ZEITGESCHEHEN
Das verlorene Paradies Ein traumhaftes Land in einer alptraumhaften S ituation, die sich immer weiter anspannt: Venezuela rutscht immer tiefer in die Krise. U nserem Autor tut das auch persönlich weh.
Wohl nicht viele Reisende kennen Venezuela aus eigener Erfahrung, sondern eher aus den Meldungen, die uns aus dem südamerikanischen Land erreichen. Fast täglich liest man mittlerweile Nachrichten über die neusten Possen von Noch-Präsident Nicolás Maduro, der mit seinem irrationalen Machterhaltungstrieb inzwischen nur noch für Fassungslosigkeit sorgt. Wenn es überhaupt etwas Positives an der jetzigen Situation gibt, dann ist es die Tatsache, dass die Ausmaße der Krise nun die ganze Welt auf das Land blicken lassen. Allerdings könnte bei den politisch weniger Interessierten nur allzu leicht der Eindruck entstehen, die Krise in dem an Öl so reichen Land wäre über Nacht entstanden. Denn viele wussten bislang nicht, dass Menschen schon seit Jahren in Massen aus dem Land fliehen, Supermärkte seit Langem leere Regale aufweisen und dass man mittlerweile fast nirgendwo mehr in Venezuela Lebensmittel kaufen kann – und wenn doch, dann zu den Preisen eines Monatslohnes oder mehr. Venezuela war einfach lange zu weit weg für die Menschen in Deutschland.
Eigentlich ein wunderbares Land…
Nicht jedoch für mich, denn in meinem Herzen wird Venezuela immer einen besonderen Platz haben: Ich verdanke dem Land meine ersten Backpacker-Erfahrungen, die ich 2013 vergleichsweise spät mit 30 Jahren machen durfte. Selber aus Berlin und damit aus einer Großstadt kommend, werde ich nie die Ankunft vergessen, bei der wir mit dem Auto meines Freundes Pablo etwa zwei Stunden bis zu ihm nach Hause brauchten, weil ein derart unerbittlicher Stau herrschte, dass fliegende Händler wie selbstverständlich zwischen den Autos ihre Waren verkauften und Artisten Kunststücke zum Zeitvertreib vorführten – das sei übrigens jeden Tag so, sagte Pablo damals.
Karibikflair und Piranha-Angeln
Meine erste Reise innerhalb des Landes führte mich auf die bei Touristen aus aller Welt einst sehr beliebte Karibik-Insel Isla Margarita, und ich erinnere mich an Traumstrände, selbst geangelten Fisch und eine sorglose Woche, an deren Ende ich vier Bücher gelesen hatte und so entspannt war, dass ich barfuß in den Flieger zurück einstieg. Vielen Menschen ging es auch damals schon nicht gut, aber sie machten das Beste aus der Situation und waren sehr freundlich und aufgeschlossen. Bei meiner nächsten Tour in die riesige und unberührte Fluss- und Sumpflandschaft der Llanos, die sich bis nach Kolumbien erstreckt, häuften sich dann bereits die Anzeichen für die Krise – ich sah sie damals jedoch nicht wirklich, war ich doch vollkommen geblendet von der majestätischen Natur Venezuelas. Wenn der Guide ein Essen zubereiten wollte und dann beiläufig bemerkte, er habe keine Milch oder keine Eier bekommen, dann war das eben so, man war ja schließlich auch mitten im Nirgendwo.
Die höchste Inflation der Welt
Von vielen bitteren Wahrheiten erfuhr ich dann im Laufe der Jahre via Facebook von meinem Freund Pablo, der ebenfalls Journalist ist. Für ihn und seine Familie wurde die Lage derart unerträglich, dass sie 2018 nach Costa Rica flüchteten, wo sie heute wieder ein ruhiges Leben führen können. Danach sehnen sich auch Millionen andere Venezolaner, die ihrem Heimatland den Rücken gekehrt haben, ja kehren mussten, um zu überleben. Denn irgendwann war es soweit, dass Mütter im Supermarkt eine Geburtsurkunde vorzeigen mussten, wenn sie Windeln für ihr Baby kaufen wollten – vorausgesetzt, es gab überhaupt welche. Sämtliche Waren wurden immer knapper und teurer, man musste für sie oft stundenlang anstehen – der Berufszweig der »Coleros« blühte auf, der professionellen Schlangesteher, die ihre Plätze in einer Warteschlange dann teuer verkaufen konnten. Geld holte man bald schon mit Schubkarren von der Bank ab, denn es verlor immer weiter an Wert; die Inflation in Venezuela ist längst die schlimmste auf der ganzen Welt. Am schwersten wiegt jedoch, dass schnell jegliche Opposition unterdrückt wurde, bereits Anfang 2014 starben bei studentischen Massenprotesten zahlreiche Menschen. Wie viele es bis heute sind, die unter dem MaduroRegime ihr Leben lassen mussten, kann man wohl nur schätzen.
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No 69 - 2019
Von Robin Hartmann Über das Foto: Ein Demonstrant gerät in Brand, nachdem der Tank eines Polizei-Motorrads explodiert ist während der Zusammenstöße bei einem Protest gegen den venezolanischen Präsidenten Nicolas Maduro in Caracas. Venezuelas wütende Opposition versammelte sich am Mittwoch und schwörte riesige Straßenproteste gegen den Plan von Präsident Nicolas Maduro, die Verfassung neu zu schreiben, und beschuldigte ihn, trotz tödlicher Unruhen den Wahlen auszuweichen, um an der Macht zu bleiben. Foto © Juan Barreto