EDITION Das Stilmagazin von BRAUN Hamburg Vol. 6
MENSWEAR MIT STIL.
I. MODE
EUR 8.50
II. STILWELT
III. UPDATE
IV. LITERATUR
EDITION / VOL. 6 – EDITORIAL
EDITIO N Das Stilmagazin
Liebe Leser, die neue EDITION lesen ist eine gedankliche Rundreise durch Italien. Unsere Stopps führen uns zu ganz besonderen Gastgebern: Giuseppe Santoni, Antonio „Toto“ de Matteis, Enrico und Elisio Fabi, Luigi Lardini und Marco Pescarolo. Ist es Zufall, dass so viel Großes in der Männermode aus diesem von uns heiß geliebten Land kommt? Bestimmt nicht. Hier wohnt diese einzigartige Kreativität, die nirgendwo sonst auf der Welt in dieser Konzentration zu finden ist. Wer die Menschen hinter klingenden Namen wie Kiton, Santoni oder Lardini kennenlernt, versteht, worauf die Alleinstellung ihrer Marken fußt: Hinter jeder dieser Brands stehen Menschen, die nicht hinnehmen, dass etwas genau so gemacht werden muss, wie es immer gemacht wurde. Ihre Kreativität läuft dann zur Hochform auf, wenn sie an Routinen, Prozessen und Standards rütteln können. Das Ergebnis gibt ihnen recht. Denn ja, ein Kiton-Anzug, ein Santoni-Schuh, ein Brunello-Cucinelli-Pullover hebt sich ab in der Welt der Mode. Es ist uns eine Freude, Ihnen in der EDITION diesen Blick hinter die Kulissen zu gewähren. Ihnen die Menschen vorzustellen, deren außergewöhnlicher Enthusiasmus uns beeindruckt. Lernen Sie die Menschen kennen, deren Produkte Sie oft schon seit Jahren begleiten. „Wir beginnen da, wo andere aufhören“, sagt Antonio „Toto“ de Matteis. Das gilt wohl in gleichem Maße für den Fotografen Walter Schels, den Zeitforscher Karlheinz Geißler und den Quantentheoretiker Carlo Rovelli – die Persönlichkeiten jenseits der Mode, die wir Ihnen in dieser Ausgabe vorstellen. Ob Kunst, Wissenschaft oder Mode: Etwas Neues schafft, wer das Bekannte hinter sich lässt.
Herzlichst, Ihr
LARS BRAUN, HERAUSGEBER
2.3
CONTE N T
28 FASHION STORY II: Weniger ist Mehr.
08 STILWELT MUSS MAN IMMER DER ERSTE SEIN, HERR BRAUN? Lars Braun, CEO von BRAUN Hamburg, im Gespräch über Dinge, die bleiben.
44 STILWELT WIR BEGINNEN DA, WO ANDERE AUFHÖREN Antonio de Matteis, Vorstandsvorsitzender von Kiton, und die italienische Schneiderkunst.
12 MODE FASHION STORY I: BRUNELLO CUCINELLI Klassisch-italienische Eleganz.
48 UPDATE GIBT ES EINE WELT OHNE ZEIT, HERR ROVELLI? Ein Quantentheoretiker und seine Beziehung zur Zeit.
22 STILWELT NACHHALTIGKEIT HAT ABSOLUTE PRIORITÄT Giuseppe Santoni über die Kunst des Schuhemachens.
52 MODE FASHION STORY III: STIL IST DISTINKTION Die Dosis reguliert die Spannung.
26 KLASSIKER ADRESSEN UNSTERBLICHER KUNST Faszinierende Designs und futuristische Formen.
70 KLASSIKER ORTE DES ANKOMMENS Das Träumen von fernen Welten.
28 MODE FASHION STORY II: STIL IST KLASSE Ein klarer Fokus in der Garderobe.
EDITION / VOL. 6 – CONTENT
86 LITERATUR: Eine Reise durch die Zeit.
74 STILWELT EIN SAKKO IST WIE MEINE ZWEITE HAUT Luigi Lardini, Kreativdirektor von Lardini, auf der Suche nach dem Neuen.
86 LITERATUR INSPIRATION, SEITENWEISE Bücher, die die Zeiten überdauern. 88 MODE FASHION STORY IV: STIL IST HALTUNG Und Modernität ist kein Zufall.
78 KLASSIKER DIE GOLDENE STADT Lieblingsorte in Prag von Herausgeber Lars Braun.
104 STILWELT MADE IN NAPOLI Meister der Hosen-Schneiderei: Marco Pescarolo.
80 STILWELT DIE MARKE AUS DEN MARKEN Das italienische Label Fabi und die Arbeit im Einklang mit Innovation und Tradition.
106 UPDATE WIE WERDEN WIR „ZEITZUFRIEDEN“, HERR PROF. GEISSLER? Alternative Formen der Zeitorganisation.
82 STILWELT KANN MAN MIT FOTOGRAFIE DIE ZEIT FESTHALTEN, HERR SCHELS? Der Moment, in dem man die Zeit loslässt.
4.5
EDITION / VOL. 6 – STILWELT
WIR BRAUCHEN VIELE JAHRE, BIS WIR VERSTEHEN, WIE KOSTBAR AUGENBLICKE SEIN KÖNNEN. Ernst Ferstl
6.7
Muss man immer der Erste sein, Herr Braun? Spricht man mit Lars Braun, dem CEO von BRAUN Hamburg, über seine Liebe zur Mode, kommt man schnell zu der Erkenntnis: Die Mode, die aus der Mode kommt, interessiert ihn wenig. Die Klassiker umso mehr. Ein Gespräch über Dinge, die bleiben. INTERVIEW: Martina Müllner-Seybold. FOTO: Giuliana Anselmi.
Muss man – modisch gesprochen – immer der Erste sein, Herr Braun? Definitiv nicht. Ich finde, Zeitlosigkeit ist ein schöner Gegenpol zu dem Bereich der Mode, in dem es immer darum geht, dass man der Erste ist. Das muss man nämlich gar nicht. Man kann in der Mode jederzeit schöne Dinge entdecken, ein Teil der Modewelt hält genau das bereit: Lieblingsstücke, die so unvergänglich sind wie diese Uhr hier (zeigt sie), die ich zu meiner Konfirmation geschenkt bekommen habe und noch immer begeistert trage. Was für einen Modehändler eine einigermaßen unkonventionelle Aussage ist, schließlich lebt Ihre Branche davon, dass die Menschen immer das Neueste wollen. Sehen Sie, und da bin ich skeptisch. Wenn ich zu meinem Lieblingsitaliener gehe, lasse ich mir ja auch zum wiederholten Male Tomate mit Mozzarella schmecken. Vorausgesetzt natürlich, es
ist appetitlich angerichtet. Ich sehe unsere Aufgabe genau darin: dass wir Klassiker so zu inszenieren wissen, dass sie Appetit machen. Wie gelingt das? Zum einen kann man immer etwas Originäres ausfindig machen, wie zum Beispiel den Sneaker, der erst neu entdeckt wurde und jetzt wiederum zum Klassiker geworden ist. Darüber hinaus präsentieren wir immer wieder neue Fabrikanten, die mit ihren Produkten und Geschichten faszinieren. Und so starr, wie es im ersten Moment klingt, sind selbst Klassiker nicht: Ein Anzug von heute sieht komplett anders aus als einer vor fünf Jahren, weil die Hersteller unglaublich viel Aufwand betreiben, um ihre Modelle noch leichter, angenehmer zu tragen oder besser zu machen. Und zu guter Letzt glaube ich an die Kraft der Qualität, die überzeugen und begeistern kann.
EDITION / VOL. 6 – STILWELT
Warum Uniformität fantasielos ist, Hosen gerade
Spaß machen und ihn seine Fehlkäufe amüsieren –
Lars Braun, CEO von BRAUN Hamburg, über sein
Lieblingsthema: zeitlose Mode.
8.9
Was bereitet Spaß an der Mode? Ein guter Kleiderschrank, und zwar einer, der die Persönlichkeit widerspiegelt, dessen Inhalt den Träger nicht verkleidet. Ich empfinde es als einen absoluten Luxus, wenn man seinen Stil gefunden hat, sich selbst treu ist. Wenn ich jetzt daran denke, dass ich meine Wintergarderobe wieder auspacke: Darunter sind ein paar Anzüge, auf die ich mich wirklich freue; es ist schön, sie wieder zu tragen. Das bringt Spaß. Bis auf die wenigen Fehlkäufe, die jeder von uns mal tätigt. Wobei ich mich auch an den Entgleisungen in meinem Schrank erfreue, die Dinge, von denen man denkt: Das geht doch heute so gar nicht mehr. Ich finde das amüsant. Ist gute Garderobe leise? Nicht zwingend, das ist extrem vom Genre abhängig. Der Luxus eines Brunello Cucinelli würde nicht funktionieren, wenn an den Stücken ein großes Logo prangen würde – andererseits würde einer Marke wie Stone Island etwas fehlen ohne ihre Windrose. Gerade das Onlineshopping, so sagt man, befeuert plakatives Design und markantes Labelling, weil es einfach auf den kleinen Screens ein gewisses Maß an Plakativität braucht. Sehen Sie das auch so? Wenn, dann stemmen wir uns dagegen. Wir haben gerade unseren Onlineshop neu gelauncht, weil sich viel getan hat, was das Look-and-Feel von Websites angeht, sowie auch, was die Darstellbarkeit von Mode betrifft. Wir versuchen das Fehlen des taktilen Reizes bestmöglich auszugleichen, indem wir sehr umfassend über die Produkte und Marken informieren und Blicke „behind the scenes“ ermöglichen. Ganz konkret: Mit welchen Produkten kann man diese Saison seine zeitlose Garderobe erfrischen? Mit einer neuen Farbe? Eine neue Farbe ist für uns Hanseaten ganz schwierig, es sei denn, es handelt sich um Dunkelblau. (Schmunzelt.) Mein persönlicher Favorit sind gerade Hosen, die ja wieder weiter und entspannter werden. Das Comeback der Bundfalte finde ich toll, die war ja jetzt zehn bis 15 Jahre komplett totgesagt. Oder Nuancen wie ein Rolli unter einem Anzug, das sorgt schnell für einen lässigen Look. Gibt es Kleidungsstücke, die man ein Leben lang tragen kann? Vermutlich nicht. Selbst einem Smoking sieht man an, ob er aktuell ist oder schon lange im Schrank hing. Was ist eigentlich die Antithese zur Zeitlosigkeit? Uniformität! Eine zeitlose Garderobe heißt nämlich keinesfalls, dass ich mich nur mit den üblichen Klassikern einkleide. Das ist fantasielos.
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ZUM UNTERNEHMEN: Im Jahr 1933 eröffnete Erich Braun in Hamburg
das erste Geschäft, 1981 folgte sein Sohn Jean Braun und 1996 stieg Lars Braun als Geschäftsführer ein. Ein Familienunternehmen mit Tradition. Die Multichannel-Strategie verfolgt Lars Braun mit seinem Unternehmen bereits seit 2009, als der erste Onlineshop gelauncht wurde.
ICH GLAUBE AN DIE KRAFT DER QUALITÄT. SIE KANN BEGEISTERN UND ÜBERZEUGEN. Lars Braun
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY I
Alles von BRUNELLO CUCINELLI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY I
Weil seine Philosophie immer tiefste Überzeugung war, haben Brunello Cucinellis Entwürfe noch einmal an Fahrt gewonnen. Seine großen Stärken sind die Zeitlosigkeit, das Savoir-faire, die Selbstverständlichkeit, mit der Luxus in den Materialien seinen Ausdruck findet und sich trotzdem nie in den Vordergrund spielt. Eine stille Marke für Kenner, längst zum Synonym für lässige italienische Eleganz aufgestiegen.
