INFOcomics Slavoj Žižek Leseprobe

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Christopher Kul-want & Piero

EIN SACHCOMIC


Christopher Kul-want & Piero


Der gefährlichste Philosoph … Slavoj Žižek, von der amerikanischen neokonservativen Zeitschrift New Republic als „der gefährlichste Philosoph des Westens“ und von der britischen Zeitung Observer als „der Superstar und Messias der Neuen Linken“ bezeichnet, ist ein linksradikaler Intellektueller und unbestreitbar eine Person des öffentlichen Lebens. Žižek hat sich einen Namen als Polemiker gemacht. Wie der Titel eines seiner neueren Bücher – Living in the End Times (2010) – deutlich macht, gilt sein philosophisches Interesse dem weit verbreiteten Gefühl, eine weltweite Katastrophe stehe unmittelbar bevor, und den diesem Gefühl zugrunde liegenden ideologischen Ursachen. Seine Arbeit befasst sich mit der derzeitigen globalen politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krise.

Eine Krise, die schnell auf einen Nullpunkt zusteuert.

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Žižek, über den es mehrere TV-Dokumentationen gibt, hat in Europa und in den USA ein umfangreiches Arbeitspensum zu bewältigen; dazu gehören ausverkaufte öffentliche Auftritte und Vorlesungen, die hunderttausendfach bei YouTube aufgerufen werden. Mit seinen Arbeiten, die mittlerweile in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, hat er eine Popularität erlangt, die kein anderer zeitgenössischer Philosoph auch nur annähernd erreicht – wenngleich seine Ideen häufig komplex und schwierig sind. Was sind die Gründe für diese Popularität? Viele Menschen hören gerne einem Philosophen wie Žižek zu, der über die globalen Probleme von Armut, Umwelt und politischer Unterdrückung intensiv nachgedacht hat.

Ich biete neue Denkansätze und, wenn nötig, klare Lösungen für diese Probleme.

Dies ist ein weiterer Grund, weshalb seine Ideen eine so große Anziehungskraft haben.

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Der mündliche Kommunikationsstil Žižek hat zahlreiche Artikel in Zeitschriften und im Netz veröffentlicht sowie mehr als 50 Bücher geschrieben – mitunter ein Buch pro Jahr. Im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen tragen Žižeks Schriften den Stempel einer Herangehensweise an das Denken und den Diskurs, die von der mündlichen Mitteilung geprägt ist. Das wiederum macht auch zum Teil den Reiz aus, der von seinen mündlichen Ausführungen und seinen Schriften ausgeht. An der Art und Weise, wie Žižek schreibt, zeigt sich sehr deutlich, dass er Ideen gerne direkt kommuniziert.

Zuerst mache ich mir Notizen von meinen Ideen, so wie ich sie mündlich vortragen würde …

Dann kommt Fleisch an die Knochen, eher als eine akribische Argumentation ­aufzubauen.

Diese Art des Schreibens hat den doppelten Vorteil, dass die Spontaneität seiner Gedanken erhalten bleibt und dass spürbar ist, welche Freude es ihm bereitet, Gedanken darzulegen. 5


Slavoj Žižek wurde 1949 in Ljubljana in Slowenien geboren, das bis heute sein „ständiger“ Wohnsitz ist. Damals war die kleine alpine Hauptstadt noch Teil des kommunistischen Jugoslawien. Er wuchs als einziges Kind berufstätiger Eltern auf.

Wie viele andere junge Leute in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion konsumierte ich begierig die westliche Populärkultur, die ich viel besser fand als die offiziell genehmigten Fernsehsendungen, Bücher und Filme.

Einen Großteil seiner Kenntnisse über das Hollywood-Kino – über das er ausführlich geschrieben hat – erwarb er als ein Teenager, der viel Zeit in einem Kinosaal verbrachte, in dem vor allem ausländische Filme gezeigt wurden. 6


Psychoanalyse, die suspekte Wissenschaft Als Student an der Universität Ljubljana war Žižek kein Anhänger der orthodoxen kommunistischen Lehre und geriet in Konflikt mit den Behörden. Anstatt sich an die genehmigten Literaturlisten zu halten, vertiefte er sich in die Arbeiten von Jacques Lacan, Jacques Derrida und anderen, zumeist französischen, Philosophen, deren Schriften in sozialistischen Kreisen nicht gut angesehen waren. Von unserem sozialistischen Standpunkt aus ist Lacans Arbeit besonders suspekt, weil sich Psychoanalyse mit dem Ich und der individuellen Psyche befasst.

