1/2012 - Anders Wirtschaften

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Ăźber.morgen Dein Begleitheft zur Krise

Foto:Christopher

www.uebermorgen.at | Jahr 4, Ausgabe 1 | Freitag 20.1.2012 | Kostenlos

Glanzl

ANDERS WIRTSCHAFTEN

Utopie und Praxis alternativer Ă–konomien Zins und Zinseszins Meinung S. 11 Autokratie und Widerstand Bericht S. 16 Dasein und Vergessen Reportage S. 12 Lobau und Raubbau Bericht S. 19


über.ich

2 über.fordert

Der Kirche die Kirchen nehmen Jakob Arnim-Ellissen

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www.facebook.com/ueber.morgen

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osef Barth, Journalist und zur Zeit selbständiger Berater für Politik und Medien, sprach mit Milena Österreicher über seine Homepage amtsgeheimnis.at, einen „Freedom of Information Act“ und österreichische Beamte.

Sie haben mit dem Politologen Hubert Sickinger die Transparenzinitiative PUBLIC MATTERS gegründet. Welche Idee steckt hinter diesem Projekt? Die Grundidee war einmal aufzuzeigen, welche Information der/die BürgerIn in Österreich nicht erhalten darf von Politik bzw. Verwaltung. Der Hauptpunkt ist, dass es in Österreich kein subjektiv durchsetzbares Recht auf Information für den/die BürgerIn gibt. Anders als in anderen Ländern, wo es einen „Freedom of Information Act“ (Anm.: Informationsfreiheitsgesetz) gibt, wo prinzipiell jede Information dem Bürger zugänglich ist, außer jene Bereiche, wo Behörden keine Auskunft geben müssen. Österreich ist das einzige Land der vormals EU-15, wo das Amtsgeheimnis noch in der Verfassung verankert ist. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Es ist natürlich bequem für Politik und Verwaltung, dem Bürger zu sagen, er hat kein Recht auf Information. Bisher, wenn Sie heute bei einer Behörde anrufen und sagen, Sie möchten gerne etwas wissen, bekommen Sie als erstes die Rückfrage: „Na, warum wollen´s denn das wissen?“ Der Punkt ist aber: nicht ich als Bürger muss der Verwaltung erklären, warum ich das wissen will. Die Verwaltung muss mir erklären, warum ich das nicht wissen darf. Sie waren Auslandskorrespondent in den USA. Wie sieht es dort aus? Die USA ist ein diametrales Beispiel zu Österreich, weil es in den USA einen „Freedom of Information Act“ gibt. Dort bekommt man viel leichter Informationen. In Österreich wissen die Beamten oft gar nicht, ob sie einem Auskunft geben dürfen oder nicht. Das ist in den USA ganz klar geregelt. Jeder Beamte kann sich dann darauf berufen, dass diese Information öffentlich verfügbar sein muss. Zu amtsgeheimnis.at: Man kann, wenn einem eine wichtige Information bei einer Behörde verweigert wurde, den Vorfall auf Ihrer Homepage posten. Was passiert dann? Wir checken alle eingereichten Dinge gegen. Weiter passiert derzeit noch nichts. Wir verstehen uns sozusagen als große Dokumentationsstelle. Wir freuen uns aber über jeden, der bei uns mitarbeiten möchte.

Foto: Christian Müller

an könnte glauben, der Bauernbund wollte dem Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien doch noch den entscheidenden Anstoß geben. 600 Unterschriften fehlten den Initiatoren Anfang Jänner, als der oberösterreichische Bauernbund mit einem skurrilen Vorschlag aufhorchen ließ. Aus der Kirche Ausgetretene sollen in Zukunft einen gleichwertigen „Kultusbeitrag“ leisten, meint Landesobmann Max Hieglberger. Schließlich würden auch Nicht-Katholiken von der Erhaltung der religiösen Wahrzeichen profitieren. Stimmt. Obwohl „Kirchensteuer-Flüchtling“ (O-Ton Hiegelberger), habe ich doch ein Interesse an der Erhaltung der vielen Kirchen in Wien. Nicht nur wegen des Tourismus. Die Absurdität der Forderung liegt aber in ihrer mangelnden Konsequenz. Der Staat bzw. die BürgerInnen sollen sich an dem Erhalt der religiösen Bauten beteiligen? Kein Problem. Dann muss der Besitz dieser Gebäude aber auch dem Staat übertragen werden. Denn die Kirche erhält ihre Kirchen ja nicht aus reiner Selbstlosigkeit. Nein, durch sie hat sie in jeder Stadt, jedem Dorf dieses Landes das Monopol auf die besten Geschäftslagen. Egal wie viele Menschen noch aus der katholischen Kirche austreten, im österreichischen Stadtbild ist sie präsent wie eh und je. Der Erhalt religiöser Bauten ist wichtig für die österreichische Gesellschaft. Wenn die Kirche dazu selbst nicht mehr in der Lage ist, muss deshalb der Staat diese Rolle übernehmen. Dann ist es aber auch mit dem katholischen Nutzungsmonopol vorbei. Denn der Staat hätte keinen Grund, ja dürfte gar keinen Grund haben, warum im Stephansdom nicht auch BuddhistInnen, MuslimInnen, JüdInnen und andere ihre Feiern abhalten sollten. Solange die Miete stimmt und die grundsätzliche Zugänglichkeit des Raumes für die Öffentlichkeit gewährleistet ist. Und wenn der Turm des Stephansdoms immer mal wieder zum Minarett wird, lassen sich damit vielleicht auch ein paar unreflektierte Ängste in der Bevölkerung abbauen. Nachdem das alles gesagt ist, bezweifle ich allerdings, dass die katholische Kirche nicht doch auch weiterhin das nötige Kleingeld aufbringt, um ihre Monopolstellung in unseren Städten und Dörfern zu erhalten. ♦

Na, warum wollen s' denn das wissen?

Sind noch weitere Ziele geplant? Was wir klar für uns festgestellt haben, ist, dass wir für einen Freedom of Information Act eintreten und damit eine Gesetzesänderung anstreben, die natürlich den Verfassungspassus des Amtsgeheimnisses ändern muss. Derzeit ist es ja so geregelt, dass es ein Auskunftspflichtgesetz gibt, welches besagt, dass jeder Bürger prinzipiell das Recht auf Information von den Behörden hat. Aber nur, wenn das die ordentliche Tätigkeit der Behörde nicht beeinträchtigt, oder auf gut Deutsch: wenn es nicht zu viel Aufwand ist. Hier werden wir im Frühjahr einen Forderungskatalog mit 5 klaren Kernzielen veröffentlichen. Ab Jahresanfang tritt ein neues Medientransparenzgesetz in Kraft. Ist das schon ein richtiger Schritt in die Richtung? Es ist ein österreichischer Schritt in die richtige Richtung. Denn im Prinzip würde es den Großteil eines Medientransparenzgesetzes gar nicht brauchen, gäbe es ein Informationsfreiheitsgesetz. Dazu ein Beispiel: In Kärnten versucht Georg Holzer seit einem knappen Jahr herauszufinden, wie viel Geld die Kärntner Landesregierung in Inserate investiert hat. Er bekommt die Information vom Amt der Kärntner Landesregierung nicht, mit dem Verweis, dass es einfach zu viel Aufwand wäre. Das ist ein Fall, der vom Medientransparenzgesetz nun umfasst wird, weil die Behörde das offenlegen muss. ♦


über.ich

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Altes Spiel im neuen Jahr Editorial

S

chuldenbremse, Ratingagenturen, Triple A, Staatspleiten, etc. Das Wort Finanzkrise dürfte sich wohl auch noch 2012 in aller Munde halten. Das hat sich auch in der neuen über. morgen manifestiert. Und doch wollen wir das Thema anders angehen. Warum? In meinem ersten Semester an der Wirtschaftuniversität Wien erklärte uns ein Professor in einer Einführungsvorlesung, dass unser System darauf aufbaue, pro Jahr ein Wirtschaftswachstum von etwa 3 Prozent zu haben. Schon damals kam mir das seltsam vor. Woher den Platz nehmen? Wohin mit dem Zeug? Das kann sich doch alles nicht ausgehen. Mit diesen Gedanken war ich nicht die Einzige, aber die Einzige (im Saal), die sich wirklich darüber aufregte: Wieso ändern wir das System nicht? Und wieso lehrt die Wirtschaftsuniversität keine alternativen Wirtschaftssysteme? Die Fragen sind - nach vier vergangenen Jahren und einer ordentlichen Wirtschaftskrise 2008 - immer noch aktuell. Analysen, warum es so nicht weitergehen kann, gibt es zu Hauf. Eine sehr populäre ist „Die Grenzen des Wachstums“. Eine 1972 am St. Gallen Symposium vorgestellte Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft. Die Studie wurde im Auftrag des Club of Rome erstellt. Mitarbeiter des Institut für Systemdynamik führten dazu eine Systemanalyse und Computersimulationen verschiedener Szenarien durch. Das benutzte Weltmodell diente der Untersuchung von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung von Lebensraum. So wurden Szenarien mit unterschiedlich hoch angesetzten Rohstoffvorräten der Erde berechnet, oder eine unterschiedliche Effizienz von landwirtschaftlicher Produktion, Geburtenkontrolle oder Umweltschutz angesetzt. Die zentralen Schlussfolgerungen des Berichtes waren: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“ Auch ein Update des Berichts von 2004 liest sich nicht besser. Es geht auf die Entwicklung von 1972 bis 2002 ein und beschreibt unter

anderem eine Zunahme des sozialen Gefälles (20 Prozent der Erdbevölkerung verfügten über 85 Prozent des globalen BIP), die Bodenqualität (40 Prozent der Ackerflächen würden übernutzt), Überfischung (75 Prozent der Fischbestände seien bereits abgefischt) und (wie bereits 1972) die Erschöpfung fossiler Rohstoffe stehe in wenigen Jahrzehnten bevor. Die Autoren nehmen an, dass die Kapazität der Erde, Rohstoffe zur Verfügung zu stellen und Schadstoffe zu absorbieren (siehe ökologischer Fußabdruck) bereits im Jahr 1980 überschritten worden sei und weiterhin überschritten werde (im Jahr 2004 schon um ca. 20 Prozent). Und das Finanzsystem? „In seiner derzeitigen Form ist das globale Finanzsystem nicht zukunftsfähig. Durch seine permanente krisenanfälligkeit bedroht es die Realwirtschaft statt sie zu unterstützen“, meint unsere Gastautor Wilfried Stadler. (Kommentar S. 11) Soweit so düster. Da braucht sich niemand wundern, wenn viele bei den Steuerdebatten und dem Sparkurs und irgendwelchen Ratingagenturen nur eins schreien: SYMPTOMBEKÄMPFUNG! Aber Merkel, Sarkozy und die alten Eliten hängen noch immer am alten System. Man lässt keine Banken sterben und bläst lieber den hundertsten Rettungsschirm auf, den die 99 Prozent zahlen dürfen. Und dem Vizekanzler fällt zu der Frage, ob das angepeilte Sparvolumen von zwei Milliarden Euro ausreichen werde nur ein: „Das entscheiden die Märkte“. Und mir fällt dazu nur ein: Hallo, geht’s noch? ♦ Karin Stanger Zur Debatte über das Zins- und Zinseszinssystem auf Seite 11 war ein Gastbeitrag von Franz Hörmann vorgesehen. Allerdings wurden in den letzten Wochen die Absichten des Zinskritikers bekannt, eine Partei gründen zu wollen, die sich programmatisch an der Schweizer HuMan-Weg-Partei orientiert. Diese steht im Ruf, frauenfeindliche, rassistische und antisemitische Standpunkte einzunehmen. Da sich Prof. Hörmann bisher nicht eindeutig von deratigen Positionen distanziert hat, scheint uns zur Zeit nicht vertretbar, ihm eine Plattform zu bieten. Stattdessen erscheint ein Gastkommentar über Franz Hörmann auf Seite 10. ♦ Redaktion

über.inhalt über.blick

S. 4-5

Medien & Suizid | Gegen Rechts Occupy VIE | Teurer Protest

über.thema: Alternative Ökonomien

S. 6-9

Überblick | Wörgler Freigeld Kostnix-Laden Interview mit Tauschkreis-Obmann

über.reden

S. 10-11

über.leben

S. 12-13

Leben im Altersheim

über.kultur

S. 14-15

Rezension: Magritte Ein surrealistischer Ausflug Kolumne: Die Gebildete - In Bildung Rezension: Debt The first 5000 years

über.krise

S. 16-17

World Map of Social Struggles Denis muss bleiben Führ' uns zum Schotter, Mitzi!

über.meinung

S. 18

Graus 2.0 | Niko Macchiavelli JournalistInnenpreise

über.reste

S. 19

vor.gestern: Milliarden für (unter) den Nationalpark Hund der Woche | Sudereck Impressum www.uebermorgen.at


über.blick

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über.kurz

Das Studium der Internationalen Entwicklung ist von jeher von Widerstand und Gegenwind geprägt. Anfangs konnte man es nur als Individuelles Diplomstudium studieren. Nach der BolognaUmstellung wollte man keinen Master installieren und nun will das Rektorat ein Masterstudium Internationale Entwicklung, aber kein Bachelorstudium mehr.

