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«Die Rolle des Managers wird politischer»
from Festschrift «Denken und Handeln» anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Universität St.Gallen
Ein Gespräch mit Günter Müller-Stewens, Professor für Strategisches Management von 1991 bis 2017
Was zeichnet heute einen guten Manager aus?
Was einen guten Manager auszeichnet, verändert sich gerade ziemlich stark. In früheren Zeiten ging es darum, dass er oder sie die Dinge im Griff hatte, also das Betriebswirtschaftliche verstand. Jetzt rücken ganz andere Eigenschaften ins Zentrum. So muss er oder sie heute auch in der Lage und bereit sein, die moralische Dimension des eigenen Tuns zu begreifen und sie auch verständlich und transparent zu machen. Mancherorts wird erwartet, dass man auch politisch Stellung nimmt, ein political activist ist.
Manager bewegen sich demnach in einem erweiterten Konfliktfeld?
Genau. Führungskräfte müssen Wege finden, «das Richtige» zu tun. Aber was genau ist denn das Richtige? Ein Manager muss sich moralisch legitimieren in dem, was er tut. Doch wenn man sich das genauer anschaut, stösst man rasch auf Paradoxien. So forschen wir etwa intensiv am Thema Verteilungsgerechtigkeit. Der Lobby-Verband Business Roundtable, in dem die CEOs der führenden US-Unternehmen vertreten sind, beschloss 2019 endlich, dass die Maximierung des Shareholder Values nicht mehr ausreiche. In einem Statement verpflichteten sich die Wirtschaftsführer, die Ansprüche aller relevanten Stakeholder zu berücksichtigen.
Die globalen Konzerne sind nun dabei, das zu verdauen. Für die einen erfolgt die Erfüllung der Forderung per Feigenblatt, die anderen versuchen es ernst zu nehmen. Wenn ich diesen Anspruch jedoch ernst nehme, gerate ich in Verteilungskonflikte. Nehmen wir an, dass ich eine Wertschöpfung von hundert Prozent zu verteilen habe, dann wollen die Mitarbeiter mehr Lohn, die Aktionäre wollen mehr Dividende, und die Öffentlichkeit will, dass ich mehr ins Klima investiere. Als Top-Manager stehe ich vor der Herausforderung, zu einer fairen Verteilung der Wertschöpfung zu gelangen und beispielsweise hinsichtlich des Klimas auch den Bedürfnissen der nächsten Generation gerecht zu werden. Wie viel Prozent meiner Wertschöpfung reinvestiere ich nun in die Bewältigung des Klimawandels?
Wie sieht das konkret aus?
Zwei Beispiele. Abacus ist ein erfolgreiches Schweizer Informatikunternehmen, das während der Pandemie aus Sorge vor Ertragseinbrüchen 1,3 Millionen Franken Kurzarbeitergeld bezogen hat. Doch dann zeigte sich, dass das Unternehmen durch Corona keinen wesentlichen Schaden nahm. Man zahlte das Geld, das den Eigentümern legal zustand, an den Staat zurück: Es wäre moralisch nicht vertretbar gewesen, die Kurzarbeitsentschädigungen zu behalten. «Das würde nicht der Abacus-DNA entsprechen», sagte ein Mitglied der Geschäftsleitung.
Auf der anderen Seite haben wir das Daimler-Management: Das Unternehmen hatte 2020 durch Kurzarbeitergeld etwa 700 Millionen Euro gespart und im gleichen Jahr die Dividende erheblich erhöht. Dies führte zu viel Kritik. Die Interessenvertretung Bürgerbewegung
Finanzwende bezeichnete das Vorgehen als «moralisch verwerflich». Das Verhalten von Daimler ist zwar legal – aber ist es auch legitim, ist es das Richtige? Daimler-Vertreter argumentierten, dass man seit Jahren in die Solidaritätskasse einzahle, und jetzt würde man sich das halt zurückholen. Doch was zeigt dies für ein Gemeinwohlverständnis?
Verallgemeinernd gesprochen, geht es dabei um Stakeholder Governance: Wie halte ich alle im Boot, die für unseren Erfolg langfristig wichtig sind?
Das ist der Kern des St.Galler Management Modells.
Von der Theorie her ist das überhaupt nichts Neues! Der Stakeholder-Management-Ansatz selbst geht auf R. Edward Freeman zurück, sein Buch Strategic Management: A Stakeholder Approach ist 1984 erschienen. Doch dann kam die Fehlentwicklung der Shareholder-Value-Maximierung dazwischen, die wir immer noch nicht ganz hinter uns gelassen haben.
Wie hat sich das Stakeholder-Denken seither weiterentwickelt?
Heute spricht man weniger vom Stakeholder-Management, sondern vermehrt vom Stakeholder-Engagement: Man betrachtet damit die Stakeholder-Beziehung als eine wechselseitige Angelegenheit. Wer in Zukunft erfolgreich sein will, darf seine Beziehungen nicht nur transaktional sehen, sprich: «Ich gebe etwas und bekomme direkt im Gegenzug dafür etwas.»
