InfoComics Literaturtheorie Leseprobe

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OWEN HOLLAND & PIERO

EIN SACHCOMIC


OWEN HOLLAND & PIERO


Impressum www.infocomics.de

Titel: Literaturtheorie. Ein Sachcomic Reihe: INFOcomics (hrsg. von Wilfried Stascheit) Autor: Owen Holland Illustrationen: Piero Umschlag: Edward Bettison Titel der englischen Originalausgabe: Literary Criticism. A Graphic Guide © Icon Books Ltd., London, 2015 Text: Owen Holland Illustrationen: Piero

© 2017 deutsche Ausgabe: TibiaPress Verlag GmbH Ruhrpromenade 3, D- 45468 Mülheim an der Ruhr Tel.: +49 (0)208 88 37 57 47 info@tibiapress.de www.tibiapress.de Übersetzung: Wilfried Stascheit Layout: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck: Druckerei Uwe Nolte, Iserlohn Gedruckt auf GardaPat Classica ISBN: 978-3-935254-49-6

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Was ist Literaturtheorie? Dies ist eine (kurze) Einführung in die Literaturtheorie. Es ist ein Buch über Literaturtheorie und deswegen zwangsläufig nicht selbst Literaturtheorie. Es ist eine Binsenweisheit zu sagen, das Objekt der Untersuchung von Literaturwissenschaftlern sei Literatur. Ein Buch über Literaturtheorie ist also nur indirekt ein Buch über Literatur. Aus diesem Grund muss auch die heikle Frage, was „Literatur“ ist, zunächst beiseitegelassen werden. Aber es geht natürlich um Romane, Gedichte und Theaterstücke und vieles andere mehr. Ein Literaturwissenschaftler oder ein Philosoph könnte die Frage auch so formulieren: Was ist Literatur?

Was ist das: Schreiben? Warum soll man schreiben? Für wen?

Sartre, an den Ufern der Seine.

Der französische Philosoph, Literat und Kommunist Jean-Paul Sartre (19051980) stellte sich genau diese Fragen im Jahr 1947. 3


Wir fragen ein wenig anders: „Was ist literarische Wissenschaft?“ Zu Beginn könnten wir ziemlich allgemein antworten, dass sie aus allem Geschriebenen besteht, das den Anspruch erhebt, Urteile über den Wert von Literatur im Allgemeinen oder über spezielle Werke zu fällen. Ein geeigneter Weg zu solchen Beurteilungen führt über Interpretationen (z. B. „Close Reading“), Vergleiche und mit weiteren Informationen angereicherte Analysen. Eine Beurteilung gründet weiterhin auf Aussagen über den inneren Wert von Literatur, die ästhetischen* Verdienste und formelle Qualitäten von bestimmten Arbeiten oder bezieht sich auch auf ihren kulturellen und historischen Stellenwert.

Wer auf die historische Bedingtheit des literarischen Werks verweist, wird nicht unbedingt mit denen übereinstimmen, die auf seinen inneren Wert setzen.

Mit diesen Fragen werden wir uns etwas später beschäftigen. * Mit Sternchen versehene Begriffe werden im Glossar ab S. 170 erklärt.

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Zeitlos? Ben Jonson (1572-1637) ist wohl am ehesten als Dramatiker und Zeitgenosse von William Shakespeare (1564-1616) bekannt. Wenn Jonson über diesen Shakespeare sagte …

Nicht einer Zeit gehörte er, sondern allen Zeiten.

… behauptete er, der Wert von Shakespeares Opus sei ein universeller und überzeitlicher.

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Es kann also für einen Literaturwissenschaftler ein Problem sein, immer wieder Gegenstand und Studiengebiet definieren zu müssen. Die Spurensuche nach der Bedeutung von Bezügen auf Shakespeare in den Romanen von Thomas Hardy (1840-1928) hat wissenschaftlich den gleichen Rang wie das Studium von metrischen Mustern in Alfred Tennysons (1809-1892) Gedichten, aber beide wirken wiederum befremdlich deplatziert neben der kritischen Relektüre von Theodor Adornos (1903-1969) „Ästhetischer Theorie“ oder einem Essay* zur zeitgenössischen Avantgarde-Dichtung.

Theodor W. Adorno (1903-1969)

Den Figuren in Hardys Romanen, die fortwährend Shakespeare zitieren, sollte man eher nicht trauen.

