Inne halten: Chronik einer Krise. Jenaer Corona-Gespräche

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Inne halten. Chronik einer Krise

Lockdown, Kurzarbeit, Reproduktionsfaktor, Neuinfektion, Kontaktsperre, Veranstaltungsverbot, Social Distancing … das sind die neuen Schlagworte und Realitäten der CoronaPandemie, die auch zu einer weltweiten Wirtschaftskrise avancierte.

Jenaer Corona-Gespräche mit

So entspinnen sich aus der Krise laute Gedanken und Impulse der Transformation: Was können wir, was werden wir aus Corona gelernt haben, wenn die Pandemie eines Tages vorbei gegangen sein sollte?

978-3-95749-317-0 www.theaterderzeit.de

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Hartmut Rosa Thomas Oberender Bernhard Maaz Aleida Assmann Stephan Lessenich Volkhard Knigge

Ayşe Güleç Klaus Dörre Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold

Recherchen 159

Das liegt an uns, »was wir jetzt daraus machen«. Dieser Überzeugung ist Jonas Zipf, Theatermann und Werkleiter von JenaKultur. Er suchte sich in der gesamten Bundesrepublik hochkarätige Gesprächspartner*innen, um dies auszuloten: Hartmut Rosa, Thomas Oberender, Bernhard Maaz, Aleida Assmann, Stephan Lessenich und Volkhard Knigge. Ein wiederkehrendes Motiv dieser CHRONIK EINER KRISE sind dabei Feiertage oder Jahrestage.

Inne halten. Chronik einer Krise

Liegt aber in dieser globalen Corona-Krise, in diesem erzwungenen Innehaltenmüssen auch eine Chance?

05.10.20 13:13



Inne halten. Chronik einer Krise – Jenaer Corona-Gespräche Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold


Mit freundlicher Unterstützung von JenaKultur, städtischer Eigenbetrieb Jena für Kultur, Kulturelle Bildung, Tourismus und Marketing – Wir danken dem transcript Verlag für das Abdruckrecht für den Beitrag von Klaus Dörre: Die Corona-Pandemie – kein Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaft. Quelle: Die Corona Gesellschaft; Michael Volkmer, Karin Werner (Hg); transcript Verlag, Bielefeld 2020, S. 311–322. Wir danken dem Suhrkamp-Verlag für das Abdruckrecht des Textes Krieg der Viren von Heiner Müller (Textauszug aus: Heiner Müller, Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk, Band 5: Stücke 3. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin).

Inne halten. Chronik einer Krise – Jenaer Corona-Gespräche Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold Recherchen 159 © 2020 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de

Lektorat: Harald Müller Gestaltung: Agnes Wartner Covergestaltung: skop media (Peter Mühlfriedel), Jena Transkription: Daniela Freund, Gilching, und Ulrike Rabia-Blietz, Jena Printed in Germany ISBN 978-3-95749-317-0 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-321-7 (ePDF) ISBN 978-3-95749-322-4 (EPUB)


Recherchen 159

Inne halten. Chronik einer Krise Jenaer Corona-Gespräche mit

Hartmut Rosa Thomas Oberender Bernhard Maaz Aleida Assmann Stephan Lessenich Volkhard Knigge – Ayşe Güleç Klaus Dörre Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold



Inhalt

Vorwort

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Corona-Gespräche

Hartmut Rosa: »Das hängt jetzt von uns ab, was wir daraus machen.« Ein virtueller Osterspaziergang (2. April 2020) Thomas Oberender: gerade jetzt – eben nicht Ein Telefonat (20. April 2020)

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Bernhard Maaz: Kunst der Pandemie – eine Chance? Von Sinuskurven, Kipppunkten und Zerreißproben. (2. Juni 2020)

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Aleida Assmann: Wer spricht? (9. Juni 2020)

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Stephan Lessenich: Wie groß ist der Leidensdruck wirklich? Corona, Smartphones, Fußball und die Frage der Bedingungslosigkeit (2. Juli 2020)

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Volkhard Knigge: Vergessen wir nicht … die Psychoanalyse! (27. August 2020)

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Supplements

Ayşe Güleç: Let’s talk about … Corona und Rassismus Gedankenfragmente

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Klaus Dörre: Die Corona-Pandemie – kein Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaft

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Zu den Herausgebern

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Vorwort Hier ist ein Lied, das uns verbindet Und verkündet: Bleib nicht stumm Ein kleines Stück Lyrics and Music Gegen die Vereinzelung In jedem Ton liegt eine Hoffnung Eine Aktion in jedem Klang In jedem Ton liegt eine Hoffnung Auf einen neuen Zusammenhang Hier ist ein Lied, das uns verbindet Und es fliegt durchs Treppenhaus Ich hab den Boden schwarz gestrichen Wie komm ich aus der Ecke raus? Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung Transformation aus jedem Klang Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung Auf einen Neuanfang Und wenn ich dann schweigen müsste Bei der Gefahr, die mich umgibt Und wenn ich dann schweigen müsste Dann hätte ich umsonst gelebt Und wenn ich dann schweigen müsste Bei all der Angst, die mich umgibt Und wenn ich dann schweigen müsste Hätte ich umsonst gelebt Wenn ich dich nicht bei mir wüsste Hätte ich umsonst gelebt Wenn ich dich nicht bei mir wüsste Hätte ich umsonst gelebt (Tocotronic: »Hoffnung«)

Fast auf den Tag genau vor einem dreiviertel Jahr erreichte das SARSCoV2-Virus Europa, einen knappen Monat später war der erste Todesfall in Frankreich zu beklagen. Und wiederum einen Monat später kam das gesamte Leben, wie wir es kannten, durch einen flächendeckenden Lockdown zum Erliegen. Was unsere hektische, hochzivilisierte Welt bisher auf keinem anderen Wege geschafft hatte, schaffte das unsichtbare Virus in wenigen Wochen: unser bisheriges Leben und zwar

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Vorwort

weltweit – abgeschaltet. Wirtschaft, Geldflüsse, Mobilität, soziale Begegnung – alles auf Null! Die Rasanz und Wucht der Ereignisse traf uns als Kulturschaffende in verantwortlicher Position, deren täglich Brot im Stiften von Begegnung besteht, hart und unvorbereitet. Wir wurden gezwungen, von Jetzt auf Gleich aus dem Hamsterrad unserer Umtriebigkeit auszusteigen und still zu halten. Zunächst schüttelten wir verwirrt unsere Köpfe. Das kann doch nicht wahr sein. Dann, ganz langsam lernten wir, was wir schon beinahe komplett verlernt hatten, nämlich einfach mal inne zu halten. Von all dem handelt dieses Büchlein. Es war lange Zeit keineswegs als ein solches geplant. Vielmehr ging es zunächst um das Anstossen eines Diskurses im kleineren Rahmen. Unser städtischer Eigenbetrieb JenaKultur, hundertprozentige Tochter der Stadt, verantwortet die gesamte städtische Kultur und kulturelle Bildung sowie das Tourismus- und Teile des Stadtmarketings. Seit zwei Jahren betreiben wir neben regelmäßigen kulturpolitischen Podiumsdiskussionen einen Blog, der ebenfalls den Blick hinter die Kulissen zu vielen laufenden Prozessen und offenen Fragestellungen gewähren und zum Dialog mit der Bürgerschaft anregen soll. In diesem erzwungenen Moment des Innehaltens wollten wir weiter – und nun eben »Corona-konform« – unserem starken Bedürfnis nach Austausch, nach (Selbst-)Vergewisserung, nach Bilanzierung nachgehen. Läge in der globalen Krise ja vielleicht auch eine Chance? Das fragten wir uns. Lägen, wenn vielleicht doch nicht im ganz Großen und Ganzen, zumindest Chancen in eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, im Lokalen, Regionalen? Wohin müsste die Reise nach Corona gehen? Was ist wirklich wert und wichtig? Was sollte man überprüfen, aufgeben, neu anpacken? Welche Rolle können Kunst und Kultur spielen? Und wie sehen all das diejenigen, für die wir schlussendlich (Veranstaltungs-)Angebote machen? Wir wollten unsere eigenen Gedanken und Überlegungen teilen. Und so suchten wir für den nötigen fachlichen Input in Jena und der gesamten Bundesrepublik kunst- und kulturaffine Gesprächspartner*innen, allesamt Geisteswissenschaftler*innen oder Künstler*innen, um dies mit ihnen auszuloten. Keine/r gab uns einen Korb, denn: auch sie waren momentan aus ihren gewohnten Arbeitszusammenhängen herausgerissen und mehr oder weniger auf sich selbst zurückgeworfen wie wir, hatten Lust auf und vor allem auch Zeit für das Gespräch. Einzig mögliche Form dafür in Zeiten des Shutdowns: Telefonate, über einen Zeitraum von einem knappen halben Jahr geführt, im Nachhinein transkribiert und veröffentlicht.

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Vorwort

Der besondere Charme der so entstandenen Texte: das Teilhabenkönnen am gemeinsamen lauten Denken kluger Köpfe, mit Wort und Widerwort, mit ungewisser Quintessenz, mit ungeahnten sich öffnenden Assoziationsräumen. Tastend, suchend, redundant gelegentlich, unfertig … Und genau deshalb so unglaublich berührend und vor allem inspirierend. Schnell wurde klar, die Antwort auf unsere anfangs gestellte Grundsatzfrage ist durchaus eine positive: ja, die Krise ist auch eine Chance, denn es liegt an uns, »was wir jetzt daraus machen«. Ob über Corona als Motivationsschub gesprochen wird, mal wieder über unsere wenig nachhaltige Lebensweise nachzudenken, über Corona als mögliches Sujet, Corona und die Rolle des Staates, Corona und Verschwörungstheorien oder auch Corona und der Blick auf unsere Arbeitswelt – immer spiegelt sich in den Texten auch der jeweilige Stand des Krisenverlaufs, so dass sie neben der Tatsache, dass sie zugleich Handlungsoptionen für die Zeit nach Corona aufzeigen bzw. beraten, auch dokumentarischen Charakter besitzen. Zu einem wiederkehrenden Motiv in den Reflexionen wurden, den Setzungen des Jahreskreises folgend, Feiertage oder Jahrestage: Nach Ostern und dem Tag der Arbeit geht es um Pfingsten, den 8. Mai und um die Jahresdaten der Opfer rechter Gewalt. Dies dezent und eher unterschwellig. Bald ergriff uns das Gefühl, dass das, was hier besprochen wird, ein größeres Publikum verdient. Die sich unterhalten, haben ja durchaus auch etwas zu sagen: Hartmut Rosa, Klaus Dörre und Stephan Lessenich, Soziologen, Aleida Assmann, Anglistin, Ägyptologin und Literatur- und Kunstwissenschaftlerin, Bernhard Maaz, Kunsthistoriker und Generaldirektor der Bayrischen Staatsgemäldesammlungen, Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, Ayşe Güleç, Sozialpädagogin und Leiterin des Bildungs- und Beratungsbereiches im Kulturzentrum Schlachthof in Kassel, und last but not least Volkhard Knigge, Historiker und Leiter der Stiftung »Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora«. Es lohnt, ihnen zuzuhören. Manchmal geraten sie auf wundersame Weise untereinander in eine fiktive Kontroverse, indem zu den geäußerten Thesen von anderer Seite Antithesen vertreten werden, wenn etwa Volkhard Knigge Erinnerungskultur im Gegensatz zu Aleida Assmann ausschließlich von den herrschenden Verhältnissen bestimmt sieht oder Thomas Oberender und Stephan Lessenich die Voraussetzungen für ein Bedingungsloses Grundeinkommen verschieden setzen. Ist dafür jetzt die Zeit oder gerade eben nicht? Worin liegen die Sinuskurven, Kipppunkte und Zerreißproben dieser Krise? Gibt es eine Kunst der Pandemie, fragt sich Bernhard Maaz? Und wer spricht

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Vorwort

eigentlich, wenn wir in unser kulturelles Gedächtnis hineinhören, möchte Aleida Assmann wissen. Am weitesten liegen freilich Hartmut Rosa und Klaus Dörre auseinander. Der eine will, dass sich durch die und mit der Krise »utopische Potentiale entfalten«, der andere meint, Corona sei kein Sprungbrett in die Postwachstumsgesellschaft. Neben all diesen schwergewichtigen Fragestellungen und Positionen wird auch an vielen Stellen einfach nur geplaudert, über Kunst und Kultur sowieso, aber eben auch über Fußball, über Smartphones und Digitalisierung, über Europa und die Welt und auch ganz Privates. Zugleich kommen aber die Problemaufrisse so fundamental und so unabgeschlossen daher, dass der Wunsch entstand, alle Gespräche zu publizieren und so den Diskurs in großem Rahmen fortzusetzen. Nun beginnt – jenseits von Smartphones, Homeoffice und Lockdown – glücklicherweise langsam auch das kulturelle Leben wieder Fahrt aufzunehmen. Infektionsschutzkonzepte und Abstandsregeln bleiben unsere Begleiter. Wir können und müssen nun also in der Praxis unsere gewonnenen Erkenntnisse auf den Prüfstand heben. Wir danken niessnerdesign für die Abdruckrechte der eingestreuten Plakate. Sie stehen stellvertretend für ein Projekt aus Stuttgart, das die durch Corona ungenutzten Plakatflächen der Stadt mit neuem Leben füllen wollte. Markus Niessner und Melly Müller vom Designbüro niessnerdesign starteten zusammen mit der Fotografin Dominique Brewing und der Designerin Anja Haas einen Aufruf. Sie haben DesignerKolleg*innen gebeten, Plakate zu gestalten und eine Public-Poster-Gallery zu gründen. Rund 30 Stuttgarter Künstler haben Plakate eingereicht. Das Projekt traf derart einen öffentlichen Nerv, dass all diese grafischen Auseinandersetzungen mit der Corona-Krise nunmehr sogar auf Wanderschaft gehen und neue Impulse setzen. Unser Dank gilt außerdem: Dr. Juliane Zellner, Sigrid Engelhardt, Rebecca Sequeira, Ulrike Rabia-Blietz, Daniela Freund und Peter Mühlfriedel. Wir danken dem Verlag Theater der Zeit für diese großartige Möglichkeit der Publikation. Am allermeisten aber danken wir unseren Gesprächspartner*innen. Es hat Spaß gemacht, ihnen allen zuzuhören. Und nun freuen wir uns über angeregte Diskussionen mit Ihnen, liebe Leser*innen, über den weiteren klugen Weg durch die Pandemie. Die Herausgeber Jena im August 2020

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post scriptum Kurz vor Druckschluss, ganz am Ende der Arbeit zu diesem Buch, wird uns unabhängig aller Spekulationen und Transformationen schmerzlich klar, worin die eigentliche Konstante besteht, um welchen unsichtbaren Kern sich diese ganze Krise im Grunde dreht: Es ist das Verhältnis zum Tod, zur Begrenzung und Vergänglichkeit unseres eigenen Lebens und dessen Möglichkeiten, das uns als Gesellschaft abhanden gekommen ist. Wir dachten: Wie klein und nichtig ist doch das alles, unser lautes Denken und stilles Handeln, angesichts des Verlusts eines teuren Menschen. Und gleichzeitig: Wie natürlich und unausweichlich ist doch dieser Verlust.

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Plakatmotiv – Bewegung fßr radikale Empathie

Sarah Tartsch: Wissen oder wollen? Verurteilen oder Kritisieren? Einigkeit oder Diskussionslosigkeit?

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Hartmut Rosa und Jonas Zipf

»Das hängt jetzt von uns ab, was wir daraus machen« Ein virtueller Osterspaziergang

Teil 1 Jonas Zipf: Wenn Du jetzt hier

gewesen wärst in Jena, dann wären wir vielleicht durchs Paradies gegangen … Hartmut Rosa: … hätten wir

wirklich gut machen können, ja schade … Jonas Zipf: … zu zweit dürfen wir

Hartmut Rosa Foto: juergen-bauer.com

ja noch. Aber so bist Du jetzt im Schwarzwald, was auch sehr gut ist, und ich bin in Jena. Und deswegen ist es jetzt ein virtueller Spaziergang, und für den Leser

wird es das sowieso. Warum Osterspaziergang? Weil ich finde, in der deutschen Geistesgeschichte hat Ostern neben der religiösen Bedeutung noch eine ganz andere Bedeutung. Spätestens seit dem Osterspaziergang bei Goethe ist das eigentlich so ein Moment des Innehaltens und des Zusich-Kommens. Und im Moment reden ja alle davon, dass dies eine Zeit ist, in der die große Einkehr stattfindet. Das ist das große Thema. Und Du bist viel gefragt in diesen Tagen, kann ich mir vorstellen. Also, ich stelle mir vor: Gott und die Welt will mit Hartmut Rosa über Entschleunigung und Resonanz und Verfügbarkeit reden. Hartmut Rosa (lacht): … Der Liebe Gott hat bei mir noch nicht angerufen … Jonas Zipf: Immerhin ist ja Ostern. Daher finde ich, dass unser Ge-

spräch jetzt ganz bewusst auch ein intellektuelles Gespräch sein darf. Sonst leben wir ja in einer sehr intellektfeindlichen Zeit. Alles muss immer so medial wirksam verkürzt werden, vor allem in meinem mo-

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mentanen Feld, in der Verwaltung, in der Politik. Und das finde ich ganz schön fahrlässig. Deswegen steige ich mit einem Gedicht von Paul Celan ein. Hartmut Rosa: Okay. Jonas Zipf: Das wirst Du nicht kennen. Ich habe das gefunden am Wo-

chenende, weil ich in den Briefen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan gestöbert habe. Und sie weist ihn darauf hin, dass er ein Gedicht geschrieben hat mit dem Titel: Corona. Hartmut Rosa (lacht): Echt? Ja, okay. Jonas Zipf (rezitiert Paul Celan): Das ist das letzte Gedicht, das Paul Celan

vor der Todesfuge, seinem wahrscheinlich berühmtesten Gedicht, geschrieben hat. Und gewissermaßen ist es der größte Kontrast, den man sich vorstellen kann. Das »Corona«-Gedicht steckt voller Hoffnung und innerer Einkehr und Zeit und Begegnung und Zärtlichkeit. Und die Todesfuge ist dann die Beschreibung der maximal größten Dystopie, die man sich vorstellen kann, dem Tod im Konzentrationslager. Und zwischen diesen beiden Gedichten liegen 24 Stunden. Und das ist quasi meine Einstiegsfrage. In diesem jetzigen Moment, Corona, friert alles ein: vermeintlich werden ganz viele Hoffnungen und Ängste formuliert und laut. Und ich frage mich wirklich, ob wir jetzt alle Angst haben müssen, zu sterben? Ist jetzt die Zeit für die großen Dystopien? Oder doch für die großen Utopien? Das 20. Jahrhundert ist schon einen Moment vorbei. Das ist ja etwas, wonach Du jetzt ganz viel und ganz oft gefragt wirst: Ist es eine hoffnungsfrohe Zeit? Oder ist es eine ängstliche Zeit? Müssen wir Angst haben oder können wir Hoffnungen hegen? Hartmut Rosa: Ich meine, wie das Celan-Beispiel ja wirklich deutlich

und klar zum Ausdruck bringt, liegen die beiden auch sehr, sehr eng beieinander. Da, wo die Hoffnung stark ist, kann auch die Angst stark sein und umgekehrt. Und deshalb denke ich, es gibt vielleicht Zeiten, in denen sich Dinge intensivieren. Und in so einer Zeit können wir gerade durchaus leben. Natürlich gibt es starke Ängste, einerseits Ängste vor der Krankheit oder gar vor dem Tod und andererseits starke ökonomische Ängste. Aber tatsächlich bin ich dafür, darin auch durchaus utopisches Potenzial zu sehen. Ich glaube, Gesellschaften erreichen manchmal so Punkte, an denen ihre Routinen, die eingespielten Pfade

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Corona-Gespräche

irritiert werden. Und wir sind definitiv an so einem Punkt, in allen möglichen Hinsichten. Eigentlich würde ich sagen, waren wir es auch schon vor Corona. Aber die Pfade waren noch tief genug, wir konnten die Gleise nicht verlassen. Und diese Krise ist jetzt irgendwie so radikal, dass da wirklich das Potential drinsteckt, auch Neues daraus hervorgehen zu lassen. Das ist irgendwie für mich Hannah Arendts Idee: die Besonderheit des Menschen ist Natalität1 . Wir können auch noch mal neu anfangen. Jonas Zipf: Die Besonderheit des Menschen ist die Natalität. Gleich-

zeitig sagst Du, das ist jetzt eine Zeit, die besonders intensiv ist. Was macht denn diese Zeit so intensiv? Einfach nur der Tod, der plötzlich für uns präsent wird? Oder ist es noch mehr als der Tod, die Besonderheit der Natalität? Was macht diese Zeit so intensiv, dass da eine Hoffnung zum Vorschein kommt, um mit Ernst Bloch zu reden? Hartmut Rosa: Naja, also es ist ja auch für unseren Alltag so, dass die

eingespielten Routinen nicht mehr funktionieren. Und übrigens auch, dass unsere Weltreichweite, die für mich ja theoretisch ein wichtiges Konzept ist in vielerlei Hinsicht, auch ganz stark eingeschränkt ist. Wir sind verkürzt auf den Nahbereich. Wir sind uns selber ausgesetzt und unseren Nächsten. Und das ist durchaus nicht immer angenehm. Und übrigens machen wir da jetzt auch sehr missliche Erfahrungen: wir stellen fest, dass die Dinge, von denen wir immer dachten, dass sie uns besonders wichtig seien und dass wir sie auf jeden Fall tun würden, wenn wir mal Zeit hätten (z.B. dann setze ich mich mal wieder ans Klavier oder nehme mal wieder Goethe zur Hand), bei weitem nicht so schön sind, wie wir uns das vorgestellt hatten. Das heißt, wir müssen uns die Resonanzachsen, die wir wirklich haben, noch mal neu überlegen. Aber ich glaube, die Intensivierung kommt dadurch, dass die eingespielten Routinen weg sind und wir manchmal jetzt Freiräume haben, zeitliche Freiräume, bei denen wir nicht einfach To-do-Listen abhaken. Normalerweise laufen wir ja von einer Aufgabe zur anderen, Alltagsbewältigungs-Verzweiflungsmodus. Und jetzt können wir gerade nicht laufen, obwohl wir gerne in digitale Welten flüchten. Jonas Zipf: Das ist ein bisschen so, wie man auch die Ferien oder den

Urlaub beschreiben könnte. Wenn ich in Urlaub fahre, dann tut sich quasi erstmal eine ganz große Intensität auf. Nachher erleben wir dann die Zeit als gedehnt. Oftmals können wir uns an drei Wochen Urlaub viel intensiver und detailreicher erinnern als an die drei oder fünf Monate davor und danach. Diese Empfindung wird dann vielleicht im

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Hartmut Rosa und Jonas Zipf

Laufe von drei Wochen wieder weniger, wenn wir wieder neue Routinen entwickelt haben. Das könnte ja auch jetzt der Fall sein, wenn das Ganze länger anhält. Welche Rolle spielt denn aber dabei das kollektive Erlebnis? In Deutschland sind wir das ja nicht mal in unseren Ferien wirklich gewohnt. Der einzige Zeitpunkt im Jahr, zu dem ich sicher sein kann, dass die anderen auch alle Pause haben und vermeintlich nichts tun oder weniger oder andere Dinge tun, um bei dem Routine-Bruch zu bleiben, das ist die Weihnachtszeit. Das, was wir so schön »zwischen den Jahren« nennen. Im Gegensatz zu Gesellschaften wie der italienischen oder der französischen, die das auch im Sommer kennen, wenn wirklich alle auf einmal zur gleichen Zeit synchron in den Urlaub fahren und wissen: Was ich bis zum August nicht erledigt habe, das muss bis zum September warten. Aber dieses Momentum jetzt ist ja auch sehr kollektiv. Wir wissen und imaginieren, dass alle die Anderen auch im Wohnzimmer sitzen. Und wenn wir auf den Balkon gehen um 18 Uhr und Musik machen oder um 17 Uhr applaudieren, dann suchen wir die anderen auf dem Balkon gegenüber. Was spielt das für eine Rolle bei der Intensität? Hartmut Rosa: Zunächst mal würde ich sagen, wie Urlaub ist das nicht. Ich glaube, wenn wir das sagen, kriegen wir Ärger. (lacht) Ich habe mir sowieso schon Ärger eingehandelt, weil ich angeblich die Krise in zu schönen Farben male. Und wenn wir sagen, Corona ist wie Urlaub, dann muss man da natürlich drei Dinge, glaube ich, abziehen. Da ist zum einen die Angst, die wir schon hatten, die Angst vor Krankheit, die Angst auch vor ökonomischem Druck. Das ist natürlich eine andere Erfahrung als die Urlaubserfahrung. Es ist ein Moment von Zwangsentschleunigung, denn es ist ja nicht unsere Entscheidung, dass wir jetzt mal aussetzen, sondern wir sind irgendwie auch dazu gezwungen worden. Das macht schon was aus. Und dann ist es ja auch so, dass wir im Urlaub sehr häufig wegfahren. Gerade die Ausdehnung der räumlichen Weltreichweite ist ein entscheidendes Merkmal von Urlaub. Und jetzt schrumpft unsere Weltreichweite massiv. Ich glaube, das könnte der interessanteste Aspekt dieser Erfahrung sein, dass ich plötzlich räumlich eingeschränkt bin, im Wesentlichen auf meine Wohnung oder allenfalls meine Stadt, meine Umgebung. Und auch zeitlich kann ich nicht mehr länger als zwei oder drei Wochen denken. Insofern ist es anders als Urlaub. Ich glaube tatsächlich, Dein Hinweis auf die Zeit »zwischen den Jahren« könnte was haben, weil wir da häufig ähnliche Erfahrungen machen. Das alte Jahr ist vorbei, das neue hat noch nicht richtig angefangen. Und da sind wir auf einem kleinen Inselbereich angewiesen. Was ich interessant finde, ist die Sache mit der Kollektivität. Einerseits

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Corona-Gespräche

könnte man sagen, wir machen die Erfahrung ja alle einzeln, weil wir gerade Kontaktverbot haben, an das sich Leute ja auch wirklich halten. Aber andererseits passiert was Hochinteressantes: dass wir nämlich eigentlich zum ersten Mal seit langem, langem das haben, was man Joint Attention nennen kann, und zwar weltweit. Corona ist in jedem einzelnen Bewusstsein, und auch die Besonderheit der Lage ist in jedem Bewusstsein immer schon da. Wir haben im Moment alle die gleiche Erfahrung, … nicht nur dann, wenn wir ein Balkonkonzert oder so etwas machen, sondern ganz generell. Das ist ganz interessant als kollektive Erfahrung. Da misst sich Kollektivität und Vereinzelung noch mal auf ganz neue Weise. Jonas Zipf: Das würde bedeuten, dass wir uns dann auch als Gemein-

schaft fühlen, ja, weil wir im selben Zeitpunkt dasselbe erleben? Das ist etwas anderes als Weltreichweite, klar. Aber das sind Zeitpunkte, die als historische Momente erlebt werden, so wie die Mondlandung oder ein bedeutsames Fußballspiel. Alle wissen, zu diesem Zeitpunkt machen die anderen genau dieselbe Erfahrung, jetzt in genau diesem Moment. Und das stiftet dann wieder eine virtuelle Gemeinschaft. Hartmut Rosa: Ja. Beim Fußball ist es ganz offensichtlich so. Nur gibt

es natürlich auch Fußballhasser oder die, denen das gleichgültig ist. Aber Fußball ist ein gutes Beispiel dafür, weil man dann von Joint Attention sprechen kann. Alle Augen sind beim Elfmeter auf den Ball gerichtet. Und man erlebt Joint Emotion. Das heißt, die Anhänger der einen Mannschaft fühlen alle das Gleiche: Hoffentlich geht der Ball rein. Und die der anderen Mannschaft haben sozusagen Reverse Emotions: Hoffentlich geht der Ball nicht rein. Das ist eine unglaubliche Bündelung. Es ist nicht ganz passend, weil Corona ein größeres und viel diffuseres Phänomen ist. Aber es ist interessant, dass es alle betrifft. Es ist interessant und sehr komplex, wie sich das Verhältnis zu den anderen Menschen, also zu den Mitmenschen, zur Gemeinschaft, gerade verändert. Weil auf der einen Seite, jede Krise, wie wir sie gerade durchleben, immer auch das Potential hat, Solidarität und Gemeinschaft zu stiften. Und zwar einfach deshalb, weil es jetzt eben nicht die eine Behörde gibt für vielerlei Fälle oder Probleme oder die Institution oder das Geschäft, das professionell ein Problem löst. Da muss man sich gemeinsam überlegen: Wie machen wir das denn jetzt? Und man stellt gerade fest, überall muss improvisiert werden: Was finden wir denn für eine Lösung? Das stiftet Gemeinschaft. Andererseits ist es so, dass das Virus natürlich eine unsichtbare Gefahr ist, die eine Tendenz,

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Hartmut Rosa und Jonas Zipf

die in unserer Gesellschaft sowieso zu beobachten ist, noch verstärkt, nämlich das Misstrauen gegenüber allen anderen. Der Mann, der da vorbeigeht, oder das Kind, das da im Garten spielt, könnten tendenziell eine tödliche Bedrohung tragen und mich damit infizieren. Und ich weiß noch nicht mal, ob ich vielleicht schon selber infiziert bin. Das verstärkt Misstrauen. Der Andere: man fühlt es fast physisch. Wenn in einem Geschäft oder sonstwo ein Anderer zu nah kommt, schreckt man geradezu körperlich zurück. Das ist natürlich ein tendenziell sozialfeindliches Moment. Und als Soziologen müssen wir sagen: »Lass mal gucken, was daraus noch entsteht.« Es gibt dystopische und utopische Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten. Was sich durchsetzt, steht ja nicht fest. Es ist kein Naturgesetz. Deshalb habe ich auf Hannah Arendt und Natalität hingewiesen. Das hängt jetzt von uns ab, was wir daraus machen. Und da würde ich sagen, lass uns versuchen, das so zu nutzen, dass sich utopische Potentiale entfalten. Jonas Zipf: Das wäre auch historisch in dem Sinne, dass die Geschichte

formbar ist, also dass es ein sehr offener Moment ist, der formbar ist. Hartmut Rosa: Ja. Jonas Zipf: Du hast jetzt aber auch eine Paradoxie beschrieben. Diese Paradoxie, dass Solidarität, und jetzt haben wir auch gesagt, Gemeinschaft letztlich über Abstand entsteht. Nicht nur in der körperlichen Begegnung im Supermarkt, sondern die größte Intensität zur Gemeinschaft entsteht im Moment über Skype, Zoom und Co., etwa, wenn Igor Levit abends Konzerte spielt und Tausende schauen quasi im Sicherheitsabstand des virtuellen Raums zu. Welche Rolle spielt dabei der Staat? Wir haben ja eigentlich eine Zeit, in der diese großen Erzählungen, Utopien, Dystopien, gar nicht mehr so zeitgemäß schienen. Da war lange vom Ende der Geschichte die Rede. Und jetzt plötzlich muss der Staat es richten. Er muss die Krise bewältigen. Viele, viele, die dem Staat misstraut haben, viele Liberale, auch in der Wirtschaft, schreien nun förmlich nach dem Staat. Die Umfragewerte für die Parteien, die jetzt die Krise managen, schießen durch die Decke. Der Staat erfährt einen Vertrauensgewinn. Kann man das so sagen? Stimmt das? Ganz plötzlich heißt es wieder, es können Unternehmen teilverstaatlicht werden. Das soll ein Teil der Rettung für diese schwierige Situation sein, und so weiter und so fort.

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Corona-Gespräche

Hartmut Rosa: Ja, das ist schon ganz interessant. Ich denke, dass es

durchaus zu einer Neujustierung der gesellschaftlichen Verhältnisse führen kann. Der Nationalstaat scheint im Moment der große Gewinner zu sein. Aber man muss vielleicht auch mal gar nicht in Gewinnern oder Verlierern denken. Was man dennoch sieht: Dass es wichtig ist, eine Instanz zu haben, durch die wir kollektiv handeln können und auch handlungsfähig sind. Und das kann eben nicht der Markt sein. In Krisenzeiten braucht es Koordination, Stärke, Handlungsfähigkeit. Es ist ein bisschen bedauerlich, dass dabei die internationalen Organisationen gerade eher unterzugehen scheinen. Die EU zum Beispiel, die es bisher immer noch nicht geschafft hat, auch Corona-Bonds als Zeichen der Solidarität durchzusetzen. Nationalstaatlicher Egoismus könnte eine Schattenseite davon sein. Aber dass man kollektiv handeln kann, ist eine wichtige Erfahrung; der Staat sind ja nicht irgendwelche anderen Menschen, die in Ämtern sitzen, sondern er ist unser Organ, durch das wir Handlungsfähigkeit erfahren. Und ich finde, genau das erleben wir jetzt in einer Weise, wie wir es uns nicht hätten träumen lassen. Ich meine, es ist ja nicht das Virus, was diese ganzen Hamsterräder anhält. Man muss sich das mal überlegen: der Verkehr, zum Beispiel Flugverkehr, ist fast zum Erliegen gekommen. Das hätten wir doch für vollständig unmöglich gehalten. Niemand kann den ganzen Luftverkehr innerhalb von wenigen Tagen anhalten! Aber wir konnten es sozusagen als politisch Handelnde. Und ich glaube, diese Erfahrung ist wichtig und die ist auch gut. Und ich vermute auch, dass es zu einer Neujustierung dann kommt, übrigens auch im Blick auf Staat und Markt, auch auf Eigentumsverhältnisse. Dass es vielleicht keine so gute Idee ist, das Gesundheitssystem zu privatisieren und dann sozusagen einfach auf just-in-time und maximalen Profit zu eichen, was bedeutet, dass, wenn es drauf ankommt, die Beatmungsgeräte nicht da sind. Ich kann mir vorstellen oder ich hoffe eigentlich sogar, dass politische Handlungsfähigkeit dadurch mal an Kraft gewinnt, auch für die Zukunft an Kraft gewinnt und dass Märkte stärker eingebettet werden in politische und auch kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge. Jonas Zipf: Da spiele ich mal den Antipoden und sage, das ist sehr opti-

mistisch. Könnte es denn auch sein, dass die Gewinner, wenn wir jetzt doch mal kurz über Gewinner und Verlierer reden, diejenigen sind, die den Nationalstaat stark machen, die Multilateralismus schwierig finden, die Globalisierung kritisieren, die die Grenzschließung gut finden, und die vor allem bezweifeln, ob wir in der Lage sein werden, mit Demokratie und Föderalismus mit so einer Krise umzugehen? Ist

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Hartmut Rosa und Jonas Zipf

das überhaupt möglich? Brauchen wir nicht eigentlich den starken Entscheider? Und ein bisschen gerieren sich ja auch einzelne Politiker bei uns so wie starke Entscheider. Sie müssen quasi fast täglich unter Beweis stellen, dass ihr Staat, also unser Staat in Deutschland, genauso handlungsfähig ist wie eine Diktatur in China, ein Land, das jetzt schon ein großer Propaganda-Gewinner ist. Was ich sagen will, am Ende des Tages, auch wenn es im Moment nicht so scheint, was die Umfragewerte anbelangt, könnten die Populisten in Europa, und auch die AfD in Deutschland, doch als die großen Sieger vom Platz gehen?! Viele Themen sind eigentlich ihre Themen, zahlen auf ihre Münze ein. Die Grenzen müssen geschlossen werden, wir brauchen weniger globalisierte Zusammenhänge, »migrantische Ströme«, wie es dann so diffamierend heißt: Wir müssen die Wirtschaft wieder kontrollieren, wir brauchen einen autoritären, starken, handlungsfähigen Staat. Am Ende des Tages habe ich manchmal die Sorge, es könnte eigentlich so ein Moment des kollektiven Traumas werden. So wie es die Flüchtlingskrise vor fünf Jahren war. Eine kurze Zeit lang halten alle zusammen und tun das, was erforderlich ist; es herrscht Solidarität und Vernunft. Und danach beginnen lange, lange Auseinandersetzungen politischer und juristischer Natur, die problematisieren, was in dieser Situation an vermeintlichen Fehlern gemacht wurde. Und die Profiteure sind die, die sich außerhalb dieses scheinbaren Meinungsblocks positionieren können. Ich habe Befürchtungen, dass die starken Gewinner dieser Krise die Populisten sein könnten. Hartmut Rosa: Diese Befürchtung habe ich tatsächlich auch. Ich habe

tatsächlich auch ganz früh gedacht, das erinnert mich fatal, wie Du es auch wahrgenommen hast, an die Situation 2015, in der erstmal eine große Solidarität und eine Willkommenskultur herrschten, in der man das Gefühl gewann, da gehe ein Ruck durch die Gesellschaft, der sehr positiv ist. Und ich war damals schon ziemlich skeptisch, weil ich dachte, das kann doch irgendwie nicht sein, dass die Gesellschaft sich plötzlich in so kurzer Zeit so verändert hat. Und das hatte sie ja dann auch nicht. Zu dem, was Du gesagt hast, kann man ja noch hinzufügen: Guck Dir Orbán an, in Ungarn, der ja wirklich praktisch jetzt eine autokratische Herrschaft errichtet. Oder die Zustimmung zur Überwachung mit Handy-Tracking steigt auch. Man kann sich allerhand dystopische Szenarien ausdenken. Aber ich finde, eigentlich will ich gar nicht so über die Krise nachdenken. Es ist kein Naturgesetz, was da kommt. Das ist mir im Moment das Wichtigste. Wir sollten nicht darüber nachdenken, ob es nicht auch ganz schlimm werden könnte, son-

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dern wir sollten versuchen, zu handeln. Ich glaube schon, es gibt nicht viele historische Punkte, an denen eine Situation offen ist. Was daraus hervorgeht, steht nicht fest. Und selbst wenn ich der beste Soziologe der Welt wäre, könnte ich jetzt nicht genau sagen, ob die AfD gewinnt oder die Linke oder sonst jemand, denn es gibt kein Gesetz, das dies bestimmt und das man nur erkennen müsste. Aber ich glaube, es geht nicht darum, richtig vorherzusagen, sondern richtig zu handeln. Und ich denke, das Wichtigste, um das zu vermeiden, was Du da beschreibst, ist, dass man den Staat nicht als »das Andere« versteht. Ich glaube, das ist eine fatale Entwicklung der letzten 100 oder 50 Jahre, dass Menschen den Staat als eine Instanz außerhalb ihrer selbst wahrnehmen. Der Staat ist unser kollektives Handlungsorgan. Und wenn wir den in eine autoritäre Instanz verwandeln, die uns gegenübersteht und uns kontrolliert, dann haben wir die Idee demokratischer Selbstbestimmung natürlich komplett verraten und vergessen und würden deshalb zittern, wie das Kaninchen vor der Schlange, dass vielleicht am Ende doch die AfD oder sonst jemand, irgendwelche rechtspopulistischen und autoritären Herrscher gewinnen. Sondern ich glaube, es geht jetzt darum, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, gerade auch im Blick zum Beispiel auf die Klimakrise. Ich finde, da gibt es natürlich einen Zusammenhang, denn die Krise ist ja jetzt nicht erst durch Corona entstanden. Wir hatten davor schon Krise und haben uns da immer als vollständig ohnmächtig erlebt. Wir können noch so viele Klimagipfel und Klimakonferenzen und Klimaziele formulieren oder abhalten: Wenn wir dann zum Beispiel Verkehrsströme ansehen – jedes Jahr mehr Autos, mehr Flugreisen, mehr Lastwagen, mehr Containerschiffe, mehr Kreuzfahrten – dann sehen wir wieder eine einzige exponentielle Wachstumskurve. Und jetzt gerade machen wir die Erfahrung, wir können das innerhalb weniger Tage anhalten, und zwar politisch. Es ist nicht das Virus, sondern das ist politisches Handeln, das das bewirkt hat. Und diese Erfahrung, die durchaus positiv ist, sollten wir nutzen, statt jetzt vor Angst, dass es am Ende doch wieder schiefgehen könnte, zu erstarren. Jonas Zipf: Okay. Dann lass uns über die Rollen sprechen, die Wissen-

schaft und Kultur einnehmen, wenn es darum geht, nicht wie das Kaninchen vor der Schlange zu erstarren. Es ist ja im Übrigen fast eine Metapher, ja. Wenn Du davon sprichst, bleiben wir mal bei dem Begriff des Wachstums, dass wir anders keinen Ausstieg aus dem Zwang der Wachstumslogik gefunden haben, außer durch das Virus, das uns jetzt ja quasi fast metaphorisch dazu zwingt. Darum geht es ja beim berühm-

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ten »Flattening of the Curve«: das Wachstum eindämmen! Also, dass eine ganze Gesellschaft daran arbeitet, ein Wachstum einzudämmen, … Hartmut Rosa: … Das stimmt … Jonas Zipf: … das hast Du als Post-Wachstumsforscher oder -theoretiker nicht zu träumen gewagt. Und das sozusagen wirklich als zentrale Metapher. Wir müssen das Wachstum zurückfahren. Wie können wir darauf, auch über diese Zeit hinaus, mit Mitteln der Geistes-Wissenschaft reagieren? Wie kommt man aus dem Kreis der eigenen Echokammer jetzt tatsächlich in die Wirksamkeit, in die Erscheinung rein, die dafür sorgt, dass wir das offene Momentum gestalten, die Welle surfen, und an dem festhalten können, an dem großen Interesse, das zum Beispiel Deine Arbeit jetzt gerade noch mal zusätzlich erfährt. Wie kriegen wir das in den Alltag übersetzt? Wenn es vorbei ist, wenn jetzt dann irgendwann das Leben wieder hochfährt, so wie die Wirtschaft es fordert, so schnell wie möglich, wie kriegen wir den Transfer hin? Hartmut Rosa: Das ist die wahnsinnig schwierige Frage. Die schwieri-

gere Hälfte haben wir noch nicht geschafft. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, Du hast schon Recht: es geht bei Corona eigentlich darum, Wachstum einzuschränken, also das Wachstum der Infektionszahlen, aber das ist natürlich ein sehr spezifisches. Wir haben diese wahnsinnigen anderen Beschleunigungsräder, Wachstumsräder angehalten. Wir haben die Gesellschaft angehalten, was wir uns niemals zugetraut hätten. Aber damit haben wir eigentlich nur einen Unfall verursacht. Weil: wir leben ja immer noch in einer Gesellschaft, die steigerungsabhängig, steigerungsbasiert ist. Wir müssen jedes Jahr schneller sein, mehr produzieren, innovativer sein, damit wir das bestehende System erhalten können. Und jetzt haben wir dieses System angehalten. Ich glaube, das haben wir wirklich, wenngleich allerdings nicht in der digitalen Dimension – im Netz drehen sich die Räder gerade schneller als je zuvor. Es ist jetzt aber natürlich noch kein neues System, das ist eigentlich nur ein Crash. Es ist so, wie wenn Du ein Fahrrad anhältst. Wenn das nicht abgestützt wird, dann fällt es halt um. Und die Frage ist, wie kann denn jetzt ein neues System aussehen. Da hast Du Recht: Die große Gefahr, der wahrscheinliche Fortgang der Geschichte ist, dass sobald diese tödliche Gefahr verschwunden ist, wir wieder anfangen, wir versuchen werden, die alten Räder wieder in Gang zu bringen, die Maschine wieder anzuschieben. Und möglicherweise erleben wir dann auch einfach einen ökonomischen

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Wachstumsschub, wie nach Kriegen oder so. So dass wir am Ende eben wieder genau da sind, wo wir vorher auch waren. Und das finde ich deshalb nicht besonders attraktiv, weil wir vorher schon in massiven Krisen waren, in ökologischen Krisen, psychologischen Krisen, politischen Krisen. Wir waren im Aggressionsmodus gegenüber der Welt. Und was wir jetzt erfahren, ist, dass man die Räder schon anhalten kann. Als Soziologe, der sich auch als Kulturwissenschaftler versteht, finde ich das ganz interessant, zu überlegen, was wir da eigentlich gerade tun. Die Frage, die mich beschäftigt, ist die: Was genau hat eigentlich diese unglaubliche Bremskraft erzeugt? Weil, wie wir aus der Physik wissen, wenn Du eine gewaltige Bewegung bremsen oder anhalten willst, brauchst Du ja wahnsinnige Kraft. In der Regel sind es Reibungskräfte oder Reibungsenergien, die dann freigesetzt werden. Und die Frage ist, was befeuert denn diese Kraft, diese Bremsenergie? Meine Antwort auf die Frage ist, dass es eigentlich dieses wahnsinnige Verlangen der Gesellschaft ist, Verfügbarkeit herzustellen. Wir wollen die Welt erreichbar haben, wir wollen sie vor allem auch im Griff haben, kontrollieren und beherrschen. Und Corona ist nun im Kern so ein Monster der Unverfügbarkeit. In meinem kleinen Unverfügbarkeits-Buch heißt das letzte Kapitel: Die Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster. Es sagt, dass letztendlich der Versuch, die Welt grundsätzlich unter Kontrolle zu bringen, immer Rückschläge erzeugt, wo plötzlich monströse Unverfügbarkeit erscheint. Zum Beispiel hat unser erfolgreicher Versuch, das Atom zu spalten, also Macht über das Innerste der Materie auszuüben, monströse Unverfügbarkeit hergestellt, wie wir sie in Tschernobyl oder Fukushima oder auch Hiroshima gesehen haben, dass nämlich, wenn atomare Strahlung freigesetzt wird, sie uns eigentlich nur töten kann. Man kann mit einer Atombombe nicht in Resonanz treten. Wir können sie nicht kontrollieren, nicht in den Griff kriegen. Und Corona haben wir wissenschaftlich noch nicht erforscht, wir haben es medizinisch nicht im Griff, wir können es weder heilen noch dagegen impfen, wir können es politisch schlecht regulieren, wir haben radikal die Grenzen geschlossen, und nicht mal das hilft offensichtlich, die ökonomischen Folgen sind unübersehbar. Wir haben es mit der Erfahrung zu tun, dass uns der Versuch, Welt zu kontrollieren und zu beherrschen, in monströse Unverfügbarkeit umschlägt. Und meine Hoffnung wäre jetzt, deshalb diese lange Ausführung, dass wir ein anderes Verhältnis gewinnen zum Leben, zum Sinn vom Leben. Meine Diagnose in dem Unverfügbarkeits-Buch lautet, dass wir eigentlich Leben abtöten. Und deshalb sind so viele Menschen so frus-

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triert und so unzufrieden, obwohl sie ganz viele Dinge und viel Geld und viele Möglichkeiten haben. Und meine Frage war immer, woher das kommt. Ich glaube, weil diese Verfügbarkeitsideologie auch eine institutionalisierte Seite hat: Wir müssen alles rechtlich absichern, wir müssen uns versichern und garantieren lassen, und so weiter. Also meine Hoffnung wäre, die Erfahrung, die daraus entsteht, bestünde in einem neu gewonnenen Verhältnis zu dem, was Leben eigentlich heißt. Weil ich schon glaube, dass Corona uns genau das zeigt: Was ist eigentlich Leben? Ist das Wichtigste, möglichst lange zu leben? Oder ist das Wichtigste, Tod und Krankheit herauszuschieben? Oder gibt es vielleicht auch noch eine andere Dimension von gelingendem Leben, das mit Unverfügbarkeit und auch Risiken anders umgeht? Ich glaube, wir müssen in so eine Richtung denken, auch wenn wir fragen: »Wie wollen wir in Zukunft leben?« – und zwar nicht nur im Blick auf andere Verteilungsmuster oder andere institutionelle Ordnungen. Jonas Zipf: Da sind wir jetzt im Kernpunkt. Da haben wir auch angefan-

gen. Das sei die Zeit, hast Du gesagt, in der man zu den Dingen kommt, zu denen man sonst nicht kommt. Und das ist aber dann plötzlich auch ganz schnell viel, viel anstrengender, als man sich das vorgestellt hat. Hartmut Rosa: Ja. Jonas Zipf: Das Buch, das ich noch nicht gelesen habe. Das Klavier-

stück, das ich schon lange nicht mehr geübt habe etc. Das ist ja erstmal ein Modus des Konjunktivs. »Man müsste mal«, »man hätte mal«, »ich hätte ja eigentlich«, und jetzt komme ich mal dazu, jetzt ist endlich mal die Zeit. Mir kommt es so vor, dass es darum geht, aus diesem Modus des Konjunktivs in den Modus des Indikativs einzusteigen. Hartmut Rosa: Genau. Jonas Zipf: Also die Dinge zu tun und nicht nur als Möglichkeitsraum

sich vorzustellen. Jetzt möchte ich eine zentrale Herausforderung benennen für das, was Du beschreibst mit der Resonanzerfahrung oder auch mit der Frage, wann wir unverfügbar sind, wie wir uns in Dinge vertiefen wollen und wirklich in Resonanz kommen. Wie müssen wir uns konzentrieren? Wir müssen uns auch entscheiden gegen andere Dinge. Wir müssen sagen, ich lerne jetzt Klavier, und das ziehe ich über die nächsten Jahre durch. Also gewissermaßen ein Moment der Artistik, des ständigen Übens, um eine Tiefe in die Sache rein zu be-

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kommen und dadurch der Qualität. Das bedeutet aber, mich gegen die vielen anderen Möglichkeiten zu entscheiden, die uns allen heute jederzeit vermeintlich ständig zur Verfügung stehen. René Pollesch, der Regisseur, hat das mal mit dem wunderbaren Wort Interpassivität beschrieben. Eigentlich reden wir alle über Interaktivität, Social Media, und so weiter, aber er redet von Interpassivität: einer Festplatte voller Filme und einem Social-Media-Account voller Freunde. Ich kann in meinem Leben alles werden, anything goes, aber ich mache eigentlich nichts mehr davon wirklich. Von allem rede ich im Konjunktiv – »das müsste ich mal«, »das könnte ich mal«, »das sollte ich mal«. Die Entscheidung zu treffen, ist aber ein sehr, sehr schmerzlicher Vorgang, denn dann muss ich ja alle anderen Möglichkeiten abschneiden und komme sozusagen in eine starke Bredouille. Das ist eine ganz schön heftige Herausforderung an das Individuum. Hartmut Rosa: Ja.

(Im Hintergrund, schon seit einer Weile: Kindergeschrei bei dem einen, Telefonklingeln bei dem anderen!) Jonas Zipf: Oh, ich werde unterbrochen, Hartmut. Hartmut Rosa: Ja. Okay. Ehrlich gesagt: Ich auch.

Teil 2

(Mittlerweile sind mehrere Stunden vergangen; der Tag neigt sich dem Abend zu. Die Kinder sind im Bett; die Telefonate wurden geführt.) Jonas Zipf: Vorhin sind wir unterbrochen worden. Das ist jetzt auch

schon wieder so ein bisschen sinnbildlich. Genau an der Stelle, an der wir über Verfügbarkeit geredet haben, aber eben auch den von mir ins Spiel gebrachten Begriff der Interpassivität. Und justament da sind wir beide von unserer Realität eingeholt worden, ich von meiner familiären im Homeoffice, das, was man euphemistischerweise Homeoffice nennt, und Du von Deinen Interviewverpflichtungen. Hartmut Rosa: Wobei ich festgestellt habe, dass ich nicht schuld war,

dass ich das vorher nicht auf dem Schirm hatte. Aber egal, so läuft es halt in etwas chaotischen Zeiten.