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Alles von BRUNELLO CUCINELLI
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Alles von BRUNELLO CUCINELLI
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EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY I
MIT KLAREM PROFIL: VOM SCHUHEMACHEN VERSTEHT MAN IN ITALIEN GENAUSO VIEL WIE VOM STRICKEN ODER SCHNEIDERN. HANDWERK IN REINKULTUR.
Schuhe BRUNELLO CUCINELLI
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Alles von BRUNELLO CUCINELLI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY I
Rucksack BRUNELLO CUCINELLI
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Seinen Signature-Farben Creme, Beige und Grau bleibt Brunello Cucinelli fast stoisch treu. Diese Konsequenz über Jahre macht sich bezahlt – wer sich seinen Fans schon durch einen Farbcode zu erkennen gibt, darf auf sichtbare Labels getrost verzichten. Für seine Beharrlichkeit wird der Selfmade-Mann aus Umbrien zu Recht bewundert. Brunello Cucinelli hat eine Weltmarke der leisen Töne geschaffen.
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY I
Alles von BRUNELLO CUCINELLI
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Giuseppe Santoni hatte eine klare Vision:
Die Manufaktur seines Vaters wollte er zur weltbekannten Luxusmarke formen. Ein Vorhaben, dessen Durchführung ihm gelungen ist.
EDITION / VOL. 6 – STILWELT
Nachhaltigkeit hat absolute Priorität Giuseppe Santoni hat aus einer kleinen Schuhmanufaktur eine globale Marke geschaffen – wenn nicht sogar DIE Marke für Herrenschuhe. Im Gespräch mit EDITION verrät der leidenschaftliche Unternehmer, warum er schon seit Jahren Nachhaltigkeit umsetzt, was ihn antreibt und warum seine Schuhmacher arbeiten wie Renaissancekünstler. INTERVIEW: Martina Müllner-Seybold. FOTOS: Santoni.
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Santoni erfand eine einzigartige Technik der Handmalerei. Erzählen Sie uns mehr über diesen Prozess und darüber, wie lange es dauert, bis ein Schuh wie ein echter Santoni aussieht? Farbe ist die Seele von Santoni: Sie steht an der Spitze jeder Kollektion, jedes Modells. Ihr Bild ist malerisch, dicht und reich. Volumetrisch und rund, niemals flach, kommt sie in kostbaren und unerwarteten Tönen daher. Sie ist besonders, weil sie durch eine spezielle Methode gewonnen wird – „Velatura“, eine manuelle Schuhfärbetechnik, die den Arbeitsweisen der großen Renaissancekünstler und der venezianischen Landschaftsmaler ähnelt. Velatura verleiht der Farbe Patina, die Anziehungskraft des Gereiften. Um das zu erreichen, wird die Farbe in mehreren aufeinanderfolgenden Schichten ausschließlich per Hand aufgetragen; eine auf die nächste, ganz langsam und sorgfältig, bis die gewünschte Farbschattierung erzielt wird. Dieser anspruchsvolle Prozess benötigt bis zu fünfzehn unterschiedliche Schritte und zahlreiche Arbeitsstunden. Gleichzeitig ist durch ihn die unvergleichliche und individuelle Patina jedes einzelnen Paars Schuhe garantiert. Sie sagen über sich selbst, dass Sie besessen von Qualität seien. Ist die Qualität eines Santoni-Produktes etwas Offensichtliches, oder müssen die Kunden aufmerksam gemacht werden auf die Besonderheiten? Santoni-Kunden sind meistens Connaisseurs. Echte Weltbürger, klug und sehr am spezifischen Wert des Produktes interessiert. Für unsere Kunden sind Authentizität und Qualität deshalb auch sehr wichtige Merkmale. Sie sind fasziniert von den Details, die den Unterschied ausmachen. Sie haben ein sehr genaues Auge, interpretieren Klassiker immer wieder neu und lieben Meisterstücke der Gegenwart. Ein Qualitätsschuh ist etwas, das sie auf äußerst angenehme Art und Weise tragen können. Er verleiht ihnen Selbstbewusstsein, und das drückt sich auch in Persönlichkeit und Geschmack aus. Die Santoni-Produktion basiert auf italienischer Handwerkskunst. Wie trägt man diese in die Zukunft? Bilden Sie Schuhmacher aus? Und, was mich besonders interessiert: Ist es schwierig, Nachwuchs für Ihr Handwerk zu finden? Bei Santoni wird alles per Hand und im Haus erstellt, damit wir die höchsten Qualitätsstandards und eine Produktion nach allen Regeln der Kunst garantieren können. Das hebt uns von anderen Marken ab. Qualität, traditionelle Handwerkskunst und die Liebe zum Detail sind essenziell. Wir sind der Meinung, dass exzellente Schuhe nur per Hand und unter Einsatz von traditionellen, überlieferten Handwerkstechniken produziert werden können. Von Hand geschnitten, gefärbt und genäht – dies alles von einer Generation zur nächsten überliefert. Die älteren Handwerker, die seit der Gründung im Unternehmen sind, genießen die Aufgabe, ihr Können an die Jungen weiterzugeben, die voller Leidenschaft dieses Handwerk erlernen. Was ist das Schönste am Schuhmacherhandwerk? Ich bezeichne unsere Handwerker als „die Macher von Schönheit“: Wir erzeugen wertvolle und faszinierende Produkte, Objekte der Begierde mit ganz besonderem Stil, indem wir authentische Techniken anwenden. Natürlich war es nicht immer einfach, dieser Philosophie treu zu bleiben. Man muss schließlich auch Kompromisse eingehen und Entscheidungen treffen, die nicht immer profitabel sind. Sich zu entwickeln und zu wachsen ist immer möglich, als Unternehmen und als Marke. Besonders wenn man traditionelle Werte und zeitgenössische Ästhetik auf einen neuen Nenner bringt.
Ihre Marke hat es geschafft, sich aus der Masse an namenlosen Schuhherstellern in Ihrer Region hervorzuheben – und mit ihrem besonderen Stil weltweit zu einem Synonym für höchste italienische Qualität zu werden. Wie gelingt das? Die Fähigkeit, Tradition und Innovation, Qualität und Design zu verbinden, ist vermutlich das Herz der Marke. Die Produkte von Santoni sind authentisch; unsere unverwechselbaren Merkmale sind zeitlose Eleganz, frei von Modediktaten, und bestmögliche Qualität, beim Material wie auch in Sachen Handwerkskunst, was man heutzutage nur noch selten findet. Zugleich sind wir ein großes Unternehmen auf internationalem Level. Deshalb müssen wir auch innovativ und fortschrittlich hinsichtlich der Technologien sein. Auf Designebene lieben wir es, Klassiker neu zu interpretieren; wir starten beim Traditionellen und verwandeln es in etwas Modernes und Zeitgenössisches für ein anspruchsvolles Publikum. Ihr Vater hat Santoni gegründet, aber erst Sie waren es, der nach den Sternen greifen wollte. Was befeuerte diese Ambitionen? Was treibt Sie dabei an, Ihre Träume umzusetzen? Ich glaube, es ist eine Kombination aus Philosophie und Werten. Schon als Kind wusste ich, dass ich ins Familienunternehmen einsteigen will. Ich war sehr dankbar, als mir mein Vater dies schließlich ermöglichte, obwohl ich noch sehr jung war. Schönheit und Qualität sind mein Motor. Expansion bleibt also mein Antrieb, aber gleichzeitig werde ich den Wurzeln treu bleiben. Dass ich Santoni als globale Luxusmarke positionieren konnte, macht mich stolz. Klassische Schuhmodelle sind das eine, aber gleichzeitig hat Santoni auch ikonische Sneakers oder Loafer geschaffen. Bequeme, aber stets elegante Schuhe – Sie haben die Casualisierung der Männermode quasi an den Füßen fortgesetzt. Welche Modemarken inspirieren Sie? Am meisten inspirieren mich Dinge außerhalb des Modesystems. Wenn ich fühlen möchte, was in der Luft liegt, wenn ich den Kunden verstehen will, orientiere ich mich „outside the box“. Ich schaue also nicht auf die Mode oder andere Schuhhersteller, sondern auf den generellen, globalen Lifestyle. Dass wir Casual-Business-Schuhe entwickelt haben, hat ja auch seinen Ursprung im Bedürfnis der Menschen, sich elegant und gleichzeitig komfortabel zu kleiden. Ihre Zentrale wurde auf sehr nachhaltige Weise gebaut – und das schon vor zehn Jahren. Ist Nachhaltigkeit in der Luxusindustrie ein Muss? Glauben Sie, zukünftige Konsumenten werden ihre Kaufentscheidungen mit Blick darauf treffen, wie nachhaltig ein Unternehmen agiert? Nachhaltigkeit ist ein Schlüsselthema. Als Bewohner dieses Planeten müssen wir heute mehr denn je verantwortungsvoll leben und handeln. Santoni ist auf jeder Ebene nachhaltig. Die Verwendung recycelter Materialien, erneuerbare Energie, die Reduktion von Müll sind seit langer Zeit Teil unserer Philosophie. Schönheit und Qualität können nicht ohne eine nachhaltige Unternehmensphilosophie entstehen, abgetrennt von der Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass es dringend notwendig ist, dass jeder Unternehmer – auch in der Luxusindustrie – die entsprechenden Schritte unternimmt, um nachhaltiger zu produzieren. Das Ganze muss Hand in Hand gehen mit dem Respekt vor der Natur, vor den Individuen sowie vor dem wertvollen künstlerischen und handwerklichen Knowhow. Ich glaube, dass die Luxusindustrie diesen Werten absolute Priorität einräumen muss. Nachhaltigkeit darf nicht nur ein Statement sein, sondern muss eine tägliche Aufgabe sein. Das erwarten
EDITION / VOL. 6 – STILWELT
II.
I.
und fordern die Konsumenten von einer Marke, heute und erst recht in Zukunft. Italien und seine Industrie haben während des Lockdowns sehr gelitten. Hat diese Zeit dennoch auch etwas Gutes gebracht? Wir haben in diesen Monaten intensiv an unseren Strategien und Plänen gearbeitet, mit dem Ziel, in relevante Projekte zu investieren. Damit wollten wir ein wichtiges Signal des Mutes und des Optimismus setzen, natürlich unter Berücksichtigung der Veränderungen, mit denen die Modeindustrie im Gesamten und das Luxussegment im Speziellen gerade konfrontiert sind. Für uns ist klar, dass in der Digitalisierung und in der Orientierung auf den Verbraucher hin die künftigen Stärken einer Marke liegen.
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I. DIE PIONIERE: Schon als Nachhaltigkeit noch nicht in aller Munde war, setzte Santoni eine energieautarke Produktionsstätte um.
II. DIE IKONEN: Ein spezielles Verfahren zum Auftragen von Farbe macht Santoni-Schuhe zu echten Unikaten.
III. DIE STRATEGIE: Regionales Handwerk und eine globale Marken-
strategie auf einen Nenner zu bringen, das ist das Verdienst von Giuseppe
III.
Santoni.
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Adressen unsterblicher Kunst Faszinierende Designs, futuristische Formen und Materialien, in harmonischem Einklang mit zeitgenössischer Kunst und mit der Umgebung. Drei Museen im Porträt, die durch ihre bravouröse architektonische, kulturelle und künstlerische Gestaltung eine Zeitreise in die Zukunft erlauben und zu echten Ikonen geworden sind. TEXT: Sigrid Felbersohn. FOTOS: Pavel Kosov, Denis Kovalev, Elissar Haidar, Vitor Pinto/unsplash.com.
