Theater der Zeit spezial
EUR 9,50 tdz.de
Autor:innen Arthur Becker, Schauspielstudent der Otto Falckenberg Schule Remo Beuggert, Schauspieler bei Theater HORA Natalie Dedreux, Aktivistin für die Rechte von Menschen mit Down-Syndrom Claire Diraison, Pressesprecherin EUCREA Olivia Ebert, Dramaturgin an den Münchner Kammerspielen Dennis Fell-Hernandez, Schauspieler an den Münchner Kammerspielen Leonard Grobien, Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler Nele Jahnke, Regisseurin und Dramaturgin an den Münchner Kammerspielen Markus Janka, Professor für Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Ludwig-Maximilians-Universität München Carolin Jüngst, Choreograf:in und Performer:in Johanna Kappauf, Schauspielerin an den Münchner Kammerspielen Georg Kasch, Kulturjournalist Anne Leichtfuß, Übersetzerin und Simultan-Dolmetscherin in Leichte Sprache Jan Meyer, ehemaliger Künstlerischer Leiter Freie Bühne München und Oberspielleiter der Landesbühnen Sachsen Annika Molke, Schauspielstudentin der Otto Falckenberg Schule Fabian Moraw, Schauspieler an den Münchner Kammerspielen Barbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele Claus Philipp, Dramaturg und Autor Tiziana Pagliaro, Schauspielerin bei Theater HORA und Regisseurin Maja Polk, Künstlerische Produktionsleitung an den Münchner Kammerspielen Kaite O’Reilly, Dramatikerin und Dramaturgin Aleksandra Skotarek, Schauspielerin bei Teatr21 Steffen Sünkel, Ko-Leitung des Programms für inklusive Kunstpraxis (pik) der Kulturstiftung des Bundes Paulina Wawerla, Dramaturgieassistentin an den Müncher Kammerspielen Lucy Wilke, Schauspielerin an den Münchner Kammerspielen Luisa Wöllisch, Schauspielerin an den Münchner Kammerspielen
Impressum Theater der Zeit Spezial All Abled Arts Notizen zu Inklusion an einem Stadttheater In Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen Verlag: Theater der Zeit GmbH Winsstraße 72, 10405 Berlin Verlagsleitung: Harald Müller Geschäftsführung: Harald Müller, Paul Tischler Konzept/Redaktion Münchner Kammerspiele: Olivia Ebert, Nele Jahnke, Paulina Wawerla Redaktion TdZ: Nathalie Eckstein Zeichnungen: Dennis Fell-Hernandez Gestaltung: Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Übersetzung Leichte Sprache: Anne Leichtfuß, geprüft durch Natalie Dedreux, Debbie Mertens, Susanne Korschmann und Paul Spitzeck.
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Das Heft Theater der Zeit Spezial All Abled Arts ist eine Publikation in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen. Gefördert im Rahmen von „pik – Programm für inklusive Kunstpraxis“ der Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Titel: Johanna Kappauf als Antigone in „Anti·gone“ an den Münchner Kammerspielen, Foto Judith Buss / Dennis Fell-Hernandez und Ensemble von „In Ordnung“ an den Münchner Kammerspielen, Foto Julian Baumann; Logo Leichte Sprache cmkkommunikation.de © Theater der Zeit, Berlin 2024 Printed in Germany www.tdz.de Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Twitter.com/theaterderzeit Facebook.com/theaterderzeit Theater der Zeit Spezial All Abled Arts Instagram.com/theaterderzeit
Inhalt
Theater der Zeit Spezial 2 Editorial Von Nele Jahnke, Olivia Ebert, Paulina Wawerla
Impulse Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit 3 Das neue Normal? Ein kurzer Blick in die Geschichte inklusiver Theaterarbeit in Deutschland
Einblicke Access 20 Körper in Bewegung Sequenzen aus der Audiodeskription der Produktion „In Ordnung“ von Doris Uhlich Von Carolin Jüngst
Einblicke Anti·gone 22 „Antigone“ in Leichter Sprache Ein Gespräch zu Fragen der Übersetzung
Von Georg Kasch
Einblicke Anti·gone 24 Eine fröhliche Schauspielerin,
Impulse Begriffe 6 Die Frage nach den Wörtern Was Begriffe bedeuten können
Die Schauspielerin der Antigone über die Figur
Von Natalie Dedreux, Leonard Grobien und Luisa Wöllisch
Impulse Großbritannien 8 Rechte, keine Wohltaten Der Stand der inklusiven, performativen Künste in Großbritannien Von Kaite O’Reilly
Einblicke Einblicke Inklusives Stadttheater 10 To try, to fail, to try again Ansätze eines inklusiven Stadttheaters Von Maja Polk und Nele Jahnke
Einblicke Münchner Kammerspiele 12 Inklusion an den Münchner Kammerspielen Dennis Fell-Hernandez und Johanna Kappauf im Gespräch mit Barbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele Einblicke Freie Szene 14 Erotik und Pflanzen Die Schauspielerin und Performancekünstlerin Lucy Wilke über Barrieren und Begegnungen in der Freien Szene und dem Stadttheater im Gespräch mit Paulina Wawerla Einblicke Künstlerische Prozesse 16 Kantine und Eigensinn Über Alexander Kluge und den Zirkus Von Claus Philipp
Einblicke Kooperationen 18 Von Schulterschlüssen und Zirkusküssen Zur Kooperation zwischen der Freien Bühne München / FBM e.V. und den Münchner Kammerspielen Von Jan Meyer
Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
die eine Tragödie spielt
Von Johanna Kappauf
Partnerschaften Partnerschaften Teatr 21 25 Der Körper der Schauspielerin und die Moral
des Publikums
Von Aleksandra Skotarek
Partnerschaften Theater HORA 26 Freddy Krueger und Chucky, die Mörderpuppe Fabian Moraw im Gespräch mit dem Regieteam der Produktion „Horror und andere Sachen“ Partnerschaften Ausbildung 28 Wie kann Inklusion an einer Schauspielschule
gelingen?
Annika Molke und Arthur Becker zu Fragen von Paulina Wawerla Partnerschaften Ausbildung 29 Zukunft ist jetzt: „ArtPlus“ von EUCREA EUCREA berät Kreative mit Behinderung und Ausbildungsinstitutionen auf dem Weg zu mehr Vielfalt Von Claire Diraison
Partnerschaften Förderung 30 „Wie ich mich hier zeige, so möchte ich von
Euch gesehen werden“
Warum fördert die Kulturstiftung des Bundes inklusive Kunstpraxis? Von Steffen Sünkel
32 Fotostory All Abled Arts Festival Impressionen des Festivals für inklusive Theaterformen an den Münchner Kammerspielen vom 11.–14. Januar 2024
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achdem die Freie und die inklusive Szene den Weg bereitet haben, sind in den letzten Jahren auch einige Stadttheater in Deutschland inklusiver geworden. Eines davon sind die Münchner Kammerspiele. Unter der Intendanz von Barbara Mundel und mit der künstlerischen und strukturellen Konzeption von Nele Jahnke sind erstmals nicht nur Schauspielende mit körperlicher Behinderung, sondern auch Schauspielende mit kognitiver Beeinträchtigung fest in einem Stadttheater-Ensemble angestellt. Auch im Bereich Text, Regie und Choreografie werden die Münchner Kammerspiele inklusiver. Die Spezialausgabe von Theater der Zeit geht von diesen konkreten Erfahrungen und den Lernprozessen der vergangenen Spielzeiten seit 2020/21 aus.
Schauspielende, Dramaturg:innen und Regisseur:innen teilen künstlerische und strukturelle Erfahrungswerte. Beobachter:innen und Wegbereiter:innen der inklusiven Szene ergänzen diese mit Reflektion, Einordnung und Impulsen von außen. Der Titel „All Abled Arts“ behauptet einen Wunsch: Kunst von und für Menschen aller Fähigkeiten als Selbstverständlichkeit. Der englische Begriff „Abled“, also „fähig sein“, markiert den in allen Bereichen der Gesellschaft vorhandenen Ableismus, also die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Behinderung. Städte, Theater und Kunsthochschulen in Deutschland sind nicht für alle Menschen gleichermaßen konstruiert und zugänglich. Viele Menschen werden durch diese Strukturen behindert, werden gehindert, ihr künstlerisches Talent auszubilden und auszuüben. Den Institutionen und dem Publikum entgeht dadurch viel Potenzial. Gleichzeitig spiegelt der Titel auch Schwierigkeiten und Konflikte wider, die der Weg zu einem inklusiveren Theater mit sich bringt. Denn in einer ableistischen Welt, sind wir nicht einfach „all abled“ und die Strukturen beginnen sich erst langsam zu öffnen und zu verändern. Welche Begriffe verwendet werden, um über Behinderung zu sprechen, ist immer wieder umstritten und im stetigen Wandel. Auch hierzu versammelt das Heft unterschiedlichste Perspektiven. Die Autor:innen verwenden jeweils ihre eigenen präferierten Selbstbezeichnungen, bzw. die Begriffe aus ihrem Kontext. Die Redaktion hat sich entschieden, diese Vielfalt der Begriffe beizubehalten. Freuen Sie sich auf eine vielstimmige Lektüre mit Texten und Gesprächen von Autor:innen mit und ohne Behinderung in komplexer und Leichter Sprache. Wir danken allen Autor:innen und Gesprächspartner:innen für ihre Offenheit und ihre inspirierenden Beiträge. Wir als Redaktion freuen uns auch auf Austausch mit Ihnen unter dramaturgie.mk@kammerspiele.de Viel Vergnügen mit diesem Heft wünschen Nele Jahnke, Olivia Ebert und Paulina Wawerla
Joseph Gebrael und Erwin Aljukić in „Touch“ von Falk Richter & Anouk van Dijk
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Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
Foto links Sigrid Reinichs, Foto recht Seite Florian Krauss
Editorial
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Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit
„Dschingis Khan“ von Monster Truck und Theater Thikwa. FFT Düsseldorf, 2012.
Das neue Normal? Ein kurzer Blick in die Geschichte inklusiver Theaterarbeit in Deutschland Von Georg Kasch
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lickt man in die einschlägigen Theatergeschichten, bleibt eine Form von Theater sträflich unterbelichtet: das mit Menschen mit Behinderungen. Dabei gäbe es genug zu erzählen. Zum Beispiel davon, wie Menschen mit Behinderungen über Jahrhunderte ihre Spuren im Theater hinterlassen und welche ästhetischen Impulse sie gesetzt haben. Oder davon, wie Menschen mit Behinderungen im Theater, wie wir es heute kennen, sichtbar werden: Stadttheater, Privattheater, Freie Szene. Genau darum soll es hier gehen. Denn das, was wir heute an Stadttheatern wie den Münchner Kammerspielen oder in der Freien Szene als Kooperationen mit Gruppen wie Theater HORA oder Theater Thikwa erleben, nahm schon vor fünfzig Jahren seinen Anfang – in München.
Peter Radtke – Die Anfänge 1978 initiierte Peter Radtke am Theater der Jugend das erste deutsche Behindertenstück „Licht am Ende des Tunnels“, geschrieben und inszeniert vom jungen Schauspieler Michael Blenheim. Zum ersten Mal standen hier Menschen mit Behinderung auf einer subventionierten Bühne. 1981 brachte Radtke im Theater am Sozialamt (TamS) sein Stück „Nachricht vom Grottenolm“ als Soloabend mit sich
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selbst in der Hauptrolle heraus. Ab 1983 initiierte er hier das halbprofessionelle „Crüppel Cabaret“. Der „Grottenolm“ wiederum wurde 1985 Teil von George Taboris Medea-Version „M“ an den Münchner Kammerspielen, wo Radkte auch als Affe Rotpeter in „Bericht an eine Akademie“ von Franz Kafka und in Gaston Salvatores „Stalin“ auftrat. Später spielte er zudem am Wiener Burgtheater. Interessant ist, wie sehr Radtkes Bühnenpräsenz die damalige Kritik erschütterte, wie sie um Deutung ringt, auch wenn alle übrigen Aufführungsparameter dem entsprachen, was man von den Bühnen gewohnt war. „Theater darf viel. Das darf es nicht“, urteilte Kritiker Gerhard Stadelmaier in der Stuttgarter Zeitung über „M“. „Ihm fehlen die nötige Eloquenz, der variationsreiche Tonfall, die Fähigkeit, wie ein Diktator dazustehen“, heißt es in der „Stalin“-Kritik von Hans Göhl im Handelsblatt. „Gezeigt werden sollte wohl ein Symbol der seelischen Verkrüppelung eines Diktators.“ Selbst im Lob wird das Besondere, das Zeichenhafte von Radtkes Körper unterstrichen, wie in Dieter Brandhauers taz-Kritik zu „Die Verwandlung“ in Wien: „Wie der Kopf sind auch seine Hände von ‚normalen‘ Proportionen, also zu groß und somit prädestiniert, markante Zeichen zu setzen. Seine Stimme verwandelt ihn
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Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit dann endgültig in ein Abstraktum. Derart entkommt der phänomenale Schauspieler Peter Radtke der verqueren Dialektik von Abscheu und Mitleid, mit der Behinderte ‚sonderbehandelt‘ werden.“
Erste Gruppen und Strukturen Während Radtkes Wirken zunächst einmal singulär blieb, entwickelte sich das Theater mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung von den Rändern her, parallel zur und als Teil der Freien Szene. 1984 wird in Belgien Theater Stap gegründet, 1986 in Bremen das Kunst- und Kulturprojekt BlaumeierAtelier, 1989 in Hamburg die Band Station 17 (aus der ab 1995 das Theaterensemble Meine Damen und Herren hervorgeht), 1990 in Großbritannien das Tanzensemble CandoCo, 1990 in Berlin das RambaZamba Theater (Ost) und das Theater Thikwa (West), 1993 in Zürich das Theater HORA. Diese Gründungswelle korrespondiert mit jener in der Freien Szene. Um nur wenige Eckpunkte zu nennen: 1980 eröffnet in Zürich das Kulturzentrum Rote Fabrik, 1982 Kampnagel in Hamburg; 1992/93 zeigen die Kollektive Gob Squad und She She Pop ihre ersten Arbeiten. Die um 1990 gegründeten Gruppen eint, dass sie – anders als die sich aus der Antipsychiatriebewegung kommenden Gruppen der 1970er – keinen vordergründigen Aktivismus machen wollten und keine Sozialpädagogik, sondern Kunst. Schnell erhielten sie die Beachtung des Publikums und einiger Fachkreise, wenn auch nicht unbedingt der Theaterkritik. Zudem waren ihre Strukturen prekär; ein Großteil der Arbeit vor und hinter der
Bühne blieb unbezahlt, als nicht vergütete Überstunden oder als Ehrenamt. Die finanzielle Lage sah man einigen der Produktionen jener Jahre an: Energie und Eigenheit der Darsteller:innen triumphierten über Ausstattung und Technik. Auf der Suche danach, wie die Kunstproduktion professionalisiert und vergütet werden kann, fand das Theater Thikwa 1995 in Zusammenarbeit mit der Nordberliner Werkgemeinschaft das Modell Künstler:innenarbeitsplatz. So wurden die Gruppen nach und nach Teil der gesetzlich geregelten Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Das brachte nicht nur die offizielle Anerkennung der Schauspieler:innen als Künstler:innen mit sich, sondern auch die Bezahlung ihrer Arbeit – bis heute mit äußerst niedrigem Stundenlohn, weshalb das Werkstattsystem zunehmend in die Kritik gerät. Dennoch verhalf es den Gruppen zu einem dringend benötigten Professionalisierungsschub, zu Stabilität, Planungssicherheit und Produktionsetats. Erst diese Art der Finanzierung – zu der jeweils Drittmittel eingeworben werden können und müssen – ermöglichte die kontinuierliche Zusammenarbeit mit führenden Protagonist:innen der Freien Szene. In diese Zeit fällt auch die Gründung von Grenzenlos Kultur in Mainz 1997, das erste Festival, das sowohl herausragende Produktionen von und mit Künstler:innen mit Behinderungen zeigte als auch der Freien Szene. Weitere, ähnlich gelagerte Festivals folgten: No Limits in Berlin, Grenzgänger in München, OKKUPATION in Zürich, Mittenmang in Bremen, includo in Kiel. Sie waren und sind als Resonanzverstärker wichtig, aber auch als Begegnungsraum von Künstler:innen mit und ohne Behinderung. Aus etlichen dieser Zusammentreffen entstanden prägende Kollaborationen, darunter „Disabled Theater“ von Jérôme Bel und Theater HORA 2012. Der überwältigende Erfolg dieser Produktion setzte zum ersten Mal dringend notwendige Diskussionen weit über die Grenzen des so genannt inklusiven Theaters, aber auch die theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theater mit Menschen mit Behinderung in Gang.
Wege ans Stadttheater Während sich das Stadttheater allmählich Formen und Protagonist:innen der Freien Szene öffnete, blieben Schauspieler:innen mit Behinderungen auf seinen Bühnen lange die Ausnahme. Einzelbeispiele gab
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es immer, etwa Mario Garzaner, Achim von Paczensky und Kerstin Grassmann, allesamt aus dem Künstler:innenkreis um Christoph Schlingensief; in seiner „Bambiland“-Inszenierung 2003 standen Garzaner und Grassmann zum Beispiel auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Im mahlenden, überbordenden Chaos seiner Inszenierungen fielen sie nicht als „anders“ auf. In den frühen 2010er Jahren war Jana Zöll an mehreren Produktionen des Centraltheaters Leipzig beteiligt, etwa in Sebastian Hartmanns „Krieg und Frieden“: Wenn Zöll erst als Kind, dann als Napoleon winzig und ohne Rollstuhl gegen die sich bewegenden Riesenplatten auf der Bühne anbrüllt, dann ist die Wirkung stark. Es zeigt zudem ein Merkmal der Arbeit mit Schauspieler:innen mit Körperbehinderung, das mit Peter Radtke begann und sich bis heute durchzieht. Die Besonderheit der Körper wird als interpretierbares Merkmal inszeniert. Was einerseits zu nicht uninteressanten Ergebnissen führen kann, andererseits aber die Spielenden sehr auf ihre Körperlichkeit reduzieren – und ihre Besetzbarkeit. Es wundert nicht, dass in Leipzig über eine Festanstellung Zölls diskutiert, aber seitens des Theaters verworfen wurde. Umso wichtiger war der Schritt, den Jonas Zipf 2014 ging, als er mit Zöll und Samuel Koch zwei körperbehinderte Schauspieler fest ins Schauspielensemble des Staatstheaters Darmstadt holte. Hier entstanden Inszenierungen wie Juliane Kanns „Prinz von Homburg“ mit Koch oder „Mio mein Mio“ mit Zöll. Auch hier merkt man vielen Abenden an, dass die Regisseur:innen nach Möglichkeiten suchten, die von ihnen als bereits geprägt wahrgenommenen Körper zu interpretieren, sie in einen neuen Sinnzusammenhang zu überführen. Im Fall des Kleist-Abends sah das etwa so aus: Anfangs sitzt Kochs Homburg auf seinem Pferd, landet dann am Tiefpunkt (im Gefängnis) hilflos auf dem Boden, um in dem Moment, in dem er seine Schuld und sein Schicksal akzeptiert, im Rollstuhl seine Autonomie zurückzugewinnen. Das ist alles nachvollziehbar und sieht gut aus. Man könnte hingegen – und dahin geht gerade die Entwicklung – die körperlichen Besonderheiten auch als einen Akzent wahrnehmen, der zur Persönlichkeit der Spielenden gehört und (ablauf-)technische Konsequenzen hat, mit der Rollengestaltung aber nichts zu tun haben muss. Darmstadt war ein Anfang, eine Anregung zur Nachahmung. Zum Beispiel für Mannheim, wo Samuel Koch für ei-
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Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit nige Jahre Ensemblemitglied war. Oder für Wuppertal, das ein inklusives Studio eingerichtet hat, dessen fünf Elev:innen auch im regulären Repertoire eingesetzt werden. Eine Reaktion auch auf bis heute fehlende Ausbildungsmöglichkeiten. Wenige Ausnahmen gibt es, die die Regel bestätigen: Samuel Koch, Alrun Hofert (jetzt in Hannover), Yulia Yanez Schmidt (die das Wuppertaler Studio absolvierte und nun am Jungen Schauspielhaus Düsseldorf arbeitet). Der wichtigste Schritt war, dass die Münchner Kammerspiele, eine der profiliertesten deutschsprachigen Bühnen, seit der Intendanz Barbara Mundel 2020 als erstes deutschsprachiges Stadt- und Staatstheater ein inklusives Ensemble besitzen, in dem es sowohl mehrere Schauspieler:innen mit kognitiven als auch mit Körperbehinderungen gibt. Zwischen Produktionen auf der großen Bühne wie Jan-Christoph Gockels „Wer immer hofft, stirbt singend“ mit einem mixed-abled Cast und einer Ästhetik irgendwo zwischen Zirkus und Frank Castorf und einer völlig neuen, von Leichter Sprache geprägten Ästhetik in Nele Jahnkes „Anti•gone“-Inszenierung gibt es gerade kein Haus, an dem die Möglichkeiten und Herausforderungen inklusiven Arbeitens intensiver ausprobiert würden. Es gibt aber auch andere Modelle. Das Deutsche Theater Berlin kooperiert für ausgewählte Produktionen seit Jahren mit dem RambaZamba Theater, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg mit Meine Damen und Herren, das Schauspielhaus Zürich mit Theater HORA, in Bremen das Tanztheater und das Junge Schauspiel mit tanzbar. Das Schauspiel Leipzig wiederum ist zu einem Leuchtturm für Audiodeskription geworden und will sich jetzt dafür engagieren, in ausgewählte Inszenierungen Deutsche Gebärdensprache zu integrieren. Während das Stadttheater eigene Wege ging, dabei aber sehr von den Arbeiten der Gruppen wie HORA, RambaZamba oder der Freien Bühne München profitierten, verstärkten diese ihre Zusammenarbeit mit namhaften Künstler:innen und Gruppen der Freien Szene oder der Stadt- und Staatstheater. Das erhöhte nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit, namentlich die der Theaterkritik, sondern auch die der künstlerischen Erträge. Ein markantes Beispiel: „Dschingis Khan“ 2012 von Monster Truck und Theater Thikwa. Während zunächst die Performer:innen von Monster Truck in förmlichen Kostümen die Thikwa-Performer:innen mit Trisomie
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21 als Mongolen vorführen und ausstellen, übernehmen sie später selbst die Herrschaft über die Bühne, beschimpfen und bewerfen das Publikum. Dürfen sie das? Und darf man das als Publikum unmöglich finden? Der Abend verstörte, provozierte, rührte an das alte Missverständnis, Theater mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sei eine nette Angelegenheit. In ähnlichen Konstellationen entstanden viele der spannendsten inklusiven Arbeiten der letzten zwanzig Jahre: Rimini Protokolls/Helgard Haugs „Qualitätskontrolle“ (mit Daniel Wetzel), „Chinchilla Arschloch, waswas“ und „Der kaukasische Kreidekreis“ (mit Theater HORA), Das Helmi mit vielen HORA- und Thikwa-Koproduktionen, hannsjana mit Thikwa („Diane for a day“, „Merkel“, „Bauchgefühl“), „Eins zu Eins“ von Meine Damen und Herren. Viele dieser Produktionen zeichnet aus, dass sie ihren Protagonist:innen zunehmend Freiräume und Mitspracherecht einräumen. Ein Beispiel aus „Chinchilla Arschloch“: Jede:r Performer:in durfte eine Bedingung äußern, unter der er oder sie an der Produktion mitmacht. Deren Umsetzung definiert später Erzählung, Struktur und Ästhetik des Abends.
Kreative Selbstbestimmung Prägend bei der Frage, was passiert, wenn Künstler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung Leitungskompetenzen übertragen werden, war die Freie Republik HORA. Das von Marcel Bugiel, Nele Jahnke und Michael Elber entwickelte Langzeitprojekt ermöglichte zwischen 2013 und 2019 den HORA-Ensemblemitgliedern, sich (auch) in Regie und Storytelling zu erproben. Nirgendwo sonst wurden derart systematisch die Bedingungen und Möglichkeiten ausgelotet, unter denen Künstler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung kreativ arbeiten können. Nirgendwo sonst wurden Räume geschaffen, die die Machtachsen aus dem Norm-Theater – nichtbehinderte Künstler:innen sagen Künstler:innen mit Behinderungen, was sie zu tun haben – verschoben oder gar auflösten. Nirgendwo sonst war das Scheitern so sehr Teil des Konzepts. Auch beim Theater Thikwa gab und gibt es verstärkt Bemühungen, Schauspieler:innen in kreative Entscheidungspositionen zu bringen, etwa im Format „Zusammenarbeit“ 2013, in dem drei Thikwa-Schauspieler:innen drei Performer:innen der Freien Szene begegneten.