Zeiten, in denen die Natur den Menschen so übermächtig entgegensteht, erlauben keinen Raum für die Schönheit der Natur. Bekanntlich erlaubt die Arbeit des Bauern, bei dem die Natur, so wie sie da ist, das direkte Objekt der Tätigkeit abgibt, wenig Würdigung landschaftlicher Schönheit.

Das ist etwa die Bandbreite, in der die akademische Disziplin heute in den Universitäten gelehrt und gelernt wird. 8


Wenn du mit dem Gedanken spielst, Literaturwissenschaftler zu werden, ist es sicher kein Fehler, dich umfassend in die Geschichte der Literaturtheorie einzulesen. Dieses Buch ist zuallererst eine Einführung in die Arbeit einiger der Hauptprotagonisten dieser Disziplin. Literaturtheorie hat eine lange Geschichte.

Selbst dieser kurze Überblick wird uns vom alten Griechenland, über die Renaissance hin zu den neueren Abteilungen der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts führen.

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Geschichte der Literaturtheorie – kurz und knapp Platons (428-348 v.Chr.) Politeia (Der Staat) ist zuallererst natürlich eine philosophische Abhandlung. Dargeboten wird sie aber in der Form eines Dialogs mit Platons Lehrer Sokrates (469-399 v.Chr.), der die Hauptfigur darstellt.

Der Text beschreibt die Regierungsform für eine ideale Gesellschaft oder ermöglicht, ein gutes Leben zu führen.

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Platons Buch ist unbestritten ein kanonischer Text der politischen und Moralphilosophie. Aber es enthält auch Überlegungen zum Stellenwert und der Funktion der mimetischen Künste, einschließlich der Dichtung, was es zu einem lohnenden Objekt für Literaturwissenschaftler macht. Es ist also, so betrachtet, eines der frühesten erhaltenen Werke zur Literaturwissenschaft.

Nehmen wir an, in unsere Stadt käme ein Mann, der sich aus eigener Fähigkeit in alles verwandeln und alles imitieren kann. Nehmen wir an, er brächte seine Dichtung mit und wollte sie vortragen.

Wir sollten ihn als gottgesandt, wundervoll und großen Unterhalter begrüßen: Dann aber würden wir sagen, dass es keinen wie ihn in unserer Stadt gebe und auch nicht geben dürfe.

Deswegen sollten wir ihm dann das Haupt salben, es mit Wolle bekränzen und ihn fortschicken.

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Konzepte des 20. Jahrhunderts: Drei Arten von Formalismus Im Gegensatz dazu sind die nun folgenden Schriftsteller hauptsächlich als Literaturtheoretiker bekannt (und studiert), obwohl einige von ihnen auch dichterisch tätig waren. Sie waren Schlüsselfiguren bei der Verankerung von Literaturtheorie als akademischem Fach im frühen 20. Jahrhundert. Die drei theoretischen Strömungen, die hier vorgestellt werden, sind keine homogene Gruppe, aber ihre gemeinsame Schwerpunktsetzung auf die Eigenart des literarischen Texts statt auf sein Umfeld und das genaue Augenmerk auf die Form verorten sie gemeinsam in der großen Familie des Formalismus.

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Practical Criticism (Praktische Kritik) „Practical Criticism“ ist eine Methode, um Texte zu interpretieren und zu hinterfragen. Sie wurde von I.A. Richards (1893-1979) und Kollegen im Fachbereich für Englisch in Cambridge in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt. Der Fachbereich war vergleichsweise jung (1911 eingerichtet), was seinen Mitgliedern erlaubte, neue Ansätze in der Literaturwissenschaft zu entwickeln.

„Practical Criticism” umfasst „Close Reading” (präzises Lesen) der „Wörter auf der Seite”, von weiteren kontextuellen und historischen Informationen abstrahierend – eine Methode des Lesens, die die gewissenhafte Ausrichtung auf technische Aspekte wie Form, Rhythmus und Stil verstärkt.