Das philosophische Projekt, dem Žižek sich schließlich verschrieb, wurde zu ­Versöhnung der Psychoanalyse mit einer auf das gesellschaftliche Kollektiv ausgerichteten Politik. 7


1971 machte Žižek den Bachelor in Philosophie und Soziologie und strebte dann, ebenfalls an der Universität Ljubljana, den Magister an. Seine Magisterarbeit schrieb er über die französischen Philosophen, mit deren Ideen er sich befasst hatte. Seine wissenschaftliche Arbeit erregte zwar das Interesse der philosophischen Fakultät, aber ihre ideologisch bedenklichen Aspekte brachten ihm Unannehmlichkeiten ein. Wir zwangen Žižek, einen Anhang hinzuzufügen, in dem er darlegte, worin sich seine Ideen von der allgemein anerkannten marxistischen Theorie unterschieden. 1975 wurde Žižek schließlich der Magister im Fach Philosophie zuerkannt.

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Obwohl Žižek eine Stelle an der Universität zugesichert worden war, erhielt sie ein anderer Kandidat, dessen Einstellungen mehr der Parteilinie entsprachen. Mehrere Jahre lang war ich auf die Arbeit als Übersetzer angewiesen, um mein Leben fristen zu können. 1977 gab ich dem Druck nach und trat in die Kommunistische Partei ein.

Das öffnete die Tür für eine Anstellung beim Zentralkomitee. 1979 erhielt er dann eine Stelle als Wissenschaftler am Institut für Soziologie und Philosophie an der Universität Ljubljana. Žižek behält diese Stelle mehrere Jahrzehnte hindurch und hat sie auch heute noch, nachdem er schon lange internationales Ansehen erlangt hat. 9


Die Gesellschaft für theoretische Psychoanalyse In den siebziger Jahren stieß Žižek zu einer wichtigen Gruppe slowenischer Wissenschaftler, die an den Theorien des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan (1901-1981) arbeiteten. Zusammen gründeten sie die Gesellschaft für theoretische Psychoanalyse in Ljubljana. Diese Gesellschaft, zu deren bekanntesten Mitgliedern Mladen Dolar (geb.1951) und Žižeks spätere Ehefrau Renata Salecl (geb.1962) gehörten, gab die Zeitschrift Problem! heraus. Ich hatte keine Probleme damit, schlechte Kritiken über meine eigenen Bücher oder sogar Kritiken über Bücher zu schreiben, die es gar nicht gab! Wir brachten auch eine Buchreihe mit dem Titel Analecta heraus.

Žižek selbst weist darauf hin, dass die Popularität der Psychoanalyse in Slowenien dem Umstand geschuldet war, dass es hier im Gegensatz zu den anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien keine etablierte psychoanalytische Community gab, die ihnen ihr Interesse an dem zumeist umstrittenen Forschungsgebiet hätte austreiben können. 10


1981 ging Žižek nach Paris, wo er bei Lacans Schwiegersohn Jacques-Alain Miller (geb.1944) studierte. Miller führte in Paris öffentliche Diskussionsveranstaltungen über Lacan durch, aber er leitete auch ein exklusives, 30 Studenten umfassendes Seminar an der École de la Cause Freudienne, in dem man sich intensiv mit den Arbeiten Lacans befasste. Sowohl Žižek als auch Dolar wurden zur Teilnahme an diesem Seminar eingeladen, und dort entwickelte Žižek seine Interpretation der Spätschriften Lacans, die sein Denken heute noch prägt. Miller verschaffte Žižek auch ein Teaching Fellowship und wurde sein Psychoanalytiker.

Wobei diese ­Sitzungen aber häufig als intellektuelle ­psychologische Spielchen endeten.

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McWorld versus Dschihad Wo Žižek es für angebracht hält, analysiert er Politik – insbesondere globale Machtpolitik – nicht nur als ideologische Frage, sondern auch unter dem Gesichtspunkt von Wirtschafts- und Marktkräften:

Manchmal tut eine gewisse Dosis von ökonomischem Reduktionismus der politischen Analyse gut.

