen bzw. aus den darauf beruhenden theoretischen Schriften solcher Größen wie Diderot, Lessing, Stanislawski und Čechov wird jetzt ersichtlich, dass es keinen ein für allemal einheitlichen Begriff der Kunstfigur (der Rolle, Gestalt) gibt. Jeder Regisseur schafft für die Schauspieler in den Proben einzigartige, nirgendwo sonst wiederholbare Arbeitsbedingungen, in denen die Darsteller sowohl selbst (über das Selbstproben sowie

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7  Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen

vermittels der Arbeit an der eigenen Imagination) als auch während des unmittelbaren Spiels mit den anderen Darstellern wie auch während der engen Zusammenarbeit mit dem Regisseur eine Kunstfigur erzeugen. Dabei stützt sich der Schauspieler selbstverständlich auf seine beruflichen Kenntnisse, Fertigkeiten, Leistungen und Erfahrungen, aber auch auf die Zusammenarbeit mit den anderen Mitspielern, denn nur in einer solchen Zusammenarbeit können interpersonale Beziehungen der Figuren entstehen. Was ist nun die Kunstfigur in Dimiter Gotscheffs Inszenierung? Und die in der von Thomas Langhoff? Wie lassen sich die Figuren ­definieren, die in Thomas Ostermeiers Inszenierung konstituiert wurden? Die Antwort auf jede dieser Fragen lässt sich nach vier Kriterien ermessen: 1.  Wenn man die Terminologie von Stanislawski verwendet, ist es die Überaufgabe29, »die durch Analyse des Werkes gefunden wird und die die in ihm steckende Idee aufdeckt«, »die von einem packenden schöpferischen Gedanken ausgeht« und die »ununterbrochen durch das ganze Stück und die Rolle durchgehen soll«30; 2.  die Arbeitsweise des Regisseurs; 3.  die Art der Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern; 4.  der Einsatz des Stegreifspiels der Darsteller. An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, dass ich anhand dieser vier Kriterien die Definitionen des Begriffs Kunstfigur nur auf die erwähnten Inszenierungen einschränke, weil die Konstituierung jeder Kunstfigur a priori inszenierungsbedingt ist. Dem so heterogen und kompliziert verlaufenden Konstituierungsprozess selbst ist das Kapitel 7.2 gewidmet.

Zur Definition der Kunstfigur in den DT-Proben von Krankenzimmer Nr. 6

Über die »Überaufgabe« der Inszenierung hat Dimiter Gotscheff während der Proben öfters gesprochen. So sagte Gotscheff am 14.1.2010: »Die Worte von Čechov sind ein Material, ein ›Raumgefängnis‹. Die Čechov’sche Materie, die unter uns seit zweihundert Jahren herumkreist. Damit zu leben und damit zu spielen. Seine Texte sind ein Alphabet für alle.«31 Am 15.1.2010 sagte er: »Sinnliche ›Berührung‹ von Čechov’scher Natur. Das Čechov’sche Geheimnis nicht darstellen, son-

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7.1  Zum Begriff der Kunstfigur

dern ›ankippen‹.« Am selben Tag äußerte er, nachdem er ein Hauchgeräusch machte: »Das Rascheln von Čechov’scher Feder auf dem Papier.« Oder: »Ich will eine andere Präsenz, einen anderen Textraum. […] Die Worte von Čechov sind für mich eine ›Gefangenschaft‹. Es ist Poesie.«32 Am 18.1.2010 las Gotscheff folgende Zeilen eines Zeitungsartikels laut vor: »[…] in der Zauberung bergende Heimaten […]. Die Fragmentierung des Wissens und des Fühlens […]. Čechov ist transzendent und kühl, so dass er seinen Figuren keine Ausrede für das Unglück, keine strukturelle Gewalt, keine dramatischen Eklats anheimstellt. Čechov’sche Menschen sind einsam, aber begehen keinen Selbstmord. Sie wissen, aber tun nichts. Er verweigert die große Katharsis der Unsicherheit.«33 Über seine Arbeitsweise bei der Inszenierung von Čechovs Stücken äußerte sich Gotscheff noch zu Beginn der Proben folgendermaßen: »In der Nacht bewegen sich die Wachs­figuren im Madame-­TussaudsMuseum. So bewegen sich auch die Figuren in Čechovs Raum. Für mich ist es immer ein Ritual, Čechovs Texten zu begegnen.«34 Am 15.1., als es noch immer nicht zu Bühnenproben gekommen war, obwohl die Zeit bis zur Premiere immer knapper wurde, sagte Gotscheff: »Wir brauchen einen größeren Zeitraum, bevor ihr anfangt.«35 So bestand die rituelle Arbeit am Čechov’schen Text einerseits aus einer längeren Vorbereitungs- bzw. Einstellungsphase der Darsteller auf »die Čechov’sche Materie«. Andererseits zeichnete sich das Ritual der ­Gotscheff’schen Arbeitsweise durch eine vertraute Interaktion mit den Schauspielern aus. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass der Ausdruck »Gotscheff-Familie« zu Lebzeiten des Regisseurs häufig in Theaterkreisen gebraucht wurde. Zur »­Gotscheff-Familie« gehören vier der an dieser Inszenierung beteiligten Schauspieler: Almut Zilcher, Wolfram Koch, Samuel Finzi und ­Margit Bendokat. Mit ihnen hatte Gotscheff ständig gearbeitet, wodurch zwischen den Künstlern besonders vertraute Beziehungen entstanden, die sich auch während der Proben beobachten ließen. Deswegen fällt es auch nicht schwer, sich den Grad der Vertrautheit während der Interaktionen zwischen dem Regisseur und den Darstellern vorzustellen. Die Art der Interaktion war »­familiär«: Gotscheff konnte eine Person sowohl wild anschreien als auch sie buchstäblich am Kopf streicheln. Auf dem Stegreifspiel der Darsteller waren alle Szenen der ­Aufführung aufgebaut. Selbst wenn Gotscheff seine Anweisungen über die Spielweise vergab (z. B. an Andreas Döhler oder Katrin Wichmann, mit denen er für Krankenzimmer Nr. 6 erstmalig arbeitete), erwartete er von den Schauspielern eine große Freiheit der körperlichen Darstellung.

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7  Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen

Demnach sind die Kunstfiguren in Dimiter Gotscheffs Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 »Fragmente von Menschen«36, die von den Darstellern über eine rituelle Arbeitsweise und vertraute, geradezu »familiäre« Verhältnisse mit dem Regisseur aus dem Stegreif verkörpert wurden, um »das Čechov’sche Geheimnis ›anzukippen‹«37 und um mit der »Čechov’sche[n] Materie, die unter uns seit zweihundert Jahren herumkreist, […] zu leben und zu spielen«.38

Zur Definition der Kunstfigur in den BE-Proben von Endstation ­Sehnsucht

Thomas Langhoff hat der Psychologie der mise-en-scène die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Deswegen entstanden sowohl während des Spiels als auch vor und nach dem Probieren konkreter Szenen lange »psychologische« und manchmal auch philosophische Gespräche zwischen dem Regisseur und den Schauspielern über das Leben der gespielten Figuren vor Blanche DuBois’ Ankunft bei den Kowalskis sowie über die kleinsten Nuancen der Charaktereigenschaften der Figuren. Während dieser Gespräche hat Langhoff drei Mal das Thema formuliert, das durch das ganze Stück durchgeht und sich auch über das Stück hinaus erstreckt. Dies war die »Überaufgabe« der Inszenierung. Am achten Probentag kommentierte Langhoff Stanley Kowalskis Verhalten zur Situation um Blanche herum: »Er ist ein amerikanischer Bürger, lebt nach amerikanischen Idealen – Sicherheit, Reinlichkeit. Und da erwischt er plötzlich die adelige Vertreterin in solchem Dreck. Sie ist aus einer aussterbenden Klasse. ›Ich bin ein Vorbild für die Amerikaner.‹«39 Thomas Langhoff am 19. Probentag: »Es wäre schön, wenn aus ihrem Morgenmantel Motten rausfliegen, denn das wäre ein Symbol für diese untergehende aristokratische Welt, diese Morbidität.«40 Langhoff am 22. Probentag: »Es gibt zwei Seiten der Figur von Blanche: die Kunstschicht und die Verrottetheit der Generation, Morbidität. Die Figur von Stanley hat auch zwei Schichten: Einerseits ist er tüchtig und fleißig, also der Mensch der Zukunft. Andererseits ist er einfach und brutal. Das gehört aber auch zur Zukunft.«41 Nach den langen Gesprächen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Figuren pflegte der Regisseur, die Schauspieler die besprochenen Szenen vorspielen zu lassen. Dabei verteilte er seine Kommentare oft während ihres Spiels, wodurch er das Proben unterbrach und die Schauspieler erneut in lange Diskussionen verwickelte. Oft eilte er dabei selbst auf die Bühne und machte sogar einige »Gänge«: Wenn er vergaß, etwas

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7.1  Zum Begriff der Kunstfigur

beim ersten »Gang« zu sagen, lief er zwei, drei oder sogar vier weitere Male auf die Bühne, um seine Bemerkungen und Ansichten mit den Darstellern zu teilen, bis das Spiel fortgesetzt wurde. Zur Verkörperung der Figuren machte Langhoff sehr selten Bemerkungen, aber wenn er diese machte, führte dies wieder zu Diskussionen darüber, warum die eine oder andere Handlung ausgeführt werden sollte. Fast immer ließ der Regisseur die Schauspieler indes ihre Kunstfiguren selbstständig verkörpern, so wie dies aus folgendem Regiekommentar an Robert Gallinowski und Anika Mauer zur Prügel-Szene ersichtlich wird: »Ihr seid beide gut im Schauspiel ausgebildete, gut körperlich ausgebildete Schauspieler. Ihr lasst euch schon etwas einfallen!«42 Diesen Kriterien zufolge ist die Kunstfigur im Stück Endstation Sehnsucht in der Regie von Thomas Langhoff eine durch andauernde Diskussionen über die Psychologie, geistige Entwicklung, Ereignisse der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft geschilderte Verkörperung der dramatis personae durch Schauspieler. Auf der Mikroebene wurde die Katastrophe der privaten, familiären Beziehungen szenisch umgesetzt. Auf der Makroebene wurde der Untergang der morbiden aristokratischen Welt einerseits und andererseits der Sieg neuer amerikanischer Ideale, der Aufstieg des amerikanischen Bürgers der Zukunft gezeigt.

Zur Definition der Kunstfigur in den Schaubühne-Proben von Der Tod in Venedig

Die »Überaufgabe« seiner Inszenierung von Der Tod in Venedig hat ­Thomas Ostermeier in einem Interview ein Jahr nach der Premiere während des Gastspiels dieser Inszenierung in St. Petersburg formuliert: Eines der tiefsten Themen in dem Stoff ist: Der alte Mann, der eigentlich als Künstler eine jugendliche Seele, eine jugendliche Leidenschaft und eine jugendliche Sehnsucht nach Schaffenskraft hat. Aber wenn er in den Spiegel guckt, ist er ein alter Mann. Das ist ein ganz wichtiger Kontrast. Aber unsere Aufführung ist nicht wirklich Der Tod in Venedig. Es ist nur ein kleines Spektrum aus dem Stoff. Für mich war das Wichtigste im Timing (wenn wir jetzt nicht über die Metaphysik der Figur, nicht über die Meta­ physik des Raums, sondern über die Metaphysik der Zeit sprechen). Und in der Metaphysik der Zeit war für mich etwas ganz

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wichtig. Für mich war Aschenbach wie ein fallender Stern, wie ein Meteorit, der in die Atmosphäre eintaucht. Und in dem Moment, wenn er in die Atmosphäre eintaucht, glüht er noch einmal auf. Und dann ist er tot. Mir ging es nur um diesen Moment, wenn er in die Atmosphäre eintaucht. Deswegen war es in meiner Aufführung wichtig, dass sie wirklich ganz kurz sein muss. Das ist für mich auch eine Realität von Tod, weil der Moment des Sterbens, wenn es wirklich passiert, ist ja … [macht eine Fingerbewegung, die die Schnelligkeit des Moments bezeichnet]. Deswegen musste für mich die Aufführung sehr kurz sein.43 An die knappe Probenzeit, während der das ganze Stück inszeniert werden sollte, hat der Regisseur auch seine Arbeitsweise für die Inszenierung angepasst. Die narrative Linie der Novelle, deren wichtigste Drehpunkte – die Ankunft Aschenbachs auf Lido, seine Begegnung mit dem adeligen polnischen Knaben Tadzio, seine Beobachtung des Jungen überall auf der Insel, seine gedankliche bzw. emotionale Besessenheit von dem schönen Sprössling und letzten Endes sein unerwartet schneller Tod unter dieser Besessenheit – die Handlungslinie der Figuren gekennzeichnet haben, war zugleich auf der einen Seite der Ausgangspunkt für die Erfindung von künstlerischen Formen. Auf der anderen Seite war es der Biennale-Regieworkshop, den Thomas Ostermeier ein Jahr zuvor leitete,44 der die Länge (besser gesagt: Kürze) der Aufführung sowie manche künstlerischen Mittel (z. B. die live gespielte Klaviermusik, das Singen von Gustav-Mahler-Liedern, die Bewegung im Zeitlupen-Tempo und die Live-Übertragung auf den Bildschirm) vorbestimmt hat. Deswegen hat die ganze Aufführung alle Merkmale des Workshops oder sogar der öffentlichen Probe beibehalten, was diese Regiearbeit von Ostermeier als eine experimentelle Arbeit charakterisiert.45 Auch die Arbeit mit den Schauspielern in dieser Inszenierung war ein wagemutiges Experiment, weil Ostermeier neben dem prominenten Schauspieler und profilierten Charakterdarsteller Josef ­Bierbichler zwei im Schauspiel unausgebildete Jugendliche für die Rolle des Tadzio, eine Gastschauspielerin für die Rolle der Gouvernante sowie drei Berufstänzerinnen für die Rollen von Tadzios Schwestern auswählte. Für die Arbeit mit den Tänzerinnen hat der Regisseur einen professionellen Choreographen eingeladen, der schließlich auch selbst in die Inszenierung involviert war. Aus dem Schaubühnen-Ensemble wurden nur zwei Schauspieler (Kay ­ Bartholomäus Schulze und Felix Römer) ausgewählt. Mit solch einer ungleichen Besetzung arbeitete Ostermeier knapp drei Wochen bis zur Premiere in

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7.1  Zum Begriff der Kunstfigur

