03/2013 - Disziplin / Dominanz / Unterwerfung

Page 1

ISSN 2307-5694

Herbst 2013 | #3 Dein Begleitheft zur Krise, 5 Euro

DISZIPLIN DOMINANZ UNTERWERFUNG


///

2

Impressum über.morgen: ISSN 2307-5694; Medieninhaber & Herausgeber: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen, ZVR: 932775132, Rueppgasse 2/10, A-1020 Wien. Kontakt: redaktion@uebermorgen.at; Web: www.uebermorgen.at; Chefredaktion: Matthias Hütter, Markus Schauta; Layout: Patrick Detz, Alexander Gotter, Johannes Ruland; Redaktion: Jakob Arnim-Ellissen, Lisa Brauneder, Clara Gallistl, Matthias Hütter, Nikolaus Karnel, Johannes Korak, David Marat, Bianca Mayer, Milena Österreicher, Markus Schauta, Dario Summer, Karin Stanger; Mitarbeit: Johannes Witek; Lektorat: Daniela Ristl, Vanessa Oberauner , Vanessa Sternath; Fotos: Christopher Glanzl, Alexander Gotter, Johannes Korak, Flo Smith; Grafik: Julia Bauernfeind, Albert Mitringer, Moritz Stetter; Druck: Friedrich VDV, Linz; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet.


Editorial ////////////////////

//////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Wisst ihr’s noch nicht? Disziplin heißt: Ich steh morgens auf und check meine E-Mails. Dominanz heißt: Ich steh morgens auf und check meine E-Mails. Unterwerfung heißt: Ich steh morgens auf und check meine E-Mails. Disziplin ist die Knechtschaft der Ordnung. Dominanz ist die Übermacht der Kapitulation. Unterwerfung ist die Überlegenheit des Gehorsams. Wirf dein Ich in den Ozean und lass es mehr zu dir werden als du selbst, denn es ist 1 und du bist 0; denn es ist du und du selbst bist nichts. Wirf deine Stimme in die Urne und lass sie nicht mehr sagen als nichts, denn sie ist Ja und du bist Nein; denn sie ist dein Begehr und dein Begehr ist nichts. Wirf dein Schweigen in den Abgrund und lass es sich verlaufen, denn Schwarmzeit ist am Hindukusch, und Eirene, die Königin, gibt es nicht. Wirf dein Hoffen in die leeren Hallen und lass es bangen um sich selbst, denn es ist tot und du bist heiß; und die kalte Hand, die ballt sich nicht.

Vergiss das Land am Nil! Flieh über die Levante, Damaskus ahnend und die Küste, wo die Zedern blühn, aufs stille Meer hinaus und beschau dir diese Welt. Du wirst es nicht glauben, wenn du das kannst: zu glauben. Du wirst es nicht verstehen, wenn du daran glaubst: zu verstehen. Du wirst es sehen und du wirst es erkennen. Du wirst schreien wollen und niemand hörte dich auf der größeren Welt, die gelenkt wird von berechnenden Maschinen, die das nicht können: hören; die das nicht können: verzweifeln; die das nicht können: schreiend wüten; die das nicht können: aus der Asche erstehn; die das nicht können: mich glauben machen, dass ich nichts bin in meiner Welt; nicht Herr im Tempel meiner selbst. Denn ich weiß: Ich steh morgens auf und check meine E-Mails: das heißt Disziplin. Ich steh morgens auf und check meine E-Mails: das heißt Dominanz. Ich steh morgens auf und check meine E-Mails: das heißt Unterwerfung.

Matthias Hütter für eure über.morgen-Redaktion

3


H

o, ho ho!“, schrie der Weihnachtsmann, setzte sich an den Stammtisch und bestellte einen Whisky Cola. „Du“, sagte das Christkindlein, „warum magst du denn nicht Wasser trinken?“ – „Weil es mir nicht schmeckt.“ – „Das ist aber nicht gut für die Zähne.“ – „Ich hasse Zähne!“, brüllte der Weihnachtsmann, worauf die Zahnfee ihren doppelten Schnaps kippte und zur Tür hinaus stampfte. „Du, lieber Weihnachtsmann“, lispelte der Osterhase kleinlaut, „das war aber nicht nett.“

über.morgen – Dein Gin Tonic an der Bar

Her mit dem Heft! Jetzt Einzelheft bestellen! Auf www.uebermorgen.at oder per E-Mail an abo@uebermorgen.at


Herbst 2013 Reportagen 8

Pamplona sehen und sterben Neun Tage Fiesta, acht Tage Stierlauf, sieben Nächte schlaflos, sechs Stiere täglich – das ist das Fest des heiligen San Fermin, das wohl brachialste aller Volksfeste Europas.

Kolumnen 7

Jakob Arnim-Ellissen Der perfekte Shitstorm

62

Clara Gallistl Look at me

32

Uniformieren für den Vollrausch Zur alljährlichen Fête Blanche werfen sich geschätzte 30.000 Partywütige an einem Juliabend in weißes Gewand und pilgern an den Wörthersee. Eine Reportage über Politik, Geld und Alkohol.

56

Nur Schlagen & Ficken Regisseur Ulrich Seidl fand in der Schwelle 7 nicht, was er suchte. Statt dreckiger Sexparties Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung. Ein ungeschulter Einblick in die Welt des Wiener BDSM.

63

Eine Stadt, drei Leben Großvater, Vater und Sohn machen sich in Wien gemeinsam auf die Suche nach Vergangenheit und Gegenwart.

Interview 24

Das ist reiner Terror Ein Interview mit einer Stundenhotelbetreiberin über den Straßenstrich, den Preisverfall und das verpfuschte Prostitutionsgesetz der Stadt Wien.

Lyrik 70

Die ewige unsterbliche Suche …

72

Konkurrenz

Unibrennt 74

Eine neue Hochschulpolitik

55

Was ist geblieben

31

Was hat es gebracht?

23

Was wurde aus …?

Sonstiges 2

Impressum

3

Editorial

44

Fotostrecke

73

Ausblick

5


///

HUMANITÄRER EINSATZ RETTET LEBEN.

SYRIEN SPENDEN. JETZT!

Gewalt, Angst und Verzweiflung treiben zigtausende Menschen in die Flucht. Ihre Lage in Syrien und den Nachbarländern ist katastrophal. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen sind vor Ort. Und helfen.

Ich wirke mit: PSK Kontonummer 930.40.950, BLZ 60.000 SMS mit Spendenbetrag an 0664 660 1000 www.aerzte-ohne-grenzen.at/syrien


Kolumne ///////////////////

//////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Diese verdammte Wahl Jakob Arnim-Ellissen

7

H

alleluja, die Wahl ist vorbei. Okay, über das Ergebnis lässt sich streiten, aber wer ist nicht froh, dass die Wahl zumindest vorbei ist? Wünscht sich irgendjemand noch ein Fernsehduell? Wird irgendwer die Wahlplakate vermissen? Nein, wir sind alle froh, dass wir es endlich wieder hinter uns haben. Und das ist komisch, denn eigentlich wäre die Wahl gar kein Problem. Für sich genommen ist sie sogar ganz unterhaltsam. Ein bisschen diskutieren auf Twitter, fachsimpeln und tippen, die Spannung bis zur ersten Hochrechnung – wäre die Wahl nur die Wahl, es könnte sich wirklich niemand beschweren. Das Problem mit der Wahl ist das unvermeidliche Drumherum. Das davor und das danach. Der elendslange Wahlkampf, vor dem man sich als pflichtbewusst-politischer Mensch natürlich nicht versteckt, und – hierzulande ganz besonders schlimm – das verlässlich-grauenvolle Ergebnis, mit dem man die nächsten Jahre leben muss. Und dann, zum Ausklang, die qualvolle Regierungsbildung, mit dem ewig gleichen Resultat. Über das wir auch noch froh sein müssen, weil es nicht schlimmer gekommen ist. Es ist das Drumherum, das uns stets die Wahl vermiest. Nur, warum? Warum ist das Drumherum nicht genauso spannend und unterhaltsam wie die Wahl selbst? Könnte es, nein, müsste es das nicht eigentlich sein? Schließlich geht es doch um etwas. Um unser Leben, unsere Zukunft – das müsste alles ganz anders laufen. Der Wahlkampf: Überzeugte, engagierte Menschen, die nach unserem Vertrauen streben und uns für ihre Pläne begeistern wollen. Das Wahlergebnis: Eine von allen akzeptierte Entscheidung über unser Zusammenleben. Die Regierung: Der Gipfel der Kooperation, die Versöhnung unterschiedlicher Meinungen in einem

gemeinsamen Projekt für die Zukunft. Wäre das drumherum, es könnte jeden Sonntag Wahl sein. Ist es aber nicht. Die Schuld an dem ganzen Schlamassel lässt sich leicht zuweisen. Die Parteien sind verknöchert, im schlimmsten Fall korrupt, im besten belämmert. Die PolitikerInnen wollen sowieso alle nur an den Futtertrog, und der Wähler, der ist einfach ein Trottel. Der jeweils andere natürlich. (Die Wählerin? Gut, die mag ein kleines bisschen schlauer sein, spielentscheidend ist das aber auch nicht.) Und hier sollte nun die Wendung kommen, die dieser Kolumne eine neue Richtung verpassen würde. Die Erklärung, warum das alles gar nicht stimmt. Warum die PolitikerInnen nichts dafür können. Weil sie ja eh nur tun, was wir von ihnen erwarten. Warum die WählerInnen nicht dumm sind, sondern nur in die Irre geführt werden. Warum die Parteien nicht alle über einen Kamm geschoren werden dürfen. Ja, diese Wendung würde diese Kolumne dringend brauchen. Nur: Mir fällt sie partout nicht ein. Nach diesem Wahlkampf, nach diesem Wahlergebnis und vor dieser (nächsten) Regierung ist einfach kein Optimismus übrig. Warum auch? Schließlich wird sich nichts ändern und schon gar nicht zum Besseren. Was passieren wird? Klar, zuerst werden sich Rot und Schwarz wie gewohnt ein paar Jahre in der Regierung blockieren. Sobald aber Frank Stronach das Interesse an der Politik oder den Kampf gegen das Altern verliert, werden seine Söldner bei der FPÖ um Asyl ansuchen. Und schon reicht‘s der ÖVP, die Koalition zerbricht und die mandatgedopte FPÖ bietet Maria Fekter die Kanzlerschaft an. Schwarz-Blau III, wir kommen. Unrealistisch? Irrwitzig? Wahrscheinlich. Aber eben auch das unvermeidliche Drumherum, das Problem dieser verdammten Wahl.


Neun Tage Fiesta, acht Tage Stierlauf, sieben Nächte schlaflos, sechs Stiere täglich – das ist das Fest des heiligen San Fermin, das wohl brachialste aller Volksfeste Europas. Feiern, Laufen und Sterben in Pamplona.

Foto: Christopher Glanzl Text: Markus Schauta und Matthias Hütter



Der sechste Tod Der Degen steckt nach dem zweiten Anlauf in seiner gebirgigen, blutüberströmten Flanke. Er scharrt, er läuft, er hechelt. Er steht, er strauchelt, er fällt. Genickstoß, Aufzucken, Tod. Der purpur funkelnde Matador mit den strahlend weißen Grinsezähnen zieht durch das Rund der Arena. Seine enge Hose spannt im Schritt, sein Hohlkreuz verleiht ihm Grazie. Applaus, Gewinke mit weißen Taschentüchern, Bravo-Rufe und hie und da ein „Olé!“, begleitet von Strohhüten, Seidenschals und ledernen Sangria-Schläuchen, die ihm entgegen segeln. Seine Gehilfen heben die Gegenstände auf, reichen sie weiter und der oberste Zeremonienmeister schießt sie, von Handküssen begleitet, zurück in die Ränge. Den roten Inhalt der Lederschläuche spritzt er sich zuvor mit wohldosiertem, strammem Strahl in den dürstenden Rachen. Der nächste Stier springt zwei Mal über die innerste Bande und wird dafür von den berittenen Lanzenstechern drei statt der üblichen zwei Mal gespießt. Am Ende siegt immer der Mann mit dem Degen: der sechste Bulle, der erste Degenstoß bis zum Anschlag, kurzer Gnadenstoß ins Genick. Aus. Der sechste Tod des Nachmittags.

BIM, BIM, BIM

10

Die Julisonne knallt erbarmungslos auf den Sandplatz, um den sich wogende Tribünen erheben. So hoch, dass über der letzten Sitzreihe nur ein wolkenloses Blau zu sehen ist. Unten in der Arena steht der gefeierte Matador an der roten Barrera und gibt ein Interview vor laufender Kamera. Drei Maultiere schleifen den toten Stier aus der Arena. BIM, BIM, BIM – die Glöckchen am Geschirr der Tiere klingen im Takt ihrer Schritte. Die Areneros verwischen die Spuren des Kampfes, die sich tief in den Sand eingegraben haben. Torro hatte keine Chance. Aber das hat auch niemand behauptet. Der Züchter nicht, der bis zu 25.000 Euro für einen andalusischen Kampfstier kassiert. Der Veranstalter nicht, der die Einnahmen dem Altenheim von Pamplona zuführt. Und auch der Matador nicht, der in den großen Arenen von Madrid und Sevilla bis zu 50.000 Euro für einen Auftritt bekommt. Torro wurde aufgezogen, um in der Arena von Pamplona vor 20.000 Zuschauern zu sterben.

******



12 12

Funk Soul Brother: Fiesta!