Richards umriss die Leitprinzipien in Practical Criticism: A Study of Literary Judgement (1929), wo er eine Reihe von „Experimenten“ schildert, bei denen Studenten und andere interessierte Teilnehmer Gedichte kommentieren sollten, die ihnen ohne Hinweis auf den Autor präsentiert wurden. 78


New Criticism Eliots und Richards‘ Einfluss verbreitete sich in die USA und etablierte dort eine wissenschaftliche Schule, die amerikanische Universitäten bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts beherrschte. Der „New Criticism“, wie diese Schule genannt wurde, bezieht sich auf eine spezielle (ideologische) Weise, Texte zu lesen. Eine Art Formalismus, der die Vorzüge des „Close Reading“ betonte und eine ästhetische Haltung unterstützte, die sich einem Gedicht als in sich geschlossenem Objekt annähert, statt in ihm einen Ausdruck von äußerem historischem oder biografischem Material zu sehen. Viele Anhänger der Bewegung übernahmen die theoretischen Prinzipien, denen sie in Richards‘ Schriften begegnet waren. Die Bewegung nahm in den 1930ern an Tempo auf, aber erst 1941 veröffentliche John Crowe Ransom (1888-1974) The New Criticism, eine kritische Auseinandersetzung mit den Schriften von Eliot, Richards und Empson.

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An der Vanderbilt Universität stieß Ransom auf Cleanth Brooks (1906-1994), Allen Tate (1899-1979) und Robert Penn Warren (1905-1989). Diese informelle Gruppe von „New Critics“, manchmal die „Southern Agrarians“ (SüdAgrarier) genannt, unterstützte die weitgehend traditionellen Wertvorstellungen des „Alten Südens“ (Old South) gegen den industriellen Impuls des Nordens. Brooks und Warren gründeten 1935 The Southern Review, eine Zeitschrift, die zum wichtigen Sprachrohr des „New Criticism“ wurde. Brooks‘ Essaysammlung The Well-Wrought Urn, Studien zur Struktur von Dichtung, ist wie Empsons Sieben Arten der Mehrdeutigkeit ein hochgelobtes Beispiel für die kritische Praxis des „Close Reading“. Brooks widersprach energisch der Idee, dass die „Bedeutung“ eines Gedichts in Prosa paraphrasiert werden könnte.

Das würde der unreduzierbaren Spezifizität der poetischen Sprache Gewalt antun.

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Russischer Formalismus Kurz vor den amerikanischen New Critics entwickelte sich ein anderer Formalismus aus der Arbeit einer Gruppe russischer Literaturwissenschaftler im frühen 20. Jahrhundert. Die Gruppe bestand aus Wiktor Schklowski (1893-1984), Juri Tynjanow (1894-1943), Roman Jakobson (1896-1982) und Boris Eichenbaum (18861959), die von der Phänomenologie* des deutschen Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) beeinflusst waren. Husserls Phänomenologie war eine hermeneutische* Methode, die versuchte, Wissensobjekte als „reine Denkinhalte“ zu bestimmen. Der russische Formalismus erblühte in den Jahren direkt nach der Oktoberrevolution 1917, wurde aber durch den Aufstieg des Stalinismus in den späten 1920ern zum Verstummen gebracht, als der sogenannte „sozialistische Realismus“ als kulturelle Richtlinie durchgesetzt wurde. Dies führte zu einer Unterdrückung der Avantgarde und experimentellen Strömungen in Kultur und Literaturwissenschaft.

Ausschalten!

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Formalismus entstand als Teil einer polemischen Auseinandersetzung mit den Symbolisten, für die Dichtung Verkörperung von spirituellen und religiösen Bedeutungen war. Die Formalisten kappten diesen figurativen und verweisenden Bezug und schauten stattdessen auf die Mechanismen der Textkomposition und Arbeitsweisen (zum Beispiel wie Dostojewski (1821-1881) in Die Brüder Karamasow (1880) Stilmittel des Detektivromans nutzte, um die herrschenden Konventionen des literarischen Realismus zu unterlaufen). Dies reduzierte den Stellenwert des Autors entscheidend und nahm das „intentionale Fehlschluss-Argument“ (s. S. 89) der New Critics vorweg. Der Autor wurde weniger als ein kreatives Genie gesehen, wie im romantischen Modell, sondern mehr als Manipulator der vielfältigen literarischen Konventionen und Mittel. Die Formalisten waren primär an der inneren Funktionsweise eines Textes interessiert statt an äußerem kontextuellem oder biografischem Stoff, aus dem ein Text womöglich entstanden ist.

Das Studienobjekt der Literaturwissenschaften ist nicht Literatur, sondern „literariness” (Literaturhaftigkeit), das, was einen Text zu einem literarischen Text macht.