Ensemble-Mitglied Rachel Rosen schrieb zudem das Stück „Das Spiel“, das Alexander Riemenschneider 2022 am Berliner Theater an der Parkaue inszenierte. Dennis Seidel, Schauspieler bei Meine Damen und Herren, realisierte seit 2015 drei Abende, die er selbst schrieb und inszenierte. In der Produktion „Eins zu Eins“ (2017) trafen sich ebenfalls Schauspieler:innen des Ensembles mit drei freien Performer:innen zu intimen Pas-de-deux aus Bewegungen und Worten. Überdies transformiert sich die Gruppe gerade zum Kollektiv – immer öfter übernehmen die Performer:innen Verantwortung auch in allen anderen Bereichen des Theaterbetriebs. Performer:innen mit Körperbehinderung haben sich diese künstlerische Selbstbestimmung teils wesentlich früher erkämpft. Herausragende Beispiele sind „The Way You Look At Me (Tonight)“ von Claire Cunningham und Jess Curtis und die sehr eigenen Abende von Michael Turinsky. Aber auch genresprengende Produktionen wie „Scores That Shaped Our Friendship“ von und mit Lucy Wilke, Paweł Duduś und Kim Twiddle. Einen Sonderfall markiert Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent“ an der Berliner Volksbühne – eine Arbeit aus dem Geist der Freien Szene, die virtuos die technischen Möglichkeiten der großen Bühne nutzt. Ein rein weibliches, durch und durch diverses Team, das zwar von Holzinger geleitet wird, aber deutlich eigene Akzente setzt. Eine Ästhetik, die mit den Erzählstrategien der Freak Shows spielt und sie sich bewusst neu aneignet. Die Nacktheit feiert auch im Fall von nichtnormativen Körpern. Und die Inklusion lebt, ohne die Arbeit so zu labeln. Ist das das neue Normal? Schön wär’s. T
Georg Kasch arbeitet – nach einem Studium der Neueren deutschen Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München sowie einem Volontariat in Nürnberg – seit 2010 als Redakteur bei nachtkritik. de. Daneben schreibt er für Tageszeitungen und Magazine, lehrt an Hochschulen in Berlin und München und leitet kulturjournalistische Nachwuchsprojekte. Er war Mitglied mehrerer Jurys und forscht zu inklusivem Theater und zu Theater und Gesellschaft der 1910er und 1920er Jahre.
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Impulse Begriffe
Die Frage nach den Wörtern Was Begriffe bedeuten können Von Natalie Dedreux, Leonard Grobien und Luisa Wöllisch
ie Aktivistin Natalie Dedreux, der Drehbuchautor Leonard Grobien und die Schauspielerin Luisa Wöllisch haben kurze Texte zu den Begriffen Behinderung, Beeinträchtigung, Barrierefreiheit, Crip und Inklusion geschrieben.
„Behinderung“ – Natalie Dedreux Ich fühle mich nicht behindert, sondern ich würde eher sagen, dass ich das DownSyndrom habe, was normal ist. Aber meistens merkt das die Gesellschaft nicht. Die sprechen über uns und wir dürfen dann nicht mitreden. Und wir werden dann vergessen. Das macht mich wütend. Ich finde das Wort „Behinderung“ und das Wort „Down-Syndrom“ gut. Weil ich das gut finde und weil mir das nichts ausmacht. Für mich heißt das: Man muss keine Angst haben vor Menschen mit einer Behinderung. Die Gesellschaft muss keine Angst vor Menschen mit Behinderung haben. Sondern sie muss uns sehen. Und sie muss uns zuhören und nicht über uns reden, sondern mit uns reden, weil wir haben auch etwas zu sagen. Es ist normal und nicht schlimm. Man muss vor uns Menschen mit Behinderung keine Angst haben. Weil wir in unserer Gesellschaft auch mit dazu gehören. Man muss uns auch richtig ernst nehmen. Was ich gar nicht mag: das Wort „Downie“! Das ist ein bisschen kindlich. Wir Menschen mit Behinderung werden oft wie kleine Kinder behandelt. Aber ei-
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gentlich sind erwachsene Menschen mit Down-Syndrom erwachsene Menschen. Und das mag ich dann nicht, wenn jemand Downie sagt. „Behinderung“ – Leonard Grobien Ich kann mich mit diesem Wort identifizieren. Vielleicht weil ich es gelernt habe, vielleicht weil andere mich so genannt haben. Vielleicht hat mir das Wort dabei geholfen, zu verstehen, was an mir nicht zu leugnen anders ist als an den anderen. Ohne von Können oder Nichtkönnen, von gut oder schlecht zu sprechen. Ich habe wohl gelernt, du kannst etwas nicht, was die meisten aber können. Also bist du behindert. Ob das so sein muss, oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber ich bin auch heute noch ein Mensch mit Behinderung. So kann ich mich nennen. Behinderung ist für mich aber auch ein kollektiver Begriff, unter welchem sich Menschen, die sich auch damit identifizieren können, ermächtigend versammelt haben, um sich den Platz und Glanz zu erobern, der ihnen verwehrt war. Für mich persönlich mache ich diese Gruppen ungern auf und will mich vor allem nicht durch sie von anderen separieren, sondern umarmend zu einem allgemeineren, kollektiven Aktivismus einladen. Anders ist es da mit dem Wort „Beeinträchtigung“. Wenn jemand bei der Klausur keine Tinte mehr hat, tritt beim Schreiben für die Person eine Beeinträchtigung ein. Durch eine eingestürzte Brücke werde ich auf meinem Weg beeinträchtigt, durch nicht-inklusive Architektur, werde ich in meinem Leben durch die Außenwelt behindert. Eine Beeinträchtigung ist kein Identitätsmerkmal. Du machst es nicht zum Teil deiner Person. Es ist temporär und meist vergänglich. Behinderungen sind das häufig nicht und werden meistens nicht wieder verschwinden. Meine Behinderung verändert sich dadurch nicht. Beeinträchtigung kommt aus meiner Sicht als behelfsmäßiges Synonym für Behinderung aus der Zeit, in der „behindert“ oft als Beleidigung oder negative umgangssprachliche Beschreibung
verwendet wurde, um jemanden zu verletzen. Es kann das Wort „Behinderung“ aber nicht ersetzen. Selbstermächtigung bedeutet auch, sich seine Worte und die Worte, mit denen über einen gesprochen wird, auszusuchen.
„Beeinträchtigung“ – Luisa Wöllisch Wenn man das Wort „Behinderung“ nimmt, fühlt man sich gleich so, als wenn man in bestimmte Schubladen gesteckt wird. Es wird schon im Voraus gesagt, dass derjenige eine an der Waffel hat. Beeinträchtigung ist besser, weil ja jeder irgendeine Beeinträchtigung hat und das nicht so stigmatisiert. „Inklusion“ – Natalie Dedreux Inklusion bedeutet für mich: Alle Menschen dürfen mitmachen. Auch Menschen mit Behinderung. Das bedeutet auch: Es geht um Teilhabe und um Gerechtigkeit. Mitmachen, mitbestimmen und mit dazu gehören! Was an der Inklusion auch wichtig ist: dass wir Menschen mit Behinderung und auch Menschen ohne Behinderung miteinander und voneinander lernen. Weil das ist ein Zeichen und das heißt: Es geht, es ist machbar. Die Diversität funktioniert gut. Der wichtige Begriff „Inklusion“ löst schon bei mir was aus. Weil oft wird nicht richtige Inklusion in ganz Deutschland gemacht. Wir Menschen mit Behinderung werden oft vergessen. Und das Ding ist auch: Oft dürfen
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Fotos links privat, rechts Sigrid Reinichs, Foto rechte Seite Leonard Grobien
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Impulse Begriffe wir Menschen mit Behinderung nicht mitreden, sondern es wird über uns geredet. Wo noch und in ganz Deutschland die Inklusion gemacht werden muss, ist bei der Arbeit und in der Schule. Damit wir Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung auch zusammen lernen und auch mehr miteinander und voneinander lernen. Und deswegen ist die Diversität wichtig und dass es auch funktioniert. Meine Haltung zu dem Thema Inklusion ist, dass wir Menschen mit Behinderung auch mehr gesehen werden und auch mehr zu Wort kommen. Denn wir Menschen mit Behinderung sind wichtig. Wir sind auch ein Teil unserer Gesellschaft. Und die Inklusion heißt dann, dass nicht über uns Menschen mit Behinderung geredet wird. Sondern es heißt, dass mehr mit uns Menschen mit Behinderung geredet wird. Und deswegen ist es auch wichtig, dass wir Menschen mit Behinderung uns mehr sichtbar in der Gesellschaft machen. Wir müssen mehr richtig ernst genommen werden. Wir haben auch eine Meinung. Wir haben auch etwas zu sagen.
„Inklusion“ – Leonard Grobien Eine ehemalige Mitschülerin hat Integration mal als Spiegelei und Inklusion als das Rührei erklärt. Gelebte Inklusion würde bedeuten, wir haben die Stufen und die – vor allem kognitiven – Grenzen, die wir einmal gebaut haben, vergessen, weil es sie schon so lange nicht mehr gibt. Dass wir nicht mehr wissen, weshalb wir mal ausgeschlossen und nicht zu uns gezählt haben. Dass wir den Unterschied als Diskriminierungsmerkmal nicht mehr kennen, die Gemeinsamkeiten vor allem zählen und wir selbstverständlich wieder mit einbeziehen, mit teilnehmen lassen. „Du bist wie ich ein Mensch, deshalb gehören wir zusammen.“ Heute bedeutet Inklusion noch eine aktive Haltung, oder sogar einen
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Vorgang des ganz bewussten Miteinbeziehens. Des aktiven mit dazu Einladens. Es bedeutet Aktivismus. Auch mit Gegenwehr. Weil es eben noch nicht selbstverständlich ist und die alte Gewohnheit noch herrscht, ist Inklusion ein bewusstes Handeln. Heute muss es noch gefördert und besonders geschützt werden, um überall den Weg in die absolute Selbstverständlichkeit zu finden. Damit wir Vielfalt lernen können, müssen wir uns noch daran erinnern. Um es bald verinnerlicht zu haben und bald vergessen zu haben, weshalb wir einmal diskriminierten. „Barrierefreiheit“ – Natalie Dedreux Ich finde, dass es für alle Menschen Barrierefreiheit geben muss. Das braucht man für die Inklusion. Für Rollstuhlfahrer muss es Aufzüge geben. Für blinde Menschen muss es eine Bildbeschreibung geben, zum Beispiel auf Instagram. Was auch ganz wichtig ist: Die Leichte Sprache. Wenn es zum Beispiel bei Veranstaltungen keine Leichte Sprache gibt, wenn dann die Leute komplizierte Wörter anwenden und auch zu schnell reden, dann wird es schwierig für mich, das zu verstehen. Und genau deswegen brauchen wir die Übersetzer, die uns das dann in Leichte Sprache übersetzen. Wenn es keine Übersetzung gibt, damit fühlen wir Menschen mit Behinderung uns nicht gut und auch ausgegrenzt. Und auch wenn wir uns informieren, wie zum Beispiel in den Nachrichten, dann ist das schwer zu verstehen. Dadurch kommen wir oft nicht mit. Aber wir interessieren uns auch für Politik. Deswegen muss es auch mehr Nachrichten in Leichter Sprache geben. Und wir interessieren uns auch für Theater, da muss es auch mehr Übersetzungen geben. Dass uns dann auch erklärt wird, worum es geht, und dafür wird das in Leichte Sprache gedolmetscht. Und wo die Leichte Sprache für mich auch wichtig ist, ist bei der Deutschen Bahn. Die Informationen und bei den Ansagen muss mehr in Leichter Sprache gesprochen werden. Damit wir das auch verstehen. „Crip“ – Leonard Grobien Nicht zu verwechseln ist dieses Wort mit der deutschen Form „Krü****“, welches ich hier aufgrund meiner enormen Abneigung bewusst zensiere. Dieser Bezeichnung sollte keine weitere Bühne geboten werden, und atmosphärisch erinnert es mich stark an diese Zeit, in der jede Behinderung noch versucht wurde, aus einem
gewissen Genpool zu verbannen. Eine abscheuliche Beleidigung, die nichts mit Empowerment zu tun haben kann. Mit „Crip“ erwischt mich die Welle einer englischen/amerikanischen Sprachkultur und Sozialkultur, die sich dieses Wort jüngst zurückerobert hat. Um damit als Speerspitze gegen Vorurteile und Verallgemeinerung vorzugehen. Das funktioniert auch nur, weil das Wort ebenso im Englischen als verpönt und eindeutig diskriminierend gegolten hat. Jetzt holen die Menschen mit Behinderung es sich auch als Gruppe wieder zurück. Es dient schon jetzt und hoffentlich noch stärker in naher Zukunft als ein Hammer gegen Stereotypen und Berührungsängste. Crips werden laut, sind präsent, sind fancy, bunt, schlau, kreativ, wild und vor allem frei. In meinen Augen kann „Crip“ als Vokabel den Anfang dafür ebnen, dass Menschen ihre Berührungsängste verlieren. „Crip“ kann für selbstverständliches Stattfinden von Behinderung in jedem Lebensaspekt stehen. T
Natalie Dedreux ist Aktivistin, Autorin und Bloggerin und kämpft für die Menschenrechte von Menschen mit Down-Syndrom. Mit ihrem Aktivismus möchte sie mehr Sichtbarkeit schaffen. In ihrem Auftritt in der „ARD-Wahlarena“ stellte sie Angela Merkel eine persönliche Frage: Wieso kann man Babys mit Down-Syndrom bis kurz vor der Geburt noch abtreiben? Natalie Dedreux schreibt und veröffentlicht eigene Texte auf Instagram und hat kürzlich ein Buch herausgebracht. Leonard Grobien ist Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler. 2023 beendete er sein Drehbuchstudium an der Internationalen Filmschule Köln (ifs), in dem er vier Kurzfilme schrieb und inszenierte. Nach weiteren Filmen als Regisseur und Autor folgte ein Gastengagement in der Inszenierung „Die vielen Stimmen meines Bruders“ von Magdalena Schrefel am Schauspielhaus Wiens. Luisa Wöllisch, 1996 in Starnberg geboren und begann 2014 mit der Schauspielausbildung an der Freien Bühne München. 2016 spielte sie in ihrem ersten Kinofilm „Die Grießnockerlaffäre“, auf den 2018 ihre erste Kino-Hauptrolle in „Die Goldfische“ folgt. Außerdem war sie im Jahr 2019 in den Fernsehserien „Um Himmels Willen“ und „Frühling“ mit Simone Thomalla zu sehen. Seit 2020 ist sie Schauspielerin an den Münchner Kammerspielen.
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Impulse Großbritannien
Der Stand der inklusiven, performativen Künste in Großbritannien Von Kaite O’Reilly
„In Water I’m Weightless“ von Kaite O’Reilly in der Regie von John McGrath am National Theatre Wales 2012
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n den Anfang stelle ich einfach mal eine Behauptung: Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland ist Diskriminierung in unseren Einrichtungen, gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Vereinen zutiefst verwurzelt. Behindertenfeindlichkeit ist systembedingt, und obwohl ich das allgemeine Interesse an inklusiver Arbeit gut finde, müssen wir doch mehr ändern, als nur die Zusammensetzung unserer Theaterkompanien, um wirklich etwas umzugestalten. Von 2012 bis 2018 war ich Stipendiatin des internationalen Forschungszentrums Interweaving Performance Cultures an der Freien Universität Berlin. In dieser Zeit reflektierte ich über meine interkulturelle Arbeit als Dramatikerin und Dramaturgin, die sich zwischen „Disability Culture“ und den sogenannten „Mainstream-Kulturen“ bewegte. Während dieser ausgedehnten Besuche in Berlin begann ich, wesentliche historische, politische und kulturelle Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland bezüglich der Grundhaltung und Herangehensweise an Kunst von Menschen mit Behinderung und In-
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klusivität zu bemerken. Ich war erschüttert über die Unzugänglichkeit der deutschen Infrastruktur und des Verkehrsnetzes, das Fehlen von Menschen mit Behinderung im öffentlichen Raum und den Mangel eines jeglichen sinnträchtigen kulturellen Angebots unter Leitung von Personen mit Behinderung. Großbritannien und die USA unterscheiden sich vom restlichen Europa und eigentlich vom Rest der Welt dadurch, dass unsere kulturellen Ausdrucksformen – Dis ablity Arts und Gehörlosenkunst – aus der Bürgerrechtsbewegung heraus entstanden sind: Rechte, keine Wohltaten. In den 1990er Jahren gehörte ich zum Umfeld der politischen Bewegung von Menschen mit Behinderung und des Direct Action Networks, einer organisierten Bewegung von Menschen mit Behinderung, die gegen Ausgrenzung kämpfte und grundlegende Veränderungen forderte, um unsere Teilhabe zu ermöglichen. Wir begriffen früh, dass wir eine gesetzliche Grundlage zum Schutz unserer Bürgerrechte brauchten, um öffentliche Verkehrsmittel und Gebäude genauso nutzen zu können und Zugang
zu den gleichen Bildungs- und Berufs chancen zu haben wie unsere nicht-behinderten Zeitgenossen. Die Welt folgt zum großen Teil dem medizinischen Modell der Individualisierung von Behinderung, wonach der „Fehler“ beim Körper liegt, Menschen mit Behinderung also einer Medikalisierung und Normalisierung unterzogen werden müssen, einer „Heilung“. Im direkten Gegensatz dazu gibt es das gesellschaftliche Modell, das von Menschen mit Behinderung aufgestellt wurde, wonach Behinderung, genauso wie soziales Geschlecht (Gender), ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Der „Fehler“ liegt demnach bei der Gesellschaft und ihren behindertenfeindlichen Strukturen und Einstellungen. Ich bin also keine person with disability, PWD (Mensch mit Behinderung), sondern eine Frau mit Beeinträchtigungen, die von den materiellen und einstellungsbedingten Barrieren, welche mich ausschließen, behindert wird. Aufgrund dieser politisierten Perspektive vermeide ich wohlmeinende Begriffe wie ‚differently abled‘, ,PWD‘ or ,mixed ability‘ (anders begabt, ‚Mensch mit Behinderung‘ oder ‚gemischtes Leistungsprofil‘), weil wir ausgeschlossen und diskriminiert werden, wir aber nicht minderwertig, unbedeutender oder „besonders“ sind.
Veränderung durch Protest Der vier Jahrzehnte überspannende Aktivismus in Großbritannien hat viele Fortschritte und politischen Rechte erkämpft (auch wenn viele von ihnen jetzt von den Sparmaßnahmen und der feindseligen Einstellung der derzeitigen konservativen Regierung untergraben werden). Das Gleichstellungsgesetz (2010) und das Gesetz gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung (1995 und 2005) haben sich nicht nur auf die Rechte auf Miteinbeziehung einzelner Menschen mit Behinderung ausgewirkt, sie verpflichteten auch öffentliche Bildungs- und kulturelle Einrichtungen dazu, „zumutbare bauliche Veränderungen“ vorzunehmen, um denen, die vorher ausgeschlossen wurden, den Zugang zu ermöglichen. Förderinstitutionen verlangten von Kunstund Kultureinrichtungen die Teilnahme an Schulungen zur Gleichstellung von Behinderten, um unbewussten Vorurteilen entgegenzuwirken und ein zugänglicheres und einladenderes Umfeld für behinderte, gehörlose und neurodivergente Kunst-
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Foto Farrows Creative
Rechte, keine Wohltaten
Impulse Großbritannien schaffende und Rezipient:innen herzustellen. Inzwischen schlagen auch Gewerkschaften wie Bectu (Gewerkschaft für Rundfunk, Unterhaltung, Kino und Theater) bewährte Methoden zur Integrationsarbeit vor, in denen sie der strategischen Gleichstellungspolitik des Arts Council of Wales (der walisischen Kulturverwaltung) folgen. Es war wichtig, die Einrichtungen in die Verantwortung zu nehmen. Ich hatte 2021 das Privileg, an der Vorlegung eines Manifests von Disability Arts Cymru (ein Verband behinderter Künstler in Wales) gegenüber der walisischen Regierung beteiligt gewesen zu sein. „Bring Us Our Creative Rights“ („Bringt uns unsere kreativen Rechte“) forderte kulturelle und internationale Rechte für Menschen mit Behinderungen ein, gemäß den Empfehlungen aus Artikel 30 und 32 des UNÜbereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, und beinhaltete Vorschläge dazu, wie man gerechtere Verfahrensweisen einführen und ein:e gute:r Verbündete:r sein kann. Wenn Regierungen solche Forderungen umsetzen, hat das massive Auswirkungen auf das kulturelle Leben eines Landes und stellt so kreative Rechte und soziale Gerechtigkeit ins Zentrum der Kunst in Wales.
Disability Arts als Avantgarde Großbritannien ist Deutschland um mindestens zwei Generationen voraus, was künstlerisches Arbeiten unter Leitung von Gehörlosen und Menschen mit Behinderungen angeht. Aufgrund unserer besonderen Geschichte gibt es bei uns reife, politisierte Künstler:innen, künstlerische Leiter:innen und kulturelle Führungs persönlichkeiten, die bemerkenswerte Arbeiten erstellen, was den Künstler Yinka Shonibare dazu veranlasste, Disability Arts als die letzte Avantgarde zu bezeichnen. Meine alte Truppe, Graeae, möglicherweise Europas führende Theaterkompanie für körperlich und sensorisch beeinträchtigte Künstler:innen, wurde 1980 gegründet, das Extant Theatre für visuell beeinträchtigte Künstler:innen im Jahr 1997, das Deafinitely Theatre der gehörlosen Regisseurin Paula Garfield im Jahr 2002 ins Leben gerufen. Diese bahnbrechenden, kommerziell erfolgreichen Theatergruppen haben zur Entwicklung dieser Kunstform beigetragen, indem sie über viele Jahre hinweg kreative Zugangsmöglichkeiten (access) ausprobiert und neue Künstler:innen geprägt haben. Dies sind nur einige
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wenige Beispiele aus einem reichhaltigen Feld, aber dennoch wichtig hervorzuheben wegen ihrer formellen Experimentierfreude, die in den Communities von Gehörlosen und Menschen mit Behinderungen verankert ist. Obwohl in Deutschland und in ganz Europa inzwischen mehr inklusive künstlerische Arbeit geleistet wird, geschieht dies jedoch immer noch fast ausschließlich unter Leitung von nicht-behinderten Menschen, und oft fehlt dort die Reichhaltigkeit, die unterschiedliche Perspektiven und Lebens- und Arbeitsweisen mit sich bringen. Viele Menschen gehen davon aus, dass eine Inszenierung dadurch inklusiv wird, dass man sie mit behinderten oder gehörlosen Schauspieler:innen besetzt. Diese Künstler:innen in einem unveränderten Arbeitsumfeld willkommen zu heißen ist zwar integrativ, aber nicht inklusiv. Um wirklich inklusiv zu sein, müssen Unterschiede erwartet und respektiert werden, es muss eine flexible Umgebung und ein anpassbarer Arbeitsprozess angeboten werden, damit es allen ermöglicht wird, ihre bestmögliche Arbeit zu leisten. Inte grativ bedeutet, alle willkommen zu heißen – inklusiv heißt, dass man dazu auch die Möbel verrücken kann. Das Schaffen von Räumen für behinderte und gehörlose Kulturschaffende auf der Leitungsebene und die Unterstützung der Entwicklung von Künstler:innen wurde in Großbritannien mithilfe des Auftragsvergabeprogramms „Unlimited“ vorangetrieben, dessen Aufgabe es ist, Disability Arts fest im Kultursektor zu verankern. Meinen ersten Arbeitsauftrag für dieses Programm erhielt ich im Rahmen der Kulturolympiade, die zusammen mit den Olympischen und Paralympischen Spielen im Jahr 2012 in London begangen wurde. Mein Performance-Text „In Water I’m Weightless“ war eine Gemeinschaftsproduktion zwischen dem National Theatre Wales und dem Southbank Centre, bei der ein ausschließlich gehörloses bzw. behindertes Ensemble „crip culture“ auf einem landesweiten Forum präsentierte und damit einen bedeutenden politischen und kulturellen Präzedenzfall schuf.
keit) bindet sogenannte ZugänglichkeitsHilfsmittel wie Audiodeskription, Übertitel und visuelle bzw. Gebärdensprachverdolmetschung kreativ ein und stellt sie in den Mittelpunkt des Theatererlebnisses, statt sie nur als „Zusatz“ zu verwenden. In der inklusiven Kunst erkennt Alice Fox’ ,aesthetic of exchange‘ (Ästhetik des Austauschs) den wertvollen Beitrag an, den lernbehinderte Kunstschaffende für den Sektor leisten und dessen Praktiken sie durch das Konzept des ,erweiterten Zuhörens‘ mitgestalten. Ein grundlegenderer Wandel vollzieht sich in der Mitte der Gesellschaft in Großbritannien mit dem Projekt „Ramps on the Moon“ und in Wales mit „Ramps Cymru“, das mit inklusiver Besetzung, Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und kreativer Zugänglichkeit das mittlere bis größere Tourneetheater umgestaltet und Barrieren zur gesellschaftlichen Teilhabe abbaut. Als Kollektiv unterstützt Ramps einen Zusammenschluss von Theaterkompanien, die sich gemeinsam dafür engagieren, ihre Strukturen, Arbeitsprozesse und -methoden zu verändern, inklusive der Art und Weise, wie sie Arbeiten besetzen, produzieren und präsentieren, mit behinderten und gehörlosen Künstler:innen als integralem Bestandteil. Sie bieten Beratung, Sachverstand und Hilfsmittel an, sowie „agents for change“ („Betreiber des Wandels“) – Menschen mit Behinderung, die bei einer organisatorischen Umstrukturierung Unterstützung leisten. Es gibt vieles, worüber man sich freuen kann und was Mut macht in Bezug auf sich entwickelnde bessere Arbeitspraktiken in ganz Europa – es ist eine gute Zeit für die Produktion von Darstellender Kunst – aber wir müssen dennoch wachsame, strenge, großzügige Überbringer:innen des Wandels sein, um ein Theater der Zukunft zu erschaffen, das unser aller würdig ist. T
Aesthetics of Access
Kaite O’Reilly ist eine mehrfach preisgekrönte Dramatikerin und Dramaturgin und schreibt für Radio, Film und Bühne. Ihre Werke „Atypical Plays for Atypical Actors“ und „The ‘d’ Monologues“ sind bei Oberon/Bloomsbury erschienen. Ihr Spielfilmdebüt „The Almond and the Seahorse“ mit Rebel Wilson und Charlotte Gainsbourg in den Hauptrollen wird 2024 veröffentlicht.