Bum Bum Bullshit

Zuhaitza nennt sich der Schuppen: die Musik – Ohrensausen; die Preise – irre; die Kellnerin – nicht von dieser Welt. „Tres cañas por favor!“, sage ich, nein, brülle ich über den Tresen, wo sich hinter einer schwarzen Haarsträhne Lippen zu einem schneeweißen Lächeln schwingen. Ich schiebe meinen weißen Hut aus der Stirn und lächle zurück, grinse. Grinse schief, meine Augen gerötet, der Blick flackernd, wie mir der Wandspiegel zeigt. Schulter an Schulter mit den beiden anderen Zombies lehne ich am Tresen vor dem Zapfhahn, aus dem ununterbrochen Bier fließt. Seit wie vielen Stunden surfen wir auf dieser Welle, die sich Fiesta nennt? Wann hab ich das letzte Mal geschlafen? Egal. Im schummrigen Licht, hinter Schwaden von Zigarettenqualm springen und schwanken Figuren zu Funk Soul Brother. Rundherum sitzen, stehen, lehnen 40 oder mehr Helden des Fiesta-Marathons, die fest entschlossen sind, sich an diesem Wasserloch den ultimativen Rausch abzuholen. „Ein unfairer Wettkampf“, schreit mir Christopher, der Fotograf entgegen. „Die Corrida? Kein Wettkampf, sondern Ritual, Schauspiel: Der Tod des Stieres.“ – „Tierquälerei!“– „Relativ“, denke ich mir. „Vier Jahre auf der Weide, bevor der Stier in der Arena stirbt.“ – „Macht’s auch nicht besser, weil ...“ „Doce euros!“, höre ich und bekomme drei überschäumende Gläser hingeknallt. Ich schnapp mir eines und schieß es über die feucht-glitschige Theke Richtung Fotografen. Es gleitet, kippt nicht und er greift’s – erstaunlich! Aus den Boxen heult eine Sirene, immer höher, bis sie bricht und der Bass einsetzt: Right About Now, The Funk Soul Brother, Check It Out Now … Der Hexenkessel kocht über.

„Schau niemals zurück!“, brüllt er mir ins Ohr. „Warum?“, brüll ich in seins zurück. „Die Gefahr ist dann nämlich, dass man stolpert – über einen Vorläufer oder sonstiges herumliegendes Zeug!“, schreit der besorgte ältere Spanier gegen die Lautsprecher an. „Und wenn du fällst: Hände über den Kopf und ruhig halten!“, und er zeigt mir, wie man sich die Hände über den Kopf hält. Selbst ist er nie mitgelaufen, er schaut sich das lieber im Fernsehen an. Anders der junge Spanier neben ihm, er läuft jährlich beim Encierro mit. „Ich muss sogar“, erklärt er stolz, er sei Pamplonese und sein Vater erwarte das von ihm. Zurück bei Markus und unserem Fotografen wartet meine winzige Caña. Die beiden streiten. Gestikulieren wild. Ich versteh quasi gar nichts. Hie und da ein Wort. Der Rest ist Lärm. Fat Boy Slim dröhnt Funk Soul Brother. Volle Kanone. Fiesta! „Schlachthöfe“, hör ich, während ich mir einen winzigen Bocadillo in den Mund schiebe. „Heuchelei“, das nächste Wort, das aus dem lärmenden Äther geschossen kommt. „Relativismus“ – „Moral“ – „Ethik“, schallt es manchmal auf, dann wieder „Toros de Guisando“ – „römische Tierhatz“ – „Tradition“ ... Und ich weiß, unser Fotograf bekommt jetzt die historisch-kritische Einführung. Ich mach mich aus dem Staub und tu’s den andern gleich: rein in die tobende, weiß gekleidete Menge. Abshaken! Nach gefühlten vier Stunden wieder an die Bar. „Mythologie“, hebt Markus an, „Zeugungskraft“ und „Fruchtbarkeit“ ... Das ist das Stichwort, denk ich mir: Right about now ... „Alles Bullshit!“, und in Richtung Kellnerin: „Tres cañas por favor!“


Stierhoden

Einparken

Ammoniak-Gestank verätzt mir die Nasenschleimhaut. Durch diese Gasse muss die Pisse eines ganzen Volkes geronnen sein. Die Hitze des Tages hängt immer noch zwischen den Hauswänden und vermengt sich mit dem Gestank und dem Schweiß zu einem Miasma, das sich auf die Haut legt, in die Lunge kriecht und die Haare verklebt. Vielleicht klebt auch nur der Sangria, der aus Fenstern geschüttet wird. Der Fotograf umklammert einen zerfledderten Zettel, auf dem zwei behaarte Hoden gezeichnet sind, darunter steht „Criadillas“ – Stierhoden. „Haben sie hier nicht auf der Speisekarte.“ Ich hole Bier.

Die schwarzen Gassenschluchten hinein. Alles gerammelt. Fiesta in Uniform. Weiß sind die Hosen, die Hemden, die T-Shirts. Rot sind die Schärpen, die Halstücher, die Nasen, die Augen, die Backen ... Rechts, links, rauf, runter. Überall diese Menschen. Wir auch. Es regnet Blut. Mal einparken. Ich schlafe. Wann schlafen die Bocadillos? Wo feiern eigentlich die Torros? Und: DER oder DAS Opferstier? – „Iiiih, Stierkampf!“, schreit wer und beißt in sein anständig, sauber, privat und mit Bio-Siegel industriell, human gestorben wordenes Extrawurstsemmerl. Wenn die blaue Welt kotzen könnte … Die gelbe Sau sticht mir ins Gesicht. Nebenan Pisswand. Weiter unten Scheißecke. Ein netter Rasen. Grüner Arsch ab sofort. Rot ist der Sangria, den die Fassaden in die Gassen speien.

Später holt jemand anderes Bier. Und dann einer, den ich nicht kenne. Irgendwann schrillen, gellen und dröhnen Pfeifen, Querpfeifen und Trommeln die Gasse herauf. Menschen drehen sich im Kreis, hüpfen und springen zu einem wilden Rhythmus. Am Gassenrand Kauernde erheben sich schwankend, wie an Fäden hochgezogen. Eine Wand exzessiven Seins rollt auf mich zu. „Geht’s los? Kommen die Stiere?“ Ich leg mich auf den Boden und rolle mich ein.

******

13


Nada An einer Hausecke beziehen wir Stellung. Nikotin beruhigt die Nerven, nebenan puschen sich trinkende Amis mit Brachiallauten. Mehr als 50 Meter soll man sich nicht vornehmen, so der Rat einer Infobroschüre. Die sechs Stiere walzen mit sechs Meter pro Sekunde durch die engen Gassen. Ihr Ziel: die Arena. Ihr nahes Schicksal: öffentliche Hinrichtung. Doch jetzt: Stierlauf. Keine Zeit zum Nachdenken. Das Um und Auf jetzt und hier für uns: die Wahl des Ausstiegspunktes. Die einen sind sehr schmal, die anderen bestehen aus zwei Meter hohen Bretterwänden ohne Steigmöglichkeit, wieder andere sind die einzige Fluchtmöglichkeit auf einem 200-Meter-Abschnitt. Verpasst man den, ist man im Arsch. Unser Plan: Ausstieg in circa 30-40 Metern, dort wo die Stierlauf-Strecke eine 90-Grad-Kurve einschlägt. Gesteckt voll ist die Gasse; gequetscht voll. Vor lauter Körpern sehe ich meinen eigenen nicht mehr. Kann nicht. Sardinendose. Ich bewege meine Zehen, spüre sie. Sie sind noch da. Jetzt erst wird mir klar: Das wird nicht so laufen wie gedacht. Nichts von wegen: Ich seh die Gehörnten von Weitem kommen, schätz die Entfernung und ergreife rechtzeitig die Flucht. Sehen tut man hier nämlich genau gar nichts. Nada. Hier ist man Teil der Masse. Teil der Panik. Verlassen hier einen Einzigen der Wartenden die Nerven, bricht der Wahnsinn aus und das Gedränge wird zur flüchtenden Flut. Genau das passiert um zehn vor acht. Alle laufen los. Das nackte Grauen in den blassen Hangover-Gesichtern.

14


The Red Bull „Wenn Sie stürzen, rollen Sie sich zusammen und bleiben Sie liegen!“, metallisch klingt die Stimme aus den Lautsprechern; Tipps für den bevorstehenden Irrsinn. 850 Meter sind es vom Gehege, wo die sechs Kampfstiere warten, bis in die Arena – Endpunkt des Encierros. Drei Minuten dauert der Stierlauf, vorausgesetzt es kommt zu keinen Komplikationen. „Noch elf Minuten“, sagt Matthias, Dauerraucher, sponsored by Marlboro. Ich reiß mir einen Energydrink auf – Ergebnis eines vorausblickenden Moments, der mich irgendwann heute Früh ereilte. Der Typ im Muscle-Shirt neben mir schüttet sich Sangria aus einem Fünf-Liter-Kanister in den Mund. Ob ich auch einen Schluck wolle? Ich winke ab, mir ist übel. Teuer bezahlt sind die Plätze auf den schmalen Balkonen, die wie Schwalbennester über der Gasse hängen. Die es sich leisten wollten, stehen jetzt dort oben, beugen sich übers Geländer, um die Gasse besser einsehen zu können; schlürfen ihren Frühstückskaffee. Gelassen blicken sie der Action entgegen, die um Punkt acht hier losbrechen wird. Ich hier unten weiß, dass die noch vor mir liegenden 500 Meter bis in die Arena nicht zu schaffen sind, ohne irgendwann die Hörner im Rücken zu haben. Der nächste Exit ist 30 Meter entfernt. Dort muss ich raus, sonst wird’s ungemütlich. Denn dahinter beginnt die 300 Meter lange Estafeta mit nur zwei Ausgängen – in diesen Korridor will ich nicht reingeraten. Wellen der Übelkeit erfassen mich in immer kürzeren Abständen. In einer spastischen Bewegung schlägt mir Matthias mein Red Bull aus der Hand. Der Zaubertrank, der mir hätte Flügel verleihen sollen, verrinnt zwischen den Pflastersteinen. Bleierne Müdigkeit. Ich schaffe es nicht, mich nach der Dose zu bücken, der nächste Exit erscheint mir unerreichbar. Wenn ich hinfalle, bleibe ich liegen, so oder so.

The perfect exit Gejohle und Klatschen gehen durch die Menge. Von den vollen Balkonen aufmunternde Zurufe. Plötzlich Polizei. Sie treibt uns die Straße weiter rauf. Widerstand, Stehenbleiben unmöglich. Man will offenbar den Menschenpfropfen an dieser Engstelle auflösen. Die Polizisten drängen uns vorbei am ausgewählten Exit, hinein in die lange, schmale Gasse, in der wir eben nicht zu stehen kommen wollten, weil die Ausstiegspunkte zu klein und mit rund 100 Metern viel zu weit auseinander liegen. Die grausame Vision hier: Man würde sich an die Wand drücken und die Stiere an sich vorbeilaufen lassen müssen. Scheiße! Zu riskant. Wenn da einer ausrutscht ... Angst. Da hetzen wir lieber die Straße runter, auf der Suche nach einem sichereren Startplatz. Zeit: fünf vor acht. Weiter. Hier gut? Nein! Weiter. Auch der zweite Exit-Punkt: zu riskant. Weiter! Hier ist’s gut. Vor uns um die 100 Meter lang zu beiden Streckenseiten ein Zaun und somit reichlich Fluchtmöglichkeiten. Blick auf die Uhr: zwei vor acht.

15


Warten Ein Mann im grünen Polo-Shirt mit langem, dünnem Stock sitzt auf einer der obersten Planken der Holzabsperrung. Wenn die Stiere da sind, wird er herunterspringen, mit ihnen laufen und sie antreiben. Der Stiertreiber kennt die Gefahren des Encierro aus jahrelanger Erfahrung - unaufhörlich wippt er mit den Beinen. Hinter den Holzbalken das Rot-Weiß-Rot eines Erste-Hilfe-Trupps. Eine Tragbahre haben sie mitgebracht. 8:00 Uhr! Verdammt, es geht los!

Vollgas Da! Ein Knall! In rund einer Minute kommt die Stierlawine. Erste Flüchtlinge. Der Blick nach hinten. Ruhe! Noch nicht! Immer mehr Läufer setzen sich in Bewegung. Ruhe! Geht noch! Immer mehr. Immer mehr. Dann: Tsunami! Verdammte Scheiße! Lauf um dein Leben! Es grollt, es poltert, es dröhnt, es bebt, es hämmert in mir, aus mir heraus, um mich herum, hinter mir und in mich hinein. Soll ich? Blick zurück? (Ich werd schon nicht zur Salzsäule erstarren.) Keine Stiere hinter mir! Oder doch? Etwas langsamer. Die Welle reißt mich mit. Jetzt raus? Nein! Geht noch. Keine Stiere! Oder doch? Vielleicht gleich hinter dem Typen? Die Leute werfen sich über die Barrikaden. Raus? Nein! Sprint! – Jetzt? Zu spät. Links und rechts Betonwände! Ein Tunnel. Licht am Ende. Vollgas! Der Eingang der Arena. Durch!

A-D-R-E-N-A-L-I-N Du hörst den dumpfen Knall der Rakete und weißt, dass der Corral mit den Stieren jetzt offen steht. Dein Mund ist ausgetrocknet. In weniger als zwei Minuten wird hier eine Horde Kampfstiere durch die Gasse donnern. Nur mühsam unterdrückst du den Fluchtreflex. Du stehst unter Strom. Aus den Augenwinkeln siehst du den Sani, der sich Gummihandschuhe überstreift. Der zweite Knall – Adrenalin schießt dir ins Blut, dein Herz rast. Die Bullen sind in der Gasse! Du weißt, dass du sie hörst, lange bevor du sie siehst. Aber wenn du sie hörst, sind sie schon sehr nahe. Viel zu nahe, als dass du mehr als 15 oder 20 Meter laufen könntest, bevor sie dich einholen. Du orientierst dich also am Verhalten des Menschenschwarms, dessen Teil du bist. Die ersten bahnen sich ihren Weg durch die Menge, rennen an dir vorbei. Dann kommen andere, die schon ziemlich schnell laufen, wieder andere schließen sich ihnen an. Und jetzt kommen die, die echt rennen, und Panik erfasst dich: Torros! Die Stiere sind da! Du sprintest los. Menschen stolpern, reißen andere mit. Geschrei, das Donnern der Hufe auf den Pflastersteinen – Scheiße, denkst du dir, scheiße, du hast die Stiere am Arsch!