Medientransparenz

2012 tritt das Medientransparenzgesetz mit umfangreichen Regelungen in Kraft: Offenlegung der Eigentumsverhältnisse aller Medien, inhaltliche Anforderungen an Inserate, vierteljährliche Offenlegung aller Inserate und Werbungen aus dem öffentlichen Bereich. Auslöser waren unter anderem die Diskussionen um die ÖBB-Inseratenvergabe und die unklaren Besitzverhältnisse der „Heute“ mit Verdacht auf Zusammenschluss mit der „Kronen Zeitung“. [mö]

Master statt Desaster

IE MUSS BLEIBEN!

Publizistikpreis

Am Dienstag, dem 20. Dezember 2011 fand im Wiener Rathaus die Verleihung des Dr. Karl Renner Publizistikpreises durch den Österreichischen Journalisten Club statt. Gewonnen haben Walter Gröbchen (Kategorie Online), Michael Schrott (Kategorie Radio) und Helene Maimann (Kategorie Fernsehen). Nominiert waren außerdem Supertaalk und Afrika.info in der Kategorie Online, Christian Lerch und Johannes Kaup in der Kategorie Radio sowie Peter Resetarits und Ed Moschitz in der Kategorie Fernsehen. Am Montag den 19. Dezember 2011 wurde der alternative „Journalismus-Preis von unten“ in den Kategorien Radio, Fernsehen, Print sowie ein Sonderpreis für Neue-Medien vergeben. Ausgezeichnet wurde unter anderen Peter Gach für sein multimediales Projekt „Ka Hack’n für’n Gach“. [red] Kommentar S. 18

Press Freedom Award

Am Freitag, den 9. Dezember wurde der „Press Freedom Award 2011“ von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (D  www.rog. at) in Wien verliehen. Der Preis feierte 2011 sein zehntes Jubiläum und war den ungarischen JournalistInnen gewidmet. Prämiert wurden Maria Vasarhelyi und Pal Daniel Renyi. Sie setzen sich in ihren Beiträgen mit der momentan prekären Lage der Pressefreiheit in Ungarn auseinander. Jury-Sprecher Albert Rohan hob den persönlichen Mut der PreisträgerInnen und die hohe Professionalität der Texte hervor. [sud] Kommentar S. 18 www.facebook.com/ueber.morgen

wIEderstand

Grafik: Patrick Detz

Gedenken gegen Rechts

Aktionswoche gegen Rassismus

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wischen 20. und 27. Jänner rufen verschiedene Organisationen unter dem Motto „Jetzt ein Zeichen setzen!“ zu einer Gedenk- und Aktionswoche gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus auf. In deren Rahmen finden in ganz Wien Veranstaltungen statt. 2011 war überschattet von rechter Gewalt. Das von einem Nationalisten verübte Massaker in Norwegen oder die Zwickauer Terrorzelle sind nur zwei Beispiele dafür, denn auch in Österreich verzeichnete das Innenministerium einen Anstieg bei rechtsradikal motivierter Gewalt. Doch das Aktionsbündnis „Jetzt

ein Zeichen setzen!“ will das nicht einfach so hinnehmen und ruft zu einer Gedenk- und Aktionswoche auf. Neben verschiedenen NGOs haben sich darin auch mehrere politische Parteien, kirchliche und andere Organisationen zusammengeschlossen, um gemeinsam auf die Problematik aufmerksam

zu machen. Zwischen 20. und 27. Jänner finden in Wien Diskussionen, Führungen und andere Veranstaltungen statt. Den Höhepunkt bilden am 27. Jänner, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, am Vormittag eine Gedenkveranstaltung und ab 19 Uhr die Großkundgebung gegen Rechtsextremismus am Heldenplatz. Zeitgleich findet der Ball des als rechtsextrem eingestuften WKR in der benachbarten Hofburg statt. Weitere Informationen zur Aktionswoche unter www.jetztzeichensetzen.at D  [sud]


über.blick

Occupy Vienna am Stephansplatz

Doch auch das Masterstudium gibt es noch nicht, die Studierenden wurden vertröstet, es soll erst im Herbst 2012 starten. Das Rektorat und vier der fünf beteiligten Dekanate wollen die Abschaffung des IE-Bachelors durchsetzen. Dafür soll es einen englischsprachigen Master geben. Bei diesem kann laut Gesetz der Zugang beschränkt werden.

Platz für kritische Forschung und Lehre!

Solidarität mit der IE

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Internationale Entwicklung!

m Sonntag, den 15. Jänner, rief Occupy Vienna zur Kundgebung am Stephansplatz auf. Rund 300 Personen kamen, um den Reden von Geldkritiker Franz Hörmann, Tierschützer Martin Balluch und Kabarettist Roland Düringer zu lauschen. Die Gastredner wurden eingeladen, ihre Standpunkte und Meinungen einzubringen. Zumindest die beiden letzteren weisen an sich kein Naheverhältnis zur österreichischen Occupy-Bewegung auf. Für Hörmann ist Occupy der emotionale Vorläufer eines Wandels, da die Mehrheit nicht verstehe, wie das Geldsystem funktioniere – daher die Wut über seine Folgen. Balluch appellierte vor allem an die öffentliche Solidarität gegen staatliche Repression – mit der Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) und der Erwei-

Die Leiden des jungen Lesers erichte über Suizide fördern NachahmungstäterInnen. Für JournalistInnen ein Dilemma: Sie sollen informieren und nicht verschweigen. Am 15. Dezember wurde dieses Problem im Rahmen der Veranstaltung „Medienberichterstattung über Suizide“ aufgegriffen. „Ziel ist nicht, nicht zu berichten, sondern die Art, wie berichtet wird, zu diskutieren“, so Dr. Claudius Stein vom Kriseninterventionszentrum. Bei der Veranstaltung des österreichischen Presserats wurden auch Negativbeispiele besprochen: Die „Bild“Zeitung schmückte einen Artikel mit Fotos vom Sprung eines Suizidenten in den Tod, gab etliche

Details bekannt und titelte mit „Gleich springt er vom Dach“. Hier wurden Persönlichkeitsrechte verletzt und „eigentlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann“, betont Ella Wassink vom deutschen Presserat.

Nachahmungsgefahr

Besonders kritisch sind solche situationsträchtigen Darstellungen aufgrund des so genannten „Werther-Effekts“. Die Bezeichnung geht auf Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ zurück, welcher eine Welle von Nachahmungen des Suizids der Hauptfigur auslöste. Darüber, dass auch Medienberichte über Selbsttötungen die Suizidrate steigen lassen, waren sich die Vortragenden einig.

Foto: Lflickr, vambo25

Medienberichterstattung über Suizide

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Sensible Herangehensweise Wie sollen Medien das Thema „Suizid“ nun behandeln? Laut Wassink „muss darüber gesprochen werden, aber mit Fingerspitzengefühl“. Es soll sachlich und ohne Details zur Tat berichtet werden. Die Nachahmungsgefahr sinke außerdem, wenn in Artikeln Themen wie Depressionen behandelt und „alternative Lösungen zur Krisenbewältigung sowie Hilfsangebote“ aufgezeigt werden. [rst]

terung des § 278 würde bereits daran gearbeitet, Freisprüche wie den seinen in Zukunft nicht mehr möglich zu machen. Düringer wiederum fühlte sich verpflichtet, ein paar Dinge klarzustellen: „Ich bin kein Wutbürger, ich bin kein Systemtrottel – ich bin Schauspieler“. Er empfahl abermals das Buch „Vom Systemtrottel zum Wutbürger“ und führte in der Folge aus, dass es keine Wut- sondern Mutbürger brauche, dass sich jeder als erstes selbst ändern müsse, bevor er von anderen Änderungen einfordere. Sein charismatischer Appell stieß zunächst auf Skepsis und vereinzelte Buh-Rufe – erntete aber immer mehr Applaus und Jubel gegen Ende hin. Bevor man ein System stürze – so Düringer – müsse man ein neues erproben. Denn eine Revolution alleine ändere gar nichts, wenn sich die Menschen nicht ändern. [nw] Kommentar S. 10

Teurer Protest

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ehr überrascht war die Journalistin und Autorin Susanne Scholl, als sie als Antwort auf ein Protestschreiben vom Innenministerium eine Forderung von 14,30 Euro bekam. Das Geld sei innerhalb von 14 Tagen auf ein Konto des Innenministeriums einzuzahlen. Sie hatte wie viele andere gegen die Abschiebung der tschetschenischen Familie Idigov einen Brief an das Innenministerium geschrieben. Dort verstand man zuerst den Ärger nicht, berichtete DerStandard: „Das Gebührengesetz als Grundlage für derlei Zahlungsaufforderungen gibt es seit 1957. Seit damals sind derlei Eingaben kostenpflichtig.“ Bisher wurde diese Gebühr jedoch nicht eingehoben. Nach heftiger medialer Kritik rudert das Ministerium nun zurück. Es werden nun keine Gebühren mehr verlangt, wer bereits gezahlt hat bekommt es zurücküberwiesen. [anger] www.uebermorgen.at


über.thema

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Alternative Ökonomien

Versuch eines Überblicks Kost-Nix-Läden, Tauschbörsen, alternative Geld- bzw. Zinssysteme, selbstverwaltete Betriebe, Genossenschaften, Kooperationen, Regionalwährungen (Wörgler Freigeld, siehe unten) solidarische Finanzierungen, Gemeinwohlökonomien, Open-Source-Programme und wie immer vieles mehr. Hinter dem vagen Begriff „Alternative Ökonomien“ versteckt sich eine ganze Bandbreite an Modellen und Konzepten, die in ihrer Ausführung auf verschiedenste Weise zu Tage treten. Gemein haben diese Konzepte ihre Negation des klassischen ökonomischen Wertegebildes, in dem Wachstum, Produktivitätssteigerung und Gewinn ganz oben stehen; das Gemeinwohl und eine Partizipation aller GesellschaftsteilnehmerInnen werden zwar nicht prinzipiell ausgeschlossen, manchmal sogar als Begleiterscheinung toleriert, ihre Verwirklichung wird jedoch der Wachstumsmaxime untergeordnet und somit praktisch verunmöglicht. Der bekannte Ausspruch „Geht's der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut!“ fasst diese Überlegungen sehr gut zusammen, und ist dabei - angesichts globaler, kontinentaler und nationaler Ungerechtigkeiten - an Zynismus schwer zu übertreffen. Gerade die derzeitigen Bemü-

hungen, die Wirtschaft auf Kosten der Menschen am Laufen zu halten und die Ratings gnädig zu stimmen, zeigen diese Entwicklung sehr deutlich auf. Auch Österreich steht nun unter Zugzwang, seine Prioritäten mehr den Vorgaben der Rating-Agenturen anzugleichen. (Kommentar S. 17) Hiervon nehmen die alternativen Modelle Abstand und: setzen ihrerseits den Mensch in den Mittelpunkt des gemeinsamen Interesses; fordern mehr Demokratie und Mitbestimmung so wie eine solidarische Gesellschaft; versuchen sowohl die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen zu verbessern als auch ökologisch nachhaltig und bedürfnisorientiert zu agieren. Mit dem Ende der UdSSR wurde der Platz für ökonomische Alternativen knapp, hatte der Kapitalismus im Systemmodell doch gewonnen und wurde oft mit Wirtschaft an sich gleichgesetzt und seine Dynamiken Naturgesetzen gleichgestellt. Trotz des Gegenwindes des totalen Triumphs konnten sich dennoch verschiedenste Alternativen, und somit kleine solidarische Inseln entwickeln. Manche entstanden aufgrund krisenbedingter Notwendigkeit, wie die Übernahme von Betrieben

durch die ArbeiterInnenschaft in Argentinien (ab Anfang 2000) und Brasilien (späte 80er und 90er Jahre). Aber auch in Europa kam es zu verschiedenen Versuchen, anders zu wirtschaften, meist jedoch nur im Kleinen. Tauschringe bzw. Kost-Nix-Läden versuchen den Wert von Produkten auf ihren Gebrauch festzumachen, Foodcoops organisieren sich Lebensmittel direkt beim Bauernhof und erfordern Mitarbeit statt einfach nur Bezahlung und in Workshops wird gratis Wissen vermittelt oder getauscht. Speziell im IT-Bereich finden sich große globale Erfolgsmodelle wie Wikipedia, das den gesamten Lexika-Markt durch seine freie Verfügbarkeit und Partizipationsmöglichkeiten auf den Kopf stellte. Auf einmal konnten die BürgerInnen selbst entscheiden, was wert ist aufgeschrieben zu werden. Auch Linux (bzw. sein UNIX-Kernel) gewinnt immer mehr an Relevanz, da es auf den meisten Smartphones, Servern und allerlei anderen Geräten des täglichen Lebens zu finden ist, und zwar aufgrund seiner freien Verfügbarkeit und Möglichkeit zur Weiterentwicklung. ♦ Christopher Glanzl

Das Wörgler Freigeld Eine W

er in Wörgl aufwächst, kommt an der Geschichte nicht vorbei, wie die Kleinstadt in der Krise der 30erJahre mit der Einführung des so genannten Schwundgeldes die eigene Not linderte, dies jedoch von den Wiener Be-

hörden verboten wurde. Die Geschichte hätte eine andere Wendung nehmen können, so die selbstbewusste Wörgler Erzählung, hätte man dieses Experiment gewähren lassen.