Rennes. Beim Erfinden der Handlungslinie der Figuren ließ der Regisseur die Schauspieler diese Handlungen zuallererst selbst ausführen (z. B. die Art, wie Tadzio zum ersten Mal Aschenbach bemerkt, wenn er vom Strand durch das Hotel-Foyer läuft; oder wie der Kellner den Tisch deckt bzw. Aschenbachs Bestellung entgegennimmt). Aber im Laufe der Probentage trug Ostermeier immer wieder seine »Korrekturen« in die Art der physischen Handlungsausführungen ein. Dabei pflegte er sogar selbst auf die Probebühne zu gehen und den Zustand der Figur zu demonstrieren, in dem sie sich seines Erachtens befindet, während sie diese oder jene Handlung ausführt. (Solch eine Arbeitsmethode – in ­Stanislawskis Terminologie: Etüden-Methode – wendete er meist mit den Jugendlichen an, die jeweils in der ersten bzw. zweiten Besetzung Tadzio darstellten.) Die »Korrekturen« in das Bewegungsmuster der Tänzerinnen trug er gemeinsam mit dem Choreographen vor: Der Regisseur hat ihnen die logisch-psychologische Komponente der Choreographie erläutert,46 während der Choreograph für deren technische bzw. emotionale Umsetzung zuständig war. Über den emotionalen Zustand der anderen Figuren äußerte sich der Regisseur unmittelbar während des Spiels der Darsteller, indem er seine Kommentare ins Mikrophon sprach. Die Art der Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern war beiderseits respektvoll. Aber der Vertrautheitsgrad in der Interaktion mit den festen Ensemblemitgliedern, mit denen Ostermeier schon mehrmals gearbeitet hatte, war deutlich zu spüren (zwischen Felix Römer und Thomas Ostermeier kam es manchmal zu Unstimmigkeiten über die Art des Tischdeckens, die Abfolge der Auftritte u. ä.) bzw. die Anpassungsversuche des Regisseurs an die Reaktionen, die Wahrnehmung und das Verhalten der eingeladenen Gäste war deutlich bemerkbar. Eine Ausnahme im Verhalten des Regisseurs bildete Josef Bierbichler, der eingeladene Schauspieler, der mit Ostermeier zwar auch bereits vorher zusammengearbeitet hatte und mit dem Ostermeier zudem privaten Kontakt hielt. Auf seine Meinung achtete der Regisseur bei den Probenversuchen mit besonderer Rücksicht. Solch eine komplizierte, ungleiche Arbeit an der Inszenierung wie auch die Arbeit mit verschiedenen Schauspielertypen (von Laien und Tänzern bis zu bundesweit berühmten Spielern) zeugt von einer besonderen Herangehensweise an die Definition der Kunstfigur. Die Kunstfiguren in Ostermeiers Inszenierung von Der Tod in Venedig sind Verkörperungen 1) mittels der geübten Abfolge von Handlungen, Gestik, Mimik, Blickkontakt und Bewegungen; 2) des Singens; 3) der Choreographie. Die Live-Übertragung auf den großen Bildschirm

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intensivierte diese Verkörperungen. Sie wurden ursprünglich mithilfe des improvisierten Körpereinsatzes der Schauspieler kreiert und im Lauf der Proben vom Regisseur bzw. dem Choreographen »korrigiert«. Die »Korrekturen« orientierten sich in jedem Fall an den individuellen Besonderheiten der Darsteller. Den erstmalig auf einer Theaterbühne stehenden Jugendlichen wurde der emotionale bzw. psychologische Zustand der zu spielenden Figur anders demonstriert als den festen Ensemblemitgliedern, mit denen Ostermeier bereits mehrmals zuvor zusammengearbeitet hatte. Gleiches galt für den Umgang mit dem befreundeten prominenten Darsteller, dessen Vorschläge, scharfsinnige Kommentare, humorvolle Aussagen etc. respektvoll aufgenommen wurden. Das Timing und die Kürze der Aufführung reflektierten die »Überaufgabe« des Stücks: Die nur 75 Minuten andauernde Inszenierung schildert die letzten Wochen (und somit ebenfalls nur einen ganz kurzen Lebensabschnitt) eines großen, lebensmüden Schriftstellers, der, vom Regisseur mit einem Meteoriten verglichen, »in die Atmosphäre eintaucht und dort aufglüht«47, als er während der Beobachtung eines ihm unbekannten, schönen Jungen den Höhepunkt seiner künstlerischen Wahrnehmungsfähigkeit erlebt, bevor er die Welt für immer verlassen wird. Die Definition des Begriffs Kunstfigur hat das Schema der Konstituierung der Kunstfigur veranschaulicht. Im nächsten Arbeitspunkt werden die Mechanismen dieser Konstituierung beschrieben.

7.2 Die Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen in den Probenprozessen am DT, am BE und an der Schaubühne

Das Phänomen der sozialen Emotionen – verstanden als komplexe Phänomene, die emotionale Ereignisse, körperliche und psychische Reaktionen, soziale Erfahrungen sowie Interaktionen der in die ­Proben involvierten Spieler einschließen – wurde in Kapitel 6 detailliert ­erläutert. Soziale Emotionen sind Mechanismen der Konstituierung von Kunstfiguren. Diese Mechanismen sind in der gesamten Probenzeit wirksam und durch folgende sechs feste Kriterien gekennzeichnet: 1.  physiologische Veränderungen des Spielers (Schweißausbruch, Erröten, motorische Unruhe usw.); 2.  performative Handlungen, die dieser währenddessen ausführt (mimischer/gestischer Ausdruck, Körperhaltung)

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3.  Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler durch Interaktionen, Demonstrationen, Reaktionen etc.; 4.  das intentionale Objekt, auf das sich die Aufmerksamkeit des ­Spielers bzw. dessen Interaktion mit dem Regisseur und seiner Umgebung bezieht; 5.  das subjektive Erleben des Darstellers dahingehend, wie es sich konkret »anfühlt«, in einem bestimmten emotionalen Zustand zu sein; 6.  die mit diesem subjektiven Erleben verbundenen Gedankeninhalte. Als siebtes Kriterium ließe sich der Rollentext oder eine konkrete Textstelle anführen, mit der die Richtlinie der spezifischen Kunstfigur angegeben wird. Aber da derlei Textstellen in den Proben von manchen Regisseuren dauernd geändert oder durch andere Texte ersetzt werden (vgl. z. B. meine Schilderungen zur sozialen Emotion Liebe in Kapitel 6 oben), erscheint die literarische Vorlage als ein wandelbares Kriterium, das im Gegensatz zu den sechs genannten festen Kriterien im Prozess der Konstituierung der Kunstfiguren nicht immer Vorrang hat. Die festen Kriterien nehmen nämlich stärkeren Bezug auf die affektiv-physiologisch-psychologischen Wege, über die die Konstituierung der Kunstfigur in den Proben verläuft, und korrespondieren daher mehr als das wandelbare siebte Kriterium mit dem von u. a. Emile Durkheim, Erving Goffman ausgeloteten Phänomen der Gruppensolidarität, dem Aspekt der leiblichen Rhythmisierung und der emotionalen Energie (vgl. dazu ausführlich oben Kapitel 4.2). Diese in der Soziologie entdeckten und begründeten Phänomene deuten bei genauerer Betrachtung in Bezug auf theatrale Probenprozesse unausweichlich auf die rituelle Seite dieser Gruppenprozesse hin (vgl. auch hier erneut Kapitel 4.2 oben). Desweiteren gilt es, die in Kapitel 6 geschilderten Mechanismen des Konstituierungsprozesses der Kunstfiguren in Rekurs auf die soeben erwähnten soziologischen Phänomene eingehender zu erläutern.

Soziale Emotion Liebe: Die Kunstfigur Katrin Wichmanns in ­Krankenzimmer Nr. 6 am DT

Die Entstehungsgeschichte der Kunstfigur von Katrin Wichmann in den DT-Proben zu Krankenzimmer Nr. 6 ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Textvorlage eine sekundäre Rolle bei der Konstituierung der Figur spielt. Denn der Text, den die Schauspielerin in der Szene der Lie-

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beserklärung vortragen musste (diese Szene existiert im ­Originaltext der Erzählung Krankenzimmer Nr. 6 nicht und ist eine Erfindung der Künstler im Laufe des Probenprozesses), wurde anderen Čechov’schen Werken entnommen bzw. im gesamten Probenprozesses einige Male geschnitten, gekürzt sowie kontextgemäß geändert48. Primär war dabei das Zusammenwirken von solchen Faktoren wie die Auswahl der Textabschnitte49, die performative Hervorbringung des zusammengestellten Rollentextes durch die Darstellerin auf der Bühne50 sowie ihre enge Zusammenarbeit mit den anderen Darstellern und dem Regisseur51, was seinerseits auf die emotionale Energie – den positiven und enthusiastischen Impuls, die Interaktion zu initiieren – einwirkte52. Die Kunstfigur hat keinen Namen, genauer gesagt: keinen fiktiven Namen: Sie ist nur eine der fünf Insassen der Irrenanstalt. Die Figur trägt also den Namen der Darstellerin Katrin Wichmanns, so wie auch die Figuren der anderen vier Insassen die Namen ihrer Darsteller tragen.53 Die chronologische Abfolge der Interaktionen, performativen Handlungen und Textänderungen in der Szene Liebeserklärung macht nachvollziehbar, wie aus nichts (denn anfangs gab es gar keine Figuren, nicht einmal auf dem Papier) die Kunstfigur einer verzweifelten, durch Schicksalsfügung in einer Anstalt eingesperrten, zugleich aber auch leidenschaftlichen Frau gestaltet wird, die trotz der gegebenen Umstände nach Liebe sucht54. In Kapitel 6 habe ich mithilfe der sechs oben genannten Kriterien die Mechanismen geschildert, die die emotionalen Ereignisse der Probensituation, symbolhaft als Liebeserklärung betitelt, aufblenden. Diese emotionalen, transformierbaren Ereignisse, die in ihren zeitlichen Verhältnissen grundsätzlich uneingeschränkt bleiben könnten (wenn die Proben ewig dauern würden, gäbe es immer wieder neue Interaktionen bzw. emotionale Ereignisse) und die die Beteiligten physisch, mental und emotional in die Probensituation involvieren und dadurch ein Verhältnis zu der Probensituation bilden lassen, habe ich bereits in Kapitel 5.2 als soziale Emotionen gekennzeichnet. Die soziale Emotion Liebe, wie sie in Kapitel 6 anhand der Probensituation Liebeserklärung in den DT-Proben beschrieben wurde, veranschaulicht das methodologische Herangehen an das Problem der künstlerischen Gestaltung der Kunstfigur. Dieses Herangehen ist meines Erachtens für die zeitgenössische Schauspielmethodologie relevant. Wie die Tabelle in Kapitel 6 illustriert, können die emotionalen Ereignisse, die die soziale Emotion prägen, sehr variabel sein. Dies hängt in erster Linie von der Arbeitsweise des Regisseurs ab. Deswegen habe ich den Konstituierungsprozess der Figuren durch emotionale Ereignisse, die sich jeweils auf eine soziale Emotion beziehen (z. B. Liebe) bei unter-

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7.2  Konstituierung der Kunstfiguren am DT, am BE und an der Schaubühne

schiedlichen Regisseuren verglichen. Die zwei anderen Stücke – Endstation Sehnsucht und Der Tod in Venedig – enthalten (bereits in der literarischen Vorlage!) solche Situationen, die in den Probenprozessen emotionale Ereignisse bewirkten, die ihrerseits die soziale Emotion Liebe kennzeichnen. Der Konstituierungsprozess der weiteren Kunstfiguren (aus diesen zwei Stücken), die durch die soziale Emotion Liebe gekennzeichnet sind, wird im Folgenden geschildert.

Die Kunstfiguren von Blanche DuBois und Mitch in Endstation ­Sehnsucht am BE

Im Gegensatz zu Gotscheffs Fassung von Krankenzimmer Nr. 6, in dem Texte aus einigen Čechov’schen Werken eine unerwiderte Liebe der Kunstfigur Katrin Wichmanns schilderten, ist die Liebe der Figuren von Blanche DuBois und Mitch in Endstation Sehnsucht beiderseitig, was bereits der Text von Tennessee Williams beinhaltet. Aber nicht nur im Stücktext von Williams, sondern auch in Langhoffs Inszenierung empfinden die Figuren von Blanche und Mitch wechselseitig Gefühle füreinander. Die späteren Umstände stehen ihrer Liebe zwar im Weg und hindern sie an einer glücklichen Entwicklung ihrer Beziehung, aber von ihrer ersten Begegnung an bis zur Mitte des Stücks könnte man von einer positiven Entwicklung ihrer Beziehung sprechen. Den Höhepunkt bildet dabei Mitchs Andeutung eines Heiratsantrags (»Glaubst du, es ist möglich – du und ich, Blanche?«). Eine detaillierte, chronologische Beschreibung der Entwicklung der sozialen Emotion Liebe zwischen den Kunstfiguren von Blanche und Mitch ist Kapitel 6 zu entnehmen. Wie bereits in Kapitel 7.1 bemerkt wurde, legte Langhoff großen Wert auf die Diskussion sowie auf die psychologischen Hintergründe und Ursprünge der Ereignisse. Mit großem Geschick involvierte der Regisseur die mitwirkenden Künstler ins Gespräch. Und auch die Künstler pflegten, im Verlauf der Proben den Regisseur anzusprechen, ab und zu sogar mitten im Spiel (siehe z. B. meinen Eintrag vom 10.1.2011 bis 4.3.2011 in Kapitel 6 oben, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«). Während des Probenprozesses entstand buchstäblich eine Art Interaktionsritual (siehe Kapitel 4.2): Kaum ein Probentag verging ohne Besprechung des psychologischen Hintergrunds der in der jeweiligen Szene gegebenen Umstände. Während der Besprechung, die gewöhnlich eine räumliche Nähe ermöglichte, stellten sich die Künstler auf dieselbe emotionale Frequenz ein. Die Interaktion zwischen ihnen war daher die wichtigste

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Quelle ihrer emotionalen Energie – der langfristigen emotionalen Aufladung, die die emotionalen Ereignisse der in Kapitel 6 geschilderten Probensituationen zwischen Blanche und Mitch vorantrieb. Aus den Interaktionen der Künstler geht hervor, dass es seitens Blanche nicht um eine romantische Liebe geht, sondern darum, so schnell wie möglich eine feste (und nicht wie bisher nur provisorische) Stütze im Leben zu finden. Zunächst glaubt sie diese in Mitch gefunden zu haben, bis sich ihre Pläne aufgrund der Ränkespiele ihres Schwagers zerschlagen. Mitch geht es anfangs im Gegenteil um ein romantisches Verhältnis. Er ist aufrichtig, wenn er Blanche von seiner kranken Mutter erzählt und ihr indirekt einen Heiratsantrag macht. Die genauere Betrachtung der Komponenten der sozialen Emotion Liebe ergibt, dass der körperliche Einsatz meistens ohne Bemerkungen des Regisseurs verlief (bis auf den 18. und 27.1.2011, siehe die Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« in Kapitel 6 oben): Die Schauspieler durften jedes Mal diejenigen performativen Handlungen einsetzen, die sie für angemessen hielten. Allerdings waren es solche performativen Handlungen, die durch die Interaktionsrituale und daher durch das entstandene kollektive Bewusstsein bzw. die emotionale Energie bewirkt wurden.