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Vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus In den späten 1960ern wurden einige der zentralen Annahmen der strukturalistischen Methodik von vielen Seiten kritisiert. Diese Bewegung wurde dann unter dem Namen Poststrukturalismus zusammengefasst. Viele der Denker, die heute dem Poststrukturalismus zugeordnet werden, blieben den Erkenntnissen von Saussures Linguistik verpflichtet, wollten aber in kritischer Absicht den Spielraum seiner Möglichkeiten vergrößern. Der französische Philosoph Jacques Derrida erweiterte Saussures Konzept der linguistischen Differenz etwas verspielt, indem er es als „différance“ umformulierte. Dieses Wortspiel kombiniert die Bedeutungen „unterscheiden“ und „verschieben“, womit nicht nur vorgeschlagen wird, dass Bedeutung negativ durch einen Prozess linguistischer Unterscheidung bestimmt wird, wie Saussure meinte, sondern auch:

Bedeutung wird unaufhörlich entlang einer Signifikantenkette weitergeschoben … Tor-Ton-Tod … ohne jede Möglichkeit einer allerletzten Bestimmung.

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Derridas Vortrag seines Essays Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen 1966 in Baltimore wird oft als der Moment beschrieben, in dem Poststrukturalismus erstmals als Infragestellung der bisherigen Thesen der strukturalistischen Theorie auf die Bühne trat.

„Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde, obgleich sie immer schon am Werk war (…) immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte.”

Derrida lehnt das Vokabular des Strukturalismus nicht grundlegend ab, sondern versucht stattdessen, die Neutralisierung seines radikalen Potenzials zu vermeiden. 107


New Historicism und kultureller Materialismus Greenblatts Schriften über das Renaissance-Drama in Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare (1980) überschneiden sich mit dem Werk von Alan Sinfield (geb.1941) und Jonathan Dollimore (geb.1948), deren Sammlung Political Shakespeare: Essays in Cultural Materialism (1985) auch Greenblatts Unsichtbare Kugeln enthält. Die Sammlung zeigt Wege, wie Shakespeares Stücke hinsichtlich der Diskurse und Praktiken von Kolonialismus und Patriarchat verstanden werden können. Im Vorwort bestimmten Sinfield und Dollimore ihr Ziel:

Hingegen bekennt er sich zu seiner Mitarbeit an der Umgestaltung einer sozialen Ordnung, die Menschen auf der Basis von Rasse, Geschlecht und Klasse ausbeutet.

Kultureller Materialismus versucht nicht, wie andere etablierte Literaturtheorien, seine Perspektive als die natürliche, naheliegende oder richtige Interpretation eines vermeintlichen gegebenen textlichen Fakts zu mystifizieren. 132


Kultureller Materialismus, der zwar auch in den 1980ern aufkam, ist trotzdem nicht einfach mit New Historicism gleichzusetzen. Einige kulturelle Materialisten waren skeptisch hinsichtlich der Foucaultschen Annahmen im New Historicism: Für sie operieren die Netzwerke der Macht nicht nur auf dem Level von Diskursen, sondern haben auch spezifische materielle, soziale und ökonomische Festlegungen. Diese wurden vom New Historicism meist wegen seiner Konzentration auf die Textualität vernachlässigt. Die Neubelebung vom materialistischen Historicism entstand in einem marxistischen Umfeld. Sie wird zur Hauptsache mit Raymond Williams (19211988) verbunden, der in Büchern wie Marxism and Literature (1977) und Problems in Materialism and Culture (1980) versuchte, die materialistische Methode der Sozialanalyse auf das Gebiet der kulturellen Produktion auszudehnen.

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Gender Studies Feminismus der zweiten Welle nahm die Kategorie des (sozialen) Geschlechts (gender) genauer in den Blick. Gender Studies haben eine größere Bandbreite als Feminismus, weil zu ihnen auch Theorien zur Homosexualität sowie die „Queer-Theorie“ gehören. Die Hauptanliegen der Gender Studies sind: 1. Die politische Geschichte der Unterdrückung zu untersuchen, die Gruppen erleiden mussten, die aus dem heteronormativen* Paradigma herausfallen. 2. Die soziale Konstruktion und Repräsentation von Geschlechterrollen zu untersuchen, wobei Literatur eine wichtige Rolle spielt. Ein Großteil des kritischen Antriebs der Gender Studies stammte aus realen sozialen Kämpfen. Die Stonewall-Unruhen in New Yorks Christopher Street von 1969 waren beispielsweise ein Schlüsselereignis in der Geschichte der Schwulenbewegung.