EDITION / VOL. 6 – KLASSIKER
I. NATIONAL MUSEUM OF QATAR Das Nationalmuseum von Katar ist ein lebendiger Ort der Vergangenheit und der Zukunft. Die Ausstellungen widmen sich der Geschichte des Landes und seinen Menschen und geben der Kultur der Nation aktiv Ausdruck. Die Eröffnung des Museums 2019 bedeutet dem heute kosmopolitischen Land sehr viel: Es gibt Katar eine Stimme in der Welt. Jede Galerie ist eine Reise der Sinne und verbindet die Besucher durch spezielle Klänge und Aromen, Film- und Archivbilder mit dem Leben und dem Land. Das markante Design des Gebäudes stammt vom Architekten Jean Nouvel und zeigt die komplexe Form einer Wüstenrose. WWW.NMOQ.ORG.QA DESTINATION: DOHA / KATAR
II. TESHIMA ART MUSEUM „Matrix“ ist der Name der 40 x 60 m großen und 4 m hohen, freistehenden Betonschale – entstanden aus einer Vision der Künstlerin Rei Naito und des Architekten Ryue Nishizawa. Das Teshima Art Museum in Japan ist wohl einzigartig auf der Welt, denn es beherbergt nur ein einziges Kunstwerk. Das Meisterwerk verbindet auf faszinierende Weise Kunst, Architektur und Natur. Im Innenraum springt Wasser aus dem Boden, ovale Öffnungen lassen Wind, Geräusche und Licht in den Raum. Man sagt: Wer alle seine Sinne dem Raum hingibt, spürt den Einfluss der Natur und die Freude am Leben. WWW.BENESSE-ARTSITE.JP DESTINATION: TONOSHO / JAPAN
III. GUGGENHEIM-MUSEUM BILBAO Ein großartiges Beispiel für die bahnbrechende Architektur des 20. Jahrhunderts: Mit 24.000 qm, davon 9.000 qm Ausstellungsfläche, ist das Museum mit seinem futuristischen Design ein architektonisches Wahrzeichen. Der berühmte kanadisch-amerikanische Architekt Frank Gehry hat es geschafft, eine spektakuläre Skulptur perfekt in Bilbaos Stadtsilhouette zu integrieren. Schwerpunkte der Dauerausstellung sind zeitgenössische Installationen und Videokunst des 20. Jahrhunderts. Beeindruckend ist auch die mehr als 12 m hohe, bepflanzte Hundefigur „Puppy“ von Jeff Koons vor dem Eingang des Museums. WWW.GUGGENHEIM-BILBAO.EUS DESTINATION: BILBAO / SPANIEN
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Anzug ERMENEGILDO ZEGNA Hemd BORRELLI Sneakers FABIANO RICCI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Stilist Klasse WEGLASSEN IST DIE NEUE TUGEND. EIN KLARER FOKUS SCHAFFT ORIENTIERUNG – UND DAS GILT INSBESONDERE AUCH FÜR DIE GARDEROBE. IKONISCHE STÜCKE WERDEN ZU LIEBLINGSTEILEN, WENN SIE GANZ PUR IHRE WIRKUNG ENTFALTEN. DIE INTRINSISCHE NICHT ZU VERGESSEN, SCHLIESSLICH IST DAS, WAS KLEIDUNG MIT IHREM TRÄGER TUT, NOCH IMMER DAS WICHTIGSTE.
Mehr finden Sie unter: braun.hamburg/edition
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Ledermantel und Ledersakko von AJMONE Rollkragenpullover MANRICO CASHMERE Hose PT TORINO Schuhe FABI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
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EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Sakko DOPPIAA Kapuzenpullover AMI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
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Sakko NEIL BARRETT T-Shirt 04651/
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Rollkragenpullover AMI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Amour fou „Es wird einem warm ums Herz.“ Eine Redewendung, die jeder kennt – die Frage nach ihrem Ursprung sorgt allerdings für Uneinigkeit. Vielleicht hat es mit Liebe zu tun? Vielleicht mit der passenden Chemie? Oder damit, dass einem in gewissen Momenten einfach vieles leichterfällt? Vielleicht gehören alle diese Assoziationen zusammen und haben nur darauf gewartet, dass jemand sie in einem Kleidungsstück vereint. Dass jemand, der diese Mode trägt, genau dieses Gefühl verspürt.
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T-Shirt 04651/ Hose PT TORINO
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Das Geheimnis der Mode ist deren Reduktion auf das Wesentliche.
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EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
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Mantel ETRO Kapuzenpullover AMI
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Aushängeschild Es sind zwei Dinge, die dem Mantel ein neues Antlitz verleihen. Radikal hohe Qualitätsansprüche, bei Stile Latino schon in der Marken-DNA verwoben. Vincenzo Attolini entwirft in neapolitanischer Sartoria-Tradition, da ist das Beste gerade gut genug. Und die Kombination eines solchen Luxusstücks ohne jeden Dünkel: zum modernen Anzug mit weiter Hose, das Hemd wird durch Strick oder ein Shirt ersetzt.
EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Mantel STILE LATINO Anzug LARDINI Pullover 04651/ Schuhe DOUCAL’S
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EDITION / VOL. 6 – FASHION STORY II
Cashmere-Blouson MOORER Rollkragenpullover AIDA BARNI Hose GTA 42 . 43
Wir beginnen da, wo andere aufhören Antonio „Toto“ de Matteis ist in große Fußstapfen getreten: Sein Onkel, Ciro Paone, hat mit Kiton eine der renommiertesten Marken für italienische Schneiderkunst gegründet. Hoch über Neapel thront eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Manufaktur. Mit EDITION hat der Vorstandsvorsitzende der Marke über Diskretion, Spaghetti al Pomodoro und Freundschaft gesprochen. INTERVIEW: Martina Müllner-Seybold. FOTOS: Kiton.
Diskretion ist selbstverständlich, wenn in Neapel die Privatflugzeuge der
Kunden von Kiton landen. „Die einflussreichsten Menschen der Welt tragen Kiton“, gibt sich Antonio de Matteis kryptisch.
EDITION / VOL. 6 – STILWELT
INNOVATION BRINGT DIE MAGIE IN DIE SCHNEIDEREI. Antonio de Matteis
Während des Lockdowns hat gefühlt die ganze Welt auf den Anzug verzichtet, für Kiton ist er das Aushängeschild – wie blicken Sie also in die Zukunft? Mit größerem Optimismus als gedacht, weil wir gerade erleben, wie sich die Welt von diesem Schock erholt. Wir sind eine globale Marke, und Märkte wie Russland oder China haben schon beinahe wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Ich merke es auch an mir selbst, nach drei Monaten im Pyjama macht es wieder richtig Spaß, morgens einen Anzug auszusuchen, sich fertig zu machen, sich die Krawatte zu richten. Man hat wieder richtig Lust auf dieses einzigartige Gefühl, das einem nur ein guter Anzug gibt.
Dann verraten Sie uns doch zumindest, wie diese Freundschaften entstehen ... Als Familienunternehmen ist das für uns selbstverständlich. Auch mit BRAUN Hamburg verbindet uns eine lange Freundschaft, die zwischen meinem Onkel Ciro Paone und Jean Braun begonnen hat und die Lars Braun und ich heute fortsetzen. Wir versuchen immer in Kontakt zu bleiben, treffen uns auch mal außerhalb der geschäftlichen Termine, wenn wir zum Beispiel beide in Mailand sind, zum Abendessen. Es sind die gemeinsamen Werte, die uns verbinden. Zwei Familienbetriebe, die sich dem Luxus verschrieben haben und die ihren Kunden den bestmöglichen Service bieten.
Nichts kleidet einen Mann so gut wie ein Anzug ... Definitiv. Ich finde, dass vieles bei den aktuellen Sportswear- und Casual-Trends Männer wie Clowns aussehen lässt – und das sage ich nicht nur, weil ich Vorstandsvorsitzender von Kiton bin und mir das Anzugtragen sozusagen in den Genen liegt. Der Anzug ist das Kleidungsstück, das zuerst den Träger wirken lässt, und damit ist er ein sehr diskreter Luxus. Wir machen die besten Anzüge der Welt, aber keines unserer Stücke trägt das laut nach außen. Man lernt immer erst den Menschen in unserem Anzug kennen, und nach und nach wird ein kundiges Auge anhand vieler Details erkennen, wie besonders der Anzug ist, den dieser Mensch trägt. Genau in dieser Reihenfolge muss es sein.
Ist für Sie jeder Kiton-Kunde ein VIP-Kunde? Definitiv, und jeder, der möchte, kann uns in Neapel besuchen. Wir haben viel zu zeigen und tun das von Herzen gerne. 350 Schneider in einem Palast mit Marmorfußboden – und der ist keinesfalls nur in der Chefetage verlegt, sondern in der gesamten Firma, bis in die Färberei. Ja, wissen Sie, am Ende macht das den Unterschied. Gute Schneider, gute Materialien, das können andere auch – aber dass die Menschen jeden Tag mit einem Lächeln bei ihrer Arbeit sitzen, das ist unser Asset. Wir investieren in jedes Detail, Qualität beginnt bei uns da, wo sie bei anderen endet. Um diese Qualität aber zu garantieren, brauchen wir die Menschen, und wir tun alles, damit sie bei uns zufrieden sind.
Diskretion ist ein großes Thema bei Kiton. Sie würden niemals verraten, wer alles Kiton trägt. Definitiv, das würde ich nie. Aber man kann es gut zusammenfassen: Die einflussreichsten Männer der Welt tragen unsere Anzüge. Wir kennen alle diese Kunden persönlich, gerade im Sommer nutzen viele die Gelegenheit, um uns in Neapel zu besuchen. Aber, ja, ich würde nie verraten, wer da alles zu Besuch kommt. Wir pflegen mit vielen ein freundschaftliches Verhältnis.
Kiton hat eine eigene „Scuola di Alta Sartoria“ gegründet, in der Manufaktur kennt jeder jeden, und zu Mittag gibt es ein besonderes Ritual. Das uns im Moment wegen der Covid-19-Maßnahmen leider verwehrt ist, aber wir hoffen, unsere Kantine bald wieder öffnen zu können. Mein Onkel liebt es, seine Spaghetti al Pomodoro mit
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I.
II.
seinen Schneidern zu essen. Und am Ende macht auch bei Spaghetti al Pomodoro die Qualität der Zutaten den Unterschied. Wobei Sie jetzt ein bisschen tiefstapeln. Ich war einmal in Ihrem Stofflager, das hat mit einfachen Zutaten wenig gemeinsam – es sind die feinsten und exklusivsten Stoffe der Welt. Absolut, das ist einer der vielen Punkte, in dem wir keine Kompromisse akzeptieren. Unsere Firma investiert viel Geld und Energie in die Weiterentwicklung, denn die Innovation bringt die Magie in die Schneiderei. Ob das neue, noch feinere Qualitäten sind oder bessere Passformen, es ist unsere Passion, immer wieder auf hohem Level zu überraschen. Ihr Onkel hatte eine besondere Art, die Menschen von seiner Marke zu überzeugen: Er ist überall hingefahren und hat die Menschen die Anzüge und Sakkos anprobieren lassen. Ist das in Zeiten der Digitalisierung noch immer der Weg? Selbstverständlich haben wir heute andere Mittel, um auf uns aufmerksam zu machen – die Marke und den Unterschied zu allem anderen auf dem Markt versteht man meiner Meinung nach allerdings immer noch am besten, wenn man in ein Sakko oder einen Anzug von uns schlüpft. Plötzlich erübrigen sich alle Erklärungen, man fühlt den Unterschied. Ein magischer Moment ... Ja, es ist tatsächlich Magie. Einen gewissen Teil von Kiton kann man erklären, aber den anderen muss man spüren – weil er einfach rational nicht erklärbar ist. Aber ich kann Ihnen trotzdem ganz genau sagen, wo diese Magie ihren Anfang nimmt: nämlich bei dem Lächeln des Schneiders, der an Ihrem Anzug arbeitet.
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I. DER URSPRUNG: Gründer Ciro Paone ist im Kiton-Werk in der Nähe
von Neapel allgegenwärtig. Der freie Blick auf seine „Sarti“ war sein expliziter Wunsch, schließlich fühlt er sich unter ihnen bis heute am wohlsten.
