Dramatisch lesen. Wie über neue Dramatik sprechen?

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DRAMATISCH LESEN Wie über neue Dramatik sprechen? Herausgegeben von Edith Draxl, Ferdinand Schmalz und Eva-Maria Voigtländer



Dramatisch lesen


Dramatisch lesen Wie über neue Dramatik sprechen? Herausgegeben von Edith Draxl, Ferdinand Schmalz und Eva-Maria Voigtländer Recherchen 167 © 2023 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de Satz: Tabea Feuerstein Umschlagabbildung: Andrea Fischer Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio Printed in Germany ISBN 978-3-95749-470-2 (Paperback) ISBN 978-3-95749-477-1 (ePDF) ISBN 978-3-95749-478-8 (EPUB)


Recherchen 167

Dramatisch lesen Wie über neue Dramatik sprechen? Herausgegeben von Edith Draxl, Ferdinand Schmalz und Eva-Maria Voigtländer



Inhalt

Ferdinand Schmalz Einleitung

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Teresa Dopler Monte Rosa (Auszug)

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Christine Wahl Vom Glück, überrascht zu werden Zur Lektüre von Teresa Doplers Monte Rosa Natascha Gangl Das Spiel von der Einverleibung. Frei nach Unica Zürn (Auszug)

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Überschreibungen 28 Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Natascha Gangl Thomas Köck atlas (Auszug) Ein Mailverkehr Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck Wolfram Lotz Der große Marsch (Auszug) Sascha Michel Schreibweisen, die wie Lesen sind Zu den dramatischen Texten von Wolfram Lotz Fiston Mwanza Mujila Après les Alpes (Auszug) Eine Welt in Aufruhr: Vom Kasala zum Jazz mit einem Streifzug durch das Theater, Romane und Lyrik Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Charlotte Bomy Ewald Palmetshofer Vor Sonnenaufgang (Auszug)

41 49

65

73

95 106

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Inhalt

Ewald Palmetshofer faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete (Auszug)

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Martin Jörg Schäfer Aushaltbarkeit 130 Übers Adaptieren bei Ewald Palmetshofer Ferdinand Schmalz der herzerlfresser (Auszug)

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Christoph Leibold Zur Lektüre von der herzerlfresser von Ferdinand Schmalz

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Gerhild Steinbuch Wolfswelt (Auszug)

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Teresa Kovacs Lesen proben. Lesend proben. Gedanken über Gerhild Steinbuch Miroslava Svolikova Rand (Auszug) Ein Mailverkehr Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

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Ivna Žic Die Gastfremden (Auszug)

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Dreifacher Dialog

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Briefe 2021, ein Anfang Andrea Glauser im Austausch mit Ivna Žic

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Eine Normalbiografie – was ist das? Andrea Glauser im Gespräch mit Ivna Žic

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Autorinnen und Autoren

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Ferdinand Schmalz

Einleitung Der Ausgangspunkt für dieses Projekt war die Zäsur, die der erste coronabedingte Lockdown gesetzt hat. Man war auf sich selbst zurückgeworfen; die Theater waren vorerst geschlossen und auch der Probenbetrieb wurde fürs Erste eingestellt. Das Theater im künstlichen Tiefschlaf. Irgendwann kam dann das Gefühl auf, dass man diese Zwangspause auch nutzen könnte, um zu rekapitulieren, was in den letzten Jahren passiert ist. Wo steht die neue Dramatik heute? Um vielleicht auch Schlüsse zu ziehen, wie es weitergehen könnte. Daraus ist ein Dialogprojekt zwischen Dramatiker:innen und Wissenschaftler:innen entstanden. Gespräche, die der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis Text und Theater, Schreibende und Lesende zueinander stehen. Wie über Dramatik sprechen? Welches analytische ­Instrumentarium brauchen wir? Kann man den Theatertext vielleicht als eine Schule des dialogischen Denkens begreifen? Als Erstes also in die Archive. Wie bildet sich das dramatische Schaffen in den wissenschaftlichen Diskursen ab? Die Recherche in den Bibliotheken ist allerdings eher ernüchternd, man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich in den letzten fünfzehn Jahre wenig in der Gegenwartsdramatik getan hat. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, selten gab es ein so breites Spektrum an ästhetischen Positionen, an unterschiedlichen Arbeitsweisen, an verschiedenen Textformen im Theater. Und auch die gegen Ende der nuller Jahre etwas lauter ­gewordene Kritik, die diversen Autor:innenförderprogramme brächten viel zu viele, aber wenig nachhaltige Theaterautor:innen hervor, ist schnell verstummt, nachdem sich aus den vielen auch viele beständige Karrieren entwickelt hatten, nachdem die Texte immer wieder die Ästhetiken und die Diskurse im Theater mitbestimmt hatten, nachdem auch Autor:innen Verantwortung in den Theaterstrukturen übernommen hatten, nachdem sich vielerorts ein wachsendes ­Publikum gefunden hatte, das ein neues Stück einem kanonisierten Klassiker vorzog. Aus diesem Gefühl des Reflexionsrückstandes heraus haben wir, das heißt Edith Draxl, Eva-Maria Voigtländer und ich, uns überlegt, wie wir in einer Zeit, in der wir zwar nicht in die Theater gehen, doch über das Theater nachdenken können, oder besser, über den Text im Theater, in seiner ambivalenten Position als Teil dieses größeren

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Einleitung

­ omplexes namens Theater, aber auch als eigenständige literarische K Form. Denn aus der praktischen Erfahrung in den Leseproben, aber auch in den zahlreichen Textwerkstätten des Drama Forums Graz und Lektüreseminaren haben wir das Lesen von Theatertexten, ob mit verteilten Rollen oder allein, ob laut oder im Stillen, immer als große Bereicherung erfahren, während in der öffentlichen Wahrnehmung das Drama hinter den Gattungen der Prosa und Lyrik etwas zurücksteht. Was unterscheidet die Lektüre eines Theatertextes von den Leseerfahrungen in anderen Gattungen? Indem der Theatertext immer schon eine offene Form ist, die auf unterschiedliche Weise auf einen weiteren künstlerischen Produktionsprozess hin ausgerichtet ist, ist er immer auch eine Einladung zu einer anderen Art der ästhetischen Kommunikation. Fernab der Dialoge auf der Bühne eröffnen Theatertexte immer einen größeren Dialog, der sich über die Grenzen der an einer Aufführung beteiligten Kunstgattungen hinweg spannt. In diesem Sinn war es für uns nur konsequent, auch für unser Projekt eine dialogische Form zu suchen. Die von uns zusammengestellten Dialogpaare tauschten sich über diese Fragen aus, sei es in nachträglich transkribierten Gesprächen, in Mailkorrespondenzen oder in Essays und Gegenessays, um so eine Verortung des Theatertextes in der zeitgenössischen Theaterlandschaft zu skizzieren. Und so soll dieses Projekt von uniT Graz auch ein Anstoß sein, wieder mehr Stücke zu publizieren, zu lesen und zu diskutieren, denn am Theatertext in seiner genuin vielstimmigen Form lässt sich so etwas wie ein pluralistisches Denken schulen. Wir haben also Dialogpaare aus Theaterautor:innen und Wissenschaftler:innen bzw. Kritiker:innen zu einem Austausch gebeten. Zuerst per Videokonferenz, Telefon und Mail. Dann auch in Graz beim Dramatiker:innenfestival wieder in voller Präsenz. Diese Dialoge sind in konkrete Texte eingeflossen, die nun hier abgedruckt sind und so auch zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik einladen sollen.

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Monte Rosa

Teresa Dopler

Monte Rosa Dichte Dunstwolken liegen in den Tälern, die Gletscher sind abgeschmol­ zen, und nur hoch oben in den Alpenmassiven sind noch Bergsteiger unterwegs. Gut trainiert und bestens ausgerüstet sind sie immer auf dem Weg zum nächsten Gipfel, dorthin, wo die Luft am saubersten ist. Drei von ihnen begegnen sich unterwegs, man scannt freimütig Gesundheit, Alter und Fitness, um den Wert des Gegenübers zu ermessen und eventuell eine vorübergehende Partnerschaft auszuhandeln. Schnell wird klar, dass hier fragwürdige Werte und eigenartige Umgangsformen gelten. Die Vergangenheit und alles abseits der Berge scheint vergessen, auch Gesichter merkt sich hier niemand mehr, und über den Tod des eigenen Partners im Steinschlag kommt man schnell hinweg.

B bist du immer alleine unterwegs A nein, für gewöhnlich nicht B es ist ungewöhnlich, dass ein Bergsteiger alleine unterwegs ist A das stimmt, vor einiger Zeit habe ich jemanden getroffen, am Anfang dachte ich, das könnte ein Partner für mich sein B wo habt ihr euch getroffen A in den Dolomiten B die bleichen Berge, herrlich A kennst du die Dolomiten gut B ja, dort bin ich immer wieder mal unterwegs A wir haben uns auf der Punta Penia getroffen und sind dann noch gemeinsam über den Westgrat-Klettersteig abgestiegen B warum wurde er doch nicht dein Partner A er war etwas zu alt B Wie alt war er A ich erinnere mich nicht genau, im Grunde war er noch jung, aber dann habe ich bemerkt, dass er vielleicht doch schon zu alt ist B am Anfang merkt man es manchmal nicht, man muss erst ein paar Touren miteinander gehen (lacht) A wie wahr (lacht) B ich hatte vor Kurzem einen Partner, leider war er nicht mehr besonders gut in Form A wo habt ihr euch kennen gelernt

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Teresa Dopler

B in den Berner Alpen A die Berner Alpen, herrlich B wie gesagt, er war nicht mehr besonders gut in Form, wir haben uns irgendwann verabschiedet A das kann passieren B ja, das passiert immer wieder A wenn, dann hätte ich lieber einen sehr jungen kräftigen Partner (lacht) B du siehst noch relativ jung aus (lacht) A du auch (lacht) B wie lange lebst du schon A fast 30 Jahre B außerdem war er noch nie am Matterhorn A wer B der Andere, den ich in den Berner Alpen kennen gelernt habe A er war noch nie am Matterhorn? B nein, noch nie, er hat gesagt, das ist ihm zu steil A wie absurd (lacht) B aber ich wollte wieder aufs Matterhorn, dann haben wir uns verabschiedet (lacht) A das verstehe ich, ich würde auch niemals aufs Matterhorn verzichten B ich bin ständig am Matterhorn A ich auch, im Grunde die ganze Zeit B erst letzte Woche war ich wieder am Matterhorn A ich war erst gestern B kennst du das neue Refugium dort A natürlich, es ist das beste Refugium, das ich kenne B es ist jetzt das höchstgelegene Refugium in den Alpen A ich weiß, ich war ja erst gestern dort B es wirkt ungewohnt von außen A das stimmt, sehr modern B (bückt sich)

B A B A B A

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gerade habe ich mir überlegt, ob du mein Partner sein könntest das habe ich mir auch gerade überlegt einmal vorübergehend, zumindest bis zum nächsten Gipfel ja, das könnte vielleicht passen es ist immer von Vorteil, einen Partner zu haben das stimmt, vor allem in den Bergen


Monte Rosa

B kannst du gut sichern an der Wand A ja, ich bin sehr konzentriert B deine Beinmuskulatur gefällt mir A danke, es freut mich, wenn sie dir gefällt B dein Plattsehnenmuskel ist besonders schön ausgeprägt A das kommt vom Bergsteigen (lacht) B ich weiß, aber so schön ausgeprägt habe ich ihn selten gesehen A (lacht) B gefalle ich dir auch A ich mag deine Oberarme B jetzt spanne ich sie an A ich dachte, sie wären schon angespannt (lacht) B nein, so sehen sie aus, wenn ich sie anspanne A (lacht) B deine Oberarme wirken auch sehr kräftig A danke B kann ich auch alles andere sehen A willst du es jetzt sofort sehen B ja, wenn das in Ordnung für dich ist A nein, es macht mir nichts aus B am besten ist es, wenn man es gleich zu Beginn sieht A das finde ich auch, es ist am besten, das gleich zu Beginn zu ­klären B es gefällt mir bestimmt (lacht) A (lacht) B also wenn es dir nichts ausmacht, dann würde ich dich gerne jetzt sofort ansehen A in Ordnung, es macht mir nichts aus (zieht sich aus) B du hast einen gut trainierten Oberkörper A ja, darauf lege ich sehr viel Wert (lacht) B es sieht noch besser aus, als ich erwartet hatte A das freut mich B du siehst sehr kräftig aus, du bewegst dich viel, habe ich Recht A ja, natürlich, ich bin ein Bergsteiger, ich bewege mich die ganze Zeit B dein Hintern ist überdurchschnittlich groß A ist das schlecht B nein, aber es wäre schlecht, wenn er noch größer werden würde A natürlich, das verstehe ich B er ist jetzt nicht zu groß, aber er könnte schnell zu groß werden A das wäre nicht gut, auch für das Bergsteigen

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Teresa Dopler

B ja, auch für das Bergsteigen A was ist mit dir B willst du mich auch sehen A ja, wenn das für dich in Ordnung ist B nein, es macht mir nichts aus (zieht sich aus) A ich mag es, dass du groß bist B ja, ich bin größer als die meisten (lacht) A aber deine Haltung ist nicht ganz aufrecht B das liegt vielleicht an meinem Rucksack A nein, es ist etwas anderes, es liegt nicht an deinem Rucksack B ich kann in Zukunft darauf achten A das wäre gut, man sollte immer auf seine Körperhaltung achten, es spiegelt die innere Haltung wider B du hast Recht, man sollte auf eine aufrechte Haltung achten A du musst die Schultern weiter zurückziehen, so (lacht) B deine Schultern wirken nicht sehr breit A sie sind nicht besonders breit, aber sehr kräftig B am besten finde ich es, wenn die Schultern sehr breit sind A manche haben breitere Schultern, aber niemand kann so viele Liegestütze wie ich (lacht) B wie viele Liegestütze kannst du A wenn ich einmal damit anfange, kann ich nicht mehr damit ­aufhören (lacht) B (lacht) A (bückt sich) B seit wir nebeneinander gehen, bückst du dich immer wieder A tut mir leid, das ist eine schlechte Angewohnheit (lacht) B warum tust du das, hast du Rückenprobleme A nein (bückt sich) B schon wieder (lacht) A ich bücke mich nur manchmal, um Steine aufzuheben B Steine Auszüge aus: Teresa Dopler, Monte Rosa © 2020 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

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Vom Glück, überrascht zu werden

Christine Wahl

Vom Glück, überrascht zu werden Zur Lektüre von Teresa Doplers Monte Rosa Insgesamt werden im deutschsprachigen Theaterraum – also groß­ flächig zwischen Wien, Bern und Berlin – pro Spielzeit ungefähr einhundertfünfzig neue Theatertexte uraufgeführt. Wenn man sie ­hauptberuflich alle liest, ist man – gemessen an der guten alten gewerkschaftlichen Vierzig-Stunden-Woche und bei entsprechend ord­nungs­ge­mäßem Abzug eines Urlaubsmonats – komplette sechs der 48 jährlichen Arbeitswochen allein mit dem dramatischen Lesen beschäftigt. Und wo ein ganzes Achtel der Jahreserwerbszeit in die Lektüre druckfrischer Theatertexte fließt – wobei das sogar eher noch tief gestapelt ist, weil es lediglich einen Durchschnittswert von neunzig Minuten pro Text einkalkuliert –, bleibt es naturgemäß nicht aus, dass man eine Menge aus ihnen erfährt: über die Kunst und über das Leben, über Gesellschaftstrends und Bühnenmoden, über die Debattenhits des Jahres und die Flops der Saison. Es gibt aufschlussreiche Recherchen, lohnende Analysen und gewitzte Figuren – alles in allem also: 225 Stunden quality working time. Nur eine Sache passiert unter den genannten Umständen wirklich selten. Nämlich dass man ernsthaft überrascht wird. (Diesen singulären Nachteil bringt die wachsende Leseerfahrung wohl oder übel mit sich; da dürfte es den Dramatikerinnen und Dramatikern mit dem Verblüffungsquantum angesichts unserer Kritiken sehr ähnlich gehen.) Teresa Doplers Monte Rosa war nun aber eine solche Überraschung. Der Titel, der – wie Wikipedia zuverlässig erklärt – »ein ausgedehntes Gebirgsmassiv in den Walliser Alpen« bezeichnet, dessen Hauptspitze mit 4634 Metern »den höchsten Punkt der Schweiz und auch des gesamten deutschen Sprachraums« darstellt – deutet unmissverständlich auf ein Bergsportdrama hin: Man erwartet sehnige Ehrgeizlinge im Cast sowie einen gewissen symbolischen Überschuss im Gehalt – und wird auf den ersten Textseiten lückenlos bestätigt. Zwei Figuren, die man kontextuell als Bergsteiger verortet – A und B –, treffen unterwegs augenscheinlich zufällig aufeinander, und A steigt mit der Frage, über welchen »Zustieg« B gekommen sei, in einen kleinen Bergplateau-Plausch ein, der sich im nächsten Satz, was sonst, dem Wetter zuwendet. »Heute war es sehr dunstig, ich wollte so schnell wie möglich

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Christine Wahl

wieder an Höhe gewinnen«, erklärt also B, und A bestätigt: »Das stimmt, in den Tälern hängt heute überall der Dunst«. – »Ja, es ist noch dunstiger als sonst«, gibt B verstärkend zurück, was A nun wiederum zu einer kleinen Relativierung veranlasst: »Wobei, so dunstig ist es auch wieder nicht«. Darauf B, einlenkend: »Nein, es war auch schon manchmal noch dunstiger«. Das ist zwar einerseits besser als Loriot, andererseits aber eben auch ein durchaus wirklichkeitsnaher Gipfelbesteigungssmalltalk – als Gelegenheitsgebirgswanderin kennt man das. Mit wachsender Stückdauer schleichen sich zunehmend kleine Übergriffigkeiten in den Dialog. »Du hast dir Zeit gelassen« rügt die Figur A etwa die Figur B, nachdem sie zuvor eigens (hinterhältig?) deren Aufstiegstempo erfragt hatte – was subtextuell natürlich nichts anderes bedeutet, als dass der oder die A den oder die B ganz schön fitnessdefizitär findet. Und B diagnostiziert umgekehrt bei A, der oder die unbemerkt ihres Schutzhelms verlustig gegangen ist, ein alarmierendes Aufmerksamkeitsmanko: »Ich habe mich schon gewundert, wer so nachlässig ist und seinen Helm verliert«. Das liest sich großartig und unglaublich gewitzt, aber ernsthafte Verunsicherungssymptome sind auf Leserinnen-Seite bis dato nicht zu spüren: Unverändert befinden wir uns im soliden Bergetappenplauderrahmen; Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die verbale Komfortzonengrenzen überschreiten, gibts schließlich – wie überall – auch in den Walliser Alpen. Und dann, plötzlich – wir befinden uns jetzt etwa am Ende des ersten Text-Viertels – das: Mitten in den gesitteten Smalltalk, in den Plausch über Wetterlagen, Berghelme und andere Sicherheiten hinein, fragt A B unvermittelt: »Hast du ein gutes Gebiss?«, und im Gegenzug zollt B A maximale Anerkennung für ihren schön ausgeprägten »Plattsehnenmuskel«. Da ist sie also, die willkommene Irritation: Moment mal, denkt man am Leserinnen-Endgerät, haben wir das konkrete Schweizer Gebirgsmassiv hier gerade unversehens in Richtung Metaebene verlassen? Und sind, mit einem Satz, auf dem realkapitalistischen Umschlagplatz gelandet, auf dem Humangüter andere Humangüter auf ihre Partnerschaftseignung abklopfen? Beziehungsweise, mithin, in der neoliberalen Eigenvermarktungshölle, in der ein selbstoptimiertes Ego dem anderen sein geschöntes Profil auf dem Silbertablett zu servieren (und alles Unschönbare panisch über den Tellerrand zu schubsen) versucht? Es gibt einiges, was für diese Lesehypothese spricht. Zum Beispiel, dass es nach dem »Plattsehnenmuskel«-Dialog gar nicht lange dauert, bis A und B – schließlich ist es »am besten, wenn man das

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Vom Glück, überrascht zu werden

gleich zu Beginn klärt« – sich voreinander ausziehen und en détail begutachten, wobei jede Minimalabweichung vom vermeintlichen BMI-Goldstandard verbal gnadenlos ans Licht gezerrt wird: »Dein Hintern ist überdurchschnittlich groß«, lässt Figur B Figur A etwa wissen, während A wiederum an B einen besorgniserregenden Haltungsschaden diagnostiziert: »Deine Haltung ist nicht ganz aufrecht …, man sollte immer auf seine Körperhaltung achten, es spiegelt die innere Haltung wider«. Wenn dann im zweiten Teil des Stückes sogar eine dritte Figur – C – hinzukommt, namentlich »ein Teenager« auf Seilschaftssuche, der A generös eine Partnerschaft (auf Probe, versteht sich) in Aussicht stellt und damit das Duo A/B vorübergehend aufsprengt, scheint die Sache endgültig klar: Die Monte-Rosa-Tour ist ein Gleichnis für den realkapitalistischen Lebens- und Karriereweg, auf dem man bekanntlich am besten vorwärtskommt, wenn man über das Talent verfügt, sich zum richtigen Zeitpunkt einer »Seilschaft« anzuschließen – und über »­kräftige Lungen«, um mit dieser dann auch bis zum Gipfel Schritt zu halten. Aber stopp: Da ist ja schon wieder so eine wunderbare Irritation! Nach den 225 Lesestunden des aktuellen Jahres erwartet man an dieser Stelle zum Beispiel Neoliberalismuskritik; in vielen vergleichbaren Fällen hatten die dramatischen Zeichen an diesem Punkt fifty-fifty auf suizidaler Verzweiflung oder revolutionärer Erhebung gestanden. Und in Monte Rosa? Nimmt man den Entkleidungsimperativ – welche Überraschung – mit fast schon übereifriger Bereitwilligkeit entgegen, begegnet dem anschließenden Bodycheck mit einem Pragmatismus, den affirmativ zu nennen eine handfeste Untertreibung wäre, und akzeptiert schließlich klaglos das Resultat, das der jeweils Andere in Form eines Partnerschaftswilligkeits- und/oder Karriere-Urteils verkündet. Okay: Wem hier ein Negativbescheid ums Wanderkäppi flattert – zum Beispiel in Gestalt der Teenager-Worte: »Man merkt jetzt doch, dass du älter bist, sobald eine Seilschaft auftaucht, werde ich mich verabschieden« –, dem kann schon mal eine kleine Träne ins Auge treten. Aber mehr ist definitiv nicht drin – und falls doch, dann ist das definitiv der Wind. Sind wir also – nächste Hypothese – mit Monte Rosa ins Gebirgsmassiv derjenigen geraten, die nur deshalb weder einknicken noch ausbrechen, weil ihnen beides längst nicht mal mehr als gedankliche Möglichkeit existiert und sie all das also derart verinnerlicht haben, dass es ihnen längst zur zweiten Natur geworden ist? Ja, so ist es wohl am ehesten. Aber selbst hier gilt: Vorsicht! Denn Teresa Doplers

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Christine Wahl

­ ersonal geht in derartigen Mutmaßungen nie auf. Kaum versucht P man, es festzuklopfen, ist es garantiert schon wieder auf die nächste (Berg-)Ebene entwischt. A, B und C beglücken die Leserin als Kippfiguren, die souverän zwischen Konkretion und Abstraktion hin und her hüpfen. Und als solche wiederum bewohnen sie ein unglaublich weites Feld. Vielleicht sind diese Aufstiegswilligen, bei denen es durchaus passieren kann, dass sie einen wegen mangelnder Fitness außer Rufweite geratenen Partner ohne mit der Wimper zu zucken seinem Schicksal zum Tode überlassen, ja gar keine tagesaktuellen Neoliberalismusopfer? Es gibt auch Anzeichen dafür, dass es sich möglicherweise lohnen könnte, diese weitgehend individualkonturfreien, merkwürdig geschichtslosen Wesen – die im Übrigen auch verbal niemals das Monte Rosa-Gelände verlassen – nicht wie die letzten, sondern vielmehr wie die ersten Menschen zu betrachten. Die Inbrunst – und irgendwie auch, so glaubt man jedenfalls beim Lesen zu spüren, naiv-eifrige Freude –, mit der A und B in einer Textpassage darüber diskutieren, ob es sich bei dem Naturobjekt, das sie gerade gefunden haben, um einen Stein oder eine Muschel handelt, spräche jedenfalls eher für die primäre als für die finale Homo-sapiens-Generation. Tagesaktuelle Neoliberalismusopfer müssten für diese im besten Sinne naive Entdeckerfreude jedenfalls mindestens ein paar Therapiestunden hinter sich gebracht haben. Aber, apropos Entdeckerinstinkte: Es kann natürlich – und genau das eben ist das Schöne – alles auch noch mal völlig anders sein. Teresa Doplers Figuren sind, wie gesagt, Erscheinungen, die – so restringiert ihr Bergsteiger-Code verbal auch sein mag – erstaunlicherweise ein ganzes Universum bewohnen. Denn auf sie trifft etwas zu, was sich leicht anhört und entsprechend gern für eine bestimmte Art von Dramatik behauptet wird, de facto aber extrem schwer ist und sich auch nur in den seltensten Fällen wirklich einlöst: dass das, was sie eigentlich ausmacht, konsequent jenseits des Gesagten liegt. Um solche Textoberflächen zu schaffen, in denen die Figuren nicht etwa – um Missverständnissen vorzubeugen – nichts sagen, sondern in denen sie sich vielmehr bewusst verschweigen, muss man extrem genau sein. (Andernfalls steht hinter den Buchstaben vielleicht eine leere Behauptung, entstehen allerdings wird definitiv nichts.) Eine wesentliche Bedingung dafür, dass solche (Denk-)Räume entstehen können, liegt natürlich darin, dass Teresa Dopler ihre Schöpfungen in keiner Silbe bewertet: In Monte Rosa ist man nicht in erster Linie so oder so, sondern man ist einfach, Punkt. Der Rest obliegt dann der Leserin. Was für ein Glück! 16


Das Spiel von der Einverleibung

Natascha Gangl

Das Spiel von der Einverleibung Frei nach Unica Zürn

EIN TRAUM Du stehst im Raum, es ist dunkel. Du hörst eine Türe sich öffnen, und kein Körper, aber eine Stimme tritt ein. Es ist die Stimme von Ingeborg Bachmann, die sich langsam Worte sucht: »Die Bewusstseinslage in einer Zeit … das heißt doch nicht, dass man die Sätze nachspricht … die diese Gesellschaft spricht … sondern sie muss sich anders zeigen … radikal anders zeigen, sonst würden wir nie wissen … was diese Zeit war. Die Jugendjahre sind, ohne dass ein Schriftsteller das anfangs weiß, sein wirkliches Kapital, nur dass man erst in späteren Jahren zu begreifen anfängt, was man … mit dem ersten Blick gesehen hat … den man vielleicht niemals oder nur manchmal wieder geschenkt bekommt.«1 Es wird still. Wieder öffnet sich etwas – eine Tür? Ein Fenster? Etwas geht auf und ein großer weiter Satz stellt Unica Zürn vor. Der Satz sagt:

Ich bin ein altes Kind.

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SEHEN SIE MIR IN DIE AUGEN Du denkst zurück an deinen ersten Blick beim Augenarzt. Seine Sehtests waren Holztafeln mit Zahlen und Dias von Tieren. Besonders gefreut hast du dich, wenn er die Dias von den Pferden eingelegt hat. Eine Szene, die sich einmal pro Jahr eine Kindheit lang wiederholt hat:

CLICK! »Was siehst du?« »Ein Pferd.«

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Natascha Gangl

Später, viel später hat dir deine Mutter erzählt, dass es das Pferd nie gegeben hat. Dass das Vierbeinige ein Hund war, dass du unbedingt eine Brille gebraucht hättest mit den sieben Dioptrien, die du hast, und dass das ein höchst merkwürdiger Arzt war. Dank dieses Arztes lebst du deine ersten sieben Jahre ein Wunder und eine unvorstellbar große Angst. Der Tannenbaum vor deinem Fenster ist deiner Ansicht nach ein Vampir in der schwarzen Nacht, aus den heiligen Bildern deiner Großmutter kommen keine Schafs- und Heilandskörper, sondern Totenköpfe und Teufelsfratzen. Aus dem Spiegel schaut dich das Gesicht einer Hundertjährigen an. Nie bist du ganz sicher, was vor dir steht, weißt dafür aber, dass es umso wichtiger ist, zu hören, diesen Stimmen zu folgen, die sagen: »AUTO! ACHTUNG!«

PING!

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Deinen Augen ist nicht über den Weg zu trauen. Dir geht der Blick ab. Du hast ein faules Auge, das sich ab und an rechts in eine Ecke wegrollt und dich in die Zweidimensionalität entlässt. Das Ablesen der Welt ist beständig verunsichert. Die Konturen sind nicht eingrenzbar: Ist es ein bekanntes Gesicht, dieser Fleck, aus dem die Farbe läuft? Wo ist das Zentrum dieses Fleckes da? Ein Gesicht als Ganzes zu sehen wurde zusehends unmöglich. Das Einzige, das du scharf bekommst, aus nächster Nähe: ein Auge. ach dem ersten, zögernden »Schwimmen« der Feder über dem weiN ßen Papier entdeckt sie den Ort für das erste Auge. Erst wenn »man« sie von dem Papier her anblickt, beginnt sie sich zu orientieren, und mühelos fügt sich ein Motiv zum anderen. So zeichnet sie die »­Familie«, die sie nie gehabt hat, und lässt sich von ihr adoptieren.4

Das Auftauchen des Auges macht das Auftauchen der Mühelosigkeit, macht eine Familie und macht die Zugehörigkeit. Das Auftauchen des Auges ist eine Wohltat. Sehen ist ein großes Zusammenreimen, das immer auch anders hätte funktionieren können. Du weißt mit großer Sicherheit, was du zusammenfügst, das hätte auch ganz anders zu Sinn kommen können, alles ist Anagramm, Orakel, und die Sprache ist das Versteck der Geheimnisse. 18


Das Spiel von der Einverleibung

»Sehen Sie mir in die Augen«5

Du im Blindflug. Rund um dich trampelt es, es dröhnt, überall um dich Läufer, Läuferinnen, Stimmen, Farbfetzen, und in den Farbfetzen Massen von Rechtecken – sind das Rechtecke? Quadrate? Es gibt riesige Anhäufungen dieses bunten Materials, das sich bewegen lässt und in seinem Inneren immer weiß zu sein scheint. »Sie sollen versuchen, mir in die Augen zu sehen«6

Endlich bleibt dein Blick an einem Blau hängen. Du greifst das Blau, öffnest das Blau (verrückt!) von hinten, im Inneren, im Weißen steht schwarz: VON DIESEM BUCH WURDEN EINHUNDERTFÜNZIG NUMMERIERTE EXEMPLARE IN BLAUEM OASENZIEGENLEDER GEBUNDEN. Und dieser Einband? DARK KANDAHAR, HAND MADE PAPER, PONDICHERRY (INDIA) In PUDUCHERRY? VOODOO CHERRY? HAAR DANK DARK? RAD KAHN DAKAR? Du hältst die gesamten gesammelten Schriften Unica Zürns. Dieses Blau blickt dich an und du fällst hinein. Die Augen sind Fenster. Und im Blau steht schwarz auf weiß: »Sehen Sie mir in die Augen« (…) »Sie sollen versuchen, mir in die Augen zu sehen«7

Du springst ins Fenster. Du machst einen Ausflug auf Unica. In meinem Herzen waechst ein Huehnerauge Wenn ruhige Traeume nahen, zeichne es heim im Herzen. Meine Ahnen husten. Graue, weiche Hechte naehen ihre zween Ringe aus Mumien. In meinem Huehnerherzen waechst ein Auge. Ermenonville 19598

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Natascha Gangl

IM BLAU SIND DIE BUCHSTABEN ­BEWEGLICH, ODER: LESEN ALS SURREALE ERFAHRUNG as brennt, das regt sich, das bildet sich und kommt von Zeit zu D Zeit zurück – in einer Zeichnung oder in einem Anagramm – ­ausgegossen und umgeformt.9 Bei Unica Zürn gibt es Rätsel und Spiele. Oft gibt es einen Ausgangspunkt: ein Zitat. Oder eine Gedichtzeile. Oder eine Redensart. Und dieser Ausgangspunkt wird – leer. Er bricht ein. Eine Tiefe entsteht, mit der nicht zu rechnen war. Die Buchstaben der Lieblingssätze verkleiden sich miteinander neu als andere Sätze. Die Zeile führt nicht von links nach rechts. Sie führt querfeldein. Etwas wächst. Etwas kreist. Ein Wort ist der Schlüssel und zugleich das Schloss.

Das ist ein Anagrammgedicht Ein Anagramm ist das Gedicht gemacht im Anti-Sarg, im Sande. An Ti gedacht, im Gras, im Sande, stimmt dich der i-aa-Gesang an.10

Manchmal ist der Ausgangspunkt: die höchstpersönliche Biografie der Autorin. Ihre Orte. Ihre Freundinnen. Ihre Freunde. Sie nimmt deine Augen an die Leine und du folgst ihren Handlungen ergeben ins Hinterholz, wo du sie dabei beobachten kannst, wie sie sich umschraubt zu jemandem Neuen, jetzt entpuppt sie sich! Jetzt verpuppt sie sich? Sie ist erkennbar unkenntlich geworden und ZACK! stößt sie dich über die Klippe. Du fällst in Felder, in denen keine logische Rechnung aufgeht, aber die Zahlen blühen. Die Größenverhältnisse verkehren sich wie die Bedeutungsgrößen, die Gesetze der Schwerkraft hängen sich ab, hängen dich ab. Verstehst du – nichts? Und hat das eine Ähnlichkeit mit ( …) dem Laut des Blutes, das ein einsamer Mensch allein in der Stille durch seinen Körper strömen hört.11

Liest du ständig denselben Text? Wiederholt sich das nicht permanent? Soll das gar kein Text sein? Ist das eine Zeichnung? Liest du

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Das Spiel von der Einverleibung

Zeichnungen? Betrachtest du sie? Hörst du etwas? Ist das Musik? Ist das eine Partitur? Ist das ein »g«? Sollst du das spielen oder lesen? Oder ist das ein Mund mit Bart? Wohnt in diesen blauen Büchern ein Alles-Anagramm? Das singt ein Tiger am am Dach. Das ist mein Rachetag am Ding. Da nagt sein Drama im Gesicht, das ist ein Anagrammgedicht.12

Das brennt, das regt sich, dem Anagramm wohnt der beständige Anfang inne, es kann zu keinem Ende kommen, es verändert sich immer weiter, einzig seine Erschafferin kann den Punkt setzen. Du siehst etwas, das sie nicht sieht, das Sie nicht sehen, siehst eine Bedeutung auf Reise, sie wohnt nicht mehr im Begriff, sondern muss anderswo verortet werden, wieder ist sie weiter, überschreitet eine Grenze, nimmt ein neues Feld ein. Wunder, Überraschung, das radikal Neue im Vertrauten, und ein Anfang, der zyklisch wiederkehrt, und der Welt, dir, mir, ihr, Ihnen, Sinn – und Unsinn – eröffnet. Das Sichtbare ist dynamisch, hält dir, Leser*in, die Türe auf, und schlägt die Türe wieder zu. Der Sinn, der entdeckt wird, zeigt immer wieder nur mit dem Finger zurück auf dich.

Ei das dich mag’ren Satang mit Danten grimmig stich! – Das E-AAdas Anagramm, dein geisticht arme Magd sagt an: dein Ich ist ein Gramm Dichtang. Ist das E-A das Nest im Ei, ach dring am Tag ein Anadicht, das Geistgramm – 13 Das Schreiben spinnt! Verspinnt heterogenes Material, stellt es in Magnetfelder und beobachtet das Ruckeln und Zucken, das Springen und Wackeln. Das Eigene und das Verstehbare – fallen zusammen und fallen auseinander. Diese Worte sind dir so vertraut, diese Worte sind doch dir am eigensten, sind doch ihr am eigensten, sind mir so nah, und doch uneinnehmbar in ihrer oder ihrer Beweglichkeit? – Ich komme nicht mit. Wir kommen nicht nach, du kommst nicht nach, ich bin aber, du

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Natascha Gangl

bist, ständig abgeholt und eingewickelt – in diese Worte! Was wir kennen – ist schon wieder anders, erstaunlich, fremd, du wunderst dich, du bleibst wundersam, bis zuletzt und wieder auf Anfang – ! Das können Texte. Das können Augen. »But words are still the principal instruments of control.«14 And eyes are principle agents of control: in alter Mann erscheint im Dunkeln an ihrer Seite, und sie fragt E ihn: »Wer sind Sie?« Er gibt eine erstaunlich einfache Antwort: »Ich bin ein Mensch.« Er spricht dieses Wort auf eine so bedeutungsvolle und langsame Art aus, dass sie nicht ganz sicher ist, ob er »Mensch« oder »Mönch« sagt. Er lädt sie ein, mit ihm zu kommen, und voller Vertrauen folgt sie ihm in seine Wohnung, die, bis auf die Küche, leer ist. Er erzählt ihr, dass nach dem Tode seiner Frau er keinen Schlaf mehr findet und darum in der Nacht spazieren geht.15 Der Morgen kommt. Plötzlich nimmt sie seine Brille und wirft sie aus dem Fenster. 16

Da ist sie. Die Aufforderung zur Autopsie. Wenn Autopsie heißt, selbst zu sehen. Ganz mit den eigenen Augen zu sehen. ein Gramm ANA. Das Gedicht ist im Na gemacht. Rest: DAS NA IGDI ist der anamitische Dang-GamGam-Gan-dit – ein dramatisches Gedicht. Das ist ein Anagramm.17

Also wer schreibt hier? Du. Und wer liest hier? Du. Das ist ein Anagramm.

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it einer zweiten, verzweifelten Geste wirft sie ihr rotes Brillen-Etui M hinter sich aus dem Auto – (wie die Kinder im Märchen das Brot hinter sich geworfen haben, um an dieser Spur den Weg aus dem Labyrinth des Waldes, in das man sie führt, zurückzufinden).18

DAS SPIEL BEGINNT – DER WÜRFEL HAT NEUN AUGEN enn: 1 ist die nobele Zahl der Einsamkeit und – 2: wer das Glück D hat, in der Gegenwart des anderen leben zu dürfen und – 3: die Zahl der Kinder und vielleicht die Zahl mancher Beschwörungen und der Hoffnung? 4: die Zahl der Familie – 5: ha! – 5 – ist gewiss die Zahl für »Geheimgesellschaften« – 6: die Zahl des Todes – 7: die Zahl des Unglücks – 8: die atemlose Zahl der Ewigkeit und schließlich – 9: das Leben!19

Du schreibst die Namen der Straßen und Hausnummern aus ihren Schriften. Du wählst einen Spaziergang durch Berlin Grunewald, wählst den Weg von einer Berliner Badeanstalt bis zur Uhlandstraße 20. Wählst die Tauentzienstraße. Wählst den Bahnhof Jungfernheide. Wählst einen Besuch in Wittenau in der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Wählst einen Flug mit der Air France. Wählst Nächte im L’Hôtel Minerve in Paris, Besuche in den Kliniken Sainte-Anne, Maison Blanche, La Fond, wählst die Île de Ré, du wählst, und rufst so jene Stellen an, wo das erzählte »Ich« oder »Sie« ein Niemand auf einer Nicht-Straße im Gewühl der Stadt ist, wo »Ich« im Dunkeln liegt, wo »Ich« niemand ist an einer Haltestelle – dahin zieht es den Blick. Wo sich die Fenster geöffnet haben, wo »Ich« hinter den Fenstern ist. Wo fast alles losgelassen scheint und es ums Anfangen geht, ums Anfangen wandert, kreist, ringt, wo Begegnungen so wichtig werden, und ein Aufeinandertreffen von Mensch als Mensch (oder hieß es Mönch?), ein Aufeinandertreffen ohne Schild, Name und Karte wichtig wird. Drei wunderbare Begegnungen, die in die Zeit ihrer Kindheit fallen, haben ihr früh zu verstehen gegeben, dass der Sinn ihres Lebens darin besteht, sich begegnen zu lassen.20

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AIR FRANCE uf dem Zigarettenpaket liest sie folgende Worte: »Félicitations de A L’AIR FRANCE!« Sie liest diese Worte! Also sind sie auch wirklich auf das Zigarettenpaket gedruckt. Man beglückwünscht sie!21

Du sitzt in einem Flug der Air France nach Paris. Die Frau vor dir liest ein Buch, du spähst kurz auf die Seite. Als Kapitelüberschrift steht da: Der Spruch der Seherin. s sind also »Zeugen« da. Hier soll »etwas bewiesen werden«. E Man macht einen Versuch mit ihr! Sie hat gewisse Prüfungen zu bestehen! Es geht also alles mit rechten Dingen zu. Langsam bekommt sie den Eindruck, das Medium zu sein.22 Versuch ein Anagramm mit DER SPRUCH DER SEHERIN: DER REUH RECHE SEIND RED URSEHNE, RED PIRSCH! RED HIRN-SEE, SPRECH-DUR, RED SUCHERIN! SEND EHR!

REU, RECH, EHR DIES END! R. I. P. CD SURREND EHRE SEH! ERSEH DER »IN-RED«-SPRUCH. DU, EIN REH, SCHEER DR. SS! ER? ES? DER DR. UR-PECH – S’ HIN. Was soll das bedeuten? Vor dir auf dem kleinen Tablett im Sitz steht:

ASSIS, CONSERVEZ VOTRE CEINTURE ATTACHÉE. Assistenten, konserviert euer century attached. Anwesende, haltet euch euer Jahrhundert nah? GILET DE SAUVETAGE SOUS VOTRE SIÈGE. Geleitet die Sabotage zu eurem Sieg? Geleitet die Sabotage zu ihrem Sieg? Fragezeichen. Auf der Karte mit Sicherheitshinweisen: Eine Frau mit Fragezeichen um ihren Kopf und offenen, von sich gestreck-

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ten Händen, in ihrer Sprechblase weitere Fragezeichen und etwas, das eine offene blanke Seite sein könnte, ein leerer Rahmen, ein weißer Bildschirm. Im Flugzeug gibt es die übliche Sicherheitsdemonstration. Das Kind neben dir gerät aus dem Häuschen. Es sieht einen Zaubertrick, als die Stewardess plötzlich den Anschnallgurt vom Sitz losgelöst hoch in den Händen hält. Es zerrt an seinem Gurt. Es zeigt mit dem Finger. Es hält sich den Mund. Es verbirgt den Kopf am Arm der Mutter und wird geküsst. Es darf sehen, was es sieht. Es beginnt laut zu tönen. Das Kind sagt: Das Flugzeug singt. Die Mutter sagt: Das Flugzeug hat einen Defekt. Denke: Das Flugzeug hat ein Talent. Etwas klingt. Wie eine Trompete. Wie ein Elefant. Draußen auf dem klingenden Flügel: ein geflügeltes Pferd mit Fischschwanz, und eine kleine abstehende Fläche, die nichts trägt und sagt: NO STEP! ährend des Fluges will sich etwas für sie ereignen. Sie staunt, als W sie diese Idee – (wer hat sich das ausgedacht?) – begreift. Es handelt sich darum, dass sie – gleich – wenn das vollkommen schwarze Flugzeug erscheint, das einen kleinen, weißen Kreis auf seinem linken Flügel tragen wird – mit einem kühnen Schritt durch die Luft, dort einsteigen soll – um darin ihrem wirklichen Leben, das sie noch nicht kennt, aber manches Mal geahnt hat – entgegenzufliegen. Diese unglaubliche Zirkusnummer in der Luft, sie wird sie mit großer Leichtigkeit bewältigen, denn seit einigen Tagen hat sie den Eindruck, dass sie alles kann, was sie will oder was man ihr suggeriert. Sie steht auf und geht an die Türe, um das schwarze Flugzeug nicht zu versäumen.23

NO STEP! Vielleicht haben schon viele Passagiere den Wunsch, hoch oben in der Luft auszusteigen, verspürt. Vielleicht ist das, was Zürn beschreibt, dieses Gefühl, alles zu können, dieses Gefühl, da draußen einen wunderbaren Trick zu vollbringen und in ein anderes Flugzeug einzusteigen, in ein wirkliches Leben, in ein endlich echtes wirkliches Leben, vielleicht ist das etwas so Häufiges, dass eine große Schrift von der Fluggesellschaft anzubringen war: NO STEP! Dieser Flügel ist keine Stufe, keine Pforte, da draußen ist nichts, das zu dem Leben, das du dir immer gewünscht hast, führen wird.

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Du kommst an in Paris. Dieser Flughafen ist aus Glitzer und Gewehren, Dessous und Pistolen, Parfüms und Schlagstöcken, Schokolade und Pfefferspray. Fünf Uniformvarianten: Reinigungskräfte, Verkaufskräfte, Sicherheitskräfte, Strafkräfte, Militärkräfte. » Sehen Sie niemanden an. Senken Sie Ihre Augen auf Ihre Füße – gehen Sie.«24

Schranken, Kontrollgeräte, Scans, Pforten, Kassen – ein Geldschein, ein Pass, eine Kreditkarte, ein Geldschein, ein Pass, eine Kreditkarte: as ist alles. Sie steht auf und sieht einige Schritte vor sich einen D großen, schwarzen, eisernen Mantel-Ständer, der bedrohlich aussieht. Und sie empfängt den Eindruck: Das ist ein Gefängnis. »Treten Sie ein!« Da windet sie sich in einer schwierigen und schmerzhaften Bewegung zwischen den schwarzen Stäben hindurch, bis sie im Inneren ist. Sie fühlt sich gedemütigt, und sie schämt sich. Der Befehl, niemanden anzusehen, erspart ihr vielleicht den Anblick der anderen, die einen Kreis um sie bilden und sie ­anstarren. Da erscheint ein »Abgesandter« – ein »Eingeweihter« – in der Gestalt eines französischen Stewards und fordert sie auf, ihre Reise nach Berlin fortzusetzen: Das Flugzeug ist bereit. Um ganz sicher zu sein, dass er alles weiß, was er in diesem Falle wissen muss, bittet sie ihn, ihr einen Buchstaben und eine Zahl zu nennen. Ohne Zögern antwortet er: »L-H-M-6-9«. Da windet sie sich aus ihrem Gefängnis heraus, und voller Vertrauen lässt sie sich von ihm zum Flugzeug führen.25

Du lässt dich von der Bahn ins Zentrum der Stadt fahren. Neben dir sitzt ein österreichisches Paar. Er redet redet redet. Sie packt bedächtig und langsam ihre Brille aus – während er redet redet redet, putzt sie bedächtig die Brille, setzt bedächtig die Brille auf und sagt sich: »Jetzt schau ich wieder ›gscheiter‹ aus.« Sagt sie zu sich selbst, er redet redet redet und sie sagt:

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»Im Aug ist ein Splitter des Anderen, als Balken vor dem eigenen Sehen.« Oder vielleicht sagt sie: »Der Splitter im Aug des Anderen ist größer als der Balken vorm eigenen Aug.« Und er entgegnet oder übersetzt: »Wer selbst ohne Fehler ist, werfe den eigenen Stein.«

I n: Rückblende – Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Ein Film von Lucie Herrmann, Hessischer Rundfunk 1991. 2 Unica Zürn: Notizen einer Blutarmen, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Verlag Brinkmann & Bose, Berlin 1988 – 2001, Band 4.1 – Prosa 3, S. 31. 3 Unica Zürn: Der Mann im Jasmin, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 4.1 – Prosa 3, S. 147. 4 Ebd., S. 242. 5 Unica Zürn: Das Haus der Krankheiten, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 4.1 – Prosa 3, S. 47. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Unica Zürn: Anagramme, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme, S. 72. 9 Unica Zürn: Notizen einer Blutarmen, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 4.1 – Prosa 3, S. 29. 10 Unica Zürn: Anagramme, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme, S. 92. 11 Unica Zürn: Das Haus der Krankheiten, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 4.1 – Prosa 3, S. 66 f. 12 Unica Zürn: Anagramme, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme, S. 92. 13 Ebd. 14 William S. Burroughs 15 Unica Zürn: Der Mann im Jasmin, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 4.1 – Prosa 3, S. 170. 16 Ebd., S. 171. 17 Unica Zürn: Anagramme, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 1 – Anagramme, S. 92. 18 Unica Zürn: Der Mann im Jasmin, in: Unica Zürn Gesamtausgabe, Band 4.1 – Prosa 3, S. 153. 19 Ebd., S. 224. 20 Ebd., S. 144. 21 Ebd., S. 155. 22 Ebd., S. 154. 23 Ebd., S. 155. 24 Ebd., S. 156. 25 Ebd., S. 156. 1

Auszüge aus: Natascha Gangl, Das Spiel von der Einverleibung. Frei nach Unica Zürn © Fürth 2020, starfruit publications und die Autorin

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Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Natascha Gangl

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Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Natascha Gangl

Wir sitzen im schattigen Schottenhof in Wien. In den Wochen zuvor habe ich mich auf Natascha Gangls Spuren gemacht, die sich ihrerseits in den Jahren zuvor auf Unica Zürns Spuren gemacht hatte. Aus der Auseinan­ dersetzung mit dem Werk und den Leben von Unica Zürn sind drei auch formal recht unterschiedliche Werke entstanden: Das dramatische Anagramm und eine Klanginstallation, ORAKEL UND SPEKTAKEL. Ein Fest für Unica Zürn, die Prosa DAS SPIEL VON DER EINVERLEIBUNG. Frei nach Unica Zürn (ein hinreißend schönes Buch mit Bildern von Toño Camuñas) und Die Revanche der Schlangenfrau. Ein Klangcomic frei nach Unica Zürn. Während ich schaute, hörte und las, wurde meine Neugier auf Unica Zürns Texte neu entfacht, aber auch auf Zeitge­ schichte, Ästhetik und Formen und auf weibliche Künstlerbiografien. Für unser Gespräch habe ich Fragen und Stichwörter dabei, darunter finden sich Worte wie Biografie, Ordnung, Anagramm und Auseinandersetzung, Leben und Kunst, Schrift und ihre Auflösung, Manipulation durch Spra­ che und Klang … Später werde ich dieses Gespräch abtippen und erneut die lebhafte Stimme von Natascha Gangl hören. Während ich die Aufnahme abspiele, höre ich aber auch andere Stimmen, laut und leise, von nah und fern, das Klappern von Geschirr und Besteck, das Tapptapptapp von Schuhen auf den Pflastersteinen, den Wind in den Bäumen. Während unseres Gesprächs hörte ich all das nicht, da gab es nur unsere zwei Stimmen. Und nun brandet sogar immer wieder Applaus auf. Als wäre einer der Tische zur Bühne mutiert. Sie haben sich mehrere Jahre mit Leben und Werk von Unica Zürn auseinandergesetzt, daraus sind drei sehr unterschiedliche Werke entstanden. Was ist für Sie denn eine Biografie? Was kann sie sein, was soll sie sein, was soll sie nicht sein? Ich antworte mit einem Beispiel: Zu Unica Zürn gibt es diese Sätze: Wurde geboren in. Hat geschrieben. Hat hier gelebt. Hat diese Dia­ gnose. Hat dort gelebt. War die Partnerin von. Hat jene Diagnose. Hat Selbstmord begangen. Es gibt diese Fakt-Sätze zu einem Leben. Ist so. Ist so. Ist so. Und dann gibt es die Schlüsse, die daraus gezogen werden. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ich die Fakten und die Schlüsse auseinanderziehe und diese Satzserien von »Das war, das war, das ist, das ist dir passiert, das ist dir passiert, das ist dir passiert« ausstelle, sie aber nicht werte. Das kann also eine Art sein, mit Biogra28


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fie umzugehen. Eine andere: Aus diesen Sätzen Schlüsse ziehen, beginnen, sie auszuwählen, sie zu erwählen – das kann ganz schön anmaßend werden. Nähert man sich einer Künstlerin wie Unica Zürn, ist das Gewicht der Biografie schwer, die Biografie verschlingt, sie legt sich über alles und sie legt sich in alles. Bei Künstlerinnen, bei Schriftstellerinnen passiert das ja oft: Das Werk wird verwendet, um eine »schwierige« Biografie zu »illustrieren«, während bei den Künstlern die Biografie hinführt zum außerordentlichen Werk. Das Werk einer Frau wird dann also nicht als das große Werk einer Künstlerin gesehen, sondern bloß als Illustration eines in diesem Fall vielleicht sogar »tragischen« Lebens? Ja. Und was ist die Tragödie? Wo liegt sie? Und wer interpretiert die Tragödie wann? Je länger ich mich mit Unica Zürn beschäftigt habe und je aufmerksamer ich sie gelesen habe, desto deutlicher höre ich eine sehr starke, mutige Stimme, voller Witz, schwarzem Humor, lese eine so fabelhafte Künstlerin. Lese ich aber Texte über sie, bekommt das Bild etwas Diffuses, sie wird zum melancholischen, leidenden Opfer, das hinter einer Diagnose oder hinter einem dieser Männernamen steht, von der es scheint, ihre Kunst wäre ihr so passiert, nebenher. Sich da durchzuwühlen und bei den Texten selbst anzukommen, zu vergleichen: Was ist ein literarischer Text von ihr, was sind persönliche Briefe, wie schreibt sie in ihren Briefen, wie schreibt sie in ihren Texten? Welche anderen Texte haben sie beschäftigt, wie hat sie diese in ihr Schreiben hineinverwickelt? Wie kann ich zum Beispiel ihre Liebe zu Kriminalgeschichten, zu Abenteuergeschichten herauslesen? Was ist ein autobiografischer Text nach Unica Zürn? Es gibt autobiografisches Material im Text, mit dem sie umgeht, das sie variiert und das sie in immer neue Spannungsverhältnisse stellt. Sie schreibt eine Szene und schreibt sie im nächsten Text um, stellt sie an eine andere Stelle in einen anderen Kontext, und auf einmal heißt der Fakt, die Szene, etwas anderes, die Bedeutung verschiebt sich. Sie wird tragisch oder witzig oder surreal. Durch diese Umpositionierung von Szenen findet auch eine Ermächtigung statt. Da sind wir beim Thema Biografie. Im Wort »Biografie« steckt das Schreiben drin und das Leben: das Leben schreiben. Und das Schreiben geht gar nicht ohne das Formen, ich forme etwas mit Worten, ich forme etwas mit Sprache und das allein ist schon ein ständiges Umbauen. Das geschieht immer, auch dort, wo es nicht thematisiert wird oder wo es aufgrund der Form besonders auffällt. Wo der Prozess

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durch die Form geradezu ausgestellt wird. In den Texten von Unica Zürn ebenso wie in Ihren Texten über sie wird etwas sichtbar gemacht durch die Art, wie geschrieben und gebaut wird. Sichtbar wird, dass es um ein Schreiben geht, dass es um ein Formen geht, dass man so formen kann, aber eben auch anders. Es ist auch ein Spielen mit den Formen, die Biografien gemeinhin ausmachen – Sie haben welche genannt, dieses Faktenaufzählen nämlich –, aber es hat auch etwas Erzählerisches. Mein Eindruck ist: Genau damit arbeiten Sie, sowohl in den beiden dramatischen Texten als auch in Ihrem Prosaband über Unica Zürn. Ja, ganz stark. Und weil ich die Macht des Erzählerischen fassen wollte, war es für mich so dringend nötig, drei verschiedene Wege zu suchen, wie ich mich ihr nähern kann, eben weil ich zur Künstlerin, zu ihren Techniken wollte. Ich wollte es möglichst unterschiedlich probieren, um nicht, um nie zu endgültigen Schlüssen zu kommen, um immer wieder auszustellen: Es kann so, aber auch ganz anders gesehen werden. Ich wollte nicht etwas über sie sagen, sondern ihre Techniken verstehen und diese Techniken im Jetzt weiterarbeiten. Heute hat man andere technische Möglichkeiten zur Verfügung. Was ist für Sie der größte Unterschied in Bezug auf die Technik im Vergleich zu damals? Das kann ich schwer schnell beantworten. Das Schreiben hat sich bestimmt sehr verändert in einer digitalen Welt, entspricht sogar sehr viel mehr Zürns Montagetechniken. Die Frage ist vielleicht auch nicht schnell zu beantworten, weil unsere Techniken andere sind … Unica Zürn hat ja vor allem gezeichnet, anagrammiert, Prosa geschrieben, ich arbeite viel für Theater, Performance, Radio. Das heißt, es geht hier auch noch um eine Übersetzung, um eine Übertragung in andere Genres. Wie kann ich mir das konkret vorstellen, wie Sie da vorgehen? Ich kann das vielleicht am besten über konkrete Beispiele beschreiben. Alles hat begonnen mit dem Bedürfnis, das Buch Das Haus der Krankheiten zu dramatisieren, es war das erste Buch von Zürn, das ich in der Hand hielt, eine wunderschöne Publikation eines Heftes, in dem Zeichnungen und Text miteinander von einem Selbstheilungsversuch erzählen, erschienen bei Brinkmann & Bose. Ich dachte, das wäre ein ideales Stück für Julia Reicherts Kabinetttheater, denn Objekttheater kann ebendiesen surrealen Bildwelten gerecht werden: Es kann die Buchstaben herumfliegen lassen, der Kopf kann

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­ avonrollen. Text kann zu Bild werden als dramatisches Geschehen, d da kann das »e« sich verziehen, Sätze können sich wie Schlangen winden. Also habe ich begonnen, mich vorzubereiten, habe mich durch die Gesamtausgabe gearbeitet und herausgefunden: Zürn schreibt nicht nur Anagramme, auch die Prosa funktioniert anagrammatisch. Es gibt Motive, Figuren, Schlüsselszenen, die kommen immer wieder, aber in anderen Variationen. Also kam die Lust auf, anstelle von Das Haus der Krankheiten zu dramatisieren, herauszuarbeiten, was diese – ich nenne das jetzt mal – »Archetypen« sein könnten, die da auftauchen, und ich erarbeite so Szenen mit meinen Kolleg:innen, die komponieren, entwerfen, bauen, spielen. Wir machen Orakel und ­Spektakel – geben ein Fest für Unica Zürn. Während ich dieses dramatische Anagramm geschrieben habe, hatte ich am Literarischen Colloquium Berlin ein Stipendium und da lag es natürlich nahe, in den Grunewald zu fahren, den Ort, an dem Zürn aufwuchs, in die ehemalige Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, an den Bahnhof Jungfernheide, an all die Orte, die Zürn in ihren Texten nennt. Und aus dieser Gegenüberstellung von Zürns Beschreibung dieser Orte, die sich oft magisch oder surreal lesen, und dem, was ich an diesen Orten ablesen konnte, fast eingeschrieben in die Orte lesen konnte, wenn ich mich ihnen ausgesetzt habe – oder aus dem, was sich einfach durch irre Zufälle auftat –, ist das Buch Das Spiel von der E ­ inverleibung entstanden – ein Spiel von Fiktion und Realität, das ich ganz schön lange, auch in Frankreich und Mexiko weiter gespielt habe. Als ich dann das Gefühl hatte, dass ich dieses Spiel von Fiktion und Realität gut genug kenne, habe ich mit der Elektroakustik-Band Rdeča Raketa – das sind die Komponist:innen Maja Osojnik und Matija Schellander – beschlossen, noch mutiger zu werden, das Biografie-­ Thema noch weiter zuzuspitzen. Wir haben eine Performance und ein Hörstück mit dem Titel Die Revanche der Schlangen­ frau. Ein Klangcomic frei nach Unica Zürn entwickelt, in denen wir sehr stark mit diesem Bedürfnis nach Fakten und linearen Geschichten spielen, mit hypnotischem Sound wie Techno und Madrigalen arbeiten, eine Sogwirkung durch Klang entstehen lassen und dann die Wahrnehmung flippen. Also kurz bevor der rote Faden sich an ein Ende zieht, die Fakten alle beisammen sind, der Spannungsbogen steht, kippt das Ganze und wird zu einer Art Ritus. Dabei verwenden wir einen Traum von einer Schlangenfrau, den Zürn in zwei unterschiedlichen Texten unterschiedlich beschreibt, wir legen ihn über die Fakten ihrer Biografie, verweigern schlussendlich die Wahrheit aus dem Ende, das bekannt ist, kippen es in ganz andere Wahrheiten.

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Biografie wird ja oft mit Linearität verbunden, weil es naheliegend scheint, sich Leben als Linie zu denken von der Geburt bis zum Tod. Die Konstruktion der Linearität ist nach wie vor sehr gängig und beliebt, im Theater, in der Literatur. Sie ist aber eine Konstruktion, die etwas behauptet, was es im Leben so gar nicht gibt. Ihre Art der Auseinandersetzung bricht mit dieser vermeintlichen Linearität. Wie wichtig ist Ihnen die Auseinandersetzung damit? Linearität zu verweigern, das begleitet mein Schreiben von Anfang an. Ich habe das Gefühl, sie verleitet dazu, absolute Behauptungen darüber aufzustellen, was Welt ist, besonders in der Prosa. Lineare Arbeiten bekommen für mich einen seltsamen Ganzheits-, einen Absolutheitsanspruch. Wieso muss ich so tun, als könnte ich irgendetwas jemals von A bis Z zu Ende erzählen? Ich will ja nichts unhinterfragbar festzementieren, sondern untergraben und auflockern! Im Theater kommt es ja schon aus dem Arbeiten heraus, dass die Linie eigentlich nie wirklich da ist, mal wird eine Szene geprobt, mal eine andere Szene, hier wird gestrichen, dort montiert, die Sichtweisen werden in der gemeinsamen Arbeit ständig hinterfragt, das Stück ist an keinem Abend dasselbe, das es am Vorabend war. Am Theater wandert die Bedeutung ständig; wenn zwei Menschen auf der Bühne die Positionen tauschen und trotzdem den gleichen Text sprechen, heißt alles etwas anderes. Wenn jemand die Maske abnimmt, heißt es etwas anderes. Wenn das Licht sich ändert, heißt es was anderes. Wenn die Musik eine andere ist, ist die Bedeutung eine andere. Die Bedeutung verschiebt sich konstant und das Schieben kann ein demokratischer oder ein autoritärer Prozess sein. Die Theaterarbeit ist im Unterschied zum einsamen Schreiben zudem immer eine gemeinsame. Da werden auch einmal die eigenen Konzepte umgeworfen. Was ist Ihnen denn lieber: zurückgezogenes Schreiben oder dieses gemeinsame Arbeiten, das dann womöglich vieles über den Haufen wirft? Ich finde mittlerweile, dass beim Alleineschreiben auch ständig alles über den Haufen geworfen wird. Wenn ich mit Unica Zürns Der Mann im Jasmin in die Tauentzienstraße gehe, dann wird mir ja auch alles über den Haufen geworfen, wenn ich sechs Taschen­tücher finde und Zürn schreibt, sie verteilt sechs weiße Papiertaschen­ tücher, als wolle sie ein Zeichen für jemanden hinterlassen, der nach ihr kommen wird. Ich habe das Gefühl, über den Haufen geworfen zu werden, ist so ein Grundprinzip, das alles erst reizvoll und interessant macht.