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Jonas Zipf: Die brauchen es dann trotzdem ganz, ganz dringend, nicht

wahr? Hartmut Rosa: Jaja, genau. Aber naja, wir müssen jetzt halt, glaube ich,

alle improvisieren. Jonas Zipf: Ja, aber es ist in Bezug auf Deinen Begriff der Verfügbarkeit

schon auch interessant. Rückkehren in das Innerste und uns Besinnen – angeblich oder scheinbar –, und dann findet die Kommunikation über die gläsernen Kanäle von WhatsApp, Skype, Zoom und Co. statt … Hartmut Rosa: Ja, wir versuchen, die Verfügbarkeit halt sofort wieder-

herzustellen. Und ich meine, physisch sind wir natürlich jetzt füreinander unverfügbar sozusagen, aber wir versuchen natürlich, mit allen Tricks das zu machen, was die Moderne gekennzeichnet hat: Dinge wieder verfügbar zu machen. So machen wir jetzt Bild und Ton und Sendungen und Veranstaltungen digital verfügbar. Jonas Zipf: … wir waren vorher bei der Rolle der Wissenschaft. Hartmut Rosa: Ja. Jonas Zipf: Da sind ein paar Fragen aufgetaucht, die mich zur Rolle von Kunst und Kultur führen. Genau das passiert ja: Die Kolleg*innen sind nicht mehr verfügbar. Sie können das, was ihre ureigene Leidenschaft ausmacht, nicht praktizieren, zelebrieren, auf Bühnen stehen. Und sie glauben offensichtlich, sie müssen jetzt live senden, durchgehend, so dass man schon das Gefühl hat, man kommt in die Bredouille. Achtung, jetzt, um 19 Uhr ist der dran, um 19:30 Uhr der, um 20 Uhr der. Das ist wie eine kleine Panikreaktion. Als müsse man die eigene Bedeutung, die eigene Relevanz, unter Beweis stellen. Aber auch, jetzt mal positiver gewendet, was tun für sein Publikum. Aber wäre das nicht eigentlich eine viel bessere Phase, um sich komplett zurückzuziehen? Hartmut Rosa: Ich denke schon. In gewisser Weise würde ich mir das fast wünschen, weil ich finde, was wir wirklich sehen, das ist, in welchem hohen Maße wir eigentlich in einem Panik- und in einem Fluchtmodus sind. Eigentlich fällt es uns schwer, es mit uns selber auszuhalten. Aus zwei Gründen. Der eine: Wir haben irgendwie immer Sorge, dass wir abgehängt werden, dass da draußen das Netz weiterläuft und die Räder sozusagen weiter in Bewegung sind, bloß wir sind abgehängt. So rennen wir, um uns irgendwie über YouTube oder sonstwo weiter

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präsent zu halten. Der andere: Wir haben immer Sorge, dass, wenn wir auf uns selber gestellt sind, dass wir dann nicht in Resonanz treten können mit uns, mit der Musik, mit dem Buch, das wir vielleicht zur Hand nehmen, oder mit der Natur, in der wir uns bewegen. Ich glaube, wir haben Angst davor, dass wir dann die Erfahrung machen, die Natur schweigt, das Klavier sagt mir nichts, das Buch ist gar nicht interessant. Aus Angst davor fliehen wir dann sofort zu Netflix oder bestellen uns bei Amazon noch ein Buch. Ich glaube, das hängt irgendwie damit zusammen, dass wir dieses andere In-der-Welt-Sein – ich beschreibe das inzwischen gerne mit dem Begriff der Mediopassivität: also halb aktiv, halb passiv hören und antworten, ohne dass wir eine bestimmte Agenda verfolgen – vielleicht gründlich verlernt haben. Es stellt sich nicht von heute auf morgen wieder ein, bloß weil wir theoretisch mal Zeiträume hätten. Und so fliehen wir und stellen sie uns gleich wieder zu. Jonas Zipf: Genau. Das ist ja ganz nah beieinander. Da waren wir ja vorher an einem Punkt, an dem ich gefragt habe, inwiefern es darauf ankommt, Entscheidungen zu treffen und sich dann auf eine Sache zu konzentrieren, sie zuzulassen, auch die Anstrengung, die damit verbunden ist … ich habe das Wort der Artistik bemüht, ungerne von Sloterdijk entlehnt. Aber man kennt das ja vom Sport: Nur wenn ich den Berg hochsteige und wirklich über den inneren Schweinehund und die toten Punkte hinweg komme, gelange ich zu diesem Gefühl der Naturresonanz und so weiter. Aber dafür muss ich dann tatsächlich sagen, ich mache jetzt das, und nur das, und ich muss auch bis zumindest an die Grenze rangehen. Und das setzt eine Entscheidung voraus. In der interpassiven Situation muss ich mich nie entscheiden. Da kann ich alles haben, es ist alles verfügbar, um mit Deinem Begriff zu operieren, aber nichts mache ich wirklich. Ich mache eigentlich alles nur halb. Hartmut Rosa: Ja, ich glaube, dieses Verhalten kann man wirklich bei

uns beobachten. Beispielsweise Netflix bietet einem ja immer diese Möglichkeit, alles relativ im Unverbindlichen zu halten, mal da rein zu zappen, mal da noch was zu gucken, mal dort, aber es gibt nichts sozusagen, auf das man sich völlig einlässt. Ich glaube, das hängt wirklich auch damit zusammen, dass wir eigentlich immer dabei sind, uns Potenz anzuhäufen oder Optionen. Wir sind immer damit beschäftigt, noch was zu erwerben, noch was zu bauen, noch was zu planen, von dem wir dann hoffen, dass es in der Zukunft irgendwann unser Resonanzraum wird. Leute sagen: wenn ich mal diese Wohnung habe …, oder wenn ich die Wohnung renoviert habe…, oder wenn ich die neue

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Küche habe … Dann stellen sie fest, sie haben die neue Küche und sie haben sich ein Klavier gekauft, aber sie haben immer noch keine Zeit dafür. Wir schieben das immer auf in der Hoffnung, dass irgendwann das Angehäufte – damit meine ich nicht nur Geld, sondern die Bücher, die Videos, die Kanäle, die Fotos, was immer das sein mag – zu einem Resonanzraum wird. Jetzt könnten wir ausprobieren, ob das wirklich diese Qualität erfüllt. Und dann laufen wir, glaube ich, in Panik davon, weil wir Angst haben: Nein, vielleicht nicht. Ja, das kann man vielleicht als Passivität bezeichnen. Mit mediopassiv bezeichne ich aber einen gegenteiligen Zustand, den man zum Beispiel feststellt, wenn Menschen auf gelingende Weise tanzen, richtig intensiv tanzen oder auch, wenn Menschen miteinander Musik machen oder Theater spielen. Wenn man nicht mehr sagen kann, ob man jetzt eigentlich der aktiv Bestimmende oder der Empfangende ist, man ist beides zugleich. Man ist so in ein Geschehen vertieft, dass das Berührt-Werden von etwas Anderem und Das-darauf-Antworten praktisch zu einem Akt, zu einer Tätigkeit wird, die halb aktiv und halb passiv ist. Und diese Form von Weltbeziehung ist ganz selten geworden. Und wir sollten, wir können die Räume, die jetzt entstehen, nutzen, um so was wieder zu entdecken. Aber dafür braucht man Geduld. Dann darf man nicht sofort wieder in die Medial-Welten flüchten und ins Internet und in Social Media. Jonas Zipf: Okay. Also das ist dann wirklich der maximale Gegensatz zu

Interpassivität, also der Verfügbarkeit aller Optionen, die ich alle nicht wahrnehme. Das, was Du beschreibst, wird ja manchmal auch als Flow beschrieben. In dem Schauspielunterricht, den ich im Regie-Studium hatte, gab es Gruppen-Körperübungen, bei denen am Ende nicht mehr klar war, von wem welcher Impuls gekommen ist. Die Tänzer arbeiten zum Beispiel an der sogenannten Kontakt-Improvisation: Plötzlich bewegt sich so eine Gruppe von Körpern wie ein Körper und man weiß gar nicht mehr, wo beginne ich, wo hört der andere auf, und so weiter. Hartmut Rosa: Ja. Genau das meine ich. Jonas Zipf: Aber es ist tatsächlich eine Form des Sich-Einlassens, die

voraussetzt, dass ich ganz viel anderes ausblende in diesem Moment. Also ich muss sozusagen die Wahrnehmung darauf fokussieren. Hartmut Rosa: Ja. Was noch dazu kommt, ist das, was ich Unverfüg-

barkeit nenne, weil die Entscheidung alleine natürlich nicht reicht. Das ist, glaube ich, das ganz, ganz große Problem. Also ich stimme

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Dir völlig zu. Wir sind zum Beispiel ganz wild auf Spotify oder Streaming-Dienste, weil wir dann neun Millionen Musiktitel haben. Da ist eine Wahnsinnspotenz. Aber es reicht jetzt dummerweise nicht, zu sagen, so, heute nehme ich das da oder so. Weil ich dann möglicherweise feststelle: Ah, irgendwie ist es doch nicht das Richtige, das hält nicht, was es versprochen hat. Man kann dann dieses, das, was ich Resonanz nenne, dieses intensive In-Beziehung-Treten nicht erzwingen. Das kommt nicht von alleine. Das braucht einerseits Geduld und Übung, andererseits aber auch eine gewisse Gelassenheit, weil es eben unerzwingbar ist. Und deshalb fällt uns das sehr häufig sehr schwer. Jonas Zipf: Jetzt kommen wir noch mal zu dem Ausgangspunkt zurück.

Da bin ich ja mit Celan eingestiegen und habe gesagt, da sind so viele Hoffnungen und Ängste. Hartmut Rosa: Ja. Jonas Zipf: Und wenn Du jetzt davon sprichst, wir projizieren das, all

die Resonanz-Ressourcen, Momente, die wir uns eigentlich erarbeiten unser Leben lang, immer in die Zukunft, dann gibt es ja eine Schallmauer, auf die wir unweigerlich immer zulaufen, und das ist die Ressource Zeit, die uns zwar vermehrt wurde, medizinischerweise. Ich kann aber nicht immer weiter in die Zukunft projizieren. Irgendwann ist sozusagen der Moment der Eigentlichkeit gekommen oder eben verstrichen. So. Im Moment erlebe ich die Krise aber auch so, dass wir sehr, sehr viel hineinprojizieren. Wir sind noch nicht mal drei Wochen in diesem Shutdown, in diesem kompletten Abschalten, aber die Menge der Denkansätze, der Utopien, Dystopien, der Ängste, der Hoffnungen, sind schon so viele, dass sie gar nicht mehr zu erfüllen sind in einer gewissen Zeit. Es ist eigentlich sozusagen eine riesige Projektionsfläche, die vor allem was darüber aussagt, wie Vieles vor der Krise im Unbewussten ungeklärt war, oder es auch weiterhin bleibt. Oder? Hartmut Rosa: Ja, das sehe ich tatsächlich auch so. Ich glaube, dass die Krise im Moment so eine Art Brennglas-Funktion hat. Alle Probleme, auch alle Ängste, alle Reaktionsweisen, die die Gesellschaft schon gekennzeichnet haben, die kommen jetzt in einigen Hinsichten sogar in Reinform zum Ausdruck. Zum Beispiel auch das Misstrauen gegenüber Fremden, das wird jetzt geradezu körperlich spürbar in der Angst, der Fremde könnte, der Andere könnte infiziert sein. Und auch das Verhältnis, die Art, wie wir versuchen, auf Unverfügbares zu reagieren,

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nämlich fast panisch. Insofern stimme ich Dir ganz zu, die Krise dient uns als eine Art von Vergrößerungsglas, um uns auch selber und die gesellschaftliche Reaktionsweise zu studieren. Aber zugleich glaube ich, dass es ein Experimentierraum ist. Wir können damit jetzt auch experimentieren und gucken, was machen diese Ängste mit uns, was können wir mit den Ängsten machen, wie können wir da vielleicht zusammen handeln oder auch neue Pfade betreten. Ich habe ja immer diese Fantasie, dass die Krise uns zu so was wie einem gesellschaftlichen Pfadwechsel bringen, also zu einem kollektiven Ausstieg aus den Hamsterrädern führen kann. Aber dazu müssen wir tatsächlich dieses Berasen insbesondere der digitalen Welt irgendwie überwinden. Jonas Zipf: Ja. Also ich würde jetzt gern an der Stelle einen Text einbauen. Nick Cave hat eine Woche lang E-Mails und Briefe bekommen von seinen Fans, warum er jetzt nicht auch endlich mal anfängt, Konzerte zu streamen, und er hat darauf zurückgeschrieben: »Ihr habt es nicht verstanden. Das dachte ich am Anfang auch. Ich komme jetzt endlich zu diesen Dingen, die ich immer machen wollte und die kann ich jetzt umsetzen. Und dann bin ich nachts aufgewacht und mir war klar, das ist genau das, was wir jetzt nicht tun sollten, was ich nicht tun sollte als Künstler. Das ist die größte Chance, die ich habe, auszusteigen aus der alten Logik und erst mal innezuhalten und zu überlegen, was von dem will ich behalten und was will ich nicht behalten danach.« Das ist ein ganz starker Text. (Hyperlink zum Text von Nick Cave: https://www.theredhandfiles.com/corona-fill-the-time/)

Hartmut Rosa: Ich finde das auch. Da hat er so was von Recht. Aber es ist wahnsinnig schwer, das zu tun. Ich stelle das auch bei mir fest. Ich dachte das auch. Das war zwei, drei Tage auch so. Und jetzt stelle ich irgendwie fest, überall, die Verlage, die Unis, die Web-Seiten, die Medien, fangen an zu sagen: Ah, wie können wir denn jetzt digitale Angebote schaffen, digitale Konferenzen halten. Als hätten wir nichts Besseres zu tun, als so schnell wie möglich die Hamsterräder wieder aufzubauen und digital laufen zu lassen. Und ich stimme Nick Cave total zu. Wir sollten es kollektiv nutzen und mal einen Moment innehalten. Das kann wirklich dieser Gesellschaft und uns auch als Individuen nicht schaden. Jonas Zipf: Ja, in diesem Sinne, glaube ich, sollten wir eher aus dem

Gespräch aussteigen, weil wir sonst das Gleiche machen.

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Hartmut Rosa: Ja, das ist irgendwie so. Aber wenn ich noch einen Gedan-

ken hinzufügen darf. Es ist einfach nicht richtig, dass es am Ende nur die ökonomischen Zwänge sind, die uns ins Hamsterrad treiben. Die sind es natürlich zum Teil auch, aber man stellt wirklich fest, dass irgendwie auch in uns selbst eine Tendenz da ist und die ist eine Art von kultureller und sozialer Logik, die nicht einfach auf das Ökonomische reduziert werden kann. Dass jetzt jeder denkt, wir müssen jetzt was anbieten, wir müssen irgendwie präsent sein und was tun: Das ist nicht einfach durch einen ökonomischen Zwang zu erklären. Das ist auch in uns. Jonas Zipf: Ja, ich glaube, die Bemerkung ist noch sehr wichtig. Wir haben diese Logik der Steigerung, der Intensivierung, oder überhaupt der Intensität sehr stark verinnerlicht, sehr stark internalisiert. Das ist nicht nur ein ökonomischer Zwang. Das ist, glaube ich, entscheidend, das ist ein psychologisches Moment. Hartmut Rosa: So ist das. Und dann fliehen wir. Jonas Zipf: Ja. Mich hat das sehr nachdenklich gemacht. Deswegen will

ich jetzt tatsächlich sozusagen aus dem zweiten Teil dieses imaginären Osterspaziergangs aussteigen. Weil ich damit genau das Gleiche gemacht habe, auch mit Dir als Gesprächspartner, was wir jetzt gerade rausgearbeitet und beschrieben haben. Hartmut Rosa: Ich finde das auch irgendwie. Ich habe mich auch er-

tappt gefühlt, muss ich gestehen. Jonas Zipf: Und ich bin jetzt einfach Kulturmensch und Theater-

mensch, wie Du weißt. Ich habe noch einen Text, mit dem ich Dich quasi am Schluss noch mal nerven muss. Das ist asynchron, weil ich die Texte vorlese und Du sie ja gar nicht vor Dir siehst, sondern nur hören kannst. Aber ich habe noch einen gefunden, der mich sehr beeindruckt hat, vor ein paar Tagen. Auch das ist vielleicht das Zwischenstadium des Aussteigens, dass man so alte Texte hochkommen sieht. Hier ist ein Fragment von Heiner Müller, ein Szenenfragment, das mal gedacht war für den Abschluss von Germania 3, einem seiner letzten Stücke. Das Fragment trägt den Titel: KRIEG DER VIREN. Und das geht so (rezitiert Heiner Müller): (Leeres Theater. Autor und Regisseur, betrunken.)

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AUTOR Ich habe ein Gedicht geschrieben. REGISSEUR (hält sich die Ohren zu) Sags auf. AUTOR Tödlich der Menschheit ihre zu rasche Vermehrung Jede Geburt ein Tod zu wenig Mord ein Geschenk Jeder Taifun / Erdbeben eine Hoffnung / Hoffnung der Welt Lob den Vulkanen Nicht Jesus Herodes kannte die Wege der Welt Die Massaker sind Investitionen in die Zukunft Gott ist kein Mann keine Frau ist ein Virus Du hörst mir nicht zu. REGISSEUR Stimmt. Warum sollte ich. Wir sind im Theater.

Hartmut Rosa: Das ist in vielerlei Hinsicht wirklich aufschlussreich. Es

wirft die Frage nach der Rolle des Theaters auf, aber es beantwortet sie irgendwie auch. Dass nämlich das Theater ein Raum ist, in dem man Perspektiven einfach mal radikal wechseln und verändern und sich fragen kann, wie sieht es denn aus einer ganz anderen Perspektive aus. Zum Beispiel, wenn man so was, so schwer das ist, irgendwie, in dem Fall würde ich sagen, so was wie ein kosmische Perspektive einnimmt: Ist es für die Natur eigentlich schlimm, wenn Menschen reduziert werden oder verschwinden? Das ist eine schon immer interessant gewesene Frage, über die wir vielleicht sogar auch noch mal nachdenken könnten. Das Zusammenspiel von Mensch und Natur und sogar von Mensch und Virus ist, glaube ich, viel komplexer, als wir uns das auf den ersten Blick denken. Jonas Zipf: Ja, also wir sind ja in der Theater-Diskussion an einem

Punkt, wo man viel vom Theater des Anthropozäns spricht und tatsächlich die Natur schon in den klassischen Theatertexten in der Antike als großes Gegengewicht zur Gesellschaft beschreibt. Tatsächlich ist dieses Fragment aber interessant in Bezug auf die Rolle von Kunst generell. Wo Müller, der Regisseur natürlich, sagt, ich höre Dir nicht zu, warum sollte ich, wir sind im Theater. Einerseits ist es natürlich die maximalste Irrelevanz, vor der Kulturschaffende heute immer mehr Angst haben, weil sie damit komplett außerhalb von Welt stattfinden, also keine Nachhaltigkeit mehr haben. Andererseits ist es dieses Unverfügbarsein, das sie brauchen.

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Vielleicht sind die zwei, um die es da geht, so alleine auf der Bühne, und das ist das Beste, was ihnen passieren kann, es ist eben keiner dabei, der das sofort bewertet und verwertet. Sondern die sind einfach nur zu zweit. Und das ist einfach vielleicht stärker. Hartmut Rosa: In der Soziologie wird auch viel über die Figur des Drit-

ten nachgedacht oder auch über die Notwendigkeit, dass es da noch einen gibt, der sozusagen dann beide, also den Hörenden und den Nicht-Hörenden sieht oder hört und dazu dann auch Stellung nimmt. Das ist schon auch ein interessanter Fall. Aber ich glaube, bei der Frage »Werden wir gehört?« oder »Wer will das Theater eigentlich noch hören?«, denke ich öfters darüber nach, habe sogar überlegt, ob ich noch mal einen Text schreibe. Ich glaube halt, man muss auch … eigentlich muss man was zu sagen haben und überzeugt sein davon, dass es sich lohnt, das zu hören, damit andere interessiert sind und auch zuhören wollen. Ich kann nur erwarten, dass jemand zuhört, wenn ich überzeugt bin, dass ich etwas zu sagen habe. Ich glaube, dass in der Kunst oder auch in der Wissenschaft das Problem sein kann, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Künstler und Künstlerinnen verlernt haben oder nicht bereit sind, sich als ganze Person hörbar und sichtbar zu machen und einzubringen. Jonas Zipf: Das ist eine Frage von Haltung und Stellung-Beziehen, also

auch in einem sehr paradoxen Sinne. Also ich muss quasi erst mal sagen, es ist mir ganz egal, was die anderen dazu sagen oder ob ich damit Erfolg habe oder nicht oder was bewirke oder nicht. Und nur, wenn es mir egal ist, werde ich etwas bewirken können. Das ist paradox. Dieses Sichvon-der-Welt-Abwenden, um dann danach wieder etwas wirksam hinterlassen zu können, ist eine Bewegung, die ich im Theater für mich selber nicht hinbekommen habe, warum ich sozusagen letztlich dann in die Verwaltung bzw. Politik gegangen bin. Aber ich glaube, da gibt es eine strukturelle Analogie zur Wissenschaft, die ganz ähnlich ist. Man kann sich natürlich verdingen in drittmittelrelevanten Denkweisen und so weiter. Oder man kann sich zurückziehen. Es ist eine Kunst, diese Balance hinzubekommen. Und es ist besonders da eine Kunst, wo man eben keine empirischen Grundlagen hat, wie in den Naturwissenschaften. Hartmut Rosa: Naja, wenn man einfach Daten erhebt, dann kann man

sozusagen natürlich die Daten für sich sprechen lassen. Da kann man sagen, ich als Forscher spiele gar keine Rolle, hier ist mein Befund. Das ist eine andere Art von Wissenschaft als die, die wir in den Kul-

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turwissenschaften oder auch in der Sozialtheorie und -philosophie betreiben, in denen es keine unabhängigen Daten gibt, sondern nur Deutungen. Was ich glaube, was wir tun können, ist, einen Vorschlag zu machen, wie wir unsere Welt und unsere Lage deuten können. Und da verschwimmt dann sozusagen auch tatsächlich der Horizont zwischen dem, was wir als Wissenschaftler*innen und dem, was wir als Privatpersonen sagen. Und letzten Endes auch die Grenze zwischen Wissenschaftler, Künstler und Publikum. Weil wir sozusagen alle an einer adäquaten Deutung, jetzt gerade der Corona-Krise, arbeiten. Jonas Zipf: Ja. Genau. Aber, und das ist dann der Punkt, an dem wir

die Kurve für den Kreis des Gesprächs noch mal kriegen. Es kommt natürlich darauf an, dass man sich zurückzieht. Diese Balance ist vielleicht ein bisschen flöten gegangen. Das heißt, dass uns eigentlich dieser Unterbau fehlt. Ich habe mal einen Spitzenpolitiker gefragt, ob er eigentlich als Politiker, wenn er Entscheidungen trifft, noch wirklich zum Nachdenken kommt. Und er sagte: »Ich zehre eigentlich nur von all dem, was ich gedacht, diskutiert, besprochen, habe, bevor ich in diese Position gekommen bin. Seitdem ich da bin, bin ich eigentlich nur noch am Reagieren. Es gibt keinen Moment mehr, in dem ich sozusagen noch so was ausbaue wie eine Gedankenressource. Ich kann nur von dem Vorrat leben, den ich mir davor angehäuft habe.« Hartmut Rosa: Das hat mein Doktorvater genau, fast identisch, zu mir

gesagt. Herfried Münkler hat, als ich promoviert habe, gesagt: »Lies und denk; so viel wie Du kannst, weil Du später ein ganzes Wissenschaftsleben davon bestreiten und davon zehren musst.« Und eigentlich ist das eine Katastrophe, dass wir es soweit haben kommen lassen. Jonas Zipf: Ja. Genau. Und das ist vielleicht auch so ein Punkt, ein tieferer Punkt, den wir jetzt berühren, der dieses Fass, das da jetzt durch Corona aufgemacht wird, oder die Büchse der Pandora, so tief und so groß werden lässt. Also an dem ich sage: Da kommt jetzt viel hoch, was irgendwie kollektiv verdrängt ist. Hartmut Rosa: Ja, denke ich auch. Jonas Zipf: Das kann man durchdeklinieren auf viele Ebenen, und in

vielen Biografien, vielen Formen der Arbeit und des Lebens. Hartmut Rosa: Ja.

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Jonas Zipf: Ach, das ist schon wieder so ein bisschen so ein trauriger

Punkt. Ich sage trotzdem noch mal, dass ich ganz entscheidend finde, dass Du einen heftigen Einwand gebrachst hast im ersten Teil des Gesprächs, als ich zu so einer kulturpessimistischen Tirade angehoben habe und Du sagt es: Geschichte ist etwas, was wir machen, in diesem Moment. Und wenn dieser Moment jetzt ein Moment des Einfrierens ist, dann ist das ein offener Moment. Und darauf kommt es an, Du gebrauchst ja auch den Begriff des Experiments, dass wir die Sache als Chance verstehen! Hartmut Rosa: Ich finde das auch sozusagen die richtige Schlussnote. Es gilt allgemein, dass Menschen immer Geschichte machen. Aber in aller Regel haben sie da ganz wenige Spielräume, weil Gesellschaften sich pfadabhängig vorwärts bewegen. Eine kapitalistische Maschinerie, die läuft einfach. Und da richtest Du als Individuum ganz wenig aus. Aber wenn das Ding in die Krise gerät, wenn die Routinen auf breiter Front irritiert werden, dann haben Akteure ein viel höheres Gewicht und eine größere Relevanz. Und da werden Handlungsoptionen wirklich offen. Da entsteht Kreativität. Und ich glaube, wir haben so einen Punkt erreicht. Kann man vielleicht Bifurkationspunkt nennen, wenn man in der Theorie der Pfadabhängigkeit redet. Also einer, an dem eine neue Abzweigung entstehen kann, und diese sollten wir jetzt gemeinsam finden, dann wird alles gut. Jonas Zipf: Ja. Und vorher vielleicht noch einen Moment stehen bleiben, und die Offenheit dieser Stelle zwischen den Pfaden vielleicht auch genießen oder zumindest zulassen. Hartmut Rosa: Ja, das stimmt. Jonas Zipf: Okay. Lieber Hartmut. Vielen, lieben Dank. Hartmut Rosa: Sehr gerne. Jonas Zipf: Das war ein Osterspaziergang mit vielen Aspekten, wo man

fast an jeder, um mal bei dem Bild zu bleiben, Abzweigung, noch viel weiter hätte gehen können. Aber das wundert mich bei dem Tempo des Denkens und Sprechens nicht. Hartmut Rosa: Ja, aber Dein Hinweis auf das Innehalten ist, glaube ich,

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Hartmut Rosa und Jonas Zipf

echt wichtig. Und vielleicht sollten wir jetzt wirklich einfach auch innehalten und über die Abzweigungen noch mal nachdenken. Jonas Zipf: Punkt.

Das Gespräch fand am 2. April 2020 statt. Hartmut Rosa, geb. 1965 in Lörrach, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau und an der London School of Economics. Forschungsaufenthalte führten ihn u. a. an die Harvard University in Cambridge, Massachusetts, und die New School University in New York City. Er promovierte über Charles Taylor und habilitierte sich mit einer Studie zur Sozialen Beschleunigung in Soziologie und Politikwissenschaft. Seit 2005 ist er Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der FriedrichSchiller-Universität Jena und seit 2013 Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Schwerpunkte seiner Forschung sind sowohl gegenwartsdiagnostische und modernitätstheoretische Analysen als auch Theorien der Zeitsoziologie und der sozialen Beschleunigung

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Siehe Wikipedia: Hannah Arendt führte 1958 den Begriff »Natalität« in ihre Theorie des Handelns ein. In ihrem philosophischen Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (engl. The Human Condition) fragte sie nach den Bedingungen menschlicher Existenz. Sie nannte diesbezüglich »das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität«. Natalität als Grundbedingung der menschlichen Existenz zu verstehen, basierte auf ihrer Beobachtung, dass »dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln«. Ihr Ansatz fand Eingang in bioethische Debatten.

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

Gerade jetzt – eben nicht

Ein Telefonat

Jonas Zipf: Zum Einstieg muss

Thomas Oberender Foto: Christoph Neumann

ich erst mal das letzte Gespräch aus den Kleidern schütteln. Ich stecke hier zwischen zwei Kriseninterventionen. Gerade ging es um die prekäre Situation von Honorarkräften in der Jenaer Musik- und Kunstschule. Es entstehen gerade einfach so viele Unwägbarkeiten. Daher stelle ich eine einfache W-Frage zum Einstieg. Wie kann ich mir die Konstruktion Eurer Institution in Berlin vorstellen? Ist das – pejorativ gesprochen – auch so ein Gemischtwarenladen wie JenaKultur? Thomas Oberender: Unsere Ins-

titution ist in der Tat ein Hybrid. Wir sind Teil einer GmbH-Struktur, die sich »Kulturbetriebe des Bundes« nennt, und damit eine der wenigen kulturellen Einrichtungen, die der Bund als Institutionen selbst unterhält und nicht nur bezuschusst. Unsere Gesellschaft hat drei unterschiedliche Geschäftsbereiche. Die Berlinale gehört dazu, das Haus der Kulturen der Welt und die Berliner Festspiele. Und wir unterhalten drei Immobilien, die durch uns ganzjährig bespielt werden: Das Haus der Kulturen der Welt, den Gropiusbau und das Haus der Berliner Festspiele. Während früher die Festspiele zur Hälfte vom Bundesland und zur Hälfte von der Bundesregierung finanziert wurden, sind wir seit 2003 zu hundert Prozent bundesgefördert. Vor zwanzig Jahren verfügten die Kulturbetriebe des Bundes über ein Budget von zwanzig Millionen Euro, inzwischen setzen wir mehr als sechzig Millionen um. So entstehen mittlerweile wesentlich höhere Verwaltungskosten, aber die zentrale Verwaltung aller Geschäftsbereiche spart auch Kosten. Inhaltlich prägen uns sowohl zyklische als auch jahresdurchgängige

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Programme. Zyklisch sind alle Festivals, das Jazz-Fest, das Musikfest, MaerzMusik und das Theatertreffen; zyklisch sind genauso aber auch die Bundeswettbewerbe, mit denen wir für junge Künstler im Bereich Literatur, Musik, Tanz und Theater eigene Akademieprogramme realisieren. Und das ganze Jahr hindurch laufen Ausstellungen oder auch unsere interdisziplinäre Programmreihe »Immersion«, in der wir sowohl Ausstellungen als auch Theaterproduktionen, Konferenzen oder Kunstfilme für Planetarien produzieren. So kann man sich unsere Arbeitsweise vorstellen. Die Zahl der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen schwankt, weil während der Festivals sehr viel mehr für uns arbeiten als im Rest des Jahres. Die Basis für alles sind unsere hoch spezialisierten Festangestellten in den Querschnittsabteilungen, die sich z. B. das ganze Jahr um Kommunikation kümmern oder den Bereich Technik. Jonas Zipf: Die Idee von unterstützenden Querschnittsabteilungen ist

ja auch eine Grundlage der Konstruktion von JenaKultur. Bei uns besteht ein Mehrwert darin, dass praktisch die Kulturpolitik, seitens der Stadt vor allem, aber auch seitens des Landes, einen Ansprechpartner für die gesamte Kultur der Stadt Jena hat, und einen Vertrag verhandelt, der alle bezuschussten Leistungen enthält – alle Einrichtungen und Bereiche der Jenaer Kultur, von kultureller Bildung bis zur Hochkultur – und dann übrigens für vier Jahre gilt. Und innerhalb dieser vier Jahre entsteht im Umgang mit den Mitteln so etwas wie eine unternehmerische Freiheit. JenaKultur ist ein Kulturunternehmen, aber nicht in Form einer GmbH, sondern eines Eigenbetriebs. Dadurch besteht der Mehrwert nicht nur in organisationsstrukturellen Synergien, sondern auch in inhaltlichen Querverbindungen, zum Beispiel im Rahmen von Themenjahren. Thomas Oberender: Ja, das klingt toll. Jonas Zipf: Natürlich alles auf einem anderen Niveau, im Vergleich zu

den Ansprüchen, die natürlich eine Bundesunternehmung wie eure in der Hauptstadt mit sich bringt. Aber die Fragen an solche Konstrukte sind strukturell vergleichbar: Sind solche Modelle im weitesten Sinne zukunftsfähig, und welche Vorteile bieten sie im Verhältnis von Breite zur Spitze? Ist das Hybride zwischen verschiedenen Genres und auch institutionellen Kunst-Traditionen, zwischen Festival-Highlights und alltäglicher Arbeit möglicherweise zukunftsfähiger als die klassische Vereinzelung der Häuser? Im Moment der aktuellen Krise stehen diese Fragen doch offen vor uns. Was lernen wir als Verantwortliche von sol-

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Corona-Gespräche

chen Kulturbetrieben für die Zeit danach? Dahinter erscheint für mich eine sehr grundsätzliche Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Festangestellten und Freelancern. Das sieht man etwa an dem Konflikt, den ich heute in der Musik- und Kunstschule erlebe. Einerseits versuchen wir gerade, für die anstehenden Verteilungsdiskussionen vorzubauen und beantragen Kurzarbeit. Präsenzunterricht ist nicht möglich, Online-Unterricht ist über die Entgeltordnung nicht abgedeckt. Somit brechen uns die Einnahmen weg. Und in dem Moment, an dem wir die Festangestellten in Kurzarbeit schicken, können wir natürlich andererseits die Honorarkräfte nicht weiterbeschäftigen und -bezahlen. Das riecht ja geradezu nach Scheinselbstständigkeit. Das führte im Bereich der Musikschule zu einer Petition, dann zu einem regelrechten Shitstorm, weil praktisch fünfzig Prozent aller Leistungen, die wir ermöglichen, über Honorarkräfte laufen. Was zu der Frage führt: Wie viel Freelancertum ist gut für Kunst und kulturelle Bildung? Wir beide können uns jetzt natürlich in diesem Telefonat problemlos unendlich viele feste Stellen wünschen und ausdenken, aber bei der Musikschule würde das konkret heißen: Wenn ich die Stellenzahl der Festangestellten erhöhe, muss ich bei gleichbleibender Bezuschussung die Menge der Angebote reduzieren. Und ist das im Moment nicht die Denkrichtung, die wir brauchen– Im Sinne von: »Less is more«? Gerade, wenn ich auf den Theaterbereich mit der engen Taktung der Premieren schaue, frage ich mich, ob wir nicht für dasselbe Geld festere, verbindlichere Verhältnisse der Arbeit im Hintergrund haben könnten... Thomas Oberender: Also ein Statement hat das Corona-Virus temporär

zum Verschwinden gebracht: »Ich arbeite gerne frei.« Bis vor kurzem gab es viele Leute, die tatsächlich keine Stelle wollten, weil sie die Fremdbestimmung durch die Strukturen und Fristen großer Betriebe für sich nicht produktiv gefunden haben. In prosperierenden Zeiten bevorzugten sie ein frei organisiertes Arbeitsleben, das sie von Projekt zu Projekt mehr oder weniger verlässlich finanziert hat. Und diese Beweglichkeit, aber auch Eigenbestimmtheit war ja für viele Menschen etwas, was sie als große Qualität empfunden haben. Jetzt, in dem Moment, in dem der Markt der künstlerisch Freischaffenden zusammenbricht, ist jeder, der eine feste Stelle hat, heilfroh. Ich auch, muss ich ganz klar sagen. Aber es ist eben auch der Moment, da wir darüber nachdenken sollten, wie die strukturelle Ungerechtigkeit, die den kulturellen Bereich prägt, in Zukunft abgebaut wird. Kurz vorm Tag der Arbeit müssen wir uns fragen, wie Arbeit gerechter verteilt und gesichert werden kann. Die Mittel im kulturellen Bereich gehen zu mehr als zwei

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

Drittel in den institutionellen Bereich und nur sehr wenig in den Projektbereich, der die Risiken alleine schultert, aber immer als »nice to have« behandelt wird, als ein gewisses »Extra«, während die »richtige« Kultur in den alten Strukturen wohnt. Aber das ist längst nicht mehr so. Uns treiben daher seit langem Überlegungen um, wie man unsere Institutionen umformen müsste. Es gab in den letzten Jahren eine schleichende Politik, von der ich denke, dass sie »Institutionen neuen Typs« geschaffen hat. So nenne ich Institutionen, die eigentlich nur noch Hüllen sind. Sprich: Konzerthäuser ohne eigenes Orchester, Ausstellungshäuser ohne eigene Sammlung, Theaterhäuser ohne eigenes Ensemble. In den Niederlanden oder Belgien würde das Theaterhaus Jena keine eigene Kompanie haben, sondern lediglich eine Spielstätte für freie Theater- oder Tanzkompanien sein, ein Gastspielhaus. In den Niederlanden bekommen die Ensembles das Geld, nicht die Häuser. Aus dieser Struktur kommt eine niederländische Gruppe wie »Wunderbaum«. Ohne solche Kompanien würde das Benelux-System nicht funktionieren. Und auch in Deutschland leben immer mehr Häuser und Festivals davon, dass es eine professionelle freie Szene gibt, die innovativ und sozial engagiert produziert. Zu dieser Szene zählen auch Kuratoren, Ausstellungsmacher und andere Freelancer, die das ökonomische Risiko auf sich nehmen, um künstlerisch konsequenter und oft auch spartenübergreifender zu arbeiten. In den letzten Jahren entstand also parallel zu den klassischen Stadttheater- und Orchesterstrukturen ein oft international vernetztes Produktionssegment, das stark um seine Anerkennung kämpfen muss und von der Krise jetzt viel härter getroffen wird. Wie soll man bloß diese zwei Märkte oder Produktionswelten, die nie mehr verschwinden werden, versöhnen? Sie haben das am Beispiel der Jenaer Musikschule ja eben beschrieben. Soll man dort perspektivisch überhaupt keine eigenen Lehrer mehr fest anstellen, sondern einen riesigen Pool temporär beschäftigter Lehrkräfte bilden, die alle noch weitere Jobs zum Leben brauchen, aber die Institution weniger kosten? So verschieben wir das Risiko und die Härten in Richtung der Freiberufler und können an den Häusern vielleicht ein paar mehr Angebote machen, aber das hat seinen Preis. Das ist das Modell der Institutionen neuen Typs, wie ich sie nenne, und das ist die eigentliche Tendenz der Kulturpolitik der letzten zwanzig Jahren. Auf der anderen Seite sind aber auch bei den staatlichen Häusern kaum mehr feste Stellen hinzugekommen und die Budgets halten mit den Tarifsteigerungen oft gerade so mit, ohne neue Gestaltungsmöglichkeiten zu schaffen. So entstehen in klassischen Institutionen Innovationen heute oft ebenfalls nur durch

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Corona-Gespräche

Projektmittel, die auf Antrag und auf Zeit vergeben werden. Das heißt, die institutionell geförderten Einrichtungen sind in den letzten Jahren ebenfalls in Richtung Prekarisierung entwickelt worden. Ich glaube, man muss sich über, ja, dieses System, das eigentlich ein Schattensystem ist und keine wirklich offizielle Anerkennung oder Abbildung in den Debatten findet, viel ehrlicher unterhalten. Jonas Zipf: Aber was erstaunlich ist, ist ja, dass das schon so ein halber Paradigmenwechsel ist. Sie haben gesagt, all die Freien, die Prekarisierten, die haben sich lange Zeit auch aus ideologischen Gründen dieser Sache verschrieben. Es ging nicht nur darum nicht irgendwo abhängig beschäftigt zu sein, sondern auch nicht im Auftrag des Staates zu arbeiten, nicht mal angebunden an den Staat. Das ragt ja noch rüber aus dem alten Verständnis von »Freier Szene«. Mittlerweile ist es längst salonfähig, dass dieselben Akteure eine staatliche Bezuschussung bekommen. Dazu kommen in der Krise jetzt Stimmen, die sagen: Wäre eigentlich schon gut, wenn ich festangestellt wäre. Lange ging die Nichtverstetigung der Anerkennung ja noch wunderbar einher mit der alten Ideologie von »frei sein«. Philosophisch könnte man sagen: Was Deleuze & Co. gedacht haben, das ist einfach mit dem Kapitalismus der heutigen Prägung sehr gut vereinbar. Zuletzt wurden ja sogar entsprechende Begriffe, etwa die mittlerweile allseits beliebte »Agilität«, konkret auf Kreativarbeit bezogen. Das wäre eigentlich der Punkt, an dem »die Kreativen« die Gesellschaft befragen müssten: Was sind wir euch wert? Und dann müssten wir in Bezug auf die institutionelle Betriebsform darüber nachdenken: In was für einer formalen Verabredung soll das zukünftig stattfinden? Vielleicht brauchen wir dann eben nicht mehr die genuin genrebezogene Konstruktion. Vielleicht liegt genau bei ihr der Hase im Pfeffer – zumindest solange die sehr konventionelle Erwartung an ein Theaterhaus besteht, dass es einfach nur Theater produziert und keine Konzerte oder Debatten, oder an ein Museum, dass es nur Ausstellungen produziert und keine Kunstfilmreihen oder Labs. Bei dem höheren wirtschaftlichen Druck, der entsteht, wird es für all die Produzenten zwischen den klassischen Genres nun relativ schwer, zu institutioneller Anerkennung und festen Arbeitsverhältnissen zu kommen. Man denke einfach nur an die großen Bühnen, die in deutschen Städten stehen und tausend Plätze und mehr haben und aufgrund der Einnahmeerwartung jeden zweiten Abend gefüllt werden müssen. Das dämpft die Experimentierfreude und präferiert vielleicht eher 08/15-Lösungen, die vermeintlich den Saal füllen. Und wenn Sie sich

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

vorstellen, dass diese Häuser vielleicht gar keine eigenen Ensembles mehr haben, dann ist der Schritt in Richtung Prekarisierung der freien, oft eben auch experimentellen Künstler natürlich überhaupt nicht mehr groß, weil die großen, teuren Häuser strukturell gerne konservativer agieren. Wenn ich die klassischen Festensembles auflöse, verliere ich ihre gründliche, dauerhafte und qualitativ exquisite Arbeit – aber Gleiches droht auch den freien Ensembles, die ja oft noch sehr viel stärker einer speziellen Idee verpflichtet sind. Was dann noch bleibt, sind vor allem die kommerziellen Akteure. Denn bei denen kann ich mir weniger riskante Ware im Tourneebetrieb einkaufen. So etwas wie ein Repertoire würde es am Stadttheater nicht mehr geben und sicher auch nicht mehr das Theater einer Stadt, das Stadttheater im gewohnten Sinne. Also will sagen: Am Ende ist es für mich vor allem eine Frage danach, ob Kulturinstitutionen sich eben auch übergreifend transdisziplinär erfinden und organisieren müssen. Das bedeutet, dass der gesamte Bereich von Kultur in einer Stadt oder einem Land – ähnlich wie bei einer Hochschule, die auch mehrere Disziplinen unter einem Dach vereint – an einer solchen Kulturinstitution durch einen Gesamtzuschuss finanziert wird, weil sie zukünftig ihrer Natur nach Bereiche vereint, die alle bislang nicht aus sich selbst heraus leben können. Die Politik aber würde die Frage der Verteilung der Mittel – übrigens auch die Frage, ob an feste oder freie Kräfte – in einer solchen Institution über die Genregrenzen hinweg den Experten überlassen. Genau wie bei einem Unipräsidenten. Das wäre so eine Art grundgesellschaftlicher Vertrag, eben nicht, indem quasi jede Institution für ihr je eigenes Recht vor dem fachlandschaftlichen Horizont streiten muss. Dagegen sind wir als Kulturverantwortliche momentan längst selbst viel zu kennziffernorientiert, zu leistungsaffin. Thomas Oberender: In Berlin gab es genau so ein Konzept. Da hat ein

Kulturdezernent, Tim Renner, aus der Volksbühne eine Art Kulturkombinat schaffen wollen – dazu sollte ein Kino, ein Hangar auf dem Flughafen, ein Ausstellungshaus und eben das Theater mit zwei Spielstätten und einer eigenen Onlineplattform gehören. Das war eine echte Vision. Dass sie sich den richtigen Ort ausgesucht hat, glaube ich nicht, aber das geht ganz in die Richtung, von der Sie sprechen. Als Generalintendanten, oder Unipräsidenten in Ihrer Metaphorik, hat Tim Renner den belgischen Kurator Chris Dercon eingeladen. Das hat nicht gut funktioniert, aber das hat mit der besonderen Rolle der Volksbühne und der Geschichte Ostberlins oder des »Ostens« in einem weiteren Sinne zu tun. Mit solchen Gedanken sind Sie also nicht allein. Bei den

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Corona-Gespräche

Berliner Festspielen ist es so, dass ich tatsächlich als das größte Kapital nicht unser Budget begreife, sondern unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Als Betrieb sind die Festspiele eine sehr moderne, flexible Konstruktion – wir richten unsere Strukturen nach den Werken und Themen aus, wir arbeiten in Netzwerken und machen eigentlich alles außer Oper, insofern es innovativ ist. Und das mit einem Pool von Spezialisten, die wir über viele Jahre an uns binden konnten. Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie sich jedes Mal wieder jemanden suchen müssten, der sich mit Fluchtplänen und Sicherheitsabständen und Genehmigungsverfahren auskennt und all dem … Es hat einfach unglaubliche Vorzüge, institutionelle Kerne zu pflegen, in denen das Know-How überwintern kann. Ich spreche von Kompetenzzellen: Die Einen kennen sich mit Theater aus, die anderen mit Musik, wieder andere mit bildender Kunst, zum Teil vermischt sich das künstlerisch, aber auch im Bereich Technik oder in der Personalleitung und im Vertragswesen. Die Arbeit in der freien Szene ist ja oft so mühsam, weil man sich dort um so vieles gleichzeitig kümmern und sich jegliche Struktur selber aufbauen muss. Auch wenn die Projektarbeit große Vorzüge hat, sind Institutionen sehr wichtig, vor allem auch aus Arbeitnehmersicht, weil sie hier ihre Recht durch Betriebsräte und Gewerkschaften viel besser vertreten können. Wir müssen also aufhören, diese beiden Systeme gegen einander auszuspielen, und auf etwas Drittes setzen, das beide Produktionswelten überbrückt. Ein sehr gutes Werkzeug dafür wäre aus meiner Sicht das Bedingungslose Grundeinkommen, das die Entscheidung, wo man arbeiten will, von der Existenznot abkoppelt. Es darf nicht sein, dass ich bei einer Arbeit in der freien Szene duldsamer sein muss bei drohender Armut und soziale Benachteiligung. Und umgedreht darf es nicht sein, dass wir die Erstarrung und Besitzstandswahrung, die sich in den zunehmend ausgezehrten Institutionen eben schnell herausbildet, zementieren. Jonas Zipf: Also eine Art Balance zwischen fest & frei?! Eine Balance in

dem Sinne, dass man das eine nicht gegen das andere ausspielt. Aber es besteht dennoch die Frage nach der Kommensurabilität dieser beiden Produktionskulturen, weshalb ich nochmal auf das Verhältnis von Kunst und Institution zurückkommen will. Bei Christoph Menke gibt es in »Kraft der Kunst« am Ende des ersten Teils einen ganz kurzen Absatz, nicht mehr als zwei Seiten, im dem er beschreibt, wie die Bayreuther Festspiele entstanden sind. Er geht dafür zurück auf die Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen, so wie Nietzsche in seiner »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« beschreibt. Das eine

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

ist die quasi ungerichtete Kraft, das Dionysische, die »Kraft der Kunst«. Es gibt etwas zu sagen, und das muss gesagt werden. Und dann gibt es eine Form dafür. Die Formgebung ist die andere, die apollinische Seite, die dieser Kraft eine Übersetzung bietet. Als Gegenüber zur Kunst ist das die Institution. Menkes These: Eigentlich kommt es auf die Balance zwischen beiden an. Indem die Institution die Kunst begrenzt und die Ressourcen definiert: Geld, Personal oder auch den Faktor Zeit – indem sie Endpunkte für künstlerische Prozesse setzt, etwa Vernissage- oder Premierentermine. Die Institution organisiert Ressourcen, Aufmerksamkeit und Kommunikation. Und diese Begrenzungen machen es überhaupt erst möglich, dass andere, die Zuschauer, daran teilhaben. Keine der beiden Seiten darf dominieren: Sonst findet die Kunst entweder keine Öffentlichkeit mehr, oder sie wird von der Institution erdrückt. Thomas Oberender: Ich weiß nicht, ob wir die soziale Frage auflösen,

wenn wir über das Verhältnis zwischen Kunst und Institution sprechen, obwohl ich Christoph Menkes Balance-Modell sehr schön finde. Ich glaube eher, wir müssen aus dieser Dichotomie zwischen »frei« und »institutionell« aussteigen und ein anderes Verständnis von Arbeit anwenden. Ich glaube, dass die aktuelle, von Covid verursachte Zwangspause die beste Zeit ist, um über ein leistungslos gewährtes, sprich Bedingungsloses Grundeinkommen zu sprechen. Plötzlich müsste in dieser Gesellschaft niemand davor Angst haben, seine Krankenkasse, Altersvorsorge und Grundversorgung (Wohnraum, Nahrung, Kleidung) nicht bezahlen zu können. Wenn uns diese Prekarisierungsangst genommen würde – und man hat ausgerechnet, dass das nicht teurer wäre, als all die Förderungen und Sonderhilfen, die es auch jetzt schon gibt –, dann würden sich viele Streitigkeiten sofort entspannen und auf eine andere Ebene verlagern. Denn dann geht es nicht mehr um die Grundlebenssicherung, die für viele Menschen aktuell ein hartes Thema ist, sondern eher darum: Wie wollen wir arbeiten? Geht das an zwei Tagen auch von zu Hause? Wofür soll unsere Arbeit stehen? Ist sie nachhaltig? Was soll sie bewirken? Motiviert sie Menschen, sich im Bereich social care zu engagieren, weil das plötzlich viel besser bezahlt wird als ein Grundeinkommen? Wer darf da mitwirken? Dürfen Spekulanten weiter auf Lebensmittel, Wohnen und Staatsschulden wetten? Und so weiter. Die Umweltphilosophin Barbara Muraca hat darüber viel geschrieben. Also wenn man, um auf unseren Bereich zurückzukommen, die Frage der Anstellungsform von der Grundsicherung entkoppeln könnte, und zwar auch wirklich entkoppeln von Wettbewerbsgedanken, wenn man

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Corona-Gespräche

das unterbrechen könnte, wäre das ein Riesenschritt, den wir in dieser Krisenzeit intensiv diskutieren sollten. Jonas Zipf: Also letztlich ginge es darum, unser Menschenbild zu befra-

gen: Entsteht die Motivation zur Arbeit immer nur aus der Belohnung für Leistung? Entsteht Anerkennung nur durch Geld? Die Frage wäre ja, ob wir das Grundeinkommen als gesamtgesellschaftliches Modell benötigen? Oder ob dieses Modell nicht erst mal das Spannungsfeld zwischen Kunst und Institution auflösen könnte? Also ein Modell wie das früher in Frankreich, bevor es weggekürzt wurde: Eine Grundsicherung für die Künstler*innen, »Intermittants du spectacle« genannt. Thomas Oberender: Die große Revolution wäre ja, das gesamtgesell-

schaftlich zu betreiben. Und damit auch einen anderen Arbeitsbegriff durchzusetzen. Wenn Sie sich vor Augen führen, was eben alles nicht als Arbeit verstanden und mit Anerkennung oder Rentenansprüchen honoriert wird – von der Kindererziehung bis zur Pflege von Angehörigen, dann ist das nicht gerecht. Ich sehe diese Debatte tatsächlich in einem größeren Zusammenhang. Da geht es nicht nur um einen neuen »Green Deal« als Konjunkturprogramm, sondern um die Frage, wie wir unsere Lebenspraxis in andere Zusammenhänge einbetten, indem wir uns auf das Nachhaltige, das weniger Zerstörerische, das Heilende konzentrieren – also etwas, das unsere Gesellschaft in der Art, wie sie mit dem Planeten und den Menschen umgeht, dringend entwickeln muss. Dafür müssen wir neue Strukturen schaffen, die der Daseinsfürsorge dienen, und nicht der Wettbewerbslogik folgen. Also wenn man die Diskussion der Arbeit in diese neue Nachdenklichkeit einbettet, etwa so, wie es beispielsweise Bruno Latour seit Jahren vorschlägt, dann geht es nicht nur um ein Bewusstsein für den Arten- und Klimaschutz, sondern um neue politische und aktivistische Konzepte zum Schutz der lokal verwurzelten Commons. Dann sprächen wir über ein gänzlich anderes Verständnis von Daseinssicherung, Daseinsfürsorge, die dabei unseren Planeten als Ganzes im Blick hat. Jonas Zipf: Es wird darauf ankommen, so kann man es auch formulie-

ren, wie wir aus der Krise rauskommen und ob wir wirklich begreifen, um welche wesentlichen Dinge es gehen muss … »Less is more« war vorher ein Punkt. Worauf kommt es an? Was ist mir am wichtigsten? Nach Corona arbeiten und konsumieren wir dann vielleicht ein bisschen nachhaltigkeitsgerechter, regionaler, saisonaler, virtueller. Und in unseren Kunst-Institutionen versuchen wir uns auch auf das We-

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

sentliche zu konzentrieren. Denn das Modell des Bedingungslosen Grundeinkommens würde die staatliche Förderung von Kultur-Institutionen auf zwei Fragen konzentrieren: Welche Rolle will die öffentliche Hand spielen und für welche Kostenarten ist sie zuständig? Wir würden uns nur noch um die betrieblichen Rahmenbedingungen und um die jeweiligen, vor allem finanziellen, Ressourcen für die Produktion kümmern. Denn die Leute selbst wären davon entkoppelt. Thomas Oberender: Das Grundeinkommen ist kein Einheitslohn für

alle. Ich denke, dass die Entlastung eher in den öffentlichen Verwaltungen spürbar wäre, die sich sonst mit 1000 Antrags- und Beihilfefragen beschäftigen. Differenzierte Gehälter oberhalb der Basisversorgung würden weiterhin bestehen. Jonas Zipf: Wenn das individuelle Einkommen nicht mehr von Pro-

jektgeldern abhängt, würde auch die häufige Selbstausbeutung von Künstlern und Künstlerinnen aufhören, die ja für das Geld oft wesentlich mehr arbeiten als sie beantragt haben. Härtere oder weniger begehrte Arbeiten würden besser bezahlt. Thomas Oberender: Das wäre interessant. Prinzipiell wäre für jeden

Künstler wie auch jeden Handwerker oder Studenten das Leben gesichert. Jonas Zipf: Das würde die gesamte Diskussion verändern und sie verliefe viel stärker entlang der konkreten Erfordernisse der Kunst. Das wäre extrem spannend. Wir würden stärker über das reden, was sonst ja ständig wegschmilzt, den eigentlich künstlerischen Etat. Thomas Oberender: Ja. Ja. Das ist eine schöne Vorstellung. Jonas Zipf: Ja. Über genau das, was sonst bei jeder Tarifsteigerung und

jeder inflationsbedingten Steigerung der Kosten für Immobilien und Betrieb, immer weiter abschmilzt. Thomas Oberender: Was sicher so bleibt. Aber auch das Bedingungslose

Grundeinkommen wäre ja nicht statisch, und nicht alle sollen und dürfen nur auf diesem Niveau bezahlt werden. Es verschafft individuell allerdings eine neue Freiheit in der Entscheidung, was und wo man arbeitet.

