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119 Mai / Juni 2012 10.– CHF / 8.– €

Für intelligente Optimistinnen und konstruk tive Skeptiker

! n e m u ä r i e fr

S 6 Wie wollen wir weniger? S 10 Wie Aufräumen mein Leben veränderte S 14 Die Seele freiräumen S 26 Denkfallen S 30 Das dickste Brett ist angebohrt S 35 Transparenz-Initiative S 37 Der Berg ruft … S 47 Reise mit Risiken S 50 20 Jahre Zeitpunkt-Fest und Vernetzungstreffen


Ich habe die Tage der Freiheit gekannt, ich habe sie die Tage der Leiden genannt.

Gœthe

IMPRESSUM ZEITPUNKT 119 MAI / JUNI 2012 Erscheint zweimonatlich, 21. Jahrgang VERLAG / REDAKTION / ABOVERWALTUNG Zeitpunkt Werkhofstrasse 19 CH-4500 Solothurn Aboverwaltung: Hannah Willimann Tel. 032 621 81 11, Fax 032 621 81 10 mail@zeitpunkt.ch, www.zeitpunkt.ch Postcheck-Konto: 45-1006-5 IBAN: 0900 0000 4500 1006 5 ISSN 1424-6171

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VERTRIEB DEUTSCHLAND Synergia Verlag und Mediengruppe Erbacher Strasse 107, 64287 Darmstadt Tel. (+49)6151 42 89 10 info@synergia-verlag.de REDAKTION Brigitte Müller BM, Cécile Knüsel CK, Melanie Küng MK, Christoph Pfluger CP, Roland Rottenfußer RR, Dr. Peter Bosetti, Ständige MitarbeiterInnen: Sagita Lehner SL, Alex von Roll AvR, Ernst Schmitter Grafik & IIllustrationen*: tintenfrisch.net (* falls nicht anders angegeben)

ANZEIGENBERATUNG Cécile Knüsel Zeitpunkt, Werkhofstrasse 19 CH-4500 Solothurn Tel. 032 621 81 11 inserate@zeitpunkt.ch

HERAUSGEBER Christoph Pfluger

ABONNEMENTSPREISE Der Abopreis wird von den Abonnentinnen und Abonnenten selbst bestimmt. Geschenkabos: Fr. 54.– (Schweiz), Fr. 68.– (Ausland), Einzelnummer: Fr. 10.– / Euro 8.–.

BEILAGEN Unserem Heft liegen Informationen zur Transparenz-Initiative der Piratenpartei, zu Afropfingsten sowie des Vereins Eins und Sein bei. Wir bitten um Beachtung.

DRUCK UND VERSAND AVD Goldach, 9403 Goldach

PAPIER Rebello Recycling

BILDNACHWEIS Titelbild: Robert Beyer (robertbeyer.ch) & tintenfrisch.net


Editorial

ES IST VERZWICKT Letzthin verlor ich mein Handy. Zuerst ärgerte ich mich. Dann genoss ich die Zeit der relativen Unerreichbarkeit und dankte dem Schicksal, dass es mir für dieses Schwerpunktthema eine praktische Erfahrung und einen passenden Einstieg vermittelte. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Mein Handy ist wieder da und alles ist wieder wie vorher. Oder wenigstens fast. Im Leben hat sich eine Erfahrung konkretisiert, die der Verstand schon längst «wusste»: Weniger ist mehr. Mein Handy hat seinen Bedeutungsverlust gut verdaut, und ich erst recht. Vor der industriellen Revolution wurde der Freiraum vor allem durch Mangel beschränkt: Die harte Arbeit fürs Essen allein liess uns kaum Freizeit, Wissen (Information) war Mangelware und reisen konnten nur die eingefleischten Abenteurer und Pilger. Heute ist es umgekehrt: Es gibt alles im Überfluss, Information erst recht und herumjetten können wir nach Belieben. Trotz all der zeitsparenden Massnahmen und der Maschinen, die für uns die Arbeit erledigen, fehlt uns das am meisten, was wir mit ihnen erreichen wollten: Zeit. Unser Leben scheint auf Paradoxien zu bauen. Wir erreichen das Gegenteil von dem, was wir wollen. Vielleicht ist es sogar so, dass wir unser Ziel erst erreichen, wenn wir aufhören, uns eines zu setzen. Das wäre dann ziemlich verzwickt. Als Verleger ist man bei diesem Thema ohnehin mit unbequemen Fragen konfrontiert. Man produziert ja, was es im Überfluss gibt. Die Antwort könnte unangenehm sein. Aber: Was ist eine Freiheit wert, für die man nicht gekämpft hat?

Mir ist die gefährliche Freiheit lieber als die ruhige Knechtschaft. Jean-Jacques Rousseau

Zuerst aber wird gefeiert. Exakt zur Jahresmitte, am 30. Juni und am 1. Juli steigt unser Jubiläumsfest und Vernetzungstreffen. Mehr dazu auf Seite 50. Wir freuen uns auf Sie und viele neue Freundschaften. Davon kann es nie genug geben.

Herzlich Christoph Pfluger, Herausgeber

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Inhalt

SCHWERPUNKT: FREIRÄUMEN!

32 ENTSCHEIDEN & ARBEITEN

6 Wie wollen wir weniger? Christoph Pfluger 10 Wie aufräumen mein Leben veränderte. – die Aufräumarbeiterin Petra Neisse 13 Zwölf Jahre abgemeldet – eine Schätzung von Anton Brüschweiler 14 Die Seele freiräumen – wie wir aufhören, Gefangene unserer Vergangenheit zu sein. Roland Rottenfußer 17 Der Freiraum liegt auf der Strasse – die ‹1. Europäische Strassen-Partnerschaft›. Manfred Bögle 20 Kinder brauchen Freiraum – und nicht teures Spielzeug Brigitte Müller 22 «Lass das leer. Gehe spazieren» … und weitere Kurzmeldungen 25 Werkzeuge zum Freiräumen – unsere Medientipps

26 Denkfallen – um uns zu befreien, müssen wir uns ‹die Mutter aller Fragen› stellen, sagt Frances Moore-Lappé im Gespräch mit Stephen Leahy 29 Gemeinnutz vor Eigennutz Wie sich ein Banker-Saulus zum Paulus wandelt Roland Rottenfußer 30 Das dickste Brett ist angebohrt Die schmutzigen Geheimnisse des Geldes erreichen den Mainstream Christoph Pfluger 31 Neues Clearingsystem für Komplementärwärungen Jens Martignoni 32 Die Binnenkultur der IP Schweiz «Sei Du selbst die Veränderung, die Du in der Welt sehen möchtest!» Fredy Kradolfer 34 Bedingungslos, das ganze Leben … und weitere Kurzmeldungen

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Inhalt

52 VOLLWERTIG LEBEN

64 HORIZONTE ERWEITERN

36 Der Berg ruft… Freiwillige absolvieren in ihren Ferien Einsätze in den Schweizer Bergen Sagita Lehner 40 Bewegung und Besinnung – Schweigewanderungen an Flüssen … und weitere Kurzmeldungen 43 Die gute Adresse für Ihre Gesundheit 44 wahre Werte 45 Die gute Adresse für Ihr Zuhause

46 Reise mit Risiken – der spirituelle Weg ist vielleicht kürzer geworden, aber leider nicht einfacher. Katharine Ceming 49 wahre Werte 50 Jubiläum – Jubiläumsfest & Vernetzungstreffen, Komturei Tobel, 30. Juni / 1. Juli 52 Ein zweites Leben für gelesene Bücher … und weitere Kurzmeldungen 53 Die gute Adresse zur Horizonterweiterung 54 Frankoskop – über sympathischen Individualismus. Ernst Schmitter 56 We love you – Liebeserklärungen gegen den Krieg … und weitere Kurzmeldungen 57 Die gute Adresse für sanften Tourismus 58 «Uhuru» – ein Bijou unter den schweizerischen Kulturanlässen! – und andere Kurzmeldungen 61 Agenda 62 Kleinanzeigen 64 Leserbriefe 66 Brennende Bärte – Naher Osten, Frieden weit

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Wie wollen wir weniger?

von Christoph Pfluger

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ies ist der Text eines Menschen, der es weder besser weiss, noch besser kann und es nicht einmal tut. Aber der spürt, dass wir uns so sehr beladen, und dies schon so lange, dass wir die Last nicht mehr wahrnehmen. Es ist zu leicht, mit dem Finger auf die Opfer des Materialismus zu zeigen, die ihr Leben mit Gegenständen zumüllen und ihre Lebenszeit mit der Sorge um Besitz vergeuden. Wenn ich es trotzdem tue, dann nicht um ein Urteil zu fällen, sondern weil sie demselben Gesetz unterliegen, dem auch aufgeklärte Menschen zum Opfer fallen: Was uns Sinn gibt, muss gut sein. Ein für allemal.

Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm’ ich selten dazu. Ödon von Horvath

Ein bisschen Wohlstand, das wissen wir aus der Glücksforschung und der Verhaltensökonomie, tut uns gut. Armut dagegen macht uns auch geistig unfrei, es sei denn, sie sei frei gewählt. Aber noch mehr Wohlstand, auch das ist wissenschaftlich erwiesen, vergrössert unsere Sorgen. Es gibt also einen – sehr individuellen – Kipppunkt, bei dem sich das, was vorher ein Vorteil war, in einen Nachteil verwandelt. Was uns Sinn gegeben hat, wird Unsinn. Das Problem: Wir bemerken es erst, wenn es ins Negative umgeschlagen hat. Und einen Fehler erkennen, das tut der Mensch sehr ungern. Wir müssen, auch um vor uns selber Bestand zu haben, Recht haben oder uns zumindest auf dem «richtigen» Weg wissen. Die Umkehr ist deshalb meist schwieriger als die Überwindung von Hindernissen auf dem gewählten Weg. Es ist also die Sinnfrage, die uns den Kipp- Was uns Sinn gegeben hat, punkt erkennen lässt. Es reicht nicht, wenn wir wird Unsinn. Das Problem: als kleine Kinder die Eltern mit der Frage nach Wir bemerken es erst, wenn es dem Sinn des Lebens in Verlegenheit bringen ins Negative umgeschlagen hat. – oder uns selbst in der letzten Stunde. Wenn wir uns nicht vom Unsinn einkerkern lassen wollen, kommen wir nicht drum herum, uns immer wieder die eine Frage zu stellen, auf die es keine allgemein gültige Antwort gibt: Wozu das Ganze? Der schottische Nationaldichter Robert Burns (1759 – 1796) hat eine einfache Formel dafür gefunden: «Der Sinn des Lebens ist ein Leben mit Sinn.» Wenn wir nicht eine Religion oder eine Philosophie mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit befolgen, werden wir unserem Leben unseren eigenen Sinn geben müssen. Und dies immer wieder und immer wieder neu. Sonst laufen wir Gefahr, uns im Unsinn zu verlieren. Was hat dies alles mit dem Freiraum zu tun, den wir für unser Leben wünschen und der uns zunehmend abhanden kommt? Es ist der alte Sinn, mittlerweile zum Unsinn verkommen, der unser Leben verbaut: die ungebrauchten Dinge im Keller und auf dem Dachboden, die unerledigten Aufgaben, die uns immer noch belasten, die Wünsche, die wir mal hatten und deren Erfüllung uns heute vermutlich nicht mehr beglückt.

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An den Messies lässt sich dieser Zustand, von dem wir alle betroffen sind, wie durch eine Lupe betrachten. Der Flensburger Suchthelfer Wilfried Schafer, der seine Arbeit mit Messie-Selbsthilfegruppen ausgewertet hat, nennt unordentlich Herumliegendes treffend «Denkmäler für Aktivitäten und Vorhaben». Der Messie überlastet sich mit selbst und von aussen auferlegten Aufgaben, bringt nichts zu Ende, weil neue Dringlichkeiten über ihn hereinbrechen und ertrinkt schliesslich in seinen Provisorien.

Genaugenommen leben sehr wenige Menschen in der Gegenwart. Die meisten bereiten sich vor, demnächst zu leben. Jonathan Swift

Stecken wir nicht alle ein bisschen in dieser Falle? Das Angebot an sinnvollen Projekten und vernünftigen Zielen ist übergross. Man müsste, wie es ein Messie im wunderbaren Film «Messies, ein schönes Chaos» von Ulrich Grossenbacher beschreibt, mehrere Leben haben, um all das tun zu können, was man wollte. Aber man hat nur ein Leben, wenigstens auf ein Mal. Und so stehen wir immer wieder vor der Frage: Was wollen wir, was ist der Sinn des Lebens? Ist sie ernst gemeint, dürfen wir keine Angst haben, uns selber in Frage zu stellen. Dazu passt eine weitere Beobachtung von Wilfried Schafer: «Unordnung schützt den Messie vor Identitätsverlust.» Da haben wir es: An den Dingen klebt unser Selbst, an den alten Dingen unser altes Selbst. Mit ihrer Entsorgung würden wir uns selbst verlieren. Es wäre zu einfach, wenn sich die Un- Die Papierberge von früher sind ordnung nur auf die äusseren Dinge be- die Dateileichen von heute. Hinter schränkte wie bei den Messies. Ein immer jedem Klick lauert ein Dokument, grösserer Teil unseres Lebens findet heute im das noch bearbeitet werden muss, virtuellen Raum statt. Kontakte und Projekte eine Idee, ein Kontakt, ein Termin werden im Internet hergestellt und auf dem zu schade für die Löschtaste. Computer verwaltet. Die Papierberge von früher sind die Dateileichen von heute. Hinter jedem Klick lauert ein Dokument, das noch bearbeitet werden muss, eine Idee, ein Kontakt, ein Termin zu schade für die Löschtaste. Richtige Messies soll es in Deutschland 1,8 Millionen geben; die Zahl der digitalen Messies ist unbekannt, wobei der Begriff nicht einmal existiert. Aber ich bin überzeugt: Mit exponentiell steigendem Informations- und Betätigungsangebot werden auch die für Messies typischen Störungen massiv zunehmen: Verkümmerung der zwischenmenschlichen Beziehungen, Depressionen, Essstörungen und Ängste. Natürlich ist es ratsam, die Fülle mit besserem Zeitmanagement anzugehen und meinetwegen auch technische Hilfsmittel dafür einzusetzen, Planungshilfen, intelligente Kalender und dergleichen mehr. Aber es wäre falsch, davon eine Lösung des Problems zu erwarten. Das grosse Dilemma wird uns eher früher als später erreichen: gleichzeitig mehr zu müssen und weniger zu wollen.

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Wie wollen wir weniger?

Wir werden nicht darum herumkommen, weniger zu wollen. Das ist neu für die Menschheit. Bis jetzt war mehr meist auch besser. Auch heute verbirgt sich unter der Schmutzschicht der von den Massenmedien gesteuerten kollektiven Wahrnehmung so viel Gutes und Schönes, dass wir jeden Tag ein neues Leben beginnen könnten – zu viel des Guten. Schon immer predigten die grossen Weisheitslehrer die Selbstbeschränkung. Aber den alten Verführungen des Materiellen ist im heutigen Überfluss leichter zu widerstehen als dem Reiz der positiven Überforderung. Doch auch sie führt zum Infarkt.

Beim Nichtstun bleibt nichts ungetan. Lao-tse

Eine gültige Strategie gegen das Zuviel des Guten gibt es heute noch nicht. Auch ich leide darunter und weiss nicht, wie ich mich vor den Aufgaben schützen kann, deren Erfüllung in fast jeder Hinsicht wünschenswert wäre. Wie auf anderen Gebieten auch, dürfte die Antwort in einem Paradoxon zu finden sein: Vergeuden, was uns mangelt, also vor allem Zeit. Ich habe das schon versucht und damit viel Zeit und noch mehr Erkenntnis gewonnen. Allein, mir fehlt der Mut zum Müssiggang. Man kann keine freien Abobeiträge verlangen, von Spenden leben und dann in die Wolken gucken. Dabei war schon für Sokrates die Musse die Schwester der Freiheit und Aristoteles fand: «Arbeit und Tugend schliessen sich aus.» Davon sind wir als Gesellschaft weit entfernt. Das grosse Dilemma wird uns Erst durch Arbeit erschaffen wir uns selbst. Und eher früher als später erreichen: weil sie uns nun grossflächig auszugehen droht, gleichzeitig mehr zu müssen und erfinden wir laufend neue Notwendigkeiten und weniger zu wollen. Aufgaben. Die Zweifel an der Richtigkeit dieses Wegs sind berechtigt. Friedrich Nietzsche bemerkte bereits: «Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei […]. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschen vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Masse zu verstärken.» Und wer ist der «Man», der diese Korrektur vornimmt? Wenn die eingangs gemachte Feststellung zutrifft, nach der wir den Wandel des Sinns in den Unsinn immer erst zu spät bemerken, dann dürfen wir vom kollektiven Lernprozess keine Unterstützung der individuellen Erkenntnis erwarten. Ergo: Der «Man», das bin ich. Und, um mit Schopenhauer zu sprechen: «Nur wenn man alleine ist, ist man frei.» Nachsatz: Wir müssen uns also auf diesem Weg ins Neuland selber orientieren. Als Wegzehrung ohne Nährwertgarantie hier ein paar persönliche Erfahrungen: - Vergeuden, woran es mangelt (z.B. Zeit, Geld) - sparen, was im Überfluss vorhanden ist - langsam gehen - Ablenkungen durch Konserven meiden - und immer wieder: sich selber verzeihen und Altes entsorgen.

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Freiräumen!