Die Kunstfigur von Gustav von Aschenbach in Der Tod in Venedig an der Schaubühne

Die wirksamsten Komponenten der sozialen Emotion Liebe bei der Konstituierung der Kunstfigur des Schriftstellers Aschenbach waren, wie es die Tabelle in Kapitel 6 in Bezug auf alle vier Probensituationen des Stücks veranschaulicht, die performativen Handlungen des Spielers und die Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler. Die »stumme« Rolle Aschenbachs wurde durch den intensiveren, in Großaufnahme live ausgestrahlten körperlichen Einsatz kompensiert. Und die Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern trug zwar oft einen technischen Charakter55, stellte aber alle Beteiligten auf eine emotionale Frequenz ein, wobei jeder Mitwirkende sofort Teil einer »Kette« wurde. Auch (und vor allem) Josef Bierbichler schloss sich jedes Mal der Interaktion an (machte Kommentare, Vorschläge, präzisierte, scherzte, provozierte die anderen zum Lachen) und trug so zum Erzeugen der emotionalen Energie der Gruppe bei56. Gustav von Aschenbachs Liebe zum Knaben Tadzio ist ein Gefühl, das dieser niemals zuvor zu einem Jungen zu empfinden glaubte. Es ist

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nicht der physiologische Trieb, nicht die Begierde – dafür ist die Figur Aschenbach viel zu kompliziert, um nur nach Physischem zu suchen. Im Jungen Tadzio erkennt Aschenbach plötzlich das Ideal, nach dem seine künstlerische Phantasie schon immer gesucht hatte, aber dem er aufgrund seiner von klein auf auf Ruhm und Leistung setzenden Lebensordnung noch nie in concreto begegnet war. So empfand der alternde, berühmte Schriftsteller die stumme Bekanntschaft mit dem Knaben, die starke Emotion, die jeder Anblick des Jungen in ihm erregte, als eine Freisetzung seiner schlummernden künstlerischen Phantasie. Und diese künstlerische Phantasie bezog sich sowohl auf das ästhetische Vergnügen bei der Betrachtung des schönen Jünglings57 als auch auf das Erwecken der erotischen Träume58. Diesen Triumph der sich aus den Fesseln der Lebensordnung befreienden künstlerischen Phantasie eines großen Künstlers sowie der – nach dem Erreichen dieses Höhepunkts – blitzschnelle Untergang der erweckten Phantasie versuchte der Regisseur Ostermeier, mit seinen Schauspielern in den Proben auf die Bühne zu bringen.

Soziale Emotion Verachtung: Die Kunstfigur von Wolfram Koch in Krankenzimmer Nr. 6 am DT

Nach den dreiwöchigen Diskussionen, Aktualisierungen der Textfassung und Leseproben fand die erste Bühnenprobe der Szene statt, in der Wolfram Koch den Text Mann, tut das weh! und im Anschluss Sie werden kein Wort mehr von mir hören! in der Variante vortrug, in der sie auch am DT zur Premiere kam59. Noch in den Leseproben hatte Koch diese Passage voller Verachtung vorgelesen, auch in den darauf folgenden Bühnenproben behielt er seine verächtliche Tonlage bei. Am ersten Bühnenprobentag60 hat Koch (wie auch andere Schauspieler) die Bühnenpräsenz seiner Kunstfigur aus dem Stegreif entworfen: Bei der Einnahme der Ausgangsposition im Raum begannen alle Figuren ihre Texte vorzutragen (was Gotscheff als »Teppich« bezeichnete), und auch Koch hat seine Passage in seiner Ausgangsposition vorgetragen61. Die Komponenten Performative Handlungen des Spielers und Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« veranschaulichen den Mechanismus des »In-Betrieb-Setzens« der sozialen Emotion ­Verachtung in seiner Dynamik: Die vom Schauspieler einmal gefundene Körperhaltung, die gereizte Sprechart wurden mit nur einigen kleinen Veränderungen durch den Regisseur in die Endfassung übernommen, wie sie vom Schauspieler selbst am ersten Bühnenprobentag k ­ reiert

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worden waren62. Die Interaktion am 5.2.2010 zeigt, dass auch der Regisseur damals noch nicht wusste, »wer was in der konkreten Szene macht«63, und dass der körperliche Einsatz zum größten Teil von der persönlichen Entscheidung der Schauspieler im konkreten Moment abhing64. Am 19.2.2010 wurde im Anschluss an die Passage Mann, tut das weh! erstmalig der Text vorgetragen, den ich in der Tabelle als Sie werden kein Wort mehr von mir hören! betitelte. Die Spalte Performative Handlungen des Spielers vom 19. bis 23.2.2010 belegt, wie spontan diese Szene entstand bzw. wie viel körperliche Freiheit die Schauspieler beim unmittelbaren Prozess des In-Szene-Setzens hatten. Gleichzeitig veranschaulicht aber die nächste Spalte, Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 19. bis 23.2.2010, das »Handwerkliche« der Probensituation, das aus den steten, »angewandten« Regieanweisungen bestand (»Wolfram, wunderbar, nur die Hände offen lassen!«, »Schau ihn erstmal an.«, »Wolfram, dreh dich völlig um!« usw.). Diese an nur wenigen Tagen geleistete Zusammenarbeit des Regisseurs Gotscheff mit dem Schauspieler Koch an der Kunstfigur belegt den Charakter der fast familiären Beziehungen zwischen den beiden Künstlern: Koch war einer der vier steten Mitglieder der sogenannten Gotscheff-Familie. Daher verwundert es kaum, dass Gruppensolidarität, leibliche Rhythmisierung und emotionale Energie stete Begleiter der Künstler in den Proben waren bzw. dass sie mit Gotscheff häufig nicht mehr als zwei oder drei Bühnenproben brauchten, um einige Szenen vollständig zu beherrschen. Da für die Spieler der »Gotscheff-Familie« jeder Probentag nach Gotscheffs persönlichem Ausdruck ein Ritual war, waren sie, nach meiner Einschätzung, schon immer auf dieselbe emotionale Frequenz eingestellt und verwendeten diese von einem Probenprozess zum anderen.

Die Kunstfiguren der Insassen in Krankenzimmer Nr. 6 am DT

Die Entfaltung der zweiten Probensituation am DT (Szene Aufstand) wirft ein Licht darauf, wie durch leibliche Rhythmisierung der Beteiligten eine kollektive Emotion entsteht65. Gemeinsam, wie auf Kommando, springen die Insassen auf, sobald der Doktor bei ihnen erscheint, und beginnen ihn mit bösartiger, schadenfroher, verächtlicher Intonation zu beschimpfen. Das Zitat Theodore D. Kempers über das Räsonieren der Beteiligten »in tune with each other’s emotional frequency«, über ihr »physiological entrainment« sowie die Beobachtung, dass »each member becomes more and more attuned to the rhythms of talk and

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action of the other members« trifft auf die in Kapitel 6 geschilderte Probensituation voll und ganz zu. Das bestätigen vor allem die Komponenten Performative Handlungen der Spieler und Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 3. bis 11.2.2010 der beschriebenen sozialen Emotion Verachtung. Die Interaktion der Künstler im Anschluss an den Probenversuch vom 3.2.2010 belegt, wie einig sich die Insassen in ihrer Aktion auf einmal waren, wie rhythmisch sie ohne Verabredung auf die Erscheinung des Arztes reagiert hatten: Koch: »Plötzlich ist da eine andere Realität: Zuerst war Musik und dann plötzlich ein Auftakt von allen – pa-pa-pa!« [Zeigt, wie alle auf einmal aufgestanden waren.] Nach einigen weiteren Probenversuchen: Gotscheff: »[…] Durch die Berührung miteinander [gemeint war wohl der enge Kontakt miteinander] vergisst jeder seine Krankheit.«66 Auch beim nächsten Probenversuch dieser Szene, der erst fünf Tage später, am 8.2.2010, stattfand, bestätigen die Künstler im Anschluss an eine Probe in einer gemeinsamen Diskussion, dass sie alle beim Auftritt des Arztes plötzlich zu einem »Perpetuum« wurden. Der Regisseur findet, dass sie (als unmittelbare Vollzieher der Handlung) nicht immer daran zweifeln sollen, was sie auf der Bühne machen: Finzi: »So wie ich es verstehe, ist das Leben der Figuren wie ein Perpetuum: Bald flammen sie auf, bald kommen sie runter. So entsteht ein Perpetuum mobile.« Zilcher: »Ja, das habe ich doch gemeint!« Wichmann: »Aber ich weiß nicht, wie man das alles komponiert.« Gotscheff: »Aber ich verstehe nicht, warum ihr so viel Misstrauen zu dem habt, was und wie ihr macht!«67 Durch die Tabelle in Kapitel 6 ist ersichtlich, dass die Konstituierung der Figuren in der Szene Aufstand auf einem affektiv-körperlich-psychologischen Weg verlief: Aufgrund der leiblichen Rhythmisierung (der körperlichen Anpassung jedes Spielers an die Aktionen der Mitspielenden), des kollektiven Bewusstseins (der Übereinkunft, dass die Reaktion der Insassen auf die Erscheinung des Arztes einheitlich sein soll) und der vom ersten bis zum letzten Bühnenprobentag anhaltenden emotionalen Energie (des immerwährenden Enthusiasmus, ­weitere Interaktionen zu initiieren) der Spieler. Die Konstituierung der Kunstfiguren der Insassen in der Szene Aufstand ist ein Paradebeispiel

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dafür, wie im Lauf einer repetitiven rituellen Handlung (der Bühnenprobe), die die gemeinsame emotionale Leichtigkeit, psychologische Einstellung sowie geteilte körperliche Reaktionen miteinbezieht, eine kollektive Bühnengestalt entsteht. Dieser Konstituierungsmechanismus einer kollektiven Kunstfigur ist in den sogenannten Massenszenen zu verwenden, wenn »a shared emotion« (wie es z. B. in Gotscheffs Proben die Emotion Verachtung der Insassen zum Arzt war) von mehreren Darstellern hervorgebracht werden soll. Am stärksten wirkt dieser Mechanismus (auch nach dem Probenschluss, in jeder weiteren Aufführung), wenn es die Spieler selbst sind, die ihn »plötzlich« entdecken und aufgreifen und weiter (zunächst wohl unbewusst, aber dann vielleicht auch zielgerichtet) auf ihre kollektive Handlung anwenden.

Die Kunstfigur von Blanche DuBois in Endstation Sehnsucht am BE

Das Verhalten von Blanche DuBois gegenüber ihrem Schwager S ­ tanley Kowalski basiert ausschließlich auf Verachtung. Diese ist ihrerseits auf Blanches Angst um ihre Existenz und ihren guten Ruf zurückzuführen, den Ruf, den Stanley durch seine ordinäre Lebensweise und durch seine billigen, erniedrigenden Provokationen zu ruinieren droht. Solche Schlussfolgerungen gehen aus den Interaktionen der Künstler hervor, die sie im gesamten Probenprozess geführt haben und die der Tabelle in Kapitel 6.2, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« zu entnehmen sind. Blanches verächtliches Verhalten gegenüber Stanley zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Stück. In Kapitel 6 habe ich Auszüge aus drei verschiedenen Szenen angeführt, die auf Blanches Verachtung zu Stanley verweisen. Die Diskussionen der Künstler mit dem Regisseur über diese drei Szenen sowie die performative Hervorbringung dieser konkreten Episoden bekräftigen das emotionale Leitmotiv der Szenen und spiegeln dieses wider: die Verachtung Blanches für ihren Schwager. In der vierten Szene mit dem Text, den ich in Kapitel 6 als Überlebender der Steinzeit betitelt habe68, erreicht Blanches Verachtung für Stanley ihren Höhepunkt. Der Text selbst69, die Interaktionen der Künstler über diesen Monolog70 und die Verkörperung des Monologs durch die Blanche-Darstellerin71 sind die Bausteine der Konstituierung der Kunstfigur von Blanche DuBois in der BE-Inszenierung. Auch die Arbeit der Künstler an zwei anderen Szenen (Szene fünf und sechs) bringt die Tatsache ans Licht, dass Blanche Stanley verachtet. Zur Szene sechs: Solche Komponenten wie das subjektive Erleben der

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Darstellerin72, die Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler73, mit dem subjektiven Erleben der Darstellerin verbundene Gedankeninhalte74 veranschaulichen die dynamische Entwicklung der sozialen Emotion Verachtung seitens der Protagonistin. Die emotionale Energie der Künstler war das Schlüsselelement ihrer Interaktionsrituale (und die Interaktionen, ohne die kein Probentag bei Thomas Langhoff verging, wurden praktisch zu täglichen Ritualen). »Beflügelt« von einer warmen, fast familiär verlaufenden Probendiskussion mit dem Regisseur, begannen die Spieler, in einem solchen emotionalen Zustand befindlich, die Szenen auf der Bühne körperlich umzusetzen. Auf die Blanche-Darstellerin trifft diese Beobachtung genau zu, weil die Laune ihrer Figur bzw. die Verkörperung ihrer Gestalt oft von diesen Interaktionen abhängig war. Die Interaktionen hauchten ihrer Kunstfigur Leben ein. Anhand solcher emotional-körperlich-psychologischer Mechanismen wurde die Figur von Blanche DuBois in Langhoffs Inszenierung konstituiert.