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Corona-Gespräche

Jonas Zipf: Wir hätten aber auch eine Größe in der Auseinanderset-

zung mit der Gesellschaft und mit der Politik, weil wir auf dem Niveau der Grundsicherung an keine Stellenpläne gebunden sind, weil Qualifizierungsangebote, Feedback, Mitbestimmung eine ganz neue Rolle spielen würden. Thomas Oberender: Und so, wie es in der Wirtschaft Mindesteinkom-

men gibt und bei Managern die Diskussion über Maximaleinkommen, wird eine solche Deckelung ja auch im Kunstbereich diskutiert, insbesondere im Bereich der Solisten und Dirigenten. Sind individuelle Abendgagen von 20 oder 30 Tausend Euro an staatlich ausgebildete Solisten oder Dirigenten in staatlich geförderten Strukturen zu rechtfertigen? Jonas Zipf: Was ja auch unheimlich schwer nach außen zu erklären ist.

Die Revolution des Bedingungslosen Grundeinkommens wäre aber vor allem, dass man wieder stärker über den eigentlichen Raum der Kunstproduktion redet. Das ist schön, das gefällt mir. Thomas Oberender: Ja. Also ja, es ist ein bisschen ideal gesprochen,

aber dem folge ich gerne. Jonas Zipf: Corona heißt ja im Wortstamm lateinisch Kranz oder Kro-

ne. Also etwas, was nach außen strahlt. Dieser Begriff, der hat ja eine sinnbildliche Dimension für das, womit wir uns jetzt beschäftigen. Was strahlt ab? Was lernen wir daraus? Ohne, dass wir der Gefahr anheimfallen, zu viel da hinein zu projizieren. Ich habe jedenfalls mindestens genauso viele Ängste. Sie haben Latour ins Gespräch gebracht und damit kommen wir zu noch größeren, schicksalhaften Fragen. Ich spreche vom Klima, der Frage der Menschheit im globalen Maßstab. Vom Anthropozän. Thomas Oberender: Was verstehen Sie darunter? Jonas Zipf: Es stellt sich doch die Frage: Vernachlässigen wir nicht all

die uns bestimmenden Kräfte? Diese Annahme eines Anthropozän ist doch letztlich eine Hybris. Wer, wenn nicht der Mensch, wollte behaupten: Wir können die ganze Naturgeschichte mit ein paar Jahren Menschheitsgeschichte eliminieren. Denn wir sind jetzt die Krone der Schöpfung, um beim Wort »Krone« zu bleiben …

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

Thomas Oberender: … ja, das ist so. Diese Überbetonung des Faktors

Mensch ist irgendwie auch fragwürdig in diesem Titel für ein Zeitalter … Jonas Zipf: Genau, als ob sich alles nach uns richten würde. Als ob wir

die Natur überwunden hätten … Thomas Oberender: Der Ausgangsgedanke für diese Wortschöpfung

war ja lediglich, dass wir, unsere Spezies, plötzlich selber zu einer Naturgewalt geworden sind und seit dem Beginn der Moderne durch die Industrialisierung so katastrophale Naturzerstörungen im Erdsystem angerichtet haben, wie früher nur ein gesamtes geologisches Zeitalter … Jonas Zipf: Genau. Und eigentlich erleben wir ja gerade, wie unglaublich fragil und wie sehr wir der Natur ausgeliefert sind. Thomas Oberender: Stimmt. Wer weiß, was da im auftauenden Perma-

frost noch so alles lauert. So ein kleines Virus legt alles lahm. Jonas Zipf: Aber nicht nur in diesem banalen Sinne des Virus, sondern

vor allem: Wie dünn ist die Schicht unserer Zivilisation? Wie schnell geht es plötzlich einfach nur noch ums Fressen und ums Überleben? Thomas Oberender: Guter Punkt. Aber das kann man eben leider auch

für unser Verhalten in Zeiten sagen, die keine Krisen sind. Wir fressen den Planeten auf. Dieses Gebot ewigen Wirtschaftswachstums führt zur Überlebensfrage der gesamten Biosphäre. Wir sind das Virus. Bruno Latour spricht im Hinblick auf die dünne Schicht, in der sich alles Leben auf der Erde abspielt, übrigens von der Critical Zone. Zehn Meter in der Erde und zehn Meter über der Erde ereignet sich auch das, was Sie Zivilisation nennen. Wenn wir diese dünne Schicht versauen und kaputt machen, stirbt alles. Jonas Zipf: Ich meinte das jetzt eher im Freudschen Sinne: Die dünne

Schicht der Zivilisation. Man sieht ja, wenn man sich die Vereinigten Staaten momentan anschaut, wie sich jegliche politische und gesellschaftliche Kultur in kürzester Zeit auflöst. Alle kaufen Waffen. Es herrscht die pure Existenzangst. Jeder ist sich selbst am nächsten. Und darin steckt einfach diese banale Erkenntnis, dass wir überhaupt nicht so fein ziselierte Zivilisationswesen sind, sondern einfach Naturwesen. Am Ende geht es einfach darum, dass der eine länger überlebt als der andere.

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Corona-Gespräche

Thomas Oberender: Das klingt nach Sozialdarwinismus. Das sagen Sie,

weil Sie in Jena leben, in der Stadt von Ernst Haeckel. Jonas Zipf: Im Gegenteil, ich sage das im Sinne einer heilsamen Erfah-

rung. Im Sinne von Demut, was unsere Rolle als Menschen gegenüber der Natur anbelangt. Wir koexistieren in einer Gemeinschaft mit anderen Wesen, mit Pflanzen und Tieren, dem Klima und Landschaften. Deswegen finde ich: Kultur im Anthropozän, das kann ja eigentlich nur heißen, zu fragen: Wie zeigt sich unser Verhältnis zur Natur? Thomas Oberender: Wo werden andere Akteure als die menschlichen

hör- und sichtbar? Und wie kriegen wir die in diese Maschinen, in diese Institutionen rein, die im Moment das sind, was wir fast ausschließlich bespielen? Das ist die große Frage. Das finde ich eine wertvolle Beobachtung von Ihnen. Sie benennen das Problem, finde ich, sehr präzise. Jonas Zipf: Insofern wäre Corona ja insgesamt nichts anderes, als eine

Krise, die uns zurückwirft auf das Maß, das wir tatsächlich haben. Thomas Oberender: Im Grunde ist Corona eine Art von biologischem

Aktivismus. Und es wäre natürlich schöner, wenn er für manche Menschen nicht tödlich wäre. Aber sonst wären die Flugzeuge auch nicht am Boden und die Autos nicht in den Garagen geblieben. Das Virus funktioniert wie eine dieser Occupy-Aktionen, die große Straßen in London oder New York lahmlegten. Ich denke an Occupy Wallstreet oder Occupy Museums von Noah Fischer. Also dieser Versuch, übliche Routinen zu unterbrechen und in dieser Pause eine andere Art von Gespräch zu ermöglichen. Ohne zu wissen, wo es hinführt. Im Unterschied zu den Revolutionen alten Typs, bei denen immer eine Avantgarde das Ziel schon kannte. Und die alten Strukturen reproduziert, sobald sie sich an ihre Spitze setzt. Deshalb ist aktuell das Interessante, dass wir nicht wissen, wohin Covid uns führt. Es wird einfach eine Pausentaste gedrückt, weltweit. Und wir fahren alle auf Sicht und wissen nicht, wo die Reise hingeht. Von Woche zu Woche tasten wir uns ein Stück weiter. Jedes Land auch ein bisschen anders. Das ist die wertvollste Zeit, die unsere Gesellschaft und, pathetisch gesagt, die Weltgesellschaft seit langem hatte. Das ist die globale Erfahrung einer Ausnahmesituation und Offenheit, wie sie für eine kurze Zeit auch die ostdeutsche Wende hervorgebracht hat. Das, diese Generalaussprache einer ganzen Gesellschaft, war 1989 das wesentliche Moment der Revolution. 1989 – das hieß die Pausentaste drücken. Bevor der Ein-

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

heitsvertrag, der Beitritt kam, waren das der kollektive Versuch und die experimentelle Praxis eines ganzen Landes, die Gesellschaft auf allen möglichen Ebenen neu zu denken. Danach kam das Alte. Jonas Zipf: Jetzt, glaube ich, kriegen wir nochmal die Kurve zur Verant-

wortung, die wir als Chefs von Kulturinstitutionen haben. Gemessen an dem Thema Bedingungsloses Grundeinkommen wäre es jetzt fatal, sich auf diese Verteilungskämpfe im vorauseilenden Gehorsam einzulassen. Thomas Oberender: Die gibt es doch schon die ganze Zeit. Jonas Zipf: Ja, die laufen auch jetzt längst im Hintergrund. Fast reflex-

haft. Aber in dieser Krise nur darauf zu achten, dass man möglichst präsent ist über virtuelle Angebote und dergleichen, um seine eigene Position für die Zeit danach zu stärken, das ist doch eine vertane Chance! Natürlich ist das für Viele momentan schon eine wirklich existenzielle Situation, einerseits. Andererseits aber auch eine Kakophonie von denen, die am lautesten schreien können. Öffnend wäre es, wenn wir von unserer Position als Kulturschaffende her sagen würden: Hört auf mit dem Verteilungskampf. Die große Lehre ist doch: Der Staat, die Gemeinschaft, nur die schafft es, die verletzliche Schicht der Zivilisation intakt zu erhalten. Nur wenn eine Art Gemeinschaftsverabredung dafür sorgt, dass die medizinischen Kapazitäten nicht überlastet werden, können wir das jeder für sich heil überstehen. Was noch bei der letzten Pandemie in Deutschland nicht möglich war, bei der Spanischen Grippe vor knapp hundert Jahren. Heute erscheint uns das möglich aufgrund unseres Vermögens, im Sinne von materiellem Wohlstand, aber auch eines Vermögens an immateriellen, ethischen Werten, die wir gemeinsam verteidigen, die stark genug sind, stärker als die dünne Schicht der Zivilisation. Thomas Oberender: Ehrlich? Der NSU kommt aus Jena. Jonas Zipf: Aber auch Jürgen Fuchs. Wir als Kulturschaffende müssten

doch der Gemeinschaft zurufen: Besinnt euch doch auf diese Werte und dieses Vermögen, sozial zu handeln, statt Verteilungskämpfe zu führen, und gebt uns die Möglichkeit, immaterielle Werte, zum Beispiel im Kulturbereich, von den materiellen zu trennen … Thomas Oberender: Also ich möchte niemandem etwas zurufen. Ver-

teilungskämpfe sind ja auch irgendwie gut. Sonst würde es jemanden

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Corona-Gespräche

geben, der alles zuteilt. Das hatten wir in der DDR. Aber trotzdem haben Sie Recht, weil Sie einen Schritt raus aus der Maschine machen. Und das hieße aber, die Pause aushalten… Entschuldigung, wenn ich da jetzt so reinplatze, aber das gefällt mir eben sehr gut, wie sich das Gespräch entwickelt. Das ist im Grunde dieses aktivistische Moment der augenblicklichen Situation, die so viele Stimmen hörbar macht. Also nicht nur die klagenden und die fordernden, sondern auch jene, die das Betriebssystem grundsätzlich hinterfragen – unser Gesundheitssystem ist krank, seit es die Einzelfallpauschale gibt. Mediziner fangen an, öffentlich darüber aufzuklären, wann der entscheidende, verschlechternde Schritt stattgefunden hat, der das System nicht mehr dafür belohnt, wenn es Heilung fördert, sondern wenn es Aufwände produziert. Und diese Nachdenklichkeit, die in dieser Pause entsteht, die in so viele Richtungen geht, die ist das größte und wertvollste Geschenk dieser Krankheit. Jonas Zipf: Also Herr Oberender, das ist jetzt ein Schlusswort. Am Ende

dieses Telefonats müssten wir ja jetzt eigentlich fragen: Was steht unter dem Strich dieses Gesprächs? Was lernen wir für die Zeit nach Corona und so weiter? Nein, eben nicht! Man muss das aushalten. Man muss die Pause aushalten. Thomas Oberender: Ja genau, eben nicht. Genau, das finde ich noch ei-

nen guten Gedanken– das wäre der Satz, der über dem Gespräch steht. Jonas Zipf: Ja. Thomas Oberender: Ich habe gerade ein Buch geschrieben, das kommt

im Juli raus. Das heißt: Empowerment Ost. Und es beschreibt die 89er-Revolution als die »erste Revolution des 21. Jahrhunderts.« Weil sie keine Partei hatte, weil sie keine Programmatik hatte, sondern sie war ein Protest, der Offenheit erzeugte – eine Art von Generalaussprache in der Gesellschaft, die nach 1990 nie wieder in dieser Intensität und Breite stattfand. Und siehe da: Corona bewirkt jetzt wieder eine solche Generaldebatte. Jonas Zipf: Genau. Und wir sagen jetzt gerade, das ist der entscheiden-

de Punkt, wir sagen: Eben nicht, gerade jetzt eben nicht. Thomas Oberender: Übrigens, vielleicht ein letzter Gedanke, der mir

beim Zuhören kommt: Auch Angst gehört dazu. Auch dass Leute jetzt

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Thomas Oberender und Jonas Zipf

klagen und mit dem Finger auf sich zeigen und anfangen zu schreien, weil sie Furcht haben. Alles erlaubt. Gehört alles dazu. Also es ist nicht falsch, wenn Menschen jetzt um Hilfe rufen und so weiter. Ja? Das ist nur ein Klang innerhalb dieses größeren Tableaus von Verlautbarungen. Ich fände es auch nicht gut, wenn wir sagen: Jetzt seid nicht so egoistisch. Es ist in Ordnung, wenn jetzt ein paar Leute egoistisch sind. Jonas Zipf: Das wäre auch keine gelingende Rolle, die wir für uns als Kulturakteure beschrieben … Thomas Oberender: Nein, ne? Wenigstens bei uns muss man Mitgefühl

finden, keine Angst vor der Angst, bei uns wird geweint und geblutet, alles, was draußen weggewischt und breitgetreten wird, dem geben wir Raum und Würde, nein, die müssen wir nicht erst geben, nur den Raum … Jonas Zipf: Wir müssen das eher aushalten, das Forum öffnen oder

bieten, wo das stattfinden darf. Ich beziehe das jetzt konkret auf unsere Situation hier in Jena. In der ja momentan viel Druck entsteht. Das ist auch für mich gerade versöhnlich und heilsam, das aus unserem Gespräch mitzunehmen, als Impuls in den weiteren Arbeitstag. Deswegen war das eine sehr schöne Zwischenstation mit Ihnen heute Nachmittag. Auch das gehört dazu … Thomas Oberender: Sie sind ja der Meister des Bogenbaues, des Bogen-

schlagens … Jonas Zipf: Ja ich finde jetzt einen Moment, wo ich sozusagen auf die

Stopp-Taste drücke. Nämlich genau … Das Gespräch fand am 20. April 2020 statt.

Thomas Oberender, geb. 1966 in Jena, Autor und Kurator, ist seit 2011 künstlerischer und geschäftsführender Direktor der Berliner Festspiele / Gropiusbau (siehe auch: https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/start.html). Er gründete mehrjährige Formate für Theater, Kunst und Literatur und gestaltet zeitbasierte Ausstellungen. Zuvor war er Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele und Co-Direktor des Schauspielhauses Zürich. Er promovierte 1999 über Botho Strauß. Er veröffentlichte Stücke, Kritiken und Essays über Künstler sowie politische und ästhetische Transformationsprozesse. Er arbeitete als Berater für staatliche Institutionen und Personen. 2016 startete das von ihm konzipierte Programm «Immersion», das u.a. Planetarien für die Arbeiten von Künstler*Innen des digitalen Zeitalters öffnet.

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Plakatmotiv – Bewegung fßr radikale Empathie

Franziska Doll: The world ist my home & My home ist he world

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

Kunst der Pandemie – eine Chance?

Von Sinuskurven, Kipppunkten und Zerreißproben.

Jonas Zipf: Servus, Herr Maaz. Bernhard Maaz: Servus.

Kurzes Schweigen. Wie kommen Sie auf »Servus«? Jonas Zipf: Ich habe in München

studiert. An der Everding 1 habe ich Musiktheater-Regie gelernt. Und meine Frau kommt aus München. Diese Stadt ist für mich eine echte Wahlheimat. Und außerhalb der Corona-Zeiten sind wir alle zwei, drei Monate dort. Von daher ist mir die Stadt gewohnt und vertraut. Bernhard Maaz Und ich freue mich, wenn man © Bayerische Staatsgemäldesammlungen Foto: Haydar Koynpinar ein Gespräch mit »Servus« beginnt und es mit »Pfiat Eana« oder »Pfiat Di« beendet. Ist eine Lebensart. Bernhard Maaz: So ist es. Ja, ich bin auch ganz gerne hier. Jonas Zipf: Sie kommen ja aber ursprünglich aus Jena? Bernhard Maaz: Ja, genau. Aber das sind Ursprünge, die durch Zufall so

gekommen sind. Meine Eltern stammen aus Siebenbürgen und dem, was man das Sudetenland nannte. Sie wurden vertrieben, kamen nach Thüringen in die damaligen Auffanglager und haben dann in Jena studiert und sich kennengelernt. Und so bin ich eigentlich ein Deutscher, der das gesamte deutsche Sprachgebiet ›im Blut‹ oder im Blick hat. Aber das Jena-Thüringische – den Slang – habe ich nie wirklich beherrscht. Jonas Zipf: Wie viel Zeit Ihres Lebens haben Sie denn letztlich hier ver-

bracht?

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Bernhard Maaz: 18 Jahre. Jonas Zipf: Und sind dann weggegangen zum Studium? Bernhard Maaz:. Exakt. Ein Jahr Weimar, dann fünf Jahre Studium in Leipzig. Dann 23 Jahre Vollzeitberliner mit Job in Berlin. Dann fünf Jahre Halbzeitberliner mit Job in Dresden. Und jetzt schon wieder fünf Jahre und ein paar Monate München, ausschließlich. Jonas Zipf: Beim Lesen Ihres Werdegangs musste ich an den Roman Verwirrnis von Christoph Hein denken. Kennen Sie den? Bernhard Maaz: Nein. Jonas Zipf: Es wird ja nun durchaus schon seit längerem darüber dis-

kutiert, ob es einen »großen« ostdeutschen Roman gibt, der die gesellschaftliche Geschichte der DDR reflektiert. Ich finde, das ist er. Verwirrnis hat mich wirklich begeistert. Und da kommen eben auch die Universitätsstädte Jena und Leipzig vor. So wie Sie macht der Protagonist den entscheidenden Schritt von Jena nach Leipzig, vom kleinen närrischen Universitätsdorf in die große Stadt. Im Vordergrund erzählt der Roman die Geschichte von zwei sich heftig liebenden Homosexuellen, die aus dem katholischen Eichsfeld stammen, und ihre Liebe in diesem kleinbürgerlichen Staat und seiner engstirnigen Gesellschaft verstecken müssen. Bernhard Maaz: Es gibt ja so manchen markanten Text über die DDR. Ich habe mal angefangen, Uwe Tellkamps Der Turm zu lesen, und das Buch nach zwei, drei Dutzend Seiten wegen geschraubter und gestelzter Sprache, unsäglicher und eitler Selbstdarstellung beiseitegeschoben. Ich bin vielleicht noch nicht alt genug, um wirklich nach den Wurzeln zu suchen. Zumal ich meine Wurzeln ja als Luftwurzeln beschreiben müsste, um mal ins Fach der Botanik zu greifen. Jonas Zipf: Ja, ich finde, dass viele autobiografische Beschäftigungen

der letzten Jahre sehr eitel sind. Nicht nur die von Tellkamp. Gerade deshalb sticht der Christoph-Hein-Roman so hervor: Der möchte gar nicht vordergründig die Gesellschaftsgeschichte erzählen und kommentieren. Das passiert eher so en passant, indem der Autor seine Figuren liebt und deren Geschichte erzählt. Er beherrscht einfach sein

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Corona-Gespräche

Handwerk, stürzt sich nicht selbstverliebt in die Stilistik. Das hat mich sehr beeindruckt. Bernhard Maaz: Zu Ihrer Beschreibung passt Marcel Beyers Kalten-

burg. Auch ein zupackender, ein unaufgeregter Roman über Dresden. Quasi das Anti-Dresden zu der Turm, viel tiefer geerdet, viel realistischer. Und doch schon lange vorbei. Beim Lesen solcher Bücher kommt es mir so vor, als ob die Distanz wächst. Die Notwendigkeit, die Gegenwart zu betrachten, wird langsam größer angesichts der monumentalen Themen unserer Zeit. Jonas Zipf: Also, ich sehe da schon Verbindungen, Bögen. Ich möchte

mit Ihnen über Gemeinschaft reden. Unsere Zeit ist ja eine Zeit, die uns, wie ich finde, die Frage abverlangt, ob wir diese Gesellschaft überhaupt noch als Gemeinschaft erleben. Solidarität ist nicht zufälligerweise das Wort der letzten Krise. Im Kern geht es darum, ob wir als Gemeinschaft bestehen oder ob wir in Einzelinteressen zerfallen, in eine Kakofonie von einzelnen Partikular-Lobbies. Und ich glaube, dass die Zeit vor und rund um 1989 deswegen nochmal viel näher gerückt ist: Weil es eine gewisse Sehnsucht nach Orten oder Momenten gibt, in denen Gesellschaft stattfindet. Dahinter steckt letztlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Staat. Damals wie heute stellt sich die Frage: Ist der Staat in der Lage, eine gesellschaftliche Gemeinschaft abzubilden? Ein bisschen so wie 2015. »Wir schaffen das«, hat die Kanzlerin gesagt. Es gab einen kurzen Zeitraum, in dem alle zusammengerückt sind und die Ärmel hochgekrempelt und versucht haben, die Krise gemeinsam zu bewältigen. Und dann gab es jahrelange Auseinandersetzungen darüber, wer die entstandenen Rechnungen zahlt, die finanziellen, aber auch die politischen, juristischen, moralischen. Und so ähnlich verläuft die aktuelle Krise auch. Am Anfang gab es wieder diesen Moment; alle rückten zusammen. Und jetzt zerfällt und zerfasert das zunehmend. Wir befinden uns mitten in einem Lehrstück darüber, ob wir es schaffen als Gemeinschaft, als Gesellschaft zu bestehen oder ob wir wieder zerfallen in alle möglichen einzelnen Stimmen. Bernhard Maaz: 2015 hat man gehört: »Wir schaffen das«. Danach, ein Jahr später hätte man sagen müssen: »Wir hätten das gerne geschafft«. Und nochmal drei Jahre später, also heute, kann man sagen: »Oh, wir haben es ja doch geschafft!« Wir haben es geschafft. Noch nicht restlos, aber es bleibt in der Gesellschaft bei jedem Thema, was wir lösen, auch

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

immer ein ungelöster Rest. Es gibt immer Gewinner und Verlierer, und es gibt immer zwischen diesen beiden Polen unendlich viele Nuancen. Jetzt will ich auf die Gegenwart schauen, auf die Frage der Solidarität. Die ganze Gesellschaft ist ja jüngst erst einmal in die Fragmentierung geschleudert worden. Jeder erlebt das als Einzelner und für sich. Die Solidarität wurde jetzt ab März 2020 etwa in den Krankenhäusern gelebt, wo wirklich brutale Fälle von Corona aufgetreten sind und unerbittliche Folgen auch für die Belegschaft zu sehen waren. Wenn ich andererseits unsere Kultureinrichtungen sehe, dann muss ich gestehen: Der Einschlag der Schließung kam nicht so unvorhergesehen, wie man vielleicht im Nachhinein denkt. Es hatte sich ja schon im Februar gezeigt, dass die Epidemie sich in eine Pandemie verwandelt; es hatte sich da schon gezeigt, dass die Besucherzahlen signifikant zurückgingen, dass sich das (Reise-)Verhalten der Menschen änderte, dass Ängste aufkeimten, dass man vermeidbare Reisen nicht mehr antreten wollte – und all das. Und die Solidarität setzte eigentlich meiner Erfahrung zufolge erst mit einer gewissen Verzögerung nach dem Shutdown ein – erst, als wir die Fragestellung ändern konnten von »Was passiert jetzt mit uns?« zu »Was muss passieren, damit wir wieder zu einer Gemeinschaft, einer Solidargemeinschaft werden?« Für mich war das eine Sinuskurve, deren Nullpunkt lange hinter dem Shutdown lag, und die sich nun danach aufwärtsbewegt. Es entstand ein Blick nach vorne. Wir fragten uns, wie wir die Museen wieder öffnen können, wie das insgesamt mit der Gesellschaft um uns herum weitergeht, was zu tun und wie zu handeln ist. Gleichzeitig stiegen die Fallzahlen noch, die Gefahr wurde größer – eine Gefahr, die im Grunde durch den Staat gebannt worden ist – und durch die überraschend starke und wunderbare Solidarität der Menschen. Die Gemeinschaft spielte, glaube ich, eine große Rolle: als Umsetzungsinstrumentarium dessen, was der Staat beschlossen hat, damals noch einheitlich gesamtdeutsch, nunmehr längst fragmentiert, über alle Bundesländer hinweg diversifiziert. Jonas Zipf: Ich habe das als einen Kipppunkt erlebt. Bis vor vier Wochen

ungefähr gab es diese merkwürdige Einigkeit, dass die Ministerpräsidenten, deren Souveränität es ja ist, Infektionsschutz zu gewährleisten, sich abstimmen mit der Bundesebene. Diese Telefonkonferenzen hatten ja schon fast etwas von päpstlicher Synode. Alle haben darauf hingefiebert und spekuliert, was da jeweils rauskommt. Und tatsächlich sind ja relativ wenig restriktive Maßnahmen verabredet worden. Wir hatten zu keinem Zeitpunkt eine Ausgehsperre wie in Italien oder Österreich. Das meiste waren Gebote, keine Verbote. Und viele Leute ha-

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Corona-Gespräche

ben sich vernünftig gezeigt, sich daran gehalten, und es ist relativ einheitlich gelaufen. Und dann gab es diesen Kipp-Moment. Die Vorboten konnte man, glaube ich, schon an dem Partikularverhalten der beiden Ministerpräsidenten in Bayern und in Nordrhein-Westfalen mit ihrem verdeckt geführten Machtkampf in Antizipation der Kanzlerfrage auf sich zukommen sehen. Plötzlich ist diese Einmütigkeit zwischen den Landesfürsten zerfallen. Und nochmal zwei Wochen später hatten wir diese Situation, dass von oben nach unten durchdelegiert wird. Die meisten Länder haben ja praktisch diese Nichtabstimmung – das, was dann hastig »Regionalisierung« getauft und als Vorteil des Föderalismus beschworen wurde – in einen Wettbewerb der Lockerungen überführt und die Verantwortung der Regelungen vor Ort einfach 1:1 auf die Kommunen weitergegeben. So, dass wir als Kommune alle Lockerungen auf einmal bewältigen mussten und unser Gesundheitsamt eigentlich nur noch die weiße Fahne raushängen konnte. Seitdem macht jeder seine Hygienemaßnahmen im Prinzip auf eigene Faust. Man könnte auch sagen, man sei vom Fahren auf Sicht – davon war ja wochenlang die Rede – zum Blindflug übergegangen. Die vernünftige Lockerung in abgestimmter Form, so war es ja mal ursprünglich vorgedacht, wäre gewesen, im Laufe des Mai die Kitas und die Schulen, einzelne Wirtschaftszweige und dann peu à peu weitere Bereiche des öffentlichen Lebens wieder hochzufahren. Und jetzt passiert das praktisch alles auf einmal und in einem Wildwuchs, in einem Wettbewerb, einem Überbietungswettbewerb, der auch für die Bevölkerung irgendwann nicht mehr verständlich ist. Vor allem nicht vor dem Hintergrund der Geschwindigkeit, mit der sie aufgefordert wurde, in den Lockdown reinzugehen und als Gemeinschaft solidarisch zu handeln. Jetzt wird die Pandemie quasi für beendet erklärt, unter anderem von unserem Ministerpräsidenten in Thüringen am letzten Wochenende. Das ist kaum noch nachvollziehbar. Und ich glaube, diese Verwirrung, oder um vielleicht bei dem Romantitel von Christoph Hein zu bleiben, diese »Verwirrnis«, sorgt jetzt für das Zerfallen in einzelne Interessensgruppen. Das Verrückte dabei: Die, die jetzt am emotionalsten reagieren, bei denen die Tonalität am meisten verrutscht, die bei uns – also bei der Stadtverwaltung – anrufen und sich bitterböse beschweren, das sind oftmals diejenigen, die eigentlich davon am wenigsten betroffen sind. Wir leben ja in einer Zeit voller Paradoxien. Die, die ganz intensiv damit beschäftigt und davon betroffen sind, deren Existenz am Rande steht, die machen auf mich überwiegend immer noch den vernünftigeren Eindruck, vielleicht weil sie sich in der Tiefe mit dem Thema beschäftigen und es wahrschein-

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

lich daher auch ernster nehmen. Für die anderen ist es weit weg, die wollen einfach das normale Leben zurück. Sehen Sie das auch so? Bernhard Maaz: Ich glaube, dass Sie da etwas ganz Wichtiges beschrei-

ben. Diejenigen, die betroffen sind, setzen sich damit in der Tat viel stärker auseinander und behalten den Blick der Verantwortlichkeit auf das Thema. Diejenigen, die nicht betroffen sind, haben das Gefühl, dass sie nichts zu verantworten hätten – und deswegen haben sie das Gefühl, etwas fordern zu dürfen. Und das ist Wasser auf die Mühlen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die bereits über Jahrzehnte hinweg läuft: Immer mehr Mitmenschen meinen, alle ihre Forderungen müssten gestellt und auch rasch erfüllt werden. Insbesondere gegenüber dem Staat. Für die Generation, die jetzt 20, 30 Jahre alt ist, gibt es keinerlei Krisenerfahrung. Für die Generationen, die etwas älter sind, gibt es wenigstens die Erfahrung einer großen Krise, die Erfahrung der zwei niedergebrannten Türme von New York, 9/11. Damals hat man sich geschreckt, geschüttelt und festgestellt, dass die Welt nicht so fest und stabil ist, wie vorher angenommen. Aber die noch jüngere Generation, die jetzt auch sorglos-hedonistisch auf den Wiesen sitzt und so tut, als wäre Corona schon ausgestanden, die müssen wir, glaube ich, mit der Bewusstmachung erreichen, dass auch sie in eine gesellschaftliche Verantwortlichkeit werden gehen müssen. Ich glaube, dass Worte wie »Kipppunkt« oder »Sinuskurve«, die wir im Gespräch schon gebrauchten, das Prozessuale all dieser Vorgänge indizieren. Ich bin fest überzeugt, dass die Partikularinteressen – Stichwort dazu: diverse Ministerpräsidenten treffen unterschiedliche Entscheidungen – auch mit der verbreiteten Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft zu tun haben. Und dadurch kommen jetzt diejenigen wieder leichter nach vorn, die einfach schlicht ›dagegen‹ sind. Wogegen? Dagegen. Gegen alles, irgendwie: Gegen die Obrigkeit, gegen Beschlüsse, gegen Restriktionen, ja zuweilen gegen alle Normierungen. Aber genau darin erweist sich dann auch wieder das gleichzeitige Verantwortungs- und Inklusionspotential einer Gesellschaft: Einerseits die Notwendigkeit, Restriktionen zu reflektieren, zu kommunizieren und im Zweifelsfalle diesen Exzentrikern trotzdem den nötigen Raum zu geben, sich zu artikulieren – ihnen und allen anderen also Pro und Kontra vorzurechnen. Diesen Dialog halte ich für sehr wichtig. Ich hatte zwischendurch einmal einen Moment, an dem ich dachte, wir seien ja gar nicht in der Krise, wir sind ja nur in der Generalprobe. Was ich damit sagen möchte: Dass es noch viel größere Krisen geben kann, und die sind nicht herbeiphantasiert. Allein die Vorstellung,

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Corona-Gespräche

dass Ebola global grassieren würde, ist so abgründig und so bedrohlich, dass wir von da aus gesehen die Corona-Krise als eine Generalprobe verstehen sollten. Corona ist eine unglaubliche Belastungsprobe und Herausforderung. Aber solche Entwicklungen haben der Menschheit auch jeweils neue Impulse gegeben. Jonas Zipf: Wir sprechen von einer Art Bewährungs-Probe für unsere

Gemeinschaft. Daran möchte ich eine Beobachtung anschließen, die mich in den letzten Wochen stark umtreibt. Die AfD ist ja mittlerweile sehr geschickt darin, mit viel juristischer Expertise alle zu Gebote stehenden rechtsstaatlichen Mittel auszuschöpfen. Wahnwitzigerweise haben sie es im letzten Jahr fast geschafft, die gesetzlich verankerte Steuerfreiheit gemeinnütziger Organisationen gerichtlich zu kippen. Ich beobachte und erlebe, dass unsere Verfassung an dieser Stelle verwundbar ist: Aufgrund der historischen deutschen Erfahrung betont die AfD gegenüber dem Gemeingut die Individualrechte in einem Maß, die diese in Konflikt zur Gemeinschaft bringen können. Freiheit ist sozusagen wichtiger als Brüderlichkeit. In Frankreich oder in Italien existiert dagegen ein gesellschaftliches Grundverständnis, ein Gesellschaftsvertrag, der es viel leichter erlaubt, dass zum Wohle der Gemeinschaft und gegen das Recht des Einzelnen harte Entscheidungen getroffen und auch rechtsstaatlich nicht so leicht gekippt werden können. Bei uns stehen das Individuum, die Freiheitsrechte des Individuums, so hoch in der politischen Kultur, in der gesellschaftlichen Debatte, auch eben in der juristischen Auslegung, dass ein Bundestagspräsident diese Grundrechte gegeneinander in Stellung bringen kann, dass es einer AfD-Lobby gelingt, mit dem Argument der Religionsfreiheit Restriktionen zu lockern und zu kippen. In Niedersachsen mussten beispielsweise auf diese Weise erste Gottesdienste wieder stattfinden. Ein ethno-pluralistischer Treppenwitz übrigens, dass es sich dabei ausgerechnet um islamische Freitagsgebete handelte. Von diesen »Exzentrikern«, wie Sie sie genannt haben, wird dann vor allem mit Religionsfreiheit, Berufs-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit argumentiert. Jetzt werden polemisch, politisch, populistisch individuelle Grundrechte in Stellung gebracht gegen das, was wir als Gemeinschaft beschreiben. Es war ja eine sehr abstrakte Herausforderung, die am Anfang aber offensichtlich von der überwiegenden Mehrheit dieser Gemeinschaft geteilt wurde, die auch gut erklärt wurde, wie ich finde: Wir müssen jetzt – so hieß es immer – dafür sorgen, dass die medizinischen Kapazitäten nicht überlastet werden …

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

Bernhard Maaz: … nicht kollabieren … Jonas Zipf: … und das ist gelungen bis hierhin. Das ist ja ein großer

Erfolg. Bernhard Maaz: Ja, wahrlich. Jonas Zipf: Jetzt wundern sich andere Länder, die viel härtere Restrik-

tionen und viel härtere subjektive Erfahrungen mit der Krise erleben mussten, über uns – darüber, was da auf der Straße und im Internet bei uns los ist. Und Sie haben recht: Letztlich ist das ein Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens, einer Entwicklung, die schon länger anhält; letztlich könnte man von einem besorgniserregenden grundsätzlichen Misstrauen in den Staat sprechen. Vor allem aber fehlt eben ein Gefühl dafür, sich der Gemeinschaft unterzuordnen. Das bedeutet Solidarität im Kern, ja: Ich selbst bin mir nicht der Nächste, sondern ich muss mich als Teil einer Gruppe, als Teil der Gemeinschaft verstehen. Nur so können wir bestehen. Das ist der Stresstest, wenn wir über die Krise reden. Für uns als Gesellschaft in Deutschland, aber auch als europäische Gemeinschaft. Plötzlich werden sogar CDU-Abgeordnete oder FDP-Abgeordnete gehört, die sagen: Hätten wir doch mal diese europäische Union nicht nur auf den Prinzipien von wirtschafts- und finanzpolitischer Vernunft gebaut, sondern auch als Wertegemeinschaft entwickelt. In dieser Phase liegt eine ganz, ganz große Chance, als Gemeinschaft nach vorne zu kommen. Aber sie birgt auch eine riesige Gefahr, nämlich die, zu zerfallen. Und Sie sagen vollkommen zurecht: Das ist gewissermaßen wie eine Generalprobe. Auch für andere noch anstehende Krisen, aber auch innerhalb dieser Krise. Wir wissen nicht, ob eine zweite oder eine dritte Welle kommt. Und wenn wir von einem Kipppunkt sprechen, jetzt schon, ich möchte es mal so sagen, dann scheint unser Vermögen im doppelten Wortsinne – also Vermögen als volkswirtschaftlich harte Münze, aber auch unser Vermögen an gemeinschaftliche geteilten Werten – einen nicht ausreichend großen Vorrat darzustellen, um diesen Stresstest zu bestehen. Das ist zumindest meine zugegebenermaßen pessimistische Sorge. Bernhard Maaz: Vielleicht schlagen wir aus diesem Verdruss noch einen Funken, denn auch aus der Krise muss man einen Funken schlagen. Wer hat das doch gesagt: »Never waste a crisis!«? Wir müssen wissen, dass darin die Chance liegt. Wir müssen diskutieren, debattieren in der Gesellschaft! Es kann noch viel schlimmer kommen. Und wenn es

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Corona-Gespräche

viel schlimmer käme, wenn etwa eine zweite Welle kommt, dann wird man nicht erneut Billionen an Geldern ausschütten können. Dann hat das noch ganz andere Folgen. Im Umkehrschluss kann man im Grunde nur Aufklärung leisten und unterstreichen: Was hier geschafft wird, ist monetär eine Hypothek auf Jahre oder sogar Jahrzehnte, aber auch ein Erkenntnisgewinn, der hoffentlich ebenfalls Jahrzehnte hält. Nämlich: Man kann es mit Umsicht manövrieren, das Schiff. Das Schiff Europa ist nicht untergegangen; das Schiff Deutschland ist nicht untergegangen. Aber es hat viele, viele zehntausende Tote gegeben durch ein unvorhergesehenes, theoretisch unvorhergesehenes, Phänomen, nämlich dieses Virus. Warum sage ich »theoretisch unvorhergesehen«? Weil es praktisch vorhergesehen worden war. Es gibt ein Bundestagspapier von Anfang 2013, basierend auf Krisenmanagement-Betrachtungen des Bundestages aus dem Jahr 2012. Dort heißt es, ein Virus mit dem fingierten Namen Nova SARS könne auftauchen. Man hat das Szenario der Folgen für die Gesellschaft, die Gesundheit, die Kultur etc. dort aufwendig durchgespielt, aber die Gesellschaft hat es nicht zur Kenntnis genommen. Es gab also bereits weithin kaum wahrgenommene Reflexionen rein naturwissenschaftlicher und gesellschaftlicher Art, wie ein gesamtgesellschaftliches Krisenmanagement im Fall des Falles aussehen müsste. Dieser Bericht zur Risikoanalyse blieb ein theoretisches Papier – ohne Umsetzung in die Praxis, jedenfalls soweit ich erkenne. Nun kam es etwas anders. Wir mussten und müssen die tagtäglichen Erwägungen und Vorschriften umgehend in die Praxis umsetzen. Das finde ich deswegen so spannend, weil eine Gesellschaft nie berechenbar ist. Wir haben ja jetzt schon mehrmals diesen Begriff der Wertegemeinschaft umkreist. Der ist eben nicht statisch, sondern immer dynamisch. Zunächst hieß es ja, wir sollen soziale Distanz halten. Und allein in der Formel, die da gefunden worden war, lag ja schon der Fehler: Wir sollten soziale Nähe suchen, bei gleichzeitiger räumlicher Distanz. Sprache ist immer verräterisch. Diese räumliche Distanz haben wir jetzt. Die leben wir jetzt, die meisten von uns. Bis auf diejenigen, die meinen, sie wollten es drauf anlegen. Die räumliche Distanz, die Umsicht, den Schutz, ja sogar die Fürsorge für die anderen Menschen haben wir neu eingeübt. Und nicht nur, weil wir meinen, Vorgaben oder Gesetze erfüllen zu müssen, sondern auch, weil wir meinen, für die Menschen da sein zu müssen. Und ich glaube, dass ein großer Teil der Gesellschaft auch heute immer noch diese Form der empathischen, fürsorglichen Rücksichtnahme täglich und stündlich lebt. Ich erlebe es jedenfalls so.

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

Es gibt daneben natürlich einen kleineren Teil der Gesellschaft, den würde ich auch gar nicht politischen Lagern zuordnen, der sagt, das Virus sei ausgedacht oder zumindest egal, die Grundrechte dürfen nicht eingeschränkt werden etc. Es gibt aber neben dem Grundrecht des Individuums auch die Verantwortlichkeit für die Gesellschaft. Diesen Diskurs hat uns die Corona-Pandemie aufgezwungen. Und darin sehe ich auch einen gewissen Benefit dieser Situation, die man sich nie gewünscht hätte. Wir müssen den Diskurs eben über die Grundrechte des Einzelnen und über die der Gesellschaft als Gemeinschaft führen. Damit sind wir dann wieder bei den Themen, die in der bildenden Kunst verhandelt werden oder auch im Theater: Über die Werte und Wertegemeinschaften. Wieso ist das überhaupt alles so dringlich, dass wir all dies diskutieren? Darauf gebe ich mir eine Antwort, die darin besteht, dass unsere Gesellschaft die christlichen, also religiösen – ich fasse das damit jetzt noch weiter – Werte verloren hat. Das sind sicherlich Spätfolgen der Aufklärung, des Rationalismus, des Skeptizismus. Wir haben sozusagen den Wertekanon der christlichen Tugenden nicht mehr normativ vor Augen: Caritas etwa, die Nächstenliebe. Wir stehen jetzt an einem Punkt, an dem wir uns diese Werte der Gesellschaft dringend wieder bewusst machen müssen. Und zwar als letztendlich nicht nur christliche oder nur jüdische Werte, sondern als menschheitliche Ethik, als Gesellschaftsvertrag auf anderem, auf philosophischem Niveau, als unverhandelbares Gut. Jonas Zipf: Tatsächlich muss diese Wertegemeinschaft doch aber ir-

gendwo, irgendwie erlebt werden. Und da kommen wir wahrscheinlich jetzt ins Spiel unseres ureigenen Terrains der Kultur – Sie haben es gerade schon angedeutet – indem wir die Diskurse führen, die diese Werte verhandeln oder auch zeigen, wo die Gefahren und Begrenzungen liegen. Erstmal in einem ganz prosaischen und ganz einfachen Sinn, indem sich anhand unserer Angebote Menschen überhaupt versammeln und als Gemeinschaft erleben. Wo tun sie das noch? Beim Sport, bei der Kultur, vielleicht bei der Religion, im Freizeitverhalten im weitesten Sinne. Und darin besteht schon wieder ein Paradox – Sie haben das ja auch gerade schön beschrieben: Svenja Flaßpöhler, die Philosophin, beschrieb in einem frühen Stadium der Pandemie, wie wir uns jetzt näherkommen, indem wir auf Distanz gehen. Das ist ja kontraintuitiv. Und berührt einen ganz schmerzhaften Punkt der künstlerischen oder kulturellen Arbeit. Als wir mit der Kurzarbeit begonnen haben, wurde diese probate Maßnahme von vielen Mitarbeitern sofort als demotivierender Zungenschlag empfunden, ganz schlicht und er-

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Corona-Gespräche

greifend, da sie ihre Arbeit mit Leidenschaft versehen. Jetzt werden Lockerungen gefordert, politisch wird teilweise so getan, als ob das offene Leben prä Corona einfach wieder zurückkommen könnte. Und es entstehen entsprechende Erwartungshaltungen seitens der Bevölkerung. In Wirklichkeit beschäftigen wir uns aber mit Veranstaltungen in Sälen, die für 700 Leute ausgelegt sind … Bernhard Maaz: … in denen aber momentan vielleicht noch 100 Leute

sitzen … Jonas Zipf: … mit eineinhalb Meter Abstand und Mundschutz. Vielleicht muss das Licht an bleiben, es darf nicht gedimmt werden. Ganz sicher kann die Garderobe nicht mehr abgegeben, sondern muss auf den Schoß gelegt werden. Es gibt keine Bewirtschaftung, keine Gastro. Man wird lange am Einlass und Auslass warten. Namen werden aufgeschrieben und so weiter. Das entspricht nicht derselben Atmosphäre, nicht demselben offenen und freien gesellschaftlichen Leben, was sich sonst mit Kultur verband. Kein Wunder, dass die Zahlen bei den Einrichtungen, die jetzt schon geöffnet haben – bei uns waren es auch zuerst die Museen – alles andere als eine V-Kurve zeigen. Alles andere als den von uns Kulturschaffenden gehegten Wunsch, dass die Leute nach der Zeit der Entbehrung wieder strömen. Da ist die Vorsicht, die Sie beschreiben, die mich auch immer noch hoffnungsvoll sein lässt, dass es weiterhin solidarisch zugeht. Aber da ist eben auch ein absolutes Loch, eine Leerstelle und eine Funktion, die vor Corona mit Kultur erfüllt war. Deswegen hat mich auch Ihre Betrachtung von Max Liebermanns Biergarten auf »Spiegel Online« so beeindruckt.2

Da steckt ein tiefer Sehnsuchtspunkt drin. Der hat sowohl zu tun mit diesem gesellschaftlichen Leben im Biergarten, als auch mit der künstlerischen Darstellung, die ja auch wieder auf ihre Art und Weise Gemeinschaft stiftet. Weil ich als Betrachter daran teilhabe, wie die dort im Biergarten zusammen sind, aber sich auch eine parallele Gemeinschaft im Museum versammeln kann. Aber ich persönlich bin mir unsicher, welche Rolle wir als Kulturakteure jetzt spielen sollten: Sollten wir eher die kollektive Sehnsucht mit fahlem Ersatz nähren oder uns eher zurückhalten und darauf warten, dass die Krise bewältigt wird, dabei aber unser Verschwinden riskieren?! Sollte man eher sagen, dass wir unter diesen Bedingungen nicht spielen – so, wie Helge Schneider, der sagt: »Ich spiele nicht vor Autos.«? Oder eher Präsenz und Kreativität beweisen und doch spielen? Eine Woche nach Helges Statement

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

habe ich Heinz Rudolf Kunze gesehen, wie er in Erfurt vor Autos gespielt hat. Ein fast dystopisches Bild, das sich da im Kopf einbrennt. Bernhard Maaz: Ja, aber wie gut ist das denn?! Es ist gut, dass der eine

sagt: Nein. Und der andere sagt: Ja. Das ist eigentlich das Beste, was passieren kann! Da sind wir mitten in den Diskurs gestürzt. Weil beide gut begründbare Haltungen zeigen … Entschuldigung, ich bin jetzt mitten in den Satz reingefallen. Jonas Zipf: Nein. Wunderbar … Bernhard Maaz: Ich finde es total spannend und richtig. Und wir im

Museum haben gesagt: Wir brauchen drei Wochen Vorlauf. Dann durften, sollten, mussten wir aber sogar mit nur fünf Arbeitstagen Vorlauf wieder öffnen. Am Ende waren es sechs Tage … Und es war richtig, als Entscheidung, wenngleich hart in der Praxis. Das hat mit der Belegschaft und auch den Fremdfirmen ›etwas gemacht‹: Wir sind plötzlich und endlich wieder auf ein Ziel zugegangen, und das hat Energie freigesetzt. Jetzt springe ich nochmal zu Liebermann. Jonas Zipf: Gerne. Bernhard Maaz: Ich war gestern im Biergarten am Wörthsee, fast 40

Kilometer vor den Toren der Stadt. Man ging dort mit einem Mundschutz hinein und setzte sich an einen Tisch und nahm den Mundschutz wieder ab: der Mundschutz als Placebo? Er ist eine Umsichtsgeste. Diese Geste eingeübt zu haben, ist richtig. Obwohl wir wissen, dass der Mundschutz uns nicht retten wird. Liebermanns Biergarten bietet ein ähnliches Spiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Erwartung und Erfüllung. Was der Maler zeigt: Im Biergarten treffen sich alle. Da sind auch kleine Familien, fremde Leute, Kindermädchen. Es wird die ganze Gesellschaft in ihrer Heterogenität abgebildet; man sieht das. Es gibt Blickkontakte, Aktionskontakte, Kinderspiel, Distanzierung, gemeinsames Musizieren, die Begrüßungsgeste: Da wird der Hut gezogen. Man sieht, die Gesellschaft besteht aus vielen verschiedenen Einzelteilen. Und deswegen komme ich jetzt nochmal zurück auf die beiden Reaktionsweisen, »Ich spiele nicht vor Autos« oder »Ich mache es halt dann doch«. Die Kunst und die Künstler und Künstlerinnen sind frei. Das bietet die große Chance, eigene Entscheidungen zu treffen, mit Sinn – oder sinnfrei. Dass das mitunter mit Hygienekonzepten kollidiert, ist eine andere Geschichte. Aber wir sind frei.

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Corona-Gespräche

Wir können sagen: »Ich mache keine Führungen, solange ich einen Mundschutz tragen muss.« Und ein anderer kann sagen: »Ich mache Führungen, obwohl ich durch den Mundschutz zwar beim Sprechen behindert bin, aber weil ich meine soziale Nähe statt der sozialen Distanz leben kann.« Wir haben uns dafür entschieden, wir machen das. Und wir haben auch mit den Förderkreisen der Museen schon früh die Personen ins Auge genommen, die als sogenannte »feste Freie« – übrigens noch ein Paradox – für uns arbeiten. Bei der Wiederöffnung von Museen ging es neben anderem auch darum, denjenigen die Chance zu geben, wieder einzusteigen, die die Vermittlungsarbeit leisten. Die aktuelle Herausforderung ist es doch gerade, alle unterschiedlichsten Formen der Verantwortung im Auge zu behalten: Unsere Verantwortung für den Infektionsschutz und für unser Publikum, aber auch für unsere Mitarbeiter, feste wie freie. Jonas Zipf: Also, ich bringe das jetzt nochmal zusammen mit dem Bild. Da wird eine Gesellschaft gezeigt mit unterschiedlichen Gruppen. Das ist schließlich eine Frage der Vielfalt. So verstehe ich auch den Hinweis darauf, dass wir frei sind und dass der Diskurs entsprechend offen und dialogisch geführt werden kann. Vielleicht müssten wir daraus aber auch den Schluss ziehen, die Vielfalt, die sich bei uns durch unsere Angebote versammelt, den Diskurs, der bei uns, auf unseren Bühnen, in unseren Häusern geführt werden kann, jetzt besonders offensiv stattfinden zu lassen. Nicht einfach die Frage beantworten mit »Ja, ich spiele« oder »Nein, ich spiele nicht«. Der eine spielt, damit die Veranstaltungswirtschaft – übrigens fast vergleichbar mit den Spielbetriebs-GmbHs der Fußball-Bundesligisten – wirtschaftlich die Zeit übersteht, damit überhaupt noch Umsätze fließen. Der andere kann es sich leisten, hat Rücklagen, so wie Helge Schneider, und sagt: »Ich spiele nicht mehr, und wenn es das letzte Mal gewesen ist, dass ich für euch gespielt habe.« Das ist dann aber gar nicht der erhebliche Punkt. Sondern erheblich ist und bleibt, das haben Sie jetzt überzeugend stark gemacht, der Punkt der Freiheit der Kunst und der Freiheit des Diskurses. Dass diese Positionen gegeneinandergestellt werden können und dass wir die Gemeinschaft dadurch erlebbar machen, dass dort unterschiedliche Positionen aufeinanderprallen. Das würde bedeuten, dass man die Häuser genau für diese Diskussion jetzt auch öffnen muss. Dass man quasi dort Gruppen zusammenbringen muss, die sonst nicht zusammenkommen, und den Dialog durch die Krise hindurch weiter führt oder gar verstärkt.