WIE AUFRÄUMEN MEIN LEBEN VERÄNDERTE Indem ich anfing, meine Wohnung aufzuräumen und mich von Unnötigem löste, schuf ich nicht nur physisch mehr Freiraum, sondern auch geistigseelisch. Ich verstand, dass dieser intensive Prozess auch für andere wichPetra Neisse tig ist und entwickelte ein neues Arbeitsfeld, die Aufräumarbeit.

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Ordnung führt zu allen Tugenden. Was aber führt zur Ordnung? Lichtenberg

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ls ich vor zehn Jahren anfing, den Dingen in meinem Leben ihren Platz zu geben, war mir nicht bewusst, wie folgenreich diese Zeit werden sollte. Damals war ich engagierte Waldorferzieherin sowie alleinerziehende Mutter und stand nach Jahren intensiver Arbeit mit Eltern, Kindern und Kollegen plötzlich vor der Frage: Wer bin ich eigentlich ohne mein Waldorfkleid? Ich wollte wissen, wie es ist, Vertrauen ins Leben zu haben, wenn ich nicht von Arbeit, Familie und Beruf gehalten werde. Also ging ich ganz bewusst in die Arbeitslosigkeit. Da ich nicht von äusseren Strukturen gehalten wurde, musste ich mir diese selbst geben. Gleichzeitig wollte ich lernen, auf das Leben zu hören. So lebte ich mit dem, was vom Leben an mich heran brandete und sah jedes Ereignis, jede Begegnung als Geschenk und als einen Wegweiser des Lebens selbst. Eine komplett neue Lebenserfahrung! In dieser Zeit zog meine Tochter aus der gemeinsamen Wohnung aus und ich verlor plötzlich den Bezug zu den Dingen in meinem Zuhause. Angeleitet von Karen Kingstons Buch «Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags» fing ich an aufzuräumen. Mit grossem Ernst und gleichzeitig mit viel Humor schreibt Kingston über die Wirkung eines jeden Gegenstandes und über die Bedeutung heiliger Momente im Alltag. Das beeindruckte mich so sehr, dass ich jeden Gegenstand in meinem Haushalt in die Hand nahm und überlegte, was mich eigentlich mit ihm verband: Erfreute er mich wirklich zu hundert Prozent? War er wirklich nützlich? Brauchte ich ihn wirklich?

EIGENE ENTSCHEIDUNGSKRAFT IST GEFRAGT Dieses «wirklich» erwies sich als sehr wichtig, denn wenn ich in mein Innerstes lauschte und meiner Körpersprache folgte, konnte ich eine Antwort hören. Gleichzeitig machte sich aber auch die Stimme meines Verstandes bemerkbar, der versuchte, den Besitz des Gegenstandes zu rechtfertigen. Ich spürte Angst, Unsicherheit und Trauer, durch die ich an diesen Gegenstand gebunden war. So erlebte ich die Geschichte jedes Gegenstandes noch einmal, konnte ihn entweder loslassen oder mir vornehmen, seine Geschichte von ihm selbst zu lösen – ihn zu entzaubern, indem ich tätig wurde. Das konnte heissen, mit den dazugehörigen Menschen noch einmal Verbindung aufzunehmen oder jemandem zu verzeihen. In jedem Fall aber hiess es, eine neue Sichtweise auf eine bestehende, festgefahrene Situation anzunehmen oder den Prozess abzuschliessen. Damit waren Besitzer und Gegenstand wieder frei und konnten ihren weiteren Weg unabhängig voneinander gehen. Dabei konnte ich erleben, wie stark unvollendete Prozesse den Fluss des Lebens hemmen und für seelisch-geistige Verdauungsschwierigkeiten, sogenannte Blockaden, sorgen können. Da waren viele reparatur- oder erlösungsbedürftige Zu- und Gegenstände: unerledigte Post, der volle Bügel- und Nähkorb, ungelöste Konflikte, der Stau im E-Mail-Postfach... Diese unerledigten Dinge lösten sofort unangenehme Gedanken, ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle aus. Ich verstand, dass


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diese grob- oder feinstoffliche Materie in meinem Energiefeld bleiben und für Unkonzentriertheit, Blockaden und Willenslähmungen sorgen würde. Und ich spürte eine sofortige Erleichterung, sobald ich mich diesen Arbeiten widmete und sie erledigte. In jedem Moment des Aufräumprozesses war meine Entscheidungskraft gefragt. Niemand konnte mir sagen, ob es besser wäre, fünf Flaschenöffner zu Aufräumen ist ein einsamer besitzen oder nur einen. Prozess. Ich hatte nur mich selbst Und wenn nur einen, – und auch wieder nicht, denn ich wohin mit den anderen? Sie waren doch teuer geversuchte ja gerade, mich selbst wesen, der eine ein Geunter dem Zuviel zu finden. schenk, der andere ein Erinnerungsstück – so reihten sich Gedanken zu einer Endlosschleife, in der ich, ermüdet vom Kampf mit mir selbst, nicht einmal mehr die Flaschenöffner zurücklegen konnte.

Weiss, wo anfangen beim Aufräumen: Petra Neisse.

Unerlöste Vergangenheit – was Petra Neisse bei ihrer Arbeit so antrifft.

Das Messie-Phänomen Die Bezeichnung leitet sich aus dem Englischen «mess» (Unordnung) ab. Der Begriff «Messie» ist laut Wikipedia eine Wortschöpfung der selbst betroffenen US-amerikanischen Sonderschulpädagogin Sandra Felton. Um sich aus ihrer Situation zu befreien, entwickelte sie ein Bewältigungskonzept und publizierte Ratgeber. Auf diese Weise erfuhr eine breite Öffentlichkeit von der Problematik. In den 1980er Jahren gründete Felton die Selbsthilfegruppe Messies Anonymous. Ratgeberliteratur und Presseberichte machten den Begriff auch im deutschsprachigen Raum bekannt.

Was mich jedoch immer wieder tief berührte und ermunterte, meinen Prozess fortzusetzen, war die Bestätigung einer für mich bis dahin theoretischen Annahme: Dem Materiellen wohnen Geist und Seele inne, es ist ein Platzhalter für unerlöste geistig-seelische Prozesse. ANGST VOR DER DROHENDEN LEERE Das Aufräumen war auch ein einsamer Prozess. Ich hatte nur mich selbst – und auch wieder nicht, denn ich versuchte ja gerade, mich selbst unter dem Zuviel zu finden. Vielleicht sind das Gefühl der Überforderung und die Angst vor der drohenden Leere mit ein Grund, warum viele erst gar nicht mit dem Aufräumen anfangen. Bei jeder Entscheidung spürte ich nach, was stärkend oder schwächend für mich war. Und handelte danach. Auf diese Weise wanderte ich Meter für Meter, Monat für Monat durch meine Wohnung und die Wohnung durch mich. Und weil die Wohnung einer der Spiegel der Seele ist, schaffte ich es gleichzeitig, mit Hilfe verschiedenster therapeutischer Ansätze einen seelisch-geistigen Freiraum zu entwickeln, der mich meiner Essenz näher brachte. Ich fand meine individuellen Fähigkeiten und meine innere Führung, der ich mich von da an anvertrauen konnte und die mich wieder ins Arbeitsleben schickte. GEBURT EINES NEUEN ARBEITSFELDES Ich verstand, dass dieser intensive Prozess auch für andere von grosser Bedeutung sein könnte und beschloss, daraus ein neues Arbeitsfeld zu ent-

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wickeln. Mit viel Freude machte ich mich mit der «Aufräumidee» selbstständig und nannte das, was ich kreierte «Wohnraumbewusstsein». Ich bildete mich weiter. Intuitionsschulung nach Barbara Ann Brennan, eine Ausbildung in systemischer Aufstellungsarbeit nach Stephan Hausner und dem Trauma Training nach Johannes B. Schmidt unterstützen die Arbeit mit meinen Kunden. Nach meinem ersten Seminar kam ein Ehepaar mit fünf fast erwachsenen Kindern auf mich Das Zuviel an Dingen ist ein zu und wollte mit mir Schutz, die Sehnsucht nach aufräumen. Ein intenVerbindung zum eigenen tiefsten siver Prozess begann, Innern nicht zu spüren. der zwei Jahre dauern sollte. Wir schauten auf die Familienzeit zurück, es wurde geweint, gelacht und neu geordnet. Als im Keller schliesslich nur noch einige Gegenstände für künftige Not- und Kriegszeiten standen – eine handbetriebene Getreidemühle und ähnliche Überlebensmittel – fragte ich: «Wie wird wohl der nächste Weltkrieg ablaufen?» Damit schaffte es die Mutter endgültig, diese Dinge aufzugeben. Bereits wenige Monate später wurde in diesen Räumlichkeiten ein kleiner Familienbetrieb eröffnet.

In einem aufgeräumten Zimmer ist auch die Seele aufgeräumt. Ernst Freiherr von Feuchtersleben

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AUFRÄUMEN ALS THERAPIE In der Aufräumarbeit treffe ich auf Menschen, die sich kaum von Materie trennen können aber auch auf das Gegenteil. Ich treffe Menschen, die im Chaos leben und solche, die den Alltag nur meistern können, wenn immer alles am gleichen Platz steht. Sie alle übertragen auf die materielle Ebene, was eigentlich auf die Beziehungsebene gehört. In den meisten Fällen ist es die Angst, etwas zu verlieren oder mit etwas in eine echte Beziehung zu treten. Mit Aufräumen allein ist es dann nicht getan. Bald wurde mir klar, dass es sich dabei oft um das sogenannte «Messie-Phänomen» handelt (siehe Kasten Seite 11), das ein jeder von uns auf unterschiedliche Weise lebt und an dem die Überforderung und die Verwirrung einer Gesellschaft offensichtlich werden, die unter der materiellen Fülle an einer seelischen Unterversorgung leidet. In der Einzelarbeit zeigt sich, in welch innerer Not diese Menschen sind. Das Zuviel ist ein Schutz, die Sehnsucht nach Verbindung zum eigenen tiefsten Innern nicht zu spüren. So hatte eine Dame, zu der ich gerufen wurde, zwar ein neugebautes, sauberes Haus im besten Viertel Münchens. Als ich sie fragte, wofür ich denn zu ihr gerufen wurde, zeigte sie aus dem Fenster zu einem stattlichen alten Haus gegenüber. Als sie dort etwas verschämt die Türe öffnete, war es proppenvoll mit ihrem alten Leben. Sie war

damals nicht bereit und noch nicht fähig, den seelischen Schmerz anzuschauen, der in diesem Haus und damit in ihr verankert war. Sie litt aber sehr darunter, trotz des neuen, bisher noch sauberen und aufgeräumten Hauses. AUFRÄUMEN MIT HERZ, WILLE UND VERSTAND Fachbücher über das Aufräumen können Menschen am Anfang ihres Prozesses unterstützen, ihnen den «ersten Kick» geben. Wenn es jedoch beim Aufräumen schwierig und emotional verwirrend wird, brauchen viele vor Ort unterstützende Begleitung. Wenn Menschen mich rufen, möchten sie meist etwas ändern, sie spüren, dass etwas Neues in ihr Leben kommen will. Da die eigene Wohnung so etwas wie eine äussere Haut des Menschen ist, fällt es uns oft leichter, sich darüber der zarteren seelischen Haut im Inneren zu nähern. So können Prozesse, die sonst nur im Innern stattfinden können, über diese Aussenhaut angeregt werden. Wenn zwischen mir und den Kunden ein seelischgeistiger Raum entstehet und das Vertrauen wächst, kann auch Entwicklung und Heilung im Innern geschehen. Herz, Wille & Verstand sollen gleichermassen beteiligt sein. Denn in diesem ganzheitlichen Aufräumprozess geht es vor allem um die Wiederentdeckung und die Wiederbelebung des Menschseins – um Lebensprozesse wie Aufnahme, Verarbeiten und Ausscheiden, um den grossen und den individuellen Rhythmus, um Lebensqualität & Lebensfreude.

Literatur: Karen Kingston: Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags. Rowohlt 2000, 206 S., Fr. 14.90 / 9,99 Euro. Barbara Ann Brennan: Licht-Arbeit. Goldmann 1998, 477 S., Fr. 25.90 / 16,- Euro. Johannes B. Schmidt: Der Körper kennt den Weg. Seminare mit der Autorin Petra Neisse bietet Seminare mit dem Thema «Freiraum für die Seele» oder «Lebensfreude und Lebensqualität» im In-und Ausland an. Stuttgart (Deutschland): 04.5./05.5. Regeneration im Alltag, Anmeldung Tel. +49 8051 965 32 10 Grabs (Schweiz): 11.5./12.5. Regeneration im Alltag, 24.8./25.8. Regeneration im Alltag 07.9/08.9. Aufräumseminar Anmeldung bei: Martina Lehner +41 81 771 71 60, martina.lehner@bluewin.ch

Darmstadt (Deutschland): 05.10./06.10. Aufräumseminar Anmeldung: Gesundheitspflege Initiative, Darmstadt Grabs (Schweiz) 19.10./20.10. Regeneration im Alltag Anmeldung bei: Martina Lehner +41 81 771 71 60, martina.lehner@bluewin.ch Schaan (Liechtenstein): 26.10./27.10. Aufräumseminar Erwachsenenbildung. Anmeldung: Stein Egerta: +423 232 48 22 Kontaktadresse: Petra Neisse, Bach 1, DE-83253 Rimsting petra.neisse@gmx.de


Freiräumen!

Das AntWort

ZWÖLF JAHRE ABGEMELDET

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ch habe eine natürliche Abneigung gegen Überfluss und Verschwendung. In einer Zeit, in der die Ressourcen immer knapper werden, gibt es nur eine Devise: Haushälterisch mit dem Vorhandenen umgehen, unter anderem zuerst einmal alle Vorräte aufbrauchen, bevor man sich mit neuen Dingen eindeckt. Und bevor ich andere kritisieren kann, muss ich vor der eigenen Türe wischen: Zuerst werde ich mal meine gesamte Musikbibliothek, die ich auf meiner Festplatte gespeichert habe, durchhören. Es sind dies 17 374 Titel. Die gesamte Hördauer für dieses Unterfangen beträgt laut dem Programm iTunes 38,7 Tage. Da ich aber auch immer wieder ein paar Stunden schlafen muss, wird das systematische Anhören der ganzen Sammlung fast zwei Monate dauern. Anschliessend werde ich alle meine 427 Freunde, welche ich auf Facebook «besitze», einmal persönlich besuchen. Denn was bringen mir Freunde, wenn ich sie nicht auch ab und zu real treffe? Diese Besuchstage werden mich ein Jahr und zwei Monate und drei Tage beanspruchen. Damit ist aber mit Reisen noch lange nicht fertig: Auf meinem Büchergestell stapeln sich die Wanderführer. Da viele meiner Freunde wissen, dass ich gerne wandere, aber nicht ahnen, dass ich in den

letzten Jahren wegen chronischer Überbeschäftigung nie dazu kam, ist dies ein beliebtes Geburtstagsgeschenk. Mindestens zwei Wanderführer werde ich somit komplett durchwandern. Geschätzter Zeitaufwand: Eineinhalb Jahre. Danach will ich endlich mal alle Fotos auf meiner Harddisk sichten. In den letzten zehn Jahren haben sich da über fünftausend angesammelt. Ich werde sie sortieren, die unscharfen löschen und die besten ausdrucken lassen. Die ausgedruckten Fotos (ca. 900) werde ich dann erneut sortieren und in verschiedene Fotoalben kleben. Geschätzter Zeitaufwand hier: drei Monate. Da sich in den Jahren, während denen ich all diese Arbeiten erledige, wieder neue Musik, Fotos und Wanderbücher ansammeln werden, müssen diese Sachen danach während ca. 16 Monaten aufgearbeitet werden. Dank unserer schönen neuen Welt des Überflusses werde ich mich also insgesamt für zwölf Jahre vom normalen Alltagsleben abmelden. Bis bald. Anton Brüschweiler

Der Autor ist Gitarrist und Liedermacher. Er spielt in mehreren Bands und lebt in der alten Käserei Gysenstein in der Nähe von Münsingen/BE, wo er eine «Bar jeder Vernunft» und ein alternatives Kulturlokal betreibt. www.antonline.ch | www.chäsigysenstein.ch

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DIE SEELE FREIRÄUMEN Wie wir aufhören, Gefangene unserer Vergangenheit zu sein. Am liebsten würden wir Schatten auf der Seele einfach löschen wie defekte Dateien. Aber so einfach geht das nicht. Wir bleiben Menschen mit Vergangenheit. von Roland Rottenfußer Nur: Die Lasten könnten auch ein Schatz sein.