Vielmehr sollte man sein Handeln relational sehen: Es geht um Beziehungen, und das wiederum heisst, dass über Jahre hinweg Vertrauen aufgebaut wird. Wenn ich eine Vertrauensbeziehung habe, frage ich nicht jede Sekunde, ob ich genauso viel bekomme, wie ich hineingegeben habe.
Heute entsteht Wertschöpfung oft in kooperativer Form und am Ende ist manchmal gar nicht mehr so klar, welcher Beitrag von wem stammt. Denken Sie etwa an BioNTech/Pfizer: Der Corona-Impfstoff war nur deshalb so schnell verfügbar, weil die Forschung in engster Zusammenarbeit mit Universitäten, staatlichen Institutionen und Pharmafirmen stattfand. Anthony Fauci, der Chef der amerikanischen Impfkampagne, hatte mit seinem Team bereits seit Jahren mit den leitenden Biologen von BioNTech vertrauensvoll zusammen gearbeitet. In der Pandemie konnte man die Früchte ernten.
Die ganze Stakeholder-Welt besteht aus nichts anderem als aus Beziehungen: Beziehungen zu meinen besten Mitarbeitern, zu langfristig engagierten Eigentümern, zu Lieferanten, die mit mir zusammen neue Vorprodukte entwickeln. In dieser Welt reicht es nicht mehr aus, wenn eine Top-Managerin eine ordentliche Betriebswirtschaftlerin ist, sie muss auch in der Lage sein, das Ökonomische mit dem Moralischen zu verbinden. Oder sagen wir es ganz einfach: mit dem Menschlichen.
Inwiefern wird dieses Ideal erreicht?
Man wird es nie erreichen. Sie werden auf der Welt immer Führungskräfte haben, die tief unmoralisch handeln, wenn nicht gar kriminell. Nehmen Sie
VW: Hier haben manche Führungskräfte substanziell betrogen, zum Schaden anderer sowie der eigenen Firma. Es gibt auch hierzulande immer noch Führungskräfte, die Kinderarbeit in ihren südafrikanischen Minen dulden, was klar gegen die Menschenrechte verstösst.
Trotzdem dürfen wir nie aufhören, nach moralischem Fortschritt zu streben. Wir müssen daran glauben, um als Zivilisation weiterzukommen, auch in unserer Menschlichkeit. Und die Mehrzahl der Handelnden erfüllt dies ja auch.
Wie geht man mit den Widersprüchen zwischen Umweltauflagen oder sozialer Verantwortung um, die Geld kosten und damit aufs Betriebsergebnis durchschlagen?
Nehmen wir noch einmal das Daimler-Beispiel von vorhin. Hier lautet das Dilemma: Zahle ich das Kurzarbeitergeld zurück, oder mache ich meine Aktionäre happy? Natürlich muss der CEO von Daimler seine Aktionäre im Boot halten – wenn die nämlich abwandern, geht der Aktienkurs nach unten, und wahrscheinlich hängt da auch sein Bonus mit dran. Doch wenn er die Dividende erhöht, vergrämt er möglicherweise die Öffentlichkeit und kratzt an der Reputation der Marke Daimler, der Kunde will ja nachhaltig einkaufen. Es gibt unendlich viele dieser Beispiele. Wir fragen in unseren Kursen nach den Dilemmata, in denen die Teilnehmer in ihrem Alltag stehen, und arbeiten damit. Dabei unterstellen wir zuerst einmal, dass sie möglichst «das Richtige» tun wollen.
Kann die HSG ihren Anspruch einlösen, verantwortliche Führungskräfte auszubilden?
Wir sind stolz darauf, dass wir als erste Business School ein Institut für Wirtschaftsethik hatten. Natürlich ist man immer mit kritischen Fragen konfrontiert. Ist das nur ein Alibi-Institut?
Inwieweit findet Wirtschaftsethik auch in den anderen Instituten statt?
Der Beruf des Managers ist heute weit nach unten gerutscht, was seine Reputation in den Augen der Öffentlichkeit anbelangt: Handelt eine Führungskraft verantwortlich, oder bereichert sie sich nur? Diese Kritik ist natürlich auch bei uns an der HSG angekommen.
In Elfriede Jelineks Theaterstück Die Kontrakte des Kaufmanns ist ein Absolvent der HSG, der später betrügerisch handelt, die Hauptfigur. Das Stück wurde vor ein paar Jahren am Theater St.Gallen aufgeführt, und nach der Dernière gab es eine Podiumsdiskussion, an der auch ich teilnahm. Das ging bis tief nach Mitternacht. Einer fragte zum Beispiel: «Warum wählt ihr eure Studierenden nicht auch nach moralischen Gesichtspunkten aus?» Darauf konnte ich nur zurückfragen: «Nach wessen Moral – nach Ihrer oder meiner? Oder nach der des Studierenden?» Natürlich werden wir immer wieder Abgänger haben, die wir nicht als vorbildlich erachten. Aber ich kann doch keinen Einstellungstest machen und erfragen: «Ist jemand moralisch geeignet oder nicht?» Manche Leute glauben aber, dass das möglich sei.