17


Waaaam! Durch! Rein! Wummm!!! Blendung. Eine tosende neue Welt. Der jubelnde Chor von 20.000: der lebende Horizont. Weiter! Renn! Rechts weg zur Bande! Anhalten. Umdrehen. Eins. Zwei. Drei. Nichts. Wo sind die Stiere? (Bin ich etwa zu früh losgelaufen?) Vier. Fünf. Sechs. Waaaam!!! Ein Ungetüm ergießt sich in das sandige Rund. Der weiße Schwarm weicht aus. Weitere 600-Kilogramm-Tiere stürmen herein. Gleich werden sie gegenüber ins Off gehetzt. Da! Die Ochsen. Endlich! Alle hinter Schloss und Riegel. Puh! Scheiße! Der Eingang wird verriegelt. Gefangen? Wo raus? Frenetischer Jubel. Wem gilt der? ... UNS!!! Uns Stierläufern! Uns Gladiatoren! Ich reiß die Arme in die Höhe. Alle reißen die Arme in die Höhe. Gejohle. Wir. Ja! Wir! Nächster Punkt am Unterhaltungsprogramm: AmateurStierkampf. Nacheinander treiben Jungbullen ihr Unwesen im Sand. Die Torros tanzen mit der Masse, die Masse tanzt um die Torros. Ich bin mittendrin, filme mit dem Handy. Der Bulle scharrt. Seine Hörner sind mit aufgepfropften Gummibällchen entschärft. Verwegene rennen vor seiner Nase rum, knien sich vor ihm nieder, posieren im Karate-KidStyle. Andere tapsen ihm auf die Flanke, auf den Hinterlauf, ziehen das gequälte Tier am Schwanz, springen, ja werfen sich über seinen Rücken – es gibt Buh-Rufe und Pfiffe.

18

Vor dem Einlasstor ein Menschenhaufen. Sie knien und hocken sich hin, das Tor geht auf, der Jungstier schießt raus und springt mit einem eleganten Satz über das dreimetrige Menschenhindernis in die Arena. Beim nächsten Bullen dasselbe Schauspiel. Das Tor geht auf. Der Stier galoppiert durch den finsteren Schacht, prescht heraus, senkt sein Haupt und – fährt wie ein Rammbock in die Menschenbarrikade; fährt hinein in den Schädel eines hockenden Menschen, dass mich der dumpfe Knall trifft wie ein Faustschlag in die Magengrube; dreht durch, stochert den Gerammten auf, kämpft sich austretend und aufgabelnd durch die Fleischwand der Knienden, bearbeitet sein Opfer, als er die Barrikade bereits durchmäht hat, wirft es um sich, rennt in die weiße Flut, die aufgeschreckt auseinander fährt, und – aus. Der Mann bleibt regungslos im Sand liegen. Blut an seiner Stirn. Ich bin mir sicher: Er ist tot. Ich denk mir: die Rache der Torros … Sofort wird der Körper auf einer Bahre aus der Arena getragen. Genug. Ich haue ab, spring über die Bande. Dahinter wird ein Verletzter in Weiß vorbei getragen. Er schreit wie am Spieß, hält sich sein Knie. Es ist voller Blut.


Café Iruña Noch liegen die Tische des Café Iruña im Schatten. Doch über die Plaza Consistorial kriecht bereits die Sonne. Ich setze mich an einen der freien Tische. Die Übelkeit ist verflogen. Ich fühle mich frisch und klar im Kopf. Der Kellner bringt Kaffee. Die Plaza ist überzogen mit einem Schorf aus zerbrochenen Flaschen, zertretenen Plastikbechern und klebrigem Sangria, der bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch erzeugt. Müllwägen mit rotierenden Bürsten kratzen den Dreck vom Pflaster. Wenn ihre schweren Reifen über Glas walzen, schlagen die Scherben wie Schrapnelle gegen den niedrigen Zaun, der die Tische des Iruña vom Platz trennt. Im zertrampelten, feuchten Gras des Grünstreifens schläft ein Betrunkener. Jemand zieht sich die Hosen runter, hockt sich mit nacktem Arsch auf das Gesicht des Schläfers und grinst blöd. Eine Kamera klickt – Gelächter. Matthias lässt sich in den Sessel neben mir fallen. „Wie weit bist du gelaufen?“ – „Ich hab jemand sterben gesehen“, sagt er, „drüben in der Arena.“ Wir bestellen Bier. Die Morgensonne hat uns erreicht und mit einem Schlag ist es unerträglich heiß. Zwei Kellner schleppen Sonnenschirme herbei.

******

19


Abgrund

Schwalbennest

„Press only!“, der Wachmann verstellt uns den Zugang zum Pressezentrum. Sehen wir echt so abgefuckt aus? Was erwartest du denn? Teilnehmende Beobachtung! – Wenn deine Storys nicht gut genug sind, warst du nicht nahe genug dran! Rausch, Gestank, Blut und Tod, der ganze Scheißkram! Das zehrt an dir, das hinterlässt Spuren! Und wenn du lange in den Abgrund starrst, … du weißt Bescheid?! Ich zieh eine Visitenkarte aus dem Hutband und streck sie dem Wachmann entgegen: „über.morgen, the magazine.“

Wir haben uns einen Balkon in der Estafeta gemietet. Encierro von oben für 40 Euro pro Kopf. Frühstück und Stiertreiben live im TV inklusive. Die sechs Totgeweihten jagen vorbei in Richtung Schlachthaus. Unbeirrbar in der Mitte der schmalen Straße. Ohne Aggression und ohne Hast. Man müsste gar nicht fliehen. Einfach an die Seite stellen, warten und vorbei lassen. Lächerlich, die Angst. Die tun doch nichts. Im Fernsehen ein kurzer Bericht von Protesten gegen die „grausame Stierhatz in Pamplona“. (Wo und wann bitte waren die?) Gezeigt wird eine gehörnte, halbnackte Aktivistin – einen schwarzen Pappkarton-Sarg auf den Rücken geschnallt. „Dass in unserer heutigen modernen Zeit noch immer empfindsame Tiere zur Unterhaltung einer grölenden Menschenmenge gequält und getötet werden, ist einfach abscheulich“, sagt sie ins Mikrofon. „Barbarischer Wahnsinn das Ganze. EIGENTLICH gehört’s verboten“, sag ich und nehm einen Schluck Kaffee. „Ja, eh“, raunt Markus und beißt in seinen Bocadillo de jamón serrano con tomate. „Gehn wir ins Iruña?“ – „Klar, Café Iruña, so wie jeden Tag.“ •

******

20



22


War da was? : Erinnern Sie sich noch an den Moment, in dem Sie zum ersten Mal von unibrennt gehört haben? Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle: Natürlich. Ich war gerade in Wien und da wurde dem damaligen Rektor Georg Winckler gesagt, du, sie haben gerade dein Audimax besetzt. Ein paar Tage später haben sie an der Uni Innsbruck, wo ich damals Rektor war, die Aula der SowiFakultät besetzt. Ich bin dann gleich am ersten Tag nach der Besetzung zu den Studierenden hingegangen. Und Ihr letzter Eindruck? Dass sich die Bewegung am Schluss auf eine Art Berufsprotestierer zurückgezogen hat. Zuerst war es eine sehr breite Bewegung, aber später hätte ich unsere Aula eigenhändig räumen können. Der Schwung der Bewegung ist – wie immer, das ist klar – erlahmt, aber manche haben es genossen, es möglichst lange hinauszuzögern.

23

Hat die Politik die Proteste nicht einfach ausgesessen? Ausgesessen ist ein viel zu hartes Wort. Die Debatte lebt ja weiter. Die Antithese bleibt bestehen und muss gerade an den Universitäten immer wieder zur Synthese gebracht werden. Aber die Forderungen der Studierenden sind natürlich in vielen Bereichen utopisch. Einerseits haben die Jungen das Recht zur Utopie und das Recht zur radikalen Naivität – Utopie ist ja etwas Wertvolles, weil sie Potential offenlegt. Sie kann anregend sein und deshalb habe ich die Proteste auch als „Universität im besten Sinne“ bezeichnet. Andererseits heißt Utopie ja Nicht-Ort. Das heißt, ein Realpolitiker kann sie nirgends verorten und muss in der Realität agieren. Er hat die mühselige Aufgabe die Utopie auf die Realität herunterzubrechen.


Das ist reiner Terror 24

Seit zwölf Jahren vermietet Liane Stundenzimmer in der Linzer Straße. Früher ist sie selbst auf den Strich gegangen. über.morgen hat mit der 64-Jährigen über den Straßenstrich, den Preisverfall und das verpfuschte Prostitutionsgesetz der Stadt Wien gesprochen.

Text: Markus Schauta Fotos: Alexander Gotter


25


Wie alt warst du, als du auf den Straßenstrich gegangen bist? Ich war 18 oder 19. Ich hab meine Ausbildung zur Säuglingsschwester abgebrochen und bin auf der Kärntnerstraße gestanden und mit den Freiern ins Hotel Orient gegangen. Das war aber nur für kurze Zeit. 1969 wurde der Strich dort verboten und es war nur mehr auf der Tuchlauben erlaubt. Später war auch da Schluss. Dann bin ich in den 2. Bezirk. Dort sind die Mädchen oft im Café Else oder im Café Klein gesessen. Nicht zur Anbahnung, die fand auf der Straße statt, nur für einen Kaffee zwischendurch oder um mit einem Gast etwas zu trinken. Auch wenn die

Ich habe niemanden hinter mir gehabt, der gesagt hat, ich muss arbeiten.

Polizei gekommen ist, sind die Mädchen immer in die Cafés hinein. Weil bis auf den Prater war der Straßenstrich im 2. Bezirk ja verboten. Mit den Freiern bin ich dort in den Reichshof gegangen. Später auch ins Hotel Vienna und ins Hotel Wilhelmshof.

26

Du bist insgesamt ein Jahr ohne Kontrollkarte gestanden, warst also nicht als Prostituierte gemeldet. Wie hat das funktioniert? Ja, die hast du erst mit 21 Jahren bekommen und das war ich ja noch nicht. Kontrollen gab es oft. Nur, ich habe ..., wie soll ich das am besten ausdrücken? Wenn ich wollte und

mir war danach, bin ich halt arbeiten gegangen. Ich habe niemanden hinter mir gehabt, der gesagt hat, ich muss arbeiten. Und so hab ich mich auf die Straße gestellt, wenn ich einen Pelzmantel gesehen habe, der mir gefallen hat. Oder ein Schmuckstück, oder irgendwelche schönen Schuhe. Na, wirklich. Ich bin also nicht täglich dort gestanden und so konnte ich ein Jahr arbeiten, ohne erwischt zu werden. Aber irgendwann bist du doch erwischt worden? Ja. Die Mädchen waren alle so 18 oder 19 Jahre alt und daher ohne Kontrollkarte, so wie ich. Im 2. Bezirk gab es einen Kriminalbeamten, der war sehr korpulent. Aber wie der den Mädchen nachgerannt ist, so was hab ich noch nicht gesehen. Leider erinnere ich mich nicht mehr an seinen Namen. Ich bin also auf der Straße gestanden und sehe, wie er auf mich zu kommt. Ich hab solche Highheels angehabt und gewusst, der ist schneller als ich. Auch wenn ich ohne Schuhe laufe. Also hab ich gedacht, ich gehe ihm entgegen. Und er fragt, warum bist du nicht davon gelaufen? Sag ich, naja, weil Sie schneller sind als ich. Da hat er gelacht und gesagt, passt, morgen kommst zur Untersuchung. Normalerweise wurden die Mädchen verhaftet und mussten dann in die Roßauer Lände. Er hat mich nicht mitgenommen. Na, das war schon ein Vorteil. Am nächsten Tag bin ich dann zu meinen Papa und hab gesagt, bitte schreib mich großjährig, damit ich mir die Kontrollkarte holen kann. Das war‘s dann, so hab ich angefangen. Einfach so. War das ein Problem für ihn? Für den Papa war das kein Problem. Aber die Mutti, uh... Sie hat immer wieder ein Problem damit gehabt. Ich hab auch jahrelang vermieden ihr das zu sagen.


Hatte der Job auch schöne Seiten? Du lernst extrem verschiedene Menschen kennen. Jeder hat irgendwas, worüber du dich mit ihm unterhalten kannst. Übers Fotografieren, übers Fernsehen, über die Natur. Es geht wirklich nicht immer ums Bett. Überhaupt nicht. Zumindest damals, als ich das gemacht habe. Jetzt ist das eine Zwei-Minuten-Sache. Ja, was willst denn sonst hinter einem Baum machen? Reden? Dich über Blumen unterhalten? Na, das kanns nicht geben. Das war früher halt ganz anders. Du bist dann von der Straße weg und hast ein Stundenhotel aufgemacht. Rentiert sich das noch, seitdem hier in der Linzerstraße eine Sperrzone eingeführt wurde? Die Mädchen zahlen fürs Zimmer zehn Euro für 15 Minuten und 20 Euro für eine halbe Stunde. Geschäft ist es für mich keines. Eher eine Beschäftigung (lacht). Aber ich bin auch nicht mehr jeden Tag im Stundenhotel. Das Kassieren erledigt ein Mädchen für mich. Ich gehöre halt irgendwie dazu und hab ja diese Wohnung nebenan. Im Stundenhotel treffe ich Bekannte, die vielleicht gar nicht aufs Zimmer gehen, aber halt gelegentlich vorbeischauen. Dann sitzen wir dort unten und quatschen ein bisschen. Wie viele Mädchen sind bei dir im Stundenhotel? Jetzt sind sie zu dritt. Das ist immer verschieden. Ich habe nie gesagt, um acht ist Dienstbeginn. Weil das ist ihr Dienst, das geht ja mich nichts an. Ich hab halt gesagt, wenn gar keine kommen will, dann ruft mich an, weil dann komm ich auch nicht. Weil wenn ich alleine dort gesessen wäre, wäre ich sauer gewesen. Da wäre ich dann lieber zu Hause geblieben. Ich hab dann schon gesagt, sagt mir, wenn ihr auf

Urlaub fahrt, weil dann male ich aus oder lasse neue Betten machen. Gibt es Dinge, die du nicht durchgehen lässt? Ich habe superschöne und liebe Madln gehabt, aber sobald Gift und zu viel Alkohol im Spiel ist, mussten sie gehen. So bin ich manchmal mit nur einem Madl da gestanden. Also ich bin nicht gestanden, ich bin gesessen, sie ist gestanden (lacht). Aber das ist etwas, das ich überhaupt nicht will. Dann lege ich sehr viel Wert auf Sauberkeit. Ein Madl, das sich nicht nach einem Gast die Hände waschen geht, ist für mich eigentlich … Und ich will nicht, dass irgendeine ohne

Ich will nicht, dass irgendeine ohne Gummi arbeitet.