II. DAS ALLERHEILIGSTE: Handwerk, das fast wie eine Meditation zele-
briert wird. Niemand ist in Eile, jeder lächelt. An diesem Ideal der Sartoria ist den Paones und de Matteisʼ viel gelegen.
„Das ist so, als halte man eine Schneeflocke in Händen: Je länger wir sie betrachten, desto mehr schmilzt sie dahin, bis sie am Ende ganz verschwunden ist.“ Carlo Rovelli über das Phänomen Zeit.
EDITION / VOL. 6 – UPDATE
Gibt es eine Welt ohne Zeit, Herr Rovelli? Carlo Rovelli ist einer der weltweit führenden Physiker und Quantentheoretiker. In seinem Buch „Die Ordnung der Zeit“ beschreibt er die Welt ohne Zeit als einen „Ort von beunruhigender Schönheit“, eine „vom Wind durchfegte Landschaft“. Wer sich darauf einlässt, den führt Rovelli in diese „seltsame, fremde Welt, die aber unsere ist“. INTERVIEW: Markus Deisenberger. FOTO: Basso Cannarsa.
Die „leichteste“ Frage zu Beginn: Was ist Zeit? Gibt es dafür eine kurze, verständliche Definition? Es gibt viele mögliche Definitionen, die alle bestimmte Aspekte von dem umfassen, was wir üblicherweise Zeit nennen. Eine der besten geht auf Aristoteles zurück, der mehr oder weniger schrieb, dass Zeit das Maß für die Veränderung der Dinge sei. Tage werden zu Nächten, Nächte zu Tagen. Wir zählen diese Schritte, und das ist es, was wir Zeit nennen. Das deckt aber nur einen Aspekt der komplexen Erfahrung ab, die wir mit Zeit haben. Es gibt so viele andere. Einige davon wurzeln in der fundamentalen Physik, andere hängen von der spezifischen Perspektive ab, die wir einnehmen. Wieder andere beruhen auf unserer eigenen Psychologie. So haben wir etwa eine intensive psychologische Beziehung zum Vergehen von Zeit. Die Zeit der Physik, schreiben Sie in Ihrem Buch „Die Ordnung der Zeit“, ist letztlich der Ausdruck unserer Unkenntnis der Welt. „Zeit ist Unwissen.“ Irgendwie unbefriedigend, oder? Nein. Es ist gar nicht schlecht, manche Dinge nicht zu wissen. Ich persönlich will nicht absolut alles wissen. Das Leben wäre dann sehr langweilig. Newton und seine Theorie einer absoluten, gleichmäßig vergehenden Zeit sind widerlegt, aber in unseren Köpfen hält sich die Idee hartnäckig. Warum tut der Mensch noch immer so, als gäbe es eine absolute Zeit und als hätten Boltzmann und Einstein nie gelebt? Newtons Theorie und seine Ideen funktionieren in unserem Leben. Die meisten von uns haben deshalb keinen guten Grund, sie aufzugeben. Sie funktionieren erst dann nicht mehr, wenn wir über Situationen nachdenken, die von unserer täglichen Routine abweichen. Über Atome oder Sterne. Aber damit beschäftigen wir uns im täglichen Leben eher nicht.
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Nach der Theorie der Quantengravitation gibt es keinen Raum, der die Welt enthält. Es gibt auch keine Zeit, an der entlang Ereignisse stattfinden. Kein Früher und kein Später. Es gibt nur Wahrscheinlichkeiten. Für Normalsterbliche ist das kaum zu verstehen. Neue Theorien sind anfangs oft nur schwer zu verstehen. Als wir vor langer Zeit herausfanden, dass die Erde rund ist, war es kaum vorstellbar, wie die Menschen auf der anderen Seite der Erde „upside down“ leben. Aber dann gewöhnten wir uns an neue Denkarten und fanden die Dinge nachvollziehbar. Die meisten Menschen, die heute nach Sydney fliegen, wundern sich nicht darüber, dass sie dort „upside down“ ankommen. Ich arbeite nun schon Jahrzehnte mit Ideen der Quantengravitation und finde es nicht mehr schwer, daran zu glauben, dass unsere konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit nur Annäherungen erster Ordnung sind.
Es ist sehr realistisch. Aber das wird nicht das Ende der Physik sein. Neue Fragen werden gestellt werden. Neue Probleme werden auftauchen. Die Realität ist gewaltig, und wir haben bis jetzt nicht mehr als eine kleine Ecke davon erkundet.
Gibt es eine Welt jenseits von Raum und Zeit? Natürlich. Denken Sie an Kant. Wir neigen dazu, unser Denken als das einzig mögliche anzusehen, aber das ist selten der Fall. Zeit und Raum sind sehr gute Wege, um die Welt aus unserer Perspektive zu organisieren und zu verstehen. Aber es gibt keinen Grund, weshalb das die gleiche Rolle für die gesamte Realität spiele sollte.
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Hat Sie die Beschäftigung mit der Zeit und ihren Phänomenen jemals verzweifeln lassen? Und ob. Mehr oder weniger einmal pro Woche mein ganzes Leben lang. In der Wissenschaft dreht sich nicht alles darum, Resultate zu finden. Sie ist auch Verwirrung. Andauernde Verwirrung. Woran arbeiten Sie derzeit? Am Thema weiße Löcher. Jahrzehntelang haben die Menschen nicht daran geglaubt, dass die Lösung von Einsteins Gleichung, dass die „schwarzen Löcher“ tatsächlich existieren. Ich befürchte, das Gleiche wird mit den weißen Löchern passieren.
Wenn dem so ist, welche Rolle könnte der Mensch in einer Welt ohne Zeit spielen? Ich glaube, dass wir unsere Erfahrung außerhalb der Kategorie Zeit gar nicht begreifen könnten. Wir brauchen die Zeit. Wir leben in der Zeit wie Fische im Wasser. Wir sind temporäre Prozesse, keine statischen Einheiten. Tatsächlich leben wir in einer Dimension und in einem Teil des Universums, wo konventionelle Orientierung und das Modell der Zeit gut funktionieren. Aber bedenken Sie die folgende Frage: Wenn die Welt aus Atomen gemacht ist, warum sind Atome so klein? Das wirkt zunächst wie eine dumme Frage. Denn was heißt „klein“? Natürlich meinen wir damit, dass sie viel kleiner sind als wir selbst. Dann fragt es sich: Warum sind wir so groß? Warum? Weil wir nur in dieser, im Vergleich zu den Atomen großen Dimension mit einer sich annähernden und sehr vereinfachten Beschreibung von Realität klarkommen. Und das ist unsere Realität: Eine stabile, makroskopische Welt, die in Raum und Zeit gut geordnet ist. Wir Menschen sind ein Teil der Natur, ein sehr grober Teil, aber ausreichend komplex, um eine Sprache und ein Denken zu entwickeln und über den Rest der Natur zu reflektieren. Der Physiker Alain Connes hat einen kleinen Science-FictionRoman mit dem Titel „Le théâtre quantique“ geschrieben. Darin schafft es die Hauptfigur Charlotte für einen Augenblick, sämtliche Informationen der Welt ohne Unschärfen wahrzunehmen. Wie viel würden Sie dafür geben, es ihr für einen Moment gleichzutun? Wie viel ich für solch eine Erleuchtung geben würde? Ich kenne den aktuellen Marktpreis für 20 Mikrogramm LSD nicht. Aber ich glaube auch nicht, dass „totales Wissen“ viel bedeutet. Gäbe es dergleichen, wäre es keine Frage der Kapazität, sondern eine der Einfachheit. Wie wahrscheinlich ist es, dass „Einsteins Revolution“ vollendet wird, dass alle Fragen, die er offenließ, irgendwann von der Menschheit beantwortet werden?
ZUR PERSON: Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Pro-
fessor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte
er unter anderem am Imperial College London, an der Universität Rom, der Yale University, der Università dell’Aquila und an der University of
Pittsburgh. Physik studierte er, weil ihm die Philosophie zu wichtig gewesen sei, um sie zu einem Prüfungsthema zu degradieren, wie er sagt.
Heute, meint er, brauche er sie mehr denn je, denn die Philosophie helfe dabei, sich von verkrusteten Denkmustern zu lösen und Perspektiven zu
vergrößern, die es in der Kosmologie braucht. In seinem Buch „Die Ordnung der Zeit“ führt er den Leser „nach dort, wohin unser gegenwärtiges
Wissen über die Zeit strebt, bis zum großen nächtlichen und von Sternen überglänzten Ozean dessen, was wir noch nicht wissen“.
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Orte des Ankommens Wer reist, tut das, um neue Orte und Menschen kennenzulernen. Aber er tut es auch, um den Alltag hinter sich zu lassen, die Zeit zu vergessen, ja sogar, um ein Gefühl von Zeitlosigkeit zu verspüren. Auch wenn wir uns zurzeit erst mal nur in ferne Länder träumen können – entdecken Sie ein paar der schönsten Plätze, an denen Ihnen das garantiert gelingt. TEXT: Eva Goldschald. FOTOS: Hotels.
I. ARTAH RETREATS Mit Gesundheitsprogrammen dem Geist zu neuer Energie verhelfen: So beschreiben die Betreiber des luxuriösen Artah Retreat ihr Hotelkonzept. Erreicht wird dies durch ein umfangreiches Fitnessangebot, pflanzenbasierte Ernährung sowie auf den Gast abgestimmte BeautyAnwendungen. Ganz nebenbei liegt das Hotel auch noch auf einem Areal, wie es schöner nicht sein könnte: umgeben von Wäldern und Wiesen in den Gebirgsausläufern der Pyrenäen. Wer hierhin reist, nimmt eine große Portion Glück und Entspannung mit nach Hause. DESTINATION: GIRONA / SPANIEN WWW.ARTAH.CO
II. VILLA COPENHAGEN Dieses Hotel zeigt definitiv, dass Nachhaltigkeit und Luxus einander nicht ausschließen. Seit seiner Neueröffnung 2020 ist es das Ziel der Villa Copenhagen, „das beste Hotel für die Welt“ zu sein und die volle Verantwortung für den eigenen ökologischen Fußabdruck zu übernehmen. Man sagt, die Dänen seien die glücklichsten Menschen der Welt, weil sie auch die kleinen Dinge würdigen und Luxus nicht als selbstverständlich ansehen, sondern ihn schätzen, wenn er da ist. Das Hotel spiegelt genau dieses dänische Lebensgefühl wider. DESTINATION: KOPENHAGEN / DÄNEMARK WWW.VILLACOPENHAGEN.COM
EDITION / VOL. 6 – KLASSIKER
ZÖGERE NIE, WEIT FORTZUGEHEN, HINTER ALLE MEERE, ALLE GRENZEN, ALLE LÄNDER, ALLEN GLAUBENS. Amin Maalouf
III. PALAIS BAD RAGAZ Übernachten wie die Könige. Im denkmalgeschützten Palais-Gebäude – übrigens das kleinste der Grand-Resort-Ragaz-Familie – trifft High-End-Technik auf barocke Romantik. Das im 18. Jahrhundert errichtete Bauwerk beherbergt prunkvolle Zimmer und Suiten sowie zwei herausragende Restaurants. Das Hotel beeindruckt nicht nur durch seine imposante Architektur, sondern auch durch die Lage im Kurort Bad Ragaz, welcher durch sein hochwertiges Quell- und Thermalwasser weltbekannt geworden ist. DESTINATION: BAD RAGAZ / SCHWEIZ WWW.RESORTRAGAZ.CH
IV. ARCTIC BATH In der weiten, einsamen Landschaft Lapplands liegt eine Oase. Wer hier residiert, taucht ab, vergisst buchstäblich die Zeit. Erst seit 2020 gibt es das Arctic Bath Hotel, welches genauer betrachtet gar kein Hotel ist. Vielmehr ist es ein Gelände, auf dem kleine, luxuriös ausgestattete Holzkabinen stehen – unterteilt in die Kategorien Land, Wasser und Suite. Alle Materialien sind nachhaltig, der ökologische Fußabdruck der Gäste wird so gering wie möglich gehalten. Ein Highlight ist ganz klar der Spa-Bereich mit seiner schwimmenden Sauna. DESTINATION: LAPPLAND / FINNLAND WWW.ARCTICBATH.SE
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Nordlicht Großstädte besitzen eine magische Anziehungskraft. Sie pulsieren, sie sind voller Leben, sie stehen nie still. Und dann gibt es in dieser einen, besonderen Stadt einen Ort, der dieses Leben einfängt wie kein anderer. TEXT: Eva Goldschald. FOTO: AMERON Hotel.
