INFOcomics Evolution Leseprobe

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Dylan Evans & Howard Selina

EIN SACHCOMIC



Der Kerngedanke der Biologie „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, es sei denn, man betrachtet es im Lichte der Evolution“, sagte der große russisch-amerikanische Genetiker Theodosius Dobzhansky (1900-1975). Die Evolutionstheorie ist in der Tat der Kerngedanke der modernen Biologie.

Und trotzdem entfernte die Bildungsbehörde von Kansas im August 1999 das Thema Evolution aus dem offiziellen Lehrplan dieses US-Bundes­staates. Und das einhundertvierzig Jahre, nachdem Darwins Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten“ erschienen war.

Wer heute in Kansas Biologie studiert, kann seinen Abschluss machen, ohne sich mit dem elementarsten Gedanken seines Fachs beschäftigt zu haben! Wieso? Was kann eine staatliche Bildungsbehörde dazu bewegen, den Studenten solch gewichtige Kenntnisse vorzuenthalten? 3


Angst und Schrecken in Kansas Die Mitglieder des staatlichen Bildungsausschusses von Kansas äußerten sich deutlich ablehnend gegenüber der Evolutionstheorie. Damit stehen sie nicht allein. Seit Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (1823-1913) diese Theorie bei einer Sitzung der Londoner LinnéGesellschaft im Jahre 1858 vorstellten, hat sie viel Angst und Abscheu ausgelöst, so manches wurde unternommen, um sie zu unterdrücken. Als die Frau des Birminghamer Bischofs 1890 von Darwins Theorie erfuhr, sagte sie zu ihrem Mann ...

Wir wollen doch hoffen, mein Lieber, dass sie nicht stimmt. Aber wenn sie stimmt, dann wollen wir doch hoffen, dass es nicht allseits bekannt wird.

Was ist dran an Darwins Theorie, und warum in aller Welt regen sich die Leute so darüber auf? 4


Alte Fragen Darwins Evolutionstheorie regt die Leute deshalb so auf, weil sie all die alten Vorstellungen davon, wer wir sind und warum wir hier sind, ins Wanken bringt. Seit Tausenden von Jahren fragen sich die Menschen nach dem Sinn des Lebens.

Woher kommen wir?

Und wozu sind wir da?

Die Antworten vieler Religionen beruhen traditionell auf dem Glauben an einen Gott – oder mehrere Götter. Gott hat uns erschaffen, so wird behauptet, und hat uns aus einem be­stimmten Grund hierhergesetzt. All die althergebrachten Antworten stellen den Menschen als etwas Besonderes dar, als herausragendes Geschöpf. Der Mensch ist nicht einfach bloß ein Tier, denn im Gegensatz zu diesem hat der Mensch Seele und Geist. Nur der Mensch hat einen freien Willen. Nur der Mensch hat eine Vorstellung vom Leben nach dem Tod. 5


Universalsäure Die Evolutionstheorie gefährdet all diese alten Vorstellungen. Sie untergräbt die Kernbehauptungen vieler Religionen. Sie lässt scheinbar keinen Raum für Gott, für die Seele oder für ein Leben nach dem Tode. Der Mensch ist ihr zufolge nichts weiter als eine Tierart. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett (geb. 1942) bezeichnete die Evolutionstheorie als eine Art „Universalsäure“.

Haben Sie schon von Universalsäure gehört? Mit diesem Konstrukt unserer Fantasie haben einige meiner Schulfreunde und ich damals viel Spass gehabt.

... Universalsäure ist eine Flüssigkeit, so ätzend und zersetzend, dass sie sich durch alles frisst!

Wie Universalsäure frisst sich die Evolutionstheorie durch nahezu jede althergebrachte religiöse Vorstellung. Deshalb nennt Dennett sie „Darwins gefährliches Erbe“. 6


Eine Idee in zwei Teilen Darwins gefährliche Idee besteht aus zwei Teilen: der Evolutionstheorie und der Selektionstheorie (hier im Sinne von natürlicher Auslese). Wir wollen diese beiden Theorien nun näher betrachten und sie dann zusammensetzen. Denn erst zusammen werden sie wirklich gefährlich.

Weder die Theorie der Evolution für sich genommen, noch die Theorie der natürlichen Auslese allein untergräbt religiöse Glaubensvorstellungen, ...

... wirklich bedrohlich ist nur die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion.

Wir beginnen mit der Theorie der Evolution an sich.

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Was ist Evolution? Die Evolutionstheorie behauptet, dass Spezies, also Arten im biologischen Sinne, sich mitunter verändern. Aus einer Spezies kann eine andere hervorgehen.

Der Evolutionstheorie zufolge stammt der Mensch von nichtmenschlichen Vorfahren ab.

Letztendlich stammt jede Spezies auf der Erde von einem einzigen gemeinsamen Vorfahren ab, so wie die Zweige eines Baums aus einem einzigen Stamm wachsen.