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Aber noch zum Arbeiten im Kollektiv: Ich glaube, schreiben für Theater, für Performance heißt auch, dass das Schreiben nicht auf einer Seite aufhört, sondern zu einem gemeinsamen Schreiben, einer gemeinsam verbrachten Zeit wird. Also wenn dann der Inhalt in der Textform aufgeht und zu einer stimmigen Form der gemeinsamen Umsetzung – des Kollaborierens – wird. Das Gemeinsame unterscheidet doch auch die Rezeption von Prosa – ich lese üblicherweise alleine – von der Rezeption eines Dramas, die üblicherweise gemeinsam mit anderen stattfindet, in einem Raum mit einer Bühne. Wenn man über den Unterschied zwischen Prosa und Drama, zwischen einem prosaischen und einem dramatischen Text spricht, müsste man wohl nicht nur das Kollektiv in den Blick nehmen, das den dramatischen Text zur Aufführung bringt, sondern auch das Kollektiv, das sich diese Aufführung gemeinsam in einem Raum ansieht. Ja – der Text ist vielleicht erst dramatisch, wenn Lesen zu einer gemeinsamen Sache wird. Weiter: eine gemeinsame Sache, die in körperliche Handlungen in einem Raum übergeht, der gestaltet wird für wieder andere – also einfach: ein Text, der Gemeinschaft stiftet. Alle drei Werke thematisieren den Zusammenhang von Leben und Kunst. Oft wird das wie getrennt dargestellt, da ist das Leben, da ist die Kunst. Mit dieser Trennung brechen Sie hier auch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es jemandem gelingen soll, das zu trennen. So ein Text wie Das Haus der Krankheiten ist ja nicht nur Schreiben, sondern auch ein Heilungsversuch, eine Reise durch den eigenen Körper, den eigenen Verstand. Zürn versucht eine Zeit, in der sie im Krankenhaus liegt, so zu bearbeiten, dass sie da auch wieder rauskommt. Das geschieht natürlich mit sehr klaren künstlerischen Mitteln und mit einem großen handwerklichen Können. Aber trotzdem ist es auch ein Bearbeiten des eigenen Lebens, ein Sich-irgendwohin-Arbeiten. Es lebt eine ja auch die Kunst, die Arbeit, die sie macht, diese macht ja auch wieder etwas mit einer, bewegt eine auch wieder in ganz neue Felder, an neue Orte, zu anderen Menschen. Wer kann das losgelöst denken, diesen Knoten? Da gibt es die Erlebnisse, die zu Kunst werden, die aber auch Erlebnis ist, das wieder zu Kunst wird, das eine kommt ständig aus dem anderen. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ich Projekte ganz schwer abschließen kann. Gerade im Theater, wenn man sich denkt: Okay, jetzt soll man ein Stück schreiben, dann machen wir sechs Wochen Proben, dann sagen wir

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alle Tschüss zueinander, das Thema ist abgeschlossen, das nächste Stück wird geschrieben, wir proben sechs Wochen, sagen Tschüss zueinander und dann steht überall »Uraufführung« drauf. Das ist eigentlich absurd. Ich glaube, für keine Autorin, keinen Autor ist das Thema jemals abgeschlossen mit der Uraufführung. Sondern es geht sowieso immer weiter. Aber wir behaupten, das wars, dass das jetzt dieses Stück war und dass wir jetzt ein neues machen. Ich traue mich zu behaupten, es zieht sich immer weiter, aus dem einen kommt das andere. Warum wir diese Verkettung oder diese Verbindung nicht als Qualität ausstellen dürfen – oder wollen –, verstehe ich nicht. Sie haben den Eindruck, der Kulturbetrieb verlangt das abgeschlossene Werk? Ja, das ist so ein Eindruck. Im Theater steht doch diese Gier nach Uraufführung, ein Stück, wenn es einmal gespielt ist, wird nicht mehr wiederholt, jeder will eine Uraufführung. Das ist ein Denken, das Kunst als Produkt sieht. Sie hingegen denken Kunst als Prozess. Ja! Ihre Beschäftigung mit Unica Zürn hat ein Werk nach dem anderen hervorgebracht. Ein Objekttheaterstück, ein Buch, ein Klangcomic, bald eine Platte, es entstehen grafische Partituren, Videoarbeiten, Ausstellungen, Installationen, ein Festival, bei dem wieder andere Leute eingeladen sind, sich mit den Arbeiten spielerisch auseinanderzusetzen, die weiterschreiben, improvisieren. Das hat viel mit den Menschen zu tun, mit denen ich diese langen Wege gemeinsam gehe, wie mit Maja Osojnik und Matija Schellander. Eigentlich die schönste Erfahrung, dass eine Arbeit ganz auf andere Künstler:innen übergeht, die sie weiterwachsen lassen, und es hört nie auf, wie ein Fackellauf. Das Feuer brennt weiter. Das heißt aber auch, Autorschaft anders zu verstehen als im Sinne von: Das habe ich kreiert und ich will, dass es mit mir in Verbindung gebracht wird – Werk als Produkt, als Eigentum. Für mich ist Sprache etwas, das uns gemeinsam ist. Wenn ich einen Text schreibe, sind ja auch in diesem Text alle Texte drin, die ich gelesen habe, und alle, die ich gehört habe. Ich verwende Worte, die nicht meine eigenen sind, die unser gemeinsames Material sind, das wir

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gemeinsam untersuchen, beleuchten. Und das Schönste: Wenn meine Bearbeitung jemand anderen dazu anregt, sie zu verwenden, zu bearbeiten, weiterzudenken. Unica Zürn hat das ja auch ständig gemacht, sie hat sich auf andere Werke bezogen und ist auch in anderen Werken aufgetaucht, hat in einem Geflecht gesponnen. Diese Positionen werden mir nicht oft genug gezeigt. Es gibt diese extrem große, wunderschöne experimentelle Tradition, so viele Arten, dieses Handwerk zu betreiben, es nicht solitär zu denken; aber große Aufmerksamkeit bekommen nach wie vor Bücher und Stücke, die recht konservativ sind im Vergleich zu dem, was schon alles da war, zu dem, wo wir schon überall unterwegs waren. Es wäre viel leichter für viele zeitgenössische Autorinnen, A ­ utoren, wäre der Kanon der »experimentellen« Literatur etwas fester, sichtbarer, geschätzter. Manchmal sind die Punkte, auf die man sich bezieht und die man weiterdenken will, einfach so unbekannt, dass das, was man macht, auf Unverständnis, vielleicht sogar auf Angst stößt, und dann gibt es wenig Budget dafür, es kommt auf die kleine Bühne, in die Nachtsendung, ist automatisch woanders, weil die Art, vor allem die Form nicht gängig genug ist, obwohl diese Formenvielfalt schon so lange da ist, obwohl schon so viele Autor:innen so gearbeitet haben. Dabei würde das Publikum vielleicht mehr verstehen, als man ihm gemeinhin heute zutraut. Das ist jedenfalls eine These, die ich als Journalistin immer vorbringe. Denn auch in den Medien gibt es ja die Tendenz, dem Publikum viel zu wenig zuzumuten. Dabei gibt es doch die Neugier, Lust auf das nicht immer Gleiche. Mir scheint, Sie trauen Ihrem Publikum einiges zu. Ich bin überzeugt davon, dass das Publikum eine größere Lust hat auf Experimente, als die Kurator:innen, die Dramaturg:innen, die Gestalter:innen von Programmen ihm anbieten. Ich komme aus einem kleinen Dorf und es ist mir immer ein Anliegen, die Stücke auch dort zu zeigen, dort hinzugehen, wo vielleicht neue Musik oder diese Art von Literatur wenig bis gar keinen Platz hat – oft waren es die allerschönsten Begegnungen mit dem Publikum, lange Gespräche, eine große Offenheit. Ich höre so oft von der Angst, nicht zu verstehen, oder nicht verstanden zu sein … Die Sängerin Friederike Harmsen hat mir einmal gesagt: Es gibt eben unterschiedliche Arten des Verstehens. Es gibt rationales Verstehen und Sinn, der anders erfahrbar ist. Ich glaube, andere Formensprachen können andere Arten von Wissen generieren. Und es gibt viele Leute, die wahnsinnige Lust haben auf diese anderen

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Arten der Ansprache, die Lust haben auf Reibung. Über Klang, Musik, Sprachmusik können Leute in vielleicht ungewohnte Denkräume geholt werden, vielleicht weil der Klang so verführerisch ist. Das ist noch einmal ein spannendes Thema: Wie manipulativ Sound ist, was passiert, wenn ein Text zu einem Madrigal oder zu Techno wird. Ja, der Unterschied zur Prosa, die ich selber still lese, ist mir beim Klangcomic stark aufgefallen. Es gibt da diese verbalen Zuschreibungen im Sinn von: Du bist wahnsinnig, du Opfer. Zuschreibungen, die mehrmals wiederholt werden. Die Kombination von Klang und Sprache macht eindringlich hörbar, wie Sprache als Waffe eingesetzt wird. Das wird sie auch in den Sätzen, die ich lesen kann. Doch im Klangcomic bekommt es eine ganz besondere Kraft und Deutlichkeit. Das ist auch eine extrem politische Angelegenheit. Inwieweit sehen Sie Ihr Arbeiten mit Sprache als ein politisches? Das lässt sich gar nicht vermeiden. Wenn ich mit Sprache arbeite, ist das politisch. Weil sie unser Gemeinsames ist. Weil wir aus der Verantwortung mit ihr umzugehen ja gar nicht herauskommen können. Mir ist aufgefallen: Es sprechen so viele Autor:innen vom Eigenleben der Texte, vom Eigenleben ihrer Texte beim Schreiben. Und dieses Eigenleben von Sprache, dieses Eigenleben das Diskurse entwickeln, bestimmt ja stark unser Leben; gerade die vergangenen beiden Jahre haben besonders deutlich gemacht, wie sich Sprache verselbständigt, wie sich der Diskurs verselbständigt, was das mit dem eigenen Körper macht, wo der platziert wird. Wo keine Urheber:innen mehr festgemacht werden können, Themen plötzlich dominant werden und Körper zu den schrägsten Handlungen motivieren. Bekommen Sie auch Rückmeldungen auf Ihre Stücke? Ja, oft sehr starke und sehr unterschiedliche: psychedelische Flashs, völliges Unverständnis, Wut, Lachkrämpfe und totale Beglücktheit – alles dabei. Ich komme auch hier wieder zurück zu Unica Zürn, die ja auch sehr heftige Reaktionen auslöst: Als ich mich mit ihr zu beschäftigen begonnen habe, haben mir viele gesagt, ich soll auf mich aufpassen. Oder mir wurde erzählt, dass jemand eine Vorlesung abbrechen musste, weil sich die Studierenden zu sehr mit Unica Zürn identifiziert hatten. Wer hat Angst vor Unica Zürn? Wer fürchtet sich wovor? Sie findet für viele Themen, die gerade aus feministischer Sicht sehr wichtig sind, sehr treffende Worte, Sätze, die vielleicht erst surreal poetisch klingen, aber bei genauerer Betrachtung ein Weg sind,

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­ robleme zu beschreiben, die sonst einfach nicht benannt werden P oder für die es noch gar keine Sprache gab, so verdrängt waren sie. Das öffnet, glaube ich, sehr große Resonanzräume bei Zuhörer:innen, bei Menschen jeden Geschlechts, es sind Themen, die uns allen durch Mark und Bein gehen, wir finden uns wieder in den Texten. Bei Ihrer Prosa kamen zur Schrift Bilder, die noch einmal eine andere Eindrücklichkeit haben als die Schrift. Beim Klangcomic ist es oft geradezu unheimlich, wie die Sprache auf einen einprasselt, manchmal peitscht; der Klang verstärkt, was in der Sprache da ist, er wirkt noch stärker als das Bild. Ein Hörerlebnis lässt sich fast nicht auf Distanz halten, vor allem, wenn man drinnen sitzt und es Vierkanal-laut auf einen einprasselt. Dann hat dieses Stück etwas Tranceartiges und hat auch etwas sehr Kathartisches. Wir haben uns sehr bewusst dazu entschlossen, es so zu bauen. Nach so langer Zeit mit diesen Themen wie Gewalt gegen Frauen­körper, Gewalt der Psychiatrie, illegale Abtreibungen, Zwangssterilisationen – und je mehr eine recherchiert, desto klarer wird es, wie unendlich viele Menschen das zu ertragen hatten, auf wie viele Menschen die gleichen Fakt-Sätze zutreffen, wie viele ein ähnliches Schicksal zu ertragen hatten und haben! – Wem brennt nicht die Sicherung durch, der – die – das aushalten muss? Was heißt da überhaupt noch krank, was gesund? Ich glaube, es ist eine sehr gesunde Reaktion des Körpers, der Psyche, irgendwann zu verweigern, nicht mehr mitzukönnen. Also – es war an der Zeit für einen Empowerment-­Ritus. Die Brutalität der Sprache wird hörbar. Natürlich prägt die Zeit auch, in der man das hört. Ich dachte beim Hören nun: Ich bin im Krieg. Aber es ist ja auch Krieg. Ja. Sprache, Bild, Szenisches, Musik – es scheint darum zu gehen, ständig das eine ins andere zu transformieren. Die Schrift immer wieder aufzulösen in ein Bild. Das thematisieren Sie auch in der Einver­ leibung. Sinngemäß wird die Frage gestellt: Liest du Bilder, liest du Schrift? Was wollen Sie da knacken an der Sprache, an der Schrift? Wenn ich das wüsste. Es ist oft schwer für mich, über die eigene Arbeit zu sprechen, sie zusammenfassen, weil es so viel Forschen ist, ich mittendrin stecke – es nicht einfach, sich hinzusetzen und smarte Sachen zu sagen über die Arbeit, die einen jeden Tag auseinandernimmt. Vielleicht hat es was von einer Tänzerin, die einen Raum erkundet.

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Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Natascha Gangl

Schaut, was sie alles machen kann. Der Raum ist in diesem Fall die Sprache. Ich probiere aus, wie ist es, ein Stück zu schreiben. Dann probiere ich, wie ist es, das abzugeben, wie ist es, dabei zu sein, wie ist es, wenn die Regie wegbleibt, wie ist es, wenn die Schauspieler:innen wegbleiben, wie ist es, wenn ich meinen eigenen Körper hinstelle, wie ist es, wenn da nur mehr der Sound ist, wie es ist, direkt mit Sound und field recordings zu schreiben und wie ich diese Erfahrungen wieder aufzeichnen, wieder in Körper übertragen kann. Es ist ein ständiges Abtasten von dem, was möglich ist, was geht. Und dann gibt’s natürlich in diesem Raum immer Menschen, Beziehungen. Und es gibt immer dieses komische Ding, »den Markt«, »den Betrieb« mit ­seinen Forderungen, der lässt sich nicht vermeiden, also kommt dazu noch der Versuch, wie man dem spielerisch begegnen kann, sich nicht dominieren lässt. Es kommen trotzige Strategien dazu, wie zu sagen: Mein Stück ist nicht uraufführbar, denn es ist unendlich, das gibt es nur in Aktualisierungen. Mir gefällt das Prozesshafte sehr. Werk im Sinn von werken, was kann ich mit dem Material herstellen; es ist performativ, indem ich etwas spreche, stelle ich auch etwas her. Sie sprachen bereits über ­Anagramme und das Anagrammhafte des Schreibens: Mir fiel auf, dass man das Wort »Auseinandersetzung« sehr oft verwendet, man setzt sich aber mit dem Wort nicht auseinander. Im Grunde ist das, was Unica Zürn tut und was Sie tun, eine wörtlich genommene Aus-­einander-setzung. Das ist schön! Ich habe das zum ersten Mal bewusst gemacht bei Die große zoologische Pandemie, einer Textfläche, die ich seit 2010 und bis zur Pandemie 2020 immer aktualisiert habe. Immer neue Blöcke, Module kamen dazu, kamen weg, wurden für jede Theateraufführung oder Installation oder Performance neu zusammengebaut, auseinandergesetzt, zusammengebaut, und zwar so, dass es etwas mit den Menschen und dem Ort, an dem die Aufführung stattfindet, zu tun hat. Seither denke ich dramatische Texte als Baukästen, als Montage-­ Spiel – ein Theatertext soll doch vor allem Spiellust entfachen! Spiellust, ein wichtiges Wort! Wir haben schon über Gewalt durch Sprache gesprochen, aber das Anagramm zeigt ja auch eine Spiellust. Über die spielerischen und hellen Seiten dessen haben wir vielleicht noch zu wenig gesprochen. Ja, ein sehr buntes Werken … Ich denke gleich an die Bilder von Toño Camuñas im Buch Das Spiel von der Einverleibung, die Brutalität

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Überschreibungen

immer auch mit Humor bewältigen. Die Dualität überwinden. Auch so ein Zürn-Thema: Was ist schon dunkel, was hell, was gut, was schlecht, was gesund, was krank, was weiblich, was männlich, was erwachsen, was kindisch – ah, da ist das Urteil?! Ich flipps über, na ist doch nicht mehr da, ist doch wieder anders. Das macht Spaß und ist befreiend! Etablierte Einteilungen werden dadurch völlig aufgemischt. Deswegen beginnen sich gerade so viele Menschen für Unica Zürn oder ihr verwandte Künstler:innen zu interessieren. Es gibt gerade viele Autorinnen und bildende Künstlerinnen, die ganz neu betrachtet werden, weil gerade eine gute Zeit dafür angebrochen ist, weil es jetzt gerade viel Bereitschaft gibt, außerhalb von Dualität zu denken. Das wäre ja die Möglichkeit von Kunst, solche Denkschemata aufzubrechen, darin ist sie wohl auch stärker als Theorien. Sie haben Philosophie studiert, und ich habe mich gefragt – denn natürlich sieht man Spuren –, wie sehr Sie Theorien beeinflussen. Ich habe bei Ihnen den Eindruck, dass es bei Ihnen eher die Kunst ist, die Theorien generiert, nicht umgekehrt. Ja, gerade war das für längere Zeit so, dass mich vor allem andere Künstler:innen angespornt haben. Vielleicht auch, weil ich die Form für mindestens so relevant wie den Inhalt halte, weil ich glaube, dass Bewusstsein sich gerade in Formen erzählt und die Form der Theorie oft ja sehr reguliert daherkommt … Letzten Herbst habe ich mit meinen Kolleg:innen EINSAME AMEISEN AMNESIE. Ein Klangcomic frei nach Anestis Logothetis entwickelt. Logothetis ist ein Komponist, der besonderen Fokus auf die Grafische Partitur legt, er stellt immer wieder das Lesen, das Interpretieren ins Zentrum. Er schreibt, durch die Einsicht in die Partitur kann eine dem Werk innewohnende Mehrschichtigkeit freigelegt werden. Es geht ihm darum, eine so reiche Aufzeichnung auf diesem armen Blatt Papier zu schaffen, dass ein unendlicher Strom an Interpretationen herauskommen kann. Das verhält sich ganz entgegengesetzt zum alltäglichen Literaturoder Theaterbetrieb, der oft zu fordern scheint, dass auf jeder Seite besonders verständlich und klar steht, worum es geht. Wo es fast als Zeichen mangelnder Qualität gelesen wird, wenn sich eine Polyphonie an Sinn ergibt, wenn Mehrschichtigkeit da ist. Aber auch bei der Literatur und der Prosa. Wie erleben Sie das? Genauso. Leider. Am besten ein eindeutiger Plot und das Rezept, wie

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Brigitte Schwens-Harrant im Gespräch mit Natascha Gangl

alles zu verstehen ist, ist auch schon dabei. Dabei ist Kunst für mich etwas anderes. Sie lädt doch gerade in ihrer Offenheit dazu ein, gegebenenfalls selbst Schlüsse zu ziehen. Die müssen mir doch nicht mitgeteilt werden, weder als Beipacktext noch von der Literatur selbst. Wenn es darum geht, eindeutige Botschaften und womöglich auch noch Anweisungen zu liefern: »Weswegen ein Roman und nicht ein Rapport und warum eine Erzählung und nicht eine Analyse? Weswegen quält sich einer mit dem Rhythmus im Vers ab statt mit Statistik? Und weswegen die Bühne und nicht direkt die Kanzel?«, fragte Hugo Loetscher schon 1999. Spitzt sich das gerade auch weiter zu, der Wunsch nach Vereinfachung? Es scheint so. Es gibt zudem den Trend, vermehrt Romane auf die Bühne zu bringen, wie sehen Sie das? Ja, und welche Romane, die linearsten Romane! Wieder diese Sehnsucht nach der Linie. Man weiß, es wird funktionieren, also warum etwas Neues machen. Anestis Logothetis wetterte immer gegen diesen konservativen Kulturbetrieb und irgendwann hat er geschrieben, es gibt beständige Neugier und gleichzeitig Altsucht. Das liest sich sehr heutig. Auf der einen Seite immer ein neues Stück, immer ein neues Stück, immer nächste Uraufführung, immer nächste Uraufführung, immer nächste Uraufführung, aber sie soll bitte nach Rezept funktionieren, gelungen, wie bisher, und den Roman soll schon zumindest jede zweite gelesen haben. Da ist eben Angst vor Risiko … Was ich auch verstehen kann, schaue ich auf die Arbeitsbedingungen und Beziehungen am Theater. Das sind Menschen, die sind für eine Zeit da und danach werden sie weiterziehen. Diese Zeit muss sehr erfolgreich sein, um danach das nächstbessere Haus zu bekommen. Es ist etwas sehr anderes, an einem Haus zu arbeiten, das von Menschen geleitet wird, die bleiben. Die haben aber dafür vielleicht die Angst, keine Förderung mehr zu bekommen, oder dass ihnen schlicht die Kraft ausgeht. Ich glaube, eine Dramaturgin, die in einem stark hierarchischen Betrieb arbeitet und weiß, sie hat ihren Vertrag für ein paar kurze Jahre, wird anders entscheiden als jemand, der sagt, ich mache jetzt mein Haus, an dem ich bleibe, in einer Stadt, einem Dorf – und jemand, der Teil eines stabilen Kollektivs ist, in dem die alten Machtspiele nicht mehr gespielt werden, wird wieder andere Entscheidungen wagen. Da hat sich ja auch viel getan …

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atlas

Thomas Köck

atlas Thomas Köck erzählt in atlas eine Geschichte von Arbeitsmigration in den 1980er Jahren, vom Untergang des sozialistischen Staates DDR und von einem Kind, das sich auf dem Weg nach Vietnam macht, um den Weg seiner Vorfahren nachzuzeichnen. Über drei Generationen entfaltet sich eine komplexe Familiengeschichte: Die Großmutter floh kurz nach dem Ende des Vietnamkriegs 1975 mit ihrem Kind aus Saigon auf die Flücht­ lingsinsel Pulau Bidong. Sie gehören zu den »Boatpeople«, auf der Über­ fahrt kenterte das Schiff, Mutter und Tochter wurden getrennt. Die Großmutter wurde schließlich als Kontingentflüchtling von der Insel gerettet und nach Westdeutschland gebracht. Nach einigen Jahren kehrte sie aus der BRD zurück nach Vietnam. Die Tochter hingegen ertrank entgegen der Annahme ihrer Mutter nicht und wuchs als Adop­ tivkind auf. Als junge Erwachsene bewarb sie sich als Vertragsarbeiterin und wurde in die DDR entsandt, die ab 1980 vietnamesische Gastarbei­ terInnen aufnahm.

// tan son nhat international airport zwischen den orten zwischen den zeiten tôi lần các ngón tay của mình trên toàn thế giới và thì thầm đâu có nỗi thương đau // delay nichts gesagt was soll man auch sagen wo würde man anfangen wozu delay und immer noch warten sie hier paar stunden noch heißt es paar stunden bis die zeit wieder weiterläuft bis sie sich hier erheben eine nach der anderen die andauernd hier im

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Thomas Köck

leerlauf reisenden die andauernd hier vorüberziehenden wartenden wohin zieht ihr denn alle wohin zieht es euch denn delay nichts gesagt was hätte man schon sagen sollen delay irgendein archiv irgendein karton irgendeine aufschrift unterlagen irgendeine spur eine geschichte deine – tochter – lebte neben dir auf der anderen seite hinter der mauer und keine vereinigung weil nur risse keine vereinigung weil nur neue geschichten keine vereinigung weil andauernd fehl am platz wo fängt man an was soll man sagen was würde ich ihr sagen gar nichts wo fängt man an nirgends immer wieder von neuem fängt man an zu erzählen zu erklären zu erinnern immer von neuem und kommt eh zu nichts welcher riss

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atlas

lässt sich schon lässt sich schon lässt sich schon nahtlos welcher riss ich hätte ihr gesagt dass ich immer an den hafen bin und zu unserem haus das längst von jemand anderem dass die neue familie ganz okay sei dass ich plane in den bruderstaat zu gehen wieso hast du ihr das nicht gesagt ich würde ihr sagen dass ich vergessen habe wie sie aussieht dass ich vergessen habe wie ihre stimme klang dass ich vergessen habe worüber wir zuletzt gesprochen haben dass es irgendwann nicht mehr weh tat das vergessen geschichten die man sich dann erzählt wenn man wieder zu sich findet wo war man gewesen geschichten die man sich dann erzählt wenn man wissen möchte wer man ist geschichten die sich ganze staaten erzählen müssen wenn sie wieder zu sich finden geschichten die einfach nicht verheilen wollen so oft man sie sich auch erzählen mag die risse hier überall wer sie findet kann sie behalten immer lande ich beim nachdenken nur bei den rissen 43


Thomas Köck

lande und sitze fest wieder wieso hast du ihr das nicht gesagt dass ich vergessen habe wieso sie mit mir weg wollte auf dieses boot wie sah sie aus wieso hast du ihr das nicht gesagt dass ich einen aufenthalt bekommen hatte dass ich mich fremd gefühlt hatte dort dass ich ihr gerne dies und das erzählt hätte immer nur risse über die man stolpert beim erzählen fast als würde man nur erzählen um von den rissen abzulenken ich würde ihr sagen dass ich vergessen habe was ich unter wasser gesehen habe dass mir gesagt wurde sie sei tot dass ich sie habe hinabsinken sehen im wasser mehrfach wieso hast du ihr nicht gesagt dass ich nie abgesunken bin dass ich zurück ans ufer bin dann in den bruderstaat und dich in die neue welt getragen wieso hast du ihr das nicht gesagt ein riss nach dem anderen weist den weg durch die geschichte wieso hast du ihr das nicht gesagt was dass sie nebeneinander wohnten bis

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atlas

die mauern fielen dass sie sich beide fremd fühlten bis heute wieso hast du ihr nicht gesagt dass dein vater jetzt vorhänge dass er jetzt tischtücher dass er jetzt still geworden ist seit er alleine lebt dass er die fotos nicht erträgt dass er angestrengt lächelt wenn man ihn nach der vergangenheit fragt dass er ein guter übersetzer war dass er jetzt tischtücher dass er jetzt vorhänge dass er jetzt still geworden ist seit er jetzt alleine dass er im krankenhaus höflich blieb als sie aufhörte zu atmen dass er sie jeden tag besuchte bis ihr zimmer geräumt war dass er verstummt war eine woche in seinem laden am stadtrand wo er jetzt tischtücher was immer das auch heißt sich etwas aufgebaut leben auf risiko nachdem man ihn jahrelang ignoriert gestört hat der wieder bei der vereinigung beim wir schreien beim wir rufen beim wir sein endlich wieder da hat der doch nur gestört ich würde ihr sagen dass ich dich getragen habe während die mauern hoch und nieder gingen während wir zigaretten verkauften

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Thomas Köck

ich würde ihr sagen dass es in den zimmern abends heiß war dass außerdem die deutschen nicht erst fidschis sagten als die mauern unten waren dass sie es dann allerdings lauter sagten dass sie es dann plötzlich freier taten dass sie es dann plötzlich voller inbrunst taten dass sie dann endlich wir sagen durften wir laut und die ich würde ihr sagen dass ich dich getragen habe dass ich die meter gezählt habe die wir zusammen gelaufen meter für meter bis man mir sagte ich hätte nur noch ein paar monate bilder wen interessieren die schon und die letzten meter habe ich in zeitlupe gezählt geschichten was erzählen die schon die letzten meter habe ich schritt für schritt genommen meter für meter bis es irgendwann nicht mehr ging der westen was ist das schon eine vereinigung die findet nie statt wieso hast du ihr nicht gesagt dass du meine tochter ich ihr kind dass ich vor ihr aus dem boot vor ihr aus der zeit aber nie aus der geschichte

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atlas

vereinigung was meint das wann meint das warum hast du ihr das nicht gesagt dass du ihre enkelin dass du sie gefunden wieso hast du ihr das nicht gesagt ich hätte ihr gerne erzählt dass ich in westdeutschland gelandet bin der hässlichste flughafen der welt dass der himmel hier hässlich dass die bäume hier beige dass ich nie hier bleiben wollte dass ich aber auch nicht zurück wollte welche risse lassen sich schon nahtlos ich hätte ihr gesagt dass ich manchmal nein hätte ich nicht vielleicht hätte ich ihr auch gar nichts gesagt vielleicht hätte ich nicht gewusst wo anfangen ich hätte ihr gesagt dass ich sie getragen durch die stadt meter für meter auf das boot meter für meter und sieh her hätte ich nochmal gesagt sieh hier her hãy nhìn đây und den blick festgehalten vom bug bis zum boden meter für meter zwischen all diesen händen den blick festgehalten sieh hier her was heißt das schon vereinigung nicht wer heißt das sondern gegen wen wieso hast du sie nur angestarrt später am boot auf der rückfahrt auf der straße und

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Thomas Köck

sie hat dich angestarrt wieso hast du nichts gesagt das bild habt ihr beide angestarrt und beide habt ihr gewusst was ihr da anstarrt beide habt ihr gewusst als wer ihr da voreinander steht beide wussten nicht was zu sagen was auch ich hoffe ich konnte ihnen etwas erzählen ja Auszüge aus: Thomas Köck, atlas © Suhrkamp Verlag Berlin 2019

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Ein Mailverkehr

Ein Mailverkehr

Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck

Lieber Thomas, nun müssen wir wohl irgendwie einen Anfang machen. Ich werd mal so anfangen, dass ich aufliste, was mich besonders beim Lesen von atlas interessiert hat. Das ist für mich auf jeden Fall der Einstiegstext. •  Stillstand  bzw.  Leerlauf  der  Zeit  als  Utopie •  Der  Ozean  und  die  Situation  des  Flüchtens   auf  relativ  kleinen,  überfüllten  Booten als »amniotech­nics« – ein Begriff, den Sophie Lewis in ihrem ­provokativen Buch zur allgemeinen Leihmutterschaft prägt und als »the art of hold­ ing and caring … of protecting water and protecting p ­ eople from water« definiert (Full Surrogacy Now, ­London: Verso, 2019,165). (Hier bewegen wir uns vielleicht von Deinem Text etwas weg, könnte aber interessant sein und der Dialog mit dem Text bleibt.) •  Mutterrollen:  Dein  Text  stellt  Mutterrollen  vor,   die  wir  nicht  so  oft  auf  der  Bühne sehen – weder Kindsmörderin noch bürgerlich frustrierte Mutter noch Heile-­ Welt-Mutter, sondern sorgende Mütter, die sowohl s­ chaffen/kreieren/gebären, also ihren Töchtern zu Existenz verhelfen, als auch an der partiellen Nichtexistenz dieser Töchter beteiligt sind: eine Mutter, der ihre Tochter auf der Flucht im Wasser abhandenkommt, und eine Mutter, die die Existenz ihrer T ­ ochter erst einmal verheimlicht. Auch hier interessiert mich nicht so sehr das Melodramatische an diesen beiden Konfigurationen (oder dieser Dreierkonfiguration), sondern ich frage mich, ob sie nicht affirmativ gewendet werden könnten, hin zu einer weniger restriktiven Idee von Mutterschaft. Natürlich sind beide ›Rollen‹ durch den politischen Kontext geprägt. •  Das  Vererben  von  Traumata  –  oder  mit  einem vielleicht­   interessanteren   agentischen Fokus weg vom    menschlichen Subjekt, hin zur Eigendynamik des Traumas): das Fortleben von Traumata über Generationen. Sprachliche  und  dramaturgische  Strategien  der  Ver­•  unsicherung  von  Identitätsdenken. Ich kann gerade nur in kurzen Intervallen arbeiten. Vielleicht magst Du einen Faden weiterspinnen.

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Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck

Liebe Katrin, das sind doch schon gute Themen, und ich glaube, man wird eh immer wieder zurück zum Text kommen, so oder so, oder nie weit weg gewesen sein oder so. Lass uns gern so zusammen in kurzen Intervallen spinnen, I like. Ich glaube, was mich nie loslässt, und zwar vor allem im Theater nicht, ist nämlich nun einmal die Zeit. Die kommt immer wieder, in jedem Text taucht die irgendwie auf, als Frage, als Richtung, als Thema, als Problem. Und ich denke mir oft, es hat mit dem Theater als Ort zu tun, also dem Wissen, dass diese Texte gesprochen werden, eben in einem Raum und in einer ganz konkreten Zeit, und diese Zeit dieser artikulierten Sprache besitzt für mich wiederum eine ganz andere ästhetische Dauer als jetzt andere Textformen. Und in dem Fall taucht sie jetzt auf formaler Ebene auf, also als ein künstlerisches Mittel, mit dem ich arbeite, dem Bewusstsein, dass diese Sätze über eine Dauer verfügen, die man aushalten muss, über die ich auch, zumindest ansatzweise, verfügen kann. Und von dort aus schreibt sie sich dann irgendwie in alle Themen ein, in dem Fall der Stillstand, dieses Suchen, dieses Versuchen, auch mal dieser endlosen kurzgeschalteten Taktung aus Gegenwart zu entkommen, also jeden Augenblick ein neuer Gedanke, eine neue Information, headlines from nowhere, und man versucht sich sofort dazu zu verhalten, man fühlt sich geradezu »angerufen« dazu, sich zu positionieren, und zwar sofort in einem binären Verhältnis, also like ich das oder nicht, stehe ich auf der einen oder der anderen Seite. Und bisweilen bin ich misstrauisch ob all dieser Mikroimpulse, weil ich das Gefühl habe, es folgt keine Handlung darauf, es sind eben nur »likes«, Positionierungen, Zustimmungen, in rascher getakteter Folge. Aber vielleicht führt das woandershin, weiter weg oder so. Andererseits interessiert mich auch immer die Zukunft, also das ist ja den Texten insofern eingeschrieben schon, als dass ich weiß, ich schreibe das ja für einen anderen Zeitpunkt, also für eine Aufführung in einem Jahr oder so, und mit diesem Wissen ausgestattet weiß ich ja auch schon, dass diese Texte potentiell auch in drei Jahren oder zehn Jahren oder so, also wenn ich nichts mehr mit ihnen zu tun habe (oder weniger), noch stattfinden können, gesprochen werden und so. Das war zum Beispiel aktuell mit Corona eine seltsame Erfahrung, es war mir völlig neu, nicht zu verstehen, auf welche Welt hin ich eigentlich gerade arbeite. Was in einem halben Jahr oder weniger, in drei Monaten für Probleme existieren werden, welche Fragen akut sein werden usw., das weiß man in dem Sinne natürlich nie, aber es gibt vermut-

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Ein Mailverkehr

lich Prozesse und Dinge, denen man folgen kann, auf die man sich wohl auch gewohnheitsmäßig verlässt und so, aber ich empfand noch nie oder unwissentlich schon lange nicht mehr so eine gedankliche Unterbrechung. Womit wir wieder bei der Unterbrechung der Zeit wären. Das Fehlen von Zukunft, von Planung und so. Am Thema Mutterschaft interessiert mich vor allem die Idee, dass man mit einer anderen Zeit konfrontiert ist, radikal, nicht mehr nur die eigene, individuelle Zeit denkt, sondern eben automatisch die Zeit eines anderen Menschen mitbedenkt, auch die Zeit, die man einmal hinterlassen wird, zum einen, und die man andererseits nicht mehr erleben wird. Das hat mich auch da interessiert, also der Topos der Sorge um die Zukunft, wenn man so sagen möchte, das könnte natürlich ein starkes Politikum werden, wenn man es aus dem vielleicht klein gedachten, familiären Konzept herauslöst und eben wegkommt von einem Begriff von Zeit, in dem das individuelle Glück an erster Stelle steht, sondern das Glück der Nächsten und Nächsten und noch gar nicht Denkbaren und Geisterhaften nicht nur mit in die Rechnung einbezogen wird, sondern sogar von ihnen aus gedacht wird. Weil aktuell interessiert ja Zukunft nur als potentielles Wachstums­reservoir, die Welt & ihre Rohstoffe werden als unendlich gedacht, anstatt sie endlich zu denken. Ich denke, darum geht es Sophie Lewis auch in etwa, also weg vom Genetisch-Essentialisch-Familiären hin zu einer kollektiven Mutterschaft, zu kollektiver speziesistischer Verantwortung, zu einem anderen, nicht heteronormativen Begriff von ­kinship, oder? Ich komme ja aus so einer Bauerngegend und -familie und möchte da auch nichts romantisieren, allerdings hat mich einmal beeindruckt, als einer meiner Onkel einen Wald angesetzt hat und meinte, der ist gar nicht für mich, ich hab davon jetzt nichts, nur Scherereien, aber der ist für die Erben von dem Hof, damit die dann Holz schlagen können, und er geht davon aus, dass die ähnlich arbeiten. Wie gesagt, Landwirtschaft, ein sehr komplexes, schwieriges Thema, das ich nicht romantisieren möchte, aber diesen Gedanken finde ich irgendwie immer wieder interessant. Also natürlich auch da nicht innerhalb des individuellen Begriffs von Erbe, sondern kollektiv gedacht, was würde passieren, wenn man die Charta der Menschenrechte z. B. um die Zukunft und zukünftige Generationen und so erweitert, wenn man nicht nur die Lebenden in die Pflicht nimmt für die Gegenwart, sondern eben auch für die Zukunft oder eine auf die Zukunft hin gewandte Ethik entwickelt. Ich tue mir mit dem Begriff nachhaltig schwer, weil dem immer noch so etwas Objektifiziertes

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Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck

anhaftet oder darin immer noch der Rohstoff gedacht wird, den man dann halt langsamer abbaut, und weil vor allen Dingen nicht nur eben der Rohstoffabbau nachhaltig gestaltet werden soll, sondern eben das Zusammenleben als solches, right? Also das meine ich mit auf die Zukunft hin gewandte Ethik, und da lande ich dann irgendwie immer wieder, zwischen Zeit, die wir teilen auf Bühnen und in Räumen, und Zeit, die wir eben geteilt haben werden, also in der Zukunft einmal, oder eben Zeit, die wir hier beim Lesen von kurzen Notaten teilen und überlegen, wie wir darauf antworten, ob wir dem zustimmen, ob wir was hinzufügen wollen. Ich schicke auf jeden Fall liebe Grüße über den Ozean! Herzlich, Thomas

Lieber Thomas, ich finde es schön, dass Du darauf hinweist, dass wir ja auch gerade Zeit teilen, während wir uns hier so Gedanken machen und aufeinander antworten. Das ist für mich eine ziemlich neue Situation. Ich habe bisher in der Regel die Texte toter kanonischer Autoren gelesen und mir dabei sehr viel Interpretationsfreiheit genommen. Das passte mir sehr gut, weil ich diese Texte stark gegen den Strich lese – also gegen die herrschende Interpretation. Bei zeitgenössischen Autoren funktio­­niert diese fast rebellische Geste nicht, da sich noch keine Interpretation etabliert hat. Was mache ich also mit einem Text, der noch nicht von konservativen oder banalen (Fehl-) Interpreta­ tionen verstellt ist? Nochmal ein anderes ist, dann auch noch mit dem/der Autor*­in ins Gespräch zu treten. Ich finde das eine tolle Sache, aber worum soll es dabei eigentlich gehen? Die Idee vom Tod des Autors ist mir sehr wichtig für meine literaturwissenschaftliche Arbeit. Will heißen, es geht mir nicht darum, meine Interpretationen von Dir bestätigt oder korrigiert zu sehen. Es mag für Dich vielleicht manchmal komisch sein, wenn ich etwas anders lese, als Du es »gemeint« hast, aber das ist ohne Belang für meine Arbeit. Für die Literaturwissenschaft, die ich hier vertrete, geht es mit diesem Projekt um ein gemeinsames Weiterdenken an Fragen unserer Zeit, die Deine Texte aufbringen oder auf die mich Deine Texte bringen. Wenn es also meiner ­bisherigen Arbeit daran gelegen war, auf manchmal als anachronistisch eingestufte Weise Problemen unserer Zeit mit Ideen von vor zweihundert Jahren zu begegnen oder auch die Genealogien dieser

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Ein Mailverkehr

Probleme aufzudecken, dann hoffe ich jetzt, auch Ideenimpulse geben zu können – beim Mitteilen der Auseinandersetzung mit der geteilten Zeit. Damit kehrt aber auch die oben genannte methodologische Frage zurück: Wie lese ich einen Text, der sich mit der Zeit, in der auch ich lebe, auseinandersetzt? – Diese Zeit, diese Gegenwart sind natürlich viele und nicht homogen. Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, oben ein Thema hinzuzufügen: »Sprachliche und dramaturgische Strategien der Verunsicherung von Identitätsdenken«. Ein Beispiel wären die Generationen, deren Reihe schon alleine durch das Personenverzeichnis von atlas verundeutlicht wird. Damit figurierst Du Identität neu und öffnest sie auf die Zukunft – aber so, dass das Echo (oder die Geister, würdest Du wahrscheinlich sagen) der nächsten Generation (jetzt von Ereignissen, die den Lauf der Zeit unterbrechen: ein Virus nach dem Vulkan) in der vorherigen zu finden ist. Das ist jetzt vielleicht etwas elliptisch. Aber wir haben ja noch Zeit und Seiten vor uns. PS: Dein Beispiel aus der Land- und Forstwirtschaft ist mir übrigens ganz vertraut. Meine Frau promoviert im Fach ökologische Landwirtschaft und wir leben diesen Sommer auf dem Biohof ihrer Eltern, wo es in den nächsten zwei Jahren darum gehen wird, ob die gepachteten Flächen an den mit Chemie arbeitenden (»konventionell« ist eine politisch motivierte Fehlbezeichnung) Besitzer übergehen werden oder ob der derzeitige Kulturland-Artenschutz weiterbetrieben wird.

Liebe Katrin, pardon die sehr späte Antwort, das ist so gar nicht meine Art, aber durch diese Corona-Verschiebungen waren die letzten Wochen ein einziges Chaos aus neuen Terminfindungen, Projektverschiebungen, Umstellungen, Zooms usw. und bei mir blieb einiges liegen. Ja, meine Rolle oder so. Ich reagiere ja fast allergisch, wenn ich auf Proben z. B. darüber sprechen soll oder erzählen soll, worum es da jetzt geht. Oder auch in Publikumsgesprächen oder so. Weil ich meine Aufgabe als Autor tatsächlich im Prozess des Schreibens oder der ­Kreation sehe, aber nicht erklären möchte, worum es da geht. Das ist tatsächlich keine Rolle, die mich interessiert. Ich sehe Texte dahingehend auch immer als Einladung und Angebot, weniger als Aussage. Ich, in der Funktion als Autor, kann natürlich sagen, ja, also das hab

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Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck

ich an einem Vormittag geschrieben, und da stand Kaffee vor mir am Tisch und ich hab über einen Witz nachgedacht, den mir eine Freundin erzählt hat. Aber ich verstehe den Mehrwert dahinter nicht. Weil ja keiner weiß, ob ich mir das in dem Moment nicht auch wieder ausgedacht habe. Und selbst wenn ichs mir nicht ausgedacht hätte, weiß niemand, ob das nicht schon ein Fantasiebild ist, also was heißt Tisch (Küchentisch/Schreibtisch), Kaffee (Cappuccino/schwarz/French Press/Espresso, Freundin/gute Freundin usw.). Ich finde das auch obszön der Kunst bzw. den Texten gegenüber. Also mein Ziel wäre immer, die Texte mit so viel Eigenständigkeit auszustatten, dass sie auch ohne mich laufen können. Und das bedeutet stellenweise so zu verdichten, dass auch ich nicht mehr weiß, was das hier genau meint und soll. Also den Texten Autonomie verleihen. Und das ist wie mit KI, denke ich manchmal. Es braucht dieses Uncanny Valley in den Texten. Also diesen Punkt, wo die Texte seltsam selbstständig und lebendig werden – und zwar völlig ohne mein Zutun und auch gegen mich, wo die sich eben öffnen und zur Auseinandersetzung und Beschäftigung einladen. Das kann natürlich auch alles schnell eitel und so klingen, aber ich meine das schon ernst, ich weiß selbst oft gar nicht so genau, wie ich etwas gemeint habe, oder halt dieses Ich, das für eine bestimmte Zeit eine sehr innige und intime Beziehung mit so einem Text und einer Sprache eingeht und darin das vorgefundene Material verdichtet und schließlich wieder daraus verschwindet. Autonomie wäre vielleicht noch eine Kategorie, um über Kunstwerke oder Texte zu sprechen. Es ist zumindest eine Kategorie, die mich sehr interessiert. Den Texten die Autonomie mitzugeben, dass sie sich alleine auf den Bühnen rumschlagen können. Das beschäftigt mich von Anfang an: wie eine Sprache entwickeln, eine Form, die sich in diesem doch sehr schnellen und unübersichtlichem Betrieb bewähren kann, die ich abgeben kann und loslassen, ohne das Gefühl zu haben, ich müsste immer noch etwas dazu sagen oder so. Gleichzeitig ist Autonomie z. B. von Figuren etwas, womit man gut arbeiten kann, was eine Verdichtung ermöglicht. Eine Drehbuchautorin meinte mal, interessante Figuren entstehen z. B. dadurch, dass man die Figuren in Situationen steckt, in denen man selbst auch nicht mehr weiß, wie man da wieder rauskommt. Und ich mag die Idee. Ein verdichtetes Bild bzw. eine Situation, die ich als Autor nicht mehr kontrolliere, und dann muss ich eben selbst auch mit der Figur da wieder rausfinden. Benjamin hat mal über Kafka gesagt (damit ich hier auch mal auf die Klassiker zurückkomme), sobald er, Kafka, sich sicher war, dass er

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Ein Mailverkehr

scheitern würde, funktionierte alles für ihn perfekt, wie in einem Traum. Und ich glaube, vielleicht ist es diese Verdichtung der Verhältnisse am Ende, egal ob Vulkan oder Virus, ob Käfer oder Schloss, in der deutlich wird, wie diese Welt gestrickt ist, was sie zusammenhält und wie fragil die am Ende ist. Und vielleicht ist das nämlich auch irgendwie ein Punkt, den ich interessant finde, weil Du oben die Frage nach der Zeit gestellt hast und wie man sich mit Texten beschäftigt, die sozusagen noch nicht im Rückblick sortierbar sind oder kanonisiert sind, vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, was ich die Blocksatz-Monokultur nenne. Wenn wir von Texten sprechen, meinen wir meistens Texte, die von links nach rechts im Blocksatz angeordnet sind und auf diesem Weg Sinn schaffen. Ein Gedanke endet mit dem Ende eines Absatzes, ein neuer hebt an, etc. Und ich hab mal in einem Essay gesagt, dass der Blocksatz in der Literatur das Äquivalent zur Milchkuh in der zeitgenössischen monokulturellen Landwirtschaft ist. Weil vielleicht ist es eben nicht so, wie der Neoliberalismus sich ständig bemüht zu erklären, dass man selbst nicht erfolgreich genug ist oder nicht die nötige Leistung erbringt. Vielleicht ist man nicht selbst das Problem, sondern das System, in dem man steckt. Und dann muss man eben an der Form arbeiten, die das System einem vermeintlich vorgibt, und siehe da, man kann sich ein Stück weit befreien und zu einer Autonomie finden & deshalb finde ich eben auch diese dialogische Form sehr befreiend und angenehm, weil ich Fragen und Überlegungen in diesen Raum hier stelle und mich über die Reaktionen freuen kann, aber auch, weil ich lerne durch dieses Gespräch. Ich finde diese Frage mit der Zeit nach wie vor interessant. Auch wenn ich so überlege, wie ich mit Zeit arbeite, also mit historischer Zeit, weil es mir ja dann eher wichtig ist, die Gegenwart ein Stück weit vielleicht sichtbar zu bekommen, mal mit Hilfe der Historie, mal ohne, und aber auch so bestimmte existierende Problemfelder weiterzudenken und einen Ausblick zu formulieren, was passieren wird, wenn z. B. dieses System jetzt so weitermacht. Und da die Kunst spekulieren kann und darf, kann ich natürlich diese Prognosen anstellen bzw. damit arbeiten. Die Wissenschaft wiederum muss sich da wohl eher archäologisch bewegen, also eine Prognose über die Zukunft wäre ja reine Spekulation, und eben auch die Frage, wie greift man Texte an z. B., die noch so frisch sind, dass sie u. U. keine belastbare historische Spur hinterlassen haben. Es beginnt jetzt erst die historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der ersten 25/30 Jahre Neoliberalismus, was das wirklich mit Gesellschaft, Umwelt etc. angestellt

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Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck

hat, weil der historische Zeitraum jetzt auch sinnvoll zu erforschen ist, also man braucht ja belastbare Zeiträume und so. Gleichzeitig konnte man ja bereits vorher empirisch die Folgen von Ausbeutung und Deregulierung ausbuchstabieren. Aber vielleicht ist das dann eher schon wieder Politik. Bis hierher?

Lieber Thomas, na, da bin ich aber froh, dass Du auch gar keine Lust hast, Deine Texte zu erklären oder anderer Leute Interpretationen Deiner Texte zu beurteilen. Das habe ich mir natürlich eh schon ein bisschen gedacht – aber es war jetzt gut, das nochmal auf beiden Seiten zu artikulieren. Ok, also Autonomie. Autonomie der Texte, der Figuren und Autonomie gegenüber neoliberalen Normvorstellungen (hierzu auch Melanie de Biasio, Blackened Cities – danke für das Lied!). Ja, das machtergibt Sinn. Und das hat mich eben auch von Anfang an gereizt an Deinen Texten oder für sie eingenommen: ihre Komplexität, ihr Eigensinn und die Art und Weise, wie sie Denk- und Sprachmuster registrieren und sich dabei über sie hinwegsetzen. Dennoch frage ich: Wie fühlt sich das für Dich an (welches Du hier gemeint sein mag, kannst Du Dir aussuchen), wenn sich Deine Texte alleine rumschlagen müssen? Aufführungen sind ja auch immer Vereinfachungen, Entscheidungen, vereinfachende Entscheidungen. Und dann gibt es da Paratexte (Programmhefte, Ankündigungen etc.), die die Vielschichtigkeit Deiner Texte notwendig noch stärker reduzieren und ihre Offenheit begrenzen. Man kann die Handlung von atlas nicht wiedergeben, ohne die Familien- und Generationenverhältnisse zu vereindeutigen und damit das Identitätsdenken, das Dein Text so produktiv verunsichert, zu bedienen und wieder in Kraft zu setzen. Meistens wird die Geschichte der Familie dann auch linear erzählt und nicht von der (vor Ende verschwundenen) Mitte aus, nämlich der Vertragsarbeiterin. Stört Dich das eigentlich? Ich kann mir auch gut vorstellen, dass nicht – dass Du dann einfach schon woanders bist. An mir, die ich gerade bei Deinem Text bin, reibt das allerdings schon. Und dieses Reiben weist darauf hin, dass Lesen – Dramentexte Lesen – einen spezifischen Wert hat, neben der Erfahrung im Theater. Es erlaubt, eine andere Art von Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Jetzt habe ich eine Passage in Deiner Poetikvorlesung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg gefunden, die zu mir spricht. Du sagst dort von Deinen Arbeiten: »das sind texte für

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s­ pielerinnen / spielerinnen in allen bereichen / […] / texte für menschen die damit arbeiten wollen / weiterarbeiten / weil niemand hat für alles eine lösung« (ghostmatters 113). Spielend weiterarbeiten. Das geht auch in der Literaturwissenschaft, denke ich. Von hier aus vielleicht zu Full Surrogacy Now: Feminism against Family von Sophie Lewis und insbesondere dem letzten, ausblickenden und spielerisch ernsten Kapitel: »Amniotechnics«. Lewis dekon­ struiert die kategoriale Unterscheidung von Leihmutterschaft und Mutterschaft. Für sie ist Leihmutterschaft nicht der Sonderfall, sondern die Regel: alle Mutterschaft ist in gewissem Sinne Leihmutterschaft (ökonomisch relevant, aber ohne Besitzanspruch, Mutter und Kind physisch verwoben und doch jede austauschbar). Eine gesellschaftliche Anerkennung dieser Priorisierung von Leihmutterschaft würde unsere sozialen Verhältnisse grundsätzlich neu definieren. Gleichzeitig entgrenzt Lewis den Begriff Leih/mutterschaft dahingehend, dass jedes Tragen, Austragen, Versorgen und Beschützen sowie das Fehlschlagen dieser Bemühungen oder die Fehlgeburt potentiell darunterfallen kann: »By surrogates I mean all those comradely ­gestators, midwives, and other sundry interveners in the more slippery moments of social reproduction: repairing boats; swimming across borders; block­ading lakethreatening pipelines; carrying; miscarrying« (Lewis 164). Ihre Beispiele haben viel damit zu tun, dass Schwangerschaft eine sehr flüssige Angelegenheit ist. »To my knowledge, all humans in history have been manufactured underwater, in amniotic fluid« (Lewis 160). Über die Sentenz der Lakota »Mní Wičóni (Wasser ist Leben)«, die 2016 zum Schlagwort einer indigenen ökologischen politischen Bewegung wurde, und dem ökorevolutionären Hydrofeminismus von Astrida Neimanis (Bodies of Water, Bloomsbury 2017) entwickelt Lewis die Idee der Amniotechnik als »the art of holding«, genauer »the art of holding and caring even while being ripped into, at the same time as being held« (die Kunst des Tragens und Umsorgens, selbst wenn man attackiert wird und gleichzeitig selbst getragen wird, 163). Konkret heißt das für sie »protecting water and protecting people from water« (163), wobei sie immer auch die diesem Tragen und Getragenwerden, diesem Lebenschenken und -nehmen innewoh­ nende Gewalt im Blick hat. Hier sehe ich viele Anschlussmöglichkeiten zu atlas. – Der Ozean, der trägt und damit die Flucht ermöglicht, der aber auch zur Todesgefahr wird. Die Mutter, die hält (im Blick und bei den Händen) und doch das Kind verliert und ausgetauscht wird (die Tochter wird gerettet und wächst bei Adoptiveltern auf). 57


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Die Eltern, die Existenz beschützen, indem sie sie verhindern – oder verheimlichen, das heißt, als nicht-existent behandeln (Vertragsarbeiterinnen aus sozialistischen Bruderstaaten in der DDR durften nicht schwanger werden; wenn sie es doch wurden, wurden sie aus der DDR ausgewiesen; Deine Protagonistin schafft es gemeinsam mit ihrem Mann, ihr Kind unbemerkt durch die Wende zu bringen). Unbemerkt: ohne Geschichte, ohne Erzählung, ohne Ankunft, aber gerade darum vielleicht mit Zukunft: »weil wir hier gar nicht vorkommen in dieser posttraumatischen erzählung dieser / liebesgeschichte einer nation die / jetzt endlich wieder bei sich ankommen möchte wir / verkaufen zigaretten und / ­fälschen deinen geburtstag löschen dir / drei jahre löschen deinen / namen löschen deine geschichte löschen / deine vergangenheit löschen diese zeit damit du / eine zukunft hast« (atlas 64). Löschen … löschen … löschen … löschen … löschen … Dein Schreiben erzählt von dem, was und denen, die nicht vorkommen durften oder buchstäblich nicht auftauchen sollten. Es lässt (wieder) aufleben. Es nutzt das Potential zur Verschiebung von Bedeutung – das unserm Sprachgebrauch innewohnt und das in den Sprechchören von 1989 bis 2014 und darüber hinaus auf den Straßen von Leipzig bis Dresden sein Unwesen von »Volk« zu »wir« und von »das« zu »ein« getrieben hat –, um ein »wir« jenseits sozialistischer Hoffnungen und nationalistischer Verengung in einen anderen Chor zu verlegen. Jetzt geht es nur darum, auch das »damit du eine zukunft hast« zu verschieben: es nicht neoliberal, die Eltern über die Kinder in die Pflicht nehmend zu verstehen, sondern von einer anderen Generation her, vielleicht eher im Sinne von Fridays for Future. Nicht nur die Mutter wird ausgetauscht, auch die Tochter. Die Mutter versucht ihr Kind zu halten. Dies gelingt nicht. Sie versucht es vor dem Ertrinken zu bewahren. Die Tochter ertrinkt nicht. Nicht die eigene Tochter behält die Mutter im Blick, sondern all diese Kinder, all diese Menschen, all diese Hände fasst sie: »sieh her / habe ich gesagt sieh hier her als / die ersten koffer über bord als / die ersten schreie verstummten … / und du hast zu mir gesehen als / das boot sich zur seite und du über bord und / ich hörte nicht die schreie ich / sprang hinterher ich hörte nicht die sirenen / ich tauchte hinter dir nach ich / griff nach deiner hand aber da waren so viele / hände und hielt den atem an tiefer wenns sein muss / tiefer bis an den grund wenns sein muss / bis an den grund und griff nach all diesen händen« (atlas 68). Dies ist eine der eindrücklichsten Passagen dieses Stücks: extrem dramatisch und zutiefst persönlich (in dem Sinne, dass sie einen persönlich angreift).

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Und doch öffnet sich hier gerade das persönliche Drama zu einer Austauschbarkeit, in der ich Potential zu besserem Leben sehe. Freilich liegen Austauschbarkeit und Wiederholung nah beieinander: die Toten im Mittelmeer heute, die Toten im Pazifischen Ozean gestern. Das ist kein Leben. Aber in Anlehnung an Lewis mögen wir hier neben der Leihmutterschaft der Leihtochterschaft begegnen. Die Mutter verliert die eigene Tochter und greift – und das heißt vielleicht auch hält, trägt, kümmert sich um »all diese«. Dies finde ich, in gewissem Sinne, eine schöne Idee von Mutterschaft. Ich denke, wir brauchen Modelle, die uns wegführen von der Ausschließlichkeit und dem damit verbundenen Ausschließen. Insbesondere brauchen wir Mütter Modelle, die uns wegführen von der (psychischen) Ausschließlichkeit und dem damit auch schnell einhergehenden (sozialen und politischen) Ausschließen.

Liebe Katrin, pardon die späte Antwort, es war ein sehr unruhiges Jahr. Ich bin auch immer ganz überwältigt von Deinen Analysen, weil sie so nah rangehen, und das freut mich, weil der Text nochmal so für sich überdehnt wird, und das ist etwas, was mich ungemein freut, weil tatsächlich in der Theaterpraxis das selten der Fall ist. Das hat viele Gründe. Ökonomische Zwänge, immer mehr in immer weniger Zeit zu produzieren, was natürlich dazu führt, dass die Auseinandersetzung mit dem Text stockt. Man kommt dadurch auch nicht auf ein neues Nachdenken, wie man mit den Texten arbeiten könnte, wie man sie womit verknüpfen und verdichten könnte. Man sagt zwar immer noch, die Regie fügt dann was hinzu usw., aber das hat bloß die tautologische Qualität der Behauptung, dass auch der Raum dem Text noch etwas hinzufügt. Jedes Lesen erneuert den Text und fügt ihm etwas hinzu. Jedes Ausdrucken oder Versenden, könnte man zugespitzt sagen, fügt dem Text etwas hinzu. Und ich habe aus dieser Erfahrung heraus an mir beobachtet, dass ich tatsächlich, schon aus bloßem Selbstschutz, immer schon wieder woanders sein muss. Schon alleine, weil man sich nicht darauf verlassen kann, dass ein Text dann eben mal für einige Zeit in der Welt ist und man sich damit auseinandersetzt und ihn eben nachspielt auf verschiedene Arten. Das tut auch dem Text nicht gut, weil man nichts unbedingt lernt, und es tut dem Schreiben auch nicht zwingend gut, weil man nicht an die Erfahrung im Austausch mit der Inszenierung anknüpfen kann. Und ich behaupte, es tut auch der Regie nicht gut,

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weil die nichts mehr erfährt, sondern von Projekt zu Projekt springt. Man kann das natürlich hochhalten und es als eine Art programmatische anti-essentialistische künstlerische Praxis begreifen, also lieber immer in Bewegung sein usw., ich glaube allerdings, dass das nicht das dahinterstehende, durchdachte, künstlerische Konzept ist, sondern bloß eine auf Effizienz hin ausgerichtete Art, im Betrieb zu überleben, und wenn das erstmal zur bloßen Betriebsnummer wird, wird es nichts anderes als eben das, eine bloße, auf Sicherheit abgestimmte Betriebsnummer. Aber das soll gar nicht bitter klingen. Ich mag ja das Theater. Also den Raum. Und dafür schreibe ich die Texte und vertraue auch, dass sie es schaffen, sich alleine rumzuschlagen. Das klingt schon alles sehr nach einer bestimmten Form von Mutterschaft, merke ich, aber es ist ja auch ein bisschen so. Die Volte hin zur Leihmutterschaft liegt sowieso nahe, weil man Texte ja aus der Hand geben muss, weil ich die auch für andere anfertige, wobei es den Texten ja auch eingeschrieben ist, dass sie eben ohne mich gelesen werden müssen und auch werden. Und eigentlich ist ja auch die Idee des Theaters die der Leihmutterschaft, also so Häuser sind ja eigentlich kein privates Eigentum, sondern sie werden jemandem übergeben und immer weitergegeben, sie gehören der Öffentlichkeit und der Allgemeinheit und sie produzieren ja auch nichts, das in 50 Jahren noch als (familiäres) Produkt verkauft werden soll, wie zum Beispiel die Walt Disney ­Corporation, die alle Produkte schützen lässt, um am Verkauf der Produkte eben zu verdienen. Ich sitze gerade am Wasser tatsächlich. Am Meer. Und die Verknüpfung von Leihmutterschaft mit dem Ozean bzw. dem Wasser beschäftigt mich. Mich interessiert ja auch die Frage von Erbschaft. Der Strand, an dem ich sitze, wird verschwunden sein in diesem Jahrhundert. Bekannte von mir haben hier eine kleine Wohnung, und wenn das Meer lediglich einen Meter steigt, was in diesem Jahrhundert definitiv passieren wird, werden dieser Strand und die dahinterliegenden Häuser untergehen. Zumindest laut einem Meeresspiegelsimulator. Diese Idee der Leihmutterschaft, als anderes Grundsatzprinzip, das nicht mehr das Eigentum und die heteronormative Familie ins Zentrum rückt, hätte natürlich die Kraft, auch die Zukunft der Spezies in den Blick zu bekommen. Was jetzt aktuell unmöglich erscheint. Weil die Verantwortung »globalisiert« gedacht werden muss dann. Weil eben nicht die heteronormative Kernfamilie ins Zentrum gerückt wird, die aus bestimmten Eigentumsverhältnissen heraus gedacht wird und diese auch fortschreibt. Weil man sich eben gar

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nicht vorstellen kann, dass es andere Besitzformen als die des Eigentums gibt. Was auch immer »Besitzform« meint. Aber Besitz ist im klassischen Sinne immer retrograd gedacht: Woher komme ich, was hat mir meine Familie mitgegeben, wer bin ich durch meine Familie und welche Werte usw. muss ich »bewahren«. Ich frage mich immer, ob man das nicht nach vorne denken kann. Radikal: Für wen möchte ich was hinterlassen? Aus dem Wissen heraus, dass ich gewesen sein werde. Vielleicht würde Leben zu schenken dann auch im Sinne von Leihmutterschaft bedeuten, das Leben als Gabe zu begreifen, also im Sinne Derridas als radikale Gabe, ohne eine Gegengabe zu erwarten. If you love something, give it away, denke ich mir immer, man kann nichts erzwingen, aber die Idee von Besitz, von Vaterland, Muttersprache usw. nimmt so viel Raum in dieser Sprache und Gesellschaft ein, dass es fast naiv erscheint, immer die radikale Zukunft, den Anderen im Blick zu haben, die noch Kommenden, nicht die, von denen man kommt. Aber ich weiß ja auch nicht, wahrscheinlich sind das auch einfach Fragen von privilegierten Menschen für privilegierte Menschen. Vielleicht ist ja das auch schon ein Problem. Dass wir Zeit haben, diesen Fragen nachzugehen. Ich weiß auch nicht. Wenn man in dieser ökonomischen Ordnung nur ums Überleben kämpft, mit drei bis fünf Jobs gleichzeitig, dann bekommt die Frage von Erbe und Hinterlassenschaft eine ganz andere Bedeutung. Aber genau deshalb muss man ja versuchen eine andere Form von Solidarität wieder denkbar zu bekommen, die eben nicht den Wettbewerb und das individuelle Wachstum als einziges Paradigma voraussetzt. Als ich Atlas geschrieben habe, hat mich interessiert, warum die scheinbar einfachste Form der Solidarität nicht denkbar ist. Und das vor den Augen von drohenden klimatisch bedingten Migrationsströmen in den nächsten Jahrzehnten. Es ist eine völlig naive Frage. Und ich wollte das System bzw. Systeme in den Blick bekommen über sehr individuelle Blicke, über Erinnerungen, über fragmentierte Bilder – nicht über Analysen. Die Tatsache, dass der Spätkapitalismus brutaler und unerbittlicher werden muss, mit schrumpfendem Ressourcenabbau und weniger Möglichkeiten Wachstum zu generieren, liegt ja auf der Hand. Die Tatsache, dass deshalb global betrachtet auch die Solidarität schrumpft, liegt daneben, auf der anderen Hand. Aber ich mag die Frage hochhalten, weiterhin und sehr naiv: Wir sehen ja, was passiert, nur warum tun wir es trotzdem? Warum lassen wir es ­ ­trotzdem zu?

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Ich freue mich auf Deine Ideen dazu und verbleibe mit einem pardon, weil ich hier so mäandere auf dieser kargen Insel. Liebe Grüße, Thomas

Lieber Thomas, das freut mich so, dass Du Dein eigenes Schreiben auch ein bisschen als Leihmutterschaft siehst. Ich finde das eine schöne Alternative zu dieser Vaterschaftstradition, die damit anfängt, dass Platos Sokrates das Schreiben verurteilt, weil es Waisenkinder produziert (Texte, denen der Vater nicht mehr erklärend beistehen kann), die aber mit dem Vatermord aka Tod des Autors auch nicht überwunden ist. Überhaupt finde ich extrem interessant und wichtig, wie Du die Gedanken zur Leihmutterschaft weiterspinnst in Richtung Leben schenken und Geschichten von vorne erzählen, vorbei an individuellem Wachstum, Erbe und Eigentum. Letzteres kann mit Eva von Redecker (Revolution für das Leben, 2020) durchaus als Sorge für die Zukunft gedacht werden. Aber dazu ein andermal oder woanders mehr. Jetzt sollen wir unser Gespräch bald »abgeben«, deswegen mache ich es lieber kurz. Ich wollte aber noch kurz auf etwas zurückkommen, was Du gegen Anfang unseres Austauschs geschrieben hast, nämlich zu einem ästhetisch-politischen Erfordernis, »an der Form [zu] arbeiten, die einem das System vermeintlich vorgibt«, um Freiräume zu schaffen, von denen aus womöglich auch (System-)veränderungen unternommen werden können. Aber vielleicht müssen wir auch nicht immer so groß denken. Im Kleinen tut sich vielleicht viel mehr. Die Idee, dass man mit einem Mal ein zählebiges Problem lösen kann, ist auch problematisch. (An der Form arbeiten, die einem das System vorgibt. Du tust dies beim Schreiben (bzw., wie Du oben ausführst, besteht dieses Tun zum großen Teil auch darin, dass Du erlaubst, dass etwas passiert). Manchmal wird die vorgegebene Form auch radikal unterbrochen, ohne dass ein Hirn darauf hingearbeitet hat: Eyjafjallajökull oder Covid-19 melden sich und machen dem System einen Strich durch die Rechnung: für eine Weile geht gar nichts mehr und wir werden herausgerissen aus der endlosen Taktung und der permanenten Anrufung. Zurzeit sind wir viel damit beschäftigt, diese Unterbrechung – oder vielmehr nachhaltige Verschiebung – für unser individuelles Leben zu minimieren. Aber die interessantere Frage ist doch, ob/ wie wir kollektiv mit diesem Virus eine Allianz eingehen könnten, um diese Veränderung der vom System vermeintlich vorgegebenen Form

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in eine pro-kreative Richtung zu lenken. (Ich denke hier von dem englischen Wort procreation her, das für mich nach vorne oder in die Zukunft weist – im Gegensatz zum Wiederholungszwang von ­reproduction, was für mich auch immer mit der Reproduktion von Normen einhergeht, während Pro-Kreativität sich auf die Seite des (noch) kaum Verständlichen oder kaum Nachvollziehbaren schlägt.) Dies ist mal wieder ein bisschen elliptisch, aber vielleicht magst Du es ausmäandern, bevor wir uns erstmal verabschieden. Ich fands sehr anregend. Vielen Dank!