Viele der Künstler:innen, die in den letzten vierzig Jahren im Bereich der Disability Arts und der Gehörlosenkultur in Großbritannien groß geworden sind, sind mit ihren innovativen Methoden führend. Die ,aesthetic of access‘ (Ästhetik der Zugänglich-
Aus dem Englischen von Johannes Kratzsch.
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Einblicke Inklusives Stadttheater Künstlerische Zugriffe
To try, to fail, to try again Ansätze eines inklusiven Stadttheaters Von Maja Polk und Nele Jahnke
Ziel Künstler:innen mit Behinderung arbeiten zu ihren Bedingungen an den Münchner Kammerspielen, anstatt sich an bestehende Strukturen und das laufende System anpassen zu müssen. Stadttheaterstrukturen werden erweitert und als Möglichkeitsraum für alle begriffen. Das Stadttheater macht sich durchlässig für das Wissen und künstlerische Praxen, die jahrzehntelang in Werkstätten, inklusiven Gruppen und von Künstler:innen mit Behinderung entwickelt worden sind/entwickelt werden. Ästhetische Standards verändern sich.
Lokale und internationale Verbündete International und überregional: • Meine Damen und Herren, Hamburg • Theater HORA, Zürich • Teatr 21, Warschau • Per Art, Novi Sad • Griessner Stadl, Stadl an der Mur Lokal: • Freie Bühne München • Südbayerische Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte Die Partnerschaften gestalten sich individuell, z. B. in Form von Workshops, Koproduktionen, Gastengagements, Gastspielen, gemeinsamer Projektplanung und Austausch zwischen Mitarbeitenden. Künstler:innen aus den Gruppen kommen als Autor:innen, Regisseur:innen, Schauspieler:innen und Workshopleitung vor. Sie teilen ihr Wissen und ihre künstlerische Praxis. Die Münchner Kammerspiele verstehen sich als Gastgeber:innen, Künstler:innen können sich mit Zeit und Ruhe austauschen.
Publikum 1. Senkung von Barrieren für das Publikum: Ansprechperson für Zuschauer:innen mit Behinderung, Angebote mit Audiodeskription, Verdolmetschung in Deutsche Gebärdensprache (DGS), Angebote in Leichter Sprache. (Ausführliche Informationen online). 2. Erweiterung von Sehgewohnheiten. Theater von und mit Künstler:innen mit Behinderung über die Zeit selbstverständlicher Teil des Repertoires, keine „Ausnahmeproduktionen“. Hinterfragen von etablierten Bewertungsmaßstäben. 3. Austausch in lokalen Netzwerken.
„Es ist nicht die Frage ob, sondern wie“ (UN-Behindertenrechtskonvention)
Das ist kein best practice Beispiel, es ist just practice.
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Einblicke Inklusives Stadttheater
Haus/Mitarbeitende/ Disposition
Ensemble / Künstlerische Teams: 1. Inklusives Ensemble, individuelle Arbeitszeitmodelle für Ensemblemitglieder mit Beeinträchtigung, Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt. 2. Es wurde eine feste 50 %-Stelle in der Theaterpädagogik geschaffen. Sie ermöglicht die Begleitung von Konzeptions- und Probenprozessen, ist als künstlerisch/organisatorische Schnittstelle unterstützend für Ensemble und Gewerke tätig. 3. Für Kolleg:innen mit kognitiver Beeinträchtigung gibt es regelmäßige produktions unabhängige Treffen. Das ermöglicht eine regelmäßige Wochenplanung (auch in probenfreien Zeiten) und gibt Raum für die Reflexion von Erfahrungen. 4. Frühzeitige Workshops mit dem RegieTeam und den Spieler:innen vor der Gesamtkonzeption einer Produktion, um durch konkrete Begegnung und künstlerische Praxis Ideen zu entwickeln. 5. Frühen Einbezug des gesamten künstlerischen Teams, damit auch bei Bühne und Kostüm Access Needs von vorneherein in der Konzeption mitgedacht und als Möglichkeitsraum begriffen werden. 6. Produktionsbedingungen anpassen, zum Beispiel kurze Proben, genug Pausen. 7. Projektideen von Interessen und Möglichkeitsraum der Spieler:innen ausgehend denken.
Maja Polk hat nach ihrem Studium der Theaterwis senschaft langjäh rig an der Schnittstelle von In ternationalem und Theater gearbeitet, zunächst am Goethe Ins titut, dann an den Münchner Kammerspielen. Mit der Spielzeit 2020/21 hat sie an den Münchner Kammerspielen die Künstlerische Produktionsleitung für das Modellprojekt Zugängliches Theater übernommen.
Budget Eigenmittel und Drittmittel: Von 2021–2023 Finanzierung im Rahmen des Modellprojekts „ZUGÄNGLICHES THEATER“, gefördert von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien; 2023–2025 Finanzierung durch Programm „pik“ der Kulturstiftung des Bundes. Aktuell werden aus diesen Drittmitteln drei halbe Stellen im Team Zugängliches Theater, das Vermittlungsangebot, Engagements von Gastkünst ler:innen, die theaterpädagogische Begleitung der Vorstellungen, Workshops, Beratungen und Maßnahmen zu „Ausbildung im Betrieb“ (auch in Zusammenarbeit mit der Freien Bühne München) finanziert. In welchem Umfang das dargestellte Programm nach der Förderung 2025 fortgeführt werden kann, ist offen. Gelingende Inklusion braucht ausreichende Ressourcen und verbindliche Standards.
Fotos Sandra Singh
1. Bedarfe miteinander verbinden/gemeinsam Abläufe finden, die im Bestfall allen gerecht werden. 2. Kontinuierliche Feedbackgespräche mit Ensemble, Mitarbeitenden, Gewerken, daraus Ableitung weiterer Maßnahmen. 3. Fortbildungen/Workshops für Mitarbeitende mit und ohne Behinderung, externe Beratung, Schaffung von nachhaltigen Kompetenzen in allen Abteilungen und Gewerken. 4. Kontinuierliche Begegnungsräume schaffen, z. B. über Gastpiele inklusiv arbeitender Gruppen, Gastengagements, Diversifizierung des Teams. 5. Selbstverständlichkeiten in der gemeinsamen Arbeit herstellen. 6. Produktionen nicht nach Standards umsetzen, sondern nach Bedarfen der Beteiligten (Bühne, Probenstruktur, Repertoireund Gastspielplanung). 7. Bedarfe von Anfang an strukturell mitdenken, Entwicklung von neuen (Ko) Produktionsmodellen, sowie eine „Ausbildung im Betrieb“ für Künstler:innen und Mitarbeitende, die keinen Zugang zu Standardausbildungen haben/hatten. 8. Team All Abled Arts: Künstlerische Leitung, Theaterpädagogik, Vermittlung und Künstlerische Produktionsleitung (vier halbe Stellen), Pool von freien Mitarbeitenden für theaterpädagogische Betreuung der Repertoirevorstellungen.
Nele Jahnke hat als langjährige Künstlerische MitLeiterin des Theater HORA versucht, die Sichtbarkeit und Mitbestimmung von Künstler:innen mit ande ren Lernmöglichkeiten im Theater zu stärken. Sie konzipierte und leitete das Langzeit-Experiment „Freie Republik HORA“ mit M. Elber und M. Bugiel, in dem das Ensemble seine eigenen Regiearbeiten realisierte. Nele Jahnke studierte Regie an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist Teil des queer-inklusiven Performance Cafes: Kafi Q. Ab 2020 gehört sie als Dramaturgin/Strukturarbeiterin und Regisseurin zur Künstlerischen Leitung der Münchner Kammerspiele.
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Einblicke Münchner Kammerspiele
Inklusion an den Münchner Kammerspielen
Dennis Fell-Hernandez: Wie bist du mit dem Frei Bühne München gewesen? Barbara Mundel: Was meinst du mit gewesen, wie ich die gefunden habe? Wie ich euch kennengelernt habe? DFH: Dass ich dich kennen. BM: Ich bin ja neu gewesen in München und euch gab es ja schon als Freie Bühne München und ich wollte euch unbedingt kennenlernen. Die Münchner Kammerspiele sollten ein Haus werden, was sich für viele Menschen und unterschiedliche Spieler:innen öffnet. Als ich bei euch war, wart ihr noch in dem alten Gebäude und da habe ich euch beim Proben von „Lulu“ zugeguckt. Da wart ihr noch in einem kleinen Proberaum, so groß wie dieses Büro, vielleicht noch kleiner. DFH: Ja, aber wen triffst du gerne mit der Jahnke? BM: In der Vorbereitung auf München hatte Nele Jahnke mir einen gefühlt zehnseitigen Brief geschickt, wahrschein-
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lich war er aber nur zwei Seiten lang. Sie wusste, ich fange in München an und hat gesagt, wenn das so weitergeht mit dem deutschen Stadttheater, dann schafft es sich selbst ab. Und die Theater müssen sich öffnen für Menschen mit sehr unterschiedlichen Begabungen. Und dann haben wir uns mal in Zürich getroffen. DFH: Was machst du mit deiner Kantine? Die fast nur gut ist. BM: Ich esse nicht so oft in der Kantine wie du, Dennis. Ich habe immer keine Zeit. Tut mir leid, aber ich finde die Kantine auch gut. Was ist denn dein Lieblingsessen? DFH: Das Beste ist italienisch. BM: Deins Johanna? Johanna Kappauf: Die Quiche. DFH: Du machst so viele Ansagen, auf den Bühnen bei diesem Theater. Ich habe gesehen, du hast du eine große Rede gehalten. BM: Ja, das muss ich manchmal machen. Reden halten. Aber du redest ja auch immer auf der Bühne, oder?
DFH: Genau. Warst du schon länger mit deiner Rede? BM: Was ich damit mache? Meistens sind es Begrüßungen vom Publikum. Danksagungen. Ein Danke an die Produktionen bei Premierenfeiern. DFH: Falls du, was du dir gerne bei diesem Disney Sachen, was willst du mal machen mit diesen „König der Löwen“ oder Beispiel diesem „Aladdin“. BM: „Aladdin“ möchtest du das gerne machen? Du möchtest doch gerne „König der Löwen“ machen, oder? DFH: Würde ich auch gerne. BM: Ich glaube Nele hat da so was vor. DFH: Aber meine Frage war auch, ob du lieber „König der Löwen“ oder „Aladdin“ magst? BM: Ehrlich gesagt, glaube ich, habe ich da keine Meinung. Ich sage mal, „König der Löwen“. DFH: Super. Ich sage auch. BM: Und Johanna was sagst du?
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Fotos Gabriele Neeb
Dennis Fell-Hernandez und Johanna Kappauf im Gespräch mit Barbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele
Einblicke Münchner Kammerspiele JK: „König der Löwen“. Was macht dir Spaß, am Theater zu arbeiten? BM: Ideen entwickeln, neue Projekte kreieren, mit Menschen über neue Ideen sprechen. Und wenn ich sehe, dass zwischen euch auf der Bühne und dem Publikum eine Verbindung entsteht. JK: Wie sieht dein Arbeitsalltag aus? BM: Ganz viele Gespräche hier in diesem Zimmer. Reisen, Produktionen woanders angucken, Gespräche und Diskussionen. Viel im Büro arbeiten. Ja, nicht ganz so interessant, wie man das vielleicht denken könnte. Aber ich gehe natürlich auch auf Proben und schaue zu. Wie geht es denn euch nach vier Jahren an den Kammerspielen? DFH: Super. Ganz gut arbeiten. Letzte Spielrunden habe ich auch da, als ich gerade schon mal weg war. Ähm, bei Griechenland. Das ist super toll hier. JK: Meinst du dein Urlaub? DFH: Ja, genau. Auf meinen Urlaub. Weil ich, selbst wenn ich es sonst nicht war, bei diese München Kammerspiele. Und ich denke, dann vermisse ich mit den ganzen München Kammerspiele Teams auch Michael Pietsch und Sebastian Brandes, Julia Gräfner, Nele Jahnke und andere. Und dann noch mehr Maja Polk und auch eine Menge Sachen. Und auch, dass ich immer, dass ich mich sehr gut spiele, beim MK bei diesen Kammerspielen auch. Weil auch dieser Jan-Christoph Gockel oder Michael Pietsch oder als Sebastian Brandes. Der hat sechs Jahre, war er in Mainz. BM: Wie war das für euch jetzt mit „Wer immer hofft“, in Mainz zu spielen?
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JK: Gut, aber das war anstrengend. Probe und Vorstellung an einem Tag. BM: Das ist ja ein ganz anderes Theater. War das für euch schwierig sich zu orientieren? JK: Auf der Bühne war es für mich kein Problem. Der Weg in die Kantine der war ein bisschen kompliziert. BM: Und das Publikum? JK: Ja, die waren begeistert. Ja. BM: Und hast du dich hinterher eigentlich noch mit Leuten unterhalten? Hat sich das so ein bisschen gemischt? JK: Ja, ich war beim Publikumsgespräch. Und Jan-Christoph war mit, und Daniel. DFH: Ich war nicht da. Bei diesem Publikumsgespräch, weil ich war mit den Filo war ich was essen. Franzi war auch dabei. JK: Ja, Franzi die hatte auch an Weihnachten und Silvester was vorbereitet. BM: Das ist etwas besonders gewesen – Silvester im Theater. JK: Schön im Glasspitz oben auf dem Balkon, das Feuerwerk gesehen. BM: Habt ihr denn Wünsche für die Zukunft? DFH: Am allermeisten wünsche ich bei den Kammerspielen dableiben. Ich wünsche mir gerne Frieden bleiben auch nicht nur diesem Leben oder Tod. Und ich will gern leben, auch neue Länder kriegen und auch eine neue Bauchtänzerin geben. Mein Wunsch ist, da will ich gerne als Schauspieler bei den Münchner Kammerspielen bleiben. BM: Johanna hast du Wünsche? JK: Neue Geschichten, mehr Poesie und der Frieden. Mehr Poesie in den Stücken auch. BM: Schreibst du selbst Johanna?
JK: Ja, ich schreibe selbst Gedichte. Im Dezember ist die erste Lesung im Habibi Kiosk auf der Maximiliansstraße. BM: Da freue ich mich drauf. T Nele Jahnke und Paulina Wawerla (Dramaturgie Münchner Kammerspiele) waren Teil dieses Gesprächs und haben gelegentlich die Kommunikation unterstützt.
Barbara Mundel ist seit den achtziger Jahren als Dramaturgin am Theater Basel, Volksbühne Berlin, Münchner Kammerspiele und Ruhrtriennale tätig. In Berlin arbeitete sie mit Christoph Schlingensief, u. a. bei „Kühnen ´94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“ und „Rocky Dutschke ´68., wo sie begann mit Künstler:innen mit Beeinträchtigung zu arbeiten. Von 1999 bis 2004 war sie Direktorin des Luzerner Theaters, von 2006 bis 2017 Intendantin am Theater Freiburg. Seit 2020 ist sie Intendantin der Münchner Kammerspiele. Dennis Fell-Hernandez wurde 1990 in München geboren. 2018 schloss er eine Schauspielausbildung an der Freien Bühne München ab. 2018 nahm er am Workshop „Wie hoch ist Augenhöhe“ der Otto Falckenberg Schule teil. Seit der Spielzeit 2020/21 ist er Teil des Ensembles der Münchner Kammerspiele. Johanna Kappauf wurde 1999 in München geboren. Sie arbeitet bei der SWW München Weberei und spielt bei der Theatergruppe Die Blindgänger. Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie ein festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. Für ihre Schauspielleistung in der Inszenierung „Wer immer hofft, stirbt singend“ erhielt sie 2022 den Therese-GiehsePreis des Bundesverband Schauspiel und 2023 den Förderpreis des Vereins zur Förderung der Münchner Kammerspielen.
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Erotik und Pflanzen Die Schauspielerin und Performancekünstlerin Lucy Wilke über Barrieren und Begegnungen in der Freien Szene und dem Stadttheater im Gespräch mit Paulina Wawerla
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Was waren die wichtigsten Stationen in deiner künstlerischen Laufbahn? Lucy Wilke: Ich habe mit 18 angefangen, eine Bühnenausbildung beim International Munich Art Lab zu machen. Da konnte ich alles ausprobieren und in allen Bereichen einer Theaterproduktion arbeiten. Ich habe das Stück mitgeschrieben und eine Rolle gespielt. Das war auf jeden Fall eine Initialzündung. Und dann das Stück „Fucking Disabled“: Das war das erste professionelle Stück, bei dem ich mitgemacht habe und es war großartig, denn es handelte von Sexualität. Es hat mir auch viele Türen geöffnet, weil das Stück einigermaßen bekannt geworden ist. Dann habe ich lauter Anfragen bekommen aus der Freien Szene. Und habe dann mit Monster Truck und The Agency und anderen gearbeitet. Und durch diese ganzen Stücke kam es wiederum dazu, dass ich gefragt wurde, ob ich ins Ensemble der Kammerspiele möchte. Mein eigenes Stück „Scores that shaped our Friendship“ war natürlich auch ein Meilenstein meiner Karriere.
Wo findest du es einfacher, inklusiv zu arbeiten? In der Freien Szene oder im Stadttheater? LW: Ich finde, das ist was ganz Verschiedenes. Was mir in der Freien Szene sehr gut gefällt, ist, dass es wirklich sehr familiär ist und man lernt alle richtig gut kennen. Ich finde die Freie Szene manchmal noch drastischer und mutiger in manchen Punkten. Aber die Möglichkeiten an den Münchner Kammerspielen sind natürlich toll, und die Kammerspiele haben ein viel größeres Budget. Ich mag eigentlich beides. Meinst du inhaltlich oder strukturell mutiger? LW: Inhaltlich! Strukturell macht’s für mich gar nicht so einen großen Unterschied, denn ich brauche immer das Gleiche. Was sind für dich die Herausforderung in einem Spielbetrieb? LW: Also die Kammerspiele geben sich auf jeden Fall sehr viel Mühe. Das
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Foto Judith Buss, Foto rechte Seite Theresa Scheitzenhammer
Lucy Wilke (re.) in „Joy 2022“ von und mit Michiel Vandevelde (li.) und Ensemble an den Münchner Kammerspielen
Einblicke Freie Szene merke ich und das finde ich auch sehr, sehr schön. Was immer schwierig ist, ist die Wärme, obwohl ich es in der Garderobe jetzt schon sehr warm habe. Aber auf der Bühne friere ich immer furchtbar. Da tun die Kolleg:innen schon wirklich, was sie können, mit Wärmflaschen, Heizungen, Heizstrahler, Heizdecke und so weiter. Stichwort Repertoirebetrieb. Das ist auch was anderes als in der Freien Szene, in der viel en suite gespielt wird. LW: Die Repertoirestücke sind für mich schon eine Herausforderung. Es ist so, dass man da einfach funktionieren muss. So viele Menschen hängen davon ab, ob man spielen kann. Ich hatte manchmal auch Tage, an denen ich sehr, sehr schwach war und dann bin ich trotzdem hingegangen. Es war manchmal nicht ganz einfach. Wie könnte das Stadttheater noch inklusiver werden? LW: Also was die Kammerspiele schon tun, ist, dass sie schauen, dass ich bei den Proben nicht den ganzen Tag kommen muss. Dass ich eher den halben Tag komme. Sie haben einen Ruheraum für mich eingerichtet, wo ich mich auch hinlegen kann, wenn ich mal länger da bin. Dort habe ich die Möglichkeit, zu liegen. In der nächsten Produktion war die Idee, dass sie so inszenieren, dass ich dabei sein kann, aber nicht muss. Also, dass das ganze Stück nicht mit mir steht und fällt. Wie würde für dich ein perfektes Stadttheater aussehen? LW: Gerne lange Probenzeitenräume und dafür nicht jeden Tag so lang. Mehr Zeit mit den Mitspieler:innen. Denn wenn ich mich zum Beispiel außerhalb meines Rollstuhls bewegen will, dann brauche ich relativ lange Anlaufzeit, um einer anderen Person beizubringen, wie man mich be wegen kann und darf, damit ich mir nicht weh tue. Dafür ist meistens zu wenig Zeit in den Proben. Ansonsten gefällt es mir gut, dass das Ensemble schon sehr inklusiv ist. Da habe ich nichts zu beanstanden.
Was fehlt dir noch im Diskurs zu Sexualität und Behinderung? LW: Ich glaube, dass das Ganze wirklich nur ankommen kann, wenn es für die Leute auch eine Sehgewohnheit wird, Menschen mit Behinderungen in einem sexuellen Zusammenhang zu sehen. Damit es irgendwann nicht mehr so ungewohnt, sondern einfach normal ist. Wo unterscheiden sich die Arbeiten „Scores that shaped our friendship“ und „Joy 2022“, das in der Regie von Michiel Vandenvelde an den Münchner Kammerspielen entstanden ist? Und wo verbinden sie sich miteinander? LW: Sie haben beide einen positiven Ansatz. Es geht in beiden Stücken nicht so sehr um Konflikt und Drama, sondern eher um das Zelebrieren der Sexualität. Bei „Joy“ hatten wir nicht so sehr die Möglichkeit, noch richtig in die Tiefe zu gehen. Ich glaube, es ist ein schönes und ästhetisches und unterhaltsames Stück geworden und hat dem Publikum den Horizont erweitert. Aber „Scores that shaped our friendship“ ist ja meine eigene Arbeit, und dadurch bin ich auch sehr viel tiefer eingestiegen. Und es ist ja auch wirklich ein Porträt meiner Freundschaften mit Paweł Duduś und dem, was wir tatsächlich zusammen machen, wenn wir uns sehen. Im Film gibt es Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigung ja noch viel seltener zu sehen. Das wäre das nächste Feld, das man angreifen müsste, oder?
LW: Ja, das habe ich auch schon versucht. Es gibt ein Drehbuch, beruhend auf einer Idee, die ich hatte, die aus dem Dating kommt. Das liegt jetzt aber bei ZDF und Arte und irgendwie geht nichts weiter. Gibt es Figuren, für die du häufig besetzt wirst? LW: Ich werde meistens im Bereich Sex und Wahnsinn besetzt. Und wie findest du das? LW: Ist okay. Welche Figur würdest du gerne spielen? LW: Also ich hätte Lust, einen Typ zu spielen und vielleicht Rock ’n’ Roll zu singen. T Lucy Wilke ist Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Regisseurin. Für ihr Tanzdebüt mit Paweł Duduś „Scores that shaped our friendship“ erhielt sie 2020 den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie „Beste Darstellerin Tanz“; das Stück wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Seit 2020 ist Lucy Wilke Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele.
Welche Themen interessieren dich für deine künstlerische Arbeit? LW: Ich interessiere mich immer noch für Sexualität und Sinnlichkeit, für Behinderung und Mutterschaft und auch für Pflanzen. Ich würde sehr gerne mal ein Stück über Pflanzen machen. Ein Stück, in dem es um Erotik und Pflanzen geht.