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

Bernhard Maaz: Ja. Also … ich gebe mich dabei nicht der Illusion hin,

dass wir die gesamte Gesellschaft erreichen werden. Die erreichen wir … Jonas Zipf: … auf gar keinen Fall … Bernhard Maaz: … auf gar keinen Fall, ja. Aber ich habe diese Erinnerung: Wir alle haben mitbekommen, wie Igor Levit damit begann, jeden Abend im Netz zu spielen. Im zweiten Schritt wurde das von Bundespräsident Steinmeier gewürdigt. Er hat ihn ins Schloss Bellevue eingeladen, um dort zu spielen. Das haben wir alle mit größtem Respekt wahrgenommen, weil da ein Junktim entstanden ist, das wir in der Gesellschaft leider oft vermissen: Nämlich dass ein Politiker nicht nur im Wahlkampf irgendwas für die Kultur sagt, sondern im regulären Leben etwas gibt, aktiv, sofort sichtbar. Denn letztendlich ist auch der Bundespräsident Bürger dieser Welt, und er hat verstanden und gezeigt, da gab es einen Künstler, der sich ganz stark geöffnet und nicht auf Profit geschaut hat, sondern der das Lebensmittel Musik verteilt, unter das Volk bringt. Und Bundespräsident Steinmeier hat das durch seine Einladung gewürdigt. Denn so eine Einladung ist eine riesige Auszeichnung. Was wir gelernt haben sollten und was vielleicht im Auge bleiben muss, ist, dass die Verantwortlichkeit für die Kultur nicht nur bei der Kultur liegt, sondern eben natürlich auch im politischen Apparat. Und damit meine ich weitaus mehr als nur ein Ministerium, sondern ich meine den Souverän, das Parlament. Ich meine, dass diejenigen, die über die Verteilung von Mitteln auch in Zukunft reden und entscheiden dürfen und sollen und müssen, dass die erreicht werden müssten von dem, was die Kultur kann. Ich erinnere mich an die Lektüre eines wirklich eindrucksvollen Buches: Das Hohe Haus. Jonas Zipf: Sie meinen das Buch von Roger Willemsen, ja? Bernhard Maaz: Genau. Auf Hunderten Seiten wird vom Bundestag

berichtet. Und Kultur kommt dort nur ein einziges Mal und dann auch noch im rein wirtschaftlichen Kontext als Standortfaktor vor. Nun kann man sagen, Kultur ist Ländersache. Nein, Kultur ist Gesellschaftssache. Worum es mir geht, das ist, dass der Entscheidungsträger, die Länderparlamente und so weiter, sich dessen vielleicht noch stärker bewusst sein müssen, welche großartige Chance sie haben, die Kultur finanzierend und stärkend, die Gesellschaft zu gestalten … – … nicht nur mit Autobahnbau oder mit Militärausgaben, alles notwendig,

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Corona-Gespräche

keine Frage –, sondern auch im Blick zu behalten, dass dieses »Grundnahrungsmittel Kultur« zur Gesellschaft dazugehört! Es gibt den Begriff der Systemrelevanz. Ich habe gerade gestern Abend einen ganz kleinen Text dazu zu schreiben gehabt, für eine befreundete Kollegin und ihr Projekt. Ich habe dort den Zusammenhang hergestellt zwischen Systemrelevanz und Sozialrelevanz. Ich glaube, dass das Museum eine Sozialrelevanz hat, dass es besonders wichtig sein wird, nicht für das »System« (das einfach »funktionieren« soll), sondern für das Sozium, für den Menschen und für die Gesellschaft. Und das ist die Aufgabe, die uns aus der Krise heraus unversehens neu und dringlicher gestellt worden sind. Jonas Zipf: Jetzt muss ich eine Herausforderung beschreiben. Selbst-

verständlich bin ich als Kulturverantwortlicher bei Ihnen und finde in Ihrer Beschreibung eine schöne Übersetzung dieser sonst sehr selbstreferenziellen Diskussion, ob wir als Kulturschaffende systemrelevant sind oder nicht. Denn sozial-relevant sind wir auf jeden Fall. Über Gemeinschaft reden wir ja in diesem Gespräch die ganze Zeit. Jetzt will ich aber die Herausforderung beschreiben: Ich bin mir einig mit Ihnen, dass wir bei weitem nicht alle erreichen, möchte aber betonen, dass es unser Anspruch sein muss, möglichst viele zu erreichen. Bernhard Maaz: Ja. Jonas Zipf: Der Ehrlichkeit halber gilt es doch, ein Spannungsfeld

zu beschreiben: Zwischen künstlerischen Gütern, die sich einerseits schon seit vielen Jahrzehnten in einem Wettstreit der Avantgarde-Entwicklung befinden, andererseits aber mit ihrer Entwicklung, der ihr innewohnenden Dynamik und Eigenlogik, nicht immer kompatibel und kommensurabel für die Menschen »da draußen« sind. Und das lässt sich nur sehr bedingt vermitteln und übersetzen mit pädagogischen, didaktischen Formaten. Denn das Tempo der Entwicklung ist einfach um viele Umdrehungen schneller, als es die Entwicklung von Hör- und Sehgewohnheiten sein kann. Und da stecken wir natürlich in einem Zwiestreit, da wir im Sinne der politischen Rechtfertigung, von der Sie jetzt gesprochen haben – und im Übrigen, nur nebenbei gesprochen, ist es natürlich ein zentrales Problem, das jetzt auch schmerzlich sichtbar wird, dass der Bund keine kulturpolitische Kompetenz hat! – nicht nur die soziale Relevanz beweisen, sondern immer auch die Kunst aus sich selbst heraus argumentieren lassen müssen. Darin besteht auch, wie ich finde, eine der Formen von unserer Verantwortung als Kul-

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

turverantwortliche: Die Verteidigung der Kunst, die auch sich selbst genug sein darf und eine eigene Wertigkeit besitzt aus der Tradition ihrer jeweiligen Sparten und Genres heraus. Das ist aber ein Punkt, der politisch viel schwerer durchzusetzen ist, weil man in ein derart polemisches Procedere einsteigt. Am Ende des Tages bekommt man vorgeworfen, dass man für kein Publikum oder nur noch für ein ganz kleines Publikum spielt. Und dann werden einzelne Kunstbereiche gegeneinander ausgespielt in einer unmöglichen Art und Weise. Aber ich würde diesen zweiten Pol der Argumentation für die öffentliche Bezuschussung immer und unbedingt stark machen. Und das vielleicht mal mit dem zweiten Kunstwerk begründen, das wir uns für heute vorgenommen hatten. Wir sprachen über eines aus Ihrer Sammlung, den Biergarten von Max Liebermann. Jetzt sprechen wir über das andere: Rose für direkte Demokratie von Joseph Beuys.3 Dieses fragile Etwas stellt den Versuch von Beuys vor, beide Argumentationsmuster – das der sozialen Relevanz und der Kunst als Wert an und für sich – zusammenzuführen. Mit seinem Büro für direkte Demokratie wollte er auf der documenta tatsächlich mit den Mitteln der Kunst einen demokratischen Diskurs im Sinne einer direkten Demokratie erreichen. Darin folgt er einem Impetus und Impuls, der so viele politische Ansätze aus dieser Zeit geprägt hat. Es galt, die sogenannten »einfachen« Leute zu erreichen. Man stand mit der Gitarre am Werkstor und wollte die Arbeiter für die linke Revolution gewinnen, merkt aber schmerzhaft, dass das hohe Ross der intellektuellen Avantgarde, auf dem man sitzt, unerreichbar hoch ist. Und bei Beuys kann man das wirklich zugespitzt beobachten. Was für ein großartiger gesamtgesellschaftlicher Ansatz es doch ist, zu sagen, jeder Mensch sei ein Künstler, alle Tätigkeiten können künstlerisch begangen werden! Und doch wurde das Diktum so missverstanden, wie es nur missverstanden werden kann, als abgehoben diffamiert und abgestempelt, obwohl Beuys damit etwas absolut Inklusives gemeint hat und wirklich in die Breite kommen und ganz viele Menschen erreichen wollte. Und das ist mit der Rose für Demokratie auch so. Anders als bei den Liedermachern am Werkstor, hält die avantgardistische Qualität ihren künstlerischen Bestand. Geblieben ist aber nur noch diese Abstraktion, das künstlerische Artefakt, und das absurderweise, als wäre es ein Treppenwitz, auch noch vom Kunstmarkt nobilitiert, als Objekt der betuchten Kunstsammler oder gar als Wertanlage. Wir sind ja jetzt kurz nach Pfingsten. Da hat die Rose ja auch nochmal eine besondere zweite und dritte Bedeutung. »A rose is a rose is a rose«4 sozusagen:

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Corona-Gespräche

Wie beim Pfingstwunder gibt es einen kurzen Moment der Utopie und danach deren unwiederbringlichen Verlust. Abseits jeglicher theologischer Exegese beschreibt das Pfingstwunder ja im Grunde genau das Spannungsfeld, von dem wir die ganze Zeit sprechen: Nur für einen kurzen Moment wird eine aus einer Vielheit bestehende Gemeinschaft untereinander, miteinander sprechfähig, über Sprachgrenzen hinweg. Das ist ja das Tolle an diesem Pfingstwunder. Es gelingt, da mit dem Wunder von oben, hie aber vielleicht auch mit den Mitteln der Kultur, dass Menschen miteinander in Dialog, in Berührung und Begegnung kommen. Aber eben nur für einen kurzen Augenblick. Und dann möchte ich einfach dieses Konfliktfeld, diese Herausforderung schon beschrieben wissen, dass wir uns das gerne zum Ziel stecken können, aber dass wir, wenn wir ehrlich sind, in unserer Außenwahrnehmung starke Vorurteile gewärtigen, weil wir da einfach erst mal wirklich als elitär rüberkommen. Das müssen wir, glaube ich, selbstkritisch einräumen. Bernhard Maaz: Ja. Das ist keine Frage. Gerade die Kunst der Moderne mit ihrer Abstraktion, ihren Formalismen, ihren installativen Arbeiten, denen man zuweilen gar kein handwerkliches Grundfundament mehr ansieht oder ansehen soll, hat immer wieder Angriffe auf sich gezogen. Das führte schon um 1911 zu öffentlichen, publizistisch ausgetragenen, letztlich nationalistisch motivierten Streitereien, als man gegen die französischen Impressionisten und die deutschen Museumserwerbungen ihrer Werke zu Felde zog. Das war in der Aktion »entartete Kunst« ganz massiv und brutal der Fall. Es ging dann in den 1960er Jahren weiter, als die Bürger sagten, »so etwas« könne doch jedes Kind malen. Will sagen: Der Rechtfertigungsdruck der künstlerischen Form war in der Moderne immer präsent. Und er wird uns auch weiter begleiten. Diesen Ablehnungsstrategien, die meistens aus dem Blickpunkt von simplifizierenden Weltbildern heraus kommen, wird man zwar begegnen können, aber die Menschen wird man kaum umstimmen können, allenfalls im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten: Das, was 1905 mit der Gründung der »Brücke« in Dresden passierte, die Etablierung des deutschen Expressionismus, war 50 Jahre später endlich anerkannt. Und da wurde es dann von Vielen verstanden, gesammelt, geliebt. Also 50 Jahre für den Abbau von Vorbehalten, das ist in der bildenden Kunst wahrscheinlich ein Zeitraum, mit dem wir leben müssen. Das sind immerhin zwei Generationen. Die Kunst wird immer eine gewisse Hermetik haben. Aber die Aufgabe der Museen und anderer ist es doch, diese Hermetik zu ver-

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Bernhard Maaz und Jonas Zipf

mitteln, zu öffnen, zu überwinden. Was heißt das? Ich habe, bevor ich Dresden verlassen habe, ein Buch über die dortige Gemäldegalerie geschrieben. Das habe ich mir für unser Gespräch jetzt bereitgelegt, weil ich dachte, dass wir darauf zu sprechen kommen. Ich habe die Bilder der alten Meister vom Mittelalter bis um das Jahr 1800 besprochen, aber dabei immer gezielt auf die Frage geachtet, warum wir die alten Bilder überhaupt anschauen? Wir sollten sie anschauen, weil sie etwas mit uns zu tun haben! Und zwar nicht nur als Wissen, dass es Rembrandt gab, sondern als Bildung, Herzensbildung, emotionale Bildung und so weiter. Ich habe beim Schreiben dieses Büchleins immer auf eine bestimmte Abstraktionsebene geachtet, die uns heute diese Bilder erschließen kann, und dazu dann am Ende noch ein Register gemacht. So kann man nach den Künstlern schauen, aber man kann auch die Sachverhalte, die in der Kunst verhandelt werden, nachschlagen. Wenn ich das jetzt aufschlage und einfach Stichworte vorlese, wird deutlich, wie relevant, wie rezent die alte Kunst ist, aber auch, wie wirklich wichtig unsere Vermittlungsarbeit ist. Beispielsweise unter M: Macht, Machthunger, Machtlosigkeit, Machtmissbrauch, Mäßigung, Maßlosigkeit, Melancholie, Menschlichkeit, Misstrauen, Moral, Mord, Musik, Mut, Mütterlichkeit. Oder beim Buchstaben S: Sanftmut, Scharfsinn, Schmerz, Schönheit, Schuld, Schwäche, Seele, Selbstbild, Selbsteinschätzung, Selbsterkenntnis, Selbstgefälligkeit, Selbstgenügsamkeit, Selbstjustiz, Selbstkasteiung, Selbstkontrolle und so weiter. Das sind alles Themen, die in diesen Bildern berührt werden. Wenn jemand in einer Führung im Museum diese Themen vermittelt, dann zeigt er oder sie den Betrachterinnen und Betrachtern, den Schülern, den Kindergartengruppen, was es mit Kunst auf sich hat, was sie uns sagen kann. Ich habe vor wenigen Jahren hier in München eingeführt, dass es vor zehn Uhr möglich ist, mit Kindergartengruppen und Schulklassen in das Museum zu gehen, ganz allein, zum ungestörten Reden über Kunst. Damit genau das ungestört passieren kann: die Vermittlung der Werte, die »in den Bildern drinnen« sind. Für die Moderne ist das sicherlich schwieriger, aber es ist nicht unmöglich. Wir wissen, dass ganz viele 20-Jährige, 30-Jährige zu uns in die Pinakothek der Moderne kommen. Es gibt diesen Hunger nach Kunst und nach dem Verstehen der Kunst. Also worum geht es bei dem Ganzen? Um Gemeinschaft, um Angebote, um den Diskurs, um die Werte. Das, was wir uns wünschen, dass der Kultur gerade jetzt und in Zukunft weitergehende, stärkere Unterstützung widerfährt. Es geht im Grunde um eine Perspektivierung. Utopie oder Dystopie, das ist hier die Frage.

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Corona-Gespräche

Jonas Zipf: Die Frage, ein Scheideweg, an dem wir tatsächlich stehen.

Dessen Richtung sich anhand der Rolle entscheidet, die wir für die Konstitution von Gemeinschaft spielen, oder um bei Ihrem Begriff zu bleiben, welche Sozialrelevanz wir haben. Sie haben jetzt die Fäden des Gesprächs zusammengefügt. Immer wieder kommen wir auf den Punkt der Gemeinschaft zu sprechen. Aber mittlerweile auf eine wesentlich hoffnungsvollere Weise als zu Beginn unseres Gesprächs. Meine Stimmung hat sich zumindest maßgeblich verbessert, Herr Maaz, das muss ich sagen. Das ist ein archimedischer Punkt, auf dem das steht, was wir machen. Und wenn es uns gelingt, als Gemeinschaft durch diese Krise zu gehen, dann werden wir wahrscheinlich für diese gemeinschaftskonstituierenden Erlebnisse in der physischen Kopräsenz von Menschen, die sich treffen und begegnen, eine noch stärkere Grundlage haben. Und das müssen wir politisch durchsetzen. Da bin ich ganz bei Ihnen. Das müssen wir stark machen. Bernhard Maaz: Ja, das ist eine erhoffte Zukunft, politisch durchsetzen,

den Radius erweitern und die Chancen nutzen, die hierin liegen. Das ist jetzt eine der größten Aufgaben, nicht die Erwerbung von noch einem Kunstwerk, sondern die Erläuterung der Notwendigkeit des Museums, des Theaters, des Konzertsaals, der Plattformen unserer Arbeit! Jonas Zipf: Ja genau. Das ist der perfekte Moment, um auf den Pau-

sen-Button auf meinem Diktiergerät zu drücken und Ihnen zuzurufen: Pfiat Eana! Bernhard Maaz: Servus!

Das Gespräch fand am 2. Juni 2020 statt.

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Endnoten Bernhard Maaz, geb. 1961 in Jena, hat Kunstgeschichte und Archäologie studiert und war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter seit 1986 in Berlin an der Nationalgalerie bei den Staatlichen Museen zu Berlin tätig. Er betreute zunächst die Skulpturen des 19. Jahrhunderts; daraus erwuchsen die Dissertation zum Bildhauer C. F. Tieck (1991) und Publikationen wie der Bestandskatalog der Bildwerke des 19. Jh. in der Nationalgalerie (2006) und das Überblickswerk Skulptur in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg (2010). Als Baureferent war er für die Sanierung der Alten Nationalgalerie zuständig, später auch für etliche andere Museumsbauten. Bis 2009 war er Leiter der Alten Nationalgalerie und zuletzt Stellvertretender Direktor der Nationalgalerie, dann 2010/15 Direktor des Kupferstich-Kabinetts und der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Seit 2015 ist er Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und damit für deren fünf Münchener Haupthäuser und ein Dutzend Staatsgalerien in Bayern verantwortlich (siehe auch: https://www.pinakothek.de/bayerische-staatsgemaeldesammlungen). Er ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen, darunter Die Gemäldegalerie Alte Meister Dresden. Eine Geschichte der Malerei (2014) und zuletzt Das gedoppelte Museum. Erfolge, Bedürfnisse und Herausforderungen der digitalen Museumserweiterung für Museen, ihre Träger und Partner (2020).

1 Bayerische Theaterakademie »August-Everding«, München 2 https://ein-kunsthaus-fuer-jena.de/2020/05/03/kunsthausfruehling-5/ 3 https://www.spiegel.de/kultur/allein-im-museum-auf-ein-bier-mit liebermann-a-7458639b-f2b8-4be8-bc04-e67388814ec7 4 Gertrude Stein (1874–1946): Sacred Emily (1913, veröffentlicht 1922).

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Aleida Assmann und Jonas Zipf

Wer spricht? Jonas Zipf: Frau Assmann? Aleida Assmann: Am Apparat, ja.

Hallo. Jonas Zipf: Hallo. Hier Jonas Zipf. Schön, dass das klappt. Aleida Assmann: Freut mich

ebenso. Jonas Zipf: Auch wenn wir uns

Aleida Assamnn Foto: Corinna Assmann

jetzt quasi nur virtuell kennenlernen, vielleicht soll ich Ihnen zu Beginn mal ganz kurz den Kontext erläutern? Aleida Assmann: Sehr gerne, ja.

Jonas Zipf: Also. Wir sind ein städtischer Eigenbetrieb hier in Jena, den

leite ich seit vier Jahren. Dies ist insofern eine Besonderheit, weil dieser Eigenbetrieb alle städtischen Einrichtungen der Kultur und der kulturellen Bildung beinhaltet, aber daneben auch solche Themen wie Kunst im öffentlichen Raum, Tourismus und Stadtmarketing verantwortet. Von daher beschäftigt uns auf unterschiedliche Weise auch immer wieder das Thema Gedenkkultur. Von der Corona-Krise sind wir natürlich mit all den Einschränkungen für die Veranstaltungstätigkeit stark betroffen, wie so viele, und haben uns von Anfang an Gedanken darüber gemacht, wie wir die Krise auch als Chance verstehen können. Momentan sind wir stark mit Krisenmanagement beschäftigt, ganz konkret für die Kommune, wir unterstützen das Gesundheitsamt, wir versuchen auch die Zukunft für die eigene und alle übrige Kultur mit fortgesetzter Lobbyarbeit abzusichern. Gleichzeitig finde ich, gerade als Kulturakteur ist diese Zeit vor allem auch ein Moment des Innehaltens. Unsere Corona-Gespräche, so nenne ich sie mittlerweile, haben sich zu Beginn der Krise eher spon-

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tan entwickelt. Zuerst mit dem Soziologen Hartmut Rosa, dann mit Thomas Oberender und Bernhard Maaz. Beide sind mir als Chefs anderer großer Kultureinrichtungen wesensverwandter, wenn man so möchte … Aleida Assmann: Ja, also das Gespräch geht weiter, in anderen Worten,

ja. Jonas Zipf: Genau. Ich denke, dass man nachher, über diese Gesprä-

che hinweg sehr gut ablesen kann, wie diese Krise en détail verlaufen ist. Es gibt ja unterschiedliche Phasen. Am Anfang war die Situation bestimmt noch viel mehr davon geprägt, dass man die Ärmel hochkrempelt und aufbricht. Und mittlerweile wird langsam absehbar, wer hier wem welche Rechnungen stellt und welche politischen und gesellschaftlichen Scharmützel sich daran für die nächsten Monate und Jahre noch knüpfen werden, so. Aleida Assmann: Ja, das ist jetzt offen, wie wir da rauskommen. Jonas Zipf:. Ich würde gerne einsteigen mit einem kulturellen Impuls.

Es gibt ein Film- und Musikprojekt von 1990. Damals war schon mal die Rede vom Ende der Geschichte. Ein britischer Künstler, Kevin Godley, Regisseur und Musiker, hatte sich aufgemacht und weltweit Musiker versammelt, die eine Stunde lang live Musik zusammen gemacht haben. Es ging damals besonders um Klimaschutz, unter dem Titel »One World, one Vision«. Das Projekt entstand mit Live-Schalten per Satellitentechnik, war damals absolut bahnbrechend, 1990 war das noch neu, da steckte das Internet noch in den Kinderschuhen. Das Prinzip bestand in einer musikalischen Verständigung über alle Grenzen hinweg. Godley hat mit Musikern aus aller Herren Länder eine Stunde in einer Art Chain Tape live Musik gemacht. Es gab eine Timeline für eine Stunde Musik und jeder konnte improvisieren. Es waren über 100 Musiker beteiligt … Aleida Assmann: Und alle konnten einfach improvisieren? An einem

Thema oder was sie wollten? Jonas Zipf: Melodisch und harmonisch – Was sie wollten! Aleida Assmann: Ein Nebeneinander, das war also ein Nebeneinander?

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Corona-Gespräche

Jonas Zipf: Genau. Es gab eine Grundstruktur, die war vorgegeben. Die

Musiker*innen wussten: Okay, der Rhythmus wird die nächsten fünf Minuten von Peter Gabriel gespielt oder von Sting oder von den Leningrader Symphonikern. Und auf diese Grundstruktur konnten andere Musiker dann, so wie beim Jazz, improvisierte Soli spielen. Aleida Assmann: Interessant. Jonas Zipf: Ein sehr, sehr beeindruckendes Projekt, es ging, wie gesagt,

nur eine Stunde, aber es hat damals große Wellen geschlagen, wurde von vielen Fernsehsendern live gesendet. In Deutschland hat es die ARD live übertragen. Ich war damals acht Jahre alt, mein Vater hat das mit mir angeschaut, spät in der Nacht, ich durfte das erste Mal lange wach bleiben. Andere haben vielleicht Erinnerungen an die Mondlandung oder Boxkämpfe von Muhammad Ali, aber für mich war das quasi so eine Art Initiation. Und das Irre war, dass es so eine physische Kopräsenz gab über die räumliche Distanz hinweg und natürlich mit einer universellen Sprache, mit Musik eben. Es war ein einmaliges Ritual, wenn man so möchte, natürlich auch ein Kulminationspunkt der großen Konzertveranstaltungen der 80er, Live Aid etc., was es da alles gab. Aber auch ein Auftakt für das, was wir jetzt ja wieder erleben, dass es eben im digitalen Raum zu einer Art Gemeinschaft kommt. Die Balkonkonzerte, der Applaus an den Fenstern und solche Elemente, der Versuch sozusagen, Gemeinschaft über eine Distanz hinweg zu stiften, hat mich genau daran wieder erinnert. Darüber würde ich gerne mit Ihnen sprechen – über die Frage, wie diese Gemeinschaft funktioniert, wie sie sich anhand von Kultur und kollektiver Erinnerung konstituiert? Wir befinden uns ja auch in einer richtigen Zerreißprobe, sowohl für uns als Gemeinschaft, aber und auch im internationalen Maßstab. Ich kann mich als Ihr Fan outen, ich habe Sie oder Ihr Denken, Ihr Schreiben kennengelernt, über die Lektüre des Europäischen Traums. Sie betonen da, dass es zur Konstitution einer Gemeinschaft – gerade, wenn diese über nationale Grenzen hinweg reichen soll – der gemeinsamen Einübung kultureller Praktiken und Rituale bedarf. Unter anderem fordern Sie gemeinsame europäische Feiertage, allen vorneweg den 8. Mai, den Tag, den Bundespräsident Richard Weizsäcker im Bonner Bundestag als »Tag der Befreiung« bezeichnete. Die Frage nach einem derartigen europäischen Traum empfinde ich als einen beeindruckenden Ansatz. Und phasenweise konnte man schon auf die Idee kommen, dass es einen großen Verlierer dieser Corona-Krise gibt, nämlich die europäische Gemeinschaft.

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Aleida Assmann und Jonas Zipf

Aleida Assmann: Ich hoffe, dass das nicht das letzte Wort bleibt. Es ist

ganz klar, dass der Nationalstaat erst mal wieder an Bedeutung gewonnen und die Kraft der EU damit eingeschränkt hat. Das zeigt sich an Auseinandersetzungen, die im Entweder-oder-Modus geführt werden, wie etwa die rund um Corona-Bonds. Das sind Diskussionen, die ständig auf der Kippe stehen. Aber das ist für meine Begriffe genau der falsche Ansatz, weil Nation und EU zusammengehören und nicht ohne einander gehen. Und vor diesem Hintergrund habe ich aber dann doch den Eindruck gehabt, dass der Kampf für die EU noch nicht verloren ist. Im Gegensatz könnte man sich ja auch mal vorstellen, man lebte jetzt in England, man wäre gerade aus der EU herausgekommen mit einem intensiven Kollektivaufwand. Einer Anstrengung, die einen selbst schon stark erschöpft hat, und nun wird man von Corona überfallen. Das ist keine gute Situation. Wir wissen alle, dass diese Konzepte »Britain first«, »America first«, »India first« … zerschellt sind und niemand sie noch ernsthaft propagieren kann. Wir haben doch gerade gelernt, wie sehr wir auf Gegenseitigkeit angewiesen sind. Das ist mir ein wichtiges Anliegen: Die Verbundenheit in einer grenzübergreifenden Krise wie dieser sollte uns doch alle darin erinnern, Europa nicht zu vergessen! Dass diese Verbundenheit für ein paar Wochen zurückgestellt werden musste, das stimmt. Es trifft auch zu, dass es so etwas gab wie einen Pandemie-Wettbewerb der Nationen, eine Konkurrenz um Ressourcen für den Infektionsschutz. Aber es wurde auch deutlich, dass man sich im Grunde nicht voneinander abspalten kann, insbesondere nicht auf dem ökonomischen Sektor. Die Rettungsschirm- und Stabilitätsmechanismen offenbaren doch die Erkenntnis: Wenn andere Staaten kollabieren, kollabieren wir auch. Also stehen wir letztlich in einem Verhältnis zueinander, das so ähnlich funktioniert wie im Kleinen, wie im Alltag der Pandemie. Ich nenne das mal die »Corona-Grammatik des Miteinanders«: Meine Maske schützt dich, und Deine Maske schützt mich. Längst erleben wir interne Überquerungen in den Beziehungen zwischen den Menschen und können diese einfach nicht mehr auseinanderschneiden. Das geht auf der Interaktionsebene nicht mehr, da entsteht so etwas wie eine kollektive paradoxe Nähe. Und es geht auch nicht mehr auf der nächsten Ebene oberhalb des Nationalstaats, würde ich sagen … Jonas Zipf: Ich spiele jetzt den Antipoden und versuche, zu beschreiben, was mich dennoch und weiterhin traurig stimmt. Die größte Motivation zur multilateralen Zusammenarbeit innerhalb Europas fußt immer noch auf der wirtschaftlichen Argumentation. Also das, was

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Corona-Gespräche

Sie jetzt auch nochmal hergeleitet haben, ist ja letztlich die Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolgs. Wir stärken den erweiterten Binnenmarkt; daher müssen wir die schwächeren Teile Europas jetzt auch stützen, damit wir gut aus der Krise kommen. Das sind bekannte politische Haupt-Narrative, wie sie momentan bedient werden. Man könnte das positiv wenden und sagen: Ohne diesen pragmatischen Wohlstandserfolg wird man auch keine Überzeugung über verschiedene politische Lager und Nationen hinweg organisiert bekommen. Aber negativ gewendet, geht es doch darum, den Mangel der Beschreibung Europas als kulturelle Gemeinschaft, meinetwegen auch als kulturelle Schicksalsgemeinschaft, zu thematisieren. So verstehe ich ja auch Ihr Plädoyer für eine gemeinsame Erinnerungskultur in Europa. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir in unserer Lebenszeit die längste Phase der Prosperität und des Friedens der Geschichte Europas erleben. Wir könnten auf dieses multilaterale Erfolgsmodell stolz sein, für das die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommen hat. Stattdessen scheinen jetzt, in der Krisenphase einer Pandemie, Grenzschließungen wieder ein Mittel der Wahl zu sein. Da kommt ein Virus, und ganze Regionen kapseln sich ab und müssen sich vermeintlich voreinander schützen, selbst innerhalb der förderalistischen Bundesrepublik Deutschland. Ich empfinde es als absurd, dass sogar die frühere deutsch-deutsche Grenze phasenweise wieder geschlossen wurde. Aleida Assmann: Ja, ja, Grenzen und Grenzen. Also zunächst mal ganz

wichtig und richtig, hier über die Wirtschaft zu sprechen. Wenn Sie mein Buch über den europäischen Traum gelesen haben, merken Sie, dass ich diese ganze Dimension eigentlich außen vor halte und mich auf ganz andere Dinge konzentriere. Zwei davon, aktuell in jedermanns Munde, sind: das Friedensprojekt und das Demokratisierungsprojekt. Insofern steckt die Wirtschaft bei mir schon drin, da die Wirtschaft ja die wirkungsvollste Strategie der Friedenssicherung war. Wenn man tatsächlich die Ressourcen der Kriegswirtschaft, und der NS-Staat war nichts anderes als eine gigantische expandierende, explodierende Kriegswirtschaft, wenn man diese Ressourcen, nämlich Kohle und Stahl, vergemeinschaftet und zur Grundlage einer gemeinsamen Wirtschaft macht, von der dann alle beteiligten Seiten einen Vorteil haben, dann ist das im Sinne sowohl der Wirtschaft, als auch des Friedens, ein unglaublicher Einfall. Ich denke, wir müssen den beiden Franzosen, Robert Schuman und Jean Monnet, dafür ewig dankbar sein. Und es ist in der Tat so, dass die Wirtschaft das einigende Band war, das alle anderen Entwicklungen dann erst möglich gemacht hat. Wenn

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Aleida Assmann und Jonas Zipf

man so will, die tragende Grundlage. Aber nicht unter allen Bedingungen, denn Wirtschaft kann auch zerstören. Gerade die Regularien des Marktes können eine Eigengesetzlichkeit entwickeln und Europa ganz schnell auch wieder sprengen. Spätestens seit der Finanzkrise hat man da schon einiges dazu gelernt. Vor allem weiß man, dass ein Kapitalismus, wie er in China betrieben wird, also geopolitisch auf einer ganz großen Linie, eine unmittelbare Bedrohung für Europa sein kann. Denken Sie nur an den griechischen Hafen von Piräus, fast so etwas wie ein Zentralsymbol europäischer Identität. Hier ist der chinesische Staatskonzern Cosco Shipping bereits Mehrheitsaktionär, weshalb der Hafen aus dieser chinesischen Perspektive längst als Knotenpunkt der neuen Seidenstraße gilt und als »Kopf des Drachens in Europa« bezeichnet wird. Ein derartiger Ausverkauf kann nicht funktionieren. Da müssten sich andere Formen zur Stärkung des eigenen Wirtschaftsraums finden, vor allem das Öffnen der Grenzen des Binnenmarkts. Schengen ist ein großes Beispiel und starkes Symbol für Europa. Und plötzlich war das weg: Europa war nicht wiederzuerkennen. Es war fast wie ein Ausgehen von Luft. Die Corona-Krise führt uns dieses Bild des Nicht-mehr-atmen-Könnens noch mal in doppelter, metaphorischer und schmerzlich konkreter Weise vor Augen. Jonas Zipf: I can’t breathe, ja? Aleida Assmann: Ja, genau. I can’t breathe. Es gab so ein »I can’t breathe«

auch für Europa. Und zwar an dem Punkt, an dem Schengen ausgehebelt wurde, indem die Grenzen nahezu vollkommen geschlossen wurden. Ich wohne ja auch an einer Außengrenze Europas. Zwischen Konstanz und Kreuzlingen, mitten durch eine Stadt mit zwei Namen hindurch läuft diese Außengrenze. Da war es wirklich so, dass Familien plötzlich voneinander abgeschnitten waren und sich nicht mehr sehen konnten. Und diese Situation führte dazu, dass die Klage immer lauter wurde. Für diese Leute ging es um Tage. Ein Tag länger oder kürzer hat einen spürbaren Unterschied gemacht. Man hat jeden dieser Tage mitgelitten, für diese Leute war es kaum aushaltbar. Das Wiederöffnen des Schengen-Raums, das war dann so ein richtig tiefes Luftholen. Ein Moment, der einem auch mal gezeigt hat, dass Europa ohne die Durchlässigkeit der Grenzen gar nicht funktioniert und dass dieses Gut etwas ist, das wir offensichtlich nicht wieder hergeben wollen. Mir kann niemand einreden, dass es da einen Trend in eine andere Richtung gibt. Im Gegenteil, würde ich sagen, diese Belastungsprobe hat gezeigt, wie wichtig das Überschreiten der Grenzen ist, das Leben an an-

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deren Orten, die Binnenmobilität, die ja nicht unbedingt bedeutet, dass man in ein Flugzeug steigt, aber dass man Nachbarschaften ausdehnt über die Grenzen, über Sprachgrenzen hinweg. Das ist das Herz der Vielfalt Europas. Das alles hat mir die Lebendigkeit Europas, die abhängt von dieser Beweglichkeit, von dieser Bewegung, doch sehr deutlich gemacht. Jonas Zipf:. Da heißt, dass das Erleben des Mangels an Bewegungsfrei-

heit in dieser Krise nochmal gezeigt hat, wie wichtig uns diese mittlerweile vielleicht schon ganz normal vorkommende Realität geworden ist. Gerade jemanden wie mir, mit Ende 30, der sich fast nicht mehr daran erinnern kann, wie das war, MIT Grenzen. Ein gutes Beispiel für ein konkretes Stück erlebtes Europa, bei dem der Unterschied der Entwicklungstempi zwischen wirtschaftlicher-finanzieller Integration und kultureller-gesellschaftlicher Integration vielleicht doch gar nicht so groß ist, wie ich es aber dennoch insgesamt befürchte. Daher möchte ich darauf zu sprechen kommen, worin vielleicht ein zentraler Wert innerhalb dieser oft beschworenen Wertegemeinschaft bestehen könnte. Was uns Europäer im Zuge der Aufklärung ausmacht, ist so eine gewisse Nachdenklichkeit. Man könnte auch vom Diskurs reden, der Möglichkeit, sich über Dinge zu verständigen, und zwar auch über Sprachen und Grenzen hinweg. Aber jetzt frage ich mich: Findet dieser Diskurs im Moment auf internationaler Ebene überhaupt noch statt? Ich habe für mich selbst neulich eine recht irritierende Erfahrung gemacht: Wir hatten eine Einladung des Historikers Norbert Frei zu einer Tagung zum Ende des Zweiten Weltkriegs, rund um das Datum 8. Mai. Die Tagung fand dann leider coronabedingt im virtuellen Raum statt. Es gab Grußworte von Joschka Fischer und Wolfgang Schäuble, neben weiteren war Saul Friedländer eingeladen. Man konnte alle Beiträge online hören, und es gab natürlich auch ein Chat-Forum und dergleichen. Doch es entstand weder ein Diskurs, noch existierten die Zwischentöne, die am Rande einer solchen Konferenz so unentbehrlich sind. Die Monologe standen im Raum. Für uns als Betrachter blieb alles in der interpassiven Form. Es gab keinen echten Diskursraum, so wie ihn die Scientific Community sonst gewohnt ist, innerhalb dessen sich Menschen begegnen. Diese Begegnung ist etwas, was jetzt gerade auf der Strecke bleiben muss. Da bleibt eine Lücke, eine schmerzliche Lücke. Und ganz besonders, wenn es um so historische und kollektivemotionale Anlässe geht wie den 8. Mai. Wie erleben Sie das? Sie sind ja nun mitten drin im Wissenschaftskosmos …

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Aleida Assmann und Jonas Zipf

Aleida Assmann: Ja, die Lücke ist außerordentlich schmerzlich. Ich

würde sogar noch weitergehen und sagen, dass die virtuelle Kommunikation, auf die wir jetzt nicht nur zurückgeworfen sind, sondern die wir lange schon nutzen, oder: die uns »vernutzt«, dass diese Kommunikation auch schon einiges dazu getan hat, Zustände hervorzubringen, wie Sie sie jetzt beschrieben haben. Ich habe gerade ein Gespräch mit Mercedes Bunz geführt über kulturelles Gedächtnis und Digitalisierung. Und da ist mir doch sehr deutlich aufgegangen, dass die Formen der Digitalisierung für den kommunikativen Austausch gar nicht unbedingt so sind, dass sie genau das stützen und stärken, was Sie jetzt gerade angesprochen haben, nämlich Diskursräume zu öffnen. Das heißt ja, dass wir uns gemeinsam in einen Raum begeben und dem anderen auch mal zuhören und ihm Zeit lassen, auszureden oder überhaupt einen Gedanken zu fassen. Gemeint ist eine Ruhe, die da erst mal aufkommen muss, damit überhaupt auch was berührt wird und nicht nur ein dauerndes Hintergrundgeräusch hinter uns herläuft, sondern dass wir uns aufeinander einstellen und konzentrieren können und versuchen, Argumente aufzunehmen. Wenn wir dagegen jetzt den medialen, virtuellen Diskursraum betrachten, der in der Coronazeit auf Hochtouren weiterläuft, da geht es ähnlich zu, wie Sie es bei der Veranstaltung zum 8. Mai beschreiben. Innerhalb dieser Kanäle kommen wir nicht weiter. Man kann eine Position artikulieren, man kann sie sich vorstellen, man kann sie erklären, man kann sie wiederholen, aber es fügt sich nicht die eine Stimme mit der anderen zusammen, und es stellt sich auf diese Weise kein Prozess ein, in dem man gemeinsam weiterdenken kann. Man bleibt völlig für sich, isoliert, es dreht sich alles im Kreis. Ab der zweiten Woche wird wiederholt, was in der ersten Woche schon mal gesagt wurde, in der dritten ist die Welt noch enger geworden. Die Themen ziehen sich eher zusammen, als dass sie sich weiten. Der Reduktionismus schreitet voran. Nicht zuletzt, weil es im Interesse der Medien liegt, und nicht nur der digitalen, auch der Press-Print-Medien, Debatten möglichst in Richtung Skandal zu drehen, so dass man immer ganz klare, schroffe Gegensatzprofile hinbekommt. Nur dann sei es interessant für Außenstehende, höre ich immer wieder. Das ist aber, glaube ich, eine falsche Unterstellung. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen auch Interesse daran hätten, Aufklärungsprozesse mitzuerleben oder sich daran zu beteiligen, an Aufklärungsprozessen für sich selbst. Das meine ich ganz klein und einfach. Ich spreche nicht von Vermittlung, Volksbildung oder Pädagogik, sondern davon, dass jeder etwas für sich lernen kann, aus den Dingen, die er gerade um sich

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herum erlebt. Mir kommt es darauf an, Zugänge zu den intellektuellen Debatten zu ermöglichen. Jonas Zipf: Ja. Tatsächlich besteht ein hohes Erkenntnis-Risiko darin,

alles auf Effizienz zu verkürzen, auf die kleinstmögliche und bestverständliche Informationseinheit. Schon vor Corona hat der um sich greifende Populismus diese Entwicklung vor sich her getrieben. Und jetzt sind wir endgültig im Zeitalter der hemdsärmeligen Verkürzung und Reduktion von Komplexität angekommen. Die Beschleunigung der Digitalisierung und Virtualität trägt dazu bei. Aus Verwaltungsbesprechungen kenne ich Aussagen, die mich gruseln: »Endlich kein unnötiges Gerede mehr, Taten statt Worte.« »So schnell und effizient waren wir noch nie, und wir mussten nicht mal dorthin fahren.« »Ist doch super, es kann immer nur einer reden in der Telefonkonferenz, man muss es auf den Punkt bringen.« usw. Da gibt es irgendwann kein prozesshaftes, dialogisches, lautes Denken mehr; da werden wir irgendwann zu reinen Informationseinheitsträgern und Austauscheinheiten. Ich finde es ja ganz erstaunlich, dass eine ganze Gesellschaft zum puren Positivismus zurückkehrt und alles Iterative, Ungefähre, Offene mittlerweile fast radikal negiert. Entgegen dieser Entwicklung erlebe ich es als eine der größten Errungenschaften dieser Krise, dass sie die Denkprozesse der Naturwissenschaftler in ihrer Prozesshaftigkeit offenlegt. Eigentlich müsste doch gerade jetzt eine breite Öffentlichkeit live nachvollziehen, wie mühsam und fragil diskursive, wissenschaftliche, auch künstlerische Erkenntnisprozesse sind. Aber von Trial und Error, von »Fail and fail again, better« will dennoch kaum einer was hören. Wir konstruieren lieber »Helden der Krise«, die wissen, wo es lang geht, nageln die Virologen auf vorläufige Aussagen fest und regen uns dann nach allen Regeln der Kunst auf, wenn die Annahme nicht aufgegangen ist … Aleida Assmann: Genau. Die Naturwissenschaft exponiert sich in der

Öffentlichkeit selbst. So sehe ich das auch. Die Naturwissenschaft, die ja jetzt wirklich die erste Stimme hat, demonstriert, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert. Es gehört eben beides zusammen: Die Sicherheit der Wahrheitsfindung der Wissenschaft auf der einen Seite, die wir überhaupt nicht in Frage stellen, dann aber eben auch das Prozesshafte der wissenschaftlichen Erkenntnis, der kreisende Prozess ständiger Korrekturen und selbstkritischer Befragung der vorliegenden Ergebnisse und des Wartens auf neue Ergebnisse, die dann wieder befragt werden usf. Und selbst wenn sich dann eine Hypothese

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als richtig erweist und Phänomene erklärt und erhärtet, muss immer noch ein Dritter kommen, der noch was hinzulegt und das Ergebnis noch mal befragt, verwirft und von vorne beginnt oder eben bestätigt. Wissenschaft ist immer ein extrem kollaborativer Vorgang. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was Politik macht. Politiker stellen sich vorne hin und müssen klare Urteile darüber abgeben, wie es weiter geht, wo es lang gehen soll. Ich möchte nicht in deren Rolle stecken. Das ist aber ihre Aufgabe, und da stoßen mit Wissenschaft und Politik ganz verschiedene Aufgaben und auch Wahrheitswelten aufeinander – der Autorität der Wirtschaft und der Autorität der Politik steht das Prozesshafte der Wissenschaft gegenüber. Wir können das im Moment zum ersten Mal öffentlich miterleben. Das finde ich großartig. Jonas Zipf: In der öffentlichen, der allgemeinen Wahrnehmung ist der

wissenschaftliche Erkenntnisprozess, so wie wir ihn gerade beschreiben, überhaupt nicht verankert. Als Laie denkt man eher: 1 plus 1, das ergibt 2, und es gibt keine unterschiedlichen Wahrheiten. Ich finde, über 100 Jahre nach Unschärferelation und Relativitätstheorie ist das schon einigermaßen erstaunlich. Auch wenn wir uns – Sie als Geisteswissenschaftlerin, ich als jemand, der vom Theater kommt – hier nicht beweihräuchern brauchen, lässt sich dennoch feststellen, dass die Geisteswissenschaften spätestens mit ihrer Postmoderne zu dieser Selbsterkenntnis der eigenen Erkenntnisgrenzen und der Prozesshaftigkeit der eigenen Arbeit gekommen sind. Aleida Assmann: Wenn man mal die Wissenschaften nebeneinander

stellt, die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften, die wir heute ja oft lieber Kulturwissenschaften nennen, dann besteht der größte Unterschied doch darin, dass sich die Naturwissenschaften nicht ständig in ihrem Kontext reflektieren, sondern darüber hinwegsehen können. Kulturwissenschaftler kontextualisieren, historisieren, selbstreflektieren alles, was sie sagen. Und wenn man immer daran denkt, was hat man gestern, vorgestern gesagt hat, dann ist das schon ein ganz anderer Schutz vor eigener Hybris. Man weiß, was die Formung ausmacht, die hinzukommen muss, um so eine Wahrheit dann auch wirklich zu etablieren. Die Wahrheit glänzt nicht so einfach aus sich selbst heraus. Dazu fällt mir Eduard Rosenthal ein, der in Jena eine Lesehalle gestiftet hat. In einer Veröffentlichung habe ich den wunderbaren Satz von ihm gefunden: »Die Lesehalle ist die Zentralsonne, von der das Licht der Volksbildung ausstrahlt nach allen Seiten in unsere Stadt.«

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Ich bin begeistert von diesem Satz, weil er den bürgerlichen Begriff der Einheit von Öffentlichkeit, Bildung und Wahrheit umschreibt. All das war in der Zeit des aufstrebenden Bürgertums noch so schön miteinander verknüpft. Und an dem Aufbau dieser zivilgesellschaftlichen Bildungskultur hatte die jüdische Bevölkerung einen riesigen Anteil. In diese Lesehalle konnten alle rein; es gab einen offenen Zugang zu dem Grundgut Bildung und zur Wahrheit und dem Licht der Aufklärung, das sich wie eine Sonne in alle Richtungen ausbreitet. Was ich damit sagen will: Die Lesehalle von Rosenthal ist nicht mehr das Modell der Medienwelt, in der wir heute leben. Wir wissen um die vielen Prozesse der Lenkung und der Rahmung, der Abschirmung und Abschottung und auch der Ungleichverteilung dieses Lichtes der Aufklärung, das eben nicht mehr so schön gleichmäßig in alle Winkel strahlt. Jonas Zipf: Also, das freut mich sehr, dass Sie diese für Jena so bedeut-

same, aber außerhalb Jenas bisher so unbekannte Persönlichkeit zitieren. Ja, der Eduard Rosenthal besaß einen tiefen Glauben daran, dass das Ganze nur funktionieren kann, das ganze Konstrukt der Gemeinschaft eines Staates, wenn es so etwas gibt wie Teilhabe. Dafür waren Persönlichkeiten wie er wirkliche Pioniere. Es war bahnbrechend, dass Zeiss hier in Jena, maßgeblich dank seines Mitwirkens, als weltweit erstes Stiftungsunternehmen auf den Weg gebracht und damit praktisch den Mitarbeitern übergeben wurde. Ein derartiges Bewusstsein und Engagement für Bildung und soziale Teilhabe der Mitarbeiter und Stadtbevölkerung, das war in dieser Zeit eine visionäre Innovation. In dem, was Sie als klares und schönes Bild einer Sonne der Aufklärung beschreiben, steckt ja nicht nur das Enlightenment einer Volksbildung, sondern auch die feste Überzeugung, dass unterschiedliche Meinungen und Wahrheiten nebeneinander bestehen können. Das können wir auf die Wissenschaft genauso beziehen wie auf eine demokratisch verfasste Gesellschaft. Das erste Haus der Stadt Jena, das Volkshaus, das in dieser Zeit entstanden ist, wo sich dieser Lesehallenverein und die Bücherei befunden haben, das verkörpert diesen Gedanken bis heute. Es ist ein Haus, das von vornherein politisch neutral und damit offen für alle Gruppierungen bleiben sollte, solange diese auch anderen das gleiche Recht einräumen. Und das mitten im Kaiserreich! Gegen starke Widerstände haben bürgerliche Liberale wie Rosenthal damals ermöglicht, dass die junge SPD ihre ersten Reichsparteitage in Jena abhalten konnte. Die wussten, dass Demokratie nur funktionieren kann, wie es Voltaires Diktum vorgibt, wenn jede Meinung gehört werden kann, wenn jeder Meinung eine Plattform geboten wird – so-

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lange ein Jeder dazu bereit ist, dem jeweils Anderen die Äußerung seiner Meinung zu ermöglichen, notfalls bei Einsatz seines Lebens, auch und sogar, wenn diese seiner eigenen 180° konträr gegenübersteht. Da sind wir natürlich ganz nah an Ihrem zentralen Gedanken, dass Erinnerungskultur nur gelingen kann, wenn unterschiedliche gesellschaftlichen Gruppen im Dialog miteinander stehen. Ich fand das beeindruckend, wie Sie das im Europäischen Traum in Bezug auf Spanien beschrieben haben. Man muss, so möchte ich es mal übersetzen, auch den richtigen Rhythmus, die richtige Tonalität für das Gelingen einer Diskussion zulassen. Dieser Gedanke Ihres Buches betört mich: Es gilt, darüber zu sprechen, dass eine gelingende Erinnerungs- und Gedenkkultur quasi heiße und kalte, laute und leise Phasen kennt – Phasen des Sprechens und Phasen des Schweigens – , dass diese sich sogar abwechseln müssen, dass sonst unterschiedliche Gruppen nicht offen und vorurteilsfrei miteinander reden können , weil die Konflikte zwischen ihnen sonst zu groß würden. Und das ist ja für uns hier gerade ein extrem aktuelles Thema. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung erscheint um uns herum eine große Unversöhnlichkeit. Aber ich springe jetzt zu sehr. Aleida Assmann: Überhaupt nicht, bitte weiter! Jonas Zipf: Wenn wir über Teilhabe sprechen, dann reden wir heute

über eine der schwierigsten Situationen, gerade hier in Thüringen, die wir mit Corona fast schon vergessen zu haben scheinen. Aber nach der Staatskrise ist vor der Staatskrise; die Thüringer Wahl ist um ein Jahr aufgeschoben, aber nicht aufgehoben; eine strukturelle Mehrheit gibt es hier nicht. Und wir wissen eigentlich nicht genau, wie es gehen kann mit einer CDU, die sich zwischen einer Linkspartei, mit der sie nicht kooperieren will und einer AfD, mit der sie nicht kooperieren darf, aufreiben lässt. Das ist eine sehr angespannte Situation, die viele Parallelen zu der Zeit von Rosenthal aufweist. Dessen Überzeugungen, seine Form von Teilhabe, von Sprechfähigkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, wäre auch heute das Alpha und Omega der Demokratie, aber sie scheint nicht mehr ausreichend Vielen gleich wichtig zu sein. Aleida Assmann: Ich möchte hier gerne ein paar Punkte nochmal un-

terstreichen. Also, dass Sie das Wort Rhythmus benutzt haben, finde ich interessant, denn solche Prozesse, die lange schwelen, ja, die haben in der Tat auf irgendeine Art eine zeitliche Ausdehnung, und diese

