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«Wir haben den Preis für Protektionismus erhöht»

Ein Gespräch mit dem Volkswirtschaftsprofessor Simon Evenett über seine Initiative «Global Trade Alert»

Was hat zur Gründung des Global Trade Alert geführt?

Der Global Trade Alert wurde 2009 als Reaktion auf die globale Finanzkrise geschaffen. Unter den Politikern der G20-Länder gab es damals die grosse Sorge, dass sich die Fehler der dreissiger Jahre wiederholen könnten und sich viele Regierungen dem Protektionismus zuwenden.

Die führenden internationalen Organisationen sahen sich nicht in der Lage, diesen Prozess zu überwachen, geschweige denn aufzuhalten. Daher beschloss ich zusammen mit Kollegen, ausgehend von meinem Institut, eine unabhängige Überwachungsinitiative zu gründen. Sie sollte offenlegen, was die Regierungen der G20-Staaten in Sachen Protektionismus unternehmen. Dabei geht es um Massnahmen wie Einfuhrzölle oder Importkontingente.

Wie sind Sie bei der Gründung des Global Trade Alert vorgegangen?

Der Global Trade Alert wurde im Juni 2009 in London lanciert. Es ist zwar an der HSG beheimatet, doch es war von Anfang an eine globale Initiative, mit Unterstützung von Grossbritannien, Kanada, der Weltbank und dem General Marshall Fund der Vereinigten Staaten. Seit unserem Launch haben wir mehr als 40 000 Interventionen von Regierungen aufgespürt. Wir dokumentieren alles auf unserer Website www.globaltradealert.org, unsere Ergebnisse stehen dort allen Interessierten frei zur Verfügung.

Wie konnten Sie diese internationalen Partnerschaften schmieden?

Seit den neunziger Jahren war ich in verschiedenen Ländern als Analyst der Handelspolitik tätig und habe dabei mit vielen Analysten und Regierungen zu tun gehabt. Und dieses Netzwerk habe ich aktiviert: Ich kontaktierte Regierungen, um zu sehen, wer als Unterstützer infrage kommt, dann setzte ich mich mit früheren Kollegen bei der Weltbank in Verbindung, mit dem General Marshall Fund der USA – überall schaute ich, wer sich für diese Art von Initiative interessieren könnte. Ich war überrascht, wie viele Leute zu den gleichen Schlüssen gekommen waren wie ich; alle waren froh, dass jemand etwas unternahm. Es war die richtige Diagnose zur richtigen Zeit, kombiniert mit der Tatsache, dass ich schon vor meiner Zeit an der HSG ein weitreichendes Netzwerk aufgebaut hatte.

Wer nutzt den Global Trade Alert?

Wir hatten anfangs zwei Nutzergruppen im Sinn: Auf der einen Seite Journalisten und Analysten, auf der anderen Seite akademische Forscher. Doch inzwischen haben wir fünf Nutzergruppen: Zu diesen beiden ersten Gruppen kommen Wirtschaftsverbände, die sich als Grundlage für Investitionen ein Bild der globalen Märkte machen wollen, sowie Regierungen, die das GTA für die Analyse des Welthandels und als Quelle für Reden von Ministern und Botschaftern nutzen, und schliesslich internationale Organisationen, die daraus Informationen für Berichte, Analysen und Reden beziehen. In der Datenbank von Google Scholar finden sich derzeit 2 810 Einträge zum Global Trade Alert, er wird also sehr rege genutzt.

Warum war die HSG ein guter Ort, um eine solche Initiative zu starten?

Bevor ich 2005 zur HSG kam, habe ich in Oxford gelehrt, und ich glaube nicht, dass ich das Global Trade Alert von Oxford aus hätte organisieren können. In Oxford hätte das mit der ganzen Bürokratie viel zu lange gedauert. An der HSG dagegen ist es dank der Institute möglich, schnell Ressourcen zu mobilisieren und Top-Leute zu rekrutieren. Der Global Trade Alert zeigt die Leistungsfähigkeit dieses Institutsmodells.

Wie wird der Global Trade Alert finanziert?

Während der ersten zwei Jahre wurde es von den bereits genannten Regierungen und Organisationen finanziert. Danach kam das Geld ausschliesslich aus St.Gallen, einerseits durch meine eigenen Mittel aus meinen Projekten am Institut und meiner Lehrtätigkeit an der Executive School, andererseits durch die grosszügige Unterstützung der Max Schmidheiny-Stiftung. 2018 überlegten wir, wie wir die Initiative für die Zukunft sichern können. Erfolgreiche Institutsprojekte der HSG werden oft in eine gemeinnützige Stiftung überführt, und dieser Tradition sind wir gefolgt. Seit 2021 ist unsere Initiative in das St.Gallen Endowment for Prosperity Through Trade integriert. So sind wir unabhängig und bleiben zugleich Teil des HSG-Ökosystems.