Ende der 1920er-Jahre bricht die Weltwirtschaft zusammen, die Arbeitslosigkeit steigt in allen Industrienationen, Europa versinkt im Elend. Wörgl, mit seinen 4200 Einwohnern, einem Bahnhof, der das Inntal mit dem Brixental verbindet, einer Zellulose- und einer nahen Zementfabrik, war für die damaligen Verhältnisse ein regionaler Industriebrennpunkt. Und doch bilden sich täglich lange Schlangen vor den Suppenküchen der Gemeinde. Schnell führt dies zu einem großen Problem: Durch den ausbleibenden Konsum sinken die Umsätze der

Wirtschaft in der Region, die Steuereinnahmen bleiben aus, während die Zahl der Bedürftigen stetig wächst. Der neu gewählte Bürgermeister des Ortes, Michael Unterguggenberger, belesen in der Freiwirtschaftstheorie Silvio Gesells, will zur Lösung dieses Problems einen ungewöhnlichen Weg beschreiten: Er will die Stadt Wörgl eine eigene Währung auszahlen lassen, die jedes Monat an Wert verliert. In der Praxis sieht dies so aus, dass die Gemeinde so genannte Wörgler Schillinge für gemeinnützige Arbeiten

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T   iroler Erzählung

Victor Höck wie Infrastrukturprojekte auszahlt. Am Ende jedes Monats muss für jeden Schilling-Schein bei der Gemeinde eine Marke im Wert von einem Groschen nachgekauft werden, damit der Schilling seinen Wert erhält. Der Wörgler Schilling konnte in vielen Betrieben in der Kleinstadt gegen Waren getauscht, bei der örtlichen Raiffeisenkasse jedoch auch gegen eine Gebühr von 2 Prozent des Betrags in „richtige“ Schillinge gewechselt werden. Der besondere ökonomische Effekt des Wörgler Schwundgelds ist der durch den Wertschwund eingeführte er-


über.thema

Einwechslung des Freigelds in Schillinge

höhte Anreiz, es in Umlauf zu bringen, anstatt es zu sparen. Die lokale Konjunktur kommt so in Schwung.

Wien durchkreuzt die Pläne

Dieses Experiment scheint glänzend zu funktionieren. Das Schwundgeld trägt maßgeblich dazu bei, die Infrastruktur des Ortes wieder auf Vordermann zu bringen, und auch eine Sprungschanze geht sich aus. Und nicht zuletzt konnte die Arbeitslosigkeit um 25 Prozent gesenkt werden. Der Wörgler Schilling erfreut sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung. Es scheint, als habe sich das Dorf in den Alpen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Krise gezogen. Für Monate steht die Ortschaft in den Alpen im Brennpunkt des wirtschaftswissenschaftlichen Interesses: Sogar J.M. Keynes war voll des Lobes für das Projekt, viele Ortschaften wollten es ebenfalls umsetzen. Doch die Euphorie währt nicht lange: Eineinhalb Jahre nach der Einführung, Ende 1933, entscheidet der österreichische Verwaltungsgerichtshof, dass das Wörgler Freigeld gegen das Geldschöpfungsmonopol der Nationalbank verstößt. Das Experiment ist geglückt, darf aber nicht fortgeführt werden. Die Arbeitslosigkeit kehrt zurück, der Bürgerkrieg bricht aus. Ein Jahr später erfolgt die Einführung des Austrofaschismus.

Ein Tiroler Mythos

Die Erzählung vom Wörgler Freigeld hat die Zutaten, die einen Tiroler Mythos ausmachen:

Eine Zeit schwerer Not, eine stark leidende arbeitende Bevölkerung. Und ein um das Leid des Volkes besorgter Anführer - ein anpackender Pragmatiker und visionärer Querdenker zugleich. Unter seiner Ägide verbessert die Gemeinschaft durch einen kollektiven Kraftakt die gemeinsame Situation signifikant, scheitert jedoch am Ende tragisch am gemeinsamen Feind: dem Wiener Zentralismus, der das Leid des Volkes einem Machtverlust vorzieht und damit dem Aufkommen der Diktatur freie Bahn lässt. Ja, Michael Unterguggenberger hat etwas von einem alternativen Andreas Hofer und eine dementsprechende Würdigung wird ihm zuteil - wenn auch in ungleich geringerem Ausmaß: Das Wörgler Heimatmuseum zeugt von seinem Mythos, in der Volksschule wird dieser den Kindern im Fach Sachunterricht gelehrt. Sogar ein Musical wurde zu seinen Ehren aufgeführt.

Eine Lösung für heute?

Für die derzeitige Krise sei das Konzept Freigeld ebenfalls höchst relevant, so Veronika Spielbichler, Obfrau des UnterguggenbergerInstituts in Wörgl. Sie sieht in einer Demokratisierung des Geldsystems, also in einer durch staatliche Institutionen kontrollierten Geldschöpfung, die durch regionale Währungen ergänzt wird und so lokale Wirtschaftskreisläufe revitalisiert, den einzig wirklich gangbaren Weg aus der ökonomischen Misere. Eine solche sehe ihrer Meinung nach die Einführung

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Foto: Unterguggenberger Institut

einer Weltwährung für internationale Transaktionen sowie eine von staatlichen Institutionen kontrollierte und durch regionale Währungen ergänzte Geldschöpfung vor, die lokale Wirtschaftskreisläufe revitalisiert. Denn auch in dieser Krise laute die Option: Demokratische Geldreform oder Diktatur. „Das Worst-CaseSzenario ist, dass wir in Richtung totalitärer Staat gehen, dass wir die selbe Entwicklung erleben wie Griechenland und Italien. Das heißt, wir werden zwangsverwaltet, wir sind eine Diktatur und aller demokratischen Rechte enthoben.“ Daher müsse nun ein Wandel stattfinden: „Ich sehe jetzt keinen Sinn darin, eine neue Partei zu gründen. Der Weg muss vielmehr über Überzeugungsarbeit gehen, über Bildung. Das heißt über Aufklärung, man muss die Menschen informieren: Man darf sich nicht in der Denunzierung von Bevölkerungs- oder Berufsgruppen verlieren, sondern muss sich auf die systemische Ebene begeben. Und wenn die Menschen einmal über das System informiert sind, in welchem 80 Prozent nur verlieren, und wir lassen dann darüber abstimmen - dann haben wir sofort ein anderes.“ ♦ Links zum Thema: www.unterguggenberger.org/ UntergugD

genberger- Institut

D  www.tinyurl.com/woergl-zeit Ausführlicher Artikel in der „Zeit“ www.tinyurl.com/woergl-freitag D  Ausführlicher Artikel auf „DerFreitag“ www.uebermorgen.at


über.thema

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Ich dachte, ihr legt nur Bomben In diesem Laden fühlt man sich auf Anhieb wohl: Im Kost-Nix-Laden im fünften Wiener Gemeindebezirk türmen sich die „Waren“ in unsicheren Stapeln auf einigen Ausstellungsregalen, es gibt Tee und Kaffee für KundInnen und ein knisternder Feuerofen neben der Tür verbreitet eine gemütliche Wärme im Raum. Auf der Couch hinter der Theke sitzen drei Verkäufer, rauchen und trinken Tee, während abwechselnd Heavy-Metal und Hiphop Musik durch die Lautsprecher der Stereoanlage schallt. „Wir verstehen uns als Linksradikale“, erklärt Arno Uhl, einer der Verkäufer. „Mit dem Projekt Kostnixladen wollen wir zeigen, dass eine geldlose Wirtschaft möglich ist.“

Ein steiniger Weg

Den Laden haben Arno und seine KollegInnen vor rund sieben Jahren gegründet. „Die Idee geht noch zurück auf die Unibrennt-Bewegung. Aus der ist damals die Wertkritische Emanzipatorische Gegenbewegung, kurz W.E.G. entstanden und in deren Kreisen wurde die Idee zum Kost-Nix-Laden geboren.“ In Ermangelung geeigneter Räumlichkeiten legten die AktivistInnen das Projekt zunächst auf Eis und verfolgten andere Ansätze der geldlosen Wirtschaft: „Wir ham uns dann zuerst mal getroffen und für Bedürftige gekocht, ein paar von uns ham sogar außerhalb von Wien mit Gemüseanbau begonnen“, erzählt Uhl und lacht. „Aber da musst’ ja immer rausfahr’n und gießen.“ Nach einer fehlgeschlagenen Kooperation mit den Grünen stellte der Verein zur Entwicklung des kulturellen und künstlerischen Spektrums (V.E.K.K.S.) kostenlos einen Raum zur Verfügung. „Hier sah’s vielleicht aus – das war alles voll mit Sperrmüll“, erzählt Uhl und umreißt mit dem Zeigefinger die Fläche des Ladens. „Wir mussten erst mal vier Monate renovieren und tapezieren, bevor wir anfangen konnten.“ Doch auch danach war der Anfang nicht leicht: „Wir wollten die Nachbarschaft stärker www.facebook.com/ueber.morgen

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inkaufen ohne Geld - was zunächst nach Utopie klingt, haben Arno Uhl und seine Kollegen zur Wirklichkeit gemacht. Im Kostnixladen bieten sie von Büchern über Haushaltsgegenstände bis Kinderspielzeug alles an, was das Herz begehrt - völlig kostenlos.

einbinden und auf unser Projekt aufmerksam machen, aber das hat schlecht funktioniert“, erzählt Uhl. Trotz abendlicher Infoveranstaltungen. „Die Leute ham’ leider viele Vorurteile.“ Einmal kam eine Frau herein, als Uhl Regale einräumte. Als er ihr erzählte, dass er linksradikaler Aktivist sei, sah sie ihn erschrocken an und sagte: „Das ist aber toll, was Sie hier machen. Ich dachte immer, ihr legt nur Bomben.“

Die Nachfrage besteht

Heute hat der Kostnixladen zahlreiche BesucherInnen und einen festen KundInnenstamm. „Ich würd’ sagen, es kommen etwa 100 Leute pro Tag, etwa sechzig davon sind Stammkunden“, sagt Uhl. Die „Stammkunden“ sind meist Bedürftige, die im Kost-Nix-Laden Bücher, Kleider, Geschirr oder andere Haushaltsartikel suchen. Gegen 18.00 Uhr drängen sich etwa zehn Leute auf rund 50 Quadratmetern und durchstöbern die Regale. „Ich nehm das mit, ok?“ fragt eine ältere Dame mit Hornbrille und Buckel und legt zwei Bücher auf die Theke. Das sei in Ordnung, erklärt Arno Uhl nach einem prüfenden Blick auf die Ware. „Damit hier nicht totales Chaos ist und der Laden zur Müllhalde verkommt, brauchen wir ein paar Regeln“, erklärt er. Daher darf jede Person pro Tag nur drei Gegenstände mitnehmen und es dürfen nur solche Artikel zum „Verkauf“ abgegeben werden, die die Anbieter selbstständig tragen können. „Hey Frank, schau her. I’ hob woas füa dich“, ruft ein älterer Herr mit grauem Schnauzer, der gerade den Laden betreten hat, und hält eine graue Plastiktüte hoch. Einer von Uhls Kollegen mit langem, grauen Zopf und dicker Wolljacke erhebt sich schwerfällig von der Ledercouch hinter der Theke. „Dann lass’ ma’ sehn.“ Der Mann hat ein Kinderspiel, einige Bücher und eine Damenbluse dabei, die Frank dankbar annimmt und sofort in die entsprechenden Re-

David Eich

gale räumt. „Hier haben wir Kinderspiele und Puppen, eben alles was die Kleinen brauchen. Dort stehen die Bücherregale und da hinten steht das Gewand und noch einige Bücher“, erklärt Frank und zeigt durch einen Türbogen ohne Tür.