Die Kunstfigur von Stanley Kowalski in Endstation Sehnsucht am BE

Die Verachtung, die Stanley Kowalski im zweiten Teil des Stücks für seine Schwägerin Blanche DuBois empfindet, ist der Grund dafür, warum sich am Ende des Stücks die familiäre Katastrophe ereignet. Wenn Stanley begreift, dass Blanche ihn missachtet bzw. sie seinem Familienglück im Weg stehen könnte, weil sie seine Frau Stella gegen ihn aufbringt, versucht er Blanches Vergangenheit ans Tageslicht zu bringen, um nachzuweisen, dass sie selbst Dreck am Stecken hat. Wenn ihm das gelingt, würde ihm das die Möglichkeit geben, seine l­ästige Schwägerin sofort wegzuschicken. Um nur einige Beispiele für die Verachtung anzuführen, die Stanley zu Blanche empfindet, habe ich in Kapitel 6 eine Probensituation auf der Grundlage der ­Szenen fünf und acht beschrieben. In Szene fünf versucht Blanche gegen Stanley zu sticheln, wenn sie sich über seine Unkenntnis der Astrologie lustig macht. Aber Stanley nutzt die Situation aus und schlägt zurück: Als er erfährt, dass Blanche unter dem Sternzeichen ­Jungfrau geboren ist, lacht er verächtlich auf und fragt sie, ob sie vielleicht jemanden mit Namen Shaw kenne. Das Spiel steht eins zu eins, denn Blanche wird merklich erschüttert, ihr Lächeln verschwindet, sie ­versucht ihre ­Irritation zu verstrecken: Anscheinend hat Stanley diesmal, ungeachtet s­ einer Unkultiviertheit, ins Schwarze getroffen. Diese Szene wurde während des gesamten Probenprozesses nur ein-

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mal, am 29.1.2011, kurz diskutiert. Robert Gallinowski, der Darsteller von Stanley K ­ owalski, schlug vor, dass Stanley vor dem Gespräch über die Sternzeichen »Krach in der Garderobe macht«75. Die performativen Handlungen, die G ­ allinowski dabei einsetzte, waren bei jedem Probenversuch dieser Szene dieselben: Vor der Garderobe stehend, lacht Stanley verächtlich über die »Jungfrau« auf, sagt aber nichts, kommt langsam auf die auf dem Sofa sitzende Blanche zu und fragt sie, ob sie vielleicht jemanden mit Namen Shaw kenne. Dabei steht er mit lockerer, selbstzufriedener Körperhaltung vor Blanche, knöpft sein Hemd zu und blickt dominierend auf sie76. Das Interview mit Gallinowski, das ich mit ihm zwei Wochen vor jenem Probentag geführt habe, zeigt, dass es ihm in der ersten Arbeitsphase an der Rolle um eine »Annäherung an die Figur geht«, dass »der Schauspieler seine Emotionen unter Kontrolle hat« und mit ihm als Spieler wenig passiere, denn er sei nur »­stellvertretend für die Figur«. Er denke sich in die Figur hinein: Denken für die Figur und eigene Körperlichkeit77. Um das verachtende Verhalten Stanleys zu Blanche nach außen zu projizieren, verwendete Gallinowski in der Anfangsphase seiner Arbeit an der Rolle »eine Mischung aus seinem assoziativen Denken, emotionalen Gedächtnis und seinen privaten Erlebnissen«. Es sei nicht das, was er privat empfinden würde78. Szene acht, Blanches Geburtstag, in der Blanche einen Papagei-Witz erzählt, beinhaltet Momente, in denen Stanleys Verachtung für Blanche so stark wird, dass er sich vor Wut nicht mehr beherrschen kann, die beiden Frauen anschreit und wild um sich schlägt. Die Künstler diskutierten über diese Wut-Szene jedes Mal, wenn sie geprobt wurde (und zwar am 31.1.2011, 3. und 12.2.2011). Am 31.1.2011 gab es eine lange Interaktion unmittelbar während des Probens: Immer wieder brachte der Regisseur seine Kommentare ein, wenn die eine oder andere Handlung auf der Bühne gemacht wurde. Nachdem Stanley das Geschirr auf den Boden geschleudert hatte, rief der Regisseur aus dem Saal: »Dass er die Scheiße mit Mitch gemacht hat, hat ihn besonders geärgert. Deswegen schreit er: ›Was wollt ihr hier, dumme Weiber? Männerfreundschaft ist viel wertvoller als all die Liebeleien!‹«79 Nach dem zweiten Probenversuch dieser Szene an jenem Tag wandte sich Langhoff an Gallinowski: »Er kämpft noch um sie. Sobald diese Ziege hier weg ist, ist alles wieder in Ordnung. Solange die Leute noch Lust miteinander im Bett haben, kann man alles noch retten.«80 Der Regisseur pflegte zwar die Schauspieler selbst anzusprechen, aber dann fügte er gleich etwas hinzu, das nicht die Schauspieler, sondern die »wirklichen« F ­ iguren gemeint hätten, wenn sie im Probenraum dabei gewesen wären. Die

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Schauspieler reagierten sofort auf die Bemerkungen des Regisseurs und teilten mit ihm ihre Gedanken dazu, was er gesagt hat bzw. was sie gerade gespielt haben. So schlich sich der Meinungsaustausch der Künstler geschickt in die Gespräche der Figuren hinein, und das machte den Probenprozess besonders vertraut. Performative Handlungen von Gallinowski, die er in dieser Szene vollzog, waren primär: Erst nach seiner Verkörperung sprach ihn der Regisseur an und involvierte alle in die Interaktion. Das Interview mit Gallinowski am 31.1.2011 zeigt, dass er in solchen Momenten, in denen er seine Vorstellungskraft aktivierte (gesprochen wurde von den Momenten, an denen der Darsteller nicht alles erleben kann, was die Figur erlebt hat [die Wut-Szene gehört dazu]), »mehrfach geteilte Aufmerksamkeit habe«. Darüber hinaus möchte er in solchen Momenten »an etwas angebunden sein, was größer als du ist. Vielleicht sind es Inkarnationen.« Dann bekommt er »intuitive Impulse«, die ihn für seine Figur dann so oder so handeln lassen81. Was Stanley Kowalski im Augenblick seines Wutausbruchs wirklich empfindet und denkt, hat Robert G ­ allinowski am anderen Probentag der Szene acht ganz deutlich formuliert. Das beinhalten die Komponenten der sozialen Emotion Verachtung, und zwar Realisierung des Verhältnisses »­Regisseur – Schauspieler« und S ­ ubjektives Erleben des Darstellers am 3.2.2011. »Er ist gereizt wie ein Stier. Die Schnauze voll«, sagte Gallinowski nach der kurzen Unterbrechung beim ersten Probenversuch am 3.2.2011, als er die Szene plötzlich ohne Requisite spielen und »zuerst technische Momente ausprobieren« wollte82. Nach dem Probenschluss verriet er mir im Interview, dass sein Stanley »doch kein letztes Schwein ist«. Blanche »tut ihm auch auf seine eigene Art und Weise Leid, aber sie setzt ihn immer wieder in Versuchung, seine Wut auf sie auszubrechen. Es ist bei ihm schon wie eine Art Reflex.«83 Aus der Tabelle in Kapitel 6 wird ersichtlich, dass sich die Figur von Stanley Kowalski auf einem mehrstufigen, graduellen Weg ­konstituierte: »Handwerklich«84 und technisch, assoziativ-emotional und mit integrierten privaten Erlebnissen, über intuitive Impulse und Kompromisse mit dem Regisseur einerseits; andererseits haben die Interaktionsrituale, in die Gallinowski wie auch alle anderen Darsteller tief involviert war, ihn in die Lage versetzt, über seine Figur oft unmittelbar im Lauf der Proben zu urteilen oder für sie dasjenige laut auszusprechen, was diese empfinden oder denken würde. In solchen Momenten war die Grenze zwischen dem Fiktiven und Realen in den Proben verwischt. Darüber hinaus ermöglichten mir die langen, wertvollen Interviews mit Gallinowski, die innerste und vertrauteste Seite des Konsti-

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tuierungsprozesses seiner Kunstfigur unter die Lupe zu nehmen: die »Holzschnitte«, aus denen die Arbeitsweise des Schauspielers an seiner Kunstfigur besteht.

Soziale Emotion Eifersucht: Die Kunstfigur von Blanche DuBois in ­ nstation Sehnsucht am BE E

Es ist schwierig, von Anfang an zu erschließen, um welche Emotion es sich bei Blanche handelt, wenn sie mit ihrer jüngeren Schwester am Morgen nach der gewaltvollen Nacht spricht. Auf den ersten Blick geht es Blanche um ihre Angst und Sorge (was natürlich auch stimmt) um Stellas Kind und um deren Lebensweise im Allgemeinen. Aber – wie Anika Mauer, die Darstellerin Stellas, während einer Probendiskussion am 9.2.2011 mit Recht bemerkt, es »gibt […] vieles, was in dieser Szene nicht geschrieben ist«85. D. h., dass es allein die Aufgabe der Schauspieler war, dem Zuschauer mit ihren künstlerischen Mitteln solche Verhaltensweisen der Figuren zu vermitteln, die auch innere Gründe und überhaupt den ganzen Hintergrund des Geschehenen sichtbar machen würden. Im Fall von Blanche ging es darum, zu zeigen, dass sie in diesem Gespräch um Stella kämpft (am zwölften Probentag hat der Regisseur explizit von »eine[m] Kampf um Stella«86 gesprochen). Und die langen Probendiskussionen zu dieser Szene dienten gerade dem Ziel, zu erschließen, warum dieser »Kampf um Stella« überhaupt stattfindet. Im Nachhinein ist mir vom Standpunkt der Probendokumentierenden aus ersichtlich, dass dieser »Kampf« stattfand, weil Blanche Stella für sich gewinnen wollte, um mit ihr zusammen als treuer, vernünftiger Schwester unabhängig von der Gunst eines Mannes einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Aber um das verwirklichen zu können, musste Blanche Stella zunächst einmal die Tatsache nahebringen, mit was für einem ordinären, groben und gewalttätigen Mann sie unter einem Dach lebt. Am Anfang des Gesprächs ist Blanche verwirrt und sodann empört über das ruhige und sogar zufriedene Verhalten ihrer jüngeren Schwester nach der »Nachtkrawalle«. Und schon während ihres »Kampfs« wird sie langsam auf Stella eifersüchtig, weil sie zugeben muss, dass sie auf ihre Schwester nicht (mehr) einwirken kann. Sie merkt auch, dass Stella diesem unbehaglichen Gespräch über Stanley lieber ausweichen würde. Viel sagt ihr Stella dabei nicht. Sie schaut Blanche kaum an, und nach einer Weile beginnt sie damit, das Zimmer verbittert aufzuräumen, während Blanche ihr beinahe hinterhergeht und auf sie einzureden versucht. So wurde diese Szene

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auch zum allerersten Mal, am elften Probentag, von den Schauspielern umgesetzt87. Erst nach einem Bühnenprobenversuch gab es eine Besprechung des Hintergrunds. Aus der Tabelle geht hervor, dass der körperliche Einsatz der Spieler in der Szene des »Kampfs um Stella« an allen Probentagen dieser Szene derselbe war88. Was sich aber von einem Probentag zum anderen intensivierte, war die Ergründung und die Erkenntnis sämtlicher psychologischer Hintergründe dieses »Kampfs«. Es war am 20.1.2011 (die Szene wurde erst zum dritten Mal geprobt), als der Regisseur sie zur »Entscheidungsszene« erklärte und einen »Kampf um Stella« nannte89. Das war die längste Diskussion während der gesamten Proben überhaupt. Diese Interaktion enthielt bereits die wichtigsten Botschaften, die die Künstler über die gesamte Situation zwischen Blanche und Stella in der vierten Szene miteinander austauschten. »Jetzt merkst du, sie hat es freiwillig gemacht« (­Langhoff an die Blanche-Darstellerin über Stellas Position im Morgenbett); »Von nun an müssen wir von hier abhauen. Ich muss sie jetzt davon rausziehen.« (Langhoff an die Blanche-Darstellerin); »X, ich glaube, du sollst eine Erkenntnis spielen.« (Langhoff an die Blanche-Darstellerin); »Nein, du liebst ihn nicht, das ist ein rein animalisches Begehren. Das hat um Gottes Willen nichts mit der Liebe zu tun!«, »Bist du jetzt irrsinnig? Kriegst du noch irgend etwas mit? Wie oft passiert das?« (Blanche-Darstellerin als Blanche an Stella) – das sind nur einige psychologische Erkenntnisse, zu denen die Künstler während ihrer Interaktionen am 20.1.2011 gelangten. An den folgenden Probentagen wurden dieselben und auch andere Details diskutiert90. Auch im Lauf der weiteren Interaktionen haben die Künstler all das ermittelt, was in Williams’ Text lediglich zwischen den Zeilen steht: »Da beginnt sie sich endlich mal langsam hineinzuhören, als plötzlich – steht er wieder da: ›Hallo, Stella!‹ Und jetzt ist sie verloren.« (Langhoff an Anika Mauer als Stella am 21.1.2011); »Das alles darf nicht kleinbürgerlich sein, eher großbürgerlich. Sie versteht nicht, wieso eine DuBois diesen Polen geheiratet hat.« (Langhoff an die Blanche-Darstellerin am 5.2.2011); »Und du lächelst! (ahmt nach, wie die vor Glück betäubte Stella es machen würde) Er hätte dich gestern vor fünf Leuten fast zu Tode geschlagen! Und du drückst ein Auge zu?!« (Blanche-Darstellerin als Blanche an Anika Mauer als Stella am 9.2.2011); »Wenn unsere Eltern dich so sehen würden, dann wären sie noch schneller … Ich glaube, das ist nicht ihre [Stellas] Wahl. Deswegen hat sie diese Argumentation, denn sie hat nichts mehr zu sagen. Da steckt noch was drin.« (Blanche-Darstellerin an Anika Mauer als Stella und dann an alle Probenbeteiligten am 16.2.2011); »Ja, so oft

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7  Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen

kann er sie doch nicht schlagen, sonst wäre er schon arm, denn sonst müsste er ihr doch nach jeder seiner Schlägereien Geld geben. Das ist ja nur eine erotische Neigung, ist ja keine Beziehung.« (Blanche-Darstellerin an alle Probenbeteiligten am 16.2.2011). Aus der Tabelle geht hervor, dass in der Probensituation Der Kampf um Stella die emotionale Energie, die die Künstler weitere Interaktionen initiieren ließ, sehr stark ausgeprägt war. Blanches Empörung über die Ungerechtigkeit von Stellas Lage wird zur Eifersucht und entwickelt unmerklich jene innere Triebkraft, die Blanche dazu bewegt, um Stellas »Rettung« zu kämpfen, um ihr aus der Klemme zu helfen und sie für sich, für ihre Zukunftspläne zu gewinnen. Die ­soziale Emotion Eifersucht gestaltete sich vor allem aufgrund der ­intensiven Interaktionsrituale, in welche die Darstellerin von Blanche stark involviert war und welche sie zugleich selbst oft initiierte. Zum Schluss entstand ein kollektives Bewusstsein davon, dass die Blanche-Darstellerin eine Erkenntnis verkörpern soll, durch die Blanche begreift, dass sie als ältere Schwester für ihre jüngere Schwester Verantwortung übernehmen und sie aus der Bedrängnis herausziehen soll. Es fiel mir ziemlich schwer, die Konstituierung der Kunstfigur von Blanche DuBois durch die soziale Emotion Eifersucht zu beobachten und diese Konstituierung zusammen mit den Künstlern mitzuerleben. Am schwierigsten war es festzustellen, um welche Emotion es bei Blanche geht, wenn sie »um Stella kämpft«. Die Konstituierung dieser Kunstfigur ist vielmehr eine kollektive Offenbarung aller oben erwähnten Erkenntnisse der Künstler, eine Offenbarung, die man ausschließlich in den Proben beobachten konnte. Nur hier war dies zu erkennen, weil das, was auf der Bühne körperlich umgesetzt wurde (auch nach dem Probenschluss bzw. bei jeder weiteren Aufführung), nur die Spitze des Eisbergs war. Und der »Eisberg« selbst, Blanches Eifersucht auf Stella – also das, was Tennessee Williams in seinem Stück ausklammert bzw. zwischen den Zeilen sagt – war nur im Lauf der mehrtägigen Interaktionen zu erschließen, weil diese nicht auf den ersten, nicht einmal auf den zweiten Blick zu bemerken, sondern nur kollektiv zu erkennen war.