Žižek zufolge sind die geopolitischen Manöver der USA hauptsächlich in dem Ziel begründet, die Dominanz der eigenen kapitalistischen Interessen fortzusetzen. Daher weist Žižek den angeblichen Gegensatz zwischen westlichen „liberalen“ und islamischen „fundamentalistischen“ Werten als einen von den USA hochgezüchteten Propagandatrick zurück. 48


Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die USA ein doppeltes Spiel spielen: Sie unterhalten privilegierte Beziehungen mit Israel und mit konservativen arabischen Regimen wie Saudi Arabien und Kuwait … … und sorgen dafür, dass diese erzkonservativen Monarchien als Wirtschaftspartner voll in den westlichen Kapitalismus integriert sind.

Was Žižek den (von B.J. Barber, geb.1939) geprägten, vielfach zitierten „McWorld versus Dschihad-Konflikt“ nennt, bezieht sich auf alle geopolitischen Abenteuer der von den USA geschützten Wirtschaftskreise, denen es um Zugang zu den Ölreserven im Nahen Osten geht. 49


Für Žižek ist die Idee eines „Kampfes der Kulturen“ (clash of civilisations), ob man diesen auf das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nahen Osten oder auf andere globale Konflikte bezieht, in die der Westen verstrickt ist, nicht eine Frage von „wir und sie“, sondern von weltweiten westlichen Interessen.

Die schrecklichsten Massaker – in Ruanda, im Kongo und in Sierra Leone – fanden und finden nicht nur innerhalb ein und derselben „Kultur” statt, sondern haben auch einen eindeutigen Bezug zu globalen Wirtschaftsinteressen.

Žižek sagt: „Selbst in den Fällen, die mehr oder weniger der Definition des ,Kampfes der Kulturen‘ entsprechen (Bosnien, der Kosovo und Süd-Sudan), bleibt der Schatten anderweitiger Interessen deutlich erkennbar.“ 50


Die Wahrheit über die Taliban Nach Žižeks Meinung ist die militärische Besetzung Afghanistans durch die USA nicht nur ein „Krieg gegen den Terror“, da die Ursachen des Krieges viel tiefer liegen. Bis zu den siebziger Jahren, als Afghanistan in den Kampf der Supermächte hineingezogen wurde, bildete es eine tolerante und säkulare islamische Gesellschaft.

Kabul galt als Stadt eines pulsierenden kulturellen und politischen Lebens.

Die offenkundige „Regression” in einen Ultrafundamentalismus unter den Taliban rührte daher, dass Afghanistan in die internationale Politik hineingezogen wurde, und nicht daher, dass es eine tief verwurzelte „traditionalistische” Tendenz gab.

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Der Aufstieg der Taliban stellte nicht nur eine defensive Reaktion auf die internationale Politik dar, sondern ergab sich direkt aus der Unterstützung ausländischer Mächte (Pakistan, Saudi-Arabien und die USA).

Žižeks Schlussfolgerung ist, dass das Phänomen der Taliban nicht lediglich als eine Rückkehr zu althergebrachten feudalen Werten, sondern mehr als eine Gegenwehr gegen die westliche Ideologie und den amerikanischen Imperialismus gesehen werden sollte. Mit anderen Worten: Es ist ein Ergebnis der gegenwärtigen politischen Kräfte und nicht bloß ein Überbleibsel der Vergangenheit. 52


„Was den ,Kampf der Kulturen‘ betrifft, so wollen wir den Brief eines siebenjährigen amerikanischen Mädchens in Erinnerung rufen, deren Vater Kampfpilot in Afghanistan war: Sie schrieb, dass sie ihren Vater sehr liebe, aber bereit sei, ihn sterben zu lassen, ihn für ihr Land zu opfern. Als Präsident Bush diese Zeilen zitierte, wurden sie als eine ,normale‘ Aufwallung des amerikanischen Patriotismus empfunden. Machen wir ein einfaches Gedankenspiel: Ein arabisches muslimisches Mädchen spricht die gleichen Worte über ihren Vater, der für die Taliban kämpft, voller Pathos in die Kamera – wir müssen nicht lange darüber nachdenken, wie wir darauf reagiert hätten: Das ist krankhafter muslimischer Fundamentalismus, der nicht einmal vor der grausamen Manipulation und Ausbeutung von Kindern haltmacht …