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Man soll sich mehr um die Seele kümmern; denn die Vollkommenheit der Seele richtet die Schwächen des Körpers auf. Demokrit

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nja, meine Liebste, kam wie immer zu spät. Sie war sauer auf mich: «Wenn du schon so anfängst, vergeht mir jede Lust, mich mit dir zu treffen». Ich: «Aber ich habe nichts gesagt. Du bist gerade zur Tür hereingekommen.» Sie: «Gesagt hast du nichts. Aber deine Ausstrahlung reicht mir schon.» Ich: «Welche Ausstrahlung?» Sie: «Da steckt doch eine Forderung dahinter, ich hätte gefälligst pünktlich zu kommen und für dich verfügbar zu sein.» «Ich erwarte nicht, dass du für mich verfügbar bist.» Sie: «Ich kenne euch doch! Womöglich forderst du noch Begrüssungssex – nach allem, was du mir angetan hast.» «Ich fordere nichts, aber ich gebe zu: Ich habe daran gedacht.» Sie: «Ah, da haben wir’s. Ihr tut so sanft, aber der Macho steckt doch in jedem Mann. Wenn du mit Forderungen kommst, ist bei mir der Ofen aus. Ich will doch nicht mit dir schlafen, weil ich muss, sondern ganz spontan.» Ich: «Aber ganz spontan passiert das bei dir nie.» Sie: «Ja eben, weil du mich so unter Druck setzt.» Die Liebesgeschichte zwischen Anja und mir dauerte nach diesem Dialog nicht mehr allzu lang. Im Nachhinein (es ist mehr als zehn Jahre her) muss ich Anja in Schutz nehmen: Sie hatte vor mir eine Beziehung zu einem Mann gehabt, der sie extrem dominierte und einengte. Daraufhin leistete sie einen Schwur: Nie wieder würde sie sich das von einem Mann gefallen lassen. Selbst mein Wunsch an sie, pünktlich zu sein, erinnerte sie an die durchlittene Knechtschaft. Aber auch mit mir hatte es Anja nicht leicht. Mein «Trauma» war, dass mich eine Ex-Freun-

din während eines vierwöchigen Auslandsaufenthalts verlassen hatte. Als sie zurückkam, war sie nicht mehr dieselbe. Für mich waren längere Abwesenheit und Unzuverlässigkeit einer Frau seither bedrohlich. Ich interpretierte das als Anfang vom Ende einer Beziehung. Heute hat sich das eingerenkt. Damals aber konnte ich nicht anders reagieren – so wie Anja. Unsere Vergangenheit hindert uns daran, einen Menschen so zu sehen, wie er ist. Wir legen das Bild einer oder mehrerer anderer Personen über ihn oder reagieren Probleme mit Ex-Partnern stellvertretend an ihr ab. Genau genommen liegen im Ehebett immer mindestens vier Personen: Der Mann, die Frau, die letzte wichtige Partnerin des Mannes und der letzte problematische Lover der Frau. Dazu kommen oft die Eltern beider Partner. Die dominante Mutter, der emotional versagende Vater, sie spuken lebenslang in unseren Köpfen herum. Da wird’s allmählich eng im Bett. So gesehen ist Partnerschaft stets eine Selbsthilfegruppe zur Nachbereitung früherer Partnerschaften. Keine ermutigende Aussicht! Die Seele frei zu räumen beginnt mit dem Erkennen des Problems. Wir entschliessen uns, die Macht der Vergangenheit über unsere Gegenwart zumindest zu reduzieren. Das bedeutet, dem gegenwärtigen Augenblick und den Menschen, die jetzt bei uns sind, gerecht zu werden. Sofern wir also nicht im Affekt handeln, sollten wir uns Zeit nehmen, nachzudenken und zu unterscheiden: Hat mein Zorn wirklich mit der aktuellen Situation zu tun, oder bin ich eigentlich wütend auf meinen Vater?


Die Seele freiräumen!

Seelisches Leid, das fast jeden triff, nennt die Psychologie «Anpassungsstörung». Etwa als Folge der Trennung von einem geliebten Partner oder des Todes eines Elternteils. Die Definition für ein «Trauma» ist enger gefasst. Gemeint ist ein Ereignis, das extremen Stress und Entsetzen hervorruft, mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einGenau genommen liegen hergeht und das Weltbild im ehelichen Bett immer eines Menschen nachhaltig mindestens vier Personen: erschüttert. Typische AuslöDer Mann, die Frau, die letzte ser sind etwa eine Vergewaltigung, Kriegshandlungen wichtige Partnerin des Mannes oder Naturkatastrophen. und der letzte problematische Der oder die Traumatisierte Lover der Frau. ist verdammt zur «Intrusion», dem ungewollten Erinnern an das traumatisierende Erlebnis, oft ausgelöst durch einen Schlüsselreiz («Trigger»). Wer als Kind nur knapp einem Hausbrand entkam, kann durch die Flamme einer Kerze ein Flashback ereilen. Andere Opfer vermeiden bewusst Gedanken und Gefühle, die an das Trauma erinnern könnten. Von solchen Störungen dürften nur wenige betroffen sein. Die beschriebenen seelischen Mechanismen können aber auch bei unseren «normalen» AnpassungsstöDie Psychologie rungen wirken. Ein eigentlich harmloser Reiz wird mit befasst sich mit den einem gefährlichen aus der Vergangenheit verknüpft. einzelnen Wellen des Man reagiert mit Kontrollverlust (Panik oder Wut) oder Baches. Aber hat ein handelt im Gegenteil überkontrolliert. Man weicht aus Bach je aus Wellen bestanden? Karl Kraus (vermeidet z.B. das andere Geschlecht, von dem man sich verletzt fühlt). Oder man wird zum Anästhesisten seiner selbst, indem man stets versucht, cool zu bleiben. Die letzten beiden «Lösungen» bedeuten einen Verlust von Lebendigkeit. Auch bei der Verarbeitung «normaler» schmerzhafter Erfahrung gilt also: Die (meist harmlose) Gegenwart muss von der schlimmen Vergangenheit entkoppelt werden. Den wünschenswerten Zustand könnte man auch «kontemplatives Sehen» nennen. Der Franziskaner Richard Rohr definiert ihn so: «Es bedeutet, ungeschützt vor dem jeweiligen Augenblick, einem Ereignis oder einer Person zu verweilen – ohne zu spalten und zu versuchen, die Dinge zu beherrschen und zu kontrollieren.» Auch im Zen-Buddhismus wird eingeübt, jeden Moment «pur» zu erleben: ungetrübt von Erwartungen, Interpretationen, Wertungen und Schatten der Vergangenheit. Versuchen Sie einmal die Rede eines Politikers, den Sie nicht mögen, unvoreingenommen anzusehen. So, als sähen Sie diesen Menschen zum ersten Mal: schwer! Es wäre eine «unschuldige» Art, jeden Augenblick als etwas Einzigartiges zu feiern. Wer dies beherrschte, könnte seinem Partner im wahrsten Sinn des Wortes «gerecht» werden, ohne die kastrierende Mutter oder 5000 Jahre Patriarchat auf ihm abzuladen.

Ich habe, von Hemmungen und schwierigen ExBeziehungen gepeinigt, einiges versucht, um die Vergangenheit abzuschütteln. So absolvierte ich in den 90ern eine Autosuggestions-Methode, genannt Tony Gaschlers EE (Emotionale Enthemmungsmethode). Dafür stellte ich mich mehrmals täglich vor den Spiegel, blickte mir fest in die Augen und sprach mit emphatischer Stimme Motivationsphrasen: «Ja! Ich spüre es mit jedem Tag mehr, wie ich ein freier, mutiger und selbstbewusster Mensch werde!» Wer mich kennt, ahnt es schon: Es hat nicht funktioniert. Nach der Anfangseuphorie, in der ich an den Durchbruch glaubte, verfiel ich wieder in meine alten Muster. Besser als diese Trockenübungen halfen das Leben selbst und der Entschluss, unter allen Umständen zu mir zu stehen. Frei nach Gloria Gaynor: «I am what I am, and what I am needs no excuses.» Ein praktisches Ritual gegen das zähe Festhalten an der Vergangenheit entnahm ich der Hawaiianischen Huna-Philosophie. Es heisst «AkaFäden durchschneiden». Man sucht sich im Wald zwei etwa gleich grosse Stöcke. Diese verbindet man an sieben Stellen mit Schnüren – stellvertretend für die «sieben Chakren». Der eine Stab repräsentiert «mich», der andere eine Person, von der wir uns energetisch lösen wollen. Man durchschneidet die Aka-Fäden nun langsam von unten nach oben. Dabei denkt man an belastende Aspekte, die zu dem jeweiligen Chakra passen: von sexueller Abhängigkeit (unten) bis zum quälenden spirituellen Konflikt (oben). Mit jedem Schnitt bekräftigt man seine Absicht, die Person endgültig loszulassen. Man verrichtet das Ritual ohne Vorwurf, dankt der Person für die Erfahrungen, die man mit ihr teilen durfte und lässt deren Stock einen Fluss hinunter treiben. Um eine langjährige Beziehung rituell zu beenden, warf ich einmal einen Freundschaftsring in einen Teich – dort, wo wir uns zum ersten Man begegnet waren. Dies war nicht respektlos gemeint. Ich gab den Ring dem Naturelement zurück, aus dem unsere Liebe einmal entsprungen war. Ich warne aber davor, allein von solchen Ritualen die Heilung zu erwarten. Rituale setzen einen markanten Punkt auf einer Entwicklungslinie, die sich in der Seele selbst vollziehen muss. Sie bekräftigen unseren Entschluss, uns von der betreffenden Person (oder dem Ereignis) zu lösen und begleiten diesen mit einem einprägsamen Bild. Die Seele widersetzt sich oft unserem Willen. Nach der Aktion mit dem Ring war für mich die Beziehung zu besagter Frau im Kopf abgeschlossen. Die Traurigkeit und die schlechten Erinnerungen daran verfolgten mich aber weiter. Die wurde ich erst ein Dreivierteljahr später los. Ich absolvierte ein

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viertägiges bioenergetisches Seminar. Der Leiter lockerte unsere «Muskelpanzerung» mit verschiedenen Methoden auf und ermutigte uns, schnell und heftig zu atmen. Ich hatte lange nicht mehr weinen können und erlebte den Tränenfluss, der nun aus mir hervorbrach, als befreiend. Der ganze «Mist» der vergangenen Jahre floss aus mir heraus. Mit diesem Seminar war für mich symbolisch und emotional eine Grenze gezogen: Davor stand ich im Einflussbereich der «Ära» meiner Ex-Freundin, danach begann eine neue Lebens- und Liebesepoche. Es gibt in der Ratgeberliteratur sehr aggressive Bilder für den Vorgang der Befreiung: «Seelenmüll» soll entsorgt oder eine «Festplatte aufgeräumt» werden. Beide Vergleiche führen in die Irre, denn sie suggerieren, die unerwünschten Inhalte könnten restlos beseitigt werden. Bringe ich den Müll raus, ist er für immer aus meinem Haus verschwunden. Und lösche ich Dateien von der Festplatte, sind sie tatsächlich weg. Mit der Seele aber ist es eher wie mit Facebook. Selbst wenn wir «löschen», bleiben in den Tiefen des Netzes gegen unseren Willen Spuren erhalten. In Deutschland haben viele ältere Menschen mit Kriegstraumata zu kämpfen. Sie wissen: Bewältigung beÜberlegen wir uns dreimal, ob wir deutet meist nicht, die eine «Last» loswerden wollen. Sie schrecklichen Ereignisse könnte unser grösster Schatz sein zu vergessen, sondern – das, was uns Kraft zum Leben gibt. damit zu leben.

Die Vergangenheit sollte ein Sprungbrett sein, nicht ein Sofa. Harold Macmillan

Das Ideal einer restlos «gesäuberten» Seele wurde 2004 im Film «Eternal sunshine of a spotless mind» karikiert. Ewiger Sonnenschein eines fleckenlosen Geistes (deutscher Titel: «Vergiss mein nicht».) Kate Winslet und Jim Carrey spielen zwei Liebende, die

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nach der Trennung versuchen, den jeweils anderen durch Gehirnmanipulation aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Natürlich klappt das nicht, die beiden verlieben sich aufs Neue, ohne sich zu erkennen. Noch im Löschvorgang erkennt Jim Carrey, wie wertvoll die Erinnerungen an Kate für ihn gewesen sind. Sie sind es, die seine Persönlichkeit ausmachen – in der Freude und im Schmerz. Wenn wir alle unangenehmen Erinnerungen zerstören, zerstören wir einen Grossteil dessen, was wir sind. Der «fleckenlose Geist» wäre ein steriles, eigentlich unmenschliches Gebilde. Zu unserem Glück oder Unglück haben wir meist nicht die Wahl, ob wir «befleckt» sein wollen oder nicht. Wir können einige der hier skizzierten Möglichkeiten ausprobieren und in schweren Fällen professionelle Hilfe aufsuchen. Wenn nichts hilft, hier eine kleine Geschichte zum Trost: In Marokko, am Fuss des Atlas-Gebirges, steht eine stattliche Dattelpalme, die alle benachbarten Bäume überragt. Vom Berghang aus sieht man, dass in der Mitte der Krone ein Felsbrocken liegt, so gross, dass ihn zwei Hände nicht umschliessen können. Fragt man den alten Teehausbesitzer nach der Palme, so erfährt man ihre Geschichte. Als sie noch ganz klein war, ging ein Steinschlag nieder, und ein Felsen landete zwischen den zarten Palmblättern. Das Bäumchen wäre fast unter der Last eingegangen, aber es überlebte. «Die Palme brauchte immer die doppelte Kraft, um gegen ihre Last anzukämpfen», sagte der Teehausbesitzer. «Das verlieh ihr enorme Zähigkeit. Als sie dann gross war und der Stein nicht mehr so drückte, liess ihre erprobte Kraft sie immer weiter wachsen, höher als alle anderen Palmen.» Überlegen wir uns dreimal, ob wir eine «Last» loswerden wollen. Sie könnte unser grösster Schatz sein – das, was uns Kraft zum Leben gibt.


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DER FREIRAUM LIEGT AUF DER STRASSE!

von Manfred Bögle Kleine Vorgeschichte: 25 Jahre lang war ich als Wander- und Reiseführer in der Schweiz und in Italien unterwegs. Dann zwang mich im Jahr 2004 ein Arthroseleiden «in die Knie» und es ging plötzlich alles nur noch halb so schnell. Keine gute Geschichte … bis ich an mir beobachtete, dass mit dem Verlust an Mobilität auch ein Gewinn einherging: eine neue, entschleunigte Sicht auf die Dinge, zum Beispiel auf die Strasse, in der ich lebe. Ganz einfach deshalb, weil ich länger in ihr unterwegs war. Meine Wahrnehmung veränderte sich; bislang nur flüchtig Wahrgenommenes wurde zum Ereignis, hatte Zeit, sich vor meinen Augen zu entfalten. Mein Sehen entwickelte sich zu einem «Schauen» und schliesslich lernte ich die Strasse lieben… Darf ich Ihnen «meine» Strasse vorstellen? Es ist die Klauprechtstrasse in Karlsruhe. Auf den ersten Blick zunächst eine «ganz normale Strasse», wie sie auch andernorts zu finden ist. Im Jahr 2003 hatte der

Klauprechtstrassen-Bäcker Wolfgang Lasch die Idee, eine Italienische Woche zu veranstalten. Die Strasse erwies sich für das Feiern auf der Strasse empfänglich und als im Jahr 2005 die Stadt Karlsruhe ihre Bewerbung um den Titel «Europas Kulturhauptstadt 2010» bekannt gab, sah man die grosse Chance zur Mitwirkung. Eine Arbeitsgemeinschaft «Kultur braucht Strasse» wurde ins Leben gerufen. Gründungsmitglieder war die «Wirkstatt», deren Leiter ich bin, Geschäftsleute aus der Strasse sowie interessierte Privatpersonen, die in der Unterstützung der Klauprechtstrasse bei der städtischen Bewerbung eine gute Möglichkeit sahen, Europa «auf die Strasse» zu bringen. Im Mittelpunkt unseres Konzepts stand die Bewerbung der Klauprechtstrasse als «Europäische Kultur-Hauptstrasse». Eine Kulturhauptstadt braucht schliesslich eine Kulturhauptstrasse und da Karlsruhe tatsächlich keine «Hauptstrasse» hat, erschien uns dieser Anspruch auch angemessen.

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Europa-Strassenfest in Karlsruhe (oben) und Radicondoli.

Wir nahmen die Sache ernst und legten eine mehrseitige Bewerbungsschrift für den «auf der Strasse gefundenen» Titel vor, mit folgenden Argumenten: • Mit Professor Johann Ludwig Klauprecht haben wir eine besondere Persönlichkeit «im Rücken». Der Namensgeber der Strasse war nach unseren Erkenntnissen der erste Mediator der Stadt Karlsruhe. Während der Badischen Revolution 1848/49 verhinderte er als Leiter des Polytechnikums ein Blutvergiessen zwischen Studenten und dem Militär. Wenig später erreichte er, dass das Polytechnikum (heute: KIT Karlsruher Institut für Technologie) nicht nach Mannheim oder Freiburg verlegt wurde. Dafür wurde Klauprecht von der Stadt Karlsruhe die Ehrenbürgerwürde verliehen. • In der Klauprechtstrasse leben Menschen aus 34 Nationen. Und wir haben viel Spass an der ‹Klauprecht-Linie›: Wenn man die Klauprechtstasse verlängert, kommt man im Westen auf die Insel Guernsey vor England und im Osten nach Astrachan am Kaspischen Meer: das sind 3 700 Kilometer Transeuropa! Die grade mal 540 Meter lange Klauprechstrasse ist gewissermassen der ‹Bindestrich Europas›. • Die Klauprechstrasse Wo alles gut beieinander ist und ist eine ganz normale wo nichts ausgegrenzt wird, da ist Strasse in der alles gut Kraft. Diese Ausgeglichenheit ist beieinander ist: Hier gibt es einen Metzger, einen in der Klauprechtstrasse deutlich spürbar. Und intuitiv erfassen das Bäcker, mehrere Cafés, ein Balkanfeinkostgeauch Menschen: hier spielt das schäft, eine Apotheke, eiLeben, hier gibt es viele Kinder. nen Seniorentreff, einen «Italiener» an der Ecke, eine Galerie, eine Hebammen-Praxisgemeinschaft, mehrere Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe, Arbeiter, Arbeitslose, Normale, Verrückte, Gesunde, Kranke, Hoffnungsvolle, Visionäre, Geschichtenerzähler … Und wo alles gut beieinander ist und wo nichts ausgegrenzt wird, da ist Kraft. Diese Besonderheit des Ausgeglichenen ist in der Klauprechtstrasse deutlich spürbar. Und intuitiv erfassen das auch Menschen, die in der Klauprechtstrasse ihre Zukunft planen: Hier spielt das Leben, hier gibt es viele Kinder.

