4/2010 - Brennpunkt Studibeisl

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Ăźber.morgen Dein Begleitheft zur Krise

www.uebermorgen.at | Jahr 4, Ausgabe 4 | Freitag 6.6.2012 | 2,49 Euro

Brennpunkt Studibeisl

Freiraum zwischen Ă–H-Politk, Autonomie und Pleitegeier

Abrechnung mit Kristina S. Kommentar S. 17 Frauen, ganz rechts Interview S. 12

Radln abseits der Wege Reportage S. 10

Kunst unterm Fuchs Reportage S. 14


über.ich

2 über.fordert

TU-Club

Das arme Deutschland Jakob Arnim-Ellissen

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iel hört man in letzter Zeit über die armen GriechInnen. Arbeitslosigkeit und Kriminalität treiben sie in die Arme von Radikalen aller Richtungen und in die Abhängigkeit von Suppenküchen. Der drohende Ausstieg aus der Eurozone würde ihnen den Rest geben, so der allgemeine Tenor. Im Gegensatz zu den Katastrophenwarnungen, die noch vor ein paar Wochen solche Diskussionen im Keim erstickten, heißt es nun, die Eurozone könne mit einem griechischen Währungswechsel ganz gut leben. Solchen Aussagen, wie etwa der vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, wird allerdings von verschiedensten Seiten entschieden widersprochen. Denn das Timing dieser Kehrtwende - noch während der inzwischen gescheiterten Koalitionsverhandlungen und vor den nun folgenden Neuwahlen - legt taktische Beweggründe zumindest nahe. Es scheint, als sollte die griechische Wählerschaft doch noch irgendwie überzeugt werden, reumütig zu den Spardiktattreuen Parteien zurück zu kriechen. Evangelos Venizelos, Chef der sozialistischen Pasok, hofft dementsprechend auf eine "reifere" Entscheidung der WählerInnen bei der nächsten Wahl. Ob das Szenario Euroausstieg aber tatsächlich nur die Peitsche ist, mit der Griechenland über das fehlende Zuckerbrot hinweggetröstet werden soll, wird sich wohl bald zeigen. Die drohenden Belastungen für den EU-Primus Deutschland gehen in dieser Diskussion hingegen völlig unter. Inzwischen scheint klar, dass dessen niedrige Produktionskosten - die es den im Verhältnis zur Produktivität unterdurchschnittlich stark steigenden Löhnen verdankt - und der daraus resultierende Handelsüberschuss, doch auch an der Krise mit Schuld sind. Nun erklären sich deutsche PolitikerInnen langsam bereit, die Löhne stärker steigen zu lassen. Das lange Zögern ist verständlich. Milliarden an Hilfsgeldern zu verteilen, um Staaten (sowie die eigenen Banken und Exportunternehmen) zu retten, ist eine Sache. Aber die Löhne zu erhöhen und die Einnahmen aus Produktivitätssteigerungen an die arbeitende Bevölkerung weiter zu geben, dazu bedarf es dann doch einiger Überwindung. Schließlich geht es hier um die Gewinne der Unternehmen. Die armen Deutschen: Konfrontiert mit dem drohenden Totalausfall der griechischen Schulden bleibt ihnen wohl selbst das nicht erspart. ♦ www.facebook.com/ueber.morgen

Ein Studibeisl-Projekt aus den 70ern

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s war 1978, als in einem ehemaligen Hörsaal im Keller der TU der TU-Club gegründet wurde. Als Party- und Konzertlocation, Rückzugsort für OpernballdemonstrantInnen und Freiraum abseits von Konsumzwang, war er Fixpunkt der linken Szene und studentischen Lebens. 1999 wurde das nichtkommerzielle Studibeisl und Kommunikationszentrum

geschlossen. Von den heutigen Studierenden kennt kaum noch jemand das legendäre Beisl. Lisa Köppl, Nikolaus Karnel und Markus Schauta trafen sich mit Manfred Rakousky und Ernst Lammer, zwei TU-Club-Veteranen, um über Studi Beisl’n einst und jetzt zu sprechen.

über.morgen: Wie ist der TU-Club entstanden? Rakousky: In den 70er Jahren, zu der Zeit der Arena Besetzung, ist auch auf der TU der Wunsch nach einem Kommunikations-Raum aufgetaucht. Es gab leerstehende Räumlichkeiten in der Paniglgasse 1 und da ist man hingegangen und hat die Räume besetzt und selbstverwaltete Kultur gemacht.

Welche Aktivitäten gingen vom TU-Club aus? R: Der TU-Club hat eine Revolutionssteuer abgeführt. Hinter diesem dramatischen Begriff stand die Idee, dass das Kollektiv sich mit einem bestimmten Prozentsatz der Einnahmen besteuert und mit dem Geld gewisse Projekte unterstützt. Zum Beispiel den Notrufdienst für Frauen, Totalverweigerer oder linke Projekte, die in Finanznot waren. Der TU-Club hat sich nie als Insel gesehen, sondern war immer eingebettet in einen linken Zusammenhang. Was am meisten nach außen gedrungen ist, waren die Opernballdemos. Der TU-Club hat dabei zwei Funktionen übernommen. Erstens, dass wir den TU-Club als Treffpunkt vor der Demo angeboten haben. Und zweitens, aber das hat sich im Freihaus und an der TU abgespielt, juristische und sanitätsmäßige Begleitmaßnahmen zur Opernballdemo zu schaffen. Die Polizei hat damals die Sperrzone der TU akzeptiert. Am Wüstelstand vor der TU hat sie die Demoteilnehmer noch geprügelt, aber in die TU haben sie die Leute nicht verfolgt.

Den Konflikt um den TU-Club hat es gegeben, weil wir nie so wie das Cafe Rosa sein wollten. Wie war der Verein organisiert, wie waren die StudentInnen der TU integriert? R: Im Verein wurde immer auf eine Verzahnung mit der HochschülerInnenschaft Wert gelegt. Es saßen zwei Delegierte der ÖH im Vorstand. Somit hatte die ÖH eine gewisse Kontrolle, was der Verein, welcher von sich aus autonom gestaltet war, macht. Diese Verzahnung hat gut funktioniert. Später wurde ein eigenes Referat eingerichtet, um die Verzahnung besser umzusetzen. Das war ein so genanntes Kommunikations-Referat, womit man eine eigene Verwaltungsstruktur geschaffen hat und es leichter wurde mit Behörden zu kommunizieren. Wie groß waren die Räumlichkeiten? R: Bis zum Brand ’89 waren es nur die Kellerräumlichkeiten für circa 100 Personen. Ab ‘92 kamen auch Räumlichkeiten im Erdgeschoß dazu. Da gab es dann auch ein Internet Café. Dann sind die Architekten gekommen und haben Supermarktwägen, wo die Computer drinnen standen, auf Bauaufzüge montiert. Wenn es Festln gab, hat man das einfach hoch gezogen, um die Computer zu schützen und um maximalen Platz für die Party zu haben. Die Integration der StudentInnen in das Projekt war immer sehr wichtig, es gab einige Ausstellungen und Vorträge.

Nikolaus Karnel

Der TU-Club hat eine Revolutionssteuer abgeführt.

Wie finanzierte sich der TU-Club? R: Einnahmen kamen aus dem Beisl- und KonzertBetrieb. Es gab ja das Modell, das vorsah, bis zu einem gewissen Umsatz keine Steuer bezahlen zu müssen. Erst am Schluss, als Unstimmigkeiten mit der ÖH aufgekommen sind, gab es eine finanzbehördliche Untersuchung. Die drohten dann mit einer Steuernachzahlung von einer Million Schilling. Das Drohpotenzial war so groß, dass einige Leute sagten, ok, wir sperren den TU-Club zu. Am Ende waren es aber nur 15.000 Schilling an Steuernachzahlungen - ein Betrag der jederzeit hätte aus den Reserven bezahlt werden können. > Fortsetzung auf S. 8


über.ich

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Frei(t)raum

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über.inhalt

Editorial

s gibt die unterschiedlichsten Freiräume und damit verbunden auch die verschiedensten Ansprüche. Da sind zum Beispiel die studentischen Freiräume, oft mühsam erkämpft, oder die künstlerischen Freiräume, wo sich kreative Geister entfalten. Freiräume sind so verschieden, wie die Menschen, die sie erschaffen. Sie müssen gar nicht öffentlich sein, auch die eigenen vier Wände bilden einen Freiraum, einen persönlichen Freiraum, es sei denn der Staat nimmt ihn einem weg. An dieser Stelle muss ich euch, liebe Leserinnen und Leser, leider enttäuschen. Freiräume sind nicht das zentrale Thema dieser Ausgabe, aber doch irgendwie der rote Faden, der sich durch die aktuelle über.morgen zieht.

Freiraum auf Zeit Ende Mai war das Café Rosa kurzzeitig besetzt. Das als studentischer Freiraum geplante Café ging pleite und, naja, einigen gefiel das halt nicht. Die über.morgen nimmt das zum Anlass, spezifische Probleme und Perspektiven von Studibeisln zu erkunden und kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen - aber das müsst ihr ab Seite 6 selbst nachlesen. Weiter geht es mit Critical Mass, wo RadfahrerInnen für ihren Platz im Straßenverkehr radln. Auch hier war die über.morgen dabei, ist mit der kritischen Masse mitgeradelt und hat sich ein Bild vom Freiraum der etwas anderen Art gemacht. Aber mehr dazu auf Seite 10 und 11. Einen kreativ künstlerischen Raum besuchte die über.morgen im Fox House. Eine Einrichtung, die in dieser Art Wien um eine Facette der Freiräume

reicher macht. Ja, wie ihr richtig bemerkt, die Liste der Freiräume nimmt kein Ende, aber wir haben uns auch anderen Themen gewidmet. Was sie von den emanzipatorischen Ansichten der deutschen Frauenministerin denkt, erzählt uns Anne Erwand auf Seite 17. Über die österreichische Öffentlichkeit und die Tour des Dalai Lamas in Österreich sinnieren Clara Gallistl und Karin Stanger auf Seite 18, auch der Graus gibt seinen Senf dazu.

Redaktioneller Freiraum Ihr seht also, es ist wieder eine interessante Ausgabe geworden. Und jetzt ratet einmal, was ihr in Händen haltet? Eine Zeitung, würden die einen sagen, ein reaktionäres Drecksblatt die anderen. Einige wenige erkennen es vielleicht als das, was es auch sein kann, als Freiraum. Zugegeben, es ist vielleicht nicht das, was man sich als Freiraum vorstellt, aber ich habe euch vorgewarnt: es gibt sie in den unterschiedlichsten Formen. So auch in der gedruckten handlichen Form der über.morgen, als redaktioneller Freiraum, wo nicht zählt was Quote bringt, sondern was es wert ist, gelesen zu werden. In diesem Sinne viel Vergnügen bei der Lektüre, vielleicht in eurem privaten Frei(t)raum. ♦ Nikolaus Karnel

LayouterInnen gesucht LayouterInnen gesucht! Falls du mit InDesign umgehen kannst und dich in einem kleinen, feinen Team mit Typo, Grafik und Fotos austoben willst, schreibe eine E-Mail an: axt@uebermorgen.at.