Ein mörderischer Fanatismus? Heute gibt es in den USA über zwei Millionen rechtsgerichtete populistische ,Fundamentalisten‘, die ihren eigenen Terror praktizieren, der durch das Christentum – wie sie es verstehen – legitimiert wird.“ (Žižek) 53


Die Paranoia von 9/11 Für Žižek ist der Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Center in New York durch al-Qaida im September 2001 ein historischer Moment. Anstatt sich als Opfer zu sehen, hätten die USA beginnen können, über ihre eigenen imperialistischen Ziele und deren desaströse Folgen nachzudenken, von denen 9/11 nur einen Aspekt darstellt.

Wir wissen noch nicht, welche langfristigen Konsequenzen dieses Ereignis auf Wirtschaft, Ideologie, Politik und Krieg haben wird, aber eines ist sicher: 54


Die USA hielten sich bis heute für eine von Gewalt verschonte Insel. Gewalt bekamen Amerikaner nur aus der sicheren Entfernung des Fernsehbildschirms mit. Jetzt sind sie direkt betroffen.

Žižek glaubt, dass Amerika nach 9/11 zwei Alternativen hatte: „Entweder sich trauen, aus seiner eigenen Sphäre herauszutreten, oder die zutiefst amoralische Einstellung des ,Warum geschieht uns so etwas? Solche Dinge passieren hier nicht!‘ zu verstärken, was zu mehr Aggressivität gegenüber der bedrohlichen Außenwelt – kurzum, zu einem paranoiden Ausagieren führt.“ 55


Wenn Žižek optimistisch gestimmt ist, stellt er sich vor, dass „Amerika nach 9/11 endlich einsieht, dass der Anschlag auf das World Trade Center eine Umkehrung seiner eigenen globalen Gewaltanwendung war“.

Die wahre Lektion der Anschläge und der beste Weg sicherzustellen, dass das hier nicht wieder geschieht, ist zu verhindern, dass es irgendwo sonst geschieht.

Kurzum: Amerika sollte lernen, seine eigene Verletzbarkeit als Teil dieser Welt demütig zu akzeptieren. Die Bestrafung der Schuldigen sollte eine traurige Pflicht und nicht eine auftrumpfende Vergeltung sein.

Was Žižek nach 9/11 jedoch tatsächlich beobachtet, ist eine erneute Bekräftigung „der alten ideologischen Positionen und die Ablehnung aller Gefühle von Verantwortung und Schuld gegenüber der Dritten Welt“. Žižek zufolge wird dieses Vorgehen durch die Ideologie gerechtfertigt, die besagt: „Wir sind jetzt die Opfer und haben daher alles Recht der Welt, zurückzuschlagen!“ 56


Ideologie und Repression Wie bei anderen radikalen Denkern ist auch Žižeks Gegnerschaft zum Kapitalismus darin begründet, dass der Kapitalismus soziale Ungleichheit schafft, die sich besonders an der Verteilung des Reichtums zeigt. Er glaubt jedoch nicht, dass diese politische Gegnerschaft allein durch ein Verstehen ökonomischer Zusammenhänge erzeugt wird. Für ihn wird die politische und soziale Repression, wie immer sie sich manifestiert, letztlich durch Ideologie verursacht.

Daher besteht meine Hauptaufgabe als Philosoph darin, Ideologie zu analysieren …

… besonders deswegen, weil sie mit der Herausbildung der individuellen und sozialen Identität durch Sprache und Diskurs, also der „symbolischen Ordnung” verknüpft ist. 57


Die symbolische Ordnung Was ist die symbolische Ordnung? Die symbolische Ordnung ist zweierlei: jede Art von Kommunikationssystem (wie Sprache, Diskurs, eine Form des über Geld vermittelten Austausches, ein Spiel oder ein Zeichensystem) und auch das Regelwerk, das dieses System bestimmt. Žižek macht Jede Schachfigur – zum anhand des Schachspiels deutlich, wie die Beispiel Turm und Springer – Regeln in symbolischen Systemen wirken. kann sich nur in bestimmter Weise bewegen.

