Reportage
Nummer 47
Samstag, 24. November 2012
Besondere Marken Italiens (von links): die Piazza del Popolo in Ascoli, die Küste bei Monte Conero und Loreto bei Nacht.
Fotos: Bedessi; Montage: Hackenjos
Türme, Treppen, Theater und beste Pasta Italien hat noch seine geheimen Ecken / Wie das Geburtshaus der Gottesmutter Maria von Engeln in die Marken transportiert wurde Von Wolfgang Minaty Wer wird denn, nur um Spaghetti zu kaufen, nach Italien fahren? Schon eher vielleicht, wenn es um Schuhe geht. Am verständlichsten noch ist
der Wunsch, sich mit Wein zu versorgen. Das wären dann freilich schon drei Gründe. Vergessen wir nicht den vierten Grund: Weil es in Italien schön ist. Und weil kein Wein so gut schmeckt wie in einer Osteria am Meer, die neuen Schuhe an den Füßen und die Spaghetti im Kofferraum. Nehmen wir die Marken. Das ist keine Boygroup, sondern eine Region in Italien, ein echter Geheimtipp. Natürlich funktionieren solche Tipps normalerweise nicht. Denn wenn erst einmal alle hingerannt sind, ist es kein Geheimtipp mehr. Es gibt jedoch an der Adria eine Ecke, die für Eingeweihte schon lange ein Begriff war, ohne dass sich die Touristenströme dorthin ergossen hätten: Das sind die Marken. Klar, an der Adria kennt man Ravenna oder Rimini, auch Bibione oder Jesolo. Aber die Marken? Das klingt so unitalienisch. Wo liegen die Marken überhaupt? Auf dem Wege nach Griechenland. Denn wer mit dem Auto nicht über den Balkan wollte, hat sich in Ancona eingeschifft, ohne bemerkt zu haben, dass er die Marken durchquert hat. Nun ist Ancona zwar deren Hauptstadt und zweifellos einer der lebhaftesten Orte am Adriatischen Meer. Aber die Marken, die an die Grenzmarken mittelalterlicher Zeit erinnern und die die Italiener le marche nennen, muss man dann doch woanders suchen. In den vielen kleinen Städtchen, meist zauberhaften Orten. Schließen Sie sich mir an, ich zeige Ihnen ein paar. Beginnen wir in Ascoli Piceno, im Süden. Beinahe hätte ich den Dom mit einer Pfarrkir-
che verwechselt. Aber die Kirche San Francesco erhebt sich, als käme ihr das Privileg höchster Heiligkeit zu, in der Mitte der Stadt, machtvoll und würdig einen der schönsten Plätze von ganz Italien abriegelnd: die Piazza del Popolo. Es ist dies sozusagen die gute Stube der Stadt, wo der Wille zur Linie die perfekte Architektur ersinnt, möbliert mit prächtigen Bauwerken der Renaissance. Hier muss man verweilen, Platz nehmen und auf einen Anisetta ins Café Meletti – ob der Likör nun schmeckt oder nicht. Später kann man noch in die wirkliche Kathedrale an der Stadtmauer, die, obwohl keiner in Deutschland ihn kennen dürfte, dem heiligen Emidius aus Trier geweiht ist.
Schon der Name Campofilone schmeckt gut. Erst recht die Maccheroncini, Tagliatelle, Fettuccine Die Marken hängen voller Schinken, Würste und Trüffel. Nehmen wir Campofilone. Hier sind es die Spaghetti. Schon der Name Campofilone schmeckt gut. Erst recht die Maccheroncini, Tagliatelle, Fettuccine. Und dann natürlich die Spinosini – dünnste Nudeln, fein wie Engelshaare, so fein und so edel, wie nur Vincenzo Spinosi, ihr Erfinder, sie herstellen kann. »Nach italienischem Recht«, erklärt er, »muss man für Eiernudeln vier Eier auf ein Kilo Hartweizengrieß verwenden, wobei man Wasser hinzugeben darf. Ich verwende zehn Eier, frische natürlich, und kein Wasser.« Und etwas leiser, fast flüsternd, fügt der »Pastakönig«, wie er bis nach Dubai genannt wird, hinzu: »Beim Essen bitte nicht zu viel Soße dazutun – die Spinosini sind wie eine schöne Frau, sie brauchen kein Make-up.« Strahlt, greift mit der Gabel in die Pfanne und hält einen Engelshaarschopf triumphierend in die Höhe. Eine Landschaft, die Meister wie Spinosi hervorbringt,
ist auch mit klassischen Kunstschätzen gesegnet. Nehmen wir Tolentino. In seinen Mauern befindet sich eine komplett ausgemalte Kapelle (San Nicola) mit funkelnden Farben, wie sie nur noch in Assisi oder Padua zu finden sind. Oder nehmen wir Macerata. In diese Stadt fährt man hinein wie in ein geöffnetes Buch: Plätze und Paläste, Kirchen und Kuppeln, Türme, Treppen und Theater, eine einzige wohlgelungene Unregelmäßigkeit. Kommen wir zum Schuhwerk. Wem es daran mangelt, kann das jetzt ändern. Denn die meisten von Italiens Sandalen, Stiefeln oder Pömps werden in den Marken produziert. Das sieht man. Zwischen Civitanova Marche und Porto Sant’Elpidio fahren Sie auf der SS 16, als wären Sie auf einer einzigen Einkaufsstraße, Marke billig – alles in chinesischer Hand. Klüger ist es, nach Casette d’Ete ins Landesinnere abzubiegen. Dort wartet ein Outlet-Paradies, Marke edel. Diego Della Valle, nur einer der Anbieter, ist sich keineswegs zu schade, seine Weltneuheiten der vergangenen Saison, egal ob die Labels Tod’s, Hogan oder Roger Vivier, die ihm alle gehören, und egal ob von Bruno Frisoni oder Karl Lagerfeld entworfen, die für ihn arbeiten, zu Schnäppchenpreisen zu verhökern.