Gummi arbeitet. Das ist halt meine Entscheidung. Sie kann ja machen was sie will. Nur soll sie es dann nicht bei mir am Zimmer machen. Ich bin halt so und ich war immer so. Wenn du zurück blickst, wie hat sich die Szene verändert? Ich finde, vor zehn Jahren war es nicht mehr so gut, wie es vor 30 Jahren war. Das ist ein Unterschied, den kann man sich gar nicht vorstellen. Ich mein, da waren Mädchen hübsch und gepflegt. Was man ja jetzt nicht behaupten kann, dass alle Mädchen gepflegt sind. Und die Preise!

27


Ich habe superschöne Madln gehabt, aber sobald Gift im Spiel war, mussten sie gehen.

28

Toilette gehen können. Das ist ja eine Zumutung, dass sie ins Gebüsch gehen müssen. Und das haben sie mit dem Sperren der Straße erreicht. Und wenn sie ins Hotel gehen, das in der Sperrzone liegt, kriegen sie beim Rauskommen eine Strafe wegen Anbahnung. Oder im Auhof, das ist das letzte. Die Mädchen haben keine Sicherheit mehr. Das ist unmöglich, so was. Das ist eine Zumutung. Es hat sich keine verdient, wie ein Fetzen behandelt zu werden von der Regierung. Und die Kontrollen! Vor den letzten Wahlen wurde extrem kontrolliert. Da hat ein Beamter ein Mädchen sechsmal hintereinander nach der Kontrollkarte gefragt. Ich bin dann dazwischen gegangen und hab gesagt: Kauf dir Brillen! Sagt er: Na es kann sich ja etwas ändern. - Na, was soll sich denn ändern binnen drei Stunden? Ich mein, das ist Terror, das ist reiner Terror.

Was wunderschöne Mädchen in der heutigen Zeit verlangen, da gehe ich lieber Putzen. Was heißt Putzen, gegen das Putzen ist ja nichts einzuwenden. Da schlafe ich lieber unter der Brücke, bevor ich mit einem Gast um diese Preise aufs Zimmer gehen würde. Das ist unvorstellbar. Auch, dass sie es ohne Schutz machen, ist unvorstellbar. Früher hat es doch nichts gegeben ohne Schutz. Oder Küssen?! Es ist ja wirklich fürchterlich. Die machen Sachen, die hat der liebe Gott verboten, sag ich immer. Man muss das total trennen, die frühere Zeit und die jetzige Zeit. Die Preise, das Angebot, alles. Es ist nicht vergleichbar. Mit dem neuen Prostitutionsgesetz wurden in Wien viele neue Sperrzonen eingeführt. Kritiker sagen, dass es auf den verbliebenen Standorten keine Infrastruktur für die Frauen gibt. Wie erlebst du das? Man hätte halt Alternativen finden müssen zu den neuen Sperrzonen. Das Ganze, wie die Stadtregierung es gemacht hat, ist ein totaler Schwachsinn. Die Mädchen sind ja arm! Sie müssen doch die Möglichkeit haben, dass sie sich die Hände waschen, die Zähne putzen, dass sie sich den Intimbereich waschen können und dass sie auf eine

Liane, möchtest du noch etwas sagen, was dir wichtig ist? Wichtig wäre mir, dass das Gesetz überdacht wird. Und dass die verantwortlichen Politiker mit jemandem sprechen, der ein bisschen Ahnung davon hat. Das wär ja glaub ich angebracht. •

Ich schlaf lieber unter der Brücke bevor ich mit einem Gast um diesen Preis aufs Zimmer gehe.


www.uebermorgen.at Viele Themen. Viele Meinungen.


30


Demokratisierung der Universitäten Viel ist in diesem Bereich nicht weitergegangen. Angeblich gab es zwischen Wissenschaftsminister und ÖH Verhandlungen über eine ÖHWahlrechtsreform, konkrete Ergebnisse blieben aber aus. Gleichzeitig betont Minister Töchterle stets die Autonomie der Universitäten – schlechtes Zeichen für studentische Mitbestimmung. Zum Abschluss des Hochschuldialogs gab es dann auch nur eine kryptische Empfehlung: „Räume der Mitgestaltungsmöglichkeiten der Betroffenen an Hochschulen und Universitäten sollen konkretisiert werden.“ Aha.

Antidiskriminierung Dieser Bereich bekam von Medien und Politik wenig Aufmerksamkeit. Was in diesem Bereich passiert, hat mit Unibrennt wenig zu tun. Eine Forderung – die Gleichbehandlung von Studierenden aus Drittstaaten – wurde jedenfalls nicht umgesetzt, seit der Reparatur der Studiengebühren Ende 2012 zahlen Drittstaatenangehörige wieder die doppelten Studiengebühren.

Geschichtliche Aufarbeitung Der Lueger-Ring heißt nun Universitätsring.


NUR SCHLAGEN 32

Text: Clara Gallistl Fotos: Alexander Gotter


UND FICKEN Regisseur Ulrich Seidl fand in der Schwelle 7 nicht, was er suchte. Statt dreckiger Sexparties Seminare zur Persรถnlichkeitsentwicklung. Ein ungeschulter Einblick in die Welt des Wiener BDSM.

33


34


35


36

Schmuck-Bondage in der Rotenlöwengasse BARKAS, ein österreichischer Bondage-Künstler, zaubert in erstaunlicher Geschwindigkeit ein Schmuck-Bondage auf Michaels nackten Oberkörper. Da steht er, der breitbeinige Schwergewicht-Champion mit verspiegelter Sonnenbrille in den katakombenartigen Räumlichkeiten der Schwelle 7 und kann sich nicht bewegen. Trotz seiner gut gebauten BDSM-Erfahrung wird Michael heute zum ersten Mal gefesselt. Ein Mann, der dominiert wird, kommt in der Szene selten vor, hatte mir Katharina zwei Tage vor meinem Besuch in der Schwelle berichtet. „Ich glaube, dass das mit dem Männlichkeitsideal “starker Mann“ zu tun hat”, schätzt sie (Mitte 20, wissenschaftliche Mitarbeiterin). Wer dominiert denn nun, Männer oder Frauen? „Unsere Gesellschaft ist dazu ausgelegt, zu folgen und geführt zu werden. Daher gibt es einen großen Bedarf an dominanten Teilen im Spiel“, meint Michael. Sind Frauen, weil im echten Leben eher die Klappe haltend, dann auch im BDSM tendenziell submissiv? „Die SM-Szene ist so stereotyp wie jede andere Szene auch“, meint Katharina. Frauen ziehen sich schneller aus als Männer, spielen öfter miteinander oder zu dritt mit einem Mann. Und Homophobie? „In den meisten Lokalen ist der schnellste Weg für einen leeren Raum zu sorgen, wenn ich einen anderen Mann küsse“, lacht Michael unter seiner Bodyguard-Brille. Der 29-Jährige organisiert in seiner Freizeit ehrenamtlich die Belange der Schwelle 7. Während lesbische Frauen einen Platz in der allgemeinen BDSM-Szene haben, existiert für schwule Männer eine eigene Szene. In der Schwelle allerdings kann alles „wertfrei“ passieren, stellt Michael klar. „Vielen Frauen gefällt das ja auch sehr, wenn

zwei Männer miteinander spielen. Es geht nicht nur den Männern mit zwei Frauen so.“ Auch bietet die Schwelle wie viele Szene-Clubs so genannte „Femdom“-Abende an.

Es geht um die Frage, wie man mit sich und seiner Sexualität so sein kann, wie man ist oder sein will. (Das ist ja nicht immer dasselbe.) Michael

Grow up, get kinky Eine Studie des Journal of Sexual Medicine (August 2013) ergab, dass ProbandInnen, die angaben BDSM zu praktizieren, weniger neurotisch, offener, sicherer in ihrer Beziehung und zufriedener mit ihrer allgemeinen Identität waren als ProbandInnen, die keine Erfahrungen mit Bondage/Discipline/Sadismus/Masochismus hatten. Aus psychologischer Perspektive handelt es sich bei sadomasochistischen Praktiken um eine sexuelle Devianz, bei der ein Mensch Lust oder Befriedigung durch die Zufügung oder das Erleben von Schmerz, Macht oder Demütigung erlebt. Gleichzeitig gehören so manche Fesseltechnik und/oder verbale Spielchen von Erniedrigung und Disziplin durchaus zum guten Ton in heimischen Schlafzimmern.

Ein Sexshop in Paris Kathi (Name anonymisiert) machte ihre ersten Erfahrungen mit Anfang Zwanzig auf Urlaub mit ihrem Freund. „Wir waren in Paris und haben so ein Seil und einen Flogger ge-


kauft. Ich hab dann halt irgendwas mit dem Seil gemacht. Wir wussten beide nicht, was wir da taten. Zum Glück war der Flogger sehr weich.“ Aus Fachliteratur erfuhr sie dann mehr über den Umgang mit Seil und Flogger: „Man darf zum Beispiel nicht auf die Nieren schlagen oder auf die Gelenke. Ins Gesicht nur ganz vorsichtig! Am besten ist immer auf die großen Muskeln, den Hintern also und die Oberschenkel“, erklärt sie. Gemeinsam machte das Paar erste Erfahrungen in der Szene. Nach dem Ende der Beziehung besuchte Kathi auch als Single den Stammtisch des Vereins Libertine (ältester SM-Verein Österreichs, Gründungsmitglied: Hermes Phettberg, auch: Jugend-Stammtisch). So lernte sie Gleichgesinnte in unverbindlichen, offenen Gesprächen kennen und erfuhr nach und nach Genaueres über ihre privaten Vorlieben. „Für mich war die Beschäftigung mit Sexualität eine Möglichkeit, mich mit meiner Weiblichkeit zu versöhnen.“ Früher hatte sich Katharina unter den Blicken anderer unwohl gefühlt, es war ihr unangenehm, als sexy wahrgenommen zu werden. In der Auseinandersetzung mit ihrem Schamgefühl hat sie etwas über sich selbst gelernt: „Wenn mir jemand zusieht und es toll findet, gefällt mir das. Obwohl es mir gleichzeitig auch ein bisschen peinlich ist.“ Dem Zulassen und Nachspüren negativer Gefühle kommt im BDSM ein hoher Stellenwert zu. Noch wichtiger ist jedoch der Begriff des Spiels: Auch durch gender-roleplay und cross-dressing hat die junge Wienerin zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Sich sexy zu verkleiden, empfindet sie als interessantes Spiel mit ihrem kulturellen Geschlecht. Auf High Heels spielt sie so das Mädchen, in kurzen Hosen den schlimmen Jungen. Ihr neuer Freund steht „nicht so auf

SM“. Katharina gibt zu, ihr würde „etwas abgehen, wenn ich mein SM nicht anders ausleben könnte.“ In sexueller Hinsicht führen die beiden also eine offene Beziehung.

SM ist Teil meiner Sexualität und dadurch natürlich auch meiner Identität. Es ist aber nicht mein Lebensinhalt. - Ich fände es tragisch, wenn meine Sexualität mein Lebensinhalt wär. Kathi Zu Ende unseres Gespräches schildert mir Kathi ihre Zwickmühle: Als politische Akteurin sei es ihr wichtig, Tabus zu brechen und sich für eine offene, vorurteilsfreie Gesellschaft einzusetzen. Gleichzeitig sei sie in einem Büro beschäftigt, in dem sich jeder kenne. Ihre Familie und FreundInnen wissen Bescheid, am Arbeitsplatz soll ihre sexuelle Orientierung aber kein Thema werden.

In der Öffentlichkeit falsch verstanden Für Michael ist die Nennung seines echten Namens kein Problem. „Wenn man mich in Google eingibt, kommt sofort die Schwelle 7. Da hab ich gar keine Chance“, lacht Michael Schrems. Als die Schwelle im November 2012 eröffnete, war er sich des Schritts an die Öffentlichkeit bewusst. Dass es vielen SM-lern mit ihrer Neigung anders geht, weiß Michael. „Viele verwenden in Internetforen Nicknames, die sie dann auch bei uns verwenden. Es wird halt in der Öffentlichkeit immer noch falsch verstanden.“ Erst vor ein paar Wochen sei ihm das wieder bewusst geworden. Im Zuge der Recherche

37


für seinen neuen Film über österreichische Keller hat Ulrich Seidl eine Veranstaltung der Schwelle besucht. „Er hat sich ein bisschen umgesehen, ist aber nicht lang geblieben“, erzählt Michael. Vielleicht hat er sich das gedacht, was viele insgeheim denken: Persönlichkeitsentwicklung und Bla Bla Bla und in Wirklichkeit will man sich nur schlagen und ficken.

Das Wiener Angebot: SM-art und Schwelle 7 Grundsätzlich stören mich beim Spielen Blicke nicht. Ich find sie auch ganz schön manchmal, wenn man merkt, dass es jemandem gefällt. Im SM-art sind nur manchmal unangenehme Spanner, weil da halt jeder reindarf. Ein Freund von mir nennt sie „Die Karohemdenträger“. Typ: Single-Männer, 40plus, Karohemd. Die schauen nur. Aber man kann ja niemanden rauswerfen, nur, weil er gafft. Kathi

38

Das Publikum des „offenen Kunst- und Kulturraums“ Schwelle 7 ist im Durchschnitt Ende Zwanzig, mehr als die Hälfte sind AkademikerInnen und sympathisch, offen und interessiert sind alle. Das Profil der Schwelle 7 ist etwas Neues in der Wiener SM-Szene. Neben dem altbekannten SM-artCafé im Sechsten, das sich durch seine Niederschwelligkeit auszeichnet, wirkt die Schwelle selektiver. Während man das SM-art auch als normales Café benutzen kann, muss das Publikum der Schwelle 7 an Türsteher Michael vorbei. „Ich entscheide nach Bauchgefühl, wer reinkommt. Eigentlich kommt jeder rein, aber ich behalte mir das Recht vor, bei Leuten, die so wirken, als würden sie nicht zu uns passen, nachzufragen, auf wessen Empfehlung sie kommen.“ Dass Michael einem Gast den Zutritt verbietet, kommt allerdings äußerst selten vor. „Es kommen ja eigentlich nur Leute, denen jemand von der Schwelle erzählt hat. Und wenn man gerne wo ist, dann erzählt man ja keinen Leuten davon, die man eigentlich nicht da haben möchte, oder?“ Außerdem sortiere schon die Regel 1 bei Betreten der heiligen Kelleräume unpassende Gäste aus. Die „Schuhregel“ besagt, dass die Treppe nach unten nicht mit Straßenschuhen betreten werden darf. „Menschen, die Probleme machen, sind die, die sich für was Besseres halten“, ist Michael überzeugt. Stoße sich jemand an der Schuhregel, sei das ein eindeutiges Zeichen. Schwelle 7 ist ein gemeinnütziger Verein. „Es würde mir komisch vorkommen, damit Geld zu verdienen“, meint Michael. Der Mitgliedsbeitrag, mit dem Miete, Reinigung, Getränke, Snacks und Spielsachen zur Verfügung gestellt werden, kann durch Mithilfe verringert werden. Die Schwelle ist bewusst in flacher Hierarchie strukturiert, um einen möglichst freien, angenehmen und offenen Raum zu gestalten, in dem sich die Mitglieder des Vereins auch sicher fühlen können.