Liebe Katrin, ich mag doch das Palavern und das Mäandern immer viel mehr, als zu einem Schluss zu kommen. Und jetzt stehe ich hier, im Nachsatz, hinten dran, als Schlusswort oder letzter, unbeantworteter, offen bleibender Brief, der gar nicht anders kann, als als Conclusio gelesen zu werden. Deshalb gegen alle Regeln der Conclusio das eigentlich Abschließende ganz am Anfang: Ich fands auch sehr schön und anregend, diesen Austausch. Das war jetzt, mit Pausen, meine Corona-Begleitung. Ich kann mich nicht genug bedanken über die Genauigkeit der Lektüre und den offenen Zugang zu den Texten. Vielleicht müsste man mehr solcher Orte schaffen, oder solcher Kommunikationsräume, die das Mäandern und Suchen zulassen oder sich dem geradezu verschreiben. Das wäre dann auch eine Form der Procreation. Es geht nicht um Verwertung, sondern ums Gespräch, das kann ins Leere führen oder in die Irre, aber es wird auf jeden Fall fortgesetzt, wie so ein Jam. Ich glaube, diese Räume fehlen nicht nur für so dramatische Texte. Aber das wäre jetzt auch wieder so eine Conclusio, so ein Öffnen dessen, was wir besprochen haben auf einen gesellschaftlichen Mehrwert hin. Vielleicht belässt man es einfach dabei ohne einen Strich darunter, eher als offenen Raum, einen Brief, der explizit mit einer Frage oder mit mehreren offenen Fragen und Ideen endet, damit jemand anders fortsetzen kann oder wir zu einem anderen Zeitpunkt. Eine Unterbrechung. Das ist dieser Austausch ja auch, weil man nicht weiß, an wen genau man sich eigentlich wendet. Am Ende wendet man sich halt an den Text und hört ihm so beim Erzählen zu und verdreht ihn hin und wieder oder schickt ihn woandershin weiter. Und vielleicht ist das schon die Allianz mit dem Virus. Die Allianz mit dem Text. Und das also wäre dann auch ein schöner Abschluss in diesem Text. Aber keine Conclusio. Eher eine Pro-clusio. Ein vorausschauendes Fragen, ein Weiterschreiben. Aber was weiß ich. Ich weiß

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Katrin Pahl im Austausch mit Thomas Köck

es ja auch nicht. Ich freue mich auch auf jeden Fall bald wieder von Dir zu hören! Es grüßt angeregt von der Insel, Thomas Erstveröffentlichung in Lichtungen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, 168, 42. Jg. 2021

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Der große Marsch

Wolfram Lotz

Der große Marsch »Die meisten Theaterleute sind (natürlich gibt es Ausnahmen) Arsch­ gesichter.« Mit dieser Zueignung beginnt der Autor seinen Großen Marsch durch alle erdenklichen Kapitalismuskritik-Klischees und fest­ gefahrenen Sichtweisen, die sich so in den letzten Jahren auf dem ­Theater in Deutschland durchgesetzt haben und zum neuen Maßstab geworden sind. Am Ende gibt er die Sicht frei auf einen neuen, radikalen, anarchistischen, poetischen und auch ratlosen Blick auf die Welt, der alle Erwartungshaltungen an die Kunst und alle Standardisierungen eines politischen Diskurses abschütteln und neues Terrain erobern will. Die Form des Stücks ist eine Revue, kraftvoll und extrem witzig. Durch den Abend führt eine aggressive, politisch korrekt verblödete Schauspielerin. Themen und Gäste sind unter anderem die RAF, Horst Mahler, Josef Ackermann, Arbeitgeberpräsident Hundt, Bakunin, Ham­ let, Prometheus, der Autor selbst mitsamt seiner Mutter, »die Wirklich­ keit« in Form einer Gruppe von Sozialhilfeempfängern, der Wunsch nach Unsterblichkeit und ein wunderschönes, unspektakuläres Gedicht. II. Kommt und esst Die Bühne ist durch einen hüfthohen hölzernen Gartenzaun vom Publi­ kum abgetrennt, allerdings ist die Abtrennung nur symbolisch, das heißt, der Gartenzaun ist lediglich drei Meter lang und erstreckt sich somit – links beginnend – nur über einen kleinen Teil des Bühnenran­ des. In der Mitte der rechten Bühnenhälfte steht das Buffet: ein vier Meter langer Tisch, der von einer weißen Tischdecke bedeckt ist. Der Tisch steht vertikal zum Publikum. Im Zentrum des Buffets steht eine große Platte mit Buletten, die pyramidal aufgehäuft sind. Neben der Bulettenpyramide sind folgende weitere Speisen angeordnet: 1 Korb mit Baguettescheiben 1 Platte mit Mozzarella- und Tomatenscheiben 1 Schälchen mit Senf 1 Schälchen mit Ketchup 1 Schälchen mit einer Ingwersauce oder einer anderen experimentellen Angelegenheit 1 große Schüssel mit Rucolasalat und französischem Dressing, garniert mit vertrockneten Brotwürfeln, Croutons genannt 1 Schälchen mit Labskaus 65


Wolfram Lotz

1 Platte mit Ciabattascheiben, auf denen sich ominöse Sachen als ­Garnierungen befinden 1 Schüssel Nudelsalat mit Schinkenstückchen, Gurkenstückchen und Erbsen 1 Schüssel Nudelsalat ohne Schinkenstückchen, aber mit ­Gurken­stückchen und Erbsen 1 Schüssel Nudelsalat mit Schinkenstückchen und Gürkchen, ohne ­Erbsen 1 Schüssel Nudelsalat mit Schinkenstückchen, Gurkenstückchen, ­Erbsen und Ei 1 Schüssel Nudelsalat ohne Schinken, aber mit Gürkchen und Ei, sowie wenigen Erbsen 1 Platte mit unterschiedlichen Käsesorten, die meisten gelb 1 Platte mit zusammengerollten Wurst- und Schinkenscheiben, die auf der Platte kunstvoll in Form einer Vagina angeordnet sind 1 Platte mit Gemüsebratlingen sowie 1 Stapel Porzellanteller, Besteck und rote Servietten. Der Autor des Stücks – Wolfram Lotz – betritt sodann die Bühne. Er hat ungewaschene Haare, trägt einen Strickpullover, eine verknitterte Bügelfaltenhose und riesige schwarze Schnabelschuhe, die als eine Art Blickfang fungieren. Er stellt sich neben das Buffet zur Buletten­ pyramide, dem Publikum zugewandt. LOTZ Verehrtes Publikum! In diesem – meinem – Stück soll es Darum gehen Dass Liebe möglich Sein kann In einer Gesellschaft Heutzutage Die sich an anderen Werten orientiert Die unklar geworden Sind. Pause. Lotz nimmt zwei Buletten und steckt sie sich in die ­Hosentaschen. Globalisierung! Heutzutage … Kurze Gedankenpause. Immer mehr Dinge Müssen formuliert werden. Es ist Aufgabe der Schriftsteller 66


Der große Marsch

Es muss Aufgabe der Schriftsteller sein Das Zu formulieren. Lotz nimmt weitere Buletten und steckt sie in die Hosentaschen. Fragen, gestellt Von einem neuen Jahrtausend. Lotz seufzt. Dann nimmt er eine weitere Bulette, steckt sie jedoch noch nicht in die Hosentasche. Mit ernsterer Stimme. Vielleicht werden Sie es komisch finden Aber bei allem Klamauk Den man macht, gibt es etwas Das zu tun hat mit Schmerz Und Traurigkeit. Und man macht sich lächerlich Wenn man es sagt … Lotz steckt die Bulette in die Tasche. Aber in dem großen Gefüge Sei es die Gesellschaft oder die Natur Ist der Einzelne, der Mensch, Von der Vernichtung bedroht Immerzu Und wir können von der Gesellschaft reden Oder von der Natur Und es bringt nichts Es spielt sich dort nicht ab Sondern nur im Einzelnen Im Menschen Abends Wenn er für sich ist. Und wenn ich das hier sage Wenn ich das so sage Dann wird man es wahrscheinlich nicht verstehen Und vermutlich werden Sie es sogar lächerlich finden Aber es ist eine Tragödie … SCHAUSPIELERIN von der rechten Seite auf die Bühne stürmend Hau ab, du verschissener Idiot! Lotz nimmt hastig noch zwei Buletten und humpelt – aufgrund der Schnabelschuhe – unbeholfen nach links von der Bühne. Die ­Schauspielerin nimmt den Löffel des Nudelsalat­ bestecks (von dem ohne Schinken, aber mit Gürkchen und Ei, sowie wenigen Erbsen) und droht Lotz damit. Schreiend Du versoffener Affe! Mach, dass du ­davonkommst!

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Zeitgenössisches Theater will der machen und schickt Manuskripte ein, die mit der Schreibmaschine geschrieben sind! Ein Trottel, ein stinkender Trottel! Jetzt kommt das Theater! Der Regisseur, die Schauspieler – das Theater! Dröhnende Musik wird eingespielt, von der rechten Seite kommen zwei Schauspielerinnen auf die Bühne, die Fahnen vor sich hertragen, auf denen das Logo des aufführenden Theaters zu sehen ist. Hinter ihnen fährt der Regisseur auf einem sogenannten Quad ein. Er ist – bis auf einen Lendenschurz − nackt, sein muskulöser Oberkörper ist eingeölt. Ihm folgen die übrigen Schauspieler, die allesamt in schlichten w ­ eißen Outfits auftreten. Der Regisseur fährt am Buffet vorbei in die Mitte der Bühne, wo er mit laufendem Motor hält. Die Schauspieler ­stellen sich am Bühnenhintergrund verteilt auf. DER REGISSEUR Das Theater muss etwas herausholen aus dem Stück! Wir müssen es rausholen! Der Regisseur stellt sich auf seinem Fahrzeug aufrecht hin und ruft: Raus-ho-len! DIE SCHAUSPIELER im Chor Raus-ho-len! Raus-ho-len! Raus-ho-len! Der Regisseur setzt sich wieder, gibt ordentlich Gas und fährt im ­Rückwärtsgang, ohne sich umzudrehen, in einem Satz zurück in die rechte hintere Bühnenecke, wobei er einer Schauspielerin über den Fuß fährt, ohne es zu merken. In der Ecke stellt er den Motor ab und macht es sich auf dem Gefährt bequem. Kurze Pause. SCHAUSPIELERIN in ein Mikrofon Ach so, ja, rausholen. Holen wir Sie nun raus, die Wirklichkeit, meine Damen und Herren, Sozialhilfeempfänger aus dieser – unserer – Stadt! Keine Schauspieler, nein, wirkliche Menschen, Menschen mit einem wirklichen Schicksal! Stille. Eine Gruppe echter Sozialhilfeempfänger betritt von rechts die Bühne. Um noch echter zu wirken, wurden jene Sozialhilfeempfänger, die ordentlich angezogen waren, vor dem Auftritt dazu gebracht, alte Jogginghosen und Strickjacken aus dem Fundus des Theaters anzuzie­ hen. Eine ältere Frau wurde dazu gebracht, eine Bomberjacke und Springerstiefel zu tragen. DER REGISSEUR jubelnd Jawoll! Jawoll! SCHAUSPIELERIN Kommen Sie! Essen Sie! Ihre Armut ist nicht zu ertragen! Sie sind die Opfer der Gesellschaft! Um Sie geht es im Theater – greifen Sie zu! Die Sozialhilfeempfänger werden von den Schauspielern zum Buffet gedrängt. Dort stehen sie verwirrt herum. 68


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Greifen Sie zu, Sie armen Leute! Kurze Pause. ÄLTERE SOZIALHILFEEMPFÄNGERIN IN BOMBERJACKE UND SPRINGERSTIEFELN schüchtern Vielen Dank, gerne, aber wir haben erst gegessen, wir haben uns vorhin was zu essen in der Theaterkantine gekauft. SCHAUSPIELERIN wütend der Sozialhilfeempfängerin zugewandt ins Mikrofon schreiend Du bist ein Nazi! Du bist ein Nazi! Du Nazi! Du missbrauchst die Armut und das Elend der Menschen für deine Zwecke, du verlogener Nazi! DER REGISSEUR Sehr gut, Schauspielerin, sehr gut! Klatscht begeistert in die Hände. Stille. SCHAUSPIELERIN Wie auch immer, jetzt nimmt jeder einen Gemüsebratling, und dann dürft ihr wieder gehen! Die Sozialhilfeempfänger nehmen – nach kurzem Zögern – einer nach dem anderen einen Gemüsebratling, dann gehen sie zur linken Seite hin von der Bühne. Unser Angebot steht, liebe Sozialhilfeempfänger, falls ihr im Lauf des Stücks noch Hunger bekommen solltet, dann könnt ihr jederzeit wieder auf die Bühne kommen und euch etwas nehmen! Das Publikum applaudiert. So, kommen wir zum Nächsten. Kurz Pause. DER REGISSEUR Ja, aber jetzt soll der Fette mal moderieren! Einer der Schauspieler, der, im Gegensatz zu den anderen, sehr fett und hässlich ist, tritt vom Bühnenhintergrund hervor. Die Schauspielerin übergibt ihm das Mikrofon und bleibt neben ihm stehen. DER FETTE SCHAUSPIELER Wir begrüßen nun einen weiteren Armen, und zwar Patrick S., bekannt aus dem Fernsehen, weil er vier Kinder mit seiner Schwester gezeugt hat und dafür im Gefängnis saß, dann vor dem Bundesverfassungs­gericht Beschwerde eingelegt hat, aber – wie das manchmal so ist im Leben – war das nicht erfolgreich, und jetzt war er noch mal im Gefängnis. Wir wollen ihn mal fragen: erst Gefängnis, dann Arbeitssuche – gibt es einen Ausweg aus der Unterschicht? Patrick S., meine Damen und Herren! Kein Applaus. Der echte Patrick S. aus Zwenkau bei Leipzig kommt von der linken Seite auf die Bühne. Der fette Schauspieler zu Patrick S. Wie geht es Ihnen? Patrick S. wirkt irritiert. DER REGISSEUR zornig Der Fette kann das nicht, die Schauspielerin soll das wieder machen! 69


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Die Schauspielerin nimmt dem fetten Schauspieler das Mikrofon weg. SCHAUSPIELERIN Sie waren im Gefängnis, Patrick S., weil Sie mit Ihrer Schwester gefickt haben, und jetzt wollen Sie Arbeit, wie sieht das aus? Regisseur nickt zustimmend im Hintergrund. PATRICK S. Ich will keine Arbeit im Moment, ich will Recht, ich werde Klage einreichen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. SCHAUSPIELERIN Weil die Sozialhilfe nicht ausreicht zum Leben? PATRICK S. Nein. Weil ich im Gefängnis saß dafür, dass ich mit einer Frau, die ich liebe, Kinder habe und dass uns diese Kinder dann auch noch weggenommen wurden vom Staat. SCHAUSPIELERIN Eine Frau, die Sozialhilfeempfängerin ist, die in Armut lebt, einer Frau aus der Unterschicht! Wie ertragen Sie gemeinsam die Armut? PATRICK S. Die Armut? SCHAUSPIELERIN Die Armut und die damit verbundenen mangelnden Bildungschancen! PATRICK S. Aber es geht doch darum, dass ich ins Gefängnis musste, weil die Liebe zwischen mir und meiner Schwester verboten ist aufgrund von völlig überholten Moralvorstellungen, die letztlich durch eugenische Gesichtspunkte begründet werden! SCHAUSPIELERIN Und die mangelnde Bildung? PATRICK S. Welche mangelnde Bildung? Was meinen Sie? SCHAUSPIELERIN Die mangelnden Bildungschancen in der Unterschicht, nicht zuletzt die Ihrer Kinder, die aufgrund Ihres Inzestes behindert sind! PATRICK S. Aber unsere Kinder sind ja gar nicht behindert! SCHAUSPIELERIN Doch. Statistisch sind Ihre Kinder behindert. Die Wahrscheinlichkeit der Behinderung von Kindern, die bei inzestuösem Geschlechtsverkehr entstehen, ist deutlich höher als bei normalen Paaren. Deshalb kann man sagen, dass Ihre Kinder geistig und körperlich behindert sind! PATRICK S. Sind sie aber nicht! SCHAUSPIELERIN seufzt Die mangelnde Bildung! PATRICK S. Aber selbst wenn sie behindert wären, warum sollten sie nicht auch leben dürfen, warum sollten sie weniger Recht auf Leben haben als andere Kinder! SCHAUSPIELERIN Aber die Kinder leben ja behindert, aber die Bildungschancen, sie fehlen ja in der Unterschicht, der sie angehören, und was haben die Kinder da für Chancen! PATRICK S. Unsere Kinder sind nicht behindert! 70


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SCHAUSPIELERIN Doch! PATRICK S. seufzt Und selbst wenn: Wer sagt, dass das Leben von Behinderten weniger freudvoll und sinnvoll ist als das Leben von Nichtbehinderten! SCHAUSPIELERIN Sie machen es sich ja einfach! Die Kinder sind ja nicht nur behindert, sondern sie werden ja auch in der Unterschicht und in fragwürdigen sozialen Milieus groß. PATRICK S. Aber ich saß im Gefängnis dafür, dass ich mit einer Frau, die ich liebe und die mich liebt, Kinder gezeugt habe, was nicht erlaubt ist, weil aus eugenischen Gründen untersagt ist, seine Schwester oder seinen Bruder zu lieben! SCHAUSPIELERIN Was beklagen Sie sich! Sie hätten es ja auch in den Po machen können, dann hätten Sie nicht ins Gefängnis gemusst! PATRICK S. Aber es geht doch ums Recht, es geht doch darum, dass ich der Meinung bin, dass man zwei Menschen nicht verbieten kann, sich zu lieben, nur weil die Wahrscheinlichkeit bei ihnen höher ist, dass ihre Kinder mit Behinderungen auf die Welt kommen! Das heißt doch, dass das Leben dieser Kinder weniger lebenswert sein soll! Und dann nimmt man uns die Kinder auch noch weg, unsere Kinder! SCHAUSPIELERIN Aber wenn die Kinder bei Ihnen geblieben wären, wären sie ja in der Unterschicht aufgewachsen und hätten nicht die gleichen Chancen gehabt wie die Kinder von Akademikern! PATRICK S. Aber wir hätten doch unser Bestes getan, um Ihnen diese Chancen zu bieten, soweit uns das als Eltern möglich ist! SCHAUSPIELERIN Hah, soweit Ihnen das als Eltern möglich ist! Was ist Ihnen denn als Eltern möglich, wenn Sie ständig wegen Inzest im Gefängnis sitzen! PATRICK S. Aber ich bin ja der Meinung, dass es nicht rechtens ist, dass ich deswegen im Gefängnis saß, weil ich der Meinung bin, dass diese Rechtsauffassung … SCHAUSPIELERIN Sie klagen hier auf der einen Seite den Staat an, weil er Sie verurteilt, andererseits lassen Sie sich von ihm Ihren Gefängnisaufenthalt bezahlen! Merken Sie nicht, was für einen Unsinn Sie hier einfordern! PATRICK S. wütend Nein, das merke ich nicht. Ich will, dass wir unsere Kinder zurückbekommen! Es sind unsere Kinder! SCHAUSPIELERIN Jaja, es ist auch Ihre Unterschicht, Ihre Behinderungen! Aber wir interessieren uns dafür! PATRICK S. zornig Wie auch immer! Es ist nicht rechtens, uns dafür zu verurteilen, und ich … SCHAUSPIELERIN zornig Schreien Sie mich nicht so an! Wir sind

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hier nicht in der Unterschicht, wir sind hier im ­Theater! PATRICK S. ruhiger Entschuldigen Sie, ich wollte nicht schreien, aber es geht hier um meine Kinder! SCHAUSPIELERIN Nun gut. Auch ich will mich bei Ihnen entschuldigen! Ich weiß ja, dass Sie zur Unterschicht gehören, mangelnde Bildung haben und dass Sie bedürftig sind – deshalb bieten wir Ihnen an, sich auch etwas vom Buffet zu nehmen! PATRICK S. Aber ich bin nicht hier, um von Ihrem Buffet zu essen und mir einen ausgeben zu lassen, sondern es geht doch um das Recht! SCHAUSPIELERIN Aber im Gefängnis saßen Sie doch auch auf Kosten der Gesellschaft, da haben Sie doch auch ohne Hemmungen auf Kosten anderer gegessen, und hier – nur weil Leute zusehen – tun Sie nun so, als würden Sie das nicht wollen! PATRICK S. Weil ich nicht hergekommen bin, um zu essen, sondern um mein Recht einzufordern! SCHAUSPIELERIN Ach, und deshalb sind Sie wohl auch ins Gefängnis gegangen, um dort Ihr Recht einzufordern! PATRICK S. Nein, ich wurde verurteilt! SCHAUSPIELERIN Verurteilt! Wozu denn verurteilt! Als hätten Sie und Ihre Kinder in der Unterschicht irgendwelche Bildungschancen! In staatlicher Betreuung im Gefängnis haben Sie und Ihre Kinder vermutlich weit bessere Chancen! Und dann beklagen Sie sich! PATRICK S. Ja, ich beklage mich allerdings! SCHAUSPIELERIN Jetzt reicht es aber! Wir laden hier Leute aus der Unterschicht ein, geben Ihnen die Möglichkeit, Ihre Meinung zu sagen und von Ihren bitteren sozialen Realitäten zu erzählen, und dann beklagen Sie sich darüber! PATRICK S. Ich beklage mich darüber, dass … SCHAUSPIELERIN So, Schluss jetzt! Es bringt nichts, auf Intoleranz immer nur mit Toleranz zu reagieren, wir müssen Ihnen hier Grenzen aufzeigen, und deshalb würde ich Sie jetzt bitten, die Bühne zu verlassen! Die Schauspieler im Hintergrund applaudieren. Patrick S. geht ­resigniert von der Bühne. Auszug aus: Wolfram Lotz, Der große Marsch © S. Fischer Verlag 2010

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Schreibweisen, die wie Lesen sind Zu den dramatischen Texten von Wolfram Lotz »Das Theater muss etwas herausholen aus dem Stück«, heißt es in Wolfram Lotz’ Der große Marsch.1 Eine politische Botschaft, etwas Aktuelles, Echtes und Relevantes, irgendeinen Inhalt, den man als Theater öffentlich in die Waagschale werfen und als Publikum beruhigt und bereichert mit nach Hause nehmen kann. Dieses Interesse am Herausholen gilt aber nicht nur für das Theater, sondern für jeden Umgang mit Texten. Auch ein literaturwissenschaftlicher Essay wie dieser hier, der sich nicht für die Aufführungen, sondern für Lotz’ dramatische Texte als Texte interessiert, benutzt das Gelesene für die eigene Inszenierung, will etwas aus den Texten herausholen und sagen können: So ist es! So ist es bei Wolfram Lotz! So funktioniert seine Poetik! So ist das bei ihm zum Beispiel mit der Ironie und dem Ernst und dem Realismus! Lotz’ Texte wissen das und rechnen damit. Und sie wissen es deshalb, weil sie sich selbst und andere Texte lesen und dabei Wort für Wort, Satz für Satz ebenfalls einen bestimmten Gebrauch von den Möglichkeiten der Sprache machen, immer wieder etwas herausholen, sich festlegen dabei, eine ›Wirklichkeit‹ behaupten, wenn auch nur kurz. Entscheidend ist, dass sie diese Praxis fortwährend reflektieren und durchkreuzen, indem sie jede Formulierung als Setzung markieren, die stets mit ihrer Entgegensetzung im nächsten Satz rechnen muss. Indem Lotz’ Texte bei jeder sprachlichen Selektion das Bewusstsein für die Möglichkeit anderer sprachlicher Selektionen wecken, verweisen sie auch auf die Unmöglichkeit, etwas aus Texten herauszuholen und als verdinglichtes, verstandenes Etwas in einem fertigen Urteil zu präsentieren. So wenig sich aber irgendein Satz bei Wolfram Lotz mit dem von ihm Gesetzten beruhigen kann, so wenig kann sich auch das Lesen mit dem jeweils Herausgeholten, Herausgelesenen beruhigen. Lesen als Heraus-Lesen ist somit immer zum Scheitern verurteilt. Das Schöne am Lesen ist, dass dieses Scheitern einfach dazugehört. »Immer«, so der österreichische Autor Thomas Stangl, »war ich von Schreibweisen fasziniert, die wie Lesen sind, sich streifen lassen von Sätzen und Eindrücken; ihre eigenen Denkbewegungen in die Welt freisetzen, statt sie ihr aufzudrücken; Schreibweisen, die ihre Quellen preisgeben und der eigenen Rhetorik misstrauen; Schreib-

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weisen, die den Lesern als Gleiche gegenübertreten.«2 Meine These ist, dass sich die dramatischen Texte von Wolfram Lotz durch eine Schreibweise auszeichnen, die wie Lesen ist. Im Sinne Stangls geht diese Schreibweise mit folgenden Bewegungen einher: Sie spielt ers­ tens mit der Position der Schreibinstanz und eigenen Autorschaft; sie bewegt sich zweitens zwischen enzyklopädischer Fülle und Leere; sie ist drittens in ihrer Unruhe chronisch selbstreflexiv; und sie wird ­viertens scheinbar paradoxerweise gerade in ihrem (Un-)Möglichkeitssinn von einem Wirklichkeitssinn angetrieben, der mit den gängigen Formen des heutigen Realismus nicht das Geringste zu tun hat.

1. Der Autor hat Schnupfen Der Ausgangspunkt von Stangls Plädoyer für das Lesen ist ein grundsätzlicher Zweifel am Schreiben und an der immer schon vorausgesetzten Anmaßung jeder Autorschaft: »Die eigene Position ist immer fragwürdig. Jeder Schreibende gleicht ein wenig dem Idioten, der sich in die Brust wirft und seine Sätze mit einem: ›Und das sage ich Ihnen!‹ untermauern will. Der Schreibende will oder muss die Welt in eine Form zwingen, der Lesende lässt sie bestehen, wartet ab, hält die Spannung aus, schliesst nichts ab.« Frei nach Hannah Arendt werden Schreibweisen, die wie Lesen sind, von der Frage an- und umgetrieben, ob es ein Schreiben geben kann, das nicht tyrannisch ist.3 Deshalb neigen solche Schreibweisen zu Metalepsen und spielen mit der eigenen Schreib- und Sprechposition, indem sie zum Beispiel die Grenze zwischen Text und Paratext in Frage stellen oder intradiegetisch Figuren mit dem Namen des Autors auftreten lassen. Der Autor verwandelt sich dabei vom auktorialen Tyrannen in einen Idioten: »Hau ab, du verschissener Idiot«, schreit die Schauspielerin in Der große Marsch eine Figur namens Wolfram Lotz an, die zuvor den Ernst gegen den Klamauk ins Feld geführt, gleichzeitig aber wie ein Clown Buletten in die eigenen Hosentaschen gesteckt hat.4 Auch in dem Monolog Mama wird das Idiotische der Autorfigur Lotz sichtbar, wenn diese »blöd« auf der Bühne »guckt« und sich verzweifelt Trauben in den leicht geöffneten Mund zu stopfen versucht, während »Mutter Lotz« den von ihrem Sohn geschriebenen Monolog durch die Lautsprecher spricht. Sie ist dabei zwar einerseits nur das Sprachrohr des Autor-Monologs, andererseits ist es aber mit der Macht dieses Autors nicht weit her, wenn er sich intern fokalisiert in die Rollen-Perspektive der Mutter begibt, die sich bei allem Stolz

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vor allem Sorgen um ihren stotternden Sohn macht, der sich bislang offensichtlich noch nicht so recht für Mädchen interessiert.5 Im dritten Teil von Der große Marsch mit dem Titel Lotz’ Kritik der reinen Vernunft betritt nicht Wolfram Lotz, sondern die Mutter selbst die Bühne. In der Hand hält sie einen zerknitterten Zettel ihres Sohnes. »Lotz, mein Sohn, der Autor dieses Stücks« habe Schnupfen, so die Mutter, und könne deshalb nicht auftreten. »Er hat mir etwas aufgeschrieben, ich soll das sagen. Sie hält den Zettel hoch. Ich kann es aber nicht lesen, es ist ein furchtbares Gekrakel, und ich kann es einfach nicht lesen, aber er hat gesagt, es sei wichtig, aber es ist einfach eine unmögliche Schrift.«6 Bereits in seiner Rede zum unmöglichen Theater hat Wolfram Lotz das Unmögliche als poetologische Kategorie eingeführt. Das Unmögliche öffnet den Text für die Autonomie der Fiktion, die jedes »So ist es!« mit einem »So ist es nicht!« kontert.7 Der Anarchist Bakunin zum Beispiel ist tot, er ist 1876 in Bern gestorben, so ist es, aber in Der große Marsch steht er plötzlich auf der Bühne und wehrt sich verzweifelt dagegen, für tot erklärt zu werden. Er nimmt sich die Freiheit, nicht 1814 geboren worden zu sein, sondern 1981, im selben Jahr wie der Autor Wolfram Lotz, außerdem ist er nicht 1876 gestorben, sondern 1543, und weil 1543 nicht vorbei ist, lebt er weiter, genau wie seine Mutter: »Ich mache nicht mehr mit bei diesem Vorbeigehen, bei diesem ewigen Vorbeigehen, dieser verfluchten Zeit! […] Ich bin nicht mehr gewillt, mich abschlachten zu lassen von der Physik! […] Ich bleibe hier, am Leben! Ich wurde 2009 an der Côte d’Azur geboren, von meiner geliebten Mutter …«8 Auch die »unmögliche Schrift« in Der große Marsch ermöglicht Autonomie, allerdings nicht die Autonomie der Fiktion mit ihren Setzungen des physikalisch oder logisch Unmöglichen innerhalb der erzählten Welt, sondern die Autonomie der Leser*innen.9 Denn das Unmögliche der Schrift erzeugt einen Spielraum der Freiheit zwischen Unlesbarkeit und potentiell unendlichen Lektüren. Nachdem sich Bakunin gegen Gott und die Zeit und die Physik aufgelehnt und die Schauspielerin sich, offenbar angesteckt von Bakunins Freiheitswunsch, der Erfüllung all der idiotischen Regieanweisungen verweigert hat, bringt Mutter Lotz erneut den Autor und seinen Zettel ins Spiel: Sie glaubt die Schrift nun – am Ende des Stücks, als mögliche finale Auflösung – plötzlich doch noch entziffern zu können. Sie liest: »Alle / sind / Brei.« Daraufhin kontert der Anarchist Bakunin aus Prinzip und meint: »Wahrscheinlich heißt es: Alle sind frei!« Und um Freiheit geht es ja auch tatsächlich in dieser für Lotz’ Poetik so wichtigen

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Leseszene: um die Freiheit der Fiktion ebenso wie um die Freiheit unserer Lektüren, die nur möglich ist, wenn wir differenzierte Zeichen und eben keinen »Brei« auf dem Zettel sehen. Wenn das aber so ist, wenn es um Freiheit und Differenz geht, liefe die eindeutige, vom Autor-Gott autorisierte Botschaft »Alle sind frei!« auf ihr Gegenteil, auf Unfreiheit, hinaus, da sie, wenn man sie wirklich so eindeutig herausholen könnte aus der unmöglichen Schrift, keine anderen Lesarten gestatten würde. Eine andere Figur, Lewis Paine, kann dann entsprechend auch gar nichts so richtig auf dem Zettel erkennen, und wenn überhaupt, dann heiße es nicht »Alle«, sondern »Affe«. Prometheus, der seinem Mythos gemäß natürlich auf der Seite der menschlichen Freiheit steht, bestreitet wiederum genau das aus Prinzip: »Da steht nicht ›Affe‹! Niemals!« Da aber so ein universelles, emphatisches »Niemals!« bei einem kleinen, zerknitterten Zettel von einem abwesenden, verschnupften Autor etwas lächerlich wirkt, zieht er sich doch lieber auf die Unlesbarkeit zurück und hält wenig heroisch fest: »Das kann kein Mensch lesen!« Der Schauspielerin ist es sowieso egal, weil sie ja weder den Regieanweisungen noch irgendwelchen Zetteln eines Theaterautors folgen will. Am Ende verlassen alle ratlos die Bühne, und der zerknitterte Zettel fällt laut Regieanweisung »unbemerkt auf den Boden«.10

2. Paradigma, Asyndeton, Leere Aber was macht Bakunin eigentlich genau, wenn er den auf drei Zeilen verteilten Satz der Mutter »Alle / sind / Brei.« in den Ausruf »Alle sind frei!« verwandelt? Offenbar schaut er sich den Zettel ja gar nicht an, sondern schlägt nur ärgerlich eine in seinem Sinne wahrscheinlichere Lesart vor. Er liest also nicht, sondern schreibt den Satz um, macht aus einem »B« ein »f« und versieht den Satz eigenmächtig mit einem deutlichen Ausrufezeichen. Immerhin aber folgt er der vorgegebenen Struktur des Satzes und übernimmt sowohl Subjekt als auch Prädikat der Lesart von Mutter Lotz: »Alle sind …«. Grammatisch sind die Spielräume für die Umschrift des Anarchisten durch diese syntagmatische Übernahme von Subjekt und Prädikat stark eingeschränkt. Bakunins Freiheit besteht lediglich noch darin, ein alternatives Prädikatsnomen zu suchen. Wie aber sucht man nach sprachlichen Alternativen? Man springt, zeichentheoretisch gesprochen, vom Syntagma ins Paradigma. Und dieses Springen, dieses Suchen auf der paradigmatischen Achse der Sprache ist nichts anderes als ein Akt des Lesens:

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Bakunin liest gewissermaßen die im Paradigma der einsilbigen Wörter auf »-ei« abgelegte Liste und wählt »frei« statt »Brei« oder »Blei« oder »Schrei« aus. Schreibweisen, die wie Lesen sind, bewegen sich nicht zufällig mit großer Lust auf der paradigmatischen Achse der Sprache (und haben eine Vorliebe für Listen). Was Bakunin mit dem kurzen Satz macht, ist charakteristisch für das Verfahren der Lotz’schen Theatertexte insgesamt: Immer wieder unterbrechen sie das metonymische Gleiten auf der syntagmatischen Achse und springen im paradigmatischen Angebot der Ähnlichkeiten und Vergleiche zu überraschenden Alternativen. Das ist einerseits ein Verfahren, das man aus der Lyrik kennt. Es ist andererseits aber auch ein Verfahren, das Texte auszeichnet, die ihr poetisches Kapital aus der Arbeit am Paradigma, also aus intertextuellem Vergleichen und enzyklopädischem Verweisen, schlagen. Das Theaterstück von Wolfram Lotz, das die enzyklopädische Arbeit am Paradigma am sichtbarsten in Szene setzt, ist Einige Nach­ richten an das All. Wie bei einem Roman von Jean Paul zeigt sich das sprachliche Vergleichen und Verweisen in der Verdopplung des Schriftbildes in einen (vermeintlichen) Haupttext und in mitlaufende Fußnotentexte, die vom V. Abschnitt an, mit dem Verschwinden der Kleist-Figur, immer stärker wuchern und als wachsende Buchstabenwüste – »Bleiwüste«, hätte man in der Setzersprache früher gesagt – schon optisch nicht mehr auf die untergeordnete Funktion zu reduzieren sind, die in Fußnote 26 formuliert wird: »EINE FUSSNOTE IST EINE ANMERKUNG, DIE AUS DEM FLIESSTEXT AUSGELAGERT WIRD, UM DEN TEXT FLÜSSIG ZU GESTALTEN, JEDENFALLS IST SIE AUS DEM FLIESSTEXT AUSGELAGERT.«11 Schon die Versalien der Fußnoten markieren eher das flächige Nebeneinander der einzelnen Buchstaben und Wörter als das lineare Nacheinander eines fließenden Textes; wenn dann aber auch noch mehr als die Hälfte der Seite aus einer solchen proliferierenden Bleiwüste besteht, kann von einer kontrollierten Auslagerung im Sinne eines möglichst flüssigen Haupttextes nicht mehr die Rede sein. Was sich dabei zeigt (und als Schriftbild-Erfahrung tatsächlich nur lesen, nicht auf die Bühne bringen lässt), ist der enzyklopädische Anspruch des Lotz’schen Schreibens, ALLES vorkommen zu lassen in einem Text.12 »ALLES KOMMT VOR UND – HUSCH! – IST ES WIEDER VORBEI«, heißt es bezeichnenderweise programmatisch gleich in der ersten Fußnote.13 Etwas emphatischer könnte man auch sagen: Die Lotz’sche Schreibweise reflektiert die (paradigmatischen) Auslagerungen, die beim syntagmatischen Fließen mit seinen automatisch ablau-

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fenden Selektionen heimlich passieren, und versucht all das Ausgelagerte immer wieder in den Text hineinzuholen. Das können zuvor erwähnte Figuren sein wie Tofdau, der Freund des somalischen Piraten Ultimo Michael Pussi in Die lächerliche Finsternis, der sein Recht reklamiert, »hier vorzukommen«14; es sind immer wieder historische, also tote Figuren wie Bakunin oder Kleist, die durch Aktivierung des kulturellen Gedächtnisses – nichts anderes meint ja die Arbeit am Paradigma – zu neuem Leben erweckt werden15; es können aber auch scheinbar banale Alltagsdinge sein, die mit komischen Effekten das allzu große Theater unterbrechen16; und es kann wie gesehen auch die extradiegetische Figur des Autors sein, die dadurch zu einem bloßen Element des vom Text genutzten Thesaurus wird. Wie für jedes eher paradigmatische Schreiben ist auch für Lotz’ Texte zum einen das überraschende, aus dem Syntagma springende Einzelne und zum anderen die Addition des Einzelnen in Gestalt von Listen charakteristisch. Beide Verfahren werden in den Fußnoten von Einige Nachrichten an das All mit großer Lust zelebriert. Wenn eine Fußnote die mit ihr verbundene Erwartung einer ›Vertiefung‹ des Haupttextes, jedenfalls eines irgendwie sinnhaften Zusammenhangs zum Lemma des Haupttextes ins Leere laufen lässt, ist die Fußnote als solche bereits ein Phänomen jenes aus dem Syntagma springenden Einzelnen. Diese Singularität zeigt sich dann aber auch konkret in den unterschiedlichen Verfahren der Fußnoten selbst: in erratischen Kurz-Syntagmen zum Beispiel wie »UNTERSCHIEDLICHE JOGHURTSORTEN«, in Haiku-artigen Beschreibungen wie »SCHNEEFLOCKEN, DIE IN DEN BACH FALLEN« oder im Rückgriff auf die Erzählform der Anekdote, die sich für den kontingenten Einzel- oder Unfall interessiert und nicht zufällig eine der bevorzugten Gattungen Heinrich von Kleists war. Ein Beispiel für die Addition des Einzelnen in Listenform stellt Fußnote 43 dar: Ausgehend von Lums Klage darüber, niemanden mehr zu haben, mit dem man zum Beispiel mal gemeinsam eine Gemüsepfanne kochen kann, zählt die Fußnote auf über einer halben Seite diverse Gemüsesorten auf. Das macht insofern durchaus Sinn, als mit der Fülle der Aufzählung die Leerstelle in Lums Leben nur umso schmerzlicher spürbar wird. Hermeneutisch noch tiefsinniger könnte man auch das Asyndeton der unverbundenen Aufzählung als formale Entsprechung zur menschlichen Vereinzelung deuten. Das Problem wäre nur, dass man dann das formale Phänomen des Asyndetons an einen hermeneutischen Zusammenhang, also an eine Verbin­ dung von Form und Inhalt verraten hätte. Vielleicht sollte man daher erst einmal einfach an der Oberfläche bleiben und sagen: Hier

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berauscht sich ein (Fußnoten-)Text an der durch paradigmatische Äquivalenz ermöglichten Vielfalt der Sprache und damit auch der Welt. Das Nebeneinander der im Paradigma abgespeicherten Zeichen kippt um auf die Achse des Syntagmas und zeigt sich auf der Oberfläche des Textes als Aufzählung. Das hat literarhistorisch seit Flaubert etwas Wahnsinniges oder Idiotisches17, es hat aber auch etwas sehr Beglückendes und Produktives. Denn der Text entführt mich nicht nur von »GARTENSALAT, KOPFSALAT, SCHNITTSALAT, BINDESALAT, SPARGELSALAT, EISBERGSALAT, NUDELSALAT [!]« zu »KORIANDER, SÜSSKARTOFFEL, QUINOA, SCHWEDISCHE RÜBE, WASSERMIMOSE, MANIOK«, sondern er nutzt das Schema auch, um über den Nudelsalat hinausgehende Abweichungen bzw. Registerwechsel einzuschmuggeln: So steht zwischen »SCHWARZER SENF« und »GEMÜSEKOHL« die »ANGST, DASS DIE EIGENEN ELTERN STERBEN KÖNNTEN« und zwischen »BAMBARA-ERDNUSS« und »REISBOHNE«, vielleicht durch die metonymische Brücke des grünen Rasens und die naheliegenden Bilder von vegetarischen Gerichten in einschlägigen Hochglanzzeitschriften motiviert, das aus der Reihe tanzende Lexem »GOLFSPORTZEITSCHRIFTEN«.18 »ALLES« kommt vor oder hätte potentiell Platz in Fußnote 43, »UND – HUSCH! – IST ES WIEDER VORBEI«. Das heißt: Ich als Leser verlasse nach dem »MANIOK« oder vielleicht auch nur nach einem eher schweifenden Blick über die Textfläche den Ort der langen Liste und springe wieder in den Haupttext zurück. Da das bei insgesamt 64 Fußnoten immer wieder passiert, könnte man sagen, dass es nicht nur um das potentielle »ALLES« innerhalb der Fußnoten, sondern auch um die Erfahrung dieses »HUSCH!« geht, das die Erfahrung einer Unterbrechung, eines Zwischen- und Transitraums ist, der Moment des Sprungs von einer Textebene zur anderen, vom vorliegenden Syntagma ins offene Paradigma, aber auch die winzige Unterbrechung, die durch das Komma der unverbundenen Aufzählung markiert wird. Die Lese-Erfahrung, die damit innerhalb einer enzyklopädischen Welt voller Zeichen einhergeht, ist scheinbar paradoxerweise die Erfahrung von Leere. Schreibweisen, die wie Lesen sind, sind daher immer auch Schreibweisen, die Raum für die Leere lassen. Das hat damit zu tun, dass man gar keine Zeichen erkennen, also gar nicht lesen könnte, wenn es nicht zwischen den Zeichen und um sie herum leeren, weißen Raum gäbe. Auch das erfährt man in dieser Form nicht auf der Bühne, sondern kann es nur sehen bzw. lesen, wenn man den dramatischen Text vor sich hat, der sich im Unterschied etwa zu einem gängigen Prosatext schon optisch durch seine unterschiedlich langen Zeilen der

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Figurenrede, also durch sichtbaren Leerraum im rechts flatternden Satzspiegel auszeichnet. »Nur keine Leere aufkommen lassen«, sagt der Leiter des Fortgangs (LdF) in Einige Nachrichten an das All.19 Wie gesagt: Schon optisch kommt die Leere in einem dramatischen Text schon dadurch immer wieder auf, dass die Figurenreden Flattersatz erzeugen, der LdF produziert die Leere so gesehen mit seinen unterschiedlich langen Textzeilen permanent selbst. Erst recht aber entkommt er der Leere nicht, wenn auch er geradezu manisch (im Blocksatz) Listen produziert, da die unverbundene Aufzählung, das Asyndeton, mit jedem Komma, frei nach Roland Barthes, den Diskurs durchlöchert:20 »Da habe ich so eine unendliche Angst bekommen, eine Angst vor dem Sterben, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Eine Angst davor, dass ich verschwinden muss im Universum […]. Da habe ich angefangen mit Sportaerobic, ich habe Golf gespielt und Indiaca [und Golfsportzeitschriften gelesen?, S.M.], ich habe Wildwasserrafting gemacht, Breakdance und Blitzschach […]. Ich war in Batikkursen, in einer Hardrock-Coverband, in einem Modellbauverein, bei einem freien Radio, in einem deutsch-türkischen Freundschaftsverein, bei der Jungen Union und bei den Jusos. Ich habe nach dem Abitur Kognitionswissenschaften studiert, ich habe Gebäudeklimatik studiert, Sprache und Kultur Tibets, Ökotrophologie […]. Ich habe Praktika absolviert bei EADS in Friedrichshafen, beim Berliner Stadtmagazin Zitty, bei der Snogard Computer GmbH, im Stadttheater Chemnitz, bei FuP Kommunikation, in einem Call-Center der Deutschen Bahn in Koblenz, in der Redaktion der Zeitschrift Neon, im Pflegeheim St. ­Vincenz in Bad Rippoldsau […]. Ich habe als Animateur in einem Robinsonclub auf Fuerteventura gejobbt, ich war Backpacking in ­Australien, Chile, im Sauerland und in Südfrankreich […], ich habe den Hattinger Förderpreis für Querflöte erhalten und die Untergrundliteraturzeitschrift ›Serielle Tendenzen‹ herausgegeben […], ich habe gebloggt und getwittert und gebloggt, ich habe alternative Lebensformen ausprobiert, ich habe Leichen plastiniert und Cherrytomaten gezüchtet, und ich muss ehrlicherweise sagen: Ich habe es nicht bereut. Im Gegenteil.« Mit seinen eigenen seriellen Tendenzen scheint der LdF durchaus auch alles vorkommen lassen zu wollen. Auf den ersten Blick wirkt seine Liste sogar weniger eindimensional als die von Fußnote 43. Denn seine paradigmatischen Äquivalenzen beschränken sich nicht nur auf Gemüsesorten, sondern reichen vom Sport über akademische Disziplinen bis hin zu den Namen von Institutionen, Firmen, Ländern etc.

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Dennoch ist die Liste mit den Salaten und Hülsenfrüchten erstaunlicherweise überraschender und (welt-)offener. Es wimmelt entsprechend in der Tätigkeitsliste des LdF von Namen aus der deutschen Provinz, und spätestens die Phrase am Ende, die das abstrakte »Gegenteil« von Reue einfallslos ins Leere laufen lässt, verrät die mangelnde Lust am Paradigma. Worum es dem LdF eben geht, ist Fortgang, also reibungslos funktionierendes Syntagma statt offenes Paradigma. Diese mangelnde paradigmatische Offenheit zeigt sich im Folgenden vor allem daran, wie der LdF mit anderen Figuren umgeht. Zugespitzt gesagt: Wer die Leere ebenso wenig wie die Offenheit aushält, neigt zur Gewalt. »Was macht ihr hier?«, fragt der LdF zum Beispiel die Figuren Lum und Purl Schweitzke und gesteht ihnen mit ihrem Kinderwunsch keine Funktion zu – »einfach aus dem Grund, weil ihr hier nicht vorkommt«. Gefragt sind nämlich nur »Personen aus Historie und Medien«, nur sie sind berechtigt, Nachrichten an das All zu senden und dabei in einem Wort mitzuteilen, »was uns Menschen bewegt«.21 Auch die danach auftretende dicke Frau und ihre Geschichte von der Verwandlung in einen Rosenstrauch hat im weiteren Fortgang keine Daseinsberechtigung mehr, da sie gar nicht wie anfangs angenommen in der Talkshow Britt aufgetreten ist, sondern »rausgeschnitten«22 wurde. Die beiden nächsten Gäste, der amerikanische Sprachforscher Constantine Samuel Rafinesque und der CDU-Politiker Roland Profalla dürfen dann zwar gegen das Verschwinden im Universum ihre beiden Nachrichten »Mama« und »Bums« senden, aber Profallas »Bums«-Nachricht, durch die keine Leere aufkommen soll, meint ja nichts anderes als eine kosmische Explosion, in der wir uns laut Profalla mit all unseren politischen Institutionen befinden und die da, wo wir waren, »nur Leere«23 zurücklässt. Heinrich von Kleist ist dann die einzige Figur, die die Leere im Sprechakt bewusst markiert und nicht nur inhaltlich behauptet: Der Leiter des Fortgangs gibt Kleist mehrfach die Chance, eine Nachricht ans All zu senden, der wiederauferstandene Selbstmörder aber verweigert sich der referentiellen Funktion und finalen Sinnstiftung durch Sprache und muss deshalb verschwinden. Schon vorher gerät sein Reden immer wieder ins Stocken. Die Regieanweisungen der mit diesem Stocken einhergehenden Leerstellen lauten Stille oder Pause: »Das Schreckliche daran, dass man sterben muss, ist vielleicht, dass es das Leben begrenzt, und somit zählt das, was im Leben geschieht. [Fußnote 12: »UNTERSCHIEDLICHE JOGHURTSORTEN.«] Und wenn dort etwas Sinnvolles geschehen würde, dann könnte es etwas bedeuten. Aber es geschieht dort nichts Sinnvolles. Das ist das Schreckliche. Pause. Ach, so ein Quatsch, das kann man doch so nicht sagen.«24 81


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3. »Lauch reimt sich auf Wut« »Das ist das Schreckliche. Pause. Ach, so ein Quatsch, das kann man doch so nicht sagen.« In der Bewegung dieser beiden Sätze und in der Unterbrechung dazwischen zeigt sich eine weitere, vielleicht die wichtigste Dimension der Lotz’schen Schreibweise. Und auch hierbei handelt es sich um eine Schreibweise, die wie Lesen ist. Denn was macht der zweite Satz nach der Pause? Er bezieht sich zurück auf das zuvor Gesagte und distanziert sich davon. Um das aber tun zu können, muss er das zuvor Gesagte oder genauer: das zuvor erfolgte So des Sagens gelesen haben. Was hier stattfindet, ist kein (ungebrochener) Fortgang, sondern buchstäblich eine Re-vision, ein nachträgliches Sichselbst-Lesen, das die ernste Rede vom Schrecklichen im Rückblick zu »Quatsch« erklärt, wobei im »Ach« bezeichnenderweise beides mitschwingt: ganz gewöhnliche Alltagssprache, weil wir, wie Kleist anmerkt, keine andere haben, zugleich aber auch die Emphase des deutschen Idealismus, die von Schillers »Spricht die Seele …« bis zu Alkmenes berühmten »Ach« in Kleists Amphitryon reicht. Lotz hat dieses Verfahren in seiner Hamburger Poetikvorlesung produktionsästhetisch offengelegt: »Über Dramaturgie sprechen heißt immer zu schnell: Über Handlung zu sprechen // Aber auch ein Stück besteht zuallererst nicht aus Handlung, sondern aus Sprache / Und also aus dem Sound der Wörter und den an ihnen klebenden Bildern, den in unterschiedliche Richtungen herausschießenden aber sehr spezifischen Assoziationen // Deshalb für die Dramaturgie so w ­ ichtig: // Welche Motive kommen, was fehlt also zur Gegenwartsabbildung, was braucht es da jetzt, ist der Raum zu klar, sind die Motive vielleicht gerade nur aus einem Realitätsbereich, sagen wir z. B. aus der Technik, aus dem Leben in Städten, dann sehnt sich der Text plötzlich nach etwas Wind, der durch eine Erle / was / hustet, natürlich // Oder es geht um die Welt der Gefühle, der Ideen, also um die abstrakten Dinge, dann sehnt sich der Text direkt – schon beim Schreiben dieses Satzes geht es mir so – nach einem Kühlschrank oder nach einem Igel oder nach dem Wort / Netflix.«25 Das ist deshalb so großartig – dieses Adjektiv musste jetzt hier rein, auch wenn es sich um einen literaturwissenschaftlichen Essay handelt –, weil es zeigt, dass sich die Unruhe26 von Lotz’ Texten einem paradigmatischen Schreiben verdankt, das zwischen unterschiedlichen Paradigmen keine normativen Grenzen und Hierarchien gelten lässt: Vom Igel bis zum Markennamen ist alles möglich, und der assoziativen Freiheit entspricht dabei eine spürbare Porosität der Satz-

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struktur, das bereits angesprochene Durchlöchertsein des Diskurses. Auch den Zusammenhang dieser diskursiven Löcher und Leerstellen mit dem Lesen reflektiert Lotz in seiner Hamburger Poetikvorlesung, wenn er schreibt: »Computer auf, Datei auf / Text schon angefangen, da steht schon Schrift drin also, erste Sätze anschauen, was ist das jetzt schon wieder / Gestern war es doch noch viel einleuchtender, ­schöner // Jetzt also erstmal: Lesen / Nochmal alles lesen, was da ist, den Text zurück in den Körper schaffen, den Körper nochmal dahin schaffen, wo der Text vielleicht weitergeht, lesend da an diese Klippe, wo danach alles weiß ist, da den großen Mangel spüren // Und dann eben aus der Sprache heraus noch einen Satz dranschreiben«. Bei einem so klugen Autor wie Wolfram Lotz, der gerade in seiner Unruhe und »TOTALE[N] AUFGEREGTHEIT« genau weiß, was er tut, findet man immer wieder solche sehr brauchbaren Selbstbeschreibungen. Da sie immer etwas Performatives haben, lassen sie sich zum Glück nicht so leicht zur inhaltistischen Beruhigung aus dem Zusammenhang reißen. Dennoch gilt auch bei Lotz, was Monika Rinck zum Trend der Poetikvorlesungen geschrieben hat: »Immer nach den Werken, nicht nach der Rhetorik der Manifeste! Die Rolle, die in Zeiten der klassischen Avantgarde die Manifeste hatten, wird keine hundert Jahre später individualisiert vom Artist Talk übernommen oder, im Blick auf das Gedicht, mit der Poetikvorlesung beantwortet, der flankierenden poetologischen Abhandlung, die man von den Dichtern zu erwarten pflegt. Ich bin damit in keinster Weise unzufrieden, doch ist es nicht ein wenig so, als wollten alle unter die Motorhaube sehen, doch dann, wenn die Karre endlich aufpoliert aus der Garage rollt, mit einem Mal nicht mehr auf den Rücksitz steigen? Get into the car!«27 Also, weiter geht’s, auch wenn die Fahrt jetzt nicht mehr lange dauert und ich am Schluss – ja, Sie haben richtig gelesen, hier habe ich zum ersten Mal in diesem Text »ich« gesagt – unbedingt zum Vergleich noch unter ein paar unterschiedliche Motorhauben schauen möchte. Vorher lohnt sich aber vielleicht noch ein kurzer Boxenstopp bei Susan Sontag. (Die Sehnsucht, von diesen automobilen Metonymien und auch von solchen nervigen Einschüben hier im Text wieder wegzukommen, wird spätestens jetzt sehr groß.) Susan Sontags Notes on »Camp« nämlich bieten ein Vokabular an, mit dem man den Sound des Motors, das Fahrverhalten – Quatsch! Schluss jetzt! –, mit dem man die Lotz’sche Schreibweise auf einige vorläufige Begriffe bringen kann. Wenn Sontag zum Beispiel Camp als »Erlebnisweise der gescheiterten Ernsthaftigkeit, der Theatralisierung der Erfahrung«28 zu definieren versucht, trifft dies das Lotz’sche Verfahren des ironischen Konterns

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bereits vorgenommener, oft sehr emphatischer Sätze sehr gut. Natürlich geht es im 21. Jahrhundert nicht mehr so einfach wie 1964, als Sontags Camp-Essay erscheint, um die »Entthronung des Ernstes«29. Lotz’ Ironie ist sozusagen von vornherein auf dem Stand der postpostmodernen Postironie. Dennoch teilen Lotz’ Texte eine mit Camp gesetzte und seit Sontags Essay für jede interessante Gegenwartsästhetik unhintergehbare Voraussetzung: dass sie »alles in Anführungsstrichen«30 sehen. Diese Anführungsstriche sind natürlich konstitutiv für jedes Rollen-Sprechen, also typisch für Drama und Theatralisierung. Sie sind aber ebenso Ausdruck eines mit dem Sprechen und Schreiben verbundenen Leseakts: Was in Anführungszeichen steht und damit im Modus des Zitats auftritt, ist immer ein Effekt von Lektüre. Das Relativierende, das wir damit verbinden, hat damit zu tun, dass in Anführungszeichen gesetzte Texte als aus dem Paradigma geholte Elemente markiert sind und alles Paradigmatische qua Äquivalenz voller Alternativen ist.31 Nur in diesem Modus lässt sich überhaupt noch an die sehr ernsten, präpostmodernen Diskurse anschließen, nach denen sich Lotz’ Texte unverkennbar auch sehnen wollen dürfen: Der in Lotz’ Texten immer wieder auftauchende existentiell-kosmologische Topos vom Skandalon des Todes und der Sinnlosigkeit der Welt, der von Bonaventuras Nachtwachen über Nietzsches tollen Menschen bis hin zum absurden Theater oder Woody Allens Boris Gruschenko reicht, kann in einer paradigmatischen Kunst wie der von Wolfram Lotz nicht mehr als metaphysisch-essentialistische Aussage über die Welt daherkommen, dafür liegen paradigmatisch zu viele Varianten und Differenzen bereit. Vor allem aber wäre so eine Aussage, gerade wenn sie ernst daherkäme, aufgrund der Lotz’schen Schreibweise, die sich in »UNAUFHÖRLICHE[R] AKTIVITÄT« dauernd selber liest, zumindest nachträglich immer als unzureichende Festlegung lesbar. Bei so viel Literatur- und Philosophiegeschichte lohnt sich ein nochmaliger Blick auf Thomas Stangls Plädoyer für Schreibweisen, »die wie Lesen sind«. Denn dieses Plädoyer hat interessanterweise keinen rein ästhetischen, sondern einen deutlich politischen Hintergrund: Es richtet sich, geschrieben 2017, nach dem Schock der amerikanischen Präsidentschaftswahl, gegen Trumps »ballistische Kommunikation« (Joseph Vogl) auf Twitter. Auch bei Wolfram Lotz ist es gerade diese Engführung von Schreiben und Lesen, die ins Politische führt. Dieses Politische wird zum Beispiel auch in den eingangs angesprochenen Metalepsen, in Lotz’ chronischen Verhandlungen der eigenen Autorposition sichtbar. So wird in Die lächerliche Finsternis

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der Fortgang der Handlung bzw. des Schreibens metaleptisch unterbrochen, indem sich das schreibende Ich in Form eines eingeschobenen Tagebucheintrags (in anderer Schrift als der Haupttext) zu Wort meldet: »Vorhin, beim Mittagessen, habe ich meiner Mutter die Handlung erzählt und worum es geht. Irgendwann fragt sie mich (unter anderem): ›Und es kommen keine Frauen vor?‹ Da fällt es mir wirklich zum ersten Mal auf! Wie behämmert (und deprimierend) ist das, dass ich da wieder so eine Geschichte bastel, und alle Handelnden, alle Sprechenden sind Männer, und die Frauen müssen schweigen bzw. kommen gar nicht vor. Das sagt ja was aus, wie begrenzt man halt doch ist in seinem Denken, letztlich, und was man eigentlich für ein Weltund Gesellschaftsbild hat, obwohl man glaubt, ständig gegen ein derartiges anzuschreiben. / Fast noch mehr aber hat mich erschreckt, dass es so ist, und ich bemerke es nicht mal.«32 Das Politische daran besteht in der Reflexion aufs eigene »Welt- und Gesellschaftsbild«, auf die Präsuppositionen und Rahmungen, die nicht nur de facto das vorgeblich freie Assoziieren verhindern, sondern – gouvernemental ›tiefer‹ – bereits die Sehnsucht nach Alternativen, nach syntagmatischem »So nicht!« im Keim ersticken. Paradigmatisches Schreiben, das wie Lesen ist, kennt mit seinen Anführungszeichen nichts Selbstverständliches und Natürliches. Genau das aber, der Schein des Natürlichen und Selbstverständlich-Identitären, unterläuft dem männlichen Autor in seinem eigenen Text und outet ihn als unfreiwillig »strukturell rechts«.33 Andererseits besteht der autofiktionale Witz der Tagebuchpassagen gerade darin, dass diese Struktur aufgedeckt wird. Allgemeiner gesagt: Lotz’ Schreibweise macht genau diese Arbeit an den Automatismen und blinden Flecken des syntagmatischen Fortgangs zu einem durch das permanente Sich-selbst-Lesen naheliegenden Verfahren. Der dramatische Text, in dem diese politische Seite der Lotz’schen Poetik schon im Titel markiert wird, ist der »Sprechtext« Die Politiker. Auch hier wird die eigene Schreib- oder Sprechposition immer wieder selbstreflexiv in den Fortgang des Textes hineingeholt, wodurch der Performanz der Rede ein fortwährend mitlaufender »Zweifel«34 an den Produktionsbedingungen und paradigmatischen Lieferketten eingeschrieben ist. Auch hier findet sich das für Lotz’ Poetik so wichtige Sich-selbst-Lesen wieder, das dem Öffnen von Spielräumen oder, pathetisch gesagt, der Freiheit dient: »Die Politiker sind Rauch«, heißt es da etwa an einer Stelle, »Und wir, wir – // Gartenschlauch! / Die Politiker haben bisweilen / Gartenschlauch / sie wässern damit die Zucchini / die Stachelbeeren und den Lauch!« Daraufhin folgt dann die

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überraschende Zeile: »Lauch reimt sich auf Wut«.35 Der Text also bewegt sich zunächst im sicheren Raum der poetischen Funktion des Reims, bei der nach Roman Jakobson die paradigmatische Achse der Ähnlichkeit auf die syntagmatische Achse der Kombination übertragen wird. So kommt der Text von Rauch zu Gartenschlauch und von Gartenschlauch über die metonymische Brücke des Gartens zum Reimwort Lauch. Der Text hat bewiesen, dass er reimen kann, und könnte so weitermachen. Mit der Formulierung »Lauch reimt sich auf […]« reflektiert er sein eigenes poetisches Verfahren, liest sich also rückblickend selbst – und dann springt er mit »Wut« demonstrativ in ein anderes Paradigma statt zu naheliegenden anderen Reimwörtern wie zum Beispiel »Hausgebrauch« oder, besonders poetisch, »Hauch«. Man muss vielleicht nicht gleich an Walter Benjamins berühmte These denken, dass die Katastrophe womöglich gerade darin besteht, dass alles immer so weitergeht, und deshalb in solchen Lotz’schen Sätzen etwas buchstäblich Revolutionäres sehen. Trotzdem nimmt sich der Satz die Freiheit einer anderen Wahl und opponiert gegen das allzu Naheliegende. Wenn Demokratie vor allem das Recht auf Opposition bedeutet, sind solche Sätze, die sich gegen die scheinbare Alternativlosigkeit paradigmatischer Selektionen richten, radikal demokratisch. Vielleicht aber liegt das Politische nicht nur in solchen Freiheiten, sondern gerade auch in der scheinbar langweiligen Wiederholung. Was an dem »Sprechtext« Die Politiker am meisten auffällt, sind seine exzessiven, litaneiartigen Wiederholungen. Vor allem die Titelformulierung »Die Politiker« wird permanent im Text wiederholt. Was aber macht der Text dabei? Hämmert er uns Lesenden etwas tyrannisch ein, wie es bestimmte Politiker in ihren Reden machen? Langweilt er uns, wie uns Redundanzen in Parteiprogrammen langweilen? Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Wiederholung schärft den Sinn für die Variationen und metaphorischen Sprünge. Der entscheidende Effekt der Wiederholung ist aber erneut die Verwandlung eines Schreib- oder Sprechvorgangs in einen Akt des Lesens, so wie ja jedes Zitat nichts anderes als eine Wiederholung ist. Indem Lotz’ Text die omnipräsente Formel »Die Politiker« wieder und wieder zitiert und mit anderen Assoziationen verknüpft, entlarvt er ihre referentielle Leere. Das ist deshalb so erhellend im Sinne auch politischer Aufklärung, weil ironischerweise gerade solche leeren Signifikanten und konstruierten kollektiven Identitäten mit bestimmtem Artikel und Nomen im Plural fast automatisch mit den immer gleichen, scheinbar selbstverständlichen Prädikatsnomen versehen werden (Die Politiker sind »korrupt«, »abgehoben vom Volk«, »weltfremd«, »bürokratisch« etc.). Vor allem aber

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sind solche kollektiven Identitäten mit distanzierendem und Eindeutigkeit suggerierendem bestimmten Artikel in der Regel mit starken Gefühlen der Ablehnung verbunden (im Gegensatz zu den ebenso eindeutigen, ebenso starken Gefühlen der Zugehörigkeit bei kollektiven Identitäten in der ersten Person Plural: »Wir Deutschen«, »Wir Steuerzahler«, »Wir Querdenker« etc.). Was aber wird aus solchen Gefühlen, wenn klar wird, dass sie komplett ins Leere laufen und in dieser abstrakten Form gar nicht adressierbar bzw. personalisierbar sind? Vielleicht könnte die Wut auf andere und das permanente Adressieren, das völlig unpolitisch von konkreter Problembearbeitung ablenkt, dann endlich in Verantwortung verwandelt werden. Und vielleicht könnten dann endlich nicht nur unser Denken und politisches Urteilen, sondern auch unsere Gefühle weniger tyrannisch werden.