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Die biologische Unterscheidung zwischen dem „männlichen“ und „weiblichen“ Geschlecht kann nicht einfach auf die Genderkategorien „maskulin“ (= männlich) und „feminin“ (= weiblich) übertragen werden, weil die mit ihnen verbundenen Verhaltensmerkmale nicht als binäre Opposition existieren. Wir können uns stattdessen ein Spektrum von als männlich und als weiblich identifizierten Verhaltensweisen vorstellen, die ungleichmäßig zwischen Männern und Frauen verteilt sind. Der Prozess einer solchen Zuordnung ist sozial und historisch bedingt. Durch Transsexualität wird die binäre Logik auch noch auf der biologischen Ebene destabilisiert.

Gender ist nicht so klar, wie die MainstreamKultur es darstellt; es gibt eine Grauzone bei der Geschlechterzuordnung. Das meinen wir mit „das Geschlecht ist nicht binär”.

Die Theoretisierung von Geschlecht schuf eine Schwierigkeit für den Feminismus, denn: Wenn Geschlecht als instabile und konstruierte Kategorie verstanden wird, wer konstituiert dann das Subjekt des Feminismus? 143


Postkoloniale Theorie Postkoloniale Theorie schafft der Literaturtheorie einen politischen Ansatz. Sie entstand aus dem historischen Kontext der Dekolonialisierung und der nationalen Befreiungskämpfe in der „Dritten Welt“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Einige der postkolonialen Theorie zugeordnete Schriftsteller nahmen an diesen Kämpfen teil.

Frantz Fanon (1925-1961) wurde in Martinique geboren, zu der Zeit eine französische Kolonie (und heute ein Überseedepartement von Frankreich). Fanon nahm am algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) gegen den französischen Staat teil und schrieb in Die Verdammten dieser Erde (1961) eine marxistische Beschreibung der Bedingungen antikolonialer Revolutionen.

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Fanon, der auch Psychiater war, schrieb eine polemische Kritik zur Psychologie kolonialer Herrschaft in Schwarze Haut, weiße Masken (1952). Es war ebenso eine Studie zur Bildung einer schwarzen Identität unter imperialistischer Unterdrückung wie zugleich eine Kritik an der imperialistischen Weltordnung.

Alle kolonialisierten Menschen – mit anderen Worten, alle Menschen, in deren Seele ein Minderwertigkeitskomplex gepflanzt wurde durch Tod und Vergraben ihrer lokalen kulturellen Originalität – befinden sich Aug in Aug mit der Sprache der zivilisierenden Nation; also mit der Kultur des Mutterlands.

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Abschließende Bemerkungen Die hier behandelten Ideen und Theoretiker bieten nur Miniaturansichten der langen Geschichte der Literaturwissenschaft und Theorie. Wenn diese Darstellung problematisch war, dann weil es das ganze Thema von beachtlicher ästhetischer, politischer und philosophischer Bedeutung ist. Literaturwissenschaft wird vermutlich als kritische Aktivität weiterbestehen, solange Bücher geschrieben oder Werke produziert werden, die wenigstens einige für „Literatur“ halten. Im 21. Jahrhundert wird die Beziehung zwischen „digitaler“ und „materieller“ Kultur und ihre Wirkung auf Lesegewohnheiten zu einer wichtigen Frage für Literaturwissenschaftler.

Was ist die Zukunft des Buches? Und was ist die Zukunft von Lesen?

Solche Fragen sind eng verbunden mit der Zukunft unseres Planeten.

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Das letzte Wort hat Shelley, der uns erinnert, dass Schreiben und Lesen von Literatur und Dichtung beiträgt zu: Dem groĂ&#x;en Gedicht, das alle Dichter seit Anbeginn der Welt errichtet haben, als wenn es das gedankliche Zusammenwirken in einem einzigen Kopf gewesen wäre.