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7.2  Konstituierung der Kunstfiguren am DT, am BE und an der Schaubühne

Soziale Emotion Stolz: Die Kunstfigur von Andreas Döhler in ­Krankenzimmer Nr. 6 am DT

Die Kunstfigur von Andreas Döhler ist von Anfang an aus einer Meinungsverschiedenheit91 des Schauspielers mit dem Regisseur entstanden. Es genügt allein, die Diskussionen der Künstler an den vier ersten Probentagen zu verfolgen, um sich der Sache zu vergewissern, dass Döhler schon während der Leseproben darüber nicht Bescheid wusste, was der Regisseur in der von ihm verkörperten Figur sehen möchte bzw. wie genau er seine Figur spielen soll: Döhler: »Gibt es Figuren? Gibt es zwischenmenschliche Beziehungen? Ich begreife es nicht.«92 Döhler (beim »Abc«-Lesen): »Ich weiß nicht, warum und wie ich das lese. Ich brauche Regieanweisungen.«93 Einige Tage später, bereits bei der ersten Bühnenprobe der Szene Abc am 27.1.2010, kam es zur ersten Konfrontation zwischen Darsteller und Regisseur94. Andreas Döhler hat auf Gotscheffs Ausruf aus dem Saal »Andreas, NEIN!« empört reagiert. Der Regisseur hat den in diesem Verhalten manifestierten Widerstand registriert95 und sich wohl vorgenommen, diese »Rebellion« auch ins Stück zu integrieren bzw. sie so zu belassen, wie der »Rebell« sie in den Proben einsetzt. Döhler spielt einen Insassen, der, seinen Texten zufolge, im Sträflingslager auf der Insel Sachalin96 überlebt hat. Nun lebt er in einer Anstalt für psychisch Kranke und erzählt mit verblüffender Genauigkeit von den Episoden aus dem Alltag der Strafgefangenen, über deren Hinrichtungen, die nach den misslungenen Versuchen erfolgreich wiederholt wurden, über grausame Statistiken des Katorga-Gefängnisses von Alexandrowsk. Aber in seinem Schlüsseltext spricht der Insasse über seine Unbestechlichkeit (»Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden, werde ich sie nicht nehmen.«) und über die Fähigkeit, an allen vorbeizugehen, denn er sei stark und stolz, denn »alles, was ihr, die Reichen wie die Bettler, so hoch und teuer schätzt, hat über [ihn] nicht die geringste Gewalt«97. Er ist ein stolzer Mensch, der ungeachtet aller erlebten Schicksalsschläge nicht nachgegeben hat und in geistiger, moralischer Hinsicht über der Krankenhausordnung, über den lebenswidrigen Philosophien des Doktors, über der die Patienten überwachenden Maschinerie (sprich: die technische Apparatur der von der Decke herabhängenden, knisternden und sich immer wieder drehenden Scheinwerfer) steht. Und dieser stolze Mensch rebelliert

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(was einleuchtend ist) gegen die vom Doktor praktizierten »Therapien«: Deswegen spricht er bei der Therapiestunde Abc nicht mit den anderen Patienten zusammen, sondern ruft, apart am Bühnenrand stehend, zu jedem vom Doktor genannten Buchstaben eigene Sätze aus. Diese Vorgeschichte der Szene Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden, die sich auf eine interessante, spontane, aufrührerisch-widerständige Weise in die Szene Abc eingebaut hat, zeigt, dass auch die emotionale Energie, dieses positive enthusiastische Gefühl, das eine unsichtbare Brücke zwischen den Interagierenden baut, immer wieder auf die Probe gestellt werden kann bzw. oft gestellt wird. Denn nur in solchen Momenten der Unklarheit, in denen man auf der Suche nach den Beziehungen zwischen den Figuren noch »im Dunklen tappt«, entstehen oft wichtige, grundlegende Dreh- und Umbruchpunkte der Darstellungsweisen, der Regievorhaben bzw. -vorstellungen u. ä., und es ist nur die emotionale Energie, die mithilfe ihrer schöpferischen, aufbauenden Kraft die Mitspieler bei verschiedenen Umbrüchen zusammenzuhalten vermag bzw. ihnen den Anstoß zur weiteren Zusammenarbeit gibt. Die in Kapitel 6 vorgenommene Beschreibung der Komponenten von den Mechanismen, nach denen die Kunstfigur von Döhler konstituiert wurde, bringt zum einen den ereignishaften Charakter aller performativen Handlungen und Interaktionen zwischen ihm, dem Regisseur und den anderen Spielern ans Licht. Die Arbeit zwischen Döhler und Gotscheff könnte man als eine der unvorhersehbarsten im Probenprozess bezeichnen98, weil deren Ausgang auch für die Künstler selbst immer unklar war (ob es wieder zur Auseinandersetzung zwischen ihnen kommt oder alles doch positiv ausgeht) bzw. der Verlauf dieser Arbeit immer ein Ereignis für alle Anwesenden war.99 Zum anderen war es der Einsatz von performativen Handlungen, der (auch nach den zahlreichen »Regiekorrekturen« während der Proben) zunächst den Umriss der Gestalt und zum Schluss auch die ganze Kunstfigur mit ihrem trotzigen, stolzen Charakter bestimmt hat. Der Charakter der Beziehungen zwischen dem Darsteller und dem Regisseur in einem Probenprozess kann sich daher auf den Charakter der Beziehungen zwischen der von diesem Darsteller geschaffenen Figur und ihrer Umgebung in der Aufführung übertragen.

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Endnoten

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Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 86. Stück, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, Leipzig 1956, S. 479. 2 Ebd. Es geht bei diesem Zitat um eine Übersetzung Lessings aus einer Schrift von Diderot. Lessing selbst setzt diese Passage in Anführungszeichen und versieht den Text mit der Fußnote »S. die Unterredungen hinter dem Natürlichen Sohne«. 3 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, Tübingen 1983, S. 124f. 4 Ebd., S. 139. Fischer-Lichte zitiert hier aus Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 33. Stück, hrg. v. Otto Mann, Stuttgart 1948, S. 384f. 5 Vgl. auch ebd., S. 139f. 6 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 9. Stück, hrg. v. Otto Mann, Stuttgart 1948, S. 273, zit. nach Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 140. 7 Konstantin Sergeevič Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, Westberlin 1988, S. 82, Anm. 15. 8 Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 199, Anm. 321. 9 Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, S. 84, Anm. 25. Nikolai Tschuschkin über die Arbeitsmethode von Stanislawski. 10 Ebd., S. 36. 11 Ebd., S. 37. 12 Ebd., S. 86, Anm. 38. 13 Ebd., S. 57. 14 Vgl. den Vermerk zur Ansicht Stanislawskis über den dynamischen Prozess der Bildung und Entwicklung der Rolle: »Die Bühnengestalt entsteht […] erst im Verlaufe der Aufführung, vor den Augen des Publikums, und muß im Prozess ihrer Bildung und Entwicklung gezeigt werden. Den statischen Charakter der Gestalten hielt Stanislawski für einen der größten Mängel einiger zeitgenössischer Theater. Er vermied überhaupt den Terminus Bühnengestalt, weil, wie er sagte, darunter das ein für allemal ausgeprägte Porträt einer handelnden Person verstanden wird, das der Schauspieler dem Publikum vom Anfang bis zum Ende der Aufführung zeigt. Um dagegen am Ende der Aufführung den in seiner Eifersucht schrecklichen, leidenden Othello zu zeigen, muß man ihn im ersten Akt möglichst glücklich, ruhig und lebensfroh darstellen. Die Gestalt bildet sich erst als Ergebnis des auf der Bühne durchlebten Lebens. Sie hat ihre Entwicklung, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft.« (Ebd., S. 86, Anm. 38.) 15 Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, S. 149. [Hervorhebungen von mir, V. V.] 16 Ebd., S. 149f. 17 Ebd., S. 290. 18 Ebd., S. 249. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 291. 21 Ebd., S. 250f. [Hervorhebungen von mir, V.V.] 22 Ebd., S. 291. 23 Ebd., S. 290f. 24 Diese Begriffe wurden von mir aus dem russischen Originaltext (Michail Čechov: O technike akt‘ora, in: Konstantin Stanislawski: Rabota akt‘ora nad soboj und Michail Čechov: »O technike akt‘ora«, Sammelband, Moskva 2002, S. 371–485, S. 431) übersetzt, um sie der Übersetzung in der deutschen Ausgabe (Michail Čechov: Die Kunst des Schauspielers, Stuttgart 1990, S. 97–99) gegenüberzustellen. Statt Verkörperung der Gestalt steht in der deutschen Ausgabe Gestaltgebung, statt Rollengestalt (die Gestalt der Rolle) Rollenfigur. Nur einmal gebraucht Čechov den Ausdruck Phantasiegebilde/Phantasiegeschöpf/das Geschöpf der Phantasie (rus. »sozdanie vašej tvorčeskoj fantazii«). Stattdessen spricht er fast immer über die Gestalt, die man erst verkörpert, nachdem man sie in seiner Phantasie gesehen, gehört, entwickelt und geschliffen hat. Čechov ging es gerade um die Gestalt, denn in der Phantasie sieht man nur Gestalten, die Gestalt ist die einzig mögliche Schöpfung der menschlichen Phantasie. Statt des im Originaltext gebrauchten Verbs verkörpern (rus. »voploščat‘«) schlägt der deutsche Übersetzer vor, Gestalt geben zu gebrauchen. Deswegen geht es in dieser deutschen Übersetzung vor allem um die lexikalische Kongruenz, um dem lexikalisch ungünstigen Aus-

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druck der Gestalt Gestalt zu geben auszuweichen. Was den Begriff Charakter (rus. »charakternost‘«, was eher als Charaktereigenschaften zu übersetzen wäre) anbelangt, so steht in der deutschen Übersetzung zwar Charakter im Titel, im Text selbst aber Rollen-Typus, ohne dass an irgendeiner anderen Stelle von Charakter die Rede wäre. Charakteristische Merkmale (rus. »charakternye osobennosti«) wurden ins Deutsche als typische Merkmale übertragen. Diejenigen, die wenigstens einmal im Leben auf der Bühne gestanden haben, wissen, dass jeder Typus auch seinen persönlichen Charakter haben kann. Nur der Charakter (und darüber schreibt gerade Čechov) verfügt über ein äußeres und ein inneres Leben. Wenn man aber über den Typus spricht (die russische Entsprechung für diesen Begriff heißt »tipaž«), so sind meistens nur typische äußerliche Ausprägungen im Verhalten einer Person gemeint, aber sobald man den Blick auf die innere (psychologische) Seite des Typus werfen möchte, entsteht unausweichlich der Wunsch, von dessen Charakter zu sprechen. Deswegen gebraucht Čechov statt Rollen-Typus den Begriff Charakter. Die deutsche Übersetzung blieb leider bei der ungünstigen Variante Typus: »Die übliche Einteilung des Typus [bei Čechov steht »charakternost‘« – Charaktereigenschaften – V. V.] in ein Innen und Außen ist nicht ganz berechtigt. Unvertraut mit der Psychologie einer anderen Person, können Sie sich deren Umgangsformen nicht aneignen, und innere Eigenart ist nicht anders als äußerlich darstellbar. An jedem Rollentypus [bei Čechov steht an dieser Stelle wieder »charakternost‘« – V. V.] ist zugleich immer etwas Äußerliches und etwas Innerliches, allerdings mit ausgeprägten Schwerpunkten.« (Ebd., S. 99.) Ebd., S. 97. Ebd., S. 97f. Ebd., S. 98. Ebd. [Hervorhebung im Original] Stanislawski begriff unter der »Überaufgabe des Stückes« das »grundlegende, umfassende Ziel, das alle anderen Aufgaben in sich vereinigt, worauf sich das schöpferische Streben der Antriebskräfte des psychischen Lebens und alle Elemente des inneren Befindens der Einheit Schauspieler-Rolle beziehen«. (Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens: Tagebuch eines Schülers, Teil 1, Westberlin 1983, S. 292f.) Stanislawski 1988, S. 150. Weiter zitiert Tschuschkin Stanislawski selbst: »Die erste Sorge des Schauspielers muß die sein, nicht die Überaufgabe aus den Augen zu verlieren. […] Sie vergessen heißt, die Lebenslinie des dargestellten Stückes zerreißen. Das ist eine Katastrophe sowohl für die Rolle als auch für den Schauspieler selbst und die ganze Vorstellung.« (Ebd., Stanislawski zit. nach Nikolai Tschuschkin.) Meine Probennotizen vom 14.1.2010. Meine Probennotizen vom 15.1.2010. Meine Probennotizen vom 18.1.2010. Meine Probennotizen vom 7.1.2010. [Hervorhebung von mir, V. V.] Meine Probennotizen vom 15.1.2010. Meine Probennotizen vom 18.1.2010. Meine Probennotizen vom 15.1.2010. Meine Probennotizen vom 14.1.2010. Meine Probennotizen vom 13.1.2011. Meine Probennotizen vom 28.1.2011. Meine Probennotizen vom 1.2.2011. Meine Probennotizen vom 17.1.2011. Thomas Ostermeier im Gespräch mit russischen Schauspiel- und Regiestudenten nach einem Gastspiel in St. Petersburg am 16.11.2013. Transkribiert auf Basis einer Videoaufzeichnung (abrufbar unter: www.youtube.com/watch?v=omnd6w49HQ [letzter Abruf: 19.6.2018]). Im Oktober 2011 fand in Venedig ein Biennale-Workshop statt, zu dem sieben europäische Theaterregisseure eingeladen wurden. Sie mussten eine 15-minütige Szene in einem der venezianischen Paläste kreieren. Das Thema des Regieworkshops war Die sieben Todsünden. Jeder Regisseur musste dafür die aus seiner Sicht schlimmste Todsünde auswählen und in der Szene das Thema dieser Todsünde entwickeln. Ostermeier hat sich für Pädophilie als schlimmste Tod-


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sünde entschieden. Er nahm eine Szene aus Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig. Es ist die Szene, in der der prominente Schriftsteller Gustav von Aschenbach während seiner Venedig-Reise auf Lido den attraktiven 14-jährigen Sprössling einer adeligen polnischen Familie beim Abendessen im Restaurant beobachtet. Ein Videomitschnitt der Szene: www.youtube.com/watch?v=k0A gEcJswi4 [letzter Abruf: 19.6.2018] Siehe dazu auch die Beschreibung in meinem Referat Rehearsing a sketch: ­Thomas Ostermeier’s work on »Death in Venice/Kindertotenlieder« an der Royal ­Central School of Speech and Drama (London) am 26. September 2014 im Rahmen des internationalen Symposiums, gewidmet dem Lebenswerk von Thomas Ostermeier, Programmheft, S. 16: www.cssd.ac.uk/sites/default/files/Thomas_ Ostermeier_Programme_Booklet.pdf [letzter Abruf: 19.6.2018] So wie es z. B. in der Szene des Kampfs um den Schal war: »Ostermeier: ›What is important for me, is, why does this play start. Maybe you, Rosabel [Huguet], leave the scarf on the steps, and then you fight for the right to have it.‹« (Meine Probennotizen vom 5.10.2012.). Thomas Ostermeier im Gespräch mit russischen Schauspiel- und Regiestudenten nach einem Gastspiel in St. Petersburg am 16.11.2013. Transkribiert auf Basis einer Videoaufzeichnung (abrufbar unter: www.youtube.com/watch?v= -omnd6w49HQ [letzter Abruf: 19.6.2018]). Siehe Kapitel 6: Soziale Emotion Liebe, Deutsches Theater Berlin, hier insbesondere die Spalte Datum, Ort, Textstelle vom 18.1. bis 23.2.2010. Dies wurde meistens vor und nach den Proben getätigt bzw. außerhalb der Proben wurden die kreierten Textfassungen aktualisiert. Siehe Kapitel 6: Soziale Emotion Liebe, Deutsches Theater Berlin, Spalten Performative Handlungen und Physiologische Veränderungen des Spielers vom 18.1. bis 23.2.2010. Siehe ebd. Spalten Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«, Intentionales Objekt, Subjektives Erleben z. B. am 21.1.2010, 8.2.2010, 16.2.2010 Siehe ebd. Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« am 25.1., 27.1., 2.2., 8.2.2010. Beim Proben der Szene Kinderträume gab es einen Moment, in dem die Spieler einander plötzlich mit ihren echten Vornamen ansprachen. In dieser Form ist diese Szene auch in die Endversion eingegangen. Siehe Kapitel 6: Soziale Emotion Liebe, Deutsches Theater Berlin, Spalten Subjektives Erleben des Darstellers und Gedankeninhalte am 8. und 16.2.2010. Siehe Kapitel 6: Soziale Emotion Liebe, Schaubühne am Lehniner Platz, z. B. Probensituation eins am 2., 4., 8.10.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«; Probensituation zwei am 2., 4., 10.10.2012, 8.11.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«; Probensituation drei am 5.10.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«; Probensituation vier am 2., 5., 7.11.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«. Siehe ebd. z. B. Probensituation eins am 12.10.2012, 2.11.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«; Probensituation zwei am 6.10.2012, 7.11.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«; Probensituation drei am 6.11.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«; Probensituation vier am 4., 10.10.2012, 6.11.2012, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«. Vgl. z B. seine Beobachtung des Knaben im Hotelrestaurant in: ebd., Probensituation eins und zwei, Spalte Performative Handlungen des Spielers. Vgl. z. B. das Melone- oder Hummersaugen bzw. das Anschneiden des blutigen Fleisches in: ebd., Probensituation vier, Spalte Performative Handlungen des Spielers. Siehe Kapitel 6: Soziale Emotion Verachtung, Deutsches Theater Berlin, die Textfassung vom 18.1.2010 sowie die Beschreibung der ersten Bühnenprobe ebd. vom 1.2.2010. Siehe ebd., Tabelleneintrag vom 1.2.2010. Siehe ebd., Tabelleneintrag vom 1.2.2010, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«. Vgl. ebd., Spalte Performative Handlungen des Spielers, 1. bis 19.2.2010.