4. »Abstraktgerede« zum Schluss: Gegenwartsliteratur und Realismus In ihrer Besprechung von Dorothee Elmigers Romanessay Aus der Zuckerfabrik fragt die Literaturkritikerin Insa Wilke nach der literarischen Avantgarde des frühen 21. Jahrhunderts. Neben Elmiger nennt sie die Autoren Roman Ehrlich und Wolfram Lotz.36 In einem grundsätzlicheren Artikel zur Gegenwartsliteratur mit dem programmatischen Titel Das Spiel ist aus nennt der Lektor und Publizist Lars Claaßen drei zentrale Namen: unter ihnen neben Nora Gomringer und Leif Randt wiederum Wolfram Lotz.37 Wenn es allgemein um deutschsprachige Gegenwartsliteratur geht, tauchen selbst so gefeierte Dramatiker wie Wolfram Lotz eher selten auf, es sei denn, sie schreiben plötzlich Romane. Das Feiern findet im merkwürdig separierten Theaterbetrieb statt. Wie die Literaturkritik macht auch die Literaturwissenschaft, wenn es um Gegenwartsliteratur geht, eher einen Bogen um die Dramatiker*innen. Selbst die fast inflationären Poetikvorlesungen, von denen schon die Rede war, werden in der Regel von Prosaautor*innen und Lyriker*innen bestritten. Ausnahmen wie Wolfram Lotz’ Hamburger Poetikvorlesung oder Milo Raus Poetikvorlesung in Münster bestätigen die Regel. Eine Erklärung für diese weitgehende Ausblendung dramatischer Texte, wenn es um Gegenwartsliteratur geht, liegt darin, dass dramatische Texte, falls sie überhaupt publiziert werden, auf dem Buchmarkt keine Rolle spielen. Wobei das allenfalls die Unsichtbarkeit in der Buchkritik des Feuilletons erklärt, nicht aber die Fokussierung der Literaturwissenschaften, Universitäten und Literaturhäuser auf Lyrik

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und Prosa. Denn der Sache nach liegen die Bezugnahmen auf einen Autor wie Wolfram Lotz mehr als auf der Hand. Und gerade eine Gegenwartsästhetik, die sich nicht nur für Inhalte, sondern für Schreibweisen und Verfahren interessiert, kommt an Texten wie Die Politiker, Die lächerliche Finsternis, Einige Nachrichten an das All oder Der große Marsch nicht vorbei, da sie genau das praktizieren, was sich beispielsweise der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler von einer lebendigen Gegenwartsliteratur erhofft: »eine poetischere Variante realistischen Schreibens, die ins Offene zielt und nicht auf klassische Schließung, ins Offene des Vergleichs, der kulturellen Assoziationen und Möglichkeiten.«38 Abschließend sei wenigstens angedeutet, in welchen poetologischen und gegenwartsästhetischen Zusammenhängen Wolfram Lotz’ dramatische Texte zu diskutieren wären. Die meisten Stichwörter sind bereits im Laufe der Lektüren gefallen, und da gehören sie auch hin, wenn sie nicht zu »Abstraktgerede«39 stillgestellt werden sollen. Da zum Beispiel der Begriff der Ironie ein Textverfahren bezeichnet, das durch Sich-selbst-Lesen syntagmatische Automatismen aufbricht und dadurch Unruhe erzeugt, erübrigt sich eine weitere abstrakte Explikation des Begriffs und wäre, losgelöst von der in der Lektüre zu entfaltenden Bewegung der Texte selbst, lediglich das, was Kant einen leeren Begriff nennt. Dennoch ist wichtig, was Lars Claaßen zur Ironie schreibt, weil es zeigt, dass hier mehr auf dem Spiel steht als die Poetik eines einzelnen Autors. So erinnert er zu Recht an David Foster Wallace’ Ungenügen an der postmodernen Ironie und verweist auf einen dritten Weg jenseits von naivem Realismus und cool ironischem Erzählen in Anführungszeichen: »Keine Ironie ist aber auch keine Lösung. Denn was diese Autoren [Gomringer, Randt und Lotz] als Letztes wollen, ist zurück zu einem vorironischen Realismus. Und selbst wenn sie's wollten, wie könnten sie? Sie sind in den neunziger und den nuller Jahren erwachsen geworden, mit Reality-Shows und Docutainment, als erste ›digital natives‹ haben sie die Welt als massenmediale Simulation kennengelernt, als virtuell und inkohärent. Wenn man so aufwächst, ist realistisch erzählen fast dasselbe wie lügen. Nur dass lügen mehr Spass macht. Aber was wollen sie dann? Zu allererst: keine Befehle befolgen und stattdessen Befehlsketten lahmlegen. Mit ihren Fiktionen nämlich wirbeln sie die Ordnungen in unseren Köpfen ordentlich durcheinander. Nicht, um zu zeigen, dass es keine Wahrheiten mehr gibt und es sich also gar nicht erst lohnt, nach solchen zu suchen. Sondern um uns zu bedeuten, mit den Mitteln der Ironie, dass sie selten dort liegen, wo wir sie zu finden gewohnt sind.«

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Insa Wilke wiederum bringt mit dem Begriff der Avantgarde ein weiteres, eher unerwartetes Schlagwort in die Diskussion. Denn zum einen rufen ›avantgardistische‹, ›experimentelle‹ Texte im frühen 21. Jahrhundert vorhersehbare Abwehrreaktionen hervor: Ist die Welt nicht schon kompliziert genug, wozu brauche ich da auch noch komplizierte Texte?40 Und ist das ganze schwierige Zeug nicht vor allem eine um sich selbst kreisende Spielerei für Eingeweihte: ausgrenzend und arrogant? Zum anderen hat die literarische Moderne spätestens seit den Neoavantgarden in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine nicht rückgängig zu machende Entzauberung erlebt. Was soll man mit einem so brachialen Begriff wie Avantgarde heute noch anfangen, wenn es für das Konzept der ›Vorhut‹ und des radikal ›Neuen‹ aus guten Gründen nicht erst seit der sogenannten Postmoderne keinerlei geschichtsphilosophische Glaubensreste mehr gibt? Kurzum, so Moritz Baßler: Wer »heute noch im Avantgardekanal raunt, muss sich zweifellos Fragen gefallen lassen, etwa solche nach Pose, Substanz und Zugänglichkeit«.41 Was die Avantgarde-Frage trotz allem interessant macht, ist der dadurch geöffnete Blick auf Textverfahren. Denn wenn es ein zentrales Merkmal von ›Avantgarde‹ gibt, ist es das Umschalten von Mimesis auf Poiesis und damit auf die Reflexion der eigenen Verfahren: Es gibt keine abzubildende, den Zeichen vorgelagerte Welt, am Anfang stehen vielmehr die Zeichen und die Frage, ob und wie aus solchen Zeichen überhaupt so etwas wie ›Welt‹ gebaut werden kann. Michael Makropoulos hat das die konstruktivistische Disposition der Moderne genannt.42 Worum es geht, ist also die sichtbare und spürbare Gemachtheit des Textes, die Frage nach den eigenen Produktionsbedingungen und die Störung automatischer, scheinbar selbstverständlicher Referenzillusionen auf der Grundlage ideologischer Vorannahmen. Die Merkmale ›avantgardistischer‹ Autor*innen wie Elmiger, Ehrlich und Lotz sind nach Wilke folgende: die Unbrauchbarkeit der Texte für »Erzählterror und die Zumutungen von Cliffhängern und Emotionszwang«, außerdem – das hört man selten, wenn es um Gegenwartsliteratur jenseits der von Christian Metz beschriebenen zeitgenössischen Lyrik geht43 – ein mit dem Erzählen verbundenes Denken, nicht zuletzt das ästhetisch eigensinnige Interesse eher für »Vorstellungen von der Realität als für das, was umgangssprachlich unter ›authentisch‹ verbucht wird«. In der Tradition der Avantgarde würde man solche auf Selbstreflexion und Unterbrechung zielenden Verfahren antirealistisch nennen. Lotz selbst aber bekennt sich in seiner Hamburger Poetikvorle-

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sung zum Realismus – womit ein weiterer zentraler Begriff gegenwartsästhetischer Diskussionen benannt wäre. »Realismus, Motor des Textes«, heißt es bei Lotz, wobei Realismus für ihn keine Frage der Form, sondern eine »Schreibherangehensweise« bedeutet – im Unterschied etwa zum Verständnis des Realismus als eines Textverfahrens, das uns scheinbar unmittelbar von der Textebene zur Darstellungsebene springen und dabei vergessen lässt, dass die Referenzillusionen vom Text erzeugt werden. Ein Autor wie Lotz kann mit einem solchen Schein der Unmittelbarkeit zwar absolut nichts anfangen, er schlägt sich deshalb aber nicht auf die Seite eines wie auch immer praktizierten Anti-Realismus, sondern wehrt sich, durchaus im Einklang mit bestimmten Traditionen der Avantgarde, gegen die falsche Okkupation des Realismusbegriffs: »Autoren, die sich beim Schreiben ausschließlich oder vor allem danach sehnen, ihre Erzählung möge möglichst GUT FUNKTIONIEREN // FEINDE // Von diesen Leuten aber wird ja gerade so oft der Begriff des Realismus benutzt, gemeint ist damit fast immer nur: Form unsichtbar werden lassen, angeblich für den Inhalt, als gäbe es das eine ohne das andere // Dann kommt so gern BLÖDSATZ NUMMER EINS: // Ich will nur eine gute Geschichte erzählen // Als wäre das etwas Unschuldiges // IST ES NICHT // Wo Form unsichtbar wird, ist sie trotzdem da / nur eben: ALS KONVENTION / und nur deshalb: unsichtbar // Nicht der Form-Text ist META, sondern gerade der Unsichtbar-Form-Text ist es«44 Bei aller Uneinigkeit in der Verwendung des Realismusbegriffs, auch bei allem von dem Hanser-Lektor Florian Kessler zu Recht betonten Pluralismus innerhalb der Gegenwartsliteratur, dem die Begriffe und Lektüren erst einmal gewachsen sein müssen45, scheint in diesem Punkt doch ein wiederkehrendes, unterschiedliche Autor*innen der Gegenwart antreibendes Motiv zu liegen: in der Suche nach Alternativen zu einem gut funktionierenden, professionellen Erzählen, das bloß gute, sowohl unterhaltsame als auch anspruchsvolle Geschichten unter die Leute bringen will. Welche Begriffe auch immer man nun wiederum für diese »FEINDE«46 findet – »Midcult«, sagt Moritz Baßler mit Umberto Eco dazu, James Wood spricht von »kommerziellem Realismus«47 –, worum es geht, sind andere Verfahren, ist ein anderes Schreiben, dem nicht das passiert, was in der bereits zitierten Passage der weiße, männliche Autor Wolfram Lotz in Die lächerliche Finsternis notiert: dass hinterrücks eine automatisch ablaufende Konvention, man könnte auch schärfer sagen: eine Ideologie, ein vorgegebener, weder wahrgenommener noch reflektierter Code die Herrschaft über die paradigmatischen Selektionen übernimmt. Das Problem, das die

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Notiz benennt, ist nicht, dass nur Männer im gerade entstehenden Text auftreten; das Problem ist, dass die Möglichkeit des Auftritts von Frauen an den entsprechenden Stellen im Syntagma gar nicht in Erwägung gezogen wurde. Dem Text ist also genau das passiert, was die »FEINDE« sehr erfolgreich und ohne spürbare Zweifel am eigenen Schreiben betreiben: blind ablaufendes, vorgegebene Codes erfüllendes Erzählen.48 Das ist – bei aller Ironie, die auch eine solche Tagebuchnotiz durch den running gag des Mutterauftritts in Lotz’ Stücken hat – fast noch deprimierender als all die gut geschriebenen Geschichten. Realismus meint für Lotz nämlich das Gegenteil: nicht die gouvernementale Herrschaft eines Codes oder »Welt- und Gesellschaftsbild[es]«, das den Autor, den Text und auch uns Leser*innen mit vorgegebenen Schemata verblödet, sondern sich aufdrängende, unvorhersehbare, querschießende, scheinbar unpassende Wörter, sprachliche Details, Splitter, Halbsätze, Bilder, Motive, die an dieser Stelle jetzt in den Text hineinmüssen und kurzzeitig stimmen, im nächsten Satz, in der nächsten Zeile aber schon wieder revidiert werden können. Was Lotz mit einem so verstandenen Realismus praktiziert, ist vielleicht das, was Lacan in Slavoj Žižeks Lesart mit dem Begriff des Realen meint: »Dies alles läuft darauf hinaus, daß das Reale in seiner Radikalität für Lacan vollständig entsubstantialisiert werden muß. Es ist nicht ein äußeres Ding, das sich dem Einfangen durch das symbolische Netzwerk widersetzt, sondern der Riß im symbolischen Netzwerk selbst. […] In einer Art Echo auf Einstein ist für Lacan das Reale – das Ding – nicht so sehr die träge Anwesenheit, die den symbolischen Raum krümmt (indem sie Lücken und Inkonsistenzen in ihn einführt), sondern eher der Effekt dieser Lücken und Inkonsistenzen.«49 Lücke, Inkonsistenz, Riss – mit solchen Begriffen lässt sich schon eher arbeiten als mit so großen Begriffen wie Ironie, Avantgarde oder Realismus. Denn worum es ja ginge, wäre ein mitvollziehendes, möglichst genaues Lesen von Schreibweisen, die selbst wie gezeigt permanent im Modus des Lesens agieren. Wichtig wäre dabei, dass es immer auch um Fragen der Form und Erzählposition geht – und Sound oder Optik womöglich erst einmal wichtiger als Inhalte sind, wenn man etwa an den auch für Elmigers Text charakteristischen Weißraum zwischen den immer wieder neu ansetzenden Textversuchen denkt. Wer von Lücken und Rissen erzählen will – und das wollen natürlich auch die »FEINDE« mit ihren Trennungs-, Nazi- und Familiengeschichten –, muss mit den eigenen Verfahren auf der Höhe der in der erzählten Welt verhandelten Probleme sein. Aus einer stabilen, nicht in Anfüh-

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rungszeichen gesetzten Erzählposition heraus von der Instabilität und Gewalt der Welt erzählen zu wollen, könnte man frei nach Umberto Eco als »strukturelle Lüge« bezeichnen.50 Wolfram Lotz und viele andere Autor*innen der Gegenwart richten sich mit ihren Schreibweisen, die wie Lesen sind, gegen die strukturellen Lügen gut erzählter Geschichten.51

1 Wolfram Lotz: Der große Marsch. Einige Nachrichten an das All. Die lächerliche ­Finsternis. Drei Stücke, hrsg. von Friederike Emmerling u. Stefanie von Lieven, Frankfurt am Main 2016, S. 31 (im Folgenden: Drei Stücke). 2 Thomas Stangl: »Wie begegnet man Möchtegerndiktatoren, die den Terror ihrer Sätze in die Welt twittern?«, in: Neue Zürcher Zeitung, 21. März 2017. 3 Dank an Thomas Wild für diesen Hinweis auf Hannah Arendts Denktagebuch. 4 Lotz: Drei Stücke, S. 30. 5 Wolfram Lotz: »Mama«, in: Ders.: Monologe. Mit einem Nachwort von Hannes Becker, 2. Aufl. Leipzig 2016, S. 23–32. 6 Lotz: Drei Stücke, S. 47. 7 Vgl. Lotz: Drei Stücke, S. 230. 8 Ebd., S. 58. 9 Wen kümmert’s, wer spricht? Für Michel Foucault äußerte sich in dieser Gleichgültigkeit »das wohl grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens« (Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: Ders.: Schriften zur Literatur, aus dem Französischen von Karin von Hofer u. Anneliese Botond, Frankfurt am Main 1993, S. 7). Das war 1969, bezog sich auf Roland Barthes’ berühmte Polemik zum Tod des Autors und hat bis heute nichts von seiner befreienden Kraft eingebüßt: In den syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen der Sprache passiert so viel Unvorhergesehenes, Überraschendes, vor allem auch Widersprüchliches, dass jeder Rekurs auf dahinterliegende Intentionen und reale Stimmen etwas ungeheuer Limitierendes hat. Für Roland Barthes geht daher der Tod des Autors, seine Abwesenheit als Kontrollinstanz und Sinnzentrum, ganz emphatisch mit der Geburt des Lesers einher. Doch schon bei Foucault weicht die Emphase der nüchternen Analyse von Autorfunktionen, und spätestens seit Gayatri Chakravorty Spivaks Can the Subaltern speak? wird die (post-)strukturalistische Gleichgültigkeit gegenüber der Autorinstanz auch ideologiekritisch befragt. Es muss uns sehr wohl kümmern, wer mit welchem

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Recht von welcher privilegierten Position aus über etwas spricht. Der Witz bei einem Autor wie Wolfram Lotz ist allerdings, dass auch diese Frage Teil der ­offenen Textbewegung selbst ist und nicht zu einer ›authentischen‹ Stimme oder Identität ›hinter‹ dem Text führen kann. 10 Lotz: Drei Stücke, S. 70f. 11 Ebd., S. 140. 12 »Im Kern ist das Stück eben nicht Panorama, sondern Fokus, und gerade ­deshalb zeigt sich das Zuviel, das Überflüssige im Stück erst wirklich, als Provo­ kation und also in seinem politischen Gehalt / Im Roman kann ALLES stehen, im Drama auch, aber da ist klar, dass es verboten ist (und im Drama soll es aber gerade auch stehen, eben genau WEIL ES DA VERBOTEN IST)« (Wolfram Lotz: ÜBER DAS SCHREIBEN, UND JA: FÜRS THEATER. Hamburger Poetikvorlesung: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=­ article&id=14561:die-hamburger-poetikvorlesung-des-dramatikers-wolframlotz&catid=53&Itemid=83 [7.8.2021]). 13 Lotz: Drei Stücke, S. 97. 14 Ebd., S. 222. 15 Simon Hansen hat in seiner Studie Nach der Postdramatik gezeigt, wie die ­Fußnoten zu Kleist in Einige Nachrichten an das All immer wieder direkt aus Briefen Heinrich von Kleists zitieren (Simon Hansen: Nach der Postdramatik. Narrativierendes Text-Theater bei Wolfram Lotz und Roland Schimmelpfennig, Bielefeld 2021, S. 104–107). Nicht nur die Kleist-Passagen laden dazu ein, den intertextuellen Spuren in Lotz’ Theatertexten zum deutschen Idealismus und zur Romantik nachzugehen: von Kleists Kant-Krise über Schillers »Spricht die Seele, so spricht ach! schon / die Seele nicht mehr« bis hin zu Novalis’ Monolog und überhaupt zum Konzept der frühromantischen Ironie. 16 »Komisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt« (Odo Marquard: »Exile der Heiterkeit«, zit. nach Moritz Baßler / Heinz Drügh: Gegenwarts­ ästhetik, Konstanz 2021, S. 30f.). 17 »das ganze Aussagen wird von einem verallgemeinerten Asyndeton erfaßt, so daß dieser sehr lesbare Diskurs unter der Hand einer der wahnsinnigsten ist, den man sich vorstellen kann: das ganze logische Kleingeld liegt in den Zwischenräumen«: Was Roland Barthes hier über Flaubert sagt, gilt auch ­ für die Texte von Wolfram Lotz (Roland Barthes: Die Lust am Text, aus dem ­Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main 1992, S. 16). 18 Lotz: Drei Stücke, S. 147f. 19 Ebd., S. 93. 20 »Flaubert: eine bestimmte Art, den Diskurs zu unterbrechen, zu durchlöchern, ohne ihn unsinnig zu machen« (Barthes: Lust am Text, S. 15). 21 Ebd., S. 97f. 22 Ebd., S. 100. 23 Ebd., S. 110. 24 Ebd., S. 121. 25 Lotz: ÜBER DAS SCHREIBEN, UND JA: FÜRS THEATER 26 Zum Begriff der Unruhe vgl. Sascha Michel: Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht, Stuttgart 2020. 27 Monika Rinck: Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch, hrsg. von Monika Rinck und Daniela Seel. Frankfurt am Main 2019, S. 452. 28 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹«. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 ­literarische Analysen, Deutsch von Mark W. Rien, 7. Aufl. Frankfurt am Main 2003, S. 335. 29 Ebd., S. 336. 30 Ebd., S. 327. 31 Der Poetikvorlesungsautor Wolfram Lotz wehrt sich gegen diese Verharmlosung der Ironie zur Figur der Relativierung: »Und so verstehe ich für mich auch die Ironie: / Nix Relativierung, sondern noch Widerspruch zum BIS JETZT ­Gesagten, Gemeinten, auffindbar überall draußen und also nicht wegzulassen als Realist, sondern eben: Praxis des realistischen und also möglichst infiniten Wahrnehmens und Denkens« (Lotz: ÜBER DAS SCHREIBEN, UND JA: FÜRS THEATER).

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32 Lotz: Drei Stücke, S. 207f. 33 Moritz Baßler: »Der neue Midcult. Vom Wandel populärer Leseschaften als ­Herausforderung der Kritik«, in: POP. Kultur und Kritik 18 (2021), S. 141. 34 Lotz: Drei Stücke, S. 208. 35 Wolfram Lotz: Die Politiker. Sprechtext, Leipzig 2019, S. 9. 36 Vgl. Insa Wilke: »Erzählen in Sternbildern«, in: Süddeutsche Zeitung, 18. September 2020. 37 Lars Claaßen: Das Spiel ist aus. In: Neue Zürcher Zeitung, 13. November 2015 38 Moritz Baßler: »Junge Türken – alte Tiegel. Über zwei Arten gegenwartsliterarischer Selbstverständlichkeit«, in: Neue Rundschau 1 (2015), S. 14. 39 Lotz: ÜBER DAS SCHREIBEN, UND JA: FÜRS THEATER. 40 Vgl. Felix Stephan: »Monster«, in: Süddeutsche Zeitung, 3./4. März 2018. 41 Baßler: »Der neue Midcult«, S. 141. 42 Michael Makropoulos: »Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines ­Konzepts«, in: Kontingenz, hrsg. von Gerhart von Graevenitz u. Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, München 1998, S. 71. 43 Christian Metz: Poetisch Denken. Die Lyrik der Gegenwart, Frankfurt am Main 2018. – Christian Metz verortet die Lyrik der Gegenwart sehr treffend zwischen Pop, Erlebnis und Avantgarde (S. 14–27). Pop, Realismus und Avantgarde wäre dann vielleicht das Dreieck, in dem sich auch die Poetik von Wolfram Lotz ­bewegt. Von Pop, auf den ich implizit bereits durch den Verweis auf Susan ­Sontag hingewiesen habe, hat Lotz die »Lockerheit« im enzyklopädischen Springen übernommen, die von »Netflix« bis »Profalla« reicht. Auch Steffen Popp spricht in seiner Sammlung zeitgenössischer Lyrik von »Lockerung« und könnte auch Wolfram Lotz meinen, wenn er schreibt: »Es gibt keinen per se unpoetischen Gegenstand. Gerade im skrupellosen, zum Teil piratenhaften Zugriff auf v­ ermeintlich wenig poetische Bereiche wie Landgericht, Bräunungscreme, Einkleidemadonna, Dienstbotenliste, Bankenwesen usw. wurden in den l­ etzten Jahren einige der besten Gedichte geschrieben […]« (Steffen Popp (Hrsg.): ­Spitzen. Gedichte. Fanbook. Hall of Fame, Berlin 2018, S. 9). 44 Lotz: ÜBER DAS SCHREIBEN, UND JA: FÜRS THEATER. 45 Florian Kessler: »Sprengt die Denkmäler, schreibt euch selbst welche!«, in: taz, 14. Juli 2021. 46 Das Wort »FEINDE« aus Lotz’ Hamburger Poetikvorlesung, das vom Gestus her an Thomas Bernhard oder Rainald Goetz erinnert, ist bei aller versal ausgestellten Übertreibung sehr wichtig: Es zertrümmert nämlich die nicht nur von Florian Kessler beschworene Vorstellung eines beglückenden Pluralismus der Gegenwartsliteratur und akzentuiert auch hier, im literarischen Feld, die R ­ isse und Widersprüche. Risse übrigens, die nicht nur mitten durch Redaktionen, ­Jurys oder Publikumsverlage gehen, sondern auch durch unsere Bücherregale. 47 James Wood: Die Kunst des Erzählens. Mit einem Vorw. von Daniel Kehlmann. Übers. von Imma Klemm unter Mitarb. von Barbara Hoffmeister, Reinbek b. Hamburg 2011, S. 197f. 48 Eines von zahlreichen Beispielen aus der Gegenwartsliteratur, das diesen ­Zweifel an der weißen, männlichen Autorposition zum Motor eines ganzen, ­ironisch sehr gut erzählten Romans macht, ist Die Topeka Schule von Ben Lerner, Berlin 2020. 49 Slavoj Žižek: Lacan. Eine Einführung, aus dem Englischen von Karen Genschow und Alexander Roesler, Frankfurt am Main 2008, S. 98f. 50 Umberto Eco: »Die Struktur des schlechten Geschmatcks«, in: Ders.: Apokalyp­ tiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, übers. von Max ­Looser, Frankfurt am Main 1992, S. 90. 51 Frankfurt am Main, 9. August 2021: Gerade habe ich meinen Text noch ­einmal gelesen und mich an einen Satz von Jacques Derrida erinnert, der sich auf das Lesen von Mallarmé-Texten bezieht: »Wie nur sollen die Kategorien der klassischen Rhetorik mit diesen Verschiebungen klarkommen?« (Jacques ­ ­Derrida: »Die zweifache Séance«, in: Ders.: Dissemination, Wien 1995, S. 297). Erstveröffentlichung in Lichtungen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, 168, 42. Jg. 2021

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Après les Alpes

Fiston Mwanza Mujila

Après les Alpes Der in Graz lebende Fiston Mwanza Mujila schaut auf die koloniale ­Herkunftsgeschichte des österreichischen Alpenkosmos und geht in einer grotesken Fiktion der Frage nach, was im post-alpinen Zeitalter passieren könnte: Gletscherschmelze und nie mehr Après-Ski? Oder was passiert, wenn plötzlich Rohstoffe im Untergrund der Alpen entdeckt werden? Werden diese dann in ein großes Minenunternehmen umgewandelt, und der Westen schürft für den Globalen Süden?

FRAU GARTNER (feierlich) Ich trinke nur Wasser … Ich paffe Zigaretten von morgens bis abends. Ich schlafe draußen im Hof oder am Flussufer. Ich wandere die ganze Nacht hindurch. Ich verschmause verdorbene Nahrung. Meine Zähne fallen aus. Ich besuche PsychiaterInnen, Wahrsager, ProphetInnen, DichterInnen. Und all diese Prominenten und außergewöhnlichen Wesen besitzen keine Gesundungsbrunnen, um mich zu heilen und mir den richtigen Weg zu zeigen. Sie alle quatschen Unsinn. Selbst wenn ich Drogen nehme oder starkes Gebräu gierig verschlinge, bleibe ich wach. Ich sehe pausenlos diese wundervollen Szenen in den Bergen … Die Substanz. Überall, über Dutzende von Kilometern. Immer das gleiche Bild der Materie. Schleimige, düstere, schmutzige Substanz … Das jagt mich, hetzt mich in meiner Privatsphäre, meinen Träumen … Ich vegetiere nur dahin und das hat widrige und unberechenbare Auswirkungen für meine Kinder. Sie alle denken und glauben, dass ich geistesgestört geworden bin und niemals geheilt werde. Deshalb verdorren sie auch. Sie verlieren Gewicht. Schauen Sie Boris an? Boris war schon immer ein starker Junge und besitzt tausende männliche Eigenschaften: den Körper, den Bart, die Behaarung … So sah Boris vor ein paar Monaten aus! Boris ist ein Phantom geworden. Ein gebrochener Körper. Boris ist nur ein Stück Fleisch. Wohin sind seine Gedanken gegangen? Ich weiß es nicht. Ulrich, Ulrich, mein kleiner Ulrich hat auch seine Haare und seinen Schnauzbart verloren; Wolfgang pinkelt jetzt ins Bett; Maximilian ernährt sich nur von Zwiebeln, Julian duscht nicht mehr, Günter hat fast die Schlafkrankheit

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… Nachts macht er nichts, außer zu weinen. Manchmal denke ich, sie ist ein Fluch, diese ganze Geschichte. Wir sind geflüchtet. Wie aus allen Paradiesen. Es ist das erste Mal seit meiner Geburt, dass ich so ein widersprüchliches Gefühl erlebe. Ich bin gleichzeitig traurig und glücklich. Eine tiefe Traurigkeit – als hätte ich einen lieben Freund verloren, der durch Ertrinken gestorben wäre oder als ob ich ihm die Kehle durchgeschnitten hätte und meine Geste bereue – und eine große Freude drängten mich jeden Morgen. Ich bin sogar ein Opfer der Erscheinungen. Wie ein gewisser Julio. Diese Geschichte fand in Bamberg statt. Julio tötete gewaltsam den Gefährten seiner Ex-Frau. Durch mehrere Schläge mit einem Baseballschläger. Julio hatte sich von seiner Frau getrennt. Über Nacht nahm er all seine Sachen und räumte sein Haus aus. Nach einigen Jahren erfuhr er, dass seine Frau in einer neuen Beziehung lebte. Julio verlor die Kontrolle, als er davon hörte. Julio organisierte seine Untat mit Finesse wie ein Schweizer Uhrmacher. Er holte Erkundigungen über den Neuen ein und brachte in Erfahrung, dass der Gefährte seiner Ex-Frau jeden Tag von 14 bis 23 Uhr arbeitete. Er lachte, als er diese Information kriegte. Die Nacht hat ihre Geheimnisse. Nachts ist die beste Zeit, um tiefe Schläge auszuführen. Julio wartete an einer Straßenecke auf den Gefährten seiner Frau. Er verfolgte ihn. Und schlug ihn tödlich mit dem Baseballschläger. Er wurde einige Monate später verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. In seiner Zelle bekam er seltsame Träume und unerklärliche Erscheinungen. Julio begann den Typen im Schlaf zu sehen. Jede Nacht, sobald er die Augen schloss, erschien der Gefährte mit einem Schubkarren und einem Draht. Anfangs sprach er schöne, sehr schöne Worte zu Julio: »Ich verzeihe dir, was passiert ist. Du solltest das nicht tun. Julio, du hast dich sehr schlecht benommen.« Eines Nachts, während Julio tief und fest schlief, erschien der Kerl mit einem langen Rohr und begann ihn zu verprügeln. Als dieser Vorfall zum ersten Mal passierte rief Julio: »Oh, es ist nur ein Albtraum, und er wird vergehen.« Am nächsten Tag ungefähr zur gleichen Zeit verbrannte der Gefährte die Finger von Julio. Ein anderes Mal brach er ihm den Arm. Und die Quälerei ging weiter. Jede Nacht stieg der Gefährte in seine

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Zelle und fügte ihm Körperverletzungen zu. Julio beschloss, tagsüber zu schlafen, um die ganze Nacht wach bleiben zu können und den Mann seiner Ex-Frau in seinen Träumen nicht sehen zu müssen. Letzterer änderte jedoch seine Strategie. Er fing an, ihn zu verfolgen, selbst wenn Julio tagsüber schlief. Intensive Momente der Freude und Grausamkeit. Freude für den Kerl und Grausamkeit für den armen Julio. In seinen Träumen und zahlreichen Erscheinungen beleidigte er ihn, verbrannte ihn mit Säure, schlug ihn mit einem Baseballschläger, riss ihm die Haare aus, zerriss seine Kleidung, spuckte auf ihn, beraubte ihn und drückte ihn auf den Boden … Eines Tages in seinen Träumen und seinen vielen Erscheinungen trat der Gefährte mit Julio in den heiligen Stand der Ehe. Bei der Hochzeit, prachtvoll organisiert, waren angesehene Gäste eingeladen. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere – wie Büffel, Gorillas, Schimpansen – aber auch Flüsse, Bäche und Seen. Zuhause schlug der Gefährte ihn, immer mit einem Baseballschläger. Im Gefängnis wurde sofort bemerkt, dass Julio sich weigerte zu schlafen, nachts und tagsüber, und als er es schaffte zu schlafen, schrie er laut auf. Es wurde dann beschlossen, ihn in ein psychiatrisches Zentrum zu bringen. Dort eskalierte seine Situation weiter. In seinen Träumen sah er alle Arten von Tieren: Löwen, Gazellen, Wölfe und Krokodile. Ein Krokodil verliebte sich sogar in ihn und heiratete Julio wieder mit großem Pomp. Eine große Party während 56 Tagen und 57 Nächten mit Gästen aus aller Welt. Mein Körper ist wie der dieses berühmten Julio geworden. Ich fühle mich den ganzen Tag müde. Schlimmer noch, in meinen Träumen sehe ich Tiere, Berge und Flüsse. Ich sehe schreckliche Dinge im Schlaf. In meinen Träumen orchestrieren die Berge, die Flüsse und die Bäume ein außergewöhnliches Geräusch und sprechen laut. Sie haben alle einen Mund und sind sehr gesprächig. Ungewöhnliche und überflüssige Träume. Endlose Träume. Träume ohne Saft … Schauen sie meine Kinder an, sie verschwinden, verlieren ihre Haare und beginnen wieder ins Bett zu pinkeln … Seit unserer letzten Wanderung in den Alpen sterben wir langsam. Wir haben den Eindruck, in der Hölle zu wandern. Wir verbrennen den ganzen Tag, aber wir vernichten uns nicht. Widersprüchliche und weitläufige Gefühle dringen in uns

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ein: die Übelkeit, die Freude, das Glück, Ekel, Eifersucht, Liebe zur Natur und die Anziehungskraft der Videospiele. Seit dieser Entdeckung ist unser Leben zerstört. Wir haben ein blutendes Herz und lahme Hoffnung, unser Mund ist offen, unsere Hände stinken nach Müll, unsere Haare fallen aus, unsere Hoffnung auf ein normales Leben ist weg. Die Welt (und ihre pulsierende Wahrheit) scheint sich seit Jahrhunderten von uns zu entfernen. Manchmal wachsen Kräuter im Mund. In meinem Mund und in dem von Boris. DIE AKTIVISTIN Wo passierte es? FRAU GARTNER In den Alpen … DIE AKTIVISTIN Aber die Alpen sind so groß wie der See, das Meer … FRAU GARTNER Ja, in den Alpen … DIE AKTIVISTIN Wo genau? FRAU GARTNER In den Alpen … DER GASTRONOM In den Alpen? FRAU GARTNER (wimmernd) In den Alpen … Boris, ich kann diese Geschichte nicht mehr ertragen. Boris, bitte, sag es ihnen, erzähl ihnen alles. Die Geschichte ist stärker als ich. Mir fehlen die Ideen, um zu sagen, was uns widerfahren ist. In den Alpen, der Schnickschnack. Worte, die Alpen, das Geld, die Liebe … BORIS Frau Gartner … Ich kann meine Sätze nicht artikulieren. FRAU GARTNER Boris … Sag es ihnen bitte, mein kleiner Boris, singe, rede, gurre, schreie, belle, pisse, tanze, spucke, springe, solange bis sie erkennen können, was wir gesehen und mit unseren eigenen Händen berührt haben. Gelistet, analysiert, klassifiziert, aufgegliedert, geordnet, in der Schublade geordnet, kategorisiert, eingruppiert, segmentiert … Die­­Substanz … Über Meilen, die flammende Substanz. Eine schwindelerregende Kartographie von Träumen und Glück. BORIS Frau Gartner … Sie wissen sehr gut, dass ich lalle, wenn es um diese Substanz geht, dass meine Zunge verkrüppelt ist und meine Worte ohne Geschmack für Zucker sind und ohne Salz. FRAU GARTNER (weinend) Am Großglockner … Es gibt Substanz Prachtvoll glänzend BORIS In den Alpen genau …

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FRAU GARTNER Wir und meine Kinder haben in den Alpen­­­ entdeckt … Mineralien, Rohstoffe, die, die … (Stille) DIE AKTIVISTIN (laut lachend) Mineralien gab es in den Alpen schon immer. Es ist ein offenes Geheimnis. Sie haben sich umsonst so sehr verletzt. Reden wir über richtige Affären. FRAU GARTNER Boris? BORIS (jammernd) Wir sind weltbekannte Forscher. Innenarchitekten. Nicht selbsternannte Scharlatane und andere Visionäre ohne Vision. Wir ernähren uns nicht von fruchtlosen Utopien. Wir haben Träume, wir haben Projekte, wir haben Projektionen, Ideen, Annahmen, zeitgesteuerte Gewissheiten, wir haben eine klare und sichere Vision über die Welt. Wir haben einen unterirdischen Fluss in den Alpen entdeckt. Einen Fluss, der möglicherweise reich an Öl ist. Gold, Uranium, Coltan, Kupfer, Diamant, Mangan, Lithium, Zinn, Blei, Zink, Nickel, Eisen, Uran … DIE AKTIVISTIN Ihr spinnt! BORIS Besitzen wir die Chuzpe von Menschen, die betrügen, die sabotieren, die einen Komplott schmieden, die Atmosphäre verzerren? Menschen die verschmutzen, die Hass schüren, die Mauschelei fabrizieren? FRAU GARTNER Boris … BORIS Die Alpen sind tatsächlich eine Bergbauregion, und die Rohstoffe, die wir aufgelistet haben, sind unverständlich. In welchem Dialekt sollen wir uns ausdrücken, damit sie uns endlich verstehen? (Boris packt eine große Landkarte aus. Alle rennen zum ihm, betrachten die Karte, erstaunt und sprachlos.) DIE AKTIVISTIN Wenn Sie tatsächlich Mineralien entdeckt hätten, wäre es wirklich ein Zufall. Ich kann es kaum glauben, weil die Berge … BORIS Es gibt keinen Zufall im Leben. Es gibt nur Menschen, die nicht die Realität mit Fingern prüfen wollen. Es gibt sicher einen tieferen Grund, dass wir die Entdeckung gemacht haben. Diese Steine sollten nicht als solche bleiben. DIE AKTIVISTIN Ich spreche in meinem eigenen Namen und nicht in dem meines Onkels väterlicherseits oder meiner Großmutter mütterlicherseits. Wir haben nichts mit diesem Dreck zu tun. Die Erze, wenn sie wirklich in den Bergen zu finden sind,

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sind uns scheißegal. Ich bleibe meiner langjährigen Position verpflichtet. Wir sollten die Alpen für 500 Jahre schließen. Den gesamten Verkehr in den Bergen verbieten. Sportzentren in Salzburg und in der Steiermark errichten, in denen Wintersport betrieben wird. Die ausgestorbenen Pflanzen und Tiere sollten in den Bergen wiederauftauchen können. Das Land muss neu geboren werden. Das Land unserer Großmutter und Urgroßmutter muss ein gelobtes Land sein. Unser Schicksal ist eng mit der Natur verbunden. Es macht mich schon fertig, wenn die Leute in den Bergen wandern gehen. Aber wenn es um Rohstoffe (und alles, was dazugehört) geht, wird es das größte Drama des Jahrhunderts. BORIS Man hat uns ständig dasselbe erzählt. Deshalb hielten wir es für wichtig, die Natur in Ruhe zu lassen. Mit dieser Entdeckung hat sich die Situation jedoch geändert. Wir denken immer wieder über diese Mineralien nach, wie sie nicht nur für das Land, sondern für das gesamte Universum zu Nutzen sein könnten. Wir schlafen nicht korrekt, wir speisen nicht genug, wir sind erschöpft die ganze Zeit, gepolstert, müde, überall Körperschmerzen … Diese Mineralien würden von anderen Leuten erforscht werden und identifiziert und kartographiert, wenn wir uns nicht um sie kümmern. Und dann werden sie mit den Rohstoffen machen, was sie wollen. Niemand auf der Erde ist unersetzlich. (Stille) Wenn du etwas nicht erreichst, kommt ein verrückter Kerl, der die Aufgabe gut, sehr gut erledigen wird. Wenn wir nichts tun … Frau Gartner, muss ich präziser werden? FRAU GARTNER Ja, mein klein Boris, sag ihnen, warum das für uns so wichtig ist … BORIS Es wäre ein sehr großer Verlust für das Land. Frau Gartner besteht darauf, dass unser Land wieder eine große Weltmacht werden sollte und weltweit anerkannt. Dies beinhaltet notwendigerweise die Ausbeutung von Erzen, unseren Erzen … Ohne die Vermarktung von Kupfer, Öl, Uran, Bauxit und Diamanten wird unser Land ganz unten in der Rangliste ­stehen. DER GASTRONOM Und wir in all dem … BORIS Jeder kriegt seinen Anteil. Du beklagt dich, dass keine Kunden mehr kommen, dass die Nächte nicht mehr populär sind, dass sie nicht mehr schrecklich sind, dass sie keine Obszönitäten, Alkohol, Partys, Bierüberschüsse bringen … DER GASTRONOM Wie viel gebt ihr mir?

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BORIS

Alles hängt von unseren Partnern ab. Und von ihren Mitteln. Aber laut Frau Gartner sollten wir nicht die ganzen Alpen ­verkaufen. DER GASTRONOM Ich bin mit der Auktion einverstanden … Aber worauf warten wir dann noch? DIE AKTIVISTIN Worüber redest du? BORIS Du scheinst nicht zu verstehen! FRAU GARTNER Lüfte den Schleier, Boris, die Wunder die wir durch die Mineralien vollbringen … BORIS Wir wollen die Alpen an die Bergbaukonzerne verhökern. Es bringt große finanzielle Vorteile … FRAU GARTNER Boris? BORIS Wir werden nicht alles verhökern, wie gesagt … Nur ein ­Stückchen … DIE AKTIVISTIN Außerdem gehören die Alpen nicht uns! BORIS Wem gehören sie? DIE AKTIVISTIN Den Österreichern, den Schweizern, den­ Franzosen … BORIS Seid ihr euch im Klaren darüber, was ihr sagt? Was Menschen perfekt können, Grenzen ziehen. Und diese Landesgrenzen sind neu. Vor diesen Grenzen gehörten die Alpen niemandem, keinem Land … Und selbst wenn die Alpen Frankreich, Belgien, Österreich gehören, sagen wir den Europäern, wir sind auch Europäer. Echte Europäer. Menschen aus den Bergen zusätzlich. Andere sind Menschen aus dem Busch, der Savanne, der Wüste, dem Fluss, aber wir sind ein Volk aus den Bergen. Grüne Wiesen. Sonnige Täler. Die Alpen sind kollektives Eigentum, sie gehören uns, und wir können sie als Mitgift anbieten, an diejenigen verteilen, die keine Berge in ihrem eigenen Land haben, sie für 1000 Euro verkaufen, sie für zehn Tage oder zwei Jahrhunderte verleihen. Wenn wir die Alpen auflösen, verdienen wir Geld, viel Geld. Mit dem Tourismus in den Bergen. Ist das keinen Groschen wert im Gegensatz zu dem, was der Bergbau in den Alpen Umsatz bringen kann? Durch die Versteigerung der Alpen würde die Wirtschaft noch gesunder werden. Wir werden in den Bergen, Bordelle, Schule, hochmoderne Kinos, Krankenhäuser, Konzertsäle, Hotels errichten; weil wir schon dabei sind, werden wir gigantische Tagebau- und Untertageminen in Betrieb nehmen, die all diese Materialien (Gold, Kohle, Diamanten usw.) fördern, Erzverarbeitungsbetriebe, die wir unter

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­ nderem mit Uran herstellen werden. Waffen und Bomben; a Telefone und andere Computer mit Coltan. FRAU GARTNER Boris, erklär weiter … BORIS Wir denken über die Zukunft nach. Nicht mit Emotion oder Hysterie, sondern mit Weisheit. Wir sind instinktiv, aber vernünftig in Rahmen des Zumutbaren. Wenn der Löwe ein ­Beutetier erblickt, fängt er nicht an, zu singen oder zu lachen »hey du, ich werde dich fressen, hey du Ziege, ich habe dich lieb«. Er führt die Operation taktvoll aus: Er holt tief Luft, seufzt und geht Schritt nach Schritt leise und springt auf die Beute. Wir sind wilde Tiere. Wir sprechen ruhig, aber in uns sind Flüsse, Vulkane, Erdbeben und Katastrophen versteckt. Und wenn wir dann über Geld diskutieren, müssen wir mit leiser Stimme sprechen! Frau Gartner sagt immer, wenn es nicht in einem Land funktioniert, anstatt Wahlen, Streiks oder Protestmärsche zu organisieren, Petitionen, Koalitionen ohne Zukunft, wäre es am einfachsten, das Land zu verhökern und jedeR InländerIn kassiert die Kohle. Wie viel kostet ein Land? Darüber haben wir vor einigen Jahren geforscht, natürlich unter der Führung von Frau Gartner. Wir müssen in diese Richtung nachdenken. Wir verkaufen die Alpen, die Donau, die Mur, besser alle Flüsse, den Luftraum, die Theater, die Museen, die Wälder, die Bahnhöfe und sogar die Sprache und wir kassieren die Penunze. Wir könnten die Flüsse verkaufen, aber die Seen privatisieren, zum Beispiel: den Wörthersee und Neusiedler See. Stellen sie sich vor, wenn diese Seen nicht existieren würden, was würden wir verlieren? Nichts! Wir wollten uns nicht umbringen, weil wir in einem Land ohne Seen lebten. Wir wollten uns auch nicht umbringen, weil wir ein alpensloses Land haben. Wir verlieren nichts, wenn wir einen oder zwei Seen privatisieren! Laut Frau Gartner steht alles zum Verkauf. Sogar Luft ist eine Ware. Für Frau Gartner ist es jedoch wichtig zu wissen, was tut man nach dem Verkauf. Wenn wir die Alpen verkaufen, verteilen wir das Geld, jedeR InländerIn kassiert ein paar hundert ­ Tausende Euro; wir verkaufen die Donau, jeder ­Einwohner kassiert 175.000 Euro; wir verkaufen die Mur, jedeR kassiert und macht mit seinem Geld, was er will! Es ist babyleicht wie ein Omelett! FRAU GARTNER Boris … BORIS Wir haben beschlossen, die Alpen zu verkaufen! Es ist ein

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sehr reifes Projekt. Es steht Geld auf dem Spiel, wir werden die Mineralien einfach so abbauen. FRAU GARTNER Ich schwöre es Ihnen. Wir verkaufen die Alpen. FRAU GARTNER UND IHRE STUDENTEN Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen. Wir verkaufen die Alpen … FRAU GARTNER Wir verkaufen den Großglockner. Das ist kein Thema. DIE AKTIVISTIN Die Alpen sind unsere Vermögensmasse, vor allem ein Teil unseres Weltkulturerbes. Die Seele eines Volkes. Unsere intime Geografie. Das Erbe unserer Vorfahren. Unsere Genealogie. Man verkauft nicht, was man von seinen Vorfahren ererbt hat. Die Alpen haben lange Zeit dazu beigetragen, unsere Vorstellungswelt zu schaffen. Sie aufzulösen bedeutet, tausende von Jahren Geschichte zu verlieren. Die Alpen sind was übrig bleibt, nach dem Debakel, dem Feuer und der Tuberkulose. Die Alpen sind majestätisch, immerwährend und königlich. Die Alpen sind ein Paradies. Wir können die Alpen nicht verkaufen. Diese Gier, die Alpen zu verschachern, ist der Anfang unserer Dekadenz. Wenn wir es tun, morgen verkaufen wir unsere Söhne und unsere Urgroßmutter. Die Alpen sind keine Ware. Die Alpen sind kein Bier oder Obst, das an der ersten Ecke verkauft werden soll. Wir sind nicht auf dem Marktplatz. DER WANDERER Und wohin gehen wir wandern? Skifahren? Das ist unmenschlich … Ich könnte mir alles vorstellen, aber nicht unsere DNA zu … FRAU GARTNER Boris, sag was … BORIS Frau Gartner … FRAU GARTNER Boris … BORIS Beruhigen Sie sich, meine Lieben. Wir haben bereits darüber geforscht und etwas geplant. Wir haben Tag und Nacht ­darüber nachgedacht. Wir werden künstliche Alpen in Graz, Wien, Linz, Bremen, Stockholm und in mehreren Städten Europas errichten. Dann müssen die Menschen nicht unbedingt ­reisen! DER WANDERER Gartner! Gartner, du hinterlässt einen Saustall. Du machst die Welt nervös, hysterisch und sogar auch depressiv!

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Lass die Alpen in Ruhe! Bitte lass den großen Glöckner in Ruhe. Scher dich zum Teufel! Du bist keine Königin! Und eine Prinzessin warst du auch nie. Auf jeden Fall ist das Leben bei uns schöner als im Globalen Süden. Geh und fabrizier deine Maskerade woanders. FRAU GARTNER Die Zukunft dieses Landes liegt im Bergbau, im Stein, im Handel, im Schmuggel und sogar in der Konterbande. Morgen oder übermorgen durchstreift niemand mehr die Berge, um diese oder jene andere Aktivität auszuführen. Skifahren und Wandern sind eh schon altmodisch. Wir erforschen nicht nur die Berge. Wir blicken auch direkt in die Zukunft. Lassen Sie uns den Großglockner verkaufen, und unser Land wird zu seinem früheren Glanz zurückkehren. Die Zukunft der Welt liegt in den Alpen. Wer die Ozeane und Meere beherrscht, Berge und Täler domestiziert, beherrscht die Welt. Kobalt, Gold, Uran, Eisen, Mangan, Kupfer, ah Kupfer, Kupfer; was vermag man ohne Bauxit und Coltan, ohne Aluminium? RICHTER BERGER Ich bin nur von euch abhängig. Ich konnte meine Meinung nicht genau äußern. Ich habe viele Jahre alleine gelebt. Vorher war ich nicht an Menschen gewöhnt. Aber das war lange her, damals war die Welt eine sonderliche Schöpfung … Ich wusste nicht, was Worte wie Einsamkeit oder alleine sein bedeuten. Der Fisch, der im Wasser lebt, weißt aber sicher nicht, welche Rolle das Wasser spielt. Er erkennt die Bedeutung von Wasser nur an, wenn es aus seiner natürlichen Umgebung entnommen wird. Jahrhunderte später wurde mein Leben auf den Kopf gestellt. Menschen kamen von überall her, und alles war voller Glück. Und abends das berühmte Après-Ski. Im Winter, im Sommer stiegen die Menschen aus … Ich gewöhnte mich an ihre Körper, ihre Sprachen, ihren Geruch … Sie verschönerten mein tägliches Leben. Überall entstanden stolze Dörfer. Weiße. Schwarze. Chinesische. Mehrere Nationalitäten. Ich fand sogar einen Grund zum Glück. Sie gingen über meinen ganzen Körper. Es sah aus wie eine Massage. Aber seit der berühmten Pandemie ist nichts mehr betrieblich: Lokale, Hotels, Kirchen … Niemand kommt wie zuvor und manchmal fühle ich mich quälend einsam. Als wäre ich die einzige Kreatur auf der Welt. Ich kann nicht mehr ohne Menschen leben, auch wenn ich es satt habe, ihre schmutzigen Gesichter zu sehen.

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DER WANDERER Die Alpen stehn nicht zum Verkauf! BORIS Es betrifft uns nicht! Wir werden einen Teil der Alpen verkaufen. Ich sage Ihnen die Wahrheit, wir brauchen keine ­Touristen, sondern Fabriken und abertausende Fabriken, um Edelmetalle zu verarbeiten, damit unser Land wieder zu den großen Wirtschaftsmächten gehört … Die Alpen bringen nichts. Sie stehen dort, seit Jahrhunderten in ihrer ewigen Einsamkeit. Die Alpen und die Vorstellung der Alpen (ewig, wohltätig, herrlich) sind ein Schwindel. Eine echte und ­typische Maskerade! Auszug aus: Fiston Mwanza Mujila, Après les Alpes, Auftragsarbeit für das Volkstheater Wien © S. Fischer Verlag 2020

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Eine Welt in Aufruhr: Vom Kasala zum Jazz mit einem Streifzug durch das Theater, ­Romane und Lyrik Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Charlotte Bomy Ich habe beschlossen, glücklich zu sein Rumba zu tanzen bis zur Erschöpfung mir alle meine Namen wieder zu geben, den alten Krempel Das Kind der Mine zu bleiben, das Kind der Eisenbahn Das Familiengedächtnis mit der Lokomotive zu vermählen Exil im Ei, die ewige Einsamkeit Kasala für mich selbst Fiston Mwanza Mujila Charlotte Bomy: Du bist Autor von Theaterstücken, Romanen und Gedichten und Herausgeber einer Anthologie mit dem Titel Konti­ nentaldrift. Das Schwarze Europa (Wunderhorn, 2021), in der Gedichte von dreißig europäischen Künstler:innen aus der afrikanischen Diaspora vorgestellt werden, jeweils in Originalsprache und in deutscher Übersetzung. In unserem ersten Gespräch hast du mir erzählt, dass du dich lange Zeit nicht mit Rassismus beschäftigt hast, dass deine Position aber heute, als französischsprachiger Autor, der in einem deutschsprachigen Land lebt, aber auch als Schwarzer Mann, der in Österreich lebt, genauer gesagt in Graz, viel klarer ist. Könntest du die Stationen deines Werdegangs, die geografischen Veränderungen, die historischen Ereignisse und Entwicklungen beschreiben, die deine Vorstellungswelt geformt haben? Fiston Mwanza Mujila: Ich bin in Katanga im Südosten der Demokratischen Republik Kongo geboren und aufgewachsen. Die Region ist weltberühmt für ihre Mineralien – insbesondere Uran, Kupfer und Kobalt. Diese Tatsache findet in meinen Texten Niederschlag, da meine Existenz intrinsisch mit meiner Heimatstadt verbunden ist. Katanga weist alle Merkmale einer typischen Bergbauregion auf. Wir haben den gleichen Bezug zu Zeit, Geld, Handwerk und Familie. Als zu Beginn des Jahrhunderts in der Provinz Katanga Bodenschätze entdeckt wurden, war für die belgische Regierung sehr schnell klar, dass

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sie diese abbauen würde. Doch schon bald stand sie vor einem riesigen Problem: Es gab nicht genug Arbeitskräfte. Also startete sie eine große Rekrutierungskampagne innerhalb der Kolonie, in Ruanda, aber auch in den Kolonien des südlichen Afrikas. Das waren brodelnde, unvorstellbare Zeiten, ein veritabler Goldrausch. Damit die Männer nicht einsam oder depressiv wurden, Heimweh oder saudade bekamen, wurde die Umsiedlung von Frauen und Kindern erleichtert (jedoch ohne die Bevölkerung nach ihrer Meinung zu fragen). Während dieser Massenumsiedlungen kamen sehr viele Luba, von denen auch ich abstamme, mit Sack und Pack nach Katanga. Diese Migrationen und insbesondere die Vorstellung von Zügen im kollektiven Gedächtnis der Luba halten immer wieder Einzug in meine Texte. Zur selben Zeit, als der Zug in Europa mit Fortschritt gleichgesetzt wurde, stand er in Afrika für Entwurzelung, Deportation, Exil, Zwangsarbeit und Einsamkeit. Mein Großvater sprach nie darüber. Die Kolonialisierung war ein Tabuthema. Er und seine Frau wurden ganz unruhig, wenn man Leopold II. erwähnte. In meiner Eigenschaft als Schriftsteller bin ich mir dieses nebulösen Teils der Familien- und Stammes­ geschichte bewusst. Hugh Masekela, ein südafrikanischer Jazz-­ Musiker und eines meiner großen Vorbilder, greift dieses Thema in einem ­seiner berühmtesten Stücke mit dem Titel Stimela (The Coal Train) auf: There is a train that comes from Namibia and Malawi There is a train that comes from Zambia and Zimbabwe There is a train that comes from Angola and Mozambique From Lesotho, from Botswana, from Swaziland From all the hinterlands of Southern and Central Africa This train carries young and old, African men Who are conscripted to come and work on contract In the gold and mineral mines of Johannesburg And it’s surrounding metropolis, sixteen hours or more a day For almost no pay Deep, deep, deep down in the belly of the earth When they are digging and drilling that shiny mighty    evasive stone Or when they dish that mish mesh mush food Into their iron plates with the iron shank Or when they sit in their stinking, funky, filthy Flea-ridden barracks and hostels They think about the loved ones they may never see again

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Because they might have already been forcibly removed From where they last left them Or wantonly murdered in the dead of night By roving, marauding gangs of no particular origin We are told They think about their lands, and their herds That were taken away from them With the gun, and the bomb, and the teargas,   the gatling and the cannon And when they hear that Choo-Choo train A-chugging, and a pumping, and a smoking, and a pushing A pumping, a crying and a steaming and a chugging and A whooo whooo! They always cuss, and they curse the coal train The coal train that brought them to Johannesburg Whooo whooo! Aus diesem Schmelztiegel von Menschen, die in den Süden geschleppt wurden, ist eine Stadt- und Volkskultur entstanden, mit der ich mich identifiziere. Mehr denn als Kongolese, also als Zugehöriger eines bestimmten Landes, sehe ich mich zuallererst als Kind der Minen und der Eisenbahn. Es heißt, dass das portugiesische Wort saudade schwierig zu übersetzen ist. Meiner Meinung nach gilt das genauso für einige der Begriffe aus der Welt der Minenarbeiter von Katanga, wie z. B. mpombé (Bier, das die Arbeiter nach getaner Arbeit in Gemeinschaft trinken und das in der Welt des Bergbaus mit Männlichkeit gleichgesetzt wird) oder mbunga (Mehl, das in der Katanga-Kultur Grundnahrungsmittel ist und täglich gegessen wird). Mit dem Gebrauch dieser Wörter taucht man bereits in die Vergangenheit ein. Meine Eltern wurden in Lubumbashi geboren. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt: K ­ inder des Exils und der Zwangsarbeit … Die Kolonie war weder ein Jardin d’Acclimatation noch ein Kindergarten. Würdest du meiner Mutter sagen, dass sie ein Schwarzes Kind hat, lachte sie dich aus. Mein Onkel Katumbayi würde aufhören, sein Bier zu trinken. Meine Tanten mütterlicherseits würden schäumen vor Wut, wenn man ihnen sagte, dass ich Schwarz bin oder Schwarz geworden bin, wie man’s nimmt. Schwarzer, Farbiger, Neger zu sein – die Liste lässt sich fortsetzen – ist eine Konstruktion. Die Erfindung des Schwarzen hat ihre Wurzeln in uralten Zeiten. Ich hatte meinen Koffer schon vor Ewigkeiten in Europa abgeladen, als ich erfuhr – und das war eine echte Entdeckung –, dass ich Schwarz bin, und mehr noch: ein

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Schwarzer Mann. Mit all den Klischees, die damit verbunden sind. Ein Schwarzer Mann ruft solche Stereotypen auf den Plan wie: Gigolo, sexuelle Zügellosigkeit, gefährlich, gewalttätig, verantwortungslos, Asylbewerber … Im Kongo bin ich kein Schwarzer. Die Identität der Luba besteht aus zwei Polen: der Mensch in Bezug auf sich selbst, das heißt, sein Aussehen, sein Alter, seine Stärken, seine Schwächen, sein Geburtsname etc., und in Bezug auf sein Umfeld und die Gemeinschaft, in der er lebt – die der Lebenden und die der Toten gleichermaßen. Die Toten greifen auf irgendeine Weise in den Zyklus der Lebenden ein, da sie mukushi sind, Wiedergänger, wie man auf Ciluba sagt. In der Kultur der Luba würde man mich als großgewachsen beschreiben, als einen Schriftsteller, der in Europa lebt, und dazu kämen noch meine Tugenden und Schweinereien. Und ich würde immer untrennbar mit meinem Stammbaum verbunden sein: Ich bin das Kind von Mwanza Mujila und Nanga Musadi, der Enkel väterlicherseits von Julienne Odia Mwa Mwanza, der Neffe von Tante Ntumba und Tante Mbuyi und so weiter. Die Vergangenheit ist genauso entscheidend wie die Gegenwart und die Zukunft. Sie bildet das Fundament, auf dem die Welt aufgebaut ist. Übrigens wurde uns von meinen Großeltern, solange ich denken kann, mit derselben Beharrlichkeit, mit der man das Thema Züge in meiner Familie totschwieg, alles über unsere Ahnen beigebracht. Tausende von Namen von Menschen, noch lebend oder schon tot. Das sollte uns mit ihrer Kultur verwurzeln und die Ahnenverehrung in uns wachhalten. Noch heute werde ich von einigen von ihnen heimgesucht oder besucht. Vielleicht habe ich deshalb auf der Bühne immer das Gefühl, nicht allein zu sein, sondern von Alten, Kindern, Frauen und Männern, Lebenden und Toten begleitet zu werden, allen voran von meinem Urahn Tshimbalanga, dem Urahn Mwanza Mukole und Mumbu und Kapolowayi, dem Baum der Geister. In der Religion der Luba heißt es, dass Gott – ganz gleich, ob man ihn jetzt Mvidi Mukulu, Maweja Nangila, Tshiame oder Mamu wa Kanyiki nennt – bis zum heutigen Tag weiter Geister fabriziert. Die Erschaffung (der Welt) ist eine zeitlose Tätigkeit. Die Bühne als Entbindungsklinik. Man hat ständig das Gefühl, dass die Ahnen sich weiter vermehren. Erst nachdem ich eine gehörige Portion Rassismus abbekommen hatte, wurde mir plötzlich klar, dass ich tatsächlich Schwarz geworden war. Rassismus ist so abstrakt, wenn man die Erfahrung nie gemacht oder ihn nicht im Alltag erlebt hat. Seine Wurzeln liegen unter ­anderem in der Kolonialisierung und der Sklaverei. Die

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­ orstellung und S V ­ ichtweise des Westens auf außereuropäische Völker hat sich j­ahrhundertelang entwickelt (durch seine Geografen, Philosophen, Reisenden, Ethnologen etc.). Rassismus, wie auch Antisemitismus, schöpft aus diesen abwertenden Diskursen. Zu unterscheiden sind der Alltagsrassismus und der strukturelle oder institutionelle Rassismus. Beide sind so schädlich wie die Pest oder die Pocken. ­Rassismus ist wie ein winziges Tier, das im Inneren deines Körpers an dir nagt und täglich deine Speiseröhre hinauf- und hinunterkriecht, deine Lunge zerfrisst und sich an deinem Blut labt, wie andere Leute an Rotwein … Meine Identität hat sich erweitert durch den geografischen Raum, den ich durchwandert bin. Ich habe mich in Deutschland, Belgien und Frankreich aufgehalten. Das hat auch mein literarisches Universum vergrößert. Früher habe ich nur über Afrika und den Kongo geschrieben. Das war mein Jagdrevier, meine Weltkarte. Mittlerweile umfasst meine Palette ein recht breitgefächertes Spektrum: Kolonialismus, Einsamkeit, Exil, Erbe, Tradition, Sprache … Die Figuren in meinen Theaterstücken sind Europäer und leben in den Bergen oder an heterotopen Orten. Die Figuren in meinen Romanen und Kurzgeschichten sind überwiegend Afrikaner. In meinem Kopf gibt es keine Barrieren, Checkpoints oder Grenzen. Vielmehr bin ich zu einer Welt verschmolzen, einem Land voller Flüsse, Ströme, Züge, Ahnen und vor allem Träume. Ich bin sozusagen die Summe mehrerer Minderheiten: Ich bin frankophoner Schriftsteller zweiten Grades (der Kongo ist eine ehemalige belgische Kolonie), Schwarzer in Europa und somit Angehöriger einer Minorität, geboren und aufgewachsen in Lubumbashi, einer Provinzstadt, und lebe jetzt in Graz, in der Steiermark und schreibe damit irgendwie im Abseits (und nicht in Paris, der Hauptstadt der französischsprachigen Literatur). Ich bin ein Schriftsteller der Peripherie. Ich schreibe von Graz und Lubumbashi aus. Diese beiden Städte sind die Ausgangspunkte meines Wirkens, von denen aus ich die Welt betrachte und sie nach den Maßstäben meiner Subjektivität interpretiere. Neben deiner ungewöhnlichen Stellung im Bereich der Literatur als Schriftsteller der Peripherie zeichnet dich auch deine außergewöhnliche Vielsprachigkeit aus. Deine Theaterstücke schreibst du auf Französisch, aber auch auf Deutsch, eine Sprache, die du erst später gelernt hast. Wird dein Schreiben auch durch deine anderen Sprachen, die du früher gelernt und gesprochen hast, beeinflusst? Hast du manchmal das Gefühl, »zwischen den Sprachen« zu schreiben?