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Einblicke Künstlerische Prozesse
Kantine und Eigensinn Über Alexander Kluge und den Zirkus Von Claus Philipp
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n Alexander Kluges Film „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ (1966), sagte der Zirkus-Revolutionär Manfred Peickert: „Ich sage: Herr Direktor, könnte man die Elefanten in die Zirkuskuppel hieven? Der Direktor sagt: Selbstverständlich. Ich habe bloß Bedenken, ob die Konstruktion hält. Ich sage: Aber Sie müssen doch zugeben, es wäre etwas völlig Neues. Direktor: Wieso Neues? Ich finde es seltsam und sehr irrational. Ich sage: Es muss irgendetwas platzen, wenn die Elefanten mit einem Ballon hochgezogen werden. Der Direktor sagt: Das ist mir alles zu irrational. Ich sage: Es bringt ein starkes Gefühl.“ Ein starkes Gefühl stand auch am Beginn der Arbeit an Jan-Christoph Gockels Inszenierung „Wer immer hofft, stirbt singend“ an den Münchner Kammerspielen. Sehr spontan ergab sich im Spätherbst 2020 – wir hatten in Wien gerade gemeinsam eine Feier zum zehnten Todestag von Christoph Schlingensief begangen – der Plan, bis zum neunzigsten Geburtstag von Alexander Kluge entlang von Texten und Motiven des Autors, Film- und TVMachers eine „Reparatur einer Revue“ zu kreieren. Schnell kam nach einem ersten Jahr fortgesetzter, die Zukunft auch des Theaters bedrohlich verdunkelnder Coro-
Wollen die drei Praktikan tinnen auch mitmachen? Im April 2021, gegen Ende eines ersten vorbereitenden Workshops – wir sichteten Filme und TV-Gespräche von Kluge, entwickelten erste Zirkus-Nummern – bestand Dennis Fell-Hernandez darauf, die liebgewordenen nachmittäglichen Auflockerungsübungen mit einer Bauchtanz-Einlage zu veredeln. Dennis hat Trisomie 21, er ist seit 2020 festes Ensemblemitglied der Kammerspiele. Heiner Müller zum Beispiel hat er intus wie kaum einer, seit er an der Freien Bühne München „HAMLETMA-
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Fotos Maurice Korbel
„Wer immer hofft, stirbt singend“ nach Geschichten und Motiven von Alexander Kluge, Regie Jan-Christoph Gockel an den Münchner Kammerspielen
na-Lockdowns der Begriff „Reparaturbedarf“ ins Spiel. Uns interessierte das Prinzip Hoffnung im Werk Alexander Kluges: eine Hoffnung auf Auswege, selbst wenn „glückliche Umstände“ nur „leihweise“ zu haben sind. Eineinhalb Jahre durften wir uns also bis zur Premiere 2022 an den Kammerspielen mit der Frage auseinandersetzen, ob „die Konstruktion“ Theater „in Gefahr und höchster Not“ (noch) „hält“. Dinge zu reparieren, das heiße auch, sie besser verstehen zu lernen, schreibt der US-Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett. Wir versuchten zu verstehen, was etwa ukrainische Trapezartisten im Zirkus Krone umtreibt und ob man mit dem Löwenkot, den der Zirkus verkauft, wirklich Wildtiere vom Garten fernhalten kann. Wir untersuchten den Mechanismus einer alten Popcorn-Maschine aus dem Theaterfundus. Wir spielten mit alten und neuen Puppen, und die Tischler bauten uns einen neuen „alten“ Zirkuswaggon. Wir lasen gemeinsam das „Märchen vom eigensinnigen Kind“ und fragten uns, ob man die dünnen Ärmchen des Eigensinns wirklich mit einer Rute zurück ins Grab schlagen muss. Wir versuchten nachzuvollziehen, was Alexander Kluge meinte, als er schrieb: „Die Künstler sind die Entdecker der Wirklichkeit. Sie sind Ausgräber. Eine Tagesschau-Sprecherin kann nicht anfangen zu singen und deshalb Teile ihres Seelenlebens nicht ausdrücken.“ Überhaupt: Wer kann was, und was nicht. „Genie“, so Kluge, „ist die Fähigkeit, sich unendlich Mühe zu geben.“ Sich Mühe geben: Was heißt das zum Beispiel in einem inklusiven Ensemble wie jenem der Kammerspiele, im Dialog zwischen – und das meine ich für alle Beteiligten – jeweils sehr individuellen Menschen mit Beeinträchtigung?
Einblicke Künstlerische Prozesse SCHINE“ gespielt hat. „Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA.“ Das rezitierte er im Workshop ebenso unvergleichlich wie Passagen aus Walt Disneys „König der Löwen“, und: Er ist halt ein großer Bauchtanz-Afficionado. Um uns dies zu zeigen, hatte Dennis einen roten, orientalischen Rock mitgebracht, er legte sich zu entsprechenden Dance-Beats mächtig ins Zeug, es war verwirrend, betörend, fantastisch – bis drei Damen den Proberaum betraten. Diese Damen waren uns angekündigt worden als Sachbearbeiterinnen aus dem Münchner Kulturamt. Es ging bei ihrem Besuch um die Frage, ob die Münchner Kammerspiele weiterhin eine Sonderförderung für ihre Pioniertätigkeit in Sachen Inklusion erhalten. Und dafür war ja unser Workshop, bei dem wir mehreren Ensemblemitgliedern mit Beeinträchtigung, Alexander Kluge, die Frankfurter Schule, Arbeit mit Stabpuppen und Marionetten einander nahebringen wollten, eine exemplarische Vorzeige-Situation. Nur: War das jetzt tatsächlich der richtige Zeitpunkt für einen Kontrollbesuch? Dennis vollführte Bauchtanz, die Beats wummerten, die drei Damen setzten sich an den Bühnenrand – und in der zuerst überaus gut gelaunten Workshop-Truppe machte sich unausgesprochen eine Ahnung breit, dass hier gerade ein völlig falsches Bild entstand; dass wir einer (Über-)Prüfung nicht standhalten würden. Wer erlöste uns in der allgemeinen Anspannung? Dennis hielt inne und fragte: „Wollen die drei Praktikantinnen auch mitmachen?“ Befreites, befreiendes Gelächter. Dennis hatte auch den Regisseur schon einmal als „sehr guten Schauspielassistenten“ gewürdigt. Es war wie ein erster Kommentar zu Alexander Kluge, der in einem Gespräch mit dem Kunstkurator Hans Ulrich Obrist einmal gesagt hat: „lch glaube nicht, dass wir isoliert und als Einzelne arbeiten sollten. Sondern, dass wir unsere Eigenständigkeit, also auch unsere Widerspruchsfähigkeit, unseren Eigensinn am besten verwirklichen, wenn wir im Dialog sind. Dialog hat nicht zur Folge, dass ich meine eigenen Ansichten verflache,
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sondern dass sie überhaupt erst hervorgerufen werden.“ Dies gilt, könnte man hinzufügen, auch für Ansichten und Texte und Bilder, die man längst gesehen, gesprochen, gelesen zu haben glaubte. Johanna Kappauf zum Beispiel antwortete bei einem ersten Vorstellungsgespräch auf die Frage, was sie in einem Zirkus am liebsten machen würde: Zwar sehe sie sehr schlecht, aber Seiltänzerin zu sein, das wäre ihr größter Traum. Tatsächlich geht sie nun am Ende von „Wer immer hofft, stirbt singend“ über ein in vier Meter Höhe quer über die gesamte Breite der Kammerspiele gespanntes Seil, und zwar rückwärts. Sie rezitiert dabei, als würde sie den Text am jeweiligen Abend immer neu erfinden, Walter Benjamins „Engel der Geschichte“. Zuvor musste sie, um das tun zu dürfen, diverse Sicherheits- und Höhenangsttests absolvieren. Jedes Mal muss sie in größter Distanz zur Souffleuse TextSicherheit beweisen. In jeder Aufführung sieht sie sich mit den Konsequenzen eines erfüllten Wunsches konfrontiert – und gibt ihn gleichzeitig als Option vorbildlich an das Publikum weiter. Noch lang nach der Aufführung kann man sich Benjamins Text ohne Johanna Kappaufs Stimme und ohne ihr Rückwärts-Tasten kaum noch vorstellen. Mittlerweile ist auch sie, prämiert mit dem Therese-Giehse-Preis, Ensemblemitglied.
Sind wir über uns hinausgewachsen? Sind wir über uns hinausgewachsen? Mittlerweile ist das mit dem Wachsen zum Beispiel im Theater gar nicht mehr so einfach. In einer Szene sitzen Frangiskos Kakoulakis und Johanna Eiworth in der Kantine, und Frangiskos Kakoulakis erzählt als Stuntman „Frangi“ in einfacher Sprache folgende urban legend: „Es hatten Leute mal ein Krokodil in einem Aquarium. Da ist das Krokodil größer geworden, und die Leute haben es nicht in ein anderes Aquarium gesetzt, und es ist immer größer geworden und dann ist es viereckig gewachsen.“ Johanna Eiworth als eigentlich tollkühne Raubtier-Dompteuse Diana verlässt da kurzfristig der Mut. Hatte sie, am ganzen Körper tätowiert, nicht alles getan, ihr eigenes Leben, ihre ganze Berufung in sich einzuschreiben? „Wir sind doch nicht viereckig gewachsen? Oder?“ Immerhin hat sie einen Ausweg schon in Aussicht gestellt: „Einen Übergang, zum Beispiel. Werkstätten, die sich ebenso darum be-
Impressionen der Inszenierung mit Sebastian Brandes, Johanna Eiworth und Frangiskos Kakoulakis
mühen, die Trennung zwischen den Künsten und den verschiedenen Spielweisen aufzuheben.“ Es bleibt doch die Frage, ob am Ende vielleicht auch die Verwirrung ihren Platz in der Kunst verdient. Weil aus ihr heraus neue Zusammenhänge entstehen könnten. WER IMMER HOFFT... T Claus Philipp, Autor und Dramaturg, wohnhaft in Wien, arbeitete zuletzt u.a. am Wiener Volkstheater („Karoline und Kasimir“, Regie Nature Theater of Oklahoma, 2021) und an den Münchner Kammerspielen („Der Sturm/ Das Dämmern der Welt“, Regie Jan-Christoph Gockel, 2023). Ruth Beckermanns Film „Mutzenbacher“ (2022), für den er als Ko-Autor zeichnet, erhielt 2022 den Encounters-Preis der Berlinale.
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Einblicke Kooperationen
Von Schulterschlüssen und Zirkusküssen Zur Kooperation zwischen der Freien Bühne München / FBM e.V. und den Münchner Kammerspielen Von Jan Meyer
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uf der von bunten Zirkuslichtern umrahmten Tafel werden langsam die Worte „II. Teil: TV-Zirkus“ sichtbar. Geschrieben werden sie auf einem iPad von Fabian Moraw, Teil des Ensembles der Münchner Kammerspiele und bis vor zwei Jahren noch einer jener jungen Menschen, die ich an der Freien Bühne München/FBM e.V. für den Schauspielberuf vorbereitet habe. Heute bin ich mit sieben Teilnehmenden des aktuellen
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inklusiven Theaterworkshops in der Aufführung von „Wer immer hofft, stirbt singend“. Neben Fabian stehen an diesem Abend unter anderen Frangiskos Kakoulakis und Dennis Fell-Hernandez auf der Bühne. Zusammen mit Luisa Wöllisch – die zu dem Zeitpunkt allerdings gerade am Kammertheater Karlsruhe gastiert – gehören sie nach ihrer Zeit an der Freien Bühne München dem Ensemble der Kammerspiele München an.
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Foto Johann Miedl
Jan Meyer und das Team der Freien Bühne München.
Einblicke Kooperationen Qualifizierung für den Schauspielberuf Seit 2014 qualifiziert die FBM junge Menschen mit Behinderung für den Schauspielberuf und realisiert inklusiv besetzte Theaterproduktionen. Im ursprünglichen Konzept war zunächst keine Form von Ausbildung vorgesehen. Viel lieber wäre es Angelica und Marie-Luise Fell, den Gründerinnen der Freien Bühne München, gewesen, wenn die Schauspieler:innen, mit denen wir an der Freien Bühne München arbeiten wollten, bereits eine Ausbildung an einer klassischen Schauspielschule hätten absolvieren können. Doch eine solche Möglichkeit war damals weder an privaten noch an einer staatlichen Schule gegeben. Als ich 2015 die Künstlerische Leitung der Freien Bühne München übernahm, haben wir als Leitungsteam kurzerhand beschlossen, selbst eine Qualifizierung anzubieten, für die ich schließlich ein Ausbildungskonzept entwarf. Die Resonanz auf diesen Schritt war enorm und binnen kurzer Zeit erreichten uns Bewerbungen und Anfragen aus ganz Deutschland. Zeigte sich auf diese Weise das Interesse der Behinderten-Community an unserem Angebot, das in der Form einmalig ist, so mussten wir an anderen Stellen immer wieder mit großem Kraftaufwand darum kämpfen, nicht als soziales Projekt oder gar reine Beschäftigungstherapie abgestempelt zu werden. Der Gedanke, dass Menschen mit Behinderung eine umfassende Ausbildung im Schauspielbereich absolvieren und letztlich in diesem Beruf Arbeit finden könnten, erschien vielen – vor allem so mancher Förderinstitution – absurd. Auch der Erfolg unserer Theaterproduktionen vor ausverkauften Häusern, die guten Kritiken und die Einzelleistungen, wie die von Luisa Wöllisch, die als Franzi im Kinofilm „Die Goldfische“ neben Tom Schilling und Birgit Minichmayr brillierte, änderten daran wenig.
Die Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen Erst, als Barbara Mundel im Frühjahr 2019 auf die Freie Bühne München zukam, um mit uns eine Kooperation im Rahmen ihrer Intendanz ab der Spielzeit 2020/2021 zu besprechen, wendete sich langsam das Blatt. Die Übernahme der jungen Schauspielenden aus der Ausbildung an der Freien Bühne ins Ensemble der Münchner
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Kammerspiele ist Teil dieser Kooperation. Barbara Mundels erklärtes Ziel war es, bei der inklusiven Öffnung und Umgestaltung der Kammerspiele im Rahmen ihrer Intendanz intensiv mit Akteur:innen vor Ort zusammenzuarbeiten. In Bezug auf eine Zusammenarbeit bedeutete das nach einem ersten Kennenlernen intensive Vorarbeit und viel Zeit, die sich genommen wurde. So besuchte sie mit ihrem Team die Proben zu unserer „LULU“-Produktion und unsere Qualifizierungsworkshops; Absolvent:innen des Qualifizierungsprogramms der Freien Bühne München sprachen für das Ensemble der Kammerspiele vor, lernten das Leitungsteam sowie die künftigen Kolleg:innen auf und hinter der Bühne kennen und gemeinsam wurden Workshops geplant und durchgeführt. Aber auch im Erfahrungs- und Wissensaustausch arbeiten wir in dieser Zeit eng zusammen. Immer wieder traf ich mich mit Nele Jahnke, die vom Theater HORA in Zürich ins Leitungsteam der Kammerspiele gewechselt war, und tauschte mich mit ihr über die Stärken der jungen Absolvent:innen, die Chancen, aber auch potenzielle Schwierigkeiten der inklusiven Öffnung aus.
Schlüsselmomente So entstand in Vorbereitung auf die Spielzeit 2020/2021 ein ganzer Katalog an möglichen Projekten, an Formaten und gemeinsamen Veranstaltungen. Gleichzeitig unterstütze man sich gegenseitig: Ich arbeitete als Inklusionsberater mit den Regisseur:innen der Kammerspiele zusammen und stand als Ansprechpartner bereit, wenn es um die Arbeit mit den jungen Schauspieler:innen aus der Freie Bühne München ging. Hand in Hand schafften wir Lösungen für die Probleme, die es in der Durchführung der inklusiven Öffnung gab, nicht zuletzt die Haushaltskürzungen im Kulturetat im Nachgang des Coronajahrs 2021. Es entstand eine gute und enge Bande zwischen der Freien Bühne München und den Kammerspielen, die nicht unbeachtet blieb. Das Bekenntnis der etablierten Kulturinstitution half, dass der Freien Bühne München 2022 durch die Stadt München eine institutionelle Förderung sowie eigene Räume im Münchner Kreativquartier zugesichert wurden. Und gleichzeitig ermöglicht die Kooperation Abende wie „Wer immer hofft stirbt singend“: Das Licht auf der großen Bühne geht aus und Applaus brandet auf.
Die Teilnehmenden des Workshops, die neben mir sitzen, springen auf. Sie jubeln und rufen die Namen ihrer Freunde, Frangiskos wirft eine Kusshand in unsere Richtung, die junge Frau neben mir ist ganz aus dem Häuschen: „Ich will auch auf die Bühne! Ich will auch da oben stehen“, ruft sie mir zu. Und sie meint es so, nicht wegen des Applauses, sondern weil hier ganz greifbar wurde, dass das eine reale Option ist. Auf dem Weg zur Garderobe und in die Kantine, wo wir auf die drei Schauspieler:innen warten, höre ich noch viele weitere solcher Kommentare aus der gesamten Gruppe. Und das ist es, was für mich vor allem anderen bleibt: Was Sichtbarkeit, ehrliches Engagement und der Wille inklusiv zu arbeiten – ohne dabei vor Fehlern zurückzuschrecken – erreichen kann. Für kleine Leuchtturmprojekte, insbesondere für die Menschen, denen so neue Perspektiven vorgelebt und aufgezeigt werden. T
Jan Meyer studierte Theaterwissenschaften in Berlin und war bereits während seiner Studienzeit als Regisseur, Theaterlehrer und Performer tätig. 2014 assistierte er am Theater RambaZamba, wo er erste Kontakte mit dem Thema Inklusion hatte. Ein Jahr später wurde er künstlerischer Leiter der Freien Bühne München. Seit August 2023 ist er Oberspielleiter an den Landesbühnen Sachsen.
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n „In Ordnung“ (Premiere: 3. Februar 2024) lädt die Choreografin Doris Uhlich eine große Gruppe Schauspieler:innen aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele ein, sich der Energie einer permanenten Veränderung hinzugeben: Hochtourige Beats bringen alle zum Schwitzen, in einen gemeinsamen Rausch, aber gleichzeitig auch dazu, dass sehr unterschiedliche Körper auf ungewohnte Weise direkt miteinander sprechen – von Körper zu Körper. Nichts bleibt, wie es war, alles wird anders. Lesen Sie hier Ausschnitte der Audiodeskription, die Choreograf:in Carolin Jüngst für die Produktion anfertigte.
Auftritt Die Bühne ist leer und gleichmäßig, eher dunkel beleuchtet – nur ein Teil des Bühnenbilds, die Treppe, hängt von der Oberbühne herab in der Luft. Die Performer:innen kommen von links auf die Bühne und stellen sich am vorderen Bühnenrand in einer Reihe nebeneinander auf. Von links nach rechts, von groß nach klein: Christian, Sina, Vinzenz, Leoni, Anja, Johanna, Walter, Edith, Jelena, Şafak, Fabian, Anna, Stefan, Luisa, Dennis, Samuel. Alle tragen unterschiedliche schwarze Klamotten, manche haben Kniestrümpfe, manche kurze, manche lange Hosen, kurze oder lange Ärmel, und alle tragen schwarze Turnschuhe mit neongrünen Schnürsenkeln. Sie blicken nach vorne ins Publikum, neutraler Gesichtsausdruck.
Fabian Moraw (li.) und Anna Gesa-Raija Lappe (re.) in „In Ordnung“ von Doris Uhlich an den Münchner Kammerspielen.
Körper in Bewegung Sequenzen aus der Audiodeskription der Produktion „In Ordnung“ von Doris Uhlich Von Carolin Jüngst
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Edith in der Mitte der Reihe beugt langsam die Knie, alle anderen rechts von ihr folgen. Sie stützen sich auf den Beinen ab – eine abschüssige Linie nach rechts. Samuel ganz rechts, mit dem Rollstuhl jetzt größer als die anderen, schert aus und reiht sich ganz links am Anfang der Reihe neben Christian wieder ein. Er guckt nach vorne, fährt langsam seinen Stuhl etwa 15 cm hoch. Christian guckt ihn leicht verdutzt von der Seite an, geht dann in die Knie, um sich anzupassen und kleiner als Samuel zu sein, stützt sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Wieder folgen die anderen, wieder ergibt sich eine abschüssige Linie. Luisa und Dennis sind ganz rechts auf allen vieren, immer noch mit Blick nach vorne. Samuel fährt ein Stück, etwa fünf bis zehn cm, mit dem Rollstuhl hinunter, die anderen müssen noch mehr in die Knie gehen. Walter unter-
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Fotos Julian Baumann
Stirnreihe Größe
Einblicke Access bricht, schert aus der Reihe aus, stellt sich links neben Samuel, um wieder der Größte zu sein. Auch Fabian schert aus und geht auf die rechte Seitenbühne. Alle stellen sich wieder aufrecht hin, zwei Lücken in der Reihe bleiben. Fabian kommt zurück, in seiner Hand jetzt silber-glitzernde, riesige Plateauschuhe, die er sich anzieht, Sina hilft ihm dabei. Er reiht sich seiner Größe entsprechend wieder in die Reihe ein. Walter geht auf seinen Platz zurück. Samuel fährt auch auf seinen ursprünglichen Platz in der Reihe. Blick nach vorne, Stillstand. Şafak schert aus und tritt nach vorne, die Reihe löst sich auf.
Technik schiebt Objekte rein Die Bühnenelemente werden von den Techniker:innen auf die Bühne geschoben. Die Treppe und das Tor werden von der Oberbühne langsam heruntergelassen, die Bühnentore an der hinteren Bühnenwand schließen sich wieder. Alle Elemente werden zu einem großen Gebilde arrangiert, das Chalet entsteht. Die Körper im Publikumsraum kommen langsam zur Ruhe, bleiben stehen oder setzen sich auf den Boden und blicken zur Bühne. Johanna geht über die Treppe links auf die Bühne, blickt auf das Chalet. Sie geht umher, fasst es an, geht weiter, erkundet es. Sie läuft hinter der Architektur entlang und geht dann die große Treppe hoch, hält sich am Geländer fest. Oben angelangt bleibt sie stehen und guckt ins Publikum. Christian folgt ihr, er steigt auf die Bühne, bleibt mit dem Rücken zu uns stehen und blickt zu Johanna.
Dann betrachtet er das Chalet, stellt den Fuß zögerlich ab und betritt es, bleibt links von Johanna auf einer Plattform stehen, blickt ins Publikum. Samuel kommt von links auf die Bühne gefahren, beginnt die Architektur zu erkunden. Die anderen folgen und kommen wieder auf die Bühne. Sie blicken auf das Chalet, betreten und erkunden es und suchen sich ihren Platz.
kante sitzt auf dem Boden, ein Bein ausgestreckt, eins abgewinkelt und beginnt leicht zu zittern. Stefan stellt sich ganz links neben den Turm – er zittert. Edith kehrt zurück ans Metall, die anderen klammern sich mal fest, mal lösen sie sich, suchen woanders Halt, ändern die Position, halten sich fest.