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hat vielleicht auch eine Gestalt, einen Takt und vielleicht sogar eine Art von Rhythmus. Der hat etwas zu tun mit dem Druck der Emotionen, die bestehen bleiben und die vielleicht irgendwann immer heißer werden. Und dann muss es einen Katalysator geben, der das herauslässt. Und im Falle des Spanischen Bürgerkriegs war das eindeutig die dritte Generation. Sehr oft sind es dritte Generationen, die darüber entscheiden, was wir noch aufgreifen oder was wir weiterhin zurückstellen. In Spanien war es ganz ausgesprochen die zweite Generation nach dem Bürgerkrieg, die gesagt hat: »Wir lassen das ruhen, uns ist die Demokratie wichtiger, und die Aufarbeitung, die kann noch warten.« Und dann kommt die nächste Generation und sagt: »Nein, unsere Großväter, die wollen wir suchen, die liegen in Massengräbern verscharrt, die exhumieren wir, und die bestatten wir pietätvoll und würdig.« Da gibt es plötzlich ein Dringlichkeitsbedürfnis. Und ich würde sagen, so etwas Ähnliches ist im Moment auch in den USA zu spüren. Da ist etwas ganz, ganz lange am Schwelen, und dann kommt ein Ereignis und gibt diesem Moment eine historische Dimension, verwandelt ihn in so etwas wie ein Momentum, verleiht ihm eine besondere Bedeutung, eine Relevanz. Plötzlich entsteht etwas ganz anderes als eine passive Joint Attention, so wie wir es gewohnt sind bei einem Medienereignis. Plötzlich ist da so etwas wie ein Lauffeuer, das sich in Windeseile überall verbreitet, das eine Jede und einen Jeden – auf unterschiedliche Weise – erfasst, so dass sich Jede und Jeder irgendwie damit auseinandersetzen muss. Und dieser Druck, der sich da ganz plötzlich verdichtet, um Dinge aus der Vergangenheit wieder anzusprechen, von denen man gedacht hatte, man hätte sie so gründlich verdeckt oder so gut abgedichtet, dass man ewig Ruhe hätte, macht in einem historischen Moment mit einem Mal deutlich, dass die Zeit reif ist, um bestimmte Fragen neu zu klären. Das finde ich ganz, ganz spannend, dass es solche Wendeereignisse gibt. In Spanien war das um 2000 der Fall, aber es ist wieder abgeebbt und abgeflaut. Aber dann kam ein nächster Schub und plötzlich war klar, Franco muss umgebettet werden. Das sind völlig unvorhersehbare Ereignisse, die nicht einzelne Personen entscheiden, sondern die von so einem Rhythmus der Emotionen abhängen. Jonas Zipf: Uwe Johnson spricht als Schriftsteller davon, dass er

schwanger geht und dass er manchmal schwanger ist, ohne es zu wissen. Diese Metapher beschreibt, so wie Sie gerade, ein Wechselspiel zwischen unbewussten und bewussten Vorgängen, unbenommen, dass diese Begrifflichkeit nicht ohne Weiteres 1:1 auf gesellschaftliche Kollektive übertragbar ist. Aber dennoch gibt es offensichtlich ver-

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gleichbare Prozesse, die im Hintergrund arbeiten müssen, bevor eine Erkenntnis reif scheint. Das ist wie beim Lernen. Es gibt eine Phase des bewussten schnellen Lernens, würden Hirnforscher mittlerweile gut belegen können, dann gibt es eine lange Phase der Durststrecke, wo etwas sickern muss, und irgendwann bricht es sich dann Bahn. Aleida Assmann: Ja, ja. Jonas Zipf: Der Vergleich mit der aktuellen amerikanischen Situation

scheint mir treffend. Plötzlich ist eine Situation ganz offen, und die Frage ist, was wird aus dieser sehr offenen Situation. In Bezug auf unsere Situation heute frage ich mich freilich, ob die wirklich so offen ist. Wir hatten ja ganz am Anfang festgestellt, dass im Moment vielleicht langsam die Rechnungen aufgemacht werden, die diese Gemeinschaft miteinander ausficht. Ich habe das an anderer Stelle in diesen Gesprächen schon mal gesagt, mich erinnert das ein bisschen an die 2015er-Situation, dieser Vergleich wird gerade oft gezogen. Es passiert ein Zeitraum des gemeinsamen solidarischen Ärmelhochkrempelns, und danach kommt der Zeitraum der großen Abrechnung, und ich frage mich, ob diese Gemeinschaft diese Zerreißprobe meistert. Wir sind jetzt an einem Kipppunkt. Aleida Assmann: Ich sehe es ein bisschen anders als 2015. Nur fünf

Jahre später stehen wir schon wieder an so einem Punkt der, um es mit Johnson zu sagen, schwanger geht mit einer Wende. Was ich 2015 anders gesehen habe, war, dass es nicht erst die Willkommenskultur gab, und dann kam die Ablehnung, sondern beides gab und gibt es gleichzeitig. Die Frage stellt sich an die medial vermittelte Aufmerksamkeit: Wann wird was in den Mittelpunkt gestellt? Am Anfang erschien es viel wichtiger und spektakulärer, die Willkommenskultur zu präsentieren und damit stark zu machen. Und dann, nachdem Hunderte und Tausende ehrenamtlich in ihrem Alltag arbeiteten, um das alles zu bewältigen, war das überhaupt kein Medienthema mehr, das wollte keiner mehr wissen. Viel interessanter waren plötzlich die, die sich ganz empört gegen die Willkommenskultur wendeten. Wir bekommen manchmal eben erst eine Seite gezeigt und dann die andere, müssen aber selber stets mit hinzudenken, dass es das andere weiterhin parallel gibt. Das ist mir sehr wichtig in Bezug auf unsere europäischen Nachbarn. Wie geht es zu in diesen Ländern, in den dortigen Gesellschaften? Da kriegen wir meistens die negativen Seiten gezeigt, und diese werden damit auch unterstützt, weil denen sehr viel Raum

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gegeben wird, beispielsweise den antidemokratischen Bewegungen in Osteuropa, von denen wir aber letztlich meist überhaupt nur die jeweiligen Präsidenten zu hören bekommen. Was in den Gesellschaften wirklich stattfindet, das kriegen wir nicht mit. Denken Sie an ein Ereignis wie die Ermordung des Bürgermeisters Adamowicz in Danzig! Er gehörte zu den Anhängern der EU und war eine Stütze der Zivilgesellschaft. Plötzlich bemerkt man den Rückhalt einer riesigen Masse von Menschen, die eben eine andere Richtung verkörpern. Deswegen ist es für mich immer wichtig zu fragen, wo sind die anderen und wann kriegen wir die wieder zu hören? Und das führt uns ja auch zurück zu der Grundfrage, die Sie gestellt haben, nach dem Diskursraum Europa. Also dieser Diskursraum kann eigentlich nur funktionieren, wenn wir viel bessere Kanäle haben, um uns über diese Grenzen und auch über diese Engführungen der Medien hinaus gleichmäßig auszutauschen. Jonas Zipf: Ja, absolut. Diese unterschiedlichen Strömungen ereignen

sich gleichzeitig, werden aber nicht immer gleichermaßen repräsentiert. So gesehen besteht die Frage darin, welche Strömung sich auf dem Weg der medialisierten Öffentlichkeit in einer offenen Situation wie der aktuellen durchzusetzen versteht. Zum Beispiel beeindruckt mich tagesaktuell, dass einerseits die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, wo ja auch Bürgerrechte in Stellung gebracht wurden, nicht so sehr zu verfangen scheinen, nicht so viele Leute mobilisieren konnten, wie andererseits die Antirassismusbewegung in Amerika, die nicht von ungefähr gewaltig auch nach Europa herüberschwappt, denn auch hier gibt es strukturellen Rassismus. Dass der jetzt derart Gegenkräfte zu mobilisieren vermag, das ist für mich auf jeden Fall ein Hoffnungsmoment. Aleida Assmann: Genau! Jonas Zipf: Und das ist übrigens auch wieder ein multilaterales Zei-

chen. Schließlich verlaufen die Trennlinien der gruppenbezogenen Menschendiskriminierung längst jenseits der nationalen Grenzen, da geht es ja um internationale Diskurse. Aleida Assmann: Ja, und sie verlaufen noch über eine andere Grenze

hinweg, die uns bisher sehr stark eingeschränkt hat, und das ist die Grenze der Identitätspolitik. Denken Sie an »Can the Subaltern speak?« von Gayatri Spivak. Das war so ein schlagender Essay. Daraus galt es doch, die Lehre zu ziehen, dass die Subalternen, im Falle von Spivak

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die in Indien, eben nicht für sich und ihre Belange sprechen. Sie können und dürfen nicht sprechen. Also sind sie es, die jetzt erst mal für sich selbst sprechen müssen. Daher sollen wir anderen auf keinen Fall für oder gar über sie sprechen. Diese Erkenntnis war wichtig, aber sie führte auch dazu, dass erst mal jede Gruppe nur ihre eigene Gruppe vertreten konnte. Also wenn man irgendetwas tat und man hatte nicht die richtige Hautfarbe, dann war man nicht befugt, denn das war »Cultural Appropriation« und so weiter. Ich finde, die postkolonialen Diskurse stehen da mittlerweile an einem kritischen Punkt. So richtig die Schritte und Konsequenzen nach Spivak und anderen waren, um den »subalternen« Gruppen ihre Sprache zurückzugeben, sich selbst darzustellen und ihre Stimme zu erheben, so unglücklich ist es, wenn der postkoloniale Diskurs dort stehen bliebe. Wir sehen doch jetzt, dass es auch sehr wichtig sein kann, für andere zu sprechen, aber eben nicht an ihrer Stelle, sondern mit ihnen. Es ist möglich, das über Identitätsschranken hinweg zu tun. Wir erleben gerade ein wirksames globales, multilaterales Geschehen, das sich über Grenzen ausbreitet. Viele fühlen sich berührt, da Zeichen zu setzen und mitzureden, das ist gelebte Solidarität. Jonas Zipf: Das teile ich. Das ist ein Zeichen der Hoffnung. Damit

möchte ich die Brücke schlagen zu einem Thema, das uns in Jena momentan stark beschäftigt. Das ist das Gedenken an die Betroffenen, die Opfer des sogenannten nationalsozialistischen Untergrunds. Ich spreche von »sogenannt«, da die Verkürzung auf »NSU« sonst in meinen Augen wie ein andauernder indirekter Propaganda-Sieg dieser Gruppe wirkt. Natürlich verbindet sich damit das Thema der rechtsextremen Umtriebe in den letzten Wochen, Monaten und Jahren. Gerade die aktuellen Ereignisse rund um die Drohschreiben des sogenannten »NSU 2.0« zeigen, dass niemand davon ausgehen kann, das alles sei vorbei. Doch lassen Sie uns über die Opfer, die Betroffenen, statt über die Täter*innen sprechen. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen die Communities der Betroffenen, mit diesen Gruppen, etwa den postmigrantischen Selbstvertretungen, gilt es zu sprechen, genau wie Sie es sagen, und nicht über sie oder für sie. Das ist eine zentrale Gelingensbedingung für die Anstrengungen und Vorbereitungen, die jetzt hier in Thüringen und in Jena im Moment laufen: 2021 jähren sich zum 20. Mal die ersten Taten dieses NSU-Komplexes, und zum 10. Mal dessen Selbstenttarnung. Wir reden dabei vor allem über die Rolle des Staates. Und das möchte ich kurz reflektieren, bevor wir auf die Inhalte unserer Planungen zu sprechen kommen: Sie und ich, Frau Assmann,

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wir sind bzw. waren ja beide Staatsbedienstete, in unterschiedlichen Funktionen zwar, arbeiten aber beide, ob Hochschule oder künstlerische Institution, unter dem schützenden Vorzeichen der Unabhängigkeit. Die vielleicht wichtigste Ressource unserer staatlichen Institutionen scheint mir die verfassungsseitig garantierte wissenschaftliche, respektive künstlerische Freiheit. Wie aber können wir unsere Rolle angesichts des massiven Vertrauensverlusts, den die vom sogenannten »NSU« betroffenen Gruppen erlitten haben und noch erleiden, produktiv einbringen? Meine Frage lautet, und bei dem anstehenden, anspruchsvollen Projekt geht mir das gerade ziemlich nahe, : Wie sehr eignet sich der Staat als Moderator für einen solchen Prozess des Diskurses der Gedenkkultur? Rund um den sogenannten NSU waren es zivilgesellschaftliche Gruppen, die den Diskurs in Gang gebracht haben und auch am Leben halten, gerade auch hier in den Städten der Täter, in Jena und Zwickau, die sich lange gescheut haben oder diese Themen vielleicht aus Stadtimagegründen eher von sich wegschieben wollten. Aber die zivilgesellschaftlichen Akteure haben das Sprechen und das Gedenken aufrecht und aktiv gehalten. Auch gerade dann, als der Vertrauensverlust in den Staat so richtig manifest wurde, seitdem die juristische und politische Aufarbeitung in den Augen vieler Betroffener nicht befriedigend verläuft. Und jetzt kommen wir als Staatsbedienstete, im Falle meiner Arbeitgeber und Förderer ja sogar als Staatsrepräsentanten auf der Landesebene, die aktuelle Landesregierung unter der Führung von Bodo Ramelow, und hier in Jena ein FDP-Oberbürgermeister – wir kommen also jetzt daher und kündigen an, dass wir für das nächste Jahr ein Gedenkprojekt auf den Weg bringen und beanspruchen eine gedenkpolitische, und damit für den Staat wenigstens eine moderierende Rolle. Selbstkritisch betrachtet, müssen wir uns doch möglichst weit zurücknehmen, oder? Andererseits frage ich mich, wer, wenn nicht der Staat, kann am Ende des Tages moderieren? Natürlich muss der Impuls aus der Gesellschaft herauskommen und auch weiterhin in der Gesellschaft stattfinden, aber die Vertrauensfrage in diesen Staat, das ist auch sinnbildlich nochmal gesprochen in Bezug auf Corona, ist, glaube ich, absolut zentral an dieser Stelle. Nochmal: Ich frage mich das als inhaltlich und politisch unabhängiger, durch den Paragraf 5 des Grundgesetzes geschützter staatlich finanzierter Akteur, als der kommunal für Kultur-Verantwortliche, und ich betrachte mich immer eher als solchen, denn als Kulturverwalter, genauso wie die beteiligten wissenschaftlichen Akteure, mit denen wir zusammenarbeiten. Sind wir vom Verdacht frei, gegenüber den Betroffenen insbesondere, aber

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auch gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft, die man ja zusammenbekommen muss, wenn man überhaupt noch einen gelingenden gedenkkulturellen Diskurs hier hinbekommen will? Können Sie mich da vielleicht auch noch hoffnungsvoller stimmen? Das ist Ihnen jetzt schon zweimal gelungen … Aleida Assmann: Mal schauen, wie es weiter geht. Auf alle Fälle betre-

ten wir jetzt genau eine Domäne, von der ich Ihnen kurz erzählen muss. Wir haben am 5. März, das war die letzte öffentliche Veranstaltung an der Uni vor Corona, mit einer Stiftung den Start eines Projekt gefeiert, das den Titel trägt: »Gemeinsinn. Was ihn gefährdet und wie wir ihn befördern können«. Wir haben uns vorgenommen, diese Fragen, wie Gemeinsinn entsteht, wie man ihn stützt, was ihn zerstört, auf drei Ebenen anzuschauen: auf der Ebene des Staates oder der Nation, auf der Ebene der Stadt und auf der Ebene des Klassenzimmers. Was die Ebene der Stadt anbelangt, da können wir bereits ein anderes Forschungsprojekt einbringen: Memory in the City mit vier Postdocs, die darüber forschen, wie in der Stadt Gedächtnis produziert wird, gerade auch unter den Voraussetzungen einer Einwanderungsgesellschaft, in der viele Menschen zusammenkommen, die andere Schlüsselerfahrungen mitbringen. Wie wird also ein Gemeinsames ausgehandelt, was steht dem im Wege? Oder, anders gefragt: Wie wird gemeinsam auf eine eben auch traumatische Vergangenheit in der Stadt zurückgegriffen? Jena wäre da ein fantastisches Studienprojekt, und dass Sie da eine so große Rolle oder Verantwortung übernehmen, das finde ich ganz großartig. In meinem Buch über das Unbehagen an der Erinnerungskultur, das 2013 erschienen ist, darin gibt es ein Kapitel über den nationalsozialistischen Untergrund. Es ist überschrieben mit den Worten »Der Schock des 4. November 2011«. Ich spreche davon, dass der 4. November 2011 ein Meilenstein der deutschen Erinnerungskultur ist, von dem aus sich unser ganzes Erinnern und Gedenken anders, neu organisiert. Ich ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das nun Folgen zeitigen würde, nicht nur auf der Ebene der Stadt, sondern auch auf der Ebene des Staates. Im Rückblick war das eine völlige Fehleinschätzung. Niemand erinnert sich mehr an diesen 4. November. Immerhin gab es eine staatliche Gedenkveranstaltung, und es gab auch eine Einladung beim Bundespräsidenten. Die Opfer wurden eingeladen, und Joachim Gauck hat da einen ganz wichtigen Satz gesagt: »Sie alle haben erlebt, wie sich von einem Tag auf den anderen das ganze Leben verändert. Sie hätten Trost und Unterstützung gebraucht. Stattdessen sind Sie verdächtigt, gedemütigt und allein gelassen worden.« Er sprach auch

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von einer zweiten Traumatisierung, das fand ich sehr beeindruckend, das waren die richtigen Worte in diesem Moment. Aber von einem Meilenstein der Erinnerungskultur kann wirklich nicht die Rede sein. Ende letzten Jahres wurde ich nach Zwickau eingeladen, nachdem dort ein Baum, den eine Bürgerinitiative als Denkmal gepflanzt hatte, abgesägt worden war und Angela Merkel ein neues Denkmal eingeweiht hatte. Da hatte ich Gelegenheit, in einer Schule sehr ausführlich mit Menschen verschiedener Generationen – Lehrern, Schülern, aber auch Eltern und Großeltern – zu sprechen. Und das war eine sehr gute Erfahrung, die mir zeigte, wie groß die Bereitschaft in diesen Städten ist, Verantwortung in dieser Sache zu übernehmen und wie stark der Gemein-Sinn dort ist. Das ist eine Seite. Die Perspektive der Opfer-Familien hat mir Esther Ditschereit aufgeschlossen, die ich über dieses Thema kennengelernt habe, und von der ich viel gelernt habe. Sie hat mir deutlich gemacht, wie schwierig und heikel es für die Betroffenen ist, dass Denkmäler errichtet werden, weil es jedes Mal für sie nicht nur eine Form der Retraumatisierung ist, sondern auch die Angst erneut entsteht, dass sie wieder irgendwie in den Fokus geraten. Sie fühlen sich immer noch nicht stark genug gestützt und eingebunden, um das wirklich aushalten zu können. Das war für mich eine wichtige Information. Beide Perspektiven sind hier wichtig, die der Stadtbewohner und die der Betroffenen. Und: Ja, es braucht dafür diskursive Plattformen, die ein Akteur auf die Beine stellen muss. Kunst und Kultur sind dafür geeignet, staatlich hin oder her. Deswegen bin ich froh zu hören, dass Sie das mit in die Hand nehmen, und ich werde an diesem Dialog, den Sie da aufbauen, weiter mit Interesse teilnehmen. Denn tatsächlich sind das die Fragen, die jetzt nach 10 und 20 Jahren so aktuell werden: In dieser Phase und bei solchen Projekten zeigt es sich, ob sich die Gesellschaft in Richtung Einwanderungsgesellschaft öffnet oder weiter verschließt. Ob wir Vertrauen und Gemeinsinn in einer offenen Gesellschaft stärken, oder ob es deren Gegnern gelingt, ihren Terror, den sie mit Waffen und Worten ausüben, immer weiter in Richtung Einschüchterung und Erzeugung eines Klimas der Angst und der Bedrohlichkeit zu treiben. Jonas Zipf: Wir befinden uns vermutlich an einem Scheideweg. Ich

empfinde die Atmosphäre auch gerade innerhalb dieser zugespitzten Krisensituation als äußerst fragil und wackelig, hin und her oszillierend. Ich erlebe nicht wenige Momente, in denen bei den einfachsten Beschwerdevorgängen gegenüber staatlichen Organen Situationen kippen und Umgangsweisen verrohen. Andererseits ereignen sich

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aber auch regelmäßige Solidaritätsbekundungen und Rückenstärkungen. Letztlich entscheidet sich aber daran, für welche Form der Gesellschaft wir jetzt und künftig stehen und streiten. Ich kann das noch mal an zwei konkreten subjektiven Erfahrungen hier in Jena festmachen: Zwei Erfahrungen rund um das Thema des NSU-Komplexes, die mir Motivation genug sind, dieses Projekt jetzt auf den Weg zu bringen. Als ich 2011 nach Jena kam, als Mitglied der künstlerischen Leitung des Theaterhauses, da entsprach besagter 4. November tatsächlich der Überschrift in Ihrem Buch: die Selbstenttarnung des Terrornetzwerks wirkte wie ein Schock auf die Stadtöffentlichkeit. Das alles, diese Selbstenttarnung von Mundlos und Böhnhardt in Eisenach, dann Zschäpes Reise quer durch Deutschland, die Veröffentlichung der Bekennervideos, das alles fand kurz vor unserer ersten Spielzeiteröffnung in dieser uns neuen Stadt statt. Und dann zeigte das ZDF bei »Aspekte« einen Beitrag, der das Fass vollends zum Überlaufen brachte: Da kam ein Reporter mit dem ICE nach Jena-Paradies gefahren und lief einmal durch die Stadt und unterhielt sich mit einem türkischen Gastronomen und fuhr wieder weg. Der Beitrag begann mit einer Aufnahme des Bahnhofschilds »Jena-Paradies«, unterlegt von einem Guido-Knopp-artigen Voiceover im Basston: »Jena Paradies, KEIN Paradies für Ausländer«. Ein Teil der Stadtgesellschaft reagierte mit einem reflexhaften Shitstorm der Abwehr. Die Stadtgesellschaft, insbesondere ihr ungewöhnlich hoher akademischer und zivilgesellschaftlicher Anteil, hatte sich in den Nullerjahren in Jena stark gegen Rechts gewendet. Jena war und ist in dieser Hinsicht eine Ausnahmestadt im Osten. Und nun, nach der Selbstenttarnung des sogenannten NSU detonierte dennoch mit dem ZDF-Beitrag ein westdeutsches Vorurteil gegenüber den ostdeutschen Städten. Eines, das die Jenenser schon alleine aufgrund des Bildes, das viele Vorbeireisende vom Blick der Autobahn auf das Plattenbauviertel Jena-Lobeda pflegen, kennen und das sie nicht auf sich sitzen lassen wollten und wollen. Der Shitstorm reichte bis in den ZDF-Rundfunkrat. Leider ging es praktisch sofort nicht mehr um die Frage, wer oder was da aufgeflogen war, welche Verantwortung die Stadtgesellschaft nun schon alleine aufgrund der Herkunft der Terroristen zu tragen hat, sondern um die Verteidigung des Stadtimages. Und diese Verteidigungshaltung hat dann auch die Debatte Jahre danach dominiert, eine Erinnerungs- oder Gedenkkultur fast verunmöglicht, übrigens genauso wie in Zwickau. Beide Städte waren darum bemüht, sich die jeweilige Betitelung des Trios gegenseitig zuzuschanzen. Jena sprach dann immer von der »Zwickauer Zelle« und Zwickau vom »Jenaer Trio«.

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Aber jetzt, nach bald zehn Jahren, und vor allem angesichts der jüngsten Entwicklungen nach Kassel, Halle, Hanau ändert sich langsam etwas. Viele Entscheider, Unternehmer, Politiker und andere Vertreter der Stadtgesellschaft merken einfach, dass man nicht nichts machen kann. Dem vor zehn Jahren bekämpften Vorurteil unterliegen Städte wie Jena spätestens nach den letzten Wahlergebnissen für die AfD sowieso. Plötzlich finden Viele: Auch und gerade aus Stadtimagegründen müssen Zeichen dagegen gesetzt werden. Das hat sich um 180 Grad gedreht. Und ich bin froh darum, weil das in der Summe eine gewisse Einigkeit und eine kritische Masse und einen notwendigen kleinsten gemeinsamen Nenner ergibt, um so ein Projekt durchführen zu können. Aber letztlich geht es um viel mehr, genau wie Sie es gesagt haben, letztlich geht es um den Scheideweg der offenen Gesellschaft. Und damit kommen wir zu meiner zweiten Ur-Erfahrung hier in Jena: 2016 wollte eine Gruppe namens THÜGIDA, eine Art militanter Ableger der sächsischen PEGIDA, durch die Innenstadt marschieren. Sie hat sich natürlich ausgerechnet das gedenkkulturell extrem besetzte Datum des 9. November ausgesucht und die Demonstration tatsächlich genehmigt bekommen. Aber dann marschierten da 80 Teilnehmer, denen sich mehrere Tausend gegenüber stellten. Die Kräfteverhältnisse waren mit einem Schlag klar: THÜGIDA konnte sich nicht durch die Stadt bewegen. Im Jahr darauf gründete sich eine Bürgerinitiative, die fortan Jahr für Jahr immer am selben Tag, immer am 9. November, an allen Stolpersteinen in Jena Demonstrationen anmeldet. Damit verhindert sie nicht nur neuerliche rechte Demonstrationen, sie reklamiert vor allem den 9. November für die mehrheitliche Mitte und stellt deren Gedenken an die Opfer der Reichsprogromnacht in den Mittelpunkt. In Jena existieren knapp 100 Stolpersteine, 100 Exemplare dieses großartigen dezentralen Kunstwerks von Gunter Demnig. Diese Bürgerinitiative liefert nun jedes Jahr und an jedem Stolperstein musikalische Beiträge aus allen Richtungen der Stadtgesellschaft. Überall in der Stadt wird dann Musik gespielt, ein kleines Konzert. Und zu einem gemeinsamen Zeitpunkt, 17 Uhr, läuten die Kirchenglocken, und es wird gemeinsam ein Lied über die ganze Stadt hinweg gespielt und gesungen. Das haben wir jetzt vier Jahre lang gemacht, gemeinsam mit Musikern, auch der Jenaer Philharmonie, und mittlerweile sind an diesem Tag, am 9. November um 17 Uhr, an den Stolpersteinen viele tausend Menschen, sie kommen jedes Jahr wieder. Da ist ein gelebtes Ritual gedenkkultureller Praxis entstanden, und zwar aus der Bürgerschaft heraus.

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Aleida Assmann: Das ist also auch ein regelrechter Schutz dieser Stol-

persteine … Jonas Zipf: Ja. Und vor allem auch eine lebendige Geste des Geden-

kens. Ich binde das nochmal zurück. Ganz am Anfang habe ich von »One World, One Vision« gesprochen, von diesem Projekt, damals an der letzten großen Zeitenwende 1990. Und das ist das, was mir sozusagen die Hoffnung und die Kraft gibt, dass es anders geht und dass die Mehrheiten klar verteilt sind, zumindest in dieser Stadt Jena, weshalb ich auch gerne hier lebe. Aleida Assmann: Also das beeindruckt mich ungeheuer, was Sie jetzt sa-

gen. Wie Sie beschreiben, wie die Aktion einer neuen Erinnerungskultur aus der Re-Aktion entsteht, um anderes zu verhindern und dadurch auch eben ein solches neues Momentum bekommt, eine Dringlichkeit, einen Druck, der etwas Neues entstehen lässt. Das finde ich wirklich großartig und das zeigt mal wieder, wie formbar Erinnerung ist und wie sie sich konkreten Situationen anpassen kann. So entstehen in neuen Situationen neue Formen. Und das alles entstand, wie Sie das jetzt schildern, in nur vier Jahren! Das ist wirklich ein eindrückliches Beispiel für die Frage, wie eine Stadt mit ihrer Erinnerung umgeht, die natürlich in einer Stadt immer auch unweigerlich zu einer Imagefrage wird. Dass die Stadtgesellschaft sich potenziell als ein Kollektiv identifiziert, das war uns klar: Deswegen nehmen wir uns auch in unserem Projekt die Städte als kollektive Akteure vor. Da müssen ganz viele Bereiche innerhalb der Stadt zusammenwirken, natürlich die Stadträte und die Funktionäre, aber auch die Geschäfte, der Mittelstand, alle Teile der Bevölkerung, über Generationen hinweg, und die neu Hinzugekommenen – sie alle können sich zu so etwas konkret Greifbaren wie einer Stadtgesellschaft zugehörig fühlen – und das ist in gewisser Weise ein Abbild des ganzen Landes. Jede Stadt könnte eine Blaupause für die Nation sein. Was mich hier auch noch sehr interessiert ist die Tatsache, wie wenig die eine Stadt über die andere weiß. Vielleicht wird man in Weimar und in Erfurt noch etwas von dem mitbekommen, was Sie in Jena machen, aber ganz grundsätzlich gilt das für alle deutschen Städte. Die Erinnerung wird in den Städten lokal organisiert durch die Einwohner, die in ihr leben. Es gibt hierüber so gut wie keine Berichterstattung in überlokalen Zeitungen. Das ist auf dieser Ebene kein Thema und deshalb auch unbekannt. Weil ich das seit Jahren untersuche, mich dafür interessiere und in vielen Städten mit lokalen Gruppen darüber disku-

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Corona-Gespräche

tiert habe, weiß ich, wie unterschiedlich das überall läuft. Für mich ist das der beste Beweis für die Lebendigkeit der deutschen Erinnerungskultur, an der ja so sehr herumkritisiert wird die ganze Zeit. Alle, die ihr Unbehagen darüber ausdrücken, sehen immer nur den Staat als Auftraggeber, der den monotonen und rituellen Rahmen herstellt für diese Erinnerungskultur. Ich sehe dagegen, wie vielfältig dieser Rahmen gefüllt wird, und zwar von unten. Hier gibt es nämlich keine festen Normen. Da sagt niemand »Ihr müsst jetzt das und das machen, wir geben euch die und die Dinge vor.« So hat das auch angefangen in den 1980er Jahren, diese ganze Spurensuche, hier und jetzt, gerade unter unseren, unter Deinen Füßen, überall finden wir, findest Du die Spuren, die verwischt wurden. Aber sie sind noch da. Dieser Impuls, der da von unten kommt, lokalisiert ist und diese Erinnerungs-Aufarbeitung vor Ort überhaupt erst möglich macht, ist doch wirklich weitgehend in den Händen der Ehrenamtlichen geblieben, die dann zum Beispiel Spuren jüdischen Lebens aufgedeckt haben, so wie Sie das gerade wieder mit Eduard Rosenthal und seiner Frau Clara in Jena machen. Diese Arbeit, die kommt von unten und wird zu einem Teil der Identität der Stadt, die über das Image der vermarkteten Stadt hinausgeht, da sie eben die Geschichte einschließt, die das Selbstbewusstsein einer Stadt stark mitbestimmt. Die Fragen nach dem kollektiven Wir oder besser ausgedrückt: einem neuen Wir, so wie es gerade in der Einwanderungsgesellschaft entsteht, diese Fragen kann man wie im Brennglas in den Stadtgesellschaften entdecken. Was auf der Ebene der Städte passiert, muss auch auf der Ebene der Nation passieren, dann natürlich wieder mit anderen Mitteln. Darüber müsste man dann nochmal genauer nachdenken. Jonas Zipf: Ja. Wie sich solche Rituale erst mal über Städte hinweg, dann

aber auch über Ländergrenzen hinweg organisieren lassen, das wäre natürlich die konsequente Folgefrage, ganz im Sinne Ihres Europäischen Traums, aber dafür wird die Zeit hier und heute nicht mehr reichen. Wir haben ja schon so Vieles besprochen, das der weiteren Vertiefung an anderer Stelle bedarf. Natürlich immer innerhalb eines Wir, da sind wir beide uns sicher einig, was eben aus vielen unterschiedlichen Stimmen besteht und eben sprechfähig und diskursfähig sein muss. Aleida Assmann: Ja. Jonas Zipf: Darin, daraus besteht unser Versuch, unser Impuls, den wir

aus Jena gesetzt haben: Dass wir im nächsten Jahr dann mit einem Hö-

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Aleida Assmann und Jonas Zipf

hepunkt im Zeitraum der zweiten Oktoberhälfte 2021, mit 13 Theatern, zugleich alle Städte, die vom sogenannten NSU betroffen waren oder in denen die Täter gelebt haben, zusammenbringen. Aleida Assmann: Das ist der dritte Teil der Trilogie? Jonas Zipf: Genau. Der Abschluss des Gesamtprojekts. Am Anfang

steht momentan die stadtgesellschaftliche Aufarbeitung und Verständigung. Gemeint als »Hausaufgabe Jenas«, als Kehren vor der eigenen Haustür, bevor man sich im Prinzip auf den Weg macht. Das Projekt besteht dann aus mehreren künstlerischen Beiträgen, die über die 13 beteiligten Städte und Theater hinweg entstehen: Das ist zum einen die künstlerische Übersetzung der juristischen Aufarbeitung der Taten durch den Regisseur Nuran David Calis, zum zweiten eine in allen Städten zeitgleich erklingende Auftragskomposition von Marc Sinan, zum dritten ein dezentrales Denkmal, das seinen Ausgangspunkt in Jena nimmt und in den Folgejahren in den anderen Städten erweiterbar wäre. Das Alles denken wir in einer starken zivilgesellschaftlichen und überregionalen Signalhaftigkeit, deren Grundlage ein seit mehreren Monaten laufender, tatsächlich sehr spannender Erfahrungsaustausch zwischen den Theatern und den Stadtgesellschaften bildet, die einfach in sehr unterschiedlicher Form mit dem Thema umgehen. Da gibt es so extrem aktive Beispiele wie Köln, wo sich das NSU-Tribunal letztlich ja gegründet hat. Und dann gibt es Städte, wie Zwickau, ja, das wäre vielleicht wirklich ein Beispiel am anderen Ende des Spektrums, wo man merkt, dass die AfD schon ihren kalten kulturpolitischen Hauch bis in die Spielplangestaltung hineinwehen lässt, wo sich die Stadtverwaltung auch wirklich schon eine blutige Nase geholt hat. Sie haben es ja vorher auch angedeutet mit ihrem unangesprochenen, nennen wir es mal: »Alleingang der Bäume«. Aber spannend wird das eben, dass diese unterschiedlichen Vertreter der Städte jetzt zusammenkommen. Aleida Assmann: Ja, das ist es: Raus aus diesen ständigen Alleingängen. Jonas Zipf: Erst mal ist es gar nicht so entscheidend, wie das Produkt,

das Ergebnis, am Ende aussieht, sondern viel wichtiger ist der Prozess der Verständigung und des Erfahrungsaustausches über die Stadtgrenzen hinweg. Darin besteht unser Anliegen, unsere Verantwortung als Stadt, aus der die Täter*innen stammen.

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Corona-Gespräche

Aleida Assmann: Die Zusammenführung der Städte, wie Sie sie planen,

ist so originell und beeindruckend. Es gibt diese Blutspur durch alle diese Städte, und manche sind zweifach betroffen. Dass diese Spur freigelegt wird und in ein positives Zeichen umgeformt wird, das wäre so eine erste Solidarisierungsallianz, die natürlich auch über Ost und West hinweggeht und vielleicht auch eine Bühne wird, eine Art Szene, in der man genau diese Fragen auch neu wieder stellen kann. Und zwar auf der höheren Ebene, die Ebene der Nation als Frage nach so etwas wie einem gemeinsamen Narrativ. Das meine ich nicht einengend oder von oben verordnend, was gar nicht funktionieren kann, aber ich meine es von unten kommend, so im Sinne des Sich-Austauschens über unsere eigene Geschichte, dialogisch, so wie wir das in unserem Gespräch jetzt herausgearbeitet haben. Eine Frage zu diesem Narrativ, die mich derzeit beschäftigt, lautet: Wie kann man die letzten 30 Jahre, seit der Wende, anders erzählen, so dass diese Zeit zu einer gemeinsamen Geschichte wird, dass wir aus dieser Zeit heraus in eine gemeinsame Zukunft gehen können? Da scheint mir nämlich eine Blockade in unserer Geschichte zu liegen, ein richtiger Block, der in so einem überregionalen Austausch zwischen den Städten aufgenommen werden könnte. Daher möchte ich Ihnen danken, für diesen Anlauf. Das sind doch gute Aussichten, ja. Jonas Zipf: Nein. Bei so viel Zustimmung muss ich ganz zum Ende we-

nigstens ein einziges Mal widersprechen: Nein, ich habe zu danken Frau Assmann, für das wirklich sehr anregende Gespräch. Danke Ihnen! Aleida Assmann: Ganz meinerseits. Also dann weiter alles Gute für die-

se großartigen Sachen, die Sie da vor sich haben. Ich werde jetzt erst mal einen Spaziergang machen, da werde ich meinem Mann alles erzählen, was wir gerade besprochen haben. Jonas Zipf: Grüßen Sie ihn unbekannterweise von mir. Aleida Assmann: Ja, mache ich, mache ich. Jonas Zipf: Bis bald.

Das Gespräch fand am 9. Juni 2020 statt.

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Aleida Assmann und Jonas Zipf Aleida Assmann,1947 in Bethel bei Bielefeld geboren, ist Kulturwissenschaftlerin und Anglistin. 1977 promovierte sie in Heidelberg mit einer Arbeit über Die Legitimität der Fiktion. Sie beschäftigt sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten mit der Thematik des kulturellen Gedächtnisses, der Erinnerung und des Vergessens. Von 1993-2014 lehrte sie Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz; weltweit war sie als Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten tätig, so 2001 an der Princeton University in New Jersey, an die Rice University in Houston (2000), an der Yale University in New Haven (2002, 2003, 2005) und an der Universität Chicago (2007). Im Sommersemester 2005 hatte sie die »Peter-Ustinov-Gastprofessur« an der Universität Wien inne. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Jan Assmann gründete sie 1978 den Arbeitskreis Archäologie der literarischen Kommunikation. Für ihre Arbeiten hat Assmann zahlreiche Auszeichnungen erhalten, 2018 wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.

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Plakatmotiv – Bewegung fßr radikale Empathie

Barbara Stehle: Mit Abstand am besten

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

Wie groß ist der Leidensdruck wirklich?

Corona, Smartphones, Fußball und die Frage der Bedingungslosigkeit

Jonas Zipf: Hallo Stephan. Hier

Jonas. Sorry, dass ich so spät bin. Jetzt haben wir schon mal eine Stunde. Und dann klau ich uns gleich noch 15 Minuten … Stephan Lessenich: Hallo Jonas. Alles gut. Müssen wir halt schneller sprechen. Jonas Zipf: Schön jedenfalls,

Stephan Lessenich Foto: privat

dass es jetzt klappt. War ja gar nicht so leicht, Dich zu erreichen. Aber jetzt weiß ich ja, dass Deine Tochter Dein Handy verlegt hat. Wie heilsam!

Stephan Lessenich: Ja, das finde ich tatsächlich. Und so wirklich habe ich mich ehrlich gesagt auch noch nicht um Ersatz bemüht. Ich finde das grad wirklich gut, so aus der Welt zu sein … Jonas Zipf: Das Diktiergerät läuft jetzt jedenfalls. Das ist ja vielleicht

noch der bessere Teil dieser Teile. Diese kleinen schwarzen Dinger werden ja oft als digitale Schweizer Taschenmesser bezeichnet, mit all ihren Funktionen. Aber ich bin komplett bei Dir. Was mich insbesondere extrem abfuckt, ist diese ständige Überwachung, wenn man die entsprechenden Möglichkeiten dieser Geräte nutzt: Deswegen schalte ich regelmäßig Bluetooth und die mobile Datennutzung aus. Aber eigentlich müsste ich konsequenterweise auch ganz darauf verzichten. Das wäre besser. Ich habe das in anderen Bereichen geschafft. Social Media gibt es seit Jahren nicht mehr bei mir. Ein privates Handy habe ich nicht mehr, nur noch ein Arbeitshandy. Aber für die Taktung und Verdichtung von Arbeit, so wie ich sie kenne, erscheint ein Smartphone vermeintlich unverzichtbar. Vermeintlich …

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Stephan Lessenich: In der Wissenschaft sagen die Leute das auch, ei-

gentlich unverzichtbar. Um wirklich kurzfristig reagieren zu können, oder eben auf dem Laufenden zu sein, oder überhaupt in bestimmte Dinge Einblick zu haben, also bestimmte Felder, Diskussionen, Bewegungen usw. Das verdichtet sich jetzt noch in der Frage der CoronaApp: Wer kein Smartphone hat, macht sich sozusagen verdächtig, dass er nicht teilhaben möchte an der Sicherung der Volksgesundheit. Von daher hat das jetzt nochmal eine ganz andere Dimension erhalten. Jonas Zipf: Genau. Und die Apps funktionieren ja allesamt nur, wenn ich online bin. So sicher die Corona-App datenschutzseitig auch zu sein scheint, dennoch muss ich Bluetooth anschalten, muss ich sichtbar sein für andere. Auch, wenn das tatsächlich komplett anonymisiert läuft, ist das schon so eine sinnbildliche Verdichtung, ein echtes Dilemma. Einerseits entsteht ein begründbarer sozialer Zwang, andererseits brauchen wir die Überzahl der Anwendungen nicht essentiell. Die sind doch eher eine Stimulation von Bedürfnis. Also, da könnten wir jetzt über bzw. mit Marx reden oder der Frankfurter Schule. Dass wir diese Geräte brauchen, ist am Ende genauso wenig wahr wie, dass irgendjemand als individuelle Arbeitskraft jemals unverzichtbar wäre. Es gibt immer andere Möglichkeiten. Stephan Lessenich: Ja, also ich finde das ist ein gutes Beispiel für die

soziale Konstruktion von Realität. Es erinnert mich daran, was mir in meiner Lebenswelt immer wieder auffällt: Wie sämtliche Leute, die an der Uni beschäftigt sind, sich wechselseitig versichern, wie krass die Arbeitsbelastung geworden ist und dass man nicht mehr hinterherkommt und was man noch alles machen muss bis spätestens morgen, eigentlich aber gestern … Dabei sind wir da immer in einer Doppelrolle. Also, den Leuten, von denen ich selber irgendwelche Texte einfordere, schreibe ich, dass ich die Texte, die sie von mir einfordern, gerade nicht liefern kann. Das heißt, man bewegt sich auf beiden Seiten. Alle sind sozusagen auf allen Seiten Partei und treiben das Spiel irgendwie wechselseitig mit an und vergewissern sich einander, dass das Spiel Kacke ist, aber dass es dennoch unbedingt weitergespielt werden muss. Es ist bei allen möglichen Belangen, glaube ich, so, dass diese sozialen Mechanismen so gut funktionieren, dass man individuell für sich überlegt: Mensch, eigentlich möchte ich dieses und jenes nicht mehr mitmachen, aber die soziale Bestätigung und Verstärkung, die es durch Interaktionen gibt, übrigens immer gefühlt notwendige Interaktionen, die

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Corona-Gespräche

halten das Ding dann halt doch am Laufen. Schon eine Paradoxie muss man sagen. Jonas Zipf: Die Zeit ist ja voller Paradoxien. Wir laufen jetzt gerade Ge-

fahr, dass wir springen, aber das macht jetzt gerade so viel Spaß, deswegen spreche ich meine Assoziation einfach aus: Du bist ja auch per se erstmal ein fußballbegeisterter Mensch, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß nicht, wie es Dir geht: Aber für mich spitzt Corona ein Dilemma zu, das schon vorher da war. Und das ist ziemlich gut vergleichbar mit dem, was Du beschreibst, strukturell. Wir sind aber offensichtlich noch nicht wirklich an dem tiefen Punkt der Krise angelangt, an dem wir wirklich bereit wären, mehrheitlich eine Transformation zu wagen. Also, die Fortsetzung der Bundesligasaison ist ja strukturell derselben Argumentation gefolgt. Das musste sein, es muss eben sein. Weil sonst quasi ein ganzes System aus dem Tritt kommt. So. Eigentlich ist es aber die perfide Zuspitzung eines Unbehagens, das ich als Fan schon ganz lange spüre. Noch offener und transparenter kann man nicht demonstrieren, dass es nur noch ums Geld geht, als letztlich ohne Fans zu spielen. Stephan Lessenich: Ich habe einen Freund, der hat sich schon seit Jahren ausgeklinkt. Der hat mir immer gesagt: Das ist so Scheiße, es geht nur ums Geld. Der hat im Grunde genommen schon vorher gesagt: Das muss am Laufen gehalten werden, es ist ganz egal, wer zuguckt oder nicht, Hauptsache, es wird simuliert, dass es dafür Interesse gibt. Und das ist jetzt so offensichtlich geworden. Ja, mir geht es ähnlich. Ich bin ja auch da selber Partei und leide gerade eigentlich kräftig mit Werder. Gleichzeitig gilt: Obwohl ich mir eigentlich sonst alles angeschaut hätte, das Gefühl gehabt hätte, ich muss es mir anschauen, habe ich mich auch da ausgeklinkt. Es ist da für mich tatsächlich nochmal schonungslos offensichtlich geworden, dass Fußball ein selbstbezügliches System ist, das – koste es, was es wolle – durchgezogen werden muss. Da fragt man sich als fußballinteressierter, als fußballbegeisterter Mensch: Was ist hier eigentlich los? Wie kann es sein, dass so ein gesellschaftliches Feld, das im Grunde völlig überflüssig ist, sich so aufspielen kann? Damit sind wir dann auch bei der Frage nach der Ökonomie des Notwendigen: Fußball ist vollkommen verzichtbar, strahlt aber eine gesellschaftliche Relevanz und sogar eine Relevanz in unserem persönlichen Leben aus, die dazu führt, dass es sozusagen als »too big to fail« erscheint. Völlig verrückt.

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

Jonas Zipf: Too big to fail. Also, ich habe mir mal überlegt, so für mich,

wie das wäre als Theatermann? So fühle ich mich ja immer noch, auch wenn ich jetzt gewissermaßen die Seite in Richtung Kulturpolitik gewechselt habe. Wenn wir als Theaterleute, so wie wir staatlich finanziert sind, die staatliche Finanzierung nur behalten könnten, indem wir spielen, aber ohne Zuschauer spielen, dann wäre das so ungefähr das gleiche, vielleicht wären Kameras dabei, klar, die Leute könnten über Skype zuschauen. Aber wir würden praktisch erklären, dass es uns egal ist, ob Publikum kommt oder nicht. Wir würden erklären, dass wir das machen, weil es systemimmanent wichtig ist, zu spielen. Du hast das gerade »selbstreferenziell« genannt, übrigens ein klassischer Vorwurf an die Kunst. Wir wären uns selbst genug, wir nähmen uns sehr wichtig, wir hätten den Bezug dazu verloren, was in der Gesellschaft um uns herum los ist, was wichtig und relevant ist und was nicht. Auch an dieser Stelle komme ich dann zu dem Schluss, dass wir ganz offensichtlich innerhalb dieser Krise noch nicht am tiefsten Punkt des U, oder wie auch immer sich der Verlauf von Krise und Selbsterkenntnis in ein Bild, in eine Metapher gießen ließe, angelangt sind, um an so einen Leidenspunkt zu kommen, dass wir so was, eine solche Verhaltensweise, dann auch wirklich bleiben lassen. Beim Fußball machen immerhin noch – oder besser: wieder – Millionen an ihren Bildschirmen mit. Du und ich vielleicht nicht, ich habe das jetzt auch boykottiert, wir haben diesen schmerzlichen Punkt beim Fußball schon jahrelang berührt. Ich habe mich ganz lange schal gefühlt, es hat nicht mehr den gleichen Spaß gemacht, es ist schon fast ein nostalgisches Element mit Erinnerung an die Kindheit geworden. Ich habe aber trotzdem immer mitgemacht. Und sei es nur, dass ich in die Kneipe gegangen bin und mir die Spiele dort angeschaut habe. Ich habe das mitgetragen und dadurch beglaubigt und auch mit dazu beigetraten, dass das System Geld umsetzt. Jetzt ist da für mich ein toter Punkt erreicht. Und das nicht nur aus einer politischen Überzeugung, zu der man sich selber zwingt, sondern ich habe wirklich keine Freude mehr daran. Selbst, wenn ich es mal ausprobiert habe und doch reingeguckt hab, dann merke ich, das hat sich innerlich entfernt. Bei ausreichend vielen Anderen aber ganz offensichtlich noch lange nicht … Stephan Lessenich: Ja, also da kann man ja auch nur hoffen, dass sich

die anderen gesellschaftlichen Felder ähnlich demaskieren, mit ihren Infantinos, ihren Scheichs und ihren kriminellen, mafiösen und sonstigen Strukturen. Und Du hast vollkommen recht. Auch hier bleibt es

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Corona-Gespräche

ein Punkt des inneren Widerspruchs. Mir war das lange genug klar, aber ich bin weiter vollkommen drauf abgefahren. Aber irgendwann muss man sich doch mal fragen: Wie kann es eigentlich sein, dass ich auch emotional, affektiv so verstrickt bin in eine Struktur, von der ich – wenn ich nur mal kurz einen Schritt zurücktrete – sehe, dass sie völlig destruktiv ist!? Jonas Zipf: Ja, das ist jetzt bei Dir der Fall und bei mir auch, aber De-

maskierung hat offensichtlich noch nicht dazu geführt, dass sich eine Masse abwendet. Das Absurde ist, die Masse ist sich dessen sogar bewusst, sie sieht die Demaskierung. Also, es gibt ja durchaus Bewegung in der Vereinsszene, es gibt eine große Diskussion, die sich in den Leitmedien abbildet. Sowas wird im Aktuellen Sportstudio aufgegriffen und sonst wo. Aber es bleibt dabei, dass offensichtlich sehr viele, auch von denen, die es kritisch sehen, trotzdem noch zuschauen. Und auch ihr Pay-TV-Abo wahrscheinlich verlängern. Also, die Einschaltquoten sind ja exorbitant. Und das ist wirklich strukturell vergleichbar mit dem Hamsterrad, das Du beschrieben hast, in der Arbeitswelt: Ich brauche diese Geräte. Ich weiß, es ist schlecht für mich, ich beklage die Beschleunigung, die Arbeitsverdichtung und komm trotzdem nicht raus. Stephan Lessenich: Dann vergleich das mal mit – sagen wir es groß-

spurig – der Demokratie, von der man jetzt sagen könnte, wenn man den Rechtspopulismus sozusagen als Indikator einer sozialen Problematik erkennt oder wenigstens, dass wir mit einer entsprechenden gesellschaftsstrukturellen Problematik leben müssen: Für die Leute, die sich da vom Politikbetrieb in einer Weise abgewendet haben, die dann eben auch destruktiv wird, für deren Wahrnehmung hat sich der Politikbetrieb ganz genauso demaskiert. Sie empfinden es so: Dass es nicht um sie geht, dass es um alles Mögliche geht, dass es ein selbstreflexiver und selbstbezüglicher Betrieb ist, der macht, was er will. Da wimmelt es nur so von Infantinos, da ist der Betrieb durch und durch korrupt usw. Und ich glaube, viele »normale« Bürger und Bürgerinnen teilen vielleicht einen nicht affektiven Kern dieser Diagnose, nämlich die Ansicht, dass da was schief läuft und dass es da tatsächlich eine Entkopplung von gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen und auch von gesellschaftlichen Einstellungen gibt und dass der Betrieb so vor sich hin prozessiert, und trotzdem machen alle weiter mit. Das hieße dann: In die Fußballkneipe gehen, das ist halt wie zur Wahl gehen. Wir wissen es vermeintlich besser, machen aber nichts anders. Schon

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wieder eine Wahl? Schon wieder vier Jahre vorbei? Naja, so richtig weiß ich auch ja nicht, wen wählen, und irgendwie läuft alles nicht so gut, aber klar mach ich mit, muss man ja auch. Ich bin ja Staatsbürger / Staatsbürgerin und mündig und möchte mich natürlich wenigstens an den Punkten, bei denen ich überhaupt mitreden kann, beteiligen. Also ich finde, die Demaskierungen sind doch weiter vorangeschritten, und ich glaube auch, dass oft der Normalbürger / die Normalbürgerin irgendwann das Gefühl hat, hier ist irgendwie was nicht in Ordnung und da liegen irgendwo Leichen im Keller. Jonas Zipf: Das verstehe ich: Aber gleichzeitig ist das ja eine regelrechte Abspaltung. Es finden doch nicht alle von denen, die diese Demaskierung erkennen – die den in Deinem sehr guten Vergleich, Deiner Übertragung auf die Demokratie, empfundenen Widerspruch erleben –, dass dieses System per se abgeschafft gehört. Wenn sie gefragt werden, welche Alternative es gäbe, dann sagen sie, es ist immer noch die beste aller Welten oder das kleinste Übel oder der kleinste gemeinsame Nenner oder welche Formulierung oder welches Bild man auch immer findet – und das ist eigentlich, finde ich, das Schlimme daran. Dass es eine gefühlte Ohnmacht gibt – also, eigentlich liebe ich den Fußball, und es gibt auch nichts Besseres oder nichts Anderes und trotzdem ist es nicht gerade schön, in diesen Zeiten Fußballfan zu sein. Stephan Lessenich: Das ist wirklich so, also, ich habe da vorher nicht

drüber nachgedacht, man könnte aber bei allem, was Du jetzt gesagt hast, Fußball durch Demokratie ersetzen. Weil ich meine, Du hast eine Vorstellung davon, wie Fußball eigentlich sein soll, und früher war er so, damals, auf den kleinen Plätzen, ohne viel Geld im System, da ging es um das Eigentliche. Sieg - Niederlage - Gemeinschaft, zusammen da durch, sich mit dem eigenen Verein identifizieren, egal, was passiert. Man könnte ja auch sagen, das gilt ja auch für die Demokratie. Da sagen die Leute, eigentlich eine super Idee, früher, da war es vielleicht auch irgendwie responsiver, man war näher dran, die haben einen mehr gefragt oder haben vielleicht sogar mehr gedacht, dass sie irgendwas für einen selbst machen und nicht nur für sich. Das ist alles verloren, es gibt ja auch solche retrospektiven Idealisierungen – ja früher, da war die Demokratie besser, genau wie der Fußball früher irgendwie noch ehrlich und bodenständig war. Also ich finde schon, dass man, ohne es zu überziehen, das tatsächlich parallelisieren könnte, wenn man es drauf anlegen würde.