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Leider war das schöne Spiel mit der Kulturhauptstadt-Bewerbung von Karlsruhe nur von kurzer Dauer. Die Stadt schied schon bald aus dem Wettbewerb aus. Allerdings war das für die AG ‹Kultur braucht Strasse› kein Grund, auf die Idee zu verzichten, in der Klauprechtstrasse eine europäische Kulturhauptstrasse zu sehen. Man suchte einen neuen ‹Aufhänger› und fand ihn auch mit der ‹1. europäischen StrassenPartnerschaft› zwischen der Klauprechtstrasse und der Via Gazzei im toskanischen Radicondoli. Warum eine europäische Strassen-Partnerschaft? Strassen sind die Lebensadern Europas. Wie in einem Mikrokosmos spiegelt sich in ihnen unser Zusammenleben. Bewohner ganz unterschiedlicher nationaler Herkunft nutzen nicht nur den gemeinsamen Strassenraum, sondern sind auch auf vielfältige Weise mit ihm vernetzt – durch Wohnung, Versorgung, Arbeit, Soziales, Bildung und Kultur. Mit anderen Worten: Europa wächst auf der Strasse zusammen! Warum eine Partnerschaft mit einer italienischen Strasse? Wir wollten ein Zeichen setzen für die besondere Beziehung, die Karlsruhe zu Italien hat. Deutsches Recht ist auch heute noch vom römischen Recht beeinflusst. Dies gilt vor allem für das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). In Karlsruhe, Residenz des Rechts, wird es gewissermassen ‹gehütet›. Römer bauten am Oberrein die ersten Strassen. Italienische Architekten spielten im Vorfeld der Stadtgründung eine wichtige Rolle, Italiener halfen beim Bau der jungen Stadt mit und dem altitalienischen Wort ‹brigante› verdanken wir eine sprachliche Besonderheit: Die ersten häuserbauenden Ansiedler der Stadt nannten die Gastarbeiter ‹Brigantis›, bis sich der Spott gegen sie kehrte und aus allen Karlsruhern ‹Brigande› wurden. Dieses kalabresische Erbe ist das einzige Relikt einer in Karlsruhe gesprochenen Fremdsprache, des Italienischen, das Eingang in die werdende Mundart fand.


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Und warum die Via Gazzei in Radicondoli? Der soziokulturelle Verein Wirkstatt, organisatorischer Träger der Strassenpartnerschaft, war über 25 Jahre als Reiseveranstalter in der Toskana tätig. Aus dieser Zeit stammt auch die besondere Verbindung zu dem kleinen Städtchen Radicondoli, ca. 40 km südwestlich von Siena. Der Ort mit seinen knapp 1000 Einwohnern liegt malerisch auf einem der berühmten toskanischen Hügel. Die Via Gazzei ist die Hauptstrasse und etwa so lang wie die Partnerin Klauprechtstrasse. Und was die ‹Ausgeglichenheit› der Strasse angeht, steht die Via Gazzei der Klauprechtstrasse in nichts nach. Sie ist geradezu ein Spiegel der Klauprechtstrasse – auf italienisch. Ein weiterer wichtiger Grund für die Partnerschaft: In den Wäldern rund um Radicondoli lieferten sich deutsche Soldaten und italienische Partisanen Ende des 2. Weltkriegs erbitterte Kämpfe. Unsere Strassenpartnerschaft sahen wir deshalb auch als ein Stück Heilung der Geschichte. Dieser Argumentation wollte sich auch die EU nicht verschliessen, bei der die Arbeitsgemeinschaft ‹Kultur braucht Strasse› für das Projekt geworben hatte. Im Juni 2010 wurde in Brüssel unserem Antrag auf finanzielle Förderung entsprochen und die Klauprechtstrasse konnte sich mit der Via Gazzei ‹verschwistern›. Die Europäische Strassenpartnerschaft zwischen Klauprechtstrasse und Via Gazzei in den Jahren 2010 und 2011 war als Austauschprogramm angelegt: die Italiener besuchten uns in Karlsruhe, wir machten den Gegenbesuch in Radicondoli. Am Ende jedes Treffens stand ein grosses Europa-Strassenfest.

Manfred Bögle ist Leiter des Bildungszentrums «Wirkstatt» in Karlsruhe, Geschichtenerzähler und Initiant der Partnerschaft zwischen der Klaprechtstrasse in Karlsruhe und der Via Gazzei in Radicondoli. www.wirkstatt.com

Das Austauschprogramm umfasste zwei Schwerpunkte: Zum einen die Begegnung der Strassenmusikgruppen ‹Banda› aus Radicondoli und der Guggenmusikgruppe ‹Rieberger Alb-Goischda›, die persönliche Beziehungen zur Klauprechtstasse pflegt. Die Musiker trafen sich zum gemeinsamen Spiel und traten an beiden Festen auch gemeinsam auf. Beim grossen Europa-Strassenfest 2011 in Radicondoli

kam es zur Uraufführung einer gemeinsam erarbeiteten ‹deutsch-italienischen Strassensymphonie›. Das zweite Element des Partnerschaftsprogramms war eine europäische Geschichts- und Ideen-Werkstatt am Beispiel deutsch-italienischer Beziehungen. Bei dieser ‹Werkstatt› konnten alle mitmachen, die sich für deutsch-italienisches Leben in Geschichte und Gegenwart interessierten und sich darüber informieren wollten, wie das «Europa der Bürgerinnen und Bürger» zusammenwächst. Deutsche und Italiener bildeten zusammen eine Werkstatt-Gemeinschaft, es wurde in beide Sprachen übersetzt. Die ‹1. Europäische Strassen-Partnerschaft› wählte für die gemeinsame Sache ein starkes Symbol: den ‹Strassenengel›. Zwei dieser symbolischen Schutzgeister wurden bei den Festen in Karlsruhe und in Radicondoli durch den Sägekünstler Gundram Prochaska aus dickem Holz hervorgeholt und sind jetzt in beiden Strassen sichtbare Zeichen einer wundervollen europäischen Begegnung auf Strassen-Ebene. Die ‹1. Europäische Strassen-Partnerschaft› soll in den kommenden Jahren weiter ausgebaut werden. Dass sie bereits jetzt schon als ‹nachhaltig› bezeichnet werden kann, verdanken wir einem italienischen Paar, Teilnehmer der Besuchsgruppe aus Radicondoli, das nach eigenem Bekunden beim Europastrassenfest Ende September in Karlsruhe im Hotel Eden (!) ein Kind zeugte, das in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2011 zur Welt kam – in jener Nacht, in der die 50-köpfige Reisegruppe aus der Klauprechtstrasse zum Gegenbesuch in der Via Gazzei ankam … Es gibt Menschen, die dieses zeitliche Zusammentreffen in einen Sinnzusammenhang bringen und ein ‹kleines Wunder› darin sehen. Darüber kann man natürlich trefflich streiten. Ich persönlich meine: Eine wunderbare Geschichte ist es auf jeden Fall!

Weitere Informationen Über die Wirkstatt: www.wirkstatt.com Über die ‹1. Europäische Strassen-Partnerschaft›: www.europa-strassen-partnerschaft.eu

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KINDER BRAUCHEN

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Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit – der wird sie nie erringen. Kurt Tucholsky

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von Brigitte Müller

s war wunderbar. Ich hatte das Glück, in einem 600-Seelen-Dorf gross zu werden. Abends spielte ich mit Freunden draussen, wir badeten im Dorfbrunnen und waren am Wochenende im Wald unterwegs. Über Feldwege lief ich zum Kindergarten, ass auf dem Heimweg meinen heiss geliebten Schnittlauch – zur Belustigung meiner Mutter, die meine Vorliebe nie ganz nachvollziehen konnte. Die Wiese roch abwechselnd frisch nach Gras oder stank nach Jauche, es spriessten wilde Blumen oder es lag Schnee darauf. Im Dorf lebten ein paar Bauern, die Milch holten wir mit dem Milchkesseli vom Milchladen. Der Duft frischer Milch war mir deshalb ebenso vertraut wie der Anblick von Pferden, Kühen und Hühnern.

um unsere Kinder bringen wir sie um wertvolle Erfahrungen und entfremden sie mehr und mehr der Natur. Der Raum wird generell knapper, der Verkehr nimmt immer mehr zu. Natürliche Spielräume werden durch Spielplätze ersetzt, wobei in den USA inzwischen Spielgerät wieder abmontiert wird – zu gross die Verletzungsgefahr, zu hoch die Versicherungs-

ENTEIGNUNG DES ÖFFENTLICHEN RAUMS Heute lebe ich in der Stadt, und weder sehe ich Kinder, die alleine am spielen sind, noch solche, die die Natur entdecken. Gemäss der Pädagogischen Hochschule Zürich dürfen in der Schweiz 25 bis 30 Prozent der bis Fünfjährigen die Wohnung nicht ohne Begleitung verlassen – zu viel Verkehr. Die Kinder verbringen immer mehr Zeit in Gebäuden. Zwischen drei und dreizehn sehen sie im Durchschnitt täglich hundert Minuten fern und lernen so die Welt nur aus zweiter Hand kennen. Es fehlt ihnen an Freiraum für Abenteuer und Entdeckungen. Fragt man Kinder heute, woher die Milch kommt, hört man immer wieder die Antwort: «Aus dem Supermarkt!». Was zuerst ganz lustig anmutet, ist eigentlich ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft. Vor lauter Angst

ansprüche. Die Enteignung des öffentlichen Raumes wird scheinbar widerstandslos hingenommen, die Kinder werden von den Wegen und Plätzen verwiesen, die ihnen ebenso gehören wie den motorisierten Erwachsenen.

Die Enteignung des öffentlichen Raumes wird scheinbar widerstandslos hingenommen, die Kinder werden von den Wegen und Plätzen verwiesen, die ihnen ebenso gehören wie den motorisierten Erwachsenen.

AUF BÄUME KLETTERN VERBOTEN Sobald die Kinder in der Schule sind, verstärkt sich dieser Trend. Der natürliche Bewegungsdrang wird eingedämmt, die Schüler sind gezwungen, stundenlang auf ihren Stühlen zu sitzen statt sich frei bewegen zu können oder auch mal auf dem Boden zu basteln. Die Schule sollte Raum geben für Kreativität, für Erfahrungen und die natürliche Lern- und Entdeckungslust fördern. Stattdessen kommen viele Kinder unter Leistungsdruck, haben Angst, ausgelacht zu


© kein&aber, Zürich u. Berlin

Kinder brauchen Freiraum!

werden und verlieren Freude und Selbstbewusstsein. Kein Wunder, wird da für viele die Schule zum Frust. Und wenn dann endlich Zeit zum Spielen wäre, warten Eltern draussen in ihren Autos, um die Schützlinge zum Sport oder Musik-Unterricht zu fahren. Freizeit? Wozu? 1971 durften zwei Drittel der englischen Kinder ab sieben Jahren mit einem Fahrrad dieses auch auf der Strasse benutzen. Gut 20 Jahre später erlaubten Eltern dies nur noch einem Viertel. Eine deutsche Studie zeigt auf: Noch 1990 bewegten sich fast drei Viertel der Sechs- bis Dreizehnjährigen täglich im Freien – 2003 waren es weniger als die Hälfte. In Grossbritannien gaben von 1000 Befragten mehr als 50 Prozent der Sieben- bis Zwölfjährigen an, es sei ihnen verboten, ohne Aufsicht auf einen Baum zu klettern oder im Park um die Ecke zu spielen.

Das Foto stammt aus dem neusten Buch von Ursus Wehrli (Ursus und Nadeschkin) «Die Kunst aufzuräumen». Nach den beiden Best-sellern «Kunst aufräumen» «Noch mehr Kunst aufräumen» weitet Ursus Wehrli seine geniale Idee aus und räumt nun mit allem auf: Vom Weihnachtsbaum über die Badewiese oder die Fussballmannschaft bis zum Sandkasten. Nichts ist vor seiner ordnenden Hand sicher. Wir finden: Das neuste Buch ist noch besser als seine Vorgänger, die ja im Grunde nur konsequente PhotoShop-Arbeiten waren.

Jetzt wird real aufgeräumt, zum Teil mit Dutzenden von Darstellern. Ursus Wehrli: Die Kunst aufzuräumen. Kein & Aber, 2012. 48 S. Geb. Fr. 28.- / 16,90 Euro. Auf der Website des Verlags sind Filme zu sehen, wie drei der Sujets entstanden sind: www. keinundaber.ch. Dort auch erhältlich: Drei Motive als Plakatset für Menschen mit Sehnsucht nach einem aufgeräumten Leben.

NATUR SPENDET LEBENSLUST Haben wir denn alle unsere schönen Kindheitsmomente vergessen? Als wir uns frei bewegen konnten und erst der Einbruch der Dunkelheit das Zeichen gab, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen? Natürlich haben wir heute mehr Verkehr, mehr Menschen, weniger Raum. Aber für die Entwicklung der Kinder ist es wichtig, dass sie mit all ihren Sinnen Erfahrungen sammeln. Das zeigt sich schon ganz früh. Hat zum Beispiel ein Säugling die Wahl zwischen einem echten Kaninchen und einer Holzfigur, schaut er länger und häufiger auf das echte Tier. Kinder suchen und brauchen Freiräume, müssen Fehler machen können, um daraus zu lernen. Verweigere ich einem Kind das Sammeln eigener Erfahrungen, wird ihm Selbsteinschätzung Mühe bereiten. Auch wenn es für Eltern schwer zu akzeptieren ist: Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren (Benjamin Franklin).

Entdeckungsräume schaffen: Fachstelle SpielRaum in Bern Kinder lernen spielend. Dafür brauchen sie Raum. Der Verein «SpielRaum» setzt sich seit 1992 für kindergerechten Spiel- und Lebensraum im Kanton Bern ein. Er betreibt die Fachstelle SpielRaum, die aus der Spielbus-Bewegung der 80er Jahre entstand und heute für öffentliche und private Institutionen arbeitet. Ziel ist die Entstehung lebendiger Räume: Strassen, Zwischenräume und Wohnhöfe, Schulhausplätze und Gemeindezentren werden zu Spiel- und Begegnungsräumen. Vorreiter der Fachstelle war der «Berner SpielBus», der Kinderspiel-

plätze und Pausenplätze in kindergerechte Abenteuerund Erlebniswelten verwandelte. Der Spielbus ist auch heute noch ein wichtiges Arbeits- und Impulsinstrument der Fachstelle. Daneben bietet sie Unterstützung bei der Entwicklung kindergerechter Aussenraumgestaltung, koordiniert den Aufbau von Kinderprojekten und verfügt über Angebote im Bildungsbereich. Vielfältige Bewegung, Kreativität bzw. Veränderbarkeit (z.B. das Laub im Herbst einige Wochen liegen zu lassen oder einen Steinhaufen zu bauen statt unzähliger Spielge-

räte) sowie Rückzugsmöglichkeit wie Nischen und Ecken seien die wichtigsten Kriterien für die Spielbedürfnisse von Kindern, sagt Anne Wegmüller, Mitarbeiterin der Fachstelle. «Am besten fragt man sich selbst, wo man als Kind gerne gespielt hat. In der Regel sind es nicht monotone NormSpielplätze, sondern irgendwelche Zwischenräume, die Raum für Entdeckungen bieten.» BM Fachstelle SpielRaum, Bern, Tel. 031 382 05 95, www.spielraum.ch

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Foto: Wolfgang Schmidt, Right Lievelihood Award

Die «Mutter aller Fragen» in den meisten Ländern ist, ob in öffentlichen Angelegenheiten weiter die Macht des grossen Geldes entscheidet – oder die Stimmen der Bürger.

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DENKFALLEN Um uns zu befreien, müssen wir uns der «Mutter aller Fragen» stellen, sagt die amerikanische Aktivistin Frances Moore-Lappé, Trägerin des alternativen Nobelpreises und Autorin von 18 Büchern, darunter den Weltbestseller «Diet for a Small Planet». Sie ist überzeugt: «Die Umweltkrise ist in Wirklichkeit eine Demokratiekrise». Bloss wählen zu Frances Moore Lappé im Gespräch mit Stephen Leahy gehen, reicht nicht.