WIE GUT KANN ICH VERTRAUEN?

Michaels Becoming-SM-Story Während eines Urlaubs in Miami lernten Michael und seine Frau auf einer Couchsurf-Party einen Mann kennen, der ihnen nach einem anregenden Gespräch seine Wohnung zeigte, die sich für Spiele hervorragend eignete. Michaels Frau war

begeistert und auch er selbst war fasziniert. Um den sexuellen Wünschen seiner Frau nachkommen zu können, lernte Michael von dem erfahrenen Dom Gesprächs- und Fesseltechniken, Dos and Don’ts sowie allgemeine Regeln für den Umgang mit einem Sub (der submissive Part eines Discipline-Spiels). „Da hab ich mir schon gedacht: Na super, jetzt ist das Arbeit auch noch“, lacht Michael. Was er im Spiel mit seiner Frau schnell lernt: Macht, die nicht auf ökonomischen oder rechtlichen Realitäten beruht, ist nicht leicht zu halten. „Meine Frau war da am Anfang recht ungeduldig. Sie fand mein Spiel nicht überzeugend genug. Wenn es um Sex geht, machen Worte oft mehr kaputt als sie helfen“, ist Michael überzeugt. In Discpline-Spielen geht es darum, den/die Sub „zum reinen Lustgewinn zu dominieren beziehungsweise zu disziplinieren“, schreibt Tim Sondermanns in seiner BDSM-Bibel. Oft steht dabei nicht physischer Schmerz, sondern das Gefühl von Macht oder Ohnmacht, das durch die Hilf- und Wehrlosigkeit des submissiven Teils erzeugt wird, im Vordergrund. Durch befohlene Kleidung (nackt, Hausmädchen), befohlene Körperhaltung (auf Knien, mit gesenktem Kopf) oder verbale Erniedrigungen (Betteln, Bezeichnungen wie Dreckstück, Herr, Sklavin) wird ein Machtgefälle erzeugt, das stimulierend wirken kann.

Jeder verantwortungsvolle Sadist wird das ihm oder ihr entgegengebrachte Vertrauen zu schätzen wissen. BDSM-Bibel, S. 15 Neben der sexuellen Praxis „Discipline“ gibt es auch D/s (Dominance & Submission), das eine ungleichberechtigte Beziehungsform beschreibt. Bei Michael und seiner Frau besteht das Machtgefälle allerdings nur im sexuellen Spiel. „Zuhause sag ich nicht: So, jetzt knie dich hin und wisch den Boden.“ Ihr Beziehungsmodell haben die beiden ihren Bedürfnissen angepasst: „Was die Emotionen betrifft, sind wir monogam. Sexuell darf jeder spielen, mit wem er will. Bevor sie sich das zweite Mal mit jemandem trifft, möchte ich die Person gern kennenlernen, um zu sehen, ob das ein sicherer Umgang ist, ob ich mit der Person einverstanden bin.“ Natürlich müsse man lernen, mit Verlustangst umzugehen: „Könnte mein Partner mit jemandem spielen, der besser ist als ich? Da nehmen viele Leute das Wort LIEBE in den MUND und meinen damit eigentlich etwas EGOISTISCHes. Wenn meine Frau auf Geschäftsreise ist und jemanden kennenlernt, mit dem sie Spaß hat und ich hör dann, wie gut es ihr dabei geht, dann ist das das Schönste für mich.“

Über Grenzen Die Regeln des BDSM sind einfach: Ein Spiel soll sicher, mit gesundem Menschenverstand und nur mit dem Einverständnis aller beteiligten Personen geschehen. „Deshalb sollte ein Spiel auch niemals unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stattfinden“, stellt Michael klar. Vor Beginn des Spiels klar abzusprechen, was man miteinander vorhat und wie lange das Spiel dauern soll, findet er allerdings kontraproduktiv. Als Alternative gäbe es verschiedene Systeme, die sich in der Szene bewährt hätten. Im Ampelsystem etwa könne der submissive Part angeben, wann die definitive Schmerzgrenze „rot“ erreicht sei. Ein Codewort kann jedes Spiel sofort beenden.


39


„Dabei soll man sich natürlich kein Codewort wie STOP ausmachen. Das sagt man leicht, ohne es wirklich zu meinen.“ Also besser PFERD oder OMA? „Zum Beispiel“, lacht Michael, „International anerkannt ist zwar MAYDAY, aber jeder, wie er will“. BDSM ist kein Spiel, das man an einem Punkt „verstanden“ haben kann, ist Michael überzeugt. „Die Frage ist: Traue ich mich, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen?“ Es gehe um Erfahrung, um das Kennenlernen eines Menschen durch nonverbale Kommunikation. „Wenn man aufmerksam genug ist, dann spürt man, wann ein Spiel vorbei ist.“ Aus der Auseinandersetzung mit BDSM hat er viel über sich selbst gelernt. Seine Lebenseinstellung „Man muss im Leben alles zweimal ausprobieren“ habe ihn schon oft zu überraschenden zweiten Eindrücken geführt. Zum Beispiel, dass ein Spiel auch auf geistiger Ebene befriedigend sein kann. „Es hat mich überrascht, dass ich nicht im herkömmlichen Sinn gekommen bin, es hat sich aber genau gleich angefühlt.“ Auch für Kathi ergab sich die Erfahrung der Grenzverschiebung: „Es gibt so viele Dinge, bei denen ich mir sicher war, dass es mir nicht gefallen wird, bis ich es ausprobiert habe.“ Für Katharina sind das Deep Throating und die Erfahrung, die submissive Rolle zu genießen. „Die Faszination entsteht aus der Kontrolle, die man aufgibt und an dem großen Vertrauen, das man der anderen Person entgegenbringen muss. Hängebondages zum Beispiel sind für mich nicht im selben Sinn erotisch wie wenn mich jemand streichelt oder küsst“, erzählt Katharina. Die Grenze zwischen VANILLA („normalem“ Sex) und kink wird brüchig: Ist Rückenkratzen schon SM? „Die Grenzen sind immer sehr schwammig. Man kann entweder die allgemeinen kulturellen annehmen oder sie persönlich definieren“, meint Kathi.

WAS MÖCHTE ICH?

40

Was tun bei Sex-Unfällen? Warum hat man nicht einfach härteren Sex zuhause, sondern spielt halb-öffentlich vor fremden Menschen? „Naja, viele mögen das Publikum. Dann gibt es welche, die gerne mit mehreren Partnern spielen. Für manche Spiele braucht man auch Haken an der Decke oder eine ähnliche Ausstattung. Das hat nicht jeder zuhause. Und dann kann es auch sein, dass man nicht mit seinem Partner aus der Primärbeziehung spielt. Mein Freund würde es zum Beispiel nicht wollen, dass ich mit jemandem in unserem Schlafzimmer spiele.“ Die BDSM-BIBEL weist zusätzlich auf die rechtliche Absicherung hin, aus deren Perspektive das Publikum zum Zeugen des Einverständnisses wird, und stellt gleichzeitig fest: „Missbrauch, sexuelle NÖTIGUNG, Vergewaltigung, Brutalität oder Zwangsprostitution haben nichts mit SM, Dominanz und Unterwerfung zu tun.“ Es gehe allein darum, eigene Phantasien und Wünsche in einem sicheren und vertrauenswürdigen Rahmen ausleben zu können. „Wenn zwei erwachsene Menschen miteinander spielen, gibt es fast keine Grenzen.“ Natürlich sei jede Art der Körperverletzung strafbar. Deshalb sei es wichtig in Gesellschaft zu spielen: Das Einverständnis, in dem Körperverletzungen oder Freiheitsberaubungen passieren, kann nämlich auch im Nachhinein zurückgenommen werden. Anzeigen können allerdings nur von derjenigen Person eingereicht werden, die das Ver-


gehen erlitten hat. SAFE, SANE und CONSENSUAL also. „Obwohl“, sagt Katharina dann, „es gibt da noch was, das nennt sich RAC.“ Bei Cuttings mit bleibenden NARBEN etwa, oder dem Aufhängen des eigenen Körpers an Haken, die durch die Haut gebohrt werden, handelt es sich um keine „sicheren“ Praktiken. RAC = risk aware consensual. „Sei du selbst, äußere Vorstellungen und Ängste klar und versuche, jemanden zu finden, der diese mit dir zusammen ausleben möchte“, rät Tim Sondermanns. Wie der Autor der BDSM-Bibel rät auch Kathi im ersten Interesse einen Stammtisch zu besuchen. „Da macht man nichts, sondern spricht nur über seine Phantasien und VORLIEBEN“, erklärt sie. Auch für Jugendliche ist es wichtig, über sexuelle Vorlieben zu diskutieren, um körperlichen oder seelischen Verletzungen durch sorglosen Umgang oder Unwissenheit vorzubeugen. Im Gegensatz zur Realwelt setzen Erniedrigungen im BDSMBereich Einverständnis und Einfühlungsvermögen voraus. Ziel ist nicht die Zerstörung des Selbstwerts einer Person, sondern ein Spiel, das Spaß machen soll.

WER MÖCHTE ICH SEIN?

Auch im Berufsleben Michael, der nach eigenen Angaben immer ein selbstbewusster Typ war, hat aus seinem Interesse für BDSM auch für sein berufliches Selbstverständnis viel gelernt. „Du bekommst ein relativ gutes Gefühl, wie Leute drauf sind und wie man mit ihnen umgehen muss.“ Auf Grund seiner aktiven und passiven Erfahrung mit den Verhaltensweisen Dom und Sub im Spiel erkannte er in einem Vorstellungsgespräch die Bedürfnisse seines Gegenübers. „Der ARBEITGEBER wollte einen selbstsicheren Macher.“ Michael hatten den Eindruck, sein Szenenwissen gezielt einsetzen zu können.

Auch bei Gehaltsverhandlungen! - Wenn sich irgendwo die Frage stellt: Kann ich da meine Meinung einbringen? beginnt es bei der Körperhaltung und die brauche ich ja auch im Spiel. Wenn ich einen Partner habe, der dominiert werden möchte und ich stehe mit hängenden Schultern vor dem und ich sag dann noch: Kö - Könntest du vielleicht das und das machen? Das funktioniert einfach nicht. Michael

Machos sind keine guten Doms Im BDSM, erklärt Michael, gehe es um ein „bewusstes Spiel miteinander“. Ziel dieser „Philosophie der sinnlichen Kommunikation“ sei die „Entwicklung der eigenen Persönlichkeit durch höhere Aufmerksamkeit im Umgang mit sich selbst und mit anderen. Es gibt wenig echte Doms, die Arschlöcher sind, weil man als Dom sensibel für die Signale des oder der Untergebenen sein muss, was bei Zweitgenannten durch egoistisches Handeln übergangen wird. Machos und Doms erscheinen vielleicht auf den ersten Blick ähnlich. Das hat aber nichts miteinander zu tun.“ Er selbst übernehme eigentlich immer den dominanten Part, obwohl er auch das submissive „NACHGEBEN sich fallen lassen“ gerne weiter lernen würde.

41


„Ich muss auch nicht alles ausprobieren.“ Kathi lebt ihren SM nach ihren eigenen Regeln.

42

Ich bin noch auf der Suche nach der richtigen Spielpartnerin, die im gemeinsamen Spiel zeitweise die Kontrolle übernehmen kann. Dominieren bedeutet ja eigentlich den Dienst am Untergebenen. Und dann gibt es ja auch noch topping from the bottom (als Sub den Ton angeben, Anm.)! Das ist ein spannendes REPERTOIRE, natürlich auch im Berufsleben. Michael Wenn ich als Dom öffentlich gespielt habe, stand ich unter dem Druck, funktionieren zu müssen. Ich habe so viel im Punkt Selbstvertrauen gelernt, weil ich mich überzeugend vor anderen präsentieren musste. Kathi Im BDSM ist Macht ein Spiel. Vor Beginn macht man sich aus, wer der/die Mächtige und wer der/die Ohnmächtige sein möchte. Was in der Realwelt unter anderem aus Intransparenz zu Unterdrückung führt, wird im BDSM durch TRANS-

PARENZ zur Erfüllung ehrlicher Wünsche. Ob als eremitische Teilnehmerin eines Vipassana-Seminars, Kundin eines LIFECOACHING-Kurses oder als Sklave im Keller eines Szenelokals: Die Beschäftigung mit dem eigenen Bewusstsein tut und ist gut. Wie weit man seine Grenzen dabei ausreizen möchte und ob man den Weg zu sich selbst über die Route der Sexualität nimmt, bleibt die Entscheidung der handelnden Personen. BDSM jedenfalls ist nicht den ungepflegten Karohemden aus vorurteilsbehafteten Vorstellungen vorenthalten. Auch auf junge, attraktive AkademikerInnen üben die Philosophie und die Praxen des Bondage/Discipline/Sadism/Masochism durchaus Faszination aus. Vielleicht kann man sich was abschauen von den Regeln hinter dem perversen Spiel aus all dem Schlagen und Ficken. •

Bei Interesse, zum Einstieg: „Die BDSM-Bibel“, Tim Sondermanns (2007) „Das SM-Handbuch“, Matthias Grimme (2004) Ein Stammtischbesuch bei der Libertine (www.libertine.at)


„Nach einem langen Arbeitstag werd ich jetzt nicht mehr großartig die Uniform auspacken.“ Michael hat manchmal auch keine Lust auf kinky sex.