Vielfältiges Angebot

Auf die Frage, warum sie den Laden betreiben, schmunzelt Arno Uhl. „Man muss nicht für alles Geld bezahlen oder arbeiten. Wir wollen demonstrieren, dass es auch Alternativen zum Kapitalismus gibt.“ Wenn man die Theorie im Kapital von Karl Marx nachlese, sei das natürlich sehr abstrakt, erklärt er. Mit dem Kost-Nix-Laden wollen die ehemaligen W.E.G. AktivistInnen diese Abstraktion überwinden und eine praktische Alternative aufzeigen. „Das langfristige Ziel ist eine Gesellschaft der Vielfalt, auf der Basis freier Vereinigungen und Kooperationen von Menschen, die nicht mehr tauschen, sondern teilen, nicht mehr konkurrieren, sondern einander helfen.“ ♦

über.teilen • Kostnixladen, Zentagasse 26, 1050 Wien D  www.kostnixladen.at • Internetpräsenz der Wertkritischen Emanzipatorischen Gegenbewegung W.E.G. D  www.geldlos.at Internetpräsenz des Tauschkreisverbundes •  D  www.tauschkreis.at • Schenke Wien, Pfeilgasse 33, 1080 Wien D  www.dieschenke.org • Übersicht über verschiedene Kostnixläden in Österreich D  www.umsonstladen.at • Gratis-Bazar Wien, am Schöpfwerk 29, hinter der Stiege 14, 1120 Wien D  www.bassena. at/site/sozialeinszenierung/gratisbazar


über.thema

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Tauschen statt

E

Kaufen

in Tauschkreis ist Netzwerk in dem, wie der Name schon sagt getauscht wird. Hier bekommt man Dinge, die man sich sonst nicht leisten oder vielleicht gar nicht kaufen könnte. Ein jeder kann dort mit anderen TeilnehmerInnen Talente und Sachen handeln. Mit Herbert Grill vom Tauschkreisverbund sprach David Eich.

über.morgen: Herr Grill, was ist ein Tauschkreis eigentlich? Herbert Grill: Ein Tauschkreis ist in erster Linie eine Plattform, auf der Mitglieder Gegenstände oder Dienstleistungen tauschen können. Zu diesem Zweck verwenden die meisten Tauschkreise eine Komplementärwährung, in unserem Fall Stunden. Wie viele Tauschkreise sind im Tauschkreisverbund vertreten? Insgesamt vier Tauschkreise, je einer aus Wien, dem Burgenland sowie Nieder- und Oberösterreich. Seit wann gibt es den Tauschkreis-Verbund? Den Verbund gibt es seit vier Jahren. Drei der vier Tauschkreise bestehen schon seit den frühen 90ern. Muss man als Mitglied in einem Tauschkreis finanzielle Beiträge leisten? Ja, einmal pro Jahr müssen alle einen Mitgliedsbeitrag von zwölf Euro leisten. Darüber hinaus ist ein Tauschkreis kostenlos.

Wir wollen zeigen, dass man auch ohne Schilling oder Euro auskommen kann. Wie kann man sich das Prinzip der Komplementärwährung vorstellen? Sobald jemand online einen Account erstellt, erhält er ein Stundenkonto. Zu Beginn ist das Konto leer, indem man tauscht, kann man Stunden „verdienen“. Eine Stunde hat etwa den finanziellen Gegenwert von zehn Euro. Für seine Stunden erhält man Stundenwertscheine, die wie Geld getauscht werden können. Muss ich beim Tauschen steuerrechtliche Bedenken haben?

Der Freibetrag liegt bei rund 700 Euro pro Jahr. Wenn eine Stunde den Gegenwert von 10 Euro hat, kann man rund 70 Stunden eintauschen, ohne Steuern dafür zahlen zu müssen. Darüber hinaus müssen Privatpersonen Steuern abführen, aber das ist deren eigene Sache, dafür kann der Verband keine Verantwortung übernehmen.

Wir überlegen, ob wir eine regionale Währung einführen sollen. Kann jeder Mitglied werden, oder gibt es Beschränkungen? Es gibt keine Einschränkungen, in den meisten Tauschkreisen sind sowohl Privatpersonen als auch Gewerbe vertreten. Was war die Idee zur Gründung des Tauschkreis-Verbundes? Der Tauschkreisverbund ist ein Nischenangebot. Meist werden Dienstleistungen im geographisch nahen Kreis getauscht, so funktioniert der Tauschkreis auch als eine Art Nachbarschaftshilfe und schließt regionale Kreisläufe. Außerdem wollen wir zeigen, dass man auch ohne Schilling oder Euro auskommen kann. Wie viele Mitglieder hat der Verband? Wir haben insgesamt rund 800 Mitglieder. Im Durchschnitt kommen etwa 100 pro Jahr dazu, aber das hängt stark von der wirtschaftlichen Situation ab. Je besser die ist, desto schleppender ist der Zuwachs. Im nationalen Vergleich liegen wir übrigens recht gut – der größte Tauschkreis des Landes ist in Voralberg und hat etwa 2000 Mitglieder. Gibt es eine Aufsicht, die dafür verantwortlich ist, dass das System funktioniert? Die gibt es. Wir kontrollieren regelmäßig, dass

Foto: Herbert Grill

keine illegalen Inhalte auf dem Online-Marktplatz angeboten werden und kümmern uns darum, dass die Regeln eingehalten werden. Unser System basiert auf gegenseitigem Vertrauen und funktioniert bisher tadellos. Ist ein Tauschkreis auch für Studenten interessant? Auf jeden Fall. Gerade Studenten haben oft wenig Geld und können über den Tauschkreis etwa Nachhilfe bekommen, die sie anders nicht bezahlen könnten. Welche Pläne gibt es für die Zukunft – soll das Projekt weiter ausgebaut werden? Wir überlegen, ob wir eine regionale Währung einführen sollen, aber das Konzept steckt noch in den Kinderschuhen. Außerdem haben wir kürzlich ein kostenloses Studentenkonto eingeführt und möchten in diese Richtung das Angebot ausbauen. Zu guter Letzt planen wir, die Schenkungswirtschaft stärker in den Vordergrund zu rücken – viele Mitglieder der Tauschkreise treffen sich jetzt schon monatlich zu einer Art Geschenkflohmarkt, bei dem

Wir kontrollieren regelmäßig, dass keine illegalen Inhalte angeboten werden. die Teilnehmer Gegenstände ohne Gegenleistung weggeben. Der eine ist froh, dass er was los wird und der andere freut sich, dass er es kostenlos bekommt. Dieses Prinzip möchten wir weiterhin forcieren. ♦ Kontakt: www.tauschkreis.at D  info@tauschkreis.at Tel.: 0676 751 81 51

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über.reden

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Wohin verfällt Hörmann? Gastkommentar Geld- und Zinskritiker Franz Hörmann hat mit seiner prägnanten Analyse des Geldsystems viel Zustimmung und Interesse auf sich gezogen. Seit er jedoch vergangenen November die „HuMan-Weg-Partei Österreich“ (HPÖ) mitgegründet hat, steht er in (linker) Kritik. Diese Partei ist ein Ableger der „HuMan Weg Bewegung“ des Schweizers Hans-Jürgen Klaussner und vertritt so ziemlich das Gegenteil von all dem, was Hörmann bislang gepredigt hat. So heißt es auf der Webseite der „HuMan Weg Bewegung“ Österreich (kreditie.at), das „Weltjudentum“ hätte Deutschland 1923 den Krieg erklärt, Europa sei „feindbestimmt“, die „Weltregierung“ wolle die Menschheit auf „500 Mio. Sklaven reduzieren“. Im „Kreditie-Wahlkampf – Die 7 Hauptpunkte ab 2011“ heißt es, dass die „staatliche Rundumversorgung von Migranten, die arbeitslos sind“ abgeschafft wird, da „über 70 %“ dank des neuen Kreditie-Systems in „ihre Heimatländer“ zurückkehren können.

Hausfrauen „sollen als Taschengeld eine Haushaltslohnforderung von mind. 50 Prozent eines normalen Frauenjobs an ihren Ehemann machen, denn für Nahrung, Kleidung und Wohnung kommt der Mann alleine auf.“

Auf der Webseite der „HuMan Weg Bewegung“ Österreich heißt es, das „Weltjudentum“ hätte Deutschland 1923 den Krieg erklärt. In diesem Stil ist die gesamte Website gestaltet. Zwar findet sich auf der Startseite eine Art Disclaimer („Diese Bewegung steht jeder politischen Ideologie, Religion und jeder Weltsicht neutral gegenüber und besitzt als Ziel die Vereinigung aller sozialen Schichten der Gesellschaft, um den bevorstehenden Multiparadigmenwechsel in Harmonie, Frieden und Kooperation zu bewältigen.“) – doch die

„HuMan Bewegung“ (die Hervorhebung von „Man“ ist wohl kein Zufall sondern Programm) präsentiert sich einheitlich in einem gegenteiligen Stil, der nicht nur den Disclaimer bedeutungslos erscheinen lässt, sondern auch Hörmanns Ideen und Urteilsfähigkeit schwer disKREDITIErt. Zwar trete die HPÖ erst „im ersten Quartal 2012“ mit endgültigem Namen, Programm und verantwortlichen Mitgliedern an die Öffentlichkeit – doch lässt der aktuelle Auftritt nichts Gutes erahnen. Hörmanns Ruf ist längst angekratzt. Eine neue Partei, die sich „Frieden, Harmonie und Kooperation“ auf die Fahnen heftet, hat von Anfang an jede Glaubwürdig- und Ernsthaftigkeit verspielt, wenn sie auf wirren, Ethnien und Geschlechter diskriminierenden Thesen basiert. ♦ Nick Wolfinger Titel entlehnt von: www.streifzuege. org/2011/wohin-verfaellt-hoermann

Menschen und Zinsen Kommentar Als Hauptargument für Zinsen hört man vorzugsweise: Warum soll ich jemandem mein Geld leihen, wenn ich nichts davon hab? Unternehmertum ohne Kredite - und damit ohne Zinsen und ohne Banken – sind kaum vorstellbar heutzutage. Gerade bei der Zinskritik geht

Zinsverbot besteht heute vor allem im Islam.

es oft um Ideologie, weil es eben nicht nur ums Geschäft geht, sondern um Menschen und um Vertrauen. So gibt es religiöse, ethische und ökonomische Aspekte der Kritik. Und man sollte sich auch immer bewusst machen, dass Geldsysteme auf der Welt auch immer kulturell geprägt sind. Im Tanach der Juden zum Beispiel wird das Nehmen von Zinsen untereinander verboten, Fremden gegenüber hingegen ist es erlaubt. Christen wurde bis in das 18. Jahrhundert durch päpstliche Erlasse das Nehmen von Zinsen www.facebook.com/ueber.morgen

generell verboten. In einigen Staaten wird die Scharia so ausgelegt, dass jegliches Nehmen von Geldzinsen Wucher entspricht, und damit ist es absolut verboten. Ein Zinsverbot besteht heute vor allem im Islam. Da der Islam sich als göttliches Regelwerk sieht, dessen wichtigstes Heilmittel in der Erfüllung der göttlichen Vorschriften besteht, ist die Einhaltung des Zinsverbots zentraler Bestandteil der Religion. Im Koran, dessen Autorität bei Scharia‘a-Bestimmungen traditionell als unanfechtbar angesehen ist, steht in Sure 3, Vers 130 „Ihr Gläubigen! Nehmt nicht Zins, indem ihr in mehrfachen Beträgen wiedernehmt, was ihr ausgeliehen habt!“ Folglich sind sowohl festverzinsliche Wertpapiere, wie Anleihen und Renten, als auch Einnahmen von Zinsen aus Girokonten und ähnlichen Bankprodukten ausgeschlossen. Eine daraus schon sehr früh resultierende Praxis wird von manchen Kritikern als Umgehungsgeschäft betrachtet: Statt dem Käufer einen Kredit zu gewähren, kauft die Bank die Ware direkt beim Verkäufer und verkauft sie zu einem höheren Preis an den Käufer, der seinen Kaufpreis in Raten abbezahlt. Dabei wechselt die Ware die Eigentumsverhältnisse, aber nicht den Besitz bei gleichzeitiger Geldauszahlung.

Kulturelle Gegebenheiten sollten berücksichtigt werden. Aber was noch viel mehr berücksichtigt werden sollte, sind die Menschenrechte und zwar überall, auch im Finanzsystem. Die brennende Frage ist doch, ob Zinsen auch für das alltägliche Leben von Menschen vertretbar sind. Schulden und Zinsen auf Essen, einen Schlafplatz, Bildung für die Kinder etc.