Klammern > Zittern > Rütteln
Vinzenz beginnt, sich mit seinem Körper rechts hinten an das Haus zu klammern, seine Beine umschlingen das Metall fest. Die anderen folgen, eine nach der anderen, schlingen sich umeinander, halten sich aneinander fest, umklammern sich. Ein Geflecht aus Menschen und Metall entsteht – hohe Spannung in den Körpern, Stillstand. Ein Parasit aus Körpern, der sich am Haus festklebt. Edith löst sich aus der Verklammerung, geht durch den Raum und klettert unter das kleine Bühnenelement. Sie setzt sich auf den Boden und schlingt ihren Körper von innen um das Metallgerüst. Anna folgt ihr langsam, auch sie setzt sich und umschlingt Edith. Fabian folgt mit schnellen Schritten, er legt seinen Oberkörper auf das Podest, hält sich an der Konstruktion fest. Dann kommt Dennis, er geht mir langsamen Schritten, krabbelt zu Edith, hält sich an zwei Metallstäben fest. Auch die anderen folgen nach und nach, bis alle dicht aneinander in einem Klumpen sich und die Architektur umklammern, ein weiteres Geflecht, ein weiterer Parasit. T
Nach und nach beginnen sich die Körper an den Strukturen festzuhalten, es entsteht ein eingefrorenes Bild. Ein Oberkörper liegt auf Holz, ein anderer Körper klammert am Treppengeländer, Festhalten an Metallstäben, Blicke und Körper eingefroren. Stillstand, Körper werden Teil der Architektur. Edith löst sich langsam aus der Umklammerung, verlässt den sicheren Halt, geht und positioniert sich rechts auf der Bühne, steht aufrecht, Blick nach unten, der Körper beginnt leicht zu zittern. Anja folgt, sie setzt sich in der Mitte der Bühne auf den Boden, stützt die Hände hinter dem Oberkörper ab, Walter stellt sich hinter sie. Sein Oberkörper ist nach vorn gebeugt, die Hände stützen sich auf den Beinen ab. Auch sie zittern. Dann folgt Christian links vorne, er zittert im Vierfüßlerstand. Şafak steht oben auf der Treppe und zittert. Die anderen halten sich immer noch an der Architektur fest, vereinzelt lösen sie sich und ändern mit langsamen Gängen ihre Position im Raum. Samuel fährt in die Mitte der Bühne, eine Hand ist abgespreizt zur Seite und zittert in der Luft. Sina, vorne an der Bühnen-
Parasit
Carolin Jüngst (sie & dey) arbeitet als Choreo graf:in, Performer:in, Audiobeschreiber:in und Dramaturg:in in München und Hamburg. Zu sammen mit Lisa Rykena entstehen ihre Stücke im Duo Rykena/Jüngst in Koproduktion mit Kampnagel in Hamburg und in Kooperation mit dem HochX in München und wurden darüber hinaus an diversen Spielstätten und Festivals gezeigt, u. a. im HAU Berlin auf der Tanzplattform 2022, am brut Wien, oder auf dem FREESPACE Festival, West Kowloon Hongkong. Seit 2020 beschäftigen sie sich zudem intensiv mit Teilhabe und Zugänglichkeit in Tanz und Theater und integrieren u. a. Access-Mittel wie Audiodeskription künstlerisch in ihre Stücke. In diesem Rahmen haben sie zusammen mit der Choreographin Ursina Tossi und anderen Verbündeten das Forschungsprojekt SPOKEN DANCE initiiert und realisieren derzeit das Vermittlungs-, Austausch- und Vernetzungsprojekt LISTENING zu integrierter Audiodeskription
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Einblicke Anti·gone
„Antigone“ in Leichter Sprache Ein Gespräch zu Fragen der Übersetzung
Frangiskos Kakoulakis in „Anti·gone“
m Februar 2023 haben die Münchner Kammerspielen eine Fassung von Antigone in Leichter Sprache zur Uraufführung gebracht (Regie: Nele Jahnke). Erstmals wurde ein antikes Drama in Leichte Sprache übersetzt und in einer inklusiven Besetzung aufgeführt. Kritik und Zuschauende waren sich zur Premiere gleichermaßen uneins: Ist das bloß ein gut gemeintes, aber nicht gut gemachtes Zielgruppenexperiment, das den Klassiker um seine Sprache beraubt? Oder: Ist es ein beglückendes Erlebnis, die Philologenbrille im Etui lassen zu können? Diese Kontroverse war Anlass für ein Gespräch mit dem Philologen Prof. Markus Janka und der Übesetzerin Anne Leichtfuß am 18. November 2023 in den Münchner Kammerspielen, von dem hier ein Ausschnitt abgedruckt ist. Olivia Ebert: Anne Leichtfuß, Sie sagen: „Jeder schwierige Inhalt kann in Leichte Sprache übersetzt werden.“ Was ist überhaupt Leichte Sprache und welchen Regeln folgt sie? Anne Leichtfuß: Entstanden ist sie, weil Menschen gesagt haben: Es gibt zu
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viele Dinge, die wir nicht verstehen, um in der Demokratie mitbestimmen zu können. Und um mitreden und mitdenken zu können, muss ich die Dinge verstehen. Deshalb braucht es eine Reform der deutschen Sprache. Die Regeln der Leichten Sprache besagen zum Beispiel, dass ich nur kurze Sätze und nur Hauptsätze mache. Jeder Satz hat fünf bis acht Worte und schwere Begriffe werden erklärt. Also, Verständlichkeit ist das Ziel. Herr Janka, Sie sind Gräzist und Hochschullehrer. Sie haben aber auch schon als Lehrer an Gymnasien unterrichtet. Gab es Momente in Ihrer Unterrichtslaufbahn, in denen Sie sich eine Fassung von einem antiken Text in Leichter Sprache gewünscht hätten? Markus Janka: Gar nicht nur gewünscht, die gibt es schon. So gibt es etwa in Lehrbüchern Kurzfassungen griechischer Theaterstücke in vergleichsweise leichtem Latein. Die antiken Texte sind ja im besten Sinne Klassiker. Sie haben den verschiedensten Epochen, Kulturkreisen und Re-
zipienten etwas gesagt, sodass es zu den unterschiedlichsten Fassungen gekommen ist und kommt. Wir als Philologen sind Liebhaber des Logos, der Sprache, wie es so schön heißt. Wir dienen eigentlich dem Originaltext. Aber nicht sklavisch oder priesterlich, sondern so, dass wir ihn in unterschiedlichen Horizonte bringen wollen. Kann dann eine Übersetzung von Klassikern in Leichter Sprache mehr als ein Hilfsmittel für die Zielgruppe für Leichte Sprache sein? AL: Ja, also ich sehe da auf jeden Fall ein größeres Potenzial. Wenn ich zum Beispiel bei einem Science Slam dolmetsche, dann habe ich zum Teil drei Viertel der Menschen im Raum auf meinem Kanal, auch wenn sie nicht zur klassischen Zielgruppe gehören. Und auch das, um bei dem Wording dienen zu bleiben, ist eine Dienstleistung. Ich ermögliche mehr Menschen mitzureden, zu verstehen, worüber gesprochen wird und somit im nächsten Schritt sich auch am Diskurs zu beteiligen.
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Foto Judith Buss
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Einblicke Anti·gone Wer gehört zur klassischen Zielgruppe für Leichte Sprache? Wie viele Menschen sind das in Deutschland? AL: Der größte Teil meiner Zielgruppe sind Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten. Aber die Leichte Sprache wird zum Beispiel auch genutzt von Menschen, die Deutsch lernen. Texte in Leichter Sprache kann ich einfach schneller lesen, wenn ich Deutsch noch lerne. Aber die Zielgruppe ist viel größer. Auch Menschen mit Demenz gehören dazu. Oder Menschen, die große Schwierigkeiten beim Lesen komplexer Texte haben. Man geht davon aus, dass etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland Leichte und Einfache Sprache brauchen.
Das ist bei jeder Übersetzung in Leichter Sprache auch Bedingung. AL: Genau. Wir sind jede Passage miteinander durchgegangen und haben uns das angeguckt. Natürlich gab es viele Elemente, die fremd waren. Zum Beispiel die Figur des Sehers. Nur eine Person aus der Prüfgruppe hatte „Asterix“ gelesen und wusste, was ein Seher ist. Und ich kann ja nicht den Seher auf die Bühne kommen lassen und er erklärt, was ein Seher ist. Wir waren in Aushandlungsprozessen miteinander. Und dann haben die Schauspieler:innen angefangen, die Texte zu lesen und sie sich zu eigen gemacht. So haben wir uns irgendwie bewegt zwischen den verschiedenen Versionen.
Was sind die Kriterien einer gelungenen Übersetzung, vor allem im Verhältnis von Original zu Übersetzung? MJ: Eine Kernfrage des klassischen Philologen. Und ich könnte sagen: Wie viele Übersetzer, so viele Übersetzungsprinzipien gibt es. Man kann das nicht verallgemeinern und das ist auch gut so! Ein beliebter Übersetzungstypus ist der zielsprachenorientierte. Da holen wir die Alten zu uns. Der Gräzist und Übersetzer Wolfgang Schadewaldt sagte, wir lassen sie bei sich, mit ihrer Wort- und Gedankenfolge und ihren genuinen Konzepten, und nehmen Fremdheit in Kauf. Und Christoph Martin Wieland und seine Nachfolger: Wir holen die Alten zu uns und passen sie an, nehmen auch moderne Formulierungen und Konzepte mit hinein. Diese Konzepte können sich dann jeweils an ihren Ansprüchen messen lassen, aber niemals an einem Ideal von einer Übersetzung, die das Original perfekt nachbildet und in die Gegenwartssprache bringt.
Die Leichte Sprache sei ein Herunterfahren von Sprache auf einen Minimalkonsens, hieß es in der Süddeutschen Zeitung anlässlich der Premiere von „Anti·gone“. Wie reagieren Sie auf eine solche Kritik? AL: Zum einen ist es ja immer nur ein zusätzliches Angebot. Wer lieber eine andere Übersetzung im Theater sehen möchte, kann das tun und konnte das schon sehr lange Zeit tun. Wenn ich mir Theater explizit in Leichter Sprache angucken möchte, war das jetzt bisher die erste und einzige Option. Das heißt, niemand wird gezwungen, sich ausschließlich nur noch Stücke in Leichter Sprache anzuschauen. Und auch hier kommt dazu: Wer führt diesen Diskurs? Formen wie Mansplaining oder Whitesplaining sind inzwischen Teil des Sprachgebrauchs, Ablesplaining aber nicht. Der Begriff ist den meisten Menschen eher unbekannt. Und hier ist es so, dass ausschließlich Menschen, die nicht zur Zielgruppe gehören, darüber urteilen, ob Leichte Sprache einen Nutzen und einen Wert hat. Und die tatsächliche Nutzer:innenschaft ist gar nicht Teil dieser Diskurse. Und auch das finde ich eher schwierig.
Anne Leichtfuß, wie ordnen Sie sich hier ein? Nach welchem Übersetzungskonzept haben Sie an „Anti·gone“ gearbeitet? AL: Also ich würde sagen, ich habe mich zwischen den beiden genannten Konzepten bewegt. Und es kamen viele Faktoren dazu. Es wurde bisher noch nie in Leichter Sprache inszeniert. Es war klar, dass die Sprache schön sein soll. Menschen sollen sich das Stück zum Vergnügen ansehen. Es ist kein Erklärtext. Ich erkläre nicht die Bedeutung hinter einem Dialog von Antigone und Ismene, sondern sie führen ihn in Leichter Sprache. Dann habe ich mit zwei verschiedenen Fassungen des Textes gearbeitet und es wurden viele Menschen aus der Zielgruppe einbezogen.
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Antigone hat als klassisch gewordener Stoff Jahrtausende überlebt. Wie hängt dies für Sie mit der Lebendigkeit der Interpretationen und dem Nebeneinan der verschiedener Versionen für Sie zusammen? ML: Ganz entscheidend, wenn man jetzt in die Spielpläne schaut. Wir im gräzistischen Seminar gehen natürlich den sprachlichen Details nach und dem damaligen literarischen, historischen, kulturgeschichtlichen Kontext. Aber für mich als Hochschullehrer ist es unverzichtbar, immer auch die Rezeption und Vergegenwärti-
gung mit deutlich zu machen und in den Interpretationsprozess einzubeziehen. Zum Beispiel hat das 20. Jahrhundert mit Cocteau, Anouilh und Brecht Versionen von „Antigone“ hervorgebracht, die als solche dann wieder eigene Wirkungslinien ausgelöst haben. Und nur so ist die Attraktivität dieses Stoffes bis heute zu erklären. Diese reicht übrigens weit über den ursprünglichen Wirkungsraum des Theaters hinaus in Gegenwartsmedien wie Graphic Novels und Jugendromane. T
Prof. Dr. Markus Janka ist Professor für Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen. Seine Schwerpunkte sind das Antike Drama, Ovid, Mythologie, Rhetorik und Erotik der Antike sowie die Wirkungsgeschichte der antiken Literatur und Didaktik der Klassischen Sprachen und Literaturen. Anne Leichtfuß ist Übersetzerin und SimultanDolmetscherin in Leichte Sprache. Sie arbeitet beim Magazin Ohrenkuss... da rein, da raus, ist Mitgründerin und Webmasterin des partizipativen Forschungs-Projektes TOUCHDOWN 21 und Dozentin an der TH Köln für den Weiterbildungsgang Prozessplaner:in Inklusion. Ihre Seite www.corona-leichte-Srpache.de war 2021 für den Grimme Online Award nominiert. Auf www. einfachstars.info schreibt sie Aktuelles über Stars und Prominente in Leichter Sprache. Olivia Ebert studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main und Aberystwyth/Wales. Sie arbeitete als Dramaturgin, Kuratorin und Künstlerische Produktionsleiterin in der Freien Szene, u. a. am Künstlerhaus Mousonturm. 2018 und 2020 war sie mit Fanti Baum die Künstlerische Leitung des Theaterfestivals Favoriten in Dortmund, 2020 kuratierte sie das Theaterfestival Schwindelfrei in Mannheim. In den Spielzeiten 2020/21–2023/24 ist sie Dramaturgin und Mitglied des Künstlerischen Leitungsteams an den Münchner Kammerspielen.
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Eine fröhliche Schauspielerin, die eine Tragödie spielt Die Schauspielerin der Antigone über die Figur Von Johanna Kappauf
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ntigone ist eine starke Frau, sie widersetzt sich dem Gesetz. Das Gesetz kommt von Kreon, dem König. Nur einer der Brüder wird begraben, der andere nicht. Einer soll den Tieren zum Fraß vorgeworfen werden. Antigone hat den Mut, ihren Bruder zu begraben. Ein bisschen schade, dass keiner ihr dabei helfen will. Obwohl Antigone weiß, dass darauf die Todesstrafe steht, will sie den Bruder begraben. Es gibt Streit in Antigones Familie, weil es gegen Kreons Willen verstößt. Ich spiele Antigone, die Hauptrolle. Sie hat ein starkes Auftreten. Ich freue mich, diese Rolle spielen zu dürfen. Ich möchte auch, dass alle das gleiche Recht haben. Ich muss nicht immer die lustigen Rollen
Sebastian Brandes als Ismene
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Johanna Kappauf wurde 1999 in München geboren. Sie arbeitet bei der SWW München Weberei und spielt bei der Theatergruppe Die Blindgänger. Seit der Spielzeit 2021/22 ist sie ein festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. Für ihre Schauspielleistung in der Inszenierung „Wer immer hofft, stirbt singend“ erhielt sie 2022 den Therese-Giehse- Preis des Bundesverband Schauspiel und 2023 den Förderpreis des Vereins zur Förderung der Münchner Kammerspielen.
Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
Fotos oben Leonard Rössert, unten Judith Buss, rechte Seite Alicja Szulc
Johanna Kappauf Backstage
bekommen, ich finde es interessant, so eine Rolle wie die von Antigone zu spielen. Ihre klare Entscheidung gefällt mir, weil jeder muss das Recht haben, begraben zu werden. Aber was ist, wenn die Antigone lustig darauf reagiert und ihre Schwester vielleicht doch hilft? Aber da ist bei allen die Angst vor der Strafe. Gibt es einen Weg, dass sich die Familie doch versöhnt? Ich glaube, ich kann ganz viel von der Rolle Antigone lernen. Wie viel muss bei Antigone gesprochen sein? Man kann sich auch durch Körpersprache ausdrücken. Ich finde es sehr gut, mit dem Körper zu arbeiten. Antigone muss sich gegen alle wehren, aber trotzdem nett bleiben. Aber mit ihrer Tat habe ich das Gefühl, sie wird zu einer Außenseiterin. Für mich als fröhliche Schauspielerin eine Herausforderung, so eine Rolle zu spielen. Ich bin fröhlich. Traurige oder ernste Szenen, da bemühe ich mich, auch so zu sein, was nicht immer gleich gelingt. Über diese Rolle bin ich schon sehr glücklich. Das ganze Team von Antigone ist so nett. Freue mich, dass es so ein nettes Miteinander ist. Es ist schön, mit allen zu arbeiten, Zusammen zu arbeiten. Es ist schön zu lachen, körperlich zu arbeiten. Und vor allem, Spaß am Ausprobieren zu haben. Da fällt es mir ab und zu mal ein bisschen schwer, meine Schüchternheit zu überwinden und mich zu trauen, die anderen Personen zu bewegen und Gewicht von meinem Körper auf den Mitspieler abzugeben oder Selbstbewusstsein zu zeigen, wenn ich durch den Raum gehe. Ich finde es gut, wenn die Choreografin mir Ideen gibt und meine Bewegungen zu einem Tanz werden. Auch die Arbeit mit Nele am Text finde ich interessant. Ich will es gut machen. Dann sagt man zu mir, atmen nicht vergessen, obwohl ich selber immer denke, ich atme doch. Und mach es so, wie du kannst, dass es deinem Körper guttut. Manchmal denke ich nach, ob ich es gut oder schlecht mache. Dann sagt man, jeder kanns auf seine Art. T
Partnerschaften Teatr 21
Der Körper der Schauspielerin und die Moral des Publikums Aleksandra Skotarek, langjährige Schauspielerin bei Teatr 21, reflektiert über ihre Bühnenpersönlichkeit. Teatr 21 aus Warschau ist eine der bekanntestes Gruppen in Polen. Hier erarbeiten Spieler:innen mit Down-Syndrom und dem Autismus-Spektrum eigene Stücke. Von Aleksandra Skotarek
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ein Name ist Aleksandra Skotarek. Ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Ich bin eine erwachsene Frau mit kognitiver Behinderung. Ich arbeite seit achtzehn Jahren als Schauspielerin am Teatr 21. Ich habe mit meinem Körper verschiedene Rollen auf der Bühne geschaffen. Ich habe einen privaten Körper und einen Bühnenkörper, der Aufführungen mitgestaltet. Einen privaten Körper zu haben bedeutet, wirklich, anständig und von anderen akzeptiert zu sein. Der Bühnenkörper ist die Innenseite der Nacktheit – sowohl von der oberen Seite als auch von unten. Auf der Bühne arbeite ich mit meinem Oberund Unterkörper. Der Obere reicht vom Gesicht bis zur Taille, er ist öffentlich und persönlich zugleich. Der untere reicht von der Hüfte abwärts – er ist persönlich und verboten, unanständig. Wenn ich auf der Bühne meine Brüste berühre, meinen Bauch und meinen Slip zeige, dann tue ich das nicht im Privaten: Ich spiele, indem ich mei ne Sexualität, meine Gefühle, meine eigene Norm, meinen unvollkommenen Körper zum Ausdruck bringe – das Werkzeug mei ner Arbeit. Ich tue das für mich und für die Zuschauer:innen – obwohl nicht jede:r das akzeptiert. Ich wecke Schamgefühle mit einer Wahrheit, die weh tut. Ich zeige meinen Körper in Bewegungen und Bildern.
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Wenn ich ein Kissen zwischen meine Beine lege, wenn ich mich in einen langen, lilafarbenen Schal hülle, wenn ich Punk-Klamotten trage und wild bin und mein Körper rebellisch ist. Und ich schäme mich für keine dieser Enthüllungen meines Körpers. Dabei geht es nicht darum, meine Privatsphäre darzustellen, sondern darum, eine Figur auf der Bühne zu formen – das Theater weist meinem Körper unterschiedliche Identitäten zu. Wenn ich an einer Rolle arbeite, fühle ich, dass ich mit meinem Schauspiel für andere wichtig bin, dass ich gebraucht werde und dass ich mutig bin. Ich liebe diese Art von Theater. In dem Stück „PokaZ“ (deutsch: „ZeiG“) hatte ich eine Szene mit einem Spiegel: Ich enthüllte meine obere Nacktheit, um den Zuschauer:innen klarzumachen, dass sie letztendlich meinen Körper akzeptieren müssen, so wie er ist. Für mich ist das moralisch – schön, körperlich und mutig. Es ist meine Freiheit in meinem eigenen Körper, das Recht, über meine obere und untere Nacktheit zu entscheiden. Ich mag meine Präsenz auf der Bühne – für mich ist sie der wichtigste Teil meines Berufslebens. Ich fühle mich als Schauspielerin akzeptiert und geschätzt. Ebenso wichtig ist die Arbeit mit Schauspieler:innen des Teatr 21 und die Beziehung zum Publikum. Ich freue mich, dass wir von der Bühne aus über Themen sprechen können, die uns wichtig sind und die uns bewegen. So zum Beispiel in „Libido Romantico“ – besonders in der letzten Szene, in der Eltern von Menschen mit geistiger Behinderung zu hören sind, wie sie die Sexualität ihrer Kinder ausbremsen. Für mich ist dieses Stück einzigartig und kraftvoll, notwendig und schön. Es handelt davon, dass der Körper auch eine Annehmlichkeit ist. Er ist gut und wichtig. Er ist ein Teil dessen, man selbst zu sein.
Aleksandra Skotarek
Ich schäme mich nicht für meinen Körper – andere schämen sich eher für ihn, weil er das Unausgesprochene, Verborgene, meist Verdeckte und Unanständige offenbart. Meine geistige Behinderung ist mir sehr wichtig, wichtig in meinem Leben und in meiner Persönlichkeit. Lasst uns damit beginnen, in Menschen mit geistiger Behinderung Menschen mit komplexen, interessanten Identitäten zu sehen. Wir können und wollen mit dem Körper, den wir haben, von der Bühne aus sprechen. Der Text entstand auf der Grundlage eines Interviews mit Justyna Lipko-Konieczna, die Fragen stellte und die Antworten der Autorin wortgetreu aufzeichnete und gegebenenfalls zusätzlich nachfragte, wenn ein Inhalt einer Klärung bedurfte. T
Aleksandra Skotarek ist Schauspielerin, Schriftstellerin und Aktivistin und arbeitet seit achtzehn Jahren mit dem Teatr 21 zusammen. Skotarek leitet Klassen im Postgraduiertenstudium für Theaterpädagogik an der Warschauer Universität sowie Gast-Meisterklassen an der Theaterakademie in Warschau. Skotarek ist Autorin zahlreicher Theatertexte, Manifeste und Vorträge. Ihre Vorträge fanden an der Theaterakademie, dem Institut für polnische Kultur, den Kammerspielen in München und dem Europäischen Solidaritätszentrum statt. Skotarek spielte zahlreiche Rollen, u. a. in den Produktionen von „The Love Ship“, „Episode 1“, „Libido Romantico“ und schließlich das performative Solo „I’m Not a Plant“.
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Partnerschaften Theater HORA
Freddy Krueger und Chucky, die Mörderpuppe Fabian Moraw im Gespräch mit dem Regieteam der Produktion „Horror und andere Sachen“ Und wo lauert der Horror des Alltäglichen? Tiziana Pagliaro flüstert den Performenden live immer neue Stichworte ein und zieht das Publikum gemeinsam mit LiveDJ Remo Beuggert in einen trancehaften Sog. Das Stück baut auf Tiziana Pagliaros Regiearbeit „Randensaft Horror“ auf, die sie im Rahmen des Projekts Freie Republik HORA inszenierte. An den Münchner Kammerspielen wurden Pagliaro und Beuggert durch ein Team unterstützt, das mit ihnen gemeinsam eine Struktur schafft, die ihnen die künstlerische Arbeit zu ihren Bedingungen ermöglicht. (Künstlerische Begleitung der Regie: Nele Jahnke, Theaterpädagogische Begleitung der Regie: Anna Fierz, Magdalena Neuhaus) Fabian Moraw, Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele, stellt Pagliaro und Beuggert einige Fragen zum Stück.
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Eine Zeichnung von Tiziana Pagliaro
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iziana Pagliaro und Remo Beuggert vom Theater HORA verbindet eine langjährige künstlerische Partnerschaft in unterschiedlichen Projekten und Konstellationen. Ihr Projekt „Horror und andere Sachen“ ist die erste Inszenierung eines Regie-Teams mit kognitiver Beeinträchtigung an einem deutschen Stadttheater. Beide verfolgen in dieser Stückentwicklung gemeinsam mit dem Ensemble und dem Team der Münchner Kammerspiele ihr Interesse an Horrorfilmen, Special Effects und Nervenkitzel. Wann ist etwas Spiel, wann ernst? In wen oder was können sich Menschen in Horror-Filmen verwandeln? Was macht den Spaß am Gruseln aus?
Und du, Remo? Deine Lieblingsszene. RB: Weiß ich gar nicht. Ja, es ist immer ein bisschen anders bei der Impro. Wenn es Sachen gibt, die ich gerne sehe. Manchmal kommen sie. Manchmal passiert das nicht. Aber ich sitze sehr gerne am Computer und lass die Musik gerne laufen. Warum habt ihr so viel Nebel benutzt? TP: Ich habe das ausgewählt, dass Nebel gut ist mit meiner Bühne. RB: Du hast es ausgewählt, weil es passt zu deiner Bühne? TP: Ja, mit dem Blitz zusammen.
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Foto Judith Buss
Katharina Bach, Leoni Schulz, Dennis Fell-Hernandez und Frangiskos Kakoulakis
Fabian Moraw: Was ist eure Lieblingsszene im Stück? Remo Beuggert: Hast du die Frage verstanden, Tiziana? Tiziana Pagliaro: Ich habe verstanden. RB: Möchtest du anfangen und eine Antwort geben? Hast du einen Lieblingsmoment im Stück? TP: Also ich mag gerne, wenn ich spiele mit der Chucky.