Wer die großen Städte dieser Welt liebt, der zählt Hamburg vermutlich zu seinen ganz persönlichen Favoriten. Hamburg hat Klasse. Die Stadt ist anders als alle anderen. An jeder Ecke weht einem die raue Nordluft um die Ohren, und gerade das macht ihren Charme aus. Hamburg glänzt nicht durch besonders gutes Wetter oder eine herausragende Naturlandschaft. Hamburg ist vielmehr ein Ort, der durch seine unvergleichliche, manchmal mürrische Art, seine klare Architektur und zahlreiche Kulturhighlights selbst den Mittelpunkt bildet. Und dabei ist das Nordlicht so schön, dass die Liebe zu ihm ewig währt.
erbe, der Speicherstadt. Das Interieur zeigt sich im Stil der Gegenwart, gespickt mit ausgewählten Designelementen aus den 50er und 60er Jahren. Die 192 Zimmer und Junior-Suiten verteilen sich über sieben Etagen. Die Eventlocation des Hotels befindet sich im Gebäude einer ehemaligen Kaffeebörse. Hier bieten sechs Räume Platz für Tagungen, Events, Konferenzen oder Hochzeiten – umgeben vom einmaligen Flair alter Architektur. Als absolutes Highlight des Hotels gilt der Spa-Bereich im obersten Stock des Gebäudes. Kein anderer Ort in der Stadt gewährt einen so herausragenden Blick auf die Speicherstadt, den Hafen und die Elbe.
In der Speicherstadt, dem Herzstück des Hamburger Hafens, gibt es einen Ort, von dem aus man die Stadt aus seiner wohl schönsten Perspektive betrachten darf. Hier hat man das Gefühl, man wäre mittendrin im Geschehen, und doch genießt man es aus einer ruhigen, unaufgeregten Entfernung. Das AMERON Hotel liegt im Herzen der Hafenstadt. Und obgleich das alleine eigentlich schon Grund genug ist für einen Aufenthalt, bietet es noch viel mehr Vorzüge. Hier treffen Tradition und Moderne, Geschichte und Gegenwart aufeinander. Es ist das erste und einzige Hotel im UNESCO Weltkultur-
Man sagt von den Hamburgern, sie seien am liebsten unter sich, säßen lieber im eigenen Garten als in einem öffentlichen Café. Das AMERON Hotel lebt genau diesen Hamburger Charme: Man beobachtet das Treiben aus der Entfernung und ist trotzdem mittendrin.
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DESTINATION: HAMBURG / DEUTSCHLAND WWW.AMERONHOTELS.COM
Große Bleichen 23 - 27
HAMBURG STILVOLL
Ein Sakko ist wie meine zweite Haut Luigi Cesare Romano Augusto Lardini ist unter den vier Lardini-Geschwistern derjenige mit dem schönsten Job: Er zeichnet für die italienische Marke als Kreativdirektor verantwortlich. Seine große Leidenschaft gilt der Suche nach dem Neuen. Im Interview verrät er, was italienischen Stil so besonders macht und was der Lockdown in ihm ausgelöst hat. INTERVIEW: Martina Müllner-Seybold. FOTOS: Lardini.
EDITION / VOL. 6 – STILWELT
Die vier Geschwister Annarita, Luigi, Lorena und
Andrea Lardini entscheiden bis heute alles im
Quartett – auch wenn jedes der Geschwister seinen klar definierten Aufgabenbereich hat.
Luigi Lardini ist der Kreativdirektor.
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VERÄNDERUNGEN BRINGEN LEBENDIGKEIT, KREATIVITÄT UND DEN WUNSCH, SICH ZU ENTWICKELN. Luigi Cesare Romano Augusto Lardini
Lardini hat sich in den letzten Jahren zur anerkannten Marke aufgeschwungen und internationales Renommee erlangt. Worauf fußt dieser Erfolg? Unser Erfolg beruht auf Neugierde – wir hören nie auf, nach dem schönsten Stoff oder der neuesten Verarbeitungstechnik zu suchen. Bis ein Kleidungsstück fertig ist, gibt es unendlich viele Handgriffe, die man anders, detaillierter, besser machen kann. Genau das macht „made in Italy“ aus: Handwerk, Kreativität, diese Innovationskraft und Nachhaltigkeit. Bei uns kommt noch dazu, dass eine starke Familie den Unternehmenserfolg vorantreibt. Wir sind vier Geschwister, wir sind miteinander aufgewachsen, und jetzt bekommen wir noch Verstärkung durch unsere Kinder. Für uns alle gibt es keine Trennlinie: Die Familie ist die Firma und die Firma ist unsere Familie. Welches sind Ihre drei Lieblingsteile und warum? Am allerliebsten trage ich Sakkos, sie sind wie meine zweite Haut. Danach würde ich Accessoires nennen, welche auch immer – eine Krawatte, ein Einstecktuch, ein Gürtel oder die Schuhe, denn sie verleihen einem Outfit Persönlichkeit. Aktuell liebe ich auch bedruckte Shirts, aber selbstverständlich zum Sakko, in diesem Fall einem farbigen. Herr Lardini, jetzt erklären Sie uns doch mal, warum italienische Männermode immer so besonders aussieht. Das liegt meiner Meinung nach an unserem Stil und an der Tatsache, dass wir wirklich niemals aufhören, unsere Stoffe und die Verarbeitung zu präzisieren. Diese Detailarbeit sorgt für Innovation, macht gänzlich neue Produkte und Looks erst möglich. Was mir im internationalen Vergleich auch auffällt, ist, dass die italienischen Männer oft viel beherzter zu außergewöhnlichen Stücken greifen und dann auch keine Scheu haben, sie mal mit starken Farben zu kombinieren. Wie hat der Lockdown in Italien Ihre Kollektion beeinflusst? Wir haben schnell damit begonnen, medizinische Masken herzustel-
len, die wir dann der Bevölkerung und ausgewählten Organisationen zur Verfügung gestellt haben. Es war eine sehr herausfordernde Zeit, da wir immer in zwei Schichten arbeiteten, um die Produktion und gleichzeitig die Gesundheit der Mitarbeiter zu schützen. Außerdem tauschten wir uns sehr eng mit allen unseren Händlern aus, um ihnen sowohl emotional als auch wirtschaftlich das richtige Maß an Unterstützung zu bieten. Für mich als Kreativen war die veränderte Situation inspirierend. Jede Transformation hat einen positiven Aspekt, Veränderungen bringen Lebendigkeit, Kreativität und den Wunsch, sich zu entwickeln, mit noch mehr Entschlossenheit als zuvor voranzuschreiten. Beflügelt von dieser Energie, habe ich für 2021 eine Kapsel-Kollektion entworfen, die Luigi Cesare Romano Augusto heißt, also meine Vornamen trägt. Mir ist wichtig, dass sie ein positives Signal darstellt, dass sie anders ist und für das Wiedererstarken und die Veränderung steht. Eine Veränderung, die diese Krise sicherlich gebracht hat, ist ein weiterer Schritt in Richtung Casualisierung – im Homeoffice sitzt niemand mit Anzug und Krawatte am Schreibtisch. Doch Anzüge und Sakkos sind Ihre Wurzeln, wie reagieren Sie darauf? Die Digitalisierung ist wie ein Hurrikan in unser Leben gekommen. Seit zehn Jahren verändert sie die Welt, jeder kann innerhalb von Sekunden alles nachschlagen. Das beinhaltet auch, dass man als Marke viel sichtbarer wird, dass man sich bis in den letzten Winkel der Erde zeigen kann. Smart Working, wie wir Italiener das Homeoffice nennen, ist einer dieser Aspekte, wo sich die Digitalisierung ganz konkret in unserem Leben niederschlägt. Distanzen werden überwunden, wir sind immer miteinander verbunden und tauschen uns aus. Wie alles hat auch das seine guten und seine schlechten Seiten. Denn nicht immer ist Effizienz gegeben: Ein klassisches Outfit online zusammenzustellen ist zum Beispiel unglaublich viel aufwendiger als in einen tollen Laden zu gehen und dort die Stoffe zu fühlen und die Passformen zu erleben. Und trotzdem funktioniert es für viele auch, diese Sachen online zu kaufen, weil sie die Unabhängigkeit, die ihnen das E-Commerce gibt, lieben.
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II.
I. Die Sonne Italiens macht Lardini autonom: Solaranlagen auf dem Dach
zeugen von dem modernen Geist der Unternehmerfamilie Lardini, die sich
international vernetzt und austauscht. Die Grenzen des Landes hat auch die Marke längst hinter sich gelassen, Lardini gilt global als Geheimtipp in Sachen Männermode.
II. Inszenierung ist Teil der Modewelt – für Lardini ist es wichtig, dass die Marke eigenständig und trotzdem international auf Augenhöhe ist.
III. Genäht wird in Filottrano übrigens nicht nur für Lardini: Hier werden auch Anzüge für Marken wie Gabriele Pasini, Dsquared2 oder Tommy Hilfiger Tailored gefertigt.
ZUR PERSON: Luigi Cesare Romano Augusto Lardini hat 1978 als damals 18-Jähriger gemeinsam mit seinem 21-jährigen Bruder Andrea und den beiden Schwestern Annarita und Lorena das Unternehmen Lardini gegründet. Als Kreativdirektor der Marke führte er es zu internationalem Erfolg, Markenzeichen Lardinis ist eine Wollblume im Revers. In Filottrano, südlich von Ancona, werden täglich 1.600 Bekleidungsstücke gefertigt – nicht nur für die eigene Marke, sondern im Laufe der Jahre auch für zahlreiche Marken wie Etro, Burberry, Tommy Hilfiger Tailored oder die Marke Gabriele Pasini, mit der Lardini ein Joint Venture eingegangen ist.
III.
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Die goldene Stadt Für die nächste Reise bereits vorgemerkt: Prag ist eine Stadt voller Geschichte, geprägt von Gotik und Barock. Nirgendwo verliert man das Zeitgefühl so schnell wie hier: Kaffeehäuser, ein anmutiger Fluss in der Mitte, das beste Bier, architektonische Meisterwerke, historische Gärten und Parks – man könnte die Liste unendlich fortführen. Herausgeber Lars Braun präsentiert seine Lieblingsorte in der „Goldenen Stadt“. TEXT: Eva Goldschald. FOTOS: Jean Carlo Emer/unsplash.com, Boho Hotel, National Gallery Prague, Ginger & Fred Restaurant.
EDITION / VOL. 6 – KLASSIKER
I. HOTELS HOTEL WALDSTEIN / VALDŠTEJNSKÉ NÁM. 6/19 Gelegen im attraktivsten Teil Prags, unter der Burg, bietet die luxuriöse Unterkunft alles für Designliebhaber. Fußläufig entfernt liegen die Karlsbrücke, die St. Nikolaus-Kirche und weitere Highlights. BOHO HOTEL / SENOVÁZNÁ 1254/4 Wer das Besondere sucht, wer Luxus liebt, wird dieses Hotel in der Prager Altstadt lieben. Schon in der Lobby eröffnet sich ein ganz besonderes Flair, sodass man gar nicht mehr abreisen möchte. UNITAS HOTEL / BARTOLOMĚJSKÁ 308 Die Ruhe in den Gemäuern des ehemaligen Jesuitenklosters macht das Hotel zum Wohlfühlort. Hier kann man trotz sehr modernen Designs die Geschichte der Altstadt hautnah erleben.