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63 Ebd., Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«, 5.2.2010. 64 Ebd. 65 Siehe ebd., Spalte Performative Handlungen, Probensituation zwei vom 3. bis 23.2.2010. 66 Vgl. ebd., Probensituation zwei vom 3.2.2010, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler«. 67 Ebd., 8.2.2010. 68 Vgl. Kapitel 6: Soziale Emotion Verachtung, Berliner Ensemble, Spalte Datum, Ort, Textstelle vom 29.1.2011. 69 »Er benimmt sich wie ein Tier«, »Er hat wirklich etwas […], das noch nicht ganz ins Stadium des Menschseins getreten ist! Ja, etwas Affenartiges, so wie auf den Abbildungen in anthropologischen Untersuchungen!«, »[…] und da haben wir ihn nun – Stanley Kowalski – Überlebender der Steinzeit!« etc.; vgl. ebd. Spalte Datum, Ort, Textstelle vom 29.1.2011. 70 Vgl. ebd., Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 29.1.2011: Langhoff: »Shep Huntleigh kauft uns ein Geschäft, egal was – Unterwäsche. Hauptsache, du musst weg von diesem Untermenschen.«; ebd. am 9.2.2011: Langhoff (für Blanche): »Ich bin entsetzt … Ich bin eine DuBois. Ich hätte es nicht ausgehalten. Du bist aber keine DuBois.« Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Und du lächelst …« (Ahmt nach, wie die vor Glück betäubte Stella es machen würde.) »Er hätte dich gestern vor fünf Leuten fast zu Tode geschlagen! Und du drückst ein Auge zu?!« 71 Vgl. ebd., Spalte Performative Handlungen des Spielers vom 29.1.2011, 9.2.2011 und 4.3.2011. 72 Siehe ebd., Spalte Subjektives/emotionales Erleben des Darstellers vom 25.1.2011: Blanche-Darstellerin (boshaft, gereizt): »Er ist wirklich wie ein Schwein: Er frisst wie ein Schwein, er spricht wie ein Schwein! Ja, weil ich nicht genug Geld habe, muss ich hier mit diesem ordinären Menschen, mit diesem Tier, Untermenschen ›rumbleiben‹ …« (allgemeines Gelächter). 73 Vgl. dazu die Interaktion der Darstellerin mit dem Regisseur in ebd., Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 24.2.2011: Blanche-Darstellerin: »Aber ich glaube, sie muss es viel aufgeregter sagen: ›Er stolziert in der Unterwäsche.‹ Dieser Kerl beschäftigt sie immer in ihren Gedanken.« 74 Vgl. ebd., Spalte Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte vom 24.2.2011: Blanche-Darstellerin: »Oder es ist so, dass ich es gar nicht erzählen will, aber dass es sich so von selber reingerät.« 75 Vgl. ebd., Szene fünf, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 29.1.2011. 76 Vgl. ebd., Szene fünf, Spalte Performative Handlungen des Spielers vom 29.1.2011. 77 Vgl. ebd., Spalte Subjektives Erleben des Schauspielers. 78 Vgl. ebd., Spalte Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte. 79 Vgl. ebd., Szene acht, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 31.1.2011. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. ebd., Spalte Subjektives Erleben des Spielers. 82 Vgl. ebd., Szene acht, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 3.2.2011. 83 Vgl. ebd., Spalte Subjektives Erleben des Darstellers. 84 Siehe Spalte Subjektives Erleben des Darstellers vom 29.1.2011. 85 Vgl. Kapitel 6: Soziale Emotion Eifersucht, Berliner Ensemble, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 9.2.2011. 86 Vgl. ebd., Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 20.1.2011. 87 Vgl. ebd., Spalte Performative Handlungen des Spielers vom 19.1.2011. 88 Siehe ebd. Spalte Performative Handlungen des Spielers vom 19.1. bis 28.2.2011. 89 Vgl. ebd., Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 20.1.2011. 90 Siehe Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 21., 22.1.2011, 5., 9., 16., 28.2.2011. 91 Selbst wenn es in den Proben zu Differenzen zwischen den Künstlern kam, hatten solche Arbeitsmomente eher einen positiven Charakter, weil sie zur

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»­Entladung« der gespannten Atmosphäre bei der Suche nach besseren Bühnenentscheidungen beitrugen. Auch die geschilderten Meinungsverschiedenheiten zwischen Gotscheff und Döhler führten letztendlich zur Entstehung der prägenden Charakterzüge von Döhlers Figur in der Szene Das Čechov-Abc. Vgl. Kapitel 6: Soziale Emotion Stolz, Deutsches Theater Berlin, Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 14.1.2010. Vgl. ebd., 18.1.2010. Vgl. ebd., Spalte Realisierung des Verhältnisses »Regisseur – Schauspieler« vom 27.1.2010. Vgl. Gotscheff am 27.1.2010: »Ist es ein Widerspruch von euch allen oder nur von Andreas?«, in: ebd. Döhlers Texte wurden dem Čechov’schen Bericht Die Insel Sachalin entnommen. Der Schriftsteller bekam 1890 die Erlaubnis, sich das Leben der Sträflinge in dem abgelegenen russischen Verbannungsort Insel Sachalin anzusehen und dort alle Gefängnisse und Lazarette zu besichtigen. In demselben Jahr unternahm Čechov eine dreimonatige Reise zur berüchtigten Insel im Pazifik. Einige Jahre später erscheint sein markerschütternder Bericht über die verheerenden Lebensumstände der Gefangenen auf der Sträflingsinsel. (Vgl. Anton Čechov: Die Insel Sachalin, Zürich 1976.) DT-Textfassung vom 23.2.2010, S. 12. Obwohl Döhler nicht der einzige Darsteller war, mit dem Gotscheff für diese Inszenierung erstmalig zusammenarbeitete. Definitiv trägt jede Interaktion zwischen dem Regisseur und dem Künstler im Probenprozess einen ereignishaften Charakter, aber im Fall Gotscheff vs.­ ­Döhler war das Ausmaß der Ereignishaftigkeit ihrer Zusammenarbeit doppelt so groß. Das kann durch den explosiven Charakter beider Künstler, durch ihre damals erstmalige Zusammenarbeit und durch ihre Suche nach produktiven Taktiken zum »Aneinanderreiben« erklärt werden.

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Schlusswort Der Probenprozess als ein Leben en miniature

Diese Studie stellt den Versuch dar, das Potenzial der Theaterprobenprozesse, nämlich der performativen, transformierbaren Gruppenprozesse, auf die Gestaltung der künstlerischen Figur zu untersuchen und dabei eine neue, relevante methodologische Herangehensweise für die theaterwissenschaftliche Probenforschung herauszuarbeiten. Wenn Theaterwissenschaftler die Aufführung zum »Modell des Lebens«1 erklären, erweist sich die Probe – der der Aufführung vorangehende Prozess – gleichermaßen als ein Modellentwurf des Lebens, und zwar ein Modellentwurf des Lebens von künstlerischen Figuren, in dem die Künstler und andere Probenmitwirkende noch Änderungen vornehmen können, bis sie das Modell selbst geschaffen haben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Zitat von George Tabori, in dem auch er eine Parallele zwischen der Probe und dem wirklichen Leben zieht. Das Proben sieht er gar als ein ideales Leben: Eine Theaterprobe spiegelt für kurze Zeit das ideale Leben wider. Menschen treffen sich. Sie haben ein gemeinsames Ziel. Sie arbeiten. Sie diskutieren. Und am Ende findet nicht der Tod, sondern eine Premiere statt.2 »Meine Heimat ist die Probe«3, pflegte Dimiter Gotscheff über die Probe zu sagen. Die Probe vergleicht der Regisseur mit der Heimat, sprich mit einem Ort, der für jedermann heilig ist. In der Heimat beginnt der Lebensweg eines jeden Menschen: Dort macht man seine ersten Schritte und schöpft seine ersten Kräfte. Dieser Analogie folgend, ist die Probe als Geburtsstätte einer Inszenierung für einen Theaterschaffenden genauso heilig, wie es die Heimat für jedermann ist. Auch für Thomas Ostermeier ist die Probe der Ort, an dem die Figuren seiner Inszenierungen »zur Welt kommen«, also ihre Wiege. Er selbst wisse nicht, wie die Figur aussieht, ehe er den Probenraum betreten würde. Erst beim Proben werde ihm langsam klar, welche Eigenschaften die Kunstfigur besitze. So äußert er sich über den Charakter von Richard III.: Normalerweise versuche ich die Fragen, die ich an ein Stück habe, auf der Probebühne zu beantworten. […] Bevor ich anfange,

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weiß ich noch nicht, wie mein Richard sein soll; ich versuche erst während der Proben herauszufinden, was am Überzeugendsten [sic!] sein könnte. Und weil Shakespeare intelligenter ist als ich, vertraue ich darauf, dass er mir die Antworten durch das dreidimensionale Denken des Theaters liefert.4 Wenn die Theaterschaffenden selbst die Probe zum »idealen Leben«, zur »Heimat« oder zur Geburtsstätte der Figuren erheben, dann ist sie ein Leben en miniature par excellence und eröffnet somit viele Forschungsmöglichkeiten. In der Probe entsteht und entwickelt sich das Leben der Figur, genauso wie der Mensch im wirklichen Leben zur Welt kommt, heranwächst, erwachsen wird und in verschiedenste Situationen verwickelt wird. Nur sind diese Prozesse in den Proben komprimiert und werden an (meistens) einem Ort und innerhalb einer beschränkten Zeitspanne viel intensiver vollzogen. Die überschaubare Zeit dieser Entstehungsprozesse erlaubt es, die Proben aus einer Außenperspektive zu beobachten, die im »normalen« Leben nicht gegeben ist. Die Beobachter-Position in den Proben hat es mir daher ermöglicht, die dort stattfindenden Prozesse und Ereignisse vom Standpunkt eines teilnehmenden Elements aus zu fixieren, und nicht wie sie von Theatermachern im Nachgespräch oder Interview formuliert wurden.5 So ist der Stellenwert der Beobachterposition für den Probenprozess mit seiner flüchtigen Materialität nicht (mehr) zu unterschätzen: Die Position des professionellen Beobachters markiert einen methodologischen Ansatz für die Perspektiven in der Probenforschung.

Komponentenmethode

Matzke konstatiert, dass »gegenwärtige Probenkonzeptionen […] weniger durch Programmatiken als durch individualisierte Arbeitszugänge geprägt«6 seien. In meiner Studie verfolgte ich nicht das Ziel, die Präsenz der individualisierten Arbeitszugänge in gegenwärtigen Probenkonzeptionen nachzuweisen: In der heutigen Diversität der Theaterprojekte, Ideen, Techniken, Verfahren usw. werden Theaterregisseure a priori vor die Herausforderung gestellt, zu jedem Projekt individualisierte Herangehensweisen an den Probenprozess auszuarbeiten (wobei der Prozess der »Ausarbeitung« oft unmittelbar im Probenprozess vollzogen wird, was die Vorbereitung darauf auf ein technisches Vorstadium herabsetzt und die performative Dimension

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der Probe in den Vordergrund stellt). Mein Ziel war es aber, zu zeigen, dass bei solch einer Vielzahl von individualisierten Herangehensweisen der Regisseure an den Probenprozess die Probe immer performativ hervorgebracht wird, dass alle Probenbeteiligten spontan agieren müssen (was von ihnen Arbeits-, Lebens- und emotionale Erfahrungen sowie viele weitere Fertigkeiten verlangt) und dass es gerade die Performativität der Probenprozesse ist, die grundlegend für die in dieser Untersuchung dargelegten schauspieltheoretischen und -methodischen Überlegungen über die Gestaltung der Kunstfiguren im gegenwärtigen Regietheater ist. Solch eine Zielformulierung involviert darüber hinaus die Ausarbeitung einer relevanten Methodologie in Bezug auf eine theaterwissenschaftliche Erforschung der Konstituierung von einer künstlerischen Gestalt im Regietheater. Abermals war es die Beobachterposition in den Probenprozessen, die Empirie, die es mir erlaubte, die Emotionalität als eine der prägenden Komponenten der Performativität im Probenprozess zu problematisieren bzw. die Emotionstheorien und entsprechenden Forschungsmethoden heranzuziehen, um die Probenprozesse auch von einem soziologischen Standpunkt aus auszuloten. Wenn man in einem Saal mit dem Regisseur sitzt, die Proben beobachtet bzw. die Ergebnisse dieser teilnehmenden Beobachtung durch die Kontextualisierung der eigenen Präsenz protokolliert und nicht auf die Sichtweise des Regisseurs angewiesen ist, der seine Sichtweise im Nachhinein im Interview subjektiv schildert (kommentiert, bewertet, lobt, kritisiert usw.), dann lassen sich viele ereignishafte Situationen beobachten, wie sie in dieser Studie zu Untersuchungseinheiten erhoben wurden. Ereignishafte Situationen sind a priori emotional gefärbt, sie gehören in die Emotionssphäre. Und die Reichweite der Emotionsforschung umfasst ihrerseits viele relevante Methoden, die in verschiedenen Disziplinen angewendet werden (Neurowissenschaften, Biologie, Kognitionswissenschaften, Soziologie, Ritualforschung, Psychiatrie, Pädiatrie, Pädagogik usw.). In der Soziologie verwendet man oft eine Komponentenmethode. Zunächst werden die Komponenten herausgestellt, die die Grundlage der Studie bilden. Dann werden die Verhaltensweisen der Versuchspersonen beobachtet, je nach Komponente verglichen und je nach Ziel der Untersuchung analysiert und bewertet. In meiner Studie habe ich bei der Untersuchung der Emotionen solch eine Komponentenmethode angewendet. Die Komponenten habe ich nach den Prinzipien ausgewählt, die von physiologisch-körperlichen (vollzogene performative Handlungen und die dadurch verursachten natürlichen Veränderungen des

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­ örpers), über rituelle (Künstlerinteraktionen) bis zu gedanklich-sinnK lichen (Gedankenaustausch in den Probendiskussionen, persönliche Interviews) Kriterien reichen. Meines Erachtens haben die im Zuge dessen herausgestellten sechs Komponenten ermöglicht (vgl. Kapitel 6), die breite Palette der in den Probenprozessen verlaufenden Ereignisse zu reflektieren, die auf die Gestaltung der künstlerischen Figur einen direkten Einfluss nehmen.