über.ich

S. 2-3

über.blick

S. 4-5

über.fordert | TU-Klub: Veteranen im Gespräch | Editorial

ANPRANGERN | Frauenministerin | Green is the New Red | Streetlecture | Dalai Lama | Burschentag | Prostitution in Wien | Café Rosa

über.thema: Studi Beisl'n S. 6-9 TüWi - mehr als nur ein Studibeisl | Fortsetzung: TU-Club: Veteranen im Gespräch | über.sie:Vom Lesergrant

über.leben

S. 10-13

über.kultur

S. 14-16

über.meinung

S. 17-18

Critical mass | Frauen ganz rechts

Fox House | Saddle Creeks schräge Paranoiker | Clara Fall:Links hinten

Die Feminismus-Phobie der Kristina S. | Der Dalai Lama und die Heuchelei | Österreichische Öffentlichkeit | Graus:Stammtisch-Gerülpse

über.reste

S. 19

Lord Fotherington-Carstairs writes.... | Hund der Woche | Sudereck

Impressum

S. 3

Impressum: Medieninhaber & Herausgeber: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien. Homepage: www.uebermorgen.at; Redaktion: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien; Redaktionelle Leitung: Nikolaus Karnel, Dario Summer; Layout: axt, Patrick Detz; Cover: Patrick Detz, axt, Bianca Xenia Mayer; Herstellerin: Druckerei Fiona, www.fiona.or.at; Herstellungs- und Erscheinungsort: Wien; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: © Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. www.uebermorgen.at


über.blick

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über.kurz An Prangern Sozialmissbrauch aufdecken. Das hat sich die Wirtschaftskammer (WK) Oberösterreich zum Ziel gesetzt. Erreichen will sie dies mittels Facebook (FB). Von 234.000 missbräuchlich verwendeten Krankenstandstagen pro Jahr geht die WK aus. Einige besondere KandidatInnen stellen Fotos von Partys online, obwohl sie im Krankenstand waren. Diese möchte die WK in Zukunft öffentlich anprangern. Also besser noch schnell die FB-Sicherheitseinstellungen auf privat setzen.

Frauenministerin Die deutsche Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kristina Schröder, hat ein Buch geschrieben, das nicht nur Feministen/-innen kopfschüttelnd zurücklässt. Ihre Streitschrift gegen das "Diktat der Rollenbilder" greift auf Argumente zurück, deren eindimensionale Subjektivität viele Leser und Leserinnen kritisieren. Nicht umsonst wurde kurz nach Erscheinen des Buches im Internet eine Petition unter dem Motto "Nicht meine Ministerin!" geschaltet, die 24.800 Menschen unterzeichnet haben. Wer das Buch gelesen hat, versteht, warum. Kommentar S. 17

Green is the New Red Der Journalist und Autor Will Potter stellt am 11. Juni sein Buch „Green is the New Red“ vor. Potter zeigt anhand langjähriger Recherchen zur Geschichte der US-amerikanischen Ökologie- und Tierrechtsbewegung, wie ein Netzwerk aus staatlichen Behörden, Medien, Interessenverbänden und Unternehmen zum konzertierten Schlag gegen den „number one domestic terrorism threat“ (FBI) ausgeholt hat. Das Buch will ein Zeugnis dafür sein, wie im Sinne westlicher Sicherheits-Doktrinen gegen „grüne“ Bewegungen vorgegangen wird. 11. Juni, 19:00 Uhr Depot, Breite Gasse 3, 1070 Wien Veranstaltet von der Basisgruppe Tierrechte www.facebook.com/ueber.morgen

Street Lecture

Vorlesungen auf der Straße als Protestform

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ie HochschülerInnenschaft der Technischen Universität Wien (HTU) greift zu drastischen Mitteln. Um auf die grobe Unterfinanzierung ihrer Universität aufmerksam zu machen, verlegt sie gemeinsam mit Professoren Vorlesungen auf die Straße. Drei mal wurde der Hörsaal im Mai auf die Straßen verlegt. Den Anfang machte Professor Weinberger mit seiner Chemievorlesung in der Operngasse am 9. Mai. Für eine Stunde verwandelte sich die sonst stark frequentierte Straße in ein Chemielabor um der Forderung nach mehr finanziellen Mitteln für die Unis Nachdruck zu verleihen. So wurden mit einer Elefantenzahnpaste den Großmäulern in der Politik symbolisch die Zähne geputzt. Wei-

ter ging es am Mittwoch, dem 16. Mai mit der Vorlesung „Mathematik im Casino“ neben der Secession. Zahlreiche StudentInnen und Schaulustige folgten den Ausführungen von Prof. Heinz Stadler vom Institut für

Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie und sorgten so für ein Verkehrschaos. Den Abschluss machten Manfred Berthold von der Fakultät für Architektur und Raumplanung mit seiner Vorlesung „Experimenteller Hochbau“ am Mittwoch, dem 30. Mai in der Wiedner Hauptstraße neben dem Resselpark. Auch wenn Prof. Weinberger am Ende seiner Vorlesung eine 1-CentMünze in Gold verwandelt, ist es nur ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein der Finanznot. „Wir haben quasi wie die alten Alchemisten Gold gemacht”, so Weinberger. Für eine dauerhafte Lösung ist nach wie vor die Politik gefragt. Der Wissenschaftsminister, so scheint es, interessiert sich in letzter Zeit mehr für die Fachhochschulen als für die Nöte der Universitäten. ♦ [red]


über.blick

Foto: flickr, LaPringle

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Am 21. Mai wurde das Café Rosa besetzt. Das Café, welches von der ÖH Uni Wien als Studierendenbeisl gedacht war, hatte sich finanziell nicht rentiert. Die Pläne der ÖH Uni Wien sehen vor, dass das Café nach einer Umstrukturierung ab nächstem Semester von kommerziellen BetreiberInnen geführt werden soll. Aus Unmut darüber wurde das Café kur-

zerhand besetzt. Die BesetzerInnen wollten die ursprüngliche Idee weiterführen und einen selbstverwalteten, autonomen Raum schaffen. Am 24. Mai ging die Besetzung zu Ende. Vorab gab es bereits heftige Kritik an der Aktion wegen „mackerhaften“ und sexistischen Verhaltens einzelner Teilnehmer. ♦

Burschenschafter

Jährlich grüßt der

Prostitution in Wien

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uch dieses Jahr fand der Burschentag in Eisenach statt, zu dem der Dachverband „Deutsche Burschenschaft“ jährlich lädt. Im Vorfeld war es zu einer Überprüfung der für den Burschentag vorgesehenen Rednerliste durch die Stadt Eisenach gekommen, die rechtsextreme Redner verhindern wollte. Unter anderem VertreterInnen der Grünen und der Linken, beispielsweise auch die Oberbürgermeisterin von Eisenach, Katja Wolf (Linkspartei), sprachen sich gegen die rechte Ausrichtung und den männerbündischen Charakter der Burschenschaften aus und kritisierten, dass diesem Gedankengut öffentlicher Raum zur Verfügung gestellt würde. ♦

m November 2011 trat das neue Prostitutionsgesetz der Stadt Wien in Kraft, um dem Gewerbe einen gesetzlichen Rahmen zu geben. Angedacht waren fünf so genannte Erlaubniszonen, in denen Straßenprostitution legal werden sollte, unter anderem am Neubaugürtel und am Sechshauser Gürtel. Die einzige heute existente Erlaubniszone befindet sich nach wie vor im Prater, die Bezirke hatten die Einrichtung der Zonen abgelehnt. Weiterhin beschloss die Bezirksvertretung der Leopoldstadt am 22. Mai eine Einschränkung der Zeiten, zu denen Prostituierte legal stehen dürfen, was laut KritikerInnen zu einer Abdrängung der Prostitution in die Illegalität beiträgt. ♦

Der Dalai Lama tourt durch Österreich China ist dagegen und sieht Einmischung in innere Angelegenheiten

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n einer Stellungnahme des chinesischen Außenministeriums wurden die Treffen mit dem Dalai Lama als schwere Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas bezeichnet. Der 14. Dalai Lama besuchte in Österreich Hüttenberg, Salzburg, Klagenfurt, Wien und traf sich mit verschiedenen Religionsvertretern und Politikern, unter anderem auch mit Bundeskanzler Werner Faymann sowie Vizekanzler Michael Spindelegger. Vor jeglichen Beziehungen österreichischer Politiker mit dem Dalai Lama hat der Botschafter der Volksrepublik China in Wien Shi Mingde gewarnt. Denn dies würde die guten Beziehungen zu China auf die Probe stellen. Vor der Inthronisierung war der Dalai Lama, wie alle

Indien flüchten musste, erhebt Anspruch auf das gegenwärtige autonome Gebiet Tibet und auf die tibetische Hochebene. 1965 hatte Peking die "Autonome Region Tibet" errichtet, deren Fläche wesentlich kleiner ist als die des alten Tibet. Schlagzeilen machen seit März 2011 über 30 Selbstverbrennungen von Mönchen und Nonnen, die damit auf die Lage Tibets Aufmerksam machen wollen. Unsere Redakteurin Karin Stanger war bei einer Veranstaltungen mit dem Dalai Lama in Salzburg. ♦ [red] Kommentar S. 18

Foto: Flickr, Jan Michael Ihl

Dalai Lamas zuvor, Oberhaupt der tibetischen Regierung. Aus diesem Amt zog er sich 2011 zurück, um seiner Funktion als geistiges Oberhaupt den Vorzug zu geben. 2007 gab es schon einmal eine diplomatische

Eiszeit zwischen Wien und Peking wegen seines Besuchs. Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, der nach der Besetzung und Niederschlagung des Aufstands gegen die chinesische Herrschaft 1959 nach www.uebermorgen.at


über.thema

TÜWI

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Mehr als nur ein Studibeisl

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or dem alten Haus in der PeterJordan-Straße 76 stehen Biertische unter Kastanienbäumen. Roxanne von Police klingt aus dem leeren Beisl. An einem sonnigen Tag wie heute sitzen die Gäste im Gastgarten, tippen auf Laptops, unterhalten sich und trinken Bio-Bier. Andere bringen Dosenbier und ihr eigenes Essen mit – Konsumzwang gibt es im TÜWI nicht.

Markus Schauta

Michi ist seit 2001 Geschäftsführer im TÜWI. Gefragt nach einer Struktur schmunzelt er: „Immer wieder kommen Leute und die suchen dann eine Struktur. In Wirklichkeit ist das von denen abhängig, die gerade aktiv sind.“ 25 bis 30 Menschen sind es zurzeit, die sich im Hofladen engagieren, im Lokal arbeiten, oder Kulturprogramme organisieren. Mittlerweile bleiben nur mehr wenige über längere Zeit dabei. „Wenn Leute heute zwei bis drei Jahre dabei sind, ist das lange. Früher waren sie fünf oder sechs Jahre dabei“, sagt www.facebook.com/ueber.morgen

Michi. Verantwortlich dafür seien die geänderten Studienbedingungen, durch die weniger Zeit neben dem Studium bleibt.