Was verstehen Sie unter «Denkfallen»? Frances Moore Lappé: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern durch einen Filter oder den Schleier unserer eigenen Wahrnehmung. Neurowissenschaftliche Forschungen haben ergeben, dass wir bei der Interpretation der Welt auf unsere bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen zurückgreifen. In anderen Worten: Wir sehen das, was wir zu sehen erwarten. Unsere Gesellschaft wird von dem Gedanken beherrscht, dass es einen Mangel gibt, dass Ressourcen und Nahrungsmittel nicht für alle reichen werden. Aus diesem Grund «sehen» oder interpretieren wir alles durch einen solchen Filter oder Referenzrahmen. Wie wirkt sich diese gängige Idee des Mangels auf uns aus? Der Gedanke, nicht genug zu haben, macht uns hilflos und bringt uns in Konkurrenz zueinander. Wir denken, es sei besser, unsere Schäflein ins Trockene zu bringen, bevor es andere tun. Die Mehrheit der Menschen, mit denen ich spreche, ist der Meinung, mit sieben Milliarden Erdenbürger sei der Mangel zur bleibenden Realität geworden. Sie werden von dieser Mangelmentalität geblendet. Aber stimmt es nicht, dass uns die Ressourcen Wasser, Energie, Nahrungsmittel etc. ausgehen? Als junge Studentin fand ich heraus, dass die USamerikanische Nahrungsmittelproduktion extrem verschwenderisch und ineffizient ist. Um ein Pfund

Fleisch zu produzieren, werden 16 Pfund Mais und Soja verfüttert und 54 000 Liter Wasser verwendet. Fast die Hälfte unserer Ernten wird nie verzehrt. Diese erschütternde Vergeudung ist die Regel, nicht die Ausnahme. Sie beschränkt sich nicht allein auf die Nahrungsmittelproduktion. Der US-Energiesektor verschwendet 55 bis 87 Prozent der generierten Energie – das Meiste geht in Form von Wärme in den Energieanlagen verloren. Und es sind nicht nur die USA. UN-Studien haben gezeigt, dass 3 000 der weltgrössten Konzerne im Jahr 2008 Schäden an der Natur in Höhe von zwei Billionen US-Dollar angerichtet haben. Warum sind wir so grosse Zerstörer und Verschwender? Das ist das Resultat der derzeitigen Marktökonomie, die darauf abzielt, einer kleinen Minderheit von Wohlstandsinhabern möglichst schnell Höchsterträge zu liefern. Unsere Wirtschaft schafft erst den Mangel, indem sie ausserordentlich verschwenderisch und destruktiv ist. Der Begriff «freie Marktwirtschaft» ist völlig fehl am Platze. Vielmehr haben wir es mit einer firmenmonopolistischen Marktökonomie der Verschwendung und Zerstörung zu tun. Wir sollten behutsamer und präziser in unserer Ausdrucksweise sein. Umweltschützer und einige Wirtschaftsexperten rufen immer lauter nach einem Wandel der Wachstums- zur Nicht-Wachstumswirtschaft. Sie jedoch sagen, das sei eine Denkfalle…

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Ja, weil dadurch eine Debatte in Gang kommt, die vom Wesentlichen ablenkt. Wachstum hört sich für die meisten Menschen nach etwas Positivem an, der Begriff Nicht-Wachstum dürfte sie befremden. Besser ist es, sich auf die Bildung eines Systems zu fokussieren, das Gesundheit, Glück, ökologische Vitalität und soziale Macht verspricht. In Ihrem letzten Buch sagen sie, dass sich jeder auf eine «gelebte Demokratie» konzentrieren sollte? Moore Lappé: Die Vereinigten Staaten sind zu dem geworden, was man als «Plutonomie» bezeichnen könnte, in der das oberste ein Prozent (der Bevölkerung) einen grösseren Reichtum kontrolliert als die unteren 90 Prozent. Die Ungleichheit in den USA ist nach Angaben der Weltbank inzwischen grösser als in Pakistan oder Ägypten. Das Ergebnis sind Konzerne und Reiche, die auf öffentliche Entscheidungen mit Hilfe von Parteispenden und politischer Lobbyarbeit Einfluss nehmen. In den USA kommen auf einen KongressabgeordDie erschütternde Vergeudung ist neten inzwischen zwölf die Regel, nicht die Ausnahme. Sie Lobbyisten. Um dieser Geiselnahbeschränkt sich nicht allein auf me durch die Privatwirtdie Nahrungsmittelproduktion. schaft entgegenzuwirken, müssen wir wieder eine Kultur der gegenseitigen Verantwortlichkeit, Transparenz, bürgerlichen Partizipation und öffentlichen Wahlfinanzierung erschaffen. Demokratie bedeutet nicht nur, einmal im Jahr wählen zu gehen. Sie ist eine Kultur, eine Lebensweise. Die «Mutter aller Fragen» in den meisten Ländern ist, ob in öffentlichen Angelegenheiten weiter die Macht des grossen Geldes entscheidet – oder die Stimmen der Bürger. Die Umweltkrise ist in Wirklichkeit eine Demokratiekrise.

Unter vielen umweltbewussten Menschen macht sich das Gefühl breit, es könnte zu spät sein und dass die Barrieren, die es zu überwinden gilt, seien inzwischen viel zu hoch geworden. Zu denken, es sei zu spät, ist eine weitere Denkfalle. Es dürfte zu spät sein für entscheidende Auswirkungen, die sich hätten vermeiden lassen, wären wir schon vor 20 Jahren aktiv geworden. Für das Leben ist es jedoch nie zu spät. Mein Buch bringt viele Beispiele von Menschen, die Verantwortung übernehmen und das Ruder herumreissen. Der Gedanke, es sei zu spät, wird durch das Gefühl geweckt, allein und machtlos zu sein. Die Menschen fühlen wegen ihrer Denkfallen so. Sie erliegen den falschen Vorstellungen, dass Mangel vorherrscht und die Menschheit von Natur aus gierig und egoistisch ist. Dieser Glaube und eine von der Privatwirtschaft gegängelte Regierung haben das Gefühl der Machtlosigkeit verursacht. Stephen Leahy arbeitet für den Inter Press Service, einer auf Globalisierung und Entwicklung spezialisierten Nachrichtenagentur. Frances Moore Lappé (*1944) veröffentlichte im Alter von 27 Jahren den Bestseller «Diet for a Small Planet», das die ökologischen und wirtschaftlichen Folgen des übermässigen Fleischkonsums ins öffentliche Bewusstsein brachten. 1975 gründete sie das Institut «Food First», erhielt 17 Ehrendoktortitel und wurde zu einer Hunger-, Umwelt- und Demokratie-Aktivistin mit welt-weiter Ausstrahlung. Ihr letztes Buch: «EcoMind: Changing the Way We Think to Create the World We Want», Small Planet Institute, 2011. Zuletzt auf deutsch erschienen: «Packen wir‘s an!: Klarheit, Kreativität und Mut in einer verrückt gewordenen Welt» (2009). ^^^ MVVKÄYZ[ VYN

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GEMEINNUTZ VOR EIGENNUTZ Wie sich ein Banker-Saulus zum Paulus wandelt.

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in Banker, der sich fĂźr das Gemeinwohl einsetzt? Wir haben inzwischen schon so viel Negatives Ăźber Banken gehĂśrt, dass wir das als Widerspruch empfinden kĂśnnten. FĂźr Helmut Lind, Vorstandsvorsitzender der MĂźnchner SpardaBank, ist es jedoch eine Ăœberlebensfrage. ÂŤDie Schraube, sie ist schon sehr fest angezogen. Und Sie wissen ja, was nach sehr fest kommt.Âť Gemeint ist der Zusammenbruch unseres Wirtschaftssystems. Lind, mit Massanzug und Krawatte ein Bilderbuch-Banker, machte in der grĂśssten bayerischen Genossenschaftsbank schnell Karriere, galt als ÂŤeffizienter OptimiererÂť. Mitarbeiter beurteilte er nur nach ihrer Leistung. ÂŤDas kannte ich von Kindesbeinen so. Liebe gab es bei uns zu Hause im Gegenzug fĂźr Leistung.Âť Täglich um fĂźnf Uhr frĂźh ging er joggen, ein Selbstoptimierer auch privat. Bis er eines Tages ins GrĂźbeln kam. ÂŤLäufst du vielleicht in die falsche Richtung?Âť Lind begann das Joggen durch Meditation zu ersetzen – mit durchschlagendem Erfolg: ÂŤIch fing an, mich als Teil eines grĂśsseren Ganzen zu begreifen. Ob es mir gut geht, hängt davon ab, ob es den Menschen um mich herum auch gut geht.Âť

von Roland RottenfuĂ&#x;er

Der Manager im Meditationssitz ist dabei, seine profitorientierte Bank von Grund auf umzugestalten. Statt Dividenden steht jetzt Teilen auf dem Programm. Die Sparda zog sich aus spekulativen Geschäften mit Nahrungsmitteln zurßck, zahlt den Mitarbeitern freiwillige Sozialleistungen, zum Beispiel 150 Prozent Elterngeld, zusätzlich zum staatlichen. Ein Teil der Erträge wird an soziale und Ükologische Projekte gespendet. Jeder Mitarbeiter sollte an einem StärkenWorkshop teilnehmen. Wir versuchen dann, die Aufgaben dementsprechend zu verteilen, erzählt Lind. In Vorstandsdialogen dßrfen Angestellte ihren Chefs die Meinung sagen. 96 Prozent der Belegschaft haben das Gefßhl, es mit ihrem Arbeitgeber gut getroffen zu haben. Nur einige, besonders konservative finden, dass Zahlen und Fakten in ihrer Bank zu kurz kommen. Auch Paul Vorsatz, Mitglied des Sparda-Aufsichtsrates, ist skeptisch. Wenn schon Gemeinwohlorientierung, so der Arbeitnehmervertreter, dann mßsse sie sich auch rechnen. Ist Ethik also nur ein Produktionsfaktor? Helmut Lind hat fßr seine Bank eine Gemeinwohlbilanz erstellt. Die Idee stammt vom Üsterreichischen Attac-Mitbegrßnder

und Sachbuchautor Christian Felber. Eine Gemeinwohlbilanz misst Grundwerte wie Solidarität, Nachhaltigkeit oder Mitbestimmung in ihren Auswirkungen auf Gruppen, die vom Handeln eines Unternehmens betroffen sind: Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Geldgeber. Gemeinwohl-Kriterien sind auch die Einkommensspreizung (hoch Bezahlte sollten nicht mehr als 15mal so viel verdienen wie gering Bezahlte) sowie Teilzeitarbeit, um mehr Mitarbeiter einstellen zu kĂśnnen. Momentan gibt es europaweit ca. 300 Unternehmen, die Felbers Ideen in die Tat umsetzen mĂśchten – Tendenz steigend. Es gibt aber auch Gegner. FĂźr GĂśtz Schlegtendal, Direktor der Kirchhoff Consult AG, ist Felbers und Linds Vorstoss ÂŤeine utopische IdeeÂť. Zum GlĂźck! Was momentan als ÂŤrealistischÂť gilt, ist nicht mehr zukunftsfähig. In seinem neusten Buch ÂŤRetten wir den EuroÂť (2012) setzt sich Christian Felber fĂźr die Tilgung der Staatsschulden Ăźber EUweite Finanztransaktions-, VermĂśgens- und Gewinnsteuern ein – eine Strategie, die die Verursacher und Profiteure der Krise in die Pflicht nehmen wĂźrde. Christian Felber: Retten wir den Euro. Deuticke 2012, 160 S., Fr. 16.90 / 10 Euro.

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vollwertig leben

Wer anderer Not lรถst, ist der Erlรถste. Lao-Tse

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vollwertig leben

DER BERG RUFT... ... die Städter kommen. Freiwillige absolvieren in ihren Ferien Einsätze in den Schweizer Bergen und helfen mit, das Überleben der Bergwelt und der Bergbauern zu sichern. Ihr Lohn: Ein gutes Gefühl, Zeit für sich und der von Sagita Lehner vielleicht schönste Arbeitsplatz der Welt.

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m 1. April 2009 ging eine Presse-Ente um die Welt: Schweiz Tourismus suchte per Inserat Felsenputzer. Vogelkot, hiess es, greife das Gestein an, so dass in drei Millionen Jahren von den Schweizer Bergen nichts mehr übrig sei. Innert 24 Stunden gingen 30 000 Bewerbungen ein. Was daran kein Scherz ist: Den Leuten liegt etwas an den Bergen und sie sind bereit, mit anzupacken. Zur Schweiz gehören einige der schönsten Kulturlandschaften Europas. Bergwiesen wie ausgerollte Perserteppiche, pittoreske Dörfer und ausgeschilderte

Wanderwege auf alle Höhen und in jeden Chrachen. Wer aber glaubt, die Natur erhalte das alles selbst, irrt. Auch wenn in den Alpen keine Felsen geputzt werden müssen – Arbeit gibt es immer. Jahr für Jahr strömen viele tausend Freiwillige in die Berge. Angelockt von den ersten warmen Sonnenstrahlen räumen sie die Spuren des vergangenen Winters beiseite, gehen im Hochsommer den Bauern beim Heuen zur Hand und sorgen dafür, dass der Wald im Wald bleibt. Drei dieser Freiwilligen erzählen über Respekt, frische Minze und gebrochene Rippen und beweisen: Arbeiten im Freien macht glücklich!

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«Abschalten, eine andere Perspektive kennenlernen und draussen Suppe essen», das zieht Megi immer wieder in den Bergwald. Ein Interesse, das sich scheinbar durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Megi jedenfalls fasziniert immer wieder, wie Hausfrauen, Studenten und Büroangestellte von 18 bis 78 während einer Woche zu einem eingespielten Team zusammenwachsen und dauerhafte Freundschaften entstehen, die halten. Das gemeinsame Interesse schweisse zusammen. «Abschalten, eine andere Perspektive kennenlernen und draussen Suppe essen», das ist es, was Megi immer wieder in den Bergwald zieht. Inzwischen hat sie an einer Ausbildungswoche für Gruppenleiter teilgenommen und führt in ein bis zwei Einsätzen pro Jahr ein Freiwilligen-Team. «Der Wald gibt dir das Gefühl klein zu sein», sinniert Megi. Ein Gefühl, das lange nachwirke. Wenn sie eins gelernt habe beim Bergwaldprojekt, dann den Respekt vor den Wäldern. Megi Conder interessiert der Schnittpunkt Mensch/Natur.

Wenn der Blinde den Lahmen trägt, kommen beide fort. Sprichwort

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SCHNITTPUNKT MENSCH UND NATUR Megi Conder (26) ist seit sechs Jahren beim BergwaldProjekt. Rigi, Trin und Jaun sind nur drei Beispiele der vielen Wälder, die sie in dieser Zeit kennengelernt hat. Immer der gleiche Ort wäre nichts für sie. Ihr erstes Projekt an der Rigi hat bei Megi trotzdem einen bleibenden Eindruck hinterlassen: die Holzhütte mit Massenlager am Rigi-Nordhang, wo die Sonne zuletzt hinkommt, um den Schnee zu schmelzen. Dort steht der Schutzwald der SBB Gotthardstrecke. «Denen liegt viel daran, dass dort nichts runterkommt», sagt Megi, die sich als Geografiestudentin für den Schnittpunkt Mensch und Natur interessiert. Zwanzig Leute waren sie damals, aufgeteilt in drei Gruppen. Megi genoss es, wenn die Projektleiterin auf dem Weg zum Einsatzort vom Bergwald erzählte und Hintergründe am lebenden Beispiel erklärte. Abwechslungsweise arbeiteten die Gruppen beim Wegbau oder schützen die jungen Bäume mit Draht vor dem Wildtierfrass. 1987, da war Megi knapp zwei Jahre alt, standen in Malans GR die ersten Freiwilligen im Wald. Damals noch unter dem Patronat von Greenpeace, wagte das Bergwaldprojekt erste Schritte. Die Präsenz des Waldsterbens und des sauren Regens in den Medien hatte die Bevölkerung für «ihre» Bergwälder sensibilisiert. Tatsächlich hat sich gerade punkto Luftverschmutzung einiges verbessert, sogar der Wald hat aufgehört zu sterben. Sorgen machen der Wissenschaft heute vor allem die Folgen der Klimaerwärmung, welche die Schutzfunktion des Bergwaldes ernsthaft bedroht. Pflege und Aufforstung bedeutet hier nicht zuletzt, den Lebens- und Erholungsraum Alpen für die Zukunft zu erhalten.

ARBEIT MIT BESONDEREM SINN Einen ähnlichen Ansatz pflegt die Stiftung UmweltEinsatz, die in Zusammenarbeit mit Pro Natura einwöchige Arbeitseinsätze anbietet. Die Freude an der Natur soll mit bodenständigem Engagement verbunden werden. Der Beweis, dass sich Arbeit und Erholung nicht ausschliessen, ist Gerhard Aeby (64). Seit über zehn Jahren nimmt er mindestens einmal pro Jahr an einer Projektwoche teil. Die leidige Diskussion über die 270 Franken, die jeder Teilnehmer selbst berappen muss, kennt Gerhard deshalb in- und auswendig. Für ihn steht fest: «Ich habe noch nie so günstig Ferien gemacht.» Wenn er schwere körperliche Arbeit verrichte, setze bei ihm die geistige Erholung ein. Wie bei den Langstreckenläufern, die mit der Zeit richtig laufsüchtig würden. Anfangs waren Gerhards Kollegen beim Tiefbauamt Zürich etwas irritiert. «Schpinnsch, jetzt gasch ä na i de Ferie ga schaffe», neckten sie ihn. Aber Gerhard liess sich nicht beirren. Hoch auf der Alp, ohne Fernsehen, Radio und Zeitung, weg vom Alltag und der hektischen Grossstadt, findet Gerhard Zeit für sich selbst – und für andere. Letztes Jahr leitete er ein Lager im Calfeisental (SG). Auf einer Alp war Entbuschen angesagt, eine Massnahme gegen die Vergandung (langsamer Prozess, der abläuft, wenn Bergwiesen nicht mehr gemäht werden). Mit Motorsäge und Astscheren rückten die Freiwilligen jungen Erlen zu Leibe. Weiden wollten eingezäunt und Wasserleitungen ausgehoben werden: Schwerstarbeit! Gerhard musste lernen, auf seinen Körper zu hören: Gesundheitliche Probleme zeigten ihm schon mehr


Der Berg ruft…

So ein Hof mit Kühen, Kaninchen und drei kleinen Kindern könnte ein ganzes Heer mit Arbeit versorgen.

Ursula Giger mit ‹ihren› Kindern.

als einmal seine Grenzen auf. Vielleicht bewundert er deshalb die Zähigkeit der Bergbevölkerung: «Als mich ein Senn bat, einen Pfosten einzuschlagen, stellte sich heraus, dass er schon die ganze Zeit mit einer gebrochenen Rippe gearbeitet hatte», erinnert sich Gerhard. Diesen Menschen unter die Arme zu greifen und gleichzeitig etwas für den Erhalt der Bergwelt zu tun, erfüllen die Arbeit auf der Alp mit einem besonderen Sinn. «Am Abend ist man kaputt, man schläft gut und es ist ruhig – manchmal fast zu ruhig.»