Das Gleiche gilt für die Sprache: „Es gibt grammatische Regeln, die ich fast blind und spontan zu befolgen habe und derer ich mir kaum bewusst bin. Hätte ich sie die ganze Zeit im Kopf, würde mein Reden zusammenbrechen.“ 58


So gibt es auch Regeln, die die soziale Interaktion – Höflichkeit, Freundlichkeit und den sozialen Raum – bestimmen und die in unserem Alltagsleben normalerweise nicht bewusst wahrgenommen oder bedacht werden. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Tabus und Verboten, die festlegen, was wann nicht gesagt oder getan werden darf. Für Žižek ist die Unterwerfung unter die Regeln, die die Sprache und die Formen sozialer Interaktion bestimmen, kein natürlicher Prozess.

Der Eintritt in die symbolische Ordnung ist nicht natürlich oder im menschlichen Gencode angelegt. Der Mensch hat keinen angeborenen „Sprachinstinkt”.

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Das Trojanische Pferd Žižek glaubt, dass die symbolische Ordnung für die Menschen ein Geschenk der Kommunikation ist. Aber dieses Geschenk ist für die Menschen ebenso gefährlich, wie es das Pferd für die Trojaner war. Es bietet sich uns zur kostenlosen Nutzung an, aber sobald wir es akzeptieren, werden wir von ihm kolonisiert.

Wenn wir die Sprache benutzen – was wir ständig tun, um zu kommunizieren und zu denken –, handeln wir im Wesentlichen unbewusst.

Auch wenn wir mit den grammatischen und sozialen Regeln von Sprache und Kommunikation vertraut sind, können wir uns während des Kommunikationsprozesses nicht all dieser Regeln bewusst sein.

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Bedeutung und die symbolische Ordnung Den Regeln, die den Gebrauch eines jeden symbolischen Systems bestimmen, liegt eine Grundregel bzw. ein fundamentales Gesetz zugrunde: Die Bedeutung hängt von dem symbolischen System selbst ab. Und das Paradoxe ist, dass, auch wenn diese Abhängigkeit erkannt wird, dies nur im Rahmen der symbolischen Ordnung geschehen kann. So sehr wir danach streben mögen, uns unsere Abhängigkeit bewusst zu machen, und so sehr wir auch wünschen mögen, unsere Unterwerfung unter die symbolische Ordnung darzustellen – wir können nicht aus ihr heraustreten. Die symbolische Ordnung bestimmt sowohl, was wir sagen, als auch, was wir denken. Die einzelnen Individuen existieren in der und für die Sprache und die symbolische Ordnung, nicht umgekehrt!

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Der große Andere Für Žižek hängt der Zwang, durch den die symbolische Ordnung die Bildung der Ich-Identität des Subjekts bestimmt, von der Herrschaft eines autoritären „Über-Ich“ ab. Die Regeln und Gesetze der symbolischen Ordnung sind stets gegenwärtig und dennoch nicht erkennbar. Das Gleiche gilt für das Über-Ich als Verkörperung dieser Regeln und Gesetze.

Lacan und ich nennen diese unbewusste Figur des Über-Ich „den großen Anderen”.

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Daher besteht die symbolische Ordnung aus zwei zusammenwirkenden Elementen: einerseits aus einem Subjekt, das durch die Teilnahme an der symbolischen Ordnung gebildet wird … Und andererseits aus einem imaginären großen Anderen, der ständig die Illusion stützt, die symbolische Ordnung sei ein Mittel, um einheitliche Bedeutungen und wechselseitiges Verstehen der Subjekte zu erreichen.

Wie schwer – ja unmöglich – es ist, sich von der Illusion freizumachen, wechselseitiges Verstehen sei durch Sprache zu erreichen, ist Thema des Buches Finnegans Wake (1939) von James Joyce. Der Text von Joyce spielt mit einer Vielzahl von Bedeutungen und historischen wie fiktiven Bezügen, die sich jeder Regel und jedem Gesetz zu entziehen scheinen. Gleichwohl wird das Buch als ein kohärentes Gebilde behandelt, und sei es auch nur in der Hinsicht, dass es ein Buch ist, das zum Nachdenken über Sprache und ­Bedeutung anregt. 63


Des Kaisers neue Kleider Žižek betont, dass der große Andere ebenso fiktiv ist wie die symbolische Ordnung: „Wir alle wissen, dass der Kaiser in Wirklichkeit nackt ist, aber dennoch geben wir uns bereitwillig der Täuschung hin, dass er neue Kleider trägt, indem wir uns der symbolischen Ordnung unterwerfen.“

Wenn ich spreche, bin ich nie nur ein Individuum, das mit anderen Individuen interagiert: Der große Andere ist immer präsent.