Langsam nähern wir uns heiligem Boden. Haben Sie schon mal ein Haus fliegen sehen? Kaum. Vielleicht wäre es uns im Jahr 1294 vergönnt gewesen. Damals, so will es die Legende, ist das Geburtshaus der Gottesmutter Maria, von Engeln transportiert, von Nazareth über Zwischenstationen in die Marken geflogen und in einem Lorbeerhain, Loreto genannt, gelandet. Da steht es heute noch, ausgestattet mit einer geheimnisvollen Schwarzen Madonna und mittlerweile von einer eindrucksvollen Kirche ummantelt. Einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte der Welt.
Die Sonne kracht, die Brise säuselt, die Wellen schmeicheln, es ist eine Lust zu leben. Und dann erst das Licht! Wir jedoch pilgern weiter an die Küste. Nur wenige Minuten sind es bis zur Riviera del Cónero. Traumstrände erwarten uns. Am schönsten die von Sirolo, dicht bei Ancona. Die Sonne kracht, die Brise säuselt, die Wellen schmeicheln, es ist eine Lust zu leben. Und dann erst das Licht! Ein zauberhafter Stoff! Hier ist alles Magie, der Sand, der Strand und ein Meer wie aus Glas, MuranoGlas, wenn schon. Blau bis türkis. Es sind nur ein paar
Buchten, eher Sicheln vergleichbar, die sich als schmale Streifen an den Abhang schmiegen. Man kann nur zu Fuß hin, man ist unter sich, denn Massen finden nicht hierher. Und was ist mit dem Wein? Werden Sie einwenden. Ich habe ihn nicht vergessen, ich habe ihn genossen. Zwischendurch. Den Rosso Piceno Superiore. Er ist radikal, dennoch dienstbar und lässt das Gemüt schunkeln, während seine rubinroten Farben verschwenderisch im Glas schaukeln – eine Königsklasse der Harmonie. Seien Sie sicher, dass ein paar
Welcher Weinliebhaber wird in Italien nicht fündig? Die Auswahl in den Kellern ist groß.
INFO
Mit dem Pkw von Oberndorf über Zürich, Mailand und Ancona entweder direkt bis Ascoli Piceno etwa 1000 Kilometer, großenteils Autobahn, oder mit anzuratendem Zwischenstopp z. B. in Carpi (bei Modena).
sollte sich einen Besuch bei Mirella vormerken, die seit mehr als 40 Jahren die besten »Vincisgrassi« weit und breit macht, eine üppige Variante der Lasagne mit raffinierter Füllung, die auf den österreichischen General Windisch-Graetz zurückgehen soll (»Trattoria da Ezio« in der Via Crescimbeni 65, Macerata).
u Unterkunft
u Weinläden
Empfehlenswert in Ascoli Piceno: das sympathische Hotel »Palazzo dei Mercanti« (ab 69 Euro, www.palazzodeimercanti.it), bei Macerata das gediegene »San Claudio« (ab 70 Euro, www.hotelsanclaudio.it) und das nahe Ancona auf dem Hügel gelegene »Monteconero« mit phantastischer Aussicht auf Land, Küste und Meer (ab 120 Euro, www.hotelmonteconero.it).
Von den vielen seien herausgehoben die Enoteca Regionale delle Marche, Via G. Garibaldi 75, in Offida (bei Ascoli Piceno), und die Enoteca Pubblica in Jesi (bei Ancona), Via Federico Conti 5.
Le marche u Anreise
u Gastronomie-Tipps
Die Palette reicht vom geschnetzelten Huhn (»Pollo Ncipp’ Nciapp’«) oder der Linsensuppe »Lenticchie«, exzellent zubereitet in der »Trattoria dell’Arengo« von Ascoli Piceno (Via Tornasacco 5, beim Dom), über klappernde Muscheln, köstlich serviert in der »Osteria dei Fiori« von Macerata (Via Lauro Rossi 61), bis hin zur marchegianischen Fischsuppe »Brodetto«, bravourös aufgetischt im »Giacchetti« bei Ancona (Via Portonovo 171, direkt am Meer). u »Mamma
Wer mit dem Auto nicht über den Balkan wollte, hat sich in Ancona eingeschifft und die Marken bereits überquert.
Fläschchen mit mir den Weg nach Hause finden.
Mirella« Wer wissen will, wie Mamma auf italienisch kocht, der
u Ausflüge
Von Ascoli Piceno in die Berge des Nationalparks »Monti Sibillini« (mehrere Zweitausender) und an die Küste mit der Palmenriviera von Grottammare. Von Macerata aus: zur Zisterzienserabtei Fiastra. Von Cónero aus: nach Jesi, wo der Stauferkaiser Friedrich II. auf öffentlichem Marktplatz geboren wurde, ins Städtchen Sassoferrato, wo der Maler gleichen Namens herkommt, und in die gigantischen Grotten von Frasassi, die größten Europas. u Weitere
Informationen Enit (italien. Zentrale f. Tourismus) in Frankfurt, Tel. 069/237434 (www.enit.it), www.turismo.marche.it, www.diemarken.com und www.picenos.com, als Taschenbuch: »Marken«, Verlag DuMont (Auflage 2012, 288 Seiten, 16,99 Euro).