Das scheint erst einmal keine große Sache zu sein, aber jahrtausendelang glaubten die Menschen des Abendlandes, die Arten seien feste, unveränderliche Einheiten. Deshalb war es ein großer Schock, als sie hörten, dem sei nicht so. 8


Die Artkonstanz Der Gedanke, dass die Tier- und Pflanzenarten unveränderlich seien, geht auf den großen griechischen Philosophen und Wissenschaftler Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurück. Er gründete diese Überzeugung darauf, was er mit eigenen Augen sah.

Niemand hat jemals gesehen, dass ein Affe einen Menschen geboren hätte, nicht wahr?

Affen gebären Affen und Menschen gebären Menschen.

Daraus folgerte Aristoteles nicht ganz grundlos, dass aus einer Spezies niemals eine andere hervorgehen könne. Affen würden immer Affen bleiben. Und Menschen müssen schon immer Menschen gewesen sein. 9


Getrennte Schöpfung Jahrhundertelang ließen christliche Gelehrte Aristoteles’ Theorie der Artkonstanz gelten. Sie glaubten, Gott habe jede Spezies zu Beginn der Zeit getrennt voneinander geschaffen, und jede sei unverändert geblieben, vom ersten Tage an bis heute.

Wir glauben, dass die Geschichte, wie sie in der Bibel im Buch Genesis steht, wörtlich wahr ist ...

„Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen.“ (Genesis 2,19 – Einheitsübersetzung) 10


Genügend Zeit Im 18. Jahrhundert kam schließlich der Gedanke auf, die Arten seien nicht unveränderlich. Man erkannte, dass sich manche Arten durchaus allmählich veränderten. Ein Affe konnte natürlich immer noch kein Menschenbaby gebären.

Aber ein Baby, das ein ganz klein wenig mehr einem Menschen ähnelte.

Und dieser Sprössling könnte ein noch menschenähnlicheres Baby gebären und so weiter.

Genug Zeit vorausgesetzt, könnte sich in vielen kleinen Schritten die Verbindung vom Affenvorfahren zu seinem Nachfahren, dem Menschen, herstellen.

Genug Zeit vorausgesetzt: Das war der springende Punkt. Und genau das bestritt die Kirche. Selbst wenn es theoretisch möglich sei, dass aus einer Art über viele kleine Schritte eine andere hervorginge – für eine Entwicklung vom Affen zum Menschen sei einfach nicht genug Zeit gewesen, geschweige denn für die Entwicklung allen Lebens aus einem einzigen Vorfahren. Die Welt sei schlicht und einfach nicht alt genug für so etwas, so die Kirche. 11


Das Alter der Erde Der anglikanische Theologe James Ussher (1581-1656) zählte die Lebensdaten der wichtigen Personen der Bibel zusammen und errechnete daraus, dass die Welt im Jahre 4004 v. Chr. erschaffen worden sei. Wenn alles in der Bibel wörtlich zu nehmen sei, könne die Erde nur 6000 Jahre alt sein. Das reicht nicht einmal annähernd für eine evolutionäre Entwicklung.

Doch bereits im 19. Jahrhundert wurde Geologen allmählich klar, dass die Welt weitaus älter sein müsse.

Wo Flüsse Gebirge durchschnitten haben, gibt es deutliche Erosionsmuster. Es dauert aber Jahrtausende, bis Wasser solche Felsen abgetragen hat.

Sir Charles Lyell (1797-1875)

Inzwischen hat die Wissenschaft vielfach bewiesen, was jene frühen Geologen nur vermuteten. Die Erde ist fast eine Million Mal älter, als Bischof Ussher annahm. Aktuellen Schätzungen zufolge ist die Erde ungefähr 4,5 Milliarden Jahre alt. Und das ist mehr als genug Zeit für die Evolution. 12


Alte Knochen Die Evolution könnte also stattgefunden haben. Mehr als genug Zeit für alle derzeit existierenden Spezies, sich in vielen kleinen Schritten aus einem einzigen Vorfahren zu entwickeln. Es reicht aber nicht zu wissen, dass die Evolution stattgefunden haben könnte. Wir wollen wissen, ob die Evolution wirklich stattgefunden hat.

Hier kommen die Fossilien ins Spiel ...

Im Jahre 1811 fand Mary Anning an der Steilküste von Lyme Regis, einem Ort in Südengland, das Skelett eines Ichthyosauriers. Dieses Meeresreptil bevölkerte während des Zeitraumes von ca. 240 Millionen bis 90 Millionen Jahren vor unserer Zeit die Meere jener Gegend im heutigen Dorset.

Mary Annings Fund: ein über 6 Meter langes Fossil.

Seit Jahrtausenden stolpern die Menschen über alte Knochen im Gestein. Manche ähneln denen heute lebender Tiere, andere dagegen haben keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was unsere Natur gegenwärtig bevölkert. 13


Wie läuft die Evolution konkret ab? Die Beweise, dass die Evolution stattgefunden hat, sind inzwischen erdrückend. Der Kreationismus ist nicht länger haltbar. Die Evolutionstheorie ist bewiesen und über alle vernünftigen Zweifel erhaben.