Partnerschaften Theater HORA Was war eure Aufgabe bei dem Stück? RB: Meine Funktion ist es, Musik einzuspielen. Ich habe die ganze Musik ausgewählt und das im richtigen Moment eingespielt. Und Tiziana, was ist deine Aufgabe beim Stück? TP: Ich bin da, um Königin spielen. RB: Du spielst Königin? TP: Jawohl. Und du hast dir ja auch das Stück aus gedacht? TP: Ja, habe ich. Ich habe eine Szene, wo ich italienisch gesungen hab, dass durch die Entwicklung von Chucky. RB: Das Stück wurde weiterentwickelt, weil das Stück gab es eigentlich schon. Ja, und wir haben es an den Münchner Kammerspielen weiterentwickelt. Und das habt ihr da auch zu zweit gemacht? RB: Ja, mit ein paar von HORAs. Dort war es nur Improvisation. Und hier ist es so was dazwischen. Erste paar Minuten ist es fix und dann wechselt es um zu Impro. Warum habt ihr das Stück gemacht? RB: Ah, ich glaube Tiziana du bist doch angefragt worden. TP: Ja, richtig. RB: Tiziana ist angefragt worden von ein paar Leuten Kammerspielen, ob sie Lust hätte, das Stück zu machen. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich Lust hätte, da mal da mitzumachen. Ich hatte Lust. Und wie seid ihr auf die Idee gekommen, was zu Horror zu machen? TP: Also zuerst muss ich mir DVD schauen. Und was findest du gut an den an Horrorfilmen? Was magst du daran? TP: Also, es ist schwierig zu sagen. Ich habe, dass ich gerne habe, doch Horror ist Freddy Krueger, Chucky die Mörderpuppe. Mit dem Cowboy und viel verschiedene Horrors. Wie hast du die Musik ausgesucht für das Stück? RB: Ja, ich glaube, es ist ganz spontan. Es war zum Beispiel beim: „Ich will“ haben sie Headbangen gemacht und das gefiel Tiziana und wollte es einbauen. Und das andere, das Italienische, das kam von Tiziana, das wollte sie unbedingt. Was machst du bei der Vorstellung auf der Bühne? TP: Also, ich würde gerne auf der Bühne sein. Weil ich hab gerne italienisch singen
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und das Musik langsam tut fesseln. Da sag ich also: Hi, ich bin Chucky. Wollen spielen? Wie habt ihr geprobt? TP: Also, ich ausgewählt Schauspieler und Schauspielerinnen. Ich habe André, Leoni, Katharina, Dennis, Frangiskos. Und Frangiskos ist „Es“. Und der Dennis spielt Harry Potter. Und dass Katharina Haifisch spielen habe. Und der André, der spielt auch Freddy Krueger und Wolf auch. So mit der Musik. Tanzen. Schneller oder langsam, beides. Und das hast du immer gesagt? Das sie schneller spielen sollen oder langsamer? Oder lauter und leiser? TP: Ja, genau. Und machst du das auch, wenn du auf der Bühne bist? TP: Also, habe ich. Also, ich möchte die Königin spielen. Also das ist die Idee, die Nele und ich hatten, als wir entschieden haben in München. Also das ist die Idee, die ich gehabt habe, dass ich dort stehe und ich dort am Mikrofon anfange: langsam, tempo, piano. So etwas. Was fandest du, Remo, was fandest du, Tizi, am besten? RB: Also das Bühnenbild fand ich cool. Dass man auf einen Rahmen aus Bilderrahmen so ganz kurz Horrorbilder sieht, wie den Clown. Die Technik, das wusste ich bisher nicht, dass es so möglich ist. Also das finde ich cool. Und Tiziana, dann fandest du am besten? TP: Das Gleiche, was Remo gesagt hat. Bei was für einem Stück würdet ihr gerne Regie machen? Gibt es zum Beispiel ein Thema, wo ihr denkt, das will ich unbedingt mal auf der Bühne machen? RB: Zu einem gewissen Thema? Warum ist die Musik für die Menschheit so wichtig? Ich würde wahrscheinlich mit dem arbeiten. Warum ist Musik wichtig für dich? Und würde das ein bisschen nachforschen. Was das mit einem macht? Ein Theaterstück. Oder jemand tanzt zu Musik, die er nicht gerne hat und dann tanzt er wieder zu Musik, die er gerne hat. Den Unterschied. Ja, vielleicht fällt mir da noch viel mehr einfallen. Und wie war es für euch, in München zu arbeiten? RB: Es war cool. Da habe ich für zwei Monate nur für die Musik verantwortlichen. Konnte fast zwei Monate nicht selbst spie-
len. Das habe ich ein bisschen vermisst. Es war cool, ich würde es jederzeit wieder machen. Aber selbst auf der Bühne stehen und zu spielen, das habe ich ein bisschen vermisst mit der Zeit Und wie war das bei dir Tiziana? TP: Ich fand es schön in München. Weil da gab es die ganze Woche andere Kollegen gab und ich am Wochenende zu Hause war. Also Wochenende nach Hause gehen oder auch mal in München bleiben. RB: Also wir gingen hier am Freitag nach Hause und kommen am Sonntag wieder. Aber das coole, wir konnten das ganze Gepäck in München im Zimmer lassen. Und als wir nach München kamen, war es irgendwie so, als würden wir wieder nach Hause kommen. Gibt es noch was, was ihr gerne erzählen möchtet? RB: Ja, dass ich den Arbeitsweg sehr spannend fand, wie es von Anfang bis zum Schluss entwickelt hat. Dass ich diese Stück eigentlich sehr gern spiele. Dass ich die Leute vermisse. Ich habe letztens davon geträumt von diesem Stück. Ich habe es einfach gern. T Paulina Wawerla, Dramaturgieassistentin an den Münchner Kammerspielen, war Teil dieses Gesprächs und hat gelegentlich die Kommunikation unterstützt.
Tiziana Pagliaro, geboren 1986, ist seit 2007 beim Theater HORA. Im Langzeitprojekt „Freie Republik Hora“ entwickelte sie 2016 ihre erste Regiearbeit „Randensaft Horror“, die seitdem zu zahlreichen Gastspielen eingeladen wurde. Am Theater HORA arbeitete sie u. a. mit Regisseur:innen wie Michael Elber, Jacqueline Moro, Nele Jahnke, Stephan Stock & Yanna Rüger, Milo Rau und Jérôme Bel. Remo Beuggert, geboren 1982, ist seit 2007 Schauspieler bei Theater HORA. Er stand in zahlreichen HORA-Stücken auf der Bühne, arbeitete mit Regisseur:innen wie Michael Elber, Jacqueline Moro, Nele Jahnke, Stefan Stock & Yanna Rüger, Tiziana Pagliaro, Milo Rau und Jerôme Bel. Er hat auch schon Regie geführt bei „Kontaktkiller“ und „Die Vögel“. Fabian Moraw geboren 1998, sammelte während seiner Schulzeit an der Montessori-Schule erste Bühnenerfahrungen in der Theater AG. Neben mehreren Praktika und Intensiv-Workshops an der Freien Bühne München absolvierte er zudem ein mehrwöchiges Praktikum beim Münchner Theater für Kinder. Seit der Spielzeit 2020/21 ist er Schauspieler an den Münchner Kammerspielen.
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Wie kann Inklusion an einer Schauspielschule gelingen? Zwei Studierende der Otto Falckenberg Schule im Gespräch: Annika Molke und Arthur Becker in Reaktion auf Fragen von Paulina Wawerla
Welche Barrieren sollte die Otto Falckenberg Schule abbauen? AM: Aus meiner ganz persönlichen Sicht keine. Ich habe nicht das Gefühl, mehr Barrieren zu haben, sondern eher andere. Jede:r hat Schwierigkeiten, die
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Foto Federico Pedrotti
Die Otto Falckenberg Schule im Münchner Lehel
Welche Hindernisse musstet ihr auf eurem Weg in die Otto Falckenberg Schule bewältigen? Arthur Becker: Im Wesentlichen die gleichen wie alle anderen: Mich überwinden vorsprechen zu gehen, die Aufnahmeprüfung und danach die Probezeit bestehen. Parallel dazu war ich rückblickend fast das ganze erste Jahr damit beschäftigt, mit meinem Hochstaplersyndrom fertig zu werden. Aber das ist etwas, das mich genauso betrifft wie meine Kommiliton:innen ohne Beeinträchtigung. Ich glaube, dass fast jede:r Mensch in so einer Lebenssituation individuelle Gründe findet, an seiner:ihrer Aufnahme zu zweifeln. Mir hat sehr geholfen, dass ich erklärtermaßen die gleichen Prüfungen wie alle anderen absolviert habe und explizit nicht aus einem Quotengedanken oder ähnlichem aufgenommen wurde. Wäre dem nicht so gewesen, würde ich mir darüber im Zweifel bis heute den Kopf zerbrechen. Annika Molke: Ich habe mich immer gefragt: Werde ich an einer Schauspielschule aufgrund meiner Behinderungen angenommen werden oder gerade deswegen nicht? Haben die Behinderungen überhaupt einen Einfluss auf die Entscheidung der Prüfungskommission? Auch nachdem ich aufgenommen wurde, war das für mich ein Thema. Bei so einem Aufnahmeprozess bringt jede Person ganz viele Faktoren wie Äußerlichkeiten, Verhaltensweisen oder Hintergründe mit. Warum soll jetzt ein größerer Fokus auf meiner Behinderung liegen als auf allen anderen Eigenschaften, die ich mitbringe? Dennoch fällt es schwer darauf zu vertrauen, da das Thema Behinderung oft besonders behandelt wird. Das ärztliche Attest, das die Schule verlangt, habe ich wahrscheinlich nur bekommen, weil mich die Ärztin, die mich untersucht hat, schon seit vielen Jahren kennt. Wenige Ärzt:innen wissen, wie eine Schauspielausbildung körperlich und psychisch aussieht und können dementsprechend kaum darüber entscheiden, ob eine Person, ob mit oder ohne Behinderung, für diesen Beruf geeignet ist. Dass die Schule dennoch darauf vertraut und solch ein Attest verlangt, finde ich fragwürdig.
Partnerschaften Ausbildung andere nicht haben. Deshalb ist der Austausch miteinander sehr wichtig. Gerade weil meine Behinderungen kaum oder gar nicht sichtbar sind und ich oft eigentlich nur durch Beschreibung vermitteln kann, was ich brauche, bin ich auf Kommunikation angewiesen. Dabei sind Empathie und Verständnis das A und O. Ich habe die Möglichkeit, mich zu äußern und zu artikulieren, wenn ich Schwierigkeiten habe. Dennoch weiß ich, dass es nicht allen so geht. AB: Ich würde sagen, gar keine. Ich möchte und kann letztlich aber auch nur aus meiner persönlichen Perspektive sprechen und finde allgemein nicht, dass es in erster Linie darum gehen sollte, Barrieren abzubauen, sondern darum, Strategien zu vermitteln, mit ihnen umzugehen. Im Rahmen eines Schauspielstudiums und auch im darauffolgenden Beruf stoßen alle auf verschiedensten Ebenen an ihre Grenzen. Und dann geht man damit um. Findet Lösungen und Alternativen. Dazu kommt es aber gar nicht erst, wenn einem von vornherein alle Barrieren aus dem Weg geräumt werden. Ergo würden mir am Ende meines Studiums existenzielle Fähigkeiten fehlen. Man sollte diese Frage aus meiner Sicht aber sowieso nicht uns, sondern
Menschen, die hier (noch) nicht studieren, stellen. Was sind eure Visionen für die Ausbildungszeit? AM: Am besten wäre es, wenn Studierende an einer Schauspielschule nicht mehr lernen müssten, wie man mit Menschen mit Behinderung umgeht, indem es spezifische Workshops oder sogenannte inklusive Projekte gibt. Im Idealfall haben die Studierenden schon seit ihrer Kindheit Kontakt mit ganz verschiedenen Menschen und lernen den Schauspielberuf gemeinsam mit Kommiliton:innen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen. Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung mit allem, was sie mitbringen, vertreten sind. Wirkliche Inklusion findet jedoch erst statt, wenn sie nicht mehr thematisiert werden muss. Das ist ein Zustand, dem wir uns in den letzten Jahren ein bisschen angenähert haben. An dem Punkt sind wir aber noch längst nicht. AB: Mein Wunsch ist, dass die Ausbildung weiterhin im Zentrum steht. Dass Inklusion und Diversität, gerade in unserem Metier, äußerst wichtig sind und weiter vorangetrieben werden müssen, steht völlig außer Frage. Für mich geht es um das
wie. Wenn man die Dinge zu stark forciert, bewirkt man aus meiner Sicht das genaue Gegenteil. Im Deckmantel der political correctness den künstlerischen Anspruch an eine Produktion, Ausbildung oder die Fähigkeiten eine:r Spieler:in runterzuschrauben, hat nichts mit Inklusion zu tun und ist darüber hinaus völlig kontraproduktiv. Inklusion passiert nicht durch das ständige Thematisieren von Inklusion. Auch nicht durch Checklisten, Programmatik oder Sonderbehandlung. Sie passiert durch Arbeiten auf Augenhöhe. Dann wird ganz automatisch mit den Themen aller umgegangen. Ich spreche aus Erfahrung. T
Arthur Becker 2000 in Berlin geboren, spielte vor dem Schauspielstudium u. a. am Jungen DT und in der freien Gruppe die Debütanten. Zurzeit studiert er im zweiten Studienjahr der Otto-Falckenberg-Schule. Annika Molke, geboren in Dresden, war bereits bei vielen Theaterprojekten beteiligt (z. B. „Bilder ohne Lila“ Regie Adrian Figueroa, Staatsschauspiel Dresden). Seit 2021 studiert sie an der Otto-Falckenberg-Schule.
Zukunft ist jetzt: „ArtPlus“ von EUCREA EUCREA berät Kreative mit Behinderung und Ausbildungsinstitutionen auf dem Weg zu mehr Vielfalt Von Claire Diraison
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chauspielschulen sind meistens überfordert, wenn es um die Aufnahme von gehörlosen Bewerber:innen, sowie von Bewerber:innen mit Down-Syndrom oder im Rollstuhl geht. Dass Kreative mit Behinderung Schauspiel, Tanz oder Regie studieren, bleibt noch eine Ausnahme, die Ausgrenzung und Diskriminierung widerspiegelt. EUCREA will das mit dem Programm „ARTplus“ ändern. EUCREA ist ein Verband zum Thema Kunst und Behinderung in Deutschland. Seit 1989 arbeitet EUCREA an nachhaltigen Konzepten für mehr Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb. Seit 2021 haben bereits 31 Kreative mit Behinderung und neun künstlerische
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Ausbildungsinstitutionen in Hamburg, Bremen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen an „ARTplus“ teilgenommen. Gemeinsam mit den Studierenden und den beteiligten Ausbildungshäusern sucht EUCREA nach geeigneten Bildungsformaten und Zugangsmöglichkeiten. Die Studierenden werden hinsichtlich möglicher Angebote, finanzieller Förderungen und Assistenzleistungen beraten; die Ausbildungsinstitutionen wiederum hinsichtlich der Curricula, des Nachteilsausgleichs und des Umgangs mit Assistenzbedarf. Aktuell bestehen im Bereich der Darstellende Künste Kooperationen mit dem Regiestudiengang der Folkwang UdK und der HKS Ottersberg, in Planungen befin-
den sich Kooperationen mit der HfS „Ernst Busch“ und der HfMT Hamburg. Die Arbeit von „ARTplus“ erstreckt sich über die Darstellenden Künste hinaus und wirkt ebenso in den Sparten Bildende Kunst und Musik. Ein bedeutender Meilenstein in der Bildungspolitik wurde 2022 an der HKS Ottersberg erreicht, an der Menschen mit intellektuellen Behinderungen ein reguläres Bachelor-Studium angeboten wird.
Mehr über das Programm ARTplus unter www.eucrea.de Kontakt: Angela Müller-Giannetti, Programmleiterin, Claire Diraison, Presseund Öffentlichkeitsarbeit EUCREA
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Partnerschaften Förderung
„Wie ich mich hier zeige, so möchte ich von Euch gesehen werden“ Warum fördert die Kulturstiftung des Bundes inklusive Kunstpraxis? Von Steffen Sünkel Die Teilnehmenden der „pik“-Akademie auf dem All Abled Arts Festival
icht von ungefähr habe ich diesen Text mit einem Zitat des britischen Künstlers Dan Daw überschrieben: „Wie ich mich hier zeige, so möchte ich von Euch gesehen werden.“ Gleich zu Beginn trifft er in seiner „Dan Daw Show“ diese Aussage und macht klar: „Ich empfinde Freiheit in der Inszenierung meines Körpers und meines Begehrens.“ Diese em powernde Sichtweise hat existenziellen Wert auf der Bühne und ist darüber hinaus für die Zuschauer:innen eine einladende Geste der Teilhabe. Inklusive Kunstpraxis dieser Art bringt bisher Unerzähltes, Ungesehenes, Ungehörtes und damit radikal Neues auf die Bühne. Diese Erzählperspektive brauchen wir als Gesellschaft. Und dies fördert die Kulturstiftung des Bundes mit dem Programm für inklusive Kunstpraxis „pik“. Wir wollen mit „pik“ einerseits neue poetische Möglichkeitsräume entdecken und sichtbar machen, und andererseits herausfinden, wie künstlerisches Arbeiten in diesem Bereich vor, auf und hinter der Bühne weitergedacht werden kann. Am deutlichsten wird der ungewohnte, innovative und individuelle Beitrag inklusiver Kunst beziehungsweise der Disability Arts dort, wo behinderte Kunstschaffende in kreativen Prozessen leitend und damit verantwortlich tätig sind. In diesem Bereich der Disabled Leadership stehen wir in Deutschland noch ganz am Anfang. Es gibt noch nicht allzu viele Künstler:innen, die als Intendant:in-
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nen, Autor:innen, Regisseur:innen oder Dramaturg:innen arbeiten. Natürlich hat das auch mit den immer noch fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten in den künstlerischen Berufen zu tun. Dabei reichen die unzugänglichen Strukturen der Hochschulen von nicht-barrierefreien Aufzügen, über fehlenden Übersetzungsangebote in Gebärdensprache oder Leichte Sprache bis hin zu Unterrichtseinheiten, die Erholungsphasen nicht mit einkalkulieren – nur um einige einschlägige Beispiele zu nennen. In jüngster Zeit werden diese Barrieren immer häufiger erkannt, und es wird gemeinsam nach effektiven Wegen gesucht, diese abzubauen. Gleichzeitig ermutigen wir mit dem „pik“-Programm Stadt- und Staatstheater, nicht darauf zu warten, bis diese Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen sind, sondern diesen Öffnungsprozess schon jetzt selbst zu starten – aus künstlerischer Motivation heraus. Für die Institutionen bedeutet das, sich mit ihren internen Arbeitsstrukturen und Abläufen zu beschäftigen. Es bedeutet, neue Formen und gesellschaftliche Fragestellungen eben nicht nur auf der Bühne zu verhandeln, sondern sich im eigenen Haus auf einen transformatorischen Weg zu machen und dafür den Dialog mit Kunstschaffenden mit Behinderung und sämtlichen Abteilungen im Haus zu führen. Die Kulturstiftung hat ein Netzwerk aus sieben Partnerschaften zwischen großen Stadt- und Staatstheatern, einem
internationalen Produktionshaus und freien Gruppen gegründet, die ihre Expertise in diesem Modellprogramm weiter ausbauen werden. Als lernendes Netzwerk wollen die Tandems gemeinsam herausfinden: Was heißt eigentlich inklusive Kunstpraxis? Welche Kriterien müssen berücksichtigt werden? Wie kann ein gemeinsames künstlerisches Arbeiten auf Augenhöhe gelingen? Was muss sich strukturell bei den Theatern verändern, um Barrieren abzubauen und neue Assoziationen und Sichtweisen zuzulassen?
Foto Gabriele Neeb
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Partnerschaften Förderung i can be your translator und Schauspiel Dortmund Die Schauspielerin Linda Fisahn, aus dem Performance-Kollektiv i can be your translator wird in der aktuellen Spielzeit am Schauspiel Dortmund ihre erste eigene Regiearbeit, „Hurra, Romeo und Julia“ herausbringen. Sie ist bereits seit einigen Monaten am Schauspiel Dortmund engagiert, um die Abteilungen, die Abläufe und nicht zuletzt die Notwendigkeiten eines Mehrspartenhauses kennenzulernen. Das ist ein gutes Beispiel, wie durch Teilhabeverfahren, künstlerische Rollen und Abläufe innerhalb des institutionellen Betriebes weiterentwickelt werden können. Freie Bühne München und Münchner Kammerspiele Gemeinsam mit der Freien Bühne München haben sich die Münchner Kammerspiele in den letzten Jahren auf einen Veränderungsprozess eingelassen und sukzessive die Münchner Kammerspiele zugänglicher und inklusiver aufgestellt. Die sichtbarste Veränderung sind die sieben Schauspieler:innen, die fest im Ensemble der Münchner Kammerspiele engagiert sind. Entstanden sind innovative Produktionen und zuletzt ein neues internationales und inklusives Theater- und Performance-Festival.
Jahrs stellte das von ihm mitkuratierte Festival, „Sorry, not Sorry“, zahlreiche Tanzproduktionen vor, die von Künstler:innen mit Behinderung choreografiert wurden. tanzbar_bremen und Theater Bremen In der Kooperation mit tanzbar_bremen in den Sparten Tanz sowie Junges Theater Bremen verbessert das Theater Bremen als Vierspartenhaus die eigenen Produktionsstrukturen für Künstler:innen mit Behinderung und baut ein lokales Netzwerk für inklusive Kunstpraxis auf. In gemeinsamen szenischen Werkstätten und Tandems werden beide Partner in den kommenden Spielzeiten gemeinsame Produktionen entwickeln. Theater Thikwa und GRIPS Theater Das inklusive Theater Thikwa und das Kinder- und Jugendtheater GRIPS Theater erforschen Möglichkeiten und Herausforderungen eines inklusiven Tanz- und Musiktheaters. Beide Häuser verbinden ihre beispielgebende Arbeitsweise unter dem Vorzeichen inklusiver Praxis und entwickeln ein gemeinsames Stück zum Thema Macht.
RambaZamba Theater und Deutsches Theater Das Deutsche Theater und das RambaZamba Theater loten in ihrer Kooperation den Begriff der Autor:innenschaft neu aus. Im sogenannten Writing Room, einer Art Stücke-Schreibwerkstatt, treffen sich seit Herbst 2023 Ensemblemitglieder beider Theater, um gemeinsam inklusive Schreibprozesse zu erproben. Sie entwickeln kollaborativ einen Theatertext, der in der kommenden Spielzeit uraufgeführt wird.
Schauspiel Leipzig und lokale Expert:innen für Deutsche Gebärdensprache Das Schauspiel Leipzig entwickelt bereits seit 2013 seine Serviceangebote für blindes oder sehbehindertes Publikum mithilfe von Live-Audiodeskription weiter. Mit der „pik“-Förderung geht es nun einen nächsten Schritt: Gemeinsam mit Expert:innen für Deutsche Gebärdensprache führt es in der Spielzeit 2024/25 das Stück „Altbau in zentraler Lage“, ein Auftragswerk der Autorin Raphaela Bardutzky, auf. Hier werden Laut- und Gebärdensprache als einander ergänzende künstlerische Mittel eingesetzt.
Dan Daw Creative Projects und Kampnagel Das internationale Produktionshaus Kamp nagel ist ein Vorreiter sowohl in der Produktion als auch in der Präsentation von Access-Aesthetics. Es kooperiert mit dem britischen Künstler Dan Daw und dessen Team auf verschiedenen Ebenen. Als Pionier einer inklusiven Tanz-Ästhetik an der Schnittstelle von Queerness und Behinderung verfügt Dan Daw über eine große internationale Expertise im Bereich Disabled Leadership. Anfang dieses
Die „pik“-Kooperationspartner:innen suchen auf ganz unterschiedlichen Ebenen den Austausch untereinander. Ein wesentliches Anliegen ist die Förderung von selbstbestimmten Positionen von Kunstschaffenden mit Behinderung. Inklusive Kunstpraxis ist dabei sehr divers in ihren Zielen – auf die Subjektivität künstlerischer Entwicklungen kann und sollte sie sich zubewegen. Oder wie es der Schauspieler Jonas Sippel sagte: „Erst wenn ich
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auch den Bösewicht spielen kann, ist es für mich Inklusion.“ Mittlerweile werden viele inspirierende Künstler:innen auch außerhalb der Disability Arts Szene wahrgenommen. Auch in zahlreichen Gesprächen mit Intendant:innen wird uns als „pik“-Programm gespiegelt, dass sich die Häuser öffnen wollen, sie aber noch nach dem geeigneten Vorgehen suchen. Vor diesem Hintergrund wollen wir die Erfahrungen aus dem „pik“-Netzwerk für inklusive Theaterkooperation bündeln und über das Netzwerk hinaus verfügbar machen. Dass inklusive Kunstpraxis eine hohe Qualität aufweist, spiegelt sich auch in den zahlreichen Auszeichnungen der letzten Spielzeiten wider: Das Theater HORA aus der Schweiz ist mit der Koproduktion „Riesenhaft in Mittelerde“ nach 2013 bereits zum zweiten Mal zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen, die Hamburger Gruppe Meine Damen und Herren erhielt für ihre wegweisende Theater-Arbeit den Tabori Preis 2022. Die australische Theaterkompagnie Back to Back Theatre erhielt im gleichen Jahr den International Ibsen Award und jüngst den Goldenen Löwen in Venedig. Ohne Zweifel hat die internationale inklusive Szene eine Vorreiterrolle. Es ist an der Zeit, dass dieses Potenzial auch in der deutschen Kulturlandschaft erkannt, entsprechend gefördert und auf den Bühnen gezeigt wird. Das Ephemere ist das großartige und gleichzeitig traurige Potenzial des Theaters. Wenn es jetzt gelingt die Strukturen inklusiv zu denken, könnte das momentan noch Flüchtige verstetigt werden und inklusive Kunstpraxis dauerhaft möglich sein. T
Steffen Sünkel leitet seit 2022 gemeinsam mit Kate Brehme das Programm für inklusive Kunstpraxis (pik) der Kulturstiftung des Bundes. Zuvor arbeitete er als Leitender Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, am Berliner Ensemble, als Künstlerischer Leiter am RambaZamba Theater in Berlin und kuratierte verschiedene Festivals, u. a. „No Limits“ am HAU Berlin.
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All Abled Arts Festival Impressionen des Festivals für inklusive Theaterformen an den Münchner Kammerspielen vom 11.–14. Januar 2024
Foto Cameron McNee
Foto Julian Baumann
Foto Julian Baumann
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Foto Andi Weiland
Erster Festivaltag
Natalie Dedreux und Barbara Mundel eröffneten das Festival. Im Werkraum zeigten Tiziana Pagliaro und Remo Beuggert ihr Stück „Horror und andere Sachen“, im ausverkauften Schauspielhaus folgte „LÄUFT“ vom RambaZamba Theater und Drag Syndrome aus London sorgten für einen fulminanten Abschluss des ersten Tags.