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Corona-Gespräche

Jonas Zipf: Ja, das wird natürlich am Ende wahrscheinlich ein wirklich

hinkender Vergleich, wenn man es analytisch in die Tiefe treibt. Aber was daran erschreckend ist, ist doch, dass offensichtlich nur die nostalgische Perspektive auf die Vergangenheit bleibt. Also, das ist das, was ich jetzt versucht habe, mit dem Begriff der Ohnmacht zu fassen: Dass keinerlei Alternative daneben oder in der Zukunft existiert, deren Sexiness oder Anziehungskraft ausreichen würde, um uns von dieser Nostalgie, von dieser Ohnmacht, abzubringen. Das ist ja wie eine Lähmung, auch der politischen Linken als urtümlich progressiver, treibender Kraft, gesellschaftliche Entwürfe, staatliche Entwürfe als Alternativen zum Status quo zu denken. Das ist doch Wahnsinn, dass wir dann lieber in eine Regression verfallen. Das Einzige, was uns im Prinzip noch bleibt, ist zu sagen »Früher war es besser«, in der einen oder anderen Form. Ob es jetzt die Bonner Republik ist, die noch so gemütlich und so direkt war, in der die Parteien-Demokratie noch funktionierte, in der Parteien als Volks-Parteien noch echte Querschnitte durch die Bevölkerungsschichten waren. Ob es die Nostalgie in Richtung DDR ist, wo man sich noch näherstand als Kleinbürgertum und sich wenigstens noch informell unter der Hand gegenseitig geholfen hat und es noch einen unverstellt solidarischen und direkten Kontakt zueinander gab. Das ist ja beim Fußball genauso, das sind alles nostalgische Momente, die wir formulieren, letztlich zu einem Großteil vergangenheitsbezogene Projektionen. Stephan Lessenich: Ja, ich glaube, weil wir alle irgendwie so disponiert

sind, dass wir hoffen, dass irgendwann irgendwo jemand um die Ecke kommt, entweder der Führer oder eine Partei oder ein großer Intellektueller, irgendwie ein Gesamtdenker – natürlich ein Mann, was sonst –, der uns erzählt, was jetzt die Alternative wäre, wie es aussehen könnte und welche Schritte man dahin gehen müsste. Und der am besten noch einen Masterplan entwirft. Und mir zehn Schritte auf dem Weg zur Transformation beibringt, die ich selber in meinen Alltag einbauen kann. Bei aller Kritik an der repräsentativen Demokratie, wir leben nun einmal in einer Delegationsgesellschaft. Wir hoffen, dass die Anderen etwas für uns tun, und wenn sie das nicht machen, dann projizieren wir auch noch den Frust über uns selbst auf die Anderen. Manchmal wird dann daraus sogar Aggression. Das war früher auch nicht anders. Wir denken jetzt zwar, früher gab es den Sozialismus oder irgendwelche anderen gut ausgemalten Alternativen, Programme und Programmatiken … – aber ich glaube, dass es irgendwann früher auch nicht einfacher war. Früher haben die Leute was geändert, wenn

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sie was ändern wollten oder wenn sich etwas ändern musste – im Endeffekt haben es die Leute einfach gemacht. Ich glaube, es ist auch heute noch so, dass man endlich aufhören müsste, darauf zu warten, dass irgendwo von irgendwoher der Heiland oder Heilsverkünder kommt, sondern dass wir uns idealerweise gemeinsam oder meinetwegen wenigstens ich mir allein überlegen müsste: »Naja, was läuft denn politisch und gesellschaftlich schief? Was kann ich selbst anders machen? Wo liegen meine Ressourcen und Kompetenzen? Was sind meine Optionsräume? Wo kann ich etwas ändern, wo nicht?« Und da, wo ich zu einer Änderung beitragen kann, versuche ich nach Kräften, das zu tun. Jonas Zipf: Das klingt jetzt ein bisschen nach »Wort zum Sonntag«,

dem alten Gassenhauer der Toten Hosen: »Früher war alles besser / Früher war alles gut / Da hielten alle noch zusammen / Die Bewegung hatte noch Wut // Früher, hör auf mit früher / Ich will es nicht mehr hören / Denn damals war es auch nicht anders / Mich kann das alles nicht stören«. Aber ich komm jetzt mal mit einer anderen Assoziation, mit einem psychologischen Bild um die Ecke. Ich lese gerade Hotel Abgrund von Stuart Jeffries, eine, wie ich finde, gelungen schöne Geschichte der Frankfurter Schule – kennst Du vielleicht? Stephan Lessenich: Das ist geil, Du musst … – also freu Dich auf die letzte Seite, da werden Dörre, Lessenich, Rosa als die Wiederbeleber der kritischen Theorie gelobt. Jonas Zipf: Da wäre jetzt die große Frage, ob Du das als Ritterschlag

empfindest … Stephan Lessenich: Ich finde es schlimm, dass Rosa und Dörre auch

dabei sind. Beide lachen Jonas Zipf: Also, wenn ich die Kontinuität der Frankfurter in der Folge

von Marx nachvollziehe, dann hinterfrage ich mehr und mehr die zugrunde liegenden Axiome und Konstrukte: Aus dem Marxismus heraus redet man z. B. über Entfremdung. Das unterstellt ja implizit, es hätte einen Zustand gegeben, einen naturwüchsigen, in dem Arbeit nicht entfremdet gewesen wäre. Das ist fast schon so eine Rousseausche Denkweise, eine Idealisierung eines paradiesischen Urzustands. Da könnten wir jetzt weit in die Tiefe gehen, da werde ich Dir auch kaum

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folgen können. Mein Punkt lautet: Nie wird die Prämisse der Fortschritts-Geschichte hinterfragt; möglicherweise aber war der Zustand vor der Entfremdung kaum weniger entfremdet, sondern einfach nur unbewusst. Menschen haben gearbeitet und sich einfach gar nicht so viel Gedanken darüber machen können, wie sich das Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Arbeit und Selbstverwirklichung anfühlt. Mir kommt vieles von dem, was wir jetzt diskutiert haben, ähnlich vor. Deswegen komme ich mit der Psychologie um die Ecke. Vielleicht ist die Bewusstwerdung ein wesentlicher Bestandteil des Problems. Heute steht uns eine lange Geschichte mit all ihren Möglichkeiten ständig zur Verfügung, wir haben die in petto. Wir können auf alles zurückschauen und kennen einen riesigen Möglichkeitsraum, der uns so traurig macht, geradezu pessimistisch und verzagt werden lassen muss, weil wir ja immer Vergleiche anstellen und auch ganz viel in diese anderen Epochen und Zeiten und auch anderen Kulturen hinein projizieren können. Es gibt den anthroposophischen Philosophen George Steiner, mit seinem Buch »Warum Denken traurig macht«. Darin ist ein ganz simpler Gedanke, der besagt, wenn man alle Möglichkeiten, die man hat, in seinem Kopf irgendwo hinzureisen, sich was vorzustellen, Utopien zu entwickeln, zu träumen, wenn man die alle als Mensch vor sich sieht, dann kann man nur traurig sein und verzweifeln, weil man diese Fülle niemals erreichen kann. Das könnte man genauso umdrehen und sagen, das ist vielleicht auch gerade schön, es hilft uns, uns auf uns selbst und das, was wir wirklich wollen, zu konzentrieren. Das würde Hartmut Rosa sicher stark machen. Aber bezogen auf das Geschichtsbewusstsein, das wir hier gerade ausbreiten, unterstellen wir doch immer wieder, es gäbe Zustände und Aggregate zu anderen Zeiten, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft, an anderen Orten, in anderen Gegenden auf der Welt, in denen es besser gewesen sein könnte. Nach dem Motto »Nachbars Kirschen sind immer röter«. Wenn ich aber überhaupt kein Bewusstsein dafür ausbilden kann, mir überhaupt keine Gedanken machen kann, wenn ich überhaupt keine Zeit, keine Ressourcen als Gesellschaft, keine Leute beschäftigen und bezahlen kann, so wie Dich in der Wissenschaft oder mich für die Kultur, die sich überhaupt darüber Gedanken machen, die an einem Donnerstagmorgen, zwischen 9 und 10 Uhr telefonieren und so ein Gespräch führen, dann entsteht vielleicht dieses Schmerzbewusstsein gar nicht erst. Stephan Lessenich: Ich meine, was haben wir denn die letzten Jahr-

zehnte gemacht, als Gesellschaft, als Steuerzahlergemeinschaft? Wir

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

haben Leute wie Dich und mich finanziert. Wir sind ja nicht erst plötzlich in den letzten Jahren auf die Bühne getreten. Da gibt es so etwas wie Reflexionsagenturen der Gesellschaft. Wir sprechen von Institutionen der Kunst und Kultur, der Wissenschaft, auch der Medien, etwa des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die sind ja in Deutschland, muss man sagen, vergleichsweise auch immer noch gut finanziert. Doch eigentlich ist so ein Selbstreflexionsbetrieb der Gesellschaft vielleicht auch nur einer, der punktuell mal ein, zwei Verkrustungen aufbrechen kann und ein bisschen Licht in dieses Dunkel, das Du gerade jetzt rekonstruiert hast, bringen kann, aber der letztendlich nichts austrägt. Kurzum, solange es spezialisierte Agenturen sind, solange keine institutionellen Vorkehrungen der breiten und offenen Teilhabe getroffen werden, solange also Hinz und Kunz in einem beschissenen Job oder in einer aufreibenden Arbeit oder in einer anstrengenden Familie oder in einer kleinen Wohnung stecken, was auch immer – solange werden sie sich also nicht solche Gedanken machen können. Und die Leute sind nicht doof, die haben nur einfach strukturell beschränkte Mittel, um ihr Nicht-doof-Sein auch auszuleben. So kommt es dann halt zu Zuständen wie wir sie jetzt haben. Da ist einerseits bestimmt ein psychologischer Mechanismus, aber andererseits, glaube ich, geht das noch tiefer. Das ist gesellschaftsstrukturell – ich habe ja da eben mal aus dem Handgelenk von der Delegationsgesellschaft gesprochen. Es hilft doch auch letztlich, wenn man so die Veränderungsutopien nach hinten projizieren kann: Früher war es besser, unentfremdeter, solidarischer, gemeinschaftlicher, die Leute haben aufeinander geachtet. Das hilft doch dabei, um nicht jetzt etwas tun zu müssen. Es ist einfacher, das Bessere in der Vergangenheit zu vermuten und nach vorne nur pessimistisch zu denken: »Nö, ich habe einfach zu viel zu verlieren, ja selbst in meiner abhängigen Position, kann zwar keine großen Sprünge machen, aber immerhin könnte ich auch das noch verlieren«. Ich glaube, in einer ganz anderen Weise, als das jetzt Heinz Bude mit seiner Gesellschaft der Angst meint, sind solche angstbesetzten Mechanismen tiefenwirksame Verhinderer der strukturellen Transformationen, die eine wirkliche Veränderung unserer gesellschaftlichen Lebensverhältnisse herbeiführen müssten. Jonas Zipf: Das, glaube ich, berührt jetzt den Punkt, über den ich heute konkret mit Dir reden wollte, nämlich die Frage nach der Arbeit und wie wir quasi Arbeit, Erwerbstätigkeit und die Belohnung und Anerkennung von Arbeit formieren und entkoppeln. Das Gespräch, das ich mit Thomas Oberender geführt habe, dem Intendanten der Berliner

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Corona-Gespräche

Festspiele, das ging ganz schnell in die Richtung, wie jetzt dem Kreativsektor zu helfen sei. Das ist jetzt der Zeitpunkt, um über Modelle wie das Bedingungslose Grundeinkommen zu reden. So könnte man ja auch eine Abzweigung nehmen von dem Strang, den wir jetzt gerade erwischt haben: Solche Modelle sind ja erst möglich geworden durch die Reflexionsagenturen, auch die damit verbundene Traurigkeit, letztlich auch durch die Angst, von der Du gesprochen hast, von der Bude herkommt. Solche Modelle konnten auch entstehen, weil wir so produktiv geworden sind in der Arbeit, weil Zeit freigesetzt wurde bei den Menschen. Wir brauchen heute letztlich einen anderen Arbeitsbegriff. Jetzt könnte das natürlich auch ein Instrument sein, um die Krise zu bewältigen. Beispielsweise gibt es eine Petition aus dem Modedesign heraus, hast Du vielleicht mitbekommen: Tonia Merz, das ist eine Modedesignerin, die das auf den Weg gebracht hat, und die mittlerweile über eine halbe Millionen Unterschriften dafür gesammelt hat, das Bedingungslose Grundeinkommen jetzt einzuführen, dann aber für die Kreativschaffenden. Das Schwierige an der Diskussion scheint zu sein, dass dieses Instrument vermeintlich nur gelingen kann, wenn man es für alle einführt. So sieht das auch Thomas Oberender, der ganz klar gefordert hat, das soll kein Instrument sein, um jetzt die Krise der Kreativschaffenden zu bewältigen. Stattdessen müssen wir die Krise jetzt nutzen und über die Einführung dieses Instruments insgesamt reden und nicht nur im Bereich der Kreativschaffenden, sondern gesamtgesellschaftlich. Demgegenüber gibt es die gewerkschaftliche Position, die besagt, das BGE sei problematisch, denn es hebele das Recht auf Arbeit aus, es hebele die kollektivrechtliche Gestaltung von Tarifverträgen aus, am Ende sollten wir lieber über eine Reform der Sozialkassen reden, Stichwort Bürgerversicherung und dergleichen. Gerade DGB-Chef Reiner Hoffmann steht dem BGE ja sehr kritisch gegenüber, was einen – finde ich – wundert, also mich wundert es nach wie vor. Findest Du auch, dass jetzt eigentlich der Zeitpunkt ist, so ein Instrument rauszuholen, ich will jetzt nicht sagen, aus der Mottenkiste, da befindet es sich nicht, aber es ist auch nicht so, dass es wirklich ernsthaft diskutiert würde, dass man jetzt irgendwo absehen kann, dass es tatsächlich über eine Partei eingeführt werden könnte. Ist jetzt der Zeitpunkt wo man sowas aktiv einfordern kann oder sogar muss? Momentan resultiert die Diskussion ja wirklich eher aus einer Bedarfssituation … ? Stephan Lessenich: Ich habe ja vorhin schon die Ökonomie des Not-

wendigen angesprochen. Wenn Corona je irgendwie ein Möglichkeits-

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

fenster öffnet, jedenfalls erstmal eine Diskussion über ein so wichtiges Thema zu führen, dann ist das doch gut! Denn das ist ja die Voraussetzung vor allem anderen, eine gesellschaftliche Debatte darüber, was wir eigentlich brauchen und was wir nicht brauchen. Es gibt bestimmte Infrastrukturen, die braucht man einfach für das friedfertige Funktionieren einer Gesellschaft. Wir wissen mittlerweile, dass ein ordentliches Gesundheitswesen dazu gehört, man braucht auch sonstige Infrastrukturen, beispielsweise kulturelle Infrastrukturen, das ist ganz offensichtlich. Da muss man sich überlegen, auch über solche Krisen hinweg: Wie kann man den Leuten da die Existenz sichern? Und da kommt man natürlich schnell auf das Bedingungslose Grundeinkommen. Aber da steckt ja viel mehr drin, und es ist natürlich ein total vermintes Terrain in der politischen Debatte, das dominiert wird von allen möglichen Reflexen von beiden Seiten, also Befürworter*innen und Gegner*innen. Du sagst, man wundert sich hier, dass der DGB oder sein Vorsitzender eher ablehnend sind. Aber man wundert sich über andere Sachen ja auch, etwa, wieso die als erstes auf eine Kaufprämie für Autos kommen, um die Krise zu überwinden. Aber ich glaube, was das Bedingungslose Grundeinkommen irgendwie zu so einem Kampfgegenstand werden lässt, ist die Bedingungslosigkeit, und ich finde aber, ehrlich gesagt, dass das der zentrale Punkt ist, über den ernsthaft diskutiert werden müsste. Dass nämlich wirklich Jeder und Jede das BGE bekommen soll. Da wird ja immer gesagt »Ja, warum soll der Millionär das bekommen?« usw. Das ist eine Prinzipienfrage, ob alle Bürger*innen, egal, was sie sonst tun, wie sie gepolt sind, wo sie herkommen usw., ob alle Bürger*innen gleich sind in ihrer Existenzberechtigung und zwar dann auch in ihrem materiellen Subsistenzrecht. Und da fällt einem dann immer der Multimillionär ein: Warum soll der ein Grundeinkommen bekommen?! Aber viel relevanter ist doch, dass einem als erstes der Migrant oder die Migrantin einfallen müsste. Die Person, die gestern noch nicht hier war, heute hier ist, soll die sofort das volle Grundeinkommen bedingungslos bekommen?! Und da würde ich sagen: Ja, das ist eigentlich der prototypische Fall, die Sozialfigur, an der man die Bedingungslosigkeit festmachen kann und diskutieren müsste. Und das verweist meines Erachtens schon auf eine Achillesferse der gesamten Diskussion: Wenn wir jetzt hier in der deutschen Debatte ein Grundeinkommen fordern, wir als sozusagen die avancierten Milieus der sozialpolitischen, gesellschaftspolitischen Debatte, dann denken wir natürlich an ein Grundeinkommen für Deutschland und für Deutsche oder für Leute, die sich schon länger hier auf dem Boden

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Corona-Gespräche

der Bundesrepublik aufhalten. Dann überlegen wir »Ja bekommt man dann nach fünf oder nach zehn Jahren eines stabilen Aufenthalts hier den Anspruch, da teilzuhaben?« – »Bedingungslos« muss aber heißen: Alle und Jeder. Im nächsten Schritt muss man das Bedingungslose Grundeinkommen global denken. Du merkst: Das ist eine ganz andere Kiste als sozusagen eine Notspritze für Kulturberufe oder sonstige Sektoren, die jetzt von der Krise in Mitleidenschaft gezogen worden sind, sondern da sind dann ganz zentrale Fragen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit im Spiel, und deswegen auch die starken Reflexe. Leute, die sich damit beschäftigen und dem dann auch kritisch gegenüberstehen, die wissen um die potenziell universalistischen Dimensionen dieses Instruments. Aber ich glaube: Viele, die das BGE fordern, würden jetzt auch nicht sagen »Ja klar, da müsste jetzt wirklich Jeder und Jede mit ins Boot«. Deswegen finde ich, wenn man von der Bedingungslosigkeit, dass Jede und Jeder davon profitieren sollte, ausgeht, dann kommt man, glaube ich, schon ans Eingemachte dieses Vorschlags. Und dann sortieren sich womöglich auch Befürworter*innen und Gegner*innen nochmal ganz anders, neu. Da muss man dann nochmal schauen, für so eine Vorstellung von Grundeinkommen, also wirklich bedingungslosem: Wer ist da eigentlich noch dafür? Die andere zentrale Frage, die Gewerkschaften ja auch interessiert, und von der ich denke, darin steckt auch ein zutreffender Kern der Kritik: Das Grundeinkommen wird zu einer noch liberaleren, noch wilderen Gestaltung von Arbeitsverhältnissen führen. Warum sollen die Leute ein Interesse daran haben, ihre Arbeitsverhältnisse, ihre abhängigen Beschäftigungsverhältnisse irgendwie noch beeinflussen und den Lohn nach oben treiben oder die Arbeit verkürzen zu wollen oder Ähnliches, wenn sie schon ein Auskommen haben durch das Grundeinkommen? Ich finde, der richtige Kern an dieser Stelle ist, dass wir uns – und darin liegt ein zentrales Manko der gewöhnlichen Grundeinkommens-Debatte – nicht nur über die Verteilungsfrage oder sozusagen die Frage der Zirkulationssphäre »Bei wem kommt das Geld an?« unterhalten müssen, sondern wir müssen in die Produktionssphäre schauen: Wie wird eigentlich produziert? Was wird produziert? Unter welchen Bedingungen? Wer hat da Mitsprache, wer entscheidet, wer muss sich Entscheidungen unterwerfen? Ich halte es für ein Problem, nur ein Grundeinkommen ohne die Produktionsverhältnisse zu diskutieren. Das klingt jetzt so ein bisschen orthodox und altbacken, aber ich denke, das ist wirklich ein Problem, wenn wir nur über Verteilungsverhältnisse sprechen und nicht darüber, wie der Reichtum eigentlich produziert wird, was die Folgen und Folge-Folgen sind! Dann

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

führt so eine Debatte um das Grundeinkommen, fürchte ich, in die Irre. Das ist natürlich total schwer, all diese Tiefendimensionen mit einzubringen, wenn jetzt ein Kulturbeschäftigter sagt: »He, rettet uns, wir wollen 1000 Euro im Monat und zwar sofort und immer«. Jonas Zipf: Wobei alleine das ja schon nahezu revolutionär wäre. Aber

erstmal finde ich es absolut überzeugend, wie Du die gewerkschaftliche Kritik einbeziehst. Ich glaube tatsächlich, dass die da einen Punkt haben. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass das BGE auch von manchem Arbeitgeber als Instrument offensiv diskutiert wird. Es liegt nahe, dass es eine Liberalisierung von arbeitsrechtlichen Verhältnissen zur Folge haben könnte. Das ist ja das, was der DGB mit »Einschränkung von kollektivrechtlicher Gestaltung der Arbeitswelt« oder mit »übergeordnetem Recht auf Arbeit« meint; Du hast da jetzt von der Produktionssphäre gesprochen. Tatsächlich wird eine mehrheitsfähige Diskussion von so einem Instrument nicht gelingen, wenn die Arbeitnehmer-Seite und auch die Gewerkschaften nicht mit ins Boot steigen. Andererseits wird man mit dem von Dir benannten Aspekt der Bedingungslosigkeit insbesondere in Bezug auf zugewanderte Menschen auf der konservativen Seite dieser Gesellschaft keinen Blumentopf gewinnen. Eine Mehrheit wird unter diesen Vorrausetzungen schwer zu finden sein. Daher komme ich jetzt nochmal zurück zu dem Punkt der Kreativen, also zu einer möglichen Vor- und Zwischenstufe. Aus der aktuellen Situation heraus könnte man ja tatsächlich in die Richtung gehen, die auch die Gewerkschaften stärker machen, nämlich über die Sozialversicherungen zu reden. Wir haben im Grunde schon ein gelingendes Verteilungsinstrument, nämlich die Künstlersozialkasse. Sie ist schon so ein relativ gerechtes und relativ bedingungsloses Instrument. Wenn ich als Kreativschaffender nachweisen kann, dass ich soundso viel pro Jahr einnehme, dann komme ich da rein, das ist die einzige echte Schwelle, die es gibt, dann bin ich an der Stelle schon einigermaßen abgesichert vom Staat, relativ im Gegensatz zu anderen Versicherten, ob es jetzt in der privaten oder in der gesetzlichen Krankenkasse / Sozialversicherung ist. In Frankreich gab es das ganz lange, es nannte sich »Intermittants du spectacle«, in Italien gab es das auch. In Frankreich gibt es das auf dem Papier sogar immer noch, ist nur mittlerweile komplett ausgehöhlt. Das ähnelt Modellen wie der Bürgerversicherung und gäbe in einer etwas erweiterten Form den Kreativschaffenden die Möglichkeit, außerhalb der normalen Sozialversicherungssysteme weiterbezahlt zu werden. Wer eine bestimmte Anzahl von Arbeit, von Stun-

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Corona-Gespräche

den, von Projekten in einem Jahr nachweisen kann, käme so quasi in den Genuss dieser Lohnfortzahlung für die Zeit, in der es nichts zu tun gibt, und fällt dann nicht automatisch in die sonstigen Absicherungssysteme, die einfach nicht passgenau sind. Das erleben wir ja jetzt mit Corona auch, also mit den sogenannten »Soforthilfen« für Solo-Selbstständige, die nur funktionieren, wenn ich Betriebsausgaben gegenrechnen kann. Für Kreativschaffende, die nur von ihrem Kopf, ihrer Seele, ihren Armen leben und keine betrieblichen Ausgaben haben, keine Betriebswagen kaufen, keinen Rechner usw., für die funktioniert die Soforthilfe, funktioniert dieses Modell nicht. Da könnte eine Zwischenstufe tatsächlich sein, so ähnlich wie es die Gewerkschaft auch vorschlägt, dass man sagt, wir brauchen eine solidarischere Sozialversicherung. Eine Bürgerversicherung ist wahrscheinlich nochmal ein Kapitel für sich, aber man müsste neben den Kreativschaffenden auch die wissensbasierten Berufe, den Wissenschaftsbereich, der ja auch komplett prekarisiert ist, in solche Überlegungen einbeziehen … Stephan Lessenich: Was ich dazu sagen möchte: Das ist ja alles super. Nur da sieht man halt, wie schnell man sozusagen auf dem Boden der Tatsachen ankommt, gemessen an dem, was wir vorher diskutiert haben. Wer kleinteilige reformistische Schritte diskutiert, die wunderbar sind, sollte sich darüber im Klaren sein, dass die nur dann wunderbar sind, wenn man sozusagen den Fluchtpunkt dessen mit einbezieht, auf den es eigentlich zugehen soll. Was wäre also das Gestaltungsziel für Arbeitsverhältnisse oder auch für selbstständige Arbeitsverhältnisse? Die Verbesserung oder die Verallgemeinerung von Künstlersozialkasse oder ähnlichen Instrumenten? Ich finde einfach, das müsste immer gerahmt werden, dass daraus ein Schritt in eine bestimmte Richtung wird, damit es nicht nur eine Notmaßnahme bleibt, sondern tatsächlich den Geist einer Erweiterung oder Standardisierung, also etwas Überschüssiges in sich trägt. Diesen Überschuss, den müsste man dann immer mitdenken. Das, was Du jetzt sagst, das geht zurück in die Grundüberlegungen von sozialer Absicherung. Da ging es immer darum, den Einkommensfluss zu stabilisieren. Das ist der Anfang von moderner sozialer Sicherung. Du hast Tagelöhner oder Leute, die mal beschäftigt sind und mal nicht, mal viel verdienen, mal gar nichts. Den Einkommensfluss zu verstetigen, sozusagen im Verlauf der Zeit zu kontinuieren, das ist die Grundidee von sozialer Sicherung. Im Prinzip müsste man diese Grundidee auf alles beziehen und dann – das wäre meine Position – ein einheitliches System machen, also tatsächlich so etwas wie eine Bürger*innen-Versicherung. Und dann ist wieder die

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

Frage: Wer ist Bürger, wer ist Bürgerin? Sind das auch die, die heute ankommen und gestern nicht da waren? Man müsste es tatsächlich für alle denken: Denn es gibt Brüche im Einkommensfluss, in einer kapitalistischen Gesellschaft ist das völlig normal. Wenn wir Ökonomie so einrichten, wie wir es tun, dann ist sozusagen die öffentliche soziale Sicherung für ihre Finanzierung darauf angewiesen, sind wir solidarisch dazu gehalten, Einkommensflüsse für alle Bürger*innen zu verstetigen. Das ist, glaube ich, die Grundidee. Das ist das eine. Das andere wäre, dass wir darüber nicht vergessen dürfen, warum der Einkommensfluss in der Gesellschaft immer wieder abbricht. Und zwar nicht nur bei Künstler*innen, sondern auch bei anderen, bei ganz vielen Prekarisierten in dieser Gesellschaft. Und warum es ein Strukturmerkmal von spätmodernem Kapitalismus ist. Ich würde sagen: Bedingungsloses Grundeinkommen muss immer unter gegebenen Bedingungen diskutiert werden. Da gab und gibt es in den Gewerkschaften übrigens auch schon vor längerer Zeit die Diskussion über so etwas wie eine bedingungslose Grundzeit. Also letztlich allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Neben der Verstetigung des Einkommens wäre das der andere Hebel, tatsächlich radikale Arbeitszeitverkürzungen, und möglichst weitgehend. Nicht zuletzt auch, um das, was wir als Angst, als Zurückhaltung anders zu denken, vorhin diskutiert haben: Wenn man das Denken in Alternativen ermöglichen möchte, dann braucht man nicht nur Geld, nicht nur soziales Auskommen und das Einkommen fürs Auskommen, sondern man braucht auch Zeit. Man braucht Zeit und Raum zum Denken und Sich-Austauschen. Und so gesehen, ist eine bedingungslose Grundzeit eigentlich mindestens so relevant wie das Bedingungslose Grundeinkommen. Jonas Zipf: Das war jetzt auf den Punkt. Da merkt man auch, wie sehr Du es gewohnt bist, über sowas zu sprechen. Und dass zum Soziologen noch der Politiker tritt. Als ob ich jetzt Dein Interviewer im Radio wäre und sagte »Für diesen O-Ton haben wir 43 Sekunden Zeit, dann kommen die Nachrichten …« – Genauso hast Du es jetzt auf den Punkt gebracht. Ja, tatsächlich dankbar bin ich an der Stelle für den Hinweis darauf, dass man die Produktionsverhältnisse oder die Produktionssphäre nicht aus dem Blick verlieren sollte – das hast Du ja jetzt zuletzt nochmal angeschnitten, mit der Frage der Arbeitszeit-Gestaltung, vor allem die historische Perspektive. Und das ist wahrscheinlich der mehrheitsfähigste Punkt an all diesen Diskussionen, nämlich, dass das volkswirtschaftliche Schmiermittel Einkommensfluss, ja letztlich Kaufkraft heißt. Das ist genau die Logik der Krisenbewältigung, die

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Corona-Gespräche

gerade auch makropolitisch stattfindet. Wir meinen dafür sorgen zu müssen, dass die Wirtschaft wieder angekurbelt wird. Das sind ja die Hauptinstrumente – Mehrwertsteuer, Kindergeld usw. – die gerade angewandt werden. Deswegen glaube ich, sind die historische Perspektivierung und Kontextualisierung an dieser Stelle ganz wichtig. Wenn wir jetzt mehr Zeit hätten – und wir merken das ja in unserem kurzen Gespräch, dass da noch viel, viel mehr dranhängt und drinsteckt –, würden wir jetzt praktisch sofort wieder einsteigen in die Diskussion, die dahinterliegt, nämlich die Frage, ob dieser Konsum wirklich das richtige Schmiermittel ist. Und Du sagst, wir müssen einen Blick dafür haben, worauf es hinführt, wir müssen natürlich über den weiteren Horizont reden … Stephan Lessenich: Dafür ist eben auch bedingungslose Grundzeit

wichtig, also überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit zu schaffen, dass die Leute gemeinsam überlegen, was sie mit ihren Konsummöglichkeiten, die durch den stetigen Einkommensfluss gewährleistet sind, anfangen wollen. Das ist natürlich immer so eine bildungspolitische Vision: Ja, wir wollen weniger konsumieren und weniger initiieren. Das wird man nicht im Griff haben. Aber den Leuten doch die Möglichkeit zu geben, sich gemeinsam zu überlegen, was sie überhaupt wollen, das ist und bleibt nun mal das A und O. Jonas Zipf: A und O. Damit schaffe ich jetzt leicht einen Bogen zum Anfang des Gespräches. Da haben wir nämlich über die Sinnhaftigkeit von Smartphones und unserem Fußballkonsum gesprochen, und die Zeit, sowas zu reflektieren, müssen wir unbedingt finden … Stephan Lessenich: Ja, denn eigentlich hat das Gespräch ja gerade erst

so richtig angefangen. Wenn Du jetzt hier wärst und wir es könnten, dann würden wir uns die Zeit einfach nehmen, einen Kaffee kochen und voll einsteigen. Jonas Zipf: Corona hin oder her. Raum und Zeit hängen eben doch zu-

sammen. Lass uns das machen. Das nächste Mal, wenn ich in München bin. Stephan Lessenich: Oder wenn ich mal wieder in Jena bin. Jonas Zipf: So sagt man das. Und macht es dann doch nicht. Oder schaffen wir das? Alles eine Frage des Leidensdrucks, will mir scheinen …

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Stephan Lessenich und Jonas Zipf

Stephan Lessenich: Doch. Lass uns das machen. Statt der Zeit für

Smartphone, Fußball und Co.! Das Gespräch fand am 2. Juli 2020 statt.

Stephan Lessenich, 1965 in Stuttgart geboren, studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft, Soziologie sowie Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. 1993 erfolgte seine Promotion an der Universität Bremen. Er war Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und habilitierte sich 2002 an der Universität Göttingen für das Fach Soziologie. Ab 2004 war er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-SchillerUniversität Jena und dortiger Direktor, gemeinsam mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa, der DFG-Kollegforschergruppe »Postwachstumsgesellschaften« am Institut für Soziologie. Zum Wintersemester 2014/2015 wurde er als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Soziale Entwicklungen und Strukturen an das Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München berufen. Seine Arbeitsgebiete sind die politische Soziologie sozialer Ungleichheit, vergleichende Makrosoziologie, Wohlfahrtsstaatsforschung, Kapitalismustheorie und Alterssoziologie. Er ist u.a. Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Netzwerks Grundeinkommen und der deutschen Organisation des Basic Income Earth Network (BIEN) für ein Bedingungsloses Grundeinkommen.

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Volkhard Knigge und Jonas Zipf

Vergessen wir nicht … die Psychoanalyse!

Volkhard Knigge Foto: privat

Jonas Zipf: So, die Aufnahme läuft nun. Wir sitzen jetzt im Volksbad. Volkhard Knigge ist zum ersten Mal seit dessen Umnutzung hier. Oft ist es so, dass Leute hierherkommen und uns erzählen, dass sie hier das Schwimmen gelernt haben. Das ist vielleicht heute nicht anders: Indem wir Kultur veranstalten, schwimmen wir ja auch. Heute ist das Volksbad vor allem die Zentrale von JenaKultur. Meine Lieblingsanekdote erzählt immer mein kaufmännischer Leiter: Das Controlling befindet sich in den Schwitzräumen, passenderweise im Dampfbad.

Volkhard Knigge: In den Schwitzräumen. Jonas Zipf: Ausgerechnet das Controlling. Also die, die die anderen

zum Schwitzen bringen. Volkhard Knigge: Okay. Jonas Zipf: Ich muss zu Beginn etwas ausholen, warum es mir nach

meinem Gespräch mit Aleida Assmann ein besonderes Anliegen war, nun auch mit Volkhard Knigge zu sprechen. Nach dem hoffnungsvollen Ansatz der prinzipiellen Möglichkeit eines Gelingens einer gemeinschaftlichen Erinnerungsarbeit stieß ich auf die Publikation, die Axel Doßmann zur Arbeit von Volkhard Knigge besorgt hat. Ein Buch in vielen einzelnen Splittern, kleinen Texten, Interviews, das die Überschrift trägt: »Geschichte als Verunsicherung«. Ich habe gelernt, dass dabei im Grunde noch ein wesentliches Adjektiv fehlt, nämlich das Adjektiv »willentlich«. Das heißt, sich wirklich bewusst selbst auch an Geschichte und ihrer Erfahrung in Verunsicherung zu bringen. Darüber

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würde ich gerne mit Dir, Volkhard, heute reden. Erinnerung ist ja doch was ganz Trügerisches. Und ich bin, zumindest bis zum Vordiplom, studierter Psychologe. Ich habe das nicht zu Ende studiert, weil mich dann die Theaterarbeit gepackt hat. Aber das, was mich am meisten fasziniert, am meisten geprägt hat in meinem Grundstudium, das war die sogenannte narrative Psychologie, eine ganz kleine Splitterdisziplin, betrieben von Leuten, wie Jerome Bruner oder Jens Brockmeier und zurückgehend auf den Philosophen Paul Ricœur und dessen Zeitbegriff, bei dem es eigentlich darum geht, dass man Zeit nur in ihrem Verlauf als sinnhaft erlebt, nur dann, wenn man daraus zusammenhängende Narrative erzeugt. Anders kann es bei Biografien und Erinnerungen gar nicht sein. Da will ich mal einsteigen. Niemand kann seine Vergangenheit erinnern, ohne diese automatisch als Narrativ zu konstruieren. Durch diese Narrative werden natürlich Dinge auch verstellt, weil sie Sinnzusammenhänge stiften und Sinn stiften, wo vielleicht gar kein Sinn war. Weil sie Einzelereignisse zusammenfügen in eine kohärente Erzählung. Dazu tritt noch der Faktor, über den da auch einige empirische Forschung betrieben wurde, so habe ich es in meinem Grundstudium zumindest kennengelernt – darüber, dass das Sprechen über diese Vergangenheit in eine sprachliche Eigendynamik gerät. Je länger das Ereignis eigentlich zurückliegt, umso verstellter wird der Blick. Das hat mich sehr fasziniert als eine Hypothese oder Annahme, als Axiom einer narrativen Psychologie, die letztlich die Dekonstruktion solcher Narrative betreibt. Und wenn ich dann in Gespräche komme mit Dir oder mit jemanden wie Aleida Assmann, dann finde ich da vieles wieder, gedanklich, assoziativ, was ich damals gelernt habe. Man muss Erinnerungen schon erst mal grundsätzlich misstrauen, oder? Volkhard Knigge: Man muss zunächst verschiedene Dimension unter-

scheiden und die historisch kulturellen, auch politischen Aufladungen und Interessen differenzieren, die in das Reden von Erinnerung und Erinnerungskultur eingegangen sind, nicht zuletzt vor dem Hintergrund und in Folge der Erfahrung des Nationalsozialismus, seiner Verbrechen, insbesondere des Holocaust. Erinnerung ist ja zunehmend zu einem Schlagwort geworden, einer Vokabel, die ohne größeres Nachdenken rein positiv verstanden wird, Erinnerung als ausschließlich Gutes, als wesentlich mit historischer Wahrheit, Aufklärung, mit gelingender Aufarbeitung wenn nicht mit Erlösung verbunden. Da schwingt latent, ich spitze es zu und setze es gleich in Anführungsstriche, ein vermeintliches »Glücksversprechen der Psychoanalyse« mit, das die

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Corona-Gespräche

Psychoanalyse so nie gegeben hat. Psychoanalyse ist immer wieder als Glücksversprechung im Sinne von absoluter Heilung, Erlösung, Befreiung missverstanden worden. Im Freudschen Verständnis heilt Psychonanalyse aber nicht, sondern ist herausforderndes selbstreflexiv-verstehendes Durcharbeiten von lebensgeschichtlich und auch kulturell zugewachsener Entfremdung. Die lässt sich im Prozess von »Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten«, dem die Arbeit an Widerständen, Schmerz, Angst inhärent ist, in Akten verstehenden Begreifens tendenziell auflösen, so dass Wahrnehmung, Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten sich weiten, aber im Paradies ist man damit noch lange nicht und schon gar nicht für alle Zeiten. Erinnern ohne verstehend-begreifendes Durcharbeiten verstetigt im Übrigen den Wiederholungszwang. Diese von einem verkürzten Psychoanalyseverständnis herkommende Erlösungsaufladung der Erinnerungsvokabel hat ihren historische Ort nicht zuletzt in den 1960er, 1970er Jahre, in denen die Wiederentdeckung der Psychoanalyse und die Aufarbeitung der NS- Vergangenheit – auch durch und in Folge der 68er Bewegung – in der Öffentlichkeit an Raum gewinnen. Darüber hinaus vernebelt der heutige Erinnerungsjargon drei zwar verflochtene, aber doch klar zu unterscheidende Dimensionen von Erinnerung. Die der lebensgeschichtlichen, unmittelbar an eigene Erfahrung und deren Verarbeitung und Deutung gebundene Erinnerung. Dann das historische Erinnern in der Gesellschaft, das sich etwa in Gedenktagen, Denkmalen oder Benennungen von Straßen niederschlägt; ein Erinnern, das – erst recht mit zeitlichem Abstand – weniger ein Sich-Erinnern ist, sondern ein Erinnert-Werden: durchmachtet, tendenziell umkämpft, funktionalisiert, kommerzialisiert, keineswegs zwingend bzw. essentiell der Wahrheit oder zivilisierenden, menschheitlichen, universalistischen Werten verpflichtet, wie es die subkutane Positivierung der Erinnerungsvokabel suggeriert oder die vorschnelle Rede von Erinnerung als »Königsweg der Demokratie- bzw. Menschenrechtserziehung«, als Medium der Gestaltung einer helleren, besseren, mitmenschlicheren Zukunft. Die dritte Dimension wäre die des historischen Begreifens, des Lernens an und aus der Geschichte, die wir uns nicht allein im Sinne der ersten beiden Dimensionen erinnernd vergegenwärtigen können, sondern die wir uns erschliessen können auf der Basis der kritischen Überprüfung aller Formen der Überlieferung und mittels methodisch geleiteter Vernunft – heute sagt man auch Kompetenzen – , sie befragen müssen auf ihre mögliche Bedeutung für heute und morgen, wenn wir tatsächlich ein geschichtlich unterfüttertes Verhältnis zu uns und unserer Zeit und ihren Heraus-

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Volkhard Knigge und Jonas Zipf

forderungen gewinnen wollen. Hier geht es um kritisch-reflexives Geschichtsbewusstsein, dass sich auch seiner gesellschaftlichen, seiner soziokulturellen, seiner lebensgeschichtlichen Voraussetzungen und Prägungen bewusst ist. Hier geht es um – arg vereinfachend und sicher auch idealisierend – nicht um Macht, sondern um Wahrheit, Wahrheit im Sinne von Triftigkeit, weil absolute historische Wahrheit natürlich nicht zu haben ist. Erinnerung hat heute zudem oft den Nimbus des Authentischen, sei es in Bezug auf eine Person, eine Gruppe oder im Sinne von absoluter Wahrheit. Darin liegt – oft übersehen – ein erheblich adiskursives, wenn nicht aggressives Potential. Das vermeintlich rein Authentische ist elementar selbstbezogen. Kritisch-reflexives Geschichtsbewusstsein ist in dieser Hinsicht auch ein Medium, dieses zu erkennen und zu überwinden. Das eigene Gewordensein nicht auszublenden, Ambivalenz zuzulassen und dadurch auch auf andere hin offen und kommunikationsfähig zu bleiben. An dieser Stelle möchte ich auch darauf hinweisen, was gerade im Kontext der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus historisch zur subkutanen Positivierung der Erinnerungsvokabel beigetragen hat, gerade in Westdeutschland, jenseits der staatsdirigistischen Erinnerungskultur der DDR. Gerade weil es nach 1945 und nicht nur für kurze Zeit in der Bundesrepublik immer wieder von Deutschen hieß: »Davon haben wir nichts gewusst« , konnte das »Erinnere Dich« mit unmittelbarer Wahrheit verbunden werden. Wahrheit im Sinne von: »Du, ihr wart doch dabei. Tu, tut nicht so, als wüsstet ihr von nichts. Erinnere Dich! Leugne nicht! Gestehe ein!« Als 1954 Geborener steht mir dies noch vor Augen. Aber – dieses »Erinnere Dich« galt eben unmittelbar Zeitgenossen, galt denen, die dabei waren, die beteiligt waren. Die sich im lebensgeschichtlichen Sinn hätten tatsächlich erinnern können und sollen. Dieses »Erinnere dich« meint sozusagen ein forensisches Erinnern. Es ist im Grunde ein Erinnern wie vor Gericht, ein Erinnern, das Beschweigen und Verleugnung durchbrechen soll, das dieses Beschweigen und Verleugnen nicht akzeptiert. Und das sagt: »Ihr wart dabei, ihr habt mitgemacht, ihr habt es gestützt. Ihr habt es gesehen. Und jetzt könnt ihr euch nicht herausreden.« Hier müsste man noch vieles hinzufügen, etwa inwieweit religiöse Anleihen in die positive Aufladung von Erinnern eingegangen sind, etwa wenn Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner bedeutenden Rede zum 40. Jahrestages des Endes des II. Weltkriegs von Erinnern als Erlösung sprach oder aber, dass die Achtung und Anerkennung der lebensgeschichtlichen Erinnerung von Verfolgten als Zeugnis, als ein besonderes Dokument historischer Erfahrung tatsächlich ein gesell-

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schaftlicher Fortschritt und eine bedeutende historische Quelle sein kann, um die Überlieferung der Verfolger, die »Geschichtsschreibung der Sieger, der Herren« zu brechen. Die Rede von von Weizsäcker, der zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Kriegsende von Befreiung und nicht von … Jonas Zipf: … »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung«… Volkhard Knigge: … ja, er spricht nicht mehr von Katastrophe, Zusam-

menbruch oder sonst irgendetwas euphemistisch Überzeitlichem, das hereinbricht, als hätte es mit dem staatlichen und gesellschaftlichen Agieren in Deutschland davor nichts zu tun, sondern er spricht tatsächlich von »Befreiung«. Und er zählt erstmals so ziemlich alle Opfergruppen des Nationalsozialismus auf. Aber er verwendet eben auch den dann in der Gedenkkultur sich etablierenden, schief sich auf jüdisch-theologische Tradition beziehenden Satz: »Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.« Darin dann einmal mehr auch der schiefe Bezug auf Freud. Erinnern – weder das lebensgeschichtliche noch das historische in der Gesellschaft – als solches ist zunächst mal nicht erlösend noch befreiend, noch gut oder böse, sondern es ist ambivalent, weil es das eine wie das andere sein kann. Erinnerung hatten auch die Nationalsozialisten. Historisch erinnert hat noch jede Diktatur und hat dazu auch Geschichtsbücher umgeschrieben. Ob Erinnerung etwas mit Wahrheit, Aufklärung, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit oder der Überwindung von politischen Verbrechen und deren Folgen zu hat, hängt elementar von den Werten und Zielen ab, denen sich gerade das historische Erinnern verpflichtet. Wie gesagt, auch die Nationalsozialisten haben an ihrer Erinnerung, ihrem Geschichtsbild gebaut. Sie haben es nicht nur in Büchern, Filmen, Feiern, Bildern oder Ausstellungen und mittels Erinnerungsberichten etabliert, sondern etwa auch städtebaulich, man denke nur an Speers Umbau-Planungen für Berlin. Gerade das historische Erinnern wurde und wird sehr häufig zur Waffe. Wer ist der Feind? Mit wem habe ich noch eine offene Rechnung? Auch solche Fragen sind Formen des historischen Erinnerns. Ich bin ihnen heftigst z. B. in den Nachfolgestaaten des blutig zerfallen Jugoslawien begegnet. Oder in Russland. Oder … Aber natürlich erleben wir das auch in Deutschland, erleben, dass Untaten zu Heldentaten umerinnert oder dass sie relativiert werden. Auch der Flügel der AfD hat eine historische Erinnerung, ein Geschichtsbild. Verlieren wir deshalb die Nachtseiten des Erinnerns, auch begrifflich, nicht aus den Augen. Vergessen wir nicht, dass wegen dieser Nachtseiten Friedenverträge seit

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Volkhard Knigge und Jonas Zipf

dem antiken Griechenland Vergessen zur Pflicht machten – so auch der »Westfälische Friede« zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. Diese Praxis war dann aber angesichts der Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr zu rechtfertigen … Und nun befinden wir uns in einer Art Erinnerungsparadox. Das historische Erinnern soll Werte und Haltungen rechtfertigen, die aber schon vorausgesetzt werden müssen, um historische Geschehnisse, um staatliches oder personales Handeln als gut oder böse, als vorbildlich oder als verwerflich zu qualifizieren. Jonas Zipf: Damit wäre zwar der Hinweis gegeben, dass es nicht mit Erinnern alleine getan ist. Dennoch steckt darin – wie ich finde – immer auch ein Funken des Prinzips Hoffnung. Die Trias von Freud wird erst erreicht, wenn Erinnerung auch durchgearbeitet wird, das stimmt. Auch gibt die Psychoanalyse dieses Versprechen nicht: Das sehe ich genauso, dass wir nicht vorher wissen können, ob wir das bewältigen können, was da hochkommt, was dann durchgearbeitet wird. Doch ohne irgendeine Hoffnung würde sich ein Analysand gar nicht erst auf den Weg machen und da hineinbegeben. Das würde ich schon unterstellen. Der Analysand bringt die Hoffnung mit, dass es weitergehen kann, über die Erinnerung hinaus. Ohne irgendeine Hoffnung hätte die Psychoanalyse keine Weltkarriere gemacht. Darin liegt – wir treffen uns ja heute auf den Tag genau 250 Jahre nach der Geburt von Hegel – etwas Dialektisches. Da ploppt etwas hoch, aus der Erinnerung. Ein Affekt, ein Gefühl, ein erinnerter Zustand. Dieses Etwas gilt es durchzuarbeiten. Und dann kommt man irgendwo an. Wo, das wird man vorher nicht wissen, das ist eine geradezu gefährliche Angelegenheit. Immerhin, bleiben wir bei Freud, handelt es sich um die Bewusstwerdung von Unbewusstem, also um nichts, das kontrollierbar wäre. Sonst, und das war auch ein wichtiger Hinweis, wäre es preisgegeben, könnte instrumentalisiert und zur Waffe gemacht werden. Wenn es aber offen bleibt, kann es doch zu einer Bewältigung, zu einer Verarbeitung kommen, die den Analysanden schließlich weiterbringt. Oder? Das meine ich mit dialektisch. Darin steckt so etwas wie ein Rhythmus. So habe ich es auch mit Aleida Assmann besprochen. Da wechseln sich unterschiedliche Phasen ab. Vor der Erinnerung und Durcharbeitung steht eine Phase, in der ein Konflikt erst mal abkühlen muss, bevor man überhaupt wieder in die Lage kommt, ihn zu erinnern und durchzuarbeiten. Du hast ja gerade davon gesprochen, dass es historische Friedensschlüsse und Verträge gab, in denen das Schweigen

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verankert wurde. Wenn man so möchte, brauchte es vielleicht die Zeit bis 1968, bevor die Töchter und Söhne in Westdeutschland ihren Vätern offene Fragen stellen konnten. Vielleicht braucht es eine Zeit des Schweigens und des Abkühlens, um dann überhaupt wieder in Erinnerungsarbeit einsteigen zu können. Das ist das, was ich Rhythmus nenne. Ein Rhythmus, wenn man so möchte, zwischen heißem und kaltem Erinnern. Manchmal wird eine ähnliche These ja auch in Bezug auf Ostdeutschland formuliert: Als bräuchte es jetzt eine Art ostdeutsches ’68. Sicher lässt sich das nicht von der Theorie in die Praxis übertragen. Daher empfinde ich diesen Gedanken als bevormundend und wohlfeil. Und doch beschreibt Assmann etwa am Beispiel des postfranquistischen Spaniens sehr beeindruckend, wie der Wechsel zwischen Schweigen und Sprechen gelingen kann. Indem eine jüngere Generation kommt und Fragen stellen kann, weil eine gewisse Distanz entstanden ist, weil bestimmte Konflikte vielleicht kälter geworden sind. Ich finde diesen Gedanken bemerkenswert. Und möchte damit gerne auf Assmanns vielleicht naiven, aber daher nicht weniger begeisternden Glauben zu sprechen kommen, dass man mit einer Kollektivierung von auch kulturellen Ritualen, Gedenkpraktiken nach dem Abklingen einer gewissen Phase des Erkaltens in eine Aussöhnung einsteigen kann. Wohlgemerkt: Ich denke, dass auch in diesem Kontext die Prämisse gilt, die Du gerade benannt hast: Dass Konflikte vorher offen durchgearbeitet werden müssen, dass Erinnerung nicht instrumentalisiert, inszeniert werden darf im Sinne irgendeiner Macht. Aber Assmanns Hinweis gewinnt ja gerade in Bezug auf den 8. Mai, wie ich finde, eine charmante Stärke. So, wie die Debatte in den Achtzigern, aus dem Historikerstreit heraus in Deutschland geführt wurde, läge darin doch eine große Chance für eine gemeinsame, europäische Erinnerungskultur. Der 8. Mai ist ein Datum, das bereits eine rituelle Kraft, auch in anderen Ländern, anderen Gesellschaften, besitzt. Da ließe sich vielleicht ein gemeinsamer europäischer Nenner herstellen. Die Frage ist, ob das geht, ohne dass man es euphemisiert, ohne dass man Differenzen überkleistert und dann eben wieder in eine Art Harmonisierung von Erinnern gerät. Ich habe ja vorher von Narrativen gesprochen, die natürlich Machtdispositive sind, immer. Aber diese Hoffnung würde ich nicht ganz abstreifen oder abstreiten wollen. Wie gesagt: Auch in die Psychoanalyse steige der Analysand ja nicht ein ohne Hoffnung. Warum sollte er, warum sollten wir uns sonst auf diese Anstrengungen einlassen? Volkhard Knigge: Nein. Das entscheidende Stichwort ist »Macht«. His-