43


Laut UNHCR haben seit Beginn des Konflikts zwei Millionen Menschen Syrien verlassen, 168.000 sind in den Irak geflüchtet. Im Quru Gusik Camp, 20 Kilometer östlich von Erbil im irakischen Kurdengebiet, leben zurzeit 15.000 - 20.000 Flüchtlinge. Der Fotograf Flo Smith hat mehrere Lager im Irak besucht. Seine Fotos zeigen Momente vom Leben auf der Flucht.



Eine aus Syrien gefl端chtete junge Frau berichtet einem Arzt 端ber die Folgeerscheinungen der harten Flucht. Das Vorzeige-Camp der UNHCR bietet gute medizinische Versorgung.


Bewacht von Peshmerga-Soldaten (irakisch-kurdische K채mpfer) werden im Quru Gusik Camp t채glich Hilfsg체tern verteilt. Eis wird verwendet, um Trinkwasser zu k체hlen.


Mit groĂ&#x;en BetonrĂśhren soll die Kanalisation im Camp ausgebaut werden.


In den vergangenen Wochen wurde die Infrastruktur im Camp ausgebaut. Es gibt Friseure und H채ndler, die Zigaretten, Waschmittel und Satellitensch체sseln verkaufen.


Andere Camps m端ssen ohne Hilfe der NGOs auskommen. Im Qushtapa Park, zehn Kilometer s端dlich von Erbil, lebten mehr als 1.000 Menschen 端ber Wochen ohne Zelte, Toiletten, oder Wasserversorgung.


Wegen Wassermangels kommt das Wäschewaschen meistens zu kurz. Ăœber mehrere Wochen waren die Menschen im Park auf sich selbst gestellt. Abgesehen von Lebensmitteln, die sie vom BĂźrgermeister von Qushtapa erhielten.


Ein 채lteres Ehepaar mit ihrem behinderten Sohn. In solchen wilden, kaum betreuten Camps wohnen oft deutlich mehr behinderte, kranke und politisch aktive Menschen.


Anfang September wurden die Menschen aus dem Qushtapa Park und weitere 6.000 in der Umgebung lebende Fl端chtlinge von der UNHCR in ein offizielles Camp verlegt.


UNI BRENNT. Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches

Ein Panoptikum, das mal gebildet abgehoben, mal am Boden geblieben, mal tiefgründig, mal seicht, mal prominent, mal unbekannt den Bildungsprotest von 2009 beschreibt, wie er war: eine Klaviatur an unterschiedlichsten Menschen und Meinungen. Das Buch ist das, was der Kinofilm hätte sein können. Herausgegeben von Stefan Heissenberger, Viola Mark, Susanne Schramm, Peter Sniesko und Rahel Sophia Süß.

Imagin‘ Audimax

Die anfängliche Naivität ist einer nüchternen Reflexion gewichen, die Besetzung wird postum erklärt; unibrennt aber nicht für tot erklärt. Ein Film von AG Doku und film:brennt Team.


Angelika: Ich wurde erstmals politisiert. Es war total spannend, so viele Leute aus den linken Spektren kennenzulernen, viele davon sind heute noch gute Freunde. Dass die Uniproteste noch zu keinen direkten Ergebnissen geführt haben, zeigt die absolute Unfähigkeit der Politik.

55

Christof: Alle die dabei waren - egal ob für oder gegen die Besetzung - haben profitiert. Meine Vorstellung von der Integrationsfähigkeit von Politik und Gesellschaft ist besser und bunter geworden. Ich wurde aber auch desillusioniert, was den intellektuellen Horizont der österreichischen Politlandschaft betrifft - das Konzept der Utopie ist vielen PolitikerInnen schwer begreiflich.

Dagmar: Es zumindest einige kleine Verbesserungen in Studienplänen gegeben. Die Situation wäre ohne unibrennt wohl noch schwieriger, als sie jetzt ist. Mich hat unibrennt dazu motiviert politisch aktiv zu sein und für ein kritisches und solidarisches Studium zu kämpfen.


Zur alljährlichen Fête Blanche werfen sich geschätzte 30.000 Partywütige an einem Juliabend in weißes Gewand und pilgern an den Wörthersee. Den steinigen Weg vom Society-Treff hin zum Riesenevent beschritt die Fête Blanche gemeinsam mit dem System Haider. Eine Reportage über Politik, Geld und Alkohol. Text und Fotos: Johannes Korak



„Kleinere Größen haben wir nicht mehr!“ In der beliebtesten Klagenfurter Einkaufsmeile sind weiße Kleidungsstücke rar. Die Auslagen sind leer geräumt, nur Restgrößen können noch ergattert werden. Denn morgen steigt die Fête Blanche und da ist nichts so wichtig wie die Farbe der Kleidung. 30.000 Menschen in extra erstandener weißer Kleidung, das ist die Fête Blanche am Wörthersee. Die meisten kommen aus Österreich, viele aber auch aus Italien und Slowenien. Partyopportunisten vermischen sich mit TouristInnen, die heimische Wirtschaft brummt. In den letzten Jahren wuchs die Fête kontinuierlich. Zeitgleich wurde Jörg Haider

58

Kärntner Landeshauptmann. Nach dessen Tod übernahmen Gerhard Dörfler, Uwe Scheuch und Harald Dobernig 2008 seinen desaströsen Politikstil. Zum Markenzeichen der Haider-Ära avancierte die zunehmende Personalisierung der Politik. Der freiheitliche Landeshauptmann und seine treuen Begleiter grinsten aus Inseraten und Fernsehwerbungen, die zum Teil aus Landesmitteln finanziert wurden. „Gerhard. Uwe. Harald. - Wir passen auf dein Kärnten auf. Garantiert“. Später mussten Gerichte Kärnten vor den selbsternannten Aufpassern auf den BZÖ-Wahlplakaten schützen. Die Selbstinszenierung Haiders und dessen Nachfolger weitete sich auch auf gesellschaftliche Events aus. Ein Beispiel: die Fête Blanche am Wörthersee.


Der frühe Vogel Der Abend beginnt zeitig. Die Sonne dringt noch in alle Ecken des Wörthersees und der typische Sommerregen, der zur Fête Blanche gehört wie die Zitrone zum Tequila, bleibt heute aus. Schon am Nachmittag sind die ersten weißen Gestalten auf den Straßen Pörtschachs unterwegs. Kinderwagen stauen sich um die Wette. Dazwischen hyperaktive Kids in weiß, die ihren Eltern den letzten Nerv rauben. Überhaupt: eine NichtFarbe ist omnipräsent. Die Auslagen an der Hauptstraße ersticken vor weißen Kleidungsteilen, jedes Restaurant oder Café schmückt sich mit weißen Girlanden. Modische Individualität oder alternative kulturelle Ausdrucksformen sind heute fehl am Platz. Alles muss weiß sein. Weiß, weißer, am weißesten. Entlang des gesamten Wörtherseenordufers wird heute gefeiert. An das Massenphänomen Fête Blanche haben sich auch andere Veranstaltungen angeschlossen. Die „White Nights“ in Velden und die Partyreihe „Glamour in White“ im Pörtschacher Schloss Miralago sind zwei davon. Hier wird der exklusive Charakter der Festivität aufrechterhalten und die Idee einer feiernden Elite konserviert. Das gelbgestrichene Schloss Miralago versteckt sich mit seinen Türmchen hinter einem Zwei-Meter-Zaun, begrünten Bäumen und vielen Sportautos. Die betuchten Gäste werden mit Prosecco begrüßt, ein Gesamtpaket für den Abend kostet 139 Euro - inklusive 4-Gänge Gala Dinner und Boots-Transfer nach Velden. Hier geben sich heute die „Schönen und Reichen“ die Klinke in die Hand. Seit 2006 wird der „Glamour in White“ vom Nationalratsabgeordneten Stefan Markowitz veranstaltet, Sprecher des Team Stronach (früher BZÖ) für Jugend, Entwicklungszusammenarbeit, Behinderte, ArbeitnehmerInnen, Kunst und Kultur, Forschung und weitere Bereiche.

Die 20-jährige Studentin Suni sieht ihre weiße Kleidung als Mittel zum Zweck, weil ihr sonst der Eintritt verwehrt wird. Außerdem meint die Studentin, dass der persönliche Anpassungswille jedes einzelnen Gastes heute besonders auf die Probe gestellt wird. Ganz unkritisch ist sie aber nicht: „Ich finde es besser, wenn sich jeder nach seinem eigenen Wohlbefinden anziehen kann und nicht in eine Farbe oder in ein Muster gequetscht wird.“ Aus Stunden werden Minuten und mittlerweile verbirgt die Nacht alles, was nicht weiß oder beleuchtet ist. Unter den StudentInnen werden Aufbruchsdiskussionen tunlichst vermieden. Angenehme Temperaturen unter freiem Himmel und interessante Gespräche locken mehr als die weiße Masse. Nur die ganz Hartgesottenen brechen trotzdem auf.

Pörtschacher Gaude Hauptaustragungsort der Fête Blanche ist der Monte-Carlo-Platz in Pörtschach. Die Namensgebung weist mehr oder weniger subtil auf ein gesellschaftliches Vorbild hin. Betrunkene, weiße Silhouetten zieren den Platz. Die modische Homogenität der BesucherInnen lässt sie als einen einzigen großen weißen Farbklecks erscheinen. Bis auf die erkennbaren Altersunterschiede verlieren sich die Augen im menschlichen Einheitsbrei. Anwesende können einander nicht unterscheiden, besondere Kleidungsmerkmale haben als Orientierungshilfe ausgedient. Der Alkohol erledigt den Rest.

Berauschende Vorbereitungen

Ein akustischer Mantel liegt schwer auf dem Platz. Industrielle DJ-Musik mischt sich mit einer Live-Coverband, die Gäste schreien sich gegenseitig an. Gespräche sind kaum möglich, aber der Kommunikationswille hält sich sowieso in Grenzen.

Neben den Schickimickis des Wörthersees feiern auch StudentInnen mit. Sie schleppen Weinflaschen, Bierdosen und Diverses von zu Hause an, denn die hohen Getränkepreise auf dem Festgelände schrecken ab. Das Vortrinken einer kleinen Gruppe findet in einem überschaubaren Privatgarten nahe des Bahnhofs statt. Der grasgrüne Tischtennistisch wird zur Spielfläche eines Beer-Pong-Turniers, daneben werden die mitgebrachten Alkoholika mit Eiswürfeln gekühlt. Alles erinnert an das Motto: „Schen onziagn, schiach wegstölln.“ Bis auf die Outfits der Anwesenden und die Farbe der Hausmauern ist Weiß verhältnismäßig unterrepräsentiert. Keine weißen Tischdekorationen, keine weißen Girlanden an den Mauern. Nur die Plastikbecher mussten sich nicht extra umziehen. Aus der Ferne schwebt dumpfe Musik wie ein Damoklesschwert über der studentischen Runde und erinnert an den Trubel der Fête Blanche.

Der Monte-Carlo-Platz ist von Gastgärten umgeben. Von dort sind die umherlaufenden weißen Figuren am besten zu beobachten. Auch Uwe Scheuch hat sich im Restaurantbereich mit einem Getränk versorgt und beobachtet das Geschehen. Fünf Kilometer weiter tanzt sich Stefan Petzner im Casineum Velden die Füße wund. Nur zwei sich vergnügende und feiernde Menschen? Zweifel breitet sich aus – die Fête Blanche als beruhigender Honig, der den KärntnerInnen ums Maul geschmiert wird, um deren Einverständnis zu einer steuerverschwendenden, korrupten und kriminellen Politik zu ergattern. Wahl für Wahl, Kreuzerl für Kreuzerl. Den jungen BesucherInnen liegen solche Gedanken fern. Für den 18-jährigen Schüler Luca ist das alles ganz normal: „A Fest für weiße Leit, so gsegn.“

59


Die Deutsche Studentin Frauke (20) „fände es cool, wenn es so was auch in Deutschland geben würde.“ Auch die Wienerin Anna, ebenfalls 18 Jahre alt, findet die Fête Blanche „wundervoll“. Das Fest sei das genaue Gegenteil zu einer Beerdigung und ein Identitätsverlust nicht zu befürchten. „Weil jedes Kleid und Dressing ist ja individuell.“ Gedanken an das Fest, dessen Anlass oder die Kleidungsvorschriften werden nicht verschwendet. Auch die Bedeutung einheitlicher Kleidung wird kaum kritisch hinterfragt. In der Zeitgeschichte hatte die modische Kennzeichnung von Personen oft nicht das Ziel, sich pseudoelitär von der Masse abzugrenzen. Stattdessen wurden besondere Kleidungsmerkmale geschaffen, um zwischen der hegemonialen Mehrheit und „den Anderen“ klar differenzieren zu können. Die Ausgegrenzten wurden an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und verachtet.

60

Gegen zwei Uhr morgens entstehen langsam Risse in der weißen Einheit. Die weiße Nacht neigt sich dem Ende zu, Aufbruchsstimmung macht sich breit. Am Straßenrand verweilen müde Jugendliche, die sich an Tschick und halb vollen Plastikbechern festhalten. Verzerrte Gesichtsausdrücke lassen auf einen ungenießbaren Zustand der Getränke schließen. Ab und zu stürmen noch tanzende und berauschte weiße Geister vorbei an den ermüdeten Teenies. Weiterfeiern in der Diskothek Fabrik oder nach Hause ins Bett? Das ist die allesentscheidende Frage.