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Eine Welt in Aufruhr

In meinen Texten verwende ich mehrere Sprachen, die ich im Alltag nicht mehr spreche, weil es keine Möglichkeit (oder Gelegenheit) dazu gibt, ausgenommen vom Deutschen, das meine sechste Sprache ist. Es kommt nicht so häufig vor, dass man in Österreich auf Menschen trifft, die Lingala, Swahili oder auch nur Französisch sprechen. Ich sehe mich selbst als einen linguistischen Staatenlosen. So wie Leute, die auf der Suche nach dem Paradies oder hypothetischen Ländern sind, versuche ich, die Ursprache zu finden. Dadurch dass ich die Sprachen, die ich beherrsche, nicht regelmäßig spreche, werden sie zu brennenden Sonnen, unbezwingbaren Festungen und manchmal zu Flüssen, die mich in den Ozean spülen. Ich meine damit, dass es nicht nur Vorteile hat, mehrsprachig zu sein, vor allem als Schriftsteller in einem Land, das nicht einmal das Land der zweiten oder dritten Sprache ist. Es gibt diese Realitäten, die man nicht aussprechen kann. Man merkt sehr schnell, dass man keine Muttersprache mehr hat und auch keinen Ersatz. Allenfalls ein wackeliges Konglomerat von ­Wörtern. Und so wird das Schreiben zu einem ständigen Prozess der Wiederaneignung und (Neu-)Erfindung verschütteter Gebiete. Französisch ist meine erste Arbeitssprache. Allerdings habe ich sie nicht selbst gewählt, sie wurde mir an den Kopf geknallt. Ich schreibe auf Französisch, weil der Kongo von Belgien kolonisiert wurde. Es ist die Sprache, für manch einen ist sie sehr schön, in der meine Vorfahren (die Tshimbalanga, die Mwanza Mujila, die Mwamba Kabuya …) versklavt, entmenschlicht, als Wilde, als Untermenschen betrachtet, entwurzelt, zu Tausenden in die Minen geschickt oder zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Und kommt mir jetzt nicht damit, dass das alles alte Geschichten und Nostalgie sind. Meine Eltern wurden zur Zeit des Belgisch-Kongo geboren. Genau wie meine Großeltern. Und meine Urgroßeltern … Es ist weit weg, aber gleichzeitig nah. Die Erinnerung an Vergewaltigung, Erniedrigung, kurz, an jede Form von Gewalt überdauert die Zeit und kann sogar wie eine Erbkrankheit weitergegeben werden. Um auf die französische Sprache zurückzukommen: Ich wurde immer gefragt, ob ich die französische Sprache liebe. Aber muss man sich unbedingt in eine Sprache verlieben, um sie als Arbeitssprache zu nutzen? Ich bin kein fanatischer Anhänger der französischen Sprache. Aber ich hasse sie auch nicht. Ich nutze diese Sprache einfach zum Schreiben, so wie man Wasser trinkt oder etwas isst. Sie ist zu mir gekommen. Aber ich bin mir ihrer Gefährlichkeit bewusst, der Gefährlichkeit jeder Sprache, was die Macht betrifft. Ich bin mir bewusst, dass sie eine ehemalige Kolonialsprache ist und später zur offiziellen Sprache im Kongo bestimmt wurde.

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Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Charlotte Bomy

Mir ist bewusst, dass es auch ein gewisses Abschreckungspotential besitzt, wenn ich auf dieser Sprache schreibe und sie perfekt beherrsche – vor allem im afrikanischen Kontext, wo eine gute Schulbildung vonnöten ist, um sie zu erwerben. Ist das der Grund, warum meine Großeltern mich groß ansahen, wenn ich auf Französisch gesprochen habe? In ihren Augen hatte ich damit zwangsläufig nicht nur eine Sprache in der Hand (oder im Mund), sondern auch ein Mittel der Unterdrückung, eine Waffe … Und außerdem wussten sie, was ich erst viel später erfuhr, dass nämlich mein Exil begann, als ich anfing, die französische Sprache zu sprechen; dass ich mit dem Erwerb der französischen Sprache meine Fähigkeit einschränkte, Ciluba (ihre eigene Sprache) zu beherrschen und somit unwissentlich ein paar Äste meines Stammbaums absägte. Die Menschen, die meine Gedichte lesen, wissen, dass meine gesamte Arbeit als Barde darin besteht, eine verlorene Welt neu zu erschaffen, die Welt meiner Vorfahren und meiner Familie. Mein lyrisches Universum ist ein Album, ein Pergament, die Spur der Schlange im Sand, der Regenbogen (Mwanza Nkongolu auf Ciluba) am Himmel, der Regen, der die Junihitze besänftigt. Ich evoziere Familienmitglieder, meine Kindheit, die Minengesänge. Diese Rückeroberung des »alten« Raums erfolgt durch die Kreation einer darunterliegenden Sprache. Selbst wenn ich auf Französisch schreibe, vermischen sich all die anderen Sprachen mit ihr und atmen in ihr. Französisch ist wie ein Fluss. Die anderen Sprachen sind Nebenflüsse. Kein Fluss kann ohne seine Nebenflüsse existieren, sie sind es, die den Fluss speisen. Genauer gesagt übersetze ich Wendungen und Ausdrücke (aus Swahili, Ciluba, Lingala …) wortwörtlich ins Französische. Oft füge ich auch Begriffe aus anderen Sprachen in meine Gedichte ein – ohne sie zu übersetzen – wie in der Sammlung Der Fluss im Bauch / Le fleuve dans le ventre. Édouard Glissant, ein Schriftsteller und Philosoph aus Martinique, sprach sich für das »das Recht auf Undurchsichtigkeit« aus. Ich lege keinen Wert darauf, meine Texte mit Fußnoten zu bevölkern, genauso wenig wie man kongolesischer Staatsbürger sein muss, um die Labyrinthe meines Schreibens zu durchstreifen. In dieser Sammlung nähren mindestens sechs Sprachen das Französische – oder das, was das Französische sein könnte. Aber ich stelle keine theoretischen Überlegungen zu meiner Lyrik an und habe auch nicht die Zeit und Muße für einen solchen Diskurs. Ich schreibe einfach. Ich schreibe und dabei bin ich mir meines Lebenswegs und meiner Abstammung bewusst. Ich bin kein Revolutionär (der Sprache oder von sonst etwas). Und ich glaube auch an keine Revolution. Ich glaube an Nanga, meine Mutter,

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Eine Welt in Aufruhr

an den Uhrahn Tshimbalanga, an die Baumgeister – zumindest weiß ich, worum es eigentlich geht. Meine Lyrik (der letzten Jahre) ist vom Kasala inspiriert, einem traditionellen Luba-Gesang, der aus einem Epos über eine reale oder fiktive Person besteht. Diese literarische Gattung erreicht ihre Musikalität durch Aufzählungen, Wiederholungen und ausschweifende Metaphern. Seit einigen Jahren schreibe ich auch auf Deutsch. Das kam ein bisschen zufällig … Ich habe an einigen Werkstätten und Seminaren zum dramatischen Schreiben teilgenommen und in diesem Zusammenhang Turrini, Brecht und Jelinek gelesen. Es ist wie die Aufgabe eines Nachtwächters. Ich weiß nicht genau, wie man es erklären soll. Muss man immer alles erklären? Auf Französisch oder Deutsch zu schreiben, ist wie eine Reise. Deutsch habe ich erst spät gelernt und Französisch ist nicht Teil meines täglichen Lebens. Schreiben bedeutet, auf Wanderschaft zu gehen, ein Risiko einzugehen, gegen den Strom zu schwimmen, bodenlose Tiefen auszuloten, einen Rettungsanker in der Sprache zu finden. Wenn ich auf Deutsch schreibe, probiere ich aus, suche nach Wörtern und wäge sie ab, wie die Braut, die auf der Suche nach dem perfekten Kleid für ihren großen Tag ist. Es gibt keinen endgültigen Text auf Deutsch. Arbeite ich hingegen an einem französischen Text, befinde ich mich an einem Traumort. Im Traum gibt es keine (Mutter-)Sprache. Denn die Sprache des Traums ist transparent. Könntest du etwas über die Bedeutung von Jazzmusik in deiner Arbeit erzählen, insbesondere über deine Erfahrungen beim Schreiben mit Jazzmusikern? Der Text ist für mich ein Gefängnis, ein Zuchthaus, ein geschlossener Ort, in dem es höchstwahrscheinlich vor Eidechsen, Krokodilen und Mungos wimmelt. Die Wörter sind in einer Zelle: Sie sind gefangen und haben kein Wasser. Es gibt nicht genug zu essen. Ihr rechtes Bein ist verkrüppelt, sie haben die Pocken oder sogar die Schlafkrankheit. Durch das Lautlesen werden sie von ihrem Fluch befreit. Die Performance ist die Erweiterung des Schreibens, so sehe ich das. Die Deklamation an sich besitzt eine mystische Kraft. In der Kultur, aus der ich komme, heißt es, dass das Wort tötet, dass das Wort aufbaut, dass das Wort den Regen stoppt … Einen Text zu sprechen oder zu singen verleiht ihm eine neue Färbung. Es erneuert ihn. Keine Performance ist gleich. Und Improvisation und Variation eröffnen neue Wege, die es zu erforschen gilt.

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Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Charlotte Bomy

Musik war in meinem unbedeutenden Leben schon immer präsent. Mein Großvater war Barmann. Einer der schönsten Berufe, die es gibt. Denn seine Bar war nicht nur eine Bar, sondern ein Hafen, und seine Gäste waren Matrosen. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an die Menschen erinnern, die dort an Land gingen und an die Musik, die dort gespielt wurde. Eine intellektuelle Rumba. Ich weiß nicht, ob es an dieser Kindheit liegt, dass Rhythmus und Takt mein Schreiben bestimmen. Schon im Kongo habe ich mit Freunden Lesungen an öffentlichen Begegnungsorten organisiert. Als ich meinen Koffer im Westen ablud, begann ich aktiv mit Jazzmusikern, aber auch mit ­Musikern anderer Stilrichtungen zu spielen. Neben dem Rezitieren der Texte imitiere ich beim Jazz mit meiner Stimme die Musikinstrumente, unter anderem das Saxofon. Ich erzeuge alle möglichen Geräusche mit meiner Stimme. Manchmal singe ich auch. Und ich benutze das Lachen so wie Mongezi Feza seine Trompete. In der deutschen Hauptstadt bin ich mehrmals mit einem Ensemble aufgetreten, bestehend aus Ben Kraef (Saxofon), Marco Mingarelli (Schlagzeug), Fyodor Stepanova (Bass) und Denis Abrahams, seligen Angedenkens, seines Zeichens Sprecher. In Österreich spiele ich seit zehn Jahren mit dem Saxofonisten und Komponisten Patrick Dunst. Ich zehre sehr vom südafrikanischen Jazz, der ein Instrument im Kampf gegen die Apartheid war und dessen Form die urbane und traditionelle Musik Südafrikas einschließt. Ich bin kein Musiker. Ich bin ein mwena Kasala, ein Dichter und Erzähler von Legenden und alten Zeiten, wie Kaku Mpinda, meine Urgroßmutter, die dir, weil sie so lange gelebt hat, tage- und nächtelang aus ihrem erfüllten Leben erzählen konnte. Da wo ich herkomme, in der Kultur meiner Großeltern, ist der Dichter gleichzeitig ein Musiker – zumindest in seiner Freizeit. Ich möchte als alter Mann sterben, über hundert Jahre alt werden. Nicht, um möglichst viel zu erleben. So viel ist auf der Erde der Menschen und Tiere nun auch wieder nicht los. Ich möchte alt werden, um zu erzählen. Es gibt Dinge, die die man erst erzählen kann, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat. Beim Älterwerden sammeln wir Erinnerungen. Und je mehr Erinnerungen jemand sammelt, desto mehr Welten hat er zu erzählen. Und es ist ein unfassbares Glück, wenn man gesehen hat, wie Sonnen untergehen, Kriege vorübergehen, Meere versiegen und dann eines Tages, zwischen zwei langen Seufzern, zu erzählen beginnt. Eines Tages werde ich die Geschichte meiner Mutter und meines Vaters erzählen und von der Wanderschaft meiner Großeltern in der Kolonialzeit. In dieser großen Erzählung des Lebens werde

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ich vom Sambesi-Fluss sprechen und vom Lubilanji-Fluss, von den Namen des Herrn der Mutter Tshiame, von den Eisenbahnen, den Diamanten aus Kasai und dem Uran aus Shinkolobwe (mit dessen Hilfe die Atombombe auf Nagasaki geworfen wurde), von den Vulkanen im ­Ostkongo, von Lumumba, vom Fußball, vom Graz der 1960er Jahre, von der S ­ porgasse, aber auch von der Musik. Deine von dieser Mündlichkeit geprägten Werke stellen eine echte Herausforderung für das Theater dar, wenn die Inszenierung von dieser einzigartigen, von anderen Sprachen durchzogenen und Polyfonie erzeugenden Sprache ausgeht. Elfriede Jelineks Texte stellen in einem ganz anderen Genre ebenfalls eine Herausforderung oder einen schwer zu überblickenden Vorschlag für das Theater dar: Indem sie mit Assoziationen arbeitet, schafft sie ein Gewebe aus sich überlappenden und überlagernden Stimmen, aus dem sich ihre ex­ trem verdichteten und vielschichten Texte speisen. In beiden Fällen handelt es sich übrigens um Choralität, die schwer zu übersetzen ist! Du hast ein Stück auf Deutsch geschrieben, Nach den Alpen/ Après les Alpes, das eine Art Antwort auf Jelineks In den Alpen ist. Wie genau lautete der Auftrag? Ich wurde gebeten, mich mit dem Stück In den Alpen von Jelinek auseinandersetzen. Der Auftrag war nicht präzise formuliert, anspruchsvoll und eröffnete folglich einen großen Spielraum an Möglichkeiten. Von Anfang an waren wir uns über einige Punkte einig. Ich war nicht Frau Jelinek. Ich konnte und wollte (auf keinen Fall) ihre Schreibweise und ihren Stil imitieren, ihre Vorstellungswelt reproduzieren, aus ihren Figuren und ihrer Thematik schöpfen, ein neues In den Alpen oder dessen Fortsetzung schreiben. Ich musste Abstand ­nehmen, um einen tragfähigen Angriffswinkel zu finden. Diese Distanz schlug sich im Titel des Stücks nieder: Après les Alpes – so der französische Titel. Wie bin ich vorgegangen? Zunächst habe ich In den Alpen erneut gelesen, das ich vormals in einem anderen Zusammenhang gelesen hatte. Dann habe ich den ersten Entwurf meines Textes geschrieben. Ich suchte nach Parallelen zwischen den beiden Texten. Ein kurzer Essay von Aimé Césaire kam mir dabei zu Hilfe. In seinem berühmten D ­ iscours sur le colonialisme / Über den Kolonialismus stellt der Schriftsteller und Politiker aus Martinique eine klare Verwandtschaft ­zwischen Nationalsozialismus, Kapitalismus (eins der Themen von Jelinek) und Kolonialismus und seinen Verzweigungen Rassismus usw. her. Ich habe mich den Alpen als »heterotopischem« Raum und

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Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Charlotte Bomy

Nicht-Ort aus einer postkolonialen Perspektive genähert. Das koloniale Unterfangen war unter anderem verbunden mit der Eroberung und Domestizierung des physischen Raums, die aus dem resultierte, was Afrika für die Kolonialmächte darstellte und hervorrief: Träume, Fantasien und Myriaden von Illusionen, Exotik, Heidentum, rechtsfreie Räume, Rohstoffe … Die Handlung ist ganz einfach. In den Alpengipfeln werden Rohstoffvorkommen entdeckt. Dadurch wird ein wahrer Geldrausch losgetreten. Die Alpen werden versteigert und nach dem Vorbild der Kolonien ausgebeutet. Die beiden Texte werden nacheinander gespielt. Ich freue mich schon auf die Alchemie oder die Katastrophe, die die Doppelaufführung auslöst.

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Vor Sonnenaufgang

Ewald Palmetshofer

Vor Sonnenaufgang nach Gerhart Hauptmann Die Geschäfte im Hause Hoffmann laufen gut. Die Geburt des Stamm­ halters steht kurz bevor. Helene kehrt zurück, der Schwester beizuste­ hen. Und trifft im Elternhaus auf Loth und mit ihm auf die Liebe. Die Zukunft scheint verheißungsvoll. Doch leider ist das Fundament der Menschlichkeit längst morsch geworden. Und als das Unglück kommt, da ist der Mensch sich selbst am nächsten. Eindringlich und klar schreibt Ewald Palmetshofer Gerhart Hauptmanns »soziales Drama« neu und übersetzt es in die Gegenwart. Die Frauen erblühen bei ihm zum Leben. Leiderprobt, aber trotzig richten sie den Blick in die Zukunft. Und wo zu Beginn noch Hoffnung keimt, die palmetshofersche Übertragung könne vielleicht ein gutes Ende nehmen, da zeigt sich schnell, dass auch im Hier und Jetzt der Mensch dem Dunkeln nicht entkommen kann. Es scheint, als hätte die Nacht den Tag am Ende einfach so verschluckt. Kein Sonnenaufgang. Gar nicht mehr. LOTH – komisch, oder, Thomas? wie unterschiedlich wir geworden sind HOFFMANN was meinst denn damit jetzt? – naja, das warn wir immer schon LOTH wahrscheinlich ja dann hat sich einfach nur die Welt verändert HOFFMANN da kannst du Gift drauf nehmen das hat sie ganz bestimmt entspann dich, Alfred da können wir persönlich nichts dafür das macht sie, seit sie auf der Welt ist, dauernd und weißt du was: sie hört nicht auf damit LOTH wir auch nicht, oder? und wenn ich uns so anschau und wie du geworden bist – HOFFMANN ach ich bin ich geworden irgendwie

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Ewald Palmetshofer

intressant wie bin ich denn geworden? sag schon raus damit du kennst mich offenbar so gut zehn Jahre nichts dann auf Besuch und sitzt paar Stunden bei mir rum und plötzlich kennst du mich dann los erzähl wie bin ich denn? LOTH – ich hab da eine Schwäche, Thomas schlechte Angewohnheit vielleicht ein bisschen peinlich, muss man sagen wenn ich am Schreibtisch sitz und abschweif vorm Computer schau ich hin und wieder nach nach alten Freunden aus der Schule, aus dem Dorf, aus dem ich komm, der Uni und schau, was die so tun, was sie geworden sind geb in die Suchmaschine geb ich Namen ein bei vielen weiß ich gar nicht mehr, wie man die schreibt da muss man dann ein bisschen rumprobieren bis man sie findet und natürlich – manche, viele fand ich nicht ob die noch leben? fragt man sich ganz kurz in unsrem Alter leben nicht mehr alle muss man sagen leider von einem Schulfreund fand ich nur ein Foto das ihn vor einem Ungetüm von einem Traktor zeigt fast so riesig wie ein Haus den hat er sich gekauft anscheinend wie zahlt man das? hab ich gedacht mehr fand ich nicht nur dieses eine Foto ein Mann vor seiner Sorge, seinem Glück

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Vor Sonnenaufgang

die Arme lässt er hängen links und rechts hab rangezoomt kein Ehering, soweit man sehen konnt, an seiner Hand lebt der allein am Hof mit Kühen, Schweinen, alten Eltern? zahlt lebenslänglich – dacht ich – diesen Traktor ab, wenn der schon lang kaputt – dich, Thomas, fand ich vor paar Jahren wieder aus der gleichen Laune, Stimmung, Nostalgie wahrscheinlich ich weiß nicht, was fielst du mir wieder ein da musst du grad hierhergezogen sein standst auf der Firmenhomepage auf einem Foto klein im Hintergrund bald tratst du in die erste Reihe vor ins Licht HOFFMANN wow! – so hab ich das noch nie betrachtet »ins Licht trat ich« so hat sich’s gar nicht angefühlt ich würd dazu ganz einfach sagen nicht so blumig selbstverständlich ich hab gearbeitet – sag, Alfred kann’s sein, ist’s möglich nichts für ungut frag nur dass du einfach einsam bist – wenn ich mir vorstell, wie du sitzt vermutlich nachts nach Menschen suchst, die du gekannt hast lernst du keine neuen Menschen kennen? das ist doch traurig du, die Suchmaschine Namen eintippst, die du nicht mal mehr erinnerst Katzenfotos und Traktorn likest du das auf Facebook, oder was?

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Ewald Palmetshofer

wie soll ich mir das vorstelln, Alfred? wie lange bist du schon allein, hast du gesagt? naja ich glaub, auf jeden Fall zu lang sag, hast diese alten Freunde, Fremden, die Bekannten, andern hast die auch besucht? oder nur mich? – ich nehm noch einen magst du auch? LOTH ich hab vielleicht ein bisschen zu weit ausgeholt HOFFMANN nein gar nicht sehr erhellend alles – was kann ich, Alfred, tun für dich? LOTH wir driften HOFFMANN bitte, was? LOTH wir driften auseinander ich red nicht nur von uns die Menschen alle HOFFMANN versteh und das liest du aus Katzenfotos? LOTH jetzt hör doch auf mit diesen scheißverdammten – nein natürlich nicht du weißt genau, wovon ich red die Menschen sagen das sie schreiben das mit andern Worten, klar, und ohne Namen sie schrein’s einander gegenseitig ins Gesicht, wenn’s sein muss oder sie verstummen im Dorf von meinen Eltern grüßt man sich seit neuestem nicht mehr, wenn man politisch anderer Gesinnung ist seit dieser – Krise und das war nicht die Suchmaschine meine Mutter hat mich angerufen »sag, weinst du, Mama?«, sag ich

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Vor Sonnenaufgang

»nein«, log sie, »ich bin verkühlt« das mein ich mit »driften« »auseinander« das HOFFMANN und wer hat Schuld daran? LOTH und dann kommst du HOFFMANN ach, ich? LOTH genau betrittst die Bühne politisch neuerdings und faselst von »Eliten« »denen oben« brunzt rund um dich Entschuldigung für den Gemeinderat natürlich nur seltsam, dass sich das mit deinem Brotberuf nicht beißt egal dann wird gelabert sag, wer sind denn »die da oben« – würd mich brennend intressiern – wenn nicht vielleicht auch du? dann kommt – verzeih! – die Märchenstunde ein Heldenepos deines Aufstiegs, Fleißes gegen alle Widrigkeiten die natürlich auch von oben kamen, wo du – seltsam – selbst zwar bist und eigentlich auch immer warst egal! das muss an deiner neuen Wahl-Familie liegen, die du zwar durch eine Hochzeit nur betratst, doch ideell, ja fast schon geistesmäßig, wertetechnisch ganz vom gleichen Schlag was euch man Hindernisse legte in den Weg empörend aber ihr, an erster Stelle du natürlich alldem zum Trotz gingt siegreich aus dem Kampf hervor und stiegt nicht aufzuhalten ihr empor und zwar das ist der Kern der ganzen Sache aus eigner Kraft

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aus einem Trotzdem raus es gibt dem Sieger der Erfolg wie immer recht, den er – das heißt jetzt »du« – nicht grade wegen des Systems, nein, nein, dagegen durchgesetzt Entschuldigung, das leuchtet ein, ist wirklich sonnenklar: die Bildung, die die Gemeinschaft finanziert und angedeihn dir ließ, gabst du dir selbstverständlich selbst zu schweigen ganz von deiner Herkunft deinem Elternhaus das warst du ganz allein man muss ja nicht von Klasse immer sprechen, völlig aus der Mode, und sein wir ehrlich, eine linke Phantasie, total und was den Rechtsstaat anbelangt, den wir alle mühsamst hier betreiben, den musst wohl du erfunden haben, kann nicht anders sein, nachdem du alles selbst gemacht natürlich nur in seiner schlanken Form nicht das »Betonsystem«, wie du es nennst und sollten mal die Banken, die dein Zukunftsunternehmen finanziern, wenn sie bankrott gehn – kann passiern –, dann kaufst du sie ganz einfach selber auf, ich mein, man kennt sich ja, und unter Freunden und wenn wir schon beim Unvorhergesehnen sind: wenn einer deiner Arbeiter erkrankt, hast du privat – du blickst voraus – schon Ärzte ausgebildet längst, die ihn versorgen, finanziert von einem höchst komplexen, von dir ausgeklügelten System – du nennst es Krankenkasse – fabelhaft! die Straßen, die du nützt, um Deine Güter zu vertreiben – von dir und deinesgleichen ganz allein errichtet und instand gehalten alles das der ganze Unterbau, das Geflecht an öffentlichen Gütern, Werten, Sicherheiten und Strukturen der Gemeinschaft – als wahrer Leistungsträger warst und bist das alles du verständlich, dass dich ärgert, wenn die da oben dann so mir nichts, dir nichts angeschissen kommen und dir das Geld postwendend wieder aus der Tasche ziehn, um es den Faulen – fast egal woher sie kommen – in ihrer Hängematte des Sozialen in den Arsch zu schieben völlig nachvollziehbar echt wenn man die Prämisse teilt der Rest ergibt sich ganz von selbst

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Vor Sonnenaufgang

HOFFMANN bist du fertig, Alfred? – schön versteh jetzt hast mir’s aber richtig rein gesagt Respekt und dafür bist du also hergekommen extra? das hättst mir auch schreiben können, Alfred per E-Mail beispielsweise du bist ja gern im Internet nicht wahr? ich find, das hätt genügt – gibt’s sonst noch was? LOTH das glaubst du alles doch nicht wirklich oder? HOFFMANN nein natürlich nicht nicht wörtlich nur im übertragnen Sinn LOTH oh wie in der Bibel? HOFFMANN ja genau wie die Bibel – noch einen Schluck? – komm schon wir erzählen doch Geschichten, Alfred ganz einfach Geschichten mehr nicht wir sind alles Geschichtenerzähler und zumindest wir erzählen sie so, dass sich die Menschen darin finden können in Teilen im übertragnen Sinn und wenn wir sie gut erzählen ganz leicht an der Wirklichkeit vorbei ein bisschen größer schärfer

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Ewald Palmetshofer

einfacher deutlicher das Leben ist so undeutlich da müssen unsere Geschichten nachhelfen ein bisschen nur und dann, wenn es uns gelingt dann erkennen sich die Menschen in dem, was wir erzählen, selbst wie sie sind wie sie sein wollen wie sie im besten Fall sein könnten, wenn sie nicht so unheilbar sie selbst wären ich bin bloß eine Metapher, Alfred ich erzähle nicht von mir, wenn ich von mir erzähle ich weise von mir weg aufs andre, auf die andern auf die Geschichten der Menschen auf sie selbst wie ihr Geld verschwindet wie’s nicht reicht wie sie das netto vom brutto nicht begreifen wie sie nachts nicht schlafen können wie sie sich sorgen wie sie zornig sind wie sie nicht verstehen, dass es ihnen nicht besser geht, aber den anderen anscheinend schon, was zugegeben in den meisten Fällen eine falsche Einschätzung ist wie sich in ihnen die niedrigsten Empfindungen regen und sie damit alleine sind wie sie Angst haben vor morgen und übermorgen und allen Tagen danach und wie sie hungern nach Geschichten, in denen sie selber vorkommen darum erzähle ich darum erzählen wir und darum muss die Wirklichkeit darin nicht real sein, sondern hyperreal, anschlussfähig für die Erzählungen der Menschen für ihre eigenen das ist repräsentative Demokratie, Alfred das ist Politik

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das ist unsre Meta-Politik wenn ich in meiner Geschichte fleißig bin, dann nicht, weil ich fleißig bin, das interessiert keine Sau, sondern weil ich damit den Menschen erzähle, dass sie es sind dass sie fleißig sind ob sie’s sind oder nicht wer sagt ihnen das denn schon, wenn nicht wir? ihr ja offenbar nicht LOTH dann hab ich mich ja offenbar getäuscht von einem, der auszog eine Metapher zu besuchen dann bist du ja gar nicht du dann bist das nicht du, was ich gelesen hab und wer hier spricht HOFFMANN doch, doch ich bin’s im übertragnen Sinn LOTH fick dich Auszug aus: Ewald Palmetshofer, Vor Sonnenaufgang nach Gerhart Hauptmann, ­Auftragswerk für das Theater Basel © S. Fischer Verlag 2018

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Ewald Palmetshofer

Ewald Palmetshofer

faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete »Wenn das vergangene Jahrhundert das der Raserei nach dem Totalen war, so rasen wir noch immer, ohne Politik und schön privat, von einem Pro­ dukt zum nächsten, bis nur noch eines zu konsumieren bleibt: der Neben­ mensch. Nicht ein Wolf ist der Mensch dem Menschen. Er ist ihm Produkt, die totale Ware ist er ihm. Wenn da nur nicht allerorts das Auge der Kame­ ras die Menschenprodukte platzierte – diese globale Öffentlichkeit des Unglücks – und einem das teuer erkaufte Produkt Mensch kaputt machte, mit seinem Glücksmehrwert, den man ihm abpresst. Man müsste ihn sich einverleiben können, diesen Nebenmenschen, bevor er einem vom ande­ ren Menschen vergällt wird, man müsste ihn essen können, bevor er ver­ dirbt und zu stinken beginnt. Man hätte Hunger genug.« (Ewald Palmetshofer)

(20) ANNE fick dir dein Totales selber rein mit deinem bürgerlichen Hunger nach dem Himmel, aus dem du Gott sei Dank herabgestiegen, was die Proletenfotze, die ich leider bin, nicht so beeindruckt hat, das hat mich leider nicht so sehr beeindruckt, dass so ein Gott wie er vom Himmel niedersteigt und hat sich trotzdem dann, da hält die Welt den Atem an er hat’s versucht nicht einen Kern gefunden und ist aus meinem Körper nicht mit einem Funken auf der Spitze wieder aus mir raus, hat’s oft probiert mit einem Fanatismus vögelnd in mir drinnen nach dem Licht gesucht kein Totales in mir drin gefunden dass sich das Proletariat, zu dem ich leider zähl, nur nach dem Bürgerlichen streckt und sich das Bürgertum wie er zum Glück noch nach dem­ ­Ideellen reckt ich fürs Eigentliche nicht geborn dann braucht’s ein Morgengraun die Plastiktasche gut gefüllt

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faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete

gefüllt mit einem Kern, der kurz geschrien kein Bett aus Moos gebaut der Wecker in mir drinnen tickt und rinnt die Gülle meine Beine runter ich werd

denk ich der Wald hat Durst von einem Baum getrunken

(21) TANJA sie ist in den Wald PAUL ja verdammt, in den Wald INES ein Wald ist ein Wald ist ein Wald das weiß man schon verdammt ROBERT und so ein Vorkommen, ein lokales global ist das der Welt das geht global der Welt am Arsch vorbei TANJA wir gehn der Welt auch global am wir gehn der auch vorbei global PAUL und wir haben die auch nicht mal richtig gekannt weiß ich auch nicht, was wir hier erzählen sollen ja, in den Wald weiß ich auch nicht ROBERT wir distanzieren uns von den Vorkommnissen TANJA den Vorkommnissen vor Ort, lokal INES im Wald ROBERT im Land, ja, Kontinent TANJA den Vorkommnissen der Welt grundsätzlich ROBERT die Welt, die lässt man sich PAUL die macht uns keiner schlecht INES kaputt TANJA die Welt ROBERT und so ein Glück, lokal TANJA da distanziert man sich PAUL so eine Welt, die macht uns keiner schlecht INES nur weil sie in den Wald ROBERT und eine Rückkehr PAUL der Mensch kehrt immer

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Ewald Palmetshofer

INES dorthin, woher er ist, kehrt er zurück ROBERT der Mensch ist ein Rückkehrer TANJA ist ein Wiedergänger PAUL aus psychologischer Sicht war das eine Rückkehr so viel kann man sagen verdammt INES wir waren nicht im Wald TANJA konnt man lesen, überall PAUL dass das aus psychologischer Sicht ROBERT ein Mörder kehrt immer zum Tatort INES in den Wald TANJA der Wald war kein Tatort ROBERT trotzdem eine Rückkehr TANJA war kein Tatort bevor sie in den Wald PAUL aus psychologischer Sicht eine Rückkehr in die Kindheit zurück vielleicht keine schöne Kindheit TANJA wissen wir nicht ROBERT man wird Lehrer fragen, die Lehrer von damals TANJA man wird auch die Eltern fragen INES das kann ihnen jetzt keiner ersparen PAUL gewöhnliche Leute sind das INES im Ort gibt’s keinen Pfarrer mehr TANJA das hat jetzt damit nichts zu tun ROBERT was soll das damit zu tun haben, dass die keinen Pfarrer TANJA das hat jetzt wirklich nichts damit INES ein Pfarrer ist eine gute Quelle, und eine zuverlässige vor allem PAUL man wollte den Pfarrer fragen INES aber der Pfarrhof steht leer TANJA man prüft zur Zeit, wen sie PAUL und wer der Vater ist INES ihr Zustand kritisch ROBERT sie ist die Erste nicht und trotzdem einzigartig eine schöne Geschichte PAUL sie setzt Unterschiede außer Kraft sie überwindet Klassen, Rassen und Geschlechter kennt keine Differenz TANJA sie ist das FÜR sie stellt das Eine Allen zu

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faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete

PAUL dem Einzelfall entnommen extrahiert ROBERT ein Handwerk ist das TANJA Alchemie, Chemie, ist Pharmazie ROBERT wird eingedampft und destilliert, versetzt PAUL entzogen die Essenz verabreicht dann in kultivierter Form INES man führt das Ausgeschiedene zum Heilmittel geklärt der Allgemeinheit zu PAUL man muss das Ausgeschiedne der Geschichte in kleinen Dosen wieder zu sich nehmen INES an Schadstoffe PAUL und Gifte INES muss man sich gewöhnen PAUL ist ein Impfstoff ROBERT die Geschichte sie PAUL verweile doch TANJA du Reh INES so schön ROBERT der Wald PAUL verstehn sogar die in der Wüste INES in Burma, Birma, Ghana was weiß ich im ewgen Eis PAUL das Bild ROBERT den Wald Auszug aus: Ewald Palmetshofer, faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete, Auftragsarbeit für das Schauspielhaus Wien © S. Fischer Verlag 2009

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Martin Jörg Schäfer

Martin Jörg Schäfer

Aushaltbarkeit Übers Adaptieren bei Ewald Palmetshofer Als jemand, der sich berufsmäßig mit Literatur und Theater beschäftigt, bringe ich ein paar professionelle Deformationen mit, ebenso ein paar tote Winkel. Auch für Ewald Palmethofers Dramen und die Wucht, mit der sie in das Gegebene eingreifen, um es anders sprachlich zu fassen und in seiner Dunkelheit und Kompliziertheit zumindest einige Aspekte »anschaubar« zu machen. (M)ein toter Winkel: Ich habe »schon immer« gerne Dramen und Theatertexte gelesen; ich bin »schon immer« gerne ins Theater gegangen. Nur habe ich trotzdem (und für mich selbst immer wieder überraschend) bei der Lektüre sehr wenig szenische Fantasie, höchstens vielleicht beim konventionellsten Konversationsstück. Die Stimmen entstehen bei mir im Kopf gestaltlos, ein Hörspiel ohne Sound. Ich bleibe an mich beeindruckenden Passagen hängen, die sich ­verlangsamen und viel größer werden als auf der Bühne. Ich berausche mich am Schnelllesen von Passagen, in denen Bilder, Informationen, Handlungen sich ohnehin schon verdichten. Die lese ich wie im hohen Tempo gespult. An der Universität nennt sich die sprachliche Eigendynamik eines Theatertextes (vor allem wenn es sich nicht um ein Drama im traditionellen Sinne handelt) »Texttheatralität«. Damit ist wahrscheinlich in keiner Weise das Sich-Verlieren in den Texten und an die Texte gemeint, die sich in meinen Lektüren ergibt. In einer solchen (stillen) Lektüre kommt den Monologen von Ewald Palmetshofers Figuren dann nicht immer jene Musikalität zu, die sie als auf der Bühne gesprochene haben. Diese rhythmisierten, nicht endenden, von anderen Figuren irgendwann unterbrochenen oder weitergeführten Bandwurmsätze werden in meinem Kopf eher räumlich übereinandergelegt und begleiten mich beim Weiterlesen. Manchmal muss ich zurückblättern, weil die Aufmerksamkeit für das Folgende gefehlt hat, ich den Faden verloren habe. Oder, umgekehrt, ich lese eine Weile nicht weiter, wo es im Theater kein Innehalten in diesen so streng durchkomponierten Wortkaskaden gegeben hätte. So bei einer (für mich) zentralen Stelle aus hamlet ist tot. keine schwer­ kraft, die sich steigert in ein:

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Aushaltbarkeit

enn dir der Himmel eine Zahl gibt, die Maschine, dann rechnet W man mit dir, dann kann man mit dir rechnen, dann spielst du eine Rolle in der allgemeinen Rechnung der gegenwärtigen Situation, in der Ökonomie der Zukunft, im globalen Rechnungswesen der Gegenwart und in der zukünftigen Bilanz am Ende aller Geschäfte, am Ende der Zeit, am Ende der Welt, wenn dir der Himmel, die Maschine, wenn die dir eine Zahl Hier unterbrich eine andere Figur, spricht sozusagen »drüber«. Mit einer eher alltäglichen und alltagssprachlichen (wenn auch ebenso rhythmisierten) Bemerkung (»jedenfalls war das wirklich ein Zufall / dass wir dann […]«). Mein Kopf dreht sich hingegen noch um Rechnen mit Himmel und Maschine. Täte er im Theater vielleicht auch; hätte aber keine Chance zum Innehalten. Er wäre aber andererseits auch immer gezwungen, das Gnadenlose an diesen Texten auszuhalten, mit dem die Theaterkritik manchmal ihre Probleme hat: damit, dass diese Texte so häufig von null auf hundert gehen und dann auch auf dem Level bleiben und auf ihm verweilen. Gleich ganz in die schwerkraftlose Welt des leeren Maschinenhimmels in hamlet ist tot; gleich ganz in die Ausweglosigkeit von Schillers ins 21. Jahrhundert versetzten Brüdern Moor. Wo das Lesen verdichten kann, kann es auch distanzieren und in kleinere Häppchen verpacken. Hamlet und die Gebrüder Moor führen zu (m)einer professionellen Deformation: Die Öhrchen spitzen sich, sobald bekannte literaturhistorische Stoffe anzitiert, aufgenommen, transformiert, überschrieben werden. Da ist zum einen der große (Selbst-)Bildungstest: Ich hab’s erkannt (und mich nicht blamiert …). Zum anderen ein wirkliches, für viele jenseits des Elfenbeinturms etwas »nerdiges« Interesse: Wie wird in welchem Kontext was und vielleicht warum weitergeführt, verändert? Wie wird die Vorlage gelesen und dabei am Leben gehalten, neu situiert, aber natürlich immer auch verstellt und entstellt? Was war hier das Faszinosum, das dazu gedrängt hat, ausgerechnet diesen Stoff aufzugreifen, diesen Text weiterzuschreiben, zu überschreiben? Wo hat’s gebrannt; wo brennt’s? Und natürlich immer auch das schnödeste aller beruflichen Interessen: Kann ich es für die Lehre benutzen? Kann ich daran für Studierende nachvollziehbar machen (und sie vielleicht sogar dafür begeistern), wie Literatur und Theater sich historisch fortschreiben, indem sie Vergangenes »intertextuell« und »transtextuell« (wie es im akademischen Diskurs so schön heißt) wiederholen und verändern? Lässt sich dadurch ein Sinn fürs Historische vermitteln? Oder ein Interesse für die Art, wie Literatur und Theater

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in Gegenwart eingreifen? Und vielleicht gleichzeitig sogar ein Interesse für die »alten« Texte (was derzeit oft heißt: Texte, die vor dem Jahr 2000 verfasst wurden)? Statt die alten Texte zu aktualisieren gehen Palmetshofers Stücke auf Konfrontation mit ihnen: Sie nehmen sich ein Stück Gegenwart, das durch Anspielungen auf kanonisierte Texte ausgeleuchtet, situiert und nicht selten in seinem Elend vermessen wird. So etwa in der Aufrufung der Erinnyen aus der antiken Orestie: In die unverheiratete suchen diese nun eine Denunziantin aus der NS-Diktatur samt ihrer Tochter und Enkelin heim, ohne dass sie sich in wohlwollende ­Eumeniden verwandeln ließen. Manchmal zeigen sich solche Verweise bereits (und gerade) in den Titeln von Ewald Palmetshofers Theatertexten. Einige der »­frühen« spielen auf die »großen«, kanonisierten, von der Schule, vielleicht auch aus dem Studium bekannten, manchmal verhassten ­Dramen an, um sie dann im eigentlichen Stücktext eher assoziativ oder zumindest stark verfremdet aufzunehmen: hamlet ist tot. keine schwer­ kraft (2007), faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete (2009), räuber. schuldengenital (2012). Also Goethe, Schiller und der im 19. Jahrhundert zum »dritten Weimarer Klassiker« erhobene Shakespeare. Später allerdings verweisen Ewald Palmetshofers Texte dann auf Dramen, die zum europäischen dramatischen Kanon gehören, aber nicht unbedingt Schullektüre sind, mit größerer Nähe zu den Vorlagen: So in Edward II. Die Liebe bin ich. Nach Christopher Marlowe (2015). Marlowes politische Intrigen bleiben erhalten, aber verlieren an Kontur. Die Absolutheit der politischen Macht fällt zusammen mit der Absolutheit von Edwards schwuler Liebe und wird von der Umwelt dafür noch tiefer in den Abgrund gestoßen. Marlowes Edward steht im Gefängniskerker »up to the knees in water«; bei Palmetshofer befindet sich der »Kerker tief unter der Erde in einem See aus Scheiße«. Vor S ­ onnenaufgang. Nach Gerhart Hauptmann (2017) bleibt, wie unten zu besprechen sein wird, noch näher am dramatischen Verlauf des Texts. Literatur besteht, wie menschliches Sprechen überhaupt, daraus, dass bereits Gesagtes, Erzähltes wiederaufgenommen und anders, nicht unbedingt mit Fokus auf Informationsvermittlung, zusammengebracht wird. Nichts, was neu erscheint, ist wirklich originell. Auch die treueste Wiederholung bringt auf irgendeine Weise etwas noch nicht Dagewesenes. Offene oder versteckte Referenzen auf (manchmal

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auch Reverenzerweisungen an) die literarische Tradition exponieren dies. Für diese Art der Bezugnahme hat die Literaturwissenschaft unter den Übertiteln Intertextualität, Transtextualität und (in den letzten Jahren immer häufiger) »Adaption« verschiedene Definitionen entwickelt, die nicht immer in Übereinstimmung zu bringen sind und über die sich trefflich streiten lässt. (Und dies muss auch gar nicht uninteressant sein, wenn man sich lange genug damit beschäftigt.) Ob es sich um eine Anspielung, ein Zitat oder gar ein Plagiat handelt, ist nicht irrelevant. Ob der Aufruf eines Stoffes satirisch-widerborstig oder ehrerbietig und sich auf die Autorität einer Vorlage berufend daherkommt, kann durchaus einen entscheidenden Unterschied machen. Ob eine Vorlage frei »adaptiert« und weitergesponnen wird oder sich zugunsten gänzlich ferner Zwecke »assimiliert« findet, ist nicht immer definitorisch lupenrein zu unterscheiden. Mir scheint dies meist auch nicht weiter bedeutsam. Aufregend finde ich es aber immer, in den Blick zu nehmen, auf welche Art dies geschieht und wie dies in die jeweilige Gegenwart zielt, an welcher der Text sich ebenso abarbeitet (und sei es durch Ausweichen) wie an der dramatischen Tradition. Dazu, wie Ewald Palmetshofers Texte dies in den früheren Adaptionen und den späteren Bearbeitungen unternehmen, trage ich im Folgenden einige Gedanken zusammen. Dramatischen Texten wurden Eingriffs- und Reflexionsmöglichkeit auch immer wieder gerne abgesprochen: Solange es um zwischenmenschliche Interaktion von Angesicht zu Angesicht gehe, könnten sie Gesellschaft kaum sinnvoll darstellen. Zu komplex sei unsere moderne Gesellschaft, als dass sich dies noch über die Konflikte der Oberschicht und in individuellem, vielleicht sogar tragischem Schicksal (von Sophokles bis Shakespeare) verhandeln lasse. Unsere miteinander vernetzten »fortunes« würden vielmehr durch abstrakte, undurchsichtige, etwa bürokratische Strukturen bestimmt. Sie manifestieren sich auch nicht im Zwischenmenschlichen, sondern in unserem Miteinander mit den Dingen, der Flora, der Fauna. Dem entgegenhalten lassen sich allerdings die fürs Theater geschriebenen Texte, seien sie Dramen im traditionellen Sinne oder nicht, in ihrer Sprachgewalt oder ihrem Sprachgeschick oder ihrer Sprachaushebelung: Diese wollen gar nicht die Welt abbilden, schon gar nicht als ganze, sondern Schlaglichter darauf werfen, wie Gegenwart sich in Sprache niederschlägt und wie die Sprache die Körper betrifft und angeht, durch die hindurch sie gesprochen wird: mal als wäre der sprechende Körper eine mehr oder weniger psychologisch erklärbare

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Figur, mal mit distanziert suchenden Körpern, die die Sprache untersuchen und sie vielleicht nicht selbst sprechen, sondern als technisch eingespielte zu hören oder in den Raum projizierte ebenso wie das Publikum zu sehen bekommen. »Lösungen«, mit denen das »moderne Drama« die eigene Welthaltigkeit generiert, hat Peter Szondi bereits in den 1950ern beschrieben: vom psychologischen Kammerspiel nach Ibsen, in denen die Erschütterung der Individuen durch die in Botenberichten evozierten Welt »da draußen« ihr brutales Echo findet, bis zu den nicht nur bei Brecht statthabenden Episierungen. Die »große Kunst« von Ewald Palmetshofers Texten liegt für mich in einer Überblendung von Alltags- und streng durchkomponierter Kunstsprache, die in beide Richtungen offen ist. Extreme poetische Verdichtung durch rhythmische Wiederholung, Steigerung, Auflösung von etwa Elendsbekundungen, Hassreden, verzweifelter Welterklärung geht nahtlos über in bzw. ist teilweise identisch mit Passagen im Konversationston: leerer Smalltalk, Austausch über die Alltagsprobleme an den Rändern einer »Mittelklasse«, aus der man herauszufallen droht oder in der man noch ankommen will, Klatsch und Tratsch über andere, Beziehungstalk. Mittels des Zeilensprungs werden die banalsten Sätze zu kleinen Sprachpartituren. Verdichtung, Verwebung, Wiederholung, chorisches Sprechen und Einsatz von Kontrapunkten verleihen diesen Sätzen eine Komplexität, die sie jederzeit in die bandwurmartigen, absatz- und atemlosen Weltschmerzmonologe umschlagen lassen kann, die so gar nichts von Smalltalk haben. Und dann aber wieder in einen solchen zurückfallen: Das Dialogische, dem einige Theatertexte in den letzten Jahrzehnten abgeschworen haben, wird so in keiner Weise aufgegeben. »Die Leute« reden, schwätzen, erzählen, plaudern, streiten einen Großteil der Zeit. Und gleichzeitig wird mittels Sprache so vieles vom demjenigen ausgeleuchtet, was in unserem alltäglichen Reden, Schwätzen, Erzählen, Plaudern, Streiten so gar keinen Ort haben kann – und hier jetzt doch Einstieg in die ­Sprache findet. Wenn ich sage, dass die gegenseitige Überblendung von Alltagsund Kunstsprache in beide Richtungen offen ist, meine ich nicht nur die manchmal fließenden, manchmal abrupten Übergänge. Ich meine auch unterschiedliche Strategien des Umgangs mit diesen beiden Dimensionen. In faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete sind der Faust und die Grete des 21. Jahrhunderts gar keine zu den ­dramatis personae gehörenden Figuren. Sie werden von den drei heterosexuellen Pärchen Anfang dreißig (die im besten Erwachsenenalter alle noch »wohin« wollen, obwohl sie schon alle etwas vom Wege

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­ bgekommen scheinen) verfremdet gesprochen und dann im fließena den Übergang von ihnen auch besprochen. Präsentiert wird nicht die Neuauflage tragischer Figuren aus dem Reclamheftchen, sondern ein Außenblick, der sie durch die Körper der anderen sprechen lässt und am Ende in Berichte aus dem Fernsehen und ein zufälliges Erhaschen medialer Bild- und Sprachfetzen in der Sprache unserer drei Pärchen übergeht. Anders in Vor Sonnenaufgang. Nach Gerhart Hauptmann: Auf den ersten (und auch zweiten) Blick scheint es, als wäre Hauptmanns Trinkerdrama (»Soziales Drama«) von 1889 ins Jahr 2017 transponiert, mit gebildeteren Figuren, die vielleicht zu viel trinken, aber zumindest erst gegen Ende deutlich den Rahmen des gesellschaftlich Akzeptierten sprengen. Und sicher lässt sich der Text so spielen. (Die – darüber erfreuten – Kritiken einiger Produktionen, die die Palmetshofer-Version nachspielen, lassen dies zumindest vermuten.) Erst die Lektüre des Skripts zeigt aber die ganze Kunstfertigkeit: Kaum je unterbricht der Zeilensprung eine Sinneinheit. Die meist sehr kurzen Sätze der Figuren könnten wohl sämtliche auch irgendwo im Alltag in einer deutschsprachigen Mittelklasse (hier mit Drang nach oben, vielleicht als Unternehmer finanziell schon lange oben angekommen) so gesprochen sein. Dialektal einfärben lässt es sich auch problemlos. Aber was als Konversationsstück erscheint, ist jeweils äußerst streng rhythmisiert. Auch hier schwillt der Wortstrom, der aus den Figuren tönt, an oder versickert, ohne dass sich ihr Innenleben aussprechen würde. Es ist die Sprache selbst, die stockt, anhebt, verstummt, laut wird. Sie macht nicht nur die Beschädigungen der Figuren sichtbar (die von der Hauptmann-Vorlage recht langwierig erklärt und erläutert werden). Auch und gerade die Umstände, aus denen die Figuren sprechen, ­treten so in den Lücken einer Sprache hervor, die bei aller Natürlichkeit eine durch und durch gewollt künstliche bleibt. Mit dieser Spannung sind ein Unterschied und eine Gemeinsamkeit, die mir zwischen den frühen Texten mit losen Klassikerverweisen und den späteren »Nachschriften« (ein Wort, das Brecht gegen Georges raunendes »Nachdichten« setzte) zu liegen scheinen, benannt: Der Sprache ist in beiden Fällen das Kippmoment zwischen besagter strenger Komposition und Smalltalk eigen, wenn auch aus jeweils anderen Richtungen: in den frühen Texten ausgestellt, in den Nachschriften versteckt, überlesbar. Nur zu gut lässt sich beim stillen Lesen, das bei den Zeilensprüngen nicht mehr stockt, auch ein psychologisches Drama vorstellen.

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Titel, auch und gerade von Dramen, sind ja auch immer eine Rahmung, die als Leseanleitung oder zum Schüren einer Erwartungshaltung oder ihrer Enttäuschung dienen kann. hamlet ist tot. keine schwerkraft: Also nach dem Ende von Shakespeares Hamlet, in dem in Schlegels und Wielands Übersetzungen ja Zeit und Staat aus den Fugen sind und die Schwerkraft dann zum Ende aufgehoben sein mag. Das Unglücks des Todes durch Schusswaffe eines Freundes namens Hannes ruft Shakespeares Hamlet auf und erinnert, dass dieser ja nicht tragisch, sondern wie die ganze Bagage unglücklich (in der Verwechslung und Rückverwechslung vergifteter Dolche) stirbt. Lose Reminiszenzen durchwandern den Text: der Leichenschmaus, die Maschine und der Himmel (auf die Hamlet reflektiert), das ihm so gerne zugeschriebene Philosophische. Ehebruch und Rache, der Stress der emotionalen Bindung. Hass auf, Mord an einem anderen Familienmitglied. Inzestanspielungen, wie sie seit Freud dem Stück gerne übergestülpt werden. Schwermut, Melancholie und Hang zum Philosophischen liegen jetzt bei einem Geschwisterpaar, das sich am Gang der Dinge nicht beteiligen kann oder mag. Die Jetztzeit nach der Katastrophe, dem Tod des heutigen Hamlets, ist keine überbordende Rachetragödie mit Komikeinlagen, sondern ein kaleidoskopartiger Blick auf die porösen Übergänge zwischen bedrückender Alltäglichkeit mit ihren trivialen Glücksversprechen und langfristigen Enttäuschungen. Vor der Gewalt, die darunter lauert, bewahrt nur eine ebenso schwer zu ertragende Gleichgültigkeit. Die Folie von Shakespeares keineswegs fröhlichem Hamlet, als dessen zeitgenössisches Nachspiel der Titel das Stück stilisiert, macht diese schlimme Welt schon fast aushaltbarer. Dank des Titels kann ich in ihr einige Anker schlagen. Eine solche Distanzierung vom anzitierten Stoff scheint mir auch anderen frühen Texten zu eigen: faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete zeigt schon eine Verkalauerung an, die auf andere Art auf Kosten der weiblichen Figur geht als in Goethes Tragödie. Aber in diesem Titel ist auch Faust mit einem grässlichen, wenn auch gerade lächerlichen Tod bedroht. Sein Leben rutscht ins Banale. Die Frau, Gretchen, wird dafür Requisit. Auf der Bühne wird der Stoff dann nicht mehr namentlich aufgerufen, zumindest nicht in der Sprache der drei teils vor sich hin quatschenden, teils chorisch die Abgründe des Daseins erkundenden Heteropärchen auf der Party im Mehrfamilienhaus. Diese geben auch einer Frau und einem Mann Stimme, bei welchen es sich laut Regieanweisung um die nicht im Personenverzeichnis vorkommenden Grete und Faust handeln soll. Das Publikum, das

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den Text nicht zur Hand hat (und ggf. auch nicht durch Programmheft oder Dramaturgiegespräch aufgeklärt ist), weiß davon nichts. Es trifft in den Beschreibungen und dem Aus-der-Rolle-Treten der drei Pärchen auf einen sozial ungelenken Weltenretter. Dieser Faust hat in der Gruppe wenig beizutragen und stört fast ein wenig. In einer Mischung aus eigener Bequemlichkeit und Mitleid findet er sich mit einer durch ein soziales Netz gefallenen Single-Frau nicht wirklich verkuppelt, aber doch zur gegenseitigen Beschäftigung ruhiggestellt. In diesem Faust ist das Kuppeln keine teuflische Verführung und auch nicht das Beiwerk einer lächerlich gemachten Figur. Sondern Schmieröl für den zwischen Trivialität und Abgrund seiltanzenden Smalltalk der sechs: als Thema und als Störungsvermeidung. One-Night-Stand und Schwangerschaft sind eher Zufallsprodukte. Der Kindsmord der einen Nervenzusammenbruch erleidenden Grete, die sich in den Wald verschanzt, dient für Schlagzeilen der Sensationspresse. Beides hat keine Notwendigkeit und wirkt eher wie ein Zerrspiegel der so sinnlosen wie schrecklichen Unterbrechung der bürgerlichen Bestrebungen eines der Pärchen: der plötzliche Kindstod, ganz ohne Vorwarnung, völlig uneingebettet in ein Narrativ vom Vorankommen oder Scheitern. Ein Aussetzen des Smalltalks, der jetzt aber ein Thema hat, sich in seiner belanglosen Traurigkeit fortzusetzen. Wie Kindsmörderin Grete taucht auch Faust im Hintergrund im Fernsehen auf: als einer von vielen einigermaßen gesichtslosen NGO-Weltenrettern in einem scheinbar x-beliebigen Katastrophengebiet dieser Erde. Die Tragödie von Faust und Gretchen kommt ohne Mephisto, Frau Marthe und tragische Fallhöhe aus. In ihrer Verkalauerung, die bereits den Titel vorgibt, gibt es nichts Tragisches, aber viele Facetten des Verzweifelten, Traurigen und Katastrophalen. Die sechs »Normalos«, die »wir« im Publikum alle nicht sein wollen, aber »uns« doch fragen müssen, inwieweit »wir« sie zu einem guten Teil sind, ermöglichen (statt des Teufels und einer Kupplerin) die Katastrophe. Diese Katastrophe bleibt aber eine der anderen. »Unser« Begehren läuft ins Leere. »Unsere« Katastrophen sind unglückliche Umstände, nicht tragisch, aber unendlich grässlich. Um diese Grässlichkeit auszumalen, bedürfte es der Anspielung auf Goethes Faust und Gretchen im Titel vielleicht gar nicht. Wohl aber, um den Unterschied zu unserem Verständnis von hoher Tragik zu konturieren. Scheinbar anders mit dem literarischen Bezugstext um geht Vor ­Sonnenaufgang. Nach Gerhart Hauptmann: Statt loser Aufhänger ist die Textvorlage festes Gerüst. Doch wohl eine Aktualisierung. Das ist

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sicher nicht falsch; ich würde aber sagen, dass der Schein auch trügt. Bei Hauptmann sind die dramaturgischen Notwendigkeiten an den Gesetzen der Naturwissenschaft orientiert, um einige Theatereffekte erweitert und symbolisch überhöht. Hauptmanns Heteromann, der das Gute der Welt will, verlässt die frische Liebe, weil sie aus einer Trinkerfamilie kommt und ihre Degeneration vorprogrammiert ist. Die Nachdichtung lässt die Vererbungslehre fallen; Depression liegt wie ein Schleier über der Familie. Aber alle haben in ihrer Arschlochhaftigkeit durchaus einen Grund, depressiv zu sein. Dass der Weltenretter (Loth) seine Helene ganz wie in Palmetshofers Faust-Variation nach dem One-Night-Stand verlässt, weil er sich mit diesem Elend nicht langfristig einlassen mag, hat eher etwas mit seiner eigenen Arschlochhaftigkeit zu tun. Als eine Art Rächerin von Palmetshofers Gretchen wird diese Helene die Gewalt aber nicht gegen sich selbst richten wie bei Hauptmann. Sie fährt den Weltenretter mit dem Auto zu Brei; er soll so scheitern wie alle anderen. Das Elend ist also nicht dramaturgisch motiviert; es ist eher Teil einer Reihung und Häufung: Hauptmanns komplizierte und manchmal sehr künstlich verflochtene Beweggründe werden als Referenz an die Vorlage angedeutet oder abgearbeitet. Die Belästigung, wohl auch der Missbrauch der jüngeren Tochter durch den Vater, die Totgeburt des Kindes. Sie treten mit der Wucht eines Elends auf, das zunächst mal in der Welt ist und anerkannt werden will. Es handelt sich nicht um Hauptmanns Mischung aus angeblichen Naturgesetzen und ihrer symbolischen Verdichtung. Wie die losen Bezüge auf Goethe, Schiller, Shakespeare ermöglichen die so engen auf Hauptmann es mir ebenfalls, das erträglich zu finden. Die Autorität der literarischen Vorlage wirkt wie ein Schutzschild: Da steht es doch schon so; deswegen darf das Elend hier so ungebrochen seinen Lauf nehmen. Deshalb muss ich das aus­ halten. Dabei scheint das Elend in Palmetshofers Vor Sonnenaufgang zunächst einmal das kleine bisschen weniger elendig. Die körperliche Ausbeutung der Bergarbeiter, die per Botenbericht in Hauptmanns Text evoziert wird, ist eine postindustrielle Drohung mit Arbeitslosigkeit und ihrer psychischen Verelendung gewichen. Vielen bei Hauptmann stummen und abwesenden Figuren ist Sprache gegeben: Der Säufervater ebenso wie die schwangere (bei Hauptmann bis aufs Personenverzeichnis abwesende) Tochter. Die bei Hauptmann fast schon denunzierte Stiefmutter spricht statt des Schlesischen nun Hochdeutsch wie die anderen und scheint (einigermaßen) aufrichtig liebevoll. Das Drama scheint fast wie ein flottes komisch-trauriges Konver-

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sationsstück zu beginnen. Eine Familie, in der zu viel gesoffen wird und ein paar Beziehungsprobleme nicht ganz ausgeräumt sind, kabbelt sich. Der gruselige Subtext bricht erst langsam durch: die zu große Nähe untereinander, der Betrug an der Allgemeinheit, das berufliche Scheitern, die Depression, der Alkoholismus, das Abdriften in den Rechtspopulismus. Die Unternehmerfamilie, die sich über den Albtraum, den sie lebt, erheben will, wird von ihm eingeholt. Und gibt den Albtraum gleich noch an den idealistischen Helden weiter, der die Spielchen doch entlarven wollte. – Wo die zwischen verfremdendem Rhythmus, Plauderton und Geständnismodus changierende Sprache, die Hauptmanns stummen und abwesenden Figuren gegeben wird, nach und nach ins Passiv-Aggressive, dann offen Aggressive kippt, tritt für mich immer mehr ihre große Künstlichkeit – und die große Sprachkunst – hervor. Die Gleichzeitigkeit von Alltags- und Kunstsprache macht für mich auch die große Unheimlichkeit eines Texts aus, der an der Oberfläche Hauptmanns naturalistischen Gestus zu aktualisieren, aber zunächst nicht zu brechen scheint. Ob diese durchaus vorhandene Brechung auf der Bühne sprachlich zum Klingen und körperlich zum Auftritt kommt, hängt von der jeweiligen Inszenierung ab. In Hauptmanns Vor Sonnenaufgang ist ein selbstreflexiver Witz über den Sinn von Literatur eingebaut. Weltverbesserer Loth, der sich als Heteroarschloch noch nicht entpuppt hat, plaudert mit Helene über Literatur. Sie ist hungrig nach Lesen; er tut Belletristik als Weltflucht ab. Ein großer Leser von Zola und Ibsen, Urvätern des Naturalismus (und Ibsen mit seinen Gespenstern auch ein Prätext für Vor Sonnenauf­ gang) gelten ihm als Mittel zum Zweck: Ihre Texte sind nötig, um für Wissenschaft, Wahrheit, Aufklärung zu agitieren. Sie werden sich (hoffentlich) selbst langfristig unnötig machen. Das Literarische der Literatur, die so überdeutliche (manchmal gar etwas plumpe) symbolische Dimension Zolas und Ibsens übersieht Loth schlicht. Die kunstvolle, vielleicht gar mit Symbolismus überladene Konstruktion von Hauptmanns eigenem »naturalistischen« Stück straft seine Figur Lügen, glaubt aber mit ihr an eine Kraft der Kunst. – Demgegenüber würden die so sprachgewandte Figuren in Palmetshofers Adaption sich wohl eher nicht nicht über Literatur unterhalten; diese hat in der Realitätsebene des Stücks nicht die weltverbesserischen Ansprüche und imaginierte Reichweite von Ende des 19. Jahrhunderts. Die Figuren sprechen durchaus übers Lesen, viel mehr als bei Hauptmann und durch die Bank: über rechtspopulistische Blogs, über Hate Speech online, über linken kritischen Journalismus. Sie lesen allesamt und

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wissen Bescheid auch über das, was jenseits ihrer »Bubble« passiert. Würde wohl eine dieser Figuren ins Theater gehen? Ich glaube eher nicht. Einen Dramentext hat seit der Schule sicher keine als Lektüre in die Hand genommen. Schon gar nicht einen der Gegenwartsliteratur. Abseits von Hauptmanns Selbstüberschätzung der Rolle von Literatur gelingt es Palmethofers Vor Sonnenaufgang jedoch, anders in unsere Gegenwart einzugreifen, als Hauptmanns Loth es imaginiert: durch sprachliche Untersuchung sowohl der gesellschaftlichen Gegenwart als auch des literarischen Kanons; nicht zuletzt durch Untersuchung unserer Sprache, die künstlerisch verdichtet und überhöht wird, aber doch gleichzeitig in ihrem alltäglichen Gebrauch ausgestellt. Die Katastrophen, die uns tagtäglich umgeben, werden so nicht handhabbarer. (Zolas, Ibsens, Hauptmanns Optimismus sind nicht nur Lichtjahre entfernt; in dieser dunklen Galaxie hat man höchstens gerüchteweise von Licht gehört.) Sie werden aber durch Sprache erfahrbar gemacht – und in der durchkomponierten Kunstsprache vielleicht eine Weile ein wenig aushaltbarer.

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der herzerlfresser wiener roh(fleisch)fassung Der Gangsterer Andi entdeckt im Sumpf eine Leiche. Weiblich. Mit her­ ausgerissenem Herz. Der Sumpf ist gar nicht sumpfig, weil frisch zubeto­ niert. Einkaufsparadies. Die Eröffnung steht bevor. Da kommt so eine Frauenleiche reichlich ungelegen. Nein, jetzt sogar schon zwei. Padum. Entherzte. Padum. Heimlich im Moor entsorgen, so die Krisenstrategie des Bürgermeisters. Und während das Eröffnungsfest zum Kaufrausch lädt, dringt der Sumpf durch alle Ritzen. Und während die Musik zum Tanz aufspielt, schlagen die einen Herzen höher und die anderen gar nicht mehr. Ein Schuss und Schluss. Padum.

von seltsamen füßen oder das moritat vom reininger paul irene und der bürgermeister in irenes neuem studio. irene herr bürgermeister, sie bei mir? bürgermeister rudi. einfach rudi. heut bin ich ganz privat der rudi. irene rudi, was führt sie, also du, dich denn zu mir? / bürgermeister die füße sinds. irene wo drückt der schuh? bürgermeister ich spür in letzter zeit den druck nicht nur am fuß. irene hast auch nicht wenig grad zu tragen. bürgermeister es baut halt die region auf mich. irene und selbst? bürgermeister was selbst? irene wie geht es dir dabei? bürgermeister mir hat es nicht zu gehn. ich muss das alles hier ins laufen bringen. irene und läuft doch gut, also dein traum, das zenter mein ich. bürgermeister ich träum nicht mehr, seitdem ich in die politik ­getreten bin. irene oft schlaf ich wie ein stein. nur wenn ich aufwache, hab ich so ein gefühl, als hätt ich was geträumt. bürgermeister ich wünscht, ich hätt zumindest das gefühl, dass da was fehlt.

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irene öffnet dem bürgermeister die schuhe. irene du schnürst die schuhe dir zu streng. bürgermeister mag sein. man will halt trittfest bleiben. irene wenn du dir keinen klumpfuß holen willst, solltst du dir größre schuhe kaufen. bürgermeister wenn erst die neue schuhabteilung offen ist. irene in china wars einmal ein schönheitsideal. bürgermeister geklumpte füße? irene ja, da hat man frauen schon mit dreizehn ihre zehn ­gebrochen und unter ihren fuß geschnürt. bürgermeister das muss doch schmerzen. irene auch wenn wir uns in unsre lebensformen quälen, darf man nur nicht vergessen, dass es nur möglichkeiten sind. bürgermeister das stimmt, man könnt auch anders leben. beginnt seine füße zu waschen. irene du wirkst etwas gequält. bürgermeister mir liegt was auf dem herzen. irene du kannst mir alles sagen. bürgermeister da war so eine frau. irene was denn für eine frau? bürgermeister sie hat kein herz. irene kein herz für dich? bürgermeister und dann noch eine frau. irene noch eine frau? bürgermeister auch ohne herz. irene ich hab ein herz! bürgermeister pass auf, dass es dir nicht gestohlen wird. irene das ist doch schon passiert. bürgermeister bist du dem herzerlfresser schon begegnet? irene was für ein herzerlfresser? bürgermeister nachts treibt der hier sein unwesen. irene wovon sprichst du? bürgermeister der gangsterer und ich, wir haben frauenleichen ohne herz gleich zwei gefunden. irene ein leichenschänder? bürgermeister wir dachten erst, es ist ein tier, das sich ins fleisch reingräbt. irene schwachsinn. hat das der gangsterer gesagt? bürgermeister der gangsterer leitet verdeckt ermittlungen. irene das muss doch ein besessener, ein herzversessener muss das sein.