Foto Julian Baumann
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Foto Julian Baumann
Foto Julian Baumann
Foto Julian Baumann
Foto Melanie Bonajo
Foto Gabriela Neeb
Zweiter Festivaltag
Am zweiten Festivaltag startete die erste Akademie für inklusive Kunstpraxis. Die pik-Partnerschaften aus Künstler:innen mit Behinderung und Theaterhäusern in ganz Deutschland trafen sich zum ersten Mal zum Austausch. Im Programm folgte ein Screening des Kurzfilms „Schule der Liebenden“ vom Theater HORA in der Regie von Melanie Bonajo, eine offene Probe von Doris Uhlich, ein Vortrag von Aleksandra Skotarek, eine Vorstellung von „Anti·gone“ und zum Abschluss des Tages Musik von blind&lame (Lucy und Gika Willke) und fröhliches Tanzen in der Democratic Disco.
Das Festival versammelte Stücke, die an den Münchner Kammerspielen produziert wurden, sowie aktuelle Arbeiten von verbündeten Gruppen. Viele Künstler:innen mit Behinderung aus ganz Deutschland reisten an, viele Menschen aus München und Umgebung kamen dazu und machten das Festival zu einem Ort für Austausch, gemeinsames Nachdenken, Tanzen und Zeit verbringen
Foto Julian Baumann
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Foto Monika Stolarska
Dritter und vierter Festivaltag
Foto Julian Baumann
Foto Julian Baumann
Am Samstag luden die Münchner Kammerspiele und die Kulturstiftung des Bundes zur Diskussion „Theater: Wie inklusiv kann es sein?“. Die Regisseurin Linda Fisahn sprach über ihre Theaterfamilie „I can be your translator“. Autor Wolfram Lotz teilte, wie sein Stottern sein Denken und Schreiben formt und das Podium mit Steffen Sünkel, Anna Mülter, Luisa Wöllisch, Samuel Koch, Barbara Mundel, Kate Brehme und Ben Evans trug viele Perspektiven auf den Stand inklusiver Kunst zusammen. Das Teatr 21 aus Warschau zeigte sein Stück „Libido Romantico“: Ein mutiges Statement zum Tabu von Behinderung und Sexualität. Und im großen Haus spielte „Wer immer hofft, stirbt singend“. Zum Ausklang am Sonntag fanden wir uns zum Text-Roulette im Habibi Kiosk zusammen: Ensemblemitglieder lasen Texte von Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten.
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spezial
Leichte Sprache EUR 9,50 tdz.de Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Theater der Zeit Spezial – Leichte Sprache
Inhalt 2 Lese·hilfen Gender·sternchen und Medio·punkt 3 Begrüßung Von Nele Jahnke, Olivia Ebert, Paulina Wawerla Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit 6 Das neue Normal? Ein kurzer Blick in die Geschichte inklusiver Theater·arbeit in Deutschland Von Georg Kasch Impulse Begriffe 21 Die Frage nach den Wörtern Was Begriffe bedeuten können Von Natalie Dedreux, Leonard Grobien und Luisa Wöllisch Einblicke Kooperationen 25 Über die Zusammen·arbeit. Und über Zirkus·küsse. Die Zusammen·arbeit zwischen der Freien Bühne München und den Münchner Kammerspielen Von Jan Meyer
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Inhalt All Abled Arts
31 Zukunft ist jetzt: „ArtPlus“ von EUCREA Künstlerische Ausbildung für Menschen mit Behinderung Partnerschaften Teatr 21 32 Der Körper der Schauspielerin und die Moral des Publikums Von Aleksandra Skotarek 34 Wort·erklärungen Schwierige Wörter sind im Heft lila geschrieben. Hier finden Sie die Erklärungen dieser Wörter. 40 Fotostory: All Abled Arts Festival Anzeige
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Lese·hilfen Schwierige Wörter sind im Heft in lila geschrieben. Auf den Seiten 34–39 finden Sie die Erklärung der Wörter. Gender·sternchen und Medio·punkt
*
·
Dieses Zeichen nennt man
Dieses Zeichen nennt man Medio·punkt.
Gender·sternchen.
Er trennt lange Wörter.
Das Gender·sternchen benutzen wir
Zum Beispiel so:
zum Gendern.
Stadt·theater.
So wollen wir zeigen:
So kann man lange Wörter besser lesen
Wir wollen mit unseren Texten alle
und vestehen.
Menschen ansprechen.
Weil man die Wort·teile einzeln liest.
Männer.
Beim Lesen hört man den Medio·punkt
Frauen.
nicht.
Und Menschen, die sagen: Ich bin kein Mann und keine Frau. Alle sind gemeint. So benutzen wir das Gender·sternchen Besucher*innen. Beim Lesen hört man das Gender·sternchen. Man macht eine kleine Pause im Wort. So: Besucher [Pause] innen.
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Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
Editorial
Begrüßung In den letzten Jahren gibt es an vielen Orten mehr Inklusion im Theater. In der Freien Szene. Aber auch in einigen Stadt·theatern. Auch bei den Münchner Kammerspielen. Barbara Mundel ist jetzt die Intendantin der Münchner Kammerspiele. Zusammen mit Nele Jahnke hat sie vieles dort verändert. Damit das Ensemble inklusiver werden kann. Seitdem gibt es Schauspieler*innen mit verschiedenen Behinderungen im Ensemble. Auch Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten. Sie haben einen festen Arbeits·platz bei den Kammerspielen. Das zeigt: Die Kammerspiele werden inklusiver. Das passiert in verschiedenen Bereichen der Zusammen·arbeit. Auch im Bereich Text und Regie. Diese Ausgabe von Theater der Zeit ist eine Spezial·ausgabe. Sie beschreibt: Welche Erfahrungen haben die Münchner Kammerspiele seit 2020/21 gemacht? Was haben sie seitdem gelernt über Inklusion und über Zusammen·arbeit? Viele verschiedene Menschen teilen in diesem Heft ihre Erfahrungen und Gedanken: Schauspieler*innen und Regisseur*innen, Beobachter*innen und Weg·bereiter*innen. Also Menschen aus der inklusiven Szene. Sie haben mehr Inklusion im Theater erkämpft. Um all das geht es in diesem Heft. Das Heft heißt: „All Abled Arts“. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Übersetzt heißt das etwa: „Alle können Kunst“. Und dieser Titel ist ein Wunsch: Kunst von und für Menschen aller Fähigkeiten soll eine Selbstverständlichkeit sein. „Abled“ ist ein englisches Wort. So spricht man es aus: eybld. Übersetzt heißt es: fähig sein. Etwas können. Aber: Viele Menschen denken noch: Menschen mit Behinderung sind nicht zu allem fähig. Sie können vieles nicht.
Joseph Gebrael und Erwin Aljukić in „Touch“ von Falk Richter & Anouk van Dijk
Editorial
Menschen mit Behinderung erleben in Deutschland oft Ableismus. Man kann auch sagen: Sie werden benachteiligt. An vielen Orten in Deutschland gibt es Barrieren für Menschen mit Behinderung. In Städten, Theatern und an Kunst·hoch·schulen. Diese Orte sind keine Orte für alle. So haben Menschen mit Behinderung an vielen Orten nicht die·selben Chancen. Sie können ihr Talent nicht zeigen.
Für die Menschen mit Behinderung. Für das Publikum. Für uns alle.
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Charkiw“ von Anne Habermehl
Das ist ein großer Verlust für viele.
„Frau Schmidt und das Kind aus
Und sie können nicht mit·reden und mit·bestimmen.
Editorial
Der Titel „All Abled Arts“ zeigt aber auch: Auf dem Weg zu einem inklusiven Theater gibt es auch Schwierigkeiten. Und manchmal Streit. Denn viele Veränderungen fangen erst jetzt langsam an. Es gibt eine Öffnung an manchen Orten. Aber sie braucht viel Zeit. Mit welchen Wörtern sprechen wir über Behinderung? Auch darüber wird immer wieder gestritten.
„Bayerische Suffragetten“ von Jessica Glause und Ensemble
Und es verändert sich immer wieder. Verschiedene Menschen mit Behinderung finden verschiedene Wörter gut. Darum gibt es in den Texten verschiedene Wörter. Wir finden: Es gehört zum Blickwinkel der Menschen. Sie haben die Texte geschrieben. Und sie haben die Wörter für sich gewählt. Darum haben wir sie nicht verändert. Freuen Sie sich auf das Lesen dieses Heftes. Fotos linke Seite oben Sigrid Reinichs, unten Judith Buss; Foto rechts Julian Baumann
Sie werden viele verschiedene Stimmen und Meinungen hören. Von Menschen mit und ohne Behinderung. Texte in schwerer und in Leichter Sprache. Wir danken allen Autor*innen und Gesprächs·partner*innen für die Texte. Danke für die Offenheit. Und danke für die spannenden Gedanken. Möchten Sie uns Ihre Meinung zu diesem Heft schreiben? Schreiben Sie uns an diese E-Mail-Adresse: dramaturgie.mk@kammerspiele.de Viel Vergnügen mit diesem Heft wünschen Nele Jahnke, Olivia Ebert und Paulina Wawerla Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit
Das neue Normal? Ein kurzer Blick in die Geschichte inklusiver Theater·arbeit in Deutschland
Schauspieler Matthias Grandjean in der Inszenierung „Disabled Theater“ von Jérôme Bel und dem Theater HORA.
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Foto Ursula Kaufmann
Von Georg Kasch
Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit
Viele Menschen haben die Geschichte des Theaters erforscht. Sie haben darüber geschrieben. Aber über einen Bereich von Theater wurde bis jetzt wenig geforscht und geschrieben: Theater mit Menschen mit Behinderungen. Dabei gäbe es genug zu erzählen. Denn Menschen mit Behinderungen haben ihre Spuren im Theater hinter·lassen. Über eine sehr lange Zeit. Oder darüber, wie Menschen mit Behinderungen heute im Theater sichtbar werden. In Stadt·theatern, im Privat·theater und in der Freien Szene. Genau darum soll es hier gehen. Heute erleben wir an vielen Orten Theater von Menschen mit und ohne Behinderungen. An Stadt·theatern wie den Münchner Kammerspielen. Oder in der Freien Szene. Als Zusammen·arbeit mit Gruppen wie Theater HORA oder Theater Thikwa. Aber Zusammen·arbeit von Schauspieler*innen mit und ohne Behinderung gibt es schon lange. Auch in München.
Die Anfänge des inklusiven Theaters 1978 hat Peter Radtke ein erstes Behinderten·stück gemacht. Am Theater der Jugend in München. Das Stück hieß: „Licht am Ende des Tunnels“. Der junge Schauspieler Michael Blenheim hat das Stück geschrieben. Zum ersten Mal standen hier Menschen mit Behinderung auf einer Bühne. In einem Theater, das staatlich unterstützt wird. Das bedeutet: Das Theater bekommt Unterstützung mit Geld.
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Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit
1981 brachte Peter Radtke noch ein Theater·stück auf die Bühne. Im Theater am Sozialamt (TamS). Sein Stück hieß: „Nachricht vom Grotten·olm“. Es war ein Stück für nur eine Person. Peter Radtke hat selbst die Haupt·rolle gespielt.
Wie wurde über die Anfänge des inklusiven Theaters geschrieben? Interessant ist: Peter Radtke stand in dieser Zeit in vielen Stücken auf der Bühne. Und die Kritiker*innen waren erschüttert. Sie hatten noch nie einen Menschen mit Behinderung auf der Bühne erlebt. Es war ungewohnt für sie. Der Kritiker Gerhard Stadelmaier schrieb zum Beispiel in der Stuttgarter Zeitung über das Stück „M“: „Theater darf viel. Das darf es nicht.“ Gerhard Stadelmaier fand: Peter Radtke kann sich auf der Bühne nicht gut ausdrücken. Der Kritiker Hans Göhl schrieb im Handels·blatt: „Gezeigt werden sollte wohl ein Symbol der seelischen Verkrüppelung eines Diktators.“ Damit meinte er: Peter Radtke ist behindert. Er spielt die Rolle von Stalin. Darum glaubte er: Stalin hat eine kranke Seele. Das soll im Theater·stück gezeigt werden. Darum wird er von einem behinderten Schauspieler gespielt.
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Impulse Geschichte der inklusiven Theaterarbeit
Peter Radtke als Rotpeter in „Ein Bericht für eine Akademie“ in der Regie von George Tabori am Wiener Burgtheater 1993 Der Kritiker Dieter Brandhauer schrieb in der Zeitung taz über das Stück „Die Verwandlung“ in Wien: Peter Radtke ist ein sehr guter Schauspieler. Peter Radtkes Körper sieht anders aus als andere Körper. Sein Kopf und seine Hände sind zu groß. Auch seine Stimme ist ganz anders. So kann er die Rolle sehr gut spielen. Foto picture alliance / ZB | Wolfgang Kluge
Die Menschen haben kein Mitleid mit Peter Radtke. Sie ekeln sich nicht vor ihm. So wie oft vor anderen Menschen mit Behinderung. Peter Radtke war also auf mehreren Theater·bühnen in Deutschland zu sehen. Aber für lange Zeit war er dort der einzige Schauspieler mit Behinderung.
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Erste inklusive Ensembles entwickeln sich Zur gleichen Zeit entwickelte sich das Theater mit Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten. Das passierte als Teil der Freien Szene. 1984 wird in Belgien Theater Stap gegründet. 1986 in Bremen das Kunst- und Kultur·projekt Blaumeier-Atelier. 1989 in Hamburg die Band Station 17. Aus ihr ist das Ensemble Meine Damen und Herren her·vor·gegangen. 1990 wurde in Großbritannien das Tanz·ensemble CandoCo gegründet. 1990 in Berlin das RambaZamba Theater (Ost). Und das Theater Thikwa (West) im selben Jahr. 1993 in Zürich das Theater HORA. Diese Gruppen haben alle etwas gemeinsam. Sie wollen Kunst machen. Keinen Aktivismus. Keine Politik. Die Gruppen bekamen schnell Aufmerksamkeit. Vom Publikum. Und von Fach·leuten. Aber nicht von den Kritiker*innen.
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Arbeits·bedingungen für Schauspieler*innen mit Behinderung Die Arbeits·bedingungen für die ersten Schauspieler*innen mit Behinderung waren schlecht in dieser Zeit. Ihre Arbeit am Theater wurde oft nicht bezahlt. Viele der Theater hatten in dieser Zeit nur wenig Geld. Darum überlegten die Theater der Freien Szene in dieser Zeit: Wie können ihre Theater·produktionen professioneller werden? 1995 arbeitete das Theater Thikwa mit der Nord·berliner Werk·gemeinschaft zusammen. Sie entwickeln die Idee zu einem Künstler*innen·arbeitsplatz. Es bedeutet: Die Arbeits·plätze der Schauspieler*innen mit Behinderung werden Werkstatt·arbeits·plätze. Sie bekommen jeden Monat ein Werkstatt·gehalt. Und dafür arbeiten sie als Schauspieler*innen. Es bedeutet aber bis heute: Die Schauspieler*innen bekommen für ihre Arbeit nur sehr wenig Geld. Immer mehr Menschen mit und ohne Behinderung finden das nicht gut. Sie finden: Alle Menschen sollten fair für ihre Arbeit bezahlt werden. Auch in der Werkstatt. Trotzdem war es erstmal eine gute Entwicklung für die Theater. Die Schauspieler*innen arbeiteten nicht mehr in der Werkstatt und im Theater. Sondern nur noch im Theater. So konnten sie sich ganz auf diese Arbeit konzentrieren. Und auch die Theater bekamen Geld. Weil die Schauspieler*innen mit Behinderung jetzt einen Werkstatt·arbeitsplatz dort hatten. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Mit diesem Geld konnten die Theater dann planen und arbeiten. So wurde das Arbeiten in der Freien Szene sicherer und einfacher.
Festivals für inklusives Theater Im Jahr 1997 wurde Grenzenlos Kultur in Mainz gegründet. Das erste Festival, das Theater·stücke von Schauspieler*innen mit Behinderung und aus der Freien Szene zeigte. Weitere ähnliche Festivals folgten: No Limits in Berlin. Grenz·gänger in München. OKKUPATION in Zürich. Mittenmang in Bremen. includo in Kiel. Diese Festivals waren wichtig. Und sie sind es immer noch. Damit mehr Menschen Theater mit Menschen mit Behinderung auf der Bühne kennen·lernen. Und damit sich die Künstler*innen mit und ohne Behinderung treffen können. Bei diesen Treffen sind wichtige Zusammen·arbeiten entstanden. Zum Beispiel das Stück „Disabled Theater“ von Jérôme Bel und Theater HORA. „Disabled Theater“ heißt übersetzt: Behindertes Theater. So spricht man den Titel aus: dis-eybld siätter. Das war im Jahr 2012. Dieses Stück war ein sehr großer Erfolg. Es wurde in vielen verschiedenen Ländern gezeigt. Es wurde viel über das Stück geschrieben und gesprochen. Und nicht nur über das Stück. Auch über inklusives Theater.
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Erste Entwicklungen an Stadt·theatern Nach und nach fingen auch die Stadt·theater an, sich zu öffnen. Aber Schauspieler*innen mit Behinderungen waren dort noch lange die Ausnahme auf der Bühne. Einzel·beispiele gab es immer: Zum Beispiel Mario Garzaner, Achim von Paczensky und Kerstin Grassmann. Sie alle kamen aus dem Kreis der Künstler*innen um Christoph Schlingensief. 2003 brachte Christoph Schlingensief das Stück „Bambi·land“auf die Bühne. Es wurde im Wiener Burg·theater gezeigt. Mario Garzaner und Kerstin Grassmann spielten in dem Stück mit. Das Stück war wild. Bunt. Laut. Ein einziges Chaos. In den frühen 2010er Jahren war Jana Zöll Teil von mehreren Theater·produktionen des Central·theaters Leipzig. Zum Beispiel im Stück „Krieg und Frieden“ von Sebastian Hartmann. Jana Zöll spielt verschiedene Rollen in dem Stück. Zuerst ein Kind. Dann Napoleon. Napoleon ist klein. Jana Zöll spielt die Rolle ohne ihren Rollstuhl. Auf der Bühne sind riesige Platten. Sie bewegen sich. Jana Zöll brüllt gegen die Platten an. Das hat eine starke Wirkung.
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Jana Zöll und Peter Radtke sind beide Schauspieler*innen mit einer Körper·behinderung. Ihre Körper sehen anders aus als die vieler anderer Schauspieler*innen. Und diese besonderen Körper werden auf der Bühne gezeigt. So war es bei Jana Zöll und Peter Radtke. Und so ist es bis heute. Das kann zu interessanten Ergebnissen führen. Aber: So nimmt man zuerst den Körper der Schauspieler*innen wahr. Und nicht ihre Kunst.
Fehlende Ausbildungs·möglichkeiten für Schauspieler*innen mit Behinderung Es gibt ein großes Problem: In den meisten Schauspiel·schulen können Schauspieler*innen mit Behinderung keine Ausbildung machen. Die Schauspiel·schulen sind nicht inklusiv. Aber es gibt einige wenige Ausnahmen. Diese Schauspieler*innen mit Behinderung haben eine Ausbildung an einer Schauspiel·schule gemacht: • Samuel Koch • Alrun Hofert • Yulia Yanez Schmidt Seit 2020 hat Barbara Mundel die Intendanz der Münchner Kammerspiele. Die Münchner Kammerspiele sind sehr bekannt. Und die Münchner Kammerspiele haben 2020 einen sehr wichtigen Schritt gemacht: Sie haben jetzt ein inklusives Ensemble. Zum Ensemble gehören mehrere Schauspieler*innen mit anderen Lern·möglichkeiten. Und Schauspieler*innen mit Körper·behinderungen. 14
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Die Münchner Kammerspiele probieren gerade mit·einander aus: Welche Möglichkeiten und Herausforderungen gibt es beim inklusiven Arbeiten? Das passiert gerade an keinem anderen Theater so intensiv. Zum Beispiel im Stück „Wer immer hofft, stirbt singend“ von Jan-Christoph Gockel. Das Stück wird auf der großen Bühne gezeigt. Die Schauspieler*innen sind mixed-abled. Das Stück erinnert an eine Zirkus·show. Oder im Stück Anti·gone von Nele Jahnke. Es war das erste Theater·stück in Leichter Sprache in Deutschland. Die Leichte Sprache stand bei dem Stück im Mittel·punkt. Das hat nicht nur die Texte verändert. Sondern das ganze Stück. Aber auch an anderen Theatern gibt es Veränderungen. Das Deutsche Theater Berlin arbeitet für manche Theater·stücke mit dem RambaZamba Theater zusammen. Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg arbeitet für manche Theater·stücke mit Meine Damen und Herren zusammen. Das Schauspiel·haus Zürich arbeitet zusammen mit Theater HORA. Und in Bremen arbeiten das Tanz·theater und das Junge Schauspiel mit tanzbar. Das Schauspiel Leipzig bietet einige seiner Stücke mit Audio·deskription an. Und in Zukunft soll in einigen Stücken auch Deutsche Gebärden·sprache eingebunden werden.
Zusammen·arbeit mit der Freien Szene Das heißt: Auch einige Stadt·theater haben sich auf den Weg gemacht. Auf den Weg zu mehr Inklusion. Aber viele Gruppen aus der Freien Szene hatten viel mehr Wissen zum Thema Inklusion. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Gruppen wie HORA, RambaZamba oder die Freien Bühne München. Darum haben die Stadt·theater mit diesen Gruppen zusammen·gearbeitet. So verstärkt sich die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Künstler*innen. Durch die Zusammen·arbeit bekamen die Theater mehr Aufmerksamkeit. Sie haben mehr Geld mit ihrer Arbeit verdient. Und es wurden mehr Kritiken über inklusives Theater geschrieben.
Wer entscheidet, was auf der Bühne passiert? Zu dieser Frage hat vor allem Theater HORA viel gearbeitet. Oft stehen Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten auf der Bühne. Sie sind Schauspieler*innen. Aber Regie führen fast immer Menschen ohne Behinderung. Was passiert, wenn Künstler*innen mit anderen Lern·möglichkeiten entscheiden? Wenn sie die Leitung übernehmen? Das hat Theater HORA ausprobiert. Bei Freie Republik HORA. Das Projekt haben Marcel Bugiel, Nele Jahnke und Michael Elber zusammen entwickelt. In den Jahren von 2013 bis 2019 konnten die HORA-Mitglieder aus·probieren: Kann und will ich auch Regie führen? Wie kann ich meine eigenen Geschichten auf der Bühne erzählen? Das wurde an keinem anderen Ort so gründlich ausprobiert wie hier. Wie können Künstler*innen mit anderen Lern·möglichkeiten kreativ arbeiten? Welchen Raum brauchen sie dafür? Welche Möglichkeiten? Welche Sprache? Und: Scheitern gehörte dazu. Alle konnten und sollten Fehler machen. Weil man aus Fehlern am meisten lernt. 16
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„Dschingis Khan“ von Monster Truck und Theater Thikwa. FFT Düsseldorf, 2012 Auch das Theater Thikwa findet: Die Schauspieler*innen sollen kreativ arbeiten und frei entscheiden können. Das haben sie zum Beispiel im Projekt „Zusammen·arbeit“ ausprobiert. Das war im Jahr 2013. In dieser Zusammenarbeit kamen 3 Thikwa-Schauspieler*innen mit 3 Schauspieler*innen der Freien Szene zusammen. Zuerst hat das Ensemble-Mitglied Rachel Rosen das Stück „Das Spiel“ geschrieben. Alexander Riemenschneider inszenierte es 2022 am Berliner Theater an der Park·aue. Dennis Seidel ist Schauspieler bei Meine Damen und Herren. 2015 schrieb er selbst Stücke und inszenierte sie. Er spielte sie dann an 3 Abenden selbst auf der Bühne. Außerdem verändert sich die Gruppe gerade. Sie wird ein Kollektiv.
Foto Florian Krauss
Immer öfter übernehmen die Schauspieler*innen Verantwortung. Nicht nur für ihr eigenes Spiel. Sondern auch in allen anderen Bereichen des Theater·betriebs. Also zum Beispiel beim Bühnen·bild oder dem Licht. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Schauspieler*innen mit Körper·behinderung haben schon viel früher für ihre künstlerische Selbst·bestimmung gekämpft. Ein Sonder·fall ist das Stück „Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger. Es wurde auf der Berliner Volks·bühne gezeigt. Es ist eine Arbeit im Stil der Freien Szene. Aber sie nutzt die technischen Möglichkeiten der großen Bühne perfekt. Das Team besteht nur aus Frauen und es ist divers. Florentina Holzinger leitet das Team. Aber das Team gestaltet auch mit. Auf der Bühne werden nackte Körper gezeigt. Diverse Körper. Körper mit und ohne Behinderung. Die Inklusion lebt. Ist das das neue Normal? Schön wär’s.