Es la Hora de Hacer el Bien – das ist die Stunde, Gutes zu tun. Inschrift auf einer argentinischen Turmuhr

Gerhard Aeby auf der Alp Panära im Calfeisental.

DER SCHÖNSTE ARBEITSPLATZ DER WELT Über zu viel Ruhe konnte sich Ursula Giger (41) während ihres Bergeinsatzes nicht beklagen. Sie verbrachte eine Woche bei einer kinderreichen Bergbauernfamilie im Wallis. Ursula packte überall an, wo sie gebraucht wurde – und das war an allen Ecken und Enden: Haushalt, Kinder hüten, Zäune aufstellen, Unkraut bekämpfen und mit der Schubkarre den Misthaufen hoch und runterfahren. So ein Hof mit Kühen, Kaninchen und drei kleinen Kindern könnte ein ganzes Heer mit Arbeit versorgen. Aber: «Am Abend zu sehen, was du gemacht hast, ist ein schönes Gefühl», sagt Ursula. Auf die Idee, einen Freiwilligen-Einsatz zu leisten, kam Ursula über eine Kollegin am Stadttheater Bern, wo sie als Damenschneiderin arbeitet. Sie wird auf Caritas-Bergeinsatz aufmerksam. Die Organisation bietet Städtern die Gelegenheit, ganz in die Lebenswelt der Bergbauern einzutauchen – den möglicherweise schönsten Arbeitsplatz der Welt kennenzulernen, aber auch die rauen Einflüsse der Natur und die finanziellen und personellen Engpässe. Gerade Letztere hilft Caritas-Bergeinsatz zu überbrücken: Bauernfamilien, die Unterstützung brauchen, sei es aufgrund einer Notsituation oder weil die Arbeit einfach nicht mehr zu bewältigen ist, können bei Caritas Hilfe durch Freiwillige beantragen. Die Unterländer arbeiten kostenlos und fahren nicht selten mit unbezahlbaren Erinnerungen wieder nach Hause. Unvergessen bleiben Ursula die Sommernachmittage, an denen sie zusammen mit Bäuerin Sonja und den Kindern aus frischer Minze Sirup kochte. Dass Sonja ihre Kinder ernst nahm und wo immer möglich

Hoch auf der Alp, ohne Radio, TV und Zeitung, findet Gerhard Zeit für sich – und andere.

einbezog, beeindruckte die Freiwillige. «Da hiess es nicht ‹Nein, mit dem Messer schneiden darfst du erst mit zehn›.» Ursula genoss die offene Atmosphäre in der Familie, die sie, eine Fremde, so selbstverständlich bei sich aufgenommen hatten. Auch dieses Jahr hat die Theaterangestellte sechs Wochen Sommerferien und könnte sich einen weiteren Einsatz gut vorstellen. «Bei der Familie Guntern hat mir einfach alles gefallen», schwärmt sie. Allerdings: Ihren nächsten Bergeinsatz würde Ursula gerne auf «einem richtig abgelegenen Hof» verbringen. Das sollte kein Problem sein, wenn möglich erfüllen die Organisationen solch bescheidene Wünsche gerne. Grund zur Dankbarkeit haben sie genug: Gemeinsam haben allein diese drei Freiwilligen letztes Jahr mehr als 200 Arbeitsstunden im Berggebiet geleistet. Einfach so – und weil es nichts Schöneres gibt, als den Himmel über den Gipfeln in einer sternklaren Nacht. Anbieter von Umwelt-Einsätzen: Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz (SUS), Steffisburg, Tel. 033 438 10 24, www.umwelteinsatz.ch Service Civil International: 1000 Workcamps in 60 Ländern. SCI, Pf. 7855, 3001 Bern, Tel. 031 381 46 20. www.scich.org

Caritas-Bergeinsatz, Luzern, Tel. 041 419 22 77, www.bergeinsatz.ch Bergwaldprojekt, Trin, Tel. 081 650 40 40, www.bergwaldprojekt.ch Landdienst: Agriviva, Pf. 1538, 8401 Winterthur, Tel. 052 264 00 30, www.agriviva.ch

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REISE MIT RISIKEN Der spirituelle Weg ist vielleicht kürzer geworden, aber leider nicht einfacher. Einer einzigen Lehre, dem richtigen Meister zu folgen, führt für die wenigsten Menschen zur Wahrheit. Aber deswegen zuhause bleiben? von Katharine Ceming

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rüher war bekanntlich alles besser und ging auch irgendwie leichter. Als spiritueller Sinnsucher setzte man sich vor den Tempel oder die Hütte des erwählten Meisters und wartete einige Jahre, bis der einen beachtete und als Schüler annahm. Dann liess er einen Jahre und Jahrzehnte lang die unangenehmsten Dinge tun, und ehe man es sich versah, war man alt, krank – und plötzlich erleuchtet, weil die Egostruktur auf einmal kollabiert war.

Der spirituelle Weg wurde sehr oft nur als Kampf gegen das Ego, die Triebe, den Körper etc. gesehen. Je härter und asketischer er geführt wurde, als umso erfolgsversprechender galt er. Die Seele ist das Schiff, die Vernunft das Steuer und die Wahrheit der Hafen. Aus der Türkei

RISIKEN FÜR DIE PSYCHISCHE GESUNDHEIT Dieser klassische spirituelle Weg scheint heute nur noch in den seltensten Fällen zu funktionieren und dann auch eher bei Menschen aus traditionellen spirituellen Kulturen. Für uns Westler gestaltet sich die Suche nach dem richtigen Weg immer schwieriger, weil das Angebot immer grösser wird. Die Suche nach der wahren Methode oder dem richtigen spirituellen Lehrer gleicht dem Einkauf vor einem endlosen Regal mit Marmeladen – wir müssen uns zwischen 30 verschiedenen Herstellern und 50 verschiedenen Geschmacksrichtungen entscheiden. Während aber der Griff zur falschen Marmelade keine weitreichenden Folgen hat, kann der Griff zum falschen Meister schwer auf die psychische Gesundheit schlagen. Vor allem wenn der Meister selbst zur Übergriffigkeit bei seinen Schülern und Schülerinnen oder deren Kindern neigt. Im spirituellen Bereich gilt daher die alte Devise «Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Bess’res findet!» Woher weiss ich nun aber, ob der Mensch, den ich mir zum geistigen Wegweiser auserwählt habe, oder die erwählte Methode auch wirklich zu

mir passt? Grosse Enttäuschung: Eine Garantie gibt es dafür nie! Es gibt weder einen Meister- noch Methoden-TÜV. Selbstverantwortung und eine kritische Grundhaltung, die spirituell begeisterten Menschen anscheinend schwerer fällt als dem Rest der Menschheit, sind unverzichtbar. SELBSTVERANTWORTUNG Zugegeben: Viele spirituelle Traditionen haben ein grosses Problem, wenn ihre Anhänger Selbstverantwortung übernehmen und nicht mehr bereit sind, formbar wie Wachs in den Händen des Lehrers zu sein, was ja gemäss den traditionellen Lehren das typische Schülerverhalten sein sollte. Die Bereitschaft, den eigenen Willen aufzugeben und sich der religiösen Lehre zu überlassen, wurde in der Geschichte der Spiritualität als Notwendigkeit des Ego-Transformationsprozesses angesehen. Vielleicht mag diese Methode in vergangenen Zeiten, in denen der Gedanke der Individuation eher unbekannt war, ihre Berechtigung gehabt haben, heute passt sie kaum mehr. Genauso wenig wie die Überzeugung vieler spiritueller Bewegungen «Was mich nicht umbringt, macht mich stark!» Der spirituelle Weg wurde sehr oft nur als Kampf gegen das Ego, die Triebe, den Körper etc. gesehen. Je härter und asketischer er geführt wurde, als umso erfolgsversprechender galt er. Es geht mir hier nicht darum, eine Wohlfühl- und Wellness-Spiritualität zu propagieren, doch wenn wir die Quantenphysik ernst nehmen, nach der die Wirklichkeit eins und ungeteilt ist, dann ist auch unser Körper Teil dieser Wirklichkeit. Der Kampf gegen sich und den eigenen Körper führt damit eher nicht zu einem gesunden ganzheitlichen Sein. JE NACH CHARAKTER DER RICHTIGE WEG Ob wir nun Spiritualität als Kampf mit und gegen uns oder als Weg des Zulassens auffassen, hängt natürlich massgeblich von unserer Persönlichkeitsstruktur ab. Wem Verständnis und Einsicht und Einsehen wichtig sind, wird sich vermutlich einer philosophisch ausgerichteten Spiritualität zuwenden, während

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Ich habe immer wieder betont, dass es keine Rolle spielt, aus welcher Quelle Sie das Wasser schöpfen, solange es rein ist und solange das Wasser den Durst der Menschen löscht. Krishnamurti

die Emotionaleren eher den Weg von persönlicher Hingabe und Gefühlsbetonung wählen werden. Dazu kommt die Selbstwahrnehmung. Wer vom eigenen Können überzeugt ist, wird auf dem Weg zur Erfahrung auf göttliche oder kosmische Hilfe eher verzichten, als jemand, der das eigene Scheitern immer wieder als schmerzvoll und destruktiv erfahren hat. Menschen, die sich Transzendenz personal vorstellen, werden sich einem der klassischen theistischen Systeme verbunden fühlen, während diejenigen, die das Apersonale eher anspricht, einen Weg wählen, in dem nicht die persönliche Gottesbegegnung im Mittelpunkt steht. Für welchen Weg man sich letztlich entscheidet, hängt in der Regel von der eigenen Ausgangsbasis ab. Wer sich um all diese Fragen weniger kümmert und einfach loslegt, indem er verschiedene Wege und Lehrer ausprobiert, dessen Wahl wird wahrscheinlich vom Sympathiefaktor eines Lehrers und der guten Umsetzbarkeit einer bestimmten Methode beeinflusst.

Dieses Vorgehen wird in den klassischen Lehren argwöhnisch beobachtet. Dort herrscht die Vorstellung vor, einen einmal gewählten Weg nicht mehr zu verlassen, da sich nur durch die konstante Einübung Erfolge einstellen. Sicher bedarf der spirituelle Weg einer Konstanz. Allerdings bedienen verschiedene Methoden auch unterschiedliche Bereiche des psychischen und spirituellen Erlebens und Empfindens – das nebeneinander Praktizieren von unterschiedlichen Techniken muss nicht primär schlecht sein. Entscheidend ist letztlich, sich bewusst zu machen, was man erreichen will. Geht es mir um die Erfahrung von besonderen und aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen oder darum, gelassener zu werden? Möchte ich meinen Energiekörper erfahren, oder soll mein Leben tiefer und beglückender werden? Will ich eine radikale Transformation, oder will ich Zeuge im reinen Gewahren sein? Oder will ich alles zusammen und am Schluss gar nichts mehr, weil ich nicht einmal mehr wollen will?

EINER FÜR IMMER FÜR ALLES? In der spirituellen Szene begegnet uns zudem ein relativ neues Phänomen: Menschen probieren verschiedene Methoden aus, kombinieren sie und greifen je nach Lebensphase auf die eine oder andere zurück.

Katharine Ceming (41) promovierte in Philosophie zu Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte und in Theologie zum Verhältnis von Menschenrechten und Religion. 2008 erhielt sie den Mystikpreis der Theophrastus Stiftung. Sie lebt als freie Seminarleiterin und Publizistin in Augsburg. www.quelle-des-guten-lebens.de

UHURU Jetzt alle Infos und Anmeldung unter www.uhuru.ch

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auf dem Weissenstein (SO) www.uhuru.ch 48

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KDDVJUD¿N FK

Kurse & Konzerte 29. Juli bis 4. August


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ZEITPUNKT-

Jubiläumsfest & Vernetzungstreffen Komturei Tobel, 30. Juni / 1. Juli Liebe Leserinnen und Leser Damit es gleich gesagt ist: Sie sind die Hauptsache, Sie sind der Inhalt des Gefässes, das in diesem Jahr 20 Jahre alt wird. Wir feiern nicht nur die Volljährigkeit, sondern auch einen neuen Lebensabschnitt, in dem wir der direkten Vernetzung der Leser mehr Raum geben möchten. Am Jubiläumsfest soll es neben dem Feiern viel Zeit und Raum für Austausch und Vernetzung geben. Wir wünschen uns viele Begegnungen, neue Freundschaften und vielleicht auch Initiativen – auf jeden Fall aber eine wirklich gute Zeit in der Mitte des Jahres! Wir hoffen, dass es jedes Jahr ein solches Fest gibt und wir freuen uns, wenn Sie schon beim ersten Mal dabei sind.

Programm

Die Komturei in Tobel (15 Bahnminuten von Wil/SG) ist ein ausserdentlich schöner Kraftort, verfügt aber über relativ wenig Infrastruktur. Aber: für alle Bedürfnisse wird auf relativ tiefem Komfortlevel gesorgt. Die Übernachtungsmöglichkeiten im Pilgerhaus und in den Zellen sind ausgebucht. Zur Verfügung stehen noch Gruppenschlafräume (im eigenen Schlafsack, Fr. 30.-) und ein Zeltplatz auf dem Gelände.

SAMSTAG, 30. JUNI 11.00 Begrüssung, Apéro und Führung durch das Gelände 12.00 Mittagessen 14.00 – 16.00 Workshops Block A und AB 16.30 – 17.30 Workshops Block B und AB 18.30 Nachtessen 20.00 «Festakt» 21.00 «Flashgarden», nach eigenen Angaben die beste Coverband der Schweiz 23.00 Disco

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Das Fest ist mit Ausnahme der Konsumationen und der Übernachtung kostenlos. Die einzig akzeptierte Währung ist das eigens für das Fest geschaffene Zeitpunkt-Festgeld, der «Festo». Sie können den Festo gegen Schweizer Franken erwerben und nach Abschluss des Festes eins zu eins gegen Schweizer Franken tauschen oder damit noch ein Jahr lang Zeitpunkt-Geschenkabos oder Publikationen der Edition Zeitpunkt bezahlen. Ob wir Spenden in Festo zur Deckung des Defizits brauchen, wissen wir kurz vor Ende des Festes. Die auf der gegenüberliegenden Seite aufgeklebte Einladung (nur für Abonnenten) ist gleichzeitig Festgeld im Wert von 20 Festo. Sie können den Schein für Konsumationen verwenden (oder ihn am Fest umtauschen). Die Jubiläums-«Festbank» wird für eine ordnungsgemässe Abwicklung besorgt sein. Eine Anmeldung ist erwünscht, aber nicht nötig. Für eine seriöse Planung müssen wir die Besucherzahlen einigermassen zuverlässig einschätzen können. Aktuelle Informationen über das Jubiläum finden Sie jederzeit unter www.zeitpunkt.ch/festzeit Für uns heisst es jetzt: Ärmel hochkrempeln. Und für Sie: Anmeldung im Umschlag ausfüllen und die Vorfreude geniessen. Herzlich Ihr Zeitpunkt

SONNTAG, 1. JULI 9.00 – 11.00 Jazz-Brunch 11.00 Open space 13.00 «Vollversammlung» mit Vorstellung verschiedener Initiativen, anschl. Open space und Snacks 15.00 «Aufräumspiel» und Abschluss


20 Jahre Zeitpunkt Jubiläumsfest

Block A, 14.00 bis 16.00 Uhr A1 Dr. med. Christian Larsen: Spiraldynamik® – vier Millionen Jahre Evolutionsgeschichte im Taschenformat, um nachhaltig schmerzfrei und beweglich zu bleiben Spiraldynamik ist ein anatomisch begründetes Bewegungs- und Therapiekonzept, eine Gebrauchsanweisung für den eigenen Körper von Kopf bis Fuss. www.spiraldynamik.com A2 Fred Frohofer: NeustartNachbarschaften entwickeln Wenn wir in gut vernetzten Nachbarschaften zusammen haushalten, ist eine Ressourcen schonende Lebensweise möglich, welche zudem die Lebensqualität aller erhöht. Wie das einfach zu erreichen ist, zeigt der Workshop auf. www.neustartschweiz.ch A3 Manuel Lehmann: Occupy und der Bewusstseinswandel Was treibt die Bewegung an, wie funk-

tioniert sie im Innern, wieso verzichtet sie bewusst auf konkrete Forderungen und was hat sie erreicht? Wie spielt sich der aktuelle Wandel ab und welche Rolle spielen Zivilgesellschaft und Protestbewegungen? www.spenglerei-winterthur.ch A4 Carmen Zanella: Gandhis Philosophie – aktuell wie nie Erfahren Sie, wie Gandhis zeitlose Prinzipien der Gewaltlosigkeit in unser Alltagsleben integriert werden können. A5 Hermann Taschler: Die Probleme des menschlichen Lebens Der Ursprung sämtlicher Schwierigkeiten des menschlichen Lebens (Beziehungsprobleme, Ängste, Leid, Konflikte, Krankheit, Beruf usw.) www.seidasdubist.ch A6 Ursula Glaus: Meditation des Tanzes – Sacred Dance Wir tanzen im Kreis nach Choreogra-

phien von Friedel Kloke-Eibl. Es sind fröhlich heitere und ruhig besinnliche Tänze nach klassischer Musik. Dazu gehören auch Folklore-Tänze aus dem Balkan. A7 Susanne Tobler: Schule als Ort der Musse – Einblick in eine mögliche Form einer Schule der Zukunft Das Zusammenleben mit Kindern an der Monterana Schule in Degersheim dreht sich um die eine Frage: Was brauchen Kinder von uns Erwachsenen, wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind von Grund auf alles mitbringt, um von sich aus ganz Mensch zu werden? Erfahrungen aus 18 Jahren bunter Lebendigkeit. www.monterana.ch A8 Remy Holenstein: Sanfte Politik Seit Jahrzehnten bin ich politisch aktiv und dabei zur Einsicht gelangt, dass die

heutigen Probleme mit konventionellen Methoden allein nicht gelöst werden können. Eine sanfte Politik empfehle ich, weil sich gezeigt hat, dass harte Politik die Lage stets nur verschlimmert. www.integrale-politik.ch A9 Brunhild Hofmann: SelbstVertrauen und leichtere Entscheidungen mit dem SelbstMuskeltest Der Muskeltest verbindet uns mit dem Körperwissen. Verschiedene Selbstmuskeltests zum Ausprobieren und Anwenden. www.energyfocus.de A10 Christine Krämer: Entscheidungen treffen im Konsent Der Workshop gibt Einblick in die Soziokratie, die Grundlage des «Entscheidens im Konsent». Der Kern bildet das «Konsentspiel», eine Möglichkeit, das Entscheiden im Konsent zu erfahren und zu verstehen. www.kraemer-beratung.ch