II. MUSEEN NATIONALGALERIE / STAROMĚSTSKÉ NÁM. 1/12 Das bedeutendste Kunstmuseum in Böhmen beherbergt Werke der Malerei, Bildhauerei und Grafik aus dem In- und Ausland. Insgesamt umfasst die Nationalgalerie zehn Institutionen. BIERMUSEUM / SMETANOVO NÁBŘ. 205 Ausstellung auf unkonventionelle Art: Man erfährt alles über die Herstellung des Prager Bieres von den Anfängen bis heute und darf zudem so viel Bier probieren, wie man will. NATIONAL FILM MUSEUM / JUNGMANNOVA 748/30 Sehen, staunen, mitmachen: So lautet das Credo des Filmmuseums, das es so kein zweites Mal in Tschechien gibt. Besucher lernen, wie Film funktioniert und welche Technik dahintersteckt.
III. RESTAURANTS GINGER & FRED / JIRÁSKOVO NÁM. 1981/6 Ein 360-Grad-Blick über Prag bietet sich im siebten Stock des „Tanzenden Hauses“, welches ganz nebenbei ein architektonisches Meisterwerk ist. Zu essen gibt es reichlich, lokal und auf Sterneniveau. GALLERY 44 / KARLOVA 44 Eine Verbindung von Kunst und Kulinarik: Die offene Küche gewährt einen freien Blick auf die Arbeit der Köche. Im Keller aus dem 12. Jahrhundert verkosten Sie ein 7-Gänge-Menü. COFFEE CORNER BAKERY / KORUNNÍ 1342/96, VINOHRADY Man sagt, hier genieße man den besten Cappuccino der Stadt. Gemütliche Ohrensessel und Steinwände schaffen ein heimeliges Ambiente, das einen an das eigene Zuhause erinnert.
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Die Marke aus den Marken Wer die besten Schuhmacher Italiens sucht, ist in den Marken auf der richtigen Spur. Im Hinterland der Küste von Ancona und Civitanova Marche arbeiten die besten Calzolai. Bei dem 1965 gegründeten Familienunternehmen Fabi wird deren Arbeit mit viel Innovation verbunden. TEXT: Martina Müllner-Seybold. FOTOS: Fabi.
Ihre Geschichte steht stellvertretend für die Ära, in der im damals noch ländlich und handwerklich geprägten Italien einem talentierten Menschen alle Wege offenstanden, wenn er etwas mit Leidenschaft und Können machte. Wir schreiben das Jahr 1965, die Brüder Enrico und Elisio Fabi hatten sich gemeinsam mit ihren Ehefrauen entschlossen, für einen ersten Kunden zwölf Paar Schuhe herzustellen. Im Esszimmer ihres Elternhauses fertigten sie gemeinsam diese Schuhe und schon bald war nicht nur das Esszimmer, sondern das gesamte Erdgeschoss des Hauses für die Schuhproduktion reserviert. Der Zusammenhalt der Familie machte Wachstum möglich, erst national, später auf internationalem Niveau. Vier Kinder der Brüder arbeiten heute in verschiedenen Aufgabenfeldern im Unternehmen mit. Geblieben ist die große Demut: Mit großem Stolz erzählt die Familie von ihren besonders talentierten „Maestri“, also Schuhmachermeistern. Die nämlich lieben es, an überlieferten Traditionen zu rütteln. Wenn die Modernität gewinnt Sneakers, Mokassins, Loafer – bei legeren Schuhen ist Modernität vergleichsweise schnell hergestellt. Was Fabi von vielen anderen Schuhherstellern unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Marke auch ihr Angebot an formellen Schuhen revolutioniert hat. Viele davon werden Goodyear-welted hergestellt. Dieses von Charles Goodyear entwickelte Verfahren basiert darauf, dass ein umlaufendes Gemband mit der Brandsohle des Schuhs vernäht wird, welches später dazu dient, dass mit der legendären Goodyear-Nähmaschine Schuhschaft, Brandsohle und ebendieses umlaufende Gemband
als Rahmen miteinander vernäht werden können. Atmungsaktivität, Flexibilität und Langlebigkeit gewinnen durch dieses Verfahren, doch viele Konsumenten verbinden die Anwendung der Goodyear-Methode mit relativ steifen Schuhen. Auftritt Fabi: Selbst die Doppelmonks der Marke sind echte Fliegengewichte, die Sohle ein gefühlter Hauch von Nichts, das Obermaterial soft, ohne so auszusehen. Modelle mit dem Zusatz „Flex Goodyear“ oder „Super Flex“ haben eine beachtlich biegsame Sohle. Ob Derby, Fullbrogue oder Chelsea Boot, die Verbindung eines eleganten, klassischen Schuhs mit dem Laufkomfort eines Sneakers ist ein Alleinstellungsmerkmal, das Fabi für sich geschaffen hat.
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I. DIE KREATIVITÄT: Tradition muss nicht langweilig sein – das beweist
die Familie Fabi mit ihrer Marke.
II. DAS UMLAND: Touristisch noch ein Geheimtipp, in Sachen Schuhe
schon längst die Benchmark in Italien: die Marken, wo auch Fabi seinen Sitz hat.
III. DAS VERFAHREN: Rahmengenäht ist das eine, rahmengenäht im Good-
year-Verfahren das andere. Die Technik erlaubt große Flexibilität.
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Visionäres Baby, 1979
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Kann man mit Fotografie die Zeit festhalten, Herr Schels? Der Fotograf Walter Schels hatte sie alle vor der Linse: von Angela Merkel über Andy Warhol bis hin zum Dalai Lama. Im Interview verrät er, was er unter „Nulleinstellung“ versteht und wie man den Moment festhält, indem man die Zeit loslässt. INTERVIEW: Markus Deisenberger. FOTOS: Walter Schels.
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JEDE SEKUNDE BRINGT UNS DEM TOD NÄHER. TAK, TAK, TAK. DER TOD KENNT KEINE AUSNAHME UND KEIN ALTER. Walter Schels
Fotografie wird oft als die Kunst bezeichnet, den perfekten Moment festzuhalten. Lässt sich der überhaupt festhalten? Man kann ihn festhalten, aber nicht erzwingen. In der Porträtfotografie habe ich viele Aufnahmen mit Großbildkamera und natürlichem Licht gemacht. Bei einer Belichtungszeit von zwei Sekunden muss man warten, bis die Bewegung stillhält und ein Ausdruck kommt, der einmalig ist. Wann das so weit ist, kann man nicht voraussehen. Ich kann nur einen Wunsch haben und eine Fantasie im Kopf entwickeln. Ob das dann genau so eintritt, sieht man erst auf den fertigen Abzügen. Man kann etwas nachhelfen, wenn man weiß, was man will. Aber ansonsten muss man den Moment abwarten können. Sie haben viele Jahre lang Geburten fotografiert. Was war daran besonders? Der Augenblick, in dem das Kind das Licht der Welt erblickt, das sind Bruchteile von Sekunden. Da muss man sehr schnell sein, um den Moment zu erfassen und ihn nicht zu verpassen. Die Gesichter der Säuglinge wirkten auf Sie, als hätten sie Vergangenheit, sagten Sie, „Wissend und uralt.“ Wie ist das zu verstehen? Ich habe das bildlich gemeint. Das ist ein subjektives Gefühl. Gerade die Neugeborenen haben eine Landschaft in ihren Gesichtern wie alte Menschen. Legt man etwa den Ausschnitt der Stirn eines Neugeborenen neben den Ausschnitt der Stirn eines Neunzigjährigen, sind die Bilder kaum voneinander zu unterscheiden. Neugeborene haben eine solcherart gefaltete Sturmlandschaft im Gesicht, wie man sie sonst nur bei ganz alten Menschen findet, und eine bereits ausgeprägte, offenbar angeborene Mimik. Sie haben in Hospizen und Palliativstationen über Jahre hinweg Sterbende fotografisch begleitet. Was hat Sie daran gereizt? Ich bin kein Freund des Lächelns. Meine Porträtfotografie zielt auf ein finales Bild, eine Art Grundeinstellung, wie bei einer Kamera. Die Mimik eines Menschen formt und prägt, auch wenn sie nicht benutzt wird, den Ausdruck und das Gesicht. Ich möchte ein mimikloses Gesicht, die Nulleinstellung, wenn Sie so wollen. Ohne das Gesellschaftslächeln, das wir uns – wahrscheinlich eine Überlebensstrategie der Evolution – antrainiert haben. Mit dem Lächeln ist es wie mit dem Zuckerguss beim Krapfen, den man mit dem Messer abkratzt, bevor man ihn isst. Bei den Menschen, die ich vor ihrem Tode und mit ihrem Einverständnis und Wissen auch als Tote noch einmal porträtiert habe, hatte ich dieses Problem nicht. Ich habe dort das reine, saubere Gesicht erlebt. Kein Theater im Gesicht. Bei Kriegsende, das Sie in Landshut erlebten, waren Sie acht Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit? Das war eine schreckliche Zeit. Unser Haus wurde bombardiert. Im
letzten halben Jahr, bevor der Krieg zu Ende war, gab es fast jede Nacht Fliegeralarm, wir mussten in den Bunker, durften kein Licht machen. Angriff auf Angriff. Als unser Haus bombardiert wurde, gab es eine ganze Menge Tote. Die musste ich identifizieren. Die lagen herum, waren verschüttet. Abgerissene Arme, ein abgerissener Kopf. Ich habe gruselige Dinge erlebt und hatte deshalb lange Zeit Albträume. Diese Albträume haben meine Fotografie stark geprägt. Haben Sie Ihre Ängste überwunden, als Sie beim Fotografieren im Hospiz mit dem Tod in Kontakt traten? Diese Angst zu überwinden, wurde im Hospiz zur Überlebensstrategie. Ich habe die Menschen erlebt, wie sie ins Hospiz kamen, mit einem Koffer in der Hand, und habe sie wieder erlebt, wenn sie im Sarg rausgetragen wurden. Meine Frau und ich waren auch bei den Beerdigungen dabei. Wir haben gemeinsam so viel zwischen NochLeben und Tod erlebt ... Ja, das hat mir meine Angst vor Särgen und Toten genommen und mein Leben ungemein bereichert. Aber es geschah ohne jede Absicht. Hat dieses Projekt Ihr Gefühl für die Vergänglichkeit des Seins verändert? Das Bewusstsein für die Vergänglichkeit des Seins hat mich ein Leben lang begleitet und mich so tief geprägt, dass es auch meine Fotografie geprägt hat. Bei fast jeder Geburt habe ich, während der Kopf das Licht der Welt erblickte, im Hintergrund schon sein Ende gesehen. In dem Moment, in dem man geboren wird, ist man dem Tode geweiht. Ein Countdown. Jede Sekunde bringt uns dem Tod näher. Tak, tak, tak. Der Tod kennt keine Ausnahme und kein Alter. Ist Ihr Zugang ein anderer, je nachdem, ob Sie nun Frau Merkel, den Dalai Lama oder einen Sterbenden fotografieren? Nein. Ich sage nie, was sie machen, welchen Gesichtsausdruck sie mir zeigen sollen. Im Gegenteil: Die Selbstvergessenheit ist es, die es zu erzielen gilt. Weg von der Angst, wie man aussieht. Weg von der Eitelkeit, schöner sein zu wollen, als man ist. Das ist es, was ich die Grundeinstellung nenne. Ein Porträt so weit zu bringen, das ist mein Wunsch. Ich habe viele alte Schauspieler wie Heinz Rühmann oder Luis Trenker fotografiert. Die haben meistens versucht, sich über das Shooting hinwegzulächeln. Da muss man Geduld haben. Oft macht der Augenkontakt das Bild. Die Augen sprechen zueinander. Man muss sich nahekommen, physisch und menschlich. Der Dalai Lama wusste nach nur einem Blickwechsel, dass ich ihn nicht lachend wollte. Was muss ich als zu Fotografierender tun, um es Ihnen recht zu machen? Sie müssen nichts tun. Nichts denken. Loslassen. Die Zeit loslassen.