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bürgermeister mir fehlt da jede vorstellung. irene einer von eigenartigem charakter. bürgermeister ein heillos suchender vielleicht. irene bei mir war neulich, fällt mir ein, ein eigenartiger. bürgermeister bei dir im studio? irene ganz seltne füße hat der gehabt, ein fleischer. bürgermeister wie kommst jetzt drauf? irene er meinte, dass er liebeskummer hat. bürgermeister liebeskummer? irene ich drauf, er muss das herz von einer frau erobern. bürgermeister und das hast du gesagt zu ihm? irene vielleicht hat ers zu wörtlich genommen. bürgermeister und dann? irene dann hat er mir von einem grausamen verbrechen noch erzählt. herbert hier in der gegend. in dem moor. als noch der fluss alljährlich über seine ufer trat. als noch kein einkaufszentrum auf dem sumpfland stand. als noch ein könig war. als noch kein neon hier die nacht erhellte. als noch der mond das wollgras leuchten ließ. als noch an moorgeister man glaubte. als noch von elfen man still träumte. als irrlichter die phantasie der menschen plagten. als noch da in der schwärze von dem moor man dunkle mächte wähnte. irene und ich nur: freilich, war wohl eine andre welt. herbert da trieb sich einer, ein getriebener, hier oft herum. das war der paul, der reininger, vom kartenspiel und von dem saufen duselig. schritt er durchs moor, das sonst man nur betrat, wenn man nicht anders konnt. irene jetzt steht das neue zenter drauf. herbert und während er durchs sumpfland heimwärts taumelt, irene hört stimmen er, herbert da aus dem moor. irene muss tiefer rein ins moor, der reininger, herbert weil ihn die stimmen reizen. irene reizen ihn, den reininger. herbert erst denkt er, dass das moor selbst eine sprach ausrülpst. irene dann merkt er erst, herbert dass es die vögel sind, irene die lauthals krächzen. herbert die brachvögel, aus ihren langen schnäbeln.

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irene aus sieben schnäbeln krächzen herbert sieben brachvögel im chor. irene komm rein ins moor. herbert paul reininger. irene komm rein ins moor. herbert paul reininger. irene was schaust denn so. herbert was schaust denn so. irene hast einen vogel du? herbert wir wolln dir doch nichts, irene nichts übles sicherlich, herbert wir wissen, wer du bist, irene paul reininger. herbert wir wissen, was du bitterlich begehrst, irene paul reininger. herbert musst sieben herzen, irene sieben mädchenherzen essen. herbert dann wirst du, was du willst. irene verschwinden. herbert unsichtbar. irene und wollt doch immer schon herbert der paul, der reininger. irene den doch das unglück heimgesucht, herbert wo es nur konnt. irene der wollt verschwinden können von der welt. herbert damit das unglück ihn irene nicht findet mehr, herbert ganz ortlos sein, irene ganz ohne einen körper um ihn rum. herbert drum schlug er, irene wenn der mond, der alte menschenfresser, herbert ganz voll am himmel stand, irene die mädchen tot, die er am wegrand fand, herbert und fraß dann ihre warmen herzen. irene und ließ die leichen da im moor versinken. herbert wo mal ihr herz gewesen ist. irene dringt nun der schlamm hinein. herbert und statt dem blut, irene fließt schwarz das moor durch ihre glieder. herbert fünf warn es schon. irene die er entherzt.

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herbert und dann ins moor verschwinden ließ. irene als er gefasst. herbert konnt er noch nicht verschwinden. bürgermeister und dann? irene dann ist er halt gegangen. bürgermeister wie heißt er? irene herbert. bürgermeister und weiter? irene nichts weiter. er ist gegangen. herbert auf bald. bürgermeister ich muss los. irene bleib noch ein bissl da, mir ist ganz sonderbar. bürgermeister ich muss zum gangsterer. irene lass doch den gangsterer. bürgermeister wir sehn ja am fest uns morgen. bürgermeister ab. […] von der unordnung im leib herbert in der enge unsrer herzen tragen wir die ganze liebe dieser welt, und könnten glücklich sein. wir könnten glücklich sein, wenn wir nur eine sprache hätten. eine sprache, diese liebe auch zu teilen. könnten wir die liebe nur in worte packen, pressen, stopfen, dann könnten wir sie mitteilbar durch worte machen, diese liebe, die da drinnen in der enge wütet. nur ist die sprache leider noch viel enger als die herzen. da passt buchstäblich nichts hinein. mit worten lässt sich nichts über die liebe sagen. und möcht man manchmal schreien unter leuten, ebendiesen leuten, mit denen man die liebe teilen könnte, möchte, da müsste man dann schreien, sollte man da, tut man aber nicht. und weil die liebe wütend da im engen herzen sich nicht rausschreien lässt, drum verschmerzt sie sich in eine trauer, heraus aus der engen enge von dem herzen und in die nachbarregionen im herbertkörper, in den magen und wird sauer oder in die leber und wird bitter. und kein schrei nach der liebe. überhaupt kein schrei aus dem herbertmund. nur organische trauer.

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gut, dass da auch ein wissen wohnt, dass man ja nicht allein ist in der welt. dass es da draußen auch noch andre herzen gibt, denen es genauso wie dem herbertherzen geht. und auch in ihnen wütet eine unsagbare liebe, und über diesen engen herzen hängen münder, die nicht schreien können, obwohl sie müssten. nur saure mägen und bittere lebern. da hilft der süßeste likör auch nichts, der sich aus sorge sogar in die körper dann gegossen wird. so lebt man her neben dem anderen. und zwischen all den herzen abgründe. die wir mit keinem mittel überwinden ­können, / muss unsre liebe selbst nicht dieser abgrund sein? / und was man nicht gedacht und auch die anderen mit ihren schmerzhaft engen herzen nicht gedacht haben, ist, dass es so etwas wie eine liebe, eine abgrundtiefe liebe überhaupt noch geben kann, in die sich alle fallen lassen können. denn eine liebe ist erst eine ganze liebe, wenn sie in alle facetten, alle einzelkörper geteilt werden kann. das zerteilte ganze als das gänzlich ganze. diese gewissheit über das splitterganze, das die liebe ist, war nicht immer da in mir. diese einsicht ist beim aufbrechen von einer sau in mich hineingefahren. weil wenn das messer rein ins dunkelst dichte innere von einem andren körper fährt, da komm ich immer auch ins denken. und schlitz sie auf, die sau, und fahre rein ins innere. greif rein ins vieh und wühl in den organen. dieselbe unordnung in jedem leib. und dort im dunkelst dichten winkel von dem schweineleib find ich ein herz. das ich als erstes aus der sau herausschneid dann. und halt das herz noch in der hand. und denk in mir. ein jeder hat ein herz. ein jeder trägt doch so ein blutend offnes herz in sich. und sollte drum auch müssen können. sollt schreien müssen können. doch wie kann einer, ein ganzer mensch, von so etwas wie liebe sprechen, die kein ganzes ist, ja nie gewesen ist, sondern immer schon zerteilt war, ja erst durch pausenlose teilung zu einem ganzen wird? das hab ich mich gefragt mit diesem schweineherz in meiner hand. und konnte keine ganze antwort finden drauf, nur halbe, teilantworten eines ganzen. muss nicht der mensch als ganzes, ganz zerteilt auch

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der herzerlfresser

sein? von wegen individuum! zerstückelt ist der mensch wie so eine zerlegte sau. Auszüge aus: Ferdinand Schmalz, der herzerlfresser. wiener roh(fleisch)fassung © S. Fischer Verlag 2018

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Christoph Leibold

Christoph Leibold

Zur Lektüre von der herzerlfresser von ­Ferdinand Schmalz Vielleicht ist das ja die ideale Zeit, um Stücke zu lesen. Jetzt, da die Theater geschlossen sind und es keine Stücke zu sehen gibt. Allerdings – auch auf die Gefahr hin, mich bei Dramatiker*innen unbeliebt zu machen, ja zu diskreditieren – die Lektüre von Theatertexten zählt eigentlich nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen von Kritiker*innen. Zumindest nicht zu meinen. Und ich kenne weder Kolleginnen noch Kollegen, die Gegenteiliges von sich behaupten würden. Stücke zu lesen scheint vor allem: notwendige Vorbereitung auf die zu rezensierende Inszenierung. Es ist ein bisschen wie beim Kochen. Wer sich ein saftiges Gulasch zubereiten will, muss vorher erst das Fleisch würfeln, Zwiebeln schälen, Knoblauch hacken. Wobei der Vergleich schief ist. Als Kritiker bin ich ja nicht Koch, sondern Konsument. Esser. Im Idealfall Connaisseur, der nicht selbst am Herd steht und vorher das Fleisch filetiert und Gemüse schält. Wohl aber einer, der die Zutaten kennt. Deren wichtigste ist der Text. Klar, es gibt auch Regisseurinnen und Regisseure, die fade Vorlagen mit allerhand Einfällen zu würzen verstehen, um daraus ein schmackhaftes Gericht zu zaubern. Da wird das Stück dann in viel Regie-Soße ertränkt oder nach allen Regeln des Foodstylings so appetitlich angerichtet, dass dem Gast, dem das Ganze serviert wird, glatt entgeht, dass der Text selbst nach nichts schmeckt. Mit einem guten Theaterstück hingegen verhält es sich wie mit einer zarten Scheibe Rinderfilet: mundet auch roh hervorragend und braucht nicht zwingend einen Küchenchef, um es genießbar zu machen. Ein guter Text ist eben keine Tütensuppe, die erst aufgegossen und nachgesalzen werden muss. Vergisst man nur allzu oft. Sicher riechen Sie den Braten schon: Im Folgenden soll ein reiner Text tranchiert werden. Eines der saftigen »Leibstücke« von Ferdinand Schmalz, direkt vom Erzeuger, nicht in der Zubereitung durch ein ­raffiniertes Regierezept: der herzerlfresser, in der, wie der Autor das selbst nennt: wiener roh(fleisch)fassung. Na bitte! Mund auf, Augen zu. Verkosten wir das Stück, ohne zu schauen, was auf der Bühne damit passiert ist. Die eingangs (und, wie ich schon mal vorwarnen darf, auch im Folgenden) ausgiebig ausgeweidete Essens-Metapher drängt sich auf. Der Autor selbst pflegt ein Faible fürs Kulinarische: der herzerlfresser

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ist der dritte Teil eines Lebensmittel-Triptychons, dem die Dramen am beispiel der butter und dosenfleisch vorausgingen. Und dann ist da noch der Künstlername: Ferdinand Schmalz. Man ist verführt, das auf die Erscheinung des Autors zu beziehen. Der Mann ist das, was man gemeinhin als beleibt bezeichnet. Oder als vollschlank. Was einen allerdings nicht dazu verleiten sollte, falsche Schlüsse zu ziehen. Wer Ferdinand Schmalz einmal beim Schlussapplaus nach der Uraufführung von einem seiner Stücke erlebt hat oder ihm in einem Theater­ foyer persönlich begegnet ist (ich hatte das Vergnügen erstmals 2015 in Graz bei der Eröffnung von Iris Laufenbergs Intendanz am dortigen Schauspielhaus), wird ihn als leichtfüßigen, fast tänzelnden Menschen erleben, der seinem Gegenüber mit ausgesuchter Liebens­würdigkeit begegnet, aber ohne jede sich plump anbiedernde Leut­seligkeit. Auch als Dramatiker ist Schmalz zwar kein Kostverächter – seine Texte sind Vollkost, nichts für Vegetarier oder Veganer –, aber sie triefen nicht. Schmalz steht bei diesem Autor nicht für das Fettige oder gar Ranzige. Eher für das Schillernde, Mehrdeutige, Widersprüchliche. Insofern ist die beschönigende Vokabel »vollschlank« hier einmal kein Euphemismus, sondern am absolut rechten Platze – als zutreffende Beschreibung eines Paradoxes: Die Stücke von Ferdinand Schmalz sind voll, gewichtig und gehaltvoll, und zugleich schlank, also entschlackt von unnötigem Sprachballast, frei von Zusatzstoffen und Geschmacksverstärkern, die nichts darin zu suchen haben. So wie man gute Romane verschlingt, kann man sich auch die Stücke von Ferdinand Schmalz schmecken lassen. Aber keineswegs so, wie man Fast Food in sich hineinstopft. Man tut gut daran, die Lektüre in aller Ruhe auszukosten, damit sich der volle Geschmack entfalten kann. Dann erweisen sich diese Texte als auf erfreuliche Weise sättigend, ohne ein unangenehmes Völlegefühl zu hinterlassen. Man fühlt sich hinterher nicht überfressen. Ist das nun Hausmannskost oder Haute Cuisine? Ich würde sagen: Keines von beidem. Und beides zugleich. Aber keinesfalls im Sinne jeder Möchtegern-Mischung, die einen Promi-Köche wie Alfons ­Schuhbeck oder Johann Lafer in Form von Brezenknödel-Carpaccio oder Erdäpfelschaumsüppchen auftischen. Die Textküche von ­Ferdinand Schmalz kommt ohne Chichi und Gschisti-Gschasti aus. Schmalz zählt nicht zu den Autor*innen, die ihre Stücke mit Übermaß an Diskurs unterfüttern. Sicher, auch seine Stücke sind theoriegesättigt. Aber nicht so, dass man vor lauter theoretischen Ballaststoffen nichts Anderes mehr schmeckt. Seinen herzerlfresser hat Schmalz unter anderem mit einer feinen Prise Lacan gewürzt, aber er versteht

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es, solche ­Referenzen wohl zu dosieren. Wer sie aus dem Text »herausschmeckt«, dem erschließen sich zusätzliche Nuancen. Wem hingegen das S ­ ensorium dafür fehlt, dem bleibt der Genuss des Ganze auch nicht verwehrt. Verstiegenheit in geistige Höhen führt ja nicht selten zum genauen Gegenteil: Unter dem Gewicht der intellektuellen Last können sich die Figuren kaum rühren. Sie bleiben auf dem Papier kleben und heben nirgendwohin ab. Bei Schmalz ist es umgekehrt: Seinem Personal haftet etwas Bodenständiges an. Es wirkt geerdet. Auf diesem soliden Untergrund aber fangen Figuren und Verhältnisse an zu tanzen und scheinen der Schwerkraft zu trotzen. Diese Bewegungsfreiheit durch Bodenhaftung hat unter anderem damit zu tun, dass Ferdinand Schmalz keine Berührungsängste gegenüber Genres der Populärkultur kennt. Auch darauf deutet ja sein Künstlername hin. Das Schmalzige, Kitschige ist ihm nicht fremd. der herzerlfresser jedenfalls trägt Züge einer melodramatischen Tele­ novela, amouröse Verwicklungen inklusive, ebenso wie eines Krimis sowie einer Moritat. Als Blaupause für das Stück dient eine historische Schauergeschichte aus dem 18. Jahrhundert. Damals ging in Kindberg in der Steiermark ein Serienmörder um, ein Bauern-Knecht namens Paul Reininger, der sechs Frauen getötet und anschließend ihre Herzen verzehrt hat. Einem Aberglauben zufolge erhoffte es sich davon Glück im Spiel und Unsichtbarkeit. Zumindest letzteres ist nachweislich nicht eingetreten. Reininger wurde am Tatort des letzten Mordes gesehen und wenig später überführt, als man bei der Durchsuchung seiner Habseligkeiten das blutige Kleid eines Opfers und ein halbes Menschen-Herz fand. Noch heute erinnert ein »Herzlfresserweg« bei Kindberg an die Bluttaten Paul Reinigers und die Gewerbetreibenden der Stadt werben für sich mit dem Slogan »Unternehmer mit Herz« – ob aus Ironie oder aber aus Ignoranz gegenüber der Ortsgeschichte wird dabei nicht klar. Das Ganze scheint so grotesk wie grausam und ist erstmal nichts für schwache Mägen. Aber ein gefundenes Fressen für Ferdinand Schmalz und seinen Appetit auf Ambivalenz. Das beginnt schon beim Stücktitel der herzerlfresser. Fressen ist ja nicht dasselbe wie Essen. Im Fressen steckt die Gefräßigkeit, die Gier, das Animalische. Tiere fressen. Menschen verzehren. Von da ist es nicht weit zum Sich-Verzehren. Zur Sehnsucht also, zumal in Verbindung mit dem Wort »Herz«, oder genauer dem possierlichen »Herzerl«. Das klingt nach Schmankerl. Im Diminutiv drückt sich das Delikate aus.

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Aber auch als Delikatesse bleibt das Herz zwiespältig. Wie Nieren, Leber und Lüngerl zählt es in der bayerischen und österreichischen Küche zu den Spezialitäten. Für manche zumindest. Andere sähen die ganzen Innereien lieber mit den Schlachtabfällen entsorgt. Wem es aber vor Leber und Co. graust, der schmaust vermutlich auch nicht gern Herz. Dass das Herz freilich weit mehr ist, als ein inneres Organ unter vielen, sondern zentraler Sitz der Vitalfunktionen wie landläufig auch der Emotionen (weil es jedwede Erregung pochend registriert), macht die Sache nicht leichter. Erschwerend kommt schließlich hinzu, dass der Titelheld des Stücks keine Hendl- oder Rinderherzen verspeist, sondern die von Menschen. Das lässt die Angelegenheit unterm Strich dann doch recht ungustiös erscheinen. Doch es gilt einmal mehr: So einfach, also eindimensional, liegt der Fall nicht. Sondern eben vielschichtig, schmalzig schillernd. Der Stücktitel gibt jedenfalls erstmal ordentlich zu kauen, aber so ist das nun mal mit Literatur, die dem Hirn Nahrung gibt. Hat man ihn erstmal geschluckt, gelangt man zu der Erkenntnis: Den Titelhelden als Menschenfresser zu bezeichnen, würde zu kurz greifen. Es klingen zu viele Bedeutungsaromen an, als dass man das Treiben des Herzerlfressers als schieren Kannibalismus betrachten könnte. Als Verdauungshilfe hat Schmalz der Handlung einige Zitate vorausgeschickt. Eines davon ist ein Satz des bereits erwähnten Jacques Lacan: »Mange ton dasein!« – »Esse Deine Existenz.« Das erklärt die Herzerlfresserei zur existentiellen Angelegenheit. Anders als sein historisches Vorbild Paul Reininger treibt den Herzerlfresser von ­Ferdinand Schmalz, der bei ihm übrigens Herbert Pfeil heißt, kein Aberglaube an. Sondern ein tiefer Glaube. Gewiss, an dieser Stelle ließe es sich nun trefflich darüber streiten, ob nicht jeder Glaube ­Aberglaube ist. Aus atheistischer Sicht ist das vermutlich so. Der Unterschied aber – und auf den kommt es hier an – ist, dass der christliche Glaube, in dessen Kontext sich Schmalz mit seinem Stück bewegt, auf einem ­religionsphilosophischen Fundament ruht, das dem heidnischen Aberglauben fehlt. Sagen wir es so: Paul Reiniger, das historische Vorbild des Herzerlfressers von Ferdinand Schmalz, ließ sich vom jüngsten Gerücht leiten, als er seinen Opfern die Herzen aus dem Leib zu riss. Wenn sich dagegen Herbert Pfeil die Herzen junger Frauen buchstäblich einverleibt, bewegt er sich in einer Gedankenwelt, die um das jüngste Gericht weiß (was an dieser Stelle ausnahmsweise Mal nicht kulinarisch gemeint ist). Nicht um den (Aber-)Glauben an einen obskuren Unsichtbarkeitszauber geht es bei ihm, nicht um irgendeinen Hokuspokus. Dieser Pfeil zeigt ins Metaphysisch, Trans-

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zendente und in Richtung eines Geheimnisses des Glaubens vergleichbar der Akklamation in der Messfeier der römisch-katholischen ­Kirche der Wandlung. Nicht Hokuspokus also. Eher schon »Hoc est enim corpus meum.« Neben Jacques Lacan zitiert Ferdinand Schmalz auch Dieterich Buxtehude am Anfang von der herzerlfresser. Im Passionszyklus »­Membra Jesu nostri patientis sanctissima« (»Die allerheiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus«) des Barockkomponisten heißt es in der Kantate »An das Herz« (»Ad Cor«): »In das Innerste meines Herzens, eines Sünders und Schuldigen, soll sich deine Liebe übertragen, wodurch dein Herz zerrissen wird, ermattend durch die Wunde der Liebe.« Zerrissen wird das Herz Jesu, der für die Menschheit am Kreuz gestorben ist, die Sünden jener Menschen auf sich nehmend, die sich seither an seinem Leib laben, getreu seinen Worten »Nehmt und esst. Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.« Wenn das Treiben des Herzerlfressers Barbarei ist, ist es der Katholizismus auch. Oder anders herum ausgedrückt: Ist die Kommunion nicht kannibalisch, ist auch Herbert Pfeil kein Menschenfresser. Er folgt nur seiner eigenen Theologie. Die Gesellschaft, die Ferdinand Schmalz mit ihm konfrontiert, kann das freilich nicht – oder kaum – verstehen. Nur die naturkindhafte Florentina Fauna (die schon immer am Rande der Stadt lebte, draußen in einem Sumpf, in den die Kommune nun ein Einkaufszen­ trum gepflanzt, nein; besser hineingeklotzt hat) hat sich eine Art naturreligiöser Ahnung bewahrt. Gleich in der ersten Szene des Stücks berichtet sie von Fliegen, die Grillen mit ihren Larven befruchten, »die in der grille schlüpfen und sie von innen fressen«. Man kann dieses Fressen und Gefressen-Werden im Tierreich als Grausamkeit begreifen. In dem Fall ist einer wieder der Herzerlfresser auch nur ein wildes Vieh. Man kann darin aber auch einen Akt der Liebe sehen, der, so wie die Natur das eingerichtet hat, zumindest unter Tieren schon mal vorkommen kann. Wieso also nicht auch unter Menschen? Denn was wäre der Mensch anderes als ein Säugetier? Ein Primat, der sich von anderen Primaten nicht so sehr unterscheidet, wie er denkt. Zärtlichkeit zum Beispiel gibt es auch unter Affen. »und ich hab dacht, das schmusen ist zutiefst was menschliches« irrt der Gangsterer Andi im Dialog mit Florentina, die ihn sogleich korrigiert: »schmusen können auch die bonobos«. Der Gangsterer zieht aus Florentinas Beobachtungen allerdings den falschen Schluss. »die liebe ist ein parasit«, stellt er fest. Die Herzerlfresserei bleibt für ihn damit eine Bestialität. Etwas, dass es nur unter Tieren, Schädlingen, eben: Parasiten gibt. Sie ist für

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ihn nicht, wie man aus Florentinas Ausführungen auch folgern könnte, eine Praktik der Liebe, die unter Tieren natürlicherweise vorkommt, und somit auch unter ihren Artverwandten, den Menschen, denkbar wäre. Der Gangsterer Andi, das muss an dieser Stelle nachgereicht werden, ist auf der Krimi-Plot-Ebene des Stücks der Ermittler, der den Herzerlfresser dingfest machen soll, ehe er noch weiteren Frauen das Herz raubt. Er agiert im Auftrag einer Gesellschaft, die, wie erwähnt, die Theologie des Herzerlfressers gar nicht verstehen kann – allein schon deshalb, weil ihr der eigene Glaube längst abhandengekommen ist. Stattdessen betet sie zu einem ganz anderen Gott als zu dem, für den Buxtehude komponierte: zum Götzen Mammon. In der Gesellschaft, in die der Wiedergänger des historischen Herzerlfressers einbricht, schlägt ein anderes Herz, als das, nach dem der Titelheld des Leibstücks von Ferdinand Schmalz sich verzehrt: das kalte Herz des Kapitalismus, das nur für den Konsum, nicht für den Mitmenschen klopft. Ihre Kathedralen sind Einkaufstempel, nach denen sich die Kundschaft, so beschreibt das Schmalz, in »sehnlichster erwartung«, sprechen wir es ruhig aus: verzehrt. Ein solcher Konsumtempel, das bereits erwähnte Einkaufszentrum – oder einfach nur »zenter«, wie es bei Schmalz heißt – ist Schauplatz des Stücks. Und den Konsum­hunger, der die Menschen dort hinzieht, beschreibt der Autor als eine Art fehlgeleiteten Appetit, der aus ihrer »vielheit« eine Einheit macht. Aus Individuen »unterschiedlichen alters« eine letztlich anonyme Masse von Menschen mit austauschbaren Wünschen. Ferdinand Schmalz lässt die »kundenschaft« wiederholt mit einer Stimme reden, im Chor. Wenn sie mit den Worten »o neue mitte, nimm uns auf, durch deine weiten pforten« ins »zenter« strömt, dann hat das etwas von einem kollektiven Stoßgebet und lässt an den Tanz ums Goldene Kalb denken. Einstmals schlug das Herz dieses »gemeinschaftskörpers« noch anderswo. Im Altstadtkern. Dagegen darf man sich das neue Einkaufs-­ Paradies (für nichts weniger als den Garten der Glückseligkeit halten es die Menschen) wohl an einer jener Umgehungsstraßen gelegen vorstellen, die an vielen Kleinstädten vorbeiführen wie Bypässe. Auf der grünen Wiese. Oder hier: in einem einstigen Sumpfgebiet. Daran, dass das Herz der Menschen dort nicht am rechten Fleck schlägt (obwohl der der Bürgermeister »jeden tropfen herzblut« dafür gegeben hat), lässt Ferdinand Schmalz keinen Zweifel. Weil der moorige Boden unter dem Gewerbepark nachgibt, klaffen Risse im Beton der schicke Shoppingmall, noch ehe sie eröffnet wird, um die innigsten Kaufwünsche der Kundschaft zu erfüllen. Die Natur wehrt sich.

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der herzerlfresser ist dennoch kein Ökodrama über den Flächenfraß. Und auch kein kapitalismuskritisches Sozial- oder ­ ­Wirtschaftsdrama über die Verödung der Innenstädte und die Verelendung der so genannten kleinen Leute und Kapitalismusverlierer, wie man das aus den Texten früherer Autor*innen-Generationen des kritischen Volkstheaters kennt, aus deren Tradition sich Schmalz durchaus nährt. Im herzerlfresser geht es um Grundsätzlicheres: um den Ausverkauf der Seele. Das Herz steht nicht nur für die Liebe. Es gilt auch als Sitz der Seele. Nicht umsonst hießt es gern, Liebende seien »ein Herz und eine Seele«. Die »kundenschaft«, deren Herz nur im Gleichtakt des Konsums oder im Rhythmus in Klischees erstarrter Schlagerschnulzen schlägt, ist seelisch verarmt. Und der Bürgermeister, der den Zenter-­ Neubau als Herzensangelegenheit betrieb, ein falscher Prophet, gegen den Schmalz seinen Herzerlfresser als Erlöserfigur in Stellung bringt. Die Theologie, für die er steht, ist archaisch. Aber die Bibel ist auch brutal, bis ins Neue Testament hinein, und bietet gleichfalls keinen Kuschelglauben an. Und doch predigt Herbert Pfeil Liebe. Aber eben eine radikale, rohe Liebe. Eine abgründige, unsagbare Liebe, die unsäglich anmutet, weil sie zu vernichten scheint, was sie begehrt. In Wahrheit geht es nicht um Vernichtung, sondern um Vereinigung. Um Eins-Werdung und Überwindung der Einsamkeit: »ein jeder sehnt sich doch nach einer anerkennung, nach aneignung durch einen anderen. im grunde unseres herzens sind wir doch alle allein«. Pfeil sucht nicht aufzugehen in der Masse der Konsumenten und der Ersatzbefriedung des Kaufrausches. Er sucht die Vereinigung, indem er sich seine Opfer ­einverleibt. Genauer: ihre Herzen. Denn »das macht ihr innerstes zu meinem innerst inneren«. Nach Lacan ist das Wesen des Menschen Begehren. Ein Begehren jedoch, welches nie befriedigt werden kann. Das erinnert an den ungestillten Durst und Hunger des Tantalus, der sich nach Wasser beugt, das ihm entrinnt, und nach Zweigen voller Früchten streckt, die sich ihm entwinden. Herbert Pfeil begehrt auf gegen diese Qual und sucht Erlösung in der ultimativen Vereinigung. Wo sich die anderen hinwegtrösten über die Unerfüllbarkeit ihres Begehrens mit der Ersatzbefriedigung des Konsums und wo sie Liebe nur noch als konfektioniertes Gefühl kennen, das mit Schlagerkitsch simuliert (ein Alleinunterhalter intoniert bei der Eröffnung des Zenters die entsprechenden Schnulzen) und Plüschherzen dekoriert wird (ein entsprechender Automat, in dem man solche flauschigen Imitate nach Münzeinwurf zu greifen

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versuchen kann, darf im Zenter nicht fehlen), macht der Herzelfresser blutigen Ernst. Man kann das als krankhafte Obsession abtun. Das hieße aber, dass Herbert Pfeil sich nicht im Griff hat und von viehischem Instinkt leiten lässt; von seiner inneren Triebnatur, die sich so wenig domestizieren lässt wie der Sumpf unter Beton versiegeln. Ferdinand Schmalz hat seinen Herzerlfresser aber ja gerade nicht als psychopathischen Triebtäter gezeichnet. Nicht als Barbaren, der eine Bedrohung darstellt (obwohl gegen ihn wie gegen einen Serienkiller im Krimi ermittelt wird), sondern als einen, der mit einer Verheißung unterwegs ist, nämlich dem »versprechen einer berührung, die keine trennung kennt.« Interessanter denn Herbert Pfeil als pathologischen Fall abzutun ist es daher, seine Geschichte als Erlöser-Utopie zu begreifen und die Herzerlfresserei als eine – zugegeben bizarre – Abwandlung der Kommunion, bei der nicht die Menschen den Leib des Erlösers empfangen, sondern die Menschen »wieder fleisch von meinem fleisch werden«, wie Pfeil es in der alttestamentarischen Diktion des Buch Genesis formuliert. Am Ende des Stücks stirbt der Herzerlfresser einen Märtyrertod. Herbert Pfeil wird nicht von Pfeilen durchbohrt wie der heilige Sebastian. Und auch nicht ans Kreuz geschlagen wie Christus. Wohl aber – kurz nach einem (Judas?-)Kuss von Florentina, die fast eine Art Jüngerin sein könnte (siehe oben) – erschossen. Keine Pfeile, keine Nägel, keine Lanze des Hauptmanns, aber eine Kugel mitten ins Herz. Ein wahrhaft herzzerreißendes Ende, ganz im Sinne von Buxtehudes »Ad Cor«. Es mag provokant sein und verstörend, einen »Kannibalen« wie den Herzerlfresser in die Nähe des Heilands zu rücken. Aber wie gesagt: Die Stücke von Ferdinand Schmalz sind nicht unbedingt leicht verdaulich. So ist das nun mal, wenn Liebe buchstäblich durch den Magen geht. Ferdinand Schmalz nimmt die Sprache beim Wort. Wörter sind für ihn immer auch etwas Konkretes, das man in Mund nehmen kann, um sich deren Bedeutung auf der Zunge zergehen zu lassen. Dabei hat er es zur Kennerschaft eines Gourmets gebracht, der sämtliche Nuancen herausschmeckt und im Schreiben genüsslich auskostet. Diesen Zusammenhang zwischen Essen und Sprechen stellt auch Hebert Pfeil im herzerlfresser her, wenn er sich fragt, »warum da aus demselben loch, in das wir unser essen stopfen, warum da unsre sprache auch rauskommt.« Und weiter: »das muss doch was heißen, wir beißen, kauen, schmecken mit denselben instrumenten, denselbe organen,

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apparaten, mit denen wir die worte fassen. wir sind doch alle bauchredner, die sprache rülpst sich aus uns heraus.« Zugegeben, »rülpsen« – das klingt weniger nach Feinschmecker, also nicht nach dem Auskosten von Sprache, sondern ehre ordinär. Aber wahrscheinlich ist das wieder schillernder Schmalz. Schmalzsche Ambivalenz. Rülpsen ist, wenn es nicht als Provokation gegen die Etikette absichtlich passiert, ein unwillkürlicher Akt. Da rülpst sich was heraus, das sich nicht unterdrücken lässt. Will an die frische Luft, um sie kurz zu verpesten. Die Sprache, die auf diese Weise in die Welt drängt, gibt ebenfalls etwas preis, das sich nicht verbergen lässt. Sie verrät manchmal mehr, als den Sprechenden selbst bewusst ist. Aber wer eine feine Nase hat, die er sich nicht zuhält, einen guten Riecher, der wittert die Duftmarken des Denkens, die sich im Herausgerülpsten offenbaren. Im Unausgesprochenen, das dem Gesagten stets beigemischt ist. Schon Ödön von Horváth, einer der Ahnherren des kritischen Volkstheaters, sprach von einer »Demaskierung des Bewusstseins« durch die Sprache und verfügte immer wieder »Stille« zwischen den Repliken seiner Figuren, in der sich die Abgründe ihres Denkens auftun. Eine ähnliche Funktion könnten die Herzschläge haben, mit denen Schmalz die Dialoge im herzerlfresser taktet. Dem gälte es noch genauer nachzugehen. An dieser Stelle sei fürs erste festgehalten, dass seine Figuren nur aus ihrer Sprache zu bestehen scheinen, aus einem ebenso saftigen wie kantigen Kunstidiom, in dem es nur so wimmelt von Auslassungen, Kontraktionen und Verknappungen, wie sie für den bairisch-österreichischen Sprachraum charakteristisch sind. Eine satte Sprache also, die sich vom Dialekt nährt, wie Bauern vom Schmalzbrot, und doch weit entfernt liegt vom Doppelrahmduktus reiner Mundart. Ein Kunstsprech, der sich zu naturalistischem Dialekt in etwa so verhält wie Halbfett- zu Vollmilch. Der Geschmack ist erkennbar, aber das Süffige fehlt. Soll es auch. Das Schrecklichste sei es, sagt Schmalz, wenn seine Stücke als Dialektstücke inszeniert würden. Das gehe immer schief. Er spricht von seinen Figuren lieber als »Puppen, die aus Sprache bestehen«. So blutig es im herzerlfresser auch zugehen mag: Menschen aus Fleisch und Blut hat Schmalz nicht geschaffen. Was nicht heißt, dass seine Sprachpuppen hölzern blieben. Aber sie laben sich nicht am Naturalismus (samt naturgetreuem Idiom) und müssen auch nicht durch Psychologie aufgepäppelt werden. Ihre Sinnlichkeit speist sich aus der Sprache, aus der ihr Schöpfer sie geformt hat. Die Sprache macht sie lebendig, ohne dass sie dadurch wie lebensecht daherkämen. Rasch lösen sie sich bei der Lektüre vom Papier, um

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in der Phantasie der Leser*innen spazieren zu gehen. Dabei entwickeln sie ein Eigenleben ähnlich tatsächlichen Puppen wie man sie von guten ­ Figurentheatermacher*innen kennt, etwa von Nikolaus Habjan (ein Grazer übrigens wie Ferdinand Schmalz), die ja auch nicht Menschen zum Verwechseln ähnlich sehen und doch so anschaulich von deren Wesen zu erzählen vermögen, dass Schauspieler*innen auf der Bühne regelmäßig Gefahr laufen, neben ihnen zu verblassen, oder aber, wenn sie übereifrig gegen sie anzuspielen versuchen, künstlich wirken im Vergleich mit den eigentlich unechten Holz- oder Pappmaché-Kameraden. Habjans Klappmaulpuppen funktionieren wie treffende Karikaturen: Sie überzeichnen die Realität hin zur Kenntlichkeit. Ähnlich zeichnet Ferdinand Schmalz mit Sprache und spricht von der »Modellhaftigkeit« von Figuren und Konstellationen. Beim herzerlfresser sollte man vielleicht von Gleichnishaftigkeit reden. Das Stück ist ebenso wenig wörtlich zu nehmen wie die Bibel. Eine Kritikerin hat die Sprache von Ferdinand Schmalz einmal sehr schön zutreffend beschrieben als »prall wie Würstel und wie Zuckerwatte bauschend zart«. Man könnte auch sagen: Schmalz malt mit satten Ölfarben einen hauchdünnen Strich aufs Papier. Das Ergebnis hat etwas Skizzenhaftes, und doch sind darin unendliche viele Schattierungen zu erkennen, in denen die komplette Farbpalette eines Ölschinkens erlebbar wird, ganz ohne dicken Farbauftrag. Da tropft und trieft nichts. Schmalz mag es ja nicht fettig. Nur schillernd. Diese Sprachbehandlung scheint an Elfriede Jelinek geschult, bei der plumpe Wortwitze und feinsinnige Sprachbetrachtung in eins ­fallen. Die vermeintlich billigsten Kalauer sind bei ihr die kostbarsten. Ferdinand Schmalz steht Jelinek da um nichts nach. Wenn es bei ihm etwa heißt, der Herzerlfresser wolle ein »herz sich fassen«, dann ist das von allerschönster Doppeldeutigkeit. So versteckt sich in den Stücken von Ferdinand Schmalz hinter vielen Sätzen eine zweite Bedeutung. Ein Hintersinn, der dem Denken Nahrung gibt und Stücke wie der ­herzerlfresser so köstlich macht. Köstlich durchaus auch im Sinne von amüsant und komisch. Vor allem aber im Sinne eines literarisch-­ kulinarischen Hochgenusses. Gute Zutaten garantieren keine gute Mahlzeit. Selbst das beste Filetsteak kann in der Pfanne zäh werden, wenn man es falsch anbrät. Aber ohne gute Zutaten kein Gourmet-Essen. der h ­ erzerlfresser bietet solche Zutaten. Und klar kriegt man nach der Roh-Verkostung des Stücks Appetit auf eine Aufführung. So oder so: Die Leibstücke von ­Ferdinand Schmalz zählen zu meinen Leibspeisen. Erstveröffentlichung in Lichtungen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, 168, 42. Jg. 2021

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Gerhild Steinbuch

Gerhild Steinbuch

Wolfswelt Das Stück handelt vom Verschwinden: dem Verschwindenlassen von Geschichte und Verantwortung und dem Verschwindenwollen jener, die sich ausnahmsweise ans Tätersein erinnern. Wölfe ziehen durch eine Welt im Ausnahmezustand, und es ist nicht sicher, ob der Wolf einer ist, der in den Straßen mordet, einer, der im gleißenden Licht mit Prinzen­ frisur roh-bürgerliche Reden schwingt, oder einer, der sich in seinem Körper einpanzert, weil er die Angstwelt nicht mehr erträgt. Vielleicht sind die eigentlichen Wölfe ja auch jene, die sich einheimeln im Flausch und das Erinnern leid sind: Akteure des Gedächtnistheaters, die Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende von 1985 ein bisschen zu wörtlich nehmen und aus dem Glauben an die eigene Befreiung von Täterschaft und Schuld den unbedingten Glauben an die sogenannte Leitkultur ableiten. Ein Glauben, den es um jeden Preis zu verteidigen gilt. HERZOG Da wohnt was zwischen den Gebäuden in den Wänden unter der Stadt eine andre Stadt Das Geräusch kennst du wenn du als Kind das Ohr an die Fuß­ bodenbalken legst wenn du untertauchst im Hallenbad wenn du dich umdrehst im Hausflur wenn du in den Spiegel schaust an die Tapete starrt dir was entgegen Da wächst was unter der Stadt Es schiebt sich durch die Gassen in die Körper mit Wolfsaugen schaut es dir entgegen wenn du in den Spiegel starrst mit Wolfsarmen und -beinen greift es nach dir und nimmt dich an der Hand das packt ordentlich zu mit Wolfsfäusten und -tritten bringt es dich in Form Aus dem Maul klingt es wenn du Luft holst PREPPER Manchmal träum ich nachts vom Wolf Das Kühlschranklicht flackert davor hat er sich aufgebaut Feinsäuberlich pult er den teuren Käse aus dem Bienenwachstuch Legt sich ein paar Tomätchen zurecht und das Rauchsalz Packt das neue Messerset aus

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Geschmeidig gleitet die Klinge durchs Brot Der Wolf schmiert ein paar Stullen die sehn ziemlich gut aus wie Er hält mir eine wortlos hin dann beiß ich ab Schmeckt viel besser als bloß selbst gemacht Sieht viel besser aus als ich In meiner traurigen Küche mit den traurigen Tränen und dem traurigen Möbelarrangement Traurig beiß ich morgens ins Eigenbrot Draußen vorm Fenster die Wölfe drumrum ziemlich viel gewöhnlich Ich stier ins Körpergrau nix schaut zurück Die Wut kitzelt im Bauchnabel aber rausflusen kann man die nicht Irgendwie müsste man wo reintreten oder reinfassen ich sag ja zwischen menschlicher Kontakt der wird im allgemeinen unterschätzt Vollgeflust mit meiner Wut beiß ich ins Brot Irgendwann muss man auch irgendwo reintreten oder reinfassen Ich fass mir ins Gesicht obwohl man ja nicht Ob da schon sowas wie Erhabenheit vom Träumen Wir schreiben zwölftens: Die Wölfe sind jetzt in der Stadt zurück Wir schreiben dreizehn: Schön HERZOG So fängt es an: Da ist eine zweite Welt in der Stadtwelt die der die einmal war so täuschend ähnelt dass du jetzt nicht mehr weißt was echt ist und was nicht Mit Kopieaugen schaust du dir zu beim ewigen Vorwärts Mit Kopiearmen und -beinen hältst du dich fest am Nebenmensch bringst ihn in Form und sicheren Blickes schaust um dich das Wolfsgesicht starrt zurück schiebt sich die Straße lang neben dir das will durch jede Pore kämpfst du dagegen an die Klammern ziehst du fest jetzt lächelt der Mensch Schön So fängt es an: Lächelst dich durch den tristen Tag und dein jämmerliches Leben

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Lächelst dich durchs prekäre Lohnarrangement und die Scham Lächelst beim Familienbesuch und lächelst bei den Freundinnen mit gutem Leben Lächelst beim versuchten Kennenlernen und beim Treffen mit noch nicht Bekannten Lächelst beim Treffen mit Bekannten und beim Treffen mit längst Altbekanntem obwohl da eher Kotzen angebracht wär Ich hab alles probiert gegen mein dummes Gesicht Die Mundwinkel gedehnt und mir was Schönes vorgestellt Hirn entspannt und dafür ordentlich was in mich reingefüllt Vorm Spiegel geübt Aber mein Gesicht hängt da kannst du nix machen Ein großer Sack Langeweile der nach unten tränt Mit dem Sackgesicht die Stadt in Angriff nehmen und den Alltag kannst du aber vergessen Weil da keiner reinschaut und von nix kommt nix Aber wenn keiner reinschaut bist du unsichtbar und das ist nicht so schlecht Da ist mir das dann aufgefallen mit der zweiten Welt *** ICH Manchmal träum ich nachts vom Wolf Der Wolf sagt: Wie du riechst erinnert mich an früher Aber ich kann mich nicht erinnern dran was früher war Morgens starr ich in den Badezimmerspiegel dann der Wolf starrt zurück *** HERZOG Am Anfang denkst du Müdigkeit ist Müdigkeit wenn einer was davon erzählt. Denkst dir dass du das ja auch kennst irgendwie, das mit dem sogenannten schlappen Knochen. Denkst dir dass du manchmal auch irgendwie nicht mehr kannst wenn du morgens in die Welt schaust. Das denkst du dir und sagst verstehe klar verstehe und das Gegenüber nickt. Was du dann aber nicht weißt ist, dass du in Wirklichkeit gar keine Ahnung hast. Weil diese sogenannte Müdigkeit von der du was

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zu wissen glaubst, die ist ein völlig andrer Zustand. Die ist ein wacher Schlaf der durch die Poren kriecht, der eng anliegt. Der schiebt sich vor jedes Gegenüber das was reinlacht in dich oder reinsagt oder reinliebt. Alles egal. Durch den matten Film schaust du durch siehst was spürst nichts. Nachts schaust du die Zimmerdecke an und die Bettdecke auch. Alles seltsam verändert. Irgendwas ist schief in der Welt aber den Fehler findest du nicht. Du suchst weiter. Dann wirds wieder hell. Und irgendwann dann hast du was verstanden. So fängts an: Da ist eine zweite Welt unter der Stadtwelt die der die einmal war so täuschend ähnelt dass du nicht mehr weißt wessen Ich stelle Untersuchungen an zu dieser zweiten Welt Auf diesem Wege, denk ich, lässt sich dann determinieren, wo das eine aufhört und die Kopie beginnt Aber Determinismus war ja leider noch nie mein Talent Man sagt ich hätte nix tun und sollte mal was machen arbeiten zum Beispiel aha Mach mal was sagt man und das Schulterklopfen beginnt Mitleid wird ausgekippt über den der in der Mitte steht wie angewachsen Jetzt mach doch mal was Mit der Palette Dosenravioli unterm Arm Jetzt mach doch mal was Wedeln mit dem Punkteplan Wenn man ein paar Punkte hat das ist schon was Schönes Ich mach mir Klammern in den Mund und zieh von innen die Mundwinkeln hoch Lächle und die Welt lacht mit dir Ich meide Supermärkte und Gespräche Regeln zur Einheimelung ziehn an mir vorbei Stattdessen heißt es wachsam bleiben Ich tast die Wände ab und horch in den Asphalt Ich horch ins Schweigen rein wenn wieder mal wer nix zu sagen hat Ich versenk mich ins Rauschen von allem das immer weitergeht Ich steh wie eine sehr alte Verkehrsinsel im blühenden Leben Dann brennt das blühende Leben langsam weg und das Rauschen nimmt zu Mein Körper ist ein komischer Klaus und Klaus ist irgendwie ferngesteuert Hallo Klaus altes Haus Wie gehts dir und was machst du eigentlich

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Machst du eigentlich überhaupt noch was Bist du überhaupt noch da oder ist das schon was andres Ist da schon wer andrer jetzt Klaus sabbert friert und will gefüttert werden Ich komm meinen Pflichten nach Um irgendwen muss man sich ja schließlich kümmern wenn man sonst nix zu tun hat Der Klausmensch soll mein neuer Panzer sein gegen die Welt der Stumpfen *** PREPPER: Die Wölfe kommen in die Stadt zurück Wir schreiben vierzehn: Wenn man eine Haltung hat das ist schon was Schönes Wir fassen uns ins Wolfsgesicht Hab ich schon eins oder ist da noch keins Hab ich noch keins oder ist da schon eins Weil Angst ja eine Weltanschauung die gibts grad im Sonderangebot Und bei Schnäppchen heißt es zuschlagen Die Wölfe kommen in die Stadt zurück Sie Überschreiten die Grenzen schleichen nicht Sie Schreiten majestätisch dahin Kein Zaun da der sich ihnen in den Weg stellt keine Mauer Die Wölfe sind ziemlich geschmeidige Tiere Sie Sind wache Tiere Die Wölfe kommen in die Stadt zurück wir halten uns wachsam Ein Tier ist ein Tier ist ein Tier Ich Fass mir ins Gesicht Die Wölfe sind keine Metapher für das Böse Die Wölfe sind keine Vorboten der Hölle Die Wölfe sind kein Bild fürs Unterbewusste Na endlich Die Wölfe spielen keine halbseidenen Schießsportarten in Wäldern Sie Bekennen sich nicht zum Nationalstaat Sie haben flauschige Gesichter Sie Wissen wie man einen Klimmzug macht Sie trinken Tee mit

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Wolfswelt

Kalendersprüchen Sie Sind ziemlich gutaussehend dass einem das Herz aufgeht Ja also da geht mir wirklich jetzt das Herz auf Ja mir auch Mir auch Ja mir auch Ja mir auch Ja mir natürlich auch Schon schön Die Wölfe lächeln Ich Lächle zurück […] VULKANOLOGE Du sammelst Modi des Verschwindens. Du machst einen ziemlichen Aufriss, dass da nichts fehlt. Man fängt ja immer bei der Romantik an, und von dort zur Phantasie, damit das echte Leben möglichst lange draußen bleibt, damit die eigene Geschichte endlich mal das Maul hält. Du hast alles probiert. Du hast nachgedacht, nicht drangedacht, hast dir das Hirn weggeblasen mit Gebräu und andrem Müll, bist gegen die Wand gedonnert, diverse Arbeitsunfälle, aber nix, du bist immer noch da und du erinnerst alles. Also meidest du Menschen fortan, im nächsten Umfeld fängst du an, weil die sind die Gefährlichsten, mit ihrem scharfen Blick wenn sie dir nahekommen und die hören was du denkst. Dass das nicht abfärbt. Dass das nicht auf die abfärbt. Ich mach mich zu. Lauf durch den Tag wie so ein unkaputtbares Kriegsgefährt bloß dass das Schießen in mir drin ist und weiter knallt es in mich rein. Durch die Löcher suppt alles raus was sonst von draußen reinkommt, jedes schöne Gefühl. Ich mach mich weiter zu. Menschen schauen, Menschen sprechen, Menschen gehn, Menschen warten auf Antwort, ich ruf nicht zurück, Nachrichten schreib ich nicht und Briefe auch nicht. An einem versucht, gekrakelt, abgerutscht. Versuch vernichtet. Der engere Kreis murrt unverständig. Ich klapp alles hoch was mir zur Verfügung steht. Mit ziemlich dichten Luken geh ich in den Wald. Ich bau den Wald in die Innerlichkeit. Ich steig drin rum. Ich geh dort nicht mehr raus. Ich stell mir vor: Dass was aus mir rausbricht, dass das rausfließt, wovon man nicht spricht, dass das alle sehn, dass das das sogenannte echte Leben ist, dass es ein

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Gerhild Steinbuch

Verbrechen ist, dass ich überhaupt noch da bin. Aber wer ein echter Wolf ist ist nicht totzukriegen. Wer als echtes Wolfskind geboren ist. Wenn alles in mir drin so brüllt dass nichts mehr hilft stell ich mir das vor: Ich steh in einer Landschaft. Die Landschaft die mal Stadt war ist ein schwarzer Fluss jetzt, der wächst und sich verengt, der unterm Dunkel glüht. Ich steh im düsteren Steingebiet und schau ins Fließen. Eine Welt in ständiger Bewegung: Ich denk mir: So ist das also, wenn man in den Eingeweiden drin ist von der sogenannten Welt. Du bist Nichts. Du bist endlich schlichtweg nichts. Schon schön *** ICH Mein Vater stirbt, bevor er noch mal nach Italien fährt. Meine Erinnerung an ihn beginnt damit, dass er auf einem Bein steht, Arme ausgestreckt und in den Abgrund schaut und endet genauso. Dazwischen war da nicht besonders viel. *** O-Ton Theweleit: »Ein Leben kommender Menschen, das diesen Namen verdient, hängt an anderem; hängt daran, dass die Präambeln der Menschenrechts­ verordnungen (und das zugehörige Verhalten) sich abkoppeln von Luftblasen-Formeln wie Würde und Respekt und dem schrecklichen Adjektiv unantastbar – wo doch permanent und ohne jede Rücksicht angetastet wird. Wäre es nicht schöner, etwas tatsächlich Existierendes an ihre Stelle zu setzen, nämlich die Haut, eine wirkliche Grenze. Menschenrecht solle sein das Recht auf Unversehrtheit der Haut gegenüber unerwünschten Eingriffen. Haut, die aber berührbar ist, wo gewünscht, gegenseitig.« (Klaus Theweleit: Männerphantasien, vollständige und um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe, Berlin, 2019, S. 1278)

*** Coda – kleine Utopie *** 164


Wolfswelt

Wenn mir dann wieder mal die Luft ausgeht oder: wenn ich nichts zu sagen habe oder: meistens irgendwie auch beides tja da geh ich in den Wald Ich leg mich ins Unterholz Ich denk an unsren Abstand Ich denk an meinen Anstand Ich denk an meinen Impfpass Ich tapp ein paar Runden Und das ist der Wald Im Wald ist kein Wolf Im Wald ist es nicht mal besonders dunkel Ich geh nachhaus Lauf den Umweg über die Bucht mit den besseren Menschen Ich schau in die besonders hohen Fenster Ich pfeif den Trauermarsch fürs ungelebte Wolfsleben Daheim leg ich mich viel zu früh ins Bett Ich beobachte den Katastrophenzustand der inneren und äußeren Welt Ich mümmel mich ins Wattehäuslein Das Wattehäuslein zwickt an Armen und Beinen Ich denk kurz dass aus unsrem Fremdsein miteinander sowas wie ein neuer Anfang aber dann Denk ich dass ich dir das ja ohnehin nicht sagen kann Jetzt ruft Europa an Aber ich bin leider schwer beschäftigt Auszüge aus: Gerhild Steinbuch, Wolfswelt, © Rowohlt Theater Verlag

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Teresa Kovacs

Teresa Kovacs

Lesen proben. Lesend proben. Gedanken über Gerhild Steinbuch Eine Woche vor Beginn des Herbstsemesters und mitten in einem langen COVID19-Sommer, den ich in Bloomington im südlichen Indiana ausgeharrt habe, trifft am 23. August 2020 plötzlich ein E-Mail von Ferdinand Schmalz ein. Dieses E-Mail hat sofort mein Interesse geweckt (abgesehen von der Freude, die ich immer verspüre, wenn ich von Ferdinand höre), denn der Betreff »Dramatisch lesen« hat in dieser speziellen Situation besondere Resonanz in mir ausgelöst. Einerseits haben mich die Erfahrung der plötzlichen Trennung vom Theater und die anhaltenden Diskussionen um die Schließung bzw. Migration aller Theater in den virtuellen Raum zu einer erneuten Befragung der Kunstform und meines Interesses daran angeregt. Wieso bin ich bislang regelmäßig ins Theater gegangen? Was macht die spezielle Erfahrung aus? Wieso fehlt mir jede Geduld, Inszenierungen online anzuschauen? Wieso scheine ich mich plötzlich nicht mehr für Theater zu interessieren, jetzt, wo ich es ganz gemütlich vom Wohnzimmer aus konsumieren kann? Was bleibt also, wenn die Theater geschlossen sind? Dramatisch lesen. Aber auch hier fühle ich den Verlust, denn sofort kommt in den Sinn, was uns Theaterwissenschaftsstudierenden in den nuller Jahren in den ersten Wochen unseres Studiums mit Referenz auf Hans Thies Lehmanns Postdramatisches Theater und Erika Fischer-Lichtes Ästhe­ tik des Performativen klargemacht wurde: Der Theatertext ist ohne das Theater immer schon unvollständig. Jetzt hätte man also Zeit zum Lesen, da uns der Theaterraum so radikal entzogen wurde (und ich sehe den Zoom-Raum nach wie vor nicht einfach als Ersatz dieses Raumes, sondern als einen gänzlich anderen Raum mit anderen Qualitäten und Forderungen, die er an uns stellt), aber wie lesen wir einen Theatertext? Oder konkreter, wie lesen wir zeitgenössische Theatertexte wie jene von Gerhild Steinbuch, die radikal offen und unvollständig sind und die nicht verleugnen, dass sie das Theater als Mitspieler*in brauchen? Denn wir wissen zwar aus Schulzeiten immer noch, wie man Dramen liest, aber zeitgenössische Theatertexte wirken fremd und nur schwer zugänglich. Das hat damit zu tun, dass die Krise des modernen Dramas, wie sie Peter Szondi bereits für den Beginn des 20. Jahrhunderts konstatiert, Theatertextformen hervorgebracht hat, die nicht mehr mit Begriffen des Dramas

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zu fassen sind. Sie sind auch deshalb fremd, weil Theatertexte heute kaum gedruckt und publiziert werden – mit Ausnahme einiger mittlerweile kanonisierter Autor*innen wie etwa Elfriede Jelinek – und somit einer Leser*innenschaft von Spezialist*innen vorbehalten, die über die Verlage Zugang zu den unpublizierten Manuskripten erhält bzw. die Zeitschriften wie Theater heute heranzieht, um Abdrucke aktueller Texte zu lesen. Wenn Ferdinand Schmalz also die Frage nach dem »dramatischen Lesen« stellt, dann muss ich zunächst fragen, ob die Texte von Gerhild Steinbuch überhaupt für Leser*innen zugänglich sind. Auf ihre Stücke trifft zu, was ich soeben für Gegenwartsdramatik grundsätzlich angemerkt habe. Die Stücke sind bislang nicht in Buchform erschienen, d. h. sie sind vom Theater abhängig, um ein Publikum zu erreichen – das hier aber nicht als Leser*in fungiert, sondern als Zuschauer*in einer Produktion, die eben nicht der Text selbst ist. Die Tatsache, dass ich die unpublizierten Manuskripte ihrer Stücke zur Verfügung gestellt bekommen habe, um über das Lesen ihrer Texte nachzudenken und mich mit ihr auszutauschen, macht mich zu einer privilegierten Leserin. Ich denke, es ist wichtig, die Reflexion über das dramatische Lesen mit einer Problematisierung dieser Tatsache einzuleiten. Stücke brauchen nicht nur ein Theaterpublikum, sondern auch eine breite Leser*innenschaft abseits von einem ausgewählten Publikum von Spezialist*innen. Wenn wir nun annehmen, dass die Texte zugänglich gemacht werden, dann können wir uns in einem weiteren Schritt tatsächlich Fragen des Lesens widmen. Was erwarten diese Texte von mir? Welche Leser*in muss ich sein, wenn ich mit Steinbuchs Stücken in einen Dialog eintrete? Texte, die im Werden begriffen sind Gerhild Steinbuch betont wiederholt, dass sie das Theater braucht, um ihre Stücke zu schreiben, die sonst unfertig und offen bleiben. Offenheit und Unfertigkeit ist theatergeschichtlich grundsätzlich nicht neu – man denke nur an romantische Fragmente, an das Theater der frühen und späten Avantgarden und an »prosaähnliche« Theatertexte wie die von Heiner Müller und Elfriede Jelinek. Auf den ersten Blick scheint es also, als wären genügend Anknüpfungspunkte und Vergleichsmomente vorhanden, um Steinbuchs Texte zu beschreiben und Strategien für das Lesen dieser Texte zu finden. Auf den zweiten Blick allerdings zeigt sich, dass es doch nicht so einfach ist, Material eben nicht gleich Material ist. In einem Gespräch, das Steinbuch mit

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der Literaturwissenschaftlerin Eva Horn geführt hat, kommt die Autorin selbst auf diesen Unterschied zu sprechen. Sie betont mit Bezug auf die fast zum Synonym für zeitgenössische Dramatik gewordenen Textflächen von Jelinek, dass diese Texte bereits als Text eine ganz bestimmte Struktur vorgeben, ihre eigenen Stücke allerdings radikal unfertig sind und erst im Probenprozess und im intensiven Austausch mit den an der Produktion Beteiligten nach und nach Form annehmen. Während die Theatertexte von Autor*innen wie Heiner Müller oder Elfriede Jelinek zwar Material sind, so ist es Material mit einer starken Setzung und Forderung an das Theater. Heiner Müller hat daher etwa an Jelineks Stücken positiv hervorgehoben, dass sie das Theater herausfordern bzw. überfordern. Damit hat er einen Anspruch formuliert, den auch er verfolgt hat, nämlich Texte zu schreiben, für die das gegenwärtige Theater noch nicht bereit ist und die noch auf ihre Realisierung warten. Wenn Steinbuch nun betont, dass ihre Texte erst in der Probe und in der Zusammenarbeit mit Dramaturg*innen, Regisseur*innen und Schauspieler*innen zu einem Stück werden, dann geht es nicht darum, das Theater mit einem Text herauszufordern, das die Institution und Kunstform in eine andere Zukunft zwingt, sondern kollektives Arbeiten zu erproben. Während Stücke wie die von Müller und Jelinek also Material sind, das im Probenprozess mühsam aufgebrochen und vom Theater angeeignet werden muss, können wir uns Steinbuchs Texte eher als ein Angebot an das Theater vorstellen, das Regie, Dramaturgie, Performer*innen etc. einlädt, sich hineinzubegeben und in enger Zusammenarbeit einen Text entstehen zu lassen, der sich im Laufe des Probenprozesses zu einer fixen Dramaturgie auf der Bühne verfestigt. Werden Müllers und Jelineks Texte auf ihre Texttheatralität hin befragt, inspirieren uns Steinbuchs Texte, auch nach der Theatertextualität zu fragen. Und hier meine ich nicht Theater als Text im Sinne der Semiotik. Viel eher geht es mir darum, das Folgende mit zu berücksichtigen: Wenn Schreiben im Raum des Theaters und im Rahmen der Proben stattfindet, dann bedeutet es, dass der Probenprozess untilgbar in den Text und damit das Lesen eingeschrieben ist. Müssen wir unser Lesen also als Probe verstehen? Erproben wir hier eine Lektüre für ein Stück, das im Werden ist? Das uns vorführt, dass die Gegenwart des Schreibens und Lesens immer schon auf eine mögliche Zukunft verweist, aber auch ein vergangenes Werden rekonstruiert? Dem Gedanken eines lesend Proben folgend, ist der folgende Text eine Sammlung von Gedanken und Beobachtungen beim Lesen der Texte von Steinbuch, die im gemeinsamen Austausch mit der Autorin entstanden sind. Ich

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nehme bewusst Abstand davon, grundlegende formale Aspekte ihres Schreibens aufzuzählen. wie chorisches Sprechen, Fragment, Collage, Montage und das Spiel mit der Autorinnenstimme. Stattdessen hoffe ich, dass die Angebote für mögliche Einstiegspunkte in die Auseinandersetzung mit Gerhild Steinbuchs Texten eine Form des Lesens aufblitzen lassen, die die Form der Probe, d. h. das Erproben, Neugierde, Spiellust und Scheitern, inkludieren. Es ist ein Lesen, das hellhörig und -sichtig für Spielangebote des Textes ist. Ein Lesen, das den Text nicht in eine Linearität von Beginn, Mitte und Ende zwingt, sondern das offen bleibt und damit jenen Details Raum schenkt, die mich als Leser*in berühren, die mich in einen kollektiven Denkprozess einbinden und zum Spiel anregen. E-Mail vom 24. Februar 2021 Liebe Gerhild, was mich im Kontext deiner Texte interessiert, sind verschiedene Aspekte. Zum einen ist es die Frage, was ein Text von mir als Leserin erwartet, wenn ihm die eigene Unvollständigkeit und Offenheit bewusst ist. Wenn er das Theater braucht, um fortgeschrieben zu werden. Müssen wir probend lesen? Ein weiterer Aspekt, den ich spannend finde, ist dann ein konkreter Blick auf einen Theatertext, der im Werden begriffen ist, und die »Dramaturgie des Zweifels«, wie du es selbst nennst. Dann bin ich an »Modi des Verschwindens« und Zeugenschaft interessiert. In deinen Stücken werden Auf- und Abtritte geprobt. Geschichten werden erzählt, um durch das Erzählen selbst endgültig ausgetrieben zu werden. Sprecher treten auf, um den menschelnden Menschen von der Bühne fernzuhalten. Wo hören wir auf? Wo fangen wir an? Dann interessiert mich natürlich die Auseinandersetzung mit dem Chorischen, die Räume für den Körper eröffnet, die aber auch dazu dient, totalitäre Strukturen zu befragen. Körper ist mit dem Riss, der Lücke, dem Ungesagten und Unsagbaren verbunden. Auch dem würde ich gerne weiter nachgehen. Schlussendlich interessiert mich das Chorische auch im Kontext des Kollektivs, des kollektiven Schreibens anstatt eines falschen Begriffs von Autor*innenschaft. Dann treibt mich der Gedanke des »final girl« um, den ich gerne weiterspinnen würde zur Möglichkeit des Lebens in einer ruinierten Landschaft. Ist das final girl evtl. zugleich das erste, das in einer scheinbar völlig verwüsteten Landschaft auftaucht? Ich denke hier an Anna Tsings Buch The Mushroom at the End of

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the World. Of the Possibility of Life in Capitalist Ruins, die sich mit den Vernetzungen des ­Matsutake-­Pilzes beschäftigt, dem ersten Zeichen von Leben nach dem Abwurf der Atombombe auf ­Hiroshima. Chor/Körper Steinbuch betont wiederholt, dass sie eine politische Autorin ist. Dass ihr Schreiben ein widerständiges Schreiben ist, das versucht, die ungehörten Stimmen hörbar zu machen, ohne dem Fehler anheimzufallen, für diese ungehörten Stimmen zu sprechen. In ihren Stücken kann sich das Theater nicht mehr länger dem Credo der Menschen­ darstellung verpflichten, stattdessen weicht die Menschendarstellung dem Verständnis vom Menschen als Körper. Steinbuchs Stücke machen uns verstehen, dass Geschichten Körper haben (ihr geht es daher auch ganz bewusst um Geschichten und nicht um Geschichte), ihre Theatertexte sind voller Lücken, Risse und vermeintlicher Unfertigkeiten, die dem Körper Raum schenken.1 Die Stücke sind daher auch eine Suche nach einer Sprache, nach einem Sprechen, das Sprechen und Sprecher nicht als identisch begreift, sondern das ­ ­Stellen offenlässt, sodass das Sprechen immer wieder neue Körper ­finden kann. Ziemlich am Ende ihres Stücks WOLFSWELT, das durchzogen ist von O-Tönen aus Klaus Theweleits Studie Männerphantasien, finden wir ein Zitat jener Passage aus dem Buch, in der Theweleit die Menschenrechtsverordnung einer Relektüre unterzieht und fordert, das abstrakte Konzept der »Unantastbarkeit« des Menschen, der ja ohnehin ständig »angetastet« wird, durch eine banale, bereits existierende Materialität zu ersetzen: die Haut.2 Steinbuchs Interesse an der Haut als der Grenze des Körpers verweist darauf, dass das Sprechen, das sie in ihren Stücken erprobt, Körper nicht mehr an Psychologie, Figur oder Dialog bindet. Stattdessen geht es um die Materialität des Körpers, die das westliche Konzept »Mensch« (der weiß, männlich und heterosexuell ist) verabschiedet. Für Steinbuch ist dieses Öffnen von Räumen für den Körper und damit andere, normalerweise ungehörte Stimmen eng mit der Formation des Chors verbunden, die maßgeblich für ihre Stücke ist. Der Chor, so Steinbuch, ist ein Versuch, vom Menschen (hier im Sinne des Dramas, also von Psychologie, Dialog, Figur) zum Körper zu kommen.3 Steinbuch selbst bedient sich wiederholt der Metapher von »Hinterräumen« oder noch stärker, vom Raum »hinter den Räumen«, in dem der Körper erscheinen kann, der nicht mehr mit dem westlichen Konzept »Mensch« verwechselt wird und der

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daher auf eine andere Zukunft verweist, da er das Potential hat, den »Menschen« durch jene Körper zu ersetzen, die bislang unsichtbar bleiben mussten. Modi des Verschwindens und »final girl« Diese hinteren Räume bringen mich zu zwei Aspekten, die mich wohl am stärksten berührt haben bei der Lektüre von Steinbuchs Stücken: die »Modi des Verschwindens« und das »final girl«. In Steinbuchs Stücken werden Auf- und Abtritte geprobt und damit zunächst überhaupt zur Diskussion gestellt. Wer tritt wann auf und verschwindet wieder? Wer erscheint zunächst wie und enttarnt sich dann als ein* anderes*? Wer oder was bleibt? Was ist unsichtbar, steht dann aber plötzlich vor uns? Steinbuch experimentiert mit diesen Grundkonstanten des ­Theaters, um alternative Räume zu eröffnen, aber auch um etablierte Figuren und Geschichten endgültig aus unseren Narrativen auszu­ treiben. In ihrem Stück WOLFSWELT treffen wir auf einen Vulkanologen, der – mit Referenz auf Jean Baudrillards Frage »Warum ist nicht alles schon verschwunden?« – »Modi des Verschwindens« erprobt. Dieses Interesse am Verschwinden, an Auf- und Abtritten durchzieht Steinbuchs Schreiben grundsätzlich. »Jetzt tritt ein Mensch auf.«4 – so beginnt Steinbuchs am 14.2.2018 auf dem Blog nazis und goldmund veröffentlichter Essay »Sie werden sich noch wundern, was da alles geht (Und da geht so einiges)«, der sich auf eine Aussage vom damaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) bezieht. »Jetzt tritt ein Mensch auf.« Ein Satz, der sofort einen Bühnenraum imaginieren lässt. Ein Satz, der anschließt an alle großen Auftritte der Dramengeschichte. Oder doch nicht? Denn dieser Auftritt wird von Steinbuch im nächsten Satz sofort in Frage gestellt, um im dritten Satz schließlich dezidiert verneint zu werden. »Jetzt tritt ein Mensch auf. Bist du dir da sicher? Nein, ein Wolf.«5 So schnell kann es gehen. Wer oder was hier auftritt, ist nicht Mensch, sondern »ein Wolf«. Doch nein, eben auch nicht einfach Wolf, sondern Wolfsmensch. Der Wolf im Menschen und der Mensch im Wolf. Und damit bringt uns Steinbuch vom Drama direkt zum Mythos (Romulus und Remus) und zum Volksmärchen. Steinbuchs Stücke experimentieren mit verschiedenen Arten des Sprechens, mit verschiedenen Möglichkeiten des Erzählens und von Erzählung und damit mit verschiedenen Arten von Wissensproduktion, um in dem Durchspielen und Aufgeben von bestimmten Erzählungen und Formen des Erzählens schließlich bestimmte, unsere westliche Kultur prägende Erzählungen endgültig auszutreiben und Platz für Anderes –

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ich sage hier bewusst nicht Neues – zu machen (z. B. ihre Stücke MS Pocahontas, Sleepless in my Dreams etc.). »Draußen bekämpft man wieder mal Geschichte mit Geschichten, da bleibt einem ja nichts andres übrig, als Geschichten mit Geschichten zu bekämpfen.«6 ­Steinbuchs Rückgriff auf Geschichten und Märchen ist ein Versuch, diese zum Verschwinden zu bringen, ist aber auch ein Angebot, im Rückgriff darauf diese Erzählungen anders zu lesen und das in den Blick zu nehmen, was an den Rändern verortet ist, und damit die Erzählung und das Märchen auch als ein Genre zu entdecken, das Utopien erzeugt und revolutionäre Zukunftskonzepte formulieren kann.7 E-Mail vom 8. Juni 2021 Liebe Teresa, ich finde das final girl interessant als Figur, die erst mal dem male gaze dient, damit sich das männliche Slasher­ publikum sowohl mit Täter als auch mit Opfer identifizieren kann und mit einem halbwegs weißen Westerl die Geschichte verlässt. Damit das funktioniert, muss das final girl bestimmte Kriterien erfüllen, Androgynität, Namen, die auch Männer­ namen sein könnten, Jungfräulichkeit im Sinne von gar keine Sexualität. Also schon eine Zurichtung und Zuschneidung, damit die Geschichte läuft. Es gibt diesen Text von Elfriede Jelinek zu Alien, in dem schreibt sie vom Raum hinter den Räumen, in dem sich alles abspielt. Ich stelle mir das final girl oder eine Armee von final girls als das gute Monströse immer vor als in diesem Hinterzimmer zwangsläufig festsitzend, so ein Hinterzimmer, das nicht mal die Filmvorführerkabine ist, sondern so gar nicht mit der Hauptgeschichte verbunden, im Abseits, und dann erscheint es mir logisch, dass diese sehr monströse, sehr ­versehrte (hier wären wir auch wieder beim Riss) Armee dann als einzige auf den Ruinen steht und dann was Neues beginnt. Was mich an Gerhild Steinbuchs aktuellen Stücken fasziniert, ist das Entwickeln einer Möglichkeit einer Zukunft inmitten einer zerstörten Landschaft. In WOLFSWELT treffen wir auf eine ruinöse Landschaft, die aufkeimenden Rechtspopulismus und Klimawandel vor uns ausbreitet. In dieser kontaminierten Landschaft allerdings können wir beobachten, was überlebt und das Potential in sich trägt, Teil einer anderen Zukunft zu werden. Am Ende von WOLFSWELT steht eine solche andere Erzählung und öffnet damit das Stück für genau jene Hinterräume, an denen Steinbuch so interessiert ist.