Mit 1,5 Millionen in der Kreide Das Studi-Beisl, das früher als Buffet geführt wurde, ist jetzt ein Gasthaus. „Denn das Gasthaus darf offiziell länger offen haben“, erklärt der Geschäftsführer. Die Arbeit im TÜWI wird zum Teil ehrenamtlich, zum Teil durch Angestellte erledigt. Die im Beisl arbeiten sind angestellt. Das sei möglich, weil durch das Beisl Geld reinkommt. „Dadurch, dass relativ viele Leute angestellt sind und wir relativ liberal mit den Diensten umgehen, wird auch getauscht. Das ist dann oft ein

Im Cafe Rosa ist sehr viel Anti-Haltung plakatiert.

ziemliches Durcheinander, aber es sind immer ausreichend Leute da. Auch wenn das teilweise Ersatz vom Ersatz, Freundin vom Freund ist“, erklärt Michi. Das Scheitern des Cafe Rosa ist auch hier Thema.

„Ich glaube, es war von vorne herein nicht klar, was das hätte werden sollen“, vermutet Michi. „Die mussten die Räumlichkeiten renovieren und anschließend Miete bezahlen“, merkt Birgit an, die

Es gab einen Raum und es gab eine Idee und plötzlich gab’s einen Nahversorger an der Boku. seit vielen Jahren im TÜWI aktiv ist und die TÜWIRadiosendung moderiert. Für sie ist klar, dass die Fixkosten für das Cafe Rosa zu hoch waren. Beim TÜWI gab es in der Anfangszeit auch Investitionskosten. Für die Übernahme des Mensa-Buffets musste Ablöse bezahlt werden. Insgesamt seien Kredite in der Höhe von etwa 1,5 Millionen Schilling bis 2010 zurückbezahlt worden, ergänzt Michi. Es wurde auch mal ausgesetzt, wenn es schlechter gelaufen ist. „Heute fällt keine Miete an, da wir auf ÖH-Flächen leben. Das ist durch eine Urabstimmung unter den Studierenden abgesegnet worden“, sagt Birgit.


über.thema

Sehr viel Anti-Haltung im Cafe Rosa Anders als beim Cafe Rosa wurden im TÜWI nicht von Anfang an Höchstlöhne bezahlt. „Es gab auch Zeiten, wo Leute keinen Lohn genommen haben“, erzählt Birgit. „Ja, da gab's dann intern die Entscheidung, wir arbeiten jetzt zwei Monate gratis. Weil die Leute, die da an der Bar und an der Sache dran waren, das waren ja die, die das gegründet haben“, erzählt Michi.

Ich würde nicht mit jemandem religionstheoretische Abhandlungen führen, der als Gast hier reinkommt. Hierin sieht Michi einen der großen Unterschiede zum Cafe Rosa: „Die Kellner und Kellnerinnen, die an der Bar im Cafe Rosa standen, waren nicht unbedingt die, die in die Gründungsgeschichten vorher eingebunden waren. Die hätten wahrscheinlich auch keine Veranlassung gesehen, gratis zu arbeiten.“

Gefragt, ob es jemals Debatten über ihre ideologische oder politische Ausrichtung gegeben hat, verneint Michi. „Wir sehen uns als integrativen Verein, der offen nach außen ist. In unseren Statuten steht das so drinnen. Und das macht’s irgendwie anders als diese sehr viel Anti-Haltung, die im Cafe Rosa plakatiert ist. Wenn man da reingeht, steht gleich mal, wir sind anti.“ Die Grundsätze seien bei den TÜWI-Leuten zwar im Kopf , aber nicht vordergründig, erklärt Michi. „Ich würde nicht mit jemandem religionstheoretische Abhandlungen führen, wenn er hier als Gast reinkommt. Das Privatleben ist nicht das, was uns interessiert an unseren Gästen.“

Hanfbier, Gemüse und Jungpflanzen Heute verkauft Simone die Bio-Produkte im TÜWIHofladen. Die Produkte bezieht der Laden von ganz unterschiedlichen Lieferanten. „Wir haben einen Bio-Bäcker in Eisenstadt, der uns beliefert. Gemüse bekommen wir immer dienstags, regional und saisonal. Daher gibt’s im Winter nicht recht viel“, erklärt Simone. Hanfbier komme aus Salzburg. Ein Student fragt nach Jungpflanzen. Simone zeigt ihm eine Sammlung Blumentöpfe, in denen grüne Pflänzchen wachsen: „Tomaten

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und Paprika gibt es noch.“ „Der Hofladen ist das Größte, das dazugekommen ist vor fünf oder sechs Jahren“, erzählt Michi. „Es gab einen Raum und es gab eine Idee und plötzlich gab’s einen Nahversorger an der Boku.“ Die Uni-Leitung war damals überhaupt nicht begeistert von dieser Idee. Mittlerweile sei der Hofladen nicht mehr wegzudenken: „Gäste, die vorher nie da waren, Leute, die an der Boku arbeiten, kaufen ihren Café, ihr Obst und ihren Salat im TÜWI“.

Für die Zukunft ist der TÜWI sicher.

Gefragt nach TÜWIs Zukunft zeigt sich der Geschäftsführer zuversichtlich. Das Verhältnis zur Uni-Leitung sei im Moment ganz gut: „Irgendwann wird dieses Haus zwar abgerissen werden, aber die Wünsche, die wir bezüglich eines neuen Gebäudes deponiert haben, die sind eigentlich schon unterschrieben und bestätigt - für die Zukunft ist der TÜWI sicher.“ ♦ www.uebermorgen.at


über.thema

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TU-Club

Ein Studibeisl-Projekt aus den 70ern > Fortsetzung von S. 2 Wie kam es zu der finanzbehördlichen Untersuchung? R: Man kann nicht sagen, ob es von der ÖH gekommen ist. Ich glaube nicht, dass eine organisierte G'schicht dahinter stand. Es waren Einzelpersonen, die sagten, mir passt das halt nicht und eine anonyme Anzeige zu machen ist ja relativ leicht. Ging es den Kritikern darum den TU-Club abzudrehen, oder sollte die Umsetzung geändert werden? Lammer: Es ging um die Umsetzung. Im TU-ClubKollektiv gab es den Konflikt zwischen Leuten, die das Ganze auf eine kommerzielle Basis stellen wollten, um Umsatz zu machen. Und jenen, die das weiter als autonomen Verein und eben

nicht kommerziell führen wollten. Die Leute, die das kommerzialisieren wollten, sind im Kollektiv unterlegen und haben dann versucht uns über die HTU (Anm. HochschülerInnenschaft der TU Wien) rauszuschmeißen. Der Plan der damaligen HTU sah folgendes vor: Sie haben den Rektor gebeten, die Räumlichkeiten umzuwidmen und somit der ÖH zu entziehen, damit sie den TU-Club rausschmeißen können. Ihre Hoffnung war es, die Räume später wieder zurückzubekommen, damit eiin kommerzielles Cafe entstehen kann. Doch den letzten Punkt hat der Rektor nie erfüllt. Jetzt sind dort irgendwelche Seminarräume drinnen. Der Konflikt ist damals eskaliert und der TU-Club wurde besetzt. Das war 1998. Neujahr '99 wurde der TU-Club geräumt, kurze Zeit später war es vorbei.

Ernst Lammer (links) und Manfred Rakousky (rechts) im Interview mit über.morgen

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Heißt das, dass die offizielle TU Verwaltung nie die Intention hatte den TU-Club zu schließen? R.: Nein, überhaupt nicht. Die wollten die studentischen Freizeitaktivitäten in Räumlichkeiten konzentrieren, wo die StudentInnen selbst dafür zuständig sind. Welche Fraktion hatte in der HTU das Sagen, als der TU-Club zugedreht worden ist? L: Die Fachschaftslisten. R: Das war aber kein homogener Block. Es waren einzelne Gruppen, die unterschiedliche Konzepte vertraten. Wenn ihr mit eurer Erfahrung aus der TU-Club Zeit auf das Cafe Rosa schaut, was ist da schief gegangen? L: Das Cafe Rosa war eine Kopfgeburt der ÖHUni Wien. Ich will den Leuten, die dort arbeiten, nicht unterstellen, dass sie keine politische Motivation gehabt haben. Aber es gab keine Basis, keine Bewegung dahinter, die es bespielt hätte. Das Cafe Rosa ist außerdem zu weit weg von der Uni. Es gibt zwar in der Währinger Straße das Chemie- und Physikinstitut, aber die Plätze, wo es sich abspielt, sind weit weg. Ein großer Vorteil vom TU-Club gegenüber dem Cafe Rosa war, dass wir keine Miete zahlen mussten. R: Ich würde sagen den Konflikt um den TU-Club hat es gegeben, weil wir nie so wie das Cafe Rosa sein wollten. Wo Angestellte ohne politisches Statement arbeiten, ohne Bewegung dahinter. Solange dieser politische Wille nicht da ist, wird es immer nur ein locker lässiges Beisl sein. Aber sowas gibt es überall, dazu braucht man kein Studibeisl. Ein Studibeisl brauch ich, wenn eine Bewegung wie die UniBrennt da ist, die einen Raum, eine Drehscheibe für politische Aktivitäten braucht. Genau das war der TU-Club. ♦


über.thema

9 über.sie

Vom Lesergrant Bianca Mayer

H

abe heute beim Frühstück die Tageszeitung gelesen und entschieden, keine mehr zu lesen. Das meiste lässt sich - traurig aber wahr - mit dem Hobbes-Zitat ‘Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf‘ zusammenfassen. „Der Rest dreht sich um die Problemchen von B-Promis. Kaum ein Medium bringt mehr interessante und andere Blickwinkel.“ So schrieb es einer meiner Facebookfreunde. Eine harsche Ansage für diesen Montagmorgen, die ich meinem noch recht verschlafenen Selbst eigentlich nicht zumuten wollte. Vom prophezeiten Zeitungssterben bis hin zu der Annahme, dass „die wichtigen Nachrichten einen schon irgendwie erreichen würden“, wurde einem in dem darunterliegenden Schlagabtausch argumentativ so ziemlich alles entgegengeworfen, was eine Social Media Diskussion zu bieten hat. Und ich war plötzlich hellwach. Repost verfassen? Wobei - was bringt es, sich jetzt aufzuregen? Eine nett gemeinte Kolumne tut es auch. Nach und nach komme ich mir immer mehr wie mein eigener Strafverteidiger vor – mit dem Unterschied, dass ich eigentlich nichts verbrochen habe. Außer vielleicht, dass ich etwas studiere, das mich interessiert und ich (später) in einer Branche arbeiten möchte, die scheinbar keiner braucht. Wenn es aber darauf ankommt - die nächste kosmische Katastrophe vor der Tür steht - dann darf der/die gute alte TageszeitungsjournalistIn gerne wieder mit scheinbar altbackenen Methoden für Entwirrung im Informationschaos sorgen. So auf Freund und Helfer Basis - man versteht sich. Es ist wirklich lustiger seine Nachmittage vor twitter zu verplempern und auf eine AlarmstufeRot-Informationswelle zu hoffen, als sich einer ordentlichen Recherche im Sinne von audiatur et altera pars zu widmen. Bis die Diskussion geklärt ist, verweile ich hier vor dem Bildschirm, tippe die Zeilen für meine gut positionierte Spalte in der über.morgen und hoffe, dass meine Macht als vierte Gewalt auch irgendwann zum Einsatz kommen wird. Es kann sich dabei nur um Jahre handeln. Aber jetzt genug von all dem Negativismus! Unabhängigkeit, Aktualität? Im Juni geh‘ ich eigentlich lieber ins Schwimmbad. ♦

über.foto von Alexander Gotter (www.wienergassen.tumblr.com) www.uebermorgen.at


über.thema

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Jo, mir san mim Radl do J

eden dritten Freitag im Monat findet in Wien die Critical Mass statt. Dies ist eine Protestfahrt von FahrradfahrerInnen. Sie wollen damit auf ihre Anliegen gegenüber dem motorisierten Verkehr hinweisen.