Schulden und Zinsen auf Essen, einen Schlafplatz, Bildung und für die Kinder sind keine Seltenheit.

sind keine Seltenheit auf dieser Welt, dadurch geht auch die Schere zwischen Arm und Reich wieder auseinander. Die Frage der Verteilungsungerechtigkeit gehört eher diskutiert, also ob UnternehmerInnen irgendwo einen Kredit aufnehmen können um sich noch weiter zu vergrößern. ♦ Karin Stanger


über.reden

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Zukunftsfähiges Finanzsystem Gastkommentar Wer Geld verleiht, hat es nicht für alternative Zwecke verfügbar. Deshalb erwartet er eine angemessene Verzinsung. Und er will sein Geld wieder zurückhaben. Deshalb erwartet er für riskantere Ausleihungen höhere Zinsen. Die Entwicklung der Anleihekosten von EuroStaaten spiegelt genau das wieder: Solange Euro-Länder als sichere Schuldner galten,

In seiner derzeitigen Form ist das globale Finanzsystem nicht zukunftsfähig. unterschieden sich die Verzinsungen ihrer Anleihen nur minimal. Seit jedoch die Gläubiger Griechenlands mit Ausfällen rechnen müssen, ist alles anders. Weil nun auf die Risiken jedes einzelnen Landes zu achten ist, sind die Anleihekosten hochverschuldeter Länder stark gestiegen. Italien als höchstverschuldetes Euro-Land zahlt mit rund 7 Prozent bereits um 5 Prozentpunkte mehr als die als sicherer Schuld-

ner angesehene Bundesrepublik Deutschland. Die Staatsschuldenkrise ist aber mehr als ein Symptom von Konstruktionsfehlern des Euro, die nun korrigiert werden müssen. Sie ist vor allem auch unmittelbare Folge der Finanzkrise von 2008, die ja im Umweg über Banken- und Konjunkturpakete zu einer dramatischen Erhöhung der Budgetlasten geführt hat. In seiner derzeitigen Form ist das globale Finanzsystem nicht zukunftsfähig. Durch seine permanente Krisenanfälligkeit bedroht es die Realwirtschaft, statt sie zu unterstützen. In den durch zu hohe Fremdmittel-Hebel („Leverage“) zu Kartenhäusern gewordenen Bilanzen der internationalen Banken hat sich eine gefährliche Asset-Inflation aufgebaut. Nur grundlegende Reformen können das entgleiste System wieder in Ordnung bringen: Korrekturen im kapitalmarktorientierten Bilanzrecht, eine Totalrevision der dysfunktionalen Banken-Regulierung, die Schaffung wesentlich höherer Eigenmittel und vollständige Transparenz im System der Schattenbanken. Ob die Reformen gelingen, hängt nicht nur von der politischen Durchsetzbarkeit gegenüber den internationalen Lobbys der Großban-

ken ab, sondern auch von der Bereitschaft der Universitäten, eine Revision der dogmatisch erstarrten Finanzmarkttheorie voranzutreiben. ♦ Wilfried Stadler Autor („Der Markt hat nicht immer Recht“) und Honorarprofessor für Wirtschaftspolitik an der WU Wien. www.wilfried-stadler.com D

Machen Zinsen noch Sinn? Gastkommentar

Auch wenn man sich innerhalb der Finanzbranche bewegt, muss man sich diese Frage stellen, denn ein Tunnelblick würde jedefrau/ jedermann in jeder Branche, vom Landwirt bis zum Fondsmanager, sofort an den Rand des Abgrunds führen. Dieses „Sehen“ von Entwicklungen über den Tunnel hinaus gehört ebenso zu einem demokratischen Prozess, wie das „Hören“ vieler Perspektiven zu einem Thema. Das Problem, welches das Thema Zinsen heute verursacht, ist eigentlich fast auf den zu großen Erfolg dieser Idee zurückzuführen. Man darf hier nicht vergessen, dass wir viel dem aktuellen Wohlstand der vielleicht zu starken Verbreitung des Zinssystems zu verdanken haben. Noch in den 1930er Jahren war es für viele junge Menschen aus niederen sozialen Schichten kaum möglich ihr eigenes Leben zu bestimmen, da Kredite allgemein nicht vergeben wurden. Nur im Jahr 2010 gab es 30.000 Neugründungen von Unternehmen in Österreich. Damit kommen wir zur aktuellen Lage. Ein Geldschein beschreibt nur mehr einen Schuldschein? Die Geldmenge kann von den Nationalbanken nicht mehr kontrolliert werden? Alternativen zum Zinssystem?

Den Geldschein nur mehr als Schuldschein zu beschreiben ist ein klares Anzeichen für weniger Vertrauen in Geld, aber doch hat sich in den letzten Quartalen die Haltung der Geldmenge (bares Geld) M1 erhöht. Die Geschäftsbanken können schon seit sehr langer Zeit über den Geldschöpfungsmultiplikator erzeugen und dies wird auch sehr stark von den Nationalbanken vor allem über die Geldmenge M 3 überwacht. Dies klingt jetzt isoliert betrachtet natürlich für manche nicht ganz rechtmäßig, aber ist bestimmt kein auslösendes Problem. Leider sind auch viele Alternativen zum Zinssystem, wie etwa Freigeld zwar eine romantische Idee, aber führen durch rein menschliche Faktoren auf lange Zeit zu einem ganz ähnlichen System, denn so wie ein Mietzins für die Vermietung entstand, sind Zinsen für Geldvermietung keine Erfindung eines diabolischen Genies, sondern die Zinsen haben sich aus unserem Zusammenleben entwickelt. Das Problem mit Zinsen ist auch ein rein menschliches und nicht das System, sondern der Umgang damit hat uns in diese Situation gebracht. Aber aus Fehlern entstehen immer neue Möglichkeiten und so denken derzeit sehr viele kluge Köpfe über eine Anpassung oder Änderung des Systems nach. Also auch wenn

das Finanzsystem nicht komplett neu erfunden wird, da noch zu viele Menschen ein verhältnismäßig gutes Leben in diesem belasteten System führen, kommt zwischen der vielen Revolutionsromantik, die leider auch nicht zu unterschätzen ist, bestimmt viel Positives aus den aktuellen Bewegungen hervor. ♦ David Reisner studiert Pädagogik in Graz und betreibt die www.tagesgeldkonto.in und Finanzblogs D  www.finanz-blog.at D  www.uebermorgen.at


über.leben

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Zwischen den Welten N

icht nur Altsheimerpatienten vergessen, sie werden es auch. Von der Gesellschaft in Heime abgeschoben, sieht man die Probleme des Älterwerdens im Alltag nicht, doch nimmt die Zahl der Betreuungsfälle zu. Bianca Mayer

Foto: Ron, Ron, ROn

Es ist trotz der fröhlichen Zeichnungen und Geburtstagsglückwünsche an den Wänden kein Ort, an dem man freiwillig ist. Niemand weiß, wie lange er hier bleiben wird. Es gibt kein Entlassungsdatum. Die Namen werden unter die Zimmernummer geschrieben, sodass jeder Bewohner weiß, wo er hingehört. Entlang des Flures befinden sich die Zimmer, allesamt abschließbar und einheitlich eingerichtet. Als ich dem Flur im 2. Stock der Caritas Socialis folge, steigt mir ein eigenartiger Geruch in die Nase. Es ist sauber, das bestätigt mir nicht nur mein

Die meisten der BewohnerInnen wissen nicht, dass sie hier tatsächlich wohnen.

prüfender Blick auf den Boden. Es sind genügend PflegerInnen und Reinigungskräfte anwesend, die sich um alles kümmern. Dennoch liegt eine eigenartige Mischung aus Medikamenten und dem gerade hoch transportiertem Essen in der Luft. Wir befinden uns in der Geriatriestation mit Fokus auf Alzheimerkranke. Was passiert, wenn wir älter werden? Ein Thema, das mittlerweile fast jede Familie betrifft. Auch meine. Es ist nicht schön anzusehen, wenn mich meine Großmutter zum dritten Mal fragt, welche Schulklasse ich besuche. Ich studiere im zweiten Jahr, was sie immer zu vergeswww.facebook.com/ueber.morgen

sen scheint. Der Prognose von Statistik Austria zufolge wird die Bevölkerung Österreichs auch in Zukunft wachsen, und zwar von derzeit 8,3 Millionen auf etwa 9,52 Mio. im Jahr 2050. Die Altersstruktur verschiebt sich jedoch deutlich hin zu älteren Menschen. Derzeit sind 22 Prozent der Bevölkerung 60 Jahre alt oder älter, mittelfristig (2020) werden es rund 26 Prozent sein, langfristig (ca. ab 2030) sogar mehr als 30 Prozent. Doch was bedeutet das für uns? Essenseingabe, pünktlich um 8.00, 11.30 und 16.30 Uhr. Eingabe deshalb, weil die meisten Bewohner dabei Hilfe brauchen. Die PflegerInnen haben alle Hände voll zu tun. Von den 12 BewohnerInnen gibt es im 2. Stock lediglich zwei Männer. Einer davon schläft während des Essens regelmäßig ein. Es ist schwierig, ihn zum Essen zu bewegen. Andere sind hellwach, möchten nach dem Essen kein Nachmittagsschläfchen halten. Heute bekommt eine Bewohnerin Besuch von ihrer Tochter. Das Gespräch verläuft stockend, da es Kommunikationsschwierigkeiten gibt. Immer wieder vergessen die PatientInnen ihren Wohnort oder was sie zuvor gegessen haben. Eine freiwillige Helferin kümmert sich um den schlafenden Patienten, der seine tägliche Nahrungszufuhr verweigert. Ich habe auf der Bank neben der Küche Platz genommen. Plötzlich höre ich eine Frau am Nebentisch ununterbrochen husten. Es hört sich beinahe so an, als ob jemand erbrechen müsste. Immer und immer wieder verschluckt sie sich und spuckt Essensreste auf ihr Hemd. Dass die Suppe daran schuld ist, besänftigt die

Situation ein wenig. Die Konsistenz war nicht optimal, so die Pflegerin. Dennoch wurde mir übel und ich traute mich kaum hinzusehen. Luxusprobleme wie wir sie kennen, sind das gewiss nicht. Der Alterungsprozess unserer Bevölkerung wird nach und nach alle Bundesländer betreffen. Wien wird mittelfristig das demografisch jüngste Bundesland Österreichs sein. Durch die immens ansteigende Anzahl von älteren Personen wird sich die Infrastruktur verschieben. Weg von den Kindern (Schulen und Lehrper-

Wien wird mittelfristig das demografisch jüngste Bundesland Österreichs sein.

sonal) hin zu Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Der Generationenkonflikt verschärft sich dadurch, dass sich der Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung verringert, während das Steueraufkommen zur Versorgung der Älteren steigen sollte. An wem es letztendlich hängen bleibt, ist abzusehen. Im Laufe des Nachmittages komme ich mit einer etwa 35-jährigen Pflegerin ins Gespräch. Seit zwei Jahren arbeitet sie bereits in dieser Einrichtung. Zuvor absolvierte sie eine Ausbildung bei der Eisenbahn und arbeitete danach als Kellnerin. Sie führt mich zu zwei Damen,


über.leben damit ich mir selbst ein Bild von ihrer Arbeit machen kann. Frau P. kann sich sehr gut ausdrücken und wirkt voller Elan. Erst als sie erzählt, dass sie nur zu Besuch ist, wird mir das Ausmaß ihrer Krankheit bewusst. Die meisten der BewohnerInnen wissen nicht, dass sie hier tatsächlich wohnen und beteuern, dass sie

Luxusprobleme wie wir sie kennen, sind das gewiss nicht.

auch noch oft zu Hause sind. Nach und nach bewegen sich alle in ihre Zimmer. Nur Frau Z. sitzt am Fenster und schaut hinaus in den Regen. Sie könne nicht um diese Uhrzeit schlafen, beteuert sie immer wieder. Am Flur des 3. Stocks (die Bewohner hier leiden nicht an Alzheimer) begegne ich Frau O.,

die mich in ihr Zimmer einlädt. Es ist das erste Zimmer, das ich in dieser Einrichtung sehen darf. Es sieht beinahe so aus, als ob es ihr richtiges Zuhause wäre. Das Gespräch mit Frau O., die kommenden Frühling 92 Jahre alt wird, verläuft beinahe rasant schnell. Woher ich komme, warum ich mit ihr sprechen möchte und was ich studiere, sind die ersten Fragen die mir gestellt werden, noch bevor ich mich setzen kann. Wir kommen ins Gespräch. Bereits 1998 übersiedelte Frau O. von einem betreuten Wohnheim in die Caritas Socialis. Alleine, wie sie sagt. Das Foto ihrer Tochter, die sie ,,erst sehr spät mit 42 Jahren“ bekommen hatte, steht auf dem Nachtkästchen. Ich bin von den vielen Bücherregalen beeindruckt. Ihre Tochter hat ihr beim Umzug alles Wichtige mitgebracht. Trotz der knappen 71 Jahre Unterschied zwischen uns, können wir uns hervorragend über Literatur unterhalten. Frau O. betont immer wieder, dass sie geistig noch sehr fit ist und niemals mit dem Lesen aufhören möchte. Nur schreiben wird nach und nach immer schwie-

13 riger, keiner könne mehr ihre Briefe mit der verwackelten Schrift entziffern. Zum Schluss möchte ich wissen, was ihr Lieblingsbuch sei. Treasure Island - natürlich auf Englisch - von Robert Louis Stevenson. Als ehemalige Gymnasiastin ,,vergisst man so etwas nicht“. Als ich das Zimmer verlasse, weiß ich bereits, dass sie mir im hohen Alter als Vorbild dienen wird.

Was passiert, wenn wir älter werden?