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Steinbuch lässt ihre Sprecher*innen also nicht nur erzählen, um Geschichte(n) auszutreiben, sondern die Sprecher*innen betreiben im Sinne von Donna Haraway speculative fabulation8 und verweisen damit auf eine Art des Zusammenlebens, die sich der Verknotung zwischen Menschen, anderen Spezies und dem Planeten bewusst ist. Damit stellen die Stücke andere Zukünfte in Aussicht, die von Erzählungen belebt sind, in denen eine Vielheit und Vielfalt an Körpern agieren kann. Steinbuchs Stücke greifen hier also durchaus aktuelle Diskussionen um Posthumanismus und Neuen Materialismus auf. Nicht nur Haraway, sondern auch Anna Tsings The Mushroom at the End of the World. Of the Possibility of Life in Capitalist Ruins scheint ein interessanter Referenzrahmen für Steinbuchs Stücke zu sein. Das zeigt sich deutlich, wenn wir Steinbuchs Interesse am »final girl« ernst nehmen. »Ich stelle mir das Schweigen, das aus dem Text heraussprechen soll, das mir beim Schreiben ständig entgleitet, als final girl vor, das im Raum hinter den Räumen wartet, […] und es wartet ab, was da jetzt aus ihm herausbricht, wenn es einmal nicht der Geschichte des Kampfes folgt, wartet, mit seinem ziemlich versehrten Körper, denn schließlich hat es ja so einigem an Geschichte und Tat getrotzt, wartet und ist das Schweigen und das Scheitern und das Schreien gleichzeitig.«9 Wenn Tsing ihr Buch den Netzwerken um den Matsutake-Pilz widmet und damit das erste Zeichen von (Über-) Leben nach dem Abwurf der Atombombe in Hiroshima ins Zentrum ihrer Studie rückt, dann können wir das »final girl« bei Steinbuch in ebendiesem Kontext lesen. Anstelle des Helden im Sinne des »last man«, wie ihn das Hollywood-Kino in seinen Endzeit-Szenarien so gerne präsentiert, ist hier ein anderes Konzept von Leben und Überleben angesprochen, das nicht in konventionellen Konzepten von Heldentum aufgeht, sondern jenes unscheinbare Leben und Überleben als zukunftsweisend auffasst, das sich im Verborgenen hält und erhält. Steinbuch gibt diesem »final girl« eine neue Erzählung mit, die eben nicht mehr auf das Letzte und das Ende fokussiert, sondern die Potential für Anderes und für Vielfalt in sich trägt. Somit ist das Interesse an Modi des Verschwindens zugleich ein Interesse an dem, was in diesem Vergehen erscheinen kann. Hier aber eben nicht als Ruinenfaszination, die einzelne Helden inszeniert im Sinne von einem »Auferstanden aus Ruinen«, sondern ein Interesse an dem, was in der ruinösen Landschaft von den Rändern her agiert, aber dafür in umso größerer Zahl und in einem Bewusstsein der Vernetzung. Wenn Tsing betont, dass das Auftauchen des Matsutake ein Denken jenseits von geschlossenen Erzählungen eröffnet, da es zufällig, unmotiviert und radikal offen ist, dann

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können wir die Körper, die in Steinbuchs Stücken auftauchen, in diesem Sinne lesen und verstehen. E-Mail vom 8. Juni 2021 Liebe Teresa, vielleicht könnten wir uns auch stärker über »­Müssen wir probend lesen« austauschen. Ich denke, dass das stimmt, dass der Theatertext sich immer selbst auch anzweifeln muss, damit er überhaupt in Dialog mit den anderen Künsten und den Gewerken treten kann. Gleichzeitig darf er das natürlich innerhalb eines Betriebs nicht, erstens weil Stars ja nicht aus Zweifeln gemacht sind (in der Marktlogik, nicht in meiner) und zweitens weil dort, wo keine Allianzen entstehen zwischen den unterschiedlichen Theaterexpert*innen, das eine selbstzerstörerische Einstellung wäre. Insofern ist die Frage ja eigentlich, wie man für einen Betrieb schreiben soll, der die für die Arbeit wichtigen Bedingungen nicht leisten kann, bzw. anders gefragt, wie ließe sich der Betrieb von innen heraus aufbrechen? Und auch: Wie das Kollektiv vor der Personalisierung und der Marke schützen? Und: Möchte mensch überhaupt in anonymen Kollektiven arbeiten? Wo würdest du deine Arbeit ansiedeln und in welchen pro­ zessualen Zusammenhängen? Wie arbeitest du zusammen? Kollektive Wissensproduktion Am Ende möchte ich also noch einmal darauf zurückkommen, dass Steinbuchs Schreiben ein vernetztes Schreiben ist, das ohne die Arbeit anderer an der Produktion Beteiligten nicht möglich wäre. Ich möchte Steinbuchs Frage nach dem Wie des kollektiven Arbeitens aufgreifen. Ich selbst suche im Rahmen meiner Forschung immer wieder nach Positionen abseits von »dem Intellektuellen« (und ich benutze hier bewusst die männliche Form), der aus einer Position der Distanz beobachtet und kritisiert. Stattdessen geht es mir darum, kollektive Praktiken der Wissensproduktion zu entwickeln, wie sie etwa Bruno Latour einfordert, wenn er betont, dass es nicht mehr um das Enthüllen und Entzaubern, sondern viel eher um das Versammeln geht. Ich denke, dass in der Arbeit des Versammelns Potential für eine neue kritische Theorie liegt, die endlich einsieht, dass es die Position des Außen nicht geben kann, sondern die mitreflektiert, dass unsere Position innerhalb der Problemfelder liegt, die wir zu beschreiben versuchen. Ich denke, dass eine solche Praxis auch für die Arbeit am Theater interessant ist. Neben Latour finde ich Hardt und Negri interes-

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sant, um zu einem Begriff des Kollektivs zu kommen, der eben nicht Anonymität meint. In ihrem Buch assembly widmen sie sich dem Spannungsfeld zwischen vertikaler und horizontaler Organisation von Gemeinschaften und regen dazu an, diese nicht als sich ausschließende Organisationsformen zu denken, sondern im Gegensatz beide Formen zusammenzubringen. Mit Hardt und Negri können wir verstehen, dass es nicht darum geht, den Einzelnen in einem anonymen Kollektiv aufgehen zu lassen, sondern in Formationen zusammenzukommen, in denen immer wieder ausgehandelt wird, wer welche Funktion übernimmt. Wichtig dabei ist, die Zeitlichkeit von Kollektiv und Einzelnem neu zu denken. Während das Kollektiv für gewöhnlich für kurzfristige Aktionen einsteht, alles Langfristige allerdings dem Einzelnen zugerechnet wird, argumentieren sie für eine Umkehrung dieses Verhältnisses. In dieser vertikal-horizontalen Organisation von Gemeinschaft entsteht ein Kollektiv, das nie souverän sein kann, weil es nicht mit einer Stimme spricht. Das Mit-vielen-Stimmen-Sprechen führt mich so wieder zu der Formation des Chors, ohne die Gerhild Steinbuchs Schreiben nicht zu denken wäre. Den Chor als Kollektiv denkend können wir nachvollziehen, dass auch hier die Verhältnisse und Funktionen immer wieder neu ausgehandelt werden. Wenn wir nun berücksichtigen, dass der Text nicht abgeschlossen ist, sondern die Stücke probend gelesen werden müssen, dann zeigt sich, dass ich im Moment des Lesens Teil des Chors werde. D. h., ich bilde ein Kollektiv mit dem Text, das in vielen Stimmen spricht und in dem die Funktionen nie gegeben, sondern immer neu gedacht und ausgehandelt werden müssen. Steinbuch lesen bedeutet also nicht nur, Texten zu begegnen, die im Werden begriffen sind, sondern sich selbst in eine Position des Mitwerdens zu begeben und radikal offen zu bleiben für kollektive Schreib- und Leseprozesse.

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1 Vgl. Gerhild Steinbuch: »Hinter den Räumen (Schreiben, trotz allem)« in: Sandra Umathum, Jan Deck (Hg.): Postdramaturgien, Berlin 2020, S. 84 – 95, S. 89. 2 »Menschenrecht sollte sein das Recht auf Unversehrtheit der Haut gegenüber unerwünschten Eingriffen. Haut, die aber berührbar ist, wo gewünscht, gegenseitig.« (Klaus Theweleit: Männerphantasien, Berlin 2019, S. 1278). 3 Vgl. Gerhild Steinbuch: »Hinter den Räumen (Schreiben, trotz allem)«, S. 85. 4 Gerhild Steinbuch: »Sie werden sich noch wundern, was da alles geht.« Nazis und Goldmund, http:// www.nazisundgoldmund.net/blog/sie-werden-sich-nochwundern-was-da-alles-geht (letzter Zugriff 12.7.2021). 5 Gerhild Steinbuch: »Sie werden sich noch wundern, was da alles geht.« 6 Gerhild Steinbuch: »Horrorfilme und ihre Folgen (Und das hier stimmt).« Nazis & Goldmund, http:// www.nazisundgoldmund.net/blog/horrorfilme-und-­ ihre-folgen/(letzter Zugriff 12.7.2021); s. hier auch »Hinter den Räumen (Schreiben, trotz allem)«, S. 88. 7 Vgl. z. B. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959. 8 Vgl. Donna Haraway: Staying with the trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016. 9 Gerhild Steinbuch: »Hinter den Räumen (Schreiben, trotz allem)«, S. 95. Erstveröffentlichung in Lichtungen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, 168, 42. Jg. 2021

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Rand

Miroslava Svolikova

Rand »ein sammelreigen absurder randfiguren, die sich beschweren, die zuschauer bedrohen, antatschen, abspritzen; es gibt kopulierende tetrissteine, das letzte einhorn, astronauten ohne verbindung zur erde, ein blutbad, da wuchert der kakerlakenchor und die oberen 1% wuchern auch und glänzen mit abwesenheit. zwischendrin räuchert ein priester die zuschauerreihen aus, die rettung kommt, um das ganze zu löschen, alles endet in einer versuchten geiselnahme: eine absurde welt, die sich selbst nicht mehr erklärt, man sitzt da und wartet auf den sinn, während am ende die zukunft unverhohlen über einen drüberschwappt. wer gehört an den rand, wer definiert welchen rand wo? wer ist wo die mitte? am rand sitzen auch die zuschauer und schauen zu. am rand ist man auch neben sich, da ist das unbewusste, das reinfunkt, oder die erzäh­ lung, die handlung.« (Miroslava Svolikova) DIE ASTRONAUTEN astronaut wie war das damals, am rande der welt? astronaut wir dachten, wir sind ganz allein, wir dachten, da ist ­niemand mehr. man muss muskelübungen machen, wenn man in der schwerelosigkeit schwebt, damit die muskeln nicht verkümmern. man muss meditationsübungen machen, damit man das breiige essen schlucken kann. man muss sich abfinden mit dem, was man hat, mit dem, was ist, wenn alles nur noch pulver ist. wir sind im kreis gesessen und haben einen kreis gebildet, wir sind im kreis gesessen und haben uns vorgestellt, wie das ist, wir haben uns vorgestellt, wie das war, damals, auf der erde. astronaut was ist es, das ihnen am meisten gefehlt hat? astronaut im all gibt es nur pulver, im all rührt man nur pulver an, im all besteht das leben nur noch aus pulver, und ins pulver mischt man wasser, und im pulver ist alles drin, mit dem pulver nimmt der körper alles auf, was er braucht, im all hat man alles von dem, was man braucht, und nichts von dem, was man will. im all ist nichts echt. astronaut sie sind also nicht glücklich gewesen, damals im all. astronaut ich bin nicht glücklich gewesen, damals im all. ich bin nicht einen moment lang glücklich gewesen, damals im all. 177


Miroslava Svolikova

astronaut das tut mir leid. astronaut wir haben das pulver mit wasser angerührt. das pulver war schon da. das wasser kann man nicht einfach in das pulver gießen, das fliegt sonst davon. das wasser fliegt davon, das pulver fliegt davon, es bleibt einfach nichts über. wir haben uns gemeinsam daran erinnert, wie essen geschmeckt hat, damals auf der erde, einer hat immer das essen beschrieben, manchmal haben wir das essen auch nachgestellt. astronaut wir haben einander stundenlang den geschmack von echtem essen beschrieben, haben stundenlang regungslos die form von echtem essen nachgestellt. astronaut jaja. astronaut und was war das eigentliche ziel der mission? astronaut das weiß niemand so genau. das hatten wir alle vergessen. im all altert man nicht, aber die zeit vergeht trotzdem. man altert nicht, während auf der erde die verbindungen eingehen. die verbindungen zur erde sind nach der reihe eingegangen, irgendwann sind wir ohne verbindungen zur erde gewesen, irgendwann ist die erde nicht mehr erreichbar gewesen, die verbindungen waren alle gekappt, wir haben nicht mehr gewusst, welche zeit wir haben. die raumstation ist vom weg abgekommen, nur dank eines unendlichen pulvervorrates konnten wir überleben. die eigentliche mission hat jeder vergessen. astronaut sie haben also das eigentlich ziel der mission nie e­ rfahren? astronaut wie gesagt, die meiste zeit sind wir im kreis gehangen und haben uns essen vorgestellt. wenn einer, z. b. der links von mir, dann abgedriftet ist, rückt den astronauten neben sich zurecht. ja, so. also wir haben immer geschaut, dass wir einen perfekten kreis bilden. aber das haben wir alle gegenseitig gemacht, dann haben wir uns wieder auf die richtige position gebracht, weil man schwebt ja so im raum, wir haben uns dann immer alle gegenseitig justiert irgendwie. man ist nie allein im universum. man ist immer allein im universum. man muss aufeinander acht geben. jetzt frag noch was. astronaut ich will nicht mehr, mir fällt nichts mehr ein. astronaut dann mach ich den interviewer? astronaut ich will nicht mehr. astronaut macht ihr wieder interview, ja?

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Rand

astronaut ja. magst du mitmachen? astronaut nein. astronaut warum nicht? astronaut ich mach abendessen. astronaut »abendessen«. astronaut abendessen. ich muss das pulver anrühren. DIE ASTRONAUTEN astronaut glaubst du, sie mögen uns? astronaut wer? astronaut die menschen auf der erde. astronaut ich glaube, wir sind helden für sie. ich glaube, sie feiern uns wie helden. astronaut glaubst du das wirklich? astronaut ich weiß nicht, aber ich glaube, dass sie in wahrheit die ganze zeit an der verbindung arbeiten, dass sie die verbindung zu uns wieder herstellen wollen. astronaut glaubst du, ja? astronaut ich glaube, das ist eine der obersten prioritäten auf der erde. da arbeitet die ganze nasa dran. hunderte wissenschaftler. die haben eine eigene internationale wissenschaftlerinnenkommission zusammengestellt, nur, um die verbindung zu uns wieder herzustellen. die arbeiten tag und nacht daran. da geht es natürlich nicht ausschließlich um uns, damit erfahren sie nebenbei auch etwas über die atmosphärenbrechungskrümmung oder wie das heißt. aber sie arbeiten daran. die leute schlafen nicht, ich sehe sie vor mir, die haben alle ganz schwarze augenringe, die sind alle total fertig, die wollen uns finden, da steckt viel geld drin, die sehen ihre familie nicht mehr, die sind alle fix und fertig. die haben alle nur noch das eine ziel. astronaut das glaubst du? das würde ich auch gerne glauben. astronaut glauben ist gratis. astronaut -astronaut -astronaut ich glaube, dass alle tot sind, wir sind die letzten, da ist niemand mehr.

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Miroslava Svolikova

DIE ASTRONAUTEN die astronauten schlafen immer in einem knäuel. sie liegen gemeinsam als knäuel in der luft und schlafen. mittlerweile schnupfen die astronauten das pulver und essen es nicht mehr. astronaut wacht auf, rüttelt astronaut 2 wach. du. astronaut was? astronaut o gott. astronaut was ist? astronaut ich habe geträumt – astronaut was? astronaut es war so schrecklich. astronaut was ist denn? astronaut ich hab geträumt, da ist eine klippe. astronaut und deswegen weckst du mich auf. ich hab auch geträumt übrigens, von einer terrorattacke. astronaut ich bin fast von der klippe gefallen, und du standst nur da. astronaut in meinem traum hat man mich angeschossen, und du hast nur zugeschaut! astronaut wacht auf. was redet ihr. ich habe auch geträumt. astronaut was hast du geträumt? astronaut ich habe geträumt, ich bin teil eines giftgasanschlags. astronaut und? astronaut ihr wart auch da, aber niemand hat mir geholfen. ihr habt nur zugeschaut, wie ich langsam ersticke. astronaut du meine güte, ist das verrückt. das ist so verrückt, ich hab auch geträumt, ich hab geträumt, ich war auf der titanic und ihr wart alle darauf! und ihr habt mir alle nur gewunken! ich bin untergegangen und ihr habt alle nur gewunken! astronaut was seid ihr so laut. da kann man ja nicht schlafen. astronaut hast du auch was geträumt? astronaut ja. astronaut was denn? astronaut was hast du geträumt? astronaut ja, sag! astronaut reibt sich die augen. meine güte, lasst mich erst einmal aufwachen. ich habe geträumt, ich bin in einem hochhaus. das ganze hochhaus ist voll mit terroristen. ich bin schon alle e­ benen

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Rand

hinaufgejagt. ich hab schon zwanzig leute gerettet. mein oberteil ist voll mit blut. ich hab eine fleischwunde. alles ist nass, alles ist voll mit schweiß und mit meinem schnittwundenblut. meine lippen sind salzig. ich schwitze, mein blut ist heiß, alles ist durchtränkt, alles ist nass, überall ist rauch, es stinkt. ich hab nur einen gedanken, ich muss noch mehr leute retten. ich muss ganz hinauf aufs hochhaus. ich denke wirklich nur daran. ich muss noch mehr terroristen erschießen. der schweiß rinnt mir herunter, ich hab eine schusswunde, ich muss noch mehr stockwerke hinaufjagen. ich muss den fahrstuhl außer gefecht setzen, damit sie nicht hinaufkönnen. ich bin ganz oben angekommen. es ist kalt, der wind weht, man sieht die stadt von oben. da sind lichter. ich gehe aufs dach, ich sehe euch alle in einer gruppe. ihr schwebt über dem dach des hochhauses, so wie jetzt. ihr schwebt in einem kreis mit überkreuzten beinen. ich muss die leute retten, ich muss das hochhaus retten. ich hab keine wahl. ich muss sie retten. ich schieße auf euch alle, ich schieß euch alle tot, ihr seid die terroristen! ich schieße euch alle tot, das war ja nur im traum! dann kommt ein helikopter und holt mich ab, ein helikopter holt mich ab und ich kann endlich nach hause fliegen. ich habe mich so gefreut, wie ich im helikopter sitze. tut mir leid, ich wollte nicht auf euch schießen. ich hab mich so gefreut, dass ich endlich nach hause fliegen kann, ich weiß gar nicht, wo ich hingeflogen bin. astronaut du hast auf uns geschossen? astronaut ja. astronaut sag mal, spinnst du? astronaut nur im traum. es tut mir leid. astronaut ja trotzdem. ich würde im traum nicht daran denken, auf dich zu schießen. astronaut ich schieß im traum auch nicht auf euch. astronaut ja, wozu. astronaut ja, wozu. astronaut hat man ja nichts davon. astronaut nein. astronaut und womit soll man schießen. astronaut nein, womit soll man schießen, ist ja nichts zum schießen da.

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Miroslava Svolikova

astronaut nein, ist ja nur pulver da. astronaut ich würd euch sofort alle erschießen. astronaut ich würd euch sofort alle niederknallen. astronaut ruhig blut! beruhigen wir uns! astronaut verdammt nochmal, nicht mal schlafen kann man hier.

DIE ASTRONAUTEN astronaut die menschen sitzen auf ihren tektonischen platten und treiben im meer. von hier oben sieht das so aus, wenn ich es mir vorstelle. astronaut sie sitzen und ihre augen sind leer. astronaut sie wissen nicht mehr, wer mit wem verwandt ist. astronaut alle mit allen. astronaut warum nicht. astronaut sie treiben mit leeren augen im meer. sie starren auf den kometen. sie starren auf den kometen, der auf sie zukommt. astronaut sie harren ihrer vernichtung. astronaut sie starren mit leeren augen in die leeren augen ihres gegenübers. astronaut sie starren sich alle mit leeren augen an. astronaut was du da siehst, ist ja schon lange vorbei, das ist ja alles schon lange vorbei. astronaut ein kleines mädchen ist gekommen und hat ihnen genau gesagt, was sie machen müssen, um die erde zu retten. astronaut und, haben sie es gemacht? astronaut nein, sie haben es natürlich nicht gemacht, dann sind sie im meer ertrunken. sie sind auf ihren tektonischen platten ertrunken, alle. sie sind mit ihren tektonischen platten auf ihren tektonischen platten im tektonischen meer untergegangen und alle gestorben. astronaut du imaginierst ja wieder nur. wir wissen ja gar nicht, wie es wirklich war. astronaut doch, so war es, das spür ich. astronaut blödsinn. komm, nimm noch ein pulver. die astronauten nehmen noch ein pulver. astronaut wir halten zusammen, weil man im all zusammenhalten muss. astronaut so ist es. astronaut wir sind alle schwestern und brüder.

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Rand

astronaut ja, das sind wir. astronaut auf der erde bringen sich alle um. astronaut ja, auf der erde. astronaut auf der erde bringen sich alle gegenseitig um. astronaut ja, die erde. astronaut auf der erde haben sich alle gegenseitig umgebracht. astronaut pff. astronaut alle tot. astronaut ja. astronaut aber wir bringen uns nicht gegenseitig um, oder. astronaut nein, wir nicht. astronaut wir sind ja schon so wenige. astronaut außerdem mögen wir uns. astronaut wir mögen uns. astronaut also ich mag euch. astronaut ich mag euch auch. astronaut es ist toll mit euch. astronaut ja.

DIE ASTRONAUTEN astronaut willst du auch noch pulver? astronaut ja, gib mir, gib mir auch noch, ich will auch noch pulver. astronaut hab ich euch das schon erzählt. astronaut nein. astronaut ich hab euch so gern, ich hab euch alle so gern. astronaut gibst du mir noch etwas von dem pulver. astronaut ich muss noch eines holen. astronaut wo ist das eigentlich gelagert. astronaut im tank. astronaut ich war noch nie im tank. astronaut du warst noch nie im tank? astronaut ich war noch nie im tank. astronaut er war noch nie im tank. astronaut wollen wir in den tank gehen? astronaut man kann nicht in den tank reingehen. astronaut nein, vom tank öffnet sich immer nur die luke. astronaut dann kommt so ein kleiner roboter und bringt genau die menge, die man braucht. astronaut im tank ist alles vollautomatisch. astronaut man kann nicht in den tank gehen.

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Miroslava Svolikova

astronaut der tank kommt zu dir. astronaut man kann nur zur luke vom tank. astronaut man könnte in die luke klettern. astronaut du warst noch nie pulver holen, oder. astronaut nein, ich war da noch nie. aber ich könnte doch in die luke klettern und schauen, was sonst noch im tank ist. […] 1 MICKEY MOUSE die mickey mouse malt ein schwarzes mäuseloch an die wand, so groß wie ein tor. ich bin gerade noch auf die andere seite gekommen, auf die andere seite, die auf der anderen seite ist. ich musste auf die andere seite kommen, weil es dort käse gibt. auf meiner seite gibt es keinen käse mehr. wenn ich keinen käse finde, kann ich meine kinder nicht ernähren. ich habe vierzehn kinder auf der anderen seite. die möchte ich alle auf diese seite holen, weil es auf dieser seite besser ist, weil wir hier nicht sterben müssen. ich habe einen namen und meine vierzehn kinder haben einen namen. jedes hat einen namen, auch meine frau und meine schwägerin und jede frau in ihrer familie hat einen namen, und jeder mann und jede frau in meiner familie hat einen namen, und jeder mann in meiner familie, ob schon tot oder noch lebend, denn auchdie toten haben einen namen, nicht nur die, die noch am leben sind, auch die toten haben einen namen, manchmal sogar zwei, und ich kann mich an alle namen erinnern, und ich trage alle namen in mir, die namen aller ahnen und aller kinder, und diese namen ergeben zusammen eine sehr lange liste, und diese liste ist meine familie und die familie meiner frau, und zusammen ist es die liste unserer familie zuzüglich unserer kinder. bald bekommen auch meine kinder ihre kinder und dann rufen sie mich an und fragen, hast du noch einen namen? jeder hat einen namen. guten tag, ich habe einen namen, ich habe einen namen und es kommen noch viele nach mit namen, es werden noch viele nachkommen. ich bin gerade noch auf diese seite gekommen und ich ziehe hinter mir her eine lange liste an namen, namen von ahnen und namen, die nahen und ich bin gerade noch auf diese seite gekommen und ich suche käse. also wenn sie etwas wissen dann sagen sie mir bitte bescheid, ich nehme jede art von käse, vielen dank, auf wiedersehen. Auszug aus: Miroslava Svolikova, Rand, Suhrkamp Verlag Berlin 2020

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Ein Mailverkehr

Ein Mailverkehr

Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

Am 17.08.2020 um 09:34 schrieb Karin Cerny: hallo liebe miru, schon seltsam, so online verkuppelt zu werden, ohne sich direkt zu kennen. und dann soll man über die eigene arbeit reden. weiß ja nicht, wie es dir geht, ich finde ja immer schrecklich, wenn man wen kennenlernt, und die person fragt gleich: und, was machst du beruflich? da möchte man doch sofort die flucht antreten. ist vielleicht auch nur ein spleen von mir, aber ich finde hintertüren interessanter. deshalb: ich hab in einem interview mit dir gelesen, dass du musik machst. da würde ich gern anknüpfen: welche musik? bist du in einer band? was hörst du gern? vielleicht ist das ja ein okayer einstieg. wenn nicht, fühl dich zu nichts verpflichtet. ich denke, es soll uns spaß machen. das ist das wichtigste. lieben gruß, karin

Am 18.08.2020 um 15:30 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, ja, ich mache elektronische musik, im moment komme ich nicht so dazu, weil ich ziemlich viel noch theatermäßig zu tun hatte, ab herbst möchte ich da wieder mehr machen. also ich habe auch bildende kunst studiert und mache da auch noch immer wieder etwas, es ist natürlich schwer den fokus auf mehreren dingen gleichzeitig zu haben. ich bin gerade dabei das für mich auszuverhandeln, was und wie ich in zukunft machen will um die verschiedenen bereiche zu verbinden. im herbst 2020 bin ich auf jeden fall einmal im schauspielhaus wien als bildende künstlerin eingeladen, und ich arbeite auch konkret an einem musikalbum. das dauert alles noch aber es wird auf jeden fall diese öffnung und breiteraufstellung künstlerisch geben. ok, das heißt ich soll jetzt nicht genau nachfragen, was du machst? ;) hast du die stücke alle zugeschickt bekommen? sollen wir uns vielleicht einfach mal auf einen kaffee treffen und so reden? liebe grüße miru misvolikova.com

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Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

Am 18.08.2020 um 17:41 schrieb Karin Cerny: liebe miru, hahaha, nein, du kannst gerne nachfragen. vor der corona-pandemie wär es mir aber leichter gefallen, darauf zu antworten. da hätte ich gesagt: ich bin theaterkritikerin, schreibe aber auch über reisen, mode, lifestyle. mittlerweile weiß ich grad nicht, wie es mit dem theater und mir weitergehen soll. als freie journalistin merke ich die krise des journalismus doch recht deutlich. ein wenig kenne ich theater aber auch von der anderen seite. nach dem studium habe ich am burgtheater eine dramaturgie-hospitanz gemacht, noch unter claus peymann. der hat gemeint: das theater ist wie ein kloster, man muss alles dafür aufgeben. da habe ich natürlich gleich die flucht angetreten. unter andreas beck hab ich dann viel später wieder am burgtheater reingeschnuppert, bei den werkstatttagen mitgewirkt, über stücke geredet, die gerade entstehen. versucht, neue dramatik besser zu verstehen. ein bisschen habe ich also beides, den blick von innen und von außen. als kritikerin muss ich sagen: mir ist ein toller abend mit einem nicht so guten stück lieber als ein tolles stück, aber die inszenierung funktioniert nicht. ein stück ist in der kritik immer nur ein teil eines größeren. wichtig ist, dass ein team zusammenfindet, leute, die gut miteinander können. gleichzeitig finde ich die dramaturgische frage interessant, was ein stück können sollte, was es zu einem stück macht, das öfter aufgeführt wird und immer neue facetten zeigt, das das theater herausfordert, aber gleichzeitig auch füttert. ich hab alle deine stücke bekommen, den stern im schauspielhaus gesehen. ich glaub, wir sollen über 1, 2 stücke reden bzw. schreiben. würde vorschlagen, die jüngsten: der sprecher und die souffleuse und gi3f. aber natürlich würde mich auch interessieren, woran du gerade arbeitest. und wie du arbeitest. treffen wär natürlich super, aber ich glaube, wir sollen uns ja auch so unterhalten, dass es für andere auch nachvollziehbar ist. nicht, dass wir mündlich alles besprechen und dann gibt es nur leere seiten. also, ich glaub, vielleicht frage ich gleich mal was. liest du deine stücke dann auch selbst daheim laut? um den rhythmus, den sound besser zu verstehen? ist dir das wichtig? lieben gruß, karin

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Am 20.08.2020 um 13:39 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, ich habe im anschluss an den retzhofer dramapreis den lehrgang forumtext besucht, da haben wir die texte immer laut in der runde gelesen und diskutiert. die letzten beiden stücke sind RAND und ICH BIN EIN MENSCH JETZT (noch in arbeit), die sind dieses/letztes jahr schon außerhalb vom workshop entstanden (die SOUFFLEUSE und Gi3F auch nur zur hälfte währenddessen). also zum teil habe ich die texte laut gehört, teilweise habe ich dann auch selber einen durchlauf gemacht und es aufgenommen. es zu hören hilft. also hilft u. a. bei der struktur. eine struktur und form zu finden empfinde ich eigentlich als die größte herausforderung bzw. als die eigentliche arbeit. das ergibt sich auch immer irgendwie aus der setzung. die dialoge/monologe schreibe ich eigentlich so runter, da mache ich dann nicht viel mehr außer mal irgendein detail noch zu bearbeiten. die ganze arbeit für mich liegt in der dramaturgie, in der formfindung. da zerbreche ich mir eigentlich monatelang den kopf. da finde ich dann ehrlich gesagt den begriff der textfläche etwas frustrierend, der immer wieder verwendet wird, weil das suggeriert so ein bisschen, dass das so ein textmaterial ist, wo dann die regie irgendwie erst irgendwas daraus macht. die erwähnte formsuche interessiert mich auch beim musikmachen, da muss man ja auch eine komposition machen, eine dramaturgie reinbringen. ich würde generell sagen, dass ich sehr formal orientiert arbeite, meistens geht es irgendwie auch um das theater selbst, viele meiner stücke spielen direkt in einem theaterraum und irgendwie geht es dann auch um funktionsweisen des theaters. also ich würde sagen, vielleicht kann man reden über RAND und dann noch Gi3F oder die SOUFFLEUSE, wenn es zwei stücke sein sollen liebe grüße, miru misvolikova.com

Am 20.08.2020 um 14:09 schrieb Karin Cerny: okay, interview hat sich um eine stunde verschoben, hier bin ich ­wieder. diese begeisterung dafür, den theaterraum, die funktionsweise des theaters mitzureflektieren. das heißt ja auch, man nimmt nichts selbstverständlich. das theater ist ein fremder ort, der nach seltsamen gesetzen funktioniert, die man untersuchen kann. irgendwie auch der blick einer wissenschaftlerin: man nimmt den gegenstand selbst

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Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

unter die lupe. was interessiert dich daran? bzw. anders gefragt: wie fremd ist dir theater? ich mein, diesen raum muss man sich ja auch erst einmal erobern. bist du schon als teenager ins theater gegangen, wolltest stücke schreiben? es hat ja auch oft einen guten witz, wenn man thematisiert, was die zuschauer erwarten. was aber dann leider nicht passiert. gibt es da auch vorbilder, absurdes theater, surrealismus, beckett oder eine ganz andere richtung? möchtest du das theater herausfordern? klingt jetzt vielleicht so hochtrabend, aber von einem stern bis zu einem elektriker, bei dir treten figuren auf, die man sonst eher nicht zu sehen bekommt. man muss ja auch erstmal überlegen: wie lässt man einen stern auftreten. lieben gruß, karin

Am 24.08.2020 um 17:00 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, absurdes theater, surrealismus, beckett auf jeden fall. ich habe anfang mitte zwanzig auch wahnsinnig viel französische literatur gelesen, das ist ja eine ganz andere tradition, von der ich aber auch stark geprägt bin. ein bisschen durcheinander zu den anderen fragen: der theaterraum ist für mich dann wichtig, wenn ich stark auch über das bühnengeschehen arbeite. dann kommt viel von der inspiration auch darüber, also dass die figuren direkt in diesem raum sind, und ihre handlungen in diesem abstrakten raum, dem theaterraum, die rolle, die sie verkörpern, dass das performativ veräußert wird. also ich arbeite da sehr visuell und denke das meistens sehr konkret mit, habe dann alles ganz genau vor dem geistigen auge. insofern habe ich nicht das gefühl, das theater herauszufordern, ich denke da einfach in anderen kategorien, einen stern oder tetrissteine auf die bühne zu stellen kommt mir nicht absurder vor als jede andere figur. natürlich haben die schauspieler dann keine psychologischen figuren, sondern abstrakte verkörperungen, die auf einer abstrakteren ebene etwas ausverhandeln. dafür kann auch jeder alles spielen, es stellt sich die frage der repräsentation nicht. die form suche ich dabei immer neu, die sprache suche ich nicht, damit arbeite ich. ich habe früher über einen langen zeitraum sehr viel gelesen, in so einem bildungswahn, auch viel französische literatur, und im philosophiestudium dieses extrem genaue lesen noch dazu, das prägt dann das sprachgefühl, das ist dann einfach ein werkzeug, das man hat, also mit der sprache muss ich nicht ringen, die ist ziemlich verlässlich da. 188


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das sind auch so floskeln oder, dass man mit der sprache ringt, dass das auf der bühne zum leben erweckt werden muss etc. im gegenteil, ich habe alles sehr lebendig vor mir, führe regie im kopf, und mit der sprache ringe ich auch nicht, die hält zu mir. ich würde das sonst gar nicht machen, ich habe so viele ideen, ich will eigentlich das machen was mir spaß macht, und nicht mit irgendwas herumringen. das bildhafte ausverhandeln ist ganz im vordergrund gestanden bei den meisten stücken, weil ich ja auch bildende künstlerin bin und so denke. ich kann das gar nicht weglassen, also zb im europastück, wenn europa mit kuchen um sich schmeißt, dann ihren rock hochhebt, und darunter ist alles voller zitzen, und dann lockt sie mit puttputtputt, dann ist das eine bildverdichtung aus zitaten (sollen sie doch kuchen essen), historischen und mythologischen figuren (artemis? merkel während der flüchtlingskrise?). die ganze szene funktioniert über ein bild. wenn man jetzt nur den text liest und die regieanweisungen weglässt, dann würde schon einiges fehlen, weil dann ist es nicht diese bildverdichtung, die spricht, sondern nur eine schauspielerin. es ist mir ganz wichtig, dass klar ist, wer da spricht. wenn es ein stern ist dann ist es ein stern. wenn europa spricht, dann ist das die mythologische figur usw. lg miru misvolikova.com

Am 26.08.2020 um 15:29 schrieb Karin Cerny: liebe miru, ich möchte gern mehr von der bildverdichtung wissen, ein schönes wort auch. heißt das denn auch, dass du im kopf selber regie führst? dir schon beim schreiben konkret vorstellst, wie es auf der bühne aussehen könnte? bist du denn oft enttäuscht von der regie anderer? oder vielleicht umgekehrt gefragt: welche art von regie gefällt dir? magst du denn überrascht werden, wenn wer aspekte entdeckt in deinen texten, die dir selber gar nicht aufgefallen sind? ist dir dann die bilderebene, also die optische umsetzung wichtiger? oder die arbeit an der sprache – falls man das trennen kann? gehst du denn oft ins theater, um dir arbeiten von anderen anzuschauen? gibt es dann so momente, wo du dir denkst: mit dieser regisseurin, diesem regisseur möchte ich auch zusammenarbeiten? oder wird regie überschätzt? lg, karin

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Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

Am 03.09.2020 um 18:14 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, tut mir leid, dass die antworten jetzt ein bisschen sporadischer kommen, ich habe jetzt zwei premieren und da gibt es neben der schreibarbeit gerade auch einiges abzuschicken. ich möchte gern mehr von der bildverdichtung wissen, ein schönes wort auch. heißt das denn auch, dass du im kopf selber regie führst? dir schon beim schreiben konkret vorstellst, wie es auf der bühne aussehen könnte? bei manchen stücken ja, aber nicht bei allen gleich. also bei DIESE MAUER und RAND und SOUFFLEUSE hatte ich die bühnenhandlung im kopf, die stücke »spielen« auch auf einer bühne. bei EUROPA gilt das auch für einige szenen. bist du denn oft enttäuscht von der regie anderer? oder vielleicht umgekehrt gefragt: welche art von regie gefällt dir? magst du denn überrascht werden, wenn wer aspekte entdeckt in deinen texten, die dir selber gar nicht aufgefallen sind? ist dir dann die bilderebene, also die optische umsetzung wichtiger? oder die arbeit an der sprache – falls man das trennen kann? ich bin eigentlich gar nicht enttäuscht, ich war am anfang fast immer sehr glücklich über die inszenierungen und auch über die szenischen lesungen und habe das als sehr bereichernd empfunden. also ich habe das immer so empfunden, dass meine kreative arbeit basis für weitere kreative arbeit ist und ich komplett verschiedene inszenierungen und szenische lesungen sehen konnte, verschiedene abende und interpretationen. so habe ich das zumindest am anfang gesehen, aber in der realität sieht das publikum natürlich nur eine inszenierung und verbindet das dann mit meinem namen. mein traum wäre, dass meine stücke auch als lesestücke eine chance bekommen, also publiziert und gelesen werden können. RAND kommt jedenfalls im frühjahr 2021 bei suhrkamp theater ­heraus! insgesamt fände ich es aber gerade für die zeitgenössische dramatik wichtig, den theatertexten wieder mehr eigenleben zuzugestehen, das auch außerhalb der inszenierung da ist. eben weil der betrieb immer schnelllebiger ist und theaterstücke nicht mehr ohne weiteres herausgegeben und gelesen werden. ich gehe/ging (jetzt ging es ja länger nicht) phasenweise immer sehr viel ins theater und mochte immer diese vielen ebenen, auf denen sich etwas abspielt. lg, miru misvolikova.com

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Am 03.09.2020 um 18:40 schrieb Karin Cerny: dank dir, kein stress, ich glaub, wir müssen eh kein pensum erfüllen, wir können uns zeit lassen mit allem. wenn du was über theaterkritik wissen möchtest, kannst du auch gern mich aushorchen :-) was mich noch interessieren würde, weil du zwei premieren hast. wie ist das eigentlich mit auftragsarbeiten, machst du das gern? wird da ein thema vorgegeben oder hast du völlig freie hand? wie intensiv ist der austausch mit dem theater im entstehungsprozess? lieben gruß, karin

Am 07.09.2020 um 12:59 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, ich habe die meisten stücke eigentlich nicht als stückaufträge geschrieben, zwei stücke (STERN, SOUFFLEUSE) sind entstanden aus ausschreibungen für einen entwurf, wo ich aufgrund dessen dann den auftrag bekommen habe. für diesen entwurf gab es jeweils eine thematische vorgabe, die aber relativ weit gefasst war. DIE HOCKENDEN und EUROPA habe ich auf eigenen impuls ­begonnen. GI3F ist aus einem kurzprojekt am gorkitheater berlin entstanden, wo wir über nacht einen zehnminüter schreiben sollten. RAND war ein stückauftrag vom schauspielhaus wien, da gab es aber überhaupt keine themenvorgabe, sondern ich hatte völlig freie hand. das ist meiner meinung nach ein schönes konzept, dass man künstler prinzipiell zu etwas arbeiten lässt, das sie auch gerade interessiert, oder wo sich der fokus selber irgendwie drauflegt. die möglichkeit offen zu lassen, dass sich etwas ergibt, mit möglichst wenigen vorgaben. also insofern sind stückaufträge vielleicht nicht meine absolut bevorzugte arbeitsmethode, in zukunft würde es mich mehr interessieren, wieder zu meinen anderen künstlerischen praxen zurückzukehren, diese vielleicht mit dem theater zu verbinden. was die frage nach dem austausch betrifft, sind meiner erfahrung nach die feedbacks von verlag und theaterdramaturgie tatsächlich eher feedbacks, also was das stück für sich selber noch brauchen könnte, aus der eigenen logik heraus. also es ist nicht so, dass mir jemand in den kreativen prozess reinredet. und wenn ich etwas über theaterkritik nachfragen würde, dann vielleicht: verändert sich etwas mit der zeit am interesse fürs theater, verschieben sich die kriterien bzw. die erwartungen? ich denke, dass das analytische denken und beurteilen, die kritik auch wie ein gegenkon-

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Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

zept zum theater dazugehört, das ja im besten fall vielleicht verzaubern, vielleicht auch täuschen »will«. ist das theatererlebnis ein anderes, wenn man nicht darüber schreibt? liebe grüße, miru misvolikova.com

Am 05.10.2020 um 16:13 schrieb Karin Cerny: liebe miru, ja, rand, darüber haben wir noch gar nicht geredet. beim lesen erzeugen deine stücke bei mir immer einen totalen sog, auch durch den rhythmus, und durch den subtilen humor. bei rand ging es mir auch wieder so, dass mich begeistert hat, wie pointiert du gesellschaftliche themen über umwege (tetris-steine etc.) beschreibst, wie alle in die mitte wollen, aber immer mehr an den rändern abrutschen. wie komisch das ist, wie traurig das ist. gleichzeitig. welche räume das öffnet, vom weltall bis zu computerspielen, bis ins tierreich. rand im schauspielhaus war quasi im luftleeren raum angesiedelt, ganz ohne reale bodenhaftung. das fand ich ein problem. wenn man die figuren, die sowieso keine klassischen figuren sind, extra-witzig in knalligen kostümen inszeniert. es gilt ja immer: je lustiger die auf der bühne sein wollen, desto unlustiger ist es für die im zuschauerraum. deine spannende mischung aus witz, melancholie und ernst hat bei der stern-inszenierung für mich jedenfalls viel besser funktioniert als bei rand. aber, was mich auch interessiert: ein pandemie-taugliches stück ist es ja nicht gerade. es soll auf zuschauerhöhe gespielt werden, die zuschauer werden oft angefasst, die schauspieler können von der bühne klettern. warum das? lieben gruß, karin Am 11.11.2020 um 17:26 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, ich habe heute mit ferdinand telefoniert und dann nochmal in die emails geschaut, und scheinbar ist bei mir eine email nach der premiere irgendwie untergegangen. wie wollen wir bezüglich des projektes für die lichtungen oder dieses allgemeine projekt weiter verfahren? herzliche grüße miru ++++++++++++++++++++++ ACHTUNG NEUE ADRESSE: svolikova.com

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Ein Mailverkehr

Am 11.11.2020 um 17:42 schrieb Karin Cerny: liebe miru, super, ich freu mich von dir zu hören. ich hab ja die szene mit dem amokläufer, der im letzten moment immer dann doch nicht handeln kann, sehr toll gefunden. und noch länger dran denken müssen, das war brutal, bedrohlich, traurig und rührend zugleich. das mag ich, wenn szenen so viele unterschiedliche ebenen haben, also rein von dem, was sie beim zuschauen auslösen. fand ich auch einen guten schauspieler. ja, sag, wie geht es dir als dramatikerin überhaupt mit dem lockdown? es kommen ja auch keine tantiemen. hast du das gefühl, du müsstest mit dem thema umgehen? schränkt es dich ein, wie im schauspielhaus, wo vieles dann nicht so geht, wie du es gern hättest? oder sag, wie würdest du gern weiter verfahren? bin ja ganz offen. herzlichen gruß, karin

Am 11.11.2020 um 18:03 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, an sich wären meine beiden sachen, die grad laufen, erst im november/dezember weitergespielt worden, also die hälfte der zeit wurde schon gespielt, in bochum, wo diese shakespeare-übersetzung gelaufen ist, wäre das erstmals ein an sich wirklich großes haus mit viel tantiemen gewesen, durch onlineaufführungen habe ich da aber auch tantiemen bekommen. an sich habe ich einige kleinere laufende projekte, vieles wird ja jetzt einfach mit video gelöst, und zum glück auch einen kleinen finanziellen polster, dass der lockdown jetzt nicht existenziell wird. an sich waren die tantiemen auch nie meine haupteinnahmequellen, da die auf den kleineren bühnen ohnehin nie besonders hoch sind. ferdinand hat gemeint, dass der plan ist vielleicht bis anfang des jahres einen text über ein stück zu haben. nur um abzugleichen, dass wir dieselben informationen haben? herzlich, miru ++++++++++++++++++++++ ACHTUNG NEUE ADRESSE: svolikova.com

Am 11.11.2020 um 19:07 schrieb Karin Cerny: ja, genau, wir wollten ja über rand reden. vielleicht schreib ich die tage mal ein paar gedanken dazu auf, und du reagierst dann darauf. dass es

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Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

nicht so einseitig ist und nur du antworten musst. lieben gruß, karin Am 11.11.2020 um 20:01 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: ok ja gerne lgm ++++++++++++++++++++++ ACHTUNG NEUE ADRESSE: svolikova.com

Am 16.11.2020 um 12:19 schrieb Karin Cerny: liebe miru, also, was mir an rand gefällt, wie man gleich in diese sprache reinkippt. das hat so einen rhythmus und sog, so einen bösen witz, man möchte es gern gleich laut lesen und ist überrascht, welche pointen da lauern, oft dort, wo man sie grad gar nicht vermutet. und man ist gespannt, was passiert: endlich mal nicht mutter, vater, tochter, sohn. endlich tetrissteine und kakerlaken. ich glaub, der rand ist für dich programmatisch: alle deine stücke sind irgendwie vom rand aus gedacht. du näherst dich themen von ungewöhnlichen blickwinkeln aus. du packst dann, wenn man so möchte, politische themen an, aber ohne dieses label (achtung, total wichtig, achtung, gesellschaftskritik) vor dir herzutragen. mickeymouse ist in RAND eine geflüchtete (»ich muss auf die andere seite der mauer, weil es dort käse gibt«), es tritt ein amokläufer auf, der nichts zu ende bringen kann, alle haben angst, aus der sicheren mitte herauszufallen, angst an den rand gedrängt zu werden. ein thema, das nicht aktueller sein könnte und zum alles verwüstenden neoliberalismus passt, dazu, dass sich immer mehr menschen nicht nur abgehängt fühlen, sondern es auch zunehmend sind. trotzdem ist nirgends ein zeigefinger. weil du immer diesen indirekten weg nimmst, gehen einem themen wieder nahe, mir zumindest. ohne betulich oder gefühlig zu werden, irgendwie sind menschen seltsame, schrullige wesen in deinen stücken. ein wenig kindisch, ein wenig monströs, ein wenig überfordert. wie unter dem mikroskop, aber plötzlich findet man diese mikrobe mensch wieder spannend. womit ich in rand nicht so viel anfangen kann, ist dieser wunsch nach direktem kontakt mit dem publikum. ich finde super, wie der amokläufer zum publikum spricht, das stellt eine eigenwillige ­ ­komplizenschaft her, klassisches stockholmsyndrom, das ja grundsätzlich zum theater gehört. wir fiebern mit allen bösewichten mit – von richard III. bis franz moor bei schiller. insofern ist theater eigent-

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lich immer eine amoralische institution, was ich spannend finde. vielleicht hat sich in sachen publikumskontakt aber auch viel verändert in den letzten jahren. früher war mitspieltheater ein abschreckendes wort, mittlerweile erleben wir die nestervalisierung des theaters: jeder möchte selber ein star sein. gern spiel ich mit. kein problem, wenn ihr mich direkt ansprecht. das ist bei formaten, die per se keine bühne haben, oft interessant, ich bin ein großer SIGNA-fan, aber in bühnen wie dem schauspielhaus, die ja trotzdem ein klassisches setting haben, finde ich das oft ein bisschen lächerlich und harmlos. da sind wir doch alle mittlerweile viel zu abgebrüht. aber das ist wahrscheinlich ein themenfeld, das man vertiefen könnte. sind nur ein paar schnelle gedanken, mit denen du hoffentlich was anfangen kannst. lieben gruß, karin

Am 24.11.2020 um 18:41 schrieb MiruMIROSLAVA SVOLIKOVA: liebe karin, die beschreibung mit dem generellen gesellschaftlichen denken her vom rand usw. gefällt mir sehr gut, ja, das würde ich alles unter­ schreiben. auch das politische, wie du schreibst, ist mir wichtig, und die ungewöhnlichen blickwinkel, und das politische eben eher von einer art humanismus heraus und nicht von einer konkreten politischen ideologie aus, oder der verortung in einer gruppe. bzw. wenn dann der gruppe, der man qua menschsein angehört, die immer vom rand betroffen sein kann, oder von der angst davor, der rand, der abgrund ist ja dann etwas grundsätzlich menschliches. ich versuche das auch immer zu erklären, dass der rand für mich nicht nur »die anderen« sind, die flüchtlinge, die fanatiker usw., wie das in manchen kritiken aufgedröselt wurde. im sinne eines existenziellen gedankens ist ja jeder potenziell mit dem rand, dem abgrund konfrontiert, aber man könnte nicht ganz grundlegend mitfühlen, wenn es nicht grundsätzlich eine menschlich mögliche erfahrung wäre, potentiell am rand, im abgrund zu stehen, von verlust, tod, negation oder trauma bedroht zu sein. ich spreche selber auch nicht aus der mitte mit der mitte über den rand. ich stell mich nicht solidarisch zur mitte dazu und zeig mit dem finger auf den rand da hinten: »schaut mal, die sind ja so arm«. aber ich schreibe natürlich für die mitte, für eine mitte, die gar nicht weiß, dass sie die mitte ist. ich schreibe aber selber vielleicht nicht eindeu-

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Karin Cerny im Austausch mit Miroslava Svolikova

tig aus dieser mitte heraus, ich fühle mich durch meine eigene komplizierte geschichte – habe ja selber eine fluchtgeschichte in der familie und bin irgendwie zwischen allen stühlen aufgewachsen, national, sozial, in jeder hinsicht – fühle ich mich selber so unverortet, dass ich mir zutraue, ich schreibe das aus keiner festen verortung heraus. ich schreib nicht für die da über die dort, von punkt a mit blick auf punkt b, sondern, zumindest ist das mein anspruch, aus der überzeugung menschlicher verbundenheit und verletzbarkeit heraus. zum direkten kontakt mit dem publikum, ich denke, das ist in den monologen einfach drin, die figuren versuchen ja ständig, sich mitzuteilen, das publikum als zeugen, geiseln, beobachter zu besetzen. die figuren entäußern sich quasi ins publikum rein, die figurenzeichnung reicht bis ins publikum hinein, geht ins publikum über. da gehts überhaupt nicht darum, ob das publikum »mitmachen« will oder nicht, es ist automatisch mit eingebunden. das sind ja figuren, die das publikum in beschlag nehmen, es besetzen. es ist meines erachtens wichtig, dass das entweder durch einen intimen kleinen raum oder eine ebenerdige bühne möglich gemacht wird, dass dieser austausch zwischen bühne und publikum auch real stattfinden kann. der darf nicht nur behauptet werden, es geht um die wirklichen körper, die sich da treffen. beispiel: wenn der kakerlakenpriester zwischen den zuschauerreihen ausräuchert, dann ist das eine doppelung des inhaltes, wo die zuschauerreihen direkt eingebunden sind, das publikum aber gleichzeitig symbolisch zum rand wird, oder zur mitte, die genau weiß, dass sie das nur im spiel ist, dass sie ja genau nicht der rand ist. also 1) das publikum bekommt eine zeug*innenrolle, die figuren sprechen ja nur, weil das publikum ihnen ganz konkret zuhört, es sitzt da und ist zeugt über die geständnisse, nöte, über die wut und verwirrung der figuren. das publikum muss nicht spielen, es ist vielmehr qua anwesenheit schon in das stück eingebunden. 2) bekommt das publikum symbolisch wechselnde rollen zugesprochen und wird so teil der inszenierung. die zuschauer müssen nichts machen. es ist kein mitmachtheater, es ist alles nur symbolisch, alles auf ganz abstrakter basis und doch real im raum. schönen gruß, miru ++++++++++++++++++++++ ACHTUNG NEUE ADRESSE: svolikova.com Erstveröffentlichung in Lichtungen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Z ­ eitkritik, 168, 42. Jg. 2021

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Die Gastfremden

Ivna Žic

Die Gastfremden I do not ask you who you are not. Erzählt wird von Eltern, die mit ihren Kindern vor Jahrzehnten in die Schweiz migrierten und die jetzt dahin zurückgehen, von wo sie einst aufgebrochen sind. Klar ist, in jede:n haben sich die Zumutungen des Leistungsspiels Integration unterschiedlich eingeprägt. Und während die Familienwohnung, Rückzugsort und Hort der Eltern- bzw. Großmut­ tersprache, sich auflöst – Schränke werden zerlegt, Dinge in Kisten ein­ gepackt, umverteilt, aussortiert –, wird jeder Gegenstand, jeder Geruch, jedes Staubkorn zum Erinnerungsboten geteilter Vergangenheit. Die Per­ spektiven wechseln von den Eltern zu den Kindern, von Innen nach Außen, von Hier nach Dort und die Ambiguität der Begriffe Heimat, Her­ kunft und Migration wird sichtbar.

VORUSS Hallo Guten Abend Schön, dass Sie gekommen sind Ich würde Sie gerne um eine Kleinigkeit bitten bevor wir anfangen es ist ganz einfach: Machen Sie bitte kurz Ihre Augen zu Ja. Nur kurz. Sie auch. Wir machen auch das Licht etwas runter, damit es nicht blendet. Danke. Ok. Und jetzt stellen Sie sich eine Sache vor: Stellen Sie sich bitte ein Schweizer Theaterstück vor So ein ganz klassisches, Mutter Vater Kind, mit Küchentisch Ja Haben Sie es alle? Ok danke. Das war’s schon.

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Ivna Žic

VORWORT oder EINE JUNGE FRAU MIT MEGAFON STEHT DA. SIE WIRD, WÄHREND SIE SPRICHT, IMMER ÄLTER. DIE ERZÄHLERIN: Hallo. Guten Abend. Eigentlich fängt dieses Stück anders an, ursprünglich hat es anders angefangen, mit einem Telefonanruf, oder mit vielen Telefonanrufen. Anrufen über die ganze Welt verteilt. Stellen Sie sich Telefonanrufe vor: von St. Gallen nach Barcelona, oder von Zürich nach Mexico, oder von Basel nach Hamburg, Paris, Bologna, überall klingelt das Telefon.

1 Hallo? Papa, hallo, ich bins – Hallo Ich wollte mich kurz melden Ist es teuer? Nein nein, das ist nicht mehr teuer, das ist doch WhatsApp Papa, ich bin im W-Lan weisst du Ok, gut, wenn du das sagst. Wie geht es dir dort? Wann kommst du wieder zurück? 2 Hallo Mama, Hallo, bist du gut angekommen? Störe ich dich gerade? Nein Mama, du störst nicht, ich sitze in der Küche, es ist schön hier zu sein, ich muss auch gleich wieder weg, was meintest du, die Blume im Wohnzimmer mehr giessen oder weniger? Mehr, unbedingt etwas mehr. Kannst du sie vielleicht näher ans ­Fenster rücken? Ich glaube sie merkt einfach, dass keiner mehr da ist Die Pflanze? Ja klar die Pflanze, wer denn sonst. Das Sofa merkt es nicht 3 Hallo HALLO? 1 Es ist gut, es ist so gut und interessant, ihr müsstet auch mal in die USA fliegen, es ist unfassbar, diese Weite hier. Ich war heute wieder mit dem Velo unterwegs, hier kann ich auch alles mit dem Velo machen, das Auto steht seit Monaten in der Garage, ich

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Die Gastfremden

weiss gar nicht warum ich es hierhin mitgebracht habe. Das Auto ist wichtig, damit ihr uns immer wieder in der Schweiz besuchen könnt, Papa, das war doch die Abmachung, solange es geht! Ja ja, klar. 3 Hallo HALLO? Hallo Papa, ich bins 2 Wie geht es dir, Mama? Gut. Alles gut. Keine grossen Neuigkeiten. Dein Vater ist viel unterwegs. Ich geniesse meine Ruhe. Heute Abend gehen wir ins Kino. Fein. 3 HALLO, WER IST DA? Papa – Papa I-C-H B-I-N-S 1 Und sonst, was machst du sonst? Iss nicht zu viel Schwachsinn dort, das ist alles ungesund Der Rest, naja, wie im Fernsehen, Papa, ja, das Essen ist eine Katastrophe – aber es ist wunderbar hier zu sein. Und du, wie war dein Tag? Unserer fängt ja erst an, heute fahren wir durch Iowa. 3 Vera, Vera komm mal, ich verstehe nichts – Papa, stell doch den Fernseher leiser, Papa 2 Gut. Ach ich wäre gerne mit dir da Ja das wäre schön. Nächstes Mal nehmen wir uns Zeit, Mama, ja Ja. 3 VERAAA… HALLO??? Ich bin es Papa, Papa, ich wollte dir kurz … 1 Ich habe einen Mandelbaum angepflanzt gestern. Heute hat mir einer in der Moschee erzählt, dass es eine sibirische Zitrone gibt, die auch bei -20 Grad noch wächst. Ich gehe nachher ins Internet und schaue nach. Weisst du ich bin müde mich noch mehr zu bewegen, ich war mein Leben lang auf Reisen, so fühlt es sich an. Jetzt sollen die Länder zu mir kommen. Wie eine sibirische Zitrone. 3 Papa, ich wollte dir kurz zum Geburtstag gratulieren,

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1 Wann bist du wieder da, wann kommst du mal wieder? Ich komme in 2 Wochen zurück, dann brauche ich erst einmal eine Pause Papa und ich muss einfach unfassbar viel nachholen für die Arbeit. Aber ich komme ganz bald, versprochen, sobald ich mir frei nehmen kann, ich kann halt auch nichts ständig überall sein, ich meine, ich weiss, dass ihr wieder zurück wolltet, aber es ist auch echt nicht ums Eck und Du bist gerade in Amerika Reisen Papa, Ferien, Reisen, weisst du … ach komm, lassen wir das. Passt auf euch auf, ja? Ja ja. Du auch! Nicht krank werden unterwegs. 2 Mama, aber geht es dir wirklich gut? Wie geht es dir in der neuen ­Wohnung? Ach gut, alles gut, Lieber. Wirklich. Ich wollte nur kurz hören, wie es dir geht, ich will dich nicht aufhalten Ja, stimmt. 3 HALLO??? Jetzt mach doch diese Nachrichten leiser, echt, du bist wie alle ­Italiener 2 Danke Mama Klar. Pass auf dich auf und geniess es Ja, das werde ich tun 1 Deine Mutter vermisst dich Sie ist gerade bei deiner Tante Kaffee trinken. Küsse sie, ja? Ich vermisse euch Wir vermissen dich. 2 Pass auf dich auf und geniess es Ja, das werde ich tun 1 Tschau Tschau 2 Tschüss Tschau

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3 HALLO? ICH HÖRE SIE NICHT, RUFEN SIE NACHHER AN, ADIEU Papa? Papa?! Mann! DIE ERZÄHLERIN So sollte es anfangen: Ausgewanderte Eltern, die ihre Kinder anrufen, die meist auch wieder ausgewandert sind, ein ganz symbolischer Loop, auch lustig irgendwie. Die Kinder sind unterschiedlichen Alters, doch meist sind sie schon erwachsen, sie üben Berufe aus und verdienen eigenes Geld, sie könnten selber Mütter und Väter sein, sind es vielleicht oder wollen es nicht. Sie sind vieles im Leben, aber eben auch: d’Chinder. CHINDER und ELTERN. Manchmal sollten alle Eltern sein. Und manchmal sollten wir alle Kinder sein. Beides hilft dem Erinnern. Dem Erzählen. Es sind ja alles Rollen und Anzüge und Gewohnheiten. Ich möchte an dieser Stelle aber ein Vorwort halten. Dieses habe ich am Schluss geschrieben, es ist quasi ein Epilog am Anfang, es geht eben um den Anfang, darum, wie alles angefangen hat oder anfangen könnte. Anfänge sind schwierige Gebiete. Anfänge versteht man häufig erst vom Ende her. Das Ende ist aber auch ein schwieriges Gebiet und fühlt sich selten so eindeutig an wie das Wort »Ende« selber. So ist es auch mit den Brüchen dazwischen. Es könnte so beginnen oder: dies könnte ein Anfang sein: Wir sind gekommen. Wir sind also gekommen. Wir stehen da, plötzlich oder geplant, über Umwege oder direkt gekommen, einzeln oder zusammen. Hier. Wir sind da und schauen uns um. Es bleibt anfangs wenig Zeit sich umzuschauen, wir schauen eher nach und schauen vor, versuchen uns wenig zu sorgen, sorgen vor, versuchen hier zu sein, sind viele, doch wir hängen nicht zusammen oder gar voneinander ab, im Gegenteil: jede und jeder schaut auf sich, man muss sich zurecht finden, manche sind alt, manche jung, manche mit Kind, manche ohne. In unterschiedlichen Zeiten. Immer schon.

