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REVISITED S
GEBOREN 1986 IN HAMM. Jugend in NRW und Spanien. Studium der Philosophie in Münster bis 2010. Danach Berlin. Ab 2008 Veröffentlichung von Gedichten in Zeitschriften und Anthologien. Im November 2013 erscheint der Gedichtband Elektrosmog bei Luxbooks. 2013 bis 2017 Literaturredakteur bei STILL Magazine. Ab 2017 Workshops zum Kreativen Schreiben mit Kindern und Jugendlichen. 2015 Promotion zum Thema »Kollektive Intentionalität«. 2017 erscheint das philosophische Sachbuch Der Aufstieg des Mittelfingers bei Rowohlt. 2019 folgt Wahrheit und Verschwörung bei Reclam. Twittert zu konspirativen Themen.
»So entstehen Wutbürger«
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VOREINEINHALB JAHRENSPRACHENWIRMIT JAN SKUDLAREK üBERSEINERSTES SACHBUCHDER AUFSTIEGDES MITTELFINGERS – eine Antwort Auf die Verrohung DER GESPRäCHSKULTUR IN POLITIK UND ALLTAG. NUN ERSCHEINT WAHRHEIT UND VERSCHWöRUNG IM reclAm-VerlAg. ERNEUTWIDMET SICH DER PHILOSOPH EINEM PROBLEM UNSERER KOMMUNIKATION: DIE LüGE. ES GEHT UM ALTERNATIVE FAKTEN, FAKE NEWS UND VERSCHWöRUNGSTHEORIEN, WIE SIE IN DIE WELT KOMMEN UND WIE MAN AM BESTEN AUF SIE REAGIERT.
GäBE ES oHnE MEnSCHEn, die sich gegen eine tradierte oder offizielle Wahrheit aussprechen, überhaupt Fortschritt? Wo wären wir ohne Zweifler? Ohne Zweifler wären wir arm dran – ohne jeden Zweifel. Es ist nämlich so: Konservative Verhaltensweisen garantieren das Überleben einer Gemeinschaft. Sprünge nach vorn machen Gemeinschaften hingegen durch unkonventionelle, kreative Denkweisen. Strategisches Zweifeln ist also gut. Doch man kann auch »falsch« zweifeln – unbegründet, verkopft, nicht zielführend. Verschwörungstheorien z. B. zeichnen sich durch eine Art des Zweifelns aus, die vielleicht kreativ sein mag, aber letzten Endes erkenntnisfeindlich ist. Und weder Individuen noch Ge- TExT meinschaften weiterbringt. Von Michael Wann gilt etwas begründet als wahr? Wolf Gute Frage. Was als wahr gilt, ist einerseits BILD ein Einigungsprozess Manuel – wir einigen uns überindividuell auf das, was wir als wahr anerken- Schamberger nen. Andererseits ist Wahrheit mehr als nur Konsens. Dass Impfungen als sinnvolle Krankheitsprävention gelten, liegt daran, dass sie zu empirisch beobachtbaren Tatsachen führen – z. B. zu weniger Masern. Wenn sich also eine (kleine) Gemeinschaft darauf einigt, Impfungen nicht als Problemlösung, sondern als Problem zu sehen, haben diese Impfgegner sich vielleicht auf etwas geeinigt, sie liegen aber falsch. Weil sich ihre Sicht der Dinge nicht an der faktischen Wirklichkeit ausrichtet, sprich: antifaktisch ist. Impfgegnern fehlen die Belege. Wahr ist also ein Wort dafür, wie wir gemeinsam – das heißt per Konsens – die Welt durch richtige Beschreibung – das heißt faktisch – erfassen.
Woran erkennt man Verschwörungstheorien? Wie unterscheiden sie sich von einer harmlosen Geschichte? Verschwörungstheorien folgen einem immer ähnlichen Grundmuster. Die Grundformel geht so: x ist eigentlich gar nicht x, sondern Y – und dieses Y wird insgeheim aus dem Hintergrund mit bösen Absichten gesteuert. So sagen manche: Freie Medien sind gar keine freien Medien, sondern in Wahrheit sind die Medien die Lügenpresse, die von Hintermännern gesteuert wird. Wir haben also zwei Komponenten: 1. Wir werden belogen; und 2. Wir werden bedroht. Der Bedrohungsaspekt ist das, was Verschwörungstheorien gefährlich macht. Wenn ich mich bedroht fühle, werde ich versuchen, mich zu verteidigen. Verschwörungstheorien unterscheiden sich von harmlosen Geschichten, indem sie negative Handlungsmotivationen liefern. Man will die Bedrohung neutralisieren, einen Gegenangriff starten. Manche Verschwörungstheoretiker gehen z. B. gegen die Lügenpresse vor, indem sie die Journalisten diffamieren oder gar körperlich angreifen. Grundlage ist ihre Verschwörungsmentalität.