Beobachtung vs. Interview

Eine wichtige Frage, die noch beantwortet werden soll, lautet, in welchem Verhältnis die Empirie zur persönlichen Befragung der Probenbeteiligten bei meiner Anfertigung der Tabelle in Kapitel 6 stand. Ich gehe deshalb auf diese Frage ein, weil ich den (durchaus berechtigten) Verdacht einer subjektiven Schilderung der vorgenommenen Probenbeobachtungen entkräften möchte (denn jede Beobachtung bezieht sich auf einen individuellen Standpunkt und ist daher immer subjektiv). Ich muss zugeben, dass meine Probennotizen und Videoaufzeichnungen nicht ausreichten, um die Probenprozesse in ihrer ausnahmslos vollen Länge fixieren zu können. Mir fehlte eine (möglichst) mehrdimensionale Beobachtung. Zumindest ich würde mir als Probenforscherin wünschen, dass in allen Ecken des Probenraums mehrere professionelle Protokollanten säßen und an verschiedenen Stellen 3-D-Videokameras (in Zukunft wahrscheinlich auch 4-DVideokameras7) installiert wären, mit denen sich selbst sehr vertraute Gespräche zwischen den Künstlern aufnehmen ließen. Aber dies ist aktuell in den Proben aus mehreren – vor allem ethischen – Gründen nicht möglich, die u. a. den Einbruch in die Privatsphäre, die Störung der Arbeit der Künstler, urheberrechtliche Gründe des Theaterbetriebs o. ä. einschließen. Man kann aber auch nicht ausschließen, dass das Experiment der »totalen Überwachung« bzw. vollständigen Dokumentation des Probenprozesses noch folgen wird, und zwar dergestalt, dass derlei Experimente in Zukunft nicht nur Ausnahmen darstellen, sondern im Gegenteil im Theater oder am Anfang zumindest in der Theaterforschung zur Norm werden.8 Auch im Fall des Interviews, dieser heute am weitesten verbreiteten Art des Berichts über den Probenprozess sowie spezifische Regieund Schauspielarbeitsweisen, ist der Fragende zugegebenermaßen vor einer verzerrten Antwort des Befragten nicht geschützt. Solch eine Antwort wird aus dem Kontext der Bühnenpräsenz und des unmittel-

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baren Kontaktes mit den Mitspielenden gerissen, ist vom Interviewten bereits durchdacht und gilt somit als sekundär gegenüber dem, was vor einer halben Stunde im Probenraum gemacht und erlebt wurde. Wenn man dies ins Kalkül einbezieht, erhält der Beobachter mehr Chancen darauf, eine spontane (d. h.: möglichst authentische) Aktion auf der Probebühne zu verfolgen, einer spontanen Interaktion im Probenraum beizuwohnen, bei der der Spieler kaum »lügen« würde, insofern er sich gerade inmitten der Konstituierung seiner Kunstfigur befindet. Natürlich kommen die Künstler in den Probendiskussionen nicht auf alle Nuancen, die man als Beobachter und Probenforscher in Erfahrung bringen möchte. Dann ist es schon die Aufgabe und das Geschick des Beobachters, den Künstler zu einem möglichst aufrichtigen Gespräch zu bewegen bzw. eine Situation zu schaffen, in der Letzterer sich nicht als eine Versuchsperson fühlt, sondern eine freiwillige Bereitschaft zur persönlichen Kommunikation zeigt und die Fragen des Probenforschers möglichst aufrichtig beantwortet. Die größte Schwierigkeit bei Interviews, die ich als Probenforscherin ziemlich selten führte, bestand für mich in der Suche nach einem passenden Moment für das Interview. Denn normalerweise gehen die Schauspieler in der Probenpause essen und möchten sich ausruhen. Nach der Probe ziehen sie sich schnell um und gehen nach Hause oder bereiten sich auf die Abendvorstellung vor. Es stellt sich mir mithin die Frage der Höflichkeit, wenn man die Schauspieler während ihrer ohnehin nur sehr kurzen Arbeitspause befragt. Und es ist auch die Frage des Vermögens (und/oder der Erfahrung) des Interviewers, ob man die Künstler auszufragen weiß. Am Anfang meiner Probenbesuche hatte ich noch keine Befragungsstrategie. Ich habe die Alltagspsychologie der nur ihren Beruf ausübenden Schauspieler, die in ihrer Arbeitspause etwas ausruhen möchten, nicht berücksichtigt. Darum habe ich zwei kurze Interviews, die ich beim ersten Probenprozess in unpassenden Momenten gemacht habe, nicht in die Tabelle eingetragen, denn die Antworten schienen aus Höflichkeit zu mir als Probenmitglied bzw. zwischen Tür und Angel gegeben worden zu sein. Später habe ich diese psychologische Feinheit mit einkalkuliert und »passende« Momente zum Interviewen selbst geschaffen. Dieser »Beichtbericht« am Schluss der Untersuchung wirft ein Licht darauf, dass das Sammeln des Probenmaterials im heutigen Regietheater stets mit ethischen Hindernissen verbunden ist, dass der Probenforscher an manchen Stellen mit einem »Spitzel« gleichgesetzt werden könnte, dass man sich bei einer praktischen Probenforschung immer auf einen Kampf einstellen muss: einen Kampf um den Zugang zur Dokumentierung, um die Objektivität und Authentizität des gewon-

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nenen Materials, um eine vielfältige Speicherung des Materials (z. B. durch Video- und Tonaufnahmen).

Eine Prognose über die Zukunft der Theaterprobenforschung

Die Zukunft der Theaterprobe liegt in der Öffnung ihrer Grenzen nach außen. Wie in dieser Untersuchung gezeigt wurde, funktioniert der theatrale Probenprozess nicht nur über räumliche und zeitliche, rituelle und intermediale Kategorien, sondern es sind auch ästhetische Kategorien, die seine Konstituierung prägen. Die Herausforderung gründet auf einem Prinzip, nach dem jede Probe funktioniert. Sie ist zugleich ein komplexer ästhetischer Vorgang, der die Wechselwirkung von allerlei Wahrnehmungen, rituellen, persönlichen, zeitlichen, räumlichen, intermedialen Verhältnissen in den Proben begreift und der zuallerletzt die Grenzauflösung zwischen Kunst und Alltagspraktiken verursacht. Die Erscheinung der Grenzöffnung zwischen Inszenierungskunst und Alltagspraktiken liegt grundsätzlich darin, dass der Probenprozess öffentlich gemacht wird. Der Probenprozess sollte den externen Zuschauern nicht erst bei den Durchlaufproben (dem letzten Probenstadium) zugänglich gemacht werden, sondern er sollte sich bereits ab Probenbeginn nach außen öffnen. Um sich so etwas leisten zu können, muss sich das Theater gerade vor eine Herausforderung stellen: Ist ein Inszenierungsprozess nur hinter ewig verschlossenen Türen zu bewältigen oder gibt es innere Reserven, die den Künstlern passende Schaffungsbedingungen auch während ihrer Aussetzung der Öffentlichkeit ermöglichen würden? Heute mag es utopisch klingen, dass es nicht nur in experimentellen, privaten Theatergruppen, in der sogenannten freien Szene, sondern an jedem großen Theater mit festem Ensemble, renommierter künstlerischer Leitung und namhaften Regisseuren dauerhafte öffentliche Probenprozesse geben könnte. Aber die Zeit vergeht, die Grenzen der Kunst und des Alltags werden verwischt und es ist unklar, welche Praktiken Theatermacher in sieben, zwölf, zwanzig Jahren in ihrer Arbeit am Theater einsetzen werden. Allerdings steht fest: Im Theater wird immer nach etwas »Neuem« gesucht, seien es die Formen, Verfahren oder die Probengestaltung. Und man kann nicht ausschließen, dass z. B. öffentliche Dauerproben an manchen großen Theatern in zehn Jahren zu einer üblichen, geregelten Praktik werden. Außerdem kennt die deutsche Theatertradition Beispiele, in denen die Arbeit mancher Theaterregisseure via öffentliche Proben das Publikum einschloss,

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sodass nicht mit Unrecht behauptet werden könnte, dass tatsächlich alles Neue das längst vergessene Alte ist. Ich meine vor allem die Regiearbeit Bertolt Brechts am Berliner Ensemble in späteren Jahren seines Schaffens. In Die Dramaturgie des späten Brecht weist der Brecht-Forscher Walter Hinck darauf hin, dass Brecht »bei den Proben des ›Berliner Ensembles‹ bestrebt [war], von vornherein auch die Belange des Publikums zu berücksichtigen«9: Zum Teil geschah es schon dadurch, daß er (ähnlich wie Otto Brahm) vom Zuschauerraum aus Regie führte. Außerdem aber waren immer bereits zu den Proben interessierte Zuschauer zugelassen. Dem Schauspieler war beim Aufbau seiner Rolle immer das Publikum gegenwärtig. Damit scheint überhaupt ein neuer Theaterbrauch gegeben zu sein: aus der esoterischen Probenarbeit und -atmosphäre wird eine öffentliche; man gewährt zu jeder Zeit Einblick in die »Werkstatt« – »Theater« wird als ein künstlerischer Arbeitsprozeß gezeigt.10 Als »überhaupt einen neuen Theaterbrauch« sieht Hinck Brechts bahnbrechende Arbeitsmethode, den Zuschauer in die Proben zu integrieren. Diese von Brecht vor über sechzig Jahren praktizierte bahnbrechende Neuerung (ungeachtet der allgemein etablierten Zuordnung des Brecht’schen Schaffens in allen seinen Sparten zur Theateravantgarde, die a priori umwälzend ist) hat bis heute nicht mehr als einen Anstoß gegeben, der hinterher vergessen wurde: Die Zulassung des externen Zuschauers zum Probenprozess, die Einwilligung des Regisseurs zur steten Präsenz der Dritten, die Bereitschaft des Regisseurs auf die unausweichliche Transformation der Gegebenheiten im beobachteten Probenraum durch Externe – all dies stellt nämlich auch im zeitgenössischen Regietheater immer noch eine äußerst seltene und kühne Ausnahme dar. Uns bleibt aber nur die Hoffnung darauf, dass das, was die Regisseure im Probenraum bereits Mitte des 20. Jahrhunderts gewagt haben und was nach ihnen keine Verbreitung fand, in absehbarer Zukunft von den Theaterschaffenden endlich aufgegriffen, weiterentwickelt, zur Regel gemacht wird. Das würde sowohl den Horizont des schauspielerischen Vermögens (sowie des Schaffens des Regisseurs) erweitern, in steter Anwesenheit der Dritten künstlerisch zu handeln, als auch die Möglichkeiten der Probendokumentation und der Vor-Ort-Analyse steigern. Die vorliegende Untersuchung wurde vom Standpunkt der Probe aus dargestellt, die als ein vertrauter, intimer Transformationsprozess

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einer Gruppe von professionellen Künstlern gilt. Wenn in Zukunft öffentliche Dauerproben Usus werden, wird auch die Mystifizierung der Probe verschwinden, was aber nicht bedeutet, dass die Ritualität der Probe damit ebenfalls verschwinden würde. Denn die Ritualität der Probe liegt nicht in ihrer Unzugänglichkeit und Abgrenzung, nicht in ihrer »Geschlossenheit«, sondern sowohl in der repetitiven Ausübung der Handlungen als auch (und vor allem) in der Fähigkeit der Schauspieler und des Regisseurs, optimale Bedingungen für den Improvisationszustand (Schwellenzustand »betwixt and between«) zu schaffen, um auf diesem Weg das Potenzial für die Konstituierung der Kunstfigur auszuschöpfen. Die Probe als ein nicht intimer, öffentlich zugänglicher Gruppenprozess wäre der Grund für andere Forschungsmethoden in Theaterwissenschaft, Schauspiel- und Regiekunst wie auch auf vielen anderen Gebieten und Disziplinen. Die Konstituierung der Kunstfigur, der ich in dieser Studie auf den Grund gegangen bin, bezieht sich aber auf die Vertrautheit der Probe und die mit dieser Vertrautheit verbundenen Konstituierungsbedingungen. Die hier verwendete Beschreibung des Konstituierungsprozesses der Kunstfigur anhand der sozialen Emotionen wäre unter den Bedingungen einer »Massenprobe« noch umfangreicher; in diesem Fall müsste man neue Forschungsmethoden zur Analyse des Probenprozesses erfinden. Denn soziale Emotionen, die in dieser Untersuchung als ereignishafte Situationen und zugleich als Mechanismen der Figurenkonstituierung fungieren, würden viel mehr als nur sechs Komponenten enthalten und deswegen die Rahmen bzw. den Horizont solch einer Untersuchung unermesslich erweitern.