Wie viel Geld brauchen Sie für das Global Trade System?

Etwa eine Million Franken pro Jahr. Ich denke, dafür liefern wir einen guten Gegenwert.

Warum brauchte es erst eine Finanzkrise, damit so eine Initiative ins Leben gerufen wurde?

Die einfache Antwort auf diese Frage lautet: Anreize. Internationale Organisationen scheuen vor einer invasiven Überwachung von Regierungen zurück, denn Regierungen sind oft Shareholder dieser Organisationen, und niemand mag seinem Chef auf die Finger schauen. Für Akademiker wiederum gibt es wenig berufliche Anreize, solche Daten zu sammeln. Wohl gibt es Anreize, Daten herunterzuladen, die andere gesammelt haben und sie auf andere Weise zu analysieren, doch das Erheben von Daten ist ein mühsames Geschäft. Wirtschaftsverbände haben dafür kein Geld, und einzelne Unternehmen haben keinen Grund, die Erhebung globaler Daten als ihre Verpflichtung zu sehen.

Dadurch ist eine Situation entstanden, in der es einen Mangel an verlässlicher Information darüber gab, was Regierungen in einem Bereich tun, der für die Lebensgrundlage aller europäischen Länder von entscheidender Bedeutung ist. Unser Lebensstandard ist auf offene Weltmärkte angewiesen, wir müssen also verstehen, was in anderen Ländern vor sich geht, um politische Entscheidungen für unsere eigenen Länder treffen zu können.

Wie erheben Sie die Daten zum Welthandel?

Wir haben zwei Methoden. Zum einen suchen unsere Handelspolitik-Analysten in öffentlich verfügbaren Quellen wie Regierungswebsites oder Zeitungsartikeln Hinweise auf Änderungen in der Handelspolitik bestimmter Länder. Wenn sie auf eine solche Änderung stossen, recherchieren sie die rechtlichen Grundlagen dafür, und das Ergebnis dokumentieren wir dann auf unserer Website. Zum anderen haben wir einen Webcrawler entwickelt, der jeden Tag systematisch Hunderte von Websites überprüft. Entdeckt das Programm Änderungen, meldet es uns diese Information, und wir gehen dem Fall nach. Es ist also eine Kombination von menschlichem Talent und automatisierter Webcrawling-Technologie. Das hat sich als sehr effektiv erwiesen.

Wie erfolgreich ist der Global Trade Alert, gemessen am ursprünglichen Ziel? Kann es Protektionismus verhindern?

Da bin ich sehr vorsichtig. Wir haben Regierungen keineswegs daran gehindert, alle möglichen Formen von Protektionismus auszuüben, denken Sie nur an Donald Trump und seinen Handelskrieg mit China. Doch wir haben den Preis für Protektionismus erhöht. Länder, die sich so verhalten, wissen jetzt, dass sie damit nicht davonkommen. Sie werden gesehen, wir liefern Belege, mit denen man sie kritisieren kann. Daher gibt es nun ein grösseres Bewusstsein einer Rechenschaftspflicht. Wir stellen uns sehr mächtigen Kräften entgegen, wir leben in einer Zeit, die offenen Märkten und der Globalisierung gegenüber nicht sehr freundlich gesinnt ist.

Wie wird sich der Global Trade Alert als Stiftung in Zukunft weiterentwickeln?

Die erste Säule unserer Stiftung besteht in der Überwachung von Protektionismus in der Weltwirtschaft, damit haben wir vor dreizehn Jahren angefangen. Mit der zweiten Säule sind wir im April 2021 gestartet: Hier geht es um die Überwachung politischer Entwicklungen in der digitalen Wirtschaft, das ist ein hoch umstrittener Bereich, wie die Kritik an Plattformen wie Facebook zeigt. Die dritte Säule widmet sich der Transformation hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft.

Die interessante Frage ist nun: Können Regierungen diesen Übergang durch Subventionen und andere Massnahmen unterstützen, ohne damit das System des Welthandels zu ruinieren? Können wir zeigen, dass eine freie und offene Wirtschaft mit einem aktiven und effektiven Staat zusammengehen kann? Bei allen drei Säulen geht es darum, legitime politische Ziele zu erreichen, ohne den Welthandel zu torpedieren. Wenn es Staaten gelingt, aktiv zu sein und ihre Ziele zu erreichen, ohne zu protektionistischen Massnahmen zu greifen, dann hätte das positive Auswirkungen auf den Lebensstandard auf der ganzen Welt.

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