Noch bevor ich mich verabschieden kann, winkt mir eine zarte Frau im rosa Nachthemd zu. Ihr Händedruck ist unerwartet fest. Die riesengroßen blauen Augen und schneeweißen Haare kombiniert mit der Dominanz ihrer Stimme faszinieren mich. Ich soll mich nicht von meinem Weg abbringen lassen und Entscheidungen, sobald sie gefällt sind, nicht rückgängig machen. Als ich beginne von meiner Großmutter zu erzählen, wirkt sie plötzlich etwas traurig. ,,Niemand möchte gerne hören, dass er alt ist. Auch ihre Großmutter nicht. Korrekturen sind etwas Schreckliches. Lassen Sie sie reden und nehmen Sie sich das heraus, was für sie wichtig sein könnte.“ Worte, die berühren und mich lange nicht loslassen. Was uns allen bewusst werden muss, ist die Tatsache, dass niemand ewig lebt. Es ist eine große Menge Geduld erforderlich, um die tägliche Arbeit hier abzuleisten. BewohnerInnen sterben, werden krank, bekommen keinen Besuch. Betten werden geräumt und am nächsten Tag zieht jemand Neues ein. Als letzte Station des Lebens. Das darf nicht beschönigt werden, sofern man weiß, dass wir alle ein Teil des Kraftwerks Leben sind. ♦

über.altern 2010: Die ersten geburtenstarken Jahrgänge gehen in Pension. 22 Prozent der Bevölkerung sind 60 Jahre alt oder älter. 2020: 26 Prozent der Bevölkerung sind 60 Jahre alt oder älter 2030: 30 Prozent der Bevölkerung sind 60 Jahre alt oder älter Damit verbundene Probleme: Erhaltung des Pensionssystems, Errichtung neuer Pflegeeinrichtungen, Verschiebung der Infrastruktur, Diskussionen rund um das Thema Sterbehilfe Foto. Bianca Mayer

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über.kultur

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René Magritte

Ein surrealistischer Ausflug Rezension René Magritte zählt zu den Künstlern des Surrealismus. Seine Bilder sind komisch, seltsam und absurd - es lässt sich kein Zusammenhang erkennen. Was sieht man? Seltsame Dinge, die scheinbar nichts miteinander zutun haben. So etwa ein großes Tischbein im Freien, überdimensional groß erscheint es allzu oft bei Magritte. Was er damit bewirken wollte? So mancher wird mit „Keine Ahnung.“ antworten, „…vielleicht gerade, dass ich als Betrachter mir den Kopf darüber zerbreche und mir die Frage stelle: Warum?“ Doch dahinter steckt mehr. Die Kunstrichtung interessierte sich für das Surreale, also das Nichtwirkliche. Man machte sich Gedanken über das Unbewusste und versuchte, dieses zu erfassen und aufzuzeigen, wie kompliziert der Begriff Wirklichkeit doch sei. Gleichzeitig diente dieses Unwirkliche als Quelle für das künstlerische Schaffen. In der Wiener Albertina sind diese surrealistischen Werke des Künstlers zu sehen; war er doch einer der wichtigsten belgischen Vertreter. Magritte hat damit wahrlich etwas Zeitloses geschaffen. Dieses surreale Erscheinen eines jeden Bildes erzeugt einen anderen Blickwinkel, so, als ob man die Welt mit anderen Augen betrachten würde. Durch die Entfremdung der Gegenstände und ihres Umfelds gelingt das

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logische Erklären-Wollen eines Bildes nicht; wichtig aber ist, den Hauptgedanken des Surrealismus zu kennen und diesen zu verstehen. Magritte hatte die Begabung - geschickt lenkt er die Perspektive immer wieder anders auf das absurd erscheinende Bild und beim zweiten Hinsehen merkt man, dass auch solche Gegenstände, die logisch nicht zusammengehören, surreal passend miteinander in Beziehungen stehen und so eine völlig neue Sichtweise der Dinge ermöglichen. Umso bedauerlicher ist es, dass Magritte ab etwa 1940 von dieser geistreichen Entwicklungsphase abweicht und plötzlich anfängt, lieblich und spielerisch mit diversen Gegenständen umzugehen. Frauenkörper, Blumensträuße aber auch düstere Landschaften, die auf die Ursache des starken Veränderns seines Stils hinweisen – es herrscht Krieg. Schade – Foto: flickr, aldoaldoz finde ich – dass ihm die Umstände der Zeit seine so geistreiche Phantasie wegnehmen. Wäre es doch allzu interessant gewesen, wie er diese so düstere Zeit des Krieges mit dem surrealistischen Gedanken verknüpft hätte. Denn gerade hier spielt der Verarbeitungsfaktor eine große Rolle; dieser, so eng verknüpft mit dem Bewusstsein und der Deutung der Wirklichkeit. ♦ Lisa Heiderer Bis 26. Februar 2012 kann man die MagritteAusstellung in der Albertina besuchen.

Die Gebildete

In Bildung Clara Gallistl

A

uf Erasmus erprobe ich meine Selbstständigkeit. Ich habe mich beworben. Ich habe organisiert, Zettel ausgefüllt, Beträge überwiesen, Möbel verkauft, meine Wohnung aufgegeben, keine Termine mehr angenommen, den Flug gebucht, eine neue Wohnung gemietet und mich eingerichtet mit Klobürste, Tellern, Kuscheldecke und einer Lieblingsnachspeise. Dann sitze ich auf meinem Bett und kann mich nicht bewegen. Vielleicht sollte ich mich mittreiben lassen und „endlich einmal machen was du willst!“. Vielleicht ist Selbstbestimmung aber auch nicht alles. Ich dachte, Glück ist möglich, wenn die Selbstbestimmung möglich ist. Das ist aber nur teilweise wahr, denke ich jetzt. Ich muss zur Selbstbestimmung auch fähig sein. Diese Fähigkeit ist die innere Voraussetzung für freies Handeln. Ich muss wissen, was ich will. Ich muss um die Konsequenzen der unterschiedlichen Möglichkeiten wissen und: Ich muss in mir nach der Wahrheit spüren. Meistens ist man eh schnell entschlossen. Wie selbstständig muss der Mensch sein, wenn jeder gleich selbstständig sein soll? Wieder einmal steckt am Ende einer Reflexion meine Antwort in meinem Glauben an die christlich-aufgeklärte Moralvorstellung, in der jeder Mensch gleich viel wert ist und der Wunsch des/der Anderen genausoviel zählt wie meiner. Deshalb bin ich froh, dass meine Mitbewohnerin mir vorschlägt gemeinsam ins Kino zu gehen. Sie ermöglicht mir eine Entscheidung, indem sie eine Frage stellt. Selbstständigkeit macht nämlich auch nur Spaß, wenn man nicht alleine auf der Insel ist. ♦


über.kultur Kritisch, weiblich, meint...

Der, Aus|län|der.

W

Bianca Mayer

ie kann man es im Leben zu etwas bringen? Diese Grunddebatte beinhaltet in unserer Gesellschaft einen wichtigen Aspekt der Bildungspolitik. Das Bild des typischen Studenten ist in den Augen vieler Arbeiterfamilien noch immer mit Attributen wie faul, pseudo-intellektuell und dauerdemonstrierend verknüpft. Wie das Leben der Studierenden, die in Mindestzeit fertig werden möchten, in der Wirklichkeit aussieht, interessiert meist wenig. Oberflächlich gesehen erkennt man schließlich nur, dass die Schuhe auch noch um 9 Uhr früh auf dem Abtreter stehen. Recherchearbeiten, Präsentation, Referatsgruppentreffen und das Schreiben diverser Arbeiten werden meist im Stillen erledigt. Wer aus keiner Akademikerfamilie kommt, stößt mit der Ergebnispräsentation oft auf taube Ohren. Doch betrachten wir das Szenario nun aus der gegensätzlichen Perspektive. Es gibt in jeder sozialen Gruppierung Vorurteile gegenüber den anderen. Der Vater - Arzt, die Mutter - Juristin. Angenommen das Kind möchte MechanikerIn werden. Möchte, denn Erlernen wird es diesen Beruf mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Oft sind Ziele vom Elternhaus geprägt. Wer aus einer Akademikerfamilie stammt und einen handwerklichen Beruf erlernen möchte, wird das Gerede der Verwandtschaft nicht komplett überhören können. Warum muss man sich immer dafür rechtfertigen, was man tut? Ist man besser oder schlechter, weil man die Matura, einen Lehrabschluss oder einen Titel besitzt? Ob man zufrieden mit sich ist liegt sicherlich nicht daran, was man irgendwann gelernt hat oder nicht, sondern wie man seine Zukunft mit dem Kapital, das man hat, gestaltet. Es gibt hier großen Aufklärungsbedarf. Vielleicht sollte man den Studierenden lehren, dass die arbeitende Jugend bereits jetzt ins Pensionssystem einzahlt, während man selbst noch den „Luxus“ des Studierens genießt und den Lehrlingen erklären, dass man auch durch geistige Arbeit Dinge bewegen kann. Womöglich nicht von heute auf übermorgen, wie das ein Straßenbauer kann. Aber trotzdem wird eine gute Eselsbrücke ab einer gewissen Anzahl von Wiederholungen genauso standfest wie ein Bahnübergang. ♦

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DEBT

The first 5000 years Rezension Von wegen Orchideenwissenschaft: Ein amerikanischer Kulturanthropologe liefert die bisher plausibelste Aufarbeitung der Schuldenkrise. Dabei stellt er vor allem klar, dass dieses Problem der extremen Überschuldung kein neues ist. David Graeber, Kulturanthopologe, Ex-YaleProfessor und Anarchist, gilt nicht umsonst seit Erscheinung seines Werks „Debt: The First 5000 years“ sowohl als eine Kultfigur unter Kulturanthropologen, als auch als das ideologische Mastermind der Occupy-Bewegung. Leistet er doch in nonchalanter, narrativer, bisweilen tendenziöser Sprache, was sich viele kritische Sozialwissenschafter angesichts der sich vollziehenden Selbstauflösung des Kapitalismus erhofft hatten: Die Dekonstruktion seiner ökonomistischen Implikationen. Es ist wohl kein Zufall, dass in einer solchen krisenhaften Situation, in der die bisher anerkannte Ökonomie ihre vollkommene Unfähigkeit zur Beschreibung und Lösung der vorliegenden Probleme beweist, ein Schritt zurückgetreten werden muss, um das Problem aus einer allgemeineren Perspektive zu betrachten. Ein Schritt zurück, das heißt aus der hoffnungslos verrannten sozialwissenschaftlichen Teildisziplin Wirtschaftswissenschaft hin in eine allgemeine, auf den Menschen fokussierte Disziplin. Dass hier die Anthropologie den geeigneten Blickwinkel einnehmen kann, überrascht nicht: Diese Wissenschaft hat nicht vergessen, dass der Mensch nicht nur ein Homo Oeconomicus ist, sie hat nicht vergessen, dass der Markt nicht das einzige funktionierende System menschlichen Zusammenlebens ist, und schon gar nicht das effizienteste. Sie kennt die Alternativen, die die Menschheitsgeschichte erlebt (hat). Doch ist dies nur ein Nebenschauplatz in „Debt“. Die eigentliche Leistung dieses Werks ist nicht weniger als eine rasante Aufarbeitung der Geschichte der Verschuldung. In dieser wird deutlich, dass Schulden in vielen Kulturen in

allen Phasen der Geschichte als ein Instrument der Herrschaft fungierten und regelmäßig soziale Krisen auslösten. Diese explodierten entweder in einem Aufstand der Schuldner oder wurden durch eine (oft sogar rituell zelebrierte) Löschung der Schulden verhindert. Glaubhaft demonstriert Graeber an seinen historischen Beispielen, dass die Krise, die der Kapitalismus heute durchlebt, mit großer Wahrscheinlichkeit in ein soziales Desaster umschlägt, wenn die Gläubiger (in unserem Fall, überspitzt formuliert: die 1 Prozent gegenüber den 99 Prozent, die Banken gegenüber den Schuldnern, die Industrienationen gegenüber den Entwicklungsländern) nicht zu essentiellen Zugeständnissen bereit sind. Und, ganz en passant, beweist er die unglaubliche Relevanz einer kritischen Sozialwissenschaft, die sich der sozialen Alternativen bewusst ist. ♦ Victor Höck Graeber, David. (2011). Debt: The First 5000 years. Brooklyn, New York: Melvillehouse.

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über.krise

Expansion und Reflexion World Map of Social Struggles

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Foto: flickr, how will i ever

ährend sich vor allem die sozialen Auseinandersetzungen um politische Partizipation in unverhoffte Richtungen verbreitet haben, scheint es um die Occupy-Bewegung am Ausgang des Jahres 2011 still geworden zu sein. Dabei holt diese nur zum nächsten Schlag aus. Ein Update. Victor Höck Na, wer hätte das gedacht? Dass sich in Russland, das sich aus mitteleuropäischer Perspektive irgendwie schon immer im eisernen Griff militärisch unterfütterter, kleptokratischer Despoten befindet, noch einmal was bewegt, daran wollte man sogar im politisch bewegten Jahr 2011 nicht mehr so recht glauben. Doch pünktlich zu dessen Ausklang tritt dort eine selbstbewusste Demokratiebewegung auf den Spielplan, die sich in erster Linie gegen die allzu offensichtlichen Manipulationen der letzten Duma-Wahlen wendet und einen Abtritt des autoritären Duos Putin/Medwedew fordert. Und diese hat es in sich: Auch wenn sich die ersten, kleineren Proteste einer Übermacht von gewalttätigen PolizistInnen gegenübersah, konnten zur größten Kundgebung 120.000 Menschen mobilisiert werden - eine der größten Demonstrationen der letzten Monate weltweit.