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Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 359. André Müller: »Ich habe mein Lachen verloren. George Tabori im Gespräch mit André Müller«, in: Die Zeit vom 6.5.1994, zit. nach Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 288. 3 Zit. nach Bettina Schültke, Peter Staatsmann: Das Schweigen des Theaters – der Regisseur Dimiter Gotscheff, Berlin 2008, S. 80. 4 »Das Böse feiern: Richard III. an der Schaubühne«, in: Pearson’s Preview #2, Februar 2015, Webartikel: www.schaubuehne.de/de/blog/das-boese-feiern-richardiii-an-der-schaubuehne.html [letzter Abruf: 19.6.2018]. 5 Auf das Problem der »Abwesenheit von Theatermachern, die sich als Autoren dieses Diskurses [über die Probenpraxis] setzen« hebt in den Schlussfolgerungen ihrer Untersuchung auch die Probenforscherin Annemarie Matzke ab: »Konzepte der Arbeit am Theater werden im Gespräch formuliert, selten festgeschrieben.« (Matzke: Arbeit am Theater, S. 283.) 6 Ebd. 7 Was heute nur als eine Phantasie vorkommt, kann morgen zur Wirklichkeit werden. So konnte man sich z. B. Anfang des 20. Jahrhunderts, als das Pferd, die Kutsche und der Zug die meist benutzten Verkehrsmittel waren, kaum vorstellen, dass im selben Jahrhundert, nur einige Jahrzehnte später, bemannte Raumschiffe ins Weltall reisen würden. Diesbezüglich ließe sich annehmen, dass die Zeiten nicht fern sind, in denen es 4D-Videokameras geben wird, die auch Gerüche bzw. kleinste Regungen und leiseste Geräusche im Raum fixieren und genau wiedergeben können. 8 Einige Ansätze dafür existieren schon heute. So haben sich einige führende Berliner Theater im Mai 2011 zusammengeschlossen und »den Runden Tisch der Berliner Theatersammlungen« gegründet, der sich »als ein internes Verständigungsforum der theatersammelnden Institutionen Berlins sowie der um die Dokumentation ihrer Arbeit bemühten Theater und Künstler« begreift (vgl. www.iti-germany.de/projekte/berliner-theater-archive [letzter Abruf: 19.6.2018]) Der Webseite sind Quellen über die Sammlungsbestände des DT, des BE, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, des Maxim-Gorki-Theaters, der Deutschen Oper, der Komischen Oper, des Theaters an der Parkaue sowie der theatersammelnden Institutionen wie der Akademie der Künste, der Universität der Künste, theaterhistorischen Sammlungen bzw. dem Medienlabor der Freien Universität zu entnehmen. Es bleibt die Hoffnung, dass in absehbarer Zukunft sich dieser Liste noch weitere Theater anschließen bzw. dass die Probendokumentation auf Videoaufnahmen – und zwar auf regelmäßiger Basis – erweitert wird. Um das künstlerische Erbe der deutschen Theaterregisseure zu sichern, sollten die Videoaufzeichnungen zum Standard der Probenbegleitung werden, wie es beispielsweise in den Proben bei Ostermeier der Fall ist: Mehrere Probenprozesse in der Regie von Ostermeier wurden gefilmt. Mir wäre das nicht bekannt, wenn ich es nicht selbst gewesen wäre, die in seinem Auftrag den gesamten Probenprozess zu Der Tod in Venedig aufgenommen hätte. Der xRegieassistent, der jene Proben begleitete, erzählte mir, wie er von Ostermeier seinerzeit beauftragt wurde, auch die Proben zu Maß für Maß aufzunehmen: Ostermeier schaue sich nämlich ab und zu einige Probenstellen im Nachhinein an, um in den alten Regiefassungen Verbesserungsansätze für die Szenen in den aktuellen Stückfassungen zu finden. (Jedoch müsste präzisiert werden, dass das zurückblickende Sichten der aufgezeichneten Situationen nicht zu den durchgängigen Inszenierungsmethoden Ostermeiers gehört.) Das Archiv der Berliner Schaubühne bis einschließlich 1999 – also vor der Übertragung der Künstlerischen Leitung an Ostermeier – wurde am 21.9.2014 der Akademie der Künste übergeben. (www.adk.de/de/aktuell/pressemitteilungen/archiv. htm?we_objectID=33537 [letzter Abruf: 19.6.2018]) 9 Walter Hinck: Die Dramaturgie des späten Brecht, Göttingen 1977, S. 109, Anm. 55. 10 Ebd. [Hervorhebungen von mir, V. V.]

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7) »Das Böse feiern: Richard III. an der Schaubühne«, in: Pearson’s Preview 2, ­Februar 2015 (www.schaubuehne.de/de/blog/das-boese-feiern-richard-iii-an-der-schaubuehne.html, letzter Zugriff: 19. 6.2018). 8) Quellen über die Sammlungsbestände der Berliner Theater sowie der theatersammelnden Institutionen (www.iti-germany.de/projekte/berliner-theater-archive, letzter Zugriff: 19.6.2018). 9) Pressemitteilung über die Übergabe des Archivs der Berliner Schaubühne bis einschließlich 1999 an die Akademie der Künste, Berlin, am 21.9.2014: (www.adk.de/de/aktuell/pressemitteilungen/archiv.htm?we_objectID=33537, letzter Zugriff: 19.6.2018).

Abbildungsverzeichnis Abbildungen 1.1–1.3: Kopie des »Čechov-Abc«, zusammengestellt von Co-Regisseur Ivan Panteleev, Quelle: DT-Textfassung, Januar 2010. Abbildung 2: Altrussische Schrift Asbuka, Quelle: www.alfaiomega.org/bukvitsa (letzter Zugriff: 19.6.2018). Abbildung 3: Das Modell der Interaktionsrituale (Randal Collins), entnommen aus: Jonathan H. Turner, Jan E. Stets: The Sociology of Emotions, Cambridge 2005, S. 79. Abbildung 4: Klassifikation der Zustände der menschlichen Seele nach Johann Jakob Engel, entnommen aus: Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Vom »­künstlichen« zum »natürlichen« Zeichen – Theater des Barock und der Aufklärung, Band 2, Tübingen 1983, S. 165. Abbildung 5: »Die Freude«, entnommen aus: Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik (1785–1786), wieder abgedruckt in: ders.: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, Darmstadt 1968, S. 236. Abbildung 6: »Die Freude über die Feinheit der Art, wie man seine Absichten erreicht hat«, entnommen aus: Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik (1785–1786), wieder abgedruckt in: ders.: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, Darmstadt 1968, S. 251.

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Anlagen Probenfotos zu Krankenzimmer Nr. 6, Deutsches Theater Berlin Bauprobe zu Krankenzimmer Nr. 6 am 21.12.2009, Deutsches Theater Berlin, Hauptbühne. Maschinerie. Bauprobe zu Krankenzimmer Nr. 6 am 21.12.2009, Deutsches Theater ­Berlin, Hauptbühne. Probe zu Krankenzimmer Nr. 6 am 26.1.2010, Ballhaus Rixdorf. Ausgangspositionen. Margit Bendokat, Almut Zilcher, Wolfram Koch, Andreas Döhler, Katrin Wichmann und Harald Baumgartner. Ausgangsposition. Almut Zilcher. Ausgangspositionen. Harald Baumgartner und Samuel Finzi. Ausgangspositionen. Wolfram Koch und Samuel Finzi. Szene »Morgengymnastik«. Margit Bendokat, Katrin Wichmann, Almut Zilcher, Samuel Finzi, Andreas Döhler und Harald Baumgartner. Szene »Morgengymnastik«. Margit Bendokat, Katrin Wichmann, Almut Zilcher, Samuel Finzi, Andreas Döhler und Harald Baumgartner. Fotos: Nikolaus Frinke

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Probenfotos zu Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder, Schaubühne am Lehniner Platz Probe zu Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder am 12.10.2012, Ballhaus Rixdorf. »Unterbrechungsszene«. Kameramänner, Sabine Hollweck, Timo Kreuser, Josef Bierbichler, Martina Borroni, Felix Römer, Kay Bartholomäus Schulze, Mikel Aristegui, Marcela Giesche und Rosabel Huguet. »Eröffnungsszene«. Maximilian Ostermann und Guillaume Cailleau. »Eröffnungsszene«. Maximilian Ostermann, Guillaume Cailleau, Benjamin Hartlöhner, Marcela Giesche, Martina Borroni und Rosabel Huguet. Szene »Tisch decken«. Felix Römer. Besprechung der »Unterbrechungsszene«. Kameramänner, Guillaume Cailleau, Benjamin Hartlöhner, Felix Römer und Thomas Ostermeier. Szene »Aschenbachs Traum«. Rosabel Huguet, Marcela Giesche, Maximilian Ostermann, Sabine Hollweck, Martina Borroni, Felix Römer, Timo Kreuser und Josef Bierbichler. Kameramitschnitt der Szene »Aschenbachs Traum«. Rosabel Huguet, Marcela Giesche, Maximilian Ostermann, Sabine Hollweck, Martina Borroni, Felix Römer, Timo Kreuser und Josef Bierbichler. Kameramitschnitt der Szene »Aschenbachs Traum«. Rosabel Huguet, Marcela Giesche, Leon Klose, Sabine Hollweck, Martina Borroni, Felix Römer, Timo Kreuser und Josef Bierbichler. Nach der Probe zu Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder am 12.10.2012. Ballhaus Rixdorf. Fotos: Benjamin Krieg

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Danksagung Die Verwirklichung der vorliegenden Studie erfolgte dank enormer akademischer, persönlicher und institutioneller Unterstützung. Zuallererst danken möchte ich meiner wissenschaftlichen Betreuerin Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte, die von Anfang an in mir Potenzial gesehen und mich deswegen nach Deutschland eingeladen hat, um diese langjährige Forschung an der Freien Universität Berlin im Internationalen Graduiertenkolleg InterArt (einer durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsinstitution) durchzuführen. Sie hat in mich viel Vertrauen, Glaube und Geduld investiert, mich geistig und ideell inspiriert sowie mir immer zur rechten Zeit akademisch zur Seite gestanden. In der letzten Phase meiner Arbeit an der Dissertation hat Erika Fischer-Lichte u. a. dazu beigetragen, dass mein Projekt durch Mittel von InterArt finanziell gefördert wurde. Ein genauso warmer, herzlicher Dank gilt meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Christoph Wulf. Sein Engagement, mein Dissertationsvorhaben vom soziologischen Standpunkt aus zu betreuen, sein Optimismus und seine stets freundliche Ausstrahlung haben in mir des Öfteren das Vertrauen geschaffen, dass meine Forschungen auf dem richtigen Weg sind. Herzlichsten Dank! Allen InterArt-Mitgliedern bin ich für den spannenden Gedankenaustausch in unseren zahlreichen Seminar- und Konferenzsitzungen dankbar. Besonders möchte ich mich bei der langjährigen Koordinatorin des Kollegs Dr. Regine Strätling für ihre hilfreichen Ratschläge und praktische Unterstützung in vielen Fragen bedanken. Für die prompte Einsatzbereitschaft und das wunderbar ausgeführte, höchstprofessionelle Lektorat meines Manuskripts danke ich herzlichst Dr. Mark A. Halawa-Sarholz. Für geistige Unterstützung, lange inspirierende Konversationen und interessante Diskussionen, für den Glauben an meine Kräfte in den Stunden der Verzweiflung bin ich PD Dr. ­Swetlana Lukanitschewa sehr dankbar. Den verehrten Kommissionsmitgliedern Prof. Dr. Matthias Warstat, Prof. Dr. Doris Kolesch und Dr. Christel Weiler danke ich herzlich für ihre Flexibilität, Einsatzbereitschaft und das Interesse an meinem Projekt. Ein ganz besonderer Dank gilt den drei von mir besuchten Berliner Theatern (dem Deutschen Theater Berlin, dem Berliner Ensemble und der Berliner Schaubühne), deren künstlerischer Leitung, den Dramaturgen, Mitarbeitern und vor allem den Künstlern – den legendären Regisseur Dimiter Gotscheff (1943–2013), Thomas Langhoff (1938–2012) und Thomas Ostermeier – sowie allen hervorragenden Akteuren, die ich während der monatelangen Probenprozesse beobachten und manchmal sogar auch persönlich interviewen durfte. Lieben Dank für die Zulassung zum intimsten Bereich des Theaters, für die spannende, unvergessliche Zusammenarbeit, Ihr Vertrauen und Ihre stoische Geduld! Dem Schweizer Herausgeber Fritz Vogel (1926–2016) danke ich besonders herzlich für unsere Zusammenarbeit an russischen Büchern während meiner Promotionszeit, unsere Freundschaft und seine großzügige finanzielle Unterstützung unserer gemeinsamen Projekte. Von der endlosen Unterstützung all meiner Verwandten, Freundinnen, Freunde und Bekannten, in Russland wie in Deutschland, meiner Kommilitonin und besten Berliner Freundin Lin Chen habe ich dauerhaft profitiert bzw. genieße ihre Unterstützung nach wie vor. Ich möchte ihnen dafür ein recht herzliches Dankeschön aussprechen. Mein größter und liebster Dank gilt meiner Mutter und meiner ersten Deutschlehrerin in einer Person, Elena Kruglova. Ohne ihren Rückhalt, der von unsagbarem Wert ist, hätte ich all die vielen Forschungsjahre in Deutschland einfach nicht überstanden. Meinem Vater, Igor Volkov, bin ich für seinen Glauben an meinen Erfolg und seine Hilfsbereitschaft bei den »technischen« Fragen der Erstellung der Arbeit von Herzen dankbar.

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Zur Autorin Viktoria Volkova ist in Moskau geboren und aufgewachsen. Sie studierte Germanistik an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskau und war als Lehrkraft für Russisch als Fremdsprache an der Moskauer Lomonossow-Universität tätig. In Moskau besuchte sie einen Schauspielkurs nach der Schauspielmethode von Michail Čechov. Des Weiteren lehrte sie an der Staatlichen Technischen Universität Moskau am Lehrstuhl für Fremdsprachen und an der Russischen Staatlichen Sozialen Universität am Lehrstuhl für Linguistik und Übersetzung. Während ihres Promotionsstudiums im Graduiertenkolleg InterArt der Freien Universität Berlin nahm sie diverse Aufträge für deutsch-russische Publikationen des Schweizer Herausgebers Fritz Vogel an. Nach Abschluss ihrer Promotion in Theaterwissenschaft und Soziologie der Emotionen erforschte sie erneut theatrale Probenprozesse in methodologischer, historischer und soziologischer Dimension. Viktoria Volkova ist Übersetzerin, Lektorin und Kunstsammlerin.

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Recherchen 1 3 4 6 7

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – „Ich war immer ein Opportunist …“ . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz–Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“ Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen

52 Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung 54 Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte 55 Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 56 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller 57 Kleist oder die Ordnung der Welt 58 Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater 60 Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater 61 Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 62 Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 63 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten 64 Theater in Japan 65 Sabine Kebir – „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht 66 Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 67 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden 70 Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation 71 per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen 72 Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute 74 Frank Raddatz – Der Demetriusplan . oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich 75 Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 76 Falk Richter – Trust 79 Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft 81 Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters 82 Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch 83 Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters 84 B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen 87 Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart 91 Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm 93 Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft


Recherchen 96 Heiner Goebbels – Ästhetik der Abwesenheit . Texte zum Theater 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert

127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L'Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019) 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche




»Meine Heimat ist die Probe«, pflegte ­Dimiter ­Gotscheff zu sagen. Für Thomas Ostermeier ist die Probe der Ort, an dem die Figuren seiner ­Inszenierung »zur Welt kommen«. Und ­Thomas Langhoff wurde auf der Probe selbst zum ­energiegeladenen Darsteller. Doch was ­genau findet während der Proben statt? Wie entwickelt der Schauspieler seine Figur? Wie tragen der ­kollektive Charakter dieser Arbeit und die ­Emotionen in dem Beziehungsgefüge am Theater zur Annäherung an eine Rolle bei? Die Theaterwissenschaftlerin Viktoria Volkova hat die häufig mystifizierte Theaterprobe über mehrere Monate begleitet und die Probenarbeit bei Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier in Wort und Bild dokumentiert und analysiert.

978-3-95749-238-8 www.theaterderzeit.de


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