Dario Summer

W

ien. 18. Mai. Der dritte Freitag in diesem Monat. Ein angenehmer Frühsommertag – nicht zu heiß, nicht zu kalt. Es ist halb fünf am Nachmittag. Die Straßen beginnen sich langsam vom Feierabendverkehr zu erholen und ebenso langsam füllt sich der Schwarzenbergplatz mit Menschen und ihren Fahrrädern. Denn heute ist der Tag, an dem die RadfahrerInnen in Wien ihren Platz einfordern – heute ist Critical Mass.

Keine Partei oder ähnliche Gruppierung spielt eine Rolle beim Massenradeln. Zu einer Critical Mass, also kritischen Masse, finden sich immer wieder unmotorisierte VerkehrsteilnehmerInnen zusammen, um gemeinsam durch eine Stadt zu fahren. Meistens sind es www.facebook.com/ueber.morgen

RadfahrerInnen, die mit dieser Rundfahrt ihren Platz auf den Straßen gegenüber dem motorisierten Verkehr einfordern. Seit 1992 gibt es diese Aktionsform. Entstanden ist die Critical Mass in San Francisco, hat sich aber seither über den ganzen Globus ausgebreitet. In Österreich finden aktuell neben Wien auch in Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg, Feldkirch und Wiener Neustadt solche Rundfahrten statt.

Organisiert wird die Critical Mass hauptsächlich von einer Gruppe, die sich besonders für die Sache engagiert. Jeder kann mitmachen. Sei es während der Rundfahrt, indem der Weg mitbestimmt, wird oder über das Forum im Internet. Eine Organisation oder feste Strukturen stehen nicht im Hintergrund. Auch spielt keine Partei oder ähnliche Gruppierung eine Rolle beim Massenradeln.

Polizei, Samba und Dosenradler

Wohin es geht, wird im Vorhinein ausgemacht. Der Weg dorthin wird aber spontan entschieden.

In Wien ist jeden dritten Freitag im Monat Critical Mass, Winterpause gibt es keine. Die Veranstaltung ist keine angemeldete Demonstration und wird hauptsächlich via Mundpropaganda und Internet beworben. Dennoch findet sich jedes Mal auch ein stattliches Polizeiaufgebot ein, um die Radparade zu begleiten. Mitfahren können bei dem bunten Umzug eigentlich alle, die einen muskelbetriebenen fahrbaren Untersatz haben. So haben sich mittlerweile Rennräder, Hollandräder, Lastenräder, Räder mit Anhängern, Hochräder, Liegeräder und alles mögliche, was sonst noch Räder hat und nicht durch einen Motor betrieben wird, am Schwarzenbergplatz eingefunden. Manche trinken gemütlich einen Radler aus der Dose während andere die Lastenräder ausprobieren, die das Lastenradkollektiv mitgebracht hat. Eine Sambatruppe trommelt ihren Beat und aus zwei auf Anhängern montierten Soundsystemen strömt laute Musik.

Der Weg ist das Ziel Kurz vor halb sechs startet die bunte Gruppe mit einem lauten Klingelkonzert ihre Rundfahrt. Wohin es geht, wird im Vorhinein ausgemacht. Diesesmal ist es der TÜWI, ein Kulturbeisl nahe dem Türkenschanzpark. Der Weg dorthin wird aber spontan entschieden. Die an der Spitze Fahrenden suchen sich eine Route und hoffen, dass ihnen der Rest folgt. Die Sambatruppe hat es sich auf Rikschas und den Lastenrädern bequem gemacht. Sie geben den Rhythmus für die 800 bis 1000 Menschen auf ihren Rädern und fahren fast ganz vorne im Feld. In gemütlichem Tempo rollen die Räder nahezu


über.thema

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FOTOs: flickr, Hauptillusionator

eine ganze Runde um die Ringstraße, dann Richtung Prater, nächste Etappe ist der Franz-JosefsBahnhof, von wo es Richtung Gürtel geht und abschließend quer durch den 17. Wiener Gemeindebezirk Hernals Richtung Türkenschanzpark. Polizeimotorräder sowie Beamte auf Fahrrädern flankieren die RadfahrerInnen auf ihrer Rundfahrt. Sie sperren manche Kreuzungen und schauen, dass die Straßenbahnen freie Fahrt haben. Probleme mit den PolizistInnen gibt es eigentlich keine. Die TeilnehmerInnen der Critical Mass halten sich auch an ein paar elementare Verkehrsregeln. Die Gruppe bleibt immer zusammen und respektiert Öffis, Einsatzfahrzeuge sowie meistens auch Zebrastreifen und FußgängerInnen.

Wild gestikulierend und hupend ist die Mercedesfahrerin gezwungen zu warten. Auto gegen Fahrrad Immer wieder kommen die RadfahrerInnen zum Stehen. Meistens ist der Grund eine rote Ampel. Vor dieser wird gewartet bis sie wieder auf Grün springt, dann fährt aber die ganze Gruppe in die Kreuzung ein. Im Kreuzungsbereich stellen sich

dann einzelne RadlerInnen vor verständnislose AutofahrerInnen, die, sobald sie wieder grün haben, ihre Fahrt fortsetzen wollen. Die TeilnehmerInnen der Critical Mass sind dabei im Recht. Da sie laut Straßenverkehrsordnung ein geschlossener Zug von Straßenbenützern sind, darf die

die Kontrolle auf den Straßen abzugeben,“ hört man von einer Critical Mass-Veteranin, die ein Hupen an einer Kreuzung mit ihrer Fahrradklingel quittiert. Prinzipiell gilt, die Situation niemals eskalieren zu lassen. Verständnislosen AutofahrerInnen werden die Anliegen erklärt. Bei Konflikten unterstützen sich die TeilnehmerInnen gegenseitig. Aggressionen haben aber keinen Platz auf einer Critical Mass. Dennoch wird nicht nachgegeben und die Straße in Beschlag genommen.

Critical Mass-Veteranin: „Manche AutofahrerInnen tun sich schwer, mal die Kontrol- Brot und Spiele le auf den Straßen abzugeben.“ Aus den Boxen des nächsten Soundsystems dröhganze Gruppe in die Kreuzung einfahren, insofern die ersten bei grün gefahren sind. Auf die Critical Mass reagieren andere Verkehrsteilnehmer ganz verschieden. Am Ring wird applaudiert, fotografiert und zugejubelt. Die Szenerie erinnert an die Schlussetappe der Tour de France in Paris. Die Polizei sperrt Kreuzungen und scheucht einzelne RadlerInnen von den Straßenbahnschienen. In der Praterstraße versucht sich eine junge Frau mit ihrer weißen Mercedeslimousine einen Weg aus einer Parklücke auf die Straße zu bahnen. Gleich sind ein paar Räder zur Stelle, die dieses Unterfangen unmöglich machen. Wild gestikulierend und hupend ist sie gezwungen zu warten. Solche Szenen finden sich immer wieder. „Manche AutofahrerInnen tun sich schwer, mal

nen elektronische Bassbeats. Die Critical Mass befindet sich kurz vor ihrem Ziel. Ein knapper Kilometer ist es noch bis zum TÜWI. Der Weg wird steiler, das Tempo wird langsamer. Nach einer zweistündigen Rundfahrt durch Wien strömen hunderte Fahrräder durch einen Eingang in den Türkenschanzpark, suchen ihren Weg zum Yunus-Emre-Brunnen im Norden des Parks und freuen sich dort über ein kleines Ständchen der Sambatruppe. Beendet wird der Tag im TÜWI. Dort gibt es Brot und Spiele für die RadlerInnen. Bis spät in die Nacht feiern viele ihre monatliche Radtour durch Wien. ♦ Link: www.criticalmass.at

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Weiber sind bei uns nichts wert, auch wenn man sie nicht gern entbehrt

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er Rechtsextremismus-Experte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) sprach mit Milena Österreicher über Rechtsextremismus, Frauen in der Rechten und über Skandale, die in Österreich keine Skandale sind.

Milena Österreicher über.morgen: In letzter Zeit erzielen rechte Parteien in Europa immer bessere Wahlergebnisse. Warum? Andreas Peham: Die Ursachen sind auf der einen Seite Abstiegsängste, Desintegrationserfahrungen, ökonomische Krise, finanzielle Krise. Aber wichtig sind auch die nationalen Besonderheiten. Ganz wichtig ist auch immer das Versagen der politischen GegnerInnen. Die extreme Rechte ist so stark, weil die anderen eben, nicht ganz unverschuldet, so schwach sind. Ich würde schon insofern von einer Gefahr sprechen, als dass das Demokratische zur Disposition steht. Österreich ist halt leider gerade ein Land, wo die extreme Rechte sehr stark und sehr erfolgreich ist. Und gerade in Österreich sehen wir, dass das Politische entleert wurde und stattdessen ethnisiert. Es bedarf wieder einer „Repolitisierung“. Das demokratische Projekt muss wieder neu auf die Tagesordnung gesetzt werden. Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? Da kann ich jetzt nur für Österreich sprechen. Wir haben eine starke Zustimmung bei den 16- bis 18-Jährigen zur FPÖ, aber gleichzeitig auch zu den Grünen - eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, die nicht nur zu beklagen ist. Je länger Jugendliche in Bildung bleiben, desto eher sind sie davor gefeit rassistisch zu denken, zu handeln. Da wäre gerade eine Forderung nach der Gesamtschule nicht nur sozial, sondern auch politisch angebracht. Und später? Rassismus und Antisemitismus nehmen signifikant im Alter zu, im Prozess des Älterwerdens, www.facebook.com/ueber.morgen

der Anhäufung von Ängsten, des Schwachwerdens, natürlich auch der Einsamkeit. Egal ob es Jugendliche mit Marginalisierungserfahrungen oder ältere Personen sind, sie fühlen sich selbst auch als Opfer von gesellschaftlichen Entwicklungen, von Ausgrenzungen, von Hass. Und dann kommen wir zur Quelle: Es ist der Neid.