Was kostet die Welt Die Straße vor der Fabrik ähnelt einer Einkaufsschlange beim Supermarkt. Die Shuttlebusse und PKWs wollen schnell ihre humane Lieferung abladen und weiterfahren. Der strahlend weiße Vollmond taucht die Feiernden in passendes Licht. Im Eintrittsbereich knirschen Glassplitter zerbrochener Sekt-, Wodka-, Wein- und Bierflaschen unter den Schuhen. Der Eintritt kostet zwischen 22 und 109 Euro und entscheidet über den Zugang zu den verschiedenen Bereichen. In den ehemaligen Fabrikshallen herrscht eine klassische Klubatmosphäre. Elektronische Musik gibt den Takt an. Verschwitzte Partywütige in unterschiedlichen Rauschzuständen bahnen sich ihren Weg durch die weiße Masse, suchend nach der nächstgelegenen Bar, FreundInnen oder Klo. Eine Treppe führt in den VIP-Bereich, der aus einer

Ansammlung von Balkonen mit Blick auf die Tanzflächen besteht. Vereinzelte Tischchen werden von bereits geleerten überdimensionierten Wodkaflaschen geschmückt, denn bis zwei Uhr waren alle Getränke im VIP-Bereich gratis. Die Ironie ist förmlich greifbar. Im unteren Teil feiern die normalen Gäste, die Euro für Euro in ihren Alkoholzufluss investieren müssen. Währenddessen sehen die räumlich abgehobenen VIPs von oben herab und genießen ihre freien Getränke. Um drei Uhr Früh beginnt der Fête Blanche-“Stargast“ DJ Antoine in der Fabrik aufzulegen. Die Meute ist begeistert, als der Schweizer seine Radiohits abspielt. Die stickige, hitzige, laute und enge Atmosphäre verstärkt ihren Würgegriff und schlingt sich um ihre ersten Opfer. Vereinzelt laufen die BesucherInnen nach draußen, um frische Luft zu schnappen und ihre müden Beine auszuruhen. Der Freiluftbereich ist voller Bierflaschen, streitender Paare und Jugendlicher, die über ihren Durst getrunken haben. Viele von ihnen halten sich hier nicht lange auf und brechen verfrüht den Heimweg an. Für sie endet eine lange und berauschende Nacht. Die übrig gebliebenen Gehirnzellen und die wunden Füße danken es ihnen. Der qualvolle Kampf mit dem hässlichen Kater beginnt.

Resümee? Die Fête Blanche bewegt sich zwischen High Society, partymotivierten Jugendlichen und einer freiheitlichen Selbstinszenierungspolitik. Gerade letztere hat das Event mit eiserner Faust umschlungen und dem Aufstieg des weißen Imperiums den Weg gewiesen. Überall blitzt die Macht Einzelner über die Masse hervor. Gesellschaftliche Leitfiguren feiern die Fète Blanche im Schloss Miralago und in der Oberetage der Diskothek Fabrik. Politiker wie Petzner, Scheuch und Markowitz mischen sich unter das Fußvolk oder schaffen die Rahmenbedingungen für die feiernde Elite. Ihre alljährliche Präsenz bestätigt, dass sie weiterhin die Personalpolitik Haiders vorantreiben und brav im Sinne ihres politischen Ziehvaters agieren. Am Ende ist der Pörtschacher Ortskern menschenleer. Zurück bleibt ein unüberblickbarer Scherbenhaufen. Auf der Straße wie in der Landespolitik. •


61


Kolumne ///////////////////

//////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Look at me, says lucky Khaleesi and leaves Clara Gallistl

62

E

s wird Abend. Auf der Route 66 geht es Richtung Sonnenuntergang. Hinter trockenen Gräsern und einsamem Asphalt tun sich am Horizont mächtige Felsklüfte auf. Lucky Luke hat mich als gleichberechtigte Partnerin ein Stück mitgenommen; gemeinsam lösen wir stumm-souverän die Probleme der Gesellschaft. Wir schlafen unter freiem Himmel, ernähren uns von gebackenen Bohnen und Speck. Wir trinken heißen Kaffee und gelegentlich ein Glas kalten Whiskys. Den Zuspruch der Meute brauchen wir nicht, auch keine Sicherheiten und kein Geld. Mit krummem Rücken und gedrückter Stimme liegt ein Wollknäuel Mensch zwischen Decke und Leintuch. Versteckt unter Pölstern auch alte Zertifikate, Arbeitserlaubnis, Empfehlungsschreiben, Bewerbung, Absage, Anmeldung, freier Dienstvertrag, geringfügige Anstellung, Zeugnis, wissenschaftliche Arbeit in dreifacher Ausfertigung, Beglaubigung, Tätigkeitsbeschreibung, Führerschein, Zusatzqualifikation, Anrechnung, Abrechnung, gepflegtes Äußeres, offene Persönlichkeit, Bereitschaft für Überstunden und ein hoch engagiertes Team. Zugegeben, es müffelt ein bisschen unter der Decke. Der Fernseher läuft seit Stunden und schlägt mittlerweile von selbst vor, sich abzuschalten. Da sag ich mit Entschiedenheit: Nein! Ein Plüschteddy mit recht freundlichem Gesicht hat in den frühen Morgenstunden (den blauen!) heimlich auf meinem Nachttischchen Platz genommen. Um sieben Uhr weckt er mich – zärtlich: „Wir melden uns bei Ihnen nach Ablauf der Bewerbungsfrist. Oder nicht.“ – „Guten Morgen, Teddy Fred!“ Ich strecke die Fäuste in den Himmel und beachte bewusst die milde Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Für einen Moment sitze ich auf einer Parkbank weit oben an den Klippen von Dover und sehe hinunter übers weite

Meer hinweg. Offenen Auges spüre ich den Adler, der auf meiner nackten Schulter Platz genommen hat. Seine Krallen zwicken ein wenig, aber das ist okay. Liebevoll reibt er seinen Kopf an meiner Wange. Frischen Kaffee in meine Game of Thrones-Tasse (schwarz innen und außen Khaleesi vor weißem Pferd. Ich sehe sie von rechts, offene Haare, nackte Schulter. Ihr Blick sagt: Ich sehe zwar verdammt gut aus, aber das ist mir egal. Was zählt, sind die inneren Werte. Lieber ein gutes Buch gelesen als das hippe Shirt geshoppt.). Laptop-Deckel geöffnet. Jeder Reiter trägt ein Jobangebot vor mich hin und ich – UNZUFRIEDEN – klappe zu und sehe fern. Da stürmt Khaleesi auf einem weißen Mustang herein, ein Sturm zieht auf, die Wolken verfinstern sich, durch einen Schlag ihres Schwertes zerbirst mein TV-Gerät, meine Wohnung hat jetzt ein Loch, durch das ich hinaus in den Innenhof sehen kann. „Was willst du denn?“, fragt sie mich. Ich schreie: „Weiß ich doch nicht – !“ Ein Mensch will ich sein! Kein Fetischobjekt für einen Arbeitgeber. Keinen Catsuit anziehen und tanzen für zwölf Euro die Stunde. Ich will Verantwortung haben und kreativ sein. Ich will, dass man mir was zutraut und mir auf Augenhöhe begegnet und – ich will nicht gratis arbeiten müssen – und: Ich will eine Festanstellung! „Na dann!“, sagt Khaleesi und zeigt auf den schwarzen Rappen an ihrer Seite. Während ich mich für einen Moment in seinen schönen Augen verliere und ihm langsam über die Nüstern streichle, gesellt sich Lucky Luke zu uns. Die Prärie ist heiß, der Weg nicht lang. Im Wilden Westen angekommen trage ich mein Anliegen dem stammältesten Sheriff vor. Der vernarbte alte Mann spuckt aus und meint: „Na gut. Dann mach das doch. Aber jetzt zum Wichtigen: Wie sieht’s denn in der Liebe aus?“ •


///

Eine Stadt, drei Leben

Text: Jakob Arnim-Ellissen Illustration: Moritz Stetter Fotos: Christopher Glanzl

Es gibt nur eine Stadt in Österreich: Wien. Alles andere ist Dorf. Und im Dorf wollte ich auf keinen Fall bleiben. So zog es mich gleich nach der Matura nach Wien. In eine Stadt, in der auch ein großer Teil meiner Familiengeschichte spielte. In der mein Vater und mein Großvater als junge Männer lernten, arbeiteten und Familien gründeten. Gemeinsam mit ihnen mache ich mich auf die Suche – nach ihrer Vergangenheit und meiner Gegenwart.


Kapitel I: 1977 - 1980 Studium – Universität Wien

64

Ganz hinauf geht es. In den letzten Winkel irgendwo über der Bibliothek. Ein Mal hat es mich zuvor hierher verschlagen, für eine einzige Vorlesung meines Politikwissenschaftsstudiums. Mein Vater hat hingegen viel Zeit hier verbracht. Theologische Fakultät. Hörsaal 47. Wir betreten den Raum und ... okay, Theologie, Kreuz an der Wand, irgendwie klar. Aber das hier ist nicht das kleine Holzding, das ich noch aus meiner Schulzeit kenne. Das hier ist das volle Programm. Überdimensional mit riesigem Jesus. Auf meiner Universität hätte ich das nicht erwartet. Überhaupt, der ganze Raum hier strahlt ein mir ungewohntes Hierarchiebewusstsein aus. Das umzäunte Podest vor der Tafel trennt Vortragende und Studierende, erhebt den Einen über die Vielen. Die ersten Reihen müssen hinaufblicken, wie auf eine Kirchenkanzel. Doch jetzt ist der Raum leer und ich habe Zeit nachzufragen: Warum studiert jemand Theologie, der in seiner Kindheit die Kirche von ihrer schlimmsten Seite erfahren hat? Der in einem katholischen Internat psychisch und physisch misshandelt wurde? Eigentlich eine offensichtliche Frage, auf die mich aber erst dieser Raum gebracht hat. Die Antwort? Es sei eine Art Therapie gewesen. Der Versuch herauszufinden, wie er mit all dem umgehen solle. Und das letztendlich auch erfolgreich, sagt er. Letztendlich hat er das Theologiestudium nicht beendet, ist Jahre später mit einem Umweg über die Evangelischen aus der Kirche ausgetreten. Doch heute interessiert mich vor allem seine Studienzeit. War die Vergangenheit in katholischen Privatschulen – die doch sicher einige StudienkollegInnen teilten – ein Thema unter den Studierenden? Das Gespräch kommt ins Stocken. Es fällt mir schwer, seine Antworten wirklich nachzuvollziehen. Er spricht von einer Verdrängungskultur, zieht Parallelen zur lange ausgebliebenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und landet so bei einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Ich höre: Nein, es war kein Thema in seinem Theologiestudium, das doch eine Therapie gewesen sein soll. Und habe das Gefühl, er will die katholische Kirche irgendwie verteidigen.


Arbeit – Kulturzentrum WUK Mit der ehemaligen Lokomotivfabrik in Alsergrund verbinde ich Konzerte, Public Viewing während der Fußballeuropameisterschaft und die Redaktionssitzungen eines Zeitungsprojekts, für das ich mich seit den unibrennt-Studierendenprotesten engagiere. Mein Vater war hier Religionslehrer. Neben dem Theologiestudium begann er mit Anfang 20 im Technologischen Gewerbemuseum (TGM) zu unterrichten, einer HTL, die in dem orangen Backsteinbau untergebracht war. Im früheren Vorzimmer des Schuldirektors – mit Blick auf den Biomarkt im Innenhof – erzählt er von seinem Einstellungsgespräch, nach dem er mit der Sekretärin losgeschickt wurde, sich einen Anzug zu kaufen. Schließlich werde hier für die Wirtschaft ausgebildet. Er ließ sich von der Sekretärin zwei Anzüge ihres verstorbenen Vaters schenken, in denen er zu unterrichten begann. Er war kaum älter als seine Schüler. Wenn mein Vater davon erzählt, klingt das alles ein bisschen nach dem Klub der toten Dichter. Nur dass hier der Lehrer auf den Tisch stieg, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, weil ihn alle für einen neuen Mitschüler hielten. War die Lehrerkarriere ein langfristiger Plan? So ganz kommt das nicht raus. Denn eigentlich habe er immer Journalist werden wollen. Unterrichten sei ein Versuch gewesen, der zwar Spaß gemacht, aber immer ein Ablaufdatum gehabt habe. Allerdings erzählt er auch, dass diese Option erst mit seiner Scheidung ganz vom Tisch gewesen sei. Wir fahren gemeinsam auch noch in das heutige TGM. Bald nach seinem Beginn als Lehrer übersiedelte die Schule in einen fünfzehnstöckigen, schwarzen Betonblock in der Brigittenau. Von außen ein einschüchternder Koloss, wirkt er von innen noch erdrückender. Vielleicht liegt das an der Raumhöhe, der Enge, der reinen Funktionalität. Vielleicht aber auch nur an den Erinnerungen, von denen mein Vater erzählt. Kurz nach der Übersiedelung stürzte sich einer seiner SchülerInnen aus dem 12. Stock in den Hof. Ein vom Ministerium geschickter Psychologe erklärte der LehrerInnenkonferenz, dass sie bei dieser SchülerInnenzahl, dem Schultyp und der Architektur in Zukunft wohl öfter mit so etwas rechnen müssten. Und der Mathematiklehrer ließ die Klasse ein paar Tage später die Aufprallgeschwindigkeit des Jungen berechnen. Heute sind die Fenster des TGM gesichert.

65


Familie – Cafe Hawelka

66

Es ist einer dieser Touristenorte, bei denen man stolz ist, noch nie dort gewesen zu sein. Aber damals – als Danzer seinem Nackerten zuschaute und der Qualtinger Buchteln verdrückte – da wäre man dann doch gerne dabei gewesen. Und mein Vater? Der entzückte Frau Hawelka damit, dass er in ihrem Lokal mit einem Studienkollegen spätnachts eine Messe vorbereitete. Langsam wundert es dann doch, dass es mich überhaupt gibt. Wien sei damals anders gewesen, sagt mein Vater. Also anders als heute. Alles dicht um zehn, das Hawelka eines der wenigen Lokale, die länger offen hatten. Überhaupt sei die Stadt früher viel weniger offen gewesen. Und dann verlieren wir uns in Anekdoten, vom Schilderklau vorm Hawelka (Beweise gibt es dafür allerdings keine mehr, angeblich sind die bei einer damaligen Flamme geblieben) bis zur nächtlichen Razzia in der Wohngemeinschaft, die angeblich irgendwas mit der Palmers-Entführung zu tun gehabt hatte. Wirklich lange kann die wilde Studentenzeit in Wien aber nicht gedauert haben. Denn noch vor seinem 26. Geburtstag war mein Vater verheiratet und hatte zwei Töchter. Kurz darauf kam ich zur Welt und die ganze Familie zog aufs Land. Mein Vater war gerade mal 28. So alt, wie ich heute bin. Verheiratet und drei Kinder? Kaum etwas könnte ich mir im Moment weniger vorstellen. Hat er es sich damals so vorgestellt? Nein, heiraten habe er eigentlich nie gewollt. Aber dann habe er eben meine Mutter kennengelernt und sie vor ihren Familienproblemen retten wollen. Abgesehen von den Kindern sei das ein Fehler gewesen. Bitterkeit ist trotzdem keine zu hören.