Unverhoffter Widerstand

Doch nicht nur Russland hat sich im Dezember neu in der Weltkarte der sozialen Unruhen eingetragen. Weitestgehend unbeobachtet von westlichen Medien richteten kasachische Sicherheitskräfte ein Blutbad unter den seit Mai streikenden ÖlarbeiterInnen an: Nachdem es bei einer Kundgebung am kasachischen Unabhängigkeitstag zu Unruhen gekommen war, feuerte die Polizei in die Menge. Laut westlichen Medien fielen den Schüssen der Polizei 17 Menschen zum Opfer, den Aufständischen nahestehende Quellen sprechen sogar von 70 Toten und mehreren hundert Verletzten. Daraufhin kam es zu schweren Ausschreitungen, im Zuge welcher lokale Amtsgebäude niedergebrannt wurden. Seither haben sich die Arbeitskampfmaßnahmen, aber auch die Repressionen gegen die Streikenden verschärft. 20 Anführer der Aufständischen wurden verhaftet. Ein weiterer unverhoffter Brennpunkt soziawww.facebook.com/ueber.morgen

ler Auseinandersetzungen wurde im Dezember die chinesische Kleinstadt Wukan, in der sich ein monatelang schwelender Konflikt um die unrechtmäßige Landnahme chinesischer Beamter daran entzündete, dass der Sprecher des Aufstands in der Haft zu Tode gefoltert wurde. Nachdem sich in Wukan DemonstrantInnen und Polizei in einem regelrechten Belagerungszustand gegenüberstanden, konnte eine Eskalation nur durch Zugeständnisse der Regierung verhindert werden. Die vorläufige Befriedung Wukans ändert nichts daran, dass sich in China die Konflikte um Themen wie Umweltverschmutzung, Enteignungen, ausbleibende Löhne, Polizeigewalt und Ähnliches häufen.

Die Revolution und ihre Kinder

Syrien, schon bald im zweiten Jahr seiner revolutionären Umwälzungen, zählt nun laut Angaben der Vereinten Nationen mindestens 5.000 durch die Waffen des Regimes umgekommene ZivilistInnen. Mittlerweile ist der oppositionelle syrische Nationalrat dazu übergegangen, Assads Regime mit einer selbstorganisierten „Freien Armee“ entgegenzutreten und die friedlich demonstrierende Zivilbevölkerung zu schützen. Ob es auf diesem Weg gelingen kann, der Revolution ohne ausländische Hilfe zum Sieg zu verhelfen, bleibt offen. Wer die syrische Revolution unterstützen will, kann den lokalen Komitees über die Plattform adoptrevolution. org finanziell unter die Arme greifen. In Ägypten wähnte sich die Revolution zwar schon am Ziel, doch musste diese nun feststellen, dass das Militär mit der Unterstützung des Sturzes des Regimes Mubarak nur die Festigung der eigenen Macht im Visier hatte. Seit dem Abtritt des Diktators wurden 12.000 KritikerInnen des Übergangsrates inhaftiert, auf die DemonstrantInnen am Tahrir-Platz wird mitunter scharf geschossen. Eine Aktivistin erlangte unter dem Namen „Blue-Bra-Girl“ traurige Berühmtheit, als ein Soldat die am

Boden liegende Frau brutalst verprügelte, ihr die Kleider vom Leib riss und so ihren blauen BH freilegte.

Occupy - vorbei?

In diesem ereignisreichen Jahresausgang wurde es verblüffend still um die Occupy-Bewegung, die in den vorigen Monaten noch ein Garant für Aufruhr in der westlichen Welt war. Ist Occupy etwa von der Bühne des antikapitalistischen Widerstands abgetreten? Wohl kaum. Vielmehr lässt sich feststellen, dass in der ersten Atempause der Bewegung seit ihren stürmischen Anfängen im Herbst 2011 unverzüglich der mediale Reflexions- und Analysereflex einsetzte. Manche sehen die Occupisten schon jetzt in einer historischen Linie mit der französischen Revolution und der 68er-Bewegung, andere wiederum halten sie nur für einen medial gehypten Wutausbruch von Hipstern und Bobos, die um ihre Existenz in den krisengerüttelten Creative Industries bangen. Dass die Diskussion über die Stellung von Occupy in der Genealogie der Revolten sich schon selbst zu einer Medienblase ausgewachsen hat, die in der Kürung des „Protesters“ als „Man of the year“ in der New York Times kulminierte, veranlasst uns an dieser Stelle aber dazu, diesen Diskurs nicht fortzuführen. Nur so viel sei gesagt: Für den Jahrestag der Besetzung der Puerta del Sol in Madrid am 15. Mai wird schon heute kräftig mobilisiert, und das von linken Kräften, die die Bewegung bis dato ignoriert haben. Man darf also gespannt sein.

Burschis zittern

Und auch in Wien steht wieder ein Fixtermin der örtlichen Protestkultur an: der Burschi-Ball am 27. Jänner, dem HolocaustGedenktag. Mehrere Bündnisse haben ihren Widerstand angekündigt. Ziel ist es, den WKR-Ball, dieses Jahr zum letzten Mal in der Hofburg, zu verhindern. ♦


über.krise

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Wir sind hier, und wir sind laut, weil man uns die Freunde klaut!

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er 14-jährige Denis soll abgeschoben werden. Er und seine Familie gelten als gut integriert und leben seit sieben Jahren in Österreich. Fälle wie diesen gibt es hunderte. Karin Stanger

Foto: flickr, Daniel Weber

Sieben Jahre lang wurde der Asylbescheid der Familie Vuckovic bearbeitet. Die Roma Familie baute sich ein Haus und ihre Kinder, die 16-jährige Jovana und ihr Bruder, der 14-jährige Denis, fanden Freunde und Heimat. Jovana ist Vorzugsschülerin in der Katholischen Privatschule Friesgasse in Wien-Margareten. Ihr Bruder Denis ist eines der größten Basketball-Talente in Österreich, spielt bei der Union West Wien und ist ebenfalls Vorzugsschüler im Sportzweig eines Gymnasiums in Wien-Ottakring. Sein Vater, ein politischer Flüchtling aus Serbien, stellte im Juli 2004 einen Asylantrag. Nach sieben Jahren traf im Herbst der negative Asylbescheid für Familie Vuckovic ein, der ihnen 14 Tage Zeit gab Österreich zu verlassen. Doch es bildete sich Widerstand. „Denis ist ein ganz ein gescheiter, lieber Bursch, den wir sehr ins Herz geschlossen haben. Viele hier an der Schule setzen sich dafür ein, dass er bleiben kann“, sagte Robert Parma, Direktor des Sportzweigs des Gymnasiums im Turnsaal. Am 2. Nov. wurde aus Turnmatten eine Bühne gebaut und Lautsprecher angekarrt, um eine Kundgebung zu organisieren. Schüler, Lehrer aber auch Eltern waren gekommen und gemeinsam beschloss man die Abschiebung

nicht einfach hinzunehmen, sondern eine große Demonstration zu organisieren. „Wir sind hier, und wir sind laut, weil man uns die Freunde klaut!“, riefen die Mitschüler von Denis. Im Dezember gingen 500 Menschen auf die Straße, um gegen die Abschiebung zu demonstrieren. Denis: „Es geht mir nicht so gut aber ich möchte mich bedanken. Ich hätte nie erwartet, dass so viele Freunde und so viele Menschen, die ich nicht kenne, uns helfen wollen.“ Die ersten Erfolge der Solidarität haben sich eingestellt. „Die Abschiebung ist gestoppt. Wir müssen noch zum Asylgerichtshof und dann wird erst entschieden“, meint Denis auf die Frage wie es weiter gehen wird. In übrigens perfektem Deutsch, von dem sich Anna Netrebko ein Scheibchen abschneiden könnte. Netrebko besitzt seit 2006 die österreichische Staatsbürgerschaft, auf Grund ihrer „besonderen Verdienste“. Auf diese besonderen Verdienste pocht man auch bei Denis, dem Basketball-Talent. Doch ob das ausreicht? Familien wie die Vuckovic gibt es hunderte. Etwa 50 Menschen werden jede Woche aus Österreich abgeschoben. Aber nicht alle haben einen so engagierten Freundeskreis. „Für mich ist es absolut unverständlich, dass man

Familien aus ihren Leben heraus reißt, die seit sieben Jahren hier wohnen“, so Parma. Das Problem dahinter scheint ein Rückstau aus den Asylverfahren der Jahre 2000 - 2005 zu sein. Mehr als 5000 Verfahren müssen noch abgearbeitet werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahren die Langwierigkeit solcher Verfahren. Das Innenministerium gibt „keine Stellungnahme zu Einzelfällen“ ab. Dabei wäre auch viel interessanter, welche internen Abläufe im Asylrecht gelten. Fakt ist, dass AsylwerberInnen bisher nachweisen mussten, dass im Falle einer Abschiebung sie persönlich von einer menschenrechtswidrigen Behandlung bedroht wären. Was sich in der Praxis, wie im Fall von Denis Vater, der ein politischer Flüchtling ist, meist als sehr schwierig erwies. Nun sind aber, nach einem neuen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Dez. 2011), auch die Asylbehörden gefordert Bedenken an der menschen- und EUrechtskonformen Behandlung nachzugehen. Die ‘Asylkoordination Österreich‘ sieht direkte Auswirkungen dieses Urteils auf die Asylverfahren in Österreich und damit vielleicht auch für die Familie Vuckovic. ♦

Führ' uns zum Schotter, Mitzi! Gastkommentar

Ö

sterreich hat sein Triple-A Rating verloren. Die Opposition ist gegen den Eurorettungsschirm, für den Österreich im Fall der Fälle garantieren müsste, für 21 Milliarden Euro gerade zu stehen. Und die kleinen Krisenherde überdecken medial wieder mehr die tatsächlichen Probleme des neuen Jahrtausend. Die Eurokrise und die Finanzkrise sind noch nicht überstanden. Genauso wenig wie all die anderen Krisen, die sich in den vergangenen Jahren aufgetan haben. Wir leben in Krisenzeiten. Schon seit Längerem. Überall scheinen alte Traditionen ins Wanken zu geraten oder drohen eingeprägte Werte schleichend an Bedeutung zu verlieren. Und wir sind entsetzt oder gar verängstigt, so als ob das etwas Neues wäre. Die Traditionalisten schreien nach einem Sparkurs, bei dem alle ihren Gürtel enger schnallen

müssten. Die Mehrheit stimmt dieser alten Propaganda mangels alternativer Denkmuster zu. Und übersehen, dass es Menschen gibt, die weder Gürtel besitzen oder gar keinen brauchen, in Ermangelung einer Hose, die sie diesfalls tragen müssten. Die derzeit kursierenden „21 Milliarden“ für den Rettungsschirm sind im Wesentlichen der normale Schuldenzuwachs der Republik Österreich in knapp 2 Jahren. Der österreichische Anteil am globalen Schuldenstand beträgt rd. 210 Milliarden Euro. In den vergangenen 5 Jahren ist dieser Schuldenberg um rd. 55 Milliarden angewachsen. Das Verhältnis unserer Schulden zu unserer Wirtschaftsleistung hat sich ebenfalls verschlechtert. Die Schulden der Republik machen dzt. rd. 70 Prozent unserer Wirtschaftsleistung aus. Setzt sich dieser Trend fort, werden wir in 15 - 20 Jahren genauso viele Schulden haben, wie wir in einem Jahr

Produkte und Dienstleistungen im Gegenwert herstellen. Also Staatspleite. In den alten Traditionen, in den alten Denkmustern. Angesichts dessen, dass die globale Wirtschaftsleistung rd. 70 (deutsche) Billionen können wir jedoch davon ausgehen, dass es sich beim Geld ähnlich verhält wie bei unseren Nahrungsmitteln. Es gibt ausreichend, es mangelt an der Verteilung. Der Glaube daran, dass Geld ein knappes Gut sei, führt leicht zu dem Irrglauben, ein Sparkurs wäre in der heutigen Zeit die einzige Handlungsalternative. Dabei leben wir gerade jetzt in einer Zeit, in der der Staat schuldlos Schulden machen kann. Mit Blick auf die Zukunft. Oder haben Sie schon einmal einen politisch Verantwortlichen darüber sprechen hören, wann unsere derzeitigen Schulden, jene 210 Milliarden Euro, zurückgezahlt sein sollen? ♦ Gregor Kollwinger www.uebermorgen.at