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I.
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I. DER DALAI LAMA: Kaum ein Foto, auf dem er nicht aus vollem Her-
zen lacht. Ein kurzer Augenkontakt nur, und er hatte verstanden, was
Walter Schels von ihm wollte: die „Nulleinstellung“. Den „Krapfen ohne Zuckerguss“.
II. MONIKA HOLZLEITNER: im Alter von 101 Jahren, 1990. III. HORST JANSSEN: Der Hamburger Maler und Autor, so wie er sich selbst sah: genial und vom Leben gezeichnet.
ZUR PERSON: Walter Schels wurde 1936 in Landshut geboren. Von
1957 bis 1965 arbeitete er als Schaufensterdekorateur in Barcelona, Kanada und Genf. Anschließend ging er nach New York, um Fotograf zu wer-
den. 1970 kehrte er nach Deutschland zurück und eröffnete in München ein eigenes Studio. Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Fotografen Deutschlands. Bekannt wurde er durch Charakterstudien von
Prominenten aus Politik und Kultur, Porträtserien von Menschen in Extremsituationen und Tierporträts. Walter Schels lebt und arbeitet seit
III.
1990 in Hamburg.
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Inspiration, seitenweise Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die so viel Zeit haben, dass sie alle Bücher lesen können, die es wert wären, gelesen zu werden. Allerdings sollten Sie sich für folgende Exemplare definitiv Zeit nehmen. Denn damit haben Sie quasi schon eine Menge lesenswerter Lektüre (und sehenswerter Bildbände) abgedeckt. TEXT: Eva Goldschald. FOTOS: Verlage.
I. DIE MACHT DER FANTASIE Der kleine, dicke Junge Bastian Balthasar Bux träumt sich von seinem realen Leben weg in das fiktive Reich Fantasien. Dort erlebt er Abenteuer, die immer mehr mit der Wirklichkeit zu verschmelzen scheinen. Mit seinem Romanklassiker traf Michael Ende 1979 bei den Lesern voll ins Schwarze. Die Neuauflage mit ausdrucksstarken Illustrationen lässt noch mehr Raum zum Träumen. Ein unvergänglicher Schatz, der in keinem Bücherregal fehlen darf. AUTOR: MICHAEL ENDE TITEL: DIE UNENDLICHE GESCHICHTE VERLAG: THIENEMANN-ESSLINGER
II. WHAT TIME IS IT? Seit über einem Jahrhundert ist Rolex die begehrenswerteste Uhrenmarke der Welt. Eine Rolex schenkt man den Enkeln zum Geburtstag, dem Partner zur Hochzeit, oder man vererbt sie an die nächste Generation. Eine Rolex ist zeitlos, obwohl sie mit der Zeit geht. Mit diesem Buch reist man zurück zu den Anfängen, ins Jahr 1905, als der junge Hans Wilsdorf den Traum hatte, elegante, zeitlos schöne Armbanduhren zu entwerfen. AUTOR: FABIENNE REYBAUD TITEL: ROLEX – THE IMPOSSIBLE COLLECTION VERLAG: ASSOULINE
EDITION / VOL. 6 – LITERATUR
NICHT WER ZEIT HAT, LIEST BÜCHER, SONDERN WER LUST HAT, BÜCHER ZU LESEN, DER LIEST, OB ER VIEL ZEIT HAT ODER WENIG. Ernst Reinhold Hauschka
III. REISE DURCH 20 LÄNDER Zwischen 1991 und 2015 bereiste Josef Koudelka 20 Länder. Dabei machte er Halt an über 200 griechischen und römischen archäologischen Stätten, um die Schönheit vergangener und verborgener Welten in Bildern festzuhalten. Noch niemals zuvor hat ein Fotograf es geschafft, so viele Ausgrabungsstätten zu besuchen; diesen begegnet Koudelka mit großer Demut. In diesem Bildband entdeckt man eine Welt, die unserem Intellekt entgleitet, in der unsere Wahrnehmung zwischen Glaube und Realitätssinn, zwischen Gesetz und Freiheit hinund herschwankt. AUTOREN: JOSEF KOUDELKA TITEL: RUINS VERLAG: THAMES & HUDSON
IV. ITALIENISCHE DICHTERKUNST „La Divina Commedia“, das Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Alighieri, entstand zwischen 1307 und 1321. Und obwohl seitdem 700 Jahre vergangen sind, ist es immer noch ein Klassiker, der alle Zeiten überdauert. Es gilt als die bedeutendste Dichtung der italienischen Literatur. In der Commedia unternimmt der Ich-Erzähler eine Reise durch die drei Reiche des Jenseits: die Hölle, den Läuterungsberg und das Paradies. AUTOR: DANTE ALIGHIERI TITEL: DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE VERLAG: NIKOL VERLAG
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Hamburgs Speicherstadt ist für viele – Besucher wie Bewohner – wahrscheinlich die wirkliche Perle der Stadt. Wenn man an Hamburg denkt, denkt man an das ganz besondere Hafen-Flair mit dem Fischmarkt, an den Hamburger Michel, das berühmt-berüchtigte Nachtleben und vor allem an die beeindruckende Speicherstadt. Die Speicherstadt entstand zwischen 1883 und 1927 unter der Bauleitung vom Oberingenieur der Hamburger Baudeputation Franz Andreas Meyer. Sie ist eines der wichtigsten Wahrzeichen Hamburgs und auch UNESCO-Weltkulturerbe – hier findet man heute u. a. das Gewürzmuseum und das Miniaturwunderland.
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Das rastlose Flair einer Großstadt, das geschäftige Treiben in den Straßen, still beobachtet vom Dach des Spa-Bereichs des AMERON Hotels. Im siebten Stock thront man schon beinahe über der Metropole und erblickt diese von einer ihrer schönsten Seiten – mit Hafencity, Elbe sowie Speicherstadt. Es ist ein Ort, an dem nichts sein muss und vieles sein kann. Ein Ort, der für Veränderung steht, für den Stillstand ein Fremdwort ist. Ein Ort, der pulsiert und anzieht wie kein anderer. Ein Ort voller Leben, aus einer ruhigen Perspektive gesehen. Mittendrin und doch abgeschieden.
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Made in Napoli Die besten italienischen Anzüge kommen aus Neapel? Stimmt – und die besten Hosen. Die Manufaktur Marco Pescarolo gibt klassischen Hosen einen modernen Twist. TEXT: Martina Müllner-Seybold. FOTOS: Marco Pescarolo.
Das schönste italienische Tuch, eine klassische, edle Wollhose fürs Business. Mit Joggingbund! Für solche Besonderheiten ist die Insidermarke Marco Pescarolo aus Neapel bekannt. Im Schatten des Vesuvs steht die Wiege der italienischen Sartoria-Tradition. Vielleicht, weil die Neapolitaner zwei für die Schneiderei ganz wesentliche Charakterzüge in sich vereinen: „passione“, Leidenschaft, und die Fähigkeit, alles, was sie tun, „con calma“ zu machen. Die tiefe Resilienz der Menschen in dieser bizarr-schönen Stadt lässt sich auch an den Produkten ablesen. Mit Verve gearbeitet, akkurat, und es ist erkennbar, dass kundige Menschen hinter diesen Produkten stehen. La Famiglia Marco Pescarolo und seine Frau Anna de Matteis sind Teil der neapolitanischen Fashion-Royalty. Beide stammen aus Schneiderfamilien; Anna ist die Nichte von Kiton-Gründer Ciro Paone und Schwester des Kiton-Vorstandsvorsitzenden Antonio de Matteis. Für ihren Bruder hat sie ein Auge auf Kitons Hosen, gemeinsam mit ihrem Mann allerdings sah sie die Gelegenheit, eine eigene Marke zu etablieren. Auch er stammt aus einer renommierten TextilproduzentenFamilie, kein Wunder also, dass die beiden von Anfang an Zugang zu
den allerbesten „Made in Italy“-Stoffen hatten. Seit 1999 wirkt das Ehepaar nun schon gemeinsam Wunder. LʼEquilibrio Moderne und Tradition in ein Gleichgewicht – italienisch: equilibrio – zu bringen, das klingt zunächst wie eine abgedroschene Phrase. Erst im Handwerk einer Manufaktur wie Marco Pescarolo wird dieser Satz lebendig. An klassischen Schnittmodellen einer Herrenhose etwas so zu verändern, dass der Look modern und lässig wird, ist nämlich tatsächlich große Kunst. Millimeterarbeit für besonders Geduldige, die Schnittmacher sind Meister der Vorstellungskraft. Was sie auf Papier oder in Computerzeichnungen erschaffen, wird in ihrem Kopf lebendig und dreidimensional. In Bezug auf die Passform gibt es unendlich viele Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Der Stoff, die Nähte, die Taschen, der Bund – die Hose ist ein Gesamtkunstwerk, das aus vielen Einzelteilen besteht und bis zu hundert Arbeitsschritte durchläuft, ehe es fertig ist. Eine entsprechend sensible Angelegenheit ist es also, Teile dieses Kartenhauses zu modernisieren, ohne es dadurch aus dem Gleichgewicht zu bringen. In Neapel kann man genau das – con passione e calma.
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I. DIE AUSNAHME: Denim ist der einzige Stoff, der bei Marco Pescarolo
nicht aus Italien stammt; es ist japanischer Denim.
II. DER LUXUS: Attitüde: casual, Tragegefühl: Made-to-measure – diese Balance kann die Marke perfekt.
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III. DIE ELEGANZ: Konsequente Handarbeit, allerbeste Stoffe, jahrelange Erfahrung – das macht Marco Pescarolos Einzigartigkeit aus.
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Alle unsere ökologischen Probleme wurden dadurch verursacht, dass wir die Verbindung zur Natur gelöst haben und nicht mehr
rhythmisch leben, sagt Zeitforscher Karlheinz Geißler. Er fordert weniger Vertaktung, mehr Rhythmus.
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Wie werden wir „zeitzufrieden“, Herr Prof. Geißler? Die Uhrenherrschaft sei zu Ende, sagt Karlheinz Geißler, renommierter Münchner Zeitforscher. Aber was kommt danach? Ein Gespräch über die Zumutung, dass man sich vertakten solle, und über alternative Formen von Zeitorganisation. INTERVIEW: Markus Deisenberger. FOTO: Stephan Rumpf.