A11 Markus Höning: Nein, so einfach ist es (nicht)! Wie ist es möglich, dass einleuchtende politische, soziale und ökonomische Zukunftskonzepte seit so langer Zeit auf so wenig fruchtbaren Boden fallen. Der Workshop konzentriert sich auf die einfache Frage: Wie wäre es, wenn das Verhältnis jedes Menschen zu sich selbst die Grundlage aller anderen Verhältnisse wäre, also der Beziehungen und des Tätigseins mit Menschen, Natur und Welt? A12 Ursula Dold: Mit Talent zahlen ohne Geld Wie man mit Talent zahlt und warum das nützlich und sinnvoll ist. Dazu geht es um die Frage, weshalb unser jetziges Geldsystem nicht zukunfstfähig ist. www.talent.ch

Block B, 16.30 bis 17.30 Uhr B1 Anita Diehl: Festhalten und Loslassen Wir arbeiten und spielen zu Musik mit einem grossen, bunten, gut fliegenden Schleier, mal unter Anleitung, mal improvisierend, abwechselnd mit Entspannungsübungen. Mitnehmen: Grosses Tuch min. 2.50 × 1 m, sollte gut fliegen und Decke zum draufliegen. Dieser Workshop ist für Erwachsene. www.bewegungshaus-vorstadt.ch

B2 Yvonne Büchi: Klangmeditation Durch die Schwingungen der Klänge Entspannung, Ruhe und Frieden mit sich selbst erleben. Energien fliessen wieder freier. www.klanghus-insel.ch

B4 Sandra Unternährer und Richard Holdener: Lachyoga Lachyoga trägt zum Stressabbau bei, bringt Entspannung, weckt Lebensfreude und Kreativität & macht erst noch Spass! www.LebeninBewegung.ch

B5 Lucas Huber: Neue Komplementärwährungsplattform CC-HUB Die Softwareplattform Complementary-Currency-Hub ermöglicht auf Basis von bestehender Software (Cyclos) den einfachen Austausch zwischen verschiedenen ZeittauschSystemen. www.cc-hub.org

B6 Christine Dettli: In der Stille der Wüste Diavortrag von traumhaften Wüstenlandschaften und vom ursprünglichen Leben der Nomaden in Südmarokko. www.pilgerwege.org

AB3 Maria Dunst: Clownworkshop: Ich bin komisch! Mit gezielten Körperübungen und einfachen Techniken entdecken wir den Clown in uns. Auf der Suche nach unseren witzigen Seiten trainieren wir die Bauchmuskeln und präparieren die Lachfalten. www.humorvisite.ch

AB4 Uwe Burka: Ökosiedlungen und Dorforganismen Herausforderung Gemeinschaftsgründung – von kleinen Arbeitsgruppen bis zur Verwirklichung von Ökosiedlungen und «Dorforganismen»

AB5 Cornelia Corridori: Wasser für persönliche Heilzwecke informieren Im Kontakt mit unserem inneren Heiler haben wir die Fähigkeit, Wasser so zu informieren, dass es körperliche Beschwerden erleichtern oder sogar heilen kann. www.bewusstseinsentwicklung.ch

B3 Klaus Dettwyler: Volkstanz Internationale Volkstänze für An- und BefängerInnen.

Block AB, 14.00 bis 17.00 Uhr AB1 Petra Neisse: Was Sortieren, Ordnen und Klären bewirken können Ein anderer Blickwinkel auf Haushalt, Wohnung, Bewohner und das Leben. Mit Humor und Ernst, interessanten kleinen Übungen, Bewegung und Freude.

AB2 Cornelia Fürstenberger: Mit Leichtigkeit und Freude zu innerer Balance Eine spielerische Erfahrung, wie die innere Gestimmtheit durch Stimme und Körper ihren Ausdruck findet. Spannungen lösen sich und Lebendigkeit breitet sich aus. www.koerperpsychotherapie-cf.de

Bitte melden Sie sich mit der Antwortkarte im Umschlag für die Workshops Ihrer Wahl an. Mit der Anmeldung sichern Sie sich einen Platz. Je nach Zahl freier Plätze sind Umbuchungen vor Ort noch möglich.

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Frankoskop

FRANKOSKOP Über sympathischen Individualismus

Tout va très bien, alles läuft bestens! Vielleicht löst dieser Satz bei Ihnen Erinnerungen an ein weltbekanntes französisches Lied aus: «Tout va très bien, Madame la Marquise!» Man schrieb das Jahr 1935. Die Weltwirtschaftskrise dauerte schon sechs Jahre an. Ein Ende war nicht abzusehen. Man spürte, dass Europa sich auf einen zweiten grossen Krieg zu bewegte. Da schrieb Paul Misraki sein Lied, das in der Interpretation von Ray Ventura zu einem Welterfolg wurde. Wovon handelt das Lied? Eine reiche adlige Dame weilt in den Ferien und erkundigt sich telefonisch bei ihrem Personal über die Situation zu Hause in ihrem Schloss. – Was gibt es Neues, James? – Alles läuft bestens, Madame. Nur ist leider die graue Stute gestorben. – Mein Pferd tot? Wie hat das geschehen können? – Oh, ganz einfach! Es ist bei einem Brand umgekommen, der den Pferdestall zerstörte. Aber sonst läuft alles bestens! – Was muss ich hören? Der Pferdestall abgebrannt? – Ach, das erklärt sich leicht! Als ein Feuer Ihr Schloss zerstörte, brannte eben auch der Pferdestall ab. Aber sonst läuft alles bestens! – Mein Gott! Das Schloss vom Feuer zerstört! Warum denn? – Ach, wissen Sie! Als Ihr Gatte erfuhr, dass er ruiniert war und sich deswegen das Leben nahm, riss er leider beim Umfallen alle brennenden Kerzen mit sich und setzte so das Schloss in Brand. Aber sonst läuft alles bestens! Die altmodische Melodie und der scheppernde Ton der Aufnahme von 1935 können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lied heute wieder eine beklemmende Aktualität hat. Nachzuhören auf http:// tinyurl.com/alleslaeuftbestens. *** Was kommt nach dem Neoliberalismus? Worauf können wir hoffen? Dürfen wir überhaupt noch hoffen, wenn neoliberale Meisterdenker die ganze Menschheit zum Egoismus verpflichten wollen? Der französische Philosoph Dany-Robert Dufour gibt da-

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von Ernst Schmitter

rauf in seinem neuen Buch «L‘individu qui vient» (das kommende Individuum) seine persönliche Antwort. Er setzt seine Hoffnung auf die «Néorésistants», die neuen Widerständigen. Was muss man sich darunter vorstellen? Um die Frage zu beantworten, muss ich ein wenig ausholen. Dufour zeigt auf, wie der Liberalismus und sein böses Kind, der Neoliberalismus, den Egoismus der Menschen als zentralen Motor unseres Wirtschaftens entdeckt haben. Die Grundformel lautet: Je eigennütziger ich handle, desto mehr trage ich zum allgemeinen Wohlstand bei. Dieser Glaubenssatz liegt der Wirtschaft seit Jahrhunderten zugrunde. Aber nicht nur das! Er ist für viele zum Motto für ihre Lebensgestaltung geworden: «Das Leben dient ausschliesslich meinem Lustgewinn, und das ist gut so!» Man müsste beifügen, dass dieses Motto uns ins Chaos geführt hat, das wir alle kennen. Was ist zu tun? Für Dufour ist die Antwort klar: Widerstand leisten! Und er stellt dem neoliberal formatierten Egoisten das Bild eines Menschen gegenüber, der fähig ist zum Widerstand. Dufour spricht von sympathischem Individualismus. Der sympathische Individualist orientiert sich in seinem Handeln an Kants kategorischem Imperativ. Dieser besagt, dass wir uns selbst und die anderen nicht als Mittel zur Verwirklichung unserer Ziele behandeln sollen. Eine solche Ethik muss Folgen haben. Dufour fasst diese Folgen am Schluss seines Buchs in Form von dreissig Vorschlägen zur praktischen Umsetzung des sympathischen Individualismus zusammen. Ein Beispiel: Sympathische Individualisten, sagt Dufour, haben sich vom Wachstumsglauben verabschiedet, weil dieser für die Menschheit eine tödliche Gefahr darstellt. Sie arbeiten an der Gestaltung einer Gesellschaft ohne Wachstumszwang. Dany-Robert Dufour, L‘individu qui vient, éditions Denoël, Paris 2011. Für die Lektüre sind gute Französischkenntnisse erforderlich. ***


Frankoskop

Un beau départ – viel besser als Martial Leiter hätte man den Start der Europäischen Gemeinschaft 1991 nicht illustrieren können. Zu sehen sind Martial Leiters Arbeiten noch bis 17. Juni im Cartoonmuseum Basel.

Und plötzlich begegnet man auf Schritt und Tritt sympathischen Individualisten. Erinnern Sie sich an Martial Leiter, den Zeichner aus Fleurier (NE) mit den feinen Rasterstrukturen? Lange publizierte der heute 60-Jährige seine Cartoons in international bekannten Zeitungen wie «Le Monde»: Dort sind sie heute kaum mehr zu finden. Aus Kostengründen, so ist zu vernehmen. Vielleicht gibt’s noch eine andere Erklärung. Leiters Zeichnungen beschönigen nichts und passen schlecht in Zeitungen, die manchmal schwer erträgliche Tatsachen gefiltert wiedergeben, um sie erträglicher zu machen. Das tun heute viele Zeitungen. Die Leserzahlen würden sonst sinken. Das hätte Folgen für die Werbeeinnahmen. Das wiederum könnte die Existenz der Zeitung gefährden. Zumeist bezeichnen sich solche Medien als unabhängig ... Wer sich Leiters eindringliche Cartoons «zumuten» will, hat jetzt dennoch Gelegenheit dazu. Das Cartoonmuseum Basel zeigt bis zum 17. Juni eine Werkschau von Leiter. www.cartoonmuseum.ch *** Eine Lebensgeschichte, spannend wie ein Roman, und wahr. Ein junger Jude, Adolfo Kaminsky, versteckt sich mitten im von den Deutschen besetzten Paris und stellt in seinem Labor falsche Papiere her. Er arbeitet wie besessen und rettet Tausende von Menschenleben. «Wach bleiben», sagt er sich, «so lange wie möglich. Die Müdigkeit niederringen. Die Rechnung ist einfach: In einer Stunde kann ich 30 falsche Ausweise herstellen. Wenn ich eine Stunde schlafe, sterben 30 Menschen.» Nach dem Krieg kann er mit dieser Arbeit nicht aufhören. Zu viele Menschen auf der ganzen Welt sind in Gefahr, wenn er ihnen nicht hilft. Er verdient kein Geld mit dieser Arbeit. Sein Gewissen verbietet ihm das. Was er zum Leben braucht, verdient er sich als Fotograf. 29 Jahre verbringt er damit, als Fälscher Leben zu retten. Eines Tages, als nunmehr 46-Jähriger, realisiert er, dass er

jetzt selbst in Gefahr ist. Er gibt seine Fälscherexistenz auf, reist nach Algerien, heiratet und wird ein glücklicher Familienvater. Später erzählt er seiner Tochter sein Fälscherleben. Daraus wird ein Buch, das 2011 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sarah Kaminsky, Adolfo Kaminsky, ein Fälscherleben, Kunstmann-Verlag, München 2011. *** Die junge Frau hat eine Stimme wie Barbara. Aber wer ist Barbara? Vielleicht haben Sie dank Ihres Jahrgangs «schon ein wenig den Überblick» und erinnern sich noch an die berührenden, poetischen Chansons von Barbara, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren Erfolg hatten. Die jüdische Sängerin Monique Andrée Serf (1930-1997) hatte sich als Kind mit ihren Angehörigen im besetzten Frankreich verstecken müssen. 1964 schrieb und sang sie bei einem Gastspiel in Göttingen ihr Chanson über Versöhnung. Es trägt den Titel «Göttingen». Nachzuhören auf http://tinyurl.com/harmonisch. Aber ich wollte von der Sängerin schreiben, deren Stimme an Barbara erinnert. Sie heisst Fleur. Das ist ihr wirklicher Vorname, nicht ein Pseudonym. Sie ist 37-jährig, wohnt in Paris. Sie nennt sich «La Parisienne libérée» und singt politische Lieder. Zum Beispiel «Le maïs OGM est bon pour la santé» (Gentechmais ist gesund).

Sie schafft es, brisante aktuelle Inhalte in eine leicht nostalgische Form zu verpacken. Alle ihre Lieder sind kostenlos verfügbar auf ihrer Website www.laparisienneliberee.com. Eine Entdeckung! Wer immer im Mai Frankreichs neuer Präsident wird, die Parisienne libérée wird viel zu singen haben.

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Horizonte erweitern

Agenda 2. bis 5. Mai

Schaffhauser Jazzfestival www.jazzfestival.ch

18. bis 20. Mai

34. Solothurner Literaturtage Programm und Infos auf www.literatur.ch

23. Mai

Grüne Ökonomie

- Chancen und Risiken für die Landwirtschaft Podiumsveranstaltung «Rio+20» mit Peter Bieler, Christine Bühler, Hans R. Herren u.a. Auditorium Maximum, ETH Zürich, 15.30 bis 19.15 Uhr. www.biovision.ch/eth-podium

5. Juni

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22. bis 24. Juni

Filme für die Erde Festival 2012 Filme für die Erde Festival Steinberggasse 54 8400 Winterthur Tel. 052 202 25 53 www.filmefuerdieerde.ch

Bio Marché

Auf zum Geniesser- und Erlebnisfestival

www.biomarche.ch

Schaffhausen steht vier Tage lang ganz im Zeichen von Jazz: Zum 23. Mal findet das Jazzfestival bereits statt. Wieder wird ein breiter Querschnitt durch die hiesige Szene präsentiert, Trends werden aufgezeigt und Newcomer erhalten einen prominenten Platz. Die Grenzen zwischen Jazz und klassischer Musik sind schon seit längerem durchlässig. Ganz in diesem Kontext steht denn auch die

Eröffnung des Festivals, welche im Stadttheater stattfindet. Bereits zum 2. Mal ist der Westdeutsche Rundfunk WDR3 zu Gast in Schaffhausen und sendet zusammen mit DRS 2 am Freitag live aus der Kammgarn. Vom 3. bis 5. Mai von 17 bis 19 Uhr finden zudem die Schaffhauser Jazzgespräche im Haberhaus Kulturklub statt, der Eintritt ist frei.

Wie küsst die Muse heute? Woher kommt die Inspiration? Diese Fragen sind der rote Faden durch die 80 Veranstaltungen der diesjährigen Solothurner Literaturtage. Auch Autoren aus dem Nahen Osten werden nach ihren Lesungen in einer table-ronde darüber diskutieren. Helon Habila wird aus «Oil on Water» lesen – der Roman erscheint in Deutsch just auf die Literaturtage hin. Der Büchner-Preisträger F. C. Delius stellt «Als die Bücher noch geholfen haben» vor, Josef Bierbichler seine Familiensaga «Mittelreich».

Franz Hohler wird erstmals aus «Spaziergänge» lesen – und für die Kinder Gedichte. E. Y. Meyer liest aus dem im Herbst erscheinenden Roman «Wandlung». Bekannte Autoren wie Lukas Hartmann, Charles Lewinsky und Margrit Schriber lesen im Wechselspiel mit Neulingen wie Thomas Meyer oder Ursula Timea Rossel. Peter von Matt feiert seinen 75. Geburtstag – in einem Gespräch mit Roger de Weck am Sonntagnachmittag.

Was heisst Green Economy? Welche Rolle spielt dabei die Landwirtschaft? Wie und warum soll die Rio-Konferenz den Umschwung in der globalen Landwirtschaftspolitik bewirken? Im Hinblick auf die UN-Konferenz zu Nachhaltiger Entwicklung Rio+20 im Juni laden Biovision, das Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern und Swissaid zu einer Podiumsveranstaltung an der ETH Zürich ein.

Die Veranstaltung richtet sich an Fachpersonen aus Verwaltung, Forschung, Entwicklungs-, Umwelt- und Bauernorganisationen, an Medienvertreter und Politikerinnen, Studierende, Bäuerinnen und Bauern und die interessierte Öffentlichkeit.