über.meinung

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Niko Machiavelli Kommentar

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n Ungarn kämpfen couragierte JournalistInnen für den Erhalt der Pressefreiheit. Zwei von ihnen erhielten dafür den „Press Freedom Award 2011“. Aber auch hierzulande ringen JournalistInnen um ihre Unabhängigkeit. Die Farce um die Bestellung Niko Pelinkas zum Büroleiter des ORF-Generaldirektors ist medial ebenso omnipräsent, wie sie sinnbildlich für die mediale Gesamtsituation Österreichs steht. Der ORF ist in den Fängen der Politik. Das ist nichts Neues. Nun aber taucht der kleine Finger dieses Filzmonsters aus der so ruhig scheinenden Bergseeoberfläche und macht es in seiner ganzen Monstrosität erahnbar. Fazit: Es wird aus allen Rohren darauf losgeschossen. Ein verzweifelter Akt der journalistischen Notwehr. Zu dreist, zu offensichtlich dieser Akt der parteipolitischen Günstlingswirtschaft. Dem „eher linken“ SPÖ-Mitglied, multiplen SPÖ-Wahlkandidaten und Ex-SPÖFreundeskreisleiter Niko Pelinka, seines Zeichens „nie für eine Partei tätig“, tut man aber Unrecht, wenn man ihm bloße parteipolitische Motivationen unterstellt. Wird er als Büroleiter zuerst an die SPÖ oder an den ORF denken? - Weder noch. Er wird zunächst an sich selbst denken. Das Ansehen des ORF oder der Partei spielt für ihn offenkundig keine Rolle. Sonst hätte er letztlich seine Pro-

Graus 2.0 forma-Bewerbung gar nicht erst eingereicht, denn es schadet beiden. Mittelfristig schadet die Causa auch ihm selbst. Auf lange Sicht aber ist sie ein unbezahlbarer Coup der wirtschaftsstrategischen Selbstprofilierung. Der Zynismus: Sein Trotz gegen den gesellschaftlichen und betriebsinternen Widerstand mehrt seine karrieretechnische Dividende zusätzlich, denn in der Privatwirtschaft sind teflonbeschichtete Lobbyisten höchst gefragt. Zunächst geht es also um den Freundeskreis, die Connections, die Steigbügel zur Macht, mehr nicht. Es gilt erst einmal den Lebenslauf zu pimpen. Die Leitern aber, auf denen er nach oben kletterte, wird er nicht wegwerfen. Er wird sie beiseite stellen, dann und wann mit Balsam oder Öl behandeln, nach neuen Ausschau halten, und sie ab und an wieder besteigen. Und genau das ist das Problem. Es ist also völlig bedeutungslos, ob Pelinkas innere Beweggründe die eines treuen Parteisoldaten oder die eines machiavellistischen Karrieristen sind. Keine von ihnen haben im Journalismus etwas verloren. Schon gar nicht in der Generaldirektion einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt. Über seinen Sohn würden sich „noch alle wundern“, meinte kürzlich Peter Pelinka. Unter diesen Vorzeichen aber wird sich niemand mehr über irgendetwas wundern. ♦ Matthias Hütter

JournalistInnenpreise Kommentar

G

leich zwei Preise für JournalistInnen wurden im Dezember verliehen. Zum einen der „Dr. Karl Renner Publizistikpreis“ des Österreichischen Journalisten Clubs (ÖJC), zum anderen der „Press Freedom Award 2011“ von Reporter ohne Grenzen. Wurden die Preise für hervorragende journalistische Arbeit vergeben, so machten sie auch auf die Probleme der freien Presse in Europa aufmerksam. Die Gewinner des „Press Freedom Awards“ setzten sich in ihren Arbeiten zum Beispiel für die Pressefreiheit in Ungarn ein. Auch ÖJC-Präsident Fred Turnheim hatte eine Botschaft für die PolitikerInnen Österreichs, in welcher er sie aufforderte, die Pressefreiheit, sowie die Grund- und Freiheitsrechte der BürgerInnen zu wahren und nicht ständig mit Novellierungen umstrittener Gesetze weiter einzuschränken. Ob die PolitikerInnen des Landes sich diesen Aufruf zu Herzen nehmen ist fraglich, war doch der einzig anwesende Politiker Christian Oxowww.facebook.com/ueber.morgen

nitsch, Stadtrad für Bildung, Jugend, Information und Sport. Zwar war der Staatssekretär für Medienangelegenheiten Dr. Josef Ostermayer eingeladen, doch gekommen ist er nicht. Aber vielleicht ist es auch nur ein Indiz dafür, wie viel unseren PolitikerInnen die freie Presse wert ist, nämlich nichts. Es waren aber nicht nur VertreterInnen der Regierung, die fehlten, sondern auch Kamerateams. Wenn die freie Presse wirklich frei bleiben möchte, braucht sie mehr Aufmerksamkeit. Nicht nur die Aufmerksamkeit interessierter Fachkreise, vielmehr jene der breiten Masse. Berichte über Pressepreisverleihungen dürfen nicht nur in Nischenblättern oder in kleinen Meldungen zu finden sein. Es bedarf einer größeren medialen Präsenz. Vielleicht wäre die Publizistikpreisverleihung auch interessanter, wenn nicht nur alt gediente JournalistenInnen für ihre Lebenswerke ausgezeichnet würden, sondern auch junge KollegInnen für hervorragende journalistische Arbeit. ♦ Nikolaus Karnel

Kein Jahresrückblick Markus Schauta

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Das Jahr 2011 verging wie im Flug. Um 23.57 Uhr rannte ich in der Küche los, um an der Schwelle zum Wohnzimmer zum Sprung ins neue Jahr anzusetzen. Während ich durch die verrauchte Luft segelte, ereilte mich eine Vision. 2020: Österreich wird von Standard & Poor‘s endgültig für „poor“ erklärt. Die Schuldenbremse entpuppt sich als Sozialabbau, der ein tiefes Loch hinterlässt, das sich mit Arbeitslosigkeit, Armut, Verzweiflung und Verblödung füllt. Kernige Sprüche, wiedergekäute Stereotype und verzerrende Vereinfachungen komplexer Sachverhalte können in einer Gesellschaft mit kaputtgespartem Bildungssystem besser denn je punkten. Und so entscheiden die 99 Prozent auf direkt demokratischem Weg, dass es jemand brauche, der das Ruder in die Hand nimmt, um die Austria Richtung El-Dorado zu steuern. Einen Volksvertreter Nummer 1, einen starken Mann für die kleinen Leute. Denn, so sagt der starke Mann den 99 Prozent, er wisse, wer Schuld an der Misere habe und wohin die Fahrt gehen müsse. Seine aufhetzenden NLP-getränkten Reden stacheln die 99 Prozent auf, die ihm sofort ihre Stimmen geben. Im Internet, per Mausklick, aus dem Affekt heraus, sozusagen. Und wie ich so durch die Luft fliege und der erste Sektkorken knallt, starre ich weiter in den Abgrund, den mir die Vision eröffnet hat. Krankenversicherungen führen das Bonus-Malus-System ein. Alkohol- und Zigarettenkonsum ist Sache der Reichen. Weniger Betuchte können sich die damit verbundenen hohen Versicherungskosten nicht leisten. Die Gesundheitsfanatiker und Kontrollfreaks unter den 99 Prozent freut das. Bis sich herausstellt, dass auch Extremsportler und Homosexuelle – die Chance sich mit HIV anzustecken sei, laut Ärzten, deutlich höher als bei Heterosexuellen – exorbitant hohe Versicherungssummen zahlen müssen. Als ich landete, war es eine Sekunde nach Mitternacht. In der frischen Luft, die durch das offene Fenster wehte, verflog meine Vision. Raketen zischten, Knallkörper böllerten und krachten. Jemand reichte mir ein Glas Sekt. „In the year 2525“ dröhnte es aus den Boxen. Wir stießen an und soffen, als gebe es kein Morgen. ♦


über.reste

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Milliarden für (unter) den Nationalpark ür den Nationalpark Donau-Auen wird seid langem gekämpft - damals gegen den Bau des Kraftwerks Hainburg, heute gegen den Bau des Lobau-Tunnels, der für 1,4 Milliarden Euro unter dem Naturschutzgebiet verlegt werden soll. Franka Fuchs Vorgestern, im Jahr 1984: Der geplante Bau des Kraftwerks Hainburg drohte den letzten freifließenden Donauabschnitt und die umliegenden Auwälder zu zerstören. Die Proteste der NaturschützerInnen waren zunächst fruchtlos, die Baugesellschaft wollte nicht einlenken. Da kam es zur Besetzung der Wälder: Tausende demonstrierten friedlich gegen das Kraftwerk, jegliche Räumungsversuche der Polizei waren erfolglos. Daraufhin ordnete die Regierung eine wissenschaftliche Untersuchung des Gebiets an, mit dem Ergebnis, dass die Donauauen Nationalparkqualitäten hatten: Rund 60 Fischarten kommen in diesem

rl!

www.lobau.org Für mehr Informationen: D

Ich hasse d i e UmsonstMentalität. Ich werde jetzt nicht anfangen, über die Esist-alles-umsonst-undich-kann-ja-eh-nichts-ändern-Mentalität zu schimpfen, denn dafür reicht so ein kleines Eck einfach nicht aus, ich rede tatsächlich von der Gratis-Mentalität, der Ich-geh-dahin-weils-da-ein-Gratisbuffet-gibt-Mentalität, der Ich-fress-solang-bis-ich-platz-nicht-bis-ichsatt-bin-weil-es-ja-gratis-ist-Mentalität, der Heyes-gibt-Freibier-ich-trink-bis-ich-umfall-Mentalität, der Wos-was-umsonst-gibt-bin-ich-immer-dabei-Mentalität derer, die es eigentlich nicht nötig hätten: Sie ist zum kotzen. Und dabei meine ich nicht, dass für alles gezahlt werden sollte, gar nicht – mich macht es nur wütend, dass plötzlich kein Maß mehr herrscht, sobald das Geld als Bremse wegfällt. Wir hungern hier bei weitem nicht, es ist verdammt traurig, dass bei einem Gratisbuffet manchmal dennoch der Eindruck entsteht. Eine Horde Maßloser, die sich freudig totfressen würde, wäre plötzlich alles umsonst. Wohl bekomm's! ♦ [arr]

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Das Hunderl von dieser Woche ist der kleine Mathias aus Tirol. Er steckt bis zum Hals in braunem Kot fest. Das kann man zumindest glauben, wenn man auf nazi-leaks.net schaut. Weil die sagen, dass der schlimme Finger Mathias, im Sippenname Venier, sich ziemlich rechts gewandet. Deshalb suchen wir dieses Mal wieder jemanden, der dem lieben kleinen Köter zeigt, dass das vielleicht der rechte aber nicht der richtige Weg ist, um in der österreichischen Politik mitzuspielen. Eure über.morgen-Tierredaktion

werde unangetastet bleiben, werden die absurd hohen Kosten für das Projekt kritisiert. Der Umweltsprecher der Grünen beispielsweise, Robert Maresch, gab an, den Bau „angesichts der weltweiten Finanzkrise für noch viel unsinniger als bisher“ zu halten. Die Bürgerinitiative „Rettet die Lobau“ informiert im Internet über Veränderungen und Aktionen, ihre SprecherInnen gehen sogar von drei Milliarden Euro aus, die das Projekt letzten Endes kosten könnte und verweisen auf Alternativpläne: „ Mit drei Milliarden Euro könnten die regionalen Verkehrsprobleme durch Modernisierung und Neuerrichtung von öffentlichen Verkehrsmitteln langfristig und ökologisch gelöst werden. Aber Wien und Niederösterreich wollen auf Biegen und Brechen eine Transit-Autobahn durchdrücken. Angesichts der gravierenden Sparmaßnahmen in Bereichen wie Bildung und Pflege kann das niemand mehr verstehen.“ Kurzum: Bitte keine Pläne von vor.gestern, sondern Ideen für über.morgen. ♦

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Abschnitt der Donau vor, umgeben von mehr als 30 Säugetier-, 100 Brutvogel-, 8 Reptilien-, 13 Amphibien- und 700 höheren Pflanzenarten. Der Bau des Kraftwerks wurde verhindert, stattdessen entstand 1996 der Nationalpark Donau-Auen mit rund 10.000 Hektar Fläche. Doch das Gebiet sollte nicht lange unangetastet bleiben. Schon im Jahr 2004 präsentierte die „Autobahnen und Schnellstraßen Finanzierungs-AG“, kurz ASFINAG, Pläne zum Bau des „letzten fehlenden Teilstücks“ der Schnellstraße 1 (S1) zwischen Schwechat und Süßenbrunn, deren Bestandteil auch der Donau-Lobau Tunnel werden sollte, der direkt unter dem Nationalpark angedacht war und ist. Ja, ist, denn der Plan ist leider nicht von vor.gestern: Ab 2025 soll der Lobautunnel für bis zu 60.000 Autos täglich befahrbar sein. Das Projekt soll 1,8 Milliarden Euro kosten, 1,4 Milliarden davon allein für den technisch anspruchsvollen Tunnel unter dem Nationalpark. Abgesehen von der Bedrohung der Natur, denn UmweltschützerInnen zweifeln stark die Aussage der ASFINAG an, der Nationalpark

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Impressum: Medieninhaber & Herausgeber: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien. Homepage: www. uebermorgen.at; Redaktion: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien; Redaktionelle Leitung: Markus Schauta, Karin Stanger; Layout: axt Cover: cglanzl, axt; Herstellerin: Druckerei Fiona, www.fiona.or.at; Herstellungs- und Erscheinungsort: Wien; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: © Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. www.uebermorgen.at


www.oliverottitsch.com

http://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_rรถmisch-katholischen_Kirche


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