Wieso hängen heute so viele Menschen Verschwörungstheorien an? Verschwörungstheorien waren immer populär, das Denken ist nicht neu. Im digitalen Zeitalter können sich Menschen schlichtweg einfacher zu Sinngemeinschaften vernetzen – das ist ein normales menschliches Bedürfnis. So kommt es, dass sich im Internet nicht nur Kaninchenzüchter oder Tattoo-Enthusiasten verbinden, sondern eben auch Impfgegner, Klimawandel-Leugner und Umvolkungs-Schreihälse. Die »ansteckende« Natur der Verschwörungsmentalität sorgt dann für den Rest. So können antifaktische Gedanken sich durch Plattformen wie YouTube mit Leichtigkeit verbreiten. Im schlimmsten Sinne des Wortes »viral«.
Warum ist das gefährlich? Verschwörungstheorien lassen Feindbilder entstehen. Sie liefern Sündenböcke. Das ist das eigentliche Problem. Wer z. B. denkt, dass »von den Eliten« eine »Umvolkung« oder ein »Bevölkerungsaustausch« durchgeführt wird, der ist eher bereit, seine gedankliche Radikalisierung durch Taten zu verwirklichen. Angriffe auf Politiker und vor allem auf Migranten sind die Folge. Das Internet ist voll von Gewaltphantasien von Menschen, die sich getäuscht fühlen, obwohl sie in der Regel nicht getäuscht werden oder jedenfalls keineswegs mehr als zu anderen Zeiten. So entstehen Wutbürger.
Was kann jeder Einzelne gegen die Verbreitung von Lügen tun? Zunächst einmal bin ich für Gegenrede. Haut dein Gegenüber ganz selbstverständlich Thesen über finstere Mächte raus – dann kannst du freundlich und sachlich nachhaken. »Moment! Wie kommst du darauf?«. Nachhaken und widersprechen ist wichtig. Am Zweifelnden zweifeln. Knallharte Verschwörungstheoretiker wird man allerdings so nicht erreichen können. Deshalb ist es wichtig, früh anzusetzen; wir müssen z. B. durch Steigerung der Medienkompetenz junge Menschen befähigen, glaubwürdige von unglaubwürdigen Quellen zu unterscheiden. Zweifeln gerne – aber mit Köpfchen. Man darf nicht jeden Scheiß glauben.
Pippi Langstrumpfs amüsante Verkehrung der Welt (»Ich mach mir die Welt, / Widewidewie sie mir gefällt«) macht heutzutage Schule – in der großen Politik, in der öffentlichen Diskussion, in den sozialen Medien. Jan Skudlarek diskutiert anhand illustrierender Beispiele die damit verbundenen Bedrohungen und Probleme. Er liefert eine dringend notwendige Orientierungshilfe und Anleitung zum Selber-Denken, um sich in dem Minenfeld aus Fake News, False Flags, Verschwörungstheorien und vergiftendem Zweifel zu behaupten. Denn immer mehr Menschen pflegen ihre eigene, private Wahrheit. Und man kann zwar seine eigene Meinung haben, aber nicht seine eigenen Fakten. Eine funktionierende Gemeinschaft braucht den Glauben an die Möglichkeit, zusammen im Austausch Wahrheit zu erkennen. Und, hält Skudlarek fest, sie braucht Zivilcourage: Die Wahrheit zu lieben bedeutet, Unwahrheiten zu widersprechen.
Was war die abwegigste Theorie, auf die Sie gestoßen sind? Eine obskure Theorie, die wirklich nicht von vielen vertreten wird, aber durchs Internet geistert, gefällt mir besonders. Prinzessin Diana wurde ermordet, weil sie sehr frühzeitig von 9/11 erfuhr. Das ist herrlicher Schwachsinn und verbindet gleich zwei große Verschwörungsthemen: den 11. September 2001 und den Unfalltod von Lady Di. Ein Paradebeispiel unsinniger Sinnsuche.