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toriker denken hier natürlich erstens an Geschichte und zweitens ans Soziale und drittens auch an Politik. Psychoanalyse ernstgemeint, schafft einen herrschaftsfreien Raum, ein Entre-deux zwischen dem, der die Analyse will und dem Psychoanalytiker, der Psychoanalytikerin. Eine erzwungene oder aufgenötigte Psychoanalyse ist keine. Und der Psychoanalytiker, die -analytikerin sind gut beraten, es nicht besser zu wissen als der Analysand. Psychoanalyse ist gerade nicht besserwissendes, herrschaftliches Interpretieren, sondern nachträgliches Verstehen von lebensgeschichtlich, von kulturell zugewachsener Entfremdung. Durcharbeiten lässt sich weder auf Therapie beschränken, noch zielt es auf Glück, sondern, sage man auf die – Hegel hast Du bereits erwähnt – Aufhebung von blinden Flecken, von Fixierung und Zwang, Wiederholungszwang. Damit sind Autonomiegewinne verbunden, auch Entängstigungen, Freiheiten – aber Gott wird man deswegen nicht, also auch nicht unverletzlich. Das bezieht sich aber auf das Subjekt. Gesellschaften kann man gar nicht auf die Couch legen. Legte man Gesellschaften auf die Couch, erzeugte man – ich spitze das jetzt zu – ob man es will oder nicht, eine Art säkulares Priestertum, eine Kaste, die die Gesellschaft belehrt, was an ihr schief ist. Das mögen Menschen nicht so gerne. Das Elementare an gelingender Psychoanalyse ist das Durcharbeiten von Widerständen. Durch, wie gesagt, Verstehen ihrer latenten Bedeutung, ihres Sinnes für das Subjekt. Auch weil das psychoanalytische Setting für Durcharbeiten/Verstehen sich nicht auf die Gesellschaft übertragen lässt, ist es wichtig, zwischen Erinnerung im Sinne des lebensgeschichtlichen Erinnerns, das an eine Person gebunden ist, und dem historischen Erinnern in der Gesellschaft zu unterscheiden. Historisches Erinnern in der Gesellschaft bezeichnet, empirisch sehr weit gefasst, eigentliche alle Bereiche und Formate, in denen Staat und Gesellschaft Vergangenes vergegenwärtigen und mit Gegenwarts- bzw. Zukunftsbedeutung versehen. Die Geschichtswissenschaft, erst recht eine kritische Geschichtswissenschaft, kann dabei involviert sein oder eben auch nicht. Oft gilt sie als Störenfried, kann sogar ausgeschlossen werden. Wer die Macht und den Willen hat, kann sie einfach hinauswerfen. Auch ohne Fundierungen durch solide Forschung wird in der Gesellschaft immer schon mit Geschichte und historischer Erfahrung umgegangen, oft ambivalent, mehrdeutig und höchst konfliktreich. Gesellschaften haben ebenso wenig eine kollektive Erinnerung wie Staaten, Nationen, Deutsche, Franzosen oder welche anderen Großsubjekten auch immer. Hier spreche ich mit Reinhard Koselleck. Er macht darauf aufmerksam, dass auch personenübergreifende Erinne-

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rungen an erlebende Individuen und an mit anderen geteilte Erlebnisse und Erfahrungen gebunden seien, die letztlich eins zu eins gedeutet werden müssten, was natürlich unmittelbar gar nicht vorkommt. Dass Nationen sich erinnern, ist in dieser Perspektive eine rhetorische Figur, eine Konstruktion. Die vermeintlichen kollektiven Erinnerungen sind – erst recht wenn sie sich auf Geschehnisse beziehen, die auch zeitlich nicht mehr im eigenen Erfahrungsraum liegen – eigentlich kollektivierte Erinnerungen. Wie werden sie kollektiviert? Da ist man wieder beim Problem der Macht, der Durchmachtung der Konstruktion und Durchsetzung historischen Erinnerns. Natürlich kann man sich bemühen, in diesen Prozessen Partizipation, Chancengleichheit, geschichtswissenschaftlich fundiertem Argumentieren Raum und Gewicht zu verschaffen. Aber erstens muss man das im Sinne demokratischer Kultur tatsächlichen Wollen, gegebenenfalls Erstreiten und Verteidigen und zweitens wird auch damit deutlich, dass es ein quasi natürliches, hochgestochen formuliert ontologisch verbürgtes, kollektives Erinnern nicht gibt. Etwa in einer Debatte, ob ein Denkmal gebaut oder nicht gebaut wird, ist nicht jeder gleich stark. Da spielt Geld eine Rolle, da spielt Macht eine Rolle, da spielt Einfluss eine Rolle, da spielen politische und materielle Durchsetzungskraft eine Rolle und vielleicht, hoffentlich das bessere Argument, sachlich und ethisch. Aber noch einmal zurück zur geteilten Erfahrung. Auch geteilte Erfahrung wird nicht zwangsläufig gleich, identisch, kongruent erinnert. Natürlich gibt es Gruppen, die Erfahrungen teilen. Demonstrantinnen und Demonstranten die einer Demonstration, Parteimitglieder die eines Wahlkampfs oder die eines Parteitag usw. Trotzdem werden die an sich geteilten Erfahrungen nicht zwangsläufig gleich erinnert. Schon im Moment des Erlebens können sie unterschiedlich wahrgenommen, gewertet, gewichtet, mit Sinn versehen werden, von nachträglichen Prozessen kommunikativer, sozialer Formung und Repräsentation ganz abgesehen. Ein kollektives Gedächtnis ist ein gemachtes Gedächtnis, auch wenn die Prozesse des Machens aus dem Blick geraten, vergessen werden können. Wer mit wem zu welchem Zweck Erinnerung macht und durchsetzen will, ist und bleibt eine elementare Frage gerade für die Geschichtskultur in der Demokratie. »Rhythmen der Erinnerung« – Historiker tun sich mit Rhythmen, die sich quasi natürlich vollziehen, schwer. So wenig wie es eine Teleologie des Verlaufes von Geschichte gibt, gibt es eine der Erinnerung und ihrer Entwicklung. Heiße und kalte Erinnerungen – das sind für mich, in historischer Perspektive, Umschreibungen für unterschied-

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liche Grade der Lebendigkeit und Virulenz von Geschichte in einer jeweiligen Gegenwart. Heiß ist das Verhältnis zu einer Vergangenheit, wenn diese in den an ihr Beteiligten, von ihr unmittelbar Betroffenen noch da ist. Überlebende des KZ Buchenwald haben mir oft erzählt, wie schwer ihnen Deutschland-Besuche gefallen sind. Wie hatten sich ältere Deutsche zwischen 1933 und 1945 verhalten, die ihnen auf dem Bürgersteig, im Hotel oder im Café begegneten? In solchen Begegnungen, konkreten Begegnungen von Zeitgenossen zwischen denen ein Verbrechen, zwischen denen konkrete Schuld, Verantwortung, zwischen denen Wahrheit oder Lüge, Bekennen oder Ausflucht standen, war die Vergangenheit noch nicht vergangen und die Erinnerung an sie heiß. Was eben auch heißt, strittig, umkämpft, verletzend, aktuell. Diese Aktualität, diese Virulenz schmilzt, ändert sich mit dem Vergehen von Zeit und dieses Vergehen kann man Erkalten nennen. Aber dieses Vergehen von Zeit ist eben auch sozial, kulturell und politisch geprägt und geformt. Virulenz kann geleugnet oder politisch bestritten werden, Erkalten z. B. durch schlechte Vermittlung absichtlich oder unabsichtlich befördert werden. Letztendlich kommt es darauf an, ob Menschen sich Geschichte, gerade auch menschenfeindliche Geschichte etwas angehen lassen wollen. Beinahe hätte ich gesagt, zu Herzen nehmen. Auch das ist mit historischem Begreifen gemeint. Wissen und Begreifen wollen, in welcher Weise Geschichte nachwirkt, noch da ist, unabgegolten ist. Begreifen in diesem Sinn kann Geschichte, um im Bild zu bleiben, wieder heiß machen. Blicken wir kurz auf die Geschichte des selbstkritischen historischen Erinnerns und Gedenkens in der Bundesrepublik zurück. Das historische Erinnern an den NS und seine Verbrechen hat sich nicht zuletzt durch Konflikte in der Gesellschaft entwickelt. Aber diese Konflikte hätten auch ganz anders ausgehen können, als dass das Erinnern an den Holocaust staatsoffiziell werden und zur »deutschen Identität« – so etwa Bundespräsident Gauck – gezählt werden würde. Und es brauchte spezifische historische Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, damit diese Form historischer Erinnerung überhaupt in Gang kam. Stenographisch: die totale Niederlage 1945, die Alliierten – Stichwort Nürnberger Prozesse –, die unabweisbare Erfahrung, die Zeugnisse, die Beweise der Verbrechen in den von Deutschland besetzten Ländern, die Alternativlosigkeit der Westbindung in Folge des Kalten Krieges und damit verbunden Konzessionen an Anerkennung der Untaten und »Wiedergutmachung«, die Präsenz der Westmächte und deren Bereitschaft, gegen offen aufkeimenden Neo-Nationalsozialismus zu intervenieren. Nicht

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weil die »Erinnerung der Täter« erkaltete, konnte sich aufklärendes, selbstkritisches gesellschaftliches Erinnern peu à peu etablieren, sondern weil es Menschen und auch Institutionen gab, die sich unter diesen besonderen Bedingungen, mit dem Rückenwind dieser Bedingungen dafür einsetzten. Aber wie gesagt, dass hätte auch schiefgehen können und wie es scheint, steht das selbstkritische historische Erinnern, die Arbeit an kritisch-reflexivem Geschichtsbewusstsein noch vor ihren größten Herausforderungen – von unverbindlicher Eventisierung, wissensentkerntem Moralisieren bis hin zu einer Bekämpfung durch die altneue nationalistische, autoritäre, antidemokratische und rassistische Rechte. In Post-Bürgerkriegsgesellschaften ist die Ausgangssituation für den kritischen Umgang mit Geschichte natürlich eine andere. Hier läuft das historische Erinnern immer Gefahr, die alten Feindschaften neu zu mobilisieren. Nochmals, meines Erachtens darf man den historischen Spezifika des historischen Erinnerns nicht ausweichen, darf man die Dimension der Durchmachtung, der Konflikte und die ihres a priori nicht feststehenden, ihres nicht ein für alle Mal gesicherten Ausgangs nicht aus den Augen lassen. Erinnerungskultur folgt keinem teleologischen oder ontologischen Automatismus, keinem quasi naturhaften Prozess, möglicherweise sogar Reifungsabstufungen unterlegt. Jonas Zipf: Ich bin vielleicht heute wirklich gedanklich ein bisschen

zu sehr davon geprägt, dass Hegel Geburtstag hat. Daher versuche ich noch mal, dagegen zu halten. Volkhard Knigge: Nur zu. Jonas Zipf: Die getroffenen Unterscheidungen sind wichtig. Da gebe ich Dir recht: Psychoanalyse ist keine Therapie; das Subjekt kann man nicht vergleichen mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen; schon gar nicht können wir von einem Kollektiv sprechen, höchstens von Prozessen dorthin, Kollektivierungsprozessen. Das sind wichtige Unterscheidungen. Auch kann ich die Argumentation des Historikers teilen, jedes Phänomen singulär, aus seinem spezifischen Kontext heraus, betrachten zu müssen. Durch diese wissenschaftliche Brille betrachtet, sind Vergleiche zwischen Franquismus und Nationalsozialismus schwierig. So lassen sich kaum Modelle entlehnen und schon gar nicht vor der Folie einer unterstellten teleologischen, weltgeisthaften Kraft, die irgendwie quasi abpausbar, erkennbar würde. Trotzdem will ich noch mal in den Abstraktionshubschrauber

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und eine Ebene höher steigen. Ich möchte es ein bisschen philosophischer angehen und nach der Frage des Bedürfnisses schielen. Woher kommt denn der Bedarf an Erinnerungsarbeit? Ob subjektiv oder kollektiv, konstruiert oder essentialistisch. Es existieren doch ganz offensichtlich Bedürfnisse, Vergangenheit zu verarbeiten, durchzuarbeiten. Woher kommt die? Es wäre doch viel leichter, im Hier und Jetzt zu leben und in die Zukunft zu gehen. Und an diesem Punkt will ich jetzt nicht Bloch, sondern einen anderen Philosophen stark machen, der meiner Meinung nach Hegel nahesteht und den ich jetzt einfach als Kronzeuge zitiere: Peter Bieri. Wenn er im Handwerk der Freiheit davon spricht, was uns Menschen vom Tier unterscheidet, übrigens auch gegenüber künstlicher Intelligenz auszeichnet – das paraphrasiere ich jetzt in verkürzter Form – das ist es unsere Fähigkeit und Freiheit, über zeitliche Einschränkungen hinweg denken zu können, etwa aus der Vergangenheit heraus Erfahrungen abzuleiten und daraus Pläne in die Zukunft zu entwerfen. Das, was wir gelernt haben oder meinen, gelernt zu haben aus der Vergangenheit, so zu sortieren, dass wir daraus Strategien und Pläne für die Zukunft entwickeln. Und das sogar noch über Generationen hinweg: Dann nennen es Evolutionsbiologen wie Michael Tomasello Zivilisation. Auch das hat nicht eine Generation an Forschern alleine herausgefunden: Es gibt so etwas wie tradierte Erfahrungen und tradiertes Wissen. Angesichts der Corona-Pandemie finde ich das besonders spannend. Plötzlich tauchen Erfahrungswerte und Wissensinhalte wieder aus dem kulturellen Gedächtnis auf, die in früheren Pandemien oder Seuchensituationen entstanden sind. Kulturell, indem wir jetzt alle anfangen, wieder Der Fremde von Camus zu lesen oder Die Stadt der Blinden von Saramago, indem wir uns künstlerische Repräsentationen des Schwarzen Todes, der Pest vergegenwärtigen usw. Aber auch ganz wissenschaftlich und hart empirisch, indem das historische und medizinische Wissen rund um die Spanische Grippe, als letzte weltumspannende, uns alle betreffende Seuche, vor knapp hundert Jahren, wieder hochgeholt wird. Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis, in die Vergangenheit zu schauen. Mit Bieri will ich sagen, dieses Bedürfnis existiert sowohl subjektiv, als auch im Kollektivierungsprozess. Es geht darum, aus der Vergangenheit Erfahrungen zu entlehnen, Erfahrungsmehrwerte, Erkenntnisgewinne, anhand derer wir Gegenwart und Zukunft bewältigen lernen. »Handwerk der Freiheit« nennt Bieri das, weil in dieser Kulturtechnik eine der größten menschlichen Freiheiten liegt. Und an genau dieser Stelle setzt Hegel als Freiheitsphilosoph an, wenn er seinen Geschichtsbegriff entwickelt: Geschichte entsteht überhaupt

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erst mit einer Überlieferung, die es ermöglicht, über den Tellerrand der Zeit, über biologisch begrenzte Lebensalter und Generationen hinausschauen zu können. Nur so kann Hegel einen Weltgeist schauen. Nur so lassen sich Gedankengebäude entwerfen – so wie wir es heute tun – die wirklich den Rand unseres Hier und Jetzt, unserer Haecceitas, überschreiten. Indem wir auf dem aufbauen, was vor uns erarbeitet wurde. Indem wir nicht jeden Gedanken allererst denken müssen. Ich finde: Von diesem Bedürfnis ausgehend, ist die Kollektivierung von Erinnerungen von überragender Bedeutung. Bei allen kritischen Fragen, die Du berechtigterweise an die jeweilige Durchmachtung von Erinnerungsdispositiven stellst, liegt darin doch einfach eine genuine Qualität. Darin liegt etwas Positives, wenn wir in die Lage kommen, von uns zu sagen: Das haben wir verstanden, deswegen müssen wir bestimmte Dinge anders machen. Deine Argumentation kommt mir dagegen so vor wie die negative Dialektik nach Adorno, der im Blick auf die Ungeheuerlichkeit des Holocaust jegliches Verständnis eines zivilisatorischen Fortschritts absagt, zeitweise ja sogar davon spricht, dass es nach Auschwitz keine Ästhetik mehr geben kann. Aber ich finde, irgendwann muss es doch den Zeitpunkt geben, an dem ich aus diesem Korsett auch wieder aussteigen kann. Damit möchte ich nicht das unfassbare Schrecken und unsere daraus resultierende Verantwortung relativieren oder negieren. Damit die Erinnerung aber wach bleibt, auch wenn irgendwann keine Zeitzeugen mehr leben, müssen wir auch hier nach vorne denken und neue Formen finden, neue Übersetzungen der Tradierung von Wissen. Sonst passiert das, was ich vorher mit narrativer Psychologie beschrieben habe: Erinnerung gerinnt und verselbstständigt sich. Das mag ich so am Konzept von Geschichte als willentlicher Verunsicherung: Wir müssen uns ständig neu befragen und einander aussetzen. Volkhard Knigge: Ja. Mit dem Begriff des kulturellen Wissens könnte ich

viel besser leben als mit Erinnerung als einem entkernten, unscharfen Zauberwort, das Machtverhältnisse verunklart, die Ungleichheit von Artikulationschancen überspielt, die Heterogenität von Erfahrungen überspielt, Heterogenität auch im Sinne unterschiedlicher Stellung im Sozialen, in den sozialen Hierarchien und in Folge gesellschaftlicher Ungleichheiten. Das die Ambivalenz von Erinnerung, ihre Nachseiten, ihre aggressiven Mobilisierungspotentiale ausblendet. Erinnern allein begründet eben nicht schon ein kritisch-reflexives Verhältnis zur Welt und zum Mitmenschen. Mit Lacan, wegen dessen Radikalfreudianismus ich seinerzeit nach Paris gegangen bin, könnte man eher sagen,

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Erinnern als solches tendiert zum Zirkulären, zum Imaginären als narzisstischer Selbstumkreisung, gerade im Fall auch von Gruppen. Es zielt strukturell auf starre Identität, Geltung, überlegene Besonderheit, wendet sich gegen das, was das Größenselbst beeinträchtigt, ankratzt, in Frage stellt. Das Andere, der / die Andere kommt dann nur in den Blick, sofern sie bestätigend wirkt. Jonas Zipf: Ja. Ein verständlicher, allzu menschlicher und meist unbewusster Wunsch. Genau diese Narrative sind es, die im Fokus der Dekonstruktionsarbeit narrativer Psychologen stehen. Volkhard Knigge: Genau daher tue ich mich sehr schwer mit den Wün-

schen, die uns ein Hauptzug gegenwärtiger Erinnerungskultur beschert hat: Auf einmal dreht sich alles nur noch um Identität durch Identifikation statt um Bewusstsein, Reflexion, Begreifen, das eben auch Identitäten und Identitätszumutungen und Zwänge hinterfragt, hinterfragt, was diesen Identitätshunger forciert, also auch welche Prozesse der Desubjektivisierung, welche Prozesse den Menschen zum Ding, zum bloßen Objekt machen, darin wirken und was oder wen die jeweiligen Identitäten als nichtzugehörig, als identitätsfremd exkludieren. Jonas Zipf: Ja. Daher ist es so wichtig, kritisch von außen auf diese

Wünsche zu schauen. Sie durchzuarbeiten. Volkhard Knigge: Mir geht es um Bewusstsein, ein Geschichtsbewusst-

sein, das sich historische Prozesse, das Wirken des Gestern im und auf das Heute und Morgen erschließen kann, so auch das Wirken von menschlichem Handeln und Unterlassen in diesen Prozessen, das Wirken von Institutionen, rechtlichen Gegebenheiten, sozialen, kulturellen und politischen Dispositionen, Mentalitäten, auch von – ausgebeuteter – Natur, auch von Kontingenz. Wie kommt was? Von was? Ein Bewusstsein, das sich für die Warum-Fragen interessiert. Dafür braucht es natürlich auch eine belastbare Basis an überprüftem Wissen. Wissen, das den beschränkten Horizont von Erinnerungen öffnet und überschreitet, das Erinnerungen sogar irritiert. Du hast Ricœur erwähnt und hier wären vielleicht die drei Dimensionen wenigstens grob anzusprechen, die er unterscheidet. Ersten die des immer schon vor jeder rationalen Befassung mit Geschichte und historischer Erfahrung vorhandene Dimension des Gedächtnisses, des Umgangs mit Vergangenheiten und Vergangenheitsdeutungen, in die wir von

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Anfang an hineingeboren, hineinsozialisiert werden – Umgänge in Familien, Gruppen, Medien, der Öffentlichkeit, Kunstwerken … Auch die Geschichtswissenschaft als eine besondere Form der Vergangenheitserschließung und -bearbeitung ist Teil des Gedächtnisses, wirkt auf es, wird aber auch von ihm beeinflusst. Und dann die Ebene der beinahe detektivisch-akribischen, sorgfältigen Erschließung und Analyse von Zeugnissen, Quellen, die Ebene der Dokumentation, auf der es auch um Wahrheit im Sinne von Echtheit geht, das angemessene Ins-Verhältnis-Setzen der Quellen. Die ernsthafte Beachtung belastbarer Überlieferung gibt dem Sprechen über und dem Deuten von Vergangenheit Impulse, setzt ihm aber auch Grenzen. Nicht alles ist mit gleichem Wahrheitsanspruch sagbar. Nicht zuletzt darin liegt die kritische Kraft der Geschichte/Historie als Wissenschaft. Und schließlich die Ebene der Narration, die zwangsläufig mit Sinnbildungen verbunden ist. Auch wenn wir heute akzeptieren, dass es keine absolute Wahrheit und deshalb nicht nur ein totales Narrativ geben kann, bleibt doch ein Triftigkeits- und Qualitätskriterium, ob und wie die jeweils bekannte und gesicherte Überlieferung beachtet, lege artis beachtet wird. Historische Narrative sind keine Fiktionen, laufen nicht frei, sondern bleiben an diese – etwas flapsig gesagt – Leitplanken gebunden, wenn sie Anspruch auf Geltung und Verbindlichkeit erheben wollen. Nur weil das so ist, können wir beispielsweise den Holocaustleugner mit Recht einen Holocaustleugner nennen. Damit sind wir noch mal bei dem, was ich Geschichte als Verunsicherung oder absichtsvolle Selbstverunsicherung genannt habe. Man muss die Störung durch auch schmerzende, das ideale Selbstbild ankratzende Überlieferung / Quellen und deren erschließende Analyse wollen. Man muss auch die Störung der Erinnerung in diesem Sinne wollen. Nur dann werden die blinden Flecken der Erinnerung, ihre Ambivalenzen und Nachtseiten verstehbar, verarbeitbar, überwindbar. Es geht um mehr als starre Selbstbehauptung von Erinnerung im Sinne von »da meine Erinnerungen meine sind, sind sie authentisch, darf sie niemand anrühren« und es geht um mehr als die bloße Tolerierung heterogener Erinnerungen. Es geht um die menschliche Möglichkeit, auch Erinnerungen gruppen- und kulturübergreifend gemeinsam zu begreifen, dafür Kompetenzen zu vermitteln und Räume zu eröffnen. Das verweist natürlich auf elementare Anforderungen an die Ausgestaltung von Geschichtskultur und Bildung oder auch Kunst. Jonas Zipf: »Wehe, Du sagst jetzt etwas, denn es stimmt nicht.« – Ent-

schuldige bitte.

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Volkhard Knigge: Ja doch, das meine ich. Dagegen steht für mich eben

eine Form selbstreflexiv aufgeklärter, auch methodisch bewusster Rationalität, die sich durch Quellen erschüttern lässt. Geschichte, Geschichtsschreibung ist im Grunde ein detektivisches Handwerk. Auf dieser Ebene geht es um konflikthafte, hoffentlich nicht gewalttätige, diskursive Prozesse, in denen man sich über die Bedeutung vergangener Erfahrung für die Gegenwart auseinandersetzt. Das sind aber alles Prozesse, die ich nie unter Kollektivierung von Erinnerung fassen würde. Jonas Zipf: Offensichtlich können wir beide uns also auf den Begriff

des kulturellen Wissens verständigen. Darin kristallisiert sich der von Dir beschriebene Versuch der Objektivierung und Überprüfbarkeit, der Kriteriengesteuertheit, der Versuch, Erinnerung immer wieder kritisch zu messen an dem, was war, soweit es die Quellen und Faktenlage zulässt. Lass uns noch etwas auf dieser methodischen Ebene bleiben. Mir geht es dabei wieder darum, die Wendung weg von der Vergangenheit hinzubekommen: Wie kann ich aus kulturellem Wissen etwas ableiten, was Grundlagen für die Zukunft bietet? Volkhard Knigge: Mit reflexivem Geschichtsbewusstsein! Jonas Zipf: Wie verhält sich das reflexive Geschichtsbewusstsein nun

aber zu dem, was wir vorher als Wechselspiel zwischen heiß und kalt beschrieben haben? Ich möchte an dieser Stelle noch mal eine andere Denkfigur, ein anderes Bild, einführen. Statt von Temperaturen könnten wir von Tempi sprechen, statt von heiß und kalt von schnell und langsam. Was Du mit Lacan beschrieben hast, das hat damit ganz essentiell zu tun. Eine Denk- und damit Vorgehensweise zu entwickeln, die eben nicht um sich selbst kreist, sich selbst referenziert und sich selbst bestätigt, also verifiziert, sondern die eigene Wahrnehmung und das eigene Denken falsifiziert. Und jetzt komme ich wieder mit der Psychologie: Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass tiefes Lernen aus dem Verlassen von eingeübten Pfaden resultiert. Aus dem, was man in der Geisteswissenschaft auch negative Heuristik nennt. Solange ich immer wieder das wiederhole, was ich als bisher vermeintlich erfolgreichen Lösungsweg kenne, dann werde ich an der nächsten Schwelle nicht weiter lernen und nicht weiterkommen. An dieser Schwelle, am Punkt meiner scheiternden, nicht mehr aufgehenden Heuristik, muss ich mich in einen Verunsicherungsraum begeben. So entstehen Erkenntnis und Begreifen. Später auch Kreativität als Hal-

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tung und Innovation als Anwendung. Ich finde es faszinierend, dass sich solche Denkweisen jetzt langsam auch in Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzen. Plötzlich geht es nicht mehr um reine Skalierung, um ein Immer-Mehr-vom-Selben. So hat Kahneman als Psychologe den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften gewonnen. Indem er genau das gezeigt hat: Wie sich Phasen von schnellem und langsamem Denken abwechseln. Ich habe davon viel wiedergefunden in der Zeit, die jetzt unmittelbar hinter uns liegt. Wir befinden ja längst wieder in einer ganz überhitzten Phase der gesellschaftlichen Aktivität und auch der kulturellen und wissenschaftlichen Diskurse. Aber vor kurzem gab es eine Phase in diesem Jahr, meistens gemeinhin Lockdown genannt, in der Vieles zu einer gewissen Ruhe gekommen ist und ein äußerer Zwang eine derartige und vor allem gleichzeitige Verunsicherung mit sich gebracht hat, dass viele Menschen, so scheint mir, in ein Überprüfen ihrer bisherigen Heuristiken gekommen sind. Ob wir daraus große Erkenntnisse ziehen konnten – ich will damit wirklich noch mal ein anderes Kapitel in unserem Gespräch anschneiden – das wird die Geschichte zeigen, das können wir natürlich heute nicht beantworten. Das ist so der übliche Unterschied zwischen einem Soziologen und einem Historiker oder? Das brauche ich einen Historiker nicht fragen. Soziologen würden jetzt schon anfangen, von der Müdigkeitsgesellschaft oder der Sound-so-Gesellschaft zu reden. Das zeichnet sie auch aus, so verwegen zu sein und so mutig, solche Hypothesen, quasi während die Prozesse noch laufen, schon laut zu denken und zu äußern. Bewerten lässt sich das, wie gesagt, erst im Nachhinein. Mich interessiert daran mehr der methodische Punkt: Nicht das, was wir daraus lernen und was dann bleibt, sondern wie es möglich war, dass so viel gedanklich in Wallung gekommen ist. Mir scheint es so zu sein, dass – damit kommen wir dann doch wieder zurück, ich vermeide jetzt den Begriff des Kollektivs, auf eine Form der gemeinschaftlichen Erfahrung – dass es für alle zum gleichen Zeitpunkt oder für annähend alle eine ähnliche existentielle Bedrohung war und ist. Vielleicht ähnlich, sehr assoziativ gesprochen, oder zumindest vergleichbar mit der Erfahrung, dass man selber heutzutage ja nur noch zur Ruhe kommt, wenn man weiß, dass die anderen genau jetzt auch alle pausieren. Der große Unterschied übrigens zwischen deutschen Sommerferien und denen in Italien oder Frankreich, in denen alle zeitgleich voneinander wissen, dass sie gerade nichts tun und – mit Hartmut Rosa gesprochen – nicht verfügbar sind. Wir kennen das höchstens aus der Erfahrung »zwischen den Jahren«, in diesem Zusammenhang übrigens ein sprechender Name. Darin besteht

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eine Besonderheit dieser Lockdown-Phase. Es betraf und betrifft uns alle. Und das brachte und bringt uns wieder in ein Gemeinschaftsgefühl, wie wir es vielleicht lange nicht hatten. Was ich beschreiben will, worauf ich hinaus will, das ist die Frage nach Gelingensbedingungen für negative Heuristiken. Um mit den Begriffen zu sprechen, die wir uns erarbeitet haben: Gelingensbedingungen im Sinne eines selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins, im Sinne von Erkenntnisgewinn an kulturellem Wissen. Eine Gelingensbedingung – und das ist meine Frage – wäre damit der gemeinschaftlich als existenziell erfahrene Zeitpunkt, die gemeinschaftlich als existentiell erfahrene Not. Du hast ja vorhin auch von 1945 in Deutschland gesprochen. Hast eine der Voraussetzungen für die spätere Geschichtsarbeit damit beschrieben, dass es alle gleichermaßen anging. Ist das also eine mögliche Gelingensbedingung dafür, dass gesellschaftlich sich etwas verändert? Volkhard Knigge: Da kann ich zustimmen und muss trotzdem dagegen

reden. Ich habe mit Blick auf ’45 nicht von einem Gemeinschaftsgefühl gesprochen. Sondern von einer bestimmten Artikulation fortwirkender Identifikation mit dem NS, die allerdings angesichts des Geschehenen nicht mehr ganz offen ausgelebt, gesagt werden konnte. Die verleugnet, unsichtbar gemacht wurde. Wenn es ein Gemeinschaftsgefühl gab, dann das exkulpierende, auch Opfer von Hitler zu sein, von ihm betrogen worden zu sein. Hierauf wirft eine verbreitete Missrezeption des Buches Die Unfähigkeit zu trauern der beiden Mitscherlichs in den 1960er Jahren Licht. Verbreitet gelesen wird das Buch als Anklage, die Nachkriegsdeutschen würden die Trauer um die jüdischen Opfer verweigern. Es geht aber um die verweigerte Trauer um den Untergang der Identifikation mit dem geliebten Führer und seinem Deutschland. Diese Trauer hätte die Anerkennung dieser Identifikation zur Voraussetzung gehabt und um deren Verlust durch die Niederringung des Nationalsozialismus von Außen zu betrauern, wäre eine Voraussetzung gewesen, sich von dieser Identifikation tatsächlich zu lösen. Ich finde die Ersetzung von Bewusstsein durch Identität und von – in all ihrer Widersprüchlichkeit und Vielfalt – Gesellschaft durch Gemeinschaft eher beunruhigend. Natürlich impliziert Bewusstsein auch Identität, aber es macht doch einen erheblichen Unterschied, ob Identität reflexiv gebildet wird und damit in der Lage bleibt, sich selbst in Frage zu stellen, sich zu wandeln, oder ob sie durch bloße Identifikation mit … gebildet wird. Und es macht einen Unterschied, ob wir uns den sozialen Ungleichheiten, Brüchen und Widersprüchen in der Ge-

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sellschaft bewusst bleiben und an ihrer Überwindung arbeiten, oder ob wir das, was im Sozialen Verwerfungen, Ängste erzeugt, auseinandertreibt, Konflikte, auch sehr aggressive, bewirkt, meinen durch die Konstruktion und Vermittlung von Erinnerungserzählungen heilen zu können. Am Beispiel: die realen Gegensätze in einer Stadt – etwa Berlin – verschwinden nicht durch die Konstruktion einer Berlin-Erinnerung. Ernsthafter Erfahrungsaustausch über soziale und kulturelle Grenzen hinweg ist – um kein Missverständnis aufkommen zu lassen – hingegen etwas anderes. Jonas Zipf: Pluralismus, Minoritäten, ja. Volkhard Knigge: Wir sitzen dort nicht alle im selben Boot. Jonas Zipf: Ja, ja. Volkhard Knigge: Das ist ganz wichtig. Es geht darum, wie wir Konflikte

austragen, ob wir das einigermaßen zivilisiert tun. Ob wir das mit Argumenten tun, oder ob wir das mit Knüppeln tun. Jonas Zipf: Und tun wir es zivilisiert? Ich hake jetzt mal zwischen. In

der aktuellen Phase des Ringens um Bewältigungsstrategien von Corona: Tun wir es auf zivilisierte Art und Weise? Volkhard Knigge: Zu Corona muss ich etwas ausholen. Corona kon-

frontiert uns elementar mit der Erfahrung von Unverfügbarkeit. Wir beherrschen das Virus nicht. Es macht, zugespitzt, was es will, nicht was wir wollen. Es konfrontiert uns – und zwar unmittelbar in unserer Lebenswelt und nicht weit weg – breit mit Unbeherrschbarkeit; nicht wie bei einer schweren Krankheit als Ausnahmezustand, sondern als Normalzustand. Uns Menschen, die wir meinen alles beherrschen und gestalten zu können. Die wir nach wie vor vom Fortschrittsoptimismus in der Moderne geprägt sind. Corona ist auch keine unterhaltsame Dystopie, die im Kino stattfindet. Das gilt natürlich für andere Krisen und Herausforderungen auch, etwa die Folgen der Erderwärmung auch. Die zeigen sich auch bereits konkret, lassen sich aber noch mehr oder weniger in eine Zukunft verbannen. Corona könnte hier zu einem Lehrstück werden, solche Abschiebungen aufzugeben wie auch die vermeintliche Sicherheit, alles beherrschen zu können. Teleologischen Fortschrittsoptimismus noch umfassender als Blindheit zu begreifen, wäre eine Erfahrungschance dieser Attacke. Und zu begreifen, dass

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Eigenschutz immer den Schutz des anderen voraussetzt, beinhaltet. Das gilt eigentlich für alle globalen Herausforderungen, früher nannte man das einmal Gemeinwohlorientierung, Solidarität, Fraternité, heute besser Geschwisterlichkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Virus und seiner zerstörerischen Kraft hebt aber auch die Bedeutung von Wissen, Reflexion, kritischer Überprüfung, Kooperation und nicht ökonomisch dominierter Forschung und Austauschs hervor. Es hat mich erstaunt und gefreut, was in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern bis hierhin auch geschehen ist, was auch an Rationalität möglich war. Auf einmal öffnet sich der Bereich des Naturwissenschaftlichen und man nimmt an Forschungs- und Denkprozessen teil. Und merkt aber auch: Außer dieser bedachtsamen Rationalität haben wir nichts. Es wird uns kein Gott und kein starker Mann von dieser Plage erlösen. Ich habe mich aber auch gefragt, wann kommt das Irrationale? Wann treten die Zauberer auf die Bühne, die Heilsversprecher, die Herren der einfachen Lösung, des Abstreitens. Wann sehen wir die ersten Bewegungen, vielleicht sogar eschatologische Bewegungen in dieser Richtung. Denn der rationale, wissenschaftliche, prüfende, reflektierende, mit Irrtümern behaftete Lösungsweg so einer Krise ist für viele Menschen doch extrem herausfordernd und ungewohnt, erst recht wenn diese Formen der Rationalität zuvor durch einfache »Wahrheiten«, auch Bildungsverschleiß entwertet wurden. Dass es gelungen ist, gleichwohl diesen Weg zu gehen und dass er weitgehend rational und nicht populistisch auch von der Politik mitgegangen und gestaltet worden ist, ist wirklich erfreulich und beispielhaft. Gerade im Gegensatz zum Verhalten von Autoritären, ob sie nun Trump heißen, oder Bolsonaro, oder Orbán, oder Vučić in Serbien. Solchen, die meinten, mit der Pandemie und ihren Gefahren politisch weiterspielen, sie politisch instrumentalisieren zu können. Und das sogar um den sehr hohen Preis von vielen Toten und Leid. Ob die Gesellschaft – und das empfinde ich als die größte Herausforderung – klüger wird im Umgang mit Unverfügbarkeit, im Umgang mit narzisstischen Größenphantasien, mit Machbarkeits- und Allmachtsphantasien – etwa mit Blick auf die selbstgemachte Klimakatastrophe – da bin ich mir gleichwohl nicht sicher. Jonas Zipf: Ich erlebe die Atmosphäre um uns herum schon eine Weile

so, als ob sie sich auf Messers Schneide bewegt. Gerade erscheint es wieder so, als ob die Politik von Gruppen getrieben wird, die Lockerungen wollen. An vielen Stellen wird nicht mehr um einheitliche Standards gerungen, stattdessen die Verantwortung des Pandemie-Ma-

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nagements nach ganz unten auf den jeweils einzelnen Gastronomen, Händler, Kulturveranstalter durchgestellt. Der Föderalismus hält als Folie dafür her, dass man die Seuchenbekämpfung regionalisiert und sonst großzügig lockert. Eigentlich vermeidet man es, gemeinsame Regeln zu verabreden. Wobei doch, und das hast Du ja gerade beschrieben, eine große Mehrheit, bis hierhin zumindest, bereit war, auf sehr rationaler Basis die Maßnahmen mitzutragen. Damit hätten wir die Gelingensbedingung, nach der ich gefragt habe, aber schon bestimmt. Nicht als ein Kollektivmoment oder Gemeinschaftsgefühl, wirklich ein Begriff – und das möchte ich auch noch mal untermauern – der auch mir gefährlich erscheint. Vielmehr lässt sich die Gelingensbedingung als eine gemeinschaftlich erfahrene narzisstische Grenze beschreiben, eine narzisstische Kränkung, wenn wir jetzt noch mal bei Freud bleiben. Die Menschen dachten, sie wären im Anthropozän angelangt und könnten jetzt sozusagen alles selbst bestimmen. Jetzt kommen gleich mehrere, sehr schnelle Erfahrungen bei vielen Menschen auch breitenwirksam an, die zeigen: Hier erreicht unsere Entwicklung Grenzen des Menschen-Machbaren: Stichwort Klimawandel und jetzt noch eine Pandemie. Damit ist vielleicht die Voraussetzung einer kollektiven Bescheidenheit erreicht, die uns vernünftig und rational werden lässt, weil wir einfach schlechterdings nicht anders können, als sozusagen irgendwie da durchzukommen. Das beschreibt übriges der vorhin genannte Camus in der Pest mustergültig, wie eine Stadtgesellschaft durch so ein Nadelöhr durchgehen muss. Aber wie gesagt: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Stimmung nicht noch kippt. Schon im Gespräch mit Bernhard Maaz vor mehreren Wochen schien uns dieser Punkt erreicht. Und immer noch habe ich die größte Sorge. Bis hierhin lief es bei uns ganz gut, getragen von einem öffentlichen Diskurs – Du hast das gesagt – erstaunlich gut. Erstaunlich rational, erstaunlich vernünftig. Es sind erstaunliche Dinge passiert. Naturwissenschaftler mussten zugeben, dass Eins plus Eins nicht immer gleich Zwei ist. Dass sie etwas nicht wissen, da das Virus nicht auserforscht ist. Man kann plötzlich schlauen Menschen beim Denken zuhören. Das, was sonst Kultur- und Geisteswissenschaftlern überlassen wird und mittlerweile gerne als Bestandteil der Unterhaltung in Talkshows abgeschoben wird. Das halte ich für eine heilsame Erfahrung: Dass Vieles nun einmal nur iterativ beschrieben werden kann, kontingent und im Prozess. Aber im Moment bin ich mir sehr unsicher, ob wir nicht längst am Kippmoment nagen. Volkhard Knigge: Das bin ich auch. Für mich war interessant, dass Na-

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Volkhard Knigge und Jonas Zipf

turwissenschaftler in eine vergleichbare Situation kommen, wie Historiker in Bezug auf die Erinnerungskultur. Sie werden nämlich mit politischen Erwartungen und Wünschen, ergebnisorientierten Wünschen … Jonas Zipf: … »Sag mir, was ich machen soll.« … Volkhard Knigge: … konfrontiert. Erstens: »Sag mir, was ich machen

soll«, aber zweitens auch: »Bestätige mich in dem, was ich schon machen will.« Legitimiere meine politischen Ziele, liefere mir ein passendes Geschichtsbild, Argumente – in Anführungsstrichen – aus der Geschichte. Das ist … Jonas Zipf: … noch fieser, ja … Volkhard Knigge: Ja, das ist das Fiesere. Jonas Zipf: Ja. Volkhard Knigge: Um das noch mal aufzumachen im Vergleich: Was

heute schlagwortartig Erinnerung genannt wird, hieß früher eigentlich Gesinnung. Geschichte war lange ein Gesinnungsfach, genauso wie Religion. Im Wilhelminismus, im Nationalsozialismus, in der DDR. Es zielte auf die Identifikation mit Staat und Obrigkeit, mit dem vermeintlichen Volk. Fraglose Loyalität war ein Hauptziel. Und in diesem Sinne eine hermetische, immer auch gegen andere gerichtete Identität. Mit Pomp, historischen Feiern und Inszenierungen, Pädagogiken des Einbläuens und der Faszination versuchte man die Setzung von Gesinnung und ihre Verbindung mit Macht und Herrschaft zu verschleiern. Sie als natürlich erscheinen zu lassen. Dass das überwunden werden konnte, ist eine große politische und kulturelle Leistung, nicht zuletzt angestoßen durch die wahrhaftige Auseinandersetzung mit den politischen Katastrophen und Verbrechen, die durch eine solche Form der »Geschichtskultur« mitverursacht und auch nachträglich gerechtfertigt worden sind. Demokratische Kultur ist auf der Basis von Gesinnung, Gesinnungsprägung nicht möglich. Das wäre ein Widerspruch in sich. In der Pandemie gab es den Moment, wo es auch Virologen – Stichwort Bildzeitung / Drosten – an den Kragen ging. Es ließ sich erkennen, wie Virologen – ich denke an die drei Hauptakteure aus Berlin, Halle, Bonn – wenn nicht Druck, dann doch politischen Wünschen ausgesetzt waren und wie sie darauf reagierten, etwas pathetisch formuliert: zwischen Standhalten und Anschmiegsamkeit. Und

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Corona-Gespräche

da sind wir bei etwas, was Dir, glaube ich, auch sehr wichtig ist, soweit ich Dich kennengelernt habe: Hier geht es immer auch darum, sich nicht zu beugen. Autonomie, wissenschaftliche, künstlerische, als Voraussetzung für und als ein Forum nicht instrumentalisierten Probehandelns oder nichtinstrumentalisierter Erkenntnisgewinnung zu verstehen, sie immer wieder zu verteidigen. Und dann aber auch Wollen und Auszuhalten, was man nicht bekommt, nämlich eine absolute, sofortige Lösungssicherheit und – womöglich – brandenden Applaus. Wohin das jetzt geht? – Ich weiß es nicht. Ich würde es natürlich begrüßen, dass Politik jetzt diejenigen, die rational und vernünftig sind, stützt, und das waren, sind ja, wie gesagt, erstaunlich viele, die Mehrheit. Es hat mich wirklich erstaunt, wie hoch der Anteil derjenigen war, der etwa sagt: »Ja, Masken tragen ist lästig, aber muss sein«. Es müsste darum gehen, diese 80 Prozent zu stützen, anstatt sich von den 20 Prozent treiben zu lassen, die man nie wird zur Vernunft bringen können. Jonas Zipf: So schon gar nicht. Volkhard Knigge: Ja. Historiker sind natürlich, weil sie immer eine

Langzeitperspektive haben, nicht wirklich, gerade auch nach der Erfahrung des extremen 20. Jahrhunderts, zu vorauseilendem Optimismus begabt. Dass Krisen in jedem Fall erziehen und besser machen: Auch das ist leider widerlegt. Und Geschichte liefert auch keine Rezeptweisheiten. Auch dieser Glaube ist durch historische Erfahrung überholt. Meine Überzeugung ist aber die, dass wir an historischer Erfahrung lernen können, was man besser nicht tut, damit Gesellschaften und Menschen ihren humanen Atem, ihre Zivilität, ihre Begabung zum Guten – entschuldige das der Verkürzung geschuldete Pathos – nicht verlieren. Noch einmal Freud, der von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs tief erschütterte Freud, der die Frage, ob der Mensch gut oder böse sei, abweist mit dem Hinweis auf die Plastizität, auf die Formbarkeit des Menschen. Ob er gut oder böse wird, handelt, liegt ganz wesentlich an den Rahmenbedingen, den politischen, sozialen, kulturellen, denen des Rechts oder der Bildung, die ihn prägen. Lernen an historischer Erfahrung, was man besser nicht tut, geht deshalb über personales Handeln hinaus und zielt dementsprechend auch auf die Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft, auf die Rahmenbedingungen. Jonas Zipf: Ja.

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Volkhard Knigge und Jonas Zipf

Volkhard Knigge: Die neue Herausforderung, die Antwort kann nicht

darin bestehen, dass wir die Schrecken der Vergangenheit immer größer malen im Sine einer Schockpädagogik mit übergroßem moralischem Zeigefinger. Das ist schon in der DDR schiefgegangen. Es erschreckt sich niemand an einem Schrecken, der als endgültig vorbei gilt. Solch toter Schrecken wird in der Erlebnisgesellschaft schnell zum Horror-Disneyland mit wohlfeilem, unterhaltsamen Gruseln. Eher geht es doch darum, sich klarzumachen, dass man sich selber in ähnliche Situationen bringt, wenn man eben diese Lektionen nicht ernst nimmt. Eben nicht ernst nimmt, was man besser nicht tut. Etwa zu behaupten, Menschen seinen ungleich an Würde. Sie dann auch noch dementsprechend zu entrechten und zu verstoßen, wie im Nationalsozialismus mittels der Nürnberger Rassegesetze. Wo es keine Grundsolidarität mit dem Menschen als Menschen mehr gibt, ist der Gewalt Tür und Tor geöffnet. Oder Bildung zu verkürzen auf die Vermittlung nur instrumenteller Fähigkeiten je nach Augenblicksbedarf. Oder kulturelle Freiräume einzuengen, in denen Probehandeln, auch Probehandeln in Bezug auf die Verhinderung menschengemachter Katastrophen, nicht mehr möglich ist. Das wäre für mich zum Beispiel das Theater: Wir hätten nichts gelernt, wenn wir zuließen, dass Freiräume dort ganz einfach wieder einschränkt werden – die AfD will das ja – und Spielpläne so gestaltet werden, dass sie wieder einer völkischen Gemeinschaftsidentität verpflichtet sind. Die Herausforderung heute besteht darin, dass wir – und das würde uns von der DDR unterscheiden – dass wir auch mittels unseres historischen Bewusstseins Affirmation – etwa der Demokratie – und Kritik zusammenbringen, beides leisten. Jonas Zipf: Was bleibt uns anderes übrig? In der Krise – es ist ja nun

mal eine Krise – liegen Risiko und Chance, ja. Und ich bleibe auch dabei: »Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!«, heißt es so schön in einem Buchtitel von Derrida. Das hat uns jetzt während des ganzen Gesprächs wie ein roter Faden oder Kammerton begleitet. Man würde sich nicht auf eine Analyse einlassen, wenn nicht die Hoffnung bestünde, dass daraus etwas Neues entsteht. Tatsächlich gehört aber zu so einer Öffnung eben auch das Inkaufnehmen des Risikos, das die Analyse schiefgehen kann. Das erfordert Mut. Sonst brauche ich mich gar nicht erst in diese offene Situation zu begeben. Jetzt sind wir es zwangsweise. Deswegen sage ich: Was bleibt uns anderes übrig, als dafür zu streiten, daraus zu lernen. Tatsächlich ist es so, dass der Eindruck vorherrscht – so geht es mir auch – dass eine, wenn auch äußerst heterogene und offensichtlich nicht mehrheitsfähige, so aber dennoch erschreckend

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Corona-Gespräche

große Gruppe der Bevölkerung eine Wirkmacht gewonnen hat, die den anderen quasi fast gleichsam ex negativo vorgibt, wie sie ihren Diskurs zu gestalten haben. Das kann nicht sein. Da müssten wir wahrscheinlich wirklich endlich aussteigen aus der Frage, wie können wir die jetzt wieder zurückholen. Da müssen wir die Grenze klar ziehen, ganz klar. Und das stark machen, was es überhaupt erst ermöglicht, dass wir alle laut denken dürfen. Nur wenn diese Grundregel von Allen getragen wird, leben wir noch in einer offenen Gesellschaft und Demokratie. Und da hast Du gerade, glaube ich, einige wichtige Dinge beschrieben: Die Unabhängigkeit – als wesentlicher Unterschied und, in der Art und Weise, wie diese von unserer Verfassung garantiert wird, möchte ich an der Stelle schon stark machen: als geschichtlichen Fortschritt – die Unabhängigkeit von Organen oder Institutionen, der Wissenschaft und der Kunst, die gewährleisten können, dass es bei Pluralismus und offener Gesellschaft bleibt. Oder das diese sich zumindest weiterentwickeln können, dass ihr Schutzraum nicht angetastet wird. Ich hoffe es zumindest. Denn wir sind in einer sehr kritischen Situation, was das anbelangt. Äußere Faktoren haben auch zu anderen – ich als Pseudo-Historiker darf das, glaube ich, sagen – auch zu anderen Zeiten dazu geführt, dass darunterliegende Bedürfnisse sich dann durchsetzen konnten. Es brauchte manchmal noch Anlässe wie eine Pandemie oder Weltwirtschaftskrise, damit gesellschaftliche Transformationsprozesse auch ins Negative kippen. Wir sind gefährdet. Die Bestimmung oder vor allem negative Kritik an dem, was Erinnerung ist, lässt sich, glaube ich, strukturell durchaus vergleichen mit dem, was wir rund um die Corona-Krise benannt haben. Daraus jetzt etwas zu lernen, was quasi normativ als Erkenntnis zu beschreiben wäre, wäre genauso eine imaginäre, harmonisierende Verkürzung. Stattdessen muss es offenbleiben und verunsichern. Genau darin besteht die Qualität der Gespräche, die ich führe. So auch mit Dir. Das ist sozusagen ein lautes, offenes Denken. Und das war heute hier möglich. Es ist das letzte Gespräch in einer Reihe, die in ein Buch mündet. Es hat begonnen damit, dass ich spontan mit Hartmut Rosa in ein Gespräch kam, am Telefon, zwischen Tür und Angel. Und zwar noch in physischer Abwesenheit. Das heutige Gespräch ist das letzte und das einzige, was in physischer Kopräsenz stattfinden konnte. Alle anderen entspannen sich am Telefon. Wir beide konnten hier sitzen und unseren Espresso schlürfen. Uns geht es nicht schlecht. Ich ziehe zwar jetzt schon die Nase hoch, muss deswegen aber noch lange nicht zum Corona-Test. Und bedanke mich bei Volkhard Knigge für den Gedankenaustausch …

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Volkhard Knigge und Jonas Zipf

Volkhard Knigge: … Ja, danke, gleichfalls. Jonas Zipf: Ein Pas de deux in der Anderthalbmeter-Gesellschaft. Volkhard Knigge: Wenn ich eins noch gerade sagen dürfte? Ich habe

ja sehr gegen soziale Widersprüche ignorierende und unbearbeitet lassende Gemeinschaft, wie soll ich sagen, angeredet. Gegen Gemeinwohl würde ich nicht anreden. Und ich glaube, das steckte in unserem Gespräch, schwang die ganze Zeit mit. Wir erleben zwar auf der einen Seite die Erfahrung der Unverfügbarkeit und dass man etwas nicht wegzaubern kann, auch Experten es nicht wegzaubern können. Andererseits sind wir aber auch dazu eingeladen, geradezu davon herausgefordert, Eigenschutz und Schutz Anderer, Selbstsorge und Fürsorge nicht mehr zu trennen. Das fließt ineinander. Wenn man das begriffen hat, dann steckt in dieser Corona-Krise etwas außerordentlich Wertvolles. Und das hat was mit Solidarität zu tun. Jonas Zipf: Lass uns beim Gemeinwohl bleiben. Gemeinwohl ist der

schönere Begriff, da er den Gemeinschaftspart in sich trägt, Solidarität ist ein Wert. Und Gemeinwohl beschreibt nämlich noch etwas, was wir mit Allmende oder Commons auch beschreiben, dass uns nämlich klar wird – vielleicht auch inmitten dieses Ohnmachtsgefühls – was uns bleibt. Volkhard Knigge: Ja. Jonas Zipf: Was haben wir noch? Luft, Licht, den Boden, kulturelles Wissen. Also die Gemeingüter, ja. Das ist die Grundlage, mit der wir arbeiten müssen, unsere einzige Chance.

Das Gespräch fand am 27. August 2020 statt.