Österreich ist ein Land, wo die extreme Rechte sehr stark und sehr erfolgreich ist. Marine Le Pen hat bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich rund 17 Prozent der Stimmen erzielt. Sind Frauen in der Rechten nun erfolgreicher? Je weiter man nach rechts außen geht, desto männlicher wird es: sowohl im Elektorat (der Wählerschaft, Anm. der Red.) als auch im Personal. Während der Neonazismus einen sehr deutlichen Männer- und Männlichkeitsüberschuss aufweist, werden etwa die rechtspopulistischen Parteien in Dänemark und Norwegen von Frauen angeführt. Auch gilt: je weiter du in den Süden kommst, mit der Ausnahme Alessandra Mussolini in Italien, desto männlicher. Marine Le Pen versucht gerade die Front National vom Rechtsextremismus zumindest auf einer akklamatorischen oder agitatorischen Ebene wegzubringen. Ihr Besuch beim WKR-Ball hat ihr in Frankreich zum Beispiel gar nicht gut getan. Sie hat sich dann mehr oder weniger distanziert in Frankreich und gesagt, das

habe sie nicht gewusst. Also auch wieder sehr peinlich für die FPÖ. Und Frauen in der Rechten in Österreich? Naja, schauen wir uns die FPÖ an: Sie ist mehr denn je eine Burschenschafter-Partei. Dementsprechend auch eine Männerpartei mit einer ganz prominenten Ausnahme: Barbara Rosenkranz. Sie ist tatsächlich eine Macht in der Partei, die sehr eigenständig agiert. Die Familie Rosenkranz ist da aber auch widersprüchlich. Der Mann ist daheim bei den 10 Kindern, während sie voll im Berufsleben steht, gleichzeitig repräsentiert sie aber ein sehr traditionelles oder schlimmer noch übertraditionelles Frauenbild. Wie sieht das Frauenbild in der neonazistischen Szene aus? In dem Fall ist das tatsächlich Unterwerfung, nicht nur unter rigide Geschlechtervorstellungen, sondern auch Unterwerfung unter einen extremen Sexismus, also Verachtung. Ich analysiere auch die Liedertexte dieser Bands: dieser Frauenhass, diese Frauenverachtung und dieser alltägliche Sadismus bis hin ins Pornographische. Zum Beispiel singen sie: „Weiber sind bei uns nichts wert, auch wenn man sie nicht gern entbehrt.“ In Deutschland gab es eine mediale Diskussion, dass Frauen in der Szene vor allem im Hintergrund organisieren, wie zum Beispiel in Sportvereinen aktiv sind und dort die Ideologien verbreiten.. Das trifft in Deutschland sicher zu, mit Abstrichen auch in Österreich. Je weiter es um Arbeit mit Kindern oder Jugendlichen geht, desto mehr Frauen haben wir dann. Das findet wenig Beachtung oder? Ja, wie überhaupt Frauen in der rechtsextremen Szene relativ wenig Beachtung finden, auch nicht bei den politischen Gegnern und Wählern. Das


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FOTO: Christopher Glanzl

Fotos: christopher glanzl

erklärt, warum Rechte Frauen zu linken Veranstaltungen schicken. Weil sie auch von den Linken nicht in dem Ausmaß als Bedrohung wahrgenommen werden, wie wenn drei Neo-Nazitypen kommen. Und bezüglich der Berichterstattung? Bei der Zwickauer Terrorzelle mit der mutmaßlichen Rechtsterroristin Beate Zschäpe gab es Artikel mit der Frage „Wessen Geliebte war sie?“, also die

Die Burschenschafter haben eine Macht in Österreich.

mediale Reduzierung von der Gewaltausübenden auf ein Sexualobjekt? Genau. Also auch klassisch wieder durch diese Geschlechterbrille bei der Berichterstattung. Gibt es Mädelschaften in Österreich? Ja, ich glaube drei mittlerweile. Die erste ist irgendwann in den späten 80er Jahren gegründet worden, die Freya. Im Unterschied zu Burschenschaften fechten die Mädels und die hohen Damen in der Mädelschaft nicht. Das ist der Punkt: Diese Ehre und deren Verteidigung im Duell sind an den Mann geknüpft. Auch die Bereitschaft, das Vaterland zu verteidigen. Und die Burschenschafter in Österreich? Das ist natürlich ein eigenes Kapitel. Nur eine kleine Anmerkung zum 8.Mai: Es gab zwar Gegendemos, aber die Empörung, der gesellschaftliche Aufschrei war relativ leise. Gerade in den Medien wird das Burschenschafter-Thema immer noch viel zu stiefmütterlich, viel zu nahe an der Selbstdarstellung der Burschenschafter geführt. Die Burschenschafter haben eine Macht in Österreich.

Das ist eben das Paradoxe. Auf der einen Seite viel weiter rechts als die deutschen Burschenschaften und auf der anderen Seite gesellschaftlich und politisch viel erfolgreicher, dank FPÖ. Das ist der eigentliche Skandal, der kein Skandal ist in Österreich. Da wären halt die Medien gefragt und die politischen GegnerInnen. Sollen Medien mehr darüber berichten oder bieten sie ihnen dann zu viel Plattform? Ich kenne das Argument mit der Plattform. Ich weiß von der journalistischen bzw. ethischen Sorgfalt, dass man die Gegenseite zu Wort kommen lässt. Aber es gibt dann immer noch auf der Karikaturen-Ebene, auf der Kommentar-Ebene Möglichkeiten zur klaren politischen Positionierung. Auch das Lächerlich-Machen halte ich durchaus für ein wirksames Mittel - ohne dabei die Grenzen der Menschlichkeit zu verlassen, denn das unterscheidet uns ja von Rechtsextremen. Wenn man die Wahlkämpfe beobachtet, werden Parolen wie „Daham statt Islam“ immer alltäglicher. Sind wir das schon gewohnt? Es hat sicher einen Gewöhnungseffekt gegeben. Ich würde das auch als Normalisierung bezeichnen, Normalisierung von Rassismus. Oder allgemein von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ein Beispiel dazu: Es hat 1990 einen Versuch gegeben von Neonazis, rechts von der FPÖ zu kandidieren als Liste „Nein zur Ausländerflut“ in Wien. Das ist untersagt worden. Es kam dann zu einem Verfahren, bei welchem die Entscheidung bestätigt wurde, diese Partei nicht zuzulassen. Als Argument dafür wurde die oftmalige Verwendung des Begriffs „Überfremdung“ angeführt, dies verweise auf die hetzerische Absicht und die neonazistische Gesinnung. Also was 1991 noch Argument eines obersten Gerichtshofes gegen eine Partei war, ein Beweis für Neonazismus und rassistische Verhetzung, prangt acht Jahre später, `99, in Wien an jeder Straßenecke: „Stopp der

Überfremdung“. Also wenn mir das jemand `91 gesagt hätte, hätte ich gesagt: Na bist verrückt, das kann doch nie sein. Und darum bin ich ein bisschen vorsichtig geworden, was noch alles möglich ist, was als Nächstes kommt. Was sagst du dazu, dass 2001 mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ der bis dato jährlich erschienene Lagebericht zum Rechtsextremismus eingestellt wurde? Ja, ist vielsagend und ein Skandal. Und ein noch größerer Skandal ist, dass er nicht wieder aufgenommen wurde bis heute. Und dazu kommt, es ist ja nicht nur der Jahreslagebericht eingestellt worden, sondern die Burschenschaften scheinen seit 2002 auch nicht mehr im Verfassungsschutzbericht auf. Und nicht weil sie sich so gemäßigt hätten oder verändert haben. Mir kommt es auch oft so vor, dass die Öffentlichkeit sehr schnell wieder zurückfällt hinter einen Erkenntnisstand, auch die mediale. Man muss es immer wieder aufs Neue skandalisieren.

Die Grenzen der Menschlichkeit unterscheiden uns von den Rechtsextremen, Was war der Grund für dich in diesem Bereich zu arbeiten? Persönliches Engagement. Natürlich auch vor dem Hintergrund, dass ich 9 Kilometer entfernt von Mauthausen aufgewachsen bin. Und ich will möglichst verhindern, dass extreme Rechte Zuspruch bekommen, also ich meine die Burschenschafter, die FPÖ oder auch, dass ihre Positionen, wie Rassismus, Antisemitismus, Homophobie noch normaler werden. Der Versuch einer Aufklärung. Ob es erfolgreich ist... ♦ www.uebermorgen.at


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The Fox House Gone too soon

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m 6. Juni wird das aktuelle Vorzeigeprojekt der Wiener Kunstszene abgerissen. Was hinter der Projektidee stand, wie es um die Kunstförderung in Wien steht und warum sich die Berliner Szene die Idee der Nutzung von leerstehenden Gebäuden schon seit Längerem zu Herzen genommen hat, erzählte mir Initiator Toni Tramezzini.

Bianca Xenia Mayer New York. London. Berlin. Die Reisen der letzten Jahre haben Toni Tramezzini als Inspiration für sein Projekt im Kunst- und Eventbereich gedient. The Meatpacking District in Manhattan, wo aus alten Lagerhallen Shops, Stores und Galerien entstehen. Die Brick Lane in London, in der jeden Sonntag ein Markt mit Kunst, Vintage sowie Livemusik stattfindet. Das als Zentrum der Kunstszene bekannte Chelsea Gallery District. All das, was er gesehen hat, behielt er im Hinterkopf. ,,Ich habe nie daran gedacht, dass ich das auch umsetzen könnte“, so Tramezzini. Ohne Unterstützung wäre das auch nicht möglich gewesen. Ins Leben gerufen wurde „365 - The Fox House“ in der Westbahnstraße 11-13 im siebten Wiener Gemeindebezirk neben Tramezzini von Katrin Hofmann, Kuratorin vom Fesch‘markt und David Kreytenberg, zuständig für PR- und Marketing. Mittlerweile besteht das Team aus fünf fixen MitarbeiterInnen und zwei Praktikantinnen. Toni brachte das notwendige Baubranchen-Know-how durch sein Studium der Stadt- und Raumplanung mit ein, das für die Umsetzung des Konzeptes in einem baufälligen Gebäude dringend notwendig war. Katrin konnte wiederum durch ihre Modeaffinität Wissenswertes zum Fashion Store Konzept beitragen. Die Projektidee forderte eine Gliederung in vier Bereiche: FOX House Gallery, Off-Space Gallery, Fashion Store und Kitchen. Auf 1000 Quadratmetern sollen junge DesignerInnen die Möglichkeit bekommen ihre Werke zu einem geringen Mietpreis zu präsentieren und dabei 100 Prozent des Verkaufserlöses für sich zu behalten. Bereits wenige Wochen nach der Eröffnungsfeier wurde bekannt, dass das Haus – nicht wie vorerst geplant ab Ende des Jahres – bereits ab 6. Juni umgebaut werden soll. Das Fox House ist als ehemaliges “Das Weiße Haus“ kein unbekannter Schauplatz der Wiener Kulturszene. Der Namensgebungsprozess der neuen Ideenschmiede wurde vom GraffitiKünstler ROA maßgeblich mitbestimmt. Sommer www.facebook.com/ueber.morgen

2011 gab ROA eine Ausstellung in Wien und konnte von der INOBERabLE Gallery als Künstler engagiert werden. Die Malaktion des spontanen Motivs wurde unter genehmigten Bedingungen innerhalb von zwei Tagen durchgeführt. Die noch unberührte Fassade des Fox Houses in der Bandgasse wird in den kommenden Wochen von dem australischen Künstler Shida in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Künstler Knarf verschönert.