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Index Abbildung, Theorie der 16 Abdallah ibn al-Mu’tazz 10 Addison, Joseph 34 Adorno, Theodor 8, 117–118 Ästhetizismus 64–65, 94, 170 Ästhetik 7, 30, 42, 64–65, 170 Allusion 170 Anderson, Benedict 159 Anthony, Michael 155 Apologie 25 Aristoteles 11, 18–22, 26, 33, 36, 59, 96 Platon vs. 18–19, 66 Arnold, Matthew 51–55, 57, 63–65, 84 Ashcroft, Bill 155 Autorfunktion Autor-Gott 109 Autorintention 89, 92, 125 Autorität 43 Aytoun, William Edmondstoune 56 Ballade 48, 56, 131, 170 Barthes, Roland 103, 104, 109–110 Bate, Jonathan 6, 165 Bateson, F.W. 85 Baudrillard, Jean 110 Beardsley, Monroe 89–90 Beauvoir, Simone de 137, 149 Benjamin, Walter 11, 62–63, 117–118 Berkeley, Bishop 45 Bewusstsein 44–45, 120, 125–126 Bhaba, Homi K. 156, 159 Blair, Reverend Hugh 55–56 Bloch, Ernst 117–118 Boileau, Nicholas 34 Boswell, James 45 Brecht, Bertolt 22 Brontë, Charlotte 73 Brontë, Emily 73 Brooks, Cleanth 88 Buell, Lawrence 161, 167 Butler, Judith 148–150 Butler, Samuel 40 Carew, Thomas 39 Carpenter, Edward 147 Césaire, Aimé 153 Cixous, Hélène 137

Clare, John 165 Close Reading 90 Coleridge, Samuel Taylor 46–47 Cromwell, Oliver 39 Dekonstruktion 108 Derrida, Jacques 105–109 Desmarets de Saint-Sorlin, Jean 34 diachroner Ansatz 98 dialektisch 118, 170 Dichter, als Kritiker 68–70 différance 106 Differenz (linguistisch) 100, 106 Diskurs 105, 130, 170 Dithyrambos 18–19, 170 Dollimore, Jonathan 132 Donne, John 79, 84 Dostojewski, Fjodor 92 Drama, statisch vs. dynamisch 22 Dryden, John 34, 36, 48 Eagleton, Terry 119 Ecocriticism 161–167 Ecopoetics 165, 167 écriture féminine 137–138 Eichenbaum, Boris 91, 94 Einfühlungsvermögen 12–13 Einheiten, Theorie der 20, 36 Eliot, George, (Mary Ann Evans) 73 Eliot, T.S. 63, 68–71, 76, 80, 84, 87 Empson, William 82, 87–88 Enkomion 17, 38, 170 Engels, Friedrich 113, 116 Englischer Bürgerkrieg 37–40 Englische Lit.wissenschaft, Entwicklung als Disziplin 55–57 Epik 18–19, 20, 112 Essay 8, 170 Essentialismus 138–140, 149 Eurozentrismus 156, 158 Fanon, Frantz 151–152, 160 Felman, Shoshana 126 Feminismus 135–9, 143–4 erste Welle 135 zweite Welle 135–136, 139, 141–142 Fichte, Johann 44 173


Findley, Timothy 155 Flaubert, Gustave 158 Fließ, Wilhelm 122 Formalismus 77 russischer 91–94, 102, 114 Foucault, Michel 105, 108, 129–130, 158 Frame, Janet 155 Freud, Sigmund 108, 117, 120–123 Freude (Wohlgefallen) 18–19, 59–60, 66 Ganzheit 20 Gautier, Théophile 64–65 Geist, Natur und 31 Genderforschung 142–144 Genette, Gérard 103 Genrestudien 103 Geschlecht, als Performance 149–150 Greenblatt, Stephen 128–30, 132 Griffiths, Gareth 155 Große Erzählungen 110, 130 Gynozentrismus 139 Hall, Radclyffe 146 Hall, Stuart 134 Hardy, Thomas 8 Harkness, Margaret 116 Hartman, Geoffrey 96 Hegel, G.W.F. 108, 127 Hellenismus 54 Herder, Johann Gottfried von 127 Hermeneutik 91, 108, 125, 170 heroische Verse 32, 171 Herrick, Robert 39 Heteronormativität 142, 144, 148, 171 Historicism 127–134 Hocquengham, Guy 145 Hoffman, E.T.A. 120 Hoggart, Richard 134 Homer 17, 18–19, 25, 33, 112 Homosozialität 148 Horaz 30, 33 Horkheimer, Max 117 Hugo, Victor 43 Humanismus 30, 69, 1971 Husserl, Edmund 91 Hybridität 159 ideale Republik 14–17 Idealismus 45–6