Volkhard Knigge, geb. 1954 in Bielefeld, Historiker, Geschichtsdidaktiker, Ausstellungsmacher. 1986 geschichtsdidaktisch-psychoanalytische Promotion zu „trivialem“ Geschichtsbewusstsein. Wiss. Mitarbeiter an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg, dem Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums NRW und der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl Prof. Dr. Lutz Niethammer). 1994 Berufung zum Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, ab 2008 auch Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Neukonzeption der Gedenkstätten Buchenwald und MittelbauDora. Zahlreiche Forschungskooperationen und Ausstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, gesellschaftliche Funktionen und Gremienmitgliedschaften, nationale und internationale Auszeichnungen.

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Plakatmotiv – Bewegung fßr radikale Empathie

Simon Bork (Studio Panorama): Lieber Rumcola daheim als Corona am Bein

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Ayşe Güleç

Let´s talk about … Corona und Rassismus Gedankenfragmente

Mit meinem Beitrag will ich den Blick auf den Zusammenhang zwischen Corona und Rassismus legen. Was ist seit dem Ankommen des Covid-19-Virus im Kontext von Rassismus passiert? Für welche Teile der Bevölkerung hat sich das Leben in Zeiten von Corona aufgrund von Rassismus verschärft? Zu diesen Aspekten will ich im Folgenden meine Gedanken zusammentragen – es handelt sich dabei um persönliche Beobachtungen. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Rassismus als einer gesellschaftlichen Gewaltform. Dies liegt nicht nur daran, dass ich selbst in Kassel lebe, in der Halit Yozgat das jüngste und neunte Mordopfer des NSU wurde. Halit Yozgat betrieb zusammen mit seinen Eltern ein Internetcafé in der Holländischen Straße. Im selben Haus wurde er geboren, und dort wurde er ermordet: Am 6. April 2006 kurz nach 17 Uhr. Sein Vater Halit Yozgat kam wenige Minuten nach dem Anschlag und fand seinen Sohn schwerverletzt. Halit Yozgat starb in den Armen seines Vaters. Mein damaliger Arbeitsort liegt nur wenige Minuten von dem Tatort entfernt. Seit dem Öffentlichwerden des NSU im November 2011 wurde ich aktiv in der lokalen »Initiative 6. April zur Erinnerung an den rassistischen Mord an Halit Yozgat« sowie in einer bundesweiten Initiative zum Thema »NSU-Komplex auflösen«. Die Perspektive und Sicht der Angehörigen der NSU-Opfer sowie der Überlebenden war als migrantisch situiertes Wissen ein wichtiges Analysekriterium, um den NSU-Komplex mit seinen strukturellen-institutionellen Verbindungen wie auch in seiner geschichtlichen Kontinuität zu verstehen. Das Sprechen über Rassismus war bis zum Öffentlichwerden des NSU immer ein schweres Unterfangen, da es für Betroffene über viele Jahrzehnte unsagbar gemacht wurde. Das öffentliche Sprechen über Rassismus haben also vor allem die direkt Betroffenen des NSU mit ihren engagierten Anwält*innen sowie anti-rassistische und antifaschistische Gruppen vorangetrieben. Dennoch wird das Thema NSU immer noch stark als ein Problem einzelner, versprengter Rechtsextremist*innen betrachtet. Das »Nach Rechts Schieben«, das Delegieren des Problems nach Rechts sehe ich als eine gesellschaftliche Effekthandlung, um das Thema Rassismus

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aus der »Mitte der Gesellschaft« herauszuschieben. Um sich selbst zu entlasten, wird das Problem von strukturellem Rassismus externalisiert.

Corona und Rassismus

Im Folgenden werde ich anhand von Beispielen aufzeigen, wie sich in Zeiten der Covid-19-Pandemie Rassismus im Konkreten in gesellschaftlichen Entwicklungen und in politischen Handlungen zeigt und manifestiert. Mit Beginn der Covid-19-Pandemie, die nach kurzer Zeit inzwischen weltumfassend wurde, war häufig die Rede davon, dass das Corona-Virus nicht zwischen Arm und Reich oder anderen Merkmalen wie Hautfarbe oder Herkunft unterscheidet, sondern alle gleich beträfe, alle gleich behandeln würde. Ist das so? Inzwischen ist deutlicher geworden, dass diese Behauptung nicht nur nicht stimmt, sondern gerade durch die Pandemie gesellschaftliche, soziale und monetäre Ungleichheiten sichtbar werden. Pointierter ausgedrückt: die bestehenden politischen und sozialen Lebensbedingungen und alle Formen der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit legt Corona offen und macht diese wie unter einem Brennglas sichtbar. Die Covid-19-Pandemie wurde in Deutschland medial sehr massiv als die »chinesische Krankheit« eingeführt. Dies blieb auch nicht folgenlos: als asiatisch markierte und als solch gelesene Personen wurden im öffentlichen Raum – auf offener Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Supermärkten – rassistisch beschimpft und/oder körperlich angegriffen. Der Bundesverband der Opferberatungsstellen hat alleine ab Ende Februar bis April mehr als 200 rassistische Angriffe registriert, die sich gegen Menschen richteten, die als »asiatisch« gelesen wurden. Die Zahlen liegen sicherlich weit höher, da nicht alle Betroffenen nach rassistischen Angriffen sich bei der Polizei oder bei entsprechenden Beratungsstellen melden. Studierende und Kulturarbeiter*innen aus den Bereichen Kunst und Medien haben im Mai 2020 die Onlineplattform mit dem Namen »Ich bin kein Virus« (https://www.ichbinkeinvirus.org) gestartet. Das digitale Netzwerk ist ein Empowerment-Raum für Betroffene und zugleich ein Ort der Vernetzung, um Betroffene mit Unterstützer*innen zu verbinden. Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau – in zwei öffentlichen Bars der Jugendkultur – Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar

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Supplements

Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Pǎun, Fatih Saraçoǧlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov ermordet. Der Täter brauchte für die rassistischen Morde nur zwölf Minuten – der NSU nahm sich zwölf Jahre für seine Morde und Bombenanschläge. Sechs Monate nach den Morden organisierte die lokale »Initiative 19. Februar« eine Demonstration für den 22.8.20 in Hanau, um sechs Monate später der Toten zu gedenken. Die Stadt Hanau hat am Vorabend kurzfristig die Veranstaltung abgesagt – mit der Begründung steigender Infektionszahlen. So blieb die Hanauer Initiative alleine mit dem Gedenken an die Ermordeten. Kurzfristig organisierten allerdings Aktivist*innen in vielen Städten live-Übertragungen. So konnten die Ansprachen der Eltern, der Geschwister und Freund*innen der Mordopfer mittels ca. 30 Live-Übertragungen in verschiedenen Städten dennoch verfolgt werden. Hingegen fand wenige Tage später eine Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßmahmen in Berlin statt. Aufgerufen hatte die Stuttgarter Gruppe »Querdenken 711«. Die Demonstration wurde zunächst zugelassen, dann abgesagt und schliesslich per gerichtlichem Eilverfahren durchgesetzt. So konnte sich eine merkwürdige, explosive Mischung von Personen aus dem Spektrum von Coronaleugnern, Impfgegner*innen, Afd-Politikern und Nazis versammeln. Viele unter den Demonstrant*innen trugen Reichsadler-Fahnen und andere eindeutig rechtsextreme Symbole mit sich. Die Corona-Pandemie legt nicht nur prekäre Arbeitssituationen offen, sondern verschärft den Rassismus wie auch die Arbeitsverhältnisse. Dies betrifft vor allem die körperliche und monetäre Situation der Erntearbeiter*innen aus Osteuropa. Die ohnehin prekäre Arbeitssituation von Erntearbeiter*innen wurde durch Corona zusätzlich verschärft. Wer sich auf den Feldern ansteckt, hat keine Absicherung. In der Firma Tönnies – einer der größten Fleischproduzenten Deutschlands – infizierten sich mehr als 2000 Mitarbeiter*innen an Covid-19. Auch danach hat die Betriebsleitung weder die allgemeinen Standards des betrieblichen Arbeitsschutzes noch die betriebsinternen Covid-19Hygieneschutzmaßnahmen eingehalten. Während der Pandemie durften »systemrelevante Einrichtungen« geöffnet bleiben oder schnell wieder öffnen. Die Universitäten aber – auch die Arbeitsräume und Bibliotheken – blieben zu. Werden Universitäten als Bildungseinrichtungen als nicht systemrelevant eingestuft? Die Folgen von Corona zeigen sich auch in extremster Weise in den ärmsten Ländern der Welt wie in Indien, als tausende Wanderarbeiter*innen aufgrund fehlender Arbeit und damit Finanzierung die

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Ayşe Güleç – Let´s talk about … Corona und Rassismus

Großstädte verlassen mussten. Zugleich erlebten wir auch eine internationale Bewegung gegen Polizeigewalt und eine damit einhergehende Solidarisierung. 8 Minuten und 46 Sekunden lang kniete ein Polizist am 25. Mai 2020 in Minneapolis auf dem Hals und dem Körper von George Flyod. Mehrmals sagte George Flyod »I can’t breathe« bis er starb. Handyaufnahmen dieser Situation – aufgenommen von Passant*innen – zeigen, dass zwei weitere Polizisten auf den Körper von George knieten. Nach dem Mord an George Floyd kam es in vielen Städten in und außerhalb der USA zu weltweiten Demonstrationen von Aktivist*innen unter dem Titel »Black-Lives-Matter« gegen Rassismus und Polizeigewalt. Die Worte George Floyd »I can’t breathe« verbinden sich direkt mit einem Zitat und dem Werk von Frantz Fanon: »Wenn wir rebellieren, dann nicht für eine bestimmte Kultur. Wir rebellieren, weil wir aus vielen Gründen nicht mehr atmen können.« Frantz Fanon arbeitete als Psychiater, Schriftsteller und war ein panafrikanischer Aktivist und Revolutionär. Im Jahr 1952 veröffentlichte er Schwarze Haut, weiße Masken und etwa zehn Jahre später ein weiteres Hauptwerk mit dem Titel Das Elend der Erde. Dieses gilt noch immer als das Manifest des Anti-Kolonialismus. Seine Werke und seine Theoriebildung waren Ergebnisse seiner politischen, aktivistischen wie auch beruflichen Praxis. Für spätere Bewegungen wie z.B. Malcolm X, die Black-Panther-Bewegung hatten die Analysen von Frantz Fanon einen zentralen Stellenwert. Rassismus als eine gesellschaftliche Gewalt findet auf der Straße, im öffentlichen Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz, in der Schule, in Institutionen, auf den Spargelfeldern Deutschlands und an den bewachten und kontrollierten Grenzen Europas statt. Rassismus ist verknüpft mit dem staatlichen Apparat. Dies wurde sehr genau deutlich am Beispiel des NSU-Komplexes: Institutionen wie beispielsweise Polizei und Verfassungsschutz sind Teil des Problems. Während der Pandemie sind wir alle Zeug*innen davon geworden, wie schnell die Schengen-Grenzen geschlossen wurden, aber auch wie schnell die Grenzen wieder aufgehoben wurden. Im Kontext der Öffnung und Schließung der Außengrenzen Europas wirkte die Pandemie wie ein Beschleuniger innerhalb der Bürokratie. Die Versuche, Migration zu verhindern, sind immer Teil von staatlichen, rassistischen Regierungspolitiken, die in Krisensituationen entstehen, sich daraus speisen und verschiedene Ausdrucksformen und Auswirkungen zeigen. »Die Zukunft gehört [...] denen, die bereit sind, sie selbst zu sein und gleichzeitig ein Stück der Anderen in sich aufzunehmen. Rassis-

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Supplements

mus gibt es nur deshalb, weil unser aller Geschichten so dicht, gründlich und unlösbar miteinander verwoben sind. Denn wie sollten sie uns sonst überhaupt auseinander halten können?« (Hall, Stuart (1998), Subjects in History. In: Lubiano, Wahneema (Hg.), The House That Race Built. New York: Vintage Books, S. 289–299). . In Zeiten der pandemischen Unsicherheit und zur Abwehr von fremden Viren und einer damit verbundenen Immunitäts-Grenzpolitik ist nur das textile Material der Mund-Nasen-Schutzmaske eine dünne Membrane, die uns als Menschen trennt oder verbindet.

Ayşe Güleç, geb. 1964 und aufgewachsen im Ruhrgebiet, ist Pädagogin, Autorin und aktivistische Forscherin und arbeitet an den Schnittstellen Anti-Rassismus, Migration, Kunst, Kunstvermittlung. Sie ist Kuratorin im Artistic Team der documenta fifteen, war Community Liaison bei der documenta 14 und leitete die Kunstvermittlung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt a.M. Sie war u.a. eine der Initiator*innen der kollektiven antirassistischen Bewegung, die das erste NSU-Tribunal in 2017 umsetzte. Sie engagiert sich seit vielen Jahren gegen Rassismus und ist Teil der Kasseler Initiative 6.April. Von 1998 bis 2016 leitete sie im Kulturzentrum Schlachthof Kassel die Entwicklung, Leitung und Durchführung von interkulturellen-ästhetischen Aktivitäten, Bildungsangeboten und war zuständig für lokale, regionale und europäische Vernetzungsarbeit.

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Klaus Dörre

Die Corona-Pandemie

Kein Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaft1

Die Welt bewegt sich im Ausnahmezustand. Ursache ist Covid19 – eine Krankheit, für die es noch keine Therapie gibt. Das Virus Sars-CoV-2 kann töten. Über seine Entstehung, Verbreitung und Wirkung ist noch immer zu wenig bekannt. Deshalb erfolgen medizinisch-hygienische, gesellschaftliche und politische Abwehrmaßnahmen nach der Methode von Versuch und Irrtum. Deutschland und Teile Europas haben den Höhepunkt der Seuche wohl – vorerst – überschritten. Die AbstandsreKlaus Dörre geln werden gelockert. Schon Foto: Angelika Osthues keimt die Hoffnung auf, wichtige gesellschaftliche Sektoren könnten zu Vor-Corona-Zuständen zurückkehren. Doch der Schein trügt. Weder ist das Virus besiegt, noch lässt sich mit Bestimmtheit sagen, welche Ausmaße die weltweite Rezession annehmen wird, die der Hygiene-Politik folgt. Trotz des großen Nichtwissens um die Krankheit und ihre Folgen, wage ich eine These: Die Pandemie und die politisch herbeigeführte globale Wirtschaftskrise wirken spontan keineswegs als Sprungbrett, das uns in eine bessere, eine demokratische Postwachstumsgesellschaft hineinkatapultiert. Je länger die Verwerfungen andauern, desto eher wird es für die verwundbarsten Teile der Weltbevölkerung um das nackte Überleben gehen. Massive Entsolidarisierungen könnten die Folge sein. Käme es dazu, würde zusätzlich behindert, was längst überfällig ist – eine Nachhaltigkeitsrevolution sowohl in der ökologischen als auch in der sozialen Dimension.

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1 Das Problem der neuesten deutschen Ideologie

Der mediale Post-Corona-Diskurs blendet solche Szenarien zweckoptimistisch aus. In gewisser Weise wiederholt sich so, was schon den Crash von 2007-09 begleitete. Damals schien plötzlich zwingend nötig, was vorher als undenkbar galt. Der Staat musste einspringen, um angeschlagene Banken und Unternehmen zu retten, hartgesottene Marktradikale entdeckten Fehler im ökonomischen System und konservative Minister riefen nach der Tobin Tax – einer Steuer auf kurzfristige Finanztransaktionen, wie sie zuvor nur das globalisierungskritische Netzwerk Attac gefordert hatte. Geblieben ist von all dem wenig bis nichts. Die Jahre zwischen den großen Krisen wirken im Rückblick wie ein verlorenes Jahrzehnt. Geht es um die Zeit nach der Pandemie, erschallt der Ruf nach Veränderung nun umso lauter: »Jetzt oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt«, titelt beispielsweise das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«.2 Andere Leitmedien folgen. Unterstützung erhalten sie aus der Wissenschaft. Selbst kritische Theoretiker wie Oskar Negt tendieren dazu, die Chancen der Krise zu betonen. Trotz katastrophischer Tendenzen gebe es Anzeichen für ein neues Freiheitsgefühl, das mit der Krise entstehe. Die Menschen entdeckten, »wie sehr Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt von ihrem eigenen Handeln abhängen, wie viel in ihrer eigenen Verantwortung, aber auch in ihrer eigenen Handlungsmacht« liege; das berge die große Chance, »Antikörper« gegen demokratiebedrohende Tendenzen zu entwickeln.3 Wo Oskar Negt noch abwägt, lehnen sich andere in Sachen Chancen der Krise deutlich weiter aus dem Fenster. »Wir können die Welt verändern«4, lässt uns Hartmut Rosa wissen. Die Pandemie habe eine zwei Jahrhunderte währende Beschleunigungsdynamik zu Stillstand gebracht. Nicht das Virus, »wir selbst« täten dies, »im Modus politischen Handelns«5. Deshalb sei jetzt die Zeit gekommen, um die Moderne neu zu erfinden. […] Tatsächlich ist nicht einmal klar, ob es in absehbarer Zeit überhaupt einen Impfstoff geben wird, der gegen Sars-CoV-2 dauerhaft immunisiert. Die Zahlen zu Infizierten und Toten, auf denen seuchenpolitische Maßnahmen beruhen, sind, was alle Beteiligten stillschweigend akzeptieren, höchst ungenau. Welche der Abstandregeln nötig waren, wird man erst mit zeitlichem Abstand wirklich beurteilen können. Dennoch ist die Gesellschaft keineswegs völlig ohne Wissen. Um den idealistischen Überschwang der Post-Corona-Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen, wäre eine Beschäftigung mit den vorhandenen historischen Kenntnissen ein erster kleiner Schritt.

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Supplements

2 Seuchen und Ordnungen von langer Dauer

Aus natürlicher Mutation hervorgegangen6, wird Sars-CoV-2 zu einem gesellschaftlichen Problem, sobald es menschlichen Zellen infiziert und sich mit großem Tötungspotential rasch ausbreitet. Ist das exogen erzeugte Virus erst einmal endogenisiert, verweist es auf Strukturen von langer Dauer: »Seit der Mensch seine ursprüngliche Tierhaftigkeit abgelegt hat und andere Lebewesen beherrscht, praktiziert er ihnen gegenüber den Makroparasitismus eines Raubtiers, ist jedoch seinerseits ein Opfer von Kleinstlebewesen – Mikroben, Bazillen und Viren – die ihm als Mikroparasiten zusetzen.«7 Menschen können sich an die Krankheitserreger anpassen und Antiköper entwickeln, doch dazu benötigen sie Zeit: »Der Krankheitserreger braucht nur aus seiner ´biologischen Nische´ auszubrechen und eine bis dahin von ihm unberührte und damit abwehrlose Population zu befallen, und die Explosion, die Katastrophe der großen Seuchen ist da«.8 Fernand Braudel formuliert dies mit Blick auf die Zeit zwischen 1400 und 1800, einer Ära, während der die Lebenserwartung der Menschen hauptsächlich von Hungersnöten und gefährliche Krankheiten abhing. Bedeutsam sind die Bewältigungsformen von Seuchen. Hier zeichnen sich drei Grundmuster ab. Erstens gilt das alte toskanische Sprichwort: »Keine bessere Arznei gegen die Malaria als ein gut gefüllter Kochtopf«.9 […] Zweitens treten die Seuchen schlagartig auf und springen von der einen zur anderen Menschgruppe. Die Folge ist oftmals Entsolidarisierung. […]10 Drittens erzeugen Seuche gemeinsam mit Hungersnöten eine »biologische Ordnung von langer Dauer«11. […] Diese Bewältigungsmuster hatten über lange Zeiträume hinweg Bestand. Sie büßten erst an Verbindlichkeit ein, als es Medizin und staatlicher Gesundheitspolitik gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich gelang, die Seuchen einzudämmen. Dies geschah jedoch um den Preis einer anhaltenden Spannung zwischen erfolgreichen medizinisch-seuchenpolitischen Maßnahmen einerseits, der leichteren Transmission von Krankheitserregern andererseits.12 Dieses Spannungsverhältnis setzte sich auch im 20. Jahrhundert fort. 1918 starben an einer Grippewelle mehr Menschen als während des gesamten Ersten Weltkriegs. […]13 Daran gemessen ist die Corona-Pandemie eine historische Zäsur, aber doch kein Ereignis von säkularer Einmaligkeit – eine Einschätzung, die ohne Einschränkungen auch für staatliche Anti-Seuchen-Politiken gelten kann.

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Klaus Dörre – Die Corona-Pandemie

3 Die repulsive Globalisierung – Treiber von Covid-19

Erzeugen Pandemien Spielräume für gesellschaftliche Veränderungen? […] Covid-19 zeigt, dass sich das Spannungsverhältnis von besserer medizinischer Versorgung auf der einen und rascherer Ausbreitung von Seuchen auf der anderen Seite bis in das 21. Jahrhundert fortsetzt. Bereits vor der Corona-Pandemie machten sich neue Krankheitserreger bemerkbar, deren Ausbreitung durch die Raum-Zeit-Kontraktion der Globalisierung beschleunigt wurde.14 Für Covid-19 lässt sich präzisieren: Die Seuche kam – allerdings nur, sofern man von ihrem natürlichen Ursprung absieht – als Repulsion der intensivierten, beschleunigten Globalisierung in die Welt. Repulsionen bezeichnen ausschließlich Dynamiken, die, von der Globalisierung angestoßen, in gewisser Weise deren Gegenteil bewirken. Die Globalisierung schlägt zurück. […] Als gesellschaftliches Phänomen fügt sich Covid-19 passgenau in dieses Muster. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine Zoonose, eine Infektionskrankheit, die zwischen Tieren und Menschen übertragbar ist. Dass derartige Krankheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zu einer globalen Bedrohung werden können, hängt mit der Zunahme weltweiter Reisetätigkeit, der Expansion des Warenverkehrs, dem schwindenden Lebensraum für Wildtiere, dadurch bedingten engeren Mensch-Tier-Kontakten, veränderter Tierhaltung und nicht zuletzt mit dem Klimawandel und die durch ihn begünstigten Artenwanderungen zusammen. Resistenzbildungen, die eine Behandlung von Viren-Krankheiten erschweren, kommen hinzu. […] Die Erdteile und ihre ökonomischen Zentren sind trotz aller Ungleichzeitigkeiten in einer Weise miteinander verbunden, die eine rasche Ausbreitung von Krankheitserregern fördert. Das auch, weil die intensivierte Globalisierung die Zonen sozialer Verwundbarkeit vergrößert hat. Netzwerke inter- und transnationaler Konzerne beschäftigen ein »Weltproletariat«15 von weit mehr als drei Milliarden Menschen. Der größte Teil von ihnen arbeitet in prekären Verhältnissen oder informell. […] Während sich die Zonen der Verwundbarkeit vergrößern, erzeugt die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise neuartige gesundheitliche Risiken. Daran ist vor allem die globale Nahrungsmittelindustrie beteiligt. […] Ein expandierender globaler Tourismus sorgt dafür, dass Krankheitserreger sich rasch in allen Weltregionen ausbreiten können.16 Es ist deshalb kein Wunder, dass der Lockdown Reiseveranstalter, Airlines, das Hotelgewerbe und die gesamte Tourismusbranche mit besonderer Härte trifft.

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4 Covid-19 und »degowth by disaster«

Die Corona-Pandemie ist aber bei weitem nicht die einzige repulsive Kraft, die krisenverursachend wirkt. Hinter der Pandemie wirkt eine Krise, die einen anderen Namen trägt. Sie ist historisch neu, von langer Dauer und kann am besten als ökonomisch-ökologische Zangenkrise beschrieben werden. Damit ist gemeint, dass sich die derzeit dominanten Produktions- und Lebensweisen reicher Länder global nur um den Preis eines ständigen Anwachsens ökologischer und sozialer Destruktivkräfte verallgemeinern lassen. Diese Krise ist mit dem großen Crash von 2007 bis 2009 öffentlich sichtbar geworden. Zangenkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung ökonomischer Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum, ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Diese Konstellation schließt aus, dass es ein bloßes Zurück zu vermeintlicher gesellschaftlicher Normalität geben kann. Stattdessen zwingt sie vor allem die frühindustrialisierten Länder zu einer großen Transformation. Bis spätestens 2050 müssen, so jedenfalls die Nachhaltigkeitsziele der Europäischen Union, die Wirtschaftssysteme dieser Staaten vollständig dekarbonisiert sein. […] Die alten kapitalistischen Zentren stehen deshalb vor grundlegenden Richtungsentscheidungen. Entweder gelingt es ihnen, das Wirtschaftswachstum und die industriellen Produktivkräfte ökologisch und sozial nachhaltig zu gestalten, oder sie müssen Wege finden, soziale Stabilität ohne rasches, permanentes Wachstum zu gewährleisten. Erreichen sie weder das eine noch das andere, droht ihnen wahlweise der ökologische oder der ökonomische Kollaps17, wobei das eine immer auch das andere nach sich zieht. Die Pandemie hat an dieser Grundkonstellation wenig verändert, aber doch zu einer Verschiebung der Krisenherde beigetragen. Nach einem langen Jahrzehnt weltwirtschaftlicher Prosperität, dessen Ende sich freilich bereits vor dem Ausbruch der Seuche abzeichnete, haben politische Entscheidungen zur Eindämmung von Covid-19 die ökonomische Rezession teils unmittelbar, teils indirekt, herbeigeführt. Damit bestimmt vorerst wieder die sozioökonomische Krisendynamik das Geschehen. Bestandsaufnahmen und Prognosen fallen gleichermaßen alarmierend aus. In der Europäischen Union wird mit der stärksten Rezession seit 1945 gerechnet. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert eine Jahrhundertkrise, die mit einem weltweit dreiprozentigen Einbruch des Wachstums noch weitaus heftiger ausfallen könne als der Crash an den Weltfinanzmärkten 2007–09.18 […]

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Als »symmetrischer Schock« zeitigt die Corona-Krise sowohl Effekte für die Angebots- als auch für die Nachfrageseite. Staaten, die es sich finanziell leisten können, reagieren mit aufwendigen Hilfs- und Konjunkturprogrammen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Dabei haben sie, wie auch die deutsche Regierung und ihre Berater, offenkundig aus der Krise von 2007–09 gelernt. Von der schwarzen Null in öffentlichen Haushalten bis zur Schuldenbremse werden heilige Kühe der marktradikalen Ökonomik ohne nennenswerten Widerstand geschlachtet. Selbst unter den deutschen Wirtschaftswaisen sind die staatlichen Hilfsprogramme unumstritten. […] Aktuell mündet die Corona-Krise im degrowth by disaster19. Wie schon 2009 gehen die klimaschädlichen Emissionen zurück; sie werden laut Prognose der Internationalen Energieagentur um etwa acht Prozent sinken. Energie- und Ressourcenverbrauch dürften sich ebenfalls abschwächen. Wegen des Kriseneinbruchs könnten Deutschland und andere europäische Staaten ihre Klimaziele für 2020 doch noch erreichen. Mit Weichenstellungen für eine Nachhaltigkeitsrevolution hat dies jedoch nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil, das vorübergehende Absinken der CO2-Emissionen ändert nichts daran, dass die Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre ein neues Rekordniveau erreichen wird. Das heißt, der menschengemachte Klimawandel geht ohne nennenswerte Bremswirkung weiter. Deshalb ist für die Post-Corona-Zeit entscheidend, worauf staatlichen Investitions- und Konjunkturprogrammen ausgerichtet werden. […]

5 Wenn der »volle Teller Suppe« fehlt …

Gibt es Anzeichen für eine solidarische Bewältigung der Corona-Krise? In einem Punkt lässt sich diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Leben zu schützen ist vielen Staaten und ihren Regierungen so wichtig, dass dramatische wirtschaftliche Folgen der Abwehrmaßnahmen in Kauf genommen werden. Doch wie lange ist der Spagat zwischen Gesundheitsschutz und sozioökonomischem Desaster durchzuhalten? Betrachten wir einige Entwicklungen genauer. Erstens zeigt sich auch in der Gegenwart, dass eine Pandemie dort besonders hart zuschlägt, wo der volle Teller Suppe fehlt. Zunächst als »Krankheit der Reichen« wahrgenommen, verschiebt sich das geographische Zentrum der Seuche mehr und mehr in den globalen Süden. […] In osteuropäischen Staaten wie Rumänien kehrt der Hunger zurück. Selbst in den reichsten Ländern sehen sich die Lohnabhängigen

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keineswegs auf Rosen gebettet. In Deutschland gab es schon kurz nach dem Shutdown einen sprunghaften Anstieg der Kurzarbeit von 2,6 Millionen auf 12 Millionen Beschäftigte im Juni. Diese Zahlen dürften insgesamt eher untertreiben. […] Kurzum: Wir finden bestätigt, was für Pandemien schon immer galt. Die Ungleichheit nimmt zu, und sie wird vor allem denen schaden, denen alsbald auch noch der Teller für die Suppe fehlen könnte. Deshalb ist völlig ungewiss, wie lange sich der Vorrang von Gesundheit gegen ökonomische Imperative und soziale Notlagen durchhalten lässt. Bevorstehende oder bereits im Gange befindliche Verteilungskämpfe steigern, zweitens, die Wahrscheinlichkeit gesellschaftlicher Entsolidarisierungen. Bereits jetzt verhalten sich manche Regierungschefs in gewisser Weise »grausamer als Hunde«. Trump, der seinen Wahlerfolg auch der Polemik gegen Barack Obamas – sicher unzureichende – Gesundheitsreform verdankt, liefert Anschauungsunterricht für eine Eskalationsstrategie. […] Dieses Krisenmanagement kommt einer verantwortungslosen Klassenpolitik von oben gleich. Es enthält eine rassistische Konnotation und dürfte eine der Ursachen für die Massenproteste sein, die nach dem gewaltsamen, von weißen Polizisten verantworteten Tod George Floyds in nahezu allen nordamerikanischen Großstädten ausgebrochen sind. […] Harte Verteilungskonflikte werden drittens auch in der Gegenwart auf »Strukturen von langer Dauer« treffen. Das zeigt sich auf der europäischen Ebene besonders klar. Weil Hilfsprogramme zunächst nur auf nationaler Ebene beschlossen wurden, fühlt sich das von der Pandemie besonders gebeutelte Italien von Europa im Stich gelassen. In der Bevölkerung machen sich Verletzungen bemerkbar, deren Ursachen weit zurückreichen. Einseitig über den Binnenmarkt und die Eurowährung vorangetrieben, hat die Ungleichheit zwischen den Staaten der EU seit vielen Jahren zugenommen. […] Um Verletzungen zu vermeiden, hatten Italien und Frankreich vorgeschlagen, die Kosten der Krise teilweise über Corona-Bonds zu finanzieren. Dieses Instrument hätte eine gemeinsame Kreditaufnahme der EU-Staaten an den Finanzmärkten als solidarisches Mittel der Rezessionsbewältigung ermöglicht. Die Regierung Merkel hat, zunächst im offenen Dissens mit Frankreich, eine solche Option verhindert. Ein Kompromissvorschlag der Europäischen Kommission sieht als Alternative immerhin ein 750-Milliarden-Programm vor, das aber bei den »sparsamen Vier«, den Nettozahlern Österreich Schweden, Dänemark und den Niederlanden, auf Ablehnung stößt20 und deshalb nicht schnell umgesetzt werden kann. [...] Das macht beispielhaft deutlich, wie die Bewältigung der Seuche

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im internationalen Staatensystem zum Gegenstand eines Ringens um künftige Vormachtstellungen wird. […] In den südeuropäischen Ländern ist die Zustimmung der Bevölkerung zur EU auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. […] Angesichts seiner alternden Bevölkerungen wird der Arbeitsmarkt nach der Pandemie in vielen europäischen Staaten wieder unter Fach- und Arbeitskräfteengpässen leiden. Dies vor Augen, gleicht der Umgang mit den Fluchtmigranten einer moralischen Bankrotterklärung der Europäischen Union, er ist aber selbst nach wirtschaftlichen Nutzenkalkülen unsinnig. Die Folgen tragen hauptsächlich jene südeuropäischen Länder, die neben der Austeritätspolitik und Corona auch noch die Hauptlast des inhumanen Dublin-Systems bei der Aufnahme von Fluchtmigranten zu tragen haben. Dass sich die italienische Regierung dennoch dafür ausgesprochen hat, alle illegal lebenden Migranten zu legalisieren, ist – auch wenn es um billige Arbeitskräfte auf den Tomatenplantagen geht – eines der wenigen hoffnungsvollen Zeichen in einer insgesamt düsteren Welt. Die europäische Abschottungspolitik verdankt sich viertens wesentlich der Angst vor der anhaltenden Revolte von rechts. Die Bereitschaft zu neuen Hexenverfolgungen, die geeignet sind, die Wut auf alte und neue Sündenböcke zu lenken, ist in der äußersten Rechten jederzeit vorhanden. Ängste vor irrationalen Aufwallungen sind deshalb nachvollziehbar, politisch aber völlig dysfunktional. Das nicht nur, weil Rechtspopulisten in den nordischen Ländern strikt ablehnen, was die radikale Rechte zum Beispiel in Italien vehement einfordert – mehr Unterstützung durch die EU. Demagogie und Verschwörungstheorien wäre am besten mit einer klar konturierten politischen Alternative zu begegnen. […]

6 Umsteuern – aber wie und wohin?

Halten wir fest: Die alten, geschichtlich bekannten Bewältigungsmuster von Pandemien sind noch immer Teil der sozialen Realität. Noch hat Covid-19 an solchen Ordnungen von langer Dauer wenig verändert. Die Krankheit illustriert, dass die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Seuchen entscheidend von Gesundheitsstandards und -systemen, der Verfügung über halbwegs krisenfeste soziale Netze, wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen und der Finanzkraft von Nationalstaaten abhängig ist. Wie unter einem Brennglas macht die Krankheit all jene Unsicherheiten und Ungleichheiten sichtbar, die in modernen kapita-

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listischen Gesellschaften seit langem (re)produziert werden. Privatisierungen und die finanzielle Ausblutung der Gesundheitssysteme haben die Resilienz des Sozialen derart geschwächt, dass Covid-19 zu einer ernsten Bedrohung selbst der ökonomischen Globalisierung werden konnte. Spontan verstärkt die Corona-Krise sozialen Disparitäten, die seit langem eine ökologische Wende blockieren. […] Das Grundproblem des gesellschaftskritischen Idealismus der Gegenwart ist, dass er die spaltende, gewaltträchtige Dynamik eines aus dem Ruder gelaufenen Kapitalismus kaum zur Kenntnis nimmt. Seine Anliegen sind nicht falsch, doch deren Begründungen müssen sich im Realitätstest bewähren. Exemplarisch seien vier Felder gesellschaftlicher Transformation benannt, die verdeutlichen können, wovon die Rede ist. Der Post-Corona-Diskurs hat (1) entdeckt, was feministische Debatten um die Krise sozialer Reproduktion seit Jahren thematisieren. Pflegende, sorgende, erziehende und bildende Tätigkeiten sind ebenso unterbezahlt wie Jobs in der Logistik oder dem Verkehrswesen. Sie werden häufig in prekärer Beschäftigung ausgeübt, als Frauenarbeit abgewertet und sind in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide weit unten platziert. […] Gesellschaftlich erforderlich ist sehr viel mehr – eine Care-Revolution, die als unabdingbarer Bestandteil einer Nachhaltigkeitsrevolution ebenfalls schon lange überfällig ist.21 Dergleichen ist derzeit nicht einmal ansatzweise in Sicht. […] Im Grunde müsste man den Pflegerinnen, Krankenschwestern, Bäckern, Arzthelferinnen und nicht zuletzt den Landwirten deshalb raten, etwas geradezu lebensbedrohliches zu tun. Sie müssten trotz anhaltender Krise streiken, denn nur der Mangel an lebensnotwenigen Dienstleistungen und Produkten verhilft ihnen zu wirklicher (Gegen-)Macht. Dessen ungeachtet gilt: Gesellschaften funktionieren am besten mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur. Diese Infrastruktur muss zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. […] Nachhaltigkeit ist (2) ohne Wirtschaftsdemokratie, das heißt ohne Eingriffe in unternehmerische Freiheiten nicht zu erreichen. Nur wenn diese Freiheiten künftig strikt an Nachhaltigkeitsziele rückgebunden werden, besteht überhaupt eine Chance, den menschengemachten Klimawandel noch in halbwegs kontrollierbaren Grenzen zu halten. Das heißt konkret: Die Zivilgesellschaften müssen in demokratischer Weise direkt darauf Einfluss nehmen, was, wie und zu welchem Zweck produziert und reproduziert wird. Es geht um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, denn ohne solch triefgreifende Eingriffe in die bestehende Wirtschaftsordnung wird sich Nachhaltigkeit weder in der

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ökologischen, noch in der sozialen Dimension realisieren lassen. […] Das sind wichtige Fingerzeige für Wege, die in eine bessere Zukunft führen könnten. Um sie zu beschreiten, ist es aus meiner Sicht erforderlich, die Eigentumsfrage zu stellen. Staatshilfe für private Unternehmen muss zwingend mit Verfügungsrechten für Beschäftigte und/oder der öffentlichen Hand bezahlt werden. Sobald dergleichen geschieht, wird die Sozialisierung von Entscheidungsmacht mittels Internalisierung von Sozialkosten zu einem Prozess, der einer Revolution ohne einmaligen Akt der Machtergreifung gleichkäme.22 Große Unternehmen würden auf diesem Wege zu Mitarbeitergesellschaften, in denen öffentliches Eigentum eine entscheidende Rolle zu spielen hätte. Eine Revolutionierung der Besitzverhältnisse in großen Unternehmen erforderte zugleich eine Neuordnung des klein- und mittelbetrieblichen Sektors. Unternehmen dieses Sektors dürfen keinesfalls enteignet werden. Nötig sind jedoch Anreize, um die Kooperation zwischen – konkurrierenden – Klein- und Mittelbetrieben zu stärken. Die Vernetzung flexibler Spezialisten etwa in Oberitalien hat gezeigt, wie dergleichen erfolgreich zu praktizieren ist.23 Der Übergang zu einer dekarbonisierten, ressourcenschonenden Wirtschaften ist ohne langfristige gesellschaftliche Planung kaum zu bewerkstelligen. Nachhaltig zu regulieren impliziert eine makroökonomischer Verteilungsplanung, die, anders als im Staatssozialismus, auf detaillierte Produktionsvorgaben verzichtet, aber doch Einfluss auf die Wirtschaftspolitik und die Unternehmensstrategien nimmt. Die Verteilungsplanung kann in demokratisch zusammengesetzten Planungskommissionen stattfinden. Dabei sind Planvarianten denkbar, die der Bevölkerung periodisch zur Abstimmung vorgelegt werden. Die jeweils beschlossene Variante setzt, wie beim Bürgerhaushalt, Präferenzen bei den öffentlichen Ausgaben. Sie hat für Regierungen, jedoch nicht für einzelne Betriebe oder Unternehmen verbindlich zu sein. Innerhalb wie außerhalb von Betrieben und Unternehmen müsste diese Rahmenplanung mit transparenten, demokratischen Entscheidungsstrukturen verbunden werden. Belegschaften würden mit umfangreiche Partizipationsmöglichkeiten ausgestattet. Neben materieller Beteiligung an den Geschäftsergebnissen ist eine partizipative Arbeitsorganisation eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe an betrieblichen Entscheidungsprozessen.24 Demokratische Strukturen in den Unternehmen bieten Chancen (3), um die Wirtschaft auf eine Produktion von langlebigen Gütern umzustellen, die sparsam mit Naturressourcen umgeht und sich an sozialen Bedürfnissen großer Mehrheiten ausrichtet. Eine solche Ziel-

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setzung erfordert, alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen an Produktionsentscheidungen zu beteiligen. […] Auf diese Weise könnte ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen Kapital, Staatsmacht und demokratischer Zivilgesellschaft überhaupt erst wiederhergestellt werden. […] Voraussichtlich wird die Realisierung ökologischer Nachhaltigkeitsziele die Preise für Agrarprodukte und Lebensmittel in die Höhe treiben. Schon deshalb sind Verzichtsappelle, die Gewerkschaften zur Mäßigung bei Löhnen und Einkommen mahnen, schlicht kontraproduktiv. Unter kapitalistischen Bedingungen würden sie allenfalls eine Steigerung der Unternehmensgewinne bewirken, Abflüsse in die hochspekulativen Finanzmarktsegmente fördern, das Ungerechtigkeitsempfinden bei großen Teilen der Lohnabhängigen steigern und Beschäftigte möglicherweise einer radikalen Rechten in die Hände treiben, die den menschengemachten Klimawandel leugnet. Sozial und ökologisch nachhaltig ist deshalb (4) das genaue Gegenteil. Löhne und Einkommen eines Großteils der abhängig Beschäftigten müssen steigen, damit faire Preise für Ressourcen oder Lebensmittel aus ökologischem Anbau für große Mehrheiten überhaupt erschwinglich sind. […]

8 Wende zur Nachhaltigkeit – mit oder gegen den Staat?

Die Liste solcher Projekte ließe sich erheblich verlängern. So laden Staatschulden und lockere Geldpolitik die Finanzmarktakteure geradezu zu spekulativen Aktivitäten ein. Dagegen helfen ein Verbot von Leergeschäften, Kapitalverkehrskontrollen, die Zerschlagung des Bankensektors, drastische Einschränkung des Handlungsspielraums von Schattenbanken, Schließung von Steueroasen und die Rückführung des Finanzwesens auf sein Kerngeschäft – die Kreditierung realwirtschaftlicher Aktivitäten. Im Finanzsektor […] könnte, wie die CoronaKrise belegt, der Staat eine wichtige Rolle beim Umsteuern einnehmen. Gibt es Anzeichen dafür, dass die politischen Eliten einen derartig radikalen Wandel anstreben? Ich gestehe, dass diese Frage eine rhetorische ist. Man schaue nur auf die Akademie Leopoldina, deren Expertise die deutsche Kanzlerin vertraut. Die marktwirtschaftliche Ordnung müsse erhalten bleiben, lautet die Basisprämisse für alle Vorschläge zur Neuordnung der Ökonomie. Für die Bewältigung des Klimawandels sollen allein markwirtschaftliche Instrumente wie ein CO2-Preis sorgen. Allenfalls im Gesundheitssektor seien dem Wettbewerb Grenzen zu setzen.25 All das klingt eher nach modifizierten »Wei-

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ter so« als nach radikalem Wandel. […] Politische Gegenkräfte, die dies ändern könnten, bleiben vorerst außer Sicht. Vom Krisenmanagement profitiert in Deutschland zumindest bei Wahlumfragen das konservative Zentrum, die Union. Die SPD legt zwar leicht zu, dafür haben die Grünen ihr Zwischenhoch schon wieder hinter sich, während die Linkspartei stagniert. Radikaler Wandel mit nicht mehr wirklich Großer Koalition oder doch eher mit Schwarz-Grün? Ich gestehe, dass mir dafür jegliche Phantasie fehlt. Ungeachtet der politischen Farbenlehre wird sich künftig wohl ein Staatsinterventionismus neuen Typs durchsetzen. Dazu tragen neben der Pandemie auch langfristigen Herausforderungen bei, die sowohl Digitalisierung als auch Klimawandel mit sich bringen. Gleich ob Reorganisation von Wertschöpfungsketten, Sicherung systemrelevanter Produktion oder Schaffung von Infrastruktur für Elektromobilität und Digitalisierung – der Staat wird künftig mitmischen, sonst drohen Niederlagen in der neuen imperialen Rivalität. »Wir« sind aber nicht der Staat. Der Staat ist ein soziales Verhältnis, das auf einer Verdichtung von Klassen- und Kräftekonstellation beruht, die sich in höchst unterschiedlichen Staatstypen mit divergierenden Staatsapparaten ausdrücken kann.26 Staatsintervention ist daher keineswegs per se progressiv. Entscheidend bleibt, ob und in welchem Maße staatliches Handeln an demokratische Willensbildung rückgebunden bleibt. Demokratie benötigt Gegenöffentlichkeit, Opposition, Streit, Disput, Versammlungen, Demonstrationen und Streiks. Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesichert bleiben – trotz Krisen jeglicher Art. Demokratie verkörpert daher das Gegenteil eines Ausnahmezustands. […] Wird die Realisierung von Nachhaltigkeitszielen blockiert, könnten sich die Anlässe für Ausnahmezustände häufen. Ungebremster Klimawandel bedeutet Zunahme von Wetterextremen, eine höhere Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen und damit auch von äußeren Schocks, die zu immer neuen Notständen führen könnten. […] Dies vor Augen, gibt es für allzu großen Optimismus keinen Anlass. Schon werden die wirtschaftlichen Schäden des Lockdowns gegen die Zahl der Pandemie-Toten aufgerechnet. »Durchkommen!« lautet die Devise, der sich viele verschreiben werden. Deshalb halte ich es für grundfalsch, dem Wünschbaren den Rang einer wahrscheinlichen Zukunft zu verleihen. Auch in Zeiten der Pandemie gibt keine Krisenmechanik. Weder muss sich alles zwangsläufig zum Besseren wenden, noch sind gesellschaftlicher Zerfall und totales ökologisches Desaster unausweichlich vorprogrammiert. Nur Realitätssinn, gepaart mit der Skepsis des Verstandes und der solidarischen Anteilnahme am

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Schicksal all derer, die in große Not geraten, kann einer sozialökologischen Nachhaltigkeitskoalition zu kollektiver Handlungsfähigkeit in und nach der Krise verhelfen. […] Der Text ist in stark gekürzter Fassung bereits in dem Band Die CoronaGesellschaft, hrsg. von Michael Volkmer und Karin Werner, Bielefeld 2020, erschienen. Wir danken für die Abdruckgenehmigung.

Klaus Dörre, geboren 1957 in Volkmarsen-Külte, studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Volkswirtschaftslehre an der PhilippsUniversität Marburg, wo er 1992 promoviert wurde. Er war von 2001 bis 2006 Geschäftsführender Direktor des Forschungsinstituts Arbeit, Bildung, Partizipation an der Ruhr-Universität Bochum. Dörre habilitierte sich 2002 an der Universität Göttingen und war anschließend dort als Privatdozent tätig, ehe er 2004 einen Ruf an die FriedrichSchiller-Universität Jena erhielt, wo er eine Professur für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie innehat. 2009 hat Dörre das Jenaer Zentrum für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung initiiert und mitgegründet. Drei Jahre lang war er dessen Sprecher, ehe er von der Funktion zurücktrat, um die Kollegforschungsgruppe »Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften« aufzubauen. Seit 2018 ist Dörre gemeinsam mit Brigitte Aulenbacher Herausgeber des Global Dialogue – einer Publikation der International Sociological Association (ISA), die in 17 Sprachen erscheint. Seit 2018 fungiert Dörre als Mitherausgeber des Berliner Journals für Soziologie (BJS). Dörre war Gastdozent an der Universität Coimbra, weitere Forschungsaufenthalte führten ihn unter anderem an die Universitäten in Siena und Johannesburg. Er ist permanent Fellow des Society, Work & Politics Institute (SWOP) in Johannesburg.

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Für wichtige Anregungen danke ich Peter Reif-Spirek, Michael Brie und Benjamin Seyd. 2 Der Spiegel, Nr. 17/18.04.2020. 3 Negt. Oskar (2020): »Es entsteht auch eine neue Freiheit«, in: Frankfurter Rundschau vom 27. Mai 2020. 4 Rosa, Hartmut (2020): »Wir können die Welt verändern«, in: Die Zeit vom 29. April 2020. 5 Rosa, Harmut (2020): »Wir können das Hamsterrad anhalten«. https://www. uni-jena.de/200403_Rosa_Interview. 6 Das Corona-Virus wäre auch dann natürlichen Ursprungs, wenn es aus einem chinesischen Forschungslabor stammen sollte. Für gentechnische Manipulationen fehlen die Beweise. 7 Braudel, Fernand (1985): Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Der Alltag. München, S. 86. 8 Ebd. 9 Braudel (1985), S. 78. 10 Ebd., S. 83. 11 Ebd., S. 88. 12 Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München, S. 271. 13 Ebd. 14 Reinhard, Wolfgang (2016): Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415–2015. München, S. 1257. 15 Fulcher, James (2007): Kapitalismus. Stuttgart, S. 125. 16 Allein zwischen 1950 und 2001 stieg die Zahl der touristischen Einreisen von 25 Mio. auf etwa 700 Mio., vgl.: Fulcher (2007), S. 131 f. 17 Jackson, Tim (2009): Prosperity without growth. Economics for a finite planet. London, S. 128. 18 International Monetary Fund (2020): World Economic Outlook, April 2020: The Great Lockdown. https://www.imf.org/en/Publicatios/WEO/Issues/2020/04/14/ weo/20220/April Letzter Zugriff: 2. Juni 2020. 19 Victor, Peter A. (2008): Managing Without Growth – Slower by Design, Not Disaster. Cheltenham. 20 Dänemark hat immerhin ein Einlenken signalisiert. 21 Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld. 22 Vgl. z. B.: Urban, Hans-Jürgen (2019): Gute Arbeit in der Transformation. Hamburg. 23 Piore, Michael J./Sabel, Charles F. (1985): Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft. Berlin. 24 Sik, Ota (1979): Humane Wirtschaftsdemokratie. Ein dritter Weg. Hamburg. 25 Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften (2020): Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden. 13. April 2020; siehe auch: Dies. (2019): Klimaziele 2030. Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der CO2-Emmissionen. 26 Poulantzas, Nicos (1978) [2002]: Der Staat, die Macht und der Sozialismus. Hamburg.

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Plakatmotiv – Bewegung fßr radikale Empathie

Ben El Halawany (El Bebbe Grande): Nicht vergessen: auch Lachen ist extrem ansteckend

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Zu den Herausgebern

Jonas Zipf © JenaKultur Foto: Tina Peißker

Jonas Zipf, geb. 1982 in Darmstadt, arbeitet seit 2016 als sogenannter Werkleiter von JenaKultur, des städtischen Eigenbetriebs für Kultur, Kulturelle Bildung, Tourismus und Marketing in Jena. In seiner Funktion ist der studierte Psychologe, Musik- und Sprechtheaterregisseur der Kulturverantwortliche der Stadt Jena und initiiert Kulturprojekte und stadtgesellschaftliche Prozesse wie »72 Stunden Urban Action Lobeda«. Vor diesem Engagement war er nach seinem Studium in Berlin, Paris und München als Dramaturg und Schauspieldirektor u.a. am Thalia Theater Hamburg, dem Theaterhaus Jena und dem Staatstheater Darmstadt tätig. Birgit Liebold, geb. 1962 in Gera, ist als Unternehmenskommunikatorin von JenaKultur tätig. Die Diplomgermanistin verantwortet außerdem seit vielen Jahren wichtige kulturelle Sonderund Großprojekte in Jena. 1997 war sie maßgeblich an der Etablierung eines städtischen Dramatikpreises beteiligt, der nach Jakob Michael Reinhold Lenz benannt ist und in etwa dreijährigem Rhythmus vergeben wird.

Birgit Liebold Foto: privat

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Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz–Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen

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Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ostund Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft


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Heiner Goebbels – Ästhetik der Abwesenheit . Texte zum Theater Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals Das Melodram . Ein Medienbastard Dirk Baecker – Wozu Theater? Rimini Protokoll – ABCD Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 Theater im arabischen Sprachraum Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen Theater in Afrika – Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate Reenacting History: Theater & Geschichte Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität FIEBACH . Theater. Wissen. Machen Auftreten . Wege auf die Bühne Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen

128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019) 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 157 Afrika II – Kooperationen zwischen Togo, Burundi, Tansania und Deutschland




Inne halten. Chronik einer Krise

Lockdown, Kurzarbeit, Reproduktionsfaktor, Neuinfektion, Kontaktsperre, Veranstaltungsverbot, Social Distancing … das sind die neuen Schlagworte und Realitäten der CoronaPandemie, die auch zu einer weltweiten Wirtschaftskrise avancierte.

Jenaer Corona-Gespräche mit

So entspinnen sich aus der Krise laute Gedanken und Impulse der Transformation: Was können wir, was werden wir aus Corona gelernt haben, wenn die Pandemie eines Tages vorbei gegangen sein sollte?

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Hartmut Rosa Thomas Oberender Bernhard Maaz Aleida Assmann Stephan Lessenich Volkhard Knigge

Ayşe Güleç Klaus Dörre Herausgegeben von Jonas Zipf und Birgit Liebold

Recherchen 159

Das liegt an uns, »was wir jetzt daraus machen«. Dieser Überzeugung ist Jonas Zipf, Theatermann und Werkleiter von JenaKultur. Er suchte sich in der gesamten Bundesrepublik hochkarätige Gesprächspartner*innen, um dies auszuloten: Hartmut Rosa, Thomas Oberender, Bernhard Maaz, Aleida Assmann, Stephan Lessenich und Volkhard Knigge. Ein wiederkehrendes Motiv dieser CHRONIK EINER KRISE sind dabei Feiertage oder Jahrestage.

Inne halten. Chronik einer Krise

Liegt aber in dieser globalen Corona-Krise, in diesem erzwungenen Innehaltenmüssen auch eine Chance?

05.10.20 13:13


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