Liest man Ihr aktuelles Buch „Die Uhr kann gehen“, bekommt man den Eindruck, Sie verabscheuen die Uhr. Irgendwie seltsam für einen Zeitforscher. Ich verabscheue die Uhr nicht, ich reduziere bloß die selbstverständliche Euphorie, die mit ihr zusammenhängt. Mein Buch ist der Versuch, durch Betonung der dunklen Seite ein bisschen mehr Realität in diese Uhrzeit-Gesellschaft zu bringen. Sie prophezeien das Ende des Uhrzeitalters. Was kommt danach? Das Mobiltelefon, das uns weit mehr an Flexibilität gibt als die starre Zeit der Uhr. Die Uhr macht die Zeit grau. Sie lässt die Buntheit der Zeit kaum zu. Und das Smartphone macht sie bunter? Ja. Es lässt andere Zeitformen zu. Ich kann kurz anrufen und sagen: „Ich bin zu müde. Ich komme jetzt nicht.“ Es lässt mir mehr Möglichkeiten, mein eigenes Zeit-Erleben zum Gegenstand von Organisation zu machen. Schön und gut. Aber angenommen, es warten schon fünf Leute auf mich im Konferenzraum. Dann habe ich durch mein Zuspätkommen doch ihre Zeit „verschwendet“. Ist die zeitliche Freiheit des einen nicht oft die Unfreiheit der anderen? Nein, ist sie nicht. Es kommt ganz darauf an, welche Einstellung Sie zum Warten haben. Warten muss ja nichts Negatives sein. Wenn Sie warten müssen, weil jemand zu spät kommt oder die Verabredung nicht einhält, wird das doch nicht automatisch zu einer unangenehmen Situation für Sie. Das ist nur dann der Fall, wenn Sie mit dem Warten nichts anfangen können. Ich darf Sie zitieren, wenn meine Frau das nächste Mal auf mich warten muss? (Lacht.) Umgekehrt hat es Walter Benjamin mal so schön formu-
liert: „Je länger ich auf Frauen am Bahnsteig warten muss, desto schöner werden sie“, sagte er. Zurück zum Smartphone. In Ihrem Buch schreiben Sie dazu aber: „Digitale Umgebungen erfordern sekundenschnelle Zeitwahrnehmungen, sie verlangen ein permanentes Vor und Zurück, steten Wechsel von Gewohntem.“ Das klingt nicht gerade nach einer Verbesserung. Nein, es ist auch per se keine Verbesserung, es eröffnet nur die Chance einer Verbesserung, weil es den dominanten Takt der Uhr reduziert und damit die Zumutung, sich zu vertakten und wie eine Maschine zu verhalten. Aber es gibt kein Angebot für eine andere Form von Zeitorganisation. Schon in der Schule wird gelehrt, sich an der Uhr zu orientieren. Es wird nicht gelehrt, sich entlang der eigenen Zeitbedürfnisse zu organisieren. Was wäre aus Ihrer Sicht die Alternative? Rhythmus. Der Takt der Uhr muss durch Rhythmus abgelöst werden, um vernünftiger mit Zeit umzugehen, weniger Zeitprobleme zu haben und zeitzufriedener zu werden. Rhythmus ist das ursprüngliche Zeitmodell des Menschen. Das ganze Leben ist rhythmisch organisiert, nicht taktförmig. Gibt mir diesen Rhythmus die Natur vor, oder muss ich den selbst entwickeln? Den geben die eigene Natur und die Natur draußen vor. Jeder Mensch ist Teil der Natur. Unsere ganzen ökologischen Probleme wurden dadurch verursacht, dass wir mit der Orientierung an der Uhr die Verbindung zur Natur gelöst haben und nicht mehr rhythmisch leben. Klingt romantisch, wieder mit der Dämmerung ins Bett zu gehen und mit dem ersten Hahnenschrei aufzustehen. Aber halten Sie es auch für realistisch?
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RHYTHMUS IST DAS URSPRÜNGLICHE ZEITMODELL DES MENSCHEN. DAS GANZE LEBEN IST RHYTHMISCH ORGANISIERT, NICHT TAKTFÖRMIG. Professor Karlheinz Geißler
Die Bindung an die Natur und ihre Prozesse ist nicht nur romantisch, sondern kann auch ziemlich brutal sein, wie uns die Corona-Pandemie gezeigt hat. Und: Wir werfen die Uhren ja jetzt nicht weg. Die „Veruhrzeitlichung“ ist ja auch ein Fortschritt. Aber wir dürfen sie nicht monopolisieren, vielmehr sollten wir sie nur dort einsetzen, wo sie auch wirklich sinnvoll ist. Die Natur da draußen und auch der Mensch selbst müssen Maßstab sein, nicht nur die Uhr. Das große Problem an Corona war, dass der gewohnte Takt wegfiel und kein Angebot eines Rhythmus gemacht wurde. Den musste jeder selbst entwickeln. Ist der Kapitalismus ohne Uhr denn vorstellbar? Nein. Die Verrechnung von Zeit in Form von Geld setzt voraus, dass ich die Natur aus der Zeit herauswerfe und sie inhaltsleer mache. Wenn sie inhaltsleer ist, kann ich sie mit neuen Kriterien besetzen, zum Beispiel mit Geld. Ich kann mir im Kapitalismus Zeit kaufen. Real geht das aber nicht. Im Fußball kann ich Zeit nachspielen lassen. Auch das geht eigentlich nicht. Das hieße ja, dass Sie Zeit stapeln und sparen können. Das sind Fiktionen, die wir einfach leben. In unserem Umgang mit Zeit leben wir Fiktionen und Illusionen, die uns aber nur teilweise glücklich machen. Was machen Sie, um Zeit besser genießen zu können und einen glücklicheren Umgang mit der Zeit zu pflegen? Rhythmisch leben. Es gibt eine einfache Formel: Wenn Zeit das Problem ist, ist Rhythmus die Lösung. Wir sind rhythmische Wesen. Das gilt es in unserer sozialen Organisation umzusetzen. Wie leicht oder schwer ist es, das zu beherzigen? Schauen Sie: Es gibt Kulturen, die keine Uhren kennen. Aber es gibt keine Kultur, die nicht tanzt und singt. Ein Leben, in dem Termine oder Deadlines keine Rolle mehr spielen, ist das vorstellbar? Das gibt es bei Völkern, die noch naturnah leben; aber zu Lasten des Geld- und Güterwohlstands. In einer Gesellschaft, in der Sie einen gewissen Geld- und Güterwohlstand haben wollen, können Sie darauf nicht verzichten. Das ist auch die Frage, die wir im Zusammenhang mit dem Grundeinkommen diskutieren. Wie viel an Geld- und Güterwohlstand und wie viel an Zeitwohlstand brauchen wir?
Das individuelle Zeitempfinden kann sehr unterschiedlich sein. Dennoch klagen wir alle über das Gleiche: Zeitmangel, Zeitdruck. Was sagt uns das über unsere Gesellschaft? Zeitmangel ist auch eine soziale Kategorie. Durch die Deklaration eines Zeitmangels kann ich meine eigene Wichtigkeit definieren, und das wird doch im täglichen Leben auch inszeniert. Wenn ich als Hochschullehrer gesagt habe, dass ich genug Zeit hätte, sind die Leute fast vom Stuhl gefallen. Immer wieder rufen mich Journalisten an und fragen nach einem Zeitfenster. Ich weiß gar nicht, was das sein soll. Aber das brauchen die Leute halt, weil sie nur in solchen Kategorien denken können. Was sagen Sie den Zeitfenster-Journalisten? Ganz einfach: „Rufen Sie doch einfach an, wenn Sie Lust haben und Ihnen was einfällt. Ich sage Ihnen dann schon, ob es bei mir gerade geht oder nicht.“ Damit sind die meisten heillos überfordert. Haben Sie Ihre Arbeit schon einmal per Stundenlohn verrechnet? Nein, das musste ich als Hochschulprofessor nie. Und ich wüsste auch gar nicht, wie das gehen sollte, weil mir das Beste immer beim Spazierengehen, das heißt also gerade nicht während der offiziellen Arbeitszeit, einfällt.
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ZUR PERSON: Prof. Dr. Karlheinz Geißler ist emeritierter Professor für
Wirtschaftspädagogik und Zeitforscher. Er leitet das Institut für Zeitberatung timesandmore, ist Mitgründer und Leiter des Projekts „Ökologie der
Zeit“ und Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Geißler
erhielt Gastprofessuren an Universitäten im In- und Ausland. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit der Zeit und lebt seitdem ohne Uhr. Deshalb,
sagt er, habe er „ein hochsensibles Gefühl dafür entwickelt, ob es jetzt an der Zeit war, in die Vorlesung zu gehen. Das war dann halt mal fünf Minuten zu früh oder auch fünf Minuten zu spät.“
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#WITHOUTBARRIERS
Lucien Smith
Artist & Filmmaker
Die kleinen Freuden des Lebens Wer sagt eigentlich, dass man Zeit immer sinnvoll nutzen muss? Wieso nicht einfach Neues ausprobieren, die Gedanken schweifen und die Zeit vergehen lassen, wie sie eben vergeht. Wie das möglich ist? Mit diesen Spielzeugen, die einen alles um einen herum vergessen lassen. TEXT: Eva Goldschald. FOTOS: Hersteller.
I. MITTELFORMAT DELUXE Wer Mittelformat sagt, muss Hasselblad sagen. Mit der neuen X1D hat der Hersteller sich einmal mehr selbst übertrumpft. Die spiegellose Kamera bildet die Fortsetzung des mobilen XSystems und ist mit einem 50-Megapixel-Sensor ausgestattet. Die Bauweise ist wie gewohnt kompakt. Via USB-C oder WiFi lässt sich ein iPad Pro mit der Hasselblad Phocus Mobile 2 App verbinden. Die Weiterentwicklungen, wie ein überarbeiteter Sucher und ein erneuertes hinteres Display, verbessern den Workflow enorm. X1D II 50 C MITTELFORMATKAMERA VON HASSELBLAD
II. IN ANDEREN WELTEN Fitness trifft Virtual Reality: Der Icaros Trainer stärkt Rumpf- und Oberkörpermuskulatur, schärft Koordination und Balance. Mittels VR-Brille taucht man ab in ferne Welten und vergisst so komplett die Umgebung um einen herum. Wahlweise kann man statt der Brille auch einen Bildschirm oder ein Tablet benutzen. Sich auf dieses Gerät einzulassen, ist ein bisschen wie zeitreisen. Wer sich also nicht immer problemlos zum Sport motivieren kann, schlüpft damit in eine andere Welt und merkt quasi gar nicht, wie intensiv der Körper arbeitet. TRAININGSGERÄT ICAROS PRO
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III. KLEINES GERÄT, GROSSER KLANG Es gibt viele Beschäftigungen, bei denen die Zeit vergeht wie im Flug und die einen die Zeit komplett vergessen lassen. Aber es gibt nur wenige Dinge, die einen so emotional berühren und so tief unter die Haut gehen wie die Musik. Vor allem wenn sie über einen High-EndLautsprecher wie den Addon C5 von Audio pro abgespielt wird. Sein dynamischer Klang sowie die tiefe Fülle des Basses machen den Lautsprecher zum absoluten Top-HiFi-Gerät. Netter Nebeneffekt: Mit seinem schlichten, kompakten Design passt er in so gut wie jeden Raum und ist dank Tragegurt auch mal schnell für unterwegs eingepackt. LAUTSPRECHERBOX ADDON C5 VON AUDIO PRO
IV. FAHRRAD MIT FORMEL-1-CHARAKTER Was macht die italienische Fahrradmarke De Rosa, wenn sie auf ihre ultimativen Bikes noch eins draufsetzen will? Genau. Sie arbeitet mit einer der renommiertesten Autodesignfirmen zusammen. Pininfarina designt normalerweise Karosserien für Alfa Romeo, Maserati und Ferrari. Auf die italienische Fahrradmarke von Ugo de Rosa schwören Radrennfahrer wie Eddy Merckx und Francesco Moser. Das neue Schmuckstück ist das erste AeroBike der Radschmiede. Windschnittig, leicht und trotz supersteifen Rahmens äußerst komfortabel. RENNRAD SK PININFARINA VON DE ROSA
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VOL. 6 / 2020
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LEKTORAT Uta Scholl (www.korrifee.at) FOTOGRAF Mark Newton (www.marknewton.com) FASHION EDITOR Atith Kotsombat STYLING Marie Wilcke HAIR & MAKE-UP Marlies Kürbiss SHOOTINGLOCATION AMERON Hamburg Hotel Speicherstadt MODELS Vincent Forite, Christoffer Barsø, Pawel Feledyn DRUCK Samson Druck GmbH, A-5581 St. Margarethen im Lungau ANZEIGEN Heike Hagemann (h.hagemann@braun-hamburg.com)
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