Georg Kasch hat mehrere Fächer studiert: Neuere deutschen Literatur, Theater·wissenschaft und Kultur·journalismus. Seit 2010 arbeitet er als Kultur·journalist. Er schreibt Texte für die Internet·seite nachtkritik.de. Außerdem schreibt er für verschiedene Tages·zeitungen und Zeitschriften. Und er forscht zu inklusivem Theater. 18
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Impulse Begriffe
Die Frage nach den Wörtern Was Begriffe bedeuten können Von Natalie Dedreux, Leonard Grobien und Luisa Wöllisch
von oben Leonard Grobien, Foto links privat, rechts Leonard Grobien, unten Sigrid Reinichs
Natalie Dedreux und Luisa Wöllisch
Wir haben mit Natalie Dedreux, Leonard Grobien und Luisa Wöllisch gesprochen. Wir haben sie um Texte gebeten. Zum Wort Behinderung. Zum Wort Beeinträchtigung. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Impulse Begriffe
„Behinderung“ – Natalie Dedreux Ich fühle mich nicht behindert. Ich würde eher sagen: Ich habe das Down-Syndrom. Und das ist normal. Aber meistens merkt das die Gesellschaft nicht. Die sprechen über uns. Und wir dürfen dann nicht mit·reden. Und wir werden dann vergessen. Das macht mich wütend. Ich finde das Wort „Behinderung“ und das Wort „Down-Syndrom“ gut. Weil ich das gut finde und weil mir das nichts ausmacht. Für mich heißt das: Die Gesellschaft muss keine Angst vor Menschen mit Behinderung haben. Sondern sie muss uns sehen. Und sie muss uns zuhören. Und nicht über uns reden, sondern mit uns. Es ist normal und nicht schlimm. Man muss vor uns Menschen mit Behinderung keine Angst haben. Weil wir in unserer Gesellschaft auch mit dazu·gehören. Man muss uns auch richtig ernst nehmen. Was ich gar nicht mag: das Wort „Downie“! Das ist ein bisschen kindlich. Wir Menschen mit Behinderung werden oft wie kleine Kinder behandelt. Aber eigentlich sind erwachsene Menschen mit Down-Syndrom erwachsene Menschen. Und das mag ich dann nicht, wenn jemand Downie sagt.
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Impulse Begriffe
„Behinderung“ – Leonard Grobien Ich kann mich mit diesem Wort identifizieren. Das heißt: Ich sage von mir selbst: Ich bin ein Mensch mit Behinderung. So wurde ich auch von anderen immer genannt. Vielleicht habe ich es darum so gelernt. Vielleicht hat mir das Wort dabei geholfen, etwas zu verstehen. Nämlich was an mir anders ist als an den anderen. Und damit meine ich nicht: besser oder schlechter. Ich rede nicht von Können oder Nicht·können. Oft wurde mir gesagt: Du kannst etwas nicht, was die meisten aber können. Also bist du behindert. Muss das so sein? Das kann ich nicht sagen. Aber ich bin auch heute noch ein Mensch mit Behinderung. So kann ich mich nennen. Behinderung ist für mich aber auch ein gemeinschaftlicher Begriff. Das bedeutet: Durch das Wort fühle ich mich mit anderen Menschen mit Behinderung verbunden. Wir erobern unseren Platz. Wir werden gesehen. Wir glänzen. Anders ist es da mit dem Wort „Beeinträchtigung“. Jemand schreibt eine Klassen·arbeit. Plötzlich hat die Person keine Tinte mehr. Das ist dann eine Beeinträchtigung beim Schreiben.
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Impulse Begriffe
Durch eine eingestürzte Brücke werde ich auf meinem Weg beeinträchtigt. Durch nicht-inklusive Gebäude werde ich behindert. Eine Beeinträchtigung gehört nicht zu mir als Mensch. Sie ist nicht Teil meiner Person. Eine Beeinträchtigung begegnet mir. Oft nur für kurze Zeit. Sie kann auch wieder verschwinden. Meine Behinderung verändert sich dadurch nicht. Viele Menschen benutzen lieber das Wort Beeinträchtigung statt dem Wort Behinderung. Weil das Wort „behindert“ oft als Beleidigung benutzt wurde. Um jemanden zu verletzen. Aber: Das Wort „Beeinträchtigung“ kann das Wort „Behinderung“ nicht ersetzen. Selbst·ermächtigung bedeutet auch: Ich suche mir die Worte aus, mit denen über mich gesprochen wird. „Beeinträchtigung“ – Luisa Wöllisch „Wenn man das Wort Behinderung nimmt, fühlt man sich gleich so, als wenn man in bestimmte Schubladen gesteckt wird. Es wird schon im voraus gesagt, dass derjenige eine an der Waffel hat. Beeinträchtigung ist besser, weil ja jeder irgendeine Beeinträchtigung hat und das nicht so stigmatisiert.“ Damit meint Luisa Wöllisch: Oft hört sie das Wort ‚Behinderung‘. Und dann hat sie das Gefühl: Menschen mit Behinderung werden in eine Schublade gesteckt. Es wird gleich gesagt: Mit der Person stimmt etwas nicht.
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Impulse Begriffe
Darum findet Luisa Wöllisch das Wort Beeinträchtigung besser. Denn sie findet: Eine Beeinträchtigung haben ja alle Menschen. Darum fühlt sie sich durch das Wort Beeinträchtigung nicht so ausgegrenzt.
Natalie Dedreux ist Aktivistin, Autorin und Bloggerin. Sie kämpft für die Menschen·rechte von Menschen mit Down-Syndrom. Mit ihrem Aktivismus möchte sie mehr Sichtbarkeit schaffen. In der „ARD-Wahlarena“ stellte sie Angela Merkel eine persönliche Frage: Wieso kann man Babys mit Down-Syndrom bis kurz vor der Geburt noch abtreiben? Natalie Dedreux schreibt und veröffentlicht eigene Texte auf Instagram und hat kürzlich ein Buch herausgebracht. Leonard Grobien schreibt Dreh·bücher. Er ist Regisseur und Schauspieler. 2023 beendete er sein Dreh·buch·studium an der Internationalen Filmschule Köln. Er hat dort 4 Kurz·filme geschrieben und gemacht. Als Regisseur und Autor hat er seitdem noch mehr Filme gemacht. Am Schauspielhaus Wien hat er als Schauspieler im Stück „Die vielen Stimmen meines Bruders“ von Magdalena Schrefel mitgespielt. Luisa Wöllisch ist Schauspielerin. Sie arbeitet seit 2020 in den Münchner Kammerspielen. Und sie hat spielt auch in Kinofilmen. Zum Beispiel in diesen Produktionen: „Die Grießnockerlaffäre“ und „Die Goldfische“ und „Um Himmels Willen“ und „Frühling“.
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Einblicke Kooperationen
Jan Meyer und Schauspieler*innen der Freien Bühne München
Über die Zusammen·arbeit. Und über Zirkus·küsse. Die Zusammen·arbeit zwischen der Freien Bühne München Foto Johann Miedl
und den Münchner Kammerspielen Von Jan Meyer 24
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Einblicke Kooperationen
Auf der Bühne sieht man eine Tafel. Darum herum bunten Zirkus·lichter. Darauf sieht man die Worte: 2. Teil: TV-Zirkus. Fabian Moraw schreibt die Worte auf seinem iPad. Bis vor 2 Jahren bereitete er sich an der Freien Bühne München auf den Beruf als Schauspieler vor. Jetzt gehört er fest zum Ensemble der Münchner Kammerspiele. Heute mache ich mit bei einem inklusiven Theater·workshop. Zusammen mit 7 anderen Teilnehmer*innen. Wir bereiten die Aufführung von „Wer immer hofft, stirbt singend“ vor. Neben Fabian stehen an diesem Abend auch Frangiskos Kakoulakis und Dennis Fell-Hernandez auf der Bühne. Sie alle haben zuerst an der Freien Bühne München gespielt. Und jetzt gehören sie zum Ensemble der Kammerspiele München. Seit 2014 bereitet die Freie Bühne München junge Menschen mit Behinderung auf den Schauspiel·beruf vor. Und sie macht inklusiv besetzte Theater·produktionen. Das bedeutet: In den Theater·produktionen spielen Schauspieler*innen mit und ohne Behinderung mit. Zuerst wollte die Freie Bühne München keine Schauspieler*innen ausbilden. Das Ziel war: Schauspieler*innen mit Behinderung sollen eine Ausbildung an einer Schauspiel·schule machen können. So wie alle anderen Schauspieler*innen auch. Aber diese Möglichkeit gab es zu der Zeit nicht. Darum hat die Freie Bühne München 2015 beschlossen: Dann machen wir das selbst.
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Einblicke Kooperationen
Wir bekamen ganz viel Rückmeldung dazu. Aus ganz Deutschland. Und wir bekamen viele Bewerbungen. Das zeigte uns: So etwas gab es bis jetzt noch nicht. Und sehr viele Menschen mit Behinderung haben Interesse an unserem Projekt. Aber wir mussten auch immer wieder kämpfen. Viele Menschen dachten: Bei dem Projekt geht es nicht um Kunst. Es geht um Therapie. Aber das war falsch! Viele Menschen konnten sich nicht vorstellen: Können Menschen mit Behinderung eine Ausbildung als Schauspieler*in machen? Und finden sie danach auch einen Job? Zur gleichen Zeit hatten wir großen Erfolg. Viele unserer Stücke waren ausverkauft. Viele Zeitungen haben gute Kritiken geschrieben. Aber das änderte wenig an den Vorurteilen vieler Menschen. Barbara Mundel ist die Intendantin der Münchner Kammerspiele. 2019 nahm sie Kontakt mit der Freien Bühne München auf. Sie wollte mit uns zusammen·arbeiten. Erstmal nur für ein Jahr ab September 2020. Und damit gab es nach und nach eine Veränderung. Junge Schauspieler*innen kamen aus der Ausbildung an der Freien Bühne München. Und sie wurden Teil des Ensembles der Münchner Kammerspiele. Das war ein Teil der Zusammen·arbeit. Barbara Mundel hatte ein Ziel für die Zusammen·arbeit: Die Münchner Kammerspiele sollten sich verändern. 26
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Einblicke Kooperationen
Sie sollten inklusiver werden. Das brauchte einige Zeit. Alle mussten sich erst kennen·lernen. Das Team der Kammerspiele besuchte Proben der Freien Bühne München. Alle besuchten Workshops zusammen. Und sie tauschten Wissen und Erfahrungen aus. Alle unterstützten sich gegen·seitig. Ich arbeitete in dieser Zeit als Inklusions·berater bei den Kammerspielen. Und Nele Jahnke war vom Theater HORA zu den Kammerspielen gewechselt. Mit ihr habe ich mich oft getroffen. Wir tauschten uns aus. Über die Chancen und Möglichkeiten. Aber auch über die Schwierigkeiten. So entstanden viele gemeinsame Ideen. Wir fanden gemeinsam Lösungen für Probleme. Auch für besondere Probleme in der Corona-Zeit. So entstand eine gute und enge Verbindung zwischen der Freien Bühne München und den Kammerspielen. Und viele Menschen waren an der Zusammen·arbeit sehr interessiert. Das half der Freien Bühne München. 2022 bekam sie eine Förderung durch die Stadt München. Also Unterstützung durch Geld. Und sie bekam eigene Räume im Münchner Kreativ·quartier. Außerdem wurden durch die Zusammen·arbeit Abende möglich wie „Wer immer hofft stirbt singend“. Das Licht auf der großen Bühne geht aus. Applaus ist zu hören. Die Teilnehmer*innen des Workshops sitzen neben mir. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Einblicke Kooperationen
Sie springen auf. Sie jubeln und rufen die Namen ihrer Freund*innen. Frangiskos wirft eine Kuss·hand in unsere Richtung. Die junge Frau neben mir ist ganz aufgeregt. Sie ruft mir zu: „Ich will auch auf die Bühne! Ich will auch da oben stehen.“ Und sie meint es so. Nicht wegen des Applauses. Sondern weil sie gemerkt hat: Das kann wirklich passieren. Und das ist es, was für mich vor allem anderen bleibt: Zusammen können wir so viel erreichen: Sichtbarkeit. Begeisterung. Einsatz. Und den Willen, inklusiv zu arbeiten. Auch wenn Fehler gemacht werden. Es verändert etwas. Für Theater. Aber auch für die Menschen. Denn sie erkennen neue Möglichkeiten für sich.
Jan Meyer studierte Theater·wissenschaften in Berlin. Er hat als Regisseur, Theater·lehrer und Performer gearbeitet. 2014 assistierte er am Theater RambaZamba. Ein Jahr später wurde er künstlerischer Leiter der Freien Bühne München. Seit August 2023 ist er Ober·spiel·leiter an den Landesbühnen Sachsen. 28
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Zukunft ist jetzt: „ArtPlus“ von EUCREA
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EUCREA berät Kreative mit Behinderung und Ausbildungsinstitutionen auf dem Weg zu mehr Vielfalt Von Claire Diraison Die meisten Schauspiel·schulen sind nicht inklusiv. Sie sind meistens überfordert, wenn sich Menschen mit Behinderung bewerben. Sie wissen nicht: Was brauchen gehörlose Bewerber*innen? Bewerber*innen mit Down-Syndrom. Oder Bewerber*innen im Rollstuhl. Darum studieren bisher nur sehr wenige Menschen mit Behinderung an Schauspiel·schulen. Das ist eine Form von Ausgrenzung. Das will EUCREA mit dem Programm „ARTplus“ ändern. Das Programm „ARTplus“ unterstützt Menschen mit Behinderung. Wenn sie an einer Schauspiel·schule oder einer Kunst·schule studieren wollen. Aber: Das Programm „ARTplus“ unterstützt auch die Schauspiel·schulen und Kunst·schulen. Seit 2021 haben schon 31 Menschen mit Behinderung und 9 künstlerische Schulen bei „ARTplus“ mit·gemacht. In Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Mit dem Programm „ARTplus“ kann man in verschiedenen Bereichen studieren. Zum Beispiel Schauspiel, Kunst oder Musik. Eine besonders wichtige Veränderung gab es im Jahr 2022 an der HKS Ottersberg: Dort können jetzt auch Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten studieren. Kontakt: Angela Müller-Giannetti, Programm·leiterin, Telefonnummer +49 (0)40 39 90 22 12, E-Mail: info@eucrea.de Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Partnerschaften Teatr 21
Der Körper der Schauspielerin und die Moral des Publikums Von Aleksandra Skotarek Aleksandra Skotarek ist seit vielen Jahren Schauspielerin bei Teatr 21. Das Warschauer Teatr 21 ist eine der bekanntestes Theater-Gruppen in Polen. In der Gruppe spielen Menschen mit Down-Syndrom und dem Autismus-Spektrum. Aleksandra Skotarek denkt über die Person nach, die sie auf der Bühne ist. Mein Name ist Aleksandra Skotarek. Ich bin 36 Jahre alt. Ich bin eine erwachsene Frau mit kognitiver Behinderung. Ich arbeite seit 18 Jahren als Schauspielerin am Teatr 21. Ich habe mit meinem Körper verschiedene Rollen auf der Bühne geschaffen. Ich habe einen privaten Körper und ein Bühnen·körper. Der Bühnen·körper ist Teil vieler verschiedener Aufführungen. Einen privaten Körper zu haben bedeutet: Ich bin wirklich. Ich bin anständig. Und andere akzeptieren mich. Der Bühnen·körper ist nackt. Auf der Bühne arbeite ich mit meinem Ober- und Unter·körper. Der Ober·körper reicht vom Gesicht bis zur Taille. Er ist beides: öffentlich und persönlich zugleich. Der Unter·körper reicht von der Hüfte abwärts. Er ist persönlich und verboten. Un·anständig. 30
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Partnerschaften Teatr 21
Auf der Bühne berühre ich meine Brüste. Meinen Bauch. Und ich zeige meinen Slip. Das ist nicht privat. Ich spiele. Ich bringe meinen Körper zum Ausdruck. Meine Sexualität. Meine Gefühle. Meinen unvollkommenen Körper. Er ist das Werkzeug meiner Arbeit.
Aleksandra Skotarek
Ich tue das für mich und für die Zuschauer*innen. Auch wenn das nicht jede*r akzeptiert. Manche schämen sich. Sie wollen die Wahrheit nicht sehen. Weil sie weh tut. Ich zeige meinen Körper in Bewegungen und Bildern. Ich lege ein Kissen zwischen meine Beine. Ich hülle mich in einen langen, lila·farbenen Schal. Ich trage Punk-Klamotten. Ich bin wild bin und mein Körper ist es auch. Und ich schäme mich nicht. Es geht es nicht darum, Privates auf der Bühne zu zeigen. Ich forme eine Bühnen·figur. Es ist Theater. Mein Körper hat unterschiedliche Rollen. Foto Alicja Szulc
Wenn ich an einer Rolle arbeite, fühle ich: Ich und mein Schauspiel sind für andere wichtig. Ich werde gebraucht. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Partnerschaften Teatr 21
Und ich bin mutig. Ich liebe diese Art von Theater. Ich habe in dem Stück „PokaZ“ gespielt. Auf Deutsch heißt das: „ZeiG“. In dem Stück hatte ich eine Szene mit einem Spiegel: Ich enthüllte meinen nackten Ober·körper. So wollte ich den Zuschauer*innen klar·machen: Sie müssen meinen Körper akzeptieren, so wie er ist. Für mich ist das schön, körperlich und mutig. Es ist meine Freiheit in meinem eigenen Körper. Das Recht, über meine eigene Nacktheit zu entscheiden. Ich bin gerne auf der Bühne. Für mich ist das der wichtigste Teil meines Berufs·lebens. Ich fühle mich als Schauspielerin akzeptiert und geschätzt. Genau·so wichtig ist die Arbeit mit Schauspieler*innen des Teatr 21 und die Beziehung zum Publikum. Ich freue mich, dass wir von der Bühne aus über Themen sprechen können, die uns wichtig sind und die uns bewegen. So zum Beispiel im Stück „Libido Romantico“. Besonders in der letzten Szene: Da sind Eltern von Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten zu hören. Sie finden: Ihre Kinder sollten keinen Sex haben. Für mich ist dieses Stück einzigartig und kraftvoll. Es ist notwendig und schön. Es handelt davon, dass der Körper gut und wichtig ist. Er ist ein Teil davon, man selbst zu sein.
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Partnerschaften Teatr 21
Ich schäme mich nicht für meinen Körper. Aber andere schämen sich für ihn. Weil er etwas Verborgenes zeigt. Das Un·ausgesprochene, meist Verdeckte. Das Unanständige. Ich habe eine Behinderung. Das ist mir sehr wichtig. Wichtig in meinem Leben und in meiner Persönlichkeit. Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten sind interessant. Sie sind alle ganz verschieden. Wir haben einen Körper. Und mit diesem Körper wollen wir von der Bühne aus sprechen.
Justyna Lipko-Konieczna hat ein Interview mit Aleksandra Skotarek geführt. Sie hat ihr Fragen gestellt. Und sie hat die Antworten der Autorin getreu aufgeschrieben. Manchmal hat sie nach·gefragt. Wenn etwas geklärt werden musste. So ist dieser Text entstanden. Aleksandra Skotarek ist Schauspielerin, Schriftstellerin und Aktivistin. Seit 18 Jahren arbeitet sie mit dem Teatr 21 zusammen. Sie unterrichtet Theater an verschiedenen Unis und Schulen. Aleksandra Skotarek schreibt viele Texte über das Theater und hält Vorträge. Und sie spielte auch selbst viele verschiedene Rollen. Zum Beispiel in diesen Theater·produktionen: „The Love Ship“ [übersetzt: Das Schiff der Liebe] und „Libido Romantico“. Theater der Zeit Spezial All Abled Arts
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Worterklärungen xx xx
Wort·erklärungen
Aktivismus bedeutet: Aktivist*innen setzen sich für ein Thema ein. Sie machen sich für etwas stark. Zum Beispiel für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Sie sprechen immer wieder über ein wichtiges Thema Damit sich etwas verändert. Audiodeskription bedeutet: Jemand beschreibt für blinde Menschen: Was sieht man gerade auf der Bühne? In einem Theater·stück? Oder in einem Film? Zum Beispiel: Wie sieht das Bühnen·bild aus? Was für ein Kostüm hat eine Person an? Oder: Wie bewegt sich eine Person auf der Bühne? Divers / Diversität Divers bedeutet: Alle Menschen sind verschieden. Sie sind unterschiedlich alt. Sie sind klein oder groß. Dick oder dünn. Kommen aus verschiedenen Ländern. 34
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Worterklärungen xx xx
Haben verschiedene Religionen. Sie sind behindert oder nicht. Sie haben verschiedene Geschlechter. Sie sind in sehr vielen Punkten unterschiedlich. Ensemble bedeutet: Eine Gruppe von Schauspieler*innen ist fest bei einem Theater angestellt. Die Schauspieler*innen spielen in verschiedenen Stücken mit. Sie haben einen festen Arbeits·vertrag bei diesem Theater. Freie Szene bedeutet beim Theater: Ein Ensemble arbeitet nicht fest bei einem Stadt·theater. Manche Freie Theater haben ein festes, eigenes Theater·haus. Andere Freien Theater spielen ihre Stücke an verschiedenen Orten. Zum Beispiel bei Theater·festivals. In der Freien Szene werden oft neue Ideen ausprobiert. Zum Beispiel in der Zusammenarbeit von Schauspieler*innen mit und ohne Behinderung. Manche Freie Theater werden staatlich oder städtisch unterstützt. Das bedeutet: Sie bekommen Unterstützung durch Geld. Andere Freie Theater bekommen keine Unterstützung durch Geld. Zum Beispiel die Freie Bühne München ist ein Theater der Freien Szene. Inszenieren bedeutet: Ein*e Regisseur*in bringt ein Stück auf die Bühne. Übersetzt heißt es etwa: ein Stück in Szene setzen.
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Worterklärungen
Intendanz / Künstlerische Leitung bedeutet: Eine Person leitet ein Theater, eine Oper oder ein Festival. Die Person entscheidet und wählt zum Beispiel aus: Welche Art von Kunst wird gezeigt? Welche Stücke werden gespielt? Und mit welchen Künstler*innen arbeitet das Haus zusammen? Kollektiv kommt vom lateinischen Wort colligere. Das heißt übersetzt zusammen·suchen. Ein Kollektiv ist eine Gruppe. Oft bedeutet es auch: Die Gruppe macht zusammen Kunst. Wichtig ist dabei: Die Gruppe hat keine*n Chef*in. Alle entscheiden zusammen. Und alle tragen die Verantwortung zusammen. Kritiker*innen schreiben über Theater. In Zeitungen oder auf Internet·seiten. Sie schauen sich Theater·stücke an und besprechen sie dann. Ihre Texte nennt man dann Kritik. Kultur·journalismus bedeutet: Jemand schreibt Texte für Zeitungen, Zeitschriften oder Internet·seiten. Diese Person nennt man Journalist*in. In den Texten geht es um Kultur. Also zum Beispiel um Theater·stücke, Kino·filme oder um Musik.
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Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten Früher haben viele Menschen die Bezeichnung ,Mensch mit geistiger Behinderung‘ benutzt. Manche Menschen benutzen es auch heute noch. Aber viele Selbstvertreter*innen finden: Das Wort beschreibt sie nicht. Im Moment gibt es viele Gespräche über diesen Begriff. An vielen Orten. Im Leichte Sprache-Teil dieser Ausgabe verwenden wir den Begriff ‚Menschen mit anderen Lern·möglichkeiten‘. Mixed-abled ist Englisch. So spricht man es aus: Mixd ey-beld. Übersetzt heißt es etwa: mit verschiedenen Fähigkeiten. Es bedeutet: Eine Gruppe besteht aus Menschen mit und ohne Behinderung. Es bedeutet auch: Die Körper der Menschen in der Gruppe sehen unterschiedlich aus. Privat·theater bedeutet: Das Theater gehört einer Privat·person. Meistens bedeutet es: Das Theater hat kein festes Ensemble. Schauspieler*innen werden immer nur für einige Zeit beschäftigt.
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Professionell bedeutet: Jemand macht etwas als Profi. Es ist der Beruf der Person. Die Person hat eine Ausbildung gemacht. Zum Beispiel: Ein Mann hat eine Ausbildung als Schauspieler gemacht. Jetzt ist er Profischauspieler an einem Theater. Man kann auch sagen: Er ist professioneller Schauspieler. Statt Regie kann man auch Spiel·leitung sagen. Regisseur*innen entscheiden über ein Theater·stück. Zum Beispiel: Wer spielt welche Rolle? Wie wird gespielt? Man kann auch sagen: Regisseur*innen sind die Chef*innen eines Stücks. Ein Stadt·theater ist meistens ein Theater der öffentlichen Hand. Das bedeutet: Das Theater bekommt Geld von der Stadt. Die Mitarbeiter*innen des Theaters sind Mitarbeiter*innen der Stadt. Sie haben feste Arbeits·verträge und ein festes Gehalt. Ein Stadt·theater hat meistens ein festes Ensemble. Die Münchner Kammerspiele sind ein Stadt·theater. 38
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Eine Theater·produktion ist ein Theater·stück. Alle einzelnen Arbeitsschritte an dem Theater·stück gehören zu einer Theater·produktion. Die erste Idee zum Stück. Das Schreiben der Texte. Das Nähen der Kostüme. Das Bauen des Bühnen·bilds. Die Proben. Das Schreiben der Programm·hefte. Die Werbung. Das Verkaufen der Tickets. Die Aufführungen vor Publikum. Das alles zusammen ist eine Theater·produktion.
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