Imagination 28, 41–43, 162 Immaterialismus 45 Individualismus 41, 47 Industrielle Revolution 49, 54 Intentionen, des Autors 89, 92, 125 Interdisziplinarität 96 Interesselosigkeit 52–3, 64–5 Intersektionalität 140–141 Irigaray, Luce 110 Jakobson, Roman 91, 92, 94 James, Henry 84, 126 Jameson, Fredric 118 Jefferies, Richard 161 Johnson, Dr Samuel 34, 45, 76, 84 Jonson, Ben 5–6, 34, 70 Kanon 45, 68, 74, 84, 155, 170 Kapitalismus 111–112 Katalysator 68 Katharsis 21–22 Klassik 41, 43, 170Romantik vs. 41, 43–4 Komödie 18–19, 21 konkret 45–46, 90 Kristeva, Julia 110 Kritiker als Künstler 67 als Chamäleon 12–13 Rolle des 70, 90, 119 Kritik Funktion 51–54, 63, 69–70 Geschichte 9–10, 14–15 als moralische Aktivität 84 Kroeber, Karl 166 kulturelle Güter 113 kultureller Materialismus 132–4 Kulturwissenschaften 134 Lacan, Jacques 123 langue 97–8 Leavis, F.R. 84–5 Lévi-Strauss, Claude 101, 103, 108 Levinson, Marjorie 50 liberaler Humanismus 53 Logozentrismus 108 Lorde, Audre 140 Lovelace, Richard 39 Lu Xun 4 Lukács, Georg 115–18 174


Lyotard, Jean-François 110 Machtstrukturen 130–131, 133 Mailer, Norman 136 Mann, Thomas 115 Marcuse, Herbert 117–18 Marlowe, Christopher 70 Marvell, Andrew 38 Marx, Karl 111–13, 117, 127 Marxistische Literaturtheorie 111–119, 154 Massenkultur 117–18, 134 Maurice, F.D. 57 McGann, Jerome J. 50 Mehrdeutigkeit 82–83, 126 Metapher 29, 171 Methodologien der Lit.wissenschaft 95 Middleton, Thomas 70 Mill, John Stuart 135 Millett, Kate 136 Milton, John 37, 84 Mimesis 11, 14–16, 18–20, 26, 59, 66, 96, 171 Modernismus 71, 115 Moi, Toril 139 Moral der Dichtung 7, 28–29 der Kritik 7, 64–65, 84 Morris, William 58, 66 Murray, John Middleton 63 Mythos 101, 103 Nachahmung 11, 16, 26, 48 Naipaul, V.S. 155 Narayan, R.K. 155 Narratologie 103 Nationalismus 156, 159–160 Natur 8, 31–32, 35, 48, 166–7 Négritude 153 Neoklassizismus 35–36, 171 New Criticism 87–90, 92, 95, 128–129 New Historicism 50, 128–134 Newman, Cardinal John Henry 62–3 Nichol, John 56 Nkosi, Lewis 155 Noumena 44 Nützlichkeit 18–19 Objektivismus 44, 85, 171 Subjektivismus vs. 35, 44, 85

Ödipus 121–2 Oeuvre 76, 171 Ordnung 68–69 Orientalismus 157 Originalität 43 Ort der Bedeutung 90 Parlamentarier 37-40 parole 97–98 Pater, Walter Horatio 64–6, 94, 147 Peacock, Thomas Love 23 Phallogozentrismus 136-137 Phänomenologie 91, 171 Phenomena 44 Platon 14–17, 23, 26–27, 39, 96 Aristoteles vs. 18–19, 66 Poe, Edgar Allan 123 Poesie kognitiver Wert 28 Verteidigung der 23–29, 162 moralische Funktion 28–29 Pope, Alexander 30–33, 35, 48, 84, 158 Postkoloniale Theorie 151–156, 160 Postmodernismus 118 Poststrukturalismus 106–110, 129, 137, 139, 163 Pound, Ezra 7 Practical Criticism 78–86 professionelle Lit.wissenschaft 58–63 Propp, Vladimir 103 Prüfstein 57 Psychoanalyse 120–126, 140 Queere -Theorie 142 Racine, Jean 33 Ransom, John Crowe 87 Rationalismus 35, 110 Relativismus 127, 171 Repräsentation 96, 168–9 Rich, Adrienne 145 Richards, I.A. 78–82, 87 Romantik 30, 46–50, 165–166 Klassik vs. 41, 43–44 Royalisten 37-40 Rubin, Gayle 144 Rueckert, William H. 163 Ruskin, John 64–5 175