Du bist so wunderbar, Berlin Ähnliche Konzepte gibt es in Deutschland schon lange. Berlin ist mittlerweile zu einem der führenden Produktionsstandorte für zeitgenössische Kunst in Europa geworden. Niedrige Mieten, eine Mischung aus einheimischen als auch von außerhalb der Stadt kommenden KünstlerInnen, leistbare Unterhaltskosten sowie eine gewisse Portion Idealismus sorgen dafür, dass die Stadt ein großes Potpourri an qualitativ hochwertiger Kunst bieten kann und sich dabei immer wieder neue Kunst-

Ich habe noch nicht an das Ende gedacht.

zentren bilden. Das gibt Galeristen die Möglichkeit sich auf das Prinzip der “Emerging Art“ zu konzentrieren, wobei versucht wird, unbekannte Talente in der Branche zu etablieren. Um die Entwicklung der Szene erfassen zu können, muss bis zum Anfang der Sechziger Jahre zurückgespult werden. Die rege Subkultur spielte sich großteils in Kreuzberg ab und hatte einen deutlich geringeren Stellenwert als die Düsseldorfer oder Kölner Kunstszene. Die neue Gesellschaft für Bildende Kunst investierte ab 1969 in die Westberliner Kunstbewegung und machte Berlin als Ort für politischen Protest und künstlerischen Freiraum attraktiv. Dennoch war Berlin lange Zeit vom Treiben des Kunstbetriebs in Westdeutschland abgegrenzt. Selbst anerkannten KünstlerInnen fehlte in Berlin oftmals eine Galerie, die sie repräsentierte. In Ostberlin fand das Künstlerleben in Hinterhöfen und stillgelegten Fabriken rund um den

Prenzlauer Berg statt. Die Bewegung setzte sich beharrlich gegen das DDR-Regime zur Wehr und agierte politischer als in Kreuzberg. Die Idee der Nutzung von leerstehenden Gebäuden für Kunstprojekte war geboren. Den finalen Vorstoß Richtung internationaler Kunstmarkt gelang Berlin nach der Maueröffnung. Mittlerweile ist es ein Kommen und Gehen. Neu eröffnende Stützpunkte wechseln sich mit dem Abriss von unter den Hammer kommenden Hausruinen ab. Wird ein Teil der Projekträume kommerzialisiert, ergibt sich irgendwo anders ein würdiger Nachfolgerschauplatz.

Visions of visionaries Die Verwirklichung eines Traumes im Plattenbau ist dem im Zentrum Berlins stationierten “MADE“ gelungen. Als Galerie, Studio und PerformanceRaum sorgt das kreative Projekt im Raumschiffstil mit dem Slogan „The explicitly completely irrational combinatory facility“ für Aufmerksamkeit. Das Ziel liegt darin ein künstlerisch inspirierendes Biotop zu schaffen, das verschiedene Bereiche vereint und Neues ermöglicht. Mitinitiator Nico Zeh fand bereits Zugang zu Pharrel Williams, Tadirock und Grafikdesigner Ebon Heath. 2011 konnten international erstmals wieder Rekordpreise für Kunst erzielt werden. Die Sorgen rund um das Meistern des Balanceakts zwischen schwieriger finanzieller Lage und der mit Herz und Seele betriebenen Selbstständigkeit bleiben dennoch im Hinterkopf. In Berlin bleiben wollen sie alle. GaleristInnen wie KünstlerInnen. Paradebeispiel Sabine Schmidt, die sich im Krisen-


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Foto: Bianca Xenia Mayer

jahr 2008 als Galeristin selbstständig machte, hat es geschafft. Von Anfang an setzte sie auf unbekannte Künstler, deren Förderung sie stetig antrieben. In einer Garage in Berlin Mitte betreibt Schmidt ihre Galerie mit Fokus auf Rauminstallationen. Auch im Bezirk Marzahn-Hellersdorf wird das von heruntergekommenen Großsiedlungen geprägte Stadtbild seit geraumer Zeit durch den ungewöhnlich hohen Bestand an Kunstwerken im öffentlichen Raum verändert. Der Unterschied zwischen Berlin und Wien läge darin, so Tramezzini, dass die Kunstprojekte in Wien vorwiegend durch aktionistische Studenteninitiativen hervorgerufen werden. Sollte jemand auf die Idee kommen sein Projekt nachzuahmen, wäre ihm das recht. ,,Ich würde mich freuen, wenn es mehrere solcher Stützpunkte gäbe. Ein schöner Konkurrenzkampf um die Ateliers und Arbeitsplätze.“

Das Potential des Kunstgeschehens Am 6. Juni wird das Fox House beinahe zur Gänze abgerissen. Es werden Wohnungen gebaut, die für 15 Euro pro Quadratmeter zu mieten sind. Das wäre für weitere Projekte nicht rentabel. Ans Ende denke Tramezzini vorerst trotzdem nicht. Welche Gefühle am Tag des Abrisses tatsächlich hochkommen werden, wisse er noch nicht. Grund zur Traurigkeit gibt es keinen. ,,Es geht nicht um das Berühmtwerden. Ich versuche immer das Fox House in den Vordergrund zu stellen und nicht meine Person. Die Leute sollen den Fuchs kennen und das, was hier passiert. Wenn ein Künstler in ein paar Jahren in einer großen Galerie ausstellt und der Galerist ihn hier entdeckt hat – das wäre etwas, das mich wirklich freuen würde.“ Die positiven Rückmeldungen zur Einzigartigkeit des Projekts in Wien spornen zusätzlich an. Vertrauenswürdige Kooperationspartner werden gerne gesehen.

Kunstförderung ist Stadtaufgabe Von der Kulturkommission hat das Fox House 1000 Euro an Förderungsgeldern bekommen. Wären die Grünen nicht Koalitionspartner der Stadtregierung, hätte dies vermutlich anders ausgesehen. Bis auf eben Genannte waren alle Parteien dagegen. ,,Definiert sich Wien in der Kunst und Kultur nur über längst verstorbene Künstler

Es geht nicht um das Berühmtwerden.

und historischer Bauten wie dem Rathaus oder Parlament? Wie viele österreichische Künstler sind jetzt auf der Welt bekannt?“ Das Fox House, welches fast ohne Förderung auskommt, lehnte Sponsoren aus dem Bank- oder Finanzwesen von Anfang an als Alternative ab. Durch die Zurverfügungstellung der eigenen Sponsorgelder machte

es die Departure Kreativagentur möglich, dass die Mieten für die DesignerInnen dennoch niedrig bleiben konnten. Den Freiraum, künstlerisch arbeiten zu können, ohne dabei sofort einer Verkaufsstrategie unterliegen zu müssen, haben wenige. Es ist schwierig, sich fernab vom herkömmlichen Weg mittels Ausstellungen in etablierten Galerien im Kunstgeschehen zu positionieren. Unbekannte Talente brauchen eine unkonventionelle Brücke zur Öffentlichkeit, um auf sich aufmerksam machen zu können. ♦ www.uebermorgen.at


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Saddle Creeks schräge Paranoiker Rezension

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ine Linzer Band, die gerade ihren dritten oder vierten Auftritt absolviert, spielt brav ihre Pop Songs runter. Es stehen etwa 30 Leute im Wiener Flex. Mehrere Fragen tun sich auf: Warum lässt eine international renommierte Band wie Cursive eine so unpassende Vorband spielen? Sollte das bloß ein Kontrastprogramm zu den dissonierenden Klängen von ihnen sein? Kann es sein, dass sich da jemand beim Booking nicht wirklich mit den Bands beschäftigt hat? Wurde das Konzert verschoben? Wo sind alle Leute? Das Cursive Konzert fand statt, so viel weiß man, der Rest kann nur erahnt werden. Ob die auf dem Qualitätslabel Saddle Creek sesshafte Band jedoch diesen Pop-Ausrutscher wieder gutmachen kann ist eine andere Frage. Nur so viel vorweg: sie macht es einem nicht leicht. Mit Cursive verbindet man interessante, paranoide, dissonante, kraftvolle und oft pompöse Musik. Wenn alles passt, dann spürt man das alles auch bei einem Konzert. „Big Bang“ wäre der erste potenzielle Anwärter für so einen Moment gewesen. Leider ging der große Bang, der bloß

Cursive-Frontmann Tim Kasher www.facebook.com/ueber.morgen

von einer Trompete ausgeführt wurde, unter dem noch nicht richtig stehenden Sound unter. Das Set war gut durchgemischt. Man erkannte Songs wieder, die man schon lange vergessen hatte. „A Gentleman Caller“ war für Veteranen des großartigen „The Ugly Organ“ und ließ erste Endorphine ausschütten. Mittlerweile hatte sich das Flex angenehm gefüllt, für so seltene Gäste wie Cursive hätte man sich allerdings doch noch mehr erwartet. Sänger Tim Kasher beschwichtigte das Publikum mit Yeahs und Whoos, sodass es so wirkte, als würde er sich freuen, überhaupt Leute zu sehen. Sehr bescheiden, wenn man sich denkt, welche riesigen Bühnen diese Band schon gesehen hat. Mittlerweile, inmitten des Auftritts angekommen, stellt sich Gleichgültigkeit ein. Der Sound wird immer noch nicht besser und die Songs hören sich auch plötzlich alle gleich an. Irgendetwas fehlt, aber es ist schwer zu beschreiben was. Ziemlich früh gehen die fünf von der Bühne, um sich vom obligaten Zugaben-Applaus wieder herauslocken zu lassen. Erst jetzt wird Kasher richtig redselig. Er erzählt, wie sehr es ihn freut, dass Leute gekommen sind (blablablabla) und dass es noch freie Stellen in der Band gibt. Leute rufen auf die Bühne, sie möchten sich bewerben und ein Drummer bringt den Mut auf, den Platz auf dem Podest einzunehmen um eine Guns n’ Roses Nummer mit Tim Kasher anzustimmen. Das lockert die Stimmung immens und als der Gastdrummer an „Dorothy at Forty“ scheitert und der bandeigene Schlagzeuger wieder übernimmt, brodelt es zum ersten Mal im Publikum. Der Song schlägt ein wie eine Granate und der gesamte Zugabenblock entpuppt sich als der fehlende Teil eines gelungenen Auftritts. Kasher’s paranoider Blick, die unverkennbaren Gitarrenriffs und der satte Bass lassen genau diese Momente aufkommen, die vorher so dringend gefehlt haben. Hätten sie diese Energie auch schon früher aufgebracht, wäre es der perfekte Auftritt gewesen. So wird man bloß an den einen Guns 'n Roses Song denken, wenn man in sechs Jahren das nächste Mal Cursive in Wien zu sehen bekommt. Hingehen sollte man trotzdem wieder, das Potential ist ja immerhin auch hierzulande da. ♦ Benjamin Agostini