Doch der große Andere ist in Wirklichkeit eine virtuelle Größe. Er existiert nur insoweit, wie die Subjekte sich so verhalten, als würde er existieren.

„Er ist nur insoweit tatsächlich vorhanden, wie die Menschen an ihn glauben und sich entsprechend verhalten. Daher basiert der große Andere auch auf einem ,Mangel‘. Wie die Existenz des Subjekts ist auch seine Existenz lediglich ein Affekt des symbolischen Systems.“ 64


Der Mangel Die Subjektivität basiert auf dem, was Lacan einen „Mangel“ nannte – der Mangel, den unser Unbewusstes darstellt. Das Unbewusste existiert als ein blinder Fleck in der Subjektivität: Es ist unsere Unfähigkeit, unsere Abhängigkeit von der symbolischen Ordnung zu artikulieren und uns voll bewusst zu machen. Somit gibt es in unserem Sein ein Vakuum oder ein Nichts, was im Endeffekt bedeutet, dass unsere Subjektivität ein Vakuum, eine Fiktion ist. Es ist, als würden wir, die Subjekte der Sprache, wie Marionetten sprechen und interagieren, wobei unsere Sprache und Gestik von einer namenlosen, alles d ­ urchdringenden Instanz ­diktiert werden.

„Die symbolische Ordnung, die ungeschriebene Verfassung einer Gesellschaft, ist die zweite Natur eines jeden sprechenden Wesens: Sie ist hier, lenkt und kontrolliert meine Handlungen; sie ist das Meer, in dem ich schwimme, und entzieht sich dennoch meinem Zugriff – ich kann sie niemals vor mich stellen und ergreifen.“ 65


Ein universelles Austauschsystem In Žižeks Augen hat die Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems durch den politischen Ökonomen Karl Marx in dessen Werk Das Kapital (1867) seine Gedanken über die symbolische Ordnung schon vorweggenommen. Marx machte klar, dass alle Wirtschaftssysteme, auch der Kapitalismus, auf einem einzigen universellen Medium basieren; im Kapitalismus ist es das Geld, mit dem alles, was ausgetauscht und verkauft werden kann, gemessen und bewertet wird.

Der Wert einer Ware nimmt die Form einer anderen Ware, die des Geldes, an.

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Der Gebrauch eines einzigen Tauschmittels – Geld – presst jedes Produkt, jede Ware und jedes Ding in ein allgemeines Handelssystem. Während es dadurch möglich wird, jeden Austausch genau zu berechnen, werden gleichzeitig kategoriale Unterschiede zwischen Produkten, Waren und Dingen beseitigt. Marx stellte die Frage, wie weit die Fähigkeit trägt, Produkte, Waren und Dinge – einschließlich des zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeits- und Zeitaufwands – vergleichend zu bewerten.

Es gibt möglicherweise Produktionsweisen, Arbeitsformen und Existenzweisen, denen kein monetärer Wert gegeben werden kann.

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Marx glaubte, dass sowohl die Verkäufer als auch die Verbraucher im Kapitalismus häufig wissen, wie absurd es ist, jedes Produkt, jede Ware und jedes Ding in ein allgemeines Austauschsystem zu pressen, das am Maßstab des Geldes ausgerichtet ist. Diese Absurdität wird besonders dadurch unterstrichen, dass es schwierig ist, die Löhne jener Arbeiter und Produzenten angemessen zu bestimmen, bei denen der in ihre Tätigkeit eingegangene Aufwand an Zeit, Sorgfalt, Intellekt, geistiger und physischer Energie berücksichtigt und mit einem adäquaten Preis ausgestattet werden muss. Wenn die Menschen Geld benutzen, wissen sie sehr wohl, dass es keine Zauberformel ist, mit der sich der Austausch berechnen lässt. Die Menschen wissen sehr wohl, dass hinter dem Verhältnis zwischen Dingen ein nicht berechenbares Verhältnis zwischen Menschen steht.

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