Russischer Formalismus 91–94, 102, 114 Said, Edward 10, 156–158 Sartre, Jean-Paul 3, 118 Satire 34, 39–40 Saussure, Ferdinand de 10, 97–101, 106, 108–119 Schelling, Friedrich 44, 46 Schiller, Friedrich von 42 Schlegel, Friedrich von 41 Schöne Künste 55–56, 59 Schwulen- und Lesbenforschung 145–150 Sedgwick, Eve Kosofsky 148 Sexualpolitik 144 Shakespeare, William 5–6, 8, 36, 70, 122, 132 Shelley, Percy Bysshe 23, 28–30, 43, 51, 61, 162, 168–169 Shklovsky, Viktor 91, 94 Showalter, Elaine 136, 139 Sidney, Philip 23–27, 30, 32, 36 Signifikat, Signifikant 97-100 Sinfield, Alan 132, 147 soziale Gerechtigkeit 164 soziale Verantwortung 64-65 sozialistischer Realismus 91, 114–115 Sokrates 14–15 Spivak, Gayatri Chakravorty 156, 160 Sprache, schriftliche vs. gesprochene 48, 82, 88, 93–94 Staël, Mme de 41 Stalinismus 91 Strukturalismus 97–100, 129 Anwendungen 101–105 Subaltern 156, 160, 171 Subjektivismus/ Subjektivität 44–46, 115, 122, 124, 137, 141, 171 Objektivismus vs. 35, 44, 85 Suffragetten 74 Swift, Jonathan 34 Swinburne, Algernon Charles 66 synchroner Ansatz 98 Systematisierung 82

Theorie der Abbildung 16 Thiong’o, Ngugi Wa 155 Thoreau, Henry David 161 Tiffin, Helen 155 Todorov, Tzvetan 103 Tradition 68–69 Tragödie 18–21 Transsexualität 143 Trotzki, Leon 114 Tynyanov, Yury 91 Überverfeinerung 58, 63 unbewusst 123–124 Universalismus 12–13, 138 Utilitarianismus 62 Vega, Lope de 6 Verdrängung 120 Verfahrensweisen 92 Verfremdung 94 Vergil 33 Verstand 35, 41 Vico, Giambattista 127 Warren, Robert Penn 88 Weeks, Jeffery 145 Weibliche Autorschaft, Kampf um 72–75 Whitman, Walt 147 Wilde, Oscar 3, 63–7, 76, 94, 147 Williams, Raymond 119, 133–4 Wilson, Edmund 126 Wimsatt, William K. 89–90 Wissen, um seiner selbst willen 62–63 wissenschaftliche Objektivität 80–81, 102 Wittig, Monique 138 Wollstonecraft, Mary 135 Woolf, Virginia 71–76 Wordsworth, William 47–51, 69, 165–6 Zimmerman, Bonnie 145

Tate, Allen 88 Teleologie 108, 171 Textkomposition 92 Textualität 130, 163, 171 176


Wie funktioniert Literatur? Wie redet und schreibt man über das, was geschrieben wurde? Wie nah muss man beim Close Reading an den Text ran? Wie wichtig ist der Autor und der Kontext, in dem ein Buch geschrieben (und gelesen) wird? Was macht der Text mit dem Leser oder umgekehrt, was macht der Leser mit dem Text? Dieser Band der Infocomic-Reihe ist eine Reise durch Philosophie, Linguistik und Sozialgeschichte, durch Moden und Methoden der Literaturtheorie und -kritik: Positivismus, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Diskursanalyse, Gender Studies … Mag die Lektüre dieses Comics das Lesen eines „guten Buches“ fortan noch lebendiger und lohnender machen!

Literaturwissenschaft, Germanistik, Anglistik, Komparatistik, Literaturkritik ISBN 978-3-935254-50-2

TibiaPress Verlag www.TibiaPress.de


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