Foto: flickr Double B Photography

Clara Fall

Links Unten Clara Gallistl

W

ir sitzen also um einen Tisch in einem Lokal in Wien, wochentags. Es wird Mitternacht. Mein Körper ist da hinein geraten und jetzt ist er irgendwie hier. Peter Handke erzählt von seinem großen Erfolg in der falschen Stadt und dass alles so unerwartet kam. Florian Heuboden und Andrea Breth kritisieren am neuen Werk und an der Vorstellungswelt des Gegenübers auf und nieder. Man diskutiert, stellt Meinungen zur Disposition, greift nach Ideen wie nach Weingläsern, tunkt Weißbrot in Olivenöl und den eigenen geistigen Hintergrund in den der Anderen. Die Hirne fließen ineinander, alles ein großer Festakt aus Gefühlen, Intellekt und Selbstdarstellung. Und ich – sitze (aus der Draufsicht) links unten. Am Tisch einen physischen Platz zugestanden, kämpfe ich mit kontrolliertem Atmen gegen den dressierten Pudel in mir, der klein und weiß auf seinen Hinterbeinen hüpft und Anerkennung für seine süßen Kunststücke haben will. Mitreden kann er ja nicht. Also wenigstens hübsch und süß sein, denk ich, um eine Daseinsberechtigung für mich zu erstellen. Nur für mich! Peter Handke und Luc Bondy und die richtig coolen Leute da am Tisch (wen auch immer Sie einsetzen wollen, Steve Jobs vielleicht oder den Dalai Lama), denen bin ich so egal, dass sie nicht einmal fragen, was ich hier mache. Oder sie erkennen mich einfach an? Bin ihnen womöglich nicht ich egal, sondern die Tatsache, dass ich nicht die Glühbirne erfunden habe oder Peter Sloterdijk bin? Sitzen hier tatsächlich einfach nur fünf Menschen um einen Tisch in einem Lokal in einer Stadt in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag und unterhalten sich - über das Leben? Wie gewaschen vom Sommerregen, nüchtern und nach der Reflexion, kommt in mir der Gedanke auf, den ich so oft vergesse, ohne den aber nichts richtig geht; der, dass ich außer mir nichts sein kann und, dass es reicht, wenn ich ich selber bin. Ich bin Ich. Ich habe Dinge getan und Dinge nicht getan. Manchmal habe ich etwas zu sagen und manchmal nicht. Auch wenn ich nichts sage, bin ich trotzdem, egal ob vorne in der Mitte oder hinten links. Aber bitte, genug von mir. Es kann losgehen jetzt. ♦


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Die Feminismus-Phobie

der Kristina S. Foto: Flickr, nicola.albertini

Kommentar Ja es stimmt, das "richtige" Frauenleben gibt es nicht. Und ja, es ist wahr, dass niemand sich anmaßen sollte, anderen Menschen Lebensentwürfe vorzuschreiben. Doch alles andere, was Kristina Schröder in ihrer Buchveröffentlichung "Danke, emanzipiert sind wir selber!" schreibt, kann bei Weitem nicht so einfach bejaht werden. Schröders zentrale These ist die, dass "Feministinnen einerseits und Strukturkonservative andererseits" (natürlich wird in diesem Buch nicht gegendert!) mit ihren Dogmen "Karriere!" bzw. "Familie!" den Frauen nahezu diktatorisch Lebensmodelle vorschreiben würden. Die "Frauen von heute" - so Schröder - bräuchten aber gar keine Leitbilder, denn sie wüssten selbst am besten, was sie vom Leben wollen. Und damit fängt auch schon die lange Liste der kritisierenswerten Punkte an: Wer sind überhaupt die "Frauen von heute"? Die mitteleuropäischen, im relativen Wohlstand lebenden Frauen, deren Vorgängerinnen jahrhundertelang hart für ihre Rechte gekämpft haben? Oder doch die Frauen in jenen Ländern, in denen die Wörter Gleichberechtigung und Freiheit mehr Wunschdenken als Realität sind? Diese gedankenlose Formulierung sei der eurozentristisch orientierten Ministerin noch halbwegs verziehen. Genauso wie ihre ungefragte Stilisierung als Sprachrohr der Frauen (Stichwort: "Wir Frauen sind es leid!"). Weiter geht es allerdings damit, dass Schröder in ihrem Buch selbst nichts anderes tut, als neue Leitbilder vorzugeben, die sie ja eigentlich so vehement kritisiert.

Der Weltanschauungsfeminismus sorgt dafür, dass das grelle Licht der Verhörlampe nicht ausgeht. Diese Leitbilder folgen Schlagwörtern wie "private Entscheidung" und "Geschmacksfrage" - denn die moderne Frau würde sich schließlich nicht mehr reinreden lassen wollen in Berufs-, Familien-, und Lebensplanungs-Anbelangen. Privat! Privat! Privat! schreit es aus allen Ecken und Enden des Buches und man kommt nicht umhin zu ver-

muten, dass die öffentlich-mediale Sezierung von Schröders Leben als Ministerin dieses vehemente Postulat begünstigt hat. Und überhaupt: Wenn Schröder so auf den Privatraum pocht, warum schreibt sie dann überhaupt ein Buch, das ja per se öffentlich ist? Nicht selten scheint sich Schröder zwischen den Zeilen gegen die Welle der Angriffe wehren zu wollen, die ihr selbst als Mutter und Ministerin immer wieder entgegengeschlagen ist.

Emanzipation predigen, aber Bevormundung ausüben

Der größte Fehler unterläuft Schröder in jedem Fall mit ihrer Fixierung auf das Private: Sie ignoriert in ihrem Buch auf konsequente und ebenso verblüffende wie erschreckende Art und Weise sämtliche strukturelle Phänomene des Themas Frauen und Emanzipation. Denn wie man als studierte Soziologin eigentlich wissen sollte, ist eine Entscheidung in Wahrheit nie völlig frei und schon gar nicht privat, sondern wird stets durch einen Rahmen begrenzt, der die Grenzen und Möglichkeiten dieser Entscheidung determiniert. Ohne die strukturellen Gegebenheiten (Wahlrecht, Berufsfreiheit etc.) hätte eine europäische Frau im 20. Jahrhundert noch so sehr wissen können, was sie will. Der Gesellschaft und dem Rechtssystem wäre das herzlich egal gewesen. Schröder weist zwar durchaus auf diese Errungenschaften des Feminismus hin, was sie allerdings nicht sieht, ist, dass auch heute noch viele Frauen weltweit unter strukturellen Restriktionen leiden. Mit der "formalrechtlichen" Gleichstellung scheint für Schröder stattdessen die tatsächliche Gleichberechtigung einhergegangen zu sein. Dabei bestreitet sie großzügigerweise gar nicht den immer noch existierenden "Nischen-Sexismus", aber ansonsten würde "die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft von niemandem mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden". Man muss nicht einmal auf die klaffende Gehaltsschere blicken, um zu sehen, dass diese Aussage falsch ist. Man fragt sich also, in welchen Kreisen die Ministerin so verkehrt, um zu dieser Feststellung zu kommen. Und man möchte ihr an dieser Stelle den Besuch in einem bayerischen Dorfwirtshaus nahelegen.

Alternativ ersetzbar durch ortsunabhängig gehaltene Stammtisch-Reden von sexistisch gesinnten Gruppierungen aller Couleur. Neben dem allgegenwärtigen FeminismusBashing, der eurozentristischen Sichtweise und der Definition von Partnerschaft als rein heterosexuell (dies sei ihrem konservativen CDU-Background geschuldet) ist auch Schröders Blick auf die heutige Frauengeneration ein total verquerer. Die Ministerin spricht von jungen Frauen, denen alle Wegen offen stehen, die hochgebildet und frei sind. Nur vergisst sie dabei völlig, von welch geringem Prozentsatz der Bevölkerung sie hier in Wahrheit spricht. Es scheint, als würde ihr die eigene privilegierte Lebenswelt die Augen für diese Tatsache verschließen. Und selbst wenn tatsächlich alle Frauen über solche Ressourcen verfügen würden, was brächten sie ihnen, ohne die passenden strukturellen Rahmenbedingungen? Eine Frau kann sich nur für Karriere entscheiden ohne gläserne Decken und nur für Familie, wenn sie damit nicht auf sich allein gestellt bleibt. Und so weit ist die Gesellschaft - und zwar weltweit noch lange nicht.

Kulturkampf um das richtige Frauenleben.

Es mag sein, dass viele Frauen in Deutschland sich für "Entweder Kinder oder Karriere" rechtfertigen müssen. Das ist sicher kein angenehmer Zustand. Doch anstatt dies wie Schröder zu beklagen, sollte man sich darüber klar sein, dass es sich hier um einen notwendigen Zustand handelt, da er direktes Resultat eines sich im Wandel befindlichen Rollendiskurses ist. Lieber etwas Gegenwehr, Mühe und Diskussion als unter einer dogmatischen Ausrichtung zu erstarren. Der Kulturkampf zwischen Strukturkonservativen und FeministInnen, den Schröder so vehement ablehnt, ist nichts anderes als ein Spiegelbild der gesellschaftlichen, historischen und gegenwärtigen Entwicklungen und daher eine diskursive Notwendigkeit, vor der man nicht einfach ins biedermeierliche Private flüchten kann, wie es Kristina Schröder so gerne täte. ♦ Anne Erwand

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Der Dalai Lama und die Heuchelei Kommentar

I

n der Messehalle Salzburg wird der Dalai Lama mit Standing Ovations begrüßt, ganz wie ein Popstar. Auch die Karten sind so teuer wie bei einem Konzert (30-90 Euro). Er freut sich, lächelt in die Menge. Landeshauptfrau Gabi Burgstaller begrüßte ihn medienwirksam. Dass man es sich mit der chinesischen Regierung verscherzen könnte, wiegt offenbar nicht so viel, wie die Fotos in den Zeitungen mit dem Sinnbild des Friedens und der Erleuchtung. Hunderte Menschen sind gekommen, um dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter zuzuhören. Eigentlich sollte es um "Weltfrieden und universelle Verantwortung" gehen. Aber dann hätte man nicht Alexandra Föderl-Schmid, Chefredakteurin des Standard, Fragen stellen lassen sollen: „Halten Sie es für eine geeignete Protestform, dass sich tibetische Mönche anzünden?“ Auf die Frage antwortet der Dalai Lama ganz in politischer Manier und wich mit geschickten und rhetorisch trainierten Phrasen dem Thema aus. Das Publikum schaute enttäuscht, nicht wie ich, weil keine klaren Antworten kamen, sondern weil sie einen spirituellen Input-Vortrag erwartet hatten, der sie der Erleuchtung etwas näher bringt.