Aber zu wissen, dass die Evolution wirklich stattgefunden hat, ist eine Sache, ...

... zu wissen, wie sie stattgefunden hat, ist eine ganz andere.

Und hier nun kommt der zweite Teil von Darwins gefährlicher Idee ins Spiel: die Theorie der natürlichen Selektion. 24


Darwins Beitrag Darwins wichtigster und eigentlicher Beitrag zur Biologie war nicht die Evolutionstheorie, sondern die Theorie der natürlichen Auslese. Bereits lange vor Darwin vermutete man, dass sich die Arten verändern.

Ich habe mir die Evolutionstheorie nicht ausgedacht.

Das Neue bei Darwin war, dass er einen Mechanismus zu erkennen glaubte, der erklärt, wie und warum die Evolution stattfindet.

Ich habe diesen Mechanismus „natürliche Selektion“ genannt.

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So einfach und doch so wirkungsvoll Die Idee der natürlichen Selektion ist ganz einfach.

So einfach, dass ein Freund von mir spontan kommentierte ...

Wie dumm von mir, dass ich nicht längst selbst darauf gekommen bin!

Die Idee der natürlichen Auslese ist nicht nur einfach, sie ist auch sehr wirkungsvoll, denn damit lässt sich die gesamte komplexe biologische Ordnung erklären, die uns umgibt. 26


Drei Bedingungen Natürliche Auslese findet immer dann statt, wenn die folgenden drei Bedingungen zutreffen:

1. Es gibt eine Population von Wesen, die sich selbst reproduzieren. 2. Der Reproduktionsprozess läuft nicht perfekt ab. 3. Diese Differenzen beeinflussen die Fähigkeit der Nachkommen, zu überleben und sich selbst zu reproduzieren.

Diese Bedingungen treffen nicht nur für Tiere und Pflanzen zu. Sie stimmen für alles, was sich reproduziert ...

Computerviren können Kopien ihrer selbst erzeugen. Deshalb können sich Computerviren durch natürliche Auslese weiterentwickeln.

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Reproduktion von Tieren und Pflanzen Zu den Computerviren kommen wir später noch einmal, bleiben wir vorerst bei den Tieren und Pflanzen. Tiere und Pflanzen erfüllen alle drei Bedingungen, die für eine natürliche Selektion nötig sind. 1. Sie reproduzieren sich ...

Sie haben Nachkommen, die den Eltern stark ähneln. 2. Der Reproduktionsprozess läuft nicht perfekt ab ...

Die Nachkommen unterscheiden sich in Details von ihren Eltern. 3. Die kleinen Unterschiede beeinflussen Chancen der Nachkommen, sich selbst zu reproduzieren.

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Die Geschichte von den Schmetterlingen Um die Wirkungsweise dieser drei Bedingungen auf die natürliche Aus­ lese zu veranschaulichen, hier eine kleine Geschichte von einer Schmetterlingspopulation. Schmetterlinge reproduzieren sich, sie erzeugen Nachkommen, die den Eltern stark ähneln. Damit ist die erste Bedingung erfüllt. Sie erfüllen auch die zweite und dritte Bedingung, wie die Geschichte gleich zeigt. Es war einmal eine Population Schmetterlinge von blass-heller Farbe, die in einem Gehölz in England lebte.

Die blass-helle Farbe bot ihnen Tarnung.

Wenn die Schmetterlinge auf der hellen Borke der Bäume saßen, konnten die Vögel sie nicht so leicht entdecken.

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Veränderung der Umwelt Eines Tages baute ein Großindustrieller in der Nähe des Gehölzes eine Fabrik. Die Borke der Äste wurde durch die Luftverschmutzung ganz grau.

Nun waren die Schmetterlinge nicht mehr getarnt, wenn sie auf der Borke saßen.

Den Vögeln war es ein Leichtes, die blassen Schmetterlinge auf dem dunkelgrauen Untergrund zu erspähen. Die Schmetterlingspopulation begann zu schwinden, da immer mehr von den hungrigen Vögeln gefressen wurden. Die Schmetterlinge vermehrten sich weiterhin, aber sie wurden nicht sehr alt. 30


Verschiedenfarbige Schmetterlinge Die meisten Nachkommen hatten die blass-helle Farbe wie die Eltern. Der Reproduktionsprozess lief jedoch nicht ohne Fehler ab (zweite Bedingung).

Ab und zu kam ein andersfarbiger Schmetterling zur Welt (natürlich kam er nicht als Schmetterling zur Welt, sondern als Larve, die sich später in einen Schmetterling verwandelte). Manche dieser Farben bewirkten, dass der Schmetterling vor dem grauen Hintergrund noch schneller von den Vögeln erspäht wurde (dritte Bedingung).

Diese Schmetterlinge wurden schon gefressen, als sie noch sehr jung waren, bevor sie also Gelegenheit zur Reproduktion hatten. 31


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