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Und ich bin auch in dieser Menge. Ich finde die Sprache hier, ich bin ja noch jung, da geht das schnell. Und ich finde mittendrin ein ­Megafon, ich finde das Megafon, das gross ist und rot, wie in Filmen, ich finde ziemlich schnell, dass wir lauter sein sollten, wir, die hierhin gekommen sind. Und dass alles ausserhalb zuhören sollte. Ich schaue nach Aussen. Ich nehme mir das Megafon und ich nehme mir einen Tisch und stelle mich drauf. Sie sehen mich auch, oder? Sie auch? Gut. Und ich fange an zu erzählen, von Innen nach Aussen, mit dem ständigen Versuch, dass Innen mit dem Aussen zu verknüpfen. Ich denke sogar, dass, wenn ich die Geschichten von Innen gut erzähle, wenn ich sie in diese Sprache packe und damit spiele, wenn ich gut jonglieren lerne und tief ins Herz greife, dass es sich dann verbinden könnte. Verbünden vielleicht. Dass vielleicht andere auch zu erzählen beginnen würden. So leicht ist es nicht. Manche sind froh, eine Erzählerin zu haben. Andere, mehrere, wollen mir das Megafon wegnehmen. Mich interessiert weiterhin das Aussen. Was sagt es wohl, dieses Aussen? Was denkt es? Wie hört es zu? Hört es zu? Dem Innen höre ich kaum noch zu. Im Nachhinein vielleicht absurd, aber ich sagte ja: Anfänge versteht man erst später. Ich höre kaum mehr zu, weil ich mich schon länger dem Aussen zugehörig fühle. Oder gleich. Oder ein Gefühl von Gleichzeitigkeit, für das es noch kein Wort gibt. In keiner Sprache. Kurz gesagt, aber eben vielleicht zu kurz gesagt: Dieses Aussen, das ist mir nicht fremd. Ich denke nicht viel darüber nach, das heisst, ich selber denke wenig über Innen und Aussen nach, weil mir beides selbstverständlich ist. Ich denke also, anfangs: Ich möchte diesem Aussen noch mehr Geschichten von Innen erzählen. Und das Aussen gibt mir immer grössere Tische, damit ich besser stehen kann und sie mehr verstehen können. Sie nicken und je besser die Geschichte erzählt ist, um so mehr klatschen sie. Und ich grabe, ich grabe tief, ich fange beim Nächsten an, bei den Nächsten: Ich packe meine Familie an den Ohren, einer nach dem anderen werden sie herausgezogen aus der Trickkiste, die sie in Glitzer packt und im Licht scheinen lässt. (Denke ich.) Ich packe die Toten und die Lebendigen in nächster Nähe. Ich rieche, wo die guten

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Die Gastfremden

Geschichten liegen, unter dem Deckmantel: Sonst hört sie ja keiner. Machen wir es kurz: Ich bin ein offenes Buch. Ich schäme mich nie. Ivna Žic, Die Gastfremden © rua Verlag Berlin 2020

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Andrea Glauser im Austausch mit Ivna Žic

Dreifacher Dialog

Auch hier Corona. I Im Herbst 2021 begannen Ivna Žic und Andrea Glauser einen E-Mail-Wechsel, in dem sie erste Annäherungen versuchten, einander Blickpunkte, Anschauungen, Haltungen beschrieben, einen inspirierten, engagierten Austausch gründeten. II Nach einer Unterbrechung durch zahlreiche andere Arbeitsaufgaben nahmen sie ihn in mündlicher Form beim Dramatiker:innen­ festival in Graz im Sommer 2022 wieder auf. Eine lebhafte, anregende Diskussion zu dem Stück Die Gastfremden entspann sich, die eigentlich wiederum in eine weitere schriftliche Begegnung münden sollte. III Durch eine langwierige Erkrankung war dies nicht zu leisten. So entschieden wir uns, das Gespräch zu transkribieren und einen ­weiteren Dialog zu stiften, indem wir es gemeinsam überarbeiteten, neu lasen, diskutierten. Das Hindernis als Chance. Wir drucken beide Dialoge, die über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren entstanden und reiften, ab. (Die Herausgeber)

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Briefe 2021, ein Anfang

Briefe 2021, ein Anfang

Andrea Glauser im Austausch mit Ivna Žic

Liebe Ivna, beim Spaziergang in Zürich vor einigen Wochen hatten wir unter anderem darüber gesprochen, dass Du von unterschiedlichen Seiten her, auch in verschiedenen Rollen, mit dem Theater zu tun hast. In diesem Zusammenhang würde mich sehr interessieren, wie Du in die Aufführung von ‫ قوس قزح‬/Gebrochenes Licht von Lubna Abou Kheir involviert warst und was es heisst, solcherart den Bogen von Damaskus nach Zürich zu spannen, welche Fragen besonders im Zentrum standen bei der Inszenierung eines Theaterstücks mit Bezug zum syrischen Bürgerkrieg und den direkten Erfahrungen der Autorin mit diesem. Auch hatte sich bei mir die Frage aufgedrängt, inwiefern die Arbeit an Blei (rund zwei Jahre zuvor?) evtl. wichtig war für Deinen oder Euren Zugang und das Nachdenken darüber, wie Krieg im Theater thematisiert und ausgelotet werden kann, worauf es aus Deiner/ Eurer Sicht vor allem ankommt. Zur Aufnahme von Blei am Schauspielhaus Wien und den Texten, die ich von Dir gelesen habe, habe ich auch noch diverse weitere Fragen, aber vielleicht beginnen wir ­einfach mal hier. Das Interesse an Deiner Mitarbeit an der Inszenierung von ‫قوس‬ ‫ قزح‬/ Gebrochenes Licht und den Bezügen zu Blei steht in engem Zusammenhang mit Fragen, die mich in der Forschung umtreiben. Seit einiger Zeit erforsche ich (kulturpolitische) Programme zum Schutz und zur Förderung von verfolgten Kunstschaffenden und Autor*innen. In diesem Rahmen besuchte ich eine Gesprächsrunde an der Konferenz Arts at Risk an der ZHdK zum Thema »Artists as Refugees, Artists in Exile: Consequences of Displacement« (https://www.artasfoundation. ch/ art-at-risk/discussion-groups/#B4), an der auch Lubna Abou Kheir mitgewirkt hat sowie andere Akteur*innen, die in Europa im Exil leben und darüber gesprochen haben, was erzwungene Migration bedeutet und was es heisst, im Exil zu leben sowie künstlerisch oder journalistisch zu arbeiten. Dieses Gespräch war sehr stark und ist mir in Erinnerung, als hätte es gestern stattgefunden. Vor allem Zehra Doğan hatte sehr eindrücklich beschrieben, wie wenig selbstverständlich es ist, im Exil arbeiten zu können, abgesehen von äusseren Bedingungen v. a. auch aufgrund der inneren Verfassung, weil sich das Exil – bei allem Schutz – primär als Gefängnis anfühle. (Gerade auch weil über ihre Arbeiten, die u. a. in einem türkischen Gefängnis entstanden sind, in

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den Medien relativ prominent berichtet wurde und sie so eine besondere Präsenz als Künstlerin und Journalistin hat, haben auf mich diese Schilderungen einen sehr starken Eindruck gemacht und erstmals so etwas wie eine Ahnung davon vermittelt, wie schwierig Exil sein kann. In diesem Zusammenhang hatte Lubna Abou Kheir über Gebrochenes Licht gesprochen, u. a. über die Unmöglichkeit, angesichts von Krieg Theater zu produzieren, das sich quasi unschuldig auf Glamour beziehe oder auf so etwas wie Schönheit, auch wenn sie manchmal Lust auf solche Arbeiten habe, denen quasi das Leben als Fest zum Gegenstand werde. Auch diese Überlegungen habe ich in Erinnerung, als wären sie gestern geäussert worden. Diese Form des Gesprächs war sehr interessant – m. E. hat sie den Austausch über schwer zu thematisierende Erfahrungen in besonderer Weise ermöglicht. Das Finden einer Sprache und das Erzählen von Gewalt, Isolation, aber auch starker Verbundenheit mit dem Leben aus individueller Perspektive hatte hier deutlich kollektive Konturen. Umgekehrt macht dies m. E. deutlich, dass auch das Schweigen eine soziale (oder kollektive) Praxis darstellt. Ein Aspekt, der ja in Blei ganz zentral ist. Dazu später mehr. Mit herzlichem Gruß! Andrea

Liebe Andrea, danke dir vielmals für deine E-Mail und die ausführlichen Gedanken, die ich sehr gerne gelesen habe. Es ist interessant, dass du Blei und ‫ قوس قزح‬/ Gebrochenes Licht nebeneinanderstellst, und zugleich auch sinnvoll, ja, sehr sinnvoll sogar. Beide Projekte vereint die Suche nach einer Sprache über vielschichtige Situationen und beide vereint das Motiv der Erinnerung. Beide bleiben fragmentarisch, unabgeschlossen, im besten Sinn, und beide, das ist für mich die tiefste, vielleicht schwesterlichste Bindung zwischen den Projekten: finden ihre Form (ich möchte nicht sagen: Antwort) im Poetischen. Poesie als Antwort auf Krieg, auf Schweigen, auf Tabu. Während meine Rolle in Blei die der Autorin war und, das muss auch betont werden, derjenigen, deren Geschichte erzählt wurde (von mir selber, aber auch vom gesamten Theaterteam), war meine Rolle in Gebrochenes Licht zunächst die der Leserin eines Textes, der am Entstehen war, und dann die der Regisseurin. Ein Aussenblick also. Verbundenheit finden beide Positionen in ihrer Empathie für den Prozess einer Erinnerungs-Recherche, für das Bewusstsein, wie viel Kraft und Arbeit es kostet, eine poetische Form für tatsächliche

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Erfahrungen zu finden, und vor allem die Sehnsucht danach, diese als Poesie, als Geschichte, als theatralen Raum zu erzählen. Eine Stimme zu finden, die über die eigene Erfahrung hinausweist. Dir grösser wird, ein Echo-Raum. Und beide Prozesse waren Übersetzungsprozesse. In viele Richtungen. Theater oder Literatur sind erst mal immer Übersetzungen: Es findet eine Übersetzung der Wirklichkeit in einen Raum, eine Form, einen in sich geschlossenen zeitlichen Ablauf statt. Es ging in beiden Projekten aber auch um die Übersetzung von Sprachen: vom Kroatischen oder Slowenischen ins Deutsche; vom Arabischen ins Deutsche. Sprachlich kann man das noch am einfachsten tun. Aber häufig ist eine andere Tradition von Erzählen dahinter, eine andere Tradition und Referenz von Schweigen und Ver-Schweigen dahinter … diese zu übersetzen ist ein grosser Prozess, etwas, dass ich erst langsam verstehe und vor allem auch nicht verstehe. Ist das Schweigen von einer Sprache, von einem Sprachraum übertragbar in einen anderen? Wie verändert sich dieses Schweigen? Darf man das Schweigen aus einem Raum in einem anderen einfach so auflösen, verändern? Soll man? Muss man? … und so weiter … Und so ist der Übersetzungsweg das Wichtigste. Wer spricht, ist meine grosse Frage, und aus welcher Richtung, als welcher Perspektive? Wer erzählt, ist die grosse Frage, wer hat nicht erzählt und wer sollte noch erzählen, und wen haben wir oft genug gehört und wer sollte eine Pause machen? (Und ja, ich verstehe Lubna sehr sehr gut in ihrer Sehnsucht, einfach mal ein Fest auf das Leben zu schreiben; und ich verstehe auch die Unmöglichkeit dahinter, zumindest jetzt gerade. Wichtig scheint mir aber, dass diese Sehnsüchte und/oder Un/Möglichkeiten aus den Autor*innen selber kommen und nicht von Aussen gegeben werden.) Dazu kann man, kann ich auch noch viel weiter ausholen … jetzt kommt mein Zug aber gleich am Flughafen Wien an und dann geht es in die Schweiz. Du kennst die Strecke! Mir fällt noch eines ein, das wollte ich dir berichten, weil es eben auch weiterknüpft: Lubna und ich sind beide Teil des Programms »Weiter Schreiben Schweiz« — ein Literaturportal für Exil-Autorinnen. Schau doch gern rein, dort erzählen sich diese Fäden in viele Richtungen weiter: https://weiterschreiben-schweiz.jetzt/ Ganz liebe Grüsse und wir sprechen dann auf Zoom, zum Kaffee hat es dieses Mal leider nicht gereicht, verzeih, die Leben an vielen Orten bringen doch auch ihren administrativen und konkreten Aufwand mit sich. Ivna

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Andrea Glauser im Austausch mit Ivna Žic

Liebe Ivna, vielen herzlichen Dank für Deine Nachricht und die scharfsinnigen und packenden Überlegungen zu Blei und ‫ قوس قزح‬/Gebrochenes Licht, Schweigen – in unterschiedlichen Sprachen – und Übersetzungsprozessen. Und auch besten Dank für den Hinweis auf »Weiter Schreiben Schweiz« – das interessiert mich wirklich sehr. Das Reisen im engeren Sinne, bestimmte wiederkehrende Strecken – vor allem Zürich-Wien – und über das Zeitvertreiben an Bahnhöfen (die fast schon unfreiwillig anmutende Vertrautheit mit dem Angebot bestimmter Bäckereien) beobachte ich nochmals ganz anders, seit ich Die Nachkommende gelesen habe. Aber dazu ein andermal mehr. Ich hätte Blei sehr gerne im Schauspielhaus Wien gesehen, aber auch der Mitschnitt ist super! Das Stück hat eine großartige Tiefenschärfe und der Suchprozess der Gruppe (von der ich als Zuschauerin ja nicht so recht weiss, woher sie kommt, was sie ist) beteiligt durch die Art der Auseinandersetzung (auch als Reflexionsinstanz) am Sog der Wahrheitsfindung, an der Suche nach den Erinnerungen und dem grösseren Bild, dessen Präsenz zwar spürbar ist, das sich aber immer entzieht. Auch die Form des Stücks mit den Schauspieler*innen und dem Film quasi auf der Bühne und alle in einem Gespräch, an unterschiedlichen Orten und doch in diesem Raum, das ist sehr faszinierend. Es würde mich interessieren, wie die Arbeit daran aussah, von Dir als Autorin, aber auch mit dem Schauspieler*innenteam, vielleicht auch, was es für Entscheidungen zu fällen galt, was nicht Teil der Übersetzung werden konnte. Was aus dieser Arbeit für weiterführende Fragen entstanden sind, und auch, wie Du von dieser Auseinandersetzung wieder ›losgekommen‹ bist? Von den vielfältigen Aspekten hier einige, die für mich beim ›Sehen‹ von Blei besonders in den Vordergrund gerückt sind: Die Autorschaft ist in sich nicht abgeschlossen, sie involviert so unterschiedlich. Ja, wie Du schreibst, wird auch die Geschichte der Autorin erzählt, gerade auch ihre Geschichte als Zuhörerin, als Enkelin eines Grossvaters, der gerne und viele Geschichten erzählt, und auch die Geschichte ihrer Erkenntnis, dass ihr der Grossvater von gewissen Erfahren nicht erzählt, was wiederum etwas in Gang bringt, und so sind Erzählen, Schweigen, Hören intensiv miteinander verwoben. Eng damit verbunden auch Frage nach dem Zusammenhang des Schweigens eines ­Individuums und gesellschaftlichen Tabus. Ein Zusammenhang, der stark und wirkmächtig erscheint, aber keineswegs simpel, so wenig wie Individuen als gesellschaftliche Marionetten fungieren. Aber es zeichnen sich doch auch Differenzen ab – unterschiedliche ­

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(­gesellschaftliche) Auffassungen und Gebrauchsformen von Schweigen, die u. a. mit der Generationenlage zu tun zu haben scheinen. Es gibt heute (aber in welchem Rahmen genau?) eine starke Problematisierung, wenn nicht von »Schweigen«, dann jedenfalls von »Verschweigen«, »Verdrängen« und »Verleugnen«, und gerade auch von Seiten der Sozialwissenschaften und Geschichte liegt der Fokus auf »Aufarbeitung«, um der Gerechtigkeit und Wahrheit willen, mit Blick auf Verschweigen als Teil eines Machtapparats oder eines Machtverhältnisses. Und hier muss ich auch an Ingeborg Bachmann denken. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Und dann gibt es aber auch so etwas wie einen Glauben an die positiven Wirkungen des Schweigens, etwas ruhen lassen. Wohl auch als Vorstellung, dass Schweigen helfen kann, mit gewissen Dingen besser leben zu können, sei das in Familien, auch in kleineren Zusammenhängen, wo sich die Leute über Generationen hin persönlich kennen. Woher kommt dieser Glaube an die Gaben des Schweigens? Oder ist es eine Unmöglichkeit, Schrecken in Worte zu fassen; eine antiaufklärerische Haltung vielleicht oder der Wunsch, etwas nicht zu teilen, weil die Übersetzung wahrscheinlich scheitern muss und nicht für alles Verständnis vorausgesetzt werden kann. Gibt es notwendiges und/oder unschuldiges Schweigen? Und wie lässt sich dies durch das Theater ausloten? Blei löst m. E. eine Kaskade an Fragen zum Schweigen aus. Und noch ein andere Dimension, die ich an Blei auch extrem interessant finde: In dieser Auseinandersetzung des Stücks mit Bleiburg funktioniert die Frage »Which side are you on?« nicht; vielmehr wird im Verlauf des Stücks immer wieder deutlich, dass diese Frage hier gar nicht weiterführt, auch wenn sie im Raum steht, in verschiedener Hinsicht irgendwie sogar akut ist, allein schon durch die thematisierten Kriegsparteien. Und durch den jugendlichen Grossvater auf der einen Seite und die Inszenierungen und Versammlungen u. a. von Neonazis auf der anderen. Die »sides« werfen Fragezeichen auf, sind schwierig fassbar; aber es wird auch nicht etwa mit moralischem Relativismus hantiert oder gar ein solcher quasi als Lösung angeboten. Der Fokus liegt vielmehr, so mein Eindruck, auf der großen Komplexität, die im Raum steht, der Möglichkeit einer radikalen Vermittlung von etwas Unfassbarem, auch Unverdauerlichem, durch die Mittel der Poesie, der Montage. Es klingt vielleicht fast schon tautologisch, dass Blei Fragen von Gewicht aufwirft! Mit liebem Gruß und auf bald, Andrea

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Andrea Glauser im Gespräch mit Ivna Žic

Eine Normalbiografie – was ist das?

Andrea Glauser im Gespräch mit Ivna Žic

Andrea Glauser: Lass uns ins Gespräch zu deinem Stück Die Gastfrem­ den kommen, Ivna. Im »Voruss« des Stückes werden sie, die Gastfremden, angekündigt in Schweizer Mundart, sodass sich das Publikum zunächst vergegenwärtigt, dass das ein Schweizer Theaterstück ist. Und ich gehe einmal davon aus, dass dann zunächst wahrscheinlich einmal andere Vorstellungen kommen von einem »Schweizer T ­ heaterstück«, was das ist, das vielleicht Alpen beinhaltet oder Banken oder vielleicht auch so was wie Schokolade oder solche Dinge. Und das fand ich aber sehr schön auch dann beim Lesen dieses Schauspiels, wie sehr die Gastfremden eine schweizerische Thematik sind, die so unterschiedliche Stränge zusammenführen. Und zwar einerseits Erfahrungen, von denen ich einmal annehme, dass sie sehr viele von uns teilen. Also wo es auch um die Frage von materieller Geschichte geht. Um Eltern-Kinderverhältnisse, um Wohnungsauflösungen, um Vergänglichkeit. Um wie man über Distanzen hinweg kommuniziert. Aber dann auch sehr spezifisch über Erfahrungen, würde ich sagen, von Personen, die in die Schweiz gereist sind, über viele Jahrzehnte da waren und dann wieder wegziehen. Also um ganz spezifische Erfahrungen. Auch im Zusammenhang mit Familien. Mit Migration. Vielleicht magst du dazu gleich mal etwas sagen, bevor ich Fragen stelle, die so beim Lesen bei mir entstanden sind. Ivna Žic: Das war ein Auftrag vom Theater St. Gallen und ich wollte über etwas schreiben, wovon ich das Gefühl habe, dass nicht viel darüber geredet oder geschrieben oder gesprochen wird. Nämlich über das Älterwerden in einem Land, in das man eingewandert ist. Es wird so viel geredet über Menschen, die kommen und die jetzt da sind und die jetzt weiterhin kommen. Und immer dieses »Jetzt«, als wäre es immer nur jetzt und immer ganz kurz und neu. Ich habe ­darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn Menschen sehr, sehr lange in einem Land sind, aber eben aus anderen Ländern gekommen sind und sich vielleicht überlegen, wo sie alt werden möchten. Dieses Voraus (Voruss) habe ich ganz am Schluss geschrieben, nachdem das Stück schon durch einen sehr langen Prozess und viele Gespräche mit Dramaturgie und Regie und allem Möglichen gegangen ist. Bei diesem Thema, »gastfremd« oder »Gastarbeiter« – oder

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geht es gar um »Gastfreundschaft«? –, da ist so schnell immer ein othering mit dabei, und darum wollte ich das sofort umkehren, wollte sofort am Anfang sagen: Das ist ein Schweizer Stück, das ist auch ein Schweizer Thema. Es geht mir genau nicht darum, immer zu sagen: »diese und die anderen«. Es könnte auch ein österreichisches Stück sein. Das war natürlich eine Setzung, weil es in St. Gallen gespielt wurde. In ­Österreich hätte ich wahrscheinlich hingeschrieben, das ist ein österreichisches Theaterstück, und in der Schweiz habe ich halt hingeschrieben, das ist ein Schweizer Theaterstück. Andrea Glauser: Ja, dass über diese Thematik wenig geschrieben wird, diesen Eindruck habe ich auch. Aber zugleich auch, dass es ein Dauerthema ist, also es wird sehr viel darüber gesprochen, etwa in der Siedlung, in der ich wohne. »Should I stay or should I go?«, nach sehr vielen Jahren, Jahrzehnten in der Schweiz. Und dennoch passiert es auch häufig, dass es, für mich als Nachbarin, quasi über Nacht heißt: »Ja, Maria ist jetzt wieder in Sizilien, Giuseppe ist abgereist.« Die Frage ist, was ist das für eine Bewegung? Was für Geschichten stecken dahinter? Und auch diese, ich würde fast sagen, Normalisie­ rung von Migrationsbewegungen, die aber eben stark erklärungsbedürftig ist. Das zu hinterfragen im Rahmen eines Theaterstücks finde ich als Soziologin, aber auch als Nachbarin höchst interessant und wichtig. Und die Frage ist dann schon, wer sind die Gastfremden? Ich habe das in der Lektüre primär auf diese Elterngeneration bezogen, die seit dreißig Jahren in der Schweiz ist. Und die dann, wie wir im Stück erfahren, wieder in die Region auswandern, aus der sie vor dreißig Jahre gekommen sind. Und wo auch die Kinder, die mit der Überschrift »Kinderblues« adressiert werden, noch einmal in eine ganz neue Situation geraten, also neue Vorzeichen. Aus Perspektive der Kinder taucht dann die Frage auf: Wieso kann es nicht einfach so weitergehen? Stellen wir uns vor, es bleibt einfach beim Alten. Was macht aus diesen Eltern eigentlich Gastfremde? Es gibt einerseits Interaktionen mit einer Nachbarin, die fragt, ob sie wieder »nach Hause« zurückkehren. Was eigentlich ein starkes Zeichen ist, wenn auch die Nachbarn sich nicht vorstellen können, dass nach dreißig Jahren Personen jetzt hier zu Hause sind. Aber dann kommen ebenfalls, finde ich, sehr subtil ökonomische Komponenten zur Sprache. Nämlich die Frage, was es bedeutet, wenn man in einem Land wie der Schweiz lebt und sich jenseits von

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einer 08/15-Normalbiografie bewegt. Dass es Lücken gibt in der Altersvorsorge. Dass es sehr, sehr teuer ist, an so einem Ort zu leben, wer kann sich denn das leisten, z. B. zu pendeln, an zwei Orten zu leben? Dieses Dazwischen ein Stück weit so weiterzuführen? Vielleicht kannst du dazu was sagen, inwiefern du denkst, dass das auch spezifisch zu tun hat mit Schweiz-Österreich oder vielleicht ein allgemeineres Problem auch von asymmetrischen, ökonomischen Verhältnissen ist. Ivna Žic: Als ich für das Stück recherchiert und Gespräche geführt habe, habe ich die in der Schweiz geführt und die Statistik ist tatsächlich, das kommt im Stück auch vor, eher eine 50/50-Statistik. Also so ungefähr 50 Prozent bleiben und 50 Prozent gehen in der Pensionierung. Das ist gar nicht so eindeutig. Obwohl sich das Stück dann inhaltlich und emotional sozusagen eher auf das Gehen, auf das Zurückgehen konzentriert. Aber es gibt eine Passage, wo die Kinder den Eltern auch sagen, aber die Statistik ist 50/50, tut jetzt nicht so, als wäre das so selbstverständlich. Also es werden alle Formen von Selbstverständlichkeit erfragt und abgefragt. Natürlich, in der Schweiz gibt es sehr viele Statistiken darüber, wer kommt, wer geht und wie die Einkommen sind usw. Kann man alles öffentlich nachlesen. Ist kein Geheimnis. Es ist kein Tabu, aber tatsächlich über 50 Prozent aller Menschen, die einwandern, wandern wieder aus. Wenn man z. B. mit 30 oder 35 in ein Land einreist, darf man nicht vergessen, dass man mindestens 15 Jahre Altersvorsorgelücke hat. Sogar, wenn man im Job einsteigt. Und das wird aber alles nicht besprochen und nicht gesehen. Vor allem gibt es so ein Nichtsprechen darüber, weil es ja die meisten Leute, die lange in einem Land leben und dort auch in Rente gehen, die sind ja dann im besten Sinn auch nicht mehr so spannend, um darüber zu sprechen. Weil die haben ja auch alles richtig gemacht und gut gemacht und die haben es ja geschafft und die haben sich ja integriert. Und somit werden aber diese ganzen Fragen, die damit trotzdem weiter einhergehen, von der Gesellschaft gar nicht wahrgenommen. Diese fragile Lebensphase bekommt eigentlich keinen Raum. Andrea Glauser: Diese Geschichte, die in den Gastfremden erzählt wird, in der es einerseits spezifisch um eine bestimmte Familie geht, aber der Fokus auch immer geöffnet wird auf andere, ähnliche Erfahrungen, finde ich, zeigt das sehr schön.

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Und etwas, das ich hier auch extrem spannend finde, ist so dieses Oszillieren. Also dass die Familie dann wirklich diskutiert bei der Wohnungsauflösung: Wohin kommt dieser Schrank? Was machen wir mit all den gebrannten CDs usw.? Dieser Pullover oder dieser Topf – wohin? Und diese grundlegende existenzielle Dimension, die darin liegt, dass z. B. eines der Kinder eigentlich diese Wohnungsauflösung damit vergleicht, als wäre jemand gestorben, und jemand von der Elternseite aber sagt: Das ist nur ein Umzug. Hier anknüpfend eine Frage an dich, Ivna. Es heißt, es geht immer auch um eine Metaebene. Ich habe jetzt über diese Familien gesprochen, Eltern, Kinder. Aber es gibt immer auch ein Innen-Außen und sogar mehrere Außen. Also Fragen, die so wie von der Außenwelt eigentlich formuliert werden, oder Kommentare von ErzählerInnen. Das führt auch dazu, dass immer auch eine Metaebene mitschwingt, z. B. auch ein Stück weit nach einer Rechtfertigung fragt, beim eigenen Umfeld anzusetzen mit der Erzählung. Ivna Žic: Ich zitiere: »Ich grabe, ich grabe tief, ich fange beim Nächsten an, bei den Nächsten. Ich packe meine Familie an den Ohren, einer nach dem anderen werden sie herausgezogen aus der Trickkiste, die sie in Glitzer packt und im Licht scheinen lässt, denke ich. Ich packe die Toten und die Lebendigen in nächster Nähe. Ich rieche, wo die guten Geschichten liegen, unter dem Deckmantel. Sonst hört sie ja keiner. Also machen wir es kurz, ich bin ein offenes Buch, ich schäme mich nie.« Es gibt eine Erzählerin. Es geht um parallele Ebenen: Was bedeutet es, diese Geschichten einfach öffentlich zu erzählen? Und es gibt dann tatsächlich den Moment, wo die Mutterfigur irgendwann im Stück kommt und sagt: Ja, wieso soll das jetzt auf einer Bühne sein und wird das jetzt hier erzählt? Nur, weil wir umziehen? Es ist ein behaftetes Thema. Weil man eben nicht darüber erzählt, man macht so einen Umzug, man reist ab, man versucht einfach, gute Spuren zu hinterlassen sozusagen. Es ist ein Schweizer Stück und ich schäme mich nie. Ich hoffe, dass diese eher unerwarteten Aussagen zum Stocken, zum Nachdenken anregen. Die Geschichten sind schon aus unterschiedlichen Aspekten mit unterschiedlichen Formen ja total von Scham behaftet. Bis dahin, dass dann jemand, vielleicht eine Nachbarin denkt, ja, gut, die können es sich nicht mehr leisten, hier zu bleiben oder so. Es spielt einfach auf ganz, ganz, ganz vielen Ebenen. Und darum wird, glaube ich, auch nicht sehr viel darüber gesprochen, sondern es wird einfach gemacht

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und gelebt und gemacht und gelebt. Und dann natürlich: Jetzt steht da eine, eine Stimme, und spricht für alle, was ich natürlich aus Autorinnen­position mit Augenzwinkern sage? Das spielt auch ein bisschen mit rein in dem Stück. Andrea Glauser: In Bezug auf Soziologie würde ich sagen, es gibt ganz unterschiedliche Erzählweisen. Also die, die wir vorhin kurz angesprochen haben, die sich sehr auf Zahlen und auf Prozentzahlen und so konzentriert, wo man dahinter eigentlich fast keine Geschichten und sowieso keine Individuen in ihren Unterschieden sehen kann. Aber auch gewisse Muster, die interessant sind. Und dann gibt es aber auch gewisse Perspektiven, die stark versuchen z. B. über die Art und Weise, wie in Gruppen gesprochen wird oder wie einzelne Individuen erzählen, Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn ich als Soziologin das Stück von Ivna lese, sind für mich Dinge wie die unterschiedlichen Personenkategorien spannend – wie ­Sprechende hier zur Sprache kommen. Was haben wir überhaupt für Personenkategorien? Wie werden die Leute »eingeteilt«? Wie werden sie benannt? Sind es MigrantInnen, sind es Post-MigrantInnen? Sind es NomadInnen, sind es, wie im Stück gefragt, selbsternannte ­NomadInnen? Was ich auch sehr spannend finde, und denke, hier könnte auch die Soziologie etwas abkupfern, um das so direkt zu sagen, ist, wie ­verschiedene Szenen »montiert« werden. Nach diesem »Voruss« gibt es noch ein Vorwort. Und dort, glaube ich, in diesem Teil schneiden wir ganz unterschiedliche Telefongespräche mit, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden, aber durch dieses Zusammenführen eine sehr starke Verdichtung erfahren. Und ähnlich empfinde ich das auch mit den verschiedenen Schauplätzen. Also eben, wo der »Chinder Blues« in dieser Familienwohnung spielt. Die aufgelöst wird, auseinandergenommen, Türen abgehängt, Schränke verteilt. Über diese Art von Montage oder Zusammenführung von Szenen kann sehr gezielt etwas diskutiert, beleuchtet, dargestellt werden. Damit könnte eigentlich auch mehr gearbeitet werden in den Sozialwissenschaften, um Dinge so auf den Punkt zu bringen. Ich würde noch gerne auf zwei Aspekte zu sprechen kommen. Ich finde interessant, dass die Nachbarschaft sich im Treppenhaus trifft. Das Treppenhaus. Es ist für mich auch Inbegriff einer flüchtigen Begegnung, einer flüchtigen Interaktion. Und ich habe mich dann gefragt, wieso denke ich, dass das Thema eigentlich so omnipräsent ist in Gesprächen? Es hängt auch damit zusammen, dass es in dieser Sied-

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lung, die ich zu Beginn erwähnt habe, nicht nur Treppenhäuser gibt, sondern auch sehr langsam fahrende Lifte. Das erhöht schon einmal die Interaktionsdauer. Aber dann auch Bänke, die eigentlich dafür geplant waren, dass die Leute da die Taschen abstellen, wenn sie die Post aus dem Briefkasten nehmen. Aber de facto sitzen dort häufig Menschen – ein bisschen gepolstert die Bänke mit Zeitungen, sodass es nicht so kalt ist. So werden mit einfachen Mitteln bessere Bedingungen geschaffen, sich länger zu unterhalten und auszutauschen, auch über die Überlegungen, die Zelte abzubrechen oder nicht. Und das hat die Frage aufgeworfen, was heißt Nachbarschaft? Ich glaube, das ist ein Riesenthema. Nachbarn, was kann das bedeuten? Wo sind da die Grenzen, wo die Möglichkeiten? Um eben vielleicht auch über dieses »Ihr-Wir« irgendwie hinwegzukommen, wenn es solche Begegnungen gibt und Gespräche. Wo es dann eher auch zu einer geteilten Erfahrung über das Gesprochene wird. Umzug. Das wird so super beschrieben, was das konkret bedeutet und wie man es unterschiedlich einschätzen kann. Das Wichtigste ist eingepackt und trotzdem entsteht diese Krise. Die Räume zu verlassen, die viel bedeutet haben, die Schauplätze sind für die Geschichte ­dieser Menschen miteinander. Umzug – wie wird dieser Auszug, diese Wohnungsauflösung bei dir beschrieben? Ivna Žic: Ich glaube, das Spezifische hier ist ja das Setting und das ist wirklich nicht an diesen blöden Begriff Migration gebunden. Es geht zwar um eine Familienstruktur, aber alle sind erwachsen. Also es ist nicht: Eltern und kleine Kinder und dann wird eingepackt und umgezogen. Dann muss man sich halt kümmern um Schule, aber das geht noch. Alle sind erwachsen, aber irgendwie systemisch gesehen bleiben ja die Verhältnisse so. Die Kinder sind immer die Kinder und die Eltern sind immer die Eltern in dieser Wohnung, in diesem Raum. Darum treffen die Bezeichnungen ja vor allem auf diesen Privatraum zu. Sobald man durch die Tür geht, hat man wieder tausend andere ­Rollen und tausend andere Positionen in der Welt. Und in diesem Raum bleiben die Kinder immer die Kinder und die Eltern immer die Eltern. Es gibt eine Art systemische Regel, einen Wunsch vielleicht aus Kinderperspektive: Das Elternhaus bleibt und die Kinder schwirren aus. Und wenn sich das eben genau umdreht oder in einem Moment verschiebt, egal, aus welchem Grund, dann wird das Kind plötzlich das Kind und die Eltern werden wieder so intensiv die Eltern, obwohl alle über vierzig sind. Man ist dann plötzlich wie zwölf oder wie früher oder wie jetzt oder wie wann. Und es schwingen so in solchen Räumen oder

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in Wohnungen, die lange von Familien belebt wurden, oder in Häusern ja immer auch alle Zeiten mit. Aber um es doch größer noch in einem Schweizer Kontext zu denken, darf man nicht vergessen, dass es neben Gastarbeitern die Saisonniers gab, die nur für neun Monate kommen konnten. Sie durften die Kinder nicht mitnehmen in die Schweiz. Das heißt, sie haben die Kinder teilweise mitgenommen und es gab ganz viele Kinder, die einfach neun Monate in Wohnungen verbracht haben und nicht rausgehen durften, nicht in die Schule gehen durften, weil man nur als arbeitender Mensch einreisen durfte und ein Kind ist nicht arbeitend. Das war die Begründung rechtlich gesehen. Und nach neun Monaten wieder gehen. Und das ist etwas, das in der Schweiz ganz langsam, zwar offiziell aufgearbeitet wird, aber dieses offiziell aufgearbeitet heißt immer, der Bundesrat hat sich einmal entschuldigt und jetzt ist gut. Das ist in der Schweiz die Aufarbeitung. Vor vierzig, fünfzig Jahren war das einfach Alltag. Andrea Glauser: Es geht ja immer um Kollektive, die eigentlich keine sind. Und die Eltern bleiben natürlich auch nicht das ganze Stück die Eltern, sondern es gibt ja dann zwei und die haben auch unterschiedliche Haltungen zu genau der Frage. Und was ist, wenn die zusammen sind und sozusagen verheiratet, ein Paar? Die Eltern. Aber was ist, wenn eigentlich einer bleiben will und der andere gehen. Die Staaten sind da eifersüchtig, die wollen, dass man nur einen Lebensmittelpunkt haben kann. Das ist z. B. in Österreich per Definition so. Und ich glaube, alles andere, die gelebte Realität ist ja viel komplexer. Wo will begraben werden? Da muss man sich dann wirklich definitiv entscheiden. Aber nicht einmal da. Da kommt ein Drittel der Asche in die Seine und ein Drittel … Ich finde, was die Nationalstaaten machen, steht eigentlich in krassem Gegensatz dazu, was die soziologischen Studien zu multi­ lokalem Wohnen jetzt aufzeigen. Von staatlicher Seite kommt immer wieder die Frage: Wo ist Ihr Lebensmittelpunkt? Und dann muss argumentiert werden, und auch dann kommen sofort die Kinder und kommen Besitzverhältnisse ins Spiel. Gerade bei dieser Thematik, wo es auch um Altersvorsorge und solche Dinge geht. Wer ist dabei, wer nicht? Was sind überhaupt »Normbiografien«? Ivna Žic: Wir können alle sagen, ich habe da gelebt und dort gelebt und wir sind überall und sprechen viele Sprachen. Ist ja kein Problem.

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Aber die Administration und die Ökonomie machen es heutzutage noch nicht möglich. Was ich ganz am Anfang gesagt habe. Was heißt es, wenn du mit 35 in ein Land kommst und erst mit 35 in diesem Land anfängst, Geld zu verdienen? Kannst du dann mit 65 in diesem Land leben? Das ist eine rein administrativ-ökonomische Frage. Und dann kannst du über alles andere nachdenken. Und das ist schon interessant, wie sehr das unseren Alltag prägt.

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Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren Charlotte Bomy studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft in Straßburg und Berlin. Als promovierte Theaterwissenschaftlerin schrieb sie zahlreiche Essays und Artikel über zeitgenössische französische und deutschsprachige Dramatik, Bild-Text-­ Beziehungen in den darstellenden Künsten und Inszenierungen des Protests. Seit 2012 arbeitet sie als freie Übersetzerin in Berlin und übersetzt deutschsprachige Autorinnen ins Französische. Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin von Afropäerinnen – Theatertexte aus Frankreich und Belgien und Surf durch undefiniertes Gelände – Internationale queere Dramatik. Karin Cerny, geboren 1968 im Waldviertel, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien und Berlin. Sie war Jurorin beim B ­ erliner Theatertreffen und bei den Autoren-Werkstatttagen am Wiener Burgtheater. Sie lebt als freie Journalistin in Wien, schreibt regelmäßig für pro_l, Süddeutsche Zeitung und Die Deutsche Bühne. Teresa Dopler studierte an der Universität für angewandte Kunst Wien Sprachkunst und anschließend Theaterwissenschaften, sowie Szenisches Schreiben beim DRAMA FORUM Graz. Zudem nahm sie 2019 an der Residency for Emerging Playwrights am Londoner Royal Court ­Theatre teil. Mit ihren eingereichten Texten warb sie zahlreiche Arbeits­stipendien ein, darunter 2014, 2016 und 2018 DramatikerInnen­ stipendien des österreichischen Bundeskanzleramts, das Literatur­ stipendium der Stadt Linz 2015, die Talentförderungsprämie des ­Landes Oberösterreich 2015 sowie das Dramatikerstipendium der Literar Mechana 2017. Ihr Debütstück Was wir wollen wurde als ­Dramentext 2015 für den Osnabrücker Dramatikerpreis nominiert. Mit Das weiße Dorf hat die Autorin 2019 den Preis des Heidelberger Stückemarkts gewonnen. 2022 war sie für den Mülheimer Dramatikerpreis mit Monte Rosa nominiert. Edith Draxl studierte Deutsch, Theologie und Psychologie. Zunächst langjährige Tätigkeit im Theater als Kuratorin und Regisseurin für Theater für junges Publikum. 2000 Gründung von uniT, in der Folge künstlerische Leiterin der Organisation. Sie entwickelte den Schwerpunkt DRAMA FORUM, in dem junge Autor:innen bei der Entwicklung ihres Schreibens für das Theater begleitet werden. ­

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Autorinnen und Autoren

Außerdem initiierte sie den Retzhofer Dramapreis, der Arbeitsprozess und Wettbewerb verbindet und überregional von Bedeutung ist. Seit 2016 ist sie Co-Leiterin des Internationalen Dramatiker:innenfestival Graz. Natascha Gangl studierte Philosophie an der Universität Wien, Szenisches Schreiben bei DRAMA FORUM Graz, assistierte bei Christoph Schlingensief. Für mehr als zehn Jahre setzte sie ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt »zwischen« Österreich, Spanien und Mexiko. Ihre Arbeiten waren u. a. zu sehen auf Bühnen der Greek National Opera, Teatros Canal Madrid, Schauspielhaus Wien, bei Festivals wie Wien Modern, dem steirischen herbst, dem Dramatiker:innenfestival Graz, in Ausstellungsräumen wie dem MUPO Oaxaca oder dem Institut für Moderne Kunst Nürnberg, im Radio auf ORF, SWR und Deutschlandfunk. Als Buch erschien: Wendy fährt nach Mexiko, Ritter 2015. Das Spiel von der Einverleibung. Frei nach Unica Zürn, starfruit publications 2020. Preise und Würdigungen: 2021: Ö1 Preis für das Beste Originalhörspiel 2020 für Die Revanche der Schlangenfrau. Ein Klangcomic frei nach Unica Zürn; 2020: Preis des Heidelberger Stückemarkts; 2019: Heimrad-Bäcker-Förderpreis; 2018: 1. Preis des Berliner Hörspielfestivals für WENDY PFERD TOD MEXIKO; 2017: Stipendiatin am Literarischen Colloquium Berlin, Literaturstipendium des Landes Steiermark, Stipendiatin des Mobilen Arbeitsateliers des Deutschen Literaturfonds e.V. sowie beim DRAMA FORUM, Dramatikerinnenstipendium des Bundeskanzleramts; 2013: Dramatikerstipendium der Literar Mechana; 2011: Literaturförderungspreis der Stadt Graz; 2010: ­Literaturstipendium der Stadt Graz. Andrea Glauser studierte Soziologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Bern und New York. Sie wurde mit einer Arbeit zur Wechselbeziehung zwischen Kulturpolitik und künstlerischer Praxis am Beispiel des »Artist-in-Residence« an der Universität Bern promoviert. 2017 habilitierte sie sich an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern mit einer Untersuchung zu Hochhaus- und Stadtbilddebatten in europäischen ­Metropolen. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie der Universität Bern und war Visiting Scholar an der Columbia University in New York sowie am Institut Français ­d’Urbanisme, Université Paris-Est. Sie war Oberassistentin am Soziologischen Seminar der Universität Luzern und vertrat dort die

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Autorinnen und Autoren

­rofessur für Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie. P Zudem lehrte sie an der Hochschule Luzern qualitative Forschungsmethoden. Seit Oktober 2019 ist sie Professorin für Kulturwissenschaft an der mdw Wien. Teresa Kovacs ist Assistant Professor am Institut für Germanic ­Studies an der Indiana University. Davor war sie an der University of Michigan und der Universität Wien tätig. Ihr aktuelles Buchprojekt beschäftigt sich mit zeitgenössischem Theater, das posthumane Diskurse reflektiert. Sie hat zahlreiche Preise für ihre Forschung bekommen, u. a. den Women in German Dissertation Award und den WendelinSchmidt-Dengler-Preis. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Theatertheorie, politisches Theater und transkulturelles Theater. Publikationen u. a.: Drama als Störung, transcript 2016, Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief, Praesens 2011, hg. mit Pia Janke, Postdramatic Theatre as Transcultural Theatre, Narr 2018, hg. mit Koku Nonoa. Thomas Köck, geboren 1986 in Steyr, Oberösterreich, wurde durch Musik sozialisiert und studierte Philosophie in Wien sowie Szenisches Schreiben und Film an der Universität der Künste Berlin. Seine Theaterstücke, Libretti und Hörspiele, die mehrfach ausgezeichnet wurden und u. a. in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Brasilien, Polen, Mexiko, Frankreich, Italien, Rumänien gezeigt werden, erscheinen im Suhrkamp Verlag auch als Bücher. Er war Hausautor am Nationaltheater Mannheim, hat an Dokumentarfilmen mitgearbeitet, hat Kurzfilme u. a. für ARTE gedreht, bloggt mit Kolleg:innen gegen rechts auf nazisundgoldmund.net und entwickelte mit Andreas Spechtl unter dem Label ghostdance konzertante Readymades. Zuletzt entstand aus einem aufgrund von Corona gescheiterten Opernprojekt für die Münchner Biennale für Neue Musik ein Opern-Computerspiel-Hybrid als queer art of failure mit Michael von zur Mühlen. 2022 verbrachte er längere Zeit in Mexiko und lebte auf Einladung der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Christoph Leibold, geboren 1969 in München, ist Kulturjournalist und Theaterkritiker. Er arbeitet vor allem für Bayern2 (BR), außerdem für DLF Kultur, SWR 2 sowie für das Fachmagazin Theater der Zeit. Er ist Moderator u. a. des Hörfunk-Feuilleton-Magazins kulturWelt (­Bayern2), Autor von Kulturfeatures und Mitglied in diversen Theaterjurys, u. a. für das Berliner Theatertreffen (2012 – 2014), den

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Autorinnen und Autoren

­ ayerischen Kunstförderpreis (seit 2011) sowie den Theaterpreis der B Stadt München (2017 und 2020). Wolfram Lotz, geboren 1981 in Hamburg, aufgewachsen im Schwarzwald, lebt in Leipzig. Er schreibt Lyrik, Theaterstücke, Hörspiele und Prosa. 2011 wurde er in der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute für das Stück Einige Nachrichten an das All zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt, 2015 zum Dramatiker des Jahres für Die lächerliche Finsternis. Zuletzt erschienen sind die Bücher Drei Stücke, Die Politiker und Heilige Schrift 1. Sascha Michel lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Lektor für Literatur im S. Fischer Verlag. Seit 2015 unterrichtet er als Dozent bei dem Fortbildungsprogramm Buch- und Medienpraxis an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. In der Reclam-Reihe [Was bedeutet das alles?] erschien von ihm 2020 der Essay Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht. Fiston Mwanza Mujila wurde in Lubumbashi (Demokratische ­ epublik Kongo) geboren und studierte Literatur und HumanwissenR schaften ebendort. 2007 verließ Mwanza Mujila den Kongo und lebte danach u. a. in Belgien, Deutschland, Frankreich und, nachdem er 2009/2010 als Stadtschreiber nach Graz eingeladen worden war, in Österreich. Fiston Mwanza Mujila promoviert an der Grazer Romanistik, wo er afrikanische Literatur lehrt. Er schreibt sowohl Gedichte und Kurzgeschichten als auch für das Theater. Das Schauspielhaus Graz brachte den Bestseller-Roman Tram 83 im Rahmen des ­Steirischen Herbsts 2018 in einer Inszenierung von Dominic Friedel zur Uraufführung. Mujilas Theaterstück Zu der Zeit der Königinmutter wurde 2019 am Akademietheater uraufgeführt, Garten der Lüste im Deutschen Theater Berlin. Sein Stück Après les Alpes wurde 2023 am Volkstheater Wien gezeigt. Ausgewählte Preise: 2009: Preis bei den Spielen der Frankophonie im Libanon; 2015: Grand Prix of Literary Associations für Tram 83; 2017: Internationaler Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt für Tram 83, gemeinsam mit den Übersetzerinnen Katharina Meyer und Lena Müller; 2018: Peter-Rosegger-Literaturpreis für Tram 83, Black Austrian Award in der Kategorie Kunst & Kultur – Literatur, 2021: Prix Les Afriques für La danse du Vilain

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Autorinnen und Autoren

Katrin Pahl wurde an der University of California in Berkeley im Fachbereich für Rhetorik promoviert. 2008 war sie Stipendiatin des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« an der Freien Universität Berlin. Sie ist Co-Direktorin des Programms für das Studium von Frauen, Gender und Sexualität an der John Hopkins University und forscht im Bereich der Affekt- und Emotionsstudien mit Schwerpunkt auf Geschlecht und Sexualität. Für Transformative Translations: Cyrilli­ zing and Queering wurde Pahl mit dem Preis für den besten feministischen Artikel von der Coalition of Women in German ausgezeichnet. Ewald Palmetshofer, geboren in Linz, studierte in Wien Theologie und Lehramt Philosophie / Psychologie. Er wurde 2008 zum Nachwuchsdramatiker des Jahres ernannt. Mit hamlet ist tot. keine schwer­ kraft wurde er 2008 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert, 2010 mit dem Stück faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. Mit seinem Stück die unverheiratete gewann Ewald Palmetshofer 2015 den Mülheimer Dramatikerpreis. Die Uraufführungsinszenierung von Robert Borgmann am Wiener Akademietheater wurde außerdem 2015 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 2018 wurde Vor Sonnenaufgang am Theater Basel uraufgeführt und seitdem an mehr als zwanzig Häusern nachgespielt. Mit der Uraufführung von die verlorenen in der Regie von Nora Schlocker eröffnete Andreas Beck 2019 seine Intendanz am Residenztheater in München, wo Ewald Palmetshofer seit der Spielzeit 2019/20 auch als Dramaturg arbeitet. Weitere Auszeichnungen: 2005: Retzhofer Dramapreis für ­sauschneidn; 2008: Dramatikerpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft; 2018: Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis für sein bisheriges Gesamtwerk; 2019: Gert-Jonke-Preis; 2020: Einladung zu den Mülheimer Theatertagen mit die verlorenen. Martin Jörg Schäfer ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterforschung an der Universität Hamburg. Aktuell forscht er zu Schriftartefakten in den szenischen Künsten, zu ko-kreativ entstandenen Texten im Gegenwartstheater sowie zu Kulturtechniken und Metaphorologien des Versammelns. Zudem setzt sich Martin Jörg Schäfer sich mit dem Thema »Kräfte des Sich-Versammelns« auseinander. Ferdinand Schmalz, geboren 1985 in Graz, aufgewachsen in Admont, Obersteiermark, lebt in Wien; Studium der Theaterwissenschaft und Philosophie. Am Schauspielhaus Wien und Schauspielhaus

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Autorinnen und Autoren

­ üsseldorf war er als Regieassistent tätig. Er performt im freien KolD lektiv mulde_17 und war 2012 Mitbegründer des Festivals »Plötzlichkeiten« im Theater im Bahnhof Graz. Auszeichnungen u. a.: 2013: Retzhofer Dramapreis; 2017: Ingeborg-Bachmann-Preisträger mit Mein Lieblingstier heißt Winter; 2018: Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie Bestes Stück für jedermann (stirbt); 2018: Ludwig-­ Mülheims-Theaterpreis; 2020: Peter-Rosegger-Literaturpreis. Brigitte Schwens-Harrant studierte Deutsche Philologie und Theologie in Wien. Sie ist Literaturkritikerin in Wien und Feuilletonchefin der Wochenzeitung Die Furche und war Lehrbeauftragte des Instituts für Germanistik der Universität Innsbruck und des Fachbereichs Germanistik der Universität Salzburg. 2015 erhielt sie den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik, seit 2020 ist sie Jurorin beim Bachmannpreis. Zahlreiche Publikationen über österreichische und internationale Gegenwartsliteratur und über Literaturkritik, z. B. ­Literaturkritik. Eine Suche (2008); Zerstreute Stimmen. Menschen – ­Themen – Bücher (2010); Der geplünderte Tempel: Ein Dialog (mit Jörg Seip, 2012); Schrift ahoi! Literatur als Seefahrt. Ein Lexikon (mit Jörg Seip, 2013); Ankommen. Gespräche mit D. Dinev, A. Kim, R. Knapp, J. Rabinowich, M. Stavaric (2014); Facetten 2015. Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz (Prosa, 2015; Hgin. mit Peter Leisch); Mind the Gap. Sie­ ben Fährten über das Verfertigen von Identitäten (gem. J. Seip, 2019); Übers Schreiben sprechen: 18 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur (2022). Gerhild Steinbuch studierte Szenisches Schreiben am DRAMA FORUM Graz und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Seit 2019 ist sie Professorin am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien, seit 2022 auch Institutsvorständin. Sie schreibt Texte für Sprech- und Musiktheater, Hörspiele, Prosa, Essays, arbeitet als freie Dramaturgin sowie als Übersetzerin aus dem Englischen (zuletzt: Not The End of the World von Chris Bush, Regie: Katie Mitchell, UA Schaubühne Berlin, 2021). Ihre Texte werden vom Rowohlt Theater Verlag vertreten. Letzte Arbeiten als Autorin: The Soccer Opera (Athens Epidaurus Festival, 2021), Die Vorüberlaufenden (Deutsche Oper Berlin, 2021), Wolfswelt Deutschlandfunk Kultur, 2021) In letzter Zeit Wut (Schauspiel ­Frankfurt, 2021).

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Autorinnen und Autoren

Miroslava Svolikova, geboren 1986 in Wien, studierte Philosophie in Wien und Paris, bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien und Szenisches Schreiben beim DRAMA FORUM Graz. 2018 war europa flieht nach Europa in einer Produktion des Burgtheaters Wien als Gastspiel bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Retzhofer Dramapreis 2015, den Hermann-­SudermannPreis im Rahmen der Autorentheatertage Berlin 2017, den Nachspielpreis 2019 beim Heidelberger Stückemarkt und den Nestroy-Preis 2021. Eva-Maria Voigtländer studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Berlin. Sie arbeitet als Dramaturgin an verschiedenen Häusern, u. a. bei Jürgen Flimm am Hamburger Thalia Theater, am Nationaltheater Mannheim. 2000 – 2001 war sie geschäftsführende Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus. 2005 – 2006 war sie Dramaturgin bei den Salzburger Festspielen, wo sie das Young Directors Project leitete. Zudem arbeitete sie für die Werkstatttage des Burgtheaters. Von 2007 – 2001 war sie für die Ruhrtriennale tätig, ab 2001 als leitende Dramaturgin. Nach einem Zwischenspiel am Schauspielhaus Düsseldorf arbeitete sie ab 2015 als leitende Dramaturgin am Burgtheater Wien, zuletzt war sie als Gastdramaturgin dort tätig. Seit 2000 unterrichtet Voigtländer am Institut für Theater, Musiktheater und Film der Universität Hamburg, jetzt Theaterakademie Hamburg, wo sie die Hamburger Poetikvorlesung und das ­DRAMA!-Festival initiiert hat und kuratiert. Seit 2013 ist Voigtländer Jurorin und Mentorin des Retzhofer Dramapreises und seit 2018 lehrt sie am Lehrgang Angewandte Dramaturgie der MdW Wien. Christine Wahl studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg im Breisgau und Berlin. Sie ist seit 1995 freie Journalistin und Theaterkritikerin u. a. für den Tagesspiegel, Theater heute und den SPIEGEL. Sie war Jurorin u. a. fürs Berliner Theatertreffen, das Impulse Theater Festival und den Hauptstadtkulturfonds und ist aktuell im Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage sowie des Festivals Radikal jung in München. Von 2020 bis 2021 arbeitete sie als Redakteurin für Theater der Zeit.

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Autorinnen und Autoren

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman Die Nachkommende wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2020 erhielt sie den renommierten Anna Seghers-Preis. Žic lebt in Zürich und Wien.

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Autorinnen und Autoren 1 3 4 6 7

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Recherchen

Maßnehmen: Die Maßnahme . Kontroverse Perspektive Praxis Brecht/ Eislers Lehrstück Adolf Dresen – Wieviel Freiheit braucht die Kunst? . Reden Briefe Verse Spiele Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Zersammelt . Die inoffizielle Literaturszene der DDR Martin Linzer – »Ich war immer ein Opportunist …« . 12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen Jost Hermand – Das Ewig-Bürgerliche widert mich an . Brecht-Aufsätze Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum Friedrich Dieckmann – Die Freiheit ein Augenblick . Texte aus vier Jahrzehnten Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Hans-Thies Lehmann – Das Politische Schreiben . Essays zu Theatertexten Manifeste europäischen Theaters . Theatertexte von Grotowski bis Schleef Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk Falk Richter – Das System . Materialien Gespräche Textfassungen zu »Unter Eis« Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Gabriele Brandstetter – BILD-SPRUNG . TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien Johannes Odenthal – Tanz Körper Politik . Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte Carl Hegemann – Plädoyer für die unglückliche Liebe . Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005 VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst. Aufsätze Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Theater in Polen . 1990 – 2005 Politik der Vorstellung . Theater und Theorie Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? . Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen Stefanie Carp – Berlin / Zürich/ Hamburg . Texte zu Theater und Gesellschaft Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Friedrich Dieckmann – Bilder aus Bayreuth . Festspielberichte 1977 – 2006 Sire, das war ich . Lessings Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch Sabine Schouten – Sinnliches Spüren . Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007

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Joachim Fiebach – Inszenierte Wirklichkeit . Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen Angst vor der Zerstörung . Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Martin Maurach – Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 –1945 Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Kleist oder die Ordnung der Welt Helene Varopoulou – Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater Elisabeth Schweeger – Täuschung ist kein Spiel mehr . Nachdenken über Theater Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Anja Klöck – Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler? . Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 Vasco Boenisch . Krise der Kritik? . Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten Theater in Japan Sabine Kebir – »Ich wohne fast so hoch wie er« Steffin und Brecht Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur . Brecht-Tage 2008 Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Reality Strikes Back II . Tod der Repräsentation per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Radikal weiblich? . Theaterautorinnen heute Frank Raddatz – Der Demetriusplan . Oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Falk Richter – Trust Woodstock of Political Thinking . Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft Die Kunst der Bühne . Positionen des zeitgenössischen Theaters Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters B. K. Tragelehn – Der fröhliche Sisyphos . Der Übersetzer, die Übersetzung, das Übersetzen Macht Ohnmacht Zufall . Aufführungspraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm


Recherchen Eine Normalbiografie – was ist das? 93

Adolf Dresen – Der Einzelne und das Ganze . Zur Kritik der Marxschen Ökonomie 95 Wolfgang Engler – Verspielt . Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft 97 Magic Fonds . Berichte über die magische Kraft des Kapitals 98 Das Melodram . Ein Medienbastard 99 Dirk Baecker – Wozu Theater? 100 Rimini Protokoll – ABCD 101 Rainer Simon – Labor oder Fließband? . Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern 102 Lorenz Aggermann – Der offene Mund . Über ein zentrales Phänomen des Pathischen 103 Ernst Schumacher – Tagebücher 1992 – 2011 104 Theater im arabischen Sprachraum 105 Wie? Wofür? Wie weiter? . Ausbildung für das Theater von morgen 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit . Geschichten einer deutsch-malawischen Kooperation 107 Roland Schimmelpfennig – Ja und Nein . Vorlesungen über Dramatik 108 Horst Hawemann – Leben üben . Improvisationen und Notate 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit . Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater 111 Theatermachen als Beruf . Hildesheimer Wege 112 Parallele Leben . Ein DokumentarTheaterprojekt zum Geheimdienst in Osteuropa 113 Die Zukunft der Oper . Zwischen Hermeneutik und Performativität 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 116 Kathrin Röggla – Die falsche Frage . Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft . Leipziger Vorlesungen 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 123 Hans-Thies Lehmann – Brecht lesen 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen« am Schauspiel Leipzig

125 Henning Fülle – Freies Theater . Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010) 126 Christoph Nix – Theater_Macht_Politik . Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert 127 Darstellende Künste im öffentlichen Raum . Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen 128 Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995 . Umbrüche und Aufbrüche 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 130 Günther Heeg – Das Transkulturelle Theater 131 Vorstellung Europa – Performing Europe . Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 132 Helmar Schramm – Das verschüttete Schweigen . Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 133 Clemens Risi – Oper in performance . Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen . Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 135 Flucht und Szene . Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 136 Recycling Brecht . Materialwert, Nachleben, Überleben 137 Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers . Brecht-Studien 139 Theater der Selektion . Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel 140 Thomas Wieck – Regie: Herbert König . Über die Kunst des Inszenierens in der DDR 141 Praktiken des Sprechens im zeitgenössischen Theater 143 Ist der Osten anders? . Expertengespräche am Schauspiel Leipzig 144 Gold L’Or . Ein Theaterprojekt in Burkina Faso 145 B. K. Tragelehn – Roter Stern in den Wolken 2 146 Theater in der Provinz . Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm 147 Res publica Europa . Networking the performing arts in a future Europe 148 Julius Heinicke – Sorge um das Offene . Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater 149 Julia Kiesler – Der performative Umgang mit dem Text . Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater 150 Raimund Hoghe – Wenn keiner singt, ist es still . Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979–2019)

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Recherchen

Andrea Glauser im Gespräch mit Ivna Žic 151 David Roesner – Theatermusik . Analysen und Gespräche 152 Viktoria Volkova – Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen 153 Wer bin ich, wenn ich spiele? . Fragen an eine moderne Schauspielausbildung? 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung . ­Fragen an Heiner Müller 155 TogetherText . Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater 156 Ästhetiken der Intervention . Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters 157 Theater in Afrika II – Theaterpraktiken in Begegnung 158 Joscha Schaback – Kindermusiktheater in Deutschland 159 Inne halten: Chronik einer Krise 160 Heiner Goebbels – Ästhetik der ­Abwesenheit . Texte zum Theater . ­ Erweiterte Neuauflage 161 Günther Heeg – Fremde Leidenschaften Oper . Das Theater der Wiederholung I 163 Charlotte Wegen – Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion . Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 164 Theresa Schütz – Theater der ­Vereinnahmung . Publikumsinvolvierung im immersiven Theater 165 Benjamin Wihstutz, Daniele Vecchiato und Mirjam Kreuser – #CoronaTheater . Der Wandel der performativen ­Künste in der Pandemie 166 Dazwischengehen! . Neue Entwürfe für Kunst, ­Pädagogik und Politik 167 Dramatisch lesen . Wie über neue ­Dramatik sprechen?

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Wo steht die neue Dramatik heute? Wie kann man über Dramatik sprechen und welches analytische Instrumentarium braucht man dafür? Wie sollten bestehende Positionen weiterentwickelt werden, um dem Theater eine Zukunft zu eröffnen? „Dramatisch lesen“ nähert sich diesen Fragen zum Theatertext in Form eines Dialogs zwischen Dramatiker:innen, Wissenschaftler:innen sowie Kritiker:innen am Beispiel konkreter Stücke. Sie sprechen über unterschiedliche Lesarten von Texten, über das Verhältnis von Text und Theater, von Schreibenden und Lesenden im Spannungsverhältnis zwischen eigenständiger literarischer Gattung und Gebrauchstext. So gerät der Theatertext als Schule dialogischen Denkens in den Blick, frei vom Anspruch unmittelbarer Verwertbarkeit für die Bühne – (eine) Poetik des Dramas.

978-3-95749-470-2 www.theaterderzeit.de


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