Kapitel II: 1953-1963 Ausbildung – Prager Straße Noch weiter geht es in der Zeit zurück und in eine Gegend von Wien, die ich kaum kenne. In der Prager Straße 77, in Floridsdorf, liegt das Haus, in dem mein Großvater, der Vater meiner Mutter, – seine Jugend verbracht hat. Das Tor ist offen. Im gepflasterten Hof eines großen Mietshauses steht ein lang gezogenes, niedriges Haus. Hier lebte er zuerst mit seinen Eltern, später dann mit seiner jungen Frau. Heute wirkt alles verfallen und verwahrlost, bis auf eine sorgfältig weißgekalkte Wohnung im Erdgeschoß, deren Bewohner uns nur stumm zu verstehen gibt, dass er kein Deutsch spricht. Der Kastanienbaum in der Mitte des Hofes, unter dem sich der Schulfreund meines Großvaters einmal übergeben musste, ist längst gefällt. Als Lehrlinge hatten sich die beiden einen Doppler Weißwein zum „Austesten“ beim Halma spielen besorgt. Am nächsten Tag schworen sie verkatert dem Saufen ab „und das haben wir eigentlich eingehalten“. Ganz ohne Grund muss ich an ein paar Familienfeste denken. Von der Zeit, die mein Großvater hier erlebt hat, habe ich im Geschichtsunterricht gelernt. Mit acht Jahren zog er mit seiner Familie von Niederösterreich nach Wien. Der Krieg war gerade vorbei, Floridsdorf Teil der russischen Besatzungszone und zerbombte Häuser Abenteuerspielplätze. Vieles muss sich hier verändert haben, seit derselbe Freund auf dem Fahrrad einem Anker-Pferdefuhrwerk auffuhr und sie fürs Radfahren im Augarten fünf Schilling Strafe zahlen mussten. Den Friseurladen vorne im Mietshaus gibt es aber immer noch. Und auch der dritten Generation hält mein Großvater, der längst am anderen Ende von Wien wohnt, als Kunde die Treue. Als 1955 der Staatsvertrag unterzeichnet wurde, war mein Großvater bereits im zweiten Lehrjahr bei der Bundesbahn. Auch sein Vater hatte dort gearbeitet, als Fahrdienstleiter, wurde als Nazi nach dem Krieg aber zwangspensioniert – „Eigentlich war er Nationalist, nicht Nationalsozialist und zu den Parteiversammlungen ist er auch nie gegangen.“ Nach einem Jahr als Schlosser, begann mein Großvater dann mit 18 als Heizer auf der Dampflok die Ausbildung zum Lokführer. Da hatte er in der Tanzschule Elmayer schon längst meine Großmutter kennengelernt und sich gefragt, was er sich bei jedem Mädchen fragte: „Kann ich mir vorstellen, dass ich mit der leb’?“

67


Arbeit – Alter Nordbahnhof Ein brachliegendes Grundstück in der Nähe vom Praterstern. Hier stand einst der Nordbahnhof, einer der ältesten und prächtigsten Bahnhöfe Wiens. Über ihn flüchteten viele vor der Verfolgung durch die Nazis, fuhren später die Deportationszüge in die Vernichtungslager. Als mein Großvater hier als Lokführer Waggons verschob, wurde er großteils nur mehr als Güter- und Verschubbahnhof benutzt. Noch heute gehören die meisten umliegenden Häuser den ÖBB. Der trostlose Platz selbst, eingeklemmt zwischen Nordbahnstraße und besprayten Lärmschutzwänden, ist Teil des „Stadtentwicklungsgebiets Nordbahnhof“. 10.000 Wohnungen sollen hier bis 2025 entstehen. Davon ist aber nichts zu sehen und wir flüchten vor Kälte und Wind schnell wieder Richtung U-Bahn. Auf dem Weg machen wir kurz in einem alten, lachsfarbenen ÖBB-Palast halt. Während er für ein Foto vor dem roten Logo posiert, erzählt mein Großvater von der Maturaschule. Da war er 28. Zuerst habe er nur etwas dazulernen wollen, dann hat er doch die Prüfung gemacht. „Schadet ja nicht.“ So konnte er später bei der Bahn in einen Bürojob wechseln und sich die langen, mehrtägigen Fahrten als Lokführer sparen. Wir machen uns auf zu unserer letzten Station: der Votivkirche. Zeit für Politik. Proteste und Demonstrationen habe es in seiner Jugendzeit kaum gegeben. Alle seien viel zu sehr mit dem Wiederaufbau beschäftigt gewesen. „Da sind die Leut’, die irgendwas aufhetzen ...“ Ich schaue wohl skeptisch. „.... oder für etwas besonders eintreten wollten, eigentlich untergegangen.“ Beim Maiaufmarsch war er ein einziges Mal, das sei ihm schnell auf die Nerven gegangen. „Immer Freundschaft! Freundschaft! I bin mir vorkommen wie in der ersten Klass’ mit dem ewigen Heil Hitler.“ Den Gewerkschaftsbeitrag von einem Schilling und fünfzig Groschen, der bei seinem ersten Lohnzettel ungefragt einbehalten wurde, forderte er zurück. Vier Monate später trat er doch ein, blieb aber fraktionslos. „Weil, i hab’ für die Gewerkschaft schon was übrig. Nur ned so.“


Familie – Votivkirche Diesmal beginne ich mit dem Erzählen, zeige meinem Großvater, wo vor einigen Wochen noch die Matratzen der Flüchtlingsaktivisten lagen. Eigentlich sind wir aber hier, weil meine Großeltern vor 63 Jahren in dieser Kirche geheiratet haben. Auf einer Dreifachhochzeit. Beim Elmayer (Senior, dem die Dancing Stars noch erspart blieben) hatte nicht nur mein Großvater meine Großmutter, sondern auch sein Schulfreund ihre Schwester kennengelernt. Und weil die dritte Schwester gerade auch verliebt war, wurde gleich zu sechst geheiratet. Davor musste mein Großvater aber noch konvertieren, schließlich war er evangelisch. Frisch verheiratet renovierte das junge Paar dann eine Wohnung neben seinen Eltern. Als sich das erste Kind ankündigte, wurde es dort zu eng und sie zogen um. Neben ihre Eltern, in die Hörlgasse, ganz in der Nähe der Votivkirche. Bei all der familiären Nähe sei ihm Abstand aber immer wichtig gewesen. Als er seine Mutter in der Waschküche mit seiner Wäsche erwischte, zog er eine Grenze. „Da hab ich ihr gesagt: Mamsch, das war jetzt das letzte Mal. Du hast immer alles für mich getan, ab jetzt machen wir es uns selber.“ Und wer hat ab dann die Wäsche gewaschen? Mein Großvater muss grinsen: „Die Oma.“ Um schnell nachzuschieben: „Aber heute helf’ ich ihr beim Waschen. Heute koch’ ich auch. Es gibt ein paar Sachen, die ich nicht mach’, aber die werd ich auch noch lernen.“ Das glaube ich ihm mal und wechsle das Thema. Unterhaltung – was macht man denn so als verheirateter Mittzwanziger mit zwei Kindern? Begeistert beginnt er von Bällen zu erzählen. Anscheinend gab (oder gibt) es da weit mehr als Maturaball und No-WKR. Beim Schiedsrichterball greife ich ein. Ernsthaft? Anscheinend schon. Zu zwanzigst seien sie da unterwegs gewesen, hätten die ganze Nacht durchgetanzt. Mit wechselnden Partnerinnen, versteht sich. „Da konnte man sich unterhalten, a bissl flirten. Das is’ ja ned ungut, i hab ja keine zum Schlaf’n eing’laden.“ Und dazu fällt mir jetzt auch nichts mehr ein. •


Die ewige unsterbliche Suche nach dem eigenen Arschloch mit einer Taschenlampe Text: Johannes Witek Illustration: Albert Mitringer Ich erwache und habe eine Nachricht von A., der schreibt, dass B. ihm eine Nachricht geschrieben hat, sinngemäß:

Während ich bei B. bin, ruft mich C. an. Ich erzähle ihm, dass ich gerade bei B. bin. C. wünscht uns einen schönen Abend und ruft dann A. an und erzählt ihm, dass ich bei B. bin.

„Anderer Typ. Sorry. War nett.“

70

Die Wohnung sei jetzt leer bis auf das Bedürfnis, sich zu betrinken. Das füllt dafür alles aus. Ich formuliere noch an einer Antwort herum, da ruft mich B. an und fragt, ob ich zu ihr kommen will, sie kocht für mich. Da ich beide mag, A. und B., und strikt unparteiisch bin (in solchen Situationen immer), sage ich zu. Ich wünsche A. viel Kraft und dass es ihm bald besser geht. Dann gehe ich zu B., wir zischen einige Biere. Sie spricht viel und erzählt mir viele Sachen, aber nicht besonders viel von A., im Verhältnis. Sie wirkt, so leid mir das für A. tut, gelöst und erleichtert, als würde jetzt etwas völlig Neues beginnen. Ich kann sie verstehen.

A. ruft mich an und fragt, was ich bei B. mache. Ich sage: „Essen und Bier trinken.“ A. legt auf. Später laufe ich besoffen durch die Straßen an der Seite von D., von der ich irgendwie das Gefühl habe, dass sie scharf auf mich ist. Ich weiß allerdings von C., dass sie was mit F. am laufen hat, was vermutlich niemand wissen soll. Sie berührt mich dauernd, lacht über Sachen, die nicht witzig sind und nimmt plötzlich meine Hand. Es ist ein peinlicher Moment, der aber glücklicherweise schnell vorübergeht. Auf dem Weg zu ihr nach Hause (wo ich mich höflich an der Tür verabschieden und dann heimgehen will) laufen wir in B., die in Begleitung von vier Typen ist. Sie begrüßt mich herzlich, ignoriert D. eiskalt, und sagt, sie habe es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten.


Da ich immer schon etwas scharf auf B. war, bringe ich D. nach Hause, verabschiede mich höflich an der Tür und gehe dann in die Bar, wo B. mit den vier Typen sitzt. Ich setze mich dazu, trinke und höre ihnen eineinhalb Stunden lang zu, während sie über ihre Jobs reden (arbeiten alle im selben Bereich), ohne selbst was zu sagen. Dann gehe ich heim. Am nächsten Morgen schreibt mir C., dass er ein Gespräch mit G. hatte und jetzt das Gefühl, es sei bald vorbei mit ihnen. Er sei alleine und halte es nicht aus in der Wohnung. Ich überlege und schreibe daraufhin eine Gruppennachricht an A., B., C., D., E., F., G. und die vier Typen, in der ich die Theorie vertrete, dass nur eine monströse Orgie uns alle jetzt noch retten kann. Ich lade sie alle zu diesem Zweck zu mir nach Hause ein, um 18.00. Dann setze ich mich hin und warte. Niemand kommt. •

71


Konkurrenz Text: Johannes Witek Ich habe eine Amsel gemalt, die nicht fliegen kann. Es ist tragisch und genial und eine Metapher für die ganze Welt. Das Problem ist: Auch ein Mann namens Gernot Tschurtschenthaler aus Ried im Innkreis hat eine Amsel gemalt, die nicht fliegen kann. Aber meine ist besser als seine. Jeder kann das sehen: die Federn, der Schwung der Flügel, wie sie sich abmüht, die Schweißtropfen (Vögel schwitzen nicht), das Ansetzen zum Abflug der nie gelingt ... Mir ist egal, was die Welt sagt. (Nur wenn Sie nichts sagt, ist es schlimm. Zu mir. Äh, meiner Amsel.) Kein Vergleich zu Tschurtschenthalers behämmertem Kackvogel. Jedoch: Keine Stimme antwortet, wenn ich nachts aus den schwarzen Fenstern schaue (rufe), das Telefon schweigt, niemand an der Tür.

72

Dafür dauernd Berichte über Tschurtschenthaler und seine Amsel. Ich hab sieben Bier getrunken, bin hin und habe ihm eine Ohrfeige gegeben. Sechzehn Monate später ist Tschurtschenthaler dafür gekommen und hat mit meiner Frau geschlafen, während ich mit einem Lohnsteuerausgleich beschäftigt war.

„JajaJA!“, hab ich zu ihm gesagt. „Sie erinnern mich an mich selber, als ich noch jünger war.“ „Ich bin siebzehn Jahre älter als Sie“, hat er darauf gesagt. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Aber unsere Amseln fliegen noch immer nicht. Und meine noch immer besser nicht als seine. Um mich abzulenken und weil wir Obst gebraucht haben, bin ich zum Markt. Der Mann hinter der Theke hat mich angesehen, als würde er glauben, seine Kartoffeln wären größer als meine. Eine klare Fehlannahme, wie jeder sehen kann (dabei habe ich gar keine). Ich habe ihm das gesagt und er hat mit dem Kleingeld in seiner Tasche geklimpert, als würde er glauben, er habe mehr davon als ich, oder es würde mehr glitzern. Mag sein, in dem MOMENT, aber er ist ja auch HÄNDLER, er VERKAUFT den ganzen Tag Sachen! Ich bin auf der Stelle heim und habe ihn gezeichnet, wie sein Kopf explodiert und ihm ein Oktopus aus dem Arsch kriecht. Das ganze Leben ist ein permanenter Schwanzvergleich. Das muss aufhören, echt jetzt. Ich meine, entweder das, oder ich verschenke meine Pinsel. •

Johannes Witek, geboren 1981, lebt in Salzburg. Hat in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Neben zwei Gedichtbänden ist 2013 sein erster Roman, Voltairs Arschbacken, erschienen.


73

Ausblick In der Winterausgabe der ßber.morgen stinkt’s nach Brathendl, Bier und Zirbenschnaps: eine Reportage in Lederhosen aus dem dampfenden Altausseer Bierzelt. Matsch und rosa Dirndl waren auch dabei. Noch Fragen?


Ein

Buch

74




Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.