Am 5. Juni ist UNO-Weltumwelt-Tag. «Filme für die Erde» führt aus diesem Anlass zum zweiten Mal an 14 Orten in der Deutschschweiz ein Festival mit synchronem Programm durch. Das Thema des diesjährigen Festivals ist «Ressource Mensch». Es soll gezeigt werden, dass unser Mut und unsere Integrität die wichtigsten Ressourcen sind. Tagsüber ist das Festival ganz in den Händen von Schülern. Für sie gibt es kostenlose Angebote in Form von Schulkinos.

Am Abend folgen Kurzfilm-Wettbewerbe, es gibt Ausstellungen zum Thema, Interviews und den Hauptfilm «Taking Root» zu Ehren des Lebenswerks der Friedensnobelpreisträgerin Wangari Mathaai. Erwartet werden rund 1800 Schüler und 2200 Besucher am Abend. Wie immer bei «Filme für die Erde» werden Tausende von DVDs verschenkt, die von Freund zu Freund weitergegeben und so bis zu 40 000 weitere Menschen erreichen. Ein Besuch des Festivals lohnt sich auf jeden Fall.

Der Bio Marché ist die grösste Bio-Messe der Schweiz und eine bunte Wundertüte mit Bio-Köstlichkeiten, Neuheiten, Spezialitäten, Düften, Musik, Attraktionen und Genuss. Die rund 150 Aussteller aus dem In- und Ausland präsentieren ihre Waren an liebevoll dekorierten traditionellen Marktständen in den Gassen der Altstadt von der Zofinger (AG). Dies ermöglicht zwanglose und inspirierende Begegnungen. Viele Produzenten stehen persönlich hinter ihrem Marktstand.

Die Besucher können so das Gesicht hinter einem Bio-Produkt kennenlernen und erfahren Spannendes und Wissenswertes aus erster Hand. Das Angebot reicht von Grundnahrungsmitteln bis hin zu Möbeln und Baustoffen. Der Bio Marché ist aber nicht nur eine Verkaufsmesse, sondern auch ein riesiges Geniesser- und Erlebnisfestival mit vielen Events für Gross und Klein. Dank der Hauptsponsorin Migros ist der Eintritt zum Bio Marché kostenlos!

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Leserbriefe

LESERBRIEFE@ZEITPUNKT.CH FREIHEIT BLEIBT UNANGETASTET Im Zweifel für die Freiheit, ZP 118 Roland Rottenfusser hat einen nachdenklichen, ausgewogenen, faszinierenden und daher ausgezeichneten Beitrag zur Diskussion über die Existenz eines freien Willens geliefert. Er zeigt mit Recht die Grenze der klassischen Physik, vor der viele Naturwissenschaftler noch immer ratlos stehen, andererseits liefert Rottenfusser auch einen indirekten Beweis für die Existenz eines freien Willens. Wir wissen nämlich inzwischen, dass der Informationsfluss im Körper auf dreifache Art mit zunehmender Geschwindigkeit stattfinden kann: durch relativ langsame chemische Botenstoffe, durch Biophotonen in Lichtgeschwindigkeit und durch augenblickliche Quantenübertragung ohne Zeitverzögerung. Wir wissen ebenfalls, dass die Informationsübertragung im unbewussten Bereich wesentlich schneller als im bewussten Bereich geschieht (daher reagieren unsere Instinkte – zu unserem Schutz – schneller als unsere bewusste Wahrnehmung). Eine Information des Willens, woher sie auch entstammt, würde sich also in den Hirnregionen des Unbewussten (z.B. im limbischen System) schneller zeigen als in den Regionen des Bewusstseins (Neocortex). Die Quelle in beiden Fällen wäre die gleiche, nur ihre Wirkung wäre in dem einen Fall zeitverzögert. Unsere Freiheit bleibt unangetastet! Michel Mortier, Zug BRINGT WÄRME!

ES MANGELT AN ZEIT.PUNKT Ende Jahr habe ich den letzten Zeitpunkt bekommen und Sie fragten mich, wie der Zeitpunkt sein müsste, dass ich ihn wieder abonnieren würde. Meine Antwort ist: GENAU SO, WIE ER IST. Wenn Sie mich gefragt hätten, wie ich sein müsste, damit ich den Zeitpunkt wieder abonnieren würde, wäre die Frage stimmiger gewesen. Es liegt nämlich an mir und meinem Zeitmanagement. Und so eine Zeitschrift wie Ihre will ich nicht ungelesen ins Altpapier wandern lassen… D.E. ENTLARVUNG DER RAUBKULTUR Die Illusion des Geldes, ZP 116 Schön, dass es euch gibt, dass ihr den Mut und den Willen und die Zeit dafür aufbringt, für ein «gerechtes Geld» unterwegs zu sein. Es ist – vom richtigen Leben aus betrachtet – nötig, das herrschende und lebensfremde Feudalgesetz der Raubkultur zu entlarven und zu korrigieren, auf dass die Beraubung, die Betrügerei und die Zerstörung von Leben, Lebensraum und Lebewesen (auch menschlicher Art) wieder rückgängig gemacht und der Grundstein für ein lebenswürdiges Verhalten, für eine lebensdienliche Orientierung gelegt werden kann. Felix J. Kammerer J., Zürich

Massenmedien sind für die Masse,

Selbermachen! ZP 118 Ja, das bringt wieder Wärme ins (Er-)Leben. Ein tolles Heft — danke! Philippe Barbier, Castagnola

Lesen Sie: durchschaut ! www.glaskugel-gesellschaft.ch

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… der Zeitpunkt ist für Dich!

ZUM 20-JÄHRIGEN GEBURTSTAG DES ZEITPUNKT Die Zeit macht sich beharrlich wenig aus dem Punkt, fliegt leichtfüssig über alles hinweg, räsoniert kaum, bleibt aber offen für alles Neue, das ja kommen mag. Der Punkt hingegen braucht Zeit zum Innehalten, Hinschauen, Überlegen. Er registriert feinsinnig, hinterfragt, forscht nach, wühlt auf, stellt sich quer… das ist sein Anliegen. Der Zeitpunkt vereint beides. Er hat 20 Jahre lang durchgehalten, ist immer mal wieder unbequem in der Landschaft gestanden und gleichzeitig hat er frischen Wind in die Stuben geweht. So ist es Zeit, den 20-jährigen Geburtstag des Zeitpunkts gemeinsam zu feiern! Ganz herzliche Gratulation und ich freue mich auf weitere innovative und kreative Zeitpunkt-Impulse! Silja Coutsicos, Schönenwerd FEMINISMUS HAT NICHT AUSGEDIENT Das unbeliebte F-Wort, ZP 118 Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen über das Image des Feminismus. Es war noch nie gut und muss es auch nicht unbedingt sein. Ich als alte Feministin vertrete den Standpunkt: Solange Menschenrechte nicht auch überall Frauenrechte sind, hat


Leserbriefe

der Feminismus noch lange nicht ausgedient. Solange Prostitution akzeptiert wird, Vergewaltigung ein Delikt ist, dass selten geahndet wird, solange muss auch der Feminismus ein Thema sein. Ein unbequemes zwar, aber ein Thema. Auf einem Aufkleber ist zu lesen: Steh auf Genossin, wehr dich gegen Sexismus, Unterdrückung, Ausbeutung! Mir gefallen die jungen Feministinnen. Sie sind (natürlich nicht alle) radikal, kompromisslos und auch freier als noch viele meiner Generation. Darum: Steht auf, Frauen dieser Welt — zusammen sind wir stark! Und es gibt noch viel zu tun. Fangen wir an — heute! Suzanne Lehner JEDER TAG, an dem wieder ein neuer Zeitpunkt im Briefkasten liegt, ist ein besonders glücklicher Tag! K.L., B.

Gehe einmal im Leben zu weit: Rüttihubelbad! Programmauszug: (weiteres unter www.ruettihubelbad.ch) 26. bis 28. Mai Pfingsttagung Erfahrungen an der Schwelle. Mit Thomas Meyer 2. bis 3. Juni Kaspar Hauser. Mit Marcus Schneider 21. und 22. September Kaspar Hauser das Kind Europas Mit Peter Selg 28. bis 30. September Wandlung von Erde und Menschheit Mit Marko Pogacnik

GELDSCHÖPFUNG IST DIE GRUNDLAGE HEUTIGER MACHTVERHÄLTNISSE Die Illusion des Geldes, ZP 116 Sie beschreiben darin sehr zutreffend wie das heutige System eigentlich einem Schneeball-System gleicht. Im Grunde genommen ist heute kein Bewusstsein vorhanden, an was man das Geld wertemässig binden müsste, damit es sich nicht von der Realwirtschaft verselbständigen kann und die ganze Finanzwirtschaft obsolet würde. Die heutige Art der Geldschöpfung aus dem «Nichts» ist letztlich auch die Grundlage heutiger Machtverhältnisse, woran man wohl auch nichts ändern möchte. Es genügt heute wohl nicht mehr, nur einzelne «Reparaturen» am bestehenden System vornehmen zu wollen. Es braucht letztlich einen Systemwechsel, wobei die Geldfrage nur ein Teil des Gesamtproblems darstellt. Andreas Flörsheimer, Dornach

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14. bis 16. Dezember Symbolik und Bedeutung des Maya-Kalenders Mit Marcus Schneider 26. bis 30. Dezember

10. Rüttihubeliade, das Internationale Musikfestival Das Sensorium ist das Schweizer Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne. Im Hotel und Restaurant pflegen wir den guten Geschmack. Unsere Veranstaltungen verstehen wir als Freie Universität von Denken, Fühlen, Wollen Beachten Sie auch die neuen Stationen im Sensorium rund um das Oloid; das Labyrinth; die Umkippende Perspektive; die Windharfe; die bessere Hälfte und einiges mehr. (www.sensorium.ch)

+ 41 31 700 81 81 www.ruettihubelbad.ch

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6. und 7. Oktober Rüttihubel- Märchentage

www.einfachfrei.info

VISION EINER NEUEN ORDNUNG Auf der Suche nach einem lebensfreundlichen zukunftsfähigen Wirtschaftssystem: Anstelle von mehr Rohstoffe verbrauchen als vorhanden oder nachwachsen, werden alle Aufgaben des Staates inklusive Versicherungen mit einer Rohstoffsteuer finanziert. Ausgenommen von dieser Steuer ist das Trinkwasser und der Boden, der selber bewohnt und bewirtschaftet wird. Wer keine bezahlte Arbeit findet, aber gesund ist, erhält eine existenzsichernde Rente, mit der Auflage, Zivildienst zu leisten. Diese gemeinnützige Arbeit wäre vielseitig, z.B. auch in der Landwirtschaft. Dieser Dienst von 20 bis 25 Stunden pro Woche gibt den Arbeitslosen eine sinnvolle Aufgabe, eine Struktur und gleichzeitig Freizeit für Weiterbildung, Sport und Hobbies. Monokulturen werden regeneriert. Zugelassen wird nur noch tiergerechte Haltung der Nutztiere. Wissenschaft und Forschung sind noch mehr gefordert als bisher, Biodiversität zu schützen und zu fördern. Risikoreiche Eingriffe und Veränderungen in der Natur, die nicht rückgängig gemacht werden können, sind tabu. Dafür werden vorhandene Gefahren, wie z.B. Minenfelder, Waffenarsenale, diverse chemische und andere Verschmutzungen unschädlich gemacht, auch mit Hilfe des Zivildienstes. Neue, lebensfreundliche Technologien werden kreiert. Arbeitsplätze zu schaffen mit Mehrverbrauch von Ressourcen, ist nicht mehr nötig, denn die vielen Arbeitslosen haben ein gesichertes Einkommen, eine sinnvolle Arbeit und Zeit für eigene Kreativität. Diese Ordnung würde mehr Probleme beseitigen als das oft diskutierte «bedingungslose Grundeinkommen». Margaretha Vögeli, Zollikerberg

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Der u n k t Zeitp e t s h äc

n. e sr e i s e e Reis Leben rosse, lang e g Um eg ist ein ch aussen. ge eben a L n ei n ei s d e a i n D w u n n kt ei se inne e it pu n n u ns R Z n ac h e n t e s m äc h ltige kom Der n vielf ä . r r kehr t o e v s e ben ht e . n di nes Le Weg weiser eschic G e r ih ei se en r z ä h lt e r L e b e n s r e folg t d d n u n Ih r n Sie Reisen uns vo n, schreibe e i S n e t n Wen öch Ma i a len m M it t e s i h er zä h b c . e t t it nk u ns b z e it pu tion@ k a d e r Zeitpunkt 119

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Brennende Bärte

Naher Osten, Frieden weit

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ährend im Heft die wachsenden Wälder gepflegt werden, wird hier auf der letzten Seite vor den krachenden Bäumen gewarnt. Erinnern Sie sich an die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein? Sie führten zu einem Krieg mit Hunderttausenden von Toten und mehreren Billionen Dollar Kosten (von den Dollar-Besitzern in aller Welt durch 20-prozentigen Wertverlust innerhalb eines Jahres wesentlich mitfinanziert). Am Ende mussten die USA zugeben: Der Kriegsgrund, die Massenvernichtungswaffen, hatten gar nicht existiert. Aber das Ziel war erreicht, das irakische Öl gesichert.

Motto: Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen. Lichtenberg

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Erinnert dieses Szenario nicht an die laufende Kampagne gegen den Iran, der sich zudem wie Saddam Hussein und Ghadaffi erdreistet, sein Öl nicht gegen Dollar, sondern gegen Euro zu verkaufen. Nur, der Iran ist eine alte Kulturnation, die sich nicht einfach wegschiessen lässt wie der Irak, ein britisches Reissbrettprodukt nach dem Fall des osmanischen Reiches. Wer den Iran angreifen will, muss seine Kräfte bündeln. Wie praktisch, dass Libyen gefallen und Ägypten nach der Revolution faktisch handlungsunfähig ist. Bleibt noch Syrien, der einzige arabische Staat, der sich vom Westen nicht vereinnahmen liess, beharrlich die Wiederherstellung der Grenzen von 1967 fordert und an dessen Spitze mit Bashar al-Assad der populärste Herrscher der arabischen Welt steht. Solange Assad an der Macht ist, bleibt der bereits geübte israelische Erstschlag gegen den Iran ein unkalkulierbares Risiko. Ich habe Syrien vor zwei Jahren während dreier Wochen bereist, als Tourist, aber mit intensivem politischem Interesse. Ich habe mit Dutzenden von Menschen aller Schichten gesprochen und festgestellt: Assad wird verehrt, die Korruption der Clique seines Vaters zugeschrieben. Das isolierte Land mit seiner uralten multireligiösen Tradition ist zwar arm, aber friedlich und sicher. Das sicherste Land, das ich je bereiste. Mit dieser persönlichen Erfahrung konnte ich den gewaltsamen Volksaufstand der letzten Monate einfach nicht verstehen. Da besuchte mich im Februar Freedom Ezabel, der von alternativen Radiostationen als verfolgter syrischer Schriftsteller interviewt worden Zu meiner Überraschung bestätigte er meine Zweifel und setzte noch eins drauf: Es würden auch gezielt falsche Informationen verbreitet, zum Beispiel über eine Beschiessung seines eigenen Wohnorts, von der er nicht das Geringste mitbekommen hätte.

von Christoph Pfluger

Wer Hintergrundinformationen über Syrien sucht, ist mit dem französischen réseau voltaire gut bedient, wenn seine Website www.voltairenet.org nicht gerade gehackt wird. Frankreich, als letzte Besatzungsmacht, ist besonders eng mit dem Aufstand verbunden und hat als erstes Land (nach Libyen) den syrischen Nationalrat der Opposition anerkannt. 19 französische Armeeangehörige mit NATO-Kommunikationsanlagen sind in Syrien bereits verhaftet worden, darunter ein hoher Informationsoffizier. Was haben diese Leute dort zu suchen? Und wie gelangten die Rebellen in den Besitz der teuren Panzerabwehrraketen, mit denen sie der syrischen Armee den Granatbeschuss der besetzten Gebiete aufzwangen? Und womit bezahlen tausende von islamistischen Kämpfern die Hotels in Jordanien und in der Südtürkei, in denen sie auf ihren Einsatz in Syrien warten? Die Massenmedien beantworten diese Fragen natürlich nicht, sondern bombardieren uns mit ungesicherten Parteiinformationen und regelrechter Propaganda. So zeigte das ZDF im November einen Film, in dem Soldaten Zivilisten brutal verprügelten, angeblich aus Syrien. Das Video wurde aber 2007 aus dem Irak hochgeladen! Zu finden ist die Geschichte auf youtube mit dem Suchbegriff «Syrien: ZDF verfälscht Videos!» Zur Zeit sieht es nicht nach einem Fall Assads aus, das islamische Emirat Baba Amr in einem Stadtteil von Homs ist aufgelöst. Das verändert die strategische Lage für den gewollten Krieg gegen den Iran erheblich. Es droht ein Mehrfrontenkrieg, den sich die US-israelische Allianz gründlich überlegen wird. Dies ist ein günstiger Moment für die Friedensbewegung – wenn sie denn erkennt, dass hinter vielen Menschenrechtsgruppen geheimdienstliche Absichten und Mittel stehen. Am iranischen Nationalfeiertag war ich zu einem Empfang in der Residenz des Botschafters geladen. Es ergab sich ein einigermassen politisch unkorrektes Gespräch mit einem ehemaligen Nationalrat und einem prominenten Friedensforscher über den Propagandakrieg im Nahen Osten. Da sagt der Friedensforscher: «Ist es nicht interessant, dass wir uns exterritorial treffen, um uns offen über den Frieden auf der Welt zu unterhalten.» Was tun? Informieren Sie sich auf alternativen Kanälen und werden Sie politisch unkorrekt. Wahrer leben kann auch Spass machen.


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