Der Dalai Lama machte zweifelhafte Aussagen, die zwar witzig gemeint, aber etwas falsch ankamen. Beispielsweise lud er das Publikum ein, sich selbst die Situation in Tibet anzusehen, billige Antiquitäten zu kaufen, um sie zuhause zu verscherbeln und um damit die Reise zu bezahlen. Oder, dass der nächste Dalai Lama zwar eine Frau sein könnte aber, dass sie attraktiv sein müsste. Außer in Föderl-Schmids Fragen scheinen aber in ganz Österreich, inklusive vieler Politiker und Medien, die kritischen Stellungnahmen auszubleiben. Jeder lässt sich offenbar gern den weißen Schal, das traditionelle Begrüßungsgeschenk des Dalai Lamas, umbinden. Und damit auch einen Hauch von Spiritualität, Weisheit und Frieden. Ein angenehmer Seiteneffekt, wenn Fotos gemacht werden, mit denen sich auch Kanzler Faymann, Kardinal Schönborn oder auch Kärntens Landeshauptmann Dörfler perfekt inszenieren können. Für diese Selbst-PR werden Dinge, für die der Dalai Lama auch steht, wie Frauenfeindlichkeit, Homophobie sowie Führerkult und Populismus, kategorisch ausgeblendet. Das sind keine Dinge, die man aus großen Recherchen und Aufdeckungsjournalismus erst erfahren müsste, das weiß man. Und doch wird es totgeschwiegen. Diese Heuchelei stinkt wie Räucherstäbchen zum Himmel. ♦ Karin Stanger

Österreichische Öffentlichkeit Kommentar

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rüher war “öffentlich”, was draußen vor der Tür, was sozusagen am Hauptplatz vonstatten ging. Die Erfindung der Kommunikationsmedien Radio, Fernsehen, Internet haben neue Modelle von Öffentlichkeit geschaffen. Heute, in einer Zeit, in der “soziales Netzwerk” nicht mehr nur die Menschen, die ich aus meiner tatsächlichen physisch wahrnehmbaren Lebenswelt kenne, meint, stellt sich spätestens in der aktuellen Diskussion um die Privatsphären-Einstellungen der sozialen Internetplattform facebook die Frage: Was ist öffentlich? Die einfachste Definition ist wohl: Öffentlichkeit, das sind die Anderen. Öffentlichkeit entsteht, wenn mehrere Menschen über bestimmte Übereinstimmungen verfügen und Austausch möglich ist. Besonders interessant ist dieser Raum natürlich für Politik und Werbung, weil Öffentlichkeit Einflussnahme ermöglicht. In der Literaturwissenschaft wird als spezifisch österreichisches Element oft die Widersprüchlichkeit angeführt. Das Wiener Volkstheater wurde nach 1800 bekannt für seine satirischen Stilelemente und überlieferterweise konnte Nestroy den Satz “Die Welt ist schlecht.” so gut sagen, dass ihm niemand widersprach und trotzdem jede_r glücklich damit war. An Thomas Bernhard wird gern www.facebook.com/ueber.morgen

die Nähe von Bedeutung und Bedeutungslosigkeit gezeigt und Elfriede Jelinek hat 2004 den Nobelpreis für Literatur nicht zuletzt wegen der “Stimmen und Gegenstimmen” in ihrem Werk erhalten. Im politischen Verhalten der öffentlichen Meinung findet man bisweilen wenig von diesem österreichischen Widerspruch. Eher lässt sich, wie vor 200 Jahren, von stoizistischem Arrangement mit der Machtverteilung und einem damit einhergehenden Rückzug in die Verantwortungslosigkeit des/der Einzelnen sprechen. Der Zeitgeist des Biedermeier hat sich in die österreichische Öffentlichkeit wie eine stehende Metapher eingeschrieben. Seine Wahrnehmung der österreichischen Politik beschreibend, meinte Robert Musil 1912, das Parlament betreibe nur “Leidenschaft als Vorwand”. Wenn nun der steirische Landeshauptmann Franz Voves seinen dringenden Wunsch nach einer neuen Kultur der offenen Diskussion in der Politik beschreibt, kann man dieser Idee nur viel Glück wünschen. Vielleicht nähert sich so das Konzept “Öffentlichkeit” wieder mehr seinem Wortstamm an und wird auch tatsächlich offen für Widerspruch. Ob der Wunsch vieler nach mehr Ehrlichkeit in der österreichischen Politik aber in Erfüllung geht, wird eine Frage an die Zukunft sein. wäre, wie wohl ein Scherbengericht ausgehen würde. ♦ Clara Gallistl

Graus 2.0

StammtischGerülpse

A

n der Theke im Stammbeisl steht sich’s gut. Neben mir lehnt Igor, trinkt Buttermilch mit Mineralwasser. Er erzählt von seinem letzten Boxkampf. Wieder einmal hat ihm sein nervöses Augenleiden fast den Sieg gekostet; in Momenten der Anspannung zuckt sein linkes Auge, sein Sichtfeld ist dann eingeschränkt. Zwei Barhocker weiter unterhalten sich ein untersetzter jugendlicher Religionslehrer und ein Mittfünfziger in Trachtenweste. „In Österreich werd’n die Katholiken immer weniger. In meiner Klasse unterrichte ich nur ein paar Restkatholiken: Polen, Bosnier und Kroaten“, klagt der Pädagoge. „I bin ka Katholik“, gesteht der Trachtenmann, „oba wenn i mir die Geschichte so anschau, seh I, dass Katholizismus immer a gute Sache war. Der Islam wird uns überrennen. Das wird noch kommen. Und deshalb bin I a Nationalist. Kebap brauch I kan. I iss Schweinefleisch und geh zum österreichischen Wirtn.“ Der Lehrer stimmt zu: “Alles Ausländer. Die sind jung und werden sich durchsetzen. Hat man ja bei den Krawallen in London gesehen.“ „Genauso wie in Griechenland“, weiß der Ältere, „die dort demonstrieren – alles Ausländer. I hob in meinem Leben vü Bledsinn gmocht; oba wos do passiert, des geht net. Denen ghert olln in Kopf gschossn. Des Problem is gonz schnell zum Lösen. Wenn ich die Leut schon seh, die ständig demonstrieren. Was soll das eigentlich bringen? Verändern tut’s nix. Es wird immer eine kleine Gruppe von Leuten geben, die regieren. Und das ist gut so, wenn die Gscheitsten uns regieren!“ Igors linkes Auge zuckt. Der Religionslehrer wittert, dass wir und sie keine Freunde werden. An den Trachtenmann gewandt, zitiert er Willhelm Busch: „Schweigen will ich von Lokalen, wo der Böse nächtlich prasst, wo im Kreis der Liberalen man den Heil'gen Vater hasst.“ Der Trachtenmann lacht: „A gsunde Watschn hot noch jeden Liberalen zur Vernunft gebracht!“ Die „gsunde Watschn“ ist in diesem politischem Eck anerkanntes pädagogisches Mittel, wie auch die Wortmeldungen zweier Kärntner Polit-Proleten belegen. Igors linkes Auge zuckt jetzt wild, doch bevor er zur Tat schreiten kann, bezahle ich und schiebe ihn aus dem Lokal. Igors Ohrfeigen wären für die beiden alles andere als „gsund“ gewesen. ♦ [masc]


über.reste

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Columbias influence on economy

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Ihre über.morgen-Tierredaktion

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Als ich neulich, in Khakihosen und Expeditionshut gewandet, eine Safari durch die Weiten des Internets machte, stieß ich auf eine wild hirnpenetrierte Gruppe von Katholiken aus Europa und Übersee. Die keinesfalls stubenreinen Riesenkröten haben dort nämlich den Blog www.kreuz.net mit angeblich katholischen Inhalten eingerichtet und übergeben sich in Hirngespinstfontänen auf meinen schönen Monitor. Da sich nicht einmal mehr der Vatikan dieser Problemtierchen annehmen will, suchen wir ein feuchtes Kellerloch für den vernarbten Ewald, die braune Regina, den kleinen Alfons und deren zurückgebliebene Brüder und Schwestern. Danke!

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der Woche

Neues Fahrrad, gerade einen Monat a l t , nu r d a s Schloss war wohl zu dünn. Auf ein Neues. Zweites neues Fahrrad, neue Motivation, dickeres Schloss diesmal, los geht’s in den Wiener Verkehr. Fahre ich gemütlich am Ring entlang, plötzlich Ende des Radwegs. Hm? Ach, auf der anderen Seite geht’s weiter – die passende Ampel für die Straßenüberquerung wäre allerdings schon ein paar Hundert Meter weiter vorne gewesen, ein Schild gab es nicht. Stehe ich mitten auf der Kreuzung bei der Nußdorfer-/Alserbachstraße: Ende des Radwegs. Hm? Ach, auf der anderen Seite geht es eh weiter, aber wo ist der Radweg auf der Kreuzung, wo er eigentlich ganz brauchbar wäre? Will ich zur Uni fahren, gibt’s erst gar keinen, gegen den versprochenen Mehrzweckstreifen auf der Währinger Straße wurden von Geschäftsleuten letztes Jahr 2000 Unterschriften gesammelt, weil das Wegfallen von Parkplätzen als umsatzschädigend befürchtet wurde. Einen Kompromiss soll es bald geben – fahren kann ich noch auf keinem. Wien. Die Stadt, in der es noch immer salonfähig ist, mit dem Auto zum Bäcker am Eck zu fahren. Wäre es möglich, würde Wien auch mit dem Auto zum Zähneputzen ins Bad fahren: Wien, du stinkende Stadt.

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Ach

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Sa tung

I remain, your humble servant. Lord Fotherington-Carstairs

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Mind you, what does worry me is this tommyrot about bankers and the rich being responsible for the crisis! I mean really! I know some of these gentlemen personally and I can assure that they’re no more capable of controlling the economy than they are of controlling their need for the old Bolivian marching powder. I remember talking to Jamie Dimon, the head of JP Morgan, in his private Jacuzzi a year or two ago. Now, I’m not questioning the man’s credentials as a banker, but he was making high end deals two seconds after having snorted some of Columbia’s finest

folding stuff you possess. Herr Strache may have to be careful what he says in future, or it could be time for my proud country-men to dust off their Spitfires and give Jerry a pounding (present leftie company accepted). Mind you, it’s not all doom and gloom, I’ve always fancied a little out of the way place for my retirement; I believe the Isle of Lesbos would be a suitable place to spend one’s autumn years. At the rate the current crisis is going, I’d say I could acquire it for....a few goats and a bottle of olive oil.

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Lord Fotherington-Carstairs writes...

export. This was not a man capable of running a global conspiracy. Yes, I’m afraid to tell you that, many as me and my colleagues would dearly love to imagine that we engineered this whole crisis for our own personal benefit, I’m afraid to say we didn’t. It’s just incredibly rich people buggering up. But, I’m as willing as the next man to hold up my hands and say, “yes, we made a few mistakes, now kindly bail us out.” I mean, the financial sector is an important part of the British economy, why we’re almost a national service! So I think it’s quite fair that the government hands out a few million now and again to keep things ticking along. Of course we’d rather not hear any talk about regulation because otherwise, well, we’ll take our money and set up show in Russia, or some other country where they take a more humane view towards chaps earning unfeasibly large amounts of money in a barely legal manner. And as for that balderdash about a “financial conspiracy run by certain groups”- pshaw! I appreciate that your “Herr Strache” may enjoy making veiled references to “the East Coast” but it really is absolute nonsense - Jewish, Russian, white, black, yellow or purple, we in the “rich club” don’t care to differentiate between ethnic groups, it all really comes down to how much of the green

d

ell, seems like a bad old time for the Euro doesn’t it? I imagine it’ll be a bit of a blow to all you proles, but - as the old saying goes “Euros are quite continental, but unmarked gold bullion is a girl’s best friend”. So, while you lot might start needing wheelbarrows full of Euros to pay for a loaf of bread, I’m quite sure gold bars will still be accepted at Meinl or elsewhere.

Su

W

www.uebermorgen.at


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© Julia Müllner (www.julimuellner.com) Lukas Nebenführ (lukas.nebenfuehr@gmx.net)


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